Geisterfänger Band 18
Der Sensenmann von W. A. Hary Er kommt auch ohne Einladung...
»Effektvoll!«, murmelte einer d...
8 downloads
492 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Geisterfänger Band 18
Der Sensenmann von W. A. Hary Er kommt auch ohne Einladung...
»Effektvoll!«, murmelte einer der Herren - wohl, um sich selber Mut zu machen, denn er zitterte, wobei das Fensterglasmonokel endgültig seinen Halt verlor. Es war nicht richtig an der Schnur befestigt, fiel hin und zersprang in tausend Scherben. Das einzige Geräusch. »Frei schon«, schränkte der Gastgeber ein, »aber nur für geladene Gäste!« Er schwitzte. Hilfesuchend schaute er sich um. Wo war Maryann, seine Frau? Nur er war unmaskiert. Das Ratespiel, wer sich hinter welcher Maske verbarg, gehörte mit dazu. »Der Tod kommt immer ungeladen!«, wurde er belehrt. Der Ungebetene schulterte seine Sense und trat näher. Dabei ge wann man den Eindruck, als schwebte er knapp über dem Boden. »Effektvoll, wirklich!«, murmelte der Mann, der sein Monokel ver loren hatte. Er zitterte stärker. Die Dame, die vergeblich versuchte, ihre Körperfülle in einem viel zu engen Fledermauskostüm unterzubringen, seufzte herzzerreißend und kippte um. Ihre Show misslang. Kaum lag sie, öffnete sie vorsich tig das linke Auge. Niemand achtete auf sie. Enttäuscht rappelte sie sich wieder auf. Ein zweiter Herr brach den Bann. »Lass ihn doch einfach herein, Peter! Ich finde die Maske ausge zeichnet!« Jemand hatte die Musikanlage abgeschaltet und jetzt ging es wie der weiter mit ›Stayin' Alive‹. Manch einer empfand diesen Titel in einer solchen Situation als sehr unpassend. Der Sensenmann mischte sich unter die Gesellschaft. Der Gastge ber machte Anstalten, ihm zu folgen. Doch er gab auf und wandte sich achselzuckend ab. Es hatte ein weiteres Mal geläutet. Der nächste Gast. Dieser war geladen! Therese Gabriel verlor das Interesse an dem Geschehen und wid mete sich der Musikanlage. Sie war sicher, dass man sie trotz der schrecklichen Hexenmaske erkannte - zumindest von männlicher Seite her. Sie hatte nämlich außer der Maske nicht viel an und einige der Herren kannten sie mit noch weniger. 4
»Zweimal hundert Watt und zusätzlicher Anschluss für zwei Bo xen!«, grollte es neben ihr anerkennend. Erschrocken drehte sie den Kopf. Der Tod deutete mit seiner Sense auf die Anlage. »Wenn man die voll aufdreht, bleibt hier kein Auge mehr trocken, was?« ›Stayin' alive!‹, plärrte es aus den Lautsprechern. Die Bässe gin gen durch Mark und Bein. Therese Gabriel schüttelte den Kopf. Sie war verwirrt. Den an den gleichnamigen Engel erinnernden Nachnamen ver diente sie nur ihrer normalen Erscheinung wegen. In Wahrheit war sie das, was die Maske jetzt darstellte: eine durchtriebene Hexe, der Schrecken aller Ehefrauen. »Möchte wissen, wer sich hinter deiner Maske verbirgt!«, krächzte sie. »Kennen wir uns schon? Bin sehr gespannt auf die Demaskierung nach Mitternacht.« Er drohte mit dem knöchernen Zeigefinger, der aus dem zerschlis senen Kapuzenumhang ragte. »Vorsicht, Therese, hinter der Maske des Todes verbirgt sich nichts als das Grauen!« Ihre Augen glitzerten. »Du hast mich erkannt?« »Der Tod kennt jeden Lebenden!« Sie lachte gekünstelt. Ihr Blick wurde starr, als der Unheimliche seine Rechte ausstreckte. Wie zögernd verharrte die Knochenhand über ihrer nackten, wohlgeformten Schulter. Dann senkte sie sich. Eine sanfte Berührung, die sie elektrisierte. Mit einem Aufschrei wich sie zurück. »Schreckhaft?«, grollte er. Der Lautstärkeregler bewegte sich wie von Geisterhand. Lauter schrieen die Bee Gees aus allen vier Boxen: ›Stayin' alive!‹ Therese Gabriel kratzte ihre Schulter. Sie fühlte sich eiskalt an. Spontan warf sich die junge Frau herum und wollte davoneilen, doch gerade kam der Gastgeber mit einem Tablett vorbei. Die gefüll ten Sektgläser fielen zu Boden und zersprangen in tausend Stücke. 5
»Scherben bringen Glück!«, versuchte jemand einen Scherz. Er blickte in Richtung des Todes. Das Lachen erstickte. Die anderen Gäste wurden ebenfalls aufmerksam. Therese stierte vor sich hin, als könnte sie unmöglich begreifen, was sie angerichtet hatte. Benno Clasen lachte schadenfroh. Zweimal hatte ihn Therese er hört. Dann nicht mehr. Und seitdem lebte er von seiner Frau getrennt. Sie war ebenfalls anwesend, weit genug von ihm entfernt, am anderen Ende der kleinen Halle. Thereses giftiger Blick traf ihn. Er verstummte. »Noch immer verliebt?«, grollte es. Der Tod stand an seiner Seite. Benno Clasen zuckte zusammen. »Verliebt?«, echote er verächtlich. »In die vielleicht? Sie versteht es großartig, Männer anzumachen. Mehr nicht! Ich hasse sie und gebe ihr für meine kaputte Ehe alle Schuld.« Er drehte den Spieß um. »Was ist mit Ihnen? Auch trübe Erfahrungen mit ihr gemacht?« Er grinste unverschämt. Der Tod schüttelte den Kopf. »Ich habe nur eine einzige Leidenschaft: die Lebenden heimzusu chen! Ich lade sie ein ins Jenseits. Auch da ist der Eintritt frei für gela dene Gäste.« Das Grinsen in Benno Clasens Gesicht erstarb. »Mensch, Sie können einem vielleicht Angst einjagen. Nehme an, ein besonderer Gag von Peter Carlson, dem Gastgeber. Seine Partys sind stets ein voller Erfolg.« »Auch diesmal!«, bestätigte der Sensenmann, »allerdings nur für mich!« »Wie meinen Sie das?«, erkundigte sich Benno Clasen misstrau isch. »Ich werde bald den Maskenball auflösen und alle Gäste einladen - in meine Gefilde!« Benno Clasen prustete los: »Wenn da mal Peter Carlson nichts dagegen hat!« 6
»Er wird es mit Sicherheit. Doch wird er kaum etwas tun können. Die Würfel sind gefallen. Alle werden der Einladung Folge leisten - ob sie wollen oder nicht.« Benno Clasen hob die Stimme. »He, hört mal alle her!« Viele Augenpaare wandten sich ihm zu. Der Gastgeber reinigte eigenhändig und mit zornrotem Gesicht den Teppich. Es gelang ihm nur unzulänglich. Therese Gabriel stand wie unbeteiligt daneben. Es fiel ihr gar nicht ein, dem Mann behilflich zu sein. Auch sie schaute herüber. Erst jetzt erkannte sie Benno Clasen an der groß gewachsenen, muskulösen Gestalt. Effektvoll hatte er sich als römischer Krieger verkleidet. Einige Frauen waren Feuer und Flamme - außer seiner eigenen. »Gleich lädt uns der Tod ein und der Eintritt ins Jenseits ist für uns angeblich frei!«, rief er aus. Sie blickten den Sensenmann an und vergaßen zu lachen. Selbst Benno Clasen verlor plötzlich seine Heiterkeit. »Nur noch eine halbe Minute!«, grollte der Unheimliche. »Kostet sie aus!« Die Gesellschaft wurde von Unruhe erfüllt. Der Gastgeber erhob sich und ließ den Putzlappen in den Eimer fallen. Alle standen sie her um, als warteten sie auf etwas. Auf was? Auf den Tod? Aber der war schon mitten unter ihnen und er sprach die Einla dung aus - die Einladung in die Hölle. Die Anwesenden folgten ihm pünktlich. * Unruhe pochte in seiner Brust. Rex Gardiner wurde von ihr schon am frühen Morgen hochgetrieben. Er schlüpfte in den Morgenmantel und lief zum Zeitungskasten. Rex Gardiner war groß und durchtrainiert. Seine widerspenstigen Haare wirkten immer etwas zerzaust. Er machte sich nichts daraus und es stand ihm gut. 7
Rex nahm die Zeitung an sich und betrat wieder sein Haus im Eastend von London. Er wusste, dass er hellseherische Fähigkeiten besaß. Ihnen verdankte er auch seinen Reichtum. Die Fähigkeiten wuchsen im Laufe seines Lebens. Sie bescherten ihm zunächst die steile Karriere zum Chefinspektor bei New Scotland Yard. Später expe rimentierte er mit Glücksspielen - mit sagenhaftem Erfolg. Um kein Aufsehen zu erregen, zog er sich davon zurück. Auch beim Yard kün digte er. Seine guten Verbindungen dorthin blieben allerdings beste hen. Rex Gardiner hatte sich dem Ungewöhnlichen verschrieben. Es war dies mehr als nur ein Hobby. Er betrachtete es als Lebensaufgabe. In fiebernder Hast entfaltete er die Tageszeitung, während er sich in einen der Sessel im Wohnzimmer fallen ließ. Sein Extrasinn ließ ihn sich nur auf einen einzigen Artikel konzentrieren: ›London. - Ein Defekt in der Gasfeuerungsanlage führte in London zu einem schweren Un glück. Zum Zeitpunkt der Explosion fand in dem betroffenen Anwesen eine private Feier statt. Der Tod kam für die Beteiligten unerwartet. Scotland Yard kündigte Untersuchungen an, denn rätselhaft bleibt, wie ein Defekt mit solchen Folgen entstehen konnte. Ein vergleichbarer Fall ist nicht bekannt.‹ Rex Gardiner las den Artikel noch zweimal. Dann ließ er die Zei tung sinken. Sein Instinkt ließ ihn zum Telefon blicken. Lange brauchte er nicht zu warten. Es schlug an. Rex Gardiner hatte außer hellseherischen Fähigkeiten noch die Gabe der Psychokinese. Das hieß, er konnte mit reiner Geisteskraft Gegenstände bewegen und sogar in energetische Prozesse eingreifen. Allerdings setzte er diese Begabung nur in Ausnahmefällen ein. Sie kosteten ihn jedes Mal viel Substanz. Deshalb stand er auf und warf die Zeitung auf den Nachbarsessel. Mit wenigen Schritten erreichte er das Telefon. Er hob ab und meldete sich. »New Scotland Yard, Vermittlung!«, sagte eine nette weibliche Stimme. »Ich verbinde Sie.« 8
Ehe Rex Gardiner etwas sagen konnte, knackte es in der Leitung. Dann sprach eine tiefe Stimme, die an das Grollen eines Gewitters erinnerte. »Superintendent Harold Watson!« Das war Gardiners ehemaliger Chef. »Grüß' dich, Harold!«, sagte Rex Gardiner. »Was kratzt deine Le ber?« Rex konnte sich vorstellen, wie Harold Watson jetzt am anderen Ende der Leitung das Gesicht verzog. Der gute Superintendent trank gern einen über den Durst. Aber seine Leber hatte etwas dagegen mehr noch als seine Frau. Nach jeder durchzechten Nacht bekam er prompt die Quittung. Kein Wunder, dass das schlichte Wort Leber bei ihm Aggressionen erzeugte. »Wir sollten es persönlich erörtern, Rex!«, schlug der Super vor. »Es geht wohl um eine Gasexplosion, wie?« »Ja, eine, die eigentlich nicht hätte sein dürfen.« Mehr war aus Harold Watson nicht herauszukriegen. Rex Gardiner grübelte, während er auflegte. Dabei verfluchte er die Tatsache, dass seine hellseherischen Fähigkeiten leider nicht per fekt waren. Der Blick in die Zukunft war unvollständig. Er musste sich mit Ahnungen und Visionen begnügen und es war dabei seine Sache, alle Mosaiksteine zu einem brauchbaren Bild zusammenzusetzen. Wenig später war er auf dem Weg zum Yard. Er war gespannt, was Harold Watson zu berichten hatte. Oder wollte er Rex Gardiner nur neugierig machen? * Das Erwachen geschah langsam, Stück für Stück - und es war unange nehm. Frank McDowall konnte sich nicht erinnern, wann er sich jemals so unbehaglich gefühlt hatte. »Kein Wunder!«, bemerkte jemand mit tiefer, grollender Stimme, »denn du bist tot!« Frank McDowall erschrak. Er wollte den Kopf wenden, aber der Körper gehorchte nicht seinem Willen. 9
Er presste die Augen fest zusammen und versuchte, seine Gedan ken zu ordnen. Was sollte der Unsinn? Wieso sagte jemand, er sei tot? Und wo befand er sich überhaupt? Seine Hände begannen zu tasten. Weich, eine Daunendecke, ver traut. Sein Bett? Er sperrte die Augen weit auf, starrte zur Decke. Ja, er war da heim, lag auf dem Rücken, den Kopf in den dicken, flauschigen Kissen. Sie fühlten sich feucht an, schweißgetränkt. Als hätte er schlecht ge träumt. »Nun gut«, sagte die Stimme an seiner Seite, »ich gebe zu, ganz tot bist du noch nicht. Deshalb bin ich schließlich da.« Diesmal gelang es ihm, den Kopf zu wenden. Er hatte keine Schwierigkeiten mehr. Das Grauen spiegelte sich in seinem Gesicht. Der Anblick, der sich ihm bot, raubte ihm schier den Verstand. * Schlagartig fand Frank McDowall in die Wirklichkeit zurück. Das Gro teske der Situation wurde ihm bewusst. Auf dem Bettrand saß der Tod persönlich! Er war in ein langes, zerschlissenes Kapuzengewand gekleidet, wie man es auf kitschigen Bildern oft sehen konnte. Auf der knöchernen Schulter ruhte die Sense. Ein nackter Totenschädel grinste Frank McDowall an. Der Kiefer klapperte, als der Unheimliche ein schauerliches Gelächter hören ließ. Abrupt wurde der Tod wieder ernst. »Ich frage mich, warum du dich wunderst. Hast du mich denn nicht erwartet?« Die Erinnerung kam so ratenweise, wie das Erwachen vonstatten ging. Frank McDowall schielte zum Nachttisch. Dort lag ein umgekipp tes Glas. Der Rest der Flüssigkeit bildete eine hässliche Lache. Leere Tablettenschachteln lagen daneben und teilweise am Boden. Die Vor hänge waren zugezogen und ließen nur soviel Licht herein, dass man alles gut erkennen konnte. 10
»Selbstmord!«, entfuhr es Frank McDowall. Er erkannte seine ei gene Stimme nicht wieder. Sie klang krächzend, als gehöre sie nicht zu ihm. War es die Stimme eines Sterbenden? So fühlte sich Frank McDowall überhaupt nicht. Im Gegenteil. Trotzdem hielt ihn der Bann der Erkenntnis an seinem Platz. Der Tod nickte. »Ja, Selbstmord!«, bestätigte er. »Jede Hilfe kommt für dich zu spät. Ich bin da, um mich mit dir ein wenig zu unterhalten, um zu plaudern. Eine besondere Ehre für dich, Frank McDowall. Du kannst stolz darauf sein. Ich rede mit dir und lasse die Zeit vergehen, ehe ich dich endgültig zu mir nehme.« Frank McDowall hielt es nicht mehr aus. Er erhob sich. Nichts und niemand hinderte ihn daran. Am Fußende verließ er das Bett. Seine nackten Füße berührten den Boden. Er drehte sich um und wollte et was sagen. Das Wort blieb ihm im Halse stecken. Der Tod war nicht allein! Jemand lag im Bett, auf dem Rücken, die Hände auf der Decke. Er schien friedlich zu schlummern. McDowall wusste ganz genau, wer es war: Er selbst! Diese Erkenntnis brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. * Der Tod stand auf. Sein Gewand raschelte. Der Stoff war so alt, als wollte er jeden Augenblick in seine Grundbestandteile zerfallen. »Na ja, allmählich müsstest du begreifen, dass du mir nicht ent rinnst. Wer mit dem Tod so intime Bekanntschaft macht wie du, ist rettungslos verloren - als Lebender zumindest.« Mit der Sense deutete der Unheimliche auf den im Bett liegenden Frank McDowall. »Noch gibt es eine gewisse Verbindung zwischen Körper und Geist. Sie schwindet zusehends. Ein leichtes Spiel für mich. Ich brau che nicht in Aktion zu treten, kann mir Zeit lassen. Es wäre eine Lüge, würde ich behaupten, dass ich es nicht genieße. Willst du dich noch immer nicht mit mir unterhalten?« 11
