Giuliano Campioni Der französische Nietzsche
Giuliano Campioni
Der französische Nietzsche Aus dem Italienischen von ...
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Giuliano Campioni Der französische Nietzsche
Giuliano Campioni
Der französische Nietzsche Aus dem Italienischen von Renate Müller-Buck und Leonie Schröder
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-017755-8 Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.
© Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
V
Inhalt
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Nietzsche, Descartes und der französische Geist . . . . . 1. Der „Handwerker Descartes“ versus Nietzsche „den Edlen und Krieger“ . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die „Nothlüge und die veracité du dieu des Descartes“ 3. Der Weg der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Schlachten des Descartes . . . . . . . . . . . . . 5. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum . . . . . . . . . . 6. Descartes: Vernunft und Revolution . . . . . . . . . . 7. Das Gleichgewicht der klassischen Vernunft und die „moralischen Monstra“ . . . . . . . . . . . . . . II. Der „deva“ der Dialogues philosophiques und Nietzsches Übermensch. Renan als „Antipode“ . . . . . 1. Der Mythos Jesu von Strauss bis Renan: die Auffassung Wagners und des jungen Nietzsche . . 2. Die Kraft der ‚Krise‘: Renan, Burckhardt und Nietzsche 3. Parfum Renan: „la niaiserie religieuse par excellence“ . 4. Nietzsches Philosophie: ein „renanisme exaspéré et sans ‚nuances‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Maschinismus und Ideal: der technokratische Traum Renans und die Kritik Nietzsches . . . . . . . . . . .
. 15 . . . . . .
15 28 33 36 45 50
. 57
. 65 . 65 . 76 . 92 . 102 . 119
III. Germanische Kultur und romanische Zivilisation in der Sicht von Wagner und Nietzsche . . . . . . . . . . 135 1. Das ‚Deutschthum‘ des jungen Nietzsche: Wagner und der ‚Bayreuther Sumpf‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Egoistische Einsamkeit der Künste und italienische Oper. Die Renaissance als Ursprung der romanischen Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
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Inhalt
3. „Ästhetisiren auf Grundlage einer unmoralischen Welt“: Wagners Kritik an der romanischen Zivilisation . . . . 149 4. Die Sehnsucht nach der Idylle und die Französische Revolution. Eine tragische „Wiedergeburt“: die Zweideutigkeit der wagnerschen Befreiung . . . . . 153 IV. Der Süden und die Renaissance: „Die Pflanze Mensch wächst hier stärker als anderswo“ . . . . . . . . . . . . 1. Die Renaissance des neuen Erziehers. Philologie und historische Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Epoche der „individuellen Menschen“. Die erste Lehre Burckhardts . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Poeten-Philologen und die neuen Lebensformen . 4. Die Renaissance und die „Pflanze Mensch“: Stendhal, Taine und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Napoleon: ‚Der posthume Bruder des Dante und des Michel Angelo‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. „È tutto festo“. Auf der Suche nach dem „monstre gai“ 7. „Cesare Borgia als Papst“ und seine ‚virtù‘. Goethe und der Renaissancemensch . . . . . . . . . . . . . . . .
. 159 . 159 . 158 . 174 . 180 . 193 . 205 . 212
V. Die Götter und die décadence . . . . . . . . . . . . . . . 1. Byron in Venedig: die Genesung des ‚höheren Menschen‘ . 2. „En ce siècle où les Dieux sont tout éteints …“ . . . . . 3. „Vox populi, vox Dei“. Die Romantik von Jules Michelet, Victor Hugo und George Sand. Die Helden von Arthur de Gobineau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der demagogische Cagliostro und der dionysische „Histrio“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Die Reise des Herrn Nietzsche nach Cosmopolis . . . . 1. „Der Pariser als das europäische Extrem“ . . . . . . . 2. „Anatomistes, physiologistes, je vous retrouve partout!“ 3. Die Krankheit des Willens. . . . . . . . . . . . . . . 4. Stile der décadence . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293 293 301 313 320
. . . . .
235 235 249
264
Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Vorwort
1
Vorwort … deshalb ist es an der höchsten Zeit, daß ich noch einmal als Franzose zur Welt komme … An Jean Bourdeau in Paris (Entwurf ) vom 17. Dezember 1888
Nietzsche als typischer Vertreter des deutschen, antiromanischen Geistes: Dieses von der deutschen Ideologie des 20. Jahrhunderts geschaffene und beharrlich ausgestellte Stereotyp scheint in mancherlei Hinsicht auch dort noch passiv übernommen zu werden, wo ein solches Interpretationsschema nicht mehr auf den Philosophen des Heroismus, des Genies, des Übermenschen und der romantischen Intuition referiert. Die vorliegende Studie will dieses Bild radikal in Frage stellen, indem sie die fruchtbare Beziehung Nietzsches zum „esprit latin“, namentlich zur französischen Kultur, und die intensiven Lektüren sichtbar macht, die auf entscheidende Weise zum verborgenen Gewebe seiner Texte beitragen. Die zwei Vestalinnen und Priesterinnen rivalisierender Kulte, Cosima Wagner und Elisabeth Förster-Nietzsche, die nach und nach ganz unterschiedliche Bedeutung und Reputation erlangten, stimmten in einem Punkt überein: dass die Lektüren für Nietzsche von zentraler Bedeutung waren (etwas differenzierter sprach eine seiner Freundinnen, eine Schweizer Schriftstellerin, von Nietzsches „flair du livre“). Cosima tat dies in der Absicht, den bösen Autor des Verrats zu bezichtigen, Elisabeth um die Universalität seines ‚Genies‘ zu belegen. Beide waren jedoch weit davon entfernt, das tatsächliche Ausmaß zu begreifen, in dem Nietzsche sich und seinen Stil von Anfang an in der beharrlichen und eigenständigen Auseinandersetzung mit seiner Zeit geformt hat. Nur wenige Tage nach dem Tod des Philosophen am 25. August 1900 schreibt Cosima: „Ich glaube, man könnte bei jedem Ausspruch von Nietzsche den Nachweis liefern, woher er ihn hat. Die ‚Gesammelten Schriften‘ [Wagners], Schopenhauer, die Inder, die Griechen, die Enzyklopädisten, die englischen Humoristen. Und wenn er nicht mehr ausgeführt hat, so ist er als Gegner aufgetreten, wobei der Gedankenhaft [die Gedankenlast?] bei dem Angegriffenen liegt. Wenigs-
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Vorwort
tens so dünkt es mich nach Berichten, denn ich habe nichts gelesen“ (an Felix Mottl, 9. September 1900). Schon kurz zuvor, am 14. August 1900, äußerte sie H. S. Chamberlain gegenüber: „Es wundert mich auch, daß niemand auf den Gedanken kommt, zu zeigen, woher Nietzsche alles nahm. Zuerst die ‚Gesammelten Schriften‘ [Wagners] und Schopenhauer, dann die Enzyklopädisten, die Engländer etc. Selbst das Wort Übermensch stammt von Goethe!“1 Elisabeth wollte den Bruder an der Schwelle des neuen Jahrhunderts (1899) darstellen als einen, der absolut auf der Höhe des kosmopolitischen Geistes war, der unter den damals im Weimarer Nietzsche-Archiv verkehrenden Künstlern herrschte, was vor allem bedeutete, die Franzosen gelesen zu haben: „Vom Winter 1883/84 an, dem ersten, den mein Bruder in Nizza verlebte, begann er sich auch lebhaft mit den neueren und allerneusten Franzosen zu beschäftigen. Mein Bruder liebte Frankreich und seine Kultur, und wenn auch seine tiefste Zuneigung dem alten aristokratischen Frankreich galt, so fand er doch auch noch in dem gegenwärtigen vergröberten Frankreich das Land des geistigsten und raffiniertesten Geschmacks heraus“.2 Beide haben einen wesentlichen Aspekt von Nietzsches Bildung erfasst, mit dem sich viele Gelehrte vor dem Siegeszug nationalistischer Stereotype auseinandergesetzt haben. Besonders kurios ist, dass viele französische Zeitgenossen, die Nietzsches Nähe zu Frankreich betont und zahlreiche Übereinstimmungen festgestellt haben, nicht bemerkten, dass die selber auf ganz unterschiedliche Weise in das Geflecht von Nietzsches Texten eingegangen sind (Faguet, De Roberty, Brunetière, Fouillée, Bourdeau etc.). Auch in der Folgezeit sollte es nicht an spezifischen Beiträgen in dieser Richtung fehlen (von Andler über 1 2
C. Wagner, Das zweite Leben, Briefe und Aufzeichnungen 1883–1930, S. 541. E. Förster-Nietzsche, Nietzsche und die Franzosen, S. 452f. Der Text wurde auch als Einleitung zur deutschen Übersetzung des Bandes von Henri Lichtenberger, Die Philosophie Friedrich Nietzsche’s, Dresden, Leipzig: Reißner 1899, publiziert. Zu dem radikal gewandelten Urteil in der überarbeiteten Version des Artikels, die am 11. Juni 1916 unter dem Titel „Nietzsche, Frankreich und England“ in der Sonntagsbeilage der Wiener Tageszeitung „Neue Freie Presse“ erschien, vgl. J. Le Rider, Nietzsche und Frankreich, S. 366–376.
Vorwort
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Williams, Champromis, Bludau, Krökel bis hin zu Donnellan), aber erst durch die Edition von Colli und Montinari (Werke und Briefwechsel) wurde die Basis für eine Untersuchung geschaffen, die der Bedeutung und dem Gewicht der Franzosen in Nietzsches Texten tatsächlich auf den Grund geht. Von besonderer Bedeutung hierfür ist Mazzino Montinaris mühsame Arbeit für den Apparat der VII. Abteilung von 1984 und 1986. Die Schriften, die als Ganzes in der chronologischen Reihenfolge der Notizhefte wiedergegeben werden, zeugen zusammen mit dem noch nicht abgeschlossenen kritischen Apparat von Nietzsches intensiver und kontinuierlicher Auseinandersetzung nicht nur mit den Moralisten, die keineswegs auf seine sogenannte aufklärerische Phase beschränkt ist, sondern auch mit der zeitgenössischen französischen Kultur. Er kannte alles, von den Romanen hin zu Mode und Psychologie, von der politischen Berichterstattung hin zum Feuilleton, von der Dichtung hin zu Geschichte, Soziologie, Naturwissenschaft, Theaterkritik, Literaturgeschichte, Zeitgeschehen, kulturellen und juristischen Ereignissen. Der Umfang und die Aktualität seiner Kenntnisse waren beachtlich. Eine noch weitgehend unerforschte Quelle bilden die Tageszeitungen und Journale der Zeit, allen voran die von Nietzsche häufig zitierte, aufschlussreiche „Revue des deux mondes“ sowie das „Journal des Débats“. Sämtliche Informationen werden verarbeitet und assimiliert als Symptome des Vitalitätsgrads einer Kultur und Gesellschaft. Im Mittelpunkt von Nietzsches Interesse steht das gepeinigte Frankreich nach dem Deutsch-Französischen Krieg – „la crise allemande de la pensée française“ (Digeon) – und Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, als Labor neuer Werte und Lebensformen, in dem neue, hybride Individuen entstehen, weit entfernt von einer ‚rabies nationalis‘: die Vorläufer des neuen Europäers. In jenem Paris, das er am Ende seiner Studienjahre gemeinsam mit Erwin Rohde zu bereisen gedachte, sah er sich „mit ernstem Auge und lächelnder Lippe, mitten durch den Strom hindurch schreiten, ein paar philosophische Flaneurs“.3 Dort hoffte er zusammen mit Paul Rée und Lou von Salomé (die „Dreieinigkeit“) den Ort seiner Befreiung und Wie3
An Erwin Rohde, 16. Januar 1869, KGB I/2, S. 608.
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Vorwort
dergeburt zu finden, nachdem er jahrelang in der Nähe des Todes gelebt hatte: „ich glaube wieder an das Leben, an die Menschen, an Paris, sogar an mich selber“.4 Am selben Tag kündigt er in einem Brief sogar seine Ankunftszeit in jenem Paris an – „Ich würde also, ungefähr in 10 Tagen, in Paris eintreffen, eines Morgens gegen 10 Uhr (Leipzig – Frankfurt – Paris)“5 –, an das er sich im Rausch des beginnenden Wahnsinns immer obsessiver wendet: „deshalb ist es an der höchsten Zeit, daß ich noch einmal als Franzose zur Welt komme“.6 Paris, die Stadt, die er nie sehen sollte, begleitet Nietzsches philosophische Entwicklung als konstanter Bezugspunkt mit wechselnder Bedeutung. Einige der Hauptlinien jener Entwicklung sollen in diesem Buch vorgestellt werden. Dabei bin ich von der Überzeugung ausgegangen, dass man der ganzen Komplexität Nietzsches nur gerecht werden kann, wenn man über den Text hinausgeht. Ausgehend von den bezeugten Lektüren Nietzsches, d.h. von den Bänden seiner nachgelassenen Bibliothek in Weimar, von indirekten Zitaten und zahlreichen, nicht immer als solche gekennzeichneten Exzerpten sowie seinem Briefwechsel, ermöglichte mir der Extratext, das französische Gewebe von Nietzsches Texten bis in einzelne Wendungen hinein zu rekonstruieren. Anders als die Gegner Nietzsches und die Vielen, die ihn heute noch ästhetisch lesen oder wörtlich nehmen, wie die Philosophen, die auf der Suche nach absoluten Meistern der Weisheit oder Propheten des Nihilismus sind, beabsichtige ich keineswegs, Nietzsches Originalität in Frage zu stellen und noch weniger, ihn des Plagiats zu bezichtigen. Ich will vielmehr „eine Brücke zur zeitgenössischen Kultur Nietzsches schlagen“ und „die Nährlösung“ (Montinari) kennen lernen, in der er sich sehr frei bewegt hat und die er seinerseits fruchtbar zu machen suchte. Diesen Hintergrund, den Nietzsche sich angeeignet und radikal umgeformt hat, hat er dem neuen Jahrhundert beschert. 4 5 6
An Louise Ott, 7. November 1882, KGB III/1, S. 272. An August Sulger, 7. November 1882, KGB III/1, S. 273. An Jean Bourdeau, 17. Dezember 1888, KGB III/5, S. 535.
Vorwort
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Die Rekonstruktion des historischen Hintergrundes zentraler philosophischer Kategorien verringert deren Originalität nicht im Geringsten, sondern erfasst nur umso klarer die Individualität des Philosophen im Hinblick auf das, was unwiederbringlich aus unserem Blickfeld verschwunden ist: Lektüren bedeutender und weniger bedeutender Autoren, darunter auch wahre „Maîtres de l’Heure“ (Victor Giraud), Tagesereignisse und Debatten, Polemiken über ganz konkrete Ereignisse, die inzwischen viel ferner sind als das, was sich dem allgemeinen historischen Interesse unterordnet. Je weiter ich mit meinen Nachforschungen gelangte, desto mehr verlor Nietzsche die Züge des einsamen Philosophen, als den man ihn noch bis vor kurzem, womöglich im Gespräch mit den alten Griechen, gerne gesehen hat, und wurde zum lebendigen und leidenschaftlichen Gesprächspartner einer vielstimmigen Debatte im Europa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der sich Geben und Nehmen die Waage hielten. Meine Arbeit wurde von Anfang an durch das Erscheinen der ersten Bände der historisch-kritischen Edition von Colli und Montinari angeregt und gefördert. Von dort ging der Impuls aus, „Nietzsche zu lesen“ und zusammen mit dem Freund Sandro Barbera die enge Beziehung zwischen Nietzsche und der Kultur seiner Zeit, allen voran Wagner und Renan, herauszuarbeiten.7 Das vorliegende Buch versteht sich auch als Vertiefung und in gewisser Weise als Fortsetzung jener ersten Untersuchung, die ich für einen entscheidenden Schritt in meiner persönlichen Entwicklung halte. Anders als seine zeitgenössischen Leser, die Nietzsche einen „renanisme exaspéré et sans ‚nuances‘“ nachsagten, habe ich herauszuarbeiten versucht, welche Rolle die Gedanken des französischen Intellektuellen (während der ‚idealistischen‘ Wagner-Periode und der anschließenden dezidierten Gegnerschaft) tatsächlich spielten, indem ich auf das von Jacob Burckhardt entfaltete Thema der Krise eingegangen bin. Die komplexe Beziehung Nietzsche – Wagner – Renan – Burckhardt wurde hier zu einem Kapitel der Gegenüberstellung von esprit français und esprit allemand, die in der überraschenden Wert7
Vgl. S. Barbera, G. Campioni, Il genio tiranno.
6
Vorwort
schätzung Descartes’ ihren Ausgangspunkt hat. In Descartes (weit mehr als eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema des cogito, die in Wirklichkeit eine interne Debatte über den physiologischen Neokantianismus der Zeit war) hat Nietzsche den tieferen Sinn seiner Auffassung der „Leidenschaft der Erkenntnis“ gefunden und den Wert der „Methode“, als geordneter Weg der Erkenntnis im Gegensatz zur Intuition des romantischen Genies, dem Stereotyp germanischen Denkens. Nicht zufällig stößt Nietzsche durch zweifelhafte sekundäre Quellen auf Descartes (z.B.: Joly, Saint-Ogan, Brunetière, Albert, Taine, Frary). Eine solche ‚raison ordinatrice‘ bestätigt gewiss den „‚amas de contradictions‘ der wir sind“,8 sie entfernt sich nicht vom Leib, sondern nimmt seine Komplexität als Leitfaden gegen die Vereinfachung und Transparenz des klassischen Gegenstands. Descartes begleitet als paradigmatische Figur eine ganze Reihe von Analysen von Montaigne bis zu den Romanciers der Pariser Journale. Der Wille und die Vernunft des 17. Jahrhunderts markieren den konträren Pol zu Schopenhauers Auffassung des Willens als Instinkt, Trieb, Begierde und stehen in direktem Bezug zur dynamischen französischen Physiologie und Psychologie (der Wille als „activité raisonnable“, „puissance de direction“). Bei der Analyse der Komplexität und Vielschichtigkeit, die jede höhere Kultur kennzeichnen, entdeckt Nietzsche die italienische Renaissance und ‚l’âge classique‘ als strikte Gegensätze zu der durch Wagners Vorstellungen geprägten „deutschen Wiedergeburt“. Durch Burckhardt entdeckt er den Menschen als Individuum und den „PhilologenPoeten“, der die Distanzierung vom germanischen Mythos des Volks noch verstärkt und die Hinwendung zur romanischen Kultur initiiert (frühe unveröffentlichte Zeugnisse hierfür sind die Basler Einführungsvorlesungen in die klassische Philologie – ein regelrechtes Mosaik von Zitaten aus Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien). Schon 8
Vgl. Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[183]: „das 17. Jahrhundert leidet am Menschen wie an einer Summe von Widersprüchen, ‚l’amas de contradictions‘, der wir sind, sucht den Menschen zu entdecken, zu ordnen, auszugraben“. Nietzsche übernimmt den Ausdruck aus einem Artikel von Brunetière über Pascal: De quelques travaux récents sur Pascal, in F. Brunetière, Études critiques, S. 53.
Vorwort
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bald wird die Renaissance zur Quelle der Werte und findet in der französischen Kultur ihre Bezugspunkte: von Stendhal zu Taine, von Gebhart zu Barbey d’Aurevilly und Gobineau, um hier nur die Großen zu nennen. Die Renaissance ist voller „Begriffspersonen“: von Cesare Borgia über Leonardo da Vinci hin zu Goethe und Napoleon, allesamt verstanden als „Renaissancemenschen“. Sie alle verkörpern das Streben einer untergehenden Kultur nach Gesundheit (die romanische Décadence), die dennoch in der Lage ist, neue hybride Menschentypen von großem experimentellem Wert hervorzubringen. Auch wenn das „Raubthier“ eindeutig auf französische Quellen zurückgeht, gewinnt diese Figur (wie auch „le monstre gai“) bei Nietzsche polemische Bedeutung gegen die Auflösungserscheinungen der Großstadt (der Heroismus Parsifals oder die arischen Helden à la Gobineau). Die animalische Energie ist die notwendige Voraussetzung dafür, „umfänglicher [zu] werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich g r i e c h i s c h e r “ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 41[7]). Die Griechen und die Renaissancemenschen werden zur idealen Chiffre einer klareren und bejahenden Menschheit, einer umfassenderen Seele anstelle der fanatischen moralischen Uniformität. Sie verkörpern Wärme und die Lebendigkeit vielfältiger Kräfte gegenüber der grauen Kälte des Nordens, die sich nur in einer idealistischen Loslösung vom Körper verwirklichen kann. Nietzsche hat seine Reise nach Cosmopolis, die Erforschung der Beweggründe und Widersprüche der ‚âme moderne‘, die in Paris ihre verschiedenen und vielfältigen Ausdrucksformen findet, bereits durch die Renaissance angetreten. Nietzsches „Gott ist tot“ wird vor allem in Paris bestätigt, wo „l’adorable Heine“, Schopenhauer und Dostojewski zuhause sind. Sein wichtigster Lehrer auf diesem Gebiet ist der ‚Psychologe‘ Paul Bourget, dem er sich am nächsten fühlt: „Paul Bourget, der bei weitem am meisten von sich aus mir nahe gekommen ist“ (Nachlass 1888–1889, KGW VIII/3, 25[9]). Neben der analytischen Zergliederung und dem extremen Intellektualismus der rougistes finden sich die tropischen Naturen jenes „überheizten Treibhauses“: Monster, Helden, Willenskranke und große Verbrecher, Bestien und Idealisten. Nur aus dieser Experimentiermasse, diesem Ausschuss – die sich dennoch dem Verkleinerungs-
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Vorwort
prozess widersetzen –, nur aus diesem glühenden Chaos kann der neue Mensch geboren werden, der europäische und übereuropäische Mensch, der weit entfernt ist von der Enge eines Europa der Nationalismen mit seinen unwahrscheinlichen „Rassen“: ein neuer ‚Grieche‘. Vor allem hat er „vor diesem gegenwärtigen Deutschland, so sehr es auch igelmäßig in Waffen starrt, […] keinen Respekt mehr“.9 Dies sind die Grundzüge der vorliegenden Untersuchung von Nietzsches Schriften und seiner Quellen, die uns nicht nur eine neue Textstruktur des Philosophen liefert, sondern auch ein komplexeres Bild der europäischen Ideengeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gewiss ließen sich auch, gerade in Bezug auf Frankreich, viele andere kulturelle Zusammenhänge erschließen: von Nietzsches Lektüre der positivistischen Soziologie über die Vermittlung englischer Philosophen durch französische Autoren (z.B. Mill und Spencer durch Fouillée, Guyau und Taine), von der Lektüre von Autoren mit einer feinen Sensibilität wie Joubert, Custine, Doudan und de Brosses hin zu dem entscheidenden, aber auch gut erforschten Einfluss der klassischen Moralisten. Eine Sonderstellung kommt auf alle Fälle Montaigne zu, für den bis heute eine exakte Erforschung der Texte fehlt, die Nietzsche gelesen hat, nachdem Cosima Wagner dem jungen Philologen und Wagner-Anhänger Weihnachten 1870 „eine stattliche Ausgabe des ganzen Montaigne“ geschenkt hat.10 „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden“, schreibt Nietzsche ein paar Jahre später: „Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen“ (SE 2, KGW III/1, S. 344). Eine Reihe von Themen des vorliegenden Bandes habe ich in ihren Hauptzügen und teilweise auch unter ganz spezifischen Aspekten in verschiedenen Seminaren und auf internationalen Tagungen bereits vorgestellt, von denen folgende erwähnt seien: Filosofia del arte y de la decadencia („Reflexion sobre Nietzsche, 24 y 25 Julio“ – Cursos de Verano 1991, Universidad Complutense, Madrid, El Escorial, 24. und 25. Juli 1991); Fisiologia dell’arte e della decadenza (Internationale Ta9 10
An Reinhart von Seydlitz, 24. Februar 1887, KGB III/5, S. 31. An Franziska und Elisabeth Nietzsche, 30. Dezember 1870, KGB II/1, S. 172.
Vorwort
9
gung: „Nietzsche. L’enigma, il suono, gli Dei, Nietzsche e la cultura europea“, Rom, 30./31. Mai 1994); „Der höhere Mensch“ nach dem „Tod Gottes (Nietzsche-Kolloquium in Sils-Maria, 29. September – 2. Oktober 1994 „Nietzsches ‚Gott ist tot‘“); Nietzsche, Taine und die Décadence („Nietzsche in Cosmopolis. Der französische Nietzsche“, Weimar, Stiftung Weimarer Klassik, 9.–11. Dezember 1994); Nietzsche, Byron y el titanismo (El Escorial, 4.–8. August 1997, Cursos de Verano „Literatura y filosofia“); Renan als ‚Antipode‘ – Nietzsches Auseinandersetzung mit den ‚Dialogues‘ („Ernest Renan – Werk und Wirkung eines nationalen Kosmopoliten“. Symposium. Humboldt-Universität zu Berlin, 10.–12. November 1997); Nietzsche et la culture française contemporaine („Cent ans de réception française de Nietzsche“. Réunion internationale, Institut Universitaire de France, Paris 9.–10. Oktober 1998); Nietzsche et la Renaissance italienne (Seminaire Nietzsche 1999: „Nietzsche, le temps, l’histoire“, ENS Paris, 14. April 1999); Nietzsche e Heidegger lettori di Descartes (Centro interdipartimentale dell’Università di Lecce su Descartes e il Seicento – Centre d’études cartésiennes di Paris IV-Sorbonne; Lecce 27.–28. September 1999); Nietzsche, Wagner y el Renacimiento italiano („Nosotros los apátridas“. Centenario de la muerte de F. Nietzsche, Universidad Autónoma de Madrid, 16. März 2000); Nietzsche y la novela francesa de su época. Bourget y los Goncourt (Seminario internacional de filosofía. „En el centenario de la muerte de Nietzsche“, Malaga, 18. März 2000). Ein Teil der Kapitel IV und V des vorliegenden Bandes – hier in stark überarbeiteter und ergänzter Fassung – ist unter dem Titel Il Rinascimento in Wagner e nel giovane Nietzsche in der Zeitschrift „Rinascimento“ erschienen (1. Folge), Bd. XXXVIII, Firenze, Olschki, 1998, S. 81–121). Excerpta zahlreicher hier behandelter Autoren sind als Quellen Nietzsches in verschiedenen Bänden der Nietzsche-Studien als Beiträge zur Quellenforschung (1990, 1992, 1994, 1995, 1996, 1999) veröffentlicht worden sowie als Anhang zu dem Aufsatz Wagner als Histrio. Von der Philosophie der Illusion zur Physiologie der décadence in „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, de Gruyter, Berlin 1994, S. 461–488. Giuliano Campioni
Zitierweise
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Zitierweise Die Schriften Friedrich Nietzsches werden zitiert nach der Edition: Werke, Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari, Berlin: de Gruyter 1967ff. Folgt auf die Zitate keine Fußnote mit weiterführenden Angaben, so erscheinen die Nachweise unter Verwendung der in der kritischen Edition benutzten und nachstehend aufgeführten Siglen im fließenden Text. Die Briefe von und an Nietzsche werden zitiert nach: Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari, Berlin: de Gruyter 1975–2004. Die Schriften Richard Wagners, Arthur Schopenhauers und Ernest Renans werden nach den im Siglenverzeichnis aufgeführten Werkausgaben zitiert. Mit Ausnahme einiger kurzer Rezensionen werden alle Texte im Fußnotenapparat mit Kurztiteln nachgewiesen. Die ausführlichen Angaben finden sich in der Bibliografie, die lediglich die im Buch zitierten Werke umfasst. Bücher, die zum Bestand der Nietzsche-Bibliothek (Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar) zählen, sind in der Bibliografie mit dem Hinweis [BN] versehen. Für Bücher, die Nietzsche auf Französisch besaß oder gelesen hat, werden sowohl die Nachweise der entsprechenden französischen Edition wie die Seitenund Bandangaben der deutschen Übersetzungen geliefert, die gegebenenfalls hinzugezogen wurden. Bei Werken, die Nietzsche selbst in deutscher Übersetzung besaß, wird nur der auf diese Ausgaben bezogene Nachweis gegeben. Alle anderen Schriften werden nach der jeweils verwendeten originalsprachlichen bzw. deutschen Ausgabe zitiert. Sofern nicht anders ausgewiesen, stammen die Übersetzungen französischsprachiger Zitate von den Übersetzerinnen des vorliegenden Bandes.
Siglenverzeichnis
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Siglenverzeichnis Werkausgaben KGW F. Nietzsche, Werke, Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin: de Gruyter 1967ff. KGB F. Nietzsche, Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari, Berlin: de Gruyter 1975–2004. OC E. Renan, Œuvres Complètes de Ernest Renan, hg. von Henriette Psichari, Paris: Calmann-Lévy Éditeurs 1947–1961. SSD R. Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, 13 Bde., Leipzig: Breitkopf & Härtel 1991. SW A. Schopenhauer, Arthur Schopenhauer’s Sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, Leipzig: F. A. Brockhaus 1873– 1874. [BN]
Werke Friedrich Nietzsches AC BA CV DS EH FW GD GM GT HL JGB M MA NW
Der Antichrist Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorreden David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Zur Genealogie der Moral Geburt der Tragödie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben Jenseits von Gut und Böse Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches Nietzsche contra Wagner
14 PHG SE VM WA WB WL WS Za
Siglenverzeichnis
Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn Der Wanderer und sein Schatten Also sprach Zarathustra
Der „Handwerker Descartes“ versus Nietzsche „den Edlen und Krieger“ 15
I. Nietzsche, Descartes und der französische Geist Ein Hegel, ein Schopenhauer, ein Nietzsche sind in Frankreich undenkbar […]. Die Unendlichkeit des Geistes kann sich in der französischen Philosophie nicht ausleben E. Curtius Die französische Kultur. Eine Einführung (1930)
1. Der „Handwerker Descartes“ versus Nietzsche „den Edlen und Krieger“ „L’allure de Descartes est inoubliable“. Sein Denken ist in seiner „Rechtschaffenheit, seiner Leichtigkeit und Durchsichtigkeit dem algebraischen Denken verwandt. Nietzsche hingegen verachtet die Zwänge des Denkens, das Verketten, Präzisieren und Vertiefen. Sein Denken ist intuitiv […]. Im Gegensatz zu dem ‚Handwerker Descartes‘, ist Nietzsche ‚noble et guerrier‘ ein ‚Edler und Krieger‘“, so Thierry Maulnier auf den ersten Seiten seiner Nietzsche-Monografie von 1933.1 Am Beispiel dieser beiden Philosophen wiederholt Maulnier den uralten Gegensatz zwischen dem esprit allemand und dem esprit français, zwischen dem heroischen Mystizismus der Germanen und dem 1
Th. Maulnier, Nietzsche, S. 17ff., zit. nach J. Le Rider, Nietzsche en France, S. 146–147. Le Rider stellt die Bedeutung dieses Gegensatzes innerhalb der Gegenüberstellung Frankreich/Deutschland gut heraus. Vgl. insbesondere, nicht nur in Bezug auf Descartes, Kapitel II „Nietzsche ‚romanisé‘? Une controverse“, in dem der Verfasser wichtige Dokumente zu diesem Thema wiedergibt und kommentiert, darunter die zu verschiedenen Zeiten sich stark unterscheidenden Positionen Elisabeth Förster-Nietzsches, S. 25ff. Darüberhinaus sehr empfehlenswert das verdienstvolle Buch von G. Bianquis, Nietzsche en France. Zur Rolle Descartes’ als Symbol und Verkörperung des französischen Geistes vgl. das wichtige Buch von F. Azouvi, Descartes et la France, das ich erst einsehen konnte, als dieser Teil meiner Arbeit bereits geschrieben war.
Der „Handwerker Descartes“ versus Nietzsche „den Edlen und Krieger“ 17
die dazu führt, in den Franzosen des 17. Jahrhunderts die reinsten Erben der Griechen zu sehen, ein wichtiges Glied in der langen Kette der Renaissance. Über die Werke von Montaigne, La Rochefoucauld, La Bruyère und Fontenelle äußert Nietzsche: „Um aber ein deutliches Lob zu sagen: sie wären, griechisch geschrieben, auch von Griechen verstanden worden“ (WS 214). Die neue Art, die Griechen und das 17. Jahrhundert zu lesen, bedeutet einen endgültigen Bruch mit dem Germanentum. Dies ist für den unvoreingenommenen Leser von Menschliches, Allzumenschliches an sichtbar und wird von Nietzsche mehrfach betont, welcher schreibt, er sei jetzt „den Griechen um hundert Schritt näher als vordem“.4 Die Aufklärung Voltaires, die den freien Geist charakterisiert, steht Nietzsche zufolge in der Tradition des Humanismus von Petrarca und Erasmus (MA 26). Voltaire als Dichter erscheint als ein schlichter und formstrenger Geist, im Gegensatz zur Barbarei der romantischen Entfesselung der Gefühle und Leidenschaften. Darin steht er den Griechen und ihrem Geschmack
4
übung in „einer regelrecht fixirten Sprache“ (KGW III/2, S. 180). Vgl. dazu auch MA 203. Noch in dem Brief an Heinrich Köselitz vom 20. März 1882 (KGB III/1, S. 182) schreibt Nietzsche: „Mein lieber Freund Möge Alles so sein wie Sie wünschen dass ich glauben möge dass es sei: – Uf! das liesse sich lateinisch besser sagen und in sieben Worten“. Nietzsche scheint hier eine unter deutschen Latinisten nicht seltene Haltung einzunehmen: Er beklagt, dass es für ihn leichter gewesen wäre, das Gesagte auf Lateinisch auszudrücken als auf Deutsch (zum Beispiel: „sint omnia ut vis me futura credere“). Diese Wertschätzung der lateinischen Sprache kehrt an verschiedenen Stellen wieder und verbindet sich in Nietzsche ausdrücklich mit dem Namen Schopenhauer, bei dem er eine ähnliche Haltung fand; vgl. Parerga und Paralipomena II, § 309: Über Sprache und Worte, SW 6, S. 605–607. Einen Beleg für die Übersetzbarkeit Schopenhauers ins Lateinische liefert das außergewöhnliche Stück Pro ipsis philosophorum libris (Nachlass 1866–1867, KGW I/4, 45[1], S. 131–32), das zu einer Reihe strikt philologischer Aufzeichnungen gehört und bei dem es sich, mit minimalen Auslassungen und Zusammenfassungen, um Nietzsches Latein-Übersetzung des § 1 der Fragmente zur Geschichte der Philosophie von Schopenhauer handelt (Parerga und Paralipomena I, SW 5, S. 49–50). Erstmals wurde dies nachgewiesen im Apparat zu F. Nietzsche, Scritti giovanili 1865–1869, hg. von G. Campioni und M. Carpitella, Milano: Adelphi 2001, Bd. I/2, S. 129–130, S. 620–621 Fn. und Appendice, S. 713. An Mathilde Maier, 15. Juli 1878, KGB II/5, S. 338.
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viel näher als die Deutschen (MA 221). Nicht zufällig stammt die Metapher „Tanz in Ketten“ (WS 140 und 159), die für Nietzsche die höchste Kunst und Kultur verkörpert und die für die Großen des 17. Jahrhunderts gleichermaßen gilt wie für die Griechen, wörtlich von Voltaire. Sie bezieht sich auf die strenge Disziplin der Form, der sich die Perfektion des klassischen französischen Theaters verdankt.5 Nietzsches Texte dulden keine ideologischen Vereinfachungen, nicht einmal in der abgeschwächten Form eines Löwith, der in seiner Zusammenstellung der wichtigsten Nietzsche-Interpretationen im Anhang zu seinem Buch über die ewige Wiederkehr des Gleichen die Schrift von Maulnier positiv hervorhebt. Löwith hält Nietzsches „Ineinssetzung von Mensch und Welt“ für spezifisch deutsch, ja er hält Nietzsche selbst für ein deutsches Phänomen. Maulnier verweigere alle wesentlichen Elemente von Nietzsches Philosophie, „weil er selbst als Franzose in der Tradition des Descartes steht“, schreibt Löwith.6 Löwiths eigene Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sind, wie seine autobiografische Schrift zeigt,7 zu stark und zu persönlich erlitten, um sich nicht von Nietzsche, jenem „Kompendium der deutschen Unvernunft und des deutschen Geistes“ zu distanzieren, dem er seine romantische Jugend bis zur freiwilligen Teilnahme am Ersten Weltkrieg geopfert hat. In Löwiths Augen haben Hitler und der Nationalsozialismus die Gefahr des von Nietzsche propagierten „gefährlichen Lebens“ zur Genüge demonstriert; zusammen mit Luther sei letzterer als spezifisch deutsches, radikales und fatales Phänomen zu betrachten. Es genügt in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, wie gerade die Parole „gefährlich leben“, aus dem Kontext 5
6
7
Voltaire, Brief an Deodati de Tovazzi vom 24. Januar 1761, zit. nach P. Heller, Von den ersten und letzten Dingen, S. 282. Die Metapher kannte eine gewisse Verbreitung. Auch Guyau bezieht sich in einem allgemeineren Sinn darauf: „Wenn das achtzehnte Jahrhundert den Aberglauben verspottet hat und der Geist nach Voltaires Wort in jener Zeit ‚mit seinen Ketten tanzte‘, so ist unserer Epoche ein desto tieferes Bewusstsein vom Gewicht der Ketten eigentümlich“. J.-M. Guyau, L’Irreligion de l’avenir, S. 194 (dt. Übers. S. 218). K. Löwith, Zur Geschichte der Nietzsche Deutung 1894–1954, in: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr, S. 215. K. Löwith, Mein Leben in Deutschland, S. 6.
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gerissen, zum Slogan eines Herdenfanatismus und einer bis zum Äußersten gehenden heroischen Entscheidung werden konnte, im Namen der Werte einer auf Blut und Rasse gegründeten mythischen Gemeinschaft. Für Nietzsche hingegen ging es bei diesem Motto gerade um die Emanzipation des Einzelnen, des „freien Geistes“ und Abenteurers der Erkenntnis, der neue „gefährliche“ Wege versucht und sich dabei von den Gefängnissen gemeinsamer Überzeugungen und den Vorurteilen der Herde emanzipiert, welche die Nationalismen ausmachen. Der Einzelne experimentiert mit neuen Formen des Lebens, strebt nach einem individuellen Gesetz jenseits der Herdenmoral, die bisher sein Wesen bestimmt hat. Indem er gegen die verinnerlichten sozialen Instinkte kämpft, stürzt der Einzelne, der sich als „Versucher“ gegen den totalitären Druck der Gemeinschaft und ihrer Werte stellt, in schwerste Krisen. „Aber wir sind lange M i ß g e s t a l t e n “ (Nachlass 1881, KGW V/2, 11[182]). Zur weiteren Verdeutlichung der Folgen des heroischen Germanentums Nietzsches, dessen Bezugspunkt das „Volk“ sei – nicht von ungefähr bringt Löwith ihn mit Heidegger in Verbindung –, erinnert Löwith an die Aussagen des ‚nationalsozialistischen Schwätzers‘ Hermann Glockner, der „die Weisheit verkündet, die deutsche Philosophie habe eine besonders intime Beziehung zum Soldaten und Bauern, im Unterschied zum Intellektualismus (Descartes) der müßigen Theorie“.8 Auch dies sind gängige Begriffe, in denen das von der Legende geprägte Nietzsche-Bild zum Gemeinplatz geworden ist. Das Gegenbild dazu bildet Descartes, der mythische Repräsentant des französischen Geistes. Vernunft versus Mystizismus, Sein versus Werden, französische Klassik versus deutsche Romantik, Ordnung versus Chaos, humanistisches Maß versus übermenschliches, ja unmenschliches Streben etc. Diese Gegensätze markieren die Distanz zwischen dem Geist der Nationen links und rechts des Rheins. „Si je ne vois pas clair, tout mon univers est anéanti“ („Wenn ich nicht klar sehen kann, ist meine ganze Welt ausgelöscht“), in diesen Worten Stendhals steckt das Weltbild der Franzosen und Humanisten, dem sich die widersprüchliche Unberechenbarkeit der Deutschen entzieht, behauptet z.B. 8
Ebd., S. 32.
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Ernst Bertram, der mehr als alle anderen Autoren einem germanischen Nietzsche-Mythos das Wort geredet hat. Diesen Mythos konstruiert Bertram anhand des Gegensatzes zwischen dem Sein (das in sich selbst ruhende Sein), das die romanischen Völker charakterisierte, und der barbarischen und chaotischen Unruhe des Werdens, die für die Deutschen kennzeichnend sei. Jede klare Sichtweise sei dieser „deraisonnablen Rasse“, wie Nietzsche sie nennt (FW 348), fremd.9 Der Erste Weltkrieg hat die einfühlsamen und komplexen Anfänge der Nietzsche-Rezeption in Frankreich zunichte gemacht. Diesseits und jenseits des Rheins wurden wieder nationale Stereotypen reproduziert, für die Nietzsche und Descartes stellvertretend waren. Die Wege der Entfremdung waren sichtbar. Der erste französische Nietzsche-Anhänger, der sich als solcher zu erkennen gab, Julien Benda, bezeichnete Nietzsche 1927 als den „Kleriker, welcher verrät“,10 während Léon Daudet ihn 1932, nachdem er sich sukzessive von dem Philosophen abgekehrt hatte, einen „metaphysischen Attila“ nennt.11 Auf der anderen Seite des Rheins hatte dagegen die deutsche Mythisierung gegen jede mögliche Romanisierung des Philosophen nach und nach ihren Höhepunkt erreicht, bis hin zu dem zitierten Bertram (1919) sowie der heroischen, metapolitischen Interpretation von Alfred Baeumler 9 10
11
Vgl. E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, S. 76. J. Benda, La trahison des clercs, S. 142 und 280 Fn. Benda liest Nietzsche im Lichte der politisch-moralischen Reflexionen von Sorel. Vgl. dazu G. Bianquis, Nietzsche en France, S. 101–103 und 114–115, sowie J. Le Rider, Nietzsche en France, S. 129–130. Der Ausdruck „metaphysischer Attila“ wird zitiert von M. Serra, Nietzsche und die französischen Rechten. Ganz anders die Position von George Sorel, der von Anfang an in Sokrates, Descartes, Voltaire, Rousseau und Comte die großen Vorläufer der liberalen Demokratie und folglich der Dekadenz erblickt, denen er die Werte des heroischen Pessimismus Nietzschescher Provenienz gegenüberstellt. In Les illusions du progrès (1908) sieht Sorel unter Berufung auf Taine und Brunetière in der französischen Philosophie jenen ganz besonderen rationalistischen Grundzug, der sie den Menschen so angenehm machte. Selbst wenn folgende Jahrhunderte Descartes’ Physik für nichtig oder gar für lächerlich erklärten, so bleibe der Kartianismus doch immer der Typus französischer Philosophie, weil er sich so perfekt den Tendenzen einer Aristokratie voller Esprit anpasse, die sich auf das Räsonnieren versteift hatte und ihre Leichtigkeit zu legitimieren suchte.
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(Nietzsche, der Philosoph und Politiker, 1931). Jeder französische Bezug wird als polemische ‚Maske‘ gedeutet, deren Nietzsche sich bediente, um die Unzulänglichkeiten des Reichs aufzuzeigen, so dass seine Beziehung zur französischen Kultur polemisch aus einem nie von ihm in Frage gestellten deutschen Primat abgeleitet erschien. Es fehlte jedoch auch nicht an ausgewogeneren Urteilen, wie dem des Romanisten Julius Wilhelm: „Nietzsche hat Descartes als Philosophen scharf verurteilt; er mußte ihn ja als rationalistischen Psychologen und als idealistischen-dualistischen Erkenntnistheoretiker ablehnen. Aber insofern hat er ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, als er in der kartesianischen Philosophie die Grundlage für die geistige Haltung des großen 17. Jahrhunderts erblickte“.12 Auf französischer Seite sei an die „ebenso gute wie unvollständige“ Interpretation von Émile Faguet (1904) erinnert,13 einem erfolgreichen Literatur- und Theaterkritiker, der unter anderem im Journal des Débats schrieb, einem Professor an der Sorbonne, dessen frühe Schriften14 Nietzsche wohl zum Teil gelesen hatte. Darauf deutet zumindest ein nicht gerade geschmackvolles Urteil hin, das Nietzsche in der Götzendämmerung über den romantischen Stil George Sands gefällt hat: „George Sand: oder lactea ubertas, auf Deutsch: die Milchkuh mit ‚schönem Stil‘“.15 Mit exakt diesem Ausdruck hatte Faguet in einem Essay von 1887 den Stil George Sands kritisiert: „Ein süßer, gleichmäßiger Überfluss, ein voller, köstlicher und frischer Stil, der gleichsam nach Milch schmeckt. Wenn man George Sand liest, versteht man besser als wenn man Titus Livius liest, was Quintilian mit seiner ‚lactea ubertas‘ gemeint hat“.16 Obgleich Faguet von einem moralistischen, 12 13 14
15
16
J. Wilhelm, Friedrich Nietzsche und der französische Geist, S. 25. Vgl. G. Bianquis, Nietzsche en France, S. 28. Ab 1887 veröffentlichte er eine Reihe Études littéraires. Der erste Band ist Autoren des 17. Jahrhunderts gewidmet (von Descartes und Malebranche bis La Bruyère und Saint-Simon). Noch im selben Jahr erschien ein Band zum 19. Jahrhundert. GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 1 und 6; vgl. auch Nachlass 1887– 1888, KGW VIII/2, 11[24]. É. Faguet, „George Sand“, in: Études littéraires, S. 408. In den Anmerkungen von Colli und Montinari zur KSA findet sich ein weniger deutlicher Hinweis
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konservativen Standpunkt den „neronisch“-histrionischen Aspekt Nietzsches kritisiert, der den bunten und ‚grotesken‘ Kreis seiner oberflächlichsten Leser beeindruckt, schätzt er den Philosophen als Don Juan der Erkenntnis und Abenteurer des Geistes, der radikaler sei als Montaigne, Sainte-Beuve und Renan.17 Er betont, dass sich Nietzsche durch Frankreich schon bald von der Romantik und dem Germanentum befreit habe („er ist als Deutscher geboren, ohne darum gebeten zu haben“18), und bekräftigt, was seinen absoluten Willen nach Klarheit angeht, seine Rolle als Bindeglied zwischen den Griechen und den französischen Klassikern: „absolut begeistert für die Franzosen des 17. und 18. Jahrhunderts und für die Griechen der sophokleischen Zeit“; „er bewunderte die griechische Klarheit und die französische Klarheit“; „Er wollte unbedingt klar sehen und den anderen, sich selbst, den Ideen und Systemen bis auf den Grund gehen“.19 Intellektuelle Redlichkeit und Leidenschaft der Erkenntnis seien charakteristisch für Nietzsche, darin sei er Descartes verwandt: „Die Leidenschaften an sich sind etwas Gesundes, wie schon Descartes zu sagen wusste“.20 Es sei nicht so sehr die Originalität, die die Philosophie Nietzsches charakterisiere („mit La Rochefoucauld, Goethe und Renan ließe sie sich vollständig rekonstruieren“), als vielmehr die Fähigkeit, sich von der Last der Tradition zu befreien, indem er sie „gekonnt zerlegte und auflöste“,21 um stattdessen auf sich selbst zu vertrauen. Auch darin sei er mit Descartes verwandt: Vor allem hat Nietzsche der Welt den ungeheuren Dienst erwiesen, loyal und ehrlich zu sein, sich vor keinem Vorurteil zu beugen und auch nicht vor irgendeiner ehrwürdigen Lehre, vor keinem seiner Gedanken zurückzuschrecken, gleich wie skandalös er erscheinen mochte, alles unerschrocken in Frage zu stellen, wie Descartes, ja, ich glaube, mehr noch und gründlicher als Descartes;
17 18 19 20 21
auf das Journal des Goncourt, Bd. II, S. 25: „Dans son attitude, il y a une gravité, une placidité, quelque chose du demi-endormement d’un ruminant“ (KSA 14, S. 422). É. Faguet, En lisant Nietzsche, S. 43. Ebd., S. 6. Ebd., S. 30, 303 und 3. Ebd., S. 190. Ebd., S. 319–320.
Der „Handwerker Descartes“ versus Nietzsche „den Edlen und Krieger“ 23 einen unerschütterlichen intellektuellen Mut bewiesen zu haben, den er manchmal bis zur Prahlerei treibt; aber das ist der Mangel der Qualität, den man sich immer erwarten und den man akzeptieren muss.22
Es handelt sich um Einzelbeispiele und Lektüren, die dem Ersten Weltkrieg vorausgingen. Camus vergleicht in seinem Buch Der Mensch in der Revolte (1951) in dem Kapitel „Nietzsche und der Nihilismus“ die Praxis der „methodischen Verneinung“ der Götzen, die den Tod Gottes maskieren, mit dem methodischen Zweifel Descartes’: „Er hat auf seine Weise den Discours sur la méthode seiner Zeit geschrieben, ohne die Freiheit und Genauigkeit jenes französischen 17. Jahrhunderts, das er so bewunderte, aber mit der irrsinnigen Klarheit, die das 20. Jahrhundert auszeichnet“.23 In Frankreich verlief die Suche nach einem nationalen Weg gewöhnlich über die „Säuberung“ der Stammväter der Action française (Maurras) von nietzscheanischen und folglich germanischen Einflüssen: „Wir haben das Mittelmeer allein entdeckt“.24 Auf diese Weise gelangte man zu Descartes und der Hochschätzung der Methode. Als herausragendes Beispiel dieses nationalen Weges galt Maurice Barrès, jener Schriftsteller, welcher 1889 (Un homme libre) die Suche nach der richtigen Methode, um zum eigenen Selbst zu gelangen, in den Mittelpunkt seiner Forschungen gerückt hat.25 Es spielte keine Rolle, wenn dabei die Methode für Barrès, anstatt die Rationalität zu legitimieren, die Identität eines rassischen Unbewussten ermittelte und seine tabula rasa lediglich eine Säuberung von fremden Traditionen war. In dieses Panorama, das insgesamt dazu neigt, Nietzsche und Descartes symbolisch und in gewisser Weise auch ideologisch zu kon22 23 24 25
Ebd., S. 361. A. Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 71. Zit. nach G. Bianquis, Nietzsche en France, S. 51. Un homme libre kommentierend, schreibt Maurice Barrès: „Ich habe darin mit reflektierter Methode einen Plan verfolgt, der instinktiv entstanden war“. Es handelt sich um die Fortführung eines Projekts des „Culte du moi“, das seinerseits auf die Durchsetzung einer „culture du moi“ abzielte. Barrès hatte das Projekt mit dem Roman Sous l’œil des barbares (1888) begonnen, den P. Bourget im Journal des débats, 3. April 1888, besprach. Höchstwahrscheinlich hat Nietzsche Bourgets Rezension zu Barrès gelesen.
24
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frontieren, fügt sich auf neue Weise Heidegger ein, indem er beide Philosophen in einem metaphysisch-schicksalhaften Prozess einander annähert. Paradoxerweise geschieht diese Annäherung gegenläufig zu Nietzsches eigenen Intentionen, nämlich auf dem Weg der Germanisierung Descartes’, wobei Heidegger Probleme ins Feld führt, die ihrem Wesen nach nichts mit dessen Philosophie zu tun haben. Heidegger schließt: „In dieser Lehre [der des Übermenschen] feiert Descartes seinen höchsten Triumph“.26 Seiner Meinung nach wendete sich Nietzsche „immer wieder gegen Descartes […], dessen Philosophie die neuzeitliche Metaphysik begründete, […] weil dieser den Menschen noch nicht vollständig und entschieden genug als subiectum ansetzte“.27 Die Metaphysik des Descartes war der entscheidende Beginn der Metaphysik der Neuzeit, insofern es seine Aufgabe wurde, „der Befreiung des Menschen in die neue Freiheit als die ihrer selbst sichere Selbstgesetzgebung den metaphysischen Grund zu gründen“.28 Descartes hat das metaphysische Fundament der neuen Freiheit des modernen Zeitalters im Voraus begründet: das cogito ist die Gewissheit, die das Fundament dieser neuen Freiheit bildet. Das Verhältnis der beiden Philosophen ist entscheidend, um Heideggers metaphysische Nietzsche-Interpretation zu verstehen. Es gilt meiner Meinung nach zu unterstreichen, dass Heidegger zu Recht den „geschichtlichen Zusammenhang“ hervorhebt, der keine „historische Abhängigkeit“ ist,29 indem er daran erinnert, dass Nietzsches Auseinandersetzung mit den großen Philosophen in der Regel den kurzen Weg über die Sekundärliteratur geht. Sie ist schon aus diesem Grund „im Einzelnen […] fragwürdig“. Descartes ist davon nicht ausgenommen. Nietzsches Descartes-Lektüre ist „ein Gemisch von Fehlauslegungen und wesentlicher Einsicht“.30 Heidegger ist ein aufmerksamer Leser, der nicht zuletzt deshalb die Kompilation des Willen zur Macht so scharf kritisiert, weil sie die wichtigsten Anmerkun26 27 28 29 30
M. Heidegger, Nietzsche, S. 62. Ebd., S. 61f. Ebd., S. 147. Ebd., S. 173. Ebd., S. 175.
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gen zu Descartes nicht aufnimmt, „was erneut ein Licht auf die Ahnungslosigkeit wirft, mit der das genannte Buch zusammengestellt wurde“.31 Heideggers Ansicht ist wohl begründet.32 Die philologische Arbeit an den Texten Nietzsches ermöglicht uns heute, den Stellenwert eines bestimmten Passus zu beurteilen, der eine andere Valenz hat, je nachdem ob es sich um eine Lektürenotiz bzw. ein Exzerpt handelt, um eine Reflexion oder die Vorstufe zu einem später veröffentlichten Text. Man kann heute nicht mehr – obwohl dies immer noch geschieht – Abschnitte aus Tolstoi und Baudelaire oder, was uns hier mehr interessiert, umfangreiche Exzerpte aus Brunetière über Descartes und das 17. Jahrhundert als Aphorismen Nietzsches lesen (als welche sie fetischistischerweise von dem ‚Hauptwerk‘ Wille zur Macht präsentiert worden sind). Wenn man diese Lektürespuren als das betrachtet, was sie sind, liefern sie uns ein anderes Bild des Philosophen. Die Auseinandersetzung mit Descartes ist für Nietzsche die Auseinandersetzung par ex31 32
Ebd., S. 174. Vgl. insbesondere ebd., S. 42–43: „Nietzsche hat gleichwohl, innerhalb des Bezirkes seines Denkens, das mit dem Titel ‚Nihilismus‘ Gemeinte nach allen wesentlichen Richtungen und Stufen und Arten durchdacht und die Gedanken in Niederschriften verschiedenen Umfanges und verschiedenen Prägungsgrades festgelegt. Ein Teil, aber nur ein streckenweise willkürlich und zufällig ausgewählter Teil, ist nachträglich in dem Buch gesammelt, das nach Nietzsches Tod aus seinem Nachlass zusammengestückelt wurde und unter dem Titel ‚Der Wille zur Macht‘ bekannt ist. Die dem Nachlass entnommenen Stücke sind ihrem Charakter nach unter sich ganz verschieden: Überlegungen, Besinnungen, Begriffsbestimmungen, Leitsätze, Forderungen, Voraussagen, Aufrisse längerer Gedankengänge und kurze Merkworte. Diese ausgewählten Stücke sind auf die Titel von vier Büchern verteilt. Bei dieser Verteilung wurden die Stücke jedoch keineswegs nach dem Zeitpunkt ihrer ersten Niederschrift oder ihrer Umarbeitung zu dem seit 1906 vorliegenden Buch zusammengeordnet, sondern nach einem nicht durchsichtigen und auch nicht stichhaltigen eigenen Plan der Herausgeber aneinandergesetzt. In dem so angefertigen ‚Buch‘ sind Gedankengänge aus ganz verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Ebenen und Perspektiven des Fragens willkürlich und gedankenlos aneinander- und durcheinandergeschoben. Alles in diesem ‚Buche‘ Veröffentlichte ist zwar Niederschrift Nietzsches, und dennoch hat er es so niemals gedacht“.
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cellence mit der Kultur des französischen 17. Jahrhunderts, die er als überlegen erachtet. In dieser Auseinandersetzung – und das ist das Entscheidende – greift Nietzsche fast nie auf die Primärquellen zurück. Das Material, das ihm zur Wertschätzung Descartes’ und des 17. Jahrhunderts in bewusst strategischer, antigermanischer Absicht dient, entnimmt er beispielsweise Brunetière, oder Literaturgeschichten (z.B. Paul Albert) oder unbedeutenden französischen Autoren wie Joly und Saint-Ogan. Indem man diesen Spuren folgt, kann ein komplexeres Nietzsche-Bild zutage gefördert werden, als das ausschließlich mystisch-romantisch-germanische. In dieser Richtung begegnen wir Paul Bourget, einem Autor, auf den wegen seiner zentralen Bedeutung näher einzugehen ist. Bei Paul Bourget hat Nietzsche den Gegensatz zwischen dem esprit latin, den Descartes mit seinem Discours de la méthode exemplarisch verkörpert, und dem esprit germanique, dem romantischen Werden, besonders klar definiert vorgefunden: Auf der einen Seite haben wir, angewandt auf die dramatische Kunst, die Erzählung und die Metaphysik, die ordnende und oft deduktive Methode, die sich vorzugsweise der Analyse, der Vereinfachung und der Aufeinanderfolge bedient; auf der anderen Seite umschließt die Sicht der Dinge selbst mehrere Gegenstände zugleich, ist komplex und synthetisch, ungeordnet und intuitiv. Racine, Prévost und Descartes scheinen das Leben als definierte, in ihren Linien klar umrissene Realität zu betrachten, während dasselbe Leben in den Augen Shakespeares, Goethes und Carlyles als etwas irgendwie Bewegtes und Unbestimmtes erscheint, vielleicht ein Traum, der sich fortwährend neu zusammensetzt und wieder zerfällt. Die erste dieser beiden Methoden hat sich vor allem bei den Völkern der griechisch-römischen Tradition entwickelt, die ihr die Kunst der Logik und schönen Klarheit schulden. Die zweite hat unter den Deutschen und Engländern ihre besten Früchte gezeitigt, die ihr Suggestivkraft und Tiefe verdanken.33 33
P. Bourget, Nouveaux essais, S. 258. Das in Nietzsches Bibliothek erhaltene Exemplar der Nouveaux Essais weist zahlreiche Lesespuren auf. Bourget wusste nicht, dass er für Nietzsche ein Bezugspunkt in dessen Polemik gegen den deutschen Geist war. Nachdem Bourget zu einem Traditionalisten und militanten Nationalisten geworden war, wird er seit 1893 lediglich oberflächlich Kenntnis von Nietzsche nehmen (aufgrund eines recht knappen Überblicks über dessen Denken, den seine Frau ihm gab), obwohl der Philosoph ihm bedeutenderweise durch seinen Verleger ein Exemplar von Jenseits von Gut und
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Die Vermischung der Elemente aus den verschiedenen kulturellen Traditionen, deren ‚Metaphysik‘ von einer physiologischen Grundlage, einer konstitutiven anfänglichen Ursache ausging, konnte die interessantesten Fälle von Décadence hervorbringen, hybride und physiologisch komplexe Naturen wie Baudelaire und Amiel. Nietzsche übernimmt diese Charakterisierung und verfeinert sie noch, insbesondere den Gegensatz zwischen der Klarheit, die sich einer festen Form bedient, und der chaotischen Dunkelheit, die an die Unruhe des Werdens gebunden ist. Das letzte Wort hierzu steht in Ecce homo, der Autobiografie Nietzsches, die er geschrieben hat, um jeden Zweifel über sich selber auszuräumen, in der die Opposition gegen die Deutschen zur Voraussetzung für die erforderliche „Reinlichkeit“ des Denkens wird: Die Deutschen „haben nie ein siebzehntes Jahrhundert harter Selbstprüfung durchgemacht wie die Franzosen, ein La Rochefoucauld, ein Descartes sind hundert Mal in Rechtschaffenheit den ersten Deutschen überlegen, – sie haben bis heute keinen Psychologen gehabt“ (EH, Der Fall Wagner 3).
Böse hatte zusenden lassen (vgl. Brief an Naumann, 2. August 1886, KGB III/3, S. 216). Es ist bezeichnend, dass Bourget Nietzsche in der definitiven Ausgabe seiner Essais, die 1899 (dann 1901 in zwei Teilbänden) als erster Band der Œuvres complètes bei Plon erschien, uneingeschränkt der systematischen, vom klaren Geist der Analyse weit entfernten deutschen Tradition (mit ihrem ‚Denken in großen Zusammenhängen‘) zurechnete, da ihm als begeistertem Wagnerianer wahrscheinlich vor allem die Artisten-Metaphysik der Geburt der Tragödie vor Augen stand. Bourget fügt nämlich in einem gleichlautenden Satz der Erstausgabe den Namen Nietzsches zu denen Schellings und Hartmanns hinzu: „Damit haben wir also einige Grundlinien nachgezeichnet, die allgemeine Methode, der zahlreiche Systeme entsprungen sind, angefangen bei dem Schellings über die Systeme Hegels und Schopenhauers bis hin zu denen Hartmanns und Nietzsches“ (P. Bourget, Nouveaux Essais de psychologie contemporaine, Édition définitive revue et augmentée d’appendices, Bd. II, Paris, Plon, 1901, S. 267).
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2. Die „Nothlüge und die veracité du dieu des Descartes“ In der Geburt der Tragödie wird Descartes zum ersten Mal erwähnt. In der Perspektive der Artisten-Metaphysik, die im Sokratismus den Feind des tragischen Geistes erblickt – Sokrates ist der Mystagoge der Wissenschaft –, steht er neben Euripides, der die Tragödie zerstört hat, indem er den Mythos zerstörte: eine Gottheit musste häufig den Verlauf der Tragoedie dem Publikum gewissermaassen garantieren und jeden Zweifel an der Realität des Mythus nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität der empirischen Welt nur durch die Appellation an die göttliche Wahrhaftigkeit und Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen vermochte. Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am Schlusse seines Drama’s, um die Zukunft seiner Helden dem Publikum sicher zu stellen; diess ist die Aufgabe des berüchtigten deus ex machina (GT 12, KGW III/1, S. 82).
Die Bezugnahme ist hier nur scheinbar zufällig und äußerlich, ihre eigentliche Bedeutung ist in Wirklichkeit sehr komplex. Die Argumentation scheint von Schopenhauer herzurühren. Die erste Abhandlung der Parerga (Skizze einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Realen) beginnt mit einer Hochschätzung des französischen Philosophen, der ‚zurecht als Vater der Moderne gilt‘, „weil er die Vernunft angeleitet hat, auf eigenen Beinen zu stehn, indem er die Menschen lehrte, ihren eigenen Kopf zu gebrauchen, für welchen bis dahin die Bibel einerseits und der Aristoteles andererseits funktionierten“.34 Descartes hat sich nach Schopenhauer „zuerst […] das Problem zum Bewußtsein gebracht […], um welches seitdem alles Philosophieren sich hauptsächlich dreht: das Problem vom Idealen und Realen […]. Er also deckte die Kluft auf, welche zwischen dem Subjektiven, oder Idealen, und dem Objektiven, oder Realen, liegt. Diese Einsicht kleidete
34
A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I, SW 5, S. 3. Dasselbe Urteil („Cartesius war ein höchst ausgezeichneter Geist“) wird in Die Welt als Wille und Vorstellung I (Anhang) aufgenommen, wo Schopenhauer hauptsächlich auf der Unstimmigkeit zwischen der „Befreiung des Denkens von allen Fesseln“ und „seiner des rechten Ernstes noch entbehrenden und daher so schnell und so schlecht sich wiedergebenden Skepsis“ besteht (SW 2, S. 501).
Die „Nothlüge und die veracité du dieu des Descartes“
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er ein in den Zweifel an der Existenz der Außenwelt“.35 Schopenhauer meint, Descartes’ berühmter Satz dubito, cogito, ergo sum, womit er das Selbstbewusstsein als „das einzige wirklich und unbedingt Gegebene“ entdeckte, sei „[g]enau betrachtet […] das Äquivalent dessen, von welchem ich ausgegangen bin: ‚Die Welt ist meine Vorstellung‘. Der alleinige Unterschied ist, daß der seinige die Unmittelbarkeit des Subjekts, der meinige die Mittelbarkeit des Objekts hervorhebt“.36 Descartes beweise dann die Existenz der Welt, indem er von der Glaubwürdigkeit Gottes ausgehe; sein „dürftige[r] Ausweg“ bestehe darin, dass „der liebe Gott uns doch wohl nicht betrügen werde“.37 Schopenhauer hebt das hervor, was schon für die ersten Interpreten (Malebranche, Spinoza usw.) eine Schwierigkeit und Schwäche der Metaphysik Descartes’ gewesen ist: Seine Lösung ist eine äußerliche und unterstreicht nur die Tiefe und Fortdauer der Frage nach dem Verhältnis von Realem und Idealem. Der von Schopenhauer verachtete „dürftige Ausweg“ entspricht dem deus ex machina, von dem der junge Nietzsche in Bezug auf das Theater des Euripides sprach. Die Erklärung um jeden Preis wird durch den Primat eines Verstandes gefordert, der an die Kategorien der Individuation (Raum, Zeit und Kausalität) gebunden ist, aber sie bleibt rein äußerlich und inadäquat angesichts des unerklärbaren tragischen Grundes, der die Dinge bewegt. Es handelt sich um ein praktisches Erfordernis, das jedoch nur mittels einer inventio oder einer fictio zufrieden gestellt werden kann: eine Illusion, die allerdings noch weit entfernt ist von jener sublimen artistischen Illusion, die einen nicht-destruktiven Bezug zu dem vitalen Grund ermöglicht; „die Causalität das Mittel, um t i e f zu träumen, das Kunststück, um über die Illusion sich zu täuschen, der feinste Apparat des artistischen Betruges“ (Nachlass 1880–1881, KGW V/1, 10[E93]). Im Übergang von den metaphysischen Tröstungen zu deren weltlicher Auflösung durch den deus ex machina vollzieht sich das Ende der Tragödie. 35 36
37
A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I, SW 5, S. 5. Ebd., S. 4. Schon in der Vierfachen Wurzel zeigt Schopenhauer großes Interesse an dem französischen Philosophen (SW 1, S. 9). A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I, SW 5, S. 5.
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Der angeblichen ‚Glaubwürdigkeit‘ eines Gottes, der nicht betrügt, tritt der täuschende Gott der artistischen Illusion gegenüber. In einem Fragment aus dem Jahr 1872–73, dem Entwurf zu einer Apologie der Kunst, heißt es: „No t h l ü g e und die v e r a c i t é d u d i e u des Descartes“ (KGW III/4, 19[138]). In der frühen Artisten-Metaphysik gibt es einen Gott des Traums und die Welt als wahren Traum des Gottes des Ur-Einen. Sie will einen Gott, der (artistisch) täuscht durch den Instinkt. Die Akzeptanz von Täuschungsmechanismen – den Instinkten –, die der Schaffung einer höheren Kultur dienen, ergibt sich aus dem Postulat der praktischen Unmöglichkeit der Lebensverneinung. Der Instinkt äußert sich unmittelbar als Wille, der das Individuum durch Täuschung unterwirft. Diese Täuschung besitzt die von Schopenhauer in der ‚Metaphysik der Geschlechtsliebe‘ ermittelte Struktur. Der Instinkt ist die Illusion, die den Lebenswillen perpetuiert, die Täuschung seitens des „Genius der Gattung“ auf Kosten des Individuums. Kunst und Mythos sind die höchsten Illusionen, die zum Leben verführen: „Eine Weltcorrektion – das ist Religion oder Kunst. Wie muß die Welt erscheinen, um lebenswerth zu sein?“ (Nachlass 1870–1871, KGW III/3, 5[32]) Die Entscheidung für Griechenland ist gleich weit vom rein Dionysischen (Lethargischen) wie vom alexandrinischen „ruchlosen Optimismus“ (Schopenhauer) der modernen Welt entfernt. Die griechische Kultur ist ein pyramidenförmiger Bau, dessen Höhepunkt die Wirklichkeit des Genius ist und der fest in der Vitalität des Instinkts verankert ist. Auf diese Weise bleibt eine nicht-destruktive Beziehung zum Ur-Einen (tragischen Grund) gewahrt, das im Genius in gesteigerter Form seinen künstlerisch-schöpferischen Drang befriedigt. Tragische Weisheit bedeutet, sich der unbewussten Teleologie der Natur zu unterwerfen. Das Ur-Eine, der Gott der Täuschung, befreit sich von dem ursprünglichen Widerspruch durch das schöne Bild des Traums. Das zentrale Thema des täuschenden Gottes und des täuschenden Charakters der Natur, wird von Nietzsche später mehrfach wieder aufgegriffen, um Descartes’ Position als nicht radikal genug zu charakterisieren. Die Annahme eines uns gleichartigen moralischen Gottes ist die Voraussetzung für die Suche nach der Wahrheit, die somit nicht zu Ende gelangen kann: „Man ist unbillig gegen Descartes,
Die „Nothlüge und die veracité du dieu des Descartes“
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wenn man seine Berufung auf Gottes Glaubwürdigkeit leichtfertig nennt. In der That, nur bei der Annahme eines moralisch uns gleichartigen Gottes ist von vornherein die ‚Wahrheit‘ und das Suchen der Wahrheit etwas, das Erfolg verspricht und Sinn hat. Diesen Gott bei Seite gelassen, ist die Frage erlaubt, ob betrogen zu werden nicht zu den Bedingungen des Lebens gehört“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 36[30]). Und weiter: „die W i d e r l e g u n g Gottes, eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt. […] A u s g a n g s p u n k t . Ironie gegen Descartes: gesetzt es gäbe im Grunde der Dinge etwas Betrügerisches, aus dem wir stammten, was hülfe es, de omnibus dubitare! Es könnte das schönste Mittel sein, sich zu betrügen. Überdies: ist es möglich?“ (ebd., 39[13]). In der Lösung Descartes’ ist das, was gesucht wird, bereits enthalten. Man sucht nicht die Wahrheit, sondern Sicherheit. Der Wille, der sich selber täuscht, bietet Unmittelbarkeit und Gewissheiten (auch ‚Klarheit‘ und ‚Schlichtheit‘), wo eigentlich noch zu hinterfragen wäre. Die tiefste Schicht des Menschen will Versicherungen und findet sie im vitalen Betrug, im vitalen Irrtum: „Der Mensch sucht ‚die Wahrheit‘: eine Welt, die nicht sich widerspricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine w a h r e Welt – eine Welt, in der man nicht leidet“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[60], S. 28). Man vertraut auf die Vernunft, die die trügerischen Sinne korrigiert und zum Dauerhaften hinführt: „die Verachtung des Descartes gegen alles Wechselnde; insgleichen die des Spinoza“.38 38
Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[160]. Diese kurze Notiz wird wörtlich übernommen aus Paul Albert (1827–1880), Maître de Conférences an der École Normale Supérieure und ab 1878 Professor für französische Literatur am Collège de France: „Nun hegte Descartes eine absolute Verachtung gegen alles Wechselnde, gegen alles Vergängliche, unbestimmt sich Verändernde“ (P. Albert, La littérature française au dix-neuvième siècle, S. 5). Die Unterstreichung stammt von Nietzsche. Der Absatz weist auch eine Anstreichung am Rand auf. Dies ist ein Beispiel für einen Extratext (eine Lektüre, eine Unterstreichung), die zu einem Text, einer Notiz Nietzsches wird. Vgl. auch Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[26]. Alberts Bemerkung über Descartes fällt im Rahmen einer Hochschätzung des historischen Sinns des 19. Jahrhunderts seitens des Autors. In dem zitierten Abschnitt heißt es weiter: „Wozu sollte man die Menschen studieren? Man muss den Menschen studieren. Unterdrücken wir alle vergängliche Wirklichkeit! Das ist einer der Gründe, warum es
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Nietzsche, Descartes und der französische Geist
Der Wille zur Wahrheit entspringt dem Wunsch nach einer bleibenden Welt, einer Welt der ‚Substanzen‘, zu deren Schaffung die grammatikalischen Strukturen mit ihrer ‚einverleibten Metaphysik‘ beitragen: „Abgesehn von den Gouvernanten, welche auch heute noch an die Grammatik als veritas aeterna und folglich als Subjekt und Prädikat und Objekt glauben, ist Niemand heute mehr so unschuldig, noch in der Art des Descartes das Subjekt ‚ich‘ als Bedingung von ‚denke‘ zu setzen“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 40[20]). Das cogito ist ein Produkt der Vorstellung, eine Fiktion, Erfindung, Illusion, kein intentionaler Weg der Vernunft. Hinter den theoretischen ‚Leichtfertigkeiten‘ von Descartes verbirgt sich die höhere Weisheit eines Lebewesens, eines Leibes, der ‚seine‘ Existenzbedingungen setzt.39 Die Möglichkeit eines täuschenden Gottes/einer täuschenden Natur, die im Zentrum der frühen Metaphysik Nietzsches steht, verwandelt sich jetzt in Chaos sive natura, eine antimetaphysische Konzeption gegen jegliche Form von Teleologie. „Ni c h t die Natur täuscht uns, die Individuen und fördert ihre Zwecke durch unsre Hinterge-
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im 17. Jahrhundert keine Geschichte gab“. Paul Albert hat auch in La littérature française au dix-septième siècle einen sehr positiven Artikel über Descartes geschrieben, den Nietzsche gelesen hat. Descartes war auf allen Gebieten ein Neuerer, ein Schöpfer. Er hat die ‚universale Synthese‘ entdeckt und ist groß aufgrund seiner Methode: mit der Vernunft, die die Autorität ersetzt, beginnt die freie Wissenschaft (S. 59). „Corneille, Racine, Pascal, La Rochefoucauld, La Bruyère, Bourdaloue, Bossuet, Mme de la Fayette – all diese Autoren gehen mehr oder minder direkt von Descartes aus“ (S. 68). Auch was das Schweigen gegenüber Politik und Religion betrifft, hatte Descartes vor allen Dingen „einen glühenden Glauben, eine Leidenschaft für die Wahrheit und Wissenschaft, die sich nicht äußern konnten, ohne dem Werk unweigerlich etwas von der inneren Flamme aufzuprägen“. Descartes denkt lateinisch und übersetzt sich selbst aus dieser Sprache: „Es ist die Sprache der Vernunft selbst; nur hier und da glaubt man noch ein Echo des durchlebten Kampfes zu spüren, etwas von den gebändigten Stürmen aufblitzen zu sehen“ (S. 71). In Nietzsches Bibliothek befinden sich neben den zitierten noch zwei weitere Werke Paul Alberts: La littérature française des origines à la fin du XVI siècle und La littérature française au dix-huitième siècle. Zu Paul Albert vgl. É. BérardVaragnac, Portraits littéraires, S. 233–251. Das Werk befindet sich in Nietzsches nachgelassener Bibliothek. Vgl. S. Kofman, Descartes piégé.
Der Weg der Erkenntnis
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hung: sondern die Individuen legen sich alles Dasein nach individuellen d.h. falschen Maaßen zurecht“ (Nachlass 1881, KGW V/2, 11[7]). Wenn die physikalische Wissenschaft heute „mit allen Metaphysikern darüber einmüthig [ist], daß wir in einer Welt der Täuschung leben: glücklich, daß man nicht mehr nöthig hat, darüber mit einem Gotte abzurechnen, über dessen ‚Wahrhaftigkeit‘ man zu seltsamen Gedanken kommen könnte. Das Perspektivische der Welt geht so tief als heute unser ‚Verständniß‘ der Welt reicht“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 40[39]). Es ist der Perspektivismus der Instinkte und Bedürfnisse, der angesichts des Kräftechaos Einheiten und Substanzen, Kausalitäten und Formen schafft, Grundirrtümer, die das Leben ermöglichen. „Gott ist widerlegt, aber der Teufel nicht […]. Er täuscht, er schafft täuschende Intellekte“ (ebd., 39[14]). Der metaphysische Nietzsche erblickte also in den Repräsentanten des griechischen Rationalismus (Sokrates/Euripides) sowie in dem Vertreter des modernen Rationalismus (Descartes) die negativen Kräfte, die in der Lage sind, die schönen Illusionen, die mit dem Leben der Instinkte verbunden sind, zu zerstören. Der Rationalismus selber ist eine optimistische Illusion von geringerem Wert, die das Individuum auf die Welt des Scheins festlegt und beschränkt, welche mit der wahren Welt verwechselt wird. Aber auf dem Grund wird allmählich als Alternative zum Künstler-Genie die Gestalt des Philosophen sichtbar, der die Täuschung des Gottes nicht akzeptiert, der Träger des „Pathos der Wahrheit“, der den Schlafenden und Träumer „gleichsam auf dem Rücken eines Tigers […] hängend“ (CV 1, KGW III/2, S. 254) weckt.
3. Der Weg der Erkenntnis Das Studium der Vorsokratiker öffnet Nietzsche endgültig den Weg zu den Wissenschaften und einer antiteleologischen Erkenntnis. In mancher Hinsicht handelt es sich um die Rückkehr zu einer früheren Haltung, die der Artisten-Metaphysik vorausging, welche ihm nun als Ausdruck einer Zeit romantischer Verdunkelung unter dem Einfluss der germanischen Ideologie Wagners erscheint. Nietzsche be-
Der Weg der Erkenntnis
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hung: sondern die Individuen legen sich alles Dasein nach individuellen d.h. falschen Maaßen zurecht“ (Nachlass 1881, KGW V/2, 11[7]). Wenn die physikalische Wissenschaft heute „mit allen Metaphysikern darüber einmüthig [ist], daß wir in einer Welt der Täuschung leben: glücklich, daß man nicht mehr nöthig hat, darüber mit einem Gotte abzurechnen, über dessen ‚Wahrhaftigkeit‘ man zu seltsamen Gedanken kommen könnte. Das Perspektivische der Welt geht so tief als heute unser ‚Verständniß‘ der Welt reicht“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 40[39]). Es ist der Perspektivismus der Instinkte und Bedürfnisse, der angesichts des Kräftechaos Einheiten und Substanzen, Kausalitäten und Formen schafft, Grundirrtümer, die das Leben ermöglichen. „Gott ist widerlegt, aber der Teufel nicht […]. Er täuscht, er schafft täuschende Intellekte“ (ebd., 39[14]). Der metaphysische Nietzsche erblickte also in den Repräsentanten des griechischen Rationalismus (Sokrates/Euripides) sowie in dem Vertreter des modernen Rationalismus (Descartes) die negativen Kräfte, die in der Lage sind, die schönen Illusionen, die mit dem Leben der Instinkte verbunden sind, zu zerstören. Der Rationalismus selber ist eine optimistische Illusion von geringerem Wert, die das Individuum auf die Welt des Scheins festlegt und beschränkt, welche mit der wahren Welt verwechselt wird. Aber auf dem Grund wird allmählich als Alternative zum Künstler-Genie die Gestalt des Philosophen sichtbar, der die Täuschung des Gottes nicht akzeptiert, der Träger des „Pathos der Wahrheit“, der den Schlafenden und Träumer „gleichsam auf dem Rücken eines Tigers […] hängend“ (CV 1, KGW III/2, S. 254) weckt.
3. Der Weg der Erkenntnis Das Studium der Vorsokratiker öffnet Nietzsche endgültig den Weg zu den Wissenschaften und einer antiteleologischen Erkenntnis. In mancher Hinsicht handelt es sich um die Rückkehr zu einer früheren Haltung, die der Artisten-Metaphysik vorausging, welche ihm nun als Ausdruck einer Zeit romantischer Verdunkelung unter dem Einfluss der germanischen Ideologie Wagners erscheint. Nietzsche be-
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tont den Kampf der Vorsokratiker gegen den Mythos und die Religion, ihre Wissenschafts- und Erkenntnisfreudigkeit. Seine Vorlesungen über die Vorsokratiker beinhalten diverse Exkurse zu den Naturwissenschaften seiner Zeit. Er fand bei jenen Philosophen konkrete Möglichkeiten eines höheren Lebens, das ohne den Mythos auskam, der die ‚polis‘ erhellte, ihr aber auch Grenzen setzte. Dem Verzicht der Vorsokratiker auf die Tradition und den Mythos eignet ein kartesianischer Zug. Sie legten den Mythos ab, der das Leben der Griechen erglänzen ließ, und verstanden dennoch auf höhere Weise zu leben: „Das Individuum, welches a u f s i c h s e l b s t stehen will“ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 6[7]). Jene Philosophen haben ein Leben außerhalb der Täuschung gewählt, „wo die Schwierigkeiten ins Ungeheure gewachsen sind […]; der welcher das Erkennen will, muss den Boden, auf dem der Mensch lebt, immer wieder verlassen und sich ins Ungewisse wagen, und der Trieb, der das Leben will, muss immer wieder sich zu einer ungefähr sicheren Stelle hintasten, auf der sich stehen lässt“ (ebd., 6[48], S. 191f.). Anstelle der unmittelbaren Intuition des Genies und des wahren Traums der Kunst, die im Zentrum der Geburt der Tragödie standen, tritt jetzt ein geordneter und schwieriger Weg der Befreiung. In einem Fragment zu den Vorplatonikern von Frühjahr 1873 (26[1]) wird Nietzsches Interesse für die philosophisch-naturwissenschaftlichen Theorien deutlich. Man begegnet den Namen Lavoisier, Boerhave, Kopp (Geschichte der Chemie), Spir, Newton, Buffon, Gassendi usw. Auch auf die Lehren Descartes’ nimmt Nietzsche, vermittelt durch die Lektüre Überwegs,40 Bezug. Zu den Pythagoreern notiert er: „Der schlafende Reisende im Schiff. Überweg, III 53. Fortsetzung der Atomistik, alle Bewegungsmechanik ist zuletzt Beschreibung der Vorstellungen“. Damit stellt er bedeutsamerweise die kartesianische Kosmologie neben die physikalischen Lehren der Pythagoreer. Überweg hatte die Kosmologie von Descartes in seiner Philosophiegeschichte ohne Nachweis der entsprechenden Descartes-Stelle so resümiert: „die Erde ruhe, wie jeder Planet, in dem bewegten Aether, wie der schlafende Reisende in einem bewegten 40
F. Überweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie.
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Schiffe“.41 Die in Teil III der kartesianischen Principes dargelegten kosmologischen Theorien und Bewegungsgesetze, das heißt die Physik von Descartes, erscheinen Nietzsche, entsprechend den von Schopenhauer skizzierten Grundlinien, als eine Vorstellungstheorie, wie sie seines Erachtens den Ausgang jeder Atomistik und Bewegungslehre darstellt.42 Der anschließende Satz – „Berührung. Actio in distans“ – ist von Belang, insofern er einen impliziten Verweis auf die Theorie Boscovichs (Philosophiae naturalis Theoria, 1759), auf seine dynamische Konzeption der Kraftpunkte enthält, die im 19. Jahrhundert gegenüber der kartesianischen Tradition aufgewertet wurde. Denn Actio in distans bedeutet, dass jedes Sein aus sich heraus aktiv und die Materie durch Wirkung und innere Kraft gekennzeichnet ist. Danach reduzieren die Kräfte der Anziehung und Abstoßung die Phänomene der Berührung auf Fernwirkungen. Sie waren von Boscovich eingeführt worden, um einige Schwierigkeiten zu beseitigen, die Descartes’ Gesetz vom Stoß der Körper aufwarf.43 In dieser Perspektive lehnt Nietzsche die kartesianische Auffassung der res extensa ab und orientiert sich in wachsendem Maße in Richtung einer energetischen Wirklichkeitsauffassung: Alles ist Kraft. Auf die kartesianische Metaphysik spielt Nietzsche dagegen im Zusammenhang mit Parmenides’ Theorie des Einen an. So bezieht er sich ausdrücklich auf die von Descartes in Teil 1 der Principia gegebene und von Über41
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Ebd., S. 53. Vgl. R. Descartes, Principes, Teil III, art. 29 in: Œuvres de Descartes, hg. von Ch. Adam und P. Tannery, Bd. IX, S. 115 (im Folgenden AT, gefolgt von Bandangabe in römischen und Seitenangabe in arabischen Ziffern). Bei der von Überweg zitierten Stelle handelt es sich um einen Zusatz des französischen Übersetzers Abbé Picot zur Edition von 1647, der in der Edition von 1644 fehlt: vgl. AT VIII, 92. Schon bezogen auf Demokrit hatte Nietzsche, auf Schopenhauers Spuren, in den Aufzeichnungen von 1867–1868 festgestellt: „Man möge doch in Demokrit nicht den Idealisten verkennen. Sein Hauptsatz bleibt ‚das Ding an sich ist unerkennbar‘ u. das trennt ihn von allen Realisten auf immer“ ( KGW I/4, 52[30]). Ein Echo der ursprünglichen Problematik von Boscovich findet sich etwa in einem Fragment von Frühjahr-Herbst 1881, wo allerdings die ästhetisierende Haltung gegenüber den Naturphänomenen deutlich spürbar ist; vgl. Nachlass 1881, KGW V/2, 11[264].
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Nietzsche, Descartes und der französische Geist
weg zitierte Definition: „Per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum“.44 Das Fragment enthält außerdem eine Anspielung auf die Schwierigkeiten der kartesianischen Unterscheidungstheorie im Hinblick auf die Erklärung der Interaktion zwischen den zwei Substanzen Seele und Körper: „Gegenseitige Einwirkung bei völliger Verschiedenheit des Cörpers. III 53“. Der Satz ist wörtlich von Überweg übernommen, der auch auf den Beistand Gottes (concursus bzw. assistentia Dei) und die Antwort Descartes’ auf Gassendi (V Responsiones) eingeht.45
4. Die Schlachten des Descartes In dieser Form reift in den Jahren 1875–1876 Nietzsches ‚edler Verrat‘ heran, das heißt die Beteuerung der Treue zu sich selbst und zu seinem eigenen Weg, der unterbrochen wurde durch die romantische Verdunkelung, die er jetzt als Stillstand, Verirrung, als ‚Krankheit‘ empfindet. Menschliches, Allzumenschliches markiert die entscheidende Wende, die „grosse Loslösung“ (MA, Vorrede 3) von all dem, was er bisher verehrt hat. Es markiert den Anfang seines Experimentierens mit neuen Lebensformen. Der Erstausgabe, die dem Gedenken Voltaires anlässlich seines Todesjahres gewidmet ist, ist anstelle einer Vorrede ein Abschnitt aus Descartes’ Discours de la méthode vorangestellt: – eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen sich die Menschen in diesem Leben überlassen und machte den Versuch, die beste von ihnen auszuwählen. Aber es thut nicht noth, hier zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen Theil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen. Denn die Früchte, welche ich auf diesem Wege schon ge44
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F. Überweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie, S. 52. Vgl. Descartes, Principia pars I, art. 51, AT VIII, 24. AT VII, 369–371.
Die Schlachten des Descartes
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kostet hatte, waren der Art, dass nach meinem Urtheile in diesem Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden kann; zudem liess mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu Hülfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und durchaus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun konnten. (Aus dem Lateinischen des C a r t e s i u s ).46
Dass der Passus erst in der Großoktav-Ausgabe (Leipzig 1895ff.), dann in Schlechta (1954ff.) und schließlich in der ersten Colli-Montinari-Ausgabe (1965) fälschlicherweise den Meditationes zugeschrieben wurde,47 zeugt nicht nur von einer geringen philologischen Aufmerksamkeit für die Texte, sondern auch von einer Interpretationslinie, die von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit beider Philosophien ausging. Der anfängliche Irrtum hat weitere Fehlschlüsse nach sich gezogen, worunter den von Walter Kaufmann, der schreibt: „Seinem nächsten Buch, Menschliches, Allzumenschliches, hat Nietzsche in der ersten Auflage ein ausführliches Motto aus den Meditationen Descartes’ vorangestellt. Dies legt die Vermutung nahe, dass er seine Betrachtungen nach diesem Werk Descartes’ genannt haben könnte“.48 Der Abschnitt aus Descartes’ Discours de la méthode anstelle einer Vorrede ist von großer Bedeutung. Wenn die Zueignung und die häufigen Bezugnahmen in den Aphorismen auf Voltaire als Ausdruck der ‚Freiheit des Geistes‘ das überdeutliche Sinnbild für Nietzsches Bruch mit seiner wagnerschen Vergangenheit sind und den Beigeschmack der Provokation besitzen,49 dann bekräftigt und resümiert das Motto 46
47
48 49
MA, An Stelle einer Vorrede. Für die zitierte Stelle vgl. R. Descartes, Specimina philosophiae, S. 25 (vgl. außerdem Dissertatio de Methodo, lat. Übers. von Etienne de Courcelles, in AT VI, 555). Vgl. GOA II, S. 432ff., Schlechta, Werke III, S. 1385–86; Colli-Montinari, KGW IV/4, S. 45. Die zweite Colli-Montinari-Ausgabe korrigiert den Fehler; vgl. KSA 14, S. 116–117. Die Entdeckung des Irrtums verdanken wir R. A. Rethy, The Descartes Motto to the first edition of Menschliches, Allzumenschliches. W. Kaufmann, Nietzsche: Philosoph, Psychologe, Antichrist, S. 40 Fn. Als Provokation wurde die symbolische Präsenz des französischen Philosophen in Menschliches, Allzumenschliches von Wagner tatsächlich empfunden, wie aus
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Nietzsche, Descartes und der französische Geist
den neuen Geist, der den Weg der Erkenntnis charakterisiert, und hat insofern tatsächlich den Stellenwert einer Vorrede. Es führt in zwei zentrale Themen ein: die Methode und die Leidenschaft der Erkenntnis. Die Methode ist das Gegenteil der unmittelbaren Intuitionen des metaphysischen Genies, die diesem qua Inspiration in den Schoß fallen. Der Mystifikation des Unmittelbaren stellt Nietzsche die Methode gegenüber, die Notwendigkeit eines geordneten Wegs, der in Stufen zur Erkenntnis führt. Descartes steht am Anfang eines neuen Weges, den Nietzsche mit größerer Radikalität und ohne die Unentschlossenheiten, die für Voltaire und die esprits forts des 18. Jahrhunderts prägend waren, einschlagen will. Schon vor der Entstehung von Menschliches, Allzumenschliches hatte er in einem nachgelassenen Fragment geschrieben: „Das Bild des Freigeistes ist unvollendet im vorigen Jahrhundert geblieben: sie negirten zu wenig und behielten s i c h übrig“ (Nachlass 1876, KGW IV/2, 16[47]). Descartes’ Methode wird folglich radikaler gefasst, weil sie unvollendet geblieben ist. Sie weist den sicheren Weg, den es im Gegensatz zu Schopenhauers Genie50 mit seiner schlechten Illusion der Unmittelbarkeit und seiner Mystifikation der besonderen Intuition zu verfolgen gilt. „Das Vollkommene soll nicht geworden sein“ (MA 145). Das Wissen entspringt einem Prozess, auch wenn dieser in der szenischen Präsentation des Genies, das Verehrung braucht, nicht als sol-
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Cosimas Tagebüchern erhellt. Wagner kam in dieser Zeit mehrfach auf Voltaire zu sprechen, dessen Werke er, mit äußerst kritischen Urteilen, erneut las, seit er per Post Nietzsches neues Buch erhalten hatte: „Um Mittag Ankunft einer neuen Schrift von Freund Nietzsche – banges Gefühl davor nach einem kurzen Einblick; R. meint, er erweise dem Autor ein Gutes, wofür dieser ihm später danken würde, wenn er es nicht lese. Mir scheint viel Ingrimm und Verbissenheit darin, und R. lacht herzlich, wie ich ihm sage, daß, wenn unter allen Menschen einer, der hiermit gefeierte Voltaire die ‚Geburt der Tragödie‘ nicht verstanden haben würde!“ (Tagebücher, 25. April 1878, Bd. 2, S. 87). Vgl. u.a. auch den Eintrag vom 28. Mai: „R. wollte sich den Spaß machen, an Pr. Nietzsche zu Voltaire’s Geburtstag telegraphisch zu gratulieren, ich rate aber ab und befürworte hier auch wie nach mancher Seite hin das Schweigen“ (ebd., S. 101). Zum Thema Methode und Weg der Erkenntnis im Gegensatz zur Intuition nach Schopenhauer vgl. MA 155, 156, 163, 256, 263, 635.
Die Schlachten des Descartes
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cher erscheinen darf. „Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit“ (MA 162). Nietzsche kritisiert die Verhüllung der Arbeit, die Illusion der plötzlichen Entstehung des Kunstwerks, wie sie die romantische und metaphysische Haltung Wagners kennzeichnen, als schlechte Mythologie und Mystifizierung (MA 145). „Das Genie thut auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätigkeit des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie’s: aber keine ist ein ‚Wunder‘“ (MA 162). Noch 1885 erblickt Nietzsche in Schopenhauer den Repräsentanten der frohlockenden „Reaktion gegen den Rationalismus des Descartes […] zu Gunsten des ‚Intuitiven‘“, insofern er in Übereinstimmung mit der idealistischen Philosophie Deutschlands den Willen als neues Vermögen präsentiert. Durch sie lernte man „an eine Art ‚intuitiver und instinktiver Erfassung der Wahrheit‘ glauben“: „Man meinte, der Weg zur Erkenntniß sei nunmehr a b g e k ü r z t , man könne unmittelbar den ‚Dingen‘ zu Leibe gehen, man hoffte ‚Arbeit zu sparen‘: und alles Glück, welches edle Müßiggänger, Tugendhafte, Träumerische, Mystiker, Künstler, Dreiviertels-Christen, politische Dunkelmänner und metaphysische Begriffs-Spinnen zu empfinden fähig sind, wurde den Deutschen zur Ehre angerechnet“.51 Die kritische Position, die Nietzsche im Verlauf der achtziger Jahre gegenüber dem cogito entwickelt, ist bekannt und gut erforscht. Descartes ist „in dem Fallstrick der Worte“ hängen geblieben, hat an das ‚Ich als Substanz‘ geglaubt und nicht grundsätzlich genug Kritik geübt und gezweifelt. Es wurde auch herausgearbeitet, dass die Formulierungen von Teichmüller, die er teilweise wörtlich übernimmt, die Grundlage seiner Infragestellung des kartesianischen cogito bilden.52 Wie auch das weiter oben kommentierte Fragment zeigt, bleibt bei aller Kritik die Wertschätzung des französischen Philosophen dennoch 51 52
Nachlass 1885, KGW VII/3, 38[7]; vgl. auch ebd., 34[185], sowie JGB 11. Vgl. dazu A. Orsucci, Teichmüller, Nietzsche e la critica delle mitologie scientifiche. Siehe auch H. Nohl, Eine historische Quelle zu Nietzsches Perspektivismus.
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bestehen. Wir haben es mit einer philosophischen Auseinandersetzung und einer Überwindung zu tun („Es muß besser gezweifelt werden als Descartes“, „Seien wir vorsichtiger als Descartes“, weniger naiv usw.),53 nicht mit einer radikalen Opposition, und erst recht nicht mit dem vermeintlichen krassen Gegensatz raison versus Intuition, wie die verbreitete Meinung will. Wenn Nietzsche sich diesem Schema bisweilen zu beugen scheint, dann steht er jedenfalls vollkommen auf Seiten der raison und der Redlichkeit auf dem Weg der Erkenntnis, auch wenn er unter Vernunft sicher etwas mit Descartes’ Position Unvereinbares versteht. Nietzsche betont mehrfach die wissenschaftliche Energie und Kühnheit Descartes’: „Was die Thiere betrifft, so hat zuerst Descartes, mit verehrungswürdiger Kühnheit, den Gedanken gewagt, das Thier als machina zu verstehn: unsre ganze Physiologie bemüht sich um den Beweis dieses Satzes. Auch stellen wir logischer Weise den Menschen nicht bei Seite, wie noch Descartes that …“ (AC 14). Ebenfalls im Antichrist hebt Nietzsche die Bedeutung der „wissenschaftlichen Methoden“, der großen, unvergleichlichen „Kunst, gut zu lesen“ (AC 59) hervor. „Die werthvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden; aber die werthvollsten Einsichten sind die Me t h o d e n . Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissenschaftlichkeit haben Jahrtausende lang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt“ (AC 13). Nietzsche konstruiert einen roten Faden, der Aristoteles und Descartes, Bacon und Comte miteinander verbindet: „die großen Me t h o d o l o g e n : Aristoteles, Bacon, Descartes, A. Comte“, schreibt er (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[61]). Auch in diesem Fall entspricht sein Urteil dem allgemein verbreiteten Urteil seiner Zeitgenossen und geht direkt auf die vorangegangene Lektüre von Eugen de Roberty, L’ancienne et la nouvelle philosophie (1887) zurück, worin die Namen der vier Philosophen mehrfach zusammen genannt werden, um einen idealen Pfad philosophischer Vernunft zu skizzieren.54 De Roberty, ein interessan53 54
Vgl. Nachlass 1885, KGW VII/3, 40[10], [23], [25]. Vgl. z.B. „Aristoteles hat das Denken seiner Zeit überragt und in der Antike den Platz eingenommen, den Bacon im 17. Jahrhundert einnahm und den Comte derzeit einnimmt“ (E. de Roberty, L’ancienne et la nouvelle philoso-
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ter Soziologe ist, wie der bereits erwähnte Émile Faguet, einer von mehreren Fällen, in denen ein Autor über Nietzsche geschrieben hat, ohne zu wissen, dass er selbst von ihm gelesen worden ist.55 Die Methode gilt Nietzsche demnach seit frühester Zeit als unerlässlich für jedes Wissen und als wichtigstes Teilergebnis der einzelnen Wissenschaften: „Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19tes Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 15[51]). Ohne Methode und ohne das entsprechende ‚instinktive Misstrauen‘ gegen die überlieferten, in der Sprache fest gewordenen Vorurteile droht die Gefahr einer Rückkehr zu Aberglauben und Torheit. Ebenso lauert stets die Gefahr, dass die äußeren Aspekte der Wissenschaft dogmatisch und fanatisch verhärtet werden, dass die Wissenschaftlichkeit, wenn sie nicht das „Endresultat einer langen Zucht“ ist, durch die Kraft der seit langem einverleibten moralischen Triebe besiegt wird (vgl. ebd., 14[132]). „Desshalb sollte […] Jedermann mindestens e i n e Wissenschaft von Grund aus kennen gelernt haben“ (MA 635). Die Gleichgültigkeit gegenüber der Methode und dem geordneten Weg der Erkenntnis war prägend für das romantische Genie, dessen metaphysische Seite Nietzsche in
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phie, S. 21). Nietzsches Exemplar weist an dieser Stelle eine Anstreichung auf; ebenso S. 334: „Eine besondere Bedeutung verbindet sich mit dem Namen Descartes, was seine Auseinandersetzung mit Fragen der wissenschaftlichen und philosophischen Methodologie anbelangt. Diese Seite von Descartes’ Schaffen hat in Auguste Comte und anderen Positivisten eifrige Verteidiger gefunden“. In Nietzsches Exemplar ist dieser Satz außerdem unterstrichen. Indirekt bestätigt wird diese Lektüre durch das anschließende Fragment, bei dem es sich um eine Lektüreaufzeichnung aus dem Band handelt (vgl. S. Viola, Nietzsche e la teoria sociologica, S. 301 ff.). Auch in Stuart Mills Schrift über Auguste Comte konnte Nietzsche Hinweise auf Comtes Hochschätzung der Methode Descartes’ finden. Am Rand einer diesbezüglichen Seite notierte Nietzsche: „Comte betrachtet Descartes und Leibniz als seine wichtigsten Vorläufer“. J. S. Mill, Auguste Comte und der Positivismus, S. 141. E. de Roberty, Nietzsche. Contribution à l’histoire des idées philosophiques. Gegen dessen Interpretation polemisiert J. Bourdeau, Les Maîtres de la pensée contemporaine, S. 138ff., in einem Essay mit dem Titel Nietzsche socialiste malgré lui. Zu De Roberty siehe R. Verrier, Roberty. Le positivisme russe.
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seiner ersten Phase akzeptierte. Das schlichte Vertrauen in diese Gestalt war ein Verzicht auf Rechtschaffenheit, eine blinde Verehrung. Unter veränderter Perspektive wird das Genie nach und nach einer genealogischen und physiologischen Analyse unterzogen. Sein Typus stellt als „höherer Typus“ eine „unvergleichlich größere Complexität, – eine größere Summe coordinirter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. Das ‚Genie‘ ist die sublimste Maschine, die es giebt, – folglich die zerbrechlichste“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[133]). Das Fragment 9[68] (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2) besteht aus einer Ansammlung von Zitaten zur Physiologie verschiedener Persönlichkeiten: Heinrich IV, Friedrich der Große, Mirabeau, Napoleon, Voltaire. Das Genie erscheint jetzt nicht mehr als ‚Wunder‘, sondern als Endresultat der Arbeit von Generationen, als Ergebnis einer langen Askese, Disziplin und geordneten Energie. Nietzsche resümiert: „Le génie n’est qu’une longue patience“ (ebd., 9[69]). Dieser Satz ist wörtlich der Abhandlung Psychologie des grands hommes (1883) entnommen, in der der positivistische Psychologe Henri Joly, der u.a. an Ribots Revue philosophique mitarbeitete, ein Urteil von Flourens über Buffon zitiert. Bei Joly findet Nietzsche eine Bestätigung seiner Ansicht, der zufolge große Menschen das Resultat einer Anhäufung mehrerer Faktoren sind, eine atavistische Ansammlung von Energie, die methodisch verteilt und verausgabt werden muss: „Der geniale Mensch erlegt sich also die Gewohnheit auf, seine Annahmen sogleich zu ordnen, kein Ereignis vorbeigehen, keine Handlung sich vollziehen zu lassen […], ohne ihnen den Ort zuzuweisen, an dem ihr Zusammenwirken der gesuchten Erkenntnis am förderlichsten ist“56 und die unternommene Anstrengung am wirksamsten zur Verwirklichung des „großen Menschen“ hinführt, der sich durch Komplexität und Fleiss auszeichnet. In dieser Abhandlung von Joly nimmt Nietzsche auch Kenntnis von der darwinistischen Interpretation von William James (einer Kritik an der Soziologie Spencers), die 56
H. Joly, Psychologie des grands hommes, S. 216–217. Vgl. außerdem das Fragment 9[45] (Nachlass 1887, KGW VIII/2), das Jolys Kritik an Eduard von Hartmann und dessen Genie-Auffassung (S. 204–207 und S. 224) resümiert.
Die Schlachten des Descartes
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er mit den Theorien Galtons vergleicht, deren Lektüre seit 1884 belegt ist und durch die Diskussionen mit Paneth in Nizza angeregt wurde.57 Der amerikanische Philosoph sah im großen Menschen eine „zufällige Variation“ in der Menschheitsentwicklung; sein Geschick hängt einzig vom Milieu ab, das ihm widersteht oder ihn annimmt. Eine solche Variation ist nach James imstande, der Menschheitsgeschichte eine gewisse Richtung aufzuprägen. Positionen Emersons aufgreifend, definiert er denjenigen als ‚großen Menschen‘, der die Menschheit leitet, indem er als Katalysator der in der Gesellschaft verstreuten Energien fungiert. Allerdings ersetzt James Emersons Metaphysik durch Darwins evolutionistischen Naturalismus, gestützt auf den Begriff der Zufälligkeit und eine physiologische Konzeption, wonach die höheren Eigenschaften des Genies eine glückliche Kombination psychogenetischer Faktoren im Gehirn darstellen. Die moralischen Werte sind für James Ausdruck zufälliger Variationen der Gattung, die sich im Verlauf der Entwicklung durchgesetzt haben. Spuren dieser mittelbaren James-Lektüre lassen sich in Nietzsches Entscheidung ausmachen, ‚seinen‘ Übermenschen klar von darwinistischen Denkmustern abzugrenzen: „Anderes gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Darwinismus verdächtigt“ (EH, Warum ich 57
Vgl. H. Joly, Psychologie des grands hommes, Kap. III, S. 104ff. Von James analysiert Joly den Aufsatz Le grand homme et le milieu contemporain, der 1880 in der „Atlantic Monthly“ erschienen und dann in der „Critique philosophique“, 22. und 29. Januar und 5. Februar 1881, übersetzt worden war (vgl. W. James, „The Great Men and their Environment“, in: The Will to Believe and other Essays in Popular Philosophy, New York 1897). Exzerpte aus F. Galton, Inquiries into Human Faculty, finden sich im Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[18] und [19]. Vgl. auch die Berichte von Joseph Paneth aus Nizza in seinen Briefen an die Verlobte Sofie Schwab und deren Onkel Salomon Schwab, in M. Montinari, KGW, Nachbericht zur siebenten Abteilung, II, S. 22ff. Paneth berichtet, er habe Nietzsche das Buch von Galton, auf das die beiden in ihren Gesprächen in Nizza mehrfach zu sprechen gekommen seien (15.2.1884 und 26.3.1884), geliehen und später geschenkt. Über Galton sprach Nietzsche auch mit Resa von Schirnhofer, Philosophiestudentin an der Universität Zürich, die den Philosophen ab 1884 auf Rat von Malwida von Meysenbug wiederholt traf (in Nizza, Sils-Maria und Zürich). Vgl. R. von Schirnhofer, Vom Menschen Nietzsche, S. 256.
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so gute Bücher schreibe 1). Die Entwicklung hin zu einem ‚höheren Typus‘ impliziert keinen „Kampf um’s Dasein“, der vielmehr den widerstandsfähigeren, an die Umwelt angepassten und zahlenmäßig überlegenen Herdenmenschen begünstigt. Im Rahmen einer Verdeutlichung der komplexen und mühseligen Ausdauer des Genies und seiner Tätigkeit greift Nietzsche in dem oben erwähnten Fragment (9[68]) eine Ausführung Jolys über Descartes auf, die er wortgetreu abschreibt: „Descartes hat die Entdeckungen eines Gelehrten mit einer Folge von Schlachten verglichen, die man gegen die Natur liefert“. „Der Wille zur Wahrheit: 1) als Eroberung und Kampf mit der Natur/ Descartes’ Urtheil der Gelehrten“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[46]). Joly verweist auf Teil sechs des Discours de la méthode. Nietzsches Text, der die Quelle nicht nennt, ist mehrfach kommentiert worden und es gibt gute Gründe, näher darauf einzugehen. Technik und Wissenschaft wären danach Ausübungen des Willens zur Macht und dies wiederum wäre die Bestätigung einer Interpretationsrichtung, die Descartes und Nietzsche im Sinne der abendländischen Metaphysik miteinander verbindet. Joly hat Descartes’ Text stark verfälscht wiedergegeben. So kommt im sechsten Teil des Discours der Ausdruck „Schlacht gegen die Natur“ überhaupt nicht vor. Descartes schreibt vielmehr: Denn es verhält sich mit denen, welche die Wahrheit in den Wissenschaften nach und nach entdecken, fast ebenso wie mit denen, die anfangen reich zu werden und nun weit leichter große Erwerbungen machen als ehedem, da sie ärmer waren. Man kann sie auch mit den Feldherren vergleichen, deren Kräfte mit den Siegen zu steigen pflegen und die mehr Führungskunst nötig haben, um sich nach einer verlorenen Schlacht zu behaupten, als nach einer gewonnenen, um Städte und Provinzen einzunehmen. Denn es kostet in der Tat Schlachten, wenn man alle Schwierigkeiten und Irrtümer zu besiegen unternimmt, die uns den Weg zur Erkenntnis der Wahrheit sperren, und es heißt eine Schlacht verlieren, wenn man in einer etwas allgemeinen und bedeutenden Sache eine falsche Ansicht annimmt. […] es sind nur Folgen und Ableitungen von fünf oder sechs Hauptschwierigkeiten, die ich überwand und die ich für ebenso viele Schlachten rechne, wo ich das Glück auf meiner Seite gehabt.58 58
AT VI, 66–67; dt. Übers.: R. Descartes, Abhandlung über die Methode, S. 62–63.
Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum
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Es handelt sich um eine einprägsame Metapher Descartes’, die die Komplexität und die Schwierigkeiten des Wegs der Erkenntnis beschreibt, die Notwendigkeit, feste Punkte zu erobern, von denen aus man sicher fortschreiten kann, die Gefahr von Irrtümern, die einen zurückwerfen. Nichts von Schlachten und Machtausübung: die erste Metapher ist in der Tat die des Reichtum-Ansammelns. Aufgrund einer irrtümlichen und nicht nur ungenauen Bezugnahme scheint Nietzsche Descartes eine völlig andere Perspektive, nämlich die eines Willens zu technischer Macht über die Natur zuzuschreiben. Erst recht taten dies die Interpreten. Wie an verschiedenen Stellen nachzulesen ist, bezeichnet die methodische Sorgfalt bei Nietzsche ausdrücklich den geordneten Weg der Erkenntnis: „die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden“, sind die Grundlage des Wissens und „höher zu schätzen als die beglückenden und blendenden Irrthümer […]. Aber das mühsam Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere Erkenntnis noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu halten ist männlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an“ (MA 3).
5. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum Beginnend mit Descartes’ Motto zu Menschliches, Allzumenschliches betont Nietzsche die Freudigkeit, die mit der Leidenschaft der Erkenntnis einhergeht: „Da wurde endlich meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun konnten“.59 Doch ist die Lust am Erkennen für den deutschen Philosophen mehr ein Desiderat als eine Realität. Vorherrschend sind in Menschliches, Allzumenschliches das ‚Eis‘ und die ‚Ernüchterung‘ einer antiromantischen Therapie, die jeden Enthusiasmus und romantischen Rausch zu bremsen sucht. „Ein Irrtum nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – e s e r f r i e r t “ 59
MA, An Stelle einer Vorrede. Aus: R. Descartes, Dissertatio de Methodo, AT VI, 555.
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(EH, Menschliches, Allzumenschliches 1). Wenn die Wissenschaft durch die Ergebnisse, die Tröstliches wie Religion, Metaphysik und Kunst verdächtig machen, „Freude nimmt“, so gibt sie dagegen „Dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen“ (MA 251). Eine höchste „Seligkeit“ der Erkenntnis prägt die „Thätigkeit eines wohlgeübten findenden und erfindenden Verstandes. […] Ähnlich urtheilten Descartes und Spinoza: wie müssen sie Alle die Erkenntniss g e n o s s e n haben!“ Das Entzücken entsteht schon „beim kleinsten sicheren endgültigen Schritt und Fortschritt der Einsicht“, auch wenn es „von allen Denen nicht g e g l a u b t [wird], welche sich daran gewöhnt haben, immer nur beim Verlassen der Wirklichkeit, beim Sprung in die Tiefen des Scheins entzückt zu werden“ (M 550). Das methodische Vorgehen geht gegen die Intuition der deutschen Theologen und Philosophen, gegen die Vision der Mystiker, aber auch gegen das Tun der tätigen Menschen, die „rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik“ (MA 283). Beim Erkennen wird man sich „seiner Kraft bewusst“, indem man ältere Vorstellungen und ihre Vertreter überwindet, und fühlt sich daher „über A l l e erhaben“ (MA 252). Der Pfad der Erkenntnis kann auch zum Pfad der Weisheit werden, sobald der Mensch in der Lage ist, sich als „eine Leiter mit hundert Sprossen“ zu sehen, auf denen er zu einer Erkenntnis emporsteigen kann, die der Vergangenheit mit ihren Irrtümern sowie der Religion und Kunst historische Gerechtigkeit widerfahren lässt. Das Leben bekommt „den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss“ einer Wirklichkeit, die an sich nicht die Klarheit und Durchsichtigkeit einer gegebenen Ordnung besitzt: „Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukünftiger Culturen sichtbar werden“. Keine Mühe und keine Gefahr wird den, der gelernt hat, „dass kein Honig süsser als der der Erkenntniss ist“, von dem Weg abbringen, der am Ende zu „jenem milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit“ führt: „Dem Lichte zu – deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntniss – dein letzter Laut“ (MA 292). In dieser „Leidenschaft der Erkenntnis“ wird Nietzsche 1882 Spinoza als seinem ‚Vorgänger‘ begegnen: „Nicht nur, daß seine Gesamtten-
Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum
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denz gleich der meinen ist – die Erkenntniß zum m ä c h t i g s t e n A f f e k t zu machen – in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in d i e s e n Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse“.60 Dennoch ist Spinozas Betrachtung sub specie aeternitatis für Nietzsche ein typischer Ausdruck des „Mangels an historischem Sinn“ und des Misstrauens der Philosophen gegenüber dem Werden. Die fröhliche Wissenschaft markiert das Ende des Weges, der mit Menschliches, Allzumenschliches beginnt und nach langer Krankheit zu neuer Kraft geführt hat, die die Sphäre der Erkenntnis mit der Freude verbindet, im Gegensatz zu einer philosophischen Tradition, welche Sinne und Fleisch um der Reinheit willen unterdrückt. Das intelligere wird im Gegensatz zu Spinoza und unter Bezugnahme auf dessen ‚schlichte und erhabene‘ Formulierung nicht als unmöglicher Verzicht auf das „ridere, lugere, detestari“ verstanden, sondern „als die Form, in der uns eben jene Drei auf Einmal fühlbar werden […] ein g e w i s s e s Ve r h a l t e n d e r Tr i e b e z u e i n a n d e r “ (FW 333). Auch im Fall Spinozas drückt die Konzeption des Nicht-mehr-Lachens und Nicht-mehr-Weinens, „seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben“ (JGB 198), die Lebensklugheit eines Leidenden aus. Die ungebrochene Lebensenergie hingegen kennt und akzeptiert bewusst das Spiel der Leidenschaften und der Kunst, die die Freude mit der Lüge verbindet, der Kunst, die uns lehrt, „Dichter unseres Lebens [zu] sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst“ (FW 299). Zu Beginn des vierten Buches der Fröhlichen Wissenschaft, wo es um die Lust des Erkennens geht, kleidet Nietzsche dies in die Worte Descartes’, um das Physische und Körperliche zum Ausdruck zu bringen, das Leidenschaft, Denken und Leben miteinander verbindet: „Noch lebe ich, noch denke ich: ich muss noch leben, denn ich muss noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum“ (FW 276). Es scheint sich hier eine Einheit von Elementen, ein Gleichgewicht zu verwirklichen, das beim frühen Nietzsche undenkbar war: dem modernen Menschen – 60
An Overbeck, 30. Juli 1881, KGB III/1, S. 111.
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„kein animal, sondern höchstens ein cogital“ – war „das leere ‚Sein‘, nicht das volle und grüne ‚Leben‘ […] gewährleistet“, das ihm lediglich erlaubte, von sich zu sagen: „cogito, ergo sum, nicht aber vivo, ergo cogito“ (HL 10, KGW III/1, S. 325). Das vierte Buch, das mit diesen Worten beginnt, ist dem Sanctus Januarius geweiht – „ein specielles Denkmal“, wie Burckhardt schrieb, das Nietzsche „einem der letzten Winter im Süden“ gesetzt hatte,61 aus Dankbarkeit für die außerordentliche Milde, die ihm jener Genueser Januar bescherte: „Habt Ihr auch einen solchen ‚Frühling‘ wie wir? Die wahren ‚Wunder des heiligen Januarius!‘“62 Die Wendung und das Spiel mit den Worten Januar/ Sanctus Januarius ist vielleicht ein Widerhall der zahlreichen Anspielungen Stendhals auf den Saint Janvier/ den Heiligen Gennaro – den ‚heidnischen‘ Heiligen, den Heiligen der Lazzeroni, der in seiner halb tierhaften Körperlichkeit ganz der Gegenwart lebt, dieser Tyrann des Menschen des Südens („la sensation présente, ce tyran de l’homme du Midi“).63 Sein Glück – er genießt noch am Fuße eines Vulkans, da er nichts zu verlieren hat64 – ist das Glück eines ‚Barbaren‘, dessen unbewussten Bedingungen gegenüber der Mensch der Erkenntnis, der von einer Instinkt gewordenen passio nova erfasst ist, Widerwillen und Furcht empfindet: [U]nser Tr i e b z u r E r k e n n t n i s s ist zu stark, als dass wir noch das Glück ohne Erkenntniss oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! Die Unruhe des Entdeckens und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; – ja, vielleicht sind wir auch u n g l ü c k l i c h Liebende! Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen (M 429).
Die Metaphern Nietzsches, die sich um die Erkenntnis drehen, lehnen sich an Descartes und Stendhal an. Der Psychologe Stendhal ist für ihn 61 62 63 64
An Nietzsche, 13. September 1882, KGB III/2, S. 288. An Overbeck, 29. Januar 1882, KGB III/1, S. 163. Stendhal, Rome, Naples et Florence, S. 86. Vgl. ebd. Stendhal bezieht sich hier auf „une sottise“ von Montesquieu über die „lazzeroni“.
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ein später Erbe jenes Willens zu Klarheit, zur „einfachen, vernünftigen, mathematischen Erklärung“,65 der die analytische Leidenschaft ins Extrem treibt. Das Modell der Leidenschaft der Erkenntnis ist in der Tat die amour-passion, die Stendhal vor allem in De l’amour skizziert, einem Buch, das Nietzsche gut kannte.66 Der amour-passion liegt der Prozess der Kristallisation zugrunde, der das Leben färbt. Am Ende dieses Prozesses „fühlt man sich noch unglücklicher, sich für nichts mehr im Leben zu interessieren. Das traurigste und hoffnungsloseste Nichts folgt auf ein Leben, das zweifellos bewegt war, aber die ganze Natur unter einem neuen, leidenschaftlichen und interessanten Aspekt zeigte“.67 Auch das Bild des Don Juan der Erkenntnis, das Nietzsches Position am besten umschreibt, findet in der Charakterisierung jener Figur bei Stendhal einen zentralen Bezugspunkt. Nietzsche schreibt: „Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und Intriguen der Erkenntniss – bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntniss hinauf! – bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen übrig bleibt, als das absolut We h e t h u e n d e der Erkenntniss, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt“ (M 327). Dies bedeutet den Vorrang des Forschens (verbunden mit dem Abenteuer und dem Drang nach Erneuerung, die die neue ‚Methode‘ ausmachen) vor dem Resultat (es gibt keine Garantie dafür, dass das ‚Wahre‘ nicht lebensfeindlich ist) und vor dem Gegenstand (der dem ewigen Begehren gleichgültig ist). Stendhal charakterisiert Don Juan als denjenigen, der von Begierden getrieben ist, die von der kalten Wirklichkeit nur unzulänglich befriedigt werden. „Die Liebe eines Don Juan ist ein der Jagdleidenschaft ähnliches Gefühl, ein Tätigkeitsbedürfnis, das von immer neuen Gegenständen geweckt zu werden verlangt und das Talent unablässig in 65
66
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Stendhal, De l’amour (erstes Vorwort, 1826); vgl. FW 246: „Mathematik. – Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben“. Nietzsches Exemplar ist in der BN nicht mehr vorhanden. Marco Brusotti hat Nietzsches Lektüre dieses Textes zuerst in den Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 392–393, dann in seiner Monografie Die Leidenschaft der Erkenntnis, S. 290ff., rekonstruiert. Stendhal, De l’amour, Kap. XV (dt. Übers. S. 39).
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Zweifel zieht“. Im Alter ist Don Juan bitter und enttäuscht. Stendhal schreibt: „Man sieht, wie der alternde Don Juan die Schuld den Gegenständen seiner Übersättigung, aber niemals sich selbst beimisst. Man sieht ihn, wie es ihn, gepeinigt von dem Gift, das ihn verzehrt, bald hierhin, bald dorthin zieht und er beständig den Gegenstand wechselt. Aber welch glänzenden Anschein er sich auch geben mag, er wechselt doch nur seine Pein; er gibt sich einem stillen oder einem aufbrausenden Überdruss hin: das ist die einzige Wahl, die ihm bleibt“.68 In Nietzsches Augen ist sogar die Hölle als extremstes Abenteuer enttäuschend für den Verführer, wie alle Abenteuer enttäuschend sind sobald man sie kennt. Nietzsches Don Juan der Erkenntnis müsste „in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach einer Abendmahlzeit der Erkenntniss, die ihm nie mehr zu Theil wird! – denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen“ (M 327).
6. Descartes: Vernunft und Revolution Mitte der achtziger Jahre begegnet Nietzsche erneut Descartes. Er liest Saint-Ogans Essai sur l’influence française (1885), in dem Descartes als wichtigster Repräsentant des französischen Geistes herausgestellt wird. Die Schrift dieses heute kaum noch bekannten Historikers interessiert Nietzsche insofern, als er darin eine Beschreibung des ‚französischen Charakters‘ findet, die derjenigen Stendhals verwandt ist und auf das gängige Stereotyp einer Konfrontation mit dem deutschen Charakter verzichtet: „Das größte Verdienst Frankreichs hat wohl darin bestanden, den germanischen und romanischen Geist in gleichem Grade zu vereinen“.69 Vor allem Kapitel X (Le caractère national) scheint die direkte Quelle von Nietzsches Betrachtungen im Aphorismus 254 von Jenseits von Gut und Böse zu sein. Neben der „Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften“ und ihrer „alte[n] vielfache[n] 68 69
Stendhal, De L’amour, Kap. LIX (dt. Übers. S. 236 und 235). L. Saint-Ogan, Essai sur l’influence française, S. 155.
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m o r a l i s t i s c h e [ n ] Cultur“ besteht das dritte „Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit“ der Franzosen darin, dass in ihrem Wesen eine „Synthesis des Nordens und Südens gegeben [ist]“, die sie aufgeschlossen macht für die umfänglichen, übernationalen Geister: sie wissen „im Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben“. Bei Saint-Ogan wie bei Nietzsche finden wir denselben Hinweis auf die „température variable“, die „die Franzosen an zwei gegensätzlichen Charakteren teilhaben lässt […]. Nord und Süd würden sich abstoßen, wenn nicht Frankreich da wäre, um als Vermittler zu dienen und sie einander zu erklären“.70 Diesen Text Saint-Ogans liest Nietzsche genauer, er exzerpiert und kommentiert ihn in einigen Fragmenten von April/Juni 1885.71 Saint-Ogan geht es in seiner Untersuchung darum, die führende Rolle der französischen Kultur und Gesellschaft vom Mittelalter – „Im Mittelalter war Frankreich die Lehrmeisterin des Abendlandes und vermittelte diesem das Erbe der römischen Literatur“72 – über die absolute kulturelle Vormachtstellung im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts bis zur Aufstellung des für die Gegenwart und Zukunft relevanten Nationalitätenprinzips und der demokratischen Prinzipien aufzuzeigen. Nietzsche findet hier die Namen Abälard und Descartes miteinander verknüpft: Abälard war durch die Anwendung der Dialektik auf die Theologie der wesentliche Begründer der Philosophie des Mittelalters, so dass Frankreich sowohl die Scholastik im 12. Jahrhundert als auch, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die moderne Philosophie hervorgebracht hat, die die Scholastik zerstörte. Nur der Geist, der die gewöhnliche religiöse Lehre zur systematischen, rationalen Form der Scholastik erhoben hatte, konnte diese Form auch überwinden und die Philosophie im eigentlichen Sinn erschaffen. Descartes stand in der Logik von Abälard. Er hat keine andere Autorität anerkannt als die der Vernunft. Abälard hatte die Vernunft in die Autorität eingeführt. Beide sind Zweifelnde und Suchende; sie wollen möglichst viel verstehen und sich allein auf die Evidenz stützen: Das ist der gemeinsame Zug, die Beziehung, die sie durch den französischen Geist verbindet.73 70 71 72 73
Ebd., S. 98–99. Vgl. G. Campioni, Beiträge zur Quellenforschung (1992), S. 401f. L. Saint-Ogan, Essai sur l’influence francaise, S. VII. Ebd., S. 49.
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Nietzsche, Descartes und der französische Geist
Der Syllogismus und die Dialektik der Scholastiker waren eine unverzichtbare Schule der Verfeinerung des Denkens, die die französische Sprache auf die Höhe ihrer stilistischen Ausdruckskraft und Logik im Satzbau führte: „Mit seiner methodischen Anwendung der Dialektik war Abälard mehr als ein Vorläufer von Descartes: er hat eine erhebliche Wirkung auf die Bildung unserer Sprache ausgeübt“.74 Die für die Franzosen kennzeichnende Klarheit und Genauigkeit des sprachlichen Ausdrucks verdankte sich der Scholastik, behauptet SaintOgan. Nietzsche nimmt diesen Gedanken auf und variiert ihn in verschiedenen Fragmenten: „A b ä l a r d wollte in die kirchliche Autorität Vernunft bringen, schließlich fand D e s c a r t e s , daß a l l e Autorität nur in der Vernunft sei“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 34[35]). Dabei legt er besonderen Wert auf den europäischen Geist, der unter dem Druck der kirchlichen Dogmen und der Intoleranz geschmeidig geworden sei: „Wie gut nimmt sich Leibnitz und Abälard, Montaigne, Descartes und Pascal aus! Die geschmeidige Verwegenheit solcher Geister zu sehn ist ein Genuß, welchen man der Kirche verdankt. – Der intellektuelle Druck der Kirche ist wesentlich die unbeugsame Strenge, vermöge deren die Begriffe und Werthschätzungen als f e s t g e s t e l l t , als aeternae behandelt werden. […] Wenn es Schranken gab, so waren sie um einen ungeheuren Raum gespannt, Dank Plato: und man konnte sich darin bewegen wie Bach in den Formen des Contrapunkts, s e h r f r e i “ (ebd., 34[92]). Es ist das Prinzip der Regel und Ordnung, das Freiheit und Leichtigkeit erlaubt, der „Tanz in Ketten“, der besonders für das französische 17. Jahrhundert charakteristisch ist. Bei Nietzsche finden wir in aestheticis eine permanente Hochschätzung des Handwerklichen, der bewussten Konstruktion, die das Chaos der Leidenschaften und Instinkte regelt und ordnet: der Klassizismus des esprit latin. Dabei ist es gerade der klassische Geist, der verallgemeinert und zu einem abstrakten Prinzip sozialer Führung erhoben, in der Aufklärung, bei Rousseau und bei den revolutionären Jakobinern, zu desaströsen Ergebnissen geführt hat. „Man müsste 74
Ebd., S. 74.
Descartes: Vernunft und Revolution
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denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich Grossvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autorität zuerkannte …“, schreibt Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (Aph. 191), insofern er sich dem Gewicht der Tradition (der Instinkte) widersetzte. Um zu herrschen, muss in erster Linie den Instinkten als einer verkörperten Vernunft, als Ausdruck einer erlangten Sicherheit, als Resultat der realen Geschichte, die im Lauf der Zeit eine bestimmte Konfiguration des Menschen erschaffen hat, Rechnung getragen werden. Stattdessen „glaubt man [seit der Französischen Revolution] an die I m p r o v i s a t i o n v o n St a a t s v e r h ä l t n i s s e n : man geht weiter“ (FW 40, Vorstufe). „Der Mensch sich immer wieder in Lagen versetzend, für die er noch keinen Instinkt hat: also zeitweilig experimentirend und auf Grund von ‚Schlüssen‘ handelnd, nicht von Instinkten. ‚Rationalistische‘ Ereignisse z.B. die französische Revolution“ (Nachlass 1887, KGW VIII/1, 8[4], S. 345). Descartes als „Grossvater der Revolution“ ist ein überraschendes Bild, das jedoch ganz offenkundig auf Hippolyte Taine, einen konstanten Gesprächspartner Nietzsches, zurückgeht.75 Taine kritisiert den klassisch-abstrakten Geist der Jakobiner, der keine Rücksicht auf den konkreten Menschen und seine in der Religion verkörperte Tradition und ihre Kraft nimmt („une forme aveugle de la raison“). In dieser Form findet die Kritik der ‚klassischen Vernunft‘ und des Jakobinismus nach 1870 in der bürgerlichen Kultur Europas weite Verbreitung. Taine beschreibt sein ganzes Werk über Les Origines de la France contemporaine als detaillierte Analyse des ‚pathogenen Keims‘ des Klassizismus, der für das Verständnis der Prinzipien der Revolution von 1789 und ihrer unheilvollen Folgen wesentlich sei: „Im Grunde wurde Frankreich aufgrund eines falschen Prinzips zerschlagen und neu aufgebaut, in einem engstirnigen, oberflächlichen Geiste: dem klassischen Geist. Von der ersten bis zur letzten Zeile ist dieser Geist der einzige und wesentliche Untersuchungsgegenstand meines Buches“.76 Aber schon in der Histoire de la littérature anglaise, die 75 76
Vgl. unten, Kap. IV. H. Taine, Brief an G. Monod, 6. Juli 1881, in: Sa vie et sa correspondance, Bd. IV, S. 124.
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Nietzsche, Descartes und der französische Geist
Nietzsche erstmals 1879 in deutscher Übersetzung las, finden wir eine von der Mathematik ausgehende radikale Kritik des Hobbes’schen Willens, „die Geisteswissenschaften [zu] reformieren“. Hobbes geht noch weiter als Descartes, ist aber vom selben Geist geleitet, der auch das klassische Zeitalter leitete, wonach: nicht die Unabhängigkeit der Inspiration und des Genius, wie zur Zeit der Renaissance, nicht die Reife der Experimentalmethode und der Gesammtanschauung, durch welche sich unsre Zeit auszeichnet, wohl aber die Unabhängigkeit der denkenden Vernunft, welche unter Beseitigung der Phantasie, unter Abschüttelung des Joches der Tradition und unter mangelhafter Verwendung der Erfahrung nur die Logik als Königin anerkennt, in der Mathematik ihr Vorbild, im Vernunftschluß ihr Werkzeug, in der feinen, gebildeten Gesellschaft ihr Publikum findet, in der Durchschnittswahrheit ihre Anwendung, in dem abstracten Menschen ihren Stoff, in der Begriffslehre ihre Formel, – ihren Ruhm und ihre Verurtheilung, ihren Triumph und ihr Ende in der französischen Revolution.77
Für Taine ist diese Vernunft, die die Redekunst (den „oratorischen, regelmäßigen, korrekten, aus allgemeinen Ausdrücken und Nebenideen zusammengesetzten Stil“78), das Theater und die klassische Predigt und zu Beginn wahre Meisterwerke hervorgebracht hat, am Ende verantwortlich für die Menschenrechtserklärung und den Contrat social. Im dritten Buch des Ancien régime mit dem Titel L’esprit et la doctrine sieht Taine in Rousseau einen unzufriedenen und verrückten Romantiker, der „nicht die Dinge, sondern seine Träume sah“79 und von einer mathematischen Vorstellung des Menschen ausging. „Wie es der klassische Geist und die herrschende Ideologie erfordern, errichtet man ein politisches System nach mathematischem Muster“.80 Der klassische Geist verachtet die Erfahrung und den konkreten Menschen – „der klassische Stil [ist] außer Stande, die unendlichen und mannigfachen Details der Erfahrung genau wiederzugeben“81 – 77 78
79 80 81
H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. II, S. 26–27. H. Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 1, S. 187. Von Nietzsche in seinem Exemplar unterstrichen. Ebd., S. 227. Ebd., S. 239. Ebd., S. 194.
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und will vor allem nicht sehen, dass die menschliche Vernunft im Vergleich zu „anderen Kräften“, die den Menschen leiten, eine absolut untergeordnete Rolle spielt. Die Vernunft ist „eine langsam erworbene, schwächliche Zusammensetzung […] der Mensch ist von Natur ein Narr, wie der Körper von Natur krank ist; die Gesundheit unseres Geistes, wie die unserer Glieder, ist nur ein häufig vorkommender schöner Zufall“ bei höheren Geistern.82 „Ist die Vernunft im Menschen lahm, so ist sie in der Menschheit selten“ und spielt nie die Hauptrolle: „so ist sie weit entfernt, die erste Rolle zu spielen; diese gebührt anderen Mächten, die mit uns geboren werden und als Urbewohner die Wohnung beibehalten“.83 Der Mensch ist im Wesentlichen ein Tier, „er enthält einen Kern von Rohheit, Wildheit, heftigen, zerstörungslustigen Trieben“.84 In normalen Zeiten treten die zerstörerischen Leidenschaften nicht zutage, daher die Illusion, dass sie „besänftigt oder ertödtet [sind]; man glaubt, daß die aufgezwungene Disciplin zur Natur geworden sei und daß sie – gewohnt zwischen Dämmen dahinzufließen – in ihrem Bette bleiben werden. In Wahrheit aber bleiben sie darin nur, weil sie nicht anders können, wie jede rohe Macht, wie ein Strom oder ein Fluß; der Damm zwingt sie durch seinen Widerstand zur Mäßigung“. Recht, Gesetze und Gerichte sind notwendige Gewaltmechanismen, um die wilden Kräfte der ‚Bestie Mensch‘ zu unterdrücken und zu kontrollieren: „aber am Ende sieht doch aus dem ganzen Räderwerk der wirksame Gensdarm hervor, der gegen uns – d.h. gegen den Wilden, den Räuber und den Narren, die in uns, sei es nun gefesselt oder schlummernd, latent sind – bewaffnet ist“.85 Taine gesteht Descartes und seinem Zeitalter die Achtung der Tradition und des Glaubens zu, deren Wahrheiten – angesichts des systematischen Zweifels – wie in einem Heiligtum separiert werden. „[D]ie Dogmen, welche sie entfernt zu haben glauben, bleiben auch in ihrem Geiste wirksam und latent, und machen, ohne daß sie es recht merken, aus ihrer Philosophie eine Vorbereitung 82 83 84 85
Ebd., S. 245–246. Ebd., S. 246–247. Ebd., S. 248. Ebd., S. 249.
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Nietzsche, Descartes und der französische Geist
zum Christenthum oder eine Bestätigung desselben“. Die Vernunft verbündet sich mit der Tradition: „weit entfernt zu zerstören, stellt sie her“.86 Taine erblickt dennoch in der abstrakten Vernunft ein tödliches Prinzip des Untergangs und versucht zu beweisen, dass „Boileau, Descartes, Corneille, Racine etc. die unmittelbaren Vorfahren von Saint-Just und Robespierre sind“.87 Nietzsche verfolgt diese Themen aufmerksam. Er liest und annotiert die im selben Jahr wie das Original erschienene deutsche Übersetzung des Manuel du démagogue (Paris 1884) von Raoul Frary,88 einem erfolgreichen Publizisten, der sich auf unterschiedlichste Weise mit den Folgen des Deutsch-Französischen Krieges auseinandergesetzt hat. In dieser Schrift findet er Themen wie die Verbindung von ‚Demokratie‘ mit rancune und envie sowie das Rachebedürfnis, das sich als Gerechtigkeit ausgibt. Im dritten Kapitel, das der revolutionären Tradition gewidmet ist, findet er das, was Frary als den größten Fehler des 18. Jahrhunderts, insbesondere Rousseaus bezeichnet: das Studium des Menschen als abstraktes Konstrukt anstatt des realen Menschen. Descartes, der von Frary unnachsichtig und noch radikaler als Taine beurteilt wird – den er einen „kühne[n] Neuerer, […] gründliche[n] Philosoph[en], […] geistvolle[n] Mathematiker“ nennt –, habe der französischen Wissenschaft keinerlei fruchtbaren Anstoß gegeben, er habe vielmehr die Tradition und die Dogmen zerstört, um zu einer reinen, deduktiven Vernunft zu gelangen. Frary kommt zu dem entschiedenen Schluss: „Die Grundlehren der französischen Revolution sind Descartes’ Lehre auf die Politik angewendet“.89
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88 89
Ebd., S. 209. H. Taine, Brief an Emil Boutmy, 31. Juli 1874, in: Sa vie et sa correspondance, Bd. III, S. 267. R. Frary, Handbuch des Demagogen. Ebd., S. 59. Zum Beleg der Verbreitung dieser Theorie in gewissen Kulturkreisen sei erwähnt, dass Paul Bourget sie in Le Disciple Adrien Sixte, seiner fiktiven Romanfigur, einem deterministischen und monistischen Philosophen und Psychologen zuschreibt, der zahlreiche Züge von Taine besitzt: „Die Französische Revolution geht insgesamt aus einer falschen Auffassung des Menschen
Klassische Vernunft und die „moralischen Monstra“
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7. Das Gleichgewicht der klassischen Vernunft und die „moralischen Monstra“ Nietzsche schätzt Descartes bis zuletzt, in Ecce homo, wo er die Rechtschaffenheit des französischen Philosophen dem deutschen Mangel an geistiger Reinheit gegenüberstellt und seine herrschaftliche Vernunft mit der plebejischen und chaotischen Rousseaus vergleicht. Nietzsches Aufzeichnungen vom Herbst 1887 unterstreichen diese Auffassung mit Nachdruck. In dieser Zeit sammelt er Material zur Beschreibung der modernen Seele in all ihren Aspekten. Sein Ziel ist ein „Gesamtüberblick über unser Jahrhundert, über die ganze Modernität, über die e r r e i c h t e Civilisation“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[177]). Zu diesem Zweck stellt er „die drei Jahrhunderte“ mit ihrer unterschiedlichen Sensibilität nebeneinander, die er emblematisch mit den Namen Descartes (Aristokratism), Rousseau (Feminism) und Schopenhauer (Animalism) verbindet.90 Das 17. Jahrhundert Descartes’ ist gekennzeichnet durch die „Herrschaft der Ve r n u n f t , Zeugniß von der Souverainetät des Willens“, das 18. Jahrhundert durch die „Herrschaft des G e f ü h l s , Zeugniß von der Souverainetät der S i n n e (verlogen)“. Das 19. Jahrhundert schließlich durch die „Herrschaft der B e g i e r d e , Zeugniß von der Souverainetät der Animalität (redlicher, aber düster)“. Für Nietzsche ist die Überlegenheit von Descartes’ Jahrhundert offenkundig: „Das 17. Jahrhundert ist a r i s t o k r a t i s c h , ordnend, hochmüthig gegen das Animalische, streng gegen das Herz, ‚ungemüthlich‘, sogar ohne Gemüth, ‚undeutsch‘, dem Burlesken und dem Natürlichen abhold, generalisirend und souverain gegen Vergangenheit: denn es glaubt an sich. Viel Raubthier au fond, viel asketische Gewöhnung, um Herr zu bleiben. Das willenss t a r k e Jahrhundert; auch das der starken Lei-
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hervor, die bei der kartesianischen Philosophie und dem Discours de la Méthode ihren Anfang nimmt“ (P. Bourget, Le Disciple, S. 61). Der Vergleich der drei Jahrhunderte war ein gängiges Thema der literarischen Kritik jener Zeit; vgl. z.B. P. Albert, La littérature francaise au dix-neuvième siècle, S. 4f.: „Jede Epoche hat ihre dominante Philosophie. Im 19. Jahrhundert endet der Eklektizismus und der Positivismus gewinnt; im 18. Jahrhundert herrschte der Sensualismus, im 17. der Kartesianismus“.
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Nietzsche, Descartes und der französische Geist
denschaft“ (ebd., 9[178]). In diesem Stück wird das 17. Jahrhundert als das „Jahrhundert des Willens“ beschrieben, das sich auszeichnet durch die Fähigkeit, das Chaos und die Widersprüche zu ordnen, ohne sie aufzulösen und ohne die Vielheit zu vereinfachen. Eine Gesellschaft zeichne sich aus durch die Größe, auch durch das Furchtbare der Leidenschaften, die sie zulassen kann, ohne zugrunde zu gehen, durch ihre Fähigkeit, sie ‚in Dienst zu nehmen‘ (ebd., 9[138]): „die Herrschaft über die Leidenschaften, n i c h t deren Schwächung und Ausrottung! je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um so viel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden“ (ebd., 9[139]). Diese Auffassung des Willens steht im Gegensatz zu derjenigen Schopenhauers: „Schopenhauers Grundmißverständniß des W i l l e n s (wie als ob Begierde, Instinkt, Trieb das We s e n t l i c h e am Willen sei) ist typisch: […] Großes Symptom der E r m ü d u n g , oder der S c h w ä c h e des W i l l e n s : denn dieser ist ganz eigentlich das, was die Begierde als Herr behandelt, ihr Weg und Maaß weist“ (ebd., 9[169]). Sicher ist Schopenhauers Position Ausdruck eines Jahrhunderts, das im Vergleich zu dem vorausgegangenen „a n i m a l i s c h e r “, „realistischer“, „n a t ü r l i c h e r “ ist, „aber willensschwach, aber traurig und dunkel-begehrlich, aber fatalistisch. Weder vor der ‚Vernunft‘ noch vor dem ‚Herzen‘ in Scheu und Hochachtung; tief überzeugt von der Herrschaft der Begierde“ (ebd., 9[178]). Die moderne Seele, so voller Zweifel an sich und dem eigenen Willen, gehört ganz und gar zur décadence, die kein Vertrauen in die Zukunft mehr hat. Die Erschöpfung der Lebensenergie setzt die ‚Velleität‘ an die Stelle der bildenden Kraft, le désir an die Stelle des Willens.91 So vollzieht sich „die Reduktion des Willens auf Reflexbewegungen, die Leugnung des Willens als ‚wirkende Ursache‘; endlich – eine wirkliche Umtaufung: man sieht so wenig Wille, daß das Wort f r e i wird, um etwas Anderes zu bezeichnen. Genau dies ist bei Schopenhauer der Fall“ (ebd.). 91
Vgl. dazu Nietzsches Kritik an Flaubert: „Die Psychologie dieser Herren Flaubert ist in summa falsch: sie sehen immer nur die Außen-Welt wirken und das ego geformt (ganz wie Taine?) – sie kennen nur die Willens-Schwachen, wo désir an Stelle des Willens steht“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[182]).
Klassische Vernunft und die „moralischen Monstra“
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Nietzsche übt dieselbe Kritik an Schopenhauers Willensauffassung wie James Sully an der pessimistischen, nichtwissenschaftlichen Interpretation des Willens;92 sie übersehe die komplexe Natur des Phänomens und verwechsle den Willen mit dem désir. Der Wille ist für Schopenhauer und Hartmann „ein geheimnisvolles Wesen oder Vermögen, vergleichbar den wolkigen Vorstellungen der Scholastiker“,93 ein Substanz-Wille, „eine unbrauchbare und unwissenschaftliche Hypothese“. Vor allem ist das, was die Philosophen des Pessimismus Willen nennen, lediglich „désir déréglé, illimité, un désir sans frein“, das es vom „Willensakt“ zu unterscheiden gilt.94 Wie jeder andere instinktive Trieb ist in einer gesunden Natur das Begehren selbst dem Willensakt, dem „Willen“ unterstellt. Auch in diesen späten Ausführungen Nietzsches zum Willen hallt das Echo der neuen psychologischen und philosophischen Theorien der Franzosen wider, die nicht nur dem dynamischen Charakter der Wirklichkeit, sondern auch ihrer Komplexität gerecht werden. Durch diese direkte und indirekte Lektüre wurde Nietzsche auch mit den verschiedenen Schichten des Ich konfrontiert, mit der genealogischen Konstruktion des Subjekts, auf der Suche nach einem „neuen Mittelpunkt“. Die psychologische Realität ist Vielheit. Ihre starke Dynamik tendiert nicht zu einer spontanen Harmonie zwischen den Teilen, vielmehr ist diese das Resultat der Hegemonie eines Teiles über die andern. Nietzsche konnte daher schließen, dass der Wille seinen Ursprung in biologischen Vorgängen hat, die sich im tiefsten Inneren unserer Gewebe abspielen. In diesem Sinne stimmt es, dass der Wille wir selbst sind. Nietzsches Kritik am Willen als einem Vermögen ist radikal – „‚Wille‘ – eine falsche Verdinglichung“ (Nachlass 1885–1886, KGW VIII/1, 1[62]), zumal ihm der Wille als „activité raisonnable“, wie Ribot schrieb, „als Krönung und Endpunkt einer Entwicklung“ erscheint, „als Resultat einer großen Anzahl von Ten92
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Vgl. Kapitel IX von J. Sully, Le pessimisme (histoire et critique), S. 194–223. Vor allem die Seiten 194–206, die von dem Interpretationsfehler der Pessimisten, der Verwechslung des „Willens“ mit den „instinktiven Trieben“ handeln, weisen in dem Exemplar der Bibliothek Nietzsches zahlreiche Lesespuren auf. Ebd., S. 195. Ebd., S. 201.
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Nietzsche, Descartes und der französische Geist
denzen, die ein hierarchisches Prinzip verfolgen“.95 Bei dem Physiologen Charles Richet (Essai de psychologie générale), einem Mitarbeiter von Ribots Zeitschrift, dessen Bücher in der nachgelassenen Bibliothek Nietzsches stehen, fand er die Definition des Willens als puissance de direction, die nicht mit dem Bewusstsein verwechselt werden darf, nicht einmal mit einer liberté de direction.96 „Dieses enorme Geflecht aus Bildern, Erinnerungen, Gefühlen, Begierden und Wahrnehmungen ist uns unbekannt: Allein das Ergebnis steht vor uns, das uns diese oder jene Aufmerksamkeit gebietet, uns zu dieser oder jener Handlung bewegt“.97 Der Wille, so die französischen Psychologen, ist nichts Naturhaftes, sonders das Ergebnis von Kunst, Bildung und Erfahrung, fruit d’une conquête. Er ist als koordinierende Kraft Ausdruck der Gesundheit und Energie des Leibes. Auf diese Weise bringt die ordnende Kraft des Willens und der Vernunft, die das 17. Jahrhundert dominiert, die überlegene Vitalität dieses Jahrhunderts zum Ausdruck. Nietzsche ist sich bewusst, dass die helle und ausgewogene Klassizität dieses Jahrhunderts auf den dunkelsten Instanzen ruhte: „Das 17. Jahrhundert leidet a m Me n s c h e n wie an einer Su m m e v o n W i d e r s p r ü c h e n , ‚l’amas de contradictions‘, der wir sind, sucht den Menschen zu entdecken, zu o r d n e n , auszugraben: während das 18. Jahrhundert zu vergessen sucht, was man von der Natur des Menschen weiß, um ihn an seine Utopie anzupassen“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[183]). Hier begegnen wir noch einmal dem Versuch, den Ausgangspunkt einer Kultur in paradigmatischen Gestalten zu fassen: Die Gegenüberstellung von Rousseau und Voltaire geschieht auf derselben Ebene wie diejenige von Rousseau und Descartes. Eben weil Voltaire mit dem aristokratischen Geist des 17. Jahrhunderts verbunden ist und eine ‚klassische‘ Aufklärung repräsentiert, besitzt er die Züge des freien Geistes und setzt die humanistische Tradition von Petrarca und Erasmus fort (MA 26). Als Künstler ist er ein leichter und maßvoller Geist im Gegensatz zur Barbarei der romantischen Entfesselung des Gefühls und der Leidenschaft. Darin steht er 95 96 97
Th. Ribot, Les maladies de la volonté, S. 74. Ch. Richet, Essai de psychologie générale, S. 169. Ebd., S. 171.
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den Griechen nahe (MA 221). Einer solchen durch die Figur Voltaires gekennzeichneten Aufklärung stellt Nietzsche seit Menschliches, Allzumenschliches ausdrücklich die Figur Rousseaus gegenüber, der für die Entartung des Geistes der Aufklärung in ‚fanatischer‘ und moralischer Richtung steht. Der erste ist ebenso aristokratisch und ‚frei‘, ein Vorbild an Toleranz, wie der zweite ‚plebejisch‘ und intolerant ist, vom Sentimentalismus verdorben, ein Ausdruck der romantischen Schwäche („R o m a n t i k à l a R o u s s e a u “); Voltaire dagegen „noch die h u m a n i t à im Sinne der Renaissance begreifend, insgleichen die virtù (als ‚hohe Cultur‘)“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[184]). Rousseau erweist sich als Gegensatz zur humanistischen Tradition, zur Tradition der Renaissance, und zur klassischen geordneten Welt Descartes’ („die Narrheit zur Größe gerechnet“, „das souveräne Recht der Passion“, „die monstruose Erweiterung des ‚ich‘“ (ebd.). Sein moralischer Fanatismus (die ‚Moral-Tarantel‘) rückt ihn in die Nähe Luthers. Robespierre ist sein „Jünger“ (M, Vorrede 3) und der Wahnsinn der Revolution geht auf ihn zurück, zumindest, so Nietzsche gelegentlich, auf den „mythischen Rousseau“ und den Eindruck, den seine „mythisch ausgelegten Schriften“ machten (WS 216). Inzwischen ist bekannt, wie vieles diese Texte aus dem Herbst 1887 mit der Gegenüberstellung der Jahrhunderte und ihren exemplarischen Vertretern (insbesondere Rousseau-Voltaire) der Lektüre zweier Artikel von Ferdinand Brunetière (Descartes et la littérature und Classiques et romantiques) verdanken,98 die Nietzsche in der dritten Folge der Études critiques von 1887 besaß. Von Brunetière, der damals am Beginn seiner gewaltigen Karriere stand und den Nietzsche an keiner Stelle, weder in seinen Werken noch in seinen Briefen erwähnt hat, stammen wörtliche Exzerpte, die von eigenen Reflexionen durchzogen sind.99 Gerade die Gegenüberstellung klassisch/romantisch, und 98
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F. Brunetière, Classiques et romantiques, in: Revue des deux mondes, 15. Januar 1883, S. 412–432, sowie in: Études critiques sur l’histoire de la littérature francaise, S. 291ff. Hier ist noch einmal zu betonen, wie stark diese Texte in Nietzsches sogenanntes Hauptwerk, den Willen zur Macht, eingeflossen sind. Die wörtlichen Übereinstimmungen mit Brunetière sind nachgewiesen in E. Kuhn, Cultur, Civilisation, die Zweideutigkeit des ‚Modernen‘. Es ist erstaunlich, dass auch
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Nietzsche, Descartes und der französische Geist
folglich diejenige des 17. und 18. Jahrhunderts, steht im Mittelpunkt der Ausführungen von Brunetière, Vertreter einer ‚traditionalistischen‘ Kritik, dessen erstes Buch Le roman naturaliste Nietzsche ebenfalls für seine Naturalismus-Kritik zur Kenntnis genommen hat. Das 17. Jahrhundert, das für Brunetière die Vollendung des Klassizismus verkörpert, hat „eine harmonische Entfaltung aller Begabungen“ zum Ideal. Weder darf die Vorstellungskraft den Verstand besiegen, noch darf der Verstand die Vorstellungskraft ersticken […]. Alle unsere Begabungen wurden uns gegeben, damit wir uns ihrer bedienen. Man muss ein ‚Maß‘, eine ‚rechte Mitte‘ zwischen ihnen finden“.100 Das klassische Gleichgewicht wird für ihn, und in seiner Folge auch für Nietzsche, auf stoischem Weg erreicht, durch einen Sieg des Willens über die Instinkte und Begierden. In dieser Abhandlung macht Brunetière die Harmonie zum eigentlichen Kriterium, zu einer positiven Norm für die Definition des Klassischen im Gegensatz zum Romantischen. Für Brunetière, der stark von Taine beeinflusst ist, schließt im klassischen Stil das Gleichgewicht der Gaben, die zur Erschaffung eines Kunstwerks nötig sind, die Präsenz einer organisierenden faculté maîtresse aus: „Es gibt Künstler, bei denen eine Gabe die anderen sehr klar überwiegt; andere wiederum besitzen oder erreichen jenes Gleichgewicht, jene ‚Ausgewogenheit aller Gaben‘, die allein aus dem Werk ein vollkommenes Werk machen kann“.101 Im Fragment 9[166] (Nachlass 1887, KGW VIII/2) nimmt Nietzsche Brunetières Definition in leicht veränderter Form auf: „Aesthetica. Um Classiker zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so daß sie mit einander unter Einem Joche gehn“. Nietzsche hält eher, im Einklang mit Taine, die Notwendigkeit einer dominanten Begabung aufrecht („unter Einem Joche“), die
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die ersten Nietzsche-Leser, für die Brunetière eine Autorität auf dem Feld der Literaturkritik war, nicht auf die zahlreichen wörtlichen Entsprechungen mit den Pseudoaphorismen des Willens zur Macht hingewiesen haben. F. Brunetière, Le Mal du siècle, S. 460. E. Caramaschi, Critiques scientistes et critiques impressionistes, S. 50. Vgl. zu diesen Themen vor allem den Beitrag von Ch. Piazzesi, Nietzsche lettore di Pascal, S. 169ff. Piazzesi arbeitet den bedeutenden Einfluss von Ferdinand Brunetière auf die Pascal-Interpretation des späten Nietzsche heraus.
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in der Lage ist, die Form zu gestalten. Manchmal spricht er von der faculté maîtresse, manchmal von dem „dominirenden Instinkt“.102 Die Betonung einer ordnenden Kraft, die sich gegenüber den konkurrierenden Vielheiten durchsetzt, lässt, wie von Brunetière beschrieben, den Weg zu einer bewegteren Wirklichkeit offen, die das von der moralischen Tradition getragene klassische Gleichgewicht bricht, das Ordnung und mediocritas bedeutet: „Ob nicht die moralischen Monstra nothwendig R o m a n t i k e r sein müssen, in Wort und That? Ein solches Übergewicht Eines Zuges über die anderen (wie beim moralischen Monstrum) steht eben der klassischen Macht im Gleichgewicht feindlich entgegen: gesetzt, man hätte diese Höhe, und wäre trotzdem Classiker, so dürfte dreist geschlossen werden, man besitze auch die Immoralität auf gleicher Höhe“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[166]). Dieser Exkurs über Nietzsche als Descartes-Leser oder besser als einer, der in den verschiedensten Lektüren auf den Namen Descartes reagiert und der dennoch, wie Heidegger betont, zu einem grundlegenden Verständnis seines Autors in der Lage ist, kann als Beitrag zu einem ‚anderen Descartes-Bild‘103 gelesen werden, aber mehr noch vielleicht zu einem anderen Nietzsche-Bild.
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Nietzsche verwendet den Terminus „dominirender Instinkt“ an mehreren Stellen. Er übersetzt und interpretiert damit den Begriff „faculté maîtresse“, seit dem Vorwort zum Essai sur Tite Live (1856) eine zentrale Kategorie bei Taine, die zur Bezeichnung des vorherrschenden Charakterzugs einer Person oder einer Gruppe dient, desjenigen Zuges also, der die Komplexität des Kräftefeldes zu ordnen und zu erklären vermag. Vgl. auch die von Nietzsche zitierte Taine-Stelle über Napoleon, wo der Terminus „faculté maîtresse“ vorkommt (Nachlass 1886–1887, KGW VIII/1, 5[91]). Auf diesem und anderen, analogen Begriffen wie „conception maîtresse“ beruht die gesamte kritische Produktion Taines, auf die Nietzsche sich bezieht. Zum Begriff der „faculté maîtresse“ vgl. J. T. Nordmann, Taine et la critique scientifique, S. 155ff., und R. Pozzi, Hippolyte Taine, S. 56ff. Auch Bourget benutzt diese Kategorie mehrmals, zum Teil unter direkter Bezugnahme auf Taine; vgl. P. Bourget, Essais, S. 196 (dt. Übers. S. 169). Zu den Anfängen der Descartes-Rezeption vgl. die exemplarische Abhandlung von G. Belgioioso, La variata immagine di Descartes.
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Der Mythos Jesu von Strauss bis Renan
II. Der „deva“ der Dialogues philosophiques und Nietzsches Übermensch. Renan als „Antipode“. Les dieux sont une injure à Dieu. Dieu sera un jour une injure au divin. Jouissons du monde tel qu’il est fait. Ce n’est pas une œuvre sérieuse, c’est une farce, l’œuvre d’un démiurge jovial. La gaieté est la seule théologie de cette grande farce. Ernest Renan
1. Der Mythos Jesu von Strauss bis Renan: die Auffassung Wagners und des jungen Nietzsche Das Verschwinden der Kategorie des „wundersamen“ Genies ist Teil jener Erkenntnismethoden und -wege, welche auf den esprit français und den ‚Rationalisten‘ Descartes zurückgehen.1 Nietzsche traf seine Wahl gegen die falsche Unmittelbarkeit und Einheit der Kategorie „Genie“ mit Hilfe französischer Quellen und wies nach, dass es sich lediglich um ein Trugbild handelte, ein mythisches Konstrukt, ein Produkt romantischer Schwäche. Die menschlichen Tätigkeiten, die der Erkenntnis wie die des Genies, schrieb er, sind keine Wunder. Der Sinn von Nietzsches Weg, der immer mehr in Richtung Sezierung der Moderne geht, erschließt sich erst, wie wir gesehen haben, wenn man die Lektüren von Wagner, Burckhardt und Taine berücksichtigt. Vor allem zum Thema Mythos setzt sich Nietzsche eingehend mit Wagner und Renan auseinander, um sich nach und nach von beiden zu distanzieren, bis er beide schließlich als seine ‚Antipoden‘ betrachtet. Beide, so sein Urteil, haben den Mythos extrem radikalisiert. 1
Vgl. oben, Kap. I.
66 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Renan hat in seinem Modell einer Aristokratie der savants altüberlieferte religiöse Werte und bewährte Herrschaftsstile in moderner Form wiederbelebt. In diesem Modell lebt der „Schatten Gottes“ weiter: „Wir leben von dem Schatten eines Schattens“. Mehrmals wiederholt Renan diese wehmütigen, verzweifelten Worte auch im Vorwort zu den Philosophischen Dialogen.2 Renans Ideal entsteht aus einem Sicherheitsbedürfnis angesichts der „Karawanserei“ der Großstadt, „in welcher die Eindrücke des Lebens tausend verschiedenartige und pikante Formen annehmen“,3 angesichts der auflösenden Kräfte einer Stadt wie Paris, in der die Einheit der Person fortwährend durch das „prestissimo“ der Stimuli gefährdet wird. Wagner hingegen betont die metaphysischen und ‚wundersamen‘ Aspekte des Künstler-Genies, das mit wundertätigen Fähigkeiten ausgestattet sei. Der Musiker vereint in dem Artisten-Genie auch die wundertätigen Fähigkeiten des Heiligen: die Erlösung, die das Wunder-Genie bewirkt, betrifft nicht nur das Individuum (wie noch bei Schopenhauer), sondern die ganze Gemeinschaft.
2
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E. Renan, Philosophische Dialoge, S. XVIII. Vgl. auch: Discours et conférences, OC I, S. 786. Nietzsche greift den Ausdruck in der Fröhlichen Wissenschaft (Aph. 109 und 343) auf. Die Dialogues philosophiques sind im Mai 1876 bei Calmann-Lévy als „wichtigster Teil“ der Dialogues et Fragments philosophiques (S. XXI-334) erschienen. Die Dialogues umfassen neben dem Vorwort die S. 1–149. Die Edition blieb in den folgenden Auflagen unverändert. 1877 erschien in Leipzig die deutsche Übers. Philosophische Dialoge und Fragmente, die Nietzsche besaß und nach der im Folgenden zitiert wird. Die Dialogues philosophiques sind Teil von Band I der Œuvres Complètes de Ernest Renan, S. 545–632. Die Edition der Œuvres Complètes (10 Bände) erschien 1947 bis 1961. Die Verweise auf Renan beziehen sich auf diese Edition, mit der Abkürzung OC und der Angabe des Bandes in römischen Ziffern. 1992 erschien: E. Renan, Dialogues philosophiques, kritische Edition, hg. von Laudyce Rétat (im Folgenden: Dialogues, Ed. Rétat). Der Band enthält auch die Transkription der Manuskript-Fragmente 72–379, die sich auf die Dialogues beziehen (Bibliothèque nationale, Papiers Renan, NAF 14194, S. 29–67), sowie die Varianten des Druckmanuskripts und die folgenden Fahnenkorrekturen (S. 163–172). P. Bourget, Essais, S. 74 (dt. Übers. S. 64).
Der Mythos Jesu von Strauss bis Renan
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Renan war neben Balzac der einzige, den Wagner in seiner undifferenzierten und blinden Abneigung gegenüber der französischen Kultur gelten ließ, die nach 1870 immer schärfere Züge annahm. „Paris würde freilich ein großer Bazar für die Welt bleiben, aber wir müßten auch nicht vergessen, daß es ein Franzose, Renan, war, welcher das beste Buch über die Dinge, welche uns interessierten, geschrieben“.4 Es war Nietzsche, der Cosima Wagner 1873 Saint Paul 5 besorgt hatte. Von da an las und kommentierte Wagner, wie Cosimas Tagebücher bezeugen, die Origines mit anhaltender Kontinuität. Man muss jedoch präzisierend hinzufügen, dass Wagner hauptsächlich an dem Religionshistoriker Renan interessiert war, der im Urchristentum eine politische und gesellschaftliche Parabel seiner Zeit erblickte, und nicht an dem Ideologen Renan, der in den philosophischen Dramen zu Wort kommt. Wagner, der sich zu sarkastischen und vulgären Exzessen gegenüber den besiegten Franzosen hinreißen ließ – etwa zu dem ‚Lustspiel in antiker Manier‘ Eine Kapitulation –, fand die philosophischen Ergüsse von Renans Caliban „recht kindisch“.6 Dies rührt gewiss auch daher, dass Renans Drama sich als Weiterführung von Shakespeares The Tempest ausgibt – ein in Wagners Augen unantastbarer Autor und Vorbild für den ekstatischen ‚Mimen‘, der im Mittelpunkt seiner Theaterkonzeption stand. Wagner vergleicht insbesondere Renans berühmte Vie de Jésus, ein veritabler Bestseller seiner Zeit – Wagner „ist durchaus einverstanden mit dessen Auffassung“, schreibt Cosima in ihren Tagebüchern7 – mit dem nicht weniger bedeutsamen Leben Jesu (1835) von Strauss. In beiden Rekonstruktionen findet Wagner Stoff für seine Analyse des Genies und ganz allgemein für das Verhältnis zwischen Vernunft und Religion/Mythos. Über Renan schreibt Wagner: „Er liebt Jesus, während Strauß es nicht tut“.8 Deshalb sei Renans Rekonstruktion der
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6 7 8
C. Wagner, Tagebücher, 4. Dezember 1878, Bd. 2, S. 249. Ebd., 20.–23. Juni 1873, Bd. 1, S. 697, und Brief Nietzsches an R. Wagner, 18. April 1873, KGB II/3, S. 145. C. Wagner, Tagebücher, 19. Juni 1878, Bd. 2, S. 120. Ebd., 18. Juni 1878, Bd. 2, S. 119. Ebd., 17. April 1880, Bd. 2, S. 522.
68 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch „langweiligen“ von Strauss überlegen, der Jesus entmythisiert und damit dem Glauben ein wesentliches Element geraubt habe: die Bewunderung für das Geheimnis des Genies.9 In Renans Vie de Jésus ist die Charakterisierung Christi als eines mit heroischem Willen begabten charmeur gegen die rationalistische Abstraktion von Strauss gerichtet. Wenn man Strauss liest, schreibt Renan, „scheint es, als habe die religiöse Revolution, die den Namen Christi trägt, ohne Christus stattgefunden“.10 Für Strauss ist der My9
10
Ebd., 7. Juli 1878, Bd. 2, S. 133, und 20. März 1873, Bd. 1, S. 657, in Bezug auf Der alte und der neue Glaube von Strauss: „‚Was nennt er denn neuen Glauben‘, sagt R., ‚wie kommt das Wort hierher, denn etwa die Unbegreiflichkeit der großen Männer verehren, das meint er doch nicht‘.“ Vgl. auch: „Strauß hat er aufgegeben, zu trocken und langweilig“ und die Randbemerkung: „Das Ginnungagap der Langeweile!“ (In der nordischen Mythologie bezeichnet Ginnungagap einen Abgrund voller Eis, den furchtbaren uranfänglichen Abgrund, in dem das Nichts enthalten war). Strauss gegenüber hegte Wagner auch ganz persönliche Ressentiments, insofern dieser dem Kreis um Franz Lachner angehörte, dem Münchner Generalmusikdirektor, der ihm und seiner Musik gegenüber ausgesprochen feindlich gesinnt war. 1868 widmete Wagner im Hinblick auf diesen Sachverhalt David Strauss drei satyrische Sonette: „Du sträusslichster der Strausse!“ Strauss habe den Wahn von seinem Gewicht und die Evangelien von ihrem „Flausse“ befreit: „Doch wer will jetzt um Läugner noch Dich schelten?/ Blieb Christ, der Heiland, Dir auch unbewiesen,/ lässt Du dafür uns doch Franz Lachner gelten“ (R. Wagner, Das braune Buch, S. 149–151). Wagner akzeptiert bezeichnenderweise nur den nationalistischen Strauss aus dessen offenem Brief an Renan: „David Strauß schreibt einen offenen Brief an Renan, in welchem er ihm die ganze Lage Deutschlands Frankreich gegenüber auseinandersetzt; einige Geschmacklosigkeiten abgerechnet ist die Darstellung vortrefflich“ (C. Wagner, Tagebücher, 20. August 1870, Bd. 1, S. 274). Renans Anwort hingegen, so Cosima, sei „sehr kleinlich“ ausgefallen, „er spricht davon, daß Frankreich nicht die Illusionen Deutschlands habe, stellt gleichsam Frankreich als ältestes Kulturland dar, scheint also nicht zu wissen, welche Geschichte Deutschland hinter sich hat, und macht eine sehr engsichtige Kritik der preußischen Monarchie“ (ebd., 24. September 1870, Bd. 1, S. 289). E. Renan, Les historiens critiques de Jésus, in: Études d’histoire religieuse, OC VII, S. 136ff. In dieser Jugendschrift (1849), die er 1857 überarbeitet und neu veröffentlicht hat, kritisiert Renan Strauss ausgiebig – wenngleich mit dem nötigen Respekt – als abstrakten Theologen hegelscher Provenienz,
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thos in der Tat keine Erfindung eines Einzelnen, sondern vielmehr die allgemeine und erhabene Erfindung eines Volkes, entstanden zu einer Zeit, in der die Imaginationskraft vorherrschte. Deshalb bleibt diese Erfindung einer vom kritischen Geist beherrschten Kultur fremd. Aus Renans Sicht stellt Strauss’ Gedanke eines kollektiven Ursprungs des Mythos das erste ‚verhängnisvolle‘ Hindernis für eine gelungene historische Kritik dar, insofern sie dem Kollektiv das zuschreibt, was oft das Werk eines einzelnen mächtigen Willens oder überlegenen Geistes war. mehr Philosoph als Historiker: „Da Strauss der Sinn für Geschichte und Tatsachen abgeht, kommt er nie aus Fragen des Mythischen und Symbolischen heraus“. Der rationalistische Theologe hat nicht verstanden, dass „für alle großen Taten der Menschheit Individuen verantwortlich sind, die mit großen Gaben ausgestattet sind und gemeinhin als Genies bezeichnet werden“. Und in den Cahiers de jeunesse schätzt der junge Renan Jesus als „Freund“: „Es ist der einzige Mensch, vor dem ich mich beuge“ (OC IX, S. 216). J. Pommier arbeitet die Unterschiede zwischen der ersten Fassung (die Strauss noch günstiger war) und der zweiten heraus, um zu zeigen, welchen Weg Renan zurückgelegt hat (J. Pommier, Un Itinéraire spirituel, S. 26ff.). Neben den Stellen in Renans Vie de Jésus, an denen von dem charmeur Jesus die Rede ist, vgl. insbes. den wichtigen Brief vom 28. August 1863 an Ernest Bersot, in welchem Renan, nachdem er die Gültigkeit der Strauss’schen Evangelienkritik im Einzelnen anerkannt hat, versichert: „Was Jesu Charme angeht, muss er sich hauptsächlich durch diesen ausgezeichnet haben, weit mehr als durch Vernunft oder Größe. Er war vor allen Dingen ein charmeur“ (OC X, S. 385). Dieser Aspekt erscheint den Wagners der Pariser Luft geschuldet: „Abends mit R. allein in Renan’s ‚Antichrist‘, ihm vorgelesen, sehr über die Auffassung des distinguierten feinen Jesus gelacht und über den schwerfälligen Paulus. Immer alles für Paris hergerichtet“ (C. Wagner, Tagebücher, 24. August 1873, Bd. 1, S. 718). Vgl. auch: „Wir lachen auch über die Art, wie Renan Jesus schildert und das Evangelium von Matthäi beschreibt, so modern und ganz von dem Gesichtspunkt der modernen Pariser Kultur aus, ‚au plaisir de vous revoir‘, meint R., würde er zu Christus sagen, wenn dieser bei ihm eintrete“ (ebd., 23. April 1878, Bd. 2, S. 86). In den Aufzeichnungen zum Antichrist notiert Nietzsche zwischen den Exzerpten aus Tolstois Ma Religion den Satz: „Un doux rêve du ‚charmant docteur‘-Renan“ (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[242]). Die Seiten Tolstois enthalten eine heftige Polemik gegen die Religionshistoriker: „les Strauss, les Renans“, die auf diese Weise das revolutionäre Potenzial Christi auf ein unzeitgemäßes Ideal reduzierten (Ma Religion, S. 45).
70 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch In der Gestalt Jesu als Genie und Held vermittelte Renan unmissverständlich die aristokratische Konzeption einer Gesellschaft, die auf dem Gegensatzpaar Genius-Volk beruht. Nicht umsonst ist die Mittelmäßigkeit des modernen Menschen – seine Amerikanisierung – der Grund für das zweite Hindernis auf dem Weg zu einem historischen Verständnis der Gestalt Jesu sowie der „überraschenden Energie“ von Religionsstiftern überhaupt. Aus dieser Perspektive erscheinen uns die Seelen der Religionsstifter „wie die Riesen einer Heldenzeit, die niemals wirklich gewesen ist. Und doch ist dies ein großer Irrtum! Sie waren unsere Brüder, sie glichen uns an Gestalt, im Fühlen und Denken. Aber in ihnen waltete frei der Odem Gottes, während er bei uns durch die ehernen Bande einer engherzigen Gesellschaft eingeengt und zu unheilbarer Mittelmäßigkeit verdammt ist“.11 Wagner übernimmt diese Ansichten Renans über das Genie, das in diesem Fall ein Religionsstifter ist. Tatsächlich schreibt er dem Genie die Fähigkeit zu, mit Hilfe des Mythos und des Ideals die Gesellschaft im Kampf gegen die Mittelmäßigkeit zusammenzuhalten und einen Damm gegen die auflösende Kraft des materialistischen Egoismus der Zivilisation zu errichten. Renans Vergleich der modernen Gesellschaft, die den Glauben verloren hat, mit den automatischen, maschinenhaften Bewegungen hirnloser Tiere, die nur eine sehr kurze Lebensspanne haben, scheint ihm zu bestätigen, dass die religiösen Illusionen der Stoff sind, der in der Lage ist, die auseinanderstrebenden sozialen Kräfte auf ein Ziel, ein Ideal hin zu einen.12 Wagner meinte, Renan habe im Gegensatz zu Strauss betont, dass die Befreiung der Religion Jesu von den Wundern und die Beschränkung des 11 12
E. Renan, Vie de Jésus, OC IV, S. 365 (dt. Das Leben Jesu, S. 153). C. Wagner, Tagebücher, 7. November 1878, Bd. 2, S. 221. Das Bild des hirnlosen Tieres findet sich im Vorwort zu den Dialogues philosophiques, S. XIX. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Urteil Wagners. In den Tagebüchern heißt es weiter (8. November 1878): „beim Frühstück, wie er auf den Gedanken von Renan zurückkommt und ich ihm sage, daß ich mir nicht vorstellte, daß einer von unseren jetzigen berühmten deutschen Schriftstellern diesen Gedanken hätte ausgesprochen, sagt er: ‚Sie sind zu schwierig, zu sehr in dem Fortschritt befangen‘. ‚Nietzsche‘, fügt er hinzu, ‚hätte ihn haben können‘.“
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Christentums auf eine reine Religion des Geistes bedeuten würde, sie als unverzichtbares Instrument zur Verbreitung einer Ethik der Hingabe und des Opfers für ideale Ziele unter dem einfachen Volk zu betrachten. Die von dem gefährlichen Glauben an die Wunder der Offenbarung befreite Religion – ein Glaube, der in einer Zeit wachsenden Vertrauens in die Naturwissenschaften und die historische Kritik unhaltbar wurde – entwickelte sich so zu einem mächtigen Instrument des sozialen Zusammenhalts. 1862 schrieb Renan: Ob es uns gefällt oder nicht, das Übernatürliche verschwindet aus dieser Welt. Nur diejenigen Klassen, die nicht auf der Höhe ihrer Zeit sind, glauben noch ernsthaft daran. Heißt das, dass damit auch die Religion verschwinden muss? Oh nein. Die Religion ist notwendig. An dem Tag, an dem sie verschwände, würde das menschliche Herz verdorren … Die Religion über das Übernatürliche zu stellen, die siegreiche Schlacht der Religion von der verlorenen Schlacht der Wunder zu trennen, bedeutet also, der Religion einen Dienst zu erweisen, bedeutet, sie von einem untergehenden Schiff zu erretten … das sage ich mit Zuversicht: eines Tages wird die Sympathie der wirklich religiösen Seelen auf meiner Seite sein.13
Diese Analyse Renans passte gut zu der Sorge des späten Wagner, die gefühlsmäßige, unmittelbare Seite des Christentums zu bewahren (das „innere Himmelreich“), das seiner Meinung nach in der Lage war, ähnlich befreiende Wirkungen hervorzubringen wie die Musik.14 13 14
E. Renan, La chaire d’hébreu au Collège de France, OC I, S. 169–170. Eine weitere Übereinstimmung zwischen Wagner und Renan: „Öfters sagt er [Jesus], das Gottesreich habe bereits seinen Anfang genommen, jeder Mensch trage es in sich und könne seine Segnungen genießen, wenn er sie verdiene, jeder helfe es begründen, indem er sich aufrichtig bekehre. Das Gottesreich ist hier nichts anderes als das Gute, eine Weltordnung, die besser ist als die bestehende, das Reich der Gerechtigkeit, dem der Gläubige, soviel an ihm liegt, zum Siege verhelfen soll, oder auch die Freiheit der Seele, eine Art Seitenstück zu der buddhistischen ‚Erlösung‘, welche eine Frucht der unbedingten Selbstverneinung ist“ (Vie de Jésus, OC IV, S. 262; dt. Übers. S. 98f.). Die Parallele Christus-Buddha missfiel Wagner sicher nicht, denn seine Christus-Interpretation war stark von Schopenhauer beeinflusst. Die ganze Diskussion über das ‚Himmelreich‘ wird von Nietzsche im Antichrist aufgegriffen und durch die Lektüre Tolstois und Dostojewskis angereichert. „Das ‚Himmelreich‘ ist ein Zustand des Herzens – nicht Etwas, das ‚über der Erde‘ oder ‚nach dem Tode‘ kommt. Der ganze Begriff des natürlichen Todes f e h l t im Evangelium: der
72 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Wagner stellte damit die feuerbachschen Ansichten seiner Jugend auf den Kopf, in denen er das Christentum als Entfremdung empfunden hatte: Verzicht auf die menschliche Sinnlichkeit zugunsten des Jenseits, Ausdruck einer Zivilisation, die die reiche menschliche Natur zu einem Instrument Gottes herabwürdigt. „[W]ir [sehen] mit Entsetzen in einer heutigen Baumwollenfabrik den Geist des Christenthums ganz aufrichtig verkörpert: zu Gunsten der Reichen ist Gott Industrie geworden, die den armen christlichen Arbeiter gerade nur so lange am Leben erhält, bis himmlische Handelskonstellationen die gnadenvolle Nothwendigkeit herbeiführen, ihn in eine bessere Welt zu entlassen“.15 Später, in Wagners Beethoven, haben Musik und Christentum die Natur des „inneren Himmelreichs“ gemeinsam, das mit seiner Ausbreitung die Fesseln der Zivilisation sprengt: „Wie einst aus der römischen Universal-Zivilisation das Christentum hervorging, so bricht jetzt aus dem Chaos der modernen Zivilisation die Musik hervor. Beide sagen: ‚unser Reich ist nicht von dieser Welt‘. Das heißt: wir kommen von innen, ihr von außen; wir entstammen dem Wesen, ihr dem Scheine der Dinge“.16 Wagners Beethoven war die musikphilosophische Schrift, welche dem jungen Nietzsche auf radikalste, wenngleich nicht widerspruchsfreie Weise die Möglichkeit einer Wiedergeburt des Germanischen aus der Wiedererweckung des tragischen Geistes vor Augen führte. In seinen Aufzeichnungen zur ersten Unzeitgemäßen (Frühjahr-Herbst 1873), die gegen die „Philistercultur“ gerichtet war, sagt Nietzsche als ‚Bauchredner‘ Wagners über Strauss und Renan: „Es war frech von Strauß, das Leben Jesu dem deutschen Volke zu bieten
15 16
Tod ist keine Brücke, kein Übergang, er fehlt, weil einer ganz andern bloss scheinbaren, bloss zu Zeichen nützlichen Welt zugehörig. Die ‚Todesstunde‘ ist k e i n christlicher Begriff – die ‚Stunde‘, die Zeit, das physische Leben und seine Krisen sind gar nicht vorhanden für den Lehrer der ‚frohen Botschaft‘ … Das ‚Reich Gottes‘ ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in ‚tausend Jahren‘ – es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da …“ (AC 34). R. Wagner, Die Kunst und die Revolution, SSD 3, S. 24–25. R. Wagner, Beethoven, SSD 3, S. 286.
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als ein Gegenstück zu dem viel größeren Renan“ (Nachlass 1873, KGW III/4, 27[1]). Strauss hat den „genialen Aspekt“ des Christentums verkannt und in seinem Versuch, es durch den Nachweis seiner mythischen Natur zu zerstören, sein völliges Unverständnis des religiösen Wesens bewiesen, denn: „das Wesen der Religion besteht gerade darin, mythenbildende Kraft und Freiheit zu besitzen“ (ebd.). Gerade hierin liegt die Überlegenheit des mythischen Ideals, auch des christlichen, über die Wissenschaft und die Vernunft. Folglich ist es „ein lapsus von Strauß, ein Leben Jesu zu geben“ (Nachlass 1873, KGW III/4, 27[3]). „Für Strauß ist Jesus ein Mann, den er in’s Irrenhaus stecken würde“ (ebd., 27[6]). Bei Nietzsche zeichnete sich die Wertschätzung des einzelnen Genies, die für Renan und Wagner, in den Fussstapfen Schopenhauers, charakteristisch ist, bereits in der Vorrede zu Homer und die klassische Philologie durch die Opposition gegen den idealistischen und romantischen Mythos einer spontanen Volksdichtung aus, der auf die Vermittlung durch das Genie verzichten kann: „Sollte dieselbe Natur, die mit ihrem seltensten und köstlichen Erzeugnisse, dem Genius so karg und haushälterisch umgeht, gerade an einem einzigen Punkte in unerklärlicher Laune verschwendet haben?“ (KGW II/1, S. 259) Die volle Übereinstimmung zwischen Wagner und Renan zur Zeit der Entstehung der ‚heroischen‘ Parsifal-Figur endete mit Erscheinen des Marc Aurèle. Die Schrift markiert den Wendepunkt in Bezug auf Renans frühere Ansichten. Im Gegensatz zu Avenir religieux des sociétés modernes, wo der französische Autor die starke Originalität des Christentums betonte, in dem er weniger eine Fortführung als eine Reaktion gegen den vorherrschenden Geist des Judentums sah,17 wird Jesus jetzt, im Marc Aurèle, als ‚echter‘ Jude präsentiert: „Nie hatte ein Religionsstifter Jünger, die ihm weniger glichen. Jesus ist viel mehr ein großer Jude als ein großer Mann; seine Jünger haben aus ihm das Antijüdischste gemacht: einen Gottmenschen“.18 Hier distanzierte sich Wagner sofort mit fast paranoiden Zügen: „zwischen R. und mir einiges über Renan, von dem R. behauptet, er müsse Jude sein, da das 17 18
Vgl. E. Renan, Avenir religieux, OC I, S. 237. E. Renan, Marc Aurèle, OC V, S. 1142.
74 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Ganze auf die Verherrlichung des Judentums ging“.19 Der späte Wagner, bei dem der Antisemitismus erbitterte Züge annahm – es genügt, an die zahlreichen Drohungen gegen die Juden in seinen Träumen zu erinnern, die Cosima getreulich aufzeichnete –, missbilligte die Feststellung Renans, wonach die Verurteilung des Wuchers durch das Christentum ein Hindernis für die Entwicklung der „Zivilisation“ gewesen sei.20 Er warf Renan vor, im christlichen Ideal nicht länger das gegenteilige Prinzip einer Zivilisation zu sehen, die er als unlöslich mit dem jüdischen Geist verbunden sah.21 In den Fussstapfen Schopenhauers bezichtigt er Renan des „jüdischen Optimismus“, indem er eine klare Trennung zwischen Judentum und Urchristentum, zwischen optimistischer und pessimistischer Religion vornimmt, wie sie der indischen Weisheit entsprungen sei.22 Da er auf die Idee eines re19 20
21
22
C. Wagner, Tagebücher, 25. und 28. Januar 1882, Bd. 2, S. 879 und S. 881. Ebd., 26. Januar 1882. Vgl. auch R. Wagner, Das braune Buch, S. 243, in dem Wagner, unter demselben Datum den Abschnitt Renans über den Wucher notiert und dazu bemerkt: „Welche Naivität!“ (Vgl. E. Renan, Marc Aurèle, OC V, S. 1122). Nach der Lektüre eines Artikels von Heinrich von Stein über Marc Aurèle (in den Bayreuther Blättern von Sept.-Okt. 1882 veröffentlicht) kommt Wagner noch einmal auf Renans Bemerkungen zum Wucher im Mittelalter zurück (C. Wagner, Tagebücher, 19. September 1882, Bd. 2, S. 1004). C. Wagner, Tagebücher, 6. Februar 1883, Bd. 2, S. 1108, wo Wagner, wenige Tage vor seinem Tod, missbilligend die Nachricht zur Kenntnis nimmt, dass Renan einen Vortrag gehalten habe, „in welchem dieser die Existenz einer jüdischen Race leugnet“. 1883 hatte Renan zwei Vorträge solchen Inhalts über das Judentum gehalten: Le judaisme comme race et comme religion und Le Judaisme et le Christianisme, letzteren in Gegenwart des Baron Alphonse de Rotschild. Die stark antisemitischen Elemente in den Schriften Renans kamen in diesen Vorträgen nicht zum Vorschein. Die Wende Renans wurde von dem größten französischen Antisemiten Edouard Drumont als echter Verrat empfunden (vgl. E. Drumont, La France juive, Bd. 1, S. 14f.). Zum Thema „Rasse“ bei Renan vgl. R. Pozzi, Storia, filologia e pensiero razziale, S. 245ff., und die zahlreichen darin enthaltenen Hinweise. Darüberhinaus M. Olender, Les langues du Paradis, und T. Todorov, Nous et les autres. C. Wagner, Tagebücher, 26. und 28. Januar 1882, Bd. 2, S. 879 und 881. Folgendermaßen urteilte Schopenhauer über diejenigen, die das Christentum „zurückzuführen [suchten] auf ein nüchternes, egoistisches, optimistisches Judenthum mit Hinzufügung einer bessern Moral und eines künftigen Lebens, als welches der konsequent durchgeführte Optimismus verlangt, damit
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ligiösen Mythos, der in der Lage wäre, die Kräfte gegen eine zivilisatorisch-zersetzende Wissenschaft zu bündeln, verzichtet und sich stattdessen auf die Seite der „gegenwärtigen Rationalisten“ gestellt habe, deren Prototyp Rousseau sei, habe Renan fälschlicherweise eine versöhnliche Haltung zwischen zwei Positionen eingenommen, die Wagner als unversöhnlich ansah. Sein Urteil ist entschieden: „dieser Optimismus ist ganz Strauß’ würdig. Elegance und Beschränktheit, das sind die heutigen Franzosen“.23 Für Nietzsche ist Strauss der Prototyp des Philisters, ein Deutscher, der, anstatt der eigenen kulturellen Aufgabe treu zu bleiben, sich als schlechter Nachahmer des eleganten Äußeren sowie der Überzeugungen der französischen Kultur erweist: „Die Eleganz Renan’s zum Beispiel liess zuerst die Feder Straussens […] nicht schlafen“ (Nachlass 1874, KGW III/4, 34[37]). „Er hat das Leichtschürzen mißverstanden“, ihm „fehlt gerade die Leichtigkeit und Anmuth“ (Nachlass 1873, KGW III/4, 27[33]). Dies beweist, dass die Franzosen, unabhängig von dem deutschen Dünkel über den militärischen Sieg, auf kulturellem Gebiet als die Sieger aus dem Krieg hervorgegangen sind. Hätten wir wirklich aufgehört, sie nachzuahmen, so würden wir damit noch nicht über sie gesiegt, sondern uns nur von ihnen befreit haben: erst dann, wenn wir ihnen eine originale deutsche Kultur aufgezwungen hätten, dürfte auch von einem Triumphe der deutschen Kultur die Rede sein. Inzwischen beachten wir, dass wir von Paris nach wie vor in allen Angelegenheiten der Form abhängen – und abhängen müssen: denn bis jetzt giebt es keine deutsche originale Kultur.24
23 24
nämlich die Herrlichkeit nicht so schnell ein Ende nehme und der Tod, der gar zu laut gegen die optimistische Ansicht schreit und wie der steinerne Gast am Ende zum fröhlichen D. Juan eintritt, abgefertigt werde“ (Parerga, SW 6, S. 416). C. Wagner, Tagebücher, 27. Januar 1882, Bd. 2, S. 879. DS 1. Am 20. April 1874 schreibt Cosima Wagner an Nietzsche: „Finden Sie uns denn wirklich seit den Siegen so besonders dumm geworden?“ (KGB II/4, S. 45).
76 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch
2. Die Kraft der ‚Krise‘: Renan, Burckhardt und Nietzsche Sowohl Wagner als auch Burckhardt interpretierten Schopenhauer und Renan. Nietzsche las ihre Texte und entwickelte auf nicht immer geradlinige, manchmal sogar widersprüchliche Weise, indem er sich manche Urteile aneignete und teilweise ohne Kennzeichnung der Quelle abschrieb, allmählich seine eigene Vorstellung der romanischen Zivilisation, die der antisemitischen und antizivilisatorischen Wagners entgegengesetzt ist. In den achtziger Jahren erregte Renans Marc Aurèle nicht nur die Aufmerksamkeit Wagners, sondern auch die des Basler Historikers, welcher sich in seinen unter dem Titel Historische Fragmente erschienenen Vorlesungen zu derselben Renan-Stelle über die christliche Verurteilung des Wuchers äußerte, die bereits Wagners polemische Äußerungen provoziert hatte.25 Beide bemerkten die Unvereinbarkeit zwischen Renan und Schopenhauer, vor allem in Bezug auf die Analyse des Christentums in Renans Abhandlung L’avenir religieux des sociétés modernes, worin dieser die große Distanz zwischen dem Geist des Christentums und des Judentums postulierte. Beide hatten die historische Methode Renans hervorgehoben und Burckhardt schätzte insbesondere in den Vorlesungen Über das Studium der Geschichte Renans Ausführungen über die sozialen und psychologischen Verhältnisse am Beginn einer Religion, insbesondere am Beginn des Urchristentums.26 Beide verurteilten Renan jedoch, vor allem nach der Wende des Marc Aurèle, als Repräsentanten einer Geschichtsphilosophie, deren antihistorischer Rationalismus sich darin ausspricht, dass er die vergangene Epoche am Maßstab der modernen Ideale misst, als da sind: Freiheit des Individuums und Herrschaft der durch die Französische Revolution verbreiteten Rationalität. Renan gibt sich in Marc Aurèle mehrfach als Gegner des Mittelalters zu erkennen, schreibt Burckhardt und zitiert: „S. 588: ‚Le but suprème de l’humanité est la liberté des 25 26
J. Burckhardt, Historische Fragmente, S. 38–39. Vgl. J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, S. 170: „Renan’s große Bedeutung, dass er solche Zustände in concreto kennt und seiner Geschichte des Urchristenthums zu Grunde legt“.
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individus‘. ‚L’homme ne doit appartenir qu’à lui même‘“; aus diesem Grundsatz schöpfen Voltaire, Rousseau und die Französische Revolution „‚la foi nouvelle de l’humanité‘ S. 614“.27 Burckhardt und Wagner distanzieren sich vom Optimismus Renans, von seiner starken Teleologie, die dazu neigt, den Fortschritt mit der Entwicklung von Rationalität und Technik gleichzusetzen. Burckhardt kommentiert in diesem Zusammenhang Renans Satz „La vie humaine est suspendue pour mille ans. La grande industrie devient impossible“ mit den Worten: „Man weiß doch jetzt wenigstens, was Renan ‚la vie humaine‘ nennt!“28 Der Historiker akzeptiert und verteidigt hingegen Renans These, dass die Religion „ein Produkt des gewöhnlichen Menschen“ sei, gegen die These der „italienischen Sophisten des 16. Jahrhunderts“, welche behaupteten, die Religion sei „von den Einfachen und Schwachen“29 erschaffen worden. Für Burckhardt ist die Religion auch Antwort auf ein unbewusstes metaphysisches Bedürfnis und entsteht aus der Furcht, die er genau wie Feuerbach als Gefühl der Abhängigkeit von äußeren Naturkräften beschreibt. Das metaphysische Bedürfnis wird von den vitalsten Menschen empfunden, die so zu Religionsstiftern werden. Sie sind „wesentlich Schöpfungen einzelner Menschen, ruckweise, strahlenweise entstanden“. Es ist eine ‚Krise‘ („ruckweise, strahlenweise“), die vermittels großer Männer zur religiösen ‚Kristallisierung‘ verbreiteter Bedürfnisse führt: „die große Masse hält mit, weil sie nicht widerstehen kann und weil alles Bestimmte ein Königsrecht hat gegenüber dem Dumpfen, Unsichern und Anarchischen“.30 Das zentrale Thema Burckhardts ist das der großen historischen Krise, die in der Lage sei, latent bereits vorhandene ‚ungeahnte Energien‘ freizusetzen. Er bringt dies auf die Formel: „die Crisis ist ein neuer Entwicklungsknoten“.31 Dieses zentrale Thema ist seines Er-
27 28 29
30 31
J. Burckhardt, Historische Fragmente, S. 38–39. Ebd. E. Renan, Questions contemporaines, OC I, S. 280. Vgl. J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, S. 169. J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, S. 169–170. Ebd., S. 261.
78 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch achtens in Renans Questions contemporaines in verkürzter Form enthalten, und er selbst wird daraus die interpretatorische Grundlage seiner Historischen Fragmente machen, wenn er Tocquevilles Bild des den Wellen preisgegebenen Schiffes zur Charakterisierung einer Gesellschaft aufgreift, die in einer permanenten Instabilität lebt, wie sie durch die Französische Revolution eingeweiht wurde. Das Zeitalter der Krise ermöglicht einen Erkenntniszuwachs und eine nie dagewesene Erweiterung der intellektuellen Horizonte: Sobald wir unserer Lage bewußt werden, befinden wir uns auf einem mehr oder weniger gebrechlichen Schiff, welches auf einer von Millionen Wogen dahintreibt. Man könnte aber auch sagen: Diese Woge sind wir ja zum Teil selbst. Aber bei einigem Willen meldet sich ein ernstes Interesse. Es sind Epochen, Länder, Gruppen, Bewegungen, Individuen, in welchen irgend ein spezifischer Geist und eine darauf gewandte Kraft und Leidenschaft sprechend und bald mehr belehrend, bald mehr stürmisch ergreifend zu Tage tritt. Das betreffende Durcheinander soll für uns aus einer Konfusion zu einem geistigen Besitz werden; wir wollen darin nicht eine Betrübnis, sondern einen Reichtum finden.32
„Das philosophische Denken“, schrieb Renan, „ist nie so frei wie in den großen Zeiten der Geschichte“. Die Geschichte lehrt, dass die Philosophie in Athen zu einer Zeit blühte, paraphrasiert Burckhardt einen Artikel Renans, als die Stadt in einem Zustand der Spannung lebte, permanenten Krisen und andauerndem Terror ausgesetzt war, einer Zeit von Kriegen, Hochverratsprozessen, Freveln, Denunziation, in der man sich auf Reisen der Gefahr aussetzte, als Sklave verkauft zu werden.33 Renan verglich die gegenwärtige Generation, die in einer nivellierten Epoche der Mittelmäßigkeit lebt, welche durch Sicherheit und ‚laue Milieus‘ gekennzeichnet ist und wie eine regelmäßige Maschine funktioniert, mit der Generation der Intellektuellen um 1815, die inmitten großer Gefahren aufwuchsen, in „jenen außergewöhnlichen Zeiten, in denen die Elemente der brodelnden 32 33
J. Burckhardt, Historische Fragmente, S. 278–279. J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, S. 192. Bei dem zitierten Artikel handelt es sich um Réflexions sur l’état des esprits (1849), ein Fragment des Jugendwerks L’avenir de la science, das Renan in seine Aufsatzsammlung von 1868 (Questions contemporaines) aufgenommen hat (vgl. OC I, S. 210).
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Menschheit nach und nach an die Oberfläche kamen“.34 Daher auch die Bewunderung für die italienische Renaissance zu Beginn des Artikels: Die Geschichte zeigt, dass Bewegung, Krieg, Schrecken das eigentliche Klima sind, in dem die Menschheit sich entwickelt, dass das Genie nur unter Stürmen kraftvoll gedeiht und die großen Leistungen der Wissenschaft und Dichtung in aufgewühlten Gesellschaften erbracht worden sind. Von allen Jahrhunderten ist das 16. Jahrhundert zweifellos dasjenige, in dem der menschliche Geist am meisten Energie und Tätigkeit in jedem Sinn entfaltet hat: Es ist das schöpferische Jahrhundert par excellence. Es fehlt ihm die Regel, das stimmt. Es ist ein dichtes, üppiges Unterholz, wo die Kunst noch keine Alleen gezeichnet hat. Doch welche Fruchtbarkeit!35
Das bewundernswerte Jahrhundert, in dem sich alles zusammenfügt (Wissenschaft, Kunst, Philologie, Philosophie), in dem sich der „moderne Geist“ endgültig konstituiert, ist „das Jahrhundert des Kampfs aller gegen alle“. Die Lektüre Renans schimmert in Burckhardts Ausführungen über die Krise durch und folglich auch in den Ausführungen Nietzsches, der sich auf Burckhardt beruft. Die Bewunderung für die Kraft, die aus der ‚Krise‘ erwächst, fernab eines milieu logique und régulier, führte den jungen Renan zu der extremen Hypothese einer Überwindung gewöhnlicher Horizonte: „Es gibt Risse, durch die das Auge die Unendlichkeit erblickt […]. In starken Rassen und in Krisenzeiten können Monster in der intellektuellen Ordnung entstehen, die, obgleich der menschlichen Natur angehörend, sie so sehr in eine Richtung erschöpfen, dass sie gleichsam dem Gesetz anderer Geister anzugehören scheinen und unbekannte Welten wahrnehmen können“.36 Die Geburt eines ‚Übermenschen‘ verbindet sich hier ganz romantisch mit der dépense einer primitiven Energie in den unruhigen Zeiten der Geschichte. Das Monster dient der Potenzierung und Beschleunigung des Weges der Menschheit, und kennt keine Rast: „Zweifellos verweilt die Menschheit mehr oder 34
35 36
E. Renan, Réflexions sur l’état des esprits, in: Questions contemporaines, OC I, S. 212. Vgl. J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, S. 266: „Seit 1840 war laut Renan das Gemeinerwerden deutlich zu spüren“. E. Renan, Réflexions sur l’état des esprits, OC I, S. 210. E. Renan, L’avenir de la science, OC III, S. 1067.
80 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch weniger lang bei gewissen Ideen, aber sie ist wie der Paradiesvogel aus der Legende, der im Fluge brütet“.37 Anders als bei Nietzsche dominiert bei Renan eine starke Teleologie, an der er festhält, um das Vakuum zu beseitigen. Die Fragestellung der Questions contemporaines musste zwangsläufig Burckhardts Interesse wecken. Das Werk war vor allem von einer liberal-konservativen Stimmung beseelt und brachte starke Sympathien für die germanische Freiheit zum Ausdruck, die der revolutionären Freiheit gegenübergestellt wurden. Entsprechend der These Tocquevilles sah Renan in der französischen Staatstheorie eine kontinuierliche Linie von der absolutistischen Monarchie Ludwigs XIV. hin zur Revolution. Er schrieb: Die Verirrungen Ludwigs XIV. haben die Französische Revolution zur Folge, die reine Auffassung der Antike gewinnt an Kraft. Der Staat wird zum absoluten Souverän. Man verzichtet auf die Illusion, dass eine Nation glücklich sein müsse, weil sie einen guten Kodex hat. Man will vor allem einen gerechten Staat gründen und man bemerkt nicht, dass man die Freiheit zerstört, dass man eine soziale und keine politische Revolution herbeiführt und die Grundlage für einen Despotismus ähnlich dem der römischen Cäsaren schafft. Die moderne Welt würde zu den alten Irrtümern zurückkehren und die Freiheit wäre für immer verloren, wenn die Bewegung, die Frankreich zu einer despotischen Staatsauffassung verführte, universal geworden wäre.38
Die Konzentration der Macht im Staat erschien Renan wie ein „Gebäude, das einmal auf einer Vielzahl von Stützen ruhte, von denen viele im Lauf der Zeit schwach geworden sind, ohne jedoch das Ganze zum Einsturz zu bringen, das aber nunmehr auf einer einzigen verbliebenen Stütze ruht: ein einziger Angriff genügt, um den Koloss mit dem überdimensionalen Kopf dem Erdboden gleichzumachen“.39 Der Staatsapparat, der seine Macht zersetzend und nivellierend ausübt und dadurch die Möglichkeit zerstört, sich auf soziale und traditionelle Hierarchien zu berufen, die in der germanischen Freiheit 37 38
39
Ebd., S. 1028. Vgl. Cahiers de jeunesse, OC IX, S. 138–139. E. Renan, Philosophie de l’histoire contemporaine, in: Questions contemporaines, OC I, S. 39. Ebd., S. 65.
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noch vorhanden waren, bildete für Renan wie für Burckhardt den idealen Boden für die Entstehung einer materialistischen Demokratie. Indem die Fesseln der „Verehrung“ zerschlagen werden, die den Einzelnen an die Verwirklichung höherer Ideale binden, wirft sie ihn in die dauerhafte Unbeständigkeit der einsamen Selbstbestätigung, der „jouissance“. 1868 erblickte Renan die Lösung für die soziale Krise in einer hohen und elitären Bildung. Die höhere Bildung ist die Quelle der elementaren Bildung. Erstere der zweiten zu opfern hieße einen großen Fehler zu machen und wäre kontraproduktiv. Eine Million, die an der Hochkultur eingespart wird, kann die intellektuelle Entwicklung eines ganzen Landes zum Stillstand bringen. Eine Million, die man in die elementare Bildung investiert, wird geringe Auswirkungen haben. So lange man in Frankreich nicht Schluss macht mit der falschen Vorstellung, dass Bildung nur der sozialen Stellung nützlich sei, nur der Pflege und Unterweisung der Armen diene, was nur dazu führt, in diesen unerfüllbare Bedürfnisse und Ambitionen zu wecken, so lange wird nichts Endgültiges erreicht werden. Die Kraft der Volksbildung in Deutschland kommt aus der Kraft der höheren Bildung. Die Universität macht die Schule. Man hat gesagt, in Sadowa habe der Volksschullehrer gesiegt. Nein: in Sadowa hat die deutsche Wissenschaft gesiegt, die deutsche Tugend, der Protestantismus. Luther, Kant, Fichte und Hegel haben gesiegt. Die Volksbildung ist eine Folge der hohen Kultur bestimmter Klassen.40
Diese elitäre Strategie hatte Renan bereits im Vorwort zu den Questions contemporaines – sehr allgemein zwar, aber dennoch unmissverständlich – formuliert und danach in der Réforme und den Dialogues philosophiques ausführlich dargelegt. Die Ausführungen zur Volksbildung machen die Umwandlung der Theorie des Fortschritts in einen göttlichen Weg der Menschheit deutlich. In L’avenir de la science betrifft der Fortschritt mehr oder weniger die gesamte Menschheit und manifestiert sich als Bildung breiter Massen durch die Verbreitung der Kultur. Renan glaubte also an die Möglichkeit einer sozialen Ausbreitung der Wissenschaft und an ihre Fähigkeit, für die Massen einen Ersatz für religiöse Symbole zu schaffen. In den Questions contemporaines ändert sich die Perspektive jedoch, der Fortschritt ist hier 40
Ebd., Préface, Questions contemporaines, OC I, S. 14.
82 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch eine affaire, die die savants betrifft, den aristokratischen Teil der Menschheit, und das Wissen nimmt Züge einer elitären Ansammlung und Vermittlung intellektueller Energien an. Die Dynamik des Fortschritts, der Freiheit und Mobilität umfasst, geht jetzt völlig in der Freiheit der savants auf. Sie sind die Repräsentanten eines extrem kritischen Geistes auf höchstem Niveau, der die Unfreiheit der Massen voraussetzt, die in einer zwischen dem stumpfen Materialismus der jouissance und der blinden Hingabe an ein unverstandenes Ideal oszillierenden Perspektive gefangen sind. Die Elementarbildung fällt als erste diesem Projekt einer radikalen Trennung zwischen Hochkultur und Volk zum Opfer. Es sei eine Illusion, dass man aus einem von keinerlei innerem Licht erleuchteten ungebildeten Wesen, nur weil man es ein paar vernünftige Worte stammeln lässt, einen Menschen machen könne.41 Sie redet der „machine brutale“ das Wort und nährt die demokratische jalousie – mit schrecklichen sozialen Auswirkungen. Nicht die Bildung, sondern vielmehr die Religion muss für das Volk den Zugang zu den Idealen bilden. Die Religion ist in der Lage, die Gesellschaft zusammenzuhalten und den Opfern, die diese notwendig verlangt, einen höheren Sinn zu verleihen. Eine laizistische Bildung, welche die Ergebnisse der Wissenschaft allen zugänglich macht, ist folglich eine Gefahr für den homme de la foule, der die kritische und zersetzende Wirkung der Wissenschaft nicht aushalten kann, weil er nicht über die harte asketische Disziplin verfügt, die es dem savant ermöglicht, die Spannung zwischen dem kritischen Element und dem Ideal zu ertragen. Vor diesem Hintergrund sind Renans Befürchtungen über die religiöse Zukunft der modernen Gesellschaft zu sehen, die er in den Questions contemporaines und der Réforme zum Ausdruck bringt. Burckhardt teilt Renans Befürchtungen, was die Risiken der Volksbildung angeht. Auch seiner Meinung nach kann die allgemeine Bildung nur eine Verflachung der Werte hervorbringen und wird tödliche Folgen haben, allen voran eine Kultur nach dem Maßstab des allgemein verbreiteten Werts eines vom Mammon beherrschten Lebens, dem großen Maß aller Dinge. Die allgemeine Bildung wird auf 41
E. Renan, La Réforme intellectuelle et morale de la France, OC I, S. 71.
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diese Weise zu einem der Vehikel, durch die das Elend aufhört, politisch stumm zu sein. Die künstlich geweckten Bedürfnisse nehmen zu und aus dem mit der Illusion des Fortschritts verbundenen materialistischen Egoismus entsteht „das furchtbare Reich dieser Welt, der sich allerwärts aufbäumende, erbarmungslose Optimismus, bis auf die Arbeiter herab, welche im Wahn stehen sich ein Wohlleben erzwingen zu können das in keinem Verhältniß mehr zum allgemeinen Zustand der Gesellschaft stünde“.42 Burckhardt liest Renan aus einem schopenhauerschen Blickwinkel. Er tut dies hinsichtlich der Themen des materialistischen Genusses und des „ruchlosen Optimismus“, mit denen er das Modell einer Gesellschaft anprangert, die als Theater individueller und kollektiver Egoismen erscheint und deren Lebensform im vollsten Sinn die darwinistische Theorie eines Kampfs ums Dasein realisiert. Renan und Burckhardt teilen die pessimistische Ansicht vom Schicksal der europäischen Zivilisation. Während ersterer die Krise jedoch als Variante der historischen Form auffasst, in welcher sich die Theodizee vollzieht, und in der politischen Intervention ein Instrument der Vorsehung erblickt, durch das sich der Plan der Geschichtsphilosophie verwirklicht, gelangt letzterer zu einer Ideologie der Resignation und des Verzichts, in der nach dem Wegfall aller Hegemonieansprüche über die Welt die Rettung des kulturellen Erbes der Verwirklichung einer geistigen Ordnung anheimgestellt wird. Diejenigen Völker, die zu keiner moralischen Erneuerung fähig sind, schrieb Renan, „werden in dreißig Jahren nur noch aus kühnen Abenteurern bestehen, die untereinander das blutige Spiel von Bürgerkriegen austragen, und aus dem Gesindel, das dem Sieger des Tages applaudiert. Die Szenen, die den Herrschaftswandel im Römischen Reich des 1. und 3. Jahrhunderts begleiteten, werden sich wiederholen … Der blutbefleckte, perfide Verbrecher, der seinen Rivalen besiegt, wird als Retter des Vaterlands proklamiert“.43 Die Gefahr des Cäsarismus als Resultat des entgrenzten Materialismus einer 42
43
Brief an F. von Preen vom 19. September 1875, in J. Burckhardt, Briefe, Bd. VI, S. 55. E. Renan, Préface, Questions contemporaines, OC I, S. 28.
84 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Gesellschaft und der politischen Konvulsionen, die sich daraus ergaben, war für Renan die notwendige Folge der Zerstörung der traditionellen Obrigkeiten durch den Staatsapparat. Burckhardt hingegen warnte vor der Gefahr, dass sich der Staatsapparat in ein Objekt der Eroberung und ein Werkzeug in der Hand abenteuerlicher Demagogen verwandele. Beiden gemeinsam war die Sorge, dass Regierungen des ‚Volkes‘, ‚von unten‘, die über keine dynastische Kontinuität verfügen, den Verfall der Demokratie in cäsarischem Sinne herbeiführen könnten. Bekanntlich hat der Deutsch-Französische Krieg Jacob Burckhardt dazu verleitet, den Cäsarismus in wachsendem Maße mit dem Militarismus als Unterwerfung einer Gesellschaft unter einen despotischen Staat gleichzusetzen, der sich wie ein wissender Militärapparat bewegt. Der Cäsarismus stellte für Burckhardt einen negativen Ausweg aus der Krise dar, weil er die nihilistischen Tendenzen in der Gesellschaft perpetuiert und die Logik des Scheins sowie das törichte Streben des egoistischen Willens, Sklave des Optimismus und der daraus resultierenden Fortschrittsideologie, in den Vordergrund stellt. Für Burckhardt gibt es keine Lösung: Die herrschende Klasse kann der Krise nur siegreich die Gewalt eines brutal organisierten totalitären Staates entgegensetzen. Der Cäsarismus als Heilmittel ist schlimmer als die Krankheit. Diese Position wird im Licht der burckhardtschen Aufwertung der ‚Kultur‘ als Bewegung und unbezwingbare Spontaneität verständlich. Die Kultur entspricht den fließenden gesellschaftlichen Prozessen in ihrer Komplexität und Vielfältigkeit. Als kritische und verändernde Kraft verhält sie sich zu den zwei „stabilen Mächten“, Staat und Religion, die dagegen die Tendenz haben, die Bewegung in eine autoritäre Form zu verwandeln. Der Cäsarismus ist die extremste Form dieses Herrschaftswillens des Staates (der Politik) über andere Kräfte. Die Energie der unterdrückten Vielfalt kommt in der befreienden Krise zum Vorschein: „Ungeahnte Kräfte werden in den Einzelnen und in den Massen wach; und auch der Himmel hat einen andern Ton“.44 Die vielfältigen Kräfte treten erneut in ihrer Vitalität in Erscheinung und machen Schluss mit den veralteten, starren 44
J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, S. 261.
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Formen, die den Widerstand der jeweiligen Tradition verkörpern. Die gegenwärtige Situation ließ wenig hoffen: „Die sich Zurückhaltenden, aus Desperation, wie Jacob Burckhardt“, schrieb Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment (Nachlass 1875, KGW IV/1, 10[14]). Dem Historiker bleibt nur ein ‚geistiges Glück‘, „rückwärts gewandt zur Rettung der Bildung früherer Zeit, vorwärts gewandt zur heitern und unverdrossenen Vertretung des Geistes in einer Zeit, die sonst gänzlich dem Stoff anheimfallen könnte“,45 während der junge Philosoph – dieser Zeit an Wagners Seite – für eine Kultur kämpfte, die der Gesellschaft durch die Wiedergeburt des tragischen Geistes in Deutschland einen neuen Sinn verleihen sollte. Der Einfluss Burckhardts auf Nietzsche stellt ein immer größeres kritisches Gegengewicht zur germanischen Ideologie Wagners sowie „gegen die Überschätzung des Staates, des Nationalen“ allgemein dar.46 Die beiden Basler Professoren sahen in dem ‚zoologischen‘ Krieg zwischen den Nationen eine bedrohliche Gefahr für die Kultur. „Der Sieger wird meistens dumm, der Besiegte boshaft. Der Krieg simplificirt. […] Er ist ein Winterschlaf der Cultur“ (Nachlass 1874, 45 46
J. Burckhardt, Historische Fragmente, S. 269. Nachlass 1874, KGW III/4, 32[72]. Elisabeth Förster-Nietzsche sprach von dem „großen und mildernden Einfluß“, den Jacob Burckhardt auf ihren Bruder ausgeübt habe. Jener sei von Nietzsche „immer als einer der geistvollsten Vertreter der romanischen Kultur betrachtet“ worden, mit seiner Überwindung der nationalistischen Arroganz und Beschränktheit in dem „übernationalen“ Sinne, der „von jeher in der Art meines Bruders [lag]“ – im Gegensatz zu dem „ungeheuren Rausch des Stolzes und Sieges“, der Wagner nach dem Sieg Preußens so sehr angesteckt hatte, „daß er sich, als Frankreich in seiner Agonie lag, zu spottenden bitteren Worten gegen die romanische Civilisation und zu jener Verhöhnung: ‚Die Kapitulation von Paris‘ hinreißen ließ“ (E. Förster-Nietzsche, Einleitung zum Briefwechsel, S. 167–168). Diese Aussage zeigt, wie viel ausgewogener Elisabeth Förster-Nietzsches Position zu Beginn des 20. Jahrhunderts war und wie sehr sie sich damals noch des Einflusses der französischen Kultur auf Nietzsche bewusst war. In der Einleitung zur deutschen Übersetzung des Buches von Henri Lichtenberger schrieb sie: „Mit Jacob Burkhardt verband meinen Bruder auch die Schätzung der französischen Kultur, in der er sich schon sehr früh heimisch fühlte“. Zit. in J. Le Rider, Nietzsche und Frankreich, S. 366. Vgl. Vorwort, Fn. 2.
86 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch KGW III/4, 32[62]). Mehrmals spricht Nietzsche in dieser Zeit von der Regression des gegenwärtigen Menschen auf das „Raubthier“, das „durch die Wüste gejagt“ wird, „im zerfleischenden Kampfe mit andern Thieren“,47 die nur von unmittelbaren Instinkten geleitet sind. Nietzsches kurze Erfahrung als freiwilliger Krankenpfleger im Deutsch-Französischen Krieg bestätigte ihn in seiner antiheroischen, mitleidigen Haltung angesichts der Schlachtfelder mit ihrem Leichengeruch und den schwärenden Wunden. Das Vaterland und die Nation waren daher für Nietzsche (auch in seiner Jugend) lediglich untergeordnete Formen der Lebensäußerung. Noch in den letzten Aufzeichnungen vom Januar 1889 polemisierte er im Namen des Lebens, der Physiologie und der „großen Politik“ gegen den bewaffneten Frieden der europäischen Nationen und gegen den Krieg: „Daß man eine solche Auslese der Kraft und Jugend und Macht nachher vor die Kanonen stellt, ist Wa h n s i n n “ (Nachlass 1888–1889, KGW VIII/3, 25[15]). Burckhardt gibt dem Konzept des Cäsarismus eine neue Bedeutung, indem er einige Kategorien Schopenhauers gegen den Etatismus Hegels einsetzt. Er befürchtet, genau wie Schopenhauer, dass das Modell eines ethischen Staates eine Art ‚Staatsmaschine‘ sei, die im Grunde nach Uniformität und Vereinheitlichung strebt und dahin tendiert, die Vielfältigkeit, welche Religion und Kultur mit sich bringen, zu kontrollieren. In einem Brief an Preen heißt es: Für Sie, verehrter Herr und Freund, ist es nun am interessantesten, zu beobachten wie die Staats- und Verwaltungsmaschine militärisch umgestaltet werden wird […]; ich habe eine Ahnung, die vor der Hand noch völlig wie Thorheit lautet und die mich doch durchaus nicht loslassen will: der Militärstaat muß Großfabricant werden. Jene Menschenanhäufungen in den großen Werkstätten dürfen nicht in Ewigkeit ihrer Noth und ihrer Gier überlassen bleiben; ein bestimmtes und überwachtes Maß von Misere mit Avancement und in Uniform, täglich unter Trommelwirbel begonnen und beschlossen, das ist’s was logisch kommen müßte.48
47 48
Nachlass 1874, KGW III/4, 35[14], S. 440; vgl. SE 5, KGW III/1, S. 373–374. J. Burckhardt, Briefe, Bd. V, S. 160–161 (26. April 1872). Zu diesen Aspekten von Burckhardts Denken siehe K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 29ff.
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Der ethische Staat, so Burckhardt, sorgt wie der Militärapparat für die despotische Regulierung der Einzelegoismen. Die Verehrung des preußischen Soldaten für die Totalität tritt an die Stelle der für Kulturepochen prägenden spontanen Verehrung, die nicht durch das Räderwerk der Maschine erzwungen war. Burckhardt entgeht auch nicht, dass das amerikanische Beispiel eine falsche Umsetzung des romantischen Modells einer organischen Gemeinschaft ist und seinen despotischen Mechanismus unter dem falschen Anschein der Unmittelbarkeit und Spontaneität versteckt. Außerdem betont er den metaphysischen Charakter der wagnerschen Mythen – der despotische Schauspieler, der die Schwächen seiner Epoche beherrscht –, die weit entfernt sind von geistiger Spontaneität und keineswegs die Volksseele verkörpern: Was die Abnahme der geistigen Spontaneität in Deutschland betrifft, so wird […] die Sache […] einzig nur durch ascetische Menschen anders werden, welche unabhängig von den enorm vertheuerten großen Städten […] dem nationalen Geist und der wahren Volksseele wieder zum Ausdruck verhelfen werden. Einstweilen hat Richard Wagner den Vordergrund der Scene völlig inne. Ein Narr, wozu man ihn hat avancieren wollen, ist er nicht, sondern ein rücksichtsloser und kühner Mensch, der den Augenblick meisterlich am Schopfe faßt. Die sind Narren, welche er mit Füßen getreten und damit zur rückhaltlosen Huldigung bewogen hat.49
Cosimas Tagebücher bezeugen an verschiedener Stelle, wie sehr Wagner während des Krieges damit beschäftigt war, die Ereignisse mit seinem kulturellen Projekt in Einklang zu bringen. Er konzipierte das Kunstwerk neu, das vor dem Krieg die Funktion hatte, die neue Gemeinschaft zu schaffen und auf das bis dahin bloß ersehnte ideale Deutschland vorauszuweisen, indem er den preußischen Sieg als Resultat einer bereits existierenden, siegreichen deutschen Gemeinschaft darstellte, die in krassem Gegensatz zur romanischen Welt stand. Das Bombardement von Paris hat in der Tat, mehr als das Kunstwerk der Zukunft, die Welt „von dem Druck alles Schlechten“50 befreit und 49 50
J. Burckhardt, Briefe, Bd. V, S. 183 (an Preen, 31. Dezember 1872). C. Wagner, Tagebücher, 18. August 1870, Bd. 1, S. 272: „R. sagt, er hoffe, daß Paris, ‚diese Femme entretenue der Welt‘, verbrannt würde, er habe Blücher in der Jugend nicht verstanden, der das gewollt, und habe es mißbilligt, jetzt ver-
88 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch den Sieg über die „freche Mode“, den Luxus und die Korruption der Zivilisation herbeigeführt. Der Chor des Kunstwerks, der die zukünftige Gemeinschaft präfiguriert, wird jetzt zur Transfiguration und Sublimation der militärischen Macht: „Gestern sagte R. bei Gelegenheit der Choräle, die unsre Soldaten nach den Schlachten singen; wenn mich einer früg, gibt es denn einen Gott?, würde ich erwidern: Hörst du ihn denn nicht? In diesem Augenblick, wo diese Tausenden von Menschen ihn singen, da lebt Gott, da ist er“.51 Wagner ist bereit, sich mit der materiellen Macht des Reichs zu versöhnen, ohne Schamgefühl die Wahl zu treffen, die Thomas Mann als ‚machtgeschützte Innerlichkeit‘ bezeichnet hat. Wagner lässt das romantische Motiv der Gemeinschaft im künstlichen Organismus des Militärapparats aufgehen, der sich – im Gegensatz zum Geist der Französischen Revolution – der feudalen Tugend der Verehrung bedient. Er vergleicht „die humanistischen Völker, die durch die französische große Revolution geblendet […] von der Republik die Glückseligkeit auf Erden“ erwarten, mit dem deutschen Volk, das keine derartigen Illusionen hat („Der Deutsche dagegen macht sich kein Wahngebilde“). In dem absoluten Gehorsam eines „preußischen Offiziers“, so Wagner, liege „ein tiefer Sinn und eine tiefe Erkenntnis“.52 Wagners Gedanken sind gewiss nicht originell. Sie sind Teil einer Debatte über den preußischen Sieg, als Folge der Überlegenheit der streng hierarchischen Ordnung der Deutschen, im Gegensatz zur französischen Gesellschaft, die permanent vom revolutionären Geist angekränkelt ist.53 Lange Zeit beschäftigte diese Debatte die deut-
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stünde er ihn, der Brand von Paris würde das Symbol der endlichen Befreiung der Welt von dem Druck alles Schlechten“. Wagner tat die Absicht kund, an Bismarck zu schreiben, damit dieser die Zerstörung von Paris befehle. So änderte der anarchische Jugendtraum Wagners, den Ort der bürgerlichen Korruption zu verbrennen, die Vorzeichen und suchte eine verbündete Macht, die zu seiner Verwirklichung bereit wäre. Ebd., 2. November 1870, Bd. 1, S. 308. Ebd., 9. Dezember 1870, Bd. 1, S. 321f. Vgl. hierzu die bedeutende Abhandlung von C. Digeon, La crise allemande de la pensée française.
