de Gruyter Lexikon Deutsche Morphologie
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Deutsche Morphologie Herausgegeben von
Elke Hentschel und Petra M. Vogel
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de Gruyter Lexikon Deutsche Morphologie
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Deutsche Morphologie Herausgegeben von
Elke Hentschel und Petra M. Vogel
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018562-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
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Zu diesem Buch Das vorliegende Lexikon Deutsche Morphologie versucht in zweierlei Hinsicht neue Wege zu gehen: zum einen im Hinblick auf seinen Aufbau, der eine Synthese zwischen einem Handbuch und einem Lexikon darstellt, zum anderen im Hinblick auf die inhaltlichen Schwerpunkte, die es setzt. Das Besondere am Aufbau dieses Buches besteht darin, dass die Artikel – die im Grunde wie klassische Handbuch-Artikel konzipiert sind und jeweils einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung, neue Erkenntnisse sowie noch bestehende Fragen geben – anders als bei einem Handbuch nicht nach Sachgruppen, sondern alphabetisch angeordnet sind. Zwischen ihnen eingestreut sind jedoch zusätzliche Kurzeinträge, wie man sie von einem Lexikon erwarten würde. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, optimale Benutzerfreundlichkeit zu erreichen: Üblicherweise muss man bei einem Handbuch, wenn man auf der Suche nach Informationen zu einem bestimmten Thema ist, zunächst im Index nachsehen und dann die dort jeweils angegebenen Seiten aufsuchen. Im vorliegenden Buch jedoch kann man sofort, einfach im direkten Zugriff auf den gesuchten Begriff, nach Informationen suchen und wird in den meisten Fällen auch fündig werden. 99 Stichwörter, zu denen man in einem Nachschlagewerk zum Handbuch der deutschen Morphologie wenn nicht einen ganzen Artikel, so doch zumindest eine Erklärung erwarten würde, sind in alphabetischer Ordnung fortlaufend eingefügt und finden sich daher sofort. Jeder Eintrag liefert dabei eine knappe erste Erklärung und verweist dann auf einen, mitunter auch mehr größere Artikel, die umfassende Informationen zum gesuchten Phänomen oder seiner Umgebung bieten. Auf diese Weise wird das vorliegende Buch zu einer innovativen Mischung aus einem Lexikon und einem Handbuch im klassischen Sinne und kann verschiedenen Bedürfnissen gleichzeitig gerecht werden. Was die inhaltliche Seite angeht, so legt das Lexikon Deutsche Morphologie in sehr viel stärkerem Maße, als dies sonst in der germanistischen Linguistik üblich ist, Wert auf die Einbeziehung typologischer und sprachvergleichender Forschungsergebnisse. Die beschriebenen grammatischen Phänomene des Deutschen werden stets zugleich auch in einen größeren Zusammenhang gestellt, der sowohl eine bessere Einordnung als auch ein besseres Verständnis der einzelnen Erscheinungen ermöglicht. Der herzliche Dank der Herausgeberinnen gilt allen Autorinnen und Autoren dieses Handbuchs, mit denen wir sehr gerne zusammengearbeitet haben, sowie natürlich auch allen anderen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben.
Inhaltsübersicht
A B C D E F G H I K L M N O P
7 55 57 59 93 95 113 169 171 191 225 227 249 271 273
Q
373
R
375
S
389
T
425
U
443
V
445
W Z
465 479
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Absentiv
A u Ablativ (von lat. aufere ‚wegtragen‘; engl.: ablative) Ein Kasus, der zur Angabe der räumlichen Herkunft dient – also auf die Frage „woher?“ antwortet – wird sprachübergreifend als Ablativ bezeichnet. Ein solcher Kasus war Bestandteil des indoeuropäischen Kasussystems, findet sich aber . auch in anderen Sprachen, so beispielsweise im modernen Türkischen: Istanbul’dan ‚aus/von Istanbul‘. Der lateinische Ablativ hatte demgegenüber bereits die Funktionen weitere Kasus, nämlich des Lokativ und des Instrumental, mit übernommen und stellt insofern keinen typischen Ablativ mehr dar. → Kasus u Ablaut Als Ablaut bezeichnet man einen historisch bedingten Wechsel des Stammvokals, der insbesondere bei der Präteritum- und Perfektstammbildung starker Verben auftritt (z. B. singen – sang – gesungen). → Präteritum u Absentiv 1
Einleitung
In seinem Artikel „The absentive“ von 2000 beschreibt de Groot Fügungen des Typs Anna war/ist essen, die er als eigenständige grammatische Kategorie betrachtet und mit dem Begriff Absentiv versieht. Der Absentiv zeichnet sich durch die folgenden Eigenschaften aus: Morphosyntax a) Es liegt das Verb ‚sein‘ sowie zusätzlich ein Handlungsverb vor, wobei das Subjekt mit ‚sein‘ kongruiert. b) Es dürfen keine Elemente wie weg, (weg)gegangen und Ähnliches vorkommen, die auf lexikalischer Ebene Abwesenheit signalisieren. Semantik a) Die im Subjekt kodierte Person X hat sich von dem Ausgangsort, der als deiktisches Zentrum (DZ) angesehen wird, entfernt und ist abwesend, das heißt auch nicht in Sichtweite. b) Grund der Abwesenheit von X ist die im Handlungsverb kodierte Tätigkeit, die an einem anderen Ort stattfindet.
Absentiv
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c) Grundsätzlich wird angenommen, dass X nach einer der Tätigkeit angemessenen zeitlichen Abwesenheit wieder zurückkehrt. d) Die Tätigkeit wird von X regelmäßig durchgeführt (z. B. als Hobby). Graphisch lässt sich das folgendermaßen darstellen:
Der Rahmen soll andeuten, dass der Komplex von Weg und Handlungsziel nicht „aufgebrochen“ werden kann, das heißt, es handelt sich bei den eingerahmten Elementen um konstituierende Bestandteile des Absentivkonzepts. Die Konstruktion gehört vor allem der gesprochenen Sprache an, wodurch sich ihre seltene Erwähnung in Grammatiken des Deutschen erklärt. Der einzige Hinweis dazu findet sich in der Duden-Grammatik von 2005 (ebd.: 434), wo auf die Abhandlung von Krause (2002) zum Progressiv im Deutschen Bezug genommen wird. 2
Der Absentiv in den europäischen Sprachen
2.1
Verbreitung und Struktur
Zusätzlich zu den bei de Groot und Ebert genannten europäischen Absentivsprachen werden bei Vogel (2007) alle europäischen Amtssprachen im Hinblick auf Konstruktionen untersucht, die sämtliche in Abschnitt 1 genannten morphosyntaktischen und semantischen Kriterien erfüllen. Dabei stellte sich heraus, dass 26 der 36 Amtssprachen als Absentivsprachen gelten können, wobei allerdings in Sprachen mit einem Teil- und solche mit einem Vollabsentiv unterschieden werden muss. Bei der Vollkategorie kann ‚sein‘ auch im Präsens auftreten, in Sprachen mit einer Teilkategorie dagegen nur in einem oder mehreren Vergangenheitstempora. Es ist denkbar, dass das für die Kategorie konstitutive Merkmal der Rückkehr zum Ausgangsort hier eine Rolle spielt. Dadurch passt ein Vergangenheitstempus insofern semantisch besser zum Absentiv, als dieses nicht nur das Weggehen, sondern auch schon die Rückkehr der jeweiligen Person impliziert, während die Rückkehr bei Verwendung des Präsens in der Zukunft liegt und daher nur vermutet oder erhofft werden kann. Infolgedessen ist ein Absentiv in einem Nicht-Vergan-
9
Absentiv
genheitstempus ein „schlechterer“ Absentiv. Unter den 26 Absentivsprachen weisen 19 den Absentiv als Voll- und 8 als Teilkategorie auf. Einen Spezialfall stellt Englisch dar, das aufgrund von mindestens zwei verschiedenen Absentiven in beiden Gruppen vertreten ist.1 Die Überblickskarte und Tabelle auf der nächsten Seite zeigen, um welche Sprachen es sich dabei jeweils handelt (zu Details vgl. Vogel 2007). Die Zahlen hinter den Sprachen beziehen sich auf die drei AbsentivStrukturtypen: 1. ‚sein‘ + reiner Infinitiv, 2. ‚sein‘ + markierter Infinitiv sowie 3. Infinitiversatzkonstruktion mit ‚sein‘. Mit dem reinen Infinitiv steht etwa der Absentiv im Deutschen, Niederländischen und Ungarischen (vgl. auch de Groot 2000: 696). (1) Jan ist boxen. (2) Jan is boksen. Jan ist boxen:INF (3) János boxolni van. János boxen:INF ist
Deutsch Niederländisch Ungarisch
Durch ein zusätzliches Element wird der Infinitiv beispielsweise im Finnischen und Italienischen markiert (vgl. auch de Groot 2000: 696). (4) Jussi on nykkeile-mä-ssä. ist boxen-INF-INESS (5) Gianni è a boxare. ist zu boxen:INF
Finnisch Italienisch
In einer dritten Gruppe schließlich liegen mit dem zu ‚sein‘ gehörigen Subjekt referenzidentische finite Handlungsverbkonstruktionen vor, die auch als Infinitiversatzstrategien2 bezeichnet werden, weshalb ich allgemein von Infinitiversatz(konstruktionen) spreche. Parallel zur „Pseudokoordination“ im Schwedischen und Norwegischen (zum Schwedischen vgl. Teleman/Hellberg/Andersson 1999: 905) kann man diesen Terminus auch auf die Verhältnisse beispielsweise im Bulgarischen anwenden. Das heißt, auf die mit dem Subjekt kongruierende Form von ‚sein‘ folgt eine Konjunktion (im Maltesischen auch asyndetisch ohne Konjunktion) sowie die ebenfalls mit dem Sub-
1 Dabei handelt es sich zum einen um die zwei Teilabsentive Anna has been to buy some bread. und Anna has been and bought some bread. Unter Umständen kommt noch eine weitere Variante des Vollabsentivs hinzu, die mit dem Progressiv identisch ist: Anna is swimming./Anna was swimming. (vgl. dazu im Detail Vogel 2007). 2 Zu Infinitiversatzstrategien i. Allg. vgl. z. B. Mayerthaler/Fliedl/Winkler (1995: 213–216).
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Absentiv
3
4
5
Vollkategorie Absentiv
Teilkategorie Absentiv
Kein Absentiv
(schwarz) Bulgarisch (3) Deutsch (1) Englisch (1) Estnisch (2) Finnisch (2) Irisch (2) Italienisch (2) Katalanisch4 (2) Maltesisch (3) Mazedonisch (3) Niederländisch (1) Norwegisch (3) Rätoromanisch (1) Rumänisch/Moldawisch5 (3) Schwedisch (3) Serbisch (3) Slowakisch (1) Tschechisch (1) Ungarisch (1)
(gestreift) Bosnisch3 (3) Englisch (2) Französisch (1) Kroatisch3 (3) Lettisch (1) Litauisch (1) Polnisch (1) Slowenisch3 (3)
(weiß) Albanisch Dänisch Griechisch Isländisch Portugiesisch Russisch Spanisch Türkisch Ukrainisch Weißrussisch (Belarussisch)
3 Im Bosnischen, Kroatischen und Slowenischen scheint die Konstruktion sehr stark dem Substandard anzugehören, da sie von einem Teil der SprecherInnen akzeptiert, von anderen jedoch abgelehnt wurde. Deshalb sind diese Gebiete bzw. Sprachen auf der Karte mit einem Fragezeichen markiert. 4 Katalanisch ist Amtssprache in Andorra. 5 Moldawisch wurde bis 1940 als Varietät des Rumänischen angesehen, mit der Abtrennung des Gebietes von Rumänien jedoch zur eigenen Sprache erklärt und in der Verfassung des unabhängigen Staates von 1991 als Amtssprache des Landes bestätigt.
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Absentiv
jekt kongruierende Form des entsprechenden Handlungsverbs (zum Schwedischen vgl. auch de Groot 2000: 696, zum Bulgarischen Vogel 2007). (6) John är och boxar. ist und boxt:PRS
Schwedisch
(7) Anna e da kupuva chljab. ist dass kauft:PRS Brot
Bulgarisch
2.2
Absentiverklärungen
Häufig wird angenommen, dass es sich beim Absentiv um die elliptische Variante einer „Langform“‚sein‘ + Partizip Perfekt von ‚gehen‘ handelt, bei der das Partizip Perfekt weggefallen ist. Das funktioniert für einige Sprachen gut, so etwa dt. er ist schwimmen (gegangen), ital. è (andato) a mangiare (vgl. Bertinetto/Ebert/de Groot 2000: 542). Die Annahme einer elliptischen Konstruktion lässt sich aber beispielsweise für das Ungarische nicht halten, denn dort gibt und gab es nie ein mit kongruierendem ‚sein‘ gebildetes Vergangenheitstempus (vgl. z. B. Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 294–297). Prinzipiell ist eine polykausale Erklärung bzw. Entstehung durchaus denkbar. Es gibt aber noch eine weitere Lösung, auf die bereits Dokulil (1949) hinweist und die den Vorteil hat, für alle Absentive Gültigkeit beanspruchen zu können. Eine Gemeinsamkeit aller 26 Absentivsprachen besteht nämlich darin, dass sich der jeweilige Infinitiv bzw. die Infinitiversatzkonstruktion statt mit absentivischem ‚sein‘ auch mit einem Bewegungsverb wie ‚weggehen‘ verbinden kann. Man vergleiche: (8) a. Jan ist boxen. b. Jan geht boxen.
Deutsch
(9) a. Jussi on nykkeile-mä-ssä. ist boxen-INF-INESS b. Jussi käy nykkeilemässä. geht boxen-INF-INESS
Finnisch
(10) a. John är och boxar. ist und boxt b. John går och boxar. geht und boxt
Schwedisch
Aufgrund der offenkundigen Parallele zwischen der Struktur der ‚weggehen‘und der absentivischen ‚sein‘-Konstruktion kann angenommen werden, dass es sich beim Absentiv ‚sein‘ + Infinitiv(ersatz) auch um eine Ableitung von
12
Absentiv
der Konstruktion mit einem Bewegungsverb wie ‚weggehen‘ handeln kann, wobei ‚sein‘ strukturell gesehen an Stelle von ‚weggehen‘ „eingeschleust“ wird. sein ↓ (weg)gehen
+
Infinitiv(ersatzkonstruktion)
Eine solche Ableitung oder Uminterpretation ist deshalb möglich, weil sein nicht nur als Zustand an sich, sondern auch als statisches Resultat einer Wegbewegung wie gehen interpretiert werden kann: ‚irgendwohin (weg)gehen‘ > ‚irgendwo sein‘. Damit stellt das absentive ‚sein‘ die Reduktion oder zumindest Fokusverschiebung innerhalb eines komplexen inchoativen Vorgangs auf sein Resultat dar. Die Reduktionshypothese geht also ebenso wie die Ellipsenhypothese von einem Zusammenhang zwischen ‚(weg)gehen‘ und (absentivischem) ‚sein‘ aus. Es wird jedoch nicht notwendigerweise eine konstruktionelle, sondern nur eine konzeptionelle „Ellipse“ angenommen. 3
Der Absentiv im Deutschen
3.1
Strukturelle Eigenschaften
Das in Krause (2002) verwendete deutsche Korpus (das mir der Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat) weist 42 Absentivkonstruktionen auf, verteilt auf 26 Verben.6 Schwerpunktmäßig ist die Fügung in der gesprochenen Sprache sowie im Chat vertreten (ebd. 88–91). Dem Wirkungsfeld des Absentivs gemäß handelt es sich um Verben, die zumindest in dem jeweiligen Kontext eine Abwesenheit vom Ausgangsort implizieren. Wie bereits von de Groot (2000: 705–709) vorausgesagt, weisen diese Verben einen sehr hohen Grad an Agentivität auf. Besonders oft kommen dabei ess(e)n (8 Belege, unter Einschluss von M/mittagessen) und einkaufen vor (4 Belege, unter Einschluss von einkoofn). Konjunktive finden sich so gut wie überhaupt nicht. Im Indikativ ist nur Gegenwarts- und Vergangenheitsbezug möglich, wobei in Krauses (2002) Korpus nur Präteritum vorkommt und zwar etwa im Verhältnis 55 % (Präte-
6 Diese sind (die Originalschreibung ist jeweils beibehalten): arbeiten (2), baden (1), (Mails) beackern (1), (Freund) besuchen (1), duschen (1), einkaufen/einkoofn (4), (was/wat) ess(e)n (6), hottn (1), J/joggen (2), kacken (2), (Platten) kaufen (1), kegeln (1), laufen (1), (waesche) machen (1), M/mittagessen (2), (beeren) pflücken (1), pissen (1), putzen (1), (hirsch) schießen (1), schwimmen (2), shoppen (1), spaziern (1), surfen (1), tanzen (2), Telefonieren (1), T/tennisspielen (2), zelten (1).
13
Absentiv
ritum) zu 38 % (Präsens) (ebd.: 95). Damit weist das Deutsche, wie bereits in Abschnitt 2.1 festgestellt, eine Vollkategorie Absentiv auf. Hinsichtlich der Personenkategorie kommt der Absentiv im Korpus vor allem in der 1. und der 3. Person, kaum jedoch in der 2. Person vor. Das ist nicht überraschend, da der/die Angesprochene ja abwesend wäre und deshalb für die Kommunikation, speziell im Präsens, nicht zur Verfügung steht (ebd. 117). Was den Status von sein angeht, so spricht Krause (ebd. 86) im Hinblick auf den Absentiv von einer Kopula (vgl. Metzler Lexikon Sprache 2005: 7, wo von einer „Prädikativkonstruktion“ die Rede ist). Die Verknüpfung mit einem Infinitiv ist jedoch keine kopulatypische Eigenschaft, sondern eher eine von Vollverben wie gehen. Entweder wird sein hier ebenfalls als Vollverb eingeordnet oder es ist eine ganz eigene Kategorie zuzuweisen. Syntaktisch kann der Infinitiv als Ergänzung zum Vollverb sein bzw. gehen betrachtet werden (vgl. zu gehen Eisenberg 2006: 350 oder Engel 2004: 228). Engel (ebd.) spricht bzgl. gehen (z. B. Kartoffeln holen in Anna ging Kartoffeln holen) von einer Direktivergänzung. Eisenberg (2006: 350 f.) trägt der Nähe zu einem finalen Adverbial Rechnung, indem er von einer „abstrakte[n] Richtungsbestimmung“ spricht. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Kombination von sein parallel zu gehen mit Infinitiv als Verbalkomplex einzustufen (zu gehen vgl. z. B. Engel 2004: 258 f.). In dem Fall kann sein als Hilfsverb gelten. 3.2
Absentiversatzkonstruktionen
Das Merkmal ‚Abwesenheit‘ kann auch durch verschiedene andere Konstruktionen ausgedrückt werden, die jedoch von dem Absentivkonzept als Ganzem abweichen. Da sie zwar im Hinblick auf Absentivität unterspezifiziert sind, diese aber situations- und kontextabhängig implizieren können, fungieren sie häufig als Absentiversatzkonstruktionen (vgl. Ebert 2000: 630f.). Im Prinzip weisen alle Sprachen Ersatzkonstruktionen mit dem Verb ‚(weg)gehen‘ oder auch einem Adverb wie dt. weg auf, das heißt mit einem lexikalischen Element, das explizit Abwesenheit bzw. die Entfernung vom Ausgangsort signalisiert. In der dänischen Konstruktion ‚sein‘ + Infinitiv ist ein solches Adverb sogar obligatorisch (ude ‚(dr)außen‘), weshalb Dänisch von de Groot als Nicht-Absentivsprache eingeordnet wird: Jens er ude at bokse (de Groot 2000: 717). Ebenfalls als Ersatzkonstruktionen können Fügungen vom Typ ‚sein‘ + (Verbal)Nomen fungieren, die verschiedene semantische Teilbereiche fokussieren. Man vergleiche etwa im Deutschen:
Absentiv
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Anna ist schwimmen ↔ Anna ist im Schwimmbad (bezieht sich auf den Ort und damit verknüpfte Tätigkeiten); ↔ Anna ist beim Schwimmen (bezieht sich auf die Tätigkeit als solche + den damit typischerweise verknüpften Ort);7 ↔ Anna ist zum Schwimmen (bezieht sich auf die Entfernung vom Ausgangsort mit dem Handlungsziel des Schwimmens). 3.3
Historisches
Rein progressives ‚sein‘ + Infinitiv ist schon im späten 11. Jahrhundert belegt, tritt aber erst ab dem 15. Jahrhundert zahlreicher auf und stirbt nach dem 17. Jahrhundert bereits wieder aus (Limmer 1944: 17), wobei diese Lücke sukzessive durch die auch im heutigen Deutschen noch verbreitete progressive Konstruktion am Xen sein gefüllt wird. Was einen möglichen Zusammenhang zwischen rein progressivem ‚sein‘ + Infinitiv und absentivischem ‚sein‘ + Infinitiv angeht, so wird ein solcher allerdings von allen Autoren, die sich mit der Frage beschäftigen, verworfen und statt dessen angenommen, dass absentivisches ‚sein‘ + Infinitiv durch Ellipse eines Partizip Perfekts ‚gegangen‘ entstanden sei. Diese Meinung vertreten etwa Wilmanns (1906: 176 f.), Holmberg (1916: 33), Limmer (1944: 18, 95, 109 f., 112), Dal (1966: 102) und Langl (2003: 80). Reimann (1999: 55) lehnt dagegen auch den Ellipsenansatz ab, ohne jedoch eine alternative Erklärung zu bieten. Als Alternative zur Ellipsentheorie wurde hier vorgeschlagen, von einer Ableitung der Konstruktion ‚sein‘ + Infinitiv aus der Fügung ‚(weg)gehen‘ + Infinitiv auszugehen. Prinzipiell lässt sich allerdings bei absentivischem ‚sein‘ + Infinitiv bis zum Aussterben von rein progressivem ‚sein‘ + Infinitiv nach dem 17. Jahrhundert nicht entscheiden, ob es sich um einen Progressiv mit absentivischem Nebenmerkmal oder um eine Ableitung von ‚(weg)gehen‘ + Infinitiv und damit um einen „echten“ Absentiv handelt. Literatur Bertinetto, Pier Marco/Ebert, Karen/de Groot, Casper (2000): „The Progressive in Europe“. In: Dahl, Östen (Hrsg.): Tense and Aspect in the Languages of Europe. Berlin/New York, Mouton de Gruyter: 517–558. (= Empirical Approaches to Language Typology. Eurotyp 20.6).
7 Eine andere Progressivkonstruktion mit Verbalnomen, Anna ist am Schwimmen, kann dagegen im Standarddeutschen nicht als Ersatzfügung für den Absentiv fungieren, da hier kein Nebenmerkmal Absentivität möglich ist. Zum Verhältnis von am-, beim- und Absentivfügungen vgl. Ebert (1996: 47).
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Absentiv
Dal, Ingerid (1966): Kurze deutsche Syntax auf historischer Grundlage. 3., verbesserte Auflage. Tübingen: Niemeyer. (= Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. B. Ergänzungsreihe 7). Dokulil, Miloˇs (1949): „Byl jsem se koupat, naˇsi byli vázat.“ Naˇse ˇreˇc 33: 81–92. Dudenredaktion (Hrsg.) (2005): Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Ebert, Karen (1996): „Progressive aspect in German and Dutch“. Interdisciplinary Journal of Germanic Linguistics and Semiotic Analysis 1: 41–62. Ebert, Karen (2000): „Progressive markers in Germanic languages“. In: Dahl, Östen (Hrsg.): Tense and Aspect in the Languages of Europe. Berlin/New York, Mouton de Gruyter: 605–653. (= Empirical Approaches to Language Typology. Eurotyp 20.6). Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler. Engel, Ulrich (2004): Deutsche Grammatik. Neubearbeitung. München: iudicium. Glück, Helmut (Hrsg.) (2005): Metzler Lexikon Sprache. 3., neubearbeitete Auflage. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Groot, Casper de (2000): „The absentive.“ In: Dahl, Östen (Hrsg.): Tense and aspect in the languages of Europe. Berlin/New York, Mouton de Gruyter: 693–719. (= Empirical approaches to language typology 20. Eurotyp 6). Holmberg, John (1916): Zur Geschichte der periphrastischen Verbindung des Verbum Substantivum mit dem Partizipium Praesentis im Kontinentalgermanischen. Uppsala: Almqvist & Wiksell. Kenesei, István/Vago, Robert M./Fenyvesi, Anna (1998): Hungarian. London/New York: Routledge. (= Descriptive grammars). Krause, Olaf (2002): Progressiv im Deutschen: Eine empirische Untersuchung im Kontrast mit Niederländisch und Englisch. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 462). Langl, Annette (2003): Synchrone und diachrone Untersuchung des Absentivs und Progressivs im Deutschen. München: Universität München. (Magisterarbeit). Limmer, Ilse (1944): sein + Infinitiv in der Entwicklung vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen. München: Universität München (Diss.). Mayerthaler, Willi/Fliedl, Günther/Winkler, Christian (1995): Infinitivprominenz in europäischen Sprachen. Teil II: Der Alpen-Adria-Raum als Schnittstelle von Germanisch, Romanisch und Slawisch. Tübingen: Narr. (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 397). Reimann, Ariane (1999): Die Verlaufsform im Deutschen: Entwickelt das Deutsche eine Aspektkorrelation?. Bamberg: Universität Bamberg. (Diss., Mikrofiche-Veröffentlichung). Teleman, Ulf/Hellberg, Steffan/Andersson, Erik (1999): Svenska Akademiens grammatik. 4. Satser och meningar. Stockholm: Norstedts Ordbok. Vogel, Petra M. (2007): „ Anna ist essen! Neue Überlegungen zum Absentiv“. In: Ljudmila Geist/ Björn Rothstein (Hrsg.): Kopulaverben und Kopulasätze: Intersprachliche und Intrasprachliche Aspekte. Tübingen, Niemeyer: 253–284. (= Linguistische Arbeiten 512). Wilmanns, Wilhelm (1906): Deutsche Grammatik, Gotisch, Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch. Dritte Abteilung: Flexion. 1. Hälfte: Verbum. Straßburg: Trübner.
Abkürzungen INESS INF PRS
Inessiv Infinitiv Präsens
Petra M. Vogel
absoluter Kasus: absoluter Akkusativ, absoluter Genitiv
16
u absoluter Kasus: absoluter Akkusativ, absoluter Genitiv Als „absolut“, häufig auch als „frei“, werden Kasus bezeichnet, die nicht von einem anderen Element im Satz – wie etwa einem Verb, einem Adjektiv oder einer Präposition – abhängig sind. Das entsprechende Syntagma, das im absoluten Kasus steht, hat dabei die Funktion einer Adverbialbestimmung. Im Deutschen kommen dafür Konstruktionen im Akkusativ und Genitiv in Frage; in anderen Sprachen können auch andere Kasus in dieser Funktion auftreten, so etwa der Ablativ im Lateinischen (sog. Ablativus absolutus). Absolute Genitive des Deutschen wären etwa eiligen Schrittes, eines Tages, des Weges; als absolute Akkusative kommen Syntagmen wie den Kopf im Nacken, den Blick gesenkt oder den lieben langen Tag in Frage. In den Grammatiken des Deutschen werden beim Akkusativ meist nur die beiden erstgenannten, modalen Syntagmen als absolute Akkusative angesehen, während temporale und auch lokale (den ganzen Weg nach Hause) als „adverbiale Akkusative“ (Duden 2005: 824) oder „Satzadverbiale“ (Zifonun u. a. 1997: 1294) davon getrennt werden. Begründet wird dies damit, dass die modalen stets ein Attribut brauchen, entweder in Form einer Präpositionalphrase (im Nacken) oder eines Partizips (gesenkt). In den anderen Fällen ist auch attributfreier Gebrauch möglich. Ein funktionaler Unterschied zwischen diesen Typen besteht jedoch nicht. → Genitiv, Kasus u absolutes Tempus (engl.: absolute tense) Tempus, das ein Ereignis im Verhältnis zum Zeitpunkt des Sprechens positioniert, indem es anzeigt, dass der Ereigniszeitpunkt vor, nach oder gleichzeitig mit dem Sprechzeitpunkt liegt. Entsprechend werden solche Tempora auch als absolute past (vorzeitig), absolute future (nachzeitig) oder absolute present (gleichzeitig) bezeichnet. → Tempus u Absolutiv (engl.: absolutive) Im Deutschen nicht vorhandener Kasus, der zur Markierung des Subjekts intransitiver Verben wie in Der Elefant trompetet sowie des Handlungsziels (Patiens) bei transitiven Verben wie in Der Elefant frisst den Apfel dient. → Kasus u Adhortativ (von lat. ‚ermahnend‘; auch: Hortativ) Ein Modus, der zur Erteilung einer Aufforderung an die 1. Person Plural, also an das Kollektiv unter Einschluss der sprechenden Person, dient, wird als
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Adjektiv
Adhortativ bezeichnet. Dieselbe Bezeichnung wird auch für einen Modus verwendet, der primär andere Aufgaben hat, aber in dieser Funktion verwendet werden kann, so etwa der Konjunktiv des Deutschen: Seien wir ehrlich! → Konjunktiv u Adjektiv 1
Definition
Die Wortart Adjektiv bezeichnet qualitative (das große Haus), quantitative (zwei Häuser), relationale (das elterliche Haus) und zuständliche (das Haus ist ihm egal ) Merkmale eines Bezugsnomens. Die unterschiedlichen syntaktischen Beziehungen zu dem Bezugsnomen können flexivisch oder nicht-flexivisch zum Ausdruck gebracht werden. Welche der beiden Möglichkeiten zur Anwendung kommt, hängt zum einen von der syntaktischen Positionierung ab (man vergleiche etwa das relative Qualitätsadjektiv groß in der attributiven Interposition zwischen Determinativ und Nomen in das große Haus und in prädikativer Position in das Haus ist groß ), zum anderen von der semantischen Klassifikation der Adjektive (man vergleiche beispielsweise das monoattributive, das heißt nicht prädikativ verwendbare Zugehörigkeitsadjektiv elterlich in das elterliche Haus, aber nicht *das Haus ist elterlich). Eine dem Adjektiv im Deutschen eigene spezifische morphologische Kategorie stellt die Komparation dar; diese tritt in den einzelnen semantischen Adjektivklassen in unterschiedlicher Weise als relative und/oder absolute Komparation auf. Die Forschung setzt bei der Behandlung des deutschen Adjektivs unterschiedliche Schwerpunkte. Einmal steht neben der morphologischen mehr die semantische Seite im Vordergrund wie in der sechsten Auflage der Duden-Grammatik (1998: 257), zum anderen wird der Syntax größeres Gewicht beigemessen, so bei Engel (2004: 335 f.), in der IDS-Grammatik (Zifonun u. a. 1997: 46) und in der siebten Auflage der Duden-Grammatik (2005: 345). Insgesamt gilt nach wie vor Eichingers (1982: 65) Feststellung, dass die Definitionsversuche der Forschung auf diesen zwei Grundansätzen, dem semantischen und dem syntaktischen, beruhen, wobei der semantische nach wie vor mit dem Begriff der Qualität argumentiert und der syntaktische mit der attribuierenden Position vor dem attribuierten Nomen. In einer allgemeinsprachwissenschaftlichen Definition des Adjektivs sind nach Dixon (2006: 15–22, 44) neben den für die indoeuropäischen Sprachen geltenden semantischen und syntaktischen Kriterien auch die syntaktischen Kriterien der Sprachen zu berücksichtigen, in denen Adjektive nicht dem Nominalbereich, sondern dem Verbalbereich zuzuordnen sind.
Adjektiv
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Prototypische Vertreter der Wortart Adjektiv sind die relativen Qualitätsadjektive. Sie bezeichnen in einer subjektiven und/oder objektiven Bewertungsskala relativierbare Eigenschaften wie schön, prächtig, klein, groß, sind attributiv und prädikativ verwendbar sowie steigerungsfähig. Damit besetzen sie alle morphologischen und syntaktischen Möglichkeiten, die von der Wortart Adjektiv besetzbar sind. Aber auch morphologisch und syntaktisch inkomplette semantische Adjektivklassen müssen in eine Adjektivdefinition aufgenommen werden. Dazu gehören die attributiv und prädikativ verwendbaren, aber nicht steigerungsfähigen absoluten Qualitätsadjektive wie blind, ledig, tot, salzlos, weiß, die nur teilweise steigerungsfähigen monoprädikativen, also nicht attributiv verwendbaren Zustandsadjektive, etwa schlecht ‚körperlich unwohl, übel‘ (steigerungsfähig), quitt (nicht steigerungsfähig), die nicht steigerungsfähigen monoattributiven Zugehörigkeitsadjektive, zum Beispiel ärztlich, anwaltlich, und die teilweise steigerungsfähigen monoattributiven referentiellen Adjektive, zum Beispiel arg (steigerungsfähig), hiesig (nicht steigerungsfähig). Die Quantitätsadjektive verhalten sich teils wie die relativen Qualitätsadjektive, zum Beispiel viel, teils wie die absoluten Qualitätsadjektive, so etwa die Kardinal- und Ordinalzahladjektive, teils wie die nicht steigerungsfähigen monoattributiven Adjektive, beispielsweise einzeln (vgl. zu den Adjektivklassen ausführlich Trost 2006a: 91–160). Die Wortart Adjektiv umfasst damit im Deutschen Wörter, die 1. in der Klammer zwischen Determinativ und Nomen auftreten können und in dieser direkt von der Nominalklammer dependenten Interposition Genus-, Numerus- und Kasuskongruenz aufweisen (der prächtige Palast, die salzlose Kost, das ärztliche Attest, die damaligen Verhältnisse, in vielen Situationen), 2. und/oder prädikativ außerhalb eines Nominalkomplexes kopularegiert positioniert werden können und in dieser Extra-NP-Position indeklinabel bleiben (der Palast ist prächtig, die Kost ist salzlos, das Haus ist weiß, die beiden sind quitt), 3. als postponierte indeklinable Attribute verwendet werden können (Erbsen fein), 4. je nach semantischer Klassenzugehörigkeit steigerungsfähig sein können (Bertas Haus ist größer als Pauls Haus), 5. nicht nur attributiv und/oder prädikativ, sondern auch adverbial verwendbar sein können (das schöne Lied, das Lied ist schön, sie singt schön) (Trost 2006a: 4). 1. und/oder 2. sind obligatorische, 3. bis 5. dagegen fakultative Merkmale der Wortart Adjektiv.
19 2
Adjektiv
Zur Abgrenzung der Wortarten Adjektiv und Adverb
Wie aus Abschnitt 1 ersichtlich, werden Adjektive in adverbialer Verwendung hier nicht als „Adjektivadverbien“ klassifiziert. In der Forschung wird sehr oft nicht deutlich, ob Lexeme wie schnell in Sätzen wie (1) Das Auto A fährt schnell. (2) Das Auto A fährt schneller als Auto B. (3) Das Auto A fährt am schnellsten von allen Autos. als Adjektiv in adverbialer Funktion zu betrachten sind oder als Konversion Adjektiv zu Adverb (Metzler Lexikon Sprache 2005 s. v. Adverb), auch wenn seit Glinz (1961: 210) von vielen Grammatikern Lexeme wie schnell in adverbaler Position als „Adjektive in adverbialer Funktion“ (Eroms 2000: 31) interpretiert werden. Im Gegenwartsdeutschen fehlt allerdings ein morphologischer Hinweis für die Annahme einer Konversion schnell = Adjektiv zu schnell = Adverb durch ein distinktives Nullmorphem bzw. eine distinktive Nichtflexion. Denn auch Adjektive bleiben in prädikativer Extra-NP-Position und attributiver Postposition unflektiert (vgl. hierzu ausführlicher Trost 2006a: 8). So können auch Adverbien in prädikativer Extra-NP-Position und attributiver Postposition auftreten, wie etwa in (4) Peter ist anders als Petra. (5) Die Vorlesung gestern war ausgezeichnet. Dennoch sind anders und gestern keine Adjektive: Sie bleiben generell unflektiert und werden erst durch Wortbildung (andersartig, anderweitig, gestrig) flektierbar. Dass in anderen Sprachen oder in älteren deutschen Sprachstufen1 die adverbiale Funktion morphologisch markiert wird, sollte nicht dazu veranlassen, die morphologischen Gegebenheiten im Neuhochdeutschen zu ignorieren und ohne erkennbaren synchronen Hintergrund in den Beispielen (1) bis (3) eine Konversion Adjektiv zu Adverb anzunehmen. Auch unter diachronen Gesichtspunkten spricht vieles gegen die Annahme eines Adjektivadverbs. So lässt sich die morphologische Kennzeichnung des adverbial verwendeten Adjektivs beispielsweise mit -o im Althochdeutschen lediglich als „eine syntaktische Kennzeichnung“ verstehen, die eintritt, wenn „Wörter von Wortarten, die nach ihrer Sachprägung als Ad-
1 Zur historischen Entwicklung der Flexion und vor allem der Nichtflexion im Deutschen vgl. Vogel (1997: 427–431).
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Adjektiv
jektive eindeutig erkennbar sind, in bestimmten speziellen syntaktischen Zusammenhängen verwendet“ werden (Eroms 2000: 31 f.). Die Wortart Adverb umfasst nach Eroms (ebd.) nur eine Restklasse von Wörtern wie hier, jetzt und dort. Das Adjektiv in adverbialer Position bezeichnet dann qualitative, quantitative, relationale und zuständliche Merkmale des Bezugsverbums. Die eingangs in Abschnitt 1 gegebene Definition der Wortart Adjektiv ist demnach in folgender Weise zu ergänzen: Die Wortart Adjektiv bezeichnet prototypisch in attributiver und prädikativer Positionierung qualitative, quantitative, relationale und zuständliche Merkmale eines Bezugnomens. In sekundärer adverbialer Positionierung bezeichnet die Wortart Adjektiv die gleichen Merkmale in Bezug auf ein Verbum. 3
Flexion und Nichtflexion in den verschiedenen syntaktischtopologischen Funktionsbereichen des Adjektivs im Deutschen
3.1
Darstellung der verschiedenen syntaktisch-topologischen Funktionsbereiche
Adjektive treten gegenwartssprachlich flektiert und nicht-flektiert auf. Ihre Flexion und Nichtflexion lassen sich bis auf wenige Ausnahmefälle (siehe Abschnitt 3.2) den unterschiedlichen syntaktischen Verwendungsweisen des Adjektivs im Deutschen und dessen Position im Satz zuordnen. Das deutsche Adjektiv weist sieben grundlegende, die Positionierung des Adjektivs im Satz steuernde syntaktisch-topologische Funktionsbereiche auf, nämlich vier attributive (a–d), einen prädikativen (e), einen adverbialen (f ) sowie – synchron gesehen – eine Überlagerung von prädikativem und adverbialem Funktionsbereich, nämlich den koprädikativ-adverbialen (g) (vgl. Trost 2006a: 325–331): (a)
adnominal-attributiv die elend heiße Suppe flektiert interponiert, da direkt dependent von der Nominalklammer
adnominal-attributiv (b) die Suppe, elend heiß nicht-flektiert postponiert, da nicht direkt dependent von der Nominalklammer (c)
adadjektivisch-attributiv die elend heiße Suppe nicht-flektiert anteponiert, da nicht direkt dependent von der Nominalklammer
(d) Die Suppe steht weit hinten auf dem Büffet. nicht-flektiert extra-NP-poniert
adadverbial-attributiv
21
Adjektiv
(e)
Die Suppe ist elend heiß. nicht-flektiert extra-NP-poniert
prädikativ
(f )
Der Kellner bringt die Suppe schnell herein. nicht-flektiert extra-NP-poniert Der Kellner bringt die Suppe heiß herein. nicht-flektiert extra-NP-poniert
adverbial
(g)
koprädikativ-adverbial
Im Gegensatz zur traditionellen Einordnung, wie etwa bei Helbig/Buscha (2007: 305, 313), werden hier adadjektivisch (Funktionsbereich c), also nicht-adnominal verwendete Adjektive wie elend in (6) Schleie sind elend glitschig. (W. Schnurre, Ich brauche dich: 95, zit. nach Großem Duden Wörterbuch/CD 2000 s. v. elend) nicht als adverbial, sondern als attributiv betrachtet (vgl. Trost 2006a: 350; ebenso Fuhrhop/Thieroff 2005). Denn elend stellt sowohl in den Beispielen in den Funktionsbereichen (a) bis (c) und (e) als auch in Beispiel (6) valenziell einen Satelliten dar, der in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem Kern einer nicht-verbalen Phrase, hier einer Adjektivalphrase (heiße bzw. glitschig), steht. Die Adjektivalphrasenkerne heiße in die elend heiße Suppe und glitschig in Schleie sind elend glitschig sind unbestritten als nicht verbal einzustufen. Deshalb spricht gegenwartssprachlich wenig dafür, die adadjektivische Verwendung des Adjektivs elend als adverbial zu klassifizieren, also die positionsbedingte Flexionslosigkeit als Anlass zur Annahme einer Konversion zu nehmen. Die Beispiele in den Funktionsbereichen (a) bis (c) und (e) sowie Beispiel (6) zeigen, dass in der Adjektivalphrase der adadjektivisch-attributive Satellit elend dem in der Interposition flektierten, in der Postposition und in der prädikativen Position nicht flektierten Kern heiß(e) durchgehend nicht-flektiert anteponiert ist. Bei der Interposition der Adjektivalphrase in (c) steht nur der Adjektivalphrasenkern im Fokus der flexionsauslösenden Nominalklammer. In der Folge werden daher unter den interponierten Adjektiven nur die den Kern der Adjektivalphrase bildenden klammerregierten und deshalb flektierten adnominal-attributiven Adjektive wie heiße in die elend heiße Suppe verstanden, nicht aber die auch in der Interposition möglichen, aber nicht klammerregierten und deshalb nicht-flektierten adadjektivisch-attributivischen Satelliten des Adjektivalphrasenkerns wie elend in die elend heiße Suppe. Die interponierten Adjektive, die direkt von der Nominalklammer, bestehend aus (Null-)Determinativ als linker Klammer und Nomen als rechter Klammer, abhängen, sind prototypisch flektiert. Alle außerhalb des Flexionsfokus der Nominalklammer stehenden Adjektive sind immer unflektiert:
Adjektiv
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Damit ist die Interposition in der Nominalklammer die Voraussetzung für die Flexion der Adjektive im Deutschen (vgl. Trost 2006a: 275–301 und 2006b: 378–382). Der genauen Abgrenzung der Interposition von den übrigen möglichen Positionierungen des attributiven Adjektivs mit nominalem Bezug kommt eine besondere Bedeutung zu. Dies betrifft vor allem die sich aus der Interposition entwickelnden nicht-flektierten Antepositionen des attributiven Adjektivs wie (das) kölnisch Wasser < das kölnische Wasser und lieb Kind < Ø liebes Kind. Aufgrund ihrer semantisch begrenzten Verbreitung werden diese Antepositionen nicht zu den grundlegenden Funktionsbereichen gezählt, sondern als Randerscheinungen bzw. sprachhistorische Relikte betrachtet. 3.2
Zur Abgrenzung der flektierten Interposition des attributiven Adjektivs von der nicht-flektierten Anteposition und Postposition
Die Interposition des flektierten Adjektivs in der Nominalphrase zwischen Determinativ und Bezugsnomen stellt im Verhältnis zum Bezugsnomen eine Anteposition dar, etwa das kleine Haus, ein kleines Haus. Die Interposition tritt auch beim Nullartikel auf, beispielsweise Ø lieber Vater und bei elidiertem Nomen wie das Problem ist ein verkehrstechnisches [Problem] (Trost 2006a: 308–314). In der an ein Determinativ anschließenden attributiv-adnominalen Anteposition des nicht-flektierten Adjektivs zwischen Determinativ und Nomen in der Nominalphrase, etwa bei Produktnamen wie (das) kölnisch Wasser bzw. (das) Kölnischwasser, steht das unflektierte Adjektiv kölnisch in einer Gesamtbegrifflichkeit mit dem Bezugsnomen, das heißt, es ist nicht gegen ein anderes Adjektiv austauschbar. Diese semantische Vereinigung mit dem klammerschließenden Nomen Wasser führt allein schon durch die bei Stoffbezeichnungen mögliche Artikellosigkeit zum Verlust des syntaktischen Status der Interposition zwischen dem Determinativ das und dem Nomen Wasser. Morphosyntaktisch hat dies die Flexionslosigkeit des attributiven Adjektivs zur Folge: das kölnische Wasser ⇒ (das) kölnisch Wasser (vgl. Trost 2006a: 302–307, 2006b: 374–376). Dadurch und durch die diese morphosyntaktische Entwicklung auslösende semantische Komposition von kölnisch und Wasser wird die Zusammenrückung (das) Kölnischwasser erst ermöglicht (vgl. hierzu auch Fuhrhop 1998: 220). Bei der determinativlosen attributiv-adnominalen Anteposition des nicht-flektierten Adjektivs in Phraseologismen wie lieb Kind, auf gut Glück zeigt die Artikellosigkeit in Verbindung mit der Flexionslosigkeit des Adjektivs, dass auch die Annahme eines Nullartikels wie in einem Vokativ Ø liebes Kind! nicht möglich ist; hier fehlt also jeglicher Ansatz zur Klammerbildung.
23
Adjektiv
Die attributiv-adnominale Postposition des nicht-flektierten Adjektivs schließt durch das Fehlen der Interposition eine Klammerrektion des Adjektivs aus. Die attributiv-adnominale Postposition erscheint in zwei Interpunktionsvarianten, nämlich nicht durch Komma vom Bezugsnomen abgetrennt in der poetischen Sprache des 19. Jahrhunderts und davor (Röslein rot), bei Produktbezeichnungen (Schauma mild ), in Fachsprachen (70 Nadelfeilen rund nach DIN 8342) sowie in „modischer“ Pressesprache (Über Fußball brutal reden alle) (alle Beispiele nach Duden-Grammatik 2005: 350) und durch Komma vom Bezugsnomen abgetrennt, etwa in Kontaktanzeigen (Akademikerin, promoviert, Ende 20/178, brünett, schlank, vielseitig interessiert, naturbegeistert, kreativ, musizierend, Süddeutsche Zeitung Nr. 76 vom 31.3/1. 4. 2007, S. 41). Die nicht-flektierte attributiv-adnominale Postposition blockiert allein schon durch ihre syntaktische Positionierung jede Gesamtbegriffsbildung und Zusammenrückung. Auf die fehlende Klammerrektion reagieren die postponierten attributiv-adnominalen Adjektive morphosyntaktisch mit Flexionslosigkeit. Die Interposition des flektierten Adjektivs, die attributiv-adnominale Anteposition und Postposition des nicht-flektierten Adjektivs im Verhältnis zum Bezugsnomen lässt sich unter dem Begriff der Intra-NP-Position zusammenfassen. Denn extra-NP-positioniert sind Adjektive, die außerhalb der Nominalphrase unabhängig von einem Bezugsnomen, beispielsweise in adverbialer Verwendung, oder nur mittelbar von einem Bezugsnomen abhängig gebraucht werden wie die attributiv-adadjektivisch, prädikativ und koprädikativ-adverbial verwendeten Adjektive. Den extra-NP-positionierten Adjektiven ist im Gegensatz zu den intra-NP-positionierten Adjektiven die generelle Flexionslosigkeit gemeinsam (siehe Abschnitt 3.1). 4
Die Adjektivdeklinationsklassen und ihre Steuerungsmechanismen
Die Nominalklammer ist nicht nur die Voraussetzung der Flexion des Adjektivs im Deutschen. Ihr linker Teil, das Determinativ, steuert auch die Art der Deklination des interponierten Adjektivs. (7) [das (8) [ein (9) [Ø2
rote rotes rotes
2 Ø = Nullartikel
Röslein] Röslein] Röslein]
⇒ ⇒ ⇒
schwache Deklination gemischte Deklination starke Deklination
24
Adjektiv
Das Adjektiv rot steht in diesen Beispielen im Nominativ Singular Neutrum, weist jedoch je nach der Art des Determinativs, hier definiter, indefiniter und Null-Artikel, die schwache (definites Determinativ), die gemischte (indefinites Determinativ) oder die starke Deklination (Nullartikel) auf. Die Kongruenz in der Nominalklammer wird durch die Doppel- bzw. Klammerrektion der adnominalen Adjektive durch Determinativ und Nomen hergestellt (Trost 2006a: 290–301). Wie die Beispiele (7) bis (9) zeigen, treten in einem Kasus je nach Determinativtyp unterschiedliche Kasusmarkierungen auf. Aus Gründen der Sprachökonomie entfallen weitestgehend Doppelmarkierungen, es heißt also nicht (wie ursprünglich durchaus möglich; vgl. Harnisch 2006: 401–403): (7’) *[das
rotes
Röslein],
rotes rotes
Röslein], Röslein].
wohl aber: (8) [einØ3 (9) [Ø4
Deshalb kann man hier von einer Monoflexion oder von monoflexivischer Kooperation sprechen. Die Nominalklammer wird als Ganzes flektiert und möglichst minimal, das heißt einmal distinkt gekennzeichnet (Admoni 1982: 78; Weinrich 2007: 487). Das Zusammenspiel der flexivischen Elemente in der Nominalklammer wird nach Eroms (2000: 278), Harnisch (2003: 417) und Eichinger/Plewnia (2006: 1050) als (Wort-)Gruppenflexion bezeichnet. Diese wird von den Artikelwörtern gesteuert. 4.1
Die schwache Deklination
Bei Nominalphrasen mit definitem Determinativ (der/die/das) sowie nach derjenige, derselbe, dieser, jener, alle, jeder, beide, welcher erfolgt eine ausreichend distinkte Kasusmarkierung primär über das Determinativ und im Genitiv Neutrum Singular durch das nominale Flexionsmorphem -s. Deshalb wird das Adjektiv hier nur schwach bzw. nominal dekliniert mit den zwei einzigen ubiquitären, also bei allen flektierenden Wortarten auftretenden Flexionsmorphemen, nämlich der offenen Schwasilbe, dem -e [ə], dem einfachsten Mittel, um Silbigkeit herzustellen, sowie in Kombination mit dem unmarkierten Sonoranten -n als -en [ən] (vgl. Eisenberg 2006: 180).
3 Ø = hier Nullmorphem 4 Ø = hier Nullartikel
25
Adjektiv
schwache Deklination Singular Maskulinum
Femininum
Plural Neutrum
alle Genera
Nom dieser blaue Stoff
diese blaue Seide
dieses blaue Garn
diese blauen Stoffe
Akk
diesen blauen Stoff
diese blaue Seide
dieses blaue Garn
diese blauen Stoffe
Gen
dieses blauen Stoff(e)s dieser blauen Seide dieses blauen Garns
Dat
diesem blauen Stoff
dieser blauen Stoffe
dieser blauen Seide diesem blauen Garn diesen blauen Stoffen
Der Nominativ Singular der schwach flektierten Adjektive im Maskulinum wird durch das Flexionsmorphem -e gegenüber dem distinkten Flexionsmorphem -en in den obliquen Kasus5 im Singular und allen Pluralkasus hervorgehoben. Damit ist nach Wiese (2000: 142) der Nominativ Singular unmarkiert, alle anderen Kasus im Singular und der Plural sind markiert. Durch die Homophonie von Nominativ und Akkusativ Singular im Femininum wie im Neutrum in allen nominalen Deklinationssystemen ist das markierte Flexionsmorphem -en im Femininum und Neutrum auf Genitiv und Dativ Singular sowie auf die Pluralkasus aller drei Genera beschränkt. In der schwachen Adjektivdeklination erfolgt also mit Ausnahme des Akkusativs Singular Maskulinum keine Differenzierung der Genera. Diese bleibt dem Artikel überlassen.6 4.2
Die gemischte Deklination
Nach dem indefiniten Determinativ ein ebenso wie nach manch/solch/welch ein, ein mancher/solcher sowie nach kein und den Possessivpronomina mein, dein usw. tritt die gemischte Deklination auf. Diese Artikelwörter sind in der Mehrzahl ihrer Formen distinkt, im Singular sind aber der Nominativ Maskulinum und Neutrum sowie der Akkusativ Neutrum endungslos. In diesen Fällen übernimmt das Adjektiv die Genus-, Numerus- und Kasusmarkierung an der Oberfläche durch die determinativen bzw. pronominalen, also starken Endungen -er (dieser blaueØ Stoff ⇒ keinØ blauer Stoff ) und -es (dieses blaueØ Garn ⇒ keinØ blaues Garn). In allen übrigen Kasus aller drei Genera des Singulars und des Plurals entspricht die Deklination des Adjektivs wegen der in diesen Fällen distinkten Artikelwörter der schwachen Deklination. 5 Der Terminus „obliquer Kasus“ wird hier traditionell im Sinne aller verbregierten Kasus (Genitiv, Dativ, Akkusativ) gebraucht. 6 Man vergleiche Eisenberg (2006: 180). Dies macht sich besonders bei der Deklination substantivloser bzw. substantivierter Adjektive mit bestimmten Artikel bemerkbar, etwa der/die/ das grüne/Grüne (vgl. hierzu auch Wiese 2000: 142 f.).
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Adjektiv
gemischte Deklination Singular Maskulinum
Plural
Femininum
Neutrum
alle Genera
Nom keinØ blauer Stoff
keine blaue Seide
keinØ blaues Garn
keine blauen Stoffe
Akk
keinen blauen Stoff
keine blaue Seide
keinØ blaues Garn
keine blauen Stoffe
Gen
keines blauen Stoff(e)s keiner blauen Seide keines blauen Garns keiner blauen Stoffe
Dat
keinem blauen Stoff
keiner blauen Seide keinem blauen Garn keinen blauen Stoffen
Wie die Tabelle zeigt, betreffen die Veränderungen bei der schwachen zur gemischten Deklination nur die schwache unmarkierte Endung -e, aber nicht die schwache markierte Endung -en. 4.3
Die starke Deklination
Nach dem Nullartikel, nach dessen/deren und nach wessen sowie nach undekliniertem manch/solch/welch ohne indefiniten Artikel, nach endungslosen Zahladjektiven sowie nach etwas und mehr übernimmt das Adjektiv mit Ausnahme des Genitivs Singular der Maskulina und der Neutra die determinativen bzw. pronominalen Flexionsmorpheme (Duden-Grammatik 1998: 282, 2005: 967–969). Im Genitiv Singular Maskulinum und Neutrum setzte sich seit dem Frühneuhochdeutschen beim starken Adjektiv die Flexionsendung -en durch (Duden-Grammatik 2005: 268), die homophon zur entsprechenden schwachen Endung ist. Die frühere starke, dem pronominalen Deklinationsschema (wie in des/dieses/jenes) entsprechende Genitivendung -es blieb nur noch in einigen festen Fügungen und Zusammensetzungen erhalten, wie reines Herzens neben reinen Herzens, geradeswegs neben gerade(n)wegs (Duden-Grammatik 1984: 289). starke Deklination Singular Maskulinum
Plural
Femininum
Neutrum
alle Genera
Nom
Ø
blauer Stoff
Ø
blaue Seide
Ø
blaues Garn
Ø
blaue Stoffe
Akk
Ø
blauen Stoff
Ø
blaue Seide
Ø
blaues Garn
Ø
blaue Stoffe
Gen
Ø
blauen Stoff(e)s
Ø
blauer Seide
Ø
blauen Garns
Ø
blauer Stoffe
Dat
Ø
blauem Stoff
Ø
blauer Seide
Ø
blauem Garn
Ø
blauen Stoffen
In der Gegenwartssprache erfolgt der flexivische Ausgleich so regelhaft, dass bei mehrfach interponiert auftretenden attributiv-adnominalen Adjektiven grundsätzlich alle Adjektive stark flektiert sind und nicht nur das erste:
27
Adjektiv
(10) mit blauem, seidenem Stoff, anstelle von veraltet: (11) mit blauem, seidenen Stoff. Durch das Fehlen eines Oberflächendeterminativs treten in Nominalphrasen mit Nullartikel im Vergleich zu Nominalphrasen mit Oberflächendeterminativ zusätzliche homophone Nominalklammern auf (vgl. Simmler 1998: 321–323): 1. Bei Maskulina (z. B. Tee) und Neutra (z. B. Echo), die den Genitiv Singular und alle Pluralkasus auf -s bilden, liegt zweifache zusätzliche Homophonie vor: Ø starken Tees Ø lauten Echos
⇒ ⇒
Genitiv Singular und Dativ Plural, Genitiv Singular und Dativ Plural.
2. Bei schwach deklinierten Maskulina (z. B. Mensch) ergibt sich ebenfalls eine zweifache zusätzliche Homophonie: *Ø großen Menschen
⇒
Genitiv Singular, Akkusativ Singular und Dativ Plural.
Hierbei handelt es sich jedoch um ein konstruiertes Beispiel, da die schwache Deklination nur bei Substantiven auftritt, die Menschen und Tiere bezeichnen. Diese Substantive führen aber im Singular grundsätzlich ein Artikelwort, das eine homophone Nominalklammer verhindert. All die zusätzlichen Homophonien werden durch die Genitivendung -en im Singular Maskulinum und Neutrum verursacht, die im Laufe der Sprachentwicklung die Stelle der ursprünglichen Genitivendung -es beim Adjektiv in der starken Deklination übernommen hat. Auslöser dieser Entwicklung ist nach Eisenberg (2006: 180) wohl die Tatsache, dass eine starke, hier also distinkte Markierung des Genitivs Singular des Adjektivs redundant ist; denn der nominale Kern einer Nominalphrase mit Nullartikel wird zumeist von einem Stoffsubstantiv gebildet. Stoffsubstantive im Maskulinum oder Neutrum flektieren aber immer stark und sind damit im Genitiv distinkt. 4.4
Schwankende Deklination
Nach einigen Artikelwörtern schwankt die Deklinationsklasse des interponierten Adjektivs zwischen schwacher und starker Deklination (vgl. DudenGrammatik 2005: 969–974). Werden die Wörter folgende, solche und viele ohne Oberflächenartikel verwendet, sind sie selbst stark, also pronominal dekliniert; die ihnen nach-
28
Adjektiv
folgenden Adjektive schwanken zwischen starker und schwacher Deklination. Dasselbe gilt für sämtliche, irgendwelche und manche, die nie mit vorangehendem Oberflächenartikel auftreten. Allein auf die auch nicht-flektiert verwendbaren Wörter manch, solch, viel folgt infolge der fehlenden Flexion bei den nachfolgenden Adjektiven immer die starke Deklination: der Kauf solch unsinniger Sachen. Diese „janusköpfigen“ Wörter können je nach ihrem Deklinationsverhalten als Artikelwörter oder Adjektive klassifiziert werden. Nach einem Oberflächenartikel sollte jedoch syntaktisch eine Konversion Artikelwort ⇒ Adjektiv angenommen werden. Dies wird auch durch die durchgängige Annahme der schwachen Deklination und die Aufgabe der starken Deklination gestützt. Dieser Konversionsvorgang, der sich in der Morphologie niederschlägt, zeigt sich ansatzweise auch beim eindeutig pronominalen jeder: (12) (13) (14) (15) 5
jedes ein ein einem
liebe Kind ⇒ jedes Artikelwort, jedes liebe Kind ⇒ jedes Artikelwort, jedes liebes Kind ⇒ jedes wie interponiertes Adjektiv flektiert, jeden lieben Kind ⇒ jeden wie interponiertes Adjektiv flektiert.
Die Komparation
Relative Adjektive können neben dem Positiv einen Komparativ durch Suffigierung des nicht-flektierten Positivs mit dem Komparativsuffix -er- und einen Superlativ mit dem Superlativsuffix -(e)st- bilden. An das Komparativbzw. Superlativsuffix treten wie beim Positiv die entsprechenden schwachen bzw. starken Flexionsmorpheme an (siehe oben Abschnitt 4.1) (DudenGrammatik 1998: 297–303): ⇒ Positiv ⇒ Grundform, (16) Peter ist ein liebes Kind. (17) Maria ist ein lieberes Kind als Peter. ⇒ Komparativ ⇒ Mehrstufe, (18) Maria ist das liebste Kind von allen. ⇒ Superlativ ⇒ Höchststufe. Den absoluten, nicht vergleichenden Superlativ relativer Adjektive bezeichnet man auch als Elativ (Duden-Grammatik 1998: 303): (19) Liebste Hanna!
⇒
Elativ
⇒
Höchstgradstufe.
Der Komparativ kann nicht nur in vergleichender Steigerungsbedeutung auftreten, sondern auch in einer die Positivbedeutung lexikalisch modifizierenden Graduierungsbedeutung (zur Unterscheidung von vergleichender Steigerung und lexikalisch modifizierender Graduierung vgl. Trost 2006a: 71–74). Diese ist sowohl bei den relativen Adjektiven als auch bei den absoluten und deshalb grammatisch nicht steigerbaren Adjektiven anzutreffen, so
29
Adjektiv
etwa zur Abschwächung der Positivbedeutung als prä- oder postpositivischer Diminutionskomparativ (Trost 2006a: 37–46):7 (20) der ältere Herr
⇒
Komparativ
⇒
Präpositiv.
Der Herr ist noch nicht alt im Sinne des Positivs alt, aber bereits präpositivisch nahe daran, alt im Sinne des Positivs alt zu sein. (21) die jüngere Dame ⇒
Komparativ
⇒
Postpositiv.
Die Dame ist nicht mehr ganz jung im Sinne des Positivs jung, sie überschreitet bereits postpositivisch das Jung-Sein des Positivs jung. Durch lexikalisch modifizierende Graduierung in Form des Augmentationskomparativs kann auch eine Bedeutung graduell verstärkt werden, so etwa umgangssprachlich bei den absoluten, also nicht steigerbaren Adjektiven (Trost 2006a: 65):8 (22) Eva ist schwangerer als Lisa. ⇒ Eva ist in einem fortgeschrittenerem Stadium der Schwangerschaft als Lisa. 5.1
Der Umlaut beim Komparativ und beim Superlativ
Bei einigen einsilbigen Grundadjektiven tritt im Komparativ und im Superlativ Umlaut auf, es liegt also eine Allomorphie des Basismorphems vor. Dies sind standardsprachlich folgende Umlautungen (Duden-Grammatik 2005: 373, auch zum Folgenden): Stammvokal a ⇒ ä Stammvokal o ⇒ ö Stammvokal u ⇒ ü
alt ⇒ älter ⇒ am ältesten ebenso: arg, arm, hart, kalt, krank, lang, nah, scharf, schwach, schwarz, stark, warm; grob ⇒ gröber ⇒ am gröbsten ebenso: groß, hoch; dumm ⇒ dümmer ⇒ am dümmsten ebenso: jung, klug, kurz.
Einige einsilbige Adjektive bilden bei der Komparation nur gelegentlich einen Umlaut: bang, blass, glatt, karg, nass, schmal; fromm, rot; krumm. Alle nicht aufgeführten einsilbigen Adjektive kennen ebenso wie die mehrsilbigen Adjektive im Komparativ und im Superlativ keinen Umlaut.
7 Man vergleiche zu weiteren Subklassen des absoluten Diminutionskomparativs Trost (2006a: 46–65). 8 Zum absoluten Augmentationskomparativ bei den relativen Adjektiven vergleiche man Trost (2006a: 70 f.)
Adjektiv
30
Eine mehrsilbige Ausnahme stellt das mit ge- präfigierte Adjektiv gesund dar, das im Komparativ gesünder und im Superlativ am gesündesten den Umlaut aufweist. 5.2
Die Suppletivformen
Einige Adjektive bilden ihre Komparativ- und Superlativformen mittels Suppletion, das heißt, stammverschiedene Teilparadigmen werden zu einem Komparationsparadigma zusammengefasst. Dies sind im Deutschen die Adjektive gut ⇒ besser ⇒ best-, viel ⇒ mehr ⇒ meist-, wenig ⇒ minder ⇒ mindest-. Die morphologische Markierung der Komparativ- und Superlativformen besser/best- bzw. mehr/meist- ist nur noch bedingt durchsichtig. Wegen der synchron problematischen morphologischen Segmentierbarkeit der Komparativ- (meh-r) und Superlativsuffixe (be-st- bzw. mei-st-) spricht Simmler (1998: 62) in diesen Fällen auch von „Suppletivmorphemen mit Resten einer morphologischen Segmentierbarkeit“. Dagegen bewahren der suppletive Komparativ minder- und der suppletive Superlativ mindest- zum Positiv wenig eine regelmäßige Formenbildung der Komparationssuffixe. Die nicht-suppletiven Komparativ- und Superlativformen zu wenig, nämlich weniger und wenigst-, überwiegen, während sich die suppletiven Komparativ- und Superlativformen mit dem Basismorphem mind- gegenwartssprachlich teilweise semantisch verselbstständigen (Duden-Grammatik 2005: 375 und Trost 2006a: 193–197). 6
Die Phonotaktik der Adjektivdeklination und -komparation
Innerhalb der schwachen, gemischten und starken Deklination des Positivs bilden sich aus morphologischen Gründen weitere Subvarianten aus, wodurch Allomorphien des Basismorphems bzw. des Wortbildungsmorphems entstehen. Der Komparativ – sei er nun flektiert oder nicht-flektiert – kennt durch das e-haltige Komparativsuffix die gleichen Allomorphien des Basismorphems wie der Positiv. Lautet das unflektierte positivische Adjektiv auf Schwalaut /ə/ (müde), auf Schwalaut /ə/ vor /l/ (dunkel ) oder auf Diphthong + Schwalaut /ə/ vor /r/ (sauer) aus, wird der Schwalaut /ə/ im Basismorphem durch das Hinzutreten des e-haltigen Flexions- oder Komparativmorphems getilgt (Simmler 1998: 313, 323–325; Duden-Grammatik 2005: 370–372, auch zum Folgenden): ⇒ die müd-er-en Kinder, (23) müde ⇒ die müd-en Kinder ⇒ die dunkl-e Schokolade ⇒ die dunkl-er-e Schokolade, (24) dunkel ⇒ die saur-er-en Gurken. (25) sauer ⇒ die saur-en Gurken
31
Adjektiv
Bei Fremdwörtern wird der Schwalaut /ə/ grundsätzlich vor /r/ (makaber) getilgt: (26) makaber ⇒ die makabr-en Witze ⇒ die makabr-er-en Witze. Gelegentlich wird bei Adjektiven auf -er und -en vor dem Komparativsuffix -er- das e im Ausgang des Basismorphems getilgt: (27) ein saubr-er-es Zimmer, statt üblicher: ein sauber-er-es Zimmer; (28) ein ebn-er-es Gelände, statt üblicher: ein eben-er-es Gelände. Daneben wird die Auslautverhärtung sowie die Spirantisierung im nichtflektierten Positiv durch Hinzutreten des Schwalauts im Flexions- oder Komparativmorphem zurückgenommen (Fortes /p/, /t/, /k/, /s/ ⇒ Lenes /b/, /d/, /g/, /z/ wie lieb ⇒ liebe: /l¯ıp/ ⇒ /l¯ıbə/; Spirans // ⇒ Plosiv /g/ wie giftig ⇒ giftige: /gifti/ ⇒ /giftigə/). Außerdem entfällt das // im Adjektiv hoch bei nachfolgender e-haltiger Endung (hoch ⇒ der hohe Turm). In poetischer Sprache kommt es zu weiteren e-Tilgungen sowohl im Basismorphem (mit heitr-er Miene statt üblicher mit heiter-er Miene) als auch im Wortbildungssuffix (ein gold-n-es Ei statt üblicher ein gold-en-es Ei); ebenso ist eine e-Tilgung statt im Basismorphem auch im Flexionsmorphem nach einem Basismorphem auf -el möglich (den stolzen, eitel-n Sinn statt üblicher den stolzen, eitl-en Sinn) (Duden-Grammatik 2005: 371 f.). Beim flektierten sowie auch beim nicht-flektierten Superlativ tritt wegen dessen konsonantischer Lautgestalt im Gegensatz zum flektierten Positiv und zum flektierten wie auch nicht-flektierten Komparativ keine phonotaktisch bedingte e-Tilgung im Basismorphem ein: (24’) dunkel ⇒ die dunkl-e Schokolade ⇒ die dunkel-st-e Schokolade. Im Superlativ unterbleibt aus konsonantenphonotaktischen Gründen auch eine Allomorphien bildende Aufhebung der Auslautverhärtung bzw. der Spirantisierung der unflektierten Positivform. Das Superlativsuffix ist jedoch allomorph. Je nach der Endung der unflektierten Positivform steht entweder die Kurzform -st- oder die Langform -est- (Duden-Grammatik 2005: 374). Die Langform -est- (hold ⇒ hold-est-) tritt auf, wenn 1. der Positiv des Adjektivs auf -d, -t, -s, -ss, -ß (Ausnahme: das unregelmäßige groß ⇒ größ-t-e), -z, -tz, -x, -sk oder -sch (Ausnahme: Suffix -isch wie mürrisch-st-e) ausgeht und zugleich 2. die letzte Silbe einen Vollvokal, also keinen Schwavokal aufweist.
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Adjektiv
Adjektive, deren Basismorphem auf einen betonten Vollvokal, insbesondere einen Diphthong ausgeht, können im Superlativ sowohl die Lang- wie auch die Kurzform des Superlativsuffixes aufweisen, so etwa neu mit der Langform neu-est- und der Kurzform neu-st-. Alle anderen Adjektive bilden die Superlativform mit der Kurzform -st-, die an die unflektierte Positivform angehängt wird (Duden-Grammatik 2005: 374): (29) klein ⇒ das klein-st-e Kind. Damit lässt sich für die e-Tilgungsregeln eine systematisch gleichmäßige Verteilung der Allomorphien beim Basis- bzw. beim Wortbildungsmorphem erkennen. Der Typus 2 bildet aufgrund von e-Tilgungen Allomorphien zum Typus 1 im Basismorphem bzw. im Wortbildungsmorphem: Typus 1 ohne e-Tilgung nicht-flektiert dunkel
Typus 2 mit e-Tilgung Positivform
flektiert dunkl-e
nicht-flektiert und flektiert nicht-flektiert und flektiert Superlativform Komparativform dunkel-st(e) dunkl-er(e)
Beim unregelmäßigen Adjektiv hoch zeigt sich dieselbe Allomorphieverteilung wie bei der e-Tilgungsregel: Die nicht-flektierte Positivform hoch sowie die flektierte und nicht-flektierte Superlativform höch-st- weisen im nichtflektierten Positiv ein // auf, im flektierten Positiv sowie im flektierten und nicht-flektierten Komparativ dagegen ein „stummes“ h: (30) hoch ⇒ der hoh-e Turm ⇒ der höh-er-e Turm ⇒ der höch-st-e Turm. Allein das unregelmäßige Adjektiv nah bildet eine Superlativform, die nicht auf der nicht-flektierten Positivform basiert: (31) nah ⇒ die nah-e Stadt ⇒ die näh-er-e Stadt ⇒ die näch-st-e Stadt. 7
Wortbildungsmorphologie des Adjektivs
Bei den deutschen Adjektiven kann die Wortbildung sich durch Derivation, Komposition und Konversion vollziehen. 7.1
Die Derivation
Adjektivische Ableitungen können durch Suffigierung, Zirkumfigierung und Präfigierung erfolgen. Bei der Suffigierung (vgl. Fleischer/Barz 2007: 251–266; Simmler 1998: 569; Duden-Grammatik 1998: 540) mit den primärsprachlichen Suffixen
33
Adjektiv
-bar (offenbar), -er (dreißiger), -fach (dreifach), -haft (krankhaft), -ig (völlig), -isch (linkisch), -lei (vielerlei), -licht (helllicht), -los (bewusstlos), -sam (langsam) und vor allem -lich (ernstlich) kann es zur deadjektivischen Modifikation kommen, das heißt, in diesen Fällen liegt kein Wortartwechsel vor. Verben, Substantive und Adverbien können als Wortbildungsbasis für adjektivische Transpositionen (d. h. Wortartwechsel zum Adjektiv) durch Suffigierung auftreten. Verben können die Wortbildungsbasis für adjektivische Suffigierungen vor allem auf -bar (ersetzbar) und -ig (zulässig) bilden. Nicht mehr oder nur noch eingeschränkt produktiv erscheinen die deverbalen Suffigierungen auf -erisch (regnerisch), -erlich (fürchterlich), -haft (schmeichelhaft), -isch (mürrisch), -lich (löblich), -rig (klebrig), -sam (strebsam) und umgangssprachlich auf -mäßig (schreibmäßig) (vgl. Fleischer/Barz 2007: 251–266; Simmler 1998: 576 f.; Duden-Grammatik 1998: 540–543). Produktive desubstantivische Wortbildungen stellen die adjektivischen Suffigierungen auf -en (seiden), -er (Berliner), -haft (fehlerhaft), -ig (haarig), -isch (diebisch), -lich ( polizeilich), -los (hoffnungslos) und -mäßig ( gesetzmäßig) dar. Nicht mehr oder nur noch in geringem Maß produktiv sind die desubstantivischen Suffigierungen auf -bar ( fruchtbar), -ern (eisern), -n (kupfern) und -sam ( friedsam) (vgl. Fleischer/Barz 2007: 251–266; Simmler 1998: 576 f.; Duden-Grammatik 1998: 543–545). Adverbielle Wortbildungsbasen bilden adjektivische Suffigierungen vor allem auf -ig (hiesig), aber auch auf -lich (sämtlich) (vgl. Fleischer/Barz 2007: 256–263; Simmler 1998: 574 f.). Neben den primärsprachlichen adjektivischen Wortbildungssuffixen gibt es auch zahlreiche sekundärsprachliche Wortbildungssuffixe, so genannte Lehnsuffixe. Dazu zählen die Modifikationen auf -istisch (formalistisch), die deverbalen Wortbildungen auf -abel (praktikabel ), -ant (frappant), -ativ (spekulativ), -ent (kongruent), -ibel (disponibel ) und -iv (suggestiv) sowie die desubstantivischen Wortbildungen auf -(i/u)al (grippal, äquatorial, prozentual ), -ant (arrogant), -ar (linear), -är (muskulär), -(i/u)ell ( formell, tendenziell, intellektuell ), -ent (intelligent), -esk (kafkaesk), -iv (instinktiv), -oid ( faschistoid ), -os (humos) und -ös (schikanös) (vgl. Fleischer/Barz 2007: 267–269; DudenGrammatik 1998: 540–550). In der Adjektivwortbildung treten auch Präfigierungen auf. Bis auf das unproduktive Präfix ge- mit desubstantivischer Wortbildungsbasis (geheim) stellen die Präfixbildungen immer deadjektivische Modifikationen dar, das heißt, es kommt zu keinem Wortartwechsel. Als produktive Präfixe lassen sich hier erz- (erzkonservativ), miss- (missliebig), schein- (scheintot), un- (undicht) und ur- (uralt) sowie als unproduktive Präfixe ab- (abhold ), an- (anrüchig), ge- (gestreng) und in- (ingrimmig) feststellen (vgl. Fleischer/Barz 2007:
34
Adjektiv
269–274).9 Neben diesen wenigen heimischen Präfixen gibt es eine ganze Reihe von Lehnpräfixen: a-, an-, anti-, ar-, bi-, de-, des-, di-, dif-, dis-, ex-, hyper-, il-, im-, in-, ir-, ko-, kon-, kor-, non-, mega-, para-, poly-, post-, prä-, pro-, pseudo- und ultra- (Fleischer/Barz 2007: 273 f.; Duden-Grammatik 1998: 534–539; Donalies 2005: 107–109). Die Zirkumfigierung der deutschen Adjektive beruht auf der kombinatorischen Derivation mit gleichzeitiger Präfigierung und Suffigierung. Beim ersten Typus der Zirkumfigierung des deutschen Adjektivs werden die Präfixe auf-, an- und vor allem ge- mit dem Suffix -ig kombiniert, so etwa bei gelehrig, aufsässig und ansässig (vgl. Fleischer/Barz 2007: 275). All diese Ableitungen sind deverbal. Dieses Wortbildungsmuster ist synchron nicht mehr produktiv. Auch einige desubstantivische adjektivische Wortbildungen entsprechen diesem Muster, sind aber wohl eher als Suffigierungen präpositionaler Wortgruppen anzusehen: unter-schwell-ig über-zeit-lich
< <
[unter der Schwelle] + [über die Zeit] +
ig; lich.
Der zweite Typus der Zirkumfigierung führt zur Bildung so genannter „Scheinpartizipien“ bzw. besser Scheinpartizipialadjektiven, denen jedoch kein Partizip bzw. Verb zugrunde liegt (Duden-Grammatik 1998: 550). Das zirkumfigierte und damit adjektivierte Wort ist ein Substantiv, von dem kein abgeleitetes desubstantivisches Verb existiert, das die Basis eines Partizipialadjektivs sein könnte. Das Bildungsmuster ist Präfix + Substantivstamm + schwaches Partizipialsuffix -t: be-brill-t, ent-geister-t, ge-fleck-t, ver-kater-t, zer-klüfte-t. Ist das Präfix bei alleinigem Auftreten im verbalen Bereich abtrennbar, tritt im Scheinpartizipialadjektiv noch das Partizip-II-Präfix -gehinzu: abtrennbares Präfix + Partizipialpräfix -ge- + Substantivstamm + schwaches Partizipialsuffix -t: aus-ge-fuchs-t, ein-ge-fleisch-t. 7.2
Die Komposition
Adjektive können auch durch Komposition gebildet werden, und zwar einerseits aus einer Komposition von zwei oder mehreren Adjektiven (unter landsmännisch-heimatlich-festlichen Umständen, Th. Mann, nach Fleischer/Barz 2007: 241) oder aus einem nicht-adjektivischen Erstglied und einem adjektivischen Zweitglied (vgl. ebenda: 241–251, auch zu den Beispielen und zum
9 Die Duden-Grammatik (1998: 536–539) erwähnt noch die so genannten Halbpräfixe, beispielsweise bitter- (bitterböse), tod- (todsicher), usw., die aber nur in geringem Maß reihenbildend sind.
35
Adjektiv
Folgenden). Bei einer Komposition aus zwei oder mehreren Adjektiven kann entweder ein Determinativ- (schwerkrank, hellblau) oder ein Kopulativkompositum (taubblind, schwarzrotgolden) entstehen. Bei der Komposition von nicht-adjektivischem Erstglied und adjektivischem Zweitglied ist als Erstglied ein Substantiv (wesensfremd ), ein Verbstamm (tragfähig), ein Pronomen (selbstsicher), ein Adverb (rechtsextrem), eine Präposition (mitschuldig), ein Konfix (thermomagnetisch), ein Initialwort (iga-spezifisch) oder eine Wortgruppe (halbmeterdick) möglich. Die Bildung adjektivischer Komposita zeigt ähnliche Regeln wie die substantivische Kompositionalbildung. Auch beim Adjektiv liegt nach Fleischer/Barz (2007: 241) mit wenigen Ausnahmen eine grundsätzliche „Stabilität der Wortstruktur“ vor: Adjektivkomposita können jedoch konstruktionsinterne Komparationsformen (hoch-/höher-/höchstempfindlich) und Infigierungen des Negationspräfixes un- (entscheidungsfreudig ⇒ entscheidungs-un-freudig) aufweisen. Die Kompositionsfuge (gesundheits-förderlich, agro-industriell ) unterliegt grundsätzlich den gleichen Regeln wie bei der Wortbildung des Substantivs (vgl. Gesundheits-amt, Agro-industrie). Bei den Komposita mit Partizipialadjektiv als Zweitglied ist jedoch zu beachten, dass Partizipien II unter Beibehaltung der Verbrektion in der Fuge die pluralische Beziehung zum Erstglied verdeutlichen können, beispielsweise hände-reibend < die Hände reibend (Fleischer/Barz 2007: 250 f.). 7.3
Die Konversion
Die Konversion anderer Wortarten ist beim Adjektiv bis auf die stark produktiven Partizipialadjektive weitaus seltener als etwa beim Substantiv (Fleischer/Barz 2007: 276). Desubstantivische adjektivische Konversionen sind unter anderem angst, ernst, feind, freund, klasse (ein klasse Auto), schuld, schmuck (die schmucke Uniform), sowie entlehnte Farbadjektive, wie orange, ocker, oliv. Hierher gehören auch Desubstantiva wie barock und revolutionär (Trost 2006a: 78, 298, 2006b: 390 f.). Einige dieser desubstantivischen Adjektivkonversionen sind indeklinabel und deshalb oft nicht oder nur durch Komposition mit einem primärsprachlichen Adjektiv attributiv verwendbar: Peter ist angst und bange.
⇒
Der *angste und *bange Peter.
Die Hose ist oliv.
⇒ ⇒ ⇒
Die *oliv Hose. Die ?olive Hose. Die olivfarbene Hose.
36
Adjektiv
Die wenigen deverbalen Adjektivbildungen sind nach Fleischer/Barz (2007: 276) allesamt „kaum produktiv und nur historisch klar nachweisbar“, wie rege < sich regen, starr < starren, wach < wachen, wirr < wirren. Sehr produktiv sind dagegen die departizipialen Konversionen. Diese können zum Partizip I und zum Partizip II gebildet werden: Das Kind schläft. Das Kind ist aufgewacht.
⇒ ⇒
Das schlafende Kind. Das aufgewachte Kind.
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Affix
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Rüdiger Harnisch/Igor Trost u adverbialer Akkusativ, Adverbialakkusativ Wenn Akkusative zum Ausdruck lokaler oder temporaler Adverbialbestimmungen verwendet werden, wie dies etwa in den ganzen Tag oder den ganzen Weg nach Hause der Fall ist, dann spricht man auch von einem adverbialen Akkusativ oder Adverbialakkusativ. → Akkusativ u Affix (von lat. affigere ‚anheften‘; engl.: affix) Affix ist ein Oberbegriff für alle Arten von gebundenen Morphemen, sowohl solche zu Flexions- als auch zu Wortbildungszwecken, die oft auch als Flexions- bzw. Wortbildungsaffixe bezeichnet werden. Im Einzelnen kann man darüber hinaus je nach der Stellung, die sie in der neu zu bildenden Form einnehmen, zwischen am Anfang stehenden Präfixen, am Ende angefügten Suffixen, innen eingefügten Infixen und einklammernden Zirkumfixen unterscheiden. → Wortbildung
Akkusativ
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u Akkusativ 1
Einleitung
Der Akkusativ – nach Latein accusare ‚anklagen‘ (wobei casus accusativus als Fehlübersetzung von griechisch , d. h. Kasus des Effizierten bzw. des Betroffenen, zu betrachten ist) – ist in so genannten Nominativbzw. Akkusativsprachen der Kasus, dessen Hauptfunktion darin besteht, in Aktivsätzen das Patiensargument von transitiven Verben auszudrücken, im Gegensatz zum Nominativ, dem in diesen Sprachen – außer der „Nennfunktion“ – im aktiven Genus die Markierung des Agensargumentes von transitiven sowie des Subjekts von intransitiven Verben zusteht:1 Der König der Formel 1 [= Agens im Nominativ] hat den Papst [= Patiens im Akkusativ] beleidigt. Der König der Formel 1 [= Subjekt im Nominativ] dankt ab. Nominativ- bzw. Akkusativsprachen unterscheiden sich darin von den so genannten Ergativsprachen, in denen das Subjekt intransitiver Verben und das Patiensargument transitiver Verben denselben Kasus, den Absolutiv, teilen, während das Agensargument transitiver Verben im Ergativ steht. 2
Morphologische Aspekte
Nominativ und Akkusativ sind im Deutschen morphologisch weitgehend zusammengefallen und weisen nur im Maskulinum Singular2 sowie im (genusneutralen) Personalpronomen der 1. und 2. Person3 noch unterschied-
1 Die in der deutschen Grammatikschreibung eher unübliche Unterscheidung von „Subjekt“ und „Agens“ hat ihren Ursprung in der typologisch-linguistischen Tradition. 2 In dem mit dem Deutschen nahe verwandten Niederländisch ist es auch im Maskulinum Singular zu einem Zusammenfall von Nominativ und Akkusativ gekommen; in den südlichen Mundarten lebt hier interessanterweise nur die historische Akkusativform weiter, auch als Nennform: dt. Nominativ ein dicker Esel (Akkusativ einen dicken Esel), südndl. Nominativ/Akkusativ nen dikken ezel. Zur sprachgeographischen Variation im Kasussystem der deutschen Mundarten vergleiche man u. a. Shrier (1965) und Dal (1971) sowie die Übersichtskarten in König (2007: 154 f.). 3 Der auffällige Zusammenfall zwischen Akkusativ und Dativ in der 1. und 2. Person Plural ist relativ jung: Im Althochdeutschen wurden die Formen noch unterschieden: uns/iu (Dativ) gegenüber unsih/iuwih (Akkusativ). Heutiges uns (Dativ = Akkusativ) ist die Fortsetzung der ursprünglichen Dativform, euch (Dativ = Akkusativ) die der ursprünglichen Akkusativform. Der Zusammenfall hat dazu geführt, dass die beiden Formen als so genannter Akkudativ gebraucht werden können: „[er hat] uns (Dativ = Akkusativ) unterstützt (Akkusativ) und geholfen“ (Dativ) (380 Treffer bei einer Google-Recherche) bzw. „[er hat] uns geholfen und unterstützt“ (171 Treffer) (jeweils am 15. 12. 2007). Die „richtigeren“ Konstruktionen mit Wiederholung des (formengleichen) pronominalen Objekts sind deutlich weniger zahlreich
39
Akkusativ
liche Formen auf (zum Formenbestand und der Frage nach der Existenz eines „Akkunominativ“ vgl. auch Draye 2009).
N.≠ bzw. = A.
Maskulinum Singular
Femininum Singular
Neutrum Singular
Plural
d+er jung+e Mann
d+ie jung+e Frau
d+as jung+e Kind
d+ie jung+en Männer/Frauen/ Kinder
ein+e jung+e Frau
ein+Ø jung+es Kind
Ø jung+e Männer/Frauen/ Kinder
(solch) gut+e Milch
(solch) gut+es Bier
Ø Ø Wein
Ø Ø Milch
Ø Ø Bier
d+er gebraten+e Affe+Ø
d+ie gebraten+e Schlange
d+as gebraten+e Kamel
d+en jung+en Mann ein+Ø jung+er Mann ein+en jung+en Mann (solch) gut+er Wein (solch) gut+en Wein
d+en gebraten+en Affe+n ein+Ø gebraten+er Affe+Ø
ein+e gebraten+e ein+Ø Schlange gebraten+es Kamel
ein+en gebraten+en Affe+n Ø gebraten+er Affe+Ø
Ø gebraten+e Schlange
Ø gebraten+es Kamel
bzw. üblich: „[er hat] uns (Dativ = Akkusativ) unterstützt (Akkusativ) und uns geholfen (Dativ)“ (7 Treffer) bzw. „[er hat] uns geholfen und uns unterstützt“ (10 Treffer). In der 1. Person Singular, mit der erhaltenen formalen Opposition mich und mir, dürften sich eigentlich nur Konstruktionen mit zwei Objekten belegen lassen: „mich unterstützt und mir geholfen“ (145 Treffer) bzw. „mir geholfen und mich unterstützt“ (200 Treffer). Überraschenderweise finden sich jedoch auch hier Konstruktionen mit einem ausgelassenen Objekt, die sich wohl kaum anders denn als „ungrammatisch“ bezeichnen lassen: „mich unterstützt und geholfen“ (36 Treffer) bzw. „mir geholfen und unterstützt“ (3 Treffer).
40
Akkusativ
Maskulinum Singular
Femininum Singular
Neutrum Singular
Plural
Ø gebraten+en Affe+n Ø Ø Affe+Ø4 Ø Ø Schlange
Ø Ø Kamel
d+er#jenig+e
d+ie#jenig+e
d+as#jenig+e
d+ie#jenig+en
sie
es
sie
d+en#jenig+en
er ihn
Unter anderem aufgrund dieses fast generellen Zusammenfalls von Nominativ und Akkusativ wird die herkömmliche Reihenfolge der Kasus, nach der der Nominativ der 1. und der Akkusativ der 4. Fall war, in den meisten Grammatiken und Lehrwerken zugunsten einer Anordnung Nominativ > Akkusativ > Dativ > Genitiv aufgegeben. 3
Funktions- bzw. Bedeutungsaspekte
3.1
Der adverbale Akkusativ
4
Aufgrund seiner Hauptfunktion besagt der Akkusativ „stets, dass irgend eine Handlung auf den bezeichneten Gegenstand gewissermaßen gerichtet ist, an ihm sich äußert, ihn ergreift. Es handelt sich also um einen “Bezugsgegenstand„ nach der Terminologie Bühlers“ (Jakobson 1936: 31). Das gilt ausgesprochen für Kontexte, in denen der Akkusativreferent das Patiensargument des transitiven Verbs darstellt, und zwar sowohl als „effiziertes“, aus der Handlung hervorgehendes Objekt, als auch als „affiziertes“, das heißt von der Handlung betroffenes, aber unabhängig von ihr bestehendes Objekt: Wer hat den Roman geschrieben? Wer hat den Roman gelesen?
4 Ohne vorangehendes dekliniertes Element, z. B. Artikel oder Adjektiv, funktioniert die undeklinierte Form der schwachen männlichen Substantive nicht nur als Nominativ, sondern auch als Akkusativ und Dativ: „Ich selbst würde weder Katze, noch Schlange oder Affe essen, da ich mir aussuchen kann was ich essen kann – aber jedem das seine, solange die Tiere nicht leiden müssen.“ (Internetbeleg); „Chips mit Affe ist das erste Kochbuch in Form eines Filmes.“ (Internetbeleg).
41
Akkusativ
Solche Konstruktionen lassen so gut wie uneingeschränkt die Aktiv-PassivDiathese mit werden zu, in der das Akkusativpatiens zum Nominativpatiens wechselt: Von wem ist der Roman geschrieben worden? Von wem ist der Roman gelesen worden? In Kontexten mit weniger stark ausgeprägtem Handlungscharakter ist der Akkusativreferent eher als Experiencer denn als Patiens im eigentlichen Sinne zu betrachten: Das Angebot interessierte niemanden. Schmerzt dich das linke Bein immer noch? Eine Passivtransformation ist hier, eben mit auf Grund der mangelnden Agentivität des Subjekts, nicht möglich: *Niemand wurde durch das Angebot interessiert. *Wirst du vom linken Bein geschmerzt? Bei gewissen Verben lässt sich der Akkusativ durch den Dativ ersetzen, ohne dass damit eine relevante semantische Verschiebung einherzugehen scheint (vgl. auch Draye 1996: 194 f.): Schmerzt dir das linke Bein immer noch? Im Deutschen kommen vereinzelt auch Verben ohne Subjekt vor, deren Akkusativobjekt schon allein aus diesem Grund kein Patiens, sondern ausschließlich Experiencer sein kann: Mich fror dort entsetzlich. Mich ekelte vor fetten Speisen. Immer wenn er lachte, grauste einen. Auch hier ist ein systematischer Unterschied zum Dativ nicht feststellbar, und einige Verben erlauben wahlweise beide Kasus: Mich/mir ekelte vor fetten Speisen. Immer wenn er lachte, grauste einen/einem. Typologisch auffällig ist, dass im Deutschen Verben vorkommen, die zwei Akkusativobjekte regieren. Der Akkusativ der Person hat dabei die Rolle des Experiencers bzw. des Rezipienten oder Benefikators inne und steht – we-
Akkusativ
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nigstens wenn der Akkusativ der Sache realisiert wird – unter Druck, dem Dativ als unmarkiertem Rezipienten-Kasus zu weichen:5 Wer hat dich/(dir) das Lied gelehrt? Die Mutti will mich/(mir) die Vokabeln nicht mehr abfragen. Bei der Passivierung muss hier entschieden werden, welcher der beiden Akkusative zum Subjekt avanciert und welcher stehen gelassen wird. In der Regel scheint der Akkusativ des Rezipienten oder Benefikators ein besseres Subjekt abzugeben als der Patiensakkusativ: Ich wurde das Lied von meinem Vater gelehrt. ?Das Lied wurde mich von meinem Vater gelehrt. Mit einem – nicht von allen Sprechern akzeptierten – Dativ entfällt das Problem: Das Lied wurde mir von meinem Vater gelehrt. Werden diese Verben zweistellig verwendet, so steht das Objekt, unabhängig davon, ob sein Referent ein Rezipient/Benefikator oder ein Patiens ist, zwingend im Akkusativ: Wer lehrt die/*den Lehrenden? Wer lehrt hier diese Sprachen? Passivierung ist hier ohne Weiteres möglich: Auch die Lehrer müssen gelehrt werden. Werden diese Sprachen hier noch gelehrt? Von diesen Verben mit zwei Akkusativobjekten zu unterscheiden sind Verben, deren Akkusativobjekt um einen prädikativen Akkusativ ergänzt wird, der als Gleichsetzungskasus zu betrachten ist: Niemand nannte ihn ungestraft einen Verräter. Hier ist die Passivtransformation vollkommen unproblematisch, da der prädikative Akkusativ dem Patiens folgt und aufgrund der Kasusgleichsetzung ebenfalls als Nominativ erscheint: Von niemandem wurde er ungestraft ein Verräter genannt.
5 Vergleiche Duden (2005: 953). Die Formen mit Dativ werden nach wie vor nicht von allen Muttersprachlern akzeptiert und sind wohl noch seltener. Eine Internetrecherche am 15. 12. 2007 führte zu mehr als 400 Treffern für dich das gelehrt gegenüber nur 7 für dir das gelehrt und zu 3 Treffern für dich die Vokabeln abfragen und 1 für dir die Vokabeln abfragen.
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Akkusativ
Ebenfalls unproblematisch ist das Vorkommen zweier Akkusative in so genannten AcI-Strukturen nach Verba sentiendi. Hier ist der erste Akkusativ das „Tiefensubjekt“ des vom übergeordneten Verb abhängigen Infinitivs und folglich kein semantischer Konkurrent für dessen Patiens: Sie hörten ihn das Lied singen. Sie sahen ihn das Gemälde betrachten. Vergleichbar, aber komplexer – weil stärker grammatikalisiert – sind lassenStrukturen, die sowohl in permissiver als auch in kausativer Lesart ein „Tiefensubjekt“ und einen Objektsakkusativ kombinieren: Sie ließen ihn das Lied singen Sie ließen ihn das Gemälde betrachten (= sie erlaubten, dass bzw. veranlassten, dass er das Lied sang/das Gemälde betrachtete.) Auffällig ist, dass diese Infinitivkonstruktionen ein Agens nicht nur im Akkusativ, sondern auch in einer von-Phrase kodieren können, ohne dass der Infinitiv dabei formal passiviert würde: Wie oft haben wir die Studenten das Lied/das Lied von den Studenten singen hören! Warum hat er seinen Freund die Frage/die Frage von seinem Freund stellen lassen? Die Konkurrenz zwischen Dativ und Akkusativ, die es bei Konstruktionen mit lassen und nachfolgenden, schwachagentiven Infinitiven bis ins 19. Jahrhundert gegeben hat, ist inzwischen wohl restlos geschwunden: das verbot, ihm vor seinem achtzehnten jahre kein milchmädchen sehen zu lassen, ist nicht um ein haar gescheidter. (Wieland; zitiert nach Grimm/Grimm 1885/1999: 237) Aus diesem inzwischen wieder rückgängig gemachten Übergang zum Dativ darf man wohl schließen, dass das Deutsche eine Zeit lang gewisse lassenStrukturen (wissen lassen, sehen lassen, spüren lassen u. Ä.) als komplexe, dreiwertige Valenzträger aufgefasst und die Kasuszuweisung entsprechend angepasst hat. So wird verständlich, dass das „Tiefensubjekt“ der Infinitive sich zum Rezipienten entwickeln konnte. Im heutigen Niederländisch weisen vergleichbare Konstruktionen hier ein indirektes Objekt auf (vgl. hierzu ausführlicher Draye 1998):
Akkusativ
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(Aan) wie heb je laten weten dat je niet komt? ‚Wen hast du wissen lassen, dass du nicht kommst?‘ (wörtlich: Wem bzw. an wen hast du wissen lassen, dass du nicht kommst?) Konkurrenz zwischen Akkusativ und Dativ (oder zwischen der Interpretation des Objekts als Patiens oder Rezipient) gibt es im heutigen Deutschen nur noch bei gewissen einfachen dreistelligen Verben bzw. in einfachen dreistelligen Konstruktionen, in denen neben dem agentiven, belebten Subjekt und dem konkurrierenden Akkusativ bzw. Dativ eine Präpositionalphrase als dritter Aktant erscheint, deren nominaler Kern auf einen Gegenstand referiert, der als inalienabler Besitz des Patiens bzw. des Rezipienten zu betrachten ist. Das Verb selbst muss außerdem auch zweistellig vorkommen können, und zwar mit dem Patiensaktanten im Akkusativ: Er schlug ihn/ihm auf die Schulter. Er schlug ihn (und zwar auf die Schulter). Er küsste sie/ihr auf den Mund. Er küsste sie (und zwar auf den Mund). Neben Er streichelte (mich)/mir übers Gesicht gibt es wohl nur Er strich mir übers Gesicht, da streichen in dieser Bedeutung nicht zweistellig vorkommen kann: Er streichelte mich. *Er strich mich.6 3.2
Der trajektive Akkusativ
In Draye 1992 habe ich vorgeschlagen, den in einem Satz wie Die Jungen stiegen den Berg hinauf in Verbindung mit „Doppelpartikeln“ (Hinderling 1982) wie hinauf, herauf, hinunter, herunter vorkommenden Akkusativ als „Trajektiv“ zu bezeichnen.7 Da die den Trajektiv bedingende Doppelpartikel mit dem Verb in Verbindung steht bzw. sogar als Bestandteil des Verbs betrachtet werden kann, ließe sich der Trajektivakkusativ auch als ein „Akkusativobjekt des 2. Grades“
6 Wo Variation möglich ist, gibt es Frequenzunterschiede, die sich auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres erklären lassen. Eine Google-Recherche am 18. 12. 2007 ergab folgendes Ergebnis: „küsste mich/mir auf“ 5670 vs. 380 Belege; „küsste ihn/ihm auf“ 920 vs. 520 Belege; „küsste sie/ihr auf“ 12 600 vs. 375 Belege; „schlug mich/mir auf“ 190 vs. 9900 Belege; „schlug ihn/ihm auf“ 4190 vs. 5800 Belege. 7 Zum Ursprung der Struktur vgl. u. a. Dal (1966: 12).
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Akkusativ
bezeichnen (so noch Duden 1984: 6298). Der trajektive Akkusativ wird von der Aktiv-Passiv-Diathese nicht erfasst, ist jedoch als „schwachregierter Akkusativ“ (so Jakobson 1936: 31) mit einem adverbalen „starkregierten“ Akkusativ kombinierbar: Der Hirt trieb die Kühe den Berg hinauf. Die Kühe wurden vom Hirten den Berg hinauf getrieben. 3.3
Der adverbiale Akkusativ
Im Akkusativ lassen sich räumliche und zeitliche Maßangaben ausdrücken: Das Personal musste die Koffer einen Kilometer schleppen. Ihre Fantasien verwandeln den Alltag einen kurzen Augenblick in ein Zauberreich. Diese Akkusativphrasen haben Funktion und Status eines Adverbials, sind infolgedessen, wie aus den Beispielen hervorgeht, mit einem Objektsakkusativ kombinierbar und werden nicht von der Aktiv-Passiv-Diathese erfasst: Die Koffer mussten vom Personal einen Kilometer geschleppt werden. Der Alltag wurde durch ihre Fantasien einen kurzen Augenblick in ein Zauberreich verwandelt. Erfragt werden sie dementsprechend wie Adverbiale, nicht wie Objekte: Wie weit mussten die Koffer geschleppt werden? Wie lange wurde der Alltag in ein Zauberreich verwandelt? 3.4
Der von Präpositionen regierte Akkusativ
Neben den Präpositionen, die einen festen Kasus regieren – darunter auch den Akkusativ (u. a. durch, für, gegen, ohne, um) – sind aus synchron-funktionaler Perspektive vor allem die so genannten Wechselpräpositionen interessant, die – außer wenn sie unter weitgehendem Verzicht auf ihre Eigenbedeutung mit einem Verb oder Nomen eine fixierte Bedeutungseinheit eingehen (verzweifeln über, die Hoffnung auf, reich an) – sowohl den Akkusativ als auch den Dativ regieren können und zwar grundsätzlich in einer funktional relevanten komplementären Distribution. Nach wie vor wird in Duden (2005: 616) der Kasusrektion das Kriterium der „Orts- bzw. Lageveränderung“ infolge einer „Bewegung“ oder „Rich8 In der letzten Auflage der Duden-Grammatik von 2005 fehlen Satzbaupläne mit diesem trajektiven Akkusativ.
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Akkusativ
tung“ zugrunde gelegt: „Werden diese Präpositionen lokal verwendet, entscheidet der Kasus darüber, ob eine Orts- bzw. Lageveränderung vorliegt oder nicht: Der Dativ bezeichnet dabei die (statische) Lage, das Verbleiben an einem Ort (mit der Frage wo?), während der Akkusativ die (dynamische und direktionale) Ortsveränderung, eine Bewegung oder eine Richtung bezeichnet (mit der Frage wohin?).“ Für die Mehrheit der Akkusativ-/Dativvorkommen nach Wechselpräpositionen mag diese Charakterisierung zutreffen, so für die folgenden im Duden (ebd.) aufgeführten Miniminalpaare:9 Dativ
Akkusativ
Lage: wo?
Richtung: wohin?
Die Kinder spielen im Wasser.
Die Kinder springen ins Wasser.
Das Bild hängt an der Wand.
Sie hängt das Bild an die Wand.
Das Buch liegt auf dem Tisch.
Er legt das Buch auf den Tisch.
Sie steht vor dem Haus.
Sie stellt sich vor das Haus.
Das Flugzeug fliegt (seit drei Stunden) über den Das Flugzeug fliegt über die Wolken. Wolken. Der Teppich liegt unter dem Tisch.
Er legt den Teppich unter den Tisch.
Die Brille liegt hinter der Vase.
Sie legt die Brille hinter die Vase.
Der Kuli liegt neben dem Buch.
Er legt den Kuli neben das Buch.
Das Kind steht zwischen den beiden Tischen.
Das Kind stellt sich zwischen die beiden Tische.
Problematisch an der Definition ist jedoch, dass es zahlreiche systematisierbare und als völlig normal empfundene Dativvorkommen gibt, in denen eine „Bewegung“ oder eine „Richtung“ enthalten ist: a) Die Bewegung findet innerhalb der Präpositionalregion (Terminus nach Zifonun u. a. 1997: 2150) statt, das heißt ohne auf sie gerichtet zu sein (Internetbelege): 9 Willems (1997: 140 f.) versucht, die Begriffspaare Ruhe/Bewegung und Lage/Richtung mit dem Hinweis darauf zu retten, dass „der sprachliche Unterschied zwischen D und A in Präpositionalfügungen […] eindeutig allgemeiner und abstrakter [ist] als dasjenige, was man unter ‚Ruhe‘ und ‚Bewegung‘ in der außersprachlichen Wirklichkeit versteht, und überhaupt ist letzteres genau von der metasprachlichen Funktion der Begriffe Ruhe/Bewegung zu unterscheiden, die sich auf jenen sprachlichen Unterschied zwischen D und A beziehen. Es ist klar, dass die sprachwissenschaftliche Relevanz der Begriffe Ruhe/Bewegung nicht durch die ontologische Differenz zwischen faktischer ‚Ruhe‘ bzw. ‚Bewegung‘ und der metasprachlichen Funktion der Begriffe Ruhe/Bewegung beeinträchtigt wird.“
47
Akkusativ
Die Fähre fuhr zwischen den beiden Orten bis zum Bau der ersten Brücke aus Eisenbeton im Jahre 1913. Ich bin am Wochenende im Schwimmbad gefallen und habe jetzt ein (sic!) großen Bluterguss am linken Oberarm. Meine Frau, und Sie, Herr Alexander, krochen unter dem Tisch umher und ärgerten den Hund. b) Die Präpositionalregion ist der Ausgangspunkt der Bewegung (Internetbelege, wenn nicht anders angegeben):10 Da tritt Fjodor Asjemwitsch hinter dem Baum hervor.11 Anstatt zu streiten, solltet ihr mir lieber unter dem Hinkelstein hervorhelfen! (Uderzo/Goscinny 1969: 42) Da sprang doch tatsächlich ein Reh (oder war es ein Hirsch?) zwischen den Häusern hervor und lief geschwind vor mir zum Feld hinüber.12 c) Die Präpositionalregion wird durchquert (Internetbelege): Jeder, der an der Kirche vorbei in Richtung des Friedhofs geht, wird sie bemerken, kann die Mauern der beiden Räume sogar berühren.13 Es hatte Grashalme gekostet, sich gewälzt und sogar versucht, unter dem Zaun hindurch zu kriechen.14 Heute ist der Kirchenplatz leer, nur der Trenino rosso, die Berninabahn, scheppert hinter der Kirche vorbei.15 Die Viecher schauen ganz schön grimmig drein, und rennen da ganz schön knapp neben dem Auto vorbei. Die Jungen verlassen den Weg und fahren eine Art Slalom zwischen den Bäumen hindurch.16
10 Ganz vereinzelt finden sich hier und in den folgenden Kontexten auch Akkusativvorkommen. 11 Bei Google fanden sich am 18. 12. 2007 1790 Treffer für hinter dem Baum hervor gegenüber 1 für hinter den Baum hervor. 12 1 von 95 Google-Treffern für zwischen den Häusern hervor gegenüber 0 für zwischen die Häuser hervor (18. 12. 2007). 13 1 von 22 300 Google-Treffern für an der Kirche vorbei gegenüber 1 für an die Kirche vorbei (18. 12. 2007). 14 1 von 532 Google-Treffern für unter dem Zaun hindurch gegenüber 8 für unter den Zaun hindurch (18. 12. 2007). 15 1 von 659 Treffern für hinter der Kirche vorbei gegenüber 0 für hinter die Kirche vorbei (18. 12. 2007). 16 1 von 3110 Google-Treffern für zwischen den Bäumen hindurch gegenüber 45 für zwischen die Bäume hindurch 18. 12. 2007).
Akkusativ
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d) Es findet eine gerichtete Bewegung innerhalb der Präpositionalregion statt (Internetbelege):17 Riesige, mit Vanille getränkte Monsteraprikosen rollen hinter mir her mit diesem Duft.18 Da begegnete ihm ein Delphin, schwimmt vor ihm her, folgt ihm, umkreist ihn […].19 Richie stürmt hinter dem Schwein her unter den Pfahlbau. e) Nicht das Eindringen in die Präpositionalregion, sondern lediglich die Endphase, das Auslaufen der implizierten gerichteten Bewegung in der Präpositionalregion wird hervorgehoben (Internetbelege): Ende 2003/Anfang 2004 landeten auf dem Planeten Mars die ersten Sonden, um nach Leben zu suchen. Gestelle sind im Verhältnis zur Hängematte selbst eher teuer und bieten niemals den gleichen Komfort wie eine an der Wand oder an einem Baum befestigten Hängematte. Lakoff (1987: 422) spricht hier von „endpoint focus“, das Fokussieren auf die Endphase der Intrusion. Die beiden folgenden Beispiele verweisen auf vergleichbare Vorgänge in der außersprachlichen Wirklichkeit; in der Dativphrase wird – mit bedingt durch die Partikel fest – die Vorphase der Intrusion gleichsam eingeklammert (Internetbelege): Sie fesselten den Ritter und banden ihn an einen langen Stock. Sie nahmen ihn gefangen und banden ihn an einem Pfosten fest. f ) Umgekehrt lassen sich auch gewisse Akkusativvorkommen kaum als eine Bewegung bezeichnend interpretieren, obwohl sie durchaus eine Intrusion implizieren (Internetbelege): Seine struppligen [sic!] blonden Haare hängen ihm in die etwas wulstigen Augen. Halblange, ungepflegte Haare hingen ihr auf die Schultern herunter. Die Akkusativ-Dativalternanz auf eine Opposition „entstehendes“ gegenüber „bestehendes Verhältnis“ (Paul 1919/1968: 5; Leys 1989; Zifonun u. a.
17 Häufig, aber nicht immer, findet hier eine (nicht kodierte) übergeordnete Bewegung statt, zu der die in Dativ ausgedrückte Bewegung parallel verläuft. 18 1 von 86 700 Google-Treffern für hinter mir her gegenüber 610 für hinter mich her (18. 12. 2007). 19 1 von 16 300 Google-Treffern für vor ihm her gegenüber 15 für vor ihn her (18. 12. 2007).
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Akkusativ
1997: 2105) zurückzuführen, schafft zwar Abhilfe für die Fälle unter a) und f ), kaum aber für diejenigen unter b) bis e). Vielmehr empfiehlt es sich, den Dativ als „Default“ zu betrachten und ihn negativ, das heißt als ein „nicht-entstehendes Verhältnis“ denotierend aufzufassen. Der Akkusativ ist positiv zu definieren: er denotiert ein „entstehendes Verhältnis“, das heißt eines, das genuin „intrusiv“ ist: der „Trajektor“ wird als in die Präpositionalregion eindringend und dort verbleibend geschildert, was für die Fälle unter a) bis f ) tatsächlich nur für f ) zutrifft. 4
Satzstellung
4.1
Der adverbale Akkusativ
Unter den obliquen Kasus gilt im Deutschen im Prinzip die folgende Grundreihenfolge:20 Dativobjekt > Akkusativobjekt > Genitivobjekt/Präpositionalobjekt. Die Einwanderer haben den Indianern ihre Freiheit genommen. Die Einwanderer haben die Indianer ihrer Freiheit beraubt. Die Einwanderer haben die Indianer zur Aufgabe gezwungen. Die Einwanderer haben den Indianern zur Aufgabe geraten. Gelegentlich, bei den so genannten „postakkusativischen“ Dativverben, kommt es zu einer Umkehrung der kanonischen Wortfolge Dativ > Akkusativ; für den Akkusativ hat dies keine Folgen, aber ein „nackter“ Dativ ist dann normalerweise nicht möglich: *Viele Eltern setzen ihre Kinder Ø Gefahr aus, ohne es zu wissen.21 Zur Markierung des Dativs wird dann ein aus semantisch-funktionaler Sicht „überflüssiger“ Artikel gebraucht (vgl. hierzu ausführlicher Draye 1996: 160–164): Viele Eltern setzen ihre Kinder der Gefahr aus, ohne es zu wissen. 4.2
Der trajektive Akkusativ
Der trajektive Akkusativ steht nach dem Akkusativobjekt; mit einem Genitivobjekt und einem Präpositionalobjekt ist er nicht kombinierbar: Die Indianer sollten (den Einwanderern) die Kühe den Berg hinauf treiben. 20 Zur Diskussion, ob das Deutsche eine „basic word order“ oder aber eine „multi-factor word order“ aufweist, vergleiche man Primus (1996) und (1999) sowie Draye (2002: 185–196). 21 In der niederländischen Übersetzung korrekt mit Ø-Determinativ, da der ursprüngliche Dativ einem Präpositionalobjekt gewichen ist: Veel ouders stellen hun kinderen aan Ø gevaar bloot zonder het te weten.
Akkusativ
4.3
50
Der adverbiale Akkusativ
Der adverbiale Akkusativ steht vor dem Genitivobjekt/Präpositionalobjekt: Die Einwanderer haben den Indianern mehr als ein Jahrhundert ihre Freiheit genommen. Die Einwanderer haben den Indianern ihre Freiheit mehr als ein Jahrhundert genommen. Die Einwanderer haben die Indianer mehr als ein Jahrhundert ihrer Freiheit beraubt. Die Einwanderer haben die Indianer mehr als ein Jahrhundert zur Aufgabe gezwungen. Die Einwanderer haben den Indianern mehr als ein Jahrhundert zur Aufgabe geraten. Ebenso steht er vor dem trajektiven Akkusativ: Die Indianer sollten (den Einwanderern) mehr als ein Jahrhundert die Kühe den Berg hinauf treiben. Die Indianer sollten (den Einwanderern) die Kühe mehr als ein Jahrhundert den Berg hinauf treiben. 4.4
Der von Präpositionen regierte Akkusativ
Der von Präpositionen regierte Akkusativ besetzt in der Grundreihenfolge, wie das Präpositionalobjekt, die Position unmittelbar vor dem 2. Klammerteil; bei den Wechselpräpositionen stehen die „inessiven“ Dative (a) vor allen anderen (b–e) und vor den Akkusativen: Er ist im Schwimmbad ins Wasser gesprungen. Die Katze ist unter dem Tisch in eine Pappdose gekrochen. Da ist Fjodor Asjemwitsch im Wald hinter dem Baum hervorgetreten. Jeder, der in der Stadt an der Kirche vorbei gegangen ist, wird sie bemerken, kann die Mauern der beiden Räume sogar berühren. Richie ist im Wald hinter dem Schwein her gerannt. Sie können die Hängematte im Haus an der Wand oder im Garten an einem Baum befestigen. Nur die inessiven Präpositionalphrasen lassen sich gelegentlich ausklammern, die übrigen nicht: Er ist ins Wasser gesprungen im Schwimmbad. *Er ist im Schwimmbad gesprungen ins Wasser.
51
Akkusativ
Die Katze ist in eine Pappdose gekrochen unter dem Tisch. *Die Katze ist unter dem Tisch gekrochen in eine Pappdose. Da ist Fjodor Asjemwitsch hinter dem Baum hervor getreten im Wald. *Da ist Fjodor Asjemwitsch im Wald getreten hinter dem Baum hervor. Jeder, der an der Kirche vorbei gegangen ist in der Stadt, wird sie bemerken, kann die Mauern der beiden Räume sogar berühren *Jeder, der in der Stadt gegangen ist an der Kirche vorbei, wird … Richie ist hinter dem Schwein her gerannt im Wald. *Richie ist im Wald gerannt hinter dem Schwein her. Sie können die Hängematte an der Wand befestigen im Haus oder an einem Baum im Garten. ?Sie können die Hängematte im Haus befestigen an der Wand oder im Garten an einem Baum. Literatur Dal, Ingerid (1966): Kurze deutsche Syntax auf historischer Grundlage. 3., verbesserte Auflage. Tübingen: Niemeyer. (= Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. B. Ergänzungsreihe 7). Dal, Ingerid (1960/1971): „Entwicklungstendenzen im germanischen Kasussystem“. Wiederabgedruckt in: Dal, Ingerid (1971): Untersuchungen zur germanischen und deutschen Sprachgeschichte. Oslo/Bergen/Tromsö, Universitetsforlaget: 181–193. Draye, Luk (1992): „Zum Trajektiv. Ein Kapitel aus einer kognitiv orientierten niederländischdeutschen Kontrastivgrammatik“. Leuvense Bijdragen 81: 163–203. Draye, Luk (1996): „The German Dative“. In: Van Langendonck, Willy/Van Belle, William (Hrsg.): The Dative, Vol. 1: Descriptive Studies. Amsterdam/Philadelphia, Benjamins: 155–215. (= Case and Grammatical Relations across Languages 2). Draye, Luk (1998): „The Case of the Causee. On the Competition between Dative and Accusative in Dutch laten and German lassen Constructions“. In: Van Langendonck, Willy/Van Belle, William (Hrsg.): The Dative, Vol. 1: Descriptive Studies. Amsterdam/Philadelphia, Benjamins: 75–111. (= Case and Grammatical Relations across Languages 2). Draye, Luk (2002): „Aspects of nominative and accusative in German“. In: Davidse, Kristin/ Lamiroy, Béatrice (Hrsg.): The Nominative and Accusative and their counterparts. Amsterdam/Philadelphia, John Benjamins: 175–200. (= Case and Grammatical Relations across Languages 4). Draye, Luk (2009): „Nominativ“. In diesem Band. Drosdowski, Günther u. a. (Hrsg.) (1984): Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u.a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Dudenredaktion (Hrsg.) (2005): Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1897/1999): Deutsches Wörterbuch. Band 6. Leipzig 1885: Hirzel. Fotomechanischer Nachdruck. München 1999: dtv. Hinderling, Robert (1982) „Konkurrenz und Opposition in der verbalen Wortbildung“. In: Eichinger, Ludwig (Hrsg.): Tendenzen verbaler Wortbildung in der deutschen Gegenwartssprache. Hamburg, Buske: 249–293. (= Bayreuther Beiträge zur Sprachwissenschaft 4).
Aktionsart
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Jakobson, Roman (1936): „Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre: Gesamtbedeutungen der russischen Kasus“. In: Rudy, Stephen (Hrsg.) (1971): Roman Jakobson. Selected Writings II: Word and Language. The Hague/Paris, Mouton: 23–71. König, Werner (2007): dtv-Atlas deutsche Sprache. 16., durchges. und korrigierte Aufl. München: dtv. (= dtv 3025). Lakoff, George (1987): Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories Reveal about the Mind. Chicago/London: University of Chicago Press. Leys, Odo (1989): „Aspekt und Rektion räumlicher Präpositionen“. Deutsche Sprache 17: 97–113. Paul, Hermann (1919/1968): Deutsche Grammatik. Band IV. Teil IV: Syntax (Zweite Hälfte). Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage. Tübingen: Niemeyer. Primus, Beatrice (1996): „Dependenz und Serialisierung: Das Deutsche im Sprachvergleich.“ In: Lang, Ewald/Zifonun, Gisela (Hrsg.): Deutsch – typologisch. Berlin/New York, de Gruyter: 57–91. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 1995). Primus, Beatrice (1999): Cases and Thematic Roles. Ergative, Accusative and Active. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 393). Shrier, Martha (1965): „Case Systems in German Dialects“. Language 41: 420–438. Willems, Klaas (1997): Kasus, grammatische Bedeutung und Kognitive Linguistik. Ein Beitrag zur allgemeinen Sprachwissenschaft. Tübingen: Gunter Narr Verlag. (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 427). Uderzo, Albert/Goscinny, René (1969): Der Kampf der Häuptlinge. Stuttgart: Ehapa. (= Großer Asterix-Band IV). Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Berlin/New York: Walter de Gruyter. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7.1–7.3).
Luk Draye u Aktionsart (engl.: lexical aspect) Eine Aktionsart ist die lexikalische Markierung des im Verb ausgedrückten Geschehens als beispielsweise beginnend, endend oder sich wiederholend. Anders als Aspekte, die Ähnliches ausdrücken können, gehören Aktionsarten in den Bereich der Wortbildung und haben keine Auswirkungen auf das grammatische System der Sprache. Daher können sie sowohl in Sprachen mit Aspektsystem als auch in solchen ohne auftreten. Typischerweise werden Aktionsarten durch Affigierung anderer Verben gebildet, etwa indem zum Verb blühen das den Beginn ausdrückende (ingressive) erblühen oder das ein Ende kennzeichnende (egressive) verblühen gebildet werden. → Verb u Aktiv Als Aktiv bezeichnet man die unmarkierte Grundform (die sog. Basisdiathese), in der ein Verb seine Argumente an sich bindet. → Genus Verbi
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Aspekt
u alethische Modalität (engl.: alethic modality) Die alethische, auch als „objektiv“ bezeichnete Art der Modalität liegt dann vor, wenn die sprechende Person lediglich als Medium zur Übermittlung der Information fungiert und keinerlei modale Zuweisung vornimmt. Ob das Gesagte zutrifft oder nicht, hängt ausschließlich von äußeren Bedingungen ab. Typischerweise sind alethische Aussagen unmarkiert. → Modalität u analytisch Von einer analytischen Form spricht man, wenn verschiedene Elemente zur Bildung einer einheitlichen Bedeutung zusammenwirken, dabei aber isoliert voneinander bleiben und – anders als bei synthetischen Bildungen – nicht zu einer Form verschmelzen. Im Deutschen werden beispielsweise die Tempora Futur, Perfekt und Plusquamperfekt analytisch gebildet: ich habe getanzt, nicht aber das Präteritum (ich tanzte). Oft wird die Unterscheidung analytisch/synthetisch auch zur Charakterisierung ganzer Sprachen verwendet, in denen die eine oder andere Bildungsweise überwiegt. → Verb u Antikausativ Beim Antikausativ werden die mit dem Verb verbundenen Argumente um eines reduziert, indem das Agens semantisch entfernt wird. Das Ereignis wird als nicht von einem Agens verursacht gedacht. Syntaktisch übernimmt dabei das Patiens die Funktion des Subjekts. Das Antikausativ kann als typisches Medium gelten. Im Deutschen kommen reflexive Konstruktionen des Typs Das Buch verkauft sich gut einem Medium am nächsten. → Genus Verbi u Aspekt (engl.: aspect) Aspekt ist eine verbale Kategorie, mit der Geschehnisse nicht in Bezug auf die Zeit, sondern hinsichtlich ihrer inneren Eigenschaften charakterisiert werden. Als besonders typisch gilt das Aspektpaar ‚abgeschlossen‘ vs. ‚nicht abgeschlossen‘ (perfektiv/imperfektiv), das in den slawischen Sprachen beobachtet werden kann; aber auch andere Unterscheidungen wie etwa die im Englischen realisierte Markierung ‚andauernd‘ vs. ‚nicht andauernd (progressiv/non-progressiv) sind möglich und werden von den meisten Autoren ebenfalls als Aspekte anerkannt. Welche Aspekte durch welche grammatischen Mittel ausgedrückt werden, kann sich von Sprache zu Sprache sehr unterscheiden. Im Deutschen ist das indoeuropäische Aspektpaar perfektiv/im-
atemporales Präsens, auch: generelles Präsens
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perfektiv verloren gegangen. Dafür haben sich mit Formen wie Ich bin noch am Überlegen Ansätze zu einem progressiven Aspekt herausgebildet. → Verb, Progressiv u atemporales Präsens, auch: generelles Präsens Präsens, das in allgemeingültigen, zeitlosen Aussagen verwendet wird (Zwei mal zwei ist vier; Die Erde dreht sich um die Sonne). → Präsens u Augmentation, Augmentativ(um) (von lat. augmentare ‚vermehren‘; engl.: augmentative) Als Gegenpart zur Diminution bezeichnet die Augmentation die Bildung von Wortformen mit dem semantischen Merkmal ‚groß‘, das normalerweise zusätzlich negativ konnotiert ist. Während manche Sprachen regelmäßige Bildung von Augmentativa ausweisen, spielt die Augmentation im Deutschen so gut wie keine Rolle, und es gibt kein grammatikalisiertes morphologisches Verfahren zur ihrer Bildung. → Wortbildung
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Aspekt
B u Betrachtzeit oder Bezugszeit, auch Betracht-/Bezugszeitpunkt (engl.: reference point) Zeitpunkt, in Beziehung zu dem ein Ereignis positioniert wird und der damit für die Bedeutung eines Tempus konstitutiv ist. Der Bezugszeitpunkt kann, muss aber nicht mit dem Sprechzeitpunkt identisch sein. → Tempus
atemporales Präsens, auch: generelles Präsens
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Aspekt
C u commodi: Dativus commodi (lat.: ‚Dativ des Bequemen‘) Der Dativus commodi, gelegentlich auch als sympathicus bezeichnet, ist ein sog. freier Dativ. In ihm steht die Person, zu deren Vorteil sich eine Handlung oder ein Ereignis vollzieht. Dabei wird die semantische Basisfunktion ‚Benefizient‘ fruchtbar gemacht, die auch für den Dativ als Objektskasus typisch ist. Zur praktischen Unterscheidung von Objekt und freiem Dativ wird schon von Jacob Grimm eine Ersetzungsprobe verwendet, bei der die Nominalphrase im Dativ durch eine mit für ersetzt wird; diese Ersetzung ist nur beim commodi, nicht aber beim Objekt möglich. Infolge von Sprachwandelprozessen können sich freie Dative des Typs commodi im Laufe der Zeit in Objekte verwandeln, so dass hier auch Übergangsphänomene möglich sind. → Dativ u Consecutio Temporum (lat.: ‚Abfolge der Zeiten‘) Regelsystem, das den Tempusgebrauch in subordinierten Sätzen festlegt. Die Tempuswahl erfolgt dann in Abhängigkeit vom Tempus des übergeordneten Satzes sowie davon, ob das im Nebensatz ausgedrückte Geschehen vor-, nach- oder gleichzeitig mit dem des Hauptsatzes erfolgt. → Tempus
atemporales Präsens, auch: generelles Präsens
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Dativ
D u Dativ 1
Definition und Semantik
Mit dem Begriff Dativ wird ein bei Verben wie ‚geben‘ – dessen lateinischer Entsprechung dare der Kasus seinen Namen verdankt – auftretender Kasus bezeichnet. Er kennzeichnet bei solchen Verben den Rezipienten, der als drittes Argument zum Agens (im Nominativ) und dem Patiens (im Akkusativ) hinzutritt: Ich gebe dem Papagei eine Nuss. Dies ist zugleich auch eine der prototypischen Funktionen des Dativs. Neben dem Rezipienten kann er auch die Person markieren, die etwas erfährt (meist mit dem englischen Begriff experiencer bezeichnet, beispielsweise: Mir graust vor der Prüfung, sowie diejenige, zu deren Nutzen sich eine Handlung vollzieht (Benefizient, z. B. Jetzt koche ich dir erst mal einen Kamillentee). Maldonado (2002: 8) beschreibt die prototypische Funktion des durch den Dativ ausgedrückten Objekts als Rolle, die zwischen Agens und Patiens angesiedelt ist: „less active than the agent and more active than the patient“, und Fillmore (1968: 24) definierte den Kasus in seinem berühmten Aufsatz „A Case for Case“ als: „the case of the animate being affected by the state or action identified by the verb“. In manchen Sprachen kann der Dativ zudem auch die Kodierung eines Handlungsziels übernehmen (z. B. lateinisch: honori esse ‚zur Ehre gereichen‘, wörtlich: ‚der Ehre sein‘; vgl. zu dieser Dativfunktion auch Blake 2001: 143). Etwas abstrakter formuliert können all diese verschiedenen semantischen Funktionen des Kasus zusammenfassend als „goal-oriented directionality and indirect affectedness by an event“ (Iggesen 2005: 95) beschrieben werden. Darüber hinaus kann der Dativ in vielen Sprachen – darunter auch das Deutsche – aber auch besitzanzeigende Funktionen übernehmen (vgl. Blake 2001: 143,149; Iggesen 2005: 95), so beispielsweise deutsch: Er starrte ihr auf den Busen oder serbisch: Gde ti je brat? (‚Wo ist dein Bruder?‘, wörtlich: ‚Wo dir ist Bruder?‘). Im Laufe der Sprachgeschichte hat der Dativ im Deutschen über seine ursprünglichen Funktionen hinaus auch die Funktionen des Instrumentals, des Lokativs und des Ablativs übernommen. Die Bedeutungen dieser verlorengegangenen indoeuropäischen Kasus wurden im Althochdeutschen noch vom Dativ allein, in den späteren Sprachstufen dann durch eine Kombina-
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Dativ
tion aus Präpositionen und Dativ ausgedrückt: mit dem Beil, in der Schachtel, ab diesem Punkt.1 Durch diese zusätzlichen Funktionen wird eine einheitliche semantische Bestimmung des Dativs im modernen Deutschen schwierig, und dies ist vermutlich der Grund, warum Autoren deutscher Grammatiken die Zuordnung einer Bedeutung beim Dativ wie bei allen anderen Kasus oft kategorisch ablehnen (vgl. z. B. Helbig/Buscha 2007: 255, 257 f.). Der Ausdruck der Herkunft, des Mittels, des Begleitumstandes oder des Ortes lässt sich in der Tat aus den angegebenen Dativ-Grundbedeutungen „indirekte Betroffenheit durch ein Ereignis“ oder „zielgerichtet“ nicht ableiten, und ein Kasus, der zur Anhabe der Herkunft bei (oder anstelle von) Präpositionen wie aus und von auftritt, würde normalerweise nicht als Dativ, sondern Ablativ bezeichnet; ein Kasus zum Ausdruck des Mittels als Instrumental, ein Kasus zum Ausdruck der Begleitung als Komitativ, einer zum Ausdruck des Ortes als Lokativ usw. Insofern trifft die Behauptung zu, dass der Dativ im Deutschen allzu Verschiedenes ausdrückt, um sich auf eine einheitliche Bedeutung zurückführen zu lassen. Übersehen wird dabei jedoch, dass die sekundär übernommenen Funktionen verlorengegangener anderer Kasus im modernen Deutschen nie durch den reinen Dativ, sondern stets durch Dativ in Kombination mit einer Präposition ausgedrückt werden. Nur in diesem Zusammenwirken beider Elemente, nicht durch den Dativ alleine, kann die entsprechende Bedeutung transportiert werden. Wenn der Dativ hingegen ohne Präposition gebraucht wird, lässt sich seine Bedeutung auch im Deutschen problemlos auf den prototypischen Kern mit den Funktionen Rezipient, Experiencer und Benefizient sowie Possessor zurückführen. 2
Formenbestand
Dativische Kasusmarkierungen können sich aus verschiedenen Quellen entwickeln. Ein möglicher Entwicklungsweg nimmt seinen Ausgang beispielsweise beim selben Verb ‚geben‘, von dem der Kasus auch seinen Namen bezieht (so etwa im Chinesischen; vgl. Her 2006). Zu den typischen Quellen für Dativ-Markierungen gehören ferner Konstruktionen zum Ausdruck einer Bewegung zu etwas hin (sog. Allative, vgl. Heine/Kuteva: 37 f.). So wird der Dativ im modernen Englischen und Französischen durch ursprünglich allative Präpositionen (to/à ‚zu‘) markiert, die sich nach dem Abbau der alten Kasusendungen zu Dativ-Präpositionen grammatikalisiert haben: I gave the
1 Zum althochdeutschen Dativ in Instrumental-, Lokativ- und Ablativfunktion vergleiche man Schrodt (2004: 85–87). Als Ersatz für den Ablativ wurde neben dem Dativ auch der Genitiv genutzt; man vergleiche beispielsweise Winkler (1896: 515–531).
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nut to the parrot; Je donne la noix au perroquet. Ob man hier von einem Dativ spricht, hängt von der Definition des Begriffs „Kasus“ ab. Im Deutschen hingegen sind noch Kasusendungen vorhanden, und eine Ersatzkonstruktion mit Präposition ist nur vereinzelt in Dialekten zu beobachten.2 Dabei ist die Markierung des Dativs im Verhältnis zu den anderen Kasus sehr stark. Zwar wird die substantivische Singular-Endung -e (Maskulina und Neutra; z. B. im Grunde, Venus im Bade) fast nur noch in formaler Sprache oder in festen Wendungen benutzt: dem Manne kann geholfen werden. Hingegen ist die pluralische Dativendung -n (den Kindern, den Leuten) zugleich die einzige Kasusmarkierung, die im Plural überhaupt auftritt. Bei Adjektiven (starke Deklination), Pronomina und Artikeln trägt der Dativ Singular zudem im Maskulinum und Neutrum mit -em (dem, jedem, schönem usw.) eine Endung, die im Unterschied zu den anderen Kasusmarkierungen nicht polyfunktional ist, die also wirklich nur beim Dativ Singular vorkommt und nicht noch andere grammatische Kategorien markiert. Im System der Personalpronomina ist der Kasus im Singular sowie in der 3. Person Plural ebenfalls durch nicht-polyfunktionale Formen gekennzeichnet (mir, dir, ihm/ihr, ihnen). In der 1. und 2. Person Plural ist er dagegen im Neuhochdeutschen mit dem Akkusativ zusammengefallen: uns, euch. Hier zeigt sich eine von zwei Tendenzen des Kasusabbaus, die im modernen Deutschen zu beobachten sind: der Zusammenfall von Akkusativ und Dativ zu einer einheitlichen obliquen Form. Alternativ dazu lässt sich etwa in alemannischen Dialekten aber auch ein Zusammenfall von Nominativ und Akkusativ beobachten (z. B. Berndeutsch: Mer gsee dr Haas ‚Wir sehen den Hasen‘; Beispiel nach Burri/Imstepf 2002: 21), von dem der Dativ dann unberührt bleibt. 3
Syntax und Funktionen im Deutschen
Dative können entweder direkt von einem Verb, einem Adjektiv oder einer Adposition regiert werden oder als so genannte freie Dative auftreten. Zu den Verben, die den Dativ regieren, gehören neben solchen mit drei Argumenten wie bringen, geben, liefern, schenken, schicken usw. (sog. ditransitive Verben) auch Verben wie ähneln, gefallen, helfen, nützen, schaden usw., die nur ein Objekt zulassen. Die grundlegende Kasusbedeutung mit dem Bedeutungsfeld Rezipient/Experiencer/Benefizient lässt sich in allen diesen Fällen gut erkennen.
2 So gibt es etwa im Bairischen und Alemannischen dativische Konstruktionen mit an und in, beispielsweise alemannisch (Zentralschweiz): Er hed’s nur i zwöi lüüte gsäit. ‚Er hat es nur zwei Personen gesagt.‘ (Seiler 2003: 130).
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Ebenfalls mit Dativ stehen ferner einige unpersönliche Verben wie grau(s)en, schaudern, schwindeln, wobei hier Konkurrenz zum Akkusativ besteht: Mich/mir graust/schaudert. Diese Kasuskonkurrenz tritt jedoch nur bei unpersönlichen Verben auf, da hier beide Kasus eine sinnvolle Interpretation der syntaktischen Relation zulassen.3 Bei Prädikaten mit Adjektiv wie Mir ist kalt/schlecht/schwindelig usw. kann hingegen ausschließlich der Dativ gebraucht werden, der hier zur Markierung des Experiencers dient.4 In diesen Fällen wird der im Dativ stehende Teil des Satzes auch als logisches oder psychologisches Subjekt bezeichnet, da er die Person repräsentiert, über die eine Aussage gemacht wird, während das formale oder grammatische Subjekt nur durch das Pronomen es (Es graust mir) repräsentiert wird, das bei entsprechender Satzstellung zudem weglassbar ist. Darüber hinaus kann der Dativ auch von einem prädikativ gebrauchten Adjektiv regiert werden: Bist du mir noch böse? Bei Grimm (1898/1989: 900–904) findet sich eine lange Liste semantischer Gruppen von Adjektiven, bei denen der Dativ auftritt, so etwa Liebe und Hass (er ist mir feind; ich bin dir gut), Nähe und Ferne (du bist mir nah; das liegt mir fern), Gleichheit und Ähnlichkeit (das ist mir gleich; er ist ihr ähnlich), Kunde (das ist mir bewusst/ bekannt) oder Möglichkeit (das ist mir möglich), um nur einige Beispiele zu nennen. Einige dieser Konstruktionen sind nicht mehr lebendig, aber die Mehrzahl ist auch heute noch gebräuchlich. Häufiger als beim Adjektiv erscheint der Dativ bei einer Adposition. Sowohl Prä- als auch Postpositionen können einen Dativ regieren: bei der Unterhaltung, zu meiner Freude, meiner Freundin zuliebe. Neben der festen Dativrektion, die in den vorgenannten Beispielen vorliegt, ist im Bereich der Adpositionen insbesondere die wechselnde Dativ-/Akkusativrektion bei lokalen Präpositionen von Interesse: während der Akkusativ hier zum Ausdruck der Richtung dient (wohin?), markiert der Dativ einen Ort (wo?). Minimalpaare wie Sie lief auf die Straße/Sie lief auf der Straße machen den semantischen Unterschied gut sichtbar, der hier ausschließlich durch den Kasusgebrauch markiert wird. Neben den von Verben, Adjektiven oder Präpositionen regierten Dativen gibt es auch solche, die nicht unmittelbar von anderen Teilen des Satzes abhängig sind und daher als freie Dative bezeichnet werden. Ihr Status ist aller3 Auch andere Verben zeigen Schwankungen zwischen Dativ- und Akkusativrektion. Eine ausführliche Analyse solcher sowohl diachron als auch synchron beobachtbarer Fälle von Dativ/Akkusativ-Konkurrenz findet sich bei Willems/Van Pottelberge (1998). 4 Anderson (2006: 84) nimmt im Gefolge von Fillmore (1971, zitiert nach ebd.) an, dass für eine Aussage wie I am warm prototypisch entweder Dativ oder aber eine lokativische Markierung („Place“) genutzt werden kann.
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dings nicht unumstritten, und manche Autoren – so etwa Engel (2004: 99) – stellen ihre Existenz grundsätzlich in Abrede.5 Traditionell werden die freien Dative in folgende semantischen Gruppen unterteilt: x x x x x
Dativus commodi und incommodi Dativus possessivus Dativus ethicus Dativus iudicantis finaler Dativ
Der Dativus commodi resp. incommodi, gelegentlich auch als sympathicus bezeichnet, nennt die Person, zu deren Vor- oder Nachteil sich eine Handlung oder ein Ereignis vollzieht. Semantisch deckt sich dieser Dativ somit mit der Basisfunktion Benefizient (im positiven wie im negativen Sinne), die auch für den Dativ als Objektskasus typisch ist. Da eine semantische Unterscheidung hier also nicht möglich ist, wird zur praktischen Unterscheidung von Objekt und freiem Dativ meist eine Ersetzungsprobe verwendet, bei der die Nominalphrase im Dativ durch eine mit für ersetzt wird. Diese Ersetzung, die übrigens bereits Grimm (1898/1989: 841) in seiner Deutschen Grammatik als Unterscheidungshilfe vorgeschlagen hat, ist nur beim freien Dativ, nicht aber beim Objekt möglich: Ich habe ihr das Buch geschenkt. = *Ich habe das Buch für sie geschenkt. (Objekt) Ich setze uns jetzt erst mal einen Tee auf. = Ich setze jetzt erst mal Tee für uns auf. (Dativus commodi) Eisenberg (2006: 298) widerspricht dieser Regel am Beispiel des Verbs kaufen, wo seiner Ansicht nach ein Dativobjekt vorliegt, obgleich eine Ersetzung mit für möglich ist (Ich habe dir/für dich ein Geschenk gekauft). Es ist jedoch schwer zu sagen, wie man die Aussage, dass bei kaufen trotz der Ersetzbarkeit durch eine Präpositionalphrase mit für ein Dativobjekt vorliegt, objektiv untermauern könnte; die Unterscheidung ist in beiden Richtungen nicht einfach. Die große Nähe zum Objekt ist denn auch der Grund, warum einige Autoren alle Dative dieses Typs als Objekte behandeln (vgl. z. B. „Semantisch handelt es sich […] um Aktanten […], sodass die Bezeichnung Dativobjekt berechtigt ist“ (Duden 2005: 827)). Die Ersetzbarkeit durch eine Präpositionalphrase mit für zeigt jedoch, dass die Bindung an das Verb in diesen Fällen zumindest schwächer ist als beim – nicht in dieser Weise ersetzbaren – „klas5 „Zu den Dativergänzungen sind auch die vielfach so genannten ‚freien Dative‘ zu rechnen, denn sie sind allesamt subklassenspezifisch, kommen also nur bei definierbaren Teilmengen der Verben vor.“ (Engel 2004: 99).
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sischen“ Objekt. Sie macht somit einen strukturellen Unterschied deutlich, der unabhängig davon, mit welchen Termini man die dadurch klassifizierten Gegenstände dann belegt, in der Sprache selbst offensichtlich durchaus gegeben ist.6 Weniger gut ersetzbar als der commodi ist der Dativus incommodi, der nur gegen eine eher unidiomatische Wendung wie zum Nachteil von oder zum Schaden von ausgetauscht werden kann. Trotzdem zeigt sich auch hier ein deutlich erkennbarer Unterschied, denn während bei einer entsprechenden Ersetzung des Objekts ein ungrammatisches Gebilde entsteht, kommt man bei einem freien Dativ zu einem grammatisch korrekten, wenn auch wenig idiomatischen Satz: Der Skandal hat ihm sehr geschadet. = *Der Skandal hat zu seinem Schaden/ Nachteil sehr geschadet. (Objekt) Die Vase ist mir zerbrochen. = Die Vase ist zu meinem Schaden/Nachteil zerbrochen. (Dativus incommodi) Dative des Typs in/commodi sind stets fakultativ, das heißt ihre Auslassung führt nicht zu einem ungrammatischen Satz (vgl. Die Vase ist zerbrochen). Gelegentlich findet man die Auffassung, dass diese Dative zu den Objekten resp. Komplementen zu zählen seien, da sie nur bei bestimmten Verben aufträten (vgl. z. B. Wegener 1985: 323; Zifonun 1997: 1342 f.; Engel 2004: 99). Dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass die Klasse der Verben nicht nur sowohl Handlungsverben wie aufsetzen als auch Vorgangsverben wie zerbrechen, sondern ebenso Kopulaverben umfasst. Ein Satz wie Ausgerechnet jetzt, wo sowieso schon alles drunter und drüber geht, ist mir auch noch der Kleine krank geworden! ist im entsprechenden Kontext sowohl grammatisch korrekt als auch idiomatisch, obgleich in werden ein Kopulaverb vorliegt und eine Abhängigkeit des Dativs vom Adjektiv krank ebenfalls nicht anzunehmen ist.7 Die Annahme einer ausschließlichen Steuerung über das Verb ist also offenbar auch dann problematisch, wenn man sich bei der Analyse des
6 Schon Grimm (1898/1989: 841) beschreibt das Phänomen, dass die Übergänge hier fließend sind: „Solcher dative, die zwischen dem vom verbum abhängigen casus in der mitte schweben, giebt es in der alten und neuen sprache eine menge, und der verschiedensten abstufung.“ 7 Ähnliche Fälle liegen auch vor in Konstruktionen wie: Sie war ihm die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann; Er war ihm zum Feind geworden usw. (vgl. auch Grimm 1898/1989: 899). Solche Beispiele widersprechen damit den gängigen Annahmen einer rein verbalen Steuerung, wie sie sich beispielsweise bei Schöfer (1992: 45) finden: „Die traditionell festgeschriebenen Dativfunktionen existieren nicht an sich und unabhängig von konkreten Verbbedeutungen, wie es die Termini dativus commodi, dativus possessivus oder dativus ethicus nahelegen […].“
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Phänomens auf das Deutsche beschränkt.8 So kommt auch Abraham (2006: 27) bei der Beurteilung des in/commodi und des im Folgenden behandelten possessiven Dativs zu dem Schluss: „German has a class of dative constituents which are not governed by the verb directly.“ Der Dativus possessivus wird in deutschen Grammatiken oft auch als Pertinenzdativ bezeichnet (z. B. Duden 2005: 826 f.). Wie bereits eingangs erwähnt wurde, ist die Bezeichnung des Possessors ebenfalls eine durchaus typische Dativfunktion, die sich so in zahlreichen Sprachen findet. Im Deutschen wird der possessive Dativ jedoch zunehmend abgebaut und findet sich heute fast nur noch im Zusammenhang mit der Bezeichnung von Körperteilen oder Kleidungsstücken (vgl. hierzu auch die Untersuchung von Krohn 1980). Als Ersetzungstest zur Bestimmung des possessivus kann die Ersetzung durch ein Possessivpronomen oder einen possessiven Genitiv verwendet werden, was allerdings in den meisten Fällen zu nicht ganz idiomatischen Sätzen führt: Er spuckte dem Schiedsrichter ins Gesicht. = Er spuckte ins Gesicht des Schiedsrichters/in sein Gesicht. (Dativus possessivus; Körperteil) Er spuckte seinem Kontrahenten aufs Trikot. = Er spuckte auf das Trikot seines Kontrahenten/auf sein Trikot. (Dativus possessivus; Kleidungsstück) Im Unterschied zum in/commodi ist der possessive Dativ in den meisten Fällen – insbesondere bei Körperteilen – nicht ersatzlos weglassbar (*Er spuckte ins Gesicht), sondern muss dann durch ein Possessivpronomen oder einen possessiven Genitiv ersetzt werden. Dies hat semantische Gründe: Während ein Satz wie Er spuckte in die Suppe auch ohne Angabe des Suppenbesitzers verständlich ist, bedarf ein Satz wie *Er spuckte ins Gesicht der zusätzlichen Information, zu welcher Person das Gesicht gehört, um verständlich zu sein. Auch der possessive Dativ wird gelegentlich mit der Begründung, dass er „(auch) von den Verben gesteuert wird“ (Duden 2005: 826), zu den Objekten gerechnet. Ohne semantische Einschränkungen des Beziehungsworts kann der possessive Dativ im Deutschen dann verwendet werden, wenn er zusammen mit einem Possessivpronomen auftritt. Diese Gebrauchsweise gilt nicht als standardkonform; sie lässt sich aber synchron im gesamten Sprachgebiet und historisch auch bereits im Mittelhochdeutschen nachweisen: den gîren ir bejac
8 In anderen Sprachen, so etwa den slawischen, tritt der Dativ des Benefizienten darüber hinaus auch bei Substantiven auf, man vergleiche beispielsweise russisch: podarok Nine ‚das Geschenk für Nina‘ (wörtlich: ‚Geschenk Nina-Dativ‘), serbisch spomenik Vuku Karadˇzi´cu ‚ein Denkmal für Vuk Karadˇzi´c‘ (wörtlich: ‚Denkmal Vuk-Dativ Karadˇzi´c-Dativ‘) usw.
