Der Sensenmann als Hochzeitsgast von Jason Dark
Ich habe lange überlegt, ob ich diese Geschichte überhaupt niederschre...
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Der Sensenmann als Hochzeitsgast von Jason Dark
Ich habe lange überlegt, ob ich diese Geschichte überhaupt niederschreiben soll. Sie ist so schrecklich und grauenhaft, daß mir manches Mal die richtigen Worte gefehlt haben. Dann sagte ich mir, daß ich es meinen treuen Lesern schuldig bin, über die Begebenheiten zu berichten. Und so fühle ich mich dazu verpflichtet, meine Freunde daran teilhaben zu lassen. Die Geschichte handelt von Mord, Grauen und Tod – aber auch von einer unerschütterlichen Liebe …
Dabei fing alles so harmlos an. Der Herbst hatte den Sommer abgelöst. Die Nächte wurden kühler, die Tage kürzer, und vom Westen her blies ein scharfer Wind über die Höhen des Odenwalds. Aber nicht umsonst sagt man, daß der Herbst der schönste Maler der Natur ist. Die Blätter der zahlreichen Birken, Eichen, Linden und Kastanien wurden gelb, rot oder braun. Sie schimmerten in zahlreichen Zwischentönen, und wenn die Strahlen einer goldenen Septembersonne in den Herbstwald einfielen und letzte Nebelreste wegdampften, wurde diese Zeit zu einer der schönsten des Jahres. In den Weinbergen begann die Lese. Der Weingeruch lag förmlich in der Luft, überall sang man auf den Volksfesten, als wollten sich die Leute vor einem langen, kalten Winter noch einmal richtig austoben. Auf dem Land feierte man Kirchweih, die Jahrmärkte waren in fast jedem Ort zu finden, die Winzerfeste brachten Tausende von Besuchern auf die Beine. Man tanzte, lachte und war fröhlich. Weinköniginnen wurden gewählt, um Werbung für das Getränk zu machen, von dem zahlreiche Touristenorte längs des Rheins, der Mosel oder der Saar lebten. Der Herbst – und besonders seine schönen Sonnentage – brachten also zahlreiche Menschen auf die Beine. Auch Kegelclubs. Sie kamen zumeist aus West- und Norddeutschland, um hordenartig in die Weinstädte einzufallen. Es gab sogar Reiseunternehmer, die diese Kegelfahrten organisierten und sich eine goldene Nase daran verdienten. Die Wirte freuten sich. Sie sorgten zusätzlich noch für Stimmung, indem sie Kapellen oder Alleinunterhalter engagierten. Die Kegelbrüder und -schwestern wußten dies zu würdigen und zahlten manchen Schein in die Kassen der Wirte. Auch Erich Gehrmann gehörte zu den Wirten, die in den Monaten
September und Oktober das große Geld machten. An und für sich verdiente Gehrmann das ganze Jahr über gut, denn sein Lokal lag günstig in der Nähe von Burg Blankenstein in einem windgeschützten Tal. Vom Gasthaus Schloß-Eck führten herrliche Spazierwege in die bunten Mischwälder des Odenwalds und bis hinauf zu den Höhen. Im Sommer galt das Lokal als Geheimtip für fußmüde und durstige Wanderer, und es hatte sich auch herumgesprochen, daß man im Schloß-Eck ausgezeichnet essen konnte. Erich Gehrmann war deshalb zufrieden. Er galt bei den Gästen als humorvoller Wirt, der gern einen Schluck mittrank. Zum Personal jedoch hatte er ein weitaus weniger herzliches Verhältnis. Das scheuchte er. Wenn die Mädchen und Kellner nicht so spurten, wie er es wollte, flogen sie raus. Es gab in den umliegenden Dörfern genug Arbeitslose, die sich dann um diese freien Stellen bewarben. Seine Frau Gisela dachte da ähnlich. Sie hatte die Aufsicht in der Küche und scheuchte die Köche und Gehilfen. Gisela Gehrmann war eine ausgezeichnete Köchin. Sie hatte so manches Gericht selbst erfunden, das jetzt auf der Spezialitätenkarte zu finden war. Auch an diesem Freitagabend hielt sie sich in der Küche auf, obwohl das Lokal geschlossen hatte. Geöffnet hatte nur die Schenke, die neben den großen Gasträumen lag und gemütlich eingerichtet war. An den Wänden hingen Geweihe der einheimischen Waldtiere, die Tische waren mit bunten Decken dekoriert, und die Gäste fühlten sich wohl in dieser gemütlichen Atmosphäre. Die Schenke war immer voll. Besonders an einem Freitagabend. Die vierzigjährige Frau mit den schwarzen Haaren, in denen die ersten Silberfäden schimmerten, schaute überrascht auf, als ihr Mann die Küche betrat. »Was willst du denn hier?« fragte Gisela Gehrmann und ließ einen Block sinken. Sie war dabei, den Einkauf für den nächsten Tag vor-
zubereiten. Erich schloß die Tür. »Ich muß mal eine Pause einlegen. Am Tresen drängt sich der halbe Fußballverein.« Gisela lachte. »Freu dich doch, dann läuft das Geschäft.« »Ja, aber irgendwann möchte ich auch mal Urlaub machen.« »Im nächsten Jahr.« Erich winkte ab. »Das sagst du immer.« »Dann aber bestimmt.« Erich Gehrmann ließ seinen Blick über die Figur seiner Frau wandern. Nicht, daß er daran etwas auszusetzen gehabt hätte – Gisela war immer noch eine sehr attraktive Frau –, aber in letzter Zeit zeigte ihr Gesicht doch einige Falten mehr, die wahrscheinlich von der vielen Arbeit herrührten. Auch sie brauchte mal eine Pause. Schließlich hatte das Ehepaar Gehrmann einen Sechzehn-Stunden-Tag. »Ist was?« fragte sie. Erich grinste. »Für dich wäre es auch mal gut, drei Wochen Urlaub zu machen.« »Ich?« Sie zeigte auf sich und lachte. »Willst du den Laden schließen?« »Das hatte ich vor.« »Unsinn, dann laufen dir die Gäste weg. Du kannst allein fahren, Erich. Flieg meinetwegen nach Gran Canaria, da wirst du dich bestimmt erholen. Außerdem täte dir etwas Sport gut«, fügte sie noch hinzu und spielte dabei auf Erichs kugeligen Bauch an, der sich gewaltig über dem Gürtel seiner Cordhose spannte. Erich Gehrmann war fünf Jahre älter als seine Frau, hatte ein rosiges Gesicht, eine Halbglatze und wurde von seinen Gästen Schweinchen genannt. Aber das sagten sie nur, wenn Erich nicht in der Nähe war. Er trank eifrig mit. Meistens Wein. Aus Bier machte er sich nicht viel. Aber auch Wein hat seine Kalorien. Erich Gehrmann legte beide Hände auf sein Weingeschwür. »Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel«, sagte er. »Hast du das nicht gewußt? Und Dressman will
ich sowieso nicht werden.« »Dann denk wenigstens an den Herzinfarkt«, mahnte seine Frau. »Ach, das merke ich schon.« »Willst du sonst noch was?« fragte Gisela. »Sicher.« »Und was?« Erich grinste auf eine Art und Weise, die Gisela rot werden ließ. »Verschwinde«, sagte die Frau, »deine Nachtischgedanken kannst du für dich behalten.« »Himmel, bist du prüde.« »Erst das Geschäft.« »Okay, ich gehe ja schon.« »Und wohin?« rief Gisela ihrem Mann nach, als er bereits an der Tür war. »Spazieren. Ich muß frische Luft schnappen.« »Laß die Gäste nicht zu lange allein.« »Keine Sorge.« Erich Gehrmann verließ die Küche durch einen Seitenausgang. Seine Lederjacke hatte er sich bereits übergezogen, denn die Abende waren empfindlich kühl. Er ging über den Parkplatz, auf dem einige Wagen standen. Das Licht hoher Gartenleuchten schuf helle Inseln. Von den Bäumen waren Blätter gefallen und lagen auf den Wagendächern. Der Parkplatz war an drei Seiten von einem Weidezaun umgeben. Die vierte Seite diente als Einfahrt. Durch sie verließ Erich Gehrmann das Gelände und wandte sich scharf nach links, da dort ein schmaler Weg begann und in den Wald führte. Er traf auf halber Strecke auf den Hauptweg, der sich zur Burg hochschlängelte und für Autos gesperrt war. Beide Wege führten durch dichten Mischwald. Gehrmann kannte sie im Schlaf. Schon bald umschloß ihn die Dunkelheit. Nicht einmal das Schim-
mern der Parkplatzleuchten war mehr zu sehen. Der Wirt blieb stehen, reckte seine Arme hoch und saugte die kühle, herbe Waldluft in seine verräucherten Lungen. Diese Entspannung tat gut, denn vor ihm lag ein heißes Wochenende. Da überstürzten sich die Ereignisse wieder. Am nächsten Tag kam erstens ein Kegelverein, und zweitens hatte sich noch eine Hochzeitsgesellschaft angesagt. Das Paar wollte sich in der alten Schloßkirche trauen lassen und anschließend in der Gaststätte feiern. Das brachte was in die Kasse. Zusätzliches Personal hatte der Wirt auch schon eingestellt. Er hoffte nur, daß die Leute pünktlich waren. Gemächlich schlenderte er weiter, wobei er seine Hände in die Hosentaschen bohrte. Der Weg führte bergauf, wurde an manchen Stellen sehr schmal, und aus dem Boden wachsende Wurzeln bildeten regelrechte Stolperfallen. Bis auf die nächtlichen Geräusche des Waldes war es still um den einsamen Spaziergänger. Der Wirt lauschte auf das Raunen des Windes und horchte dem Rascheln der Blätter nach. Er liebte diese abendlichen Spaziergänge, ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die lieber zu Hause blieb. Noch zwei Kehren, dann mündete der Pfad in den Hauptweg. Da sah er das Leuchten. Abrupt blieb Erich Gehrmann stehen. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel hoch. Schräg vor ihm schimmerte das rote Licht zwischen den Ästen der Bäume. Erich Gehrmann wischte sich über die Augen und schluckte. Er dachte sofort an UFOs, an Besucher aus dem Weltraum, die der Erde einen Besuch abstatteten. Dann war das Licht auf einmal weg. Von einem Augenblick zum anderen konnte Gehrmann es nicht
mehr sehen. Dunkelheit umfing ihn wieder. Seine Augen mußten sich erst wieder darauf einstellen. Tief atmete er durch. Ein unangenehmes Prickeln rann über seine Rückenhaut, Schweiß perlte auf seiner Stirn. Angst stieg in ihm hoch. Aber auch Neugierde. Beide Gefühle kämpften miteinander. Schließlich siegte die Neugierde. Erich Gehrmann wollte dem seltsamen Phänomen auf den Grund gehen und sich dort umschauen, wo er das rote Licht gesehen hatte. Wenn das wirklich Außerirdische waren, dann hatte der Ort seine Sensation. Im Gegenteil zu vielen anderen Menschen glaubte Erich nämlich an Besucher aus dem Kosmos. Er las in seiner knappen Freizeit viel einschlägige Literatur über dieses Thema und tat die Berichte zahlreicher Augenzeugen nicht als Unsinn ab. Erich wollte sich überzeugen. Er kannte das Gelände wie seine eigene Westentasche, und deshalb blieb er nicht auf dem normalen Weg. Zielstrebig kletterte er einen Hang hoch, auf dem herabgefallenes Laub einen weichen Humusteppich gelegt hatte und seine Schritte dämpfte. Der Hang war ziemlich steil, und der Wirt geriet ins Schwitzen. Auch machten seine Lungen nicht so mit, wie er wollte. Deshalb blieb er auf halbem Weg stehen und holte erst einmal tief Luft. Über ihm wand sich ein schmaler Pfad. Er wurde von den Spaziergängern nur selten benutzt, weil er für die meisten zu schwierig war. Der Pfad führte zur Rückseite der Burg hoch. Erich Gehrmann schaute in die Höhe und wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich trotz der nächtlichen Kühle angesammelt hatte. Auf einmal zuckte er zusammen. Er hatte Schritte gehört. Und zwar vom Weg her. Jemand mußte dort auf dem schmalen Pfad entlangspazieren. Gehrmann hielt den Atem an. War außer ihm noch ein Spaziergänger unterwegs? Vielleicht der
alte Burgverwalter? Oder hatten diese Schritte etwas mit dem geheimnisvollen roten Licht zu tun, das er gesehen hatte? Der Wirt wollte es genau wissen. Er beugte sich etwas vor und krabbelte buchstäblich auf allen vieren weiter, bis er den Punkt erreicht hatte, der ihm günstig erschien. Erich richtete sich auf. Der Blickwinkel war jetzt so, daß er auf den Weg schauen konnte. Die Schritte waren lauter geworden. Blätter raschelten, kleinere Zweige knackten. Fahles Mondlicht sickerte durch die Baumwipfel und tauchte gerade jenen Teil des Weges in seinen silbrigen Schein, den Erich überschauen konnte. Und dann sah er den Spaziergänger. Erich Gehrmann glaubte, verrückt zu werden. Über ihm schritt kein Mensch entlang, sondern ein Skelett!
* Der Wirt hielt den Atem an. Er rührte sich nicht, wurde förmlich zu einem Denkmal, atmete mit offenem Mund und hoffte nur, sich nicht zu verraten. Das Skelett war völlig schwarz. Da das Mondlicht auf den Weg fiel, erkannte der Wirt die Gestalt. Er sah, daß sie einen langen, dunklen Umhang trug, der beim Gehen hinter ihr herwehte. Der Knochenschädel war leicht vorgestreckt wie bei einem Langstreckenläufer, und die knochigen Hände umklammerten den Griff einer Sense, deren Schneide im herabfallenden Licht blinkte. Das Skelett bot einen schaurigen Anblick. Ein wenig drehte es den Kopf nach links. Gehrmann blickte für den Bruchteil einer Sekunde in das schreckliche Gesicht und sah in der Schwärze deutlich die beiden hellen weißen Augen. Dann war der Spuk vorbei. Er hatte Erich Gehrmann nicht gesehen.
Unwillkürlich schlug der Wirt ein Kreuzzeichen. Er war kein gläubiger Mensch, doch jetzt betete er. Und danach fühlte er sich sofort erleichtert. Die Dunkelheit hatte das Skelett verschluckt. Erich Gehrmann hörte noch die letzten Schritte, dann waren auch sie verstummt. Es wurde still. Erst jetzt merkte Erich Gehrmann, daß auch die nächtlichen Waldgeräusche verstummt waren. Selbst die Tiere hatten gespürt, daß etwas nicht stimmte. Sie reagierten oft besser auf Gefahren und auf das Unheimliche, das Unerklärliche. Der Wirt atmete tief durch. Er konnte keine Erklärung geben für das, was er gesehen hatte. Andere hätten mehr gewußt, aber die waren noch weit entfernt. Denn Erich Gehrmann hatte keinen geringeren als den Schwarzen Tod gesehen!
* Und der Schwarze Tod ging weiter. Er war der Sieger, der Dämon mit der ungeheuren Macht. Er kam aus einem namenlosen Land, in dem das Grauen regierte und der Schrecken zum alltäglichen Dasein gehörte. Der Schwarze Tod herrschte über Legionen von Dämonenscharen. Er war der Regisseur des Bösen und lenkte die Einsätze seiner zahlreichen Diener. Manchmal jedoch bemühte er sich selbst auf die Erde. Immer dann, wenn es galt, eine besondere Aufgabe zu erfüllen. Und die lag jetzt vor ihm. Sein Knochengesicht verzog sich zu einem grausamen Lächeln, als er daran dachte. Er würde am nächsten Tag zuschlagen. Mit eiserner Hand und ohne Erbarmen. Wieder wollte er ein blutiges Zeichen
setzen, um seinen Feinden eine Niederlage zu bereiten. Aber eine, die tiefer ging, die schmerzen sollte, von der sie sich kaum erholten. Denn der Schwarze Tod hatte einiges gutzumachen. Er war nicht der Erste im Reich der Dämonen, sondern nur Satans erster Diener. Und Asmodis, der Höllenfürst, war unzufrieden mit ihm geworden. Der Schwarze Tod und seine Schergen hatten in letzter Zeit zu viele Niederlagen einstecken müssen. Sie selbst waren kaum dazu gekommen, zurückzuschlagen. So etwas wurmte Asmodis. Für den Höllenfürst zählte nur der Erfolg. Der Schwarze Tod aber hatte keinen. Geduld war noch nie die Stärke des Höllenfürsten gewesen. Er gab dem Schwarzen Tod eine Frist. Hielt er sie ein und brachte Siege, war es gut. Hielt er sie nicht ein, wollte Asmodis die Konsequenzen ziehen. Begonnen hatte er bereits damit. Er hatte Asmodina erschaffen. Die Tochter des Teufels. Nur hielt er sie noch im Hintergrund, da sie noch nicht die Erfahrung besaß, um auf Gegner wie John Sinclair angesetzt zu werden. Erst sollte der Schwarze Tod noch seine Klasse beweisen. Dann würde Asmodina kommen, entweder gleichberechtigt an seiner Seite oder aber als oberer Dämon. Das alles wußte der Schwarze Tod. Er sah seine Macht schwinden. Was ihm überhaupt nicht gefiel. Zudem hatte es sich auch bei den anderen Dämonen herumgesprochen, und so sank das Ansehen des Schwarzen Tods. Die Untergebenen brachten ihm nicht mehr den nötigen Respekt entgegen, den er verlangte. Das sollte anders werden. Der Schwarze Tod wollte sich rehabilitieren und hatte einen teuflischen Plan erdacht. Lauthals lachte er auf, als er daran dachte. Dabei schlug er mit seiner Sense auf einen imaginären Gegner ein. Ein blutroter Halbkreis
entstand. Er zeichnete genau den Weg nach, den die Klinge genommen hatte. Rot wie Blut. Und Blut sollte fließen, das hatte sich der Schwarze Tod fest vorgenommen. Blut war für ihn der Samen des Bösen. Und wenn einer seiner Gegner starb, hatte er gesiegt. Schiefgehen konnte nichts. Der Schwarze Tod blieb stehen. Er hatte den Wald verlassen. Er stand jetzt auf der flachen Hügelkuppe, und vor ihm ragten die Mauern des Schlosses empor. Vom Mondlicht gebadet, hoben sie sich deutlich gegen das Schwarz der Nacht ab. In der Ferne verschwammen die anderen Bergspitzen des Odenwalds mit der Dunkelheit. Irgendwo im Tal blinkten Lichter. Ruhe lag über dem Land. Noch … Der Schwarze Tod rammte seine linke Faust in die Luft und stieß ein schauriges Gelächter aus, das weit über das Land hallte und in der Ferne langsam verebbte.
* »Freust du dich?« fragte Will Mallmann. Karin Becker nickte. Will lächelte. »Frau Mallmann wirst du bald heißen«, sagte er. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich glaube, ich bin ein Glückspilz.« Karin Becker lachte. »Warte erst mal ab, bis wir verheiratet sind. Wenn du das nach fünf Jahren auch noch sagst, bin ich zufrieden, Will.« Kommissar Mallmann strich über sein leicht gelichtetes, dunkles Haar. »Bestimmt sage ich das.«
»Man merkt, daß du noch nicht verheiratet warst.« »Du etwa?« »Nein«, erwiderte Karin lachend, »aber ich habe in meinem Bekanntenkreis schon zahlreiche Ehen zerbrechen sehen.« »Es gibt auch Ausnahmen«, hielt ihr Will Mallmann entgegen. »Und dazu möchte ich zählen.« »Na denn«, meinte Karin und verließ mit einer Entschuldigung das Zimmer. Will saß in seinem Sessel und schaute durch das Fenster der Wohnung. Ein nie gekanntes und erlebtes Glücksgefühl durchströmte ihn. Er würde heiraten. Noch heute. Und das in einer Schloßkapelle, wie er und Karin es sich immer vorgestellt hatten. Diese Kapelle gehört zu Burg Blankenstein, einem Schloß, das inmitten des wunderschönen Odenwalds lag. Mallmann hatte es ausgesucht, nachdem es ihm von einem guten Bekannten empfohlen worden war. In der Nähe, das heißt im Tal, lag ein Gasthof, in dem sie dann feiern würden. Gäste waren genug eingeladen. Auf einen Polterabend hatten sie verzichtet. Dafür sollte die Hochzeit ein regelrechtes Fest werden. Mallmann hatte zahlreiche Arbeitskollegen eingeladen und seine Freunde aus England: John Sinclair, Jane Collins, Sheila und Bill Conolly, Suko und dessen Freundin Shao. Sie hatten alle zugesagt. Sogar John Sinclair, der wirklich einen Job hatte, um den er nicht zu beneiden war. Etwas Privatleben mußte der Mensch jedoch haben. Und diese Hochzeitsfeier sollte von keinem Dämon gestört werden. Auch von Karins Seite kamen Bekannte. Verwandte hatte sie kaum noch. Die Eltern waren gestorben, und mit ihren Verwandten im
zweiten Glied hatte sie keinen Kontakt mehr. Dafür kamen Kollegen und auch eine Abordnung ihrer Schulkinder, denn Karin Becker war Lehrerin. Die Kinder sollten Spalier stehen, wenn das Hochzeitspaar die Kirche verließ. Sehr lange kannten sich Will Mallmann und Karin Becker noch nicht. Vor einigen Monaten erst waren sie sich während eines Urlaubs im Bayerischen Wald begegnet. Bei beiden war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatten sich sofort verstanden. Leider war der Urlaub dann nicht so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatten. Ein uralter Fluch war in Erfüllung gegangen und hatte die Invasion der Skelette zur Folge gehabt. Die Einwohner des Dorfes waren unter den magischen Einflüssen in einen dämonischen Schlaf gefallen, und wäre John Sinclair nicht gewesen, hätte dieser Urlaub sehr böse enden können. Will Mallmann dachte noch mit Schrecken daran. Er hatte Karin dann aufgeklärt und ihr gesagt, welch einen Beruf er ausübte. Als Kommissar beim BKA lebte Mallmann normalerweise ziemlich ruhig, doch das Schicksal wollte es, daß er hin und wieder mit Fällen konfrontiert wurde, die in den Bereich des Übersinnlichen hineinspielten. Will Mallmann hatte erleben müssen, daß es Dinge gab, die grausam und böse waren und aus einer anderen Welt kamen. Lebende Tote, Vampire, Werwölfe. Er hatte sie erlebt – und sah danach die Welt mit anderen Augen. Lange hatte er mit Karin Becker darüber gesprochen. Karin hörte ihm zu, und Will scheute nicht davor zurück, sie vor eine Entscheidung zu stellen. Karin hätte ihn nicht zu heiraten brauchen, wenn ihr sein Job zu gefährlich gewesen wäre. Zurück konnte Will Mallmann nicht, dafür steckte er zu tief in der Sache drin. Wie andere sah auch er es als seine Aufgabe an, das Böse zu bekämpfen. Einen Tag hatte sich Karin Becker Bedenkzeit erbeten. Dann gab
sie ihm die Antwort. Sie war positiv. Will Mallmann jubelte, denn nun stand einer Hochzeit nichts mehr im Weg, und er war der glücklichste Mann auf der Welt. Der Kommissar dachte nicht mehr an Dämonen und finstere Schattenwesen. Für ihn war dieser Herbst ein herrlicher Frühling, ein Neubeginn. Will Mallmann – ein Ehemann. Der Kommissar schüttelte den Kopf, als er daran dachte. Vorstellen konnte er sich das kaum, aber es stimmte. Bald würde er, der alte Junggeselle, verheiratet sein. Ihn hatte es voll erwischt. Die Liebe hatte ihn wie eine volle Breitseite getroffen. Will wehrte sich nicht dagegen, denn Karin Becker war eine Frau, mit der er sich sofort verstanden hatte. Sie kam aus Köln, hatte aber schon ihre Versetzung beantragt, um in Wiesbaden an einer Schule zu unterrichten. In dieser Stadt wohnte der Kommissar. Will schaute auf seine Uhr. Es war noch früh am Morgen, aber sie hatten auch noch einen langen Weg vor sich. Um elf Uhr sollte die Trauung sein. Jetzt war es sieben. Eigentlich wollten sie um sieben schon fahren. Die Gäste aus England würden den Weg allein finden. Will Mallmann hatte seine Freunde erst abholen wollen, doch John war dagegen gewesen. Sie würden von Frankfurt aus zwei Taxis nehmen. Alles war wunderbar geregelt, und eigentlich konnte nichts schiefgehen. Wills Stimmung steigerte sich noch, als die Tür geöffnet wurde und Karin das Zimmer betrat. Die Lehrerin sah fabelhaft aus. Zwar hatte sie ihr weißes Brautkleid noch nicht angezogen, aber auch das andere Kleid stand ihr ausgezeichnet. Karin Becker blieb vor der Türschwelle stehen. Sie lächelte. Will
war sprachlos. »Gefalle ich dir?«fragte sie. Der Kommissar nickte. Karin, mit ihren zweiunddreißig Jahren eine voll erblühte Frau, trug das braunschwarze Haar bis auf die Schultern. Sie hatte sich nur leicht geschminkt, und ihre Pupillen erinnerten Will Mallmann an zwei reife Kirschen. Das modische dunkelrote Kleid bestand aus Wildseide und umschmeichelte ihre zauberhafte Figur. »Gefalle ich dir?« fragte sie noch einmal und drehte sich im Kreis. »Ich bin sprachlos«, erwiderte Will. Er stand auf. »Hoffentlich nicht in der Kirche.« Will hob beide Hände und drehte die Innenflächen nach außen. »Da werde ich so laut ›Ja‹ rufen, daß es bis weit nach draußen schallt.« Karin lachte. »Was ist?« fragte der Kommissar. »So kenne ich dich gar nicht, Will. Sonst bist du immer so ernst, aber jetzt …« »Da ich die schönste Frau der Welt heirate, darf ich mich doch freuen – oder?« »Die schönste, Will? Wie vielen hast du das schon gesagt?« »Nur dir.« Karin Becker lächelte spitzbübisch. »Ich werde dir ausnahmsweise glauben, Will.« »Du mußt mir glauben.« Will Mallmann hatte sich wirklich verändert. Er, der sonst immer so ernst wirkte, war direkt euphorisch geworden. Seine dunklen Augen strahlten, und das Lächeln auf seinen Lippen zeugte von einer ungeahnten Vorfreude und Ehrlichkeit. Dieser Tag sollte der schönste in Wills Leben werden. Der Kommissar freute sich nicht nur auf seine Hochzeit, sondern auch auf die Gäste. Alle hatten zugesagt. Daran merkte Will, daß er Freunde hatte.