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schen und französischen Intellektuellen. Der Ausgang des Krieges und vor allem die Pariser Kommune nährten eine Diskussion, die jenseits aller patriotischen, militärischen und politisch-diplomatischen Argumente im engeren Sinn zwei verschiedene Gesellschaftsmodelle im Blick hatte. Einer der ersten, der in dieser Debatte das Wort ergriff, war Renan. In den Questions contemporaines hatte er den siegreichen Ausgang eines modernen Krieges (in Bezug auf Sadowa) zum Kriterium für die Vitalität der sozialen Ordnung gemacht: Das plötzliche und triumphierende Erscheinen Deutschlands auf dem großen europäischen Schlachtfeld ließ den Gedanken aufkommen, die Waffen und die militärischen Einrichtungen nachzuahmen, von denen eine solche Überlegenheit ausgegangen war … Da der Krieg im modernen Zeitalter zu einem wissenschaftlichen und moralischen Problem geworden ist, zu einer Frage der Verehrung und der Wissensindustrie, zu einem Kriterium für die Beurteilung des Werts einer Rasse […], [wird] den endgültigen Sieg das gebildetste und sittlichste Volk […] davontragen, wenn wir unter Sittlichkeit Opferbereitschaft und Pflichtbewusstsein verstehen.54
Mit dem Ausdruck guerre savante bezeichnet Renan die Werte, auf denen die Gesellschaft aufzubauen ist, die er in jenen Jahren erträumt.55 Die militärische Überlegenheit Preußens rechtfertigt ein Gesellschaftsmodell, in dem sich wissenschaftlich-industrielle Modernität und feudale Strukturen des Ancien régime miteinander verbinden. Hier sucht Renan ein Heilmittel gegen die Übel Frankreichs. Die enorme Dynamik des Militärapparats (der zur Metapher für die moderne Gesellschaft wird, wie der Vergleich mit den „outillages industrielles“ zeigt) beweist die Herrschaftsfähigkeit der wissenschaftlichen Elite, aber sie beweist auch, dass ihr Funktionieren ein gefügiges Räderwerk voraussetzt, dessen egoistische Selbstbestätigung völlig in der Treue zum Funktionieren aufgeht. Die Eigenschaften der Gefügigkeit und der Hingabe sind jedoch charakteristisch für das Ancien régime:
54 55
E. Renan, Préface, Questions contemporaines, OC I, S. 23–24. Vgl. R. Pozzi, Gli intellettuali e il potere, S. 215.
90 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Der Krieg ist im Wesentlichen eine Angelegenheit des Ancien régime. Er setzt das Fehlen egoistischer Gedanken voraus, da nach dem Sieg diejenigen, die am meisten dazu beigetragen haben, nämlich die Toten, am wenigsten davon haben. Er ist das Gegenteil der fehlenden Entsagung und unerbittlichen Einforderung individueller Rechte, die für den Geist der modernen Demokratie kennzeichnend sind. Mit diesem Geist lässt sich kein Krieg führen. Die Demokratie zersetzt die militärische Ordnung. Die militärische Ordnung gründet auf Disziplin; die Demokratie ist die Negation der Disziplin […]. Der Sieg Deutschlands war der Sieg disziplinierter Menschen über die undisziplinierten, der Sieg der gehorsamen, aufmerksamen, methodischen über die, die dies alles nicht sind; es war der Sieg der Wissenschaft und der Vernunft, aber gleichzeitig auch der Sieg des Ancien régime, desjenigen Prinzips, das die Volkssouveränität leugnet sowie das Recht der Völker, ihr Schicksal selber zu entscheiden.56
Deshalb gehört die Zukunft den feudalen Rassen, die noch viele vitale Kräfte in Reserve haben, die eine kantische Pflichtauffassung besitzen und für die das Wort Revolution keine Bedeutung hat. In diesem Sinn ist die politische Stimmung der Réforme alles andere als die Sehnsucht nach der Restauration vergangener Strukturen (auch wenn dies der augenscheinlichste Aspekt ist, und derjenige, der ausschlaggebend war für den Erfolg der Schrift in den legitimistischen Kreisen und der Action française). Renan verbindet auf diese Weise das romantische Thema des Volkes, das in sich ursprüngliche und intakte, noch nicht vom Materialismus der bürgerlichen Ethik verdorbene Tugenden bewahrt hat, mit dem positivistischen Thema des Sozialapparats. Paradoxerweise mündet Renans Romantizismus, den Nietzsche zutiefst ablehnt, in der Akzeptanz einer durch die hierarchische Struktur des Heeres disziplinierten technisierten Gesellschaft (im „Amerikanismus“), so wie Wagners Verbindung von Hierarchie und Gemeinschaft das tyrannische „Genie“ im Mittelpunkt hat. Es ist ein autoritäres Modell, das ein Zentrum und eine Hierarchie voraussetzt. Gegen dieses Modell wird Nietzsche Burckhardts Betrachtungen über die Krise geltend machen. Burckhardt, der Theoretiker der Krise, bildet für Nietzsche ein Gegengewicht zum Einfluss Wagners. Letzterer hatte in seiner ArtistenMetaphysik den Mythos und die regenerierende Kraft der Musik ge56
E. Renan, La Réforme, OC I, S. 249.
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gen das atomistische Chaos der Moderne ins Spiel gebracht. Die Lektüre Burckhardts ermöglicht Nietzsche die Interpretation der Krise als Entwicklung miteinander streitender Kräfte. Die griechische Gesellschaft erscheint ihm reicher in Bezug auf die „‚Exclusivität‘ des Genius im modernen Sinne“ (CV, KGW III/2, S. 283). Nietzsche stellt jetzt dem Mythos des vereinheitlichenden Genies, in dem er einen Ausdruck der Schwäche seiner Zeit erblickt, den Gedanken des Basler Historikers gegenüber, dass „in einer natürlichen Ordnung der Dinge, es immer m e h r e r e Genies giebt, die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes halten“ (ebd.). Die schöne Form ist nunmehr lediglich das Resultat entgegengesetzter Kräfte, Ausdruck der Pluralität und der Heftigkeit der Kämpfe zwischen den pòleis. Burckhardts Wertschätzung der griechischen Gesellschaft, als eine vom Agon und der Vielfalt höherer Individuen charakterisierte, wird für Nietzsche zum Auslöser der Kritik an der tyrannischen Haltung des wagnerschen Genies, welches Ausschließlichkeit beansprucht. In Analogie dazu sah Burckhardt in der historischen „Krise“ eine Chance für neue, große Individualitäten: Diese „großen Männer sind zu unserm Leben nothwendig damit die weltgeschichtliche Bewegung sich periodisch und ruckweise frei mache von bloßen abgestorbenen Lebensformen und von reflectirendem Geschwätz“.57 Nietzsches Texte bezeugen den steinigen Weg ihres Verfassers, sein Schwanken zwischen Burckhardt (der Mythos einer Form, die das Ergebnis eines Kampfes entgegengesetzter Kräfte ist) und Wagner (der Mythos der geschlossenen Form). Beide Modelle existieren in Nietzsche lange Zeit auf unbewusst widersprüchliche Art nebeneinander: „Deshalb waren die Individuen im Alterthume freier, weil ihre Ziele näher und greifbarer waren. Der moderne Mensch ist dagegen überall gekreuzt von der Unendlichkeit, wie der schnellfüßige Achill im Gleichnisse des Eleaten Zeno: die Unendlichkeit hemmt ihn, er holt nicht einmal die Schildkröte ein“ (CV, KGW III/2, S. 284). Nach dem Bruch mit Wagner wertet Nietzsche Burckhardt, die Vielfalt und
57
J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, S. 301.
92 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch den Widerspruch auf. Der deutsche Philosoph widersetzt sich jetzt einer Verurteilung der Décadence im Namen erreichter Werte und Ideale und schätzt in ihr vielmehr gerade den Charakter eines Zwischenzustands. Krise und Krankheit werden von nun an ein festes Begriffspaar und die Krankheit erscheint nunmehr, nicht zuletzt im Zusammenhang mit positivistischen Anschauungen, als spontanes Experiment einer pathologischen Deformation, als Übertreibung, welche die im normalen Gleichgewicht des Organismus verborgenen Kräfte sichtbar werden lässt. Nach der Befreiung, die sich mit dem Namen Burckhardt verbindet, findet Nietzsche in den französischen Physiologen und ihren naturwissenschaftlichen Begriffen die Beschreibung der Krise als „Krankheit“ und „Fieber“, die nicht übermäßig werden dürfen, damit die Kranken nicht daran zu Grunde gehn. Vor allem die Lektüre von Bourgets Essais im Winter 1883 öffnet dem Philosophen die Möglichkeit, die ganze Thematik der Krise am Beispiel zentraler, symptomatischer Figuren zu beschreiben. Auf seiner „Reise nach Cosmopolis“ – die Pariser Kultur, wie sie der moderne Psychologe beschreibt – gewinnt Nietzsche zahlreiche Anregungen, die er benutzt, um die soziale Krise und die Wertekrise zu beschreiben, indem er die literarischen Tendenzen als Symptome eines umfassenderen Gesundheitszustands einer ganzen Gesellschaft auffasst. Anderen Autoren, mit denen er sich nach und nach vertraut macht, entnimmt er auch eine neue Lesart des ‚Falles‘ Renan.
3. Parfum Renan: „la niaiserie religieuse par excellence“ „Spott gegen die Idealisten, welche dort die ‚Wa h r h e i t ‘ glauben, wo sie sich ‚gut‘ oder ‚erhoben‘ fühlen. Klassisch: Renan, citirt bei Bourget“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 43[2]). Nietzsche bezieht sich hier auf ein ausführliches Zitat in Bourgets Essais de psychologie contemporaine aus Renans Abhandlung L’avenir religieux des sociétés modernes, welche auch Burckhardt interessiert hat und die er selber im Aph. 48 von Jenseits von Gut und Böse aufgreifen wird. Bourget schätzt Renans Umwandlung des alten Glaubens in einen höheren Idealismus:
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Mit welcher Überzeugungstreue behauptete er, dass der Mensch in seinen besten Augenblicken immer am religiösesten ist. Wenn er gut ist, dann will er nämlich, dass die Tugend einem ewigen Gebote entspricht, dann betrachtet er die Dinge in uneigennütziger Weise, dann findet er den Tod empörend und abgeschmackt. Warum soll man nun nicht annehmen, dass der Mensch in solchen Augenblicken am besten sieht? […] Warum sollen wir nicht gerade heraus sagen, dass die Religion ein Erzeugnis des normalen Menschen ist, und dass der Mensch sich am meisten der Wahrheit nähert, wenn er am religiösesten und von einem ewigen Sein am meisten überzeugt ist?58
Nietzsche verwendet einzelne Elemente von Bourgets umfassender Analyse (darunter das religiöse Erbe des ‚keltischen Bluts‘), ohne die Bewunderung für Renans Idealismus zu teilen. Ein einziges Beispiel sei erwähnt. Der in Bourgets Augen unangemessene Spott, mit dem Renans Gleichsetzung von Gott und Ideal sowie die fast erotische Verherrlichung Gottes als „Kategorie des Ideals“ und Synthese des Guten, Schönen und Wahren aufgenommen wurde, ist für Nietzsche absolut gerechtfertigt: „Spott gegen die Idealisten“. In den letzten Jahren erschienen Nietzsche der christliche Idealismus Renans und sein „zu süßlich[er] und undulatorisch[er]“ Dilettantismus59 als Symptome einer umfassenderen „Krankheit des Willens“, die das moderne Zeitalter charakterisiert und die vor allem, wie noch zu sehen sein wird, in Frankreich weit verbreitet war: „Dieser Geist Renan’s, ein Geist, der e n t n e r v t , ist ein Verhängniss mehr für das arme, kranke, willenskranke Frankreich“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 2). Dies sind die Begriffe, mit denen Bourget Renan in den Essais de psychologie contemporaine charakterisiert. Von Paul Bourget stammen zum Beispiel der Begriff ‚morbide‘ zur Beschreibung des nihilistischen Grundes des ‚epikureischen Dilettantismus‘ Renans, sowie die Begriffe tendre und mélancolique zur Bezeichnung einer religiösen Sensibilität, die von dem Erbe des keltischen Blutes herstammt. Paul Bourget hob den „keltischen“ Charakter von Renans Idealismus ganz besonders hervor, indem er auf die Studie Poésie des races celtiques verwies.60 In Jenseits von Gut und Böse erinnert Nietzsche an das ‚kel58 59 60
Vgl. P. Bourget, Essais, S. 91 (dt. Übers. S. 68). An Resa von Schirnhofer in Paris, 11. März 1885, KGB III/3, S. 18. P. Bourget, Essais, S. 47 (dt. Übers. S. 41). La poésie des races celtiques hat auch
94 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch tische Blut‘ Renans, um dessen Gemisch aus Skeptizismus und Verehrung zu erklären, und fügt hinzu, dass die Kelten „auch den besten Boden für die Aufnahme der christlichen Infektion im Norden abgegeben haben“ (JGB 48). In den literarischen Erinnerungen an die bretonischen Traditionen in den Souvenirs (die Nietzsche in der 2. Auflage, Paris 1883, in seiner Bibliothek hatte) präsentierte Renan ein Volk, das nicht von der Vulgarität der egoistischen, utilitaristischen und daher atheistischen modernen Gesellschaft angesteckt war und dessen Charakter er sich selber zuschrieb: „Der charakteristische Zug der keltischen Rasse ist ihr Idealismus […]. Nie war ein Volk untauglicher für Handel und Industrie“.61 Die Verrückten, die in seiner Kindheit frei in den Straßen von Tréguier umherliefen, sind Erben von „Völkern des Traums, die sich in der Verfolgung des Ideals verlieren“.62 Der Traum, der die Realität ersetzt, prägt die keltische Seele, und ihr Durst nach Abenteuern bewegt sie dazu, das Unbekannte zu suchen, „endlos dem stets flüchtigen Objekt des Verlangens nachzulaufen“. Der Wille nach Unendlichkeit und Illusion nähert sich dem Narkotischen: „Dieses Volk will das Unendliche; es dürstet danach, es verfolgt es um jeden Preis, über das Grab, über die Hölle hinaus. Der wesentliche Fehler der keltischen Völker, ihre Neigung zur Trunkenheit, die allen Überlieferungen des 6. Jahrhunderts zufolge der Grund für ihr Unglück war, hat mit diesem unbesiegbaren Bedürfnis nach Illusionen zu tun“.63 Auch hier hat der sanfte Idealismus Jesu in seiner nordischen Variante den Vorrang, wie ihn die Bretonen in ihrem täglichen Leben praktizieren. Das „Evangelium der Erniedrigten“ geht vom Primat der Moral aus. In der Logik der Dialogues verschwindet die Gestalt Jesu und überlässt das Feld ganz dem All-Gott und den wissenschaftlichen Tyrannen, göttliche Übermenschen, die in der
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die Aufmerksamkeit der Familie Wagner erweckt. Der Aufsatz sei ein Zeugnis „für die oberflächliche, sentimental poetische Art, in welcher die bedeutendsten Franzosen selbst wissenschaftliche Gegenstände behandeln; vor allem leuchtet die Unkenntnis des deutschen Wesens hervor“ (C. Wagner, Tagebücher, 7. März 1878, Bd. 2, S. 59–60). E. Renan, Souvenirs, OC II, S. 761. Ebd., S. 734. E. Renan, Essais de morale et de critique, OC II, S. 259.
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Lage sind, ihre Herrschaft mit der Drohung einer tatsächlichen Hölle durchzusetzen. Bourget erliegt der Faszination dieser Art dekadenten Lebens und sieht in Renan einen homme supérieur und seinen Lehrer, ja er erklärt sich als Schüler „von Montaigne und von Herrn Renan“.64 Nietzsche hingegen widersetzt sich der Verdorbenheit und Falschheit von Renans Instinkt sowie der Unentschlossenheit seines Dilettantismus.65 Er gelangt dahin, in Renan, „in dem alle Augenblicke irgend ein Nichts von religiöser Spannung seine in feinerem Sinne wollüstige und bequem sich bettende Seele um ihr Gleichgewicht bringt“, seinen „Antipoden“ zu sehen (JGB 48). Nietzsches harte und farbenreiche Charakterisierung Renans verdankt sich außerdem auch Doudan und Barbey d’Aurevilly. Im Fragment 26[446] (Nachlass 1884, KGW VII/2) entnimmt er Doudan ein wörtliches Urteil über die „große Kokette unter den Theologen und Gelehrten“: Renan, von dem Doudan sagt: „er giebt den Leuten seiner Generation, was sie in allen Sachen wollen, des bonbons, qui sentent l’infini“. „Ce style rêveur, doux, insinuant, tournant autour des questions sans beaucoup les serrer, à la manière des petits serpents. C ’ e s t a u x s o n s d e c e t t e m u s i q u e - l à , q u’ o n s e r é s i g n e à t a n t s’ a m u s e r d e t o u t , q u’ o n s u p p o r t e des despotismes e n r ê v a s s a n t à l a l i b e r t é “.66
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Zitiert nach R. Pouillart, Paul Bourget et l’esprit de décadence, S. 206. Bourget, welcher der kritischen Theorie Taines manches verdankt, sagte 1879: „Taine hat Talent, Renan mehr als das“ (ebd). In einem Brief an Doss vom 1. März 1860 (zit. nach R.-P. Colin, Schopenhauer en France, S. 107) urteilt Schopenhauer über Renan – sich auf den im Anhang zu den Dialogues philosophiques wiederabgedruckten Aufsatz La métaphysique et son avenir (1860) beziehend, in dessen Mittelpunkt das Verhältnis zwischen dem Spezialistentum des philologischen Arbeiters und der umfassenden Vision der Philosophen steht – und antizipiert Nietzsches Urteil über den Dilettantismus Renans, der nicht in der Lage ist, ein entschiedenes Ja oder ein entschiedenes Nein zu formulieren (vgl. GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 2). Vgl. X. Doudan an Piscatori, 6. April 1868, in: Lettres, Bd. IV. Vgl. auch Nachlass 1885, KGW VII/3, 38[5]: „Renan, eine Art katholischer Schleiermacher, süßlich, bonbon, Landschaften und Religionen anempfindend“.
96 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Nietzsche stimmt auch völlig mit Barbey d’Aurevilly überein, bei dem er die Bejahung der ‚Energie‘ und Kraft im Gegensatz zu Renans Schwäche und Unentschlossenheit (la ‚souplesse‘) bewundert, die zu einem radikalen Atheismus, zu einer entschiedenen, an die ‚herkuleische Wissenschaft‘ geknüpften Gottlosigkeit unfähig ist. Der Verfasser der Vie de Jésus besitzt weder die leidenschaftliche Begeisterung für den Irrtum noch den unversöhnlichen Hass auf die Wahrheit, und auch nicht die heidnische Bewunderung des Menschen durch den Menschen, der zum einzigen Gott geworden ist, den es geben kann […]. Stellt diese Termite der unbestimmten Kritik, die vorsichtig zwischen den Texten herumschleicht, in die teuflische Klarheit eines Voltaire oder in die lodernde Flamme eines Diderot, und er wird wie ein Nichts untergehen.
Von der Lektüre der Vie de Jésus hatte Barbey d’Aurevilly einen „Antichrist“ erwartet: „Aber nein, er ist nicht einmal zum Lachen, denn er ist fade und langweilig“. Der Katholik d’Aurevilly trauert der Kraft des Atheismus eines Voltaire nach und gelangt zu einem grausamen Porträt des Historikers Jesu: „Keinerlei männliches Temperament, kein Anflug von Muskulatur in diesem weichen Talent […] Seine Schwäche entsprach der Schwäche seines Jahrhunderts: zwei gleichermaßen blutleere Bilder! Der dicke, rosige Eunuche war für Byzanz geschaffen“.67 Nietzsche greift das Bild Renans als eines „Eunuchen“ auf. Im Vergleich zu den ‚nihilistischen Historikern‘ (implizit bezieht er sich hier auf Taine) sind die „Beschaulichen“ hundert Mal schlimmer: „ich wüsste Nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein ‚objektiver‘ Lehnstuhl, solch ein duftender Genüssling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verräth, was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Scheere ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat!“ (GM III 26) Auch in Bezug auf die Geschichte des Christentums wird Nietzsche eine sehr kritische Position entwickeln, bis hin zum Sarkasmus. In seinen frühen Schriften hatte, wie wir gesehen haben, Renans Kon67
J. Barbey d’Aurevilly, Les philosophes et les écrivains religieux, S. 127, 128; siehe aber das ganze Kapitel zu M. E. Renan (S. 109–147). Vgl. außerdem J. Petit, Barbey d’Aurevilly critique, S. 319ff.
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zeption Jesu als ‚Held‘ und ‚Genie‘ Nietzsches volle Zustimmung gefunden und wurde polemisch gegen Strauß gerichtet, welcher durch die Enthüllung der mythischen Struktur des Christentums versucht hatte, dieses zu zerstören. Nietzsche hatte im Licht der „Artisten-Metaphysik“ das Wesen der Religion gerade in ihrer „mythenbildenden Kraft und Freiheit“ gesehen. Der Nietzsche des Antichrist richtet seine Polemik dagegen unmittelbar gegen Renans Jesus als charmeur, Genie und Held, in dem er jetzt das Symptom der Korruption der Vernunft und der tiefsten Instinkte sieht. Renans Grobheit in psychologicis („Und in Paris glaubt man, daß Renan an zu vielen finesses leidet! …“) stellt Nietzsche jetzt Dostojewski gegenüber, den er in französischer Übersetzung liest. Ich kenne nur Einen Psychologen, der in der Welt gelebt hat, wo das Christenthum möglich ist, wo ein Christus jeden Augenblick entstehen kann … Das ist Dostoiewsky. Er hat Christus errathen: – und instinktiv ist er vor allem behütet geblieben diesen Typus sich mit der Vulgarität Renans vorzustellen […] Aber kann man ärger fehlgreifen, als wenn man aus Christus, der ein Idiot war, ein Genie macht? Wenn man aus Christus, der den Gegensatz eines heroischen Gefühls darstellt, einen Helden herauslügt? (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 15[9])
Das Wort „impérieux“, das Renan in Les Evangiles gebraucht,68 „annullirt allein schon den Typus“ (AC 32). Nietzsche, der mit der „Strenge des Physiologen“ (AC 29) sprechen will, charakterisiert Jesus so: extreme Unfähigkeit die Realität zu verstehen („er bewegt sich im Kreise um fünf, sechs Begriffe“), Fehlen jeglicher Form von Männlichkeit („das gehört zum Typus gewisser epilepsoider Neurosen“): Jesus ist in seinen tiefsten Instinkten unheroisch: er kämpft nie […] Nicht der entfernteste Hauch von Wissenschaft, Geschmack, geistiger Zucht, Logik hat diesen heiligen Idioten angeweht: so wenig als ihn das Leben berührt hat. – Natur? Gesetze der Natur? Niemand hat ihm verrathen daß es eine Natur giebt. Er kennt nur moralische Wirkungen: Zeichen der untersten und absur68
E. Renan, Les Évangiles, OC V, S. 86. Vgl. den Abschnitt, den Nietzsche im Nachlass 1886–1887, KGW VIII/1, 5[43] zitiert: „‚ce jeune Juif, à la fois doux et terrible, fin et impérieux, naif et profond, rempli du zèle désintéressé d’une moralité sublime et de l’ardeur d’une personnalité exaltée‘ (‚les évangiles‘) Renan“.
98 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch desten Cultur. Man muß das festhalten: er ist Idiot inmitten eines sehr klugen Volkes … Nur daß seine Schüler es nicht waren – Paulus war ganz und gar kein Idiot! – daran hängt die Geschichte des Christenthums.69
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Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[38]. Vgl. Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[368] und [369] sowie Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[90] und 15[9]. Nietzsche beschreibt in diesen Fragmenten die Physiologie Jesu. Die Quelle ist Dostojewski. Die Frage der Lektüre von Dostojewskis Idioten, dem Nietzsche die Züge Jesu entnommen hat, ist ein offenes Problem. Eine indirekte Quelle ist möglicherweise De Vogüés Werk Le Roman russe (1886), welches Aufsätze versammelt, die bereits in der von Nietzsche sehr geschätzten „Revue des deux mondes“ (1885–86) erschienen waren. Der Aufsatz über Dostojewski (15. Januar 1885) ist sehr wichtig im Hinblick auf die Interpretation, die von dem russischen Schriftsteller gegeben wird und in vielen Punkten derjenigen Nietzsches gleicht. Insbesondere De Vogüés Lektüre des Idioten ist eine physiologisch-psychologische. Der französische Kritiker vergleicht den von Dostojewski geschilderten „Typus“ mit den Empfindungen des Evangeliums. Indem er diese Analyse bis auf den Grund verfolgt, schreibt er: „Unaufhörlich kommt der Autor auf seinen beharrlichen Gedanken, die Überlegenheit der geistig Armen und Leidenden zurück; ich möchte diesem Gedanken daher auf den Grund gehen. Warum diese Erbitterung aller russischen Idealisten gegen das Denken, gegen die Lebensfülle?“ „Hier liegt, glaube ich, der geheime, unbewusste Grund dieser Unvernunft. Sie haben ein Gespür für die Grundwahrheit, dass leben, handeln, denken bedeutet, ein unentwirrbares Werk des Guten und Bösen zu tun; wer handelt, schafft und zerstört zugleich, verschafft sich auf Kosten von etwas oder jemandem Raum. Nicht denken, nicht handeln heißt, diesem Verhängnis, der Hervorbringung des Bösen neben dem Guten, auszuweichen; sie flüchten sich ins Nichts, bewundern und heiligen den Idioten, den Neutralen, den Untätigen. Zwar tut er nichts Gutes, aber er tut auch nichts Schlechtes, deshalb ist er in ihrer Weltauffassung der Beste“ (Les écrivains russes contemporains, S. 346). Die Nähe zur Thematik Nietzsches scheint mir evident. Ein weiterer Aufsatz von De Vogüé (Un nouveau roman de Dostoievski) betont die analytische Schärfe der Psychologie des russischen Schriftstellers. Man vergleiche jedoch auch ganz allgemein den Artikel von A. Mori, Dostoievski, eine Besprechung der französischen Übersetzungen von: Humiliés et Offensés und Le Crime et le Châtiment. Neben dem unendlichen Mitleid „für die Elenden, die Erniedrigten und Verwirrten“, das für Mori aus dem Werk Dostojewskis ein „düsteres Bild des menschlichen Leidens“ macht, insistiert er auf dem pathologischen Charakter der Beschreibungen: „Manch einer wird sich nach der Lektüre seiner Bücher sicher vom Schauder des Wahnsinns erfasst gefühlt haben, wie nach einem Besuch im Irrenhaus“. Er spricht von der in Russland verbreiteten „Nervenkrankheit“: „Diese Verwirrung ist aus
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Auch in diesem Fall bezeugt Nietzsches Text filigran ein komplexes Gewebe und ebenso komplexe Gedankengänge. Dostojewksi und Tolstoi (Ma religion, 1885) lasen beide Renan. Nietzsche las alle drei und ließ sie im Antichrist abwechselnd auftreten. Man erkennt dies u.a. am Thema „Himmelreich“, sowie an den Themen „Ebionismus“ und „Nichtwiderstand gegen das Böse“,70 dem „politischen Verbrecher“ Jesus und dem „heiligen Anarchisten“.71 Die größere Kohärenz von Tolstois christlicher Praxis, die sich gegen den Staat und die Kirche richtet, ist für Nietzsche dennoch ein Ausdruck des physiologischen Verfalls. Ma religion paraphrasierend und kommentierend, schreibt er: „Das w a h r e Leben nur ein G l a u b e (d.h. ein Selbstbetrug, ein Irrsinn) Das ganze ringende kämpfende voll Glanz und Fins-
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einem plötzlichen Konflikt zwischen den alten Instinkten eines mystischen Volkes und dem Bedürfnis zu handeln entstanden, das sich unversehens der neuen Generationen bemächtigt hat“. Napoleon und der Positivismus hätten das Land vom mystischen Traum erweckt und zu einer „krankhaften Bewunderung der Kraft“ geführt. „Das russische Übel ist die Unmöglichkeit zu wollen, die Verzweiflung über die Vergeblichkeit der Anstrengung“. Mori vergleicht Dostojewski hinsichtlich seiner analytischen Fähigkeiten mit Stendhal und hinsichtlich seiner Evokationskraft und Imagination mit Zola. Um einen Überblick über die Verbreitung des russischen Romans in Frankreich zu erhalten, der in den achtziger Jahren sehr in Mode war, lese man die Kapitel „Exotisme“ und „Les brumes du Nord“, in: E. Carassus, Le snobisme et les lettres françaises, S. 337ff. Nietzsche übernimmt dieses Thema, das für das Verständnis des von ihm präsentierten Christus ohne Ressentiment von zentraler Bedeutung ist, unmittelbar von Tolstoi. Vgl. AC 29: „die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral (‚widerstehe nicht dem Bösen‘ das tiefste Wort der Evangelien, ihr Schlüssel in gewissem Sinne)“ sowie Tolstoi, Ma religion, S. 12: „Der Passus, der für mich der Schlüssel zu allem wurde, ist in den Versen 38 und 39 von Matth. 5 geborgen: ‚Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel‘“. Vgl. auch Nietzsche, Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[246],[247] und Tolstoi, Ma religion, S. 42ff. Zu Nietzsches Tolstoi-Lektüre vgl. die Exzerpte aus Ma religion: Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[236]-11[282]. Einige dieser Exzerpte wurden zu ‚Aphorismen‘ des Willen zur Macht. Zum Verhältnis Nietzsche und Tolstoi hinsichtlich der Frage des Judentums vgl. A. Orsucci, Orient-Okzident, S. 335ff.
100 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch terniß wirkliche Dasein nur ein schlechtes, falsches Dasein: von ihm e r l ö s t werden ist die Aufgabe“.72 Ein wiederkehrendes Thema Nietzsches, das auf Renan zurückgeht und verschiedene literarische Ausarbeitungen erfährt, ist das der Funktion und Bedeutung des Martyriums. „In Wirklichkeit stirbt man für den Glauben, nicht für Gewissheiten, weil man glaubt, nicht weil man weiß. Der Wissenschaftler, der einen Lehrsatz entdeckt hat, muss nicht sterben, um dessen Wahrheit zu beweisen. Er demonstriert ihn und das genügt … der Märtyrer hingegen empfindet keineswegs die Wahrheit einer Doktrin, er empfindet den Eindruck, den sie auf seine Seele macht, und das ist es, was ausschlaggebend ist für ihren Erfolg“.73 Und Nietzsche: „Dass Märtyrer Etwas für die Wahrheit einer Sache beweisen, ist so wenig wahr, dass ich leugnen möchte, es habe je ein Märtyrer überhaupt Etwas mit der Wahrheit zu thun gehabt. […] Die Märtyrer-Tode, anbei gesagt, sind ein grosses Unglück in der Geschichte gewesen: sie v e r f ü h r t e n […] Die Märtyrer schadeten der Wahrheit“ (AC 53). In diesem Zusammenhang spricht Nietzsche sogar von der aristokratischen Überlegenheit des Pilatus: „Einen Judenhandel e r n s t z u n e h m e n – dazu überredet er sich nicht. Ein Jude mehr oder weniger – was liegt daran? … Der vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Missbrauch mit dem Wort ‚Wahrheit‘ getrieben wird, hat das neue Testament mit dem einzigen Wort bereichert, d a s We r t h h a t , – das seine Kritik, seine Ve r n i c h t u n g selbst ist: ‚was ist Wahrheit!‘ …“ (AC 46). Renan hatte seinerseits betont: Ihm [Pilatus] waren die inneren Zwistigkeiten der Juden ganz gleichgültig, und er sah alle diese sektiererischen Bewegungen lediglich als Ausgeburten ungezügelter Phantasien und überreizter Hirne an. Im allgemeinen liebte er die Juden 72
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Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[263]. Vgl. L. Tolstoi, Ma religion, S. 121: „Das Leben, so wie es sich auf der Erde darstellt, mit all seinen Freuden, seinem Glanz, den Kämpfen der Vernunft gegen die Finsternis, das Leben aller Menschen, die vor mir gelebt haben, und mein ganzes Leben mit meinen inneren Kämpfen und dem Sieg meines Verstands – all dies ist nicht das wahre Leben, es ist das unwiederbringlich schlechte Leben ohne Gnade; das wahre Leben aber, ohne Sünde, ist allein im Glauben, das heißt im Wahn“. E. Renan, L’Église chrétienne, OC V, S. 576.
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nicht. […] Ihr beschränkter Fanatismus, ihre Ausbrüche religiösen Hasses verletzten das starke Gefühl für Gerechtigkeit und bürgerliche Ordnung, welches auch den Römer von mittelmäßigem Bildungsgrad stets auszeichnete. […] Darauf soll er [Jesus] die Art seines Königtums dahin bestimmt haben, daß der ganze Inhalt desselben im Besitz und der Verkündigung der Wahrheit bestehe. Aber eine solche Erhabenheit der Gedanken konnte Pilatus nicht fassen. […] Bei ihrem völligen Mangel an religiösem und philosophischem Eifer sahen die Römer jener Zeit die Begeisterung für die Wahrheit als eine Narrheit an.74
In diesem Fall ist die direkte Quelle Nietzsches vermutlich der ‚bevorzugte‘ Anatole France, der diese Anregung Renans seinerseits in einer Rezension von Jules Lemaîtres Serenus entwickelt hatte. Anatole France hob die Aktualität der „tiefsinnigen Worte des alten römischen Statthalters: ‚Was ist die Wahrheit?‘“ hervor und schrieb: „Die Zeit naht, da Pontius Pilatus sehr geschätzt werden wird, weil er einen Satz aussprach, der achtzehn Jahrhunderte lang schwer auf seinem Gedenken lastete. Als Jesus ihm sagte: ‚Ich bin auf die Welt gekommen, um Zeugnis abzulegen von der Wahrheit; jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme‘, antwortete Pilatus ihm: ‚Was ist die Wahrheit?‘“ Diese Haltung charakterisiert nach Anatole France die intelligentesten Geister der Zeit. Zusammen mit Renan bewundert Lemaître „die Gläubigen und glaubt nicht. Man kann sagen, dass die Kritik mit ihm entschieden aus dem theologischen Zeitalter herausgetreten ist. Er begreift, dass es zu allen Dingen viele Wahrheiten gibt, aber keine dieser Wahrheiten die Wahrheit ist“.75 74 75
E. Renan, Vie de Jésus, OC IV, S. 334–337 (dt. Übers. S. 137–140). A. France, La Vie littéraire, S. 7ff. Dieses Thema wird Anatole France 1902 in seiner berühmten Erzählung Le procurateur de Judée aufgreifen. Auch Paul Bourget beschreibt Pilatus in Cosmopolis (1893) als „Dilettanten“, der denselben Satz, welcher die modernen und genießerischen Dilettanten von heute charakterisiert, bereits ausgesprochen hatte: „Was ist Wahrheit?“ (Kosmopolis, Bd. II, S. 147). Die traditionelle Wahl Bourgets, die in diesem Roman sichtbar wird, geht mit einer energischen Kritik des Dilettantismus der Schüler Renans einher, der als Vergeudung angesammelter Energien gesehen wird: „Was ich in ihnen […] hasse, ist, daß diese Entwurzelten fast immer letzte Ausläufer ihrer Rasse sind, die von andern erworbene, ererbte Kräfte verzehren, Verschwender eines Besitzes, den sie nicht vermehren, sondern nur mißbrauchen […]. Ihre Kosmopoliten aber, die säen nicht, die ernten nicht, sie sind unfruchtbar“ (ebd., S. 147–148) – betont der Marquis de Montfanon, der Traditionalist, welcher
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4. Nietzsches Philosophie: ein „renanisme exaspéré et sans ‚nuances‘? Nietzsches Philosophie genießt einen bösen Ruf. Ein Privatdozent der Universität Berlin berichtete uns von dem Fall eines seiner Studenten, eines schüchternen, leicht errötenden jungen Mannes voll Respekt für seine Lehrer, der nach einer Nietzsche-Lektüre wie umgewandelt war. Unverschämt, verächtlich, provozierend, versuchte er eines Tages einer Frau Professorin Gewalt anzutun. Er hatte die Grundregel seines Meisters: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt wörtlich genommen.76
Diese Worte Bourdeaus charakterisieren einen in Frankreich verbreiteten Gemeinplatz über Nietzsche, eine Vulgarisierung, die die Züge des Missverständnisses und des Exorzismus trägt. Die von Bourdeau erzählte Anekdote ist nichts anderes als eine mehr groteske denn tragische Wiederholung der Parabel von Paul Bourgets Disciple: Der junge Schüler setzt die ‚unschuldige‘ wissenschaftliche Theorie des „schlechten Lehrers“ Adrien Sixte, eines modernen Spinoza, welcher „sein philosophisches Leben am Ende des 19. Jahrhunderts mitten in Paris lebte“, tragisch in die Praxis um. Mit seinem Determinismus und seiner wissenschaftlichen Psychologie hatte jener ‚gut und böse‘ abgeschafft und den ahnungslosen Jugendlichen zum Mord getrieben.77 Dieser Roman Bourgets markiert, wie man weiß, seine unmissver-
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Gobineau schätzt und in Rom die Metropolis sieht, die geistige „Mutter-Stadt“ und den Sitz des Papstes, als Gegenpol gegen die auflösenden Kräfte von Kosmopolis. Der Roman endet mit einer Maxime Tertullians: „Debitricem martyrii fidem“, den der sezierende Psychologe, der kosmopolitische Dilettant Dorsenne – Ausdruck des physiologischen Niedergangs einer Rasse („C’est une débauche comme une autre …“) – so kommentiert: „Sie haben vorhin über die Skeptiker und ästhetisierenden Genußmenschen den Stab gebrochen, aber glauben Sie denn, daß auch nur einer darunter ist, der das Märtyrertum von sich wiese, wenn ihm gleichzeitig der Glaube verliehen würde?“ (ebd., S. 150f.) J. Bourdeau, Les maîtres de la pensée contemporaine, S. 129f. Jean Bourdeau wurde 1908 ins Italienische übersetzt: La religione della forza, in: I maestri del pensiero contemporaneo (Città di Castello, Mattiucci 1908). Im selben Jahr erschien auch der Aufsatz La filosofia della forza des jungen anarchistischen Sozialisten Benito Mussolini („Il Pensiero romagnolo“, Nr. 48–50, 29. November und 13. Dezember 1908). P. Bourget, Le disciple, S. 5.
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ständlich traditionalistische Wende. Die einzige Rettung des Jungen vor der Krise, die durch die gefährlichen deterministischen Lehren und den weit verbreiteten Dilettantismus in ihm ausgelöst worden ist („Für ihn ist nichts wahr und nichts falsch, nichts ist moralisch, nichts unmoralisch“78), lag in den tradierten Werten und der Religion der Väter. Bourdeau geht weit über Bourget hinaus, der dem spinozistischen Philosophen eine reale Verantwortung zuschrieb. Die Philosophie Nietzsches sei eine „philosophie perverse“, die den totalen Egoismus und die unmoralische Energie verherrliche. Die Bezüge, die Bourdeau ins Feld führt, sind alle romanischen oder französischen Ursprungs: die ‚virtù‘ Machiavellis und Cellinis, der „Beylismus“ Stendhals, die „Bestien“ Balzacs (Vautrin und Rastignac), der Zynismus eines La Rochefoucauld oder eines Abbé Galiani u.a. Bourdeau, „rédacteur du Journal des Débats et de la Revue des deux mondes; c’est un esprit très cultivé, très libre, au courant de toute la littérature contemporaine; il a voyagé en Allemagne, il en a étudié soigneusement l’histoire et la littérature depuis 1815, et il a autant de goût que d’instruction“ – mit diesen Worten empfahl ihn Taine als möglichen Übersetzer der Götzendämmerung dem euphorischen Nietzsche kurz vor der Turiner Katastrophe.79 Nietzsche erhob ihn in seinem beginnenden Wahn zum „Chefredacteur“ der Revue und des Journal, zu einer Macht im Pariser Kulturleben, und legte in seiner antideutschen Manie – der Fall Wagner, schrieb er in einem Brief an Malwida, „ist sogar leichter in’s Französische zu übersetzen als ins Deutsche“ – seinen erhofften bevorstehenden Ruhm auf französischem Boden in dessen Hand. Bourdeau ist für ihn „diese Eröffnung meines Pa n a m a - K a n a l s nach Frankreich“.80 Ein Briefentwurf an Bourdeau scheint bereits eine Antwort auf die Fülle von Vorurteilen zu enthalten, die dieser über seine Philosophie anhäufen wird: „ich habe vielleicht schlimmere und fragwürdigere Welten des Gedankens kennen gelernt als irgend Jemand, aber nur weil es in meiner Natur liegt, das Abenteuer zu lieben. 78 79 80
Ebd., S. IX. Taine an Nietzsche, 14. Dezember 1888, KGB III/6, S. 386. An M. von Meysenbug, 4. Oktober 1888, KGW III/5, S. 386, und an A. Strindberg, 18. Dezember 1888, KGB III/5, S. 539.
104 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Ich rechne die Heiterkeit zu den B e w e i s e n meiner Philosophie“. Vor allem fürchtet Nietzsche den engstirnigen Moralismus, mit dem man seine Philosophie aufnehmen wird: „Meine Besorgniß ist, dass im Augenblick, wo man moralisch vor einer meiner Schriften steht, man sie verdirbt: deshalb ist es an der höchsten Zeit, dass ich noch einmal als Franzose zur Welt komme“.81 Er konnte nicht ahnen, dass ihm auch mancher Franzose, angefangen bei seinem möglichen Übersetzer, dasselbe Unverständnis entgegenbringen würde wie die Deutschen. Bourdeau schreibt Renan in dieser französischen Konstellation eine besondere Rolle zu, genau wie andere Zeitgenossen: Die wahren Inspiratoren Nietzsches waren Schopenhauer und Renan […]. Die Ähnlichkeit mit Renan ist frappierend. Die gleiche wesentlich aristokratische Geschichtsauffassung: „Kurz, das Ziel der Menschheit besteht nicht darin, aufgeklärte Massen, sondern einige große Menschen hervorzubringen … Alle Zivilisation ist das Werk von Aristokraten“; der gleiche Traum, eines Tages im Schoße der Menschheit eine höhere Rasse entstehen zu sehen: Renans Deva ist Nietzsches Übermensch.82
Bourdeau bezieht sich hier auf die Dialogues philosophiques, die im Mai 1876 veröffentlicht und bereits 1877 von Konrad v. Zdekauer ins Deutsche übersetzt wurden (Philosophische Dialoge und Fragmente, E. Koschny, Leipzig). Ein Exemplar der deutschen Übersetzung, das zahlreiche Randglossen und Unterstreichungen mit Rotstift aufweist, befindet sich in Nietzsches nachgelassener Bibliothek in Weimar. Von dieser Schrift hat sich Nietzsche jedoch gründlich distanziert. Vor allem ist die philosophische Konzeption von Nietzsches Übermensch 81
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An Jean Bourdeau, etwa 17. Dezember 1888, KGB III/5, S. 534 und 535. Jean Bourdeau antwortet ihm: „Votre nom ne m’est nullement inconnu. J’avais lu autrefois dans le volume du regretté M. Hillebrand, intitulé Wälsches und Deutsches, une analyse de vos Unzeitgemäße Betrachtungen … Mon maître et ami M. Monod m’avait signalé votre ouvrage intitulé Jenseits von Gut und Böse. Il a eu l’obligeance de m’envoyer votre brochure sur Wagner, et j’ai promis d’en donner une courte analyse au Journal des Débats“ (27. Dezember 1888, KGB III/6, S. 403). Zwei Tage später berichtet Nietzsche seinem Verleger Naumann davon. An Bourdeau adressiert er schließlich noch zwei ‚Wahnsinnszettel‘, von denen der zweite, bisher unbekannte veröffentlicht wurde von S. Barbera, Un biglietto smarrito. J. Bourdeau, Les maîtres de la pensée contemporaine, S. 129.
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und Renans Deva unvereinbar. Die Askese und die vollkommene Hingabe der savants und der Devas (der ‚positivistischen Tyrannen‘) an den ‚verborgenen Gott‘ erscheint Nietzsche als Ausdruck von Renans tiefer Verbundenheit mit den christlichen Werten, die nicht mit einer radikal aristokratischen Position in Einklang zu bringen ist. „Absoluter Instinkt-Mangel des Ms. Renan, der die Wissenschaft und die noblesse zusammen in Eins rechnet. Die Wissenschaft ist grunddemokratisch und a n t i - o l i g a r c h i s c h “.83 In der starken Teleologie der Dialogues sah Nietzsche den äußersten Versuch, nach dem Tod Gottes im Schatten Gottes zu leben, eine 83
Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[29]. Vgl. auch ebd., 9[20]: „Spott über Renans fehlgreifenden Instinkt, der noblesse und Wissenschaft z u s a m m e n m e n g t . Die W i s s e n s c h a f t u n d d i e D e m o k r a t i e gehören zusammen (was auch Ms Renan sagen mag) so gewiß als die Kunst und die ‚gute Gesellschaft‘.“ Dieses Thema spielt auch in É. Bérard-Varagnac, Portraits littéraires, S. 280–282, eine Rolle: „Welcher Art ist also jene ewige Beziehung, jenes unzerstörbare Band, das Hr. Renan zufolge Wissenschaft und Aristokratie als zwei Mächte zusammenschließt, von denen die eine aus der andern entstanden ist und die unzertrennbar sind? Wir berühren damit eine ganze Ordnung von Gefühlen, Gedanken und Überzeugungen, die ganz sicher nicht die geringste Originalität und Eigentümlichkeit von Hrn. Renans Denken ausmachen. Die Theorie jener notwendigen Verbindung, jener gleichsam vorherbestimmten Harmonie zwischen der Wissenschaft und dem aristokratischen Prinzip ist vielmehr eine seiner Grundlehren, man könnte sagen, einer seiner Glaubenssätze. […] ‚Das Leben des Geistes, schreibt er, erschien mir als einzig edles; jede Verdiensttätigkeit schien mir sklavisch und meiner unwürdig zu sein …‘. Und weiter unten: ‚Als Adliger galt nach den Ideen dieses Landes derjenige, der nichts verdient und so auch niemanden ausbeutet, der keinen anderen Gewinn hat als die durch Tradition bestehenden Einkünfte aus seinem Grundbesitz‘. Man sieht, wie sich die Idee der Wissenschaft und die Idee des Adels in diesem bretonischen und katholischen Geist von Anfang an fast instinktiv verbinden. Musste dieser Gelehrte, der für das spekulative Denken und das Studium der Vergangenheit geboren war, nicht erstaunt und geschmeichelt sein, als er später die Geschichte studierte und erkannte, welch großen Anteil die Aristokratien und Königtümer seit jeher am Fortschritt der Wissenschaften und Künste hatten? So empfing er den Eindruck, dass die Wissenschaft, wie er schreibt, aristokratischen Ursprungs sei, dass zwischen ihr und der Aristokratie eine natürliche Affinität bestehe, dass Genies in einer demokratischen Gesellschaft schlecht gedeihen und nach der günstigen Bedingung der Oligarchien verlangen“. In Nietzsches Exemplar befinden sich Anstreichungen am Rand.
106 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Haltung, die der deutsche Philosoph, wie wir sehen werden, bekämpft. Lediglich die stark von der romantischen Ideologie Wagners beeinflusste Artisten-Metaphysik des jungen Nietzsche hat viel mit den Themen von Renans Dialogues gemein. Vor allem die Themen des Instinkts und des Wahns leiten beide Autoren von Schopenhauers ‚Metaphysik der Geschlechtsliebe‘ ab. Durch den Geschlechtstrieb betrügt der Wille die einzelnen Individuen, die, in der Macht des Wahns gefangen, das Elend der Existenz durch die Fortpflanzung verlängern. Diese Metaphysik begründet eine Theorie des Opfers des Einzelnen für ein unbekanntes höheres Ziel. Ein zentrales Thema des jungen Nietzsche ist die absolute, bedingungslose Hingabe an das Artisten-Genie, das im Menschen aus lebensnotwendigen Instinkten und einem höheren Wahn entsteht. Dieses Thema wird in Nietzsches nachgelassener Abhandlung Der griechische Staat realistisch und ungeschminkt ausgeführt: „Die S c h a m scheint somit dort einzutreten, wo der Mensch nur noch Werkzeug unendlich größerer Willenserscheinungen ist, als er sich selbst, in der Einzelgestalt des Individuums, gelten darf“ (CV, Der griechische Staat, KGW III/2, S. 261). Dies rechtfertigt die Sklaverei in der Antike, insofern sie zur Blüte des Artisten-Genies beiträgt. Die schöne Ganzheit der Griechen setzt die Arbeitsteilung voraus. Die Gewalt richtet sich vor allem gegen die Kaste der Sklaven, eine Wahrheit, „die über den absoluten Werth des Daseins keinen Zweifel übrig läßt. S i e ist der Geier, der dem prometheischen Förderer der Kultur an der Leber nagt“ (ebd.). Vor dieser Wahrheit flieht der moderne Mensch und leugnet sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber das ihn umgebende allgemeine Sklaventum ohne Sinn und höheres Ziel mit Hilfe der optimistischen Mystifikation der Würde des Menschen und der Würde der Arbeit. Hierin liegt auch die Bedeutung des berühmten Briefes an Gersdorff von Juni 1871, der unter dem tiefen Eindruck der von den Kommunarden in Brand gesteckten Pariser Museen geschrieben ist, eine Nachricht, die sich zum Glück als falsch erweist: wie wir Alle, mit aller unserer Vergangenheit, s c h u 1 d s i n d an solchen zu Tage tretenden Schrecken: so daß wir ferne davon sein müssen, mit hohem Selbstgefühl das Verbrechen eines Kampfes gegen die Cultur nur jenen Unglücklichen zu imputiren. Ich weiß, was es sagen will: der Kampf gegen die
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Cultur. Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte; ich klammerte mich mit ernster Überzeugung an den metaphysischen Werth der Kunst, die der armen Menschen wegen nicht da sein kann, sondern höhere Missionen zu erfüllen hat. Aber auch bei meinem höchsten Schmerz war ich nicht im Stande, einen Stein auf jene Frevler zu werfen, die mir nur Träger einer allgemeinen Schuld waren, über die viel zu denken ist!84
Nietzsche geht mehrfach auf die Seiten ein, auf denen Schopenhauer die „Würde des Menschen“ als leere Formel verurteilt, die das Fehlen eines dahinter stehenden Konzepts deutlich macht. Nietzsches metaphysische Konzeption, die als höchstes Ziel der Wirklichkeit die Hervorbringung des Genies sieht, schlägt eine andere, viel härtere und heroische Auffassung der Würde vor: „jeder Mensch, mit seiner gesammten Thätigkeit, hat nur soviel Würde, als er, bewußt oder unbewußt Werkzeug des Genius ist […] nur als völlig determinirtes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen kann der Mensch seine Existenz entschuldigen“ (CV, Der griechische Staat, KGW III/2, S. 270). Das Postulat der praktischen Unmöglichkeit der Verneinung des Lebens führt notwendig zur Akzeptanz der Mechanismen des Wahns. Die Anpassung an eine unbewusste Teleologie der Natur bedeutet eine absolute Unterordnung unter das Genie. Der Geniekult, dessen aristokratische Züge in nuce bereits in den Leipziger Abhandlungen zur Philologie und zur Rolle der Größe in der Geschichte vorhanden sind, hat sich vor allem, wie wir gesehen haben, in der Nähe Wagners entwickelt, ein Mensch, „der wie kein anderer das Bild dessen, was Schopenhauer ‚das Genie‘ nennt, mir offenbart“; „es ist dies mein praktischer Kursus der Schopenhauerschen Philosophie“, schreibt Nietzsche seinen Freunden begeistert.85 Die spätere Distanzierung vom romantischen Idealismus Wagners und der Metaphysik des Genies führte auch zu einer entschiede84 85
An Carl von Gersdorff, Juni 1871, KGB II/1, S. 204. Nietzsche an Carl von Gersdorff, 4. August 1869, und an Erwin Rohde, 16. Juni 1869, KGB II/1, S. 35 und S. 17.
108 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch nen Abgrenzung gegenüber Renan, der immer mehr zum typischen Vertreter des épuisement und der décadence wurde. Nichtsdestotrotz wurden die Namen Nietzsche und Renan von vielen Zeitgenossen immer wieder zusammen erwähnt, vor allem in Frankreich. Wie aus den Tagebüchern Cosimas hervorgeht, hat Wagner diese Nähe bereits 1878 als erster erkannt und nach der Lektüre der Dialogues betont, dass außer Nietzsche kein anderer deutscher Zeitgenosse in der Lage gewesen wäre, ähnliche Betrachtungen anzustellen.86 1889 sprach der dänische Kritiker Georg Brandes von einem direkten Einfluss Renans auf Nietzsche und betrachtete das aristokratische Projekt des deutschen Philosophen als dogmatische Kristallisation von Renans halb ironischem, halb skeptischem Projekt, einen neuen Olymp und eine wirkliche Götterfabrik zu schaffen.87 In Frankreich sah Ferdinand Brunetière in den Dialogues Philosophiques die vollendete Theorie des Übermenschen: Keiner habe dieser Theorie einen ‚zynischeren‘ und ‚unschuldigeren‘ Ausdruck verliehen als Renan. Seine Theorie liefere eine Synthese von wissenschaftlichem Aberglauben und antidemokratischem Geist, die die endgültige Verabschiedung vom Christentum voraussetze. Brunetière wendet sich gegen den ‚Mode-Philosophen‘, der den zersetzenden Keim des Individualismus in sich trägt. „Nietzsche hat lediglich laut ausgesprochen, was bei uns Flaubert und Renan leise gedacht haben. Humanum paucis vivit genus! das Erscheinen eines ‚Übermenschen‘ ist die natürliche Kompensation des Elends der Menschheit, und La Tentation de saint Antoine oder La Prière sur l’Acropole wären mit allen Opfern, die es gekostet hat, ihre Verfasser heranzubilden, nicht zu teuer bezahlt“. Brunetière zitiert zustimmend das Urteil Lichtenbergers: „Das aristokratische Ideal, das Nietzsche am Herzen liegt, tritt in Flauberts Correspondance und vor allem in Renans Dialogues Philosophiques hervor“.88 1902 präsentierte Ernest Seillière Nietzsche als „zweite, gesteigerte Auflage der Seele Renans“. Im selben Jahr konstatierte Alfred Fouillée, der entscheidende Unter86 87 88
C. Wagner, Tagebücher, 8. November 1878, Bd. 2, S. 221f. Vgl. oben, Fn. 12. G. Brandes, Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung, S. 182–183. F. Brunetière, L’art et la moral, S. 103, und Cinq lettres sur E. Renan.
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schied zwischen den beiden aristokratischen Philosophen bestehe darin, dass bei Nietzsche eine Art deutscher Fanatismus am Werk sei, der ihn zu seiner „halluzinatorischen Vision des Übermenschen“ führe, während bei Renan eine noch mehrdeutige skeptische rêverie im Vordergrund stehe. Nietzsche verkörpere einen „renanisme exaspéré et sans ‚nuances‘“.89 Auch Émile Faguet (1904) hat, 89
A. Fouillée, Nietzsche et l’immoralisme, S. 53 und 110ff. In einem 1878 veröffentlichten Aufsatz, in dem er einige Schriften Renans analysiert (darunter die Dialogues) stellt Alfred Fouillée Renan in die Nähe De Maistres (die Theorie des Opfers). Fouillée betont die Nähe zwischen der Theokratie und der Aristokratie der savants. „Es gehört zum Menschsein selbst, sich ein Ziel zu geben: Mit der Behauptung, Neger seien dazu da, uns zu dienen, stellt man das Prinzip der Sklaverei auf und liefert eine Rechtfertigung dafür. […] Der moderne, wahrhaft wissenschaftliche Rechtsbegriff ruht gerade auf der Zurückweisung jeder finalistischen und providenziellen Sichtweise, aller künstlichen Systeme, in denen die Individuen einem angeblich höchsten Ziel unterworfen werden. Rechte besitzen bedeutet, die Gewähr zu haben, dass man kein Mittel aus dem Menschen macht, es bedeutet, geschützt zu sein vor vermeintlichen ‚Endzwecken‘ in der Politik, Metaphysik und Theologie“ (A. Fouillée, L’idée moderne du droit en France, III, S. 653). Fouillée bekämpft die Rassentheorie – die unwissenschaftlichsten Theorien wurden von Deutschland aus propagiert –, insofern sie den aristokratischen Schulen das Hauptargument liefert. Fouillée betont, man brauche auf keinen Fall „Genie für die Teilhabe an den allgemeinen Rechten […]; die bürgerliche und politische Gleichberechtigung steht außerhalb solcher Wertschätzungen“ (S. 655). Renans Position führe gegen die Arbeitsteilung ein mystisches und priesterliches Prinzip ins Feld: das der Hierarchie. Fouillée führt schließlich Argumente gegen die exklusive Entscheidung für die höhere Bildung auf Kosten der Erweiterung und Verbreitung der Bildung an, da dies ja die Möglichkeit einschränken würde, große Männer hervorzubringen. Fouillée verteidigt in seinem Buch über Nietzsche die Perspektive einer vitalen Expansion der Kräfte in sozialer Richtung gegen Nietzsches (reduktionistisch interpretierten) Willen zur Macht sowie gegen Nietzsches Kritik an Jean-Marie Guyau, wie sie aus dessen Randbemerkungen zu J.-M. Guyau, Esquisse d’une morale sans obligation ni sanction, hervorgeht. Der Band Esquisse, der ursprünglich, mit zahlreichen Anstreichungen und Randglossen versehen, in Nietzsches Bibliothek vorhanden war, ist heute verloren gegangen. Fouillée kommentiert diese Glossen in seinem Buch über Nietzsche (S. 151ff.). Die von Peter Gast besorgte Transkription der Glossen wurde im Anhang zur deutschen Übersetzung von Guyaus Schrift veröffentlicht: Sittlichkeit ohne „Pflicht“, S. 279–303. Nietzsche hat seinerseits ein
110 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Werk Fouillées (La science sociale contemporaine) gelesen und mit sehr kritischen Anmerkungen versehen. Im Fragment 11[137] (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2) heißt es: „Die ‚wachsende Autonomie des Individuums‘: davon reden diese Pariser Philosophen, wie Fouillée: sie sollten doch nur die race moutonnière ansehen, die sie selber sind! Macht doch die Augen auf, ihr Herren Zukunfts-Sociologen! Das ‚Individuum‘ ist stark geworden unter u m g e k e h r t e n Bedingungen: ihr beschreibt die äußerste Schwächung und Verkümmerung des Menschen, ihr wollt sie selbst und braucht den ganzen Lügenapparat des alten Ideals dazu! ihr seid d e r A r t , daß ihr eure Heerdenthier-Bedürfnisse wirklich als I d e a l empfindet! Der vollkommene Mangel an psychologischer Rechtschaffenheit!“ Die von Nietzsche übersetzte Wendung „la croissante autonomie de l’individu“ findet sich auf S. 249 von Fouillées Schrift und ist von Nietzsche unterstrichen. Am Rand notiert Nietzsche: „falsch“. Es scheint mir angemessen, den gesamten Kontext mit den Anstreichungen Nietzsches wiederzugeben: „Die Wissenschaft ist bereits eine allein: es gibt keine französische Geometrie, keine europäische oder amerikanische Physik. Die Moral, die von der verwirrendsten Uneinigkeit ausgegangen war, tendiert zur Übereinstimmung in den wichtigsten Punkten. Die Gesetzgebung folgt der Moral, die Politik der Gesetzgebung. Künste, Industrie und Handel gehen der Vereinheitlichung entgegen. [Am Rand von Nietzsche doppelt angestrichen]. Dadurch, dass sich die Rechtsgleichheit durchsetzt, wird sich allmählich eine gewisse Gleichheit der Verhältnisse einstellen. Muss man aus dieser ganzen Bewegung zu einem gemeinsamen Ziel schließen, dass das Individuum am Ende im Staat, der Mensch in der Menschheit, das persönliche Bewusstsein im kollektiven Bewusstsein aufgehen wird? Muss man auf jene politischen Systeme aristokratischen und monarchischen Typs schließen, wo die Mehrzahl nur dazu dient, einige herausragende Köpfe hervorzubringen, die sich den Rest der Menschheit unterwerfen, wo einige Wenige für die andern denken, wollen, genießen, wo am Ende ein Einziger alle zerstreute Intelligenz in sich sammelt, so dass er zu Recht sagen kann: die Menschheit bin ich? Nein, denn eine gegenläufige Entwicklung, die sich durch die wachsende Autonomie des Individuums auszeichnet und nicht weniger unbestreitbar ist als die andere, ist im Entstehen begriffen; wir bewegen uns ebenso sehr in Richtung der Vielfalt und Dezentralisation wie in Richtung der Einheit und Zentralisierung“. In seinem Band Nietzsche et l’immoralisme zeigt Fouillée, dass er von den Randbemerkungen Nietzsches zu seinem Buch wusste, und bedauert, dass er sie nicht hat einsehen können. Dennoch antwortet er vorausgreifend auf Nietzsches Kritik und gibt ein karikaturistisch vereinfachendes Bild von dessen Positionen: „Wir bedauern, dass wir seine Bemerkungen und Einwände nicht kennen; aber sie lassen sich gewiss sämtlich zurückführen auf das berühmte: ‚Périssent les faibles et les ratés‘. Wir werden weiter unten ähnlichen Einwänden Nietzsches gegen Guyau begegnen“ (A. Fouillée, Nietzsche et l’immoralisme, S. 149).
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wie wir gesehen haben,90 Nietzsches starke Anleihen bei Renan herausgestellt.91 Die Dialogues stellen den äußersten Versuch dar, der allgemeinen Wertekrise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen höheren Sinn zu verleihen. Der pessimistische Hintergrund verkehrt sich in die Bejahung des Willens zur Macht, auch verstanden als extreme Härte und Strenge des asketischen Wissenschaftlers und neuen Priesters der Wahrheit, sich selber und anderen gegenüber. Dieser beunruhigende Text, der in weiten Teilen 1871 unter dem Eindruck der Pariser Kommune entstand, bringt auf symptomatische Weise die Sorgen und Obsessionen vieler europäischer Intellektueller der damaligen Zeit zum Ausdruck, die sich mit einer radikalen Zivilisationsund Wertekrise konfrontiert sahen. Feudale Verehrung, Technokratie bis hin zur Anthropotechnik, Rassentrennung, absolute Herrschaft von Wissen/Macht der positivistischen Tyrannen sind nur einige der Elemente einer komplexen und mythischen Antwort auf die Angst vor einer sozialen Katastrophe. Diese wird auch auf die kosmische Ebene projiziert: Auf die nihilistische Perspektive vom Ende allen Lebens als Folge einer Erschöpfung sämtlicher zur Verfügung stehender Kräfte antwortet Renan mit der möglichen Verwirklichung eines Gottes, durch die Schaffung einer enormen Gesellschaftsmaschinerie und die weltweite Ausbeutung sämtlicher Ressourcen (wie Kohle und Metalle), auch der lebenden Ressourcen der außereuropäischen Völker. Eine Art horror vacui scheint die Triebfeder hinter Renans unglaublicher Anstrengung zu sein, der äußersten Herausforderung des Abgrunds zu begegnen, mit dem er sich von Kindheit an konfrontiert sah und den er als Herausforderung der Wahrheit empfand. „Wer weiß, ob die Wahrheit nicht traurig ist?“92 Nicht nur, weil die Vereinigung von Wissen und Macht das Reich der Gewalt und die Schaffung einer neuen wirklichen Hölle bedeutet,93 sondern auch, weil im 90 91 92 93
Vgl. Kap. 1. É. Faguet, En lisant Nietzsche, S. 110–111. E. Renan, Philosophische Dialoge, S. 82. Vgl. ebd., S. 80, wo von einer „wirklichen Hölle“ die Rede ist. Die Fragmente, die erst vor kurzem durch L. Rétat veröffentlicht wurden, drehen sich ganz stark um dieses Thema und enthalten Überlegungen, die nicht in den endgül-
112 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Hintergrund die allgemeine Erschöpfung der Lebenskräfte lauert, die nur ein blinder Glaube leugnen kann. Jede Anstrengung kann sich in einen reinen Verlust verkehren: „Die Welt, eine große Unruhe, deren Bilanz null ist“.94 Der Menschheit ist diese Perspektive sicher. Um sie zu umgehen, muss man auf das Absolute der Theologie oder eine ungewisse Wette vor dem Hintergrund der Unendlichkeit rekurrieren. Der verborgene Gott, den Renan nach dem Tod des tröstenden Gottes seiner Väter und seiner bretonischen Landsleute verzweifelt suchte, könnte das Nichts sein. Renan bekennt dies am Ende seiner Prière sur l’Acropole, die er im selben Jahr wie die Dialogues veröffentlicht hat. Dieses Gebet ist die manierierte Darstellung eines kaltblütigen Gleichgewichts, das sich an die helle Vernunft klammern will, die durch Athene und das Wunder der Griechen verkörpert und ihrerseits mythisch ist. Ein Spiel von Verweisen und eine andauernde Faszination belebt die persönlichen Mythen und Träume (die romantische „Krankheit“), die von Maß und Gleichgewicht weit entfernt sind. Es reicht von den „barbarischen, guten und tugendhaften Kimmerern“, deren Heimaterde keine Sonne kennt, bis hin zu einer höheren, entzauberten Philosophie, deren höchste Weisheit lautet: „Nichts absolut lieben, nichts absolut hassen“. Das Gleichgewicht der reinen Vernunft der Göttin hängt von der Begrenztheit ihrer Erfahrungen ab: „Es werden Zeiten kommen, in denen deine Jünger als Jünger der Langeweile gelten werden. Die Welt ist größer als du glaubst“.95 Renans Wahrheit kann nicht mehr die des ‚schönen Maßes‘ sein. Der Tod der Menschen ist auch der Tod der Götter: „Ein ungeheurer Fluss des Vergessens zieht uns in einen namenlosen Strudel hinab. Oh Abgrund! Du bist der einzige Gott […]. Alles hernieden ist nur Symbol und Traum. Die Götter vergehen genau wie die Menschen“.96 In den Dialogues philosophiques mobilisiert Renan
94 95 96
tigen Text übernommen worden sind, welcher zur Abschwächung der extremsten und kühnsten Äußerungen tendiert. Vgl. insbesondere Fragment [347]. Vgl. auch die Fragmente [281] [332] [340] [342] [369], in: Dialogues, Ed. Rétat. E. Renan, Dialogues, Ed. Rétat, S. 31, Fragment [89]. E. Renan, Souvenirs d’enfance et de jeunesse, OC II, S. 758. Ebd., S. 752–759.
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sämtliche zur Verfügung stehenden intellektuellen Mittel, um die Angst vor der Leere und der Niederlage zu bannen, Mittel, die sich mehrstimmig zu einem spiralförmig anwachsenden kohärenten Dialog vereinen, der die zentrale Bedeutung der sozialen Rolle jedes Einzelnen betont. Es gibt keine Zweideutigkeit und Unentschlossenheit in der Grundhaltung einer offen antidemokratischen Härte, welche „die Herzen [erkältet]“.97 In der ersten Ausgabe der Dialogues, die in Druck ging, sowie in den Fragmenten der jüngsten historisch-kritischen Edition sind die Bezugnahmen auf den historischen Hintergrund stärker: „Die fürchterliche Gewaltherrschaft, welche wir durchzumachen hatten, lastete wie ein Alp auf mir. Damals mußte man, um Gott anbeten zu können, seinen Blick sehr weit oder sehr hoch richten; ‚der liebe Gott‘ gehörte eben zu den Besiegten jener Tage“.98 Der Ausgang des Krieges und vor allem der Pariser Kommune haben in Renan tiefe Wunden hinterlassen. Als Intellektueller, der alle Veränderungen aufmerksam verfolgte, hat er versucht, die Entwicklung zu verstehen und Bedeutung und Auswirkungen der neuen innenpolitischen Situation zu erklären. Dabei gelangte er zu umfassenden Reflexionen über das Übel Frankreichs und seiner Wurzeln (vor allem in La réforme intellectuelle et morale), die seine früheren Überzeugungen in Frage stellten. Parallel zu Taine hielt er es für erforderlich, die Bedeutung der ‚großen Revolution‘ noch einmal in ihrer ganzen Tiefe auszuloten. Schon innerhalb seines jugendlichen Enthusiasmus war sie allerdings keine sakrosankte Angelegenheit mehr, sondern galt ihm aufgrund der Ideen, die sie zum Ausdruck gebracht hatte, letztlich als „irreligiös“ und „atheistisch“. Die genannten Ereignisse markieren vor allem eine Krise und Desillusionierung, die das Bild des ‚idealen Deutschland‘ seiner Jugend betrifft. In seinem öffentlichen Brief an Strauss greift Renan Punkt für Punkt auf das Bild zurück, mit dem er das Lob der deutschen Kultur gesungen hat, die ihn in jungen Jahren so begeisterte: „Ich besuchte gegen 1843 das Séminaire Saint-Sulpice, als ich begann, 97 98
E. Renan, Philosophische Dialoge, S. XI. Ebd., S. X.
114 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Deutschland durch Goethe und Herder kennen zu lernen. Ich glaubte, einen Tempel zu betreten“.99 Diese Überhöhung des ‚idealen‘ Deutschland scheint eine Zeitlang dem ausschließlichen Triumph der tierischen Bestialität Platz zu machen: „Die allzu scharfe Rassenunterteilung der Menschheit ruht nicht bloß auf einem wissenschaftlichen Irrtum, da nur sehr wenige Länder wirklich reinrassig sind, sie führt unweigerlich auch zu Vernichtungskriegen, zu ‚zoologischen‘ Kriegen, wenn man so sagen darf, im Stil des Daseinskampfes, den die verschiedenen Arten von Nagetieren und Fleischfressern sich liefern“.100 Aber jenseits des unmittelbaren emotionalen Eindrucks, der sich der vulgären Ebene der nationalen Propaganda annähert, stellt Renan die Überlegenheit Preußens in Wirklichkeit nicht in Frage: „Die wissenschaftlichste Nation, diejenige, welche die besten Mechaniker, die besten Chemiker, die erfindungsreichsten und uneigennützigsten Beamtenkörper hat, wird die bestgerüstete sein. Die Barbarei, das heißt die rohe Kraft ohne Verstand ist für immer besiegt. Den endgültigen Sieg wird das gebildetste und sittlichste Volk davontragen, wenn wir unter Sittlichkeit Opferbereitschaft und Pflichtbewusstsein verstehen“.101 Der Deutsch-Französische Krieg zeigt Renan zufolge einen solchen Sieg der ‚wissenschaftlicheren‘ und sittlicheren Nation, die noch zu Opfern und zu Pflichtbewusstsein fähig ist. Deutschland bezeugt die Möglichkeit einer Verbindung von idealistischer Philosophie und Macht, ja beinahe die Umwandlung der einen in die andere, und öff99
100
101
E. Renan, Réforme intellectuelle et morale, OC I, S. 437–438. Vgl. Fragments intimes et romanesques, OC IX, S. 791. Die Wendung findet sich auch in Souvenirs d’enfance et de jeunesse, OC II, S. 865f. E. Renan, Réforme intellectuelle et morale, OC I, S. 456. Parallel dazu Flauberts Bemerkungen zu den Rassenkriegen (vgl. Brief vom 3. August 1870, in: Lettres de Gustave Flaubert à George Sand, S. 117; dt. Übers. S. 99), sowie Burckhardt und Nietzsche. Nietzsches Überlegungen der 70er Jahre über die deutsche „Barbarei“ beziehen sich auch auf die nationalistische Polemik des Deutsch-Französischen Krieges; vgl. insbesondere die vorbereitenden Fragmente zur ersten Unzeitgemäßen Betrachtung über David Strauss (Nachlass 1872–1873, KGW III/4). Vgl. 19[298] („Wissenschaft verträgt sich mit Barbarei“), 19[305], 19[312] und ff. E. Renan, Questions contemporaines. Préface, OC I, S. 24.
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net Renan in den kranken Träumen, den Alpträumen (cauchemars) der Dialogues schon bald die Perspektive einer Wahrheit, die mit der Macht zusammengeht und bewaffneter Herrschaftswille wird, der vor keinem Opfer zurückschreckt. In Fragment [229] lesen wir: „Teoctiste steht unter dem Eindruck dessen, was er 1870 gelernt hat, dass das Böse eine Macht ist und ein Vorteil in menschlichen Dingen. Denn das Böse fürchtet man. Die Verbreitung von Angst ist Macht“.102 Die Dialogues gehen dem Verhältnis von Wissen und Macht auf den Grund und insistieren auf dem Faktor Macht, den Renan in der Phase seines jugendlichen Idealismus vernachlässigt hat. Schon die literarische Form des Dialogs, die für Renan eine Möglichkeit darstellt, um durch ein ironisches Spiel des Skeptizismus unterschiedliche Positionen ‚objektiv‘ präsentieren zu können, ohne sich festlegen zu müssen – was diejenigen bestätigt, die in ihm den „Dilettanten“ sehen –, ist in Wirklichkeit ein kohärentes und wirkungsvolles Instrument, um Paradoxien in Provokationen zu verwandeln, die im weiteren Verlauf der Argumentation fieberhafte, kranke Züge annehmen. Nicht der methodische Zweifel dient hier als Instrument des Philosophierens, sondern das ideale Experiment, das die Reflexion aufs Äußerste entgrenzt. Renans Dialogues philosophiques sind die stärkste und extremste Antwort auf das Unbehagen bei der Interpretation der aktuellen Ereignisse in Frankreich, das vielen Autoren gemeinsam war. Man denke an Nietzsches „Cultur-Herbstgefühl“ (Nachlass 1878, KGW IV/3, 28[1]) angesichts der Kommune und des vermeintlichen Brands des Louvre, oder die pessimistischen Äußerungen Burckhardts über die Zukunft Europas, an Taines Bemühungen, als Historiker die Geschichte des Verfalls der Nation zu rekonstruieren oder an den ästhetisierenden Zynismus und die gereizten Paradoxien der „freiesten Geister“ Frankreichs (die Definition stammt von den Goncourts), die an den Dîners chez Magny teilnahmen.103 102 103
E. Renan, Dialogues, Ed. Rétat, S. 49. Die Dîners chez Magny wurden am 22. November 1862 von Gavarni ins Leben gerufen. An der Tafelrunde nahmen regelmäßig die Goncourts, SaintBeuve, Gautier, Flaubert, Renan und Taine teil (vgl. E. und J. Goncourt, Gar-
116 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Diese Autoren liest Nietzsche, mit ihnen setzt er sich auseinander. Vor allem in dem Briefwechsel zwischen Flaubert und George Sand findet er in zugespitzter Form die abgrundtiefe Abscheu der Franzosen gegenüber jeglicher Menschlichkeitsduselei. Flaubert stimmt mit Renan völlig überein und fühlt sich von den Dialogues sogar „erbaut“: „Ich kann mich an keine ähnliche Lektüre erinnern! […] Ich danke Ihnen, dass Sie sich gegen die ‚demokratische Gleichheit‘ erhoben haben, die mir als tödliches Element in der Welt erscheint“.104 Flaubert zufolge verlieh Renan seinem tiefen Hass auf alles Bürgerliche – „Der Bourgeois (jetzt heißt das, die ganze Menschheit, das Volk inbegriffen)“105 – und seiner heftigen Aversion gegen die universelle bêtise und demokratische Menschlichkeitsduselei, die in der Idee eines allgemeinen Wahlrechts gipfelte, ein kohärentes Fundament.106 Für die höheren Menschen besteht der einzige Ausweg darin, sich voll und ganz in den arbeitsamen und nihilistischen Dienst der Kunst zu stellen (was von Nietzsche kritisiert wird), während dem Volk, das noch nicht von der Bildung und dem bürgerlichen Materialismus korrumpiert ist, nur die blinde Verehrung übrig bleibt (das Selbstopfer, das die Person vollkommen auslöscht: die Gestalt der Felicita in Un coeur simple). Auch dieser Aspekt stand im Zentrum von Renans
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vani: L’homme et l’œuvre, S. 303). Nietzsche schreibt, er hätte sich in jener Gesellschaft wohlgefühlt (vgl. den Brief an Heinrich Köselitz vom 10. November 1887, KGB III/5, S. 191–192). Brief an Ernest Renan von Mai 1876 (G. Flaubert, Correspondance, Bd. VII, S. 297–298). An Louise Colet, 22. November 1852, in G. Flaubert, Correspondance, Bd. III, S. 52 (dt.: Briefe an Louise Colet, S. 549). Brief an George Sand vom 3. August 1870 (G. Flaubert, Lettres à George Sand, S. 153). „Der Respekt, der Fetischismus, den man dem allgemeinen Wahlrecht entgegenbringt, empört mich mehr als die Unfehlbarkeit des Papstes“. Im selben Brief sagt Flaubert Frankreich, als Alternative zur Herrschaft der Menge, die „Macht von Mandarinen“ voraus (dt. Übers. S. 100). Und weiter: „Es ist sehr unbeträchtlich, ob viele Bauern lesen können und ihrem Pfarrer nicht mehr gehorchen, aber es ist von unendlicher Bedeutung, dass viele Männer wie Renan oder Littré leben können und gehört werden. Unser Heil liegt jetzt einzig in einer legitimen Aristokratie …“ (S. 140; dt. Übers. S. 118f.). Ein Exemplar dieses Bandes befindet sich mit zahlreichen Lesespuren in Nietzsches nachgelassener Bibliothek.
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Positionen. Die Haltung Flauberts umfasste selbst die völlige Ablehnung des Begriffs „Fortschritt“. Die Wiederholung der immer gleichen Eitelkeiten lässt keinen Raum für tröstliche Konstruktionen: „Wir drehen uns immer im selben Kreis, wir wälzen immer denselben Felsbrocken!“107 Nietzsches Kenntnis einiger Schriften Renans geht auf die 70er Jahre zurück. Er kannte Renans entschiedene Ablehnung jeglicher Volksbildung und kam, vor allem in Zusammenhang mit seinen Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, mehrfach darauf zu sprechen. Die Frage der Bildung in Europa, die sich hauptsächlich um das französische und das deutsche Modell drehte, war sehr aktuell. Nietzsches Vorträge wurden in dem florentinischen Kreis der Freunde Malwida von Meysenbugs diskutiert, welche ihm ihrerseits Pasquale Villaris 1872 in der „Nuova Antologia“ erschienenen Aufsatz La scuola e la questione sociale in Italia schickte.108 Dieses Thema passte gut zu der elitären Strategie der ‚Theologie‘ der Dialogues.109 107
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An Luise Colet, 22. April 1854 (G. Flaubert, Correspondance, Bd. IV, S. 61; dt.: Briefe an Louise Colet, S. 958). Zur Haltung Flauberts vgl. auch A. Cento, La „dottrina“ di Flaubert. Vgl. Nietzsche an Malwida von Meysenbug, Ende Februar 1873, KGB II/3, S. 129, sowie Malwida von Meysenbug an Nietzsche, 7. Januar 1873, KGB II/4, S. 194. Der kosmopolitische Däne Brandes bekämpfte Renan gerade aufgrund des Zynismus seiner Äußerungen zur Volksbildung, obgleich er vom Cäsarismus und vom Mythos des großen Menschen fasziniert war (der ihn als einen der ersten zur Begegnung mit Nietzsches Philosophie führte). Er hielt jene Äußerungen für so paradox, dass er erklärte, sie kaum ernst nehmen zu können. Vgl. G. Brandes, Ernest Renan (1872), in: Essais choisis, S. 31–73. Die Auseinandersetzung mit Renan hinsichtlich der Dialogues findet sich auch in den wichtigen Vorträgen, die er 1902 in der Russischen Schule in Paris hielt; Brandes vergleicht hier in Bezug auf das genannte Thema Renan, Flaubert und Nietzsche miteinander: „Mit unterschiedlichen Worten haben sie dem Gedanken Ausdruck verliehen, dass das Ziel der Menschheit in der Hervorbringung großer Menschen bestehe“ (G. Brandes, Le grand homme, S. 8). Den Positionen von Renan stellt er die seines Lehrers Taine gegenüber: „Der große Mensch ist stets eine Synthese; er ist der deutlichste Ausdruck seiner Rasse und seiner Nation, ihres gesamten Milieus oder nur eines Augenblicks, den ihr Volk durchlebt“ (ebd., S. 17).
118 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Renan wirft sich nach der Pariser Kommune vor allem vor, der quantitativen Bildung gegenüber Zugeständnisse gemacht zu haben, auf Kosten der intensiven, qualitativen Bildung. In den Dialogues stellt die Elementarbildung ein Hindernis für die Entstehung großer Männer dar, weil sie im Volk den Instinkt der Entsagung und des Opfers auslöscht. In L’avenir de la science hingegen umfasste der Fortschritt potenziell die gesamte Menschheit bis hin zu dem Recht aller, „Gott zu atmen“.110 Der auf Cousin zurückgehende historische Optimismus behauptete den notwendigen Bezug auf die ganze Gesellschaft, weshalb der „große Mann“ derjenige war, der die Ideen, Interessen und Bedürfnisse seiner Zeit am besten repräsentierte. In dem selbstkritischen Vorwort zu L’avenir distanziert sich Renan von der zentralen Bedeutung der Menschheit, die er in seinen Jugendschriften postuliert hat: „Genau wie Hegel habe ich den Fehler gemacht, der Menschheit allzu optimistisch eine zentrale Rolle im Universum zuzuschreiben. Es kann aber sein, dass alle menschliche Entwicklung nicht mehr Folgen hat als Moos oder Flechten, die jede feuchte Oberfläche überziehen“.111 An entscheidenden Stellen der Dialogues wird die Krise eines an die Menschheit gebundenen Bewusstseins deutlich. Am Ende kommt der Idee vor dem Bewusstsein die führende Rolle zu. Letzteres wird als Sekundärform der Existenz gesehen, die sich nicht auf das Ganze, auf das Universum und auf Gott übertragen lässt.112
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E. Renan, L’avenir de la science, OC III, S. 987. Ebd., S. 723. Renans ausdrückliche Kritik am Hegelianismus wird in der reichen Studie von G. Shapiro, Nietzsche contra Renan, nicht erwähnt. Zu Recht weist Shapiro auf die radikale Kritik Nietzsches an der starken Teleologie der historischen Konstruktion des französischen Autors hin, aber er übersieht, wie die finale Verwirklichung Gottes schon in den Jugendschriften Renans die schwache menschliche Geschichte übersteigt und ins Kosmische projiziert wird: „Hegel ist unhaltbar in der ausschließlichen Rolle, die er der Menschheit zuweist, die zweifellos nicht die einzige bewusste Form des Göttlichen ist, wenngleich die am weitesten entwickelte, die wir kennen. Um das Vollkommene und Ewige zu finden, muss man über die Menschheit hinausgehen und ins große Meer eintauchen!“ (L’avenir de la science, OC III, S. 1125, Anm. 14)
Maschinismus und Ideal
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5. Maschinismus und Ideal: der technokratische Traum Renans und die Kritik Nietzsches Nietzsche kritisiert in Jenseits von Gut und Böse (Aph. 48) den bequemen Dilettantismus und die betäubenden Wirkungen von Renans „religiöser Spannung“ und bezeichnet ihn schließlich als seinen „Antipoden“. Mehrmals beschreibt er seinen eigenen aristokratischen Radikalismus als mit der Position Renans unvereinbar. Der unterschiedliche philosophische Hintergrund der beiden gibt selbst denjenigen Stellen eine verschiedene Bedeutung, an denen die Zeitgenossen eine eindeutige und signifikante Nähe ausgemacht haben. Sowohl bei Renan als auch bei Nietzsche begegnen wir dem Vergleich der Menschheit mit einer Maschine, bei der unter ökonomischem Gesichtspunkt der Nutzeffekt im Verhältnis zum Energieaufwand sehr gering ist. Nietzsche spricht von der Menschheit als einer „unordentlich fungierende[n] Maschine mit ungeheuren Kräften“ (Nachlass 1877, KGW IV/2, 21[11]). Für Renan ist das materialistische und egoistische Bedürfnis der jouissance die Vergeudung, welche nützliche Energien verschwendet, während sie der wissenschaftliche Intellekt kontinuierlich ansammelt und wachsen lässt, wodurch er die stets im Hintergrund lauernde Gefahr des épuisement aller Kräfte bannt. Für Nietzsche wie für Renan ist die despotische Konstruktion einer enormen Maschinerie, die Durchsetzung eines allgemeinen „Chinesenthums“ die notwendige Antwort auf die Gefahr der Vergeudung und die Absurdität des „ökonomischen Optimismus“. „Jede Classe der Gesellschaft ist ein Räderwerk, ein Hebelarm in dieser unendlichen Maschine“, schreibt Renan in den Dialogues.113 Für Nietzsche muss global gesehen jede weitere Repression die Menschheit zu einer „immer fester in einander verschlungenen ‚Maschinerie‘ der Interessen und Leistungen“ führen, die die „A u s s c h e i d u n g e i n e s L u x u s - Ü b e r s c h u s s e s d e r Me n s c h h e i t “ ermöglicht. Die gesamte Menschheit muss einer riesigen Maschinerie immer ähnlicher werden, „als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner ‚angepaßten‘ Rädern […] als ein Ganzes von 113
E. Renan, Philosophische Dialoge, S. 98.
120 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren M i n i m a l - K r ä f t e , M i n i m a l - We r t h e darstellen. […] Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der A u s b e u t u n g d e s Me n s c h e n dar“.114 Es geht für Nietzsche darum, jenen „herrschsüchtigen Jesuitismus“ in der demokratischen Ordnung, der den Sieg des funktionalen Spezialistentums auf der Basis der Arbeitsteilung darstellt, auf die Spitze zu treiben. Jedes einzelne Rad hat den gleichen Wert für das Ganze, es entsteht eine Abflachung und Nivellierung des Einzelnen zugunsten der Gesamtmaschinerie. Die Demokratie ist für Nietzsche der Versuch, den „Dauermenschen“ und „Chinesen“ zu schaffen, und ihn „ebenso gleichmäßig und fest zu machen, wie es schon in Betreff der m e i s t e n T h i e r g a t t u n g e n geschehen ist“, die sich nicht mehr wesentlich verändern. Der Mensch hingegen „verändert sich noch – ist im Werden“ (Nachlass 1881, KGW V/2, 11[44]). Nietzsche und Renan geht es nicht darum, die demokratische Tendenz zur nivellierenden Mittelmäßigkeit und zum Amerikanismus zu bekämpfen, sondern sie entsprechend dem Plan der Vernunft der Herrschenden zu disziplinieren und zu funktionalisieren. Die so konstruierte Maschine muss die eingesparte Energie in die Hervorbringung von Renans Devas und Nietzsches Übermenschen investieren. Renans Devas sind „Götter, höhere Wesen […], welchen die übrigen bewussten Wesen Verehrung erweisen, und denen zu dienen sie glücklich sein sollen“.115 Dies verleiht der Ausbeutung einen höheren Sinn, indem die von der riesigen Maschinerie eingesparten Kräfte angesammelt werden. Aber bereits hier wird der fundamentale Unterschied der beiden Perspektiven deutlich. Die Dialogues philosophiques beharren auf dem für den späten Renan typischen Motiv der vitalen Notwendigkeit der Illusion. Die untergehende Religion strahlt einen letzten Rest von Glanz über die Menschheit aus: „Eines ist gewiss, 114
115
Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[17]. Wie W. Müller-Lauter gezeigt hat, trägt zu diesen ‚ökonomischen‘ Überlegungen des späten Nietzsche in entscheidendem Maß die Lektüre von E. Herrmann, Cultur und Natur, bei. Vgl. W. Müller-Lauter, Über Freiheit und Chaos, S. 173ff. E. Renan, Philosophische Dialoge, S. 75.
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dass die Menschheit aus ihrem Busen schöpfen wird, was immer an Blendwerk nöthig ist, damit sie ihre Pflichten erfülle und ihrer Bestimmung gerecht werde. Davon ist sie bisher nicht abgewichen und wird auch in Zukunft nicht davon abweichen“.116 Die nihilistische Färbung dieser Passage ist offensichtlich, aber anders als bei dem jungen Nietzsche hinterlässt die Notwendigkeit der Illusion bei Renan kein metaphysisches Vakuum, sondern weist vielmehr den Weg zu einer vollendeten „Theodizee“. Die Illusion ist Teil der ruses, der Täuschungen einer machiavellistischen Gott-Natur, die uns verführt und ihren Zielen unterwirft. „Im Hinblicke auf den Menschen erscheint uns das Universum als ein arglistiger Tyrann, der uns durch macchiavellistische Kniffe seinen Zwecken unterwirft und sich’s so einzurichten weiß, daß nur Wenige seines Betruges gewahr werden; denn würden ihn Alle gewahren, so wäre die Welt eine Unmöglichkeit“.117 Auf den Seiten über die „Theodizee“ nimmt Renan den schon von Galiani als Argument für eine machiavellistische Zielsetzung der Natur gegen den materialistischen Determinismus vorgebrachten Gedanken eines großen Spielers, der mit gefälschten Würfeln spielt, wieder auf (die Natur hat „die Würfel zu gut gemischt“).118 „Lassen wir uns von der Natur zu ihren Zwecken gebrauchen, legen wir immerhin eine gewisse Einfältigkeit an den Tag (lassen wir uns aber dabei nicht überlisten), seien wir die freiwillig Geprellten ihres Macchiavellismus, gehen wir ein auf ihre Absichten und ergeben wir uns darein. Es ist von Uebel, sich
116 117 118
Ebd., S. XVIII. Ebd., S. 24. Ebd., S. 32. Ch. Vincens, Les Dialogues philosophiques de M. Renan, S. 560, hat die Herleitung einzelner Abschnitte der Dialogues aus den Mémoires von Morellet, welche eine Unterhaltung mit Ferdinando Galiani wiedergeben, im Einzelnen nachgewiesen. In diesen Jahren war Galiani in Frankreich sehr präsent und wurde vor allem für seinen „Zynismus“ und „Anti-Rousseauismus“ geschätzt. Nietzsche, der in dem neapolitanischen Abbé vor allem das „monstre gai“ schätzte, rezipierte seine Themen (soziale Maschinerie, Bildung als Dressur, die Frau als krankes Tier u.a.) durch die 1882 veröffentlichten Briefe (Lettres de l’Abbé Galiani à Madame d’Épinay). Diese Bände stehen mit zahlreichen Lesespuren in Nietzsches nachgelassener Bibliothek.
122 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch wider die Natur zu empören, wenn man erkannt hat, daß sie uns täuscht“.119 Der Irrtum Schopenhauers bestand darin, dass er den Mechanismus der ruse im Hinblick auf den Geschlechtstrieb zwar erkannt, sich aber moralisch gegen ihn aufgelehnt hatte als „ein Mann, der sich der Natur nicht fügt, der den Anspruch erhebt, gegen ihren Willen vorzugehen“. Fichte ist Schopenhauer überlegen: Die Mission des Gelehrten bezüglich der Auflehnung gegen den trügerischen Willen.120 Die „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ bildet die Grundlage für die große Bedeutung, die der Wahn für Wagner und den jungen Nietzsche besaß: die Philosophie der lebenswichtigen Illusionen, die die „Artisten-Metaphysik“ prägen. Der von Renan kritisierte Aspekt, die Vergeblichkeit der Auflehnung gegen die Täuschung Gottes/der Natur, wurde von Nietzsche hingegen anerkannt als Schopenhauers „ehrlicher Atheismus“. Dieser sei in der Lage, einen ungetrösteten Blick auf die Wirklichkeit zu werfen, der nicht täuschen und nicht getäuscht werden will. Fiat veritas, pereat mundus. In der dritten Unzeitgemäßen wurde der pessimistische Philosoph zum Lehrer des Heldentums, in dem Bewusstsein, dass „ein glückliches Leben unmöglich 119 120
E. Renan, Philosophische Dialoge, S. 35. Ebd., S. 32. Vgl. hierzu R.-P. Colin, Schopenhauer en France, S. 107–112; L. Rétat, Les Dialogues philosophiques de Renan, und ders., Renan face à Schopenhauer. Ich möchte an dieser Stelle auch auf ein besonderes Büchlein hinweisen, das 1870 erschienen ist: M. Renan et Arthur Schopenhauer, von einem gewissen Alexandre de Balche, Attaché der russischen Botschaft in Paris (vgl. ebd., S. 10). Das Büchlein wurde in Odessa auf Kosten des Verfassers gedruckt und enthält die Übersetzung einiger Abschnitte Schopenhauers unter dem Titel Jurisprudence et politique (S. 37–83). Die Gegenüberstellung fällt ganz zugunsten der politischen Theorien Schopenhauers aus, die mit ihrer Verfechtung der erblichen Monarchie sehr viel konsequenter seien, während Renan, dessen Abhandlung La Monarchie constitutionelle en France nur negative Erwähnung findet, das Loblied der Französischen Revolution gesungen habe („sie dem Volk zu präsentieren als etwas Ruhmreiches ist gleichermaßen verrückt wie kriminell“, S. 9) und in seinem Sprachgebrauch gewisse „Rechte“ des Volkes anerkannt habe („es wäre richtiger ‚Ansprüche‘ zu sagen“). Dieses Buch erwähnt Carl von Gersdorff in einem Brief an Nietzsche von der Front (23. November 1870) und begrüßt es freudig als Zeichen des Sieges von Schopenhauers Geist und Ruhm; vgl. KGB II/2, S. 268.
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[ist]: das Höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf “.121 Nietzsche übernahm diese Sätze aus den Parerga, um den erzieherischen Kampfgeist Schopenhauers, die Notwendigkeit eines ‚eisernen Sinnes‘, „gepanzert gegen das Schicksal und gewaffnet gegen die Menschen“, zu demonstrieren: „On meurt les armes à la main“.122 Sowohl die ‚Vivisektion‘ der Illusion als auch der tiefe metaphysische Schlaf des wagnerschen Genies gehen also von Schopenhauer aus. Der Kern des Bildes, das Nietzsche von dem Philosophen zeichnete, nahm immer mehr die Züge der „h e r o i s c h e n Wa h r h a f t i g k e i t “ an: Der unzeitgemäße Schopenhauer trägt „uns in die höchste und reinste Alpen- und Eisluft […], um uns in den granitnen Urschriftzügen der Natur lesen zu lassen“. Er fordert die Kraftprobe: „Wer es hier nicht aushält und wem die Kniee zittern, der mag nur schnell wieder in die Weichlichkeit seiner Verklärungsbildung hinabflüchten“ (Nachlass 1874, KGW III/4, 34[21]). Die Metapher vom Eis im Gebirge und die Wendung „freier Geist“ (zusammen mit „befreiender Zerstörer“) charakterisieren in den Aufzeichnungen von Frühjahr-Sommer 1874 die Gestalt des pessimistischen Philosophen. Dieser Schopenhauer, der bereits „Voltairianer“ ist, trotz des Pathos der Wahrheit und der Emerson’schen Leidenschaft, mit der seine Gestalt gezeichnet wird, öffnete Nietzsche den befreienden Weg zu sich selbst. Die Verschwendung der Natur war für Schopenhauer Ausdruck einer blinden Spannung des Willens und für Nietzsche Ausdruck des Chaos sive natura. Für Renan hingegen wurde die Verschwendung der Natur, der es nicht auf vergeudete Kräfte ankam, in einem Endzustand wieder aufgehoben. Die scheinbar verschwendeten Kräfte haben in diesem Endzustand eine entscheidende Bedeutung, insofern sie die breite, zur freien Verfügung stehende Masse bilden, die die Herausbildung der Aristokratie der savants ermöglicht. „Bei diesen Einrichtungen der Vorsehung giebt es übrigens keine Opfer: Alle dienen 121
122
A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, SW 6, S. 346. Vgl. SE 4, KGW III/1, S. 369. A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I, SW 5, Aphorismen zur Lebensweisheit, § 53, S. 506.
124 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch höheren Zwecken. In der handvoll Körnern, welche der Säemann ausstreut, spielen selbst die verlorenen Körner eine Rolle“.123 Die von Renan vorgeschlagene Selektion ist die Entfaltung der Voraussetzungen des allgemeinen Nisus, die Verwirklichung des Deus absconditus. Renan ist nach Nietzsche gleichzusetzen mit anderen evolutionistischen Philosophen, in denen er die maskierten Erben der romantischen Teleologie erblickt. Nietzsche bekämpfte die soziologische Krönung der positivistischen Systeme – Comte, Mill, Spencer, Fouillée, Guyau – mit ihrem Thema des Altruismus. In ihnen sei die Entwicklungsrichtung von Anfang an vorherbestimmt und die gegenwärtige Beschaffenheit des Menschen als Modell festgehalten. Bei Renan gebe es eine metaphysische Garantie, dass nur das Wahre und das Bewusstsein als Macht bestätigt würden. Die Erweiterung der Wirklichkeit und der Macht bedeuteten eine Steigerung des Bewusstseins hin zur Verwirklichung eines sensorium commune, dessen Moleküle die savants seien, zu denen die Gesamtheit der Materie tendiere, der Triumph des Geistes (esprit) über das Fleisch (chair) – der Terminus, mit dem die Dialogues den abgetrennten aktiven Intellekt von Averroes übersetzen. In Nietzsches Sicht bedeutet sensorium commune als Entwicklungsbegriff der Menschheit die metaphysische Umschreibung der Herdenmoral. Renans Beschreibung des Christentums als Religion des dévouement und des Opfers, eine Art kantische Philosophie der Pflicht, die die Unterwerfung des Volkes unter ein höheres Ziel gewährleistet, wird von Nietzsche auf den Kopf gestellt. Opfer und Pflicht bedeuten durchaus Zerstörung des Individuums zugunsten der Rasse, aber nur insofern, als die Mittelmäßigkeit der Herde jede höhere Individualität zerstört. Nietzsches Konstruktion des Übermenschen setzt das Chaos sive natura voraus, das bestätigt wird durch die Annahme der ewigen Wiederkehr als einer Perspektive unschuldigen Werdens, das in seinem radikalen Immanentismus jeglichen Rest des „Schattens Gottes“ zerstört und so jeden einzelnen Augenblick des Daseins aufwertet. Die wissenschaftliche Redlichkeit, die den religiösen Geist besiegt, geht von einer begrenzten Energie aus, die auf Wiederholung nicht verzichten kann, auf den Rückfall in 123
E. Renan, Philosophische Dialoge, S. 77.
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einen bereits durchlebten Zustand. Wenn Nietzsche den Begriff „Gott“ noch beibehält, so nur, um einen Gipfel an Macht zu beschreiben, dem notwendig ein Prozess der „Entgottung“ folgt. Die Bejahung des Kreises, die sich gegen jede stets verschleiernde lineare Fortschrittsphilosophie wendet, hat eine Selektionsfunktion im Hinblick auf den Übermenschen. So wie er an Stelle der Soziologie eine „L e h r e v o n d e n H e r r s c h a f t s g e b i l d e n “ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[8]) vorschlägt, so schlägt er an Stelle der Metaphysik, der Religion und der Teleologie als deren natürlicher Konsequenz, „d i e e w i g e W i e d e r k u n f t s l e h r e (diese als Mittel der Züchtung und Auswahl)“ (ebd.) vor. Es geht darum, „über dies furchtbare G e f ü h l d e r O e d e hinwegzukommen“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[13]), das angesichts der weiten, in alle Richtungen offenen Horizonte entsteht, die sich mit dem Ende der vorgegebenen Wege auftun. Die Kraftprobe besteht in einer bejahenden Konfrontation mit dem Nihilismus, der sich aus der Theorie der ewigen Wiederkehr ergibt. „Das Auseinanderfallen, also die Ungewißheit ist dieser Zeit eigen … Alles glatt und gefährlich auf unsrer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden: wir fühlen Alle den warmen unheimlichen Athem des Thauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald Niemand mehr gehen können“ (ebd., 25[9]). Die von Nietzsche mehrfach verwendete Metapher des Eises, die auf Bourgets Seiten über Flauberts und Renans Nihilismus zurückgeht, zeigt, dass es ihm nicht nur darum ging, Renans teleologische, für ihn antipodische Interpretation zu kritisieren, sondern deren Charakter eines extremen metaphysischen Trostes angesichts des drängenden Nihilismus herauszustellen. In Renans Dialogues gilt, neben der Betonung des épuisement aller lebendigen Kräfte im Universum, die klare Feststellung: „Die gesellschaftliche wie die theologische Ordnung fordert zur Frage heraus: Wer weiß, ob die Wahrheit nicht traurig ist? Der Bau der menschlichen Gesellschaft ist über einer großen Leere errichtet. Wir haben es auszusprechen gewagt. Nichts gefährlicher als auf einer Eisschicht zu schlittern, ohne sich träumen zu lassen, wie dünn sie ist“.124 124
E. Renan, Le prêtre de Nemi. Drames philosophiques, OC III, S. 530.
126 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Die ewige Wiederkehr verbietet tröstliche Wege. Sie zerstört den Rest des „Schattens Gottes“ und hat einen zunehmend selektiven Wert im Hinblick auf die Kräfte. Beide Autoren gehen von der Instabilität des Menschen aus, die ständig die Feststellung der Spezies auf einem bestimmten Niveau, d.h. das Fixieren der Instinkte in Bezug auf die Umgebung verhindert, wie dies bei den anderen Tieren geschieht. Der Mensch ist für Nietzsche das kranke Tier, das noch nicht festgestellt ist: „Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, – er ist das kranke Thier“ (GM III 13). Diese Aussage entspricht Renans Hypothese, dass „die Menschheit […] nie das Gleichgewicht erreichen [wird], welches das Ende jedes Fortschrittes ist; wie die Bienen oder die Ameisen, die einen Ruhepunkt gefunden“.125 Während aber für Renan die Aktivität in der Anpassung der Wenigen an den Entwurf der Gesamtheit besteht, geht sie für Nietzsche völlig in der Vorstellung eines offenen Experimentierens in einer als Versuchslabor vorgestellten Welt auf: „Die ‚Menschheit‘ avancirt nicht, sie existirt nicht einmal … Der Gesamtaspekt ist der einer ungeheuren Experimentir-Werkstätte, wo Einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißräth, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 15[8]). Renans „organiser Dieu“, das die Maschen des Werdens auf eine Totalität hin verengt, die eine vorgegebene und garantierte Richtung hat, stellt Nietzsche, mit einer offensichtlichen Anspielung auf Renan, die Notwendigkeit eines ‚Loswerdens‘ der Totalität gegenüber: Es scheint mir wichtig, daß man das All, die Einheit los wird, irgend eine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und Gott zu taufen. Man muß das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; das, was wir dem Unbekannten und Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsre. […] Also: e s g i e b t k e i n A l l , e s f e h l t das große Sensorium oder Inventarium oder Kraft-Magazin (Nachlass 1886–1887, KGW VIII/1, 7[62]).
Gerade dieser Absatz ermöglicht es uns, einen ersten wichtigen Moment des grundsätzlichen Unterschieds zwischen Nietzsches „Askese 125
E. Renan, Philosophische Dialoge, S. 52.
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der Starken“ und Renans Askese der savants festzustellen: Das sensorium commune setzt sich vermöge der Aufsaugung von Energien durch, die die Materie, den Leib aufs Äußerste verarmen lassen, bis hin zu der paradoxen Annahme einer Konzentration aller „Nervenkraft im Gehirne“ dank einer Anthropotechnik, die zu diesem Zweck die anderen Organe verkümmern lässt.126 Diese Vorstellung wird zum Gegenstand von Nietzsches Polemik. Der Mensch, der nur noch aus Gehirn besteht, ist völlig durch die Barbarei bestimmt, die bisher keine Genies hervorgebracht hat, sondern nur „umgekehrte Krüppel“: „Menschen, denen es an Allem fehlt, ausser dass sie Eins zuviel haben – Menschen, welche Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein grosses Maul oder ein grosser Bauch oder irgend etwas Grosses“ (Za II, Von der Erlösung, KGW VI/1, S. 174). Die Trennung von Leib und Seele, Genuss und Wissenschaft führt in den Dialogues zum Paroxysmus einer absoluten Verneinung des Individuums und seines Leibes, im Hinblick auf die ferne, zukünftige Verwirklichung des erhabenen Leibs Gottes. Der zu einem Hirn-Monster gewordene Wissenschaftler, die Gott geopferte Hostie, verwirklicht sich nur als Spurenelement, als Teil der äußersten Omnipotenz. Im Schlussbild wird die dem Fleisch entzogene Lust in Gott zum unendlichen Fluss der Wollust und zum Triumph des bislang negierten „Pols“: Man kann aber eine Zeit annehmen, in welcher die ganze Materie organisirt sein wird, in welcher Tausende von Sonnen zusammengeronnen ein einziges Wesen bilden, welches fühlt, genießt und mit glühendem Munde einen Strom von Wollust aufnimmt und ganze Sturzbäche von Leben entsendet. Dieses lebendige All würde die beiden Pole darstellen, welche in der ganzen Nervenmasse bemerkbar sind, der Pol, der denkt, und der Pol, der genießt. Gegenwärtig denkt und genießt das All durch Millionen von Individuen. Eines Tages würde ein Riesenmund das All einschlürfen: ein Ocean von Entzücken würde denselben durchströmen: eine unversiegbare Lebens-Ausströmung, der weder Ruhe noch Ermüdung bekannt wäre, würde in die Ewigkeit hinaussprudeln.127 126 127
Vgl. ebd., S. 87–88. Ebd., S. 95. Der Abschnitt ist von Nietzsche am Rand angestrichen. Vgl. hierzu auch die genaue Lektüre Rétats in seiner Einleitung zu den Dialogues sowie in Religion et imagination religieuse. Vgl. auch die Einleitung zu E. Renan, Légendes patriarcales des Juifs et des Arabes, S. V–XXII.