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‚den Geiern ihre Beute‘ (Parzival 387,26, zitiert nach Paul 2007: 350); neuhochdeutsch: dem Vater sein Auto. Ähnliche dativische Possessivkonstruktionen lassen sich auch in anderen Sprachen beobachten und finden sich sogar dort, wo der Dativ durch eine analytische Form ausgedrückt wird: la vache au prêtre (Beispiel nach Grimm 1898/1989: 900). Der syntaktische Status dieser Form wird selten thematisiert. Bei Dürscheid (1999: 37) findet sich eine Bestimmung als „Attributkasus“. Um zu entscheiden, ob der possessive Dativ sowie der in/commodi eher als Angaben/Adverbial oder als Ergänzungen/Objekte einzuordnen sind, werden gelegentlich auch Passiv-Umformungen mit herangezogen (so etwa bei Dürscheid 1999: 39). Tatsächlich ist es auffällig, dass sowohl „klassische“ Dativ-Objekte als auch der possessive sowie der commodi sich zu Subjekten im f Dativ-Passiv umformen lassen: Sie schenkte ihm ein Buch. (Objekt) = Er bekam von ihr ein Buch geschenkt. Ich koche dir einen Tee. (commodi) = Du bekommst von mir einen Tee gekocht. Der Außenverteidiger spuckte dem Schiedsrichter ins Gesicht. (possessiv) = Der Schiedsrichter bekam vom Außenverteidiger ins Gesicht gespuckt. Aber diese Transformation ist keineswegs durchgehend möglich, wie die folgenden Beispiele zeigen: Er starrte ihr auf den Busen. (possessiv) = *Sie bekam von ihm auf den Busen gestarrt. Sie lief ihm weg. (incommodi) = *Er bekam von ihr weggelaufen. (Beispiel nach Abraham 2006: 13) Nicht möglich ist das Passiv außerdem naturgemäß bei Verben, die kein Agens implizieren (Vorgangs- und Zustandsverben): Der Brief fiel ihm auf den Boden. = *Er bekam vom Brief auf den Boden gefallen. Die Möglichkeit der Passivtransformation hat also offenbar weniger mit der Funktion des Dativs als vielmehr mit der Semantik des Dativpassivs zu tun (vgl. hierzu ausführlicher Abraham 2006: 13 f.) und ist als Nachweis für den syntaktischen Status des Kasus wenig geeignet. Im modernen Deutschen können in/commodi oder possessivus und Dativobjekt nicht gemeinsam auftreten, was etwa bei Dürscheid (1999: 39) als Beleg dafür gewertet wird, dass es sich nicht um einen freien Dativ handeln kann. Im Althochdeutschen finden sich demgegenüber noch Belege wie thaz suht ni derre uns mera lidin joh thera sela (Ortfrid 3,5,6, zitiert nach Schrodt 2004: 64, etwa: ‚dass uns Krankheit nicht mehr Glieder und Seele verdörre‘).
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Mit dem Terminus Dativus ethicus oder „ethischer Dativ“ erfasst man eine Dativfunktion, die Brugmann (1904/1970: 432) als Dativ „der Pronomina der 1. oder 2. Person zur Bezeichnung gemütlicher Beteiligung an der Handlung“ beschrieben hat. In anderen indoeuropäischen Sprachen, so etwa im klassischen Latein (Tu mihi istius audaciam defendis? ‚Du verteidigst mir noch die Frechheit dieses Menschen?‘, Beispiel nach Rubenbauer/Hofmann 1995: 142) oder im modernen Serbischen (Baˇs sam ti se naradila danas! ‚Heute hab ich mich dir aber abgearbeitet!‘, Beispiel nach Mrazovi´c/Vukadinovi´c 1990: 462), ist dieser Dativ teilweise wesentlich produktiver als im Deutschen, wo er in erster Linie im Kontext ermahnender Sprechakte vorzukommen scheint: Dass du mir ja nicht wieder zu spät kommst! Gelegentlich wird angenommen, dass er „primär als Dativ der Sprecherdeixis“ (Zifonun u. a. 1997: 1345), also in der 1. Person, gebraucht wird. Die starken Gebrauchsbeschränkungen haben dazu geführt, dass er von einigen Autoren im Deutschen nicht als Funktion des Dativs, sondern als erstarrte Form und deshalb als Partikel aufgefasst wird (so etwa bei Wegener 1989; ähnlich auch Thurmair 1989: 38–41). Auch bei Zifonun u. a. (1997: 1345) findet sich eine solche Zuordnung, hier wird sie allerdings ausdrücklich auf die Semantik beschränkt: „Der Dativus ethicus ist vergleichbar den Abtönungspartikeln als geltungsneutrale Diktumserweiterung zu betrachten.“ Im Unterschied zu den bisherigen Dativtypen gilt für den ethischen Dativ nicht die Einschränkung, dass er nicht zusammen mit einem Dativobjekt auftreten kann: Da schenkt mir dieser Trottel doch glatt seiner Freundin ein Paar Feinstrümpfe zum Geburtstag! Der Dativ „der Person, für deren Standpunkt die Aussage gilt“ (Brugmann 1904/1970: 433), wird traditionell mit dem Terminus Dativus iudicantis bezeichnet. Die Mehrzahl der modernen deutschen Grammatiken nimmt an, dass dieser Dativ durch „die Kombination von Adjektiv/Adverb/ Adkopula mit der präponierten Intensitätspartikel zu oder der postponierten Intensitätspartikel genug regiert wird.“9 (Zifonun u. a. 1997: 1344; ähnlich auch Eisenberg 2006: 287): Das ist mir zu langweilig; Ich bin dir wohl nicht gut genug? Breitere Verwendungsmöglichkeiten des iudicantis finden sich noch im Lateinischen: oppidum primum Thessaliae venientibus ad Epiro ‚die erste Stadt Thessaliens für den (wörtlich: dem), der von Epirus kommt‘ (zu diesem und weiteren Beispielen vgl. Brugmann 1904/1970: 433), aber auch
9 Unter einer „Adkopula“ verstehen Zifonun u. a. (1997: 55 f.) das, was andere Grammatiken als „prädikatives Adjektiv“ bezeichnen, also Elemente wie fit oder barfuß, die nur als Prädikativum oder prädikative Attribute auftreten können: Sie kam fit aus dem Urlaub zurück; Er war barfuß.
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in modernen slawischen Sprachen. Die Grenzen zwischen ethicus und iudicantis sind gelegentlich nur schwer zu ziehen. So könnte man in einer Wendung wie Du bist mir vielleicht ein Kamel! durchaus von einem iudicantis ausgehen: ‚aus meiner Sicht, für mich bist du ein Kamel‘; gewöhnlich werden solche Fälle jedoch als ethicus gedeutet. Zu dieser Zuordnung mag die Tatsache, dass der iudicantis im modernen Deutschen als auf Konstruktionen mit zu/genug beschränkt angesehen wird, sicherlich einiges beitragen. Finale Dative drücken den Zweck einer Handlung aus. Sie kommen im Deutschen nur noch zusammen mit nachgestellten Präpositionalphrasen vor, von denen einige bereits zu Postpositionen grammatikalisiert sind: jemandem zuliebe, zum Trotz, zum Gefallen, zu Ehren usw. (vgl. hierzu auch Grimm 1898/1989: 900), und werden in den modernen Grammatiken des Deutschen nicht gesondert behandelt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der modernen Grammatikschreibung des Deutschen eine starke Tendenz zu beobachten ist, den Dativ als reines Valenzphänomen zu betrachten und die Existenz freier Dative entweder grundsätzlich oder zumindest im Fall des in/commodi und des possessiven Dativs als widerlegt anzusehen. Wie sich gezeigt hat, ist dies jedoch nicht ganz unproblematisch. Auch wenn einerseits die Grammatikalisierung in den meisten Fällen so weit fortgeschritten ist, dass eine feste Bindung und damit eine Dativrektion entstanden ist, so ist andererseits doch auch die eingangs beschriebene Bedeutung des Kasus noch erhalten und kann auch ohne regierendes Element abgerufen werden. Die Übergänge sind hier graduell, was zu Problemen führen kann, wenn man den syntaktischen Status des Kasus in einem gegebenen Satz (Objekt vs. Adverbial bzw. Ergänzung/Komplement vs. Angabe/Supplement) genauer bestimmen will. Literatur Abraham, Werner (2006): „Introduction. Datives: Structural vs. inherent – abstract vs. morphological – universally vs. language-sepcifically configured?“. In: Hole, Daniel P./Meinunger, André/Abraham, Werner (Hrsg.): Datives and other Cases. Between Argument Structure and Event Structue. Amsterdam/Philadelphia, Benjamins: 3–46. (= Studies in language companion series 75). Anderson, John M. (2006): Modern Grammars of Case. A Retrospective. Oxford u. a.: Oxford University Press. Blake, Barry J. (2001): Case. 2. edition. Cambridge u. a.: Cambridge University Press. (= Cambridge textbooks in linguistics). Brugmann, Karl (1904/1970): Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Auf Grund des fünfbändigen, Grundrisses der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen von K. Brugmann und B. Delbrück‘ verfasst. Strassburg 1904: Trübner. Photomechanischer Nachdruck. Berlin 1970: de Gruyter. Burri, Gabriela/Imstepf, Denise (2002): „Kontrastive Grammatik Berndeutsch/Standarddeutsch. Einige ausgewählte Aspekte“. Linguistik online 12, 3/02: 19–36. http://www. linguistik-online.com/12_02/burriImstepf.pdf. Stand 27. 6. 07.
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Elke Hentschel
Deadjektivum
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u Deadjektivum Aus einem Adjektiv abgeleitetes Wort wie Schönheit (zu schön) oder begrünen (zu grün). → Wortbildung u definitivus, Genitivus (von lat. definire ‚bestimmen‘) Der Begriff „Genitivus definitivus“ wird meist synonym mit Genitivus explicativus verwendet und bezeichnet Konstruktionen wie: ein Strahl der Hoffnung, die Schrecken der Verzweiflung. Genitive dieser Art drücken eine nähere Bestimmung des Beziehungswortes aus und werden daher gelegentlich auch als „Definitionsgenitive“ bezeichnet. Wenn ein Unterschied zwischen Genitivus definitivus und Genitivus explicativus gemacht wird, dann wird der definitivus als Ausdruck einer Gleichsetzung (die Pflicht der Dankbarkeit ⇒ Die Dankbarkeit ist eine Pflicht), der explicativus als Ausdruck einer Bedeutungs-Relation (ein Strahl der Hoffnung ⇒ Der Strahl bedeutet Hoffnung) definiert. → Genitiv u Deklination (von lat. declinare ‚biegen‘) Wenn nominale Wortarten wie Substantive, Adjektive oder Pronomina morphologisch verändert werden, um grammatische Kategorien auszudrücken, so spricht man von Deklination. Die Deklination dient dem Ausdruck von Kasus, Numerus, Genus sowie – insbesondere bei Adjektiven – auch Definitheit. → Substantiv, Adjektiv u deontische Modalität (engl.: deontic modality) Der Begriff der deontischen Modalität wird unterschiedlich weit gefasst. Sie kann in der weitesten Lesart als Gegenbegriff zur epistemischen Modalität alle Geltungsbedingungen umfassen, die nicht der persönlichen Einschätzung der sprechenden Person entspringen, sondern objektiv gegebenen Möglichkeiten oder Notwendigkeiten, und wird in dieser Bedeutung häufig zur Einteilung des Gebrauchs von Modalverben verwendet. Im engeren Sinne bezeichnet deontische Modalität die Modalität der Verpflichtung oder Erlaubnis. → Modalität
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Diminution, Diminutiv(um)
u Derivation (von lat. derivare ‚ableiten‘; engl.: derivation) Unter Derivation versteht man die Ableitung eines Wortes aus einem anderen. Man kann dabei zwischen expliziter, d. h. mittels spezifischer Wortbildungsaffixe durchgeführter, und impliziter Derivation unterscheiden. Explizit wären Derivationen wie freundlich (aus Freund und -lich) oder Lehrling (aus lehren und -ing); implizit solche wie senken zu sinken. → Wortbildung u Desubstantivum Aus einem Substantiv abgeleitetes Wort wie salzen oder salzig (zu Salz). → Wortbildung u Determination Bei Komposita des Deutschen stehen die beiden miteinander verknüpften Elemente typischerweise in einer Determinans-Determinatum-Beziehung: das erste Element bestimmt das zweite näher. So wird in Filterkaffee das Determinatum Kaffee durch das Determinans Filter näher bestimmt, und in hellblau bestimmt hell näher, um was für eine Art von blau es sich handelt. → Wortbildung u Deverbativum Aus einem Verb abgeleitetes Wort wie Sammlung (zu sammeln) oder Band (zu binden). → Wortbildung u Diminution, Diminutiv(um) (von lat. deminuere ‚verkleinern‘; engl.: diminutive) Wortbildungen bei Substantiven und Verben, die dem Ausdruck einer semantischen „Verkleinerung“ dienen, werden als Diminutiva bezeichnet. Während die Diminutivbildung bei Substantiven im Deutschen nach wie vor produktiv ist und im Standarddeutschen mittels der Endungen -chen und -lein erfolgt (Haus – Häuschen, Bach – Bächlein usw.), ist die Bildung von Diminutiva bei Verben nicht mehr möglich. Historische Diminutivbildungen liegen jedoch beispielsweise in den Verben tänzeln ‚ein bisschen tanzen‘ oder hüsteln ‚ein bisschen husten‘ vor. → Wortbildung
ditransitiv
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u ditransitiv (engl.: ditransitive) Als ditransitiv werden insbesondere in der Typologie Verben bezeichnet, die neben dem Subjekt noch zwei Objekte haben: ein direktes und ein indirektes (oder ein primäres und ein sekundäres). Prototypische Verben dieser Art sind solche mit der Semantik ‚geben‘. Sie können auch in Sprachen wie dem Chinesischen, die normalerweise nur ein Objekt pro Verb zulassen, mit zwei Objekten verbunden werden. → Kasus u Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt 1
Die Doppelumschreibungen
Bei Otto Behaghel findet sich in seiner Deutschen Syntax. Eine geschichtliche Darstellung im Kapitel über die „Perfektumschreibungen“ ein Hinweis auf die folgende Stelle aus Goethes Wilhelm Meister als Beispiel für die im Neuhochdeutschen auch begegnenden „Doppelumschreibungen“ (Behaghel 1924: 271): (1) In dem Augenblick fühlte er sich am linken Arm ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte sich versteckt gehabt, hatte ihn angefaßt und ihn in den Arm gebissen. (J. W. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 186) Mignon hatte sich versteckt gehabt und nicht einfach hatte sich versteckt. Dieser Beleg ist in der Folge immer wieder angeführt und in der grammatischen Literatur diskutiert worden. Er ist ein Kronzeuge nicht nur für die Bildbarkeit, sondern auch für die funktionale Angemessenheit und vor allem für die stilistische Unbedenklichkeit der Fügung, wenn sie sich sogar bei Goethe findet und nicht nur in der mündlichen Umgangssprache. Die Berufung auf diesen und vergleichbare Belege hat allerdings auch die Konsequenz, dass die Funktion der Fügung vor allem in ihrer Abgrenzung zum Plusquamperfekt behandelt worden ist. In dem Beleg aus Wilhelm Meister wird sehr schön deutlich, wie eine dreifache Staffelung von Erzählmomenten durch die Verwendung von drei unterschiedlichen Vergangenheitstempora erzielt wird: der Fluss der Erzählung mit dem kontinuierlichen Voranschreiten des Erzählganges im Präteritum, dem prototypischen Erzähltempus in elaborierten schriftlichen Texten, verbal markiert in einem fixierten Punkt, der, wie hier, auch komplex sein kann (fühlte er sich am linken Arm ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz). Dazu wird eine „Vorgeschichte“ angeführt: Mignon hatte ihn angefaßt und ihn in den Arm gebissen, und zu dieser Vorgeschichte eine weitere: Sie hatte sich versteckt gehabt. Das doppelte Plusquamperfekt tritt hier
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Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
organisch in Funktion, es lässt sich gleichsam errechnen als eine komplexe Tempusform, die sich konsequent als Fortsetzung des Plusquamperfekts herausgebildet hat. Für diese Nutzung der Form in Erzähltexten lassen sich viele weitere Beispiele erbringen. Und es lässt sich annehmen, dass sie auch hinter den Funktionen liegt, die die Form in anderen, weniger offensichtlichen Relationierungen in der Erzählabfolge von Ereigniselementen erkennen lässt. Die vor allem in der mündlichen Umgangssprache und in den Dialekten begegnenden Verwendungen eines doppelten Perfekts, etwa sie hat sich versteckt gehabt, sind teilweise etwas anders zu beurteilen, denn sie beziehen sich auf Systeme, in denen das Präteritum als primäre Erzählzeit seine Funktion verloren hat. Die Bildeweisen für die genannten Typen sind die folgenden: (2) Sie hat sich versteckt gehabt. – Sie hatte sich versteckt gehabt. (3) Er ist geflohen gewesen. – Er war geflohen gewesen. Dabei ist das Verhältnis von haben zu sein, wenn man die Belegsammlung von Litvinov/Radˇcenko (1998: 201–236) heranzieht, 287:139, was für die sein-Formen vergleichsweise hoch ist. Jedenfalls sind im Aktiv die Bildungen für beide Auxiliare relativ unrestringiert möglich. Der folgende Beleg mit dem Verb aufstehen, das die Perfekt- und Plusquamperfektformen mit sein konstruiert, aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre ist mit seiner dreifachen Staffelung von Erzählmomenten dem bereits angeführten Goethebeleg analog: (4) Der Major kam ziemlich müde auf sein Zimmer. Er war früh aufgestanden gewesen, hatte sich den Tag nicht geschont und glaubte nun das Bett bald zu ereichen. (J. W. Goethe, Ein Mann von fünfzig Jahren, S. 237; nach Litvinov/Radˇcenko 1998: 205) In dieser Form steht der Beleg allerdings nur in der Erstausgabe und darauf beruhenden Nachdrucken. In der Ausgabe letzter Hand ist das Partizip gewesen gestrichen, ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie mit der Konstruktion umgegangen wird: Sie ist zwar systematisch möglich, wird aber von der Norm nicht immer akzeptiert. Unter den bei Litvinov/Radˇcenko (1998) angeführten Belegen finden sich zwei, die textisoliert auch als Passivbelege aufgefasst werden könnten: (5) So kenne ich diese Art Briefe, wie Sie mir einen schreiben, seit 15 Jahren und die Studiumskrankheit, deren Symptome darin deutlich erkennbar, ist noch jedesmal bei der Premiere geheilt gewesen. (R. Strauss, Dokumente, S. 297; nach Litvinov/Radˇcenko 1998: 216)
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(6) Der Schädel war länger eingefroren gewesen. (E. M. Remarque, Zeit zu leben und Zeit zu sterben, S. 40; nach Litvinov/Radˇcenko 1998: 210) Wenn es sich dabei wirklich um Passivformen handelte, wären es Perfektbzw. Plusquamperfektformen des Zustandspassivs. „Echte“ Passivbelege des Doppelperfekts oder Doppelplusquamperfekts müssten lauten: (7) *So etwas ist bei der Premiere geheilt worden gewesen. (8) *Der Schädel war eingefroren worden gewesen. Solche Belege sind aber bislang nicht nachzuweisen. Warum es unwahrscheinlich ist, dass derartige Formen gebildet werden, wird in Abschnitt 2 ausgeführt. Die „Doppelumschreibungen“ sind in der grammatischen Literatur unter sehr verschiedenen Bezeichnungen behandelt worden, als „Superplusquamperfectum“ (Aichinger 1754), als „gestreckte Plusquamperfektformen“ (Duden 1998), als „Perfekt II“ und „Plusquamperfekt II“ (Litvinov 1969; Thieroff 1992; Buchwald 2005), meistens aber als „Doppelte Perfektbildungen“, so etwa in der Monographie von Litvinov/Radˇcenko (1998) und bei Hennig (2000). Diese Autoren behandeln unter dieser Bezeichnung sowohl die entsprechenden Perfekt- als auch die Plusquamperfektformen. Wenn die Doppelformen zusammenfassend gemeint sind, werden sie im Folgenden, wie bei Litvinov/Radˇcenko (1998), mit DPF bezeichnet. Bevor auf die Grammatik der Fügungen in der Schriftsprache und in den Dialekten eingegangen wird, sind zwei Bereiche zu klären, die auf den ersten Blick methodisch völlig unterschiedlich zu beurteilen sind, die aber doch zusammengehören: die Konstitution des deutschen Tempussystems in historischer Sicht im Bereich der Vergangenheitsbezeichnungen und die Beurteilung der DPF in den Grammatiken und sprachkritischen Arbeiten. Dass die DPF zum Randbereich der Tempusformen gehören, zeigt sich schon darin, dass die Zahl der in der Schriftsprache vorkommenden Belege überschaubar ist. Die bis 1998 ermittelten 426 Belege sind vollständig bei Litvinov/Radcˇ enko (1998) verzeichnet. 2
Die Vergangenheitstempora im Deutschen und die DPF
Die DPF haben ihren Platz im System der deutschen Tempora zur Wiedergabe von erzählten Ereignissen. Litvinov/Radˇcenko (1998) gehen in ihrer Abhandlung mit vollem Recht davon aus, dass der hierher gehörende Teil der Tempusproblematik, nicht nur im Deutschen, sondern universal, in den für das Erzählen relevanten Teil der Tempuslogik gehört. Darüber hinaus sagen sie: „Das Plusquamperfekt II des Indikativs gehört in eine Erzählung; das gilt
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prinzipiell. Eine andere Verwendung schließt sich aus.“ (Litvinov/Radˇcenko 1998: 163). Die doppelten Perfekt- und Plusquamperfektformen erfüllen damit eine spezielle Funktion bei den Vergangenheitstempora: Sie relationieren mit morphematischen Mitteln Ereignisse zur Orientierung des Hörers über den Ablauf von Ereignisketten. Da bei kohärentem Erzählen die Abfolge der Ereignisse generell ein Problem bei der Wiedergabe darstellt, und wie schon das recht knappe Eingangsbeispiel zeigt, sehr komplex sein kann, sind explizite morphematische Mittel besonders gut geeignet, solche Probleme zu lösen. Der im Deutschen schriftsprachlich standardmäßig begangene Weg ist die Einlagerung von Plusquamperfekt in Erzählkontexte, die im Präteritum gehalten sind. Ein kurzer Blick auf die deutsche Sprachgeschichte zeigt, dass sich diese Möglichkeit erst nach und nach herausgebildet hat und dass sich vor und neben den heute vorkommenden Formen auch andere gefunden haben, die mit anderen Mitteln den gleichen Zweck erfüllen konnten. Bei vielen Betrachtungen von temporalen Systemen wird außer acht gelassen, dass es primär auf die Orientierung der Hörer/LeserInnen über die von den Sprechern wiedergegebenen Sachverhalte ankommt. Das aber ist nicht nur mit Mitteln des Tempussystems möglich, sondern, sofern die Sprache Anlagen dazu hat, auch mit anderen grammatischen Mitteln. So lässt sich im Deutschen über die Genera Verbi eine temporale Staffelung zu erzielen. Denn das Zustandspassiv führt bei den vergangenheitsbezüglichen Tempora gegenüber dem Vorgangspassiv und dem Aktiv regulär eine Zeitstufe zurück, wenn man eine sachlogische Betrachtung vornimmt, was sich der folgenden Entsprechungsliste entnehmen lässt: (9) Sie versteckt das Buch. = Das Buch wird von ihr versteckt. (10) Sie hat das Buch versteckt. = Das Buch ist von ihr versteckt worden. = Das Buch ist von ihr versteckt. (11) Sie hatte das Buch versteckt. = Das Buch war von ihr versteckt worden. = Das Buch war von ihr versteckt. (12) Sie hat das Buch versteckt gehabt. = Das Buch ist von ihr versteckt gewesen. (13) Sie hatte das Buch versteckt gehabt. = Das Buch war von ihr versteckt gewesen. Das Vorgangspassiv entspricht in seinem Zeitbezug dem Aktiv, während das Zustandspassiv eine Zeitstufe zurückliegt. So entspricht der Satz Das Buch ist von ihr versteckt nicht den Sätzen unter (9), sondern hat zur Voraussetzung, dass sie das Buch zu einem früheren Zeitpunkt versteckt hat, es entsprechen sich also die Sätze unter (10). Vergleichbares gilt für (11) bis (13). Es soll nicht behauptet werden, dass die temporalen Verhältnisse hier für alle Verbtypen und alle denkbaren Zeitstaffelungen adäquat wiedergegeben werden,
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sondern nur, dass das Perfekt und das Plusquamperfekt des Zustandspassivs gegenüber den anderen Genera Verbi aufgrund ihrer Resultativitätssemantik eine Zeitverschiebung erkennen lassen, die bei der mechanischen Gegenüberstellung der Formen, etwa sie versteckt es, es wird von ihr versteckt, es ist von ihr versteckt, nicht zutage tritt. Die Zeitverschiebung kann als Grund dafür angesehen werden, dass gestreckte Passivformen bislang nicht nachgewiesen werden können. Eine nochmalige Fokussierung nach rückwärts, also eine dreifach morphologisch markierte Vor-vor-vor-Zeitigkeit, mag zwar denkmöglich erscheinen, ist aber kaum zu erwarten. Vor- und Nachzeitigkeitsverhältnisse lassen sich auch mit rein lexikalischen Mitteln, vor allem passenden Adverbien, wiedergeben: So ließe sich das eingangs zitierte Beispiel aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre folgendermaßen umschreiben, wobei freilich die stilistische Meisterschaft der Textpassage verlorengeht: (1a) Mignon versteckte sich, fasste ihn dann am Arm an und biss ihn, worauf er einen heftigen Schmerz verspürte. Schließlich lässt sich eine archaische Möglichkeit des Erzählens denken, bei der die Ereignisse direkt analog der Abfolge in der Wirklichkeit, also in chronologischer Folge wiedergegeben werden. Der Satz (4) ließe sich dann so umschreiben: (4a) Der Major stand ziemlich früh auf, schonte sich den ganzen Tag nicht, kam ziemlich müde auf sein Zimmer und glaubte nun das Bett bald zu erreichen. Diese ikonische Form gilt als stilistisch dürftig, ist aber jederzeit möglich. Weiter sind die im Zusammenhang mit den DPF begegnenden Probleme immer im Zusammenhang mit der Tatsache zu berücksichtigen, dass auch das Präteritum und die darauf bezogenen relationalen Tempora im Verbund mit anderen temporalen Mitteln stehen: dem in der Schriftsprache mit anderen Aufgaben behafteten Perfekt – es ist in Erzählkontexten vor allem Tempus der Stellungnahme und des Resümees – und dem Präsens historicum. Das Deutsche verfügte nach Auffassung der meisten historischen Grammatiken ursprünglich nur über zwei Tempora, das Präsens und das Präteritum. Dies ist allerdings eine Sichtweise, die genau die Elemente, die eben als kompensierende für die temporalen genannt wurden, außer Betracht lässt. Das frühe Althochdeutsch hatte ein ausgefeiltes relationierendes System, in dem Verlaufsformen, Zukunftsbezeichnungen, aber auch Resultativformen vorkamen, die periphrastisch über die Kombination der Verben sein und werden mit den Partizipien I und II zum Ausdruck gebracht werden konnten (vgl. Schrodt 2004).
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Im Alt- und Mittelhochdeutschen lassen sich mit dem Partizip I paarige Konstruktionen der folgenden Art bilden: (14) Tho was er bóuhnenti, nales spréchenti (Otfrid I, 4,77) ‚Da war er Zeichen gebend, aber nicht sprechend.‘ versus (15) Tho ward múnd siner sar spréchanter (Otfrid I, 9,29) ‚Da wurde sein Mund sogleich sprechend.‘ Noch im Nibelungenlied finden sich diese Parallelbildungen: (16) daz wil ich immer diende umbe Kriemhilde sîn (Nibelungenlied 540,4) ‚das will ich um Kriemhild immer dienend sein/dafür will ich mich Kriemhild stets verpflichtet fühlen.‘ (17) jâ wirt ir dienende vil manic wætlîcher man (Nibelungenlied 1210,4) ‚Ja, es wird ihr dienend sein gar mancher stattlicher Mann/ja, es werden ihr viele gestandene Männer dienstbar sein.‘ Das Partizip II und das Auxiliar sein verbinden sich mit intransitiven Verben in Aktivkonstruktionen – dass es auch Verbindungen mit dem Auxiliar werden gegeben hat, kann hier vernachlässigt werden –, mit transitiven Verben werden mit sein und werden die Passivformen gebildet. Die eher aspektuell-aktionsartlich bestimmten Formen mit dem Partizip I gehen ab dem späten Althochdeutschen allmählich verloren, weil sich neue Formen herausbilden, die hauptsächlich auf den Ausdruck von temporalen Verhältnissen abgestellt sind: das Perfekt und das Plusquamperfekt. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass ein Teil der eben genannten Partizip-Formen mit sein überlebt: Die Partizip II-Formen im Aktiv bilden den einen Bereich der sich ausbildenden Perfekt- und Plusquamperfektformen, sie sind alte Typen; die neuen Perfekt- und Plusquamperfektformen sind ursprünglich Prädikativkonstruktionen und werden mit haben gebildet. Eines der ersten Beispiele für diese im Althochdeutschen aufkommenden Konstruktionen findet sich im Tatian: (18) phigboum habeta sum giflanzotan in sinemo uuingarten (Tatian 102,2) ‚Jemand besaß einen Feigenbaum, gepflanzt in seinem Weingarten.‘ Durch Reanalyse wird im Laufe der Zeit bei diesen Konstruktionen ein Subjektsbezug hergestellt, so dass sich daraus ein periphrastisches Tempus ergibt, hier das Plusquamperfekt. Während die haben-Formen sich etwa im Englischen auf Kosten der seinFormen vollständig durchgesetzt haben, bleiben im Deutschen Reste der
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sein-Perfekta erhalten: Er ist geschwommen, sie ist gelaufen, im Oberdeutschen auch er ist gestanden, er ist gesessen. Zur temporalen Relationierung sind im älteren Deutsch außer den genannten periphrastischen Formen aber vor allem die verbalen Präfigierungen geeignet, besonders die Präfigierungen mit gi- bzw. ge-, die noch im Althochdeutschen und in abnehmender Zahl bis ins späte Mittelhochdeutsche zum Ausdruck von Vorzeitigkeit genutzt werden konnten (vgl. z. B. Solms 1991 und Eroms 1993), wie der folgende Beleg aus Wittenwîlers Ring zeigen kann: (19) So wol mir, daz ich euch gesach! (Wittenwîler, Ring 2038) ‚Wie schön, daß ich euch erblicken konnte.‘ Diese Relationierungen lassen sich auch als lexikalische bewerten, doch sind die ge-Präfigierungen in das morphologische verbale System eingebunden. Im Mittelhochdeutschen begegnen nun „echte“ Plusquamperfektformen jedoch zunehmend, sogar in unmittelbarer Nachbarschaft von mit ge- präfigierten Verben. Dafür sei das folgende Beispiel angeführt: (20) dô wir mit vreuden gâzen und dâ nâch gesâzen, und ich im hâte geseit daz ich nâch âventiure reit, des wundert in. (Iwein 369; nach Paul 2007: 290) ‚Als wir in froher Stimmung gespeist hatten und danach beisammen gesessen waren und ich ihm gesagt hatte, dass ich auf Abenteuer ausziehen wollte, wunderte er sich darüber.‘ Daraus lässt sich schließen, dass sich das gleiche Ziel (eindeutige Relationierung erzählter Ereignisse für den Hörer) auf verschiedenen Wegen erreichen lässt. Indem die aspektuellen und aktionsartlichen Markierungen schrittweise absterben und die „rein“ temporalen zunehmen, bekommt das Deutsche allmählich den Charakter einer Tempussprache, und es ist konsequent, dass auch die morphematische Signalisierung der Vorvorvergangenheit sich dieses Weges bedient. Das heißt, die Entstehung der DPF war zu erwarten. Der älteste bisher ermittelte Beleg stammt aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (pers. Mitt. Petra Vogel): (21) […], darumb dat vplouffe ind mancherleye vngelucke bynnen der Stat van Coelne vntstanden geweyst synt. (Dat nuwe Boych, S. 422)1 ‚[…], weshalb Aufruhr und manch Unheil in der Stadt Köln entstanden gewesen sind.‘
1 In: Quellen zur Geschichte der Stadt Köln. Chronikalischer Text, 1360–1396 (vgl. Graser/ Wegera 1978: 87). Vgl. http://www.ikp.uni-bonn.de/dt/forsch/frnhd/151.html; Seite 422, Zeile 07.
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Dass die Formen dann bereits im 16. Jahrhundert geläufig waren, geht aus folgenden Ausführungen Albert Ölingers von 1573 (nach der Ausgabe von W. Scheel 1897: 100) hervor: „In einigen Gegenden Deutschlands wird das Tempus des Plusquamperfekts durch die vollständige Vergangenheitsform des Hilfsverbs und das Partizip des Präteritums so konjugiert wie bei den Franzosen in Beispielen der folgenden Art: J’ay eu escrit, etc., also: Ich hab geschrieben gehabt / ich bin kommen gewesen / anstelle von ich hatte geschrieben / ich war gewesen / etc. Das wird aber nicht von jedermann gebilligt“.2 In diesem Zusammenhang ist es von besonderem Interesse, dass sich eben nicht nur im Deutschen diese Formen herausbilden, sondern dass sich auch in anderen Sprachen aus den gleichen Gründen funktionsäquivalente Formen finden. Gestreckte Formen sind belegt unter anderem im Mittelniederländischen (Ic hebbe gemint gehad ‚Ich habe liebgewonnen gehabt‘), Jiddischen (Ech wot gywejyn gyhat gylofn ‚Ich war gelaufen gewesen‘), Französischen (und anderen romanischen Sprachen) (das sog. „Surcomposé“: quand ils ont eu fini ‚als sie damit vollendet gehabt haben‘ = ‚fertig waren‘) oder Tschechischen (Kdyˇz uˇz jsme byli nastoplí ‚Als wir aufgebrochen gewesen waren‘ (Beispiele nach Litvinov/Radˇcenko 1998: 59–98, die noch mehr Sprachen anführen). Nelson/Manthe (2007: 143–145) können zeigen, dass es bereits lateinische Vorbilder für die frühromanische Perfektverschiebung gibt. Auffällig ist weiterhin, dass sogleich mit dem Aufkommen der DPF im Deutschen deren Bewertung kontrovers ist, wie das Zitat aus der Grammatik von Ölinger zeigt. Auch hier ist eine Parallele zu anderen Sprachen zu verzeichnen. Mit den französischen Formen hat sich Appuhn (1966) eingehender befasst. Bei seinen Untersuchungen registriert er zunächst, dass die Formen des Surcomposé in den meisten Grammatiken des Französischen angeführt, aber als nicht normgerecht beurteilt werden. Bei seinen Sprecherbefragungen stieß er dagegen zumeist auf Unverständnis, die bloße Existenz der Formen wurde überwiegend in Abrede gestellt – ein eindrucksvolles Zeugnis für die Normgläubigkeit. Denn demgegenüber kam Cornu (1953: 250) in seiner ausführlichen Abhandlung zu dem Ergebnis: „Ces formes, vieilles de sept siècles au moins, répondent […] admirablement au génie de la langue française […]. Ces constructions, de tout temps injustement méconnues, méritent d’y être reçues au même titre que les autres outils de la langue.“
2 „In quibusdam locis Germaniæ tempus plusquamperfectum, per præteritum perfectum verbi auxiliaris, & participium præteriti temporis ita coniugatur, vt & apud Gallos in eiusmodi exemplis, J’ay eu escrit, &c. vt, Ich hab geschrieben gehabt / ich bin kommen gewesen / pro ich hatte geschrieben / ich war gewesen / ec. id quod non omnes approbant.“
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Sowohl die DPF als auch die Surcomposé-Formen sind Bestandteile der jeweiligen Systeme, sie sind in ihrer Entstehung aus dem Bedürfnis zu erklären, eindeutige und im jeweiligen System in die aktuellen Trends sich einpassende Formmittel zu nutzen, um Signale für die Ereignisrelationierung in Erzählkontexten zu geben. Da sich die Signalisierung auch auf anderem Wege erreichen lässt, unterliegen diese Formen leicht der Kritik, andererseits ergibt sich daraus auch die Möglichkeit, dass sie nicht ausschließlich zu den Zwecken genutzt werden, um derentwillen sie entstanden sind. Welches die primäre Funktion und welches die abgeleiteten sind, soll im Abschnitt 3 behandelt werden. Die Doppelformen sind, trotz ihres relativ hohen Alters, in der Schriftsprache selten belegt. Denn einmal sind die Ausdrucksbedürfnisse für diese Randformen des Systems begrenzt, andererseits unterliegen solche Formen gerade deswegen besonders dem Verdikt der normativen Grammatik, die seit je neue, seltene und vermeintlich irreguläre Bildungen beharrlich bekämpft. Ein Beispiel an Hand der wechselnden Bewertung in den Dudengrammatiken findet sich bei Hennig (2000: 79). In der grammatischen Forschung finden die Konstruktionen aber Aufmerksamkeit. Außer dem schon angeführten Aufsatz von Appuhn haben sich unter anderem Litvinov (1969), Thiel (1964), Sherebkov (1971), Eroms (1984), Hennig (1999) und Buchwald (2005) damit befasst. In Grammatiken und Abhandlungen zum Tempussystem werden die Formen unter anderem bei Hauser-Suida/Hoppe-Beugel (1972), Thieroff (1992), Hennig (2000) und Vater (2007) eingehend behandelt. Und es liegen auch drei Monographien zu dieser Thematik vor, Breuer/ Dorow (1996), Litvinov/Radˇcenko (1998), sowie neuerdings Rödel (2007). Besonders die letztere Untersuchung widmet sich ausführlich und abwägend so gut wie allen Aspekten des Problembereichs und diskutiert die semantischen, insbesondere die zeitlogischen Verhältnisse und die Stellung der Konstruktionen im Rahmen des gesamten deutschen Verbsystems. 3
Die Grundfunktion der DPF in der deutschen Standardsprache
3.1
Die doppelten Plusquamperfektformen
Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass von den temporalen Doppelformen in den Schriftregistern der Standardsprache fast ausschließlich nur die doppelten Plusquamperfektformen begegnen, die doppelten Perfektformen sind überwiegend auf die mündlichen Register beschränkt. Da auch in der Tempusforschung seit geraumer Zeit die grammatischen Systeme realistisch, das heißt in Bezug auf ihr Gesamtvorkommen, und nicht mehr in Beschränkung auf die schriftliche Standardsprache gedeutet werden, muss ein Vorgehen, bei dem dennoch von der Schriftsprache ausgegangen wird, be-
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Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
gründet werden. Die Rechtfertigung ist darin zu suchen, dass die Doppelformen eine Markierung für die genauere Relationierung erzählter Ereignisse abgeben. Sie stehen, wie in Abschnitt 2 ausgeführt, im Zusammenhang mit der allmählichen Umpolung des Deutschen von einer aktional-aspektuellen Sprache zu einer „rein“ temporalen. Mit den Doppelformen wiederholt sich der Vorgang, der schon bei den Plusquamperfektformen zu beobachten war: Erzählte Ereignisse werden im Erzählfluss auf einer Erzählebene fixiert, Tempusintervalle werden auf zusätzliche, in der Vorvergangenheit liegende Betrachtzeitpunkte bezogen. Dies gilt für die doppelten Perfektformen und für die doppelten Plusquamperfektformen gleichermaßen. Da einerseits die doppelten Perfektformen in den schriftsprachlichen Registern und andererseits die doppelten Plusquamperfektformen in den mündlichen Registern bis auf wenige Streubelege nicht begegnen, darf von der Annahme ausgegangen werden, dass hier komplementäre Erweiterungsmöglichkeiten des Systems vorliegen, allerdings mit dem Unterschied, dass mit den doppelten Plusquamperfektformen eine weitere Stufe erreicht wird. Dies ist zunächst eine systembezogene Sichtweise, mit der sich die Formen tempuslogisch und -semantisch erklären lassen. Aus der Tempusforschung ist aber auch bekannt, dass über die isolierbaren und zu errechnenden Funktionen von Tempora hinaus die Vorkommen in den Kontexten einbezogen werden müssen. Denn wie schon angedeutet, sind die Doppelformen ja nicht systematisch zwingend nötig, ihre Funktion, die Relationierung auf eine weitere Vergangenheitsebene, kann auch mit anderen Mitteln erreicht werden. Daher können die Doppelformen dazu tendieren, einfach auch nur auffällige Signale für die Erzählung zu geben, ohne dass die Markierung der Vorvergangenheit in den Vordergrund tritt. Dies ist bei den doppelten Perfektformen, besonders im dialektalen Gebrauch zu beobachten. Die doppelten Plusquamperfektformen in der Schriftsprache sind nicht so stark verselbstständigt, dass man von einem bloßen weiteren Erzähltempus sprechen könnte, im Gegensatz zu den Plusquamperfektformen, die sich hin und wieder in Erzählketten finden, wie es in den folgenden Beispielen der Fall ist, bei denen neben dem einfachen Plusquamperfekt jeweils ein doppeltes Plusquamperfekt zur Markierung einer dazu benötigten Vorzeitigkeit begegnet: (22) Besonders gewurmt hatte es die Bourdin, daß sie als „Schlampe“ angeherrscht worden war. Und doch hatte sie es so gut gemeint gehabt. Aber wieso – das hatte sie verschwiegen, und der Inspektor erfuhr es jetzt von Gerhard: sie hatte sich bei Madame de Kargané dafür entschuldigt, daß ihr Zimmer schon vergeben sei. (E. Jünger, Eine gefährliche Begegnung, S. 128)
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(23) Zum Glück war am Abend zuvor Frau Varnbühler-Bühlow-Wachtels Esel Bileam gestorben. Zum ersten Mal hatte Karl von Kahn kein Gesprächsprogramm vorbereitet gehabt. Während er Amadeus bei Gundi angeschaut hatte, war Bileam gestorben. Noch an keinem Wochenende hatte Karl versäumt, das Gespräch mit der dreifachen Witwe für Montagmorgen vorzubereiten. Jetzt war sie praktisch das vierte Mal Witwe. Und Bileam war erst dreizehn gewesen. (M. Walser, Angstblüte, S. 434) Der Bezug auf eine Betrachtzeit, die vor der Erzählzeit liegt, ist bei den Plusquamperfektformen immer gegeben, genauso wie die Etablierung einer Vorvorvergangenheit bei den doppelten Plusquamperfektformen. Das sei an einem Beleg, der in der Sammlung bei Litvinov/Radˇcenko (1998) angeführt wird, gezeigt: (24) Diese Leute wußten nicht, woran sie waren. Die meisten derer, die zur Insel hatten gehen sollen, waren schon in den Gang eingedrungen gewesen, als der plötzlich durch eine mächtige Stein- und Erdmasse von oben zugeschüttet worden war. (K. May, Der Schatz im Silbersee, S. 522; nach Litvinov/Radˇcenko 1998: 209) Die in der Tempuslogik etablierte Bezugnahme auf die Kategorien Sprechzeit sowie Erzählzeit und Betrachtzeit als Tempusintervalle der Vergangenheit mit den darin jeweils zu markierenden Referenzpunkten lassen sich für unsere Zwecke so angeben: Th < ti & ti
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tät dieser Tempora, das heißt ihren möglichen Bezug etwa auf Intervalle, die noch ausstehen, ab. Die auf den ersten Blick hochkomplex erscheinende Tempussemantik lässt sich kognitiv aber dennoch relativ leicht verarbeiten, weil die betrachteten und sprachlich gefassten Tempusintervalle linear abgearbeitet werden können. Dabei erlauben die in den Referenzpunkten manifesten Ereignisse jeweils die Rekonstruktion der betrachteten Zeiträume. Für die Erzählung als Ganzes kommt es zunächst nur auf die Relationierung der erzählten Ereignisse an. In unserem Beispiel heißt dies: Der Sprechzeitpunkt ist die im Roman eingenommene Erzählperspektive. Die kontinuierliche Erzählung erfolgt im Präteritum: Diese Leute wußten nicht, woran sie waren. Vorzeitig zu dieser Ebene Tj liegt eine Betrachtzeit Ti, die einen Referenzpunkt ti enthält. Das ist der Moment, als [der Gang] plötzlich durch eine mächtige Stein- und Erdmasse von oben zugeschüttet worden war. Dieses Ereignis aus der Vorvergangheit zum Sprechzeitpunkt wird im Plusquamperfekt erzählt. Davor liegt ein weiteres Ereignis (Th mit dem Referenzpunkt th) das im doppelten Plusquamperfekt wiedergegeben wird: Die meisten derer, die zur Insel hatten gehen sollen, waren schon in den Gang eingedrungen gewesen. Ob sich der mit dem doppelten Plusquamperfekt gefasste Zeitraum Th als „Resultat“ auffassen lässt, ist umstritten. Litvinov/Radˇcenko (1998: 133–144) sind der Ansicht, dass nicht generell von resultativen Verhältnissen gesprochen werden könne. Wenn man die im deutschen Verbsystem angelegte Gesamtsystematik einbezieht und auch das Passiv, und hier vor allem das Zustandspassiv betrachtet (vgl. die Tempusäquivalenzen 9–13 oben), dann mache jedoch in bestimmten Fällen die Redeweise vom Resultat Sinn. Litvinov/Radˇcenko (1998) zeigen das an einer Reihe von Beispielen, etwa: (25) Nach seiner Rückkehr erwarb er das steirische Jagdrevier, das er bis dahin nur gepachtet gehabt hatte. (P. Marginter, Freie Wildbahn, S. 232; nach Litvinov/Radˇcenko 1998: 142) In solchen Fällen der Verwendung der Doppelformen lassen sich die damit zum Ausdruck gebrachten sachlichen Verhältnisse – Markierung eines vorausliegenden Zustands als Rechtfertigung für eine in einer anderen Vergangenheitsform berichtete Handlung – auch als Resultat auffassen. Sedlaczek (2004: 288) weist darauf hin, dass das doppelte Plusquamperfekt vor allem dann verwendet wird, wenn ein Vorgang länger gedauert hat und als vollständig abgeschlossen gekennzeichnet werden soll, bevor eine weitere vergangene Handlung benannt wird. In (25) wäre allerdings auch die einfache Plusquamperfektform möglich gewesen, weil das Adverbial bis dahin die Vor-Vorzeitigkeit ausreichend sig-
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nalisiert. Ein Großteil der ablehnenden Beurteilungen der Konstruktion lässt sich damit erklären, dass, wie in diesem Beleg, in vielen Fällen nicht ihre Obligatorik nachgewiesen werden kann. Abgesehen davon, dass so etwas bei neu aufkommenden oder noch nicht ins grammatische System unbezweifelbar integrierten Konstruktionen ohnehin nicht möglich ist, kommt hier hinzu, dass auch die verbindliche Setzung des Plusquamperfekts nicht immer nachgewiesen werden kann, sehr häufig lässt sich in Erzähltexten Vorzeitigkeit auch durch das Präteritum in Verbindung mit geeigneten Adverbialia signalisieren. Dies ist eben auch bei den doppelten Plusquamperfektformen der Fall. Eine Gedankenoperation aus Breuer/Dorow (1996: 74 f.) kann zeigen, worum es dabei geht. Sie betrachten den folgenden Originalbeleg (26) aus Hauser-Suida/Hoppe-Beugel (1972: 260) und halten, wie auch Hauser-Suida/Hoppe-Beugel selber, hier mit Recht das doppelte Plusquamperfekt für obligatorisch, weil nur so die Vorzeitigkeitsschichtung zum Ausdruck gebracht werden könne: (26) Als Bressand seine Operntexte schrieb, hatte Herzog Anton Ulrich am Schlosse das 1688 vollendete Opernhaus gebaut und Musiker und Sänger berufen gehabt. (T. Thone, Wolfenbüttel – die Musenstadt, S. 7) Allerdings lasse sich der Beleg auch in das einfache Plusquamperfekt umformen, wenn man das Adverbial bereits hinzufüge: (26a) Als Bressand seine Operntexte schrieb, hatte Herzog Anton Ulrich am Schlosse das 1688 vollendete Opernhaus schon gebaut und Musiker und Sänger bereits berufen. Ihrem Fazit für das doppelte Plusquamperfekt lässt sich daher zustimmen: Zur Bezeichnung der Vorzeitigkeit eines resultativen Ereignisses reiche im allgemeinen das einfache Plusquamperfekt aus. „Das DOPLQUPF kann jedoch im Gegensatz zum Plusquamperfekt auch aus eigener Kraft, d. h. ohne den Zusatz von Temporaladverbien, eine Vor-Vor-Vergangenheit oder genauer die Vorzeitigkeit eines resultativen Ereignisses mit Bezug auf ein vorvergangenes explizites oder implizites Ereignis zum Ausdruck bringen. In dieser Funktion ist ihm ein einzigartiger Platz im Rahmen des deutschen Tempussystems zuzuweisen.“ (Breuer/Dorow 1996: 79) Was hier prägnant ausgedrückt ist, ist mehr oder weniger Konsens in der Forschung, die sich mit diesen Konstruktionen beschäftigt hat. So ist Thieroffs (1992) Entscheidung, dem doppelten Plusquamperfekt wie dem doppelten Perfekt einen regulären Platz im deutschen Tempussystem zuzuweisen, durchaus verständlich und auch wenn Litvinov/Radˇcenko (1998) letztlich doch bei der herkömmlichen Zahl von Tempusformen bleiben,
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Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
schreiben sie (ebd.: 172): „Auch wenn wir den DPF den Status von Standardtempusformen in der deutschen Morphologie absprechen müssen, können wir doch nicht umhin, ihren morphologischen Charakter anzuerkennen. Denn sie sind aus morphologisch gesicherten Bestandteilen aufgebaut. In diesem Fall sagen wir, daß die Tempuskategorie im deutschen Verb neben dem festen Formenbestand auch noch Möglichkeiten zu weiterer Formenbildung besitzt, und daß die PF-Erweiterung von verschiedenen Formen die wichtigste dieser Möglichkeiten ist.“ 3.2
Die doppelten Perfektformen
3.2.1 Zur Semantik der doppelten Perfektformen Wie mehrfach angesprochen, sind es die doppelten Plusquamperfektformen, die in der geschriebenen Sprache dominieren. Die doppelten Perfektformen sind dagegen in diesen Registern viel seltener zu finden. Indessen sind sie in der gesprochenen Sprache außerordentlich lebendig und haben, vor allem in den oberdeutschen Dialekten, bisweilen den Status eines regulären Erzähltempus erreicht. Darauf wird weiter unten eingegangen. Zunächst muss eine Erklärung für den Tatbestand gesucht werden, warum die doppelten Perfektformen in den standardsprachlichen Registern so überaus selten vorkommen. Hier lassen sich zwei Gründe anführen, die miteinander verbunden sind: Trotz subtiler Unterschiede im einzelnen sind sich die Grammatiker einig, dass die Grundsemantik der doppelten Perfektformen in ihrem Effekt weitgehend dem Plusquamperfekt entspricht. Hierfür sei auf das Resümee von Litvinov/Radˇcenko (1998: 167) verwiesen: „Unsere Beobachtungen lehren uns, daß, abgesehen von den eindeutig resultativen Fällen, das Perfekt II im Kontext der ‚besprochenen Welt‘, ausdrücklich Vorzeitigkeit in der Vergangenheit bezeichnet. Wir können nur bestätigen, was schon mehrmals behauptet wurde: das Perfekt II hat in Bezug auf das Perfekt I als Vergangenheitsform dieselbe Funktion zu erfüllen wie das Plusquamperfekt I in Bezug auf das Präteritum als Vergangenheitsform.“ Nach dieser Auffassung ist das Perfekt II also in der Umgangssprache die funktionale Parallelform des Plusquamperfekts in der Standardsprache, vor allem in den geschriebenen Registern. Umgekehrt ist diese Ansicht gleichzeitig auch als eine Teilerklärung für das Vorkommen und die Funktion in der mündlichen Kommunikation zu verstehen: Beide Register benötigen eine Vorvergangenheit und wenn in den mündlichen Registern das Präteritum nicht oder nicht mehr vorhanden ist, ist es konsequent, wenn das Perfekt II diese Funktion übernimmt. Da mündliche Register (bislang) nur äußerst sel-
Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
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ten verschriftet werden, muss sich der Eindruck aufdrängen, dass das Perfekt II einen Randplatz im deutschen Tempussystem einnimmt. Damit ist noch nicht gesagt, dass die Funktion des Perfekts II mit der des Plusquamperfekts in allen Vorkommen deckungsgleich sei. So weist Thieroff (1992: 214) dem Perfekt II, das er explizit auf das Perfekt I bezieht (und nicht pauschal auf die Vergangenheitstempora generell) folgende Formel zu: „E vor R2 & R2 vor R1 & R1 & nicht-vor S“ Das Perfekt II wird damit als ein weiteres Vorzeitigkeitstempus aufgefasst, das sich konsequent zum Perfekt, das Thieroff als „Vorzeitigkeitstempus“ und nicht als „Vergangenheitstempus“ ansieht, herausgebildet hat. Wie auch das Plusquamperfekt kann das Perfekt II sich als „einfaches“ Erzähltempus verselbstständigen; es gibt, wie jenes, ein starkes Signal für die Vergangenheit schlechthin. Ein Beispiel, das Litvinov/Radˇcenko (1998) anführen, kann zeigen, dass erstens das Perfekt II Vorzeitigkeit zur Erzählebene bezeichnet, zweitens, dass seine Funktion auf das Perfekt I als Erzähltempus bezogen ist, und drittens, dass in diesem Beleg aus der Schriftsprache ungezwungene Kommunikation, also „Näheregister“ simuliert werden soll: (27) Sie hatten Versammlung gehabt im Schriftstellerverband, Parteiversammlung, und der Frauenwein hat ein Referat gehalten, der Direktor von TKL … Der ist ja nicht dämlich, aber sein Referat hat er nicht vorbereitet gehabt. (H. Kant, Das Impressum, S. 357; nach Litvinov/Radˇcenko 1998: 165) Bei oberdeutschen Schriftstellern, besonders aus Österreich, ist das doppelte Perfekt gut zu belegen. (vgl. Sedlaczek 2004: 286–289). Es tritt zum Perfekt als normaler Erzählzeit als Vorzeitigkeitstempus hinzu: (28) Und da hat es gar nichts genützt, daß sie den Schmeller ein halbes Jahr später erschossen haben, weil die anderen Kollegen, die nicht dabei waren, haben es inzwischen längst aufgeschnappt gehabt und auch gesagt. (W. Haas, Auferstehung der Toten, S. 17) 3.2.2 Die doppelten Perfektformen in der gesprochenen Sprache Wenn im Folgenden davon ausgegangen wird, dass das doppelte Perfekt in der gesprochenen Sprache oder in Registern, die auf Mündlichkeit rekurrieren, seine Domäne hat, soll damit nicht der Eindruck erweckt werden, dass damit ein Rangunterschied zum schriftsprachlichen Register postuliert werde, woraus dann unter anderem abzuleiten wäre, dass man die Beobachtungen für die Erstellung eines Gesamtsystems der deutschen Tempusfor-
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Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
men vernachlässigen könne. Eher gilt das Gegenteil: Die mündlichen Register zeigen die progressiven Formen, die sich, wenn sie nicht normativer Druck oder auch andere Systemtendenzen zum Stillstand bringen, auf Dauer durchsetzen werden. Ob letzteres beim doppelten Perfekt der Fall sein wird, das heißt ob es in die schriftsprachlichen Register „aufsteigen“ wird, muss allerdings bezweifelt werden, denn die in der Forschung hervorgehobene Funktionsäquivalenz mit dem einfachen Plusquamperfekt zeigt, dass dieses und das Präteritum sich in den schriftsprachlichen Registern gegenseitig stützen, weil sie morphologisch aufeinander bezogen sind. Solange also das Präteritum in schriftbasierten Registern vorherrscht, wird das doppelte Perfekt das Plusquamperfekt sicher nicht verdrängen. Es darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass die Näheregister in der Sprache überhaupt quantitativ bei weitem dominieren. Vor allem ist in Rechnung zu stellen, dass die Tempora in der Mündlichkeit, von ihrer morphologischen Bildung abgesehen, auch anderen dominanten Funktionen gehorchen oder zumindest andere Verteilungen aufweisen. Für die DPF haben Hennig (2000) und Buchwald (2005) herausgearbeitet, dass in der gesprochenen Sprache vielfach eine einfache Erzählfunktion dominiert. So ist die folgende Hypothese, die Hennig (2000: 88) aufstellt, durchaus plausibel: „Der Gebrauch von DPF in der geschriebenen und gesprochenen Sprache unterscheidet sich dadurch, dass die DPF in der geschriebenen Sprache häufig besondere Funktionen erfüllen, die andere Vergangenheitstempora nicht übernehmen können; kennzeichnend für die gesprochene Sprache ist dagegen der Gebrauch als einfaches Vergangenheitstempus oder Tempus zur Bezeichnung von Vorvergangenheit, als synonym zu Perfekt und Präteritum bzw. Plusquamperfekt.“ Für die DPF unterscheidet sie in der gesprochenen Sprache vier Bedeutungsvarianten, von denen zwei mit dem doppelten Perfekt gebildet werden: 1. einfache Vergangenheit (Sprechzeit nach Ereigniszeit): (29) Die haben die Leute aus dem Verkehr herausgezogen gehabt. Ich habe das bemerkt und habe gebremst gehabt. (Hörbeleg; nach Hennig 2000: 93) 2. Vorvergangenheit (Sprechzeit nach Ereigniszeit 1 nach Ereigniszeit 2): (30) A: Als das Kind dann geboren war – euer Verhältnis? B: War, also bis zu dem Zeitpunkt, sagen wir mal ganz gut in Anführungsstrichen, ich hab gedacht gehabt, das wär wirklich die wahre Liebe, aber dann mittlerweile hat es ist dann rausgekommen, dass es ’ne Urlaubsliebe war und dass es doch nicht so war. (Talkshowkorpus; nach Hennig 2000: 93)
Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
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Hennig führt aus, dass die erste Funktion in der Literatur bislang so gut wie gar nicht beschrieben worden sei und sieht den Grund dafür darin, dass in dieser Funktion die Besonderheit des Perfekts II nicht hervortrete. Die einschlägigen Untersuchungen sowohl für das Alemannische als auch für das Bairische betonen in der Tat eher die Funktion der Vorvergangenheit, und das auf Grund der Prüfung zahlreicher Belege. Für das Schwäbische heißt es bei Gersbach (1982: 227): „Auch in der vorl. Untersuchung wurde festgestellt, daß dopp. Perf. ganz überwiegend auf ‚Vorvergangenheit‘ referiert, die Referenz auf ‚Vergangenheit‘ spielt demgegenüber kaum eine Rolle.“ Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die neueste Arbeit zum Bairischen, Eller (2006). Im Material des von ihr untersuchten bairischen Basisdialekts im Böhmerwald finden sich 15 Belege für das doppelte Perfekt. Der Großteil von ihnen markiert die Abgeschlossenheit einer Handlung (ebd.: 220 f.): (31) Wiara gschdoam gwen is, hods glai an andan ghod. ‚Als er gestorben gewesen ist, hat sie gleich einen anderen gehabt.‘ In gewissem Sinne lässt sich eine solche Verwendung als äquivalent mit dem Plusquamperfekt ansehen. Das ist auch bei dem folgenden Beleg der Fall (ebd.: 222): (32) De hods no da Schrifd afgschriem ghod und hods iwasedzd an Dialegd. ‚Die hat es nach der Schrift aufgeschrieben gehabt und hat es übersetzt in den Dialekt.‘ Bisweilen steht das doppelte Perfekt am Beginn einer Passage, um zu markieren, dass jetzt eine Erzählung beginnt (ebd.: 220): (33) Hama gsogd ghod, oile Joah songma mochma a wenig wenga. ‚Haben wir gesagt gehabt, jedes Jahr, sagen wir, machen wir ein wenig weniger.‘ Aber in den meisten Belegen ist doch auf irgendeine Weise das Vorausliegen der Handlungen, die erzählt werden, vor anderen, die im Erzählfluss darauf angeführt werden, für den Gebrauch des doppelten Perfekts bestimmend, wie im folgenden Beleg (ebd.: 220): (34) Des woa a Resonanzhoiz, des is e de ganze Weld ausgfiad woan van Behmawald, wai des is am langsaman gwochsn gwen dos Hoiz. ‚[…] weil das ist am langsamsten gewachsen gewesen, das Holz.‘ Alles dies sind eher Belege für die zweite von Hennig angeführte Funktion. Allerdings ist die Abschwächung dieser Markierung der Vorzeitigkeit im An-
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Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
satz erkennbar. Bei kontinuierlichem Erzählen ist jede Vergangenheitsform vom Sprechzeitpunkt aus gesehen ‚vorvergangen‘ in Bezug auf die folgende Vergangenheitsform (vgl. Eroms 1984: 350). Auffällig ist etwa im Bairischen die häufig begegnende Wendung Er/Sie hat gesagt gehabt, die beispielsweise bei Zehetner (1977: 112) angeführt wird. Hier kann die „Vorvergangenheit“ nur noch sehr vermittelt aufgedeckt werden. So kann sich auch das doppelte Perfekt als reine Erzählform verselbstständigen. Der Grund kann darin gesehen werden, dass es ein besonders deutliches Signal für die sprachliche Markierung der Vergangenheit gibt. 4
Die DPF beim Konjunktiv
Von besonderer Bedeutung für das deutsche Verbsystem ist es, dass die DPF auch im Konjunktiv vorkommen. Ja, hier sind sie offenbar sogar häufiger als im Indikativ und sie füllen eine Systemlücke, die sich dadurch ergeben hat, dass temporale Leistungen der beiden Funktionsgruppen des Konjunktivs im Deutschen nur sekundär erbracht werden können. Eine einfache Parallelsetzung des Konjunktivs mit dem Indikativ ist bekanntlich nicht mehr möglich. An den Verhältnissen im Konjunktiv I, dem Konjunktiv der „Indirektheitskontexte“, wie sie bei Zifonun u. a. (1997: 1753) bezeichnet werden, sei das im folgenden Abschnitt kurz gezeigt. Es wird deutlich, dass die bereits von Fourquet (1952) geäußerte Ansicht, dass die gestreckten Perfekt- und Plusquamperfektformen des Konjunktivs regulär bildbar seien (vgl. auch Eroms 1984, Thieroff 1992, Litvinov/Radˇcenko 1998, Hennig 2000), berechtigt ist. 4.1
Die Doppelformen des Konjunktivs in Indirektheitskontexten
(Fourquet 1952: 199) führt das folgende Beispiel an: (35) Er habe einmal bei einem Begräbnis einen Mann gesehen, der mit einer roten Nelke im Knopfloch erschienen sei. Dieser Mann habe vergessen gehabt, daß es für den Tod weder schwarz noch rot, noch schwarz-weiß-rot gebe. (Wiechert; nach Fourquet 1952: 199) Dieses Beispiel weist eine gestreckte Form mit haben auf und lässt kaum eine andere Möglichkeit zu. Litvinov/Radˇcenko (1998) führen auch Formen mit sein auf, die ebenfalls nicht durch einfache ersetzbar sind: (36) Erkundigungen in der Nachbarschaft hätten ergeben, daß Frau K. unmöglich verreist sein könne, auch nie verreist gewesen sei. (H. Böll, Gruppenbild mit Dame, S. 395; nach Litvinov/Radˇcenko 1998: 121)
Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
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An einem Beleg aus Eroms (1984: 348) sei die Leistung dieser Formen gezeigt: (37) „Wir waren einfach in Not“, berichtete die 37jährige Veronica Rahm. Aus gesundheitlichen Gründen habe sie den Pachtvertrag gekündigt gehabt und mit ihrer Familie auf der Straße gestanden. (Süddeutsche Zeitung vom 26. 1. 1982: 28) In Vergangenheitskontexten erlauben die Konjunktivformen im Deutschen keine Parallelsetzung zu den Indikativformen, weil sich der Bezug auf die Tempusstämme gelöst hat. Der Präteritalstamm drückt also nicht mehr die temporale Kategorie ‚Präteritum‘, sondern die funktionale Kategorie ‚Modalität‘ (Hypothese und Irrealität) aus, was in Indirektheitskontexten (bis auf die so genannten Ersatzformen) unangebracht ist. Die temporalen Relationierungen für die Vergangenheit werden daher durch haben- und sein-Konjunktive zum Ausdruck gebracht. So kann in Indirektheitskontexten im Konjunktiv auch nicht kontinuierlich erzählt werden, weil das Präteritum ausfällt, es kann nur jeweils punktuell ein vergangenes Ereignis in seiner Relation zu einem anderen Ereignis berichtet werden. Vor- und Nachzeitigkeitsrelationen können durch Adverbien ausgedrückt werden, aber mit den Konjunktivformen wird es möglich, die Relationierung morphologisch kompakt am Verb, ohne Zuhilfenahme eines Adverbials, auszudrücken. Wenn in (37) auf die Doppelformen verzichtet würde, müssten die temporalen Relationen etwa so zum Ausdruck gebracht werden: Aus gesundheitlichen Gründen habe sie zunächst den Pachtvertrag gekündigt und dann mit ihrer Familie auf der Straße gestanden. 4.2
Die Doppelformen des Konjunktivs in Modalitätskontexten
Entsprechendes gilt für Modalitätskontexte. Als Beispiel für Irrealität sei ein Beispiel aus Litvinov/Radˇcenko (1998) angeführt: (38) Aber wie hätte Rosa sich verhalten, wenn sie ihn als Blinden kennengelernt hätte? Er hätte viele Bücher nicht gelesen gehabt, hätte nicht von Farben sprechen können; er wäre Rosa als ein anderer begegnet. (E. Strittmatter, Der Wundertäter II, S. 247; nach Litvinov/Radˇcenko 1998: 123). Litvinov/Radˇcenko führen zu Recht aus, dass ohne die Doppelformen nicht zum Ausdruck gebracht werden könnte, dass Stanislaus die Bücher bereits gelesen hatte, bevor er Rosa kennenlernte. So zeigt sich an den Doppelformen im Konjunktiv zweierlei: Einmal geben die Formen die Möglichkeit ab, durch die verbale Periphrase und nicht
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Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
durch adverbiale Ausdrucksweisen die temporale Orientierung exakt vorzunehmen. In manchen Fällen erscheint die Verwendung dadurch obligatorisch zu sein. Zum andern zeigt sich, dass die temporale Orientierung als der Ausgangspunkt für die Herausbildung der Formen anzusehen ist. Wenn der Indikativ bei den doppelten Perfektformen in Erzählkontexten auch eine Tendenz zur Verselbstständigung zeigt, so lassen sich die Ausgangsbedingungen doch meist immer rekonstruieren. Mit den Doppelformen hat das Deutsche, wie so viele andere Sprachen auch, ein Mittel, über die verbale Ausdrucksweise Vorzeitigkeit und Vor-Vorzeitigkeit kompakt und eindeutig zu signalisieren. Literatur Aichinger, Carl Friedrich (1754): Versuch einer teutschen Sprachlehre. Frankfurt/Leipzig: Kraus. Appuhn, Hans-Günther (1966): „Die ‚hyperperiphrastischen Tempora‘ im Französischen und Deutschen“. Die neueren Sprachen 15 (N. F.): 237–243. Behaghel, Otto (1924): Deutsche Syntax. Band II: Die Wortklassen und Wortformen. B. Adverbium. C. Verbum. Heidelberg: Winter. (= Germanische Bibliothek. I. Sammlung germanischer Elementar- und Handbücher. I. Reihe: Grammatiken 10). Breuer, Christoph/Dorow, Ralf (1996): Deutsche Tempora der Vorvergangenheit. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier. (= FOKUS 16). Buchwald, Isabel (2005): „Zu den temporalen Bedeutungen von Perfekt II und Plusquamperfekt II im gesprochenen Deutsch“. In: Heine, Antje/Hennig, Mathilde/Tschirner, Erwin (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache – Konturen eines Faches. Festschrift für Barbara Wotjak zum 65. Geburtstag. München, iudicium: 40–56. Cornu, Maurice (1953): Les formes surcomposées en français. Bern: Francke. (= Romanica Helvetica 42). Dudenredaktion (Hrsg.) (1998): Duden. Die Grammatik. 6., neu erarbeitete Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Eller, Nicole (2006): Syntax des bairischen Basisdialekts im Böhmerwald. Regensburg: Edition Vulpes. (= Regensburger Dialektforum 8). Eroms, Hans-Werner (1984): „Die doppelten Perfekt- und Plusquamperfektformen im Deutschen“. In: Eroms, Hans-Werner/Gajek, Bernhard/Kolb, Herbert (Hrsg.): Studia Linguistica et Philologica. Festschrift für Klaus Matzel zum sechzigsten Geburtstag. Heidelberg, Winter: 343–351. (= Germanische Bibliothek. N. F. Reihe 3: Untersuchungen). Eroms, Hans-Werner (1993): „Das Verbalpräfix ge- im Spätmittelhochdeutschen“. Poetica 38: 152–170. Fourquet, Jean (1952): Grammaire de l’Allemand. Paris: Hachette. Gersbach, Bernhard (1982): Die Vergangenheitstempora in oberdeutscher gesprochener Sprache. Formen, Vorkommen und Funktionen untersucht an Tonbandaufnahmen aus Baden-Württemberg, Bayrisch-Schwaben und Vorarlberg. Tübingen: Niemeyer. (= Idiomatica 9). Graser, Helmut/Wegera, Klaus-Peter (1978): „Zur Erforschung der frühneuhochdeutschen Flexionsmorphologie“. Zeitschrift für deutsche Philologie 97: 74–91. Hauser-Suida, Ulrike/Hoppe-Beugel, Gabriele (1972): Die Vergangenheitstempora in der deutschen geschriebenen Sprache der Gegenwart. Untersuchungen an ausgewählten Texten. München/ Düsseldorf: Hueber/Schwann. (= Heutiges Deutsch 1,4). Hennig, Mathilde (1999): „Werden die doppelten Perfektbildungen als Tempusformen des Deutschen akzeptiert?“ In: Skibitzki, Bernd/Wotjak, Barbara (Hrsg.): Linguistik und Deutsch als Fremdsprache. Festschrift für Gerhard Helbig zum 70. Geburtstag. Tübingen, Niemeyer: 95–107.
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Hans-Werner Eroms
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E u Elativ Steigerungsform des Adjektivs, die keinen Vergleich impliziert, z. B. liebste Mutter. Der Begriff bezeichnet außerdem auch einen lokalen Kasus mit der Bedeutung ‚aus … heraus‘. → Adjektiv, Kasus u epistemische Modalität (engl.: epistemic modality) Epistemische Modalität bezieht sich auf das Sprecherwissen bzw. das, was die sprechende Person zu wissen glaubt, und wird daher auch als „subjektiv“ oder „interferentiell“ bezeichnet. Als epistemisch modalisiert werden somit Aussagen aufgefasst, in denen die sprechende Person Beschränkungen im Hinblick auf ihr Wissen thematisiert: sie äußert als solche markierte Vermutungen, Annahmen oder Schlussfolgerungen. → Modalität u Ersatzinfinitiv (engl.: substitute infinitive),
Infinitivus pro participio Im Deutschen sowie in einigen anderen westgermanischen Sprachen wird das Partizip in der Tempusbildung beim Auftreten eines abhängigen Infinitivs ohne zu durch einen Infinitiv ersetzt, der als Ersatzinfinitiv oder auch Infinitivus pro participio bezeichnet wird, z. B.: das habe ich nicht kommen sehen (nicht: *gesehen), sie hat nicht kommen können (statt: *gekonnt).Von manchen Autoren wird der Ersatzinfinitiv als Sonderform des Partizips betrachtet. → Infinite Verbformen u ethicus: Dativus ethicus, ethischer Dativ Als „ethisch“ bezeichnet man den Dativ der 1. und 2. Person, dessen Funktion Brugmann (1904: 432) als „Bezeichnung gemütlicher Beteiligung an der Handlung“ beschrieben hat. In anderen Sprachen ist dieser Dativ teilweise noch wesentlich produktiver als im modernen Deutschen, wo er in erster Linie im Kontext ermahnender Sprechakte vorzukommen scheint: Dass du mir bloß nicht wieder mit ungewaschenen Füßen ins Bett gehst! → Dativ
explicativus, Genitivus
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u explicativus, Genitivus (von lat. explicare ‚erklären‘) Der Begriff „Genitivus explicativus“ wird meist synonym mit Genitivus definitivus verwendet und bezeichnet Konstruktionen wie: ein Strahl der Hoffnung, die Schrecken der Verzweiflung. Genitive dieser Art dienen der näheren Erklärung des Beziehungswortes. Wenn ein Unterschied zwischen Genitivus explicativus und Genitivus definitivus gemacht wird, dann wird der explicativus als Ausdruck einer Bedeutungs-Relation (ein Strahl der Hoffnung ⇒ Der Strahl bedeutet Hoffnung). der definitivus als Ausdruck einer Gleichsetzung (die Pflicht der Dankbarkeit ⇒ Die Dankbarkeit ist eine Pflicht) definiert. → Genitiv
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F u Femininum (engl.: feminine gender) Bezeichnung für ein Genus, dessen ursprünglicher semantischer Kern im Bereich des natürlichen Geschlechts ‚weiblich‘ liegt. → Genus u finaler Dativ Finalität, also der Ausdruck eines Handlungsziels, ist eine semantische Funktion des Dativs, die allerdings im Deutschen nicht mehr anzutreffen ist. → Dativ u Flexion (von lat. flectere ‚biegen‘; engl.: inflection) Wenn ein gebundenes grammatisches Morphem zum Ausdruck mehrerer grammatischer Kategorien zugleich verwendet wird, so spricht man von Flexion. So steht etwa im Deutschen die Endung -es in (des) Kindes gleichzeitig für die Kategorien Kasus (Genitiv) und Numerus (Singular), die Endung -te in lachte sowohl für Person und Numerus als auch für Tempus (1. und 3. Person Singular Präteritum). Dadurch unterscheidet sich Flexion von Agglutination, bei der jeweils ein Morphem für eine Kategorie steht, z. B. türkisch ev-ler-in ‚der Häuser‘: ‚Haus-Plural-Genitiv‘. → Adjektiv, Substantiv, Verb u freier Kasus; freier Akkusativ/Dativ/Genitiv Als „frei“ werden Kasus bezeichnet, die nicht von einem anderen Element im Satz – wie etwa einem Verb, einem Adjektiv oder einer Präposition – abhängig sind. Im Satz übernehmen Syntagmen in freien Kasus die Funktion einer Adverbialbestimmung. Im Deutschen können Akkusative, Dative und Genitive so gebraucht werden: jeden Tag (Akkusativ), eines Tages (Genitiv); Sie ist ihm eine große Hilfe (Dativ). Während sich bei Akkusativen und Genitiven von Grammatik zu Grammatik nur die Terminologie unterscheidet, mit der sie bezeichnet werden, wird bei freien Dativen gelegentlich die Existenz aller oder einiger Typen in Frage gestellt. → Dativ, Kasus
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Futur I und II
u Futur I und II 1
Einleitung
Die Fügung werden + Infinitiv, auch als Futur1 bezeichnet, ist ein Verbalkomplex, der aus einem finiten Auxiliarverb und einem Infinitiv besteht. Zur Bildung der Futurformen dient die Präsensform des Auxiliarverbs werden und eine Inifinitivform – entweder die Präsens- oder die Perfektform des Infinitivs. Durch die Konjugation des Auxiliars werden werden die grammatischen Kategorien Person, Numerus und Modus gekennzeichnet. Tempus und Genus werden mit den entsprechenden Infinitivformen des aktuellen Vollverbs ausgedrückt, das heißt durch Infinitiv Präsens (Futur I Aktiv/Passiv) oder Infinitiv Perfekt (Futur II Aktiv/Passiv). 2
Die Fügung werden + Infinitiv in morphologischer Darstellung
Der Einfachheit halber seien hier nachfolgend nur die Formen des Futur I aufgeführt. Im Futur II erscheint statt des Infinitiv Präsens der Infinitiv Perfekt. Die Indikativ- und Konjunktivformen unterscheiden sich zudem nur in der 2. und 3. Person Singular. Futur I Aktiv: Präsens von werden + Infinitiv Präsens Aktiv des Vollverbs Indikativ
Konjunktiv
ich werde hören
ich werde hören
du wirst hören
du werdest hören
er/sie/es wird hören
er/sie/es werde hören
wir werden hören
wir werden hören
ihr werdet hören
ihr werdet hören
sie werden hören
sie werden hören
1 Unter dem Begriff „Futur“ wird im vorliegenden Artikel nicht bloß ein Verbalkomplex verstanden, der ausschließlich einen Sachverhalt bezeichnet, der zeitlich nach dem Sprechakt liegt, und somit Zukünftiges bezeichnet und als Tempusform fungiert (Bußmann 2002: 232). „Futur“ ist eine Bezeichnung für eine morphologische Kategorie. Man vergleiche dazu genauer Punkt 4.
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Futur I und II
Passiv: Präsens von werden/sein + Infinitiv Präsens Passiv des Vollverbs Vorgangspassiv mit werden
Zustandspassiv mit sein
Indikativ
Konjunktiv
Indikativ
Konjunktiv
ich werde gehört werden
ich werde gehört werden
ich werde gehört sein
ich werde gehört sein
du wirst gehört werden
du werdest gehört werden
du wirst gehört sein
du werdest gehört sein
er/sie/es wird gehört werden
er/sie/es werde gehört werden
er/sie/es wird gehört sein
er/sie/es werde gehört sein
wir werden gehört werden
wir werden gehört werden
wir werden gehört sein
wir werden gehört sein
ihr werdet gehört werden
ihr werdet gehört werden
ihr werdet gehört sein
ihr werdet gehört sein
sie werden gehört werden
sie werden gehört werden
sie werden gehört sein
sie werden gehört sein
3
Die Fügung werden + Infinitiv in diachroner Darstellung
Während in den nicht-germanischen indoeuropäischen Sprachen das Futur sowohl mit synthetischen als auch mit analytischen Formen ausgedrückt wird (lat. audiam/veniam ‚ich werde hören/kommen‘), hat das Germanische keine synthetischen Futurformen herausgebildet. Von dem reichen indoeuropäischen Tempussystem hat das Germanische nur zwei synthetische Verbformen bewahrt: das Präsens und das Präteritum. Der ursprüngliche Ausdruck des Futurs war im Germanischen der Indikativ und der Konjunktiv Präsens (Grimm 1898/1989: 206 f.). Im Wulfilagotischen wird das griechische Futur fast immer mit den Präsensformen übersetzt (Wilmanns 1906: 174). 3.1
Analytische Verbalformen zur Futurbezeichnung
Im Laufe der germanischen Sprachgeschichte kommen analytische Verbalformen zur Anwendung (Auxiliar + Infinitiv), zuerst vereinzelt, bis sie zum allgemeinen Ausdruck des Zukünftigen werden. In den meisten germanischen Sprachen ist sollen zu einem Mittel der Futurbildung geworden, so im Englischen (z. B. I shall arrive tomorrow; Quirk/Greenbaum 1998: 47), Niederländischen, Dänischen und im Schwedischen (Grimm 1898/1989: 206 f.). In der Geschichte der deutschen Sprache treten neben sollen auch die Fügungen müssen/wollen + Infinitiv sowie die Fügungen werden + Infinitiv/Par-
Futur I und II
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tizip Präsens auf. Die ältesten vereinzelten Belege mit werden + Infinitiv findet Behaghel (1924: 260) schon im Gotischen und Îor∂evi´c (1977: 197) im Althochdeutschen des 9. Jahrhunderts. Bei Erdmann (1886: 99) datieren die ersten nachgewiesenen werden + Infinitiv-Belege aus dem 13. Jahrhundert: ir werdent mir es jehen ‚ihr werdet mir es sagen‘. Erdmann (1886: 96, 98) weist darauf hin, dass bereits im Gotischen periphrastische Futurumschreibungen2 mit den Hilfsverben duginnan ‚beginnen, beabsichtigen‘, munan ‚gedenken‘ und skulan ‚schuldig sein, sollen‘ existiert haben. Nach Paul (1920/1968: 147 f.) ist erst spät eine selbstständige Form für das Futur geschaffen worden. Als periphrastische Futurformen werden bei ihm die Fügungen mit sollen/wollen + Infinitiv erwähnt, mit der Einschränkung, dass diese Verben auch ihre ursprüngliche Bedeutung beibehalten haben: „[…] zu völliger Deckung mit dem lat. Futur ist doch nur die Umschreibung mit werden gelangt [(…)]. Sie bezeichnete ursprünglich den Eintritt eines Vorgangs und war daher im Prät. ebenso üblich wie im Präsens.“ (ebd.: 148). Behaghel (1924: 257) hebt hervor, dass die analytischen Verbalformen die Aufgabe übernommen hätten, eine künftige Handlung genauer als die herkömmlichen Präsensformen zu bezeichnen, da das Präsens mehrdeutig gewesen sei: „Diese ‚Umschreibungen‘ gehen hervor aus Redeweisen, die eine Verpflichtung oder eine Absicht, ein Anfangen oder eine Möglichkeit bezeichnen, bei denen also der Hinblick auf die Zukunft eine notwendige Begleitvorstellung bildet.“ Diese Untersuchungen zeigen, dass analytische Formen mit werden, sollen, wollen + Infinitiv bzw. im Gotischen noch mit duginnan und munan existiert haben. Sie kommen nur vereinzelt vor und haben bei weitem noch keine eindeutige Zukunftsbedeutung. Grimm (1898/1989: 212) hebt vor, dass zum Ausdruck der rein abstrakten Zukunft nur die Fügung werden + Infinitiv verwendet wird.3 Neben dem Verbalkomplex werden + Infinitiv können vom Gotischen an auch analytische Verbalformen mit werden + Partizip Präsens nachgewiesen werden (Saltveit 1962: 13). Daraus ergibt sich die Frage: Wäre die diachrone Abfolge bei der werden + Infinitiv-Fügung zuerst werden + Partizip Präsens 2 Ich würde es vorsichtiger formulieren: Verbalkomplexe, die auch eine futurische Bedeutung hatten bzw. haben konnten. 3 „In der bedeutung findet allerdings ein unterschied statt zwischen den drei nhd. weisen das fut. mit soll, will und werde auszudrücken. quid faciam? kann nicht wol anders lauten als was soll ich tun? wollen bezeichnet mehr den freien entschluß, sollen das imperativische futurum [(…)]: du sollst warten (expectabis); werden mehr die reine, abstracte zukunft: das wird geschehn (eveniet).“ (Grimm 1898: 212).
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Futur I und II
und entstand daraus erst werden + Infinitiv? Fest steht jedenfalls, dass beide Fügungen das Zukünftige ausdrücken konnten.4 Nach Kleiner (1925: 90) hat die werden + Partizip Präsens-Fügung anfangs der althochdeutschen Zeit ausschließlich Zukunftsbezug, während die werden + Infinitiv-Konstruktion eine mittelhochdeutsche Neubildung ist. Die Erklärung für die Entstehung der Fügung werden + Infinitiv sieht Kleiner (1925: 57–58) als Ergebnis des Zusammenfallens zweier infiniter Formen – des Infinitivs und des Partizip Präsens.5 Leiss (1985: 251) schließt den direkten Einfluss der Fügung werden + Partizip Präsens auf werden + Infinitiv aus. Sie ist der Meinung, dass diese Konstruktion das Ergebnis deutsch-tschechischen Sprachkontakts sei.6 Ágel (1999: 183) ist der Meinung, dass das werden-Futur aus dem ingressiven Typ wird/ward tuend entstanden ist. Kotin (2003: 159–162) fasst die bisherigen Abhandlungen über die werden-Periphrasen in zwei diachronen Schemata zusammen: 1. werden + Partizip Präsens wird zu werden + Infinitiv, demgemäß Beibehaltung der finiten Komponente und Ersatz der infiniten Komponente der Fügung. 2. Modalverb + Infinitiv wird zu werden + Infinitiv, somit Ersatz des Finitums und Beibehaltung der infiniten Komponente (ebd.: 159). Nach der Analyse der zwei Auffassungen kommt er zu dem Ergebnis, dass die werden + Infinitiv-Fügung eine andere Entstehungsquelle hat als die werden + Partizip Präsens-Konstruktion. Diese letztere ist mit der Rückstellung des stark nominal markierten Partizip Präsens zu erklären, während werden + Infinitiv durch den zunehmenden verbalen Charakter des Infinitivs eine prospektive und eine inchoative Funktion erhält und dadurch zur allgemeinen analytischen Futurform wird. „Rein formal – und weitgehend auch kategorial – sind beide Konstruktionen eine Art ,Zwillingsformen‘ gewesen, von welchen sich nur eine hatte durchsetzen können.“ (ebd.: 162). Welke (2005: 398) führt als einen wesentlichen Faktor zur Entstehung des analytischen Futurs mit werden + Infinitiv den Buchdruck an und bezeichnet das Futur als ein schriftsprachliches Phänomen.7 4 Man vergleiche dazu Saltveit (1962: 29–33), Kotin (2003: 155–166), Welke (2005: 387–392). 5 Man vergleiche dazu Kotin (2003: 156). 6 Ihre Argumentation finde ich nicht überzeugend genug, in diachroner und typologischer Hinsicht sogar fragwürdig. Man vergleiche dazu Ebert u. a. (1993: 393), Kotin (2003: 157), Welke (2005: 398). 7 Diese Feststellung unterstützen auch meine Untersuchungen, wonach die sprunghafte Verbreitung der werden + Infinitiv-Fügungen im 16. Jahrhundert eingetreten ist (Bogner 1996: 103). Man vergleiche dazu auch Ágel (2003: 4–14) sowie Diewald/Habermann (2005: 229–250).
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Futur I und II
3.2
Bedeutungsvarianten der Auxiliar + Infinitiv-Fügungen und ihre Deutung
In der Geschichte der deutschen Sprache treten neben den vereinzelten werden + Infinitiv-Konstruktionen viel mehr – besonders seit der mittelhochdeutschen Zeit – die Modalverb + Infinitiv-Fügungen als analytische Futurformen mit müssen/sollen/wollen + Infinitiv auf: müssen + Infinitiv sollen + Infinitiv wollen + Infinitiv
so muz ich sie ziechen zu mir (Obs I,13,2)8 ‚so muss ich sie zu mir ziehen‘ ich sol si mîden beide (Nib. 1,17) ‚ich soll sie beide meiden‘ wie soll es nun ergavn, wellen wir striten oder wellen wir fliehen (Swäb I, 89r, 7–9)9 ‚wie soll es nun ergehen, wollen wir kämpfen oder wollen wir fliehen‘
Diese Fügungen konnten sowohl eine modale als auch eine temporale Bedeutung haben. Wie stark die modale oder die temporale Bedeutungskomponente in einer Fügung ist, kann nur aufgrund des Kontextes festgestellt werden, da in demselben Text sehr oft Fügungen mit überwiegend modaler bzw. temporaler Bedeutung auftreten (Paul 2007: 294; Bogner 1996: 34–43). Der Übergang von den Fügungen mit müssen/sollen/wollen + Infinitiv zu der werden + Infinitiv-Konstruktion ist im Frühneuhochdeutschen anzusetzen (Bogner 1996: 98 f., 103). 3.3
Futur I in diachroner Darstellung
3.3.1 werden + Infinitiv/Partizip Präsens-Fügungen Schon im Wulfilagotischen sind Stellen zu belegen, wo das griechische Futur mit werden + Partizip Präsens wiedergegeben wird (Streitberg 1908/1971: 74–77):
8 Altdeutsche Predigten. Erbaulicher Text, Mitte des 14. Jahrhunderts (vgl. Graser/Wegera 1978: 86 f.). Vgl. http://www.ikp.uni-bonn.de/dt/forsch/frnhd/141.html; Seite 13, Zeile 02. 9 Cod. Theol. Et phil. 4 ° 74 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart: Hie vahet an das bûch von den hailigen altvae tern. Erbaulicher Text, spätes 14. Jahrhundert (vgl. Graser/Wegera 1978: 85). Vgl. http://www.ikp.uni-bonn.de/dt/forsch/frnhd/121.html; Blatt 89 recto, Zeilen 07–09.
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Futur I und II
Griechisch $κ $κ ϋ4| « λ « «, ² ξ «« « α « ««, […].
Gotisch amen, amen, qiÜ a izwis Ü ei greitiÜ jah gaunoÜ jus, iÜ manaseÜ s faginoÜ ; jus saurgandans wairÜ iÜ , […]. ‚Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein‘ (Johannes XVI,20.)10 Erdmann (1886: 98) erklärt die Verbreitung der werden + Partizip PräsensFügung mit der Bedeutung des Verbs werden, das einen Übergang in einen Zustand ausdrückt. Im 15. und 16. Jahrhundert kommt diese Fügung noch vor, „doch kann Vermengung mit dem Infinitiv vorliegen.“ Nach Paul (2007: 295 f.) kommen noch im Mittelhochdeutschen Fügungen mit werden nur selten in rein futurischer Bedeutung vor – werden mit Partizip Präsens drückt eine inchoative Aktionsart aus. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kommen immer öfter Formen mit werden + Infinitiv in Gebrauch und werden zum allgemeinen Mittel der Futurbezeichnung. Dabei erscheinen nach Kotin (2003: 154) bei Notker sowohl werden + Partizip Präsens als auch werden + Infinitiv und im frühen Frühneuhochdeutschen überwiegen noch die Fügungen mit Partizip Präsens. Diese These unterstützen jedoch meine Untersuchungsergebnisse nicht, wobei auch eingeräumt werden soll, dass ich ausschließlich den Zeitraum von 1350 bis 1700 untersucht habe.11 3.3.2 Inchoative Funktion von werden + Partizip Präsens Den Eintritt einer Handlung konnte werden + Partizip Präsens ausdrücken: sie wurden spilnde ‚sie fingen an zu spielen‘ (Paul 2007: 307). Im Satz Vnd in diseme lebene waz ich ettewie vil jare, also daz mir die welt ie me vnd me lie10 Im griechischen Text stehen noch zwei weitere Futurformen, « und « , die im Gotischen mit den Präsensformen greitiÜ und gaunoÜ, bei Luther jedoch mit dem Futur übersetzt sind (s. o.): Ihr werdet weinen und klagen. 11 Auf der Basis des Bonner Frühneuhochdeutschkorpus’ (vgl. Graser/Wegera 1978: 74–91;) wurden aus zehn unterschiedlichen Sprachlandschaften und vier Zeiträumen (1350–1400, 1451–1500, 1551–1600 und 1651–1700) jeweils zehn Texte in einem Umfang von 30 getippten Seiten – also 1200 Seiten – analysiert. Von 59 882 finiten Verbalformen konnten 3905 analytische Verbalformen mit werden/müssen/sollen/wollen + Infinitiv bzw. Partizip Präsens exzerpiert werden. In der Untersuchung ging es darum, wann der Übergang von einer analytischen Verbalform (Modalverb + Infinitiv) zur anderen erfolgte, d. h. zur werden + Infinitiv-Fügung. Das geschah im 16. Jahrhundert (Bogner 1996: 103). Das Verhältnis von werden + Infinitiv zu werden + Partizip Präsens liegt bei 632:15 (Bogner 1996: 28).
Futur I und II
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bende wart ‚[…], dass mir die Welt begann immer mehr und mehr zu gefallen‘ liegt neben der inchoativen Bedeutung auch eine passivische Bedeutung des Partizip Präsens vor: ‚dass mir die Welt immer mehr zu einer zu liebenden wurde‘ (Els I,3,6–8).12 3.3.3 Modale Funktion von werden + Infinitiv Do sprach ich gnedig fraw stet auf, mich bedüncht wol, ier wert morgen nicht gen Prespurak faren (Mbair III,19,21–23)13 In diesem Kontext drückt die Fügung wert […] faren zwar zweifellos eine ausstehende Handlung aus, aber diese beschriebene Handlung ist nur eine mögliche Handlung. Das ist aus dem Kontextelement mich bedüncht wol zu ersehen. 3.3.4 Temporale Funktion von werden + Infinitiv […] ain rewiges und ain getruebez hercz wiert got nicht versmehen. Von dem anderen geschriben ist: Dann wierst du nemmen das oppher der gerechtichait. (Mbair. I,12, 14–16)14 Zweimal kommt in diesem Text werden + Infinitiv vor. Zuerst in der modalen Funktion: ain getruebez hercz wiert got nicht versmehen – das Wort ain stellt jenes Kontextelement dar, das der ganzen Aussage den generalisierenden Charakter verleiht.15 Die zweite Fügung dagegen: Dann wierst du nemmen stellt eine konkrete auf die Zukunft gerichtete Aussage dar. Es wird durch die Kontextelemente, die nicht generalisieren, dann und du ausgedrückt. So hat die Fügung wierst du nemmen temporale Bedeutung. Die analytischen Formen, die das Zukünftige bezeichnet haben, sind auch in den Werken der Grammatiker des 16. und 17. Jahrhunderts bearbeitet. Das lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
12 Des Gottesfreundes im Oberland [= Rulmann Merswin’s] Buch von den zwei Mannen. Erbaulicher Text, Straßburg, wahrscheinlich 1352 (vgl. Graser/Wegera 1978: 89). Vgl. http://www.ikp.uni-bonn.de/dt/forsch/frnhd/231.html; Seite 3, Zeile 06–08. 13 Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottanerin. Berichtstext, Wien, um 1450 (vgl. Graser/ Wegera 1978: 84). Vgl. http://www.ikp.uni-bonn.de/dt/forsch/frnhd/113.html; Seite 19, Zeilen 21–23. 14 Durandus’ Rationale in spätmittelhochdeutscher Übersetzung. Kirchlich-theologischer Fachtext, 1384, höchstwahrscheinlich Wien (vgl. Graser/Wegera 1978: 84). Vgl. http://www.ikp.uni-bonn.de/dt/forsch/frnhd/111.html; Seite 12, Zeilen 14–16. 15 Da das Generalisieren eine Verallgemeinerung beinhaltet und die Fügung werden + Infinitiv nicht auf eine konkrete, auf die Zukunft gerichtete Aussage hinweist, werden diese Fügungen denen mit modaler Bedeutung zugeordnet.
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Futur I und II
1) Als grammatische Kategorie wird die Fügung wollen + Infinitiv in den Grammatiken der frühneuhochdeutschen Periode zwar verzeichnet, aber nur als Alternative zu werden + Infinitiv (Ölinger 1574; Clajus 1578/1894; Ritter 1616; Schöpf 1625; Gueintz 1641/1978). 2) In den anderen Grammatiken dieser Periode ist für das analytische Futur nur die Fügung werden + Infinitiv erwähnt (Albertus 1573; Helvicus 1619; Ratichius 1619; Girbert 1653; Schottelius 1663/1967; Pudor 1672/1975; Stieler 1691/1968). 3) In allen Grammatiken wird der semantische Wert der Fügung werden + Infinitiv als temporal angegeben (Bogner 1987: 159). 3.4
Futur II in diachroner Darstellung
Die Grammatikalisierung der Futur II-Form erfolgt recht spät im Verhältnis zu der der Futur I-Form. Im Frühneuhochdeutschen tritt sie noch kaum auf.16 So werden in den zeitgenössischen Grammatiken bis Adelung bei der Beschreibung des Tempussystems immer nur fünf Tempusformen (Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt und Futur) angeführt. Bei einigen Autoren finden sich jedoch zusätzlich Ergänzungen. So nennt Ölinger (1574/1975: 101) noch eine weitere Futurform: „der Unterschied zwischen dem ersten und dem Etwas-Danach-Futur ist dieser: Mit dem ersten drücken wir etwas aus, was gleich folgt und mit dem anderen, was später darauf folgt, wie Jetzt will ich wider kommen/ Aber er würd über ein Jar nit her kohmen/“.17 Bei Ölinger wird somit für das Futur I wollen + Infinitiv und für das Futur II würde + Infinitiv als „Etwas-Danach-Futur“ angeführt. Auch Ritter (1616) geht von fünf Tempusformen aus, und bei den Formen von lieben sind auch wirklich nur fünf angeführt, für das Futur also nur eine Form: Ich werde vel wil lieben (ebd.: 123). Bei der Darstellung des Verbs seyn sind hingegen zwei Futurformen angeführt: „Futurum simplex“ (‚einfaches Futur‘) und „Futurum quasi perfectum“ (‚so genanntes abgeschlossenes Futur‘): So ich werd gewesen seyn (ebd.: 107). Schottelius nimmt ebenfalls nur fünf Tempusformen an, fügt aber hinzu: e „5. Die Kunftige/(F u t u r u m , ) Ich werde lesen / ich werde geschlagen were den. (Es ist noch eine Art der zukunftigen Zeit/F u t u r u m p e r f e c t u m gee e nannt / wird formirt durch werde haben/oder wurde haben : wenn ich wurde
16 In dem von mir untersuchten frühneuhochdeutschen Korpus mit Texten zwischen 1350 und 1650 (Umfang: 1200 Seiten) habe ich nur vereinzelte Belege gefunden. 17 „Differ˜etia inter primum, & paulô post futurum hæc est: Per primum indicamus aliquid statim, & alterum, ad tempus aliud fore:vt, […].“
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Futur I und II e
geschrieben haben/nach dem er wurde getrunken haben.)“ (Schottelius 1663/1967: 548). Erst bei Adelung sind gleich zwei Futurformen – sechs Tempusformen also – angeführt: „Futurum absolutum“ (Ich werde haben) und „Futurum exactum“ (Ich werde gehabt haben) (Adelung 1782/1971: 773). Seit Adelung führen die Grammatiken die Futur II-Form als selbstständige Form an. Die Terminologie ist jedoch nicht einheitlich; so wird es beispielsweise auch als „Futurperfekt“ bezeichnet (Zifonun u. a. 1997: 1688). 3.5
Fazit
Bezüglich der Herausbildung der Fügung werden (im Präsens) + Infinitiv lässt sich nach Diewald (2005: 23) feststellen, dass diese Fügung „aus diachroner Sicht ‚eine Konstruktion im Werden‘ darstellt“ und zur Zeit ihrer Grammatikalisierung – im Frühneuhochdeutschen – in ihrer Funktion als temporale Kategorie aufgekommen ist. Nachweisbar ist, dass diese Fügung von Anfang an auch eine inchoative Bedeutung hatte, also dass sie eine Aktionsart ausdrückte. Eine Art von Wechselwirkung der „Zwillingsformen“, wie Kotin (2003: 162) formuliert, ist zwischen werden + Partizip Präsens bzw. Infinitiv beobachtbar, wobei sich die Fügung mit werden + Infinitiv durchgesetzt hat. Die modalen Bedeutungen – Generalisierung, Vermutung, Annahme, Befehl – sind im Laufe der Geschichte der deutschen Sprache hinzugetreten. In den sprachübergreifenden Untersuchungen von Bybee/Dahl (1989: 109 f.) wird darauf hingewiesen, dass sich beim Futur auch die modale Verwendung herausgebildet hat, die eine Annahme oder eine Möglichkeit ausdrückt, und dass sich die Sätze im Futur epistemologisch immer von den Sätzen im Präsens oder Perfekt unterscheiden.18 Die inchoative Bedeutungsvariante ist besonders bei werden (im Präteritum) + Infinitiv erkennbar: sie wurden spilnde ‚sie fingen an zu spielen‘.
18 „Two other commonly occurring modal uses of futures develop out of the prediction sense. […] The second is often referred to as expressing probability and is exemplified by statements such as That will be Todd uttered upon hearing the phone ring.“ (Bybee/Dahl 1989: 93). Man vergleiche auch: „[…] let us note that the future differs epistemologically – and maybe also ontologically – from the present and the past, as Aristotle noted. […]. As a direct consequence, a sentence which refers to the future will almost always differ also modally from a sentence with non-future time reference. This is the reason why the distinction between tense and mood becomes blurred when it comes to the future. This has been pointed out again and again in the literature […].“ (Dahl 1985: 103).
105 4
Futur I und II
Die Fügung werden + Infinitiv in syntaktischer Darstellung
Die diachrone Darstellung der Fügung hat gezeigt, dass sie schon von Beginn an mehrere Funktionen hatte (modale, temporale, Bezeichnung der Aktionsart), und dass sich diese im Laufe der Zeit noch vermehrt haben. Besonders gilt das, wenn wir alle Fügungen mit werden in Betracht ziehen (werden + Partizip Präsens; werden + Infinitiv; werden + Partizip Perfekt; würde + Infinitiv Präsens; würde + Infinitiv Perfekt). Dieses multifunktionale Aufkommen der Fügungen mit werden hat auch dazu geführt, dass es sehr unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Auffassungen über das Futur gibt, wobei jede von ihnen von einem bestimmten Standpunkt aus gerechtfertigt werden kann.19 Für die Gegenwartsprache steht fest, dass die analytische Form werden + Infinitiv, die sehr oft einfach als „Futur“ bezeichnet wird, auch andere semantische Funktionen im Deutschen außer der Zukunftsbezeichnung hat. Es wird oft nicht einmal eindeutig geklärt, was man unter dem Begriff „Futur“ verstanden werden soll: a) Ist die werden + Infinitiv-Fügung mit Zukunftsbedeutung wie in Ich werde kommen gemeint? b) Wird auch eine Präsensform mit Zukunftsbezug wie Ich komme morgen, in der durch morgen der Zukunftsbezug ausgedrückt ist, als Futur aufgefasst? Der deutschen Sprache wird sozusagen „vorgeworfen“, dass sie keine selbstständige und alleinige Verbalform zur Bezeichnung des Futurs hat. Gemeint ist wohl der Mangel an einer Verbalform, die einzig und allein das Zukünftige bezeichnet. Das ist „ungerecht“, denn die deutsche Sprache hat sogar mehrere Mittel, das Zukünftige auszudrücken. Andererseits ist anzumerken, dass auch bei der überwältigenden Mehrheit der Sprachen durch die Futurform die Modalität ausgedrückt werden kann – ebenso wie mit der Präsensform ein zukünftiges Geschehen.20 4.1
werden + Infinitiv: modale Bedeutung versus temporale Bedeutung
Die semantische Deutung der werden + Infinitiv-Fügung hat schon vielen Sprachwissenschaftlern genügend Stoff für ihre Forschungen und Deutungen geboten und wird ihnen wahrscheinlich auch noch weiter genug bieten, 19 Im Rahmen dieser Arbeit kann leider nicht auf eine umfassende Darstellung dieser Auffassungen eingegangen werden. 20 Man vergleiche dazu Bybee/Dahl (1989).
Futur I und II
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obwohl es schon Versuche gab „zu einer einheitlichen Beschreibung […] zu gelangen“ (Lipsky 2002: 103). Saltveit (1960) stellt die Frage „Besitzt die deutsche Sprache ein Futur?“.21 Im Zusammenhang mit der Fügung werden + Infinitiv stellt auch Diewald (2005: 24) die rhetorische Frage: „Hat das Deutsche ein Futur?“ Auf diese Fragen ist meine Antwort eindeutig: Ja! Vennemann (1987: 236) begrüßt die Auffassung der Grundzüge von Heidolph u. a. (1984), dass „das sogenannte Futur (I und II) des Deutschen keine temporale Kategorie ist“, aber bemängelt, dass diese Formen ins Tempussystem eingestuft worden sind. Es gibt nach Vennemann nur zwei Tempora, Präsens und Präteritum als finite Kategorien mit eindeutiger temporaler Bedeutung (ebd.: 240). Zu den modalen Verbalkomplexen wird werden + Infinitiv gezählt und dementsprechend werden zu den Modalverben gestellt; so etwa von Vater (1975: 71–148) und Engel (1994: 115).22 Die Thesen von Vater und Engel, die die primäre Bedeutung einer werden + Infinitiv-Fügung von den pragmatischen Faktoren des Kontextes abhängig machen, wurden von Matzel/Ulvestad (1982: 327), Bogner (1996: 22 f.) und Lipsky (2002: 103 f.) widerlegt, die die primäre Bedeutung einer werden + Infinitiv-Fügung von den pragmatischen Faktoren des Kontextes abhängig machen. Um dies zu veranschaulichen seien folgende Beispiele angeführt: Er wird kommen. – Steht nur in den Grammatiken als Paradigma für das Futur – nach Grimm (1898/1989: 212) als die abstrakte, reine Zukunft. In diesem Sinne kann man die Grundbedeutung der Fügung bei fehlendem Kontext folgendermaßen charakterisieren: sie bezeichnet ein ausstehendes Geschehen oder Sein, aber der Gewissheitsgrad der Aussage (d. h.: sichere Zukunftsbezeichnung, Annahme, Vermutung) hängt immer vom Kontext ab. Er wird morgen kommen. – Das kann bedeuten: a) Ich vermute, dass er morgen kommt. (modale Bedeutung) b) Ich bin mir sicher, dass er morgen kommt. Das heißt nach dem Sprechakt „Er wird morgen kommen.“ wird die ausstehende Handlung geschehen. (temporale Bedeutung)
21 Man vergleiche dazu Matzel/Ulvestad (1982: 284 und ebd.: Fußnote 1). 22 Auf eine eingehende, sogar vollständige Aufzählung von Vertretern dieser Auffassung muss hier verzichtet werden.
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Futur I und II
Um die oben angeführte Fügung richtig zu interpretieren sind ergänzende Informationen notwendig, die erst dann die richtige Deutung der Fügung ermöglichen: Er wird wohl/schon morgen kommen. = Wahrscheinlich kommt er morgen. Diese modale Deutung war durch die Kontextelemente wohl oder schon möglich. Zur richtigen Deutung einer Fügung braucht man manchmal einen größeren Kontext: Heute ist Montag, dienstags ist er immer da. Er wird morgen kommen. (Temporale Bedeutung, da die Kontextelemente Heute […] Montag, dienstags […] immer jene Elemente sind, die eindeutig auf eine nach dem Sprechakt folgende, auf eine noch ausstehende Handlung hinweisen). Für die richtige Deutung der werden + Infinitiv-Fügung ist nach Matzel/Ulvestad (1982: 328) das Vorhandensein oder das Fehlen eines Merkmals für den Zukunftsbezug maßgebend. Die These von Vater (1975) und Engel (1994) über die Einordnung von werden in die Modalverben ist nicht aufrechtzuerhalten, da werden nur in der Präsensform als modales Hilfsverb fungieren kann, im Präteritum aber nicht: Bei den Sätzen Er wird morgen kommen. Er will morgen kommen. sind kontextbedingt beide Deutungen – sowohl temporale als auch modale – möglich. Bei dem Satz Er wollte morgen kommen. ist nur die modale Deutung möglich. Der Satz *Er wurde morgen kommen. ist nach Bogner (1996: 23) und Zifonun u. a. (1997: 1688 f.) ungrammatisch und syntaktisch inadäquat. Eroms (2000: 147 f.) weist darauf hin, dass modale und temporale Gebrauchsweisen der Fügung werden + Infinitiv häufig nicht zu trennen sind. Zur Darstellung der Richtigkeit der These, dass auch in der Gegenwartssprache die werden + Infinitiv-Fügungen eine abstrakte Zukunft ausdrücken, sei folgendes Beispiel angeführt: An diesem Samstag wird die Nationalmannschaft um den dritten WM-Plaz kämpfen, und egal wie das Ergebnis sein wird, schon heute steht fest: Hinter uns liegen vier Wochen, die das Land in unglaublich schöner Weise verändert haben. (Bayernkurier, Nr. 27, 08. Juli 2006, Titelblatt) (Das erwähnte Spiel fand erst am Abend statt, der Text musste also einen Tag vorher abgefasst worden sein!) Eine besondere Stellung nimmt die werden + Infinitiv-Fügung in einem Satz ein wie: Du wirst das jetzt machen! oder: „Gessler : Du wirst den Apfel schießen von dem Kopf Des Knaben – Ich begehr’s und will’s.“ (Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, S. 162) [Hervorhebungen S. B.].
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In diesen Fällen steht die Fügung für einen Imperativ, der zur Kategorie des Modus gehört. Zwar drückt der Imperativ keine Annahme oder eine Vermutung aus, aber er drückt auch keine konkret ausstehende Handlung aus, sondern einen Willen, was sich auf die Zukunft bezieht. So hat werden + Infinitiv weder die Funktion der Zukunftsbezeichnung noch die der modalen Bedeutung im Sinne einer Vermutung oder Annahme – doch soll sie zu den Fügungen mit dem modalen Charakter gezählt werden. Sie steht in der Funktion des Imperativs, was nach Bybee/Dahl (1989: 51–103) auch für andere Sprachen als typische Gebrauchsweise genannt wird. Aus den oben angeführten Bespielen und der Argumentation lässt sich schließen, dass werden + Infinitiv mehrere Bedeutungen bzw. Gebrauchsweisen hat (Radtke 1998: 140). Sie steht für die Bezeichnung – einer Annahme/Vermutung (Er wird schon kommen. – modal), – eines Befehls/Imperativs (Du wirst das jetzt machen! – modal), – einer ausstehenden Handlung/Zukunft (Er wird morgen kommen. – temporal). Gemeinsam ist allen Fügungen, dass das Auxiliarverb werden – ob in modaler oder in temporaler Funktion – immer im Präsens steht. Eine modale Bedeutung mit werden im Präteritum kann nicht ausgedrückt werden: *Er wurde kommen. – Ein solcher Satz wäre ungrammatisch. 4.2
Präsensform versus Futurform
Eine weitere Frage ist die Auswahl der Verbalformen zur Bezeichnung des Zukünftigen in der geschriebenen Sprache: Präsensform des Vollverbs oder werden + Infinitiv-Fügung? Nach den Untersuchungen von Brons-Albert (1982: 124) von Sätzen mit eindeutigem Zukunftsbezug ist dieses Verhältnis 235:81, das heißt die Präsensform wird etwa drei Mal häufiger verwendet als werden + Infinitiv. Welke (2005: 429 f.) geht von der Grundthese aus, dass prinzipiell eine semantische Gleichwertigkeit zwischen beiden Formen besteht, obwohl bei der Futurform aufgrund des Auxiliars werden eine Betonung, eine Verstärkung der Aussage möglich ist, was bei der Präsensform nicht möglich ist: a) Gut ich komme. b) Gut ich werde kommen. c) Gut ich werde kommen.23
23 Man vergleiche noch Welke (2005: 427–440) sowie Matzel/Ulvestad (1982: 303, 327–328).
109 4.3
Futur I und II
Futur II
Die angeführten Beispiele der Grammatiker der frühneuhochdeutschen Zeit zeugen davon, dass das Futur II im Deutschen nicht einfach eine abgeschlossene Handlung in der Zukunft bezeichnet, sondern auch eine Art Modalität beinhaltet. Jung (1990: 218) bezeichnet die Futur II-Form als das vollzogen gedachte Tempus der Erwartung und Vermutung: Es wird vier Uhr geschlagen haben. Die Futur II-Form bezeichnet auch einen Sachverhalt, wenn es sich in der Zukunft um zwei Handlungen handelt und eine von diesen Handlungen noch vor dem Beginn einer anderen Handlung in der Zukunft abgeschlossen wird: Wenn die Kommission alle Zahlen geprüft haben wird, werde ich Bescheid geben. (ebd.: 232). Dies ist jedoch vor allem für die Schriftsprache charakteristisch, in der gesprochenen hieße es: Ich gebe Bescheid, wenn die Kommission die Zahlen geprüft hat (Präsens versus Perfekt!).24 Auch für das Futur II gilt, dass das Futur seinem Wesen nach logischerweise eine Wahrscheinlichkeit ausdrückt. So stehen diese Formen zur Bezeichnung: a) einer gegenwärtigen Wahrscheinlichkeit: Das wirst du ja gehört haben, b) einer zukünftigen Wahrscheinlichkeit: Ich werde meine Tempusskizze bis Ende nächster Woche geschrieben haben (Zifonun u. a. 1997: 1709 f.). 4.4
Fazit
In morphologischer Hinsicht ist werden + Infinitiv eine Futurform, auch dann, wenn sie in syntaktischer Hinsicht eine Aktionsart oder eine Modalität bezeichnet. Ebenso ist ein Vollverb in finiter Form im Präsens eine Präsensform, auch dann, wenn sie syntaktisch aus temporaler Sicht sowohl das Gegenwärtige, Vergangene als auch das Zukünftige bezeichnen kann. Literatur Adelung, Johann Christoph (1782/1971): Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache. Erster Band. Leipzig 1782: Breitkopf. Reprografischer Nachdruck. Hildesheim/New York: Olms. (= Documenta Linguistica. Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts. Reihe V. Deutsche Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts). Ágel, Vilmos (1999): „Grammatik und Kulturgeschichte“. In: Gardt, Andreas/Hass-Zumkehr, Ulrike/Roelcke, Thorsten (Hrsg.): Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Berlin/New York, de Gruyter: 171–223. (= Studia Linguistica Germanica 54).
24 Siehe dazu unter Abschnitt 3.4. Der Sachverhalt, „abgeschlossene Handlung in der Zukunft“ wird in der Gegenwartssprache durch Perfekt ausgedrückt: Morgen mittag habe ich das gemacht. (Zifonun u. a. 1997: 1705).
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Stephan Bogner
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Genitiv
G u Genitiv 1
Einleitung
Der Genitiv oder Genetiv (von lat. genus, generis ‚Geschlecht‘, ‚Herkunft‘) wird traditionell auch als „2. Fall“ bezeichnet und im Deutschen mit wessen? (daher auch „Wesfall“) erfragt. Die älteste Funktion und Grundbedeutung des Genitivs, die in vielen Sprachen der Welt beobachtet werden kann, ist der Ausdruck von Possessivität und Partitivität. Der Genitiv kann als Attribut, als Objekt, als Adverbial(bestimmung) und als Teil einer Präpositionalphrase auftreten. Üblicherweise wird dem attributiven Bereich (die Aufsätze der Studierenden) im Deutschen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, da der Genitiv hier am stabilsten zu sein scheint und am häufigsten gebraucht wird. Das gilt vor allem für die Schriftsprache, denn in der Umgangsprache ist der Genitiv kaum noch zu finden.1 Aber obwohl immer wieder von Genitivschwund, von seinem gänzlichen Verschwinden oder Rückgang die Rede ist, nimmt dieser Kasus im gegenwärtigen Standarddeutschen einen strukturell gut bestimmbaren Platz ein und ist immer noch weit davon entfernt auszusterben. Sein Gebrauch ist teilweise von Varietäten, vom Stil und von der Textsorte abhängig, aber auch von den jeweiligen syntaktischen und semantischen Funktionen. 2
Genitiv als Attribut
Im nominalen Bereich erscheint der Genitiv als Genitivattribut. Je nach dem Verhältnis zu seinem Beziehungswort wird dabei zwischen verschiedenen Typen, Klassen oder Interpretationen unterschieden. Die Zahl der Typen, die nach syntaktischen oder semantischen Kriterien bestimmt werden, variiert in den Grammatiken von drei (Weinrich 2005) bis zu zehn (Duden 2005) und zwölf (Helbig/Buscha 2007); die meisten führen zwischen vier und neun auf (Eisenberg 2006; Engel 1996; Engel 2004; Erben 1980; Hentschel/Weydt 1 „Im übrigen ist es natürlich eine Tatsache, dass es im gesprochenen Süddeutsch den Genitiv gar nicht gibt.“ (Teuber 2000: 171). Man vergleiche auch Boretzky (1977: 160), der für die heutigen Dialekte folgendes Deklinationsmuster anführt: der Wagen, vom Wagen, dem Wagen, den Wagen, womit er zum Ausdruck bringt, dass im attributiven Bereich die von-Phrase den Genitiv verdrängt hat.
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Genitiv
2003; Zifonun u. a. 1997). Diese unterschiedlichen Zahlen gehen auf uneinheitliche Kriterien zurück. So verwendet etwa Weinrich (2005) in seiner Textgrammatik syntaktische Kriterien und unterscheidet zunächst nur Genitivus subiectivus und obiectivus; für den genitivischen Superlativ (das Buch der Bücher) bedient er sich aber auch semantischer Kriterien. 2.1
Typen attributiver Genitive
Im Folgenden findet sich zunächst eine Auflistung der gängigen Genitivtypen; im Anschluss daran werden die selteneren aufgeführt. 1. Der Genitivus possessivus (lat. ‚besitzanzeigender Genitiv‘): die Tochter meiner Kollegin, Josephs Auto. Er wird im Duden (2005: 832) als „der eigentliche possessive Genitiv“ bezeichnet,2 bei Zifonun u. a. (1997: 2030) und Eisenberg (2006: 249) taucht er auch als „Genetivus possessoris“ auf. Solche Genitive bezeichnen, wem etwas/jemand (die Tochter, das Auto) gehört. Possessive Genitive müssen dabei nicht notwendigerweise Besitzverhältnisse im engeren Sinne anzeigen, es kann auch eine allgemeine Zugehörigkeit gemeint sein: die Bewohner der Südsteiermark. Außerdem können solche Genitive auch zugleich auf eine Teil-von-Relation verweisen (vgl. Eisenberg 2006: 249; Engel 2004: 294): der Kofferraum des Autos. Inhaltlich werden sie gelegentlich auch mit der Bezeichnung „Haben-Verhältnis“ (Helbig/Buscha 2007: 497) umschrieben: Josephs Auto = Joseph hat ein Auto. Sie lassen sich regelmäßig durch Possessivpronomina ersetzen: der Garten meines Onkels = sein Garten, die Tochter meiner Kollegin = ihre Tochter, wenn „der ‚Besitzer‘ schon vorher im Text genannt wurde oder anderweitig bekannt ist“ (Engel 1996: 613). Sowohl der possessive Genitiv als auch das Possessivpronomen lassen keinen gleichzeitigen Gebrauch des Artikels zu.3 2 Im Duden (2005: 832–834) werden die Genitivattribute nach semantischen Gesichtspunkten in vier Arten eingeteilt: der possessive Genitiv im weiten Sinn (Genitivus possessivus, Genitivus subiectivus, Genitivus obiectivus, Genitivus Auctoris, Genitiv des Produkts), Genitivus Qualitatis, explikativer Genitiv, partitiver Genitiv. Die Gründe für eine solche Einordnung sind die inhaltliche Überlappung mancher Genitivarianten, unklare Abgrenzbarkeit und eine gemeinsame formale Eigenschaft der possessiven Genitive im weiten Sinn, nämlich die Ersetzbarkeit durch Possessivpronomina. 3 Ein Vergleich des s-Genitivs bei Eigennamen mit Possessivadjektiven findet sich bei Hentschel (1994: 23). Syntaktische Funktionen des Genitivs lassen annehmen, dass die Genitive nicht dem thematischen, sondern eher dem rhematischen Bereich zuzuordnen sind, was erklärt, warum sie nicht mit dem bestimmten Artikel zusammen auftreten können: „ … der Gebrauch des bestimmten Artikels kommt einer Zuordnung zum thematischen Bereich des Satzes gleich; die Markierung als Thema ist somit schon erfolgt und kann nicht noch einmal durch eine Endung beim Substantiv ausgedrückt werden.“ Das gilt auch für Possessivpronomina.
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Genitiv
2. Genitivus subiectivus (lat. ‚Subjektsgenitiv‘): der Zusammenbruch der Beziehung, Emmas Besuch. Solche Genitive drücken ein Subjekt-Prädikats-Verhältnis aus (Helbig/Buscha 2007: 498) und werden bei der Umwandlung4 in einen ganzen Satz zum Subjekt: der Zusammenbruch der Beziehung = die Beziehung bricht zusammen, Emmas Besuch = Emma besucht jemanden. Auch diese Genitive können durch Possessivpronomina ersetzt werden: die Arbeit meines Onkels = seine Arbeit, Emmas Besuch = ihr Besuch. Eisenberg (2006: 249) weist darauf hin, dass „der Genitivus subiectivus auf das grammatische Subjekt des zugehörigen Verbs zu beziehen ist, unabhängig davon, ob das Subjekt ein Agens ist oder nicht“ (vgl. das Bellen der Meute = die Meute bellt und das Fehlen meiner Tochter = meine Tochter fehlt). Nach Duden (2005: 833) tritt der Genitivus subiectivus bei Substantiven auf, die von Verben oder Adjektiven abgeleitet sind (oder zumindest darauf bezogen werden können). So weist dieser Genitivtyp dieselbe semantische Rolle wie das Subjekt in den entsprechenden Sätzen mit Verb oder Adjektiv auf: Die Kinder freuten sich. = die Freude der Kinder; Die Kellnerin ist freundlich. = die Freundlichkeit der Kellnerin. 3. Genitivus obiectivus (lat. ‚Objektsgenitiv‘): die Lösung des Problems, Josephs Festnahme. Solche Genitive drücken ein Objekt-Prädikats-Verhältnis aus (Helbig/Buscha 2007: 498) und bei der Umwandlung in einen ganzen Satz erscheinen sie als direkte Objekte des zugehörigen Verbs (vgl. Eisenberg 2006: 250). Daher tritt der Objektsgenitiv bei Substantiven auf, die von transitiven Verben abgeleitet sind: die Lösung des Problems = jemand löst das Problem, Josephs Festnahme = jemand nimmt Joseph fest. Der Genitivus obiectivus kann ebenfalls durch Possessivpronomina ersetzt werden: die Lösung des Problems = seine Lösung, Josephs Festnahme = seine Festnahme. Beide syntaktisch begründeten Genitive, Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus, scheinen auf den ersten Blick unproblematisch und klar abgrenzbar zu sein. Allerdings ist bei kontextfreiem Gebrauch nicht immer eine eindeutige Zuordnung möglich (vgl. auch Hentschel/Weydt 2003: 172). So kann das Beispiel der Besuch der Tante als = jemand besucht die Tante (Genitivus obiectivus) oder = die Tante besucht jemanden (Genitivus subiectivus) interpretiert werden. Aus dem Kontext wird auch in solchen Beispielen klar, um welche Bedeutung es sich handelt; ohne Kontext ist jedoch bei von
4 Zur Problematik der Umwandlung des Genitivattributs bei Genitivus subiectivus und obiectivus in Verbindung mit Wortbildungsprozessen bzw. zu dem Problem, in welchem Verhältnis bedeutungsverwandte Wörter aus unterschiedlichen Wortklassen zueinander stehen, vergleiche man Zifonun u. a. (1997: 2031–2033).
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transitiven Verben abgeleiteten Beziehungswörtern oft keine klare Zuordnung möglich.5 4. Genitivus partitivus (lat. pars = ‚Teil‘), auch „Partitivgenitiv“ (Eisenberg 2006: 249), Genitivus rei (lat. ‚Genetiv der Sache‘) oder Genitivus materiae (lat. ‚Genetiv des Stoffs‘) etwa bei Erben (1980: 152): ein Teil meiner Arbeit, die Hälfte des Artikels. Die Benennungen sind nicht einheitlich und die Bedeutung wird nicht immer synonym definiert. Ein Unterschied zwischen diesen Genitivtypen liegt dann vor, wenn unter Genitivus materiae nur die wirkliche Stoffbezeichnung verstanden wird (z. B. altserbisch vrata suva zlata ‚eine Tür aus purem Gold‘; Brugmann 1904/1970: 604, zitiert nach Hentschel/Weydt 2003: 173), während mit Genitivus partitivus eine Beziehung gemeint ist, in der nicht ein materielles, sondern ein rein partitives Verhältnis vorliegt (ein Becher kühlen Weines). Im Teil-von- oder Teil-Ganzes-Verhältnis, die der Genitivus partitivus ausdrückt, steht dabei das Ganze (meine Arbeit, der Artikel, kühler Wein), von dem ein Teil betroffen ist (Teil, Hälfte, Becher), im Genitiv. Der Genitivus partitivus konkurriert mit der von vielen deutschen Grammatiken als „partitive Apposition“ bezeichneten Konstruktion oder wird von ihr verdrängt, wenn er nach Maß-, Mengen-, Behälter- und Sammelbezeichnungen auftritt: eine Tasse schwarzen Kaffees vs. eine Tasse schwarzer Kaffee oder ein Stück unbearbeiteten Tons vs. ein Stück unbearbeiteter Ton (vgl. Duden 2005: 839, 994; Eisenberg 2006: 249). Neben merkmallosen Formen werden als Ersatz für den Genitivus partitivus auch Nominativ (Sie trank eine Tasse heißer Tee), Akkusativ (Hier ist eine Tasse heißen Tee) und Dativ (mit einer Tasse heißem Tee) genannt, wobei letzterer allerdings nur beim Vorliegen von Parallelflexion auftritt (vgl. Hentschel 1993: 322). Hentschel (ebd.: 326) stellt außerdem fest, „dass sich entgegen der Erwartung zahlreicher Autoren keinerlei Tendenzen zur Bevorzugung eines bestimmten Kasus als Ersatz für Genitivus partitivus nachweisen lassen.“ Statt einer festen Regel ließen sich nur Tendenzen aufzeigen, so wird der Genitivus partitivus im Plural bevorzugt, der Akkusativ des direkten Objekts bewirkt eine stärkere Tendenz zur Parallelflexion im Vergleich zum präpositionalen Dativ, und es zeigt sich insgesamt auch eine Tendenz zum Parallelkasus, die im Singular überwiegt.
5 Allgemeine Regeln für die Unterscheidbarkeit führt Eisenberg (2006: 250) an: „Allein möglich ist der Subjektivus dort, wo es kein direktes Objekt gibt, also bei Substantiven, die von einstelligen und solchen mehrstelligen Verben abgeleitet sind, die kein direktes Objekt regieren und natürlich bei den meisten Ableitungen von Adjektiven“, etwa die Hilfe des Roten Kreuzes, die Höhe des Turmes.
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Zusammenfassend vermutet Hentschel (1993: 332), „dass die übergeordnete syntaktische Struktur des gesamten umgebenden Gefüges die Wahl der jeweiligen Formen beeinflusst.“ Der Genitivus partitivus kann gewöhnlich nicht oder nur in beschränktem Umfang durch Possessivpronomina ersetzt werden (die Hälfte des Artikels = seine Hälfte, eines der Mädchen = *ihr Mädchen). Eine weitere Eigenschaft des Genitivus partitivus betrifft seine Stellung. Auf früheren Stufen der deutschen Sprache kam der Genitivus partitivus meist nachgestellt vor (vgl. ahd. cehenzog scafo (Gen. Pl.) ‚hundert Schafe‘ (Tatian 96,2; zitiert nach Behaghel 1932: 178)). Das gilt auch prinzipiell für das Germanische: „Es ist im Germanischen zu scheiden zwischen nichtpartitiven und partitiven Genitiven. Die ersteren stehen ursprünglich im allgemeinen vor, die letzteren nach.“ (Behaghel 1932: 177).6 Historisch gesehen hat sich der Verwendungsbereich des Genitivus partitivus verengt (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 173). Heute kommt er fast nur in Verbindung mit Substantiven vor, die bereits Teilmengen ausdrücken (Drittel, Teil, Hälfte usw.), während er ursprünglich unabhängig davon auftreten konnte. Partitive Beziehungen bilden eine Grundbedeutung des Kasus, die Hentschel/Weydt (2003: 173) an Hand von mhd. des brôtes nemen (nach Grimm 1837: 651) oder serb. daj mi hleba ‚gib mir von dem Brot‘ illustrieren (vgl. hierzu auch slowenisch daj mi kruha ‚gib mir von dem Brot‘). Für die partitive Grundbedeutung des Genitivs spricht auch die Tatsache, dass der Genitivus partitivus neben dem Genitivus possessivus die erste Bedeutung war, die durch eine analytische Konstruktion mit von ersetzt wurde (vgl. Lipavic Oˇstir 2004).7 5. Genitivus qualitatis (lat. ‚Genitiv der Eigenschaft‘), auch „Eigenschaftsgenitiv“ (Eisenberg 2006: 249): ein Mann mittleren Alters, ein Wort lateinischen Ursprungs. Er drückt ein Kennzeichen-Verhältnis aus, benennt eine Qualität oder Eigenschaft. Solche Genitive sind selten, sie kommen hauptsächlich in der gehobenen Sprache vor (vgl. Duden 2005: 838) oder sind an feste Wendungen gebunden: ein Mensch guten Willens. Typisch für qualitative Genitive ist auch das regelmäßige Vorkommen eines attributiven Adjektivs (mittleren, lateinischen, guten).
6 Prell (2000: 30) weist auf eine noch nicht veröffentlichte Studie von Westvik hin, die zeigt, dass im Altgermanischen (z. B. auch noch im althochdeutschen Tatian) auch der partitive Genitiv überwiegend voransteht. Sowohl Prell (2000) als auch Demske (2001) teilen die Meinung von Ebert (1999: 97), dass die Entwicklung der Stellung des attributiven Genitivs noch keine überzeugende Erklärung gefunden hat. 7 Eine parallele Entwicklung zeigt sich auch im Slowenischen (vgl. Lipavic Oˇstir 2006).
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Durch Possessivpronomina kann der Genitivus qualitatis nicht ersetzt werden (ein Wort lateinischen Ursprungs = *sein Wort), jedoch ist eine Umformung in einen prädikativen Genitiv möglich (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 173): ein Mann mittleren Alters = Der Mann war mittleren Alters, ein Wort lateinischen Ursprungs = Das Wort ist lateinischen Ursprungs. 6. Genitivus explicativus (lat. explicare ‚erklären‘) oder Genitivus definitivus (lat. definire ‚bestimmen‘), wobei beide Begriffe meist synonym verwendet werden (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 173): ein Strahl der Hoffnung, der Schrecken des Tsunami. Ein solches Genitivattribut drückt eine „nähere Bestimmung und Erläuterung des voranstehenden Gattungsbegriffes“ aus (Erben 1980: 153) und kommt bei Nomina vor, „die Immaterielles bezeichnen; es erklärt diese (immaterielle) Größe, indem es ihren wesentlichen Inhalt nennt“ (Engel 2004: 296). Bei Eisenberg (2006: 248) und Zifonun u. a. (1997: 2028) findet sich nur der dort so genannte „Definitionsgenitiv“ (das Laster der Trunksucht), bei Engel (2004: 296) nur der Genitivus explicativus. Nach Helbig/Buscha (2007: 498) und Duden (2005: 839) gibt es einen Unterschied zwischen den beiden semantischen Klassen, wobei der Genitivus explicativus das Bedeuten-Verhältnis (ein Strahl der Hoffnung = Der Strahl bedeutet Hoffnung) und der Genitivus definitivus ein Sein-Verhältnis (die Pflicht der Dankbarkeit = Die Dankbarkeit ist eine Pflicht) darstellen.8 Beide Genitive können nicht durch ein Possessivpronomen ersetzt und anders als der qualitatis auch nicht prädikativ gebraucht werden (ein Strahl der Hoffnung = *ihr Strahl ). 7. Andere Genitivtypen Neben den aufgezählten Genitivtypen sind in einigen Grammatiken, vor allem bei Helbig/Buscha (2007) und im Duden (2005), noch die folgenden zu finden: x
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Der Genitiv des Eigenschaftsträgers: die Größe des Zimmers. In anderen Grammatiken als Spielart des Genitivus possessivus oder auch subjectivus (so im Falle von die Freundlichkeit der Kellnerin; Duden 2005: 833) verstanden. Der Genitiv des dargestellten Objekts: das Bild Goethes = Das Bild stellt Goethe dar. Anderweitig ebenfalls meist als eine der Interpretationsmöglichkeiten des Genitivus possessivus aufgefasst.
8 Der Genitivus explicativus kann laut Duden (2005: 839) aber auch einen Vergleich ausdrücken und wird in solchen Fällen „metaphorischer Genitiv“ genannt: die Hoffnung ist wie ein Strahl.
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Der Genitiv der Steigerung oder genitivischer Superlativ: das Buch der Bücher. Der Genitiv der Zugehörigkeit: die Schule meines Bruders = Mein Bruder gehört zu der Schule. Der Unterschied zum Haben-Verhältnis, das hier nur für Genitivus possessivus (das Haus meines Vaters = Mein Vater hat ein Haus) angesetzt wird, findet sich nur bei Helbig/Buscha (2007: 497 f.). Der Genitivus auctoris: das Werk des Dichters = Der Dichter hat das Werk geschaffen. Er bezeichnet laut Helbig/Buscha (2007: 498) das Verhältnis des Schaffens. Der Genitiv des Produkts: der Dichter des Werkes = Das Werk ist Produkt des Dichters. Er bezeichnet das Ergebnis einer Tätigkeit (ebd.).
Beim Genitivus auctoris und dem Genitiv des Produktes handelt es sich eigentlich um subjektive (das Werk des Dichters) und objektive Genitive (der Dichter des Werkes), die aber getarnt oder verkappt sind, da das Beziehungswort sich nicht auf ein Verb zurückführen lässt: das Werk des Dichters = *der Dichter werkt. Die zugrunde liegende semantische Beziehung ist aber dieselbe. Allein diese Fülle von verschiedenen Typen und unterschiedlichen Interpretationen zeigt, dass die Klassifizierung des attributiven Genitivs nach semantischen Kriterien problematisch ist. Wird nur strikt von syntaktischen Rollen ausgegangen, dann können zwei Genitivtypen unterschieden werden, nämlich der subjektive und der objektive Genitiv. Dies reicht aber nicht aus, um alle Bedeutungen zu beschreiben. Bei einer fein differenzierten Klassifizierung hingegen entstehen schnell Bestimmungsprobleme, die aber auch bei den üblichen fünf oder sechs Klassen vorkommen können. So ist beispielsweise in manchen Fällen der Genitivus qualitatis vom Genitivus partitivus schwer zu trennen: ein Rudel hungriger Wölfe, eine Sammlung wertvoller Instrumente (Beispiele nach Erben 1980: 153). Eine nicht eindeutige Interpretation entsteht in solchen Fällen, weil der Genitivus partitivus sich nicht auf die Funktion des genitivischen Bestimmungsglieds bezieht, sondern die im ersten Glied genannte Größe als Teil des nachfolgenden genannten Ganzen bezeichnet. Eisenberg (2006: 249) bezeichnet semantische Charakterisierungen der Genitivattribute als rein beschreibend und ohne Erklärungskraft und fragt sich, wie vollständig und systematisch die Listen der Genitivattribute sind. Demnach scheint nur die Klassifizierung von Weinrich (2005) sinnvoll, die mit Ausnahme des von ihm – im Unterschied zu anderen – zusätzlich erwähnten superlativischen Genitivs auf syntaktischen Kriterien basiert. Ähnlich schlägt Lindauer (1995: 139) die Ausarbeitung eines neuen einheitlichen Konzepts vor, nach dem bei der Einteilung der Genitivtypen aus-
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schließlich syntaktische Kriterien angewendet werden.9 Auch Oubouzar (1997: 226) verweist darauf, dass die Grundfunktionen des Genitivs im Bereich der Syntax liegen, und stimmt Lindauers Vorschlag zu. Dass die inhaltlichen Interpretationen des Genitivs nicht ausreichen, begründet Ballweg (1998: 158–160) damit, dass diese nicht genügen, um alle Paraphrasen des Genitivattributs zu bezeichnen. Statt einer Liste der Genitivinterpretationen oder Genitivtypen, die besonders im Bereich Deutsch als Fremdsprache wegen der scheinbaren Einprägsamkeit und Übersichtlichkeit sehr beliebt ist, schlägt Ballweg einen Ansatz vor, in dem eine bedeutungsminimalistische Semantik mit einer pragmatischen Theorie der Implikaturen verknüpft wäre. Am Beispiel Die Bilder Picassos sind sehr wertvoll illustriert Ballweg, wie wir zum richtigen Verständnis der Phrase kommen können, ohne die Termini Genitivus subiectivus oder Genitivus auctoris zu kennen. Ein denkbares Kriterium für die Klassifizierung verschiedener Genitivbedeutungen wäre die Möglichkeit der Ersetzung durch die häufigste Ersatzkonstruktion, nämlich die von-Phrase (das Buch meiner Tochter = das Buch von meiner Tochter). Im heutigen Deutsch scheint es, dass die von-Phrase nur zwei Genitivinterpretationen nicht ersetzen kann: Genitivus explicativus und Genitivus definitivus. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen: ein Strahl von Hoffnung (vgl. Ballweg 1998: 155). Somit ist also auch die Ersetzbarkeit durch eine von-Phrase kein brauchbares Kriterium, zumal hier Sprachwandel stattfindet und sich keine eindeutigen Regeln finden lassen. Paul (1919: 326 f.) stellt etwa fest, dass der partitive Genitiv am frühesten durch eine vonPhrase ersetzt werden konnte, erst später auch andere Genitivtypen. Als Kriterium für die Ersetzbarkeit werden allerdings einzelne Situationen angeführt, nicht die Genitivtypen selbst (ähnlich auch Behaghel 1923: 533–539). Ein uneinheitliches Bild ergeben auch die modernen Grammatiken, die teilweise Genitivtypen, teilweise Situationen hinsichtlich der Ersetzbarkeit anführen. 2.2
Zur Position des Genitivattributs
Genitivattribute können vorangestellt (Josephs Häuschen, Niedersachsens Regierung) und nachgestellt vorkommen (das Häuschen meines Onkels). Das gilt für alle Genitivtypen außer für Genitivus qualitatis, Genitivus explicativus 9 So verwendet Lindauer (1995: 139) die Bezeichnung Genitivus thematicus, „dessen prototypische Vertreter etwa der Genitivus subjectivus, objectivus und possessivus sind. Dieser Typ zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß er sowohl post- wie auch pränominal auftreten kann und daß er durch ein Possessivum ersetzt werden kann.“
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und Genitivus definitivus (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 175). Die Voranstellung wirkt archaisch und wird kaum noch gebraucht, wenn es sich beim Genitiv-Attribut nicht um einen Eigennamen handelt, man vergleiche des Lehrers Auto vs. Josephs Auto. Umgekehrt wirken Eigennamen archaisch, wenn sie nachgestellt werden: das Häuschen Josephs.10 Der vorangestellte s-Genitiv wird gelegentlich auch als „sächsischer Genitiv“ bezeichnet. Er wird bei Eigennamen für alle Genera mit -s gebildet: Deutschlands Außenpolitik, Hannas Bilder, Lennarts Fahrrad, bei s-Auslaut mit -ens: Hansens Freundin (vgl. Eisenberg 2006: 250) oder endungslos: Jonas’ Freundin.11 Wenn der vorangestellte Genitiv typisch für Eigennamen ist, sind allerdings Beispiele wie Vaters Auto, Mutters Küche, Omas Blumen auf den ersten Blick erklärungsbedürftig. Diese und auch andere Verwandtschaftsbezeichnungen werden jedoch als Eigennamen verwendet, was daran zu erkennen ist, dass diese Substantive keine relationale Bedeutung mehr haben, sondern als definite Beschreibung genau eine Person bezeichnen, unabhängig davon, in welchem Verhältnis die Person zum Sprecher oder irgend jemand sonst steht (vgl. Teuber 2000: 179 f.). Eigennamen können auch als Possessiv-Marker und die vorangestellten Namen als Adjektive interpretiert werden, ähnlich dem englischen „apostrophic genitive“ (Terminus nach Eisenberg 2006: 251) wie in John’s book. Eisenberg (ebd.) widerspricht diesem Vorschlag mit dem Argument, dass das s-Flexiv nicht ausschließlich bei vorangestellten Eigennamen in possessiver Funktion vorkommt, wie er an Beispielen wie: Wir erinnern uns Michelangelos/bezüglich Michelangelos/Michelangelos wegen zeigt.12 Eine Fallstudie zur Akzeptanz der s-Formen von Eigennamen in verschiedenen Gebrauchsformen (Genitivattribut, Genitivobjekt, Teile von Adverbialbestimmungen, bei denen der Genitiv von einer Präposition abhängig ist) zeigte hingegen, dass in den untersuchten Fällen nur der Genitivus possesssivus als „normal“ angesehen wurde, während andere Gebrauchsweisen als „merkwürdig“ empfunden werden (vgl. Hentschel 1994). Durch Vergleich verwandter Sprachen (Englisch, Serbokroatisch) kommt Hentschel (1994) zu dem Schluss, dass der vorangestellte s-Genitiv von Eigennamen semantische und syntaktische 10 Im Gegensatz dazu bezeichnen Helbig/Buscha (2007: 503) solche Genitivattribute nicht als archaisch: die Seen Mecklenburgs, das Gartenhaus Goethes. 11 Einen Überblick über die Entwicklung der Deklination von Eigennamen finden wir bei Grimm (1837) (nach Hentschel 1994: 18). Wenn im Alt-, Mittel- und Neuhochdeutschen noch andere Endungen vorhanden waren, verlief die Entwicklung in Richtung einer Übergeneralisierung der s-Endung (mit gelegentlichen Ausnahmen). Primus (1997: 141) datiert die Durchsetzung von -s ungefähr in das 17. Jahrhundert, da vorher noch -n üblich war (Philippen Sohn). 12 Vgl. auch Lunt Lanouette (1996), die die vorangestellte Position des sächsischen Genitivs mit der Rektions- und Bindungstheorie erklärt.
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Parallelelen zu Possessivpronomina aufweist (attributive Funktion, eine Bezugname auf Bekanntes, Vorerwähntes) – solche Formen werden in den anderen Sprachen normalerweise als Possessivadjektive bezeichnet. Damit liegen im Deutschen Ansätze zur Herausbildung eines Possessivadjektivs vor.13 2.3
Zur Stabilität der morphologischen Markierung
Beispiele wie im flammenden, leuchtenden Rot des Ahorn (Schlink, Der Vorleser, S. 199, nach Pérennec 1998:168) zeigen die Tendenz zur Auslassung der Genitivendung (vgl. Bhatt 1990; Pérennec 1998; Rowley 1988). Im Duden wird der Wegfall der Genitivendung als eine Erscheinung behandelt, die mit der Tendenz zur Monoflexion in der Nominalphrase zusammenhängt: „Ein grammatisches Merkmal wird nur noch einmal ausgedrückt“ (Duden 2005: 203). Hinsichtlich der Akzeptabilität in der Standardsprache ergibt sich folgendes Bild: x
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x
x
x
x
x
Bei Gattungsnamen ist das Weglassen des Genitiv-s standardsprachlich nicht anerkannt, in einigen Bereichen freilich schon zugelassen (*die Gestaltung des Konzert, *der Höhepunkt des Protest, aber: die Formenbildung des Passiv). Anerkannt sind Formen wie des Zirkus, des Radius, nicht aber Beispiele wie des *Kompass, des *Geheimnis. Bei Substantiven mit Wortausgang -en ist oft nicht klar, ob die Endung -s weggelassen wurde oder ob eine Verwechslung mit der schwachen Kasusflexion vorliegt, so etwa des *Rahmen, dieses *Namen (parallele Fälle mit schwacher Flexion: des Boten, des Zeugen). Nach Artikelwörtern mit der polyfunktionalen Endung -en ist das Genitiv-s fest: die Erfassung jeden Betriebs, die Beseitigung allen Abfalls. Bei Eigennamen wird die Endung -s dann ausgelassen, wenn maskuline Personennamen mit einem Artikel vorliegen: die Familie des kleinen Stefan (vgl. Duden 2005: 205). Bei maskulinen und neutralen Landschafts-, Berg- und Gewässernamen ist die Endung -s fakultativ: des Himalaja(s), des Neckar(s). Bei Gattungsbezeichnungen, die Eigennamen ähneln, besteht die Tendenz, nach Artikelwörtern die Endung wegzulassen: im Laufe des Januar(s), im Laufe des Mittwoch(s), des Aspirin(s).