Echte Freunde. Karin Becker ergriff die Initiative. »Wenn du mich noch lange so anschaust, werden wir zu spät zu unserer Trauung erscheinen, Will. Wir kommen zu spät«, bemerkte sie mit einem schnellen Blick auf die Uhr. »Okay, okay, Frau Lehrerin, ich bin schon fertig. Wo steht dein Koffer?« »In der Diele.« Will verließ das Wohnzimmer, in dem besonders die vier hohen Boxen seiner Musikanlage auffielen. Für diese Anlage hatte Will ein kleines Vermögen ausgegeben, aber ein Hobby muß der Mensch haben, sagte er sich immer. Und Will hörte nun mal gern Musik. Von Verdi bis Frank Zappa reichte sein Geschmack. Hauptsache, der Musiker oder der Sänger ist gut. Karin Becker teilte das Hobby. Sie ging vor allen Dingen gern ins Theater, und in letzter Zeit hatten die beiden gemeinsam einige Aufführungen gesehen. Vor allen Dingen Opern und Schauspiele. Wills silbergrauer Opel Manta GT/E parkte draußen. Schnelle Autos waren das zweite Hobby des Kommissars. Er hätte sich für sein Leben gern einen Porsche gekauft, aber dazu reichte leider sein Gehalt nicht aus. Der Manta war auch schnell. Die Sonne ließ den Lack glänzen. Will hatte den Wagen noch einen Tag vorher sorgfältig geputzt und eingewachst. Er öffnete die Kofferraumhaube und stellte das Gepäckstück hinein. Zwei weitere Koffer hatten auch noch Platz gefunden, eine Reisetasche stand auf dem Rücksitz. Karin Becker trat aus der Haustür. Will winkte ihr zu. »Steig ein«, rief er und öffnete Karin die Beifahrertür. Die Lehrerin nahm Platz. Will lächelte sie an. »Wenn wir in einigen Tagen wieder hier sind,
wirst du Karin Mallmann heißen.« Die Lehrerin schüttelte den Kopf. »Du bist wie ein Primaner, Will«, sagte sie. »Darf ich mich nicht freuen?« »Doch.« Der Kommissar ließ den Motor an. Er warf noch einen Blick auf das Haus, bevor er fuhr. Lange würde er nicht mehr hier wohnen bleiben. Karin besaß einen zuteilungsreifen Bausparvertrag, und sie hatten vor, sich in den nächsten Tagen ein Häuschen anzuschauen. Die Zukunft sah also gut aus. Keiner von ihnen rechnete mit dem Schwarzen Tod, der bereits im Hintergrund lauerte …
* »Wir wollen zu Land ausfahren, wohl über die Fluren weit …« Die acht- bis neunjährigen Schulkinder sangen das Lied mit Begeisterung, und ihre glockenklaren Stimmen erfüllten das Innere des Busses. Die beiden Lehrerinnen lächelten. Sie freuten sich über die Fröhlichkeit der Kinder, und auch der Fahrer war zufrieden. Er fuhr lieber Schulkinder als Kegelbrüder. Sie waren zu zehnt. Acht Kinder und zwei Lehrerinnen. Für sie war es Ehrensache, Karin Becker auf die Hochzeit zu begleiten. Sogar schulfrei hatte es für diesen Tag gegeben. Sie waren in Köln auf die Autobahn gefahren. Bereits sehr früh, es wurde gerade hell. Der kleine Bus kam gut durch, und nun befanden sie sich bereits hinter Frankfurt und fuhren in Richtung Karlsruhe. Schnell war die Zeit vorübergegangen. Die Lehrerinnen hatten sich mit den Kindern beschäftigt.
Sie spielten mit ihnen oder sangen Volkslieder. Die ältere Kollegin hieß Elfriede Kirst, während die jüngere den Namen Jutta Mehnert trug. Jutta war nicht so streng wie ihre Kollegin und machte noch manchen Streich mit oder heckte ihn sogar selbst aus, während Frau Kirst mehr auf Disziplin achtete. Jutta war ein modernes Mädchen. Als burschikoser Typ trug sie die Haare kurz und sah in ihren Jeans und dem weiten Pullover wie das Hippie-Mädchen von nebenan aus. Ihre Kollegin kleidete sich strenger. Sie hatte das Haar zurückgekämmt und im Nacken zu einem Knoten gebunden. Die Augen wirkten durch die beiden Brillengläser doppelt so groß, und wenn Frau Kirst ihre Kinder anschaute, dann zogen die Kleinen die Köpfe ein. Im Bus jedoch hatte sie gute Miene zum lustigen Spiel gemacht und kräftig mitgesungen. Elfriede Kirst und Jutta Mehnert mochten sich nicht besonders. Doch Jutta zeigte das nicht so sehr wie ihre ältere Kollegin. Sie lachte viel und war für jeden Scherz zu haben. Im Moment hatte die Singerei Pause. Die drei Jungen und fünf Mädchen mußten sich erst erholen. Wie erschlagen lagen sie in den Sitzen und spielten die Erschöpften. Jutta hatte außer ihrem Koffer noch einen Korb mitgebracht. Das bunte Tuch verdeckte die Süßigkeiten, die sie extra für ihre Kinder eingepackt hatte. »Wer hat Hunger?«rief sie. Keine Antwort. Die Kinder schauten sie nur an. Manche lächelten, andere verdrehten ›erschöpft‹ die Augen. Jutta Mehnert lachte. Sie präzisierte ihre nächste Frage. »Wer hat Hunger auf was Süßes?« »Hier!« schrien drei auf einmal. »Ich, ich!« Plötzlich war niemand mehr müde. Wenn es um Na-
schereien ging, wollte jedes der Kinder als erstes am Korb bei der Verteilung sein. Die junge Lehrerin lachte. Sie griff in den Korb hinein und förderte mehrere Pakete zutage. Kleine Hände streckten sich ihr entgegen, doch Jutta schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht«, sagte sie. »Ihr müßt schon etwas dafür tun.« »Was denn?« fragten vier Mädchen. »Wir machen jetzt eine Rätselstunde, bei der es Preise zu gewinnen gibt.« Nun hatten die Kinder wieder ihren Spaß. Mit Begeisterung waren sie bei der Sache, sprangen von ihren Sitzen, versuchten sogar, über die Rückenlehnen zu klettern, nur um in der Nähe ihrer jungen Lehrerin zu sein. Das gefiel Elfriede Kirst gar nicht. Sie schimpfte, und die Kinder wurden ruhiger. Jutta begann mit der Rätselstunde. Auf der linken Seite der Autobahn huschten bereits die ersten Ausläufer des Odenwalds vorbei. Bewaldete Hügel, zwischen denen der Dunst des Morgens lag. Nebel stieg aus den Tälern. Er sah aus wie dicke Dampfwolken, die ein unterirdisches Kraftwerk in den Himmel blies. Der Fahrer, er war ein junger Mann und von Jutta sehr angetan, griff zum Mikrofon. »Hier spricht der Fahrer, das große Krümelmonster«, scherzte er. »Bald werden wir von der Autobahn abbiegen, dann noch eine halbe Stunde fahren, und wir sind da.« Die Kinder waren verstummt und hatten der Stimme des Fahrers gelauscht. Als er das Wort ›Ende‹ sagte, jubelten sie. Trotz der Spiele und zahlreicher Süßigkeiten waren sie es leid, solange im Bus herumzusitzen. Verständlich.
Die nächste Ausfahrt tauchte auf. Der Fahrer betätigte den Blinker und fuhr über den morgen-feuchten Straßenbelag in die Ausfahrt hinein. Felder und Wiesen rechts und links der Straße verschwanden im Nebeldunst. Bunte Blätter lagen auf dem taunassen Gras. Die Luft schmeckte kühl. Der Herbst nahte mit Riesenschritten. Eine Ampel hielt den Bus auf. Der runde rote Kreis zerfaserte an seinen Rändern. Auf der Autobahn war der Nebel nicht so schlimm gewesen. Hier lag er manchmal wie dicke Watte. Es gab in der Nähe einige Bäche, die eine Dunstbildung noch förderten. Der Fahrer mußte die Geschwindigkeit stark drosseln. Er fuhr eine große Kurve, überquerte die Autobahn auf einer Brücke und rollte geradewegs auf die bewaldeten Hügel des Odenwalds zu. Es war ein tolles Bild. Nur die Spitzen schauten aus dem Grau der Nebelsuppe, und auf den Gipfeln schien die Morgensonne regelrecht zu explodieren. Die Strahlen sahen aus, als würden sie durch zahlreiche Linsen gebrochen. Die Straße wurde enger. Andere Fahrzeuge kamen dem kleinen Bus entgegen. Die Scheinwerfer tauchten geisterhaft aus dem Nebel auf und wirkten wie verschleierte Augen. Die Kinder waren ruhig geworden. Zwei Mädchen schliefen sogar. Das frühe Aufstehen hatte sie geschafft. Jutta Mehnert zündete sich eine Zigarette an, was ihre ältere Kollegin mit einem mißbilligenden Blick bemerkte. Ein kleiner Ort tauchte auf. Der Bus fuhr bis zum Ende des Dorfes, wo geisterhaft ein Hinweisschild aus dem Nebel auftauchte. Der Fahrer bremste intervallweise, setzte den Blinker rechts und fuhr in eine schmale Straße, die von zahlreichen Bäumen gesäumt war. Als weiche Schicht lagen die herabgefallenen Blätter im Stra-
ßengraben. Sie schimmerten vom hellen Gelb bis hin zum tiefen Rot. Die Straße wurde enger und kurviger. Hinzu kam der Nebel. Der Fahrer mußte mit der Geschwindigkeit herunter. Er ärgerte sich, aber im Herbst mußte man eben mit schlechtem Wetter rechnen. Bald wurde es hügeliger. Der Weg führte bergan. Die ersten Ausläufer der Berge waren erreicht. Wald begann. Rechts und links der Fahrbahn wuchsen die Bäume zusammen. Unterholz bildete einen dichten Dschungel. Eine Kurve löste die nächste ab. Der Fahrer schaltete herunter. Die ältere Lehrerin versuchte, so etwas wie Heimatkunde abzuhalten, doch die Kinder hörten nicht zu. Jutta Mehnert mußte lächeln, als sich ihre Kollegin ärgerte. »Wann sind wir endlich da?« quengelte ein blondes Mädchen mit Ringelzöpfen. »Gleich, Uschi. Gleich sind wir da«, erwiderte Jutta. »Und dann siehst du auch Frau Becker.« »Hat sie wirklich ein weißes Kleid an?« Jutta nickte. Uschi riß die kleinen Augen auf. »Dann ist sie ja eine richtige Braut.« »Und wie.« »Toll!« freute sich das Mädchen und klatschte in beide Hände. Und dann bremste der Fahrer. Er rammte seinen Fuß auf das Pedal. Ohne Vorwarnung und urplötzlich. Niemand im Bus hatte damit gerechnet. Alle wurden überrascht. Die Kinder wurden nach vorn katapultiert, rutschten von ihren Plätzen und fielen in den Mittelgang. Einige weinten.
Auch die ältere Lehrerin erwischte es. Sie schlug mit dem Kinn gegen die Grifflehne des Vordersitzes und sah sekundenlang Sterne aufblitzen. Jutta Mehnert konnte sich noch fangen. Im letzten Moment erwischte sie einen Griff. Mit der linken Hand umspannte sie ihn, mit der rechten bekam sie gerade noch einen Jungen zu fassen, den sie vor einem Sturz bewahren konnte. Die Straße war naß. Der Fahrer hatte voll auf die Bremse treten müssen, die Reifen packten nicht gleich, und das Fahrzeug rutschte langsam in den Straßengraben. Ein Schlag erschütterte den Bus, dann kippte er nach rechts weg und stand. Stille. Doch nur für Sekunden. Dann hatten die Kinder ihren ersten Schock überwunden und begannen wieder zu weinen. Jutta Mehnert hielt nichts mehr in ihrem Sitz. Sie lief nach vorn um mit dem Fahrer zu reden. Während sie ging, mußte sie sich rechts und links abstützen. »Was ist los?« fragte sie. Der junge Fahrer wischte sich über die Stirn. Er hatte die linke Hand schon am Türgriff und deutete mit der anderen nach vorn. »Sehen Sie die Nebelwand?« »Ja, ich sehe sie.« »Deshalb mußte ich bremsen.« Der Fahrer schluckte. »Aber das ist nicht alles. Da war etwas in der Wand. Ein – ein Skelett. Riesengroß, unheimlich …« Jutta krauste die Stirn. »Spinnen Sie?« »Nein, ich spinne nicht!« schrie der Fahrer. »Ich habe es gesehen! Denken Sie, ich setze den Bus ohne Grund in den Graben? Sie haben Nerven.« »Entschuldigen Sie«, sagte Jutta. »Was wollen Sie denn jetzt ma-
chen?« »Aussteigen und nachschauen.« »Ich gehe mit«, sagte die Lehrerin. »Meinetwegen.« »Fräulein Mehnert«, rief Elfriede Kirst aus dem hinteren Teil des Busses. »Was ist passiert?« Jutta drehte sich um. »Nicht viel, wir sind nur im Graben gelandet«, erwiderte sie sarkastisch. Der Fahrer ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte den Spott aus der Stimme herausgehört. »Ist den Kindern etwas geschehen?« fragte Jutta. »Nein, sie sind in Ordnung.« Der Fahrer hatte inzwischen die Tür geöffnet. Feuchtigkeit und Kühle drangen in das Innere des Fahrzeugs. »Ich steige mit aus!« rief Jutta ihrer Kollegin zu. Von dem Skelett erwähnte sie nichts. Der Fahrer stand schon draußen. Als Jutta das Freie betrat, ging er bereits um die Vorderseite des Busses herum. Er schaute jedoch nicht in den Straßengraben, sondern versuchte, mit seinen Blicken die Nebelwand zu durchdringen. Es war nicht möglich. Man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Und der Nebel wurde dichter. Von Sekunde zu Sekunde nahm er an Intensität zu, wie ein Gas, das sich immer weiter ausbreitet. »So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagte der Mann, stemmte seine Arme in die Hüften und schüttelte den Kopf. Jutta Mehnert fröstelte. Ihr war die ganze Sache nicht geheuer. Dieser Nebel konnte doch nicht normal sein. Das widersprach den Naturgesetzen. Normalerweise hätte die Sonne den Dunst wegdampfen müssen, aber das Gegenteil war der Fall. »Wo – wo haben Sie das Skelett denn gesehen?« fragte sie. Der
Fahrer deutete in die Nebelwand hinein. Jutta Mehnert starrte ebenfalls dorthin. So sehr, daß ihre Augen anfingen zu tränen. Erkennen konnte sie nichts. »Es war vielleicht doch eine Täuschung«, meinte sie. Der Fahrer fuhr herum. »Nein, verdammt.« Jutta schwieg. Sie wollte hier keinen Streit anfangen. »Was ist denn da los?« ertönte die Stimme der zweiten Lehrerin. »Schaffen Sie es, den Wagen aus dem Graben zu heben, oder nicht?« Der Fahrer fühlte sich angesprochen. »Ich bin doch nicht Herkules«, rief er wütend zurück. Jetzt wurde Elfriede Kirst stocksauer. »Sie haben uns diese Geschichte doch eingebrockt, mein Lieber. Sollen wir vielleicht den Bus da raushieven? Außerdem sind wir für die Kinder verantwortlich. Was meinen Sie, was geschieht, wenn denen etwas passiert?« »Ja, schon gut.« Jutta Mehnert hatte sich ein paar Schritte entfernt. Sie wollte in den Graben springen, um sich das gesamte Ausmaß des Schadens anzuschauen. Dazu kam es nicht. Urplötzlich verhielt Jutta mitten im Schritt. Sie hatte etwas gesehen. Vor sich. Eine Bewegung. Inmitten der Nebelwand. Und ein rötliches Schimmern, das auf sie wie eine auslaufende Wolke wirkte. Juttas Herz klopfte schneller. Da! Wieder bewegte sich etwas innerhalb des Nebels. Und es kam näher. Der Fahrer und ihre ältere Kollegin stritten sich noch immer. Jutta hörte zwar die Stimmen, sie verstand jedoch nicht, was die beiden sagten. Die junge Lehrerin wurde fasziniert und abgestoßen zur gleichen Zeit von dem, was sie sah.
Denn aus dem dichten Nebel schälten sich die Umrisse einer Gestalt. Eines Monsters, einer Horror-Vision. Es war ein Skelett! Vor Jutta Mehnert stand der Schwarze Tod!
* Urplötzlich kam die Angst. Und sie schüttelte die junge Lehrerin regelrecht durch. Jutta Mehnert begann zu zittern. Sie riß weit ihre Augen auf, und auf dem Gesicht malte sich das Entsetzen ab, das sie empfand. Das Skelett kam näher! Lautlos, ohne auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben. Es schien über dem Boden zu schweben und wurde von den Nebelwolken umwallt. Mit beiden Händen hielt das Skelett den Griff einer gewaltigen Sense umklammert, und als es jetzt damit zum Schlag ausholte, zog die Sense einen blutigen Halbkreis. Jutta wich zurück. Einen halben Schritt nur, dann prallte sie mit dem Rücken gegen den Bus. Plötzlich stand der Unheimliche vor ihr. Sie schaute hoch, sah den schwarzen Totenschädel mit den hellen Augen und das teuflische Grinsen, das der jungen Frau den Tod versprach. Jutta war wie gelähmt. Sie klebte auf dem Fleck. Sie konnte sich nicht rühren, und sie wunderte sich, daß die anderen das Skelett nicht sahen. Doch der Fahrer hatte es auch gesehen. Elfriede Kirst ebenfalls. Und auch die Kinder. Sie waren alle entsetzt. Das Grauen schnürte ihnen die Kehle zu, und sie konnten sich nicht rühren. Als erster jedoch erwachte der Fahrer aus seiner Erstarrung. Er holt tief Luft, schüttelte den Kopf, dann ballte er die Hände und
stieß einen Stöhnlaut aus. Im nächsten Moment drehte er durch. Aus dem Stand sprang er auf das Skelett zu. Er wollte den Höllenspuk mit bloßen Fäusten angreifen, stürzte vor – und lief genau in sein Verderben. Das Skelett holte aus. Abermals sauste die Sense durch die Luft. Aber diesmal hatte sie ein Ziel. Den Busfahrer! Er sah noch den blutigen Halbkreis, dann das Schimmern des Sensenblattes, und im nächsten Moment durchzuckte ihn ein glühender Schmerz. Dann griffen die dunklen Schatten des Todes nach ihm. Der junge Busfahrer sank blutüberströmt neben dem Fahrzeug zusammen. Als Jutta Mehnert diese Szene sah, war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Das eben erlebte Grauen hatte sie aus ihrer Erstarrung gerissen. Ihr Mund öffnete sich weit, und ein gellender Schrei drang über ihre Lippen. Doch dieser Schrei blieb ohne Echo. Sofort wurde er von den dichten Nebelwänden verschluckt. Jutta schüttelte den Kopf. Sie glaubte, wahnsinnig zu werden. Sie schaute zu dem Skelett hoch, das sie um zwei Körperlängen überragte, machte dann auf dem Absatz kehrt und rannte flucht-artig davon. Die Kollegin, die Kinder – sie ließ alles im Stich. Jutta sprang über den Graben, landete auf weichem Boden, stolperte, fing sich wieder und hetzte weiter. Nur weg von diesem Platz des Grauens. Sie kam genau fünf Meter weit. Der Schwarze Tod wollte keinen entkommen lassen. Blitzschnell war er hinter ihr, seinen knöchernen Arm streckte er aus, und dann
fiel die, skelettierte Klaue nach vorn. Jutta spürte den mörderischen Schlag, schrie gellend auf und wurde zu Boden geschleudert. Im nächsten Moment riß die Hand sie hoch. Die Lehrerin sah dicht vor ihren Augen das Funkeln der gebogenen Klinge und rechnete mit dem Schlimmsten. Doch der Schwarze Tod tötete sie nicht. Er hielt Jutta wie eine Puppe am Kragen gepackt, fauchte ihr seinen heißen Höllenatem ins Gesicht, drehte sich um und schritt mit ihr zurück zum Bus. Jutta Mehnert wehrte sich nicht, sie schrie nicht, sie weinte nicht. Die junge Lehrerin war starr vor Entsetzen. Der Schwarze Tod schritt an dem zusammengekrümmt daliegenden Busfahrer vorbei, ohne der Leiche einen Blick zu gönnen. Ihn kümmerte der Tote nicht. Er hätte sich eben nicht gegen ihn stellen sollen. Und Menschen interessierten diesen Dämon sowieso nicht. Die Fahrertür stand sperrangelweit offen. Niemand hatte sich getraut, den Bus zu verlassen. Der Schwarze Tod trat mit seinem Opfer dicht an die Tür heran und warf Jutta Mehnert kurzerhand in den Bus. Hart schlug sie auf. Sekundenlang blieb sie bewegungslos liegen. In ihrem Gehirn schrien die Gedanken. Warum werde ich nicht ohnmächtig? Warum nicht? Weshalb muß ich das alles miterleben? Was habe ich nur getan? Sie begann zu beten, und einige Verse aus ihrer Kindheit flossen über ihre Lippen. Sie stemmte sich hoch und hob den Blick. Die Kinder saßen auf ihren Plätzen. Jutta wunderte sich, daß sie diesen Überfall so gut verkraftet hatten. Besser jedenfalls als ihre Kollegin. Sie lag quer auf zwei Sitzen. War blaß im Gesicht und atmete nur stoßweise. Ihre rechte Hand hatte sie dorthin gelegt, wo das Herz
schlägt. So etwas wie Verantwortungsbewußtsein erwachte in Jutta Mehnert. Sie mußte sich um die Kinder kümmern, auch wenn die Situation noch so seltsam war. Mühselig kam sie hoch. Jutta blieb im Gang stehen, klammerte sich an den Griffen fest und atmete ein paarmal tief durch. Langsam ging es ihr besser. Vorsichtig schaute sie sich um. Ihr wurde bewußt, daß die Blicke der Kinder an ihr hingen. Die Schüler sahen nur sie, und in ihren Augen stand ein unbeschreibliches Vertrauen. Aber mußte sie die Kinder nicht enttäuschen? Besaß sie überhaupt die Kraft durchzuhalten? Jutta Mehnert riß sich zusammen, und ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen. Zu mehr war sie jetzt nicht in der Lage. Sie warf einen Blick nach draußen. Eine dichte Nebelwolke umschwebte den Bus. Man konnte keinen Meter weit sehen, und der Schatten des Schwarzen Todes geisterte durch den Dunst. Für einen winzigen Augenblick dachte Jutta an Flucht, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Nein, sie durfte die Kinder nicht im Stich lassen. Die kleine Uschi fing an zu weinen. »Ich will wieder nach Hause«, schluchzte sie. Jutta ging neben dem Mädchen in die Knie und streichelte die Hände der Kleinen. »Bald, bald sind wir wieder zu Hause.« Auch Dirk, ein gleichaltriger Junge, tröstete seine Schulkameradin. »Das ist bestimmt nur ein Spiel«, sagte er und schaute seine Lehrerin dabei gläubig an. »Es ist doch nur ein Spiel – oder?« »Ja, ja, natürlich« erwiderte Jutta hastig. Ein Stöhnen ließ sie herumfahren. Elfriede Kirst hatte es ausgesto-
ßen. Sofort war Jutta bei ihr. »Was ist los, Frau Kirst?« »Mein Herz. Mein Gott – es …« »Kann ich helfen?« »Ja«, ächzte die Frau. »Die Tropfen. Sie – sie sind in meiner Handtasche.« Hastig öffnete Jutta den Verschluß. Das braune Fläschchen fand sie sofort. Die ältere Lehrerin öffnete den Mund, während Jutta ihr einige Tropfen auf die Zunge träufelte und die Kinder dabei zuschauten. Plötzlich knallte die Tür ins Schloß. Es hörte sich an wie ein Pistolenschuß. Sofort ruckten die Köpfe der Kinder herum. Und auch Jutta schaute zur Tür. Sie sah den Schwarzen Tod nicht mehr. Dafür spürten sie ihn. Denn plötzlich wurde der Bus angehoben und schwebte im nächsten Moment hinein in die dicke Nebelwolke. Zurück blieb ein Toter …
* Da waren wir also! Jane Collins, Sheila und Bill Conolly, Suko nebst Shao, seiner Freundin, und ich. Unsere Ohren dröhnten noch vom Düsenlärm, so daß wir den Trubel in der großen Ankunftshalle des Frankfurter Flughafens kaum wahrnahmen. Wir waren sicher gelandet. Zwischen uns standen die Koffer. Ich hatte nicht viel mit, Suko noch weniger, dafür taten sich die Damen hervor. Himmel, was die alles mitschleppten. Das kann ich gar nicht alles aufzählen.