128 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch In L’avenir de la science stand die neue Askese des savant der christlichen gegenüber, die das Schöne und das Wahre vollkommen vernachlässigt hat, um sich nur in den Dienst des Guten zu stellen, verstanden als Unterwerfung unter den äußeren Willen eines höheren Wesens.128 Noch einmal kam der idealistischen Triade Cousins (das Schöne, Wahre und Gute) die schwierige Aufgabe zu, die gesamte spekulative Konstruktion zu stützen. In den Dialogues wird das Wahre omnipotent und verschlingt das Gute und Schöne. Es gibt keinen Platz für die höhere Moral Jesu, da er ‚charmant‘ ist. Ebenso wenig gibt es Platz für die Kunst, deren Ende naht: „Und der Dichter? … und der Wohlthäter? Der Dichter ist ein Tröster: der Wohlthäter ein Krankenpfleger, beides sehr nützliche, aber vorübergehende Beschäftigungen, da sie ein Übel voraussetzen: das Übel, welches die Wissenschaft bestrebt ist stark abzuschwächen. […] Die Natur erreicht ihren Zweck […] besonders durch [die Wissenschaft]“.129 In den Dialogues findet sich jedoch die endgültige Formulierung des asketischen Charakters des wissenschaftlichen Ideals, das eine Unterdrückung des Sinnlichen beinhaltet, die Nietzsche im Bild des „Priesters“ Renan eingefangen hat. Dessen Keuschheit stellt einen antivitalen Wert dar und nicht die Ansammlung keuscher Energie, wie sie einem Künstler à la Stendhal eigen ist: „Keuschheit ist bloß die Ökonomie eines Künstlers“.130 128 129
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Vgl. E. Renan, L’avenir de la science, OC III, S. 734. E. Renan, Philosophische Dialoge, S. 62–63. Das Ende der Kunst als Schwanengesang vergangener Epochen, der Dichter als „Tröster“, der karitative Mensch als „Krankenpfleger“, verbunden mit der Wissenschaft, die in der Lage ist, als „Palliativ“ zu wirken, indem sie an der tatsächlichen Elimination der Ursachen für die Schmerzen arbeitet, sind Themen, die in Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches auftauchen. Die entsprechenden Abschnitte bei Renan sind in Nietzsches Exemplar angestrichen. Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[117]: „Beyle und Flaubert, zwei Unbedenkliche in solchen Fragen, haben in der That den Künstlern im Interesse ihres Handwerks Keuschheit anempfohlen: ich hätte auch Renan zu nennen der den gleichen Rath giebt, Renan ist Priester …“. Renan kommt in den Souvenirs selber mehrfach auf seine „priesterliche“ Natur zu sprechen (vgl. z.B. OC II, S. 796 und 798: „Ich war kein Priester von Beruf, ich war es in geistigem
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Auch die spezialisierte Arbeit ist asketischer Verzicht und Opfer: das Werk der finalen Synthese und sein umfassender Sinn transzendieren die individuelle Ausführung. Das Prinzip des Verzichts auf fleischliche Genüsse und auf die Verschwendung der jouissance, wie sie dem materialistischen Bürger, aber auch dem Sozialismus und seinen Idealen eigen sind, steht am Anfang der wissenschaftlichen Organisation der Menschheit. Auf den ersten Seiten von L’avenir hat Renan programmatisch den Gegensatz Leib-Seele eingeführt, nicht als substanzielle Dualität, sondern als Gegensatz zwischen den beiden von allen Religionen anerkannten Wegen. Der Weg der Seele ist durch den Kult des Edlen und Idealen gezeichnet, der nicht an den Formen des Wahren, Schönen und Guten (der Triade Cousins) interessiert ist. Der Weg des Leibes ist von der Hingabe an die Lust, an das Nützliche und das Vulgäre geprägt und charakterisiert die moderne Zeit immer mehr als neue Barbarei. Kennzeichnend ist die Polemik gegen die großen Ausstellungen. Die neuen Pilgerzüge in Europa macht man, um „neue Ware ausgestellt zu sehen und ihre Qualität zu vergleichen“. „Zum ersten Mal hat unser Jahrhundert große Mengen zusammengerufen, ohne ihnen ein ideales Ziel vor Augen zu halten“.131 Das neue, verbreitete Böotien findet seine Priester und seine Theologie wie dasjenige Bérangers, das seinen Gott „de grisettes et de buveurs“ hat, ein wahrer und einfacher Atheismus („der oberflächliche Optimismus, der beleidigt, indem er weiht“), der Gott nach seinem Maßstab verkennt und konstruiert, ohne zu suchen („du gehörst nur uns und wir wissen dich zu finden … malgré moi l’infini me tourmente“). „Der wesentlich egoisti-
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Sinne […] Ich war a priori ein geborener Priester, wie andere geborene Soldaten oder Richter sind“). Es handelte sich dabei im Übrigen um eine Charakterisierung, die in den zeitgenössischen Porträts verbreitet war. Zu denjenigen, die Nietzsche sicher kannte, zählt J. Lemaître, Les Contemporains, I série, S. 204: „Er ist Priester geblieben; selbst der Negation gibt er die Wendung des christlichen Mystizismus. Sein Gehirn ist eine cathédrale désaffectée“, und Bd. III des Journal der Goncourts, S. 209f., wo in Bezug auf Renan von der „erhabenen und klugen Liebenswürdigkeit eines Priesters der Wissenschaft“ die Rede ist. E. Renan, La poésie de l’exposition (1855), OC II, S. 241.
130 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch sche Genuss ist folglich die Negation des Göttlichen, das Gegenteil der Religion“.132 Der Amerikanismus, der Triumph der Mittelmäßigkeit und der egoistischen sottise stellen die größere Gefahr dar (als solche werden sie im Lauf der Jahre auch empfunden). In seinem Vorwort zu Mélanges d’histoire et de voyages (1878) schreibt Renan: „Was uns erwartet, ist nicht die Gewalt, sondern die Weichheit … Eine Art universaler Indulgenz, die alles durchgehen lässt; auf lange Sicht wird eine allgemeine Auflösung jeden höheren Einfluss zerstören, der von einer aristokratischen Klasse oder elitären Gruppen kommt“.133 Die jouissance führt zu einer Verschwendung von Energie, die nicht mehr für die Verwirklichung des göttlichen Plans zu verwenden ist. „Man muss den Antagonismus von Leib und Seele zerstören, nicht indem man beide einander angleicht, sondern indem man einen der beiden ins Unendliche vergrößert, so dass der andere sich auflöst und zu nichts wird“.134 Die Abspaltung der Wissenschaft vom Reich des Fleisches stärkt deren Modellcharakter für eine Gesellschaft, die eine Alternative zur materialistischen bürgerlichen Welt des Genusses darstellt. Die moralische Gesellschaft scheint diejenige zu sein, in der sich jeder, seiner Stellung und seinem Existenzgrad entsprechend, für die Realisierung der idealen Formen, für den Gott, der sein wird, opfert. Die Ungleichheit und sogar die Sklaverei werden bereits in der progressiven Schrift L’avenir durch eine Gesellschaft legitimiert, an deren Ende die Vollkommenheit steht. Für Nietzsche bleibt der asketische Weg zur Herrschaft ‚materialistisch‘ an eine ‚Geschichte des Leibes‘ gebunden und jegliche Form von Idealismus, die aus den Leiden und Unzulänglichkeiten des Leibes resultiert, kann in ihre materiellen genetischen Komponenten zerlegt werden, jenseits der Fiktion eines vereinfachenden Bewusstseins: „Es ist die Phase der B e s c h e i d e n h e i t d e s B e w u ß t s e i n s . […] Und kurz gesagt: es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den L e i b : es ist fühlbar w e r d e n d e G e s c h i c h t e davon, daß ein h ö h e r e r L e i b s i c h b i l d e t . […] Un132 133 134
E. Renan, Questions contemporaines, OC I, S. 313f. E. Renan, Mélanges d’histoire et de voyages, OC II, S. 313. E. Renan, L’avenir de la science, OC III, S. 1051.
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sere Gier nach Erkenntniß der Natur ist ein Mittel, wodurch der Leib sich vervollkommnen will“ (Nachlass 1883, KGW VII/1, 24[16]). Aus der Gesamtheit dieser widersprüchlichen Auffassungen ergibt sich die Distanz zwischen dem Deva Renans und dem Übermenschen Nietzsches. Die Ansammlung von Energie führt im Projekt der Dialogues zur maximalen Potenzierung der gegebenen Fähigkeiten: „Wesen, die uns zehnfach überlegen […] wären“.135 Hier führt die Wissenschaft in ihrer anthropotechnischen Form das Werk der Natur fort, indem sie die gegebenen Elemente neu kombiniert. Der tyrannische Wissenschaftler hat die absolute Herrschaft über die Masse der Heloten. Renan schreibt: „So wie die Menschheit aus der Thierheit hervorgegangen ist, so würde die Gottheit aus der Menschheit hervorgehen. Es würde Wesen geben, welche sich des Menschen bedienen würden, wie sich der Mensch der Thiere bedient“.136 Dieser Tyrann ist selbst nur ein Teil der großen Maschinerie, den der göttliche Plan ausscheidet, und konstitutiver Teil der maschinellen Logik der Arbeitsteilung: „Jede Classe der Gesellschaft ist ein Räderwerk, ein Hebelarm in dieser unendlichen Maschine. Dies ist der Grund, warum eine jede ihre Tugenden hat. In uns Allen liegen die Verrichtungen des Weltalls und die Pflicht besteht darin, dass ein Jeder seine Verrichtung wohl erfülle“.137 Während bei Nietzsche die Herrschaft des Übermenschen eine „Gegenbewegung“ gegen das „Chinesenthum“ hervorbringt, macht der savant-Dieu Renans in derselben Richtung weiter. In den Dialogues philosophiques geht die Aktivität der savants vollkommen in technischen Erfindungen auf – auch der Prospero der philosophischen Dramen ist ein Magier. Dieser technische Erfindergeist dient vor allem der Schaffung ungeheurer Destruktionsapparate, die der Aufrechterhaltung der Herrschaft dienen und in der Lage sind, den religiösen Betrug zu ersetzen:
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E. Renan, Philosophische Dialoge, S. 86. Ebd., S. 88. Nietzsche hat diese wichtigen Stellen in seinem Exemplar am Rand angestrichen. Ebd., S. 98.
132 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Die Wahrheit wird eines Tages die Kraft sein. „Wissenschaft ist eine Macht“ … Eine Theorie, welcher furchtbare Maschinen entstammen werden, die Alles bezwingen und unterjochen wird, wird ihre Wahrheit auf eine unläugbare Art erweisen. […] In der That, an dem Tage, an welchem einige Bevorrechtete der Vernunft das Mittel besäßen, den Planeten zu zerstören, wäre auch ihre Oberherrschaft geschaffen; diese Bevorrechteten würden vermittelst des absoluten Schreckens regieren, da sie ja die Existenz Aller in ihrer Hand hätten; man kann beinahe sagen, daß sie Götter wären und daß dann der von dem Dichter für die erste Menschheit geträumte theologische Zustand zur Wirklichkeit würde. Primus in orbe deos fecit timor.138
Renans Ethik der Pflicht, der auch die „positivistischen Tyrannen“ gehorchen, gehört für Nietzsche, gerade wegen ihres Charakters theologischer Absolutheit, zum „Chinesenthum“ und ist Ausdruck der Sklavenmoral ihrer Untergebenen, die zu keiner individuellen, autonomen Gesetzgebung fähig sind und einer Bestimmung der Werte von außen bedürfen. In Renans philosophischem Drama Caliban verwandeln sich die neuen Götter selbst in Maschinen, in einer rêverie, die in einer morbiden Halluzination die Refeudalisierung mit der extremsten Form des Amerikanismus vereint: „Riesen mit enormen Armen und Beinen aus poliertem Stahl. Ihre Glieder bewegen sich dank gewaltiger exzentrischer Gelenke … Nachdem sie die Götter aus Fleisch in die Flucht geschlagen haben, bekämpfen sich die Götter aus Stahl untereinander. Die Welt füllt sich mit einem fürchterlichen metallischen Geräusch“.139 Der Weg Nietzsches hin zum Übermenschen verzichtet auf Abkürzungen und ausschließliche Wege, die durch metaphysische und theologische Garantien geheiligt sind, im Namen eines Machiavellismus sans mélange,140 mit dem Nietzsche 138
139 140
Ebd., S. 83–84. Auch dieser Abschnitt ist von Nietzsche am Rand angestrichen. E. Renan, Caliban, OC III, S. 403. Vgl. Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[54]: „Aber der Macchiavellismus, pur, sans mélange, cru, vert, dans toute sa force, dans toute son âpreté ist übermenschlich, göttlich, transscendent, er wird von Menschen nie erreicht, höchstens gestreift …“. Nietzsche entnimmt diese Wendungen einem Brief Galianis an Madame D’Épinay vom 5. September 1772 (Bd. I, S. 370; dt. Übers. S. 256). Galiani demonstriert, Bezug nehmend auf die Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes des Abbé Raynal, zu dessen Bewunderern er sich zählt, die ganze
Maschinismus und Ideal
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den absoluten Willen gemeinsam hat, „sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehn, – nicht in der ‚Vernunft‘, noch weniger in der ‚Moral‘“ (GD, Was ich den Alten verdanke 2). Neben der klaren analytischen Zergliederung präsentiert Nietzsche in seinen Vorschlägen einen Komplex von Ebenen, aus denen die klare Absicht hervorgeht, den dominierenden Despotismus des „Chinesenthums“ zu überwinden. Im Mittelpunkt dieser Gegenbewegung der letzten Periode steht die Kunst als das „große Stimulans zum Leben“, verbunden mit einem Machtzuwachs. Den positivistischen Tyrannen Renans stellt Nietzsche die Künstler-Tyrannen gegenüber, die in der Lage sind, der angesammelten Energie der Maschinerie einen neuen Sinn zu verleihen. Die Welt des Maschinismus muss nüchtern von straffen Herrschaftsformen reguliert werden, bis hin zu einer völligen Hierarchisierung der Funktionen nach dem Vorbild des Körpers, die ein allgemeines „Helotenthum“ perfekter Werkzeuge realisiert: „MenschenBruchstücke – das zeichnet die Sklaven“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[242]). Nietzsche schlägt einen Tyrannen vor, der die Menschen wie Lehm zu formen vermag, in Ausübung eines künstlerischen Willens wie desjenigen des „moi colossal“ von Taines Napoleon, dem postumen Bruder eines Dante oder Michelangelo, der in der Lage ist, als Künstler dem Chaos Form zu geben: „C’est sur l’homme vivant, sur la chair sensible et souffrant que celui-ci a travaillé“.141
141
Entfernung zu dem 1770 erschienenen Buch: „es ist das Buch eines ehrenwerten, sehr gut unterrichteten, sehr tugendhaften Mannes; aber es ist kein Buch für mich“ und er fährt fort: „In politischen Dingen erkenne ich nur den reinen, unverfälschten, rohen, grünen Macchiavellismus an“. Der zweite zitierte Abschnitt ist von Nietzsche stark unterstrichen, der auch den Rest der Argumentation am Rand anstreicht, die ein offenes, provozierendes Bekenntnis zum Zynismus ist. Aufgrund dieses Zynismus, hinter dem sich „zerbrochene stolze unheilbare Herzen“ verbergen, stellt Nietzsche in einer handschriftlichen Anmerkung zum Aph. 270 in seinem persönlichen Exemplar von Jenseits von Gut und Böse Galiani und Hamlet nebeneinander. H. Taine, Napoléon, 15. Februar 1887, S. 752. Nietzsche zitiert den ersten Teil dieses Textes in Nachlass 1887, KGW VIII/1, 5[91]. Für die Gestalt Napoleons ist Nietzsches Lektüre des Mémorial von Las Cases bedeutsam; vgl. Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[186–191]. Im Nachlass finden sich außerdem weitere Exzerpte seiner Lektüren über Napoleon, namentlich die aus der
134 Der Der„deva“ „deva”der derDialogues Dialogues philosophiques philosophiques und undNietzsches NietzschesÜbermensch Übermensch Am Ende eines mühsamen Auswahlprozesses der Kräfte taucht noch eine weitere ästhetische Dimension auf, in der die Lektion Schillers im Bild des herakliteischen Kindes fortbesteht, das in der ausgesuchten Gemeinschaft der „überflüssigen Menschen“ spielt, die von der Maschinerie leben, sich aber vollkommen jenseits derselben befinden. Eine reine Antithese zur aristokratischen Perspektive Renans: Gerade da, wo Nietzsches Projekt auf dem Höhepunkt seines Willens zu herrschen angelangt ist, enthüllt es auch eine zwangsläufige Dimension der Befreiung aus den sklavischen Schlingen der Gesellschaft. Der „römische Cäsar mit Christi Seele“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 27[60]). Die volle innere Freiheit erreicht man nicht mehr wie der „idiotische“ Christus infolge der physiologischen Erschöpfung der décadence, sondern als Resultat eines vielfältigen Reichtums an Kräften und Instinkten, die ihr höheres Gleichgewicht gefunden haben.
France nouvelle (Paris, 18682) von dem Publizisten und Politiker Lucien-Anatole Prévost-Paradol (vgl. insbes. Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[110]). Die Positionen dieses Autors, der sich bei der Nachricht des Deutsch-Französischen Krieges das Leben nahm, waren in den europäischen Debatten über die preußisch-französische Kulturkrise und die Krise der französischen Gesellschaft vertreten. Auch J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, S. 236, verwies auf das Werk von Prévost-Paradol, insbesondere auf die Überlegungen zu Napoleon und zur „historischen Größe“. Vgl. dazu G. Wettstein, Frankreich und England, S. 137ff. Vgl. auch „M. Taine et Napoléon Bonaparte“ von J. Lemaître, einem von Nietzsche geschätzten Autor (Les contemporains, IV série, S. 169–183).
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Das ‚Deutschthum‘ des jungen Nietzsche
III. Germanische Kultur und romanische Zivilisation in der Sicht von Wagner und Nietzsche Die Franzosen sind die Fäulnis der Renaissance. Richard Wagner
1. Das ‚Deutschthum‘ des jungen Nietzsche: Wagner und der ‚Bayreuther Sumpf‘ Nietzsches zunehmende Wertschätzung der Franzosen bedeutete nicht zuletzt einen entschiedenen Bruch mit Wagner und dem Deutschtum und ‚Idealismus‘ Bayreuths. In diesem Kapitel möchte ich Nietzsches nicht immer geraden Weg von seiner – wenngleich nur kurzfristigen und nicht ungebrochenen – Übereinstimmung mit Wagners Ideologie hin zu einer von Mythen und Ideologien befreiten philosophischen Praxis nachzeichnen. Dabei wird sichtbar werden, welch großes Gewicht Nietzsches Annäherung an die ‚Latinität‘ auf diesem Weg gehabt hat. Das Konzept der ‚Latinität‘ umfasst die Werte der italienischen Renaissance und der französischen Klassik als Gegensätzen zu Wagners „germanischer Wiedergeburt“. Die Quellen, auf denen dieser Weg Nietzsches basiert, sind in erster Linie Burckhardt und eine beachtliche Anzahl französischer Autoren, darunter Stendhal, Gebhart und Taine.1 1
Hinzuzufügen ist unter anderen auch Père Didon, Verfasser von Les allemands, Paris, Calmann-Lévy, 1884. Resa von Schirnhofer, der Nietzsche den Band geliehen hatte, vertraut ihren Memoiren die Betrachtungen des Philosophen über den Kontrast zwischen den beiden Kulturen an: „das Buch des Père Didon: ‚Les Allemands‘ gab er mir zur Lecture, da er die Charakteristik der Züge im geistigen Antlitz der Deutschen und Franzosen treffend fand und lesenswert was Didon über die höheren Bildungsstätten und ihre historische Entwicklung bei beiden Völkern darin sagt. Ich las es während meines Aufenthaltes in Nizza und finde in meinem Notizbuch aus jener Zeit einige der Antithesen notiert; z.B. L’Allemand voit large et confus, nous voyons clair et juste,
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Germanische Kultur und romanische Zivilisation
Wichtige Hinweise auf seine Quellen liefert Nietzsche selbst bei der Rekonstruktion seines Weges am Ende seines bewussten Lebens, insbesondere in Ecce homo. Zu einem Zeitpunkt, als er seine Frontstellung gegen die Deutschen radikalisierte, betonte er einerseits den Enthüllungscharakter, den die ersten Bayreuther Festspiele von 1876 als Ausdruck eines nationalistischen, manierierten Wagnertums für ihn gehabt hatten, das Wagners wahrer Natur zutiefst fremd sei – die „‚Idealisten‘ der Bayreuther Blätter, die Wagner mit sich selbst verwechseln“ (EH, Menschliches, Allzumenschliches 2) –; andererseits schlug er konsequent eine authentische, das heißt ‚französische‘ Interpretation Wagners als eines Großstadtkünstlers und Künstlers der Décadence vor. Das Deutschtum und der Idealismus Bayreuths erschienen ihm zusammen mit der deutschen Ideologie der Kunst als eine gewaltige Ansammlung von Deformationen und Fälschungen: „Die Anfänge dieses Buchs [Menschliches, Allzumenschliches] gehören mitten in die Wochen der ersten Bayreuther Festspiele hinein; eine tiefe Fremdheit gegen Alles, was mich dort umgab, ist eine seiner Voraussetzungen“ (EH, Menschliches, Allzumenschliches 2). Über Wagner schreibt er: „Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden! – Die d e u t s c h e Kunst! der d e u t s c h e Meister! das d e u t s c h e Bier! … Wir Andern, die wir nur zu gut wissen, zu was für raffinirten Artisten, zu welchem Cosmopolitismus des Geschmacks Wagners Kunst allein redet, waren ausser uns, Wagnern mit deutschen ‚Tugenden‘ behängt wiederzufinden“ (ebd.). Diese und zahlreiche weitere Stellen lassen keine Zweifel offen: Wagner gehört nach Frankreich, er ist in Deutschland „bloss ein Missverständnis“ (NW, KGW VI/3, S. 426). Wagner ist aus demselben Stoff wie Baudelaire, die Goncourts oder Delacroix: ein Mittel son êcueil est le vague, l’obscurité, nous avons a craindre d’être superficiels. Notre défaut à nous autres Français est un excès de franchise, le défaut des Germains est l’excès dans la réserve. Nous parlons trop, ils parlent trop peu; nous sommes éloquents, ils sont taciturnes. La fausseté est une exception chez nous, la franchise en est une chez eux … etc.“ (R. von Schirnhofer, Vom Menschen Nietzsche, S. 257). Resa von Schirnhofer zitiert die Seiten 41 und 48–49 von Didons Band, der die geistigen und moralischen Eigenschaften der beiden Völker seitenlang kontrastierend auflistet.
Das ‚Deutschthum‘ des jungen Nietzsche
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(ein „Gegengift par excellence“) gegen die moralistische Plumpheit der Deutschen und ihren Notstand in psychologicis: „Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnerische Musik. Denn ich war v e r u r t h e i l t zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nöthig. Wohlan, ich hatte Wagner nöthig“ (EH, Warum ich so klug bin 6). Wie wir sehen werden, traf Nietzsches Argumentation sehr genau einen entscheidenden Aspekt Wagners und seiner Anhänger, doch übersah er in seiner Rekonstruktion völlig, wie tief er selbst im Sumpf des Idealismus und der ästhetischen und nationalen Kategorien Wagners steckte. „Ich habe mit Wagner eine Alliance geschlossen. Du kannst Dir gar nicht denken, wie nah wir uns jetzt stehen und wie unsre Pläne sich berühren“.2 Seine Argumentation verdeckt auch, wie weit Wagner, vor allem in den siebziger Jahren, im Klima des Deutsch-Französischen Krieges und der Commune, von dem Bild entfernt war, das er in Ecce homo von ihm gab. Schon in Deutsche Kunst und deutsche Politik (1867) hatte Wagner die französische und lateinische Kultur als Hauptgegnerin seiner neuen Kunst ausgemacht: denn so ersichtlich nachweisbar, wie kaum ein anderes Datum der Geschichte, ist die eigene Wiedergeburt des deutschen Volkes aus dem deutschen Geiste hervorgegangen, im vollen Gegensatze zu der übrigen ‚Renaissance‘ der neueren Kulturvölker Europa’s, von denen wenigstens an dem französischen Volke ebenso ersichtlich statt einer Wiedergeburt eine unerhört und unvergleichlich willkürliche bloße Umformung auf rein mechanischem Wege von oben nachzuweisen ist.3
Aus seinem hauptsächlich auf die Theaterreform gerichteten Blickwinkel verabscheute er das französische Volk und stigmatisierte es moralisch, Voltaire gegen Voltaire verwendend, als „Mischung von Affen und Tigern“ ohne jegliche Idealität.4 Das Leben dieses Volkes sei wesentlich theatralische Konvention und Kunst. Die Theatralität der Macht und des Hofes hatte in Wagners Augen als Vorbild gewirkt und das Leben der ganzen Gesellschaft in Theatralität und Konvention 2 3 4
An Rohde, 28. Januar 1872, KGB II/1, S. 279. R. Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, SSD 8, S. 33. Ebd., S. 72.
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Germanische Kultur und romanische Zivilisation
verwandelt. So hatte das lebendige Theater des Volkes allen Wert und alle Würde verloren und war zu einem rein mechanischen Virtuosentum verkommen. In Deutsche Kunst und deutsche Politik stellte Wagner den reproduzierenden, schöpferischen Schauspieler (Künstler) über den Mimen, der lediglich imitiert (Idealismus gegen Realismus) und rückte den Vergleich zwischen dem Affen (die Franzosen) und dem Menschen (die Deutschen) in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Der Abscheu des Menschen vor dem Affen rührt nicht von dem Unterschied, sondern von der äußeren Ähnlichkeit zwischen dem Affen und dem mechanischen, künstlichen Virtuosentum der Imitation (welche das französische Theater charakterisiert). Im Gegensatz dazu steht die ideale Wiedergabe der Realität, wie sie die bildende Kunst und die Dichtung charakterisiert und das deutsche Theater prägt: „der Versailler Hof war ganz nach theatralischen Effektanforderungen konstruirt“.5 Wagner spitzte Themen zu, die in der deutschen kulturellen Tradition bereits vorgeprägt waren. In der französischen Kultur sah man eine Fortsetzung und Steigerung des Zeitalters Ludwigs XIV., in welchem Form und Konvention das Leben abtöteten. Das Theater Voltaires war der höchste Ausdruck jener Kultur, von der Herder schrieb: „Ich habe ganze Stücke gehört und keinen inartikulirten Schrei der Natur und Leidenschaft gefunden, der natürlich wäre“.6 Von Lessing bis Schiller wurde der Mangel an ‚Natur‘ zum Gemeinplatz. Wagner steht in dieser Tradition.7 In Frankreich geht das Leben in den For5 6 7
Ebd., S. 74. G. Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, S. 481. Wie sehr diese Haltung Gemeinplatz war, zeigt ein Aufsatz Nietzsches aus Schulpforta aus dem Jahr 1864, in dem er in Gedichtform den dreihundertsten Geburtstag Shakespeares feiert. Das in romantischem Stil verfasste Gedicht dreht sich um das verlassene, trostlose Grab des englischen Dichters. Nietzsche greift Elemente der traditionellen Polemik gegen das französische Theater auf, das Shakespeare verdrängt hat: „Die Leute sind zu ernst. Die Kunst wird flüchtig –/ und wird in Frankreich prunkend, hohl und nichtig […] Man sah den Helden reich mit Ordensband,/ Mit Degen und Perrücke rings umhangen./ Man sah ihn zierlich rühren Fuß und Hand,/ Doch so, wie höf ’sche Sitten es verlangen,/ Nie toben, doch höchst würdig und gehalten,/ In steifen Versen sein Gefühl entfalten“. Die Wiedergeburt wird der thaumaturgischen Macht
Das ‚Deutschthum‘ des jungen Nietzsche
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men der Kultur auf und hat sich sozusagen in ihnen erschöpft. Es ist im Wesentlichen Konvention und von oben verordnete Gleichförmigkeit, Ausdruck einer mechanischen Zivilisation. In Oper und Drama betont Wagner, dass die Sprache zunehmend die Fähigkeit eingebüßt habe, Gefühle auf authentische und wahrhafte Art auszudrücken, weil sie den Kontakt zu ihren ursprünglichen und unbewussten Wurzeln unwiederbringlich verloren habe. Die Sprache gehorche nunmehr der Logik und der Konvention, die das natürliche Gefühl unterdrücken. „Unsere Sprache beruht demnach auf einer religiös-staatlich-historischen Konvention, die unter der Herrschaft der personifizirten Konvention, unter Ludwig XIV., in Frankreich sehr folgerichtig von einer Akademie auf Befehl auch als gebotene Norm festgestellt ward“.8 Die Sprache hat ihr poetisches und verbindendes Element verloren zugunsten einer Logik, welche analysiert und zersetzt. Eine solche Sprache kennzeichnet die romanischen Völker, die folglich über keinen Gefühlsausdruck verfügen, auch nicht in der Kunst, die kalte Konvention ist. Nicht von ungefähr betont Wagner, dass der einzige französische Romanautor, den er bewundert (wie aus den Tagebüchern Cosimas hervorgeht), den Franzosen fremd sei: Balzac, den der Franzose anstaunen muß, aber gern unbeachtet lassen möchte, giebt den zutreffenden Beleg dafür, daß der Franzose über den grauenhaften Inhalt seiner Kultur und Civilisation sich nur durch Selbstbelügung in Täuschung erhalten konnte: mit derselben eifrigen Neigung, welche der Deutsche für die gründliche Untersuchung des Naturwahren hat, betrachtet und erkannt, mußte diese Kultur dem Dichter ein grauenhaftes Chaos von wiederum genau zusammenhängenden und sich gegenseitig erklärenden Details zeigen.9
8 9
des berühmten englischen Schauspielers anvertraut, der als Neubegründer von Shakespeares Theater gilt: „Ein Garrik ists, der in erhabnen Siegen/ Der Menge Stumpfsinn glorreich niederschlägt,/ Der Shakespeare’s Welt, dem Volk im Traum verloren,/ In seiner Seele Tiefe neu geboren“. Außerdem erwähnt der junge Pforta-Schüler die „höchsten Geister“ der deutschen Tradition: Lessing und Herder. Sie schätzten den englischen Dichter, der, wie Nietzsche mit einer rhetorischen Wendung schreibt, eine neue „Morgensonne“ brachte (KGW I/3, S. 378–379). R. Wagner, Oper und Drama, SSD 4, S. 99. R. Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, SSD 8, S. 91–92.
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Germanische Kultur und romanische Zivilisation
Dieses Denkmodell macht sich der junge Philologe und WagnerAnhänger Nietzsche zu Eigen. Der äußeren Form stellt er das mögliche Potenzial des inneren Chaos gegenüber (das „edle Wesen“ des deutschen Volkes): „Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerzlich verzweifeln, wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner Cultur unlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem civilisirten Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können“. Dass den Deutschen jener Zug, der das ‚Privileg‘ Frankreichs und Zeichen seiner Überlegenheit gewesen war, nämlich ihre Einheit von Volk und Kultur, abgeht, ist in Nietzsches Augen ein Glücksfall, weil es eine noch unausgesprochene Innerlichkeit und erst noch zu definierende Natur bedeutet. Es ist jene „herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft“, die „nur in ungeheuren Momenten sich gewaltig einmal bewegt“ unter dem eisigen Mantel des zivilisierten Lebens. „Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen […]. So tief, muthig und seelenvoll, so überschwänglich gut und zart tönte dieser Choral Luther’s, als der erste dionysische Lockruf, der aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings, hervordringt.“ Ihm werden wir „die W i e d e r g e b u r t d e s d e u t s c h e n My t h u s danken“ (GT 23, KGW III/1, S. 142–143). Diese deutsche Wiedergeburt steht im Zeichen Wagners und ist begleitet von Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber der romanischen Welt, wie sie in der italienischen Renaissance und ihren Ausläufern in Frankreich zum Ausdruck kommt. Die Geburt der Tragödie legt davon Zeugnis ab. Mitten hinein in das monolithische Programm einer „Wiedergeburt des deutschen Volkes“ – mit den Gefahren für die Kultur, die Nietzsche mit dem Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges verbunden sieht – fällt die Lektüre des dritten Kapitels (Die Wiedererweckung des Altertums) von Jacob Burckhardts Cultur der Renaissance in Italien, das der junge Philologie-Professor ausgiebig für seine Basler Vorlesungen über die Entdeckung des Alterthums bei den Italiänern heranzog. Die Vorlesungen, die durch Exzerpte aus anderen Texten ergänzt waren, entpuppen sich ihrer Struktur nach tatsächlich als Mosaik von Burckhardt-Zita-
Das ‚Deutschthum‘ des jungen Nietzsche
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ten.10 Sie stellen ein bedeutendes und bislang kaum gewürdigtes Dokument der engen Beziehung zwischen Nietzsche und Burckhardt dar. Darüber hinaus ermöglichen sie eine Neubewertung des Verhältnisses Nietzsche-Wagner und markieren den unverkennbaren Wendepunkt in Nietzsches Einstellung zur romanischen, speziell zur französischen Kultur. War der Verkünder einer Wiedergeburt des Griechentums in Deutschland voreingenommen gewesen gegenüber der romanischen Welt, so setzte sich der Philologe zwangsläufig freier und in weniger ideologischer Form mit der italienischen Renaissance auseinander. Anfänglich gab die Lektüre Burckhardts ihm das Werkzeug zu einem eigenständigen Urteil an die Hand, das sich anhand der nachgelassenen Fragmente Nietzsches in der Komplexität seiner Entstehung nachvollziehen lässt.11 10
11
Nietzsche gibt seine Quelle nicht an. Vgl. G. Campioni, Beiträge zur Quellenforschung, 1999. Der allgemeinen Überzeugung von der zentralen Bedeutung, die die Renaissance als philosophisches Bild für Nietzsche besaß, entsprechen im Allgemeinen keine eingehenden Untersuchungen der Komponenten dieses Bildes und ihrer beträchtlichen Sinnverschiebungen. Eine reduktive, auf die Konzepte Übermensch – Renaissance – Wille zur Macht – Antichrist konzentrierte Lektüre hat dazu beigetragen, den „Mythos“ Nietzsche zu begründen. Hier hat der spätere literarische Kult der Ästhetisierung der immoralistischen, beunruhigenden Aspekte seinen zwar nicht einzigen, aber wesentlichen Ursprung. So konnte bereits Bourdeau von der „perversen Philosophie“ Nietzsches sprechen: seine „paradoxe Originalität“ sei an die Kraft des „gewandten, schillernden“ Ausdrucks gebunden, „den er der Lebensauffassung und Moral der heidnischen Renaissance verlieh“. Er habe wie Machiavell die Ruchlosigkeit mit der Tugend vereint (J. Bourdeau, Les Maîtres de la pensée contemporaine, S. 132 und 128). Thomas Mann sah schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen in Nietzsches Erfahrungen und seinem romantischen Vitalismus die mögliche Quelle jenes „Ruchlosigkeits- und Renaissance-Ästhetizismus, jene[s] hysterische[n] Macht-, Schönheits- und Lebenskult[s], worin eine gewisse Dichtung sich eine Weile gefiel“ (Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 17). Unnachsichtig bekämpfte er die Nachäffer Nietzsches: „[Ich hatte] den ästhetizistischen Renaissance-Nietzscheanismus rings um mich her zu verachten, der mir als eine knabenhaft missverständliche Nachfolge Nietzsches erschien. Sie nahmen Nietzsche beim Wort, nahmen ihn wörtlich“, sie erkannten in ihm nicht den „Bruder Pascals“, den „reizbarsten Moralist[en]“ und großen Aske-
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Germanische Kultur und romanische Zivilisation
2. Egoistische Einsamkeit der Künste und italienische Oper. Die Renaissance als Ursprung der romanischen Zivilisation Im Positiven wie im Negativen ist Richard Wagner der konstante Bezugspunkt von Nietzsches Urteilen über die Renaissance. In einem ten des Geistes. Vor allem richtete sich Thomas Manns Polemik gegen seinen Bruder Heinrich als Vertreter des Kults der „hysterischen Renaissance“ (ebd., S. 531f.) und gegen dessen frühe Trilogie Die Göttinnen (1903). Die Bewunderung der Kraft und „schönen Ruchlosigkeit“ des Lebens der italienischen Renaissance, einer Welt, „die ‚von Blut und Schönheit rauchte‘“, ist nach Thomas Mann charakteristisch für die pränazistischen Kulturkreise, die er im Doctor Faustus in der Figur des Dr. Helmut Institoris karikiert (Th. Mann, Doctor Faustus, Kap. XXIX, S. 289). Besonders die Historiker haben Nietzsches Renaissance-Interpretation rasch abgefertigt, indem sie sie auf den schrecklich vereinfachenden Mythos reduzierten, der auf unheilvolle Weise die reaktionären Ideologien des 20. Jahrhunderts beeinflusst hat. Exemplarisch sind in diesem Sinne die wenigen Nietzsche gewidmeten Seiten in dem unmittelbar nach dem Krieg erschienenen Band von Ferguson über die historische Kritik der Renaissance (W. K. Ferguson, The Renaissance in Historical Thought). Sie sind Ausdruck einer reduktiven Auslegung des „Deutschtums“, rücken Nietzsche in die Nähe Gobineaus und sehen in seinen Schriften lediglich eine Entstellung burckhardtscher Themen. In Italien hatte Delio Cantimori in seiner Abhandlung Zur Geschichte des Renaissance-Begriffs (1932) Nietzsche einen ganzen Abschnitt gewidmet (Der Mythos der Renaissance als Zeitalter des Übermenschen). Cantimori interessierte sich mehr für die Rezeption und kulturgeschichtliche Wirkung von Nietzsches Renaissance-Konzept (D’Annunzio, Stefan George, aber auch „das große Werk von Kantorowicz über Friedrich II.“; ebd., S. 435), als für eine Rekonstruktion von Nietzsches eigenem Denkweg. Im Hinblick auf Burckhardt ging es ihm vor allem darum, die Haltung des Basler Historikers von jeglicher Kompromittierung mit der Philosophie Nietzsches sowie mit dessen Nihilismus und radikaler sozialer Kritik freizuhalten. Im Hinblick auf das Renaissance-Thema lief er dabei freilich Gefahr, den Philosophen der vereinfachenden legenden- und mythenbildenden Lektüre zu überlassen, die die Texte außer Acht ließ. Es geht aber gerade darum, den nicht linearen Denkweg Nietzsches und die vielen Anregungen zu rekonstruieren (worunter die sicher wichtigen Jacob Burckhardts), dem radikalen Perspektivwechsel in den Jahren nach der Geburt der Tragödie gerecht zu werden und schließlich die Eigenschaften des „Renaissancemenschen“ zu definieren, der sich keineswegs auf den ‚Gewaltmenschen‘ reduzieren lässt.
Egoistische Einsamkeit der Künste und italienische Oper
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nachgelassenen Fragment von 1874 heißt es: „Eine besondre Form des Ehrgeizes Wagner’s war es, sich mit den Grössen der Vergangenheit in Verhältniss zu setzen: mit Schiller-Goethe, Beethoven, Luther, griechischer Tragödie, Shakespeare, Bismarck. Nur zur Renaissance fand er kein Verhältniss“ (Nachlass 1874, KGW III/4, 32[58]). Wagner war für Nietzsche ein großer Gegen-Alexander:12 seine ‚bindende‘ Kraft und die Fähigkeit, die verschiedensten, selbst entgegengesetzten Stimuli in sich aufzunehmen, fanden gerade in der Kultur der Renaissance einen unbeugsamen Widerstand. Nach der endgültigen Loslösung von Wagner war Nietzsches Urteil durch und durch negativ. „Tiefe Eifersucht gegen alles Große, dem er e i n e Seite abgewinnen kann – Haß gegen das, wo er nicht heran kann (Renaissance, französische und griechische Kunst des Stils)“ (Nachlass 1878, KGW IV/3, 30[143]). Hier sind wir weit entfernt von den Thesen der Geburt der Tragödie über die Wiedergeburt der griechischen Antike in Deutschland, in denen die Renaissance als Negativmodell fungierte. Insbesondere war die italienische Oper – eine angebliche Wiedererweckung der griechischen Tragödie – Nietzsche als deutlicher Ausdruck der Grenzen und Fälschungen im Aneignungsprozess der Antike durch die Humanisten der Renaissance erschienen. Dieses Urteil galt auch für die klassische französische Tragödie: „Die O p e r g a n z v e r s t e h e n heißt den modernen Geist verstehen“, behauptet Nietzsche (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[109]). Abschnitt 19 der Geburt der Tragödie nimmt zum Teil wörtlich die Wendungen Wagners aus dessen Polemik gegen die italienische Oper in Über die Bestimmung der Oper von 1871 auf. Wagner erblickt in der Oper ein Aggregat monströser Kunstgriffe in denen sich das theatralische Pathos mitteilt als eine vielfältige Einwirkung auf das Gefühl des Zuschauers vermittels einer „bloße[n] Aneinanderreihung auf die 12
Vgl. WB 4, KGW IV/1, S. 19: „Nicht den gordischen Knoten der griechischen Cultur zu lösen, wie es Alexander that, so dass seine Enden nach allen Weltrichtungen hin flatterten, sondern i h n z u b i n d e n , n a c h d e m e r g e l ö s t w a r – das ist jetzt die Aufgabe. In Wagner erkenne ich einen solchen GegenAlexander“.
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Erregung eines rein sinnlichen Gefühlvermögens berechneter Effektmittel“, zur „Betäubung des sinnlichen Gefühles des Zuschauers“.13 Nietzsche schreibt: „Die Alten ihren Dramen gegenüber nicht pathologisch: als potenzirte Schauspieler. Bei uns Dichter und Zuschauer pathologisch“ (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[92]). Selbst ausgemacht technische Fragen, die Wagner in Über Schauspieler und Sänger (1872) behandelt, werden in Abschnitt 19 der Geburt der Tragödie angesprochen: Die italienische Oper ist das, allerdings sonderbar ausgeschlagene Produkt einer akademischen Grille, nach welcher man vermeinte, wenn man den versifizirten Dialog einer, etwa dem Seneca nachgebildeten, theatralischen Aktion nur in der Weise, wie es mit den kirchlichen Litaneien geschieht, psalmodirend absingen ließe, so würde man sich auf dem richtigen Wege auch zur Wiederherstellung der antiken Tragödie befinden, sobald man nämlich zugleich dafür sorge, daß Chorgesänge und Ballettänze zur gehörigen Unterbrechung einträten. Der mit affektirtem Pathos, geschraubt und unnatürlich, rezitativisch dialogisirende Sänger war demnach hier der Ausgangspunkt für die praktische Ausführung: da sein Psalmodiren unerträglich langweilig wurde, erlaubte man ihm bald durch Produktion seiner vom Texte endlich ganz abzulösenden Gesangskunststücke sich und das Publikum für die unlohnende Mühe des Rezitatives zu entschädigen.14
Der gesamte Abschnitt mit seiner entschiedenen Polemik gegen die Opernkultur zeigt deutlich, wie schlecht sich in dieser Schrift das dringliche Anliegen des Wagnerianers, der für die Sache der Erneuerung der deutschen Kultur eintritt, mit den Anforderungen einer philologischen Analyse verträgt.15 Im Allgemeinen warf Nietzsche der italienischen Oper zu jener Zeit vor, sie habe durch eine neue Art des Singens die Herrschaft des Wortes über den Kontrapunkt erzwungen, wie ‚der Herr über den 13 14 15
R. Wagner, Über die Bestimmung der Oper, SSD 9, S. 132–133. R. Wagner, Über Schauspieler und Sänger, SSD 9, S. 202. Die etwas altklugen, sarkastischen Angriffe des jungen Wilamowitz auf die Geburt der Tragödie machen sich gerade an diesem Abschnitt fest (vgl. U. v. Wilamowitz, Zukunftsphilologie!). Aber auch Nietzsches Selbstkritik ist in diesem Punkt besonders radikal: „dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose g r i e c h i s c h e Pr o b l e m , wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge v e r d a r b !“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 6)
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Diener‘. In einem Fragment von 1871 nimmt er auf den berühmten Brief des Grafen Bardi an Caccini Bezug, in dem das Verhältnis Musik/Wort, Musik/Drama in die Begriffe der Dialektik von Herr und Diener gekleidet wird, und zitiert ihn mit den Worten, „um wie viel die Seele edler sei als der Körper, um so viel seien auch die Worte edler als der Contrapunkt“ (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[5]). Nietzsche setzt sich mit den experimentellen Neuerungen auseinander, die am Anfang der italienischen Oper standen und im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts in den florentinischen Humanisten-Kreisen im Hause des Grafen Bardi diskutiert wurden. Die wichtigste Neuerung betraf das Verhältnis von Musik und Dichtung. Es wurde gefordert, dass das Wort nicht zerstört werden dürfe, sondern verstanden werden müsse, „daß durch den Gesang die Rede nachgeahmt werden solle“. Die Oper ist auf diese Weise eine volle Bestätigung der alexandrinischen Kultur: „Sokrates und Euripides – zur Erklärung des r o m a n i s c h e n S c h a u s p i e l s […] der Zuhörer hat das Drama der Romanen bestimmt“ (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[139]). Das Festhalten an der Bedeutung des Wortes bedeutet ein Verharren in der Erscheinungswelt, die als die wahre Welt verstanden wird. Die Musik, weit entfernt von der dionysischen Dimension, beschränkt sich darauf, „das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem Spiele der Linien und Proportionen eine äusserliche Ergetzung zu erregen“.16 16
GT 19, KGW III/1, S. 122. Bezeichnend ist der Fall des ‚romanischen‘ Propheten D’Annunzio, der sich dieser Dialektik, die wesentlich um die Bewertung der italienischen Renaissance kreist, vor allem in seinem Roman Il fuoco (1900) bewusst ist. Im Gegensatz zu Bayreuth beruft sich D’Annunzio auf den Gianicolo, im Gegensatz zur Reform des Heroen Wagner, die „nordischem Wesen [entspringt]“ und der von Luther angestrebten gleicht, auf die Tradition des „auserwählten italischen Volkes“. Auch sein Urteil über den Kreis des Grafen Bardi ist Wagner entgegengesetzt: „Nichts ist so weit von der Orestie entfernt wie die Nibelungentetralogie. Die Florentiner der Casa Bardi sind weit tiefer in den Geist der griechischen Tragödie eingedrungen. Ehre der Camerata des Grafen von Vernio!“ „Jene suchten im griechischen Altertum den Geist des Lebens; sie trachteten danach, alle menschlichen Kräfte harmonisch zu entwickeln, mit allen Mitteln der Kunst den integren Menschen darzustellen“ (G. D’Annunzio, Das Feuer, S. 188 und 189f.), urteilt Effrena und weist em-
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Germanische Kultur und romanische Zivilisation
Stellvertretend für die ganze ‚romanische Civilisation‘ ist die italienische Oper die erste vollständige Bestätigung der alexandrinischen Kultur, gegen die ein Befreiungskampf geführt werden muss. Dies ist die Aufgabe des deutschen Volkes, das sich vor ausländischen Einflüssen hüten muss, um zu seiner authentischen Natur zurückzufinden. Das „Erkenne dich selbst“, das Wagner an das Herz der Deutschen gerichtet hat, bedeutet für ein Volk, „d a s C h a o s z u o r g a n i s i r e n “, sich auf die „ächten Bedürfnisse“ zurückzubesinnen und die „ScheinBedürfnisse“ absterben zu lassen (HL 10, KGW III/1, S. 329). Das Vorbild der Griechen, die jedem gefährlichen ausländischen Einfluss standhalten konnten, gilt auch für die Deutschen. Es geht darum, sich auf sich selbst zu konzentrieren und das wahre Wesen zu erkennen. Der Instinkt ist etwas Ursprüngliches, etwas „Gegebenes“, das zerstört wird von dem sokratischen Bewusstsein, wie es sich unter der Despotie der Civilisation entwickelt hat, und so die gesamte ästhetische Gemeinschaft ruiniert. Für Nietzsche handelt es sich um die Wiedererlangung einer tiefen instinkthaften Dimension, jenseits der Konventionen und Abstraktionen, wie sie für die französische Kultur charakteristisch sind. Nietzsche nimmt hier allerdings auf einen Wagner Bezug, der sich zwischenzeitlich weit entfernt hat von den Ansichten seiner Jugend. Damals hatte der Komponist in der Musik ein Ausdrucksmittel gesehen, dessen Bestimmung das Drama war, und in der Trennung der Musik von den Schwesterkünsten den perversen Effekt der Zivilisation, die Auflösung der griechischen Tragödie. Jetzt ist für Wagner pört die Meinung seines Gefährten Baldassarre Stampa zurück, die „Camerata wäre eine müßige Vereinigung von Gelehrten und von Schönrednern“ (ebd., S. 190). Konsequenterweise wird dem „Wort“ die Aufgabe übertragen, die neue nachahmende Form der griechischen Tragödie zu schaffen, nachdem sich die Künste voneinander geschieden haben (ebd., S. 283f.). D’Annunzio ist auch der Verfasser eines Artikels, der am 2. August 1897 unter dem Titel La Rinascenza della Tragedia in „La Tribuna“ erschien. Seine Kenntnisse über Wagner stammen hauptsächlich aus französischen Quellen: von Schuré (Le drame musical, Paris 1875) bis hin zu der Übersetzung eines Essays von Chamberlain (Richard Wagner, sa vie et ses œuvres, Paris 1899). Die Informationen über die Camerata fiorentina bezog er dagegen von Romain Rolland; vgl. G. Tosi, Une source inédite du „Fuoco“.
Egoistische Einsamkeit der Künste und italienische Oper
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„die Musik […] die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben“ (GT 21, KGW III/1, S. 134). Die philosophische Begründung des wagnerschen Musikdramas, die von Feuerbachs Begriff des „Sinnlichen“ bis zur Metaphysik Schopenhauers reicht, behält als Zielscheibe der Polemik stets die italienische Oper und die Renaissance als diejenige Epoche im Blick, die das Ungeheuer geboren hat. Das Musikdrama der Zukunft verhält sich zur Oper wie das wahre Bedürfnis zu Luxus und Mode, wie das Allgemein-Menschliche – das Germanentum – zum Standes-Egoismus der italienischen Renaissance und dem von Theatralität und Konvention stärker verhüllten Egoismus des französischen Hofes. Wagner wies das Zeitalter des Luxus und der Aristokratie weniger aufgrund eines kritischen Urteils als aus einer moralischen Abneigung zurück, die seinen ganzen Weg begleitete. Gerade der Zerfall der griechischen Tragödie in einzelne Teile, die sich in egoistischer Einsamkeit verselbstständigten, brachte seines Erachtens eine Blüte der Künste hervor, welcher der typische Gemeinschaftssinn der griechischen Tragödie fremd war. In ihrer schichtenspezifischen funktionalen Aufteilung brachte sie die Barbarei als tatsächliche Auflösungsform und innere Unordnung zum Ausdruck: Und so war es bei der Wiedergeburt der Künste, daß wir zunächst auf diese vereinzelten griechischen Künste trafen, wie sie aus der Auflösung der Tragödie sich entwickelt hatten: das große griechische Gesammtkunstwerk durfte unserem verwilderten, an sich irren und zersplitterten Geiste nicht in seiner Fülle zuerst aufstoßen: denn wie hätten wir es verstehen sollen? Wohl aber wußten wir uns jene vereinzelten Kunsthandwerke zu eigen zu machen; denn als edle Handwerke, zu denen sie schon in der römisch-griechischen Welt herabgesunken waren, lagen sie unserem Geiste und Wesen nicht so ferne: der Zunft- und Handwerksgeist des neuen Bürgerthums regte sich lebendig in den Städten; Fürsten und Vornehme gewannen es lieb, ihre Schlösser anmuthiger bauen und verzieren, ihre Säle mit reizenderen Gemälden ausschmücken zu lassen, als es die rohe Kunst des Mittelalters vermocht hatte. Die Pfaffen bemächtigten sich der Rhetorik für die Kanzeln, der Musik für den Kirchenchor; und es arbeitete sich die neue Handwerkswelt tüchtig in die einzelnen Künste der Griechen hinein, so weit sie ihr verständlich und zweckmäßig erschienen. Jede dieser einzelnen Künste, zum Genuß und zur Unterhaltung der Reichen üppig genährt und gepflegt, hat nun die Welt mit ihren Produkten reichlich erfüllt; große Geister haben in ihnen Entzückendes geleistet: die eigentliche wirkliche
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Germanische Kultur und romanische Zivilisation
Kunst ist aber durch und seit der Renaissance noch nicht wiedergeboren worden; denn das vollendete Kunstwerk, der große, einige Ausdruck einer freien schönen Öffentlichkeit, das Drama, die Tragödie, ist – so große Tragiker auch hie und da gedichtet haben – noch nicht wiedergeboren, eben weil es nicht wieder geboren, sondern von Neuem geboren werden muß.17
Für die Möglichkeit einer neuen und höheren universalen Kunst (mit den Tragödien als ‚Festen der Menschheit‘), für einen ‚freien, starken und schönen Menschen, losgelöst von jeder Konvention und Etiquette‘,18 baute Wagner in seinen theoretischen Frühschriften auf die Illusion einer sozialen Revolution. Schon damals betonte der Musiker den elitären Charakter der Renaissance und des Grand Siècle, sinnbildlich zum Ausdruck gebracht in Oper und Drama am Beispiel des dreisten Diebstahls der Melodie, der die Gleichzeitigkeit von Musik und Dichtung im Volkslied zerstörte: „Der Luxusmensch hörte diesem Volksliede nur aus der Ferne zu; aus dem vornehmen Palaste lauschte er den vorüberziehenden Schnittern, und was von der Weise herauf in seine prunkenden Gemächer drang, war nur die Tonweise, während die Dichtweise für ihn da unten verhallte“. Die Melodie des Volkslieds wurde so zu einem Instrument des Gefallens und der Lust herabgesetzt, einem ‚Duft‘, mit dem der feinfühlige Aristokrat „die öde Langeweile seines Lebens, die Hohlheit und Nichtigkeit seiner Herzensempfindung“ besprengte.19 Dieser ‚Duft‘ war die Opernarie.
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R. Wagner, Die Kunst und die Revolution, SSD 3, S. 29. Vgl. auch: „Bildhauerei und Plastik. Wo diese beiden blühen, wie jetzt, in der Renaissance und in der römisch-griechischen Zeit, da blüht das Drama nicht; wo dieses aber blüht, müssen jene erbleichen“ (Wagner, Künstlertum der Zukunft. Zum Prinzip des Kommunismus, SSD 12, S. 262); ferner: „So wird die Oper zum gemeinsamen Vertrage des Egoismus der drei Künste“ (Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, SSD 3, S. 120). Vgl. R. Wagner, Die Kunst und die Revolution, SSD 3, S. 35. R. Wagner, Oper und Drama, SSD 3, S. 249–250.
„Ästhetisiren auf Grundlage einer unmoralischen Welt“
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3. „Ästhetisiren auf Grundlage einer unmoralischen Welt“: Wagners Kritik an der romanischen Zivilisation Wenn die Renaissance die Entdeckung des Individuums verkörpert, so geschieht dies auf Kosten des Gemeinschaftslebens, das sich als Fantasie nur in den höfischen Ästhetizismus flüchten kann: „Ästhetisiren auf Grundlage einer unmoralischen Welt – ‚Pel gli veneni del signor Duca!‘ – (Renaissance.) – Schöne Raubthiere: Tiger, Panther!“, schreibt Wagner in einer Aufzeichnung der Jahre 1880–1882 zum Thema „Regeneration der Menschheit und der Kultur“, in der er unter Berufung auf Cesare Borgia seine unüberwindliche Aversion gegenüber der romanischen Zivilisation eindrucksvoll zum Ausdruck bringt.20 Die mögliche Erneuerung des deutschen Volkes, an die Wagner glaubt und auf die er hofft, hat in der ‚anderen Renaissance‘ der zivilisierten Völker Europas ihren Gegensatz. Der Musiker akzeptiert den Mythos der heidnischen und immoralistischen Renaissance nur, um ihn als Ausdruck eines grenzenlosen Willens zur Macht zurückzuweisen. Die Tagebücher Cosima Wagners registrieren die häufigen Wutausbrüche des Komponisten gegenüber der Kultur der Renaissance: Zu Tisch eifert er gegen die Renaissance, von der er behauptet, daß sie der germanischen Entwicklung ungeheuer geschadet hätte, diese Zeit habe die Antike ebenso wenig wie das Christentum ernstgenommen und verstanden, ungeheuer geniale Menschen seien im Dienste einer alles korrumpierenden Macht gestanden, und wie stets habe der naive Deutsche sich von der fremden Kultur so imponieren lassen, daß sein eignes Gefühl beinahe zu Grund gegangen sei. Doch merkwürdig genug, wie alles darauf ausgegangen sei, das Deutsche zu vernichten, ganz damit fertig sind sie nicht worden.21
Jedes beliebige Einzelbeispiel reizt Wagner zu einem unnachsichtigen Pauschalurteil: Die Kunst Raffaels ist auf der „Fäulnis“ entstanden,22 für den modernen Menschen Machiavell ist eine „korrupte Welt […] der Hintergrund seines Wesens“,23 auch wenn er den Griechen nahe 20 21 22 23
R. Wagner, Das braune Buch, S. 240. C. Wagner, Tagebücher, 2. April 1872, Bd. 1, S. 506. Ebd., 22. Februar 1880, Bd. 2, S. 494. Ebd., 10. Januar 1879, Bd. 2, S. 287.
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stand. Die Novelle Die Stimme des Blutes von Cervantes – ein Autor, den er sonst durchaus schätzte und in dessen Don Quichotte er „das schönste Geschenk“ sah, „welches die Renaissance uns gemacht [hat]“ – weist Wagner aufgrund der Brutalität der Gefühle zurück: „‚Das ist Renaissance‘, sagt R., ‚diese Schönrednerei bis in die entsetzlichsten Situationen‘“.24 Der Petersdom im verhassten Rom, der Stadt der Macht, erscheint ihm als „ein verfehlter Cäsarenpalast“: „Grauenhafter Eindruck in St. Peter, alles, was Unmusik ist, drückt sich darin aus. In der Seele von Dr. Luther mitempfunden“.25 Noch zuletzt in Venedig, nur wenige Tage vor seinem Tod, wetterte Wagner mit anarchistischem Impetus, verseucht durch seine späte, wirre Rassenphilosophie,26 gegen die herrlichen Paläste, die verschlossen und unbewohnt sind: „‚Das ist Eigentum! Der Grund alles Verderbens, Proudhon hat die Sache noch viel zu materiell aufgefaßt, denn das Eigentum bedingt die Ehen in Rücksicht darauf und dadurch die Degeneration der Race. Das hat mir gefallen von Heinse in seinen Seligen Inseln, daß er sagt: Sie hatten kein Eigentum, um den vielen Übelständen vorzubeugen, die damit verbunden sind‘“.27 Aus der kosmischen und vitalistischen Utopie von Heinses programmatischem ‚Bildungsroman‘ Ardinghello und die glückseligen Inseln 28 und der geistigen libertinage des Autors – ein Kritiker bürger24 25 26
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Ebd., 26. Dezember 1879, Bd. 2, S. 467, und 3. Februar 1881, Bd. 2, S. 682. Ebd., 10. und 12. November 1876, Bd. 1, S. 1013–1014. Die von Jacob Burckhardt unterstrichene Wertschätzung und herausgehobene Stellung der Frau in der Renaissance kommentiert Wagner in einer wahnhaften Notiz vom 23. Oktober 1881 folgendermaßen: „Bei der Vermischung der Racen verdirbt das Blut der edleren Männlichen durch das unedlere Weibliche: Das Männliche leidet, Charakter geht unter, während die Weiber so viel gewinnen, um an die Stelle der Männer zu treten. (Renaissance)“ (R. Wagner, Das braune Buch, S. 243). Wagners Verhältnis zu Gobineau und den Themen der „historischen Szenen“ aus Die Renaissance – von dem die zitierten Sätze unmissverständlich künden – kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingehend analysiert werden. Wichtige Spuren finden sich u.a. in den Tagebüchern Cosima Wagners. C. Wagner, Tagebücher, 3. Februar 1883, Bd. 2, S. 1107 Fn. Die Tagebücher Cosimas zeigen, dass Wagner den Ardinghello, den er zwischen dem 15. und 23. Juni 1873 erneut las, auch später noch schätzte. Vgl. die Ein-
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licher Konventionen und traditioneller Religionen – hatte der junge Wagner, wie viele Schriftsteller des „Jungen Deutschland“, die Neigung zu einer freien und unschuldigen Sinnlichkeit geschöpft, die schon bald durch die Philosophie Feuerbachs bestätigt werden sollte.29 Die Verherrlichung des Fleisches in der Malerei, die trunkene Erfahrung des Reisens, das orgiastische Eintauchen in die Natur in einem kosmischen Streben, die ästhetische Utopie eines anarchischen und heroischen Individuums, das auf diese Weise die Widersprüche einer barbarischen, lebensfeindlichen Moral aufzulösen sucht: all dies sind Motive, die für den jungen, stürmischen Künstler Wagner eine Rolle spielten. Der Hintergrund einer durch Wollust, ‚Triumphe‘, Blut und Intrigen geprägten italienischen Renaissance mit einer stark titanischen und immoralistischen Komponente blieb ihm dagegen vollkommen fremd, bzw. benutzte er dieses vereinfachte literarische Bild eines exotischen, mythischen Renaissance-Italien, das in der romantischen Literatur und der Literatur der Décadence einen Gemeinplatz darstellte, als negatives Beispiel, um es dem germanischen Mythos der reinen Menschlichkeit entgegenzusetzen. Eine Aufzeichnung Cosima Wagners aus Palermo vom 1. Dezember 1881 gibt ein besonders bemerkenswertes Urteil Wagners wieder: „Die Zopf-Kirche Domenico mit der Säule des Heiligen hat ihn angewidert, ‚dahin führte die Renaissance‘ […]; die griechische Kunst habe noch lange nach ihrem Untergang die Welt beeinflußt, aber mit dieser Beflissenheit, es schön zu machen, das Herbe zu meiden, wäre man zum Rokoko gekommen. Es sei im Keim der Sache etwas Verderbtes gewesen“.30 Im selben Zusammenhang spricht Wagner voller Abscheu von der Genealogie, die sich vom Humanismus und der italienischen Renaissance bis zur Aufklärung zieht, wie Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches aufgezeichnet hatte: „wir [dürfen] die
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träge vom 17. Mai und 9. Juni 1873 sowie vom 26. November 1878 und 30. September 1882: er „rühmt es von Heinse, daß er im ‚Ardinghello‘ am Schluß bei der Gründung der seligen Inseln festsetzt, die Kolonisten hätten beschlossen, keinen Besitz unter sich aufkommen zu lassen“ (Tagebücher, Bd. 2, S. 1011). Vgl. R. Wagner, Autobiographische Skizze, SSD 1, S. 10. C. Wagner, Tagebücher, 2. Dezember 1881, Bd. 2, S. 837.
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Fahne der Aufklärung – die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire – von Neuem weiter tragen“ (MA 26). Wagner ist sich außerdem hier, wie auch anderswo, des in seinen Augen unseligen Einflusses von Jacob Burckhardt auf Nietzsche bewusst: „Die Leute wie Nietzsche, durch den Renaissance-Mann Burckhardt, sprächen es ja aus, was sie wollen: Erasmus, Petrarca, sie sind mir verhaßt“.31 In seiner letzten Phase schätzte Wagner, mit seinem Rückgriff auf Themen Schopenhauers und seiner Neubestimmung des Musikdramas durch den Vorrang der Innerlichkeit der Musik, immer mehr die den Gottesdienst begleitende Kirchenmusik. Die falsche Wiedergeburt der Tragödie als italienische Oper negiert die entscheidende gemeinschaftlich-religiöse Dimension der griechischen Antike, wie sie in den mittelalterlichen Volksfesten noch präsent war, in denen „Spuren eines natürlichen Zusammenwirkens der Tonkunst mit der Dramatik“ zu finden waren: Die Oper entstand „an den üppigen Höfen Italiens“.32 „Der Geist des Christenthums war es, der die Seele der Musik neu wieder belebte“; „Beide [das Christentum und die Musik] sagen: ‚unser Reich ist nicht von dieser Welt‘. Das heißt eben: wir kommen von innen, ihr von außen; wir entstammen dem Wesen, ihr dem Scheine der Dinge“.33 Eine Neugeburt des rein Menschlichen, wie es im germanischen Geist verkörpert ist, muss die authentische, innere ‚volkstümliche‘ Dimension der Reformation wieder aufgreifen. Deren gesunder Geist wurde für Wagner nur durch ‚die herrlichen Choräle Luthers‘, die dem Gefühl Halt gaben und „die Buchstaben-Krankheit der Gehirne“ heilten, vor dem Verfall gerettet.34 In diesen Betrachtungen, die als polemische Waffe gegen die Herrschaft der modernen Zivilisation dienten, gehen Musik- und Geschichtsphilosophie Hand in Hand bei der Aufgabe, einen Weg mit zahlreichen Varianten hin zu einer endgültigen Regeneration aufzu31 32 33 34
Ebd. R. Wagner, Oper und Drama, SSD 3, S. 231. R. Wagner, Beethoven, SSD 9, S. 121 und 120. Ebd., S. 116.
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zeigen. Konstant bleibt dabei die Polemik gegen die falsche romanische ‚Wiedergeburt‘ mit ihrem aristokratischen, literarischen und künstlichen Charakter, die das Werk des deutschen Geistes vom Weg abgebracht und behindert hat. Sie steht am Beginn einer vollkommenen ‚Verweltlichung‘ der Kultur, die den Vorrang der Mode und des Luxus gegenüber den wahren Bedürfnissen sowie die Entfremdung von Kunst und Leben, von künstlerischer Form und Innerlichkeit mit sich bringt.
4. Die Sehnsucht nach der Idylle und die Französische Revolution. Eine tragische „Wiedergeburt“: die Zweideutigkeit der wagnerschen Befreiung Nietzsche sieht sich in seiner frühen Schaffenszeit mit diesem Sammelsurium wagnerscher Themen konfrontiert und nimmt mit seiner Tragödienschrift an einem kulturellen Kampf teil, der ihn in den Augen der Akademiker und der Philologen in Misskredit brachte. In der Renaissance-Oper kritisiert er den Sieg des Kritikers und Zuschauers, d.h. des unkünstlerischen und lebensfremden Menschen, über die Kunst. Dies bedeutete den Sieg des degenerierten ‚Sokratismus‘. „So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch d e r a e s t h e t i s c h e Z u h ö r e r wieder geboren, an dessen Stelle bisher in den Theaterräumen ein seltsames Quidproquo, mit halb moralischen und halb gelehrten Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der ‚Kritiker‘. In seiner bisherigen Sphäre war Alles künstlich und nur mit einem Scheine des Lebens übertüncht“ (GT 22, KGW III/1, S. 139). Nietzsche akzeptiert Wagners Ansichten über die Grenzen der Oper, aber er macht sie zum Ausgangspunkt einer Kritik der antitragischen Kultur, die mit der Renaissance begann und eine tatsächliche Rückkehr zu den Lehren der griechischen Antike verhinderte. Die Wiedergeburt des tragischen Geistes ist möglich durch die Zerstörung der sokratischen Illusion, wie die Philosophie Schopenhauers und die Musik Wagners sie leisten: „Der Charakter unsrer Musik und unsrer Philosophie stimmen zu einander: beide leugnen die Welt der
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Annehmlichkeit, die ursprüngliche Güte“ (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[26]). Für die Geburt der Oper und ihre ungeheuerliche Entwicklung ist folglich nicht nur „die zerstreuungssüchtige Üppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer dramatischen Sänger“ (GT 19, KGW III/1, S. 116) verantwortlich. Hier wird ein breites Bedürfnis spürbar: „die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des künstlerischen und guten Menschen“ (ebd., S. 118). Die Humanisten bekämpften im Mythos des primitiven Menschen, der von Natur aus gut und künstlerisch ist und der Stimme seines Gefühls folgt, das kirchliche Dogma der Erbsünde. „Der moderne Mensch braucht die Kunst als Berauschungstrank, an Stelle jenes mittelalterlichen G l a u b e n s “ (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[109]). Die Renaissance erscheint Nietzsche hier als Ursprung des Mythos von der Güte der Natur. Der beunruhigende Satyr der griechischen Tragödie wird durch den arkadischen Schäfer ersetzt. Anstelle der Sehnsucht aufgrund der endgültigen Abtrennung von der Natur steht die Freude eines schlichten ewigen Wiederfindens. Der ‚ruchlose Optimismus‘ einer guten Natur jenseits der Zivilisation, wie ihn Rousseau repräsentiert, mündet in die bedrohliche, schreckliche Forderung des Sozialismus: die Rechte für den von Natur aus guten Menschen. „Die französische Revolution ist aus dem Glauben an die Güte der Natur entstanden: sie ist die Consequenz der Renaissance. Wir müssen uns belehren lassen. Eine mißleitete und optimistische Weltbetrachtung entfesselt endlich alle Greuel“.35 35
Nachlass 1871, KGW III/3, 9[26]. Dieselben Besorgnisse äußert mehrfach auch J. Burckhardt. Man lese z.B. den Brief, der unter dem Eindruck der Pariser Kommune geschrieben wurde: „Das große Unheil ist im vorigen Jahrhundert angezettelt worden, hauptsächlich durch Rousseau mit seiner Lehre von der Güte der menschlichen Natur. Plebs und Gebildete destillirten hieraus die Doctrin eines goldenen Zeitalters […]. Die Folge war […] die völlige Auflösung des Begriffes Autorität in den Köpfen der Sterblichen […]. Die einzig denkbare Heilung wäre: daß endlich der verrückte Optimismus bei Groß und Klein wieder aus den Gehirnen verschwände. Auch unser jetziges Christenthum genügt hiezu nicht“ (Brief an Friedrich von Preen, 2. Juli 1871, in: Briefe, Bd. V, S. 130). Vgl. auch Über das Studium der Geschichte, S. 261, und Historische Fragmente, S. 292–293.
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Ein grundlegendes Missverständnis hinsichtlich der Bewertung des Christentums kennzeichnet von Anfang an Nietzsches Verhältnis zu Wagner. Nietzsche will an die „dionysische Wende“ Wagners glauben und schlägt ihm den Weg der tragischen Bejahung vor: eine Wiedergeburt36 der griechischen Antike jenseits der humanistischen Mystifikationen, eine Wiedergeburt im Gegensatz zu derjenigen der italienischen Renaissance. Im Hinblick auf das Christentum neigt Nietzsches Position dazu, sich von derjenigen Schopenhauers und vor allem Wagners zu entfernen. Das Christentum scheint überwunden und „erloschen“, unfähig, noch einen Halt zu gewähren: „Jetzt ist es gerathen, die Reste des r e l i g i ö s e n L e b e n s zu b e s e i t i g e n , weil sie matt und unfruchtbar sind“ (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[94]). „Das Christenthum ist sehr bald für die kritische Historie d.h. für die Section reif“ (Nachlass 1873–1874, KGW III/4, 31[8]). Auch in Bezug auf die Stellung zur Kunst äußert Nietzsche seine Zweifel: „Feindschaft des Christenthums gegen die Kunst: es hält sie in den Schranken des Symbols“ (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[58]). Für Wagner hingegen hat die Neugeburt ihren zentralen Bezugspunkt immer mehr am Mythos eines gereinigten Christentums. Die Opposition Wagners gegen die Renaissance ist vor allem Opposition gegen das Heidnische jener Zeit und ihren Immanenzgedanken. Mit polemischem Sarkasmus schreibt er 1880: „Den Ruin, den in eine mögliche gesunde Entwickelung einer christlichen Volkskultur die lateinische Wiedergeburt der griechischen Künste hineingetragen hat, verarbeitet Jahr um Jahr eine dumpf vor sich dahin stümpernde Philologie, den Hütern des antiken Gesetzes des Rechtes des Stärkeren gefallsüchtig zuschmunzelnd“.37 36
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Der Terminus taucht in Nietzsches Frühwerk häufig auf: „Wiedergeburt der Tragödie“; „die Wiedergeburt des deutschen Mythus“; „eine Wiedergeburt des Dionysus“; „Wiedergeburt des griechischen Alterthums“; „deutsche Wiedergeburt der hellenischen Welt“; „Die Wiedergeburt Griechenlands aus der Erneuerung des deutschen Geistes“ etc. Von insgesamt 39 Erwähnungen findet sich der Terminus 29 Mal in den Texten von Ende 1870 bis Sommer/Herbst 1872, ein Zeitraum, der klar durch die wagnerschen Illusionen gekennzeichnet war. R. Wagner, Religion und Kunst, SSD 10, S. 235.
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In den nachgelassenen Fragmenten aus der Zeit der Geburt der Tragödie scheint Nietzsche innerhalb der romanischen Welt der Renaissance Elemente zu suchen, die der optimistisch-idyllischen Welt der Oper entgegenzusetzen sind. Wir finden – nicht in den veröffentlichten Schriften – die Anerkennung der heroischen Oper des siebzehnten Jahrhunderts, die aus den Experimenten der Camerata fiorentina hervorging, als Moment des „Übergang[s] in die Tr a g ö d i e “ (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[41]). In der heroischen Oper, vor allem der historischen, wird der „pastorale Charakter […] abgestreift. Die a u s g e z e i c h n e t e d e l n Menschen: idyllische Tugendschwärmerei“. Die klassische französische Tragödie leitet sich von der heroischen Oper ab. Es scheint in der modernen Welt generell nicht möglich, auf eine nicht pathologische Weise zu dichten, wie dies bei den Griechen der Fall war. Selbst Goethe gesteht dies für seine eigene Dichtung ein. Diese Linie verbindet sich mit dem moralischen Heldentum Schillers (in den Räubern). „Also Flucht aus dem Paradies der Menschen in die großartigen Tugendmomente der Geschichte: in’s Pa r a d i e s d e r Me n s c h e n g ü t e “ (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[123]). In der heroischen Oper kommt das agonistische Element stärker zum Tragen, eine gemeinsame Voraussetzung bei der Aneignung der griechischen Antike seitens der Renaissancemenschen. Ihr historischer Sinn hat einen ‚monumentalen‘ Charakter, der durch Nachahmung vergangener Größe zur Tätigkeit treibt. Wagner wird in diesen Aufzeichnungen in einer kühnen, weniger apologetischen und ‚offiziellen‘ Interpretation als ein radikal idyllischer, sentimentaler Künstler vorgestellt („Richard Wagner das Idyll der Gegenwart“), der mit dem ‚tragischen Idyll‘ den romanischen Gedanken zu Ende führt. „Wagner versucht den Atlas der modernen Cultur einfach abzuwerfen“, um zum „primitiven“, „ungetrennten“, „natürlichen“ Menschen zurückzukehren (Nachlass 1871, KGW III/3, 9[149]), wenn auch mit einer „g e r m a n i s c h e [ n ] A n s i c h t v o n d e r Na t u r – nicht die aufklärerische des Romanismus, mit seinem Emile“ (ebd., 9[85]). Auch Wagner setzt in seinen Musikdramen den sentimentalischen, „Affekte empfindende[n] Zuhörer“ (ebd., 9[149]) voraus. Wagner erscheint hier als paradoxer Erbe jener von ihm so verdammten Tradition, die mit der Renaissance-Oper be-
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ginnt. Erst am Ende eines Prozesses der Radikalisierung des Idyllischen findet Wagner zu der deutschen Musik und der ihr entsprechenden Kunst. Die Reform, auf die er sich beruft, ist keine Befreiung von der romanischen Zivilisation, sondern nur eine „Umbildung“ derselben (ebd., 9[147]). In seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1874, in denen die kritische Haltung Wagner gegenüber beginnt, verwendet Nietzsche den burckhardtschen Begriff „Cäsarismus“, um Wagners Kraft der ‚Vereinfachung‘ und die Fähigkeit, falsche Ordnung ins Chaos zu bringen, zu bezeichnen. Unter Verwendung der Worte Burckhardts setzt Nietzsche Wagner dem Tyrannen gleich, den jener in der Cultur der Renaissance in Italien beschreibt: „Der Tyrann lässt keine andre Individualität gelten als die seinige und die seiner Vertrauten“.38 Als modernen Menschen par excellence, mit einer beherrschenden Natur ohne Mäßigung und Grenzen, „der nur an sich glaubt“ und eine Legitimität anstrebt, die sich auf keine Tradition beruft, stellt Nietzsche Wagner in einem kritisch-polemischen Paradox genau in die Tradition der Renaissance, mit der er nichts zu tun haben wollte. Eine Betrachtung Burckhardts zum Tempel von Paestum gibt Nietzsche noch einmal die Möglichkeit, den Musiker während der Niederschrift von Richard Wagner in Bayreuth mit der griechischen Antike in Verbindung zu bringen: „Die unmathematische Schwingung der Säule in Pästum z.B. ist ein Analogon zur Modifikation des Tempos: Belebtheit an Stelle eines maschinenhaften Bewegtseins“ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 5[86]). Die ungenannte Quelle hierfür ist Burckhardts Cicerone: „Es sind Aeusserungen desselben Gefühls, welches die Anschwellung der Säule verlangte und auch in scheinbar mathematischen Formen überall einen Pulsschlag innern Lebens zu offenbaren suchte“.39 Einige Jahre später wurden, wie wir wissen, die Säulen Berninis und nicht die griechischen zu einem Bezugspunkt von Nietzsches Kritik an Wagners Décadence-Stil, jenes Bernini, „der auch die Säule nicht mehr einfach erträgt, sondern sie von unten bis oben 38
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Nachlass 1874, KGW III/4, 32[32]. Vgl. auch ebd., 32[10], 32[15], 32[33], 33[11]. J. Burckhardt, Der Cicerone, S. 5.
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durch Voluten wie er glaubt l e b e n d i g macht“. Auch bei Wagner wird das „Lebendig-machen-wollen um jeden Preis“ blitzschnell „Manier, Handgriff“.40
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An Carl Fuchs, 29. Juli 1877, KGB II/5, S. 262. Vgl. auch den Brief an Mathilde Maier vom 6. August 1878, KGB II/5, S. 345: „!Um’s Himmels willen" lesen Sie über Barockstil J. Burckhardts Cicerone!!!“ Zum Vergleich Wagners mit Bernini, der in diesem Brief zum ersten Mal auftaucht, vgl. insbesondere die zweite Nachschrift zum Fall Wagner und die Briefe an C. Fuchs vom 26. August und 9. September 1888 sowie an F. Avenarius vom 10. Dezember 1888. Der Cicerone (Leipzig 1869) befindet sich mit einigen Unterstreichungen in Nietzsches Bibliothek. Vgl. insbes. das Kapitel Architektur und Decoration des Barockstyl: „Die Barockbaukunst spricht dieselbe Sprache, wie die Renaissance, aber einen verwilderten Dialekt davon. […] Manche Architekten componiren in einem beständigen Fortissimo […]. In Ermangelung einer organischen Bekleidung verlangt man von Dem, was zur Zeit der Renaissance doch wesentlich nur Decoration war, dass es Kraft und Leidenschaft ausdrücke; man will sie erreichen durch Derbheit und Vervielfachung. […] Eine nahe Folge dieser Derbheit war die Abstumpfung des Auges für alle feinern Nuancen. […] Vielmehr bekommen die einzelnen Formen ein von allem Organismus unabhängiges, später ein krankhaftes Leben“ (S. 366–367). Diese letzte Formulierung (die sich in abgeänderter Form, unter Verwendung einer Metapher von Paul Bourget, im Fall Wagner findet) enthält für Nietzsche die Synthesis der Décadence. Vgl. auch das Kapitel Barockskulptur. Diese ist gekennzeichnet durch den „Naturalismus der Formen und der Auffassung des Geschehenden“, durch die „Anwendung des Affectes um jeden Preis“ (S. 692): „Genug, daß nunmehr ein falsches dramatisches Leben in die Skulptur fährt, daß sie mit der Darstellung des bloßen Seins nicht mehr zufrieden ist und um jeden Preis ein Tun darstellen will; nur so glaubt sie was zu bedeuten […]. Die Skulptur ging nun auch hier der Malerei getreulich nach und nahm ihr den ekstatisch gesteigerten, durch Gebärden versinnlichten Gefühlsausdruck ab […]“ (S. 697). „Hier vergißt man freilich alle bloßen Stylfragen über der empörenden Degradation des Übernatürlichen. […] überall [spielt] die Absicht auf Illusion mit“ (S. 709). Vgl. ferner Moderne Malerei (S. 1003ff.). Ab 1878 tauchen in Nietzsches Aufzeichnungen vermehrt Betrachtungen zur Kunst des Barock auf, auch in direktem Zusammenhang mit seiner Kritik an Wagner; vgl. u.a. Nachlass 1878, KGW IV/3, 29[32], 30[6], 30[26], 30[138], 30[140] und 32[2], 35[3] sowie VM 144 (Vom Barockstile) und MA 219.
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IV. Der Süden und die Renaissance: „Die Pflanze Mensch wächst hier stärker als anderswo“ „Un crime? Mais c’est un mot. Qu’est-ce qui est bien? Qu’est-ce qui est mal?“ Octave Feuillet, La Morte.1
1. Die Renaissance des neuen Erziehers. Philologie und historische Größe In den Vorlesungen Encyclopädie der klassischen Philologie und Einleitung in das Studium derselben, die Nietzsche im Sommersemester 1871 in Basel hielt, drückt sich im Vergleich zu der entschieden kritischen Haltung gegenüber der Renaissancekultur, wie sie sich in den Reflexionen über die „Geburt der Tragödie“ in Deutschland ausspricht, eine grundlegend andere Einstellung aus. Der erste Teil der Vorlesungen über die Entdeckung des Alterthums bei den Italiänern ist der längste Text Nietzsches zur Renaissance, und er macht darin weidlich Gebrauch von Jacob Burckhardt.2 Die Vorlesungen zur Einlei1
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Zit. in P. Bourget, Réflexions sur Octave Feuillet, in: Journal des Débats, 23. Februar 1886. Was Burckhardts Werk angeht, beziehe ich mich hier auf die Ausgabe, die Nietzsche besaß. In der Nietzsche-Bibliothek Weimar sind zwei Exemplare des Bandes erhalten: Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Leipzig 18692 (Standort: 0482-a und 0482-b). In dem ersten Exemplar steht auf der ersten leeren Seite nach der Umschlagseite eine Widmung des Autors an Nietzsche: „Herrn Prof. Dr. Nietzsche in Verehrung dargebracht vom Verf.“. Folgende Seiten des ersten Exemplars weisen Lesespuren auf: 77 (I. Der Staat als Kunstwerk: Objektivität der Politik); 106, 107, 108, 109, 110 (II. Entwicklung des Individuums: Die Untertanen – Deren Privatleben – Die Republiken – Exil und Kosmopolitismus – Vollendung der Persönlichkeit – Die Vielseitigen – Charakter des 15. Jahrhunderts); 112 (L. B. Alberti); 421 (VI. Sitte und Religion: Verschiedene Superstitionen). Im zweiten Exemplar finden sich Lesespuren auf den Seiten: 136–139 (III. Die Wiedererweckung des Altertums: Konkurrenz mit anderen Kräften und Grade der Einwirkung –
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tung in das Studium der Philologie, die uns jetzt erstmals vollständig vorliegen,3 bezeugen, dass Nietzsche dieser Wissenschaft zu jener Zeit eine wesentliche Rolle zuschrieb. Der von ihm gezeichnete neue Philologe hat zahlreiche Züge mit den italienischen und auch mit den ersten großen französischen Philologen gemein: Muretus, Budaeus, Cujacius, Hotomannus, Lambinus bis hin zu Joseph Justus Scaliger – „der genialste Philologe aller Zeiten“, wie Nietzsche ihn, einen Ausdruck Bernays’ aufgreifend, nennt.4 Unter anderem hebt Nietzsche die Krise hervor, die die französische Philologie aufgrund des schädlichen Einflusses der Höfe durchlebte: „Prunkende Ausgaben castrir-
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Das Altertum im Mittelalter – Italien – Lateinische Poesie der Vaganten – Die Renaissance in derselben – Das Altertum im 14. Jahrhundert); 141 (Die Ruinen von Rom – Fazio degli Uberti); 147 (Die neuen Ausgrabungen und Aufnahmen – Das leonische Reich); 149 (Die alten Autoren im 14. Jahrhundert); 151 (Poggio); 154–155 (Der Bücherdruck – Übersicht des griechischen Studiums); 157–161 (Pico della Mirandola – Antikisierung der Bildung – Ihre Nachteile und ihre Unvermeidlichkeiten – Dante. Petrarca. Boccaccio – Humanismus und Religion – Die Poetenkrönung); 163 (Die Universitäten – Stellung der Humanisten daselbst); 166–167 (Freie Erziehung; Vittorino da Feltre – Guarino von Verona – Prinzenerziehung – Florentinische Förderer des Altertums – Niccolö Niccoli); 169 (Vespasiano von Florenz – Die Medici); 171 (Altertum als Lebensinteresse); 174 (Leos wahre Bedeutung – Das Altertum bei Alfons von Aragon); 197–198 (Quellen des Stils; Cicero – Bedingte und unbedingte Ciceronianer); 200 (Lateinische Dichtung – Geschichtliches Epos); 212–215 (Macaroneische Poesie – Sturz der Humanisten – Ihre Schuld daran – Das Maß ihrer Schuld – Ihr Lebenslauf – Vergleichung mit den Sophisten). Karl Löwith nimmt in seinem Buch über Burckhardt nur auf das letztgenannte Exemplar Bezug, in dem nach seinen Ausführungen „ausschließlich solche Stellen angestrichen [sind], welche das Problem der Wiedererweckung des Altertums in dem so benannten Kapitel betreffen“ (K. Löwith, Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte, S. 376). Nietzsches Unterstreichungen bestätigen sein großes Interesse an den Themen, die Burckhardt in jenem Kapitel behandelt. Vgl. dazu Fn. 1 im Anhang von G. Campioni, Il Rinascimento in Wagner e nel giovane Nietzsche, S. 114. Vgl. Encyclopädie, KGW II/3, S. 355. Nietzsche zitiert J. Bernays, Joseph Justus Scaliger, Berlin 1858. Dieser Text war seine Hauptquelle für die Beschäftigung mit dem Philologen in § 2 der Vorlesungen (Die französische Philologie). Er entlieh den Band am 9. Mai 1871 (vgl. L. Crescenzi, Verzeichnis, S. 406).
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ter Klassiker in usum delphini (1672), man fällt auf den dilettant. Liebhaberstandpunkt zurück“ (Encyclopädie, KGW II/3, S. 357). Die Tätigkeit des neuen, unzeitgemäßen Philologen soll sich hingegen durch „liebevolle Durchdringung“ auszeichnen, wie sie prägend war für das Streben der Italiener nach einer Wiedergeburt der klassischen Antike: „Wir wollen die allerhöchste Erscheinung begreifen u. mit ihr verwachsen. Hineinleben ist die Aufgabe“ (ebd., S. 344). Nietzsche sprach zu jener Zeit vielfach von einer „Wiedererweckung des klassischen Alterthums“, die nicht allein durch den Geist der deutschen Musik, sondern auch durch die Arbeit „aller wirklich produktiven und ernsthaft gesinnten Philologen“ (ebd., S. 357) bewerkstelligt werden sollte.5 Die „Wiederaufnahme der Wiedererweckung des Alterthums“, das heißt eine Nachahmung des Unterfangens der Italiener der Renaissance sowie der Franzosen, erschien ihm als notwendiger Hebammendienst für die Geburt des Genius, der dem Leben einen höheren Sinn zu verleihen vermag. „Dienstbarkeit für den Genius, Material sammeln“ (Nachlass 1871–1872, KGW III/3, 18[3]) – darin sah er die Aufgabe des Philologen. Von Anfang an bildete sich Nietzsches philosophische Identität in der leidvollen Auseinandersetzung mit der komplexen Funktion der Philologie heraus. Auf den Spuren Schopenhauers erschien dem jungen Professor eine unzeitgemäße Ausübung dieser Disziplin möglich, die imstande sei, ein Griechentum ohne humanistische Mystifizierungen zutage zu fördern. Schopenhauers Philosophie leitete Nietzsche bei seiner Suche nach pessimistischen Haltungen in der Vergangenheit, die über die Unterscheidung von Heidentum und Christentum hinausgingen. Dies zwang ihn unter anderem zu einer vorsichtigen Kritik an der Kategorie der „griechischen Heiterkeit“, die seines Erachtens nicht als Ausdruck eines „ungefährdeten Behagens“, eines „bequemen Sensualismus“, einer oberflächlichen, opti5
Vgl. beispielsweise den Brief an Richard Meister vom 14. Juli 1871: „Wir dürfen noch auf eine Wiedererweckung des hellenischen Alterthums hoffen, von der unsre Väter nichts geträumt haben. Glauben Sie nur das nicht, daß wir mit einer abgegrasten und verkümmerten Wiese, als dürres Weidevieh, uns zu begnügen hätten!“ (KGB II, S. 209–210)
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mistischen Lebensbejahung missverstanden werden durfte. Die „griechische Heiterkeit“ ist die Errungenschaft einer schönen Form, die eine Beziehung zum tragischen Grund des Daseins voraussetzt. Ein solcher tragischer Grund spricht aus der Tragödie, aus den Mysterien und der Philosophie des Empedokles, die lehren, dass „es keine wahrhaft schöne Fläche ohne eine schreckliche Tiefe giebt“.6 Die so begriffene Heiterkeit setzt also Mut zur Erkenntnis und Distanz von den idòla der ‚zeitgemäßen‘ Philologen voraus, die in einem „castrirten und verlogenen“ Sinn Erzieher sind.7 Den Sinnhorizont der philologischen Arbeit muss die Perspektive des „A l l g e m e i n - Me n s c h l i c h e [ n ] “ bilden.8 In diesem wie in anderem Zusammenhang stellt Nietzsche die humanistische Verschleierung des natürlichen tragischen Wesens der menschlichen Natur he-
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Nachlass 1870–1871, KGW III/3, 7[91]. Wiederholt verwendet auch Wagner die Metapher. Vgl. R. Wagner, Oper und Drama, SSD 4, S. 146 und 228–229, und Das Kunstwerk der Zukunft, SSD 3, S. 84, hier mit Bezug zur griechischen Welt. Vgl. Nachlass 1870–1871, KGW III/3, 7[92, 93, 94] und 1871, KGW III/3, 11[1], S. 368. Nachlass 1875, KGW IV/1, 3[18]. Vgl. Encyclopädie, KGW II/3, S. 368, und Nachlass 1871, KGW III/3, 11[1], S. 368. Das Thema der „griechischen Heiterkeit“ kehrt in den Jahren 1870–1871 häufig wieder (vgl. Nachlass 1870–1871, KGW III/3, 5[115, 119, 120]; 6[1, 8, 11, 15, 17, 18]; 7[55, 64, 109, 115, 162, 163, 174, 186]; 8[12], sowie GT 9, KGW III/1, S. 61; GT 11, S. 74; GT 15, S. 97; GT 17, S. 110–111; GT 20, S. 125–126). Vor allem wird es im Vorwort an Richard Wagner in der Erstfassung der Geburt der Tragödie behandelt. Es ging darum, Wagner, der sich nach der Begegnung mit Schopenhauers Philosophie mühsam und unter großem innerem Widerstand vom Primat der „griechischen Weltanschauung“ als einer natürlichen, spontanen Bejahung des Lebenswillens abgewandt hatte – „so schnell glaubte ich der sogenannten ‚heiteren‘ griechischen Weltanschauung, aus welcher ich auf mein ‚Kunstwerk der Zukunft‘ geblickt hatte, mich nicht entschlagen zu dürfen“ (R. Wagner, Mein Leben, Bd. II, S. 522) –, zur ‚dionysischen Wende‘, zum Wirken für die Wiedergeburt des Griechentums zu überreden. An Erwin Rohde, 1.–3. Februar 1868, KGB I/2, S. 245–250. Vgl. auch Nachlass 1867–1868, KGW I/4, 58[52], S. 495: „Wo steckt die Fruchtbarkeit der Philologie, daß wir uns einigermaßen mit ihr versöhnen u. zugeben, aus all dem unendlichen Bemühen seien doch auch Keime gesprosst? – Überall, wo ihre Studien ein Allgemein Menschliches berühren“.
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raus, während es in der griechischen Welt, wo das Individuum in höherem Grade möglich war als in der modernen Welt, offen zu Tage trat. Die alten Griechen machten uns klar, „wie die grössten Erzeugnisse des Geistes einen schrecklichen und bösen Hintergrund haben“ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 3[17]). Bei ihnen offenbarte sich das Menschliche ‚naiv‘ in seiner „Unmaskirtheit und Inhumanität“ (ebd., 3[12]). „Die griech. Kunst die einzige, die die nationalen Bedingungen überwunden: hier kommen wir zuerst zur Humanität dh. nicht Durchschnittsmenschheit, sondern höchste Menschheit“ (Encyclopädie, KGW II/3, S. 371). Im Gegensatz zu Wagner neigt das Allgemein-Menschliche bei Nietzsche dazu, sich aus seiner besonderen Bindung an das echte deutsche Wesen zu lösen. In der griechischen Welt war das, was in der Gegenwart unter der Herrschaft von Zivilisation und Arbeitsteilung in Stücke gegangen ist, noch vereint: die Kunst mit der Religion, das Individuum mit Staat und Gemeinschaft. Der Begriff Humanität hat nichts mit den Grundrechten zu tun. Die furchtbare Bedingung der schönen Gemeinschaft, der schöne Individuen entwuchsen, war die Sklaverei. In der knappen Form von Arbeitshinweisen stellte Nietzsche in diesen Vorlesungen eine Reihe von Elementen vor, aus denen sich eine Gesamtrekonstruktion der antiken Welt ergeben sollte: Staat, Philosophie, Religion, Mythologie, Kulte, privates und öffentliches Leben. Die Analyse der Tragödie war nur ein Moment der beabsichtigten Rekonstruktion. Außerdem setzte Nietzsche die seit den Leipziger Jahren geübte Kritik an Methoden, Zielsetzungen und Gedankenarmut der zeitgenössischen philologischen Forschung fort. Die radikale Skepsis, die er damals zugunsten der künstlerischen Intuition gegenüber der historischen Erkenntnis bekundet hatte, trat dabei allerdings in den Hintergrund. Im Vordergrund stand jetzt die philologische Redlichkeit: „Die Wissenschaft hat nichts mit dem Genuß zu thun, außer in der Lust an der strengen Wahrheit. Aber überhaupt darf auch das A e s t h e t i s c h e nicht als lauter Genuß betrachtet werden. Das ist der D i l e t t a n t i s m u s . Vielmehr handelt es sich um die höchste Erhebung zum Ideal: in das die Wahrheit wieder eingeschlossen ist“. Zum vollen Verständnis der Welt der Antike gelangt man nicht durch unmittelbare Intuition, sondern durch Anwendung einer
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strengen kritischen Methode: „Der Trieb der Wahrheit befriedigt sich erst in streng logischen Operationen“. Nietzsche wertet die frühere Arbeit der Philologen und das große Zeitalter der Analyse auf, dem man sich würdig erweisen muss („fast alle Haupttexte sind schon emendirt. Diese sittliche Strenge ist das Charakteristikum unserer Periode“). Nur dank einer solchen Arbeit ist eine höhere „Synthesis“ heute vorstellbar (Encyclopädie, KGW II/3, S. 374–375). Diese Perspektive, die der „großen“ Philosophie vor der untergeordneten Arbeit des Philologen den Vorrang einräumt, geht von Schopenhauer aus. In den auf den ersten Seiten der Vorlesungen angeführten historischen Definitionen macht Nietzsche den Abstand des Philologen vom Philosophen deutlich: „Fi l o l o g . der aus Büchern, f i l o s o f . Der aus sich selbst schöpft“. Im Gegensatz zu Plato, der Sokrates insofern ‚Philologe‘ nannte, als er ein ‚Freund des mündlichen Gesprächs‘ war, und im Gegensatz zu Aristoteles, für den der Philosoph Philologe ist, weil er eine große Menge empirischen Materials braucht, hält Nietzsche an Schopenhauers Unterscheidung fest. Der Seneca-Spruch (Epist. 108): „Quae philosophia fuit, facta philologia est“ bringt den Verfall und die Lebensferne eines „bloße[n] Wissen[s], ohne Einfluß auf das ethische Handeln“ zum Ausdruck.9 In den Vorlesungen zur Encyclopädie wird der unter Umkehrung des Seneca-Spruches geäußerte Glaubenssatz, den Nietzsche ans Ende seiner Antrittsvorlesung über Homer gestellt hatte, genauer erläutert. Ein notwendiges Rüstzeug für den neuen Philologen bildet die philosophische Entscheidung für den unzeitgemäßen Idealismus Schopenhauers – „Hier wird ihm am nützlichsten sein die Vereinigung von Plato u. Kant“ (ebd., S. 372) –, der nur dem allein gegen die eigene Zeit kämpfenden Genius das Prädikat ‚groß‘ zuerkennt. Nur die Großen können das Große erkennen und bewerten, und nur der große, zur Gesamtschau fähige Philosoph gibt der subalternen, reproduktiven Arbeit des Philologen ihre Impulse. Der aus Schopenhauers Parerga stammende Vergleich zwischen dem philosophischen Genius 9
Encyclopädie, KGW II/3, S. 342–343. Vgl. A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, Kap. 21 und 22 (Über Gelehrsamkeit und Gelehrte und Selbstdenken), SW 6, S. 513 u. 526.
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(„Arbeitgeber“) und dem spezialisierten Philologen (dem „Fabrikarbeiter“, der ‚nur eine bestimmte Schraube macht‘) taucht wiederholt in den Reflexionen des jungen Nietzsche auf.10 Auch in den Vorlesungen zur Encyclopädie der klassischen Philologie gilt für die Philologen der Vergleich mit den „Kärrnern“, deren Arbeit zwar notwendig ist, aber unter höhere Zwecke gestellt werden muss – während die Kärrner im gegenwärtigen Deutschland „das Genie als überflüssig decretirt“ haben.11 Nietzsche will verhindern, dass die Mittel Selbstzweck werden. Die Gelehrsamkeit ist der ‚Harnisch, der den Schwachen niederdrückt‘ und auf dem Individuum lastet: Es darf keiner mehr wissen als er schleppen kann, ja als er leicht und schön tragen kann. – […] Die Hauptsache bleibt immer: daß ein Bedürfniß da ist, etwas zu lernen u. zu erfahren. Das künstlich Gemerkte u. Gesammelte bleibt todt 10
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Vgl. Nachlass 1867–1868, KGW I/4, 52[30]: „Die meisten Philologen sind Fabrikarbeiter im Dienste der Wissenschaft. Die Neigung erstirbt, irgend ein größeres Ganze zu umfassen oder weitere Gesichtspunkte in die Welt zu setzen. Dagegen arbeiten die Meisten mit emsiger Beharrlichkeit an einer kleinen Schraube: Es ist ihnen genug, in diesem engsten Bereich Meister zu sein, während in den übrigen Fragen selbst ihrer Wissenschaft, vollends aber der Philosophie sie dem vulgus angehören“. Vgl. ebd., 57[30]. Vgl. auch den Brief Nietzsches an P. Deussen vom September 1868: „Glaube mir nur, daß die Fähigkeiten, die dazu gehören, um mit Ehren philologisch zu produzieren, u n g l a u b l i c h gering sind, und daß ein Jeder, an den r i c h t i g e n Platz gestellt, seine Schraube machen lernt. Fleiß vor allem, Kenntnisse zu zweit, Methode zu dritt – dies ist das ABC jedes produzierenden Philologen: vorausgesetzt, daß ihn jemand d i r i g i r t und ihm eine St e l l e a n w e i s t . Denn das gerade können nur Wenige von selbst. Es giebt eben Arbeitsgeber und Fabrikarbeiter – in diesem Vergleich soll aber nichts Geringschätziges liegen. Denn auch unsre größten philolog. Talente sind nur relativ Arbeitsgeber: stellt man sich noch höher und nimmt einen kulturgeschichtlichen Ausblick, so sieht man, daß auch diese Ingenien schließlich nur Fabrikarbeiter sind, nämlich für irgend einen großen philosophischen Halbgott (deren größter in dem ganzen letzten Jahrtausend Schopenhauer ist)“. Vgl. auch HL 7, KGW III/1, S. 296–297. Die direkte Quelle ist A. Schopenhauer, Parerga II, Kap. 21, § 254. HL 7, KGW III/1, S. 297. Vgl. Encyclopädie, KGW II/3, S. 376: „Es ist viel Kärrnerarbeit zu allen Zeiten nöthig: aber die Kärrner müssen sich dann auch gebieten lassen. Versuchen sie selbst zu bauen, wehe ihnen u. der Wissenschaft“.
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dh. es assimilirt sich nicht dem produktiven Kern, es geht nicht in Fleisch u. Blut über, ja es drückt u. schadet dem Menschen: zu vergleichen mit der Bleikugel im Körper (Encyclopädie, KGW II/3, S. 392).
Auf jeden Fall muss man bei der Philosophie ansetzen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Altertum „kommt es darauf an, vor allem die nächstliegenden a l l b e k a n n t e n T h a t s a c h e n als erklärenswerth zu erkennen“. Erst wenn der Philologe seinen „I n s t i n k t d e r K l a s s i c i t ä t “ durch philosophische Gründe gestützt hat, „darf er sich näher in das Einzelne einlassen, ohne befürchten zu müssen, den Faden zu verlieren“. Im Gegensatz zur Wissenschaft gibt für den „umfassenden philosophischen Geist nachher auch das Einzelnste nach allen Seiten hin ihm Licht“, ohne dass er das Ganze aus dem Blick verlieren würde, denn dank der Philosophie können neue Fragen an die Vergangenheit gestellt werden, um neue Antworten zu erhalten (Encyclopädie, KGW II/3, S. 372). Der neue Philologe ist ein Werkzeug, das der Hervorbringung neuer Genien dient, er ist der ideale Lehrer, ein Vermittler zwischen den großen Genien der Antike und „den neuen werdenden Genien, zwischen der großen Vergangenheit u. der Zukunft“ (ebd., S. 368). Der Philologe muss ein moderner Mensch sein, insofern er die Größe der Moderne erkennt und sich für sie entscheidet, denn nur so kann er die reale Größe der Antike erfassen. Das Thema wird in den Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten weiterentwickelt, in denen von einer notwendigen Verbindung zwischen den großen deutschen Klassikern und dem neuen Erzieher ausgegangen wird, in ihrem gemeinsamen Streben „dem Lande der Sehnsucht zu, nach Griechenland“. Es ist nicht möglich, „in die entfremdete hellenische Welt […] gleichsam direkt und ohne Brücken hinein[zu]springen“ (BA, KGW III/2, S. 178 und 181). Hatte Nietzsche in der Jugendzeit – nicht zuletzt zur Stützung der Polemik gegen die romanische Zivilisation – verschiedentlich behauptet, es bestehe eine tiefe Verbindung zwischen dem „innersten deutschen Wesen“ und dem „griechischen Genius“ (ebd., S. 183), so erscheint diese Behauptung als wenig überzeugtes Zugeständnis an Wagner; sie wird zunehmend brüchig und seit Menschliches, Allzumenschliches unterzieht er sie schließlich einer entschiedenen Selbstkritik.
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In der Auseinandersetzung mit der Philologie in Italien und Frankreich hatte Nietzsche einerseits die Überlegenheit des freien und „individuellen“ Menschen betont, im Gegensatz zur Schwäche und zum Elend des Philologen und Gelehrten der Gegenwart, andererseits hatte er die Möglichkeit einer Überwindung der Grenzen der romanischen Renaissance durch eine germanische Wiedergeburt zu erblicken geglaubt, die er später nach und nach in Abrede stellen wird. Im Vergleich tritt jedoch die Größe des romanischen Philologen hervor: Das seine ist ein „St u d i u m des Wetteifers“, das des modernen Philologen dagegen ein „St u d i u m der Verzweiflung“ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 5[167]). „Von der sehr unvollkommenen Philologie und Kenntniß des Alterthums gieng ein Strom von Freiheit aus, unsere hochentwickelte knechtet und dient dem Staatsgötzen“ (ebd., 5[177]). In einem falsch verstandenen pädagogischen Anliegen wolle der moderne Philologe in der Welt der Antike die Werte der Gegenwart nachweisen. Er verkenne daher die höhere Wirklichkeit jener Welt, mystifiziere sie oder suche eine Rechtfertigung für ihre beunruhigendsten Züge. Fruchtbarer wäre es, „von der Einsicht in die moderne Verkehrtheit auszugehn […] – vieles sehr Anstössige im Alterthum erscheint dann als tiefsinnige Nothwendigkeit“ (ebd., 3[52]). Wenn gerade „das dumpfe Gefühl der modernen Menschen über ihr eigenes Ungenügen“ immer noch die Existenz der ‚Philologen‘ ermöglicht (ebd., 5[142]), dann führen das Elend der eigenen Zeit und die daraus folgende „F l u c h t a u s d e r W i r k l i c h k e i t zu den Alten“ (ebd., 3[16]) freilich zu einem verzerrten Verständnis der Antike. Nur freie Menschen eines energischen, starken Zeitalters können ein fruchtbares Gespräch mit der Antike anknüpfen. Als erste verspürten die romanischen Philologen den Wunsch, ein „klassisches Dasein zu begreifen“ (Encyclopädie, KGW II/3, S. 344), das heißt eine nachzuahmende und einzuverleibende vorbildliche Existenz. „Seit der Renaissance nannte man k l a s s i s c h die römischen Schriftsteller von Cicero bis August, erst im weiteren Sinne alle griechisch. u. röm. Schriftsteller. ‚Klassisches Alterthum‘ das in der Reihe der Alterthümer eine erste Stelle einnimmt. Es liegt ein aesthet. Urtheil darin“, schreibt Nietzsche in den Vorlesungen (ebd., S. 341). Wenn für
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den neuen Philologen das Wichtigste in seiner Annäherung an die Antike darin besteht, „sich in’s Alterthum liebevoll hineinzuleben u. die Differenz zu empfinden“ (ebd., S. 368), dann sind die großen romanischen Philologen darin seine Vorläufer. Nietzsche führt in seinen Vorlesungen den Spruch aus Goethes Faust an: „Was du ererbt von deinen Vätern hast,/ erwirb es, um es zu besitzen“.12
2. Die Epoche der „individuellen Menschen“. Die erste Lehre Burckhardts „Gegen die Überschätzung des Staates, des Nationalen. Jacob Burckhardt“ (Nachlass 1874, KGW III/4, 32[72]). Unter Anlehnung an den Basler Historiker umreißt Nietzsche die Züge des freien Individuums, das er vor allem gegen den nach dem preußischen Sieg um sich greifenden deutschen Nationalismus geltend macht. Schritt für Schritt nimmt das Vorbild die Merkmale des Renaissancemenschen an, der imstande war, die Vergangenheit einzuverleiben und in eine neue Lebensform zu verwandeln. Im Gegensatz zu den modernen „muckenden Individuen“ mit ihrer Mode, ihrer „sofort wieder uniformirende[n] Tracht“, – so Nietzsche bereits in einem Fragment von 1873 – zeigte die Renaissance „einen andern Anlauf, nämlich in’s Heidnisch-stark-Persönliche zurück. […] Die ‚Ne u z e i t ‘ wirkt durch M a s s e n gleichartiger Natur: ob sie ‚gebildet‘ sind, ist gleichgültig“ (Nachlass 1873, KGW III/4, 29[132]).
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Ebd., S. 406. Vgl. J. W. Goethe, Faust I, V. 682. Nietzsche bezog sowohl das Thema der Liebe, der die tiefsten Einsichten entspringen, als auch das Thema der Originalität, des „Selbstdenkens“ als Kritik an einer bloß belesenen Kultur aus Schopenhauers Parerga, denen der junge Philologe bei seiner Definition der Aufgaben des neuen Erziehers vieles verdankte. In den Parerga findet sich auch das Zitat aus dem Faust, das Nietzsche im selben Sinne verwendet wie Schopenhauer. Vgl. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, Kap. 1: Über Philosophie und ihre Methode, § 18, SW 6, S. 15–16, und Kap. 22: Selbstdenken, § 266, SW 6, S. 528).