13 Zu morphosyntaktischen Eigenschaften des Genitivs bzw. zu dem s-Genitiv vergleiche auch Teuber (2000), der die These vertritt, es gebe im Deutschen zwei Genitive (Appellativa/ Stoffsubstanzen vs. Eigennamen). Zu der Stellung des adnominalen Genitivs und dem historischen Stellungswandel vgl. auch Demske (2001) und Prell (2000).
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Bei Buchstabenkurzwörtern und Schreibabkürzungen wird die Genitivendung meist ausgelassen: des EKG, des 15. Jh.
Dass diese Tendenz nicht neu ist und schon seit spätmittelhochdeutscher Zeit zu beobachten war, zeigt Rowley (1988). Er vertritt die Ansicht, dass die Bestrebungen zur Normierung der Standardsprache diese Tendenz bis zum 20. Jahrhundert mehr oder weniger verdrängt hätten. Auf der anderen Seite spricht Pérennec (1998: 168) von der Widerstandsfähigkeit des adnominalen Genitivs. Die Genitivendung wird zwar weggelassen, aber das geschieht vor allem dann, wenn der bestimmte Artikel vorkommt (des Ahorn), der als Mittel zur Markierung des Kasus genügt. In diesem Zusammenhang muss die Tendenz zum Übergang zur starken Flexion, die bei einer Anzahl von Substantiven zu beobachten ist (dem Mensch statt dem Menschen), erwähnt werden. Thieroff (2003) bedauert, dass diese Tendenz in den Standardwerken zu sprachlichen Zweifelsfällen im Deutschen (Duden Band 9 „Richtiges und gutes Deutsch“ sowie Wahrig Band 5 „Fehlerfreies und gutes Deutsch“) nicht als gut begründbare Sprachwandelphänomene erklärt, sondern äußerst normativ betrachtet wird. Dieser Übergang betrifft auch den Genitiv: Anhand des Vergleichs von Deklinationsklassen stellt Thieroff (2003) unter anderem fest, dass bei allen NichtFeminina der Genitiv Singular immer formal vom Akkusativ und vom Dativ unterschieden wird, das heißt mit beiden nicht homonym ist. Aus syntaktischen Gründen ist es äußerst wichtig, dass der Genitiv Singular formal möglichst immer von allen anderen Kasus unterschieden wird. Das Paradigma der Christ, dem Christ, den Christ und des Christen folgt dann einer allgemeinen Regel. Weiter stellt Thieroff (ebd.: 114) fest: Wenn der Genitiv Singular markiert ist, dann ausnahmslos mit -s, und dies so stark, dass -s sogar bei einigen schwach deklinierten Substantiven gebraucht wird (des Bärs statt des Bären). Außerdem kann das Genitivsuffix -s auch zum bereits vorhandenen Genitivsuffix -en hinzugefügt werden (des Menschens). Auch hierfür ist die Regel ausschlaggebend, dass der Genitiv formal vom Akkusativ und vom Dativ unterscheidbar sein muss. Leider erklärt Thieroff jedoch nicht genauer, aus welchen syntaktischen Gründen es wichtig ist, dass sich der Genitiv formal vom Dativ und vom Akkusativ unterscheidet. 2.4
Ersatzkonstruktionen für den attributiven Genitiv
Wie erwähnt, lässt sich auch im attributiven Bereich ein Rückgang des Genitivs feststellen. Damit stellt sich die Frage, welche Ersatzkonstruktionen seine Funktion übernehmen. Hinsichtlich der Frequenz wäre hier vor allem die von-Phrase zu erwähnen (die Tür der neuen Wohnung = die Tür von der
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neuen Wohnung). Darüber hinaus kann insbesondere der partitive Genitiv auch durch ein unflektiertes oder parallel flektiertes Nomen ersetzt werden (ein Glas Wein). Andere Ersatzstrukturen, die im Folgenden genauer besprochen werden, wären der possessive Dativ mit gleichzeitig gebrauchtem Possessivpronomen (dem Vater sein Haus) und der Gebrauch einiger anderer Präpositionen wie etwa zu (der Schlüssel zur Tür) oder des Infinitivs mit zu (das Setzen der Kartoffeln dauert fünf Stunden = die Kartoffeln zu setzen dauert fünf Stunden). Der Genitiversatz durch von + Dativ, auch als von-Attribut oder vonPhrase bezeichnet sowie wegen der funktionalen Nähe zum Genitiv-Attribut gelegentlich auch als analytischer Genitiv oder Präpositionalattribut (Eisenberg 2006: 441 f.), ist die häufigste Ersatzkonstruktion für Genitivattribute: die Puppen von Hanna (Hannas Puppen), der Baum von unseren Nachbarn (der Baum unserer Nachbarn). Im Allgemeinen wird das von-Attribut als umgangssprachlich angesehen. Historisch gesehen kam es erstmals im Althochdeutschen vor, und zwar anstelle des Genitivus subiectivus und Genitivus partitivus, setzte sich aber erst in frühneuhochdeutscher Zeit stärker durch, in einer Zeit also, in der die analytischen Strukturen insgesamt weitere Verbreitung fanden. Heute kann dieser Genitiversatz fast alle Genitivtypen ersetzen, wobei die Ersetzungsmöglichkeiten verschieden erklärt werden, und zwar entweder hinsichtlich der Genitivtypen oder in Abhängigkeit davon, ob der Genitiv formal deutlich ist. Helbig/Buscha (2007: 500 f.) führen eine Liste von Fällen an, in denen die von-Phrase das Genitivattribut ersetzt oder ersetzen kann, wobei einige ausdrücklich als „umgangssprachlich“ eingestuft werden (z. B. das Haus von meinem Vater), während andere standardsprachlich sind (z. B. die Gewinnung von Kohle, der Preis von sechs Büchern). Ein formales Kriterium für die Ersetzbarkeit wäre die im Duden (2005: 979) angeführte so genannte Genitivregel: „Eine Nominalphrase kann nur dann im Genitiv stehen, wenn sie (i) mindestens ein adjektivisch flektiertes Wort und (ii) mindestens ein Wort mit s- oder r-Endung enthält“. Wenn diese Regel nicht erfüllt werden kann, wird statt des Genitivs ein von-Attribut verwendet. Damit ist sichergestellt, dass der Genitiv nur benutzt wird, wenn er auch deutlich als solcher erkennbar ist. Die Regel kann aber die Wahl zwischen einem Genitivoder von-Attribut nicht vollständig erklären, da Varianten wie der Konsum frischen Wassers nimmt ständig zu vs. der Konsum von frischem Wasser nimmt ständig zu zeigen, „dass Sprecher teilweise auch dort zu konkurrierenden Konstruktionen tendieren, wo die Genitivregel eigentlich erfüllt werden kann“ (Duden 2005: 980). Engel (1996: 613 f., 2004: 294 f.) versucht den Gebrauch des von-Attri-
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buts mit Hilfe der vier Genitivtypen, die in seiner Grammatik angeführt werden, zu erklären, und zwar: x
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x
x
Der Genitivus possessivus kann durch ein von-Attribut ersetzt werden. In vielen Fällen ist dies alltagssprachlich (*der Garten von meinem Vater); korrekt und obligatorisch ist es, wenn eindeutige flexivische Merkmale fehlen: der Plan Fritz’ = der Plan von Fritz, Erfolge Bamberger Fußballer = Erfolge von Bamberger Fußballern. Der Genitivus subiectivus kann durch ein von-Attribut oder eine Präpositionalphrase mit durch ersetzt werden, falls er flexivisch nicht eindeutig ist oder die Genitivform ungewöhnlich wäre: das Verhalten Hans’ = das Verhalten von Hans, Eva Groß’ Antrag = der Antrag von Eva Groß. Der Genitivus obiectivus kann durch ein von-Attribut ersetzt werden, wenn die Kasusmerkmale nicht eindeutig sind: die Festnahme Max’ = die Festnahme von Max. Der Genitivus explicativus kann nur im Plural und im Falle eines Nullartikels durch ein von-Attribut ersetzt werden: *die Möglichkeit Unruhen = die Möglichkeit von Unruhen.
Wenn ein Genitivattribut und ein von-Attribut zusammen vorkommen, ist die Abfolge Genitivattribut + von-Attribut: die Idee Brandts von einer neuen Mehrheit (Beispiel nach Schmidt 1993: 258) und nicht *die Idee von einer neuen Mehrheit Brandts. Possessiver Dativ mit Possessivpronomen als Ersatz für den possessiven Genitiv ist nur in der Umgangsprache und in Dialekten typisch: Josephs Garten = dem Joseph sein Garten. Die Konstruktion besteht aus einer Nominalphrase im Dativ und aus einem Possessivpronomen (vgl. hierzu ausführlicher Duden 2005: 1224) und kommt seltener als das von-Attribut vor. Eine in Regensburg durchgeführte Studie (Keller 1977, zitiert nach Koß 1983: 1248) zeigte beim Gebrauch von Ersatzstrukturen sogar Unterschiede im Rahmen dreier Generationen einer Familie: während die ältere und teilweise auch die mittlere Generation den possessiven Dativ der Anna ihr Zimmer wählte, entschied sich die jüngere Generation eindeutig für das von-Attribut: das Zimmer von der Anna. Der Gebrauch anderer Präpositionen statt von als Genitiversatz ist extrem beschränkt und vor allem im dialektalen Bereich zu finden. Beispiele wären: ein Vetter zu meinem Vater, der Schlüssel zur Tür (Oberhessisch, Schirmunski 1962, zitiert nach Koß 1983: 1244).
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Genitiv als Objekt
In den meisten Grammatiken des Deutschen wird das Genitivobjekt als „Genitivergänzung“ (Engel 1996: 192, 2004: 98) oder als „Genitivkomplement“ (Erben 1980: 260; Zifonun u. a. 1997: 1090) aufgeführt, wobei allerdings zwischen direkt vom Verb regierten Genitivobjekten und Genitivobjekten zweiten Grades unterschieden wird (vgl. ausführlicher hierzu Hentschel/ Weydt 2003: 176). Genitivobjekte kommen im heutigen Deutsch nur noch selten vor. Es gibt etwa fünfzig Verben, die den Genitiv regieren (vgl. Eisenberg 2006: 300). Viele von ihnen werden allerdings nicht mehr frei verwendet, sondern kommen nur als Teil fester Syntagmen vor (eines Amtes walten, der Ruhe pflegen; vgl. Zifonun u. a. 1997: 1349). Verben mit Genitiv können in drei Gruppen eingeteilt werden (nach Eisenberg 2006: 300); allen gemeinsam ist die Möglichkeit, ein werden-Passiv zu bilden: x
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zweistellige Verben mit Subjekt und Genitivobjekt: bedürfen, entbehren, entraten, ermangeln, gedenken, spotten = Von niemandem wird deines Entschlusses gedacht (subjektloses Passiv). zweistellige Verben mit Subjekt und Genitivobjekt, die zusätzlich noch obligatorisch reflexiv sind: sich annehmen, bedienen, befleißigen, begeben, bemächtigen, entäußern, enthalten, entledigen, erbarmen, erinnern, schämen, vergewissern = Es wird sich niemandes angenommen (Reflexiv-Passiv). dreistellige Verben, die außer dem Genitiv noch einen Akkusativ regieren: anklagen, berauben, beschuldigen, bezichtigen, entheben, überführen, versichern = Ernst wird von Jutta des Diebstahls angeklagt (transitives Verb mit Subjekt- und Objektkonversion im Passiv). Diese Verben sind typisch für die Gerichtssprache, und entsprechend wird das bei ihnen gebrauchte Genitivobjekt auch als Genitivus criminis bezeichnet. Ihr Gebrauch im Fachgebiet scheint stabil zu sein (Engel 1996: 192, 2004:98).
Wenn der Genitiv nach Verben und Adjektiven wie bedürfen, bedürftig, ermangeln etwas Fehlendes, Nicht-Vorhandenes ausdrückt, dann heißt er auch privativ (von. lat. privare ‚berauben‘; vgl. Hentschel/Weydt 2003: 176). Der Rückgang des Genitivobjekts war im letzten Jahrhundert besonders ausgeprägt. Während die Liste der Genitivverben Ende des 19. Jahrhunderts noch ungefähr 160 Verben umfasste (Blatz 1900, zitiert nach Eisenberg 2006: 300), sind es heute nur noch weniger als ein Drittel. Ein Teil der Verben ist einfach verschwunden (Sie hat des Lebens sich entbrochen), ein erheblicher Teil der Verben bindet heute ein Akkusativobjekt (vergessen, entbehren, brauchen) oder ein Präpositionalobjekt (warten auf, achten auf, hoffen auf ).
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Zu beobachten ist ferner gelegentlich auch ein Übergang zum Dativobjekt, das allerdings nicht immer als standardsprachlich korrekt akzeptiert wird (Sie enthält sich dem Kommentar, Beispiel nach Lenz 1998: 5 f., zitiert nach Eisenberg 2006: 302).14 Zusammenfassend interpretiert Eisenberg (2006: 302) die Situation für das Genitivobjekt bei den dreistelligen Verben, die außer dem Genitiv noch einen Akkusativ regieren, als am stabilsten, wenn auch textsortenspezifisch sehr beschränkt. Für zweistellige Verben mit Subjekt und Genitivobjekt wie auch für zweistellige Verben mit Subjekt und Genitivobjekt, die zusätzlich noch obligatorisch reflexiv sind, vermutet Eisenberg den Übergang zum Dativ: „Wo das nicht möglich ist, wird der Objektsgenitiv weiter isoliert werden. Welche Verben wann ganz verschwinden, bleibt wohl Spekulation“ (Eisenberg 2006: 302). 4
Genitiv im adverbialen und prädikativen Bereich
Der Gebrauch im adverbialen Bereich wird anhand der Tatsache, dass es sich um einen freien Gebrauch handelt, der nicht direkt abhängig von anderen Elementen des Satzes ist, auch als freier Genitiv bezeichnet, manchmal auch als Genitivus absolutus (lat. ‚in sich abgeschlossener Genitiv‘) oder als adverbialer Genitiv: frohen Mutes (nach Hentschel/Weydt 2003: 176). Adverbiale Genitive haben die Funktion eines Adverbials, sie kommen fast nur noch als feste Wortverbindungen vor und sind nicht mehr produktiv, das heißt es können keine neuen Wendungen nach demselben Schema gebildet werden. Folgende Bedeutungen sind möglich (vgl. Duden 2005: 829; Eisenberg 2006: 292, 486): x x x
Modaladverbiale: Die Kommission hat des Langen und Breiten diskutiert. Temporaladverbiale: Das wirst du eines Tages bereuen. Kommentaradverbiale: Hier muss unseres Erachtens ein neuer Plan angefertigt werden.
Ähnlich wie der Genitivus absolutus ist auch der prädikative Genitiv nicht direkt von den anderen Elementen abhängig, aber er ist syntaktisch als Prädikativum stärker in den Satz integriert (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 176).
14 Duden (2005: 829), Engel (1996: 192) und Helbig/Buscha (2007: 458) sprechen nur über den Ersatz durch Präpositional- und Akkusativobjekte. Engel beispielsweise vermutet die Durchsetzung des Präpositionalobjekts in absehbarer Zeit. Man vergleiche auch die Analyse von Ogawa (1998), der die Genitivobjekte auf deren ursprünglich adnominale Funktion zurückführt.
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Beispiel: Dieses Wort ist lateinischen Ursprungs. Sie war guter Laune. Semantisch ist er verwandt mit dem Genitivus qualitatis. 5
Genitiv bei Adpositionen
Der Genitiv kommt auch in Verbindung mit Präpositionen, Zirkumpositionen oder Postpositionen vor.15 Diese können entweder nur den Genitiv regieren, etwa abseits, außerhalb, fernab, anlässlich, links, seitlich, um – willen, von – wegen, oder Genitiv/Dativ,16 beispielsweise (an)statt, mittels, während, wegen, binnen, dank, laut, zufolge. Möglich ist aber auch Dativ/Akkusativ/ Genitiv (z. B. entlang mit Dativ oder Genitiv in Prästellung, mit Akkusativ in Poststellung) und sogar die Verwendung aller vier Kasus bei plus, minus, wobei allerdings der Genitiv am seltensten verwendet wird und die Partikel bei Verwendung des Nominativs als Konjunktion aufgefasst wird (Duden 2005: 620). Häufig erwähnt und auch diskutiert wird der Übergang der präpositionalen Rektion vom Genitiv zum Dativ, vor allem wegen + Genitiv zu wegen + Dativ,17 wobei allerdings keine dieser Präpositionen nur mit Dativ gebraucht wird, sondern stets beide Kasus möglich sind (vgl. Di Meola 2004: 170). Zugleich lässt sich anhand von Korpusanalysen (Di Meola 2000, 2004) im heutigen Deutsch die Tendenz feststellen, dass Präpositionen und auch Adjektive, die Dativ oder Akkusativ regieren, ebenso mit Genitiv gebraucht werden können, so etwa außer, entgegen, entsprechend, fern, gegenüber, gemäß, getreu, nächst, nah, sogar nach, neben, seit über, betreffend, ausgenommen, gen, wider. Diese Veränderungen erklärt Di Meola als Grammatikalisierungsphänomen: Inhaltswörter werden als Präpositionen reanalysiert, und dieser funktionaler Übergang von der lexikalischen zu der grammatischen Bedeutung wird dadurch markiert, dass auch im syntaktischen Umfeld Veränderungen vorgenommen werden. So ist mit dem Kasuswechsel auch ein Stellungswechsel verbunden, und zwar von der Postposition zur Präposition. Dieser Grammatikalisierungsprozess vollzieht sich in zwei Schritten: zuerst erfolgt die Veränderung der Position, dann die der Rektion. Daher ist die Rektion mit dem neuen Kasus erst möglich, wenn der Stellungswechsel schon vollzogen ist (vgl. hierzu ausführlicher Di Meola 2000, 2004). 15 Ausführliche Listen finden sich im Duden (2005: 618–621), bei Helbig/Buscha (2007: 357 f., 362–390) oder bei Di Meola (2000: 154 f.). 16 Helbig/Buscha (2007: 358) erwähnen Präpositionen mit einem zweiten Kasus als Nebenkasus und führen zwei Kategorien an: (1) Genitiv/(Dativ), z. B. (an)statt, innerhalb, trotz, wegen und (2) Dativ/(Genitiv), z. B. binnen, dank, laut. 17 Di Meola (2000) stellt anhand des Zeitschriftenkorpus des Instituts für deutsche Sprache Mannheim fest, dass sich diese Tendenz auch in der Standardsprache zeigt.
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Zum Genitivschwund
Das Schwinden des Genitivs in einigen Bereichen wirft mindestens drei Fragen auf: (1) Wenn der Genitiv die Grundfunktion hat, Possessivität im weitesten Sinne zu markieren, welche Strukturen ersetzen dann den Genitiv in diesem Bereich? (2) Bleibt in den Bereichen, wo Genitiv noch zu finden ist, die morphologische Markierung stabil? (3) Warum schwindet der Genitiv überhaupt? Es ist an dieser Stelle nicht möglich, alle Erklärungsversuche für den Genitivschwund in den verschiedenen Bereichen zu erläutern. Einige sind schon erwähnt worden; es folgen noch einige weitere Überlegungen und neuere Vorschläge. Das allmähliche Verschwinden des Genitivobjekts wird im Duden (2005: 829) mit der Genitivregel erklärt: „Sie lässt nur Genitivphrasen zu, die ein dekliniertes Artikelwort oder Adjektiv enthalten. Andernfalls ist eine Ersatzkonstruktion zu wählen – und genau diese Ersatzkonstruktionen verdrängen das Genitivobjekt auch in den Kontexten, in denen es eigentlich noch zulässig wäre“: Sie war sehr wohl noch energischen Widerstands fähig. vs. Sie war sehr wohl noch zu Widerstand fähig. Eine Erklärung kann auch in der lexikalischen Kasuszuweisung durch das Verb im Althochdeutschen und teilweise noch im Mittelhochdeutschen gesucht werden (vgl. Schrodt 1995, nach Eisenberg 2006: 301). Hier spielt es eine Rolle, dass die Verben je nach ihrer Semantik verschiedene Kasus regieren konnten. In der Folge hatte die Herausbildung struktureller Kasus entscheidenden Einfluss (vgl. Abraham 1997: 233 f., nach Eisenberg 2006: 301): der Akkusativ als struktureller Kasus des direkten Objekts hat im Gegenwartsdeutschen die wenigsten semantischen Restriktionen und konnte sich unter anderem auf Kosten des Genitivs ausbreiten. Die Ersetzung durch einen Präpositionalkasus verlief parallel zum Übergang vom präfigierten, Perfektivität bezeichnenden, Verbstamm zu einem einfachen Verbstamm (z. B. jemandes gedenken vs. an jemanden denken). Der Verlust der morphologisch markierten Perfektivität führte damit zu einer Einschränkung des Genitivobjekts und zur Dominanz des Akkusativs, da dieser einen weniger einschränkten Status hat (Abraham 1997: 59). Das Überhandnehmen der häufigsten Konstruktion, die den attributiven Genitiv ersetzt, nämlich der von-Phrase, wird auch im breiteren Zusammenhang mit den Veränderungen des gesamten Sprachsystems erklärt. Auch in
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anderen Bereichen setzten sich zunehmend analytische Konstruktionen durch (z. B. im Bereich der Verbalkategorien Perfekt, Passiv, Futur usw.), besonders in frühneuhochdeutscher Zeit. Der Übergang von synthetischen zu analytischen Strukturen ist auch in anderen Sprachen zu beobachten, so in den romanischen Sprachen, in anderen germanischen und auch in slawischen Sprachen.18 Dabei folgt die Etablierung der von-Phrase dem Verlauf eines in mehreren Sprachen parallel zu beobachtenden Grammatikalisierungsprozesses, in dem die Präposition von zu einem Marker für den Ausdruck der Possessivität grammatikalisiert wird und historisch gesehen verschiedene Grammatikalisierungsgrade erreicht (vgl. Lipavic Oˇstir 2004, 2006). Literatur Abraham, Werner (1997): „The interdependence of case, aspect, and referentiality in the history of German: the case of the verbal genitive“. In: Van Kemenade, Ans/Vincent, Nigel (Hrsg.): Parameters of morphosyntactic change. Cambridge/New York/Melbourne, Cambridge University Press: 29–61. Ballweg, Joachim (1998): „Eine einheitliche Interpretation des attributiven Genitivs“. In: Vuillaume, Marcel (Hrsg.): Die Kasus im Deutschen. Tübingen, Stauffenburg: 153–166. (= Eurogermanistik 13). Behaghel, Otto (1923): Deutsche Syntax. Band I: Die Wortklassen und Wortformen. A. Nomen. B. Pronomen. Heidelberg: Winter. (= Germanische Bibliothek. I. Sammlung germanischer Elementar- und Handbücher. I. Reihe: Grammatiken 10). Behaghel, Otto (1932): Deutsche Syntax. Band IV: Wortstellung. Periodenbau. Heidelberg: Winter. (= Germanische Bibliothek. I. Sammlung germanischer Elementar- und Handbücher. I. Reihe: Grammatiken 10). Bhatt, Christa (1990): Die syntaktische Struktur der Nominalphrase im Deutschen. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Grammatik 38). Boretzky, Norbert (1977): Einführung in die historische Linguistik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. (= Rororo-Studium 108). Brugmann, Karl (1904/1970): Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Auf Grund des fünfbändigen ‚Grundrisses der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen von K. Brugmann und B. Delbrück‘ verfasst. Strassburg 1904: Trübner. Photomechanischer Nachdruck. Berlin 1970: de Gruyter. Demske, Ulrike (2001): Merkmale und Relationen. Diachrone Studien zur Nominalphrase im Deutschen. Berlin/New York: de Gruyter. (= Studia Linguistica Germanica 56). 18 Brugmann (1904/1970: 435) stellt sich anhand von Beispielen aus einigen indoeuropäischen Sprachen die Frage, ob der Genitiv die Bedeutung des Ablativs mit übernommen hat (Zusammenfall beider Kasusformen in vielen Sprachen), womit dann auch der Gebrauch von dt. von und de im Romanischen als Genitiversatz zu erklären wäre. Auch in den von Brugmann nicht erwähnten slawischen Sprachen gibt es solche (Polnisch, Tschechisch, Slowenisch, Kroatisch, Serbisch, Bosnisch), die einen Genitiversatz mit der Präposition od ‚von‘ kennen, der mit dem Gebrauch im Deutschen und in der Romania vergleichbar ist ist (slow. vrt od mojega strica ‚der Garten von meinem Onkel‘). Der Zusammenhang besteht darin, dass die Bedeutung des Ablativs, der eine Entfernung oder einen Ausgangspunkt ausdrückt, nach dem Abbau des Kasus durch die Präposition von, de, od usw. übernommen wurde. Das würde erklären, warum gerade die Ersatzkonstruktionen mit von, de, od verschiedene Genitivtypen ersetzen können.
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Genitiv
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Alja Lipavic Oˇstir u Genus 1
Einleitung
Traditionell wird angenommen, dass die grammatische Kategorie Genus im Lexikon zu verorten ist, dass ihre morphologischen Ausprägungen Maskulinum (M), Femininum (F) und Neutrum (N) – abgesehen von der Korrelation mit dem Sexus – arbiträr vergeben werden und dass sie vergleichsweise funktionsarm ist. Erst in den vergangenen zwanzig Jahren hat sich diese Einschätzung vor dem Hintergrund von Forschungsergebnissen zu Kongruenzphänomenen verändert (vgl. insbesondere Corbett 1999, 2006 und Wechsler/Zlatiˇc 2003). Dahl (2000: 106) stellt der tradierten Vorstellung der lexikalischen Verankerung des Genus (lexical gender) die Idee eines auf dem Referenten der NP basierten Genus (referential gender) gegenüber. Die Verortung des Genus wird also vom Lexikon weg in die referierende Nominalphrase hinein verlagert; als Folge hiervon wird das Genus dann in sehr vielen Fällen pragmatisch vergeben und ist nicht mehr eine durchgängig geltende Eigenschaft des Lexikons. Die vermeintliche Zuweisungsarbitrarität wird hierdurch zu einer Randerscheinung des Lexikons. 2
Typologie
Auf Sexus basierte Genus-Systeme, die vor allem in indoeuropäischen und afroasiatischen Sprachen und in einigen Sprachen Australiens, Papua-Neuguineas und des Amazonasgebiets vorkommen, sind nur eine spezielle Ausprägung von Nominalklassensystemen, die sich in anderen Varianten auch noch in vielen anderen Sprachfamilien finden, zum Beispiel gilt für viele Niger-Kongo-Sprachen, dass sie zehn oder gar mehr Klassen aufweisen, die aber auf Belebtheit und nicht auf Sexus basieren. Daneben gibt es viele Sprachen, die gänzlich ohne Nominalklassen auskommen, etwa die finnougrischen und altaischen Sprachen (vgl. hierzu die Genuskarten in Haspelmath u. a. 2005).
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Genus
Wachsende Aufmerksamkeit erfuhr die Nominalklassifikation durch die kognitive Linguistik (vgl. Craig 1986). Dabei wurden Vorschläge für Prinzipien, die die Klassifikation motivieren, unterbreitet, und zwar quer zu typologisch ganz unterschiedlichen Sprachen (vgl. Dixon 1982; Silverstein 1986; Derbyshire/Payne 1990; Corbett 1999; Aikhenvald 2000; Grinevald 2000). Von Grinevald (2000) werden drei Stufen unterschiedlicher Grammatikalisierungsgrade von Nominalklassifikationssystemen angenommen: 1. nicht grammatikalisierte, semantisch transparente Mensur-Klassifizierer (eine Tasse Tee) und Oberbegriffe (Baum in Eichenbaum); 2. semigrammatikalisierte, nur teilweise semantisch durchsichtige Klassifizierer, die in Konstruktionen mit Numeralia, Verben oder Genitivphrasen vorkommen (eine Stange Lauch/ Zimt); 3. vollständig grammatikalisierte, angeblich semantisch arbiträre Systeme mit Kongruenzausdehnung. Corbett (1999) unterscheidet präziser für diese zuletzt genannte Stufe zwischen semantisch und formal motivierten Systemen. Im Deutschen ist das Genus der dritten Stufe zuzurechnen; dabei ist es teils semantisch, teils formal motiviert. 3
Die Genus-Sexus-Korrelation („natürliches Genus“)
3.1
Menschenbezeichnungen
Die Korrelation zwischen Genus und Sexus ist für Menschenbezeichnungen zwar sehr hoch, keinesfalls aber zwingend, wie Fälle wie der Vamp, die Wache oder das Mitglied zeigen. „Ein Gast“ kann weiblich sein, so wie umgekehrt „eine Geisel“ oder „eine Person“ männlich sein können. Für das Feld der Frauenbezeichnungen gibt es Köpcke/Zubin (2003) zufolge sogar ein N-klassifiziertes lexikalisches Cluster (z. B. Mädchen, Reff, Weib usw.), das sich bis ins 17. und 18. Jahrhundert zurück verfolgen lässt und das auch heute noch Produktivität aufweist (z. B. Babe, Girl, Groupie usw.). Ferner zeigt eine genaue Analyse aller im Duden-Universalwörterbuch (1989) aufgeführten Bezeichnungen für Frauen und Männer zweierlei: 1) Bei sehr vielen Frauenbezeichnungen handelt es sich um mit -in (die Lehrerin) derivierte oder der adjektivischen Deklination (die Angestellte) zuzurechnende Nomina. Die in-Bildungen haben in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen (vgl. Jobin 2004: Kap. 2). Unter den nicht-derivierten Nomina finden sich meist Verwandtschaftsbezeichnungen (Mutter, Tochter, Schwester, Tante) oder mit Sexualität assoziierte Bezeichnungen (Dirne, Hure, Nutte usw.). Zurück bleiben nur wenige hochfrequente (Frau, Nonne) oder extrem niedrigfrequente (Beauté, Vettel) monomorphematische Nomina.
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Genus
2) Bezeichnungen für Männer sind in den meisten Fällen ebenfalls abgeleitetet (Kommunist, Lehrer); sie werden, wie die monomorphematischen Maskulina Arzt, Koch usw., generisch gebraucht und sind somit sexus-neutral.1 Wie schon bei den Bezeichnungen für Frauen bleiben auch hier wieder nur wenige monomorphematische Nomina zurück, etwa Herr, Mann, Junge, Bube. Es scheint sich also weniger um einen von einer lexikalischen Basis abgeleiteten Sexusbegriff zu handeln, als vielmehr umgekehrt um einen unabhängig von einer lexikalischen Basis existierenden Sexusbegriff, zu dem dann post hoc eine umfangreiche Basis im Lexikon via Ableitung generiert worden ist. 3.2
Sexualisierung des Unbelebten2
Der Gedanke der Sexualisierung des gesamten Systems ist im 18. und 19. Jahrhundert wiederholt vorgeschlagen worden. So kann man etwa bei Grimm (1890/1989) lesen: „Das grammatische genus ist demnach eine in der phantasie der menschlichen sprache entsprungene ausdehnung des natürlichen auf alle und jede gegenstände.“ (343) „[…]: das masculinum scheint das frühere, größere, festere, sprödere, raschere, das thätige, bewegliche, zeugende; das femininum das spätere, kleinere, weichere, stillere, das leidende, empfangende; das neutrum das erzeugte, gewirkte, stoffartige, generelle, unentwickelte, collective […].“ (357) Gegen die spiritualistische Theorie Grimms stellt Brugmann (1889) eine den materialistischen Annahmen der Junggrammatiker entsprechende Theorie, der zufolge das Genus ausschließlich auf morphologische Prinzipien zurückzuführen, also bloß formaler Natur sei. Spezifische stammfinale Markierungen wie etwa /a/ bei Bezeichnungen für Frau, Mutter usw. im Urindoeuropäischen seien zufällige Elemente des Wortstammes gewesen. Erst in einem zweiten Schritt sei diese formale Eigenschaft dann generalisiert und auf weitere Substantive auf /a/ übertragen worden, so dass dieses Merkmal allmählich als klassenkennzeichnend interpretiert wurde. Die Grimmsche Vorstellung wurde in den letzten Jahren von der amerikanischen Psychologin Boroditsky wieder aufgenommen, diesmal aber mit 1 Gegenwärtig wird die experimentell bestätigte Tendenz diskutiert, derzufolge solche „pseudogenerischen“ Termini eher auf Männer referierend verstanden werden (vgl. Irmen/Steiger 2005; Bär 2004). 2 Eine ausführliche Diskussion der Positionen von Grimm, Brugmann und anderen findet sich bei Sieburg (1997), Kilarski (2000) und Bär (2004).
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Genus
Bezug auf die Sapir-Whorf-Hypothese. In einem Experiment ließen Boroditsky u. a. (2003) deutsch- und spanischsprachige Personen Nomina, die in den beiden Sprachen unterschiedliches Genus haben (z. B. die Brücke /el puente), mit Adjektiven bewerten, die dann von einer anderen Versuchspersonengruppe entlang typisch männlicher und weiblicher Eigenschaften sortiert werden mussten. Dabei wurde deutlich, dass Nomina in Übereinstimmung mit ihrem Genus bevorzugt mit männlich bzw. weiblich assoziierten Adjektiven beschrieben wurden. Im Kern scheint dieses Ergebnis dafür zu sprechen, dass das Genus eine Beziehung zu einer sexualisierten Weltvorstellung hat. Unklar ist, ob solche Genus-Sexus-Assoziationen ständiger Bestandteil unseres Denkens sind oder ob sie im Sinne von MacWhinney (1998) emergente Eigenschaften im Lexikon sind. Hierfür sprechen zwei Argumente: 1. In poetischen Texten, wie etwa dem Lyrischen Intermezzo 33 aus Heinrich Heines „Buch der Lieder“, wird die Opposition M/F zum Ausdruck von Sexus genutzt: Ein Fichtenbaum steht einsam Im Norden auf kahler Höh’. Ihn schläfert; mit weißer Decke Umhüllen ihn Eis und Schnee. Er träumt von einer Palme, Die, fern im Morgenland, Einsam und schweigend trauert Auf brennender Felsenwand. 2. In aktuellen Werbetexten werden Genus-Sexus-Assoziationen ebenfalls eingesetzt: „Es mag manchen Mann amüsieren, aber der beste Busenfreund einer Frau ist ihr BH. Je weniger er sie zwickt, je schöner er geformt ist, je feiner seine Nähte sind, um so mehr fühlt sich eine Frau von ihm angezogen.“ (Chantelle) „Lesen Sie hier einige delikate Informationen über unsere Tochter, die heute 25 wird. Unsere Tochter, über die wir heute sprechen, ist die LSG Lufthansa Service, kurz LSG […].“ (Lufthansa) Diese Fälle zeigen, dass in angemessenen Kontexten eine Genus-Sexus-Assoziation ausgenutzt wird. Offensichtlich aber ist, dass die Assoziationen post hoc auf Basis der morphologisch bedingten Zuweisungen bei Büstenhalter bzw. Gesellschaft konstruiert worden sind.
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Genus
4
Arbitrarität oder Motiviertheit: Zur Rolle von Phonologie, Semantik und Morphologie
Trotz der in der Romantik angenommenen Beziehung zum Sexus, der Auszählung isolierter semantischer Gruppen wie den „alkoholischen Getränken“ (vgl. Duden 2005) und den Versuchen zu einer auf Zählbarkeit basierenden Differenzierung zu gelangen (vgl. Leiss 2000 oder Weber 2000), ist auch heute noch die Annahme der Zuweisungsarbitrarität für die Kategorie Genus weit verbreitet. Entgegen dieser Annahme haben wir in unseren eigenen Arbeiten versucht, eine auf mehreren Ebenen angelegte Motivierungstheorie zu entwickeln. Hierbei gilt: x
x
x
x
x
4.1
ein komplementäres Verhältnis zwischen einer morphologischen Genusbestimmung für die mehrmorphematischen Nomina und einer semantischen oder phonologischen Bestimmung für monomorphematische Nomina, siehe hierzu 4.1 bis 4.3; ein in sich weitgehend „kooperativ“ operierendes Netzwerk phonologischer und semantischer Zuweisungsprinzipien, das dafür sorgt, dass die Zuweisung zu monomorphematischen Nomina weitgehend motiviert ist, siehe 4.1 und 4.4; eine Modellvorstellung über die interne Gegliedertheit des Lexikons, bei der angenommen wird, dass Abweichungen von den die Genuszuweisung steuernden Prinzipien weitgehend im Kern und in der Peripherie des Lexikons zu verorten sind, siehe 5.7; ein gestaffelter Defaultmechanismus, der feldspezifische Defaults vorsieht, siehe 6.; und schließlich ein Prinzip der pragmatischen Projektion, das im Zusammenspiel mit der in Corbett (1999) vertretenen Auslöser-Target-Unterscheidung eine Basis für eine referentenbasierte Zuweisung schafft, siehe 5.2 bis 5.5. Phonologische Prinzipien
Für die etwa 2000 Einsilber im Lexikon können Köpcke (1982) und Köpcke/Zubin (1983) zeigen, dass spezifische An- und Auslautmuster tendenziell genusbestimmend sind. So wird /kn-/ bei monosyllabischen Nomina mit M assoziiert (Knast, Knopf ); einzige Ausnahme ist das hochfrequente Substantiv Knie. Die Auslaute /-ft~xt/ werden mit F verknüpft (Luft, Sicht). Ausnahmen lassen sich oft durch semantische Prinzipien erklären (Knecht, Wicht). Die Annahme solcher Regeln führt dazu, dass sich das Genus von etwa 90 % der monosyllabischen Nomina erklären oder zumindest doch auf zwei Alternativen reduzieren lässt.
137
Genus
Bei mehrsilbigen Nomina gibt es finale Silben, die aufgrund ihrer spezifischen lautlichen Struktur mit einer Genuspräferenz einhergehen: auf -e auslautende Nomina sind weitgehend als F klassifiziert (siehe auch 5.4), -er im Auslaut (Hammer) zeigt eine M-Tendenz und -en (Wagen) kann nicht mit F verknüpft sein. Ferner gibt es Genuspräferenzen für unbetontes stammfinales /-u/ = M (Uhu), /-a/ = F (Villa) und /-o/ = M/N (Dynamo, Solo). Für stammfinales /-el/ und /-i/ lassen sich keine Genuspräferenzen nachweisen. Die hier vorgestellten „Prinzipien“ vertragen sich problemlos mit einer Netzwerktheorie über das phonologische Lexikon, in der jede Wortform entweder durch spezifische Aktivierungswege oder mehr oder weniger enge Nachbarschaft in Beziehung zu anderen Wörtern und Wortformen steht, vgl. Luce/Pizoni (1998). In Experimenten zur phonologischen Motivierung konnten Köpcke/Zubin (1983) zeigen, dass spezifische An- und Auslautmuster bei Kunstwörtern mit einer Genuspräferenz einhergehen. So gilt etwa für /kn-/ (Knaff ), /ˇsC-/ (Schlass) und /tr~dr-/ (Treich), dass die Versuchspersonen das erwartete M in 64 % der Fälle wählten. Die Struktur CCVCC (Brolt) wurde in 68 % der Fälle als M klassifiziert. Sofern sich Faktoren in einem Kunstwort addierten (Sperf (ˇsC- und CCVCC)), stieg die Präferenz für M auf 73 % und bei dem Auftreten von drei Faktoren auf 78 % an. Diese Ergebnisse wurden von Wegener (1995) und Mills (1986) mit denselben Kunstwörtern und dem identischen experimentellen Design bestätigt. Eine Bestätigung der Prinzipien für die Mehrsilber findet sich bei Schwichtenberg/Schiller (2004), siehe 4.2. Insgesamt kann den phonologischen Motivierungsprinzipien vor dem Hintergrund dieser Untersuchungen psychologische Realität und synchrone Produktivität zugeschrieben werden. 4.2
Semantik: Feldtaxonomische Prinzipien
Von den vielen semantischen Prinzipien (vgl. Köpcke/Zubin 1984; Zubin/ Köpcke 1981, 1984, 1986, o. J. a, b und c), sollen hier exemplarisch die weitreichenden Genuskorrespondenzen zu volkstaxonomischen Strukturen (vgl. Rosch 1977, 1978) vorgestellt werden (vgl. Zubin/Köpcke 1986). a) Oberbegriffe sind vorzugsweise als N klassifiziert, etwa Obst, Fleisch, Tier, Insekt. Ferner werden mit dem Präfix ge- und dem Kompositumszweitglied Zeug vielfach Oberbegriffe gebildet, etwa Gemüse, Getränk, Spielzeug, Werkzeug. b) Basisbegriffe, wie Hammer, sind zwar über alle drei Genera verteilt, vorwiegend aber M oder F; im spezifischen Feldzusammenhang weisen sie meist eine deutliche Präferenz für ein Genus auf. So sind Obstsorten produktiv F:
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Genus
Birne, Kirsche, Mango usw. In vielen Fällen entwickeln sich solche Präferenzen infolge einer wachsenden Produktivität des Feldes zu einem Subklassifizierungsprinzip. c) Unterbegriffe erhalten ihr Genus auf der Basis des Subklassifizierungsprinzips: Zum Beispiel sind in Anlehnung an die Basisbegriffe Wein und Bier Weinsorten ausnahmslos als M (der Gewürztraminer, der Merlot, der Mosel ) und Biersorten (nahezu) ausnahmslos als N klassifiziert (das Alt, das Pils, das Jever). Die große Produktivität der Subklassifizierung in diesen und anderen Fällen und ihre unmittelbare Anwendung auf neue und unbekannte Lexeme lassen es plausibel erscheinen, dass das Genus in diesen Fällen eine Eigenschaft des Feldes selbst und nicht der einzelnen Lexeme ist. Die Reichweite der semantischen Motivierung im Lexikon ist bei weitem noch nicht erschöpfend erforscht. Dies betrifft sowohl nicht-taxonomisch organisierte Felder, wie etwa die Affektbegriffe (Zorn, Ärger vs. Geduld, Wut) (vgl. Zubin/Köpcke 1984), als auch generisch gebrauchte Nomina etwa für die Bezeichnung von Landschaften, wie Wiese vs. Acker; Bucht vs. Fluss (vgl. Zubin/Köpcke o. J. c). In einem Experiment zur semantischen Motivierung entwickelten Schwichtenberg/Schiller (2004) Kunstwörter mit verschiedenen phonotaktischen Genuspräferenzen (Puner = M; Trelle = F; Gindel = ohne Präferenz), die paarweise mit Artikel im Kontext eines semantischen Feldes präsentiert wurden, etwa dem der Obstsorten: der Strummel ~ die Fudel. Das erwartete Genus wurde etwa im Verhältnis 2:1 gewählt, also die Fudel im Kontext der Obstsorten, aber der Strummel im semantischen Kontext der Raubtierbezeichnungen. Nur wenn kein semantischer Faktor vorlag, entschieden die Versuchspersonen auf der Grundlage der Phonotaktik der Kunstwörter. Insgesamt stützen die Ergebnisse von Schwichtenberg/Schiller (2004) die Hypothese, dass die im Lexikon emergenten, genusbezogenen semantischen Assoziationen einen starken psycholinguistischen Einfluss auf Genusselektionsprozesse ausüben. 4.3
Morphologische Bestimmung
a) Flexion: Die schwache Deklination (Junge, Falke, Name) ist zu einem nahezu ausnahmslosen Merkmal für M geworden. Festzustellen ist, dass sich dieser Deklinationstyp semantisch in Hinblick auf [+menschlich] immer mehr homogenisiert, siehe auch 6. Auch manche Pluralmarkierung lässt den Rückschluss auf das Genus zu: -er ⇒ M/N; -en ⇒ meistens F (vgl. Köpcke 1982).
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Genus
b) Das Letztgliedprinzip (LGP) bestimmt, dass in einem mehrmorphematischen Nomen der Kopf, also im Normalfall das ganz rechts stehende Morphem, das Genus bestimmt. Im Lexikon findet sich eine relativ kleine Anzahl hochfrequenter Nomina, die extrem produktiv als letztes Glied auftreten, etwa Wert, Art und Werk. Zusammen mit den durch Derivationssuffixe, wie etwa -ling, -ismus, -heit, -ung, -chen, -tum, abgeleiteten Nomina verringern sie das Zuweisungsproblem bezogen auf das gesamte nominale Lexikon erheblich. Das LGP hat auch zur Konsequenz, dass das Genus nicht notwendigerweise die Eigenschaft eines jeden im Lexikon gespeicherten Kompositums ist, sondern nur der als Kopf fungierenden Lexeme bzw. Derivationssuffixe. Im Allgemeinen dominiert die morphologische Bestimmung die Semantik und Phonologie. Trotz der produktiven F-Zuweisung für Obstsorten wird Granatapfel wegen des Kopfes Apfel als M klassifiziert. Der sonst mit M einhergehende Anlaut kn- hat im Kontext von Ableitungen wie Knallerei keinen Effekt. Die Dominanz der Morphologie verdunkelt in vielen Fällen die Wirkung semantischer Faktoren. Die meist durch das LGP bedingten Insektbezeichnungen, wie Distelbock, Kreuzflügel usw., sind nur zu 57 % F. Beschränkt man sich auf die 17 monomorphemischen generischen Lexeme, wie Libelle, Zikade, Biene, sind alle bis auf Käfer als F klassifiziert. 4.4
Die Bedeutung der Zuweisungsprinzipien für das gesamte nominale Lexikon
Zu klären ist, bis zu welchem Grad die Genuszuweisung bezogen auf das gesamte nominale Lexikon motiviert ist und ob phonologische und semantische Faktoren miteinander harmonieren oder konkurrieren. Um bei der Beantwortung dieser Fragen weiter zu kommen, haben Zubin/Köpcke (o. J. a) für 1800 zufällig aus dem Duden Universalwörterbuch (1989) ausgewählte monomorphematische Nomina auf der Basis der in den Nomina abgebildeten formalen und semantischen Zuweisungsprinzipien einen Entropiewert bestimmt. Auf einer Skala von 0 bis 1 wurde ein Durchschnittsentropiewert von 0,8 erzielt3, im Allgemeinen sind also die Nomina des Querschnitts nach phonologischen wie semantischen Prinzipien hoch motiviert. Die Häufig-
3 Ein Wert von „1“ entspricht vollständiger Vorhersagbarkeit, und zwar sowohl auf der Basis der Semantik als auch der Phonologie (z. B. die Birne). „0“ entspricht vollständiger Arbitrarität. Ein negativer Wert gilt, wenn die auf ein Nomen zutreffenden Prinzipien in Konflikt mit dem tatsächlichen Genus treten, wie bei Apfel. Weniger als 5 % der Lexeme des Querschnitts wiesen einen solchen Konflikt auf.
140
Genus
keit, mit der Obstbezeichnungen auf -e auslauten (Aprikose, Banane, Feige, Kirsche usw.), kann als Musterbeispiel für die weitreichende Übereinstimmung zwischen phonologischer und semantischer Motivierung gelten. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse muss gefragt werden, warum die Arbitraritätsthese immer wieder so vehement vertreten wird. Hierfür sind unseres Erachtens im Wesentlichen zwei Faktoren verantwortlich: Einerseits haben die in diesem Zusammenhang gern zitierten Nomina (etwa Auge und Apfel) einen niedrigen Entropiewert, aber eine hohe Tokenfrequenz, und sind daher auffällig (siehe 5.7). Andererseits spielen die A-priori-Erwartungen, Lexemverbände wie Messer, Gabel, Löffel und Übersetzungsäquivalente wie Brücke/puente, Platz/plaza sollten gleiches Genus haben, eine nicht unerhebliche Rolle. 5
Kongruenz
5.1
Theoretische Ansätze über Kongruenz
In der Linguistik wird unter Kongruenz im Allgemeinen eine formale Übereinstimmung bei der Markierung verschiedener Konstituenten im Satz verstanden (vgl. Lehmann 1988). Bei der Kategorie Genus findet man Kongruenz sowohl innerhalb (Artikel, attributives Adjektiv) als auch außerhalb der NP (verschiedene Pronomina).4 Corbett (1999, 2006) löst die strikt syntagmatische Beschränkung auf, indem er eine kategoriale Differenzierung zwischen „Auslöser“ (Controller) und Target vornimmt. Während das Target eine syntaktische Stelle im Satz ist, die im Prozess der Formung der Konstituenten eine Kongruenzmarkierung verlangt, kann der Auslöser ein Nomen im Satz, ein Bezugsnomen im Lexikon, ein mit einem lexikalischen Feld verbundenes Merkmal oder auch ein vom Lexikon unabhängiges pragmatisches Moment sein. Für das Deutsche hat die Unterscheidung von Auslöser und Target zu einer erneuten Analyse so genannter natürlicher Genuseffekte geführt. Ein theoretischer Rahmen für das Verständnis solcher Effekte wird von Wechsler/Zlatiˇc (2003) entwickelt. Sie nehmen eine Unterscheidung zwischen Concord, Index und pragmatischer Kongruenz vor. Index- und Concord-Kongruenz erfolgen auf der Grundlage der mit einem Lexem als Auslöser verknüpften grammatischen Merkmale. So ist etwa das Nomen Weib im Lexikon mit dem Index- und Concord-Merkmal als N kodiert. Fungiert Weib als Kopf einer NP, wird das Concord-Merkmal Neutrum automatisch
4 In den slawischen und romanischen Sprachen wird Genuskongruenz darüber hinaus auch am Prädikat ausgedrückt. In Bantu-Sprachen findet man sie an fast jedem Wort des Satzes.
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Genus
auf die NP-internen Targets übertragen. Wenn aber N als Index-Merkmal auf ein Element außerhalb der NP abgebildet werden soll, kann es zu einem Konflikt mit der vom Referenten evozierten kognitiven Eigenschaft ‚weiblich‘ samt dem damit verknüpften F kommen. Nimmt ein Target dann auf der Grundlage solcher außerhalb des Lexikons liegenden konzeptuellen Merkmale eine F-Markierung an, erhält man pragmatische Kongruenz im Sinne von Wechsler/Zlatiˇc (2003). 5.2
Grammatische und pragmatische Kongruenz bei Menschenbezeichnungen
Konflikte zwischen grammatischer und pragmatischer Genuskongruenz treten nicht nur bei Bezeichnungen für Frauen auf (siehe 3.1), sondern auch bei einer Reihe weiterer Nomina, wie Gast, Mensch, Star (M); Person, Waise (F); und Kind, Genie, Mitglied und Opfer (N), die sich immer auf beide Sexusausprägungen beziehen können. Ein Konflikt ist auch für Wache prognostizierbar, weil hiermit vorwiegend Männer assoziiert werden. Außerhalb der Kern-NP gilt Konkurrenz zwischen Index-Kongruenz und pragmatischer Kongruenz. Verbreitet sind solche Fälle bei Personal- und Possessivpronomina, also das Mädchen (es~sie), die Wache (sie~er). Eine von Zubin/Köpcke (o. J. b) mit Google durchgeführte Untersuchung zeigt, dass pragmatische Kongruenz sich regelmäßig selbst in Fällen behauptet, wo eine syntaktische Dependenz besteht und normativ grammatische Kongruenz gelten sollte, also bei a) Relativpronomina (das Mädchen, das …), b) NPs mit syntaktisch getilgtem Kopf (das eine Mädchen …, das andere …) und c) Quantoren mit partitiver Phrase (eines der Mädchen). Sofern das Target unmittelbar neben dem kontrollierenden Nomen steht, erscheint pragmatische Kongruenz selten: nur in 5 % der Fälle bei Mädchen und in 10 % bei Model, also das Mädchen, die … oder das Model, die … Die relativen Häufigkeiten verändern sich jedoch in Abhängigkeit von der Komplexität der Phrase und der linearen Distanz zwischen Auslöser und Target (vgl. Thurmair 2006 und Zubin/Köpcke o. J. b). Nahezu linear nimmt der Anteil der pragmatisch determinierten Fälle zu; bei einer Distanz von fünf Wörtern zwischen Auslöser und Target steigt die pragmatisch vermittelte Genusmarkierung bis auf 40 % an. Im nachfolgenden Internet-Beispiel wird dieses Phänomen an den beiden Relativpronomina besonders deutlich. Eine Vertauschung der Genusmarkierung ist unmöglich:
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Genus
„Und er liebt Henriette Vogel, das Mädchen, das in derselben Nacht wie er geboren wurde und die mit ihm im Bordell aufwächst.“ (www.kaspar-hauser-buchladen.de) Die erwähnten quantitativen Verhältnisse deuten auf eine psycholinguistische Basis in der Sprachproduktion. Die Distanz zwischen Auslöser und Target kann als Indiz für den Aktivierungsgrad des Auslösers im Produktionsprozess verstanden werden (siehe 5.5). Am augenfälligsten ist sicherlich die meist pragmatische Kongruenz zwischen einem Nomen und einem Possessiv- oder Personalpronomen: Das Mädchen legt ihren/seinen Mantel ab. Sie/es trägt ein rotes Kleid. Bemerkenswert sind auch solche Kontexte, wo scheinbar Index-Kongruenz zutrifft, also N verwendet wird. Dies gilt oft für entpersonalisierte Kontexte, etwa für psychiatrische Gutachten oder in Arbeitsverträgen von Modelagenturen. Häufig trifft man auf dieses Phänomen auch in märchenähnlichen Erzählungen, in denen Protagonistenbezeichnungen wie Mädchen oder Aschenputtel gewählt werden. Die in diesen Fällen festzustellende grammatische Kongruenz wird hier als stilistisches Merkmal des folkloristischen Erzähltypus eingesetzt (vgl. Köpcke/Zubin 2003). Schließlich gilt ausschließlich pragmatische Kongruenz beim Demonstrativpronomen, also bei exophorischer Referenz und bei kopflosen NPs, bei denen weder Frau noch Mädchen als gedachte Bezugsnomen gelten können: Die/?das sieht so aus, als ob sie/?es sich verlaufen hätte. Die/?das Kleine scheint sich verlaufen zu haben. (Verweis auf ein kleines Mädchen auf der Straße) 5.3
Grammatische und pragmatische Kongruenz in anderen Referenzdomänen
Kongruenzkonflikte sind nicht auf das so genannte „natürliche Genus“ beschränkt. Als Beispiel sollen Bezeichnungen für Pferde dienen (vgl. Zubin/ Köpcke o. J. b). Gleichgültig, ob es sich um Bezeichnungen für Züchtungen oder Arten von Pferden handelt, gilt für dieses Feld immer M (Northstar, Gidran, Haflinger usw.), obwohl der generische und das Feld dominierende Begriff Pferd als N kodiert ist. Das im Lexikon emergente Feldgenus M dehnt sich über den Geltungsbereich dieser spezifischen Lexeme aus. Im Internet findet man mühelos Belege dafür, dass Sachkundige M-markierte Pronomina verwenden, und zwar auch in solchen Kontexten, für die das im Text vorhandene Bezugsnomen Pferd lautet. Ein Beispiel aus dem Internet:
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„Vollblutaraber sind hervorragende Westernpferde. Man muss als Reiter das nötige Feingefühl mitbringen, dann hat man ein Pferd, den man am kleinen Finger reiten kann, und der für seinen Reiter durchs Feuer geht.“ (www.arabian-obsession.com) Hier geht es um generische Referenz, der Sexus des Referenten kann also für die Wahl des M nicht verantwortlich sein. Anhand der Untersuchung der Referenz auf Pferde wird die dynamische, soziolinguistische Wechselwirkung, die zwischen Sachkundigen und anderen Sprechern existiert, deutlich. Anders als Kenner wenden Alltagssprecher das in 4.2 unter „Unterbegriffe“ beschriebene, hochproduktive Subkategorisationsprinzip an. Auf NP-externe aber syntaktisch gebundene Targets, wie Relativpronomina, aber auch bei der anaphorischen bzw. exophorischen Referenz, benutzen sie konsequent das von dem das Feld dominierende Lexem Pferd abgeleitete N. Sie wenden dieses Genus sogar gelegentlich auch auf feldinterne Lexeme an, also beispielsweise das statt der Palomino, Appaloosa. Wohlgemerkt geht es dabei nicht um das Lexem Pferd (N) selbst. Das Konzept Pferd – im Unterschied zum Lexem – scheint auf einer rein kognitiven Ebene mit dem generischen M als pragmatische Projektion verbunden zu sein, also ganz analog zu den Projektionen, die für M und F bei der Referenz auf Personen sorgen. Andere kognitive Domänen, die mit solchen pragmatisch induzierten Genusprojektionen einhergehen (vgl. Zubin/Köpcke o. J. c), sind Autobezeichnungen (M) (vgl. Köpcke/Zubin 2005), Schiffsnamen (F), Namen für Klubs, Diskotheken und Hotels (N), Flussnamen (M, F, je nach Region), Motorradbezeichnungen (F), Flugzeugbezeichnungen (F) und sekundäre Farbbezeichnungen (N). Solche Domänen haben gemeinsam, dass sie a) hochproduktiv sind und b) oft durch feldexterne Lexeme ausgedrückt werden. 5.4
Pragmatische Kongruenz bei feldexternen und genuslosen Nomina
Bisher haben wir uns mit Nomina beschäftigt, die in dem Sinne als feldintern verstanden werden können, als dass sie vom Sprecher in einem semantisch geordneten Feld zusammen mit semantischen und morphosyntaktischen Eigenschaften gespeichert werden. Wenn ein Nomen wie Traube als Kopf einer NP wie etwa eine süße Traube fungiert, breiten sich die grammatischen Eigenschaften (Genus, Zählbarkeit, Pluralform) dieses feldinternen Lexems in einem normalen Kongruenzverfahren auf die ganze Phrase aus. Anders verhalten sich Lexeme, wenn sie feldextern selegiert werden. So be-
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zeichnen das Polo und die Bora in erster Linie ein Spiel respektive eine Windart. Werden solche Lexeme aber als Autobezeichnungen genutzt, weist die NP ein mit dem Referenten übereinstimmendes Genus auf, also der Polo, der Bora. Köpcke/Zubin (2005) können zeigen, dass M produktiv für eine offene Anzahl von Autobezeichnungen verwendet wird, und zwar auch dann, wenn ein feldexternes Lexem mit diskordantem Genus vorliegt.5 Da in diesen Fällen ein Defaultgenus statt des inhärenten Konkordmerkmals des feldexternen Lexems projiziert wird, gelten diese Lexeme im Produktionsprozess als genuslos. Im Deutschen treten mindestens zwei weitere Arten genusloser Nomina auf: a) Eigennamen: Sobald ein Eigenname in eine erweiterte NP eingefügt wird, verlangt die Struktur der NP selbst ein Konkordmerkmal, wofür eine pragmatische Projektion als Auslöser fungiert. So wird Ortsbezeichnungen produktiv N zugewiesen, wie ein neues Passau, das südliche Italien. Kennzeichnend für die Genuslosigkeit von Ortsnamen ist die Tatsache, dass das LGP in Fällen wie -burg, -berg, -stein, -bach usw. außer Kraft gesetzt ist (siehe auch 4.3): das Hamburg der Besatzungszeit, das romantische Falkenstein usw. Als Ausnahmen gelten die wenigen Ländernamen wie die Schweiz und der Sudan, bei denen der Artikel fester Bestandteil des Namens selbst ist. Das von den pragmatischen Projektionen veranlasste Genus ist jeweils für verschiedene Referenzdomänen festgelegt. Während die Projektion für Ortsnamen N festlegt, führt die Projektion für Schiffsnamen zum F, obwohl die generischen Oberbegriffe Schiff und Boot als N klassifiziert sind, beispielsweise die Goddard, die Nautilus. Dies gilt auch, wenn der Name einen genusdiskordanten Kopf enthält, etwa die Abendstern, die Seefalke. Die Beispiele zeigen, dass für Eigennamen unabhängig von möglichen lexikalischen Auslösern eine pragmatisch veranlasste Zuweisung gilt. b) Wortentlehnungen: Einerseits sind Entlehnungen wie Büro und Banane zusammen mit dem Genus und anderen grammatischen Eigenschaften für den Alltagssprecher fester Bestandteil des Lexikons, andererseits gibt es jedoch Entlehnungen wie File, Rambutan und Rukola, die zwar Fachkennern vertraut sind, den Alltagssprechern jedoch nur in spezifischen Kommunikationskontexten und möglicherweise ohne Genusmarkierung entgegentreten. Um ein solches Nomen in eine genusfordernde NP einzusetzen, muss der Sprecher spontan eine Zuweisung vornehmen, dabei wird er von verschiede5 Der M-Default wird nur von den lexemspezifischen Zuweisungen feldinterner generischer Lexeme wie Coupé, Cabriolet und Limousine ausgestochen (siehe auch 6).
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nen Prinzipien Gebrauch machen, die jeweils spezifisch für die Entlehnungen zutreffen. Bei Rukola kämen a) das Genus von rucola im Italienischen (⇒ F), b) eine Referenzanalogie zu dem deutschen Wort Rauke (⇒ F), c) eine phonologische Klassifizierung (-a ⇒ F) oder d) eine semantische Subkategorisation (Salatarten ⇒ M) in Frage. Beide Genusalternativen finden sich im Internet reichlich belegt. Wie auch immer Sprecher zu einer Entscheidung gelangen, sie ist nicht auf der Basis einer im Lexikon bereits vorhandenen Zuweisung zustande gekommen. In diesem Sinne sind dann neue oder auch nur gelegentlich gebrauchte Nomina für den Sprecher genuslos. Eine Genusentscheidung wird im Produktionsprozess spontan getroffen, und zwar weil die Syntax sie erzwingt. Im mentalen Lexikon scheint es also Struktur- und Organisationsprinzipien zu geben, die für eine dynamische Genuszuweisung auf der Basis abstrakter Merkmale sorgen. Hierdurch wird die grammatische Integration von feldexternem (weil aus einem anderen Feld stammendem) lexikalischen Material sowie Entlehnungen in neue syntaktische und semantisch-pragmatische Zusammenhänge ermöglicht. Köpcke/Zubin (2005) und Zubin/Köpcke (o. J. b) vertreten die These, dass es im Lexikon Felder gibt, für die eine pragmatisch induzierte Genuszuweisung vergeben wird. Der Sprecher assoziiert ein bestimmtes Genus mit einem spezifischen pragmatischen (Begriffs-)Feld, und zwar etwa im Falle der Autobezeichnungen völlig unbeeinflusst von dem Genus, das im lexikalischen Eintrag des scheinbar als Kopf fungierenden Nomens außerhalb des pragmatischen Feldes gilt. Die Vorstellung, dass die Genusspezifikation einer Nominalphrase pragmatisch und nicht durch die lexikalische Repräsentation des syntaktischen Kopfes gesteuert wird, widerspricht allgemeinen Annahmen über die Repräsentation morphologischen und syntaktischen Wissens in der Linguistik und Psycholinguistik (vgl. Levelt 1998 und Pollard/Sag 1994). 5.5
Einfluss des Targets auf Kongruenz
Die Untersuchungen zur Kongruenz zeigen, dass sich die pragmatische Kongruenz gegenüber der grammatischen zum einen in Abhängigkeit vom syntaktischen Typus des Targets und zum anderen mit wachsender Entfernung des Targets vom kontrollierenden Nomen durchsetzt. Corbett (2006: 217) hat die Bedeutung des ersten Faktors in einer Kongruenz-Hierarchie zusammengefasst, die hier an die morphosyntaktischen Verhältnisse des Deutschen angepasst und erweitert um possessive und deiktische Pronomina wiedergegeben wird:
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Über Corbetts Annahme einer kategorialen Hierarchie hinausweisend lässt sich eine psycholinguistische Skalierung ausloten: Auslöser-Aktivierungsprinzip: Je mehr die Aktivierung eines syntaktisch steuernden Auslösers (Nomens) im Bearbeitungsgedächtnis des Sprechers abnimmt, desto eher kann eine pragmatische Projektion (also pragmatische Kongruenz) das vom syntaktischen Auslöser ausgehende lexikalische Genusmerkmal (also grammatische Kongruenz) ausstechen. 5.6
Auslösertypen für Kongruenz
Die Ansätze von Corbett (1999, 2006) und Wechsler/Zlatiˇc (2003) führen zu der Frage, welche Typen von Genusauslösern sich im Deutschen isolieren lassen. Auf der Grundlage der Diskussion in den Abschnitten 4.1 bis 4.4 über Motivationsfaktoren konnten verschiedene Ebenen isoliert werden, die auf der nächsten Seite noch einmal zusammengefasst werden. 5.7
Kongruenz, Produktivität und das lexikalische Kontinuum Kern, System und Peripherie
Gegeben die Tatsache, dass es eine ganze Reihe von Defaultauslösern gibt, die das mit ihnen verbundene Genus auf die im Lexikon enthaltenen Nomina projizieren, muss gefragt werden, warum es Nomina gibt, die sich den von den Defaultauslösern ausgehenden Zuweisungen widersetzen können. Zu klären ist der Status dieser „Ausreißer“ bezogen auf das gesamte nominale Lexikon, aber auch ihre Genese und die Frage, wie sie sich angesichts von Zuweisungsprinzipien, von denen ein mehr oder weniger starker Systematisierungsdruck ausgeht, erhalten können. Die in Abschnitt 4.4 beschriebene Querschnittstudie zeigt, dass sich der weitaus größte Teil der dort durch Prinzipien erklärbaren Nomina zwischen den beiden Extremen Kern („sehr frequent und jedem Sprachbenutzer bekannt“) und Peripherie („kaum gebräuchlich oder benutzergruppenspezifisch“) eines gedachten Spektrums befindet. Der zwischen diesen beiden Extremen liegende Systembereich unterliegt einem Sys-
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tematisierungsdruck (vgl. Daneˇs 1966). Die Genuszuweisungen zu den Nomina dieses sehr umfangreichen Bereichs lassen sich durch das oben in 4 dargestellte Netz unterschiedlicher Prinzipien und Kontrollinstanzen erklären. Demgegenüber bedeutet das wiederholte Aufrufen eines Nomens aus dem Kernbereich im Sprech- und Verstehensprozess, dass seine systemwidrigen grammatischen Eigenschaften immer wieder aktiviert werden und sich dadurch dem Sprecher einprägen. Nomina in der Peripherie des Lexikons werden so selten und/oder nur von Sachkundigen verwendet, dass sie für den Alltagssprecher praktisch nicht in das Lexikon integriert sind. Insofern ist die lexikalische Peripherie eine „Aktivzone“ für Zuweisungsprozesse, indem sie unmittelbar die Wirkung miteinander konkurrierender Zuweisungsprinzipien abbildet. Ein Nomen wie Rukola wird zwar zunächst von den entlehnenden bilingualen Sprechern in Anlehnung an das Genus der Spendersprache klassifiziert (⇒ die Rukola), dann aber allmählich aufgrund des vom Felddefault ausgehenden Systematisierungsdrucks in den Systembereich eingegliedert (⇒ der Rukola). Weniger Sachkundige tendieren dazu, eher der phonologischen Form als der volkstaxonomischen Klassifizierung zu folgen, also die Rukola zu sagen. Eine frequenz-basierte Gliederung des Lexikons
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führt also zu einer „Enttarnung“ systemwidriger Exemplare im Gesamtbild der Genuszuweisung. 6
Defaultgenus
Ob sich ein Defaultgenus bestimmen lässt, hängt ganz wesentlich von der zugrunde liegenden theoretischen Position ab. Soweit wir das beurteilen können, lassen sich vier unterschiedliche Positionen identifizieren: 1. Stochastisches Defaultgenus Steinmetz (1986) und Di Meola (2007) stellen auf der Grundlage von Köpcke (1982) fest, dass bei monosyllabischen Nomina M mit 66 % am häufigsten belegt ist. Dieses Genus wird auch bei Entlehnungen bevorzugt zugewiesen. Die stochastische Argumentation in Corbett/Fraser (2000) führt gleichfalls zum M als Defaultgenus. 2. Auf morphologischer Produktivität basierter Default Alle drei Genera sind an Ableitungsprozessen beteiligt (siehe 4.3). F weist jedoch die höchste Type- und Tokenfrequenz auf und wäre auf dieser Grundlage der Default (vgl. auch Di Meola 2007). 3. Systemumfassender Default Steinmetz (1985, 2001) stellt eine von ihm „gender eclipsis“ genannte Defaulthierarchie auf, die im Zusammenhang mit spezifischen semantischen Regeln in der Lage ist, Aussagen über die Zuweisung einzelner Lexeme zu machen. Dominiert wird die Defaulthierarchie von M, gefolgt von F {M > F > N}. F und N kommen nur mit der Unterstützung semantischer und/oder phonologischer Motivationsfaktoren zum Zuge. In Steinmetz (2006) wird versucht, diese Defaulthierarchie mit spezifischen Regeln im Rahmen der Optimalitätstheorie zu integrieren. Aus den Untersuchungen von Clahsen (2006), Clahsen u. a. (1992) und Marcus u. a. (1995) kann man u. E. ableiten, dass es Kriterien für die Bestimmung eines systemübergreifenden Defaultgenus gibt.6 Für sie ist ein Systemdefault diejenige Form, die den wenigsten oder gar keinen Beschränkungen unterliegt. Bezogen auf das deutsche Genussystem hieße das, dass genau das Genus der Default sein sollte, das in den Fällen greift, in denen weder pragmatische Projektionen, noch semantische, phonologische oder morphologische Prinzipien, noch lexem-spezifische Zuweisungen vorliegen. In solchen
6 Die Aussagen dieser Autoren beziehen sich auf die Verteilung der Pluralallomorphe im Deutschen. Die Anwendung auf das Genus stammt von uns.
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Fällen wird konsequent N gewählt.7 In diesem Zusammenhang sind folgende Fälle zu nennen: a) Null-Substantivierung von Wörtern (das Laufen) und Phrasen (dein ewiges Rauchen). b) So genannte Diskurs-Anaphern (der Wagen war umgestürzt, und das hatte ihn erschüttert). c) Kopflose Nominalphrasen ohne spezifischen Referenten: das Schöne, das Ungeheure. d) Exophorische Referenz etwa auf unbekannte Objekte oder Handlungen (unbekanntes/seltsames Tier im Zoo: Was ist denn das?). e) Präsentative Satzstrukturen (das ist meine Mutter) im Unterschied zu prädikativen Strukturen (die ist meine Mutter), für explikatives es in Konstruktionen, die keinen expliziten Referenten oder lexikalischen Antezedenten aufweisen (es scheint, dass … oder es gefällt mir nicht). Die Fälle zeigen, dass wir es mit einem Default für Ausnahmefälle zu tun haben (vgl. Marcus u. a. 1995; Fraser/Corbett 1997; Corbett/Fraser 2000). N scheint dann zugewiesen zu werden, wenn das System selbst nicht dazu imstande ist, ein Genus zu selegieren; N gilt dann als „letzter Ausweg“ (vgl. Fraser/Corbett 1997: 25). 4. Feldspezifische Defaults Fraser/Corbett (1997) und Corbett/Fraser (2000) gehen von feldspezifischen Defaults aus; diese Konzeption spielt auch in unserem eigenen Ansatz eine zentrale Rolle (vgl. ausführlich hierzu Zubin/Köpcke o. J. b). Wie oben angedeutet, gilt etwa M als Defaultgenus für Autobezeichnungen, F für Obstsorten und N für Biersorten. Diese feldspezifischen Defaults sind als „Normalfallzuweisungen“ zu verstehen (vgl. Fraser/Corbett 1997: 25). Autobezeichnungen sind produktiv M, wenn der Default nicht durch die lexemspezifische Zuweisung der feldinternen generischen Lexeme Cabriolet, Coupé, Limousine usw. ausgestochen wird (vgl. Köpcke/Zubin 2005). Bei Obstsorten wird das systemgemäße F nur durch die lexemspezifische Zuweisung zu Apfel und Pfirsich ausgestochen. Biersorten, als Subfeld der Getränkebezeichnungen, lassen die hierarchische Natur der feldspezifischen Defaults deutlich aufscheinen. Bezüglich der Bedeutung formaler Faktoren für die Genusbestimmung ist das auslautende Schwa ein aufschlussreiches Beispiel einer Defaulthierarchie.
7 Einige der folgenden Fälle werden häufig nicht als N, sondern als „genusfreie“ Pronomina analysiert.
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a. b. c.
Feldstruktur Getränke Biersorten lemma-spezifisch
Default M N –
Beispiele Kaffee, Tee, Martini usw. Dortmunder, Pilsener usw. Berliner Weiße (=F) Bock (= M)
a. b. c. d.
Merkmal phonologisch: /-ə/ phonologisch: /gə__ə/ schwach dekliniert lemma-spezifisch
Default F N M –
Beispiele Blume, Birne Gemüse, Getreide Name, Gedanke Gemeinde, Interesse
Die Querschnittstudie in Abschnitt 4.4 zeigt, dass die überwältigende Mehrheit der monolexemischen Nomina ihre Zuweisung über solche feldspezifischen Defaults erhält. Im Allgemeinen zeigt die Diskussion der verschiedenen Ansätze zur Bestimmung eines Defaults, dass je nach theoretischer Ausrichtung M, F oder N oder auch alle drei Genera als Default bestimmt werden können. Dabei wird auf jeder Ebene der Default von einem spezifischeren Default oder einer lexemspezifischen Zuweisung auf der nächst tieferen Ebene ausgestochen. 7
Funktion des Genus
Bei der Funktionszuschreibung zum Genus hat die Forschung in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Hypothesen entwickelt, ohne diese aber theoretisch und empirisch ausreichend zu untermauern. Die Vorschläge sind vergleichsweise heterogen. Sie reichen von der Identifizierung nominaler Konstituenten im Diskurs (reference tracking) über die Disambiguierung von Homonymen bis hin zu der Möglichkeit, durch Verwendung ein und desselben Nomens mit unterschiedlichen Genuswerten perspektivische Aspekte der Bedeutung des Nomens zu beeinflussen. Auf den Kommunikationsprozess bezogen lassen sich u. E. die folgenden pragmatischen Funktionen abbilden, die in letzter Zeit auch durch psycholinguistische Ergebnisse unterstützt werden (vgl. etwa Friederici u. a. 1999; Caramazza u. a. 2001; Schwichtenberg/Schiller 2004; Schiller/Caramazza 2006; Hofmann u. a. 2007). 1. Durch die Organisation des Lexikons in verschiedene Felder und Hierarchien, die jeweils auf der Formseite mit spezifischen Zuweisungen korrespondieren, wird im Produktionsprozess das Auffinden von angemessenen Lexemen beschleunigt.
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Genus
2. Auf Seiten des Hörers wird durch die Verteilung der Nomina auf drei Genera in jedem Perzeptionsakt die Anzahl der potentiellen Mitspieler reduziert. Abermals stellt das Genus ein Hilfsmittel für den lexikalischen Auffindungsprozess dar. 3. Durch deiktische Morpheme (hier Pronomina) wird es Sprechern des Deutschen ermöglicht, im Diskurs effizient anaphorisch und kataphorisch auf Einheiten zu verweisen (reference tracking). Die Markierung dieser Morpheme mit den Genuseigenschaften der Bezugsnomina unterstützt den Disambiguierungsprozess seitens des Hörers. 4. Im Verstehensprozess macht der Hörer von kontextuellen, lexikalischen und grammatischen Informationen Gebrauch, um den intendierten Inhalt eines durch beliebig viele Attribute expandierten nominalen Satzglieds möglichst rasch – und u. U. noch vor der Artikulation des Nomens selbst – zu antizipieren. Die Genusinformation zu Beginn der meisten Nominalphrasen ist hierbei behilflich, da abermals die Anzahl möglicher in Betracht kommender Nomina reduziert wird. 5. Das Deutsche wird immer wieder als so genannte klammernde Sprache beschrieben (vgl. Ronneberger-Sibold 1991). Auch das Genus trägt hierzu bei, werden doch durch die Genusinformation zu Beginn (durch die Genusmarkierung des Artikels) und zum Ende (durch das Nomen selbst) einer Nominalphrase ihr Anfang und ihr Ende wie durch eine Klammer markiert: das dem HSV durch eine unglückliche Schiedsrichterentscheidung aberkannte Tor. Dem Hörer wird durch diese Signale an den Rändern der Phrase signalisiert, wann er eine Informationseinheit als abgeschlossen interpretieren darf. 6. Parallelen zu der Funktion (5) weisen die Kompositabildungen auf. Der Artikel im Zusammenspiel mit dem LGP stellt für den Hörer Informationen bereit, die ihm dabei helfen, das Ende eines Kompositums zu bestimmen: die Umwelt, der Umweltschutz, das Umweltschutzgesetz. Auch hier gibt es für den Hörer Signale am linken und rechten Rand der Phrase. Literatur Aikhenvald, Alexandra Y. (2000): Classifiers. A typology of noun categorization devices. Oxford, Oxford University Press. (= Oxford studies in typology and linguistic theory). Bär, Jochen A. (2004): „Genus und Sexus. Beobachtungen zur sprachlichen Kategorie ‚Geschlecht‘“. In: Eichhoff-Cyrus, Karin M. (Hrsg.): Adam, Eva und die Sprache. Beiträge zur Geschlechterforschung. Mannheim, Dudenverlag: 148–175. (= Thema Deutsch 5). Boroditsky, Lera/Schmidt, Lauren A./Phillips, Webb (2003): „Sex, syntax, and semantics“. In: Gentner, Dedre/Goldin-Meadow, Susan (Hrsg.): Language in mind: advances in the study of language and thought. Cambridge, Mass., MIT Press: 61–79. (= Bradford books). Brugmann, Karl (1889): „Zur Frage der Entstehung des grammatischen Geschlechts“. Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft 9: 100–109.
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Klaus-Michael Köpcke/David A. Zubin u Genus Verbi 1
Einleitung
Der Begriff genus verbi ‚Art des Verbs‘ stammt aus der lateinischen Grammatikschreibung und basiert auf griechisch diathesis ‚(An)Ordnung‘, wobei das zugrundeliegende und auf Dionysios Thrax (2. Jahrhundert v. Chr.) zurückgehende Konzept dort jedoch verändert wurde (vgl. Andersen 1994: 182 f.). Bei Dionysios Thrax gibt es drei Diathesen, nämlich energeia ‚Tätigkeit‘, pathos ‚Leid(en)‘ und mesotes ‚Mitte‘. Im ersten Fall ist die Aktivflexion des
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Genus Verbi
Verbs mit Aktivität verknüpft, d. h., die Handlung geht vom Subjekt aus. Im zweiten Fall repräsentiert die so genannte Mittelflexion Passivität, die Handlung ist auf das Subjekt gerichtet. Der dritte Fall verbindet Aktivendung mit Passivität oder Mittelendung mit Aktivität (vgl. ebd.). In der lateinischen Grammatikschreibung werden daraus mindestens fünf verschiedene Genera verborum oder ‚Arten der Verben‘, nämlich (genus) activum, passivum, neutrum, commune und deponens, worin in spezifischer Weise Aktiv- und Passivendung mit den Bedeutungen actus und passio, d. h. ‚Handlung‘ bzw. ‚Leid(en)‘ verknüpft sind (Tabelle in Anlehnung an Andersen 1994: 178). Genus
Deklination
Bedeutung
1.
activum
lego, scribo
o; + r > passivum
actus
2.
passivum
legor, scribor
or; -r > activum
passio
3
neutrum
sto, curro
activa tantum
actus
4.
commune
consolor, criminor
passiva tantum
actus and passio
5a.
deponens
loquor, luctor
passiva tantum
actus
5b.
deponens
morior, labor
passiva tantum
passio
Da viele, speziell indoeuropäische, Sprachen vor allem in Bezug auf genus activum/passivum (auch vox activa/passiva) ähnlich wie das Lateinische funktionieren, ist es gut nachvollziehbar, dass Aktiv und Passiv (engl. active/passive voice, frz. voix active/passive) stellvertretend für Genus Verbi stehen. Im traditionellen Verständnis zeichnet sich das Passiv durch folgende Eigenschaften aus: x
x x
auf morphologischer Ebene durch eine zusätzliche Markierung am Verb bzw. im Prädikat, auf semantisch-pragmatischer Ebene durch eine Agensdefokussierung, auf syntaktischer Ebene durch eine Argumentveränderung.
Dabei bleiben Quantität und Qualität der mit dem Verb verknüpften semantischen Argumente unverändert, während eine andere Verknüpfung von semantischer Rolle und syntaktischer Funktion erfolgt. Insbesondere wird dabei das Agens aus der Subjektrolle verdrängt und entweder nur noch mitverstanden oder neu in eine Präpositionalphrase, zum Beispiel Lateinisch a/ab ‚von‘ oder Deutsch von/durch, „gekleidet“. Im Subjekt erscheinen die ursprünglich im Objekt kodierten Partizipanten (im Lateinischen sind davon sowohl Akkusativ- als auch Dativ- und Genitivobjekte betroffen; vgl.
Genus Verbi
156
Andersen 1994: 169). Die syntaktische Funktion Objekt fällt weg, der Valenzrahmen wird also um eine Stelle reduziert (Detransitivierung). Gleichzeitig wird das Subjekt semantisch degradiert, indem statt des Agens eine niedrigere semantische Rolle seinen Platz einnimmt.
In diesem traditionellen, sehr eng gefassten Verständnis von Genus Verbi stehen morphologische Markiertheit am Verb bzw. im Prädikat und Entfernung der semantischen Rolle Agens aus dem Subjekt im Zentrum. Es gibt jedoch auch ein weiter gefasstes Verständnis von Genus Verbi, das sich vor allem in der typologischen Literatur findet und nicht-indoeuropäische Sprachen mit einbezieht. Im Folgenden wird deshalb zuerst ein kurzer Überblick über Genus Verbi im weiteren Sinne gegeben, bevor wir uns Genus Verbi im engeren, d. h. im traditionellen, Sinne und damit noch einmal speziell der Teilkategorie Passiv im Detail zuwenden. 2
Genus Verbi/Voice im weiteren Sinne
Für Vertreter dieses Ansatzes handelt es sich auch dann um Genus Verbi/ Voice, wenn a) im Passiv entsprechende Argumentveränderungen vorliegen, aber keinerlei morphologische Markiertheit, oder b) wenn morphologische Markierung zwar Voraussetzung ist, es sich aber um andere als im traditionellen Passiv beschriebene Argumentveränderungen handelt. Der in a) genannte Ansatz wird vor allem in den Arbeiten von Talmy Givón vertreten, bei dem das semantisch-pragmatische Merkmal der Agensdefokussierung im Vordergrund steht, so dass bei ihm auch Sätze wie die folgenden mit generischem Agens unter Passiv fallen: They dance in the street there; One goes to the market every Friday (Givón 2001: 136). Ansatz b), Genus Verbi/Voice als allgemeine Argumentveränderung, ist am weitesten bei Kulikov (i. E.) ausgearbeitet. In seinem Aufsatz „Voice ty-
157
Genus Verbi
pology“ legt er den Ansatz der Leningrader Schule zugrunde, wie er von Mel’ˇcuk/Xolodoviˇc (1970) entwickelt wurde. Das Modell basiert auf einem Konzept von Diathese, das jedoch nicht mit dem antiken diathesis-Konzept identisch ist: Diathese bezieht sich in diesem Ansatz jeweils auf eine spezifische Verknüpfung von semantischer Rolle und syntaktischer Funktion und weist damit gewisse Ähnlichkeiten mit der Valenz auf. In einem dem traditionellen Aktiv entsprechenden Satz mit transitivem Verb ist das Agens, von dem das Geschehen ausgeht (bei Kulikov: „actor“), als Subjekt im Nominativ kodiert und das Patiens oder der „undergoer“, auf den das Geschehen gerichtet ist, als direktes Objekt im Akkusativ. Basic transitive diathesis Semantic argument level (role) X (actor) Y (undergoer) Syntactic function level (case) S (Nom) DO (Acc) (Kulikov i. E.) Innerhalb dieses Diathesenkonzepts wird Voice (bzw. Genus Verbi) als „diathesis regularly encoded by means of the verbal morphology“ definiert. Reguläre morphologische Markiertheit am Verb bzw. im Prädikat ist also obligatorisch. Dabei unterscheidet Kulikov „Voices sensu stricto vs. sensu latiore“. Im Gegensatz zum Passiv (als Vertreter von „Voice sensu stricto“), wo alle Partizipanten quantitativ und qualitativ gleich bleiben, treten hier bei Genus Verbi im weiteren Sinne jedoch Veränderungen ein. So wird zum Beispiel Kausativ, bei dem ein weiteres Argument hinzukommt, ebenfalls als Genus Verbi angesehen. Dabei übernimmt der neue Partizipant, der die Handlung verursacht (bei Kulikov: der „causer“), die syntaktische Funktion des Subjekts. Der ursprüngliche Subjekts-Partizipant wird dagegen zum von der Handlung betroffenen „causee“ und bekommt eine neue syntaktische Funktion direktes oder indirektes Objekt zugewiesen. Dazu nennt Kulikov (2001: 890) Beispiele aus der Turksprache Tuvan (s. u.). Causative of intransitive X S
⇒
Causer X (Causee) S
DO
Basisdiathese intransitives Verb ool doÙ -gan boy freeze-PAST ‚The boy froze.‘
158
Genus Verbi
Kausativ intransitives Verb aˇsak ool-du doÙ -ur-gan old.man boy-ACC freeze-CAUS-PAST ‚The old man made the boy freeze.‘ Causative of transitive X Y S
DO
⇒
Causer X (Causee) Y S
IO
DO (Kulikov i. E.)
Basisdiathese transitives Verb aˇsak ool-du ette-en old.man boy-ACC hit-PAST ‚The old man hit the boy.‘ Kausativ transitives Verb Bajïr aˇsak-ka ool-du ette-t-ken Bajïr old.man-DAT boy-ACC hit-CAUS-PAST ‚Bajïr made the old man hit the boy.‘ Im Gegensatz zum Kausativ liegt beim Antikausativ eine Argumentreduktion vor, da das Agens semantisch entfernt ist. Das Ereignis wird als nicht von einem Agens verursacht gedacht. Syntaktisch gesehen übernimmt das Patiens jetzt außerdem die syntaktische Funktion Subjekt. Das Antikausativ kann als typisches Medium gelten. Von einem Medium spricht man dann, wenn eine spezifische Markierung vorliegt, die anzeigt, dass das Subjekt selbst von dem Geschehen betroffen ist, und zwar ohne Einwirkung eines externen Agens. Anticausative X Y S
DO
⇒
Y – S (Kulikov i. E.)
Man vergleiche dazu Russisch, in dem das Antikausativ mit einem Reflexivelement -s’ markiert ist (Kulikov i. E.):
159
Genus Verbi
Basisdiathese Ivan razbi-l-Ø John:NOM broke-PAST-SG.M ‚John broke the vase.‘
vazu. vase:ACC
Antikausativ Vaza razbi-l-a-s’ vase:NOM broke-PAST-SG.F-REF ‚The vase broke (*by John).‘
(*Ivanom). (John:INS)
Im Russischen (wie auch in anderen slawischen oder auch in romanischen Sprachen) hat sich das Antikausativelement außerdem zum Passivmarker weiterentwickelt: Passiv Beljo moet-sja devuˇskoj. Wäsche wäscht-REF Mädchen:INS ‚Die Wäsche wird von dem Mädchen gewaschen.‘ Die Entwicklung eines Antikausativs aus einer Reflexivkonstruktion und weiter zu einem Passiv lässt sich gut nachvollziehen. Beim Reflexiv steht im Subjekt zwar ein Agens, das Reflexivelement signalisiert jedoch Koreferenz von Agens und Patiens. Ein Antikausativ ergibt sich dann, wenn statt des ursprünglichen Agens ein nicht-agentivischer Partizipant ins Subjekt gelangt und für das Agens selbst kein Platz mehr in der Konstruktion vorgesehen ist (vgl. Haspelmath 1987: 5). Ein Passiv ergibt sich, wenn zusätzlich ein agentisches Argument als Verursacher eingeführt wird (vgl. Haspelmath 1990: 44 f.). Das Agens wird entweder nur im Kontext impliziert oder aber es erscheint, wenn es explizit ausgedrückt wird, in der syntaktischen Funktion eines Adverbials. 3
Genus Verbi/Voice im engeren Sinne
Voraussetzung für das Vorliegen eines Genus Verbi im engeren Sinne ist morphologische Markiertheit und Argumentveränderung, wobei jedoch die semantischen Argumente qualitativ wie quantitativ gleich bleiben. Hierher gehört vor allem das Passiv im eigentlichen (traditionellen) Sinne, das mindestens die Entfernung des Agens aus dem Subjekt impliziert. Es bleibt zwar als implizites semantisches Argument erhalten, kann jedoch in den meisten Sprachen keine syntaktische Funktion besetzen. In manchen Spra-
160
Genus Verbi
chen, zum Beispiel im Deutschen, kann es mit einer adverbialen Funktion verknüpft werden, wobei die Nennung des Agens jedoch nie obligatorisch ist. Kulikov (i. E.) spricht in solchen Fällen von einem obliquen Objekt (OBL). Im häufigsten Fall wird die Subjektstelle nach Entfernung des Agens von einem anderen Partizipanten eingenommen, typischerweise vom Patiens. Das subjekthaltige Passiv wird oft auch als persönliches Passiv bezeichnet. X Y S
DO
⇒
X
Y
–/(OBL) S
In einigen Sprachen, so etwa im Englischen, Schwedischen, Altgriechischen, Persischen oder im Sanskrit, existieren aber zusätzlich weitere Möglichkeiten, die Subjektstelle zu füllen, zum Beispiel durch den Rezipienten (vgl. Siewierska 1984: 30). Ein solches Rezipientenpassiv liegt auch in der deutschen Fügung Ich bekam von meinen Eltern ein Auto geschenkt (⇐ Meine Eltern schenkten mir ein Auto) vor. Neben dem subjekthaltigen oder persönlichen Passiv gibt es außerdem ein so genanntes unpersönliches Passiv. Das unpersönliche Passiv wird häufig als subjektlose Konstruktion definiert, d. h., das Agens wird in diesen Fällen zwar ebenfalls aus dem Subjekt entfernt, die Leerstelle wird aber nicht durch ein anderes semantisches Argument gefüllt. In den meisten Sprachen ist die Subjektfunktion deshalb getilgt. Es gibt allerdings auch Sprachen, etwa Norwegisch (Bokmål), die hier zumindest in manchen Satztypen obligatorisch ein nicht-referenzielles Subjekt det ‚es‘ benötigen (Beispiel nach Lenerz 1985/1992: 111): Aussagesatz Det snakkes mye om været. ‚Es wird viel über das Wetter gesprochen.‘ Fragesatz Snakkes *(det) mye om været? ‚Wird viel über das Wetter gesprochen?‘ Hier liegt dann zwar kein subjektloses Passiv vor, wohl aber ein unpersönliches in der traditionellen Interpretation von „unpersönlich“, die auch nichtreferenzielle oder unspezifische Subjekte mit einschließt (wie z. B. in es regnet, es weht). Das unpersönliche Passiv kann von intransitiven Verben mit oder ohne Objekt gebildet werden, aber auch von transitiven Verben mit (beibehaltenem) direktem Objekt. Typologisch gesehen scheinen jedoch Intransitiva
161
Genus Verbi
häufiger zu sein. Dabei gilt nach Kazenin (2001: 905) die Regel, dass eine Sprache nur dann ein Passiv von transitiven Verben mit beibehaltenem direktem Objekt haben kann, wenn sie auch ein Passiv von Intransitiva ausgebildet hat. Außerdem impliziert das Vorhandensein eines unpersönlichen Passivs, dass in der jeweiligen Sprache ein persönliches Passiv existiert. Man vergleiche dazu die entsprechenden Diathesenschemata (in Anlehnung an Kulikov i. E., siehe dort auch die Beispiele): – Unpersönliche Passivdiathese von objekthaltigen Intransitiva X Y S
IO/Obl
⇒
X
Y
(Obl)/– (O/Obl
Man vergleiche dazu ein Beispiel aus dem Türkischen, wo das Agens allerdings keine syntaktische Funktion mehr besetzen kann: Basisdiathese Hasan otobüs-e bin-di Hasan bus-DAT board-PAST ‚Hasan boarded the bus.‘ Unpersönliches Passiv Otobüs-e bin-il-di bus-DAT board-PASS-PAST ‚The bus was boarded.‘ – Unpersönliche Passivdiathese von objektlosen Intransitiva. X S
⇒
X (Obl)/–
Eine solche Konstruktion kommt in den meisten germanischen Sprachen vor, etwa im Niederländischen. Er wordt gedanst it PASS.AUX:PRES.3SG dance:PASS.PART ‚There is dancing./They dance.‘ – Unpersönliches Passiv von Transitiva. Dieser Typus ist auch übereinzelsprachlich selten und in vielen Sprachen, wenn überhaupt, nur in Ansätzen vorhanden, man vergleiche dt. da/es wird (von euch) Karten gespielt/Hände gewaschen. Hier deutet die Inkongruenz zwischen singulärem finitem Verb
162
Genus Verbi
(wird) und pluralischer NP (Karten, Hände) darauf hin, dass die NP keinen Subjektstatus hat. X Y S
DO
⇒
X
Y
(Obl)/– DO
Verbreiteter ist die Konstruktion dagegen zum Beispiel im Polnischen. Zbudowan-o szkołe build:PASS.PART-SG.N school-ACC ‚A school is built (by the workers).‘
(robotnikami) workers:INS
Übereinzelsprachlich gesehen ist das unpersönliche Passiv zwar seltener als das persönliche, aber nicht per se eine seltene Erscheinung. Unpersönliche Passive gibt es unter anderem im Indoeuropäischen, Finno-Ugrischen, Altaischen, Dravidischen, Nilo-Saharischen, Uto-Aztekischen, dem Yuman und den Niger-Kongo-Sprachen (vgl. Siewierska 1984: 93). In vielen Sprachen werden im persönlichen wie im unpersönlichen Passiv jeweils dieselben morphologischen Mittel verwendet, so etwa im Deutschen, Niederländischen, Lateinischen, Altgriechischen, (Nord)Russischen, Shona (Bantu) oder im Türkischen (vgl. Keenan 1985: 273). Im Gegensatz zum Passiv steht das Antipassiv, das für Ergativsprachen typisch ist. Dort ist es nicht wie beim Passiv das Agens, das aus seiner syntaktischen Funktion entfernt wird, sondern das Patiens. Entsprechend dem Agens in Nominativsprachen kann es weiter hinzugedacht werden, syntaktisch erhält es keine oder eine adverbiale Funktion. Antipassive X Y S
DO
⇒
X Y S
(Obl)/– (Kulikov i. E.)
Dazu ein Beispiel aus dem Tschuktschischen (Palaeo-Sibirisch) (Kulikov i. E.): ’aaˇcek- t ine-nl’etet-Ø-g’et youth-ABS ANTIPASS-carry.away-AOR-3PL ‚(The) young men carried away a load.‘
kimit’-e load-INS
e
163 3.2
Genus Verbi
Passivfunktion
Dadurch, dass beim Genus Verbi im weiteren Sinne nicht wie beim Passiv die Partizipanten und damit die Proposition gleich bleiben, wird im Grunde auch ein anderes Ereignis kodiert. Dagegen liegen bei Genus Verbi im engeren Sinne dieselben Partizipanten und damit nur eine andere Sichtweise auf dasselbe Ereignis vor. Die Funktion speziell des Passivs liegt in der sprachlich markierten Bereitstellung einer „gekippten“ Perspektive auf dieses Ereignis, bei der der vom Geschehen Betroffene im Zentrum steht. Natürlich lässt sich eine solche „passivische“ Sichtweise auch ohne explizite sprachliche Mittel erreichen. Sprachen wie Chinesisch (Mandarin) können etwa mit ein und derselben Konstruktion beide Sichtweisen ausdrücken, ohne dass eine davon als markiert gilt, vgl. etwa yú ch¯ı le, was sowohl ‚der Fisch hat gefressen‘ heißen kann als auch ‚der Fisch wurde gegessen/gefressen‘ (vgl. Chao 1968: 75). Normalerweise ist in solchen Fällen jedoch kontextuell oder semantisch determiniert, wer „Träger“ und wer „Empfänger“ des Geschehens ist, da von unbelebten Dingen im Allgemeinen nicht agentische Handlungen ausgehen können. In Zweifelsfällen kann das Agens außerdem durch die Partikel bèi markiert werden: Yú bèi m¯ao ch¯ı le ‚Der Fisch wurde von der Katze gefressen‘ (vgl. ebd.). Auch Sprachen wie das Deutsche können das Ziel einer Handlung ohne explizite Markierung ins Zentrum stellen, indem es vor das finite Verb gestellt und damit topikalisiert wird: Das mache ich auf keinen Fall (Passiv: Das wird auf keinen Fall gemacht). Ein solcher Aktivsatz ist jedoch pragmatisch stark markiert, was im Passiv nicht der Fall ist. Dort liegt lediglich eine umgekehrte Perspektive auf das Geschehen vor. Erreicht wird dies durch die Entfernung der Agens aus dem Subjekt. Deshalb wird im Zusammenhang mit dem Passiv auch von einer „Inaktivierung“ des Ereignisses gesprochen (z. B. Kazenin 2001: 908). Da das Patiens innerhalb der Partizipanten den Gegenpol zum Agens darstellt, besteht die neue Subjekt„füllung“ im Allgemeinen aus dem Patiens. Die bei Shibatani (2004: 1148) für das Passiv postulierte Funktion der Agensdefokussierung ist also tatsächlich nur Mittel zum Zweck der Umperspektivierung. Dementsprechend existiert das persönliche oder subjekthaltige Passiv historisch früher und ist sowohl einzel- als auch übereinzelsprachlich verbreiteter als das unpersönliche oder subjektlose Passiv. Letzteres entsteht eher parasitär, wenn Verben in die Konstruktion eintreten, die kein Objekt aufweisen oder deren Objekt eine semantische Rolle inne hat, die als nicht-subjektfähig gilt. Mit der Subjektlosigkeit ergibt sich dann eine maximale Umperspektivierung, da sich hier überhaupt kein Partizipant mehr im Subjekt befindet und das Ereignis als solches im Mittelpunkt steht. Allerdings gibt es
Genus Verbi
164
offenbar, wenn auch selten, Sprachen, die zumindest in ihrem aktuellen Entwicklungsstand, der möglicherweise noch Raum für weiteren Sprachwandel lässt, nur ein subjektloses Passiv aufweisen. So nennt Shibatani (1998: 134) etwa die indischen Sprachen Marathi (Indo-Arisch) oder Kannada (Drawidisch), die nur ein unpersönliches Passiv von Transitiva mit beibehaltenem direkten Objekt zu haben scheinen. Möglicherweise handelt es sich in solchen Fällen um die vorangegangene Uminterpretation einer ImpersonaleKonstruktion. Von Impersonale-Konstruktionen wird gesprochen, wenn in einer Sprache ein pronominales Element mit generischer Bedeutung im Sinne von ‚man‘ vorliegt. Wird das Pronomen als Passiv-Marker uminterpretiert, ergibt sich automatisch ein subjektloses Passiv mit beibehaltenen Objekten, da die Objekte zumindest vorerst kasusmarkiert sind. Ein solches Szenario wird etwa auch für die Entwicklung des lateinischen r-Passivs angesetzt. So geht Statha-Halikas (1977: 580) davon aus, dass noch im vorklassischen Latein (bis ca. 100 v. Chr.) die Impersonale-Konstruktion mit r vorliegt. Es dominieren zwei Ausführungen dieser Fügung, nämlich solche mit objektlosen Verben (Plautus: facile nubitur ‚man verheiratet sich leicht‘) und solche mit objekthaften Verben, die ihre Kasusrollen beibehalten (Ennius: vitam vivitur ‚man lebt (sein) Leben‘; Plautus: illi, quibus invidetur ‚die, die man beneidet‘) (Beispiele nach ebd.). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein direktes oder um ein indirektes Objekt handelt, es kommt in beiden Fällen nicht zur „Subjektivierung“ des Objekts. Im klassischen Latein (100 v. Chr. – 14 n. Chr.) stellt sich die Situation völlig verändert dar, da jetzt direkte Objekte als grammatisches Subjekt behandelt werden können und sogar Agenshinzufügung möglich ist; Caesar: ab iis nationibus … legati ad Caesarem mitterentur ‚ … sollten Legionen zu Caesar geschickt werden‘ (Beispiel nach StathaHalikas 1977: 580 f.). Es ist also ein Passiv entstanden, zu dem jetzt auch als unpersönliche Variante (ursprüngliche Impersonale-) Konstruktionen mit indirekten Objekten1 und ohne Objekte gezählt werden können: omnibus his resistitur ‚all diesen wird widerstrebt/man widerstrebt all diesen‘ (Caesar); itur in antiquam silvam ‚man geht in den alten Wald‘ (Vergilius) (Beispiel nach ebd.).
1 Im nachklassischen Latein können dann im Übrigen auch Dative zu grammatischen Subjekten werden, was aber auch bereits in poetischen Texten des klassischen Latein möglich war (vgl. Horatius: invideor ‚ich werde beneidet‘ vs. Cicero: mihi invidetur ‚man neidet mir‘) (Beispiel nach Statha-Halikas 1977: 580 f.).
165 3.3
Genus Verbi
Passivmorphologie
Der funktionale Gegensatz zwischen Genus Verbi im weiteren und Genus Verbi im engeren Sinne, nämlich Kodierung eines anderen Ereignisses vs. Darstellung desselben Ereignisses aus einer anderen Perspektive, zeigt sich auch auf morphologischer Ebene. Im ersten Fall ist es nicht selten, dass übereinzelsprachlich gesehen statt eines Affixes ein ganz anderes Verb auftritt oder die Veränderung durch Substitution innerhalb des Stammes erfolgt, zum Beispiel im Deutschen sterben vs. kausatives töten oder fallen vs. kausatives fällen. Am häufigsten wird Passiv synthetisch mit Hilfe eines Affixes markiert. Dabei kann es sich um ein Präfix handeln wie im Navajo, um ein Infix wie in einigen Maya-Sprachen, um ein Zirkumfix wie im Georgischen oder um ein Suffix wie in Turksprachen (vgl. Kazenin 2001: 900 f.). In den folgenden Beispielen aus dem Japanischen (Shibatani 2004: 1146) und dem Altgriechischen (Kazenin 2001: 900) zeigt sich beispielsweise eine suffixale Markierung des Passivs. Japanisch Hanako ga Taroo ni Hanako NOM Taro DAT ‚Hanako was killed by Taro.‘
korosa-re-ta. kill-PASS-PAST
Altgriechisch ho ART
do˜ulos slave.NOM
e-lú-th¯e:-Ø PRET-release-PASS.AOR-3SG
hupò by
to˜u ART.GEN
kurí-ou lord-GEN ‚The slave was released by the lord.‘ Über die Herkunft der synthetischen Passivmarker ist wenig bekannt, außer da, wo es sich um ehemalige Reflexivpronomina handelt wie in slawischen (vgl. oben zum Russischen), skandinavischen oder romanischen Sprachen. Haspelmath (1990: 38 f.) vermutet jedoch, dass enige synthetische Passivmarker (z. B. im Koreanischen) auf Auxiliare und damit eine analytische Passivkonstruktion zurückgehen. Heute sind mit Auxiliaren gebildete analytische Passive fast nur in indoeuropäischen Sprachen vertreten und damit eher eine Randerscheinung. Normalerweise wird dabei das finite Auxiliar mit einem Partizip verknüpft. Das häufigste Auxiliar ist dabei ‚sein‘ (Englisch, Deutsch, Russisch), daneben
Genus Verbi
166
finden sich noch ‚werden‘ (Deutsch, Persisch) oder ‚kommen‘ (Italienisch) (vgl. Kazenin 2001: 901). Teilweise liegen wie im Deutschen zwei analytische Passivvarianten vor; dann repräsentiert die sein-Variante eher ein (resultatives) Zustandspassiv (die Tür ist geschlossen), die werden-Variante ein Vorgangspassiv (die Tür wird geschlossen). Existiert nur ein sein-Passiv, kann die Fügung aber sowohl Zustands- wie Vorgangsbedeutung haben, beispielsweise engl. they were beaten by them. Formen, die mit dem Reflexivmarker gebildet werden, haben dagegen nur Vorgangsbedeutung. Dies gilt auch für das Nebeneinander von synthetischem Reflexivpassiv und analytischem sein-Passiv im Russischen (Beispiele Kazenin 2001: 902). dom byl postroen raboˇcimi house was built workers.INSTR ‚The house was built by the workers.‘ [‚Das Haus war/wurde von den Arbeitern gebaut.‘] dom stroil-sja raboˇcimi house built.PASS workers.INSTR ‚The house was built by the workers.‘ [‚Das Haus wurde von den Arbeitern gebaut.‘] Andere Auxiliare außer ‚sein‘, ‚werden‘ und ‚kommen‘ sind weniger verbreitet und finden sich vor allem in Südostasien, zum Beispiel ‚bekommen‘ (vgl. aber auch das Rezipientenpassiv im Deutschen) und ‚erleiden‘ im Vietnamesischen oder ‚berühren‘ im nachfolgenden Beispiel im Thai: Mary thúuk (John) kóot Mary touch (John) embrace ‚Mary was embraced (by John).‘ (Kazenin 2001: 901) Literatur Andersen, Paul Kent (1994): Empirical Studies in Diathesis. Münster: Nodus. Chao, Yuen Ren (1968): A Grammar of Spoken Chinese. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Givón, Talmi (2001): Syntax. An introduction. Volume 2. Revised edition. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins. Haspelmath, Martin (1987): Transitivity alternations of the anticausative type. Köln: Universität Köln. (= Institut für Sprachwissenschaft, Universität zu Köln. Arbeitspapier N. F. Nr. 5). Haspelmath, Martin (1990): „The grammaticization of passive morphology“. Studies in Language 14: 25–72. Kazenin, Konstantin I. (2001): „The passive voice“. In: Haspelmath, Martin u. a. (Hrsg.): Language Typology and Language Universals/Sprachtypologie und sprachliche Universalien/La
167
Genus Verbi
typologie des languages et les universaux linguistiques. An International Handbook/Ein internationales Handbuch/Manual international. Volume 2/2. Halbband/Tome 2. Berlin/New York, de Gruyter: 899–916. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 20.2). Keenan, Edward L. (1985): „Passive in the world’s languages“. In: Shopen, Timothy (Hrsg.): Language typology and syntactic description. Volume I: Clause structure. Cambridge u. a., Cambridge University Press: 243–281. Kulikov, Leonid (2001): „Causatives“. In: Haspelmath, Martin u. a. (Hrsg.): Language Typology and Language Universals/Sprachtypologie und sprachliche Universalien/La typologie des languages et les universaux linguistiques. An International Handbook/Ein internationales Handbuch/ Manual international. Volume 2/2. Halbband/Tome 2. Berlin/New York, de Gruyter: 886–898. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 20.2). Kulikov, Leonid (i. E.): „Voice typology“. In: Song, Jae Jung (Hrsg.): The Oxford Handbook of Linguistic Typology. Oxford: Oxford University Press. Lenerz, Jürgen (1985/1992): „Zur Theorie des syntaktischen Wandels. Das expletive es in der Geschichte des Deutschen“. In: Abraham, Werner (Hrsg.) (1992): Erklärende Syntax des Deutschen. 2., überarbeitete Auflage. Tübingen, Narr: 99–136. (= Studien zur deutschen Grammatik 25). Mel’ˇcuk, Igor A./Xolodoviˇc, Aleksandr A. (1970): „K teorii grammatiˇceskogo zaloga“. Narody Azii i Afriki 4: 111–124. Shibatani, Masayoshi (1998): „Voice parameters“. In: Kulikov, Leonid/Vater, Heinz (Hrsg.): Typology of verbal categories. Papers presented to Vladimir Nedjalkov on the occasion of his 70th birthday. Tübingen: 117–138. (= Linguistische Arbeiten 382). Shibatani, Masayoshi (2004): „Voice“. In: Booij, Geert/Lehmann, Christian/Mugdan, Joachim (Hrsg.): Morphologie/Morphology. Ein internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung/An international Handbook on Inflection and Word-Formation. 2. Halbband/Volume II. Berlin/New York, de Gruyter: 1145–1165. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 17.2). Siewierska, Anna (1984): The passive. A comparative linguistic analysis. London u. a.: Croom Helm. (= Croom Helm linguistics series). Statha-Halikas, Hariklia (1977): „From impersonal to passive. The Italo-Celtic evidence“. In: Beach, Woodford A./Fox, Samuel E./Philosoph, Shulamith (Hrsg.): Papers from the 13th regional meeting of the Chicago Linguistic Society. Chicago: 578–589.
Abkürzungen ABS ACC ANTIPASS AOR ART AUX CAUS DAT DO F GEN INS IO M N NOM O
Absolutiv Akkusativ Antipassiv Aorist Artikel Auxiliar Kausativ Dative Direktes Objekt Femininum Genitiv Instrumental Indirektes Objekt Maskulinum Neutrum Nominativ Objekt
168
Gerundium OBL PART.PERF. PASS PASS.PART. PRES PRET REF S SG
Obliques Objekt Partizip Perfekt Passiv Partizip Passiv Präsens Präteritum Reflexivum Subjekt Singular
Petra M. Vogel u Gerundium (engl.: gerund) Unter einem Gerundium versteht man in der traditionellen europäischen Grammatikschreibung ein substantivisches Verbalnomen, wie es etwa im Lateinischen oder Englischen (reading, listening) zu beobachten ist; im Deutschen kommt der substantivierte Infinitiv dem Gerundium am nächsten. Im Unterschied zum Infinitiv als ebenfalls substantivischem Verbalnomen beinhaltet das Gerundium nicht notwendig ein implizites Subjekt und steht dem Substantiv damit noch etwas näher. In der Typologie wird der Begriff „Gerundium“ meist gleichbedeutend mit „Adverbialpartizip“ oder „Konverb“ verwendet und umfasst dann eine sehr viel größere Gruppe infiniter Verbformen. → Infinite Verbformen u Gerundivum (engl.: gerundive) Unter einem Gerundivum versteht man eine passivische infinite Verbform mit Zukunftsbezug, die eine modale Komponente ‚müssen‘ oder ‚können‘ beinhaltet. Im Deutschen ist die attributive Form mit dem Partizip Präsens Aktiv gleichlautend, zu dem die Partikel zu hinzugefügt wird: die zu lösende Aufgabe. Die prädikative Form ist mit dem Infinitiv mit zu identisch: Die Aufgabe ist zu lösen. Diese Form ist sprachgeschichtlich gesehen die eigentliche Wurzel des Gerundivums, das sich in vielen indogermanischen Sprachen aus der prädikativen Verbindung des Infinitivs mit einem Subjekt entwickelt hat. → Infinite Verbformen
169
Gerundivum
H u historisches Präsens Präsens mit Vergangenheitsbezug. Der Vergangenheitsbezug muss durch ein vergangenheitsbezogenes Adverbial hergestellt werden, z. B.: Am 1. September 1939 beginnt der 2. Weltkrieg. → Präsens
170
171
Infinite Verbformen
I u Incommodi: Dativus incommodi (lat.: ‚Dativ des Unbequemen‘) Der Dativus incommodi ist ein sog. freier Dativ. In ihm steht die Person, zu deren Nachteil sich eine Handlung oder ein Ereignis vollzieht. Dabei wird die semantische Basisfunktion ‚Benefizient‘ im weitesten Sinne nutzbar gemacht, die auch für den Dativ als Objektskasus typisch ist und die impliziert, dass ein Schaden eine Art von negativem Nutzen ist. Zur praktischen Unterscheidung von Objekt und freiem Dativ wird meist eine Ersetzungsprobe verwendet, bei der die Nominalphrase im Dativ durch eine mit zum Schaden/zum Nachteil ersetzt wird: Er hat mir den Wagen zu Schrott gefahren ⇒ Er hat zu meinem Schaden/Nachteil den Wagen zu Schrott gefahren. Das Ergebnis dieser Ersetzung ist zwar immer unidiomatisch, aber nur dann auch ungrammatisch, wenn es sich um ein Objekt handelt (Er hat mir geschadet ⇒ *Er hat zu meinem Schaden/Nachteil geschadet). → Dativ u Indikativ (engl.: indicative mode) Unter Indikativ wird eine im Hinblick auf Modalität nicht markierte Verbform verstanden, die verwendet wird, wenn es keine Bedingungen oder Einschränkungen für das Zutreffen des geäußerten Sachverhaltes gibt. → Modalität u indirekte Rede (engl.: reported speech) In vielen Sprachen wird die Tatsache, dass eine Aussage nicht auf dem eigenen Wissen der sprechenden Person, sondern auf Hörensagen beruht, durch einen eigenen Modus markiert, der oft auch als Quotativ bezeichnet wird. Im Deutschen kann der Konjunktiv diese Funktion übernehmen: Man sei einer Lösung nahe, teilte der Pressesprecher mit. → Konjunktiv u Infinite Verbformen 1
Definitorische Probleme
Bei der Suche nach der Definition dessen, was unter einer infiniten Verbform zu verstehen ist, zeigen sich überraschend große Abweichungen und Unvereinbarkeiten. So findet sich im Lexikon der Sprachwissenschaft der folgende
Infinite Verbformen
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Eintrag: „Unkonjugierte Verbform, d. h. hinsichtlich Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus Verbi nicht gekennzeichnete Verbformen, die Affinitiäten zum nominalen bzw. adjektivischen Bereich zeigen“ (Bußmann 2002: 304) – eine Definition, die schon angesichts der Tatsache zu Problemen führt, dass im Folgenden das Partizip Präsens und das Partizip Perfekt des Lateinischen und somit Formen, die zumindest in ihrer Benennung Tempuskennzeichnungen aufweisen, als Beispiele aufgeführt werden. Die Beschreibung deckt sich mit der in Lewandowski (1994: 442), wo als charakterisierende Eigenschaft einer infiniten Verbform ebenfalls „keine Kennzeichnung für Person, Numerus […], Tempus oder Modus“ angenommen wird; hier fehlt nur der Hinweis auf abwesende Genusmarkierung. Demgegenüber beschränkt sich das Metzler Lexikon Sprache bei der Definition des Eintrags infinit auf nur zwei Kategorien: „Eigenschaft von Verbformen, die v. a. bezüglich der Kategorien von Numerus und Person unbestimmt sind“ (Glück 2005: 276). Thieroff (1992: 7) wiederum ordnet Imperative im Deutschen als infinite Verbformen ein, da sie aus seiner Sicht keine Personal-, sondern nur eine Numerusmarkierung tragen. Damit wäre die Abwesenheit einer morphologischen, materiell realisierten (also auch nicht etwa nur durch Nullmorphem gekennzeichneten) Personalmarkierung ein Merkmal von Infinitheit. Offensichtlich liegen diesen Einteilungen unterschiedliche Definitionen von Finitheit zugrunde, deren Grundlagen im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Da nicht alle Sprachen über morphologische Markierungen zur Kennzeichnung von Person, Numerus, Tempus usw. verfügen, führt eine Definition der Kategorie „Finitheit“ über die morphologische Realisierung zunächst dazu, dass man grundsätzlich zwischen finiten und infiniten Sprachen unterscheiden müsste. Damit würden die isolierenden Sprachen Ost- und Südostasiens (z. B. Chinesisch, Thailändisch, Vietnamesisch), wie Bisang (2001: 1408) vorschlägt, zu den „nicht finiten“ Sprachen („in the sense that they are neutral to the finite/non finite distinction“; ebd.) gehören, während die flektierenden – also etwa die indoeuropäischen Sprachen, die alle zumindest noch Teile des ehemals sehr reichen Flexionssystems aufweisen – sowie die agglutinierenden Sprachen wie beispielsweise Türkisch, Mongolisch oder Japanisch zu den „finiten Sprachen“ gehören würden. Nach wie vor offen bliebe jedoch auch bei dieser rein formalen Unterscheidung, welche Art von morphologischer Markierung denn überhaupt als Merkmal der Finitheit anzusehen wäre. Markiertheit alleine reicht als Unterscheidungskriterium schon deshalb nicht aus, weil auch infinite Verbformen in den finiten Sprachen in der Mehrheit der Fälle morphologisch markiert sind (so etwa der Infinitiv des Deutschen durch die Endung -(e)n).
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Bei einzelsprachunabhängigem Vorgehen wird der Begriff der Finitheit normalerweise auf einer syntaktischen und/oder funktionalen Grundlage definiert: Er wird als Eigenschaft eines Satzes (vgl. Bisang 2001: 1400; Givón 2001: 25) oder als Beziehung zwischen einem Thema und einer Proposition (vgl. Dimroth/Lasser 2002: 648) aufgefasst. Aus letzterer Definition folgt, dass Finitheit notwendig auch eine semantische Seite hat (vgl. ebd.: 647 f.), die auch dann gegeben ist, wenn keine morphologische Realisation vorliegt. Vereinfacht könnte man diese Ansätze etwa zu folgender Definition zusammenfassen: Finitheit ist eine verbale Eigenschaft, und ein Verb ist immer dann als finit anzusehen, wenn es in einem selbstständigen (nicht abhängigen) Satz das Prädikat bildet (vgl. Koptjevskaja-Tamm 1994: 1245).1 Ein prototypischer Satz dieser Art wäre ein Hauptsatz vom Typ Assertionssatz. Wird nun so ein Satz – beispielsweise: Sie liest ein Buch – in einer flektierenden Sprache geäußert, so zeigen sich am Verb die morphologischen Merkmale der Finitheit: es weist Person- und Numerus-Kongruenz mit dem Subjekt sowie Tempus-, Aspekt- und Modusmarkierungen (häufig als „TAM“ abgekürzt) auf. TAM und Subjektkongruenz sind damit die Kernbestandteile der Finitheit (vgl. Givón 2001: 352; Koptjevskaja-Tamm 1994: 1245). Als diametrales Gegenstück hierzu und somit als in jeder Hinsicht infinit wäre daher das Substantiv bzw. die Nominalphrase anzusehen (vgl. Givón 2001: 25). Innerhalb der Wortart Verb kann eine vollständige Nominalisierung beispielsweise mit Wortbildungsmitteln erfolgen. Wenn etwa zum Verb lesen das Substantiv Lesung gebildet wird, verliert der ursprünglich verbale Stamm sämtliche beschriebenen Merkmale von Finitheit wie auch seine Fähigkeit, Subjekte und Objekte zu binden. Stattdessen kann das Wort nunmehr mit Determinatoren – im Deutschen beispielsweise dem Artikel – und Klassifikatoren verknüpft werden und steht nun mit Genitiv, also einem typisch adnominalen Kasus: die Lesung des Textes/des Autors (vgl. Givon 2001: 353). Zwischen dem prototypischen Finitum und einer ebenso protoyptischen infiniten Form gibt es Zwischenstufen. Es handelt sich bei Finitheit somit aus typologischer Sicht um ein skalares Phänomen (vgl. Givón 2001: 352), das sich aus verschiedenen Aspekten zusammensetzt und daher mehr oder minder stark ausgeprägt sein kann. „Weniger gute“ Fälle für Finitheit wären beispielsweise die Prädikate abhängiger Sätze, für die spezifische Markierungen erforderlich sein können, die etwa die Tempusmarkierung überlagern. Ein Beispiel hierfür wäre der so genannte subjonctif des Französischen, aber 1 Dass auch Nebensätze finite Verbformen enthalten können, wird damit nicht ausgeschlossen; Nebensätze müssen jedoch gesondert betrachtet werden. Man vergleiche hierzu auch im Folgenden.
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auch der Konjunktiv der indirekten Rede im Deutschen: Die beiden verschiedenen zur Auswahl stehenden Verbformen in Sie sagte, sie habe/hätte keine Zeit drücken keinen Tempusunterschied aus, obwohl es sich um aus zwei verschiedenen Tempora abgeleitete Konjunktivformen handelt. Dennoch enthalten solche Formen noch viele Merkmale von Finitheit, insbesondere die Kongruenz mit dem Subjekt. Deutlich weniger Finitheitsmerkmale finden sich demgegenüber in Partizipialkonstruktionen wie Fröhlich pfeifend hackte sie Holz oder Derart beschimpft, wurde sie wütend. Hier kann das semantisch implizierte Subjekt des Partizips nur aus dem Kontext erschlossen (‚sie pfeift‘, ‚sie wurde beschimpft‘), nicht aber explizit ausgedrückt werden (*sie fröhlich pfeifend hackte sie Holz), und entsprechend kann hier auch keine Kongruenzmarkierung erfolgen. Während solche Konstruktionen, insbesondere unter Verwendung des Partizips Perfekt, im Deutschen nicht besonders häufig sind, kennen andere Sprachen eine große Vielfalt von Verbformen, die speziell zum Ausdruck von Prädikaten in Adverbialbestimmungen geeignet sind. Hierher gehören die so genannten Konverben der Altai-Sprachen. So kann etwa das Türkische mit verschiedenen Konverben Gleichzeitigkeit, Vorzeitigkeit mit Überlappung zur Gleichzeitigkeit, unmittelbare oder allgemeine Vorzeitigkeit zum Geschehen im Hauptsatz ausdrücken, um nur einige Beispiele zu nennen (vgl. Lewis 2000: 175–181). In den Grammatiken des Deutschen werden als infinite Verbformen gewöhnlich die folgenden genannt: Partizipien, Infinitiv(e), das Gerundivum (Hentschel/Weydt 2003: 139–145), der Imperativ (Thieroff 1992: 7). Darüber hinaus müssen aber auch weitere Verbformen wie das beispielsweise im Englischen oder im Lateinischen zu beobachtende Gerundium, das vor allem in älteren Stufen indoeuropäischer Sprachen zum Ausdruck des Ziels nach den Verben der Bewegung gebrauchte Supinum sowie die bereits erwähnten Konverben zu den infiniten Verbformen gerechnet werden. Für das Deutsche kommt ferner eine Form hinzu, die erst in jüngerer Zeit systematisch erfasst und beschrieben worden ist, die so genannten Inflektive. Im Folgenden wird ein Überblick über die verschiedenen Typen infiniter Verbformen gegeben, wobei diejenigen, die auch im Deutschen vorkommen, im Vordergrund stehen. 2
Infinite Verbformen im Einzelnen
Im Folgenden werden die infiniten Verbformen im Einzelnen vorgestellt. Die Reihenfolge folgt dabei grob der Anzahl der Merkmale, die von der jeweiligen Form ausgedrückt werden kann, und führt daher von den Inflektiven, die gar keine Markierungen annehmen können, zu den Konverben, in
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denen alle verbalen Kategorien bis auf ‚Person‘ kodiert sein können. Dabei werden auch Formen wie der Imperativ berücksichtigt, deren Zugehörigkeit zu den infiniten Verbformen umstritten ist. 2.1
Inflektive
Im Deutschen gibt es Verbformen, die keinerlei Flexionsendung aufweisen und daher weder im Hinblick auf Person noch auf Numerus, Tempus, Modus oder Genus Verbi in irgendeiner Form gekennzeichnet sind, bei denen es sich jedoch zugleich auch nicht um nominale Derivationen handelt. Es sind dies Formen wie grummel, kreisch oder hüstel, die insbesondere in Textsorten wie Comics oder der Internet-Kommunikation (vgl. Hentschel 1998; Pankow 2003), aber auch in der normalen Alltagskommunikation mit zunehmender Frequenz zu beobachten sind. Diese auch als Inflektive (Teuber 1998) bezeichneten reinen Verbstämme entsprechen der weitestgehenden weiter oben angeführten Definition von Infinitheit (Bußmann 2002: 304) und sind somit eigentlich ideale Vertreter infiniter Verbformen. Trotz dieser Tatsache werden Inflektive jedoch traditionellerweise nicht in den Kapiteln der Grammatiken des Deutschen aufgeführt, die sich mit infiniten Verbformen befassen (vgl. Duden 2005: 568–572; Eisenberg 2006: 199–203; Engel 2004: 223–228; Hentschel/Weydt 2003: 138–145). Dies hängt vermutlich auch mit der Tatsache zusammen, dass sie noch keinen Eingang in die Standard-Literatursprache (mit der bereits genannten Ausnahme der Comics) gefunden haben und daher eher als Substandard eingeordnet werden. Hinzu kommt jedoch, dass Inflektive nicht von allen Verben gebildet werden können. Teuber (1998: 20) vermutet, dass die Unmöglichkeit, Inflektive wie *schnei zu bilden, mit der Agentivität der Verben zusammenhängt, während er bei Verben auf -ig- (*beleidig) morphologische Gründe annimmt. In der Tat scheint das Vorliegen eines für Subjektsprachen typischen Subjekts (im Sinne Comries 2001: 110–116) eine der Bedingungen zu sein, die für die Bildung eines Inflektivs erfüllt sein müssen und die somit Verben wie haben, bekommen oder gelten aus dem Paradigma ausschließen. Dass sich hier jedoch Tendenzen zu einer Ausbreitung auch auf solche Verben finden, zeigen die Befunde von Pankow (2003: 105), die Belege wie *hunger hab* und *ultimativentzücktseiunddahinschmelz* aufführt, sowie der bereits früher dokumentierte Beleg *geruehrtsei* (Hentschel 1998). Auch für die nach Teuber (1998: 20) unzulässige Form schnei finden sich Belege, so etwa der Blog-Eintrag: schnei schnei schnei. Endlich! Jetzt hats endlich auch bei mir geschneit. (http://tupfel.twoday.net/ month?date=200511; Stand 31. 7. 06) Daraus könnte mit einiger Vorsicht geschlossen werden, dass die Grammatikalisierung dieser Form voranschreitet.
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Dass es sich bei Inflektiven eindeutig um eine Verbform und nicht etwa um eine Substantivierung oder Ähnliches handelt, zeigt sich in der Tatsache, dass sie Objekte und Adverbiale binden können; siehe hierzu die bereits genannten Belege sowie zahlreiche weitere wie *mitdenfüßennachderfernbedienungfisch* oder *schweißvonderstirnwisch* (ebd.: 104). 2.2
Imperativ
Einige Autoren, so etwa Thieroff (1992: 7), nehmen an, dass auch der Imperativ zu den infiniten Verbformen zu zählen sei. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass Imperative auf Präsens Aktiv beschränkt sind2 und im Deutschen nur eine Person, nämlich die zweite, ausdrücken können, so dass sich die Formen daher nur nach Singular und Plural unterscheiden: lies/lest! Auch Eisenberg (2006: 202) folgert daraus, dass sie keine Personenmarkierung enthalten: „Die Imperative haben Adressatenbezug sowie eine pragmatische Orientierung an der 2. Ps, nicht jedoch eine Personmarkierung. Eine 2. Ps im Paradigma kann es nur geben, wenn mindestens eine weitere Ps existiert. Das ist beim Imperativ nicht der Fall.“ Wie man sieht, wird hier ausschließlich einzelsprachlich (auf das Deutsche bezogen) und mit Bezug auf das Paradigma dieser Sprache dann strukturalistisch argumentiert. Letzteres ist notwendig, da man im Verbalparadigma einer flektierenden Sprachen gewöhnlich nicht zwischen den Markierungen für Person und Numerus unterscheiden kann; Endungen wie -st (z. B. gehst) kodieren gleichzeitig die 2. Person und den Singular, ohne dass man zeigen könnte, wo genau diese Funktionen jeweils markiert sind. Umgekehrt kann eine Endung wie -t ( geht) gleichzeitig die 3. Person Singular und die 2. Person Plural markieren, ohne dass man aus dieser morphologischen Identität schließen könnte, dass diese beiden Personen im deutschen Verbalsystem nicht unterschieden werden. Entsprechend schwierig ist die Einordnung der Imperativbildung. Die Formen sind historisch deutlich entweder durch e-i-Wechsel (nehmen – nimm) oder durch die Endung -e (rate mal!) im Singular und durch die Endung -t im Plural markiert. Im modernen Deutschen wird die Markierung im Singular abgebaut, das Schwa fällt oft aus (rat mal! komm mal her!), und der e-i-Wechsel wird nicht immer vollzogen (vgl. lese! statt lies!). Mit dem zunehmenden 2 Allerdings lassen sich vor allem in literarischen Texten Gegenbeispiele finden. In Besen! Besen! Seids gewesen!, das Goethes Zauberlehrling äußert, liegt ein Imperativ Perfekt vor; in Dein Name sei vergessen, in ew’ge Nacht getaucht aus Ludwig Uhlands „Des Sängers Fluch“ ein Imperativ Passiv. Die Beschränkung der Form ist daher vermutlich auf rein pragmatische Gründe zurückzuführen, da man normalerweise nur zu etwas auffordern kann, was noch nicht in der Vergangenheit liegt und dem aktiven Handeln der angesprochenen Person zugänglich ist.
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Zusammenfall der Formen hinge die Einordnung von Imperativen dann von der Antwort auf die Frage ab, was genau (Person, Numerus Modus) durch die Imperativformen kodiert wird. Auf der Basis der oben angeführten sprachübergreifenden Definition von Finitheit ergibt sich jedoch ein ganz anderes Bild. Imperative bilden in der Tat aus sprechakttheoretischer Perspektive eine Besonderheit, und sie werden häufig neben Assertion und Interrogation als dritter in der Mehrheit der Sprachen grammatikalisierter Prototyp angesehen (vgl. Givón 2001: 288; Fries 2001: 136). Infolge ihrer modalen Markiertheit und der Tatsache, dass sie keine Prädikate von Assertionssätzen (sondern eben von Imperativsätzen) bilden, stellen sie keine idealtypischen finiten Verbformen dar. Davon, infinite Verbformen zu sein, sind sie jedoch ebenfalls weit entfernt. Das gewöhnlich nicht explizit genannte Subjekt, mit dem ja auch nach Ansicht der Kritiker des Imperativs als finiter Verbform eindeutig zumindest Numeruskongruenz besteht, kann beispielsweise im Falle der Betonung nicht nur im Deutschen explizit ergänzt werden (z. B. Gib du nur nicht so an!; vgl. auch engl. Don’t you dare!, Mandarin Ni qing zuo!, wörtlich etwa: ‚Du bitte setz dich‘). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass viele Sprachen durchaus Imperative anderer als der zweiten Person kennen; so gibt es etwa im Serbischen einen Imperativ der 1. Person Plural (ˇcitajmo ‚lasst uns lesen‘; vgl. Mrazovi´c/Vukadinovi´c 1990: 130), der sich durch seine morphologische Markierung deutlich von den anderen Formen des Paradigmas unterscheidet, und das Türkische hat einen Imperativ der 3. Person (gelsin ‚er/ sie möge kommen‘; vgl. Lewis 2000: 138–140). Im Deutschen werden diese Inhalte entweder durch den Konjunktiv (vgl. Seien wir ehrlich!; sog. Adhortativ) oder durch periphrastische modale Konstruktionen (vgl. Lass(t) uns aufbrechen! Er soll sofort kommen!) ausgedrückt. Eine ausführliche Diskussion verschiedener Aspekte der Finitheit von Imperativen findet sich bei Fries (2001). 2.3
Infinitiv, Gerundium und Supinum
2.3.1 Infinitive und Gerundien Infinitive scheinen schon von der Bezeichnung her prädestiniert, als besonders typische Vertreter der infiniten Verbformen zu dienen. Es handelt sich dabei um Verbalnomina mit deutlich substantivischem Charakter, die in vielen Sprachen, so auch im Deutschen, typischerweise zugleich als Nennform des Verbs verwendet (und auch so bezeichnet) werden. Als Definition ist letzteres jedoch nicht ausreichend, da keineswegs alle Sprachen über einen Infinitiv verfügen und dann entsprechend andere Verformen – typischerweise
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etwa die 3. Person Singular des Indikativs Präsens, aber auch andere finite Formen – als Nennform und Lexikoneintrag sowie innerhalb des Satzes in denselben syntaktischen Funktionen verwenden, in denen Infinitive gebraucht werden (vgl. z. B. Banfi 1990 zu den südosteuropäischen Sprachen). Auch die Definition als Verbalnomen, das syntaktisch in derselben Funktion wie ein Substantiv verwendet werden kann, ist jedoch nicht ausreichend, denn diese Beschreibung trifft auch auf die in der traditionellen Grammatik als Gerundium bezeichneten Verbformen zu.3 Entsprechend fließend ist die Grenze zwischen diesen beiden infiniten Verbformen, die gelegentlich in ein und derselben Sprache ohne semantischen Unterschied alternativ im selben Kontext auftreten können (so etwa in manchen Fällen im Englischen, etwa to intend to do/doing something, vgl. Huddleston/Pullum 2002: 1241) oder sich sogar paradigmatisch ergänzen (so im Lateinischen, wo der Infinitiv zugleich den Nominativ des Gerundiums bildet, vgl. Rubenbauer/Hofmann 1995: 202). Ein Unterschied zwischen Gerundium und Infinitiv kann darin gesehen werden, dass ein Infinitiv stets ein implizites Subjekt beinhaltet und insofern noch eine etwas größere Nähe zum Verb aufweist. Normalerweise kann dieses Subjekt, das in der Notation der generativen Grammatik mit PRO bezeichnet wird, nicht ausgedrückt werden. Das Agens muss aus den Kontextinformationen erschlossen werden, wobei es auch unbestimmt bleiben kann: Ich bitte dichi [PROi] nicht zu spät zu kommen. Ichi verspreche dir [PROi] nicht zu spät zu kommen. Bei diesem Termin ist es sehr wichtig [PRO?] nicht zu spät zu kommen. Sichtbar wird das Subjekt des Infinitivs hingegen beim so genannten AcI (accusativus cum infinitivo, ‚Akkusativ mit Infinitiv‘). In diesem Fall bildet das implizite Subjekt des Infinitivs zugleich des Objekt eines hierarchisch übergeordneten Verbs: Ich höre ihn kommen. (Ich höre: Er kommt.) Im Deutschen erscheint der AcI nur noch nach den beiden Verben der sinnlichen Wahrnehmung hören und sehen. Eng damit verwandt sind die im Deutschen ebenfalls möglichen Konstruktionen mit haben und Positionsverben, etwa: Ich habe das Buch im Regal stehen. Als weitere verwandte Erschei3 Die Bezeichnung „Gerundium“ wird hier im Sinne der traditionellen europäischen Grammatik benutzt und bezeichnet nur das, was beispielsweise im klassischen Latein als Gerundium bezeichnet wird. Abweichend hiervon wird der Terminus in der Typologie meist gleichbedeutend mit „Konverb“ (oder Adverbialpartizip) verwendet und umfasst dann eine sehr viel größere Gruppe infiniter Verbformen (vgl. z. B. König/Auwera 1990).
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nung kann auch die Konstruktion nach lassen betrachtet werden, wobei hier allerdings kausative und permissive Lesarten des übergeordneten Verbs sowie aktivische und passivische Interpretation des Infinitivs bei gleicher äußerer Form in Konkurrenz zueinander stehen: Ich lasse das Kind baden. permissiv/Aktiv: ‚Ich erlaube, dass das Kind badet.‘ kausativ/Aktiv: ‚Ich veranlasse, dass das Kind badet.‘ kausativ/Passiv: ‚Ich veranlasse, dass das Kind gebadet wird.‘ Ein weiterer Unterschied zwischen Infinitiv und Gerundium besteht in vielen Sprachen in ihrer unterschiedlichen Fähigkeit, Objekte und Adverbialbestimmungen an sich zu binden. Ein Infinitiv unterscheidet sich normalerweise in dieser Beziehung nicht von einer finiten Verbform, und ganze Sätze lassen sich daher in einer Transformation, die gelegentlich auch als „Infinitivprobe“ zur Bestimmung von Subjekten genutzt wird (vgl. Drosdowski u. a. 1995: 613), in eine Infinitivkonstruktion umwandeln: Ich lese in den Ferien jeden Tag vergnüglich einen neuen Krimi. = in den Ferien jeden Tag vergnüglich einen neuen Krimi lesen Diese Möglichkeit gibt es beim mit Artikel gebrauchten Infinitiv, der im Deutschen so gesehen eher einem Gerundium entspräche, zumindest in der Standardsprache nicht, wo er durch einen so genannten erweiterten Infinitiv mit zu ersetzt werden muss: ?Das in den Ferien jeden Tag vergnüglich einen neuen Krimi Lesen macht Spaß. = In den Ferien jeden Tag vergnüglich einen neuen Krimi zu lesen macht Spaß. In der gesprochenen Sprache verwischt dieser Unterschied jedoch, und Konstruktionen wie Das-jeden-Tag-Essen-kochen-Müssen geht mir auf die Nerven – die aufgrund ihrer mangelnden Integration in den Standard vor orthographische Probleme stellen – sind dort häufig anzutreffen. Die Markierung von Infinitiven kann morphologisch oder syntaktisch, etwa durch eine Infinitivpartikel, erfolgen. Im Deutschen ist beides der Fall: der Infinitiv wird morphologisch durch das Suffix -(e)n oder genauer durch -en (gehen), -ern (stolpern) und -eln (taumeln) markiert, und in bestimmten Fällen tritt zusätzlich noch ein freies grammatisches Morphem, die Infinitivpartikel zu, hinzu. Dabei ist die erstgenannte, historisch ältere Markierung stets vorhanden, während die zweite, die historisch jüngeren Datums ist, nur unter bestimmten Bedingungen hinzukommen muss. Von ihrer sprachgeschichtlichen Herkunft her ist die Infinitivpartikel mit der Präposition zu identisch. Eine solche Entwicklung eines Allativs (bzw. im vorliegenden Fall
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einer Präposition mit allativer Bedeutung) zum Ausdruck der Absicht und von diesem zum Infinitivmarker gilt als typischer Grammatikalisierungspfad (vgl. Heine/Kuteva 2002: 39 f., 247 f.). Der erste Schritt dieser Entwicklung, die Übertragung des allativen Konzepts ‚Bewegung in Richtung auf ein Ziel‘ auf das Konzept ‚Absicht‘, gehört dabei zu den grundlegenden Metaphern, denn die Bewegung eines belebten Agens auf ein Ziel hin ist normalerweise stets auch mit einer Absicht verbunden. Auf semantischer Ebene ist auch der entsprechende Schritt auf dem Wege der Entwicklung zu einem Infinitivmarker leicht zu erklären: Wenn die Absicht im Ausführen einer Handlung besteht und diese mit einem Infinitiv ausgedrückt wird, ist die finale Präposition (bei Heine/Kuteva 2002: 247 „purpose preposition“) naturgemäss sehr gut geeignet, diesen Infinitiv einzuleiten. Der Prozess ist auch im modernen Deutschen noch gut sichtbar, sobald der Infinitiv substantiviert und mit einem Artikel gebraucht wird, man vergleiche: Sie ging zum Lesen in die Bibliothek.4 Dass die Entwicklung der Infinitivpartikel zu diese Wurzel hat, ist unumstritten. Etwas schwieriger ist die Beantwortung der Frage, wie der letzte Schritt, also die Grammatikalisierung der lokalen/finalen Präposition zum Infinitivmarker, zu interpretieren ist und welcher grammatische Status der modernen Infinitivpartikel zukommt. Haspelmath (1989) interpretiert die Infinitivpartikel als ein Mittel zur Verstärkung („reinforcement“) der Markierung des Infinitivs, dessen finaler Gebrauch im modernen Deutschen daher konsequenterweise den zusätzlichen Gebrauch der Präposition/Infinitivkonjunktion um erforderlich macht, also die Kombination um zu erzeugt (vgl. ebd.: 302 f.). Abraham (2004) sieht in der Infinitivpartikel hingegen ein Gegenstück zum partizipialen Morphem ge-, mit dem sie distributionale Gemeinsamkeiten aufweist (so etwa die Inkorporation bei trennbaren Verben, z. B. an-ge-kommen/an-zu-kommen). Dabei geht er davon aus, dass Infinitive trotz des scheinbaren Gegenbeweises durch die äußere Form kein Tempus, sondern nur Aspekt oder Aktionsart ausdrücken können. Formal können Infinitive im Deutschen zwei Tempora sowie beide Genera verbi ausdrücken: Infinitiv Präsens Aktiv: kühlen Infinitiv Präsens Passiv, Vorgangspassiv (werden-Passiv): gekühlt werden Infinitiv Präsens Passiv, Zustandspassiv (sein-Passiv): gekühlt sein
4 Deutlich erkennbar sind hier auch die Parallelen zu den beiden so genannten Supina des Lateinischen (vgl. hierzu im Folgenden sowie Rubenbauer/Hofmann 1995: 200–202).
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Infinitiv Perfekt Aktiv: gekühlt haben Infinitiv Perfekt Passiv, Vorgangspassiv (werden-Passiv): gekühlt worden sein Infinitiv Perfekt Passiv, Zustandspassiv (sein-Passiv): gekühlt gewesen sein Abraham (2004: 116) nimmt darüber hinaus auch einen Infinitiv des Futur II an (Beispiel bei ihm: gelobt haben werden), dessen Existenz jedoch in Frage gestellt werden muss. Während jederzeit Modalverbkonstruktionen mit den oben angeführten Infinitivtypen gebildet werden können (vgl. Das Eis muss gut gekühlt gewesen sein, es ist immer noch nicht ganz geschmolzen oder Das Fleisch kann gar nicht ausreichend gekühlt worden sein, wenn es so schnell verdorben ist usw.) ist es nicht möglich, ein entsprechendes Beispiel für die angenommene Form gelobt haben werden zu finden: *Bis morgen sollte sie ihn gelobt haben werden. Denkbar, wenngleich im Urteil befragter Muttersprachler eher fraglich, sind demgegenüber Konstruktionen mit werden, etwa: Bis morgen wird sie ihn gelobt haben werden. Hier ist jedoch anzunehmen, dass es sich um eine Verdoppelung des Auxiliars handelt, wie sie auch bei Modalverben gelegentlich in der Umgangssprache zu beobachten ist (vgl. ?? Bis morgen sollte sie ihn endlich gelobt haben sollen) und wie sie für Vergangenheitstempora bereits weitgehend grammatikalisiert ist (Sie hat ihn gelobt gehabt; f Doppelperfekt). 2.3.2 Das Supinum Unter einem Supinum versteht man gewöhnlich ein Verbalnomen im Akkusativ (Richtungsakkusativ), das „seit uridg. Zeit bei Verba der Bewegung zur Angabe des Ziels oder Zwecks […] gebraucht wurde“ (Brugmann 1904/1970: 606). Im Lateinischen werden zwei Supina unterschieden, von denen das eine auf den beschriebenen Fall eines Akkusativs (z. B. cubitum ire ‚zur Ruhe gehen‘), das andere vermutlich auf einen finalen Dativ zurückgeht (z. B. horribile dictu; zu den Supina des Lateinischen vgl. Rugenbauer/Hofmann 1995: 200–202). Das Deutsche kennt keine solchen Verbformen. Wenn Bech (1955/1983: 12 et passim) von einem deutschen Supinum spricht, meint er daher etwas anderes: er unterteilt die infiniten Verbformen des Deutschen in 2 „Stufen“ und erklärt: „Die infinita der 1. stufe nennen wir s u p i n a , die der 2. stufe p a r t i z i p i a .“ (ebd.). „Supina“ in diesem Sinne sind in seinem Modell dann der reine Infinitiv, der Infinitiv mit zu und das Partizip Perfekt (bei ihm als „part. prät.“ bezeichnet). Diese Terminologie hat sich jedoch in der deutschen Grammatikschreibung nicht durchgesetzt.