Aber auf eins hatte ich nicht verzichtet. Auf meine Waffen. Hätte ich sie zu Hause gelassen, wäre ich mir direkt nackt vorgekommen. So aber fühlte ich mich sicher. »Und nun?« fragte Bill. »Holen wir uns zwei Taxis«, erwiderte ich. »Die Fahrer werden sich über die Fuhren freuen.« »Ist anzunehmen«, sagte ich. Wir nahmen die Koffer hoch. Ehrensache, daß die Frauen nichts trugen. Dafür war Suko doppelt beladen. Ihm machte es nichts aus. Er trug die Koffer, als wären sie leer. Der Frankfurter Flughafen ist so groß, daß man sich verlaufen kann. Wir mußten suchen, um den Ausgang zu finden, wo die Taxis warteten. Wir sahen aus wie Touristen. Taxifahrer haben einen Blick dafür. Wir brauchten erst gar nicht nach Wagen Ausschau zu halten. Die Fahrer winkten uns schon zu. Zwei Mercedes standen zur Auswahl. Suko, Shao und ich stiegen in den ersten Wagen, während die anderen den zweiten nahmen. Sheila winkte mir noch zu. Wie auch Jane Collins und Shao trug sie lockere Reisekleidung. Bequeme Hose, Bluse und Blazer. Die eleganten Kleidungsstücke lagen im Koffer. Auch mein Smoking. Und Suko hatte ebenfalls einen mitgenommen. Schon bei der Anprobe hatte ich gelacht. Wie auch Shao. »Wo soll’s denn hingehen?« erkundigte sich der Fahrer. Ich nannte ihm unser Ziel. Der Fahrer schaute mich mißtrauisch an. »Wirklich?« fragte er. »Ja.«
»Mann, wären Sie lieber in einen anderen Wagen gestiegen. Diese weiten Fahrten …« »Ich dachte immer, die brächten Geld.« Er winkte ab. »Sehen Sie mal, bald ist Automobilausstellung. Jetzt treffen bereits die ersten Gäste ein. Was meinen Sie, wieviel ich verdienen kann? Flugplatz – Hotel, Flugplatz – Hotel. Das sind Fahrten, die was in die Kasse bringen.« Er hob die Schultern und fuhr an. Hinter uns setzte sich der zweite Mercedes in Bewegung. Bill saß wie ich vorn und winkte mir zu. Wir befanden uns in einer herrlichen Stimmung. Richtig gelöst und locker. Mal keine Dämonen, keine Geister, keine finsteren Mächte. Nur die Hochzeit. Dachten wir … Bill Conolly hatte dem guten Kommissar versprochen, eine Torte allein zu essen. Darauf war ich gespannt. Die Autobahnverbindungen waren ausgezeichnet. Der Flughafen lag sehr zentral. Schon bald bogen wir auf die Schnellstraße nach Karlsruhe-Basel ein. Der Fahrer hatte das Radio eingeschaltet. Hessen 3 brachte Verkehrsdurchsagen. Die Schnellstraße war ziemlich frei. Auf der Gegenfahrbahn jedoch lief der Verkehr langsamer. Zahlreiche Pendler fuhren nach Frankfurt zu ihren Arbeitsstellen. Ich lehnte mich bequem zurück, während sich Suko und Shao in ihrer Heimatsprache unterhielten. Ich verstand kein Wort. Suko hatte mal vorgehabt, mir Chinesisch beizubringen, es dann aber aufgegeben. Ich war wohl zu unbegabt. Die Fahrt machte mich müde. Hinzu kam die leise Radiomusik, und plötzlich fielen mir die Augen zu. Weil Suko mir auf die Schulter tippte, wurde ich wach. »Ist was?« fragte ich.
»Du schnarchst«, sagte der Chinese. »Wer im Glashaus sitzt – und so weiter.« »Aber ich schlafe nicht im Taxi.« Der Fahrer verstand wohl Englisch. Er lachte, mußte aber dann mit der Geschwindigkeit herunter, da die Abfahrt auftauchte. Ich schaute aus dem Fenster. Der Odenwald war schon zu sehen. Langsam stieg der Bodennebel hoch und umhüllte die Gipfel mit einem grauen Kranz. Unser Fahrer lenkte den Mercedes auf die rechte Seite und hielt an. Er kramte in der Seitentasche der Tür herum und suchte nach einer Straßenkarte. »Kennen Sie sich nicht aus?« fragte Suko. »Ich kann mir doch nicht jedes Kaff merken«, erwiderte der Mann. Mit seinem nikotingelben Zeigefinger fuhr er über die Karte, murmelte hin und wieder ein paar unverständliche Worte und nickte dann zufrieden. Drei Minuten später fuhren wir weiter. Mir hatte der Schlaf gutgetan. Ich fühlte mich wieder frisch, ausgeruht und topfit. Und eine gute Kondition brauchte ich in den nächsten Stunden. Die Hochzeit sollte ein sagenhaftes Fest werden. Das hatte mir Will Mallmann am Telefon versprochen. Wir waren gespannt. Die Gegend, durch die wir fuhren, gefiel mir. Saubere Straßen, schmucke, kleine Orte, ältere und sehr gepflegte Häuser sowie wenig Autoverkehr. Wir passierten eine Ortschaft, deren Namen ich vergessen habe. Kurz hinter dem Dorf bogen wir scharf rechts ab. Auf einer schalen Landstraße ging es weiter. Die Sonne stieg immer höher. Langsam verschwand der Nebel, löste sich unter den warmen Strahlen auf, und mein Blick reichte weit hinüber zu den grünen Hängen des Odenwalds. Die ersten Ausläufer lagen bereits vor uns.
Ich sah zahlreiche Holzschilder, die auf Ausflugslokale hinwiesen. Reklametafeln warben für deftiges Essen, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Doch auf der Hochzeit würde es mehr als genug zu essen geben. Dann sah ich die Autoschlange. Auch der Fahrer ging mit der Geschwindigkeit herunter, dann hielt er an. Über die Wagendächer hinweg sah ich den Widerschein eines Polizeiblaulichtes zucken. »Da ist sicher wieder ein Unfall passiert!«knurrte der Fahrer. »Ausgerechnet jetzt. Mir bleibt auch nichts erspart!« Polizisten regelten den Verkehr. Die Wagen aus der Gegenrichtung fuhren an uns vorbei. Ich sah in manch verstörte Gesichter der Insassen. Demnach mußte der Unfall schlimm geendet haben. Es folgten noch drei Lastwagen, dann endlich konnten wir fahren. Die Blechschlange setzte sich langsam in Bewegung. Sie kroch weiter vor. Schließlich erreichten auch wir die Unfallstelle, und ich warf einen Blick aus dem Seitenfenster. Neben dem Straßengraben lag eine mit einer Decke verhüllte Gestalt. Nur noch die Füße schauten hervor. Auf der Straße jedoch schimmerte eine große Blutlache. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Mehrere Polizisten suchten im Straßengraben nach Spuren. Die Beamten unterhielten sich miteinander und machten zum Teil ratlose Gesichter. Dann waren wir vorbei. »Haben Sie gesehen?« fragte der Fahrer. Ich nickte. »Das sind die Raser«, meinte er. »Ich habe keinen Wagen gesehen, mit dem er gerast sein könnte«, hielt ich ihm entgegen. Der Mann warf mir einen schnellen Blick zu. »Den haben sie bestimmt schon abtransportiert.«
»Noch vor der Leiche?« Der Fahrer grinste plötzlich. »Sherlock Holmes im Westentaschenformat, wie?« »So ähnlich.« »Mir ist es egal.« Er kratzte sich im Nacken. »Aber was Sie da gesagt haben, stimmt schon. Ich habe in der Tat keinen Wagen oder ein Motorrad gesehen. Da gibt es nur eine Möglichkeit. Der arme Kerl ist angefahren worden.« Ich gab dem Mann recht. Als ich einen Blick nach hinten warf, schaute ich in zwei strahlende Gesichter. Suko hatte seinen Arm um Shao gelegt und grinste mich an. »Euch geht’s gut.« »Sicher. Jeder bekommt das, was ihm zusteht.« »Was müßte ich dann erst haben!« Der Weg führte jetzt steiler in die Höhe. Durch Schneisen entlang der Straße konnten wir in Täler schauen, in denen malerische Ortschaften lagen. »Wir sind gleich da«, bemerkte der Fahrer. Er hatte nicht gelogen. Nach weiteren fünf Minuten Fahrt erreichten wir unser Ziel. Auf einem nicht zu übersehenden Hinweisschild war das Wort Schloß-Eck gemalt. Hinter der Schrift sah ich einen Hügel, auf dem ein stolzes Schloß stand. Das war es also. Der Fahrer quälte seinen Mercedes in eine Kurve und fuhr über einen schmalen, aber asphaltierten Weg unserem Ziel entgegen. Tiefhängende Zweige streiften über den Lack. Durch das Blätterdach fiel Sonnenlicht und spiegelte sich in den breiten Scheiben des Taxis. Der Weg mündete auf einen großen Platz, an dessen rechter Seite ich das Gasthaus sah. Es war ein stolzes Gebäude, und es erstreckte
sich über zwei Etagen, wovon die letzte schräge Wände hatte. Die Mitte des Schloß-Ecks nahm das große Restaurant ein. Links davon befand sich die Schenke, und rechts des Restaurants ging es zur Kegelbahn. Auf einem Parkplatz standen einige Wagen. Als ich ausstieg, sah ich auch Wills silbergrauen Manta. Der Kommissar war also schon da. Der Taxifahrer stieg mit aus und reckte sich. Ich beglich die Rechnung, und Bill Conolly tat es mir nach. Zehn Mark Trinkgeld gab ich dem Fahrer. Er wünschte uns noch einen schönen Tag und verschwand dann. Suko und Bill hatten die Koffer ausgeladen. Der Reporter winkte mir zu. »Dann gehen wir mal rein!« rief er. »Die Zimmer werden ja reserviert sein.« Das hoffte ich auch. Ich hatte nicht widerstehen können und ein Doppelzimmer für mich und Jane bestellt, was die Detektivin lächelnd zur Kenntnis nahm. Jane und Sheila drängten. »Kommt, Kinder, wir müssen uns noch umziehen.« »Ja doch«, knurrte Bill. »Wenn ich nur wüßte, wo die alte Frau Mallmann bleibt.« Damit meine er Will. Und der kam. Plötzlich stand er im Eingang. Er sah uns, schaute ein zweites Mal her und riß dann beide Arme hoch. »John! Bill!« schrie er. Danach war Will nicht zu halten. Ich habe selten einen Menschen gesehen, der sich so freute. Wir umarmten uns, schlugen uns auf die Schultern, und Will lachte von Ohrläppchen zu Ohrläppchen. »Ich finde es riesig nett, daß ihr gekommen seid. Wirklich, toll.«Wieder schlug er uns auf die Schultern. Die Frauen standen daneben und lächelten. Dann begrüßte Will Mallmann sie.
Von Jane erhielt er zwei Küsse auf die Wangen, und der alte Will wurde rot vor Verlegenheit, was bei uns natürlich einen Heiterkeitsausbruch auslöste. »Kommt erst einmal rein«, sagte Will. »Willst du uns nicht deiner Frau vorstellen?« erkundigte sich Bill Conolly. »Später.« Ich winkte ab. »Erst umziehen.« »Eigentlich habe ich Durst«, sagte Bill und leckte sich über die Lippen. Sheila hatte seine Worte gehört. »Soweit kommt das noch!« fuhr sie ihm in die Parade. »Schlucken kannst du nachher genug.« Bill zog einen Flunsch. »Ich meinte ja nur.« Wir betraten das Schloß-Eck Erich Gehrmann, der Wirt, empfing uns mit einem kräftigen Händedruck. Als er Shao und Suko sah, stutzte er. »Keine Angst«, sagte der Chinese, »ich beiße nicht.« »Das habe ich auch nicht angenommen, sonst beiße ich nämlich zurück.« Wir lachten. Das Eis war gebrochen. »Sie wollen sicher Ihre Zimmer sehen?« fragte Erich Gehrmann. Er mußte die Frage wiederholen, da wir seinen Dialekt nicht richtig verstanden hatten. Der Wirt bemühte sich dann, hochdeutsch zu sprechen. Als wir bejahten, wies er mit der Hand auf die geschwungene Holztreppe. »Bitte, gehen Sie nach oben.« Ein Hausdiener stand bereit und nahm sich des Gepäcks an. Der Wirt ging vor. Die Stufen der Treppe waren mit Teppichen ausgelegt. Will Mallmann hielt sich neben mir. Er redete nur von seiner Hochzeit und davon, daß Karin Becker in drei Stunden bereits einen anderen Namen trug. Ich gönnte es dem guten Will von ganzem Herzen. Wir erreichten die erste Etage. Rustikal wie das Treppenhaus war
auch der lange Flur. Wir sahen dicke Holzbalken an der Decke, die Türen bestanden aus Eichenholz. Der Wirt schloß auf. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier, Gentlemen.« »Wenn das Essen so gut ist wie die Einrichtung, sicher«, sagte Bill Conolly. »Das ist noch besser.« »Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.« Der Wirt schloß zuerst die Zimmertür der Conollys auf. Im selben Augenblick wurde die Tür gegenüber geöffnet, und eine Frau stand auf der Schwelle. Karin Becker!
* »Das kann nur der Besuch aus London sein«, sagte sie und lächelte so strahlend, wie es sich eben für eine Braut gehört. »Oh«, machte Bill. »Sag bloß, das ist deine Zukünftige, Will!« Der Kommissar ging auf Karin Becker zu und legte einen Arm um sie. »Ja, Bill, das ist Karin Becker.« »Na, dann kann ich nur gratulieren.«Bill lachte herzlich und streckte seine rechte Hand aus. »Ich heiße Bill Conolly, und das ist Sheila, meine Frau.« »Ich habe bereits viel von Ihnen gehört«, meinte Karin Becker lächelnd, »und freue mich, Sie endlich kennenzulernen.« Der Wirt sah wohl, daß er störte, schloß die weiteren Türen auf und zog sich zurück. Wir machten uns bekannt. Mit Shao und Suko sprach Karin Becker englisch. Das Eis war sofort gebrochen. Ich kannte Karin Becker. Deshalb kam ich auch zum Schluß an die Reihe. »Hallo, John, wie geht es Ihnen?« »Gestern ging’s noch.« Für diese Antwort kassierte ich von Jane
Collins einen Rippenstoß, und Will Mallmann mußte grinsen. Er kannte mich inzwischen gut genug. Wir plauderten fünf Minuten auf dem Flur. Alle redeten durcheinander. Sheila war es schließlich leid. »Kommt Kinder, wir müssen uns umziehen.« Auch Karin Becker hatte sich noch nicht umgezogen. Rasch verschwanden wir in unseren Zimmern. Ich wuchtete die zwei Koffer in den Raum und legte sie auf den Tisch. Das Zimmer war gemütlich eingerichtet. Das Doppelbett mit den hohen Federbetten lud direkt zum Schlafen ein. Der Schrank war bemalt, der Teppichboden dick und flauschig, und die beiden Stofflampen über dem Bett und der rustikalen Sitzecke paßten haargenau zu der Einrichtung. Ein kleiner Balkon führte nach draußen, eine schmale Tür zur Dusche und Toilette. Man konnte es aushalten. Jane Collins packte schon den Koffer aus, während ich eine Zigarette rauchte. »Wie gefällt sie dir?« fragte ich. »Karin Becker? Gut, John.« Sie drehte sich zu mir herum und nickte bekräftigend. »Ehrlich. Ich glaube, Will hat da eine ausgezeichnete Wahl getroffen.« Ich nickte. »Das meine ich auch.« »Am besten ziehst du dich erst um«, schlug Jane Collins vor. »Dann habe ich hinterher etwas Zeit.« »Mir egal.« Jane deutete auf die schmale Tür. »Du kannst schon duschen. Ich lege dir inzwischen deine Sachen heraus.« »Wie eine alte Ehefrau«, spaßte ich. »Alte habe ich überhört.« Ich stand schon an der Tür. »War ja auch nur ein Vergleich.« Das
Bad war klein. Die Kacheln schimmerten grün. Alles blitzte vor Sauberkeit. Bevor ich mich auszog, reichte Jane mir noch frische Unterwäsche und meinen Bademantel durch den Türspalt. »Doch wie eine Ehefrau«, wiederholte ich. »Sei ruhig.« Ich schloß die Tür, duschte und jagte mir durch die Wasserstrahlen den letzten Rest an Müdigkeit aus dem Körper. Danach zog ich frische Wäsche an, schlüpfte in den Bademantel und verließ die Dusche. Jane hatte sich auch schon ausgezogen und ihre phantastische Figur in einen Hausmantel gehüllt, den ein Gürtel in der Taillenhöhe zusammenhielt. Die blonde Detektivin stand am Fenster und schaute nach draußen. Ich rubbelte mir noch den nassen Kopf ab. »Du kannst, Jane«, sagte ich. »John, schnell, komm her!« Mit drei Schritten war ich bei ihr, legte ihr meine Hand auf die Schulter und spürte unter dem dünnen Stoff die warme Haut. »Was ist denn?« »Siehst du die Wolke da?« »Wo?« »Über dem Tal. Aus der Richtung sind wir doch gekommen.« Ich drehte den Kopf ein wenig nach links und schaute genauer hin. Jetzt sah ich es auch. Eine Wolke schwebte in der sonst klaren Luft. Kein Nebelstreif, sondern eine regelrechte Wolke, an der ich jedoch nichts Besonderes feststellen konnte. »Ich sehe sie«, erklärte ich, »mehr aber auch nicht.« »Hast du auch genau hingeschaut?« »Ja.« »Okay.« Jane Collins duckte sich und tauchte aus meinem Griff.