»Unterhalten?«, ächzte Frank McDowall. Er begriff überhaupt nichts. Am Abend zuvor hatte er die Tabletten geschluckt, um Schluss zu machen. Sein Leben war ihm verkorkst vorgekommen. Jetzt war alles ohne Bedeutung für ihn. Er wollte nur begreifen, was hier vor ging. Dabei wusste er es längst schon. War es denn nicht klar? War es nicht normal, wenn man nach einem Selbstmordversuch dem Tod be gegnete? Es schwindelte ihm. Er musste sich setzen - direkt dorthin, wo e ben noch der Tod Platz gefunden hatte. Wie elektrisiert sprang Frank McDowall wieder auf. Der Unheimliche wiegte mit dem Kopf. »Das begreife wer will. Erst rufst du mich, willst du mit Gewalt Schluss machen, du, ein kerngesunder Mensch und dann erschrecke ich dich mit meinem Erscheinen. Warum diese Ablehnung? Bin ich nicht dein Freund? Für die meisten komme ich ungerufen und ungebe ten.« Frank McDowall ballte die Hände zu Fäusten. »Ich - ich will nicht sterben!«, stöhnte er. Der Tod trat auf ihn zu. »Dieser Entschluss kommt zu spät. Du gehörst bereits mir. Deine Uhr ist abgelaufen!« * Superintendent Watson wollte mehr als nur Neugierde wecken. Er gab sich bei der Ankunft Gardiners äußerst nervös, ging in seinem Büro unruhig auf und ab. Rex Gardiner setzte sich nach der Begrüßung und schlug die Beine übereinander. Dabei klemmte er beide Hände dazwischen. Ein Zei chen, dass er trotz äußerlicher Ruhe unter der Spannung litt. Watson erzählte, was er von der Gasexplosion wusste. Im We sentlichen nichts anderes als auch in der Zeitung stand. Aber dann wartete er mit einer Überraschung auf. »Es wurden Reste der Leitung gefunden. An einer Stelle war sie glatt durchtrennt!«, sagte Harald Watson. »Aber das ist noch nicht 12
alles. Es handelt sich um einen Häuserblock, um ein Doppelhaus mit gemeinsamer Trennwand. Das Nachbargebäude blieb bei der Explosi on fast unbeschädigt. Auch da eine klare Trennlinie. Wir nehmen an, dass die Explosion durch das Zertrennen der Leitung entstand.« Rex Gardiner schüttelte den Kopf. »Als hätte eine unbekannte Macht das Haus mitsamt allem in eine jenseitige Sphäre entführt und als wäre dort erst das Unglück pas siert.« Superintendent Watson nickte heftig. »Genau das sind auch meine Gedanken!«, bestätigte er. Rex Gardiner öffnete den Mund, um etwas zu sagen, kam jedoch nicht mehr dazu. Plötzlich quollen ihm schier die Augen aus dem Kopf. Er stierte gegen die Wand. Automatisch folgte Watson dem Blick. Nein, da war nichts zu se hen. Rex Gardiner erblickte etwas, was sich außerhalb dieses Raumes befand. Harald Watson wagte kaum zu atmen. Er sah die Schweißperlen auf Gardiners Stirn. »Der Tod!«, keuchte Rex Gardiner. »Der Tod persönlich. Schreck lich anzusehen. Der grinsende Schädel einem Mann zugewandt. Er will nicht sterben, doch der Tod breitet die Arme aus, nimmt ihn auf. Sie versinken. Ihre Konturen verschwimmen. Ein Bett mit einem Leichnam darin bleibt zurück. Wächserne Blässe in dem Gesicht. Auf dem Nacht tisch die Spuren eines gelungenen Selbstmordversuchs mit Tabletten.« Rex Gardiner kippte vornüber. Erschrocken sprang Watson hinzu und fing den Freund und ehe maligen Untergebenen auf. Rex Gardiner hatte Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Seine Augäpfel rollten. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Muskeln zuckten unkontrolliert. Watson hatte alle Mühe, den schweren Mann nicht doch noch zu Boden fallen zu lassen. Dann beruhigte sich Gardiner. Der Super nutzte die Zeit. Noch klang die Vision nach. Er musste gezielte Fragen stellen. 13
»Wer war der Mann, den der Tod umarmte?« Keine Sekunde zweifelte er daran, dass die Szene nur symbolisch zu verstehen war. »Hast du ihn gekannt?« »Nein! Dowall!«, murmelte Rex Gardiner schwach. »Dowall oder so ähnlich.« Endlich war es überstanden. Rex Gardiner befreite sich aus dem eisernen Griff Watsons und ließ sich ächzend auf den Sessel zurücksin ken. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich über die Stirn. »Hast du noch etwas gesehen?«, bahrte Watson. »Versuche dich zu erinnern! Vielleicht ist es wichtig.« Rex schüttelte den Kopf. »Sinnlos. Die Vision war sehr deutlich, befindet sich aber nur noch nebulös in meinem Gedächtnis. Sie löst sich mehr und mehr auf. Bald werde ich sie vergessen haben.« »Dowall! Was sagt dir dieser Name? Dowall!« Rex bedachte ihn mit einem verständnislosen Blick. »Habe ich nie gehört!«, behauptete er. Watson richtete sich auf. »Aber du hast doch eben noch...« Es trat das ein, was Rex Gardiner prophezeit hatte. Alle Erinne rungen an das hellseherische Erlebnis verschwanden. Ja, er wusste nicht einmal, dass er eben ein zweites Gesicht gehabt hatte. »Was ist denn los, Harald? Warum schaust du mich plötzlich so entgeistert an?« Der Super erklärte es ihm. Es fiel Rex Gardiner schwer, seinen Worten Glauben zu schenken. Dabei dämmerte ihm, dass er es hier mit einer Macht zu tun hatte, die sich gegen seine hellseherische Be gabung wehrte. Wie konnte sie das? Harold Watson sagte tonlos: »Wir dürfen den Tod nicht unter schätzen. Er hat alle Macht über die Lebenden.« Rex Gardiner betrachtete ihn, als könnte er ihn erst jetzt sehen. »Vielleicht war es nicht einfach nur eine bildhafte Vision, sondern eine wirkliche Szene? Der Tod in eigener Person!« 14
Jetzt fiel es Watson schwer zu glauben. * Rex Gardiner verließ den Yard, nachdem ihr Gespräch keine neuen Erkenntnisse mehr brachte. Sein Ziel stand fest. Er setzte sich in sei nen schlichten Ford und fuhr zu dem Haus, in dem in dieser Nacht das Schreckliche passiert war besser gesagt zu den Trümmern dieses Ge bäudes. Es war nicht schwer zu finden. Unweit davon parkte er. Näher kam er mit dem Wagen ohnedies nicht heran. Die Polizei gab sich zwar alle Mühe, das Gelände abzusperren, aber die Schaulustigen waren in der hundertfachen Überzahl. Deshalb beschränkte sich die Polizei auf eine innere Sperre, die niemand überwinden konnte. Die Arbeit der Experten musste ungestört verlaufen. Rex Gardiner beneidete die Männer der Abteilung Brandstiftung nicht. Spezialisten, die es gewohnt waren, im Dreck zu wühlen. Und wenn ein Brandstifter die Gasexplosion verursacht hatte, dann fanden sie das auch heraus. Der ehemalige Yardmann boxte sich im wahrsten Sinne des Wor tes durch die Menge. Er war froh, als er endlich in vorderster Front stand. Kein leichtes Stück Arbeit lag hinter ihm. Er gelangte zur Absperrung und zückte seinen Ausweis. Der Poli zist, der hier seinen Dienst versah, gab sich ein wenig mürrisch. Er hatte mit den Schaulustigen schlechte Erfahrungen gemacht. Rex Gar diner war ihm nicht bekannt. Deshalb nahm er den Ausweis an sich und brachte ihn seinem Sergeant. Dieser stutzte und sah herüber. Er winkte, als er Rex Gardiner erkannte. Damit war der Weg frei. Rex durfte die Absperrung passieren. Das geschah nicht ohne Murren der anderen, die sich vergeblich bemühten, etwas zu erkennen. Die Sensa tion blieb aus und solcherlei enttäuschte Massen neigen stets zu Ag gressionen. Rex Gardiner beeilte sich, aus dem Blickfeld zu kommen. Er mach te nicht so sehr die Rolle des Sündenbocks. 15
Man führte ihn zu Chefinspektor Larry Simens. Rex Gardiner war gemeinsam mit ihm in der Ausbildung gewesen. Sie kannten sich seit vielen Jahren. Larry Simens betrachtete ihn misstrauisch, bevor er ihm die Rech te reichte. »Wir sehen uns ja recht selten«, bemerkte er. »Seit du vor einem Jahr den Dienst beim Yard quittiert hast, kreuzen sich unsere Wege kaum noch.« Rex Gardiner setzte sein freundlichstes Lächeln auf. »Ich sehe, dass du dich über mein Hier sein wunderst.« Er zupfte an seiner Nase. »Ich komme eben von Superintendent Watson. Ich interessiere mich für den Fall, weil einer meiner Bekannten bei dem Unglück ums Leben kam.« Simens lachte gekünstelt. »Aha, ich dachte schon, man schicke dich, weil man an meinen Fähigkeiten zweifelt.« Er hatte es wie einen Witz ausgesprochen und Rex Gardiner lachte pflichtschuldig. »Es sind nicht die fähigsten Leute, die beim Yard den Dienst quit tieren, Larry. Ich hatte meine privaten Gründe und werde mich hüten, den Betrieb hier zu stören.« Larry Simens entspannte sich sichtlich. Er gab seine ein wenig feindselige Haltung auf, klopfte Rex auf die Schulter. »Alles klar, alter Junge.« Er deutete auf das Trümmergrundstück. Es sah aus, als habe eine Bombe eingeschlagen. Die Ruinen nach dem Krieg hatten gewiss nicht besser ausgesehen. »Sieh dich nur um. Du weißt, wie du dich zu bewegen hast, ohne Gefahr zu laufen, wichtige Spuren zu verwischen.« Rex Gardiner nickte grinsend. Larry Simens war schon in Ordnung. Man konnte nicht erwarten, dass einem alle Yardleute mit Kusshand begegneten, wenn man bei der berühmtesten Polizei der Welt ohne ersichtlichen Grund einfach ausgeschieden war. Es war einzusehen, dass der Chefinspektor für seinen Besuch we nig Zeit übrig hatte. Aber Rex war das nur recht. So konnte er sich ungestört umsehen. 16
Er ging auf die Trümmer zu. Rauchgeschwärzte Mauerreste und rußiger Schutt. Das war alles. Noch immer wurde nach Leichenteilen gesucht. Direkt am Rand des Grundstücks blieb Rex Gardiner stehen. Er sah die deutliche und unbeschädigte Trennlinie zum Nachbarhaus. Ja, das war in der Tat ein Phänomen. Auch das Gasrohr war erkennbar. Glatt, wie abgeschnitten. Keinerlei Spuren einer erfolgten Explosion. Eines weiteren Beweises, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war, bedurfte es nicht. Die Brandexperten waren wirklich nicht zu beneiden. Rex Gardiner war sehr gespannt auf die Erklärung. In der Zeitung hatte nichts von mysteriösen Umständen gestanden. Das bedeutete allerdings nicht, dass die Presseleute blind waren. Sie hielten nur so lange hinter dem Berg, bis es sich lohnte, darauf hin zuweisen. Dabei würden sie sich nicht scheuen, die Brandspezialisten als unfähig herauszustellen, wenn es für die Auflage der jeweiligen Zeitung von Nutzen war. Gerade wollte sich Rex Gardiner umwenden, als es geschah. Er kannte die Vorzeichen. Seine Umgebung veränderte sich. Als würde er sie jetzt durch eine farbige Brille sehen. Das Spektrum verschob sich allmählich. Alles wirkte auf einmal unwirklich, ja gespenstisch. Rex Gardinger versuchte, sich dagegen zu wehren. Normalerweise konnte er seine Visionen bedingt steuern. Diesmal gelang es nicht. Seine Mühe blieb umsonst. Träge wandte er sein Gesicht der Ruine zu. In die Trümmer kam Bewegung. Plötzlich waren alle Leute wie weggewischt. Dunkelheit senkte sich über die Szene. Und die Trümmer kehrten wie von Geisterhand geleitet an ihren ursprünglichen Platz zurück! Gardiner wunderte sich nicht darüber. Er war nicht mehr fähig da zu. Wie im Traum erlebte er es - einem Alptraum, der ihn unbeteiligt ließ. Er blieb Betrachter der Ereignisse, ohne damit zu tun zu haben. Das Haus entstand neu. Hinter den Fenstern brannte Licht. Musik fetzen drangen bis zur Straße hinaus. Stimmengewirr, vereinzeltes Lachen. Es wurde gefeiert. Die Menschen gaben sich ausgelassen. 17
Die Vision war sehr deutlich. Trotzdem schienen die Hauswände leicht durchsichtig zu sein. Rex Gardiner sah mehr. Er blickte in die Halle, in der die Feier hauptsächlich stattfand, als hätte jemand das Haus im Querschnitt durchgetrennt. Der Eindruck verschwand. Schritte auf der Straße. Eine dunkle Gestalt geriet in den Lichtkegel einer Laterne. Zerschlissener Umhang. Der Fremde trug eine Sense auf der Schulter. Der Tod persönlich, wie er zum Eingang schritt und die Klingel be tätigte. Rex Gardiner sah es, ohne den Anblick zu verarbeiten. Dem Unheimlichen wurde geöffnet. Er trat ein. Die Szene, die sich vor dem Ende der Feiernden abgespielt hatte. Rex Gardiner wurde Zeuge davon. Auf einmal änderte sich das Bild. Es wurde verschwommen. Rex blickte in den Keller des Gebäudes. Ein Schatten, undefinierbar, diffus. Dieser Schatten trug Werkzeug bei sich, trat zur Gasleitung, machte sich daran zu schaffen. Rex Gardiner konnte es nicht richtig erkennen, weshalb er näher schritt. Dabei war ihm, als wate er mit bleischweren Füßen durch ei nen zähen Brei. Das Bild rückte näher, wurde dabei jedoch nicht deutlicher. Eine Stimme drang an Gardiners Ohr, wie aus weiter Ferne. Sie klang erschrocken, warnend. Rex Gardiner achtete nicht darauf. Er schritt weiter, wollte wissen, was da im Keller passierte. Die Außenmauer bildete kein Hindernis für ihn. Der Kellerraum war offen. Noch einen Schritt, dann musste Rex Gardiner hinunterfal len. Er wunderte sich nicht darüber, wollte weitergehen. Etwas hielt ihn auf. Es riss und zerrte an ihm. Unwillig setzte sich Gardiner zur Wehr. Er sah niemanden. Un sichtbare wollten ihn am Weitergehen hindern. Diese Unsichtbaren blieben beharrlich. Und dann hatten sie es geschafft. Sie waren in der Übermacht und Gardiners Gegenwehr viel zu schwach. 18
»Rex!«, brüllte jemand direkt an seinem Ohr, dass er befürchtete, das Trommelfell platze. Und noch einmal. »Rex Gardiner!« Aus dem schwarzen Nichts, das sich rasend schnell ausbreitete, schälte sich ein Gesicht. Verschwommene Züge. Die Augen glühten von innen heraus. »Rex Gardiner!« Diese Stimme kannte er. Sie hatte etwas mit Scotland Yard zu tun. Chefinspektor Larry Simens! Wie mit Feuer brannte sich dieser Name in sein Gehirn. Schlagartig erwachte Rex Gardiner. Drei Polizisten hingen an ihm, klammerten ihn fest. Larry Simens stand da. »Verdammt, was ist mit dir los?«, schrie er. Rex Gardiner schüttelte den Kopf und vertrieb so den Rest der er lebten Vision. »Was - was ist denn passiert?«, fragte er verständnislos. Larry Simens atmete auf. »Mann, du hast dich wie ein Schlafwandler benommen und wärst beinahe in den verschütteten Keller gefallen.« Das alte Misstrauen erwachte in seinen Augen. »Was ist los mit dir, Rex? Bist du krank?« Rex Gardiner erkannte deutlich die unausgesprochene Vermutung, dass man ihn vielleicht aus dem Polizeidienst entlassen hatte, weil nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Er schüttelte die Polizisten ab. Zögernd zogen sie sich zurück. Sie vertrauten der Situation nicht richtig. »Vielleicht!«, wich Rex Gardiner aus. Er warf einen Blick über die Schulter. Nachträglich jagten ihm eisige Schauer über den Rücken. Hätten ihn die Polizisten nicht aufgehalten, hätte er sich möglicherwei se das Genick gebrochen. »Ich kann es dir nicht erklären, Larry, aber ich bin überzeugt da von, dass wir es mit Brandstiftern zu tun haben.« Der Chefinspektor rümpfte die Nase. »Was hast du gesehen? Hat es dich so mitgenommen, dass du...?« 19
Rex Gardiner winkte ab. »Ich habe dir versprochen, nicht in dein Handwerk pfuschen zu wollen. Ich bin ein Narr, wenn ich Dinge zu sehen glaube, die es gar nicht gibt.« Er packte Simens am Arm. »Nimm es mir nicht übel. Ich ziehe mich zurück. Hier habe ich nichts verloren. Eine Schnapsidee, überhaupt den Ort des Geschehens zu besichtigen.« Rex wandte sich tatsächlich zum Gehen. Die Stimme des Chefin spektors hielt ihn zurück. »Du sagtest doch, dein Bekannter wäre ums Leben gekommen. Wir wissen noch immer nicht, wer alles beim Maskenball mitgemacht hat. Wie hieß denn dieser Bekannte?« Rex Gardiner zwang sich zu einem Lächeln. Es gelang ihm vorbild lich. »Der Hausherr persönlich: Peter Carlson!« »Peter Carlson?«, fragte Simens verblüfft. »Du hast ihn wirklich gekannt?« »Na ja, bekannt ist vielleicht ein wenig übertrieben.« Rex zögerte. »War dieser Carlson eigentlich polizeilich erfasst?« »Nein, er fiel nicht einmal durch falsches Parken auf.« »Entschuldige, Larry, es war nur so eine Frage. Es hätte mich wirklich gewundert. Peter war ein ordentlicher Mensch. Weiß der Teu fel, warum ihm das Schicksal so etwas angetan hat.« Damit ließ er Larry Simens endgültig stehen. Er mischte sich unter die noch immer versammelte Menge und kämpfte sich zu seinem Wa gen durch. Aber er fuhr noch nicht sofort los. Nachdenklich blickte er über die Köpfe der Leute hinweg. »Superintendent Watson hat schon Recht, wenn er in diesem Fall meine Unterstützung wünscht. Da ist einiges faul.« Er zupfte sich in alter Gewohnheit an der Nasenspitze und führte das Selbstgespräch fort: »Der Gegner hat erkannt, dass ich mitmische. Die Visionen haben ihn auf mich aufmerksam gemacht. Das zeigt seine ungeheure Macht. Wenn ich meine Visionen kriege, peilt er mich an.« 20