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Partizipien
Anders als beim Imperativ, dessen Status in Einzelfällen umstritten ist, besteht Einigkeit über den Status der Partizipien als infinite Verbformen. Es handelt sich dabei um Formen, die in denselben Funktionen wie Adjektive verwendet werden können und die man daher auch als Verbaladjektive bezeichnen könnte. Die Anzahl der Partizipien schwankt von Sprache zu Sprache stark: so kennt etwa das Russische ein Partizip Präsens Aktiv (z. B. ˇcitajuˇsˇcij ‚lesend‘), zwei Partizipien Passiv (imperfektiv, z. B. ˇcitaemyj; perfektiv mit Kurz- und Langform, z. B. proˇcitan/proˇcitannyj ‚gelesen‘; vgl. Wade 2000: 365–385). Das Lateinische verfügt über ein Partizip Präsens Aktiv (z. B. properans ‚eilend‘), ein Partizip Perfekt Passiv (z. B. apertum ‚geöffnet‘) und ein Partizip Futur Aktiv (z. B. spectaturus, etwa: ‚künftig sehend‘; vgl. Rubenbauer/Hofmann1995: 208 f.). Das Deutsche hat demgegenüber nur zwei Partizipien: das auch als „Partizip 1“ bezeichnete Partizip Präsens Aktiv und das als „Partizip 2“ bezeichnete Partizip Perfekt, das sowohl Aktiv als auch Passiv ausdrücken kann. Sprachübergreifend ist den Partizipien gemeinsam, dass sie keine absoluten, sondern nur relative Tempora ausdrücken: ein Partizip Präsens drückt Gleichzeitigkeit aus, ein Partizip Perfekt oder Präteritum Vorzeitigkeit, ein Futurpartizip Nachzeitigkeit. Die absolute zeitliche Verortung des Geschehens erfolgt durch das finite Verb im Satz. Partizipien können im Laufe der Sprachgeschichte zu Teilen analytischer Verbformen (Tempus und Genus) grammatikalisiert werden. Von der Möglichkeit, Partizipien zur Tempusbildung zu verwenden, haben viele indoeuropäische Sprachen beim Partizip Perfekt Gebrauch gemacht, wobei sich hier zwei Entwicklungswege unterscheiden lassen: einmal erfolgt die Bildung unter Verwendung des Verbs ‚sein‘, das andere Mal mit ‚haben‘. ‚Sein‘ wird mit einem aktiven Vergangenheitspartizip verknüpft, z. B. deutsch Sie ist angekommen (eigentlich: ‚Sie ist eine angekommene‘), ebenso: französisch Elle est arrivée, serbisch Ona je doˇsla usw. Diese Art der Perfektbildung ist sehr weit verbreitet. Bei der Verwendung von ‚haben‘, die seltener auftritt, ist der Entstehungsweg ein anderer: Diese in den indoeuropäischen Sprachen häufige Form entstand aus einer transitiven Konstruktion des Tpys ‚Ich habe den Brief [als einen] geschriebenen‘.5 Dass es sich beim Partizip ursprünglich um ein Attribut zum Objekt handelte, zeigt das moderne Französische noch bei
5 Zu diesem Grammatikalisierungsprozess, der über eine resultative und/oder perfektive Bedeutung zum Tempus Perfekt (und von dort möglicherweise weiter zu einem allgemeinen Vergangenheitstempus) führt, vgl. auch Heine/Kuteva (2002: 245) und die dort angegebene Literatur.
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vorangestelltem pronominalem Objekt, da das Partizip in diesem Fall nach wie vor in Genus und Numerus kongruiert: (les lettres) qu’elle a écrites. Obgleich sich das Deutsche in Bezug auf seine Partizipien nicht von seinen indoeuropäischen Nachbarsprachen unterscheidet, in denen ebenfalls nur Perfektpartizipien zur Bildung von analytischen Tempusformen grammatikalisiert wurden,6 findet sich in einigen Grammatiken des Deutschen die Auffassung, dass es sich bei den Partizipien des Präsens nicht um „morphologische Formen von Elementen der Wortklasse Verb“, sondern um „durch Wortbildung aus Verben entstandene Adjektive“ handle, da sie „nie als Teile periphrastischer Verbformen verwendet“ werden (Zifonun u. a. 1997: 2205 f.; vgl. ähnlich auch Eisenberg 2006: 212). Nun verwendet aber schon das klassische Latein sein Partizip Präsens nur in Ausnahmefällen – nämlich zur Bezeichnung eines dauerhaften Zustandes und damit ganz ähnlich wie das Deutsche (vgl. Er ist leidend vs. *Er ist an Gicht leidend) – prädikativ zusammen mit der Kopula ‚sein‘ (vgl. Rubenbauer/Hofmann 1995: 211 f.) und setzt es somit ebenfalls nicht zur Bildung periphrastischer Verbformen ein. Daraus folgt, dass das Partizip grundsätzlich und nicht nur für das Deutsche neu bestimmt werden müsste. Hinzu kommt, dass die Regel „ist nicht Teil einer periphrastischen Verbform“ in vielen Sprachen nicht nur für das Partizip Präsens, sondern auch für die anderen Partizipien sowie für die gesamte Klasse der Konverben gilt (vgl. hierzu beispielsweise für das Türkische Lewis 2000: 160–192). All diese Formen müssten auf der Grundlage einer solchen Definition dann ebenfalls zur Wortbildung gerechnet werden. Offensichtlich führen eher typologisch-sprachvergleichend orientierte und rein innerhalb des Deutschen operierende Ansätze hier zu sehr unterschiedlichen Beurteilungen sprachlicher Phänomene. Eine Besonderheit des Deutschen, die es nur mit einigen wenigen westgermanischen Sprachen teilt, ist der so genannte Ersatzinfinitiv oder Infinitivus pro participio. Hierbei übernimmt unter bestimmten Bedingungen – im Deutschen beispielsweise beim Vorliegen einer Modalverbkonstruktion im Perfekt oder Plusquamperfekt – der Infinitiv die Funktion des Partizips Perfekt, das vom Paradigma her an dieser Stelle zu erwarten wäre, z. B.: Sie hat leider nicht kommen können (statt: *gekonnt). Feret (2005: 36) interpretiert diesen Infinitiv aufgrund seiner Funktion daher nicht als Infinitiv, son-
6 Der progressive Aspekt des Englischen hat sich nicht aus dem Partizip, sondern aus einer lokativen Konstruktion des Typs Sie ist am Arbeiten, also einem Gerundium, entwickelt: she is on working > she is a-working > she is working (vgl. Lehmann 1995: 30, Baugh/Cable 2002: 290 f.).
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dern als Form des Partizips. Zur neuesten Diskussion dieses Konstruktionstyps im Rahmen der Optimalitätstheorie vgl. Schmid (2005). Das Deutsche kennt auch ein Gerundivum, also eine von ihrer Bedeutung her passivische infinite Verbform mit Zukunftsbezug, die eine modale Komponente ‚müssen‘ oder ‚können‘ trägt. Von der Form her können diese beiden Bedeutungsvarianten nicht unterschieden werden, man vergleiche etwa: Die neuen Vokabeln sind bis morgen zu lernen (‚müssen‘) vs. Die neuen Vokabeln sind einfach zu lernen (‚können‘). Gelegentlich wird die Form auch als Partizip Futur (vgl. Feret 2005: 35) bezeichnet. In vielen Grammatiken des Deutschen wird das Gerundivum nicht als eigene infinite Verbform aufgeführt, sondern als Form des Partizips Präsens aufgefasst und zusammen mit diesem behandelt (so etwa bei Zifonun u. a. 1997: 2206). Auch wenn das Gerundivum wie etwa in der Duden-Grammatik (2005: 436 f.) gesondert genannt wird, findet sich der Hinweis, dass es nur in attributiver Funktion auftritt; seine prädikative Variante, die in den oben genannten Beispielen auftritt, wird nicht berücksichtigt, da sie mit dem Infinitiv gleichlautend ist. Semantisch unterscheidet sich das attributive Gerundivum sehr deutlich vom formal ähnlichen Partizip Präsens: in Ausbildende und Auszubildende sind einmal ein Agens, einmal ein Patiens zum Verb ausbilden kodiert, wobei im zweiten Fall noch eine modale Bedeutungskomponente hinzukommt: ‚die, die ausbilden‘ vs. ‚die, die ausgebildet werden sollen‘. Auch wenn der Unterschied zwischen den beiden Formen sich auf das zu reduzieren lässt, ist offensichtlich, dass hier völlig verschiedene syntaktische Rollen kodiert werden. Zugleich erklärt sich damit auch die Tatsache, dass sich das Gerundivum nur von transitiven Verben bilden lässt: die Kodierung des Patiens setzt wie auch beim so genannten persönlichen Passiv eben ein solches voraus. Das prädikative Gerundium ist formal mit dem Infinitiv mit zu identisch, der mit der Kopula sein verbunden wird. In vielen Grammatiken wird die Form als Passivperiphrase oder „Passivalternative“ (Duden 2005: 556) aus sein und Infinitiv mit zu abgehandelt. Ob und wenn ja welcher Zusammenhang zwischen dieser Konstruktion und der attributiven Form besteht, wird dabei nicht behandelt. Aus sprachgeschichtlicher Sicht ist aber der prädikative Infinitiv die eigentliche Wurzel des Gerundivum. Brugmann (1904/1970: 605) beschreibt die Entwicklung dieser Konstruktion in verschiedenen indoeuropäischen Sprachen als prädikative Verbindung des Infinitivs mit einem Subjekt, wodurch „eine Art von indeklinablem Adj. (Gerundivum) entstand […]. Solche Infinitive wurden dann zumteil in deklinable Adjektive verwandelt“. Das „indeklinable Adjektiv“ des prädika-
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Infinite Verbformen
tiven Infinitivs ist im Deutschen bis heute unverändert erhalten und kann daher mit gutem Grund ebenfalls als Gerundivum betrachtet werden.7 2.5
Konverben
Konverben sind Verbformen, die als Prädikate nicht finiter Adverbialsätze fungieren. Aufgrund dieser Funktion werden sie auch als Adverbialpartizipien bezeichnet. In den Grammatiken romanischer Sprachen findet sich ferner der Ausdruck „Gerundiv“ (z. B. gérondif für das Französische bei Grevisse 2008: 1152 f.), in denen anderer Sprachen auch „Gerund“ (vgl. z. B. Lewis 2000: 175 für das Türkische); die Terminologie ist hier recht uneinheitlich (vgl. auch Haspelmath 1999: 111). Das Deutsche kennt solche Verbformen nicht, sondern verwendet statt dessen normalerweise finite Nebensätze. Eher selten können im Deutschen Partizipialkonstruktionen in derselben Funktion verwendet werden, etwa Heftig niesend suchte sie nach einem Taschentuch. 2.6
Schlussbemerkung
Wie sich zeigt, umfassen die infiniten Verbformen je nach gewähltem Zugang eine sehr unterschiedliche Menge von Formen. Während von manchen Grammatiken des Deutschen der traditionell als finit betrachtete Imperativ in diese Klasse mit aufgenommen wird, schließen andere die traditionell schon fast als klassisches Beispiel für eine infinite Verbform betrachteten Partizipien des Präsens aus der Klasse aus und ordnen sie der Wortbildung zu. Beim Gerundivum wiederum besteht Uneinigkeit darüber, ob es als eigenständige Form oder als Nebenform des Partizips Präsens zu bewerten ist, und die Inflektive schließlich finden bisher generell kaum Erwähnung. Auch die Frage der grundsätzlichen Definition dessen, was eine infinite Verbform ist, wird in der Literatur nicht einheitlich beantwortet. Einmütigkeit besteht nur im Hinblick darauf, dass es sich beim Infinitiv sowie beim Partizip Perfekt um eine solche infinite Verbform handelt, auch wenn die Beschreibungen dieser beiden Formen im Einzelnen dann wieder sehr uneinheitlich sind. Insbesondere die Frage nach Tempus/Aspekt und Genus Verbi dieser Formen wird dabei unterschiedlich behandelt. Der vorliegende Artikel geht von einem Ansatz aus, der Infinitheit als skalares Phänomen begreift. Das prototypische Finitum wird dabei als Hauptverb eines unabhängigen Satzes definiert, das im Hinblick auf Tempus/Apekt, Modus, Genus Verbi und Person markiert ist. Am anderen Ende 7 Vgl. auch (Feret 2005: 35–27), wo das Gerundivum allerdings als „Partizip Futur“ bezeichnet wird.
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der Skala steht die prototypische infinite Verbform an der Grenze zum Nomen und zeigt nominale Markierungen wie Kasus, Genus und Numerus. Imperative können in diesem Sinne zwar als weniger prototytisch und somit im Vergleich zu anderen Verbformen als weniger finit angesehen werden, nicht jedoch als infinit. Umgekehrt wird das deutsche Partizip Präsens, das sich im Sprachvergleich nicht anders verhält als die Partizipien Präsens Aktiv anderer Sprachen auch, als infinite Verbformen dem verbalen Paradigma zugeordnet. Literatur Abraham, Werner (2004): „The grammaticalization of the infinitival preposition: toward a theory of ‚grammaticalizing reanalysis‘“. Journal of Comparative Germanic linguistics 7: 111–170. Banfi, Emanuele (1990): „The infinitive in the south-east European languages“. In: Bechert, Johannes/Bernini, Giuliano/Buridant, Claude (Hrsg.): Towards a Typology of European Languages. Berlin/New York, Mouton de Gruyter: 165–183. (= Empirical approaches to language typology 8). Baugh, Albert C./Cable, Thomas (2003): A history of the English language. 5. ed., reprinted. London u. a.: Routledge. Bech, Gunnar (1955/1983): Studien über das deutsche Verbum infinitum. København 1955: Munksgaard. 2., unveränderte Auflage mit einem Vorwort von Cathrine Fabricius-Hansen. Tübingen 1983: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 139). Bisang, Walter (2001): „Finite vs. non finite languages“. In: Haspelmath, Martin u.a. (Hrsg.): Language Typology and Language Universals/Sprachtypologie und sprachliche Universalien/La typologie des languages et les universaux linguistiques. An International Handbook/Ein internationales Handbuch/Manual international. Volume 2/2. Halbband/Tome 2. Berlin/New York, de Gruyter: 1400–1413. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 20.2). Brugmann, Karl (1904/1970): Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Auf Grund des fünfbändigen ‚Grundrisses der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen von K. Brugmann und B. Delbrück‘ verfasst. Strassburg 1904: Trübner. Photomechanischer Nachdruck. Berlin 1970: de Gruyter. Bußmann, Hadumod (Hrsg.) (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kröner. Comrie, Bernard (2001): Language Universals and Linguistic Typology: Syntax and Morphology. 2. edition, reprinted. Chicago: University of Chicago Press. Dimroth, Christine/Lasser, Ingeborg (2002): „Finite Options: how L1 and L2 learners cope with the acquisition of finiteness“. Linguistics 40: 647–651. Drosdowski, Günther u. a. (Hrsg.) (1995): Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 5., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u.a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Dudenredaktion (Hrsg.) (2005): Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 1: Das Wort. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart/Weimer: Metzler. Engel, Urlich (2004): Deutsche Grammatik. Neubearbeitung. München: iudicium. Feret, Andrzej S. (2005): Das Partizip im Deutschen und im Polnischen. Frankfurt am Main u. a.: Lang. (= Danziger Beiträge zur Germanistik 18). Fries, Norbert (2001): „Wie finit ist der Imperativ und wie infinit darf er sein? Oder auch: Wie infinit ist der Imperativ und wie finit muss er sein?“ Sprachtheorie und germanistische Linguistik 10: 115–145.
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Elke Hentschel
Infinitiv
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u Infinitiv (engl.: infinitive) Unter einem Infinitiv versteht man ein Verbalnomen mit deutlich substantivischem Charakter, das in vielen Sprachen auch als Nennform des Verbs verwendet werden kann. Im Unterschied zum Gerundium als weiterer substantivischer Verbform beinhalten Infinitive stets ein implizites Subjekt, auch wenn dieses normalerweise nicht ausgedrückt werden kann und nur in sog. AcI-Konstruktionen wie Sie sah ihn kommen sichtbar wird, und bewahren so relativ gesehen noch eine größere Nähe zum Verb. → Infinite Verbformen u Instrumental (engl.: instrumental) Dient ein Kasus zur Angabe des Mittels, mit dem eine Handlung vollzogen wird, so nennt man ihn Instrumental. Der Instrumental war einer der Kasus des ursprünglichen indoeuropäischen Kasussystems und ist in einigen slawischen Sprachen noch erhalten, findet sich aber auch in anderen Sprachen. Der indoeuropäische Instrumental hatte neben der Funktion, das Mittel auszudrücken, auch die Aufgabe übernommen, Begleitpersonen und -umstände zu bezeichnen. Diese Funktion wird in anderen Sprachen, so etwa im Mongolischen, durch einen eigenen Kasus ausgedrückt (den sog. Komitativ). → Kasus u intransitiv (engl.: intransitive) Als intransitiv werden Verben bezeichnet, die außer dem Subjekt keine weiteren Argumente bei sich haben können (also keine Objekte an sich binden). Darüber hinaus kann der Begriff aber insbesondere in der traditionellen Grammatik auch solche Verben bezeichnen, die zwar ein Objekt bei sich haben, aber kein persönliches Passiv bilden können, da das Objekt nicht im Akkusativ steht. Dies ist z. B. bei helfen der Fall, das ein Dativobjekt hat und folglich nur ein unpersönliches Passiv zulässt: Dort wurde ihm geholfen. → Genus Verbi u irreal(is) Ein Modus zum Ausdruck einer Möglichkeit, die nicht eingetreten ist, wird als Irrealis bezeichnet. Im Deutschen übernimmt der Konjunktiv Plusquamperfekt diese Funktion: Wenn du mir etwas gesagt hättest, hätte ich dir das Buch gegeben (‚du hast mir nichts gesagt‘; ‚ich habe dir das Buch nicht gegeben‘). → Konjunktiv
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iudicantis: Dativus iudicantis
u iudicantis: Dativus iudicantis (lat.: ‚Dativ des Urteilenden‘) Der Dativus iudicantis ist der Dativ der Person, nach deren Urteil die im Satz gemachte Aussage gilt. Da dieser Dativ im modernen Deutschen mehrheitlich bei Adjektiven mit zu oder genug steht, gehen die meisten Grammatiken des Deutschen davon aus, dass er durch diese Kombination regiert wird. Dies führt dazu, dass mögliche andere Fälle wie Du bist mir vielleicht ein Schlitzohr!, die sich durchaus als iudicantis verstehen ließen (‚aus meiner Sicht/nach meinem Urteil bist du ein Schlitzohr‘), im Deutschen meist nicht als iudicantis, sondern als ethicus gedeutet werden. → Dativ
Infinitiv
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Kasus
K u Kasus 1
Definition und Funktionen
In jeder Sprache muss die semantisch-syntaktische Funktion, die ein Wort in einem Satz hat, in irgendeiner Weise kenntlich gemacht werden. Das einfachste Mittel zur Markierung dieser Funktion ist die Festlegung der Reihenfolge, in der die einzelnen Rollen auftreten, also beispielsweise einer Regel wie: „Die handelnde Person/das Agens steht vor dem Handlungsziel/Patiens“. Es ist diese Regel, die zu den unterschiedlichen Bedeutungen der beiden Sätze Mann beißt Hund und Hund beißt Mann führt. Ein anderes Mittel besteht in der Verwendung grammatischer Morpheme, die sowohl frei als auch gebunden sein können. Markierungsarten dieses Typs werden durch die folgenden Beispielsätze illustriert: engl. She gave the apple to the elephant. franz. Elle a donné la pomme à l’éléphant. dt. Sie hat den Apfel dem Elefanten gegeben. serb. Dala je jabuku slonu. [‚Sie hat den Apfel dem Elefanten gegeben.‘] Während im Englischen und Französischen neben der Wortstellung freie Morpheme Verwendung finden, nämlich die zur Kennzeichnung des Rezipienten verwendeten Partikeln to bzw. à, kommen im Deutschen und Serbischen gebundene Morpheme zu Einsatz. Die Definition des Begriffes „Kasus“ setzt nun eine Entscheidung darüber voraus, ob beide Arten von Markierungen der Kategorie Kasus zugerechnet werden sollen. Setzt ein Kasus das Vorliegen eines gebundenen Morphems voraus oder können auch analytische Markierungen wie die mit à oder to als Kasusmarkierungen angesehen werden? Diese Frage wird mehrheitlich zugunsten der synthetischen Markierung entschieden (vgl. Blake 2001: 1). Allerdings gibt es keine objektiven Gründe für eine solche Entscheidung, denn ein funktionaler Unterschied zwischen den beiden Markierungstypen lässt sich nicht erkennen. Darüber hinaus entwickeln sich synthetische Kasusmarkierungen häufig aus analytischen (vgl. z. B. Lehmann 1995: 79–87), so dass man hier notwendigerweise von der Existenz von Zwischenformen ausgehen muss, die eine klare Grenzziehung ohnehin unmöglich machen. Eine große Zahl von Sprachen benutzt ferner zwar bei Substantiven eine analytische Kasusmarkie-
Kasus
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rung, markiert jedoch Pronomina synthetisch, so etwa franz. Elle a raconté son histoire à son amie gegenüber Elle le lui a raconté, wo sowohl der Akkusativ le als auch der Dativ lui morphologisch gekennzeichnet sind. Diese Art von Asymmetrie ist in den Sprachen der Welt weit verbreitet (vgl. hierzu ausführlich Iggesen 2005). Im Folgenden wird die traditionelle Sichtweise von Kasus als einer morphologischen Kategorie beibehalten. Davon zu unterscheiden sind dabei die Kasusfunktionen („case relations“; Blake 2004: 1074), also die auszudrückenden semantischen und syntaktischen Beziehungen. Sie liegen unabhängig von der Form des Ausdrucks vor, den die jeweilige Sprache dafür wählt. Aus der Perspektive der semantischen und syntaktischen Funktionen, die durch sie ausgedrückt werden, lassen sich Kasus in zwei verschiedene Grundtypen unterteilen: in die Kasus des syntaktischen Kernbereichs (engl. core cases) oder „direct cases“ (Blake 2004: 1081) und in die indirekten Kasus, die auch als oblique bezeichnet werden.1 Dabei sind die Kasus des Kernbereichs diejenigen, mit denen die zentralen syntaktischen Rollen oder Funktionen markiert werden. Da diese Rollen in den verschiedenen Sprachen der Welt sehr unterschiedliche Kasus zugewiesen bekommen können, muss man zunächst mit sprachübergreifenden Definitionen festlegen, um welche Funktionen es sich genau handelt. Erst auf dieser Grundlage können dann die Kasus definiert werden, die zum Ausdruck der jeweiligen Funktion zum Einsatz kommen. Das ist zugleich eine notwendige Voraussetzung dafür, um auch in unterschiedlichen und nicht miteinander verwandten Sprachen gleichermaßen vom Vorliegen eines Kasus sprechen zu können – also um beispielsweise sagen zu können, dass es sowohl im Türkischen als auch im Deutschen einen Akkusativ gibt. Eine solche Aussage wäre völlig sinnlos, wenn sie nicht auf einer für beide Sprachen identischen Definition des Kasus beruhen würde. Als Grundlage für die Definition der Kernkasus werden die folgenden syntaktischen Basisfunktionen unterschieden: Das alleinige Argument eines intransitiven Verbs, wie es etwa in Der Bär schlummerte friedlich vorliegt, wird als S bezeichnet – eine in Anlehnung an den Begriff „Subjekt“ gewählte Bezeichnung, da hier ja keine anderen Teile des Satzes für die Subjektrolle in Frage kommen. Bei einem transitiven Verb liegen demgegenüber zwei Argumente vor, von denen im prototypischen Fall das eine bezeichnet, wer die
1 Der Terminus „obliquer Kasus“ ist jedoch mehrdeutig, da er traditionell in Kontrast zum casus rectus, dem Nominativ, alle anderen Kasus einer Sprache bezeichnet; siehe hierzu auch im Folgenden.
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Kasus
Handlung ausführt, während das andere das Ziel dieser Handlung markiert: Der Elefant fraß den Apfel. In Anlehnung an die Begriffe Agens und Patiens, mit denen diese beiden Rollen gewöhnlich bezeichnet werden, haben sich für diese beiden Kategorien die Bezeichnungen A und P eingebürgert (vgl. hierzu Comrie 2001: 111; Croft 2006: 143). Bei einem prototypischen Satz mit drei Argumenten schließlich, wie er in Ich gebe dem Elefanten einen Apfel vorliegt, wird der übergebene Gegenstand, im Beispielsatz also: einen Apfel, mit T (für engl. theme) und der Rezipient, im Beispielsatz: dem Elefanten, mit G (für engl. goal) bezeichnet. Für das Deutsche lässt sich nun sagen, dass es einen gemeinsamen Kasus für S und A verwendet, während ein anderer für P (und auch für T) steht. Ein Kasus, der S und A ausdrückt, wird sprachübergreifend als Nominativ bezeichnet; ein für P vorgesehener Kasus hingegen als Akkusativ. Damit ist das Deutsche typologisch gesehen eine Nominativ- bzw. Akkusativsprache.2 Bei der Kombination zweier Objekte T und G wählt das Deutsche denselben Kasus für T wie für P, während es für G einen eigenen Kasus, den Dativ, vorsieht. Man spricht in solchen Fällen von einer Unterscheidung in direkte (T/P) und indirekte (G) Objekte (vgl. Croft 2006: 152).3 Damit sind bereits drei der vier im modernen Deutschen erhaltenen Kasus definiert. Der vierte, der Genitiv (auch: Genetiv) hat eine andere Art von Primärfunktion: er ist adnominal, kennzeichnet also Relationen zwischen Substantiven, und markiert typischerweise den Possessor (vgl. z. B. Blake 2001: 149). Darüber hinaus kann er jedoch auch noch weitere Funktionen übernehmen, und auch sein Gebrauch als Objekt eines Verbs ist nicht ausgeschlossen, was sich ja in vielen Sprachen, so auch im Deutschen, beobachten lässt (z. B. Er wurde des dreifachen Mordes beschuldigt). Neben den bisher genannten Kernkasus gibt es noch eine große Zahl weiterer Kasus, die sich in verschiedene Gruppen unterteilen lassen. Außerhalb des Kernbereichs sind in vielen Sprachen lokale Kasus zu beobachten, die eine räumliche und oft auch zeitliche Verankerung des Geschehens ermöglichen. Kasus, die allgemein der Angabe des Woher, des Wo und des Wohin dienen, werden meist als Ablativ (woher?), Lokativ (wo?) und Direktiv (wohin?) bezeichnet. In Kombination mit den drei grundlegenden räumlichen
2 Dagegen wird eine Sprache, deren Kasussystem einerseits S und P zu einem Kasus verbindet (dem Absolutiv) und davon andererseits einen Kasus für A unterscheidet (den Ergativ), als Ergativsprache bezeichnet. Auch andere Verteilungen sind möglich (vgl. z. B. Iggesen 2005: 90). 3 Im anderen Fall, also bei einer Kombination von G und P, spricht man von einem primären (G/P) und einem sekundären (T) Objekt (vgl.: ebd).
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Kasus
Relationstypen ‚in‘, ‚auf‘ und ‚neben‘ können sich daraus aber auch insgesamt neun Kasus ergeben: Richtung/Relation
‚in‘
‚auf‘
‚neben‘
woher?
Elativ
Delativ
Ablativ
wo?
Inessiv
Superessiv
Adessiv
wohin?
Illativ
Sublativ
Allativ
Ein lokales Kasussystem dieser Art weist beispielsweise das Ungarische auf (vgl. Rounds 2001: 98–102). Es fällt auf, dass der Begriff „Ablativ“ hier in einer anderen Bedeutung erscheint: Er bezeichnet nun nicht mehr nur den allgemeinen Kasus für die Angabe der Herkunft, sondern die Kombination von ‚Herkunft‘ und einer räumlichen Relation, die mit ‚neben‘ oder ‚bei‘ bezeichnet werden kann. Eine ähnliche Doppelfunktion der Bezeichnung findet sich gelegentlich auch beim Allativ: Dieser Begriff wird oft statt des Terminus „Direktiv“ für einen allgemeinen Richtungskasus verwendet und meint dann nicht mehr nur den präziseren Fall des ‚bis zu etwas hin‘, für den er in einem System wie dem oben dargestellten steht. Außer dem Ort und der Richtung eines Geschehens können auch weitere Umstände und Handlungsmerkmale durch Kasus ausgedrückt werden. So gibt es etwa einen Kasus für ‚Begleitung‘ (Komitativ), einen für ‚Mittel‘ (Instrumental) und andere mehr (vgl. z. B. die Aufzählung bei Iggesen 2005: 96–99). Als zusätzlicher adnominaler Kasus findet sich neben dem Genitiv häufig auch ein Partitiv, mit dem ein Teil einer größeren Einheit bezeichnet wird (vgl. Blake 2001: 151). Im Deutschen wird diese Funktion durch den Genitiv mit übernommen (z. B. die Hälfte des Geldes). Ein weiter Kasus, der bisher nicht erwähnt wurde, ist der Vokativ. Dieser Kasus fällt insofern aus dem Rahmen, als er keinerlei syntaktische Relationen herstellt; er steht vielmehr als Anredeform völlig außerhalb des syntaktischen Gefüges. Aus diesem Grund wird er nicht von allen Autoren als Kasus angesehen. Hinzu kommt, dass sich spezielle Anredeformen auch in Sprachen finden, die sonst keine Kasus kennen (vgl. Blake 2001: 8). Insofern ist der Status des Vokativs als Kasus in der Tat problematisch. 2
Funktionen der Kasus des Deutschen
2.1
Der Zusammenfall der indoeuropäischen Kasus
Die indoeuropäischen Sprachen, zu denen das Deutsche ja gehört, verfügten je nach Auffassung ursprünglich über acht oder sogar neun Kasus. Außer den vier im Deutschen erhaltenen waren dies: Instrumental, Ablativ, Lokativ, Di-
195
Kasus
rektiv (umstritten)4 und Vokativ. In allen modernen indoeuropäischen Sprachen, die noch Kasusmarkierungen verwenden, wird die Angabe der Richtung durch den Akkusativ wahrgenommen; dies ist auch im Deutschen der Fall. Selbst wenn man also annehmen will, dass die Sprachfamilie ursprünglich über einen Direktiv verfügt hat, muss man davon ausgehen, dass er schon sehr früh und umfassend abgebaut worden ist. Alle anderen Kasus sind jedoch in einzelnen Sprachen in unterschiedlichem Umfang und unterschiedlich lange erhalten geblieben. So finden sich in vielen modernen slawischen Sprachen noch Lokativ, Instrumental und teilweise auch der Vokativ. Der Instrumental war auch im Althochdeutschen zunächst noch teilweise erhalten (vgl. Braune/Reiffenstein 2004: 182 f.), wurde dann jedoch bereits auf dieser Stufe der Sprachentwicklung weitgehend abgebaut und ist in der Folge gänzlich verschwunden. Der Ablativ war in den indoeuropäischen Sprachen bereits in früherer Zeit formal mit dem Genitiv zusammengefallen (vgl. Brugmann 1904/1970: 382 f.). Der Ablativ des Lateinischen ist demgegenüber eine Mischform, die Funktionen des Lokativs und des Instrumentals mit übernommen hat. Im modernen Deutschen werden Ablativ, Lokativ und Instrumental mehrheitlich durch den Dativ ausgedrückt, wobei allerdings nur die Kombination Dativ plus Präposition die Funktion dieser Kasus übernehmen kann, niemals der reine Dativ: aus der Dose, auf dem Tisch, mit dem Messer usw. Der historisch ältere Genitiv zum Ausdruck von ablativischen Funktionen findet sich demgegenüber nur noch selten, so etwa bei Verben, die Abwesenheit oder Wegnehmen ausdrücken: einer Sache ermangeln, jemanden eines Gegenstandes berauben usw. (siehe hierzu auch im Folgenden). Während die Standardsprache noch vier Kasus aufweist, ist der Kasusabbau in den Dialekten teilweise schon sehr viel weiter fortgeschritten. Dort lässt sich nicht nur ein bereits weitgehend vollzogener Verlust des Genitivs beobachten, sondern auch ein Zusammenfall von Nominativ und Akkusativ (in den alemannischen Dialekten; vgl. z. B. Dal Negro 2004: 102) bzw. von Akkusativ und Dativ (im Niederdeutschen und im Berlinischen; vgl. z. B. Stevenson 1997: 74). Daneben treten in den oberdeutschen Dialekten präpositionale Ersatzkonstruktionen für den Dativ in Erscheinung (vgl. Seiler 2003), so dass hier ein Wechsel von synthetischer zu analytischer Kasusmarkierung erfolgt.
4 Ein Direktiv ist für das Hethitische belegt, wo er allerdings nur im Singular und bei Unbelebtem auftreten konnte (vgl. hierzu sowie zum gesamten hethitischen Nominalsystem Lühr 2002). Zu den möglichen Entwicklungssystemen der indoeuropäischen Kasus vergleiche man auch Beck/Steuer/Tempe (1998: 103).
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Kasus
2.2
Funktionen der modernen Kasus
2.2.1 Nominativ In der Tradition der europäischen Sprachwissenschaft wird der Nominativ auch als casus rectus (lat.: ‚gerader/aufrechter Kasus‘) bezeichnet im Unterschied zu den casus obliqui (lat.: ‚schräge/querliegende Kasus‘), zu denen mit Ausnahme des Vokativs alle anderen Kasus gehören (vgl. z. B. Grimm 1898/1989a: 1). Gemäß der übereinzelsprachlich gültigen Definition ist der Nominativ auch im Deutschen der Kasus des Subjekts, also die Form, mit der sowohl das Argument eines intransitiven Verbs als auch das Agens bei einem transitiven Verb ausgedrückt wird: Der Bär schläft (intransitives Verb); Der Bär frisst den Fisch (transitives Verb). Dies ist zugleich seine Grundfunktion. Darüber hinaus hat der Nominativ aber noch weitere Aufgaben übernommen. So findet er als Kasus des Prädikativums Verwendung, das im Deutschen nach Kopulaverben wie sein, werden, bleiben steht: Das war bestimmt ein Bär. In dieser Funktion befindet er sich in jüngerer Zeit im Süden des Sprachgebiets zunehmend in Konkurrenz zum Akkusativ, wenn es sich beim Prädikativum um ein Personalpronomen handelt: Es finden sich immer häufiger Formen wie Wenn ich dich wäre. Diese Verdrängung des Nominativs in prädikativer Funktion, die man auch in anderen Sprachen beobachten kann (vgl. hierzu auch Draye 2009), geht vermutlich darauf zurück, dass die Verwendung von zwei Personalpronomina im selben Satz es erschwert, Subjekt und Prädikativum zu unterscheiden. Steht nur ein Personalpronomen in so einer Konstruktion, so übernimmt es automatisch die Subjektfunktion und bestimmt unabhängig von der Satzstellung die Kongruenz des Verbs (z. B. Der Gewinner sind Sie/Sie sind der Gewinner). Bei zwei Pronomina entsteht eine Konkurrenzsituation, und diese scheint die Markierung des Prädikativums als „Nicht-Subjekt“ durch Verwendung eines obliquen Kasus zu begünstigen. Weitere Funktionen des Nominativs sind die Benennung von Gegenständen und Personen sowie der Ersatz für den Vokativ. Die Nennfunktion des Nominativs zeigt sich durchgehend in den indoeuropäischen Sprachen: „Der Nom. ist allgemeinidg. die Form, die gebraucht wird, wenn ein Nominalbegriff nur genannt wird, z. B. in Überschriften, bei Aufzählung in Inventarien.“ (Brugmann 1904/1970: 444). Im modernen Deutschen ist diese Funktion voll erhalten. Neben den genannten Beispielen tritt sie auch beim Schimpfen auf, wenn dieses beispielsweise in der Benennung von Negativem oder von Tabuwörtern besteht: So ein Unsinn! Verdammter Mist! Hier zeigt sich bereits eine gewisse syntaktische Selbstständigkeit, wie sie auch für den Vokativ typisch ist, den der Nominativ ersetzt: Junger Mann! Sie Witzbold! usw.
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Eine dem Äußeren nach nominativische, da endungslose Form des Substantivs tritt außerdem als Ersatz für partitive Genitive auf, die nach Maßangaben wie Glas, Tasse usw. stehen: ein Glas Wein, eine Tasse Tee, eine Schüssel Salat. Diese Funktion wird in den Grammatiken des Deutschen oft als Apposition bzw. als „partitive Apposition“ (so etwa Duden 2005: 990) gewertet. Allerdings verschwindet dieser scheinbare Nominativ wieder, sobald ein Adjektiv hinzutritt und die Konstruktion in ein größeres Syntagma eingebettet wird. Dann wird entweder parallel flektiert (Ich hätte gerne eine Tasse heißen Tee) oder aber es tritt, insbesondere im Plural, wieder der Genitiv ein: mit einem Stapel alter Zeitungen (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel 1993). 2.2.2 Akkusativ Die Markierung des Patiens (P), also des von der Handlung betroffenen Objektes eines transitiven Verbs wie in Das Krokodil fraß den Krokodiljäger ist zusammen mit der Markierung des direkten Objekts (T) bei einem Verb mit drei Argumenten wie in Sie gab dem Pinguin einen Fisch die Basisfunktion des Akkusativs im Deutschen. Neben dieser zentralen syntaktischen Aufgabe kann der Kasus jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Funktionen wahrnehmen. So kann er bei einigen Verben doppelt auftreten und nicht nur eines der beiden Objekte eines dreiwertigen Verbs, sondern gleich beide bezeichnen; dies ist bei den Verben abfragen, kosten, lehren und unterrichten der Fall. Diese Kasuskombination, die möglicherweise auf einem kausativen Konstruktionstyp basiert, wie er etwa bei lehren ‚lernen machen‘ vorliegt, ist so ungewöhnlich, dass auch Muttersprachler ihn häufig durch die zwar normabweichende, aber offensichtlich „natürlichere“ Kombination von Dativ und Akkusativ ersetzen (Sie lehrt mir Statistik statt Sie lehrt mich Statistik). Ein anderer Fall von doppeltem Akkusativ liegt hingegen bei den Verben heißen, nennen und schimpfen vor. Hier handelt es sich um eine Gleichsetzung der beiden mit dem Akkusativ bezeichneten Teile des Satzes wie in Sie hieß/nannte/schimpfte ihn einen Angeber. Der zweite der beiden Akkusative wird dabei auch als Gleichsetzungsakkusativ oder prädikativer Akkusativ bezeichnet. Auch in Abhängigkeit von prädikativen Adjektiven wie leid, satt, schuldig usw. kann der Akkusativ auftreten (dann oftmals als Objekt 2. Grades bezeichnet): Ich bin dir noch eine Erklärung schuldig. Da der Akkusativ das Ziel einer Handlung angibt, also in gewisser Weise den Ort, auf den sich die im Verb ausgedrückt Handlung zubewegt oder bis zu dem sie sich erstreckt, hat er grundsätzlich auch das Potenzial, als Kasus der Richtung und der Ausdehnung zu dienen. Diese Funktion hat er wie bereits erwähnt in allen indoeuropäischen Sprachen, und auch im Deutschen
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zeigt sie sich. Als Richtungskasus steht der Akkusativ nach lokalen Präpositionen wie auf, an, in, hinter, neben usw.: auf den Tisch (gegenüber dem statischen auf dem Tisch), in den Wald (gegenüber statischem im Wald ). Einige andere Präpositionen stehen ausschließlich mit dem Akkusativ, so etwa für, durch oder ohne. Auch räumliche und zeitliche Ausdehnung kann durch Akkusative gekennzeichnet werden, die dann nicht von einem anderen Teil des Satzes abhängig sind und daher auch als freie Akkusative bezeichnet werden. So gibt den ganzen Weg nach Hause eine Ausdehnung im Raum an und fungiert als lokale Adverbialbestimmung, die sich mit beliebigen Verben kombinieren lässt (etwa: Den ganzen Weg nach Hause träumte ich vor mich hin). Den lieben langen Tag wiederum ist als temporale Adverbialbestimmung eine Ausdehnung in der Zeit ebenso wie Adverbiale des Typs jeden Sonntag, die durch die Kombination eines Wochentags mit dem semantische Beitrag ‚Ausdehnung‘ des Akkusativs eine iterative Bedeutung vermitteln. Vermutlich auf der Basis dieser lokalen und temporalen Akkusative mit adverbialer Funktion hat sich parallel dazu auch ein modaler Typ entwickelt, bei dem der Akkusativ typischerweise von einem Partizip oder einer Präpositionalphrase begleitet wird: den Kopf gesenkt, den Schlüssel in der Hand (vgl. Grimm 1898/1989b: 1103 f. zur Widerlegung der Annahme, dass es sich hier um Ellipsen handelt). Während der letztgenannte Typ in den Grammatiken des Deutschen meist als „absoluter Akkusativ“ bezeichnet wird (so Duden 2005: 910 f.; Zifonun u. a. 1997: 2224 f.), werden die lokalen und temporalen Akkusative als adverbialer Akkusativ (Duden 2005: 824) oder „Satzadverbiale“ (Zifonun u. a. 1997: 1294) gesondert aufgeführt. Schließlich gehören auch Akkusative nach Adjektiven der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung (wie in einen Meter breit, hoch, lang, tief usw., einen Monat alt/lang) ebenso wie nach entsprechenden Verben, deren Semantik ‚Ausdehnung‘ impliziert (wie altern oder wiegen, z. B. Ich bin vor Schreck zehn Jahre gealtert; Das wiegt ja mindestens einen Zentner) in die hier behandelte Kategorie. Eine besondere Verwendungsform des Akkusativs liegt im so genannten AcI (lat. accusativus cum infinitivo, ‚Akkusativ mit Infinitiv‘) vor, der im Deutschen nur noch nach einigen Verben der sinnlichen Wahrnehmung wie hören, sehen oder spüren zu beobachten ist: Sie hörte ihn keuchen. In einer solchen Konstruktion hat das im Akkusativ stehende Element zwei Funktionen: Es dient dem finiten Verb als Objekt (sie hörte ihn) und stellt zugleich das implizite Subjekt des Infinitivs dar (er keuchte).
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2.2.3 Dativ Der Dativ als Kasus des indirekten Objekts (G) bezeichnet den Rezipienten, ferner auch den Benefizienten sowie den Experiencer der im Verb ausgedrückten Handlung. Dies ist zugleich der sprachübergreifende semantische Gehalt des Kasus, wie er prototypisch bei so genannten ditransitiven Verben wie geben, schenken, senden oder schicken (Das Mädchen gibt dem Pinguin einen Fisch) zu beobachten ist. Solche Verben implizieren stets drei Argumente (hier: das Mädchen, dem Pinguin, einen Fisch), wobei die Semantik von ‚Empfänger‘ und ‚Nutznießer‘ meist nicht klar zu trennen ist. Daneben können auch Verben mit zwei Argumenten ein Dativ-Objekt aufweisen, wobei die semantische Funktion des Kasus in den meisten Fällen auch hier gut erkennbar ist. So wird bei helfen oder schaden durch den Dativ der Benefizient bzw. der Malefizient bezeichnet. Ferner treten auch unpersönliche Konstruktionen mit Dativ auf und zwar sowohl mit Verben als auch mit Adjektiven: mir graut, mir ist langweilig. Hier drückt der Dativ den Experiencer aus, also den Empfänger einer Erfahrung: die Person, die etwas erfährt, der etwas widerfährt. Dative dieses Typs werden auch als logische oder psychologische Subjekte bezeichnet, da sie die Person markieren, über die eine Aussage gemacht wird. Von prädikativen Adjektiven wie bewusst, böse, gleich, lieb, möglich (Das ist mir bewusst; Sei mir nicht böse usw.) abhängige Dative werden dagegen als Dativobjekte 2. Grades bezeichnet. Nach lokalen Präpositionen wie an, auf, in usw. bezeichnet der Dativ im Unterschied zum Akkusativ der Richtung einen Ort: im Haus, auf dem Dach. Hier hat er die Funktion des Lokativs übernommen. Die Funktion des Ablativs übernimmt er dagegen zusammen mit Präpositionen wie aus, ab und von, die eine räumliche oder zeitliche Herkunft angeben: aus dem Haus, aus dem Mittelalter. Zusammen mit der Präposition mit schließlich ersetzt der Dativ den Instrumental (der in den indoeuropäischen Sprachen zugleich als Komitativ, also als Kasus der Begleitung, fungiert): mit der Axt, mit dem größten Vergnügen. Abgesehen von diesen Fällen, in denen sich stets ein den Dativ auslösendes („regierendes“) Element ausmachen lässt, gibt es aber auch Gebrauchsweisen des Dativs, bei denen eine solche Abhängigkeit nicht erkennbar ist: die so genannten freien Dative. Dabei handelt es sich um die folgenden Typen (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel 2009): 1. Dativus commodi/incommodi (auch: sympathicus; Dativ des Vor- oder Nachteils) Zum Ausdruck der Person, zu deren Vor- oder Nachteil etwas geschieht, steht der Dativ auch als Objekt; so ist mir in Wer schenkt mir eine Million?
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ganz eindeutig ein Dativobjekt, das einen Benefizienten anzeigt. Im Unterschied zum Objektsdativ ist der Dativus commodi/incommodi jedoch nicht fest an das Verb gebunden und lässt sich im positiven Fall des commodi durch eine Konstruktion mit für (vgl. hierzu schon Grimm 1898/1989b: 841), im negativen des incommodi durch eine Konstruktion mit zum Schaden/Nachteil von ersetzen: Er hat dem Papageien eine Nuss in den Käfig gelegt (hat die Nuss für ihn in den Käfig gelegt); Er hat mir den ganzen Weinkeller leer getrunken (hat zu meinem Schaden/Nachteil den ganzen Weinkeller leer getrunken). Solche Ersatzkonstruktionen sind bei Objekten nicht möglich (*Sie hat für mich geholfen; *Er hat zu meinem Nachteil geschadet). 2. Dativus possessivus (auch: Pertinenzdativ; besitzanzeigender Dativ) Abgeleitet von der Bedeutung ‚Empfänger‘ kann der Dativ in vielen Sprachen auch ein Besitzverhältnis ausdrücken (denn was man bekommen hat, besitzt man). Im Deutschen ist diese Funktion mittlerweile so gut wie ausschließlich auf Körperteile oder am Körper getragene Kleidungsstücke beschränkt: Er starrte ihr die ganze Zeit auf den Busen (‚auf ihren Busen‘)/Er starrte ihr die ganze Zeit auf die Bluse (‚auf ihre Bluse‘). 3. Dativus iudicantis (Dativ der urteilenden Person) Bei prädikativen Adjektiven lässt sich, insbesondere wenn sie von den Intensivpartikeln zu oder genug begleitet werden, ein Dativ zur Bezeichnung der Person beobachten, nach deren Urteil die im Adjektiv genannte Eigenschaft vollständig oder sogar im Übermaß vorliegt: Ist dir langweilig? Ist dir das zu langweilig? Ist es dir nicht interessant genug? 4. Dativus ethicus (ethischer Dativ) Der Dativ zur Kennzeichnung einer Person, die emotional am Geschehen beteiligt ist, wird als „ethischer“ Dativ bezeichnet: Komm mir bloß nicht wieder so spät nach Hause! 2.2.4 Genitiv Wie im Vorigen bereits gesagt, handelt es sich beim Genitiv um einen Kasus, dessen Aufgabe darin besteht, Beziehungen zwischen Substantiven herzustellen. Damit ist er zugleich primär kein Objektskasus, sondern der Kasus des Attributs. Seine semantische Grundfunktion ist dabei der Ausdruck von Possessivität und Partitivität, also von Zugehörigkeiten und Teil-Ganzes-Beziehungen. Diese beiden Bedeutungsschattierungen hängen insofern miteinander zusammen, als Teile eines Ganzen zugleich auch zu diesem Ganzen gehören: der Schnabel des Papageien gehört ihm und ist zugleich ein Teil von ihm.
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Attributive Genitive in possessiver Funktion wie etwa die Beute des Krokodils werden als Genitivus possessivus bezeichnet. Genitivattribute können aber auch andere semantische Relationen ausdrücken. Dabei wären besonders der Genetivus subiectivus (lat. ‚Subjektsgenitiv‘) und der Genitivus obiectivus (lat. ‚Objektsgenitiv‘) zu nennen. Diese beiden besonders in der geschriebenen Sprache recht häufigen Genitivtypen stehen bei Substantiven, die von Verben abgeleitet sind, und drücken das Subjekt bzw. Objekt des zugrundeliegenden Verbs aus: Petras Überlegungen (Petra überlegt: subiectivus); die Verhaftung des Verdächtigen (man verhaftet den Verdächtigen: obiectivus). Gegenüber diesen Genitivtypen ist der Genitivus partitivus (von lat. pars ‚Teil‘) in Reinfunktion im modernen Deutschen sehr selten. Er steht nur noch nach Begriffen, die bereits das semantische Merkmal ‚Teil‘ enthalten, wie Hälfte, Drittel, Teil: meine Hälfte der Beute, ein Teil des Geldes. Ebenfalls selten ist der Genitivus qualitatis (lat. ‚Genitiv der Eigenschaft‘), der zum Ausdruck einer Eigenschaft dient und fast nur noch in festen Wendungen vorkommt: ein Wort griechischen Ursprungs, Texte verschiedener Art. Dieser Genitivtyp kann im Unterschied zu den bisher genannten nicht nur attributiv, sondern auch prädikativ gebraucht werden: Dieses Wort ist griechischen Ursprungs. Weitere semantische Unterteilung von Genitivtypen implizieren den Genitivus explicativus (von lat. explicare ‚erklären‘) oder definitivus (von lat. definire ‚bestimmen‘), wie er in die Kunst der Fuge oder die Nacht des Schreckens vorliegt, sowie eine Reihe weiterer Unterteilungen (vgl. hierzu ausführlicher Lipavic Oˇstir 2009). Als Objekt kommt der Genitiv demgegenüber nur noch sehr selten und bei ganz wenigen Verben vor. Ursprünglich waren sie häufiger, und der Genitiv stand als Objektskasus in Konkurrenz zum Akkusativ. Aufgrund seiner partitiven Funktion konnte er vor allem dann verwendet werden, wenn nur der Teil eines Ganzen von der Handlung betroffen war: des Brotes nehmen im Sinne von ‚von dem Brot nehmen‘. Aber auch als Ersatz für den Ablativ konnte er Objektsfunktionen übernehmen, beispielsweise jemanden seines Amtes entheben ‚von seinem Amt‘. Eine weitere Funktion des Genitivs im modernen Deutschen ist die als Adverbial. Freie, das heißt nicht von einem anderen Satzteil abhängige Genitive können als modale, lokale, temporale und satzkommentierende Adverbiale auftreten: eiligen Schrittes (modal); seiner Wege (gehen) (lokal); eines Tages (temporal); meines Erachtens (Satzkommentar). Als Hintergrund für diese adverbialen Genitive ist möglicherweise der frühe Zusammenfall der Form mit dem Ablativ anzusehen, der ja per se ein adverbialer Kasus ist. Von der
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ablativischen Semantik aus, wie sie etwa in Er kam des Weges oder Woher des Wegs? noch gut sichtbar ist, könnte sich die Form dann auch auf Adverbiale mit anderer Semantik ausgeweitet haben. Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich der Genitiv bei Adpositionen, der in den letzten Jahren wieder deutlich an Frequenz zunimmt (vgl. Di Meola 2000, 2004). Er tritt bei Präpositionen, Zirkumpositionen und Postpositionen auf: anlässlich der Olympischen Spiele; um des lieben Friedens willen; der Form halber. Zusätzlich zu traditionell den Genitiv regierenden Adpositionen dieser Art tritt in jüngerer Zeit im Gefolge von Grammatikalisierungsprozessen zunehmend auch bei anderen, davor mit Dativ oder Akkusativ gebrauchten Adpositionen wie außer, neben und anderen mehr der Genitiv auf (vgl.: ebd.). 3
Morphologie
Wenn man Kasus als morphologische Markierungen definiert, findet man idealtypische Kasussysteme in flektierenden Sprachen wie beispielsweise dem Lateinischen oder dem Russischen sowie in agglutinierenden Sprachen wie etwa dem Türkischen oder dem Mongolischen. Sprachen dieser Art, in denen die Substantive regelmäßig Endungen zur Kennzeichnung ihrer syntaktischen Funktion tragen, werden oft auch mit dem englischen Begriff als case languages bezeichnet. In einer solchen „Kasussprache“ bilden die verschiedenen Kasusendungen zusammen ein Paradigma, das man nach Kasus geordnet auch in den Grammatiken und Lehrbüchern findet und das dann beispielsweise für das Deutsche im Maskulinum so aussehen kann: Nominativ: Genitiv: Dativ: Akkusativ:
der Mann des Mannes dem Manne den Mann
Die konkreten Markierungen der einzelnen Kasus sind naturgemäß von Sprache zu Sprache verschieden und können auch unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Im obigen Paradigma sind zwei von vier Formen des Substantivs (Mannes, Manne) sowie alle vier Formen des Artikels für Kasus markiert. Die Dativmarkierung -e, die bei Maskulina und Neutra auftritt, ist jedoch schon seit längerer Zeit deutlich im Abbau begriffen, so dass die alltägliche Form des Dativs dem Mann lautet. Dieselben Verhältnisse finden sich auch bei den meisten Neutra, nur dass hier auch beim Artikel Nominativ und Akkusativ formgleich sind:
203 Nominativ: Genitiv: Dativ: Akkusativ:
Kasus
das Kind des Kindes dem Kinde das Kind
Neutra wiesen auch in früheren Sprachstufen des Deutschen und im Indoeuropäischen keine Kasusmarkierung für Akkusativ und damit keine formale Unterscheidung der beiden von Nominativ und Akkusativ markierten Kategorien S und A bzw. P auf. Man kann dies damit erklären, dass das Neutrum kein für Belebtes (und damit für ein potenzielles Agens) typisches Genus darstellt, so dass hier von vornherein keine Verwechslungsmöglichkeiten zu erwarten sind. Noch weiter reduziert ist der Formenbestand des Femininums, bei dem das Substantiv durchweg unmarkiert bleibt und der Artikel nur noch zwei verschiedene Formen unterscheidet: Nominativ: Genitiv: Dativ: Akkusativ:
die Frau der Frau der Frau die Frau
Eine Ausnahme zu dieser Systematik bilden die so genannten schwachen Substantive, bei denen alle Kasus außer dem Nominativ mit der Endung -en gekennzeichnet werden, so dass hier eine klare Zweiteilung in casus rectus vs. obliqui erfolgt: Nominativ: Genitiv: Dativ: Akkusativ:
der Bär des Bären dem Bären den Bären
Im Plural wird am Substantiv nur der Dativ mit der Endung -n gekennzeichnet, sofern das Substantiv nicht schon eine gleichlautende Pluralendung hat; der Artikel zeigt hingegen dasselbe Unterscheidungsmuster wie das Neutrum Singular, also Formengleichheit von Nominativ und Akkusativ bei Markierung von Genitiv und Dativ: Nominativ: Genitiv: Dativ: Akkusativ:
die Leute der Leute den Leuten die Leute
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Kasus
Neben Artikel und Substantiv werden im Deutschen auch Adjektive (einschließlich Partizipien, die bei entsprechendem Gebrauch wie Adjektive flektieren) und Pronomina dekliniert. Dabei richtet sich die Adjektivdeklination in ihrer Form danach, ob und wenn ja welcher Artikel steht. Am stärksten ist die Unterscheidung beim so genannten starken Adjektiv, also bei Vorliegen eines Nullartikels: Hier trägt das Adjektiv dieselben Endungen wie sonst der Artikel. In allen anderen Fällen wird die Markierung sozusagen zwischen Artikel und Adjektiv aufgeteilt, so dass das Adjektiv in vielen Fällen nur noch mit der Endung -en Kongruenz im weitesten Sinne anzeigt (vgl. ausführlicher zur Adjektivdeklination Harnisch/ Trost 2009). Am stärksten ist die Kasusmarkierung noch bei den Personalpronomina erhalten. Dies ist, wie oben bereits erwähnt, keine Besonderheit des Deutschen, sondern ein in den Sprachen der Welt weit verbreitetes Phänomen. Aber auch die Personalpronomina zeigen im Bereich der Kasus bereits Abbauerscheinungen. In der 3. Person werden Nominativ und Akkusativ nur noch beim Maskulinum Singular unterschieden, und in der 2. und 3. Person sind Dativ und Akkusativ im Plural zusammengefallen (die zusammengefallenen Formen sind durch Unterstreichung gekennzeichnet): ich meiner mir mich
du deiner dir dich
er seiner ihm ihn
sie ihrer ihr sie
es seiner ihm es
wir unser uns uns
ihr euer euch euch
sie ihrer ihnen sie
Somit zeigt das Paradigma der Personalpronomina beide im modernen Deutschen beobachtbaren Abbautendenzen im Bereich des Kasus: den Zusammenfall von Nominativ und Akkusativ zu einem so genannten Akkunominativ sowie den Zusammenfall von Dativ und Akkusativ zu einem so genannten Akkudativ. Literatur Beck, Heinrich/Steuer, Heiko/Tempe, Dietrich (Hrsg.) (1998): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Die Germanen. Studienausgabe. Begr. von Johannes Hoops. 2., völlig neu bearb. und stark erw. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter. Blake, Barry J. (2001): Case. 2. edition. Cambridge u. a.: Cambridge University Press. (= Cambridge textbooks in linguistics). Blake, Barry J. (2004): „Case“. In: Booij, Geert/Lehmann, Christian/Mugdan, Joachim (Hrsg.): Morphologie/Morphology. Ein internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung/An international Handbook on Inflection and Word-Formation. 2. Halbband/Volume II. Berlin/
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New York, de Gruyter: 1073–1090. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 17.2). Braune, Wilhelm (2004): Althochdeutsche Grammatik. Band I: Laut- und Formenlehre. 15. Auflage, bearbeitet von Ingo Reiffenstein. Tübingen: Niemeyer. (= Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. A. Hauptreihe 5,1). Brugmann, Karl (1904/1970): Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Auf Grund des fünfbändigen ‚Grundrisses der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen von K. Brugmann und B. Delbrück‘ verfasst. Strassburg 1904: Trübner. Photomechanischer Nachdruck. Berlin 1970: de Gruyter. Comrie, Bernard (2001): Language Universals and Linguistic Typology: Syntax and Morphology. 2. edition, reprinted. Chicago: University of Chicago Press. Croft, William (2006): Typology and Universals. 2. edition. Cambridge u. a.: Cambridge University Press. Dal Negro, Silvia (2004): „Artikelmorphologie. Walserdeutsch im Vergleich zu anderen alemannischen Dialekten“. In: Glaser, Elvira/Ott, Peter/Schwarzenbach, Rudolf (Hrsg.): Alemannisch im Sprachvergleich. Beiträge zur 14. Arbeitstagung für alemannische Dialektologie in Männedorf (Zürich) vom 16.–18. 9. 2002. Wiesbaden, Steiner: 101–111. Di Meola, Claudio (2000): Die Grammatikalisierung deutscher Präpositionen. Tübingen: Stauffenberg. (= Studien zur deutschen Grammatik 62). Di Meola, Claudio (2004): „The rise of the prepositional genitive in German – a grammaticalization phenomenon“. Lingua 114: 165–182. Draye, Luk (2009): „Nominativ“. In diesem Band. Dudenredaktion (Hrsg.) (2005): Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Grimm, Jacob (1898/1989a): Deutsche Grammatik 4. 1. Teil. Gütersloh 1898: Bertelsmann. 2. Nachruck. Hildesheim/Zürich/New York 1989: Olms-Weidmann. (= Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Werke. Forschungsausgabe. Abteilung I. Die Werke Jacob Grimms 13). Grimm, Jacob (1898/1989b): Deutsche Grammatik 4. 2. Teil. Gütersloh 1898: Bertelsmann. 2. Nachruck. Hildesheim/Zürich/New York 1989: Olms-Weidmann. (= Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Werke. Forschungsausgabe. Abteilung I. Die Werke Jacob Grimms 14). Harnisch, Rüdiger/Trost, Igor (2009): „Adjektiv“. In diesem Band. Hentschel, Elke (1993): „Flexionsverfall im Deutschen? Die Kasusmarkierung bei partitiven Genetiv-Attributen“. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 21: 320–333. Hentschel, Elke (2009): „Dativ“. In diesem Band. Iggesen, Oliver A. (2005): Case-Asymmetry. A world-wide typological study on lexeme-class-dependent deviations in morphological case inventories. München: LINCOM Europa. (= Lincom studies in language typology 9). Lehmann, Christian (1995): Thoughts on Grammaticalization. München: LINCOM Europa. (= LINCOM studies in theoretical linguistics 1). Lipavic Oˇstir, Alja (2009): „Genitiv“. In diesem Band. Lühr, Rosemarie (2002): „Das Morphologie-Modul in den altindogermanischen Sprachen: Unterspezifizierung in der Substantivflexion“. In: Steube, Anita (ed.): Sprachtheoretische Grundlagen der Kommunikationswissenschaft: Sprachliches und nichtsprachliches Wissen. Leipzig, Institut für Linguistik der Universität Leipzig: 299–321. Rounds, Carol H. (2001): Hungarian. An Essential Grammar. London/New York: Routledge. Seiler, Guido (2003): Präpositionale Dativmarkierungen im Oberdeutschen. Stuttgart: Steiner. (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 12). Stevenson, Patrick (1997): The German-speaking World. A practical introduction to sociolinguistic issues. London/New York: Routledge. Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Berlin/New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7.1–7.3).
Elke Hentschel
Kausativ; kausativ
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u Kausativ, kausativ (von lat. causa ‚Grund‘; engl.: causative) Bei einer kausativen Konstruktion wird ein zusätzliches Argument in die verbale Struktur eingefügt. Semantisch handelt es sich dabei um den Verursacher (causer) der im Verb ausgedrückten Handlung, vgl. Das Schiff versinkt – Der Torpedo versenkt das Schiff (‚verursacht, dass das Schiff versinkt‘). Verben wie versenken, tränken (‚trinken machen‘) oder fällen (‚fallen machen‘) werden als kausative Verben bezeichnet. Wenn eine Sprache eine regelmäßige Formenbildung ausweist, mit der solche kausativen Relationen ausgedrückt werden, dann spricht man von einem Kausativ. Kausative gehören in den Formenkreis des Genus Verbi. → Genus Verbi, Wortbildung u Komparation (von lat. comparare ‚vergleichen‘; engl.: comparison) Morphologische Veränderung von Adjektiven zum Zweck des Ausdrucks der Intensitität, mit der die im Adjektiv ausgedrückte Eigenschaft vorliegt, z. B. tief, tiefer, am tiefsten. → Adjektiv u Komparativ Steigerungsform des Adjektivs, z. B. tiefer, schöner, besser. → Adjektiv u Komposition Die Komposition stellt insbesondere im Bereich der Substantive eine sehr grundlegende, produktive und hochfrequente Wortbildungsart des Deutschen dar. Die Komposition ist als die Zusammenfügung mehrerer Wortbildungseinheiten definiert, wobei man diese meist als freie Morpheme versteht. → Wortbildung u Konditional (von lat. conditio ‚Bedingung‘; engl.: conditional) Ein Modus, der zur Markierung des Verbs in Konditionalsätzen dient, wird als Konditional bezeichnet. Im Deutschen gibt es keinen eigenen Konditional; es kann aber der Konjunktiv zum Ausdruck von Bedingungen verwendet werden (z. B. Wenn ich mehr Zeit hätte …). → Konjunktiv u Kongruenz (von lat. congruere ‚zusammenfallen‘; engl.: agreement) Die formale Übereinstimmung von Elementen eines Satzes, die zusammen eine Einheit (ein Syntagma) bilden, wird als Kongruenz bezeichnet. Sie betrifft beim finiten Verb im Deutschen die Kategorien Person und Numerus,
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Konjunktiv
wo Kongruenz mit dem Subjekt hergestellt werden muss. Bei Adjektiven und Artikeln müssen Kasus, Genus und Numerus mit dem zugehörigen Substantiv übereinstimmen, bei Pronomina nur Genus und Numerus. Die Kongruenz erleichtert die Zuordnung der Satzteile zueinander. → Genus, Numerus u Konjugation (von lat. coniungere ‚verbinden‘; engl.: conjugation) Wenn Verben morphologisch verändert werden, um grammatische Kategorien auszudrücken, so spricht man von Konjugation. Konjugation umfasst die Kategorien Person, Numerus, Tempus, Modus, Aspekt und Genus Verbi. → Verb u Konjunktiv 1
Übereinzelsprachliche Definition
Die funktionelle Beschreibung des Konjunktivs bereitet schon für das Deutsche beachtliche Probleme. Das lässt sich unter anderem daran ablesen, dass in verschiedenen Grammatiken und in Publikationen zum deutschen Konjunktiv unterschiedliche Lösungen präsentiert werden. Diese Schwierigkeiten potenzieren sich noch, wenn man versucht, die intuitiv und traditionell als verwandt empfundenen Modi verschiedener Sprachen (Konjunktiv, subjonctif ), gemeinsam zu erklären. Diese Probleme sollen im Folgenden diskutiert und einer Lösung angenähert werden. Den Schwerpunkt der Analyse bildet dabei das Deutsche, aber es sollen auch die romanischen Sprachen, exemplifiziert am Französischen, Spanischen, Portugiesischen, sowie in einigen Fällen das Englische – wo der „subjunctive“ nur noch in Spurenelementen vorkommt – hinzugezogen werden1. Konjunktiv und Indikativ sind grammatische Kategorien. Als solche haben sie a priori universelle und nicht nur einzelsprachliche Gültigkeit. Erst wenn festgestellt wurde, dass eine dieser Kategorie entsprechende grammatische Form in der zu beschreibenden Sprache existiert, kann diese beschrieben und es kann festgestellt werden, welche spezifische Ausprägung sie dort hat. Es ist wie bei allen Kategorien, etwa bei den Wortarten: Man wird nicht das 1 Um eine gemeinsame Kategorie zu bezeichnen, unter die die entsprechenden Modi der behandelten Sprachen als sprachspezifische Sonderfälle fallen, werden im Folgenden die übereinzelsprachlichen Begriffe Konjunktiv und Indikativ (in dieser Schreibung) benutzt. Ist der einzelsprachige Modus gemeint, so wird der Terminus, der in der Grammatikschreibung dieser Sprache üblich ist, gewählt: für das Deutsche Konjunktiv, ansonsten subjonctif (frz.), subjuntivo (sp.), conjuntivo (port.) und subjunctive (engl.). Um die Verwendung in den romanischen Sprachen zu benennen, wird Subjunctiv geschrieben.
Konjunktiv
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französische Verb definieren und dann das deutsche, russische, usw., sondern man muss von der übereinzelsprachlichen Kategorie Verb ausgehen; dann muss festgestellt werden, ob es Verben in den betreffenden Sprachen gibt, und, wenn ja, können diese verglichen werden.2 Drei Problemen soll im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden: x
x
x
der Frage nach der semantischen Gemeinsamkeit der verschiedenen Konjunktiv-Varianten im Deutschen, der Frage nach der übereinzelsprachlichen Gemeinsamkeit des Konjunktivs und der Frage, ob sich ein gemeinsamer Nenner klarer fassen lässt, wenn man das Verhältnis von Indikativ und Konjunktiv beleuchtet? Wenn ja, gilt das auch für Sprachen mit weitgehend reduzierten Konjunktiven?
Zum Teil wird die Idee eines gemeinsamen semantischen Nenners für alle Vorkommen des Konjunktivs explizit abgelehnt. Es gebe, so wird geschrieben, keine solche Oberbedeutung. Als besonders klares Beispiel diene die Aussage von Buscha (1980: 66): „Eine adäquate Beschreibung des Konjunktivs bedeutet für uns den Verzicht auf die Annahme einer Allgemeinbedeutung, da es weder möglich ist, alle Bedeutungen des Konjunktivs auf einen Nenner zu bringen, noch angemessen erscheint, bestimmte Bedeutungen auszusondern.“ Nicht immer wird eine Gesamtbedeutung des Konjunktivs so deutlich ausgeschlossen. Stattdessen werden verschiedene Typen von Konjunktivvorkommen unterscheiden und beschrieben. Die Frage, wie diese Typen mit einander zusammenhängen, ob sie unter einen gemeinsamen Nenner subsumierbar sind und wie sich dieser bestimmen lässt, wird nicht beantwortet, oft nicht einmal gestellt. Ein ähnliches Bild bietet sich bei jeder der anderen Sprachen. Häufig wird eine Gesamtdefinition implizit abgelehnt, zumindest wird das Problem umgangen. Die Analyse wird noch schwieriger bei dem Versuch, die KonjunktivIndikativ-Opposition sprachübergreifend, also gemeinsam für die genannten Sprachen, zu fassen, zu definieren und zu interpretieren. In Bezug auf diese Fragestellung lässt sich eine gewisse Einmütigkeit feststellen. Vielen Linguisten scheinen die Ausprägungen des Konjunktivs in diesen Sprachen zufällig zu sein und kaum etwas miteinander zu tun zu haben. In der Tat stehen die romanischen Subjunctive und der deutsche Konjunktiv auf den 2 Zur logischen Notwendigkeit universeller Definitionen bei grammatischen Kategorien im Falle der Definition von Partikeln vgl. Weydt (2001) und Weydt/Hentschel (1998).
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ersten und zweiten Blick quer zueinander. Sehr häufig treten Fälle auf, in denen im Spanischen und Portugiesischen ein Indikativ gebraucht wird, im Deutschen aber der Konjunktiv. Deutsch: Aber: Spanisch: Portugiesisch:
Er sagt, sie käme. (konj.) Dice que viene. (ind.) Diz que vem. (ind.)
Sehr typisch ist aber auch der umgekehrte Fall, wo in den romanischen Sprachen ein Subjunctiv und im Deutschen ein Indikativ gesetzt wird. Deutsch: Spanisch: Portugiesisch:
Ich suche einen Job, in dem ich viel reisen kann (ind.) und wenig arbeiten muss (ind.), aber gut verdiene (ind.). Busco un trabajo en el que pueda (subj.) viajar mucho y tenga (subj.) que trabajar poco, pero donde gane (subj.) bien. Eu procuro um emprego, no qual possa (subj.) viajar muito e trabalhar pouco, mas ganhar muito.
Infolgedessen werden die Konjunktive kaum zueinander in Beziehung gesetzt. In vergleichenden Publikationen, die ansonsten Strukturanalogien (d. h. tertia comparationis) aufspüren wollen, herrscht die Meinung vor, dass zwar in anderen Bereichen der Grammatik ein Vergleich von Kategorien möglich und sehr sinnvoll sei; es habe aber keinen Sinn, etwa den deutschen Konjunktiv und den französischen subjonctif miteinander zu vergleichen. Es seien eben grundsätzlich inkompatible Kategorien, die zu vergleichen und einander gegenüber zu setzen nicht sinnvoll sei, da sie kaum etwas miteinander zu tun hätten. „[…] es fehlt vor allem eine tragfähige zwischensprachliche Vergleichsgrundlage. Der Vergleich ist umso problematischer, als bestimmte, formal parallele Ausdruckformen der Modalität – wie die Modi Konjunktiv und Subjonctiv – semantisch kaum etwas gemeinsam haben. In der Hoffnung auf bessere linguistische Zeiten (allerdings warnten schon die Scholastiker: „de modalibus non gustabit asinus“) habe ich hier einstweilen manche Bereiche der Modalität gar nicht behandelt (die Modi) und andere auf verschiedene Kapitel verteilt.“ (Blumenthal 1987: 7) Blumenthal steht mit dieser Auffassung keineswegs alleine da, er fasst in diesem Zitat vielmehr eine allgemein verbreitete Meinung zusammen, die sich dann auch in der Wikipedia wieder findet: „Der Subjonctif (zu Deutsch auch Subjunktiv) ist ein Modus der französischen aber auch als ‚subjuntivo‘ der spanischen Sprache. Der Subjonctif kann mit keinem deutschen Modus
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verglichen oder eins zu eins übersetzt werden.“ (http://de.wikipedia.org/ wiki/Subjonctif, 31. 01. 2007, Hervorheb. i. O.). 2.
Formen und Funktionen des KONJUNKTIVS
2.1
KONJUNKTIV und INDIKATIV
Zunächst sei festgestellt, dass es sich bei der Opposition zwischen dem Indikativ und dem Konjunktiv um eine funktionelle Opposition handelt. Es ist nicht etwa so, dass der Kontext von sich aus den Modusgebrauch vollkommen vorschriebe. Funktionell ist eine Opposition dann, wenn die beiden Termini einerseits nicht völlig frei, ohne Auswirkungen auf den Inhalt, austauschbar sind und wenn andererseits die Wahl nicht völlig automatisch ist. Wäre sie völlig frei, dann handelte es sich um beliebige Varianten, die für einander einträten, wie man es etwa für die Formen hubiese und hubiera3 im Spanischen annehmen kann; völlig automatisch wäre sie, wenn der Sprecher keine Wahl hätte und die Modus-Wahl sich in allen Vorkommen automatisch aus den Kontexten ergäbe. In den hier besprochenen Sprachen gibt es sowohl Fälle, in denen der Konjunktiv obligatorisch vom Kontext vorgeschrieben wird, wie beispielsweise im Französischen nach afin que (afin que je puisse (subj.) te voir ‚damit ich dich sehen kann‘) als auch Minimalpaare, die sich nur im Modus eines Verbs unterscheiden und deutlich unterschiedliche Bedeutungen tragen. Minimalpaare, die die Funktionalität beweisen, sind: Ich war gekommen, um dir zu helfen. gegenüber: Ich wäre gekommen, um dir zu helfen. God saves the Queen. gegenüber: God save the Queen. Im Romanischen beweisen Beispielpaare wie die folgenden französischen Relativsätze die Funktionalität der Modusunterscheidung: A: Je cherche une secrétaire qui soit blonde et qui sache parler plusieurs langues. gegenüber: B: Je cherche une secrétaire qui est blonde et qui sait parler plusieurs langues.
3 Bei hubiese und hubiera handelt sich um zwei funktional gleichwertige subjuntivo-Entsprechungen des spanischen imperfecto, hier des Hilfsverbs haber; sie werden in den Grammatiken unter den Bezeichnungen imperfecto I und imperfecto II aufgeführt und dienen auch zur Bildung von zusammengesetzten Formen.
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Konjunktiv
Im A-Fall wird eine Person gesucht, die der Sprecher noch nicht kennt und von der eventuell nicht feststeht, ob es sie gibt, die die angegebenen Eigenschaften haben soll; im B-Fall handelt es sich um eine bestimmte, dem Sprecher bekannte Person mit diesen Eigenschaften, deren augenblicklicher Aufenthaltsort ihm unbekannt ist. So auch im Spanischen: Busco un libro que está (ind.) escrito en alemán. gegenüber: Busco un libro que esté (subj.) escrito en alemán. (Etwa: ‚Ich suche ein Buch, das auf Deutsch geschrieben ist‘ vs. ‚sein soll.‘)4 Zwischen Indikativ und Konjunktiv besteht eine inklusive Opposition: der Indikativ ist der unmarkierte Term, der Konjunktiv der markierte. In diesem Oppositionspaar bereitet nur der Konjunktiv Beschreibungsschwierigkeiten; Identifikation und Sprachvergleich des Indikativs sind völlig unproblematisch. Es ist außerordentlich leicht, alle Fälle des Indikativs miteinander zu identifizieren: er kommt; il vient; he comes. 2.2
Die Konjunktiv-Formen des Deutschen
Jedem Tempus des Indikativs ist prinzipiell ein Konjunktiv zugeordnet. Es gibt also im Deutschen im Gegensatz zu anderen Sprachen einen Konjunktiv in allen sechs Person-Numerus-Kombinationen: des Präsens (z. B. 3. Pers. er nehme), Präteritum (er nähme), Futur I (er werde nehmen), Perfekt (er habe genommen), Plusquamperfekt (er hätte genommen), Futur II (er werde genommen haben). Konjunktive können systematisch im Aktiv und in allen PassivFormen (d. h. des Vorgangs-, Zustands- und unpersönlichen Passivs) gebildet werden; man wird allerdings einige dieser Formen in der sprachlichen Praxis selten antreffen. In allen Tempora lauten die Endungen für die erste bis dritte Person Singular: -e, -est, -e5; für den Plural -en, -et, -en. Die Endungen für das Präsens werden an den Infinitivstamm angehängt, wodurch sich die Formenvielfalt, die man im Indikativ antrifft, für den Konjunktiv deutlich reduziert,
4 Es soll nur am Rande erwähnt werden, dass für alle drei Sprachen das Problem bleibt, wie man den Imperativ der dritten Person, also der „Höflichkeitsform“ Kommen Sie!, Venha ca! (port.), Venga aquí! (span.) bestimmen soll. Historisch handelt es sich um KonjunktivFormen; sie sind aber inzwischen so selbstständig geworden, dass eine realistische, das heißt am Bewusstsein der Sprecher ausgerichtete Linguistik, sie synchronisch nicht mehr als Konjunktive beschreiben wird. Deshalb werden sie auch hier nicht behandelt. Auch die deutsche würde + Infinitiv-Form (ich würde kommen), historisch Konjunktiv des Präteritums von werden, ihr Status, ihre Semantik und Gebrauchsweisen werden in diesem Artikel nicht erörtert. 5 Mit Ausnahme von sein; die Form lautet in der 1. und 3. Person Singular sei (nicht *seie).
Konjunktiv
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da die Stammänderungen durch Umlaut (laufe – läufst, nehme – nimmst) nicht übernommen werden. Im Präteritum treten die Konjunktivendungen an den umgelauteten Stamm der starken Verben bzw. an das Dentalsuffix der schwachen Verben. In den zusammengesetzten Tempora werden nur die finiten Bestandteile, also die Hilfsverben, in den Konjunktiv gesetzt. Die übrigen Bestandteile bleiben unverändert. Daraus ergibt sich, dass viele Indikativ-Formen in der Schrift und noch mehr in der Aussprache mit ihren Konjunktiv-Entsprechungen zusammenfallen. Solche Synkretismen (d. h. Fälle derartigen formalen Zusammenfalls bei Erhalt der funktionalen Unterschiede) findet man etwa bei allen Formen der schwachen Verben im Präteritum und bei zahlreichen Formen im Präsens beider Konjugationen, insbesondere bei der 1. Person Singular (ich gehe) und Plural (wir gehen) sowie bei der 3. Person Plural (sie gehen). Auch im Präteritum der nicht-umlautfähigen starken Verben stimmen beide Modi in mehreren Formen überein, beispielsweise wir/sie gingen. Eine einzelne Form vertritt jedoch stets einen einzigen Modus, nicht beide zugleich. Häufig werden die Formen, bei denen das finite Verb im Präsens steht, unter der Bezeichnung Konjunktiv I zusammengefasst. Diese sind, am Beispiel des Verbs nehmen: das Präsens (er nehme), das Futur I (er werde nehmen), das Perfekt (er habe genommen) und das Futur II (er werde genommen haben). Dem steht der Konjunktiv II gegenüber. Unter diese Bezeichnung werden die Konjunktive gruppiert, deren finites Verb im Präteritum steht: Konjunktiv Präteritum (er nähme) und Plusquamperfekt (er hätte genommen). Die Bezeichnungen Konjunktiv I und Konjunktiv II sind etwa im Bereich Deutsch als Fremdsprache fest etabliert. In neueren Grammatiken, so in Eisenberg (2006: 122), Hentschel/Weydt (2003: 118) oder Zifonun u. a. (1997: 1734) werden sie eher skeptisch betrachtet. Eisenberg (2006: 118) betont, dass es sich dabei um eine Sammelbezeichnung, nicht um eine grammatische Kategorie handelt. Konjunktiv I und Konjunktiv II seien keine grammatischen Kategorien. Neben Schwierigkeiten, Konjunktiv I und II funktionell voneinander zu trennen, spricht gegen die Verwendung, dass die Formen damit unterbestimmt sind. In Zifonoun u. a. wird das Begriffspaar, wo es denn benutzt wird (z. B. 1997: 1735), durch „Konjunktiv der Präsensgruppe“ und „Konjunktiv der Präteritumgruppe“ ersetzt. 2.3
Parallelen in den betrachteten Sprachen
Um jedoch dem Anschein entgegenzuwirken, dass sich die Konjunktive der behandelten Sprachen überwiegend unterscheiden, sei auf einige Parallelen hingewiesen.
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Konjunktiv
2.3.1 Im uneingeleiteten Hauptsatz Im uneingeleiteten Hauptsatz treten vor allem archaische Formen auf. Einige Beispiele: Deutsch: Englisch: Französisch: Spanisch: Portugiesisch:
Komme, was da wolle! Dem sei, wie ihm wolle. Hol’s der Teufel! Gegeben sei (ein gleichschenkliges Dreieck). God save the Queen! Soit! Sauve qui peut! Sea como sea/fuera. Sea cierto o no. Te gustase o no te gustase. Viva la patria! Seja como for.
Man kann sich bei einigen dieser Beispiele fragen, ob sie noch als Beispiele für einen produktiven Konjunktiv-Gebrauch gelten können. Besonders bei uneingeleiteten Sätzen ist in allen diesen Sprachen, vor allem aber im Englischen, Französischen und im Deutschen, festzustellen, dass dieser Gebrauch immer unproduktiver wird. Es handelt sich offensichtlich um fixierte Ausdrücke, die eine nicht mehr aktuelle grammatische Form des heutigen Deutsch als „wiederholte Rede“ (Coseriu 1970) tradieren. Insofern sind sie idiomatisiert und fixiert und dürften dann, streng genommen, nicht mehr in eine rein synchronische Grammatik des Deutschen aufgenommen werden. Allerdings ist der sprachbewusste Nutzer in der Lage, solche Wendungen spielerisch kreativ zu variieren, sodass man nicht von einem völlig starren Gebrauch sprechen kann. Noch produktiver, aber schon in der Entwicklung hin zu einem archaisch-fixierten Gebrauch begriffen, befinden sich die entsprechenden Ausdrücke der romanischen Sprachen. 2.3.2 Im eingeleiteten Hauptsatz Fraglich ist auch, ob selbstständige Sätze, die durch Konjunktionen wie dass oder rom. que/che eingeleitet werden, als Hauptsätze gelten können: Deutsch: Französisch: Spanisch:
Dass dich doch der Teufel hole! Que le diable l’emporte! (‚Dass ihn der Teufel hole!‘); Que le meilleur gagne! (‚Der Beste soll gewinnen!‘) Que te diviertas! (‚Amüsier Dich!‘); Qué salgan! (‚Dass sie starten mögen!‘ = ‚Los!‘); Que te mejores! (‚Besser Dich!‘)
Sie treten in den romanischen Sprachen häufiger auf als im Deutschen oder gar im Englischen, wo sich dieser Konstruktionstyp nicht findet. Der Form nach sind sie Nebensätze, und es spricht einiges dafür, sie als Nebensätze mit elidiertem, übergeordnetem Matrixsatz zu deuten, als „matrixlose Neben-
Konjunktiv
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sätze“. Die Schwierigkeit besteht bei dieser Annahme darin, in jedem Fall einen plausiblen elidierten Matrixssatz zu konstruieren. Als Nebensatzkonstruktionen ohne Matrixsatz könnte man auch mit Adverbien eingeführte Sätze betrachten, die einen Zweifel ausdrücken wie span. quizás vayamos juntos (‚Vielleicht gehen wir zusammen.‘). Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich die Hauptsatz-Konjunktive relativ ähnlich verhalten. In allen Sprachen finden sich im wirklich selbstständigen Hauptsatz fossilierte Formen, bei denen man sich fragen kann, ob sie noch in eine synchronische Grammatik aufgenommen werden müssen; die Fossilierung ist mit Sicherheit im Deutschen stärker als im Spanischen und Portugiesischen. 2.3.3 Im Nebensatz Während der Konjunktiv im Hauptsatz relativ selten ist, tritt er im Nebensatz sehr häufig auf. Auch im Englischen ist er in offiziellen Texten nicht so selten wie oft angenommen. Die Verlautbarungen der Europäischen Union beispielsweise bieten eine Vielzahl von subjunctive-Konstruktionen des Typs: „The Committee of the Regions […] recommends that biodiversity plans at EU, national regional and local level be coordinated, […] that regional research be carried out on the effects for climate change.“ (http://coropinions.cor.europa.eu/CORopinionDocument.aspx?identifier= cdr\deve-ivd\ossiersd\eve-iv-009\cdr159-2006_fin_ac.doc&language= EN, 20. 05. 2007). 2.3.4 Morphologie In allen verglichenen Sprachen reduziert sich wie erwähnt der im Indikativ voll entfaltete Formenreichtum beträchtlich. Im Deutschen, im Portugiesischen und im Spanischen fallen im Präsens und Präteritum im Konjunktiv völlig einheitlich die erste und dritte Person des Singulars zusammen. Im Englischen, wo sich nur geringe Reste der Konjugationsendungen finden, nämlich -s im Präsens der 3. Person Singular indicative, verliert sich diese Markierung im (Rest-)subjunctive. Sowohl für die 1. als auch für die 3. Person Singular wird ohne Funktionsunterschied im Präteritum were oder was (if I were/was you), im Präsens be gesagt. Auch andere morphologische Unregelmäßigkeiten werden ausgeglichen. Dem Ausgleich der Stammvokalalternanz im Präsens der deutschen Verben (Umlaut) (nehme, nimmt; gebe, gibt; erlösche, erlischt) entsprechen im Spanischen der Ausgleich der Vokalalternanzen, so etwa bei der Diphthongierung: Im indicativo des Verbs traer lautet die 1. Person traigo, die 2. traes;
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Konjunktiv
die subjuntivo-Formen dagegen lauten einheitlich auf -aig-: traigo, traigas, usw. Im Konsonantismus findet sich eine vergleichbare subjuntivo-Vereinheitlichung: der Konsonantalternanz z/zc im indicativo des Verbs merecer (merezco, mereces, usw.) stehen einheitlich konjugierte Formen auf -zc- gegenüber: merezca, merezcas, usw. Einen vergleichbaren Systemausgleich hat auch das Portugiesische. Ganz besonders deutlich zeigt sich diese Reduktion bei den Suppletivformen, so beim „verbum substantivum“: Im Deutschen gehen die Formen von sein (Indikativ: ich bin, du bist, er ist, wir sind, ihr seid, sie sind) im Konjunktiv alle auf sei-, im Spanischen gehen die Entsprechungen von soy, eres, es alle auf sea-, und im Portugiesischen alle auf seja-. Im Spanischen und Portugiesischen gibt es weitere Suppletivformen wie die des Verbs ir ‚gehen‘, das mit vaya- im Konjunktiv einen völligen Ausgleich zeigt. Auch im Französischen werden die Stämme weitgehend vereinfacht. So herrscht im Verb être im subjonctif einheitlich der Stamm [sa] vor statt der vielfältigen Suppletivformen des indicatif: suis, es, est, sommes, êtes, sont. 2.3.5 Semantik In allen betrachteten Sprachen tritt im Konjunktiv die temporale zugunsten der modalen Bedeutung zurück: Die Tempora verlieren gegenüber den Modi an Bedeutung. Im Deutschen bestehen zwischen Sätzen wie: Er sagte, er komme; Er sagte, er käme; Er sagte, er würde kommen lediglich Registerunterschiede. In den Fällen, in denen kein formaler Unterschied zwischen den Präsensformen des Indikativs und des Konjunktivs besteht, tritt die Präteritumform ein: Fritz sagt, sie kommen ⇒ Fritz sagt, sie kämen. Werden die Modi formal unterschieden, gilt das Präsens als stilistisch höher stehend. Auch in den romanischen Sprachen drängt der Modus das Tempus zurück. Der subjuntivo des Spanischen kennt nur ein reduziertes Temporalsystem.6 Im Französischen gibt es in der normalen Praxis des Sprechens im subjonctif nur drei Tempora, also etwa keinen Konjunktiv des Futurs (Grevisse 2008: 1103), den subjonctif des imparfait nur noch im archaischen literarischen Stil. Zu diesen im Vergleich zu Tage tretenden parallelen Struktureigenschaften kommt, dass bei den Sprachbenutzern der Eindruck einer Funktionsähnlichkeit entsteht. Lerner, wenn sie sich davon zu typischen Fehlern verleiten lassen, werden geradezu Opfer dieser intuitiven Gleichsetzung. Derartige Fehler sind beispielsweise:
6 Zu Einzelheiten vgl. Gili Gaya (1993: 176).
Konjunktiv
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*Espero que tienes (ind.) tiempo. (nach: Ich hoffe, dass du Zeit hast.) *No creo que hoy hace (ind.) muy frío. (nach: Ich glaube nicht, dass es heute sehr kalt ist.) *Es bueno que estudias (ind.) mucho. (nach: Es ist gut, dass du viel lernst.) *Que tocas piano me molesta. (nach: Dass du Klavier spielst, stört mich.) 3
Übereinzelsprachliche Beschreibung des KONJUNKTIV s
Im Folgenden wird die Meinung vertreten, dass in allen hier behandelten Sprachen auf einer bestimmten Beschreibungsebene dem Konjunktiv-Gebrauch eine identische Funktion zugrunde liegt. Der Konjunktiv als markierter Term signalisiert, dass der mit dem Satz bezeichnete Sachverhalt – also wenn man so will, dessen propositionaler Gehalt – vom Sprecher nicht als Realität, sondern als eine nur vermittelte Aussage dargeboten wird. Das ist in allen hier verglichenen Sprachen der Fall, unabhängig davon, ob der Konjunktiv noch in voll entwickelter Form existiert oder nur reduziert (wie im Englischen). Diese Aussage steht im Gegensatz zu Auffassungen, nach der der Konjunktiv in einigen Fällen „funktionslos“ sei. Zwar kann man in Fritz glaubt, dass Maria nicht mit Geld umgehen kann/könne/könnte den Modus beliebig wählen, ohne dass sich der gemeinte Sachverhalt ändert, doch zeigt das nicht die Funktionslosigkeit des Modus, sondern dass sich der bezeichnete Sachverhalt auf unterschiedliche Weise ausdrücken lässt. Die Modi behalten ihre Bedeutungen. Genauso wenig kann man daraus, dass in einem gegebenen Kontext gesagt werden kann Mein Freund/der Franzose/ein Kommilitone kommt heute, ohne dass sich der Referenzsachverhalt ändert, schließen, dass mein Freund/der Franzose/ein Kommilitone gleichbedeutend und dass die Lexeme funktionslos seien. Es liegt einfach ein Fall mehrfacher Bezeichnung vor. Ein Satzinhalt, der im Konjunktiv ausgedrückt ist, wird eben nicht als faktisch gegeben dargestellt, sondern als vermittelt. Die Mitteilung wird nicht als direkte Abbildung eines Inhalts dargeboten, sondern als indirekte, als durch ein Medium gebrochen, etwa als Wunsch, als etwas, was nur geglaubt wird, als etwas, was die Meinung anderer und ausdrücklich nicht die des Sprechers wiedergibt, als ein Werturteil, als kontrafaktisch, als ein Wunsch, als eine Absicht, als etwas noch nicht Realisiertes, aber Intendiertes, als etwas zu Beurteilendes (nicht Mitzuteilendes) usw. Traditionelle Untertypen des Konjunktivs wie: x
x
der Potentialis (Wenn das einträfe, wäre ich total glücklich) zum Ausdruck der Möglichkeit, der Irrealis (Wenn ich das gewusst hätte) zum Ausdruck von etwas kontrafaktisch Angenommenem,
217 x x
x
Konjunktiv
der Optativ (Konjunktiv des Wunsches) (Sie lebe hoch! ), der Adhortativ (Seien wir nicht zu kleinlich! ) (quasi ein Imperativ der 1. Pers. Plural), der Konjunktiv der indirekten Rede (Sie behauptet steif und fest, sie sei gar nicht am Tatort gewesen)
können alle unter den gemeinsamen Nenner „gebrochene Realität“ subsumiert werden. Auf dieser relativ hohen Abstraktionsebene unterscheiden sich die Sprachen überhaupt nicht, sie bedienen sich eines semantisch völlig gleich strukturierten Instrumentariums. Dagegen enthält der Indikativ als der nicht markierte Terminus keine analoge Realitätsaussage. Er dient zur Darstellung des Sachverhaltes, ohne sich – negativ oder positiv – zur Realität oder zur Realitätsbrechung zu äußern.7 Nicht weil es Bestandteil der Indikativ-Funktion wäre, sondern aufgrund allgemeiner Prinzipien des Sprechens, unterstellen sich die Gesprächspartner gegenseitig, dass der jeweils Sprechende tatsächlich meint, was er sagt: dass die Aussage mit der Realität übereinstimmt. Ohne diese Unterstellung, die in speziellen Kontexten aufhebbar ist, könnte man gar nicht verbal kommunizieren. Eine Betonung von Realität enthält der Indikativ also nicht (so auch Zifonun u. a. 1997: 1786). Deshalb ist auch die verbreitete Benennung des Indikativs als „Wirklichkeitsmodus“ irreführend. Zwei Hauptarten der Brechung sind: 1. Die Verantwortung für die Richtigkeit eines Satzinhaltes wird dadurch abgelehnt, dass der aktuelle Sprecher A ihn als Aussage eines anderen (B) hinstellt („Botenfunktion“), für deren Richtigkeit er deshalb nicht garantieren kann. 2. Der Sprecher überweist die Verantwortung für das Gesagte nicht an einen anderen, sondern er stellt die Realität selber in Frage und gekennzeichnet sie als lediglich erwünscht, imaginiert, kontrafaktisch, subjektiv empfunden, problematisch. Um diese Unterscheidung auszudrücken, verwenden Zifonun u. a. (1997: 1743) das Begriffspaar „Indirektheitskontext“ und „Modalitätskontext“, wobei Indirektheit den Verweis auf einen anderen Sprecher, Modalität die Über-
7 Anders Grevisse (2008: 1102), der zwar die Grundfunktion (valeur fondamentale) des subjonctif sehr klar erkennt („Le subjonctif indique que le locuteur (ou le scripteur) ne s’engage pas sur la réalité du fait“), der aber den indicatif bestimmt als: „C’est le mode du fait.“ (ebd.: 1089).
Konjunktiv
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einstimmung des Gesagten mit der Wirklichkeit (der „Welt“) betrifft. Sie verwenden dabei zwei Instanzen: „Sprecher-Origo“ und „Welt-Origo“. Die Verwendungen des Konjunktivs mit dem Zweck, sich vom Gesagten zu distanzieren, sind den Sprechenden nicht frei überlassen, sondern einzelsprachlich grammatisch-syntaktisch fixiert. Die deutsche Sprache sieht beispielsweise ein Brechungssignal für den Bereich (1) vor, für die „indirekte Rede“8. Mit dem Konjunktiv wird dort signalisiert: ‚dies ist eine nicht von mir zu verantwortende Aussage, sondern die eines anderen‘: Er sagt, sie komme (konj.). Die romanischen Sprachen benutzen in diesem Fall den Indikativ: frz. Il dit qu’elle vient. Sie markieren hingegen einen der Fälle von (2) als gebrochen, nämlich den, dass der Inhalt des Satzes bereits im Matrixsatz verneint oder bezweifelt wird: span. No creo que venga (subj.) (‚Ich glaube nicht, dass er kommt‘). Hier verzichtet das Deutsche auf Brechungssignale. Daraus lassen sich allgemeine Regeln für den Konjunktiv-Gebrauch ableiten. Für alle Vorkommen der Opposition Indikativ – Konjunktiv in allen Sprachen gilt: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Konjunktiv benutzt wird, steigt mit dem Grade der Realitätsbrechung. Falls ein Konjunktiv in einem bestimmten Bereich gebraucht wird, dann eher in einem Fall mit geringerer Realitätsausprägung. Die folgende Abbildung skizziert die Wahrscheinlichkeit von und den Zwang zum Konjunktiv bei steigender semantischer Brechung.
8 Der Begriff sei hier verwendet, obgleich er ungenau ist. Indirekte Rede muss nicht auf eine wörtliche Original-Rede verweisen, sondern kann sich auch auf das vom anderen Gedachte oder Vermutete beziehen, deshalb auch oft die Bezeichnung abhängige Rede oder oratio obliqua.
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Konjunktiv
Jemand, der die betreffende Sprache nicht gelernt hat, kann nicht vorhersagen, in welchen spezifischen Kontexten der Konjunktiv benutzt wird. Er kann jedoch, wenn er die Grundfunktion des Konjunktivs verstanden hat, vorhersagen, dass alle auftretenden Fälle des Konjunktivs ohne Ausnahme unter die Funktion der „Realitätsbrechung“ subsumiert werden können. Wenn er darüber hinaus auch keine absoluten Voraussagen machen kann, ist er doch in der Lage, den Konjunktiv relativ zum Kontext zu beschränken. Er weiß, dass in keiner Sprache ein Indikativ als Modus in einem Nebensatz nach einem verneinten Matrixsatz benutzt wird, wenn gleichzeitig nach positivem Matrixsatz der Konjunktiv gesetzt werden muss. So kann man, ohne das Spanische zu kennen, korrekt vorhersagen, dass span. *No creo que vienes (ind.) (‚Ich glaube nicht, dass du kommst‘) bei gleichzeitigem *Creo, que vengas (subj.) (‚Ich glaube, dass du kommst‘) nicht möglich ist.9 Im Deutschen wäre der Satz Ich glaube nicht, dass sie kommt dann nicht möglich, wenn gleichzeitig der Satz *Ich glaube, dass sie komme korrekt wäre. Auch das Satzpaar Er sagt, dass sie gleich kommt und *Er sieht, dass sie gleich komme ist, das ergibt sich aus der Moduslogik, nicht möglich. Die Konjunktiv-Indikativ-Relation lässt sich mit der Skizze auf der nächsten Seite zu den Möglichkeiten der Konjunktiv-Bestimmung im Sprachvergleich verdeutlichen. Es sei F das Feld der sprachlich ausgedrückten Propositionen. Für sie steht als grundsätzliche Möglichkeit der Indikativ zur Verfügung. In einer Sprache A gibt es für einige Fälle, die in der Grammatik GA (Grammatik von A) angegeben sind, eine Sonderform, den Konjunktiv. In den Sprachen B und C ebenfalls, aber der Modus wird in anderen Fällen eingesetzt. Betrachtet man nur eine Einzelsprache, so ist es schwierig, das Prinzip zu erkennen, das im Konjunktiv verwirklicht wird. Aufeinander gelegt lassen diese Bereiche jedoch besser die Gesamtgestalt erkennen, nämlich jene Funktion, der sie alle untergeordnet sind. Deshalb erlaubt der mehrsprachige Vergleich ein Mehr an Erkenntnis für die jeweilige Einzelsprache und für die Gesamtheit der verglichenen Sprachen. Für die einzelsprachlichen Grammatiken liegen zum Teil Einzelbereiche der Konjunktivverwendung vor, deren Zusammenhang nur schwer zu erfassen ist. Für das Spanische sind dies einerseits Wunsch und andererseits Nebensatz nach verneintem Matrixsatz mit einem Verb des Glaubens, im Deutschen dagegen Irrealis und indirekte Rede. Erst der Vergleich lässt die Grundstruktur des Konjunktivs optimal erkennen, das heißt jene Bedeutung, die seinen idiosynkratischen Realisationen zu Grunde liegt. 9 Richtig: No creo que vengas (subj.) und Creo que vienes (ind.).
Konjunktiv
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Konjunktiv
Zu unterscheiden sind also für jede Sprache zwei Bereiche (siehe obige Skizze): 1. Die Fälle, die klar dem unmarkierten Feld zuzuordnen sind, für die der Konjunktiv nicht in Frage kommt. Es ist der Bereich außerhalb des Kreises in der Abbildung. Er entspricht den unbezweifelten Fakten: Die Erde ist rund. 2. Die Fälle, die innerhalb des markierten Bereichs (Kreises) liegen. Sie können potenziell mit dem Konjunktiv realisiert werden; ob innerhalb dieses markierten Bereichs der Konjunktiv wirklich verwandt wird, hängt von der Einzelsprache ab. Im Deutschen verwendet man ihn im Irrealis: Wenn ich Geld hätte. Es bleiben Bereiche, in denen er, obgleich das denkbar wäre, nicht benutzt wird: Ich glaube nicht, dass er kommt. Im mit dem Kreis symbolisierten Bereich des potentiellen Konjunktivs spielen sich zum einen die Fälle ab, in denen – ohne erkennbare Bedeutungsunterschiede – der Konjunktiv fakultativ ist und zum anderen der Sprachwandel: Der Gebrauch ändert sich im Laufe der Sprachgeschichte. Die Rekonstruktion der einheitlichen Konjunktiv-Bedeutung hat noch eine praktische Seite. Sie hat Auswirkungen auf den kognitiven Ansatz beim Fremdsprachenerwerb. Soll der Gebrauch des Konjunktivs einer fremden Sprache gelernt werden, so kann man grundsätzlich zwei Wege einschlagen. Man kann den Sprechern die Verhältnisse so darstellen, als seien die Konjunktive der schon erlernten und der neuen Sprache völlig verschiedene, inkompatible Einheiten. Um Interferenzen auszuschalten, würde man dann logischerweise versuchen, beim Sprecher die Überzeugung zu wecken, dass beide Modi völlig verschieden sind. Bei diesem didaktischen Ansatz müsste jede Parallelisierung vermieden und die Modi streng von einander getrennt gelernt/gelehrt werden. Die Gegenposition wäre, die Konjunktiv-Funktionen unter ein einheitliches Prinzip zu subsumieren und dieses in den Lernprozess mit einzubeziehen. Man muss dann in spezifischer Weise vorgehen, um störende Interferenzen zwischen beiden Sprachen zu vermeiden. Letztlich ist es eine empirische Frage, welcher der beiden Wege für das Sprachenlernen effektvoller ist. Vieles spricht aber dafür, dass es für den Lernenden der Fremdsprache von Vorteil sein kann, eine kognitive Unterstützung zu bekommen. Wie sehr der Lernende davon profitiert, hängt auch sehr davon ab, welchen Lerntyp er verkörpert; der Lerntyp wiederum hängt vom Lebensalter, von der individuellen Lernmethode, und auch von der sprachlichen und grammatischen Vorbildung des Lerners ab (vgl. Weydt 1993). Will man jedoch kognitiven Nutzen aus der Parallelität der Sprachen zie-
Konjunktiv
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hen, dann empfiehlt es sich, den gemeinsamen Bedeutungskern des Konjunktivs zu ermitteln und ihn für sich und die Lernenden über die Bewusstseinsschwelle zu heben. Der spanischsprachige Lerner des Französischen oder Deutschen oder der deutschsprachige Französisch-Lerner ist dann in der Lage, einen Bezug zwischen der Anwendung des Konjunktivs in seiner Sprache und in der Zielsprache herzustellen. Ihm wird – eine große Lernhilfe – klar, dass er die Grundstrukturen schon kennt, und er kann gezielt die Unterschiede und Ähnlichkeiten beider Sprachen zur Kenntnis nehmen und einüben. Es bleibt, das allgemein beobachtbare Schwanken des mündlichen und schriftlichen Gebrauchs zwischen den beiden Kategorien Indikativ und Konjunktiv zu kommentieren. Wenn es eine identische Grundfunktion gibt, wie lässt sich dann mit dem offensichtlichen Faktum umgehen, dass a) es verwirrende Unterschiede zwischen den Sprachen gibt, die zu zahlreichen Fehlern Anlass geben, b) sich sogar eng verwandte Sprachen wie das Spanische und das Portugiesische in Details des Konjunktiv-Gebrauchs unterscheiden10, und c) trotz einer stabilen Gesamtopposition ein steter Sprachwandel im Konjunktiv-Gebrauch stattfindet? Nur zwei Beispiele für den permanenten Modus-Wandel, der sich vor unseren Augen vollzieht: Im Deutschen wird zwar normativ gefordert, in der indirekten Rede mit Präsens-Matrixsatz den Konjunktiv Präsens zu setzen. Man sollte also sagen: Sigrun sagt, Patrick habe 500 € Schulden bei ihr. Man findet aber auch: Sigrun sagt, Patrick hat 500 € Schulden bei ihr oder Sigrun sagt, Patrick hätte 500 € Schulden bei ihr. Im Französischen findet man einerseits eine Ab- und andererseits eine Zunahme des Konjunktivgebrauchs. Im 20. Jahrhundert beobachtet man eine Zunahme des subjonctif-Gebrauchs nach à (la) condition que, (il) n’empêche que, d’où vient que, de là vient que, und après que, nach espérer que und nach verba dicendi. Auch die verbreitete Annahme einer Abnahme des subjonctif nach jusqu’à ce que, il arrive que, il se peut que, il est possible que, il se fait que, il se trouve que und il survient que scheint sich in dieser Form nicht halten zu lassen (Grevisse 2008: 1103).
10 An Übersetzungen des Satzes Ich glaube, dass er kommt (ind.) gegenüber Ich glaube nicht, dass er kommt (ind.) lässt sich die Variationsbreite der einzelnen Sprachen zeigen. Spanisch: Creo (‚ich glaube‘) que viene (ind.) gegenüber: No creo que venga (subj.). Portugiesisch: Eu acho (‚ich vermute‘) que ele vem (ind.) gegenüber: Eu não acho que ele venha (conj.). Eu acredito (‚ich glaube‘) que ele venha (conj.) gegenüber: Eu não acredito que ele venha (conj.). Außerdem kann im Spanischen nach aún que (‚obgleich‘) je nach Sprechereinstellung einer der beiden Modi gesetzt werden. Nach dem semantisch äquivalenten frz. quoi que muss obligatorisch der subjonctif stehen.
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Konjunktiv
Der Gebrauch des Konjunktivs hängt einerseits davon ab, als wie stark der Sprechende die Brechung einschätzt, andererseits ist er ein Resultat der Tradition, das heißt eine bis zu einem gewissen Grade gewohnheitsmäßige Übernahme von Gestaltungsmustern. Dieser Spannungsraum eröffnet Möglichkeiten der Variation, die wiederum modifizierte Traditionen begründen. Der Sprachwandel spielt sich in jenem Spielraum ab, der sich zwischen der Auslegung der Inhaltsgewissheit und den den Konjunktiv auslösenden Elementen ergibt. Das Ergebnis ist – wie jede Art des Sprachwandels – nicht a priori vorhersehbar und unterliegt okkasionellen und zeitlichen Schwankungen: der traditionsbildenden Kreativität der Sprecher. 4
Zusammenfassung
Im Hinblick auf die Bestimmung der allgemeinen Charakteristika erweist sich die Vielfalt und Variabilität des Konjunktiv-Gebrauchs in verschiedenen Sprachen, wenn man ihn vergleichend einer vertieften Reflexion unterzieht, trotz seiner unbestreitbar verwirrenden Wirkung als erkenntnisfördernd. Die Berücksichtigung von Vielfalt und Teildivergenz erlaubt eine sicherere Bestimmung der Hypothese von der Realitätsbrechung. Sie verhindert auch, dass die Suche nach einem gemeinsamen semantisch-funktionellen Nenner innerhalb einer Einzelsprache zu früh zugunsten der Aufzählung von Einzelvorkommen aufgegeben wird. Literatur Blumenthal, Peter (1987): Sprachvergleich Deutsch-Französisch. Tübingen: Niemeyer. Buscha, Joachim (1980): „Zur Darstellung des Konjunktivs in einer deutschen Grammatik für Ausländer“. Deutsch als Fremdsprache 17/1: 31–37; 17/2: 65–70. Coseriu, Eugenio (1970): Einführung in die strukturelle Betrachtung des Wortschatzes. Tübingen: Narr. (=Tübinger Beiträge zur Linguistik 14). Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik, Bd. 2: Der Satz. 3. durchgesehene Auflage. Stuttgart/Weimer: Metzler. Gili Gaya, Samuel (1993): Curso superior de sintaxis Española. 15. Aufl. Barcelona: Biblograf. Grevisse, Maurice (2008): Le bon usage. Grammaire française, refondue par André Goosse. 14e éd. Bruxelles/Louvain-la-Neuve: De Boeck/Duculot. Hentschel, Elke/Weydt, Harald (2003): Handbuch der deutschen Grammatik. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin/New York: de Gruyter. Weydt, Harald (1993): „Was soll der Lerner von der Grammatik wissen?“ In: Harden, Theo/ Marsh, Clíona (Hrsg.): Wieviel Grammatik braucht der Mensch? München, iudicium: 119–137. Weydt, Harald (2001): „Partikelforschung/Particules et modalité“. In: Holtus, Günter/Metzeltin, Michael/Schmitt Christian (Hrsg.): Lexikon der Romanistischen Linguistik. Band 1.2: Methodologie (Sprache in der Gesellschaft/Sprache und Klassifikation/Datensammlung und -verarbeitung )/Méthodologie (Langue et société/Langue et classification/Collection et traitement des données). Tübingen, Niemeyer: 782–801.
Kontamination
224
Weydt, Harald/Hentschel, Elke (1998): „Die Wortart ‚Partikel‘“. In: Cruse, David Alan u. a. (Hrsg.): Lexikologie. Lexicology. Ein Internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. An International Handbook on the Nature and Structure of Words and Vocabularies. 1. Halbband. Berlin/ New York, de Gruyter: 646–653. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 21.1). Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Subjonctif Stand 31. 1. 2007. Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Berlin/New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7.1–7.3).
Harald Weydt u Kontamination Bei der Kontamination werden zwei oder mehr Wörter zu einem verschmolzen. Zu den bekanntesten Beispielen hierfür zählen das englische smog (aus smoke und fog) oder das deutsche tragikomisch (aus tragisch und komisch). → Wortbildung u Konverb (engl.: converb) Konverben sind infinite Verbformen, die als Prädikate nicht finiter Adverbialsätze fungieren und die daher auch als Adverbialpartizipien bezeichnet werden. Sie sind insbesondere für die Altai-Sprachen typisch. Die Terminologie ist in diesem Bereich vielfältig und nicht sehr einheitlich: Während sich in Grammatiken romanischer Sprachen der Ausdruck „Gerundiv“ für Konverben findet, ist in Grammatiken anderer Sprachen auch von „Gerund“ die Rede. Im Deutschen werden anstelle von Konverben normalerweise finite Nebensätze verwendet. → Infinite Verbformen u Konversion (engl.: conversion, zero derivation) Bei der Konversion erfolgt die Bildung eines neuen Wortes, die mit einem Wortartwechsel einhergeht, nicht durch morphologisch fassbare Einheiten, sondern quasi unsichtbar. Hierher gehören substantivische Deverbativa aus Infinitiven: das Schreiben, das Verfahren ebenso wie die Konversion von Verbstämmen: der Lauf (zu laufen), der Schlaf (zu schlafen). → Wortbildung u Kopula (lat.: ‚Band, Bindemittel‘; engl.: copula) Zur Verknüpfung von nominalen Prädikaten mit dem Subjekt werden in vielen Sprachen sog. Kopula verwendet, die verbaler Art sein können (aber nicht müssen). Das zentrale Kopulaverb des Deutschen ist das Verb sein. → Verb
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Konjunktiv
L u Lokativ (von lat. locus ‚Ort‘; engl.: locative) Hat ein Kasus die Funktion der Ortsangabe, anwortet also allgemein auf die Frage „wo?“, so bezeichnet man ihn als Lokativ. Die indoeuropäischen Sprachen verfügten ursprünglich in ihrem System über einen solchen Kasus, und partiell ist er z. B. in einigen slawischen Sprachen noch erhalten. Er findet sich aber . auch in anderen Sprachen, so beispielsweise im modernen Türkischen: Istanbul’da ‚in Istanbul‘. → Kasus
Kontamination
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227
Modus und Modalität
M u Maskulinum (engl.: masculine gender) Bezeichnung für ein Genus, dessen ursprünglicher semantischer Kern im Bereich des natürlichen Geschlechts ‚männlich‘ liegt. → Genus u materiae, Genitivus (lat.: ‚Genitiv des Stoffs‘); auch: Genitivus rei (lat.: ‚Genitiv der Sache‘) Oft gleichbedeutend mit Genitivus partitivus verwendet, bezeichnet der Genitivus materiae im wörtlichen Sinne das Material, aus dem eine Sache besteht. Genitive dieser Art sind im modernen Deutschen, wo sie durch Konstruktionen mit aus ersetzt worden sind, nicht mehr geläufig und wirken sehr archaisch: ein Ring puren Goldes, ein Armband reinen Silbers. → Genitiv u Medium Von einem Medium spricht man dann, wenn eine spezifische Markierung des Verbs anzeigt, dass das Subjekt selbst vom im Verb ausgedrückten Geschehen betroffen ist, ohne dass die Einwirkung eines externen Agens vorliegt. Im Deutschen entsprechen am ehesten reflexive Konstruktionen des Typs Das sagt sich so leicht einem Medium. → Genus Verbi u Modus und Modalität 1
Einleitung
Die Geschichte des Konzepts der Modalität lässt sich zwar bis auf die Philosophie noch vor Aristoteles zurückführen, ihr heutiges Verständnis ist jedoch grundlegend von ihm geprägt worden, da seine Ausführungen in der Analytica Posteriora I.6 sowie in der Metaphysik V.12 und IX.1 weit über die bis dahin vorherrschende statistische Interpretation der Modalität hinausgehen (Lovejoy 1936; Becker 1952; Hintikka 1973; Waterlow 1982a, 1982b; van Rijen 1989). Entscheidend für die Entwicklung der Modallogik in ihrer heutigen Ausprägung waren aber die Arbeiten Immanuel Kants, in dessen Kategorientafel die Modalität wie folgt ausdifferenziert ist (Kant 1990: 110).
Modus und Modalität
228
Möglichkeit – Unmöglichkeit Dasein – Nichtsein Nothwendigkeit – Zufälligkeit Hinsichtlich der damit verbundenen Urteile lassen sich dementsprechend drei Typen unterscheiden: x
x
x
solche, die sich darauf beziehen, ob etwas möglicherweise der Fall ist (problematische Urteile); solche, die sich darauf beziehen, ob etwas tatsächlich der Fall ist (assertorische Urteile); solche, die sich darauf beziehen, ob etwas notwendigerweise der Fall ist (apodiktische Urteile).
Das Verhältnis der Urteile zu ihrer jeweiligen Modalität sieht Kant wie folgt: „Die Modalitaet der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, dass sie nichts zum Inhalte des Urteils beitraegt, (denn ausser Groesse, Qualitaet und Verhaeltnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmachte,) sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken ueberhaupt angeht.“ (KrV 1990: 113 f.). Dass „nichts zum Inhalt der Urteile“ beigetragen wird, ist eine fundamentale Erkenntnis, auf der auch die linguistischen Analysen der Modalität, vor allem diejenigen, die sich auf Modalverben konzentrieren, aufbauen. Das sprachwissenschaftliche Konzept der Modalität ist jedoch sehr viel weiter als das philosophische bzw. logische, denn jene Komponente, mit Hilfe derer der Sprecher subjektive Einschätzungen und Einstellungen äußert (Hodge/Kress 1999: 124; Bußmann 2002: 438 f.), umfasst sehr viel mehr als durch die oben angeführten Typen der Modalität abgedeckt wird. Die Bezüge zur sprachlichen Realisierung von Modalität zu den von Kant postulierten Unterscheidungen liegen aber, wie die folgenden Beispiele zeigen, auf der Hand. Problematische Urteile etwa, also solche, die sich darauf beziehen, dass etwas möglicherweise der Fall ist, finden wir in Aussagen wie Vielleicht ist er schon zu Hause. Assertorisch wäre, um beim Beispiel zu bleiben, Er ist zu Hause. Ein apodiktisches Urteil ist mit dem Beispielsatz aber nicht zu formulieren, da solche Urteile sich, zumindest im Bereich der Logik und der Philosophie, auf Propositionen beziehen, die logisch notwendigerweise wahr sind, wie etwa Ein Kreis ist rund. Um dieser recht engen Begrenzung des Konzepts der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, findet sich bei manchen Autoren (z. B. Di Giovanni 2000) die Unterscheidung zwischen „faktischer“ und „logischer“ Notwendigkeit. Um Wasser in Dampf zu überführen ist es
229
Modus und Modalität
beispielsweise faktisch, aber nicht logisch notwendig, eine bestimmte Menge Energie zuzuführen. Eine Aussage wird demnach als eine Einheit angesehen, die wahr bzw. falsch sein kann. Wenn nun eine weitere Bestimmung hinzutritt, dann kann diese als die Modalität dieser Einheit bzw. Aussage gelten. So gesehen sind Modalitäten also Operatoren, mit deren Hilfe einfache Aussagen in komplexere überführt werden (Rescher 1984). Ungeachtet der fachspezifischen Fragestellungen, die naturgemäß in der Linguistik einen anderen Fokus haben als in der Philosophie und in der Logik, ist die grundsätzliche Annahme, nämlich dass durch Modalität einem Urteil bzw. einer Aussage ein weiteres Urteil hinzugefügt wird, bei allen Untersuchungen ein entscheidendes Element. 2
Modallogik
Richtungsweisend für fast alle neueren Arbeiten zur Modalität sowohl in der Logik als auch in der Linguistik ist Georg Henrik von Wrights Essay on Modal Logic aus dem Jahre 1951 (von Wright 1951a). Die Termini und Konzepte, die durch von Wright eingeführt wurden (vgl. auch von Wright 1951b), bilden das Gerüst für den allergrößten Teil auch der sprachwissenschaftlichen Analysen und können trotz Modifikationen, Erweiterungen und zum Teil radikalen Umformulierungen nach wie vor als weitgehend verbindliche Grundlage angesehen werden (Lyons 1977; Frawley 1992; de Haan 1997; Palmer 1998; Diewald 1997; van der Auwera/Plungian 1998; Diewald 1999; Palmer 2001; Traugott/Dasher 2002). Von Wright unterscheidet die folgenden Typen von Modalität: Alethic
Epistemic
Deontic
Existential
necessary
verified
obligatory
universal
permitted
existing
possible contingent
undecided
indifferent
impossible
falsified
forbidden
empty
(von Wright 1951a: 1 f.) 2.1
Wahrheit und mögliche Welten
Es geht bei modallogischen Untersuchungen, wie aus dem bereits Gesagten schon andeutungsweise hervorgeht, um die Frage, unter welchen Bedingungen eine Proposition, eine Aussage, wahr bzw. falsch ist, und weiterhin darum, ob dies notwendigerweise, möglicherweise oder zufälligerweise der Fall
Modus und Modalität
230
ist. Fragestellungen also, die vorzugsweise in dem von Kant abgesteckten und von von Wright als alethisch bezeichneten Bereich angesiedelt sind. Der Tatsache, dass Aussagen unter bestimmten Umständen wahr, unter anderen jedoch falsch sein können, trägt die Idee der „möglichen Welten“ Rechnung. Obwohl stark an Sciencefictionliteratur gemahnend, handelt es sich hierbei tatsächlich um ein ehrwürdiges, von Gottfried Wilhelm Leibniz eingeführtes Konzept, das Bezug nimmt auf die Tatsache, dass Gott in seiner Allmacht und seinem grenzenlosen Vorstellungsvermögen die Welt auch ganz anders hätte gestalten können. Die entscheidenden Anstöße zur Ausformulierung und Systematisierung des Konzepts in seiner modernen Form gehen jedoch auf die Arbeiten von Saul Kripke aus den fünfziger und sechziger Jahren zurück. Die insgesamt äußerst komplexe Materie soll aber hier nicht weiter aufgefächert, sondern nur mit einigen Beispielen illustriert werden. Eine Aussage wie Ich bin reich ist in der wirklichen Welt nur verhältnismäßig selten wahr, nämlich nur dann, wenn die Person, die sie äußert, auch reich ist (wobei hier eine genaue Bestimmung dessen, was reich bedeutet, nicht von Belang ist). Jeder kann sich aber unschwer eine Welt vorstellen, in der diese Aussage wahr ist. Eine „mögliche Welt“ also, die mit Hilfe eines Glücksfalls oder harter Arbeit durchaus Wirklichkeit werden kann. Um das Verhältnis der Wahrheit einer Äußerung zur wirklichen bzw. zu einer (noch) nicht wirklichen Welt zu markieren, finden sich, vor allem in sprachwissenschaftlichen Arbeiten zur Modalität, häufig auch die Termini „realis“ und „irrealis“, wobei der gesamte Bereich des „irrealis“ als der eigentlich modalisierte aufgefasst wird (zur Opposition „irrealis“ vs. „potentialis“ siehe weiter unten unter Konjunktiv). Die Referenz auf eine mögliche Welt kann demnach als die entscheidende Funktion der Modalität angesehen werden. Modallogische Überlegungen beziehen sich, wie bereits erwähnt, auf den Wahrheitsstatus einer Aussage. Die Frage, die gestellt wird, ist, ob die jeweilige Aussage notwendigerweise, möglicherweise, zufälligerweise oder unmöglich wahr ist. Formal lässt sich dies mit Rückgriff auf die so genannten semantischen Primitiva ‚Möglichkeit‘ und ‚Notwendigkeit‘ (im weiteren Verlauf werden die englischen Kürzel POSS, für possibility, und NEC, für necessity verwendet) und deren Negation folgendermaßen darstellen: Ausgehend von der Notwendigkeit NEC P = Es ist notwendig, dass P lässt sich die Möglicheit POSS P = Es ist möglich, dass P darstellen als POSS P = ¬ NEC ¬ P.
231
Modus und Modalität
P ist also dann möglich, wenn nicht notwendig nicht-P gilt. Ebenso lässt sich die Notwendigkeit NEC natürlich über die Möglichkeit darstellen, denn es gilt: NEC P = ¬ POSS ¬ P, was im Klartext bedeutet: die Notwendigkeit von P ist äquivalent mit der Unmöglichkeit von nicht-P. Für die zufällige Gültigkeit von P, die Kontingenz, muss die Formel für die Möglichkeit dahingehend erweitert werden, dass auch P nicht notwendig gilt: KONT P = ¬ NEC ™ P ^ ¬NEC P. Die Kontingenz erscheint somit als eine erweiterte Form der Möglichkeit. 2.2
Die Arten der Modalität
2.2.1 Alethische Modalität Die alethische Modalität wird auch als objektiv bezeichnet, da der Sprecher lediglich als Informator auftritt und nicht in die Zuweisung des Modalstatus involviert ist. Ob eine Proposition als notwendigerweise oder möglicherweise wahr klassifiziert wird, hängt also von äußeren Bedingungen und nicht vom Sprecher ab: Im rechtwinkligen Dreieck ist das Hypotenusenquadrat gleich der Summe der Kathetenquadrate ist notwendigerweise in allen Welten wahr. Der Sprecher bzw. seine Meinung haben keinerlei Einfluss auf die Geltung. Männer sind größer als Frauen ist möglicherweise wahr bzw. man kann annehmen, dass es eine Welt gibt, in der diese Aussage wahr ist. Auch hier ist die Sprechereinstellung für die Wahrheit nicht von Belang. 2.2.2 Epistemische Modalität Im Gegensatz zur alethischen Modalität, deren Grundlage äußere Bedingungen sind, bezieht sich die epistemische Modalität auf das Sprecherwissen bzw. das, was der Sprecher zu wissen glaubt. Sie ist also subjektiv (Bally 1942; Vinogradov 1950/1975; Jachnow 1994; Grzegorczykowa 2001). Als epistemisch modalisiert werden dementsprechend solche Aussagen aufgefasst, in denen der Sprecher Beschränkungen bezüglich seines Wissens thematisiert. In sprachwissenschaftlichen Untersuchungen wird das Konzept der epistemischen Modalität von einigen Autoren als nicht hinreichend differenziert empfunden, da es keine Unterscheidung hinsichtlich der Quelle der Be-
Modus und Modalität
232
schränkung des Wissens erlaubt. Diesem Umstand trägt der Begriff der Evidentialität (engl. evidentiality) Rechnung (de Haan 1999, 2001). 2.2.3 Nicht-epistemische Modalität Ungeachtet der weitgehenden Akzeptanz der von Wright’schen Konzepte (de Haan 1997; van der Auwera/Plungian 1998; Traugott/Dasher 2002), existiert jedoch nach wie vor (wie in vielen Bereichen der Linguistik) eine zum Teil verwirrende Terminologievielfalt hinsichtlich der Ausdifferenzierung der verschiedenen Modalitätstypen. Die Gründe dafür liegen unter anderem darin, dass bereits hinsichtlich dessen, wie Modalität bzw. deren sprachliche Realisation angemessen zu erfassen ist, recht unterschiedliche Auffassungen existieren (McQuillan 2002: 10). Auch die Unterscheidung zwischen epistemischer und deontischer Modalität, obwohl wie oben bereits angedeutet weitgehend als Grundlage für linguistische Analysen akzeptiert, wird oft als nicht angemessen empfunden, da sie etwa die Bedeutung von können im Sinne des Über-eine-FähigkeitVerfügens nicht erfasst. Für diese Lesart wird daher häufig der Begriff der „dynamischen Modalität“ herangezogen. Eine der wichtigsten terminologischen Konventionen, die sich in vielen Untersuchungen durchgesetzt hat, ist die, die dynamische und deontische Modalität im Konzept „root modality“ zusammenzufassen (Coates 1983, 1995; Sweetser 1990). Der Ausdruck root (dt. ‚Wurzel‘) ist dadurch motiviert, dass dieser Typ Modalität als der (sprachgeschichtlich) vorgängige aufgefasst wird (Traugott 1989: 35). Eine konzeptionell ähnliche, terminologisch aber deutlich abweichende Einteilung wird auf Grund diachronischer Erwägungen in Bybee (1985) und Bybee/Perkins/Pagliuca (1996) (vgl. auch Bybee/Fleischman 1995a, 1995b) vorgenommen: epistemisch (epistemic), agens-orientiert (agent-oriented ), sprecher-orientiert (speaker-oriented ) und subordinierend (subordinating). Innerhalb der deutschsprachigen Literatur wird von einer Reihe von Autoren die Unterscheidung zwischen epistemischer (inferentieller) und zirkumstantieller (nicht-inferentieller) Modalität bevorzugt (Calbert 1975), wobei auch hier die zirkumstantielle Lesart als die ursprünglichere angesehen wird (Brünner/Redder 1983; Redder 1984; Fritz 1991; Dietrich 1992; Fritz 1997b; Eisenberg 2006). Bei diesen Klassifikationsversuchen wird deutlich, dass der Bereich der epistemischen Modalität terminologisch und konzeptuell entschieden weniger kontrovers ist als derjenige, der pauschal unter deontischer Modalität subsumiert wird. Es bedarf offensichtlich weit nuancierterer Unterscheidungen, um der sprachlichen Realität angemessen Rechnung zu tragen.
233
Modus und Modalität
Die Tatsache, dass Modalität zwar dem Urteil im Kant’schen Sinne nichts hinzufügt, den Sprechakt aber ganz entscheidend modifiziert, hat eine Anzahl sprachwissenschaftlicher Arbeiten hervorgebracht, in denen ihre pragmatische Funktion, vor allem ihre illokutionären Aspekte, untersucht werden (Ehlich/Rehbein 1972; Wunderlich 1981; Brünner/Redder 1983; Jäntti 1984; Redder 1984; Gloning 1997). Modalität, genauer ihre sprachliche Realisierung, wird dabei als Markierung bestimmter Sprechhandlungstypen gesehen (Koch 1986). 2.2.4 Abtönungsmodalität Diese Art der Modalität fällt aus dem oben abgesteckten Rahmen heraus, da es sich hier um Stellungnahmen der Sprecher handelt, die nicht in allen Fällen mit den Instrumenten der Modallogik erfassbar sind. Es ist die Modalität, die im Deutschen vorzugsweise durch Modalwörter und Modalpartikeln (der Terminus „Abtönungspartikeln“ wurde von Weydt 1969 vorgeschlagen) ausgedrückt wird. Kriwonossow (1977: 57) bezeichnet sie auch als „subjektive“ Modalität, im Unterschied zur „objektiven“ Modalität, die durch Modalverben und Modi abgedeckt wird. Obwohl einige der Modalwörter und Modalpartikeln durchaus epistemischen bzw. deontischen Charakter haben (epistemisch z. B. vielleicht in Das ist vielleicht der Briefträger oder wohl in Das hat er wohl vergessen), drückt Abtönungsmodalität ganz allgemein aus, wie der Sprecher einen Sachverhalt empfindet, wie er subjektiv dazu steht (Bublitz 1978: 29 f.). Die Frage nach notwendiger oder möglicher Wahrheit ist für diesen Bereich von eher nachrangiger Bedeutung. 3.
Die sprachlichen Ausdrucksmittel der Modalität
3.1
Modus
In der Linguistik ist Modalität in der Regel als eine semantische Kategorie definiert, Modus dagegen als eine grammatische (Lyons 1977: 848; Bausch 1979: 56 f.; Palmer 1998: 4), für die die bereits von Jespersen (1924/1992: 313) formulierte Einschätzung auch heute noch weitestgehend gilt, nämlich dass es sich bei den Modi um dem Verb inhärente morphosyntaktische Kategorien handelt. Die Modi des Deutschen, Indikativ, Konjunktiv und Imperativ, sind in recht unterschiedlicher Weise an der Modalisierung von Äußerungen beteiligt. Grammatikalisiert sind vergleichbare Modi in einer Reihe von sehr unterschiedlichen Sprachen, so etwa im Sanskrit, im klassischen Griechisch und
Modus und Modalität
234
Latein, in den romanischen Sprachen, wo der Konjunktiv bzw. Subjunktiv ein sehr stark grammatisch abhängiger Modus ist (zur dennoch deutlich markierten modalen Funktion vgl. z. B. Grevisse 2008: 1304), sowie in den germanischen Sprachen, aber auch in Bantusprachen wie beispielsweise Suaheli und in einigen nordamerikanischen und australischen Sprachen. Darüber hinaus gibt es in anderen Sprachen auch noch weitere Modi, die im Deutschen nicht grammatikalisiert sind, sondern entweder durch Formen des Konjunktivs, durch Modalverben oder andere Möglichkeiten der Modalisierung realisiert werden. So findet sich im Farsi mit dem so genannten Jussiv (Lambton 1996: 153) ein Modus, der Aufforderungen an die dritte Person markiert (Man nehme …). Im Türkischen gibt es einen Necessitativ, also einen Modus des Müssens (Du musst/sollst kommen), und einen Potential (auch Abilitativ, vgl. Haig 1998: XI), der als Modus des Könnens (Du kannst kommen) zum Ausdruck der Möglichkeit dient (vgl. Lewis 2000: 126 f., 153 f.). Letzteren Modus findet man auch im Navajo, einer nordamerikanischen Sprache, die daneben aber auch einen Optativ, eine Wunschform (Sei seiner Seele gnädig) aufweist (Young/Morgan 1998: 161–164), wie er historisch auch für die indoeuropäischen Sprachen typisch war (vgl. Brugmann 1904/1970: 554–557). Den Adhortativ, der verwendet wird, um Aufforderungen in der 1. Person Plural zu formulieren (Lasst uns gehen), gibt es im Koreanischen als eigenständigen Modus (Chang 1996: 191). Besonders häufig scheint der Ausdruck der Möglichkeit und der Wahrscheinlichkeit in den Sprachen der Welt grammatikalisiert zu werden (vgl. Bybee/Perkins/Pagliuca 1996: 205–207). Der Konjunktiv I im Deutschen ist – wie die obigen Ausführungem zeigen – polyfunktional. Neben seiner Funktion bei der Realisierung von potentialis, irrealis und der Redewiedergabe, übernimmt er auch vielfach Aufgaben, für die in anderen Sprachen spezielle Modi zuständig sind. 3.2
Die Modi des Deutschen
3.2.1 Indikativ Der Indikativ wird in Grammatiken normalerweise nicht als Modalitätsoperator betrachtet (vgl. z. B. Erben 2000: 100), da er sich auf die reale Welt bezieht, also den Bereich, der im alethischen Sinne notwendig bzw. im epistemischen Sinne als verifiziert gilt.
235
Modus und Modalität
3.2.2 Konjunktiv Der Konjunktiv, auch Möglichkeitsform genannt, thematisiert Bereiche, die im weitesten Sinne ein ungesichertes Wissen hinsichtlich eines Geschehens oder Seins bzw. die Wünschbarkeit der letzteren betreffen. Die Unterscheidung, die im Deutschen zwischen Konjunktiv I und Konjunktiv II getroffen wird, basiert im Prinzip nur auf dem Tempus des finiten Verbs. Im Präsens liegt dann nach dieser Einteilung der Konjunktiv I vor, im Präteritum der Konjunktiv II (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 118). Der Konjunktiv I, der vor allem bei der Redewiedergabe verwendet wird, zeigt deutlich epistemische Züge, da der Sprecher die Qualität seines Wissens (Unsicherheit auf Grund der Informationslage) klar markiert. Deutlich wird dies auch durch die funktionale Nähe zu sollen in epistemischer Lesart (Man sagt, er habe seine Frau umgebracht/Er soll seine Frau umgebracht haben). Der Konjunktiv II muss, wenn er dem Ausdruck der alethischen Modalität dient, unterteilt werden in möglich und unmöglich, was traditionell in Grammatiken auch als „potentialis“ und „irrealis“ bezeichnet wird. Im Sinne der weiter oben bereits getroffenen Unterscheidung zwischen realis und irrealis wäre der potentialis nur eine Sonderform des irrealis, denn mit Bezug auf mögliche Welten bedeutet dies, dass mit dem Konjunktiv II sowohl Aussagen gemacht werden können, die in mindestens einer dieser Welten wahr sind, als auch solche, die in keiner dieser Welten wahr sind (Frawley 1992: 389; Fleischman 1995: 522). Morphologische Unterschiede zwischen irrealis und potentialis werden dabei im Deutschen (im Gegensatz z. B. zum Portugiesischen) nicht gemacht. Ein klassisches Beispiel für den Konjunktiv II potentialis ist Wenn ich reich wäre. Selbst wenn das Eintreten dieses Sachverhalts unwahrscheinlich ist, so ist es doch keineswegs unmöglich. Es gibt also eine mögliche Welt, in der die Aussage Ich bin reich wahr ist. Der Konjunktiv II irrealis wird durch Beispiele wie Wenn ich du wäre illustriert. Hier gilt, dass es eben keine Welt gibt, in der die Aussage Ich bin du wahr ist. 3.2.3 Imperativ Der dritte Modus im Deutschen, der Imperativ, ist hinsichtlich des Wahrheitswertes einer Äußerung kaum relevant, da hier das Element der Volition, das bereits von Jespersen (1924/1992: 313) als ein für die Struktur von Modalsystemen entscheidendes erkannt wurde, in den Vordergrund tritt. Dass jedoch durchaus funktionale Bezüge zwischen Imperativ und Konjunktiv hinsichtlich des volitiven Moments bestehen, ist nicht zu übersehen (vgl. Strachan 1895; Sjoestedt-Jonval 1938; Thurneysen 1946/2003; Risselada 1993).
Modus und Modalität
3.2
236
Modalverben
Die deutschen Modalverben können, müssen, dürfen, mögen (möchte), sollen und wollen (von einigen Autoren werden auch nicht brauchen bzw. werden miteinbezogen; z. B. Duden-Grammatik 2005: 433; Vater 1975) sind polysem. Das heißt, sie haben zwei Bedeutungen bzw. Lesarten: eine deontische (dynamische) und eine epistemische. Die deontische Lesart ist die augenfälligere und sprachgeschichtlich vorgängige. Aus diesem Grunde stand sie vor allem in älteren Arbeiten im Vordergrund (vgl. z. B. Admoni 1982: 169). Interessanterweise sind es vor allem die deutschen Modalverben, bei denen die Polyfunktionalität weitgehend erhalten ist, während etwa im Englischen, vor allem in der amerikanischen Varietät, bis auf wenige fixierte Verwendungen nur noch die epistemische Bedeutung existiert (vgl. Abraham 2002: 20). Die Tatsache, dass beide Lesarten im Deutschen voll vorhanden sind, hat zu einer ausgesprochen reichen Forschungsliteratur geführt (Bech 1951, 1955/1983; Calbert/Vater 1975; Öhlschläger 1989; Sommerfeldt/Schreiber/Starke 1994; Fabricius-Hansen/Leirbukt/Letnes 2002; Kepser/Reis 2005; Frawley 2006). Eine der grundsätzlichen Fragestellungen, nämlich wie die Lesarten distributionell eindeutig unterschieden werden können (Reis 2001: 287), ist allerdings nach wie vor nicht befriedigend geklärt. Obwohl die Termini „deontisch“ und „epistemisch“ sich weitestgehend durchgesetzt haben, findet sich in einigen Grammatiken (so z. B. bei Helbig/ Buscha 2007: 116 f.) nach wie vor die Unterscheidung zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Modalität, womit auf eben diese beiden Lesarten Bezug genommen wird. Bei Äußerungen wie Du musst noch deine Mutter anrufen vs. Das muss deine Mutter sein wird die erste als objektiv, die zweite als subjektiv interpretiert. Die „objektive“ Funktion der Modalverben unterstellt „objektiv“ existierende Bedingungen bezüglich der Geltung des im Vollverb angesprochenen Sachverhalts. So kann Du musst noch deine Mutter anrufen durch Du hast die Verpflichtung, deine Mutter anzurufen ersetzt werden. Die „objektiven“ Bedingungen werden dabei durch ein entsprechendes System von moralischen oder ethischen Verpflichtungen geschaffen. Der Sprecher gibt also nicht seine eigene und damit subjektive Stellungnahme kund, sondern er verweist auf einen „objektiv“ bestehenden Sachverhalt. Der subjektive Gebrauch zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass der Sprecher die Bedingungen angibt, die nach seiner Einschätzung nach für die Geltung der Aussage gegeben sind. Ein Satz wie Das muss deine Mutter sein kann nicht durch eine Paraphrase wie Diese Frau hat die Verpflichtung deine Mutter zu sein wiedergegeben werden, sondern nur durch Meine Annahme, dass es sich um deine
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Modus und Modalität
Mutter handelt, ist nach Maßgabe der Umstände mit sehr großer Wahrscheinlichkeit korrekt. Die deontische Lesart, für die sich die Abkürzung MVD („Modalverb deontisch“ im Gegensatz zu MVE „Modalverb epistemisch“) eingebürgert hat, kann nach Quelle der Obligation und Stärke der Obligation differenziert werden. Im Falle von können, müssen und dürfen ist die Quelle der Obligation bzw. die Erlaubnis erteilende Instanz nicht eindeutig festgelegt. Bei sollen und wollen jedoch handelt es sich immer um eine identifizierbare Person: um den Sprecher selbst bei wollen und mögen (möchte), um eine dritte Person bei sollen. Die „Zehn Gebote“ sind ja eben keine allgemeinen Prinzipien, keine kategorischen Imperative, sondern Gottes persönlich an Moses übermittelte Regeln. Bezüglich der Stärke bzw. Intensität der Obligation ist eine Abstufung zwischen sollen und müssen nur insofern möglich, als die Tatsache, dass bei sollen die Quelle immer ein identifizierbares Individuum ist, dessen Autorität den Grad der Verpflichtung mitbestimmt. Wenn diese Autorität eher schwach ist, kann die Verpflichtung auch als wenig zwingend empfunden werden. Auf ein Ansinnen, das mit Du sollst … beginnt, kann man immer mit Wer hat das gesagt? reagieren. Du sollst noch den Rasen mähen. Wer hat das gesagt? Deine Mutter/dein kleiner Bruder. Sollte sich dann die Quelle der Obligation als nicht hinreichend legitimiert erweisen, hat man also durchaus die Alternative, der Aufforderung nicht nachzukommen. Weil die Quelle der Obligation bei müssen nicht klar erkennbar ist, wird die Intensität der Obligation als stärker empfunden, denn neben sozial verbindlichen Regeln können auch Naturgesetze als Bezugspunkt dienen. Du musst noch den Rasen mähen (sonst beschweren sich die Nachbarn/sonst wird er so hoch, dass man ihn nicht mehr mähen kann). Dies bringt müssen in die Nähe der alethischen Modalität, denn eine Äußerung wie Ich muss weinen, wenn ich dich sehe drückt ja keine starke moralische Verpflichtung aus, sondern eine Notwendigkeit. Bei können und dürfen wird die unterschiedliche Intensität in der Negation deutlicher und die Bezugnahme auf die Quelle eindeutiger. In den Beispielen Du darfst hier nicht rauchen. Du kannst hier nicht rauchen.
Modus und Modalität
238
ist bei dürfen die Bezugnahme auf ein bestehendes Verbot recht eindeutig, während der Gebrauch von können eher auf eine Regel des guten Benehmens (Rücksichtnahme auf Nichtraucher oder Kinder) verweist. Wollen und mögen (möchte) sind hinsichtlich der Intensität der Obligation insofern klar unterschieden, als mögen (möchte) eindeutig einen geringeren Grad thematisiert als wollen und dementsprechend auch die sozial akzeptablere Form der Äußerung von Wünschen repräsentiert. Kindern wird etwa schon recht früh beigebracht, dass sie nichts zu „wollen“ haben. Die epistemische Lesart der Modalverben, die auf den Grad des Wissens bzw. der Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer Aussage Bezug nimmt, ist insofern vielschichtiger, als hier die Kombination von unterschiedlichen Modaloperatoren (Modi, Abtönungspartikeln) sehr nuancierte Gradierungen ermöglicht. Hinsichtlich des Grades der Wahrscheinlichkeit der Wahrheit des in Rede stehenden Sachverhalts lassen sich unterschiedliche Niveaus identifizieren, die aber quantitativ kaum näher determiniert werden können. (1) (2) (3) (4) (5)
Das muss deine Mutter gewesen sein. Das kann deine Mutter gewesen sein. Das mag deine Mutter gewesen sein. Das soll deine Mutter gewesen sein. Das will deine Mutter gewesen sein.
Bei (1) geht der Sprecher davon aus, dass es kaum Alternativen zu seiner Annahme gibt, dass es sich also um einen fast verifizierten Sachverhalt handelt. Die Differenz zwischen (1) und (2) bzw. (3) ist deutlich wahrnehmbar, es fällt aber schwer zu sagen, wo nun die jeweilige Wahrscheinlichkeit auf der Skala zwischen 0 und 1 liegt. Bei (4) und (5) lässt sich eine Funktionsähnlichkeit zum Konjunktiv I feststellen, da hier auf Informationen aus zweiter Hand verwiesen wird. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass die Quelle dieser Information bei (4) eine dritte Person ist, bei (5) die Mutter selbst. Der gravierende Unterschied zwischen der epistemischen Lesart von müssen, können und mögen einerseits und sollen und wollen andererseits hat unter anderem zu der bereits weiter oben erwähnten Differenzierung zwischen echter Modalität und Evidentialität geführt (de Haan 1999; Aikhenvald 2006). Bezüglich der oben bereits erwähnten Distribution der beiden Lesarten lässt sich trotz anhaltender Debatten festhalten, dass die deontische Lesart den Infinitiv Präsens klar bevorzugt, während die epistemische Infinitiv Präsens und Infinitiv Perfekt zulässt.