»Vielleicht habe ich mich auch geirrt.« »Wieso? Was geht hier eigentlich vor? Was willst du denn gesehen haben?« »Ich glaubte, in der Wolke die Umrisse eines Omnibusses gesehen zu haben. Aber eines kleinen Fahrzeugs.« Sie lächelte hölzern. »Seit wann können Omnibusse fliegen?« »Sie haben es mit den Hunden gelernt«, erwiderte ich und hatte Mühe, ernst zu bleiben. »Weißt du was, John?« sagte Jane und ging schon auf die Tür zum Bad zu. »Nein.« »Dir fehlt die sittliche Reife«, belehrte sie mich, sprach’s, knallte die Tür hinter sich zu und ließ mich stehen. Fliegende Busse! Jane hatte wirklich Nerven. Wahrscheinlich war sie übermüdet und überreizt. Kein Wunder, bei dem verdammten Alltagsstreß. An Dämonen oder finstere Mächte dachte ich in dem Zusammenhang überhaupt nicht. Und das war mein Fehler …
* Jutta Mehnert glaubte zu träumen. Der Bus schwebte tatsächlich in die Höhe. Sanft und sachte, als hätte der Unheimliche Angst, irgendeinen der Fahrgäste zu verletzen. Höher glitt er, immer höher, dabei war er eingehüllt in eine dichte Nebelwolke. Die junge Lehrerin atmete schwer. Sie spürte ihr Herz oben im Hals klopfen, sie zitterte, sie wußte nicht mehr weiter, denn so etwas durfte es nicht geben. Und doch war es eine Tatsache. Ihre Blicke glitten durch den Bus. Sie sah die ältere Kollegin, die immer noch auf dem Sitz lag und ihre Hand gegen das Herz gepreßt
hielt. Elfriede Kirst atmete jetzt ruhiger. Die Tropfen schienen geholfen zu haben. Weiter glitt der Bus. Lautlos wie ein Segelflugzeug. Jutta schaute nach draußen, aber der Nebel nahm ihr die Sicht. Dann aber tauchte die Skelettfratze auf. Sie sah den grinsenden schwarzen Totenschädel mit den hellen Augen, und die Angst wurde größer. Die Horror-Gestalt begleitete sie auf ihrem Flug. Aber wohin? Welches Ziel hatte der Bus, der allen Naturgesetzen trotzte und davonflog? Die einzigen, die keine Angst zu haben schienen, waren die Kinder. Für sie mußte es so etwas wie ein Abenteuer sein, denn niemand von ihnen schrie oder weinte. Die Kleinen saßen mit staunendem Gesichtsausdruck auf ihren Plätzen und schauten sich um. Sie wagten nicht einmal zu sprechen, so sehr hatten die Ereignisse sie in ihren Bann gezogen. Auch Jutta setzte sich jetzt. Sie nahm vor ihrer Kollegin Platz. Dabei drehte sie sich so, daß sie über die Grifflehne schauen konnte und Elfriede Kirst ansah. Die ältere Kollegin öffnete die Augen. Sie sah bedauernswert aus. Blaß das Gesicht, so blaß, als würde kein Blut mehr durch ihre Adern fließen. Das sonst streng zurückgekämmte Haar hatte sich gelöst. Der Knoten hielt zwar noch, war aber unordentlich gesteckt Elfriede Kirst öffnete die Augen. Sie schaute Jutta an. Die junge Lehrerin lächelte. »Was ist eigentlich geschehen?« erkundigte sich Elfriede Kirst flüsternd. Jutta überlegte sich die Antwort. Dann sagte sie: »Wir sind entführt worden und schweben jetzt in der Luft, von einer Nebelwolke umgeben.« »Das gibt’s doch nicht.«
»Doch.« Elfriede Kirst wollte sich aufrichten, doch Jutta faßte ihre Schultern, drückte sie zurück. »Nein, Sie müssen liegen bleiben, Frau Kirst. Es ist besser für Sie. Denken Sie an Ihr Herz.« »Ja, ja« »Fliegen wir jetzt nach Hause?« Die Stimme der kleinen Uschi unterbrach die Stille. Jutta Mehnert fühlte sich angesprochen. »Nein, wir fahren noch nicht nach Hause.« Sie sagte bewußt nicht fliegen, doch die Kinder hatten die Wahrheit längst erkannt. »Wir fliegen doch, Fräulein Mehnert.« Sie riefen alle durcheinander. Die meisten freuten sich, sprangen jetzt auf und preßten ihre Gesichter gegen die Scheiben. Viele sahen die Fratze des Schwarzen Todes. Das war für die Kinder ein Schock. Zwei Mädchen begannen zu weinen, duckten sich zusammen und preßten ihre Köpfe gegen die Polster. Nur ein Junge war mutig. Er sagte: »Wie in Star Wars. Toll …« Das fand Jutta nicht. Sie verließ ihren Platz und wandte sich den weinenden Kindern zu, um ihnen tröstend die Hand auf die Schulter zu legen. »Wir haben keine Angst, Fräulein Mehnert«, behauptete einer der Jungen. Jutta lächelte. »Ich weiß.« Dann vernahm sie das Klopfen. Hastig hob Jutta den Kopf. Sie sah den gekrümmten Finger des Schwarzen Tods, der gegen die Scheibe klopfte, und sie sah das häßliche Grinsen der Horror-Gestalt. Kalt lief es ihr den Rücken hinunter. Die Kinder waren wieder verstummt. Aber alle hatten das Klopfen gehört. Dann zersplitterte die Scheibe. Die Scherben regneten nach innen. Zwei Schulkinder sprangen auf
und starrten mit angstgeweiteten Augen auf die Knochenhand, die sich in den Bus schob. Ein schauriges Lachen folgte, das in den Ohren der Businsassen dröhnte. Dann die Stimme. »Sterben!« hallte sie. »Ihr werdet sterben. Alle. Keiner wird es überleben, denn ich, der Schwarze Tod, habe es beschlossen!« Wieder folgte das Lachen, das Erwachsenen wie auch Kindern eine gräßliche Angst einjagte. Jutta Mehnert glaubte diesem Unhold aufs Wort. Sie hatte gesehen, wie er den Busfahrer tötete. Und ebenso brutal würde er auch gegen sie vorgehen. Davon war sie fest überzeugt. Und wie von selbst fanden sich ihre Hände zum Gebet …
* Wir waren fertig. Das heißt, umgezogen. Ich konnte meine Bewunderung nicht unterdrücken, denn Jane Collins sah phantastisch aus. Sie trug ein langes, rotviolett schimmerndes Kleid, das auf Figur gearbeitet worden war. Der Stoff war hauchdünn, aber sehr fest. Bei jeder Körperdrehung bewegte er sich mit. »Gefalle ich dir?« fragte sie kokett. »Und wie.« Meine Stimme klang rauh. Das blonde Haar fiel Jane auf die nackten Schultern. Das Kleid wurde nur von zwei dünnen Trägern gehalten. Ich trug einen dunkelblauen Smoking. Meine Seidenfliege wurde mir zu eng. Ich mußte schlucken. »Reiß dich zusammen«, sagte Jane. »Ja, ja.« Ich räusperte mich. »Weißt du, was ich jetzt am liebsten
machen würde …?« »Ich kann es mir denken. Wenn die Feier vorbei ist und du noch genügend Kondition hast …« Es klopfte, und Jane kam nicht mehr dazu, weiterzusprechen. »Come in«, rief ich. Bill Conolly streckte seinen Kopf durch den Türspalt. »Na, ihr beiden Turteltauben. Fertig?« »Und wie«, grinste ich. Jane nahm ihre kleine Tasche und ging an mir vorbei. Bill öffnete der Detektivin galant die Tür. »Madam«, sagte er. »Danke.« Ich blieb noch zurück. Mein Blick fiel auf den Spezialkoffer. Darin lag auch die Beretta. Sollte ich die Waffen einstecken? Ich zögerte. In der Kirche Waffen zu tragen kam mir deplaziert vor. Außerdem – wer sollte uns angreifen? Einen neuen Fall hatte ich nicht übernommen, und außerdem haben Dämonen eine panische Angst vor einem Gotteshaus. Also verzichtete ich auf die Waffen. Nur mein silbernes Kreuz trug ich nach wie vor bei mir. »John, komm doch!« Jane war bereits ungeduldig. Sonst ist sie immer die letzte. Ich ging und schloß die Tür ab. Jane, Sheila und Bill warteten auf dem Flur. Sheila stand Jane in puncto Aussehen in nichts nach. Die Damen hatten sich noch Stolen über die Schultern gehängt. Sheila trug ein langes, grün schillerndes Seidenkleid, und Shao, die soeben ihr Zimmer verließ, ein cremefarbenes. Es kontrastierte ausgezeichnet zu ihren lackschwarzen langen Haaren. Suko konnte wirklich stolz sein. Als ich sein Gesicht sah, mußte ich lachen. Der Chinese fühlte sich in seinem Smoking so wohl wie ein Pinguin am Äquator. Er zog ein saures Gesicht.
Von dem Hochzeitspaar war noch nichts zu sehen. Es würde später kommen. Wir aber wollten schon nach unten gehen. Paarweise schritten wir die Treppe hinab. Es war schon jetzt richtig feierlich. Ich hatte Janes Arm genommen. Am Ende der Treppe empfing uns der Wirt. Er stellte uns seine Frau vor, lächelte und reichte einen Drink auf Kosten des Hauses. Sekt mit Orangensaft. Sogar Suko leerte sein Glas. Dann gingen wir nach draußen. Das Stimmengewirr hörten wir schon, bevor wir einen Schritt durch die Außentür gesetzt hatten. Es waren inzwischen zahlreiche Gäste eingetroffen. Der Parkplatz hatte sich gefüllt. Vor allen Dingen hatten es sich Wills Kollegen nicht nehmen lassen, ihren Spezi bei seiner Hochzeit zu begleiten. Ich zählte fünf Männer und eine Frau. Sie standen zusammen, erzählten und lachten. Zwei Reisebusse sah ich ebenfalls auf dem Parkplatz, doch mit ihnen waren keine Hochzeitsgäste gekommen, sondern Mitglieder einer Kegeltour. Ein dunkelhaariger Mann in meinem Alter trat auf Jane und mich zu. »Sie sind bestimmt John Sinclair«, sagte er. »Ja.« Er streckte die Hand aus. »Mein Name ist Frank Platten. Ich bin ein Kollege von Will. Er hat mir Sie so gut beschrieben, daß ich Sie sofort erkannt habe.« Ich machte auch Jane bekannt, und Wills übrige Kollegen traten ebenfalls zu uns. Es begann das große Händeschütteln. Die Namen konnte ich gar nicht behalten, und bevor wir uns versahen, hatte die Fachsimpelei schon begonnen. Na ja, wir waren eben alle Polizisten. Dann wurde unser Gespräch unterbrochen. Die Hochzeitskutsche rollte heran. Sie wurde von zwei Schimmeln gezogen und hatte ein nach hinten aufgeklapptes Verdeck. Der Mann auf dem Kutschbock
trug einen grauen Anzug und einen Zylinder in der gleichen Farbe. Er ließ einmal seine Peitsche knallen, und die Pferde drehten ihre Ehrenrunde. Vor dem Schloß-Eck wurden sie dann gezügelt. Die Tiere stampften ein paarmal mit den Hufen auf und schnaubten. Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Eigentlich müßte es losgehen«, sagte ich. »In einer halben Stunde soll die Trauung beginnen.« Jane drückte meinen Arm. »Da kommen Sie!« Ich drehte mich um und schaute zum Eingang. Zwei von Wills Kollegen rissen ihre Fotoapparate hoch und knipsten. Das Motiv war in der Tat bemerkenswert. Karin Becker und Will Mallmann gaben ein – wie der Volksmund sagt – schönes Paar ab. Karin sah bezaubernd aus. Das lange Brautkleid bestand aus blütenweißem Satinstoff, der am Ausschnitt und an den Ärmeln mit Seidenspitze abgesetzt war. In der linken Hand trug sie einen prächtigen Blumenstrauß aus Herbstblumen. Das lange, dunkle Haar war zu Locken gedreht und fiel an beiden Seiten des Kopfes bis auf die Schultern. Will Mallmann schritt neben ihr her wie ein König. Der Kommissar strahlte von Kopf bis Fuß. Will trug keinen Smoking wie wir, sondern einen Cut. Die schwarze Jacke teilte sich am Rücken zu einem Schwalbenschwanz. Will hielt seinen Zylinder in der Hand. Die dunkelgraue Hose mit den feinen Nadelstreifen war messerscharf gebügelt, und im Revers des Kommissars steckte eine weiße Nelke. Will Mallmann war Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Die Gäste schauten nur auf das Paar, und alle hatten den gleichen Gedanken. Sie klatschten. Auch wir. Jane stand neben mir und strahlte. Sheila hatte sich gegen ihren Bill gedrückt. Ich sah, wie sie sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln wischte. Über Shaos und Sukos Gesichter glitt ein nimmermüde werdendes
Lächeln. Als die Brautleute nun zur Kutsche schritten, deren Tür vom Fahrer galant offengehalten wurde, bildeten wir automatisch ein Spalier, durch das die beiden schritten. Karin Becker und Will Mallmann nahmen den Beifall lächelnd zur Kenntnis. Beide waren sogar etwas rot geworden. Sie flüsterten miteinander. Ich hörte zufällig einige Worte, als sie sich mit mir auf gleicher Höhe befanden. Karin Becker sagte: »Ich wundere mich, daß die Kinder und meine beiden Kolleginnen nicht hier sind.« »Vielleicht ist der Bus im Stau steckengeblieben«, erwiderte Will Mallmann ebenso leise. »Kann sein.« Dann waren die beiden vorbei und stiegen in die Kutsche, wobei Will seiner Braut galant die Hand reichte. Bei mir im Gedächtnis klickte etwas. Kinder – Lehrerin – Bus. Hatte Jane nicht von einem fliegenden Bus geredet inmitten einer Wolke? Ich warf ihr einen schnellen Blick zu. Jane hatte die Worte der Braut wohl nicht vernommen, ihre Blicke waren nur auf das Hochzeitspaar gerichtet. Ich verscheuchte die trüben Gedanken wieder, doch ein unangenehmes Gefühl blieb zurück.
* Jutta Mehnert wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Als sie auf die Uhr blickte, stellte sie fest, daß sich die Zeiger nicht von der Stelle rührten. Die Uhr war stehengeblieben. Jutta dachte nicht darüber nach, warum und wieso, sie wußte nichts von der Magie, die der Schwarze Tod beherrschte, und womit er sogar die Zeit lenken konnte. Für die junge Lehrerin war nur eins
auf der Welt wichtig. Raus aus dem Bus! Doch das war leichter gesagt als getan. Vorerst hingen sie in diesem Fahrzeug fest und wurden von einem Unhold bewacht. Die Kinder hatte sich erstaunlich gut auf die neue Situation eingestellt. Für sie hatte diese Fahrt den ersten Schrecken verloren, und sie gewöhnten sich daran. Sie schauten aus dem Fenster, obwohl sie nur in die Nebelwolke sahen. Aber wenn das schwarze Skelett auftauchte, dann zuckten sie jedesmal zurück. Der Bus bewegte sich auch nicht mehr weiter, sondern er stand. Mitten in der Luft, über dem Erdboden schwebend, auf einer Nebelwolke. Das war alles so irreal, daß Jutta Mehnert überhaupt nicht richtig fassen konnte, was mit ihnen geschehen war. Sie wurde sich der Tragweite dieser Entführung nicht bewußt. Die Lehrerin dachte nur an den Augenblick. Besorgt beobachtete sie Elfriede Kirst, ihre ältere Kollegin. Frau Kirst hatte sich wieder einigermaßen gefangen. Die Herzbeschwerden hatten nachgelassen, zudem bekam sie wieder etwas besser Luft. Jutta Mehnert hatte sich neben sie gesetzt und deckte sie mit ihrem Körper zum Fenster hin ab, wo sich das Skelett herumtrieb. »Was ist eigentlich geschehen?« flüsterte Elfriede Kirst. »Ich weiß es nicht.« »Aber wir sind doch nicht mehr auf der Straße, nicht wahr?« Jutta beantwortete die Frage mit einem Nicken. »Wo dann?« Elfriede Kirst ließ nicht locker. »Wenn ich Ihnen das sage, Frau Kirst, glauben Sie es mir sowieso nicht.« Die ältere Frau faßte nach Juttas Hand. »Ich will es aber wissen. Sie müssen es mir sagen, denn ich erfahre es früher oder später ja doch.« Da hatte sie recht, und Jutta zögerte auch nicht länger, sondern
gab eine Antwort. »Wir schweben in der Luft.« »Nein!« Fassungslos schaute Elfriede Kirst ihre jüngere Kollegin an. »Das – das darf doch nicht wahr sein.« »Doch, es ist leider wahr.« »Mein Gott – wie – wie schrecklich.« Elfriede Kirst schaute sich um. »Die – die Kinder – Was ist denn mit ihnen geschehen?« »Sie sind alle okay.« »Dem Himmel sei Dank!« Jutta lächelte beruhigend, obwohl es ihr schwerfiel. »Bitte, Frau Kirst, Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen. Am besten ist es, Sie versuchen ein wenig zu schlafen.« Das Lachen der Lehrerin klang schrill. »Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann doch nicht schlafen. Nicht jetzt …« Jutta schwieg. Sie senkte den Kopf. Was sollte sie der Kollegin darauf antworten? »Womit haben wir das nur verdient?« flüsterte Elfriede Kirst. »Was haben wir nur getan?« »Vielleicht sind wir nur Teil eines grausamen Spiels«, vermutete Jutta Mehnert und ahnte nicht, wie nahe sie damit der Wahrheit kam. »Aber welches Spiels?« »Das weiß ich auch nicht.« »Ich begreife nichts. Ich …« Ein Kind meldete sich, und die Lehrerin verstummte. Es war die kleine Heidi, ein braunhaariger Lockenkopf mit großen Kulleraugen. »Ich will zu meiner Mami«, schluchzte sie und kam weinend angelaufen. Jutta nahm sie in die Arme und strich ihr tröstend über das Haar. Peter, ein Junge, lachte. »Du bist vielleicht eine Heulsuse. Das ist doch ein richtiges Abenteuer.« »Sei ruhig, Peter!« fuhr Jutta den Jungen an, und der Kleine verstummte.
Langsam beruhigte sich Heidi wieder. Sie hatte plötzlich Hunger und erhielt aus der mitgenommenen Reisetasche einen Apfel. Dirk, der dunkelhaarige Schüler, hielt es auf seinem Platz nicht mehr aus und schlich zur Tür. Er hatte die Hand schon auf dem Griff liegen, und Jutta merkte nichts. Bis die kleine Uschi rief- »Der Dirk will aussteigen!« Da spritzte Jutta Mehnert in die Höhe. Aber es war schon zu spät. Dirk hatte die Tür bereits geöffnet. Plötzlich huschte ein Schatten über den Bus. Und im nächsten Moment stand er vor der Tür, die Dirk aufgezogen hatte. Sofort hob er seine Sense, die einen blutigen Halbkreis zeichnete. Dirk schrie. Instinktiv wich er zurück, und das war sein Glück, denn der Schwarze Tod hätte kein Erbarmen gekannt. Dann war auch Jutta Mehnert da. Sie riß den Jungen am Arm zurück, während die Knochenhand des Schwarzen Todes die Tür wieder ins Schloß warf. Die junge Lehrerin packte den Jungen und deckte ihn mit ihrem eigenen Körper, während sie ihn hinein in den Mittelgang zog. »Das darfst du nie mehr tun, hörst du?« wandte sie sich an Dirk, blieb stehen und ging dabei in die Knie. Das Kind nickte. Plötzlich schimmerten Tränen in seinen Augen. Jutta drückte Dirk an sich. Die anderen Schüler und Schülerinnen standen um die beiden herum. Dann setzten sich wieder alle auf ihre Plätze. Die Stimmung wurde gedrückter. Selbst die Kinder empfanden diese Fahrt nun nicht mehr als Abenteuer, sondern als eine Strapaze. Nach wie vor umschwebte der Schwarze Tod den Bus. Er blieb jetzt nicht mehr auf einer Seite. Wer dem Fenster zu nahe kam, dem drohte er mit seiner Sense. Die Lehrerinnen wurden nervöser. Vor allen Dingen Elfriede Kirst. Sie hatte den Schwarzen Tod jetzt mehrere Male von nahem gesehen und war so erschrocken, daß sie wieder Herztropfen nehmen muß-
te. Jutta flößte ihr die Medizin ein. Und noch immer warteten sie. Doch plötzlich setzte sich der Bus in Bewegung. Dies geschah von einem Augenblick zum anderen und praktisch ohne Übergang. Der Reisebus fiel nach unten, so daß die Insassen das Gefühl hatten, in einem Fahrstuhl zu sitzen. Unwillkürlich klammerten sie sich fest, aber aufhalten oder steuern konnten sie das Gefährt sowieso nicht. Wann hatte die Fahrt ein Ende? Obwohl sie durch die Fenster schauten, erkannten sie nichts. Der Nebel verdeckte alles. Der Bus setzte auf. Wieder rechnete niemand damit. Unter dem Boden knirschte etwas, das Fahrzeug federte noch nach, dann stand es still. Niemand wagte zu sprechen. Ängstlich schauten sich die Insassen in die Augen. Langsam verschwand der Nebel. Er löste sich auf, als würde jemand mit einem unsichtbaren Quirl darin herumrühren. Die Sicht wurde frei. Kinder und Lehrerinnen schauten nach draußen. Jeder von ihnen sah das gleiche. Sie waren vor einem Gasthaus gelandet. Jutta Mehnert konnte auch den Namen lesen: Schloß-Eck!
* Die Kapelle lag neben dem Westflügel des Schlosses. Sie war ebenso alt wie das Gebäude selbst. Ein schmaler Weg führte zu einem Arkadengang hoch, dessen Decke von runden Bögen gestützt wurde. Dicke Säulen bildeten die seitliche Begrenzung. Durch die Zwischenräume fiel der Blick auf die Mauern der alten Burg.
Die Kutsche fuhr auf den Hof. Wir hatten uns in mehrere Wagen verteilt. Wills Arbeitskollegen hatten für die fahrbaren Untersätze gesorgt. Im Schloßhof gab es Parkraum genug. Das Brautpaar ließ uns erst aussteigen, bevor es selbst die Kutsche verließ. Hier oben merkte man den Wind. Er fuhr durch die Kronen der Platanen und schüttelte Blätter zu Boden. Sie segelten wie riesige Schneeflocken auf den Grund des Hofes. Orgelmusik drang aus der offenstehenden Kirchentür. Das Portal war mit zahlreichen Motiven aus der christlichen Lehre verziert, und der Priester wartete davor. Er war ein älterer Mann mit einem weißen Haarkranz, gütigen Augen und einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen. Will und Karin schritten auf ihn zu. Der Pfarrer begrüßte beide mit einem herzlichen Händedruck. Wir nahmen inzwischen Aufstellung. Direkt hinter dem Brautpaar schritten Jane und ich. Bill folgte mit Sheila, dann kamen Shao und Suko. Den Schluß bildeten Wills Arbeitskollegen. Von Karin Beckers Seite war niemand erschienen. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, daß der Bus mit den Kindern hier oben warten würde, aber das war nicht der Fall. Hoffentlich war ihnen nichts geschehen. An die Wahrheit dachte ich nicht im Traum. Wir betraten die Kirche. Unsere Schritte waren gemessen, wie es den Anforderungen dieser einmaligen Stunde entsprach. Als Karin Becker und Will Mallmann die Kirche betreten hatten, wechselte der Organist sein Spiel. Plötzlich drangen Wagnerklänge in unsere Ohren. »Treulich geführt, ziehet dahin …« Es war wirklich ein feierlicher Augenblick, eine Hochzeit wie aus
dem Bilderbuch. Jane hatte sich bei mir eingehakt. Ich spürte ihre Hand auf der meinen und merkte, daß ein Schauer ihre Haut überzog. Ein wenig mußte ich lächeln. Jane Collins, eine Privatdetektivin, mit allen Wassern gewaschen, hatte Tränen in den Augen, als sie diese Musik hörte und an den Augenblick der Trauung dachte. Wir schritten vor bis zum Altar. Er war prächtig anzusehen. Meiner Schätzung nach mußte er aus dem späten Mittelalter stammen. Er bestand aus drei Teilen. Die beiden äußeren bogen sich leicht nach innen. Der Mittelteil wurde von einer vergoldeten Christusfigur beherrscht, die im Licht der Kerzen funkelte und gleißte. Blumen schmückten den Altar, und der Geruch von Weihrauch kitzelte meine Nase. Es war eine katholische Trauung, und die beiden Brautleute mußten bis zum Altar vorschreiten, wo extra für sie eine Bank bereitstand. Zwei Meßdiener assistierten dem Priester. Der Organist hatte sein Spiel eingestellt. Es wurde ruhig. Noch ein letztes Hüsteln, ein Räuspern, dann Stille. Wir standen in der ersten Reihe. Jane, Sheila, Shao, Suko, Bill und ich. Arm an Arm standen wir dort und erinnerten in unserer Bewegungslosigkeit an Denkmäler. Es war selten, daß wir alle beieinander sein konnten. An diesem Tag war solch ein Augenblick, und ich spürte förmlich das unsichtbare Band, das uns zusammenhielt. Diese Menschen waren meine Freunde, auf die ich mich hundertprozentig verlassen konnte, wenn Not am Mann war. So etwas fand man wirklich nicht oft. Und ein weiterer Freund heiratete. In der Tat hatte sich Will Mallmann im Laufe der Zeit zu einem wahren Freund entwickelt. Er stand auf unserer Seite, und auch er wußte, welche Gefahren der
Menschheit aus einer anderen Welt drohten. Trotzdem hatte Will Mallmann seine Menschlichkeit bewahrt, und das schätzte ich so sehr an ihm. Er war kein Sprücheklopfer, eher ein in sich gekehrter Mensch, doch was er sagte, das hatte Hand und Fuß. Ich hoffte für ihn, daß er die richtige Frau gefunden hatte, und nicht nur ich drückte ihm beide Daumen, sondern wir alle. Der Priester hielt eine kurze Ansprache. Er redete über das Sakrament der Ehe, über die Treue in guten und schlechten Zeiten. Er sprach über Werte, die für viele Menschen null und nichtig waren, die jedoch die Zeiten überdauert hatten. Ich spürte, wie Jane Collins meinen Arm drückte, und konnte mir vorstellen, was sie dachte. Natürlich hatten auch wir beide schon über eine Heirat gesprochen, aber wir wollten uns nicht gegenseitig die Selbständigkeit nehmen. Jane war durch ihren Beruf viel unterwegs – ich ebenfalls. Und eine Feierabendehe ist für die Dauer nichts. Um so mehr freuten wir uns, wenn wir uns trafen. Oft auch beruflich. Hinter uns in der Reihe standen Wills Kollegen. Ich warf einen raschen Blick über die Schulter und schaute nach, ob die Kinder vielleicht nicht doch noch kamen. Mein Blick traf nur das verschlossene Portal. Innerhalb der Kapelle brannten nur Kerzen. Die Ecken und Winkel verschwammen im Dämmerlicht. Der Steinboden glänzte wie frisch poliert. Der Priester nahm jetzt die Trauung vor. Karin Becker und Will Mallmann wechselten die Ringe. Sheila Conolly holte ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. Auch Janes Augen waren feucht. Will Mallmann stand leicht gebeugt, Karin Becker rechts neben ihm. Er schob seiner Frau den Ring über den Finger. Jetzt war Karin an der Reihe. Danach legten sie die Hände zusammen, und der Pfarrer segnete
den heiligen Bund der Ehe. Von diesem Augenblick an war Kommissar Will Mallmann verheiratet! Von meinem Platz aus sah ich, wie Will tief durchatmete. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich über die Augen. Auch ihn hatte diese Trauung mitgenommen. Der Priester lächelte. Er wünschte den beiden noch recht viel Glück und Gottes Segen für ihre Ehe und schüttelte ihnen die Hände. Die Formalitäten sollten später erledigt werden. Die Orgelmusik setzte wieder ein. Fröhliche Klänge, der Hochzeitsmarsch aus. »Ein Sommernachtstraum«. Wir warteten, bis die beiden Mallmanns sich gedreht hatten, um an den Bänken vorbei wieder zurückzugehen. Karin hielt dabei den Kopf etwas gesenkt. Vielleicht sollte niemand ihre Tränen sehen. Will ging aufrecht. Er war stolz auf seine Frau und zeigte dies auch. Das Lächeln lag wie festgefroren auf seinem Gesicht. Als sich unsere Blicke trafen, kniff er mir ein Auge zu. Ich blinzelte zurück. Alles klar, wir verstanden uns. Die beiden Mallmanns schritten als erste, dann folgten Jane Collins und ich. Die anderen hatten sich ebenso aufgeteilt wie auch schon beim Einmarsch in die Kirche. Der Organist hatte wohl besonders viel Trinkgeld erhalten, denn er spielte, daß es ein Genuß war, der Musik zuzuhören. Gemessen schritten wir dem Ausgang entgegen. Lächelnd die Gesichter. Manche Frauen hatten verweinte Augen, aber das gehörte eben dazu. Die beiden Meßdiener hielten das Portal auf. Karin und Will nickten ihnen zu, als sie an den Jungen vorbeischritten. Ich dachte darüber nach, wie schnell doch alles ging. Vor kurzem erst hatte Will Mallmann die Frau kennengelernt, jetzt
war er schon mit ihr verheiratet. Die Zeit verrann. Für mich war sie manchmal ein Zug, der immer schneller fuhr, von dem man aber nicht abspringen konnte. Solche Gedanken kommen einem wohl automatisch, wenn man nachdenkt. Hinter dem frisch vermählten Ehepaar verließen Jane Collins und ich die Kirche. Tageslicht fiel von rechts an den Säulen vorbei und traf uns. Wir befanden uns wieder innerhalb des Arkadengangs mit der gewölbten Decke. Ziemlich hoch schwebte sie über unseren Köpfen. Der Wind fuhr durch die Zwischenräume und strich über Janes Schultern. Trotz der Stola fror sie. »Warum ist es auf einmal so kalt?« flüsterte die Privatdetektivin. Ich nickte. Auch ich hatte die Kühle gespürt, jedoch nicht weiter darauf geachtet. Ich hätte mich lieber mehr damit beschäftigen sollen. So aber schritten wir weiter. Meter für Meter legten wir zurück und näherten uns einem grausamen Schicksal. Nichts warnte uns, nichts deutete die Gefahr an, aber plötzlich war sie da. Ich sah noch die huschende Bewegung über uns, schrie eine Warnung, aber es war schon zu spät. Von oben kam ein Skelett. Es flog auf uns zu und hielt eine Sense in den Händen. Schreie, Panik. Und die nächsten Sekunden liefen vor meinen Augen wie ein grausamer Zeitlupenfilm ab, in dem mein Erzfeind, der Schwarze Tod, die Hauptrolle spielte …
* Erich Gehrmann, der Wirt, traute seinen Augen nicht. Plötzlich stand ein Bus vor seinem Gasthof.