Und dann ging Rex Gardiner in seinen Überlegungen noch einen wesentlichen Schritt weiter. »Es ist sogar möglich, dass er meine Visionen bis zu einem gewis sen Grad zu steuern vermag!« Ja, diese Fähigkeit war notwendig gewesen. Sonst hätte man ihn nicht in eine Falle locken können. Der Besuch der mysteriösen Ruine war für Rex Gardiner beinahe tödlich verlaufen. Das gab ihm zu denken. Er nahm sich vor, ab sofort doppelt vorsichtig zu sein. * Sie liefen Hand in Hand zum Kanal hinunter: Tony Henderson und Ja net Falk. Beide gebärdeten sich fröhlich und ausgelassen. Am Kai blieben sie stehen. Plötzlich war Tony Henderson ruhig, ja verschlossen. Janet stieß ihm in die Rippen. »Was ist los mit dir, Tony?« »Ich muss immer wieder daran denken.« »An das Unglück heute Nacht?« Er nickte. »Onkel Peter lud auch mich ein. Hätte ich nicht deinetwegen auf den Ball verzichtet, wäre ich jetzt nicht mehr am Leben.« Sie umarmte ihn, gab ihm einen Kuss. »Vertreibe die Gedanken daran, Liebling. Du hast mich hierher ge führt, um mir etwas zu zeigen. Wo ist es nun?« Es gelang ihr nicht ganz, ihn abzulenken. Laut sinnierte er: »Ich verstand mich nie besonders mit Onkel Peter. Andernfalls hätten wir beide hingehen können.« Abermals küsste sie ihn, drängte sich fest gegen seinen Körper. Sonst hatte das immer Erfolg. Diesmal nicht. Er nahm sie an beiden Schultern, drückte sie soweit zurück, dass er ihr Gesicht betrachten konnte. Ein verzerrtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. 21
»Du hast eigentlich Recht, Janet. Ich habe wenig Grund, um Peter Carlson zu trauern. Er hat das Leben in vollen Zügen genossen. Eine Party jagte die andere. Er hatte viel Geld, ohne dabei auf die Idee zu kommen, seinem schwach betuchten Neffen ein wenig unter die Arme zu greifen.« Er führte sie ein paar Schritte weiter. »Aber jetzt zu meiner Über raschung.« Tony Henderson deutete die steile Kaimauer hinunter. Unten schaukelte ein Boot, sorgfältig verzurrt. »Es ist meins.« Janet gingen die Augen über. »Deins? Du hast es gekauft?« Er schüttelte den Kopf. »Das nicht gerade. Eines Tages hat es mir Onkel Peter geschenkt. Wie es seine Art war, tat er das schriftlich. Allerdings hatte ich nichts davon, denn er benutzte es immer selber. Anscheinend bereute er seinen sozialen Tag. Jetzt ist er tot. Es gehört mir. Wir beide werden es einweihen und eine kleine Bootsfahrt machen.« Sie sträubte sich, die Eisenleiter hinunter zu steigen. »Ich finde das nicht richtig. Egal wie du zu deinem Onkel stan dest. Er ist erst seit einigen Stunden tot.« Er deutete auf das Bootshaus in der Nähe. »Es war seins. Wetten, dass er mich in seinem Testament nicht bedachte?« »Wen denn sonst? Du bist der einzige Verwandte und Maryann, seine Frau, war bei der Party zugegen.« »Keine Ahnung. Er wird sich schon etwas ausgedacht haben. Als meine Eltern vor vier Jahren umkamen, hat er mich zu sich gerufen und wörtlich erklärt: Meine Schwester taugte nicht viel. Sie heiratete einen Habenichts. Aus dieser Ehe bist du hervorgegangen. Jetzt bist du achtzehn und hast nichts erreicht, auch nicht das Geringste. Das zeigt deutlich, zu welchem Teil der kleinen Familie du gehörst. Mach nie den Fehler, von mir etwas zu erwarten! Was ich besitze, habe ich mir mühsam erarbeitet. Darauf hast du nicht den geringsten An spruch.« 22
»Ich möchte trotzdem nicht Boot fahren, Tony. Sieh die Nebelfel der drüben auf der Themse. Das Wetter ist feucht und kühl. Da macht es keinen Spaß, glaube mir.« Sie sah die Enttäuschung in seinem Gesicht und bereute ihre Wor te. Mit beiden Händen streichelte sie ihm über die Wangen. »Legst du wirklich so großen Wert darauf?« Er zuckte die Achseln. Sie schlug die Augen nieder. »Also gut, ich bin einverstanden. Aber nur kurz, nicht wahr?« »Was ist bloß los mit dir, Janet?« »Ich weiß nicht recht. Irgendein ungutes Gefühl hockt in meiner Brust. Man sprach von möglicher Brandstiftung. Vielleicht wird die Poli zei auch einmal zu dir kommen? Ich wundere mich, dass dies noch nicht geschehen ist.« Er zuckte zusammen. Ein seltsamer Ausdruck entstand in seinen Augen. Er wandte sich ab und begann, die eisernen Sprossen hinunter zu steigen. Janet Falk folgte ihm achselzuckend. Schwierig ist er schon, dachte sie im Stillen, aber ich liebe ihn
trotzdem. Warum soll ich ihm nicht den Gefallen tun und eine kleine Bootsfahrt unternehmen? Obwohl ich Angst habe. Eine gewisse Ah nung von kommendem Unheil. Er wartete unten im schaukelnden Boot und nahm sie in Empfang. Der Kuss beseitigte die Missstimmung zwischen den beiden. Tony Henderson löste das Seil und stieß das Boot ab. Er griff in die Riemen. Lächelnd betrachtete er seine Freundin. Er hing sehr an ihr, wollte sie nie mehr missen - ein Leben lang nicht. Aber auch ihn beschlich ein unruhiges Gefühl. Als würden sie gar nicht mehr lange zusammenbleiben können. Er schalt sich einen Narren und ruderte stärker. Das Boot schwenkte langsam herum. Tony Henderson steuerte es auf die Themse zu. Dabei übersah er den Protest in Janets Augen. Einmal hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er warf einen Blick zum Kai hinüber. 23
Stand da nicht eine dunkle Gestalt im langen Kapuzenumhang? Ein Bauer vielleicht? Jedenfalls trug er eine Sense auf den Schultern. Im nächsten Augenblick war die Erscheinung verschwunden. Janet Falk hatte nichts davon bemerkt. Dennoch klammerte sie sich am Bootsrand so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dabei war sie normalerweise alles andere als ängstlich. * Einer inneren Eingebung folgend hielt Rex Gardiner an einer Telefon zelle und rief den Yard an. Gleich bekam er Superintendent Watson an die Strippe. »Wie sieht es aus?«, fragte der Super. »Deine Vermutung ist richtig. Aber hast du inzwischen noch etwas in Erfahrung kriegen können?« »Ja!«, antwortete Watson einfach. »Die Ermittlungen laufen auf vollen Touren. Du kennst ja das Prinzip, dass in einem Fall die ersten beiden Tage für die Aufklärung am wichtigsten sind. Nur wenn es län ger dauert, wird das Polizeiaufgebot auf eine kleine Gruppe reduziert, die dann die längerfristigen Untersuchungen anstellt, aufbauend auf den bereits gewonnenen Erkenntnissen.« »Hängt es mit diesem Dowall zusammen?« »Woher weißt du das? Ich habe diesen Namen zum Anlass ge nommen, ein paar Nachforschungen zu starten. Das Ergebnis liegt vor. Es gibt einen Zusammenhang zwischen einem gewissen Dowall und einer Person, die nachweislich bei der Explosion ums Leben kam.« »Warum machst du die Sache so spannend, Harold?« »Vielleicht, weil ich ausnahmsweise einmal mehr weiß als du? Also gut, Rex: Dowall ist der geschiedene Mann von Therese Gabriel! Sie nahm nach der Scheidung vor einem Vierteljahr ihren Mädchennamen wieder an. Scheint es recht toll getrieben zu haben, die Dame. Wenn deine Vision stimmt und Dowall, der im Übrigen richtig Frank McDowall heißt, Selbstmord beging, dann ist sie ohne Zweifel der Grund. Im An fang ihrer Ehe sollen sie ein ideales Paar gewesen sein. Bis sie ent deckte, dass es auch noch andere Männer gibt. Sie ruinierte ihn völlig, 24
machte ihn geschäftlich unmöglich, brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Der einst erfolgreiche Frank McDowall ist nur noch eine Null, der Lächerlichkeit preisgegeben.« Rex Gardiner runzelte die Stirn. »Mehr als interessant, Harold. Hast du schon jemand auf den Weg geschickt? Weißt du, wo dieser McDowall wohnt?« »Im berüchtigten Westend. Eine Streife wurde beauftragt. Sie ha ben sich noch nicht gemeldet.« »Was gibt es sonst noch?« »Erst will ich wissen, was du von der Theorie hältst, dass es sich um Brandstiftung handelt!« »Wir sprachen davon, dass die Explosion auf eine Art und Weise geschah, die rational nicht zu erklären ist. Jetzt glaube ich nicht mehr so recht daran. Hier wirkt eine unheimliche Macht. Sie hat etwas da gegen, dass ich mich in den Fall einmische.« Rex Gardiner berichtete von seinem Erlebnis. »Es ist mir unklar«, schloss er, »ob die Vision, die letztlich als Falle für mich diente, die Wahrheit berichtete oder ob es sich um eine Verfälschung handelt. Gab es diese Gestalt, die sich an der Gasleitung zu schaffen machte, wirklich oder war die Szene nur ein Ablenkungsmanöver unseres Gegners?« »Abgesehen davon, dass wir das Motiv dieser fremden Macht nicht kennen, Rex, es gibt vielleicht jemanden, der an der Explosion Interesse hat!« Wieder machte es der Super spannend. Endlich rückte er mit der Sprache heraus: »Maryann Carlson, die Ehefrau des Gastgebers, war bei allen Partys zugegen. Lebte sie, hätte sie von sich hören lassen. Doch es gibt einen weiteren Verwandten: Peter Carlson hat einen Neffen, den er anscheinend sehr vernachläs sigte: Tony Henderson.« »Hat man sich schon um ihn gekümmert?« »Polizisten waren in seiner Wohnung. Er glänzte mit Abwesenheit. Keine Ahnung, wo er sich im Moment befindet. Ich scheute mich, eine Fahndung zu veranlassen.« »Das ist auch gut so. vielleicht sollte ich mich persönlich darum kümmern ehe man ihn verhört?« 25
»Das gefällt mir nicht, Rex!« »Gib mir wenigstens drei Stunden. Die kannst du doch vertreten, oder?« »All right, Rex! Was hast du mit ihm vor?« »Nur ein Einfall, mehr nicht. Ich halte dich auf dem Laufenden und sage dir auch, wo sich dieser Tony Henderson befindet, falls ich es vor dir herausfinde. Sage mir zunächst, wo er wohnt.« Superintendent Watson tat es bereitwillig. Rex Gardiner hängte wieder ein. Nachdenklich starrte er auf den Hörer. Er wartete, dass ihm seine hellseherische Begabung einen Tipp gab. Vergeblich. Er fühlte sich innerlich regelrecht leer. War das auf die geheimnisvolle Macht zurückzuführen? Stand denn wirklich der Tod persönlich hinter den Ereignissen? Alles war geheimnisvoll und verschwommen. Es sah so aus, als würde es ein gehöriges Stück Arbeit bedeuten, die Zusammenhänge zu erkennen. Rex Gardiner verließ die Zelle und trat zu seinem Wagen. Er wollte einsteigen, um zur Wohnung dieses Henderson zu fahren. Gerade schickte er sich an, den Schlüssel ins Türschloss zu ste cken, als in ihm der Alarm schrillte. Blitzschnell ließ er sich fallen. Unsanft kam er am Boden auf. Etwas sirrte über ihn hinweg und klatschte in die Fahrertür und stanzte ein kleines Loch heraus. Rex rollte sich zur Seite. Das nächste Projektil verfehlte ihn eben falls knapp. Zwei Schatten wuchsen rechts und links auf. Rex Gardiner blickte in die entschlossenen Gesichter unbekannter Männer. Sie bückten sich nach ihm. Dahinter glaubte er einen Totenschädel zu erkennen. In den lee ren Augennischen nistete das Grauen. * Harald Watson legte den Hörer auf. Er stand auf und trat an das Fens ter. Von hier aus hatte er einen guten Ausblick auf London. Sein Büro lag in einem der obersten Stockwerke des modernen Yardgebäudes. 26
Watson verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Sorgen um wölkten seine Stirn. Er blickte hinab und wusste, dass dort unten der Tod regierte - der Tod in eigener Person. Er suchte London heim und seine Macht würde noch wachsen. Das spürte der Super deutlich. Würde Rex Gardiner es zu verhindern wissen? Die Rufanlage summte. Widerstrebend wandte sich Watson vom Fenster ab und ging zu seinem Schreibtisch zurück. Er drückte auf den Antwortknopf. »Was ist?« »Sir, eine Meldung für Sie. Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist, aber ich denke, es wird Sie interessieren.« »Heraus mit der Sprache!« »Georg Kelly wurde aus der Haft entlassen!« »Kelly?« Harold Watson überlegte krampfhaft. Irgendwie kam ihm der Name bekannt vor. »Was habe ich mit dem tun?« »Aber Sir, erinnern Sie sich nicht mehr? Sie brachten ihn vor nunmehr zweiundzwanzig Jahren zur Strecke. Damals waren Sie Inspektor. Georg Kelly regierte mit Mafiamanie ren und großem Erfolg. Er war nicht zu greifen. Sie kündigten beim Yard und schafften es, in seiner Truppe aufgenommen zu werden. Dadurch gelang es Ihnen endlich, Beweismaterial gegen ihn zu sam meln.« Watson hätte sich ohrfeigen können. Wieso hatte er nicht gleich daran gedacht? Er gab es zwar nicht gern zu, aber diesem Fall hatte er letztlich seine Karriere beim Scotland Yard zu verdanken. Sein persön licher Einsatz war wesentlich größer gewesen, als man normalerweise von einem Inspektor verlangen konnte. Er hatte nicht nur seine Karrie re, sondern auch sein Leben aufs Spiel gesetzt. Ein Erfolg, der in die Annalen von Scotland Yard einging! Georg Kelly hatte ihm damals Rache geschworen. Watson hatte keinen Gedanken daran verschwendet. Aber wieso hatte man Georg Kelly frühzeitig entlassen? Die Beweise hatten zwar nicht für seine Hin richtung gereicht, aber für lebenslänglich. 27
»Georg Kelly war ein vorbildlicher Gefangener«, klärte ihn der Sergeant vom Vorzimmer auf. »Er trat so positiv in Erscheinung, dass gewissermaßen die vorzeitige Entlassung unabdingbar wurde.« »Ich danke für die Information!«, sagte Watson und unterbrach die Verbindung. Vor seinem geistigen Auge erschien das Gesicht Kellys - so, wie er damals ausgesehen hatte. Er richtete sich auf. »Ist es möglich«, murmelte Watson vor sich hin, »dass Kelly alles nur tut, um die Chance zu erhalten, sich wirklich an mir zu rächen?« Er zweifelte keinen Augenblick daran, obwohl sich alles in ihm da gegen wehrte. Abermals ging er zum Fenster. Er schaute hinaus. Dabei war es ihm, als könnte er das Gesicht Kellys genau sehen. Es schwebte drau ßen vor der Scheibe, verwandelte sich langsam in einen grinsenden Totenschädel. Ein mysteriöser Fall in London, die Erscheinung des Todes - und jetzt die unerwartete Entlassung Kellys. Zufälle, die nicht zusammen passen mussten. Aber auch Rex Gardiners Leben war gefährdet. Das hatte sich be reits erwiesen. Stand der Tod auf der Seite von Georg Kelly? Die Gedanken des Super verwirrten sich. Mühsam rang er um Be herrschung. »Verdammt!«, knurrte er, »langsam fange ich an durchzudrehen. Es ist nicht mein erster Fall und wird auch nicht mein letzter sein. Bis her war ich stets erfolgreich, sonst würde ich nicht den Stuhl des Su pers besetzen. Wer schafft es schon, seine Rachegedanken zwei undzwanzig Jahre lang zu bewahren?« * Immer weiter ruderten sie hinaus, erreichten die Einmündung des Sei tenkanals. Auf der Themse herrschte im Moment kein Betrieb. Nicht ein einziges Schiff pflügte durch die Fahrrinne. 28