239
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Infinitiv Präsens Er muss den Rasen mähen (sonst beschweren sich die Nachbarn). = MVD Er muss den Rasen mähen (man hört den Rasenmäher). = MVE Infinitiv Perfekt Er muss den Rasen gemäht haben (die Nachbarn haben sich nicht beschwert). = MVE Er muss den Rasen gemäht haben (bevor er mit einer anderen Arbeit anfängt). = MVD Wie die Beispiele zeigen, fällt es für manche Lesarten schwer, die entsprechenden situativen Kontexte zu konstruieren. Ambiguität tritt daher im alltäglichen Sprachgebrauch auch kaum auf. Dessen ungeachtet ist aber die Frage, durch welche Komponenten bereits auf der syntaktischen Ebene eine gewisse Wahrscheinlichkeit der einen oder anderen Lesart motiviert wird, nach wie vor noch nicht vollständig geklärt. 3.3
Modalwörter und Modaladverbien
Hinsichtlich Terminologie und Klassifizierung ist die einschlägige Literatur recht uneinheitlich. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass in Grammatiken die Klasse der Adverbien bereits eine recht heterogene Ansammlung von zum Teil völlig unterschiedlichen Elementen repräsentiert. (umfassende Darstellungen finden sich bei Helbig/Helbig 1993; Pasch u. a. 2003). Während jedoch die Modaladverbien wie beispielsweise gut, schlecht allgemein als eine Unterkategorie der Adverbien, also neben temporalen, lokalen usw. geführt werden und somit relativ klar verortet sind, sieht es bei den Modalwörtern weniger einheitlich aus. Durch das Unterscheidungsmerkmal der Deklinierbarkeit können sie jedoch bereits grob in zwei Gruppen eingeteilt werden. Zu den nicht deklinierbaren Modalwörtern zählen Elemente wie allerdings, immerhin usw., aber auch die Ableitungen auf -weise (erfreulicherweise, dummerweise usw.), die im Gegensatz zu den deklinierbaren wie angeblich, bestimmt usw. nicht attributiv verwendet werden können. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungskriterium ist zudem, ob sie als alleinige Antworten auf Entscheidungsfragen dienen können. Bei Modalwörtern ist dies der Fall (Hat es geklappt? – Erfreulicherweise.). Modaladverbien können demgegenüber nur als Antwort auf Ergänzungsfragen auftreten (Wie ist es gelaufen? – Gut.). Hinsichtlich ihrer semantischen Funktionen unterscheiden sich Modalwörter und Modaladverbien dadurch, dass die Ersteren eine subjektive Stellungnahme des Sprechers ausdrücken, einen kondensierten Kommentar (in der DudenGrammatik (2005) werden diese Elemente dementsprechend auch als „Kom-
Modus und Modalität
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mentaradverbien“ bezeichnet), während Modaladverbien sich eher auf objektive oder zumindest so wahrgenommene Eigenschaften realer Gegebenheiten beziehen. Das Schulbeispiel, an dem die Unterschiede ganz besonders deutlich werden, ist ruhig, das sowohl Modalwort als auch Modaladverb ist: Trink deinen Kaffe ruhig aus (ohne Eile) = Modaladverb vs. Trink deinen Kaffee ruhig aus (ich habe nichts dagegen) = Modalwort. Da sich Modalwörter, im Gegensatz zu Modaladverbien, immer auf den ganzen Satz beziehen und diesen in seiner Gesamtheit modalisieren, werden sie auch häufig als Satzadverbien bezeichnet (z. B. Heidolph u. a. 1984: 374; bei Hentschel/Weydt (2003: 266) werden Elemente wie leider zu den Satzadverbien gezählt, das Konzept „Modalwörter“ aber auf Ausdrucksmittel der Wahrscheinlichkeit beschränkt (ebd.: 274)). Hinsichtlich der jeweils ausgedrückten Modalität entziehen sich sowohl Modaladverbien als auch Modalwörter einer einfachen Differenzierung in „deontisch“ und „epistemisch“. Zwar fallen einige Elemente durchaus in diese Kategorien, aber der weitaus größte Teil beschreibt im Falle der Modaladverbien den Ablauf eines Vorgangs vor dem Hintergrund einer bestimmten Erwartungsnorm (Ungeschickt hüpfte er von Ast zu Ast = es gibt eine Grundidee des Vorgangs des Von-Ast-zu-Ast-Hüpfens. Das, was beobachtet wird, fällt eher negativ auf. Im Falle von behände wäre es positiv.). Bei den Modalwörtern (Satzadverbien, Kommentaradverbien) handelt es sich um den sehr weiten Bereich der persönlichen Einschätzung. Leider konnte er nicht kommen gibt die subjektive Haltung eines Individuums zu einem Sachverhalt wieder, der von einem anderen auch mit Gott sei Dank kommentiert werden könnte. Es ist wegen der Heterogenität dieses Feldes daher auch nicht weiter verwunderlich, dass klare Abgrenzungen und eindeutige Termini schwer zu finden sind. Den Modalwörtern ähnlich in ihrer Funktion als Ausdruck einer persönlichen Sprechereinstellung sind die Modalpartikeln, für die im folgenden der von Harald Weydt geprägte Begriff der „Abtönungspartikeln“ verwendet wird. 3.4
Abtönungspartikeln
Obwohl Abtönungspartikeln in einer Reihe von Sprachen auftreten, ist die einschlägige Forschung sehr stark von der germanistischen Linguistik geprägt und beeinflusst worden, da diese Wörter im Deutschen erstens besonders zahlreich und zweitens, vor allem in der gesprochenen Sprache, hochfrequent sind. Im Gefolge der bahnbrechenden Untersuchung von Harald Weydt aus dem Jahre 1969 und angeregt durch die Publikation der grund-
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Modus und Modalität
legenden Studie von Aleksej Kriwonossow 1977 intensivierte sich die Forschung in den siebziger und achtziger Jahren enorm (Weydt 1969; Kriwonossow 1977; Lütten 1977; Weydt 1979; Franck 1980; Gornik-Gerhardt 1981; Weydt 1981, 1983; Harden 1983; Hentschel 1986; Thurmair 1989; Weydt 1989; Helbig 1994). Dass nach wie vor ein reges Interesse an diesen Wörtern besteht, wird durch die anhaltende wissenschaftliche Produktion belegt (Feyrer 1998; May 2001; Authenrieth 2002). Wie in vielen anderen Bereichen gibt es aber auch hier keine durchgehende und einheitliche Klassifikation. Einigkeit besteht jedoch weitgehend in der Einschätzung, dass es sich weniger um eine Formklasse als vielmehr um eine Funktionsklasse handelt. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass fast alle Abtönungspartikeln Homonyme sind. Gängigerweise als Abtönungspartikeln akzeptiert werden: aber, ja, auch, denn, doch, eben, halt, etwa, mal, nur, schon, vielleicht, wohl (Thurmair 1989). Die Multifunktionalität dieser Wörter fällt dabei sofort ins Auge, das heißt isoliert betrachtet sind sie nicht eindeutig als Abtönungspartikeln zu klassifizieren. Die folgenden Kriterien für die Identifikation von Abtönungspartikeln sind jedoch weitestgehend akzeptiert: Sie sind synsemantisch, nicht satzgliedfähig, nicht vorfeldfähig und sie sind in der Regel unbetont. Außerdem lassen sie sich nicht – wie beispielsweise Modalwörter – in einen übergeordneten Satz transformieren. Das ist vielleicht (möglicherweise = Modalwort) ein Trottel lässt sich transformiern in Es ist vielleicht (möglicherweise) der Fall, dass er ein Trottel ist. Bei vielleicht als Abtönungspartikel Das ist vielleicht ein Trottel, kann der Satz nur so paraphrasiert werden: Es ist unglaublich – und ich bin darüber erstaunt – welches Ausmaß seine Trotteligkeit hat. Da diese Abgrenzung aber nicht immer konsequent durchgeführt wird, tauchen in einer ganzen Anzahl wichtiger Untersuchungen aber auch Wörter wie immerhin, allerdings unter dem Rubrum „Abtönungspartikeln“ auf (vgl. z. B. Weydt u. a. 1994; Engel 2004: 126 f.). Ähnlich wie die Modalwörter drücken Abtönungspartikeln etwas aus, das nicht unter die klassischen Kategorien „deontisch“ und „epistemisch“ fällt, da auch hier weder Notwendigkeit noch Möglichkeit eine Rolle spielen. 4
Abschließende Bemerkungen
Die Modallogik und deren Konzepte haben einen entscheidenden und sehr fruchtbaren Einfluss auf die linguistische Modalitätsforschung gehabt. Sprachliche Ausdrucksformen des gesamten Spektrums der möglichen Sprechereinstellungen lassen sich aber nur bis zu einem gewissen Grad mit dem von der Modallogik zur Verfügung gestellten Instrumentarium analysieren.
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Auch das Kant’sche Verdikt, dass Modalität einem Urteil nichts hinzufügt, lässt sich für sprachwissenschaftliche Untersuchungen nicht immer aufrechterhalten, da zumindest auf der pragmatischen Ebene die Modalität häufig das Urteil beinhaltet. Die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten der Modalität bilden ein komplexes System, ein Modalfeld (Brinkmann 1971; Meier 1977; Schmidt 1983), das es dem Sprecher erlaubt, sich in Bezug auf seine Einstellung, seinen Wissensgrad und hinsichtlich möglicher Verpflichtungen sehr differenziert zu äußern. Literatur Abraham, Werner (2002): „Modal verbs: epistemics in German and English“. In: Barbiers, Sjef / Beukema, Frits/Wurff, Wim van der (Hrsg.): Modality and its interaction with the verbal system. Amsterdam/Philadelphia, Benjamins: 19–50. (= Linguistik aktuell 47). Admoni, Wladimir (1982): Der deutsche Sprachbau. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. München: Beck. (= Beck’sche Elementarbücher). Aikhenvald, Alexandra Y. (2006): Evidentiality. Reprinted. Oxford u.a.: Oxford University Press. Aristoteles (1960/2004): Posterior Analytics. Volume II. Edited and translated by Hugh Tredennick. Reprinted. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press. (= Aristotle II. The Loeb classical library 391). Aristoteles (1935/1997): Metaphysics. Volume X. Edited and translated by Hugh Tredennick. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press. (= Aristotle XVIII. The Loeb classical library 287). Autenrieth, Tanja (2002): Heterosemie und Grammatikalisierung bei Modalpartikeln: eine synchrone und diachrone Studie anhand von „eben“, „halt“, „e(cher)t“, „einfach“, „schlicht“ und „glatt“. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 450). Auwera, Johan van der/Plungian, Vladimir A. (1998): „Modality’s semantic map“. Linguistic Typology 2: 79–124. Bally, Charles (1942): „Syntaxe de la modalité explicite“. Cahiers Ferdinand de Saussure 2: 3–13. Bausch, Karl-Heinz (1979): Modalität und Konjunktivgebrauch in der gesprochenen deutschen Standardsprache. München: Hueber. (= Heutiges Deutsch 9). Bech, Gunnar (1951): Grundzüge der semantischen Entwicklungsgeschichte der hochdeutschen Modalverba. København: Munksgaard in Komm. (= Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab. Historisk-filologiske Meddelser 32.6). Bech, Gunnar (1955/1983): Studien über das deutsche Verbum infinitum. København 1955: Munksgaard. 2., unveränderte Auflage mit einem Vorwort von Cathrine Fabricius-Hansen. Tübingen 1983: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 139). Becker, Oskar (1952): Untersuchungen über den Modalkalkül. Meisenheim am Glan: Hain. Brinkmann, Henning (1971): Die deutsche Sprache: Gestalt und Leistung. 2., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Düsseldorf: Schwann. Brugmann, Karl (1904/1970): Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Auf Grund des fünfbändigen ‚Grundrisses der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen von K. Brugmann und B. Delbrück‘ verfasst. Strassburg 1904: Trübner. Photomechanischer Nachdruck. Berlin 1970: de Gruyter. Brünner, Gisela/Redder, Angelika (1983): Studien zur Verwendung der Modalverben. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Grammatik 19). Bublitz, Wolfram (1978): Ausdrucksweisen der Sprechereinstellung im Deutschen und Englischen: Untersuchungen zur Syntax, Semantik und Pragmatik der deutschen Modalpartikeln und Vergewisserungsfragen und ihrer englischen Entsprechungen. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 57).
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Theo Harden
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Movierung
u Movierung Die Movierung dient als Wortbildungsmittel dazu, Bezeichnungen für Lebewesen hinsichtlich ihres biologischen Geschlechts zu markieren, z. B. Student – Studentin, Maus – Mäuserich. → Wortbildung
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Nominativ
N u Neutrum (von lat. neutrum ‚keines von beidem‘; engl.: neuter gender) Bezeichnung für ein Genus, dessen ursprünglicher semantischer Kern außerhalb der Bereiche der natürlichen Geschlechter ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ liegt. → Genus u Nominativ 1
Einleitung
Der Nominativ – nach Latein nominare – ist der Kasus, dem als einzigem die Funktion zukommt, Gegenstände und Inhalte zu ‚nennen‘ ohne Bezugnahme auf irgendeinen Vorgang oder Zustand, an dem diese beteiligt wären. Die Nominativform eines Lexems ist die Form, in der wir es in unserem mentalen Lexikon speichern und als deren Abwandlungen wir die übrigen Kasusformen betrachten; daneben teilt der Nominativ mit den übrigen Kasus selbstverständlich auch satzgebundene Funktionen. Wenn Jakobson (1936: 33) den Nominativ als die „merkmallose Form für die Nennfunktion der Rede“1 bezeichnet, verbindet sich mit der formalen bzw. morphologischen Seite dieser Definition auch die Tatsache, dass der Nominativ in vielen Sprachen als einziger Kasus keine eigenständige Endung aufweist. Aufgrund der Tatsache, dass der Nominativ als Grundkasus sowohl der Kasus des Subjekts intransitiver Verben – unabhängig von der semantischen Rolle von dessen Referenten – als auch der Kasus des Subjekts transitiver Verben in der Rolle des Agens ist, rechnet man das Deutsche sprachtypologisch den so genannten Nominativsprachen zu. In diesen Sprachen ist der Akkusativ dann der Kasus des Objekts als Patiens transitiver Verben: Der Hund (Nominativ) bellt gegenüber Der Hund (Nominativ) beißt den Jungen (Akkusativ).2
1 Leys (1993) spricht hier von der „presentative function“ des Nominativs. Aufgrund eben dieser Nennfunktion überrascht es nicht, dass der Nominativ auch den ursprünglichen Kasus der Anrede, nämlich den Vokativ, ersetzt hat: lieber Max, liebe Inge, liebes Fräulein, liebe Freunde. 2 Im Unterschied dazu markieren so genannte Ergativsprachen wie das Kurdische mit dem Grundkasus Absolutiv das Subjekt intransitiver und das Objekt transitiver Verben, während das Agens transitiver Verben in diesen Sprachen einen eigenen Kasus, den Ergativ, aufweist (vgl. dazu allgemein Comrie 2001).
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Nominativ
2
Morphologische Aspekte
Im Vergleich zu anderen germanischen Sprachen weist das Deutsche, zumal in seiner standardsprachlichen3 Version, noch eine relativ komplexe Flexionsmorphologie auf. Dies heißt jedoch nicht, dass alle (vor)geschichtlichen Kasusoppositionen erhalten geblieben wären. Auch das heutige Vier-Kasussystem ist, wenigstens flexionsmorphologisch, zum Teil eine Fiktion: Viele Formen vertreten mehr als einen Kasus.4 Der Nominativ ist in dieser Hinsicht mit dem Akkusativ zusammenzunehmen: Im Gegenwartsdeutschen hat sich der Nominativ entweder als selbstständige Form behauptet oder aber es ist zu einem Zusammenfall mit dem Akkusativ gekommen, der historisch schon immer für das Neutrum gegolten hat; Synkretismus mit Dativ und Genitiv kommt in der Regel nicht vor, außer beim Substantiv.5 2.1
Personalpronomina
Alle Personalpronomina der 1. und 2. Person weisen eine als solche erkennbare Nominativform auf; in der 3. Person liegt die Opposition beim Reflexivum generell, sonst aber nur im Maskulinum Singular vor: +/– Reflexivum
1.P.Sg.
2.P.Sg
1.P.Pl.
2.P.Pl.
Nominativ
ich
du
wir
ihr
Akkusativ
mich
dich
uns
euch
3 Zum Kasussystem in den deutschen Mundarten vergleiche man u. a. Shrier (1965), Dal (1971) und König (2007: 154 f.). 4 Dem Prozess des Kasusabbaus geht Kasussynkretismus, die Verschmelzung bzw. der Zusammenfall verschiedener Kasusformen in einer voraus, so z. B. der Zusammenfall von indogermanischem Lokativ, Instrumental und Ablativ im Lateinischen Ablativ. 5 Im konkreten Sprachgebrauch kommen „nackte“, das heißt kein Determinativ oder Adjektiv enthaltende Genitivphrasen, nicht und nackte Dativphrasen nur selten vor, zum Teil mit gewissen stellungsbedingten Gebrauchsbeschränkungen. So ist die Phrase Bundeskanzler Schröder in den folgenden Sätzen als Nominativ, Akkusativ und Dativ einsetzbar: Fragt Bundeskanzler Schröder (Nominativ) nach der Wahrheit? Fragt Bundeskanzler Schröder (Akkusativ) nach der Wahrheit! Sagt Bundeskanzler Schröder (Nominativ) die Wahrheit? Sagt Bundeskanzler Schröder (Dativ) die Wahrheit! Ein „nacktes“ Hass ist als Nominativ und Akkusativ frei verwendbar, aber als Dativ in einer nichtkanonischen Position kaum: Hass (Nominativ) sprühte aus seinen Augen. Seine Augen spien Hass (Akkusativ). Trotzdem setzte er sich dem Haß (Dativ) aus und kämpfte gegen die dominierenden Mächte für Gerechtigkeit. (I. Buck, Internetbeleg) Nicht korrekt wäre hier eine „nackte“ Dativphrase: Trotzdem setzte er sich *Hass (Dativ) aus und kämpfte gegen die dominierenden Mächte für Gerechtigkeit. Man vergleiche auch Draye (1996: 161–164).
251
Nominativ
+ Reflexivum
3.P.Sg.M.
3.P.Sg.F.
3.P.Sg.N.
3.P.Pl.
Nominativ
er
sie
es
sie
Akkusativ
sich
sich
sich
sich
– Reflexivum
3.P.Sg.M.
3.P.Sg.F.
3.P.Sg.N.
3.P.Pl.
Nominativ
er
sie
es
sie
Akkusativ
ihn
sie
es
sie
2.2
Sonstige Pronomina
Die Verhältnisse beim Personalpronomen der 3. Person liegen auch bei den übrigen Pronomina vor: Oppositionen beim Reflexivum, zumindest teilweiser Zusammenfall bei den nicht-maskulinen Formen (falls eine Nominativform vorhanden ist). + Reflexivum
M.
F.
N.
Pl.
Nominativ
wer der dieser …
– die diese …
was das dies(es) …
– die diese …
Akkusativ
sich
sich
sich
sich
– Reflexivum
M.
F.
N.
Pl.
wer der dieser
– die diese
was
–
das dies(es)
die diese
…
…
…
…
wen den
– die
was das
– die
diesen …
diese …
dies(es) …
diese …
Nominativ
Akkusativ
2.3
Determinative
Die eine Nominalphrase auch flexivisch eröffnenden Determinative fallen in zwei Gruppen: einerseits die geschlossene Gruppe ein/kein/Possessivdeterminative und andererseits die übrigen Determinative (der/dieser/jener usw.). Es gelten hier die gleichen Verhältnisse: Zusammenfall von Nominativ und Akkusativ, außer im Maskulinum.
252
Nominativ
2.3.1 Gruppe ein/kein/Possessivdeterminativa M.
F.
N.
Pl.
Nominativ
mein+Ø (Weg)
mein+e (Tat)
mein+Ø (Rad)
mein+e (Taten)
Akkusativ
mein+en (Weg)
mein+e (Tat)
mein+Ø (Rad)
mein+e (Taten)
2.3.2 Übrige Determinative M.
F.
N.
Pl.
Nominativ
jen+er (Weg)
jen+e (Tat)
jen+es (Rad)
jen+e (Taten)
Akkusativ
jen+en (Weg)
jen+e (Tat)
jen+es (Rad)
jen+e (Taten)
2.4
Adjektive
Die flexivische Form deutscher Adjektive ist bekanntlich eine Funktion des vorhergehenden Determinativs: ihre Endungen sind „stark“, a) wenn sie statt eines Determinativs, und unter Übernahme von dessen Endungen, die Nominalphrase eröffnen oder b) bei vorangehendem unflektiertem Determinativ. In diesem Fall bestätigt sich das bereits bekannte Muster: Opposition im Maskulinum, Zusammenfall in den übrigen Formens des Singulars sowie im Plural: M.
F.
N.
Pl.
Nominativ
(solch) gut+er Wein
(solch) gut+e Milch
(solch) gut+es Obst
(solch) gut+e (Weine)
Akkusativ
(solch) gut+en Wein
(solch) gut+e Milch
(solch) gut+es Obst
(solch) gut+e (Weine)
Bei vorangehendem flektiertem Determinativ bleiben die Adjektive flexivisch neutral(er) und weisen weniger ausdifferenzierte, die so genannten „schwachen“ Endungen auf: M.
F.
N.
Pl.
Nominativ
solcher gut+e Wein
solche gut+e Milch
solches gut+e Obst
solche gut+en Weine
Akkusativ
solchen gut+en Wein
solche gut+e Milch
solches gut+e Obst
solche gut+en Weine
Auch hier behauptet sich die Opposition Nominativ/Akkusativ nur im Maskulinum Singular; aus der Sicht des Systems haben wir es hier wohl eher mit
253
Nominativ
einer Redundanz bzw. einem Ungleichgewicht zu tun, insoweit als die Adjektivendung (e gegenüber en) eine Opposition wiederholt, die schon am Determinativ (er gegenüber en) deutlich wird. 2.5.
Substantive
Die indoeuropäische Formenvielfalt im Bereich der Substantivflexion ist im Gegenwartsdeutschen nur noch spurenhaft vertreten. Beim so genannten starken Substantiv fällt infolge des morphologischen Kasusverfalls der Nominativ immer (wenigstens) mit dem Akkusativ zusammen. Nominativ/Akkusativ
Mann
Genitiv
Mann+es
Dativ
Mann+(e)
Mutter
Nominativ/Genitiv/ Dativ/Akkusativ
Im schwachen maskulinen Paradigma des Singulars ist der Nominativ theoretisch von den drei übrigen Kasus zu unterscheiden. Nominativ
Automat
Kroate
Genitiv/Dativ/Akkusativ
Automat+en
Kroate+n
Hier ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die (e)n-Endung nur dann eindeutig als Kasusendung funktionieren und den Nominativ von den übrigen Kasus unterscheiden kann, wenn sie nicht als Pluralendung missverstanden werden kann, das heißt in Kontexten, in denen dies von einem vorhergehenden Determinativ oder Adjektiv oder aber durch einen syntaktischen Mechanismus sichergestellt wird:6 eine Mensa ohne einen Kaffeeautomaten (Akkusativ Singular) eine Mensa ohne modernen Kaffeeautomaten (Akkusativ Singular) ich kannte ihn als Studenten (Akkusativ Singular) Liegt ein solcher vereindeutigender Kontext nicht vor, wird das Suffix eher als Numerus- denn als Kasussuffix verstanden: eine Mensa ohne Kaffeeautomaten (Plural/(Singular)) wir kannten ihn als Studenten (Plural/(Singular)) Erst der Verzicht auf die Flexion und somit auf die formale Kasusdifferenzierung führt zu einer zwingend singularischen Interpretation: 6 Für eine ausführlichere Besprechung vergleiche man Draye (2002: 183–199), zum Teil in Auseinandersetzung mit Olsen (1991: 64) und Wegener (1995: 161–163).
Nominativ
254
eine Mensa ohne Kaffeeautomat+Ø (Singular) viele kannten ihn als Student+Ø (Singular) 2.6
Effekte des Formenzusammenfalls
In Draye (2002: 177–198) habe ich an Hand von Beispielen mit „Gapping“ gezeigt, dass ein Zusammenfall von Kasusformen dazu führt, dass die Einheitsform zu gleicher Zeit für ihre beiden „Bedeutungen“ stehen kann. Man vergleiche etwa uns als „Akkudativ“ in Er hat uns (Akkusativ/Dativ) immer unterstützt (Akkusativ) und nach Kräften geholfen (Dativ) und der als „Genidativ“ in Er bedurfte (+Genitiv) und frönte (+Dativ) der Leidenschaft (Genitiv/Dativ). Bei fehlendem Synkretismus ist Gapping nicht möglich: *Er hat mich immer unterstützt und nach Kräften geholfen. *Er bedurfte und frönte dem Liebesspiel. Hier müssen die beiden Kasusformen gebraucht werden: Er hat mich immer unterstützt und mir nach Kräften geholfen. Er bedurfte des Liebesspiels und frönte ihm. Ob es auch einen „Akkunominativ“ gibt, liegt auf den ersten Blick weniger auf der Hand. Ein Satz wie *Die Frau (Nominativ/Akkusativ) kenne ich nicht, aber scheint mich zu lieben ist deutlich ungrammatisch. Diese Ungrammatizität ist jedoch nicht auf einen etwaigen Sonderstatus des „Akkunominativs“ zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass in diesem Satz ein topikales Ungleichgewicht vorliegt: Als direktes Objekt von kennen ist die Frau topikalisiert, als Subjekt von scheinen nicht. Liegt ein solches topikales Ungleichgewicht nicht vor, dann ist ein „Akkunominativ“ in jedem Fall möglich, wie in dem folgenden Beispiel, in dem die Frau sowohl als Objekt von bewundern wie als Prädikativ von sein topikalisiert ist: Eine so schöne Frau (Nominativ/Akkusativ) bewundere (+Akkusativ) ich und möchte ich auch gerne sein (+Nominativ).7 Auch in Demonstrativ-Relativstrukturen gehört ein „Akkunominativ“ zu den Möglichkeiten: 7 Man könnte sich fragen, ob hier nicht zwei Mal ein Akkusativ realisiert wird und sich hier somit eine Tendenz bemerkbar machen würde, den Akkusativ als Kasus des Prädikativs zur Anwendung kommen zu lassen. In jedem Fall scheint aber die Akzeptanz des gleichen Satzes mit einer maskulinen und deshalb akkusativisch markierten Nominalgruppe erheblich geringer zu sein: ??Einen so schönen Mann bewundere ich und möchte ich auch gerne sein.
255
Nominativ
Was (Nominativ/Akkusativ) du sagst (+Akkusativ), stimmt (+Nominativ). Die (Nominativ/Akkusativ) mich unten erwarteten (+Nominativ), hatte ich zuvor noch nie gesehen (+Akkusativ). Eine Wiederaufnahme des Antezedens und folgliche eine Auflösung des „Akkunominativs“ ist hier durchaus möglich, aber – anders als bei formverschiedenen Kasusformen – nicht obligatorisch: Das (Nominativ), was (Akkusativ) du sagst (+Akkusativ), stimmt (+Nominativ). Die (Nominativ), die mich unten erwarteten (+Nominativ), hatte ich zuvor noch nie gesehen (+Akkusativ). *Der mich unten erwartete, hatte ich zuvor noch nie gesehen. *Den mich unten erwartete, hatte ich zuvor noch nie gesehen. Den, der mich unten erwartete, hatte ich zuvor noch nie gesehen. 3
Funktions- bzw. „Bedeutungs“-Aspekte
3.1
Subjekt
Der Nominativ hat im Deutschen nicht nur die bereits erwähnte „Nennfunktion“ inne, sondern ist auch der Kasus des grammatischen Subjekts, und zwar in dessen unterschiedlichsten semantischen Rollen8: Der Mann schlägt den Hund. (‚Agent‘) Der Hund wird vom Mann geschlagen. (‚Patient‘) Der Mann interessiert die Frau. (‚Stimulus‘) Der Mann bekam viele Fragen gestellt. (‚Experiencer‘) Der Mann bekam einen Füller geschenkt. (‚Beneficiary‘) Der Mann ist groß. (‚Theme‘) 3.2
Prädikativ
Herkömmlicherweise wird angenommen, dass das Prädikativ aufgrund eines Mechanismus der Kasusgleichsetzung den Nominativ als Kasus zugewiesen bekommt: Mein Vater (Nominativ1) war ein Wandersmann (= Nominativ2). Meine Mutter (Nominativ1) war eine schöne, elegante Frau (= Nominativ2).
8 Zu den Begriffen vergleiche man Draye (2002).
Nominativ
256
Es sei nebenbei bemerkt, dass andere germanische Sprachen hier einen obliquus haben. Deutsch: wenn ich *ihn/er wäre9; Englisch: if I were him/?he10; Niederländisch: als ik hem/*hij was11. Dies führt bei niederländisch- und englischsprachigen Deutschlernern zu schwer unterdrückbaren Interferenzfehlern wie: *Peter war meinen besten Freund. *Goethe war sicher einen der größten Deutschen. Der Nominativ als Kasus des Prädikativs findet sich daneben auch in Infinitivkonstruktionen, in denen eine Bezugsphrase als Kongruenzfaktor nicht oder nur mittelbar vorliegt: Eine schöne Frau (= Nominativ2) (zu) sein, war das einzige, was meine Mutter verlangte. Eine schöne Frau (= Nominativ2) (zu) sein, war das einzige, was meiner Mutter abverlangt wurde. Wird ein Prädikativ in eine so genannte AcI-Struktur integriert, in der das dann so genannte „logische“ Subjekt zwingend den Akkusativ annimmt, so kann es erwartungsgemäß als Gleichsetzungsakkusativ erscheinen: Die Nacht […] umarmt mich sanft und lässt mich [Akkusativ1] ihren Freund und ihren Bruder [= Akkusativ2] sein. (Hesse: Nacht, zitiert nach Duden 2007 s. v. lassen) Dieser Akkusativ zeigt sich auch im folgenden Beleg, in dem das inhaltliche Subjekt in der Präpositionalphrase mit aus realisiert ist und ein Kongruenzfaktor somit aus morphosyntaktischer Perspektive eigentlich nicht vorliegt (Internetbeleg):
9 Eine Google-Recherche am 7. 2. 2007 durch Elke Hentschel (persönliche Mitteilung) ergab folgendes Ergebnis: 21 (0,5 %) Internetbelege für wenn ich ihn wäre gegenüber 3760 (99,5 %) für wenn ich er wäre. Bei wenn ich dich/du wäre liegen die Verhältnisse allerdings ein wenig günstiger für den Akkusativ: 725 (1,7 %) zu 44 400 (98,3 %). Auf Schweizer Seiten betrug die Relation dich/du in diesem Beispiel 154:275 (36/64 %), was durchaus zum Schluss berechtige, dass es hier auch regionale Besonderheiten gebe. 10 Eine Google-Recherche am 30. 06. 2008 ergab 151 000 Internetbelege für if I were him gegenüber 12 100 für if I were he. 11 Eine Google-Recherche am 15. 01. 2007 ergab 15 400 Internetbelege für als ik hem was und – bis auf einen (!) – keine richtigen Belege für als ik hij was. Man vergleiche auch Van Haeringen (1956: 43).
257
Nominativ
Maricel brilliert mit schöner Sopranstimme als Engel/Belle, die sich gemeinsam mit Peter Trautwein (Marley) abrackert, um aus Scrooge einen besseren Menschen [= Akkusativ2] werden zu lassen. In zunehmendem Maße lässt sich in der AcI-Umgebung jedoch als Prädikativkasus der Nominativ beobachten, der dann nicht mehr als Gleichsetzungskasus12, sondern als subjektunabhängig zu betrachten ist (vgl. Draye 2002: 196 f.) (Internetbelege): Oh, du weißt nicht, Mutter, was in mir vorging, als ich deinen Brief las … Es war mehr als Genugtuung … ich fühlte mich [Akkusativ] ein besserer Mensch [Nominativ] werden … gütig, verstehend, wohltätig … das ist nun alles wieder aus … Ich mag die größte Schuld tragen, doch lasse Dir gesagt sein, dass ich diese gerne auf mich nehme, gerne dafür leide – denn es lässt mich [Akkusativ] ein besserer Mensch [Nominativ] sein – keiner der sich vergräbt oder wegschaut. Man vergleiche dazu auch Duden (2005: 985), allerdings ohne den Schluss, dass sich der Nominativ dem Gleichsetzungsmechanismus zu entziehen und sich als selbstständiger Prädikativkasus zu etablieren scheint. 3.3
Apposition
Aufgrund des Mechanismus der Gleichsetzung ist der Nominativ auch der Kasus der Apposition (im weiteren Sinne) zu Bezugsphrasen im Nominativ (Beispiele Zifonun u. a. 1997: 1293): Der Wal schwimmt wie ein Fisch. Als besonders possierliches Tier begeistert der Delphin sein Publikum. Der Delphin, ein besonders possierliches Tier, amüsierte alle. Synchronisch nicht ohne weiteres hierher13 gehören Konstruktionen, in denen der Mechanismus der Apposition einen älteren partitiven Genitiv ersetzt, außer wenn die Partitivphrase ein Determinativ enthält: Dann ist die Apposition ausgeschlossen und der Genitiv hat Bestand bzw. wird durch eine attributive von-Phrase vertreten:
12 Unangetastet scheint der Gleichsetzungsmechanismus beim prädikativen Akkusativ zu sein, der in der Diathese des werden-Passivs wohl immer dem neuen Subjekt folgt (Duden 2005: 985): Der Torwart nannte den Schiedsrichter einen Trottel; Der Schiedsrichter wurde [vom Torwart] ein Trottel genannt. 13 Anders Zifonun u. a. (1997: 1293).
Nominativ
258
Ein Glas [Nominativ] Bier/*Bieres/*von Bier würde mir schmecken. Ein Glas [Nominativ] frische Milch/?frischer Milch/*von frischer Milch würde mir schmecken. Ein Glas [Nominativ] *diese frische Milch/(von) dieser frischen Milch würde mir schmecken.14 4
Syntaktische Aspekte
Die Kasuszuweisung erfolgt im Deutschen grundsätzlich stellungsunabhängig. Zwar wird sich der Subjektsnominativ, auch aufgrund der Nennfunktion des Nominativs, im Kernsatz häufig im Vorfeld und im Spannsatz unmittelbar nach dem diesen eröffnenden Konnektor befinden: Der Mensch ist sterblich; Wir wissen, dass der Mensch sterblich ist. Doch gibt es für ihn auch andere Stellungsmöglichkeiten. Das Deutsche verfügt hier im Vergleich zu seinem typologisch wohl nächsten Verwandten, dem Niederländischen, sogar über besondere Möglichkeiten (vgl. Draye 2002: 185–196) (Internetbeleg German News): Bundesminister Steinmeier hinderte am vergangenen Dienstag ein Vogel am Betreten seiner Arbeitsräume. Das Tier hatte die Alarmanlage ausgelöst. ‚*Minister Steinmeier verhinderde vorige dinsdag een vogel zijn bureau binnen te gaan. Het dier had het alarm in werking gesteld.‘ Mein Vorschlag, daß diesen Dienst auch einmal die Männer übernehmen könnten, wurde […] hartnäckig bekämpft. (Jo Fürst, Moderne Ehen, S. 31) ‚*Mijn voorstel dat deze dienst ook eens de mannen zouden kunnen overnemen, werd hardnekkig bestreden.’ Im ersten Satzpaar zeigt sich, dass im Deutschen die Kasuszuweisung der unmarkierten ersten Nominalphrase Bundesminister Steinmeier erst erfolgt, nachdem sich an der zweiten Strukturposition nach dem finiten Verb die Nominalphrase ein Vogel als Subjekt und Nominativ erweist. Im Niederländischen wird die den Satz eröffnende Nominalphrase unmittelbar als (agentives) Subjekt und een vogel als das von der Handlung betroffene direkte Objekt interpretiert. Im zweiten Satzpaar ermöglicht die Kasusmarkierung es, das akkusativische unbelebte direkte Objekt in der Themarolle, den Dienst, dem agentiven 14 Ähnlich im Niederländischen: een glas melk/*van melk; een glas verse melk/*van verse melk; een glas *deze verse melk/van deze verse melk. Im Französischen und Englischen ist die Apposition hier in den drei Kontexten ausgeschlossen. Französisch: un verre *lait/de lait; un verre *lait frais/de lait frais; un verre *ce lait frais/de ce lait frais. Englisch: a glass *milk/of milk; a glass *fresh milk/of fresh milk; a glass *this fresh milk/of this fresh milk.
259
Nominativ
Subjekt die Männer voranzustellen, ohne dass dadurch die im Niederländischen bei paralleler Wortfolge entstehende Ungrammatizität eintritt. Solche Kontraste erlauben den Schluss, dass das Deutsche tatsächlich typologisch eher als eine Sprache mit einer „multifaktoriellen“ Wortfolge aufzufassen ist, als dass es eine feste Grundwortfolge aufweisen würde.15 Literatur Comrie, Bernard (2001): Language Universals and Linguistic Typology: Syntax and Morphology. 2. edition, reprinted. Chicago: University of Chicago Press. Dal, Ingerid (1971): „Entwicklungstendenzen im germanischen Kasussytem“. In: Dal, Ingerid: Untersuchungen zur germanischen und deutschen Sprachgeschichte. Oslo/Bergen/Tromsö, Universitetsforlaget: 181–193. Draye, Luk (1996): „The German Dative“. In: Van Langendonck, Willy/Vanbelle, William (Hrsg.): The Dative, Vol. 1: Descriptive Studies. Amsterdam/Philadelphia, Benjamins: 155–215. (= Case and Grammatical Relations across Languages 1). Draye, Luk (2002): „Aspects of nominative and accusative in German“. In: Davidse, Kristin/ Lamiroy, Béatrice (Hrsg.): The Nominative and Accusative and their counterparts. Amsterdam/Philadelphia, John Benjamins: 175–200. (= Case and Grammatical Relations across Languages 4). Dudenredaktion (Hrsg.) (2005): Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Dudenredaktion (Hrsg.) (2007): Richtiges und gutes Deutsch: Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. 6., vollst. überarbeitete Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 9). Jakobson, Roman (1936): „Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre: Gesamtbedeutungen der russischen Kasus“. In: Rudy, Stephen (Hrsg.) (1971): Roman Jakobson. Selected Writings II: Word and Language. The Hague/Paris, Mouton: 23–71. Fürst, Jo (1988): Moderne Ehen. München: Droemer Knaur. (= Knaur 2538). König, Werner (2007): dtv-Atlas deutsche Sprache. 16., durchges. und korrigierte Aufl. München: dtv. (= dtv 3025). Leys, Odo (1993): „Reflections on the German Case System“. Leuvense Bijdragen 82: 305–328. Olsen, Susan (1991): „Agreement und Flexion in der deutschen Nominalphrase“. In: Fanselow, Gisbert/Felix, Sascha W. (Hrsg.): Strukturen und Merkmale syntaktischer Kategorien. Tübingen, Stauffenburg: 51–69. (= Studien zur deutschen Grammatik 39). Primus, Beatrice (1999): Cases and Thematic Roles. Ergative, Accusative and Active. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 393). Shrier, Martha (1965): „Case Systems in German Dialects“. Language 41: 420–438. Van Haeringen, Coenraad Bernardus (1956): Nederlands tussen Duits en Engels. Den Haag: Servire. Wegener, Heide (1995): Die Nominalflexion des Deutschen – verstanden als Lerngegenstand. Tübingen: Niemeyer. (= Reihe Germanistische Linguistik 151). Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Berlin/New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7.1–7.3).
Luk Draye
15 Man vergleiche Primus (1999: 155) und Draye (2002: 185–192).
Numerus
260
u Numerus 1
Einleitung
Alle Sprachen der Welt sind in der Lage, zwischen der Bezeichnung einer und mehr als einer als diskret konzeptualisierten Entität und damit zwischen ‚Einzahl‘ (engl. singularity) und ‚Mehrzahl‘ (engl. plurality) zu unterscheiden. Typologisch gesehen besteht der Unterschied darin, wie sehr diese Differenzierung in dem grammatischen System einer Sprache verankert ist. In zahlreichen Sprachen wie beispielsweise dem Deutschen ist Numerus eine obligatorische Kategorie, das heißt die Unterscheidung in Singular oder Plural wird „automatisch“ vorgenommen (Corbett 2000: 14). In anderen Sprachen wiederum erfolgt eine Numerusdifferenzierung nur dann, „when it matters“ (ebd.). Im Türkischen ist beispielsweise das Nomen ev ‚Haus‘ in dieser unmarkierten Form abhängig vom Kontext sowohl als ‚Haus‘ als auch als ‚Häuser‘ interpretierbar und steht somit außerhalb der Numerusopposition, die mit dem Pluralmarker -ler versehene Form hat jedoch nur pluralische Bedeutung (evler ‚Häuser‘). Die Bedingungen für eine obligatorische Pluralmarkierung in den Sprachen, in denen Numerus nicht „automatisch“ wie im Deutschen markiert wird, sind sehr vielfältig und beinhalten unter anderem Oppositionen wie Topik vs. Nicht-Topik, referenzielle vs. nicht-referenzielle Verwendung (z. B. Prädikative), die Merkmalsopposition [± human] oder auch die Opposition definit vs. indefinit (vgl. ebd.). Eine entsprechende Pluralmarkierung am Verb kann ebenfalls fakultativ sein und korreliert häufig mit der Opposition kollektiv (Singularform) vs. distributiv (Pluralform). Für die Beschreibung derartiger Differenzierungen unter typologischer Perspektive ist Corbett (2000) unmittelbar einschlägig. Im Deutschen sind, wie das Standardbeispiel (1) zeigt, die obligatorischen Ausprägungen für Numerus der Singular (für ‚Einzahl‘) und der Plural (für ‚Mehrzahl‘); diese Opposition gilt auch entsprechend für das mit dem Subjekt kongruierende finite Verb: (1) a. Das blaue Buch steht rechts im Regal. b. Die blauen Bücher stehen rechts im Regal. Zu der in (1) illustrierten Regelmäßigkeit, wonach das Subjekt bzw. die Subjekt-NP (Nominalphrase) mit dem finiten Verb in Person und Numerus übereinstimmt (syntaktische Kongruenz, „constructio ad formam“), gibt es jedoch auch im Deutschen bei näherer Betrachtung zahlreiche Ausnahmen. Beispielsweise kann einerseits die Subjekt-NP trotz Kongruenz mit dem Verb im Plural wie in (2a) auf eine einzelne Person referieren (Höflichkeitsformen,
261
Numerus
hierzu ausführlich Helmbrecht 2005), andererseits aber auch eine NP im Singular (hier ihren Ausweis) eine pluralische Interpretation (distributive Lesart) aufweisen: (2) a. Kommen Sie bitte morgen um 19 Uhr. b. Alle Studenten haben ihren Ausweis vergessen. Ferner sind neben der semantischen Kongruenz („constructio ad sensum“), für welche die Alternative zwischen Singular und Plural konstitutiv ist, insbesondere die Kongruenz zwischen finitem Verb und prädikativem Komplement zu nennen (siehe Abschnitt 4). Abgesehen von isolierenden Sprachen wie Chinesisch oder Vietnamesisch, für die das Fehlen von Flexion konstitutiv ist und daher keine Kongruenz vorliegen kann, stellt die Kongruenz im Numerus zwischen einer Subjekt-NP und dem verbalen Prädikat auch aus typologischer Perspektive den Normalfall dar (zu Ausnahmen und Differenzierungen wiederum ausführlich Corbett 2000). Wie im Deutschen liegt in zahlreichen anderen Sprachen auch obligatorische Kongruenz innerhalb der NP vor, und hier ist nicht nur Numerus, sondern auch Genus relevant. In (1a) fungiert der Kopf der NP, Buch, als Kongruenzauslöser für Neutrum Singular (das blaue Buch), in (1b) Bücher als Kongruenzauslöser lediglich für Plural (die blauen Bücher), da im Deutschen die Genusunterscheidung im Plural neutralisiert ist. Die Korrelation zwischen Genus und Numerus entspricht dem schon in Greenberg (1966: 95) aufgestellten Universale Nr. 36: „Wenn eine Sprache die grammatische Kategorie Genus hat, dann hat sie auch die grammatische Kategorie Numerus.“ Der Umkehrschluss, dass Numerus auch Genus impliziert, gilt hingegen nicht, wie unter anderem die Sprachen Finnisch und Türkisch zeigen. Genus ist eine dem Nomen inhärente, unveränderliche Kategorie, und aus diesem Grunde kann man sich fragen, ob hier überhaupt von einer „grammatischen Kategorie“ die Rede sein kann (hierzu Leiss 1997: 33). Dagegen sind Numerus und Kasus, die beiden anderen für das Deutsche relevanten nominalen Kategorien, variabel, allerdings unter unterschiedlichen Bedingungen. Numerus ist insofern frei wählbar, als es – wie Beispiel (1) zeigt – von der Intention des Sprechers abhängt, ob von einer oder mehreren Entitäten die Rede ist, während Kasus durch die Rektion gesteuert wird und damit die Einbindung einer NP in den Gesamtsatz gewährleistet. Diese Charakterisierung nominaler Kategorien [Hierarchie] spiegelt sich in ihrer als universal geltenden Anordnung wider (Näheres hierzu Bybee 1985: 34):
262
Numerus
(3) Nomen
<
Genus
<
Numerus
<
Kasus
In der überwiegenden Anzahl der Fälle wird bekanntlich der Plural auf der Basis des Nominativ Singular („Zitierform“) gebildet, und ein potenzielles Kasussuffix folgt obligatorisch der Numerusmarkierung (Kind+er+n, Dativ Plural bzw. Plural Dativ, wie es korrekterweise heißen müsste; hierzu auch Eisenberg/Sayatz 2004: 100). Da das Deutsche zum fusionierenden Sprachtyp gehört, sind Numerus und Kasus jedoch in der Mehrzahl der Fälle morphologisch nicht trennbar, das heißt ein Beispiel wie Junge ist je nach Kontext als Nominativ oder Akkusativ Singular interpretierbar. Analoges gilt für den Plural Jungen; diese Wortform ist je nach Kontext als Nominativ, Genitiv, Dativ oder Akkusativ Plural interpretierbar und zusätzlich noch als Genitiv und Dativ Singular. Zu unterschiedlichen Möglichkeiten der Pluralbildung generell (Pizzas vs. Pizzen usw.) und den damit einhergehenden Normproblemen vergleiche man Wegener (2003). Wie schon erwähnt, besteht ein enger Zusammenhang zwischen Genus und Numerus auch im Deutschen, und hierzu ist es sinnvoll, einen Blick auf die historische Entwicklung der Pluralmarker des Deutschen zu werfen. 2
Diachrone Aspekte
Während heute jedes Nomen ein Genus hat und Schwankungen überwiegend regional bedingt sind (vgl. die Butter vs. der Butter im Süddeutschen), lässt sich für das Althochdeutsche feststellen, dass ein Nomen über mehrere Genera verfügen konnte, womit systematische Bedeutungsunterschiede verbunden waren. Diese auf Lehmann (1958) zurückgehenden Beobachtungen zeigen, dass jedes der drei Genera mit einer ihm zugeordneten Bedeutung korrelierte (Leiss 1997): Femininum für Kollektiva (4a), Maskulinum für Singulativa (4b) und Neutrum für Substanz (4c) (hierzu auch Froschauer 2003 sowie Vogel 2000): (4) a. hima (< himah) fem. ‚Winter‘ (Gesamtheit an Frösten) b. himás mask. ‚Frost‘ (begrenztes Vorkommen an Kälte) c. himam neutr. ‚Schnee‘ (Ergebnis von Kälte) (Leiss 2005: 14) Die Beispiele zeigen, dass unterschiedliche Aspekte der Quantifikation vorliegen, was wiederum auf die ebenfalls die Quantifikation betreffende Kategorie Numerus hinweist: „Genus und Numerus sind somit verwandte Kategorien“ (Leiss 2005: 17). Damit lässt sich das eingangs erwähnte Universale 36 von Greenberg (1966) auch historisch nachweisen. Die historische Entwicklung der Pluralmarker (5) wird nach Wegener
263
Numerus
(2005) auf die Reanalyse von bereits vorhandenen Morphemen zurückgeführt: (5) a. b. c. d. e.
er/Umlaut + er en/n e/Ø Umlaut + e/Umlaut + Ø s
Kind-er/Büch-er Uhr-en/Hure-n Fisch-e/Fischer-Ø Flöh-e/Vögel-Ø Auto-s/Mann-s/Kuckuck-s (Wegener 2005: 86)
Das ursprünglich zur Stammbildung im Singular und Plural vorhandene Formativ -ir (vgl. (5a)) tauchte aufgrund von phonologisch bedingter Alternation im Plural regelmäßig, im Singular hingegen unregelmäßig auf, was zur Folge hatte, dass das im Singular funktionslose Suffix getilgt und daher neu als ‚Plural‘ interpretiert wurde. Das ursprüngliche Suffix -ir löste auch aufgrund einer althochdeutschen Vokalharmonieregel Umlaut aus (ahd. Nominativ Singular lamb ‚Lamm‘, Plural lemb-ir ‚Lämmer‘; Wegener 2005: 88). Der Pluralmarker -en (5b) fungierte ursprünglich ebenfalls als Stammsuffix der n-Klasse und diente im Mittelhochdeutschen als Pluralmarker und als Kasusmarker für oblique Kasus. Aufgrund des Abbaus der formalen Kasusmarkierung im Neuhochdeutschen wird -n überwiegend als Pluralmarker verwendet und somit als solcher reanalysiert (mhd. Genitiv Singular Zunge-n ‚Zunge‘ > nhd. Genitiv Singular Zunge), obwohl es hierzu auch Ausnahmen gibt (vgl. des Jungen (Genitiv Singular) bzw. dem Jungen (Dativ Singular)). Kasusabbau und gleichzeitiger Ausbau der Pluralmarkierung im Neuhochdeutschen spielt auch eine Rolle bei dem ursprünglich als Stammsuffix der a-Klasse fungierenden Formativ -e (5c), das ebenso wie -er und -en als eigenständiger Pluralmarker reanalysiert wird. Der Umlautplural (5d) geht zurück auf das ursprüngliche Stammbildungssuffix -i, das wiederum Vokalharmonie auslöste und, da diese Silbe unbetont war, im Mittelhochdeutschen zu Schwa reduziert wurde (ahd. Nominativ Singular gast ‚Gast‘, Pl. gest-i, mhd. gest-e ‚Gäste‘). Der Umlaut wurde als Pluralmarker reanalysiert und auch auf andere Maskulina wie Pläne, Pässe ausgedehnt. Das Formativ -s (5e) fungierte im Indoeuropäischen als Kasusmarker für Nominativ Singular (vgl. lat. dom-u-s ‚Haus‘), als Pluralmarker (mädigens ‚Mädchen‘) etablierte es sich im Frühneuhochdeutschen aufgrund des Einflusses aus dem Niederdeutschen, Französischen und Englischen (vgl. Bornschein/Butt 1987). Mit der Erhöhung der Pluralmarker von vier auf fünf wurde eine Art Ausgleich zum Abbau der Kasusdifferenzierung geschaffen (vgl. Wolff 2004: 114 f.). Der s-Plural bildet keine zusätzliche Silbe und ist
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daher gleichzeitig strukturbewahrend und transparent. Damit entspricht er den im Rahmen der „Natürlichen Morphologie“ aufgestellten Prinzipien der Strukturbewahrung und der Transparenz. Dies zeigt sich insbesondere an der Opposition von Gattungs- vs. Eigennamen ((die) Männer vs. (die) Manns, (die) Schneider vs. (die) Schneiders)), aber auch bei Eigennamen und Fremdwörtern (ausführlich hierzu Wegener 2002). Aus diesen Beobachtungen kann der Schluss gezogen werden, dass von den in (5) aufgeführten Pluralmarkern des Deutschen der Umlaut phonologisch bedingt und daher semantisch leer war, in seiner Funktion als Pluralmarker jedoch „semantische Substanz“ erlangte. Ähnliches gilt für das ursprünglich als Kasusmarker fungierende s-Suffix aufgrund seiner Umwandlung zum Pluralmarker. In Bezug auf die drei Schwa-Suffixe -e, -en und -er lässt sich feststellen, dass diese ursprünglichen Stammbildungssuffixe, geht man noch weiter in der Sprachgeschichte zurück, Wortbildungsaffixe waren, man also nach Wegener (2005: 96) von einem Wechsel von Derivations- zu Flexionssuffixen und damit von „semantischer Ausbleichung“ sprechen kann. Eine semantische Anreicherung für diese Suffixe erfolgte dann aufgrund ihrer Reanalyse als Pluralmarker (vgl. Wegener 2005: 97). Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Tatsache, dass alle diese Suffixe sich schon am „richtigen Platz“ befanden, da Pluralmarker, wie schon in (3) erwähnt, zwischen nominaler Basis und Kasusendung positioniert sind. Nach diesem Exkurs zu diachronen Aspekten von Numerus gehen wir im nächsten Abschnitt der Frage nach, welche lexikalischen und semantischen Bedingungen vorliegen, denen Nomina und ihre Subklassen in Bezug auf eine potenzielle Differenzierung im Numerus unterliegen. 3
Bedingungen für Numerusdifferenzierung
Für Differenzierungen im Numerus gilt zunächst, dass die auch im Deutschen vorliegende Unterscheidung zwischen Singular und Plural die am häufigsten vorkommende ist. Syntaktisches Korrelat zu dieser Differenzierung ist die Kongruenz. Zusätzliche Numeruswerte, die in anderen Sprachen vorliegen können, sind der Dual für die Bezeichnung von zwei Entitäten, der Trial für drei, der Paucal für ‚wenige, einige‘ und die umstrittene Kategorie Quadral für vier Entitäten. Zu erwähnen ist noch der „greater plural“, der nach Corbett (2000: 30) als Oberbegriff zum Abundanzplural (hierzu dt. etwa die Wasser des Rheins) und globalem Plural fungiert. Während in indoeuropäischen Sprachen Suffixe zur Pluralmarkierung verwendet werden, gibt es vorwiegend im asiatischen Sprachraum eine Reihe von Sprachen, in denen
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Plural durch ein separates Lexem („Pluralwort“) ausgedrückt wird (Dryer 1989). Im Folgenden werden die allgemein geltenden Kriterien für Numerusdifferenzierung skizziert (ausführlich hierzu die insbesondere für typologische Aspekte relevante Monografie von Corbett 2000). 3.1
Belebtheit
Die Beobachtung, dass Belebtheit des Referenten von N bzw. der NP bei der potenziellen Differenzierung von Numerus eine große Rolle spielt, hat eine lange Tradition, hat aber insbesondere durch Smith-Stark (1974) neue Impulse erfahren. In Corbett (2000: 56) wird folgende Hierarchie aufgestellt: (6) Belebtheitshierarchie speaker > addressee > 3rd person > kin > human > animate > inanimate (1st person (2nd person pronouns) pronouns)
Diese Skala ist wie folgt zu interpretieren: Wenn eine Sprache beispielsweise an der Position „kin“ (Verwandtschaftsterminologie) im Numerus differenziert, dann gilt dies auch für alle Positionen links davon. Umgekehrt bedeutet dies, dass Sprachen mit Numerus als grammatische Kategorie zumindest bei den Personalpronomina der 1. Person differenzieren. Es gibt also keine Sprache, die zwar in der 3. Person eine Numerusopposition aufweist, aber nicht in der 1. Person, usw. Im Deutschen werden die ersten drei Positionen anhand von Suppletivformen unterschieden (ich/wir, du/ihr, er, sie, es/sie mit Genusneutralisierung in der 3. Person Plural), aber auch alle restlichen Positionen der Skala weisen Numerusopposition auf. 3.2
„Count“ und „Mass“
Unter dieser inzwischen auch im Deutschen häufig verwendeten Terminologie versteht man semantische Eigenschaften des Denotats eines Nomens wie Abgegrenztheit (engl. boundedness, Jackendoff 1991) oder Diskretheit und damit auch Zählbarkeit. Diese Eigenschaften sind charakteristisch für Individuativa (count nouns), während das Fehlen dieser Eigenschaften für Kontinuativa (mass nouns) konstitutiv ist. Es handelt sich also um binäre und damit meist in Form von Merkmalen angeführte Oppositionen. Generell ist bei diesen Termini Vorsicht geboten, da sorgfältig zwischen dem syntaktischen Verhalten eines Nomens und den (außersprachlichen) Eigenschaften seines Denotats unterschieden werden muss. Das Nomen Buch bezeichnet eine abgegrenzte, diskrete und damit zählbare Entität, während das Denotat des
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Nomens Wein nicht abgegrenzt und nicht diskret ist; dieses Nomen ist nur unter eingeschränkten Bedingungen zählbar und damit auch pluralisierbar (in ein Wein liegt die so genannte Artenlesart vor und analog bei zwei Weine der so genannte Artenplural). Weniger beachtet wird in diesem Zusammenhang, dass auch Individuativa eine Artenlesart haben können, wie folgende Beispiele zeigen, in denen Apfel/Äpfel im Sinne von ‚Apfelsorte(n)‘ zu interpretieren ist: (7) a. Für dieses Rezept verwendet man am besten einen Apfel, der leicht säuerlich ist, zum Beispiel Boskop. b. Boskop und Cox Orange sind zwei Äpfel, die sich gut zum Backen eignen. Eine Konstruktion mit dem Kontinuativum im Singular wie zwei Wein ist dagegen elliptisch zu interpretieren (zwei Glas/Gläser Wein, die Zählbarkeit wird also durch ein Maßwort gewährleistet; zu Maß-, Zähl- und Kollektivkonstruktionen im Deutschen vgl. Löbel 1986 und Wiese 1997). Einen interessanten Status zwischen Individuativa und Kontinuativa nehmen die Kollektiva vom Typ Vieh oder Obst ein, die einerseits diskrete Entitäten bezeichnen (Affinität zu Individuativa), während die mit ihnen bezeichnete Menge bzw. Kollektion aber andererseits analog zu Wein als nicht abgegrenzt zu charakterisieren ist (Affinität zu Kontinuativa). Die Denotate von Vieh oder Obst sind also zählbar, die Nomina selbst hingegen nicht, hierzu muss auf Konstruktionen vom Typ ein Stück Obst, zwei Stück Vieh zurückgegriffen werden. Dementsprechend haben Nomina vom Typ Stück Affinität zu Klassifikatoren in Klassifikatorsprachen wie Japanisch oder Chinesisch. Diese Affinität zu Klassifikatorsprachen gilt auch für die Nomina vom Typ Vieh, Obst selbst, denn sie verfügen typischerweise nicht über eine Numerusopposition (*Viehe, *Obste) und sind somit „transnumeral“, ein ursprünglich von Biermann (1982) eingeführter Begriff, der sich inzwischen auch im Englischen etabliert hat; zur Differenzierung zwischen „Genuskollektiva“ und „Gruppenkollektiva“ wie Herde, Gruppe usw. im Deutschen vgl. Kuhn (1982). 3.3
Beschränkungen im Numerus
Zahlreiche Nomina sind in ihrem Vorkommen auf einen Numerus beschränkt, entweder auf den Singular (Singularetantum) oder auf den Plural (Pluraletantum; vgl. hierzu Baufeld 1986). Diese Beschränkungen korrelieren wiederum mit bestimmten Bedeutungsgruppen (Helbig/Buscha 2007: 251–254). Kontinuativa (Stoffnamen vom Typ Schnee, Milch), Abstrakta (Er-
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ziehung, Ruhe) und Kollektiva, wenn sie „Bezeichnungen einer einheitlichen, umfassenden Klasse sind, die als ungegliedert aufgefasst wird“ (ebd.: 252), kommen nur im Singular vor. Es gibt jedoch auch die Möglichkeit, mit lexikalischen Mitteln eine Mehrzahl bzw. Menge (Schneemassen) oder auch eine einzelne Instantiierung auszudrücken (Singulativbildungen wie Schneeflocke, Regentropfen oder auch Milchsorte als „Artensingular“). Bei den nur im Plural vorkommenden Nomina wird „die Gegliedertheit als semantischer Grundzug empfunden“ (ebd.: 254), und auch hier lassen sich einzelne Bedeutungsgruppen unterscheiden wie Zeitabschnitte (Ferien), Krankheiten (Masern) oder in Fachsprachen verwendete Begriffe (Einkünfte, Unkosten, Alimente). Von diesen eher formalen Beschränkungen ist zu unterscheiden, dass pragmatisch gesehen viele numerusdifferenzierende Nomina, wie Statistiken belegen, vorwiegend im Plural verwendet werden. Tiersma (1982) bietet für dieses Phänomen einen typologischen Überblick. Für das Deutsche nennt er Nomina wie Strümpfe, Zähne, Tränen und spricht in diesem Zusammenhang von „lokaler Unmarkiertheit“, das heißt für diese Nomina ist das Vorkommen im Plural die merkmallose (unmarkierte) und damit typische Verwendung. Zu „numerusdefektiven“ Nomina allgemein vergleiche man auch Corbett (2000: 171–176). 4
Kongruenz
Wie schon erwähnt, stellt die in (1) illustrierte Kongruenz im Numerus zwischen Subjekt und finitem Verb den Regelfall dar. Abweichungen davon werden im Duden (2005: 1003 f.) sowie in Helbig/Buscha (2007: 536–540) aufgeführt. Historisch gesehen kann jedoch festgestellt werden, dass derartige Fälle von Inkongruenz im Mittelhochdeutschen (hierzu Reiten 1964: 80–85) häufiger vorkamen als im Neuhochdeutschen. Im Folgenden werden einige heutzutage relevante Abweichungen genannt: x
Das Subjekt ist zwar formal Plural (ein Pluraletantum wie Ferien), das finite Verb steht aber standardsprachlich im Singular (8a). Dies gilt für Festbezeichnungen wie Ostern, Pfingsten, Weihnachten. Der ursprüngliche Plural ist in der Standardsprache noch ersichtlich in Grußformeln wie (8b) und ist vor allem in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz erhalten geblieben (Duden 2005: 182, Beispiel (8c)):
(8) a. Ostern ist ein schönes Fest. b. Frohe Ostern! c. Die Ostern waren in diesem Jahr recht kalt.
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Das Subjekt ist formal Singular, das finite Verb steht jedoch bedingt durch das prädikative Komplement im Plural (hierzu ausführlich Urbas 1993):
(9) a. Das sind unsere Kinder. b. Die Hälfte des Urlaubs waren/*war schöne Tage. x
Das Subjekt ist formal Plural, das finite Verb kann im Singular oder Plural verwendet werden (distributive (10a) und kollektive (10b) Interpretation):
(10) a. Zwei Äpfel pro Tag sind gesund. b. Zwei Äpfel pro Tag ist gesund. In Beispiel (10) liegt auf den ersten Blick semantische Kongruenz vor, da bei dieser ebenfalls Variation zwischen Singular- und Pluralkongruenz gegeben ist (s. u. (12)). Für Beispiele wie (10) gilt jedoch, dass zwar in (10a) syntaktische Kongruenz zwischen Subjekt und finitem Verb vorliegt, in (10b) hingegen die NP zwei Äpfel nicht als Subjekt, sondern als „verstecktes Objekt“ fungiert (Zwei Äpfel pro Tag zu essen ist gesund; Es ist gesund, zwei Äpfel pro Tag zu essen) oder als Aufnahme einer Ellipse interpretiert werden kann (Zwei Äpfel pro Tag – das ist gesund ). In der NP zwei Äpfel in (10) bildet das Nomen Äpfel sowohl den syntaktischen als auch den semantischen Kopf. Bei komplexen, für Numerusdifferenzierung konstitutiven NPs muss jedoch zwischen semantischem und syntaktischem Kopf unterschieden werden: (11) a. Ein Liter Milch ist ausgelaufen. b. Zwei Liter Milch sind/*ist ausgelaufen. Der semantische Kopf Milch [+N, +flüssig] steuert die semantischen Selektionsrestriktionen (Liter, auslaufen), die Kongruenz richtet sich jedoch, wie (11b) zeigt, obligatorisch nach der Konstituente zwei Liter, das heißt diese bildet den syntaktischen Kopf (vgl. Löbel 1986: 96 f.), eine Alternative ist nicht möglich. Davon zu unterscheiden sind Fälle wie (12), in denen das finite Verb im Numerus variieren kann. Daraus folgt, dass im Vergleich zu (11) in Bezug auf Kongruenz nicht eindeutig zwischen syntaktischem und semantischem Kopf zu trennen ist, das heißt es liegt semantische Kongruenz im engeren Sinne vor (hierzu auch Duden 2005: 1022): (12) a. b. c. d.
Eine Menge Äpfel lag/lagen auf der Wiese. Vor der Mensa ?standen/stand eine Gruppe Studenten. Eine Gruppe Studenten standen/?stand vor der Mensa. Es ?war/waren eine Menge Studenten da.
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Wie der Vergleich von (12b) mit (12c) zeigt, kann – obwohl standardsprachlich gleichberechtigt – bei der Präferenz von Singular und/oder Plural beim finiten Verb auch die Adjazenz eine Rolle spielen (ausführlich hierzu Löbel 1986; Schrodt 2005; Urbas 1993). Ebenso kann die Bedeutung des verwendeten Substantivs, wie (12d) zeigt (Menge ist abstrakter als Gruppe), ausschlaggebend für die gewählte Kongruenz sein. In Berg (1998) werden entsprechende deutsche und englische Daten verglichen mit dem Fazit, dass im Englischen aufgrund der flexionsarmen Morphologie die Semantik eine größere Rolle bei der Auflösung derartiger Numeruskonflikte spielt als im Deutschen, wo aufgrund der Flexibilität in der Wortstellung syntaktische Kriterien dominieren. Literatur Baufeld, Christa (1986): „Ergebnisse und Probleme bei der Hierarchisierung von Semen – dargestellt anhand der Pluraliatantum des Deutschen“. In: Sommerfeldt, Karl-Ernst/Spiewok, Wolfgang (Hrsg.): Beiträge zu einer funktional-semantischen Sprachbetrachtung. Leipzig, VEB Verlag Enzyklopädie: 37–49. (= Linguistische Studien). Berg, Thomas (1998): „The resolution of number conflicts in English and German agreement patterns“. Linguistics 36: 41–70. Biermann, Anna (1982): „Die grammatische Kategorie Numerus“. In: Seiler, Hansjakob/Lehmann, Christian (Hrsg.): Apprehension. Das sprachliche Erfassen von Gegenständen. Teil I: Bereich und Ordnung der Phänomene. Tübingen, Narr: 229–243. (= Language Universals Series 1/I). Bornschein, Matthias/Butt, Matthias (1987): „Zum Status des s-Plurals im gegenwärtigen Deutsch“. In: Abraham, Werner/Århammar, Ritva (Hrsg.): Linguistik in Deutschland. Akten des 21. linguistischen Kolloquiums Groningen 1986. Tübingen, Niemeyer: 135–153 (= Linguistische Arbeiten 182). Bybee, Joan L. (1985): Morphology. A study of the relation between meaning and form. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins. (= Typological Studies in Language 9). Corbett, Greville G. (2000): Number. Cambridge u. a.: Cambridge University Press. (= Cambridge Textbooks in Linguistics). Dryer, Matthew (1989): „Plural words“. Linguistics 27: 865–895. Dudenredaktion (Hrsg.) (2005): Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Eisenberg, Peter/Sayatz, Ulrike (2004): „Left of Number. Animacy and Plurality in German Nouns“. In: Müller, Gereon/Gunkel, Lutz/Zifonun, Gisela (Hrsg.): Explorations in Nominal Inflection. Berlin/New York, de Gruyter: 97–120. (= Interface explorations 10). Froschauer, Regine (2003): Genus im Althochdeutschen. Eine funktionale Analyse des Mehrfachgenus althochdeutscher Substantive. Heidelberg: Winter. (= Germanistische Bibliothek 16). Greenberg, Joseph H. (1966): „Some Universals of Grammar with Particular Reference to the Order of Meaningful Elements“. In: Greenberg, Joseph H. (Hrsg.): Universals of Language. Report of a Conference Held at Dobbs Ferry, New York, April 13–15, 1961. 2. edition. Cambridge, Mass./London, MIT Press: 73–113. Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (2007): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 6. Nachdruck. Berlin u. a.: Langenscheidt. Helmbrecht, Johannes (2005): „Typologie und Diffusion von Höflichkeitspronomina in Europa“. Folia Linguistica 39: 417–452. Jackendoff, Ray (1991): „Parts and boundaries“. In: Levin, Beth/Pinker, Steven (Hrsg.): Lexical and conceptual semantics. Cambridge, Mass./Oxford, Blackwell: 9–45. (= Cognition special issues).
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Elisabeth Löbel
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O u obiectivus, Genitivus (lat.: ‚Objektsgenitiv‘) Der Genitivus obiectivus drückt ein Objekt-Prädikats-Verhältnis aus, so dass der Genitiv bei der Umwandlung in einen ganzen Satz als direktes Objekt des Verbs erscheint. Daher tritt der Objektsgenitiv bei Substantiven auf, die von transitiven Verben abgeleitet sind: die Rettung der Verschütteten ⇒ jemand rettet die Verschütteten. → Genitiv u obliquus: casus obliquus; obliquer Kasus (lat.: ‚schräger/querliegender Kasus‘; engl.: oblique case) Die Bezeichnung „obliquus“ wird für zwei verschiedene Phänomene verwendet: (1) Obliquus vs. rectus: In der Tradition der europäischen Sprachwissenschaft wird zwischen den obliquen Kasus und dem casus rectus unterschieden, wobei alle Kasus außer dem Nominativ und dem Vokativ als oblique angesehen werden. (2) Oblique vs. Kernkasus: Insbesondere in der Typologie ist eine Unterscheidung zwischen Kasus, die dem Ausdruck von syntaktischen Kernfunktionen wie Agens, Patiens, Rezipient dienen, und den obliquen Kasus im Sinne solcher Kasus verbreitet, die keine solchen zentralen Funktionen haben. In diesem Sinne wären Kasus wie Ablativ, Lokativ oder Instrumental also oblique Kasus, während z. B. Nominativ, Dativ oder Akkusativ Kernkasus wären. → Kasus u Optativ (von lat. optare ‚wünschen‘; engl.: optative) Ein Modus, der zum Ausdruck des Wunsches dient, wird als Optativ bezeichnet. Im Deutschen wird hierfür der Konjunktiv verwendet: Wäre doch schon alles vorbei! → Konjunktiv
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P u partitivus, Genitivus (von lat. pars ‚Teil‘) Genitive wie ein Teil des Geldes, die Hälfte der Beute bezeichnen ein Teil-Ganzes-Verhältnis und werden daher als partitive Genitive bezeichnet. Dies ist eine Basisfunktionen des Genitivs in Sprachen, die dafür nicht als gesonderten Kasus einen sog. Partitiv aufweisen. Im modernen Deutschen ist der partitive Genitiv selten geworden und tritt fast nur noch bei Begriffen auf, die bereits das semantische Merkmal ‚Teil‘ enthalten. → Genitiv u Partizipien 1
Einleitung
Bei Partizipien handelt es sich um infinite Verbformen, die im Hinblick auf ihre Eigenschaften zwischen Verb und Adjektiv stehen; gelegentlich werden sie deshalb auch als Verbaladjektive bezeichnet. In der antiken Grammatik wurden sie aufgrund dieser Besonderheit als eigene Wortart betrachtet (vgl. Arens 1974: 25; Lallot 1998: 186–190), und in der aus dem lateinischen stammenden Bezeichnung „Partizip“ (particeps ‚teilhabend‘, eine Übersetzung von griech. metoch ‚Teilnahme‘) spiegelt sich die Doppelnatur der Form, die sowohl an der Wortart Verb als auch an der Wortart Adjektiv teilhat. Der verbale Anteil des Partizips manifestiert sich in der Tatsache, dass es dieselbe Rektion wie das grundlegende Verb aufweist und auch Adverbiale an sich binden kann, so etwa: die Flasche fest umklammernd, vorzeitig abgereist usw. Auch die verbale Diathese sowie Tempus und/oder Aspekt werden von Partizipien ausgedrückt; siehe hierzu ausführlicher im Folgenden. Die adjektivische Eigenschaft des Partizips zeigt sich in seiner Fähigkeit, als Attribut zu fungieren sowie – in kongruierenden Sprachen – in seiner Kongruenz mit dem Beziehungswort in Genus, Kasus und Numerus. Im Deutschen findet sich diese Kongruenz nur bei attributivem Gebrauch im engeren Sinne.1 1 Damit ist der Gebrauch unmittelbar beim Substantiv gemeint, wie er in das weinende Kind vorliegt. In einem Satz wie Das Kind kam weinend nach Hause liegt nach der üblichen Terminologie ebenfalls ein Attribut vor (sog. prädikatives Attribut, vgl. Hentschel/Weydt 2003: 399), da sich das Partizip auf das Subjekt (‚das Kind war weinend‘) und nicht auf das Prädikat (*‚das Nachhausekommen war weinend‘) bezieht. Dieselbe Unterscheidung wird auch bei Adjektiven getroffen; vgl. die müden Ankömmlinge (Attribut im engeren Sinne) vs. sie kamen gesund an (prädikatives Attribut) vs. sie kamen früh an (Adverbial).
Partizipien
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Während manche Sprachen einen großen Reichtum an unterschiedlichen Partizipien aufweisen, verfügt das Deutsche nur über zwei Formen, die oft nummeriert und als „Partizip 1“ und „Partizip 2“ bezeichnet werden. Das Partizip 1 ist ein Partizip Präsens Aktiv; das Partizip 2 ein Partizip Perfekt (gelegentlich auch als Partizip Präteritum bezeichnet, so etwa bei Bech 1983), das im Hinblick auf Aktiv oder Passiv nicht festgelegt ist. 2
Der Status des Partizips
Wie im Deutschen, so hat sich auch in vielen anderen indoeuropäischen Sprachen die Verwendung von Perfektpartizipien im Tempus- und teilweise auch im Genus-verbi-Paradigma grammatikalisiert. Demgegenüber wurden die anderen Partizipien nicht in dieser Weise nutzbar gemacht, sondern können nur attributiv oder als Ersatz für Adverbialsätze, selten auch prädikativ mit Kopula, gebraucht werden.2 Obwohl sich das Deutsche hier also nicht anders verhält als andere Sprachen auch, wird das Partizip Präsens in vielen Grammatiken des Deutschen abweichend von denen anderer Sprachen nicht als Flexions-, sondern als Wortbildungsphänomen aufgefasst. So führen etwa Zifonun u. a. (1997: 2205 f.) aus, dass es sich bei den Partizipien des Präsens nicht um „morphologische Formen von Elementen der Wortklasse Verb“, sondern um „durch Wortbildung aus Verben entstandene Adjektive“ handle, denn, so die Begründung, sie würden „nie als Teile periphrastischer Verbformen verwendet“ (vgl. ähnlich auch Eisenberg 2006: 212). Wenn man diese Regel verallgemeinern und auf andere Sprachen anwenden wollte, so gäbe es nicht nur weder im klassischen Latein noch im modernen Französischen ein Partizip Präsens Aktiv. In vielen anderen indoeuropäischen Sprachen, so etwa den slawischen, wie auch in nicht-indoeuropäischen Sprachen müsste noch eine viel größere Zahl von Partizipien ab sofort zur Wortbildung statt zum Paradigma des Verbs gerechnet werden. Hinzu kämen auch sämtliche Konverben (ein mit den Partizipien weitläufig verwandter Typ infiniter Verbformen in Sprachen wie Türkisch oder Mongolisch), die per definitionem keine periphrastischen Verbformen bilden können (vgl. für das Türkische Lewis 2000: 160–192), sowie alle weiteren nicht zur Bildung analytischer Verbformen genutzten infiniten Bildungen. Unabhängig von der Frage, ob eine sol-
2 Die mit dem Partizip Präsens des Englischen gleichlautenden Verbformen auf -ing, mit denen der progressive Aspekt gebildet wird (vgl. I am reading), sind sprachgeschichtlich nicht aus dem Partizip, sondern aus dem Gerundium abzuleiten. Sie stammen aus ursprünglich lokativen Konstruktionen des Typs Er ist am Kochen und nahmen den folgenden Entwicklungsverlauf: he is on cooking > he is a-cooking > he is cooking (vgl. Baugh/Cable 2002: 290 f.; Lehmann 1995: 30).
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che Einteilung sinnvoll wäre oder nicht, führt sie hier zu einer starken Abweichung der deutschen Grammatikschreibung von der anderer Sprachen und isoliert sie unnötig.3 3
Formenbildung
Die Bildung des Partizips 1 erfolgt durch Anfügen der Endung -(e)nd an den Präsensstamm des Verbs: lächel-nd, klapper-nd, ras-end. Für das moderne Deutsche wird die Regel gelegentlich auch so vereinfacht, dass man sie als Hinzufügen eines -d an den Infinitiv beschreibt: lächeln-d, klappern-d, rasen-d. Allerdings führt die vereinfachte Regel zu einer Ausnahme beim Verb sein (sei-end). Historisch steht hinter dieser Formenbildung noch heute gut erkennbar das Morphem -ent- (bzw. -nt-, -n t; vgl. Brugmann 1904/1970: ˚ 315), mit dem in den indoeuropäischen Sprachen die Partizipien des Präsens gebildet wurden. In historischer wie moderner Zeit wird daran dann die adjektivische Flektionsendung angehängt. Im jetzigen Deutsch werden Genus, Kasus und Numerus allerdings nur noch bei attributivem Gebrauch (z. B. mit klappernden Zähnen, in rasender Fahrt usw.) oder bei Substantivierungen (der Rasende) ausgedrückt; als so genannte prädikative Attribute, die funktional an der Stelle von Adverbialsätzen stehen, bleiben die Partizipien endungslos (z. B. Freundlich lächelnd gab sie mir die Hand, nicht: *freundlich lächelnde). Vom Formenbestand her folgt das Partizip der Adjektivdeklination. Die Bildung des Partizips 2 ist gegenüber der des Partizips 1 wesentlich komplexer, da hier verschiedene Faktoren zusammenwirken: die Zugehörigkeit des Verbs zu einer der traditionellen Konjugationsklassen stark/schwach, die Endung des Infinitivstamms und die Präfigierung. Grundsätzlich gilt zunächst, dass das Partizip Perfekt durch zwei Merkmale markiert wird: durch ein Prä- und ein Suffix. Das Präfix lautet ge-, das Suffix bei schwachen Verben -(e)t, bei starken Verben -en: ge-sag-t, ge-red-et, ge-sproch-en. Das Suffix der schwachen Verben wird wegen des kennzeichnenden t auch als Dentalsuffix bezeichnet. Bei starken Verben, deren Tempusbildung sich durch den Gebrauch des Ablauts auszeichnet, muss vor dem Suffix -en der Partizipial3 Das gelegentlich ebenfalls geäußerte Argument, dass das Partizip 1 nicht zur Verbalflexion gehören könne, da es von unpersönlichen Verben wie regnen nicht gebildet werden kann, wird bei Feret (2005: 34) völlig zu Recht als irreführend zurückgewiesen, da solche Beschränkungen auf „syntaktisch-semantische Faktoren“ zurückgehen. Hinzu kommt jedoch vor allem, dass Partizipien wie regnend sehr wohl gebildet werden können und auch gebraucht werden. So erbrachte eine Google-Suche am 19. 8. 06 insgesamt 1909 Belege für flektierte Formen von regnend (also regnende, regnenden usw. in Konstruktionen wie regnende oder regenankündigende Wolken; die Polarisation der abwärtigen Mikrowellenstrahlung von regnenden Wolken usw.).
Partizipien
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stamm des Verbs verwendet werden, der sich in vielen Fällen deutlich vom Präsensstamm unterscheidet, so etwa: sprech-en/ge-sproch-en, schwimm-en/geschwomm-en (aber komm-en/ge-komm-en, wo die lautliche Form der beiden Stämme zusammenfällt). Bei so genannten gemischten Verben, die Merkmale starker und schwacher Verben in sich vereinigen, kann es auch zu einer Kombination aus Ablaut und Dentalsuffix kommen wie in kennen/gekannt, und bei unregelmäßigen Verben können darüber hinaus noch weitere Veränderungen auftreten (vgl. z. B. bringen/gebracht oder den Suppletivstamm sein/ gewesen). Wenn der Infinitivstamm eines Verbs auf -ier- lautet, was bei Fremd- und Lehnwörtern aus romanischen Sprachen der Fall ist, steht das Präfix ge- nicht und das Partizip wird ausschließlich durch das Suffix -t gekennzeichnet: korrigiert, informiert, kalkuliert usw. (nicht: *gekorrigiert usw.). Ebenfalls ohne ge- stehen präfigierte Verben, deren Präfix bei der Formenbildung nicht wieder abgetrennt werden kann: bewiesen, verhaftet, übertragen usw. (nicht: *gebewiesen usw.). Bei trennbaren Verben hingegen steht das Präfix ge-, es wird aber zwischen den abtrennbaren Bestandteil und den Verbstamm eingefügt: auf-ge-gessen, an-ge-klopft, über-ge-stülpt usw. Wie bei den Partizipien des Präsens auch wird die der Adjektivdeklination folgende Genus-, Kasus- und Numerusmarkierung nur bei attributivem Gebrauch und bei Substantivierungen an das Partizip angefügt, man vergleiche: das angebrannte Essen; die Gefallenen. 4
Tempus und Genus
4.1
Partizip Präsens Aktiv (Partizip 1)
Da Partizipien als infinite Verbformen nicht das Prädikat eines Hauptsatzes bilden können, ist das in ihnen ausgedrückte Tempus nicht absolut, sondern stets relativ zum Tempus des finiten Verbs. Während das Präsens Gleichzeitigkeit mit dem Sprechzeitpunkt (und damit eben ‚Gegenwart‘) markiert, drücken die Partizipien des Präsens Gleichzeitigkeit mit dem Hauptverb aus. Steht dieses in einem Tempus der Vergangenheit, so wird auch das Partizip als Ausdruck eines gleichzeitig in der Vergangenheit verlaufenden Geschehens verstanden; bei einem Präsens des finiten Verbs wird es hingegen als gegenwärtig, bei einem Futur als zukünftig interpretiert. Vgl. z. B.: Sie winkt uns lachend nach. (‚Sie winkt uns nach, wobei sie lacht.‘) Sie winkte uns lachend nach. (‚Sie winkte uns nach, wobei sie lachte.‘) Sie wird uns lachend nachwinken. (‚Sie wird uns nachwinken, wobei sie lachen wird.‘)
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Bei attributivem Gebrauch reduziert sich die temporale Semantik des Partizips Präsens oft noch weiter auf eine eher aspektuelle, und zwar progressive Bedeutung (‚im Verlauf befindlich‘), die gelegentlich auch über Gleichzeitigkeit mit dem Hauptverb hinaus reichen und in Richtung auf ‚Allgemeingültigkeit‘ gehen kann – ganz ähnlich, wie ja auch das Präsens selbst Allgemeingültigkeit ausdrücken kann (vgl. Die Erde dreht sich um die Sonne). So drückt das Partizip in dem Satz Auf dem Bild waren lachende Kinder zu sehen nicht aus, dass das Lachen nur zum Zeitpunkt des Betrachtens erfolgte, sondern impliziert, dass es auch davor und danach vorhanden war. Beide temporalen Eigenschaften des Partizips – also der Ausdruck von Gleichzeitigkeit als relativem Tempus sowie auch die Möglichkeit, insbesondere bei attributivem Gebrauch darüber hinausgehend auch ‚Andauern‘ oder ‚Allgemeingültigkeit‘ auszudrücken – sind typisch für das Partizip Präsens und keineswegs Besonderheiten des Deutschen. Sie finden sich in derselben Weise in verwandten (z. B. im Lateinischen, vgl. Rubenbauer/Hofmann 1995: 208) wie in weit entfernten, mit dem Deutschen nicht verwandten Sprachen (z. B. im Türkischen, vgl. Lewis 2000: 160). Das Partizip Präsens des Deutschen ist stets aktivisch.4 Ein Partizip Präsens Passiv gibt es im Deutschen nicht, und auch theoretisch mögliche analytische Bildungen wie betroffen seiend oder verkauft werdend werden höchstens gebraucht, um das Partizip Präsens Passiv anderer Sprachen – etwa in Lehrbüchern – durch eine möglichst wörtliche Übersetzung wiederzugeben, haben aber keinen Eingang in den Sprachgebrauch gefunden. 4.2
Partizip Perfekt (Partizip 2)
Das Partizip Perfekt wird insbesondere in älteren Grammatiken (vgl. z. B. Grimm 1898/1989: 67) oder in modernen Grammatiken, die der Beschreibung älterer deutscher Sprachstufen dienen (vgl. z. B. Braune 2004: 272), auch als „Partizip Präteritum“ bezeichnet; in der modernen Grammatikschreibung ist demgegenüber vorwiegend von Partizip Perfekt oder eben Partizip 2 die Rede. Das zweite Partizip des Deutschen drückt primär nicht ein Tempus, sondern einen Aspekt aus, der als perfektiv oder auch resultativ zu beschreiben ist (vgl. Abraham 2000: 152; Kotin 2000: 322). Dieselbe
4 Grimm (1898/1989: 1251) listet zwar eine Reihe von Fällen auf, in denen sich das Partizip Präsens im gegebenen Kontext nur passivisch deuten lässt (in ihrem zuvor inhabenden zimmer, meine lebenslang in werth haltende geburtsstadt usw.). Der sich hier möglicherweise abzeichnende Entwicklungsweg, die Unterscheidung Aktiv/Passiv auch für das Partizip Präsens aufzuheben, wurde jedoch in der weiteren Sprachentwicklung nicht eingeschlagen, und im modernen Deutsch sind solche Gebrauchsweisen abweichend.
Partizipien
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aspektuelle Bedeutung ist auch im Präfix ge- enthalten, dessen Bedeutung das Grimmsche Wörterbuch (Grimm/Grimm 1878/1999: 1613) als Bezeichnung für „das fertige, völlige eines thuns“ erklärt. Abgesehen von diesem einheitlichen Präfix handelt es sich entwicklungsgeschichtlich bei den Partizipien des Perfekts jedoch um Formen, die aus verschiedenen Quellen mit jeweils unterschiedlichen Funktionen stammen. Im Verlaufe der sprachgeschichtlichen Entwicklung fielen ursprünglich getrennt ausgedrückte Bedeutungen formal zusammen und werden in der Form des modernen Partizips nicht mehr unterschieden (vgl. Brugmann 1904/1970: 608). Dies ist auch eine mögliche Erklärung dafür, warum es im Deutschen keinen äußeren Unterschied zwischen aktivischen und passivischen Perfektpartizipien gibt (vgl. z. B. aufgewacht, aktivisch vs. aufgeweckt, passivisch), obgleich sich diese von der Argumentstruktur her deutlich unterscheiden (vgl. hierzu auch Gunkel 2003: 87). Einen anderen Erklärungsansatz verfolgt demgegenüber Abraham (2000), der die passivische Bedeutung des Partizips aus der aspektuellen ableitet. 5
Funktionen
Beide Partizipien können als Attribute im engeren Sinne (die spielenden Kinder, das verregnete Wochenende) oder anstelle eines finiten Adverbialsatzes gebraucht werden: Laut lachend liefen die Kinder weg; Ganz zerzaust vom Wind kam sie herein. Vom syntaktischen Bezug her gesehen handelt es sich im letzteren Fall meist um so genannte prädikative Attribute, da das implizite Subjekt des Partizips mit dem des Hauptsatzes identisch ist und sich ihre Aussage somit auf dieses bezieht. Im Unterschied zum Attribut im engeren Sinne, also der unmittelbaren Attribuierung zu einem Beziehungswort, zeigen die prädikativen Attribute im modernen Deutschen keinerlei Kongruenzmerkmale. Nicht alle Perfektpartizipien können als Attribute verwendet werden. Möglich ist dieser Gebrauch nur bei solchen Partizipien, die von transitiven Verben gebildet und somit passivisch sind, oder aber bei den Partizipien intransitiver Verben, deren Bedeutung perfektiv ist. Die Partizipien von intransitiven Verben mit einer perfektiven Aktionsart sind aktivisch und haben eine resultative Bedeutung. Möglich ist also das entzündete Feuer (transitives Verb, Partizip Passiv) ebenso wie das entbrannte Feuer (inchoatives intransitives Verb, resultatives Partizip Aktiv), nicht aber: *das gebrannte Feuer (intransitives Verb ohne perfektive Aktionsart, durativ). Wie wichtig ein deutlich vorhandenes Bedeutungselement ‚Abgeschlossenheit‘ dabei ist, zeigt sich
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Partizipien
beispielsweise auch im Unterschied zwischen die eben angekommenen Gäste und *die eben gekommenen Gäste.5 Das Partizip Perfekt wird ferner auch im Verbalparadigma des Deutschen mehrfach genutzt: zur analytischen Tempusbildung (f Perfekt, Plusquamperfekt, f Doppelperfekt und f Futur II) und zur Bildung des Passivs (Vorgangs-, Zustands- und Rezipientenpassiv). Das Partizip geht dabei mit dem jeweiligen Auxiliar eine feste Verbindung mit einer eigenständigen Bedeutung ein. Dies wird besonders gut sichtbar, wenn man beispielsweise bei transitiven Verben die Hilfsverben werden und haben gegeneinander austauscht: die beiden Konstruktionen ich habe gesehen und ich werde gesehen weisen dem Subjekt einmal die Rolle des Agens, einmal die des Patiens zu, ohne dass sich am dabei am Partizip selbst etwas ändern würde. Historisch ist die Perfektbildung mit haben aus einer Objektkonstruktion mit dem Partizip Perfekt Passiv hervorgegangen. Ursprünglich drückte haben – zu dem das Possessivverb eigan ‚eignen‘ in althochdeutschen Quellen noch eine Alternative bildete (vgl. so wir éigun nu gisprochan Otfrid, 1,25,11, zitiert nach Ebert 1978: 58) – dabei wirklich eine possessive Relation aus. Außer den germanischen Sprachen sind auch die romanischen diesen Weg gegangen. Schon das Lateinische weist Fälle wie aliquid exloratum habeo (wörtlich: ‚ich habe etwas als Erkundetes‘; vgl. Rubenbauer/Hofmann 1995: 213, 242; ebenso auch das viel zitierte Beispiel habeo epistulam scriptam ‚ich habe den Brief als einen geschriebenen‘) auf, die sich ganz genauso in modernen romanischen Sprachen (vgl. franz. J’ai écrit la lettre) finden lassen, wo bei vorangestelltem Pronomen sogar die Kongruenz des Partizips mit dem Objekt noch erhalten ist (vgl. franz. je l’ai écrite [la lettre]). Auf dieselbe passivische Bedeutung des Partizips gehen außer den mit haben gebildeten Vergangenheitstempora auch die Passivformen zurück, die im modernen Deutschen mit werden, sein und bekommen/kriegen/erhalten + Partizip Perfekt konstruiert werden (wird verkauft; ist verkauft; bekommt geschenkt usw.). Die ersten beiden Typen sind dabei sprachgeschichtlich schon sehr alt, und Beispiele dafür finden sich ebenfalls bereits im Althochdeutschen. Die ursprüngliche Funktion des Partizips war hier prädikativ, und es zeigte Kongruenz mit dem Subjekt, etwa: in thritten tage brútloufti gitano 5 Eine häufig diskutierte Ausnahme von dieser Regel bildet das Partizip geliebt, das eine präsentisch-passivische Bedeutung zu tragen scheint. Die Form hat eine lange Entwicklungsgeschichte mit zahlreichen literarischen Verwendungsbeispielen, in deren Verlauf sie gelegentlich auch Aktiv ausdrücken konnte, und steht zudem in Konkurrenz zum gleichlautenden Partizip des alten Verbs gelieben (vgl. Grimm/Grimm 1897/1999, s. v. geliebt). Aussagen über die regelhafte Bedeutung des deutschen Partizips 2 lassen sich daher aus diesem Sonderfall nicht ableiten.
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uuarun ‚Am dritten Tage wurden Hochzeitsfeiern abgehalten‘ (eigentlich: ‚wurden abgehaltene‘, Nom. Pl. Fem.; Tatian 45,1, zitiert nach Kotin 1998: 74). Einen formal ganz ähnlichen, semantisch aber deutlich zu unterscheidenden Weg haben die Perfektformen mit sein und Partizip Perfekt wie in bin angekommen, ist abgereist usw. genommen. Auch hier liegt eine prädikative Konstruktion vor, deren Vorläufer sich abermals bereits in den frühesten Belegen des Deutschen fingen: ist quhoman ‚ist gekommen‘ (eigentlich: ‚ist ein gekommener‘; vgl. Vogel 2006: 122). Da für diesen Konstruktionstyp eine aktivische Bedeutung des Partizips notwendig ist, konnten sein-Perfektformen nur von intransitiven Verben gebildet werden, eine Regel, die auch für das moderne Deutsche noch gültig ist. Im Deutschen wird das Partizip 2 beim Auftreten eines abhängigen Infinitivs ohne zu in der Tempusbildung6 durch einen Infinitiv ersetzt, der als Ersatzinfinitiv oder auch Infinitivus pro participio bezeichnet wird, beispielsweise: ich habe dich gar nicht kommen hören (nicht: *gehört), ich habe leider nicht teilnehmen können (statt: *gekonnt). Da der Infinitiv hier die Funktion eines Partizips übernimmt, wird er von manchen Autoren als Sonderform des Partizips betrachtet, die in bestimmten Funktionen auftritt (so Feret 2005:36). Auch in einigen weiteren westgermanischen Sprachen treten solche Ersatzinfinitive unter bestimmten Bedingungen auf. Eine einheitliche Erklärung dafür, warum dieser Ersatz des Partizips durch einen Infinitiv erfolgt, gibt es nicht; von verschiedenen Autoren werden mehrere unterschiedliche Erklärungsansätze verfolgt. So beurteilt Schmid (2005) die Konstruktion im Rahmen der Optimalitätstheorie als Reparaturstrategie, also als einen Ausweg, der benutzt wird, um Formen zu vermeiden, die innerhalb des grammatischen Regelwerks der Sprache noch weniger akzeptabel wären. Eisenberg/Smith/Teuber (2001) vertreten demgegenüber den Ansatz, dass die Wahl des Infinitivs als Ersatz für das Partizip durch Stellungsregeln und -probleme verursacht wird.
6 Ersatzinfinitive stehen außer im Perfekt und Plusquamperfekt auch im Futur II, in dem solche Konstruktionen aber sehr selten und zudem im Hinblick auf die Reihenfolge der Elemente problematisch sind, vgl.: Man wird ihn beschatten lassen haben; Sie wird nicht haben kommen wollen.
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Passiv
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Elke Hentschel u Passiv 1
Einleitung
Passiv ist eine Teilkategorie von Genus Verbi, die im Gegensatz zur Teilkategorie Aktiv am Verb oder im Prädikat markiert ist. Traditionell wird angenommen, dass Aktiv und Passiv dieselbe Proposition aufweisen, das Passiv aber eine syntaktische Umkehrung des Aktivs darstellt. Im protoytpischen Aktivsatz steht das Agens im Subjekt, das heißt, die Handlung geht vom Subjekt aus und kann sich auf einen von der Handlung betroffenen Gegenstand oder eine Person (sog. Patiens, engl. auch goal) richten. Im Passiv steht das Agens niemals in Subjektposition; aus semantisch-pragmatischer Perspektive erfolgt hier also eine Defokussierung des Agens. Das Subjekt des Aktivsatzes wird entweder ersatzlos getilgt, so dass ein subjektloser Satz entsteht (sog. unpersönliches Passiv; Genaueres siehe Abschnitt 3), oder aber das Patiens wird in die Subjektposition bewegt (sog. persönliches Passiv). Im letzteren Fall ist die Handlung nunmehr auf das Subjekt gerichtet und geht nicht von ihm aus. Das Agens selbst kann dann in den meisten Sprachen überhaupt keine syntaktische Funktion mehr einnehmen oder aber es wird als Adverbial, etwa in Form einer Präpositionalphrase, realisiert, wie dies im Deutschen der Fall ist. Hier wird das Passiv außerdem nur analytisch, durch Hinzufügung eines Hilfsverbs, und nicht synthetisch mit Hilfe eines Affixes markiert. Persönliches Passiv Die Tür wird von dem Kind geöffnet.
Aktiv Das Kind öffnet die Tür.
Unpersönliches Passiv Mir wird (von niemandem) geholfen. (Von allen) wird gelächelt.
Aktiv Niemand hilft mir. Alle lächeln.
Die Begriffe Passiv und Aktiv stammen aus der lateinischen Grammatikschreibung und bezeichnen dort ursprünglich zwei von mehreren Verbeintei-
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Passiv
lungen oder Genera verbi (lat. genus verbi ‚Art des Verbs‘), nämlich genus activum und genus passivum (vgl. Vogel 2009; im Detail Andersen 1994: 178). Dabei handelt es sich jeweils um dieselben Verben, die aber beim Vorliegen einer bestimmten Markierung „Leidens“bedeutung (lat. passio ‚Leid(en)‘) haben, während ohne diese Markierung eine „Handlung“ (lat. actus ‚Handlung‘) ausgedrückt wird. Da die Verben mit Hilfe dieser Markierung (im Lateinischen ist es das Affix -r-) von der einen Art (genus activum) in die andere übertreten (genus passivum), sind sie im wörtlichen Sinne „transitiv“ (lat. transire ‚übertreten‘). Dabei handelt es sich vor allem um zweistellige Verben mit Akkusativobjekt, im Lateinischen sind auch Verben mit Dativ- oder Genitivobjekt betroffen (vgl. Andersen 1994: 169). Verben, die sowohl ein direktes als auch ein indirektes Objekt aufweisen, wie zum Beispiel geben, werden in der Typologie oft als ditransitiv bezeichnet. Sie sind in Bezug auf beide Objekte passivierbar. Je nachdem, welches der beiden Objekte im Passiv zum Subjekt wird, bezeichnet man diese beiden Formen entsprechend der semantischen Rollen der beiden als Patiens- oder als Rezipientenpassiv. Aktiv
Patienspassiv
Rezipientenpassiv
Jetzt schicke ich der Zeitung aber einen Leserbrief!
Jetzt wird der Zeitung (von mir) aber ein Leserbrief geschickt!
Jetzt bekommt die Zeitung (von mir) aber einen Leserbrief geschickt!
Voraussetzung für die Möglichkeit ein Passiv zu bilden ist dabei aber in allen Fällen, dass im Aktivsatz eine Handlung vorliegt, das Subjekt des Aktivsatzes also ein Agens ist. Ein Verb wie haben in Stefanie hat einen Hamster weist zwar ein Akkusativobjekt auf, kann aber kein Passiv bilden, weil es im Aktiv keine Handlungsbedeutung hat und folglich kein Agens enthält. Eisenberg (2006: 128) spricht hier von einem zu geringen Agensgefälle zwischen Subjekt und Objekt. Solche Verben mit Akkusativobjekt, aber ohne Passivierungsmöglichkeit, können auch „pseudotransitiv“ genannt werden (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 64). Intransitive Handlungsverben, die passivierbar sind, aber entweder kein Objekt haben oder zumindest keines, das zum Subjekt werden kann, bilden ein unpersönliches oder subjektloses Passiv (s. o.). Der Begriff Passiv wird in seltenen Fällen auch dann verwendet, wenn keinerlei Veränderung der syntaktischen Funktion der Argumente im Satz erfolgt und entsprechend auch keine Markierung vorliegt. Das ist namentlich in der funktional orientierten typologischen Passivforschung der Fall, für die vor allem die Arbeiten von Talmy Givón repräsentativ sind. Da bei ihm die semantisch-pragmatisch begründete Agensdefokussierung im Vordergrund
Passiv
284
steht und nicht die morphologisch-syntaktischen Gegebenheiten, fallen hier auch solche Fügungen unter Passiv, die ein generisches Agens besitzen, denn diese Art von Agens wird als semantisch defokussiert angesehen. So werden bei ihm auch folgende Sätze als „(impersonal) passive“ bezeichnet: They dance in the street there; One goes to the market every Friday (Givón 2001: 136). Im Allgemeinen werden als Passiv aber nur auch morphologisch markierte Konstruktionen bezeichnet, bei denen Agensdefokussierung zudem eher Mittel zum Zweck als primäre Funktion ist. Wenn in einer Sprache nämlich Verknüpfungen von grammatischen Funktionen und semantischen Rollen grammatisch fixiert sind, ist ein Mittel nötig, um diese Fixierung wieder aufzulösen. In diesem Sinne ist in vielen Sprachen auch die syntaktische Funktion des Subjekts fixiert, die im prototypischen Fall im Aktiv mit einem Agens besetzt ist. Ob überhaupt und wenn ja, welche semantische Rolle bei der Passivbildung ins Subjekt verlegt wird, ist von der jeweiligen Einzelsprache abhängig, auch wenn es bevorzugte Varianten gibt. Übereinzelsprachlich gesehen ist zum Beispiel ein persönliches oder subjekthaltiges Passiv grundsätzlich häufiger als ein subjektloses. Dabei ist ein Patiens im Subjekt des persönlichen Passivs wiederum häufiger anzutreffen als eine andere semantische Rolle. Durch die Nicht-Agentivität des Subjekts rückt zudem Inaktivität und damit eine Perspektive in den Vordergrund, die auf das Geschehen (und nicht auf die Handlung) ausgerichtet ist. Verwendung finden solche Konstruktionen vor allem dann, wenn die durch das Passiv hergestellte Informationsstruktur textuell angemessener ist. Als textuelle Funktion des unpersönlichen Passivs können nach Vogel (2006: 85) vor allem Beschreibungen von Hintergrundsituationen gelten oder Antworten auf „Was passiert/ist passiert?“-Fragen. Es geht um „establishing scenery, where information is not given about someone or something, but about an entire state of affairs“ (Sasse 1987: 535). Das persönliche Passiv gewährleistet dagegen vor allem inhaltliche und formale Textkohärenz, indem ein bereits genanntes Element wiederaufgenommen und als Subjekt thematisiert oder beibehalten wird. Man vergleiche: Der Präsident schlägt den Kanzler vor. Der Kanzler wird vom Parlament gewählt. (nach Eisenberg 2006: 135) … ich hatte schon am ersten Abend eine Schlägerei mit einem Schwachsinnigen … Ich wurde nicht nur ganz schön zusammengeschlagen …, ich bekam auch eine schwere Gelbsucht. (Böll, nach Duden 1998: 177)
285
Passiv
Dabei wird das Agens entthematisiert, da es zusammen mit dem Prädikat im Rhema steht. 2
Passivmorphologie
2.1
Synthetisches und analytisches Passiv
Obwohl übereinzelsprachlich gesehen die synthetische Passivbildung durch Affigierung am Vollverb am häufigsten ist (vgl. Kazenin 2001: 900), findet sich eine solche in den germanischen Sprachen eher selten, und wenn, dann nur neben einer zusätzlichen analytischen Passivbildung. Dies ist bereits im Gotischen zu beobachten, wo das synthetische Passiv nur noch im Präsens Indikativ und Konjunktiv vorkommt und Vorgangsbedeutung hat, etwa daupjada ‚getauft wird‘ (vs. daupjiÜ ‚tauft‘) (Valentin 1987: 4). Im Präteritum wird dagegen das Partizip Perfekt des Vollverbs mit dem Hilfsverb werden verknüpft: afdomiÜs warÜ ‚abgeurteilt wurde‘ (ebd.). Daneben existiert noch in allen Tempora und Modi ein Passiv mit sein: gameliÜ ist ‚geschrieben ist‘, daupiÜai wesun ‚getauft waren‘ (ebd.). Grundsätzlich ist sein als Hilfsverb zur Passivbildung auch übereinzelsprachlich gesehen am häufigsten vertreten (vgl. Kazenin 2001: 901). Das Festlandskandinavische kennt zwar ebenfalls ein synthetisches Passiv, das mit -s gebildet wird; dies ist jedoch neuer und geht historisch auf die Kombination mit einem Reflexivpronomen sik ‚sich‘ zurück (vgl. Valentin 1987: 4 f.). Ein solches Reflexivpassiv kann, ebenso wie das synthetische Passiv im Gotischen, nur Vorgangsbedeutung haben, man vergleiche dörren målas (av Björn) ‚die Tür wird von Björn angestrichen‘. Daneben liegt im Skandinavischen aber auch ein analytisches Passiv mit sein und mit werden vor. Die beiden letzteren sind auch im Deutschen und Englischen zu finden, die beide kein synthetisches Passiv mehr aufweisen. Das Englische hat das werden-Passiv allerdings bereits im 14. Jahrhundert verloren und drückt heute beide Varianten, Zustand und Vorgang, mit der sein-Konstruktion aus: the house is (being) built (vgl. Valentin 1987: 6). Auch zur Bildung des Rezipientenpassivs stellt das Englische nur das Hilfsverb sein zur Verfügung: John was given a book by Mary. Dagegen bildet das Deutsche das Rezipientenpassiv mit kriegen, bekommen oder erhalten: Alle bekommen/erhalten/kriegen von mir ein Buch geschenkt. Dieses Passiv taucht erstmals im späteren 16. Jahrhundert auf, und zwar mit kriegen (vgl. Eroms 1978: 365). Das Rezipientenpassiv hat nur Vorgangsbedeutung und stellt keine unpersönliche oder subjektlose Variante zur Verfügung. Weitere passivische Konstruktion, die über die Passivierung hinaus noch weitere Veränderungen beinhalten, werden unter „Passivvarianten“ in Abschnitt 5 behandelt.
286
Passiv
2.2
sein- und werden-Passiv
Sowohl sein- als auch werden-Passiv sind in allen Tempora und Modi möglich, wobei einige Formen speziell im sein-Passiv sehr selten auftreten. Dabei wird das Partizip Perfekt jeweils zu einer finiten Form von sein bzw. werden hinzugefügt, wobei im würde-Konjunktiv und im Futur sein/werden selbst im Infinitiv und im Perfekt und Plusquamperfekt als Partizip stehen und ihrerseits ein Hilfsverb benötigen. Das Partizip Perfekt von werden tritt dabei in der präfixlosen Form worden auf (statt: geworden). werden-Passiv 3. P. Sg.
Indikativ
Konjunktiv
Präsens
wird geöffnet
werde geöffnet
Präteritum
wurde geöffnet
würde geöffnet
Perfekt
ist geöffnet worden
sei geöffnet worden
Plusquamperfekt
war geöffnet worden
wäre geöffnet worden
Futur I
wird geöffnet werden
werde geöffnet werden
Futur II
wird geöffnet worden sein
werde geöffnet worden sein
würde-Konjunktiv Präsens
würde geöffnet werden
Perfekt
würde geöffnet worden sein
sein-Passiv 3.P.Sg.
Indikativ
Konjunktiv
Präsens
ist geöffnet
sei geöffnet
Präteritum
war geöffnet
wäre geöffnet
Perfekt
ist geöffnet gewesen
sei geöffnet gewesen
Plusquamperfekt
war geöffnet gewesen
wäre geöffnet gewesen
Futur I
wird geöffnet sein
werde geöffnet sein
Futur II
wird geöffnet gewesen sein
werde geöffnet gewesen sein
würde-Konjunktiv Präsens
würde geöffnet sein
Perfekt
würde geöffnet gewesen sein
Im werden-Passiv oder Vorgangspassiv wird ausgedrückt, dass sich das jeweilige Ereignis im Verlauf befindet: die Tür wird geöffnet. Im sein-Passiv oder Zustandspassiv wird das Ereignis als Zustand dargestellt: die Tür ist geöffnet.
287
Passiv
Ein Vorgang ergibt sich am ehesten dann, wenn die Bedeutung des jeweiligen Verbs selbst bereits einen Vorgang beschreibt, es sich also um Durativa handelt: die Tür wird bemalt. Werden kann aber auch mit Nicht-Durativa kombiniert werden, wodurch aber eher oder auch zusätzlich das Bedeutungsmerkmal „Faktum“ vorliegt: Die Tür wird geöffnet. Ein Zustand ergibt sich dagegen vor allem dann, wenn die Bedeutung des jeweiligen Verbs bereits einen Handlungsabschluss impliziert. Dies ist bei den nicht-durativen Verben wie etwa öffnen der Fall, so dass im sein-Passiv ein Nachzustand bzw. Resultativität vorliegt. Ein Agens ist hier im Gegensatz zum werden-Passiv im Allgemeinen nicht möglich: die Tür wird von dem Kind geöffnet vs. *die Tür ist von dem Kind geöffnet. Das sein-Passiv ist allerdings manchmal auch von Durativa bildbar, nur kann es dort nicht das Merkmal Nachzustand tragen. Die Interpretation geht auch hier zum einen in Richtung „Faktum“ und kann so mit einem Agens kombiniert werden: ich bin (von allen) gefürchtet. Zum anderen kann das Merkmal Nachzustand beim sein-Passiv von Durativa als zeitliche Abgeschlossenheit uminterpretiert werden: Also, die Blumen sind gegossen, die Katze ist gefüttert und gestreichelt. Jetzt muss ich mich noch um die Post kümmern (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 133 f.). Abschließend noch einmal die Zusammenstellung der wichtigsten Kombinationen, wobei die typischen Verknüpfungen unterstrichen sind. werden-Passiv Vorgang mit Durativa Faktum mit Nicht-Durativa 3
sein-Passiv Zustand mit Nicht-Durativa Faktum mit Durativa
Das unpersönliche Passiv
Im Passiv wird nach persönlichem und unpersönlichem Passiv unterschieden, wobei im Allgemeinen Subjekthaltigkeit oder Subjektlosigkeit als Kriterium gilt. Obwohl auch das von ditransitiven Verben gebildete Rezipientenpassiv subjekthaltig ist (ich schenke dir ein Buch ⇒ ich bekomme/kriege/erhalte von dir ein Buch geschenkt), wird hier aufgrund des Fehlens einer subjektlosen/unpersönlichen Variante nicht von persönlichem Passiv gesprochen. Im häufigeren persönlichen Passiv wird das Agens aus dem Subjekt verdrängt und durch ein Patiens ersetzt, das heißt, das Subjekt wird semantisch gesehen inaktiv. Da das direkte Objekt nun nicht mehr besetzt werden kann, liegt hier zugleich die Tilgung einer syntaktischen Funktion und damit Detransitivierung, das heißt die Reduktion des Valenzrahmens um eine Stelle, vor. In einigen Sprachen, so auch im Deutschen, kann das Agens optional in Form einer adverbialen Präpositionalphrase angefügt werden. Der Unter-
Passiv
288
schied zwischen Nennung und Nicht-Nennung besteht lediglich darin, dass es sich einmal um einen expliziten Ausdruck handelt, ein anderes Mal um ein implizites, im Kontext gegebenes, Mitverstehen.
Zifonun u. a. (1997: 1793) sprechen dabei vom Zweitakt-Passiv, da Bewegungen von zwei Argumenten (Agens/Subjekt und Patiens/Objekt) erfolgen. Beim unpersönlichen Passiv liegt dagegen nur ein Takt vor, daher Eintakt-Passiv, weil die Nachrückung von Patiens/Objekt fehlt. Zunächst soll das unpersönliche Passiv von intransitiven Verben betrachtet werden. a) Objekthaltige Intransitiva mit dativischem, genitivischem oder präpositionalem Objekt Dir kann niemand helfen. Dir kann (von niemandem) geholfen werden. Deiner gedenkt niemand. Deiner wird (von niemandem) gedacht. An dich denkt dabei niemand. An dich wird dabei (von niemandem) gedacht. b) Objektlose Intransitiva Es hustete jemand. Es wurde (von jemandem) gehustet. Hierzu sind auch echt reflexive Verben zu zählen, da das Reflexivpronomen zum Verb gehört und es sich damit ebenfalls um Intransitiva handelt. So würde um dich wird sich gleich gekümmert zu Fall a) zählen, da wurde sich beeilt zu b). Allerdings gehören solche Reflexivpassive eher der Umgangssprache an und werden nicht von allen SprecherInnen akzeptiert. Das unpersönliche Passiv wird überwiegend von nicht-durativen Verben gebildet (vgl. auch Abraham/Leiss 2006), weshalb es sich meist um ein werden-Passiv handelt. Das Agens muss zudem obligatorisch belebt und sogar [+menschlich] sein.
289
Passiv
Bedenkt man, dass das Objektargument auch nur kontextuell mitverstanden sein kann (z. B. es muss nicht gedankt werden), ergibt sich folgendes Schema für das unpersönliche Passiv.
Parallel zur Tilgung der Objektstelle nach Verschiebung des Partizipanten läge hier zusätzlich die Tilgung der syntaktischen Funktion Subjekt vor. Einige Sprachen erlauben jedoch eine solche vollständige Tilgung nicht und benötigen in allen Positionen ein explizites, wenn auch semantisch leeres Subjekt, zum Beispiel det ‚es‘, im Norwegischen (Bokmål): Aussagesatz Det snakkes mye om været. ‚Es wird viel über das Wetter gesprochen.‘ Fragesatz Snakkes *(det) mye om været? ‚Wird viel über das Wetter gesprochen?‘ (nach Lenerz 1985/1992: 111) Hier liegt dann zwar kein subjektloses Passiv vor, wohl aber ein unpersönliches in der traditionellen Interpretation von „unpersönlich“, die auch nicht-referenzielle oder unspezifische Subjekte mit einschließt (wie z. B. in es regnet, es weht). Im Deutschen ist ein solches semantisch leeres, durch es verkörpertes Subjekt, nur in der ersten Position vor dem finiten Verb notwendig, wenn die Stelle ansonsten unbesetzt ist: *Wird viel über das Wetter gesprochen. Aber: Heute wird viel über das Wetter gesprochen. Über das Wetter wird viel gesprochen. Daher findet man dieses es seltener als Subjekt (z. B. Hentschel/Weydt 2003: 359) und häufiger als „Vorfeld-es“ oder Ähnliches eingeordnet (z. B. Eisenberg 2006: 129). Im letzteren Fall ist im Deutschen die Gleichsetzung von unpersönlichem und subjektlosem Passiv also gerechtfertigt. Abschließend muss noch diskutiert werden, ob es im Deutschen ein unpersönliches Passiv von transitiven Verben gibt. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden:
Passiv
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a) die Verwendung mit beibehaltenem Akkusativobjekt; b) die absolute oder intransitive Verwendung. Fall a) ist insofern schwierig, als sich in den potenziellen Beispielen kaum je eine explizite Akkusativmarkierung zeigt. Fehlende Kongruenz zwischen dem finiten Verb im Singular und der entsprechenden NP im Plural lässt jedoch die Interpretation zu, dass es sich um einen beibehaltenen Akkusativ handelt. Dies betrifft vor allem Fälle von Verben mit innerem, also semantisch eng ans Verb gebundenem, Akkusativobjekt (z. B. Karten spielen). Von Seefranz-Montag (1983: 68 f., Fn. 37) spricht hier etwa von „quasi-lexikalisierten komplexen Verb-Objekt-Verbindungen mit der Tendenz zur morphologischen Zusammenbildung“, zum Beispiel es wird Walzer und Foxtrott getanzt; es wird Spaghetti gekocht. Zifonun u. a. (1997: 1801) betrachten solche Konstruktionen als idiomatisierte Verb-Komplement-Fügungen. Dazu würden auch Passive von unecht reflexiven bzw. reziproken Verben vom Typ da wird sich umarmt passen, da hier ebenso wie bei inneren Objekten ein geringerer Grad an referenzieller Autonomie vorliegt und zwar aufgrund der Koreferenz von Agens und Patiens. Das Schema sieht also ähnlich wie für objekthaltige unpersönliche Passive aus.
Besonders kompliziert gestalten sich die Verhältnisse im Fall von b), wenn transitive Verben in absoluter bzw. intransitiver Verwendung vorliegen: heute wird mal nicht aufgeräumt. Hentschel/Weydt (2003: 130) sprechen hier explizit von einem unpersönlichen Passiv von transitiven Verben. Unter der Prämisse, dass das Argument als Ganzes im Valenzrahmen verankert ist, und zwar unabhängig davon, ob es explizit ausgedrückt oder auch auch nur im Kontext mitverstanden wird, muss das auch nur implizite Patiens hier ebenso wie im persönlichen Passiv ins Subjekt verschoben werden. Diese Form des Passivs im Deutschen wäre dann also nicht subjektlos, aber unpersönlich, da auch unspezifische Subjekte miteingeschlossen sind (s. o.).
291
4
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Historische Entwicklung
Da es im Deutschen kein synthetisches Passiv mehr gibt, wird dessen Funktion von analytischen Bildungen mit werden oder sein + Partizip Perfekt wahrgenommen. Dabei handelt es sich ursprünglich um prädikative Konstruktionen der Form Subjekt-NP + Kopula + (mit der Subjekt-NP in der Flexion kongruierendem) Partizip Perfekt. Die Flexion wird jedoch im Laufe des Althochdeutschen fast vollständig abgebaut (vgl. Kotin 1998: 74; Beispiel ebd.). Mit thiu hér thó sata, sumu fielun nah themo uuege inti vvurtun furtretanu [Neutr.Pl.Nom. starke Flexion], […]. (Tatian 71,2) ‚Als er da säte, fielen manche [Samen] auf den Weg und wurden zertreten (im Sinne von: wurden zertretene).‘ In Laufe der Zeit kommt es nicht nur zu syntaktischen, sondern auch zu semantischen Veränderungen innerhalb des Prädikats, die erst im 16./17. Jahrhundert zu dem Verbsystem führen, wie es im heutigen Deutsch vorliegt. Unabhängig davon, wann die syntaktische Grammatikalisierung der Struktur mit Prädikativum zur Passivperiphrase7 als abgeschlossen gelten kann, liegt ursprünglich eine Konstruktion mit passivischer bzw. „Leidens“-Bedeutung vor. Diese ergibt sich aus dem Handlungsverb im Partizip Perfekt, dessen Objekt in der Verknüpfung mit Kopula grammatisch als Subjekt erscheint: wir sind/werden zertretene. Dadurch sind bereits wesentliche Merkmale des späteren persönlichen Passivs, nämlich zum einen Affiziertheit im Subjekt und zum anderen Agentivität, gegeben. Von Anfang an besteht die Möglichkeit einer Agensnennung in Form einer mit von oder durch eingeleiteten Präpositionalphrase. Da gleichzeitig nicht-durative Verben dominieren, ergibt sich mit sein Zustandsbedeutung,
7 Periphrase kann dabei definiert werden als „[…] die Verknüpfung von zwei autonomen Elementen, die eine Einheit bilden: die Bedeutung der Periphrase ist nicht mehr aus der der einzelnen Elemente ableitbar“ (Ebert 1978: 57).
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mit werden die Bedeutung des Übergangs in einen Zustand. Diese Art der Verknüpfung ist auch mit intransitiven Verben möglich, woraus sich subjekthaltige Konstruktionen vom Typ wir sind/werden angekommene ergeben. Ersteres entwickelt sich zum aktiven sein-Perfekt weiter, letzteres stirbt bereits im Althochdeutschen aus (vgl. hierzu ausführlicher Eggers 1987, auch in Bezug auf andere germanische Sprachen). Ab dem Spätalthochdeutschen dringen zunehmend Durativa in die seinund vor allem die werden-Konstruktion ein. In Kombination mit Durativa kann keine Zustandsbedeutung mehr aktiviert werden, es kommt daher mit werden zur Uminterpretation als Vorgang bzw. Prozess (vgl. Kotin 1998: 129, 133). Im Laufe der Zeit wird die Kombination werden + Durativa und damit die Vorgangsbedeutung dominant, so dass nach Oubouzar (1974: 94) gilt: „Von der Mitte des 16. Jh. an können die Formen w+pII [d. h. werden + Partizip Perfekt, P. M. V.] als kursiv interpretiert werden.“ Das hat auch Konsequenzen für die Kombination von werden mit Nicht-Durativa. Aktiviert wird nun eine Interpretation als Faktum (vgl. Kotin 1998: 136), ähnlich wie bei sein mit Durativa. sein + Nicht-Durativa konservieren als Relikt die Nachzustandsbedeutung bzw. Resultativität. Daraus ergibt sich das bereits in Abschnitt 2.2 dargestellte vereinfachte System des neuhochdeutschen Passivs ab dem 16. Jahrhundert (vgl. auch Vogel 2006: 195): werden + Durativa: Vorgang bewacht werden
sein + Durativa: Faktum bewacht sein
werden + Nicht-Durativa: Faktum erschlagen werden
sein + Nicht-Durativa: (Nach)Zustand erschlagen sein
Das Tempussystem des Passivs liegt in seiner Gesamtheit im 17. Jahrhundert vor (vgl. Kotin 1998: 151; Oubouzar 1974: 94). Dabei hat das Aktivsystem wahrscheinlich starken Vorbildcharakter, besonders im Bereich der Futurtempora. Erst mit dem temporalen Ausbau des Passivs hat sich ein vollständiges Genus Verbi-Paradigma mit den Teilkategorien Aktiv und Passiv etabliert. Das so genannte Vorgangspassiv mit werden von Durativa sowie das so genannte Zustandspassiv mit sein von Nicht-Durativa stellen das „Normale“ dar. Trotz dieser Systematizität wird Letzteres von Autoren wie Oubouzar (1974: 94), Lenz (1995) oder Rapp (1996) nicht zum Passiv gezählt, sondern beispielsweise als prädikative Fügung mit Partizip Perfekt betrachtet. Auch ein unpersönliches Passiv absolut verwendeter transitiver Verben vom Typ es wird gesungen sowie von Verben mit Dativ- oder Genitivobjekt liegt bereits in frühen althochdeutschen Texten vor. Da bei letzteren Füllen kein Subjekt und damit kein zugrundeliegender Satz der Form Subjekt-NP +
293
Passiv
Kopula + Partizip Perfekt (ggf. flektiert) möglich ist, wird zum Beispiel von Welke (2005: 300 f.) postuliert, dass die syntaktische Periphrasierung des Passivs schon zuvor abgeschlossen sein musste. Kotin (1998: 84) geht dagegen davon aus, dass mit dem Eintritt objekthaltiger Intransitiva in die prädikative Fügung zumindest für diese Konstruktionen automatisch ein grammatikalisiertes Passiv entsteht, da es kein Subjekt gibt, auf das sich das Partizip bzw. Prädikativum zurückbeziehen kann. Er kann allerdings nicht erklären, wie dieser zu diesem Zeitpunkt eigentlich unmögliche Eintritt zu motivieren ist. Vogel (2006: 136–139) schlägt deshalb einen Sonderentwicklungsweg des Passivs objekthaltiger Intransitiva vor, der auch mit einer zugrundeliegen prädikativen Struktur vereinbar ist. Unpersönliche Passive von objektlosen Intransitiva (einschließlich echter Reflexiva vom Typ es wird sich beeilt) sind dagegen nicht vor dem 13. Jahrhundert bezeugt, was auf eine spätestens jetzt abgeschlossene syntaktische Periphrasierung hindeutet. Eventuell unpersönliche Passive von Transitiva mit beibehaltenem Akkusativobjekt vom Typ es wird Spaghetti gegessen oder es wird sich umarmt sind erst neuhochdeutsch und zudem sowohl im Hinblick auf die zugrunde liegende Konstruktion – „echtes“ Akkusativobjekt oder Inkorporation in die Verbalphrase – als auch auf den Grad ihrer standardsprachlichen Akzeptabilität umstritten. 5
Passivvarianten
Als Passivvarianten sollen hier abschließend solche Konstruktionen vorgestellt werden, bei denen ebenfalls in morphologischer Hinsicht im Prädikat zusätzlich zum Vollverb ein weiteres Element als Markierung vorliegt und die in syntaktischer Hinsicht eine Umkehrung im Hinblick auf das Subjekt bewirken, die jedoch darüber hinaus noch zusätzliche Bedeutungsmerkmale beinhalten. In der persönlichen Variante liegt grundsätzlich Akkusativkonversion vor. Die entsprechenden Formen sind mit einem werden-Passiv periphrasierbar und haben deshalb Vorgangsbedeutung, es kommt aber noch ein zusätzliches Merkmal der aktionalen Spezifizierung und/oder der Modalität hinzu (zu einer Übersicht vgl. Askedal 1987: 23–26, 30 f.). Ist im Folgenden weiter nichts angegeben, sind die Konstruktionen erst im (evtl. frühen) Neuhochdeutschen belegt; detaillierte historische Untersuchungen fehlen allerdings noch. Unterschieden werden kann in Konstruktionen, die der Form nach passivisch sind, und solche, die formal ein Aktiv darstellen. Passivische Form weisen gehören/bleiben + Partizip Perfekt auf (das gehört/bleibt geschlossen). In beiden Fällen ist die unpersönliche bzw. subjektlose Variante kaum belegt,
Passiv
294
wenn auch evtl. prinzipiell möglich, man vergleiche mit bleiben: Für sein Wohlbefinden blieb (von der Familie) gut gesorgt (Beispiel nach Askedal 1987: 23). bleiben + Partizip Perfekt betont das Fortdauern eines Zustandes und ist bereits im Althochdeutschen belegt (vgl. Eroms 1990: 92 f.). gehören + Partizip Perfekt impliziert eine ‚müssen‘/‚sollen‘-Modalität und gilt eher als umgangssprachlich (vgl. Pape-Müller 1980: 37). Aktivische Konstruktionen mit passivischer Bedeutung unterscheiden sich danach, ob das Vollverb im zu-Infinitiv steht und mit einem Hilfsverb kombiniert ist oder ob zum Vollverb ein Reflexivpronomen als Markierung hinzukommt. Zu den zu-Infinitivkonstruktionen gehören bleiben/stehen/gehen + zu-Infinitiv (das bleibt/steht zu hoffen, das geht zu schließen) sowie sein + zu-Infinitiv (das ist zu sehen). Erstere weisen nur eine persönliche, letzteres zusätzlich auch eine unpersönliche Variante auf, zum Beispiel es ist aufzustehen. sein + zu-Infinitiv, auch modales Passiv oder modaler Infinitiv genannt, wird bei Demske-Neumann (1994) sehr gut untersucht, auch in historischer Hinsicht. Die Konstruktion ist mit der Komponente der Notwendigkeit (das ist zu tun) bereits althochdeutsch belegt, die Lesart ‚Möglichkeit‘ (das ist zu sehen) kommt aber erst neuhochdeutsch hinzu (vgl. ebd.: 76). Entstanden ist die Konstruktion wahrscheinlich aus mit zu regierten Präpositionalphrasen, etwa: Thaz sî îu zi zeichane, […] (Tatian 6,2) ‚Das diene euch als Zeichen, […]‘ (Beispiel in Anlehnung an ebd.: 76). bleiben + zu-Infinitiv (das bleibt noch zu erledigen) entspricht sein + zu-Infinitiv mit ‚müssen‘/‚sollen‘-Modalität, hat aber eine zusätzliche kontinuative Komponente. Das gilt auch für stehen + zu-Infinitiv (das steht zu hoffen), das aber derart phraeologisiert zu sein scheint, dass weder Kontinuativität noch Modalität eindeutig zugewiesen werden können. gehen + zu-Infinitiv (das geht zu schließen) entspricht dagegen sein + zu-Infinitiv mit ‚können‘-Modalität, gilt jedoch als umgangssprachlich. Passivperiphrasen in Form von Reflexivkonstruktionen umfassen lassen + sich + Infinitiv (das lässt sich machen/darauf lässt sich bauen) sowie Reflexivpronomen + Verb (das trägt sich gut/hier sitzt es sich angenehm). Beide Fügungen weisen also persönliche und unpersönliche Varianten auf. Ebenfalls in beiden Konstruktionen ist eine ‚können‘-Modalität sowie die Implikation eines menschlichen Agens präsent. In der lassen-Konstruktion ist sogar eine explizite Agensnennung möglich: Der Reifen lässt sich nur von einem Spezialisten flicken (Beispiel in Anlehnung an Askedal 1987: 25). Insofern liegen in beiden Konstruktionen Ansätze zu einem Vorgangs-Reflexivpassiv vor, wie es sich etwa in skandinavischen (s. o.), aber auch in slawischen und romanischen Sprachen findet.
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Abkürzungen NP O P PP S Sg
Nominalphrase Objekt Person Präpositionalphrase Subjekt Singular
Petra M. Vogel u Perfekt 1
Perfekt oder Präsensperfekt?
Von den sechs traditionell für das Deutsche angenommenen Tempora ist das Perfekt (neben dem unmarkierten Tempus Präsens) das einzige, das auch von infiniten Formen gebildet werden kann, nämlich vom Infinitiv, sowohl im Aktiv (gesungen haben, gekommen sein) als auch im Passiv (gesungen worden sein). Anhand dieser Infinitivformen lässt sich beschreiben, wie das Perfekt gebildet wird: (1) Das Perfekt eines Verbs x wird gebildet mittels einer Form des Hilfsverbs haben oder des Hilfsverbs sein und dem Partizip II von Verb x. Nach (1) sind für ein Verb wie singen die folgenden Formen Perfektformen: gesungen haben; hat gesungen; hatte gesungen; wird gesungen haben. In allen vier Konstruktionen ist, definitionsgemäß, das Partizip II des Verbs singen und eine Form von haben enthalten. Analog zur Definition des Perfekts kann man auch die Bildung von Präteritum und Futur beschreiben: Das Präteritum eines Verbs x wird gebildet, indem x das Präteritalsuffix te oder den Prä-
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Perfekt
teritalablaut erhält. Und: Das Futur eines Verbs x wird gebildet mittels einer Präsensform des Hilfsverbs werden und einer Infinitivform von x. Man könnte diese drei Elemente als die Basistempora des Deutschen bezeichnen. Die einzelnen Tempora sind kompositional aus diesen Basistempora entsprechend (2) aufgebaut. (2) Kompositionaler Aufbau der Tempora Präteritum te/Ablaut
Futur werd- + Infinitiv
Perfekt hab-/sei- + Partizip II
singt
–
–
–
wird singen
–
+
–
hat gesungen
–
–
+
wird gesungen haben
–
+
+
sang
+
–
–
hatte gesungen
+
–
+
Nach (2) haben wir im Deutschen, genauso wie wir (auch nach traditioneller Auffassung) zwei Futurtempora haben, drei Perfekttempora. Diese Perfekttempora kann man nun nach der Form des Perfekthilfsverbs unterscheiden und entsprechend benennen. Bei hat gesungen steht haben im Präsens, es ist deshalb das Präsensperfekt. Bei hatte gesungen steht haben im Präteritum, es ist daher das Präteritumperfekt. Und wird gesungen haben enthält das Futur von haben, es ist also ein Futurperfekt. Diese Bezeichnungen werden verwendet in Zifonun u. a. (1997: z. B. 1697, 1702, 1709) und im Duden (2005: 469, 474), wo sie als die „durchsichtigeren“ (ebd.: 469) angesehen werden. Zu beachten ist dabei, dass es sich hier um eine rein morphologische Analyse handelt, um eine Analyse auf der Formebene. Mit den Bezeichnungen werden keine Aussagen über die Bedeutung der Formen gemacht, ebenso wenig wie mit den Bezeichnungen Präsens, Präteritum, Perfekt und Futur selbst. Semantisch, also von der Inhaltsebene her, wie Zifonun u. a. dies zumindest teilweise (besonders 1997: 1712 f.) versuchen, lässt sich insbesondere die Bezeichnung Präsensperfekt für das Deutsche sehr viel weniger rechtfertigen als etwa der Terminus present perfect für das morphologisch analog gebildete Tempus im Englischen (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 110 f.). In dem vorliegenden Text werden die traditionellen und überwiegend gebräuchlichen Termini Perfekt (= Präsensperfekt), Plusquamperfekt (= Präteritumperfekt) und Futur II (= Futurperfekt) gebraucht. Der vorliegende Artikel behandelt mithin das Perfekt im engeren Sinne.
298
Perfekt
2
Die Hilfsverben haben und sein
Die Wahl des Perfekthilfsverbs hängt von syntaktischen und semantischen Eigenschaften des Verbs ab, von dem das Perfekt gebildet ist. Dabei wird im unmarkierten Fall das Perfekt mit haben gebildet; für die Perfektbildung mit sein gelten besondere Bedingungen.1 2.1
Perfektbildung mit haben
Die folgenden Verben bilden ihr Perfekt mit haben: 1. Transitive Verben Wir haben ein Ufo gesehen. Sie hat ihm ein Stoffnilpferd geschenkt. Man hat ihn des Mordes angeklagt. Die transitiven Verben bilden ihr Perfekt mit haben unabhängig davon, ob das Akkusativobjekt tatsächlich realisiert wird, also auch bei intransitivem Gebrauch: Ich habe schon gegessen. Er hat immer nur gefragt. Die Mutter hat gebacken. Auch Verben der Fortbewegung bilden das Perfekt mit haben, wenn sie transitiv gebraucht werden: Albrecht hat das Pferd geritten. Der Testpilot hat den neuen Airbus schon geflogen. Renate hat den Wagen in die Garage gefahren. 2. Alle reflexiven Verben Eva hat sich beeilt. Wir haben uns alle darüber gewundert. Niemand hat sich deswegen geschämt. 3. Intransitive Verben, die keine Zustandsveränderung des Subjektreferenten ausdrücken. Dazu gehören: a) alle intransitiven Verben mit Genitivobjekt Wir haben des verstorbenen Kollegen gedacht. b) intransitive Verben mit Dativobjekt Ich habe ihr immer geholfen. Alle haben dem Antrag zugestimmt. Der saure Regen hat dem Wald geschadet. c) intransitive Verben mit Präpositionalobjekt Er hat auf ihre Einsicht gehofft. Ich habe vergeblich auf dich gewartet. Wir haben für sein Fortkommen gesorgt. d) intransitive Verben ohne Objekt Helga hat heute lange geschlafen. Die Krokusse haben nur kurz geblüht. Es hat den ganzen Tag geregnet. 1 Die folgende Darstellung ist angelehnt an Duden (2005: 470–473).
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4. Alle Modalverben Sie hat es nicht gedurft. Das hat Kai schon früh gekonnt. Niemand hat das gewollt. 2.2
Perfektbildung mit sein
Die folgenden Verben bilden ihr Perfekt mit sein: 1. Intransitive Verben, die eine Zustandsveränderung des Subjektreferenten ausdrücken. Helga ist spät eingeschlafen. Die Krokusse sind schon aufgeblüht. Das Glas ist umgefallen. 2. Einige intransitive Verben mit Dativobjekt, deren Subjektreferent nicht agentiv ist, wie geschehen, passieren, auffallen, begegnen, gelingen, zufallen, zustoßen. Mir ist ein Unglück passiert. Das ist ihr gar nicht aufgefallen. Sie ist ihm einmal kurz begegnet. 3. Die Verben sein und bleiben, obwohl sie keine Zustandsveränderung des Subjektreferenten implizieren. Das ist schön gewesen. Er ist zu Hause geblieben. 4. Die beiden transitiven Verben durchgehen und eingehen. Wir sind noch schnell die Papiere für die Sitzung durchgegangen. Sie sind einen Vertrag mit der Unternehmensleitung eingegangen. 2.3
Perfektbildung bei Verben der Fortbewegung und den Positionsverben
In Sätzen mit Verben der Fortbewegung kann ein Ziel der Fortbewegung genannt sein (Ich fahre nach Köln) oder ein solches Ziel kann nicht genannt sein (Ich fahre den ganzen Tag. Ich fahre sehr viel). Bezüglich der Perfektbildung bei Verben der Fortbewegung können zwei Gruppen unterschieden werden: Verben, deren Perfekt ausschließlich mit sein gebildet, und Verben, deren Perfekt auch mit haben gebildet werden kann, wenn kein Ziel der Fortbewegung angegeben ist. Verben der Fortbewegung, deren Perfekt ausschließlich mit sein gebildet wird, sind unter anderen: bummeln, fahren, flattern, fliegen, flitzen, folgen, reisen, laufen, schlendern, springen, stolzieren, wandern. Ob die Verben mit einer Zielangabe verbunden sind oder nicht, spielt bei diesen Verben keine Rolle: Wir sind den ganzen Tag gebummelt/gefahren/geflo-
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Perfekt
gen/gereist/gelaufen/gewandert. Wir sind ins Nachbardorf gebummelt/gefahren/ gelaufen/gewandert. Wir sind nach Italien geflogen/gereist. Verben der Fortbewegung, deren Perfekt mit sein oder haben gebildet werden kann, sind: joggen, klettern, reiten, rodeln, rudern, schwimmen, segeln, traben. Werden diese Verben nicht mit einer Zielangabe verbunden, kann das Perfekt sowohl mit sein als auch mit haben gebildet werden: Wir sind/haben den ganzen Tag gejoggt/geklettert/geritten/gerodelt/gerudert/ geschwommen/ gesegelt/getrabt. Dabei ist die Tendenz zu beobachten, dass auch bei diesen Verben in dieser Verwendung das Perfekt zunehmend mit sein gebildet wird, das heißt es gibt eine Tendenz, das Perfekt von Verben der Fortbewegung nur noch mit sein zu bilden. Lediglich bei den Verben hinken und tanzen kann bei nicht zielgerichteter Ortsveränderung nur haben verwendet werden: Er hat wochenlang gehinkt. Sie hat die ganze Nacht getanzt. Bei Nennung eines Ziels wird auch bei diesen Verben das Perfekt mit sein gebildet: Wir sind ins Nachbardorf gejoggt/geklettert/geritten/gerodelt/gerudert/ geschwommen/gesegelt/getrabt. Die Verben der Fortbewegung fahren, fliegen, reiten, rudern, segeln und tanzen können auch transitiv verwendet werden. In dieser Verwendung wird das Perfekt (wie allgemein bei transitiven Verben) mit haben gebildet: Peter hat den Mercedes gefahren. Der Testpilot hat das Flugzeug geflogen. Sie hat viele Pferde geritten/das Boot ans Ufer gerudert/den Tango getanzt. Das Perfekt der Positionsverben liegen, sitzen, stehen wird im Norden des deutschen Sprachgebiets mit haben, im Süden mit sein gebildet (Sie ist dort gelegen/gestanden/gesessen). 3
Der Ersatzinfinitiv
3.1
Modalverben
Die sechs Modalverben dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen bilden das Perfekt mit haben. Wenn die Modalverben den Infinitiv eines anderen Verbs regieren, steht anstelle des Partizips II des Modalverbs der Infinitiv. Dieser Infinitiv wird „Ersatzinfinitiv“ genannt, da er das Partizip II gewissermaßen „ersetzt“: Er hat nicht kommen dürfen. Alle haben es sehen können. Sie hat es nicht hören wollen. Steht das Modalverb jedoch ohne Infinitivergänzung, dann wird im Perfekt das Partizip II des Modalverbs benutzt: Er hat es gedurft. Alle haben es gekonnt. Sie hat nicht gewollt. Während der Ersatzinfinitiv bei Modalverben, die einen Infinitiv regieren, immer gewählt wird, kommt beim Gebrauch
301
Perfekt
ohne Infinitiv vereinzelt anstelle des Partizips II ebenfalls der Ersatzinfinitiv vor (Ich habe es nicht können statt Ich habe es nicht gekonnt; Duden 2005: 473). Das Verb brauchen, das sich im Übergang von einem Vollverb zu einem Modalverb befindet (vgl. Thieroff 2009a, 2009b) verhält sich auch bezüglich des Ersatzinfinitivs wie ein Modalverb. Regiert es einen Infinitiv, wird, wie bei den Modalverben, der Ersatzinfinitiv verwendet: Sie haben nicht (zu) kommen brauchen. Ohne regierten Infinitiv steht das Partizip II: Sie haben das nicht gebraucht. Wird brauchen als Vollverb verwendet, ist selbstverständlich nur das Partizip II möglich (Ich habe neue Schuhe gebraucht). 3.2
Andere Verben
Das Perfekt des Verbs lassen und der Wahrnehmungsverben fühlen, hören, sehen, spüren kann, wenn diese Verben mit einem Infinitiv gebraucht werden, sowohl mit dem Ersatzinfinitiv als auch mit dem Partizip II gebildet werden (vgl. Wahrig 2003: 235): Du hast deine Brille hier liegen lassen/gelassen. Sie hat das Unheil kommen fühlen/gefühlt. Ich habe dich husten hören/gehört. Das habe ich kommen sehen/gesehen. Er hat den Schmerz kommen spüren/gespürt. Das Perfekt der Verben helfen und lehren wird in der Regel auch dann mit dem Partizip II gebildet, wenn diese Verben mit einem Infinitiv gebraucht werden: Er hat uns die Wohnung renovieren geholfen. Sie hat mich Klavier spielen gelehrt. Der Ersatzinfinitiv kommt jedoch auch bei diesen Verben vor: Er hat uns die Wohnung renovieren helfen. Sie hat mich Klavier spielen lehren. Schließlich begegnet der Ersatzinfinitiv (neben dem Partizip II) auch bei den (selten mit Infinitiv gebrauchten) Verben heißen und machen: Er hat sie niederknien geheißen/heißen. Sie hat ihn weinen gemacht/machen. 4
sein-Perfekt und andere sein-Konstruktionen
Das mit sein gebildete Perfekt ist im Deutschen nicht die einzige Konstruktion, die aus sein + Partizip II besteht. Daneben gibt es mindestens noch eine weitere, nämlich die meist als Zustandspassiv bezeichnete Konstruktion, die ebenfalls aus sein + Partizip II besteht. Zur Unterscheidung der beiden Konstruktionen schreiben Helbig/Buscha (2007: 158): „Der Unterschied zwischen beiden Formen wird dadurch deutlich, dass das Perfekt Aktiv (im Gegensatz zum Zustandspassiv) auf das Präsens zurückgeführt werden kann, dass dagegen das Zustandspassiv (im Gegensatz zum Perfekt Aktiv) auf ein entsprechendes Vorgangspassiv zurückgeführt werden kann.“ Helbig/Buscha (ebd.) verdeutlichen dies mit den Beispielen in (3).
302
Perfekt
(3) a. Perfekt Aktiv:
Die Frucht ist gereift.
b. Zustands- Der Brief ist geschrieben. passiv:
⇐ Die Frucht reift. ⇐ *Die Frucht ist gereift worden. ⇐ *Der Brief schreibt. ⇐ Der Brief ist geschrieben worden
Die Autoren sprechen allerdings auch von einer „semantischen Übereinstimmung beider Konstruktionen“, die „sich aus ihrer gemeinsamen resultativen Bedeutungskomponente“ ergebe (2007: 157). Von einer solchen gemeinsamen Bedeutung geht auch Leiss (1992) aus, die die These vertritt, „dass sein + Partizip II im Neuhochdeutschen weder ein Perfekt noch ein Zustandspassiv ist“ (ebd.: 164), sondern einheitlich als Resultativum zu werten sei. Leiss geht „davon aus, dass der kompetente Sprecher des Deutschen sein + Partizip II als Einheit realisiert“ (ebd.: 164) und behauptet: „nur diejenigen, die es gelernt haben, sind dazu imstande, die Unterschiede [zwischen sein-Perfekt und sein-Passiv] überhaupt herauszufinden“ (ebd.: 171). Als Grundbedeutung des Resultativums gibt Leiss „das Merkmal des Nachzustands“ an (ebd.: 285). Während Leiss (ebd.: 170 f.) lediglich feststellt, dass es „große Ähnlichkeit“ zwischen Zustandspassiv und sein + Adjektiv-Konstruktionen gibt, wird von anderen Autoren bestritten, dass es überhaupt so etwas wie ein Zustandspassiv im Deutschen gäbe. So muss für Rapp (1996: 263) „das Zustandspassiv als Konstruktion analysiert werden, bei der sich die Kopula mit einem adjektivierten 3. Status [d. h. Partizip II] verbindet“. So kann zum einen „auf die Kategorie Zustandspassiv als eigenes Genus Verbi verzichtet werden. Zum anderen ist es möglich, den 3. Status beim Zustandspassiv eindeutig als Adjektiv zu klassifizieren“ (ebd.). Nachdem also einerseits der Versuch unternommen wurde, sein-Perfekt und sein-Passiv zu einer Kategorie (dem „Resultativum“) zusammenzufassen und andererseits die These vertreten wird, dass das sein-Passiv nichts anderes als eine Kopulakonstruktion sei, argumentiert Teuber (2005: 137) dafür, dass sowohl ist eingeschlafen (sein-Perfekt) als auch ist gelesen (Zustandspassiv) nichts anderes als Kopulakonstruktionen seien: „Erstens handelt es sich in beiden Fällen nicht um analytische Verbformen, sondern um rein syntaktische Gegenstände, nämlich Kopula + ‚Prädikatsnomen‘-Komplexe. Zweitens hat man es nicht mit zwei verschiedenen Fällen zu tun, sondern mit einundderselben [sic] sein+Partizip2-Konstruktion.“ Für Leiss (1992: 156) liegt in den Sätzen (4) und (5) ein und dieselbe Verbalkategorie, eben das Resultativ, vor
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Perfekt
(4) a. Er ist eingeschlafen. (5) a. Die Ausstellung ist eröffnet. Gegen diese Analyse spricht das folgende. Erweitert man (4a) und (5a) durch ein vergangenheitsbezogenes Temporaladverbial wie in (4b/5b), durch ein Adverbial, das typischerweise Zustände modifiziert, wie in (4c/5c), oder durch einen Satz, der dem erreichten Nachzustand widerspricht, wie in (4d/5d), dann zeigt sich in allen Fällen ein unterschiedliches Verhalten dieser beiden „Resultativa“, bzw. es wird deutlich, dass in (4a) kein Resultativum vorliegt, sondern eben doch ein Perfekt (vgl. Thieroff 1995). (4) b. Er ist gestern eingeschlafen. c. *Er ist immer noch eingeschlafen. d. Er ist eingeschlafen, aber dann ist er wieder aufgewacht. (5) b. *Die Ausstellung ist gestern eröffnet. c. Die Ausstellung ist immer noch eröffnet. d. *Die Ausstellung ist eröffnet, aber dann wurde sie wieder geschlossen. Gegen Teubers Gleichsetzung von sein-Perfekt und Kopula sein + Adjektiv spricht ebenfalls das unterschiedliche Verhalten in (6a/b), der unterschiedliche Effekt, den ein vergangenheitsbezogenes Adverbial bei Perfekt- und Kopulasatz hat, wie in (7a/b), und die Tatsache, dass Kopula- und Perfektkonstruktion gewöhnlich nicht koordiniert werden können, wie in (8a/b) (vgl. Thieroff 2007: 174). (6) a. b. (7) a. b. (8) a. b.