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Die Charakteristik des Renaissancemenschen übernimmt Nietzsche von Burckhardt. Gekennzeichnet ist der „individuelle Mensch“13 durch „das selbstbewußte Talent. Alles auf Macht und persönliche Tüchtigkeit gerichtet“. Er war ein Ergebnis der Spannungen und diffusen Energien, die sich in der Gesellschaft gegenüberstanden („Reichthum“, „Gewerbfleiß“, „ein weite[r] Überblick der Welt“, „Unsicherheit der polit. Lage, gewaltthätige Fürsten, Parteikämpfe“).14 Alles schien auf ein neues Leben gerichtet zu sein, das nach dem Zerfall der Formen des Mittelalters einen „neuen Halt“ brauchte und ihn in der Antike fand.15 Dadurch, dass die Renaissancemenschen die Antike als 13
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Vgl. Nietzsches Ausdruck mit dem von Burckhardt auf Italienisch benutzten „uomo singolare, uomo unico“; Burckhardt, Die Cultur der Renaissance, S. 104. Encyclopädie, KGW II/3, S. 348. Bekanntlich verglich Nietzsche die Entfesselung des ‚politischen Triebes‘ im Italien der Renaissance und im alten Griechenland: vgl. Nachlass 1871, KGW III/3, 10[1], S. 357, und CV, Der griechische Staat, KGW III/2, S. 265. Bedeutsamerweise hob Nietzsche die Polemik von Politianus gegen die sklavische Pedanterie der „Ciceronianer“ sowie dessen Verteidigung des Individuellen in der Epistel an Cortesi (L. VIII, epist. 16) hervor: „Geistreiche Vertheidigung des Individuellen bei Angelus Politianus: das Gesicht eines Stiers oder Löwen komme ihm schöner vor als das eines Affen: die verpfuschte Ähnlichkeit mit dem Menschen mache diesen widerlichen Eindruck. Man müsse ohne Korkholz schwimmen können. Der werde am richtigen Laufe verhindert, der seine Fußtapfen immer in die des Vorgängers setzen wolle“ (Encyclopädie, KGW II/3, S. 351). Bei dem Passus handelt es sich – mit einigen Auslassungen – um ein Exzerpt aus J. Mähly, Angelus Politianus, S. 75–78. Der Philologe Mähly (1828–1902) war ein Kollege Nietzsches am Pädagogium. Nietzsche entlieh dessen Band am 9. Mai 1871 aus der Bibliothek Basel (vgl. L. Crescenzi, Verzeichnis, S. 406). Vgl. G. Campioni, Beiträge zur Quellenforschung, 1999, S. 364–367. Es ist die erste Formulierung des Bildes vom Affen als „schmerzliche Scham“ für den Menschen, das Nietzsche an verschiedenen Stellen anführt (vgl. ZA, Vorrede 3, KGW VI/1, S. 6). Vgl. auch den Hinweis auf Heraklit: „Nach Heraklit: der klügste Philister (Mensch) ist dem Genie (Gott) gegenüber ein Affe“ (Nachlass 1873, KGW III/4, 27[67]); siehe auch ebd., 26[2]. Die Stellungnahme des Politianus zugunsten der Originalität erschien Nietzsche besonders bedeutsam, weil er ihn für den tüchtigsten und weisesten Philologen hielt: „sein Hauptwerk Miscellanea, beweist es. Vielerlei daraus ist längst Gemeingut der Wissenschaft“ (Encyclopädie, KGW II/3, S. 352). Auch die Verteidigung Ciceros durch Cortesi ist Mähly zufolge keine passive Imitation, sondern impliziert eine Abhängigkeit, die sogleich den Sinn
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wesentlichen Bestandteil ihres neuen Alltagslebens aufleben ließen, waren sie dem Griechentum unvergleichlich näher als die Modernen. Schon in den Aufzeichnungen zur Geschichte der literarischen Studien hatte Nietzsche gezeigt, dass es sich bei den uns überlieferten literarischen Produkten lediglich um Überreste, um Spuren komplexerer Kunstwerke handelt, die in das gesellschaftliche Leben eingebettet waren. „Da die Überlieferung gewöhnlich die Schrift ist, so müssen wir wieder l e s e n lernen. Wir müssen wieder lesen lernen: was wir, bei der Übermacht des Gedruckten, verlernt haben. Dabei ist die Hauptsache, zu erkennen, daß für die antike Litteratur Lesen nur ein Surrogat oder eine Erinnerung ist. Die Tragödien zB. sind keine Lesedramen“, heißt es in den Vorlesungen zur Einführung in das Studium der Philologie (Encyclopädie, KGW II/3, S. 373). Das literarische Werk entstand also nicht mit Blick auf die Lektüre, es war kein ‚literarischer‘ Text, sondern ein Kunstwerk, das für ein nicht-gelehrtes Publikum, für eine ‚nicht-gelehrsame‘ Bildung bestimmt war. Es war so etwas wie ein Ereignis, eine Inszenierung, die wie die Kunst des Mimen einen anwesenden Zuschauer und Zuhörer voraussetzte. Es war eine Aufführung, die in den Kulten, bei Symposien und Dichterwettbewerben, in den Theatern und Gerichtssälen ihren Ort hatte und einen engen Zusammenhang der Künste einschloss. Mindestens gingen die Kunst der Deklamation und der Aktion zusammen, aber auch Musik, Gesang und Tanz. Die Schrift war durchaus nicht das Fundament dieser höheren Zivilisation. Unübersehbar ist hier die Verbindung mit Wagners frühen Theorien und dessen tiefem Misstrauen gegenüber der Abstraktheit der Kritik und der schriftlichen Literatur, die zu einem Genuss des Kunstwerks in Einsamkeit, fern der Gemeinschaft zwingt. Auch Wagner machte den Unterschied zwischen Literatur – ihr Sinnbild: Frankreich – und lebendigem Kunstwerk, seinem „Musikdrama“. Es galt folglich zur ursprünglich weiter gefassten Bedeutung des Wortes „Musik“, zur wahren „musischen Kunst“ zurückzukehren: „das Volk, eines eigenen, autonomen Weges erlangt: „die Ähnlichkeit sei nicht die des Affen u. des Menschen, sondern des Sohns u. des Vaters“ (ebd., S. 351). Zur Bedeutung dieser Metapher bei Wagner vgl. oben, Kap. 3, S. 138.
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welches den Namen ‚Musik‘ erfand, begriff unter ihm nicht nur Dichtkunst und Tonkunst, sondern alle künstlerische Kundgebung des inneren Menschen überhaupt, insoweit er seine Gefühle und Anschauungen in letzter überzeugendster Versinnlichung durch das Organ der tönenden Sprache ausdrucksvoll mittheilte“.16 Die Stärke der Renaissance bestand in der Rückkehr zu Rom, im „Wiedererwachen des antiken italischen Genius“ und – um es mit einem Burckhardt-Ausdruck zu sagen – im „w u n d e r s a m e [ n ] We i t e r k l i n g e n e i n e s u r a l t e n S a i t e n s p i e l s “.17 Doch diese Bejahung des römischen Geistes („Vo n R o m hängen wir ab“) bedeutete eine Gefahr für die deutsche Kultur, die Nietzsche, damals noch von der deutschen Ideologie Wagners beeinflusst, sich nicht verbarg. Der Philosoph hob die ‚romanischen‘ Grenzen der Renaissance hervor, weil er noch eine schwere Hypothek für die Befreiung des tragischen Geistes darin erblickte. „Das Alterthum ist in umgekehrter Zeitfolge entdeckt worden: Renaissance und Römerzeit, Goethe und der Alexandrinismus, es gilt das 6te Jahrhundert aus seinem Grabe zu erlösen“, schreibt Nietzsche unter Verwendung von Metaphern, die eines Humanisten des 15. Jahrhunderts würdig sind (Nachlass 1870–1871, KGW III/3, 7[191]). Die Kultur als „Dekoration des Lebens“ war die Grenze, die sich aus der Romanisierung der griechischen Welt ergab: „Römer und Griechen: Stellung der Römer zu der griechischen Kultur. Ihre Urtheile darüber. Von ihnen stammt die d e k o r a t i v e M a n i e r d e r C u l t u r “.18 Einer Kultur als „Dekoration“, die Hülle und Schleier ist, setzte Nietzsche den griechischen Begriff der Kultur als einer „neuen und verbesserten Physis [entgegen], ohne Innen und 16
17
18
Wagner, Über musikalische Kritik, SSD 5, S. 60. Vgl. Nietzsche: „Vollendete Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens mit der Kunst – Überwindung des Begriffs ‚Litteratur‘ –: Wagner“ (Nachlass 1872–1873, KGW III/4, 19[290]). Nachlass 1871, KGW III/3, 9[143]. Vgl. HL 3, KGW III/1, S. 262. Das Burckhardt-Zitat in: Die Cultur der Renaissance, S. 200. Zu der Wendung „wundersames Weiterklingen des uralten Saitenspiels“, die in der Unzeitgemäßen über die Historie auftaucht, vgl. Burckhardts Brief an Nietzsche vom 25. Februar 1874 (KGB II/4, S. 395). Nachlass 1873, KGW III/4, 29[168]. Vgl. Nachlass 1872–1873, KGW III/4, 19[290] und [291].
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Aussen, ohne Verstellung und Convention, der Cultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen“ (HL 10, KGW III/1, S. 330). Nietzsche bezog sich auf den schopenhauerschen Gegensatz zwischen dem „trockenen Ernst“ der Römer (Realismus im Dienst des Willens) und der freien Genialität der Griechen, um den Weg zu begründen, den das deutsche Volk für eine Wiedergeburt des Griechentums einschlagen sollte: „[D]er deutsche Genius [braucht] auch von der optimistischen Welt der Renaissance eine Befreiung“.19 Noch steht das Pathos des Authentischen, des wagnerschen „wahren Bedürfnisses“ und der tiefen Innerlichkeit des Deutschen der Rhetorik und „dekorativen“ Kultur gegenüber. Doch zeigen sich bereits bedeutsame Vorbehalte, die in der implizit antimetaphysischen Stoßrichtung der zeitgleichen Reflexionen über Sprache, Rhetorik und ihre Beziehung zur Kunst erkennbar werden. In verschiedenen Fragmenten und in den Vorlesungen begegnen wir außerdem einer Aufwertung Ciceros – „d e r d e k o r a t i v e Me n s c h e i n e s We l t r e i c h s “ (Nachlass 1874, KGW III/4, 32[14]) – und der Anerkennung seiner Funktion eines Wohltäters, weil er die griechische Tradition bewahrt und weitergereicht hat. Schließlich spricht Nietzsche in der Vorlesung über die Geschichte der griechischen Beredsamkeit, Burckhardts Cicerone zitierend, von der Energie der neuen Form, die in der römischen Welt aus der griechischen Architektur hervorging: „möglichste Pracht der decorativen Ausbildung. Darin wirkliche Größe. Viel mißverstandene u. umgedeutete griech. Formen sind unter den römischen versteckt, aber man wird die letzteren wegen ihrer prachtvollen, höchst energischen Wirkung bewundern. Nach Jacob Burckhardt“.20 19
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Nachlass 1871–1872, KGW III/3, 14[9]. Für den ausdrücklichen Verweis auf Schopenhauer vgl. Nachlass 1875, KGW IV/1, 5[77]. Nietzsche, Geschichte der griechischen Beredsamkeit, KGW II/4, S. 403–404. Vgl. Burckhardt, Der Cicerone, S. 12–13: „Kein Wunder, dass sein fein abgewogener constructiver Sinn, dass die Fülle von Andeutungen auf das Ganze, dem es einst gedient, verloren gingen und dass man sich mit möglichster Pracht der decorativen Ausbildung zufrieden gab. Hierin aber zeigt sich die römische Kunst wahrhaft gross. Sobald man es vergisst, wie viel missverstandene
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Bisweilen rechtfertigt Nietzsche den Kampf der Deutschen gegen die Antike als Widerstand eines noch unförmigen Grundes gegen die „romanisirte Cultur“. Ein solcher ungeformter Grund kann fruchtbar sein, weil er Resistenz gegenüber einer aufgezwungenen fremden Form bedeutet – die der französischen und jüdischen Zivilisation: Das Gehen Stehen und sich Bewegen, die Form der Geselligkeit, die Manieren der öffentlichen Sprecher, die Geberden der Jünglinge, die Künste der Frauen: alles, alles worin frühere Zeiten den Leib gebildet haben und zum Spiegel schöner oder großer Bewegungen gemacht haben, ist ganz verkommen oder späte Nachahmung: bestenfalls ist alles Renaissance und zwar Nachblüthe derselben (die französische Civilisation). Faßt man hier die Musik als den Antagonisten der Gymnastik, so ist in ihr jedenfalls ein Punkt gewonnen, von wo aus einem das moderne Leben widerlich barbarisch vorkommt (Nachlass 1875, KGW IV/1, 12[24], S. 336).
In dem Maße, in dem Nietzsches Misstrauen gegenüber Wagners Lösungen wuchs, sah er jedoch in der Suche nach einem unerreichbaren Ur- eine Mystifizierung der Ohnmacht. Wagners Kampf für die Aufwertung der deutschen Reformation entgegen der „dekorativen Cultur“ der Renaissance barg die Gefahr der Flucht in eine unzugängliche Innerlichkeit, der keinerlei äußere Form entsprach: „Es bleibt überall bei dem Innern ohne ein Äusseres, wie der Protestantismus das Christenthum gereinigt zu haben glaubt, indem er es durch Verinnerlichung verflüchtigte und aus der Welt schaffte“ (Nachlass 1873, KGW III/4, 29[132]). So aber versinkt man in einer Betrachtung des Menschen als eines „wunderlich spiritualistische[n] Wesen[s]“ (Nachlass 1873–1874, KGW III/4, 31[4]) und entfernt sich immer mehr von der zentralen Bedeutung des Körpers bei den Alten, von ihrem Willen zu einer ästhetischen Gestaltung des realen, alltäglichen Lebens. „Die deutsche Reformation entfernte uns vom Alterthum […] Sie entdeckte den alten Widerspruch ‚Heidenthum, Christenthum‘ von neuem; sie war zugleich ein Protest gegen die d e k o r a t i v e C u l t u r der Renaissance“ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 5[28]).
und umgedeutete griechische Formen unter den römischen versteckt liegen, wird man die letztern um ihrer prachtvollen, höchst energischen Wirkung willen bewundern müssen.“
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In wachsendem Maße erkannte Nietzsche der Renaissance, wie später der Kultur des ‚Grand siècle‘, einen „r e i n e r e [ n ] Sinn“ beim Studium des klassischen Altertums zu, im Vergleich zu dessen früherer apologetischer und instrumenteller Heranziehung seitens des Urchristentums. Nachdem dieses „eine große Ä u ß e r l i c h k e i t in der Auffassung des Alterthums […] gepflanzt“ und seiner Religion alle Kraft geraubt hatte, war es bei der Konversion der Völker des Nordens als Gegenmittel gegen die zu fürchtende germanische Mythologie und „als R e i z m i t t e l z u r A n n a h m e d e s C h r i s t e n t h u m s “ benutzt worden, später als „Wa f f e zum geistigen Schutz des Christenthums“. Die Renaissance „zeigt ein Erwachen der E h r l i c h k e i t im Süden“, dem die Reformation sich nicht anschließen konnte, „denn ernstliche Neigung zum Alterthum macht unchristlich“ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 5[107]). An den gegenläufigen Optionen – Renaissance/Reformation, lebensbejahende/christliche Werte, Süden/Deutschtum – zeigt sich die allmähliche Loslösung von Wagner.21
3. Die Poeten-Philologen und die neuen Lebensformen Am nächsten stand Nietzsche die Figur des „Poeten-Philologen“. Insofern dieser zu einer neuen Einstellung zur Antike fähig war, barg er die Möglichkeiten des kosmopolitischen ‚freien Geistes‘ in sich.22 21
22
Auch Richard Wagner in Bayreuth zeigt – in der für die Schrift charakteristischen grundlegenden Ambiguität der Apologie – den unaufhebbaren Gegensatz zwischen Wagner, der an den deutschen Geist und das Volk der Reformation glaubt, und „aller Cultur der Renaissance, welche bisher uns neuere Menschen in ihr Licht und ihren Schatten eingehüllt hat“ (WB 10, KGW IV/1, S. 75). Bisher wurde übersehen, dass Nietzsche auch in diesem Fall begrifflich wie analytisch in Jakob Burckhardts Schuld steht. In erster Linie machten die PoetenPhilologen für sich und die anderen denjenigen Wert geltend, der der Entwicklung des Renaissance-Individuums am meisten entsprach: den Ruhm. Angefangen bei der „Fülle von zwingender, persönlicher Macht“, die aus allen Schriften Dantes spricht, der „nach dem Dichterlorbeer gestrebt [hat] mit aller Kraft seiner Seele“, „bemächtigt sich das neu aufkommende Geschlecht von
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Prototypen dieser Figur waren Petrarca und Boccaccio, beide Kosmopoliten und beide Gelehrte der lateinischen Welt: Der Erste der mit Bewußtsein das Alterthum reproduzirt, ist Franc. Pe t r a r c a 1304–1374. in Virgil u. Cicero wie Keiner bewandert, Bewunderer der Form. Gegner der Scholastik, Verkünder des Humanismus. Sein nationaler Ruhm als Lyriker geringer. Er fand Ciceros Briefe 1345, zweifelhaft ob de gloria. Er galt seiner Zeit als Repräsentant des Alterthums, Nachahmer aller latein. Gattungen u. lat. Briefsteller. – Ebenso B o c c a c c i o der wegen seiner Sammelwerke 200 Jahre in Europa berühmt war, ehe man etwas von seinem Decamerone wußte.23
Auch in den Aufzeichnungen zu der Unzeitgemäßen Wir Philologen wies Nietzsche, Anregungen Burckhardts aufgreifend,24 auf den „Poeten-Philologen“ der Renaissance hin, der sich durch das „angreifende aktive Element“ seiner Unzeitgemäßheit auszeichne. Die Poeten-Philologen waren nach Burckhardt „eine neue Menschenklasse“, welche
23
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Poeten-Philologen, welches auf Dante folgt, des Ruhmes in doppeltem Sinne: indem sie selber die anerkanntesten Berühmtheiten Italiens werden und zugleich als Dichter und Geschichtsschreiber mit Bewußtsein über den Ruhm anderer verfügen“. Dass er als „Austeiler des Ruhmes, ja der Unsterblichkeit“ über Macht verfügt, ist dem Poeten-Philologen vollauf bewusst (J. Burckhardt, Die Cultur der Renaissance, S. 114 und S. 120). Außerdem prägte das Altertum so sehr alles Handeln, bestimmte in solchem Maße die verbreitete Wahrnehmung und Darstellung der Individualität, dass dem Philologen eine Vormachtstellung zukam, denn „sein philologisches Wissen [muss] lange nicht bloß wie heute der objektiven Kenntnis des klassischen Weltalters, sondern einer täglichen Anwendung auf das wirkliche Leben dienen“ (ebd., S. 110). Encyclopädie, KGW II/3, S. 347–348. Vgl. Burckhardt, Die Cultur der Renaissance, S. 159–160. Nachlass 1875, KGW IV/1, 5[109]. Auch bei Burckhardt erscheint Boccaccio als der Poet-Philologe, der gegen das Philistertum der Berufe und die geistigen Gewohnheiten seiner Zeit, gegen die Feinde der Poesie im weiteren Sinne der „ganze[n] geistige[n] Tätigkeit des Poeten-Philologen“ zu Felde zog: gegen „die frivolen Unwissenden, die nur für Schlemmen und Prassen Sinn haben; die sophistischen Theologen, welchen Helikon, der kastalische Quell und der Hain des Phöbus als bloße Torheiten erscheinen; die goldgierigen Juristen, welche die Poesie für überflüssig halten, insofern sie kein Geld verdient; endlich die (in Umschreibung, aber kenntlich gezeichneten) Bettelmönche, die gern über Heidentum und Immoralität Klage führen“ (Burckhardt, Die Cultur der Renaissance, S. 160).
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die neue Realität repräsentierte. In den Vorlesungen schreibt Nietzsche: „es gab eine Verwandtschaft des Gewaltherrschers mit dem Alles seinen Talenten verdankenden Philologen“.25 Die Humanisten führten das unruhige, gefahrvolle Leben der Erneuerer. Sie erprobten neue Formen, führten einen wilden Kampf mit ungewissem Ausgang und stellten damit die bestehenden Werte in Frage. Ihr Lebenslauf war derart, „daß ihn nur die allerstärksten Naturen aushielten. Sie waren heimatlos“. Dieser Burckhardt-Ausdruck, der Nietzsches Excursus „Über die Entdeckung des Alterthums bei den Italiänern“ beschließt, erlangte bei ihm eine neue Bedeutungsdimension. Der deutsche Philosoph entdeckte an den Poeten-Philologen jenen charakteristischen Impuls der freien Individuen, aus Leidenschaft zur Erkenntnis das eigene Leben aufzuzehren. Das erste Beispiel für solche freien Individuen war der Demokrit der philosophischen Aufzeichnungen aus den Jahren 1867–1868, und ihre ‚aufklärerische‘ Kette setzte sich bis zu Voltaire fort. Goethe und Leopardi galten Nietzsche dagegen als die „letzten grossen Nachzügler“ der Poeten-Philologen.26 Goethe übernahm von ihnen vor allem das Element des Wetteiferns in der Auseinandersetzung mit dem Altertum. Auch wenn seine Kenntnis der Antike begrenzt war (nicht die eines Philologen vom Fach), war sein Wetteifern mit ihr dennoch fruchtbar. Sein Verständnis der Größe der Alten entsprang aus seiner eigenen genialen Größe. Daher, so Nietzsche, müsse der junge Schüler der Philologie für seine eigene Bildung auf ihn Bezug nehmen und für eine wetteifernde Beschäftigung mit dem klassischen Altertum bei den Größten der Moderne ansetzen (vgl. Encyclopädie, KGW II/3, S. 368). Leopardi verdankte den Poeten-Philologen dagegen das spezifische Handwerk des Philologen-Berufs: „L e o p a r d i ist das moderne Ideal eines Philologen; die deutschen Philologen können nichts m a c h e n “ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 3[23]). Sein Betreiben der Philologie als Wissen25
26
Encyclopädie, KGW II/3, S. 350. Auch in diesem Fall ist Burckhardt die Quelle; er spricht von der „inneren Zusammengehörigkeit des Gewaltherrschers mit dem ebenfalls auf seine Persönlichkeit, auf sein Talent angewiesenen Philologen“ (Die Cultur der Renaissance, S. 172). WB 10, KGW IV/1, S. 75. Vgl. Nachlass 1875, KGW IV/1, 3[15], 5[17], 5[109], und 1875–1876, 14[3].
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schaft bleibt gültig, obwohl er kein „Erzieher mit Besoldung“ war: „Wer stellt einen Deutschen neben Leopardi z.B.?“27 Das Verständnis der Größe durch den Großen bedeutet nie Unmittelbarkeit des Gefühls, sondern setzt die Arbeit des „Kärrners“, die eigene und die anderer voraus. Goethe und Leopardi waren von der Art der PoetenPhilologen: „Hinter ihnen pflügen die reinen Philologen-Gelehrten nach“ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 5[17]). Ihre Originalität verband sich vorwiegend mit der philologischen Wiederentdeckung der Klassiker, genau wie die von Petrarca, Boccaccio, Poliziano. Aus dem Wettstreit schöpften sie Impulse zur Schönheit: „Leopardi […], der vielleicht der grösste Stilist des Jahrhunderts ist“ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 3[71]).
27
Nachlass 1875, KGW IV/1, 5[56]. Sehr wahrscheinlich kannte Nietzsche einige philologische Schriften von Leopardi. Sebastiano Timpanaro stellt diesbezüglich in seinem Band La filologia di Giacomo Leopardi einige Hypothesen auf: Womöglich hat er die Excerpta (Rheinisches Museum 1835), die Notizen zu Phlegon von Tralles und zu Celsus (Neue Jahrbücher 1840) und die Studi filologici (1845) gekannt, die als dritter Band der Opere erschienen waren. In diesem Band hat Nietzsche womöglich die Schrift über Ciceros De re pubblica gelesen. Erst die vollständige Ausgabe der Vorlesungen und die entsprechenden Apparate werden wohl zuverlässig Aufschluss über Nietzsches direkte Kenntnis von Leopardis philologischer Arbeit geben können. Ganz sicher – und hier können wir nur mit Timpanaro übereinstimmen – kann Nietzsches Lob aber nicht auf eine antideutsche Invektive oder einen Vorwand für die weitere Betonung der Verbindung von Poesie und Philologie im Sinne der Geburt der Tragödie reduziert werden. Der Name Leopardi fällt in einem Fragment über Cicero: „Es ist nach der Art Cicero’s fortzuringen mit den Griechen. Leopardi“ (Nachlass 1874, KGW III/4, 32[2]). In den im Wintersemester 1872–1873 gehaltenen Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Beredsamkeit erwähnt Nietzsche im Zusammenhang seiner Ausführungen zu Isokrates die von Leopardi, dem „größte[n] Prosaiker des Jahrh.“, angefertigte Übersetzung und spricht vom Einfluss, den der griechische Redner auf ihn hatte (Geschichte der griechischen Beredsamkeit, KGW II/4, S. 382). Im Frühjahr-Sommer 1875 definierte Nietzsche Leopardi schließlich als einen „wirkliche[n] Denker“ (vgl. Nietzsche, Philologica Bd. III, GOA, Leipzig 1913, S. 389). Es ging Nietzsche also fraglos darum, die Seriösität der philologischen Fachforschung Leopardis und seiner „wissenschaftlich-rationalistischen“ Methode zu unterstreichen, die seiner eigenen, in der Schule Ritschls herangereiften Methode verwandt war.
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Im Hinblick auf das Altertum überwog in der von Nietzsche beschriebenen Renaissance unzweifelhaft der Wetteifer der „monumentalischen Historie“, die den Tätigen, Strebenden gehört, die „antiquarische Historie“. Die Gefahr der Mythisierung und Verfälschung bestand, wenn die Schwachen und Unzufriedenen sich der Vergangenheit zuwandten: So lange die Seele der Geschichtsschreibung in den grossen A n t r i e b e n liegt, die ein Mächtiger aus ihr entnimmt, so lange die Vergangenheit als nachahmungswürdig, als nachahmbar und zum zweiten Male möglich beschrieben werden muss, ist sie jedenfalls in der Gefahr, etwas verschroben, in’s Schöne umgedeutet und damit der freien Erdichtung angenähert zu werden; ja es giebt Zeiten, die zwischen einer monumentalischen Vergangenheit und einer mythischen Fiction gar nicht zu unterscheiden vermögen: weil aus der einen Welt genau dieselben Antriebe entnommen werden können, wie aus der anderen. […] Die monumentale Historie täuscht durch Analogien: sie reizt mit verführerischen Aehnlichkeiten den Muthigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus (HL 2, KGW III/1, S. 258).
Das Thema ‚Wiedergeburt‘, das für den jungen Nietzsche von zentraler Bedeutung war, unterstreicht die heroisch-unzeitgemäße Konzeption, die in der monumentalischen Betrachtung vergangener Größe steckt: Wodurch also nützt dem Gegenwärtigen die monumentalische Betrachtung der Vergangenheit, die Beschäftigung mit dem Classischen und Seltenen früherer Zeiten? Er entnimmt daraus, dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal m ö g l i c h war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird; er geht muthiger seinen Gang, denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt, ob er nicht vielleicht das Unmögliche wolle, aus dem Felde geschlagen. Nehme man an, dass Jemand glaube, es gehörten nicht mehr als hundert productive, in einem neuen Geiste erzogene und wirkende Menschen dazu, um der in Deutschland gerade jetzt modisch gewordenen Gebildetheit den Garaus zu machen, wie müsste es ihn bestärken wahrzunehmen, dass die Cultur der Renaissance sich auf den Schultern einer solchen HundertMänner-Schar heraushob! (Ebd., S. 256–257)
Indem man dem frühen Nietzsche den verklärten späteren überstülpte, wurde der Ausdruck „Hundert-Männer-Schar“ häufig verzerrend und vereinfachend als Hinweis auf Männer der energischen Tat, auf „Kondottieri“ und Tyrannen mit einem ausgeprägten „Willen zur Macht“ gelesen, idealtypisch verkörpert von Cesare Borgia. Verständlich wird Nietzsches Text indes durch Burckhardts Ausführungen:
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Wer waren nun diejenigen, welche das hochverehrte Altertum mit der Gegenwart vermittelten und das erstere zum Hauptinhalt der Bildung der letzten erhoben? Es ist eine hundertgestaltige Schar, die heute dieses, morgen jenes Antlitz zeigt; so viel aber wußte die Zeit und wußten sie selbst, daß sie ein neues Element der bürgerlichen Gesellschaft seien. […] Die Tradition, der sie sich widmen, geht an tausend Stellen in die Reproduktion über.28
Die Klärung der möglichen Aufgabe der Philologie, die Nietzsche mit unnachgiebiger Kritik verfolgte, führte ihn zur endgültigen Verabschiedung vom Mythos einer „Wiedergeburt“ der Antike. Die Philosophie ermöglichte eine definitive Bilanz. Die Konstruktion des Neuen braucht die Antike nicht mehr: „Auf immer trennt uns von der alten Cultur, dass ihre Grundlage durch und durch für uns hinfällig geworden ist“. Der Mythos, das „unreine Denken“ (MA 33), die Religion und auch die Kunst als Ersatzreligion können – insofern bloße Milderung und Narkotisierung – nicht länger die Grundlage einer Kultur bilden, die auf der Höhe der neuen, aus der Wissenschaft und Historie entspringenden Erkenntnisse steht. „D i e s w ä r e eine Aufgabe, das Gr i e c h e n t h u m a l s u n w i e d e r b r i n g l i c h z u k e n n z e i c h n e n und d a m i t a u c h d a s C h r i s t e n t h u m u n d d i e b i s h e r i g e n Fu n d a m e n t e u n s r e r S o c i e t ä t u n d Po l i t i k “ (Nachlass 1875, KGW IV/1, 5[156]). Das Wort ‚Wiedergeburt‘ verschwindet mitsamt seinen verschiedenen Synonymen aus Nietzsches Begriffswortschatz. Deutschland, in seiner Misere und Nichtigkeit, musste die Leere seiner Realität mit dem Mythos des klassischen Altertums füllen, der aufgrund der angeblichen ursprünglichen Affinität mit dem „Allgemein-Menschlichen“ nahelag. War dies ein Extremfall, so ist das Bestreben nach Erneuerung der antiken Welt jedoch stets eine Art „Donquichotterie“. Hier sehen wir Zeichen der radikalsten Selbstkritik Nietzsches und seine definitive Abkehr von den Illusionen in Richtung auf den „freien Geist“: 28
Burckhardt, Die Cultur der Renaissance, S. 157. Anspielungen auf die „100 productive[n] Menschen“ auch in den Fragmenten 29[29] und 29[30] (Nachlass 1873, KGW III/4), sowie in HL 6, KGW III/1, S. 291: „Mit einem Hundert solcher unmodern erzogener, das heisst reif gewordener und an das Heroische gewöhnter Menschen ist jetzt die ganze lärmende Afterbildung dieser Zeit zum ewigen Schweigen zu bringen.“
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Die Verehrung des klassischen Alterthums, wie sie die Italiäner zeigten, das heisst also die einzig ernsthafte uneigennützige hingebende Verehrung, welche das Alterthum bis jetzt gefunden hat, ist ein grossartiges Beispiel der Don Quixoterie: und so etwas ist also Philologie besten Falls. […] Man ahmt etwas rein Chimärisches nach, und läuft einer Wunderwelt hinterdrein, die nie existirt hat. […] Allmählich ist das ganze Griechenthum selber zu einem Objecte des Don Quixote geworden. Man kann unsre moderne Welt nicht verstehn, wenn man nicht den ungeheuren Einfluss des rein Phantastischen einsieht. Dem steht nun entgegen: es kann keine Nachahmung geben. […] Eine Kultur, welche der griechischen nachläuft, kann nichts erzeugen (Nachlass 1875, KGW IV/1, 7[1]).
4. Die Renaissance und die „Pflanze Mensch“: Stendhal, Taine und Nietzsche Die Renaissance hat Nietzsche Argumente geliefert gegen die angebliche Überlegenheit der germanischen Kultur als privilegierten Ausdruck des Allgemein-Menschlichen, die eben deshalb fähig sei zur Wiedererweckung des klassischen Altertums: Die italiänische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit des Menschen, Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und bloßen Effect […]; ja, die Renaissance hatte positive Kräfte, welche in unserer b i s h e r i g e n modernen Cultur noch nicht wieder so mächtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster (MA 237).
Seit Menschliches, Allzumenschliches sah Nietzsche in Luther den Feind der Aufklärung, der deren mit dem romanischen Humanismus begonnenen Weg unterbrochen hatte. In dem „bäurischen“ deutschen Mönch bedeuteten Glaube und Überzeugung Fanatismus und Abschottung und folglich Gewalt gegen die „Freiheit des Geistes“ und die Sanftmütigkeit. „Die Lutherische Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas ‚Vielfältiges‘, um vorsichtig zu reden, ein grobes biederes Missverständniss, an dem Viel zu verzeihen ist, – man begriff den Ausdruck einer s i e g r e i -
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c h e n Kirche nicht und sah nur Corruption, man missverstand die vornehme Skepsis, jenen L u x u s von Skepsis und Toleranz, welchen sich jede siegreiche selbstgewisse Macht gestattet …“ (FW 358). In einer Reihe von „kranken Geister[n]“, „Epileptiker[n] des Begriffs“, welche die Zerstörung der Aufklärung und des freien Geistes herbeiführten, steht auch Luther, ein Feind der intellektuellen Redlichkeit, und sein Fanatismus verbindet sich mit demjenigen Rousseaus: Überzeugungen sind Gefängnisse. […] Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen g e h ö r t zur Stärke, das Frei-Blicken-k ö n n e n … […] Dem Gläubigen steht es nicht frei, für die Frage „wahr“ und „unwahr“ überhaupt ein Gewissen zu haben: rechtschaffen sein an d i e s e r Stelle wäre sofort sein Untergang. Die pathologische Bedingtheit seiner Optik macht aus dem Überzeugten den Fanatiker – Savonarola, Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon – den Gegensatz-Typus des starken, des f r e i gewordnen Geistes (AC 54).
Der Renaissancemensch wird im Gegensatz dazu als Synthese einer Vielzahl beweglicher Kräfte charakterisiert. Er war offen in seinen gesellschaftlichen und kulturellen Formen und unterwarf sich keinen starren, transzendenten Werten. Vielmehr galten die Werte ihm als pragmatische Mittel für seine Selbstkonstruktion und den Aufbau des Staates als Kunstwerk. Die Renaissance brachte das Hervortreten der Komplexität der Erkenntnis und Moral. Sie stand für Vitalität und Energie des Südens im Gegensatz zum kalten, einförmigen Norden: Der Protestantism, jene geistig unreinliche und langweilige Form der décadence, in der das Christenthum sich bisher im mediokren Norden zu conserviren gewußt hat: als etwas Halbes und Complexes werthvoll für die Erkenntniß, insofern es Erfahrungen verschiedener Ordnung und Herkunft in den gleichen Köpfen zusammenbrachte. Werth der c o m p l e x e n G e b i l d e , des seelischen Mosaiks, selbst des ungeordneten und vernachlässigten Haushalts der Intelligenz (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[54]).
Mit Stendhal, den er über Hippolyte Taine kennen lernte, durchstreift Nietzsche den literarischen Mythos des Südens, der an der Renaissance sein goldenes Zeitalter fand. Dieser Mythos gehört zu einer Gefühlslandschaft und ideologischen Geografie mit langer Tradition, von Helvetius bis Montesquieu, von Rousseau bis Mme de Staël und Sismondi, und umschließt die Reflexion über die Psychologie der Völker wie den Kontrast zwischen Norden und Süden. Von zentraler
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Bedeutung war vor allem seine Ausprägung als Italien-Mythos: „Die Pflanze Mensch wächst hier stärker als anderswo“. Dieser Ausdruck Stendhals taucht bei Nietzsche und Taine wiederholt auf.29 29
Der ursprünglich von Vittorio Alfieri geprägte Ausdruck steht bei Stendhal, Rome, Naples et Florence, S. 383 (der Passus ist von Nietzsche unterstrichen); außerdem auf S. 345, wo er ausführlich auf Italienisch zitiert wird: „La pianta uomo nasce più robusta in Italia che in qualunque altra terra, gli stessi atroci delitti che vi si commettono ne sono una prova“. Er kehrt auch in der Histoire de la peinture en Italie, S. 285, wieder: „La végétation humaine y est plus forte. Là se trouve le ressort qui fait les grands hommes“ („Die Pflanze Mensch wächst dort stärker als anderswo; aber die Kraft, die die großen Männer schafft, kehrt sich gegen sich selbst …“, dt. Übers. S. 263). Nietzsche verwendete den Ausdruck an verschiedenen Stellen: vgl. JGB 44; Nachlass 1884, KGW III/4, 27[40] und 27[59]; Nachlass 1885, 34[74], 34[146], 34[176], 37[8]. H. Taine, der den Ausdruck Alfieris in seinen Schriften ebenfalls mehrfach aufgriff, schreibt in Voyage en Italie über die Italiener, im Gespräch mit Stendhal, „ihre[m] großen Bewunderer […], den ich so bewundere“: „Du sagst mit Alfieri, dass die Pflanze Mensch in Italien kräftiger als anderswo entstehe […] Das heisst, den Menschen einzeln auffassen in der Weise des Künstlers und Naturforschers, um in ihm ein schönes, mächtiges und furchtbares Tier zu sehen, in freier und ausdrucksvoller Haltung. Der Mensch, ganz und gar genommen, ist der Mensch in der menschlichen Gesellschaft, der sich entwickelt, und darum ist die höhere Rasse die, welche zu Gesellschaft und Entwicklung fähig ist. […] vielleicht ist es die Macht des Individuums, was dem Volke den Weg versperrt hat“ (H. Taine, Voyage en Italie, Bd. I, S. 17; dt. Übers. Bd. I, S. 14–15). Das Zitat zeugt von dem nie ganz ausgesöhnten inneren Widerstreit in Taine zwischen dem Appell an die Energie des Individuums und der Notwendigkeit der traditionellen Tugenden für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der individualistische ästhetische Genuss steht in dieser Schrift allerdings absolut im Vordergrund. Versinnbildlicht wird dies durch seine Äußerungen über die Trionfi: „Und wenn die Zuschauer […] das nackte Kind sich erheben sahen, welches die Wiedergeburt des goldenen Zeitalters darstellte, konnten sie [die Menschen der Renaissance] für einen Augenblick glauben, dass sie das entschwundene edle Altertum wieder lebendig gemacht hätten und dass nach einem Winter von fünfzehn Jahrhunderten die menschliche Pflanze ein zweites Mal sich über und über mit Blüten bedecken würde“ (Taine, Voyage en Italie, Bd. I, S. 213; dt. Übers. Bd. I, S. 180). Der Ausdruck ‚plante humaine‘ findet sich auch bei Paul Bourget in seinem Essay über Stendhal; vgl. Essais, S. 306 (dt. Übers. S. 264). Mit Stendhals Beziehung zu Italien befasst sich M. Crouzet, Stendhal et l’italianité. Zu Taine in Bezug auf das hier behandelte Thema E. Caramaschi, L’image de la renaissance italienne.
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Die Wertschätzung der Renaissance seitens Autoren wie Barbey d’Aurevilly und Arthur de Gobineau hatte ihre Wurzeln in der Begeisterung für die außermoralische Kraft innerhalb des entstehenden ‚Beylismus‘. Bourget, der wie Nietzsche über Taine zu Stendhal gelangt war, stellt das Epitaph Arrigo Beyle, Milanese, das Stendhal selbst gewünscht hatte, in den Mittelpunkt seiner Essais de psychologie contemporaine: „Wie ein Barbar ließ er wollüstig und ganz animalisch die Strahlen der Sonne auf sich einwirken, die alle diejenigen, welche ihre Jugend unter dem nordischen Himmel verlebten, so schmeichelnd liebkosen“.30 Im Sommer 1878 las Nietzsche die Histoire de la Littérature anglaise von Taine in deutscher Übersetzung.31 Ganz in seinem Sinne fand er 30
31
P. Bourget, Essais, S. 266 (dt. Übers. S. 230). Zur Bedeutung des Epitaphs vgl. Nietzsches Brief an Gast vom 22. März 1884, KGB III/1, S. 485–486. Etliche Fragmente vom Sommer 1878 zeugen von dieser Lektüre. Insbesondere hob Nietzsche in den Fragmenten 27[78] und 30[153] (Nachlass 1878, KGW IV/3) an Taines Charakterisierung der Semiten („Stelle Taine’s über die Semiten“) nicht ohne Boshaftigkeit – „Sollte Wagner ein Semite sein? Jetzt verstehen wir seine Abneigung gegen die Juden“ – die Nähe zu Wagners Kunst hervor: „Furchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit, kurz die Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen – ich glaube, semitische Rassen kommen der Wagnerschen Kunst verständnissvoller entgegen als die arische“. Wahrscheinlich bezog Nietzsche sich auf die Stelle der Einleitung, an der Taine entsprechend den gängigen Definitionen der Zeit – wir finden sie auch bei dem Renan der Histoire générale des langues sémitiques und De l’origine du langage – dem Begriff eines idealen Vorbilds der Arier, „das mit seiner Harmonie und seinem Adel im Stande ist, die Begeisterung und Liebe des Menschengeschlechtes wachzurufen“, den Begriff der semitischen Rassen entgegensetzte: „Wenn nun der allgemeine Begriff, in den die Vorstellung ausläuft, zwar poetisch ist, aber ohne daß man ihn in seiner Gewalt hat; wenn man ihn nicht auf dem Wege fortgesetzter Steigerung, sondern durch plötzliche Eingebung erreicht; wenn die ursprüngliche Operation nicht eine regelmäßige Entwickelung, sondern ein heftiger Ausbruch ist; – dann mangelt es, wie bei den semitischen Rassen, an jedweder Metaphysik; die Religion erfaßt nur einen herrschenden, zerstörenden Einzelgott; eine Wissenschaft kann nicht entstehen; der Geist ist zu starr und ungelenk, um die zarte Ordnung der Natur wiederzugeben; die Poesie kann nur eine Reihe ungestümer, großartiger Ausrufungen zu Tage fördern; die Sprache ist außer Stande, verwickelte Argumentationen oder hohe Beredsamkeit zum Ausdruck zu brin-
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darin die These von den Werten der „Renaissance païenne“ und ein begeistertes Urteil über Stendhal als einen Psychologen mit Fähigkeit zu „tiefer Analyse“: Ein einziger Mann von eigenthümlicher Bildung und Geistesrichtung, Stendhal, hat sich daran gewagt und die Folge ist, daß noch heute die Mehrzahl seiner Leser seine Bücher paradox und unklar findet. Sein Talent und seine Gedanken kamen verfrüht; man hatte kein Verständniß für seine vortrefflichen Prophezeiungen, seine gelegentlich hingeworfenen tiefsinnigen Worte, die überraschende Richtigkeit seiner Bezeichnungen und seiner Logik. Man merkte nicht, daß er, als Plauderer und Weltmann verkleidet, die verwickeltesten inneren Mechanismen erläuterte, die Finger auf die großen Triebfedern drückte, in der Geschichte des Herzens die Hilfsmittel der Wissenschaft, die Kunst, zu chiffriren, zu analysiren und zu deduziren, anwandte und als Erster auf die Grundursachen – nämlich die Nationalitäten, die Klimate und die Temperamente – hinwies; kurz, daß er die Gefühle behandelte, wie man sie behandeln soll: als Naturforscher und Physiker, mit Hilfe von Klassifikationen und Kräftemessungen. Statt all dies zu würdigen, nannte man Stendhal trocken, exzentrisch; er blieb allein und schrieb Bücher, für die er sich zwanzig Leser wünschte, welche er auch fand. Gerade in seinen Büchern aber begegnet man noch heute den geeignetsten Versuchen, in der von uns dargelegten Forschungsrichtung die Bahn zu brechen. Niemand hat uns besser gelehrt, die Augen zu öffnen, zu schauen, zuerst die Zeitgenossen und die Gegenwart, dann die alten authentischen Belege zu betrachten, zwischen den Zeilen zu lesen, und in alten Drucken, in altem Gekritzel zu erkennen, unter welchen Gefühlen, bei welcher Gedankenbewegung und in welchem Geisteszustande die Belege geschrieben wurden.32
Abgesehen von der autobiografischen Rekonstruktion, die von einer völlig zufälligen, von äußeren Anregungen unabhängigen Begegnung mit dem französischen Schriftsteller spricht („Stendhal, einer der
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gen; der Mensch beschränkt sich auf lyrische Begeisterung, ungezügelte Leidenschaft, fanatische, abgegrenzte Handlungen“ (H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. I, S. 13–14). Ab dem hier wiedergegebenen Zitat finden sich Anstreichungen Nietzsches am Textrand. H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. I, S. 31; auf der Höhe des Namens Stendhal ein Randzeichen Nietzsches. Im selben Jahr publizierte Taine seinen Aufsatz über Stendhal in der „Nouvelle Revue de Paris“, 1. Mai 1864. Taine darf als der erste wahre Stendhal-Anhänger gelten und als solchen würdigt ihn Nietzsche: „Ein anderer Schüler Stendhals ist Ta i n e , jetzt der erste lebende Historiker Europas“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 38[5]).
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schönsten Zufälle meines Lebens“),33 ist festzuhalten, dass Nietzsche Stendhal erst 1879 mit Begeisterung las, nachdem er im Sommer 1878 Taine gelesen hatte. Er wird Stendhal dann allerdings bis zuletzt treu bleiben als demjenigen, „der vielleicht unter allen Franzosen d i e s e s Jahrhunderts die gedankenreichsten Augen und Ohren gehabt hat“ (FW 95). Glück, Passion, Kraft und Energie, minutiöse Analyse, insouciance, „dolce far niente“, Liebe und Eitelkeit, die ‚Schönheit als Glücksversprechen‘ („La beauté n’est que la promesse de bonheur“), der Süden und seine Musik, der Gegensatz zwischen „Frohsinn“ und Überdruss bzw. Prüderie, die Charakterisierung der verschiedenen europäischen Völker – diese und andere Themen und Kategorien, denen wir, mit Exzerpten aus Stendhal, insbesondere in den nachgelassenen Fragmenten des Jahres 1880 begegnen, werden das Gewebe der „Philosophie des Vormittags“ bilden. Auch Stendhals Atheismus war für Nietzsche ein Aspekt seiner Gesundheit und fügte sich zwanglos in seine bejahende Vitalität ein. Er war kein Ausdruck von Ressentiment, sondern entzog sich schlicht dem Schatten Gottes. Und Nietzsche beneidete ihn darum, „den besten Atheisten-Witz“ gemacht zu haben: „die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existirt“.34 33
34
EH, Warum ich so klug bin 3. Vgl. den Brief an F. Overbeck (23. Februar 1887), in dem Nietzsche als glückliche Zufälle seines Lebens die Begegnung mit Dostojewski (wenige Wochen zuvor), seine Entdeckung Schopenhauers (im Alter von 21 Jahren) und diejenige Stendhals (mit 35 Jahren) nennt. EH, Warum ich so klug bin 3. Der Witz – „sein Atheismus geht […] bis zur Verzückung“ – wird von P. Bourget, Essais, S. 260 (dt. Übers. S. 225), angeführt, der Stendhal, „unzugänglich für alle Kunstgriffe des deutschen Idealismus“, als Erben von Condillac, Helvetius und Tracy darstellt. Bourgets ursprüngliche Quelle war P. Mérimée, HB par un des Quarante, S. 284. Aber auch P. Albert, La littérature française au dix-neuvième siècle, S. 236, hob dieselbe Form von Atheismus hervor: „Die Religion kümmert ihn wenig: Er ist ein leidenschaftlicher Atheist, glaubt nicht, dass die andern glauben, und hat unterhaltsame Witze parat, wie folgenden: ‚Die Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existiert‘.“ Bezeichnenderweise gewahrten dagegen Traditionalisten wie E. Melchior de Vogüé in dieser Seite Stendhals – „wir ertappen ihn fortwährend bei spöttischen Bemerkungen und Persiflagen im Geiste Vol-
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Der romantischen Linie der Schwäche, die von Rousseau herrührte und an Sainte Beuve und Renan zwei Hauptvertreter hatte, setzte Nietzsche die kraft- und energievolle, von den Ideologues ausgehende Linie entgegen, die in dem „Psychologen“ Stendhal ihren Hauptbezugspunkt fand. Bei seiner Kennzeichnung Stendhals als eines „höheren Menschen“ berief Nietzsche sich auf Taine und Bourget, doch liegen diesen Urteilen die enthusiastischen Äußerungen Balzacs über die Chartreuse de Parme zugrunde, die Nietzsche 1884 aus einem Brief Balzacs an Romain Colomb (30. Januar 1846) herausschrieb: „Über Stendhal ‚un des esprits les plus remarquables de ce temps‘. ‚Er hat sich zu wenig um die Fo r m gekümmert‘, ‚er schreibt wie die Vögel singen‘ […] La Chartreuse de Parme ein wunderbares Buch, ‚le livre des esprits distingués‘.“ Auch aus dem berühmten Brief Balzacs an Stendhal (6. April 1839) notierte Nietzsche einige Sätze: „In Betreff der Chartreuse ‚ich würde unfähig sein, sie zu machen. Je fais une fresque et vous avez fait des statues italiennes.‘ ‚Alles ist original und neu.‘ Schön wie l’italien, und wenn Macchiavell in unseren Tagen einen Roman schriebe, so würde es die Chartreuse sein. ‚Vollkommen klar.‘ ‚Vous avez expliqué l’âme de l’Italie‘.“35 Dieser Brief ging dem begeisterten Aufsatz Balzacs voraus, der am 25. September 1840 in der „Revue parisienne“ erschien. Wie schon in den treffenden Urteilen des Briefes stellte er darin besonders das ita-
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taires“ (Avant-propos, S. XXIX) – einen Aspekt seines Nihilismus, der für Frankreich ein Unheil sei: „Beyle ist überhaupt nicht impassibel, er ist bloß entsetzlich trocken“. Seine Seele sei genau wie die von Julien Sorel: „es ist eine böse, sehr unterdurchschnittliche Seele“, „Rouge et noir ein gehässiges, trauriges Buch“. Die Hoffnung für eine Wiederbelebung der ‚erschöpften‘ französischen Kunst liegt seines Erachtens im heilsamen Einfluss der großen russischen Seele. Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[29] und 25[31]. Nietzsche las zu jener Zeit H. de Balzac, Correspondance 1819–1850. Die zitierten Briefe stehen auf S. 491ff. und S. 329ff. Bei dem ersten handelt es sich um das Antwortschreiben an Colomb, der La Chartreuse de Parme zusammen mit einem Aufsatz von Balzac über diesen Roman wiederveröffentlichen wollte (Balzacs Antwort traf ein, als der Band bereits seit einem Monat im Handel war). Vgl. auch folgendes Urteil, das er Mme Hanska gegenüber äußert (14. April 1836): „Beyle hat meines Erachtens das schönste Buch geschrieben, das seit fünfzig Jahren erschienen ist […]. Hätte Machiavell einen Roman geschrieben, so wäre es dieser“.
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lienische Element (le „terrible drame italien“) und den Renaissancestoff des Romans heraus und las ihn außerdem als Ausdruck der ‚littérature des idées‘. Aus einem langen Brief Stendhals an Romain Colomb vom 27. August 1832 geht hervor, dass die Quelle für den Renaissancestoff der Chartreuse eine Familienchronik der Farnese, namentlich Vannozzas, aus dem 16. Jahrhundert war.36 Doch in den faszinierenden, starken Frauenfiguren des Mailänder Risorgimento, wie der legendären, außergewöhnlichen Cristina di Belgioioso, gestaltete Stendhal allgemeiner das dem Begehren entspringende Bild der italienischen Frau – Leidenschaft und Stärke in der terra amoris –, wie es durch die Jahrhunderte fortzuleben vermochte („die mythische Zeitlosigkeit eines zugleich aktuellen und essenzialen Italien“ – Michel Crouzet). Balzac schreibt: Hatte M. Beyle irgendeine Frau vor Augen, als er die Sanseverina zeichnete? Ich glaube, ja. […] Zwar bin ich zutiefst davon überzeugt, dass es Frauen wie die Sanseverina gibt, allerdings in sehr geringer Zahl, und kenne auch welche, aber ich glaube auch, dass der Autor das Vorbild wohl erhöht und völlig idealisiert hat. Trotz dieser Arbeit, die jede Ähnlichkeit entfernt, lassen sich an der Prinzessin B… einige Züge der Sanseverina ausmachen. Ist sie nicht Mailänderin? Hat sie nicht Freud und Leid gekannt? Ist sie nicht fein und geistreich?37
In den Briefentwürfen, die Stendhal zur Antwort auf Balzacs Aufsatz verfasste, bestätigte er den Mythos der italienischen Frau, als Vorbild hätten jedoch die Figuren des verehrten Correggio gedient: „Ich werde Ihnen etwas Absurdes gestehen: Viele Züge der Herzogin Sanseverina sind von Correggio abgezeichnet. […] Ich habe Frau von Belgioioso nie gesehen“.38 Auch wenn der Stil oft nachlässig sei, meint Balzac, sähe man aufgrund des Gedankenreichtums und der Originalität darüber hinweg: „Es ist eine große, starke Konzeption […], die Gedanken sind originell und oft gut ausgedrückt. Dieses System ist nicht nachzuahmen. Es wäre gefährlich, wenn alle Autoren sich für große Denker hiel-
36 37 38
Vgl. L. Blum, Stendhal et le Beylisme, S. 74ff. H. de Balzac, Études sur M. Beyle, S. 150. Stendhal, Résponse a M. de Balzac, S. 159.
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ten“.39 Taine bewunderte sowohl Balzac als auch Stendhal, ehe die Urteile der Kritik eine Alternative zwischen zwei Stilen und zwei Welten schufen. Wie wir sehen werden, wird auch Nietzsche den ‚trockenen, klaren und illusionslosen‘ Stendhal dem „Plebejer“ Balzac, dem Romantiker und Visionär, entgegensetzen. Durch Taines Essay über Stendhal fand zur Bezeichnung des Schriftstellers der Ausdruck „homme supérieur“, „esprit supérieur“ Verbreitung, den Taine seinerseits von Balzac übernahm. Stendhal bleibt der Menge verschlossen: „Ein solcher Geist ist wenig zugänglich, denn man muss hoch hinaus, um ihn zu erreichen“; „er liebt die Einsamkeit und schreibt, um nicht gelesen zu werden“; seine Figuren sind „hervorragende Wesen“, „er ragt heraus, weil er seine Umgangsformen erfindet, und schockiert die Herdenmenge (foule moutonnière), die bloß nachahmen kann“.40 Dieses Urteil, das auch Bourget bekräftigte, legte die Grundlinien des Beyle-Mythos als eines „höheren Menschen“ im Kampf gegen die Mittelmäßigkeit fest.41 Nietzsche machte sich diesen Mythos zu Eigen. Im Namen der Energie und Lebensbejahung im Mythos des Südens sollten die Schatten und Wolken verscheucht werden, die auf 39 40
41
H. de Balzac, Études sur M. Beyle, S. 153. H. Taine, Stendhal, in: Nouveaux essais, S. 223, 229, 230, 232. Die volle Übereinstimmung mit Nietzsches Positionen bis hinein in die Wortwahl braucht nicht eigens herausgestellt zu werden. Es sei lediglich erwähnt, dass Nietzsche sogar das französische Wort „moutonnière“ benutzte. Vgl. Kap. 2, Fn. 89. Nach P. Bourget hat Stendhal in seinen Romanen lauter „hervorragende Wesen“ dargestellt, Beyle wird Julien Sorel als höherer Mensch zur Seite gestellt: „Er konnte ihnen nicht gefallen, er war zu verschieden von ihnen“ (Essais, S. 267; dt. Übers. S. 220). Vgl. Stendhal, Le rouge et le noir, I, Kap. 28. Daher seine Einsamkeit und sein Kampf gegen die Gesellschaft. Mit einem von Taine und Balzac entlehnten Begriff bezeichnete Bourget Stendhals Julien Sorel als „Raubtier“, das mit den Waffen der Zivilisation auf Jagd geht und seine Kraft verhüllt, um besser herrschen zu können, „d.h. daß er, statt zu morden, List gebraucht, daß er seine Kraft verbirgt, um besser zu herrschen, und daß er heuchelt wie Tartuffe, weil er nicht wie Bonaparte befehlen kann“ (Essais, S. 318; dt. Übers. S. 274f.). Stendhal wird mit Leonardo da Vinci verglichen: „Etwas von Vinci findet sich in Beyle“ (S. 288; dt. Übers. S. 249). Bei Nietzsche finden sich zahlreiche Echos dieser Themen, die er in unterschiedlicher Richtung weiterentwickelt hat.
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den Tod Gottes gefolgt und für Deutschland prägend waren. An ihre Stelle trat die Figur des „souveränen“ Individuums, das aus den Widersprüchen und dem Kampf der Triebe den Ausdruck einer Form zu machen weiß, die Abschied nimmt von jeder autoritären Vereinfachung und jeder beruhigenden Scheinlösung. Entgegen den Bruckstücken und Verheißungen einer höheren, anderen Art Mensch sieht Nietzsche in der Geschichte hier und da durch ein glückliches Würfelspiel „höchste“ Individuen verwirklicht, die zur „Gerechtigkeit“ fähig sind, imstande, vielfältige mögliche Perspektiven zu begreifen und in ein Gleichgewicht zu bringen: „Der weiseste Mensch wäre d e r r e i c h s t e a n W i d e r s p r ü c h e n , der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischeninnen seine großen Augenblicke g r a n d i o s e n Z u s a m m e n k l a n g s – der hohe Z u f a l l auch in uns! – eine Art planetarischer Bewegung“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[119]). Weiter: „Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt“ (ebd., 27[59]); „daß der h ö c h s t e Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher d e n G e g e n s a t z - C h a r a k t e r d e s D a s e i n s am stärksten darstellte, als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[111]). Die Komplexität der modernen Seele, ihre Offenheit für jede Erfahrung und ihr Chaos bedeuten nicht zwangsläufig Dekadenz. Der Tod Gottes eröffnet die Möglichkeit einer weiten übereuropäischen Seele, die widerstreitende Triebe in all ihrer Wucht in einer höheren Form zu umschließen vermag. Dafür liefert die Renaissance einige Beispiele. In einem Vergleich zwischen Raffael und Leonardo, der wiederum von Stendhals und Taines Einfluss zeugt,42 taucht der Leo42
Bezogen auf Leonardo da Vinci verwendete Taine die Kategorie des „höheren Menschen“ im Gegensatz zum Arbeiter und zum Fachmann. Vgl. H. Taine, Philosophie de l’art, S. 477. Taine unterstrich Leonardos Fähigkeit, die „flüchtige Gefühlsregung“ einzufangen, „die die Seele nur eben durchzieht“, sowie die komplexe, moderne Sensibilität Leonardos: „indem er in einer seltsamen Mischung die Schönheit beider Geschlechter vermengt und steigert, verliert er sich in Träumereien und der Suche nach Zeiten der Dekadenz und Immoralität“ (S. 486–487). Diese Charakterisierung griffen Bourget und Nietzsche auf.
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nardo-Mythos in seiner ganzen Verführungskraft auf. Leonardo erscheint als Mensch mit einem „wirklich überchristlichen Blick“: „Er kennt ‚das Morgenland‘, das innewendige so gut als das äußere. Es ist etwas Über-Europäisches und Verschwiegenes an ihm, wie es Jeden auszeichnet, der einen zu großen Umkreis von guten und schlimmen Dingen gesehn hat“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 34[149]). Und gewiss „gehört eine ganz verschiedene Kraft und Beweglichkeit dazu, in einem unvollendeten System, mit freien unabgeschlossenen Aussichten, sich festzuhalten: als in einer d o g m a t i s c h e n Welt“ (ebd., 34[25]). Nietzsche vereint folglich die Anschauung Stendhals mit der von Taine, wenn er das Thema der individuellen Energie, die in der italienischen Renaissance und der Kunst jener Epoche ihren Höhepunkt fand, in den Vordergrund stellt. Stendhal schreibt: „Umsonst würde man von der kalten Erfahrenheit unserer Tage ein Bild der Stürme verlangen, die jene italienischen Seelen durchtobten. Der brüllende Löwe ist aus seinen Wäldern vertrieben und zum kläglichen Haustier erniedrigt. […] Überall glühende Leidenschaft in all ihrem wilden Stolze – das ist das 15. Jahrhundert“.43 Er definiert Alexander VI. „ce grand homme qui savait tout et pouvait tout“ (Chroniques italiennes) und Cesare Borgia als „Repräsentant seines Zeitalters“.44 Ohne Zweifel war Nietzsches philoromanische Opposition gegen den germanischen Wagner durch die Lektüre französischer Autoren geprägt, und Burckhardt blieb auf dem weiteren Weg des Philosophen zwar ein wesentlicher Bezugspunkt, doch war die Renaissance (und Cesare Borgia als deren Symbolfigur) ein verbreiteter Leitmythos der französischen Kultur. Nietzsche nahm die Seiten des Basler Historikers durch den Filter der französischen Rezeption45 in einem neuen Licht wahr. Sie erlangten daraufhin für ihn die Bedeutung ei43 44 45
Stendhal, Histoire de la peinture en Italie, S. 11 (dt. Übers. S. 10f. und 15). Ebd., S. 14 (dt. Übers. S. 14). Am 17. Oktober 1886 schrieb Taine an Nietzsche: „Vous me faites un grand honneur dans votre lettre en me mettant à côté de M. Burckhardt de Bâle que j’admire infiniment; je crois avoir été le premier en France à signaler dans la presse son grand ouvrage sur la Culture de la Renaissance en Italie“ (KGB III/4, S. 230).
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ner Wertsetzung mit polemischer Stoßrichtung gegen die ‚Nebel‘ des Nordens. Vor allem nach dem preußisch-französischen Krieg bedeutete diese Wertsetzung außerdem Widerstand gegen die verbreitete Vorstellung von der lateinischen ‚Décadence‘. Gegen die Deutschen resümiert Nietzsche: Cesare Borgia contra Parsifal. „Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher noch nach einem Cesare Borgia als nach einem Parsifal umsehn, der traute seinen Ohren nicht“ (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 1). Wir haben es mit der bewussten Schaffung eines Mythos zu tun. Dem christlichen und tugendhaften Helden Wagners – der mit Renans Jesus auf einer Linie liegt – setzte der Philosoph mit dem Namen Cesare Borgia ein Gegenbild der Dekadenz entgegen: keine historische Figur, sondern den Vorstellungskern der amoralischen Energie und gesunden Animalität des „Raubthiers“. „Mißverständniß des Raubthiers: s e h r g e s u n d wie Cesare Borgia! Die Eigenschaften der Jagdhunde“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[37]). Parsifal, dem Geschöpf der dekadenten Kunst, trat Cesare Borgia gegenüber. Im Zuge der verbreiteten literarischen und ästhetischen Aufwertung seiner Gestalt verlor diese ihre präzisen historischen Merkmale und wurde stattdessen zu einem starken Symbol. Die gesunde Animalität des Fürsten und Condottiere ist der elementarste Ausdruck der Lebensenergie, die Nietzsche der physiologischen Krankheit Parsifals entgegensetzt („eher noch nach einem Cesare Borgia als nach einem Parsifal“, meine Hervorhebung). Wie zu zeigen sein wird, ist er gewiss nicht der höchste Ausdruck des Renaissancemenschen, der unter keinen Umständen auf den ‚Tyrannen‘ und Gewaltmenschen reduziert werden kann. In Cesare Borgia darf demnach keine „Krankhaftigkeit“ gesucht werden, sondern er ist, im Gegenteil, das gesündeste Exemplar „aller tropischen Unthiere und Gewächse“. Nietzsche übersetzte dies in den Vorwurf gegen die Moralisten, sie hegten „einen Hass gegen den Urwald und gegen die Tropen“; es schien ihm, „dass der ‚tropische Mensch‘ um jeden Preis diskreditirt werden muss, sei es als Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung? Warum doch? Zu Gunsten der ‚gemässigten Zonen‘? Zu Gunsten der gemässigten Menschen? Der ‚Moralischen‘? Der Mittelmässigen? – Dies zum Kapitel ‚Moral als Furchtsamkeit‘“
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(JGB 197). Das glühende Chaos ist die Voraussetzung für eine umfassende, komplexe Seele, die eine ästhetische Ordnung kennt: den Renaissancemenschen. Die ‚Alchemie der Extreme‘ bei Nietzsche stammte hauptsächlich von Taine, von dem er unter der Rubrik „Physiologie der Kunst“ bedeutende Stellen aus Voyage aux Pyrénées (Paris 1858) herausschrieb, die eine gelungene Charakteristik der Renaissance geben: „Handeln, wagen, genießen, wie ein Verschwender seine Kraft und Mühe vergeuden, sich ganz vom augenblicklichen Gefühl leiten lassen, immer gedrängt sein von immer lebendigen Leidenschaften, die stärksten Contraste aussuchen und ertragen, das war das Leben des sechzehnten Jahrhunderts“; „dieses Zeitalter der Kraft und der Anstrengung, der erfinderischen Kühnheit, der ausgelassenen Belustigungen, der übermäßigen Arbeit, der Sinnlichkeit und des Heldenmuthes“.46 In diesem Reisetagebuch, das wie das stendhalsche zu einer Sammlung von Analysen und Reflexionen über alles geriet, was dem Autor begegnete, wird die Kraft in ihren unterschiedlichen Äußerungen gepriesen: von den gewaltigen Felsmassen, denen gegenüber der Mensch als „dem Zufall ausgesetztes Gewächs“ erscheint („Die mineralische Substanz und ihre Kräfte sind die wahren Besitzer und die einzigen Herren der Welt“), bis zu den gesunden Raubtieren der Renaissance im Gegensatz zur Dekadenz der Modernen.47 Schon in der Histoire de la Littérature anglaise hatte Taine den Wert der „Renaissance païenne“ im Sinn einer vollen Bejahung der menschlichen Energie hervorgehoben, im Gegensatz zum Ohnmachtsgefühl und zur Dekadenz des mittelalterlichen Christentums. „Surabondance et déréglement“, „menschliche Macht“, „einen so freimüthigen Appell an die Sinne, eine so vollständige Rückkehr zur Natur“, „der starke, glückliche Mensch, der mit der Macht, alle seine Wünsche in Erfüllung zu bringen, ausgestattet und zugleich geneigt ist, sich dieser 46
47
Vgl. H. Taine, Voyage aux Pyrénées, S. 70–71 und 65 (dt. Übers. S. 70 und 65). Die unter dem Titel Zur Physiologie der Kunst gesammelten Exzerpte aus diesem Werk von Taine stehen in dem nachgelassenen Fragment 7[7] (1886–1887, KGW VIII/1). Zur Quellenkonkordanz siehe den Anhang zu G. Campioni, Wagner als Histrio, S. 484–488. H. Taine, Voyage aux Pyrénées, S. 338 und 76 (dt. Übers. S. 350 und 75).
Napoleon: ‚Der posthume Bruder
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Macht zu bedienen, um sein Glück zu suchen“48 – dies einige der von Taine verwendeten Ausdrücke. Die Renaissance, Rückkehr zu den Werten des Griechentums, bedeutet Verherrlichung der körperlichen Realität im Gegensatz zu den kranken Fantasien und geistigen Widersprüchen des Mittelalters. Plastisch, wie später Nietzsche, veranschaulicht Taine den Kontrast zwischen dem „zügellose[n] Heidenthum der italienischen Renaissance“ und dem beschränkten und fanatischen Glauben Luthers. Der Deutsche, der Mensch des Nordens, war außerstande, die Bejahung der Leichtigkeit und des Skeptizismus, die „Annehmlichkeiten der raffinirten, sinnlichen Lebensweise“ zu begreifen, „dieses wollüstige, sorglose, uneingeschränkte, aller moralischen Grundsätze oder Vorurtheile bare Leben […], – dieses Leben voller Leidenschaftlichkeit, das sich mit der Gegenwart begnügt, ohne an’s Unendliche zu denken; das mit Ironie gewürzt ist und keinen anderen Cultus kennt, als die Bewunderung der sichtbaren Schönheit“.49 Am besten versinnbildlichen Cesare Borgia und Alexander VI. diese amoralische Bejahung der Gewalt: sie „haben […] der europäischen Welt die zwei gelungensten Copien des Teufels dargeboten“. Eine komplexe und starke Zivilisation hat „ein wunderbares, fürchterliches, blutdürstiges und wohlbewaffnetes Thier zu schaffen“ gewusst. „Diese Menschen zerreißen sich unter einander, wie schöne Löwen und prächtige Panther“. Eine Gesellschaft ließ sich allerdings nach Ansicht des französischen Historikers unmöglich „auf d[ie] Pflege des Vergnügens und der Gewalt“ gründen.50
5. Napoleon: ‚Der posthume Bruder des Dante und des Michel Angelo‘ In seinem Artikel M. H. Taine, artiste (1866) hat Zola Taines Standort und Persönlichkeit mit großem Einfühlungsvermögen erfasst: Als kranker, unruhiger Geist stand er zwischen dem Fieber der Mo48 49 50
H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. I, S. 230, 238, 244. Ebd., S. 549–550. Ebd., S. 553–554.
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derne – „er gehört unserem nervösen Jahrhundert an“ – und der „Liebe zu Macht und Glanz“, die ihn in den Werten der Renaissance leben ließ. Er sei kein Mensch seiner Zeit: „Würde ich ihn nicht kennen, so würde ich ihn mir gern mitten in der Renaissance lebend vorstellen, mit eckigen Schultern, in weite, herrliche Stoffe gewandet, das Schwert ein wenig nach sich ziehend“. In seinem Wunsch, sich als „Gefährte von Rubens und Michelangelo“ zu sehen, äußere sich eine „Sehnsucht“. „Schwach und nackt“, wie die Menschen seines Jahrhunderts, strebe Taine „leidenschaftlich nach Stärke und einem ungebundenen Leben“.51 Neben diesem Renaissancemenschen lebe der „mathematische Denker“ („er demonstriert und seziert“), der sein Buch wie ein perfektes Räderwerk aufbaut. Seiner „Trockenheit“ zieht Zola den verschwenderischen Reichtum des Poeten vor. Sein Ordnungswille sei imstande, sich mit dem Chaos der „regellosen Kräfte“ zu konfrontieren und zeige damit, wie mächtig er sei. „Nie sind Ordnungswille und Genauigkeit bei Taine so groß wie wenn er sich inmitten des Chaos bewegt“.52 Im abschließenden Urteil wendet Zola Taines eigene historische Methode auf ihn an, in der Absicht, seine dominanten physiologischen und milieubedingten Züge zu bestimmen. Man gewahre in ihm die „Auflehnung des Schwachen, den die eiserne Zukunft erdrückt, die er sich vorbereitet; er strebt nach Stärke und blickt zurück; fast sehnt er sich nach den Zeiten, da der einzelne Mensch stark war und die Körperkraft über den Königsthron entschied. Würde er nach vorne blicken, so sähe er, wie der Mensch immer kleiner wird, das Individuum schwindet und sich in der Masse verliert, die Gesellschaft zu Glück und Frieden findet, indem sie die Materie für sich arbeiten lässt. Ein solches Bild der Gemeinschaft und Brüderlichkeit läuft seiner ganzen Künstlernatur zuwider“. Taine schwanke also zwischen einer Vergangenheit, die er liebe, und einer Zukunft, der er nicht ins Gesicht zu blicken wage. Am Ende gehorche er dem Wahn der Epoche, „alles zu wissen, alles in Gleichungen aufgehen
51 52
É. Zola, Écrits sur l’art, S. 64–65. Ebd., S. 74.
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zu lassen, alles den mächtigen mechanischen Kräften zu unterwerfen, die die Welt verändern werden“.53 Die Renaissance („l’anarchique réveil de la chair“) war also auch für Taine ein idealer Ort verlorener Werte, ein Kraftzentrum, das der zunehmenden Verkleinerung des Individuums entgegenstand, während Nietzsche mit Zola die Kunst zu „tyrannisiren“ und so das vielgestaltige, glühende Chaos zu vereinfachen, als Ausdruck einer Tendenz der Zeit begriff, die auch der Kunst eigen war: „[D]ie Formel tyrannisirt“ durch eine „L o g i k d e s L i n e a m e n t s “, die vereinfacht. Innerhalb der Linien lebt jedoch „eine wilde Vielheit, eine überwältigende Masse, vor der die Sinne sich verwirren; die Brutalität der Farben, des Stoffes, der Begierden“. Im geistigen Bereich gilt dies auch für Taine (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[37]). Nietzsche zufolge wollte Zola gewisserweise mit Taine wetteifern, „ein Ablernen von dessen Mitteln, in einem skeptischen milieu es zu einer Art von Diktatur bringen. Dahin gehört die absichtliche Ve r g r ö b e r u n g der Principien, damit sie als Commando wirken“ (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[56]). In diesem Willen zur Beherrschung durch Vereinfachung äußerte sich die Schwäche der Zeit. Sie war unfähig zu einer reichen, vielfältigen Form, welche die Kraft der Widersprüche und das Feuer der Triebe in sich schließen könnte, ohne der Auflösung entgegenzugehen. Genau darin unterschied sich die derzeitige Epoche grundlegend von der Renaissance. In Voyage en Italie und Philosophie de l’art setzte Taine die Verherrlichung der Renaissance als Ausdruck einer heldenmütigen, unbändigen Kraft fort, die in den „Riesengestalten Michelangelos und Rubens’“ ihren Höhepunkt fand. Mit einer Flut von Bildern und Farben,54 die den im Süden und in der Renaissancekunst triumphieren53 54
Ebd., S. 82–83. Was diesen Aspekt von Taines Stil anbelangt, scheint Nietzsche sich das einschränkende Urteil von Ximenès Doudan zu Eigen zu machen, das er im Fragment 26[447] (Nachlass 1884, KGW VII/2) notiert: „Über Taine ‚mais que cela est rouge, bleu, vert, orange, noir, nacré, opale, iris et pourpre! … c’est une boutique de marchand de couleurs‘. Mit Mirabeau le père sagen: quel tapage de couleurs!“ Der Passus stammt aus dem Brief an M. Piscatory vom 19. Mai 1866 (X. Doudan, Lettres, Bd. IV, S. 25), in dem der Autor Bezug nahm auf
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den nackten Körper preisen, wird das Thema beharrlich wiederholt. Die Nacktheit bedeutet Rückkehr zu den Heiden: „Dieser Gedanke ist vollkommen heidnisch, er [Raffael] empfindet den tierischen Körper wie ein alter Grieche, es ist nicht nur Anatomie, was er gelernt hat […] er liebt die Nacktheit selber“.55 Das strahlende Licht des Südens lässt die griechische Welt unter dem „durchdringenden Blick, d[er] männliche[n] Kraft und d[er] Heiterkeit der herrlichen Sonne“ wiederaufleben. Das Mittelalter scheint lediglich ein „böser Traum“ gewesen zu sein: „Die alte Religion der Freude und Schönheit regte sich in der Berührung mit der Landschaft und dem Klima, die sie genährt hatten, wieder auf dem Grunde des Herzens“.56 „Der Saft war übermächtig, und die Pflege war vollkommen gewesen. Der Geist schuf auf natürliche Weise, und die Hand führte mühelos aus“.57 Im Rahmen dieser Verherrlichung von Kolossen und Kraftmonstern als aktiven Protagonisten der Renaissance und als Gestaltungen der bildenden Kunst fällt bei Taine des Öfteren der Begriff „übermenschliche Wesen“. Jene Urkraft besaß eine „fremde, halb tierische und halb göttliche Größe“.58 Genau auf diese Weise charakterisierte Nietzsche Napoleon – „diese Synthesis von Un m e n s c h und Ü b e r m e n s c h “ (GM I 16) – und den höheren Menschen: „Der Mensch ist das Un t h i e r und
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die „zwei oder drei schönen Seiten“ von Taine über Leonardo da Vinci, die in der „Revue des deux mondes“ (15. Mai 1866) erschienen waren. Es geht um H. Taine, L’Italie e la vie italienne, souvenir de voyage, XI: La Lombardie, Vérone, Milan et les lacs. Für die Seiten über Leonardo, die, wie der gesamte Artikel, in Voyage en Italie aufgegangen sind, vgl. Bd. II, S. 406–410 (dt. Übers. S. 350–354). H. Taine, Voyage en Italie, Bd. I, S. 183 (dt. Übers. Bd. I, S. 150). Nietzsche rezipierte das Thema der Nacktheit des menschlichen Körpers und der Nacktheit Gottes (entgegen dem deus absconditus). Vgl. zum Beispiel Nachlass 1883, KGW VII/1, 13[1], S. 463: „Er stellte ein nacktes Bild eines Gottes hin: also sehnt sich auch der Südlichste noch nach einem (zweiten) Süden“. Siehe auch Nachlass 1882–1883, KGW VII/1, 5[30]; 1883, ebd., 13[7]; 1881, KGW V/2, 11[94, 95]. H. Taine, Voyage en Italie, Bd. I, S. 8 (dt. Übers. Bd. I, S. 6). Ebd., S. 180 (dt. Übers. S. 147). Ebd., S. 185 (dt. Übers. S. 152).
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Ü b e r t h i e r ; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachsthum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[154]). Insbesondere erblickte Nietzsche in Napoleon „eine[n] der grössten Fortsetzer der Renaissance […]: er hat ein ganzes Stück antiken Wesens, das entscheidende vielleicht, das Stück Granit, wieder heraufgebracht“ (FW 362). Die Kennzeichnung Napoleons, des Italieners und wilden Korsen, als Renaissancemensch findet sich in Taines Betrachtungen über Napoleon, die in der „Revue des deux mondes“ erschienen waren und dann in Les Origines de la France contemporaine aufgingen. Nachdem Nietzsche Taines Artikel gelesen hatte, notierte er daraus in einem nachgelassenen Fragment von 1887, ihn zum Teil übersetzend, folgenden Passus: (Revue des deux mondes, 15. Febr. 1887. Taine.) „Plötzlich entfaltet sich die faculté maîtresse: der K ü n s t l e r, eingeschlossen in den Politiker, kommt heraus de sa gaine; er schafft dans l’idéal et l’impossible. Man erkennt ihn wieder als das, was er ist: der posthume Bruder des Dante und des Michel Angelo: und in Wahrheit, in Hinsicht auf die festen Contouren seiner Vision, die Intensität, Cohärenz und innere Logik seines Traums, die Tiefe seiner Meditation, die übermenschliche Größe seiner Conception, so ist er ihnen gleich et leur égal: son génie a la même taille et la même structure; il est un de trois esprits souverains de la renaissance italienne.“ Nota bene – – – Dante, Michel Angelo, Napoleon – –.59 59
Nachlass 1886–1887, KGW VIII/1, 5[91]. Auch das vorangehende Fragment (5[90]), worin Napoleon als schöpferischer Künstler gezeichnet wird, ist ein wörtliches Zitat aus Taine: „Ein Wort Napoleons (2. Februar 1809 zu Röderer): ‚J’aime le pouvoir, moi; mais c’est en artiste que je l’aime … Je l’aime comme un musicien aime son violon; je l’aime pour en tirer des sons, des accords, des harmonies‘.“ Vgl. auch von J. Lemaître, einem von Nietzsche geschätzten Autor, M. Taine et Napoléon Bonaparte, in: Les contemporains, IV série, S. 169–183. Lemaître meint, Taines Napoleon sei im Grunde ein „dem Italien des fünfzehnten Jahrhunderts entflohener furchteinflößender Condottiere“, obwohl sein Porträt – als Porträt eines Philosophen, nicht eines Historikers – die Persönlichkeitsentwicklung von Bonaparte nicht berücksichtige. Er erscheine als „unbeweglicher Riese“ und wirke zudem „gleichsam übernatürlich. Er verleiht ihm Fähigkeiten, die das menschliche Maß allzu sehr übersteigen“. Auch die extreme Unmenschlichkeit sei unvertretbar: „Ich bin sicher, dass Na-
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Als weiterer Beweis der Verbindung zwischen Napoleon und Renaissance galt Nietzsche die Feindschaft der Romantiker gegenüber beiden Phänomenen und ihr Unvermögen, sie zu begreifen. „D i e Fe i g h e i t v o r d e r C o n s e q u e n z – das moderne Laster. R o m a n t i k : die Feindschaft gegen die R e n a i s s a n c e (Chateaubriand, R. Wagner), gegen das antike Werthideal, gegen die dominirende Geistigkeit, gegen den klassischen Geschmack, den einfachen, den strengen, den großen Stil, gegen die ‚Glücklichen‘, gegen die ‚Kriegerischen‘ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[7]). Für Nietzsche ist „Schopenhauers Mißverständniß des W i l l e n s ein ‚Zeichen der Zeit‘ […] – es ist die Reaction gegen die Napoleonische Zeit, man g l a u b t nicht mehr an Heroen d.h. Willensstärke“. Bezogen auf de Vignys Roman setzt er hinzu: „In ‚Stello‘ steht das Bekenntniß: ‚es giebt keine Heroen und Monstra‘ – antinapoleonisch“.60
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poleons Egoismus nicht ungebrochen war. Selbst Nero hat Freunde gehabt“ (ebd., S. 176 und 178). Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[183]. Folgenden Wortlaut hat das Zitat aus Stello, Kap. XX: „Es ist eine mir ganz eigentümliche Lehre, lieber Herr, dass es weder Helden noch Ungeheuer gibt. Nur Kinder dürften sich dieser Worte bedienen“ (A. de Vigny, Stello, S. 100). So der Schwarze Doktor zu Beginn seiner Anklagerede, die er zu therapeutischen Zwecken hält, um den Kranken, Stello, von den „Blauteufeln“ zu befreien. Im Besonderen richtet sich diese Anklagerede gegen die ‚mittelmäßigen‘ Männer des Schreckens, allgemein aber gegen jede „sublime Maske“ der Macht. Befreit werden soll Stello auch von dem Traum eines „Salente où le poete serait honnoré comme il le mérite“ (A. de Vigny, Notice [zu Stello], S. 1468). Im Fall der Männer des Schreckens verbarg jene Maske nur „eine fieberhafte Energie, eine Nervenraserei, die sie überkam, weil sie die Ängste von Seiltänzern auf dem Seile ausstanden, die aber vor allem einem gewissen Gefühl entsprang, das gleichsam ihre Seele ersetzte: dem Gefühl andauernder Erregtheit des Mordens“ (A. de Vigny, Stello, S. 105). Was de Vignys Urteil über Napoleon anbelangt, siehe insbesondere den Dialog zwischen Bonaparte und Papst Pio VII. in dem Roman Servitude et grandeur militaires. Der Papst nennt den Kaiser zunächst „Commediante“, dann „Tragediante“ und dieser erkennt schließlich an: „Es stimmt! Tragöde oder Komödiant! – Alles ist Rolle, alles Verkleidung für mich, seit langem und für immer. Welche Anstrengung! Welche Kleinheit! – Posieren! immer posieren!“ (A. de Vigny, Glanz und Elend, S. 105). Vgl. auch Flaubert in seinem Brief an George Sand vom 31. Dezember 1875 (Lettres à George Sand, S. 273): „Je me suis détourné exprès de l’accidentel et du dramatique. Pas de monstres et pas de héros!“ (Der
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In seiner Charakteristik Napoleons greift Taine nicht nur Alfieris Definition der italienischen „Pflanze Mensch“ auf, die sich durch die vollkommene „Integrität ihres Geistes“ auszeichne61 und der Michelangelo, Cesare Borgia, Julius II. und Machiavell entsprängen, sondern er nimmt auch auf Stendhal Bezug, der Napoleon bewundernd und begeistert mit den „kleinen italienischen Tyrannen des 14. und 15. Jahrhunderts“ verglichen hatte. Diese Urteile waren Gegenstand eines Briefwechsels zwischen Nietzsche und Taine. Letzterer hatte in seinem Artikel auf die Vollkommenheit der körperlichen und geistigen Maschine abgehoben, auf die „herbe Kraft“ jenes ‚Monsters‘, den Machtwillen eines „gewaltige[n] Ich […], das seine gierigen Ansprüche immer hartnäckiger geltend macht“, und auf seinen „tatkräftige[n], rücksichtslose[n] Egoismus“, der sich jegliche ihn umgebende Gewalt zu unterwerfen und einzuverleiben verstand.62 In einem Brief vom 4. Juli 1887 pflichtete Nietzsche der Erklärung und Lösung „jenes ungeheuren Problems von Unmensch und Übermensch“ (KGB III/5, S. 106) anhand der Gestalt Napoleons begeistert bei. Es sei eine Antwort, so hebt er hervor, auf die Forderung – den „lange[n] Schrei des Verlangens“ (ebd.) – in Barbey d’Aurevillys Aufsatz über Napoleon. Nietzsche hatte diesen Aufsatz im Frühjahr 1887 in der Sammlung Les Œuvres et les hommes. Sensations d’histoire gelesen und seinem Freund Overbeck voller Zustimmung geschrieben: „Am gleichen Tage las ich einen unzufriednen Franzosen, einen Unabhängigen (denn zu seinem Katholicismus gehört jetzt mehr Unabhängigkeit als zur Freidenkerei): Barbey d’Aurevilly, Œuvres et hommes. Sensations d’histoire. Lies ihn, auf meine Verantwortung […] (Als romancier ist er mir nicht erträglich.)“.63 Im Namen seiner ‚skandalös katholischen‘
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ganze Satz ist im Exemplar der BN unterstrichen). Aus der Willensschwäche rührt auch de Vignys Unverständnis für Beyle; vgl. Le Journal d’un poète, S. 1121, wo de Vigny über die Chartreuse de Parme schreibt: „Die Schilderungen sind fein und wahrhaftig; aber es ist das Bild einer allzu niedrigen, hassenswerten Welt aufgrund ihrer gemeinen Heuchelei“. H. Taine, Napoléon, 15. Februar 1887, S. 735 (dt. Übers. S. 16). Ebd., 1. März 1887, S. 12 (dt. Übers. S. 46–47). An F. Overbeck, 4. Mai 1887, KGB III/5, S. 67.
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Einstellung und einer starken Aristokratie kritisierte Barbey D’Aurevilly in seinem Beitrag die liberale und positivistische Geschichtsschreibung über Napoleon, angefangen bei Michelet und Jung, die aufgrund ihrer demokratischen und republikanischen Voraussetzungen unfähig seien, sich der Größe des „Aristokraten und Despoten“ Napoleon auch nur anzunähern. Sein größter Ruhm sei der Versuch gewesen, „den Menschen erneut die Autorität beizubringen, die sie nicht mehr kannten“.64 In einem anderen Aufsatz des Bandes sprach er von „dieser Zeit des Gleichheitswahns und des Nihilismus“, in der es keine Cäsaren mehr gebe.65 Obwohl Barbey d’Aurevilly Stendhal als ‚starken Geist‘ bewunderte, der die Kraft in Menschendingen liebte, meint er, auch dieser sei in seiner Schrift Vie de Napoléon. Fragments unfähig gewesen, ein wirklichkeitstreues Bild Napoleons zu geben; er habe dazu nicht genug Mut besessen. Von seinem traditionalistischen und betont antiegalitären Standpunkt aus zeigt Barbey d’Aurevilly Verachtung für den „historischen Jakobinismus“, der mit seiner Zerstörung der Größe Napoleons die Idee der individuellen Überlegenheit überhaupt zu zerstören trachte. Unter Anklage steht auch die positivistische Geschichtsschreibung, die „jede individuelle Überlegenheit“ vernichten wolle, indem sie alles auf den Fatalismus der Rasse und mehr noch auf die Milieubedingtheit zurückführt.66 Aber Nietzsche fand in diesem Fall sogar bei Taine – jenseits der methodologischen Voraussetzungen, die dem Historiker mehr zur Beruhigung denn als Leitschnur dienten – eine Bestätigung und Ergänzung der Theorien von Barbey d’Aurevilly. Seines Erachtens wurde Napoleon Herr, weil er grundsätzlich anders war, Erbe einer älteren und stärkeren Zivilisation als der, die ihn hervorgebracht hatte, die Zivilisation des revolutionären und vorrevolutionären Frankreich 64
65 66
Barbey d’Aurevilly, Bonaparte, in: Sensations d’histoire, S. 391. In dieser Schrift diskutiert der französische Kritiker: Stendhal, Vie de Napoléon. Fragments; Michelet, Histoire du XIXe siècle; Jung, Bonaparte et son temps. Vgl. Nietzsche: „d i e m o d e r n e n I d e e n a l s f a l s c h […] ‚das Genie‘ – demokratisches Mißverständniß (als Folge des milieu, des Zeitgeistes)“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 16[82]). Barbey d’Aurevilly, Sensations d’histoire, S. 237. Vgl. ebd., S. 427.
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(GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 44). Napoleon müsse als Gegenspieler Rousseaus und seiner Ideen gelten, insofern seine „Rückkehr zur Natur“ ein „Hinaufkommen“ zur Naturauffassung der Renaissance bedeute (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[116]). Die Tyrannei des Milieus, das Milieu als „Fatum“, auf das Nietzsche auch an anderen Stellen zu sprechen kam, um seine Distanz gegenüber den ‚Parisern‘, einschließlich Taine, zu betonen, war für ihn eine „décadence-Theorie“,67 in der sich die ganze Schwäche der Gegenwart aussprach. In dem Band von Barbey d’Aurevilly fand Nietzsche zahlreiche weitere Bestätigungen für seine Sicht der Renaissance. Der französische Kritiker verteidigt Größe und Stärke von Julius II. – und der Renaissancepäpste überhaupt, worunter Alexander VI. – gegen diejenigen, die das Wirken des Papstes auf ein bloßes Mäzenatentum reduzieren wollten. „In dieser Niedergangszeit […ist] der Mensch des modernen Bibelot“ völlig außerstande, „das herrliche, unsterbliche Schauspiel“, „die heilige Raserei von Julius II. im Kampf gegen alle Barbarei seiner Zeit“ zu begreifen. „Wie groß die Kunst und die Künstler unter dem Pontifikat Julius II. auch sein mochten, waren sie am Ende doch nur etwas Geringfügiges in diesem ungeheuren Leben (und man beurteile danach den Rest)“.68 Dagegen finden wir eine 67
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Vgl. Nachlass 1888, KGW VIII/3, 15[105]: „NB NB die Lehre vom M i l i e u eine décadence-Theorie, aber eingedrungen und Herr geworden in der P h y s i o l o g i e “. Barbey d’Aurevilly, Jules II, in: Sensations d’histoire, S. 176 (Rezension der Histoire de Jules II von M. A.-J. Dumesnil). Es sei hier aufgrund seiner Provokationskraft ein weiterer Passus zitiert, in dem dieser ‚letzte Dandy‘ und rastlose Polemiker schreibt: „Die katholische Kirche, deren einziger Vertreter ich derzeit bin, ist die Kirche der Renaissance, der großen sinnenfrohen und gelegentlich unzüchtigen humanistischen Päpste des 15. und 16. Jahrhunderts, denen, dem unsterblichen Wort entsprechend, nichts Menschliches fremd war und die alle Triebe, alle Instinkte und Traditionen der Menschheit, welche auf ihre Weise die Allmacht und Allgegenwart Gottes widerspiegeln, mit offenen Armen aufnahmen! Weit entfernt von den kleinen Tugenden und schwachen Lastern unserer dekadenten, erschöpften Zeit! Wer wird uns einen Cesare Borgia wiedergeben, eines Papstes Sohn, der seinen Bruder mordete und mit seiner Schwester Handel trieb, das schönste Beispiel männlicher Energie, das die christlichen Jahrhunderte uns überliefert haben, oder einen Julius II., wie er seine Heere in den Kampf führt, das Schwert in der Faust und die Tiara auf
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klare Verurteilung des Protestantismus („der Geist der Negation“) und des rebellischen, verführerischen und demagogischen Tribunen Savonarola („er ist wie geschaffen für die Demokratie unserer traurigen Tage“).69 Genau in diesem Sinne wird Nietzsche Savonarola nach der Lektüre von Barbey d’Aurevilly unter die Fanatiker der Moral einreihen, wie wir gesehen haben (AC 54). Das Urteil Savonarolas über Florenz ähnelt demjenigen Luthers über Rom und Rousseaus Urteil über die Gesellschaft Voltaires (vgl. Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[176]). Die Entwirrung des Geflechts von Nietzsches Lektüren und Gedankenverarbeitungen zum Thema „Renaissance“ macht deutlich, wie intensiv die Ideenzirkulation zwischen Frankreich und Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts war. Gleichzeitig tritt vor diesem Hintergrund aber auch Nietzsches Spezifik klarer hervor. Das gleiche gilt für die Analyse einzelner Ausdrücke und Begrifflichkeiten, die in jenem Zeitraum weite Verbreitung fanden. Oft werden derlei Ausdrücke in unterschiedlicher Absicht und ganz verschiedenen Zusammenhängen benutzt, wie etwa im Fall von Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Renan der Dialogues. Fest steht, dass gewisse Begriffe verbreitet waren, angefangen bei dem Wort „Raubthier“, das keineswegs als Variante des Ausdrucks ‚blonde Bestie‘ auf die germanische Welt begrenzt werden kann. „Raubthier“ übersetzt Hippolyte Taines „bête de proie“. Das oben zitierte Fragment von 1884, in dem der Begriff fällt, steht in einem Heft, in dem Stellen aus Taine und Balzac notiert sind. Letzteren las Nietzsche im Übrigen in der Vermittlung durch Taine, der schrieb: Balzac „betrachtet den Menschen als eine Kraft“.70 Seine Helden Vautrin und Rastignac bezeichnete er als große Verbrecher, Raubtiere, „Ungeheuer im großen Stil“ und verglich sie mit Machiavell und Borgia: „Wir sehen, er übt über sich selbst Gerechtigkeit und die Brutalität ist ihm
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dem Kopf, einen Leo X., den die Schönheit eines Raffael nicht weniger entzückte als die der Madonna?“ (zit. in J. Canu, Barbey d’Aurevilly, S. 398). Barbey d’Aurevilly, Savonarola, in: Sensations d’histoire, S. 155 (Rezension zur französischen Übersetzung von P. Villari, Jérome Savonarole et son temps). H. Taine, Balzac, S. 64 (dt. Übers. S. 244).
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ein ehrenvolles und bequemes Bett, in dem er sich zurechtsetzt; ein Machiavelli und ein Borgia hätten es nicht besser sagen können“.71 Auch in Voyage aux Pyrénées pries Taine die gesunden „Raubtiere“ der Renaissance im Gegensatz zur Dekadenz der Modernen – nicht ohne Nostalgie für ihre Kraft („sie machten Geschichte und wir schreiben sie“).72 Der französische Autor verspürte eine ästhetische Lust an der Entfesselung und am Um-sich-Greifen einer barbarischen Energie ohne moralische Schranken: „Der Mensch glich einem Raubthier, und Niemand nimmt daran Anstoß, wenn ein Raubthier ein Schaf frißt“.73 Fast erübrigt es sich zu betonen, dass derlei Ausdrücke eine genaue Entsprechung in ähnlichen Äußerungen Nietzsches finden (namentlich in der Genealogie der Moral). Das Glück ist an das perfekte physiologische Gleichgewicht des gesunden Raubtiers geknüpft: „Man spürt in sich eine bisher ungekannte Harmonie; man trägt nicht mehr an der Last seiner Gedanken und seines Mechanismus, giebt sich ganz dem Gefühl, ganz dem animalischen Leben hin und ist vollkommen glücklich“.74 Die tierische Lebensfülle gehört zur südlichen Dimension des Daseins, das sich der „unzerstörbaren Heiterkeit“, des „Überflusses an Helle“ des südlichen Himmels im Gegensatz zum Himmel des Nordens rühmen kann: „Unser nördlicher Himmel hat einen mannigfaltigeren, tieferen Ausdruck, die metallenen Streiflichter seiner wechselnden Wolken sagen aufgeregten Gemüthern zu“.75 In der Symbolik, die beide Autoren teilten, ist das Raubtier Ausdruck der aussichtslosen Nostalgie des Menschen, der sich in einer im Verfall begriffenen Gesellschaft leben sieht. Bei Taine ist es die Trauer um Griechenland, wo der nackte Mensch und der nackte Gott die Kraft der Jugend verkörperten, im Gegensatz zur Moderne, die nicht zuletzt Alter und Ohnmacht bedeutet: „diese moderne Welt ist sehr traurig, weil sie sehr zivilisiert ist. Ein jeder strengt sich hier an; ein je71 72 73 74 75
Ebd., S. 68 (dt. Übers. S. 243 und 248). H. Taine, Voyage aux Pyrénées, S. 76 (dt. Übers. S. 75). Ebd., S. 53 (dt. Übers. S. 53). Ebd., S. 272 (dt. Übers. S. 282). Ebd., S. 259 (dt. Übers. S. 272).
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der quält sich ab und arbeitet mit Körper und Geist, und die Werke der Kunst, die uns beruhigen sollten, erregen uns, seit unsere Dichter das suchen, was interessiert, nicht das, was schön ist, und sich zu Künstlern der Leidenschaft, nicht des Glückes machen. Plato ist glücklicher; das Altertum ist die Jugend der Welt und folglich die unsere“.76 Ähnlich Nietzsches Empfindung angesichts von Zeiten der Fülle und Lebenskraft: Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletzlich und hundert Rücksichten gebend und nehmend, bilden uns in der That ein, diese zärtliche Menschlichkeit, die wir darstellen, diese e r r e i c h t e Einmüthigkeit in der Schonung, in der Hülfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen sei ein positiver Fortschritt, damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt jede Zeit, so m u s s sie denken. Gewiss ist, dass wir uns nicht in RenaissanceZustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln. […] Zweifeln wir andrerseits nicht daran, dass wir Modernen mit unsrer dick wattierten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stossen will, den Zeitgenossen Cesare Borgia’s eine Komödie zum Todtlachen abgeben würden. In der That, wir sind über die Maassen unfreiwillig spasshaft, mit unsren modernen „Tugenden“ … Die Abnahme der feindseligen und misstrauenweckenden Instinkte – und das wäre ja unser „Fortschritt“ – stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme der V i t a l i t ä t dar: es kostet hundert Mal mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 37)
Weder bei Nietzsche noch bei Taine beinhaltet diese Unglückseligkeit den Wunsch nach einer unmöglichen Rückkehr zu Formen vergangener Kulturen bzw. den Verzicht auf die Macht der Zivilisation. Es ist vielmehr notwendig, durch die Hölle der Großstadt zu gehen. Vor allem in der Genealogie der Moral hat Nietzsche die geheimen Mechanismen ausgelotet, die den Menschen durch die gewaltsame Abtrennung von seiner tierischen Vergangenheit zur „Zivilisation“ führen. Er hat die Widersprüche und Leiden betrachtet, die mit der Verinnerlichung der aggressiven Triebe einhergehen, welche keine natürliche Entladung mehr finden, und hat verzweifelt den Verlust der Unschuld dieser „der Wildniss, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem 76
H. Taine, Essais, S. 235 (dt. Übers. S. 80).
„È tutto festo“. Auf der Suche nach dem „monstre gai“
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Abenteuer glücklich angepassten Halbthiere“ konstatiert, während der Mensch nun als ein „an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende[s] Thier“ dasteht (GM II 16). Der Philosoph hat das ganze Unbehagen der gegenwärtigen Zivilisation gespürt, aber auch die in ihr geborgenen außerordentlichen Entwicklungsmöglichkeiten für das Individuum. Keine Nostalgie, kein Sich-Berufen auf das Nomadentum jenes fernen tierischen Glücks. Aufgrund dieser Themen sah Nietzsche in Taine von seinen ersten Lektüren bis zur letzten Zeit, als er Taine und Burckhardt als seine „einzigen Leser“ bezeichnete, einen geistesverwandten Autor. Mehr noch. An Rohde schrieb Nietzsche diesbezüglich: „Wir sind in der That gründlich aufeinander angewiesen, als drei gründliche Nihilisten: obschon ich selbst, wie Du vielleicht spürst, immer noch nicht daran verzweifle, den Ausweg und das Loch zu finden, durch das man in’s ‚Etwas‘ kommt“.77
6. „È tutto festo“. Auf der Suche nach dem „monstre gai“ Aufgrund des südlichen Glücks, das beide belegen, stellt Nietzsche Cesare Borgia im Antichrist neben „jenen anmuthigsten, übermüthigsten Spötter Petronius, von dem man sagen könnte, was Domenico Boccaccio über Cesare Borgia an den Herzog von Parma schrieb: ‚è t u t t o f e s t o ‘“ (AC 46). Petronius, der den Typus des „Buffo und Satyrs“ verkörpert, wird von Nietzsche auch in antideutschem Sinne herangezogen: ein Meister des presto, des „befreienden Hohn[s] eines Windes, der Alles gesund macht, indem er Alles l a u f e n macht“, und dessen „tapferes und lustiges tempo“ nicht ins Deutsche übersetzt werden kann (JGB 28). Petronius taucht ab Sommer-Herbst 1884 als Ausdruck einer übersprudelnden Gesundheit fern aller „Sümpfe der kranken, schlimmen Welt“ (JGB 28) in Nietzsches Texten auf: „hellster Himmel, trockene Luft, presto der Bewegung“ (Nachlass 1884, KGW 77
An Reinhart von Seydlitz, 26. Oktober 1886, KGB III/3, S. 271, und Erwin Rohde, 23. Mai 1887, KGB III/5, S. 80–81.
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VII/2, 26[427]), er ist „nicht lüstern: er ist zu lustig dazu“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 34[102]). Sein Satyricon ist ein eigentlich heidnisches Buch von „zukunftsgewisser Kraft“ gegen die „verstockte Luft“ des Neuen Testaments, ein „Symptom der Niedergangs-Cultur“.78 Nietzsche erwähnte Petronius 1884 im Zusammenhang mit Zitaten aus Mérimée.79 Schon Renan hatte Petronius in seinem Antechrist 78
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Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[143]. Vgl. zu Petronius auch ebd., 10[69], [93],[193]; Nachlass 1888, KGW VIII/3, 15[104] und 24[1], S. 436. Nietzsche spricht bereits in MA 50 und 453 von Prosper Mérimée. Zur selben Zeit, als er Stendhal zu lesen begann, nahm er sich vor, zusammen mit Beyles Briefen „Mérimée ganz“ zu lesen (Nachlass 1879, KGW IV/3, 41[73] und 43[1]): „Beyle’s Briefe (‚Stendhal‘) zu lesen: er hat auf Prosper Mérimée den stärksten Einfluß gehabt“. In einem Brief vom 1. März 1879 bat Nietzsche seine Freundin Marie Baumgartner, die Mutter seines Schülers Adolf, für ihn „die gelegentl!ichen" l i t t e r a r i s c h e n Ur t h e i l e Mérimées aus den lettres à une inconnue“ zu übersetzen (KGB II/5, S. 388). Vgl. Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[418] und folgende. Der Band P. Mérimée, Lettres à une inconnue, wurde am 5. Januar 1878 gekauft, ist aber nicht in Nietzsches Bibliothek erhalten, wo sich von Mérimée dagegen die Lettres à une autre inconnue und die Dernières nouvelles befinden. Nietzsche dankte Marie Baumgartner, wobei er unter anderem das folgende knappe Urteil über den französischen Schriftsteller gab: „M. ist ein Künstler ersten Ranges und als Mensch so gewillt, h e l l zu sein und hell zu sehen: er thut m i r wohl“ (6. April 1879, KGB II/5, S. 404). Es ist bekannt, dass Mérimées Novellen eine wichtige Rolle für Nietzsche spielten, weil sie ihm Korsika, die an klaren Tagen vom kosmopolitischen Nizza aus schemenhaft wahrgenommene Insel, gefühlsmäßig und kulturell nahe brachten. Sie vermittelten ihm ein Bild der wilden Vitalität Korsikas – die Banditen und ihre „Ehre“, die „Rache“ usw. – und des leidenschaftlichen Südens der Carmen, den er nur durch Bizets fatalistische Musik kannte. Für die Beziehung Nietzsches zu Bizet sind die Randglossen zur Partitur der Carmen bedeutsam (vgl. H. Daffner, Friedrich Nietzsches Randglossen, und E. Closson, Nietzsche et Bizet). In Mérimées Novellen fand Nietzsche auch den düsteren Borgia-Mythos in einer kalten, kraftlosen Stilübung neu gestaltet (Il viccolo di Madama Lucrezia). Seine Bewunderung richtete sich dagegen auf die Gestaltung des Don Juan in Mérimées Erzählung Les âmes du Purgatoire: „Wie matt, wie wenig überzeugend ist Mozarts Don Juan gegen Merimées Don Juan!“ (Nachlass 1880, KGW V/1, 4[126]) Zu Nietzsches Porträt des ‚Stendhal-Schülers‘ Merimée vgl. insbesondere Nachlass 1885, KGW VII/3, 38[5]. Taine zeichnete Mérimée in seiner Einleitung zu den Lettres à une inconnue als überlegenen, nüchternen Skeptiker: Er hatte diese „kalte Miene, die immer ‚Distanz‘ beob-
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mit Mérimée verglichen: „Dieser skeptische Mérimée mit seinem kühlen, gewählten Ton hat uns einen Roman von vollendeter Feinheit und Verve hinterlassen, den zugleich eine raffinierte Verderbtheit prägt, die ein perfekter Spiegel von Neros Zeiten ist“.80 Petronius verkörpere und resümiere die Züge „jenes Reichs der transzendenten Immoralität“. Renan setzt den christlichen Werten in dieser Schrift die Kunst im weitesten Sinne entgegen, auch als Pflege des Selbst bis hin zur Gekünsteltheit des Dandys, bei dem die Eleganz mehr wiegt als Wissenschaft und Moral. Signifikanterweise verbindet sich die extreme Verherrlichung von Kunst und Genuss in der Einleitung zu
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achtet und die von vornherein jede Vertraulichkeit ausschließt“; „die Gefühlserregung war bei ihm gezähmt, so dass sie ganz zu fehlen schien“ (H. Taine, Mérimée; dt. Übers. S. 219); er verfügte über eine reiche, vielfältige Bildung. Taine verglich Mérimée mit den italienischen Novellisten: „Fast alle seine Erzählungen sind Mordgeschichten, wie die von Brandello und den italienischen Novellisten, und außerdem packen sie durch die Kaltblütigkeit der Erzählung, durch die Sicherheit der Zeichnung, durch die kluge Verknüpfung der Einzelheiten. Und weiter, eine jede von ihnen ist in ihrer kleinen Gestalt ein Dokument der menschlichen Natur, ein vollkommenes und tiefsinniges Dokument, das ein Philosoph, ein Moralist alle Jahre wieder lesen kann, ohne es zu erschöpfen. Mehrere Erörterungen über den ursprünglichen und wilden Instinkt, gelehrte Abhandlungen wie die von Schopenhauer über die Metaphysik der Liebe und des Todes kommen gegen die 100 Seiten von ‚Carmen‘ nicht auf“ (H. Taine, Mérimée, S. 225; dt. Übers. S. 230). Für einen Vergleich mit Stendhal siehe auch die Rezension von Bérard-Varagnac zu G. d’Haussonville, Prosper Mérimée, Hugh Elliot, études biographiques et littéraires, in: Journal des Débats, 14. November 1888. Wagner, der die Lettres à une inconnue auf Malwida von Meysenbugs Vorschlag hin las, stand Mérimée kühl und ablehnend gegenüber (vgl. C. Wagner, Tagebücher, 26. Dezember 1873, Bd. 1, S. 770). Mit großem Vergnügen las er aber die Novelle Le faux Démetrius (vgl. ebd., 18. September 1880, Bd. 2, S. 602). Er tadelte, dass „in der Vorrede von Mérimée [zur französischen Übersetzung von Turgenievs Väter und Söhne] Schopenhauer als der Vater der nihilistischen Bewegung angegeben wird; R. meint: So dumm wie die Franzosen sei doch kein Volk, sie würden ihm immer widerwärtiger“ (Tagebücher, 23. Februar 1882, Bd. 2, S. 896). Von einer Stendhal-Lektüre findet sich in Cosima Wagners Tagebüchern keine Spur. Hervorzuheben ist schließlich, dass Malwida die Wagners mit Mérimée bekannt machte; wahrscheinlich gilt dasselbe für Nietzsche. E. Renan, Antechrist, OC IV, S. 1208.