Janet Falk beugte sich nach vorn. »Bitte, Tony, lass uns umkehren, bitte!« Ihre Stimme war ein dringlich, doch rief sie in Henderson nur Trotz hervor. »Ich möchte wissen, was du hast, Janet. Hat dich Onkels Tod so mitgenommen?« »Natürlich nicht. Ich habe ihn überhaupt nicht gekannt. Nur von deinen Erzählungen. Einmal sah ich ihn von weitem. Sicher wusste er nichts von meiner Existenz, obwohl wir uns schon über ein Jahr lang kennen.« Er nickte bitter. »Damit liegst du richtig, Janet. Er interessierte sich überhaupt nicht für meine Belange.« »Bitte, ich habe der Fahrt zugestimmt, aber wir brauchen sie doch nicht unbedingt weiter auszudehnen Tony.« Er hörte auf zu rudern, ließ die Riemen hängen. »Du bist heute eine Nervensäge, Liebling. Aber es ist schon gut. Wir kehren um, wie du es wünschst.« Sie sprang auf, eilte zu ihm. Dabei kam das Boot bedenklich ins Schwanken. Sie bedankte sich mit einem herzhaften Kuss und einer festen Umarmung. Dann kehrte sie zurück. Tony nickte ihr lächelnd zu. Er ergriff die Ruder erneut, bewegte aber nur eines. Nebelfetzen trieben über das Wasser wie weiße Geisterhände, die nach ihnen greifen wollten. Plötzlich schob sich ein riesiger Schatten über das Wasser, eine hohe Bugwelle vor sich hertreibend. Ein Ozean riese, der lautlos nahte. Lautlos? Nein, da war das Stampfen seiner schweren Maschinen, das Plät schern der verdrängten Wassermassen. Schon war das Schiff bedrohlich nahe. Tony Henderson bekam eine Gänsehaut. Das Schiff hielt auf sie zu. Warum hatten sie es nicht schon vorher bemerkt? Natürlich, sie waren zu sehr mit sich selber beschäftigt gewesen. Außerdem war es verboten, mit einem Ruderboot die Fahrrinne zu kreuzen. 29
Wie wild begann Tony Henderson zu pullen. Er musste sich beei len. Janet stieß einen spitzen Schrei aus. Sie wusste, in welcher Gefahr sie schwebten. Wenn sie in den Sog des Schiffes kamen, waren sie rettungslos verloren. Der Ozeanriese würde sie zerschmettern. Wahr scheinlich würde es an Bord kein Mensch merken. »Mach schnell!«, rief Janet Falk, obwohl sie sah, dass Tony schon sein Bestes gab. Sie stand auf, um ihm zu helfen. »Nein!«, keuchte er. »Ich schaffe es schon allein. Zu zweit rudern wir zu ungleichmäßig und kommen erst recht nicht vom Fleck.« Mit unnatürlich geweiteten Augen stierte Janet Falk auf die tödli che Gefahr. Da hörte sie ein Kichern hinter sich. Im Mienenspiel Tonys erkannte sie, dass sich in ihrem Rücken et was Furchtbares ereignete. Sie wagte es nicht, den Kopf zu wenden. Tony pullte weiter. Er ließ sich nicht ablenken. Ein Stöhnen drang über seine Lippen. Jetzt drehte sich Janet doch herum. Das nackte Grauen griff nach ihr. Knapp über dem Wasser schwebte eine Gestalt. Es war der Tod! * Rex Gardiner hatte keine andere Möglichkeit mehr. Sein Extrasinn schlug mit geballter Kraft zu. Eine Waffe besaß er nicht - in alter Polizeitradition. Aber er wusste sich dennoch zu wehren. Unsichtbare Kräfte packten die beiden Angreifer und stießen sie zurück. Einer verlor den Boden unter den Füßen und landete unsanft auf seinem Gesäß. Der dritte Schuss fiel. Der Schütze, den Rex Gardiner erst jetzt sah, stand breitbeinig im Hintergrund. Die Schalldämpferpistole war auf Gardiner gerichtet. Doch auch die vierte Kugel ging ins Leere. Rex Gardiner ahnte ge nau, wo sie auftreffen würde und wich rechtzeitig aus. Für die drei 30
Ganoven war er ein unheimlicher Gegner. Ahnten sie nichts von seinen besonderen Fähigkeiten? Der zweite der Angreifer warf sich auf ihn. Diesmal setzte Rex nicht seine unnatürlichen Fähigkeiten ein. Er musste seine Energie schonen. Seine Fäuste wirbelten. Er traf das Kinn des Mannes. Bevor sein Gegner zu Boden gehen konnte, packte er ihn mit ei serner Gewalt und drehte ihn herum, um ihn als lebenden Schutzschild zu benutzen. Der Schütze zögerte. Wenn er jetzt schoss, gefährdete er das Le ben seines Kumpels. Er wusste nicht, was er tun sollte, entschied sich schließlich dafür, näher zu kommen, noch immer die Waffe im An schlag. Er lauerte darauf, ob Rex Gardiner ebenfalls eine Pistole zog. Rex Gardiner tat ihm nicht den Gefallen. Wahrscheinlich hätte der Killer in Anbetracht einer direkten Bedrohung von seiner Waffe Gebrauch gemacht - ohne Skrupel für seinen Kumpel. Alles spielte sich auf offener Straße ab. Hier herrschte zwar nicht viel Betrieb, aber die drei nahmen keinerlei Rücksicht auf vorbeige hende Passanten oder Autos, die den Ort des Geschehens passierten. Rex Gardiner riskierte einen kurzen Rundblick. Die Leute waren erschrocken und traten die Flucht an. Sie wollten nicht in die Ereignis se hineingezogen werden. Wahrscheinlich wurde bereits die Polizei benachrichtigt. Die Gangster hatten nicht viel Zeit. Sie mussten rasch handeln, um sich nicht selber die Fluchtmöglichkeiten zu verbauen. Sie wussten das. Deshalb wollte der Schütze kurzen Prozess ma chen. Er kam bis auf zwei Schritte heran. Dieser Abstand genügte. Rex Gardiner wurde durch die schwere Last des Bewusstlosen behindert. Es gab kein Ausweichen für ihn. Entschlossen legte der Killer an. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. Doch der Schuss löste sich nicht. Unsichtbare Hände ergriffen die Waffe, rissen sie dem Mann aus der Rechten. Sie schwebte durch die Luft. 31
Rex Gardiner ließ den Bewusstlosen einfach fallen. Er nahm die Waffe in Empfang. In der Ferne klang Sirenengeheul auf. Schon nahten die Einsatz fahrzeuge der Polizei. Die Londoner Bobbys verstehen es, prompt zu reagieren und sehr schnell an Ort und Stelle zu sein, wenn man sie ruft. Rex Gardiner drehte den Spieß um und ließ den Killer in die Mün dung seiner eigenen Pistole sehen. Der dritte der Gangster rappelte sich eben vom Boden auf und wollte sich davonstehlen. »Hier geblieben!«, bellte Rex Gardiner. Der Mann blieb stehen und zog den Kopf zwischen die Schultern. Die entsicherte Pistole war Motiv genug für ihn, den Worten Gar diners Folge zu leisten. Und dann bog der erste Streifenwagen um die Ecke. * »Ihr wollt mir entrinnen?«, grollte der Unheimliche, der über dem Wasser schwebte. Janet Falk schrie sich alles aus dem Leib, was sie in diesem Au genblick empfand. »Wir schaffen es!«, rief Tony Henderson verzweifelt. Der Ozeanriese war heran. Mächtig durchpflügte er das Wasser. Aber das Boot hatte die Fahrrinne verlassen. Eine hohe Welle erfasste es, ließ es auf und nieder schaukeln. Tony Henderson zog die Ruder ein und hielt sich mit aller Macht fest, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Auch Janet kämpfte. Sie konnte ihre Aufmerksamkeit nicht mehr länger auf den personifizierten Tod richten, der abwartend verharrte, als wollte er sich an den Ängs ten und Nöten der Lebenden ergötzen. Der Ozeanriese schob sich wie ein Wolkenkratzer vorbei, hinterließ wild bewegtes Wasser. Der Wellengang beruhigte sich wieder. Tony Henderson griff grimmig in die Riemen, um das Boot dem Kai zuzusteuern. 32
Der Tod war noch immer da. »Gib es auf, Tony Henderson!«, mahnte er. »Wie willst du mir entkommen?« »Die Gefahr ist vorüber!«, schrie Janet Falk leicht hysterisch. Der Tod schüttelte den Kopf. - Er deutete mit seiner Sense auf das Boot. Sein Abstand zu den beiden jungen Menschen blieb stets gleich. »Dann betrachtet euch das baufällige Wasserfahrzeug einmal ge nauer. Peter Carlson ging manchmal damit angeln. Doch ein solches Boot will auch gepflegt sein.« Mit hervorquellenden Augen stierte Tony Henderson auf den Bo den. Im Trubel der Ereignisse hatte er es nicht bemerkt. Die Nussschale leckte! Das Holz war porös geworden und jetzt war das Wasser schon handbreit über dem Boden und bescherte ihnen nasse Füße. Die Entfernung bis zur Anlegestelle erschien den beiden endlos. Tony spielte bereits mit dem Gedanken, es aufzugeben und die Stre cke schwimmend zu überwinden. Aber davor scheute er zurück. Nicht weil das Wasser der Themse zu schmutzig war, sondern es war eiskalt. Sie würden es nicht lebend schaffen. Zumal Janet Falk Nichtschwim merin war. Dicke Schweißperlen rollten von Tonys Stirn. Seine Lungen sta chen, die Muskeln an Armen und Rücken fühlten sich taub an. Trotz dem pullte er, als gelte es, eine Meisterschaft zu gewinnen. Es ging um beider Leben! Dennoch wurde das Boot immer langsamer. Kein Wunder. Mehr Wasser drang ein. Sie wurden schwerer. Verzweifelt nahm Janet Falk ihre Handtasche, kippte sie einfach aus. Schminkutensilien, Papiertaschentücher und dergleichen wurden vom Wasser verdorben. Mit der leeren Handtasche begann Janet zu schöpfen. Etwas ande res stand ihnen nicht zur Verfügung. »Janet!«, stöhnte Tony Henderson. »Janet, ich kann nicht mehr!« Er übertrieb nicht. Der sportliche junge Mann hatte die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit längst überschritten. Da half auch keine To 33
desangst mehr. Die Kräfte verließen ihn. Seine Bewegungen wurden lahmer. Janet Falk sprang auf, dass das Boot fast umkippte. Sie stieß ihren Freund zurück. Es erwies sich, dass sie ein sehr praktisch denkendes Mädchen war, auf das man sich im Notfall durchaus verlassen konnte. Sie übernahm Tonys Platz an den Rudern. Janet verstand damit umzugehen. Trotzdem rangen ihre Bemü hungen dem Tod nur ein grollendes Lachen ab. »Viele scheiden freiwillig aus dem Leben. Die anderen kämpfen, obwohl es aussichtslos ist. Für euch ist es aussichtslos!« Janet warf einen Blick zum noch immer weit entfernten Kai hin über. Kein Mensch war zu sehen. Hilfe durften sie nicht erwarten. Der Tod war seiner Sache sicher. Fast verließ sie der Mut. Aber nur fast. Janet Falk kämpfte weiter. Auch Tony Henderson tat das. Er übernahm die Handtasche von Janet, biss die Zähne zusammen und schöpfte. Sein Erfolg war zwar nur ge ring, doch er bemühte sich trotzdem. So leicht sollte der Tod seine Beute nicht bekommen. Der Unheimliche schwebte über dem Wasser und schien sich köst lich zu amüsieren. »Der Zeitpunkt steht bereits fest, ihr armseligen Menschenkinder. Dein Onkel wartet auf euch - drüben in den Gefilden des Todes, dort, wo er sein Königreich errichtet hat. Seid auch ihr willkommen als Un tertanen des Sensenmannes.« * Georg Kelly wusste genau, dass man seine damaligen Worte nicht ver gessen hatte. Zugegeben, Rachegedanken gegen die Polizei hegte so mancher Inhaftierte. Wer aber setzte sie eines Tages in die Tat um? Man war doch froh, wieder auf freiem Fuß zu sein und hatte anderes im Sinn, als sich erneut und vor allem so drastisch gegen das Gesetz zu sträuben. Vor allem brachte es keinerlei Nutzen. 34
Georg Kelly dachte ein wenig anders darüber. Für ihn war es eine Existenzfrage. In der Unterwelt war durchaus bekannt, dass er sich im Dartmoor als hundertprozentig angepasst gegeben hatte. Nicht um sonst war er frühzeitig entlassen worden. Der negative Effekt davon war, dass ihn niemand in der Unterwelt anerkennen würde. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als das wenig angenehme Leben eines zwar ehrlichen aber dennoch vorbestraften Mannes zu führen. Genau dazu verspürte Georg Kelly absolut keine Lust. Der Racheakt an Superintendent Harold Watson sollte ihm die notwendige Eintrittskarte in die höchsten Kreise der Unterwelt be schaffen. Erneut würde er ein Königreich aufhauen. Ein zweites Mal würde man ihn nicht mehr zu fassen kriegen. Zweiundzwanzig Jahre waren eine lange Zeit. Wenn man sie nutzte, bildeten sie eine gute Grundlage für todsicheren Erfolg. Bedingung der geplanten Aktion war einzig und allein, dass man Georg Kelly nichts nachweisen konnte. Er war indessen sicher, dass er das erforderliche Rezept bereits gefunden hatte. Im Bewusstsein dessen, dass man ihn beobachtete, stieg er in den Linienbus und fuhr damit nach Soho, dem berühmt-berüchtigten Ver gnügungscenter Londons. Zunächst war einmal wichtig, dass er eine Bleibe fand. Hier rechnete er sich gute Chancen aus. Wenig später betrat er ›Lillys Bar‹. Lil Babs, wie sich die Besitzerin nannte - kaum jemand wusste ihren richtigen Namen - war einmal seine Geliebte gewesen. Sicher waren die zweiundzwanzig Jahre auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Aber sie war die einzige der alten Garde gewesen, die ihn manchmal besucht hatte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, dass Georg Kelly wieder auf freiem Fuß war. Um diese Zeit war die Bar noch geschlossen. Eine verschlafen dreinblickende Putzfrau war mit dem Reinemachen beschäftigt. Sie sah nicht einmal auf, als die Tür ging. »Kommen Sie heute Abend wieder!«, brummte sie unfreundlich und arbeitete im Zeitlupentempo weiter. »Dreckladen ist das. Etwas für Leute, die nichts anderes zu tun haben, als sich die Nächte um die Ohren zu hauen und dabei eine Menge Federn zu lassen.« 35
Georg Kelly grinste amüsiert. Nicht nur die Stimme kam ihm be kannt vor, sondern auch die Ausdrucksweise. Er trat hinter die gewichtige Putzfrau und verabreichte ihr einen Klaps auf das riesige Hinterteil. Die Frau verharrte in der Bewegung. Langsam richtete sie sich auf. Dabei drehte sie den Kopf. Strähnige Haare umrahmten ein schwammiges Gesicht. Die Putzfrau mochte an die sechzig Jahre zäh len. Ihre Augen verschossen Blitze. Mit ihr war gewiss nicht gut Kir schen essen. Dennoch wich das Grinsen nicht aus Kellys Gesicht. Und dann erkannte sie ihn. »He, das ist doch Georg Kelly!«, rief sie verwundert. Die Kinnlade fiel herab. Im nächsten Augenblick ballte sie in kalter Wut die Hände zu Fäusten. »Hat man dich Dreckskerl endlich entlassen? Hast wohl noch nicht genug angerichtet, was? Ja, das braucht der Staat: Kriminelle, damit man aus ihnen Sensationen machen kann - Sensationen, die groß ge nug sind, um die Fehler der Politiker zu verdecken.« Georg Kelly hatte noch nie erlebt, dass Lillys Mutter nicht über al les schimpfte. Über ihre Lippen kam kein Lob. Es war ihre Art. Deshalb machte er sich nichts daraus. Jeden anderen hätte sie krankenhausreif geschlagen. Ihm tat sie nichts. Das allein zeigte, dass sie sich in Wirklichkeit doch über sein Kommen freute. Sie hob die rechte Faust. »Lil Babs ist oben. Wie immer pennt sie bis in die Puppen, das faule, verdorbene Ding.« Sie reckte die Hände zur Decke. »Mein Gott, warum hast du mich so bestraft? Nicht nur, dass du mich auf diese elende Welt setzt - ich muss auch noch Typen wie die sem Georg Kelly begegnen.« Kelly schob sich an ihr vorbei zur Bar. Durch die rückwärtige Tür verschwand er. Ein Flur tat sich vor ihm auf. Im Gastraum hinter ihm lamentierte noch immer Lillys Mutter. Die Tatsache, dass sich Lilly keine Putzfrau 36
leisten konnte und ihre eigene Mutter einspannen musste, war nicht gerade ein Hinweis darauf, dass es ihr besonders gut ging. Es wird sich bald ändern!, dachte Georg Kelly grimmig. Tut mir
leid, Harald Watson, aber es geht nur über deine Leiche. Du hast da mals einen mächtigen Fehler gemacht, als du mir meinen Thron weg nahmst. In der Zwischenzeit hast du von deinen Lorbeeren gezehrt. Jedes Ding hat seinen Preis. Deine Rechnung wird nun fällig.