Pauline ist eingeschlafen, aber gleich wieder aufgewacht. *Pauline ist müde, aber jetzt ist sie wieder munter. Pauline ist gestern um sieben eingeschlafen. ?Pauline ist gestern um sieben müde. *Pauline ist gestern um sieben müde und eingeschlafen. *Pauline war gestern um sieben müde und eingeschlafen.
Ein zusätzliches Argument für ein von der Kopulakonstruktion verschiedenes sein-Perfekt bietet schließlich der Sprachvergleich. In (9a–d) sind jeweils drei bedeutungsgleiche Sätze des Englischen, Deutschen und Französischen nebeneinander gestellt (vgl. Thieroff 2007: 176). (9) a. b. c. d.
He has seen her. He has come. He has washed himself. He has been tired.
Er hat sie gesehen. Er ist gekommen. Er hat sich gewaschen. Er ist müde gewesen.
Il l’a vue. Il est venu. Il s’est lavé. Il a été fatigué.
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Perfekt
Würde man in (9) sein bzw. être konsequent als Kopulaverb analysieren, so hieße das, dass nur im Englischen in allen vier Sätzen ein Perfekt vorläge. Dagegen würde im Deutschen nur (9a) und (9c) mit einem Perfekt, (9b) und (9d) hingegen mit einer Kopulakonstruktion, und im Französischen (9a) und (9d) mit einem Perfekt, (9b) und (9c) hingegen mit einer Kopulakonstruktion ausgedrückt. Aus kontrastiver Sicht ist die Annahme eines einheitlichen Perfekts in allen zwölf Sätzen in (9) zweifellos befriedigender. 5
haben-Perfekt und „haben-Konfigurativ“
Das mit haben gebildete Perfekt ist im Deutschen nicht die einzige Konstruktion, die aus haben + Partizip II besteht. (10) Das Pferd hat die Fesseln bandagiert. (11) Er hat den Arm verbunden. Die Sätze in (10) und (11) sind ambig: Neben der Perfekt-Lesart (‚Das Pferd bandagierte die Fesseln‘ [semantisch abweichend aufgrund unseres Weltwissens], ‚Er verband den Arm‘) können die Sätze auch so verstanden werden, dass das Pferd sich in einem Zustand befindet, in dem seine Fesseln bandagiert sind, bzw. dass „er“ sich in einem Zustand befindet, in dem sein Arm verbunden ist.2 Beschrieben wurde die Konstruktion zuerst von Latzel (1977). Leirbukt (1981) bezeichnet sie als „passivähnliche Konstruktion“, und Askedal (1987: 34 f.) als „haben-Passiv“. Askedal bezieht dieses „haben-Passiv“ einerseits auf das so genannte bekommen-Passiv, andererseits auf das sein-Passiv. Wie beim bekommen-Passiv liegt beim haben-Passiv Konversion des Dativobjekts vor (d. h. das Dativobjekt des Aktivsatzes wird zum Subjekt des bekommen- bzw. haben-Passivsatzes), wie beim sein-Passiv handelt es sich beim haben-Passiv um ein Zustandspassiv. Entsprechend kann der Aktivsatz (12) in die vier Passivsätze in (13) transformiert werden (vgl. Askedal 1987: 35). (12) Sie verbindet ihm den Arm. (13) Passivkonstruktionen von (12): Akkusativkonversion Dativkonversion Vorgangspassiv Der Arm wird verbunden. Er bekommt den Arm verbunden. Zustandspassiv Der Arm ist verbunden. Er hat den Arm verbunden. 2 Anders als das so genannte Zustandspassiv, dessen Analyse in den Grammatiken des Deutschen breiter Raum eingeräumt wird, bleibt die nicht-perfektische haben-Konstruktion in den meisten Grammatiken des Deutschen unerwähnt. In Zifonun u. a. (1997) sucht man sie vergebens, in Duden (2005: 557) findet sich nur ein Satz zu dieser Konstruktion.
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Perfekt
Wie bei werden- und sein-Passiv, so gilt auch für bekommen- und haben-Passiv, dass es vereinzelte Fälle gibt, in denen es kein haben-Passiv zu einem bekommen-Passiv gibt oder kein bekommen-Passiv zu einem haben-Passiv, wie Hole (2002: 172) gezeigt hat: (14) a. b. (15) a. b.
Paul bekommt eine grüne Essensmarke herausgereicht. *Paul hat eine grüne Essensmarke herausgereicht.3 Paul hat das Gesicht mit Haaren zugewachsen. *Paul bekommt das Gesicht mit Haaren zugewachsen.
Unter anderem aus den Daten in (14) und (15) zieht Hole den Schluss, dass es sich bei der nicht-perfektischen haben-Konstruktion nicht um ein Passiv handelt, und er bezeichnet die Konstruktion als „haben-Konfigurativ“. Hole (2002: 173) stellt jedoch auch fest, dass es eine Implikationsbeziehung zwischen sein-Passiv und „haben-Konfigurativ“ gibt: „Ebenso wie jedem bekommen-passivischen Satz einer im Werden-Passiv entspricht, gibt es auch zu jedem Haben-Konfigurativ ein sein-passivisches Gegenstück.“ Insgesamt ist die passivische haben-Konstruktion noch unzureichend untersucht. So stellt etwa Rothstein (2007: 296) eine Verbindung mit Konstruktionen wie Sie hat den Bleistift stets griffbereit her und plädiert dafür, das Partizip II in Sätzen wie (10) und (11) als Adjektiv zu klassifizieren, was möglicherweise zur Folge hätte, dass haben auch die Funktion eines Kopulaverbs haben kann (Rothstein 2007: 297). 6
Zur Semantik des Perfekts
In Abschnitt 1 wurde gezeigt, dass Perfektformen eines Verbs x morphologisch beschrieben werden können als Verbformen, die eine Form von haben oder sein und das Partizip II des Verbs x aufweisen. Dabei ist die Perfektform zunächst unabhängig von (finiten) Tempora, da sie bereits bei Infinitiven auftreten kann (gesungen haben, gegangen sein). Es wurde auch gezeigt, dass eine Form wie hat gesungen morphologisch zusammengesetzt ist aus Perfekt (Form von haben + Partizip II von singen) und Präsens (haben steht hier im Präsens), was der Grund dafür ist, hat gesungen auch als Präsensperfekt zu bezeichnen. Analog besteht das Plusquamperfekt aus Perfekt + Präteritum, das Futur II aus Perfekt + Futur. Es stellt sich nun die Frage, ob die Bedeutungen von Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II auf dieselbe Weise kompositional sind wie die Formen, das heißt ob die Bedeutung eines Perfekts wie hat ge-
3 (14b) kann nur als Perfekt gelesen werden.
Perfekt
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sungen sich aus der Bedeutung der Perfektform (wie in gesungen haben) und der Bedeutung des Präsens ergibt. Die Bedeutung des Perfekts im Infinitiv lässt sich relativ leicht ermitteln. Man vergleiche dazu die beiden Sätze in (16) (vgl. Bäuerle 1979: 81). (16) a. Er gibt zu, in der Partei zu sein. b. Er gibt zu, in der Partei gewesen zu sein. (16a) bedeutet, dass „er“ zum Zeitpunkt des Zugebens in der Partei ist (d. h. die Zeit der mit dem Infinitiv bezeichneten Situation ist gleichzeitig mit der Zeit des Hauptsatzes), (16b) bedeutet, dass das „In-der-Partei-Sein“ vor dem Zeitpunkt des Zugebens liegt (d. h. die Zeit der mit dem Infinitiv bezeichneten Situation ist vorzeitig vor der Zeit des Hauptsatzes). An diesen Verhältnissen ändert sich nichts, wenn der Hauptsatz in einem anderen Tempus, etwa im Präteritum, steht, wie in (17). (17) a. Er gab zu, in der Partei zu sein. b. Er gab zu, in der Partei gewesen zu sein. Wie in (16) bezeichnet auch in (17) der Infinitiv Präsens die Gleichzeitigkeit mit dem Hauptsatzgeschehen, der Infinitiv Perfekt die Vorzeitigkeit. Dieselben Gleichzeitigkeits- und Vorzeitigkeitsrelationen bestehen auch in (18). In (18a) ist die Handlung des Aufsatzschreibens gleichzeitig mit morgen, in (18b) liegt sie vor der mit morgen bezeichneten Zeit. (18) a. Er hat vor, morgen den Aufsatz zu schreiben. b. Er hat vor, morgen den Aufsatz geschrieben zu haben. Die Bedeutung der Perfektform kann mithin angegeben werden als Vorzeitigkeit oder Anteriorität (vgl. Thieroff 1992; Musan 2002). In Thieroff (2009a) wird festgestellt, dass durch das Präsens eine Zeit lokalisiert wird in einem Zeitintervall, das nicht ganz vor der Sprechzeit liegt. Das Präsens ist damit das Tempus der Nicht-Vergangenheit. Das Perfekt (im Sinne von Präsensperfekt) müsste demnach die Bedeutung haben „vorzeitig vor einer Zeit, die nicht ganz vor der Sprechzeit liegt“. Dies ist tatsächlich der Fall. In vielen Sprachen, die ein Perfekt neben Präteritum oder Aorist und Imperfekt haben, kann das Perfekt allerdings nicht in allen Fällen benutzt werden, in denen eine solche Vorzeitigkeit vorliegt. Für das Englische werden seit Comrie (2001: 56–61) und Anderson (1982: 228) (mindestens) die folgenden vier Perfekttypen unterschieden (Beispiele nach Anderson 1982): Das „experiential perfect“ (Have you [ever] been to Japan?), das „perfect of current relevance of anterior“ (He has studied the whole book [so he can help]),
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Perfekt
das „hot news perfect“ (Io has erupted!) und das „perfect of result-state“ (He has gone [is not here] ). Klein/Vater (1998: 229 f.) zeigen mit den Sätzen in (19) bis (22), dass auch im Deutschen diese Verwendungsweisen unterschieden werden können. (19) Experiential: Hast du (je) Froschschenkel gegessen? (20) Current relevance of anterior: Jetzt habe ich das ganze Buch durchgearbeitet (und sollte in der Lage sein, die Prüfung zu bestehen). (21) Hot news: Der Papst ist gestorben! (22) Result-state: Das Kind ist eingeschlafen (und schläft noch). Wie im Englischen, so kann auch im Deutschen in keinem der Fälle in (19) bis (22) das Perfekt durch das Präteritum ersetzt werden, wir haben hier also den genuinen Verwendungsbereich des Perfekts.4 Im Deutschen gibt es nun eine weitere Verwendungsweise des Perfekts, die im Englischen nicht möglich ist, nämlich diejenige, wo es mit dem Präteritum austauschbar ist. So kann (22) zwar geäußert werden, um mitzuteilen, dass das Kind jetzt schläft (Das Kind ist eingeschlafen, wir können jetzt den Krimi gucken), der Satz kann aber auch verwendet werden in einer Erzählung über die Ereignisse etwa des vergangenen Abends (Das Kind ist eingeschlafen, aber kurz darauf ist es wieder aufgewacht und hatte Durst). In diesem Kontext kann anstelle des Perfekts auch das Präteritum verwendet werden. Wie ist dies zu erklären? Betrachten wir dazu zunächst (23), mit einem Plusquamperfekt. (23) a. Bill had arrived at six o’clock. b. Bill war um sechs Uhr angekommen. (23) ist im Englischen wie im Deutschen gleichermaßen ambig. Der Satz kann erstens bedeuten, dass das Ankommen von Bill vor sechs Uhr geschah, dass Bill also um sechs Uhr anwesend war; und er kann, zweitens, bedeuten, dass Bills Ankommen um sechs Uhr geschah, dass sechs Uhr also die Zeit von Bills Ankunft bezeichnet. Die erste Lesart entspricht derjenigen des „result-
4 Lediglich beim „experiential perfect“ ist bei der Kopula sein das Präteritum möglich und sogar bevorzugt (Warst du (je) in Japan? statt Bist du (je) in Japan gewesen? (Klein/Vater 1998: 229)).
Perfekt
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state“ (vgl. (22)): Bill war angekommen, das heißt er war (um sechs Uhr) da. Comrie (2001: 56) bezeichnet diese Lesart als „perfect-in-the-past“. Die zweite Lesart, die nicht den Zustand des Angekommen-Seins, sondern das Ereignis des Ankommens bezeichnet, nennt Comrie (ebd.) hingegen „pastin-the-past“. Thieroff (1994: 109) betont, dass in beiden Fällen die Relation E–R–S gilt, das heißt dass für beide Lesarten zutrifft, dass das Ereignis (E) vor einer Referenzzeit (R) liegt, die ihrerseits vor der Sprechzeit (S) liegt. Der Unterschied zwischen den beiden Lesarten ist eben der, dass im ersten Fall von der Zeit nach E die Rede ist (zu der Bill da ist), im zweiten Fall von E, also dem Ereignis von Bills Ankunft. Im vorliegenden Satz bezeichnet die Zeitangabe (six o’clock bzw. sechs Uhr) im einen Fall die Referenzzeit (das ist das „perfect-in-the-past“) und im anderen Fall die Ereigniszeit (das ist das „past-in-the past“). Für das Englische wie für das Deutsche gilt also, dass in Verbindung mit dem Präteritum das Perfekt tatsächlich nur die Anterioritätsbedeutung hat – ob zusätzlich eine der Bedeutungen in (19) bis (22) vorliegt oder nicht, entscheidet der Kontext. Im Englischen gilt nun, dass, anders als beim past perfect, das present perfect auf die Bedeutung analog zum „perfect-in-the-past“, also auf die Bedeutung eines „perfect-in-the-present“ festgelegt ist, das heißt das englische present perfect kann nicht die Bedeutung eines „past-in-the-present“ haben. Entsprechend ist der Satz *Bill has arrived at six o’clock ungrammatisch, da dieser nur als „past-in-the-present“ verstanden werden könnte, und dies lässt das present perfect nicht zu. Im Gegensatz zum Englischen kennt das Deutsche eine derartige Beschränkung des Perfekts nicht, das heißt das deutsche Perfekt kann, genauso wie das Plusquamperfekt, sowohl „perfektisch“ (Thieroff 1994) als auch „nicht-perfektisch“ verwendet werden, und dies erklärt, warum im Deutschen das Perfekt in nahezu jedem Vorzeitigkeitskontext verwendbar ist – und es erklärt, warum es das Präteritum verdrängen kann. Ausgehend von dem identischen Verhalten von (23a) und (23b) zeigt sich zugleich, dass es das englische present perfect ist, das besondere Restriktionen aufweist, die einer Erklärung bedürfen. Die erheblichen Mühen, die in der abundanten Literatur zum deutschen Perfekt aufgewendet werden, um seine „Besonderheit“ zu erklären, sind zu einem nicht geringen Teil damit zu erklären, dass explizit oder implizit vom englischen present perfect als dem Normalfall einer Perfektform ausgegangen wird (u. a. Klein/Vater 1998; Musan 2002). Die obigen Erläuterungen zu (23) legen hingegen nahe, dass das deutsche Perfekt den Normalfall darstellt, während das englische present perfect Besonderheiten aufweist, die zu erklären sind.
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Rolf Thieroff u Person und Pronomen 1
Einleitung
„Pronomen“ (von lat. pro ‚für‘ + nomen ‚Namen/Nomen‘; Plural: Pronomen oder Pronomina) ist die Bezeichnung für eine Wortart, deren primäre syntaktische Funktion es ist, anstelle von Substantiven oder Nominalphrasen zu stehen (Sonja/die Schwester => sie). Pronomina können im Gegensatz zu den Substantiven nicht aufgrund ihrer Bedeutung auf etwas verweisen. Dafür können die prototypischen Personalpronomina auf Personen, Sachen oder Sachverhalte zeigen, die bereits erwähnt worden sind oder kurze Zeit später erwähnt werden – man spricht hier von anaphorischem bzw. kataphorischem Gebrauch der Personalpronomina – oder auf solche, die in der Sprechsituation anwesend sind. Letzteres kann als deiktischer Gebrauch bezeichnet werden.1 Im Deutschen wie in vielen anderen Sprachen sind die Pronomina für den Verweis auf die sprechende oder die angesprochene Person sehr wichtig, weil dafür Substantive nur in Ausnahmefällen gebraucht werden können, etwa wenn man mit einem Kind spricht: Soll Mama der Nives einen Tee machen? Andere Subklassen der Pronomina können noch stärker auf das Bezeichnete zeigen, Mengen- oder Zugehörigkeitsangaben machen u. Ä. Man sagt, Pronomina verankern das Bezeichnete im Diskurs oder in der Sprechsituation. „Person“ ist eine grammatische Kategorie. Universell lassen sich drei grammatische Personen finden; sie werden mit Ordinalzahlen als 1., 2. und 3. Person bezeichnet. Die 1. Person ist die sprechende Person, die 2. Person die angesprochene Person (auch als Adressat bezeichnet) und die 3. Person stellt die Person oder Sache dar, über die gesprochen wird. Die grammatische Kategorie „Person“ wird im Deutschen beim Verb und beim Pronomen aus1 In der klassischen Arbeit von Bühler (1934/1999) umfasst Deixis aber auch den phorischen Bereich. In diesem Sinne haben alle Pronomina als deiktisch zu gelten.
311
Person und Pronomen
gedrückt, allerdings nicht durchgehend: Bei den Verben sind es nur die finiten Formen, welche die Person markieren. Bei den prototypischen Pronomina, den Personalpronomina (ich, du, er/sie/es usw.), gibt es Formen für alle drei Personen wie auch bei den Possessivpronomina (meines, deines, seines/ihres usw.), die aus dem Genitiv der Personalpronomina entstanden sind. Darüber hinaus werden auch bei den Reflexiv- bzw. Reziprokpronomina alle drei Personen unterschieden. Dabei handelt es sich aber nur beim Pronomen der 3. Person (sich) um ein echtes Reflexivum, das sich aus dem indoeuropäischen *se entwickelt hat, während dieses für die 1. und 2. Person durch die Personalpronomina (mir/mich, dir/dich usw.) ersetzt worden ist.2 Die Pronomina der Subgruppen Demonstrativ-, Relativ-, Interrogativ- und Indefinitpronomina kennen dagegen nur Formen für die 3. Person. 2
Personalpronomen
Sprachübergreifend kann das Personalpronomen als prototypisches Pronomen angesehen werden, weil es beinahe universell ist und immer den grundlegenden Typ darstellt, wenn eine Sprache die Wortart Pronomen aufweist (vgl. Sasse 1993: 668). Im Folgenden sind sowohl Form als auch Funktion des deutschen Personalpronomens in verschiedenen Teilaspekten zu besprechen. 2.1
Funktion
Personalpronomina können auf Referenten verweisen, indem sie diese aus dem sprachlichen (phorisch) oder außersprachlichen (deiktisch) Umfeld wieder aufnehmen. Ihre Funktionsweise kann auch mit einem kognitiven Ansatz erklärt werden (vgl. auch Perrig 2006: 40–42). Da nicht alle Konzepte beim Denken gleichzeitig präsent sein können, haben sie verschiedene Aktivierungszustände (Chafe 1987: 25–36). Wenn eine Person oder Sache (oder seltener ein Sachverhalt) gerade erst erwähnt worden ist, in der textexternen Welt (Redesituation) präsent ist oder zu einem so genannten Schema3 gehört (d. h. mit dem Erwähnten erfahrungsgemäß in einer Beziehung steht), dann befindet sich diese als Konzept im Zentrum oder zumin-
2 Es sind also außer den prototypischen Personalpronomina nur damit zusammenhängende Subgruppen, die alle drei Personen markieren. 3 Schemata repräsentieren Standardsituationen, z. B. einen Brief schreiben und verschicken, in ein Restaurant essen gehen usw. Sie bestehen aus einer Menge von Konzepten und dazugehörigen verschiedenartigen interkonzeptuellen Beziehungen (vgl. Schwarz 2008: 115–119).
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Person und Pronomen
dest am Rande unseres Bewusstseins, das heißt in einem aktiven oder halbaktiven Zustand. Nun kann darauf ohne einen bedeutungstragenden Begriff, eine gezielte Zeigegeste oder ähnliches zugegriffen werden.4 Beim kataphorischen Gebrauch von Pronomina kann man davon ausgehen, dass unser Bewusstsein das Pronomen als einen Platzhalter versteht, auf dessen eigentliche Füllung es dann wartet. 2.2
Formenbestand
Das Paradigma des deutschen Personalpronomens ist vollständig. Es unterscheidet außer der grammatischen Kategorie Person (ich, du, er usw.) die Kategorien Numerus (ich, wir usw.) und Kasus (ich, meiner, mir, mich usw.) sowie in der dritten Person Singular auch Genus (er, sie, es). Die Deklination ist unregelmäßig und erfolgt mit Hilfe von Suppletivstämmen. Synkretismen finden sich – wie bei den Substantiven – beim Nominativ und Akkusativ der 3. Person Singular feminium sowie Plural (sie) und Singular neutrum (es). Des Weiteren sind beim Personalpronomen auch der Dativ und der Akkusativ der 1. und 2. Person Plural formgleich (uns, euch): Singular 1. Person
Plural 2. Person
3. Person maskulinum
femininum
neutrum
1. Person
2. Person
3. Person
Nom ich
du
er
sie
es
wir
ihr
sie
Akk
mich
dich
ihn
sie
es
uns
euch
sie
Dat
mir
dir
ihm
ihr
ihm
uns
euch
ihnen
Gen
meiner
deiner
seiner
ihrer
seiner
unser
euer
ihrer
Personalpronomina werden als „geschlossene Klasse“ betrachtet, weil sie Neubildungen nur im Rahmen von lange währenden Grammatikalisierungsprozessen zulassen (vgl. z. B. Schachter 1985: 4 f.). So ist es im Deutschen auch nicht möglich, ein neues Personalpronomen zusätzlich zu den oben aufgelisteten Formen zu bilden. Dies gilt allerdings nicht für alle Sprachen. Thailändisch lässt beispielsweise Entlehnungen von Personalpronomina, vor allem für die 1. und die 2. Person zu, aber auch für die 3. Person, etwa she (3. Person, weiblich) aus dem Englischen oder ua (1. Person, nicht geschlechtspezifisch) aus einem chinesischen Dialekt (vgl. dazu auch Attavi-
4 Kognitiv orientierte Darstellungen zur Funktionsweise der anaphorisch gebrauchten Pronomina finden sich beispielsweise bei Valentin (1996) und Bourstin (1996).
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Person und Pronomen
riyanupap 2004: 10). Auch Neubildungen lassen sich finden, die allerdings mehrheitlich pronominal gebrauchte Substantive sind. Möglich sind diese Entlehnungen und Neubildungen, weil es im Thailändischen ein Kontinuum zwischen pronominal gebrauchten Substantiven und Formen gibt, die nur als Personalpronomina fungieren. Dieses Phänomen lässt sich allgemein in südostasiatischen Sprachen finden, so auch im Burmesischen und Vietnamesischen, was dazu führt, dass Personalpronomina hier als nicht einfach identifizierbare Wortklasse gelten (Helmbrecht 2005: 186). 2.3
Grammatische Kategorien
2.3.1 Kasus Kasus als gemeinsame grammatische Kategorie gilt als Indiz für die enge Beziehung zwischen Substantiven und Pronomina (Mühlhäuser/Harré 1990: 75). Universell sind die Personalpronomina unter allen nominalen Elementen diejenigen Formen, die für eine Kasusdifferenzierung am zugänglichsten sind (vgl. Iggesen 2005). Im Deutschen werden Personalpronomina wie Substantive in allen vier Kasus dekliniert, z. B. ich – mich – mir – meiner. Die Personalpronomina im Genitiv finden allerdings wenig Verwendung. 2.3.2 Numerus Im Deutschen markiert das Personalpronomen die grammatische Kategorie Numerus und unterscheidet Singular und Plural. Genau wie bei Substantiven funktioniert die Numerusopposition beim Personalpronomen der dritten Person: sie (Pl.) steht für ‚mehr als eine Person oder Sache‘. Bei Personalpronomina der ersten und der zweiten Person weist der Plural hingegen eine Besonderheit auf: Wir bezeichnet nur ausnahmsweise mehrere sprechende Personen, wie es beispielsweise beim gemeinsamen Singen oder Schwören der Fall ist, wenn mehrere Personen gleichzeitig sprechen. Sonst verweist dieses Personalpronomen meist auf die sprechende sowie mindestens eine weitere Person. Dabei dominiert die 1. Person über die 2. und die 3. Person, so dass es also je nach Kontext vier mögliche Bedeutungen der ersten Person Plural gibt: 1+1 (wir im Chor), 1+2 (du und ich, wir …), 1+3 (er und ich, wir …), 1+2+3 (du, er und ich, wir …) (vgl. dazu auch Siewierska 2004: 82). Gehört die angesprochene Person dazu, spricht man vom „inklusiven“, ansonsten vom „exklusiven“ Gebrauch von wir; manche Sprachen stellen hierfür auch verschiedene Pronomina zur Verfügung. Zifonun (2001: 50 f.) bezeichnet die verschiedenen wir-Schemata als „mono“, „duplex-inklusiv“, „duplex-exklusiv“ und „triplex“. Bickel/Nichols (2005: 53 f.) haben in ihrer
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Untersuchung von 293 Sprachen fast aller Kontinente eine unausgeglichene Verteilung der Inklusiv-exklusiv-Oppositionen festgestellt. Die Unterscheidung zwischen inklusivem und exklusivem Plural der ersten Person findet sich am häufigsten im pazifischen Raum, vor allem in den südlicheren Bereichen, während die europäischen Sprachen mehrheitlich keine Unterscheidung zwischen inklusivem und exklusivem wir machen. Auch das Personalpronomen der zweiten Person Plural weist verschiedene Pluralisierungs-Schemata auf: Ihr bezeichnet die angesprochene sowie mindestens eine weitere Person. Die 2. Person dominiert über die 3. Person, so dass entweder mehrere Hörer (2+2) oder Hörer und besprochene Person(en) (2+3) gemeint sein können, etwa du und er, ihr seid … Die Numerusdifferenzierung beim Personalpronomen ist sprachübergreifend sehr unterschiedlich. Sie reicht vom Fehlen der Numerusopposition bis zur feinen Differenzierung von mehreren Numeri (Singular – Dual – Trial – Paukal – Plural; ein klarer Fall eines Quadrals ist nicht belegt; vgl. Corbett 2000: 19–30, 50 f.) oder inklusiven und exklusiven Formen. Nach Zifonun (2001: 50–52) sind eigene Pronomina für Dreier-, Vierergruppen usw. selten und in den europäischen Sprachen nicht belegt. 2.3.3 Genus In der deutschen Gegenwartssprache wird Genus beim Personalpronomen nur noch in der 3. Person Singular (er, sie, es) unterschieden. Noch im Althochdeutschen wurden auch im Plural der 3. Person drei Genera unterschieden (siê, siô, siu). Es gibt auch einige andere Sprachen, die Genus in der 3. Person bei beiden Numeri unterscheiden (vgl. etwa franz. ils/elles, span. ellos/ellas). Eine Beschränkung der Genusdifferenzierung auf die dritte Person Singular lässt sich aber in den meisten Genussprachen finden. Sogar in Sprachen, die im Nominalbereich keine Genusunterscheidung machen, können genusspezifische Personalpronomina bei der dritten Person Singular vorkommen, etwa he/she/it im Englischen. Von den 225 Sprachen, die Bhat (2004: 109) untersucht hat, weist keine einzige Sprache Genusunterscheidung bei Personalpronomina der 1. und 2. Person auf. Sasse (1993: 671) dagegen beschreibt Genusunterscheidungen bei der 2. Person in afroasiatischen Sprachen (z. B. Kairo-Arabisch, Berber), sowie Genusunterscheidungen bei der 1. Person in einigen wenigen modernen arabischen Dialekten. Auch in anderen Sprachen wird Genusspezifik in der ersten Person realisiert. Bekannt dafür ist beispielsweise Japanisch, wo boku nur von männlichen Sprechern gebraucht wird, oder die von Chirasombutti/Diller (1999) als „gendered self“ bezeichnete erste Person im Thai-
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Person und Pronomen
ländischen (z. B. phom = 1. Person Singular maskulinum, dichan = 1. Person Singular femininum). Die Referenz der dritten Person ist im Allgemeinen am wenigsten klar und benötigt mehr Hinweise zur genaueren Bestimmung ihrer Referenten. Genus kann dazu einen Beitrag leisten. Eine mögliche Erklärung, warum die Genusunterscheidung bei Personalpronomina mehrheitlich im Singular erfolgt, ist die Tatsache, dass es einfacher ist, Genus im Singular zu bezeichnen, weil hier das Problem der Referenz auf gemischte Gruppen nicht auftritt. 2.3.4 Person Das Personalpronomen des Deutschen ist immer substantivisch, verfügt jedoch anders als Substantive über die drei Kategorien Genus, Numerus und Kasus hinaus auch über die Kategorie Person. Im Deutschen werden Substantive nur für die Referenz auf das Besprochene gebraucht, während Sprechende und Angesprochene mit einem Personalpronomen bezeichnet werden müssen. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten des Verweisens auf Sprecher, Adressat und Dritte manifestieren sich beim Personalpronomen als grammatische Kategorie Person. Person scheint in gewissem Maße eine sprachübergreifende Kategorie zu sein. Benveniste (1971: 225, zitiert nach Siewierska 2004: 8) meint, dass eine Sprache ohne den Ausdruck der Person unvorstellbar sei. Dies heißt allerdings nicht, dass die Rollenverteilung zwischen sprechenden, adressierten und besprochenen Personen in den verschiedenen Sprachen gleich erfolgt. Anders als im Deutschen gibt es in vielen Sprachen keine Personalpronomina der dritten Person (Sasse 1993: 670). Ihre Funktion wird von Demonstrativpronomina übernommen. Auch in Sprachen mit Personalpronomina für alle drei Personen kann die Anzahl der Personalpronomina kleiner oder größer sein; sie hängt von der Anzahl der auszudrückenden grammatischen Kategorien sowie von der Anzahl der Synkretismen ab. Personalpronomina können eine große Formenvielfalt aufweisen, so dass die Anzahl der Personalpronomina mit der Anzahl grammatischer Kategorien identisch sein könnte. Oft liegen jedoch bei Personalpronomina verschiedener Personen Homonyme vor. Im Deutschen gilt sie, das sowohl für 3. Person Singular femininum als auch für 3. Person Plural verwendet wird, als Beleg für dieses Phänomen. Die beiden Pronomina bleiben aber nicht im ganzen Paradigma formgleich: Im Dativ stehen sich ihr (Singular femininum) und ihnen (Plural) gegenüber. Ansonsten lassen sich die Personalpronomina im Deutschen klar den grammatischen Personen zuordnen. Dies gilt aber nicht für alle Sprachen. Beispielsweise weisen thailändische Personalpronomina die Besonderheit auf,
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dass sie nicht personenspezifisch sind (vgl. Attaviriyanupap 2004: 7; Cooke 1968). Die beim Pronomen ausgedrückten grammatischen Kategorien Person und Numerus werden auch beim Verb ausgedrückt, das ansonsten andere Kategorien markiert. Person und Numerus gelten als das wichtigste Merkmal einer finiten Verbform, weil infinite Verbformen (Infinitive, Partizipien und das Gerundivum) dagegen nur nach Tempus und Genus Verbi bestimmt sind (Hentschel 2009). Innerhalb eines Satzes weisen das als Personalpronomen realisierte Subjekt und der finite Teil des Prädikats Kongruenz auf, das heißt, sie stimmen in Person und Numerus überein (z. B. ich komme – du kommst – er/sie/es kommt).5 2.4
pro-drop
Jeder deutsche Satz braucht normalerweise ein Subjekt. Anders als im Deutschen wird in so genannten pro-drop-Sprachen wie dem Italienischen oder dem Neugriechischen das Subjekts-Personalpronomen regelmäßig nicht ausgedrückt (z. B. ital. ti amo (wörtl.) ‚dich liebe‘). Die Personalpronomina werden nur benutzt, wenn das Subjekt hervorgehoben werden soll. Im Deutschen hingegen ist die Auslassung des Subjektspronomens meistens nicht möglich. Die doppelte, das heißt redundante Markierung von Person und Numerus beim Subjektspronomen und beim Verb kann das Verständnis erleichtern. Andererseits ist die doppelte Markierung schwerfälliger und deshalb anfällig für Vereinfachungstendenzen. So gibt es auch im Deutschen subjektlose Sätze. Wenn es sich beim Subjekt nur um ein inhaltsleeres grammatisches Element handelt und zugleich ein so genanntes logisches Subjekt vorliegt, kann das grammatische Subjekt teilweise weggelassen werden (Es friert mich => Mich friert). Nur beim Imperativ, der auf die 2. Person Singular und Plural im Präsens beschränkt ist, wird das Personalpronomen normalerweise weggelassen: Komm! vs. Kommt! Gewisse pro-drop-Tendenzen zeigen sich ferner in der Umgangsprache bei nachgestelltem Personalpronomen der 2. Person Singular. Hier finden sich oft Klitisierungen (haste, biste, meinste usw.), in gewissen Dialekten auch völliger Wegfall des Personalpronomens (z. B. Alemannisch: hesch, bisch, meinsch usw.; vgl. Burri 2003: 12 f.).
5 Im Deutschen werden Substantive nur dazu verwendet, auf das Besprochene zu verweisen, deshalb sind sie immer in der 3. Person. Wenn das Subjekt durch ein Substantiv realisiert wird, steht entsprechend auch der finite Verbteil immer kongruierend in der 3. Person.
317 2.5
Person und Pronomen
es
Wie beschrieben dienen Personalpronomina dazu, auf Referenten zu verweisen, die im sprachlichen oder außersprachlichen Kontext präsent sind. Bei es (3. Person Singular neutrum) gibt es aber auch andere Verwendungsweisen: Das expletive es (z. B. Es herrschte reges Treiben) ist inhaltsleer und dient als Platzhalter für das Subjekt, das durch diese Konstruktion vom Thema zum Rhema wird. Das Verb kongruiert nicht mit es, sondern mit dem nachfolgenden Subjekt. Ebenso inhaltsleer ist das Korrelat-es. Es dient als Platzhalter für einen Subjektsatz (z. B. Es macht Spaß, mit dir auszugehen), der nicht die Vorfeldposition einnimmt, oder für einen Objektsatz (z. B. Ich übernehme es, den Bericht zu schreiben). Als grammatisches Subjekt fungiert es in Sätzen wie Es friert mich. Inhaltlich ist hier der im Akkusativ ausgedrückte Referent derjenige, über den etwas ausgesagt werden soll (z. B. Ich friere) und der deshalb auch als logisches Subjekt bezeichnet wird. Insbesondere bei der Beschreibung von Naturphänomenen finden sich auch Sätze, die ausschließlich das grammatische Subjekt es aufweisen: Es regnet. Ähnlich ist die Verwendung von es beim unpersönlichen Passiv, das manchmal auch als expletives es betrachtet wird: Es wurde viel gelacht. 2.6
Höflichkeitsformen
Besondere Gebrauchsbedingungen der Personalpronomina gelten bei der Anrede unter Erwachsenen, die sich nicht gut kennen, nicht miteinander verwandt sind oder eine gewisse Distanz wahren (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 240). Hier kommt die so genannte Höflichkeits- bzw. Distanzform zur Anwendung: Anstelle der 2. Person Singular oder der 2. Person Plural wird die 3. Person Plural (mit Großschreibung) verwendet (Du bist früh dran/Ihr seid früh dran => Sie sind früh dran). Zwar wird Sie als Höflichkeitsform aufgrund der Anredefunktion im Paradigma oft der 2. Person zugeordnet, aber es greift bei der Konjugation des finiten Verbs stets auf die 3. Person Plural zurück, das heißt, die beiden Gebrauchsweisen von sie/Sie sind immer formidentisch und lassen sich nur anhand der Großschreibung voneinander unterscheiden. Nicht gebraucht wird die Höflichkeitsform gegenüber und unter Kindern; ebenso wird zum Ausdruck von Solidarität darauf verzichtet (vgl. Helbig/Buscha 2007: 226). Höflichkeitsformen beim Personalpronomen sind sprachübergreifend ein wichtiges Mittel, um Respekt gegenüber dem Angesprochenen auszudrücken (vgl. Sasse 1993: 672). Ob Respekt oder Höflichkeit als eine grammatische Kategorie zu betrachten ist, lässt sich allerdings nicht eindeutig festlegen. Simon (2004: 355) plädiert anhand des Bairischen dafür, dass neben
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318
Person, Numerus, Genus und Kasus „Respekt“ als eine weitere grammatische Kategorie des Pronominalsystems betrachtet werden sollte. Helmbrecht (2005) meint hingegen, dass der Ausdruck der Höflichkeit kein grammatisches Merkmal sei. In seiner Untersuchung von 207 Sprachen im Hinblick auf Höflichkeitsunterscheidungen bei Personalpronomina der 2. Person hat er festgestellt, dass die meisten Sprachen über keine höflichkeitsunterscheidenden Formen verfügen. Ein großer Teil der Sprachen mit Höflichkeitsunterscheidung weist neben der normalen eine höfliche Stufe auf, das heißt, die Opposition ist binär. Außerdem liegen auch Sprachen mit mehreren Höflichkeitsstufen vor, während in einigen Sprachen der Gebrauch von Personalpronomina aus Höflichkeitsgründen sogar ganz vermieden wird. Im Deutschen gibt es mit du (2. Person Singular: vertraut), ihr (2. Person Plural: vertraut) und Sie (2. Person, keine Numerusdifferenzierung: höflich/ distanziert) eine dreifache Unterscheidung der zweiten Person mit binärer Opposition (du-Sie-Opposition für Singular, ihr-Sie-Opposition für Plural). Seit dem Althochdeutschen wurden sukzessiv immer höflichere Alternativformen für das du der 2. Person eingeführt (vgl. auch Zifonun 2001: 118; Simon 2007: 59) wie etwa der Gebrauch der dritten Person in beiden Numeri (er/sie, sie) oder der Gebrauch der zweiten Person Plural (ihr), der bis heute in mehreren Dialekten erhalten ist. Die Grammatikalisierung von Sie als Höflichkeits- bzw. Distanzform stellt eine neuere Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert dar. Mit dem Gebrauch der 3. Person Plural als Höflichkeitsform macht sich das Deutsche gleich zwei oft zu beobachtende Strategien zunutze: Der Plural impliziert, dass das Gegenüber größer und gleichermaßen bedeutsamer ist als die sprechende Person (man vergleiche die Verwendung der 2. Person Plural als Höflichkeitsform für 2. Person Singular, z.B. französisch vous). Der Gebrauch der 3. Person zollt durch das Vermeiden einer direkten Anrede Respekt. Die pragmatischen und sozialen Verwendungsregeln für die Höflichkeitsform gegenüber der Näheform werden im Deutschen wie in anderen Sprachen von einer Reihe von Faktoren bestimmt, unter anderem vom Altersverhältnis, Verwandtschaft bzw. Vertrautheit und sozialem Rangverhältnis. Im Unterschied zu anderen europäischen Sprachen ist Verwandtschaft im deutschen Sprachraum ein Faktor, der den Gebrauch der Näheform meist erzwingt (vgl. Zifonun 2001: 118). Ein asymmetrischer Gebrauch der Anredeformen ist im Deutschen normalerweise nur zwischen Erwachsenen und Kindern möglich. Auch das Alternieren zwischen Höflichkeits- und Näheform ist im Gegensatz zu anderen Sprachen nicht möglich. Ist man einmal zum du übergegangen, kann man im Allgemeinen nicht mehr zur Höflichkeitsform zurückkehren (Helmbrecht 2005: 186).
319 3
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Weitere Pronomina
Das Deutsche verfügt wie viele indoeuropäische Sprachen (vgl. Sasse 1993: 669) über eine größere Gruppe weiterer Pronomina, die über den Verweis auf Referenten hinaus zusätzliche Funktionen erfüllen. Etliche dieser Pronomina können nicht nur anstelle einer Nominalphrase (Das ist meine), sondern auch als Teil einer solchen gebraucht werden (Das ist meine Tasche). Bilden Pronomina alleine eine Phrase, wie dies beim Personalpronomen immer der Fall ist, spricht man vom substantivischen, andernfalls vom attributiven Gebrauch. Alternativ finden sich die Begriffspaare substantivischer und adjektivischer (Hentschel/Weydt 2003: 237) oder selbstständiger/pronominaler und unselbstständiger/adnominaler Gebrauch (Zifonun 2001: 10). Attributiven Gebrauch lassen Possessivpronomina (meine Tochter), Demonstrativpronomina (dieser Schlingel ), einige Interrogativpronomina (welches Kind ) und einige Indefinitpronomina (viele Mädchen, manche Jungs, jeder Erwachsene) zu. Es gibt aber Autoren, die attributiv gebrauchte Pronomina nicht als Pronomina betrachten. Zu zwei verschiedenen Wortklassen, nämlich zu den Pronomina und den so genannten Artikelwörtern, zählen daher beispielsweise Helbig/Buscha (2007: 209 f., 227–235) und Schwartz (2000: 791–793) die Pronomina mein, dieser, welcher, alle, einige, mehrere usw. Ähnlich zählt Eisenberg (2006: 182 f.) mein und dieser (und weitere attributiv gebrauchte Pronomina dieser Subklassen) zu den Artikeln. Noch restriktiver ist Engel (2004: 364), der alle Pronomina, die attributiv gebraucht werden können, nicht als Pronomina, sondern als so genannte Determinative betrachtet, die auch einen substantivischen Gebrauch zulassen. Hier steht also die jeweilige syntaktische Funktion im Vordergrund. Andererseits ändert sich bei beiden Gebrauchsweisen die Bedeutung/Funktion nicht, und bei den meisten Pronomina bleibt auch die Form gleich. Außer den Possessivpronomina sind die weiteren Pronomina im Hinblick auf die Kategorie Person mehrheitlich eingeschränkt. Demonstrativpronomina (dieser, jener usw.), Interrogativpronomina (wer, welcher usw.) und Indefinitpronomina (man, etliche, keiner usw.) gibt es nur für die 3. Person. Von der Form her gilt dies auch für das Reflexivpronomen (sich) und die Relativpronomina (der/die/das). Erstere behelfen sich beim Verweis auf die 1. und 2. Person mit den entsprechenden Personalpronomina, letztere brauchen die Form für die 3. Person bei Bedarf auch für die anderen beiden Personen, allenfalls durch das entsprechende Personalpronomen ergänzt: Du, der (du) immer alles besser weiß(t), …
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3.1
320
Possessivpronomen
Das Possessivpronomen (von lat. possid¯ere ‚besitzen‘: mein, dein, sein/ihr/sein, unser, euer, ihr) dient der Besitz- und allgemeineren Zugehörigkeitsanzeige.6 Die Genera in der dritten Person Singular drücken beim Possessivpronomen das Genus der ‚besitzenden‘ Person aus (der Mann => sein Hund; die Frau => ihr Hund; das Kind => sein Hund ); darüber hinaus stellt das Possessivpronomen in allen Personen Kongruenz mit dem Genus des Beziehungswortes her (mein Hund/meine Katze/mein Pferd; dein Hund/deine Katze/dein Pferd usw.). 3.2
Reflexivpronomen
Das Reflexivpronomen (von lat. reflectere ‚zurückwenden‘: sich, mir/mich, dir/dich, uns, euch) drückt aus, dass sich das Subjekt und das Objekt eines Satzes auf das Gleiche beziehen, also referenzidentisch sind. Formal existiert es nur in der dritten Person (sich), wo es in Opposition zum Personalpronomen steht: Er ärgert sich im Gegensatz zu Er ärgert ihn. Bei der 1. und 2. Person dagegen gibt es keine Verwechslungsmöglichkeit, deshalb wird dort das Personalpronomen in reflexiver Funktion gebraucht: Ich ärgere mich. Für den wechselseitigen Bezug können sich, die Personalpronomina der 1. und 2. Person sowie einander gebraucht werden: Sie helfen sich/einander. Einander wird deshalb auch als Reziprokpronomen bezeichnet. 3.3
Demonstrativpronomen
Das Demonstrativpronomen (von lat. demonstrare ‚bezeichnen‘: der/die/das, dies/dieser/diese/dieses, jener/jene/jenes usw.) dienen nicht nur dem allgemeinen Verweis auf das Besprochene, sondern weisen einen zusätzlichen Hinweis- bzw. Zeigecharakter auf. Der/die/das ist bis auf die besonderen Langformen im Genitiv beim substantivischen Gebrauch (dessen, denen, derer/deren) formgleich mit dem Artikel, aber betont. Weitere Demonstrativpronomina sind beispielsweise derjenige/diejenige/dasjenige, die meist auf einen nachfolgenden Relativsatz verweisen; derselbe/dieselbe/dasselbe dienen dem Ausdruck der Identität mit zuvor Genanntem und solch nimmt vorerwähnte oder aus dem Kontext zu erschließende Eigenschaften auf. Solch kann aufgrund seiner adjektivischen Funktion als einziges Pronomen mit (indefinitem) Artikel stehen (Ein solches Anwesen hätte ich auch gerne) und kann deshalb auch als Proadjektiv angesehen werden.
6 Besitz und Zugehörigkeit können aber auch durch Genitivformen des Demonstrativpronomens der/die/das ausgedrückt werden, z. B. Das ist deren Haus.
321 3.4
Person und Pronomen
Relativpronomen
Das Relativpronomen (von lat. referre ‚beziehen auf‘: der/die/das, welcher/ welche/welches, wer, was) dient dazu, einen Nebensatz (Relativsatz) einzuleiten, indem es ein Element des übergeordneten Satzes wieder aufnimmt: Die Frau, die dieses Buch geschrieben hat, ist sehr begabt. Formal sind die Relativpronomina alle formgleich mit anderen Pronomina und bilden nur aufgrund ihres syntaktischen Status eine eigene Klasse. Genus und Numerus des Relativpronomens richten sich nach dem Bezugswort, der Kasus danach, welche Funktion die Phrase mit dem Relativpronomen im Relativsatz einnimmt. 3.5
Interrogativpronomen
Das Interrogativpronomen (von lat. interrogare ‚fragen‘: wer/was, welcher, was für ein) bezeichnet eine semantische Leerstelle im Satz. Typischerweise tritt es in Bestimmungsfragen (Wer steht dort?) auf. Es findet sich aber auch in Ausrufesätzen (Was für ein Tumult! ) oder in wer/was (auch) immer-Konstruktionen (Wer auch immer dort steht, …). Eine Besonderheit des Interrogativpronomens wer/was ist, dass es nicht nach dem Genus, sondern nach den semantischen Kategorien Person und Nicht-Person differenziert. Solche zweigliedrigen Unterscheidungen nach Belebtheit/Unbelebtheit scheinen bei diesem Pronomen universell zu sein (Sasse 1993: 678). 3.6
Indefinitpronomen
Als Indefinitpronomina (von lat. indefinitum ‚unbestimmt‘) bezeichnet man eine sehr heterogene Klasse von Pronomina, die sich dadurch auszeichnen, dass sie auf eine unbestimmte Menge von Referenten und/oder für den Hörer nicht-identifizierbare Referenten ( jemand, irgendetwas, irgendwer, mancher, mehrere, einige, etliche usw.), aber auch auf eine totale Menge (alle, sämtliche, jeder) oder eine Nullmenge (kein, niemand, nichts) verweisen. Totale und Nullmengen geben an, dass aus einer Menge von Elementen, auf die die Sprecherin verweisen könnte, keines oder alle gemeint sind. Wenn man den Begriff definit als ‚für den Hörer identifizierbar‘ definiert, sind diese Pronomina also nicht indefinit (vgl. auch Fobbe 2004: 70). Einige Indefinitpronomina unterscheiden nach der semantischen Kategorie Person (man, jemand, irgendwer, niemand ) und Nicht-Person (etwas, nichts), während andere die üblichen drei Genera differenzieren (jeder, jede, jedes). In formalen Ansätzen werden Indefinitpronomina oft nach prädikatenlogischen Grundsätzen eingeteilt und entsprechend als quantifiers bezeichnet. Im Zentrum stehen der Existenzquantor ∃ (∃x [P(x)]: Es existiert mindestens
Person und Pronomen
322
ein Individuum x im Diskursuniversum, auf das das Prädikat P zutrifft) und der Allquantor ∀ (∀x [P(x)]: Für alle Individuen x im Diskursuniversum gilt, dass P auf sie zutrifft). Mit dem Existenzquantor werden natürlichsprachliche Ausdrücke wie der indefinite Artikel ein und die Indefinitpronomina irgendein und jemand beschrieben, mit dem Allquantor die Indefinitpronomina alle und jeder. Andere Indefinitpronomina wie manche, viele, wenige, die meisten usw. lassen sich aber nicht mit diesen Quantoren erfassen, da sie Aussagen über Teilmengen des Diskursuniversums machen. Barwise/ Cooper (1981) beschreiben Indefinitpronomina (bzw. quantifizierende NPs) deshalb mit Hilfe so genannter generalisierter Quantoren, die die Quantifikation als Relation zwischen zwei Mengen darstellen. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Beschreibung des Pronomens man und ähnlicher Pronomina in anderen Sprachen, etwa Englisch one, Französisch on usw. (vgl. Sasse 1993: 670), die der Referenz auf einen unspezifischen menschlichen Handelnden dienen. Die Schwierigkeiten äußern sich bereits in der Kategorisierung: als verallgemeinerndes Indefinitpronomen (z. B. Helbig/Buscha 2007: 165), als generalisierendes indefinites Personalpronomen (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 252), aber auch als generisches Personalpronomen, das klar nicht den Indefinitpronomina zuzurechnen ist (Zifonun 2001: 119). Formal hebt sich man von den Personalpronomina dadurch ab, dass es nicht flektiert werden kann. Für den Gebrauch in obliquen Kasus stehen die Suppletivformen einem/einen zur Verfügung. Im Unterschied zu den Personalpronomina funktioniert man nicht phorisch oder deiktisch. Marschall (1996: 96) fasst die Verwendungsweisen von man zu folgender Bedeutung zusammen: „1 bis n nicht individualisierte und nicht isolierte Elemente aus einer virtuellen Menge von menschlichen Lebewesen“. Beim aktuellen Gebrauch werden nur bestimmte Aspekte der Gesamtbedeutung nutzbar gemacht, deshalb kann man im konkreten Fall sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Am einen Ende der Skala kann es das Agens in der Bedeutungslosigkeit versinken lassen, am anderen Ende ein ich oder du vertreten, was beinahe einer Individualisierung entspricht (ebd.). Helbig/Buscha (2007: 232 f.; Beispiele ebd.) gliedern die verschiedenen Verwendungsweisen in vier Kategorien: Generelles man verleiht der Aussage „den Charakter von Allgemeingültigkeit“. Gemeint sein kann im Extremfall die ganze Klasse ‚Mensch‘: Was man gern tut, das fällt einem nicht schwer. Anonymes man wird gebraucht, wenn der Referent als Handelnder irrelevant oder nicht identifizierbar ist: Man hat ihm sein Fahrrad gestohlen. Abstrahierendes man gibt objektive Tatsachen in menschlicher Wahrnehmung ohne die wahrnehmende Person wieder. Es bewirkt eine Subjektivierung der Aussage: Auf der Straße
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Person und Pronomen
sah man keinen Menschen im Vergleich zu ‚objektivem‘ Es gab keine Menschen auf der Straße. Pronominales man vertritt die einzelnen Pronomina. Es hat stilistische Funktionen wie etwa Distanzierung: Still, ihr müsst auf mich hören, ich besitze nämlich gewisse Anrechte, dass man mich hört (F. Wolf ). Seine ursprüngliche Bedeutung (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 252) ‚irgend ein Mann‘ bzw. ‚jeder beliebige Mann‘ ist im anonymen bzw. generellen man klar zu erkennen. Ebenso vielfältig wie die konkreten Bedeutungen sind die Konkurrenzformen, durch die man ersetzt werden kann (vgl. Marschall 1996: 88): du, sie/Sie, der Mensch, frau, Mann, Passiv ohne Angabe des Agens, Infinitivkonstruktionen, verblose Sequenzen. Literatur Attaviriyanupap, Korakoch (2004): „Wie ‚Haar‘ zu ‚Maus‘ wird. Geschlechtsbezogene pronominale Referenz im Thailändischen“. Linguistik online 21, 4/04: 3–22. Barwise, Jon/Cooper, Robin (1981): „Generalized Quantifiers and Natural Language“. Linguistics and Philosophy 4/2: 159–219. Benveniste, Emile (1971): Problems in General Linguistics. Coral Gables, Fla.: University of Miami Press. (= Miami linguistics series 8). Bhat, Darbhe N. S. (2004): Pronouns. Oxford: Oxford University Press. (= Oxford studies in typology and linguistic theory). Bühler, Karl (1934/1999): Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart: Lucius und Lucius. (= UTB 1159). Bickel, Balthasar/Nichols, Johanna (2005): „Inclusive-exclusive as person vs. number categories worldwide“. In: Filimonova, Elena (Hrsg.): Clusivity. Typology and case studies of the inclusiveexclusive distinction. Amsterdam/Philadelphia, Benjamins: 49–72. (= Typological studies in language 63). Bourstin, Pierre (1996): „Wie funktionieren ‚anaphorische Pronomina‘?“. In: Pérennec, MarieHélène (Hrsg.): Pro-Formen des Deutschen. Tübingen, Stauffenburg: 13–22. (= Eurogermanistik 10). Burri, Gabriela (2003): „Spontanschreibung im Chat“. Linguistik online 15, 3/03: 3–31. Chafe, Wallace (1987): „Cognitive Constraints on Information Flow“. In: Tomlin, Russell S. (Hrsg.): Coherence and Grounding in Discourse. Amsterdam/Philadelphia, Benjamins: 21–51. (= Typological Studies in Language 11). Chirasombutti, Voravudhi/Diller, Anthony (1999): „Who am ‚I‘ in Thai. – The Thai First Person: Self-reference or Gendered Self“. In: Jackson, Peter A./Cook, Nerida M. (Hrsg.): Gender & Sexualities in Modern Thailand. Chiang Mai, Silkworm Books: 114–133. Cooke, Joseph R. (1968): Pronominal Reference in Thai, Burmese and Vietnamese. Berkeley/Los Angeles: University of California Press. (= University of California publications in linguistics 52). Corbett, Greville G. (2000): Number. Cambridge u. a.: Cambridge University Press. (= Cambridge Textbooks in Linguistics). Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler. Engel, Ulrich (2004): Deutsche Grammatik. Neubearbeitung. München: iudicium. Fobbe, Eilika (2004): Die Indefinitpronomina des Deutschen: Aspekte ihrer Verwendung und ihrer historischen Entwicklung. Heidelberg: Winter. (= Germanistische Bibliothek 18). Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (2007): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 6. Nachdruck. Berlin u. a.: Langenscheidt.
persönliches Passiv
324
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Korakoch Attaviriyanupap/Gabriela Perrig u persönliches Passiv Als „persönlich“ wird ein Passiv dann bezeichnet, wenn es ein Subjekt enthält, z. B.: Der Kuchen wird gebacken. → Genus Verbi, Passiv
325
Positiv
u Pertinenzdativ; auch: Dativus possessivus Der possessive Dativ wird in deutschen Grammatiken oft auch als Pertinenzdativ bezeichnet. Die Bezeichnung des Possessors ist zwar eine typische Dativfunktion, die sich in zahlreichen Sprachen findet; im Deutschen wird der possessive Dativ daher zunehmend abgebaut und findet sich heute fast nur noch im Zusammenhang mit der Bezeichnung von Körperteilen (Sieh mir in die Augen! ) oder gelegentlich auch Kleidungsstücken (Er starrte ihr auf die Bluse). Ersetzt werden kann der Pertinenzdativ in diesen Fällen durch ein Possessivpronomen (in meine Augen) oder einen possessiven Genitiv (die Bluse der Frau). → Dativ u Plural (engl.: plural ) Morphologische Markierung für ‚Mehrzahl‘ oder ‚Vielzahl‘. Ab welcher Anzahl von zu bezeichnenden Objekten ein Plural gebraucht wird und welche Zahl er somit impliziert, hängt davon ab, welche weiteren Numeri eine Sprache aufweist. Während der Plural im Deutschen die Bedeutung ‚mehr als eins‘ trägt, hat er in einer Sprache mit einem Dual die Bedeutung ‚mehr als zwei‘, in einer Sprache mit einem Paucal die Bedeutung ‚mehr als einige‘. → Numerus u Pluraletantum Pluraliatantum sind Substantive, die nur im Plural vorkommen können und keinen Singular aufweisen. Semantisch lassen sich hier im Deutschen einzelne Bedeutungsgruppen wie Zeitabschnitte (Ferien), Krankheiten (Masern) oder in Fachsprachen verwendete Begriffe (Einkünfte, Unkosten, Alimente) unterscheiden. → Numerus u Plusquamperfekt (lat.: ‚mehr als vollendet‘; engl.: pluperfect) Das Plusquamperfekt ist ein Vergangenheitstempus des Deutschen, das aus dem Partizip Perfekt eines Vollverbs und einer finiten Form des Hilfsverb sein oder haben im Präteritum gebildet wird wie in ich hatte ihn nicht gesehen. Seine Bedeutung besteht darin, dass das im Vollverb enthaltene verbale Ereignis vor einem Bezugszeitpunkt situiert wird, der vor der Sprechzeit liegt. → Perfekt, Tempus u Positiv Grundform des Adjektivs. → Adjektiv
possessiver Dativ
326
u possessiver Dativ; Dativus possessivus Die Bezeichnung des Possessors ist zwar eine typische Dativfunktion, die sich in zahlreichen Sprachen findet. Im Deutschen wird der possessive Dativ aber zunehmend abgebaut und findet sich heute fast nur noch im Zusammenhang mit der Bezeichnung von Körperteilen (Sieh mir in die Augen! ) oder gelegentlich auch Kleidungsstücken (Er starrte ihr auf die Bluse). Ersetzt werden kann der Pertinenzdativ in diesen Fällen durch ein Possessivpronomen (in meine Augen) oder einen possessiven Genitiv (die Bluse der Frau). Ohne semantische Einschränkungen des Beziehungsworts kann der possessive Dativ im Deutschen dann verwendet werden, wenn er zusammen mit einem Possessivpronomen auftritt. Diese Gebrauchsweise (z. B. meiner Schwester ihr Zimmer) gilt nicht als standardkonform; sie lässt sich aber synchron im gesamten Sprachgebiet und historisch auch bereits im Mittelhochdeutschen nachweisen. → Dativ u possessiver Genitiv; Genitivus possessivus Der Ausdruck von Possessivität ist die Grundfunktion des Genitivs in allen Sprachen der Welt. Explizit von einem possessiven Genitiv spricht man dann, wenn der Genitiv genau diese Funktion erfüllt, also Besitz oder Zugehörigkeit ausdrückt, z. B. in der Sarkophag des Tutanchamun. → Genitiv u potential(is) Wenn der Konjunktiv zum Ausdruck einer real bestehenden Möglichkeit verwendet wird, wird er gelegentlich auch als potentialer Konjunktiv oder potentialis bezeichnet. → Konjunktiv u Präsens 1
Die unmarkierte Tempusform
Wie in den meisten indoeuropäischen Sprachen ist auch im Deutschen das Präsens morphologisch nicht markiert. Das bedeutet, dass es kein PräsensMorphem gibt, das etwa an den Verbstamm angehängt würde, um zu signalisieren, dass die entsprechende Form eine Präsensform ist. Vielmehr zeichnet sich die Präsensform durch die Abwesenheit eines Tempusmorphems aus. Dabei muss zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Arten der (Nicht-) Markierung des Tempus unterschieden werden.
327
Präsens
Bei den schwachen Verben erkennt man die Präsensform nur daran, dass sie kein Präteritum-Morphem aufweist: Die Form lach-st (Präsens) unterscheidet sich von der Form lach-te-st (Präteritum) allein dadurch, dass das Präteritum-Morphem (-te-) nicht vorhanden ist. Dagegen weisen die starken Verben (mindestens) einen Präsens- und einen Präteritum-Stamm auf. Die beiden Stämme unterscheiden sich durch den so genannten Stammvokal. So unterscheidet sich die Form sing-st (Präsens) von der Form sang-st (Präteritum) allein durch den Stammvokal (i im Präsens, a im Präteritum).1 Auch hier stellen die Formen mit Präsensstamm die unmarkierten Formen dar: der Präsensstamm wird zugleich für den Infinitiv genutzt (singen). Entsprechend der morphologischen Unmarkiertheit sind die Präsensformen auch semantisch unmarkiert. Die Präsensform ist die am häufigsten vorkommende Tempusform, und sie hat den größten Anwendungsbereich (siehe Abschnitt 6.) Im Folgenden werden die finiten Präsensformen besprochen. Zu den infiniten Formen vgl. auch f Infinite Verbformen und f Partizipien. 2
Vollverben
Die finiten Formen des Präsens im Indikativ Aktiv sind zusammengesetzt aus dem Verbstamm (starke Verben: Präsensstamm) und dem Person-NumerusSuffix. Traditionell wird das Paradigma des Vollverbs entsprechend (1) angesetzt. (1) Indikativ Präsens, Vollverben leben (schwach) und singen (stark) Singular Plural Singular Plural 1. ich leb-e wir leb-en 1. ich sing-e wir sing-en 2. du leb-st ihr leb-t 2. du sing-st ihr sing-t 3. man leb-t sie leb-en 3. man sing-t sie sing-en Es fällt auf, dass die Formen der 1. und 3. Person Plural identisch sind. Dies ist bei ausnahmslos allen Verbformen (in allen Tempora und Modi) der Fall, selbst bei dem hochgradig unregelmäßigen Verb sein. Die Differenzierung von 1. und 3. Person Plural ist damit ausschließlich extern motiviert, nämlich über die Verbindung mit den unterschiedlichen Personalpronomina wir und sie (vgl. Eisenberg 2006a: 152). Morphologisch, das heißt streng formbezogen, lässt sich die Unterscheidung von 1. und 3. Person Plural nicht rechtfertigen. 1 Die 3. Person Singular Präsens wird allerdings zusätzlich durch das Personalsuffix -t markiert, das im Präteritum fehlt ((er) sing-t vs. (er) sang).
328
Präsens
Im Singular ist die morphologische Differenzierung von 1. und 3. Person auf den Indikativ Präsens der Vollverben, Kopulaverben und Hilfsverben beschränkt. Diese Differenzierung im Singular der 1. und 3. Person erfolgt weder bei den Modalverben (und zwar in allen Tempora und Modi) noch im Konjunktiv Präsens und im Präteritum (Indikativ und Konjunktiv) aller Verben. Daraus folgt, dass, bei einer rein morphologischen Analyse, zunächst nur vier Person-Numerus-Formen zu unterscheiden sind, nämlich für Singular und Plural je eine Form der 2. Person und eine Form der Nicht-2. Person. Die Nicht-2. Person weist im Singular kein Suffix auf, im Plural ist es -(e)n. Die 2. Person wird im Singular durch -st, im Plural durch -t markiert (vgl. Duden 2005: 444). (2) Person-Numerus-Suffixe Singular Nicht-2. – 2. -st
Plural -(e)n -t
Lediglich beim Indikativ Präsens der Vollverben, Kopula- und Hilfsverben wird die Nicht-2. Person in 1. und 3. Person differenziert. Die Person-Numerus-Suffixe des Vollverbs sind die in (3). Zu Abweichungen bei sein und werden siehe Abschnitt 5. (3) Person-Numerus-Suffixe, Indikativ Präsens der Vollverben Singular Plural 1. -e -(e)n Nicht-2. 3. -t 2. -st -t Die Konjunktiv-Präsensformen sind zusammengesetzt aus Verbstamm (starke Verben: Präsensstamm) + Konjunktiv-Morphem e + Person-Numerus-Suffix. In (4) sind die Indikativ- und Konjunktiv-Formen einander gegenübergestellt. (4) Indikativ und Konjunktiv Präsens, Vollverben leben (schwach) und singen (stark) schwaches Verb starkes Verb Indikativ Konjunktiv Indikativ Konjunktiv Sg 1. leb-e leb-esing-e sing-e2. leb-st leb-e-st sing-st sing-e-st 3. leb-t leb-esing-t sing-ePl N-2. leb-en leb-e-n sing-en sing-e-n 2. leb-t leb-e-t sing-t sing-e-t
329
Präsens
Die Person-Numerus-Suffixe des Konjunktiv Präsens sind also die in (2). Nach (4) weisen die Formen der 1. und 3. Person Singular (bzw. richtiger der Nicht-2. Person Singular) im Konjunktiv kein Person-Numerus-Suffix auf. Diese Analyse ist plausibel, da, mit Ausnahme des Indikativ Präsens, die Nicht-2. Person auch sonst kein Person-Numerus-Suffix enthält, also weder beim Präsens der Modalverben noch im Präteritum (vgl. ich darf, ich kam). In der Nicht-2. Person Plural ist das Person-Numerus-Suffix -n statt -en. Auch diese Analyse ist plausibel, da ja auch sonst nach Schwa-Silben das Suffix -en zu -n verkürzt wird bzw. das sonst silbische Suffix -en nicht-silbisch als -n realisiert wird. Die (homophonen und homographen) Formen lebe und leben sind also in Indikativ und Konjunktiv je unterschiedlich zu analysieren: In der 1. Person Singular des Indikativs ist das Suffix -e ein Person-NumerusSuffix zur Markierung eben der 1. Person Singular, in der 1. Person Singular des Konjunktivs ist das Suffix -e das Konjunktivmorphem, ein Person-Numerus-Suffix fehlt. In der Nicht-2. Person Plural des Indikativs liegt die Variante -en der Personalendung vor, während in der Nicht-2. Person Plural des Konjunktivs das Konjunktivmorphem -e, gefolgt von der Variante -n der Personalendung auftritt. 3
Variationen bei den Personalformen
3.1
e-Tilgung
In der gesprochenen Sprache wird das Suffix der 1. Person Singular, also das auslautende Schwa, bei einsilbigen Verbstämmen in der Regel nicht realisiert, das heißt apokopiert. Im Gesprochenen ist also üblich: Ich geh heute abend ins Kino, Ich komm gerade nicht drauf, Ich glaub das einfach nicht. Im Geschriebenen gilt das Weglassen des e hingegen als stilistisch markiert (vgl. Duden 2005: 451). Für das Gesprochene ist die Markierung der 1. Person Singular durch Schwa mithin als fakultativ anzusehen. Das Weglassen dieses Suffixes führt dazu, dass die 1. Person Singular einheitlich (in Indikativ und Konjunktiv, Präsens und Präteritum, bei Voll- und Modalverben) morphologisch nicht markiert ist. Dasselbe gilt auch für die entsprechenden Formen der Hilfsverben haben und werden (hab, werd), nicht jedoch für das Verb sein (siehe Abschnitt 5). Eine Abfolge von zwei auslautenden Schwasilben ist für Indikativ-Präsensformen (anders als für Präteritumformen; vgl. er arbeitete) stark disfavorisiert. Bei Verben, deren Stamm auf -el oder -en endet, wird das Infinitivsuffix daher als -n realisiert (bügel-n, zauber-n; siehe Abschnitt 2.1) und ebenso das Suffix der 1./3. Person Plural.
330
Präsens
Bei der 1. Person Singular verhalten sich die Verben auf -el und die Verben auf -er unterschiedlich. Bei den Verben auf -el wird im Normalfall das Schwa bzw. das e des Stammes getilgt (ich grüble). Daneben kommen auch Formen ohne Schwatilgung vor (ich grübele). Bei den Verben auf -er ist, umgekehrt, der Normalfall die Form ohne Schwatilgung (ich fordere), Tilgung des Schwa bzw. des e des Stammes ist selten (ich fordre). Folgt -er allerdings auf einen Diphthong, ist wiederum die Form mit Ausfall des Stamm-e die präferierte (ich traure; vgl. Duden 2005: 451). Insbesondere für Verben vom Typ fordern, deren Stamm auf Konsonant + -er auslautet, gilt also, dass die 1. Person Singular, entgegen allgemeinen Regularitäten, überwiegend mit zwei aufeinanderfolgenden Schwasilben realisiert wird. Schließlich kommt bei beiden Verbtypen auch der Ausfall des Person-Numerus-Suffixes vor, doch ist dieser bei beiden Typen als stark umgangssprachlich zu werten (ich grübel, ich forder, ich trauer). 3.2
e-Einschub
Während für das Infinitivsuffix und das (gleichlautende) Suffix der 1./3. Person Plural die unmarkierte Variante die silbische ist (-en) und nur unter bestimmten Bedingungen die nicht-silbische Variante -n gewählt wird, gilt für die Person-Numerus-Suffixe -st und -t das Umgekehrte: Hier sind die nichtsilbischen Varianten die unmarkierten, die unter bestimmten Bedingungen durch die silbischen Varianten -est und -et ersetzt werden. Ein solcher e-Einschub erfolgt in zwei Fällen (zum Folgenden vgl. Duden 2005: 448 f.). Erstens: Bei Verben, deren Stamm auf Obstruent + Nasal auslautet: du atmest, rechnest, widmest; man/ihr atmet, rechnet, widmet. In diesen Fällen erleichtert der Einschub von Schwa die Aussprache – ohne Schwa müsste der Nasal jeweils silbisch realisiert werden. Zweitens: Bei Verben, deren Stamm auf einen alveolaren Plosiv (d oder t) endet: du badest, arbeitest; man/ihr badet, arbeitet. Der Einschub von Schwa vor dem Suffix -t verhindert hier eine Verschmelzung von stammauslautendem [t] bzw. [d] und Suffix [t]. Durch das eingeschobene Schwa kann also das Person-Numerus-Suffix -t eindeutig als solches identifiziert werden. Dagegen wären Formen wie du *badst, du *arbeitst phonotaktisch möglich, und entsprechend gebaute Verbformen kommen sogar vor (du rietst, botst; vgl. Eisenberg 2006a: 190). Wiese (1994) hat jedoch gezeigt, dass die 2. Person generell stärker markiert sein muss als die 3. Person. Wird die 3. Person also zweisilbig realisiert, dann muss auch die 2. Person zweisilbig sein.
331 3.3
Präsens
Umlaut und e/i-Wechsel bei starken Verben
Starke Verben mit dem Präsens-Stammvokal [a] oder [a:] bilden die Formen der 2. und der 3. Person Singular Präsens Indikativ mit Umlaut (zum Folgenden vgl. Wahrig 2003: 226 f.): blasen – du bläst, man bläst; halten – du hältst, man hält (Ausnahme: schaffen). Bei dem Verb backen, das sich im Übergang von der starken zur schwachen Konjugation befindet, kommen sowohl umgelautete als auch unumgelautete Formen vor. Außer den Verben mit dem Stammvokal a lauten noch drei weitere Verben in der 2./3. Person Singular Präsens Indikativ um: laufen – du läufst, man läuft; saufen – du säufst, man säuft; stoßen – du stößt, man stößt. Die meisten starken Verben mit dem Präsens-Stammvokal [ε] oder [e:] bilden die Formen der 2. und 3. Person Singular mit dem Vokal [] bzw. [i:] (so genannter e/i-Wechsel): brechen – du brichst, man bricht; geben – du gibst, man gibt; lesen – du liest, man liest. Zu dieser Gruppe gehören auch die Verben erlöschen (du erlischst, es erlischt) und gebären (du gebierst, sie gebiert). Keinen e/i-Wechsel haben die starken Verben heben, gehen und stehen, das Verb bewegen (in der Bedeutung ‚veranlassen‘ (sie bewegt/bewog ihn zu kommen), sowie die Verben stecken und weben, die beide auch schwach flektiert werden können. Bei allen Verben mit Vokalwechsel (sowohl Umlaut als auch e/i-Wechsel) unterbleibt der e-Einschub, wenn der Stamm auf einen alveolaren Plosiv ([d] oder [t]) endet, in der 2. und 3. Person Singular (siehe Abschnitt 3.2.). Vergleiche etwa: binden – bindest, bindet; leiden – leidest, leidet vs. treten – trittst, tritt; raten – rätst, rät. Durch den Vokalwechsel werden die Formen der 3. Person Singular eindeutig als solche gekennzeichnet, so dass die Verhinderung der Verschmelzung von stammauslautendem t und Suffix -t nicht erforderlich ist. Da die Formen der 3. Person also einsilbig sind, können auch die Formen der 2. Person einsilbig sein. 3.4
Verbstämme auf [s] und [ʃ]
Bei Verben, deren Stamm auf [s] auslautet (geschrieben -s, -ss, -ß, -z, -tz, -x), entfällt in der 2. Person Singular Präsens Indikativ das s des Person-Numerus-Suffixes. Dies führt dazu, dass bei diesen Verben die 2. und 3. Person gleich lauten: du/man rast, küsst, stößt, reizt, setzt, hext. Ein e-Einschub erfolgt bei dem Aufeinandertreffen von stammauslautendem [s] und Suffix -st also nicht, Formen wie du rasest, reizest, setzest sind veraltet. Bei Verben, deren Stamm auf [ʃ] auslautet, bleibt das s der 2. Person Singular Präsens Indikativ hingegen erhalten, die Formen lauten: du forschst,
332
Präsens
klatschst, mischst. Schreibungen wie *du forscht, klatscht, mischt sind mithin, obwohl sie recht häufig vorkommen, nicht korrekt (vgl. Wahrig 2003: 226). 4
Modalverben
Die sechs Modalverben dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen flektieren im Indikativ Präsens anders als die übrigen Verben. Die Indikativ-Präsens-Formen sind (mit Ausnahme von wollen) dadurch entstanden, dass die ursprünglichen starken Präteritumformen zu Präsensformen umgedeutet wurden. Diese Verben werden daher auch Präteritopräsentia genannt. Wie die Präteritumformen der starken Verben weisen die Modalverben im Indikativ Präsens in der 1./3. Person Singular keine Personalendung auf. Dabei „haben sich Merkmale des Präteritums der starken Verben im Mittelhochdeutschen reiner erhalten als bei den starken Verben selbst“ (Eisenberg 2006a: 192), indem der Vokalwechsel vom Singular zum Plural, der im Neuhochdeutschen durch paradigmatischen Ausgleich vollkommen abgebaut wurde, erhalten geblieben ist. Nur bei sollen unterbleibt der Vokalwechsel. Die Formen von wollen gehen, anders als die der übrigen Modalverben, auf ursprüngliche Konjunktivformen zurück. Synchron unterscheidet sich wollen jedoch in seiner Flexion nicht von den übrigen Modalverben, und es wird daher heute zu Recht ebenfalls zu den Präteritopräsentia gerechnet (vgl. Erben 1980: 78). Der Stammvokal des Infinitivs ist jeweils mit dem Vokal der Pluralformen identisch. Die Konjunktiv-Präsens-Formen werden regelmäßig (mit dem Stammvokal des Infinitivs) gebildet. In (5) ist exemplarisch das Paradigma von dürfen wiedergegeben. (5) Präsens des Modalverbs dürfen, Indikativ und Konjunktiv Singular Plural Singular 1./3. darfdürf-en 1./3. dürf-e2. darf-st dürf-t 2. dürf-e-st
Plural dürf-e-n dürf-e-t
Zu den Präteritopräsentia gehört auch wissen, das als einziges Vollverb wie die Modalverben flektiert wird. Die Formen des Präteritum Konjunktiv von mögen (ich/man möchte, wir/ sie möchten) werden heute im Allgemeinen nicht mehr als Formen von mögen aufgefasst, sondern sie werden so benutzt, als seien sie Präsens-Indikativ-Formen eines von mögen verschiedenen Verbs möchten, das die Bedeutung von wollen hat und sich von wollen dadurch unterscheidet, dass es höflicher ist (vgl. Wahrig 2003: 269 f.). Die Frage, ob man eine (neue) Infinitivform möchten ansetzen sollte, ist umstritten (vgl. Diewald 1999; Duden 2005: 566; Eisenberg 2006b: 91).
333
Präsens
Das Verb brauchen, das ursprünglich ein (schwach konjugiertes) Vollverb ist, gleicht sich in Formbildung und Gebrauch zunehmend den Modalverben an. Dabei handelt es sich um Entwicklungen, die im Gesprochenen teilweise weit fortgeschritten sind, die für das Standarddeutsche aber überwiegend nicht als korrekt akzeptiert sind. So wird entsprechend der Konjugation der Modalverben die Endung -t der 3. Person Singular Präsens Indikativ Aktiv im Gesprochenen häufig weggelassen (er brauch nicht kommen statt er braucht nicht (zu) kommen; vgl. Wahrig 2003: 268). 5
Hilfsverben
Unter Hilfsverben versteht man Verben, die die Funktion haben, komplexe (zusammengesetzte) Verbformen zu bilden. Im Deutschen werden die drei Hilfsverben haben, sein und werden unterschieden. Das Präsens von haben und sein dient zur Bildung des Perfekts, das Präsens von werden zur Bildung des Futurs, werden und sein weiterhin zur Bildung von Passivformen. 5.1
Die Formen
Das Hilfsverb haben gehört zu den schwach flektierenden Verben, weist allerdings gewisse Unregelmäßigkeiten auf. Im Indikativ Präsens betrifft dies die Formen der 2. und der 3. Person Singular, die hast (statt *habst (vgl. labst)) und hat (statt *habt (vgl. labt)) lauten. Die Konjunktiv-Präsens-Formen werden regelmäßig gebildet. Bei der Konjugation von sein werden drei ursprünglich verschiedene Verbstämme benutzt (so genannter Suppletivismus). Die Flexion im Indikativ Präsens ist hochgradig unregelmäßig. Im Konjunktiv Präsens wird der Infinitivstamm sei- benutzt. In der 1. und 3. Person Singular fehlt das Konjunktiv-e, in der 2. Person Singular ist es fakultativ. Wie bei allen Verben, so werden auch bei sein im Plural die 1. und 3. Person nicht differenziert. Das Hilfsverb sein ist das einzige Verb, dessen Konjunktiv-Präsensformen in allen Personen beider Numeri von den Indikativformen verschieden sind (vgl. Wahrig 2003: 241). (6) Präsensformen des Hilfsverbs sein Indikativ Konjunktiv Sg 1. bin sei 2. bist sei(e)st 3. ist sei Pl 1./3. sind seien 2. seid seiet
334
Präsens
Das Hilfsverb werden hat im Indikativ Präsens e/i-Wechsel wie die starken Verben und es gehört, wie diese, zu den ablautenden Verben, weist jedoch gewisse Unregelmäßigkeiten auf. Wie bei haben entfällt im Indikativ in der 2. Person Singular der stammauslautende Konsonant (wirst statt *wirdst), die 3. Person Singular wird wird (statt *wirdt) geschrieben. Der Konjunktiv Präsens wird regelmäßig mit dem Stamm werd- gebildet. 5.2
Tempusbildung
Alle drei Hilfsverben dienen zur Bildung der so genannten analytischen oder periphrastischen Tempusformen. Mit dem Präsens von haben und sein werden die Tempora Perfekt und Doppelperfekt gebildet. Perfekt: Präsens von haben/sein + Partizip II des Vollverbs: hat geschlafen, ist gekommen. Doppelperfekt: Präsens von haben/sein + Partizip II des Vollverbs + Partizip II von haben/sein: hat geschlafen gehabt, ist gekommen gewesen. Das Präsens von werden dient zur Bildung von Futur I und Futur II. Futur I: Präsens von werden + Infinitiv Präsens des Vollverbs: wird schlafen, wird kommen. Futur II: Präsens von werden + Infinitiv Perfekt des Vollverbs: wird geschlafen haben, wird gekommen sein. Die Gesamtheit der Tempusformen, deren finiter Teil im Präsens steht, wird manchmal als „Tempusgruppe I“ (z. B. Weinrich 2001; Thieroff 1992; jetzt auch Duden 2005: 509) bezeichnet und der „Tempusgruppe II“ gegenübergestellt, deren finite Formen im Präteritum stehen. Im Konjunktiv werden die Tempora mit präsentischem Finitum allgemein als Konjunktiv I, die mit präteritalem Finitum als Konjunktiv II bezeichnet. 5.3
Passivformen
Die zweite Funktion des Hilfsverbs werden, neben der als Tempushilfsverb, ist die als Passivhilfsverb. Mithilfe des Passivhilfsverbs werden wird das so genannte Vorgangspassiv gebildet: Präsens von werden + Partizip II des Vollverbs: wird geschlagen. Auch das Hilfsverb sein dient zur Bildung von passivischen Konstruktionen. Bei Annahme eines Zustandspassivs ist die Bildung analog zu der des Vorgangspassivs. Zustandspassiv: Präsens von sein + Partizip II des Vollverbs: ist geschlagen. 6
Zur Semantik des Präsens
Das Präsens ist die morphologisch unmarkierte Tempusform, und es ist zugleich die hinsichtlich Bedeutung und Gebrauch unmarkierte Tempusform, was sich unter anderem darin zeigt, dass auf das Präsens ca. 52 % der vor-
335
Präsens
kommenden finiten Verbformen entfallen, während alle anderen Tempora zusammen nur 48 % ausmachen (vgl. Duden 1998: 145). Wie genau die Bedeutung des Präsens zu fassen ist, ist jedoch ein viel diskutiertes Problem. Der Terminus „Präsens“ (von lat. praesens ‚gegenwärtig‘) und ebenso der deutsche Terminus „Gegenwart“ legen nahe, dass die Form Gegenwartsbedeutung hat. Tatsächlich wird man Sätze wie die folgenden, in einem neutralen Kontext geäußert, so interpretieren, dass damit ein zum Sprechzeitpunkt ablaufendes, also gegenwärtiges Geschehen bezeichnet wird. (7) Renate arbeitet in Osnabrück. (8) Helga sitzt im Wohnzimmer und raucht. (9) Es ist dunkel. Während in (7) bis (9) die Interpretation „Gegenwart“ die nächstliegende ist, zeigen die Sätze (7’) bis (9’), dass das Präsens auch bei anderen Zeitbezügen stehen kann. (7’) Nächstes Jahr arbeitet Renate in Osnabrück. (8’) Gestern komme ich nach Hause, da sitzt Helga im Wohnzimmer und raucht. (9’) Nachts ist es dunkel. In (7’) wird eine Aussage über die Zukunft gemacht (manchmal als „futurisches Präsens“ bezeichnet), in (8’) über die Vergangenheit und in (9’) eine allgemeingültige, zeitunabhängige Aussage. Aus Daten wie in (7) bis (9) und (7’) bis (9’) hat man den Schluss gezogen, dass das Präsens vier „Bedeutungsvarianten“ habe, das heißt es gebe ein „aktuelles Präsens“, ein „Präsens zu Bezeichnung eines künftigen Geschehens“, ein „Präsens zur Bezeichnung eines vergangenen Geschehens“ und ein „generelles oder atemporales Präsens“ (so Helbig/Buscha 2007: 130–132). Die Annahme, dass ein sprachlicher Ausdruck gleichzeitig alle sich wechselseitig ausschließenden Elemente eines Begriffssystems bezeichnen kann, ist jedoch nicht sinnvoll: Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke konstituiert sich unter anderem dadurch, dass sie von der Bedeutung anderer sprachlicher Ausdrücke abgegrenzt werden. Eine solche Abgrenzung wäre hier nicht gegeben. Wenn das Präsens tatsächlich alles „bedeuten“ kann, dann heißt das nichts anderes, als dass es keine Bedeutung hat. Genau diese Schlussfolgerung ist auch gezogen worden. Vennemann (1987: 239) meint, bei Verwendung des Präsensstamms sei „keinerlei zeitliche Lagerung [des] Vorgangs oder Zustands angezeigt. […] Durch eine Äußerung von es regnet ist nicht unvermeidbar irgendein Zeitbezug hergestellt. Vielmehr kann ein gemeinter Zeitbezug nur aus dem Äußerungskotext und
Präsens
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Äußerungskontext erschlossen werden.“ Vennemann (1987: 240) zieht daraus den Schluss, dass das Präsens besser „Atemporalis“ genannt werden sollte. Doch auch die Annahme, dass das Präsens unterschiedslos bei jedem Zeitbezug verwendet werden könne, ist unzutreffend. Richtig ist, dass das Präsens generell Gegenwarts- und Zukunftsbezug haben kann, doch die Verwendung mit Vergangenheitsbezug unterliegt einer Reihe von Beschränkungen. So ist ein Dialog wie (10) ausgeschlossen, obwohl in allen Sätzen der Zeitbezug durch das Adverbial gestern hergestellt wird (vgl. Thieroff 1992: 98): (10) A: Warum bist du denn gestern nicht da, als ich vorbeikomme? Wir wollen doch gestern abend zusammen ins Kino gehen! B: Gestern sitze ich den ganzen Tag am Schreibtisch und gestern abend bin ich im Fitnessstudio. Die Verwendung des Präsens mit Vergangenheitsbezug ist also als eine spezielle Verwendung dieser Tempusform anzusehen, die gerade nicht der „normalen“ Bedeutung des Präsens entspricht. „Vergangenheitsbezogene Präsensverwendungen zeitigen spezifische rhetorische Wirkungen“, die nicht zustande kämen, „wenn wir es hier mit Fällen zu tun hätten, die mit der temporalen (semantischen) Funktion“ des Präsens im Einklang stehen (vgl. Grewendorf 1982: 235). Da Sätze wie (7) bis (9) gleichermaßen als Antworten auf Fragen wie Wo arbeitet Renate jetzt?, Was macht Helga gerade? Ist es noch hell? wie auch auf Fragen wie Wo arbeitet Renate nächstes Jahr? Was macht Helga morgen? Ist es morgen hell, wenn du kommst? möglich sind, nicht aber auf Fragen wie Wo arbeitete Renate letztes Jahr?, Was tat Helga gestern abend? War es gestern hell, als du kamst?, ist der Schluss zu ziehen, dass durch das Präsens eine Zeit lokalisiert wird in einem Zeitintervall, das nicht ganz vor der Sprechzeit liegt (vgl. Thieroff 1992: 99), das heißt das Präsens ist das Tempus der Nicht-Vergangenheit. Damit sind die Verwendungen des Präsens mit Gegenwartsbezug, mit Zukunftsbezug und die so genannten „zeitlosen“ Verwendungen (wie Zwei mal zwei ist vier, Die Erde dreht sich um die Sonne) abgedeckt. Dagegen sind Verwendungen wie in Der 2. Weltkrieg beginnt 1939 (so genanntes historisches Präsens) oder Gestern gehe ich über den Ku’damm, da treffe ich doch den Alex (so genanntes szenisches Präsens) stilistisch bedingte Sonderverwendungen des Präsens, die trotz der angegebenen Grundbedeutung des Präsens in bestimmten Fällen möglich sind. Die hier genannten Verwendungen des Präsens mit Vergangenheitsbezug sind kein Spezifikum des Deutschen, sie kommen so oder ähnlich auch in
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Präsens
einer Reihe anderer europäischen Sprachen vor (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 97). Anders verhält es sich dagegen mit der Verwendung des Präsens für zukünftige Ereignisse. Zwar wird Zukunftsbezug in den Sprachen der Welt allgemein weniger konsequent durch ein Futurtempus markiert als etwa Vergangenheitsbezug durch ein Vergangenheitstempus („future time reference is less consistently marked than past time reference“; Dahl 1985: 109). So kann etwa auf die Frage What HAPPEN 2 if I eat this mushroom? die Antwort You DIE nicht nur im Deutschen, sondern auch im Schwedischen, Italienischen, Spanischen, Katalanischen, Rumänischen, Maltesischen und einer Reihe von nicht-europäischen Sprachen (nicht aber im Englischen) im Präsens stehen (Dahl 1985: 109 f.). Zugleich ist aber in einer Vielzahl von Sprachen in Zukunftskontexten eine Futurform obligatorisch, besonders häufig dann, wenn eine Intention des Subjekts zum Ausdruck gebracht wird (Bybee/Dahl 1989: 92). In den meisten Kontexten mit Zukunftsbezug ist eine Futurform beispielsweise obligatorisch im Englischen, in den romanischen Sprachen (für das Italienische Bertinetto 1992: 46), in den slawischen Sprachen (zum Bulgarischen und Mazedonischen Lindstedt (1992: 10), zum Russischen und Ukrainischen Dahl (1992: 59)) und im Griechischen (Hedin 1992: 37). Ein Beispiel für die obligatorische Verwendung des Futurs in Wettervorhersagen im Englischen (im Vergleich mit dem Finnischen, wo das Präsens verwendet wird) bietet Dahl (2000: 310). Eine generelle Verwendung des Präsens für die Bezeichnung von Zukünftigem ist also, anders als im Deutschen, in sehr vielen europäischen Sprachen nicht möglich. Literatur Bertinetto, Pier Marco (1992): „The Marking of Future Time Reference in Italian“. In: Dahl, Östen/de Groot, Casper/Tommola, Hannu (Hrsg.): Future Time Reference in European Languages II. Dutch, Finnish, Modern Greek, Italian, Lezgian, East Slavic, Turkish. Stockholm, Stockholm University: 38–46. (= Eurotyp Working Papers 6.3). Bybee, Joan L./Dahl, Östen (1989): „The Creation of Tense and Aspect Systems in the Languages of the World“. Studies in Languages 13: 51–103. Dahl, Östen (1985): Tense and aspect systems. Oxford/New York: Blackwell. Dahl, Östen (2000): „The Grammar of Future Time Reference in European Languages“. In: Dahl, Östen (Hrsg.): Tense and Aspect in the Languages of Europe. Berlin/New York, Mouton de Gruyter: 309–328. (= Empirical approches to language typology 20. EUROTYP 6). Diewald, Gabriele (1999): Die Modalverben im Deutschen: Grammatikalisierung und Polyfunktionalität. Tübingen: Niemeyer. (= Reihe Germanistische Linguistik 208). Dudenredaktion (Hrsg.) (1998): Duden. Die Grammatik. 6., neu erarbeitete Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). 2 Die Großschreibung des Verbs signalisiert das untemporalisierte Verblexem, an dessen Stelle in Dahls Fragebogen jeweils das Verb im erforderlichen Tempus einzusetzen ist.
Präteritopräsens
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Dudenredaktion (Hrsg.) (2005): Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Eisenberg, Peter (2006a): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 1: Das Wort. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart/Weimer: Metzler. Eisenberg, Peter (2006b): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler. Erben, Johannes (1980): Deutsche Grammatik. Ein Abriss. 12. Auflage. München: Hueber. Grewendorf, Günther (1982): „Zur Pragmatik der Tempora im Deutschen“. Deutsche Sprache 10: 213–236. Hedin, Eva (1992): „The Marking of Future Time Reference in Modern Greek“. In: Dahl, Östen/ de Groot, Casper/Tommola, Hannu (Hrsg.): Future Time Reference in European Languages II. Dutch, Finnish, Modern Greek, Italian, Lezgian, East Slavic, Turkish. Stockholm, Stockholm University: 29–37. (= Eurotyp Working Papers 6.3). Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (2007): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 6. Nachdruck. Berlin u. a.: Langenscheidt. Hentschel, Elke/Weydt, Harald (2003): Handbuch der deutschen Grammatik. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin/New York: de Gruyter. (= de Gruyter Studienbuch). Lindstedt, Jouko (1992): „The Marking of Future Time Reference in Bulgarian (with Notes on Macedonian)“. In: Dahl, Östen/de Groot, Casper/Tommola, Hannu (Hrsg.): Future Time Reference in European Languages II. Bulgarian, Estonian, German, Hungarian, Continental Scandinavian, Züritüütsch. Stockholm, Stockholm University: 1–11. (= Eurotyp Working Papers 6.2). Thieroff, Rolf (1992): Das finite Verb im Deutschen. Tempus–Modus–Distanz. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Grammatik 40). Vennemann, Theo (1987): „Tempora und Zeitrelation im Standarddeutschen“. Sprachwissenschaft 12: 234–249. Wahrig (2003): Fehlerfreies und gutes Deutsch. Das zuverlässige Nachschlagewerk zur Klärung sprachlicher Zweifelsfälle. Gütersloh/München: Wissen Media. (= Wahrig 5). Weinrich, Harald (2001): Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6., neu bearbeitete Auflage. München: Beck. Wiese, Bernd (1994): „Die Personal- und Numerusendungen der deutschen Verbformen“. In: Köpcke, Klaus-Michael (Hrsg.): Funktionale Untersuchungen zur deutschen Nominal- und Verbalmorphologie. Tübingen, Niemeyer: 161–191. (= Linguistische Arbeiten 319).
Rolf Thieroff u Präteritopräsens Präteritopräsentia sind Verben, die der Form nach ein Präteritum, der Bedeutung nach aber ein Präsens darstellen. Ein Beispiel dafür ist das Verb wissen. Es leitet sich aus einer Wurzel ab, die ‚sehen‘ bedeutet: was man selbst gesehen hat, das weiß man. Formal kann man das Präteritum noch an der 1. und 3. Person Singular erkennen, die ein -e resp. ein -t aufweisen müssten, vgl.: ich lache, sie lacht vs. ich weiß, sie weiß. Auch der Vokalwechsel im Präsensstamm (ich weiß – wir wissen) geht auf eine ursprünglich für das Präteritum kennzeichnende Numerusunterscheidung im Präteritum zurück. Zu den Präteritopräsentia gehören auch die Modalverben des Deutschen. → Verb
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Präteritum
u Präteritum 1
Die markierte Tempusform
Das Präteritum ist die gegenüber dem Präsens markierte Tempusform. Das Präteritum wird bei den schwachen und den starken Verben auf gänzlich unterschiedliche Weise gebildet: Bei den schwachen Verben ist die Bildung agglutinativ, mittels eines Präteritalsuffixes, bei den starken Verben erfolgt sie hingegen mittels Ablaut. Neben diesen beiden Verbklassen gibt es eine Reihe von unregelmäßigen Verben, die sowohl Präteritumsuffix als auch Vokalwechsel aufweisen, es gibt Verben, die ein schwaches Präteritum, aber ein stark gebildetes Partizip II haben, es gibt Verben, die sowohl schwach als auch stark flektiert werden können (mit und ohne Bedeutungsunterschied) und es gibt Verben, die sich im Übergang von der starken zur schwachen Flexion befinden. Die Modalverben und die Hilfsverben weisen ebenfalls Besonderheiten bei der Präteritumbildung auf. 2
Schwache Verben
2.1
Analyse der Formen
Die Präteritalformen des schwachen Verbs leben lauten: lebte, lebtest, lebten, lebtet. So einfach diese Feststellung ist, so schwierig ist die Frage, wie diese Formen zu segmentieren sind. In den Grammatiken des Deutschen werden dazu verschiedene Vorschläge gemacht. In (1) werden zunächst zwei unterschiedliche Arten der Segmentierung einander gegenübergestellt und mit den Formen im Präsens verglichen. (1) Zwei unterschiedliche Segmentierungen schwacher Präteritumformen a. b. Präteritum-Suffix -t- Präteritum-Suffixe Präsens + Personalsuffix -t- und -te+ Personalsuffix Sg. 1./3. 2.
leb-t-e leb-t-est
leb-t-e leb-te-st
Pl. 1./3. 2.
leb-t-en leb-t-et
leb-t-en leb-te-t
Sg. 1. 2. 3. Pl. 1./3. 2.
leb-e leb-st leb-t leb-en leb-t
Die Analyse (1a) ist relativ verbreitet. Sie findet sich etwa bei Erben (2000: 89), Engel (2004: 215) oder Eisenberg (2006: 186). Die Analyse (1b) ist dagegen selten; wir finden sie etwa bei Helbig/Buscha (2007: 26).
Präteritum
340
Eine Begründung für die Analysen in (1) liefern die genannten Grammatiken nicht. Eine Ausnahme ist lediglich Erben (2000: 89), der bezüglich (1a) schreibt: „Funktionskennzeichen ist bei den sog. schwachen Verben wie in allen germ. Sprachen ein Dentalsuffix, verbunden mit der entsprechenden Personalendung.“ Ein Blick auf die germanischen Sprachen zeigt jedoch, dass in der Mehrzahl dieser Sprachen das Dentalsuffix silbisch ist. Es lautet -de/-te im Niederländischen (Klooster 2001: 43, 49), -ede bzw. -te im Dänischen (Nielsen 1986: 30), -de/-te im Norwegischen (Askedal 1994: 242) und -de/-te im Schwedischen (Andersson 1994: 286). Lediglich im Isländischen ist das Präteritalzeichen -ƒ-, -d- oder -t- (Kress 1982: 116) und im Englischen [t] oder [d] (geschrieben -ed). Die eigentliche Motivation für die Analyse in (1a) ist also nicht, entgegen Erben, das einheitliche Präteritalmorphem in den germanischen Sprachen. Vielmehr ist die Analyse offensichtlich durch den Vergleich mit den Formen im Präsens motiviert. Bei der Analyse in (1a) scheint das Personalsuffix -e dem Personalsuffix der 1. Person Singular Präsens zu entsprechen, das Personalsuffix -en dem Personalsuffix der 1./3. Person Plural Präsens. Da zugleich von einem einheitlichen Präteritalmorphem t für alle Personen ausgegangen wird, unterscheiden sich allerdings die Personalsuffixe der 2. Person von denen des Präsens. Dies ist in der Analyse in (1b) „repariert“: In (1b) stimmen alle Personalendungen mit Personalendungen des Präsens überein, allerdings um den Preis eines uneinheitlichen Präteritummorphems. Ganz stimmen die Personalendungen von Präsens und Präteritum jedoch in keinem Fall überein, da im Präsens die 3. Person Singular mit dem Personalsuffix -t markiert wird, im Präteritum hingegen nicht. Dies bedeutet, dass in jedem Fall für das Präteritum von vom Präsens abweichenden Personalendungen auszugehen ist. Daraus folgt, dass die schwachen Präteritalformen nicht mit den Präsensformen, sondern mit den Präteritalformen der starken Verben zu vergleichen sind. In (2) sehen wir eine dritte Art der Analyse der Präteritalformen, die hier nicht den Präsensformen, sondern den Präteritalformen eines starken Verbs gegenübergestellt wird. (2) Eine dritte Segmentierung schwacher Präteritumformen Präteritum-Suffix -tePräteritum starkes Verb Sg 1./3. leb-tesang2. leb-te-st sang-st Pl 1./3. leb-te-n sang-en 2. leb-te-t sang-t Auch die Analyse in (2) ist häufiger anzutreffen, so etwa bei Flämig (1991: 432) oder im Duden (2005: 443, 444). Der Vorteil der Analyse in (2) gegen-
341
Präteritum
über denjenigen in (1) ist augenfällig: Nach (2) wird im Präteritum grundsätzlich nicht zwischen 1. und 3. Person Singular unterschieden, die Nicht-2. Person Singular ist – unabhängig von der Verbklasse – endungslos. Die Personalsuffixe der 2. Person (Singular und Plural) sind bei schwachen und starken Verben identisch. Das Personalsuffix -en wird bei den schwachen Verben als -n realisiert, da eine Folge von zwei Schwalauten im Deutschen nicht zugelassen ist. Im übrigen alternieren silbisches und nicht-silbisches n auch sonst in den Verbparadigmen, man vergleiche etwa 1./3. Person Plural Präsens lach-en vs. lächel-n. Schließlich entspricht das einheitliche Präteritummorphem te dem gleichlautenden Morphem im Niederländischen, Dänischen, Norwegischen und Schwedischen. 2.2
e-Einschub
Bei schwachen Verben, deren Stamm auf -d oder -t auslautet, wird zwischen Stamm und Präteritalsuffix te ein Schwa eingeschoben. Der Einschub von Schwa vor dem Suffix te verhindert hier eine Verschmelzung von stammauslautendem [t] bzw. [d] und Suffix [tə]. Durch das eingeschobene Schwa kann also das Präteritalsuffix te eindeutig als solches identifiziert werden. Entsprechend lauten die Präteritumformen der Verben baden und arbeiten: ich/man badete/arbeitete usw. Auch bei Verben, deren Stamm auf Obstruent + Nasal auslautet, wird e zwischen Stamm und Präteritalsuffix eingeschoben: ich/man atmete/widmete/ rechnete. In diesen Fällen erleichtert der Einschub von Schwa die Aussprache – ohne Schwa müsste der Nasal jeweils silbisch realisiert werden. 2.3
Der Konjunktiv
Die Formen des Konjunktiv Präteritum der schwachen Verben sind formal identisch mit jenen des Indikativs. Die in 2.1 genannten Formen des Verbs leben (lebte, lebtest, lebten, lebtet) können (wie bei allen schwachen Verben) zugleich auch Konjunktivformen sein. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage nach der Analyse der Präteritalformen noch einmal neu. Da der Konjunktiv im Präsens einheitlich durch das Morphem e (bzw. Schwa) gekennzeichnet ist, und da auch im Präteritum alle Formen ein Schwa aufweisen, liegt es nahe, auch hier das Schwa als Konjunktivmorphem zu interpretieren. Tatsächlich wird diese Auffassung vertreten, und zwar sowohl von Autoren, die als Indikativ-Präteritum-Morphem t als auch von solchen, die te annehmen. Für Engel (2004: 215, 219) lautet das Präteritummorphem für Indikativ und Konjunktiv einheitlich t. Dagegen weisen im Indikativ alle Personalendungen ein Schwa auf, während im Konjunktiv das
342
Präteritum
Schwa eben das Konjunktivzeichen ist, alle Personalendungen sind schwalos. Es ergibt sich (3a). Für Flämig (1991: 432, 437) ist hingegen te das Präteritummorphem. Auch Flämig nimmt an, dass der Konjunktiv Präteritum durch e markiert wird. Flämig stellt Indikativ- und Konjunktiv-Paradigma (hier leicht modifiziert) entsprechend (3b) dar und erklärt dazu: „Die -(e)- in runder Klammer fallen mit dem Konjunktivformativ -e- zusammen und treten lautlich nicht in Erscheinung“ (Flämig 1991: 437). (3) Indikativ und Konjunktiv Präteritum a. Engel (2004: 215, 219) Indikativ Konjunktiv Sg. 1./3. 2. Pl. 1./3. 2.
leb-t-e leb-t-est leb-t-en leb-t-et
leb-t-eleb-t-e-st leb-t-e-n leb-t-e-t
b. Flämig (1991: 432, 437) Indikativ Konjunktiv leb-teleb-te-st leb-te-n leb-te-t
leb-t(e)-eleb-t(e)-e-st leb-t(e)-e-n leb-t(e)-e-t
Beide Analysen sind wenig überzeugend, da im einen Fall die Personalendungen in Indikativ und Konjunktiv unterschiedlich sind, im anderen Fall das Präteritummorphem. Zudem verschleiern beide Analysen, dass faktisch alle Formen in Indikativ und Konjunktiv gleich lauten. Eisenberg, der, wie Engel, ein Präteritummorphem t ansetzt, geht dagegen von einem einheitlichen Set von schwahaltigen Personalendungen in Indikativ und Konjunktiv aus. Er verzichtet also darauf, die dem Präteritum-t folgenden Endungen im Konjunktiv weiter zu zerlegen, begründet aber seine Analyse des Präteritummorphems als t eben mit der Form des Konjunktivs (Eisenberg 2006: 196 f.). Eisenberg vergleicht die Konjunktivformen starker und schwacher Verben im Präsens und Präteritum in der Form in (4). (4) Konjunktiv der starken und schwachen Verben bei Eisenberg (2006: 197) Präsens, Präteritum, Präsens, Präteritum, stark stark schwach schwach ruf-
e est en et
rief-
e est en et
prüf-
e est en et
prüft-
e est en et
Das Bild in (4) kommentiert Eisenberg (2006: 197) wie folgt: „Es gibt keinen wesentlichen Unterschied in der Formbildung des Konj bei den beiden Verbtypen. Das Endungsinventar ist überall dasselbe, der einzige Unterschied überhaupt besteht in der Bildung des Präteritalstammes einmal mit
343
Präteritum
Ablaut und das andere Mal mit dem Suffix t.“ Geht man also von den Konjunktivformen aus, gibt es tatsächlich auch Argumente für eine Präteritumanalyse gemäß (1a). 3
Starke Verben
3.1
Der Ablaut
Die Klasse der starken Verben umfasst etwa 170 Verben. Diese Klasse ist nicht mehr produktiv, das heißt, es werden keine neuen Verben nach dem Muster der starken Verben gebildet; alle neu in das Deutsche aufgenommenen Verben flektieren schwach. Die starken Verben bilden ihr Präteritum nicht, wie die schwachen Verben, mittels eines Präteritalsuffixes, sondern dadurch, dass der Vokal des Präsensstammes durch einen anderen Vokal ersetzt wird. Man nennt diese Formbildung Ablaut. Bei den meisten starken Verben erfolgt auch die Bildung des Partizips II durch einen vom Präsens verschiedenen Ablaut-Vokal. Zusätzlich zum Ablaut kann sich auch noch die Quantität des Stammvokals ändern, das heißt, einem kurzen Vokal im Präsens kann ein Langvokal im Präteritum entsprechen (brechen – brach), oder, umgekehrt, einem Langvokal im Präsens ein kurzer Vokal im Präteritum (fließen – floss). Berücksichtigt man alle drei Stammformen (Präsens, Präteritum, Partizip II) und die Quantitätsänderungen, „sind im heutigen Deutsch insgesamt etwa 40 (lautlich) verschiedene Vokalwechsel zu verzeichnen“ (Duden 2005: 458). Für den Präteritum-Ablaut lassen sich jedoch einige Regularitäten erkennen (vgl. Erben 2000: 90 f.; Duden 2005: 460): 1. Starke Verben mit Stammvokal ei im Präsens bilden den Präteritumstamm mit i (greifen – griff ) oder ie (steigen – stieg). 2. Starke Verben mit ie im Präsens bilden das Präteritum mit langem o (biegen – bog) oder kurzem o (fließen – floss). 3. Starke Verben mit i im Präsens bilden das Präteritum mit kurzem a (singen – sang). 4. Starke Verben mit kurzem e im Präsens bilden das Präteritum entweder mit kurzem a (helfen – half ) oder langem a (brechen – brach) oder mit kurzem o (fechten – focht). 5. Starke Verben mit langem e im Präsens bilden das Präteritum entweder mit langem a (geben – gab) oder mit langem o (heben – hob). 6. Starke Verben mit kurzem oder langem a im Präsens bilden das Präteritum entweder mit ie (fallen – fiel, blasen – blies) oder mit langem u (schaffen – schuf, graben – grub).
344
Präteritum
Von diesen Regeln gibt es nur wenige Ausnahmen, darunter liegen (Präteritum lag), glimmen und erklimmen (glomm und erklomm). Einen anderen Präsensstammvokal als die genannten (ei, i(e), e, a) haben nur sehr wenige Verben, darunter saufen, lügen, betrügen, schwören (Präteritumvokal o), kommen (Präteritum a), rufen, stoßen, heißen, laufen (Präteritum ie). 3.2
Konsonantenwechsel
Bei den folgenden acht Verben erfolgt zusätzlich zum Ablaut im Präteritum (und im Partizip II) ein Wechsel des stammauslautenden Konsonanten: gehen – ging, leiden – litt, schneiden – schnitt, sieden – sott, sitzen – saß, stehen – stand, ziehen – zog. Bei hauen (Präteritum hieb) und tun (Präteritum tat) kommt im Präteritum ein zusätzlicher Konsonant hinzu, der im Präsens nicht auftritt. 3.3
Der Konjunktiv
Bei den starken Verben wird der Konjunktiv im Präteritum, wie im Präsens, mittels des Konjunktivmorphems e gebildet. Da keine zwei Schwalaute aufeinander folgen dürfen, muss das Personalsuffix der 1./3. Person Plural unsilbisch realisiert werden, was zu einem lautlichen Zusammenfall von Indikativ- und Konjunktivform führt. Lautet der Präteritalstamm auf t aus, unterscheiden sich auch die Formen der 2. Person Plural nicht voneinander. In der 2. Person Singular ist das eingeschobene e im Indikativ optional; wird es eingeschoben, fallen auch die Formen der 2. Person Singular zusammen. Für die starken Verben mit dem Stammvokal i bzw. ie im Präteritum ergeben sich damit die Formen in (5). (5) Präteritum Indikativ und Konjunktiv der starken Verben mit Präteritumstammvokal i/ie a. Typ rufen b. Typ reiten Indikativ Konjunktiv Indikativ Konjunktiv Sg. 1./3. 2. Pl. 1./3. 2.
rief-
riefst en t
ee-st e-n e-t
ritt-
ritt(e)st en et
e e-st e-n e-t
Das Vorkommen homonymer Indikativ- und Konjunktivformen ist auf diejenigen Verben beschränkt, deren Präteritumstammvokal i bzw. ie ist. Alle anderen vorkommenden Präteritumstammvokale (a, o, u) sind umlautfähig,
345
Präteritum
und sie weisen im Konjunktiv immer Umlaut auf. Damit sind bei allen starken Verben, deren Präteritumstamm nicht i/ie enthält, alle Konjunktivformen von allen Indikativformen formal unterschieden (ich/man kam, du kamst, wir/sie kamen, ihr kamt vs. ich/man käme, du kämest, wir/sie kämen, ihr kämet). Da der Konjunktiv bei diesen Verben durch den Umlaut ausreichend deutlich markiert ist, kann, besonders im Gesprochenen, das Konjunktiv-e in allen Personen mit Ausnahme der 1./3. Plural elidiert werden: Wenn du kämst, säng sie ein Lied; Wenn ihr kämt, sängen wir ein Lied. Dabei ist die Elision des Konjunktiv-e in der 2. Person (Singular und Plural) standardsprachlich anerkannt, nicht jedoch die Elision in der 1. Person Singular. Noch bis in die Zeit des Frühneuhochdeutschen hinein hatten einige starke Verben im Präteritum Indikativ unterschiedliche Stammvokale in Singular und Plural (vgl. noch im Lied: … wie uns die Alten sungen [vs. er sang]). Im heutigen Deutsch ist bei allen derartigen Verben der Vokal in Singular und Plural vereinheitlicht, wobei in der Regel der Vokal des Plurals durch den Vokal des Singulars ersetzt ist. Neben Konjunktivformen, die von den heutigen Indikativformen abgeleitet sind, weisen einige Verben auch noch Konjunktivformen auf, die auf ältere Pluralformen zurückgehen (vgl. Wahrig 2003: 243): (6) Verben mit zwei Konjunktivformen befehlen beföhle befähle helfen beginnen begönne begänne rinnen empfehlen empföhle empfähle schwimmen gelten gölte gälte spinnen gewinnen gewönne gewänne stehen heben hübe höbe stehlen 4
hülfe rönne schwömme spönne stünde stöhle
hälfe ränne schwämme spänne stände stähle
Unregelmäßige Verben
Neben den schwachen und den starken Verben gibt es eine kleine Klasse von Verben, die sowohl Merkmale der schwachen als auch Merkmale der starken Konjugation aufweisen und die häufig als unregelmäßige Verben bezeichnet werden. Die Verben brennen, kennen, nennen, rennen weisen im Präteritum (und im Partizip II) einen Vokalwechsel von e zu a auf (brannte, kannte, nannte, rannte). Anders als bei den starken Verben handelt es sich hier jedoch nicht um einen Ablaut, sondern um den so genannten Rückumlaut, da das schwache Präteritum im Gegensatz zum Präsensstamm nicht umlautete. Die Konjunktiv-Präteritumformen dieser Verben lauten standardsprachlich brennte,
Präteritum
346
kennte, nennte, rennte. In nicht-standardsprachlichen Texten kommen diese Formen jedoch kaum vor. Sie werden entweder durch die Indikativformen oder, häufiger, durch würde + Infinitiv ersetzt. Mit Rückumlaut können auch die Präteritumformen (und das Partizip II) von senden und wenden (sandte, gesandt; wandte, gewandt) gebildet werden. Bei diesen beiden Verben ist aber auch die schwache Konjugation möglich (sendete, gesendet; wendete, gewendet). Die Konjunktivformen sind nur diese Formen. Zwei weitere unregelmäßige Verben sind bringen und denken, die gleichfalls Vokalwechsel (a im Präteritum) und zusätzlich Konsonantenwechsel aufweisen (bringen – brachte, denken – dachte). Wie bei den starken Verben werden die Konjunktiv-Präteritumformen mit Umlaut gebildet (brächte, dächte). Da alle genannten Verben zugleich das Präteritummorphem te der schwachen Verben aufweisen, werden sie manchmal auch zu den schwachen Verben gezählt, so in Duden (2005: 454), wo sie als „unregelmäßige schwache Verben“ bezeichnet werden. 5
Verben mit schwachen und starken Formen
Eine Reihe von Verben weist sowohl schwache als auch starke Formen auf. Dabei sind drei Gruppen von Verben zu unterscheiden: Homonyme Verben, bei denen ein Verb schwach, das andere stark konjugiert wird; Verben mit einer intransitiven (stark flektierten) und einer transitiven (und zugleich kausativen) (schwach flektierten) Variante; Verben, die sich im Übergang von der starken zur schwachen Flexion befinden. 5.1
Homonyme Verben
Verben, die im Infinitiv gleich lauten, jedoch je nach Bedeutung schwach oder stark flektiert werden, sind die folgenden: bewegen – schwach: ‚veranlassen, dass etwas oder jemand seine Lage verändert‘, stark: ‚jemanden zu etwas veranlassen‘ (Sie bewog ihn zurückzukommen); schaffen – schwach: ‚etwas bewirken, etwas bewältigen, jemanden oder etwas an einen anderen Ort bringen‘, stark: ‚etwas hervorbringen, erzeugen‘ (Gott schuf Himmel und Erde); schleifen – schwach: ‚etwas über den Boden ziehen‘, stark: ‚etwas schärfen/glätten‘ (Er schliff seine Messer); wiegen – schwach: ‚jemanden oder etwas in eine schaukelnde Bewegung versetzen‘, stark: ‚das Gewicht von jemandem oder etwas feststellen, ein bestimmtes Gewicht haben‘ (Er wog 96 kg).
347 5.2
Präteritum
Verben mit intransitiver und transitiver Variante
Es gibt eine Reihe von Verbpaaren, bei denen eine Variante intransitiv ist, die andere transitiv und zugleich kausativ, das heißt, die transitive Variante drückt aus, dass verursacht wird, dass jemand oder etwas das mit dem intransitiven Verb Bezeichnete tut (z. B. tränken: ‚verursachen, dass jemand oder etwas trinkt‘, fällen: ‚verursachen, dass etwas fällt‘) oder dass jemand oder etwas in den Zustand versetzt wird, der mit dem intransitiven Verb bezeichnet wird (z. B. setzen: ‚bewirken, dass jemand oder etwas sitzt‘). In der Regel wird bei diesen Verbpaaren die intransitive Variante stark, die transitive Variante schwach flektiert. Je stärker die jeweiligen Verben sich im Infinitiv unterscheiden, desto stabiler ist dabei die jeweilige Konjugationsart. Stabil ist die Verteilung bei den folgenden Verben. (7) Intransitive und transitive Verben mit unterschiedlichem Infinitiv intransitiv, stark transitiv, schwach (er)trinken, (er)trank fallen, fiel (ver)sinken, (ver)sank saugen, sog liegen, lag sitzen, saß stehen, stand
(er)tränken, (er)tränkte fällen, fällte (ver)senken, (ver)senkte säugen, säugte legen, legte setzen, setzte stellen, stellte
Bei Verbpaaren, die im Infinitiv gleich lauten, bestehen bei den Sprechern dagegen zunehmend Unsicherheiten bezüglich der Konjugationsart. Die Verben in (8) verhalten sich ursprünglich wie die Verben in (7), mit dem Unterschied, dass die Infinitivformen des intransitiven und des transitiven Verbs identisch sind. (8) Intransitive und transitive Verben mit gleichem Infinitiv intransitiv, stark transitiv, schwach bleichen, blich erschrecken, erschrak hängen, hing schmelzen, schmolz schwellen, schwoll stecken, stak
bleichen, bleichte erschrecken, erschreckte hängen, hängte schmelzen, schmelzte schwellen, schwellte stecken, steckte
Bei den einzelnen Verbpaaren sind unterschiedliche Ausgleichstendenzen zu beobachten. Stecken wird heute nur noch schwach konjugiert, die Form stak ist veraltet. Bei bleichen wird das stark gebildete Präteritum zunehmend
Präteritum
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durch das schwach gebildete ersetzt. Bei erschrecken wird die intransitive Variante häufig durch schwach flektiertes Reflexivum ersetzt (Er hat sich erschreckt für Er erschrak). Bei hängen (dessen intransitiver Infinitiv ursprünglich hangen lautete) wird transitives hängen im Gesprochenen häufig stark flektiert (Er hing das Bild an die Wand) und auch die schwache Flexion von intransitivem hängen kommt vor (Das Bild hängte an der Wand ), allerdings deutlich häufiger im Perfekt (Das Bild hat an der Wand gehängt). Schmelzen wird heute nur noch stark flektiert, die schwachen Formen sind veraltet. Stabil sind die Verhältnisse nur bei schwellen, doch ist der transitive Gebrauch sehr selten (Stolz schwellte seine Brust). 5.3
Übergänge zur schwachen Konjugation
Die schwache Konjugation ist die „Normalkonjugation“, der die allermeisten Verben folgen. Die Klasse der starken Verben ist demgegenüber eine relativ kleine und geschlossene Klasse. So verwundert es nicht, dass Übergänge von einer Flexionsklasse in eine andere fast ausschließlich von der starken in die schwache erfolgen. Ein Gegenbeispiel für den Übergang von der schwachen zur starken Flexion ist das in 5.2 erwähnte Verb schmelzen, das auch in der intransitiven Variante heute überwiegend stark flektiert wird. Die Tendenz zur schwachen Flexion ist insbesondere bei Verben zu beobachten, die relativ wenig gebraucht werden. So befinden sich die Verben gären, glimmen, hauen, melken, sieden im Übergang zur schwachen Konjugation, aber auch die (weniger seltenen) Verben backen und saugen. Am weitesten ist der Übergang bei backen und sieden vollzogen, deren starke Präterita (buk, sott) bereits veraltet sind. Die übrigen Verben haben sowohl ein schwach als auch ein stark gebildetes Präteritum, die teilweise in unterschiedlichen Kontexten bevorzugt werden (vgl. Wahrig 2003: 253–268). So wird beispielsweise im technischen Bereich allein das schwache Präteritum von saugen verwendet (Die Feuerwehr saugte [nicht: sog] die Gase ab). 6
Modalverben
Die sechs Modalverben dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen sind so genannte Präteritopräsentia. Ihre Indikativ-Präsens-Formen sind (mit Ausnahme von wollen) dadurch entstanden, dass die ursprünglichen starken Präteritumformen zu Präsensformen umgedeutet wurden. Das Präteritum bilden diese Verben mit dem Präteritalmorphem te der schwachen Verben. Die Bildung des Präteritums von sollen und wollen unterscheidet sich nicht vom Präteritum der schwachen Verben, weder im Indikativ noch im Konjunktiv, das heißt, die Indikativ- und Konjunktivformen sind homonym.
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Präteritum
Die Modalverben dürfen, können, mögen und müssen haben im Infinitiv (und im Plural des Präsens) einen umgelauteten Stammvokal. Im Indikativ des Präteritums ist der Stammvokal jeweils die nicht umgelautete Entsprechung (dürfen – durfte, können – konnte, mögen – mochte, müssen – musste; bei mögen zusätzlich Konsonantenwechsel). Wie bei den starken Verben wird im Konjunktiv der Stammvokal des Präteritums umgelautet (durfte – dürfte, konnte – könnte, mochte – möchte, musste – müsste). Als Konsequenz weist der Konjunktiv Präteritum bei diesen Verben denselben Vokal auf wie der Infinitiv. Zu den Präteritopräsentia gehört neben den genannten sechs Modalverben das Vollverb wissen. Anders als die Modalverben hat wissen im Präteritum einen vom Präsens verschiedenen Stammvokal (wissen – wusste). Im Konjunktiv wird dieser umgelautet (wusste – wüsste). Das Verb brauchen ist ursprünglich ein schwach flektiertes Vollverb. Brauchen mit Infinitiv hat jedoch im heutigen Deutsch die Bedeutung eines Modalverbs (genauer nicht brauchen als Negation von müssen) und es schließt sich zunehmend auch morphologisch den Modalverben an. Im Präteritum ist dies an der Bildung des Konjunktivs zu erkennen: Die ursprüngliche (schwache) Konjunktivform brauchte wird im Gegenwartsdeutschen zunehmend (auch im Geschriebenen) durch die umgelautete Form bräuchte ersetzt, analog zu den umgelauteten Konjunktivformen dürfte, könnte, möchte und müsste. 7
Hilfsverben
Das Hilfsverb haben gehört zu den schwach flektierten Verben, weist allerdings gewisse Unregelmäßigkeiten auf. Der Stammvokal des Präteritum Indikativ ist durchgängig kurz (gegenüber teilweise langem a im Präsens), das stammauslautende b des Präsensstammes ist im Präteritum mit dem Suffix te assimiliert, geschrieben werden die Präteritumformen mit tt. Anders als bei den regelmäßigen schwachen Verben werden die Konjunktivformen umgelautet (hatte – hätte). Das Hilfsverb sein hat im Präteritum den Suppletivstamm war. Die Formen mit war verhalten sich wie die Formen eines starken Verbs: Sie sind in der 1./3. Person Singular endungslos, und der Konjunktiv wird umgelautet (war – wäre). Das Hilfsverb werden gehört, wie die starken Verben, zu den ablautenden Verben, weist jedoch gewisse Unregelmäßigkeiten auf. Der Präteritumstamm endet, anders als bei den starken Verben, auf e (wurde-, wurde-st, wurde-n,
Präteritum
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wurde-t). Wie bei den starken Verben wird der Konjunktiv umgelautet (wurde – würde). Die Tatsache, dass alle Hilfsverben (durch den Umlaut) im Präteritum in allen Personen vom Indikativ verschiedene Konjunktivformen haben, ist von höchster Bedeutung für das gesamte Tempus-Modus-System des Deutschen. Da nämlich das Plusquamperfekt mit dem Präteritum von haben bzw. sein gebildet wird, unterscheiden sich im Plusquamperfekt Indikativ und Konjunktiv in allen Personen. Damit wird eine Umschreibung mit würde zur Markierung des Konjunktivs überflüssig: Er hätte es gemacht ist eindeutig Konjunktiv, eine Konstruktion wie Er würde es gemacht haben ist nicht erforderlich – anders als im Präteritum, wo zur Verdeutlichung des Konjunktivs in der Regel die Konstruktion Er würde es machen gewählt wird. Durch den Konjunktiv-Umlaut beim Passivhilfsverb werden (wurde – würde) sind auch im Präteritum Passiv alle Formen eindeutig indikativisch oder konjunktivisch, auch hier ist eine Umschreibung mit dem würde-Konjunktiv überflüssig. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass im Konjunktiv im Aktiv alle Verbformen (mit Ausnahme des [seltenen] Futur II) maximal zweigliedrig sind (Präsens mache [ersetzbar durch machte oder würde machen], Präteritum machte oder würde machen, Perfekt habe gemacht [ersetzbar durch hätte gemacht], Plusquamperfekt hätte gemacht, Futur I werde machen [ersetzbar durch würde machen]), im Passiv alle Präteritalformen (Indikativ wurde gemacht, Konjunktiv würde gemacht). Anders gesagt: Durch den Umlaut der Hilfsverben im Präteritum Konjunktiv wird es ermöglicht, die Verbformen so lange wie möglich zweigliedrig zu halten. 8
Zur Semantik des Präteritums
Das Präteritum hat die Funktion, einen Sachverhalt in der Vergangenheit, d. h.zeitlich vor dem Äußerungszeitpunkt zu situieren. Dabei ist es (wie sonst auch) unerheblich, ob reale oder fiktive Sachverhalte geschildert werden. Auch bei fiktiven Erzählungen (etwa im Roman) bewirkt das Präteritum immer, dass beim Hörer oder Leser der Eindruck erweckt wird, dass von Vergangenem die Rede ist. Selbst ein Zukunftsroman, der im Präteritum geschrieben ist, wird so verstanden, dass der Erzähler auf die geschilderten Ereignisse zurückblickt. Das Präteritum gilt als das Tempus der Erzählung, des Erzählens. Es ist sogar die Auffassung vertreten worden, das Präteritum habe die Funktion, dem Hörer zu signalisieren, dass der Sprecher erzählt (und nicht berichtet) (Weinrich 2001). Mit dem Präteritum bezieht man sich auf Sachverhalte, „die durch Temporaladverbialien oder den allgemeinen Zusammenhang einer bestimmten
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Präteritum
Zeit in der Vergangenheit zugewiesen werden“ (Duden 2005: 517). Eine Äußerung wie Es schneite ist isoliert kaum interpretierbar. Sie ist nur möglich in einem Kontext wie Gestern konnte ich nicht aus dem Haus oder als Antwort auf eine Frage wie Wie war das Wetter gestern?, das heißt, die Verwendung des Präteritums verlangt, dass der Hörer eine Zeit bzw. einen Zeitraum identifizieren kann, für die bzw. für den das Gesagte gilt. Hierin unterscheidet sich das Präteritum vom Perfekt: Die Äußerung Es hat geschneit kann auch ohne Bezug auf eine spezifizierte Zeit verstanden werden, etwa als eine Information, dass jetzt Schnee liegt. Situierung eines Sachverhalts in der Vergangenheit bedeutet nicht, dass der Sachverhalt in der Vergangenheit abgeschlossen ist (so noch Duden 1998: 150), wie die folgenden Sätze zeigen. (9) Es war kalt. (10) Er hieß Alexander. (11) Wir wohnten in Windhagen, das im Westerwald lag. Zu (9) schreibt Löbner (1988: 168): „Solche Sätze implizieren nicht, daß der besagte Zustand nicht mehr herrscht. [(9)] könnte z.B. eine Antwort auf die Frage sein, wie die Temperatur in Oslo war, als X letzte Woche dort eintraf. Und X könnte, auf die Frage, ob es immer noch kalt sei, mit ‚Ja‘ antworten, ohne seine vorherige Aussage richtigstellen zu müssen.“ Entsprechend kann (10) eine Antwort auf die Frage sein, wie der Name einer bestimmten Person war, ohne dass (10) implizieren würde, dass dieser Name sich geändert hätte. Und (11) bedeutet selbstverständlich nicht, dass der genannte Ort zum Sprechzeitpunkt nicht mehr im Westerwald liegt (vgl. Thieroff 1992: 113–116). Während das Präteritum dazu dient, vergangene Ereignisse zu schildern, wird das Perfekt ursprünglich dann benutzt, wenn ein direkter Bezug zur Gegenwart des Sprechers besteht. Die Sätze in (12) bis (19) illustrieren die unterschiedliche Verwendung der beiden Tempora. (12) (13) (14) (15) (16)
Als ich in Frankreich war, aß ich sehr gerne Froschschenkel. Ich arbeitete das ganze Buch durch, als ich an meiner Dissertation saß. Der Papst starb im Jahre 2005. Das Kind schlief in den ersten Monaten immer sehr spät ein. Hast du (je) Froschschenkel gegessen? (und weißt wie Froschschenkel schmecken?) (17) Jetzt habe ich das ganze Buch durchgearbeitet (und sollte in der Lage sein, die Prüfung zu bestehen). (18) Der Papst ist gestorben! (Es muss ein neuer Papst gewählt werden.) (19) Das Kind ist eingeschlafen (und schläft jetzt).
Präteritum
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Im heutigen Deutsch ist die Funktionstrennung von Präteritum und Perfekt so jedoch nicht mehr gegeben. Während es nicht möglich ist, in (16) bis (19) das Perfekt durch das Präteritum zu ersetzen, kann in (12) bis (15) anstelle des Präteritums auch das Perfekt stehen. Besonders im Gesprochenen wird das Präteritum zunehmend durch das Perfekt ersetzt (siehe Abschnitt 9). Mit der Entwicklung zum überwiegenden Gebrauch des Perfekts geht einher, dass das Präteritum zunehmend zu einem Tempus der geschriebenen Sprache wird und dass es als einer höheren Stilebene angehörig wahrgenommen wird: „Auch sonst […] ist das Perfekt volkstümlicher und üblicher, was dem Präteritum einen besonderen Ausdruckswert verleiht. Es wirkt, besonders wenn es offensichtlich im Anwendungsbereich des Perfekts gebraucht wird, archaisch-monumental“ (Erben 2000: 97), so in der von Erben (ebd.) zitierten Zeitungsüberschrift Ein großer Lateiner starb. Diese Verwendung des Präteritums anstelle des eigentlich korrekten Perfekts (siehe (18)) wird als Ästhetenpräteritum bezeichnet. Eine besondere Verwendung des Präteritums liegt in Sätzen wie (20) bis (22) vor. (20) Wer bekam das Schnitzel? (21) Wie war doch Ihr Name? (22) Wer war hier ohne Fahrschein? In (20) bis (22) kann das Präteritum durch das Präsens ersetzt werden. Hentschel/Weydt (2003: 112) erklären diesen Gebrauch des Präteritums damit, dass der Sprecher „gedanklich einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt einnimmt“, dass er markiert, „dass die Information bereits in der Vergangenheit gegeben wurde“ und „dass die Frage nur aufgrund der Unzulänglichkeit des eigenen Gedächtnisses gestellt wird“. Das Präteritum dient hier also zur Markierung von Höflichkeit, eine Funktion, die sich auch in vielen anderen europäischen Sprachen findet (vgl. Thieroff 1999). In der so genannten erlebten Rede und dem inneren Monolog signalisiert das Präteritum zugleich Vergangenheit (aus der Perspektive des Erzählers) und Gegenwart oder Zukunft (aus der Perspektive der Romanfigur). In der folgenden Passage aus „Tonio Kröger“ von Thomas Mann beziehen sich die ersten vier Vorkommen des Präteritums auf Tonios Zukunft, das letzte Vorkommen auf seine Gegenwart (vgl. Thieroff 2003: 10–19). (23) Es kam der Tag, wo er berühmt war, wo alles gedruckt wurde, was er schrieb […] … Es würde keinen Eindruck machen, nein, das war es ja.
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Präteritum
Bei der Markierung von Höflichkeit (wie in (20) bis (22)) und in der erlebten Rede/dem inneren Monolog (wie in (23)) ist der Ersatz des Präteritums durch das Perfekt ausgeschlossen. 9
Präteritumschwund
In der gesprochenen Sprache scheint das Präteritum langsam, fortschreitend von Süden nach Norden zu schwinden, es wird zunehmend durch das Perfekt ersetzt. In den oberdeutschen Dialekten (alemannisch-schwäbisch, bairisch-österreichisch) war dieser Schwund bereits Ende des 16. Jahrhunderts weitgehend vollzogen (Lindgren 1957). Im Schweizerdeutschen sind keinerlei Spuren des Präteritums erhalten (Jörg 1976: 183), im Bairisch-Österreichischen existiert nur noch das Präteritum des Hilfsverbs sein. Nach Lindgren (1957: 44) verläuft die so genannte Präteritumschwundlinie, südlich derer das Präteritum in den Dialekten nicht vorkommt, von Trier über Frankfurt nach Plauen, doch ist es wahrscheinlich, dass diese Linie heute weiter nördlich anzusetzen ist. Genaue Untersuchungen über das aktuelle Vorkommen des Präteritums im heutigen gesprochenen Deutsch stehen noch aus. Über die Ursachen für den oberdeutschen Präteritumschwund gibt es eine Reihe von Vermutungen. Eine häufig vertretene Erklärung ist, dass im Oberdeutschen auslautendes Schwa apokopiert wurde, was zu einem lautlichen Zusammenfall von Präsens- und Präteritumformen bei den schwachen Verben geführt hat. Schon Lindgren (1957: 120) weist allerdings darauf hin, dass dieser Zusammenfall lediglich die 3. Person Singular betroffen hat (er sagt vs. er sagt’). Andere Thesen nennen die Doppeldeutigkeit der Präteritalformen der schwachen Verben, bei denen sich Indikativ und Konjunktiv nicht unterscheiden lassen; eine allgemeine Tendenz zur Reduktion von Formenvielfalt; die Vermeidung von Synonymen, da Präteritum und Perfekt sich kaum in ihrer Bedeutung unterschieden; eine allgemeine Entwicklungstendenz von synthetischen zu analytischen Formen; die starke Tendenz des Deutschen zur Verbklammer; fremdsprachlichen Einfluss (vgl. Abraham/ Conradie 2001: 130–136). Die meisten Thesen sind wenig überzeugend, da die entsprechenden Faktoren ebenso auf die nördlichen Varietäten des Deutschen und auf benachbarte Sprachen zutreffen, wo ein Schwund des Präteritums nicht zu verzeichnen ist. Wie in den oberdeutschen Dialekten, so ist das Präteritum auch im Ungarischen gänzlich geschwunden. Dem deutschen (bzw. germanischen) Präteritum entsprechen in den romanischen und den slawischen Sprachen zwei Tempora, der Aorist und das Imperfekt. Im Französischen ist der Aorist (das
Präteritum
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passé simple) so gut wie vollständig aus der gesprochenen Sprache verschwunden und durch das Perfekt (passé composé) ersetzt, der Aorist ist auf die geschriebene Sprache beschränkt. In den norditalienischen Dialekten ist der Aorist (passato remoto) ebenfalls zur Gänze geschwunden. Der „AoristSchwund“ breitet sich hier auf dieselbe Weise von Norden nach Süden aus wie im Deutschen der Präteritumschwund von Süden nach Norden, der Aorist wird zunehmend durch das Perfekt (passato prossimo) ersetzt (vgl. Squartini/Bertinetto 2000). Dieselbe Entwicklung ist auch im Rumänischen zu beobachten, wo der Aorist gleichfalls zunehmend durch das Perfekt ersetzt wird, und im Albanischen. In den genannten Sprachen (Französisch, Italienisch, Rumänisch, Albanisch) liegt also eigentlich kein Präteritumschwund, sondern ein Aoristschwund vor: Der Aorist wird durch das Perfekt ersetzt, während das Imperfekt erhalten bleibt. Anders verläuft die Entwicklung hingegen in den slawischen Sprachen. In den nordslawischen Sprachen (Russisch, Weißrussisch, Ukrainisch, Polnisch, Tschechisch, Slowakisch) hat das ursprüngliche Perfekt sowohl den Aorist als auch das Imperfekt vollständig verdrängt, das ursprüngliche Perfekt ist das einzige verbliebene Vergangenheitstempus, von Aorist und Imperfekt sind keinerlei Spuren geblieben. Dies gilt auch für das (südslawische) Slowenisch. Während diese Entwicklung schon länger abgeschlossen ist, kann sie aktuell im Kroatischen und Serbischen beobachtet werden. Auch hier sind sowohl der Aorist als auch das Imperfekt weitgehend auf das Geschriebene beschränkt und im Gesprochenen durch das Perfekt ersetzt. Insgesamt ergibt sich so ein zusammenhängendes Gebiet, in dem das Präteritum (Deutsch, Ungarisch), der Aorist (Französisch, Italienisch, Rumänisch, Albanisch) oder Aorist und Imperfekt (Kroatisch, Serbisch) schwinden und durch das Perfekt ersetzt werden (Thieroff 2000: 282–286). Literatur Abraham, Werner/Conradie, C. Jac (2001): Präteritumschwund und Diskursgrammatik. Präteritumschwund in gesamteuropäischen Bezügen: areale Ausbreitung, heterogene Entstehung, Parsing sowie diskursgrammatische Grundlagen und Zusammenhänge. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins. Andersson, Erik (1994): „Swedish“. In: König, Ekkehard/van der Auwera, Johan (Hrsg.): The Germanic Languages. London/New York, Routledge: 271–312. (= Routledge language family descriptions). Askedal, John Ole (1994): „Norwegian“. In: König, Ekkehard/van der Auwera, Johan (Hrsg.): The Germanic Languages. London/New York, Routledge: 219–270. (= Routledge language family descriptions). Dudenredaktion (Hrsg.) (1998): Duden. Die Grammatik. 6., neu erarbeitete Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4). Dudenredaktion (Hrsg.) (2005): Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (= Duden 4).
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Präteritumschwundlinie, auch: Präteritumsgrenze
Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 1: Das Wort. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart/Weimer: Metzler. Engel, Ulrich (2004): Deutsche Grammatik. Neubearbeitung. München: iudicium. Erben, Johannes (2000): Deutsche Grammatik. Ein Abriß. 12. Auflage. 6. Druck. Ismaning: Hueber. Flämig, Walter (1991): Grammatik des Deutschen. Einführung in Struktur und Wirkungszusammenhänge. Berlin: Akademie-Verlag. Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (2007): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 6. Nachdruck. Berlin u. a.: Langenscheidt. Hentschel, Elke/Weydt, Harald (2003): Handbuch der deutschen Grammatik. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin/New York: de Gruyter. (= de Gruyter Studienbuch). Jörg, Ruth (1976): Untersuchungen zum Schwund des Präteritums im Schweizerdeutschen. Bern: Francke. (= Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 52). Klooster, Wim (2001): Grammatica van het hedendaags Nederlands. Een volledig overzicht. Den Haag: Sdu. Kress, Bruno (1982): Isländische Grammatik. Leipzig: Enzyklopädie. Lindgren, Kaj B. (1957): Über den oberdeutschen Präteritumschwund. Helsinki: Akateeminen kirjakauppa/Wiesbaden: Harrassowitz. (= Suomalaisen Tiedeakatemian toimituksia. Sarja B = Series B 112,1). Löbner, Sebastian (1988): „Ansätze zu einer integralen semantischen Theorie von Tempus, Aspekt und Aktionsarten“. In: Ehrich, Veronika/Vater, Heinz (Hrsg.): Temporalsemantik. Beiträge zur Linguistik der Zeitreferenz. Tübingen, Niemeyer: 163–191. (= Linguistische Arbeiten 201). Nielsen, Calmar (1986): Kurzgefaßte dänische Grammatik. 5., unveränderte Auflage. Flensburg: Skandia-Verlag Sørensen. Squartini, Mario/Bertinetto, Pier Marco (2000): „The Simple and Compound Past in Romance Languages“. In: Dahl, Östen (2000) (Hrsg.): Tense and Aspect in the Languages of Europe. Berlin/New York, Mouton de Gruyter: 403–439. (= Empirical approaches to language typology 20. Eurotyp 6). Thieroff, Rolf (1992): Das finite Verb im Deutschen. Tempus–Modus–Distanz. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Grammatik 40). Thieroff, Rolf (1999): „Preterites and Imperfects in the Languages of Europe“. In: Abraham, Werner/Kulikov, Leonid (Hrsg.): Tense-Aspect, Transitivity and Causativity. Essays in honour of Vladimir Nedjalkov. Amsterdam/Philadelphia, Benjamins: 141–161. (= Studies in language companion series 50). Thieroff, Rolf (2000): „On the Areal Distribution of Tense-Aspect Categories in Europe“. In: Dahl, Östen (2000) (Hrsg.): Tense and Aspect in the Languages of Europe. Berlin/New York, Mouton de Gruyter: 265–305. (= Empirical approaches to language typology 20. Eurotyp 6). Thieroff, Rolf (2003): „Tense and Future Time Reference in German Free Indirect Discourse“. In: Tammi, Pekka/Tommola, Hannu (Hrsg.): Linguistic and Literary Aspects of Free Indirect Discourse from a Typological Perspective. Tampere, University of Tampere: 9–24. (= Publications of the Department of Literature and the Arts. FID Working Papers 1). Wahrig (2003): Fehlerfreies und gutes Deutsch. Das zuverlässige Nachschlagewerk zur Klärung sprachlicher Zweifelsfälle. Gütersloh/München: Wissen Media. (= Wahrig 5). Weinrich, Harald (2001): Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6., neu bearbeitete Auflage. München: Beck.