Er hatte ihn nicht kommen hören, kein Motorengebrumm vernommen – nichts. Es schien, als wäre der Bus direkt vom Himmel gefallen. Dabei ahnte Gehrmann nicht, wie nahe er mit seiner Vermutung der Wahrheit kam. Er rief seine Frau. »Gisela! Komm doch mal her. Schnell.« »Ja doch.« Frau Gehrmann tauchte im Türrahmen auf und blieb abrupt stehen. »Wo kommt denn der Bus her?« sagte sie. »Das wollte ich ja von dir wissen«, erwiderte der Wirt. »Ich weiß nichts.« »Das verstehe, wer will«, murmelte Gehrmann und schritt auf das Gefährt zu. Bis auf den Bus war der Hof leer. Die Kegelbrüder hatten eine Wanderung unternommen, die Hochzeitsgäste befanden sich noch in der Kirche, und das Personal arbeitete im Haus. Es war die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Die Sonnenstrahlen fielen schräg auf den Platz und trafen die Scheiben des Busses. Sie blendeten so sehr, daß der Wirt erst etwas erkennen konnte, als er näher herankam. Erich Gehrmann sah die Kinder. Und die beiden Lehrerinnen. Er wunderte sich sehr, daß niemand ausstieg, und trat bis dicht an die Fahrertür. Die Insassen waren von ihren Sitzen hochgesprungen und gestikulierten mit den Händen. Diesen Gesten entnahm der Wirt, daß er verschwinden sollte. Er sah auch die angsterfüllten Gesichter, aber einen Reim konnte er sich immer noch nicht darauf machen. Warum stieg niemand aus? Vor der Tür blieb er stehen und reckte sich auf die Zehenspitzen. »He, warum steigt ihr nicht aus?« rief er. »Los, es wird Zeit. Die
Hochzeit hat schon begonnen.« Kopfschütteln. Hastige Gesten. Weg, weg, sollten sie bedeuten. Erich Gehrmann verstand nichts. Seine Frau jedoch ahnte etwas. »Erich, bitte, komm zurück!« »Ach, Unsinn.« Der Wirt streckte seine Hand aus und legte sie auf den Türgriff. Da geschah es. Plötzlich hatte Erich Gehrmann das Gefühl, von einem elektrischen Schlag getroffen zu werden. Er spürte den Schmerz, der explosionsartig durch seinen Körper raste und ihn regelrecht durchschüttelte. Gehrmann schrie. Instinktiv riß er die Hand zurück, wankte nach hinten und stand kurz vor dem Zusammenbruch. Wie tot hing sein rechter Arm am Körper herab. Er konnte ihn nicht mehr bewegen, biß die Zähne zusammen, versuchte es, doch ohne Erfolg. Erich Gehrmann schaffte es nicht, seinen Arm zu heben. Seine Frau hatte alles mit ansehen müssen. Sie war geschockt, riß die Hände vor ihr Gesicht und schaute durch die gespreizten Finger auf ihren Mann. Beide konnten nicht wissen, daß der Schwarze Tod die Falle gestellt hatte. Der Bus war durch eine magische Sperre verriegelt worden, denn der Dämon hatte mit ihm noch etwas vor. Erich Gehrmann war als erster in die Falle getappt. Sein Blick glitt nach rechts. Er sah seinen eigenen Arm, und plötzlich weiteten sich seine Augen in unvorstellbarem Schrecken. Der Arm veränderte sich. Er verfaulte! An den Fingern fing es an. Die Haut zog sich zusammen, die Nägel bröckelten ab, und die Finger verdorrten. Aus ihnen wurden dunkelbraune Stümpfe. Es sah so aus, als würde dem Körper jegliches Wasser entzogen.
Erich Gehrmann stöhnte auf. Er wollte nicht glauben, was er mit eigenen Augen sah, und schlug die linke Hand vors Gesicht. Doch der Auflösungsprozeß schritt weiter fort. Jetzt war der Unterarm an der Reihe. Er nahm eine braune Farbe an, die Haut knisterte wie Papier, das man zusammenreibt, der Arm schrumpfte, und die Haut fiel plötzlich ab wie welkes Herbstlaub. Gisela Gehrmann hatte mit schockgeweiteten Augen diesen unheimlichen Vorgang mit angesehen. Dann hielt sie es nicht länger aus. Es brach förmlich aus ihr hervor. »Erich!« gellte ihre Stimme. »Erich …« Sie rannte auf ihren Mann zu, und ihr panischer Schreckensruf erreichte auch die Ohren des Personals. Die Menschen im Innern des Gasthauses standen wie erstarrt. Dann aber kam Bewegung in sie. Sie rannten nach draußen und blieben wie durch eine Wand gestoppt stehen. Was sie sahen, war so grausam und schlimm, daß sie ihren eigenen Augen nicht trauten. Erich Gehrmann verlor einen Arm. Er faulte regelrecht ab. Zurück blieb ein Stumpf. Gisela Gehrmann stand vor ihrem Mann und schrie. Ja, sie schrie ihre Angst hinaus, doch ihr Schreien wurde von einem dröhnenden Gelächter übertönt. Auf einmal verdunkelte sich die Sonne. Ein Schatten flog über den Platz, und im nächsten Augenblick tauchte ein riesiges, pechschwarzes Skelett auf. Der Schwarze Tod war gekommen. Er sah aus wie immer, doch etwas war anders. Von der Sensenklinge tropfte diesmal Blut …
*
Urplötzlich stand dieses grauenhafte Wesen vor uns. Der Schwarze Tod trug einen weiten, dunklen Umhang. Ich sah seine hellen Augen und glaubte, darin den Tod für uns alle zu sehen. Ausgerechnet jetzt war ich waffenlos. Zeit, mein Kreuz hervorzuholen, hatte ich nicht mehr, denn der Schwarze Tod und ich handelten gleichzeitig. Während ich hinter mir die Schreie hörte, stieß ich Jane Collins heftig zur Seite. Sie taumelte zwischen zwei Pfeilern hindurch und fiel auf dem kleinen Kirchplatz zu Boden. Dann warf ich mich vor. Ich wollte Karin Mallmann von der Seite ihres Mannes wegreißen, doch Will versperrte mir unabsichtlich den Weg, so daß ich gegen ihn prallte. In diesem Augenblick fuhr die Sense nach unten. Ich sah den Vorgang wie in Zeitlupe, obwohl alles blitzschnell über die Bühne lief. Karin Mallmann stand wie erstarrt auf dem Fleck. Sie begriff nichts, und als sie es erfaßte, war es zu spät. Die blitzende Klinge traf sie voll, und Karin Mallmann brach zusammen. Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde stehenbleiben. Für Bruchteile von Sekunden verschwamm alles vor meinen Augen. Ich packte das Grauen nicht, der Verstand weigerte sich, und es rastete wohl eine Sperre in meinem Hirn ein. Als ich die Augen wieder öffnete, lag Karin am Boden. Das weiße Brautkleid war blutüberströmt. Dann hörte ich den Schrei. Will Mallmann hatte ihn ausgestoßen. Er war so schlimm und grauenhaft, daß es mir kalt den Rücken hinablief. All der Schmerz, all die Verzweiflung dieses Mannes wa-
ren darin vereint – und auch seine Hilflosigkeit. Will Mallmann warf sich über seine Frau, als wollte er sie jetzt noch mit seinem Körper schützen. Ich stemmte mich hoch. Ein Schatten wischte an mir vorbei. Suko! Der Chinese war schnell wie ein Torpedo. Obwohl er keine Waffen bei sich trug, warf er sich dem Schwarzen Tod entgegen. Auch er stieß einen Schrei aus. Einen Kampfschrei! Wieder schlug der Dämon zu. Diesmal sollte Suko das Ziel sein, doch der Chinese besaß meisterhafte Reflexe. Bevor die Klinge auch ihn durchbohren konnte, warf er sich zur Seite. Anschließend schnellte er hoch und hämmerte mit voller Wucht seine Handkante gegen den Schädel des Schwarzen Tods. Ein normaler Mensch hätte diesen Schlag nicht überstanden. Doch der Schwarze Tod war ein Dämon. Er wurde zwar zurückgeworfen, aber er steckte den Hieb kurzerhand weg. Zu einem nächsten Schlag kam Suko nicht mehr, denn der Schwarze Tod drehte sich um die eigene Achse und verschwand. Er löste sich auf, war plötzlich weg. Die Kenntnisse einer uralten Magie gestatteten ihm dies. Genau in dem Augenblick hielt ich mein Kreuz in der Hand. Es war jedoch zu spät, diese Waffe einzusetzen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Jane Collins aufstand. Ich hörte Sheila weinen, und plötzlich war Bill Conolly neben mir, während sich Suko noch immer wild umschaute. Sekundenlang trat eine grauenvolle, bedrückende Stille ein. Niemand wußte ein Wort zu sagen, die schrecklichen Ereignisse hatten alle tief geschockt. Ich schritt vor und breitete dabei beide Arme aus. Mit dieser Geste wollte ich die anderen davon abhalten, auf Will Mallmann und seine
Frau zuzugehen. Ich aber trat zu ihm. Langsam sank ich neben dem Kommissar in die Knie. Mein Blick traf Karin Mallmann. Ich sah ihr leichen-blasses Gesicht und den trüben Schleier, der bereits über ihren Augen lag. Etwas schnitt mir ins Herz, ein dicker Kloß saß in meiner Kehle, denn ich wußte, daß es für die junge Frau keine Hoffnung auf Rettung mehr gab. Karin Mallmann würde sterben …
* Wie ein Gespenst tauchte der Schwarze Tod auf dem Platz vor dem Gasthaus auf. Sein Lachen hallte lange nach, und es hörte sich an wie ein Gruß aus der Hölle. Der Dämon sah Erich Gehrmann, den Wirt, der nur noch einen Arm besaß und zitternd neben dem Bus stand. »So muß es sein«, rief der Schwarze Tod dröhnend. »Du hast die Tür angefaßt, die ich magisch abgesichert habe, und deshalb wird nichts mehr deinen Arm retten können.« Alle vernahmen die schrecklichen Worte, diese düstere Prophezeiung. Gisela Gehrmann verlor die Nerven. Sie brach auf der Stelle zusammen und wurde ohnmächtig. Die letzten Ereignisse waren zuviel für sie gewesen. Und auch in das Personal kam Bewegung. Diese Menschen erwachten endlich aus ihrer Erstarrung. Ein junges Mädchen machte den Anfang. Es schrie auf und rannte schreiend auf den Parkplatz zu, wo es im nahen Wald verschwand. Unterwegs verlor es die weiße Schürze. Sie flatterte zu Boden und blieb wie ein Leichentuch auf der Erde liegen. Die anderen folgten der Bedienung. Nichts hielt sie mehr auf. Der Schwarze Tod ließ sie laufen. Auf diese Leute kam es ihm nicht an.
Er hatte noch die Kinder. Und er war sicher, daß sie wie ein As beim Kartenspiel stechen würden. Zurück blieb Gisela Gehrmann. Ohnmächtig lag sie auf der Schwelle ihres Hauses. Erich Gehrmann aber schritt auf den Schwarzen Tod zu. Er wußte auch nicht, weshalb er das tat. Es war ein innerer Trieb, der ihn vorwärts drängte. Der Dämon erwartete ihn. Einen Meter vor dem Schwarzen Tod blieb Erich Gehrmann stehen. Er öffnete den Mund. Sein Gesicht war verzerrt und mit kaltem Schweiß bedeckt. »Warum nur?« fragte er krächzend. »Warum ist dies alles geschehen? Es ist so sinnlos – so sinnlos …« Dann brach er zusammen. Schwer fiel er zu Boden, rollte auf den Rücken, noch ein tiefer Atemzug, und einen Augenblick später blickten seine starren Augen in den azurblauen Herbsthimmel. Erich Gehrmann war tot. Sein Herz hatte die Aufregungen nicht überstanden. Die Kinder aber und die beiden Lehrerinnen hatten die Szenen mit ansehen müssen. Sie waren entsetzt. Jutta Mehnert und Elfriede Kirst hatten versucht, die Kinder von den Fenstern wegzuziehen. Ganz schafften sie es nicht, so daß die Kleinen einen Teil von dem mit ansehen mußten, was geschehen war. Die meisten weinten. Sie wollten den Bus verlassen, doch die magische Sperre hielt. Jutta betete ununterbrochen. Auch ihre ältere Kollegin hatte die Hände gefaltet. Der Schwarze Tod schlich indessen um den Bus herum und betrachtete seine Beute. Bis jetzt war sein Plan voll aufgegangen. Das Sinclair-Team hatte eine seiner stärksten Niederlagen erlitten, aber sie war noch nicht beendet.
Im Gegenteil, die Pechsträhne fing erst richtig an. Der Schwarze Tod öffnete mit einem Ruck die Tür und betrat den Bus. Sofort schwemmte eine Grabeskälte, vermischt mit dem Geruch von Moder und Friedhof, in das Innere. Die Insassen sprangen auf und zogen sich ängstlich in den hinteren Teil zurück. Dort duckten sie sich zusammen. Nur Jutta Mehnert blieb stehen. Sie wußte selbst nicht, woher sie die Kraft nahm, dem Blick dieses Unholds standzuhalten. »Was wollen Sie von uns?« fragte sie, wobei sie sich bemühte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich werde euch als Geiseln behalten«, erwiderte der Schwarze Tod. »Und für wen?« »Für John Sinclair.« Diesen Namen hatte Jutta Mehnert noch nie in ihrem Leben gehört.
* Karin Mallmann lag auf dem Rücken. Will saß neben ihr. Er hatte ihren Kopf auf seine Oberschenkel gebettet. Das Gesicht des Kommissars war verzerrt, in seinem Innern wühlte der Schmerz. Ich war neben ihm in die Knie gegangen. Die anderen umstanden uns. Stumm, geschockt, vom Grauen getroffen. Es war eine kaum zu beschreibende Szene. Ich wollte etwas sagen, doch ich kriegte einfach keinen Ton über die Lippen. Wie magisch wurde mein Blick von Karin Mallmann angezogen, wie sie da lag, das Gesicht blaß und schon vom Tode gezeichnet. Das weiße Brautkleid war blutüberströmt, und der Lebenssaft rann weiter aus ihrem Körper. Diese Minuten zählte ich mit zu den schlimmsten meines Lebens,
und ich konnte mir vorstellen, was in dem Kommissar vorging. Wir schwiegen. Es war unnatürlich still geworden. Nur der Wind spielte mit den herabgefallenen Blättern und trieb sie raschelnd über den Boden. Will weinte. Jetzt kam der Schock, jetzt konnte er sich nicht mehr beherrschen. Naß rann es an seinen Wangen entlang. Karin Mallmann sah es. Sie hob den Blick, schaute in Wills Gesicht, und noch einmal sammelte sie alle Kraft. Ihre Hände bewegten sich, glitten über das Kleid, hinterließen eine rote Spur und fanden Wills Finger. Zitternd hielten sie sie fest. Ein Sonnenstrahl fiel schräg auf die sterbende Frau, traf den goldenen Ring an ihrem Finger und ließ ihn aufblitzen. Ihre Lippen bewegten sich und formten ein einziges Wort. »Will …« Es war nur ein Hauch, aber jeder von uns hörte ihn, und es gab wohl keinen, dem es nicht kalt den Rücken hinabrann. »Karin!« Der Kommissar antwortete. Ich bemerkte, wie schwer es ihm fiel. Ein tiefer Atemzug, dann sprach Karin weiter, obwohl es ihr ungeheuer schwerfiel. »Ich – ich möchte dir sagen- wie – wie sehr ich dich liebe, Will. Ich – ich kann nicht – glücklich – ich wollte mit dir glücklich werden …« Der vom Schicksal so schwer gezeichnete Kommissar schüttelte den Kopf. »Nicht sprechen, Liebling«, erwiderte er rauh. »Es wird alles wieder gut. Wir bringen dich zu einem Arzt. Er – er wird dir helfen. Bitte …« Ein flüchtiges Lächeln huschte über das leichenblasse Gesicht der Sterbenden. »Nein, Will, du hast es gut gemeint, aber ich weiß, daß ich nicht mehr viel Zeit habe. Der Tod – er – er steht schon neben mir. Er will mich packen. Ich will – ich will dir nur noch sagen, wie schön es mit dir war – bitte, Will, bitte – vergiß mich nicht. Ich – ich liebe dich doch so. Ich habe dich immer geliebt, Will. Vergiß mich
nicht – versprichst du mir das?« »Ja.« »Dann ist es gut.« Wieder erschien das Lächeln auf ihrem Gesicht. »Und bitte – nimm mir den Ring ab. Nimm ihn, und behalte ihn als ein Andenken. Immer wenn du ihn anschaust, denke an mich. Darum möchte ich dich bitten …« Will Mallmann nickte. Sprechen konnte er nicht. Die Tränen unterdrückten seine Stimme. Noch einmal hob Karin den Blick. »Dann ist es gut, Will – dann kann ich ruhig sterben. Es – es war so schön mit …« Ein letzter, gequälter, verzweifelter Atemzug, der mir durch und durch ging. Karin Mallmann bäumte sich auf, kämpfte gegen den Tod an, doch er blieb Sieger. In Will Mallmanns Armen starb seine junge Frau. Plötzlich lag sie still. Auf ihrem Gesicht blieb das winzige Lächeln. Niemand von uns sprach ein Wort. Ich hörte die Frauen weinen, und auch ich mußte mich beherrschen. Gleichzeitig machte sich etwas in mir breit, was ich nur mit Wut, Zorn und Trotz umschreiben kann. Ich wußte, wer für den Tod dieser Frau verantwortlich war. Und diesen Dämon würde ich packen. Das stand fest. Ich hob den Blick, schaute über Will und die Tote hinweg. Dabei sah ich Suko ins Gesicht. In seinen Augen las ich einen furchtbaren Schwur. Ich wußte, woran Suko dachte, und mich beschäftigten in diesen Augenblicken die gleichen Gedanken. In meinem Rücken hörte ich Wills Kollegen sprechen. Ich verstand aber nicht, was sie sagten. Will Mallmann hob seine Hand. Zart strichen seine Finger über die Stirn, fanden die Augenlider und drückten sie behutsam zu. Es war eine letzte abschiednehmende Geste, zusammen mit der, wie er ihr
den Ring vom Finger zog und sich selbst ansteckte. Will sprach nicht, er weinte auch nicht mehr. Er starrte nur noch in das Gesicht seiner toten Frau, als wollte er dieses Bild aufsaugen, um es nie mehr in seinem Leben zu vergessen. Dann stand er auf. Ich folgte seinem Beispiel. Will Mallmann hob seine tote Frau hoch. Ich wollte ihm dabei helfen, doch er wies mich mit einer schroffen Bewegung ab. Ich trat zur Seite und blieb neben Jane Collins stehen, die ebenso wie Sheila Conolly ihren Kopf gesenkt hatte und zu Boden starrte. Die Schultern der beiden Frauen zuckten, und auch in Shaos Augen schimmerte die Feuchtigkeit. Bill Conolly sah seltsam blaß aus. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, seine Mundwinkel zuckten. In Sukos Gesicht sah ich überhaupt keine Regung. Doch ich wußte, daß in seinem Innern die Hölle tobte. Betreten standen Wills Kollegen herum. Sie schauten auf ihre Fußspitzen, geschockt und entsetzt. An der Tür sah ich den Priester. Wie im Krampf hielt er sein Kreuz umklammert. Karin Mallmann lag auf den Armen ihres Mannes. Will drehte sich um, so daß er mit dem Gesicht zum Kircheneingang stand. Er holte einmal tief Atem, seine Miene versteinerte förmlich, und dann setzte er sich in Bewegung. Er ging vor. Langsam, Schritt für Schritt … Wir schauten ihm nach. Er blickte weder nach rechts noch nach links, sondern nur geradeaus. Der Kommissar ging wie eine Marionette, und die Absätze seiner Schuhe erzeugten ein hohl klingendes Geräusch auf den Pflastersteinen. Er schaute auch den Priester nicht an, als er die Kirche betrat, sondern überschritt die Schwelle und ging dorthin, wo er vor kurzer
Zeit noch getraut worden war. Wir blieben zusammen mit dem Priester an der Tür stehen. Auch der Pfarrer merkte, daß er innerhalb der Kirche stören würde, und wartete am Eingang. Will Mallmann aber schritt mit der Toten weiter. Bis er den Altar erreicht hatte. Dort blieb er stehen. Sekundenlang verharrte er. Schließlich beugte er seinen Oberkörper vor und legte seine tote Frau vor dem Altar ab. Danach geschah etwas, was uns eine Gänsehaut über den Körper trieb. Wills verzweifelter Aufschrei. »Karin …!« Laut schrie er den Namen hinaus, und schaurig hallte er von den Wänden der Kirche wider. »Mein Gott!« flüsterte Jane Collins und schlug beide Hände vor ihr Gesicht. Beinahe abrupt drehte sich der Kommissar um. Mir kam es vor, als würde er ein Kapitel in seinem Leben abschließen. Er ging den Weg zurück und blieb auf der Schwelle des Portals stehen. Er blickte uns an, der Reihe nach, kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Wir schwiegen. Will Mallmann unterbrach das Schweigen. »Gehen wir«, sagte er mit tonloser Stimme. »Ich glaube, wir haben noch etwas zu erledigen …«
* Der Pfarrer schaute mich an. In seinen Augen las ich Unverständnis, Nichtbegreifen und auch Angst. Für ihn war ebenfalls eine Welt zusammengebrochen. Ich konnte es ihm nachfühlen.