Georg Kelly stieg die Treppe empor. Oben öffnete sich eine Tür. »Wer ist denn da, Mutter?«, fragte eine verschlafene Stimme. Kelly sagte nichts. Er erreichte den oberen Treppenabsatz. Und dann standen sie sich gegenüber. Lil Babs war nun zweiundvierzig und nicht mehr ganz taufrisch. Dass sie eben noch geschlafen hatte, trug nicht gerade zu einem ge fälligeren Aussehen bei. Georg Kelly machte sich nichts daraus. »Ich bin wieder da!«, sagte er leise. Dann schlossen sie sich in die Arme. Die Zeitbombe tickte - die Zeitbombe mit Namen Georg Kelly. Ha rold Watson war das Angriffsziel. Keiner der beiden erkannte den dunklen Schatten, der sich in eine Türnische des Flurs drückte. Der Tod konnte überall gleichzeitig sein - dort, wo es galt, Leben de heimzusuchen. Er konnte zufrieden sein und betrachtete deshalb seinen Diener Georg Kelly wohlgefällig. * Es gab genügend Zeugen, die bezeugen konnten, dass die drei Gangs ter versucht hatten, auf offener Straße Rex Gardiner umzubringen. Rex gab seine Aussage zu Protokoll. Die drei Männer wurden festgenom men. Sie sagten kein Wort, blieben verstockt. Rex Gardiner musste versprechen, zum verabredeten Termin auf dem Präsidium zu erscheinen. Dann war er vorläufig entlassen. 37
Zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit rief er an. Er berichtete dem Super von seinem Erlebnis. »Der Tod, der sich menschlicher Handlanger bedient?«, wunderte sich Harold Watson. »Ja, Harold, darüber mache ich mir auch meine Gedanken!« »Was willst du jetzt tun?« »Das, was ich ohnedies vorhatte. Ich fahre zur Wohnung dieses Tony Hendersons.« Sie beendeten das kurze Gespräch. Als Rex Gardiner diesmal zu seinem Wagen ging, gab es keinen Zwischenfall mehr. Die Menschenmenge hatte sich verlaufen. Kaum etwas deutete auf das Geschehen hin - außer den Löchern in der Fah rertür. Rex Gardiner ignorierte sie und stieg ein. Unterwegs beschäftigten sich seine Gedanken mit Tony Hender son. Was war mit dem jungen Mann? Hatte er etwas mit dem Ableben seines Onkels zu tun? Nun, es würde sich herausstellen. * Harold Watson hatte beim Telefongespräch mit Rex Gardiner nicht die Entlassung von Georg Kelly erwähnt. Rex Gardiner kannte Kelly über haupt nicht. Zweiundzwanzig Jahre waren eine lange Zeit. Damals hatte Gardiner noch nichts mit der Polizei zu tun und drückte noch die Schulbank. Vergeblich bemühte sich der Superintendent, die Nervosität zu be kämpfen, die sich in ihm eingenistet hatte. Ein Anruf. Watson hob den Hörer von der Gabel. »Ja?« Der Sergeant vom Vorzimmer: »Sir, es ist für Sie!« »Das ist ja wohl logisch, oder? Wer ruft denn an?« Harold Wat sons Laune geriet auf den Nullpunkt. »Georg Kelly, Sir!« Watson brauchte eine Weile, um es zu verdauen. Endlich brachte er über die Lippen: »Stellen Sie rüber!« 38
Es knackte in der Leitung. »Watson!«, knurrte er. »Oh, ich hätte gar nicht Ihre Stimme erkannt.« Ich umso besser!, dachte Watson grimmig. Laut sagte er: »Kelly?« »Genau der! Ich habe oft an Sie gedacht.« »Hoffentlich nichts Schlechtes, wie?« »Hätte mich mal auf Ihren Besuch gefreut. Schließlich haben wir einmal Seite an Seite gekämpft, nicht wahr?« »Ich würde es anders formulieren: Stirn an Stirn!« Harold Watson hatte auf einmal das Gefühl, das Gespräch würde belauscht. Er runzelte die Stirn, blickte sich um. Wind kam auf, fauchte um das hohe Yardgebäude, rüttelte am geschlossenen Fenster als begehre er Einlass. Watsons Kragen wurde enger. Er hakte seinen Zeigefinger dahin ter, zerrte daran. Georg Kelly lachte herzlich. »Na gut, Sir, anerkannt.« »Mit Genugtuung hörte ich von Ihrer guten Führung. Sie waren ein vorbildlicher Gefangener.« »Es freut mich, dass Sie sich ein wenig um mich kümmerten.« Watson öffnete den obersten Kragenknopf und lockerte den Schlips. Diese Hitze. Wie kam das bloß? War denn die Heizung zu weit aufgedreht? Das Fenster hätte man aufmachen müssen. Fast sehnsüchtig blickte er hinüber. Ein Gesicht! Das konnte doch nicht sein. Eine Täuschung. Das Büro befand sich schließlich in den obersten Stockwerken. Wer konnte da hereinschau en? Nein, da war auch überhaupt nichts. »Kümmern wäre zuviel gesagt. Als Superintendent bekommt man doch einiges mit, nicht wahr?« »Ja, stimmt, Sie sind ja jetzt Super. Haben Sie eigentlich mir zu verdanken.« 39
Wieso ist es plötzlich so dunkel hier? Draußen scheint immer noch die Sonne. Watson fuhr sich über die Stirn. Kalter Schweiß perlte darauf. Er fühlte sich wie im Traum, lehnte sich schwer in die Polster seines Bü rosessels. »Ich weiß noch immer nicht, warum Sie anrufen, Kelly.« »Danke, dass Sie mich nicht duzen.« »Das ist doch keine Antwort.« Watsons Kopf ruckte herum. Er wurde beobachtet. Seine Hand hätte er dafür ins Feuer gelegt. Aber er war immer noch allein. Oder? Was war das für ein hoher Schatten in der Ecke? Er bewegte sich. Kam er auf ihn zu? Harold Watson war nie ein Feigling gewesen. Jetzt wurde er es. Er zitterte wie im Fieber. »Ich hörte, dass Sie den Tod jagen, Sir!« »Wie bitte?« »Ja, ich bin gut informiert, nicht wahr? Vielleicht, weil ich mit dem Tod persönlich ein Abkommen getroffen habe? Ich bin einer seiner lebenden Diener.« »Was soll der Unsinn?« »Ich sehe schon, dass ich Sie verwirre. Das ist nicht meine Ab sicht. Jetzt ist die Situation verfahren. Es gibt keinen Ausweg mehr, nicht wahr? Sie sind ein erfolgreicher Mann, ein großartiger Kriminalist, der sich viele Jahre an der Front bewährte. Diesmal werden Sie sich die Zähne ausbeißen. Eine relative Leichtigkeit, einen Mörder zu fan gen. Gegen den Tod kommt niemand an. Er nimmt seine Opfer und fragt niemanden, ob er will oder nicht. Sehen Sie meinen Anruf als eine freundschaftliche Geste an. Ja, Sie haben richtig verstanden, Sir. Ich weiß, was ich Ihnen damals versprochen habe. Nehmen Sie es nicht so tragisch. Versprechen Sie mir das? Ich habe nichts gegen Sie persönlich.« »Sie müssen jetzt entschuldigen, Kelly, meine Zeit ist sehr knapp bemessen. Habe Ihren Anruf sehr begrüßt. Vielleicht war er notwen dig. Beginnen Sie ein neues Leben - ohne mit dem Gesetz in Konflikt 40
zu kommen! Dann haben wir tatsächlich die Chance, gute Freunde zu werden.« Georg Kelly lachte leise. »Werde es mir merken. Noch einmal: Vielen Dank für das Ge spräch. Es hat mir viel geholfen.« Harold Watson legte langsam den Hörer auf. Er war überzeugt davon, dass jemand in der Ecke stand und ihn belauerte. In Augenhöhe glühten zwei Punkte, deutlich sichtbar. Ein dunkler Schatten nur, der sich jetzt nicht mehr bewegte, aber bedroh lich. Mit der linken Hand zog Harold Watson die Schublade auf. Eine Waffe lag griffbereit darin. Er entsicherte sie, zog sie blitzschnell her vor. Der Schatten rührte sich nicht. Harold Watson stand auf. Er umrundete den Schreibtisch, näherte sich mutig dem Fremdartigen. Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Es wurde düster im Büro des Super. Er erreichte die Ecke. Nein, mit einer Waffe konnte er da nichts ausrichten. Es handelte sich nicht um einen menschlichen Gegner. * Motorengeräusch drang über das Wasser zu den beiden total Erschöpf ten. Janet Falk hatte nicht mehr die Kraft, hinzublicken. Das Motorengeräusch wurde schriller, näherte sich ihnen. Janet Falk fühlte sich wie elektrisiert. Sie ließ die Ruder los. Tatsächlich, ein Motorboot hielt direkt auf sie zu. Es pflügte in ra sender Fahrt durch das Wasser. Der Tod schwebte noch immer da, rührte sich nicht von der Stelle. Er lachte nicht mehr, schien nur noch zu beobachten. Das Motorboot verlangsamte seine Geschwindigkeit nicht. Es be hielt die Richtung bei. 41
Janets Herz krampfte sich zusammen. Ihr Boot sank unerbittlich. War der Heranrasende denn wahnsinnig geworden? Wenn er diesen Kurs beibehielt, kam es zum Zusammenstoß. Janet versuchte, den Bootsführer zu erkennen. Die Lichtreflexe auf der Frontscheibe verhinderten es. Noch hundert Meter. Unveränderte Fahrt. Tony Henderson stöhnte laut. Der Tod schwebte hin und her, als sei er unschlüssig. Plötzlich verschwand er. Sofort wurde es merklich heller um die beiden. Die Lichtreflexe auf der Frontscheibe des Motorbootes verschwanden. Sie erkannten einen hoch gewachsenen, sportlich erscheinenden Mann. Dunkelblondes Haar und braungebranntes Gesicht. Er schaute grimmig drein. Erst im letzten Augenblick steuerte er sein Boot herum. Eine hohe Welle schwappte zu Janet und Tony herein. Das gab ih rer Nussschale den Rest. Sie sank. Aber da war der Fremde schon bei ihnen. Er streckte beide Arme aus. Sie griffen zu. Janet und Tony hielten sich mit letzter Kraft fest. Sie wussten, das war die Rettung. Es blieb zwar unklar, welchem Um stand sie es zu verdanken hatten, aber der Fremde bewahrte sie vor dem Tod durch Ertrinken. Total erschöpft sanken sie zu Boden. Der Blonde stand über ih nen, betrachtete sie. Tony schaute zu ihm auf. ›Warum haben Sie das getan?‹, wollte er fragen, doch die Stimme versagte ihm ihren Dienst. Es gelang ihm nur, sich etwas aufzurichten und über den Boots rand hinwegzuspähen. Er hatte geglaubt, der Tod sei nicht mehr da, doch sein Schatten wehte über das Wasser genau auf ihn zu. Wer war der Blonde? Was hatte er mit den beiden jungen Leuten vor? Er beugte sich zu ihnen hinab. 42
»Keine Angst, Sie sind nicht vom Regen in die Traufe gekom men«, sagte er freundlich. »Mein Name ist Rex Gardiner. Das sagt Ihnen wahrscheinlich nichts. Wir sind uns noch nicht begegnet.« »Sie - Sie haben uns das Leben gerettet!«, keuchte Janet. Er nickte ihr zu. »Ich weiß.« »Wo - wo sind Sie so plötzlich hergekommen?« »Reiner Zufall. Ich sah Sie vom Kai aus, wie Sie gegen den Unter gang ihres Bootes ankämpften. Es blieb mir nichts anderes, als in das Bootshaus drüben einzubrechen und dieses Boot zu entwenden. Viel Zeit hatte ich schließlich nicht.« »Es ist das Bootshaus meines Onkels«, murmelte Tony Hender son. »Na, da bin ich ja beruhigt. Fahren wir dorthin. Es wird Zeit, dass Sie trockene Sachen auf den Leib bekommen. Hoffentlich haben Sie sich nicht schon eine Grippe eingehandelt. So etwas geht schnell.« »Hauptsache, wir sind dem Tod entronnen!« Als Tony Henderson diesmal über das Wasser blickte, gewahrte er den Schatten nicht mehr. Rex Gardiner erzählte den beiden nicht alles. Er ließ unerwähnt, dass er an der Person von Tony Henderson spezielles Interesse hatte und log, wenn er von einem Zufall sprach, der ihn herführte. In Wirk lichkeit war er einer Eingebung gefolgt, einer flüchtigen Vision, die durch irgendeine unbekannte Kraft gestört wurde. Es hatte dennoch genügt, ihn rechtzeitig zur Stelle sein zu lassen. Auch Rex Gardiner hatte den Tod gesehen - diesmal mit eigenen Augen. Er grübelte darüber nach, wie das Phänomen zustande kam. Nicht zum ersten Mal. Mit Sicherheit auch nicht zum letzten Mal. * Er wusste nicht, was mit ihm geschah. Plötzlich konnte er sich an nichts mehr erinnern, wusste er nicht einmal, wie er hieß und wer er war. 43
Dunkelheit umgab ihn, umfing mit bleierner Schwere seinen Verstand. Da, ein Licht. Erst nur ein Funke, wuchs es rasch heran. Aus der undurchdringlichen Finsternis wurde wabernder Nebel, durchzogen mit farbigen Streifen. Er wallte stärker, wurde erhellt, riss auf. Wo das Licht zuerst entstand, öffnete sich eine Lücke. Nur sekun denlang. Der Mann hatte Ausblick auf eine Welt des Grauens. Er schwebte direkt darüber, schwerelos, zeitlos. Er wollte schreien. Aber er besaß keinen Mund, keine Stimme, ja, überhaupt keinen Körper! Ein Geist, entführt in die Unwirklichkeit. Entführt von wem? Er war nicht allein. Jemand oder etwas war bei ihm, leitete ihn, war sein Führer. Er durchstieß die Wolkendecke. Freies Land. Sanfte Hügel, die am Horizont in bizarre Bergriesen übergingen. Kein Gletscher bedeckte ihre Höhen. Kein Wind hatte die schroffen Formen abgeschliffen. Aus den Tälern zwischen den Hügeln stiegen schweflige Dämpfe empor. Der Mann, der als Geist in diese Welt gekommen war, roch sie, empfand es als unangenehm. Er roch? Tiefer ging es. Ein Gluthauch umwehte ihn. Und jetzt vermochte er zu schreien. Er schrie sich alles aus dem Leib, was er empfand, denn er erkannte, dass sich ein neuer Körper gebildet hatte. Aber er war nicht wie der erste, war nicht menschlich. Zu einem Ungeheuer wurde er. Der Gestank dieser Welt kam ihm vor wie Veilchenduft. Der feuri ge Hauch, der stoßweise über das Land wehte, wie der Atem eines Untiers, erschien angenehm, umschmeichelte den monströsen Leib. Er breitete seine lederartigen Schwingen aus, peitschte mit ihnen die Luft. Mühelos hielt er sich über einem Hügel. Die zwei hervorquel lenden Augen starrten umher. 44
Und da sah er den, der ihn entführt hatte - aus der Welt der Le benden in das Zwischenreich der Dämonen und verdammten Seelen: der Tod. Da schwebte er. Hass peitschte den Monströsen. Er wollte sich auf den schwarzen Schatten mit dem Totenschädel stürzen, tat es jedoch nicht, weil es sinnlos war. »Warum hast du das getan?«, kreischten seine Gedanken, denn eine menschliche Stimme besaß er nicht. Der Tod lachte grollend. »Du bist mein Sklave. Einst warst du Frank McDowall, jetzt bist du ein Ungeheuer. In dieser Welt wird man das, was man im Grunde sei nes Wesens ist. Nur wenige behalten ihre menschliche Gestalt. Damit sind sie den anderen weit unterlegen und müssen ständig büßen. Der Tod hat hier die Macht, aber er regiert über Lebende. Finde dich zu recht, Frank McDowall! Wenn die Zeit reif ist, rufe ich nach dir und du wirst zur Stelle sein.« Die Erscheinung verschwand mit einem letzten Gelächter. Auf weit gespannten Schwingen stieg der ehemalige Mensch McDowall empor, stieß in die Wolkendecke. Sie war die Grenze. Man konnte sie nicht überwinden, konnte nicht das Reich des Todes verlassen. Unsichtbare Kräfte packten ihn und schleuderten ihn zurück. Beinahe wäre er auf einem der Hügel zerschellt. Mit aller Kraft gelang es ihm, den rasenden Sturz aufzu halten. Erschöpft ließ er sich nieder. Da war eine Pfütze. Er beugte sich darüber. Der Anblick schreckte ihn nicht mehr. Er war ein Wesen dieser Sphäre. Es war ganz normal, so auszusehen. Der Kopf war über und über mit horniger und warziger Haut be deckt - knorrig wie die Rinde einer alten Eiche. Die Augen waren glut rot. Höllisches Feuer brannte darin. Der Rückenkamm reichte bis in die Stirn. Aus der Brust wuchsen zwei Stummelarme mit ausgebildeten, schuppigen Händen. 45