Rolf Thieroff u Präteritumschwundlinie; auch: Präteritumsgrenze Südlich einer Linie, die sich von Trier über Frankfurt nach Plauen erstreckt, ist das Präteritum seit Ende des 16. Jahrhunderts in den Dialekten und
privativer Genitiv
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teilweise bis in die Literatursprache (etwa bei Johann Peter Hebel) geschwunden. → Präteritum u privativer Genitiv (von lat. privare ‚berauben‘) Genitive, die als Objekt nach Verben wie bedürfen oder ermangeln stehen, die das Fehlen, die Abwesenheit von etwas ausdrücken, werden ebenso wie die heute eher als archaisch empfundenen Objektsgenitive nach Verben wie berauben als privative Genitive bezeichnet. → Genitiv u Progressiv 1
Einleitung
Im Deutschen bildet die Konstruktion vom Typ am Arbeiten sein eine morphosyntaktisch selbstständige, verbale Form und ist als Progressivkonstruktion oder Verlaufsform zu betrachten, das heißt als systematisch bildbare Verbalform mit Progressivfunktion. Ihr lexikalischer Kern besteht aus einem substantivierten Infinitiv, der mit Hilfe der mit dem bestimmten Artikel verschmolzenen Präposition an mit dem Verb sein verbunden wird. Im Vergleich zu den übrigen Verbalformen des Deutschen ist im Gebrauch des Progressivs mit wesentlichen syntaktischen Einschränkungen zu rechnen, die regional und je nach Stilebene variieren, so dass der Progressiv im Deutschen nur ansatzweise als Verbalkategorie entwickelt ist und innerhalb des Verbalsystems eine periphere Stellung einnimmt. Dies hängt auch damit zusammen, dass der deutsche Progressiv die einzige Verbform im Aspektbereich ist und als solche keinen eindeutigen Oppositionspartner hat, denn die einfachen, nicht-progressiven Verbformen (des Präsens, Präteritums usw.) haben keine aspektuelle Bedeutung und können den Progressiv jederzeit ersetzen. Das heißt praktisch, dass der Progressiv in keinem Kontext obligatorisch ist. Außerdem hat der Progressiv in vielen Varietäten eine sehr niedrige Frequenz, obwohl überall im Sprachgebrauch die Tendenz eindeutig steigend ist. Der Progressiv wurde lange Zeit als regionale Erscheinung betrachtet, insbesondere als „rheinische Verlaufsform“ (vgl. Brons-Albert 1984), aber seit den 90er Jahren haben Forscher zunehmend darauf hingewiesen, dass er ebenfalls in anderen, vor allem aber auch in überregionalen Varietäten des Deutschen vorkommt (dies betont vor allem Rödel 2003: 97 f. und 2004a: 139; vgl. unter anderem auch Ebert 1996, Reimann 1998 und Klosa 1999; knappe Hinweise finden sich bereits bei Sütterlin 1924: 464 und Curme
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Progressiv
1922/1977: 380). Charakteristisch für den Wandel in der Betrachtungsweise sind die Neuauflagen maßgeblicher Grammatiken, die seit einigen Jahren den Progressiv nicht nur öfter erwähnen, sondern ihn auch zur Standardsprache oder zumindest zur überregionalen Umgangssprache rechnen (z. B. Duden 2005: 434 und Eisenberg 2006: 200, 296; auch bereits in den jeweiligen Auflagen dieser Grammatiken Ende der 90er Jahre). Allerdings beschränken sie sich auf ein paar knappe Bemerkungen, oft mit dem Hinweis, dass sich die Form in einem Grammatikalisierungsprozess befinde oder sich schnell ausbreite; viele Grammatiken weisen jedoch nach wie vor überhaupt nicht auf den Progressiv hin (z. B. Götze/Hess-Lüttich 1999/2005; Engel 2004). Fox (2005: 199) meint, das Deutsche „does not have the progressive aspect“. Die Ursache für die oftmals kurze oder gar fehlende Darstellung des Progressivs liegt wohl hauptsächlich in seiner peripheren Stellung im deutschen Verbalsystem, insbesondere in den traditionell überregionalen und standardisierten Varietäten, an denen sich vor allem ältere, aber auch noch viele moderne Grammatiken orientieren. Der deutsche Progressiv ist mit Sicherheit nicht erst im Gegenwartsdeutsch entstanden; in der klassischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sind mehrfach Beispiele zu finden, und zumindest ähnliche Strukturen sind bereits im 16. Jahrhundert bezeugt (vgl. Rödel 2004a: 141 und Van Pottelberge 2004: 233 f.). 2
Formale Merkmale und Abgrenzung
Der Progressiv ist eine selbstständige grammatische Form und keineswegs eine Gelegenheitsbildung, wie man vielleicht aus den spärlichen Bemerkungen in Grammatiken schließen könnte. Es sind distinktive morphosyntaktische Merkmale vorhanden, die zur Fixierung dieser periphrastischen Konstruktion beitragen und sie von strukturell verwandten Verb-SubstantivVerbindungen oder Präpositionalphrasen abheben. Das ausschlaggebende Merkmal ist die fixierte am-Phrase (mit nicht-räumlicher Bedeutung), die nur mit substantivierten Infinitiven ausgefüllt werden kann und daher auf einen einzigen, zudem hochproduktiven morphologischen Substantivtyp beschränkt ist. Das heißt, dass andere Substantivtypen (auch wenn es sich um deverbale Nomen handelt) grundsätzlich unmöglich sind, mit Ausnahme von einer beschränkten Reihe idiomatisch festgelegter Konstruktionen, wie an der Arbeit sein, am Werk sein, die eine deverbative Nullableitung enthalten. Außerdem ist der bestimmte Artikel sowie seine Verschmelzung mit der Präposition festgelegt und der substantivierte Infinitiv der am-Phrase kann im Prinzip nicht durch ein Attribut erweitert werden. Diese Fixierung der
Progressiv
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am-Phrase macht den Progressiv zu einer von der normalen Syntax unabhängigen Konstruktion. Wesentliche Merkmale hat der Progressiv von seinem Hauptbestandteil, dem substantivierten Infinitiv (auch „Infinitivkonversion“ genannt; Fleischer/Barz 2007: 211 f.), ererbt. Sie stellen im Grunde keine Sondermerkmale des Progressivs dar, weil der substantivierte Infinitiv diese Merkmale in jeder syntaktischen Verbindung aufweist, sie tragen aber entscheidend zur Fixierung und vor allem zur Produktivität der Progressivkonstruktion bei: x
x
x
Die „unbeschränkte Anwendbarkeit des Musters“ (Motsch 2004: 331): Der Infinitiv jedes Verbs kann ohne morphologische Beschränkungen substantiviert werden. Bereits vorhandene, lexikalisierte deverbale Ableitungen blockieren die Bildung eines substantivierten Infinitivs nicht. Allerdings ist im Progressiv in allen Varietäten mit mehr oder wenig zahlreichen semantisch bedingten Blockierungen und mit idiomatischen Präferenzen zu rechnen (siehe Abschnitt 3). Es ist immer eine Gelegenheitssubstantivierung mit einem transparenten semantischen Ableitungsverhältnis zum lexikalischen Verb denkbar; überhaupt lexikalisiert der substantivierte Infinitiv nur selten. Der substantivierte Infinitiv entzieht sich „typischen Individuativeigenschaften“ (Vogel 1996: 248): Er wird nur selten mit dem unbestimmten Artikel benutzt und ist nicht pluralisierbar. (Eine Ausnahme bilden allerdings die lexikalisierten Bildungen für konkrete Gegenstände, z. B. das/ die Schreiben im Sinne von ‚Brief‘.)
Aus den formalen Merkmalen geht hervor, dass der Progressiv in einem engen Verhältnis zum substantivierten Infinitiv steht und auf dem weitgehenden Abbau substantivischer Merkmale beruht, der bereits im substantivierten Infinitiv als untypischem Substantiv vorgeprägt ist (vgl. Rödel 2004a: 142). Auch die Bedeutung des Progressivs ist mit derjenigen des substantivierten Infinitivs als Ableitungsmusters eng verwandt (siehe Abschnitt 3). Die morphosyntaktische Fixierung und die morphologisch unbeschränkte und semantisch transparente Produktivität machen den Progressiv zu einer periphrastischen Verbalform, die potenziell zu jedem Verb gebildet werden kann. Damit wäre die am-Phrase nach dem Beispiel der übrigen periphrastischen Verbformen des Deutschen als infinite Verbform zu betrachten, aber gleichwohl ist mit zwei (recht niederfrequenten) substantivischen Ausbaumöglichkeiten zu rechnen, nämlich Genitivattributen und vor allem der Substantivierung ganzer Infinitivphrasen; auf beide ist unten noch ausführlich zurückzukommen. In einigen nicht-standardsprachlichen Varietäten kommt noch ein beson-
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Progressiv
deres formales Merkmal hinzu, nämlich die Fähigkeit des Progressivs, direkte Objekte zu regieren, etwa er ist ein Buch am Lesen. In dem Fall sind nicht nur die substantivische Konstruktionsmöglichkeiten eingeschränkt, sondern die Valenz ist durch das entsprechende Verb bedingt, was wesentliche substantivische Restriktionen durchbricht. 3
Bedeutung
Die grammatische Bedeutung des Progressivs ist aspektueller Art und lässt sich in allgemeiner Form als ‚im Verlauf befindlich‘ definieren. In verschiedenen Sprachen in Europa sind Formen mit analogen Aspektfunktionen bekannt (z. B. frz. être en train de, ital. stare + Gerundium; vgl. Bertinetto u. a. 2000; Ebert 2000; Groenke 1993) und in vielen kontinental-westgermanischen Sprachen sind sie auch formal verwandt (niederl. aan het lezen zijn; westfries. oan it iten wêze; vgl. Van Pottelberge 2004). Eine genaue Definition, die insbesondere die Bedeutung des deutschen Progressivs beschreibt, steht jedoch noch aus und wird vonseiten der Forschung nicht als dringende Aufgabe empfunden. Häufig verweist man generell auf die Tendenz, immer mehr Verben und Verbverwendungen im Progressiv zu benutzen, und zwar als Teil eines Grammatikalisierungsprozesses, der sich aus einem Vergleich mit dem englischen Progressiv oder (weiter fortgeschrittenen) Progressivformen in anderen Sprachen rekonstruieren lässt (z. B. Ebert 2000; Krause 2002). Dieser diachrone „Prozess“ definiert jedoch keine synchrone Bedeutung. Die Beschreibung der Bedeutungsstrukturen sollte sich in erster Linie an den tatsächlichen Verwendungsmöglichkeiten und -restriktionen orientieren und erklären, warum bestimmte Verben nicht mit dem Progressiv kombiniert werden können. Varietäten, in denen der Progressiv formal stärker ausgeprägt und häufiger ist, erlauben auch mehr Verbbedeutungstypen, was impliziert, dass die Bedeutung des Progressivs streng genommen je nach Varietät unterschiedlich ausfällt. In den überregionalen Varietäten ist die Bedeutung als ‚zeitlich abgegrenzter und in den Vordergrund gebrachter Verlauf‘ zu definieren, und zwar im Gegensatz zu einer denkbaren (aber eben nicht gemeinten) allgemeinen Gültigkeit der Verbalhandlung oder zu einer unbegrenzten Dauer. Der Progressiv expliziert zwar auf keinen Fall eine spezifische Beginn- oder Endphase der Verbalhandlung, setzt sie jedoch sehr wohl voraus und stellt den Verlauf als Zeitblock dar. In der Forschung wird dies mit „Binnenperspektivierung“ (Zifonun u. a. 1997: 1877) oder Darstellung „von innen her“ (Krause 2002: 20) umschrieben. Durch die Merkmale ‚abgegrenzt‘ und ‚im Vordergrund‘ hebt der Progressiv die Aktualität des Verlaufs hervor, die im Verhältnis zu
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einem explizierten oder vorausgesetzten Augenblick relevant ist. Die Merkmale ‚abgegrenzt‘ und ‚im Vordergrund‘ erklären zusammen, warum beispielsweise am Schlafen sein sowohl in regionalen als auch in standardnahen Varietäten vorkommt, während in keiner Varietät des Deutschen etwa die Verlaufsformen *am Liegen sein oder *am Bleiben sein möglich sind. Zwar bringen liegen und bleiben genauso wie schlafen eine bestimmte Dauer zum Ausdruck, die auch durchaus im Vordergrund stehen kann, jedoch nicht gleichzeitig als begrenzter Zeitblock. Die semantischen Selektionsmerkmale des Progressivs sind in dieser Hinsicht mit der Präposition während verwandt, die ebenfalls mit substantivierten Infinitiven kombiniert werden kann, wobei während des Lesens denkbar ist, jedoch nicht *während des Bleibens, weil auch während einen Verlauf als hervorgehobenen und begrenzten Zeitblock voraussetzt. Die Bedeutung des Progressivs ist spezifischer als die Bedeutung seines Hauptbestandteils, des substantivierten Infinitivs, auch wenn diesem manchmal eine Art von Vorgangsbedeutung oder „Prozeßbezeichnung“ (Fleischer/Barz 2007: 212) zugesprochen wird. Das geht unter anderem daraus hervor, dass alle Verben und Verbbedeutungen im Infinitiv substantiviert, jedoch nicht alle im Progressiv benutzt werden können. So ist das Liegen unproblematisch, *am Liegen sein hingegen in allen Varietäten des Deutschen ausgeschlossen. Der substantivierte Infinitiv steht dem Infinitiv sehr nahe und stellt die Verbalhandlung als Vorgang dar, ohne Rücksicht auf einen spezifischen Augenblick oder eine zeitliche Begrenzung. Der substantivierte Infinitiv impliziert keinen wie auch immer thematisierten Augenblick und bleibt gegenüber jeglicher zeitlichen Begrenzung indifferent, während der Progressiv einen aktuellen Augenblick und eine Begrenzung des Verlaufs voraussetzt. Gerade hier liegt die Rolle der Präposition an und des (Hilfs-)Verbs sein, die den durch den substantivierten Infinitiv ausgedrückten Vorgang zeitlich fixieren, das heißt als Block im Zeitkontinuum ansiedeln. Kennzeichnend für die Bedeutungsstruktur des deutschen Progressivs ist wie gesagt, dass aspektuelle Oppositionspartner fehlen (vgl. Zifonun u. a. 1997: 1878; Glück 2001: 81; Rödel 2003: 99; anders aber Leiss 2000: 213, die dabei an perfektive Nominalisierungsverbgefüge denkt). Das heißt, dass der Progressiv als eigenständige Verbalform bemerkenswerterweise in kein grammatisches Paradigma integriert ist. Mitglieder eines Paradigmas bilden eine direkte Opposition und somit eine Reihe sich gegenseitig ausschließender Auswahlmöglichkeiten (Näheres zum Begriff Paradigma in Coseriu 1988: 145). Der natürliche Oppositionspartner des Progressivs in einem solchen Paradigma wären die einfachen Tempusformen, die wir hier mangels
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einer etablierten Bezeichnung einfach „Nicht-Progressiv“ nennen. Nun kann aber der Nicht-Progressiv unter allen Umständen grundsätzlich den Progressiv ersetzen, so dass keine sich gegenseitig ausschließende Opposition vorliegt, man vergleiche (1) mit (2): (1) Ich bin noch immer am suchen [sic], welche Bank mir am besten gefällt. (IDS-Cosmas, Frankfurter Rundschau, 24. 03. 98) (2) Ich suche immer noch, welche Bank mir am besten gefällt. Für den Verlauf einer Verbalhandlung sind beide Formen verwendbar, nur ist der Progressiv in dieser Hinsicht explizit und signalisiert den Verlauf, während der Nicht-Progressiv hingegen implizit ist, das heißt eine Signalisierung des Verlaufs ist nicht vorhanden. Den Verlaufscharakter kann man nur aus dem Kontext herleiten (z. B. mit der Spezifikation immer noch in (2)). Der Nicht-Progressiv deckt also auch den Bereich des Progressivs ab und stellt sich daher als die neutrale oder merkmallose Form der beiden heraus. Folglich ist der Progressiv in keinem Kontext obligatorisch (vgl. Ebert 1996: 45; anders aber Rödel 2003: 97). Wichtig ist zu betonen, dass der Nicht-Progressiv das Fehlen des Verlaufscharakters bei einer Verbalhandlung ebenso wenig signalisiert. 4
Alternative Ausdrucksmöglichkeiten, die jedoch kein Progressiv sind
Sowohl in der Forschung als auch in Grammatiken werden häufig Alternativen für die Progressivkonstruktion mit am zitiert. Meist handelt es sich um Konstruktionen, in denen ein substantivierter Infinitiv mittels im oder beim mit dem Verb sein verbunden ist, etwa im Sinken sein bzw. beim Essen sein, oder um die präpositionale Konstruktion mit begriffen, beispielsweise im Steigen begriffen sein. Außerdem ist der standardsprachliche Charakter dieser Alternativen unumstritten, so dass sie manchem Autor als stilistisch korrekter erscheinen (z. B. betrachten Helbig/Buscha 2001: 80 die beim-Konstruktion als „stärker akzeptiert“). Um den Progressiv von solchen Alternativen zu unterscheiden, wird daher manchmal die Bezeichnung „am-Progressiv“ benutzt. Die drei zitierten Alternativen sind jedoch keine periphrastischen Verbalformen, das heißt sie stellen keinen gleichwertigen, grammatisch produktiven Progressiv und demzufolge auch keine Konkurrenzformen im eigentlichen Sinne dar, sondern lediglich Ausdrucksalternativen. Zwar bringen sie durchaus eine Handlung im Verlauf zum Ausdruck, aber im Gegensatz zum Progressiv sind sie meist nicht formal fixiert.
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Die begriffen-Konstruktion
Die begriffen-Konstruktion ist nur in dem Sinne eine selbstständige (d. h. von der üblichen Syntax unabhängige) Konstruktion, dass begriffen in in etwas begriffen sein als Perfektpartizip lexikalisiert ist. Hingegen ist die Ausfüllung dieses phraseologischen Schemas morphologisch frei, das heißt sie ist nicht auf bestimmte Formen beschränkt. Neben substantivierten Infinitiven kommen auch andere Substantivtypen (3) vor, und Attribuierungen sind unproblematisch (4): (3) Planchon spielt seit Monaten bereits nicht mehr in seinem Haus, das in langwierigem Umbau begriffen ist. (IDS-Cosmas, Limas-Corpus, Handelsblatt, 1971) (4) „Wenn sämtliche Möglichkeiten zur Pädagogisierung und Zähmung der Katastrophe durchgespielt und in ihrem notwendigen Scheitern begriffen sind“, orakelt Sloterdijk, „betreten wir den Boden einer panischen Kultur.“ (IDS-Cosmas, Die Zeit, 02. 01. 87) 4.2
Die beim-Konstruktion
Die nach zahlreichen Beispielen vom Typ beim Duschen sein, beim Putzen sein, beim Spielen sein usw. benannte „beim-Konstruktion“ ist ebenfalls keine eigenständige Progressivkonstruktion, sondern in Wirklichkeit nur eine spezifische Realisierung des Satzbauplans bei etwas sein. Er lässt neben substantivierten Infinitiven auch andere Substantivtypen zu und bezeichnet in dem Fall ebenfalls einen Verlauf: (5) „Wir haben noch keine konkreten Pläne, sondern sind noch bei der Bestandsaufnahme“, erklären die Eigentümer, die ungenannt bleiben wollen. (IDS-Cosmas, Berliner Morgenpost, 25. 05. 99) (6) Während Steiner über das Segeln spricht, lassen die ersten Teilnehmer der heute beginnenden Meisterschaften ihre Boote zu Wasser. Andere sind noch beim Aufbau. (IDS-Cosmas, St. Galler Tagblatt, 03. 09. 98) Die Bezeichnung „beim-Konstruktion“ ist also mehr oder weniger künstlich und legt zu Unrecht eine eigenständige Progressivkonstruktion nahe. Oft wird die Konstruktion mit vorausweisendem Pronominaladverb dabei sein, etwas zu tun isoliert betrachtet und als eine von der „beim-Konstruktion“ unabhängige Progressivform beschrieben (so bei Ebert 1996 und 2000, Krause 2002). Sie wird meist verkürzt „dabei-Konstruktion“ genannt, etwa (7):
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(7) Der Fahrer war dabei, ein Schneedepot anzulegen. (IDS-Cosmas, Tiroler Tageszeitung, 16. 02. 98) Dabei gibt es jedoch keinen Grund, diese pronominale Konstruktion von den Verwendungen mit einem substantivierten Infinitiv oder überhaupt vom Satzbauplan bei etwas sein zu trennen, denn sie entspricht der normalen Anwendung eines auf einen Infinitivsatz vorausweisenden Pronominaladverbs bei präpositionalen Satzmustern, man vergleiche beispielsweise das Verb freuen im Valenzmuster sich über etwas freuen in (8): (8) a. Er freut sich über den Neuanfang. b. Er freut sich darüber, einen Beitrag leisten zu können. Der Gebrauch von dabei + Infinitivsatz ist wohl in erster Linie syntaktisch motiviert (vgl. Krause 2002: 172), und nicht semantisch (wie Krause 1997: 64 meint). Die beim-Konstruktion (mit einem substantivierten Infinitiv) könnte nur mittels eines schwerfälligen Objektsgenitivs ein direktes Objekt zum Ausdruck bringen, während in eine Konstruktion mit dabei + Infinitivsatz problemlos jedes Objekt integriert werden kann. Aktionale Bedeutungsunterschiede zwischen beim- und dabei-Satzbildungen (wie sie Krause 1997 annimmt) sind wohl in erster Linie auf diesen syntaktischen Unterschied, insbesondere den aktionalen Unterschied zwischen transitiven (tendenziell perfektiv) und intransitiven Sätzen (tendenziell imperfektiv), zurückzuführen. 4.3
Die im-Konstruktion
Nur die im-Konstruktion bildet tatsächlich eine formal fixierte und daher eigenständige Konstruktion. Zwar existiert ein Satzbauplan in etwas sein, in dem auch andere Substantivtypen oder Attribuierungen vorkommen, allerdings oft mit eingeschränktem Artikelgebrauch, beispielsweise: (9) Frau M. hat in den letzten Jahren immer wieder verschiedene Knochenbrüche erlitten und ist in ständiger ärztlicher Behandlung. (Cosmas, Neue Kronen-Zeitung, 24. 07. 94) (10) Organisierte Straftaten sind weltweit im Anstieg. (Cosmas, Salzburger Nachrichten, 09. 10. 92) Aber die im-Konstruktionen bilden eine separate Gruppe, und zwar aus einem formalen und einem semantischen Grund. Formal ist die im-Konstruktion fixiert, denn im Gegensatz zum Satzbauplan in etwas sein (z. B. (9) und (10)) kann der substantivierte Infinitiv etwa in im Sinken sein nicht at-
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tribuiert werden. Semantisch geht aus den Beispielen (9) und (10) hervor, dass das Subjekt im Schema in etwas sein sowohl einem nicht genannten Agens unterworfen als auch in einem agenslosen Prozess begriffen sein kann. Bei der im-Konstruktion ist grundsätzlich nur Letzteres möglich, denn es kommt nur eine spezifische Reihe agensloser Verben in Betracht, beispielsweise im Steigen sein, im Abklingen sein, im Sinken sein, usw. (vgl. Ebert 1996: 48). Dabei ist eine klare Präferenz für unpersönliche Subjekte erkennbar, und die Verben beschreiben im Prinzip eine kontinuierliche Entwicklung (vgl. Krause 2002: 236). Verben, die ein Agens voraussetzen (wie etwa behandeln, entwickeln usw.) kommen in der im-Konstruktion nicht vor. Als lexikalisiert ist die häufige Wendung im Kommen sein zu betrachten, denn sie stellt keine direkte Ableitung des lexikalischen Verbs kommen im Sinne von ‚sich auf ein Ziel hin bewegen‘ dar, sondern hat die lexikalisierte (idiomatische) Bedeutung ‚beliebt, häufig werden‘. Das heißt in der Praxis, dass die im-Konstruktion derart schwach produktiv ist, dass sie nicht als grammatische Verbalform funktioniert. Es ist also klar zwischen dem als periphrastische Verbalform funktionierenden am-Progressiv und dessen Ausdrucksalternativen zu unterscheiden. Insofern sie mit substantivierten Infinitiven gebildet werden, übernehmen aber auch diese Ausdrucksalternativen wesentliche Merkmale des substantivierten Infinitivs, insbesondere einige morphosyntaktische Restriktionen (z. B. die Nichtpluralisierbarkeit), das transparente Verhältnis zu seinem Derivationsbasis und (mit Ausnahme der im-Konstruktion) die starke Produktivität. Nicht zuletzt stellt der substantivierte Infinitiv an sich schon die Verbalhandlung in ihrem Verlauf (d. h. als Prozess) dar, man vergleiche den Unterschied zwischen dem unbestimmten verbalen Infinitiv arbeiten und dem den Prozess hervorhebenden Substantiv das Arbeiten (Ausdruck eines „ständigen Kontinuums“; Fleischer/Barz 2007: 175). Untersuchungen anhand geschriebener und gesprochener Korpora zeigen, dass die geschriebene Standardsprache tatsächlich häufig von diesen Alternativen zum Progressiv Gebrauch macht, insbesondere von Konstruktionen mit dabei + Infinitivsatz, während in der gesprochenen Sprache vielfach der grammatische am-Progressiv bevorzugt wird (vgl. Krause 2002: 87–90). Allerdings hat man mehrfach bemerkt, dass bei weitem nicht jeder am-Progressiv durch eine seiner Alternativen ersetzt werden kann, etwa am Warten sein, jedoch nicht *im/*beim Warten sein (vgl. Ebert 1996: 48; Glück 2001: 84).
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Die am-Phrase als Verlaufsinfinitiv: weitere am-Konstruktionen
Die am-Phrase ist nicht fest mit dem Verb sein verbunden, sondern bildet eine eigenständige morphologische Einheit, die als Bestandteil der zusammengesetzten Progressivform funktioniert. Dies geht aus Verbindungen mit anderen (meist ebenfalls stereotypen) finiten Verben hervor. Relativ häufig sind Verbindungen mit halten (11), aber auch andere Verben treten als Hilfsverb der am-Phrase auf ((12) und (13)); außerdem kommen am-Phrasen ohne finites Verb vor, ohne dass es sich dabei um Ellipsen oder telegrammartige Verkürzungen handeln würde (14): (11) Viele nähren derzeit ihr Feuerchen und halten ihr Süppchen am Kochen. (IDS-Cosmas, Frankfurter Rundschau, 05. 11. 99) (12) Unermüdlich blieb Hahn am Planen, Arbeiten, Erweitern des Bestehenden. (IDS-Cosmas, Mannheimer Morgen, 06. 06. 86) (13) Seehofer selbst sieht noch andere Kräfte am Wirken. (Der Spiegel 1997, Nr. 21; zitiert nach Krause 2002: 77) (14) Ein Kleinbürger, wie er im Reihenhäuschen lebt: spießig, miesepetrig und immer am Nörgeln. (IDS-Cosmas, Süddeutsche Zeitung, 15. 10. 96)1 Verschiedene Autoren haben solche Konstruktionen beobachtet, allerdings beschreiben sie sie als „Reihenbildungen“ (Zifonun u.a. 1997: 1879), „Funktionsverbgefüge“ (Glück 2001: 85) oder zumindest als Formen, die sich vom Progressiv „relativ gut unterscheiden“ lassen (Krause 2002: 241, auch 76–78). Das lässt sich jedoch nicht begründen, denn auch in diesen Konstruktionen ist die am-Phrase formal fixiert und lässt im Prinzip jeden substantivierten Infinitiv in einem transparenten Derivationsverhältnis zum lexikalischen Verb zu. Außerdem beschreiben sie, im Gegensatz zum verbalen Infinitiv, die Verbalhandlung systematisch als im Verlauf befindlich. Aus diesem Grund stellen sie ebenfalls periphrastische Progressivkonstruktionen dar, die stark mit dem am-Progressiv mit sein verwandt sind. Es existiert also zumindest im Ansatz ein Paradigma von am-Konstruktionen, in dem die amKonstruktion mit sein den Progressiv in reiner Form darstellt und die übrigen am-Konstruktionen je nach der Bedeutung des finiten Verbs der Konstruktion zusätzliche Bedeutungsmerkmale verleihen, so ist etwas am Kochen halten (11) kausativ. Allerdings sind diese am-Konstruktionen im Gegensatz zum Progressiv in den meisten Varietäten des Deutschen äußerst niederfrequent. Weiter fortgeschritten ist die Entwicklung im Rheinland und im 1 Für Beispiele mit weiteren finiten Verben und Korpusbelege vgl. Van Pottelberge (2004: 189 und 191–192).
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Ruhrdeutschen, wo die am-Phrase auch mit Bewegungsverben kombiniert wird (vgl. Andersson 1989: 100). Auch in anderen Varietäten kommen sehr vereinzelt Bewegungsverben vor, in dem Fall wird aber kasusgerecht ans (oder eine „ans-Phrase“) benutzt. Bei einigen Verben ist die ans-Phrase ebenfalls fixiert und mit der am-Phrase vergleichbar, etwa bei bringen (15), kommen (16) und bekommen (17): (15) Und auch wenn bei Nintendo im Wettstreit der technischen Daten betont wird, dass ein 485 MHz-Prozessor und eine Speicherkapazität von 1,5 Gigabyte durchaus ausreiche, um die zahlreichen angebotenen Videospiele so richtig ans Laufen zu bringen, […]. (IDS-Cosmas, Mannheimer Morgen, 02. 02. 02) (16) Wir brauchen Gesetze, die Anreize schaffen, damit die Leute wieder ans Arbeiten kommen. (IDS-Cosmas, Frankfurter Rundschau, 01. 12. 97) (17) Dr. Göran Berger (…) geht es in erster Linie darum, die Baustellen des Unternehmens wieder ans Laufen zu bekommen. (IDS-Cosmas, Mannheimer Morgen, 25. 06. 02) Nicht jede ans-Phrase ist auch formal fixiert und auf substantivierte Infinitive beschränkt, beispielsweise werden die Satzmuster an etwas gehen oder sich an etwas machen mit underschiedlichen Nominalphrasen kombiniert. Im Niederländischen ist der morphologisch und semantisch mit dem deutschen Progressiv verwandte aan-het-Progressiv Teil eines umfangreicheren und produktiveren Systems von aan-het-Konstruktionen, etwa aan het schrijven zijn, blijven, gaan, raken, moeten, usw. (vgl. Van Pottelberge 2004: 27–51). Die am-Phrase wird immer häufiger als eigenständige Einheit eingestuft, nicht zuletzt wegen der Möglichkeit in einigen Varietäten, verbal Objekte zu regieren. Oft betont man die Rolle der Partikel am, die nicht mehr als eine mit einem Artikel verschmolzene Präposition betrachtet wird, sondern als grammatische Partikel (vgl. Zifonun u. a. 1997: 1880; Glück 2001: 87). Das mag als Tendenz in vielen Varietäten stimmen, insgesamt hat am jedoch nicht alle seine ursprünglichen Funktionen verloren, wie aus einigen substantivischen Merkmalen des substantivierten Infinitivs hervorgeht (siehe Abschnitt 6). Demzufolge liegt keine reine Partikel vor. Trotzdem zeichnet sich eine Art infiniter Verbform ab, weil die formal fixierte am-Phrase die lexikalische Verbbedeutung nicht modifiziert, sondern sie nur mit der grammatischen Bedeutung ‚Verlauf‘ versieht. Eisenberg (2006: 200) schlägt „amInf[initiv]“ als Bezeichnung vor. Man könnte statt der formalen auch die semantische Seite betonen und die am-Phrase mit „Verlaufsformsinfinitiv“ (Rödel 2004a und b) oder einfach mit „Verlaufsinfinitiv“ bezeichnen.
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Substantivische Merkmale der am-Phrase
Der Infinitiv ist an sich ein „janusköpfiges Phänomen“ mit einem verbalen und einem nominalen Gesicht (Marschall 2005: 21). Es wird denn auch kaum verwundern, dass die kategoriale Zugehörigkeit des substantivierten Infinitivs im Progressiv umstritten und schwer zu entscheiden ist (Eisenberg 2006: 296). Manche Autoren betrachten die am-Phrase als eine Verbform und einige benutzen deshalb die Kleinschreibung des substantivierten Infinitivs (Brons-Albert 1984; Rödel 2003); Krause (2002: 70 f.) und Rödel (2004a) kommen bei der syntaktischen Analyse zu dem Schluss, dass verbale Merkmale überwiegen und auf empirischer Grundlage stellen Krause (2002: 71) und Rödel (2004b) fest, dass viele Sprachbenutzer in der Praxis zur Kleinschreibung neigen. An dieser Stelle soll nicht die orthographische Frage oder die kategorielle Zugehörigkeit entschieden werden, sondern es wird auf zwei substantivische Merkmale der am-Phrase eingegangen. Erstens kommt der Progressiv mit einem Objektsgenitiv zum substantivierten Infinitiv vor (dies entgegen Behauptungen in Zifonun u. a. 1997: 1879 und Reimann 1998: 88). Solche Verwendungen sind allerdings sehr selten und auf die Schriftsprache beschränkt: (18) Leider war zu dieser Zeit die Rennleitung schon am Abbauen der Rennstrecke und der Zeitmessgeräte. (IDS-Cosmas, St. Galler Tagblatt, 21. 01. 00) (19) Denn während eine Gruppe noch am Entladen des mit verschiedenen Utensilien beladenen Kleinlasters ist, hat eine zweite Gruppe bereits rege Aktivität entwickelt. (IDS-Cosmas, Mannheimer Morgen, 30. 03. 99) Weit häufiger, sowohl in der Schriftsprache als auch in gesprochenen Varietäten, ist der Gebrauch substantivierter Infinitivphrasen: (20) Am Arbeiten war er und am Olympische-Spiele-Schauen. (IDS-Cosmas, Züricher Tagesanzeiger, 14. 02. 98) (21) Die Kirche ist im Hechsenwahn, in Mansfeld ist ein gewisser Martin Luther am Erwachsenwerden. (IDS-Cosmas, Frankfurter Rundschau, 16. 08. 97) Man nennt das Verfahren oft „Objektinkorporierung“ (Ebert 2000: 609–611; Krause 2002: 140–144; Rödel 2004a: 143), aber dies ist irreführend, denn das „Objekt“ wird nicht inkorporiert, sondern die am-Phrase des Progressivs wird mit einer substantivierten Infinitivphrase ausgefüllt. Auf die Substantivierung von Infinitivphrasen (neben reinen Infinitiven) ist man nur beschränkt aufmerksam geworden (siehe aber „Ableitung aus Wortgruppen“
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(Wellmann 1975: 239 f.) und „Univerbierung von Phrasen mit Wortartwechsel des konstitutiven Kerns“ (Barz/Schröder 2001: 2000), sie kann aber auf jede Phrase angewandet werden (wenn auch Kollokationen die Bildung erleichtern), und die Wortbildungsprodukte sind immer transparent. In umgangssprachlichen Varietäten kommen auch vielgliedrige Infinitivphrasen im Progressiv vor. Folgende Beispiele stammen aus deutschsprachigen Chatboxen und Diskussionsforen: (22) Stellt Euch vor, ich bin gerade am Über-die-Wiese-rasen und höre mein Herrchen dieses „Platz“ rufen. (http://de.geocities.com/horst34de/Platz/ platz.html. Stand 4. 9. 07.) (23) naja, bin so gut wie den ganzen tag am „neue-posts-auf-diesem-board-checken“, da lernt man sich hoffentlich noch kennen:) (http://www.cncforen.de/archive/index.php/t-2424.html. Stand 4. 9. 07.) Der substantivierte Infinitiv in der am-Phrase hat also nicht jegliche Substantivmerkmale aufgegeben, und der Gebrauch von innovativen (experimentellen) substantivierten Infinitivphrasen in der Umgangssprache zeigt, dass zumindest dieses Merkmal nach wie vor produktiv ist. 7
Gebrauch und Merkmale in den Varietäten des Deutschen
Umfangreiche Erhebungen zu Gebrauch und Verbreitung des Progressivs liegen nicht vor. Reimann (1998: 193) kommt anhand von Fragebögen zu dem Schluss, dass sich die Akzeptabilitätsraten verschiedener Progressivformen in den zwölf von ihr untersuchten deutschen Städten nur geringfügig unterscheiden; allerdings sind ihre Informanten Germanistikstudenten, das heißt eine mobile und keineswegs ortstypische Sprechergruppe; außerdem sind Sprecherintuitionen, die experimentelle, vom Forscher konstruierte Beispielsätze beurteilen, nicht mit empirischen Belegen gleichzusetzen. Van Pottelberge (2004: 216–219) enthält statistische Daten aus den Zeitungskorpora des IDS, die einen oberflächlichen Vergleich des Progressivgebrauchs in den nationalen Varietäten des Deutschen (im Sinne von Ammon 1995) ermöglichen und nachweisen, dass der Progressiv sowohl in der deutschen als auch in der schweizerischen und österreichischen Pressesprache belegt ist. Für die überregionale Standardsprache lässt sich festhalten, dass nur intransitive Verben in absoluter Verwendung vorkommen, wobei auch von ihnen viele gar nicht benutzt werden, weil sie als semantisch blockiert empfunden werden (z. B. *er ist am Bleiben, vgl. Van Pottelberge 2004: 205; siehe auch Abschnitt 3). Die Restriktionen gelten auch für viele andere Varietäten, es ist aber überall eine Tendenz erkennbar, diese Restriktionen zu lockern. Isoliert
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findet man auch an anderen Stellen in der Forschung Bemerkungen zum Progressivgebrauch in einer oder mehreren Varietäten. Der Progressiv scheint in keiner Varietät des Deutschen obligatorisch zu sein (anders aber ist der Eindruck Rödels 2003: 97), Frequenz und syntaktische Bildungsmöglichkeiten schwanken jedoch erheblich. Der Progressiv ist in der Schweiz und im Rheinland ausgesprochen häufig und weist in diesen Regionen auch innovative Gebrauchsmöglichkeiten auf, insbesondere den Gebrauch eines vom Verb im Progressiv abhängigen Akkusativobjekts. Im Schweizer Hochdeutsch, wie man es in Schweizer Tageszeitungen antrifft, kommen nicht nur mehr Progressive vor als in der bundesdeutschen oder österreichischen Standardsprache (mehr als drei Mal so viel, vgl. Van Pottelberge 2004: 218), sondern auch Konstruktionen mit Akkusativ- (24), Reflexiv- (25) und Präpositionalobjekten: (24) Sie sind jetzt schon mehrere Folgetourneen am Planen und fleissig am Vermarkten. (IDS-Cosmas, St. Galler Tagblatt, 14. 06. 99) (25) Wir sind uns das fürs nächste Jahr am Überlegen. (IDS-Cosmas, St. Galler Tagblatt, 12. 08. 97) (26) Und vielleicht ist er genau nach diesem „guten alten Stück“ seit Jahren am Suchen. (IDS-Cosmas, St. Galler Tagblatt, 19. 04. 99) Daneben werden auch substantivische Ausbaumöglichkeiten benutzt, das heißt mehrgliedrige substantivierte Infinitivphrasen und recht häufig auch Genitivattribute zum substantivierten Infinitiv (vgl. Van Pottelberge 2004: 219). Im Rheinland und in Westfalen ist der Progressiv besonders in der Umgangssprache und in regional oder dialektal geprägten Varietäten möglicherweise noch häufiger. In der Forschung werden viele Beispiele zitiert, die aus syntaktischen oder semantischen Gründen in anderen Varietäten blockiert sind, etwa Fälle mit Akkusativ-, Dativ- und Präpositionalobjekten (vgl. Andersson 1989 und Brons-Albert 1984 für Beispiele), oder Verben, die in der Standardsprache nicht progressivierbar sind, beispielsweise am runterhängen sein (vgl. Bhatt/Schmidt 1993: 74). Es kommen auch einige morphologische Besonderheiten vor, etwa die so genannte am-Verdoppelung vom Typ am müde am werden sein (vgl. Bhatt/Schmidt 1993: 78) oder am Scheiben dran sein (Glück/Sauer 1997: 60). In den übrigen Varietäten ist der Gebrauch von syntaktischen Objekten zumindest viel weniger üblich. Klosa (1999: 137) behauptet etwa, syntaktische Objekte seien außerhalb des Rheinlands ungrammatisch, Ebert (1996: 44) und Lehmann (1991: 514) meinen hingegen, dass sie sich auch an-
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dernorts in Deutschland verbreiten. Nach Glück (2001: 88) sind Reflexivpronomina und Akkusativobjekte prinzipiell möglich. Sicherlich sind Verbreitungstendenzen bemerkbar. So kommen in der Standardsprache beispielsweise vom substantivierten Infinitiv abhängige Nebensätze vor: (27) Nun bin ich am Grübeln, wie ich seinem Vorbild nacheifern, ihn vielleicht sogar noch übertreffen könnte. (IDS-Cosmas, Süddeutsche Zeitung, 06. 08. 96) Solche Konstruktionen verletzen den Substantivcharakter des substantivierten Infinitivs jedoch nicht, denn auch Substantive sind mit Präpositionalphrasen oder Nebensätze attribuierbar (z. B. die Frage, ob er kommt usw.). In der österreichischen Varietät der Standardsprache scheint der Progressiv geringfügig seltener als in Deutschland vorzukommen, ansonsten aber weitgehend denselben semantischen und syntaktischen Restriktionen zu unterliegen (vgl. Van Pottelberge 2004: 221–224). Untersuchungen zu den Tempus-, Modus- und Diatheseformen fehlen zur Zeit, aber klar ist, dass der Progressiv vor allem in nicht-zusammengesetzten Tempus- und Modusformen vorkommt (Präsens, Präteritum und Konjunktiv). Passivformen sind ausgeschlossen, im Gegensatz zum Progressiv im Englichen und Pennsylvaniadeutschen (vgl. Huffines 1994: 53). Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/New York: de Gruyter. Andersson, Sven-Gunnar (1989): „On the generalization of progressive constructions. ‚Ich bin (das Buch) am Lesen‘ – status and usage in three varieties of German“. In: Larsson, Lars-Gunnar (Hrsg.): Proceedings of the Second Scandinavian Symposium on Aspectology. Uppsala, Almqvist & Wiksell: 95–106. (= Acta universitas upsaliensis. Studia uralica et altalica upsaliensia 19). Barz, Irmhild/Schröder, Marianne (2001): „Grundzüge der Wortbildung“. In: Fleischer, Wolfgang/Helbig, Gerhard/Lerchner, Gotthard (Hrsg.): Kleine Enzyklopädie deutsche Sprache. Neubearbeitung. Frankfurt am Main u. a., Lang: 178–217. Bertinetto, Pier Marco/Ebert, Karen/de Groot, Casper (2000): „The Progressive in Europe“. In: Dahl, Östen (Hrsg.): Tense and Aspect in the Languages of Europe. Berlin/New York: Mouton de Gruyter, 517–558. (= Empirical Approaches to Language Typology. Eurotyp 20.6). Bhatt, Christa/Schmidt, Claudia Maria (1993): „Die ‚am + Infinitiv‘-Konstruktion im Kölnischen und im umgangssprachlichen Standarddeutschen als Aspekt-Phrasen“. In: Abraham, Werner/Bayer, Josef (Hrsg.): Dialektsyntax. Opladen, Westdeutscher Verlag: 71–98. (= Linguistische Berichte. Sonderheft 5). Brons-Albert, Ruth (1984): „Die sogenannte ‚Rheinische Verlaufsform‘: Stör mich nicht, ich bin am arbeiten!“. In: Rechtsrheinisches Köln. Jahrbuch für Geschichte und Landeskunde 9–10: 199–204. Coseriu, Eugenio (1992): Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft. 2. Auflage. Tübingen: Francke. (= UTB 1372). Curme, George O. (1922/1977): A Grammar of the German Language. 2. Revised edition. 11. print. New York: Ungar.
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Progressiv
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pseudotransitiv
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Jeroen Van Pottelberge Fund for Scientific Research – Flanders (Belgium) u pseudotransitiv Wenn Verben zwar ein direktes Objekt aufweisen, wie dies für transitive Verben typisch ist, dieses Objekt jedoch nicht als Subjekt eines Passivsatzes erscheinen kann, spricht man auch von Pseudotransitivität. Sie ist z. B. bei Verben wie erhalten oder kosten gegeben: *Ihr Schreiben ist von uns erhalten worden; *Das wird 50 Euro gekostet. → Verb
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Q u qualitatis, Genitivus (lat.: ‚Genitiv der Eigenschaft‘) Der Genitivus qualitatis drückt eine Qualität oder Eigenschaft aus: ein Mann mittleren Alters, ein Wort lateinischen Ursprungs. Genitive dieses Typs sind eher selten und kommen hauptsächlich im gehobenen Stil vor. Typischerweise enthalten sie ein Adjektiv (mittleren, lateinischen). → Genitiv
374
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R u rectus: casus rectus (lat.: ‚gerader/aufrechter Kasus‘) In der Tradition der europäischen Sprachwissenschaft wird der Nominativ auch als casus rectus bezeichnet im Unterschied zu den casus obliqui (lat.: ‚schräge/querliegende Kasus‘), zu denen mit Ausnahme des Vokativs alle anderen Kasus gehören. → Kasus u reflexives Verb Reflexiv gebraucht ist ein Verb dann, wenn Subjekt und Objekt referenzidentisch sind: Ichi wasche michi (vs. Ich wasche die Wäsche). Ist das Verb schon als Lexikoneintrag reflexiv und lässt keine anderen Objekte an der Stelle des Reflexivpronomens zu, wird es auch als „echt reflexiv“ bezeichnet. Solche Verben sind beispielsweise sich verirren oder sich schämen: *Ich verirre die Wanderer; *Ich schäme ihn. → Verb u rei, Genitivus (lat.: ‚Genitiv der Sache‘); auch: Genitivus materiae (lat.: ‚Genitiv des Stoffs‘) Oft gleichbedeutend mit Genitivus partitivus verwendet, bezeichnet der Genitivus rei im wörtlichen Sinne den Stoff, aus dem ein Gegenstand besteht. Genitive dieser Art sind im modernen Deutschen, wo sie durch Konstruktionen mit aus ersetzt worden sind, nicht mehr geläufig und wirken sehr archaisch: ein Ring puren Goldes, ein Armband reinen Silbers. → Genitiv u relatives Tempus (engl.: relative tense) Ein relatives Tempus stellt eine Beziehung zwischen einem Ereignis und einem gegebenen Bezugszeitpunkt (reference point) in der Zeit her. Das Ereignis wird dann als vor-, nach- oder gleichzeitig zu diesem Zeitpunkt eingeordnet. → Tempus
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Rezipientenpassiv
u Rezipientenpassiv 1
Terminologisches
Einschlägige Bezeichnungen sind „bekommen-Passiv“ (Reis 1976: 64; Leirbukt 1997; Zifonun u. a. 1997: 1824), „kriegen-Passiv“ (Molnárfi 1998: 541), „bekommen/kriegen/erhalten-Passiv“ (Askedal 1984), „Dativpassiv“ (Eroms 1978: 359; Wegener 1985b), „Rezipientenpassiv“ (Reis 1985; Schlobinski 1992: 167; Eisenberg 2006: 133) und „Adressatenpassiv“ (Schlobinski 1992: 173; Diewald 1997: 30), je nachdem, ob und wie auf lexikalische, morphosyntaktische oder semantische Aspekte Wert gelegt wird. Die Einstufung als „Passiv“-Konstruktion ist durch die regelhaften syntagmatischen und funktionalen Beziehungen zwischen dem „werden-Passiv“ (W-Passiv) und der funktional ähnlichen bekommen-Fügung (B-Fügung) gewährleistet (Eroms 1978: 404).1 2
Passivmerkmale
Ausgehend vom unmarkierten Genus Verbi Aktiv können Passivkonstruktionen allgemein durch folgende Unterschiede bzw. Strukturmerkmale definiert werden: (i) Desubjektivierung (mit in der Regel optionaler Agens-Tilgung), (ii) Subjektivierung, (iii) Passivmorphologie des Prädikats (vgl. Schlobinski 1992: 167–170, 185). (1) a. Aktiv: Der Präsident überreichte ihr den Orden. b. W-Passiv: Ihr wurde (vom Präsidenten) der Orden überreicht. c. B-Fügung: Sie bekam (vom Präsidenten) den Orden überreicht. Die Beziehungen zwischen unmarkierter Aktivstruktur, W-Passiv und B-Fügung in Bezug auf semantische Rollen und morphosyntaktische Argumentausprägung sind in (2) dargestellt (vgl. Wegener 1985b: 130–132; Schlobinski 1992: 173, 2005: 17; Askedal 2005: 217): (2) (… als) (… als) (… als)
Rezipient
Agens
ihrdat | ihrdat ⇓ sienom
(vom Präsidenten)pp ⇑ der Präsidentnom ⇓ (vom Präsidenten)pp
Übermitteltes der Ordennom ⇑ den Ordenakk | den Ordenakk
überreicht + wurde. ⇑ überreichte. ⇓ überreicht + bekam.
1 Zur Forschungsgeschichte der Fügung vgl. Eroms (1978: 368–377), Leirbukt (1997: 20–22, 25–27).
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Rezipientenpassiv
W-Passiv und B-Fügung unterscheiden sich auf die gleiche Weise im Hinblick auf das Aktivsubjekt in (1a), dem in beiden Konstruktionen eine optionale von-PP entspricht. Im Hinblick auf den Valenzstatus dieser agentischen von-PP unterscheiden sich W-Passiv und B-Fügung freilich in der Hinsicht, dass die von-PP nicht zur Valenz des lexikalischen Verbs werden gehört, sondern erst durch die Passivkonstruktion eingeführt wird; demgegenüber gehört sie bei bekommen usw. schon zur lexikalischen Valenz (vgl. Schlobinski 2005: 17): (3) Sie bekam/erhielt/kriegte ein schönes Geschenk (von ihrem Freund). Bezogen auf die Aktivstruktur in (1a) verhalten sich W-Passiv und B-Fügung im Hinblick auf Subjektivierung (Nominativierung) und Objektbeibehaltung zueinander komplementär: Dem direkten Akkusativobjekt in (1a) entspricht im W-Passiv (1b) ein Nominativsubjekt, während das indirekte Dativobjekt von (1a) in (1b) unverändert erscheint. Umgekehrt entspricht dem indirekten Dativobjekt in (1a) das Nominativsubjekt der B-Fügung in (1c), während das Akkusativobjekt von (1a) in (1c) unverändert ist. Die Subjektivierung im B-Passiv umfasst neben regulären verbvalenzbedingten Dativobjekten auch die besonderen Dativtypen Dativus (in)commodi und Pertinenzdativ (Eroms 1978: 381–383; Reis 1985: 148 f.; Leirbukt 1997: 84–101, 115–118). Man vergleiche: (4) a. Subjektivierung des Dativus commodi: [Man legte ihm jeden Morgen frische Taschentücher heraus. ⇒] Er bekam jeden Morgen frische Taschentücher herausgelegt […]. (zit. nach Leirbukt 1997: 85) b. Subjektivierung des Dativus incommodi: [Wem man hingegen einen Wagen von zweiter Hand „zerlegt“, … ⇒] Wer hingegen einen Wagen von zweiter Hand „zerlegt“ […] bekommt, […]. (zit. nach Leirbukt 1997: 86) c. Subjektivierung des Pertinenzdativs: [Spätestens um 6 Uhr morgens fühlt man Ihnen den Puls … ⇒] Spätestens um 6 Uhr morgens […], bekommen Sie den Puls gefühlt (…) (zit. nach Leirbukt 1997: 91) Dem syntaktischen Konversionsunterschied auf Ergänzungsebene entspricht im Bereich des Prädikats die Opposition von werden einerseits und einem der drei – nicht des W-Passivs fähigen – Verben bekommen, kriegen oder erhalten andererseits beim selben passivischen Partizip II. Diese strukturellen Beobachtungen lassen die B-Fügung als ein mit dem W-Passiv in Bezug auf Subjektivierung kontrastierendes B-Passiv („syntaktische Passiv-Variante“, Reis
Rezipientenpassiv
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1976: 72) erscheinen, so dass sich W- und B-Passiv als jeweils Akkusativund Dativ-Passiv systematisch gegenüberstehen.2 Die Passiv-Analyse impliziert Rekategorisierung von bekommen usw. als Auxiliarverb (Eroms 1978: 403; Schlobinski 1992: 185). Zwischen W- und B-Passiv besteht ein Unterschied in Bezug auf die Bildbarkeit so genannter unpersönlicher, d. h. subjektloser Konstruktionen (Reis 1976: 72; Haider 1984: 34; Schlobinski 1992: 174). Ein unpersönliches B-Passiv kann weder in Parallele zum subjektlosen W-Passiv ohne beibehaltenes Dativobjekt (5) noch als B-Passiv mit beibehaltenem Dativobjekt (6) gebildet werden: (5) a. Aktiv: Die jungen Leute tanzten bis spät in die Nacht hinein. b. W-Passiv bzw. B-Fügung: Bis spät in die Nacht hinein wurde/*bekam (von den jungen Leuten) getanzt. (6) a. Aktiv: Nachts putzten ihm die Heinzelmännchen die Wohnung. b. W-Passiv bzw. B-Fügung: Nachts wurde/*bekam ihm (von den Heinzelmännchen) die Wohnung geputzt. Aus (6) ist zu schließen, dass das B-Passiv obligatorische Dativsubjektivierung induziert, auf etwa die gleiche Weise, wie im W-Passiv die Akkusativsubjektivierung obligatorisch erfolgt.3 Wie das W-Passiv tritt das B-Passiv auch als Infinitivkonstruktion auf, die sich nominalisieren lässt (vorgelesen (zu) bekommen wie vorgelesen (zu) werden sowie das Vorgelesen-Bekommen wie das Vorgelesen-Werden; vgl. Eroms 1978: 390 und Beispiel (12a)). Insgesamt erscheint die B-Fügung unter funktionalem Aspekt als ein B-Passiv, das – wegen der weitgehenden Beschränkung auf in der Typologie so genannte ditransitive Verben mit sowohl Dativ- als auch Akkusativobjekt (zu Ausnahmen siehe 4.2) – bei einer Untermenge der des W-Passivs fähigen Verben vorkommen kann (Zifonun u. a. 1997: 1826). 3
Syntaktische Reanalyse
Als syntaktische Ausgangsstruktur des B-Passivs ist eine – ursprünglich aktivische – Objektsprädikativ- oder Koprädikativkonstruktion anzusetzen (vgl. 2 In der generativen Grammatik wird gewöhnlicherweise davon ausgegangen, dass als Objektskasus der Akkusativ ein so genannter struktureller Kasus, der Dativ aber ein so genannter lexikalischer Kasus sei (Abraham 1995: Kap. 3). Demgegenüber schließt Molnárfi (1998: 562–572) aufgrund der regelmäßigen Bildbarkeit des B-Passivs in Fällen wie (1), (4) auf strukturellen Status des Dativs in dreistelligen !Nsubjekt – Dindirektes objekt – Adirektes objekt"-Konfigurationen (vgl. auch Zifonun u. a. 1997: 1351, 1827). 3 Mit vereinzelten nicht ins Gewicht fallenden Ausnahmen wie: Es wurde Karten gespielt.
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Rezipientenpassiv
Wegener 1985b: 128, 132 f.; Schlobinski 1992: 175–177, 204; Abraham 1995: 203; Molnárfi 1998: 565).4 Man vergleiche den etwas älteren Beleg mit Koordination von gewöhnlichen NPs und der Objektsprädikativ(„Kurzsatz“-) Konstruktion das Haar geschoren (7) sowie die Beispiele in (8): (7) Und zu diesen köstlichen Phantasien bekommt man gute Suppe, gutes Fleisch, gutes Brot, ein gutes Bett und das Haar geschoren. (Georg Büchner, Leonce und Lena; zit. nach Zifonun u. a. 1997: 1828) (8) a. … weil sie die Fässer gereinigt von der Fabrik bekommen. b. … weil sie die Fässer von der Fabrik gereinigt bekommen. c. … weil sie die Fässer gereinigt bekommen. In (8a) ist das Partizip wegen der schlussfeldfernen Position im Mittelfeld eindeutig als Objektsprädikativ identifizierbar, das den Zustand, in dem sich das Objekt die Fässer befindet, beschreibt (vgl. Reis 1985: 142–144); dementsprechend ist bekommen als (aktivisches) Nicht-Auxiliar zu analysieren. Die beiden Sätze (8b–c) erlauben dafür sowohl eine Objektsprädikativ- wie auch eine B-Passiv-Interpretation,5 praktisch dürfte freilich die passivische Interpretation die bevorzugte sein, bei der bekommen Auxiliarfunktion zuzuschreiben ist (Abraham 1985: 151 f., 156). Die dem B-Passiv zugrunde liegende Reanalyse kann wie in (9) dargestellt werden (der Anschaulichkeit halber mit Verbendstellung): (9) … [… [NPobjekt Partizipobjektsprädikativ] bekommenlexikalisches verb]vp ⇒ … [… [NPobjekt] Partizipprädikatsteil bekommenaux]vp Ein unzweifelhaftes Zeugnis für die syntaktisch-funktionale Reanalyse in (9) (Askedal 2005: 218 f.) ist das Vorkommen von Sätzen, in denen zusätzlich zum (reanalysierten) Partizip als B-Passiv-Konstituente ein zweites Partizip mit Objektsprädikativfunktion steht (Reis 1985: 143): (10) a. Ich bekomme die Zeitungen gebündelt zugeschickt. (zit. nach Leirbukt 1997: 17) b. „Sie erhalten das Hemd zugeschnitten vorgelegt“, […]. (zit. nach Leirbukt 1997: 111) Aufgrund der in (1) und (2) zusammengefassten Strukturzusammenhänge und der Reanalyseevidenz ist das B-Passiv als ein Beispiel für Grammatikalisierung anzusehen. Insofern als Passivkonstruktionen auf verschiedenen, auseinander 4 Dies wird von Haider (1984: 33) noch als synchronische Analyse der B-Fügung vorgeschlagen, man vergleiche dazu kritisch Reis (1985). 5 Möglich ist bei dem Satz (8c) auch eine resultativ-aktivische Lesart im Sinne von schaffen, zustande bringen, auf die wir in Abschnitt 4.1 kurz zurückkommen.
Rezipientenpassiv
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zu haltenden Argumentbeziehungen bzw. -konversionen basieren, bietet sich zur genaueren Charakterisierung der Terminus „Konstruktionsgrammatikalisierung“ an; ein besonderer Aspekt des gesamten Grammatikalisierungsvorgangs ist die Auxiliarisierung von bekommen, kriegen und erhalten. Da die Verben bekommen usw. noch immer im zugrunde liegenden nicht-auxiliaren Gebrauch voll gebräuchlich und üblich sind (und häufiger vorkommen dürften als im auxiliaren Gebrauch), liegt „Divergenz“ bzw. „Schichtung“ („divergence“ bzw. „layering“, vgl. Hopper 1990: 159) vor im Sinne der Entstehung einer neuen, grammatikalisierten Verwendung neben der lexikalisch ursprünglichen bzw. des gleichzeitigen Vorkommens nicht-grammatikalisierter und grammatikalisierter Verwendungsweisen desselben Lexems. 4
Grammatikalisierungsmerkmale und Persistenzerscheinungen
Bei Grammatikalisierungsvorgängen stellt sich die prinzipielle Frage nach Prozessualität oder Gradualität (insbesondere zum B-Passiv, vgl. Heine 1993). Zu untersuchen ist zum einen, welche kennzeichnenden Unterschiede zwischen dem grammatikalisierten B-Passiv und der lexikalischen Verwendung von bekommen usw. feststellbar sind und, zum anderen, inwiefern im B-Passiv auf die zugrunde liegende lexikalische Verwendung zurückzuführende Züge – „Persistenzerscheinungen“ – noch vorhanden sind. 4.1
Grammatikalisierungsmerkmale
Grammatikalisierungsmerkmale sind die Komplementarität von B- und W-Passiv in Bezug auf (De-) Subjektivierung (vgl. (2)), die damit verbundene Reanalyse des Partizips als Prädikatsteil (vgl. (9)) und die sich daraus ergebende Möglichkeit eines weiteren Partizips als Objektsprädikativ im B-Passiv (vgl. (10)) (vgl. insgesamt Zifonun u. a. 1997: 1828 f.). Zu nennen ist hier des Weiteren die elliptische Weglassung des Akkusativobjekts in Fällen wie (11) (Höhle 1978: 55), da Objektsprädikative definitionsgemäß ein Akkusativobjekt voraussetzen (Haider 1984: 40): (11) Wir bekamen zu Hause bei jeder sich bietenden Gelegenheit jeden Abend aus der Bibel vorgelesen, […] (zit. nach Leirbukt 1997: 123) Weitere Grammatikalisierungs- bzw. Auxiliarisierungsevidenz liefern die erweiterten semantischen und morphosyntaktischen Selektionsmöglichkeiten. Im B-Passiv erscheinen infolge der mit der Auxiliarisierung verbundenen Desemantisierung von bekommen usw. (vgl. Wegener 1985b: 129) Partizipien von Verben, die der lexikalischen Ausgangsbedeutung von bekommen usw. zu widersprechen scheinen (vgl. auch Abraham 1995: 316 f.):
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Rezipientenpassiv
(12) a. „Ich finde es besser, Diamanten gestohlen zu bekommen, als keine zu besitzen!“ (zit. nach Leirbukt 1997: 74) b. Wird […] Erziehungsunfähigkeit bescheinigt, bekommen die Eltern das Sorgerecht entzogen. (zit. nach Leirbukt 1997: 75) c. […], er habe sein Visum sofort verweigert bekommen, […]. (zit. nach Leirbukt 1997: 74) d. Er […], erhielt mehrere Zähne ausgeschlagen […]. (zit. nach Leirbukt 1997: 94) In solchen Fällen vertritt das Subjekt die semantische Rolle „Malefaktiv“,6 wofür sich freilich auch im lexikalischen Vollverbgebrauch von bekommen und kriegen bei einer „sehr allgemeinen Lesart“ (Haider 1984: 35) Parallelen finden.7 Anstelle der beim Vollverbgebrauch von bekommen usw. vorgesehenen NP im Akkusativ erscheinen im B-Passiv morphosyntaktische Objektmanifestationen, die in der Valenz von lexikalischem bekommen usw. nicht vorgesehen sind (Beispiele nach Leirbukt 1997: 88 bzw. 121): (13) a. Phraseologisches Objekt: Ein Elektrokonzern […] bekommt ebenfalls die Leviten gelesen (…)/*Ein Elektrokonzern (…) bekommt ebenfalls die Leviten. b. dass-Satz: (…) überall kriegt man mehr oder weniger deutlich untergejubelt, dass man sich wahrhaft nur in einer außerhäuslichen Berufstätigkeit bewähren kann./*[…] überall kriegt man mehr oder weniger deutlich, dass man sich wahrhaft nur in einer außerhäuslichen Berufstätigkeit bewähren kann. c. Komplementsatz ohne Subjunktion („dass-Satz ohne dass“): Ich selbst bekomme sehr oft gesagt, ich könne ausziehen (…)/*Ich selbst bekomme sehr oft, ich könne ausziehen (…) d. So genannter indirekter Fragesatz: „Nur daß wir […] von Ihnen gezeigt bekommen möchten, wie man es bis zur Mathematik bringt.“/ *„Nur daß wir […] von Ihnen bekommen möchten, wie man es bis zur Mathematik bringt.“ 6 Da infolge der Grammatikalisierung des B-Passivs die Partizip II-Stelle auch durch NichtBesitzwechsel-Verben belegt wird, ergibt sich im Verhältnis zur Besitzwechselsituation eine Ausweitung des semantischen Rollenrepertoires des Subjekts der Fügung von „Rezipient“ im engeren Sinne auf andere semantische Kategorien. Wegener (1985b: 128, Anm. 128) erwähnt in diesem Zusammenhang die „Rollen“ „Experiencer“, „Nutznießer oder Benefizient“, „Geschädigter“, „Verlierer“, „Besitzer“, „Korrespondent“ unter Hinweis auf entsprechende Beispiele. 7 Vergleiche dazu Kollokationen wie Ärger, Kopfschmerzen, schlechtes Wetter bekommen/kriegen (nach Haider 1984: Beispiel (35)).
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Rezipientenpassiv
e. Infinitivkonstruktion: Die andere bekam von ihrem Chef angeraten, die „Frankfurter Rundschau“ zu lesen./*Die andere bekam von ihrem Chef, die „Frankfurter Rundschau“ zu lesen. f. Direkte Rede: […], weil sie schon von ihren Großmüttern eingeschärft bekamen: „Eine richtige Frau weiß eben, wie man einen Mann zu nehmen hat.“/*[…] weil sie schon von ihren Großmüttern bekamen: „Eine richtige Frau weiß eben, wie man einen Mann zu nehmen hat.“ In der Forschung wird die Frage gestellt, inwiefern im Umfeld des B-Passivs Ansätze zur aktionalen Ausdifferenzierung durch die Herausbildung eines statischen „haben-Passivs“ als Parallele zum sein-Passiv zu beobachten sein könnten (vgl. Eroms 1978: 401 f., 2000: 392 f., 420 f.; Wegener 1985a: 21 f.; Abraham 1995: 201 f.), wie etwa im Beispiel (14a), das eine „Aktivparaphrase“ im Sinne von (14b) erlaubt (nach Eroms 2000: 392 f.): (14) a. Und hier haben Sie die schönsten Steine vereint: der rassige Rubin […] b. Ich habe Ihnen hier die schönsten Steine vereint. Speziell nach Modalverben wird haben mit passivischem Partizip II dynamisch als Parallele zum B-Passiv verwendet (vgl. Abraham 1995: 306): (15) „Ich will den Schaden ersetzt haben.“ (nach Wegener 1985a: 211) Unter Einbeziehung des so genannten bleiben-Passivs sowie aktional entsprechender behalten-Fügungen (Eroms 2000: 421) wäre dann im Bereich des Akkusativ- und des Dativpassivs folgende aktionale Gesamtsystematik zu erwägen: (16) dynamisch statisch kontinuativ
„Akkusativpassiv“ Die Tür wird Ihnen geöffnet. Die Tür ist Ihnen geöffnet. Die Tür bleibt Ihnen geöffnet.
„Dativpassiv“ Sie bekommen die Tür geöffnet. Sie haben die Tür geöffnet. Sie behalten die Tür geöffnet.
Dabei besteht erstens kein Anlass, beim so gennannten „behalten-Passiv“ Reanalyse und Grammatikalisierung der Objektsprädikativkonstruktion bzw. Auxiliarisierung von behalten anzunehmen. Zweitens ist allem Anschein nach das „haben-Passiv“ mit dem Perfekt Aktiv durchgehend homomorph. Eine ähnliche Ambiguitätsproblematik ist freilich auch beim B-Passiv vorhanden (Abraham 1995: 300 f.); man vergleiche, dass ein Satz wie (17) neben (i) der B-Passiv-Lesart unter Umständen auch (ii) eine davon deutlich zu un-
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Rezipientenpassiv
terscheidende nicht-passivische, resultative Interpretation im Sinne von schaffen, fertig bringen (vgl. Eroms 1978: 399–340; Wegener 1985a: 205; Glaser 2005: 55–59; dieser Gebrauch wird von Hentschel/Weydt 1995: 171 „modales Aktiv“ genannt) bzw. (iii) eine Objektsprädikativ-Lesart haben kann (Beispiel nach Haider 1984: 35; vgl. auch Molnárfi 1998: 563, 565):8 (17) Wir kriegen die Gläser gewaschen. (i) ‚Die Gläser werden (für) uns gewaschen.‘ (ii) ‚Wir schaffen es, die Gläser in einen gewaschenen Zustand zu bringen.‘ (iii) ‚Die Gläser werden uns in gewaschenem Zustand übergeben.‘ 4.2
Persistenzerscheinungen
Als Grammatikalisierungsevidenz aus dem Rektionsbereich ist auf das angeblich mögliche Vorkommen von Partizipien zweiwertiger, also akkusativobjektloser Dativverben hingewiesen worden (vgl. Eroms 1978: 396–399; Hentschel/Weydt 1995: 174, 181 f.; Abraham 1995: 205, 317 f.; Leirbukt 1997: 64–67; Zifonun u. a. 1997: 1827; Eisenberg 2006: 133), denn solche Partizipien sind im Prinzip aus der Objektsprädikativposition ausgeschlossen (Haider 1984: 40). Man vergleiche: (18) a. […], „weil man immer geholfen kriegt, wenn man mal was nicht weiß, […]“. (zit. nach Leirbukt 1997: 65) b. Er bekam applaudiert/beigepflichtet. (zit. nach Wegener 1985b: 134) Dennoch sind Fälle wie (18), denen das Aktivsatzmuster zugrunde liegt, in der geschriebenen Sprache äußerst selten anzutreffen – im gesamten Material von Leirbukt (1997: 39–45, „Corpus 1–5“) nur in einem von 836 Belegen (vgl. auch Eroms 1978: 380; Haider 1984: 41, 1986: 5, 19; Molnárfi 1998: 566, 569, 571). In der Literatur wird gelegentlich auch B-Passiv mit Akkusativ-Subjektivierung erwogen (weitere Dialektbeispiele bei Glaser 2005: 49 f.): (19) „[…] Nun krieg’ ich morgen geschimpft!“ (vgl.: Dafür wurde der Grieche jetzt geschüttelt und geschimpft, […].) (beide Beispiele nach Leirbukt 1997: 14) Die wenigen Fälle dieser Art dürften als lexikalische Randerscheinungen bzw. syntaktische Phraseologismen einzustufen sein. Das B-Passiv wird somit
8 Erhalten entzieht sich der resultativ-aktivischen Lesart (vgl. Wegener 1985b: 135).
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ganz überwiegend von sowohl ein Dativ- als auch ein Akkusativobjekt regierenden Verben von einem der Satzmuster in (20) gebildet: (20) a. Verb + (direktes) Akkusativobjekt + (indirektes) Dativobjekt: [Jemand wies ihnen einen Leutnant Schröder zu. ⇒] Einen Leutnant Schröder habe man zugewiesen bekommen, […]. (zit. nach Leirbukt 1997: 70) b. Verb + (direktes) Akkusativobjekt + (indirektes) Dativobjekt (Pertinenzdativ) + Richtungsadverbial: [Man stülpte mir einen weißen Helm mit dem NASA-Zeichen auf den Kopf. ⇒] Ich bekam einen weißen Helm mit dem NASA-Zeichen auf den Kopf gestülpt. (zit. nach Leirbukt 1997: 95) c. Verb + (indirektes) Dativobjekt bei Weglassung eines fakultativen (direkten) Akkusativobjekts: [… nachdem Frau Heiler ihnen geöffnet hatte. ⇒] (…) nachdem sie […] von Frau Heiler geöffnet bekommen hatten. (zit. nach Leirbukt 1997: 123) Dass das „Dativpassiv“ fast immer eine Akkusativergänzung mit umfasst, erscheint unter funktionalem Aspekt paradox (vgl. Molnárfi 1998: 569). Eine mögliche Erklärung hierfür wäre „Satzmusterpersistenz“ in dem Sinne, dass der Ergänzungsbestand der zugrunde liegenden Objektsprädikativkonstruktion, weil usualisiert, sich nach der syntaktischen Reanalyse des Partizips weiter behauptet (vgl. auch Reis 1985: 153). Auf lexikalischer Persistenz (vgl. (3)) beruht es möglicherweise auch, wenn im Korpus von Eroms (1978: 388) eine von-PP in der B-Fügung häufiger erscheint als im W-Passiv.9 Als semantische Persistenzerscheinung mag gewertet werden, dass das Partizip des lexikalischen Konversenverbs geben (vgl. Eroms 1978: 365; Haider 1984: 35 f., 40, 1986: 21; des Weiteren Abraham 1985: 147, 1995: 282 f., 296) im B-Passiv nicht erscheint (Wegener 1985b: 134; Hentschel/ Weydt 1995: 175), dafür aber das Partizip des semantisch verwandten, aber nicht völlig synonymen Verbs schenken:10
9 Man vergleiche zur Agensproblematik bzw. – im weiteren Sinne – den „verschiedene[n] Arten der Agenskennzeichnung“ einschließlich der Verwendung von durch sowie anderer Adverbialbestimmungen und PPs Leirbukt (1997: 125–129). Abraham (1995: 313–315) will nur durch-PPs als eigentliche Passiv-Agensglieder gelten lassen. 10 Man vergleiche zum Thema regelhafte Restriktionen zur B-Passiv-Bildung ansonsten Wegener (1985a: 207–209, 1985b: 133 f.), Hentschel/Weydt (1995: 173–176) und Leirbukt (1997: 135–168).
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(21) a. Der Professor gab dem Studenten ein Buch. ⇔ Der Student bekam ein Buch von dem Professor. b. Der Professor schenkte/gab dem Studenten ein Buch. ⇒ Der Student bekam von dem Professor ein Buch geschenkt/*gegeben. Während grammatische Elemente, so auch Auxiliarverben, im Allgemeinen stilistischen Variationen nicht unterworfen sind (wohl aber u. U. stilistischen Verdikten), sind zum einen mit dem B-Passiv als syntaktischer Konstruktion stilistische Fragestellungen im Hinblick auf standardsprachliche Geltung verbunden (vgl. Reis 1976: 71, Anm. 11; Eroms 1978: 359; Zifonun u. a. 1997: 1829; Vogel 2003: 153; zur regionalen Verbreitung Glaser 2005: 45–55). Zum anderen sind die drei Verben bekommen, kriegen und erhalten im B-Passiv Träger der gleichen stilistischen Konnotationen wie im nicht-auxiliaren Gebrauch auch (vgl. Eroms 1978: 360, 366; Schlobinski 1992: 178; Vogel 2003: 154): (22) Er bekam [stilistisch neutral]/kriegte [umgangssprachlich]/erhielt [literarisch] das Buch zugeschickt. Dies ist als lexikalisch-stilistische Persistenzerscheinung anzusehen. Die ältesten Belege für das B-Passiv stammen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und weisen – der gesprochensprachlichen Provenienz der Konstruktion entsprechend – kriegen auf (Eroms 1978: 365; zur einschlägigen Wortgeschichte von kriegen vgl. Grimm/Grimm 1873: 2240; Eroms 1978: 360–365; Glaser 2005: 43–45). Erst später, laut Zeugnis einschlägiger Wörterbücher ab Ende des 18. Jahrhunderts und zunehmend ab dem 19. Jahrhundert, erscheint bekommen (Eroms 1978: 365 f.). Erhalten scheint sich erst ab dem 20. Jahrhundert einzubürgern; die zahlreichen modernen Belege für dieses Verb (vgl. Eroms 1978: 367 f.; Leirbukt 1997: 110–111) bezeugen aber literarische Akzeptanz des B-Passivs mit erhalten in der Gegenwartssprache. Ein Anzeichen für das etwas weniger fortgeschrittene Grammatikalisierungsniveau von erhalten mögen die weitergehenden grammatischen Restriktionen im Vergleich zu kriegen und bekommen sein (vgl. Eroms 1978: 380; Leirbukt 1997: 105–109).11 5
Zusammenfassung
Die weitgehende Grammatikalisierung des B-Passivs als dem W-Passiv funktional verwandte Konstruktion geht aus der Subjektivierungskomple11 Zur Frage von etwa einschlägigen semantischen Differenzen zwischen den drei Verben vergleiche man Hentschel/Weydt (1995: 172 f.) sowie Zifonun u. a. (1997: 1829).
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mentarität von W-Passiv und B-Fügung sowie weiteren Grammatikalisierungserscheinungen hervor (4.1). Man vergleiche in diesem Zusammenhang noch den empirischen Hinweis von Hentschel/Weydt (1995: 181), „dass sich das bekommen-Passiv […] mit größerer Regelmäßigkeit bilden läßt als das Zustandspassiv“, der nahe legt, dass das aktional neutrale B-Passiv stärker grammatikalisiert sein mag als die Aktionalitätsfügungen im Umkreis der dynamischen „Akkusativ“- und „Dativpassiv“-Fügungen mit werden bzw. bekommen usw. Die strukturelle Grundlage dieser gesamten Entwicklungen ist die Fähigkeit der zu geben lexikalisch konversen Verben bekommen usw., ein zustandsbezeichnendes Objektsprädikativ anzuschließen, woraus sich durch syntaktische und semantische Reanalyse das B-Passiv als grammatische Konverse (Wegener 1985b: 130) zu zuerst und immer noch vor allem transitiven Verben mit indirektem Dativ- und direktem Akkusativobjekt entwickeln konnte. Von einer etwa „vollständigen“ Grammatikalisierung als Dativpassiv schlechthin kann wegen der vorhandenen Persistenzerscheinungen (4.2) dennoch nicht die Rede sein (vgl. auch Reis 1976: 79 f.). Literatur Abraham, Werner (1985): „Grammatik von kriegen und bekommen“. In: Redder, Angelika (Hrsg.): Deutsche Grammatik II. Osnabrück, Verein zur Förderung der Sprachwissenschaft in Forschung und Ausbildung: 142–166 (= Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 30). Abraham, Werner (1995): Deutsche Syntax im Sprachenvergleich. Grundlegung einer typologischen Syntax des Deutschen. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Grammatik 41). Askedal, John Ole (1984): „Grammatikalisierung und Auxialiarisierung im sogenannten ‚bekommen/kriegen/erhalten-Passiv‘ des Deutschen“. Kopenhagener Beiträge zur Germanistischen Linguistik 22: 5–47. Askedal, John Ole (2005): „Grammatikalisierung und Persistenz im deutschen ‚RezipientenPassiv‘ mit bekommen/erhalten/kriegen“. In: Leuschner, Torsten/Mortelmans, Tanja/De Groodt, Sarah (Hrsg.): Grammatikalisierung im Deutschen. Berlin/New York, de Gruyter: 211–228. (= Linguistik – Impulse und Tendenzen 9). Diewald, Gabriele (1997): Grammatikalisierung. Eine Einführung in Sein und Werden grammatischer Formen. Tübingen: Niemeyer. (= Germanistische Arbeitshefte 208). Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler. Eroms, Hans-Werner (1978): „Zur Konversion der Dativphrasen“. Sprachwissenschaft 3: 357–405. Eroms, Hans-Werner (2000): Syntax der deutschen Sprache. Berlin/New York: de Gruyter. (= de Gruyter Studienbuch). Glaser, Elvira (2005): „Krieg und kriegen: zur Arealität der BEKOMMEN-Periphrasen“. In: Kleinberger, Ulla/Häcki Buhofer, Annelies/Piirainen, Elisabeth (Hrsg.): „Krieg und Frieden“ – Auseinandersetzung und Versöhnung in Diskursen. Tübingen, Francke: 43–64. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1873): Deutsches Wörterbuch. Fünfter Band. Leipzig: Hirzel. Haider, Hubert (1984): „Mona Lisa lächelt stumm – Über das sogenannte deutsche ‚Rezipientenpassiv‘“. Linguistische Berichte 89: 32–42. Haider, Hubert (1986): „Fehlende Argumente: vom Passiv zu kohärenten Infinitiven“. Linguistische Berichte 101: 3–33.
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Abkürzungen Aux A/Akk B-Fügung B-Passiv D/Dat N/Nom Partizip II PP VP W-Passiv
Auxiliar Akkusativ bekommen-Fügung bekommen-Passiv Dativ Nominativ Partizip Perfekt Präpositionalphrase Verbalphrase werden-Passiv
John Ole Askedal
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S u Sexus Zur Unterscheidung von Genus als dem Begriff für das grammatische „Geschlecht“ von Wörtern gebrauchter Begriff, mit dem das natürliche Geschlecht bezeichnet wird. → Genus u Singular (engl.: singular) Häufig unmarkierte morphologische Numerus-Kategorie der ‚Einzahl‘. Ein Singular setzt voraus, dass die Sprache mehrere Numeri aufweist (typischerweise neben dem Singular einen Plural, es kommen aber auch noch weitere Numeri in Frage). → Numerus u Singularetantum Singulariatantum sind Substantive, die nur im Singular vorkommen und keinen Plural bilden können. Sie sind vorwiegend unter den Kontinuativa (Stoffnamen vom Typ Schnee, Milch), Abstrakta (Erziehung, Ruhe) und Kollektiva (Laub, Geäst) vertreten. → Numerus u subiectivus, Genitivus (lat.: ‚Subjektsgenitiv‘) Subjektive Genitive drücken das Verhältnis zwischen einem Subjekt und einem Prädikat aus und werden daher bei der Umwandlung in einen ganzen Satz zum Subjekt: der Untergang des Abendlandes ⇒ das Abendland geht unter. Dieser Genitivtyp tritt bei Substantiven auf, die von Verben oder auch Adjektiven abgeleitet sind: die Bosheit der Knusperhexe ⇒ die Knusperhexe ist böse. → Genitiv u Substantiv 1
Einleitung
Neben der Bezeichnung „Substantiv“ (lat.: nomen substantivum ‚Wort, das für sich selbst Bestand hat‘), das auf lat. substantia ‚Bestand‘, ‚Existenz‘ zu-
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rückzuführen ist, wird in der linguistischen Terminologie – abgesehen von den in Schulgrammatiken zu findenden eingedeutschten Bezeichnungen Gegenstandswort, Hauptwort, Nennwort, Dingwort – der Ausdruck „Nomen“ (lat. nomen, gr. onoma ‚Name, Wort‘) verwendet. Der Terminus „Nomen“ umfasst allerdings in einem weiteren Sinne alle nominalen Wortarten, also auch Adjektiv (nomen adiectivum), Numerale und Pronomen (vgl. Kern/Zutt 1977: 68), so dass die absolute Synonymität mit „Substantiv“ als umstritten gilt (vgl. Glück 2005: 658). Sofern jedoch nicht explizit differenziert wird, kann prinzipiell von bedeutungsgleichem Gebrauch ausgegangen werden (vgl. Duden 2005: 147), wenn auch „Substantiv“ der häufiger verwendete Terminus zu sein scheint. Aus lexikalischer Sicht zeigt das Substantiv eine dominante Stellung, denn über die Hälfte des deutschen Gesamtwortschatzes wird von dieser Wortart vereinnahmt (vgl. Erben 2000: 124). Zudem wird gerade dem Substantiv eine von anderen Wortarten unerreichte Vielfalt an Wortbildungsarten zuteil (vgl. Fleischer/Barz 2007: 84). Außerdem können die substantivischen Basismorpheme frei auftreten, während Verbstämme – abgesehen von den Inflektiven – stets gebundene Einheiten darstellen. Der eingedeutschte Terminus Hauptwort spiegelt die gesonderte Position des Substantivs in Grammatik und Wortschatz wider, die auch in der Großschreibung reflektiert wird. Die Substantive zählen zu den flektierenden Wortarten; die Flexion nominaler Einheiten wird als Deklination bezeichnet. Von den drei Kategorien1 des Substantivs, auch als Nominalkategorien bezeichnet, ist das Genus konstant (Wortkategorie), Kasus und Numerus sind hingegen als syntaktische Einheitenkategorien je nach Kontext veränderlich.2 Die verschiedenen Wortformen können in einem Paradigma mit acht Positionen angeordnet werden, indem die Kategorisierung3 Kasus (vier Kategorien) mit der des Numerus (zwei Kategorien) verbunden wird, so dass stets Kategorienpaare sichtbar werden. Die Nennform dagegen wird allein von der Nominativ-Sin-
1 Zum Terminus „Akzidenz“ für ‚grammatische Kategorie‘ und die „Hierarchie Wortart – Akzidenz – Subklassifikation“ vergleiche man Meineke (1996: 140–142). 2 Differenzierung in Wortkategorien und Einheitenkategorien nach Eisenberg (2006: 18 f.); da das Genus beispielsweise auch die Flexion des Artikels im Singularparadigma bestimmt, handelt es sich auch um eine syntaktische Kategorie (ebd.: 19). Auch „3. Person“ kann als konstante Wortkategorie des Substantivs aufgefasst werden. Das wird daran deutlich, dass die explizite Wiederaufnahme eines Substantivs durch eine substituierende Pro-Form stets in der 3. Person (Singular bzw. Plural) erfolgt und das Substantiv in Subjektfunktion stets mit der 3. Person (Singular bzw. Plural) des Verbs kongruiert. 3 Unter „Kategorisierung“ versteht Eisenberg (2006: 18) eine „Menge von Kategorien“.
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gular-Form des Substantivs repräsentiert und dient auch als Lemma im Wörterbuch. Die Deklination der Substantive führt nicht immer zu unterscheidbaren Wortformen, teilweise sind die Paradigmenstellen formgleich (Formensynkretismus) oder werden gar nicht markiert. In diesen Fällen leistet häufig der Artikel die eindeutige Markierung der Kategorien, doch ist diese Signalisierung nicht obligatorisch, denn in bestimmten Fällen werden Substantive ohne Artikel gebraucht (vgl. Eroms 2000: 249). Dann gibt es andere morphologische oder syntaktische Möglichkeiten der Spezifizierung des Substantivs, etwa durch die Flexion eines attribuierten Adjektivs, die NumerusKongruenz mit dem finiten Verb oder die Setzung von Präpositionen, die stets den Kasus determinieren. 2
Semantische Motivierung grammatischer Kategorien des Substantivs
Substantive können in semantische Subklassen eingeteilt werden. Grammatische Auswirkungen zeigen sich bei den Kategorisierungen Genus und Numerus, Kasus ist davon nicht betroffen. Auch die Artikelsetzung kann semantisch begründet sein. Für die grammatische Ausdifferenzierung der Substantive sind die drei semantischen Parameter Belebtheit, Gegenständlichkeit und Klassenbildung von Bedeutung (vgl. Duden 2005: 147). 2.1
Belebtheit und Genuszuweisung
Nach dem Kriterium der Belebtheit wird zwischen Personen- und Sachbezeichnungen unterschieden, Tierbezeichnungen nehmen eine Zwischenstellung ein (Duden 2005: 154). Das natürliche Geschlecht ist ausschlaggebend für die Zuweisung des Genus bei Personenbezeichnungen (z. B. der Junge), wobei es zu morphologischen Überlagerungen kommen kann: Dem Lexem Mädchen wird trotz des natürlichen weiblichen Geschlechts das neutrale Genus zugewiesen, da das Diminutivsuffix -chen als Kopf der Wortbildung dieses fordert. Dass es sich bei Mädchen um eine lexikalisierte Wortbildung handelt, spielt dabei keine Rolle. Ein weiterer Grund liegt in der hierarchischen Schichtung des Wortschatzes, da Ober-, Unter- und Basisbegriffe volkstaxonomische Domänen gliedern. Oberbegriffe werden tendenziell neutral klassifiziert, so dass etwa Kind als Hyperonym von Mädchen und Junge neutrales Genus aufweist. Hinzu kommen kommunikative Faktoren, das natürliche Geschlecht von Kind ist irrelevant (vgl. Duden 2005: 155).
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Das Genus ist zwar eine außermorphologische Kategorisierung, die im Paradigma nicht kategoriell repräsentiert wird, aber eine Größe, die mit dem Deklinationsverhalten korrelieren und deshalb für eine Einteilung der Deklinationsklassen herangezogen werden kann. Zahlreiche Wortbildungssuffixe, aber auch Wortausgänge vor allem bei Fremdwörtern, bestimmen weitgehend das Genus (vgl. die Übersicht in Duden 2005: 165–168), entlasten damit das mentale Lexikon und tragen durch Produktivität zur Stabilität der Deklinationsklassen bei. 2.2
Semantische Restriktionen der Numerusdifferenzierung
Sämtliche Substantive können ihrer Gegenständlichkeit bzw. Nicht-Gegenständlichkeit nach in Konkreta (Sg. Konkretum) und Abstrakta (Sg. Abstraktum) eingeteilt werden. Abstrakta bezeichnen Gedachtes, Vorstellungen und Konzepte und sind als solche in der Regel nicht zählbar, existieren deshalb nur im Singular (Singularetantum, Pl. Singulariatantum). Dies gilt vor allem für prototypische Abstrakta wie Kälte, Jugend, Musik (vgl. Duden 2005: 173). Allerdings ist der rekategorisierende Übergang zu den Konkreta nicht scharf abgegrenzt, sondern fließend. So kann die Schönheit einerseits als Abstraktum klassifiziert werden, in der Verwendung die Schönheiten des Landes aber, da ein konkreter Bezug auf bestimmte Sehenswürdigkeiten besteht, durchaus pluralfähig sein. Eine Pluralform kann zudem über die Mittel der Wortbildung erzielt werden: Kältearten (z. B. trockene und feuchte Kälte), Musikrichtungen. Daneben gibt es auch zählbare Abstrakta, die den Plural mit Flexionsmorphemen bilden: die Meinung – zwei Meinungen (vgl. ebd.: 148). Eine andere Einteilung der Substantive unterscheidet zwischen Eigenname (nomen proprium) und Gattungsname (nomen appellativum). Appellativa gelten als „Normalfall“ des Substantivs, da sie zum einen die größere Gruppe bilden, zum anderen meist über ein vollständiges Paradigma mit beiden Numeruskategorien verfügen. Eigennamen weisen, aus Sicht des triadischen Zeichenmodells, keine lexikalische Bedeutung auf, ihre Funktion liegt allein in der Referenz. Deshalb werden sie für gewöhnlich im Singular gebraucht, da sie ein einzelnes Individuum benennen, ein Plural ist nur möglich, wenn der Eigenname als Gattungsbezeichnung gebraucht wird: in der Klasse sitzen drei Michaels (vgl. ebd.: 173 und Meineke 1996: 247 f.). Die Einordnung der Stoffbezeichnungen und der Sammelbezeichnungen (Kollektiva) in ein semantisches Modell ist umstritten, teils werden sie als Untergruppen der Appellativa aufgefasst (vgl. Duden 1998: 197), teils wer-
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den sie als eigene Untergruppen der Konkreta neben den Appellativa und Nomina Propria angesetzt (vgl. Römer 2006: 124). Für das Flexionsverhalten ist von Bedeutung, dass Stoffbezeichnungen nur im Singular gebraucht werden, Sammelbezeichnungen dagegen zählbar sind. Zudem bilden Maß-, Mengen- und Behälterbezeichnungen sowie Währungs- und Münzbezeichnungen bezüglich der Pluralflexion eigene Gruppen (vgl. Duden 2005: 177–180). Nur oder fast ausschließlich im Plural verwendete Substantive werden als Pluraliatantum (Sg. Pluraletantum) bezeichnet, wobei diese Pluralformen nicht unbedingt zählbar sein müssen: die Trümmer ‚Bruchstücke‘, vier Trümmer, aber die Einkünfte, *drei Einkünfte (vgl. ebd.: 180 f.). Eine eindeutige Bestimmung grammatischer Kategorien durch semantische Eigenschaften kann nicht festgestellt werden, vereinzelt lassen sich lediglich Tendenzen eines Zusammenhangs zwischen semantischer Gruppenzugehörigkeit, Genus und Pluralfähigkeit entdecken. 3
Die Struktur des Substantivs
Um die Substantive in Deklinationsklassen einteilen zu können, müssen zunächst Annahmen über die Struktur der Wortformen getroffen werden. Es stellt sich die grundlegende Frage, wo der lexikalische Teil der Wortform endet und der grammatische Teil, die Flexionsendung, beginnt. Dies ist im Deutschen insofern besonders schwierig, da neben der Flexionsendung auch eine Abwandlung des lexikalischen Teils durch Umlaut erfolgen kann, sich also lexikalische und grammatische Ausdrucksseite durch Introflexion überlagern können. Grundsätzlich bestehen Substantive aus einem Stamm (z. B. Wald) und einer Flexionsendung (z. B. Gen. Sg. Wald-es). Auch für die Wortbildung steht dieser Stamm zur Verfügung, sowohl in Komposita (Waldweg) als auch in Ableitungen (waldig). Bei der Diminutivbildung Wäldchen allerdings muss der Stammvokal umgelautet werden. Für andere Substantive nimmt Eisenberg (2006: 217) einen so genannten „morphologischen Rest“ an: Treppe und Streifen beispielsweise verbinden sich mit Flexionsmorphemen, bei der Diminutivbildung aber sind es verkürzte Zeichenketten, welche die Ausgangsbasis stellen: Treppchen, Streifchen. Die Gegenüberstellung von Treppe – Trepp+chen und Streifen – Streif+chen führt zu einer internen Gliederung der Substantive, den Stamm und einen morphologischen Rest, der nur noch einen marginalen morphologischen Status aufweist. Ein Stamm ergibt zusammen mit einem Rest wiederum einen Stamm:
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Abb.: Morphemische und submorphemische Einheiten der Substantivflexion (nach Eisenberg 2006: 217 f.)
Diese Stämme, mit und ohne morphologischen Rest (Wald, Trepp+e, Streif+en), liegen als „Grundformen“ dem Flexionsparadigma zugrunde und sind zum Teil mit den Wortformen des Paradigmas identisch, vor allem im Nominativ und Akkusativ Singular der starken Flexion. Im Gegensatz dazu weist das verbale Präsensparadigma in jeder Position einen mit einem Flexiv erweiterten Stamm auf, was als Stammflexion bezeichnet wird (vgl. Eisenberg 2006: 153). Sprachhistorisch (vgl. Paul 2007: 183 f.) ist dieser sog. morphologische Rest aus der Stammbildung zu erklären: Ein Substantiv bestand im Germanischen noch aus der Dreiheit Wurzel (formaler und semantischer Kern) – stammbildendes Suffix (Themavokal oder (Vokal +) Konsonant) – Flexionsendung, nur bei wenigen athematischen Wörtern fehlte dieses stammbildende Suffix, die Flexionsendung verband sich direkt mit der Wurzel. Das stammbildende Suffix kann als Kriterium zur Einordnung in Deklinationsklassen verwendet werden, so dass zwischen vokalischer, konsonantischer und athematischer Deklination zu unterscheiden ist. Im Deutschen ist dies nur noch für das Althochdeutsche möglich (z. B. i-Deklination der starken Feminina), da durch die Endsilbenabschwächung im Übergang zum Mittelhochdeutschen die Themavokale zu Schwa-Lauten abgeschwächt wurden und nur noch bedingt zur Differenzierung der einzelnen Deklinationen herangezogen werden können. An Stelle der germanischen Dreiheit tritt eine Zweiheit aus Stamm und Flexionszeichen, an Stelle einer Unterscheidung der Deklinationsklassen nach stammbildendem Suffix eine Einteilung in starke (vorher vokalische Deklination), schwache (vorher konsonantische Deklination) und gemischte Flexion. Durch eine kasus-numerusbezogene Klassifikation können für das Mittelhochdeutsche „8 hinreichend definierte substantivische Flexionsklassen“ (Paul 2007: 180 f.) aufgestellt werden, deren Zahl sich durch Hinzunahme einer Genusdifferenzierung auf 11 erhöht (ebd.). Durch die Zuordnung des abgeschwächten Themavokals zum Stamm entsteht die so genannte Grundform.4 Da in der Wortbildung – Derivation, 4 Zur Terminologieverwendung in der Forschungsgeschichte vgl. Harnisch (2001: 16 f.).
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Diminutivbildung – latente „Sollbruchstellen“ in den Grundformen der Substantive erkennbar werden (vgl. Harnisch 2001: 3), kann der Morphemstatus dem „morphologischen Rest“ nicht von vornherein abgesprochen werden, so dass die Bezeichnung „stammerweiterndes Suffix“ angemessener erscheint (vgl. ebd.: 16). Die interne Struktur des deutschen Substantivs kann modellhaft als Zweiheit dargestellt werden: Wald Trepp Streif Stamm
e en stammerweiterndes Suffix Grundform
Abb.: Interne Struktur des deutschen Substantivs (nach Harnisch 2001: 17)
Stammflexion wird im Deutschen nur für die althochdeutsche Sprachepoche (vgl. Wurzel 1984: 98, 101) angenommen, ein Wechsel zur Grundformflexion wird mit dem Übergang zum Mittelhochdeutschen postuliert und findet Eingang in die meisten Deklinationsmodelle, beruhend auf einer synchronen, oberflächennahen Alternation, wie sie etwa in bote/bote-n offensichtlich wird. Dass eine Darstellung des mittel- und neuhochdeutschen Deklinationssystems auch anhand eines Stammprinzips möglich ist (bot-e/ bot-en), zeigt Harnisch (2001). Unabhängig von der theoretischen Zugangsweise kann für die verschiedenen ausdrucksseitigen Ausgangsformen in Flexion und Wortbildung ein morphologisches Paradigma (MP) als „Menge von kategorisierten morphologischen Grundformen“ (Eisenberg 2006: 30) angesetzt werden: BuchMP = {!Buch, {Grv}", !Büch, {Uml}", !Buch, Bücher, {Kmp}"} Buch Nom.Sg., Bücher Nom.Pl., Buchdeckel, Bücherschrank Komposita WaldMP = {!Wald, {Grv}", !Wäld, {Uml}"} Wald Nom.Sg., Wälder Nom.Pl., Wäldchen Diminutiv TreppeMP = {!Treppe, {Grv}", !Trepp, {Dim}", !Treppen, {Kmp}"} Treppe Nom.Sg., Treppchen Diminutiv, Treppengeländer Kompositum NameMP = {!Name, {Grv}", !Nam, Näm, {Der}", !Namen, Namens, {Kmp}"} Name Nom.Sg., namhaft, nämlich Derivation, Namenkunde, Namenstag, Namen(s)gebung Komposita Grv = Grundvokal, Uml = Umlaut, Der = Derivation, Dim = Diminuierung, Kmp = Komposition Abb.: Morphologische Paradigmen (vgl. Eisenberg 2006: 220)
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Durch diese Darstellung wird deutlich, welche Stammvarianten für die verschiedenen Flexionen und Wortbildungen verwendet werden müssen, beispielsweise Singularformen mit Grundvokal, Pluralformen und Diminutiv mit Umlaut. Bei der Kompositionsstammvariante wird das so genannte Fugenelement berücksichtigt; das Nebeneinander verschiedener Kompositionsund auch Derivationsstammvarianten hat sprachhistorische Gründe. 4
Deklinationsklassen
Die deutsche Substantivmorphologie stellt sich als „ziemlich undurchschaubar, wenn nicht unsystematisch“ (Eisenberg 2006: 162) dar, denn es gibt verhältnismäßig viele Deklinationsklassen, die auf einem nur kleinen Satz von Flexionsmorphemen beruhen: e, (e)n, (e)s, er, ø und Umlaut. In zahlreichen linguistischen Arbeiten wird deshalb nach den inhärenten Gliederungsprinzipien gefragt (vgl. Wurzel 1994: 29). Extrempositionen gehen davon aus, dass jedes Wort samt seiner Deklinationsklasse wegen der „weitgehende[n] Unvorhersagbarkeit der Zuordnung eines Substantivs zu einem der zahlreichen Flexivsätze“ (Pavlov 1995: 82) erlernt werden muss. Die Systematisierungen der natürlichen Morphologie dagegen zielen auf eine Entlastung des mentalen Lexikons durch die Erstellung von Paradigmenstrukturbedingungen und Default-Implikationen ab (vgl. Wurzel 1994: 40). Von der Vielzahl der vorgeschlagenen Modelle sollen hier diejenigen skizziert werden, die der Einteilung in Deklinationsklassen eine Motiviertheit durch die Kategorisierungen Genus (Bittner; Wiese) oder Numerus (Eisenberg) zugrunde legen, eine solche Motiviertheit von vornherein ablehnen (Simmler) oder für eine getrennte Betrachtung des Singularparadigmas von dem des Plurals plädieren (Gelhaus; Helbig/Buscha). Allen in Abschnitt 4.1. dargestellten Modellen ist gemein, dass sie sich auf die Grundform als paradigmatische Ausgangsform beziehen, unter 4.2. wird eine Klassifikation nach dem Stammprinzip vorgestellt. 4.1
Grundformprinzip
4.1.1 Klassifikation nach dem Flexionsmorphemsatz (Simmler 1998) Eine Einteilung der Substantivdeklination rein nach dem Flexionsmorphemsatz (bei Simmler: Relationsmorphem) beruht auf der Ansicht, dass Paradigmen aus Oppositionen bestehen, die durch Identifikation und Distinktion die Klassenbildung bestimmen. Die Annahme von Makroklassen und Makroparadigmen und die damit angestrebte Beschreibungsökonomie wird abgelehnt, weil dadurch Oppositionen verloren gehen, die den Paradigmenbe-
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Substantiv
griff wesentlich prägen (vgl. Simmler 1998: 217, 219). Die von Simmler aufgestellten 13 Deklinationsklassen werden zwar so angeordnet, dass Übereinstimmungen in den Teilparadigmen erkennbar werden, Großklassen aber folgern nicht daraus: Klasse: Gramm. Kategorie:
A B C D E Fisch (m) Trübsal Geist (m) Hobel (m) Besen (m) Jahr (n) (f ) Brett (n) Mittel (n) Zeichen (n)
(F) Tochter (f )
Sg. Nom.
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Gen.
(ə )s
Ø
(ə )s
s
s
Ø
Dat.
ə, Ø
Ø
ə, Ø
Ø
Ø
Ø
Akk.
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Pl. Nom.
ə
ə
ər
Ø
Ø
Ø
Gen.
ə
ə
ər
Ø
Ø
Ø
Dat.
ən
ən
ə rn
n
Ø
n
Akk.
ə
ə
ər
Ø
Ø
Ø
G Uhu (m) Echo (n)
H Mutti (f )
I Frau (f )
J Mensch (m)
K Staat (m) Ohr (n)
L See (m) Ende (n)
(M) Herz (n)
Sg. Nom.
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Gen.
s
Ø
Ø
(ə )n, (ns)
(ə )s
s
ə ns, ə s
Dat.
Ø
Ø
Ø
(ə )n
ə, Ø
Ø
ən
Klasse: Gramm. Kategorie:
Akk.
Ø
Ø
Ø
(ə )n
Ø
Ø
Ø
Pl. Nom.
s
s
(ə )n
(ə )n
ən
n
ən
Gen.
s
s
(ə )n
(ə )n
ən
n
ən
Dat.
s
s
(ə )n
(ə )n
ən
n
ən
Akk.
s
s
(ə )n
(ə )n
ən
n
ən
Abb.: Deklinationsklassifikation nach Simmler (1998: 218)
Eine weitergehende Subklassendifferenzierung erfolgt durch die Anzahl der Grundmorpheme, deren phonologische Struktur (Opposition Fortis : Lenis) und das Vorhandensein des Umlauts: Subklasse a) Substantive mit nur einem Grundmorphem; Subklasse b) Substantive mit zwei Grundmorphemen (Fortis-Lenis-Opposition); Subklasse c) Substantive mit zwei Grundmorphemen (Umlaut).
398
Substantiv
Weitere Untergruppen, die sowohl den phonetischen Wortausgang berücksichtigen als auch das Genus miteinbeziehen, führen schließlich zu einer Feindifferenzierung von insgesamt 72 verschiedenen Paradigmen. Einige Deklinationsklassen (G, H, L, M) sind nicht an der Subklasseneinteilung beteiligt, und nur bei A, B und C ist mehr als ein Subklassifizierungsaspekt beteiligt. Deklinationsklasse A weist mit 26 Leitformen die umfangreichste Differenzierung auf. Durch den Einbezug der Fortis-Lenis-Opposition, die in den Grammatiken meist nicht in die paradigmatische Darstellung aufgenommen werden, ergibt sich eine maximale Differenzierung, die einer ökonomischen Systematisierung widerstrebt. Dass sie nicht unbegründet ist, zeigt beispielsweise Klasse B, in der der gesamte Singular mit ø gebildet wird, somit bei Substantiven wie Hand [hant] und Maus [maus] immer eine Wortform mit Fortisausgang vorliegt, wogegen die Pluralform stets einen Grundmorphemausgang mit Lenis, [hεndə] und [mɔizə]], aufweist. Der Fortis-Konsonant gibt damit in dieser Klasse immer einen Hinweis auf die Numeruskategorie des Singulars. Durch die Differenzierung der phonetischen Wortausgänge kann zudem die Realisierung der Morpheme (e)s als silbische oder unsilbische Endungen berücksichtigt werden. Die stärkste Untergliederung erfährt die Subklasse c, die zunächst nach den verschiedenen umlautfähigen Vokalen eingeteilt wird, dann das Genus und schließlich die phonetischen Wortausgänge einschließlich der Fortis-Lenis-Opposition berücksichtigt. 4.1.2 Getrennte Singular- und Pluralparadigmen Eine Möglichkeit, Großklassen zu bilden, ist die getrennte Betrachtung der Singular- und der Pluraldeklination, wie sie etwa von der Duden-Grammatik seit 1984 vorgeschlagen wird. Gelhaus unterscheidet drei Deklinationstypen im Singular (Kasusflexion) und fünf im Plural: S 1: (e)s-Singular
S 2: (e)n-Singular
S 3: Ø-Singular
Alle Neutra mit Ausnahme von das Herz und alle Maskulina, soweit sie nicht zu S2 gehören
Diejenigen Maskulina, die im Plural nach Typ P3 dekliniert werden und dabei ein Lebewesen bezeichnen (unbelebte Ausnahme: der Fels)
Alle Feminina
Abb.: Singulardeklination nach Gelhaus (Duden-Grammatik 1998: 226)
399
Nom. Gen. Dat. Akk.
Substantiv
P 1: e-Plural
P 2: Ø-Plural
P 3: (e)n-Plural
P 4: er-Plural
P 5: s-Plural
die Tag-e der Tag-e den Tag-en die Tag-e
die Segel der Segel den Segel-n die Segel
die Mensch-en der Mensch-en den Mensch-en die Mensch-en
die Bild-er der Bild-er den Bild-ern die Bild-er
die Oma-s der Oma-s den Oma-s die Oma-s
mit Umlaut: Nom. Gen. Dat. Akk.
die Bäch-e der Bäch-e den Bäch-en die Bäch-e
die Äpfel der Äpfel den Äpfel-n die Äpfel
mit Umlaut: die Wäld-er der Wäld-er den Wäld-ern die Wäld-er
Abb.: Pluraldeklination nach Gelhaus (Duden-Grammatik 1998: 229)
Werden diese Klassen miteinander kombiniert, so erhält man 10 Deklinationsklassen. Maskulina und Neutra werden meist zu einer Klasse zusammengefasst (Klassen I–V), in Klasse VI befinden sich nur schwache Maskulina, die Klassen VII–X umfassen nur Feminina. Etwa 90 % der Substantive sind den Paradigmen I (S1/P1), II (S1/P2) und IX (S3/P5) zuzuordnen. Zusätzlich zur Type-Frequenz (Häufigkeit im Wortschatz) werden auch die Token-Frequenzen (Häufigkeit im Text) angegeben; für die Ableitung des gesamten Paradigmas genügen drei Kennformen: der Nom. Sg. (1. Kennform), der Gen. Sg. (2. Kennform) und der Nom. Pl. (3. Kennform). In der Duden-Grammatik von 2005 (Gallmann) erfolgt zudem eine Einteilung in starke, schwache und gemischte Deklination, wobei sich der Terminus „schwach“ auf die Endungen -en/-n (außer im Nom. Sg.) bezieht; liegt diese Endung nur im Plural vor, spricht man von gemischter Deklination, alle übrigen Endungen sowie Endungslosigkeit werden der starken Flexion zugeordnet. Diese Einteilung, die auf die Qualität des stammbildenden Suffixes zurückgeht, ist aus synchroner Sicht nicht bedeutsam, da „Kasus- und Numerusflexion […] weitgehend entkoppelt“ (Gallmann in Duden 2005: 225) sind; dagegen wird das Genus als wichtigster Steuerungsfaktor erachtet (vgl. ebd.). Die 10 Klassen resultieren aus drei Grundregeln (G1–3), vier Zusatzregeln (Z1–4) und fünf Sonderregeln (S1–5) (vgl. ebd.: 183–186). Im Vergleich mit der Darstellung bei Simmler fehlt die dort als M (nur ein Type: Herz) etikettierte Klasse, die Klassen D und E werden im Duden in Klasse B zusammengefasst, die Klassen K und L in Klasse E. Hauptkritik Simmlers an der Darstellung von Gelhaus ist, dass „eine exakte Berücksichtigung der internen phonologischen Struktur der Morpheme […] nicht vorgenommen [wird]“ (Simmler 1998: 231).
400
Substantiv
Häufigkeit in % Gen.Sg.
Nom.Pl.
Beispiel
Wortschatz
Text
Maskulina und Neutra: stark A
-e G1
der Tag ⇒ des Tages, die Tage das Jahr ⇒ des Jahres, die Jahre
22,6
29,9
B
– G1/G3
der Balken ⇒ des Balkens, die Balken das Muster ⇒ des Musters, die Muster
13,1
9,3
-er S5
der Geist ⇒ des Geistes, die Geister das Bild ⇒ des Bildes, die Bilder
2,3
3,1
-s Z2, Z3, S4
der Uhu ⇒ des Uhus, die Uhus das Auto ⇒ des Autos, die Autos das Hotel ⇒ des Hotels, die Hotels
2,4
0,9
0,8
4,9
der Zeuge ⇒ des Zeugen, die Zeugen der Prinz ⇒ des Prinzen, die Prinzen
3,7
1,6
C
-es/-s
D
Maskulina und Neutra: gemischt E
-es/-s
-en/-n S2 S3
der Staat ⇒ des Staates, die Staaten das Ohr ⇒ des Ohres, die Ohren das Album ⇒ des Albums, die Alben
Maskulina (keine Neutra): schwach F
-en/-n
-en/-n S2
Feminina: stark G
-e S1
die Kraft ⇒ der Kraft, die Kräfte die Kunst ⇒ der Kunst, die Künste
1,3
1,3
H –
– S1/G3
die Tochter ⇒ der Tochter, die Töchter die Mutter ⇒ der Mutter, die Mütter
0,2
0,2
I
-s Z2, Z3, S4
die Kamera ⇒ der Kamera, die Kameras die Bar ⇒ der Bar, die Bars
0,2
0,02
die Frau ⇒ der Frau, die Frauen die Feder ⇒ der Feder, die Federn die Firma ⇒ der Firma, die Firmen
52,0
48,5
Feminina: gemischt J
–
-en/-n G2/G3 S3
Abb.: Deklinationsklassifikation nach Gallmann (Duden-Grammatik 2005: 226)
4.1.3 Einheitliche Paradigmen und Flexionsklassenmarkiertheit (Wurzel 1994) Auch in der Grammatik von Helbig/Buscha (1986: 236–248) wird eine Trennung in Singular- und Plural-Deklination vorgenommen, aber ohne Angabe der Kombinationen. So erscheinen die Paradigmen als voneinander unabhängig strukturiert, was zur Konsequenz hat, „daß zwar zwischen Singularform und Pluralflexion jeweils insgesamt bestimmte strukturelle Zu-
401
Substantiv
sammenhänge bestehen (können), nicht dagegen zwischen einzelnen Flexionsformen unterschiedlicher Numeri“ (Wurzel 1994: 30). Wurzel spricht sich für die Konzeption einheitlicher Substantivparadigmen aus, indem er annimmt, dass Flexionsparadigmen implikativ aufgebaut sind, was sich in verschiedenen „Paradigmenstrukturbedingungen“ (PSB) formulieren lässt, so etwa: „PSB i: Wenn ein Substantiv (in seiner Grundform) auf -e endet, dann hat es im Plural den Marker -n“ (ebd.). Zwar haben sich die Singular- und Pluralparadigmen aus sprachgeschichtlicher Sicht voneinander gelöst, doch sind numerusüberschreitende Implikationen erkennbar: Die Pluralform wird als „kanonische Kennform“ eingestuft, mittels derer sich alle diejenigen Gen.Sg.-Formen ableiten lassen, die nicht in der Grundform implizit vorhanden sind. Es ist demnach bei Nichtfeminina mit Pluralmarker -e/ø, -er oder -s die Gen.Sg.-Form -s aus dem Plural erschließbar, nicht aber umgekehrt die Pluralform aus dem Gen. Sg. Durch solche Paradigmenstrukturbedingungen kann das mentale Lexikon, gegenüber einer Annahme völlig losgelöster Singular- und Pluralparadigmen, entlastet werden, die Anzahl der Flexionsmerkmale wird von insgesamt neun auf fünf reduziert. Beispielsweise muss das Lexem Hund nicht mit dem Merkmal „Gen.Sg. -s“ und „Nom.Pl. -e“ abgespeichert werden, es genügt nach obiger Regel das Pluralmerkmal, über das der Gen. Sg. erschlossen werden kann. Außerdem werden im Falle miteinander konkurrierender Flexionsklassen eine präferente und eine nichtpräferente Flexionsklassenzugehörigkeit postuliert, wobei die Klasse mit der höheren Anzahl an Types als präferent gilt. Präferente Klassen weisen demnach eine hohe Flexionsklassenstabilität auf und ziehen Types nichtpräferenter Klassen an (Flexionsklassenübertritt). Wurzel bringt dies mit einem Markiertheitsstatus in Zusammenhang, indem nichtpräferente Flexionsklassenzugehörigkeit explizit spezifiziert ist, bei unmarkierter, präferenter Klassenzugehörigkeit werden automatisch Paradigmenstrukturbedingungen zugewiesen: Wurzel bezeichnet diese als „DefaultImplikationen“, etwa: „PSB 11: Wenn ein Substantiv maskulin ist und e/ø-Plural hat, dann hat es (per Default) Pluralumlaut“ (Wurzel 1994: 40). Im mentalen Lexikon werden damit mehr Lexeme ohne als mit Flexionsmerkmalen gespeichert, und in allen markierten Fällen genügt ein einziges Flexionsmerkmal. 4.1.4 Unterspezifizierte Paradigmen (Eisenberg 2006, Wiese 2006) Eine übersichtliche Darstellung nach markiertheitstheoretischen Merkmalen erreicht Eisenberg (2006), ausgehend von sechs Pluraltypen: Der s-Plural (6) wird ausgegliedert, da in der Regel ein unbetonter Vollvokal im Kern der
402
Substantiv
letzten Silbe als Bedingung vorliegen muss; eine zentrale Pluralregel5 gibt die unmarkierten Plurale der Feminina auf -en (2) und der Maskulina/Neutra auf -e an (1); eine zweite zentrale Pluralregel weist den Maskulina auf -e den Plural -n zu (markierter Plural, 3). Diese vier Plurale sind produktiv, zwei weitere Plurale (4 und 5) sind nicht mehr produktiv und werden gleichfalls als markiert angesehen. Mit der Erstellung so genannter „unterspezifizierter Paradigmen“ (Eisenberg 2006: 154, 168), in denen Formensynkretismen ausgeblendet werden und die Angabe von Gen. Sg. und Nom. Pl. als Kennformen genügt, sowie der Annahme, dass Numerus dem Kasus gegenüber die hierarchisch höhere Kategorisierung darstellt (ebd.: 153), gelangt Eisenberg schließlich zu folgender Übersicht: Maskulinum unmarkiert
Neutrum
es/e
Femininum es/e
1 markiert
en/en 3
s-Flexion
en 2
es/er, Umlaut 4
s/s
e, Umlaut 5
s/s
s
6 Notation: Gen.Sg./Nom.Pl.; bei nur einer Endung gilt: Nom.Pl., im Nom.Sg. liegt Ø vor. Abb.: Deklinationsübersicht nach Numerusmarkierung (nach Eisenberg 2006: 168)
Erkennbar wird so zum einen der enge paradigmatische Zusammenhang zwischen unmarkierten Maskulina und markierten Feminina sowie von unmarkierten Feminina und markierten Maskulina im Plural, zum anderen der Zusammenhang zwischen unmarkierten Maskulina und Neutra im Nom. Pl. sowie im Gen. Sg.; auch im Sonderfall der s-Flexion liegt ein identischer Morphemsatz für die Kennformen vor. Mit Zunahme der Markiertheit nimmt auch die Formdifferenzierung zu: Feminina und Neutra werden mit Umlaut gebildet, der Zusammenhang zwischen Maskulina und Neutra ist nicht mehr gegeben. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Einordnung der Nasalendung. Da eine Allomorphie des nasalen Flexivs mit allen Kasus- und Numerusmorphemen besteht, ergibt sich eine Vieldeutigkeit ohne klare funktionale Zuordnung (vgl. Wiese 2006: 22). Die Kennzeichnungsleistung der Nasalendung wird erst deutlich, wenn eine Neuordnung des traditionellen Paradigmas nach Markiertheit vorgenommen wird (vgl. ebd.: 24): Die acht Kategorien werden auf die Endpunkte eines dreistufigen Klassifikationssystems – Nu-
5 Zum „zentralen Pluralsystem“ vergleiche man Augst (1979: 224 f.).
403
Substantiv
merus, obliquer6 Kasus (Genitiv, Dativ) und Objektskasus (Dativ, Akkusativ) – verteilt (vgl. ebd.: 21), so dass der „kategoriale Raum“ in unterschiedlich stark markierte Bereiche zerlegt wird:
Abb.: Markiertheitsordnung der Paradigmenpositionen (Wiese 2006: 21)
Abb.: Kennzeichnungsleistung von -(e)n-Formen (Wiese 2006: 24)
Dieses Markierungsschema weist die nasale Dativ-Plural-Endung der starken Flexion (mask./neutr.) als hochmarkierte Form aus, da sowohl Numerus- als auch Kasusmarkierung vorliegt (vgl. ebd.: 26). 4.1.5 Genus als Klassifikationskriterium (Bittner 1994, Wiese 2000) Obwohl Simmler (1998: 217) eine charakteristische Verteilung der Genuskategorien auf die Flexionsklassen anerkennt und Gallmann (Duden 2005: 225) das Genus als „wichtigsten Steuerungsfaktor“ einstuft, geht nur Bittner (1994) so weit, die gesamte Deklinationsklassifikation am Genus auszurichten. Es werden abermals Paradigmenstrukturregeln formuliert, bezogen auf 6 Zu den Termini „casus rectus“ und „casus obliqui“ vergleiche man Meineke (1996: 167 f.)
404
Substantiv
Feminina und Nicht-Feminina, die „vom Genus ausgehend das Flexionsverhalten im Gen.Sg. und im Plural implizier[en]“ (Bittner 1994: 69). Diese beiden Formen dienen, wie schon bei der Klassifikation im Grammatik-Duden, als Kennformen der Paradigmenbildung: -ø / GEN.Sg. ⊃ PSB(A) [+ Fem.] -(e)n / Pl. PSB(B)
⊃
[-Fem.]
-(e)s / GEN.Sg. -e / Pl.
Abb.: Am Genus ausgerichtete Paradigmenstrukturregeln des Substantivs mit Kennformen (nach Bittner 1994: 69)
Bittner betrachtet diese Paradigmenstrukturbedingungen als „Default“-Regularitäten, die „faktisch das prototypische Flexionsverhalten aller Fem. bzw. aller Nichtfem.“ (ebd.) beschreibt. Ergänzt wird diese außermorphologisch motivierte Strukturbildung durch spezifische Regeln, die abweichendes Flexionsverhalten einbinden. Den Gedanken von einer genusmotivierten Flexionsklassensystematik greift Wiese (2000; 2006) auf und reduziert das Formenspektrum, indem er die schwache Deklination der adjektivischen Flexion zuordnet und somit von vornherein aus der Substantivdeklination ausklammert, auch der s-Plural wird als Sonderplural herausgenommen: Es bleiben vier Deklinationstypen, die nach Vorhandensein des Umlauts in Typ I und II untergliedert werden. Diese weisen nun genusabhängige Untertypen auf, ohne Umlaut gruppiert in Feminina und Nichtfeminina, mit Umlaut (* in der Tabelle) in Neutra und Nichtneutra unterteilt. Die Klasse A I bildet den unmarkierten Normalfall, die umgelautete Gruppe A II die größte markierte Klasse. Bildungen nach Typ B schließlich sind sehr viel seltener und gehen bei den Feminina des Typs B II gegen Null: Typ I
Typ II
(sonst) Typ A
M. Hund
Pl.-Bildung:
N. Schaf
Pl.-Bildung:
(sonst)
Zunge
M. Baum
-(e) (sonst)
Typ B
F.
M. Strahl
N. Auge -(e)n
-(e)n
N. F. Maus
Kalb
-(e)*
F.
(sonst)
-sal
M. Mann -(e)
Abb.: System der substantivischen Deklination (Wiese 2000: 150)
-er* N.
F. (Mark) -er*
Floß -(e)*
405 4.2
Substantiv
Stammprinzip (Harnisch 2001)
4.2.1 Flexion und Wortbildung Ein Deklinationsmodell, das nicht von der Grundform, sondern vom Stamm ausgeht, wird bei Harnisch (1994, 2001) vorgestellt. Die Nennformen des Sg. Nom. können im Vergleich mit den Diminutivbildungen und in der Wortbildung eine interne Strukturiertheit der Grundform zeigen, beispielsweise: Diminutivbildung: Derivation: Komposition:
Ros-e : Rös-lein Würd-e : würd-ig Schul-e : Schul-hof
Aufgrund der Ausweitung des Gegenstandsbereichs von der Flexion auf die Wortbildung, insbesondere die Derivation, am Rande aber auch die Komposition, werden die Termini Grundform- und Stammprinzip anstatt -flexion verwendet (vgl. Harnisch 2001: 16). Der Vergleich mit diesen Wortformen lässt den Stamm sichtbar werden, so dass entschieden werden kann, ob die „Endungen“ zur phonologischen Substanz des Stammes gehören oder ein eigenes Morphem konstituieren. An drei Beispielwörtern kann die synchronische Typologie verdeutlicht werden: GrundformPrinzip
Misch-/ Übergangsformen
Stammprinzip
Reg reg
en n
en
1 2
Wag Wag
en n
er
1 2
Wag Wäg
en *el
chen
1 2
Wag Wäg
en lein
1 2
Tropf tropf
en en
1 2
1 Basissubstantiv 2 Wort in Ableitungsbeziehung zu 1 * diminutives Stammbildungsallomorph? Abb.: Synchronische Typologie (Harnisch 2001: 5)
Substantiv
406
Wie die Substantive Tropfen und Regen zeigen, werden die Endungen dynamisch verstanden: Während bei Regen die Endung -en in Bezug auf das Verb regn-en als in die Basis integriert erscheint, bietet Tropfen die Möglichkeit einer Abspaltung der Endung und ihrer Ersetzung durch eine andere morphologische Einheit: tropf- en -en, Tröpf- en -chen. In der Wortfamilie von Wagen sind Übergangsformen zwischen Grundform- und Stammprinzip festzustellen. Nachstehende Übersichten zu den Deklinationsklassen des Deutschen tragen dem Stammprinzip Rechnung. Ausgehend von der Genus-Einteilung in Nichtfeminina und Feminina wird nach Pluralallomorphen sowie in schwache und nichtschwache Flexion (en- vs. es-Genitiv) unterschieden. Neben der Nennform werden Sg. Gen., Pl. Nom. und Pl. Dat. sowie eine Derivationsform angegeben. Die stammerweiternden und derivationellen Suffixe werden, mit Bindestrich versehen, in die rechts an den Stamm angrenzende Spalte aufgenommen, die Flexionsmorpheme werden in der wiederum rechts daran angrenzenden Spalte dargestellt. Das Alternationsverhältnis homonymer Suffixe bzw. Wortausgänge wird mit Index 1 und 2 erfasst (z. B. Sg. Tropf-en1 – Pl. Tropf-en2, Pl. Dim. Kind-er1-lein – Pl. Kind-er2). Diejenigen suffixartigen Wortausgänge, die weder durch Flexion noch durch Derivation vom Stamm abgespalten werden, sind durch ein Spatium vom Stamm abgesetzt und als zum Stamm gehörig eingeordnet (z. B. Vett er, Sof a). In die Deklinationstafeln sind Klassen von Substantiven mit Endelementen auf er und en (Bruder, Vetter, Mutter, Kammer, Zeichen) aufgenommen worden, um sie in ihrem flexivischen Verhalten mit Klassen von Substantiven mit den homonymen stammerweiternden Suffixen -en und -er (Sg. Tropf-en, Pl.Dim. Kind-er-lein) vergleichen zu können. Da es hier auf vorhandene oder nicht vorhandene morphologische Wortausgangsstrukturen ankommt, wird Umlaut als möglicher (Neben-)Marker von Plural und derivationellen Kategorien (wie Diminutiv) im Folgenden vernachlässigt. In einem ersten Block von Übersichten sind zunächst Paradigmen dargestellt, bei denen sich die Frage, ob das Grundform- oder Stammprinzip gilt, nicht stellt, da Stamm und Grundform (s. o. 3.) zusammenfallen. Bei allen deklinierten oder derivierten Formen ist die Nennform (Sg. N.) durch das gesamte Paradigma hindurch unverändert bewahrt. Zuerst werden nachfolgend Deklinationsklassen gegenübergestellt, bei denen es nichtfeminine und feminine Entsprechungen mit der einzigen regelmäßigen Abweichung gibt, dass die Nichtfeminina im Singular Genitiv ein (e)s-, die Feminina ein Ø-Suffix haben:
407
Substantiv
Nichtfeminina Num. Kas.
Stamm
Derivation
Feminina Deklination
Stamm
Deriva- Deklition nation
Plural auf -e Sg.N.
Hund
Sg.G.
Hund
-es
Maus
-Ø
Pl.N.
Hund
-e
Mäus
-e
Pl.D.
Hund
-en
Mäus
-en
Deriv. Hünd
Maus
-lein
Mäus
-lein
Plural auf -(e)n Sg.N.
Staat / Vett er
Sg.G.
Staat / Vett er
-(e)s
Bahn / Kamm er
-Ø
Pl.N.
Staat / Vett er
-(e)n
Bahn / Kamm er
-(e)n
Pl.D.
Staat / Vett er
-(e)n
Bahn / Kamm er
-(e)n
Deriv. staat / vett er
Bahn / Kamm er
-lich
Bähn / Kämm er -chen Plural auf -Ø
Sg.N.
Bruder / Zeich en
Sg.G.
Brud er / Zeich en
-s
Mutt er
-Ø
Pl.N.
Brüd er / Zeich en
-Ø
Mütt er
-Ø
Pl.D.
Brüd er / Zeich en
-n
Mütt er
-n
Deriv. brüd er / zeich n
Mutt er
-lich / -en
mütt er
-lich
Plural auf -s Sg.N.
Tank
Bar
Sg.G.
Tank
-s
Bar
-Ø
Pl.N.
Tank
-s
Bar
-s
Pl.D.
Tank
-s
Bar
-s
Deriv. Tank
-er
bar
-haft
Abb.: Paradigmen nichtfemininer und femininer Substantive bei Zusammenfall von Stamm und Grundform
Beim Pl. D. Zeichen wurde, analog zu Brüder-n und einem „fictitious agglutinating analogue“ (Lounsbury 1958: 380) folgend, ein zugrundeliegendes Suffix *-n angesetzt (*Zeichen-n), das mit dem Auslaut-n der Nennform verschmilzt, statt -Ø zu veranschlagen.
408
Substantiv
Stamm und Grundform fallen auch bei folgenden Nichtfeminina zusammen, zu denen es keine femininen Entsprechungen gibt. Die schwachen Maskulina haben en-Plural und zeichnen sich durch ein en-Suffix auch schon in den obliquen Singularkasus (darunter im Sg. G.) aus, die starken er-Plurale durch -es im Sg. G. und agglutinierende Plural-Dativ-Exponenz -er-n. Nichtfeminina schwache Maskulina mit en-Pl.
starke Nichtfeminina mit er-Pl.
Sg.N.
Bär
Sg.G.
Bär
-en
Haus
-es
Pl.N.
Bär
-en
Häus
-er
Pl.D.
Bär
-en
Häus
-er-n
Deriv. Bär
Haus
-chen
häus
-lich
Abb.: Paradigmen nichtfemininer Substantive (ohne feminine Entsprechung) bei Zusammenfall von Stamm und Grundform
In einem weiteren Block folgen Paradigmen, bei denen es nicht ohne Weiteres klar ist, ob die Nennform (Sg. N.) strukturiert ist, das heißt ein abtrennbares und ersetzbares stammerweiterndes Suffix enthält und folglich StammFlexion vorliegt (z. B. Sg./Pl. Aug-e/Aug-en, Tropf-en1/Tropf-en2), oder ob die Nennform unstrukturiert ist, das heißt kein solches stammerweiterndes Suffix enthält und folglich Grundform-Flexion vorliegt: Aug-e/Aug-e-n, Tropfen/Tropf-en-Ø. In einem gesamtmorphologischen Verfahren, das über spezifische Deklinationsklassen hinaus auch benachbarte, in Paradigmenpositionen außerhalb der Nennform gleichartig strukturierte Deklinationsmuster miteinbezieht und/oder über die Deklinationsmorphologie hinaus auch die Wortbildungsmorphologie berücksichtigt, lässt sich diese Frage jedoch immer zugunsten der Stammflexion entscheiden. Wenn man Paradigmen, die sich nur in der Nennform unterscheiden und ansonsten gleiche Suffixe aufweisen, aufeinander projiziert, erscheinen Käs-e (: Hund ), Aug-e (: Staat), Katz-e (: Bahn) und Has-e (: Bär) intern in Stamm und stammerweiterndes Suffix strukturiert, das mit den flexivischen Suffixen alterniert. Die Evidenz für das Stamm-Prinzip wird unabhängig davon auch dadurch gestärkt, dass dieses stammerweiternde Suffix mit morphologischen Einheiten der Wortbildung alterniert, also Käs-e : käs-ig, Aug-e : Äug-lein, Katz-e : Kätz-chen, Has-e : Häs-chen sowie Tropf-en : Tröpf-chen/tropf-enInf.. Zuerst werden auch hier wieder die Klassen gegenübergestellt, bei denen es nichtfeminine und feminine Entsprechungen gibt. Das Vergleichsparadigma von Fällen ohne stammerweiterndes Suffix in der Nennform, die im
409
Substantiv
Sinne der obigen Ausführungen die Projektionsfolie für die Fälle mit stammerweiterndem Suffix bilden, wird in Klammern mitaufgeführt: Nichtfeminina
Feminina
starke Substantive mit Plural auf -en stammerweiterndes e-Suffix (Typ Aug-e, Katz-e) Sg.N.
(Staat) Aug
Sg.G.
(Bahn) -e
(Staat) Aug
Katz -es
-e
(Bahn) Katz
-e
-Ø
Pl.N.
(Staat) Aug
-en
(Bahn) Katz
-en
Pl.D.
(Staat) Aug
-en
(Bahn) Katz
-en
Deriv. (staat
-lich)
Äug
(Bähn) Kätz
-chen
-lein
Abb.: Paradigmen nichtfemininer und femininer Substantive bei Abweichung von Stamm und Grundform
Solange kein Flexiv angefügt wird, das ein stammerweiterndes Suffix -e ersetzen würde, bleibt dieses Suffix erhalten; deshalb Sg. G. Katz-e-Ø vs. Aug-es (statt *Aug-e-s). Nur bei Nichtfeminina stellt sich die Frage nach dem morphologischen Status der Wortausgänge auf -en beim Typ Tropfen und auf -e bei den Typen Hase (schwaches Maskulinum) und dem Einzelfall Käse (starkes Maskulinum). Auch hier helfen Vergleichsfälle ohne suffixverdächtige Nennform, die in Klammern wieder als Projektionshintergrund mit angegeben werden: Nichtfeminina Plural auf -en stammerweiterndes en-Suffix (Typ Tropf-en) Sg.N.
(Staat)
Sg.G.
(Staat)
Tropf Tropf Pl.N.
(Staat) Tropf
Pl.D.
(Staat) Tropf
stammerweiterndes e-Suffix bei schwachen Maskulina (Typ Has-e) (Bär) Has
-en1
-e
-(e)s
(Bär) Has
-en
-en2
(Bär) Has
-en
-en2
(Bär) Has
-en1
Deriv. (staat
-lich)
tropf Tröpf
-enInf. -chen
(Bär) Häs
-en -chen
410
Substantiv
Plural auf -e stammerweiterndes e-Suffix beim starken Maskulinum Käs-e Sg.N.
(Hund) Käs
-e1
Sg.G.
(Hund) Käs
-es
Pl.N.
(Hund) Käs
-e2
Pl.D.
(Hund) Käs
-en
Deriv. (hünd
-isch)
käs
-ig
Abb.: Morphologischer Status der Nichtfeminina bei Wortausgang -en und -e
Einen Sonderfall stellen nichtfeminine Substantive mit er-Plural insofern dar, als bei ihnen entgegen den regulären „morphologischen Verkettungsbedingungen“ (Kloeke 1982) flexivische (hier pluralische) Einheiten vor derivationellen stehen zu können scheinen (Kind-erPl.-chenDim.): Nichtfeminina Plural auf -er Stamm Kind Stamm Sg.N.
St.erw./Deriv.
Dekl.
Kind
Sg.G.
Kind
-es
Pl.N.
Kind
-er
Pl.D.
Kind
-er-n
Deriv. kind
-lich
Kind
*-er *-lein
Abb.: Sonderfall Kind, Variante 1
Zur Lösung dieser Unregelmäßigkeit könnte man unter anderem folgende Paradigmen ansetzen: (a) eines mit dem an „Pluralität“ gekoppelten stammerweiternden Suffix -er und Ø-Plural (Kind-er-Ø), (b) eines mit dem an „Pluralität“ gekoppelten und nur einen Derivationsstamm erweiternden Suffix -er1 und Plural auf -er2:
411
Substantiv
Nichtfeminina Plural auf -Ø
Plural auf -er
(a) Pluralstamm-Erweiterung auf -er
(b) pluralische DerivationsstammErweiterung auf -er
Stamm
St.erw./Deriv.
Dekl.
Stamm
St.erw./Deriv.
Dekl.
Sg.N.
Kind
Sg.G.
Kind
-es
Kind
-es
Pl.N.
Kind
-er
-Ø
Kind
-er2
Pl.D.
Kind
-er
-n
Kind
-er2-n
Deriv. kind Kind
Kind
-lich
kind
-lich
-er -lein
Kind
-er1-lein
Abb.: Sonderfall Kind, Varianten 2 und 3
4.2.2 Fremdwortintegration Die Frage nach Grundform- oder Stammflexion stellt sich auch bei Substantiven, die einen erkennbar nicht-nativen Wortausgang haben. Da durch die vollen Vokale in den Endsilben der Fremdwörter keine Homophonie-Probleme entstehen (aporematisch Aug-e/Aug-e-n oder Aug-e/Aug-en, doch unzweifelhaft Pizz-a/Pizz-en), erweisen sie sich als wichtige Kontrollgruppe für die Annahme des Stammprinzips im einheimischen Wortschatz. Ausschlaggebend für die Flexion von Fremdwörtern sind zum einen die Häufigkeit des Gebrauchs, zum anderen die Erkennung bzw. Nichterkennung der Gegliedertheit, die auf fremdsprachlichem Vorwissen beruhen. Wird die interne Struktur nicht erkannt, so erhalten die auf Vollvokal auslautenden Substantive ein Plural-s (z. B. Variante Aula-s). Wird jedoch der Vokal als Stammerweiterung im Singular aufgefasst, so erfolgt auch Stammflexion im Plural (z. B. Variante Aul-en). Die daraus resultierende Regel „Wenn Stammerweiterung im Singular, dann Stammflexion im Plural“ (Harnisch 1994: 112) kann auf das gesamte System der Pluralbildung deutscher Substantive ausgedehnt werden. Stamm und Grundform sind identisch bei Substantiven wie Sof a oder Yucc a auf Vollvokal (s. o. native Fälle wie Vett er, Zeich en), die anders als Fremdwörter mit vollvokalischen stammerweiternden Suffixen wie Sald-o oder Firm-a, anders auch als native Substantive mit stammerweiterndem Suffix -e wie Katz-e oder Has-e (s. o.) den Vokal nicht abspalten und ersetzen, sondern ihn durch das gesamte Paradigma ziehen und den Plural mit -s bilden:
412
Substantiv
Nichtfeminina
Feminina Plural auf -s
Stämme mit vollvokalischem Wortausgang Sg.N.
Sof a
Sg.G.
Sof a
-s
Yucc a
-Ø
Pl.N.
Sof a
-s
Yucc a
-s
Pl.D.
Sof a
-s
Yucc a
-s
Deriv. Sof a
Yucc a
-lein
yucc a
-haft
Abb.: Paradigmen nichtfemininer und femininer fremdsprachlicher Substantive bei Zusammenfall von Stamm und Grundform
Pluralbildung und Derivation nach dem Stammprinzip weisen dagegen folgende Fälle auf. In diese Gruppe gehören neben Substantiven mit vollvokalischen Suffixen auch solche mit konsonantischen griechisch-lateinischen Suffixen: Nichtfeminina
Feminina Plural auf -en
stammerweiterndes vollvokalisches Suffix Sg.N.
Sald
-o
Sg.G.
Sald
-o
Pl.N.
Sald
Pl.D.
Sald
Deriv. sald
-ier-en
Sg.N.
Vot
-um
Sg.G.
Vot
-um
Pl.N.
Vot
Pl.D.
Vot
Firm
-a
-s
Firm
-a
-en
Firm
-en
Firm firm
-Ø -en -en
-ier-en
stammerweiterndes konsonantisches Suffix
Deriv. vot
Bas
-is
-s
Bas
-is
-en
Bas
-en
Bas
-ier-en
bas
-Ø -en -en
-ier-en
schwache Maskulina Sg.N.
Föt
-us
Sg.G.
Föt
-en
Pl.N.
Föt
-en
Pl.D.
Föt
Deriv. föt
-en -al
Abb.: Paradigmen nichtfemininer und femininer fremdsprachlicher Substantive nach dem Stammprinzip
413
Substantiv
Neben Pluralformen wie Aulas existieren normwidrige wie Lexikas, die mit den erstgenannten in der Bauform übereinzustimmen scheinen. Im ersten Fall jedoch entspricht die Bauform der Grundformflexion, während es sich im zweiten Fall um einen Hyperplural handelt (vgl. Harnisch 2002): Die Form Lexikas wird zu einem Stamm Lexika deanalysiert, anschließend wird, wie bei der Grundformflexion, ein -s addiert. Auf diese Weise wird eine als „schlecht“ empfundene Pluralmarkierung „verbessert“. Es handelt sich, da die Singularform ein *Lexika nicht belegt ist, um einen Hypoplural Lexika. Weitere Hyperplurale entstehen auf Grundlage von ta-Pluralen, etwa Stigmatas, oder von s-Pluralen, etwa Herrenslipse und Shrimpse (vgl. auch Wegener 2004: 90). Der s-Plural, der wohl nicht mit Anglizismen und Gallizismen in das Deutsche transferiert wurde, sondern sich vom Mittelniederdeutschen auf das Hochdeutsche ausgedehnt hat (vgl. Köpcke 1993: 152 f.), stellt zunächst die Default-Lösung für den Fremdwortplural dar, mit zunehmender Integration des Fremdwortes aber wird er „zugunsten einer systemgemäßen Pluralbildung ausgetauscht“ (vgl. ebd.: 154; Integrationskontinuum ebd.: 156). Wegener (2004: 48) zeigt anhand der Optimalitätstheorie, dass „der Wechsel von einer fremden Pluralform zu einer der zum deutschen System gehörenden Formen auch eine Optimierung von Pluralen darstellt“. Indem zu dem italienischen Plural Pizze zunächst „eindeutschend“, als Übergangsform, der strukturbewahrende Plural („Transparenzplural“) Pizzas und nicht gleich der stammmorphologisch abweichende Plural Pizzen gebildet wird (-e > -as > -en), kann sich das Fremdwort mit seiner klar erkennbaren Basis besser etablieren. Wenn der Bekanntheitsgrad ausreicht, setzt sich ein systemgemäßer Plural mit schwerer erkennbarer Basis durch (vgl. ebd.: 51, 106). 4.2.3 Domänen des Stamm-Prinzips Das Stamm-Prinzip kommt bei den Substantivklassen zum Tragen, die hier von Aug-e / Katz-e / Has-e / Käs-e / Sald-o / Firm-a (mit vokalischem stammerweiterndem Suffix) und von Tropf-en / Vot-um / Bas-is / Föt-us (mit konsonantischem) vertreten werden. In der Paradigmenposition Sg. G. sind die Fälle mit konsonantischem oder vollvokalischem stammerweiterndem Suffix zwar grundformflektierend (Tropf-en-s, Vot-um-s, Sald-o-s); dasselbe kann man auch für Fälle mit Sg. G. auf -Ø postulieren (Katz-e-Ø, Firm-a-Ø, Basis-Ø). Doch ihre Derivations- und/oder Pluralsuffixe „kappen“ (Kloeke 1982) nach dem Stamm-Prinzip die stammerweiternden Suffixe und alternieren mit ihnen (klare Hinweise auf die nach dem Stamm-Prinzip „gekappten“ Formen im Folgenden zuerst, aporematische nach „⇒“):
Substantiv
414
Äug-lein ⇒ Aug-en/Aug-e wie firm-ieren/Firm-en ⇒ Firm-a Häs-lein ⇒ Has-en/Has-e wie Bär-chen/Bär-en/Bär Tröpf-chen/tropf-enInf. ⇒ Tropf-en2/Tropf-en1 wie vot-ieren/Vot-en ⇒ Vot-um Dagegen behalten lautlich parallele, aber im Wortausgang a-morphische Fälle diesen Wortausgang durch das gesamte Flexions- und Wortbildungsparadigma hindurch (wieder die aussagekräftigsten Formen vor „⇒“): zeichn-en/zeichn-et ⇒ Zeichen/Zeichen-Ø (vs. Tröpf-chen/tropf-enInf/tropf-t ⇒ Tropf-en1/Tropf-en2) yucca-haft/Yucca-s ⇒ Yucca (vs. firm-ieren/Firm-en ⇒ Firm-a) 5
Ikonizität und Schemata der Pluralbildung
Prinzipien der natürlichen Morphologie (Markiertheit, Ikonizität) spielen bei der Klassifikation der substantivischen Deklinationsklassen eine wichtige Rolle. Im Bereich der Pluralbildung sind die Flexionsendungen meist ikonisch motiviert, das heißt, „[w]as semantisch ‚mehr‘ ist, sollte auch konstruktionell ‚mehr‘ sein“ (Mayerthaler 1981: 25). Die Pluralformen lassen sich als Schemata fassen: „Ein Schema wird […] definiert als eine ausdrucksseitige Gestalt, der eine spezifische Regelhaftigkeit in dem Sinne anhaftet, daß sie ein bestimmtes Konzept, hier das der Mehrzahligkeit, wiederholt ausdrucksseitig repräsentiert. […] Schemata sind dynamische und nicht endgültig fixierte Strukturen, die nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit verläßliche Hinweise auf die durch sie signalisierte Funktion bereitstellen.“ (Köpcke 1993: 72). Von den verschiedenen ausdrucksseitigen Möglichkeiten der Pluralmarkierung gilt nur eine als absolut eindeutig, nämlich diejenige, bei der die Artikelform die vorausgeht und das Substantiv auf -en endet. Die verschiedenen Numerus-Schemata können als ein Kontinuum angeordnet werden, wobei das ideale Singular-Schema den einen Endpunkt, das ideale Plural-Schema den anderen einnimmt (vgl. Köpcke 1993: 87). Von Bedeutung sind dabei die Silbenzahl, der Wortausgang und die außermorphologischen Kategorien feminin – nichtfeminin:
415
Substantiv
Singular Einsilbigkeit, finaler Plosiv der/das-Klasse
Plural Mehrsilbigkeit, finales -er, der/das-Klasse
der Bart Sg. der Stift Sg. die Kunst Sg. der Wald Sg. der Vater Sg.
Mehrsilbigkeit, finales -e, die-Klasse die Biene Sg. die Drüse Sg. die Bärte Pl. die Stifte Pl. die Künste Pl.
Mehrsilbigkeit, finales -er, die-Klasse
Mehrsilbigkeit, finales -(e)n, die-Klasse die Bienen Pl. die Drüsen Pl.
die Wälder Pl. die Väter Pl. die Mutter Sg. die Mütter Pl.
Abb.: Schemata der Pluralbildung (nach Köpcke 1993: 88 f.) Anordnung nach Auslaut, tendenzielle Einrückung nach Artikel-Klasse und Umlaut
Für die Interpretation einer Wortform als Singular- oder Pluralform ist der relationale Faktor von Bedeutung (vgl. ebd.: 89). So kann eine Singularform rechts des Zentrums eines Kontinuums liegen, also mit einem Schema gebildet werden, das tendenziell größere Signalstärke Richtung Plural zeigt, wenn die Pluralform dem idealen Pluralschema entspricht (z. B. wegen des Umlauts im Singular: die Drüse – die Drüsen). So ist schließlich auch eine Überlagerung von Singular und Plural in einem Schema möglich. 6
Periphrase und „substantivum infinitum“
Die traditionelle Paradigmenstruktur mit ihren „acht bikategorial differenzierten morphologischen Formen eines identischen Wortes“ (Pavlov 1995: 30) wurde aufgrund der großen Zahl von Synkretismen häufig als unbefriedigend kritisiert: Zum einen versuchte man, diese durch die Reduktion der Paradigmenpositionen auf die sich morphologisch unterscheidenden Formen zu umgehen, so dass unterspezifizierte Paradigmen entstanden sind (s. Abschnitt 4.1.4). Diese aber können wiederum, diesmal wegen ihrer Uneinheitlichkeit, kritisiert werden, denn je nach Deklinationsklasse weisen die Paradigmen nun zwei bis vier Positionen (mit dem fakultativen -e im Dat. Sg. wären es sogar fünf Positionen) auf, so dass sich fünf verschiedene Paradigmen ergeben (vgl. Thieroff 2006: 330). Zum anderen ergibt sich durch den Einbezug des Artikels in das Paradigma die Möglichkeit, die Zahl der Synkretismen zu mindern. Neben dem bestimmten Artikel gibt es zwar zahlreiche andere Substantivbegleiter, die aber alle die gleichen Endungen aufweisen. Nach Ágel (1996) werden diese in die einzelnen Paradigmenpositionen mit aufgenommen:
416
Substantiv
Sg.
Pl.