»Sie wollen wirklich gehen?« fragte er mich. Ich bejahte. »Wie konnte das nur geschehen?« In einer hilflosen Geste hob der Priester beide Schultern. »Ich verstehe das nicht. Bisher habe ich immer geglaubt, das Böse lauere im Unsichtbaren, im geheimen, doch nun …« »Eine Erklärung kann ich Ihnen auch nicht geben«, entgegnete ich. »Nehmen Sie es, wie Sie es gesehen haben.« »Und was ist mit der Frau? Mit der Toten, meine ich.« »Keine Ahnung, aber es wird sich schon eine Möglichkeit finden.« »Wie Sie meinen.« Ich warf einen Blick nach rechts. Die Kutsche stand nicht mehr dort. Die Pferde waren durchgegangen, als der Schwarze Tod erschien. Ich erinnerte mich daran, ihr schrilles Wiehern gehört zu haben. Sie spürten den Einfluß des Bösen noch stärker als wir Menschen. Will Mallmann stand bereits neben einem Wagen. Er gehörte Frank Platten, dem Kollegen. An der Antenne des Ford zitterte noch die weiße Hochzeitsschleife im Wind. Will riß sie ab. Frank Platten sprach mit ihm, und ich sah, daß Will den Kopf schüttelte, bevor er eine scharfe Erwiderung gab. »John!« Bills Stimme hielt mich auf. Ich wandte mich um. Weiß wie eine Kinoleinwand war Bills Gesicht. In seinen Augen las ich die Trauer. »Was machen wir jetzt?« fragte der Reporter. Ich griff zu einer Zigarette und bot dem Reporter auch eine an. Als ich Bill Feuer gab, kam auch Suko. »Das war sicherlich erst der Anfang«, meinte mein chinesischer Freund. »Mit diesem heimtückischen Mord wollte er uns einen Schlag versetzen.« »Was er auch geschafft hat«, gab ich zu.
»Jetzt wird er seinen nächsten Plan vorbereiten«, vermutete Bill Conolly. »Die Frage ist, wie«, antwortete Suko. Ich hielt mich aus dem Gespräch heraus. Erst als die beiden auf ein Wort von mir warteten, sagte ich: »Vielleicht hängt alles mit dem Bus zusammen, denn wenn ich mich näher damit beschäftige, ist es sogar höchstwahrscheinlich.« »Mit welchem Bus?«fragte Bill. Ich erzählte ihm, was Jane Collins gesehen hatte. »Es ist unwahrscheinlich«, meinte der Reporter. »Sollten wir die Worte unmöglich und unwahrscheinlich nicht längst aus unserem Wortschatz gestrichen haben?« fragte ich. Suko und Bill nickten. »Und was folgerst du daraus?« erkundigte sich der Reporter. »Daß der Schwarze Tod irgend etwas mit dem Bus vorhat.« »Aber darin sitzen Kinder!« rief Bill erschrocken. »Leider.« Unser Gespräch wurde unterbrochen, weil Jane Collins nach uns verlangte. Wir mußten uns auf die einzelnen Wagen aufteilen. Ich fuhr mit Will Mallmann zusammen. Der Kommissar saß neben seinem Kollegen Frank Platten und starrte vor sich hin. Niemand von uns wagte, ihn anzusprechen. Wir fuhren ab. Ich rechnete zwar mit einer weiteren Attacke des Schwarzen Tods, ahnte jedoch nicht, was wirklich auf uns zukam …
* Die vier Wagen rollten den Weg hinab. Langsam, denn die Strecke ließ nur Schrittempo zu. Eng waren die Kurven – und unüber-sichtlich. Die Bäume wuchsen dicht an den Straßenrand heran. Manchmal bogen sie ihre Zweige so tief, daß diese über die Autodächer
streiften. Bunte Blätter segelten zu Boden. Sie bildeten auf der Straße einen weichen Teppich, der in den frühen Morgenstunden – noch feucht vom Tau der Nacht – zu einer regelrechten Rutschbahn wurde. Die Sonne war inzwischen höher gewandert. Es war ein wunderschönes Wetter zum Wandern und zum Faulenzen. Wir sahen jedoch nichts von den Schönheiten der Natur. Unsere Gedanken beschäftigten sich mit ganz anderen Dingen. Ich sah Will Mallmanns Kopf vor mir. Kerzengerade saß der Kommissar in seinem Sitz, nur vom quer verlaufenden Sicherheitsgurt gehalten. Manchmal glaubte ich, ihn mit sich selbst sprechen zu hören. Ich versuchte, Ordnung in meinen Gedankenstrom zu bringen und ein Motiv für diesen sinnlosen Mord zu finden. Klar, der Schwarze Tod wollte uns treffen, das hatte er geschafft. Nun stand uns eine weitere Auseinandersetzung bevor. In die wollte ich jedoch keine Unschuldigen mit hineinziehen. Das heißt, Mallmanns Kollegen mußten so rasch wie möglich wieder die Heimreise antreten. Es würde schwer werden, den Polizisten dies begreiflich zu machen. Sie waren die normalen Fälle gewohnt, sie kannten nur die tägliche Konfrontation mit Gesetzesbrechern, nicht den Kampf gegen die Mächte der Finsternis. Der blieb nur wenigen vorbehalten. Zum Glück, möchte ich sagen. Die Straße wurde noch schmaler, die Kurven enger. Rechts und links wuchsen die Hänge hoch, wo die Bäume dicht an dicht standen. Ich saß mit im ersten Wagen, die anderen drei folgten in ausreichendem Abstand. Will Mallmann bereitete mir Sorgen. Ich hoffte nur, daß er nicht durchdrehte, wenn es soweit war. Er war nicht ansprechbar. Andererseits hätte ich wohl ebenso reagiert wie er.
Wie ich mich verhalten sollte und würde, das wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die nächste Kurve lag vor uns. Eng geschnitten und nach links weglaufend. Sie war nicht einfach zu durchfahren. Frank Platten kurbelte wild am Lenkrad und bugsierte den schweren Granada herum. Ich achtete nicht so sehr auf die Straße, war mit meinen Gedanken woanders, wurde aber hart in die Wirklichkeit zurückgerissen, als Platten plötzlich bremste. Es geschah so abrupt, daß ich nach vorn flog und mit dem Kopf gegen die Rückenlehne des Beifahrersitzes schlug. Der Kommissar kippte auch nach vorn, wurde aber von seinem Gurt gehalten. Was war geschehen? Ich schaute zwischen dem Fahrer und Will Mallmann hindurch und sah, weshalb Platten so plötzlich gebremst hatte. Eine Nebelwand wallte vor uns hoch. Verständnislos reagierten meine Mitinsassen. Sie wunderten sich und waren nervös. Alle sprachen durcheinander. Ich aber rechnete mit einer Falle des Schwarzen Tods. »Raus!« schrie ich und öffnete die Tür. Die anderen schauten nur verständnislos. »Aus dem Wagen!« Jetzt erst reagierten sie, doch da schlug der Dämon bereits zu und bestätigte damit meine Annahme. Ein Knirschen ertönte unter dem Wagen, als würde eine gewaltige Hand daran ziehen. Und dann sackte das Fahrzeug plötzlich ab. Der Straßenbelag hatte sich verwandelt, er war zu einem Sumpf geworden. Ich merkte es, als ich meinen Fuß aus dem Fahrzeug schwang und den Boden berührte.
Die Sohle klebte fest, ich sackte sofort ein. Hastig riß ich den Fuß wieder hervor. Es bereitete mir wirklich Mühe, diesem magischen Schlamm zu entkommen. Auf der anderen Seite des Fonds stieg ein Kollege des Kommissars aus. Er hatte meine Warnung mißachtet. Das wurde ihm zum Verhängnis. Ein Fall, ein Schrei, er steckte fest. Mist. Welche Möglichkeiten hatten wir noch? Auf dem Wagendach waren wir in Sicherheit. »Aufs Dach!« brüllte ich. »Los, aufs Dach!« Jetzt verstanden mich auch die anderen Mitfahrer. Sie hatten begriffen, wie ernst die Lage wirklich war. Die drei Männer machten sich daran, aus dem Wagen zu klettern. »Denkt an den Sumpf!« schrie ich. »Nicht berühren!« Ich hockte noch immer im Fond, denn ich wollte den vierten retten. Will Mallmann kletterte aus der Seitentür. Er hatte sie aufgedrückt, drehte sich, packte die Regenrinne des Dachs und zog sich hoch. Unter dem Wagen schmatzte und blubberte der Sumpf. Es waren widerliche Geräusche. Frank Platten folgte Mallmanns Beispiel. Nur ich blieb zurück. Die Wagentüren standen offen. Ich robbte quer über den Sitz, erreichte die gegenüberliegende Tür und warf einen Blick nach draußen. Der Mann steckte bereits bis zum Gürtel im Morast. Er stand eine gräßliche Angst aus. Sein Gesicht war verzerrt, die Augen weit aufgerissen, so daß ich das Weiße sah. »Keine Panik!« rief ich ihm zu. »Ich hole Sie raus!« Er nickte nur. Ich streckte meinen Arm aus, und er kam mir mit dem seinen ent-
gegen. Unsere Finger fanden sich, krallten sich ineinander und wurden zu einer Einheit. Doch der Schwarze Tod, dieser Teufel, gab nicht auf. Er wollte sein Opfer nicht wieder aus seinen Klauen lassen. Plötzlich verwandelte sich das Moor. Dämpfe stiegen auf. Heiß und brühend. Ich schrie, als der Dampf meine Haut traf, und auch der Mann im Schlamm brüllte wie am Spieß. Aber ich ließ nicht locker, trotz meiner Schmerzen. Im Gegenteil. Noch weiter beugte ich mich vor. Dabei rutschte das Kreuz aus meinem Hemdenausschnitt, der nicht mehr von den Knöpfen gehalten wurde. Die Kette war so lang, daß mein Kreuz tief fiel und das Moor berührte. Augenblicklich hörten die Dämpfe auf. Ich hatte wieder Luft. Und ich zog. Die anderen Männer waren inzwischen auf das Dach geklettert. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Stimmen meiner Freunde. Ich wußte nicht, weshalb Suko und Bill nicht eingriffen, doch darüber nachzudenken hatte ich jetzt keine Zeit. Wer würde Sieger bleiben? Das Moor oder ich? Alle Kraft setzte ich ein – und schaffte es. Millimeter für Millimeter zog ich den Mann aus dem gefährlichen Sumpf. »Nicht bewegen!« rief ich ihm zu, denn ich wußte, daß ein Strampeln seinerseits die Sache nur noch verschlimmerte. Dann hatte ich es geschafft. Der Mann lag halb im Wagen. Die Füße konnte er von selbst aus dem Moor ziehen. »Aufs Dach mit Ihnen!«
Er nickte, drehte sich um und wäre fast wieder abgerutscht, wenn ich nicht zugegriffen hätte. Dann aber hatte er das Dach erreicht. Ein Schatten verdunkelte die breite Frontscheibe. Ich vernahm einen dröhnenden Ton und sah Kommissar Mallmann. Er war auf die Motorhaube gesprungen. Wahrscheinlich wurde es oben ein wenig zu eng. Aber auch ich mußte mich beeilen. Da sackte der Wagen weg. Plötzlich quoll der braungraue Schlamm durch die offenstehende Tür in das Innere des Fahrzeugs und breitete sich sofort aus. Ich kroch zur anderen Seite und wand mich rücklings durch die Tür, wobei ich meine Arme ausstreckte und die Regenrinne mit den Fingern zu fassen bekam. Die Füße zog ich nach. Meine Hacken rutschten über das Polster, ein Klimmzug, und ich befand mich bereits mit dem Kinn in Höhe des Dachs. Hilfreiche Hände streckten sich mir entgegen. Sie brachten mich in Sicherheit. In vorläufige. Ich schaute mich um. Gut sah es nicht aus. Die gesamte Wegbreite wurde durch den Schlamm eingenommen. Normalerweise keine Distanz, aber dann sah ich etwas, was mir die Haare zu Berge stehen ließ. Suko und Bill Conolly sowie die anderen Männer waren ebenfalls aus den Wagen gestiegen. Sie wollten uns zu Hilfe eilen, doch sie kamen nur zwei, höchstens drei Schritte weit. Eine magische Sperre hielt sie auf. Eigentlich war es zum Lachen, wie sie immer wieder liefen, dann aber von der unsichtbaren Wand zurückgeschleudert wurden. Von außen durften wir also keine Hilfe erwarten. Es sah böse aus.
Der Wagen sackte tiefer. Unter uns gurgelte und schmatzte der magische Sumpf. Ich suchte fieberhaft nach einem Ausweg, doch es war klar, daß es keinen gab. Die unsichtbare Wand würde uns ebenso aufhalten wie meine Freunde. Zum erstenmal meldete sich Will Mallmann wieder. »Wir müssen weg!« rief er. »Ich will diesen verdammten Dämon haben, der meine Frau umgebracht hat!« Will wollte tatsächlich springen. »Nein, nicht!« schrie ich. Er wandte sich um, und ich sah die wilde Entschlossenheit in seinen Augen leuchten. Wie konnte ich ihn nur abhalten? Die anderen drei Männer standen neben mir und versuchten wie ich, die Balance zu halten. Lange würden wir an diesem Platz sowieso nicht mehr bleiben können, denn der Wagen sackte von Sekunde zu Sekunde ein kleines Stück tiefer. »Doch, ich springe!« brüllte Will. »Denkst du, ich will hier krepieren?« Der Kommissar war verblendet. Ich konnte ihm nicht einmal einen Vorwurf machen, aber ich mußte ihn vor einer riesengroßen Dummheit bewahren. Wenn ich es schon nicht mit Worten schaffte, dann mit einem anderen Mittel. Ich drängte mich an den anderen dreien vorbei. Während ich das tat, krümmte ich schon die Handkante. Ein Schlag mußte genügen. Durch meine Ausbildung, aber auch durch Sukos Training beherrschte ich den Karate-Kampfsport. Will Mallmann starrte mir entgegen. Er stand dicht vor der Frontscheibe, für mich also ausgesprochen günstig. »Du schaffst es nicht, John!« zischte er. »Du kannst mich nicht zurückhalten. Versuche es nicht.« Meine Handkante kam wie ein Blitzstrahl. Will Mallmann gurgelte
auf, zuckte zusammen und brach dann in die Knie. Er fiel genau dort, wo er gestanden hatte. Das Blech dröhnte, als Will aufschlug. Ich war bereit nachzugreifen, doch es erwies sich nicht mehr als nötig. Der Kommissar rutschte nicht von der Kühlerhaube. »Warum haben Sie das getan?« fragte mich Frank Platten. Ich ruderte mit den Armen, um mein Gleichgewicht zu halten, und drehte mich um. »Hätten Sie ihn in den Tod gehen lassen?« fragte ich scharf zurück. Der Kollege schwieg. »Und wie soll es weitergehen?« fragte ein anderer Kollege. »Was geschieht mit uns?« Da wußte ich auch keinen Rat. Der Wagen sackte tiefer. Von allen Seiten drang der Schlamm in den Innenraum, und er stieg auch schon über die Motorhaube, auf der Will Mallmann lag. Die Zeit drängte. Ob mein Kreuz uns half? In diesem Augenblick meldete sich der Schwarze Tod, und ich vergaß erst einmal den geweihten Talisman. Etwas brauste über uns, ein dröhnendes Lachen ertönte, und dann erschien der Dämon. Er lag in der Luft, wie bei seiner Attacke nach der Trauung. Die Sense hielt er mit beiden Knochenfäusten umklammert. Sein Umhang flatterte wie eine Fahne im Wind. Das schwarze Totenkopfgesicht war zu einem häßlichen Grinsen verzogen, und er schwang die Sense so geschickt, daß ich achtgeben mußte, nicht getroffen zu werden. Haarscharf nur wischte sie an uns vorbei. Vier Männer drängten sich auf dem Autodach zusammen. Vier erwachsene Männer, durch einen harten Job gestählt. Aber zumindest drei von ihnen waren zu schlotternden Angstbün-
deln geworden, was ich ihnen nicht einmal verdenken konnte. Wer zum erstenmal mit dem Anblick des Schwarzen Tods konfrontiert wurde, der bekam unweigerlich Angst. Es war nicht nur das Aussehen des Dämons allein, das so schockte, sondern zusätzlich noch die Aura, die von dem Schwarzen Tod ausging. Sie war so unsagbar böse und grauenhaft, daß man sie wie einen körperlichen Schlag spürte. Dieser Dämon war in der Tat ein Diener der Hölle. Durch einige Körperdrehungen gelang es mir, mich vor die Polizisten zu schieben, so daß ich den Schwarzen Tod jetzt direkt anschauen konnte. Er hielt inne. Wir musterten uns. In meinem Gesicht regte sich kein Muskel, während in seinem der Triumph deutlich abzulesen war. Er hatte einen Sieg errungen. Ein niederträchtiger, heimtückischer Mord war für die Schwarzblüter ein Sieg. Eine perverse Logik. Es wurde langsam Zeit, daß etwas geschah. Nicht nur, daß ich den Schwarzen Tod vernichten mußte, sondern daß ich vom Autodach wegkam. »Die Falle ist zugeschnappt, John Sinclair!« freute sich der Schwarze Tod. »Diesmal habe ich dich. Durch den Tod dieser Frau bist du doch verdammt unvorsichtig geworden, nicht wahr?« »Rede nicht«, erwiderte ich. »Sorg dafür, daß die Menschen hier wegkommen.« »Sie können gehen!« erklärte mir der Schwarze Tod, und nicht nur ich war über diese Antwort erstaunt. »Wirklich?« »Ja, ich brauche sie nicht. Dafür aber will ich dich haben. Du bleibst, John Sinclair!« So etwas Ähnliches hatte ich mir gedacht. Ich war darauf vorberei-
tet gewesen, deshalb erschütterte mich seine Antwort auch nicht sehr. Es blieb nur die Frage, was mit Will Mallmann geschehen sollte. Ich deutete auf den Kommissar. »Kann er auch mit?« Der Schwarze Tod überlegte. Er schwebte etwa fünf Meter über uns. Die Spitze der Sense zeigte nach unten, und manchmal brach sich ein vereinzelter Sonnenstrahl auf dem blankem Metall. »Er bleibt liegen!« entschied der Dämon. Das paßte mir nicht. »Reicht es nicht, daß du schon seine Frau umgebracht hast?« »Nein!« Die Antwort klang endgültig. Der Wagen sackte inzwischen nicht mehr weiter ab. Dieser unheimliche Vorgang war gestoppt worden. Meine Freunde schauten zu. Sie hörten jedes Wort, ich sah es an ihren Gesichtern, und ich konnte mir gut vorstellen, welch eine Hölle in ihnen tobte. Sie waren zur Untätigkeit verdammt. Es gelang ihnen nicht, die magische Sperre zu durchbrechen. Was der Schwarze Tod mit ihnen vorhatte, war klar. Er würde erst mich ausschalten, dann waren sie an der Reihe. Ein wahrhaft teuflischer Plan. »Dann laß die Männer frei!« sprach ich den Schwarzen Tod an. Würde er sein Wort halten? Der Dämon zögerte die Antwort hinaus. Ich spürte bald körperlich die Spannung, die seiner Erwiderung vorausging. »Geht!« sagte er schließlich. Die Männer zögerten noch. Ich drehte mich halb um. Manch hilfloser Blick traf mich. Ich hatte das Gefühl, daß die Männer mich nicht im Stich lassen wollten, doch ich schüttelte den Kopf. Da wußten sie Bescheid. Frank Platten machte den Anfang. Er stieß sich ab und sprang vom Wagendach. Mit den Füßen zuerst landete er an dem schräg hochlaufenden Hang, streckte seine Arme aus und klammerte sich an ei-
nem Ast fest. Die anderen Polizisten machten es ihm nach. Zurück blieben Kommissar Mallmann und ich. Will war noch immer bewußtlos. Ich empfand dies als gut. Rechts von mir aus gesehen schritt Frank Platten bereits auf meine wartenden Freunde zu. Unbeschadet. Keine Sperre hielt ihn auf. Er konnte kurzerhand hindurchschreiten. Die Chance wollten sich Suko und Bill nicht entgehen lassen. Sie liefen vor, doch bei ihnen stellte sich der gleiche Effekt ein wie zuvor. Sie prallten zurück. Die Sperre war nur von einer Seite aus durchlässig. Der Schwarze Tod hatte eben an alles gedacht. Frank Plattens Kollegen folgten. Sie liefen jedoch nicht weg, sondern warteten bei Suko, Bill und den Frauen. Hastig redeten sie auf meine Freunde ein. Zurück blieben der Kommissar und ich. Und der Schwarze Tod, der ohne Warnung seinen ersten Angriff startete …
* Die Stimmung im Bus wurde immer gereizter. Jutta Mehnert schaffte es nicht mehr, Ruhe in die Reihen der Schulkinder zu bringen, denn auch sie selbst war mit den Nerven ziemlich am Ende. Der Schwarze Tod aber hatte sich zurückgezogen. Wenigstens ein kleiner Vorteil, denn sein Herumgeistern hatte die Kinder noch mehr aufgeregt. Zum Glück saßen sie jetzt auf ihren Plätzen. Das hatte Jutta Meh-
nert doch noch geschafft. Sie stand auf und schritt durch den Mittelgang. Müde waren ihre Bewegungen. Sie versuchte, nicht mehr Sauerstoff zu verbrauchen, als unbedingt nötig war. Die Kinder schauten sie an. Noch las Jutta in ihren Blicken Vertrauen, aber immer mehr brach die Angst durch. Die Angst vor dem Schrecklichen. Wieder einmal rüttelte sie an den Fensterverschlüssen. Die Scheiben blieben zu. Jutta senkte den Kopf. Sie stand neben dem kleinen Sitz, wo Dirk und die kleine Uschi saßen. »Hast du auch Angst?« fragte Dirk. Jutta nickte. »Aber du bist doch längst erwachsen«, meinte Uschi mit ihrem zarten Stimmchen. »Meine Mutti sagt immer, daß Erwachsene keine Angst haben. Ich habe später bestimmt keine Angst.« Die junge Lehrerin lächelte. »Ich habe auch keine Angst um mich, sondern um euch.« Dirk nickte mit ernstem Gesicht. »Das ist nicht nötig, Fräulein Mehnert. Ich werde Uschi schon beschützen.« Juttas Hand fuhr über sein Haar. »Tu das, du kleiner Held. Ich verlasse mich ganz auf dich.« »Danke.« Jutta Mehnert drehte sich wieder um. Ihr Blick fiel nach draußen. Dicht neben dem Bus lag der Wirt. Und es sah ganz so aus, als wäre er tot. Den Kindern hatte sie gesagt, daß er nur schlafen würde. Die Kleinen gaben sich damit zufrieden. Vor dem Gasthauseingang war Gisela Gehrmann zu Boden gefallen. Jutta Mehnert beobachtete sie und sah, daß sie aus ihrer Ohnmacht erwachte. Unwillkürlich preßte Jutta ihre Hand gegen die linke Brust. Wenn diese Frau ihren Mann sah, dann gab es eine Katastrophe. Gisela Gehrmann erhob sich. Zweimal fiel sie zurück. Beim dritten Versuch
stand sie endlich. Schwankend, wie auf einem Floß bei rauher See. Gisela Mehnert blickte sich um. Sie sah den Bus, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Jetzt überlegt sie, dachte Jutta. Die Wirtin kam näher. Schwankend, zögernd. »Bleib da!« flüsterte Jutta. Sie wollte schreien, wußte jedoch, daß es keinen Sinn hatte. Deshalb machte sie Zeichen. Jutta winkte mit beiden Händen, bedeutete der Frau, ins Haus zu gehen. Gisela Gehrmann verstand sie nicht. Jutta Mehnert aber zitterte um das Leben der Frau. Wenn sie in den Bus einsteigen wollte und die Tür berührte, was dann …? »Nicht!« schrie Jutta, und zwar so laut, daß die Kinder aufschreckten. »Was ist, Fräulein Mehnert? Warum schreien Sie?« Die Kinder fragten durcheinander, doch Jutta gab ihnen keine Auskunft. Das Schicksal wollte es anders. Gisela Gehrmann bewegte sich nicht auf direktem Weg zum Bus, sie ging erst um die flache Kühlerschnauze des Fahrzeugs herum. Und sie sah ihren Mann. »Nein!« keuchte Jutta Mehnert. »Nein – Nicht …« Sie drängte sich durch eine schmale Sitzreihe zum gegenüberliegenden Fenster, um die Frau besser sehen zu können. Gisela Gehrmann war stehengeblieben. Sie hatte ihre Arme hochgerissen und beide Hände gegen ihr Gesicht gepreßt. Ein tiefes Schluchzen drang aus ihrer Kehle, so laut, daß es selbst die Kinder und die beiden Lehrerinnen hörten. Die Wirtin ging zwei Schritte vor. Ihre Knie wurden weich, gaben nach, dann fiel sie über ihren Mann und preßte ihr Gesicht an seine Schulter. Ihr Rücken bebte unter den Schluchzwellen, die den Körper durchschüttelten.