Frank McDowall peitschte mit dem armdicken Schwanz. Er konnte ihn zu einer Schleife formen, auch damit zupacken. Der Schwanz war die Verlängerung des knochigen Rückenkammes. Er hob den monströsen Schädel, stieß ein urweltliches Röhren aus, das schaurig von den Hügeln widerhallte. Und dieser Ruf wurde beantwortet! Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass er diese Sphäre mit anderen teilen musste. Der Tod hatte davon gesprochen, dass manche ihre menschliche Gestalt behielten. Wie war es mit den anderen? Wie sahen sie aus? Frank McDowall verhielt in stummer Verzweiflung. Sein Blick irrte umher. Er wusste, dass man ihn beobachtete. Schreckliche Instinkte wurden in ihm wach. Bei den anderen würde es ebenso sein. Aus Menschen waren Geschöpfe der Verdammnis geworden. McDowall spürte die Angst. Er ahnte, dass bald etwas Furchtbares geschah. Aber was? Es blieb ihm nichts anderes, als abzuwarten. Er breitete die Lederschwingen aus und machte sich fluchtbereit. Ob es gegen die Übermacht etwas nützte? Sein Maul war vorn als Schnabel ausgebildet. Messerscharfe Kan ten. Damit würde er selbst Granit zermalmen. Der Schnabel öffnete und schloss sich. Und dann kamen sie! * Ja, es war nur ein Schatten, nicht mehr und nicht weniger. Die Sinne hatten ihm einen Streich gespielt. Watson schaute auf die Waffe in seiner Hand und schämte sich ob seines Verhaltens. Wie betäubt wankte er zum Schreibtisch zurück. Da kam der Anruf der Funkstreife, die sich in der Wohnung von Frank McDowall hatte umsehen sollen. Die Männer fanden nur eine Leiche. »Selbstmord!«, konstatierte der zuständige Sergeant. Watson ordnete eine Untersuchung an. Sofort machte sich der Spurensicherungsdienst auf den Weg. 46
»Wieso hat es eigentlich so lange gedauert?«, erkundigte sich Watson. Der Mann druckste herum. Dann platzte er heraus: »Es ist eine uralte Mietskaserne. Die Leute sind nicht gut auf die Polizei zu spre chen. Die genaue Wohnung wussten wir nicht. Angeblich hat ihn kein Mensch gekannt. Wir mussten suchen. Dabei kam es zu mehreren Zwischenfällen, da wir einfach in die einzelnen Wohnungen eindringen mussten.« Ehe Watson etwas sagen konnte, beeilte er sich zu versi chern: »Keine Sorge, Sir, es wird jetzt nicht gerade Beschwerden reg nen. Die haben zwar wenig Verständnis gezeigt, aber jetzt, da alle Hausbewohner von der Leiche wissen, haben sich die Gemüter beru higt.« »Konnten Sie am Ort etwas entdecken, das man als - nun, sagen wir ungewöhnlich bezeichnen kann?« »Ich weiß nicht recht, was Sie meinen, Sir. Die Leiche war von wächserner Blässe. Sie war steinhart. Die Augen hat Frank McDowall weit aufgerissen. Das Grauen steht darin zu lesen. Ich kann es mir nicht erklären. Schließlich ist er an einer Überdosis von Tabletten ge storben. Die werden normalerweise nicht mehr wach. Hier sieht es so aus, als habe McDowall den Tod persönlich gesehen.« »Vielleicht hat er tatsächlich?«, orakelte Superintendent Watson. Er unterbrach von sich aus die Verbindung und hinterließ einen sehr verunsicherten Sergeanten. Watson wartete auf den Anruf von Rex Gardiner. Hatte der nicht versprochen, zur Wohnung von Tony Henderson zu fahren? * Harald Watson hatte nicht Unrecht, wenn er glaubte, dass sich Rex auf dem Weg zu Hendersons Wohnung befand. Nur geschah dies unter anderen Vorzeichen als geplant. Rex lud die beiden jungen Leute zu sich in den Wagen, nachdem sie sich im Bootshaus in alte Decken gehüllt hatten. »Dann war Peter Carlson also Ihr Onkel?«, fragte Rex Gardiner unterwegs. 47
Tony Henderson nickte. »Man sollte über Tote nichts Schlechtes sagen, aber ein guter On kel war er weiß Gott nicht. Er führte ein eigenes Leben.« »Und Ihre Tante?« »Tante?« Tony Henderson blickte ihn überrascht an. Offenbar verschwendete er an sie normalerweise keinen Gedanken. »Oh, ja, Sie haben Recht. Nun, ich - ich habe sie kaum gekannt.« Rex Gardiner runzelte die Stirn. Er hielt es für besser, wenn er nicht mehr länger auf diesem Thema herumritt. Was war mit der Frau von Peter Carlson? Gehörte sie nicht auch zu den Toten? Die Leichen waren noch nicht identifiziert, doch hatte die Polizei anhand von Zeugenaussagen eine vorläufige Liste der Gäste aufstellen können. Danach war Maryann Carlson ebenfalls dabei gewesen. Würde sie wider Erwarten leben, hätte sie sich gewiss inzwischen gemeldet. Offensichtlich hatte Tony Henderson diese Möglichkeit überhaupt nicht in Betracht gezogen. Er machte einen sehr nachdenklichen Ein druck. Rex Gardiner legte das Thema bei. Er hatte vor, Tony Henderson mit etwas anderem zu überrumpeln. Das tat er dann auch. »Ich bin normalerweise alles andere als abergläubisch«, begann er vorsichtig. Henderson wurde hellhörig. Janet Falk, die bis jetzt ruhig geblieben war, ebenfalls. Rex fuhr fort: »Eine seltsame Erscheinung sah ich auf dem Was ser. Als würde der Tod persönlich überwachen, dass ihm seine Opfer auch nicht entgingen.« Blankes Misstrauen stand in den Augen von Henderson. »Was wollen Sie damit sagen?« Rex Gardiner lächelte verkrampft. »Entschuldigen Sie, Mr. Henderson. Die Sinne spielen einem manchmal schlimme Streiche.« »Er hat ihn ebenfalls gesehen!«, ächzte Janet Falk. 48
Tony Henderson stieß ihr in die Seite, wollte sie zum Schweigen bringen. Janet Falk reagierte nicht darauf. Sie zitterte wie Espenlaub in Er innerung an das Erlebte. »Er hat den Tod gesehen. Wir - wir sind nicht verrückt. Es - es gibt einen Zeugen.« »Was haben Sie mit der Sache zu tun?«, schnauzte Tony Hender son ihren Retter an. »Ich habe Ihnen erklärt, dass ich zufällig...« »Ich glaube Ihnen nicht. Vielleicht sind wir wirklich vom Regen in die Traufe gekommen?« »Natürlich, der Tod hat in mir einen Verbündeten. Ich bin ge kommen, damit Sie auch nicht die geringste Chance haben. Merken Sie, wie widersinnig das klingt? Sie waren beide am Ende, Sie und Ja net Falk. Was bin ich nun - ein Lebensretter oder ein Handlanger des Todes?« »Tony!«, rief Janet Falk ärgerlich aus. »Jetzt ist es aber genug. Wie kannst du Mr. Gardiner nur so ver dächtigen?« »Ich kenne ihn schließlich nicht!«, erwiderte Tony Henderson trot zig. Rex Gardiner sah ihn an. »Ihr Misstrauen ist von meiner Warte aus verständlich. Seltsame Dinge gehen in London vor und Sie gehören offensichtlich dazu, Mr. Henderson. Eigentlich müsste ich jetzt meinerseits die Frage stellen, was Sie damit zu tun haben.« Tony Henderson strich sich über die Augen. Er stöhnte auf. »Ich weiß nicht, was im Hause meines Onkels geschah, aber seit heute glaube ich an übernatürliche Dinge. Eine unbekannte Macht hat ihre Hände im Spiel.« »Es freut mich, dass Sie es erkannt haben. Vielleicht bildet das ei ne gute Gesprächsgrundlage.« Rex Gardiner deutete nach vorn. »Wir sind übrigens da. Welches Haus ist es?« Tony Henderson blickte hinaus. 49
»Sie können hier halten.« Rex tat es. Er stieg mit aus und sperrte den Wagen ab. Das ge schah nicht ganz im Sinne Hendersons. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätten sich vor der Tür verabschiedet. Aber Rex Gardiner ließ sich nicht abhängen. Sie gingen gemeinsam hinüber. Straßenpassanten warfen seltsame Blicke herüber. Janet Falk und Tony Henderson erregten Aufsehen. Es kam schließlich nicht alle Tage vor, dass Leute nur mit alten Decken bekleidet über die Straße liefen. Die beiden jungen Leute machten sich wenig daraus. Tony Henderson öffnete die Haustür. Er wohnte in einem Mehrfa milienhaus. Sein Apartment lag im obersten Stockwerk. Schräge Wän de waren einbegriffen. Trotzdem, Henderson hatte sich recht gemüt lich eingerichtet. Rex Gardiner schaute sich um. Er bewunderte den Geschmack des jungen Mannes. Rex war der Meinung, dass sich aus der Art, wie jemand seinen Lebensbereich einrichtete, Rückschlüsse auf seinen Charakter ziehen ließen. Tony Henderson und Janet Falk zogen sich in einem mit Vorhang abgeteilten Schlafraum um. Rex Gardiner hörte sie leise tuscheln. Er hätte gern gewusst, was es zu bereden gab, aber er war nicht so auf dringlich, den Lauscher zu spielen. Wenig später erschienen die beiden wieder. Tony Hendersons Ge sicht war verschlossen, als er sich Rex Gardiner gegenüber setzte. Ja net Falk zog sich großartig aus der Affäre, indem sie ein paar Drinks bereitete und dabei sehr geschäftig tat. »So, Mr. Gardiner und jetzt erzählen Sie, was Sie von mir wollen! Und ich bitte Sie, nicht mehr von einem Zufall zu sprechen. Daran glaube ich nämlich nicht.« Rex Gardiner lächelte entwaffnend. »Sie haben Recht, Mr. Henderson. Ich bin hier, weil ich Sie des Mordes an Ihrem Onkel verdächtige.« Seine Worte schlugen ein wie eine Bombe. Die beiden reagierten unterschiedlich. Hendersons Kinnlade fiel herab. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Janet Falk stieß einen schrillen Schrei aus. Ein Glas zerschellte am Boden. Rex Gardiner lehnte sich bequem zurück und beobachtete sie. 50
*
»Was hast du vor?«, fragte Lil Babs eindringlich. Obwohl er sie gebe ten hatte, ihn allein zu lassen, hatte sie das Telefongespräch be lauscht. Georg Kelly machte ein ärgerliches Gesicht. »Nichts von Bedeutung!«, wich er aus. »Ich kenne dich, Georg. Du hast dich nicht verändert, wenn es auch viele glauben. Noch immer ist in dir dieser krankhafte Ehrgeiz. Du strebst nach Macht und Geld. Du bist überaus intelligent. Zwei fatale Eigenschaften, wenn eine dritte hinzukommt: Skrupellosigkeit!« »Was willst du damit sagen?« »Noch einmal, Georg: Was hast du vor?« Tränen erschienen in ih ren Augenwinkeln. Lil Babs sah längst nicht mehr taufrisch aus. Trotzdem bildete sieh Georg Kelly ein, sie zu lieben. Sie war die einzige Frau, aus der er sich etwas machte. Vorher hatte er nur seine Ziele vor Augen gehabt. Erwies sich Lil Babs jetzt als Hemmschuh? Er würde sie nicht fallenlassen. Das brachte er einfach nicht fertig. Aber sie musste nach seiner Pfeife tanzen. Anders ging das nicht. Mit Gewalt war wenig zu machen, also musste er es mit Diploma tie versuchen. Er lachte schallend. »Aha, jetzt weiß ich, was in deinem Kopf herumspukt, Lilly. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich diesem Harold Watson ans Leder will? Aber, Darling, ich bitte dich, was hätte ich denn davon?« Die Tränen versiegten, noch ehe sie richtig in Fluss gekommen waren. »Dann - dann willst du es gar nicht tun?« Er nahm sie in die Arme, drückte sie fest an sich. »Natürlich nicht, Darling. Ich habe zweiundzwanzig Jahre im Dartmoor verbracht. Zweiundzwanzig meiner besten Jahre. Ich denke, das genügt für alle Zeiten.« Sie atmete auf. 51
»Georgy, deine Worte machen mich glücklich. Wir werden einen gemeinsamen Anfang suchen und auch finden. Du musst mir verspre chen, dass du nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt kommst. Ich be sitze diese Bar. Es ist nicht gerade eine Goldgrube, aber mit deiner Hilfe werde ich mehr daraus machen können. Damit ist für uns ge sorgt.« Georg Kelly hörte es, aber er dachte im Stillen. Mach dir keine
Sorgen, Baby, du hast deine Bar und ich meine Pläne. Ich werde sie so lange haben wie ich lebe. Nichts wird mich daran hindern, sie in die Tat umzusetzen. Harald Watson muss sterben. Dafür garantiere ich. Der Tod steht auf meiner Seite. * Er war sicher, sie alle zu kennen, doch war es unmöglich, von ihrer äußeren Erscheinung her auf das zu schließen, was sie einmal als le bende Menschen darstellten. Ein geierähnlicher Vogel stieg auf und kreiste über ihm. McDowall wusste, dass ihm das Tier nichts anhaben konnte. Er war stärker. Sein Schwanz peitschte. Die Front rückte näher. Eine Hyäne lachte. Sie besaß einen haari gen Froschkopf und die Andeutung wohlgeformter Brüste. Die schau erliche Karikatur eines Wesens, das vielleicht einmal eine schöne Frau war. McDowall fiel es wie Schuppen von den Augen. Jetzt wusste er die Versammlung einzuordnen. Es waren die Teilnehmer an dem Maskenball! Er hörte noch die Stimme seiner ehemaligen Frau am Telefon. Sie hatte ihn kurz vor der von Carlson angesetzten Party angerufen. »Kommst du auch, Darling?«, flötete sie. »Das Darling kannst du dir sparen!«, antwortete er hart. »Du solltest aber, Darling!« »Ich habe keine Einladung.« Normalerweise hätte er gleich einge hängt. Irgendetwas hielt ihn davon ab. Er wusste es selbst nicht zu sagen. 52
»Spielt doch keine Rolle. Ein Maskenball. Niemand wird dich er kennen. Vielleicht solltest du dich als Tod in eigener Person verklei den? Das wäre vielleicht ein Gag!« Sie lachte hell. Gerade dieses La chen hatte er früher so gemocht. Vielleicht hatte es den Ausschlag gegeben. Es war ihr leicht gefallen, ihn vor das Standesamt zu brin gen, obwohl er sich geschworen hatte, Junggeselle zu bleiben und seine Energie anderweitig zu verschwenden. McDowall war ein Erfolgs typ. Er verstand es, mit Menschen umzugehen und die Menschen ho norierten das damit, dass sie ihn immer höher hoben. So war er zu Reichtum und Ansehen gelangt. Er spürte den Zorn in sich aufkeimen, als er daran dachte, dass ihm Therese alles genommen hatte. Aber jetzt gab es einen neuen Anfang. Davon konnte sie nichts wissen. Diesmal würde sie ihm nicht schaden. »Fasse dich kurz, Therese! Ich habe wenig Zeit.« »Aha, ich verstehe, Darling. Du musst wirklich entschuldigen. Ich vergaß ganz, dass du heute Abend eine wichtige Verabredung hast. Es geht um eine geschäftliche Transaktion, nicht wahr? Du stehst in Ver handlung mit einem namhaften Industriezweig und sollst dort eine leitende Stellung übernehmen. Ja, wissen die denn nicht, dass du ein Versager bist?« Für Sekunden vergaß sein Herz zu schlagen. Sie wusste es doch! Ihm wurde heiß und kalt. Therese hatte ihn überall unmöglich ge macht. Sie hasste ihn, weil er es gewagt hatte, sich von ihr zu trennen. Er hatte sie einst sehr geliebt, ertrug aber ihre ständigen Seiten sprünge nicht. In detektivischer Kleinarbeit sammelte er Material, um danach erfolgreich die Scheidung durchsetzen zu können. Er kam sehr gut dabei weg. Doch sie verstand sich zu rächen. Für sie war es uner träglich, von einem Mann solchermaßen behandelt zu werden. Viel leicht hatte sie ihn ebenfalls geliebt - auf ihre unnachahmliche Art und Weise? Frauen wie sie vermögen zu kämpfen. Ein Wort von McDowall hätte genügt. Sie wären wieder zusammengezogen, hätten eine neue Partnerschaft begannen - eine mit gelegentlichen Seitensprüngen der Frau. Sie brauchte es einfach, konnte nicht aus ihrer Haut. Und er vermochte es ebenso wenig, über den eigenen Schatten zu springen. 53