Nom.
r Wein
e Weine
Akk.
n Wein
e Weine
Dat.
m Wein(e)
n Weinen
Gen.
s Weines
r Weine
Abb.: Substantivparadigma, erweitert mit der Endung des Substantivbegleiters (nach Thieroff 2006: 333)
Damit ist aber das Paradigma noch nicht vollständig, denn nicht immer muss ein Begleiter beim Substantiv stehen: Das Substantiv „[darf ] genau dann und nur dann nicht flektiert werden […], wenn ihm kein flektiertes Element vorangeht“ (Thieroff 2006: 334). Wird also die substantivische Flexion als Periphrase aus Artikelwort und Nomen betrachtet, muss auch die unflektierte Form, der kein flektiertes Artikelwort vorangeht, in das Paradigma mit aufgenommen werden. Beispielsatz: Sie trinkt gern Wein/Weine. –
Wein
Weine
Werden weitere syntaktische Verwendungsweisen berücksichtigt, gelangt man schließlich zu einem Paradigma mit 14 Positionen (Beispiel Präsident, Thieroff 2006: 336), also fast doppelt so viele wie bei der traditionellen Notation mit acht Positionen. Im Zuge der Nicht-Flexion des Substantivs wird auch die Frage diskutiert, ob das „verbale Konzept der (In-)Finitheit […] analogisch auf das Substantiv übertragen“ werden kann (Ágel 2006: 287; Hervorhebung im Original), was im Übrigen auch für das Adjektiv vorgeschlagen wird (vgl. Fuhrhop 2006: 276 f.). Beim Substantiv werden die Bedingungen für Infinitheit kontrovers diskutiert (vgl. Ágel 2006; Fuhrhop 2006). Thieroff (2006: 352) lehnt das Konzept ab, da sich keine den Verbalperiphrasen entsprechenden aus finiten und infiniten Teilen zusammengesetzte Substantivkonstruktionen bilden lassen und „kein durchgängiger Funktionsunterschied von flektierten und unflektierten Formen auszumachen“ ist (ebd.). 7
Wortbildung
Entsprechend der dominanten Stellung in der Lexik weist die Wortart Substantiv einige Besonderheiten in der Wortbildung auf: Nicht nur Bildungsprozesse innerhalb der Wortart zeigen eine große Vielfalt, auch bei Suffixderivationen stellt das Substantiv sowohl als Ausgangskategorie (45 % aller
417
Substantiv
Suffixe) als auch als Zielkategorie (60 % aller Suffixe) die wichtigste Wortart dar (vgl. Fleischer/Barz 2007: 84–86). Im Folgenden sollen einige zum Teil ausschließlich beim Substantiv vorkommende Wortbildungseigenschaften kurz beschrieben werden. 7.1
Fugenelemente
Die häufig an Kompositionsfugen erscheinenden Elemente e, n, en, s, es, ns, ens und er (vgl. Eisenberg 2006: 227, ausgehend von der Grundform) zeigen „keine eindeutige Funktion und keine klare Systematik“ (Fuhrhop 1996: 525), vielmehr muss von einem Zusammenspiel von Phonologie, Morphologie, Syntax und Semantik ausgegangen werden (vgl. ebd.: 526). Nur das Auftreten in der Komposition lässt eine Funktion in der Bildung der Kompositionsstammvariante erkennen, doch ist auch diese Zuweisung problematisch, da die Mehrzahl der Komposita kein Fugenelement enthält („Nullfuge“, vgl. Eisenberg 2006: 236), bzw. sogar substraktive Verfahren angewandt werden (z. B. Schul-hof < Schul-e). Da diese Elemente auch als Flexionsmorpheme erscheinen können, aber nicht immer auch im Paradigma des Bestimmungswortes vertreten sind, werden paradigmische (z. B. Essensmarke, Gen. Sg. des Essens) und unparadigmische (z. B. Geburtstag, Gen. Sg. der Geburt) Fugenelemente unterschieden (vgl. Fuhrhop 1996: 534 f.). Aus sprachhistorisch-syntaktischer Perspektive liegt den Fugenelementen wohl ein vorangestellter Genitiv (z. B. des Kalbes Fleisch), aus synchronisch-semantischer Perspektive eine Pluralform zugrunde (z. B. Bücherregal, Remotivation als paradigmische Fuge). Doch ist diese Erklärung für die synchronen Verhältnisse oft nicht zureichend, wie sowohl das unparadigmische s als auch semantisch nicht motivierbare „Pluralelemente“ (z. B. Hühnerei) zeigen (vgl. ebd.: 531 f.; s. o. Abschnitt 4.2.1. zu Kinderlein). Auf jeden Fall ist eine „Morphologisierung“ eingetreten, das heißt, ehemals syntaktische Konstruktionen gehen in morphologische Einheiten mit der Funktion, eine Kompositionsstammvariante herzustellen, über (vgl. Fuhrhop 2000: 201, 212). 7.2
Movierung und Diminution
Die beiden produktivsten unter den kategorienerhaltenden Suffixen sind das zur Diminution verwendete Suffix -chen und die zur Movierung genutzte Endung -in (vgl. Eisenberg 2006: 273). Allein mit diesen Affixen ist eine doppelte Suffigierung unter Beibehaltung der Wortart möglich (vgl. ebd.: 281), z. B. Tracht-ler-in; Beiß-er-chen. Ob allerdings die Diminution zur Derivation oder zur Flexion zu rechnen ist, wird kontrovers diskutiert (vgl. dazu
Substantiv
418
Schnabel 2000: 186, Anm. 147). Dressler (1994: 142) sieht sie als nicht-prototypische Derivation an und lehnt eine eigene, dritte Affigierungsklasse „Diminution“ ab. Im weiteren Sinne, unter onomasiologischem Blickwinkel (vgl. Fleischer/Barz 2007: 8), zählt zur Diminution auch verbale und adjektivische Modifikation wie bei läch-el-n und kränk-lich (vgl. ebd.: 86; zum Begriff „Modifikation“ vgl. Meineke 1996: 263 f.). Zum Suffix -lein besteht im Standarddeutschen eine phonologisch determinierte Allomorphie, nur in seltenen Fällen wird semantisch differenziert (z. B. das Frauchen – das Fräulein); zudem werden umlautfähige Stammvokale in der Regel umgelautet. Umgangssprachlich und dialektal kann eine Präferenz für eines der beiden Suffixe vorliegen. Durch die Verkleinerung erfolgt eine „Geschlechtsabstraktion“, es liegt eine semantische Motivierung des neutralen Genus vor (vgl. Eisenberg 2006: 273 f.). Durch die Movierung mit -in werden feminine Entsprechungen zu maskulinen Substantiven gebildet, wodurch das mentale Lexikon erheblich entlastet und die Genuszuweisung über den Kopf der Wortbildung reguliert wird. Zahlreiche weitere Suffixe (vgl. Duden 2005: 165–168) bestimmen das Genus und damit auch die Flexionsklasse des Wortes. 7.3
Nominalisierung und Nominalstil
Unter dem Begriff „Nominalisierung“ werden die vielfältigen Wortbildungsprozesse der expliziten Ableitung und der Konversion gefasst, die zur Bildung eines Substantivs führen. Durch den häufigen Gebrauch vor allem abstrakter Substantive, die Sätze mit finiten Verben ersetzen, wird der so genannte Nominalstil geprägt. Weitere Kennzeichen dieses Stils sind mehrfache Genitivstufungen und die Häufung von Präpositionalattributen sowie der Gebrauch von Funktionsverbgefügen (z. B. zum Einsatz kommen anstelle von einsetzen; vgl. Eroms 2000: 162–170) und erweiterte Partizipialattribute (auch: Kanzleistil), durch die ganze Sätze in die Nominalphrase integriert werden können. Obwohl von Sprachpflege und -kritik häufig als „Papierstil“ verurteilt, dient diese Vertextungsstrategie einer komprimierten Informationsstruktur und stellt in den Bereichen Verwaltung, Technik und Wissenschaft einen durchaus angemessenen Stilzug dar (vgl. Bußmann 2002: 472). 7.4
Spezifisch onymische Morphe
Die Nomina propria stellen einen großen Teil der Substantive. Durch spezifisch onymische (propriale, onomastische) Morphe (vgl. Harnisch/Nübling 2004: 1904) bilden sich Familiennamensysteme heraus. Gegenüber etwa dem polnischen Familiennamensystem, in dem onymische Suffixe in-
419
Substantiv
tensiv verwendet werden, wurde das deutsche durch seine amtliche Fixierung im 17. Jahrhundert in einem Zustand eingefroren, der den Prozess, der zu onymischen Morphemen führt, erkennen lässt. Die Endung -ert beispielsweise entstand durch die Abschwächung von ehedem motivierten, lexikalisierten Basismorphemen wie -hard, -fried oder -brecht; durch die lautliche und semantische Abschwächung des Zweitglieds des Namens, beispielsweise Gott-fried > Göpf-ert, wird ein reihenbildendes onymisches Suffix -ert aus der Lautkette „ausgeschieden“, das dann analog auf andere Namen übertragen werden kann. So kann beispielsweise der Name Schreinert durch eine sekundäre t-Erweiterung des Namens Schreiner oder der Name Kleinert durch Suffigierung des Namens Klein mit diesem -ert erklärt werden, reanalysiert ergibt sich die Struktur Schrein-ert, Klein-ert (vgl. Nübling i. E.). 8
Nominalphrase
Syntaktisch gesehen ist das Substantiv der Kopf einer Nominalphrase. Durch den Artikel und das Substantiv wird eine Nominalklammer ausgebildet, die mit der Verbalklammer vergleichbar ist (vgl. Eroms 2000: 137, 253). In dieser Klammer können adnominale Attribute stehen, aber auch außerhalb, postnominal, sind Attribute möglich, etwa Genitiv- oder Präpositionalattribute. Von besonderem Interesse für die Substantivmorphologie ist der Artikel, der nicht nur zur syntaktischen Klammerbildung beiträgt, sondern auch wichtige morphologische Informationen des Substantivs trägt, die an diesem selbst nicht immer erkennbar sind, wie etwa die Kasusmarkierung oder das Genus. Aus diesem Grund wird auch die Aufnahme des Artikels in das substantivische Flexionsparadigma diskutiert (s. Abschnitt 6). Die „Interdependenz“, die Eroms zwischen Artikel und Substantiv annimmt, kann schematisch in ihrem Wegverlauf dargestellt werden (vgl. Eroms 2000: 253; dazu auch Harnisch 2003: 417):
Abb.: Regelungsinstanzen in der Nominalphrase (Eroms 2000: 253)
Substantiv
420
Die Artikellosigkeit (vgl. Eroms 2000: 256 f.) allerdings kann wiederum als Indiz dafür betrachtet werden, „dass die rein morphematische Betrachtungsweise, nämlich dem Artikelmorphem […] die kasuelle Markierung des Substantivs und damit der Nominalgruppe zuzuweisen, dem Artikel zuviel aufbürdet“ (Eroms 2000: 249). In besonderen Textsorten, etwa in Zeitungsschlagzeilen, kann die Flexion bei Artikellosigkeit kompensatorisch vom Substantiv übernommen werden: Stichwahl entscheidet über Präsidenten in Nordzypern (vgl. Thieroff 2006: 334 f.). Zwar inkorrekt, aber Indiz für das Bestreben, Flexionsverlust bei Artikellosigkeit durch Flexion am Substantiv zu kompensieren, wenn es, wie bei den schwach flektierenden Maskulina mit ihrer Affinität zur nominalen/ schwachen Adjektivflexion, möglich ist, stellen Formulierungen wie Hauptrival-em davongefahren oder Frau beim Joggen von Berglöw-em getötet dar. Im eigentlichen Text, in dem die Substantive „begleitet“ sind, werden diese Komprimierungen dann aufgelöst (fuhr sein-em Hauptrival-en davon / von ein-em Berglöw-en getötet): „Kompression und expansive Normalform sind syntaktische Äquivalente“ (Harnisch 2006: 396; vgl. das Prinzip der Monoflexion in der Artikel-Adjektiv-Phrase sowie Harnisch/Trost 2009). 9
Ausblick: Substantivmorphologie in typologischer und varietätenlinguistischer Sicht
Sprachgeschichtlich entwickelte sich die deutsche Substantivmorphologie von kumulativ markiertem Kasus und Numerus im Althochdeutschen zur Markierung der Numerusdistinktion bei gleichzeitiger Kasusangleichung im Neuhochdeutschen. Insgesamt lässt sich eine Reduktion des synthetischen Sprachbautyps erkennen, das agglutinative Potential (Numerusmarkierung, bei Ansatz von Kind-er-n „Pl.-Dat.“ auch Numerus-Kasus-Verkettung) und das isolierende Potential (Ausbildung des Artikels) dagegen wurden ausgebaut, so dass das heutige Deutsch als ein sprachtypologischer Mischtyp charakterisiert werden kann (Wurzel 1996: 508). Die Numerusprofilierung fand nicht nur Eingang in die neuhochdeutsche Standardsprache, sondern auch ihren Niederschlag in den mündlich tradierten Sprachformen. Während dort die Reduktion der Kasus weiter fortgeschritten ist und durch weitgehende Aufgabe des Genitivs und Zusammenfall von Akkusativ und Dativ zu einem Drei- bzw. Zweikasussystem führte (vgl. Roelcke 1997: 132), ist die Numerusdifferenzierung „noch entscheidende Schritte weitergegangen, die den meisten Theorien morphologischen Wandels, die gerne additiv-agglutinierende Verhältnisse sähen, zuwiderlaufen“ (Nübling 2005: 46). Zahlreiche (morpho)phonologische Prozesse wie Lenisierung, Fortisierung, Sonorisierung, Reduktion und Substi-
421
Substantiv
tution der Auslautkonsonanz sowie Dehnung, Kürzung, Nasalierung, segmentale und tonale Modifikation des Stammvokals führen zu amorphen Strukturen, in denen die Pluralkategorie mehrfach ausgedrückt sein kann (vgl. ebd.: 63f.). Gerade für die Numerusdifferenzierung gilt deshalb die Faustregel „Yesterday’s phonology is today’s morphology“ (Rowley 1997: 56). Doch nicht nur in Dialekten sind morphologische Entwicklungen erkennbar, die sich jenseits einer schriftsprachlich basierten Analyse abspielen. Eisenberg weist darauf hin, dass alphabetsprachlich kodifizierte Sprachen einen „ausgeprägten symbolgrammatischen Zug“ besäßen (Eisenberg 1995: 27). Doch bereits in der deutschen Standardlautung ist die Synkope der Schwa-Laute in Flexionssilben gestattet (vgl. Duden-Grammatik 2005: 55) und führt zu neuen, von der Schriftsprache abweichenden Paradigmen, in denen, entgegen der schriftsprachlich deutlichen Agglutination in der substantivischen Pluralmorphologie, die Fusion zweier Endungspositionen (Pluralund Kasusposition) neues Gewicht erhält (vgl. Harnisch 2000: 376):7 Mediale Varieteät:
Schriftsprache (schrift)symbolgrammatisch
Gesprochene Sprache Standardlautung
Sg. Pl. Pl.Dat.
Tisch Tisch-e Tisch-e-n
Tisch Tisch-e Tisch-n
Typologische Interpretation:
Agglutination
Fusion
Abb.: Gegenüberstellung von agglutinierender Flexion (Schriftsprache) und fusionierender Flexion (gesprochene Sprache)
Literatur Ágel, Vilmos (1996): „Finites Substantiv“. Zeitschrift für germanistische Linguistik 24: 16–57. Ágel, Vilmos (2006): „(Nicht)Flexion des Substantiv(s). Neue Überlegungen zum finiten Substantiv“. Zeitschrift für germanistische Linguistik 34: 286–327. Augst, Gerhard (1979): „Neuere Forschungen zur Substantivflexion“. Zeitschrift für germanistische Linguistik 7: 220–232. Bittner, Dagmar (1994): „Die Bedeutung der Genusklassifikation für die Organisation der deutschen Substantivflexion“. In: Köpcke, Klaus-Michael (Hrsg.): Funktionale Untersuchungen zur deutschen Nominal- und Verbalmorphologie. Tübingen, Niemeyer: 65–80. (= Linguistische Arbeiten 319). Bußmann, Hadumod (Hrsg.) (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kröner. Dressler, Wolfgang U. (1994): „Diminutivbildung als nicht-prototypische Wortbildungsregel“. In: Köpcke, Klaus-Michael (Hrsg.): Funktionale Untersuchungen zur deutschen Nominal- und Verbalmorphologie. Tübingen, Niemeyer: 131–148. (= Linguistische Arbeiten 319).
7 Zur Auswirkung auf eine Interpretation der Paradigmenstrukturen als grundform- bzw. stammflektierend vergleiche man Harnisch (2000: 373–377).
Substantiv
422
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Rüdiger Harnisch/Günter Koch u Superlativ Höchste Steigerungsform des Adjektivs, z. B. am schönsten, tiefsten, besten. → Adjektiv u Suppletivform; Suppletivstamm (von lat. supplere ‚auffüllen‘). Wenn verschiedene Wortstämme zur Bildung eines einzigen Paradigmas verwendet werden, so spricht man von Suppletivstämmen oder -formen. Im Deutschen ist das Verb sein ein besonders gutes Beispiel für dieses Verfahren: Es verwendet drei verschiedene Verbstämme, wie sie in den Formen sein/sind, bin/bist und war/gewesen durchscheinen. Aber auch die Komparativform besser zu gut ist ein Beispiel für einen Suppletivstamm. → Verb u synthetisch Von einer synthetischen Form spricht man, wenn verschiedene Elemente zu einer Form verschmelzen. Dies ist beispielsweise im Deutschen beim Präteritum der Fall, wo die Tempusendung -te fest mit der Verbform verbunden ist: ich lachte. Das Gegenteil ist etwa beim Perfekt der Fall, das analytisch gebildet wird, d.h., Hilfsverb und Hauptverb sind und bleiben voneinander getrennt: ich habe gelacht. Oft wird die Unterscheidung synthetisch/analytisch auch zur Charakterisierung ganzer Sprachen verwendet, in denen die eine oder andere Bildungsweise überwiegt. → Verb u szenisches Präsens Das szenische Präsens ist ein Präsens mit Vergangenheitsbezug, das oft auch als Unterkategorie des historischen Präsens angesehen wird. Der Vergangenheitsbezug muss durch ein vergangenheitsbezogenes Adverbial hergestellt werden. Ein szenisches Präsens kommt besonders in lebhaften Schilderungen in der gesprochenen Sprache vor: Treff ich doch gestern den Alex. Sagt der glatt zu mir: … → Präsens
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Tempus
T u Tempus 1
Überblick
Tempus ist, sehr vereinfacht ausgedrückt, ein sprachliches Mittel, mit dem ein Ereignis innerhalb eines zeitlichen Rahmens verankert wird – im Gegensatz zum Aspekt, mit dem der zeitliche Rahmen eines Ereignisses in seinen Grenzen festgelegt wird. Mit anderen Worten: Tempus ist ein sprachliches Mittel, um anzuzeigen, wann ein Ereignis stattfindet, das heißt, um den Zeitpunkt eines Ereignisses zu einem anderen Zeitpunkt in Beziehung zu setzen. Eine solche Verankerung eines Ereignisses in der Zeit kann natürlich auch mit lexikalischen Mitteln erfolgen, also etwa mit Temporaladverbien wie gestern oder damals. Anders als solche Möglichkeiten zum Ausdruck eines Zeitbezugs ist ein Tempus jedoch ein grammatisches Mittel. Davon, dass eine Sprache ein Tempus hat, spricht man daher nur, wenn morphologische oder morphosyntaktische Markierungen des Verbs grammatikalisiert worden sind, um Ereignisse in einem Zeitrahmen zu verankern. Um anzuzeigen, wann etwas passiert ist, kann man auf zwei konzeptuell verschiedene Arten vorgehen: man kann entweder ein absolutes oder aber ein relatives Tempus benutzen (siehe hierzu ausführlicher im Folgenden, Abschnitt 2 und 3). Der grundlegende Unterschied zwischen diesen beiden Tempuskonzepten besteht darin, dass eine Sprache entweder den Zeitpunkt eines Ereignisses in Beziehung zu einem anderen, vorher definierten Zeitpunkt setzt (relatives Tempus) oder aber einen direkten Bezug zum Sprechzeitpunkt herstellt (absolutes Tempus). Im ersteren Fall findet ein Ereignis (E) entweder vor, nach oder zur gleichen Zeit wie ein bereits zuvor gegebener Bezugszeitpunkt (B) statt, der mit dem Sprechzeitpunkt identisch sein kann. Indem man diese Art der Zuordnung als relatives Tempus bezeichnet, wird zugleich deutlich gemacht, dass die Position des Ereignisses E nur von B abhängt und damit von allen anderen Faktoren wie etwa dem Sprechzeitpunkt (S) unabhängig ist. Alternativ dazu ereignet sich E im zweiten Fall beim Gebrauch eines absoluten Tempus entweder vor, nach oder gleichzeitig mit dem Sprechzeitpunkt, was bedeutet, dass E in einem absoluten Zeitrahmen verankert wird, denn S kann nur in der unmittelbaren Gegenwart liegen, dem Jetzt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass das, was genau mit Jetzt gemeint ist, erst durch den Sprecher bzw. die Person definiert wird, die den Sprechakt
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Tempus
ausführt. Daher gibt es in den meisten Sprachen der Welt die Möglichkeit, ein fiktives Jetzt zu schaffen, bei dem man das reale Jetzt mit einer vorgestellten Gegenwart vertauscht – etwa indem man sich gedanklich in eine Geschichte hineinversetzt, die in der Vergangenheit spielt. Viele Sprachen verfügen über eine duale Tempusunterscheidung, also eine duale grammatische Markierung der Zeit, bei der Verben in Abhängigkeit davon, ob etwas in der Vergangenheit oder der Nicht-Vergangenheit bzw. alternativ in der Zukunft oder der Nicht-Zukunft geschieht, einen markiert/unmarkiert-Gegensatz aufweisen (vgl. Payne 2006: 236). Ein Beispiel für ein System, das zwischen Vergangenheit und Nicht-Vergangenheit unterscheidet, findet sich im Ngiyambaa,1 einer Pama-Nyunganischen Sprache, die in Australien gesprochen wird (vgl. Gordon 2005):2 (1) a. yuruÙ -gu Regen-ERG ‚Es regnete.‘ b. yuruÙ -gu Regen-ERG ‚Es regnet.‘
Ù idjiyi regnen.PAST Ù idja-a regnen-PRES (Donaldson 1980: 160)
Beispiel (1) zeigt, dass die beiden unterschiedlichen Tempusmarkierungen im Ngiyambaa nur etwas darüber aussagen, ob ein Ereignis im ‚Jetzt‘ oder ‚vor dem Jetzt‘ stattfindet. Ein System, das zwischen Zukunft und Nicht-Zukunft unterscheidet, liegt hingegen beispielsweise im Kolyma Yukaghir vor, einer Sprache, die in Jakutien und auf der Halbinsel Kamtschatka in Russland gesprochen wird (vgl. Gordon 2005): modo-j (2) a. terikie-die iÙ d’e-t alt.Frau-DIM nähen-SS:IPFV sitzen-INTR:3SG ‚Die alte Frau sitzt da und näht/saß da und nähte.‘ b. met qanin+ere kel-te-je ich wann-INDF kommen-FUT-INTR:1SG ‚Ich werde eines Tages kommen.‘ (Maslova 2003: 168 f.)
1 Der duale Kontrast der Aktualität (actualis/irrealis) des Ngiyambaa wir hier nicht mit einbezogen, da er als Modus und nicht als Tempus einzuordnen ist. 2 Bei den Beispielen aus Grammatiken und Sprachbeschreibungen wurden die Interlinearversionen nur dort, wo dies problemlos möglich war, ins Deutsche übersetzt. In allen anderen Fällen wurden die autorspezifischen Versionen übernommen.
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Tempus
Satz (2a) sagt nur aus, dass das beschriebene Ereignis nicht in der Zukunft stattfindet. Er kann also sowohl mit ‚Die alte Frau sitzt da und näht.‘ (also im Präsens) als auch mit ‚Die alte Frau saß da und nähte.‘ (also im Präteritum) übersetzt werden. Satz (2b) hingegen kann nur als auf die Zukunft bezogen verstanden werden. Es gibt auch Systeme, in denen die Hauptunterscheidung darin besteht, ob etwas ‚heute‘ oder ‚nicht-heute‘ geschieht (hodiernal vs. hesternal; Terminologie nach Dahl 1985). Tatsächlich ist dies die am weitesten verbreitete Unterscheidung zwischen verschiedenen Vergangenheitstempora in einer Sprache (vgl. Dahl/Velupillai 2005b: 269). Ein Beispiel für ein solches hodiernal/hesternal-System wäre das Nama, eine Khoisan-Sprache, die in Namibia, Botswana und Südafrika gesprochen wird (vgl. Gordon 2005): (3) a. Ritama-ca tuts-ui Stadt-zu gehen-PAST ‚Ich ging heute zur Stadt.‘ b. Ritama-ca tutsu-icuá Stadt-zu gehen-PAST ‚Ich ging gestern/vor ein paar Tagen zur Stadt.‘ c. Ritama-ca tutsu-tsuri Stadt-zu gehen-PAST ‚Ich ging vor langer Zeit zur Stadt.‘ (Bybee u. a. 1996: 98) Beispielsatz (3a) zeigt eine hodiernale Vergangenheitsform, bei der ein Ereignis vor dem Sprechzeitpunkt, aber am selben Tag stattfand. Im Gegensatz dazu sind die Sätze in (3b) und (3c) prähodiernal, das heißt, beide Ereignisse traten vor dem auf, was der Sprecher als ‚heute‘ betrachtet. Die beiden prähodiernalen Vergangenheitstempora unterscheiden sich im Grad der Entfernung vom Sprechzeitpunkt. Wie Beispiel (3) zeigt, können Sprachen auch im Grad der Feindifferenzierung variieren, die ihre Tempussysteme in Bezug auf die Nähe des Ereignisses zum Sprech- oder Bezugszeitpunkt machen. In diesen Fällen drücken die verschiedenen grammatischen Formen nicht nur aus, ob das Ereignis vor, nach oder gleichzeitig mit dem Sprech- oder Bezugszeitpunkt eintritt, sondern es wird auch die Länge der damit verbundenen Zeitspanne mit berücksichtigt oder, wenn man so will, die Entfernung zwischen dem Ereignis und dem Sprech- oder Bezugszeitpunkt. Solche Sprachen unterscheiden dann etwa auch zwischen unmittelbarer und entfernter Vergangenheit oder Zukunft. Ein Beispiel für ein besonders reiches System von Unterscheidungs-
Tempus
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möglichkeiten für Zeitpunkte, die mehr oder weit entfernt in der Vergangenheit liegen, ist das Yagua (eine Peba-Yaguan-Sprache in Peru; vgl. Gordon 2005), das fünf Unterscheidungsgrade für Entfernung in der Vergangenheit aufweist: (i) -jada ‚ferne/legendäre Vergangenheit‘; (ii) -tíy ‚vor bis zu ein/ zwei Jahren‘; (iii) -siy ‚vor einer Woche bis zu einem Monat‘; (iv) -jay ‚vor einem Tag‘ (in Bezug auf die Äußerung); (v) -jásiy ‚vor ein paar Stunden, vor kurzem‘ (in Bezug auf die Äußerung) (vgl. Payne/Payne 1990: 386–388). Das Perfekt, das in Punkt 4 zu besprechen sein wird, fällt aus diesem Paradigma heraus (vgl. z. B. Comrie 2006), da es zwei Punkte auf dem Zeitstrahl umfasst, nämlich sowohl das Ereignis selbst als auch den Bezug- oder Sprechzeitpunkt. In Abhängigkeit davon, welche konkrete morphologische Form benutzt wird, um die Abfolge von Ereignissen auszudrücken, kann ein Tempus, wie in Abschnitt 5 noch genauer zu zeigen sein wird, entweder analytisch oder synthetisch sein. Tempora können somit entweder durch eine Verbalphrase ausgedrückt werden, die im typischen Fall aus dem Hauptverb und mindestens einem Hilfsverb besteht; dann spricht man von einem analytischen Tempus. Oder aber die Verortung eines Ereignisses auf dem Zeitstrahl erfolgt durch die Flexion des Verbs; in diesem Fall spricht man von einem synthetischen Tempus. Darüber hinaus kennen manche Sprachen ferner eine so genannte Consecutio temporum (siehe hierzu ausführlicher in Abschnitt 6), das heißt, sie haben ein festes System, nach dem das Tempus des untergeordneten Satzes durch das Tempus des Hauptsatzes bestimmt wird. In diesen Fällen wird das Tempus des untergeordneten Satzes nicht durch die Bedingungen der wirklichen Zeit oder der realen Situation festgelegt, sondern durch das Tempus, das im Hauptsatz vorliegt, selbst wenn dies im Einzelfall möglicherweise zu einem Tempusgebrauch führt, der keinerlei logische Beziehung zur außersprachlichen Wirklichkeit aufweist. 2
Absolute Tempora
Üblicherweise wird ein absolutes Tempus so definiert, dass es das Ereignis oder den Ereigniszeitpunkt (E) entweder vor, nach oder gleichzeitig zu dem gegenwärtigen Augenblick, das heißt zum Sprechzeitpunkt (S), positioniert, also E im Verhältnis zu S (Comrie 2006; vgl. aber auch Klein 2003 zur Diskussion des Begriffs „topic time“). Auf einem Zeitstrahl kann man also Vorzeitigkeit (absolute past) darstellen, indem man E vor S stellt, wie dies in Abbildung 1 gezeigt wird:
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Tempus
Abbildung 1 Vorzeitigkeit: Das Ereignis findet vor dem Sprechzeitpunkt statt.
Der nachfolgende Satz (4) zeigt ein Tempus der Vorzeitigkeit am Beispiel des deutschen Verbs rutschen im Präteritum. Es drückt aus, dass das Ereignis stattfand, bevor der Erzähler davon berichtet: (4) Das kleine Gespenst rutschte unruhig auf dem Eichenast hin und her. (Preußler 2006: 20) Mithin entspricht Gleichzeitigkeit (absolute present) dann dem in Abbildung 2 dargestellten Fall E simul S, wobei simul für ‚simultan mit‘ steht:
Abbildung 2 Gleichzeitigkeit: Das Ereignis findet gleichzeitig mit dem Sprechzeitpunkt statt.
Die Äußerung des Uhus in Beispielsatz (5) zeigt einen solchen Fall von Gleichzeitigkeit: (5) „Reden wir nicht vom Tageslicht“, bat er, „mir tun bei dem bloßen Wort die Augen weh! Ich finde, der Mondschein ist hell genug, heller mag ich es gar nicht.“ (Preußler 2006: 19) Hier stehen die Verben (weh)tun, finden, sein und mögen alle im Präsens, um anzuzeigen, dass den Uhu die Augen zur selben Zeit schmerzen, zu der er darüber spricht, und dass seine Meinung über das Mondlicht ebenso wie seine Vorlieben in Bezug auf das Licht im Allgemeinen zum Sprechzeitpunkt gültig sind.3 Andererseits zeigt Nachzeitigkeit (absolute future) an, dass S vor E oder E nach S erfolgt; mit beiden Ausdrucksmöglichkeiten kann dieselbe Beziehung ausgedrückt werden, die in Abbildung 3 dargestellt ist:
Abbildung 3 Nachzeitigkeit: das Ereignis findet nach dem Sprechzeitpunkt statt.
3 Das Verb reden steht zwar ebenfalls im Präsens, in diesem Fall drückt die Verbform jedoch Modalität aus und wird daher an dieser Stelle nicht berücksichtigt.
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Ein Satz wie im nachfolgenden Beispiel 6 illustriert einen Fall von Nachzeitigkeit, in dem der Sprecher durch die Futurform werde (ich nicht) sein anzeigt, dass das Ereignis erst nach dem Sprechzeitpunkt stattfindet oder gültig sein wird. (6) Ob wir Glück haben mit der Rathausuhr oder nicht – morgen um diese Zeit werde ich jedenfalls nicht mehr im Städtchen Eulenberg sein, das steht fest. (Preußler 2006: 125) 3
Relative Tempora
Während absolute Tempussysteme den Ereigniszeitpunkt auf den Sprechzeitpunkt beziehen, stellt ein relatives Tempus eine Beziehung zwischen E und einem gegebenen Bezugszeitpunkt (reference point; auch: Betrachtzeit) in der Zeit her. Wie beim absoluten Tempus nimmt E einen Punkt auf dem Zeitstrahl ein, liegt dabei aber zugleich vor, nach oder gleichzeitig mit etwas anderem. Ein relatives Vergangenheitstempus (anterior tense), also E vor B, könnte dann folgendermaßen dargestellt werden:
Abbildung 4 Relatives Vergangenheitstempus: das Ereignis findet vor dem Bezugszeitpunkt statt.
Ein Beispiel für ein relatives Vergangenheitstempus dieses Typs kann im Pidgin English Ghanas gefunden werden, wo das Ereignis nur in Bezug auf den gegebenen Kontext lokalisiert wird. In Beispiel (7) bezeichnet das unmarkierte Verb hapin ein Ereignis, das vor den danach ausgedrückten Bezugszeitpunkt bat nau gestellt wird hapin fɔ kɔÙ kɔmba pipu, dè dè kam (7) nitin anything happen for Kokomba people 3PB NPU come kɔmplen tu Dagɔmba tʃif. … bat nau … dè wan tu g t complain to Dagomba chief but now 3PB INT to get d ξ on indipnd ns 3PP own independence ‚(formerly) the Kokombas referred anything that happened to the Dagomba chief. But now they want to get their independence‘ (Huber 1999: 219)
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Tempus
Dabei darf man jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass der Bezugszeitpunkt nicht unbedingt mit dem Sprechzeitpunkt identisch sein muss. Tatsächlich ist der Sprechzeitpunkt bei einem reinen relativen Tempus ziemlich unwichtig. So finden sich Beispiele für relative Vergangenheitstempora, die Ereignisse vor dem Sprechzeitpunkt bezeichnen, aber auch solche, mit denen Ereignisse nach dem Sprechzeitpunkt ausgedrückt werden. Man vergleiche dazu Abbildung 5 und 6:
Abbildung 5 Die relative Vergangenheit (E vor B) findet vor dem Sprechzeitpunkt statt.
Abbildung 6 Die relative Vergangenheit (E vor B) findet nach dem Sprechzeitpunkt statt.
Ein Beispiel für das in Abbildung 5 dargestellte relative Vergangenheitstempus wäre etwa der englische Satz I can see that you emptied the bag before putting it on the shelf. In diesem Satz ist der Bezugzeitpunkt B die Handlung, bei der die Tasche auf die Ablage gestellt wird, während E – zeitlich vor B gelegen – der Akt des Ausleerens der Tasche ist, aber beide Handlungen erfolgten vor S (I can see). Ein Beispiel für die in Abbildung 6 dargestellte Relation E vor B nach dem Sprechzeitpunkt wäre hingegen ein Satz wie I assure you that I will have left when you come home. Hier findet E (mein Gehen) vor B (dein Heimkommen) statt, aber die gesamte Ereignisfolge E vor B wird erst nach dem Sprechzeitpunkt – also dem Zeitpunkt, zu dem ich die Versicherung abgebe – stattfinden. Das relative Präsens, E simul B, funktioniert ganz genauso:
Abbildung 7 Relatives Präsens: Das Ereignis liegt auf dem Zeitstrahl an derselben Stelle wie der Bezugszeitpunkt.
Abbildung 7 illustriert den Fall E simul B, bei dem das Ereignis zeitgleich mit einem gegebenen Bezugszeitpunkt stattfindet. Auch hier ist zu beachten,
Tempus
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dass der Bezugszeitpunkt nicht unbedingt mit dem Sprechzeitpunkt identisch sein muss. Ein Beispiel für ein relatives Präsens wäre etwa Humming while walking to the door …, wo die Handlung des Summens und des Gehens gleichzeitig vollzogen werden. Keine der beiden Handlungen, die gleichzeitig stattfinden, ist hier auf irgendeinen Sprechzeitpunkt bezogen. So kann E simul B vor dem Sprechzeitpunkt erfolgen wie in Humming while walking to the door, he opens it wide when I say hello, wo E simul B (Summen und Gehen) vor S (Öffnen der Tür, während ich grüße) stattfindet. Tatsächlich kann die ganze Passage sogar vollständig in die Vergangenheit versetzt werden, wie dies etwa in I told you that I was certain I saw him yesterday, he was humming while walking to the door der Fall ist; hier legt told eindeutig fest, dass der Sprecher sich auf etwas bezieht, was vor der Äußerung stattfand. Theoretisch könnte E simul B aber auch erst nach dem Sprechzeitpunkt erfolgen, obwohl ein Satz wie As I put my finger to the bell I know he will be humming while walking to the door vielleicht etwas konstruiert wirkt. Hier würde das Summen und Gehen erfolgen, nachdem ich an der Tür geläutet habe, was ich gerade erst tue. Schon deutlich weniger konstruiert wirkt der Satz, wenn sämtliche Ereignisse in die Zukunft verlagert werden, auch wenn es die nahe Zukunft ist, etwa in: When I tell him that it is his long-awaited friend who is ringing the door-bell, he will be humming while walking to the door. Hier bezieht sich der Sprecher auf die künftigen Handlungen, ein gleichzeitiges Summen und Zur-Tür-Gehen, das erfolgt, nachdem die Information übermittelt wurde, dass der, der da läutet, der lang erwartete Freund ist. Neben relativen Präsens- und Vergangenheitstempora finden sich auch Beispiele für ein relatives Futur (oder Posterior), bei dem das Ereignis nach dem Bezugszeitpunkt stattfindet, wie in Abbildung 8 illustriert wird:
Abbildung 8 Relatives Futur: Das Ereignis findet nach dem Bezugszeitpunkt statt.
In einem Satz wie He will do it if he is asked wird nur gesagt, dass das Ereignis (er wird etwas tun) nach dem Bezugszeitpunkt (er wird gefragt) stattfinden wird. Abermals gilt es zu beachten, dass der Sprechzeitpunkt sowohl vor als auch nach dem relativen Tempus liegen kann. Genau wie bei E simul B ist auch das relative Futur E nach B nicht davon abhängig, wann S erfolgt. Man betrachte beispielsweise einen Satz wie She asks him if he will go to the shop before they close, wo der Sprechzeitpunkt (sie fragt) vor dem Fall E nach B liegt, wobei E das Schließen des Geschäfts ist und B das Zum-Geschäft-Gehen. In einem Satz wie He says that it’s no use going because the shop would have closed
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before he arrived liegt S (er sagt) hingegen nach E nach B. Zu der Zeit, als er die Aussage macht, ist das Geschäft noch nicht geschlossen, aber in der Zukunft wird es geschlossen sein (E), und zwar bevor er dort ankommt (B). 4
Das Perfekt
Das Perfekt verkompliziert die Beschreibung der Tempora, da es weder dem absoluten noch dem relativen Paradigma zugerechnet werden kann. Während absolute und relative Tempora Ereignisse vor, nach oder gleichzeitig mit einem gegebenen Zeitpunkt auf dem Zeitstrahl (entweder dem Sprech- oder dem Bezugszeitpunkt) positionieren, drückt das Perfekt Ereignisse aus, die vor einem gegebenen Punkt auf dem Zeitstrahl stattfinden; ausschlaggebend ist dabei aber, dass sie an diesem Punkt noch relevant sind. Eine vereinfachte Darstellung hiervon findet sich in Abbildung 9, wo E, obwohl vor S oder B gelegen, auch zum Zeitpunkt S oder B noch relevant ist.
Abbildung 9 Perfekt: Das Ereignis findet vor dem Sprech-/Bezugszeitpunkt statt, hat aber zu diesem Zeitpunkt immer noch Gültigkeit.
Das Perfekt umspannt also zwei verschiedene Punkte auf dem Zeitstrahl, denn obwohl das Ereignis selbst vor dem Bezugzeitpunkt stattfindet, ist es doch zum Zeitpunkt S oder B noch gültig, das heißt, es hat immer noch Auswirkungen oder ist in einer sonstigen Weise für den gegebenen Bezugzeitpunkt von Bedeutung (vgl. Dahl/Velupillai 2005c). Man beachte die Bedeutungsunterschiede im Tempus der unterstrichenen Verben in Beispiel (8): (8) „I’m awfully sorry“, said Bilbo, „but I have come without my hat, and I have left my pocket-handkerchief behind. […] I didn’t get your note until after 10.45 to be precise.“ (Tolkien 1987: 28) Zwei der Verben (said und didn’t get) stehen im Präteritum (past tense). Sie zeigen an, dass die erzählten Ereignisse (bzw. im zweiten Fall die Abwesenheit des Ereignisses) vor der Erzählzeit stattfanden, das heißt, hier liegen einfache Beispiele von E vor S vor. Have come und have left (behind) stehen hingegen im Perfekt, um anzuzeigen, dass die Ereignisse (kommen und liegen lassen) vor dem Zeitpunkt stattgefunden haben, zu dem Bilbo sie erzählt – er ist bereits in der Vergangenheit gekommen, da er nun anwesend ist, und er hat sein Taschentuch liegen lassen, bevor er davon spricht. Beide Ereignisse sind
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jedoch im dem Moment, da er über sie spricht, noch gültig: Bilbo ist da, und er hat kein Taschentuch dabei. Man kann diesen Perfektgebrauch daher auch als resultativ bezeichnen, da die Ereignisse, auf die Bezug genommen wird (kommen und liegen lassen), zu Resultaten geführt haben, die bis zum Sprechzeitpunkt andauern (Dahl/Velupillai 2005c). Im Deutschen sind die Verhältnisse etwas komplizierter: (9) Der Uhu schlug mit den Flügeln, als gelte es, die Erinnerung an jenen unglückseligen Morgen abzuschütteln. „Und darum“, beschloss er seine Geschichte, „habe ich mir geschworen in Zukunft immer darauf zu achten, dass ich bei Tagesanbruch zu Hause bin. […]“ (Preußler 2006: 24) Man könnte zunächst annehmen, dass in (9) genau die Tempusfunktionen vorliegen, die eben beschrieben wurden: Die ersten beiden Verben (schlug und beschloss) stehen im Präteritum [Perfekt vs. Präteritum] und zeigen an, dass das Erzählte vor der Erzählzeit stattgefunden hat, also E vor S. Das dritte (habe geschworen) steht im Perfekt, um anzuzeigen, dass der Eid vor dem Zeitpunkt erfolgt ist, zu dem der Uhu davon berichtet, aber im Augenblick des Sprechens nach wie vor gültig ist. Was für das vorliegende Beispiel zutrifft, lässt sich jedoch für die moderne deutsche Sprache nicht mehr verallgemeinern, da das sprachgeschichtlich ältere Präteritum durch das jüngere Perfekt verdrängt wird und in großen Teilen des Sprachgebiets in der gesprochenen Sprache schon nicht mehr erhalten ist (vgl. Bybee u. a. 1996: 85). Durch diesen Verdrängungseffekt verschiebt sich die Bedeutung des Perfekts, und in vielen Verwendungskontexten ist es inzwischen zu einem einfachen Vergangenheitstempus geworden, in dem die Bedeutungskomponente ‚zum Zeitpunkt S/B noch gültig‘ nicht mehr enthalten ist. Daher sind Äußerungen wie Während meines Studiums habe ich in Berlin gelebt problemlos möglich, auch wenn der Sprecher hier ein Ereignis beschreibt, das zum Sprechzeitpunkt keine Gültigkeit mehr hat, da er inzwischen an einem anderen Ort lebt. Diese Erscheinung kann nicht nur im Deutschen beobachtet werden; es scheint vielmehr eine grundsätzliche Entwicklungstendenz zu geben, die vom Perfekt zu einem einfachen Vergangenheitstempus führt (vgl. Lehmann 1995: 29). Wenn das Perfekt genutzt wird, um ein Ereignis zu beschreiben, das wiederholt oder über eine längere Zeitspanne hinweg stattfand, nennt man es auch „experentiell“ [experentielles Perfekt] (experiential; Terminus nach Dahl/Velupillai 2005c). Ein Beispiel wäre It has been known to happen before, womit der Sprecher ausdrückt, dass das, was jetzt gerade geschieht, nicht ein-
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Tempus
malig ist, da es sich auch in der Vergangenheit schon wiederholt ereignet hat, und dass das Wissen um diese Ereignisse noch vorhanden ist. Auch im Deutschen findet sich dieser Gebrauch gelegentlich, etwa in Sätzen wie Ein Unglück ist schnell geschehen. Das gesamte Strukturschema eines Ereignisses, das vor einem gegebenen Zeitpunkt stattfindet, aber zu diesem Punkt immer noch relevant ist, kann nun seinerseits wiederum zum Sprechzeitpunkt in Beziehung gesetzt werden und so zum Plusquamperfekt (past perfect, pluperfect) und zum Futur II ( future perfect) führen. Diese Tempora umspannen drei verschiedene Punkte auf dem Zeitstrahl; E, welches vor B stattfindet (aber zum Zeitpunkt B noch relevant ist), wobei dies wiederum zusammengenommen im Verhältnis zu S dargestellt wird. Im Falle des Plusquamperfekts wird das Perfekt vor das Jetzt, vor den Moment der Äußerung gesetzt, wie dies in Abbildung 10 verdeutlicht wird:
Abbildung 10 Plusquamperfekt (past perfect, pluperfect): Das Ereignis findet vor dem Bezugszeitpunkt statt, ist aber zu diesem Zeitpunkt immer noch relevant; dies alles liegt wiederum vor dem Sprechzeitpunkt.
Ein Beispiel für die Konstellation E vor B (aber noch relevant zum Zeitpunkt B), die vor S liegt, wäre I had already hung all the laundry outside when it started to rain so now I have to take it all down again. Hier liegt das Ereignis zum Sprechzeitpunkt im Jetzt und wird daher im Präsens ausgedrückt (have to), während das Ereignis vor dem Jetzt, nämlich B, im Präteritum steht (started). Das Ereignis, das in Beziehung zu B steht und zum Zeitpunkt B ebenfalls relevant ist, nämlich E, steht im Plusquamperfekt (had hung), da die Wäsche noch auf der Leine hing, als es zu regnen begann. Was das Futur II (future perfect) angeht, so findet sich hier abgesehen davon, dass S nunmehr vor E liegt, derselbe Konstellationstyp; man vergleiche dazu Abbildung 11:
Abbildung 11 Futur II (future perfect): Das Ereignis findet vor dem Bezugspunkt statt, ist zu diesem Punkt aber noch gültig; all dies liegt nach dem Sprechzeitpunkt.
Ein Beispiel für das Futur II wäre: I am sure that he will have eaten it all before we arrive there, wo der Sprecher zum Sprechzeitpunkt S im Jetzt vorhersagt
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Tempus
(I am sure), dass E (he will eat) zum Zeitpunkt B (when we arrive) schon der Vergangenheit angehören wird. Während sich das Perfekt nicht in die absolut/relativ-Dichotomie einordnen lässt, könnte man die Ansicht vertreten, dass sowohl das Plusquamperfekt als auch das Futur II sich hier durchaus einfügen lassen, da sie notwendig zum Sprechzeitpunkt in Beziehung stehen, was sie zu absoluten Tempora macht. In der deutschen Grammatikschreibung werden diese beiden Tempora allerdings durchweg als relative Tempora angesehen. Für diese Einteilung ist ausschlaggebend, dass sie notwendig einen Bezugspunkt B beinhalten, zu dem ein Ereignis in Beziehung gesetzt wird. 5
Analytische und synthetische Tempora
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Sprachen die zeitliche Abfolge von Ereignissen ausdrücken können. Typischerweise bestehen diese Strategien darin, entweder das Verb durch lexikalische Suppletierung oder morphologische Mittel zu verändern oder aber eine Verbalphrase zu verwenden (vgl. Payne 2006: 237). Sehr oft nutzt eine einzelne Sprache verschiedene Strategien für verschiedene Zeitbezüge. Hierfür kann das Deutsche als Beispiel dienen, in dem sich alle drei Strategien finden, wobei allerdings die letzteren beiden die gebräuchlicheren sind: (10) lexikalische Suppletierung: synthetische Tempusbildung (Flexion): analytische Tempusbildung (Verbalphrase):
ich bin vs. ich war (Präteritum) ich komme vs. ich kam (Präteritum) ich sage vs. ich sagte (Präteritum) ich lobe vs. ich werde loben (Futur) ich laufe vs. ich bin gelaufen (Perfekt)
Natürlich bildet eine isolierende Sprache auch ihre Tempora analytisch. Es gibt aber auch Sprachen, die überhaupt keine Tempusmarkierungen vornehmen; dann bestimmt der Kontext darüber, wie eine Äußerung zu verstehen ist. Ein Beispiel hierfür wäre !Xu, eine Khoisan-Sprache, die in Südafrika gesprochen wird (vgl. Gordon 2005). So kann der Satz Ha úá Tjùm!kúí entweder präsentisch als ‚Er geht nach Tsumkwe‘, präterital als ‚Er ging nach Tsumkwe‘ bzw. ‚Er ist nach Tsumkwe gegangen‘ oder futurisch als ‚Er wird nach Tsumkwe gehen‘ übersetzt werden (vgl. Dickens 2005: 25). Wenn eine Sprache analytische Tempora aufweist, folgt daraus jedoch nicht automatisch, dass sie keine morphologischen Markierungen für grammatische Funktionen kennt. Gerade das Deutsche ist hier ein gutes Beispiel, wie sich in (10) gezeigt hat: Zum einen gibt es sowohl analytisch als auch synthetisch gebildete Tempora, zum anderen macht es bei analytischer Tem-
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Tempus
pusbildung zusätzlich noch von morphologischen Mitteln Gebrauch. Viele europäische Sprachen sind zwar flektierend, tendieren aber dennoch dazu, ein analytisches Futur zu bilden (vgl. Dahl/Velupillai 2005a: 270). Das bedeutet natürlich nicht, dass das Futur immer analytisch gebildet wird. Knapp die Hälfte der von Dahl/Velupillai (2005a) untersuchten Sprachen – genauer gesagt: 110 von 222, wobei sich kein spezifisches allgemeingültiges Muster erkennen lässt – bilden ihr Futur mit Hilfe von Flexion. Unter den Sprachen, die Dahl (1985) und Bybee u. a. (1996) untersucht haben, markiert deutlich mehr als die Hälfte ihre Vergangenheitstempora synthetisch. Auch wenn dies keine Regel im strikten Sinne ist, liegt die Annahme nahe, dass das Futur in Sprachen, die sowohl analytische als auch synthetische Tempusmarkierungen verwenden, eher analytisch gebildet wird. Synthetische und analytische Tempusmarkierungen gehen aber nicht nur synchron, sondern auch diachron ineinander über, da viele synthetische Tempora aus analytischen Formen hervorgegangen sind, während umgekehrt analytische Markierungen Verwendung finden können, um vorhandene synthetische Formen zu erneuern und zu stärken (vgl. Lehmann 1995: 23 f.). Im Deutschen stellen die Tempora Perfekt, Plusquamperfekt und Futur (I wie II) analytische Bildungen dar, deren Herkunft trotz vollständiger Grammatikalisierung der Formen teilweise durchaus noch erkennbar ist. So lässt sich die Bildung des Perfekts mit sein [Grammatikalisierung des Perfekts] und dem Partizip eines Vollverbs, die nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen indoeuropäischen Sprachen zu beobachten ist, noch leicht auf die prädikative Konstruktion zurückführen, aus der es ursprünglich hervorgegangen ist: Das Schiff ist gesunken < ‚Das Schiff ist ein gesunkenes‘. In den slawischen Sprachen zeigt sich die ursprünglich prädikative Natur dieser Konstruktion nach wie vor deutlich in der Genus- und Numeruskongruenz des Partizips mit dem Subjekt, so etwa im Serbischen: Pismo [NEUTR.SG] je stiglo [NEUTR.SG] ‚Der Brief ist eingetroffen‘; Koleginice [FEM.PL.] su stigle [FEM.PL.] ‚Die Kolleginnen sind eingetroffen‘ etc. (vgl. Hentschel 2003: 291–293). Etwas komplexer sind die Zusammenhänge beim Perfekt, das aus dem Verb ‚haben‘ und einem Partizip Perfekt hervorgegangen ist. Diesem Perfekt liegt ursprünglich eine Haben-Relation („h-possessive“, vgl. Heine/Kuteva 2002: 245) mit einem Objekt zugrunde, wie sie etwa im lateinischen Beispielsatz habeo epistulam [AKK.SG] scriptam [AKK.SG] ‚ich habe den Brief (als einen) geschriebenen‘, deutlich an der morphologische Kongruenzmarkierung erkennbar ist. Auch im modernen Französischen findet diese Objektrelation noch in der Kongruenz des Partizips ihren Niederschlag, allerdings nur dann, wenn das Objekt als vorangestelltes Pronomen erscheint ( je l’ai
Tempus
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écrite zu j’ai écrit la lettre). Im Deutschen hingegen sind keine morphologischen Spuren dieses ursprünglichen Zusammenhangs mehr erkennbar. Von den Perfektformen, die formal jeweils aus dem Präsens eines Hilfsverbs (‚haben‘ oder ‚sein‘) und dem Partizip gebildet sind, ist es nur ein logischer Schritt zum Plusquamperfekt, in dem nun das Hilfsverb im Präteritum steht und damit die weiter oben in Abschnitt 5 beschriebene Verschiebung der Perfektbedeutung E vor B auf einen Zeitpunkt vor S erzeugt wird. Einen anderen Entwicklungsweg ist das Futur gegangen, dessen Formenbestand im Deutschen eher außergewöhnlich ist. Die Grammatikalisierung des Futurs kann aus vielen verschiedenen Quellen gespeist werden, darunter Konzepte wie Wunsch, Verpflichtung oder auch ein Weg in eine Richtung (‚kommen‘ oder ‚gehen‘), um nur einige Beispiele zu nennen (vgl. Heine/Kuteva 2002: 331). Im Deutschen hat sich das Futur hingegen sprachgeschichtlich erst relativ spät aus einer Wurzel mit der Bedeutung ‚sich verändern, werden zu‘ und dem Partizip Präsens entwickelt, das später formal mit dem Infinitiv zusammengefallen ist (vgl. Bogner 2009). In anderen Sprachen lässt sich dagegen gerade am Beispiel des Futurs der Übergang von analytischen zu synthetischen Formen gut beobachten, so etwa bei lateinisch cantare habeo ‚zu singen habe ich‘, das zu modernen romanischen Formen wie portugiesisch cantaerei oder französisch je chanterai ‚ich werde singen‘ grammatikalisiert wurde (vgl. Heine/Kuteva 2002: 242 f.), wofür nun wiederum neue analytische Formen mit ‚gehen‘ (je vais chanter) eintreten. Im Deutschen liegen damit insgesamt zwei synthetische (Präsens und Präteritum) und vier analytisch gebildete Tempora vor (Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und II); wenn man Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt mit berücksichtigt, sind es sogar sechs analytische Tempora. In allen Fällen sind die analytisch gebildeten sprachgeschichtlich deutlich jünger als die synthetischen Tempora. 6
Consecutio Temporum
Sprachen mit grammatikalisierten temporalen Bezügen können über einen festen Regelsatz von Strategien verfügen, durch die die Tempuswahl in subordinierten Sätzen in Abhängigkeit vom Tempus des übergeordneten Satzes festgelegt wird. Dieses Phänomen wird mit einem Begriff aus der traditionellen Grammatik des Lateinischen, das ebenfalls solche Regeln kannte, als Consecutio temporum bezeichnet. In diesen Fällen sind die Wahlmöglichkeiten für das Tempus im untergeordneten Satz stark eingeschränkt, und zwar abhängig davon, ob die im subordinierten Satz ausgedrückten Ereignisse vor (Vorzeitigkeit), gleichzeitig mit (Gleichzeitigkeit) oder nach (Nachzeitigkeit)
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Tempus
den Ereignissen anzusetzen sind, die im Hauptsatz ausgedrückt werden. Das bedeutet, dass die Tempora der untergeordneten Sätze mitunter mit den zeitlichen Bezügen, die sie eigentlich ausdrücken sollen, nichts gemein zu haben scheinen. So muss etwa im Englischen ein untergeordneter Satz dasselbe Tempus aufweisen wie der Hauptsatz, wenn die Ereignisse gleichzeitig stattfinden (so genannte Tempuskongruenz (tense agreement), wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, dass diese Regel in der englischen Umgangssprache wie auch in verschiedenen Varietäten des Englischen weit weniger starr ist). Mit anderen Worten: selbst wenn etwas zum Sprechzeitpunkt Gültigkeit hat, muss es auch dann im selben Tempus ausgedrückt werden wie der Hauptsatz, wenn dieser Hauptsatz nicht im Präsens steht. Ein Beispiel für dieses Phänomen wäre etwa I thought that you hated to shop. Da der Hauptsatz (I thought) in einem Vergangenheitstempus steht, muss der untergeordnete Satz (that you hated to shop) dasselbe Tempus annehmen, obgleich die Aussage auch auf den Sprechzeitpunkt zutrifft. Im Deutschen findet sich ein damit vergleichbarer Fall von Consecutio Temporum beim Konjunktiv der indirekten Rede, wo bei Gleichzeitigkeit eine synthetische Form (Konjunktiv Präsens oder Präteritum: Sie sagte, sie sei/wäre müde) und bei Vorzeitigkeit ein Konjunktiv in einem analytischen Vergangenheitstempus (Konjunktiv Perfekt oder Plusquamperfekt: Sie sagte, sie sei/wäre müde gewesen) stehen muss.
Literatur Bogner, Istvan (2009): „Futur I und II“. In diesem Band. Bybee, Joan/Perkins, Revere/Pagliuca, William (1996): The Evolution of Grammar: Tense, Aspect and Modality in the Languages of the World. Reprinted. Chicago: University of Chicago Press. Comrie, Bernard (2006): Tense. 8. edition, reprinted. Cambridge: Cambridge University Press. (= Cambridge Textbooks in Linguistics). Dahl, Östen (1985): Tense and aspect systems. Oxford/New York: Blackwell. Dahl, Östen/Velupillai, Viveka (2005a): „The Future Tense“. In: Haspelmath, Martin u. a. (Hrsg.): The World Atlas of Language Structures. Oxford, Oxford University Press: 270, 278–279. Dahl, Östen/Velupillai, Viveka (2005b): „The Past Tense“. In: Haspelmath, Martin u. a. (Hrsg.): The World Atlas of Language Structures. Oxford, Oxford University Press: 268–269, 276–277. Dahl, Östen/Velupillai, Viveka (2005c): „The Perfect“. In: Haspelmath, Martin u. a. (Hrsg.): The World Atlas of Language Structures. Oxford, Oxford University Press: 271, 280–281. Dickens, Patrick J. (2005): A concise grammar of Ju|’hoan with a Ju|’hoan – English glossary and and a subject index. Edited by Rainer Vossen and Megan Biesele. Köln: Köppe. (= Quellen zur Khoisan-Forschung/Research in Khoisan Studies 17). Donaldson, Tamsin (1980): Ngiyambaa: The Language of the Wangaaybuwan. Cambridge: Cambridge University Press. (= Cambridge Studies in Linguistics 29). Gordon, Raymond G., Jr. (Hrsg.) (2005): Ethnologue: Languages of the World. 15. edition. Dallas, Tex.: SIL International.
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transitiv
Heine, Bernd/Kuteva, Tania (2002): World Lexicon of Grammaticalization. Cambridge u. a.: Cambridge University Press. (= Oxford linguistics). Hentschel, Elke (2003): „The expression of gender in Serbian“. In: Hellinger, M./Bußmann, H. (Hrsg.): Gender across languages: the linguistic representation of women and men. International perspectives of language variation and change. Volume 3. Amsterdam/New York, Benjamins: 287–309. Huber, Magnus (1999): Ghanaian Pidgin English in its West African Context: A Sociohistorical and Structural Analysis. Amsterdam/New York: Benjamins. (= Varieties of English around the world. General series 24). Klein, Wolfgang (2003): Time in Language. Reprinted. London/New York: Routledge. (= Germanic Linguistics). Lehmann, Christian (1995): Thoughts on Grammaticalization. München: LINCOM Europa. (= LINCOM studies in theoretical linguistics 1). Maslova, Elena (2003): A grammar of Kolyma Yukaghir. Berlin/New York: Mouton de Gruyter. (= Mouton Grammar Library 27). Payne, Doris L./Payne, David L. (1990): „Yagua“. In: Derbyshire, Desmond C./Pullum, Geoffrey K. (Hrsg.): Handbook of Amazonian Languages 2. Berlin/New York, Mouton de Gruyter: 249–474. Payne, Thomas E. (2006): Describing Morphosyntax: A Guide for Field Linguists. 8. edition, reprinted. Cambridge: Cambridge University Press. Preußler, Otfried (2006): Das Kleine Gespenst. 48. unveränderte Auflage. Stuttgart: Thienemann. Tolkien, J. R. R. (1966): The Hobbit. London: Unwin.
Abkürzungen AKK DIM ERG FEM FUT INDF INT INTR IPFV NEUTR NPU PB PL PP PRES SG SS
Akkusativ diminutiv Ergativ femininum Futur indefinit intentionalis intransitiv imperfektiv neutrum nicht-punkuteller Aspekt (progressiv, habituell) gebundes Subjektpronomen im Plural Plural Possessivpronomen im Plural Präsens Singular Markierung für Subjektidentität (same subject marker)
Viveka Velupillai/Elke Hentschel u transitiv (von lat. transire ‚übergehen‘; engl.: transitive) Als transitiv bezeichnet man Verben, die eine auf ein Ziel – eine Person oder einen Gegenstand – gerichtete Handlung ausdrücken wie etwa beißen: Der Piranha beißt das Krokodil. Sie haben stets zwei Argumente: das Agens (der Handelnde, hier: der Piranha) und das Patiens (das Ziel der Handlung, hier:
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trennbares Verb
das Krokodil). Typisch für transitive Verben ist, dass sie ein persönliches Passiv bilden können: Das Krokodil wird vom Piranha gebissen. Daher wird diese Fähigkeit gelegentlich auch als Definitionsmerkmal für Transitivität angesehen. Danach sind dann nur solche Verben transitiv, die ein persönliches Passiv zulassen, mit anderen Worten: deren Akkusativobjekt zum Subjekt eines Passivsatzes werden kann. Ist dies nicht der Fall, wie etwa bei den Verben bekommen oder kosten, so spricht man statt dessen von einem pseudotransitiven Verb, vgl.: *Der Brief wird von mir bekommen; *Viel Geld wird davon gekostet. → Verb u trennbares Verb Eine Reihe von Verben des Deutschen weisen ein auch als „Verbpartikel“ bezeichnetes, einem Präfix ähnliches Element auf, das bei den synthetischen Tempora (Präsens, Präteritum) in Hauptsatzstellung abgetrennt wird: aufstehen ⇒ ich stehe auf, untergehen ⇒ das Schiff geht unter usw. Bei der Infinitivbildung tritt die Infinitivpartikel zu, beim Partizip Perfekt das Affix ge- jeweils zwischen Verb und Verbpartikel: aufzustehen, aufgestanden; unterzugehen, untergegangen. Voraussetzung für die Trennbarkeit von Verben dieses Typs ist, dass der Verbstamm nicht betont ist (vgl. übersétzen: ich übersetze; ü´bersetzen: ich setze über). → Verb
transitiv
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443
trennbares Verb
U u Umlaut Umlaute sind historisch eine Folge der sog. regressiven Assimilation, d. h. der Angleichung eines Lautes an den Folgelaut. Wenn ein hinterer Vokal einem vorderen, im Falle des Deutschen insbesondere einem i oder dem Halbvokal j, vorausging, so veränderte er sich in Richtung auf den Folgevokal, z. B. a > ä. Da das i der Folgesilben inzwischen abgebaut wurde, ist die historische Ursache für die Umlautbildung nicht mehr sichtbar, und der Umlaut ist nicht mehr produktiv. → Substantiv u unpersönliches Verb Verben, die in Subjektposition ausschließlich das „unpersönliche“ Subjekt es zulassen, werden auch als unpersönlich bezeichnet. Zu unterscheiden ist dabei zwischen (a) Verben, bei denen andere Subjekte ungrammatisch sind (vgl. Es graut mir vs. *Du graust mir) und bei denen das Subjekt-es in entsprechender Satzstellung wegfällt (Mir graut); (b) Witterungsverben mit obligatorischem es, die bei metaphorischem Gebrauch andere Subjekte zulassen (vgl. es regnet; es donnert; „Wage es nicht!“ donnerte er); (c) unpersönlichen Konstruktionen von Verben, die auch persönliche Konstruktionen zulassen (vgl. Es geht mir gut vs. Ich gehe nach Hause). → Verb u unregelmäßiges Verb Je nach Autor wird unter einem unregelmäßigen Verb jedes Verb verstanden, das nicht in die Kategorie „regelmäßig“ oder „schwach“ (Präteritum und Partizip auf -t(e) wie in lachte, gelacht) eingeordnet werden kann; oder aber ein Verb, das weder in die Kategorie „schwach“ noch in die Kategorie „stark“ (Präteritum und Partizip werden mit Ablaut gebildet, z. B. schwimmen – schwamm – geschwommen) gehört. Letzteres ist z. B. bei Verben der Fall, die sowohl einen Ablaut als auch einen Konsonantenwechsel aufweisen, wie etwa denken – dachte – gedacht. → Verb
untrennbares Verb
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u untrennbares Verb Verben, die ein auch als „Verbpartikel“ bezeichnetes, präfixartiges Element wie ab-, bei-, um- oder zu- aufweisen, können je nach Betonung trennbar sein – das heißt, bei den synthetischen Tempora (Präsens, Präteritum), bei der Infinitivbildung und bei der Bildung von Partizip Perfekt werden Verb und Verbpartikel getrennt – oder sie bleiben fest verbunden. In letzterem Fall spricht man auch von einem untrennbaren Verb. Voraussetzung dafür ist, dass der Verbstamm betont ist (vgl. umfáhren: ich umfahre; úmfahren: ich fahre um). → Verb
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Verb
V u Verb 1
Definition
Verben (von lat. verbum ‚Wort‘) bilden eine Wortklasse, die stets als Träger des Prädikats fungieren, also das Merkmal [+finit] annehmen kann. Damit sind sie zugleich Träger von Kategorien wie Person, Tempus, Aspekt, Modus und Diathese, sofern diese in den jeweiligen Sprachen existieren bzw. morphologisch markiert werden. Aufgrund ihrer protoytischen Funktion, das Prädikat zu bilden, sind Verben zugleich die einzige Wortart, deren Existenz für alle Sprachen angesetzt wird – anders als etwa Substantive, bei denen keineswegs Einigkeit darüber besteht, ob wirklich alle Sprachen sie aufweisen (vgl. Vogel 2007: 99). Aus semantischer Sicht zeichnet sich die Wortart Verb dadurch aus, dass sie etwas im weitesten Sinne als ‚Vorgang in der Zeit‘ aus der außersprachlichen Wirklichkeit ausgliedert. So zeigen etwa Brinkmann (1971: 199) anhand des Beispiels Blut, blutig, bluten oder Erben (2000: 58 f.) am Beispiel von Fieber, fiebrig, fiebern auf, welche Rolle die Wortkategorie für die Erfassung der Bedeutung spielt: Sie hat Fieber und Sie fiebert oder An meiner Hand ist Blut und Meine Hand blutet können zwar dasselbe Ereignis in der realen Welt beschreiben, aber sie tun es auf unterschiedliche Weise; und dieser Unterschied ist auf die unterschiedliche kategorielle Bedeutung der verschiedenen Wortarten zurückzuführen. 2
Kategorien des Verbs
Wie eingangs erwähnt, hat die prototypische Eigenschaft von Verben, als Träger des Prädikats zu fungieren, zugleich zur Folge, dass sich an ihnen auch die Merkmale von Person/Numerus, Tempus, Aspekt, Modus und Diathese zeigen (oft mit TMA – für: Tempus, Modus, Aspekt – abgekürzt). In Abhängigkeit vom Sprachtyp können diese Kategorien mit morphologischen, morphosyntaktischen oder syntaktischen Mitteln ausgedrückt werden; ihr Ausdruck kann aber auch ganz fehlen.
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Verb
2.1
Person und Numerus
Die Kategorie ‚Person‘ ist im Deutschen wie in vielen Sprachen fest mit der Kategorie ‚Numerus‘ verbunden, so dass beides in einem Morphem ausgedrückt wird. Grundsätzlich unterscheidet man jedoch einerseits die jeweiligen Rollen der an der Gesprächssituation beteiligten Personen (wie etwa: sprechende Person, angesprochene Person), andererseits die Anzahl der innerhalb der jeweiligen Rollenkategorien bezeichneten Personen. Die morphologische Realisierung von Letzterem hängt dabei vom Numerussystem der jeweiligen Sprache ab. Während beispielsweise das Gotische für die 1. und 2. Person noch Dualformen kannte (vgl. Braune 2004: 87, Anm. 1), kennt das moderne Deutsch nur Singular und Plural. Nach den Rollen in der jeweiligen Gesprächssituation unterscheidet man die sprechende Person (1. Person), die angesprochene (2. Person) sowie ein „Drittes“, eine Person oder ein Gegenstand, über den gesprochen wird (vgl. hierzu Attaviryanupap/ Perrig 2009). Die jeweilige Kombination von Person und Numerus kann in einem Personalpronomen ausgedrückt, aber auch mit einer Verbendung markiert werden; man spricht dann vereinfachend auch von der „Personalendung“ des Verbs. Diese Endung tritt jeweils nur an das finite Verb, wird bei Formen mit mehreren Konstituenten wie hast geschenkt bekommen also nur einmal gebraucht. Personalendungen können sich von Tempus zu Tempus unterscheiden. Im Deutschen, wo es mit Präsens und Präteritum nur zwei synthetisch gebildete Verbformen gibt, die das finite Verb bilden können, ist dies im Singular bei der 1. und 3. Person der Fall, wie das folgende Schema am Beispiel des 1 Verbs kommen zeigt: 1. 2. 3. 1. 2. 3.
Person Singular ich Person Singular du Person Singular er/sie/es Person Plural wir Person Plural ihr Person Plural sie
Präsens komm-e komm-st komm-t komm-en komm-t komm-en
Präteritum1 kam-Ø kam-st kam-Ø kam-en kam-t kam-en
Die Tabelle zeigt auch, dass nicht an allen Stellen im Paradigma Unterschiede in den Personalendungen gemacht werden. So sind die 1. und die 3. Person im Singular nur im Präteritum, im Plural in beiden Tempora gleichlautend. 1 Zur Diskussion darüber, wie Tempus- und Personalendung im Falle schwacher Verben korrekt zu trennen sind, vergleiche man Thieroff (2009c).
447 2.2
Verb
Tempus
Tempus ist der sprachliche Ausdruck von Zeit beim Verb. Von einem Tempus spricht man dann, wenn in einer Sprache grammatikalisierte morphologische oder morphosyntaktische Markierungen des Verbs vorhanden sind, die dazu dienen, das Gesagte in einem zeitlichen Rahmen einzuordnen. Dabei kann man grundsätzlich zwischen absoluten und relativen Tempora unterscheiden: Während absolute Tempora einen Bezug zum Sprechzeitpunkt herstellen, verankern relative Tempora das Geschehen relativ zu einem anderen Zeitpunkt, der im Kontext gegeben ist. Um Tempora zu beschreiben, verwendet man meist die drei Orientierungspunkte S (für Sprechzeitpunkt), E (für Ereigniszeitpunkt) und B oder R (für Bezugszeitpunkt oder engl. point of reference), die auf Reichenbach (1947: 287–298) zurückgehen. Während man für die Beschreibung absoluter Tempora, die das Geschehen zum Sprechzeitpunkt in Beziehung setzen, nur S und E braucht, wird der dritte Orientierungspunkt B für die Beschreibung relativer Tempora benötigt. Entsprechend der oben gegebenen Definition können Tempora sowohl synthetisch (morphologisch) als auch analytisch (morphosyntaktisch) gebildet werden. Zwischen beiden Bildungsweisen gibt es im Laufe der Sprachentwicklung typischerweise Übergänge, so dass eine klare Trennung oft nicht möglich ist. Die Annahme, dass ein Tempus notwendig eine synthetische Kategorie sein müsse, findet sich auch heute noch gelegentlich (so etwa bei Engel 2004: 265), obgleich sie bereits von Dahl (1985: 22) widerlegt wurde. Das Deutsche verfügt über zwei synthetisch sowie – je nach Sichtweise – vier oder sechs analytisch gebildete Tempora, und zwar: synthetisch
analytisch: Vergangenheitstempora
analytisch: Zukunftstempora
Präsens sie kommt Präteritum sie kam
Perfekt sie ist gekommen Plusquamperfekt sie war gekommen
Futur I sie wird kommen Futur II sie wird gekommen sein
Doppelperfekt sie ist gekommen gewesen Doppelplusquamperfekt sie war gekommen gewesen
Die beiden synthetischen Tempora Präsens und Präteritum gab es bereits im Indoeuropäischen, während das Futur und die Doppelformen die jüngsten Entwicklungen sind; das heutige werden-Futur taucht etwa erst im Mittelhochdeutschen auf. Die Grammatikalisierung des Perfekts wird dagegen bereits für das Althochdeutsche angesetzt. Inzwischen hat es in weiten Teilen des Sprachgebiets (im gesamten oberdeutschen Raum) das Präteritum in der gesprochenen Sprache so gut wie vollständig verdrängt, so dass es hier nur noch in der Schriftsprache erhalten ist. Infolge dieser asymmetrischen Situa-
448
Verb
tion ist das Bedeutungsverhältnis von Perfekt und Präteritum schwer zu erfassen und wird in der Literatur nicht einheitlich dargestellt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Vergangenheitstempora betrifft zudem nicht nur semantische, sondern auch stilistische Aspekte (vgl. hierzu Thieroff 2009a, 2009c). Doppeltempora dienen typischerweise dem Ausdruck von relativen Vergangenheitstempora: sie ist gekommen gewesen bezeichnet eine Handlung, die vor einer anderen in der Vergangenheit stattgefunden hat (vgl. Eroms 2009). Die Herausbildung solcher Formen ist nicht auf das Deutsche beschränkt, sondern lässt sich ganz genauso in anderen Sprachen beobachten, so etwa im Französischen (passé und plus-que-parfait surcomposé; vgl. Grevisse 2008: 1040 f.) oder im Serbischen (vgl. Mrazovi´c/Vukadinovi´c 1990: 122 f.). Das mit werden und dem Infinitiv gebildete Futur des Deutschen hat sich erst spät gegen die noch im Mittelhochdeutschen vorherrschenden Formen mit wollen oder sollen durchgesetzt (vgl. Bogner 2009). Es kann außer für zeitliche Bezüge auch regelmäßig zum Ausdruck von Vermutungen eingesetzt werden, was in der Vergangenheit verschiedentlich zu Anlass genommen wurde, die Form nicht als Tempus, sondern als Modus zu werten. Heute findet sich diese Ansicht nur noch selten, denn die modale Lesart des Futurs ist keine Besonderheit des Deutschen, sondern eine typische Eigenschaft dieses Tempus (vgl. Bybee/Dahl 1989: 106 f.) 2.3
Aspekt
Während Tempus eine Kategorie ist, mit der das Geschehen in eine zeitliche Relation zum Sprechzeitpunkt und/oder einem anderen Zeitpunkt gestellt wird, handelt es sich bei Aspekt um eine Kategorie, mit der innere Eigenschaften des geschilderten Geschehens dargestellt werden. Ein Aspekt ist ein grammatikalisiertes Mittel zur Charakterisierung von Ereignissen, die damit beispielsweise gekennzeichnet werden als: abgeschlossen – nicht abgeschlossen (perfektiv/imperfektiv, z. B. slawische Sprachen); x andauernd – nicht andauernd (progressiv/non-progressiv, z. B. Englisch); x gewohnheitsmäßig (habituell, z. B. Vietnamesisch; vgl. Bisang 1992: 307), usw. x
Wie die Beispiele zeigen, gibt es verschiedene semantische Möglichkeiten, ein Geschehen aspektuell zu markieren. Von manchen Autoren wird die Kategorie „Aspekt“ zwar auf die in den slawischen Sprachen realisierte Unter-
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Verb
scheidung perfektiv/imperfektiv reduziert, mitunter sogar unter explizitem Ausschluss aller anderen Kategorien (so z. B. bei Nespital 2002). Üblicher ist aber die bei Comrie (2001: 3) vertretene Auffassung, dass andere grammatische Charakterisierungen von Ereignissen wie etwa das Progressiv des Englischen ebenso als Manifestationen der Kategorie Aspekt aufzufassen sind und dass darüber hinaus auch die Unterschiede zwischen Vergangenheitstempora, wie sie etwa in romanischen Sprachen vorliegen (vgl. z. B. franz. je lus/je lisais), hier einzuordnen sind. Damit stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie diese verschiedenen Arten, ein Ereignis zu charakterisieren, systematisch zusammengefasst werden können. Hierfür wurde das folgende Schema vorge2 schlagen (Abbildung nach Comrie 2001: 25):
Die Aspekte sind in den einzelnen Sprachen in unterschiedlichem Umfang und in unterschiedlicher Form realisiert. In den slawischen Sprachen manifestiert sich der Unterschied zwischen perfektiver und imperfektiver Sichtweise (russ. vid) eines Geschehens bereits auf lexikalischer Ebene: Für die große Mehrzahl der Verben existiert sowohl eine perfektive als auch eine imperfektive Variante. So beispielsweise russisch: ja pisala pis’ mo ich schrieb-imperfektiv Brief [etwa: ‚ich schrieb an einem Brief‘] vs. ja napisala pis’ mo ich schrieb-perfektiv Brief [etwa: ‚ich schrieb den Brief‘]
2 Da für den hier angesetzten continuous Aspekt keine eigenen grammatischen Formen nachgewiesen werden konnten (vgl. Bybee/Perkins/Pagliuca 1996: 139), ist er in eckige Klammern gesetzt.
Verb
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In den romanischen Sprachen wird derselbe Unterschied hingegen nur bei den Vergangenheitstempora markiert, wo je ein perfektives und ein imperfektives Tempus zur Wahl stehen, zum Beispiel französisch: Tout à coup, elle se retourna [passé simple, perfektiv: ‚sie drehte sich plötzlich um‘] vs. Elle se retournait tout le temps [imparfait, imperfektiv: ‚sie drehte sich dauernd um‘]. Im Chinesischen schließlich wird Perfektivität ebenso wie Progressivität jeweils durch das Hinzufügen einer Partikel, so etwa le für Perfektivität, ausgedrückt: wo ch¯ı wanfàn ich essen Mittagessen [etwa: ‚ich esse zu Mittag‘] vs. ( …) woˇ ch¯ı le waˇnfan (jiù qù …) ich essen Partikel Mittagessen (gleich gehe …) [etwa: ‚sobald ich zu Mittag gegessen habe (gehe ich gleich …)‘] Die indoeuropäischen Sprachen machten durchweg von der Unterscheidung perfektiv/imperfektiv Gebrauch, die mit verschiedenen Mitteln realisiert wurde (vgl. hierzu z. B. Stempel 2002: 1025). Auch für das Gotische lässt sich ein solches Aspektsystem nachweisen, bei dem perfektive Verben mit dem Präfix ga- (neuhochdeutsch ge-) gebildet wurden (vgl. z. B. Leiss 2000: 120). Das moderne Deutsche hat dieses Aspektsystem jedoch verloren. Nur noch in der Perfektbildung der intransitiven Verben kann man letzte Spuren davon vermuten, da hier jeweils in Abhängigkeit von der Bedeutung des Verbs eine von zwei Bildungsmöglichkeiten verwendet wird. Verben mit einer im weitesten Sinne perfektiven Bedeutung bilden ihr Perfekt mit sein (z. B. ist aufgewacht, erblüht, verwelkt), solche mit einer imperfektiven jedoch mit haben (hat gewacht, geblüht, gewelkt). Der aspektuelle Bedeutungsunterschied ist dabei jedoch nicht notwendigerweise an das Verb gebunden, so dass sich auch Paare wie Sie hat die ganze Nacht getanzt (dauerhaftes Geschehen) vs. Sie ist über die Bühne getanzt (einmaliges Geschehen) ergeben (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel/Weydt 2003: 54–56 und die dort angegebene Literatur).
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Verb
Während das Aspektpaar perfektiv/imperfektiv verloren gegangen ist, haben sich Ansätze zu einem neuen, nämlich dem progressiven Aspekt, herausgebildet, der sich in Formen wie Ich bin noch am Überlegen zeigt. Ob man hier bereits von einem voll ausgebildeten Aspektpaar progressiv/non-progressiv sprechen kann, ist umstritten (vgl. hierzu ausführlicher Van Pottelberge 2009). 2.4
Modus
Unter einem Modus versteht man eine grammatikalisierte morphologische oder morphosyntaktische Markierung, die Aussagen über die Geltungs- oder Wahrheitsbedingungen des im Verb ausgedrückten Geschehens macht. Der Standard- oder „Default“-Fall besteht dabei darin, dass eine Äußerung als ‚gültig‘ oder ‚wahr‘ anzusehen ist. Dieser meist als Indikativ (von lat. indicare ‚aussagen‘) bezeichnete Modus wird zugleich als die unmarkierte Verbform angesehen. In Abgrenzung davon können Verbformen beispielsweise markiert werden als: Aufforderung (Imperativ, z. B. Deutsch); Hörensagen (Quotativ, z. B. Estnisch); x Möglichkeit (Potential, z. B. Türkisch); x Bedingung (Konditional, oft zugleich Potential, z. B. Französisch); x Wunsch (Optativ, z. B. Altgriechisch); x Notwendigkeit (Necessitativ, z. B. Türkisch), usw. x x
Im Deutschen ist neben dem Indikativ und dem bereits in der obigen Aufzählung erwähnten Aufforderungsmodus Imperativ ein dritter, polyfunktionaler Modus vorhanden, der als Konjunktiv bezeichnet wird. Er übernimmt eine Reihe von sehr unterschiedlichen Funktionen. So ersetzt er als Konjunktiv der indirekten Rede (Sie sagte, sie habe langsam keine Lust mehr) den im Deutschen nicht vorhandenen Quotativ; er kann als konditionaler Konjunktiv in Nebensätzen auftreten (Wenn ich mehr Zeit hätte), Wunschsätze markieren (Wenn ich doch nur mehr Zeit hätte! ), den nicht vorhandenen Imperativ der Höflichkeitsform ersetzen (Seien Sie vorsichtig!) und anderes mehr. Als einheitliche Bedeutung lässt sich ihm eine allgemeine Einschränkung der Gültigkeit zuordnen (vgl. hierzu ausführlicher Weydt 2009). Der Formenbestand des Konjunktivs ist im Laufe der jüngeren Sprachgeschichte stark abgebaut worden, so dass er in vielen Fällen bereits mit dem Indikativ zusammengefallen ist (vgl. Thieroff 2009b, 2009c). Insbesondere wenn kein Unterschied mehr in der äußeren Form besteht, aber auch in an-
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Verb
deren Fällen wird er daher mit zunehmender Häufigkeit durch eine analytische Konstruktion mit würde ersetzt (ich würde dir ja gerne helfen, aber … statt ich hülfe dir ja gerne). Der Ausdruck der Möglichkeit und der Notwendigkeit (Necessitativ), für den etwa im Türkischen spezielle Verbformen zur Verfügung stehen (vgl. Lewis 2000: 126–128, 153 f.), wird im Deutschen nicht durch einen Modus, sondern durch Modalverben wie können oder müssen geleistet. 2.5
Diathese
Der Begriff Diathese kann in einer weiten oder einer engen Auslegung verwendet werden. Eng gefasst ist Diathese synonym mit Aktiv und Passiv, die auch unter Genus verbi gefasst werden (wobei es sich hier um die enge Auffassung von Genus verbi handelt, die allerdings die traditionelle ist; vgl. Vogel 2009b). Dabei zeichnet sich das Passiv gegenüber dem Aktiv zum einen durch eine zusätzliche Markierung am Verb bzw. im Prädikat aus. Zum anderen wird dadurch eine bestimmte Argumentveränderung signalisiert. Quantität und Qualität der mit dem Verb verknüpften semantischen Argumente bleiben im Passiv unverändert erhalten, aber es erfolgt eine andere Verknüpfung von semantischer Rolle und syntaktischer Funktion. Insbesondere wird dabei das Agens aus der Subjektrolle verdrängt und entweder nur noch mitverstanden oder es erscheint als Präpositionalphrase. Im Subjekt stehen nun dafür die ursprünglich im Objekt kodierten Partizipanten. Die syntaktische Funktion Objekt fällt weg, der Valenzrahmen wird also um eine Stelle reduziert. Im Deutschen gibt es ein Patiens- und ein Rezipientenpassiv, im ersten Fall tritt das Patiens, im zweiten Fall der Rezipient in die syntaktische Funktion Subjekt ein. Beide Passive können nur analytisch mit Hilfe von Hilfsverben gebildet werden. Für das Patienspassiv stehen werden für das Vorgangspassiv (das wird gleich erledigt) und sein für das Zustandspassiv (das ist schon erledigt) zur Verfügung. Das Rezipientenpassiv nutzt bekommen, erhalten oder kriegen: Du bekommst/erhältst/kriegst das Buch geschenkt (siehe Abschnitt 3.1). In der weiten Auffassung von Diathese handelt es sich um allgemeine Argumentveränderungen, die aber ebenfalls mit einer morphologischen Markierung am Verb bzw. im Prädikat einhergehen. Dazu sind vor allem Kausativ und Antikausativ zu zählen. Beim Antikausativ handelt es sich wie beim Passiv um eine Argumentreduktion, allerdings ist das Agens im Antikausativ semantisch entfernt. Das Ereignis wird als nicht von einem Agens verursacht gedacht. Syntaktisch ge-
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Verb
sehen übernimmt das Patiens auch hier die syntaktische Funktion Subjekt. Das Antikausativ kann als typisches Medium gelten. Von einem Medium spricht man dann, wenn eine spezifische Markierung vorliegt, die anzeigt, dass das Subjekt selbst von dem Geschehen betroffen ist, und zwar ohne Einwirkung eines externen Agens. Dabei liegt häufig eine Reflexivmarkierung vor: (Ich öffne die Tür ⇒) Die Tür öffnet sich. Die Entwicklung eines Antikausativs aus einer Reflexivkonstruktion lässt sich gut nachvollziehen. Beim Reflexiv steht im Subjekt zwar ein Agens, das Reflexivelement signalisiert jedoch Koreferenz von Agens und Patiens. Ein Antikausativ ergibt sich dann, wenn statt des ursprünglichen Agens ein nicht-agentivischer Partizipant ins Subjekt gelangt und für das Agens selbst kein Platz mehr in der Konstruktion vorgesehen ist (vgl. Haspelmath 1987: 5). Im Gegensatz zum Antikausativ kommt beim Kausativ ein weiteres Argument hinzu. Dabei übernimmt der neue Partizipant, der die Handlung verursacht, die syntaktische Funktion des Subjekts. Der ursprüngliche Subjekts-Partizipant, der von der Handlung betroffenen ist, bekommt eine neue syntaktische Funktion direktes oder indirektes Objekt zugewiesen. Im Deutschen stehen dafür ein paar wenige kausative Verbpaare wie fallen/fällen, trinken/tränken, stehen/stellen usw. zur Verfügung: (Die Bäume fallen ⇒) Ich fälle die Bäume. Syntaktisch lässt sich Kausativierung außerdem durch die polyvalenten Verben lassen und machen in ihrer Bedeutungsvariante ‚veranlassen‘ herbeiführen: (Du singst ⇒) Ich lasse/mache dich singen. Machen wirkt in dieser Konstruktion allerdings sehr antiquiert. 2.6
Finite vs. infinite Verbformen
Eine Verbform ist dann als finit anzusehen, wenn sie das Prädikat in einem selbstständigen Satz bilden kann. Daher unterscheiden sich infinite Verbformen von finiten im Deutschen dadurch, dass sie keine Personalendungen aufweisen (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel 2009a). Konkret handelt es sich um folgende Formen: Infinitive, Partizipien, Gerundiva sowie die aus reinen Verbwurzeln bestehenden so genannten Inflektive wie seufz oder keuch. Infinitive sind Verbalnomina, die dem Substantiv sehr nahe stehen. Im Deutschen und vielen anderen Sprachen werden sie zugleich auch als Nennform des Verbs verwendet. Formal können Infinitive sowohl durch morphologische als auch durch syntaktische Mittel gekennzeichnet werden. Das Deutsche nutzt beide Möglichkeiten, wobei die Infinitivendung -(e)n obligatorisch ist, während die Infinitivpartikel zu nicht immer stehen muss. Nach Tempus und Genus Verbi kann man die folgenden deutschen Infinitivformen unterscheiden:
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Infinitiv Präsens Aktiv: registrieren; Infinitiv Präsens Passiv, Vorgangspassiv: registriert werden; Infinitiv Präsens Passiv, Zustandspassiv: registriert sein; Infinitiv Perfekt Aktiv: registriert haben; Infinitiv Perfekt Passiv, Vorgangspassiv: registriert worden sein; Infinitiv Perfekt Passiv, Zustandspassiv: registriert gewesen sein. Während Infinitive als Verbalnomina den Substantiven nahe stehen, handelt es sich bei Partizipien um Verbformen, die wie Adjektive verwendet werden können und daher auch als Verbaladjektive bezeichnet werden. Wie viele Partizipien es gibt, kann sich von Sprache zu Sprache stark unterscheiden. Im Deutschen sind es nur zwei: Partizip Präsens oder Partizip 1 und Partizip Perfekt (selten auch: Präteritum) oder Partizip 2. Das Partizip Perfekt kann sowohl Aktiv (bei intransitiven Verben) als auch Passiv (bei transitiven Verben) ausdrücken, während das Partizip Präsens stets eine aktive Bedeutung hat: Partizip Präsens Aktiv: kichernd, gackernd, grinsend usw.; Partizip Perfekt Aktiv: erloschen, gefallen, abgestürzt usw.; Partizip Perfekt Passiv: gelöscht, gefällt, abgeschossen usw. Partizipien drücken relative Tempora aus: das Partizip Präsens bezeichnet ‚Gleichzeitigkeit‘, das Partizips Perfekt ‚Vorzeitigkeit‘ (ausführlicher zu den Partizipien vgl. Hentschel 2009b). Gerundiva sind Verbaladjektive mit passivischer Bedeutung, Verweis auf die Zukunft und modaler Komponente, die je nach Kontext entweder ‚müssen‘ oder ‚können‘ sein kann: Der Text ist bis morgen zu lesen kann sowohl ‚kann bis morgen gelesen werden‘ als auch ‚muss bis morgen gelesen werden‘ bedeuten. Fomal ist das Gerundivum im Deutschen bei attributivem Gebrauch mit dem Partizip 1 mit zu (der zu lesende Text), bei prädikativem Gebrauch mit dem Infinitiv mit zu (der Text ist zu lesen) identisch. Dabei ist der prädikativ gebrauchte Infinitiv die ältere Form, aus der nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen indoeuropäischen Sprachen erst später die attributive Form hervorging (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel 2009a). 3
Klassifikation von Verben
Der Bestand an Verben, den eine Sprache aufweist, kann nach funktionalen, syntaktischen, morphologischen und semantischen Kriterien aufgegliedert werden.
455 3.1
Verb
Funktionale Unterscheidungen
Unter funktionalen Gesichtspunkten kann man zunächst die so genannten Vollverben von den anderen Verbtpyen unterscheiden. Gemeint sind damit alle Verben, die verbale Funktionen in vollem Umfang wahrnehmen können: Sie können das Prädikat eines Satzes bilden. Vollverben sind damit zugleich immer die größte Gruppe von Verben in einer Sprache. Im Unterschied zu den Vollverben bilden andere Verbtypen das Prädikat nicht alleine, sondern unter Zuhilfenahme weiterer Elemente verschiedener Art. So sind Hilfsverben oder Auxiliare dadurch definiert, dass sie anderen Verben bei der Bildung einer Form, beispielsweise eines Tempus, „helfen“. Zu den Hilfsverben des Deutschen zählen haben, sein und werden, aber auch bekommen/kriegen/erhalten. Für die Bildung der Vergangenheitstempora wird haben und sein, zur Bildung des Futurs werden verwendet: ich bin/war gekommen; ich habe/hatte gegessen; ich werde schlafen. Sein und werden sind aber zugleich auch Hilfsverben für die Bildung des Passivs, wobei mit sein das Zustandspassiv (das ist schon erledigt), mit werden das Vorgangspassiv (das wird gleich erledigt) gebildet wird. Das Rezipientenpassiv dagegen wird wahlweise mit bekommen, erhalten oder kriegen gebildet: Du bekommst/erhältst/ kriegst das Buch geschenkt. Auch bei der Bildung des Progressivs wie in ich bin noch am Überlegen (vgl. ausführlicher zu dieser Form Van Pottelberge 2009) sowie beim Absentiv (wir sind dann mal essen; vgl. Vogel 2009a) kommt das Verb sein zum Einsatz. Ob man bei solchen Bildungen eine Kopula oder ein Auxiliar annehmen will, hängt davon ab, als wie stark grammatikalisiert man die Formen jeweils betrachtet. Als Kopula findet das Verb sein bei prädikativen Substantiven wie auch bei Adjektiven Verwendung: ich bin müde; sie ist meine Freundin. Bei lokalen Prädikationen (Ich bin hier; Das Kinderzimmer ist im 1. Stock) wird ebenfalls sein verwendet, und Entsprechendes gilt auch für temporale Prädikationen (Mein Geburtstag ist erst nächste Woche). Man spricht in solchen Fällen auch von einer „lokativen Kopula“ (vgl. Heine/Kuteva 2002: 97 f.). In manchen Sprachen können sie durch ein spezielles Verb ausgedrückt werden. Als Existenzmarker hingegen findet das Verb sein im Deutschen nur in seltenen Fällen wie Ich denke, also bin ich oder Gott ist! Verwendung. Normalerweise wird Existenz durch unpersönliches geben oder haben ausgedrückt: Es gibt/hat keine Gespenster. Eine andere Art von Aufgabe übernehmen Modalverben. Sie markieren die Geltungs- oder Wahrheitsbedingungen eines Vollverbs als möglich, notwendig oder intendiert: Wir können jetzt essen; Man muss vorsichtig sein;
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Willst du schon gehen? Für das Deutsche werden gemeinhin sechs Modalverben angesetzt: dürfen, können, mögen (meist nur im Konjunktiv, also Formen auf möchte-), müssen, sollen, wollen. Typisch für die Modalverben des Deutschen ist, dass sie den Infinitiv eines Vollverbs ohne die Infinitivpartikel zu an sich binden. Semantisch gesehen weisen sie durchgehend zwei Lesarten auf, die meist als deontisch und epistemisch bezeichnet werden. Die deontische Lesart drückt eine (aus der Sicht der sprechenden Person) objektiv gegebene Modalität aus: Du musst dich beeilen, wenn du den Zug noch erreichen willst (‚es ist objektiv notwendig, dass du dich beeilst‘), während die epistemische eine Einschätzung der Situation durch die sprechende Person ausdrückt: Er muss schon gegangen sein, denn ich sehe ihn nirgends mehr (‚ich halte es für eine notwendige Schlussfolgerung, dass er schon gegangen ist‘). Über die genannten Verben hinaus werden gelegentlich auch negiertes brauchen (Du brauchst nicht zu helfen!) sowie lassen zur Gruppe der Modalverben gerechnet. Lassen ist allerdings ein schwer einzuordnendes, polyfunktionales Verb mit sehr verschiedenen Funktionen, das sowohl ‚erlauben‘ als auch ‚veranlassen‘ bedeuten kann und auch die Lesart des abhängigen Vollverbs als Aktiv oder Passiv nicht festlegt: Sie ließ das Kind baden ‚ließ zu, dass das Kind badet‘/‚veranlasste, dass das Kind gebadet wird‘. Daher wird es oft auch zu den so genannten modifizierenden Verben gerechnet. Damit ist eine heterogene Gruppe von Verben gemeint, die semantische Ähnlichkeiten mit den Modalverben aufweisen, indem sie die Geltungsbedingungen der Äußerung modifizieren. Anders als die Modalverben weisen sie jedoch keine formalen Gemeinsamkeiten auf, und der Infinitiv des Vollverbs steht mit zu: Nichts vermochte ihn zu trösten; Sie pflegte abends ein Glas Wein zu trinken. Als Funktionsverben werden schließlich solche Verben bezeichnet, die ihre Bedeutung nur zusammen mit nominalen Elementen entwickeln, mit denen zusammen sie ein so genanntes Funktionsverbgefüge bilden. Normalerweise ist die ursprüngliche Bedeutung des Funktionsverbs selbst dabei reduziert, und das Gefüge kann oft ersatzweise auch durch ein einfaches Verb ausgedrückt werden: in zur Sprache bringen (ersatzweise: ansprechen) hat bringen nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung eines Transportes von A nach B; in Vorsorge treffen (ersatzweise: vorsorgen) drückt treffen nicht dasselbe aus wie in ins Ziel treffen.
457 3.2
Verb
Syntaktische Unterscheidungen
Aufgrund des syntaktischen Strukturrahmens, der jeweils mit einem Verb verbunden ist, kann man transitive und intransitive Verben unterscheiden. Dabei werden die beiden Begriffe nicht immer einheitlich gebraucht. In der traditionellen Grammatik ist ein transitives Verb (von lat. transire ‚übergehen‘) ein Verb, das ein persönliches Passiv bilden kann, das heißt bei dem das Akkusativobjekt des Aktivsatzes zum Subjekt des Passivsatzes werden kann: Ich füttere den Hamster ⇒ Der Hamster wird (von mir) gefüttert. Kann ein solches Passiv wie etwa bei den Verben erhalten oder kosten nicht gebildet werden, obwohl ein Akkusativobjekt vorliegt, so spricht man von einem pseudotransitiven Verb: *Ihr Schreiben wurde von uns erhalten; *Unsummen werden vom Auto gekostet. Etwas weiter wird der Begriff der Transitivität in der Typologie gefasst, wo er alle Verben betrifft, die eine auf eine Person oder einen Gegenstand gerichtete Handlung ausdrücken. Solche Verben haben immer zwei Argumente, von denen im prototypischen Fall – der zugleich der Fall des transitiven Verbs im Sinne der traditionellen Grammatik ist – eines das Agens (die handelnde Person, im vorigen Beispiel: ich) und das andere das Patiens (das Ziel der Handlung, hier: den Hamster) ist. Von der Definition des transitiven Verbs hängt auch ab, was unter einem intransitiven zu verstehen ist. Legt man die traditionelle Sichtweise zugrunde, so sind alle nicht-transitiven Verben automatisch intransitiv – also auch solche, die ein Genitiv- oder ein Dativobjekt haben wie etwa gedenken oder helfen. Aus typologischer Sicht hingegen haben intransitive Verben nur ein Subjekt und keinerlei Objekte gleich welcher äußeren Form. Entsprechend werden hier Verben mit zwei Objekten, einem direkten und einem indirekten (oder einem primären und einem sekundären), als ditransitiv bezeichnet. Ein prototypisches ditransitives Verb ist geben. Verben dieser Art können auch in Sprachen wie beispielsweise dem Chinesischen, wo normalerweise nur ein Objekt pro Verb zugelassen ist, zwei Objekte aufweisen. Eine weitere Möglichkeit, Verben nach syntaktischen Kriterien einzuteilen, besteht in Sprachen wie dem Deutschen darin, ihre Rektion und Valenz zugrunde zu legen. Dabei versteht man unter Rektion die Fähigkeit eines Wortes, die äußere Form eines anderen Wortes (also etwa dessen Kasus) zu bestimmen. Auf dieser Grundlage kann man folgende Rektionstypen unterscheiden: Genitivrektion: Er beschuldigte mich des Diebstahls. Dativrektion: Sie hat mir sehr geholfen. Akkusativrektion: Ich habe dich gar nicht gesehen! Präpositionalrektion: Ich habe lange auf dich gewartet.
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Ferner sind natürlich Kombinationen aus diesen Rektionen möglich, so etwa die kombinierte Dativ- und Akkusativrektion bei geben (jemandem etwas geben) (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel/Weydt 2003: 57 f.). Valenz ist demgegenüber ein Kriterium, das nicht die Art und Weise der Verknüpfung, sondern nur die Anzahl der mit dem Verb verknüpften Elemente berücksichtigt. Das Problem dabei ist, dass die Kriterien, mittels derer vom Verb abhängige Argumente (Ergänzungen oder Komplemente) von freien Zusätzen (Angaben oder Supplementen) unterschieden werden können, in den Grammatiken nicht einheitlich definiert werden. Unstrittig ist dabei nur das Kriterium der Rektion, also der Bestimmung der äußeren Form eines Komplements durch das Verb; über die weiteren Abgrenzungsmöglichkeiten herrscht keine Einigkeit, und es werden verschiedene Vorgehensweisen vorgeschlagen. Die Grammatik der deutschen Sprache von Zifonun u. a. (1997: 1030 f.) setzt beispielsweise ein multidimensionales Valenzkonzept aus morphosynaktischen Kriterien (die nicht auf die Rektion beschränkt sind, sondern auch andere Eigenschaft wie etwa die Weglassbarkeit eines Elements mit einbeziehen) sowie semantischen und auch pragmatischen Faktoren an. Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit im Bereich von Rektion und Valenz betrifft die Reflexivität. Von einem reflexiv gebrauchten Verb spricht man dann, wenn Subjekt und Objekt referenzidentisch sind: Ichi wasche michi (vs. Ich wasche die Wäsche). Ist das Verb hingegen bereits als Lexikoneintrag reflexiv und lässt keine anderen Objekte an der Stelle des Reflexivpronomens zu, wird es auch als „echt reflexiv“ bezeichnet, und das Reflexivpronomen wird bei der Bestimmung der Valenz nicht berücksichtigt. Solche Verben sind beispielsweise sich freuen oder sich verlieben: *Ich freue dich; *Er verliebt sie. Die Füllung der Subjektposition kommt hingegen bei der Unterscheidung von persönlichen und unpersönlichen Verben zum Tragen. Wenn ein Verb ausschließlich das Pronomen es im Subjekt zulässt, wird es als unpersönliches Verb bezeichnet. Hierher gehören erstens Verben, bei denen es keine anderen Möglichkeiten zur Füllung der Subjektposition gibt: Es graut mir vs. *Du graust mir. Bei ihnen kann das Subjekts-es bei entsprechender Satzstellung weggelassen werden: Mir graut. Zweitens sind hier Witterungsverben zu nennen, bei denen das Subjekts-es obligatorisch ist und die bei metaphorischem Gebrauch andere Subjekte zulassen: Es regnet; Es donnert vs. „Wage es nicht!“ donnerte er. Schließlich gehören drittens auch unpersönlichen Konstruktionen von Verben hierher, die in anderer Funktion auch persönliche Konstruktionen zulassen: Es geht mir gut (vs. Ich gehe nach Hause).
459 3.3
Verb
Morphologische und morphosyntaktische Unterscheidungen
Wenn man Verben danach einteilt, wie sie ihre Formen bilden, kann man folgende Unterscheidungen treffen: a) nach der synthetischen Formenbildung; b) nach der analytischen Formenbildung. Für die Unterscheidung nach synthetischen Formen legt man das Präsens, das Präteritum und das Partizip 2 zugrunde. Auf dieser Basis kann man starke, schwache, gemischte und unregelmäßige Verben sowie als Sonderklassen letzterer noch Suppletivstämme und Präteritopräsentia unterscheiden. Als „stark“ werden Verben bezeichnet, die ihr Präteritum wie auch das Partizip 2 mit einem Vokalwechsel, dem so genannten Ablaut, bilden wie z. B. werfen – warf – geworfen, rufen – rief – gerufen usw. „Schwach“ sind hingegen solche Verben, die hierfür das so genannte Dentalsuffix -t verwenden: lachen – lachte – gelacht, hüpfen – hüpfte – gehüpft usw. Eine Kombination aus beiden Merkmalen, wie sie etwa bei kennen – kannte – gekannt oder brennen – brannte – gebrannt vorliegt, wird gelegentlich als „gemischt“, häufiger jedoch einfach als unregelmäßig bezeichnet. Als unregelmäßig werden alle Verben betrachtet, die nicht in ein bestimmtes Schema passen; nach älterer Sichtweise sind das alle Verben, die weder in die Klasse der starken noch in die der schwachen gehören; nach neuerer alle Verben, die nicht schwach sind, da nur die schwache Konjugation, die immer nach demselben Muster erfolgt, als regelmäßig angesehen wird. Unregelmäßige Verben im engeren Sinne weisen typischerweise Veränderungen im Konsonantismus (mit oder ohne zusätzliche Veränderung des Vokalismus) auf, wie sie etwa bei denken – dachte – gedacht oder bringen – brachte – gebracht zu beobachten sind. Einen besonderen Typ unregelmäßiger Verben stellen die sog. Präteritopräsentia (Singular: Präteritopräsens) dar. Dabei handelt es sich um Verben, deren aktuelle Präsensformen ursprünglich Präteritumformen waren. Daher bleiben sie in der 1. und 3. Person Singular Präsens endungslos, was sonst nur im Präteritum der Fall ist (vgl. ich gingØ, er/sie gingØ): ich weiß (*weiße; aber: ich gehe), er/sie weiß (*weißt; aber: er/sie geht). Typisch für Präteritopräsentia ist auch ein Vokalwechsel zwischen Singular und Plural, wie er historisch für das Präteritum starker Verben kennzeichnend war: ich weiß – wir wissen. Zu den Präteritopräsentia gehören neben dem Verb wissen auch die Modalverben des Deutschen. Das häufigste der deutschen Verben ist schließlich zugleich das unregelmäßigste von allen: Den Formen des Verbs sein liegen so genannte Suppletivstämme (von lat. supplere ‚auffüllen‘) zugrunde, das heißt Formen, die aus
460
Verb
verschiedenen Wurzeln stammen. Im Falle des Verbs sein sind dies drei verschiedene Stämme, die sich in Formen wie bin, bist; war, gewesen oder sein, sind wiederfinden. Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit, die auf dem Formenbestand beruht, betrifft die Bildung analytischer Tempora, und zwar die Perfekt- und Plusquamperfektbildung mit haben oder sein. Aufgrund der historischen Herkunft des haben-Perfekts, das aus Konstruktionen des Typs ‚ich habe den Brief (als einen) geschriebenen‘ entstanden ist (vgl. hierzu ausführlicher Velupillai/Hentschel 2009), wird das Perfekt transitiver Verben stets mit haben gebildet. Diese Perfektform ist zugleich die häufigere, die sich auch auf zahlreiche andere Verben ausgeweitet hat. Das sein-Perfekt wird daher nur noch bei intransitiven Verben mit perfektiver Bedeutung (oft ist auch von „Zustandsveränderung“ die Rede, vgl. z. B. Thieroff 2009a) wie einschlafen oder sinken verwendet (siehe hierzu auch Abschnitt 2.3). Daneben ist es aber auch bei einer Reihe von hochfrequenten Verben wie sein, werden oder bleiben erhalten, während in allen anderen Fällen das haben-Perfekt generalisiert wurde. Eine Unterscheidung, die sowohl auf die Bildung analytischer als auch synthetischer Tempora Auswirkungen hat, ist die in trennbare und untrennbare Verben. Verben, die ein auch als „Verbpartikel“ bezeichnetes, präfixartiges Element wie ab-, bei-, um- oder zu- aufweisen, können je nach Betonung trennbar sein. Konkret bedeutet das, dass die Verbpartikel dann, wenn sie betont ist, zur Bildung der synthetischen Tempora Präsens und Präteritum vom Verbstamm getrennt wird: umfáhren: ich umfahre (das Hindernis); úmfahren: ich fahre (das Hindernis) um. Bei der Bildung des Partizips 2, das für die analytischen Tempora der Vergangenheit benötigt wird, tritt ebenfalls eine Trennung auf, indem das ge- des Partizips zwischen Verbstamm und Partikel tritt: umgefahren (vs. umfahren). Dasselbe Phänomen erscheint beim erweiterten Infinitiv: umzufahren (vs. zu umfahren). 3.4
Semantische Unterscheidungen
Auch aufgrund ihrer semantischen Eigenschaften kann man Verben systematisieren. Dabei kommt zum einen die Unterscheidung in Handlungsverben, Vorgangsverben und Zustandsverben in Frage, zum anderen die Einteilung nach Aktionsarten. Handlungsverben sind solche, die als Subjekt eine aktiv handelnde Person verlangen, unabhängig davon, ob die Handlung auf ein Ziel gerichtet ist oder nicht. Hierher gehören transitive Verben wie lesen, essen oder tragen ebenso wie intransitive Verben wie lachen, wandern oder hüpfen. Verben dieses Typs können im Deutschen stets ein Passiv bilden, wobei von den intran-
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sitiven nur ein unpersönliches, von den transitiven sowohl ein persönliches als auch ein unpersönliches Passiv möglich ist: Das Gemüse wurde gegessen (transitives Verb, persönliches Passiv); Im Speisesaal wurde gegessen (transitives Verb, unpersönliches Passiv); Es wurde viel gelacht (intransitives Verb, unpersönliches Passiv; zur Passivbildung vgl. ausführlicher Vogel 2009c). Vorgangsverben und Zustandsverben beinhalten im Gegensatz zu Handlungsverben nie ein aktiv handelndes Subjekt; dem Subjekt wird im Gegenteil jegliche eigene Aktivität abgesprochen, es unterliegt einem Vorgang oder wird statisch als in einem Zustand befindlich gekennzeichnet. Verben diese Art sind duften, wachsen oder schimmeln (Vorgangsverben) bzw. stehen, liegen, sich befinden (Zustandsverben). Demgegenüber ist die Unterteilung nach Aktionsarten sehr viel differenzierter, aber auch uneinheitlicher. Die Aktionsart betrifft Eigenschaften des im Verb ausgedrückten Geschehens wie etwa mehrfache Wiederholung, Beginn oder Ende. Im Unterschied zum Aspekt, der ähnliche Inhalte ausdrücken kann, handelt es sich bei Aktionsarten jedoch nicht um grammatikalisierte Kategorien als Bestandteil des grammatischen Systems einer Sprache, sondern um lexikalische Größen. Daher können sie sowohl in Sprachen mit Aspektsystem als auch in solchen ohne auftreten. Typischerweise werden Aktionsarten durch Affigierung anderer Verben gebildet, etwa indem zum im Hinblick auf die Aktionsart neutralen Verb blühen das ingressive erblühen und das egressive verblühen gebildet werden. Am häufigsten werden die folgenden Aktionsarten unterschieden: x
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Als diminutiv (von lat. deminuere ‚vermindern‘) werden Verben bezeichnet, die eine reduzierte Intensität ausdrücken, z. B. tänzeln (‚ein bisschen tanzen‘) oder hüsteln (‚ein bisschen husten‘). Die egressive Aktionsart (von lat. egredi ‚hinausgehen‘) kennzeichnet das Ende einer Handlung oder eines Vorgangs und liegt beispielsweise in Verben wie verblühen oder erlöschen vor. Als inchoativ oder ingressiv (von lat. inchoare ‚beginnen‘ bzw. ingredi ‚hineingehen‘), werden Verben bezeichnet, die den Beginn einer Handlung oder eines Vorgangs ausdrücken wie etwa erblühen, entflammen. Intensive Verben drücken eine höhere Intensität aus; das Wortbildungsverfahren, das ihnen zugrunde liegt, ist wie bei den diminutiven nicht mehr produktiv, und man kann es meist nur noch historisch nachvollziehen wie etwa bei schnitzen (ursprünglich von schneiden abgeleitet mit der Bedeutung ‚intensiv/ausdauernd schneiden‘). Auch die Bildung iterativer Verben (von lat. iterare ‚wiederholen‘) wie z. B. sticheln (‚wiederholt stechen‘) ist nicht mehr produktiv.
Verb
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Vorgangspassiv
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Elke Hentschel/Petra M. Vogel u Verbpartikel Zahlreiche Präpositionen des Deutschen, so ab, bei, über, um, zu und viele mehr, können sich mit Verben verbinden: abhören, beifügen, übersetzen, umfahren, zuhören usw. In dieser Funktion werden sie auch als Verbpartikeln bezeichnet. Zu dieser Gruppe gehört auch ein- (z. B. einsehen; zu in gebildet). Je nach Betonung werden Verbpartikeln bei der Formenbildung abgetrennt oder nicht: ich setze über, ich übersetze. → Verb u Vorgangspassiv Das aufgrund seiner Bildung mit werden auch als werden-Passiv bezeichnete Vorgangspassiv enthält im Gegensatz zum sog. Zustandspassiv keine semantische Komponente ‚resultativ‘. Es existiert sowohl als persönliches als auch als unpersönliches Passiv: Die Aufgabe wird erledigt; Im Publikum wurde laut gelacht. → Genus Verbi, Passiv
Verb
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Wortbildung
W u Wortbildung 1
Einleitung
Wortbildung ist ein Verfahren zur Wortschatzerweiterung, ein Verfahren zur Versprachlichung von Begriffen, bei dem Wörter gebildet werden: Apfeltorte < Torte + Apfel. Das unterscheidet die Wortbildung von den anderen wortschatzerweiternden Verfahren, bei denen Wörter nicht gebildet, sondern durch Bedeutungsveränderung gewonnen werden (Speicher ‚Datenträger‘ < Speicher ‚Vorratsraum‘), bei denen Wörter entlehnt werden (Chanson), bei denen Wörter urgeschöpft werden (pardauz). Außerdem unterscheidet das die Wortbildung von Verfahren, bei denen zur Versprachlichung von Begriffen nicht Wörter, sondern Phrasen gebildet werden, genauer Phraseme (offenes Geheimnis). Wortbildung ist Untersuchungsgegenstand der Wortbildungslehre (Barz 2000). Die Wortbildungslehre ist ein Teilgebiet der Morphologie. Wortbildung ist ein universales Phänomen (Booij u. a. 2000), die Möglichkeiten der Wortbildung werden aber in den verschiedenen Sprachen verschieden genutzt. Folgende Faktoren sind dabei wesentlich: die Wortbildungseinheiten, die Wortbildungsarten, die Wortbildungsmuster. 2
Wortbildungseinheiten
Die Wortbildungseinheiten, die Bausteine, aus denen Wörter aufgebaut werden, sind erstens worbildungsunspezifische Einheiten, die auch außerhalb der Wortbildung ihre Rolle spielen, und zweitens wortbildungsspezifische Einheiten, die ausschließlich in der Wortbildung auftreten: 2.1
Wortbildungsunspezifische Einheiten
2.1.1 Wörter Wörter sind Einheiten, die in Texten als frei vorkommende Wortformen realisiert werden: Apfel, Apfels, Äpfel. Auch in der Wortbildung werden Wortformen verwendet, überwiegend Stämme, also Wortformen ohne Flexionsaffix: Apfel in Apfeltorte, süß in süßen, back- in Bäcker. Verwendet werden außerdem flektierte Formen, etwa Infinitive: backen in das Backen. Ihrem allgemeinen
Wortbildung
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Vorkommen entsprechend werden überwiegend Substantive verwendet: Zuckerbäcker, zuckern, zuckrig, im Prinzip sind aber Wörter aller Wortarten offen für Wortbildung: Süßholz, vermischen, Nachspeise, sogar Interjektionen wie in Aha-Erlebnis, buhen und Pronomina wie in Wir-Gefühl. Die meisten Wörter werden mit Wörtern gebildet. 2.1.2 Phrasen Gelegentlich werden Wörter mit Phrasen gebildet, unter anderem mit Nominalphrasen: Grüne-Bohnen-Eintopf, oder ganzen Sätzen: sein langer Ichkann-sie-nicht-vergessen-Brief, Vergissmeinnicht (Lawrenz 1997, Meibauer 2003). 2.1.3 Buchstaben Gelegentlich werden Wörter mit Buchstaben gebildet. Die Buchstaben stehen entweder für eine Rangfolge wie in A-Klasse, B-Movie oder haben eine anschaulich ikonische Funktion wie in O-Beine, V-Ausschnitt. 2.2
Wortbildungsspezifische Einheiten
2.2.1 Konfixe Konfixe (faszin-, therm-) sind zwar morphologisch und semantisch wortähnlich, können aber im Gegensatz zu Wörtern weder frei in Texten vorkommen (die *Faszin), noch mit Flexionsaffixen direkt nutzbar gemacht werden (die *Faszinen, er *faszint mich), sondern müssen sich immer mit Affixen, anderen Konfixen oder mit Wörtern verbinden: Faszination, faszinieren, Thermostat, Thermojacke. Insofern können sie nicht außerhalb der Wortbildung eingesetzt werden (Schmidt 1987, Fleischer 1995, Donalies 2000, Elsen 2005). Konfixe werden vor allem durch Entlehnung gewonnen; die meisten sind Eurolatinismen (Munske/Kirkness 1996), neuerdings kommen auch Anglizismen wie -tainment, -minator vor (Michel 2006). 2.2.2 Wortbildungsaffixe Auch Wortbildungsaffixe (un-, ver-, -heit, -lich) sind wortbildungsspezifische Einheiten. Sie kommen anders als Wörter nicht frei in Texten vor und können nicht durch Flexionsaffixe nutzbar gemacht werden. Anders als Konfixe können sie zudem nicht mit Wortbildungsaffixen zusammen Wörter bilden (*unlich, *Unheit). Das Inventar der Affixe ist begrenzt. Affixregister finden sich unter anderem bei Schröder (1994), Fleischer/Barz (1995), Altmann/
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Wortbildung
Kemmerling (2000), Eichinger (2000), Duden (2005), Donalies (2007). Offenbar reicht das vorhandene Affixinventar aber aus: Nur selten wird es erweitert, meist durch entlehnte Affixe wie mega-, -ing, mitunter auch durch Belebung schwach vitaler einheimischer Affixe wie -i in Dozi, Studi (Werner 1996). Affixe werden entweder vorangestellt (ver- in versüßen), nachgestellt (-e in Süße) oder umschließen eine Basis (ge- … -e in Gesüße). Vorangestellte Affixe heißen Präfixe, nachgestellte Affixe heißen Suffixe, umschließende Affixe heißen Zirkumfixe. Die Wortbildung mit Affixen wird explizite Derivation genannt; explizite Derivate wie versüßen, Süße, Gesüße erkennt man an deren Wortbildungsaffixen. Mitunter finden sich Affixe, die scheinbar in eine Basis eingefügt worden sind: un- in verunehren. Dieser Position wegen werden solche Affixe Infixe genannt. Ob auch für das Deutsche Infixe angenommen werden müssen, ist in der Forschungsliteratur umstritten (Donalies 2007). Umstritten ist auch der Affixtyp Interfix. Interfixe sind unbetonte, semantisch leere Wortbildungsaffixe zwischen einer Basis und einem Suffix: -ig- in Süßigkeit; solche Einheiten können aber ebensogut als Suffixerweiterungen verstanden werden: -igkeit. Umstritten ist schließlich die Einordnung von Einheiten des Typs auf, über in aufstehen, übersehen. Die meisten dieser Einheiten werden vom Verb getrennt (sie steht auf ), einige aber auch nicht (sie übersieht ihn); alle Einheiten sind Präpositionen (auf dem Tisch), haben also eigentlich Wortstatus. Vorgeschlagen wurde erstens, trennbare Präfixe (auf- in aufstehen) von untrennbaren Präfixen abzugrenzen (ver- in versehen, über- in übersehen); zweitens Präfixe und präpositionale Präfixe (ver- und über-) von präpositionalen Verbpartikeln (auf-) abzugrenzen; drittens solche Einheiten generell als Präverbien (auf, über) von Präfixen (ver-) abzugrenzen. Umstritten ist zudem, ob Verben, die ihrer Trennbarkeit wegen keinen Wortstatus haben, überhaupt zur Wortbildung gerechnet werden sollen (Zifonun 1973, Donalies 1999, Eisenberg 2006). 2.2.3 Unikale Einheiten Unikale Einheiten sind überkommene Relikte aus früheren Sprachepochen. Ehemals Wörter (mhd. lind ‚Schlange‘) sind sie heute als selbstständige Einheiten vergessen (gestern ist mir im tiefen Tannenwald ein *Lind begegnet), haben sich aber noch unikal in Wortbildungsprodukten erhalten: Lindwurm, Himbeere, Brombeere, Veilchen, Nachtigall, beginnen, verlieren, plötzlich, ledig, deftig. Unikale Einheiten gelten als totes Material; man kann mit ihnen eigentlich keine weiteren Wörter bilden. Im Prinzip können unikale Einhei-
Wortbildung
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ten aber wiederbelebt werden: Dass die unikal gebundene Einheit gall zu germanisch galen ‚singen‘ gehört (heute noch in gellen), weiß nur noch der Sprachhistoriker; aber aus dem Wissen heraus, dass eine Nachtigall ein Vogel ist, könnte jeder Sprecherschreiber beispielsweise Tagigall bilden. 2.2.4 Fugenelemente In kombinierten Wortbildungsprodukten gibt es zwischen den beiden Grundeinheiten eine Fuge: Apfel-Fuge-torte, sommer-Fuge-lich. In diese Fuge wird mitunter ein Fugenelement eingefügt: -s- in Hochzeitstorte. Im Deutschen kommen die beiden entlehnten Fugenelemente -i- und -o- vor, mit denen üblicherweise nur Lehnwortbildungsprodukte verfugt werden: Stratigrafie, Thermojacke. Recht häufig ist das einheimische Fugen-s-: Hochzeitstorte, Sehnsuchtstränen. Es tritt zum Teil regelmäßig auf, etwa nach bestimmten Suffixen, nämlich nach Ersteinheiten auf -heit (Wahrheitssehnsucht), -ion (illusionslos), -ität (Subtilitätsprüfung), -keit (höflichkeitshalber), -schaft (Freundschaftsbeweis) und -ung (hoffnungsvoll ) (Fuhrhop 2000). Mitunter gibt es regionale Unterschiede (schweizerdeutsch Abfahrtzeit versus bundesdeutsch Abfahrtszeit). Umstritten ist, ob darüber hinaus weitere Fugenelemente angenommen werden sollen. Der einen Meinung nach bestehen Wortbildungsprodukte ausschließlich aus Stämmen; alles, was nicht zum Stamm der Ersteinheit gehört, ist dann ein Fugenelement, selbst wenn es sonst als Flexionssuffix vorkommt: Kind-er-zimmer, Sohn-es-pflicht, Pferd-e-wagen, Held-en-mut, Sonnen-finsternis, Glaube-ns-frage (Eisenberg 2006). Einer anderen Meinung nach werden zur Wortbildung auch Wortformen verwendet: Kinder und Pferde als Pluralform, Sohnes und Helden als Genitivform; ausschließlich das, was nicht als Flexionssuffix im Flexionsparadigma einer Einheit vorkommt wie der *Hochzeits, der *Abfahrts, ist dann ein Fugenelement (Donalies 2007: 32 f.). 3
Wortbildungsarten
Die Wortbildungsarten, die Verfahren, mit denen Wörter gebildet werden, sind erstens kombinierende, zweitens intern verändernde und drittens reduzierende Wortbildungsarten. 3.1
Kombinierende Wortbildungsarten
Die beiden zentralen Wortbildungsarten des Deutschen sind kombinierende Verfahren, nämlich die Komposition und die explizite Derivation. Beide Verfahren sind einander sehr ähnlich; in der Forschungsliteratur ist umstrit-
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Wortbildung
ten, ob man sie überhaupt auseinanderdefinieren soll (Hansen/Hartmann 1991, Welke 1995). Beide Verfahren sind universal (Naumann/Vogel 2000, Olsen 2000, Bauer 2001, Laca 2001). Das Deutsche ist berüchtigt für seine im Sprachvergleich extrem genutzte Komposition (Donalies 2004). 3.1.1 Komposition Bei der Komposition, auch Zusammensetzung genannt, werden Wortbildungseinheiten zu einem Kompositum zusammengesetzt. Das prototypische Kompositum ist das Determinativkompositum wie Apfeltorte, zuckersüß, das aus einem Determinatum (Torte, süß) und einem Determinans (Apfel, Zucker) gebildet wird. Ganz gleich, wie komplex Determinativkomposita sind – sie sind grundsätzlich binär strukturiert: Apfel(1)torte(2), Apfeltorten(1)bäcker (2), Apfeltortenbäcker (1)tochter (2). Das Determinatum steht im Deutschen grundsätzlich rechts, hier gilt die Righthand Head Rule (Olsen 1990); in anderen Sprachen steht es mitunter links: frz. café-filtre ‚Filterkaffee‘. Das Determinatum ist dem Determinans hierarchisch übergeordnet: Es legt zum einen die grammatischen Merkmale des Kompositums fest: Apfeltorte ist wegen Torte ein feminines Substantiv, zuckersüß ist wegen süß ein Adjektiv. Ausschließlich das Determinatum wird flektiert; das Determinans ist für syntaktische Operationen unerreichbar, es wird beispielsweise nicht flexivisch angepasst (die *Äpfeltorten) und darf der Regel nach eigentlich nicht attribuiert werden (*verregnete Feriengefahr) (Burkhardt 1999, Zifonun u. a. 1999). Das Determinatum legt zum anderen die semantischen Merkmale des Kompositums fest: Apfeltorte bezeichnet eine Torte, es gilt: AB ist B. Das Determinans bestimmt das Determinatum semantisch näher, es determiniert das Determinatum: Eine Apfeltorte ist eine ‚Torte mit Apfel‘, eine Herrentorte ist eine ‚Torte für Herren‘, eine Konditortorte ist eine ‚Torte vom Konditor‘. Die ältesten Substantivkomposita des Deutschen sind auf Genitivkonstruktionen zurückgehende Substantiv-Substantiv-Komposita wie gotes boto (Pavlov 2004). Der Substantiv-Substantiv-Typ ist auch heute noch der vorherrschende und unrestringierteste: Die legendären deutschen Überlangkomposita (Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänswitwenkassenwart) sind überwiegend Substantiv-Substantiv-Komposita. Das ist auch in anderen Sprachen so: engl. bathroom towel rack designer training course notes ‚Badezimmerhandtuchhalterdesignertrainingskursnotizen‘, dän. sporvognsskinneskildtskraberfagforening ‚Straßenbahnschienenscheißekratzergewerkschaft‘, ungar. névjegytartódobozfedél ‚Visitenkartenbehälterschachteldeckel‘ (Trageser 1996, Augst 2001, Donalies 2004).
Wortbildung
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Ein weiterer Typ des Kompositums ist das Kopulativkompositum (schwarzweiß), auch Dvandva genannt. Die Einheiten der Kopulativkomposita gehören grundsätzlich der gleichen Kategorie an und sind nicht hierarchisch strukturiert, sondern gleichgeordnet. Kopulativkomposita müssen nicht binär sein: schwarz-weiß-aprikosenfarben. Die erste Einheit determiniert nicht die zweite: schwarzweiß heißt nicht ‚weiß mit schwarz‘, sondern ‚schwarz und weiß‘. In der Forschungsliteratur umstritten ist, ob außer solchen adjektivischen Komposita auch einige substantivische und verbale Komposita des Deutschen primär kopulativ gelesen werden müssen: Radiowecker, spritzgießen (Breindl/Thurmair 1992, Donalies 2007: 63–65). Dagegen gibt es in anderen Sprachen bestimmte Komposita, die nur kopulativ gelesen werden können und deshalb auch echte Dvandva heißen; überwiegend werden mit ihnen familiäre Beziehungen bezeichnet: türk. anababa ‚Eltern‘, wörtlich ‚Mutter-Vater‘, russ. brat-sestra ‚Geschwister‘, wörtlich ‚Bruder-Schwester‘, neugriech. andrójino ‚Ehepaar‘, wörtlich ‚Mann-Frau‘, japan. dan-sei ‚Ehepaar‘ aus dan ‚Mann‘ und sei ‚Frau‘, vietnam. bàn-ghê ‚Möbel‘, wörtlich ‚Tisch-Stuhl‘. Ein weiterer Typ des Kompositums ist das exozentrische Kompositum, auch Possessivkompositum oder Bahuvrihi genannt: Rotkehlchen, Wirrkopf, Nashorn, Weißdorn. Exozentrische Komposita werden wie die endozentrischen Determinativkomposita aufgebaut, semantisch gilt allerdings nicht: AB ist B, denn Rotkehlchen bezeichnet kein Kehlchen. Bezeichnet wird vielmehr etwas außerhalb Befindliches: Rotkehlchen bezeichnet einen Vogel, der ein rotes Kehlchen hat (Knobloch 1997). Zur Komposition zu rechnen sind schließlich die Reduplikation, bei der eine Art Echowort durch lautassoziative Doppelung gebildet wird: Schickimicki, Mischmasch, und die Kontamination, bei der Wörter miteinander verschmolzen werden: Mammufant < Mammut + Elefant (Cannon 2000). Umstritten als eigene Wortbildungsart zwischen Komposition und Derivation ist die so genannte Zusammenbildung, bei der ein Wort gleichzeitig komponiert und deriviert wird: Apfelschneider, grünäugig. Die fraglichen Wörter können aber einfacher als Komposita (Apfel + Schneider) bzw. als explizite Derivate aus Nominalphrasen (grün(es) Auge + -ig) analysiert werden (Leser 1990, Donalies 2007: 49 f.). 3.1.2 Explizite Derivation Bei der expliziten Derivation, auch Ableitung genannt, werden Wortbildungseinheiten zu einem expliziten Derivat zusammengesetzt. Prototypische explizite Derivate wie Freundschaft, freundlich, befreunden werden kombiniert aus einer Basis, meist einem Wort (Freund ), und einem
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Wortbildungsaffix (-schaft, -lich, be-). Wie Determinativkomposita sind explizite Derivate grundsätzlich binär: Freund (1)schaft(2), freundschaft(1)lich(2), Freundschaftlich(1)keit(2). Wie bei den Determinativkomposita legt die rechte Einheit die grammatischen Merkmale des Derivats fest: freundschaftlich ist wegen -lich ein Adjektiv; Freundschaftlichkeit ist wegen -keit ein feminines Substantiv. Analyseschwierigkeiten machen Präfixverben wie befreunden, weil sie offenbar nicht der Righthand Head Rule folgen (Zifonun 1973, Eschenlohr 1999). Umstritten ist die semantische Rolle der Wortbildungsaffixe: Der einen Meinung nach haben sie reine Funktion, sie leiten Wörter ab, sie legen grammatische Merkmale fest. Einer anderen Meinung nach können Affixe genauso wie die Einheiten von Komposita Determinans und Determinatum sein. So determiniert -chen in Kindchen die Basis Kind: Kindchen bezeichnet ein kleines, ein niedliches Kind. Ebenso wird -ling in Naivling durch naiv determiniert: Naivling bezeichnet eine Person, und zwar eine naive (Donalies 2007: 15–18). Ihrem allgemeinen Vorkommen entsprechend sind meist Substantive Basen expliziter Derivate. Ist die Basis ein Substantiv (Freund ), entsteht ein Desubstantivum: Freundschaft, freundlich, befreunden. Häufig werden aber auch aus Adjektiven Deadjektiva wie Zartheit, zärtlich, verzärteln und aus Verben Deverbativa wie Deuter, deutlich, bedeuten gebildet. Im Deutschen sind die meisten durch Derivation entstandenen Substantive Deverbativa: Lehrer, Lehrling, Lehre, Belehrung; in anderen Sprachen überwiegen Desubstantiva (Donalies 2005: 60–63). 3.2
Intern verändernde Wortbildungsarten
Neben den beiden kombinierenden gibt es im Deutschen zwei Verfahren, bei denen eine Wortbildungseinheit intern verändert wird, nämlich die implizite Derivation und die Konversion. Die implizite Derivation wird kaum genutzt, die Konversion dagegen hochvital. Die Konversion ist universal; für das Deutsche typisch ist die Infinitivkonversion: das Laufen (Vogel 1996). 3.2.1 Implizite Derivation Bei der impliziten Derivation werden Wortbildungseinheiten durch interne Ablautung zu impliziten Derivaten verändert: tränken < trinken, senken < sinken, setzen < sitzen, legen < liegen. Die Möglichkeiten der Bildung solcher Kausativa sind begrenzt; die implizite Derivation ist daher im Deutschen seit je ein Randphänomen (Eschenlohr 1999). Umstritten ist, ob auch wortartverändernde Verfahren zur impliziten Derivation gerechnet werden sollen
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(Wurf < werfen); die fraglichen Wortbildungsprodukte lassen sich einfacher als Konvertate aus entsprechenden Verbstämmen erklären (Wurf aus dem mhd. Präteritumstamm wurf-). 3.2.2 Konversion Bei der Konversion werden allein durch Wortartwechsel Konvertate gebildet: Lauf < lauf-, Laufen < laufen, Tief < tief, fischen < Fisch. Charakteristisch für Konvertate ist, dass der Wortartwechsel nicht durch morphologisch fassbare Einheiten bewirkt wird (Vogel 1996). Am häufigsten und unrestringiertesten werden substantivische Deverbativa aus Infinitiven konvertiert: Laufen, Schlafen, häufig werden aber auch Verbstämme konvertiert: Lauf, Schlaf. Außerdem werden verbale Desubstantiva wie ölen, schriftstellern und Deadjektiva wie grünen, süßen gebildet. Semantisch findet einerseits reiner Wortartwechsel statt: das Laufen, der Lauf; mitunter bezeichnet das Konvertat aber auch etwas ganz anderes als die Basis: Koch, fischen. 3.3
Reduzierende Wortbildungsarten
Auch die reduzierenden Wortbildungsarten werden im Deutschen genutzt. Es sind die Kurzwortbildung und die Rückbildung. Besonders genutzt wird die Kurzwortbildung, die sich wie universal auch im Deutschen zunehmend verbreitet (Kobler-Trill 1994, Born 1996, Kreidler 2000). 3.3.1 Kurzwortbildung Bei der Kurzwortbildung werden Wortbildungseinheiten auf verschiedenste Weise gekürzt. Erstens wird unisegmental gekürzt, das heißt nur ein Segment der Wortbildungseinheit entfällt; meist werden dabei Kurzwörter gebildet, die aus dem Anfang ihrer Langform bestehen: Abi < Abitur, selten Wörter, die aus dem Ende bestehen: Cello < Violoncello, oder aus der Mitte der Langform: Lisa < Elisabeth. Zweitens wird partiell gekürzt und zwar immer am ersten Segment: O-Saft < Orangensaft. Drittens wird multisegmental gekürzt; meist entstehen Initialwörter: BRD < Bundesrepublik Deutschland, mitunter aber auch sonstwie diskontinuierlich gekürzte Wörter: Azubi < Auszubildender (Kobler-Trill 1994). Das Besondere an Kurzwörtern ist, dass sie immer Varianten zu weiterhin existenten Langformen sind. Üblicherweise behält das Kurzwort alle grammatischen Merkmale der Langform; Ausnahmen sind das bei manchen Kurzworttypen relativ regelmäßige Plural-s: Professoren versus Profs, und der seltene Genuswechsel: die Fotografie versus das Foto. Manche Kurzwörter entwickeln sich stilistisch von den Langformen weg: So ist
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Wortbildung
Prof für manche Kontexte zu leger. Kurzwörter werden hochvital gebildet; eine Kurzwortgefahr besteht aber offenbar nicht (Augst 2001). 3.3.2 Rückbildung Bei der Rückbildung, auch Pseudokomposition oder retrograde Derivation genannt, werden explizite Derivate um ihre Wortbildungsaffixe gekürzt: So soll Sanftmut aus sanftmütig, notlanden aus Notlandung gekürzt worden sein. Dieses Erklärungsmodell ist nötig, wenn Wörter wie Sanftmut nicht als übliche Komposita analysiert werden sollen. Es spricht jedoch nichts dagegen, Wörter wie Sanftmut als Komposita zu analysieren. Auch erklärt das Erklärungsmodell Rückbildung nicht, wie Wörter wie sanftmütig ohne eine Basis Sanftmut überhaupt entstanden sein können (Donalies 2007: 95–97). 4 Wortbildungsmuster Die Wortbildungsmuster, nach denen Sprecherschreiber Wörter bilden und Hörerleser Wörter verstehen, sind auch im Deutschen vielfältig. Das gilt besonders für deutsche Komposita. In der Forschungsliteratur legendär sind die Lesarten eines typischen Kompositums wie Fischfrau, etwa ‚Frau, die Fisch verkauft‘, ‚Frau eines Fisches‘, ‚Frau, die Fisch isst‘, ‚Frau, die Fisch produziert‘, ‚Frau, die kühl wie ein Fisch ist‘, ‚Frau, die den Fisch gebracht hat‘, ‚Frau, die bei dem Fisch steht‘ (Heringer 1984). Der Vielfalt wegen werden hier nur exemplarisch einige besonders präsente Muster der expliziten Derivation dargestellt: die Diminution und die Augmentation; die Movierung; die Bildung von Kollektiva; die Bildung von Nomina qualitatis und Nomina actionis; die Bildung von Nomina agentis und Nomina patientis. 4.1
Diminution und Augmentation
Diminution und Augmentation sind verschwisterte Gegenmodelle. Besonders die Diminution ist universal verbreitet; die Augmentation ist universal an die Präsenz von Diminution gebunden. Die Dimimution wird im Deutschen weitaus mehr genutzt als in den exzentrisch diminutionsabholden Sprachen Englisch und Französisch, aber weitaus weniger als beispielsweise im Niederländischen, Italienischen, Spanischen, Polnischen oder Russischen; die Augmentation spielt im Deutschen wie etwa auch im Englischen, Französischen, Ungarischen und Finnischen eine untergeordnete Rolle, vor allem im Vergleich zum Italienischen, Spanischen, Polnischen oder Russischen (Donalies 2006). Diminutiva und Augmentativa werden vor allem durch explizite Derivation gewonnen; Diminutiva werden im Deutschen meist mit den einheimischen Suffixen -chen und -lein bzw. regionalen Vari-
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anten wie -le, -li, -ke, Augmentativa mit Lehnpräfixen wie giga-, mega-, ultrarealisiert, selten auch mit dem einheimischen Präfix un-. Mitunter wird auch durch Komposition diminuiert bzw. augmentiert (Kleingarten, Riesenshow). Semantisch geht es um Verkleinerung bzw. Vergrößerung (Würstle 1992). Bei der Diminution soll ausgedrückt werden, dass etwas kleiner ist als erwartet (Kindchen, Stündchen); bei der Augmentation soll ausgedrückt werden, dass etwas größer ist als erwartet (Megashow, Megalith, Unsumme). Stilistische Verwendungsbeschränkungen beschreiben Hentschel/Weydt (2003: 196–199). 4.2
Movierung
Bei der Movierung, auch Motion oder Mutation genannt, werden Bezeichnungen für Lebewesen hinsichtlich ihres Sexus, ihres biologischen Geschlechts expliziert; dabei werden aus generischen, nichtsexusmarkierten Epicönae sexusmarkierte Bezeichnungen (Doleschal 1992). Das einzige ausschließlich movierende einheimische Suffix des Deutschen ist -in: Studentin; es ist auch das häufigste Movierungssuffix. Andere Suffixe dagegen werden auch noch zur Bildung anderer Muster verwendet: So ist das movierende -er in Puter vor allem ein Suffix zur Bildung von Nomina agentis wie Schreiber. Überwiegend wird der weibliche Sexus markiert; sexusmarkiert männliche Motiva aus generischen Feminina wie Kater < Katze sind selten und meist etabliert, anachronistisch oder scherzhaft gemeint: Puter < Pute, Kröterich < Kröte, Hebammerich < Hebamme. In den alten Bundesländern und der deutschsprachigen Schweiz wird die affixale Movierung aus Gründen der political correctness besonders beflissen angewandt; kritisch dazu Stickel (1998). 4.3
Bildung von Kollektiva
Kollektiva sind Sammelbegriffe. Neben simplizischen wie Familie, Herde gibt es auch wortgebildete Kollektiva: Menschheit, Studentenschaft, Gebüsch; Basen sind dann Bezeichnungen für Einzelnes (Mensch, Student, Busch). Ein eigenes Wortbildungsaffix, das ausschließlich zur Ableitung von Kollektiva verwendet wird, gibt es nicht; die Affixe, mit denen auch Kollektiva gebildet werden, sind sogar weitaus vitaler in ganz anderen Modellen: So ist das Suffix -heit hochvital bei der Bildung von Nomina qualitatis wie Zartheit. 4.4
Bildung von Nomina qualitatis und Nomina actionis
In allen europäischen Sprachen werden hochvital und weitgehend unrestringiert Nomina qualitatis gebildet: engl. dryness ‚Trockenheit‘, frz. tendresse
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Wortbildung
‚Zärtlichkeit‘, ital. bellezza ‚Schönheit‘, poln. parno´s´c ‚Schwüle‘, ungar. er˝osség ‚Stärke‘. Bei der Bildung von Nomina qualitatis werden aus Adjektiven, also aus Bezeichnungen für Eigenschaften, wiederum Bezeichnungen für Eigenschaften gebildet, allerdings substantivische: Zartheit < zart. Im Deutschen werden Nomina qualitatis überwiegend mit dem einheimischen Suffix -heit und dem Lehnsuffix -ität gebildet: Attraktivität; andere Suffixe sind peripher: Stärke. Das Verfahren, bei dem semantisch wenig geschieht, aber die Wortart gewechselt wird, heißt Transposition oder Umkategorisierung. Auch bei der ebenfalls in allen europäischen Sprachen hochvitalen Bildung von Nomina actionis wird transponiert: engl. edition, nl. verleiding ‚Verführung‘, frz. inspiration, poln. gadanie ‚Gerede‘. Aus Verben werden Substantive gebildet, die Tätigkeiten, Vorgänge, Zustände bezeichnen: Versuchung. Überwiegend werden solche Bezeichnungen mit dem einheimischen Suffix -ung und mit dem Lehnsuffix -ation gebildet: Inspiration; andere Suffixe sind peripher: Suche. Ein Besonderheit des Deutschen ist die fast unbeschränkte Bildung von Nomina actionis durch Infinitivkonversion: das Lesen. Mitunter von den Nomina actionis abgegrenzt werden Nomina acti, die Resultate bezeichnen: Sendung. 4.5
Bildung von Nomina agentis und Nomina patientis
Weil der Mensch anthropozentrisch denkt und spricht, sind naturgemäß Personenbezeichnungen in allen Sprachen zentral: engl. writer, nl. melker, frz. chanteuse, poln. pijak ‚Trinker‘, russ. letˇcik ‚Pilot‘, wörtlich ‚Flieger‘, ungar. rajzoló ‚Zeichner‘, neugriech. graféas ‚Schreiber‘, türk. yazar ‚Schriftsteller‘ (Braun 1997). So ist die universal hochvitale Bildung von Nomina agentis auch im Deutschen zur Bezeichnung von Personen hochvital. Das einzige und charakteristische Suffix ist -er. Nomina agentis sind Bezeichnungen für Akteure: Läufer, Denker. Außer Personen wie bei Denker werden auch andere Akteure bezeichnet: Nager, Vorfrühlingsblüher. In der Forschungsliteratur werden mitunter Bezeichnungen für Unbelebtes, Unbeseeltes eigens als Nomina instrumenti abgegrenzt: Plattenspieler. Nomina instrumenti werden aber durchaus auch als Bezeichnungen für Akteure gemeint und verstanden: So bezeichnen Empfänger, Sender, Drucker, Ordner gleichermaßen Personen und als Agens gesehene Geräte. Das Gegenmodell zur Bildung von Nomina agentis ist die Bildung von Nomina patientis: Prüfling. Das Hauptsuffix ist -ling; daneben gibt es seltene Nomina patientis mit -er wie Lutscher und einige konfixale Lehnwortbildungsprodukte wie Examinand (Baeskow 2002). Nomina patientis werden universal deutlich seltener gebildet als Nomina agentis (Brdar/Brdar 1991).
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Elke Donalies
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Wortbildung
Z u Zustandspassiv Das aufgrund seiner Bildung mit sein auch als sein-Passiv bezeichnete Zustandspassiv enthält im Gegensatz zum sog. Vorgangspassiv eine semantische Komponente ‚resultativ‘. Es existiert fast nur als persönliches, d. h. subjekthaltiges Passiv: Die Aufgabe ist erledigt. → Genus Verbi, Passiv