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L’Antechrist mit dem Mythos des heidnischen Italien. Renan hält fest, dass seine Reise ins „Land der großen Erinnerungen, weise Mutter aller Renaissance“, in verschiedener Hinsicht mit den Themen des Bandes zusammenhängt. Nach einer rabbinischen Legende gab es in Rom während der langen Trauerzeit der Schönheit, die man Mittelalter nennt, eine an geheimem Ort aufbewahrte antike Statue, die so schön war, dass die Römer nachts kamen, um sie heimlich zu küssen. Die Frucht dieser profanen Umarmungen war, heißt es, der Antichrist. Dieser Sohn der Marmorstatue ist mit Sicherheit ein Sohn Italiens. Alle großen Auflehnungen des menschlichen Bewusstseins gegen die Exzesse des Christentums kamen zu anderer Zeit aus diesem Land und werden auch in Zukunft von dort ausgehen.81
Renans lustvoller Dilettantismus überlässt sich mit einer betont dekadenten Sensibilität dem ästhetischen Spiel der Formen. So wird Nero gezeichnet als fröhliches Monster, außergewöhnlich, ein „Hircocerf“, ein hybrides Wesen; er war „ein Byron, Opfer seiner Fantasie“, ein interessanter Schauspieler, der in der Rolle des Antichrist das „Weltenfest“ vollendet. Imstande, neue ästhetische Freuden zu erfinden, die zu extremen, abwegigen Lebensformen gerieten, sei es der „Bête“ gelungen, durch Kontrast und durch Verbrechen „die Ästhetik der Jünger Jesu“ aus der Taufe zu heben: „Die schüchterne Nacktheit der jungen Märtyrerin wurde zur Rivalin der selbstsicheren Nacktheit einer griechischen Venus“.82 Mark Aurel, ein Vertreter der absoluten Religion der rechten Vernunft, sei edel, aber tödlich langweilig, schroff und traurig. Wäre seine Philosophie, so Renan, „offener für die Geschichte und das Universum“ gewesen, dann hätte sie ein gewisses Übermaß an Strenge vermieden.83 Sicher verdankt man es nicht zuletzt Renans Porträt, dass der Neronismus keine bloße literarische Perversion, sondern ein wahrer ästhetischer Ausdruck der Dekadenz wurde. „Nero ist einer der Schutzherren unserer Zeit“, schrieb Paul Desjardins im „Journal des Débats“ vom 14. Oktober 1888 in einem Artikel über Amour du plaisir. Don 81 82 83
Ebd., S. 1122–1123. Ebd., S. 1232. E. Renan, Marc Aurèle, in: Conférences d’Angleterre, OC VII, S. 694.
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Juanisme – Néronisme. Petronius wurde zusammen mit Nero zu einem herausragenden Bezugspunkt in der Kultur der Dekadenz. Er zählte beispielsweise zu den Lieblingsautoren von Huysman, der in À rebours, das 1884 erschien – im selben Jahr, in dem Nietzsches Interesse für den lateinischen Autor erwachte – einen begeisterten Lobgesang auf ihn anstimmte: „Petronius war ein scharfsinniger Beobachter, ein feiner Analytiker, ein wundervoller Maler“, der die wimmelnde, halbtierische Lebenswelt des kleinen Volkes, „seiner Erlebnisse, seiner Bestialitäten und Hemmungslosigkeiten“ schilderte: ein „aus dem lebendigen Fleisch des römischen Lebens geschnittene[r] Roman“. „All das wird in einem Stil von seltener Frische, genauer Farbgebung erzählt, in einem Stil, der aus allen Dialekten schöpft, allen in Rom durcheinandergewürfelten Sprachen Ausdrücke entlehnt, alle Grenzen, alle Fesseln des sogenannten großen Jahrhunderts sprengt, indem er jedem sein Idiom zuweist […] Dieser realistische […] Roman, der […] auf keine Reform oder Satire aus ist und keinem moralischen Zweck dient“,84 wird von dem Protagonisten Des Esseintes zu den wenigen Erzählwerken seiner Zeit gerechnet, die ihm nicht missfallen; vor allem zählen dazu die Brüder Goncourt. Die huysmansche Bewertung von Petronius’ Stil ähnelt derjenigen, die Nietzsche noch im Oktober-November 1888 gibt (24[1]). In einem langen autobiografischen Fragment (einer Art Ur-Ecce homo) äußert er seine Dankbarkeit für die lateinische Literatur: insbesondere Sallust, Horaz und Petronius. Er grenzt sich in seinem Urteil grundsätzlich von allen ab, die Krankheit und Dekadenz im Satyricon erblickten. Stattdessen gibt er Petronius voll und ganz einer übermütigen, scherzhaften Lebensbejahung zurück. Dies prestissimo des Übermuths in Wort, Satz und Sprung der Gedanken, dies Raffinement in der Mischung von Vulgär- und „Bildungs“-Latein, diese unbändige gute Laune, die sich vor nichts fürchtet und über jede Art Animalität der antiken Welt mit Grazie hinwegspringt, diese souveräne Freiheit vor der „Moral“, vor den tugendhaften Armseligkeiten „schöner Seelen“ – ich wüßte kein Buch zu nennen, das am Entferntesten einen ähnlichen Eindruck auf mich gemacht hätte (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 24[1], S. 436).
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J.-K. Huysmans, Gegen den Strich, S. 76f.
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Der Süden und die Renaissance
Von derselben Einstellung Nietzsches zeugt die Tatsache, dass er Baudelaires Urteil über Petronius zurückwies, der von „schrecklichen Misstönen“ und „betrüblichen Späßen“ gesprochen hatte.85 Nietzsche kommentiert: „Unsinn: aber symptomatisch …“ (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[163]). Wie wir gesehen haben, ist der Ausdruck „è tutto festo“ (AC 46) bezeichnend für Cesare Borgia und Petronius. Er ist einem Brief von Gianandrea Boccaccio (19. März 1493) entlehnt, in der folgendes Porträt des mit siebzehn bereits zum Kardinal ernannten jungen Mannes gegeben wird: „Magni et eccellentis ingenii et preclare indolis; prae se fert speciem filii magni Principis, et super omnia claris et jocundus, e tutto festa: cum magna siquidem modestia est longe melioris et praestantioris aspectus, quam sit dux Candie germanus suus. Anchora lui è dotato di bone parte“. Wiedergegeben wird der Text in dem Buch von Ferdinand Gregorovius über Lucrezia Borgia,86 einer Pflichtlektüre für alle, die sich in jenen Jahren mit den Borgias befassten. Aber der Brief wird in französischer Übersetzung auch in Artikeln zu der ‚finsteren‘ Renaissance-Familie zitiert, die in jener Zeit in der „Revue des deux mondes“ erschienen.87 So lesen wir in dem Artikel von Charles Yriarte, L’épée de César Borgia: Der erste, der ihn für die Nachwelt beschrieb, war der ferrarische Gesandte in Rom, Gianandrea Boccaccio, Bischof von Modena. Am 1. März 1493 stattete er Cesare nach seiner Ankunft aus Pisa, beim Abgang von der Universität, einen Besuch ab. Der Sohn Alexanders war damals siebzehn Jahre alt und bereits Kardinal. „Vor ein paar Tagen“, schreibt der Gesandte seinem Herrn Ercole d’Este, „habe ich Cesare bei sich zu Hause in Trastevere besucht. Er wollte zur Jagd aufbrechen und trug ein ganz und gar weltliches Gewand; in Seide gekleidet, die Waffe an der Seite; kaum erinnerte ein kleines Rund auf dem Kopf
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Nietzsche las diese Urteile in Ch. Baudelaire, Œuvres posthumes, S. 62 (Brief an Jules Janin). Baudelaire kritisierte Jules Janin, den ebenso berühmten wie nichtssagenden und geschwätzigen Kritiker der „Débats“, der für Trimalchio Partei ergriffen hatte: dass das Raubtier glücklich sei („il est abject et immonde […] ridicule […] mais il est heureux“), sei eine hinreichende „Entschuldigung“, um es zu akzeptieren. F. Gregorovius, Lucrezia Borgia, S. 54. Vgl. H. Blaze De Bury, Les Borgia.
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an den einfachen Mönch. Wir ritten zusammen aus … Er ist eine sehr geistreiche, herausragende Person mit einem vortrefflichen Charakter; seine Manieren sind die des Sohns eines Potentaten; er ist von ausnehmend heiterer, fröhlicher Wesensart, alles an ihm atmet Freude (è tutto festa)“.88
Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Artikel um Nietzsches Quelle. Charles Yriarte nannte Cesare Borgia und den zynischen Galiani, den Nietzsche sehr schätzte („jener tiefste und nachdenklichste Hanswurst“),89 in einem Atemzug. Der Abbé aus Neapel (der ‚kleine Machiavell‘) sei nämlich im Besitz des Schwertes des Herzogs von Valentinois mit den Emblemen, die auf die künftige Größe anspielten, gewesen, wie aus seinen Briefen an Madame d’Épinay hervorgehe. Nietzsche kannte diese Briefe sehr genau. So finden sich Lesespuren am Rand des Briefes vom 14. August 1773, worin der Abbé schreibt, er sei „stark beschäftigt mit der Aufsuchung von Nachrichten über das Leben des Herzogs von Valentinois, Cesare Borgia, und zwar aus einem sehr seltsamen Anlass. Ich möchte eine Broschüre über ihn schreiben, um sie dem Papst zu widmen“.90 In einem anderen Brief erläutert Galiani die Motive für sein Interesse. Da er „eine große Kuriosität, nämlich das Schwert […] des Cesare Borgia“ besitze, wolle er
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Revue des deux mondes, 15. September 1885, S. 363. Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[32]. Vgl. auch den Brief an Gast vom 24. Nov. 1887, in dem Nietzsche den mehrfach von ihm aufgegriffenen Satz Galianis anführt: „un monstre gai vaut mieux qu’un sentimental ennuyeux“. Vgl. Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[107]; Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[20]. Ein Satz von Galiani aus dem Brief an Madame d’Épinay vom 24. November 1770 war anfänglich (im Oktober 1888) als Motto für Ecce homo vorgesehen gewesen. „Planer au dessus et avoir des griffes, voilà le lot des grands génies“ („Hoch oben schweben und Krallen haben, das ist das Los der großen Genies“; Galiani, Lettres, dt. Übers. S. 137). Das vollständige Zitat steht in Fragment 11[13] (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2): „Les philosophes ne sont pas faits pour s’aimer. Les aigles ne volent point en compagnie. Il faut laisser cela aux perdrix, aux étourneaux … Planer audessus et avoir des griffes, voilà le lot des grands génies“. („Die Philosophen sind nicht dazu da, einander zu lieben. Die Adler fliegen nicht in Gesellschaft; das soll man den Rebhühnern und Staren überlassen. […] Hoch oben schweben und Krallen haben, das ist das Los der großen Genies“; dt. Übers. S. 137). Galiani (Abbé), Lettres de l’Abbé Galiani, Bd. II, S. 80 (dt. Übers. S. 306).
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Der Süden und die Renaissance
„damit dem Papst ein wertvolles Geschenk machen“ und der Gabe eine gelehrte Abhandlung beifügen.91 Charles Yriarte gab in seinem Artikel zahlreiche bewundernde Urteile über den Condottiere wieder, vor allem die von Gregorovius, der seine ‚unübertreffliche‘ Energie und Entschlossenheit rühmte: „Aut Caesar aut nihil“. Schon 1877 war in der „Revue des deux mondes“ ein Artikel von Henri Blaze de Bury über Les Borgia erschienen, in dem, ausgehend von Gregorovius, der die Renaissance als „ein Bacchanal der Zivilisation“ gepriesen hatte,92 und ausgehend von dessen Schriften über Lucrezia Borgia und die Histoire de la ville de Rome, eine Geschichte der Familie Borgia gezeichnet wird. Auch hier traten die historischen Mitteilungen hinter der rhetorischen Begeisterung für das Rom der Renaissance zurück: „alles war groß, von ausufernden, großartigen Proportionen! Hier hieß die Kunst Michelangelo, das Verbrechen Borgia!“ Es war der Weg der Kraft des ‚Übermenschlichen‘: Zeuge Michelangelo. Es war die Rückkehr zum Reich Neros. Nicht zufällig erschien Alexander VI. als der neue Antichrist: „Sein Leben war eine fortwährende Parodie aufs Evangelium“.93
7. „Cesare Borgia als Papst“ und seine ‚virtù‘. Goethe und der Renaissancemensch Verschiedene französische Beiträge über die Borgias künden bis in die Wortwahl hinein vom Einfluss Taines. In der Histoire de la Littérature anglaise hatte dieser im ästhetischen Geschmack der Dekadenz die Sachsen, Gestalten voll ungezügelter Kraft und unschuldiger Gewalt, noch vor den italienischen Tyrannen als Raubtiere beschrieben: „halbnackte Wilde, eine Art Raubtiere, Fischer und Jäger, besonders Menschenjäger“.94 In der begeisterten Schilderung der Stärke und 91 92 93 94
Ebd., S. 93, Brief vom 2. Oktober 1773 (dt. Übers. S. 316). Revue des deux mondes, 15. März 1877, S. 264. Ebd., S. 279. H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. I, S. 38–39. An der Stelle finden sich Lesespuren Nietzsches.
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Kraft, die sich rasch zu physischer Gewalt auswächst – so in den Porträts der edlen und freien Raubtiere wie schließlich im mörderischen Wahn der Jakobiner (in den Origines) – zeigt sich Taines dekadenter Geschmack. Denn derlei Beschreibungen stehen nicht im Dienst des Gedankenzusammenhangs. Die Vision führt ein Eigenleben.95 Voyage en Italie und Philosophie de l’art sind die Texte, in denen Nietzsche nicht nur das Bild der Renaissance als Ganzer vorfand, das seinem eigenen am nächsten kam, sondern auch ein treffendes Porträt des Herzogs von Valentinois, von der Art der „loups intelligents“. Über dieses herrliche Raubtier hatte Taine geschrieben: „Er war ein Mensch von Geschmack, ein großer Staatsmann, ein Liebhaber von Festen und geistvollen Gesprächen; seine schlanke Gestalt war in ein Wams aus schwarzer Seide geschnürt, seine Hände waren vollkommen, und seine Augen hatten den unbewegten Blick eines großen Herrn“, und: „Die Hände Cesare Borgias, dieses großen Mörders und großen Staatsmannes, waren ebenso kraftvoll, wie sein Verstand und sein Wille“.96 Dieses bewundernde Porträt kehrt bei den hier untersuchten Autoren mehrfach wieder. Zu ergänzen ist ihre Reihe durch Arthur de Gobineau mit seinem Werk La Renaissance (1877),97 dem aufgrund 95
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Zur Illustration kann auch die Stelle über die Kreuzritter dienen, die Nietzsche wiedergibt: „die Ritter in der Zeit der Kreuzzüge – enfants robustes. Im Tödten und Heulen ein Raubthier. Ist die Wuth vorüber, dann kommen sie auf Thränen zurück und werfen sich munter an den Hals, zärtlich“ (Nachlass 1886–1887, KGW VIII/1, 7[7], S. 297). Vgl. Taine: „Nach Beendigung des Blutbades, mit dem sie Jerusalem erfüllt hatten, gingen die Kreuzfahrer barfuß, weinend und singend zum heiligen Grab. Später, als ein Theil der Barone den Kreuzzug nach Constantinopel aufgeben wollte, gingen die anderen ihnen entgegen und flehten sie kniefällig an zu bleiben, umarmten einander und brachen in heftiges Schluchzen aus. Es waren kräftige Kinder – damit ist Alles gesagt; sie tödteten und heulten, wie Raubthiere; wenn die Wuth sich gelegt hatte, kehrten sie zu den Thränen und den Zärtlichkeiten eines Kindes zurück, das sich seinem Bruder an den Hals wirft oder zu seiner ersten Communion geht“ (Taine, Voyage aux Pyrenées, S. 142–143; dt. Übers. S. 146). H. Taine, Philosophie de l’art en Italie, S. 96 und S. 135 (dt. Übers. S. 142 und 163). Zur Rezeption des Autors in Frankreich und Deutschland siehe „Notice“, in: A. de Gobineau, La Renaissance, S. 1288ff.
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seiner Nähe zu Bayreuth ein herausragender Stellenwert zukommt. La Renaissance, ein zwischen 1492 und 1560 in Italien spielendes Lesedrama, stellt in den fünf Teilen, in die es sich untergliedert, Savonarola, Cesare Borgia, Julius II., Leo X. und Michelangelo dar. Im Grunde war auch Gobineau dem verbreiteten Mythos Italiens und des Südens verpflichtet und verdankte die ursprünglichen Anregungen zu seinem Werk Stendhal.98 Das Buch rief bei Richard und Cosima Wagner, die im Dezember 1878 in Rom die „angenehme Bekanntschaft“ des Grafen gemacht hatten,99 Begeisterung hervor. Im Oktober 1880 begab sich Gobineau auf Besuch nach Bayreuth, am 13. November begann der Musiker („mit vielem Interesse“) mit der Lektüre von La Renaissance, die er an den folgenden Tagen „mit immer gesteigertem Interesse“ fortsetzte.100 Wagner beendete die Lektüre am 21. November. In den folgenden Jahren bis zu Gobineaus Tod am 13. Oktober 1882 in Turin wurden die Beziehungen zwischen beiden noch enger. Wagner sah in La Renaissance eine Bestätigung seiner ausgemachten Voreingenommenheit gegenüber der verderbten, skrupellosen Welt amoralischer Bestien, als welche die Renaissancezeit sich ihm präsentierte. Er erblickte darin die Wurzeln der Gewalt der Zivilisation. Wie er oft (wegen seines schlechten Einflusses auf Nietzsche) gegen Burckhardt mit seinem „hochnäsigen, kalt absprechenden Ton“ gegeifert hatte, wetterte er schließlich gegen den Historiker Hillebrand: „Alle diese Renaissance-Menschen sind Juden-Freunde“.101 Insbesondere bewegte ihn jedoch die Gestalt Michelangelos, an dem er große Ähnlichkeit mit sich selbst erkannte: eine „übermäßige Heftigkeit seines Temperaments bei der großen Energie“. Wie der Renaissancekünstler kämpfe er mit der idealen Kraft der Kunst gegen eine korrupte Gesellschaft an: „Ich bin der Ple-
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Vgl. A. de Gobineau, Œuvres de M. Stendhal, in: Le Commerce, 14. Januar 1845, dann in ders., Études critiques, S. 151–160; vgl. außerdem P.-L. Rey, Gobineau lecteur de Stendhal, S. 85ff., sowie R. Guise, Aux sources de l’italianisme de Gobineau. C. Wagner, Tagebücher, 29. November-3. Dezember 1876, Bd. 1, S. 1017. Ebd., 19. November 1880, Bd. 2, S. 623. Ebd., 28. August 1880, Bd. 2, S. 589, und 16. Juli 1881, Bd. 2, S. 763.
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nipotentarius des Unterganges“, meinte er,102 und auch die Gestalten von Michelangelo seien „trauernde Gestalten über die Décadence“.103 Michelangelo sei die große, seine Zeit überragende Gestalt; mit aller Kraft habe er sich dieser Zeit widersetzt, ohne dem Niedergang Einhalt gebieten zu können, und dies sei auch sein eigenes Los. Cosima erwähnt, dass Wagner beim Eintritt in die Sixtinische Kapelle ausgerufen hatte: „Das ist wie in meinem Theater, hier merkt man, daß nicht gescherzt wird“.104 Wagner erinnert sich nicht daran. Er behauptet vielmehr, das Werk sei ihm von Anfang an „greulich widerwärtig“ erschienen, sieht darin „das Unsinnige der Aufgabe“, den konsequenten Ausdruck verheerender historischer Bedingungen. Noch wenige Tage vor seinem Tod, als Wagner Michelangelos Sonette las und ihn in dieser Art sympathetischer Identifikation nach wie vor schätzte, wiederholte er ein ähnliches Urteil: „ein Unding“. Während er von Michelangelo sprach, erinnerte er daran, dass Nietzsche in Wagner in Bayreuth die Unzeitgemäßheit, das Hinausgehen über die eigene Zeit als Wertmerkmal seiner Kunst genannt hatte; dagegen entnehme Nietzsche in seinem schulmeisterlichen Philistertum jetzt „aus dem Umstand, daß mein Unternehmen nicht zeitgemäß sei, die Kritik desselben!“105 Gerade die Unzeitgemäßheit schätzte Wagner an Michelangelo, auch wenn seine Kunst, wie im Fall der Sixtinischen Kapelle, Zugeständnisse an die weltliche Macht der Zeit gemacht hatte.106 Unverkennbar spricht ein solcher heroischer ‚Idealis102 103 104 105 106
Ebd., 21. November 1880, Bd. 2, S. 623–624. Ebd., 4. Februar 1881, Bd. 2, S. 682. Ebd., 21. November 1876, Bd. 1, S. 1015. Ebd., 22. März 1879, Bd. 2, S. 319–320. In ganz anderem Sinn deutete Nietzsche den Heroismus Michelangelos, nämlich im Sinn der Schaffung „neuer Werte“: „Michel Angelo aber sah und empfand das Problem des Gesetzgebers von neuen Werthen: ebenso das Problem des Siegreich-Vollendeten, der erst nöthig hatte, auch ‚den Helden in sich‘ zu überwinden; den zuhöchst gehobenen Menschen, der auch über sein Mitleiden erhaben ward und erbarmungslos das ihm Unzugehörige zerschmettert und vernichtet, – glänzend und in ungetrübter Göttlichkeit. Michel Angelo war, wie billig, nur in Augenblicken so hoch und so außerhalb seiner Zeit und des christlichen Europas: zumeist verhielt er sich condescendent gegen das Ewig-Weibliche am Christenthum; ja es scheint, daß er zuletzt gerade vor die-
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mus‘ aus zwei Briefen Cosimas an Gobineau, die stark vom Urteil Wagners beeinflusst sind. In ihnen wird die Schlussszene herausgestellt, in der Gobineau mit einem unglaublichen, gewollten Anachronismus einen Dialog zwischen Michelangelo und Vittoria Colonna gestaltet – die Szene spielt 1560 in Rom, während die Edeldame 1537 gestorben war. Der ehrwürdige Alte ist sich seiner Größe bewusst: sem zerbrach und das Ideal seiner höchsten Stunden a u f g a b . Es war nämlich ein Ideal, dem nur der Mensch der stärksten und höchsten Lebens-Fülle gewachsen sein kann, nicht aber ein altgewordener Mann! Im Grunde hätte er ja das Christenthum von seinem Ideale aus vernichten müssen! Aber dazu war er nicht Denker und Philosoph genug“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 34[149]). Die ersten Anregungen für sein Urteil über Michelangelo empfing Nietzsche durch Stendhal. Vgl. Nachlass 1880, KGW V/1, 7[11]: „Michel Angelo n a h m seinem Gotte die Güte und Gerechtigkeit und machte einen Gott des Schreckens und der Rache daraus – er machte ihn l o g i s c h “ mit Stendhal, Histoire de la peinture en Italie, Bd. II, Kap. CLIV, S. 334–335 (dt. Übers. Kap. 150, S. 313–314): „Man sieht, es war damals völlig unmöglich, die Schönheit der Götter oder das antike Schönheitsideal wiederzufinden oder zu erkennen, wo alle Welt unter der Herrschaft eines so finstren Vorurteils stand, wie es die Vorstellung von einem hervorragend böswilligen Gotte war. Eine Religion, die der Gottheit Allwissenheit, also auch Vorauswissen gab und dabei sagte: Multi sunt vocati, pauci vero electi, machte es Michelangelo unmöglich, ein Phidias zu werden. Zwar schuf auch sie ihren Gott nach dem Bilde des Menschen, aber sie idealisierte ihn im umgekehrten Sinne: Sie nahm ihm die Güte, die Gerechtigkeit und die andren liebenswerten Leidenschaften und gab ihm dafür nur die Rachsucht und die düsterste Grausamkeit. Wie hätte sich der Jupiter Mansuetus oder der Apollo von Belvedere auf dem Jüngsten Gericht ausgenommen? Zweifellos albern. Der Freund Savonarolas sah nichts Gütiges an dem furchtbaren Weltenrichter, der den Menschen wegen seiner kurzen irdischen Verirrungen in die ewige Pein hinabstößt. Der Grundzug jedes großen Genies ist stets eine gute Logik. Dies war Michelangelos einziger Fehler. Gleich jenen bisweilen vor Gericht erscheinenden Unseligen, die kleine Kinder ermorden, um sie zu Engeln zu machen, dachte er logisch nach abscheulichen Grundsätzen“. Vgl. auch Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[163]: „Ansätze zur Ehrlichkeit z.B. in der Renaissance: jedes Mal zum Besten der Künste. Michel Angelo’s Conception Gottes als ‚Tyrannen der Welt‘ war ehrlich“. Die Gestalt Michelangelos beherrscht Taines Seiten zur italienischen Kunst im Sinn der hervorbrechenden Energie und der Verherrlichung des Körpers. Zur Verbreitung des Mythos siehe außerdem das Gedicht Michel-Ange von P. Bourget (Poesies 1872–1876, S. 70).
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„Wir lassen große Dinge hinter uns und große Beispiele … Die Erde ist jetzt reicher, als sie vor unserer Ankunft war … Was verschwindet, wird nicht ganz verschwinden …“.107 Seine heitere Zuversicht, so Cosima, stehe im Kontrast zur „Niedergeschlagenheit und tiefen Entmutigung von Machiavell“ und zeige, „wozu die Politik führt und wozu die Kunst führt; in dem Dialog zwischen den beiden berühmten Florentinern steckt die ganze bittere Melancholie des Wirklichen und der ganze Friede des Wahren“. Die Wagners machten in dem Drama die Werte aus, die in Amadis die Devise von Gobineaus Held sind, „l’honneur, l’amour et la liberté“, und das Ideal, das bis zum Märtyrium reicht. Bezogen auf Savonarola ist die Rede von „der durch das Märtyrerblut besiegelten Überzeugung“. Das Urteil über eine Epoche, die „eine ihrer schönsten Hervorbringungen, G. Bruno, im Kerker schmachten sah, den er nur für den Scheiterhaufen verließ“,108 ist frei von jedem Zweifel: Heinrich von Stein, der Wagners Begeisterung in seiner Rezension von Gobineaus Lesedrama in den „Bayreuther Blättern“ teilte, spricht im Hinblick auf die von einem ästhetisierenden, lebensfernen Publikum bedingte künstlerische Schöpfung von einer „Art von Raubthierfeigheit und Räuberlaune“.109 Was Nietzsche anbelangt, steht durchaus nicht fest, ob er Gobineau gelesen hat. Zwar haben wir das Zeugnis von Elisabeth FörsterNietzsche, die mit absoluter Sicherheit behauptete, ihr Bruder habe zur Zeit von Menschliches, Allzumenschliches von den zeitgenössischen Franzosen nur Merimée und Gobineau gekannt. „Für den letzteren hatte er eine ganz besondere Vorliebe und beklagte es, daß das Schick107 108
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Gobineau, Die Renaissance, S. 396. Brief von Cosima Wagner an Gobineau vom 21. Dezember 1880, in: R. und C. Wagner, A. Gobineau, Correspondance (1880/1882), S. 33–34. H. von Stein [Rez.], A. de Gobineau, La Renaissance, S. 18. In Frankreich waren die äußerst kritische Rezension des Historikers Émile Gebhart (La Fantasie et l’Histoire. M. le Comte de Gobineau, in: Revue politique et littéraire, 9. März 1878) und die sehr wohlwollende von Barbey d’Aurevilly (in: Le Constitutionnel, 16. September 1878) erschienen: Gobineau besitze die „historische Divinationsgabe“, besser gesagt: „die Fähigkeit des Dramendichters, die Fähigkeit, in Haut, Hirn und Eingeweide einer historischen Persönlichkeit einzudringen“. Barbey d’Aurevilly wies auch auf Gobineaus Hochachtung für Cesare Borgia hin. Vgl. J. Barbey d’Aurevilly, Les historiens, S. 78–80.
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sal ein persönliches Kennenlernen, was auch Gobineau lebhaft wünschte, verhinderte“.110 Doch als es darum ging, den Zeitraum anzugeben, in dem ihr Bruder den Essai sur l’inégalité des races humaines und La Renaissance von Gobineau angeblich las, wurde Elisabeth schwankend. Ihrer ersten Vermutung zufolge hätte Nietzsche Gobineau gar zu einem Zeitpunkt gelesen (1875–1876), als das historische Drama noch gar nicht veröffentlicht war (es erschien 1877). Außerdem handelt es sich um einen Zeitraum, in dem Richard Wagner noch keine Beziehung zu dem fast gänzlich unbekannten Gobineau unterhielt und Nietzsches Französischkenntnisse Anfängerniveau hatten. Der Titel des Werkes erscheint allerdings in dem von Rudolf Steiner verfassten handschriftlichen Katalog der Nietzsche-Bibliothek, in dem der Name Gobineau durchgestrichen ist (EFN – Archiv, Nr. 2443, S. 178). Aber nur in dem Brief an Gast vom 10. Dezember 1888 nennt Nietzsche Gobineau ausdrücklich beim Namen: „die Erinnerung an Graf Gobineau und überhaupt der Accent auf das Französische ist ein Meistergriff“ (KGB III/5, S. 516). Nietzsche lobt hier Gasts Besprechung von Der Fall Wagner, in der die „Vo r n e h m h e i t “ Nietzsches mit der des Grafen von Gobineau verglichen wird, „der guten Geschmack genug hatte, sich vom Parsifal wegzuwenden“. Sowohl der junge Nietzsche als auch Gobineau hätten sich über Wagner und seine „Helden“ getäuscht.111 Sicher haben die frühen Interpreten 110
111
Elisabeth Förster-Nietzsche, „Einleitung“ zu Henri Lichtenberger, Die Philosophie Friedrich Nietzsches, 1899, zit. nach Le Rider, Nietzsche und Frankreich, S. 367. P. Gast, in „Kunstwart“, II, 1888, S. 52–55 (jetzt in KGB III/7, zweiter Teilband, Nachbericht zur dritten Abteilung, Anhang, S. 1075). Es wurde verschiedentlich herausgestellt, dass Gobineau Skrupel hatte, klar und deutlich über das Christentum zu sprechen, sich aber weitaus offener über den Buddhismus geäußert habe, in dem er den Ausdruck einer Sklavenmoral, eine anarchische, tödliche Gärung für die Hindu-Kultur sah. Aber auch dem Christentum hatte Gobineau vorzuwerfen, „daß es die Schwachen und die Niedrigen den Mächtigen vorziehe“ (A. de Gobineau, Versuch über die Ungleichheit, Bd. I, S. 88). Dieser Punkt der grundsätzlichen Feindseligkeit von Gobineaus Theorien gegenüber dem Christentum wurde ihm von Tocqueville sehr nachdrücklich zum Vorwurf gemacht (vgl. die Briefe vom 30. Juli 1856 und 24. Januar 1857). „Das Christentum wollte selbstverständlich aus allen
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beide Namen des Öfteren nebeneinander gestellt,112 doch wird man
112
Menschen Brüder und Gleiche machen. Ihre Lehre macht bestenfalls Cousins aus ihnen, deren gemeinsamer Vater allein im Himmel wohnt; hier unten gibt es nur Sieger und Besiegte, Herren und Sklaven von Geburt aus. So wundert es nicht, dass Ihre Lehren von den Neger- und Sklavenhaltern zur Verteidigung der durch den radikalen Rassenunterschied begründeten ewigen Sklaverei zitiert, gebilligt und kommentiert werden“ (Correspondance d’Alexis de Tocqueville, S. 267 und S. 277). Die antichristliche Einstellung Gobineaus rief auch beim späten Wagner Misstrauen wach. Er fand Anlass zu scharfem Widerspruch, wie Cosimas Tagebücher belegen. So setzte Wagner in Religion und Kunst, bei allem trüben Antisemitismus, ganz sicher nicht auf Gobineaus Theorien: weder für das Thema der Entartung noch für das Thema der Erlösung, deren metaphysisch-religiöses Fundament im Blut Christi gesehen wird. „Eines ist aber sicher, die Racen haben ausgespielt, nun kann nur noch, wie ich es gewagt habe auszudrücken, das Blut Christi wirken“ (C. Wagner, Tagebücher, 17. Dezember 1881, Bd. 2, S. 850). „Daß die Menschheit untergeht, ist gar keine Unmöglichkeit; nur wenn man außer Zeit und Raum die Dinge betrachtet, weiß man, daß es auf etwas andres ankommt als auf Racenstärke, gedenkt man des Evangeliums“ (ebd., 14. Februar 1881, Bd. 2, S. 691). „Der Graf geht in seinen Gedanken so weit, dem Evangelium einen Vorwurf daraus zu machen, für die Armen eingetreten zu sein“ (ebd., 18. Mai 1881, Bd. 2, S. 739). „Bei Tisch explodiert er förmlich zu Gunsten des Christlichen gegenüber dem Racengedanken“ (ebd., 3. Juni 1881, Bd. 2, S. 744). Als erster hat wohl A. Riehl, Friedrich Nietzsche: der Künstler und der Denker, den Vergleich zwischen Nietzsche und Gobineau gezogen: „Gobineau wollte aus den unebenbürtigen Vermischungen mit fremden Rassen den Verfall der Zivilisationen erklären; Nietzsche, der Gobineau kannte, leitet aus ihnen den Verfall des Menschen ab. Jedesmal, behauptet er, entstehe aus den Kreuzungen lang abgetrennter Rassen Nervenschwäche und Kränklichkeit“ (S. 114). Weiter zu erwähnen ist E. Seillière, Le comte de Gobineau, der meinte, Nietzsche sei ein „heimlicher Schüler“ von Gobineau. Die „Gobineau-Vereinigung“ hatte dagegen keinerlei Zweifel: Gobineau und Nietzsche waren Antipoden (vgl. L. Schemann, Gobineau und die deutsche Kultur, S. 135ff.). Für eine Gegenüberstellung Nietzsche-Gobineau siehe Ch. Andler, Nietzsche et ses dernières études; A. Schaeffner, Introduction, in: F. Nietzsche, Lettres à Peter Gast, S. 208ff. Einem Zeugnis der Schwester zufolge befanden sich in Nietzsches Bibliothek (in Weimar) Werke Gobineaus, die dann verloren gegangen sind. Erwähnt sei auch, dass dem Band von P. Rée, Psychologische Beobachtungen, auf der Titelseite auf Französisch das Motto vorangestellt ist: „L’homme est l’animal méchant par excellence“ („Der Mensch ist das boshafte Tier par excellence“). Es handelt sich um einen Satz von Arthur de
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die Beziehung Nietzsche-Gobineau nicht zuletzt unter Berücksichtigung der von Nietzsche so geschätzten ‚starken‘ französischen Linie Barbey d’Aurevilly, Merimée, Bourget, Taine etc. näher erforschen müssen: Wie viel steckt von Gobineau in diesen Autoren? Auf jeden Fall ist Nietzsches Position unvereinbar mit der Geschichtsphilosophie Gobineaus, die die Komplexität der gegebenen Faktoren auf einen rassistischen Determinismus reduziert. In Gobineaus Sicht ist die schicksalshafte Richtung der Geschichte in fernen, nicht überprüfbaren Anfängen bereits festgelegt. So ist die Geschichte einheitlich, und so können so viele Regelwidrigkeiten, die sie aufweist, ihre Erklärung finden und wieder unter gemeinsame Regeln gebracht werden, wenn Auge und Gedanke davon abstehen, sich mit unbedachter Hartnäckigkeit auf einzelne Punkte zu concentrieren, und sich dazu verstehen, das Ganze zu überschauen, die verwandten Thatsachen daraus zusammen zu fassen, sie einander gegenüber zu stellen, sie zu vergleichen und aus den besser untersuchten und damit besser begriffenen Ursachen ihrer Grundeinheit einen strengen Schluß zu ziehen.113
Im Namen eines radikalen historischen Sinns kritisierte Nietzsche in der Genealogie der Moral jede Reduktion der Vielheit auf einen einzigen gegebenen Faktor, sei es der Geist, sei es die Rasse, wobei ihm nicht zuletzt die trübe Geschichtsphilosophie von Wagners Religion und Kunst vor Augen stand. Es gibt absolut nicht die eine Geschichte. Wie wir gesehen haben, wandte er sich außerdem gegen die nihilistische Vision einer allgemeinen Entropie, die die Menschen im Kampf gegen das Ende der Geschichte erwarte, das auf unterschiedliche Weise in den Philosophien der Zeit und auch von Gobineau verkündet wurde. So erscheint der französische Graf einerseits als verzweifelter Aristokrat voller Ressentiment gegen die Moderne. Er trat die Flucht des
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Gobineau (Versuch über die Ungleichheit, Bd. IV, S. 67), den auch Arthur Schopenhauer in Parerga II, Kap. VIII, aufnahm. Der Satz zog auch Wagners Aufmerksamkeit an: „Dann versammeln wir uns um ihn; er liest aus Gobineau aus dem Kapitel, was er zitieren will (im 4ten Band, worin l’homme est l’animal méchant par excellence vorkommt)“. C. Wagner, Tagebücher, 16. August 1881, Bd. 2, S. 781. A. de Gobineau, Versuch über die Ungleichheit, Bd. IV, S. 292.
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Romantikers und Visionärs in eine unzugängliche Vergangenheit an, hin zu den reinen, glücklichen Ursprüngen der Menschheit. Andererseits diktierte ihm sein Pessimismus hinsichtlich der demokratischen Zeit die Gedanken über das Ende der Geschichte, das er an das Los der arischen Rasse knüpfte. Energie, Kraft und Vitalität sind die Maßstäbe, die Gobineau zur Bewertung der Zivilisationen heranzog. Da das Dasein einer Gesellschaft in erster Linie eine Wirkung ist, die hervorzurufen oder zu hindern nicht in der Macht des Menschen liegt, so bringt es auch für ihn keinerlei Folgen mit sich, für die er verantwortlich wäre. Es verträgt also keine moralische Betrachtung. Eine Gesellschaft ist an sich selbst weder tugendhaft noch lasterhaft; sie ist weder weise noch thöricht; sie ist. Nicht aus dem Einflusse eines Menschen, nicht aus dem bestimmenden Eingreifen eines Volkes entwickelt sich das Ereigniß, das sie begründet.114
Die Gesellschaften sterben nicht, weil sie „schuldig sind“, sondern aus einem notwendigen geschichtlichen Schicksal der Rasse. Gobineau richtete sich mit anderen Worten gegen den Moralismus, der in der Dekadenz eine Art Strafe für die Sittenverderbnis sieht. Weder Aberglaube noch Atheismus oder Immoralität bringen die Gesellschaft um. „Ich sage den Menschen nicht: ihr seid entschuldbar oder verdammenswürdig, ich sage ihnen: ihr werdet sterben“.115 In der Götzen-Dämmerung forderte Nietzsche eine „w i e d e r h e r g e s t e l l t e Vernunft“, die die herrschenden Perspektiven umkehrt: Luxus und Verderbtheit sind nicht, wie Kirche und Moral meinen, Ursache, sondern Folge der Dekadenz, einer physiologischen Erschöpfung, aus der sich „Laster und Luxus“ ergeben, „das heisst das Bedürfniss nach immer stärkeren und häufigeren Reizen, wie sie jede erschöpfte Natur kennt“ (GD, Die vier großen Irrthümer 2). Gobineau sah seine Aufgabe darin, den Erbfehler, der die verschiedenen Kulturen zu Niedergang und Tod bestimmt, ‚wissenschaftlich‘ 114
115
Ebd., S. 301. Beifällig hob Mérimée diesen Aspekt hervor, mit dem Gobineau sich gegen die allgemeine Heuchelei wandte. Gobineau habe den Mut besessen, zu sagen, dass „weder Aberglaube noch Atheismus oder Amoralität die Gesellschaften töten“ (Lettres de Mérimée a Gobineau, in: Revue des deux mondes, 15. Oktober und 1. November 1902, Brief vom 20. November 1855). Correspondance d’Alexis de Tocqueville et d’Arthur de Gobineau, S. 259 (20. März 1856).
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in der Geschichte zu ermitteln. Die ursprüngliche Schuld hängt mit dem aktiven Zivilisierungsprinzip, der fortwährenden Mischung der Rassen, der „Rassenverquickung“,116 zusammen. Die düstere Verkündigung vom Tode des Menschen ist auf verhängnisvolle Weise an den Expansions- und Eroberungsdrang der höheren Rasse geknüpft, denn auf die Eroberung des Ariers folgt unweigerlich die Mischung und folglich der allmähliche Verlust der ursprünglichen Reinheit, der fortschreitende, notwendige Verfall. Das Grauen vor der Demokratie, das Gobineaus mythische, romantische Flucht bedingte, war nichts anderes als die ohnmächtige Ablehnung der wachsenden Mittelmäßigkeit auf dem Weg zum letzten Menschen: „die Menschenheerden werden alsdann, von düsterer Schlafsucht übermannt, empfindungslos in ihrer Nichtigkeit dahinleben, wie die wiederkäuenden Büffel in den stagnirenden Pfützen der pontinischen Sümpfe“.117 Die Vermischung der Triebe und die Widersprüchlichkeit, die bei Gobineau verhängnisvolles Schicksal des Niedergangs sind, werden bei Nietzsche virtueller Reichtum mit Blick auf mögliche neue Formen. Der Reichtum einer Form bemisst sich nach ihrer Fähigkeit, unterschiedliche, auch widersprüchliche Impulse in sich zu bergen, ohne daran zu zerbrechen. Nietzsches Haltung gegenüber der Décadence ist gekennzeichnet durch den Willen zu einer „großen Gesundheit“: „alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben, aber ausgleichen in eine überreiche plastische wiederherstellende Kraft“ (Nachlass 1885–1886, KGW VIII/1, 2[81]). Der Maßstab der Stärke ist, „w i e v i e l v o n K r a n k h a f t e m e r a u f s i c h n e h m e n u n d ü b e r w i n d e n k a n n – gesund m a c h e n kann“ (ebd., 2[97]): Dies Schicksal liegt nunmehr über Europa, daß gerade seine stärksten Söhne spät und selten zu ihrem Frühling kommen –, daß sie zumeist schon jung verekelt, verwintert, verdüstert zu Grunde gehen, gerade weil sie den Becher der Enttäuschung – und das ist heute der Becher der E r k e n n t n i ß – mit der ganzen Leidenschaft ihrer Stärke getrunken, ausgetrunken haben: – und sie würden nicht die Stärksten sein, wenn sie nicht auch die Enttäuschtesten gewesen
116 117
Gobineau, Versuch über die Ungleichheit, Bd. IV, S. 312. Ebd., S. 319.
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wären! Denn das ist die Probe ihrer Kraft: erst aus der ganzen Krankheit der Zeit heraus müssen sie zu i h r e r Gesundheit kommen. Der s p ä t e Frühling ist ihr Abzeichen (ebd., 6[24]).
Abgesehen von der idealistischen Lektüre Wagners, der eine Bestätigung seiner eigenen Weltsicht bei Gobineau suchte und seine eigenen Hirngespinste und Obsessionen auf ihn projizierte (die Rolle von Machiavell und Michelangelo), muss ganz sicher beachtet werden, dass Gobineau die Lebenskraft seiner Helden in eine Sphäre jenseits von Gut und Böse rückte. Beispielhaft verdeutlichen dies die Szene zwischen Alexander VI. und Lucrezia Borgia in La Renaissance und die Worte über Cesare Borgia: „Nein, meine Tochter, ein Ungeheuer ist er nicht! Eine Herrschernatur, für die es keine Rücksicht gibt, wenn es gilt, in heißem Ringen den Siegeslorbeer zu erkämpfen. […] Lass doch die Welt reden, was sie mag, Lucrezia! Lass dieses jämmerliche Gewürm die ungereimtesten Geschichten über uns ersinnen. Sie sind eben nicht imstande, starke Naturen zu begreifen“.118 Auch dies ist eine extreme Seite des zu der Zeit verbreiteten ahistorischen Renaissance-Mythos, der sich häufig mit dem Namen Nietzsche verbindet. In seiner erbitterten ‚Politik‘ gegen das Christentum und den wagnerschen Idealismus, der seine letzten bewussten Lebensmonate prägte, wird Nietzsche die polemische Kraft dieses Symbols zuspitzen: „Cesare Borgia als Papst – das wäre der Sinn der Renaissance, ihr eigentliches Symbol“, schreibt er an Brandes,119 den Slogan aufgreifend, den er auch im Antichrist benutzt hatte. Ich sehe eine M ö g l i c h k e i t vor mir von einem vollkommen überirdischen Zauber und Farbenreiz: – es scheint mir, dass sie in allen Schaudern raffinirter Schönheit erglänzt, dass eine Kunst in ihr am Werke ist, so göttlich, so teufelsmässig-göttlich, dass man Jahrtausende umsonst nach einer zweiten solchen Möglichkeit durchsucht; ich sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich, dass alle Gottheiten des Olymps einen Anlass zu einem unsterblichen Gelächter gehabt hätten – C e s a r e B o r g i a a l s Pa p s t … Versteht man mich? … Wohlan, d a s wäre der Sieg gewesen, nach dem i c h heute allein verlange –: damit war das Christenthum a b g e s c h a f f t ! (AC 61) 118 119
Gobineau, Die Renaissance, S. 92f. Brief vom 20. November 1888, KGB III/5, S. 483.
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Burckhardt, der in seinem Buch Die Cultur der Renaissance in Italien zweimal von der verfehlten Möglichkeit einer Wahl Cesares zum Papst spricht – „Die Phantasie verliert sich, sobald sie diese Hypothesen verfolgt, in einen Abgrund“120 –, wird in den Anmerkungen der Colli-Montinari-Ausgabe als Quelle genannt. In Wahrheit war die unmittelbare, näher liegende Quelle, an der sich Nietzsches Vorstellungskraft so sehr entzündet hat, bis er den ‚Triumph des Lebens‘ und der höheren Kultur auf dem Petrusstuhl das Szepter übernehmen sah, der französische Historiker Émile Gebhart, der seit 1880 als Professor für südeuropäische Literatur an der Sorbonne lehrte. Zwei seiner Monografien, Les origines de la Renaissance en Italie (1879) und La Renaissance italienne et la philosophie de l’histoire (1887)121 gehören zu Nietzsches Bibliothek und weisen zahlreiche Lesespuren auf, die vom Interesse des Philosophen zeugen. Gebhart schreibt – und der Satz ist von Nietzsche angestrichen: „Cesare […] hatte seine dreiste Hand auf die Kirche gelegt, und die Christenheit wohnte einem unvergleichlichen Abenteuer bei“.122
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J. Burckhardt, Die Cultur der Renaissance, S. 95. Aber schon Ranke schrieb in Die römischen Päpste: „Auch die Ausartung hat ihre Vollendung […]. Cesar ist ein Virtuos des Verbrechens“, und sah den großen Widerspruch des Petrusstuhls: „War es nicht von allem Anfang an eine der wesentlichsten Tendenzen des Christenthums, eine solche Gewalt unmöglich zu machen? Jetzt mußte es selbst, die Stellung des Oberhauptes der Kirche mußte dazu dienen, sie hervorzubringen“ (S. 34). In der Revue des deux mondes vom 15. November 1885 erschien eine Rezension zur französischen Ausgabe von Burckhardts Cultur der Renaissance in Italien, die in jenem Jahr publiziert worden war: É. Gebhart, La Renaissance italienne et la philosophie de l’histoire. La théorie de Jacob Burckhardt. Ausgehend von diesem Beitrag kam zwei Jahre später ein Band mit sieben Studien zur Renaissance heraus. Auf die erste, die dem Band den Titel gab, folgen: Machiavel, Fra Salimbene, Le roman de Don Quichotte, La Fontaine, Le Palais Pontifical, Les Cenci. Vor allem in dem Beitrag über Burckhardt finden sich zahlreiche Unterstreichungen und Randbemerkungen Nietzsches. Schließlich publizierte der Historiker 1887–1888 in der „Revue des deux mondes“ unter dem dem Titel Un problème de moral et d’histoire einen Beitrag über die Borgias in zwei Folgen. É. Gebhart, La Renaissance italienne, S. 184.
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Zweifellos war Gebhart, zusammen mit Burckhardt, der wichtigste Historiker, mit dem Nietzsche sich hinsichtlich dieser Themen auseinandersetzte. Seine Perspektive, die sich vor allem auf die Erforschung der Ursachen der Renaissance richtete, unterschied sich in der Bewertung der Rolle des Christentums grundlegend von der des deutschen Philosophen: „Die bewundernswürdige geistige Freiheit, der diese Entfaltung der Persönlichkeit entsprang, existierte bereits vor der Renaissance. Sie zeugt von der religiösen Bewegung, die seit dem 13. Jahrhundert auf der Halbinsel bestand, denn im Mittelalter hat sie sich vor allem im italienischen Christentum, mehr als in der italienischen Kommune, manifestiert“.123 Für den späten Nietzsche war die Renaissance dagegen die „Um w e r t h u n g d e r c h r i s t l i c h e n We r t h e , der Versuch, mit allen Mitteln, mit allen Instinkten, mit allem Genie unternommen, die G e g e n -Werthe, die v o r n e h m e n Werthe zum Sieg zu bringen … […] An der entscheidenden Stelle, im Sitz des Christenthums selbst angreifen, hier die v o r n e h m e n Werthe auf den Thron bringen, will sagen in die Instinkte, in die untersten Bedürfnisse und Begierden der daselbst Sitzenden h i n e i n bringen …“ (AC 61). Von Gebhart übernahm Nietzsche jedoch die Aufwertung vieler Momente ‚geistiger Freiheit‘, die der Renaissance vorausgingen: von der arabischen Kultur bis zum „gai saber“ (der „gaie science“, fröhlichen Wissenschaft) der Provenzalen, von Dante bis zu Friedrich II., dessen Reich „das wahre Vorspiel zur Renaissance“ war.124 Das syste123 124
Ebd., S. VI. É. Gebhart, Les origines de la Renaissance, S. 195. In entscheidendem Maße prägte der Historiker die Positionen von L. Saint-Ogan, Essai sur l’influence française, der sich, wie wir gesehen haben, mit dem Thema Vorrang und Hegemonie der französischen Kultur und Gesellschaft in unterschiedlichen historischen Epochen befasste. Was die auch bei Nietzsche anzutreffenden Motive angeht, stammte insbesondere das positive Bild von Abälard und der Pariser Scholastik von Gebhart: „Diese Doktoren und Bischöfe, Dominikaner und Franziskaner erörterten eine Frage, die keine theologische, sondern eine rein metaphysische war, nämlich die Frage des Seins, mit Hilfe rationalistischer Konzeptionen, die denen der Kartesianer entsprachen, und mit Hilfe eines dialektischen Apparats, der dem der griechischen Philosophen glich“ (Les origines de la Renaissance, S. 29–30).
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matische Werk Gebharts mit seinen reichen Analysen und Verweisen bildete eine wertvolle Quelle für Nietzsche, der beispielsweise für bedeutende Dante-, Sacchetti- und Petrarca-Zitate darauf rekurrierte.125 Sicher fand Nietzsche bei Gebhart – der Burckhard rezensiert hatte und sich auf dessen Spuren bewegte – das Thema der individuellen Energie, die sich im Renaissancekünstler und in den Tyrannen der Renaissance äußerte. Nach Gebhart waren sie die besten Beispiele für „virtuosi“ jener Epoche. Mit ihren Merkmalen war der Italiener der Renaissance vollendet und bot den Zeitgenossen den Anblick eines unvergleichlichen, vom Egoismus beherrschten zügellosen Lebens, einer Mischung aus Weisheit und Gewalt; es war ein im höchsten Grade amoralisches Leben, aufgeheitert durch unbeschreibliche Sinnenfreuden. So verwirklichte er das Ideal der menschlichen Natur, wie die Renaissance 125
Dies die bisher unbekannten Quellen: Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[4]: „Zum Schluß: ‚ein Lehrer dessen gewesen zu sein‘ come l’uom s’eterna … (Inf. XV, 85)“. Vgl. É. Gebhart, Les origines de la Renaissance, S. 145–146: „Aber Dante bewahrt das ‚liebe und gute väterliche Bild‘ dessen im Gedächtnis, der ihn gelehrt hat, come l’uom s’eterna (Anm. (1) Inf. XV, 85)“. JGB 147: „Aus alten florentinischen Novellen, überdies – aus dem Leben: buona femmina e mala femmina vuol bastone. Sacchetti Nov. 86.“ Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[337]: „buona femmina e mala femmina vuol bastone (Sacchetti Nov. 86)“. Vgl. É. Gebhart, Les origines de la Renaissance, S. 269: „Im Volksleben und in der bürgerlichen Wirklichkeit, von denen die Erzähler der Cento novelle antiche und Sacchetti ein genaues Bild zeichneten, war die Rolle der Frauen sehr gering geschätzt, aber die von diesen Autoren geschilderte Gesellschaft zählt in der Renaissance-Bewegung viel weniger als die des Decamerone [est, beaucoup moins que celle du Décaméron, dans le courant de la Renaissance]. Jene recht gewöhnlichen Menschen benutzten ein hässliches Sprichwort: buona femmina e mala femmina vuol bastone (Sacchetti, Nov. 86)“. Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[338]: „hinc mihi quidquid sancti gaudii sumi potest horis omnibus praesto est. Petrarca, famil. XIX 16“. Vgl. É. Gebhart, Les origines de la Renaissance, S. 314: „In der Kartause von Mailand führte er [Petrarca] ein sehr angenehmes Mönchdasein: ‚Es fehlt mir an nichts, und die Leute aus der Umgegend bringen mir Obst, Fisch, Enten und Wild. Meine Einkünfte sind stark gestiegen und meine Ausgaben haben Schritt gehalten.‘ Hinc mihi quidquid sancti gaudii sumi potest horis omnibus praesto est., famil. XIX 16“. Diese Quellen wurden gleichzeitig von mir und von Thomas H. Brobjer ermittelt und von letzterem mitgeteilt in: Nietzsche-Studien 28 (1999), S. 356–357.
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es konzipiert hat; er war Künstler und sein Schicksal ein Kunstwerk, das man bewunderte. Die italienische Sprache bezeichnet die Gesamtheit dieser großen Qualitäten und großen Laster mit dem Wort virtù, das sich nicht übersetzen lässt, denn die virtù hat nichts mit der Tugend [vertu] zu tun.126 Diese aufeinander abgestimmten Kräfte bildeten eine Harmonie, wo die Begierden des Herzens die geistige Disziplin akzeptierten und die Gewalt der Triebe mit der Vernunftbeherrschtheit einherging. Nie war der Mensch freier von der Außenwelt, von Gesellschaft und Kirche; niemals gehörte er mehr sich selbst. Die Italiener nannten diese Vollendung der Persönlichkeit virtù. Allerdings hat die virtù nichts mit der Tugend [vertu] zu tun. Die virtuosi gaben in dieser Zivilisation den Ton an.127
Die zuletzt zitierten Betrachtungen verweisen fraglos auf Nietzsches Verherrlichung der „moralinfreien Tugend“, die man „gegen die Tugendprediger vertheidigen“ muss, welche sie als ein „Ideal f ü r A l l e “ lehren (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[109]). Das Vorbild für eine solche Tugendvorstellung war die Renaissance und Nietzsche kam in den Jahren 1887–1888, nach seiner Gebhart-Lektüre, mehrfach auf sie zurück.128 Die Tugend der Renaissance verband sich in Nietzsches Interpretation mit einer Energie, die über das notwendige Rüstzeug verfügte, um eine komplexe Form zu verwirklichen, ein ‚Kunstwerk‘ hervorzubringen, gleich ob es sich um den menschlichen Körper, eine gesellschaftliche Gruppe oder einen Staat handelte. Sie war alles andere als eine vereinfachende Kraft, wie dagegen der moralische Fanatismus, der in seinem Bestreben, angesichts des Chaos Ordnung zu schaffen, alles gewaltsam ausschaltet, was sich nicht in vorbestimmte Schemata pressen lässt. Die polemische Heraushebung von Symbolkonstruktionen – die man der Literatur der Zeit entnahm – hat einer reduktiven Auslegung von Nietzsches Renaissance Vorschub geleistet. Bezeichnend ist in diesem Sinn folgende vergröbernde Reduktion des Übermenschen auf den „Gewalt-“ bzw. „Renaissancemenschen“, 126 127 128
É. Gebhart, Les origines de la Renaissance, S. 252. É. Gebhart, La Renaissance italienne, S. 4. Vgl. Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[45, 50, 109]; 1887–1888, KGW VIII/2, 11[43, 110, 414]; 1888, KGW VIII/3, 15[120]; AC 2. Vgl. diesbezüglich F. Puccini, La „virtù“ dell’uomo del Rinascimento.
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wie Jacob Burckhardt und Ludwig Pastor sie in einem anonymen Artikel der „Historisch-politischen Blätter“ von 1895 lasen: „Nietzsche will die Herrschaft einiger Gewaltmenschen aufrichten, wie sie in der italienischen Renaissancezeit vorkommen – vielleicht war in dieser Hinsicht der Umgang seines Basler Collegen Jacob Burckhardt, des Geschichtsschreibers der Renaissance, von Einfluss“.129 Beide Historiker reagierten auf diese unwillkommene Annäherung mit Nachdruck. Pastor kündigte eine Stellungnahme an („Ich möchte nicht, dass eine solche Vermutung sich über Sie in weiten Kreisen verbreitet“130), Burckhardt ging auf Distanz: „Über den Gewaltmenschen habe ich nie mit ihm [Nietzsche] verkehrt, weiß auch nicht einmal, ob er dieser Idee schon anhing als ich ihn noch öfter sah […]. Ich meinestheils bin niemals ein Verehrer der Gewaltmenschen und Outlaws in der Geschichte gewesen, habe sie auch eher für Flagella Dei gehalten“. Aber vor den hier zitierten Sätzen hatte der Basler Historiker in demselben Brief resigniert auf das „Geräusch des Tages“, auf die Ideologie und Publizistik Bezug genommen, die sich Nietzsches bemächtigt hatte. Noch war dieser in Naumburg im Haus seiner Mutter am Leben, wenngleich schon völlig regungslos, und doch „ist der Name Nietzsche gegenwärtig […] ein publicistisches Geschäft welches Besprechungen und Erklärungen pro und contra wünschen muß“. Fast scheint es, als wolle Burckhardt damit sagen, dass auf dieser Ebene die historische Präzisierung und Vertiefung keine passende Antwort sind, weil andere Bedürfnisse im Spiel sind, die zur Vereinfachung zwingen. Resigniert und ernüchtert kann man nur das Ende des Phänomens abwarten: „Wer jedoch, wie ich, seine Studien begonnen hat als Hegel in vollem Glanze stand, konnte seither den Aufund Niedergang von sehr Verschiedenem erleben und sich in die Hinfälligkeit auch des Glänzenden schicken lernen“.131 129
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F. Nietzsche’s Geistesentwicklung und Geistesphilosophie, in: „Historisch-politische Blätter“, cxvi (1895), S. 871, zit. in M. Ghelardi, La scoperta del Rinascimento, S. 25. Brief an J. Burckhardt vom 10. Januar 1896, in Staatsarchiv-Basel, JBA, Nachlass 207, 52, zit. in M. Ghelardi, La scoperta del Rinascimento, S. 25. J. Burckhardt, Briefe, Bd. X, S. 263–264. Vgl. zu diesem Thema M. Ghelardi, La scoperta del Rinascimento, S. 3–7.
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Die bisher geleistete Rekonstruktion zeigt – nicht zuletzt dank unerforschter Materialien wie den Vorlesungen zur Einleitung in das Studium der Philologie –, dass Nietzsches Beziehung zu Burckhardt komplexer Art und durchaus nicht passiv war, genau wie die ebenso wichtige zu Taine und anderen zeitgenössischen französischen Autoren. Die eine Stelle, an der Nietzsche sich auf Burckhardts Gewaltmenschen bezog, betrifft das Urteil im Cicerone über Palazzo Pitti als Bau, der die schöpferische Kraft des Künstlers zum Ausdruck bringt: „‚allem Hübschen und Gefälligen aus dem Wege gehen, als ein weltverachtender Gewaltmensch‘ sagt J. Burckhardt“.132 Nietzsche pflichtet bei und macht ein ästhetisches Urteil daraus (Ausdruck des „großen Stils“ in der Architektur). Er richtet sich damit gegen die gesuchte Unpersönlichkeit der Modernen, die „sich gerne verstecken und loswerden [möchten] z.B. F l a u b e r t “.133 An zwei anderen Stellen finden wir den Begriff ohne Verweis auf Burckhardt (er kommt insgesamt bei Nietzsche nur wenige Male und auf wenig signifikante Weise vor). Hier erscheint er in Verknüpfung mit dem Adjektiv ‚philosophisch‘, um die Härte und den Sinn fürs Abenteuer zu bezeichnen, die für das neue Philosophieren nötig sind, das mit verwurzelten, sicheren Gewohnheiten bricht. Mit dem Begriff Gewaltmensch befinden wir uns weder in der Nähe des Übermenschen noch des Tyrannen. Ein Nietzsche, reduziert auf einen „professeur d’énergie“ oder einen Propheten der „religion de la force“, wirkt unmittelbar geschmacklos und grotesk. In Anknüpfung an die Betrachtungen der Jahre 1875–1876 zum „Poeten-Philologen“ präsentierte Nietzsche gerade in der letzten Schaffensperiode neben dem polemischen und betont paradoxen Bild von „Cesare Borgia als Papst“ Goethe als Erben der Renaissance: „G o e t h e – kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein H i 132 133
Nachlass 1881, KGW V/2, 11[197]. Vgl. J. Burckhardt, Der Cicerone, S. 175. Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[117]. Vgl. auch Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[61], wo Gewaltmensch den „Ambitiösen des großen Stils“ bezeichnet, der in der Musik noch fehlt: „Noch niemals hat ein Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf?“
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n a u f kommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemäßen 49). Kennzeichnend ist für Goethe ganz sicher nicht die Gewalt, sondern die von ihm beherrschte Komplexität und die Bejahung der Ganzheit: er concipirt einen hoch gebildeten, sich selbst im Zaum haltenden, vor sich selbst ehrfürchtigen Menschen, der sich den g a n z e n R e i c h t h u m d e r S e e l e u n d d e r Na t ü r l i c h k e i t (bis zum Burlesken und Buffonesken) zu gönnen wagen darf, weil er stark genug dazu ist; den Menschen der Toleranz nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde geht, zu seiner Förderung zu gebrauchen weiß, d e n u m f ä n g l i c h s t e n , a b e r d a r u m n i c h t c h a o t i s c h e n Me n s c h e n (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[179]).
Die Perfektion des Tieres, die sich mit der Sonne und dem Mythos des Südens verbindet, ist nur eine anfängliche Voraussetzung. Nietzsche betont mehrfach die „Ve r g ö t t l i c h u n g d e s L e i b e s “, für die der Name Dionysos steht, die Ausweitung des Glücks als prägendes Merkmal des Südens: „[D]en S ü d e n in sich wiederentdecken und einen hellen glänzenden geheimnißvollen Himmel des Südens über sich aufspannen; die südliche Gesundheit und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern“. Nicht zufällig verknüpft der Philosoph in demselben Fragment das physiologische Gleichgewicht und tierische Glück mit der Möglichkeit, Schritt für Schritt „umfänglicher [zu] werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich g r i e c h i s c h e r “ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 41[6] und [7]). Der Grieche ist genau wie der Renaissancemensch eine ideale Chiffre für eine lichtere, bejahendere Menschheit, für eine umfänglichere Seele. In einem Fragment, in dem Nietzsche, sich auf Burckhardts Schriften und auf seine französischen Lektüren beziehend, im Provenzalen einen Höhepunkt in Europa erblickt, unterscheidet er auch innerhalb der italienischen Renaissance, die „den Menschen am höchsten gebracht [hat]: ‚d e r F l o r e n t i n e r ‘“, verschiedene einzelne Bedingungen: „n e b e n den vollkommenen und g a n z e n Menschen“ nehmen sich andere aus „wie B r u c h s t ü c k e : z.B. ‚der Tyrann‘ ist ein solches Bruchstück“ (Nachlass 1883, KGW VII/1, 7[44]). Dies bedeutet eine
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entschiedene Relativierung der Gestalt im Vergleich zum Renaissancemenschen, der zu einer höheren Synthese fähig ist.134 Der Tyrann ist Ausdruck einer ersten Ebene des Willens zur Macht, der Ebene des „Individuums“. Der „Wille zur Macht“, der den grundsätzlich perspektivischen Charakter der gesamten Wirklichkeit offenbart, stellt sich auf der untersten Ebene der Lebensäußerungen als reine Gewalt und Überwältigung des Anderen und in erkenntnistheoretischer Hinsicht als Aufzwingen einer Perspektive dar. „Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[151]). Hier wird der individuelle „Egoismus“ geübt. Aber das Individuum selbst ist ein „Irrthum“: „nur eine Summe von bewußten Empfindungen und Urtheilen und Irrthümern […], ein G l a u b e , ein Stückchen vom wahren Lebenssystem oder viele Stückchen zusammengedacht und zusammengefabelt“ (Nachlass 1881, 134
Auch Gebhart meinte, dass die Tyrannei „lediglich eine besondere Form der Renaissance und im Gebäude dieser Zivilisation einer der höchsten Pfeiler, jedoch nicht der Schlussstein war“. Aber auch der Künstler an sich ist ein „Bruchstück“. Bezogen auf Giordano Bruno schreibt Nietzsche: „Die höheren Formen, wo der Künstler nur ein Theil des Menschen ist – z.B. Plato, Goethe, Giordano Bruno. Diese Formen gerathen selten“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[42]). Trotz dieses bedeutsamen Urteils vertiefte Nietzsche die Kenntnis jener zentralen Renaissance-Figur nicht; er ging nie über die indirekte, über Heinrich von Stein vermittelte Kenntnis hinaus. Von Stein hatte im Sommer 1884 mit Nietzsche Kontakt aufgenommen und ihm die Übersetzung einiger Gedichte des italienischen Philosophen geschickt. Die schopenhauersche und erst recht die ‚heroisch‘-germanische Lesart von Stein musste unweigerlich Nietzsches Misstrauen erwecken, der sich über dessen Habilitationsschrift, Ueber die Bedeutung des dichterischen Elementes in der Philosophie des Giordano Bruno, sehr kritisch äußerte: „Bei Dr Stein zu wenig philologisches Gewissen!“ (An Paul Rée, 8. Juli 1881, KGB III/1, S. 101, und Nachbericht zur dritten Abt., Erster Teilband, KGB III/7, S. 119). Außerdem sind Giordano Bruno und Shakespeare die Protagonisten eines der dramatischen Bilder (Denker und Dichter) in von Steins Helden und Welt, einem Werk, in dem – nach dem Vorbild von Gobineaus La Renaissance – Wagners heroisch-germanischer Idealismus voll zum Ausdruck kommt.
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KGW V/2, 11[7]). Die Überwindung der beschränkten Perspektive des Ego bedeutet nicht, dass man zu einer unmöglichen Unpersönlichkeit, zu einer kalten „Objektivität“ finden würde. Die Erkenntnis ist stets in die Lebensprozesse verstrickt und an das Spiel der Triebe gebunden. Die Umfänglichkeit der Perspektive, die Fähigkeit, mit vielerlei Augen zu sehen, wird eine Konstante der höheren Grade des Willens zur Macht bilden; Stärke und Energie der einzelnen Triebe liegen ihr zugrunde. Das Bild der vielen Augen kehrt mehrfach wieder. Noch in der Genealogie der Moral wird als Erkennender derjenige bezeichnet, der „die Ve r s c h i e d e n h e i t der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss“, kein reines Auge ohne „interpretirende Kräfte“, sondern eine Vielzahl von Augen: „Es giebt n u r ein perspektivisches Sehen, n u r ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein“ (GM III 12). Ausgehend vom Vorbild des Körpers wertet Nietzsche weniger den einzelnen Kraftpunkt als vielmehr ein umfassendes Lebenssystem auf. Den Körper zum Leitfaden zu nehmen, bedeutet, auf die Verlockungen der Unmittelbarkeit und Einfachheit zu verzichten: Mehr und mehr offenbart sich der Körper als Pluralität, als Gesamtheit von mitund gegeneinander kämpfenden Lebenszentren. Das organische Wesen ist ein Kampf, der sich „s e l b e r e r h a l t e n w i l l , w a c h s e n w i l l u n d s i c h b e w u ß t s e i n w i l l “ (Nachlass 1885–1886, KGW VIII/1, 1[124]). Der Körper ist folglich eine Synthese von miteinander kämpfenden, bewegten Vielheiten: „also G e g e n s a t z der atomistischen A n a r c h i e ; somit ein H e r r s c h a f t s - G e b i l d e , das Eins b e d e u t e t , aber nicht eins i s t “ (ebd., 2[87]). Das erste Element der Macht ist die Ausübung von Herrschaft über ein zu gestaltendes Chaos, eine durch Hierarchisierungen und Funktionszuweisungen zu schaffende Form. In seinen höheren Graden impliziert der Machttrieb ein Abrücken von der begrenzten, gewaltsamen Perspektive, die mit dem einzelnen Kraftpunkt verbunden ist. Noch ist eine höhere, andere Form von Mensch eine bloße Verheißung, doch sieht Nietzsche hier und da in der Geschichte die zufällige Verwirklichung
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von Individuen, die zur „Gerechtigkeit“ fähig waren. Unter den von Nietzsche angeführten Beispielen, die dem Vorbild am nächsten kamen, ist das der „dionysischen“ Natur Goethes: des „u m f ä n g l i c h s t e n , a b e r d a r u m n i c h t c h a o t i s c h e n Me n s c h e n “, der die Rückkehr zu einer Art Renaissancemensch repräsentiert. Der Übermensch ist derjenige, der die Bruchstückhaftigkeit jeder Lebensperspektive überwindet, nicht indem er sie leugnet, sondern indem er sie einer vollen Form einverleibt. Er ist derjenige, der die Kraft besitzt, sich durch die Bejahung des ewigen Kreislaufs die gesamte Wirklichkeit anzueignen und mit dieser Wirklichkeit eins zu werden. Amor fati ist der höchste, reichste Ausdruck des Willens zur Macht: die aktive Identifizierung mit der Ganzheit in ihrem Werden. Dem heroischen Kampf, den der bruchstückhafte Mensch in Richtung des Übermenschen führt, stellt Nietzsche die neue letzte Freiheit gegenüber: „Ein solcher f r e i g e w o r d n e r Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im G l a u b e n , dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht – e r v e r n e i n t n i c h t m e h r … Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des D i o n y s o s getauft“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 49).
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V. Die Götter und die décadence Les dieux sont morts, car la foudre est à moi. L. de Senneville Oui, je tuerai les Dieux. Oui, j’ai soif de ce crime. Dans l’infini crevé je veux planter mon poing. Je veux, à qui les cherche encore, que l’abîme Puisse répondre: Ils ne sont point. Jean Richepin C’est l’époque où les dévots du talent récemment révélé pullulent, s’agitent, s’exaltent, et sacrifient sur l’autel du dernier Dieu toutes les religions passées. Paul Bourget ( Journal des Débats, 20. Januar 1885) Ni l’amour ni les dieux; ce double mal nous tue. Sully Prudhomme, Repos (Les Épreuves, 1866).1
1. Byron in Venedig: die Genesung des ‚höheren Menschen‘ Als dionysische Natur und Renaissancemensch besaß Goethe für Nietzsche einen großen Symbolwert gegen die Deutschen („er wird ihnen nie angehören“, VM 170) und gegen den späten Wagner („Was Goethe über Wagner gedacht haben würde? […] Seine Antwort ist: ‚am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken‘“, WA 3). Die mit äußerster Leidenschaftlichkeit von Barbey d’Aurevilly gegen Goethe als „Gott der Gefühllosen und Ohnmächtigen“, „Gott der Trockenen und Pedanten“ geschleuderten Bannflüche konnten nur bei der voreingenommenen Kritik derer Anklang finden, die 1
Zit. in Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[15] aus L. Desprez, L’évolution naturaliste, S. 296.
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Frankreich nach der Niederlage im Krieg von 1870 von jeglichem Einfluss der deutschen Kultur befreien wollten, indem sie das höchste Symbol Deutschlands angriffen. Barbey D’Aurevilly erblickte in Goethes „impassibilité“, in seinem Epikureertum, in der kühl kalkulierten Kunst des „mit Kunstgriffen ausgestatteten“ und „durch sein vieles Posieren in antikem Marmor selbst versteinerten“ Schauspielers Äußerungen der kraftlosen Kultur der Moderne. Gegenwärtig sei die Haltung des deutschen Dichters für die neuen „kleinen Bleisoldaten der Literatur“ kennzeichnend, „die sich selbst mit Stolz ‚les impassibles‘ getauft haben“.2 Bei Taine finden wir dagegen eine volle Übereinstimmung mit Nietzsches Positionen. Goethe steht für höhere Gesundheit und klassisches Gleichgewicht im Gegensatz zur Krankheit des „moderne[n] Mensch[en]“, die in der „Übertreibung seiner Erregbarkeit“, im „Missverhältnis seiner Wünsche und seiner Macht“, in seiner Zerrissenheit und dem tiefen Zwiespalt seiner Fähigkeiten besteht. „Um sich zu verfeinern, hat er sich selbst zerstört: das Übernatürliche hat er der Natur entgegengestellt und die Reinigung des menschlichen Gewissens der Entwicklung des menschlichen Leibes“. Die Tugend ist für den modernen Menschen nicht mehr Ausdruck des „freien Instinkts“. Es besteht eine tiefe Trennung zwischen den „Zartheiten der Seele“ und der Gesundheit des Körpers: „Nach den großen Künstlern der Renaissance hat ein einziger Dichter, Goethe, in der Neuzeit [die Eintracht] wiederhergestellt“.3 In Goethes Iphi2
3
Vgl. J. Petit, Barbey d’Aurevilly critique, S. 411ff., und J. Canu, Barbey d’Aurevilly, S. 385–386. Zum Begriff impassible, bezogen auf Flaubert, siehe auch die Einleitung von Maupassant zu G. Flaubert, Lettres à George Sand: „Ce n’est pas impersonnel, qu’on devrait dire, en parlant de cet impeccable artiste, mais impassible“ (S. XIII); „C’est cette rare qualité de metteur en scène, d’évocateur impassible qui l’a fait baptiser réaliste par les esprits superficiels …“ (S. XVII). H. Taine, Sainte-Odile et Iphigénie en Tauride, S. 88 (dt. Übers. S. 190 f.). Vgl. außerdem H. Taine, Notes sur Paris, S. 84–85: „Goethe sagte uns: Nehmt eure Seele wie ein Insekt; es ist amüsant ihre Instinkte zu zählen, ihre Zuckungen und Wege vorauszusehen. – Ich sage lieber: Nehmt eure Seele wie eine Geige und gebt ihr die Motive, zu denen sie ihre Melodie finden wird“.
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genie sieht Taine die Werte verwirklicht, die er am höchsten ansetzt: Griechenland und die Renaissance leben hier noch in einem wunderbaren, zerbrechlichen Gleichgewicht. Dank seiner außergewöhnlichen schöpferischen Kraft und seines großen, ausdauernden Genies vermochte Goethe die Masse der Ideen, Anstöße und Begriffe, die aus allen Richtungen von Raum und Zeit in der modernen Welt zusammenfließen, zu einer höheren Form zu führen. Die Ausdrücke, die Taine zur Charakterisierung des heutigen Großstadtbewohners heranzieht – das Symbolmodell ist Paris –, sind den von Nietzsche verwendeten äußerst ähnlich: Vielschichtig und weltbürgerlich wie diese Geisteshaltung ist, kann sie sich für alle Arten der Kunst, für alle Epochen der Vergangenheit und Stufen des Lebens erwärmen, kann sie das Wiederaufleben fremder und alter Stile, Szenen aus dem bäuerlichen, volkstümlichen oder barbarischen Leben, ferne exotische Landschaften, kurz alles genießen, was eine Befriedigung der Wissbegierde und den Gegenstand einer Erregung oder Belehrung darstellen kann.4
Auch nach Ansicht des deutschen Philosophen ist die Mischung prägend für die „modernen Seelen“: „unsre Instinkte laufen nunmehr überallhin zurück, wir selbst sind eine Art Chaos“ (JGB 224); der Europäer ist ein „Mischmensch“, die Historie die „Vorrathskammer der Kostüme“ (JGB 223). Goethe hatte die Kraft, ja zu sagen zur Ganzheit und das Chaos zu ordnen, indem er die bewegte, widersprüchliche Vielheit in einer höheren und offenen Form aufnahm, in der „Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung“ (Nachlass 1886–1887, KGW VIII/1, 7[3], S. 266). Neben diesem klassischen und dionysischen Goethe begegnet bei Nietzsche Lord Byron, der „höhere Mensch“, der sich durch die Kraft der Zerrissenheit auszeichnet. In verborgener, aber durchgängiger Weise begleitet diese Figur Nietzsches Reflexion und seine Leidenschaft für den höheren Menschen, verkörpert dessen Spannungen und Ambivalenzen in geradezu exemplarischer Form.
4
H. Taine, Philosophie de l’art, S. 324 (dt. Übers. S. 196).
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Im Zarathustra ist der höhere Mensch die „Begriffsperson“,5 die sich aufs Engste mit dem Tod Gottes verbindet (wie der Übermensch mit der ewigen Wiederkehr). Sein Leiden, sein Scheitern, sein Zerbrechen sind ein Aspekt der großen Krise, die der Tod Gottes ausgelöst hat. Der höhere Mensch ist noch nicht die richtige Antwort auf das Ereignis. Aber sein Leiden, sein Unbehagen, die „große Verachtung“ und das Nicht-Resignieren, die sein Leben begleiten, bedeuten bereits einen Widerstand, wenn nicht gar eine Gegenbewegung hin zu einer Epoche, die sich auf den „letzten Menschen“ zubewegt. Der Tod Gottes ist „d a s g r ö ß t e E r e i g n i ß “, es prägt die „gefährlichste M i t t e , wo es hingehen kann zum ‚letzten Menschen‘“. „Gott ist todt. Nur merken die Menschen noch nichts davon, daß sie nur von ererbten Werthen zehren“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 35[74]), für sie ist es also noch möglich, Sicherheit zu finden in den kleinen Tugenden der kleinen Egoismen, die den Verkleinerungsprozess bestärken. Angesichts dessen resigniert der höhere Mensch nicht, er verzweifelt, bringt Leiden und Unbehagen zum Ausdruck: „ich liebe euch dafür, dass ihr heute nicht zu leben wisst, ihr höheren Menschen! So nämlich lebt i h r – am Besten!“ (Za IV, Vom höheren Menschen 3). Die vergangene Geschichte erscheint als Ort einer allgemeinen „Nachlässigkeit und Vergeudung“, „die Menschheit […] bloß [als] das Versuchsmaterial, der ungeheure Überschuß des Mißrathenen, ein Trümmerfeld“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[8]), „die Erde […] als Marmor-Werkstätte“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 35[74]). Unter Gefahr gilt es neue Lebensformen zu erproben, fern von der falschen metaphysischen Sicherheit der idealistischen „Helden“ Carlyles, die ihren Weg mit Gott gehen und die Göttlichkeit der Welt bestätigen. Die höheren Menschen sind somit, ein jeder in seiner besonderen Situation, das äußerste Produkt einer Übergangszeit. Sie sind noch 5
Ich greife hier Anregungen von G. Deleuze, F. Guattari, Was ist Philosophie?, auf, die sie allerdings in anderer Richtung entwickeln als ich. Sicher sind die Begriffspersonen keine „mythischen Personifizierungen, auch nicht historische Personen, literarische oder romaneske Helden“, auch wenn zwischen der Kunst, welche „Affekte“ hervorbringt, „die über die gewöhnlichen Affektionen und Perzeptionen hinausgehen“ (S. 74), und der begrifflich arbeitenden Philosophie speziell im Fall Nietzsches häufig ein fruchtbarer Austausch besteht.
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nicht imstande, die zahlreichen widersprüchlichen Instinkte zu beherrschen und zu ordnen, aus denen sie als Kinder der Moderne bestehen. Nietzsche analysiert die vielgestaltigen Erscheinungsformen einer historisch definierten Décadence – Exotismus, Kosmopolitismus, Kult des Primitiven und des Naiven, Religion des Leidens, Tolstojismus, Wagnerismus als Opium, Buddhismus usw. –, die allesamt von Ablehnung, vom Unbehagen am Durchschnittsmenschen und seiner fortschreitenden „Verkleinerung“ künden. Viele Masken der Dekadenz sind in den symbolischen und allegorischen ‚Figuren‘ des höheren Menschen im vierten Teil des Zarathustra dargestellt. Zarathustras Berg ist „umdampft von Trübsal und Noth“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[306]). „Im ersten Theil ist der Ve r f a l l und seine No t h w e n d i g k e i t klarzumachen“: „die Verzweiflung und Unsicherheit in aller Form kommt an Zarathustra heran“, der „alle Arten von Anzeichen der Weltflucht […] und deren Motive [sammelt]: die Anbrüchigen, die in-sich-Haltlosen, die Erfolglosen usw.“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[246], [247], [415]). Während der Übermensch sich jenseits des Gattungswesens und seines Handelns ansiedelt, definiert sich der höhere Mensch noch in Bezug auf die gesellschaftlichen Wertmaßstäbe. In dramatischer Weise spiegelt er die Krise der Werte in einem bestimmten geschichtlichen Moment wieder und ist unfähig, eine Alternative zu schaffen. Auch in der äußersten Ablehnung oder im Versuch der Umkehrung ist er durch und durch von den alten Werten beeinflusst und leidet folglich an ihrer Krise: insofern ist er dekadent. Dennoch muss Zarathustra seine Botschaft an diese Einzelnen richten. In mancher Hinsicht kennzeichnet die höheren Menschen Einseitigkeit, sind sie Bruchstücke einer umfassenderen Synthese; in anderer Hinsicht stellen sie zurückliegende Stationen von Nietzsches eigenem Weg dar: den historischen Sinn, die äußerste wissenschaftliche Redlichkeit, den Kosmopolitismus, den metaphysischen Wahn usw. Nietzsche ist durch diese Einseitigkeiten hindurchgegangen und hat sie überwunden. Das Auf-Abstand-Gehen zum Marktplatz, zum Histrionismus der Gesten ist jedoch das gemeinsame Kennzeichen der höheren Menschen. Die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und das eigene Leiden muss Leiden am Menschen werden: „Ihr leidet mir
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noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr littet noch nicht a m Me n s c h e n “.6 Das prägende Merkmal des höheren Menschen und seiner Vornehmheit ist der Ekel vor sich selbst und den anderen. So gelingt es ihm entweder, mit Entschiedenheit sich und seine eigenen Widersprüche zu überwinden, oder er muss zugrunde gehen. An verschiedenen Stellen lesen wir, dass Zarathustras Aufgabe gerade darin besteht, diese „höhere[n] Naturen“, die von aller „Art von wahnsinniger Entartung“ erfasst sind, zu erziehen und ihnen ein Ziel zu geben (Nachlass 1884, KGW VII/2, 27[23]). Die Erziehung der höheren Menschen gipfelt darin, sie mit dem „schwersten Gedanken“ zu konfrontieren, der Lehre der ewigen Wiederkehr. Die Fähigkeit, diesen Gedanken zu ertragen, ohne daran zu zerbrechen, bedeutet eine tief greifende Umwandlung hin zum „Übermenschen“. Lord Byron ist der höchste und vornehmste Ausdruck des höheren Menschen und seiner Widersprüche und wird deshalb von Nietzsche zu denen gezählt, die unbewusst dazu beigetragen haben, für andere die Aufgabe der Umkehrung der Werte vorzubereiten. Zwiespalt und innere Spannung kennzeichnen ihn als Pessimisten und Romantiker. Er setzt sich ein Ideal, das größer ist als er selbst, und spaltet sich daher in ein Bewusstsein, das das Ideal entwertet, und einen Willen, der ihm weiterhin nachstrebt. Er ist „ein Dividuum“.7 Nietzsche schreibt: „Insgleichen hatte ich ein Wohlgefallen an gewissen unersättlich-dualistischen Künstlern, welche wie Byron unbedingt an die Vorrechte höherer Menschen glauben und unter der Verführung der Kunst bei 6
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Za, Vom höheren Menschen 6. Im Fragment 29[8] (Nachlass 1884–1885, KGW VII/3) wird die Aufgabe des seiner eigenen Situation bewusst gewordenen höheren Menschen bezeichnet: „Begriff des höheren Menschen: wer am Menschen leidet und nicht nur an sich […] uns zu erlösen ist ‚den Menschen selber‘ erlösen: das ist unser ‚Egoismus‘!“ Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[159]. Vgl. auch Bourgets Urteil über das romantische Ideal: „Nicht nur stellt es den Menschen in ein Mißverhältnis zu seiner Umgebung, sondern es zwingt ihn in ein unnatürliches Verhältnis zu sich selbst hinein. Hierin liegt die Erklärung des Bankerotts, welchen der Romantismus allen seinen Anhängern bereitet hat“ (Bourget, Essais, S. 128; dt. Übers. S. 111–112). Taine hatte in verschiedenen Schriften auf dieses Thema abgehoben.
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ausgesuchten Menschen die Heerden-Instinkte übertäuben und die entgegengesetzten wachrufen“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 34[176]). In Ecce homo gesteht er, dass es sich um eine sehr frühzeitige Verbindung handelte: „Mit B y r o n s Manfred muss ich tief verwandt sein: ich fand alle diese Abgründe in mir, – mit dreizehn Jahren war ich für dies Werk reif“; er schließt einen Vergleich mit Goethes Faust an, den er in den Fragmenten wiederholt skizziert hat: „Ich habe kein Wort, bloss einen Blick für die, welche in Gegenwart des Manfred das Wort Faust auszusprechen wagen. Die Deutschen sind u n f ä h i g jedes Begriffs von Grösse“ (EH, Warum ich so klug bin 4). Ein ähnliches Urteil findet sich auch in Taines Aufsatz über Byron in der Histoire de la Littérature Anglaise. Faust ist ein trauriger Held […] Seine größte Handlung ist die Verführung einer Grisette und ein nächtlicher Tanz in schlechter Gesellschaft, zwei Heldenthaten, die alle Studenten vollbracht haben.8 Seine Willensäußerungen sind Anwandlungen, die nicht zur That reifen, seine Ideen sehnsuchtsvolle Erhebungen und Träume. Eine Dichterseele in einem Gelehrtenkopfe, alle beide unfähig zur That […]; mit einem Worte, der Charakter fehlt, es ist ein deutscher Charakter. Welch ein Mann ist Manfred neben ihm!9
In der Faust-Gestalt erblickten Nietzsche und Taine die „idealistischen“ Grenzen des deutschen Charakters: der handlungsunfähige Gelehrte, bei dem die Anwandlung den Willen überwiegt. Während Goethes Tragödie die Erlösung am Ende kennt – gerade die Gretchen-Handlung hatte Schopenhauer als höchst tragisch gewürdigt –, fordert Manfred hingegen bis zum Schluss die Dämonen heraus, die ihn umgeben: „The hand of death is on me – but not yours“ (Akt III, 4. Szene, V. 141). Nach Taine hatte Goethes epische Kraft durch Erinnerung und Dichtung „wahre Götter“, sprechende und handelnde 8
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Nietzsche greift diese Anregung in dem Aphorismus Die Faust-Idee (WS 124) auf und entwickelt sie weiter: „Eine kleine Nähterin wird verführt […] Ohne die Beihülfe des leibhaftigen Teufels hätte es der grosse Gelehrte nicht zu Stande gebracht“. Vgl. Stendhal, Correspondance inédite, Bd. II, S. 254 (dt. Übers. S. 718): „Goethe gab dem Doktor Faust den Teufel zum Freund, und mit einem so mächtigen Verbündeten macht Faust all das, was wir alle mit zwanzig gemacht haben: er verführt eine Putzmacherin“. H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. III, S. 126.
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Götter, im 19. Jahrhundert zum Leben erweckt. Es war ihm gelungen, die Götter des Mythos in einem prekären, äußersten Gleichgewicht am Leben zu halten, während er hinter ihnen fortwährend den philosophischen Gehalt, das „ungreifbare Ideal“, aufscheinen ließ: Wer sind sie, diese übernatürlichen Wesen, dieser Gott, dieser Mephistopheles und diese Engel? Ihre Substanz ist in steter Auflösung und Neubildung begriffen, um die Idee, welche sie erfüllt, abwechselnd zu zeigen und zu verbergen. […] Nun, da sind sie, unsere Götter; wir kleiden sie nicht mehr, wie unsere Vorfahren, in Bilder oder Personen ein; wir erkennen sie so, wie sie in sich selbst sind, und wir brauchen deshalb nicht auf die Poesie zu verzichten, noch mit der Vergangenheit zu brechen.10
Die Götter im Manfred sind dagegen Theatermasken und Dämonen, an die Byron selbst nicht mehr glaubt: „Menschen, Götter, Natur, all die wechselnde und bunte Welt Goethes ist entschwunden. Es bleibt allein der Dichter übrig, wie er in seinem Helden zur Erscheinung kommt“.11 Der einzige wahre Gott, der am Ende bleibt – freilich ein „leidender und gefallener Gott“, aber dennoch ein Gott – ist „das Ich, das unbezwingliche Ich […], der einzige Urheber seines Glücks und seines Unglücks“.12 Dies entspricht der Charakteristik des prädestinirten Menschen, die Nietzsche im Entwurf für eine Fortsetzung des Zarathustra gibt. Der prädestinierte Mensch, der die neuen Werte im Gegensatz zur fortschreitenden Verkleinerung des Menschen bestimmt, ist ein „Verborgener“, der „jede Heimat, jedes Ausruhen von sich gestoßen“ hat und den neuen Weg des großen Stils zu weisen vermag: „Herr werden über sein G l ü c k wie sein Un g l ü c k “ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 35[74]). Schon in einem Fragment aus dem Jahr 1884 (KGW VII/2, 26[179]) hatte Nietzsche sich diese Charakterisierung des byronschen Helden zu Eigen gemacht: „‚Herr seiner Tugenden, Herr seiner Schuld‘ wie Manfred“. Wenn Goethe für Taine der epische „Dichter des Universums“ ist, der „in seinem Faust das Epos des Zeitalters und die Geschichte des 10 11 12
Ebd., S. 121–122. Ebd., S. 125. Ebd., S. 132.
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Menschengeistes“ geschrieben hat, dann ist Byron der „Dichter des Individuums“,13 ein energischer Wille. In seiner Byron-Analyse hatte Taine dem Manfred breiten Platz eingeräumt und die Stellen angeführt, die seinen heroisch-aktiven Aspekt belegen. Vor allem war er auf den Schluss des Dramas eingegangen, wo das Thema des Willens („Willenskraft ist in dieser Seele die unerschütterliche Basis“) und der Person, die sich keiner Macht beugt, besonders klar hervortritt. Es ist bekannt, dass der junge Nietzsche sich von dem englischen Dichter stark angezogen fühlte. In seinen Augen war Byron das Symbol einer titanenhaften, prometheischen Hybris, die in ihrer Herausforderung des Himmels alle Grenzen brach. Dieser Zerstörungsdrang im Verhältnis zur Tradition schlug sich in Nietzsches Interesse für die heroischen und übermenschlichen Gestalten der nordischen Sagen nieder, deren Hintergrund die „Götterdämmerung“ ist.14 Für Taine gehörte Byron zu jener „seltsame[n] und durchaus nordische[n] Poesie, die ihre Wurzel in der Edda […] hat“, in der Taine den Ausdruck „einer zu eigenwilligen, zu starken und zu düsteren Rasse“ sah, die nach dem äußersten Heroismus schließlich zum düsteren Traum „allgemeiner Zerstörung“ gelangte.15 Zum Beleg seiner These kommentiert Taine Darkness, das trostlose, großartige Gedicht von Byron, das die abschließende Herrschaft der Finsternis thematisiert (I had a dream, which was not all a dream./ The bright sun was extinguish’d, and the stars/ Did wander darkling in the eternal space,/ Rayless and pathless …). Der junge Nietzsche schätzte das Titanenhafte, ‚Übermenschliche‘ von Byrons Schöpfungen – in einem noch nicht philosophisch bestimmten Sinn. Dreimal verwendet er in seiner Schrift zu den dramatischen Dichtungen Byrons aus dem Jahr 1861 in Bezug auf Manfred den Begriff Übermensch:16 einmal um dessen Figur zu umreißen („dieses geisterbeherrschenden Übermenschen“), dann um 13 14
15 16
Ebd., S. 132 und 63. Zu den verschiedenen Aspekten der jugendlichen Leidenschaft Nietzsches für das titanische Heldentum der Nibelungensagen und für Byron vgl. G. Campioni, Leggere Nietzsche. H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. III, S. 115–116. F. Nietzsche, Ueber die dramatischen Dichtungen Byrons, KGW I/2, S. 345 und 348.
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die Natur seiner Qual zu charakterisieren („seine übermenschliche Verzweiflung“), und schließlich zur Kennzeichnung von Byrons Werk selbst. Im Übrigen findet sich der Begriff bei Byron selber zur Bezeichnung von Manfreds verbotenen Zauberkünsten: „superhuman art“ (Akt II, 2. Szene, V. 148) und „I lean no more on superhuman aid“ (Akt I, 2. Szene, V. 4). Bei Byron begegnen wir Themen und Bildern, die auch in Nietzsches Schriften von großer Bedeutung sind: der ausdrücklichen Überzeugung, einer anderen, nichtmenschlichen Rasse (Race), anzugehören (Akt II, 2. Szene, V. 50ff.), der daraus folgenden Einsamkeit und dem Verzicht darauf, Führer und Beherrscher der Völker zu sein, denn „wer herrschen will, muß zuvor dienen … ich wollte mich mit keiner Herde gemein machen, und niemandes Anführer, auch nicht von Wölfen, sein. Einsam ist der Löwe, und so auch ich …“ (Akt III, 1. Szene, V. 116ff.). Manfred ist „a man of many thoughts/ and deeds of good and ill, extreme in both“ (Akt II, 2. Szene, V. 34–35). Beachtung verdient auch die symbolische Landschaft im Manfred, mit ihren Gebirgsketten, „den eisigen Gipfeln der Berge, wo die Vögel ihr Nest zu bauen nicht wagen“ (Akt II, 2. Szene, V. 63–64), und den Abgründen, in die man „mit Stolz“ schauen soll, die Angst unterdrückend, wie die „höheren Menschen“ im Zarathustra (Za, IV, Vom höheren Menschen 4). Manfred ist ein „unbounded spirit“, ein Freigeist. Wie schon der junge Nietzsche in seinem Beitrag für den Verein „Germania“, Ueber die dramatischen Dichtungen Byrons, feststellte, ist Byron „frei von aller Religiosität, ja überhaupt von allen Gottesglauben“. Für die christliche Geduld findet Manfred Worte, die dem deutschen Philosophen wert und teuer sind: „Dieses Wort ist für Lasttiere geschaffen, nicht für Raubvögel! Predige es den Sterblichen, die aus Staub sind wie Du. Ich bin nicht Deinesgleichen“ (Akt II, 1. Szene, V. 35–38), antwortet er dem Jäger, der ihn der Gesundheit und Gesellschaftlichkeit der Sterblichen zurückgewinnen will. Nietzsches in einem Fragment aus der Entstehungszeit des Zarathustra (Nachlass 1881, KGW V/2, 12[70]) ausdrücklich geäußerte Absicht, er wolle das Ganze dieses Werks „als eine Art Manfred und ganz persönlich schreiben“, verdient daher mehr beachtet zu wer-
Byron in Venedig
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den als dies bislang der Fall war. Gleich im Anschluss betont er die absolute Unabhängigkeit, die wahren Selbstbesitz bedeutet: „Von den Menschen suche ich w e d e r ‚ L o b n o c h M i t l e i d n o c h H ü l f e ‘ – ich will sie vielmehr ‚durch mich ü b e r w ä l t i g e n ‘“.17 Wie diese Andeutungen aus den Jahren 1880–1881 zeigen, nahm Nietzsche den Manfred bedeutsamerweise erneut zur Hand, nachdem er das Byron-Kapitel in Taines Geschichte der englischen Literatur gelesen hatte. Ein von Nietzsche mehrfach benutztes Bild18 verbindet Byron mit der Charakterisierung des höheren Menschen im Zarathustra: „Scheu, beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missrieth: also, ihr höheren Menschen, sah ich oft euch bei Seite schleichen“ (Za, Vom höheren Menschen 14). Byron schreibt: „I am the Tyger (in poesy), if I miss the first spring – I go growling back to my Jungle“.19 Nietzsche verwendet diese Metapher (die Byron auf sich selbst bezieht) zur Beschreibung der höheren Menschen, die beim Würfelspiel versagt haben und aufgeben: „Ihr lerntet nicht spielen und spotten wie man spielen und spotten muss!“20 17
18
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20
Nietzsche bezieht sich hier auf Manfred, Akt II, 1. Szene. Aber schon im Nachlass 1880–1881, KGW V/1, 8[22] schreibt er: „Manfred: niemandem das R e c h t geben ihn zu strafen, zu begnadigen, zu b e m i t l e i d e n (‚es !ist" nicht so schwer zu sterben, alter Mann‘).“ Durch die Wiedergabe von Manfreds abschließenden Worten bekräftigt Nietzsche dessen Position. Vgl. auch M 437. Vgl. Nachlass 1884, KGW VII/2, 27[52] und Nachlass 1884–85, KGW VII/3, 31[49]. Vgl. Byron, Letters and Journals, Bd. II, S. 29. Vgl. auch H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. III, S. 95: „Ich bin wie der Tiger: wenn ich meinen ersten Sprung verfehle, gehe ich knurrend wieder in mein Dickicht zurück“. Za, Vom höheren Menschen 14. Es sei hier eine weitere genaue Entsprechung zwischen Nietzsche und Byron angeführt. Im Don Juan heißt es: „The antique Persians taught three useful things:/ to draw the bow, to ride, and speak the truth“ (XVI, V. 1–2). Schon der junge Nietzsche greift das Bild mit kleinen Varianten in seinen Notizen mehrmals auf: „Perser: Gut schiessen, gut reiten, nicht borgen und nicht lügen“ (Nachlass 1874, KGW III/4, 32[82]); vgl. auch ebd., 34[9]. Er verwendet es dann auch in Zarathustra I (Von tausend und Einem Ziele) und schließlich in Ecce homo (Warum ich ein Schicksal bin 3): „Wahrheit reden und g u t m i t P f e i l e n s c h i e s s e n , das ist die persische Tugend“.
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In seiner späteren Auseinandersetzung mit Byron vertieft Nietzsche verschiedene Aspekte seiner Interpretation, die im Einzelnen nachzuvollziehen sicher aufschlussreich wäre. Insgesamt tritt fraglos ein reiferes Verständnis an die Stelle der jugendlichen Identifikation mit dem Übermenschlichen Byrons. Manfred erscheint jetzt als der vornehmste Ausdruck des höheren Menschen, der gerade aufgrund seiner Vornehmheit und Kraft volles Bewusstsein seines inneren Chaos hat, durch das er sich am Ende selbst zerstören wird. „It is an awful chaos …“, „I have not been thy dupe, not am thy prey – But was my own destroyer …“ (Akt III, 3. Szene, V. 138f.). Zusammen mit Beethoven und Rousseau wird Byron nun zu denjenigen gezählt, die „die Wirkung des Ungeheuren auf Menschen“ antizipierten, „deren Nerven- und Willenskraft schon zu schwach […] war“.21 Sich auf das Urteil von Stendhal und Taine beziehend, stellt Nietzsche die ungeheure Hypertrophie des Ich heraus.22 Auch das Handeln ist für solche Geschöpfe, die unter gewaltigen Widersprüchen leiden, eine Flucht vor sich selbst. Im Folgenden möchte ich versuchen, den Sinn einiger kurzer Fragmente Nietzsches über Byron zu erhellen, die uns wiederum zu seinen französischen Lektüren führen. Ein langes gegen Rousseau gerichtetes Exzerpt aus Brunetière enthält die folgende Beobachtung Nietzsches, die nicht in Brunetières Text steht: „Das K r a n k h a f t e an Rousseau am meisten bewundert und nachgeahmt. (Lord Byron verwandt: auch sich zu erhabenen Attitüden aufschraubend, zum rancunösen Groll; Zeichen der ‚Gemeinheit‘; später, durch Ve n e d i g ins Gleich21 22
Nachlass 1885, KGW VII/3, 34[211]. Siehe auch ebd., 37[15]. Vgl. Stendhal, Lord Byron en Italie, S. 268: „Die Seele von Lord Byron war der von J. J. Rousseau eng verwandt, in dem Sinne, dass er fortwährend mit sich selbst befasst war und mit der Wirkung, die er auf andere machte“. H. Taine stellt fest, dass die „Hypertrophie des Ich“ prägend ist für so unterschiedliche Geister wie Byron, Wordsworth und Carlyle (Notes sur l’Angleterre, S. 360–361). Auch für den Aphorismus 549 aus der Morgenröthe, „Selbstflucht“, lieferten Taines Seiten einen Ausgangspunkt; vgl. H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. III, S. 94. Sicher gehört Byron außerdem zu jener „kleine[e] edle[n] Gemeinde von Unbändigen, Phantasten, Halbverrückten, von Genie’s, die sich nicht beherrschen können und allen möglichen Genuss an sich erst dann haben, wenn sie sich völlig verlieren“ (M 50).
Byron in Venedig
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gewicht gebracht, begriff er, was m e h r e r l e i c h t e r t und w o h l t h u t , … l’insouciance)“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[184]). Ausdrücklich erkennt Nietzsche hier den negativen Einfluss Rousseaus auf den englischen Dichter an und sieht in dessen Erfahrungen in Venedig eine Befreiung im Sinne der insouciance. Die Erklärung dieses Fragments finden wir in zwei anderen Fragmenten, deren Bezüge bisher unklar waren: „Buratti, und sein Einfluß auf Byron“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[314]) und: „Die Italiäner a l l e i n in der blutigen Satire ächt und ursprünglich. Von Buratti an, der dem Genie Byron die entscheidende Wendung gab“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 34[8]). In seinem Essay über Lord Byron en Italie hebt Stendhal auf den wohltuenden Einfluss ab, den Venedig, symbolisiert durch die Satiren Burattis, auf Lord Byron hatte: Meines Erachtens hat Lord Byron seinen Beppo nur deshalb geschaffen und sich zur Höhe des Don Juan aufgeschwungen, weil er Buratti gelesen und gesehen hat, welch köstliches Vergnügen seine Verse der venezianischen Gesellschaft bereiten. Dieses Land ist eine Welt für sich, von der das traurige Europa nichts ahnt. Hier setzt man sich über die Sorgen hinweg. Die Verse von Hr. Buratti entfachen eine rauschhafte Begeisterung in den Herzen.23
Aber auch in der Correspondance inédite kommt Stendhal auf das Thema zurück: Durch das übertriebene Bibelstudium eignet dem englischen Volk eine jüdisch gefärbte Verbissenheit; die Aristokratie, die bis ins Innere der Familien dringt, verleiht ihnen eine grundlegende Strenge. Lord Byron bemerkte diesen Fehler und zeigte sich im Don Juan heiter und geistreich, erhaben und pathetisch zugleich; er schrieb diese Veränderung seinem Venedig-Aufenthalt zu. An der Spitze der unbekümmerten venezianischen Aristokratie, deren Adel fünf oder sechshundert Jahre weiter zurückreichte als der jeder anderen europäischen Aristokratie und die daher in Lord Byrons Augen besonders achtbar war, standen 1797 Leute, die zu jeglichem Geschäft unfähig, dafür aber äußerst arrogant waren. […] Die Heiterkeit und Sorglosigkeit des Grafen Bragadin und vieler angenehmer Leute, die unglücklicher und von höherem Adel waren als er, machte tiefen Eindruck auf Lord Byron. Er hatte das Glück zu sehen, welch lebhafte, aufrichtige und anhaltende Bewunderung die Verse von Hr. Buratti in der guten Gesellschaft von Venedig hervorriefen. Seither trat die leichtfü23
Stendhal, Lord Byron en Italie, S. 284–285.
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Die Götter und die décadence
ßige Ironie des Don Juan an die Stelle des bitteren Sarkasmus von Childe Harold; die charakterliche Veränderung des adligen Dichters war weniger deutlich, aber ebenso real.24
Die Quelle des Urteils ist also Stendhal und darüber hinaus Taine, der sich in seiner Geschichte der englischen Literatur auf diesen bezog.25 Buratti (1778–1822), ein Satirendichter und Verfasser von Werken in venezianischem Dialekt (L’Elefanteide, La Strefeide, L’Omo) hatte bei Stendhal eine derartige Begeisterung hervorgerufen, dass dieser ihn – in Lord Byron en Italie und andernorts – mehr als gewagt „den ersten satirischen Poeten in unserem trübsinnigen Europa“ nannte und seinem entscheidenden Einfluss eine Wandlung in Byrons poetischer Einstellung in Richtung des Don Juan und des Beppo zuschrieb. 24
25
Stendhal, Correspondance inédite, Bd. II, S. 73–74. Vgl. dazu M. Dazzi, Buratti nel giudizio di Stendhal. Siehe auch M. Crouzet, Stendhal et l’italianité. Zu Nietzsches Urteil über die italienische Satire, mit dem er sich kritisch gegen die zu stark von Musset beeinflusste Dichtung von Lorenzo Stecchetti wendet, vgl. auch den Brief an Malwida von Meysenbug (Anfang November 1883): „Diese Italiäner sind so abhängig und halten ihre Ohren so nach Frankreich und Deutschland hin! – wie in ihrer Politik. Nur in der b ö s a r t i g e n S a t i r e sind sie original und wahrhaft zu bewundern“ (KGB III/1, S. 454). Vgl. H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. III, S. 136: „Alles war darin neu, Form und Inhalt, denn er war in eine neue Welt eingetreten; der Engländer, der unter südliche Sitten und in das italienische Leben verpflanzte Bewohner des Nordens, war mit einem neuen Safte erfüllt, der ihn neue Früchte tragen ließ. Man hatte ihn die sehr freien Satiren von Buratti und sogar die mehr als sinnlichen Sonette von Baffo lesen lassen. Er lebte in der glücklichen, von politischer Erbitterung noch freien Gesellschaft Venedigs, wo die Sorge eine Thorheit schien, wo man das Leben wie einen Carneval auffaßte, wo die Lust herrschte, nicht scheu und heuchlerisch, sondern nackt und gebilligt“. Neben Stendhal und Taine sei in diesem Zusammenhang auch Paul Bourget erwähnt. In seinem Artikel L’esthéticisme anglais, erschienen im „Journal des Débats“ (6. Mai 1885), vertritt er die Ansicht, der Ästhetizismus künde vom „Einfluss des Südens auf den Norden, des lateinischen Genius auf den germanischen […]. Es kommt auch vor, dass der italienische Charme diese englischen Seelen erobert und ihnen einen Hauch von Heidentum einflößt. Man kann einen solchen Einfluss in Lord Byrons Dichtung im Detail verfolgen. Sicher hätte er die göttliche Episode von Haydée im Don Juan niemals geschrieben, hätte er nicht die sinnenfrohe Entspannung der letzten zwischen Venedig und Livorno verlebten Zeit kennen gelernt“.
„En ce siècle où les Dieux sont tout éteints …“
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Das Urteil ist sicher unhaltbar, denn Buratti ist nur ein mittelmäßiger Dichter, doch ist es für Nietzsche unter dem Gesichtspunkt von Belang, dass Byron, der ‚Mensch des Nordens‘ sich dem Geist des Südens zuwandte. Byron ist der höhere Mensch, der edelste, weil der am heftigsten leidende und stärkste, der einen weiteren Schritt in Richtung des Übermenschen tut, indem er zu lachen lernt und durch formale Sicherheit und Zusammenführung unterschiedlicher Stile (Don Juan) Herr über das glühende Chaos wird. Er ist der höhere Mensch, der genest. Auf diese Weise begegnen Byron und Stendhal einander in jener Konstellation von Bedeutungen und Werten, die sich für Nietzsche mit dem Süden verbinden.