Nein, es gab keinen neuen Anfang mehr. Das wusste sie. Deshalb tat sie alles, um ihn zu ruinieren. Bis er aufgab und sich ihr unterwarf! Niemals!, schwor er sich. Lieber will ich sterben. »Sehr unklug von dir, die Verabredung einhalten zu wollen, Dar ling«, drang ihre Stimme an sein Ohr. »Komm zur Party, sonst ver säumst du etwas! Heute Abend will ich einmal ausnahmsweise wieder Peter Carlson verführen. Ich freue mich darauf. Und seine Frau wird uns dabei erwischen. Ein köstlicher Skandal. Du kennst ja Maryann. Sie wird wieder die feine Dame herauskehren und innerlich kochen.« Sie lachte herzlich. McDowall hatte alle Mühe, sich zu beherrschen. »Natürlich kenne ich Maryann. Ich kenne die ganze verkorkste Gesellschaft und möchte nichts mit ihr zu tun haben.« »Noch einmal: Halte deine Verabredung nicht ein, Darling! Du weißt inzwischen, wie gut meine Verbindungen sind. Ich vernichte dich!« McDowall knallte den Hörer auf die Gabel. Er zog sich an und ging. Eine Stunde später war er zurück. Therese hatte ihre Worte wahr gemacht. Er war absolut am Ende. Sie hatte ihn einer letzten Chance belaubt. Deshalb hatte er den Freitod gewählt. Immer noch besser, dachte er sich, als Therese erneut zu gehören. Und jetzt war er hier in der Welt des Grauens und er wusste auf einmal, dass Therese unter diesen Schauergeschöpfen war. Bedeutete es denn, dass alle Gäste des Maskenballs tot waren? Im gleichen Augenblick kannte er die Geschichte. Hier herrschten andere Gesetze. Die Wesen, die ihnen unterlagen, besaßen andere Möglichkeiten zum Erhalten von Informationen. Fünf der Geschöpfe erreichten ihn. Er sah die blanke Mordlust in ihren Augen. Sie wussten genau, wer er war, alle und sie hassten ihn. Sie griffen ihn an, warfen sich auf ihn. McDowall ließ seinen Schwanz peitschen, packte eines der Ge schöpfe, schmetterte es zu Boden. Es starb auf der Stelle. 54
Das zweite Wesen erfasste er mit dem Schnabel, biss ihm den Kopf ab. Das dritte bekam einen gewaltigen Hieb, das es zu Boden gehen ließ. Es überlebte. Aber da waren noch zwei, die geschickter und stärker als die an deren waren. Frank McDowall, der Erfolgsmensch, der allein an einer Frau schei terte, hatte entsprechend seiner Charaktereigenschaften diesen Körper bekommen, der ihm auch im Zwischenreich der Dämonen Erfolg si cherte. Doch gegen die Übermacht kam er nicht an. Ein furchtbarer Schmerz fraß sich in seine Gedärme. Die Luft blieb ihm weg. Schweflige Dämpfe entwichen seiner Kehle. Er flatterte mit den Lederschwingen, wollte fliehen. Zu spät. Die beiden Horrorgeschöpfe, von denen eines aussah wie ein überdimensionaler Wurm mit borstiger Haut und einem schreckli chen Maul, hatten ihr Werk fast vollendet. Mit den Qualen kam der erlösende Tod. Ist es denn möglich, auch in dieser Welt zu sterben?, wunderte sich McDowall. Es waren seine letzten Gedanken vor der großen Dunkelheit. * Chefinspektor Larry Simens meldete sich. Harald Watson schoss sofort eine Frage ab: »Was haben Sie herausgefunden?« »Die Spurensicherung blieb ohne Erfolg. Ich habe das Gefühl, wir können an der Ruine unsere Zelte abbrechen.« »Sie haben das Gefühl? Redet so ein Kriminalist?« Larry Simens verzog das Gesicht. Er starrte auf den Telefonhörer in seiner Hand. Donnerwetter, der Alte hatte vielleicht eine Laune! »Tut mir Leid, Sir, es war nicht so gemeint. Ich finde, dass es un möglich ist, eine Spur zu finden, wo es keine gibt.« »Aha, das klingt schon anders.« 55
Watson wollte weiter auf dem Thema herumreiten - zum Nachteil von Larry Simens, doch der Chefinspektor hatte anderes im Sinn. Er blockte ab, indem er sagte: »Übrigens war auch Benno Clasen bei dem Maskenball zugegen!« »Benno Clasen?« Im Moment sagte ihm der Name gar nichts. Watson überlegte. Larry Simens war mit dem Effekt seiner Worte zufrieden. Er hakte nach. »Benno Clasen ist vorbestraft. Er saß drei Jahre mit einem gewis sen Georg Kelly in einer Zelle!« »Was?« Watson war sprachlos. Damit hätte er nicht gerechnet. Niemals hätte er einen Zusammenhang zwischen Georg Kelly und den Vorgängen während des Maskenballs zugegeben. Dabei hätte er es besser wissen müssen. Schließlich hatte sich be reits gezeigt, dass Georg Kelly irgendwie in Verbindung mit dem leib haftigen Tod stand. Watson brauchte nur an die Phänomene zu denken, die er wäh rend des Anrufs von Kelly erlebt hatte. War er danach nicht wie aus einem bösen Traum erwacht - mit der durchgeladenen und entsicherten Pistole in der Hand? * Nicht immer funktionierte Rex Gardiners sechster Sinn. So hatte er beispielsweise die Reaktion von Tony Henderson nicht vorausgesehen. Plötzlich hatte Henderson einen Revolver in der Hand. Sein Ge sicht bekam einen Ausdruck von Entschlossenheit. Rex Gardiner richtete sich steil auf. »Heben Sie die Hände zur Decke!«, befahl Tony Henderson mit zittriger Stimme. Rex Gardiner war überzeugt davon, dass dem jungen Mann sehr ernst war. Noch immer wusste er offenbar seinen Lebens retter nicht richtig einzuordnen. Jetzt, da er sich unter Mordverdacht sah, hatte er seiner Meinung nach nichts mehr zu verlieren - nur noch zu gewinnen. Ein gewaltiger Trugschluss! 56
Rex Gardiner versuchte ihn aufzuklären. »Sie machen einen Fehler, Henderson!« »Na gut, entschuldigen Sie die Unhöflichkeit, aber.« »Tony!«, schrillte Janet Falk. »Janet, halte dich aus der Sache raus! Du hast gehört, was er sagte. Es hat alles keinen Zweck mehr. Der Tod persönlich ist hinter mir her. Aber ich will mein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Das verspreche ich dir.« »Mit der Waffe in der Faust?«, fragte Rex Gardiner belustigt. Er war wieder ganz ruhig. Tony Henderson nickte grimmig. »Ja, wenn notwendig mit der Waffe in der Faust!« »Wollen Sie mich jetzt umbringen?« »Es kommt ganz auf Sie an.« »Was soll ich tun?« »Ich werde Sie hier einsperren und mich dann mit Janet auf den Weg machen.« »Tony!«, rief Janet noch einmal. Sie bewegte sich nicht vom Fleck. Henderson ging langsam seitwärts auf das Telefon zu. »Keine Bange, Mr. Gardiner, ich habe an alles gedacht.« Er griff nach der Schnur, die aus der Wand herauskam. Mit einem Ruck riss er sie heraus. Damit war das Telefon unbrauchbar. »Vielleicht wollen Sie aus dem Fenster steigen, Mr. Gardiner? Sehr unklug, wenn man gefesselt ist.« Henderson wandte sich an seine Freundin. »In der Küche ist Bindfaden. Bring ihn mir bitte!« »Nein!«, sagte sie fest. »Du willst mich im Stich lassen?« »Davon ist keine Rede, aber Mr. Gardiner hat schon recht, wenn er behauptet, dass du einen Fehler begehst.« Rex beschloss, in die Kerbe hinein zu hauen. »Weit kommen Sie ohnedies nicht, Mr. Henderson. Sie dürfen den Yard nicht unterschätzen.« 57
»Dazu müssten die Bobbys erst einmal wissen, dass ich auf der Flucht bin.« »Nichts leichter als das, Mr. Henderson. Sie können jeden Augen blick auftauchen.« Henderson erstarrte. »Soll das heißen, dass Sie ein Polizist sind?« »Nein, das nicht gerade, aber ich habe gute Verbindungen zum Yard. Man gab mir ein wenig Zeit. Drei Stunden habe ich gefordert. Der Superintendent hat sie mir nicht versprochen. Eine Stunde ist erst um, doch liegt er auf der Lauer. Ich meldete mich seit dieser Zeit nicht mehr. Es gibt ihm zu denken. Polizisten werden meinen Wagen vor der Tür sehen. Sie versuchen anzurufen und...« »Tony, du hörst es selber!«, sagte Janet Falk eindringlich. »Ja, glaubst du denn wirklich, dass ich ein Mörder bin?« »Natürlich nicht, Darling, aber es spielt letztlich keine Rolle, was ich persönlich glaube und was nicht. Du besitzt illegal eine Waffe und setzt mit Gewalt deine Flucht durch. Damit belastest du dich schwer.« »Genug geredet!«, knurrte Tony Henderson. »Gardiner, geben Sie mir die Wagenschlüssel - aber hübsch vorsichtig, wenn ich bitten darf! Ich bin sehr nervös und mein Finger sitzt locker am Abzug. Vergessen Sie das nicht!« Janet Falk schluchzte auf. Sie kämpfte mit sich. Sollte sie versu chen, Tony die Waffe abzunehmen? Das brachte sie nicht fertig. So kannte sie ihren Freund nicht. Sonst war Tony ein friedlicher junger Mann. Im Moment hatte sogar Janet Angst vor ihm. Rex Gardiner blieb nichts anderes übrig, als der Forderung nach zukommen. Er angelte die Wagenschlüssel aus der Tasche und warf sie Henderson zu. Dieser fing geschickt auf. »Leider kann ich Sie nicht fesseln, Gardiner. Ich habe ohnehin keine Zeit zu verlieren. Hoffentlich folgen Sie mir nicht. Es würde mir ehrlich Leid tun, Sie zu erschießen.« Rückwärts ging er zur Tür. Er öffnete sie, ohne Rex Gardiner aus den Augen zu lassen. Dann warf er sie blitzschnell hinter sich zu. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. 58
Rex Gardiner sprintete zum Fenster. Es war in die Dachschräge eingelassen. Rex schob es hoch und schwang sich hinaus. Janet blieb passiv. Sie schluchzte hemmungslos. Rex Gardiner konnte sie gut verstehen. Das Geschehene war einfach zuviel für die Nerven des ansonsten recht tapferen Mädchens. Erst hatte sie dem Tod im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge geschaut - und jetzt das hier. Kaum war Rex Gardiner auf dem Dach und außer Sichtweite, als Janet Falk gellend schrie. Rex Gardiner deutete diesen Schrei richtig. Er kehrte sofort zu rück. Janet Falk stand wie versteinert. Die Tür hatte sich wieder geöff net. Tony Henderson stand darin, kreidebleich. Seine Augen irrten hin und her. »Ich habe geahnt, was Sie vorhaben, Gardiner«, keuchte er. »Jetzt werde ich Sie töten müssen. Das haben Sie sich selber zuzu schreiben. Lasse ich Sie leben, gelingt mir nicht die Flucht.« »Er war da!«, kreischte Janet Falk und deutete in eine Ecke. »To ny, du musst ihn auch gesehen haben!« »Ja, das habe ich auch, doch wird es mich nicht von meinem Vor haben abbringen.« »Er war da und hat gesagt, dass niemand entkommt, der dem Tod einmal persönlich begegnet ist. Wir müssen alle sterben, auch Mr. Gardiner.« »Das sagte ich bereits!« Tony Henderson hob die Waffenhand. Rex Gardiner sah, dass dem jungen Mann eher zum Weinen zumute war. »Kommen Sie wieder herein, Gardiner! Ich erschieße Sie ungern auf dem Dach.« Rex tat ihm nicht den Gefallen. Er warf sich zur Seite. Dabei kam er unglücklicherweise ins Rutschen. Vergeblich ruderte er mit den Ar men, suchte nach einem Halt. Den gab es nicht mehr! Rex Gardiner rutschte das steile Dach hinunter. Der Abgrund, der sich unter ihm auftat, kam ihm riesig vor. 59
*
Inzwischen machte sich Harold Watson ernstlich Sorgen um die Beam ten, die er zur Wohnung von Frank McDowall geschickt hatte. Sie mel deten sich nicht mehr. Was war passiert? Er rief die Funkleitstelle an und verlangte eine Verbindung mit dem Streifenwagen. Ohne Erfolg. Niemand antwortete über Funk. »Wie steht es mit Telefon?«, fragte Watson. »McDowall besitzt einen Anschluss, Sir!«, bestätigte der Mann in der Leitstelle. »Ich versuche anzurufen. Falls es klappt, verbinde ich Sie.« Watson legte auf. Er wartete. Die Minute, die verstrich, kam ihm vor wie eine Ewig keit. Das Telefon schrillte. Er hob eilig ab. »Sir, es hat keinen Zweck!« »Was heißt das?« »Die Leitung bleibt tot. Kein Rufzeichen, nichts!« »Das gibt es doch gar nicht!« »Überzeugen Sie sich selbst, Sir! Die Leitung steht noch. Ich ver binde.« Es knackte leise. Dann breitete sich Totenstille aus. Nicht einmal das übliche Rauschen. Eine eiskalte Faust schien nach Watsons Herz zu greifen. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut. Der Mann von der Leitstelle schaltete sich wieder ein. »Sir?«, fragte er besorgt. Er machte sich natürlich auch Gedanken. Selbst die Spurensicherung hatte sich nicht mehr gemeldet. »Rufen Sie Chefinspektor Larry Simens über Funk! Er ist mit dem Fall betraut. Der Tod von McDowall steht im Zusammenhang mit dem Unglück im Hause Carlson. Simens ist zuständig für Mord und Brand stiftung. Er soll sofort losfahren und zwei Männer mitnehmen.« 60
Der Beamte in der Leitstelle war schon zu lange Polizist, um sich zu wundern. Watson unterbrach die Verbindung. Er wusste, dass alles in sei nem Sinne geschah. Währenddessen saß er wie auf glühenden Kohlen. Er dachte an Rex Gardiner und an dessen Mission. Warum melde te sich Rex nicht mehr? Jetzt sorgte er sich auch um den Freund. Entschlossen ließ er sich die Nummer von Tony Henderson geben. Dann bemühte er sich eigenhändig. Auch hier ohne Erfolg. In dieser Leitung war wenigstens dauernd Knacken und Rauschen und nicht diese schreckliche Stille. Doch das Rufzeichen blieb aus. In der Nähe des Hauses, in dem Henderson wohnte, waren Poli zisten stationiert. Watson hatte Rex zwar drei Stunden versprochen, aber er überließ ungern etwas dem Zufall. Das hatte sich in der Ver gangenheit häufig genug bezahlt gemacht. Über die Leitstelle bekam er die Verbindung mit dem zuständigen Streifenführer. Der Mann wirkte aufgeregt. »Sir, da stimmt etwas nicht! Wir sehen Gardiner auf dem Dach herumturnen. Er rutscht ab, fällt! Mein Gott, das wird er nicht überle ben.« * Er erwachte und wusste im ersten Augenblick gar nicht, wo er sich befand. Dann kam die Erkenntnis wie ein Schlag. Er war Frank McDowall und tot. Der Gedanke war so unmöglich, dass er laut aufstöhnte. Das weckte ihn vollends. Er war tot? Befand er sich denn wirklich in diesem grausamen Zwischenreich der Dämonen? 61