Gisela Gehrmann traf das Grauen mit aller Wucht. Die beiden Lehrerinnen konnten nur hoffen, daß der Schrecken irgendwann ein Ende haben würde …
* Von der Seite pfiff die mörderische Sense auf mich zu. Ich sah den blutigen Halbkreis, den sie zog, und für mich gab es nur noch eine Rettung. Ich ließ mich fallen. Mit der Schulter prallte ich auf das Wagendach und breitete sofort die Beine aus, um einigermaßen Halt zu finden. Die Klinge pfiff über mich hinweg. Der Schwarze Tod lachte. Dieses Lachen bewies mir, daß er erst mit mir spielen wollte, um dann zuzuschlagen. Ich hob den Kopf. Wieder schwebte er über mir. Sein häßlicher schwarzer Schädel zeigte ein böses Grinsen, als er zum zweiten Schlag ausholte. Klar, daß er sich überlegen fühlte. Er hatte damit gerechnet, mich waffenlos anzutreffen. Aber so leicht wollte ich es ihm nicht machen, denn ich hatte noch das Kreuz. Es besaß eine ungeheure weißmagische Ausstrahlungskraft. Die vier Erzengel hatten ihre Zeichen hinterlassen, um den Mächten des Bösen zu trotzen. Dieses Kruzifix hatte mich schon ein paarmal gerettet, und ich fragte mich, ob es auch jetzt helfen würde. Ich riß das Kreuz hervor. Gerade in dem Moment, als der Schwarze Tod zum zweiten Schlag ausgeholt hatte. Er stoppte mitten in der Bewegung. Das Kreuz in meiner Hand schien zu explodieren. Gleißende
Lichtstrahlen schnitten durch die Luft, detonierten lautlos zu gewaltigen hellen Kränzen, die den Schwarzen Tod einhüllten. Sekundenlang bot sich meinen Augen ein grandioses Bild. Ich sah meinen Erzfeind mitten in der Luft stehen. Das Gesicht war verzerrt, die schwarzen Knochen zitterten, ein mörderischer Schrei drang aus seinem Rachen, dann war der Dämon verschwunden. Er löste sich auf. Die Macht des Guten hatte ihn vertrieben. Verschwunden war auch der magische Sumpf. Unter dem Wagen befand sich wieder die normale Fahrbahn, und auch die Sperre existierte nicht mehr. Meine Freunde konnten zu mir. Puh, das war knapp gewesen. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, glücklich darüber, daß der Schwarze Tod es nicht geschafft hatte. Wieder einmal nicht. Doch automatisch fragte ich mich, wann ich es mal schaffen würde. Wann konnte ich ihn besiegen? Das Kreuz war zu schwach, wie ich inzwischen festgestellt hatte, es konnte den Dämon nur vertreiben, was auf die Dauer gesehen nicht viel Sinn hatte, da der Schwarze Tod immer wieder zurückkehrte. Ich hoffte nur, daß es mir innerhalb der nächsten Zeit gelingen würde, den Schwarzen Tod zu besiegen. Aber endgültig. Suko hatte mich als erster erreicht. Ich sprang vom Wagendach. Mein Partner schlug mir auf die Schulter. Er wollte zu einem Lob ansetzen, doch ich winkte ab. »Später, Suko. Hilf mir erst einmal, Will wegzuschaffen.« Der Chinese packte mit an. Er legte seine Hände unter Wills Schultern, ich nahm die Beine des Kommissars. Suko und ich trugen Will Mallmann an den Straßenrand und leg-
ten ihn dort nieder. Bill Conolly war bei den Frauen geblieben. Er sprach auch mit Wills Kollegen. »Es tut mir leid«, sagte er laut, »aber ich kann Ihnen auch keine Erklärung geben. Das schafft wohl keiner von uns. Nicht einmal John Sinclair. Wir und Sie müssen uns mit den Tatsachen abfinden. Diese Mächte existieren eben.« Ich hatte mich über Will Mallmann gebeugt und tätschelte seine Wangen. So hart hatte ich eigentlich gar nicht zuschlagen wollen, aber mir war keine andere Möglichkeit geblieben. Mein Tätscheln half. Will öffnete die Augen, verzog das Gesicht, sühnte und ließ sich dann von mir auf die Beine helfen. »Oh, verflucht«, sagte er, »mein Nacken.« Er stützte sich mit den Händen am Wagendach ab. Dem Ford war nichts passiert. Selbst der Schlamm war wieder von der Kühlerhaube und aus dem Innern verschwunden. Jane Collins hatte zusammen mit Suko den Granada schon untersucht. »Habe ich dir die Genicknuß zu verdanken?« fragte Will mich. Ich nickte. Er hob die Schultern und schaute mich an. In seinen Augen lag noch die Trauer um seine Frau. »Es war wohl nötig gewesen, wie?« »Genau.« »Was ist denn geschehen?« »Der Schwarze Tod wollte uns umbringen.« »Alle?« »Erst einmal nur mich«, antwortete ich, »aber ich bin sicher, daß er die anderen auch nicht verschont hätte.« »Wie hast du es geschafft?« fragte Will.
Ich erzählte es ihm. »Da haben wir Glück gehabt.« »Das kannst du laut sagen.« Jane Collins kam zu mir und nahm meinen Arm. »Laß uns weiterfahren, John«, sagte sie. Ich war einverstanden. Jane winkte den anderen zu, und sie kamen herüber. Bevor Bill Conolly einstieg, meinte er: »Das war haarscharf, John. Ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet.« »Ich auch.« Die Besetzung der Wagen blieb gleich. Will Mallmann starrte mit leerem Blick durch das Seitenfenster. »Manchmal frage ich mich, ob das Leben überhaupt noch einen Sinn für mich hat. Jetzt, wo Karin nicht mehr unter …« »Hör auf«, unterbrach ich ihn schroff. »Du hast gut reden!« »Bitte, Will, sei ruhig«, meldete sich jetzt auch sein Kollege Frank Platten. Der Kommissar schwieg. Dabei konnte ihn jeder von uns verstehen. Aber wir mußten ihn jetzt an der kurzen Leine halten, damit er nicht durchdrehte. Das waren wir unserer Freundschaft schuldig. Frank Platten fuhr jetzt noch vorsichtiger als zuvor. Er wollte nicht noch einmal in eine Falle geraten. Auch ich blickte mich immer wieder um. Doch nichts war von einer Drohung zu bemerken. Wir rollten durch eine idyllische Herbstlandschaft, wie sie ein Künstler auch nicht besser hätte gestalten können. Kurz vor Erreichen des Gasthofs mündeten einige schmale Pfade auf unseren Weg, der jetzt breiter wurde. Im Rückspiegel sah ich die anderen Wagen. Dann erreichten wir unser Ziel.
Der Granada schob sich um die letzte Kurve, die Böschung links und rechts verschwand, so daß wir einen freien Blick hatten. Meine Augen wurden groß. Direkt vor dem Gasthaus stand ein Bus!
* »Halten Sie!« rief ich Frank Platten zu. Der Kollege bremste sofort. Zweimal wippte der Granada nach, dann stand er. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Auch die Beifahrertür klappte auf, und Will Mallmann schwang seine Beine ins Freie. Ich hielt ihn zurück. »Bleib du hier, Will«, sagte ich. »Aber Karin …« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt seinem flammenden Blick stand. »Mit Karin, deiner Frau, hat das alles hier nichts mehr zu tun. Diese Abrechnung geht nur mich und den Schwarzen Tod etwas an.« Will schwieg. Nach einigen Sekunden senkte er den Blick. »Gut, wie du meinst, John.« »Danke.« Ich drehte mich um und winkte. Es war das Zeichen für Suko. Er verstand und kam zu mir, mit Bill Conolly im Schlepptau. »Ich will nur dich, Suko«, sagte ich. »Du bleibst bei den Frauen, Bill.« »Aber …« »Mach jetzt keinen Ärger. Will Mallmann wollte auch mit, ich war dagegen. Tut mir den Gefallen, und haltet euch im Hintergrund.« Bill warf mir einen wütenden Blick zu und machte abrupt kehrt. Ich sah, wie er auf die anderen einredete und dabei seine Arme zu Hilfe nahm. Suko und ich aber schritten vor.
Aus sicherer Entfernung beobachteten wir den auf dem Hof stehenden Bus. Der Schwarze Tod war nicht zu sehen. Ich war jedoch sicher, daß er irgendwo im verborgenen lauerte. »Fällt dir was auf?« fragte ich Suko. »Ja, die Kinder sind noch im Bus.« »Genau. Aber weit und breit ist nichts vom Schwarzen Tod zu sehen. Ich frage mich, warum sie nicht aussteigen.« »Weil sie nicht können.« »Richtig. Wie ich den Dämon kenne, wird er eine magische Sperre gelegt haben.« Ich stieß Suko an. »Komm, laß uns weitergehen.« Nach ein paar Schritten blieb ich wieder stehen. Wir hatten jetzt eine bessere Perspektive, und beide sahen wir die Frau, die über einem am Boden liegenden Mann kniete. Mir rann ein Schauer über den Rücken. Dieser Mann sah aus, als wäre er tot. »Das ist ja die Wirtin«, flüsterte Suko. Jetzt erkannte ich sie auch. Himmel, was mochte da geschehen sein? »Ich hole sie her«, sagte Suko. Mein Partner brauchte sich nicht erst zu bemühen, denn Gisela Gehrmann richtete sich auf, schaute sich um, sah uns, zuckte erst zurück und rannte dann weinend auf uns zu. Ich ging ihr entgegen und fing sie auf. Sie schluchzte und jammerte. Ihre Worte konnte ich kaum verstehen. »Tot – tot – er ist tot …« Ich wußte, daß sie damit ihren Mann meinte. »Wer hat ihn umgebracht?« wollte ich wissen. Sie schaute mich aus tränenfeuchten Augen an. »Ich – ich weiß es nicht. Ich habe nur das Monster gesehen.« »War es ein Skelett?« »Ja.« »Der Schwarze Tod«, flüsterte ich.
»Was haben Sie gesagt?« »Schon gut, Frau Gehrmann.« »Was machen wir jetzt mit ihr?« fragte Suko. Die Lösung wußte ich. »Wir bringen sie zu den anderen.« Suko war einverstanden, und Gisela Gehrmann hatte im Augenblick keine Meinung. Mit ihr ging ich ein paar Schritte zurück und winkte abermals Bill Conolly heran. Der Reporter kam sofort. Ich schob ihm Gisela Gehrmann hin. »Nehmt sie in eure Obhut«, sagte ich. »Ihr Mann ist tot. Er liegt neben dem Bus. Wahrscheinlich hat ihn der Schwarze Tod umgebracht.« Bill Conolly stieß einen wilden Fluch aus. Er haßte diesen Dämon ebenso wie ich. Wir warteten, bis der Reporter verschwunden war, und schritten dann auf den Bus zu. Dabei passierten wir den Granada. Will Mallmann starrte vor sich hin. Unbewegt war sein Gesicht, obwohl er uns eigentlich hätte sehen müssen. Welche Gedanken verbargen sich wohl hinter seiner Stirn? Hoffentlich machte er keinen Unsinn. Will Mallmann hatte sich total verändert. Der Tod seiner Frau hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Und irgendwelche gefühlsbetonte Reaktionen waren durchaus verständlich. Aber ich wollte ihn nicht in sein Unglück laufen lassen. Unter Umständen würde ich ihn dann auch noch verlieren. Wer dem Schwarzen Tod gegenübertrat, der mußte kalt bis ins Mark sein und durfte sich nicht von Gefühlen leiten lassen. Wir näherten uns dem Bus. Das Kreuz hing jetzt frei vor meiner Brust. Es glänzte ebenso im schräg herabfallenden Sonnenlicht wie die Scheiben des Fahrzeugs, so daß ich nur schemenhaft die Kinder im Innern des Busses erkennen konnte.
Soviel ich sah, waren sie aufgestanden und preßten ihre Gesichter gegen die Scheiben. »Willst du in den Bus?« fragte Suko. »Ja.« »Wäre es nicht besser, wenn wir uns vorher bewaffneten?« »Nein, erst müssen die Kinder befreit werden.« »Okay.« »Da sind auch noch Lehrerinnen bei den Kindern.« Ich sah sie, als ich mich nur noch wenige Schritte von dem Fahrzeug entfernt befand und schon auf die Tür zuging. Eine junge Lehrerin fiel mir besonders auf. Sie stand neben dem Fahrersitz, bewegte beide Hände über Kreuz und schüttelte dabei heftig den Kopf. »Was hat die nur?« fragte Suko. »Keine Ahnung«, erwiderte ich, ging weiter, behielt die Lehrperson jedoch im Auge. Ihre Gesten wurden heftiger, wilder. Verflixt, was meinte sie nur? Ich sah ihr Gesicht. Es spiegelte die Angst wider, die sie empfand, und der Mund schrie irgend etwas. Leider konnte ich nichts hören, geschweige denn verstehen. Aber ich las von ihren Lippen ab, was sie meinte, und ich sah es an den Bewegungen. »Nicht einsteigen. Nicht berühren!« Der Chinese überholte mich und streckte schon seine rechte Hand nach dem Griff aus. Im letzten Augenblick riß ich ihn zurück. Verwundert schaute mich Suko an. »Was ist los? Ich dachte, die Kinder sollten befreit werden.« »Ja, aber später. Dieser Bus ist eine magische Falle. Hast du nicht die Lehrerin beobachtet?« Suko schüttelte den Kopf.
Einen halben Schritt vor der Tür blieb ich stehen. Die junge Lehrerin nickte mir zu, machte mir durch ein Zeichen klar, neben dem Bus zu warten. Sie selbst verschwand. Als sie wieder an die Tür trat, hielt sie einen Zettel in der Hand und schrieb hastig ein paar Worte darauf. Danach hielt sie das Papier gegen die Scheibe. Ich entzifferte den Text. Ein Skelett hält uns im Bus gefangen. Wir können nicht raus, auch niemand rein. Die Luft wird schlechter. Durch das eine zerschlagene Fenster strömt nicht genug Sauerstoff ein. Auch den Kinder geht es nicht gut. Wir müssen raus. Das letzte konnte ich den Gefangenen gut nachfühlen. Aber wie sollte ich sie aus dem Bus holen? »Die Waffen, John«, erinnerte mich Suko. »Warte noch.« Ich fand ebenfalls einen Zettel in meiner Tasche und schrieb, daß sie sich noch ein paar Minuten gedulden sollten. Ich würde es dann versuchen. Ich wußte auch schon, wie. Mit meinem Kreuz. Vielleicht gelang es mir damit, die magische Sperre aufzuheben. Aber ich wollte die Kinder nicht vorher rauslassen, bevor Suko und ich nicht voll bewaffnet waren. Rasch näherten wir uns dem Gasthof und liefen hastig nach oben. Die Stille war bedrückend. Die einzigen Geräusche waren unsere Schritte auf dem Treppenteppich. Rasch schloß ich mein Zimmer auf, ging zum Schrank, öffnete die Türen – und erstarrte. Der Koffer war verschwunden!
* Hinter mir hörte ich Schritte. Es war Suko. »Was ist los, John? Weshalb kommst du nicht?«
Ich wandte mich um. Suko stand an der Tür. Verdutzt schaute er mich an, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Der Koffer ist weg«, sagte ich. »Gestohlen?« »Ich nehme es an.« »Der Schwarze Tod?« »Bestimmt«, erwiderte ich. Suko schlug in seine Handfläche. »Dann war er doch schlauer, als ich dachte. Und jetzt?« Ich hob die Schultern. »Nichts, mein Freund. Wir werden nur mit dem Kreuz bewaffnet hinuntergehen.« Suko nickte. »Ich frage mich nur, was dieser Dämon vorhat. Wenn er an die Waffen will und den Koffer nicht korrekt öffnet, strömt das Gas aus.« »Das ihn sicherlich nicht betäuben wird.« Suko grinste. »Wir sollten uns eine stärkere Mischung zulegen.« »Mal sehen.« Der Chinese machte mir Platz, als ich das Zimmer verließ. Auf dem Flur blieb ich noch einmal stehen. »Ich kann auch allein nach draußen gehen.« »Bist du des Wahnsinns fette Beute?« »Noch nicht.« Wir schritten die Treppe wieder hinab. Nach wie vor war es still innerhalb des Gasthauses. Auch das Personal mußte gesehen haben, was hier vor sich ging. Bestimmt hatten sie das Gebäude fluchtartig verlassen. Geblieben jedoch war der Schwarze Tod. Wir sahen ihn, als wir das Gasthaus verließen. Wie der große Sieger hockte er auf dem Busdach!
* In Will Mallmann tobte der Haß! Obwohl er äußerlich ruhig auf seinem Sitz saß, glich sein Inneres doch einem Vulkan. Die Scheiben des Wagens waren heruntergekurbelt, so daß frische Luft eindrang. Jeder seiner Kollegen konnte Will nachfühlen, wie es ihm ging. Doch niemand wagte, ihn anzusprechen. Auch nicht Frank Platten, der nach wie vor hinter dem Lenkrad saß. Er warf Will nur hin und wieder einen Blick zu, sah dabei ein kantig vorspringendes Kinn, eine klassische Römernase und fest zusammengepreßte Lippen. Manchmal zuckten die Wangenmuskeln des Kommissars oder bewegten sich die Hände, an denen ein goldener Ring glänzte. Den zweiten hatte Will abgenommen und eingesteckt. Er wollte ihn weiten lassen, damit er paßte. Immer wieder dachte er an Karin. Die Zeit mit ihr lief vor seinem geistigen Auge wie ein Film ab. Er dachte daran, wie er sie kennengelernt hatte, an das alte bayerische Gasthaus, in dem sie ihre Zimmer gehabt hatten, und an die Zeit nach dem Urlaub. Sie hatten sich oft gesehen. Wenn es die Zeit erlaubte, war Will nach Köln gefahren, um seine Karin zu treffen. Am Wochenende hatten sie öfter einen Bummel durch die Großstädte gemacht, und Will hatte gelernt, die Orte mit ganz anderen Augen zu sehen: Er war fröhlicher geworden. Sie schmiedeten Pläne, sie sprachen über die Heirat, über das kleine Häuschen, das sie sich kaufen wollten – und jetzt? Es war vorbei! Will Mallmann stöhnte auf. Die Gefühle übermannten ihn, und er senkte den Kopf. Seine Freunde und Kollegen schauten sich an. Jedem war anzusehen, daß er ein tröstendes Wort bereithielt, aber niemand traute sich
zu sprechen. Konnte man den Kommissar in seinem verzweifelten Schmerz um die geliebte Frau überhaupt trösten? Kaum. Ein Sprichwort sagt, daß die Zeit alle Wunden heilt. Auch die tiefsten, doch Wills Wunde war zu frisch, sie würde so rasch nicht vernarben. Von ihrem Standpunkt aus konnten sie den Bus sehen. Und sie sahen auch die Bewegungen hinter den Scheiben. »Das sind Kinder«, sagte ein Mann im Fond. Will hob den Blick. »Sie waren auch eingeladen«, erwiderte er flüsternd. »Jetzt hat sie der Schwarze Tod in den Klauen.« Frank Platten fragte: »Was ist das für eine Person, dieser Schwarze Tod?« »Eine Person?« Will lachte hart. »Es ist keine Person. Eine Bestie, ein Dämon, ein Höllenknecht, was weiß ich alles, aber kein Mensch. Er kennt keine Gefühle in unserem Sinn, er will nur den Schrecken und das Chaos. Er ist die rechte Hand des Teufels.« Frank Platten nickte. »Bisher habe ich dir nie so recht geglaubt, Will, aber nun bin ich eines Besseren belehrt worden.« Der Kommissar gab keine Antwort. Nach wie vor blickte er hart geradeaus. Und er sah, wie die Sonne für einen Moment verdunkelte und dann eine riesige Gestalt auftauchte. Der Schwarze Tod schwebte heran. Will ballte die Hände. Da war er – der Mörder seiner geliebten Frau. Und er war frei, er lachte sogar. In der rechten Hand hielt er seine Sense, in der linken einen rechteckigen dunklen Gegenstand, den Will bei genauem Hinsehen als Koffer identifizierte. Will Mallmann überlegte. Er hatte meinen Einsatzkoffer schon oft genug gesehen, so daß er ihn auch aus dieser Entfernung erkannte. Demnach hatte der Schwarze Tod es geschafft, den Koffer zu stehlen. Wieder ein Plus für ihn.