2. „En ce siècle où les Dieux sont tout éteints …“ „[A]uch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt!“ Die Verkündigung des tollen Menschen (FW 125) bricht dramatisch herein und enthüllt die Entstehung der Unordnung, des Chaos. Es gab ein Oben und ein Unten, ein Zentrum und eine Peripherie, eine Rangordnung und einen Sinn, eine Sonne und einen Horizont: All dies gibt es nicht mehr. Der Tod Gottes spielt sich vor einem kosmischen Hintergrund ab. Er bringt Verdunkelung, Aufhebung der Schwerkraft und progressive Abkühlung mit sich, „fort von allen Sonnen“. Die Folge ist das Gefühl eines absoluten Endes. Diese Anspielung hat die kosmologischen Theorien der Thermodynamik im Auge, die das notwendige Ende des Universums durch die fortschreitende Degradation der Energie postulierten.26 Nietzsche sah in diesen Theorien 26
Was die französische Kultur angeht, auf die Nietzsche sich bezieht, ist anzumerken, dass die wissenschaftliche Hypothese von der Erkaltung des Universums als Alptraum, der durch die metaphysische Gewissheit der notwendigen Entwicklung verscheucht werden muss, im Hintergrund von Renans Dialogues steht. Auch Jules Michelet spricht in Le Peuple von einem künftigen „Eiszeitalter“ und A. Blanqui, L’eternité par les astres, führt den „Tod des Globus“ und den ‚Leichenzug‘ der erloschenen Gestirne vor Augen (S. 40–41). Nietzsche zitiert die Schrift im Nachlass 1883, KGW VII/1, 17[73].
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Die Götter und die décadence
den Schatten Gottes, die „Nachwirkung der ältesten Religiosität“ in der negativen Teleologie wie im Postulat eines absoluten Anfangs und bekämpfte sie als ein Symptom der Schwäche (FW 109, 127). Schon in jungen Jahren erkannte er in Eduard von Hartmann den Hauptvertreter solcher Positionen. Aber zu den „m o d e r n e n Pe s s i m i s t e n als décadents“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[222]) zählte er auch Philip Mainländer. In der Nachfolge Schopenhauers will dessen Werk Die Philosophie der Erlösung (1876) ein ganzes System der Immanenz errichten. Seinen Ursprung hat es im Tod des transzendenten Gottes, d.h. der Einheit, die nach Mainländer vor der Welt bestanden hat, aber über die nichts auszusagen ist und auf die die Kategorien der Erkenntnis nicht anwendbar sind. „Aber diese einfache Einheit ist gewesen; sie ist nicht mehr. Sie hat sich, ihr Wesen verändernd, voll und ganz zu einer Welt der Vielheit zersplittert. Gott ist gestorben und sein Tod war das Leben der Welt“.27 Für diesen absoluten Anfang, diesen Ausgang aus der ewigen Ruhe, hat das menschliche Fassungsvermögen keine Erklärung: „Wir haben eben den Zerfall der Einheit in die Vielheit, den Übergang des transcendenten Gebietes in das immanente, den Tod Gottes und die Geburt der Welt“.28 Für Mainländer ist die Welt die Summe von Kräften, die Objekt für das erkennende Subjekt werden: Materie, mathematischer Raum, Zeit, Substanz sind Schöpfungen des erkennenden Subjekts. Außerhalb des Subjekts gibt es nichts als Kraft und Bewegung, die sich dem „Bewußtsein“ des Subjekts, das nicht nur reine Erkenntnis ist, direkt offenbaren. Der Kern der Wirklichkeit werde durch das Selbstbewusstsein im Gefühl unmittelbar erfasst. Der Kern unseres Wesens ist die Kraft, die er, wie Schopenhauer, „Wille zum Leben“ nennt. Nietzsche kommt wiederholt auf Mainländer zu sprechen, so in den Fragmenten von 1876–1877, als er ihn im Winter in Sorrent erstmals las, und in Fragmenten aus dem Jahr 1883, die auch von seinem Interesse 27 28
Ph. Mainländer, Die Philosophie der Erlösung, S. 108. Ebd., S. 321. Schon Mazzino Montinari hatte in einer „Weimar 1964“ datierten Notiz auf dem Titelblatt des von ihm besessenen Exemplars des Bandes auf diese Äußerungen über den Tod Gottes hingewiesen.
„En ce siècle où les Dieux sont tout éteints …“
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an Mainländers ästhetischen Theorien zeugen.29 Den vielfach trockenen Spekulationen des jungen Philosophen, der sich in tragischer Konsequenz im Alter von 35 Jahren das Leben nahm, soll hier nicht nachgegangen werden, vielmehr dem Nihilismus, der sich aus dem „Tode Gottes“ ergibt. Die Entfaltung des Willens zum Leben und die Bewegung führen zu einer fortschreitenden Schwächung der Kraft in der Welt,30 zu ihrer Dispersion, die teleologisch schon in jenem anfänglichen Bruch, dem Tode Gottes, vorgezeichnet war. Die ganze Welt hat das Nichtsein zum Ziel und erreicht es durch eine fortschreitende Schwächung der Kraftmenge. In Wirklichkeit ist die Kraft also „Wille zum Tode“, kein „Wille zum Leben“, das Leben ist nur Verzögerung, ist nur „Erscheinung des Willens zum Tode“, gleichsam eine momentane Verirrung im Verhältnis zum notwendigen Tod. Die pessimistische Philosophie, die das absolute Ende voraussagt und will, schließt soziales Engagement für die Enterbten nicht aus, und zwar im Staate, in dem alle Menschen nach und nach den Naturzustand des Raubtiers überwinden. In diesem Punkt polemisiert Mainländer gegen Schopenhauer. Der „ideale“ Staat ist ebenfalls eine unumgängliche Folge des Geschichtsprozesses: es ist „die reale Entwicklung der menschlichen Gattung“, „nothwendiges Schicksal der Menschheit“.31 Im vorausgesagten Endstadium des Wohlstands und der Gleichheit erkennt jeder, dank des Zuwachses an Bewusstsein durch die Verallgemeinerung von Bildung und Erziehung, den geringen Wert der materiellen Güter, die er zuvor entbehrte. Das Bewusstsein führt zum Todeswillen, zum Nirwana, der Ruhe des absoluten Nichts. So wäre die einzige erstrebenswerte Bewegung für die Menschheit im idealen Staat die „Bewegung aus dem Sein in das Nichtsein“.32 Dieses absolute Ende ist allen sicher, gleich ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, gleich ob sie sich vom aufgeklärten Egoismus 29
30 31 32
Vgl. den Brief an Franz Overbeck vom 6. Dezember 1876 sowie die Fragmente 19[99] (Nachlass 1876, KGW IV/2); 4[118] (Nachlass 1882–1883, KGW VII/1); 7[134–136], [140], [192] (Nachlass 1883, KGW VII/1). Ph. Mainländer, Die Philosophie der Erlösung, S. 110. Ebd., S. 210–211. Ebd., S. 215.
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Die Götter und die décadence
leiten lassen oder nicht. Einstweilen gründete der pessimistische Philosoph Mainländer, der in einer tief greifenden Sozialreform die Voraussetzung für die Erlösung sah, im Jahre 1874 eine Art Templerorden, einen Graalsorden, und erblickte in der Keuschheit (Virginität) ein Instrument der Befreiung. Berücksichtigen wir ferner die zentrale Bedeutung des Themas Blut – „die Obiektivation unseres innersten Wesens, des Dämons, der im Menschen dieselbe Rolle, wie der Instinkt im Thiere spielt“33 – und die Bezugnahme auf den Orient, gesehen durch die Schleier der Philosophie Schopenhauers, so wird deutlich, dass gerade diese Themen, die in ganz Europa in mannigfaltigen Formulierungen Verbreitung fanden, beim späten Wagner eine neue Dimension von ganz anderer Suggestivkraft erlangten. Bei Mainländer sah Nietzsche, dass die Verkündigung vom Tode Gottes von Anfang an die Notwendigkeit des Todes des Menschen in sich birgt. Das von Mainländer postulierte gesellschaftliche Endstadium kommt dem von Nietzsches „letztem Menschen“ nahe. Beide sind das Resultat eines Verkleinerungsprozesses und sind gekennzeichnet durch Gleichheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Es ist der äußerste Zustand einer Schwächung der Kräfte, der das Ende aus Erschöpfung ankündigt. Doch ist die Verwirklichung dieser gesellschaftlichen Vollendung für Mainländer, anders als für den „letzten Menschen“ des Zarathustra, nicht die „Erfindung des Glücks“ in den kleinen Alltagstugenden, sondern Wille zum Nichts in reinster Form, Nihilismus. Die Passivität, das „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war“, findet nicht einmal die Kraft zu einem aktiven Ende, sondern projiziert die Garantie des gewünschten Endes auf die Entwicklungsmechanismen der Zukunft: „Wahrlich, zum Sterben wurden wir schon zu müde; nun wachen wir noch und leben fort – in Grabkammern!“ (Za II, Der Wahrsager), spricht der Wahrsager, eine Figur der „langen Dämmerung“ des passiven Nihilismus. Die Passivität ist eine der Folgen von Gottes Tod, gegen die Nietzsche sich wandte. Ebenso bekämpfte er die Haltung, die den Fortschritt und die Verwirklichung eines idealen Endstadiums durch eine teleologische Perspektive garantiert sah: durch die Göttlichkeit oder, 33
Ebd., S. 54–55.
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in den positivistischen Lehren, durch den Triumph der vollkommenen Gesellschaft, in der Egoismus und Altruismus ein Gleichgewicht finden. Deshalb empfand Nietzsche Renan als seinen Antipoden. Denn mehr als jeder andere übertrug Renan der Religion der Wissenschaft, die seines Erachtens die Göttlichkeit verwirklichen konnte, die Aufgabe, die durch den Tod Gottes entstandene Leere zu bannen, und wandte sich damit gegen das für den bürgerlichen Geist prägende verallgemeinerte Streben nach Wohlstand und Genuss. An verschiedenen Stellen zieht Renan gegen die Stumpfsinnigkeit und Gewöhnlichkeit eines „beschränkten und endlichen“, nicht vom Ideal erleuchteten Lebens zu Felde, das eine egoistische Energieverschwendung bedeutet, weil es nicht auf die Verwirklichung des Gottes gerichtet ist. Den „langweiligen Händlern“ setzt Renan den „erhabenen Wahn“ des Säulenheiligen, des Asketen, des „Helden eines uneigennützigen Lebens“, ja sogar des Fanatikers entgegen, der seinen Kopf mit Freude unter die Räder des heiligen Karrens legt, weil dieser Wahnsinn, wenn auch auf irrationale Weise, von seinem idealen Impuls zeugt. „Der Wilde mit seinen Träumen und Märchen ist mehr wert als der positive Mensch, der bloß das Endliche versteht“.34 Sowohl der Gott, der sich am Ende auf Kosten des Lebens der Einzelnen – reinen Energiespendern zugunsten einer höheren Form – verwirklicht, als auch Mainländers uranfänglicher Tod Gottes, „Ding an sich“, der den Individuen das Leben schenkt, sind in Nietzsches Augen Ausdruck passiver Haltungen und ihrer inneren Logik nach einander verwandt. Bei Mainländer ist das Leben, die Vielheit der Individuen, die aus dem Tode Gottes entstanden sind, nichts anderes als ein Streben, dessen einziges Resultat die absolute Ruhe des Nichtseins ist. Der Gott, der stirbt, kann nicht definiert werden, er ist gegenüber der Immanenz ein Negativum. Und doch ist das Leben des Menschen von diesem Gott bestimmt, die Rückkehr ins Nichts ein unausweichliches Schicksal. Es ist das genaue Gegenteil jenes Sinnes der Dramatisierung, den Nietzsche bei Heine fand: Tod oder unterirdisches Exil der heidnischen, vom Christentum besiegten Götter, vertrieben, im Nieder34
E. Renan, L’avenir de la science, OC III, S. 795–797.
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gang. Hier wird die Vielheit des Lebens und der Kräfte von der Abstraktion des christlichen Gottes, des Dings an sich, absorbiert und vernichtet. Das Ding an sich ist eine weitere Entmachtung Gottes; es kommt danach, ist kein primum. Die von Plutarch stammende Verkündigung vom Tode Pans, die Heine in Ludwig Börne erzählt, symbolisiert das Ende der antiken Welt, die Unterdrückung der natürlichen Vitalität. Die Götter sterben vor „innerem Grauen“ angesichts des Erlöserblutes, das auf Golgotha floss:35 Nietzsche übernimmt das Bild von Plutarch. In der Geburt der Tragödie (GT 11) entspricht der Tod des Pan dem Untergang der tragischen Kunst, in den nachgelassenen Fragmenten dem „Untergang der Götter“ (Nachlass 1870– 1871, KGW III/3, 7[15]) und der „Vernichtung des Daseinstriebs“ (ebd., 8[37]). Heine kommt mehrfach auf das Thema zurück, das im Mittelpunkt seiner Schrift Götter im Exil steht. Angesichts der Herausforderung des leidenden Christus „verstummten und erblichen [die Götter] und [wurden] immer bleicher, bis sie endlich ganz in Nebel zerrannen“.36 Schon bei Heine sind die Kirchen, wie im Zarathustra, Mausoleen und Grabstätten der heidnischen Götter. Dies unterstreicht den vielfach gestalteten Gegensatz Himmelreich – Erdenreich, der auch im Kapitel Vom höheren Menschen anklingt:37 die Gegenüberstellung von jenen Göttern, die für die Mannigfaltigkeit der irdischen Werte stehen, und dem Gott der Entsagung, der in einem Prozess zunehmender Vergeistigung und Abstraktion vom Leben stirbt.38 Im Gespräch mit dem letzten Papst stirbt Gott an einer pro35
36 37
38
H. Heine, Ludwig Börne, in: Sämmtliche Werke, Bd. XII, S. 73f. Vgl. F. Nietzsche, GT 11 und ST 1, sowie den Nachlass 1870–1871, KGW III/3, 5[116], 7[8] und 7[15]. H. Heine, Die Stadt Lucca, in: Sämmtliche Werke, Bd. II, S. 74. Vgl. H. Heine, Deutschland, ein Wintermärchen, Kap. I, in: Sämmtliche Werke, Bd. XVII, S. 123: „Ein neues Lied, ein besseres Lied,/ O Freunde, will ich euch dichten!/ Wir wollen hier auf Erden schon/ Das Himmelreich errichten“, und Za IV, Das Eselsfest 2; siehe auch Nachlass 1884–1885, KGW VII/3, 32[11]. Mit besonderer dramatischer Kraft bringt Heine dies auch in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland zum Ausdruck. Kants Wirkung, was den Untergang des traditionellen Gottes angeht, ist nicht geringer als die der Franzö-
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gressiven Entkräftung, hat kein Verhältnis mehr zur Macht des Lebens, die der Schöpfung der Götter zugrunde liegt. Nietzsche schätzte Heine sehr, nachdem er von seinen frühen Negativurteilen über ihn abgerückt war. Zusammen mit Hegel hatte er ihn anfänglich als „Unglücksfall der deutschwerdenden Kultur“ betrachtet und das „nichtswürdigste Grau“ Hegels mit der „Hans Wurst Jacke“ des Dichters verglichen, der als Virtuose „alle Stilarten [beherrscht], um sie nun durcheinander zu werfen“: dies Farbenspiel wie jenes Grau, meinte er, griffen die Augen fürchterlich an (Nachlass 1872–1873, KGW III/4, 19[272] und 27[29]). Nietzsche kritisierte auch Heines Auslegung der „griechischen Heiterkeit“ im Sinn eines „bequeme[n] Sensualismus“, gegen die er einwandte, jede „wahrhaft schöne Fläche“ setze eine „schreckliche Tiefe“ voraus (Nachlass 1871, KGW III/3, 11[1], S. 368). Diese frühen Einschätzungen Nietzsches waren durch Wagners ideales Deutschtum und dessen starke Aversion gegen Heine bedingt. Die Loslösung von Wagner ging mit einem immer beifälligeren Urteil über Heine einher, bis hin zur vollen Übereinstimmung mit dem Dichter, der als „europäisches Ereigniß“ in Paris seine wahre Heimat habe und nur dort gebührende Anerkennung finde. Wie im Falle Schopenhauers,39 „ist auch der Cultus Heinrich
39
sischen Revolution: „es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet“. Der historische Blick folgt ihm von der Kindheit an in all seinen Verwandlungen: erst in Ägypten, „als er unter göttlichen Kälbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wurde“, dann in Palästina, wo er „bei einem armen Hirtenvölkchen ein kleiner Gott-König“ wurde, der in einem eigenen Tempelpalast wohnte, bis er als Erwachsener schließlich nach Rom auswanderte, „wo er allen Nationalvorurtheilen entsagte und die himmlische Gleichheit aller Völker proklamierte“. Dieses entscheidende Ereignis war der Anfang eines unumkehrbaren Niedergangs: „Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philantrop – es konnte ihm Alles Nichts helfen. Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder – Man bringt die Sakramente eines sterbenden Gottes“ (H. Heine, Sämmtliche Werke, Bd. V, S. 177–178). „In diesem Frankreich des Geistes, welches auch das Frankreich des Pessimismus ist, ist heute schon Schopenhauer mehr zu Hause als er es je in Deutschland war; sein Hauptwerk zwei Mal bereits übersetzt, das zweite Mal ausgezeichnet, so dass ich es jetzt vorziehe, Schopenhauer französisch zu lesen“, schreibt Nietzsche in NW, Wohin Wagner gehört, und entfernt sich damit
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Heines nach Paris übergesiedelt“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 38[5]), er ist „den feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und Blut übergegangen“ (JGB 254). „Die Pariser behaupten außerdem, daß er mit 2 anderen Nicht-Parisern die Quintessenz des Pariser Geistes darstelle“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 34[154]). Nietzsche bezieht sich hier auf das Urteil der Goncourts, die Heine in Idées et sensations40 in dem genannten Sinn neben Galiani und den Fürsten von Ligne stellten. Besonders schätzte Nietzsche an Heine die „göttliche Bosheit“ (EH, Warum ich so klug bin 4), die Buffonerie, in der er Offenbach, Aristophanes, Petronius verwandt sei, sein Lachen und seinen Geschmack, die die Deutschen ihm nicht verzeihen konnten, aber auch die Tatsache, dass er – Quintessenz des Pariser Geistes – als Jude ein wirksames Heilmittel gegen die r a b i e s n a t i o n a l i s (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 18[3]) war. Unter anderen Parisern fand Heine, dieser „schreckliche Spötter“, auch in Paul Bourget einen großen Bewunderer und Nachahmer. 1884 hatte er die Mémoires de H. Heine, das von Jean Bourdeau übersetzte Tagebuch der Krankheit, rezensiert. Nach Bourget kann der ‚Frohsinn‘ des deutschen Dichters nicht mit demjenigen Voltaires oder des Fürsten von Ligne verglichen werden, weil in die-
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vom Text des Aphorismus 254 in JGB. Er bezieht sich hier auf die Übersetzungen von Die Welt als Wille und Vorstellung durch J. A. Cantacuzène (Leipzig, Brockhaus 1886) und A. Burdeau (Paris, Germer-Baillière 1888). Zur Schopenhauer-Rezeption in Frankreich siehe A. Baillot, Influence de la philosophie, und R.-P. Colin, Schopenhauer en France. Vgl. auch den Beitrag von J. Bourdeau, Le centénaire, aus dem hervorgeht, wie erfolgreich Heine und Schopenhauer in Frankreich waren. Schopenhauer ist in Kultur und Sitte von Paris so präsent, dass der Figaro den „Schopenhauerianer“ in einer Physiologie des Parisers wie folgt präsentiert: „Schopenhauer ist für ihn eine Art moralischer Schneider, transzendenter Hut- oder metaphysischer Stiefelmacher geworden. Er ist schopenhauersüchtig wie man morphiumsüchtig wird“ (Le Figaro, 21. März 1886), zit. in E. Carassus, Le snobisme, S. 337. E. et J. de Goncourt, Idées et sensations, S. 219. Nietzsche schrieb das Urteil auch in seinen Exzerpten aus Band I des Journal der Goncourts nochmals auf: „Rien de plus charmant, de plus exquis que l’esprit français des étrangers, l’esprit de Galiani, du prince de Ligne, de Henri Heine“ (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[296], S. 365); vgl. E. et J. de Goncourt, Journal des Goncourt, Bd. 1, S. 295.
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sem „diabolischen und schmeichelnden, ergötzlichen und grausamen Geist“ letztlich die „unversöhnliche jüdische Verneinung“ lebt. Bourget unterstreicht, dass Heine dank der Beherrschung der Stilmittel und dank seiner Nachahmungsfähigkeit auf geniale Weise das Wunder vollbrachte, von dem die Alchemie seit jeher träumte: „die Verwandlung des Bleies in Gold“.41 Wie Nietzsche war auch Bourget der Ansicht, dass die Fähigkeit zur Mystifikation wesentlich zu Heines Persönlichkeit gehörte. So konnte Nietzsche ihn am Ende seines Weges zusammen mit Wagner als „ein c a p i t a l e s Fa k t u m in der Geschichte des ‚europäischen Geistes‘ [und] der ‚modernen Seele‘“ bezeichnen. Bei aller Gegensätzlichkeit – der Leichtigkeit und Buffonerie Heines entgegen Wagners Schwere und Idealismus – sind sie „die beiden größten Betrüger, mit denen Deutschland Europa beschenkt hat“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 16[41]). Bis zuletzt zeigt Nietzsche, dass er mit Bourgets Urteilen vertraut war. So fügte er im Text des Aphorismus 254 aus Jenseits von Gut und Böse, den er in Nietzsche contra Wagner wiederaufnahm, den Ausdruck „l’adorable Heine“ ein, den er dem gerade erschienenen Band des französischen Kritikers, Études et Portraits, entnommen hatte.42 In Nietzsches Bibliothek befindet sich heute nur der zweite Band dieses Werks. Wie weitere Spuren in Ecce homo belegen, muss Nietzsche die beiden Bände von Bourgets Werk an den letzten Tagen seines bewussten Lebens gelesen oder wenigstens durchgeblättert haben. 41
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P. Bourget, L’enfance de Henri Heine (1884), in: Pages de critique et de doctrine, S. 241. In seinem Essay über Stendhal zählte Bourget Heine zu den „melancholischen Epikuräern dieser seltsamen Zeit, da die kostbarsten Metalle der Zivilisation und der Natur sich in den Köpfen ganz junger Leute wie in einem weißglühenden, intelligenten Schmelztiegel verschmelzen; – was schadet es, wenn sich die Metalle dort manchmal verflüchtigen!“ (Essais, S. 288; dt. Übers. S. 249). 1906 widmete Bourget dem deutschen Dichter zu seinem 50. Todesjahr einen Aufsatz mit dem Titel Henri Heine et Alfred de Musset; vgl. Études et Portraits, Bd. 3, S. 260–271. „Gar nicht zu reden von Heinrich Heine – l’adorable Heine sagt man in Paris –, der den tieferen und seelenvolleren Lyrikern Frankreichs längst in Fleisch und Blut übergegangen ist“ (NW, Wohin Wagner gehört). Vgl. P. Bourget, Études et Portraits, Bd. 1, Paris 1889, S. 20. Der Band wurde jedoch am 25. Juli 1888 gedruckt (vgl. S. 369) und ist Ende 1888 erschienen.
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Das Thema vom Tode Gottes und der Götter wird in Nietzsches Antichrist im Sinne einer fortschreitenden Abstraktion und eines zunehmenden Machtverlusts weiterentwickelt: Gott wird „Spinne, […] Metaphysicus“, wird „Ding an sich“.43 Durch Heine erfuhr das Thema Verbreitung in der französischen Kultur und wurde zu einem Kennzeichen der Sensibilität der Décadence.44 Es reicht, an das lange Gedicht Les Blasphèmes von Jean Richepin zu erinnern, das in Nietzsches Bibliothek erhalten ist. Mit der kampflustigen Haltung des Gladiators streitet Richepin als radikaler Atheist – Raffinement und Gekünsteltheiten einer soliden literarischen Bildung mit groben und brutalen Provokationen verknüpfend – für die Befreiung des Menschen von allen Göttern der Vergangenheit und Gegenwart, bis zu ihrem Tod: als bleiche Schatten zurückgeworfen ins „Chaos sombre“.45 „Pauvres Dieux! Quelle hécatombe!/ Vous allez tous à la tombe./ Voici le dernier qui tombe,/ Et l’Homme est toujours debout“.46 La mort des Dieux, so lautet bezeichnenderweise der Titel des langen Mittelteils des Gedichts. Aber Richepin will nicht nur gegen den ‚groben und abscheulichen Aberglauben‘, sondern auch gegen die süßen und schönen Illusionen, die tröstlichen Glaubensformen kämpfen: „la confiance dans la Justice, l’appétit de l’Idéal, l’admiration d’un Ordre éternel“. Ganz hinabsteigen will er „cet escalier vertigineux qui conduit à l’épouvantable et serein nihilisme“. Im Schlussteil des Gedichts zieht Richepin gegen die neuen Verkörperungen der Götter zu Felde und will noch deren Schatten bekämpfen,
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AC 17; vgl. auch Nachlass 1888, KGW VIII/3, 17[4] 3. Einen Beleg für die Verbreitung des Themas liefert die Polemik von Charles Baudelaire gegen die neuheidnischen Dichter in einer Rezension, in der er zunächst den Plutarch-Spruch über Pans Tod anführt und dann schreibt: „Mir scheint, dass dieser übertriebene Paganismus die Ausgeburt eines Menschen ist, der zu viel Heinrich Heine und dessen mit materialistischem Sentimentalismus getränkte Literatur gelesen hat, und schlecht noch dazu“ (L’École païenne). J. Richepin, Les blasphèmes, S. 182. Vgl. die äußerst kritische Rezension des Bandes durch Ferdinand Brunetière in: Revue des deux mondes, Mai-Juni 1884, S. 695–705. J. Richepin, Les blasphèmes, S. 123.
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wie er bereits in der Einleitung schreibt: „Partout où se cachait l’idée de Dieu, j’allais vers elle pour la tuer. Je poursuivais le monstre sans me laisser effrayer ni attendrir, et c’est ainsi que je l’ai frappé jusque dans ses avatars les plus subtils ou les plus séduisants, j’entends le Concept de Cause, la foi dans une Loi, l’apothéose de la Science, la religion dernière du Progrès“.47 Moralische und physikalische Gesetze treten hinter der Herrschaft des Zufalls und der Kraft zurück: „les Lois ne sont qu’une habitude/ Dont l’aspect éternel et la Sublimité/ Sont un effet d’optique à notre œil limité“.48 Paul Bourget sah den Tod der Götter, aller Götter, als Kennzeichen der Zeit, der es an einem „allgemeinen Credo“ fehlte. Ein wichtiger Bezugspunkt für die Sensibilität der Décadence war Leconte de Lisle, der den Tod der Götter und den bevorstehenden des Nazareners in der modernen Welt beschrieb, die den „Traum“ von Jean-Paul Wirklichkeit werden ließ.49 Die toten Götter bleiben in ihrer Wirklichkeit ewiger Ideen Gegenstand der Wahrheit der Kunst. Bourget widmete Leconte de Lisle ein langes Gedicht und einen langen Essay, der in die Nouveaux essais aufgenommen wurde. Er übernahm von ihm das Thema der Religion der Kunst, die an die Stelle der erloschenen Werte tritt, und näherte sich damit auf vieldeutige Weise der dekadenten Sensibilität: „En ce siècle où les Dieux sont tout éteints, j’estime/ que l’artiste est un prêtre, et doit, pour rester tel,/ dévouer tout son coeur à l’Art, seul Dieu réel …“.50 Nihilismus und Ästhetizismus
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Ebd., S. 5–6. Ebd., S. 304. Jean Paul, Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei in Siebenkäs (1796). In Frankreich fand die Schrift durch die Übersetzung in De l’Allemagne von Mme De Staël Verbreitung. P. Bourget, L’art, in: Poésies I (1872–1876), S. 71. Siehe aber auch das ganze Gedicht A Leconte de Lisle, S. 162–171, und das Anatole France gewidmete Sonett Les Dieux (ebd., S. 154): „S’il est vrai que ce siècle ait tué tous les dieux,/ et que l’homme, éveillé de son sommeil antique,/ ne doive plus les voir en légion mystique/ monter vers leur Olympe immense et radieux,/ est-ce à nous d’applaudire au désastre des cieux,/ a nous que trouble encor la plainte d’un cantique,/ et qui sous le symbole ou païen ou gothique/ sentons frémir les cœurs de nos lontaines aïeux?/ Non, France! Il est plus noble et d’un esprit plus sage/
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sind bei Bourget Ausdruck der physiologischen Verschleißerscheinungen und Widersprüche der Moderne, der Vermischung des Bluts. In dem kleinen Gedicht Edel (Journal d’un artiste, 1877), in dem er auf zum Teil unbeholfene, manierierte Weise die Themen vorwegnimmt, die er dann in den Essais analysieren wird, stellt er vor dem Hintergrund von Paris den Dichter der Moderne dar, der die Sensibilität der Endzeit besitzt: Je suis un homme né sur le tard d’une race, et mon âme, à la fois exaspérée et lasse, sur qui tous les aîeux pèsent étrangement, mêle le scepticisme à l’attendrissement; l’immense obscurité de l’univers m’accable, et j’éprouve, à sentir la vie inexplicable, une amère pitié qui me fait mieux chérir les êtres délicats et beaux qui vont mourir! […] Mais tous, tant que nous sommes, Derniers bâtards d’un siècle enragé, jeunes hommes qui voyons tout crouler de ce qui fut jadis, et dans l’effondrement des anciens paradis fumons au nez des Dieux tombés notre cigare, sceptiques sans passé, peuple morne et bizarre de blasés qui n’ont pas vécu … notre âme se promène dans tous les mauvais lieux de la pensée humaine car nous croyons aux vers, si nous nions les Dieux …51
Doch unverkennbar verkehrt sich das Gefühl der leidenschaftslosen Raffinesse plötzlich in Zerstörungsdrang, Blutrünstigkeit und Barbarei. So schreibt Bourget in dem Gedicht Atavisme: Voici qu’après mille ans leur âme en moi s’éveille; du fond de ce Paris sans force et sans fierté, je sens frémir encor dans mon cœur indompté le sang tumultueux des pères des vieux âges
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d’adorer dans les dieux la plus sublime image/ que l’âme périssable ait rêvée ici-bas; et sceptiques enfants d’une race lassée,/ offrons-leur, à ces dieux que nous ne prions pas,/ l’asile inviolé d’une calme Pensée“. P. Bourget, Edel. Journal d’un artiste, in: Poesies II (1876–1882), S. 34–35 und 81–82.
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leurs désirs vagabonds et leurs haines sauvages, l’horreur de toute loi subie, et par moments, l’amour de la bataille et des égorgements …52
Bourget repräsentiert den Ästhetizismus einer Endzeit. Die Décadence ist mit dem Schwinden der schöpferischen, aktiven Fähigkeiten einer Rasse verknüpft:53 Die Menschheit [sagt sich] instinktmäßig […], daß sie von der Bejahung lebt und an der Unsicherheit sterben würde. […] Erst im späteren Leben der Rassen, wenn die ihren Höhepunkt erreichende Zivilisation die Fähigkeit, schöpferisch tätig zu sein, allmählich erschöpft und durch die zu verstehen ersetzt hat, offenbart der Dilettantismus seine ganze Poesie.54
Bourget lieferte Nietzsche mehr als einen Ausgangspunkt für seine Beschreibung der wagnerschen Kunst, die mit ihrer Verführung der Sinne das Leben der Religion verlängert. Nietzsche schreibt: „Daß die Musik vom Worte vom Begriffe absehen darf – oh wie sie daraus ihren Vortheil zieht, diese arglistige Heilige, die zu allem zurückführt, z u r ü c k v e r f ü h r t , was einst geglaubt wurde! … Unser intellektuelles Gewissen braucht sich nicht zu schämen, – es bleibt außerhalb – wenn irgend ein alter Instinkt mit zitternden Lippen aus v e r b o t e n e n Bechern trinkt“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[42]); und Bourget charakterisiert Baudelaires Mystizismus eines „Wüstlings“ folgendermaßen: „Der Glaube vergeht, aber der Mystizismus läßt trotz des Widerstrebens des Verstandes Spuren in dem Gefühlsleben zurück. […] Wenn der intellektuelle Mensch nicht mehr das Bedürf-
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P. Bourget, Poésies I (1872–1876), S. 117. Erwähnt sei auch die Verknüpfung von Jahrhundertende und Ende der lateinischen Rasse in J. Péladan, Études passionnelles. Sein Motto lautete: „Ohé les races latines! ohé!“ Derlei Themen waren im positivistischen Klima des ausgehenden Jahrhunderts allgemein verbreitet. Als Beispiel unter vielen sei die erfolgreiche Schrift von Max Nordau, Entartung (1892), angeführt, wo das pessimistische Thema einer an den Verschleiß der vermischten Rassen Europas geknüpften „Völker-Dämmerung“ in den verschiedenen kulturellen Äußerungen der Zeit untersucht wird. Siehe dazu F. Rausky, „Fin de siècle“ et „fin de race“. P. Bourget, Essais, S. 61 (dt. Übers. S. 52–53).
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nis hat, zu glauben, so ist ihm doch das Bedürfnis geblieben, ebenso zu fühlen wie in jenen Zeiten, als er noch glaubte“.55 Der „Schatten Gottes“ bleibt und bildet die größte und verfänglichste Gefahr für den höheren Menschen. Neue Religionen ohne Gott (Religion der Wissenschaft, der Kunst, des Fortschritts, „d e l a s o u f f r a n c e h u m a i n e “, usw.) treten an die Stelle der alten religiösen Lehren, erhalten jedoch die zentrale Bedeutung der gegebenen Werte aufrecht. Die neue Unschuld muss auch den Schatten Gottes besiegen.56 Mit einer allmählich sich wandelnden Sensibilität ging auch Bourget in seinen Romanen – nicht zuletzt unter dem wachsenden Einfluss Dostojewskis – den Weg vom Zerfall der Werte zur tröstlichen Tradition der Religion. Genau diese Gefahr hatte Nietzsche für den höheren Menschen vorausgeahnt. Der Schatten, „ein Wanderer […]: immer unterwegs, aber ohne Ziel“, dessen Rastlosigkeit alles Verehrte zerbricht („Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“)57 und alle „Grenzsteine“ umwirft, sucht des Abends, ermüdet am Ende eines mühseligen experimentellen Weges, womöglich die erste Rast, so dass ihn schließlich „ein enger Glaube einfängt, ein harter, strenger Wahn“ (Za IV, Der Schatten). Nietzsche begreift die Schwäche der Romantik, die nicht ohne den christlichen Gott auskommen kann, wenngleich in verwandelter Gestalt; allenthalben erblickt er die „nostalgies de la croix“ (GM II 7, KGW VI/2, S. 320). Mit diesem Ausdruck bezieht er sich auf ein Gedicht von Bourget, das den spannungsreichen, unbefriedigten Gemütszustand, aber auch die voluptas dolendi und die verfeinerte „Lust an der Grausamkeit“ thematisiert, die mit dem Verlust der traditionellen Religion einhergehen. Dem Glück der Unschuldigen, die noch 55
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Ebd., S. 9 (dt. Übers. S. 8). Vgl. aber auch Bourget, Nouveaux essais, S. 73: „Das Jenseits wird greifbar und nimmt in den Klängen Gestalt an. Die Welle der Liebe strömt erneut in das sich öffnende Herz. Von dieser Musik zum Gebet ist es ein so kurzer Schritt, dass alle Kulte ihre heiligen Handlungen mit der Harmonie des Gesangs und des Orgelklangs durchmischen“. FW 108: „Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“ Za IV, Der Schatten. Der Leitspruch des Assassinen-Ordens (GM III 24, KGW VI/2, S. 417) taucht wiederholt in den Aufzeichnungen zur Figur des höheren Menschen vom Frühjahr 1884 auf. Vgl. z.B. Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[304] und 25[322].
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in den ‚heiligen Illusionen‘ und im schützenden Ideal der Tradition verwurzelt sind, stellt der Dichter seine qualvolle Unruhe gegenüber: Mais combien malheureux celui qui, comme moi, Brise à moitié le joug, et guérit de la foi Sans guérir du besoin généreux du martyre! Tel qu’un mauvais soldat exilé de son rang, Il écoute le bruit du combat qui l’attire, Et ne sait à quel Dieu dévouer tout son sang.58 Nach Nietzsches Ansicht begegnen einander in Paul Bourget der Pessimismus Schopenhauers, der sich mit dem Gefühl des Mitleids verbindet, und derjenige Stendhals, der von einer schonungslosen psychologischen Analyse getragen ist. Noch in dem Roman Un crime d’amour 59 sind beide Strömungen vorhanden, doch der Schluss bahnt 58
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P. Bourget, Nostalgie de la croix, in: Poésies I (1872–1876), S. 152. Bourget verwendet den Ausdruck auch in seinem Essay über Renan: die „herzbetörende, vernunftbestrickende Sehnsucht nach dem Kreuze“ (Essais, S. 44; dt. Übers. S. 39). Von dem starken Interesse, das dieser Roman Bourgets in Nietzsche geweckt hatte, und von dessen Reaktionen zeugt auch ein Brief an Franz Overbeck (10. April 1886): „In der französischen Litteratur ist le grand succès dieses Jahres un crime d’amour von Paul Bourget: erstes Zusammentreffen der beiden geistigsten Strömungen des Pessimismus, des Schopenhauerischen (mit der ‚Religion des Mitleidens‘) und des Stendhal’schen (mit messerscharfer und grausamer Psychologie.) Man hält Vorträge über diesen Roman: der endlich einmal wieder ‚Kammermusik-Litteratur‘ ist und nichts für die Menge. Deutscherseits sagt man von ihm, wie ich höre, ein ‚Fäulnißprodukt‘“(KGB III/3, S. 171). Die Feindseligkeit deutscherseits gegenüber Paul Bourget wird auch durch die radikale Kritik der „Idealistin“ Malwida von Meysenbug bestätigt, die Mitte Oktober 1888 an Nietzsche schreibt: „Er ist übrigens ein der schlechten Modernität total Verfallner, der sein Talent schnöde in den Dienst des verderbten Geschmacks des Publikums that und unter dem Titel der sogenannten Realistik in jene ungesunden Sümpfe der modernen Litteratur hinab taucht von denen die reinen, die keuschen Musen sich mit Ekel wenden“ (KGB III/6, S. 330). Vgl. auch die Antwort von Paul Lanzky (Anfang Mai 1886) auf einen Brief Nietzsches, der nicht erhalten ist (KGB III/4, S. 165): „Ich danke Ihnen für Bourgets Buch, das ich behalte, während ich Ihnen mein Exemplar zusende, mit welchem Sie irgendjemand beglücken wollen. Sie haben Recht: es
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der Konversion zum Katholizismus und der Rückkehr zu den traditionellen Werten den Weg. Am Ende des Romans steht die „religion de la souffrance humaine“ als einzig mögliche Erlösung: So fand er das Prinzip der Gesundheit, zu dem die ohnmächtige Vernunft ihm nicht hatte verhelfen können und das die Glaubenssätze ihm nicht bereitgestellt hatten, weil er nicht glaubte, in jener Tugend der Nächstenliebe, die ohne alle Beweise und Offenbarungen auskommt – ist sie nicht selbst die ständige höchste Offenbarung? – Und er spürte, dass etwas in ihm entstand, was ihm stets Gründe zum Leben und Handeln geben würde: die religion de la souffrance humaine.60
Der Schluss klingt entschieden nach Schopenhauer und Tolstoi, auch nach dem späten Wagner: Die Romantiker enden unter dem Kreuz.
3. „Vox populi, vox Dei“. Die Romantik von Jules Michelet, Victor Hugo und George Sand. Die Helden von Arthur de Gobineau Der Tod Gottes und seine Wiederauferstehung werden bei Michelet wiederholt Thema. Im ersten Kapitel seines Romans La sorcière mit dem Titel La mort des dieux taucht auch der Plutarch-Spruch auf, den Nietzsche an verschiedenen Stellen anführt: Gewisse Autoren versichern uns, dass kurze Zeit vor dem Siege des Christentums eine geheimnisvolle Stimme an den Ufern des Ägäischen Meeres mit dem Rufe umhergeirrt sei: „Der große Pan ist tot!“ Der alte Universalgott der Natur war begraben […] Wenn man die ersten christlichen Dokumente befragt, findet man auf jeder Zeile die Hoffnung, dass die Natur verschwinden, das Leben verlöschen wird, dass man endlich am Ende der Welt angelangt sei. Dabei ist es
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ist Stendhal und Schopenhauer; stendhal’sches Geltenlassen der Leidenschaft, sein Raisonniren über die Beweggründe im Geschehen und Erzählen, und schopenhauer’sches Sichfreimachenwollen und Auslugen nach einem Rettungsanker, der das Mitleid wird. Ich fürchte nur, Stendhal würde nicht gleich Schopenhauer mit ‚der Moral von der Geschicht’‘ zufrieden sein“. P. Bourget, Un crime d’amour, S. 299. Nietzsche benutzt den Ausdruck auf Französisch in JGB 21, GM III 26 und in dem Brief an F. Overbeck vom 10. April 1886. De Vogüé überschrieb das Kapitel über Dostojewski in seinem Buch Le Roman russe „La religion de la souffrance“ (S. 203).
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um das Leben der Götter geschehen, die so lange die Täuschung verlängert haben; alles zerfällt, alles stürzt zusammen, alles versinkt. Das All wird ein Nichts: „Der große Pan ist tot“.61
Der Tod der Götter entspricht dem Wunsch der ersten Christen, die instinktive Vitalität zu unterdrücken, es äußert sich darin ihr Hass gegen die Natur und das Leben. Die Götter der Natur und „die Menge der einheimischen Götter“, die „aufs Innigste vermählt [sind] mit dem Leben in ihrer Gegend“, sterben nicht wie die offiziellen Götter Roms, die schon „entnervt und blass“, „lebensüberdrüssig“ sind, „leichte Schatten“, sondern werden zu Dämonen, die das täglicheLeben bevölkern.62 Obwohl auch Nietzsche die Vitalität hochhielt, wandte er sich mit entschiedener Kritik gegen Michelet, der seines Erachtens auf exemplarische Weise die romantische Schwäche ausdrückte. Der Historiker bekräftigte den Tod des christlichen Gottes nur, um ihn durch die neue Religion des Volkes („Vox populi, vox Dei“) zu ersetzen, die in der Lage sei, den universellen „Hunger nach Gott“ beim Bankett der Menschheit zu stillen. Mit Le Peuple, das sich in deutscher Übersetzung in Nietzsches Bibliothek befindet, legte Michelet eine zutiefst romantische Gestaltung des Kontrasts zwischen der ursprünglichen instinktgesteuerten Spontaneität und dem Maschinismus vor, der mit der Sterilität der Analyse einhergeht. Die Maschinen der Industrie und die „barbarische Wissenschaft“63 ruinieren das große und mythische stumme Frankreich, das Frankreich der unteren Schichten, der Bauern und Kleinbesitzer, neben denen „ein erbärmliches kleines Volk von Maschinenmenschen […], Halbmenschen“ heranwächst.64 Gleich leblosen Rädern sind sie notwendig, um eine unsinnige gesellschaftliche Maschinerie in Gang zu halten, die die Spontaneität des Lebens auslöscht.65 Als Genie bezeichnet er denjenigen, der dem 61 62 63 64 65
J. Michelet, Die Hexe, S. 29. Ebd., S. 30. J. Michelet, Das Volk, S. 124. Ebd., S. 90. Besonders präsent ist das Thema des Maschinismus in der polemischen Schrift gegen die Jesuiten, deren System „bewundernswert mechanisch ist; der Mensch ist hier lediglich ein Uhrwerk, das man nach Belieben laufen lässt […]. Der Mechanismus der Jesuiten war aktiv und mächtig, aber er hat nichts Le-
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„stummen“ Volk eine Stimme verleiht, seine schöpferische Kraft und lebendige Identität darstellt. Das Volk hat eine göttliche Seele, „weil sie wie Gott schafft“,66 und geht mit einem Tag für Tag sich schaffenden, werdenden Gott, im Gegensatz zum „Dieu tout fait“ des Mittelalters. Das „Genie“ hat es nötig, eine Überlegenheitsrolle zu spielen. Deshalb vereint Michelet alle Züge des Komödiantentums in sich, das aus Ohnmacht und aus der Nachahmung von Größe erwächst, er ist „ein aufgeregter schwitzender Plebejer“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 37[13]), ein „Volks-Tribun“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[403]). Le peuple ist also für Nietzsche das schwülstige Epos der Zurückeroberung eines Gottes, in dem die Menschen sich wiedererkennen und lieben, für den die kleinen und großen Helden sich erneut opfern können und dieses „Opfer“ einen höheren Sinn besitzt. Nietzsche wird in seinem Urteil über Michelet durch die Lektüre von dessen postum erschienener Schrift Le Banquet. Papiers intimes (1879) bestätigt.67 Die Schrift ist stark sozial orientiert und von Feuerbach beeinflusst (z.B. das Thema der Liebe als lebensfördernde Kraft), gegen dessen Philosophie Michelet dennoch polemisiert, weil er an einer Art Deismus festhalten will. Im Gegensatz zu den dramatischen Aufführungen der Griechen, die das Leben und Handeln verherrlichten – „Drama bedeutet im Griechischen Handlung“ –, lassen sich die mittelalterlichen Feste auf zwei Worte zurückführen, „die alles Tun unterdrücken: ‚Gott ist tot, consummatum est; was bleibt dir außer dem Tod? Stirb dir selbst und der Natur!‘“68
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bendiges hervorgebracht“ (J. Michelet, Des Jésuites, S. 34). Im Gegensatz dazu steht Nietzsches Wertschätzung des Modells einer Energie erzeugenden Maschinerie; der Jesuitenorden als Organisation ist ein „Kunstwerk“ (Nachlass 1885–1886, KGW VIII/1, 2[114]); Machiavell, Montaigne, der Jesuitismus, La Rochefoucauld sind „Höhepunkte der R e d l i c h k e i t “ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[74]). J. Michelet, Das Volk, S. 305. Der Band wurde mit zahlreichen Manipulationen und willkürlichen, teils entstellenden Eingriffen von der Witwe Michelets veröffentlicht. 1886 erschien eine 2. Ausgabe bei Flammarion unter dem Titel: Un hiver en Italie. Vgl. auch Le banquet in: Œuvres complètes, hg. von Paul Viallaneix, Bd. XVI, Paris: Flammarion, 1980, S. 571ff. J. Michelet, Le Banquet. Papiers intimes, S. 216–217.
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Nietzsches Lektüre dieser Michelet-Schrift wird durch ein Fragment von 1884 belegt, worin er auf dessen Beschreibung des Klimas Genuas und seiner Wirkungen zu sprechen kommt: „Vom Clima Genua’s sagt Michelet: ‚admirable pour tremper les forts‘. ‚Gênes est bien la patrie des âpres génies nés pour dompter l’océan et dominer les tempêtes. Sur mer, sur terre que d’hommes aventureux et de sage audace!‘“69 Nur oberflächlich besehen stimmt Nietzsche mit Michelets Bild von Genua überein. Was ihm vor allem an Genua gefällt, ist die kühne Form der Gebäude, die ihm wie eine Verkörperung des Machtwillens großer Herrscher erscheint (die „persönliche Unendlichkeit“).70 69
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Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[25]. Vgl. J. Michelet, Le Banquet, S. 15. Der von Nietzsche zitierte Passus besteht in der Erstausgabe aus zwei verschiedenen, zusammengefügten Stellen; vgl. die kritische Ausgabe in Œuvres complètes, S. 592 und S. 653. Siehe den Aphorismus Genua, FW 291. Nietzsche schreibt auch ein knappes Urteil von Doudan über Genua ab, das aus einem Brief vom 17. Januar 1869 an Mademoiselle Marie de Sainte-Aulaire stammt (nicht Gavard, wie der kritische Apparat der KGW ausweist): „On peut porter là les grandes tristesses sans souffrir d’aucun contraste“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[444]). Der Brief enthält eine Beschreibung der Stadt, die Nietzsche beeindruckt haben muss: „Dort habe ich begonnen, Italien zu bewundern. Ich habe danach Größeres gesehen, aber Genua ist mir als Ganzes in Erinnerung geblieben. Es war die erste Person, der ich in diesem Land begegnet bin. Ich sehe noch diese hübsche Annunziata-Kirche vor mir und die großen melancholischen Villen, die von den Hängen auf die Stadt und das Meer hinabblicken, und diese schmalen Gassen, die von wunderbaren Häusern gesäumt sind, mit ihren Terrassen zum Hafen und zum Wasser hin“ (X. Doudan, Lettres, Bd. IV, S. 195–196). Die junge Isabella von Ungern-Sternberg, damals noch Baronin von der Pahlen, hatte bei ihrer ersten Italienreise Gelegenheit, auf der Zugstrecke von Genf nach Genua in Nietzsches Gesellschaft zu reisen. In ihren Erinnerungen (Nietzsche im Spiegelbild seiner Schrift, Leipzig 1902, in: Gilman, Begegnungen mit Nietzsche, S. 302ff.) zählt die Baronin detailliert die Themen der faszinierenden nächtlichen Unterhaltung mit diesem „Crösus des Gedankens, der Welten zu verschenken hatte“, auf, während ihre Begleiterin schlief: von den französischen Moralisten bis hin zu den Merkmalen des freien Denkens und des freien Geistes. „In Genua angelangt, stiegen wir unweit des Hafens, in demselben Gasthofe, einem alten Palazzo ab, und verbrachten dort einige Tage in regem Verkehr mit dem, ausserhalb der Fachgenossen und des Wagner-Kreises, noch ungenannten, unberühmten Professor aus Basel. […] Doch unternahmen wir zu dritt manch’ schöne Partie, von denen vor allen ein langer
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Le Banquet bekräftigt dagegen in äußerstem Maße den Hang Michelets, sich in das Leiden und Elend der armen Leute – der „povera gente“ (ital. im Orig.) – hineinzuversetzen, deren Leben gleichsam ein ständiges Ringen mit der ligurischen Umgebung war: Gebirge, Felsen und Meer. In seiner Einsamkeit des Erkrankten durchlebt Michelet die Träumereien, die aus einem zwangsweisen „Fasten“ entspringen – er durfte außer Magermilch keinerlei Nahrung zu sich nehmen – und fühlt sich in vollem Gleichklang mit dem Fasten von Generationen „armer Leute“, die der feindlichen Natur die Nahrung fürs Überleben abtrotzen mussten. Wie im Mittelalter widerspricht der Lebensdrang mit seiner absoluten Kraft – der wahre Gott, der nicht stirbt – weiterhin siegreich der „Vorstellung vom Weltenende, der Theorie des erschöpften Globus, dem Dogma des Fastens und der Enthaltsamkeit, dem freiwilligen Selbstmord. Beharrlich, unbesiegbar und unbändig erhebt sich das Leben gegen die Religion des Todes“.71 Die emphatische Betonung des Lebens ist für Nietzsche nur Rhetorik und ein weiteres Zeichen der romantischen Schwäche. Sein strenges Urteil über Michelet gipfelt in einer grundsätzlichen Opposition: „Alles, was mir gefällt, ist ihm fremd. Montaigne so gut als Napoleon“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[403]). Bis in Einzelheiten hinein verweist dieses Urteil auf die Kritiken von Paul Bourget, Karl Hillebrand und Hyppolite Taine,72 von dem die beiden ersten
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nächtlicher Spaziergang durch Genuas malerische Gassen und Gässchen als Lichtpunkt in meiner Erinnerung dasteht. Farbenreich und plastisch zugleich liess Nietzsches Wort Genuas Vergangenheit vor unsrem geistigen Auge wieder erstehn. Es erschloss uns das Verständniss für die Kunst der Renaissance und des Barocks, die der Stadt der Paläste, ‚Genova, la superba‘, der einstigen Nebenbuhlerin Venedigs, ihren Stempel aufgeprägt“. J. Michelet, Le Banquet, S. 83. Vgl. P. Bourget, Essais, S. 224 (dt. Übers. S. 193): Michelet „konnte […] weder Montaigne noch Bonaparte verstehen und hat sie niemals begriffen“. Siehe außerdem Bourgets Essay Enfance de Michelet, worin er dezidiert Kritik übt am Romantizismus des Historikers, „der beim geringsten Eindruck geradezu krampfartig erbebt, überempfindlich bis zur Erzürnung, eines wahrsagerischen Scharfblicks fähig, wenn er richtig sieht, und unfähig zur Prüfung seiner Fehler, wenn die Leidenschaft ihn irreführt“ (zit. in E. Seillière, Paul Bourget psychologue, S. 39); ferner K. Hillebrand, Zeiten, Völker und Men-
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größtenteils abhängen. Die Charakterisierung Michelets als „Mensch des Mitleids“, der Verweis auf seine „bewunderungswürdige Fähigkeit, Gemüths-Zustände […] nachzubilden“, der Vergleich mit Hugo und seinen „Maler-Hallucinationen“ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 38[6]), das „Fieber der Seele“, das „in leidenschaftlichen Zuckungen ausströmt“ – all diese Themen kommen bei Taine wie bei Bourget vor. Beide, Nietzsche und Taine, konzentrieren ihre Kritik auf denselben Punkt, und zwar auf das Schauspielerische und Komödiantenhafte (charlatanisme) in der Haltung Michelets. „Er will das Publikum, ja noch mehr, das Volk überzeugen“. Seine Geschichte ist bewundernswert und doch unvollständig, „sie verführt und überschen, Bd. 2, S. 140ff. Vgl. auch den ausführlichen Essay von H. Taine über Michelet, wo Nietzsche die Bezeichnung „Volkstribun“ fand, die er übernahm. „Michelet ist ein Dichter und ein Dichter von großem Schlag. Darum erfasst er das Allgemeine und bringt es zur Geltung. Diese eindrucksfähige Einbildungskraft wird durch die allgemeinen Tatsachen ebenso wie durch die Einzeltatsachen berührt und sympathisiert mit dem Leben der Jahrhunderte wie mit dem Leben der Individuen […]. Andere, z.B. Victor Hugo, sahen innerlich, mit einer vollständigen Klarheit und einer erstaunlichen Anschaulichkeit die Farben und die Formen: die wirklichen Gegenstände, die in der Natur vorkommen, haben keine Merkmale, die bezeichnender wären, noch Einzelheiten, die ausgeprägter wären, als die phantastischen Gegenstände, die ihr Gehirn durchkreuzen. Aber sie sind mehr Maler als Dichter; sie verstehen sich besser auf die Gestalt eines Gegenstandes als auf seinen inneren Gedanken; sie vergegenwärtigen sich besser den Sinnesausdruck als die seelische Empfindung; sie besitzen mehr eine Einbildungskraft des Auges als des Herzens. Michelet besitzt mehr die Einbildungskraft des Herzens als die des Auges; seine größte Macht ist die Fähigkeit, bewegt zu werden. Er beachtet die Formen und Farben nur zu dem Zwecke, um in die Seele und in die Leidenschaft einzudringen, die sie ausdrücken: er beschreibt niemals, um zu beschreiben, er lässt nur seine Einbildungskraft walten, um die Gefühle zu erregen. […] Die erste Äußerung dieser Einbildungskraft ist die Beredsamkeit. Michelet ist so lebhaft bewegt, dass er nicht verfehlen kann, auch andere zu bewegen. […] Nehmen wir z.B. die Predigt Luthers […]; hören wir, wie Michelet, die harte Stimme, die leidenschaftlichen Ergüsse, die mächtige und edle Trivialität des Volkstribunen und wir werden das traurige System sich in eine wohltuende Predigt umändern […] sehen“ (H. Taine, Essais, S. 175ff.; dt. Übers. S. 49, 57, 59–60). Vgl. G. Campioni, Beiträge zur Quellenforschung 1996.
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zeugt nicht“.73 Es sei an die Worte erinnert, mit denen Zarathustra die höheren Menschen warnt: Auf dem Marktplatz „überzeugt man mit Gebärden. Aber Gründe machen den Pöbel misstrauisch“ (Za IV, Vom höheren Menschen 9). Auch was Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber Victor Hugo anbelangt, verwandelt Nietzsche Bourgets Betrachtungen in offene, unnachsichtige Kritik. In einer Schrift, die Bourget anlässlich des Todes von Hugo verfasst hatte, sprach er von „diesem Visionär der Worte“, in dessen Reden eines „Volkstribuns“ die „Macht des Bildes“, „la faculté de l’évocation intérieure“, vorherrsche. Nietzsche spricht von „Maler-Hallucinationen“. Nach Bourgets Beschreibung ist Victor Hugo „eine Art Harfe, die beim leisesten Lufthauch bebt“, „Sprachrohr der Ideen seiner Generation“, Schöpfer von Erlösungssymbolen für eine ganze Klasse. Diese Haltung erklärt den Anklang des Autors bei der Menge. „Glaubt sie in dieser epischen Verwandlung des Lebens eine Art intellektueller Nächstenliebe zu gewahren, die den reinen Analytikern abgeht? Sie täuscht sich, denn eine solche Nächstenliebe ist bisweilen bloße Schmeichelei, und von der gefährlichsten Sorte“. Für Bourgets Hugo gilt, was für Nietzsches Wagner gilt: beide werden gleichermaßen „von den Künstlern wie vom Volk bewundert“.74 73 74
H. Taine, Essais, S. 189–190 (dt. Übers. S. 66). P. Bourget, Victor Hugo, in: Études et portraits, Bd. 1, S. 113, 114, 120, 122. Vgl. auch Nachlass 1885, KGW VII/3, 34[45] und 38[6], wo Nietzsche bezogen auf Victor Hugo Baudelaires Ausdruck „ein Esel von Genie“ aufgreift. Nietzsche kannte dieses Urteil aus Sainte-Beuve, Les Cahiers de Sainte-Beuve, S. 36, der Hugo zu verteidigen suchte: „‚Ein Esel!‘, sage ich und versuche, ihn davon abzubringen. ‚Meinen Sie vielleicht ein halsstarriges Maultier?‘ – ‚Nein, er ist ein wahrer Esel‘“. Mindestens genauso unbarmherzige Urteile fällten, auf derselben Interpretationslinie, die Kritiker, die Nietzsche schätzte, von Lemaître („Ich empfinde darin eine gewisse Unaufrichtigkeit“; seine Werke sind „Meisterwerke ungewollter Komik“; seine Macht ist „mehr verbal als real, mehr in den Worten als in den Dingen“; „da ist gar nichts außer Rhetorik“; „Das einzig Kennzeichnende ist eine so intensive Vision der materiellen Dinge, dass es fast an Halluzination grenzt“), über Barbey d’Aurevilly („dieser Kaiser unser literarischen Dekadenz“) bis zu Anatole France („Er lebte trunken von Klängen und Farben … er hat mehr Wörter als Gedanken bewegt … es ist ein
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Nietzsche spricht von der „plebejischen“ Natur von Hugos Kunst, der ohne irgendwelche Schattierungen den metaphysischen Gegensatz von Gut und Böse in Szene setzte und auf extreme, künstliche Mittel zurückgreifen musste, um die Sinne zu betäuben. Der französische „romantisme“ (zu dem auch Wagner zählt) ist eine plebejische Reaktion des Geschmacks –: er […] will gerade das Umgekehrte von dem, was die Dichter einer vornehmen Kultur, wie zum Beispiel Corneille, von sich wollten. Denn diese hatten ihren Genuß und Ehrgeiz daran, ihre vielleicht noch stärker gearteten Sinne mit dem B e g r i f f e zu überwältigen und gegen die brutalen Ansprüche von Farben, Tönen und Gestalten einer feinen hellen Geistigkeit zum Siege zu verhelfen: womit sie, wie mich dünkt, auf der Spur der großen Griechen waren, so wenig sie gerade davon gewußt haben mögen (Nachlass 1885, KGW VII/3, 38[6]).
Victor Hugo teilt seine Haltung gegenüber dem Volk mit anderen Romantikern wie Michelet und George Sand: „er ist flach und demagogisch, vor allen großen Worten und Gebärden auf dem Bauche, ein Volks-Schmeichler, der mit der Stimme eines Evangelisten zu allen Niedrigen, Unterdrückten, Mißrathenen, Verkrüppelten redet und nicht einen Hauch davon weiß, was Zucht und Redlichkeit des Geistes, was intellektuelles Gewissen ist“ (ebd.). Der große Lärm, der um das Begräbnis von Victor Hugo gemacht wurde – „eine wahre Orgie des Ungeschmacks“ (ebd., 38[5]) –, ist bezeichnend für die platt theatralische Beziehung zwischen Menge und demagogischem Künstler. Nietzsche hatte die Angelegenheit wahrscheinlich in den ausführlichen Chroniken des „Journal des Débats“ verfolgt. In einem langen Fragment vom August-Sommer 1885 über Wagners histrionisch-demagogisches Talent erinnert er an jenes Begräbnis, das einige Monate großer Visionär“). Aber auch bei Taine, den Nietzsche im Fragment Zur Physiologie der Kunst zitiert (Nachlass 1886–1887, KGW VIII/1, 7[7], S. 296), lesen wir: „l’envie, la tristesse, le manque de mesure et de politesse, les héros de George Sand, de Victor Hugo et de Balzac“. Nietzsche fügt in Klammern hinzu: „et de Wagner“. Vgl. H. Taine, Voyage aux Pyrénées, S. 41–42 (dt. Übers. S. 42): „die Mißgunst, den Weltschmerz, den Mangel an Mäßigung und Höflichkeit, die Helden von George Sand, Victor Hugo und Balzac“. Vgl. dazu den jüngst erschienenen Beitrag von J. Le Rider, Nietzsche et Victor Hugo.
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vorher stattgefunden hatte, und vergleicht es mit demjenigen Wagners: „Massen“ fühlen den heraus, der ihnen am besten zu schmeicheln versteht: sie sind auf ihre Art allen demagogischen Talenten dankbar und geben es ihnen zurück, so gut sie können. (Wie „Massen“ zu d a n k e n verstehen, mit welchem „Geiste“ und „Geschmacke“, dafür gab der Tod Victor Hugo’s ein belehrendes Zeugniß: ist in allen Jahrhunderten Frankreichs zusammen so viel Frankreich entwürdigender Unsinn gedruckt und geredet worden, wie bei dieser Gelegenheit? Aber auch bei dem Begräbnisse Richard Wagner’s … (Nachlass 1885, KGW VII/3, 41[2] 6).
Der romantische Künstler, dem es an Kraft zur Beherrschung der Form fehlt, muss auftreten und sich in Szene setzen. Seiner Absicht nach postuliert er Einheit und Entfaltung der Form, aber die Krankheit des Willens verunmöglicht sie, sie werden auf der Bühne gespielt. Die moderne Welt ist das Theater des Schauspielers, des Histrionismus der Dekadenz: „Rousseau, George Sand, Michelet, Sainte-Beuve – ihre Art von Schauspielerei […] vor dem Volke“.75 Diese Art von 75
Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[393]. In einem Brief an Franz Overbeck aus Venedig (28. April 1880) bezieht Nietzsche sich auf die umfängliche Autobiografie von George Sand (Historie de ma vie), in der er etwas „[s]ehr Beachtenswerthes über St. Beuve“ findet (KGB III/1, S. 17). Ida Overbeck übersetzte zu jener Zeit für ihn einige Portraits aus den Causeries du lundi. Die Übersetzung erschien 1880 in Chemnitz bei Schmeitzner unter dem Titel Menschen des 18. Jahrhunderts, ohne dass der Name der Übersetzerin genannt würde. Es handelte sich um die Portraits von Fontenelle, Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Diderot, Vauvenargues, Mme de Lespinasse und Beaumarchais. George Sand zeichnet in ihrer Autobiografie folgendes Porträt von Sainte-Beuve, nachdem sie zunächst ihrer Dankbarkeit für die ihr von dem französischen Kritiker erwiesene Güte Ausdruck verliehen hat: „Auch Sainte-Beuve ist ein Meister, als Kritiker sowohl wie als Poet. Sein Gedankengang ist zwar gewöhnlich etwas complicirt, was ihn für den Anfang unverständlich macht. Aber Sachen von gediegenem Inhalt sind es werth, daß man sie öfters liest, und bei Sainte-Beuve ist eine große Klarheit unter diesem scheinbaren Dunkel verborgen. Der Fehler dieses Schriftstellers ist ein Übermaß von Gaben. Er weiß so viel, er versteht so leicht, er sieht und ahnt so manches, sein Geschmack ist so gebildet, und er erfaßt die Gegenstände von so vielen Seiten, daß ihm die Sprache ungenügend erscheint und der Rahmen für seine Bilder zu klein wird“. Sand meint, SainteBeuve sei von einem „Widerspruch“ beherrscht gewesen, der weniger seinem Talent als seinem Glück geschadet habe. „Er predigte Vernunft mit überzeu-
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Schauspielerei, die bei Rousseau ihren Anfang nimmt, ist für George gender Beredsamkeit, aber in sich selbst trug er den Zwiespalt einer unbefriedigten edlen Seele“; es schien ihr, „als ob er die Räthsel des Lebens, die er zu lösen suchte, noch mehr verwirrte“. Sie schließt: „Um es kurz zu sagen: er hatte zu viel Gemüth für seinen Geist und zu viel Geist für sein Gemüth; ich habe mir wenigstens nur so sein Wesen zu erklären vermocht, und ohne zu behaupten, daß ich ihn recht beurtheilt hätte, scheint es mir doch heute noch, als läge in dieser Auffassung der Schlüssel zu den geheimnißvollen und eigenthümlichen Seiten seines Talentes“ (G. Sand, L’Histoire de ma vie, Paris 1856, vol. IX, S. 204–208; dt. Übers. Bd. IV, S. 287–290). In Nietzsches Bibliothek sind 18 Bändchen von G. Sand, Sämmtliche Werke, erhalten. Im Brief an Ida Overbeck vom 24. Mai 1880 geht er erneut auf Distanz zu George Sand: „Aus Venedig, der Stadt des Regen’s, der Winde und der dunkeln Gässchen. Glauben Sie der George Sand nichts über Venedig (das Beste daran ist Stille und schönes Pflaster)“ (KGB III/1, S. 20). Über Venedig und die Musik schrieb George Sand vor allem in den zwischen 1834 und 1836 verfassten Lettres d’un voyageur, die 1837 erschienen. In der Histoire de ma vie heißt es: „Venedig war die Stadt meiner Träume, und Alles, was ich sah, übertraf meine Erwartungen, sowohl der Morgen als der Abend, die Stille der schönen Tage wie der düstere Effekt der Stürme und Wetter. Ich liebte die Stadt um ihrer selbst willen; sie ist die einzige der Welt, die ich so lieben kann, denn jede andere hat bis jetzt den Eindruck eines Gefängnisses auf mich gemacht, das ich nur meiner Mitgefangenen wegen zu ertragen vermochte“ (Bd. IX, S. 95–96; dt. Übers. Bd. IV, S. 183). Sand hält sich bei der Beschreibung der Stadt auf. Was sie als Merkmal Venedigs am meisten fasziniert, ist „die Gleichheit in der Lebensweise aller Gesellschaftsklassen. […] Überdies sind die Lokalverhältnisse dieser Vermischung aller Klassen durchaus förderlich, in ihren Geschäften und Vergnügungen sowohl, wie in ihren Ansichten und Interessen. Der Mangel aller Equipagen und die Beschränkung des Bodens nöthigen die Bevölkerung, sich mit gewissen Rücksichten für die allgemeine Sicherheit auf dem Lande sowohl, wie auf dem Wasser zu bewegen. Unter diesen Fußgängern und Schiffenden schaut nie einer auf den anderen nieder; man grüßt sich mit den Augen, man redet sich an, und jener Wechsel von Trägheit und Heiterkeit, welcher hier die Grundlage des Lebens bildet, wird der Zudringlichkeit der Fremden gegenüber eine leidenschaftliche und innige Sympathie“ (ebd., S. 112–113; dt. Übers. Bd. IV, S. 198). Entgegen dieser Sicht der Gleichheit und Gemeinschaft in Venedig schreibt Nietzsche: „100 tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig – dies ist ihr Zauber. Ein Bild für die Menschen der Zukunft“ (Nachlass 1880, KGW V/1, 2[29]). Siehe auch Fragment 7[7] (Nachlass 1886–1887, KGW VIII/1, S. 296), wo er sich von der romantischen Sicht Venedigs abgrenzt: Delacroix „schwärmte für Venedig, wie Shakespeare, wie Byron, wie G. Sand“.
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Sand kennzeichnend, insofern sie unmittelbar von jenem abstammt: Die „heroischen Attitüden und Gedanken, die wie Attitüden wirken“, und ein Stil, der Bilder und Farben aufhäuft (ein „bunte[r] Tapeten-Stil“), verdecken ihre grundlegende Falschheit und Kälte: „Wie k a l t muß sie dabei gewesen sein – kalt, wie Victor Hugo, wie Balzac, wie alle eigentlichen Romantiker“ (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[24]). „In der That, man hat viel zu sehr an ihr Gefühl geglaubt: während sie reich in jener kalten Geschicklichkeit des Schauspielers war, der seine Nerven zu schonen weiß und das Gegentheil davon alle Welt glauben macht“.76 Wie Nietzsche polemisch hervorhob, gingen bei Victor Hugo Held, Histrio und Scharlatan zusammen, und der französische Autor war sich dessen anscheinend bewusst. In Gestalt derer, die der Menschheit den Weg der Unendlichkeit weisen und den Käfig aufbrechen, der den Menschen einsperrt – „ces demi-dieux“, „ces hommes suprêmes“, „all die, in denen Gott anwesend ist“, „alle Ideenkämpfer“ –, nimmt das salbungsvolle Epos des Fortschritts seinen Gang. Dank dieser „Gladiatoren Gottes“ fließt „eine Art flüssiger Gott in den Adern der Menschheit“: „diese Schauspieler des tiefen Dramas […], diese wunderbaren Histrionen […], sie sind die Helden!“77 Nietzsche erschloss sich das Verständnis der heroischen Haltung als Thema der Moderne in ihrer Beziehung zur décadence hauptsächlich durch den ‚französischen‘ und europäischen Wagner und dessen ‚Bruder‘ Baudelaire.78 Baudelaire schätzte die Tradition der Auflehnung, 76
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Nachlass 1885, KGW VII/3, 38[6]. Vgl. É. Faguet, Études littéraires, der über die Schriftstellerin schreibt: „Sie hat überhaupt keine vorherrschende Energie. Eine große Vorstellungskraft […] Leidenschaften, die heftig erschienen sind, und ein recht kühles, ruhiges Temperament“ (S. 386). „Sie liebt die Falschheit, nicht allzu sehr und auch nicht auf garstige Weise, aber sie liebt sie. Das Theaterleben verführt sie und übt eine sichtbare Faszination auf sie aus“ (S. 391). Nietzsche notiert auch die sarkastischen Bemerkungen Baudelaires über George Sand (vgl. Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[199]), die er den Œeuvres posthumes, S. 101–102, entnimmt. V. Hugo, Les Mages, in: Les Contemplations, S. 184, 189, 192–193, 196–197, 201. Nietzsche erfasste die Nähe zwischen Wagner und Baudelaire in Folge seiner Bourget-Lektüre. Bestätigt wird sie durch Dokumente und durch den Brief-
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die, angefangen bei Miltons Satan über Byrons Kain bis hin zu Shelleys Prometheus, die Haltung des Großstadtdichters definiert, der jede Rebellion ebenso bejaht, wie er unfähig ist zu einem Handeln, das mehr ist als eine theatralische Geste (eine „Impotenz, so kolossalisch, so ungeheuer, dass sie des Epos würdig wird“79). Auf Bourgets Spuren hebt Nietzsche die rasche Flucht der décadents in „Ideale“ und Halluzinationen hervor, die ihrer Unfähigkeit entspringt, das „prestissimo“ der Empfindungen zu beherrschen. Exemplarisch ist die Position von Baudelaire, sein „Dédain gegen die Boulevards“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 16[34]): „Gewiss, ich meinesteils verließe zufrieden eine Welt, in der die Tat nicht des Traumes Schwester ist“.80 Um dem Chaos der Instinkte, wie es den modernen Menschen auszeichnet, eine Form zu geben, sind Körperdisziplin und Haltung vonnöten, eine „tägliche Übung zur Stärkung der Willenskraft und zur Zucht der Seele“,81 die Entscheidung für das „Künstliche“ entgegen der Natur. So ist der Dandy der mögliche ‚Held‘ in der Epoche der toten Götter, in der das Theaterspiel Alltagsleben wird, ohne dass damit Überredung oder Herrschaft über die Menge beabsichtigt wären. Die Auseinandersetzung mit dem Dandyismus ist in Nietzsches Aufzeichnungen mit der Lektüre der nachgelassenen Schriften Baudelaires verflochten. In seinen Exzerpten geht Nietzsche auf das Thema der Künstlichkeit des Dandys im Gegensatz zur ‚Natürlichkeit der Frau‘ ein: „La femme est naturelle, c’est-à-dire abominable. Aussi est-elle toujours vulgaire, c’est-à-dire le contraire du dandy“;82 er hält fest, dass dem Dandy jede gemeinnützige Aufgabe und jede Demagogie fremd sind („Un dandy ne fait rien. Vous figurez-vous un dandy parlant au peuple, excepté pour le bafouer?“) und ihm jedes Spezialistentum fernsteht („Dandysme. Was der höhere Mensch ist?
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wechsel zwischen den beiden, worunter die in Baudelaire, Œuvres posthumes, LXXI, publizierte Antwort Baudelaires vom 15. April 1861. Ch. Baudelaire, Die Fanfarlo, S. 8. Ch. Baudelaire, Die Verleugnung des Heiligen Petrus (Die Blumen des Bösen, CXVIII). Ch. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, S. 243. Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[191]. Vgl. Ch. Baudelaire, Œuvres posthumes, S. 93.
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Das ist kein Spezialist. C’est l’homme de loisir et d’éducation générale. Être riche et aimer le travail“).83 Der „Heroismus“ und die Einsamkeit des Dandys entspringen aus dem Bedürfnis, sich vor dem Hintergrund der Großstadt und einer als besonders erbärmlich empfundenen Gesellschaft und historischen Zeit als „Individuum“ abzuheben. Die ‚Erhabenheit‘ des Dandys – für Baudelaire „das letzte heroische Sichaufbäumen in Zeiten des Verfalls“84 – besteht darin, die Rolle eines Aristokraten zu spielen, um unzugänglich zu sein für die Empfindungen der herrschenden großen Herde. Sein Heroismus liegt in der täglichen Mühe der Selbstkonstruktion für den Schein: „er muss leben und schlafen vor einem Spiegel“.85 Ein verbreitetes Thema aufgreifend, das Nietzsche im Journal der Goncourts behandelt fand, erklärte Carassus: „Der Dandy ist ein Gleichgewichtskünstler: die Schönheit seiner Geste ist berechnet wie eine ständige Herausforderung. Gut ins Licht gesetzt, wählt er den plötzlichen Weg, berechnet in seinem fragilen Gleichgewicht stets die schönste und überraschendste Pose“.86 Bei Lemaître konnte Nietzsche auch Betrachtungen zur philosophischen Bedeutung des Dandys als Held der Moderne lesen: Der Dandy hat eine eminent philosophische Funktion. Da er etwas mit dem Nichts tut, da seine Erfindungen in völlig überflüssigen Nichtigkeiten bestehen, die allein aufgrund des Bildes, das er von ihnen gegeben hat, etwas gelten, lehrt er uns, dass die Dinge nur den Wert haben, den wir ihnen zuschreiben, und ‚der Idealismus das Wahre ist‘. Und da er die größte aller Eitelkeiten ge-
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Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[198] und 11[203]. Vgl. Ch. Baudelaire, Œuvres posthumes, LXXI. Ch. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, S. 244. Ch. Baudelaire, Œuvres posthumes, S. 93 (dt.: Mein entblößtes Herz, S. 45). E. Carassus, Le mythe du dandy, S. 50. Vgl. Nietzsches Aufzeichnung aus dem Journal der Goncourts: „Bei Clowns und Seiltänzern ihr Metier ihre Pflicht: die einzigen Akteure, deren Talent unbestritten und absolut ist, wie das der Mathematiker oder mehr noch comme le saut périlleux. Denn hierbei giebt es keinen falschen Anschein von Talent: entweder fällt man oder man fällt nicht“ (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[296], S. 364–365). Vgl. E. und J. de Goncourt, Journal, Bd. 1, S. 291.
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wählt und es verstanden hat, sie den Beschäftigungen gleichzustellen, die als die edelsten gelten, gibt er uns dadurch zu verstehen, dass alles eitel ist.87
Zweifellos war Nietzsche empfänglich für die Faszination dieser möglichen Figur eines Helden der Moderne, wovon sein Interesse für De Custine und Barbey d’Aurevilly ebenso zeugt wie die mehr oder minder ausdrückliche konstante Präsenz Byrons in seinen Werken und die Abschrift der Baudelaire-Stellen über den Dandy. Selbst die Gestalt Cäsars, wie Nietzsche sie in den Spätschriften zeichnet, hat wenig mit der Vereinfachung eines ausdrücklich kriegerischen oder „imperialen“ Willens zur Macht zu tun. Viel näher steht sie der komplexen, vieldeutigen Figur, deren berühmteste Verkörperung der Dandy ist (De Custine, Delacroix, Barbey d’Aurevilly). In diesem Sinne bewog sie Baudelaire zu dem Ausruf: „Welchen Glanz einer untergegangenen Sonne verbreitet dieser Name in unserer Einbildungskraft! Wenn je ein Mensch auf Erden der Gottheit geglichen hat, so war es Cäsar“.88 Sowohl Nietzsche wie Baudelaire unterstrichen, welche Sorgfalt Cäsar auf die Ausbildung der Selbstbeherrschung, auf die „Form“ und die Pflege seiner Person wandte (trotz der Märsche war er ein Dandy voller Raffinement mit „blütenweißer Haut“). Nietzsche zählt ihn zu denen, die „extrem [sind], und damit selbst beinahe schon décadents … Die kurze Dauer der Schönheit, des Genies, des Caesar, ist sui generis: dergleichen vererbt sich nicht. Der Ty p u s vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes, kein ‚Glücksfall‘ […] Das ‚Genie‘ ist die sublimste Maschine, die es giebt, – folglich die zerbrechlichste“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[133]). Die Aufzeichnung „Caesar unter Seeräubern“ für ein poetisches Projekt von Herbst 1885–1886 (wiederaufgenommen im Nachlass 1887– 1888, KGW VIII/2, 11[52]) erscheint mir in dieser Interpretationsrichtung aufgrund der Bezugnahme auf Plutarch bedeutsam. Nachdem Cäsar in die Hände blutrünstiger Seeräuber gefallen war, blieb er ganz und gar undurchdringlich und beherrschte vollkommen seine Wut. Er verhielt sich wie ein Fürst, der Distanz auferlegt oder Vertrautheit zugesteht, ohne darauf zu verzichten, nach der Befreiung 87 88
J. Lemaître, Barbey d’Aurevilly, in: Les Contemporains, IVe série, S. 58–59. Ch. Baudelaire, Der Salon 1859, S. 165.
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unerwartet und gnadenlos Rache zu üben: „Er verfasste Gedichte und Reden und las sie ihnen vor, und wenn sie ihm keine Bewunderung zollten, schalt er sie unverblümt Barbaren ohne Bildung und Kultur. Oft stieß er lachend die Drohung aus, er werde sie aufknüpfen lassen – und die Kerle hatten ihre Freude dran“.89 Nachdem er befreit worden war, rüstete er die Schiffe und setzte kaltblütig in die Tat um, was er den Seeräubern vorhergesagt hatte. Andere typische Helden der Moderne entspringen dem verzweifelten Willen zur Flucht vor der Gegenwart, wie Graf Gobineau ihn verkörpert: eine ohnmächtige Flucht in die imaginäre Reinheit ferner arischer Helden oder in die halluzinatorische Konstruktion unmöglicher Genealogien für ein persönliches Epos (der norwegische Pirat Ottar Jarl). Schwäche und Ohnmacht trieben Gobineau dazu, den gesamten Geschichtsprozess delirierend in Form einer mythischen Geschichtsphilosophie zu interpretieren, die ihr Fundament in der Metaphysik der Rasse, ihre Wahrheit in der abschließenden Katastrophe hat. Die Großstadt ist die Hölle, wo alles sich mischt. Der allgemeinen Mittelmäßigkeit – „Mittelmäßigkeit […] an Leibeskraft, an Schönheit, an Geistesgaben“90 – und der Gewissheit vom Ende der Geschichte aufgrund des Niedergangs der arischen Rasse steht allein der Traum von der Flucht entgegen (ein mythischer, heroischer Iran, die klaren, reinen, glücklichen Anfänge der Menschheit, die Kraftmonster der Renaissance, die „fleurs d’or“, die „fils de roi“, usw.). In der allgemeinen Mittelmäßigkeit gibt es keine Klassen, keine Völker mehr, sondern nur ein paar Individuen, „surnageant comme des débris sur un déluge“.91 Nietzsche bezieht mit aller Entschlossenheit gegen dieses dekadente Maulheldentum Stellung. Zu den Masken der höheren Menschen im Zarathustra zählen auch die zwei Könige, die in der trostlosen, bitteren Sprache des pessimistischen Adligen über die Epoche der Décadence reden. Am Adel „da ist Alles falsch und faul, voran das Blut […] es ist das Reich des Pöbels, – ich lasse mir nichts mehr vor89 90 91
Plutarch, Cäsar, S. 199. A. Gobineau, Versuch über die Ungleichheit, Bd. IV, S. 319. A. Gobineau, Brief an Prokesch-Osten, 7. Oktober 1872, in: A. Gobineau, A. von Prokesch-Osten, Correspondance.
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machen. Pöbel aber, das heisst: Mischmasch. Pöbel-Mischmasch: darin ist Alles in Allem durcheinander, Heiliger und Hallunke und Junker und Jude und jeglich Vieh aus der Arche Noäh. Gute Sitten! Alles ist bei uns falsch und faul“ (Za IV, Gespräch mit den Königen 1). Die Worte der beiden Könige, voller Ressentiment, sind auch für den Affen Zarathustras kennzeichnend, der Gift und Galle über die Großstadt speit, deren Ausdruck und Produkt er in Wirklichkeit ist. Man darf die Sprache der höheren Menschen nicht mit derjenigen Zarathustras verwechseln. Sie alle gehören voll und ganz, jeder auf seine Weise, zur Dekadenz, verkörpern lediglich verschiedene Reaktionsweisen; sie leiden unter den bestehenden Werten, haben aber nicht die Kraft zu ihrer Überwindung.
4. Der demagogische Cagliostro und der dionysische „Histrio“. Das Theatralische und die Schauspielerei werden für Nietzsche immer umfassendere Kategorien. Wie jedes berauschende Ideal kann das metaphysische Ideal nur in der Theatralität der „Darstellung“, im „Sich-in-Szene-setzen“ Bestand haben und den Anschein von Einheit erwecken. Aus diesem Grund waren auch die Philosophen und Moralisten bisher Komödianten und aus demselben Erfordernis wurde der Zauberer Wagner in seinen letzten Jahren „nunmehr ein Priester […], eine Art Mundstück des ‚An-sich‘ der Dinge“, ein „Bauchredner Gottes“ (GM III 5). Die Tyrannei und Herrschaft über die Schwachen bedient sich sowohl des kraftvollen Ausdrucks, der überladenen Farben, mit denen man den kranken Nerven Gewalt antut, wie der Verführung, die aus Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit erwächst. Es liegt im Unlogischen, Halblogischen viel Verführerisches – das hat Wagner gründlich errathen –: namentlich für Deutsche, bei denen Unklarheit als „Tiefe“ empfunden wird. […] Eine Art Vieldeutigkeit, selbst in der rhythmischen Phrasirung, gehört insgleichen unter seine liebsten Kunstmittel, eine Art Trunkenheit und Traumwandeln, welches nicht mehr zu „folgern“ weiß und einen gefährlichen Willen zum blinden Folgen und Nachgeben entfesselt (Nachlass 1885, KGW VII/3, 41[2] 6).
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Erneut stellt Nietzsche dem „Bayreuther Sumpf“ („Anmaaßung, Unklarheit, Unwissenheit und – Geschmackslosigkeit durcheinander“), welcher Wagner zur Pose des „alten Oberpriesters“ zwingt, „der sich vor nichts mehr fürchtet als vor hellen deutlichen Begriffen“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[394]), die analytische Schärfe der stendhalschen „Psychologie“ gegenüber: „il faut être sec, clair, sans illusion“. Der demagogische Cagliostro muss das Chaos, den Zustand der Auflösung, der ihn hervorbringt, aufrechterhalten und ihm Nahrung geben. Weit entfernt von der Macht des „großen Stils“ kann er die Ganzheit nur ideologisch vortäuschen, die Dekadenz in der Phantasmagorie des Theaters sublimieren. In erster Linie bedeutet dies, dass das aus der verfehlten Realität resultierende Gefühl von Leere durch den Opiumrausch des Musikdramas betäubt werden muss. Wagners Position ist keine freie Wahl, sie ist ein Fatum, eine Notwendigkeit seiner Physiologie eines décadent. Wagner […] wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, daß er vor sich die Freiheit, die A c h t u n g verliert. Er ist verurtheilt, Schauspieler zu sein. Seine Kunst selbst wird ihm zum beständigen Fluchtversuch, zum Mittel des Sich-Vergessens, des Sich-B e t ä u b e n s , – es verändert, es bestimmt zuletzt den Charakter seiner Kunst. Ein solcher „Unfreier“ hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um s e i n e Realität einmal loszusein (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 23[2]).
In Nietzsches letzten Jahren wird der Schauspieler Wagner geradezu eine Chiffre für das Verständnis der Epoche und die ‚Schauspielerei‘ eine zentrale Interpretationskategorie. Dekadenz bedeutet Verlust des Mittelpunkts und Zersplitterung der Person in einem hoffnungslos chaotischen Verfließen der sozialen Rollen, die leicht gegeneinander ausgetauscht werden können und jedes Gesellschaftsprojekt verhindern. Der Mensch hat nur Wert und Sinn, insofern er ein Stein in einem großen Baue ist: „wozu er zuallererst f e s t sein muss, ‚Stein‘ sein muss … Vor Allem nicht – Schauspieler! […] W i r A l l e s i n d k e i n M a t e r i a l m e h r f ü r e i n e G e s e l l s c h a f t .“ Die Gegenwart ist in Nietzsches Augen eine Zeit, in der „die ‚Schauspieler‘, a l l e Arten Schauspieler, die eigentlichen Herren sind“ (FW 356): „ein Zeitalter der Demokratie treibt den Schauspieler auf die Höhe“ (Nachlass
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1885, KGW VII/3, 34[98]). Schauspieler sein ist die Lösung für den modernen Menschen, für den jene Kunst den einzig möglichen Weg darstellt, um der Zersplitterung Herr zu werden: „wo der Einzelne überzeugt ist […], ungefähr j e d e r R o l l e g e w a c h s e n zu sein, wo Jeder mit sich versucht, improvisirt […], wo alle Natur aufhört und Kunst wird“ (FW 356). Die Folge einer solchen Kunst der Darstellung ist: „Wenn Einer sehr lange und hartnäckig Etwas s c h e i n e n will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu s e i n “. Wie der Titel dieses Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches besagt, wird ‚der Schein‘ mit anderen Worten ‚zum Sein‘: „Der Schauspieler kann zuletzt auch beim tiefsten Schmerz nicht aufhören, an den Eindruck seiner Person und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst beim Begräbniss seines Kindes; er wird über seinen eignen Schmerz und dessen Aeusserungen weinen, als sein eigener Zuschauer“ (MA 51). Nietzsches Urteil über den Schauspieler und das Theater steht im Zusammenhang mit der physiologischen Analyse der Täuschung und entwickelt sich in jener Zeit parallel zu seinen französischen Lektüren, angefangen bei der Figur Neros als „funeste histrion impérial“ in Renans L’Antechrist, die den allgemeinen Verfall der Zeit zum Ausdruck bringt: „der Ruhm des Theaters galt als der allerhöchste“.92 Auch Bourget knüpft die Beziehung zwischen Theater und décadence: „Diese maßlose Vergötterung des Schauspielers – ein recht bedeutender Zug unseres Byzantinismus“.93 Schon 1883–1884 bezieht Nietzsche sich für die Charakterisierung des Schauspielers auf den Roman von Edmond Goncourt, La Faustin (Paris 1882): „Der Schauspieler, eine Figur aus sich machend, z.B. la Faustin“.94 Besonders das letzte Kapitel verdeutlicht das hysterische Element, das gleichsam physiologisch zur Nachahmung zwingt. Despotisch wird die Faustin von ihren 92 93
94
E. Renan, L’Antechrist, S. 135 und 130. Le Parlement, 7. November 1881, Chronique Théâtrale. Siehe auch: Réflexions sur le théâtre, in: Études et Portraits, Bd. 1. Nachlass 1884, KGW VII/1, 24[3]. Vgl. auch Nachlass 1888, KGW VIII/3, 15[6]1: „Die Verfasser [die Brüder Goncourt, in Wahrheit Edmond Goncourt] der ‚Faustine‘ [sic] würden sicherlich Einiges an Wagner errathen … aber es fehlte ihnen die Musik im Leibe“.
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Schauspielergewohnheiten, die sie nicht einmal am Totenbett ihres Geliebten ablegt, verleitet, die „sardonische Agonie“ des Sterbenden zu imitieren (Kap. 64). In einem Aphorismus aus dem letzten Buch der Fröhlichen Wissenschaft wirft Nietzsche Wagner vor, er sei „wesentlich Theatermensch und Schauspieler“ gewesen, „der begeistertste Mimomane, den es je gegeben hat“, um daraufhin eine vernichtende Kritik der Theaterkunst überhaupt zu formulieren: „Im Theater ist man nur als Masse ehrlich; als Einzelner lügt man, belügt man sich. […] In das Theater bringt Niemand die feinsten Sinne seiner Kunst mit, auch der Künstler nicht, der für das Theater arbeitet: da ist man Volk, Publikum, Heerde …“ (FW 368). Mit derselben Vehemenz äußern sich mehrfach Nietzsches französische Gesprächspartner, die Goncourts, Bourget, Desprez, über das Theaterpublikum – „masse d’humanité réunie, une bêtise agglomérée“.95 Dem physiologisch zur Lüge bestimmten Schauspieler, der die Mittel der Täuschung nicht beherrscht, sondern von ihnen beherrscht wird (der ‚Romantiker‘ und ‚décadent‘), stellt Nietzsche stets den seiner Mittel bewussten Künstler gegenüber. Es ist ein Fehler, „das Wesen des Schauspielers in der Selbstentäusserung und förmli95
Nietzsche gibt dieses Zitat aus dem Journal der Goncourts wieder in Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[296], S. 362. Vgl. Journal, Bd. 1, S. 128. Vgl. auch Journal, Bd. 2, 1. März 1862, S. 9: „c ’ e s t u n a r t s i g r o s s i e r, s i a b j e c t , l e t h é â t r e “ [Hervorhebung von Nietzsche]. Besonders bedeutsam sind außerdem die (in Nietzsches Exemplar von ihm unterstrichenen) Betrachtungen über den Schauspielerberuf; vgl. dazu insbesondere Journal, Bd. 2, S. 291, 294, 296, 301f. und 314f. (zum Thema des ‚ewigen Wiederkäuens‘). Auch bei Desprez lesen wir: „Im Theater ist die Einfachheit der Form geboten, […] man ist sich sicher, dass man von der Masse verstanden wird. […] Im Theater […] wirkt die Aufrichtigkeit abstoßend“ (L’évolution naturaliste, S. 314 und 318), und in dem Roman von E. de Goncourt, Charles Demailly, den auch Desprez zitiert: „Lassen Sie das Buch beiseite und nehmen Sie das Theater: Es ist das umgekehrte Buch. Das Publikum beherrscht Sie, Sie beherrschen das Publikum. Sie springen ihm in die Augen und Ohren, rühren an sein Herz, seine Sinne, bewegen es zu Tränen und Lachen. Sie haben eine Menge, eine Masse vor sich …“ (S. 132). Vgl. außerdem P. Bourget, Réflexions sur le théâtre, in: Études et Portraits, Bd. 1, S. 307–365, insbesondere die Betrachtungen zum Publikum, S. 310–317.
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chen Verwandlung zu sehen: während das eigentliche Problem doch ist, d u r c h w e l c h e M i t t e l d e r T ä u s c h u n g es der Schauspieler dahin bringt, dass es so s c h e i n t , als wäre er verwandelt“.96 Nur in der Perspektive der vollkommenen Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung ist die Lüge Ausdruck von Macht, und die Zunahme der Verstellung geht mit einer ansteigenden Hierarchie einher: „Ganz andere Schauspieler die Mächtigen“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[393]). In diesem Punkt beruft Nietzsche sich auf die Autorität Stendhals und auf dessen Urteil über Napoleon: „‚une croyance presque instinctive chez moi, c’est que tout homme puissant ment, quand il parle, et à plus forte raison, quand il écrit.‘ préface ‚Vie de Napoleon‘ p. XV Stendhal“.97 Wer bewusst lügt, ist auch fähig, die „Wahrheit“ zu sagen, während die „Guten“ und „Tugendhaften“, die aus physiologischem Zwang lügen und sich absolut im Wahren glauben, immer weit von der Wirklichkeit entfernt sein werden. In der Spätzeit nahm Nietzsche mehrfach auf die Theorien des berühmten französischen Schauspielers Talma98 über die Bedeutung der bewussten, ‚kalten‘ 96
97
98
Nachlass 1876–1877, KGW IV/2, 23[130]. Zu den unterschiedlichen Positionen Wagners und Nietzsches hinsichtlich des Schauspieler-Themas schon zur Zeit ihrer Freundschaft vgl. F. Manno, Fantasmagoria e creazione. Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[381]. Vgl. Nachlass 1886–1887, KGW VIII/1, 4[2] und 7[6], S. 281, sowie 1887–1888, KGW VIII/2, 10[159], 11[33] und 12[1], S. 453. Talma berichtet in seinen Memoiren, dass er von seinem anfänglichen unmittelbaren Umgang mit der Darstellung (wodurch er sich einen Kollaps eingehandelt hatte) zum Studium der Atemtechnik und einer vollkommenen Selbstkontrolle bei der Darstellung übergegangen war, wobei er jegliche Identifizierung mit der Rolle ablehnte (F.-J. Talma, Mémoires de J.-F. Talma, Bd. II, S. 28ff.). Diderots Gedanken zum Theater und zum Schauspieler fanden in jenen Jahren weite Verbreitung und wurden unter den Schauspielern der Comédie lebhaft diskutiert. Besonders in den Zeugnissen Audiberts lassen sich Diderots Argumentationsweisen zugunsten der „unbeteiligten“ Darstellung finden: „Ich bin mir meines Spiels gleichsam bewusst, während ich spiele“ (L.-F.-H. Audibert, Entretiens avec Talma, S. 234). Siehe auch C. Mellinet, Une conversation avec Talma, S. 98: „Ein Schauspieler vergisst sich niemals auf der Bühne: Er ist stets Darsteller; andernfalls wäre er ein sehr schlechter Schauspieler“. Über Talmas Verhältnis zu Diderot siehe P. Bastier, A propos du Paradoxe, S. 108f., und A. Freer, Talma and Diderot’s Paradox on Acting. In seiner
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Kontrolle der Ausdrucksmittel bei der Rezitation Bezug und setzte sie der von Wagner vertretenen Improvisation, dem „Zustande der Ekstase“ und „fast dämonische[n] Hang zur Selbstentäußerung“99 entgegen. „Man ist Schauspieler damit, dass man Eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraus hat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein“ (WA 8). Auch in einem Fragment aus demselben Jahr bringt Nietzsche durch ein langes Talma-Zitat, das offenkundige Bezugnahmen auf Diderots Paradoxe sur le Comédien enthält, sein Vorbild des ‚kalten‘ antiwagnerschen Schauspielers zum Ausdruck: „Erster Satz aller Theater-Optik: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein. Der Schauspieler hat das Gefühl nicht, das er darstellt; er wäre verloren, wenn er es hätte. Man kennt, wie ich hoffe, die berühmten Ausführungen Talmas“.100
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100
wichtigsten theoretischen Schrift, Mémoires sur Lekain et sur l’art dramatique (1825), distanziert sich Talma von Diderot und schließt sich der romantischen Auffassung vom mit „genialer“ Einfühlsamkeit, visionärer Kraft, Leidenschaft und Inspiration begabten Schauspieler an – was mit dem Bild Talmas übereinstimmt, das uns durch Madame de Staëls leidenschaftliche Bewunderung überliefert ist. Dennoch bleibt in den zahlreichen Bezugnahmen auf ihn bei Kritikern, Memoirenschreibern und Schriftstellern des 19. Jahrhunderts das Bild des bewussten Schauspielers vorherrschend. Stellvertretend sei hier Sainte-Beuves Äußerung angeführt: „Bei seiner letzten Krankheit, die er nicht für tödlich hielt, sagte Talma, während er die Haut seines abgemagerten Halses fasste: ‚Hier, das passt gut für das Gesicht des alten Tiberius‘“ (Les cahiers de SainteBeuve, S. 117). Talma genoss Napoleons Freundschaft. Zu Talma und seiner Beziehung zu Napoleon vgl. E. Las Cases, Mémorial de Sainte-Hélène, Bd. 1, S. 408. Siehe außerdem M. Fazio, François-Joseph Talma, Primo Divo. R. Wagner, Brief über das Schauspielerwesen an einen Schauspieler, SSD 9, S. 259, und Über Schauspieler und Sänger, SSD 9, S. 217. Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[56]. Vgl. Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[62]: „Talma hat gesagt: oui, nous devons être sensibles, nous devons éprouver l’émotion, mais pour mieux l’imiter, pour mieux en saisir le caractère par l’étude et la réflexion. Notre art en exige de profondes. Point d’improvisation possible sur la scène, sous peine d’échec. Tout est calculé, tout doit être prévu, et l’émotion, qui semble soudaine, et le trouble, qui paraît involontaire. – L’intonation, le geste, le regard qui semblent inspirés, ont été répétés cent fois. Le poète rêveur cherche un beau vers, le musicien une mélodie, le géomêtre une démonstration: aucun d’eux n’y attache plus d’interêt que nous à trouver le geste et l’accent, qui rend le mieux le sens d’un seul hémistiche.
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Hatte Nietzsche das Thema ‚Täuschung‘ im Frühwerk in metaphysischer Hinsicht behandelt, so untersucht er es nun in physiologischer Perspektive und verweist dabei fortwährend auf die „Psychologen“ und die zeitgenössische englische und französische Forschung.101 Er geht der Dekadenz in ihrem Zusammenhang mit der Zersplitterung der Moderne, mit der „Großstadt“ auf den Grund, bis er schließlich in der „unbewußte[n] Falschheit“ ein Resultat des Kampfs der nach Herrschaft strebenden Instinkte erblickt, die unter der Maske anerkannter Werte auftreten, um gebilligt und „befreit“ zu werden. Cette étude suit en tous lieux l’acteur épris de son art. – Faut-il vous dire plus? Nous nous sommes à nous-mêmes, voyez vous, quand nous aimons notre art, des sujets d’observation. J’ai fait des pertes bien cruelles; j’ai souvent ressenti des chagrins profonds; hé bien, après ces premiers moments où la douleur se fait jour par des cris et par des larmes, je sentai qu’involontairement je faisais un retour sur mes souffrances et qu’en moi, à mon insu, l’acteur étudiait l’homme et prenait la nature sur le fait. Voici de quelle façon nous devons éprouver l’émotion pour être un jour en état de la rendre; mais non à l’improviste et sur la scène, quand tous les yeux sont fixés sur nous; rien n’exposerait plus notre situation. Récemment encore, je jouais dans Misanthropie et repentir avec une admirable actrice; son jeu si réfléchi et pourtant si naturel et si vrai, m’entraînait. Elle s’en aperçut. Quel triomphe! et pourtant elle me dit tout bas: ‚Prenez garde, Talma, vous êtes ému!‘ C’est qu’en effet de l’émotion naît le trouble; la voix résiste, la mémoire manque, les gestes sont faux, l’effet est détruit! Ah! nous ne sommes pas la nature, nous ne sommes que l’art, qui ne peut tendre qu’à imiter“. Nietzsches unmittelbare Quelle, aus der er den Text fast wortgetreu (mit wenigen Auslassungen) übernimmt, ist der Aufsatz Dix-septième siècle. – Corneille – Molière – Racine, in: Paul Foucher, Les coulisses du passé, S. 47–49. Aus dem Band dieses Autors, den Nietzsche nirgends zitiert, stammen auch die anschließenden Fragmente 11[63] bis 11[70], die von Theaterthemen, von Montaigne, Mérimée, Marceline Desbordes-Valmore, Sainte-Beuve handeln. 101 Bei H. Joly, Psychologie des grands hommes, fand Nietzsche eine Theorie, die an der Leidenschaft die blindere und heftigere affektive Seite und die Darstellungsseite unterschied. Die Leidenschaft strebt nach Ausdruck, „mehr Beherrschung ihrer selbst, es gelingt ihr leichter, den Rhythmus ihrer Bewegungen zu kontrollieren“. Allerdings glaubte Joly keineswegs, „dass der Künstler ständig leiden und weinen müsse, wie die Romantiker allzu gern lehrten“ (S. 220–221). Aber auch in dem Band von J. Sully, Les illusion des sens, der in französischer Übersetzung in Nietzsches Bibliothek erhalten ist, fand er eine Bestätigung von Talmas Theorie (vgl. S. 159–160).
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Es ist ein Zeichen von g e b r o c h e n e m Instinkt, wenn der Mensch das Treibende und dessen „Ausdruck“ („die Maske“) g e t r e n n t sieht – ein Zeichen von Selbstwiderspruch, und viel weniger siegreich. Die absolute Un s c h u l d in der Gebärde, im Wort, im Affekt, das „gute Gewissen“ in der Falschheit, die Sicherheit, mit der man nach den größten und prachtvollsten Worten und Stellungen faßt – Alles nothwendig zum Siege (Nachlass 1887, KGW VIII/1, 8[1], S. 334).
Der Künstler der Décadence schöpft seine Mitteilung und seinen Ausdruck nicht aus der Fülle der Lebenskraft oder dem Energieüberfluss, der im Spiel mit Formen und Rhythmen, in der Lust am Zerstören und Neuzusammensetzen seinen Niederschlag findet. Er lässt tiefe Schichten ferner Existenzformen mit ihren Kommunikationsund Ausdrucksstilen durch die Disgregation der Persönlichkeit in der Moderne auftauchen: „Wenn der Erschöpfte mit der Gebärde der höchsten Aktivität und Energie auftritt: wenn die Entartung einen Exceß der geistigen oder nervösen Entladung bedingt, dann v e r w e c h s e l t e man ihn mit dem Reichen“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[68]). In der äußersten Erregung der Affekte und Reaktivität, die Nietzsche mit der Hysterie vergleicht, übersieht der dionysische Mensch „kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 10). Dem Histrionismus der Décadence, der aus Erschöpfung, aus der „Verarmung der Maschine“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[119]) erwächst und seiner Psychologie nach der Hysterie eng verwandt ist, setzt Nietzsche den dionysischen Histrionismus als Kennzeichen einer bejahenden Kunst entgegen. Er bezeichnet damit das Phänomen der Mitteilungsfülle, die in erster Linie Körpersprache ist, während die Musik, die seit Menschliches, Allzumenschliches den Status der Ursprünglichkeit eingebüßt hat, lediglich einen Überrest darstellt. „Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Culturmensch-Vermögen sind subtrahirte aus volleren Vermögen“. Die Halluzination der Gebärden des Schauspielers Wagner ist nichts anderes als die durch den Persönlichkeitszerfall bedingte Nachahmung der ursprünglichen dionysischen Mitteilungsfülle, deren Medium der Körper ist und die jeder bejahenden Kunst zugrunde liegt:
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Der aesthetische Zustand hat einen Überreichthum von M i t t h e i l u n g s m i t t e l n , zugleich mit einer extremen E m p f ä n g l i c h k e i t für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen […]. Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin z u r ü c k g e l e s e n werden (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[119]).
In Nietzsches Rückkehr zur dionysischen Ganzheit lässt sich in gewisser Weise eine Aufwertung von Themen des jungen Wagner erkennen. Der Weg des späteren Wagner zur „absoluten Musik“, in theoretischer und musikphilosophischer Hinsicht, ging mit der Betonung asketischer Ideale einher und schloss die zunehmende Unterdrückung des Körperlichen ein. Nietzsche blieb dagegen in verschiedener Hinsicht dem jungen Wagner treu, der in Das Kunstwerk der Zukunft geschrieben hatte: „Die realste aller Kunstarten ist die Tanzkunst. Ihr künstlerischer Stoff ist der wirkliche leibliche Mensch, und zwar nicht ein Theil desselben, sondern der ganze, von der Fußsohle bis zum Scheitel, wie er dem Auge sich darstellt“.102 Der späte Nietzsche, erneut Anhänger des Philosophen Dionysos, legt den Akzent auf den dionysischen Histrionismus als Ausdruck der Lebensfülle und vollkommenen Mitteilung. Gegen die Décadence und ihre Masken bringt er den Wert der Kunst als Stimulans des Lebens und Ausdruck von Macht in Anschlag. Wenn Formenreichtum und Symbolkraft des Körpers aber einen Rückgriff auf die vollkommene Mitteilung des Wagner aus der Zeit von Oper und Drama bedeuten, so unterscheiden sie sich doch zugleich von dessen Begriff, weil sie nichts Unmittelbares sind, sondern eine langsame Errungenschaft durch die Ansammlung von Energie. Sie kommen zuletzt, sind kein primum. Auch die Leichtigkeit des Tanzes will erlernt sein, womöglich gar mit der Peitsche. In Ecce homo erscheint der Körper als magische Bühne des Universums, weil er von Zeichen durchkreuzt ist, die die diffusen Feldenergien bündeln: „das Genie ist b e d i n g t durch trockne Luft, durch reinen Himmel, – das heisst durch rapiden Stoffwechsel, durch die Möglichkeit, grosse, selbst ungeheure Mengen Kraft sich immer wieder zuzuführen“ (EH, Warum ich so klug bin 2). Die äußerste 102
R. Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, SSD 3, S. 72.
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physiologische Sensibilität bedeutet Kraftsammlung, sie ist ein Zustand des „animalische[n] vigor“, der Freiheit besagt und eine höchste Steigerung des Willens ausdrückt (göttlich-dionysischer Zustand), in der es keinen Zufall mehr gibt und alles Mitteilungsfülle ist. Mit der überraschenden Feststellung, „dass Richard Wagner der mir bei Weitem verwandteste Mann war“ (EH, Warum ich so weise bin 3), setzt sich der dionysische Histrio ein letztes Mal gegen den Histrio der Dekadenz in Szene. In Der Fall Wagner hat Nietzsche die endgültige Auseinandersetzung mit dem „Künstler der décadence“, dem „unvergleichliche[n] Histrio“ (FW 8) in Angriff genommen, dem er seine eigene Natur eines „Hanswurst, S a t y r “ entgegensetzt: „wo […] ich, wörtlich gesagt, das Schicksal der Menschen zu tragen habe, gehört es zu meinen Beweisen der Kraft, in dem Grade Hanswurst, S a t y r oder, wenn Sie es vorziehen, ‚Feuilletonist‘ zu sein, – sein zu können, wie ich es im ‚Fall Wagner‘ gewesen bin. Daß der tiefste Geist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Formel für meine Philosophie“, schreibt er an Ferdinand Avenarius. Weiter führt er aus, wobei er den Sinn seines Kampfs gegen Wagner enthüllt und dessen Kontinuität ab 1876 betont: Der Gegensatz eines décadent und einer aus der Überfülle der Kraft herausschaffenden, das heißt d i o n y s i s c h e n Natur, der das Schwerste Sp i e l ist, ist ja zwischen uns handgreiflich […] Wir sind verschieden wie arm und reich. […] ich habe an unzähligen Stellen den biologischen Gegensatz des verarmten und, folglich, r a f f i n i r t e n und b r u t a l e n Kunstinstinkts zum reichen, leichten, im Spiele sich echt bejahenden dargestellt.103
Der dionysische Histrio will durchaus nicht dem Authentischen oder Ursprünglichen Ausdruck geben. Nietzsche ist sich seit geraumer Zeit bewusst, dass dies unmöglich ist, dass es ein solches nicht gibt: „m i t d e r w a h r e n We l t h a b e n w i r a u c h d i e s c h e i n b a r e a b g e s c h a f f t “ (GD, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde). Hinter der Maske steht eine weitere Maske, die keine solche mehr ist, weil sie keinerlei Gesicht verbirgt und nichts mehr zu schützen hat. So ver103
An F. Avenarius, 10. Dezember 1888, KGB III/5, S. 516–517 und S. 517–518.
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steht man, warum Nietzsche in einem Brief an Malwida von Meysenbug vom 18. Oktober 1888 Wagner als „ein Genie der L ü g e “ und sich selbst als dessen Gegenteil, „ein Genie der Wa h r h e i t “, definiert.104 Es ist der Anspruch des Authentischen, der Anspruch, heilige Ideale und mythische Wiedergeburten zu bringen, gleichsam ein „Bauchredner Gottes“ (GM III 5) zu sein, die aus Wagner einen „Schauspieler“ und sogar einen „Betrüger“, einen Cagliostro, einen Falschmünzer machen: „künstlich, geleimt, falsch, Machwerk, Unthier, Pappe“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 16[79]). „Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch über der Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten Instinkte hinein verlogen und falsch geworden“ (EH, Vorwort 2). Im Gegensatz dazu öffnet sich für Nietzsche – der mit „heroisch-aristophanische[m] Übermut“105 ein bewusster Histrio, ein „göttlicher Hanswurst“ geworden ist – die Bühne für ein unmittelbares, gesetzgebendes und ‚politisches‘ Einwirken auf die Welt: Seine Schriften sind für ihn jetzt Gebärdenkunst und sollen unmittelbar in Übersetzung erscheinen und die Auflage von Zolas Nana übertreffen. Die Aufgabe, den schwersten Gedanken, den Gedanken der ewigen Wiederkehr, zu verkünden, hatte der Philosoph seinem Sohn Zarathustra übertragen: ein letzter Schutz für den Menschen Nietzsche, der sich von dem Gewicht des Wiederkunftsgedankens erdrückt fühlte und nicht in erster Person davon zu sprechen vermochte: „daß ich […] bald den Deutschen Schopenhauern oder Wagnern anempfehle, bald Zarathustra’s ausdenke, das sind Erholungen für mich, aber vor Allem auch Verstecke, hinter denen ich eine Zeit lang wieder sitzen kann“.106 Nachdem nun alle Schutzmasken gefallen sind, die ihn begleitet und seinen schweren Weg ermöglicht haben, wird er Schüler des Dionysos philosophos, des einzigen Gottes, der nach dem Tod Gottes und aller Götter noch existieren kann, weil er die völlige Befreiung von den „Schatten Gottes“ ausdrückt, als Chiffre für die ziellose Immanenz des Kreises steht. Die geplanten Lieder ZarathusKGB III/5, S. 452. An Köselitz, 30. Dezember 1888, KGB III/5, S. 565. 106 An Elisabeth, 20. Mai 1885, KGB III/3, S. 53.
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tras werden schließlich die Dionysos-Dithyramben, in denen die Bilder des Mythos wiederkehren: das Labyrinth, der Held Theseus und das Geheimnis der Ariadne. Nietzsche, der die Umwertung mit Beendigung des Antichrist für abgeschlossen hält („am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung“), kann schließlich selbst als Befreier und Richter Dionysos, der den jahrtausendelangen Betrug enthüllt, auf die Welt zurückkommen. Nachdem Nietzsche die Maske des Professors abgelegt hat („So lange ich gesund bin, habe ich guten Humor genug, um meine Rolle zu spielen und mich vor aller Welt darunter zu verstecken zb. als Basler Professor“),107 erlebt er in vollen Zügen das königliche und geliebte Turin, die ‚französische‘ Stadt („Der gebildete Deutsche reist daran vorbei“108), wo er die Presse (insbesondere das „Journal des Débats“) lesen und in den Buchhandlungen die französischen Neuheiten finden kann und wo er die Leichtigkeit der Operette genießt, von deren Wert er den allzu teutonischen Köselitz überzeugen will. Von Turin gehen seine Versuche aus, durch die Übersetzung und Verbreitung seiner Werke in Europa Anerkennung zu finden, und hier wird Nietzsche schließlich princeps Taurinorum und Cäsar, am Ende Dionysos und der Gekreuzigte, der den Großen der Erde, der ganzen Welt, in den letzten ‚Wahnsinnszetteln‘ sein Reich aufzwingt. Die jubelnde Auflösung trägt die tragische Mimesis der Fülle in sich: Die vollzogene Umwertung der Werte bedeutet eine ‚verklärte Welt‘ und die Freude des Himmels, und nach dem Ende aller Masken – „daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin“ – kommt der Philosoph diesmal „als der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird“. In seinem letzten, an Burckhardt gerichteten Brief, dem einzigen mit „Nietzsche“ unterzeichneten, bringt er sein Bedauern zum Ausdruck: „zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen“.109 107 108 109
An Elisabeth, Mitte März 1885, KGB III/3, S. 24–25. An Reinhardt von Seydlitz, 13. Mai 1888, KGB III/5, S. 313. An Burckhardt, 6. Januar 1889, KGB III/5, S. 577–578.
Der demagogische Cagliostro und der dionysische „Histrio“
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Infolge dieses Briefes reist Overbeck, von dem Schweizer Historiker unterrichtet, beunruhigt nach Turin. In seinen Aufzeichnungen, die nicht zuletzt darauf gerichtet sind, die Gestalt seines Freundes vor dessen zahlreichen „Affen“ zu schützen, nimmt Overbeck als Eigentümlichkeit Nietzsches das Theatralische von dessen Existenz und Denkweg wahr. „Mit sich selbst spielend hat er so zu sagen eine Coulisse nach der Andern aus seinem Decorationsmagazin hervorgezogen, bis das ganze Schaustück da stand“.110 In der Wohnung in via Carlo Alberto wird die Szene eines Nietzsche, der ihn wiedererkennt und in einem „Thränenstrom“ umarmt, das skurrile Tanzen und Springen des Freundes, der sich ans Klavier setzt und spielt und dabei erklärt, er sei „der Possenreisser der neuen Ewigkeit“, einen unauslöschlichen Eindruck in ihm hinterlassen: „Ich habe kein ebenso entsetzliches Bild von Zerstörung gesehen“.111
110 111
F. Overbeck, Autobiographisches (16. Dez. 1899), S. 29. Brief von Overbeck an Köselitz, 11. Januar 1889, in: F. Overbeck, H. Köselitz [Peter Gast], Briefwechsel, S. 201.
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„Der Pariser als das europäische Extrem“
VI. Die Reise des Herrn Nietzsche nach Cosmopolis Der „ächte Deutsche“. „O peuple des meilleurs Tartuffes, Ich bleibe dir treu, gewiß!“ – Sprach’s, und mit dem schnellsten Schiffe Fuhr er nach Cosmopolis. Friedrich Nietzsche (Herbst 1884, 28[54]) „il adopts comme sa devise propre ce vers d’un opéra bouffe, aujourd’hui oublié, mais qu’il proclame exquis, I pretendenti delusi: ‚vengo adesso di Cosmopoli‘. – Je viens à present de Cosmopolis“.1 Paul Bourget
1. „Der Pariser als das europäische Extrem“ Auf seiner im Winter 1883 in Nizza begonnenen Reise nach Cosmopolis machte Nietzsche, in steter Fühlung mit der französischen Kultur seiner Zeit, die Bekanntschaft mit den Romanciers. Die Lektüre von Romanen und Erzählungen lieferte ihm zahlreiche Anregungen für seine Analyse der Sitten, denn die literarischen Tendenzen galten ihm als Symptome für den allgemeinen Gesundheitszustand einer gesamten Zivilisation. Darüber hinaus wurden ihm in der Auseinandersetzung mit den französischen Kritikern die Ähnlichkeiten zwischen der vielförmigen französischen Décadence und dem ‚Fall‘ Wagner bewusst. In denselben Jahren verknüpft Nietzsche die Forschungsfragen der Philologie, der Physiologie und Genealogie miteinander und macht 1
Paul Bourget zitiert diesen Vers aus der Opera buffa I pretendenti delusi von Giuseppe Mosca, die 1811 in der Scala uraufgeführt wurde, in seinem Essay über Stendhal (Essais, S. 295) als Devise von dessen sinnenfrohem Kosmopolitismus. Vgl. Stendhal, Rome, Naples et Florence, S. 67.
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Die Reise des Herrn Nietzsche nach Cosmopolis
dabei Front gegen jede voreingenommene, vorurteilsbehaftete Interpretation, die auf geduldiges Entziffern verzichtet. Er sucht die Kräfte zu ermitteln, die den Text durchkreuzen, ihn konstituieren, und erhebt die Forderung, langsam und gut zu lesen, ohne „die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren. Philologie als E p h e x i s in der Interpretation: handle es sich nun um Bücher, um Zeitungs-Neuigkeiten, um Schicksale oder Wetter-Thatsachen“ (AC 52). Es ist ein ‚Wille zum Wissen‘, der ihn dazu treibt, den Dingen auf den Grund zu gehen, sich mit der Vielfalt des Wirklichen auseinanderzusetzen, die Zeichen des Lebendigen und des Verfalls einer Kultur zu lesen, Verschlüsseltes zu entziffern, ohne den Sinn zu entstellen. Die zeitgenössischen französischen Romane, selbst die der „kleinen romanciers der Zeitungen und zufälligen boulevardiers de Paris“, sind den besten Franzosen, den Erben der „alte[n] vielfache[n] m o r a l i s t i s c h e [ n ] Cultur“ (JGB 254), Instrumente psychologischer Analyse. Für Nietzsche sind sie Zeichen der Zeit. In Ecce homo spricht er von der „charmanten Gesellschaft“ der „allerletzten Franzosen“ und meint, dass man in keinem Jahrhundert „so neugierige und zugleich so delikate Psychologen zusammenfischen könnte, wie im jetzigen Paris“. „Versuchsweise – denn ihre Zahl ist gar nicht klein“ – zählt er einige von ihnen auf: „Paul Bourget, Pierre Loti, Gyp, Meilhac, Anatole France, Jules Lemaître, oder um Einen von der starken Rasse hervorzuheben, einen echten Lateiner, dem ich besonders zugethan bin, Guy de Maupassant“.2 Anatole France und Guy de Maupassant werden übrigens von Nietzsche hier das erste und einzige Mal erwähnt, Bücher der beiden sind in der nachgelassenen Bibliothek in Weimar nicht zu finden, nur die wichtige, an verschiedenen Stellen von Nietzsche unterstrichene Einleitung Maupassants zu Flauberts Briefen an George Sand.3 Auch Lemaître, von dem Nietzsche etliche Schriften besaß und der für einige seiner literaturkritischen Bemerkungen in 2
3
EH, Warum ich so klug bin 3. Vgl. auch Nachlass 1888–1889, KGW VIII/3, 25[9]: „Fromentin, Feuillet, Halévi, Meilhac, les Goncourt, Gyp, Pierre Loti – – – oder um einen von der tiefen Rasse zu nennen, Paul Bourget, der bei weitem am meisten von sich aus mir nahe gekommen ist – – –“. G. Flaubert, Lettres à George Sand. Précédées d’une étude par Guy de Maupassant, Paris: G. Charpentier et C.ie, 1884.
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den nachgelassenen Fragmenten eine wichtige Quelle war,4 wird nur an dieser Stelle aus Ecce homo genannt. Der Satz über Maupassant, der freilich eine weit verbreitete Auffassung wiedergibt, lässt durch seine fast wörtliche Entsprechung eine direkte Übernahme aus Anatole France, La vie littéraire, vermuten.5 Alle in dem Zitat aus Ecce homo erwähnten Personen betrachteten den Roman als herausragendes Instrument der psychologischen Analyse. Ausdrücklich bezieht Nietzsche sich in diesem Sinne auf die Romane der Brüder Goncourt (Charles Demailly; Renée Mauperin; Manette Salomon; La Faustin) und die von Paul Bourget (Un crime d’amour; André Cornelis; Mensonges). Die in Weimar erhaltenen Exemplare weisen zahlreiche Lesespuren auf. Vor allem Paul Bourget knüpfte bewusst an die Tradition des analytischen Romans an, die auf die französischen Moralisten zurückging und mit La princesse de Clèves von Mme de Lafayette, Le rouge et le noir von Stendhal, Adolphe von Benjamin Constant, Volupté von Sainte-Beuve und Dominique von Fromentin einige Meisterwerke hervorgebracht hat, die auch Nietzsche sehr schätzte. „Das künstlerische Verfahren ist nur insoweit analysiert, als es eine Offenbarung ist [autant qu’ils sont des signes] […]. Ich habe weder Talente besprechen noch Charaktere malen wollen. Mein Streben 4
5
J. Lemaître, Petites orientales; Les contemporains, I série; Les contemporains, II série. Wie Werner Ross nachgewiesen hat, las Nietzsche im Journal des Débats vom 30. Dezember Lemaîtres Rezension zur Theater-Premiere von Catulle Mendès, Isoline (ein Märchen in zehn Bildern, mit Musik von André Messager), im Pariser Théâtre de Renaissance (am 26. Dezember). Ross gibt die Rezension von Lemaître im Anhang seines Bandes wieder. Vgl. W. Ross, Der wilde Nietzsche, S. 187–192. Zu Nietzsches Lektüre der Rezension vgl. ebd., S. 164ff. Ein Zettel, datiert vom 1. Januar 1889, enthält eine Widmung der Dionysos-Dithyramben („acht Inedita und inaudita“) an den „Freund und Satyr“ Catulle Mendès, „Dichter der Isoline“. Vgl. auch folgende weitere Widmung an Catulle Mendès vom selben Tag: „Ich lege sie in die Hände des Dichters der Isoline, des größten und ersten Satyr, der heute lebt – und nicht nur heute …“. Unterzeichnet: Dionysos (vgl. KGB III/5, S. 570–571). A. France, La Vie littéraire, Bd. I. Siehe aber auch P. Bourget, Nouvaux essais, S. 178: „Maupassant, der widerstandsfähigste, am wenigsten krankhafte aller Romanciers, die in den letzten zehn Jahren in Erscheinung getreten sind“.
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war, einige Beobachtungen zu Papier zu bringen, welche dem Geschichtschreiber des sittlichen Lebens während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zur Unterlage dienen könnten“, schreibt Bourget in der Einleitung zu seinen Essais.6 Bourget hatte seine Schriftstellerkarriere 1872 mit einem Essay über Spinoza begonnen, in dem sich bereits der Romancier ankündigt, den die Analyse der Liebe und Leidenschaften beschäftigen wird, der ‚Psychologe‘, der die philosophischen Lehren im Gefolge von Taine und Sainte-Beuve auf menschliche, persönliche Empfindungen zurückführen will: Die „metaphysischen Dichtungen sind lediglich eine höchste Verwandlung, gleichsam die vollendete Blüte unserer Empfindsamkeit“.7 Sein Interesse richtete sich auf die „wissenschaftliche“ Analyse der Leidenschaften und auf den Determinismus. Er schrieb: „Die Ethik zählt zu den Werken, die in der Psychologie ihren bleibenden Platz haben müssen“. Einer besonderen, positivistischen Lesart Bourgets zufolge ist der ‚Psychologe‘ Taine von Spinoza beeinflusst und er selbst wird sich erst im Disciple im Namen der Tradition und Moral von Spinoza abwenden. Adrien Sixte, der Lehrer und Determinist, beruft sich in seinem Vorhaben, „die menschlichen Gefühle zu studieren, wie die Mathematik ihre geometrischen Figuren studiert“,8 auf Spinoza. Doch noch in der Physiologie de l’amour moderne kokettiert Bourget mit der Ethik Spinozas, indem er gelegentlich „geometrisch“ argumentiert und in seinen Ausführungen zur Eifersucht auf jene Ethik (III, prop. XXXV, Scholion) Bezug nimmt.9 6 7
8 9
P. Bourget, Avant-propos, in: Essais, S. V–VI (dt. Übers. S. III–IV). P. Bourget, Le roman d’amour de Spinoza. in: Renaissance, 28. Dez. 1872, dann in: Pages de critique et de doctrine, Bd. I, S. 213. P. Bourget, Le disciple, S. 147. Vgl. P. Bourget, Physiologie de l’amour moderne, S. 221–222. Auch in den Essais, vor allem in dem Essay über Taine, bezieht sich Bourget mehrfach auf Spinoza. Vgl. insbesondere den Verweis auf dieselbe Stelle der Ethik über die Eifersucht in: Essais, S. 186 (dt. Übers. S. 161). Schon Taine selber hatte sich auf Spinoza als wissenschaftlichen Psychologen der Leidenschaften berufen. Vgl. H. Taine, Les philosophes classiques, S. 256–257: „Mit Spinoza [Ethik, Buch III, Prop. 32] lässt sich festhalten, dass die Vorstellung eines Guts bedeutet, es zu begehren, dieses Gut im Besitz eines anderen zu sehen aber bedeutet, zu leiden, so dass es uns durch eine Täuschung der Vorstellung scheint, als
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Als Romancier empfing Bourget einen ersten starken Impuls von Balzac, mehr noch als von Stendhal, den er ebenfalls schätzte: eine Auffassung des Romans als Diagnose der Übel der französischen Gesellschaft, als psychologischer und soziologischer Essay. Für Nietzsche wie für Bourget waren Paris und das „Pariser Leben“ das Zentrum der décadence und somit der privilegierte Ort für deren Studium. Selbst die äußerste, bis zur „Vivisektion“ getriebene Leidenschaft der Kritik galt ihnen als „une débauche comme une autre“ (Cosmopolis), Ausdruck von Dekadenz und physiologischem Verschleiß, worüber die Wirklichkeit schwand, Reflexion und abstraktes Denken an die Stelle des spontanen Lebens traten. Als erster hatte Balzac mit der unruhig-faszinierten Haltung des amateur aus Paris, „le plus délicieux des monstres“, „monstre complet“, ein dunkles Vergnügen geschöpft. Für den, der die vielgestaltige, abwechslungsreiche Physiognomie der Stadt ganz genau kennt, ist Paris „triste ou gai, laid ou beau, vivant ou mort; Paris est une créature“.10 Jenseits aller Verschiedenheit der Typen und Schichten, deren Physiologie er beschrieb, verband die Bewohner der Metropole in seinen Augen ein fieberhaftes Streben nach „Gold“ oder „Vergnügen“, „unauslöschliche Zeichen einer keuchenden Gier“. „Von den Schauspielen, welche aller Schrecken Schrecken bergen, ist eines sicherlich das allgemeine Aussehen der Pariser Bevölkerung, eines Volkes, ausgezehrt, gelb, ledriggebeizt – grauenvoll anzuschauen“.11 Dieses Bild wurde bald ein Gemeinplatz in der Literatur und in den Analysen der wachsenden „Degenerescenz“ der Großstadt überhaupt. Nietzsche wurde in seiner Beschäftigung mit dem Thema auch
10 11
habe der Besitzer dieses Gut an sich gerissen und als sei er der Urheber unseres Leidens. Die Ursache ist gefunden; das Neidgefühl, das eine Tatsache ist, rührt von einer anderen Tatsache her, bei der es sich um eine Täuschung handelt. Führt so alle Freuden, alle Leiden und alle Wünsche auf irgendeine beobachtbare, einzige Tatsache zurück, und ihr werdet das Herz des Menschen erklärt und gleichzeitig ein wissenschaftliches Werk vollbracht haben. Das ist so wahr, dass der berühmte Physiologe Müller das dritte Buch der Ethik abgeschrieben und gesagt hat, es enthalte die ganze Erklärung und es gebe zu diesen Fragen nichts weiter zu erforschen“. H. de Balzac, Ferragus, S. 7–8. H. de Balzac, Das Mädchen mit den Goldaugen, S. 15.
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von Charles Féré angeregt, dem Arzt in Bicètre, der sich durch seine Beiträge zum „animalischen Magnetismus“, d.h. zur Hypnose und zur Suggestion, hervortat und an Ribots „Revue philosophique“ mitarbeitete.12 In dem meisterlichen Essay über Balzac, den Nietzsche sehr genau kannte, beschrieb Taine den Schriftsteller als typischen Ausdruck des täglichen Kampfs in jener „Arena“: „Er war ein Pariser in seinen Sitten, in der Anlage seines Geistes, in seinen Neigungen“.13 Auch der Autor, der die Leidenschaften, Zwangsvorstellungen und Exzesse in jenem „überheizten Treibhaus“, das sich Paris nennt, wie kein anderer als verbreitete Sitte zu beschreiben gewusst hat, litt am „Fieber des Gehirns“ und an Halluzinationen, war seinen Bestrebungen ausgeliefert und eine Beute des Milieus. „Balzac sagte einmal, dass er an fünfzigtausend Tassen Kaffee sterben würde. Er hätte hinzufügen müssen, dass er von fünfzigtausend Tassen Kaffee gelebt hat“.14 Sein Stil ist ebenfalls Ausdruck dieses „riesenhaften Chaos“.15 Balzac war von Form und Selbstbeherrschung des klassischen Geistes weit entfernt. Von Taine übernahm Nietzsche die Kennzeichnung Balzacs als „Plebejer“, der „eines vornehmen tempo, eines lento unfähig“ war: „Tantalusse des Willens, heraufgekommene Plebejer […], zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer durch Arbeit; Antinomisten und Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige und Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuss; allesammt zuletzt an dem christlichen Kreuze zerbrechend und niedersinkend“ (JGB 256) – zu dieser Kategorie von Leuten gehörte für ihn Balzac, von dem „ein Geruch von pöbelhaften Empfindungen, ein Cloaken-Gestank von Großstadt“ ausgeht (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[123]). Der mit Seziersälen vertraute „Anatom“ Balzac wusste jedoch nach Taine wie kein anderer „die auffallenden Ungeheuerlichkeiten“ und neuen „Beute suchenden Bestien zu schildern, die kleinen wie die großen“.16 Taine selbst erweist sich in Notes sur Paris. Vie et opinions de 12 13 14 15 16
Ch. Féré, Sensation et mouvement und Dégénérescence et criminalité. H. Taine, Balzac, S. 5 (dt. Übers. S. 195). H. Taine, Notes sur Paris, S. 141. H. Taine, Balzac, S. 43 (dt. Übers. S. 227). Ebd., S. 50 (dt. Übers. S. 232).
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M. Frédéric-Thomas Graindorge als Schüler Balzacs. Mit der Muße des Psychologen – „Ich gehe in die Welt wie ins Theater, sogar lieber als ins Theater“17 – widmete er sich der pessimistischen Untersuchung der großstädtischen Lebensformen und der verschiedenen Masken der modernen Gesellschaft. Der Lebenskampf beinhaltet die Analogie zum Urwald und zu den Raubtieren. Aus dem Kampf sind die Besiegten hervorgegangen, der Ausschuss, und jedermann ist an Leib und Seele von ihm gezeichnet. Der „bal publique“18 bietet Gelegenheit, um sich die Degeneration der Arbeiter-„Rasse“ vor Augen zu führen: Der hervorstechende Zug ist, dass alle, bis auf wenige Ausnahmen, klein und dünn sind. Einige von ihnen sehen aus wie Kinder. Es gibt Frauen, die gerade vier Fuß groß sind. Sie alle sind verkrüppelt, zwergenhaft, verkümmert, verwachsen. Von Generation zu Generation haben sie schlechten Wein getrunken, Hundesteaks gegessen, die verpestete Luft von Bobino geatmet und zu viel gearbeitet, um sich zu viel zu vergnügen. Es sind verkrümmte, zusammengeschrumpfte Gestalten mit glühenden Augen. Das Pariser Leben hat den Menschen in den untersten Schichten hart auf die Probe gestellt, hat ihn ausgelaugt, ausgedorrt, verdorben. Zusammen mit dem Wein hat es ein starkes Gemisch gebraut.
Der Pariser Arbeiter zeichnet sich nach Taine, der damit ein verbreitetes Stereotyp aufgreift, durch seine zur Schau gestellte Eitelkeit und „anzügliche Sinnlichkeit“ aus: „Daraus kann ein Held von Sébastopol oder ein Rasender auf den Barrikaden werden“.19 Der Lebenskampf hat die räumliche Freiheit eingebüßt, in der die Stärke sich offen manifestierte. Jeden Tag kommen die Ameisen aus ihrem Bau, um einen noch härteren Kampf zu beginnen: Der finsterste Gedanke ist, dass dieser Kampf Körper an Körper nach fester Routine, auf einem abgemessenen, unterteilten und geschlossenen Terrain stattfindet, jedermann in seinem Abschnitt, frühzeitig gebeugt durch die Last der Tradition und die Lehrzeit, die ebenso mechanisch und künstlich ist wie
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H. Taine, Notes sur Paris, S. 21. Vgl. auch die Beschreibung des „bal public“ in E. und J. de Goncourt, Idées et sensations. Bourget bezeichnet dessen tristesse als „épileptique“ und „hemmungslos“ (P. Bourget, Nouveaux essais, S. 188). H. Taine, Notes sur Paris, S. 44–45.
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sein ungeheures Ziegelsteingefängnis. […] Das Individuum gibt unter dem Gewicht der Masse nach und ist in eine bestehende Ordnung gesperrt.20
„Der Pariser als das europäische Extrem“ (Nachlass 1883–1884, KGW VII/1, 24[25]) bevölkert Nietzsches Lektüren in geradezu stereotyper Manier: von Bourgets Essais – „Der moderne Mensch, so wie wir ihn auf den Boulevards von Paris kommen und gehen sehen, trägt in seinen zarten Gliedmaßen, in seiner zu ausdrucksvollen Physiognomie, in dem zu scharfen Blicke seines Auges deutliche Spuren eines wässrigen Blutes, einer geschwächten Willenskraft, einer übertriebenen Nervosität. Der Moralist erkennt darin die Wirkung des Lasters“21 – bis zur Beschreibung der Goncourts in Renée Mauperin (Kap. XXX). Denoisel ist der Inbegriff eines Parisers: „Durch Paris wunderbar ausgebildet in der großen Kunst des Lebens, war er ein Mann dieses Lebens: er besaß dessen Instinkte, dessen Sinne, dessen Genie“. „Mit allen Pariser Erfahrungen vertraut“, wird er mit einem Wilden verglichen, der „im Urwald über die Natur triumphiert“. Nietzsche verweist in einem nachgelassenen Fragment (1884, KGW VII/2, 25[112]) auf den Roman der Goncourts. Das Bild, das auf Balzacs Metapher von Paris als „Urwald“ zurückgeht, begegnet auch bei Baudelaire: Welcher Begriff wäre törichter als der des Fortschritts, da doch der Mensch, wie jeder Tag aufs Neue beweist, immer dem Menschen ähnlich und gleich, das heißt immer ein Wilder bleibt. Was bedeuten die Gefahren des Waldes und der Steppe neben den täglich sich wiederholenden Zusammenstößen und Auseinandersetzungen der modernen Zivilisation? Ob der Mensch sein genarrtes Opfer auf den Straßen der Großstadt einfängt oder seine Beute in unerforschten Wäldern durchbohrt, bleibt er nicht ewig der Mensch, das heißt das vollkommenste Raubtier?22 20 21
22
Ebd., S. 287. P. Bourget, Essais, S. 152 (dt. Übers. S. 132). Nietzsche zieht für die Beschreibung der Verfallserscheinungen in der Großstadt auch die Analysen von Charles Féré heran; siehe insbesondere Nachlass 1888, KGW VIII/3, 15[37] und 15[41]. Vgl. dazu außerdem B. Wahrig-Schmidt, „Irgendwie, jedenfalls physiologisch“, und H. E. Lampl, Ex oblivione. Ch. Baudelaire, Œuvres posthumes, S. 86 (Fusées XXIII) (dt. Mein entblößtes Herz, S. 25). Ein ähnliches Bild, das Nietzsche in Fragment 11[234] (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2) anführt, kehrt in Fusées XXVI wieder.
„Anatomistes, physiologistes, je vous retrouve partout!“
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2. „Anatomistes, physiologistes, je vous retrouve partout!“ Durch die Lektüre der Schriften von Brunetière23 und Desprez entwickelt Nietzsche in den achtziger Jahren seine Sicht des Falls Wagner, indem er den Musiker mit dem Naturalismus, mit der französischen Spätromantik, der Tyrannei der Effekte und Farben in Verbindung bringt. Ohnmacht, Schwäche, Selbstverachtung, Wille zur Flucht, Herrschaft des Milieus (das ‚geformte Ego‘) und Romantik enttäuschter Naturen sind gleichermaßen prägend für Wagner wie für die neuen Pariser Romanciers. Daher rühren die „plebejischen“ Aspekte, die der naturalistischen Bewegung eigen sind: Die Fülle p ö b e l h a f t e r Instinkte unter dem jetzigen aesthetischen Urtheil der französischen Romanschriftsteller. – Und zuletzt: es giebt viel Verborgenes, was sie nicht heraussagen wollen, ganz wie bei Richard Wagner 1) ihre Methode ist l e i c h t e r bequemer, die wissenschaftliche Manier der Stoff-Masse und der Colportage, es bedarf des großen Principien-Lärms, um diese Thatsache zu verhüllen – aber die Schüler errathen es, die geringeren Talente 2) der Mangel an Zucht und schöner Harmonie in sich macht ihnen das Ähnliche interessant, sie sind neugierig mit Hülfe ihrer niedrigen Instinkte, sie haben den Ekel und die Aegide nicht 3) ihr Anspruch auf Unpersönlichkeit ist ein Gefühl, daß ihre Person mesquin ist z.B. Flaubert, selber seiner satt, als ‚bourgeois‘ 4) sie wollen Viel verdienen und Skandal machen als Mittel zum großen m o m e n t a n e n Erfolg (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[181]). Die Malerei an Stelle der Logik, die Einzelbeobachtung, der Plan, das Überwiegen des Vordergrundes, der tausend Einzelheiten – alles schmeckt nach den Bedürfnissen nervöser Menschen, bei Richard Wagner wie bei den Goncourts. Richard Wagner gehört in die französische Bewegung: Helden und Monstra, extreme Passion und dabei lauter Einzelheiten, momentaner S c h a u d e r (ebd., 25[184]).
Nietzsche wiederholt hier die Kritik Brunetières am naturalistischen Roman. Mit Brunetière verband ihn die Wertschätzung des 17. Jahrhunderts in Frankreich als goldenes Zeitalter der Klassik entgegen dem 18. Jahrhundert, dem Zeitalter Rousseaus. Der in der nachgelassenen Bibliothek erhaltene Band Brunetières von 1883 ist mit zahlrei23
Vor allem F. Brunetière, Le roman naturaliste.
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chen Lesespuren und Bemerkungen versehen. Die Kritik richtet sich gegen die Goncourts, weil sich hinter ihrer Rede von der „Natur“ die Tatsache verbirgt, dass sie sich um so mehr zugunsten des Künstlichen als dem stärkeren Antrieb von der Natur und Wahrheit entfernen, je mehr sie von ihnen sprechen: „Um die Natur wirklich zu hassen, muss man freilich den Landschaften Bilder und den Früchten Marmelade vorziehen“.24 Auch ihr Stil will die künstliche Mischung der Gattungen. Außerdem richtet sich das Interesse der Goncourts nicht auf die Natur (die „Norm“), sondern auf die Ausnahmen, die „Monstra“; damit stehen sie in einer Kontinuität mit der Romantik: „Die Ausnahme wird studiert, genau wie in der Romantik“.25 Die Goncourts sind auf der Suche nach künstlichen, krankhaften Empfindungen, „solchen, die das Gebiet der Psychologie verlassen, um das der Pathologie zu betreten, und solchen, die nicht mit uns geboren sind, sondern die wir uns verschaffen, die Empfindungen des Alkoholikers oder Opiumrauchers“.26 Über Edmond de Goncourt und seinen Roman La Faustin schreibt Brunetière: „Sein vermeintlicher Naturalismus bestand wohl vor allem darin, dass es ihm an Natürlichem fehlte“, er macht „selbst aus seinen Fehlern ein Verfahren, denn sie lassen sich stets leichter handhaben als beheben“27 – genau wie Nietzsche von Wagner behaupten wird. Aufgrund dieser Anregungen zieht Nietzsche eine Kontinuitätslinie von der Romantik zum Naturalismus und macht aus den zeitgenössischen Autoren „enttäuschte Romantiker“: „Auf die Schule des r o m a n t i s m e ist in Frankreich gefolgt l’école du document humain. […] w i s s e n s c h a f t l i c h e Hy s t e r i e – sage ich“.28 24 25
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E. und J. de Goncourt, Idées et sensations, S. 62. F. Brunetière, Le roman naturaliste, S. 330, mit vielen Unterstreichungen Nietzsches. Ebd., S. 330 Ebd., S. 324 und 326. Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[104]. Wie Nietzsche in demselben Fragment erwähnt, stammt der Ausdruck „école du document humain“ von Edmond de Goncourt, der im Vorwort zu La Faustin (1881) dafür die Urheberschaft beansprucht. In einem Fragment von 1887–1888 führt Nietzsche im Rahmen einer Aufzählung der Typen der décadence neben den Romantikern, den Schauspie-
„Anatomistes, physiologistes, je vous retrouve partout!“
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Ausgehend von der Lektüre der Essais von Bourget und der intensiven Auseinandersetzung mit der französischen Literatur und Kritik der Zeit definiert Nietzsche in den Fragmenten vom Winter-Frühjahr 1883–1884 die Kategorien seiner physiologischen Interpretation Wagners und der Kunst der décadence, die er in Der Fall Wagner systematisch darlegen wird. Es herrscht ein „Gesetz der Na c h z ü g l e r “, das Wagner exemplarisch verkörpert: „Provinz nach Paris, Deutschland nach Frankreich“ (Nachlass 1883–1884, KGW VII/1, 24[6]). Nietzsche greift damit einen Gemeinplatz auf. Taine spricht von dem „Deutsche[n] […], durch die Schwerfälligkeit seines Temperaments noch in grobsinnliches Leben und in trägen Respekt vor der bestehenden Ordnung versunken“,29 Bourget – Nietzsches direkte Quelle – schreibt: „In Paris begann die Reaktion gegen den Romantismus, aber in der Provinz war die Begeisterung für denselben auf ihrem Höhepunkte […]. Im Leben der Provinz finden sich häufig solche Verzögerungen, welche Weisheit enthalten, sowie langsames Eindringen, welches reichen Samen ausstreut. Langsam und spät reifen dort Leidenschaften von tie-
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lern und den Nihilisten auch die Brutalisten und die Delikaten an (KGW VIII/2, 11[10]). Für das Verständnis der beiden letztgenannten Begriffe ist vor allem das Buch von Desprez, L’évolution naturaliste, zu berücksichtigen, das Nietzsche zu jener Zeit las. Der Begriff „brutalité“ kehrt darin mehrfach zur Bezeichnung von Haltung und Stil der Naturalisten, insbesondere Zolas und Richepins, wieder: „Il est de ceux qui prennent la brutalité pour la verité“ (S. 283). (In Nietzsches Bibliothek befindet sich von J. Richepin der Band Les blasphèmes). Für den Begriff „die Delikaten“ ist auf das Kapitel Les Poètes zu verweisen; das Exemplar in der Nietzsche-Bibliothek weist auf den betreffenden Seiten Lesespuren auf. Vgl. z.B. S. 298 über Sully Prudhomme: „L’auteur des Vaines tendresses se console: il sait les délicats seuls capables d’apprécier ses délicatesses de pensée et les penseurs seuls aptes à le pénétrer …“ oder S. 302 über François Coppée: „Il a des délicatesses exquises et des pitiés de femme pour les petits, les souffrants, les déshérités les humbles“. 1884 war der Band von Constant Martha, La délicatesse dans l’art, erschienen, worin die delicats – ein auch ethischer Ausdruck der Mäßigung, des Gleichgewichts und guten Tons entgegen den sprach- und sittenverderbenden Exzessen der décadents und der Naturalisten – verteidigt wurden. Vgl. die Rezension des Kritikers Henri Chantavoine im „Journal des Débats“ vom 13. Mai 1885. H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, Bd. III, S. 161f.
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fem Gehalt“.30 Auch die Maske des Deutschtums und des Idealismus – „diesen ‚eigentlich deutschen‘ Wagner g i e b t e s g a r n i c h t “ (Nachlass 1885, KGW VII/3, 37[15]) – findet ihre tiefere Erklärung in der wahren Natur Wagners als Künstler der décadence und der Großstadt. „Was endlich Richard Wagner angeht: so greift man mit Händen, nicht vielleicht mit Fäusten, dass Paris der eigentliche B o d e n für Wagner ist“, heißt es in Nietzsche contra Wagner (Wohin Wagner gehört), während Nietzsche in Der Fall Wagner eine große Ähnlichkeit zwischen den „Wagnerischen Heroïnen“ und Madame Bovary feststellt und ihm dadurch die vollendete Natur eines Großstadtkünstlers zuschreibt: „Wagner [scheint] sich für keine andern Probleme interessirt zu haben, als die, welche heute die kleinen Pariser décadents interessiren. Immer fünf Schritte weit vom Hospital! Lauter ganz moderne, lauter ganz g r o s s s t ä d t i s c h e Probleme!“31 Nietzsche übernimmt an dieser Stelle Ausdrücke aus dem Essay über Flaubert von Louis Desprez, L’évolution naturaliste, in dem Madame Bovary als Studie eines „in unseren fortgeschrittenen Gesellschaften sehr häufigen pathologischen Falls“ gesehen wird.32 Desprez macht sich den Spruch von Sainte-Beuve zu Eigen – „Anatomistes, physiologistes, je vous retrouve partout!“33 – und urteilt über Flauberts Buch, es besitze die abweisende Unzugänglichkeit einer medizinischen Abhandlung, allenthalben gingen Physiologie und Psychologie miteinander einher, Skalpelle kämen zum Einsatz und das Ganze sei in eine Krankenhausatmosphäre getaucht: „Die blutende Menschheit der Madame Bovary wird euch zutiefst ergreifen, sie wird euch 30 31
32 33
P. Bourget, Essais, S. 130–131 (dt. Übers. S. 114). WA 9. Vgl. dazu insbesondere Nachlass 1888, KGW VIII/3, 15[99]: „Wagner hat lauter Krankheitsgeschichten in Musik gesetzt, lauter interessante Fälle, lauter ganz moderne Typen der Degenerescenz, die uns gerade deshalb verständlich sind. Nichts ist von den jetzigen Ärzten und Physiologen besser studirt als der hysterisch-hypnotische Typus der Wagnerschen Heldin: Wagner ist hier Kenner, er ist naturwahr bis zum Widerlichen darin – seine Musik ist vor allem eine psychologisch-physiologische Analyse kranker Zustände – sie dürfte als solche ihren Werth noch behalten […] wir Anderen sind bei Wagners Musik im Hospital“. Siehe außerdem ebd., 14[63] und 15[15]. L. Desprez, L’évolution naturaliste, S. 29. Ebd., S. 22. Der Ausspruch findet sich auch bei Bourget.
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verfolgen wie der Anblick eines Krankenhauses“, schreibt er.34 Auch zur Beschreibung der Arbeit der Goncourts zieht er das Krankenhausbild heran – „Das Krankenhaus ist der Sammelpunkt aller Schmerzen, wie das Werk der Goncourts ein Museum des menschlichen Leidens ist“35 – während Brunetière in Bezug auf Madame Bovary und Germinie Lacerteux von der „teilnahmslosen Studie eines pathologischen Falls“ und von dem Versuch spricht, im Roman mit einer „medizinischen Klinik“ zu rivalisieren.36 Bourget übernimmt das Bild: „Gustave Flauberts Madame Bovary verströmt eine Art Krankenhausgeruch“.37 Nietzsche eignet sich durch diese Lektüren das Rüstzeug für eine Neuinterpretation des Falls Wagner an. Die vermeintliche Objektivität bei Flaubert und den Naturalisten hält er für ein „modernes Mißverständniß“: Es ist Selbst-Verachtung aber bei den Modernen […]. Was sie erreichen, ist Wissenschaftlichkeit oder Photographie d.h. Beschreibung ohne Perspektiven, eine Art chinesischer Malerei, lauter Vordergrund und alles überfüllt. – In der That ist sehr viel Un l u s t in der ganzen modernen historischen und naturhistorischen Wuth – man flüchtet vor sich und auch vor dem Ideal-bilden, dem B e s s e r -machen, dadurch daß man sucht, wie Alles g e k o m m e n ist: der Fatalism giebt eine gewisse Ruhe vor dieser Selbst-Verachtung. Die französischen Romanschriftsteller schildern A u s n a h m e n und zwar theils aus den höchsten Sphären der Gesellschaft, theils aus den niedrigsten – und die Mitte, der bourgeois, ist ihnen allen gleich v e r h a ß t . Zuletzt werden sie Paris nicht los.38
Wiederholt bezeichnet Nietzsche Paris als ein „Treibhaus“, in dem unter künstlichen Bedingungen die verschiedensten Menschengewächse gezüchtet werden, auch die tropischen. In Paris „wird jede Eigenliebe kolossal“, hatte Taine geschrieben, „zu viel Arbeit und zu viele Vergnügungen: Paris ist ein überheiztes Treibhaus, aromatisch und stinkend, mit einem ätzenden und konzentrierten Humus, der 34 35 36 37 38
Ebd., S. 42. Ebd., S. 106. F. Brunetière, Le roman naturaliste, S. 8. P. Bourget, Nouveaux essais, S. 141. Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[164]. Das gleiche Urteil fällt Desprez, L’évolution naturaliste, S. 275: „In diesen Kreisen talentierter Bohémiens waren Verachtung des Bourgeois und Hass auf ihn Pflicht“. Siehe auch S. 64–65.
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den Menschen verbrennt oder abhärtet […]. Das Publikum ist abgestumpft, man muss zu laut schreien, damit es zuhört. Jeder Künstler ist wie ein Marktschreier, den die harte Konkurrenz dazu zwingt, seine Stimme zu strapazieren“.39 In diesem „überheizten Treibhaus“, diesem Lebenskampf, in dem die herrschende Mittelmäßigkeit den Sieg davonträgt, bringt die Zivilisation Degenerationserscheinungen mit sich: Endlich: die zunehmende Civilisation, die zugleich nothwendig auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Ne u r o t i s c h - Ps y c h i a t r i s c h e n und des C r i m i n a l i s t i s c h e n mit sich bringt … eine Zw i s c h e n - s p e c i e s entsteht, der A r t i s t , von der Criminalität der That durch Willensschwäche und sociale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend: diese spezifische Cultur-Pflanze, der moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem romancier, der für seine Art zu sein das sehr uneigentliche Wort ‚naturalisme‘ handhabt … Die Irren, die Verbrecher und die ‚Naturalisten‘ nehmen zu: Zeichen einer wachsenden und jäh v o r w ä r t s eilenden Cultur – das heißt der Ausschuß, der Abfall, die Auswurfsstoffe gewinnen Importanz, – das Abwärts h ä l t S c h r i t t (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[182], S. 158–159).
Eine bedeutende Beziehung besteht zwischen Roman und Gerichtssaal: „Die Gerichtssäle liefern den Romanschriftstellern wichtige Dokumente. Wie Hr. Zola schreibt, ist ein Prozess ein Erfahrungsroman, der sich vor der Öffentlichkeit abspielt“.40 Nietzsche hegte ein ebenso lebhaftes Interesse für das Phänomen der Degenereszenz wie für die Figur des großen Verbrechers, die die Romane und Feuilletons der Zeit bevölkerte. Der Verbrecher repräsentiert in manchen Fällen 39
40
H. Taine, Notes sur Paris, S. 135, S. 133–134. Der Treibhausmetapher begegnet man auch im Vorwort zu E. de Goncourt, La Faustin: „Ich möchte einen Roman machen, der einfach nur die psychologische und physiologische Studie eines jungen Mädchens sein soll, das im Treibhaus der Hauptstadt aufgewachsen und herangezogen wurde, einen Roman, der auf menschlichen Dokumenten beruht“ (E. de Goncourt, La Faustin, S. II; dt. Übers. S. 193). Siehe auch Paul Bourget über Renan: „Nur unser 19. Jahrhundert mit seiner Treibhaustemperatur konnte eine solch einzigartige Blume hervorbringen, deren Duft man, wie den aller Blumen, mehr einatmet als analysiert“ (M. Renan, in: Le Parlement, 15. April 1880). L. Desprez, L’évolution naturaliste, S. 231.
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einen sehr hohen Grad an Stärke und Autonomie; seine Verkümmerung und Entartung in gewöhnliche Kriminalität sind eine Folge der Herden-Solidarität der Gesellschaft, die ihn erdrückt und ihm keine adäquate Realisierung seiner Macht gestattet. Im Mythos eines enthistorisierten Napoleon, im wilden Korsen, der sich die ganze Gesellschaft unterwirft und in den Dienst seiner höheren Wirklichkeit stellt, thematisiert Nietzsche dagegen den siegreichen, nicht entarteten Typ von „Verbrecher“.41 In einem Brief an Strindberg deutet er, bezogen auf den Fall Prado in Paris, an, dass der Verbrecher möglicherweise auf einen „zu s t a r k e n Menschen für ein gewisses sociales niveau“ zurückführt: „Prado war seinen Richtern, seinen Advokaten selbst durch Selbstbeherrschung, esprit und Übermuth überlegen“. Er fügt außerdem hinzu, er habe Ecce homo „im Stil ‚Prado‘ geschrieben“.42 In dem Brief eines nunmehr dem Wahnsinn anheimgefallenen Nietzsche an Burckhardt heißt es: „Nehmen Sie den Fall Prado nicht zu schwer. Ich bin Prado, ich bin auch der Vater Prado, ich wage zu sagen, daß ich auch Lesseps43 bin … Ich wollte meinen Parisern, die ich liebe, einen neuen Begriff geben – den eines anständigen Verbrechers. Ich bin auch Chambige – auch ein anständiger Verbrecher“.44 Es herrschte ein fortwährender Austausch zwischen Gerichtschronik und Literatur. Der Fall hatte auch Bourget, der schon jahrelang die Gerichtschroniken verfolgte und für seine Romane heranzog, in besonderem Maße interessiert. Chambige, ein Pariser Jurastudent, der vorwiegend philosophische Interessen pflegte und den Bourget persönlich gekannt und maßgeblich beeinflusst hatte, tötete in Cos41
42 43
44
Zum Verbrecherproblem siehe GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 45, und Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[47] und 10[50]. An Strindberg, 8. Dezember 1888, KGB III/5, S. 508. Von dem berühmten, in einen Skandal verwickelten Erbauer des Suezkanals sprachen damals sämtliche Zeitungen. Insbesondere verfolgte der „Journal des Débats“ den Fall; vgl. z.B. M. de Lesseps et le Panama (17. Dezember 1888). Lesseps musste aufgrund der Präsentation, die von ihm gegeben wurde, Nietzsches Interesse wecken: ein Mann mit einem eisernen, zielstrebigen Willen, vom „selben Geist wie Christoph Kolumbus“ (Paul Desjardin, Notes Contemporaines). An Burckhardt, 6. Januar 1889, KGB III/5, S. 578.
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tantine seine Geliebte und versuchte, Selbstmord zu begehen. Er lieferte die entscheidende Anregung zu der Figur Robert Greslou im Disciple, „ein Julien Sorel, der von Renan ausgeht, statt von Napoleon auszugehen“, wie Bourget selbst von ihm sagt. „Henri Chambige war ein Opfer dieses gefährlichen Geistes der Analyse, der bei gewissen Debütanten so sehr ausufert, dass er schließlich ihr ganzes Herz verwüstet […] er hatte sich in die avantgardistischen Künstlerkreise gemischt; seine Vorstellungskraft wurde in dieser Treibhausatmosphäre noch überspannter“.45 Die Fantasie entzündete sich an den großen Verbrechern (den Vautrin, den „Raubtieren“ von Balzac), an den Romanen Dostojewskis und vor allem an Stendhals Julien Sorel. Die Person kreist in den Essais de psychologie contemporaine von Bourget wesentlich um das Motiv des Kampfes des Ausnahme-Individuums gegen die Mittelmäßigkeit der Gesellschaft. Vieles schulden die Gerichtszeitungen der Literatur, um dann ihrerseits kraftvoll auf sie zurückzuwirken und auf diesem Weg in den Alltagsverstand einzudringen. Es reicht, die Berichte über den Fall Prado im „Journal des Débats“ zu lesen, das für Nietzsche vor allem in seinen letzten Schaffensjahren eine wichtige direkte Brücke nach Paris bildete. Prado wird gleich nach seinem ersten Erscheinen vor der Jury de la Seine, als „der mysteriöse Prado, der außergewöhnliche Graf Linska de Castillon“ bezeichnet: „Kein Romanheld hat je in ganz Europa und den beiden Amerikas ein bizarreres, abenteuerlicheres Leben geführt als der Angeklagte,
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P. Bourget, „Préface“, in: Causes criminelles, S. IX. Über den Fall Chambige schrieben A. France, Un affaire littéraire und Le meurtrier analyste, sowie M. Barrès, La sensibilité d’Henri Chambige. Im Rahmen eines in Fortsetzungen erschienenen Berichts, Le drame de Sidi-Mabrouk, publizierte der „Journal des Débats“ Auszüge der Confessions autobiographiques von Chambige, in denen es unter anderem heißt: „Je mehr ich dachte, desto mehr verlor ich die Ausgewogenheit. Nach und nach richtete ich mich in der ewigen Vorläufigkeit ein. Der Skeptizismus war das Werkzeug der Zerstörung, das unablässig das Haus meiner Seele traf, bis ich eines Tages, wie Montaigne, Sainte-Beuve und Renan, ein völlig unparteiischer Mensch geworden war, ein Mensch ohne Überzeugungen, wie ihn die Öffentlichkeit mit ausgemachter Antipathie nennt“ (7. November 1888).
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der nacheinander Grandseigneur, Industrieritter, carlistischer Offizier, ordinärer Don Juan, Dieb und Mörder war“.46 Wenn bei Bourget eine Zweideutigkeit zu erkennen ist, die Nietzsche genau erfasst hatte und die sich nach und nach in Richtung des Traditionalismus auflöste, so entwickelte Nietzsche die Begriffe décadence und Physiologie der Kunst dagegen, fern jeder moralischen Wertung, durch die aktive Auseinandersetzung mit der französischen „Psychologie“. Unter den Stendhal-Anhängern (den „rougistes“)47 in Paris-Kosmopolis waren in Nietzsches Augen Tradition und Energie der „freien Geister“ lebendig, die sich der weit verbreiteten, verhängnisvollen „Krankheit des Willens“ widersetzt hatten. Der Ausdruck „rougistes“ stammte von Léon Chapron, ein Freund von Bourget, der kurz vor seinem Tod eine Neuausgabe von Stendhals Roman herausgegeben und den Plan gehabt hatte „ein Dîner der Rougistes oder leidenschaftlichen Bewunderer von Rouge et Noir ins Leben zu rufen“.48 46
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Journal des Débats, 6. November 1888. Zur „Affaire Prado“ vgl. ebd., 7. Juli, 22. und 27. Oktober, 6.–12. und 15.–16. November, bis zum Tag der Hinrichtung am 29. Dezember 1888. Vgl. diesbezüglich Nietzsches Brief an Resa von Schirnhofer in Paris (11. März 1885), worin er sie bittet, sich auf die Jagd der „Rougistes“ zu begeben: „Es soll nämlich in Frankreich eine Art von Stendhal-Schwärmern geben, man spricht mir von solchen, die sich ‚Rougistes‘ nennen. Machen Sie, ich bitte, etwas Jagd darauf: zb. auf eine neue Ausgabe von ‚Le rouge et le noir‘, bevorredet von einem Herrn Chapron, wenn ich recht gehört habe. Wohin hat dieses feine Huhn (es ist todt) seine Eier gelegt? Größere Bücher giebt es nicht von ihm. Und machen Sie doch die Bekanntschaft des l e b e n d s t e n Schülers von Stendhal, Hr. Paul Bourget und erzählen Sie mir, welche Aufsätze er neuerdings geschrieben hat (ich zeigte Ihnen hier in Nizza seine gesammelten essays zur psychologie contemporaine). Er ist, wie mich dünkt, der rechte Schüler jenes Genie’s, das die Franzosen 40 Jahre zu spät entdeckt haben (von Deutschen bin i c h der Erste, der ihn erkannt hat, und nicht auf eine Anregung von Frankreich her) Die sonstigen berühmten Litteratur-Menschen dieses siècles z.B. Sainte-Beuve und Renan, sind mir viel zu süßlich und undulatorisch; aber was ironisch, hart, sublim-boshaft ist, von der Art wie Mérimée, – oh wie Das meiner Zunge wohlschmeckt!“ (KGB III/3, S. 18) P. Bourget, Réflexions sur l’art du roman [1884], in: Études et Portraits, Bd. 1, S. 262. Direkt oder indirekt entnahm Nietzsche dieser Rezension von Bourget die Informationen, die er an Resa von Schirnhofer übermittelte (vgl. Fn. 47).
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In dem Psychologen und Analytiker Stendhal, wie man ihn in jenen Jahren las, sah Nietzsche wie gesagt den lebendigsten Vertreter einer starken Linie, die bei den idéologues ihren Ausgang nahm. Fortgeführt wurde sie besonders von Taine, dem „kühnen Zerschmetterer der Idole der offiziellen Metaphysik“, wie Bourget ihn mit einem für Nietzsche bedeutsamen Bild beschrieb.49 Dank gewisser Züge seines wissenschaftlichen Nihilismus vermochte Taine nach Nietzsches Ansicht der europäischen Willenskrankheit entgegenzutreten, die sich festmacht am ästhetisierenden Dilettantismus Renans („diese Krankheit, sogar an seinem Zweifel zu zweifeln“50), wie an der plebejischen und schamlosen Neugier des Romantikers Sainte-Beuve, der dem „Volk von Willensschwachen“, also den Gegnern Stendhals, zugerechnet wird,51 an allen Formen schlechten Schauspieler- und Demagogengeschmacks und am Idealismus der Schwäche. Ohne Zweifel verdankt sich Vieles an Nietzsches Auffassung von Taine dem Bild, das Bourget von jenem gezeichnet hat: Charakterstärke, unbesiegbare Strenge der Selbstdisziplin, Askese der Wissenschaft, „unbeugsame Aufrichtigkeit des Gedankens“ und radikaler, mutiger Nihilismus sind die Merkmale dieses Bildes. In der Dritten Abhandlung der Genealogie der Moral hat Nietzsche hauptsächlich Taine im Sinn, wo er von der „intellektuellen Sauberkeit“ der „harten, 49 50 51
P. Bourget, Essais (S. 179, dt. Übers. S. 154). P. Bourget, Essais, (S. 199, dt. Übers. S. 172). Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[379]. Die unnachsichtige, sarkastische Charakterisierung Sainte-Beuves im Nachlass 1885 (KGW VII/2, 35[43]) und 1887–1888 (KGW VIII/2, 11[9]) – „so neugierig […], so aushorcherisch, so lüstern wie er; Heimlichkeiten schnüffelnd, wie er; instinktiv die Bekanntschaft mit Menschen von Unten und Hintenher suchend, nicht viel anders als es die Hunde unter einander machen (die ja auch auf ihre Art Psychologen sind)“ – übernimmt Nietzsche größtenteils von Barbey d’Aurevilly, der von Saint-Beuve spricht als „diesem Schnüffler und literarischen Feinschmecker, der seine feine Zunge alles kosten ließ“ (zit. in J. Petit, Barbey d’Aurevilly critique, S. 249). Vgl. J. Barbey d’Aurevilly, Les quarante médaillons, S. 98ff. Vgl. außerdem GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 3, wo der Einfluss der Goncourts stärker ist: vgl. Journal, Bd. II, S. 66, S. 90, S. 103. Die entsprechenden Stellen über Sainte-Beuve weisen Lesespuren Nietzsches auf.
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strengen, enthaltsamen, heroischen Geister“ spricht, die „die Ehre unserer Zeit ausmachen“ (GM III 24, KGW VI/2, S. 416) und die Träger der letzten Maske des asketischen Ideals sind: des Glaubens an „Wahrheit“ und Wissenschaft. „Taine ist ein Mann der Wahrheit, er ist die Wahrhaftigkeit in Person“, soll nach dem Zeugnis von Brandes sogar Renan gesagt haben.52 Erwähnenswert ist auch die harte Auseinandersetzung mit Erwin Rohde über das einschränkende Urteil, das dieser über den Historiker gefällt hatte. Nietzsche verteidigt Taine als einen „tapferen Pessimisten“: „ein wohlgerathener und ehrwürdiger Typus mehrerer der nobelsten Qualitäten“ der modernen Seele, „ihres rücksichtslosen Muthes, ihrer unbedingten Lauterkeit des intellektuellen Gewissens, ihres rührenden und bescheidenen Stoicismus inmitten tiefer Entbehrung und Vereinsamung“.53 Von Taine und Bourget übernahm Nietzsche zudem die psychologische Theorie der „petits faits“, der „petits faits vrais“, auf die er ab 1885 wiederholt Bezug nahm und die wiederum auf Stendhal zurückging, der den Roman als „lebendige Psychologie“ (Taine) betrachtete und den Ausdruck „petits faits vrais“ als erster benutzte.54 In der Vorrede zu De l’intelligence fällt er auch bei Taine, der meint, das 52 53 54
G. Brandes, Renan, in: Essais choisis, S. 40. An E. Rohde, 19. Mai 1887, KGB III/5, S. 76. Stendhal entwickelte die besagte Theorie in verschiedenen Briefen, auf die Bourget in Études et Portraits, Bd. 1, S. 266, verweist. Auch im Entwurf einer Antwort an Balzac kommt der Ausdruck vor. Schließlich gab Bourget einem seiner späten Romane den Titel De petits faits vrais und nahm im Motto und im Vorwort ausdrücklich auf die „table des Beylistes“ Bezug. Nietzsche benutzt den stendhalschen Ausdruck gelegentlich in ironischem Sinn, wenn er durch bezeichnende Anekdoten oder Umstände einen Charakter oder eine Situation beschreibt, beispielsweise, bezogen auf Wagner: „Meine ‚Thatsache‘, mein ‚petit fait vrai‘ ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt“ (NW, Wo ich Einwände mache). Vgl. auch Nachlass 1885, KGW VII/3, 38[5], hier im Zusammenhang mit Sainte-Beuve. Taine selbst enthüllt seine Quelle: „Die neue Vollkommenheit besteht darin, das Apriori, die reine, deduktive Philosophie, die mathematischen Methoden beiseite zu lassen […]. Das ist es, was die Literatur seit Balzac und den Beobachtern der bedeutenden Einzelheit ausmacht; es ist die Theorie der kleinen Fakta (Stendhal)“ (H. Taine, Sa vie et sa correspondance, Bd. III, S. 315).
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Ich bestehe aus einer Vielzahl von petits faits. Die Auflösung des klassischen Subjekts ist der zentrale Gegenstand der neuen psychologischen Wissenschaft (‚mit der Seele wird die Wissenschaft sich befassen‘). Nichts Wirkliches gebe es in dem Ich „als die Reihenfolge seiner Ereignisse“, nichts anderes sei es als ein Zusammentreten und Auseinandergehen von Empfindungen, Wahrnehmungen und Impulsen („impulsions“), „eine Flut und ein Bündel von nervösen Schwingungen“. „Das sichtbare Ich [ist] unverhältnismäßig kleiner […] als das dunkle“.55 Bourget zeigt, dass der Pessimismus im gesamten Werk Taines und der Naturalisten „das letzte Wort“ hat. Sie schmiedeten ihre analytischen und Sozialromane, indem sie „documents significatifs“, „documents humains“ sammelten. Die Ohnmacht gegenüber den „zermalmenden Kräften“ sei das Resultat eines ausweglosen Determinismus. Selbst Taines Theorie verrate „die äußerste Entmutigung und unheilbare Krankheit des Herzens“.56 Nach Nietzsche ist dieser „Fatalismus der ‚petits faits‘ (ce petit faitalisme, wie ich ihn nenne)“ (GM III 24), kennzeichnend für den Positivismus, welcher vor den „petits faits“ ‚die Knie beugt‘. Er deutet ihn als Extremform des asketischen Ideals angesichts der Religion der Wissenschaft, die mangelndes Vertrauen in die Zukunft und Dekadenz verrät: „Man leidet in Paris wie an kalten Herbstwinden, wie an einem Frost großer Enttäuschungen, als ob der Winter kommt, der letzte, endgültige Winter“.57 Bourget hatte Taine mit den Worten zitiert: „Die beste Frucht der Wissenschaft [ist] die kalte Resignation“.58 Nietzsche distanziert sich außerdem von Taine, weil dieser sich im Graindorge als „Weltmann, Frauenkenner“ aufspiele59 und weil sein 55 56 57
58
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H. Taine, De l’intelligence, Bd. I, S. 7 (dt. Übers. S. 9f.). P. Bourget, Essais, S. 235 (dt. Übers. S. 201). Nachlass 1885, KGW VII/3, 35[34]. Vgl. auch GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 9. P. Bourget, Essais, S. 235–236 (dt. Übers. S. 202). Vgl. H. Taine, Notes sur Paris, S. 267. Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[458]. Seiner Schwester, der er ein Exemplar von Taines Notes sur Paris schickte, schrieb er Mitte März 1885: „Du weißt, daß ich von den Franzosen dieses Jahrhunderts Henri Beyle (Stendhal) am liebsten habe. Von seinen Schülern ist bei weitem der einflußreichste Taine:
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Stil, den er dem von Zola, Victor Hugo und Wagner vergleicht (Nachlass 1887–1888, KGW VIII/2, 11[312]), durch Masse zu überwältigen suche. Nietzsches Kritik richtete sich also vor allem gegen die tyrannische Milieu-Theorie und gegen die angebliche „Objektivität“ von Taine. Allerdings verbarg sich dahinter die Vorliebe für die „starken expressiven Typen“, für „die Genießenden mehr als für die Puritaner“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[348]). Neben dieser Vorliebe, die Nietzsche teilte, sind im Verlauf der Arbeit zahlreiche weitere Motive deutlich geworden, die er bei Taine fand und die seinem Denken nahe standen: das Gleichgewicht der vollkommenen Gesundheit (Goethe als Vorbild), die Wertschätzung der griechischen Kultur („Griechenland hatte so sehr aus dem schönen menschlichen Tier sein Vorbild gemacht, dass es ihm zum Abgott wurde, es im Himmel vergöttlichte, um es auf Erden zu verherrlichen“60), die Bewunderung für die „Kraft-Monstra“, von den „Condottieri“ der Renaissance bis zu Napoleon.
3. Die Krankheit des Willens. Vor allem in seinen letzten Schaffensjahren blickte Nietzsche folglich auf Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, das große Laboratorium der Werte und Lebensformen, das zwangsläufig Ausschuss produzierte, der für den „Pychologen“ von größtem Interesse ist. Nietzsche trieb seine antimetaphysischen Forschungen bis zur äußersten Konsequenz. Die neue französische Psychologie, die genau wie die Physiologie den dynamischen Charakter und die Komplexität der Wirklichkeit erfasste, half ihm bei der Überwindung der in der Sprache festgewordenen Mythen. Gegen diese behauptete er die pluralis-
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um Dir einen Begriff von ihm zu geben, sende ich Dir seinen M. Graindorge, ein Buch, das für meinen Geschmack etwas zu harmlos ist, aber vielleicht um so mehr geeignet ist, dir einen günstigen Begriff von seinem Verfasser zu geben“ (KGB III/3, S. 25–26). H. Taine, Philosophie de l’art, S. 58 (dt. Übers. S. 60).
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tische Natur des Ich, die genealogische Konstruktion des Subjekts, und suchte nach einem „neuen Centrum“ (Nachlass 1883–1884, KGW VII/1, 24[28]): Der Mensch hat, im Gegensatz zum Thier, eine Fülle g e g e n s ä t z l i c h e r Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. – Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter R a n g o r d n u n g e n in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren W i d e r s p r ü c h e n der Mensch nicht zu Grunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den R e i z für die Thätigkeit des Haupttriebes abgibt. Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt (Nachlass 1884, KGW VII/2, 27[59]).
Entgegen den simplifizierenden Theorien der schicksalbestimmenden Bedeutung von Blut und Rasse erblickte Nietzsche in der Vielgestaltigkeit der zeitgenössischen Welt und in der chaotischen, zwitterhaften Natur des modernen Menschen einen potenziellen Reichtum. Mit einem Ausdruck, der auf die zu jener Zeit viel diskutierte Methode von Claude Bernard verweist, wurden die Studien zur Hypnose, zur Verdoppelung oder Vervielfachung der Persönlichkeit, auf die sich auch Taine im Vorwort zu De l’intelligence berief, als eine Art moralische Vivisektion bezeichnet. Konstruktion und Erhaltung der Person sind ein komplizierter, zerbrechlicher Bau, der immer wieder teilweise einstürzen kann. Die Bruchstücke bilden das Material für eine neue Konstruktion, die rasch neben die alte tritt: „man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen ‚Personen‘ sind. Und dann sind Manche auch m e h r e r e Personen, die Meisten sind k e i n e “ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[59]); „die Schwäche des Willens, die Unsicherheit und selbst Mehrheit der ‚Person‘“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[113]). Dank der Hypnose kann ein Aspekt des Seelenlebens zutage gefördert werden, der dem Bewusstsein unbekannt ist. Die Hypnose gewinnt der Seele ihren Reichtum zurück, der durch die Durchsetzung des persönlichen Bewusstseins überschattet wurde, und liefert dem Psychologen ein Werkzeug, um den Physiologen das Unbewusste zu entreißen, ohne wiederum eine geheimnisvolle Größe daraus zu machen. Die psychologische Untersuchung wird zu einem analytischen Verfahren, durch welches das Subjekt in
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der Ganzheit seiner organischen und psychischen Funktionen in den Blick gelangt und der Entwicklungsverlauf von Krankheit und Heilung rekonstruiert oder gar verfolgt werden kann. Es handelt sich um eine Art Genealogie einer pluralen Geschichte. Daher sind die Begriffe Genealoge, Psychologe und Physiologe bei Nietzsche so eng verwandt und häufig austauschbar. Mit der Auflösung des Begriffs des psychologischen Individuums und der Überwindung der Eindimensionalität des psychischen Lebens verändert die „moralische Vivisektion“ die traditionellen Interpretationsparameter. Sie konfrontiert uns mit verschiedenen Geschichten, mit verschiedenen Organisationsformen des Psychischen, und macht folglich den konventionellen, gesellschaftlichen Charakter der Bewertung von Gesundheit und Krankheit deutlich. Psychische Realität bedeutet Vielfalt. Unsere bewusste Persönlichkeit, oder besser, das Bewusstsein, das ein jeder von seinem gegenwärtigen Zustand und dessen Zusammenhang mit früheren Zuständen hat, ist lediglich ein kleiner Teil unserer Persönlichkeit, von der das meiste in uns verborgen liegt: „Wir sind uns selbst dunkel, in uns regt sich unsere wahre Persönlichkeit, sinnt, wächst und verkümmert, ohne dass wir dessen gewahr würden“, schreibt Bourget,61 wie auch Nietzsche mehrfach, besonders nachdrücklich am Anfang der Genealogie, unterstreicht: „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst“.62 Im Normalzustand sind die beiden Teile der ‚Person‘ hinreichend miteinander verbunden. Wir sind für uns und andere eine lebende Geschichte, in der es keine größeren Lücken gibt. Wenn aber in dem unbewussten (physiologischen) Substrat, aus dem alles hervorgeht, große Gruppen von Impulsen untätig verschlossen bleiben, dann erscheint das Ich sich selbst nicht mehr gemäß seiner wahren Geschichte. Zwischen dem pathologischen und dem Normalzustand gibt es lediglich 61 62
P. Bourget, Nouveaux Essais, S. 142. GM, Vorrede 1. Vgl. auch Taines Position, bei dem allerdings der chemischkombinatorische Aspekt den genetisch-dynamischen überwiegt: „Der Ichbegriff ist also ein Produkt; bei seiner Bildung wirken viele, verschieden verarbeitete Materialien mit. […] so können wir, so nahe wir uns selbst immer sein mögen, vielfachen Täuschungen in Bezug auf unser Ich unterliegen“ (De l’intelligence, Bd. II, S. 218–219; dt. Übers. Bd. II, S. 174f.).
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einen gradweisen Unterschied. Das Bewusstsein enthüllt uns jeweils nur einen von allen möglichen Aspekten des Ich. Die falsche Persönlichkeit kann auf eine idée fixe, eine idée maîtresse zurückgeführt werden, die alle zusammenstimmenden Ideen um sich bündelt und alle anderen auslöscht. Die Einheit des Ich ist komplexer Art; nur eine metaphysische Illusion schreibt ihr die ideale Einheit eines mathematischen Punktes zu. Sie besteht keineswegs im Akt eines angeblich einfachen Wesens, sondern im Zusammenspiel von Nervenzentren, die für die Koordination der organischen Funktionen sorgen. [D]ie Koordination der zahllosen Nervenprozesse des organischen Lebens [bildet] die Grundlage der körperlichen und seelischen Persönlichkeit […]. Denn alle anderen noch hinzukommenden Koordinationen beruhen auf dieser, sie bildet den eigentlichen inneren Menschen, die materielle Form seiner Subjektivität, den letzten Grund seines Denkens und Handelns, die Quelle seiner Instinkte, Gefühle und Leidenschaften, und um die Sprache des Mittelalters zu reden, sein Individuationsprinzip.63
Die stets instabilen Bewusstseinszustände rufen sich gegenseitig hervor und verdrängen sich gegenseitig. Es ist die Wirkung einer Kraftübertragung und eines Kräftekonflikts, der nicht zwischen unseren Bewusstseinszuständen, sondern zwischen den ihnen zugrunde liegenden und sie erzeugenden physiologischen Zuständen statthat. Die schwache bewusste Persönlichkeit ist nur ein Teil der Gesamtpersönlichkeit. Die Einheit wird nicht von oben nach unten vermittelt, sondern von unten nach oben; sie ist kein Ausgangs-, sondern ein Endpunkt: „[W]ir gelangen […] wieder zu dem Schlusse, dass das Ich eine Koordination sein muss. Es schwankt zwischen den beiden Extremen, wo es aufhört zu sein: der vollkommenen Einheit und der absoluten Koordinationslosigkeit. Innerhalb dieser Grenzen finden sich alle denkbaren Abstufungen, ohne dass sich das Normale von dem Abnormen scheiden ließe, da das eine in das andere übergeht“.64 Auch Nietzsche spricht von „Coordination statt Ursache und Wirkung“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 26[46]) und von „perspektivische[r] I l l u s i o n “. Sie besteht in der „scheinbare[n] Einheit, in der 63 64
Th. Ribot, Die Persönlichkeit, S. 168. Ebd., S. 178; die Übersetzung wurde abgeändert.
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wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure V i e l f a c h h e i t “ (Nachlass 1885–1886, KGW VIII/1, 2[91]). Nach Nietzsche bringt die „d o m i n i r e n d e L e i d e n s c h a f t “ die höchste Form der Gesundheit mit sich: „hier ist die Coordination der inneren Systeme und ihr Arbeiten in Einem Dienste am besten erreicht – aber das ist beinahe die Definition der Gesundheit!“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[157]) Die hier angesprochenen Themen, die Nietzsche in seinen letzten Jahren beschäftigten, waren ein allgemein beliebter Gegenstand der naturalistischen und der dekadenten Literatur, die in Romanen nach der neuesten Mode und auch in Bourgets erfolgreichen Essais die klinischen Fälle aus der Großstadt vorführte. Die Protagonisten von Bourgets Romanen sind gespaltene, vielfältige Seelen. Schon L’Irréparable (1884) ist eine Studie über die Vielheit des Ich. Implizit wird in dem Roman auf Ribot Bezug genommen, der als Psychologieprofessor und Verfasser eines von den Krankheiten des Willens handelnden Werks mit dem Titel De la dissociation des idées auftritt und seine Theorien über die Komplexität der Psyche wie des Körpers und deren Verhältnis zum Unbewussten vorträgt.65 Die von Bourget entwickelten Motive – der Verlust eines Zentrums, das Fehlen eines ordnenden dominierenden Instinkts, die „Krankheit des Willens“ als mal du siècle – werden von den tonangebenden Intellektuellen Frankreichs als Bilanz einer ganzen Generation ausgelegt. Es herrschte das verbreitete Gefühl, in einer tiefen Wertekrise zu stecken, in einer zum Tode verurteilten Gesellschaft zu leben. Einen konstanten, impliziten Bezugspunkt dieser Definitionen der Décadence bildete das Römische Reich in der vieldeutigen Interpretation eines Renan und eines Bourget, mit dem Gefühl herannahender tatkräftiger Barbaren, die imstande waren, alles fortzufegen oder gar in der Erschöpfung begriffene Lebensformen neu zu beleben.66 65 66
P. Bourget, L’irréparable, S. 3–4. Siehe beispielsweise E. de Goncourt, Charles Demailly, S. 283: „Wenn eine Gesellschaft verloren, physiologisch erschöpft war, dann kam eine Barbareninvasion und flößte ihr junges Herkulesblut ein. Wer wird die Welt von der Anämie des 19. Jahrhunderts erretten?“
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Dekadenz bedeutet Raffinement. Daher die Hochachtung vor Kaiser Hadrian, dem „César voyageur“, als Repräsentant eines höheren Dilettantismus und Skeptizismus, der für Toleranz und liberales Denken stand (das Römische Reich war in der Lage, die fremden Götter in einer umfassenden Form aufzunehmen). Gleich auf den ersten Seiten seiner Schrift L’Église chrétienne (1879) zeichnet Renan folgendes Bild von ihm: „Geistreich, klug und wissbegierig, war er aufgeschlossener als jeder andere Cäsar […]. Nichts entging ihm, alles wollte er erfahren […]. Wie Nero war er ein Gebildeter und Künstler auf dem Thron […] Er hing keiner Religion oder Philosophie an, aber verleugnete auch keine“.67 Bourget erläutert in seinem Artikel „Un César voyageur“ von 1882 die Parallele zwischen der Gestalt Hadrians und den Haltungen des modernen Intellektuellen seiner Zeit. Die Reise in andere Denkwelten und Werte, die Relativierung alles Bestehenden bringt eine zersetzende Haltung mit sich: „Statt gläubig und schöpferisch zu sein, wird der Mensch dergestalt kritisch und dilettantisch“.68 Das Thema führt uns zu „Cosmopolis“, zum „geistigen Nomadenthum“ zurück,69 das Zeichen von Stärke sein kann, wo alte Gewohnheiten abgelegt, Engstirnigkeiten und gegebene Triebe überwunden, Fesseln zerrissen werden und der Mensch sich zum Übernationalen und zum ungeheuren Blick auf allgemein menschliche Ziele erhebt, die sich mehr mit einzelnen starken Geistern als mit Gruppen und Völkern verbinden. Aber das geistige Nomadentum birgt zugleich die Gefahr der Auflösung und des Dilettantismus, wenn eine organisierende Kraft, ein ordnendes Zentrum fehlt. 67 68
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E. Renan, L’Église chrétienne, OC V, S. 383ff. P. Bourget, Un César voyageur, in: Études et Portraits, Bd. II, S. 317–326. Siehe zu diesem Thema auch J. Bourdeau, Décadence Romaine. Es handelt sich dabei um eine Rezension von Ferdinand Gregorovius, Der Kaiser Hadrian, Stuttgart 1884 (2. Auflage). Kaiser Hadrian („man hat ihn mit einem wandernden Herkules, einem neuen Dionysos verglichen“), eine widerspruchsvolle Persönlichkeit, „ist das Produkt eines Jahrhunderts des Verfalls, und das Studium seiner Zeit weckt unsere Neugier umso mehr, als wir selber in einer Zeit, wenn nicht des Verfalls, so doch des Übergangs und der Erneuerung leben“. Zu diesem Ausdruck und Thema siehe G. Campioni, Wohin man reisen muss.
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In der Gestalt von Frédéric-Thomas Graindorge präsentiert Taine in seinen Notes sur Paris die Figur des kosmopolitischen Dandy: „Er setzte sich gern der Kritik aus, bis er sie eigenhändig an sich selbst übte und das Räderwerk seines Geistes und seines Charakters auseinandernahm, um seine Handlungen, seine Ansichten und vor allem seinen Pessimismus zu erklären“. Den Fehler des Dilettantismus sieht Taine darin, „sich von allem zu lösen, um überall umherzuschlendern. Man lebt nur, indem man sich an irgendeinem Wesen inspiriert, das größer ist als man selbst […]; andernfalls schwankt man, erschlafft und es schwinden die Sinne; wer alles kostet, wird aller Dinge überdrüssig“.70 Dann übernimmt der dekadente Exotismus das Zepter, bereit, sich in einen äußersten Ästhetizismus zu verwandeln, der an nichts anderes glaubt als an die eigene Lust: „Es gibt keinen Gott, keine Moral, nichts von all dem, was man uns zu achten gelehrt hat; es gibt einen Weg, der zu Ende geht und von dem man logischerweise in Erwartung des schrecklichen Endes, des Todes, so viel Genuss wie möglich verlangt […] Ich glaube an nichts und niemanden; ich habe weder Glauben noch Hoffnung“,71 schreibt Pierre Loti, der Erfolgsautor, der mit seinen exotischen Romanen und Kolonialerzählungen die Aufmerksamkeit des späten Nietzsche auf sich zog. In seinen Worten spricht sich der Geist des Fin de siècle aus. Er äußert sich in dem Willen zur räumlichen und zeitlichen Flucht, in erster Linie einer Flucht vor sich selber, getrieben vom Gefühl einer umfassenden Krise und dem Verlust eines Zentrums. Es bleibt nichts anderes als der Wunsch, „exzentrisch“ zu sein, Eindrücke und Bilder zu sammeln, bis man mehrere Seelen in sich trägt.72 Der Andere hat nur als Quelle für 70 71 72
H. Taine, Notes sur Paris, S. VIII–IX. P. Loti, Aziyadé, S. 59. Vgl. J. Lemaître, Loti, in: Les contemporains, III série: „Ich glaube nicht, dass man je bei einem Künstler eine größere einfühlende Vorstellungskraft gesehen hat, eine solche Bereitschaft, die eigene Seele wie eine unendlich beeindruckbare, gestaltbare Materie durch die Außeneinflüsse formen zu lassen und sein Leben deshalb auf Gefühle zu begrenzen, und auch keine so wunderbare Fähigkeit, sie allesamt auszukosten. Das ist sehr außergewöhnlich und ein wenig beunruhigend. Wir haben es mit einer Seele zu tun, die sich so sehr der Außen-
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neue, starke Empfindungen einen Wert, er bleibt Objekt. „Die Fanatiker des Exotismus [waren] gleichzeitig die selbstsüchtigsten und von ihrer Person eingenommensten Männer, vollständig außerstande, sich ihrer eigenen Persönlichkeit zu entäußern“.73
4. Stile der décadence Das Fehlen eines kollektiven Credos, das Ende der alten Religionen, der Nihilismus der Wissenschaft, die Herrschaft der Masse, unter der die Möglichkeiten des Individuums schwinden, der Dilettantismus, Kosmopolitismus, die Ausbreitung des Buddhismus und andere Phänomene sind physiologische Verschleißerscheinungen und künden von einer allgemeinen Unfähigkeit zum Leben. Vielfach überschneiden sich diese Themen mit der Auseinandersetzung Nietzsche-Wagner. An diesem Ort beschränke ich mich darauf, einige Anregungen in dieser Richtung zu geben, deren Vertiefung in der Nietzsche-Forschung noch weitgehend aussteht. In Der Fall Wagner wendet Nietzsche den Begriff ‚décadence‘, der seit dem Winter 1883–1884 in seinen Aufzeichnungen auftaucht und den er erklärtermaßen aus Bourgets Essay über Baudelaire aufgreift, auf den Musiker an. Die „Unfähigkeit zum organischen Gestalten […], sein Unvermögen zum Stil überhaupt“, das mit einer bewundernswürdigen Erfindung des Details einhergeht, macht aus Wagner „unsern grössten M i n i a t u r i s t e n der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt“ (WA 7). In seinem Gesamtzusammenhang legt Nietzsche diesen Gedankengang des Falles Wagner in dem Brief an Carl Fuchs von Mitte April 1886 dar:
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welt ausgeliefert hat, dass sie jedes Leben zu leben vermag und jeder Wandlung fähig ist. Hat Pierre Loti in der Tat noch eine eigene Seele? […] Er ließe uns an unserer Persönlichkeit zweifeln und uns endlos über das Rätsel des ‚Ich‘ ausbreiten“ (S. 107–108). P. Bourget, Essais, S. 124 (dt. Übers. S. 108).
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Das Wagnerische Wort „unendliche Melodie“ drückt die Gefahr, den Verderb des Instinkts und den guten Glauben, das gute Gewissen dabei allerliebst aus. Die rhythmische Zweideutigkeit, so daß man nicht mehr weiß und wissen s o l l , ob etwas Schwanz oder Kopf ist, ist ohne allen Zweifel ein Kunstmittel, mit dem wunderbare Wirkungen erreicht werden können: der „Tristan“ ist reich daran –, als Symptom einer ganzen Kunst ist und bleibt sie trotzdem das Zeichen der Auflösung. Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie es heißen soll –), schließlich auch der esprit über den „Sinn“. Verzeihung! was ich wahrzunehmen glaube, ist eine Veränderung der Perspektive: man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht das Ganze viel zu stumpf, – und man hat den W i l l e n zu dieser Optik in der Musik, vor Allem man hat das Ta l e n t dazu! Das aber ist décadence, ein Wort, das, wie sich unter uns von selbst versteht, nicht verwerfen, sondern nur bezeichnen soll.74
Bourget zufolge ist die Décadence eine Zerfallserscheinung, die jede Art von Organismus, den tierischen wie den gesellschaftlichen, erfasst. Die Zelle wird aus der Rangordnung, aus der Unterordnung unter das koordinierte Zusammenwirken des Ganzen befreit – das den großen Stil kennzeichnet und Gesundheit ausdrückt – und erzeugt dergestalt „Anarchie“. Er schließt: „Wenn die Einheit eines Buches zerstört wird, um der Selbständigkeit einer einzelnen Seite Platz zu machen, und wenn die der Seite zerstört wird, um den Satz selbständig hinzustellen, und der Satz, um dem Worte Selbständigkeit zu verschaffen, dann tritt eine Dekadenz des Stiles ein“.75 Nietzsche nimmt mit seinem aphoristischen Stil und seinem Willen, in Form der Sentenz einer „Ewigkeit“ Ausdruck zu geben, bewusst die entgegengesetzte Haltung ein: „mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche n i c h t sagt“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 51). Jedenfalls steht er der klassischen Ambition der französischen Moralisten näher, wie Joubert sie geäußert hat: „Wenn je ein Mensch von dem verfluchten Ehrgeiz gequält war, ein ganzes Buch auf einer
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KGB III/3, S. 176–177. Ebd., S. 25 (dt. Übers. S. 22).
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Seite, eine ganze Seite in einem Satz und diesen Satz in einem Wort unterzubringen, dann bin ich es“.76 Im Gegensatz zum Stil der décadence steht nach Bourget der Stil von Taine: Es ist das „Vorgehen der psychologischen Anatomie eines Forschers, welcher in der Literatur nur eine Offenbarung sieht“.77 Die Philosophie ist die „herrschende Leidenschaft“, die der Macht der Bilder Beweiskraft verleiht, indem sie sie in eine Argumentationsstruktur einbindet. In der heutigen Literatur gibt es keinen systematischeren Stil, der durch seine Methode einen wohlüberlegten und seiner selbst sicheren Gedanken besser ausdrückt. Jeder Satz einer dieser inhaltreichen Seiten ist eine Schlußfolgerung, jedes Glied dieses Satzes ist ein Beweis zu Gunsten eines Ausspruches, welchen der ganze Abschnitt unterstützt, dieser Abschnitt aber hängt eng mit dem Kapitel, das Kapitel mit dem Gesamtwerke zusammen, so daß, ähnlich einer Pyramide, das ganze Werk, von den geringsten Teilchen der Steine der unteren Schicht an bis zu dem Felsblock des Gipfels in eine alles überragende Spitze, welche die ganze Masse zu sich emporzuziehen scheint, zusammenläuft.78
Dem Stil der décadence, wie Bourget ihn für Baudelaire definiert79 und wie Nietzsche ihn auf Wagner bezieht, steht der strenge Aufbau gegenüber, der sich selbst die „visionären Metaphern“ unterwirft. In zahlreichen Fragmenten thematisiert Nietzsche den Gegensatz zwischen dem geschwollenen, metaphernreichen Stil Balzacs – dem „Plebejer“, der starke Empfindungen nötig hat, ein Opfer der Großstadt – und dem trockenen, klaren, mathematischen Stil Stendhals. Der Gegensatz verweist auf Taines Essay über Stendhal. Entgegen den allzu starken Farben von Balzac bleibe Beyle ein Klassiker: „ein einfacher Schüler der idéologues und des gesunden Menschenverstands“. Für Taine bedeutete der metaphorische Stil Ungenauigkeit: „Wenn jemandes Gedanke aus Mangel an Reflexion noch unvollkommen und dunkel ist, verweist er auf Gegenstände, denen er ähnelt, weil er ihn selbst nicht darlegen kann; er wendet sich vom knappen, direkten 76 77 78 79
J. Joubert, Pensées, S. 8 (mit Unterstreichungen Nietzsches). P. Bourget, Essais, S. 182 (dt. Übers. S. 158). Ebd., S. 188 (dt. Übers. S. 162–163). Dasselbe gilt für den Impressionismus der Goncourts. Vgl. P. Bourget, Nouveaux essais, S. 180ff.
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Ausdruck ab, um sich nach allen Seiten in Vergleiche zu stürzen. Die Anhäufung von Bildern entspringt folglich der Ohnmacht“.80 Nietzsche, der den Metaphernstil nach der romantischen Periode nicht länger schätzte, beanspruchte Definitionsmacht und -reichtum für seinen aphoristischen Stil. „[W]as Bild, was Gleichniss ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck“ (EH, Also sprach Zarathustra 3). Wenn die Entscheidung für die Metapher vom Definitionsanspruch getrennt ist, bedeutet sie Vagheit, Suggestion und Schwäche oder ist eine Folge der gleichgültigen Vervielfältigung der Standpunkte und Interpretationen im Zeitalter der modernen Kritik. Dies führt zu einem Skeptizismus à la Renan, zur vacillation de la volonté, zu Ohnmacht. Die Unfähigkeit zum „großen Stil“ und zu einer „klassischen“ Kunst, die alles in einer ausgewogenen Form in Einklang bringt und keine Effekthascherei betreibt, bringt die Tendenz zur Verschmelzung und Vermischung der Sprachen mit sich. Auch aufgrund dieser Tendenz, die bei Wagner den Anspruch erhob, „Gesamtkunstwerk“ zu sein, verglich Nietzsche ihn mit den französischen Spätromantikern: „Dies Jahrhundert, wo die Künste begreifen, daß die Eine auch Wirkungen der anderen hervorbringen kann: r u i n i r t v i e l l e i c h t d i e K ü n s t e ! z.B. mit Poesie zu m a l e n (Victor Hugo, Balzac, W. Scott usw.), mit Mu s i k p o e t i s c h e Gefühle erregen (Wagner), mit Malerei poetische Gefühle, ja p h i l o s o p h i s c h e Ahnungen zu erregen (Cornelius), mit Romanen Anatomie und Irren-Heilkunde treiben usw.“ (Nachlass 1884, KGW VII/2, 25[132]). „Wagner gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, als Künstler überhaupt unter die Schauspieler: allesammt Fanatiker des A u s d r u c k s ‚um jeden Preis‘“ und eben deshalb „geborene Feinde der Logik und der geraden Linien“ (JGB 256). Nietzsche stellt Wagner nicht zuletzt aus diesem Grund neben Delacroix.81 80 81
H. Taine, Nouveaux essais, S. 57. Vgl. 25[141], 1884: „Delacroix eine Art Wagner“. Diese Bemerkung folgt auf ein kurzes Exzerpt aus dem Roman Manette Salomon: „Bild der décadence dieser Zeit, le gâchis, la confusion, la littérature dans la peinture, la peinture dans la littérature, la prose dans les vers, les vers dans la prose, les passions, les nerfs, les faiblesses de notre temps, le tourment moderne“. Vgl. auch Baudelaires Be-
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Bourgets Beschreibung der Décadence verdankt sich dem positivistischen Krankheitsbegriff, vor allem in dem von Taine definierten Sinn: die Krankheit als Zerfall einer Form, wobei das Einzelelement jedoch dadurch, dass es eine „krankhafte“ Autonomie erlangt und sich der Einordnung in den Funktionszusammenhang des Ganzen entzieht, zunehmende Sichtbarkeit erlangt. Wie Claude Bernard ausgeführt hat, ist die Krankheit daher kein konstruiertes, sondern ein spontan von der Natur gebotenes Experiment; diese greift auf dasselbe Verfahren der Isolierung des Phänomens zurück wie das wissenschaftliche Experiment. Die Schärfe des Blicks und Genauigkeit des Details bei Baudelaire entspringt aus dieser notwendigen Verquickung von Krankheit und Sichtbarkeit. Bei der Untersuchung der Analogie zwischen Nietzsches Wagner und Bourgets Baudelaire – aber auch andere Bezugszusammenhänge sind relevant – muss also auch Nietzsches Aufmerksamkeit für das Halluzinatorische der wagnerschen Kunst herausgestellt werden. Bourget erblickt im halluzinatorischen Erlebnisstil ein typisches Merkmal der Dichter und Schriftsteller jener Großstadt, die eine äußerste Anspannung des Nervenapparats und eine Zersplitterung der Wahrnehmung bewirkt. Bezogen auf die Goncourts spricht er von „feinen Nerveneindrücken, einer wunderbaren Beweglichkeit des Blicks, einer unvergleichlichen Neuheit der Farben und einem Rauschen der Wörter, das eine fast beängstigende Vibration des ganzen Wesens enthüllt“.82 Das Gleichgewicht der Gesundheit ist den beiden Autoren zuwider, Symptom der von ihnen gesuchten und gewollten Krankheit ist ein „starkes halluzinatorisches Fieber“.83 Indem die Goncourts die künstlerischen Empfindungen unendlich vervielfältigen und in der Optik
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schreibung von Delacroix, die Nietzsche aus G. Dargenty, Eugène Delacroix par lui-même, kannte: „Delacroix ist heutzutage der Einzige, dessen Originalität nicht durch das System der geraden Linien überdeckt worden ist“ (S. 212), sowie folgende Betrachtung von Desprez: „Etwas von Delacroix findet sich in Baudelaire; mehr Zeichenkunst, aber dieselben violetten und grünlichen Farben“ (Desprez, L’évolution naturaliste, S. 265). P. Bourget, Nouveaux Essais, S. 154. Ebd., S. 155. Der Ausdruck ist in Nietzsches Exemplar unterstrichen.
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des Bibelot aufsplittern, treiben sie die Reizbarkeit ihres Nervensystems auf die Spitze und übertragen diese Erregbarkeit ästhetischer Naturen schließlich auf den Alltag. Der Bibelot wird zum Symbol ihres Dilettantismus und Exotismus. Es ist das spezifische Kennzeichen der Goncourts, die „Museumsmenschen“ sind und sich darin als Moderne ausweisen.84 Das Museum spricht die unterschiedlichsten Bedürfnisse nach ästhetischen Reizen an und findet sein Äquivalent im Warenhaus, das allen Wünschen vorausgreift. Auch hier findet sich der Bibelot, denn das Warenhaus zieht seinen Nutzen aus der allgemeinen Leidenschaft für derlei Objekte: „Es ist eine Mode, die vergehen wird wie jede andere; aber der Analytiker unserer Gegenwartsgesellschaft kann sie genauso wenig übergehen wie der Historiker des Grand siècle über die kunstvoll geschnittene Landschaft des Parks von Versailles schweigen könnte“.85 Wie Baudelaire sind die neuen Romanciers Kinder des „Pariser Lebens“ und der wissenschaftlichen Analyse. Die Stadt und die Wissenschaft haben beide an der Zersetzung der ganzheitlichen, auf großen Illusionen fußenden Organismen mitgewirkt: Ausnahmeschriftsteller, welche, wie Edgar Poe, ihr Nervensystem dermaßen angespannt haben, daß sie von Hallucinationen heimgesucht werden, Schönredner eines trüben, unruhigen Lebens, deren Sprache schon ‚alle Anzeichen der Verwesung bietet‘ (Th. Gautier, Studie über Baudelaire). Überall, wo das schillert, was er als ‚Phosphoreszenz der Fäulnis‘ bezeichnet, fühlt er sich durch eine unwiderstehliche, fast magnetische Kraft angezogen.86
Bourgets Vorbild war auch in diesem Fall die Psychologie Taines, die dieser gleichermaßen in seinem philosophischen Werk De l’intelligence wie bei der Beschreibung des revolutionären Wahns in Die Entstehung des modernen Frankreich dargelegt hat. Vor allem Taines Lehre des Gefühls als „hallucination véridique“ beschreibt das Feld der korrekten Wirklichkeitswahrnehmung als außergewöhnlichen, unbeständigen Sonderfall der morbiden Halluzination. Die Persönlichkeit 84 85 86
Ebd., S. 148. Ebd., S. 150. P. Bourget, Essais, S. 30–31 (dt. Übers. S. 27).
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als fester Mittelpunkt einer realistischen Wahrnehmung hängt von der Befolgung gesellschaftlich konstruierter Regeln und Kriterien ab. Die großen Phänomene kulturellen Zerfalls fegen Regeln und Kriterien fort und lösen die Einheit des Wahrnehmungs- und Verhaltensstils auf, der die menschliche Person ausmacht. Die „convulsions de Paris“ liefern dafür ein schreckliches Beispiel, das die Kommune, die schwachen Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn aufzeigend, aller Welt vor Augen geführt hat. Das Subjekt verliert sich in einer Folge von Gefühlen und Handlungen ohne Mittelpunkt und ohne Korrekturkriterien, die Taine in seinem Werk politisch interpretiert. Hier hängt die Korrektur der Halluzination und des spontanen Hangs zum Irrealismus des Wahnsinns von der Existenz einer gesellschaftlichen Elite ab, die in der Lage sei, die Ausbreitung der gesellschaftlichen Vorstellungen halluzinatorischer Art und das daraus folgende kollektive Verhalten unter Kontrolle zu bringen und zu unterbinden. In den Essais de psychologie contemporaine schrieb Bourget Paris eine zersetzende Wirkung auf die Persönlichkeit zu. Diese Stadt „ist der Mikrokosmos unserer Zivilisation“; es ist unmöglich, „eine Einheit der Gefühle [zu] bewahren […] in dieser von entgegengesetzten Elektrizitäten überladenen Atmosphäre, in welcher vielfache und ausführliche Aufschlüsse wie eine Bevölkerung unsichtbarer Atome umherschwirren. In Paris atmen heißt diese Atome in sich aufnehmen“.87 Nietzsche beschrieb die Wechselbeziehung zwischen der Disgregation unter dem Schock der Großstadt und der Flucht in halluzinatorische Befriedigungen als typisches Merkmal der décadence. Die französische Spätromantik war ein „Nothbehelf für eine manquirte ‚Realität‘“, sie beinhaltete „Dédain gegen die Boulevards“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 16[34]). Die schwache Persönlichkeit, die sich den starken Reizen des Milieus unterwirft (physiologische Erschöpfung, Erschöpfung der Rasse), hat „eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um [i h r e ] Realität einmal loszusein“. Auch der Nationalismus und die Ideologie von Bayreuth mit ihrer schweren, grauen 87
Ebd., S. 73–74 (dt. Übers. S. 64).
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Symbolwelt sind ein „Sumpf“, der alles andere als eine reine, echte Gegenwelt zur Unnatürlichkeit der Großstadt darstellt; auch sie entspringen gerade aus dem „Sumpf“ der Stadt. „Eine gewisse Katholicität des Ideals vor Allem ist bei einem Künstler beinahe ein Beweis von Selbstverachtung, von ‚Sumpf‘: der Fall Baudelaire’s in Frankreich, der Fall Edgar Allan Poe’s in Amerika, der Fall Wagner’s in Deutschland“ (ebd., 23[2]). Wiederum begreift Bourget die romantische Flucht ins Ideale und Mystische als Ausdruck der Ohnmacht gegenüber der Großstadt: Wirkt das Milieu nicht außer durch aktiven Einfluss auch durch die Reaktionen, die es auslöst, auf uns? Ein Schriftsteller geht auf dem Boulevard spazieren und der Lärm der Menge betäubt ihn. Da nimmt er durch sein Bewusstsein alle Formen dieses bunten, schillernden Lebens in sich auf […] Der Schriftsteller zählt zu denen, deren zartbesaiteter Natur die Gewaltsamkeit der ungeheuren Anstrengung widerstrebt; das Schauspiel jener Straße tut ihm Gewalt an; die kurz aufgetauchten Gesichter enthüllen ihm innere Verwundungen und verfolgen ihn. Er schließt die Augen, um dieses Bild der schmerzlichen Wirklichkeit nicht zu sehen, und erarbeitet in seinem Inneren den Traum von einer anderen Welt.88
Er sieht darin einen Aspekt der Einsamkeit des modernen Künstlers: „durch seine ästhetischen Träume in einer Art Haschisch-Welt gefangen, kümmert ihn die unmittelbare Bedeutung seines Werks nicht länger“.89 In seiner letzten Phase betonte Nietzsche die physiologische Lesart der décadence, indem er das positivistische Thema der Degenereszenz vertiefte, und nahm den Fall Wagner von der medizinisch-physiolo88 89
P. Bourget, Nouveaux essais, S. 91–92. Ebd., S. 197. Vgl. auch den Aufsatz „Science et poésie“, in: Études et portraits, Bd. I, S. 226ff. Die Suche nach Traumwelten und die Flucht sind charakteristisch für die Kunst der Dekadenz: „Eine Haschisch- und Opiumkunst“. Die Krisenatmosphäre und der Nihilismus gehen aus der fortschreitenden Demokratie, aus dem „Pessimismus, der sich unter dem scheinbaren Glanz der Wissenschaft verbirgt“, hervor und zwingen „gewisse Seelen, wie Baudelaire sagt, [unwiderstehlich dazu], fortzugehen, gleich wohin, Hauptsache fort aus dieser Welt […] viele möchten sich ein ideales Kloster erbauen, in das sie sich vor der verhassten Gewalt der Barbaren und der unerträglichen Tyrannei der Tatsachen flüchten können“.
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gischen Seite in den Blick. Die Großstadterfahrung steht im Mittelpunkt der Prozesse, die zur Disgregation des Subjekts führen. Unter Verwendung der Ernährungs- und Verdauungsmetapher setzt Nietzsche einer aktiven Haltung, die durch Selektion und lange Verdauung (Einverleibung) von Reizen Energien ansammelt, die Auslieferung an das „prestissimo“ der beschleunigten, widersprüchlichen und disparaten Eindrücke der Moderne entgegen: S c h w ä c h u n g der Verdauungs-Kraft resultirt daraus. Eine Art A n p a s s u n g an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu a g i r e n ; er reagirt nur noch auf Erregungen von außen her. E r g i e b t s e i n e K r a f t a u s theils in der A n e i g n u n g , theils in der Ve r t h e i d i g u n g , theils in der E n t g e g n u n g . Ti e f e S c h w ä c h u n g d e r Sp o n t a n e i t ä t (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[18]).
Dasselbe Motiv leitete Nietzsche in seiner Kritik der darwinistischen Lehren. Er begriff den Darwinismus als Ideologie des Kampfs, in dem das Subjekt, völlig befangen in der Gegensatzstruktur, außerstande ist, sich das Milieu durch eine bildende Kraft anzueignen und es autonom zu beherrschen. Die Theorie vom Milieu, heute die Pa r i s e r Theorie par excellence, ist selbst ein Beweis von einer verhängnißvollen Disgregation der Persönlichkeit: wenn das Milieu anfängt zu formen und es dem Thatbestand entspricht, die Vordergrunds-Talente als bloße Concrescenzen ihrer Umgebung verstehen zu dürfen, da ist die Zeit vorbei, wo noch gesammelt, gehäuft, geerntet werden kann – die Z u k u n f t ist vorbei … Der Augenblick frißt auf, was er hervorbringt – und, wehe, er bleibt dabei noch hungrig (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 15[106]).
In Nietzsches kontinuierlicher Auseinandersetzung mit den Pariser décadents haben diese jedoch Teil an einer ungestümen Wachstumsbewegung. Die durch die Décadence offenbarte Wahrnehmung der Krise unterscheidet sich bei Nietzsche grundsätzlich von der vorherrschenden Perspektive der Positivisten, die den Verfall einer bestimmten Kulturform als Regression interpretieren und in diesem Sinne zu meistern suchen. Was man früher nicht wusste, was man heute weiss, wissen könnte – eine Rückbildung, eine Umkehr in irgend welchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. […] es steht Niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen S c h r i t t f ü r S c h r i t t w e i t e r i n d e r d é c a d e n c e (– dies m e i n e Definition des modernen „Fortschritts“). Man kann
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diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und p l ö t z l i c h e r machen: mehr kann man nicht (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 43).
Im Grunde enthüllt die décadence zweierlei: Zum einen verdeutlicht sie die Unfähigkeit, der Krise der Form, der Unterwerfung unter das Milieu Herr zu werden; zum anderen macht sie durch die krankhafte Verselbstständigung des Besonderen und Vereinzelten verborgene Wirklichkeitsausschnitte sichtbar. Was diesen zweiten Aspekt angeht, arbeitet Nietzsche in gewisser Hinsicht das positivistische Begriffspaar Regression/Modernität aus und durchdenkt dabei seine frühe Theorie des Traums und des Rausches neu. Die Auflösung der Form und des Stils lässt psychische Erinnerungszustände an ferne Zeiten der Menschheit an die Oberfläche des Lebens gelangen, die ganz und gar ausgelöscht schienen, aber in der Sprache der Musik und der Ekstase des Rausches Ausdrucksmöglichkeit finden. „[M]itunter läutet die Musik wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hinein“, hatte er schon in den Vermischten Meinungen und Sprüchen (Aph. 171) geschrieben, wo er die Musik an das Gefühl des Ausklingenden, Vergangenen band. An die „Gedächtnissfeste“ der „absterbenden Hellenen“ erinnernd, die unter der Bedrohung der Barbaren das Ende ihrer Kultur nahen sahen, hatte er angemerkt: „Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen“ (MA 223). In den Fragmenten von 1888 wird das Thema in radikalisierter Form aufgegriffen, denn Wagners Kunst erscheint nicht mehr als Medium, das der entkräfteten Moderne die Bilder und Energien vergangener Zeitalter vermittelt. Die Dankbarkeit für diese Funktion der Kunst ist jetzt vollkommen verschwunden. An ihre Stelle ist die Vivisektion der Prozesse der Modernität getreten, die die Rückkehr des Verdrängten möglich machen. Wagners Kunst als Krankheit lässt derlei Prozesse besonders deutlich erkennen, wie Nietzsche in Der Fall Wagner feststellt: „Das Erste, was seine Kunst uns anbietet, ist ein Vergrösserungsglas: man sieht hinein“ (WA 3).
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Die Reise des Herrn Nietzsche nach Cosmopolis
In demselben Sinn verwendet Bourget den Ausdruck in Bezug auf Amiel, der „den esprit germanique, die Analyse und die Neigung zum Träumen“, die als Äußerungen der Modernität bei ihm zusammengehen, bis zum Äußersten, bis zur Krankheit treibt.90 In dem bereits zitierten Fragment Religion in der Musik (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[42]) führt Nietzsche aus, wie die mythischreligiöse Textur des Parsifal ebenfalls die wesentliche Erinnerungsfunktion reproduziert, aber hier ist sie von der Moderne isoliert und macht die Prozesse, die jene erzeugt haben, unsichtbar, indem sie sich in einen heiligen Raum verschließt. Im unmittelbar anschließenden Fragment stellt Nietzsche Musik und Rausch nebeneinander und hebt das Element des Sichtbarmachens hervor: „Durch Alkohol und Musik bringt man sich auf Stufen der Cultur und Unkultur zurück, welche unsere Voreltern überwunden haben: insofern ist nichts lehrreicher, nichts ‚wissenschaftlicher‘ als sich zu berauschen“ (ebd., 14[43]). Mit dem erstgenannten Aspekt der Dekadenz ist das Thema des épuisement und der Ablösung der bildenden Kraft durch die Velleität, des Willens durch den désir verknüpft. Die Vision kann nicht nur aus überströmender Energie im dionysischen Künstler entstehen – und dies ist, wie Nietzsche in Ecce homo betont, der Fall Zarathustras. Sie kann vielmehr auch eine Reaktion, ein Notbehelf gegen das Gefühl der Leere, eine Flucht – aus Schwäche! – vor dem Chaos der starken, destruktiven Empfindungen sein: „Ob nicht der Gegensatz der A k t i v e n und R e a k t i v e n hinter jenem Gegensatz von C l a s s i s c h und R o m a n t i s c h verborgen liegt?“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 9[112]) Auch die von Huysmans theorisierte und praktizierte reaktive Antwort auf das Milieu, die in mancherlei Hinsicht kennzeichnend ist für den höheren Menschen im Zarathustra, ist Ausdruck von Ohnmacht und Schwäche, Unfähigkeit, über das bloße Reagieren hinauszugehen. Die von Taine auf die Kunst angewandte Milieutheorie ist richtig – aber genau in gegenläufiger Richtung, wenn es sich um große Künstler handelt, denn auf sie wirkt das Milieu im Sinne von Auflehnung und Widerwillen, die es bei 90
Bourget, Nouveaux essais, S. 256.
Stile der décadence
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ihnen auslöst; statt die Seele nach seinem Bild zu formen, bringt es im ungeheuren Boston einen einsamen Edgar Poe hervor; es wirkt als Gegensatz, es schafft in einem schändlichen Frankreich einen Baudelaire, einen Flaubert, einen Goncourt, einen Villiers de l’Isle-Adam, einen Gustave Moreau, einen Redon und einen Rops, Ausnahmemenschen, die sich auf die Spur der Vergangenheit begeben und sich aus Ekel vor dem Durcheinander, das sie erleiden müssen, in die Abgründe vergangener Zeitalter, in die wirbelnden Gefilde der Träume und Albträume stürzen.91
Auch in der anarchischen, zerstörerischen Haltung erblickt Nietzsche eine unmittelbare, subalterne Antwort auf die äußeren Reize. Es ist eine Antwort derer, die ihnen unterworfen und unfähig zu ihrer Bewältigung sind. Ohnmacht ist also, was den Traum von einer ursprünglich guten, jenseits der komplizierten Maschinerie der Zivilisation bereit stehenden Natur hervortreibt. Auch der „histrionische“ Aspekt des Schauspielers Wagner, der sich der Epoche anpasst, indem er sie mit einer theatralischen Sublimation des Zerfalls zu beherrschen sucht, ist in Nietzsches Augen ein durch die Dekadenz bestimmter politischer Lösungsversuch der Krise. Das Ideal (der Mythos) ist hier kein Hebel der Veränderung, sondern Bekräftigung des Bestehenden, denn seiner wahren Natur nach betont und verstärkt es das Ekstatische und „Rauschhafte“ der dekadenten Sensibilität. All dies sind die Grenzen des ‚höheren Menschen‘, dessen Bedeutung sich nicht vollständig begreifen lässt, wenn man die zeitgenössischen Formulierungen von Taine und Renan, von Bourget, Brunetière, den Goncourts usw., aber auch Nietzsches Kritik der dekadenten und nihilistischen Antworten seiner Zeitgenossen unberücksichtigt lässt. Bezieht man diese Zusammenhänge ein, dann lässt sich der vierte Teil des Zarathustra als Nietzsches Essais de psychologie contemporaine lesen: eine Diagnose der Kultur seiner Zeit, in dem dringenden Anliegen, angesichts der „Typen“ der Dekadenz eine Antwort zu geben und eine Gegenbewegung im Zeichen der dionysischen Bejahung in Gang zu setzen.
91
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