Wie lang sollte das noch so weitergehen? Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Nein!« flüsterte er. »Nein, niemals …« »Was ist los?« fragte Frank Platten. Will hatte sich schon entschlossen. »Ich steige aus«, sagte er mit fester Stimme. Bestürzt riß Frank die Augen auf. »Bist du wahnsinnig?« keuchte er. »Du kannst doch nicht …« »Ich kann, Frank!« »Nein, Will. Du hast doch gehört, was John Sinclair gesagt hat. Halte dich daran.« »Was John Sinclair gesagt hat, ist mir egal!« erwiderte Will Mallmann kratzig. Frank Platten drehte sich um. Er warf seinen Kollegen hilfe-suchende Blicke zu, doch die Männer hoben nur die Schultern. Sie wußten auch nicht, wie sie sich verhalten sollten. Wills Finger fanden den Hebel und öffneten die Tür. »Nicht!« rief Platten. Der Kommissar kümmerte sich nicht um ihn. Da wurde es Frank Platten leid. Er packte Will Mallmann an der Schulter und riß ihn herum. Er glaubte, damit genug getan zu haben, doch er irrte sich gewaltig. Will Mallmann, sonst ein friedfertiger Mensch, drehte durch. Er gab sich selbst noch Schwung, als er herumgerissen wurde, und dann kam seine Faust. Er rammte sie gegen das Kinn seines Kollegen. Plattens Kopf wurde in den Nacken gerissen. Hart knallte er gegen die Scheibe. Sekundenlang sah er Sterne. Die beiden anderen Männer konnten nicht mehr eingreifen. Alles war zu schnell gegangen. Will Mallmann stieß die Tür vollends auf und sprang nach draußen. Jetzt hielt ihn niemand mehr auf …
* Bill Conolly rauchte die dritte Zigarette innerhalb einer halben Stunde. Er war schrecklich nervös. Und Sheila ging es nicht anders. Sie saß neben ihrem Mann und zerknüllte mit den Fingern ein tränennasses Taschentuch. Sie hielt den Kopf gesenkt, die langen Haare fielen nach vorn und verdeckten das Gesicht wie ein Schleier. Bill Conolly schwitzte. Nicht nur, weil es im Wagen trotz des geöffneten Fensters warm war, sondern auch vor Aufregung. Daß er zur Untätigkeit verurteilt war, paßte ihm gar nicht. Andererseits war es jedoch besser, nicht an der direkten Front zu stehen, denn waffenlos würde der Schwarze Tod ein leichtes Spiel mit ihm haben. Dann erschien der Dämon. In Bills Augen blitzte es auf. Er haßte den Schwarzen Tod wie ich oder Suko. Sheila Conolly hob den Kopf, doch Bill drückte ihn sachte wieder nach unten. »Sieh nicht hin, es reicht, wenn du von diesem Ungeheuer hörst.« Sheila folgte dem Ratschlag. Der Schwarze Tod ließ sich auf dem Busdach nieder, und auch Bill sah den Einsatzkoffer. »O verflucht«, hauchte er. Der Fahrer drehte sich um. »Was ist?« »Nichts.« Bill wollte ihm nicht sagen, daß die Chancen noch mehr gesunken waren. Es reichte völlig, wenn er es wußte. Bills inneres Fieber stieg. Er hielt es kaum noch im Wagen aus. Sheila merkte dies ebenfalls. Sie warnte: »Mach keinen Unsinn, Bill. Du hast selbst gesehen, wie gefährlich dieser Dämon ist. Und
denk an deinen Sohn.« »Okay, klar, ich habe verstanden.« Bill beugte sich vor. Und dann sah er, wie am Wagen vor ihnen die Beifahrertür aufsprang. Dort saß Will Mallmann. Anschließend ging alles blitzschnell. Bill bekam schattenhaft etwas von dem Handgemenge mit, und danach stürmte der Kommissar aus dem Granada. Bill stieß die Tür auf. »Zurück, Will!« brüllte er. »Mach keinen Unsinn!« Mallmann hörte nicht. »Ich muß ihm nach«, keuchte Bill. Sheila faßte ihn am Arm. »Nein, nicht.« »Doch, verdammt!« Der Reporter hatte sich gegen den Willen seiner Frau entschieden. Er konnte seinen Freund nicht in den Tod rennen lassen. Denn daß Will durchgedreht hatte und völlig un-überlegt den Schwarzen Tod angreifen würde, das stand für den Reporter fest. Aber nicht nur er hatte sich zu einer Verfolgung entschlossen, sondern auch Jane Collins. Sie und Shao saßen im letzten Wagen. Als Bill aus dem Fahrzeug kletterte, schlug die Detektivin bereits die Tür zu. »Lauf, Bill!« rief sie. »Ihm nach!« Der Reporter rannte los. Will Mallmann war nicht so unklug, direkt den Bus anzusteuern, sondern er versuchte es von der Seite. Das heißt, er tauchte in den Wald ein, wo das Gelände bereits nach wenigen Metern steiler wurde. Der Kommissar keuchte. Er schlug im Wege stehende Äste zur Seite und wühlte mit seinen Schuhen das frische Laub auf. Einmal rutschte er aus und wäre fast den Hang wieder hinuntergefallen, doch gerade noch rechtzeitig umklammerte er einen dünnen Baumstamm.
»Will, bleib stehen!« Der Kommissar hörte zwar Bills und Janes Stimmen, doch er kümmerte sich nicht darum. Er hatte nur ein Ziel vor Augen: die Bestie zu vernichten, die am Tode seiner Frau schuldig war. Dafür gab er alles. Bill Conolly und Jane verständigten sich durch knappe, halb-laute Zurufe. »Wir müssen ihn in die Zange nehmen!« rief der Reporter. »Okay.« Bill tauchte nach rechts, Jane nach links. Der Reporter hatte mehr Kraft. Er schaffte den steilen Weg besser als die Detektivin. Als Bill die Höhe überwunden hatte und einen am Hang entlangführenden Spazierweg erreichte, sah er Will Mallmann. Er rannte wie von allen Teufeln gehetzt. Bill spurtete hinterher. Und er holte auf. »Will, sei nicht verrückt!« brüllte er dem Kommissar nach. Doch Mallmann hörte ihn nicht. Verzweifelt rannte der Reporter weiter. Er mußte Will Mallmann stoppen. Plötzlich sprang der Kommissar nach rechts. Er wollte jetzt wieder den Hang hinunterlaufen, denn er hatte mittlerweile den Standort des Busses passiert. Da sah Bill Conolly einen handlichen Stock auf dem Boden liegen. Er war etwa armdick und gut ausgewogen, wie Bill feststellte, als er ihn aufhob. Noch einmal warnte er den Kommissar, doch Mallmann drehte sich nicht einmal um. Da schleuderte Bill Conolly den Stock. Der Reporter stand noch auf dem Weg. Und zwar höher als Will. Bevor der Kommissar zwischen einer Gruppe von schützenden Bäu-
men verschwinden konnte, krachte ihm der Knüppel ins Kreuz. Bill hatte wuchtig geworfen, und Will Mallmann wurde nach vorn geschleudert, stolperte, konnte sich nicht mehr fangen und fiel bäuchlings zu Boden. Sofort setzte Bill Conolly nach. Er sprang über den Weg, kam an der Hanglage auf und rutschte auf den Kommissar zu. Will erhob sich und stützte sich dabei an einem Baumstamm ab. Hinter sich hörte er Bill Conolly. Mallmann wandte sich um. Der Reporter rutschte und hastete heran. Auch er hatte Mühe, bei der Schräglage des Hanges auf den Beinen zu bleiben. Wild ruderte er mit den Armen. Mallmann wußte genau, daß Bill Conolly nicht gekommen war, um ihm einen guten Tag zu wünschen. Er wollte ihn sicherlich zurückholen und von seinem Vorhaben abbringen. Aber damit war der Kommissar nun überhaupt nicht einverstanden. In der Nähe lag ein faustgroßer Stein. Mallmann bückte sich und hob ihn auf. Hart umschlossen seine Finger das Wurfgeschoß. Bill kam zur Ruhe. Schräg und breitbeinig stand er da. Er starrte den Kommissar an. »Bleib mir vom Hals!« knurrte Will Mallmann tief hinten in der Kehle. Bill schüttelte den Kopf. »Mach doch keinen Unsinn, Will. Laß uns reden. Du willst dich allein dem Gegner stellen, das ist Quatsch. Der Schwarze Tod ist stärker als du.« »Ich muß sie rächen!« »Will, sei vernünftig, ich bitte dich!« Der Kommissar blieb stur. »Hau ab, Conolly, verschwinde!« zischte er. Sein Gesicht wurde plötzlich zur Fratze. Die Augen versteinerten. Kalt schauten sie den Reporter an.
Der Kommissar hob die rechte Hand. »Nicht, Will!« schrie der Reporter. Da schlug Mallmann zu. Durch das Gewicht des Steines lag eine ungeheure Wucht hinter dem Schlag. Bill Conolly wäre buchstäblich von den Beinen gefegt worden, wenn Will getroffen hätte. Doch der Reporter war flink. Er warf sich zur Seite und tauchte unter dem Schlag hinweg. Allerdings gelang es Bill nicht, das Gleichgewicht zu halten. Durch die Schräge knickte er mit dem linken Bein ein und fiel hin. Sofort rollte Bill weiter. Mallmann lachte auf. Er hatte sich fangen können. Als er sah, daß der Reporter weiterrollte und im Augenblick keine Gefahr mehr darstellte, lief er an ihm vorbei, um auf die Straße zu gelangen. »Bleib hier!« schrie Bill, der sich an einem kargen Ast festgehalten hatte und fluchend auf die Beine kam. Da war Mallmanns Vorsprung bereits zu groß. Im nächsten Augenblick erschien Jane Collins. Sie trat hinter einem Baumstamm hervor und sprang Will Mallmann direkt in den Weg. Jane hatte bisher versteckt gelauert. Sie wollte den Ausgang des Kampfes abwarten. Doch als sie sah, daß Bill den kürzeren zog, entschloß sie sich, einzugreifen. Die Detektivin breitete die Arme aus. »Will, bleib stehen!« schrie sie. Mallmann gehorchte tatsächlich. Sein eigener Schwung trieb ihn zwar noch weiter, doch zwei Schritte vor Jane kam er zur Ruhe. »Geh zurück«, sagte die Detektivin. »Aus dem Weg!« zischte Mallmann. Er schob den rechten Arm vor und zeigte seinen Stein. »Bitte, sei vernünftig, Will!« »Nein.«
Janes Blick flog an Will Mallmann vorbei. Hinter dem Rücken des Kommissars sah sie Bill Conolly heranschleichen kommen. Er versuchte, möglichst lautlos zu gehen, doch seine Schuhe wirbelten Laub auf. Die Blätter raschelten. Will Mallmann wurde aufmerksam. Er warf sich herum. Sein Arm fuhr hoch, aber Bill Conolly war schon zu nahe heran. Und damit seine Faust. Der Reporter holte den Schlag aus dem Schultergelenk. Will Mallmann sah die Hand noch kurz vor seinem Gesicht auftauchen, dann explodierte der Schlag an seinem Kinn. Der Kommissar flog zurück. Jane Collins reagierte schnell. Sie fing ihn auf, bevor er zu Boden fiel und sich nicht mehr rührte. Bills Faustschlag hatte wirklich seinen neuralgischen Punkt getroffen. Der Reporter rieb sich die Knöchel, verzog das Gesicht und blies über seine Hand. »Tut mir leid!« sagte er, »aber das war nötig.« Er schaute Jane Collins an. Die Detektivin nickte. »Ja, er hätte sonst Dummheiten gemacht. Vielleicht hast du ihm damit das Leben gerettet.« »Falls der Schwarze Tod nicht doch noch gewinnt«, erwiderte der Reporter. Jane schaute Bill an. »Und was tun wir?« fragte sie. »Das, was Will Mallmann auch vorhatte. Wir sehen uns den Dämon mal aus der Nähe an. Unter Umständen können wir helfen.« Die Detektivin war einverstanden. Von Will Mallmann war vorerst nichts zu befürchten. Er würde noch einige Zeit schlafen. Die beiden machten sich auf den Weg …
*
Wir blieben dicht hinter der Tür stehen. Suko befand sich einen halben Schritt hinter mir. Sein warmer Atem streifte meinen Nacken. Das helle Licht traf mich voll, und mein silbernes Kreuz gleißte wie eine kleine Sonne auf. Der Schwarze Tod saß auf dem Busdach. Er lachte. Dröhnend schallte uns sein höllisches Gelächter entgegen. Er stand auf, schwang seine Sense und hielt auch triumphierend meinen Einsatzkoffer hoch. Er sah aus wie der große Sieger. »Komm nur her, John Sinclair!« rief er. »Ich will mit dir reden!« Ich ging. Dreißig Meter trennten uns vielleicht. Mehr nicht. Langsam schritt ich vor. Warm schien die Sonne in meinen Nacken. Und ich schwitzte nicht nur wegen der Hitze, ich hatte auch Angst. Nicht so sehr um mich selbst, sondern um die Kinder und die beiden Lehrerinnen innerhalb des Busses. Nach fünfzehn Schritten blieb ich stehen. »Warum kommst du nicht näher?« rief der Schwarze Tod. »Es reicht.« »Gut«, sagte er und trat mit dem Fuß auf, so daß das Blech des Daches dröhnte. Ich konnte jetzt besser durch die Scheiben schauen. Die Kinder im Bus erschraken und duckten sich ängstlich zusammen. In mir stieg die heiße Wut hoch. »Was willst du von mir?« rief ich. Wieder lachte der Dämon. »Dich will ich haben, John Sinclair!« »Das hatte ich mir gedacht.« Jetzt lachte ich. »Aber glaubst du im Ernst, daß ich so dumm sein werde, mich freiwillig in deine Hand zu begeben?«
»Nein, das habe ich nicht angenommen. Und deshalb werde ich dich zwingen.« In meinem Nacken sammelte sich der Schweiß und rann kalt an meinem Rücken hinab. Irgendwie war es ein groteskes Bild. Ich stand im nicht mehr ganz sauberen Smoking mitten auf dem Hof, und als einzige Waffe besaß ich mein silbernes Kreuz. Der Schwarze Tod hatte es schon versucht, mich in seine Gewalt zu bekommen. Doch der Anschlag im Wagen war mißlungen. Nun spielte er seinen höchsten Trumpf aus. Einen Trumpf, vor dem ich Angst hatte. »Es war mir klar, daß du Ärger machen würdest!« rief er. »Aber du kannst gar nicht anders, als zu mir zu kommen. Schau in den Bus! Siehst du die Kinder? Wenn du möchtest, daß sie am Leben bleiben, dann liefere dich mir aus!«
* Jetzt hatte er das ausgesprochen, womit ich längst gerechnet hatte. Ich war nicht einmal überrascht und verspürte seltsamerweise auch kein Herzklopfen. »Wie lautet deine Entscheidung?« Ich hob die rechte Hand. »Okay, Höllendiener, ich komme zu dir!« erwiderte ich mit rauher Stimme. Sekundenlang stand das Schweigen wie eine Wand zwischen uns. Danach rieb der Schwarze Tod seine Knochenhände gegeneinander. »Das war es, was ich von dir wollte.« Dann fauchte er: »Wirf dein verdammtes Kreuz weg, Sinclair! Los, wirf es fort!« Ich schüttelte den Kopf. »Erst die Kinder!« »Nein!« donnerte seine Stimme. Ich blieb hart. Der Schwarze Tod schwang sich in die Luft. Er schleuderte den Koffer weit hinter den Bus, weil er ihn behinderte und er die Sense
mit beiden Fäusten umklammern wollte. Ich ahnte, wie er mich zu töten beabsichtigte. Mit einem Sensenstreich. Wie auch Karin Mallmann. Der Schwarze Tod landete neben dem Bus. Seine weißen Augen leuchteten. Sein Maul klaffte auf, und er schrie: »Das Kreuz!« »Erst die Kinder!« »Treib es nicht zu weit!« fuhr er mich an. »Die Kinder!« Da riß der Schwarze Tod die Fahrertür auf. Sofort entstand Gedränge im Bus. Jeder wollte zuerst am Ausgang sein, doch als sie das Skelett sahen, wichen sie schreiend zurück. Der Schwarze Tod aber griff mit der freien Hand zu und bekam ein blondes Mädchen an der Schulter zu fassen. Brutal schleuderte er es aus dem Bus. Das Mädchen fiel zu Boden und weinte herzzerreißend. Eine Frau schrie: »Uschi, bitte …« Der Schwarze Tod hob die Sense. Die Spitze schwebte aber dicht über dem Kopf des Mädchens. Mir blieb fast das Herz stehen. »Wie ist es, Sinclair, hast du noch immer so eine große Klappe?« »Du hast gewonnen«, erwiderte ich rauh. Der Schwarze Tod lachte. »Dann her mit deinem verdammten Kreuz!« schrie er. Ich streifte meinen silbernen Talisman über den Kopf, trennte mich damit von meiner letzten Waffe … »John ist verrückt!« flüsterte Bill Conolly der Detektivin zu. Er und Jane Collins standen – von Bäumen gut gedeckt – nahe des Platzes. Sie hatten einen guten Überblick und beobachteten das Geschehen praktisch wie auf einer Bühne. »Er kann nicht anders«, erwiderte Jane Collins. »Dieser Dämon erpreßt ihn mit den Kindern.«
»Dann ist John verloren«, flüsterte Bill. Jane Collins schwieg. Sie dachte zwar nicht so pessimistisch wie der Reporter, aber große Chancen für mich sah sie auch nicht. Trotzdem wollten beide nicht tatenlos zusehen. Bills Blick glitt an dem Bus vorbei und blieb am Eingang des Gasthauses hängen. »Da steht Suko«, raunte er Jane Collins zu. »Warum greift er nicht ein?« Bill hob die Schultern. »Der Schwarze Tod hat den Koffer. Suko ist waffenlos.« Jane unterdrückte ein Schimpfwort. Der Reporter trat einen Schritt vor. Der Schwarze Tod wandte ihm den Rücken zu. Sein langer Mantel flatterte im Wind. Dann hob Bill Conolly die Hand. Er winkte mir zu, bewegte die Finger und hoffte nur, daß ich das Zeichen verstanden hatte …
* Als ich das Kreuz über meinen Kopf streifte, hatte ich das Gefühl, mich von meiner Seele zu trennen. Sekundenlang ließ ich es noch auf meinem Handteller liegen, schaute es an. »Weg damit!« schrie der Schwarze Tod. Ich hob den Blick. Plötzlich sah ich am Waldrand eine Bewegung. Dort erschien Bill Conolly. Er hob den Arm, winkte und bewegte dabei die Finger. »Willst du, daß die Kleine stirbt?«brüllte der Dämon. »Nein«, erwiderte ich, schloß die Hand zur Faust und schleuderte das Kreuz weit von mir. Es beschrieb einen Halbkreis, blitzte ein paarmal wie ein hochkarätiger Diamant und fiel dann in den Staub. Dort blieb es liegen. Der Schwarze Tod aber verkündete lauthals seinen Sieg. Er schleuderte
mir die Worte mitten ins Gesicht. »Waffenlos, John Sinclair!« brüllte er. »Du bist waffenlos. Das habe ich mir schon immer gewünscht. Endlich ist es eingetreten. Komm her!« Ich ging. Das Mädchen lag auf dem Boden. Es weinte leise und hatte sein Gesicht in den Händen vergraben. Die anderen Kinder und auch die Lehrerinnen befanden sich im Bus und schauten mich mit entsetzten Gesichtern an. Dann vernahm ich Sukos Stimme. »Warte, ich gehe mit dir!« Mein Partner kam. Hinter mir knirschten seine Schritte. Der Schwarze Tod war für einen Moment irritiert. »Bleib stehen!« schrie er Suko zu. Der Chinese gehorchte nicht. »Dann stirbt eben das Kind!« Mir stockte der Atem. Wenn Suko den Befehl nicht befolgte, war es aus. Doch er blieb stehen. An der anderen Seite des Platzes lief Bill Conolly lautlos auf den Bus zu. Ich konnte nicht sehen, was er vorhatte, denn der Schwarze Tod ging an dem Kind vorbei und kam mir entgegen. Er hatte die Sense. Ich besaß keine Waffen. »Ich werde dich köpfen, Sinclair«, versprach er mir, »und deinen Schädel werde ich Asmodis anschließend auf einem Tablett servieren. Das kannst du mir glauben!«
* Das Sensenblatt pfiff durch die Luft. Wieder flimmerte der rote Halbkreis, und in einer verzweifelten Reaktion warf ich mich nach vorn. Ich unterlief damit den mörderischen Hieb mit der Sense. Die Klinge wischte hautnah über mir hinweg und rasierte mir noch ein
paar Haare ab. Dann fiel ich gegen den Schwarzen Tod. Und plötzlich war auch Suko da. Aber er half nicht mir, sondern riß das Mädchen an sich, bevor der Schwarze Tod irgend etwas unternehmen konnte. Ich war gegen ihn geprallt, und durch die Wucht war der Dämon bis gegen den Bus gestoßen worden. Dann aber spielte er seine Macht aus. Plötzlich wuchs er in die Höhe, verdoppelte seine Körpergröße. Ich mußte einen mörderischen Schlag mit der Knochenfaust mitten ins Gesicht hinnehmen und wurde zu Boden geschleudert. »Du Wurm!« kreischte der Schwarze Tod. »Du größenwahnsinniger Zwerg! Und vor dir habe ich mich gefürchtet.« Schon einmal hatte ich ihm so gegenübergestanden, doch damals war mir der Geist des Gottes Manitou zu Hilfe gekommen. »Dann stirb!« schrie der Schwarze Tod …
* Ich erwartete den Schlag und danach den alles verzehrenden Schmerz, der in die absolute Dunkelheit des Todes mündete. Beides blieb aus. Dafür geschah etwas anderes. Eine Stimme klang auf. Grell und laut, sich fast überschlagend. Dann flirtete etwas durch die Luft. Etwas, was blitzte, funkelte, hell strahlte … Mein Kreuz! Bill Conolly hatte es geschleudert. Er war auf meinen verzweifelten Plan eingegangen, nachdem ich das Kreuz so weit von mir geschleudert hatte, daß er es aufheben konnte.
Und nun fegte es wuchtig auf den Schwarzen Tod zu. Der Schwarze Tod wurde voll getroffen. Er kapitulierte. Plötzlich schrumpfte er wieder auf seine normale Größe zusammen. In einer instinktiven Bewegung packte er das Kreuz, doch er ließ es gleich darauf wieder fallen wie ein glühendes Stück Eisen. Wimmernd brach er zusammen. Blitzschnell sprang ich auf. Ich rannte auf mein Kruzifix zu, wollte es aufheben, um den Schwarzen Tod erneut damit zu attackieren. Doch der Dämon hatte sich bereits wieder erholt und einen Teil seiner alten Kräfte zurückerlangt. Er bewies damit, welch eine Macht er besaß. Als ich herumwirbelte, sah ich noch seine huschende Bewegung. Dann fegte er los wie eine abgefeuerte Rakete. Er schwang sich in die Luft und fuhr noch einmal herum. Drohend schwang er seine Sense. »Beinahe hätte es geklappt, John Sinclair!« brüllte er. »Ich war nahe an meinem Ziel. Wir werden uns wiedertreffen. Und wenn es in der Hölle ist.« Ich hielt mein Kreuz hoch. »Ich warte schon darauf, Dämon!« schrie ich ihm entgegen. »Denk an meine Worte«, grollte er, und im nächsten Augenblick war er verschwunden. Wir aber atmeten auf. Ich ging zu meinem Freund Bill Conolly und reichte ihm die Hand. »Danke«, sagte ich nur. »Schon gut«, erwiderte Bill. Kein Lächeln lag auf unseren Gesichtern. Der Schwarze Tod hatte zwar sein Ziel nicht ganz erreicht, doch Karin Mallmann machte niemand mehr lebendig …
*
Eine halbe Stunde später saßen wir in der Gaststube. Jane Collins fehlte. Sie kümmerte sich um Gisela Gehrmann, die ihren Lebensgefährten auf eine schreckliche Art und Weise verloren hatte. Will Mallmann war auch bei uns. Er sprach nicht, sondern saß mit gesenktem Kopf auf seinem Stuhl. Bill und ich wußten auch nicht, wie wir ihn ansprechen sollten. Wir redeten mit seinen Kollegen. Sie hatten viel erlebt und gesehen, aber sie waren vernünftig genug, um die Sache für sich zu behalten. Ich wollte keine Panik in der Bevölkerung. Dem geflüchteten Personal würden sie einreden, daß alles nur eine Halluzination gewesen sei. Irgendwann stand Will Mallmann auf. Er schaute uns an und sagte: »Ich gehe dann.« Niemand fragte ihn nach seinem Ziel. Für uns alle war klar, daß er Abschied nehmen wollte. Abschied von seiner geliebten Frau … ENDE