Deutlich erinnerte er sich an alle Einzelheiten. Der Kampf. Die Sinne waren ihm geschwunden. Nein, solche Verletzungen überstand niemand. Doch wer tot war, konnte nicht mehr sterben! Wenigstens dieses Gesetz hatte im Zwischenreich Gültigkeit. Wenn man seinen alten Körper verlor, bekam man einen neuen. McDowall stand auf. Er reckte und streckte sich. Dabei wurde ihm bewusst, dass er anders aussah als vorher. Nicht nur das: seine Mög lichkeiten waren enger umrissen. Die Fähigkeit zu fliegen hatte er ver loren. Damit hatte er ein weiteres Gesetz von dieser Welt kennen ge lernt. Wer hier unterlag, wurde gewissermaßen degradiert. Er war als Erfolgsmensch gekommen - als einer, der zwar Selbstmord begangen hatte, aber das nur als eine Art Kurzschlusshandlung, die er zu spät bereute. Jetzt hatte er erheblich von seinem Image verloren. War es denn möglich, wieder erfolgreicher zu werden? Diese Frage bejahte Frank McDowall im Stillen. Sie erklärte die Aggressionen und den Hass, den die Wesen dieser Welt aufeinander spürten. Machtkämpfe in der furchtbarsten Form! Bis man ein Ventil zum Diesseits gefunden hatte. Dann wandte man sich gegen die Lebenden, gegen die Welt, brach über sie herein als Inkarnation des Bösen. Und Frank McDowall merkte, dass er mehr und mehr ein Kind die ser Sphäre wurde. Er spürte dieselbe Wut, war ein Verdammter, der nur noch einen Wunsch hatte, den zur Vernichtung! Diesmal sah er aus wie ein missgestaltetes Schuppenmonster, ei ne Kreuzung zwischen Krokodil und Eidechse, vermischt mit den Erb anlagen eines Tigers. Auf den vier Beinen bewegte er sich wieselflink. Er war nicht an derselben Stelle neu entstanden, an der er zum zweiten Mal gestorben war. Sein Ehrgeiz war es, die anderen wieder zu finden. Er hätte eine Scharte auszuwetzen. 62
Weit kam er nicht. Ein Wesen lief ihm über den Weg. Sie blieben beide stehen, belauerten sich. Der andere erinnerte an einen Bären, nur war die Verlängerung seines Hinterteils ein Schlan genleib. Frank McDowall wollte sich sofort auf den Gegner stürzen, doch er zögerte. »Ich habe dich anders in Erinnerung!«, krächzte eine Stimme. Es war seine eigene. »Ich dich auch!«, knurrte der Bär. »Bist du wirklich Frank McDo wall?« »Ja, der bin ich. Ihr habt mich einmal zu vernichten verstanden. Ein zweites Mal gelingt es euch nicht.« »Moment, McDowall, ich kann deine Motive verstehen und spüre selber den Hass in meiner Brust, aber du solltest es dir überlegen. Nicht deshalb, weil ich vielleicht als Sieger aus dem Kampf hervorgehe. Es ist möglich, sich zu verbünden. Die anderen haben es auch getan.« »Du hast dich von ihnen abgesetzt?« »Ja, weil ich nichts mit ihnen im Sinn habe.« McDowall spürte, dass er log. Was war der wahre Grund? Viel leicht wollte er ihn, Frank McDowall, allein antreffen? »Du willst etwas von mir!« »Möglicherweise, Frank. Man hat mich betrogen. Ich bin selbst zum Opfer geworden.« McDowall erschrak. »Soll das heißen, dass du am Tode der Partyteilnehmer nicht ganz unschuldig bist?« Sein Gesprächspartner wich aus. »Ich habe den Todesdämon beschworen und dünkte mich als sein Verbündeter. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass ich mich gewaltig irrte. Ich war nur sein Werkzeug und bin es jetzt noch mehr.« »Was hast du vor?« »Wir müssen uns zusammentun, Frank. Wie gesagt, es geht. Wenn wir es beide wollen, erlischt der Hass. Ich weiß, wir waren als Lebende Feinde. Verbünden wir uns jetzt. Wir sitzen im gleichen Boot.« 63
Frank McDowall schätzte seinen Gesprächspartner ab. Alles sträubte sich in ihm dagegen, mit ihm ein Bündnis einzugehen. Der andere war jedoch ungefähr gleich stark. Was würde bei dem Kampf herauskommen? * Da war die Dachrinne. Im letzten Augenblick erwischte sie Rex Gardi ner mit den Händen. Sein Körper rutschte vollends vom Dach. Jetzt hing er zwischen Himmel und Erde. Die Dachrinne war für solcherlei Belastungen denkbar ungeeignet. Sie verbog sich. Und dann riss sie langsam aus der Halterung. Jetzt gab es für Rex Gardiner nur noch einen einzigen Weg - ei nen, den er von ganzem Herzen verabscheute: Er setzte seine psycho kinetischen Fähigkeiten ein. Nur kurz durfte er es wagen, wollte er nicht im Nachhinein total erschöpft sein. Einmal war es passiert, dass er drei Tage in Bewusstlosigkeit ver bracht hatte. Die Quittung für den Einsatz der Psychokinese. Unsichtbare Kräfte erfassten ihn. Er pendelte stärker. Die Dachrin ne hielt, denn sie wurde kaum noch belastet. Rex Gardiner flog empor und knallte auf das Dach. Dort blieb er keuchend liegen. Er fühlte sich wie gerädert. Tausend Ameisen schie nen durch seine Adern zu krabbeln und ihn zu peinigen. Mühsam wandte er den Kopf. Er blickte zum Dachfenster empor. Es stand noch immer offen. Tony Henderson erschien darin, mit der Waffe in der Hand. Ihre Blicke begegneten sich. Henderson legte an. Rex Gardiner stöhnte auf. Er sah, dass sich Hendersons Zeigefin ger um den Abzug krümmte. Rex konnte nichts dagegen tun. Ein schriller Pfiff von unten. »Keine Bewegung, Henderson!« 64
Der junge Mann erstarrte. Rex Gardiner blickte genau in die Mün dung des Revolvers. Der Hahn war gespannt. Noch einen Millimeter, dann krachte der Schuss los. »Henderson, wir schießen!« Rex Gardiner brauchte viel Energie, sich von der Waffe loszureißen und seinen Blick nach unten zu richten. Welcher Idiot hat den Streifenführer mit einer Waffe ausgerüstet?, dachte er verzweifelt. Aber dann berichtigte er sich. Der Sergeant hatte ihm schließlich damit das Leben gerettet. Wieder drehte Rex den Kopf, schaute zum Dach empor. Direkt neben dem Fenster saß die Inkarnation des Todes, abwar tend, geduldig. Er wartete auf seine Opfer. Wer würde es sein? Rex Gardiner oder Tony Henderson? Die Entscheidung lag bei dem jungen Mann. Mit einem Wutschnauben riss er die Waffe herum. Er wollte auf den Bobby schießen, der unten stand. Watson persönlich hatte dafür gesorgt, dass der Mann eine Waffe bekam. Glaubte er denn, dass Henderson so gefährlich sei? Henderson wollte schießen, doch der Polizist kam ihm zuvor. Die englische Polizei setzt selten Waffen ein. Sie ist nicht gerade geübt im Umgang damit. Deshalb ging der erste Schuss daneben. Hendersons Revolver krachte. Ebenfalls ein Fehlschuss. Die nächste Kugel des Sergeanten würde ins Schwarze treffen! Rex Gardiner wusste es. Er sah den leibhaftigen Tod und hatte die Vision des sterbenden Henderson. Fast hatte er geglaubt, seine hellseherischen Fähigkeiten würden ihn vollends im Stich lassen. Jetzt waren sie wieder da. Rex hatte sich soweit vom Einsatz der Psychokinese erholt, dass er erneut diese besondere Fähigkeit zur Geltung bringen konnte. Viel brauchte er nicht zu tun. Eine unsichtbare Faust traf Tony Henderson, ließ ihn rückwärts und damit aus der Schusslinie taumeln. 65
Die Kugel, die ihm gegolten hatte, zischte durch das offene Fens ter in die Wohnung. Der Tod verschwand mit einem furchtbaren Grol len. Rex Gardiner blieb liegen. Er war total ausgepumpt. Aus dem Dachfenster drang die laute Stimme von Janet Falk. Ge räusche wie Kampfeslärm. Eine Hand erschien, den Revolver haltend. Das Herz krampfte sich Rex zusammen. Ging es jetzt weiter? Nein, Tony Henderson beförderte seinen Revolver ins Freie. Er er gab sich. Der Sergeant winkte seinen Männern. Sie drangen in das Haus ein. Die ersten Neugierigen zeigten sich an den umliegenden Fenstern - jetzt, da es nicht mehr gefährlich war. Rex Gardiner machte sich nichts daraus. Er war einfach zu er schöpft dazu. Wenig später erschien einer der Polizisten am Dachfenster. »Alles in Ordnung!«, meldete er. Der Sergeant bellte zurück: »Sorgt endlich für eine Leiter! Wir müssen Rex Gardiner herunterholen.« * Die Entscheidung war gefällt. Frank McDowall sah ein, dass er allein wenig Chancen besaß. »Einverstanden!«, sagte er deshalb zerknirscht und gegen sein Gefühl. »Aber ich muss dann mehr wissen.« Der Bär kam näher, vorsichtig, ihn ständig abschätzend. »Warum?«, fragte er. »Wie kam es zu dem Unglück? Nur eine Gasexplosion? Der Tod hat euch persönlich geholt. Das ist doch nicht normal. Was geht hier eigentlich vor?« »Du weißt es nicht?« 66
»Nur vage. Ich habe eine Ahnung, was euch widerfuhr, doch ken ne ich nicht das Motiv für alles. Warum hast du es getan? Warum hast du dich mit dem Tod verbündet?« »Eine lange Geschichte, zu lange!« »Ich möchte sie dennoch hören!«, beharrte Frank McDowall. »Dann wisse, mein Freund, dass es keine Rückkehr mehr ins Reich der Lebenden gibt. Wir sind verloren, für immer, für alle Ewigkeiten. Hier sind wir Verdammte. Vielleicht meint es das Schicksal einmal gnä dig mit uns und befreit uns. Wir werden eingehen in das normale Reich der Toten.« »Wo liegt der Unterschied?« »Den kennt niemand!« Jetzt standen sie sich direkt gegenüber. McDowall erhob sich auf die schlanken Hinterbeine. Er berührte den anderen. Ekel schüttelte ihn. Dem Bär erging es ebenso. Ekel, gepaart mit unbändigem Hass. Hinzu kam, dass McDowall dieses Wesen hier auch als Lebender aus ganzem Herzen gehasst hatte. Bevor es zum Ausbruch kam, verschwand das Gefühl. Ja, sie wa ren Verbündete - aber in was? Wer war ihr Gegner? Frank McDowall erfuhr es. Sein Partner sagte: »Suchen wir die anderen. Es werden sich noch mehr von der Gruppe gelöst haben. Aber seien wir vorsichtig. In dieser Welt lauern noch andere un bekannte Gefahren. Wir sind nicht allein.« * Die Information riss ab. Watson rief mehrmals ins Telefon. Keine Ant wort. Der Mann von der Leitstelle schaltete sich ein. »Sir, es meldet sich niemand mehr. Soll ich die Verbindung auf recht halten?« »Ja, verdammt!«, fauchte Watson. Er musste sich beherrschen, um nicht den Beamten zusammenzustauchen. Aber der konnte schließ lich nicht für das, was da draußen vorging. 67
Endlich kehrte der Sergeant an sein Funkgerät zurück. »Sir!«, sagte er keuchend, »Gardiner hat überlebt. Sie bergen ihn gerade. Henderson wurde festgenommen. Ich - ich habe ihn beinahe erschossen!« »Was haben Sie?« Der Sergeant erzählte mit knappen Worten. Von der ungewöhnli chen Rettung Gardiners in letzter Sekunde erwähnte er nichts. Wahr scheinlich war ihm gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen, was da vor sich ging. »Dann scheint Henderson tatsächlich...« Watson wollte schon sa gen: Da scheint Henderson tatsächlich der Mörder seines Onkels zu sein! Aber er bremste sich rechtzeitig, erinnerte sich an den Grundsatz, dass Angeklagte grundsätzlich vor Gericht abgeurteilt wurden und nicht vor einem Polizisten - auch wenn dieser das Amt eines Su perintendent bekleidete. Trotz allem erschien Watson das Verhalten Hendersons recht ei genartig. Tony Henderson war noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten - das, damit er nun beinahe zum Polizistenmörder wurde? Harold Watson mochte es einfach nicht begreifen. »Bringen Sie Henderson her! Gardiner auch! Einer soll seinen Wa gen fahren. Ich nehme an, dass er im Moment nicht in der richtigen Verfassung ist.« »Nein, Sir!« »Na also! Er wird sich schnell erholen, wie ich ihn kenne.« Damit war für Watson das Gespräch beendet. Er legte den Hörer auf. Nachdenklich blickte er auf den Apparat. Er kam sich vor wie ein General, der seinen Krieg vom Schreibtisch aus führte. Aber hier fühlte er sich sicher. Der Wunsch, direkt an die Front zu gehen, war in ihm nicht mehr so ausgeprägt. Harold Watson gehörte zwar nicht zum alten Eisen, aber der jüngste war er auch nicht. Seine besten Jahre waren vorbei. Was er mit ins Spiel bringen konnte, waren seine guten Erfahrungen und sein Können, das ihn die ses Amt letztlich hatte erreichen lassen. Die Sache mit Georg Kelly 68
damals war nur ein beschleunigender Faktor gewesen, mehr nicht. Aber hatte er damals nicht schon sein Können bewiesen? Watson barg sein Gesicht in beiden Händen. Er merkte, dass er sich etwas einredete, um zu vergessen, dass er Angst hatte - erbärmli che, widerliche Angst. Georg Kelly war auf freiem Fuß. Natürlich hatte er sich mit dem Tod verbündet. Das machte ihn zu einer Gefahr, die man nicht mehr abschätzen konnte. Möglicherweise war es ein kluger Schachzug, wenn er vorläufig in seinem Büro blieb. * Rex Gardiner betrat das Büro des Super. Er fühlte sich wieder besser. Sein Körper war durchtrainiert und gesund. Das war wichtig. So leicht warf ihn nichts um und wenn doch, stand er auch schnell wieder auf. Watson sah zwar die dunklen Ringe unter den Augen seines Freundes, aber er wusste, dass er sich keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Er blickte Rex fragend an. Rex Gardiner schüttelte kaum merklich den Kopf. Watson schickte alle hinaus und rief dem Sergeanten nach: »Ich werde mich später persönlich um Tony Henderson kümmern!« Rex Gardiner ließ sich auf den Besuchersessel fallen. »Du erregst Aufsehen, Harold!«, mahnte er. »Es ist nicht alltäg lich, dass sich ein Superintendent um alles kümmert. Das ist Arbeit des zuständigen Chefinspektors, also Arbeit von Larry Simens.« Watsons Stirn umwölkte sich. »Gut, dass du es ansprichst. Bis jetzt hat sich keiner mehr gemel det, der in die Wohnung dieses McDowall gefahren ist.« Es riss Rex förmlich aus dem Sessel. Sein Körper krümmte sich, als leide er unter starken Schmerzen. Auch Harold Watson sprang auf. Er rannte um den Schreibtisch, stützte Rex Gardiner. 69
»Ich - ich kann nichts erkennen!«, keuchte Rex Gardiner. »Alles ist mit farbigem Nebel bedeckt. Eine unbekannte Macht unterdrückt meine Visionen - sehr erfolgreich. Du hast - hast mir eben ein Stich wort geliefert. Jetzt...« Rex Gardiner brach zusammen. Harold Watson konnte es nicht verhindern. Der Körper des Freundes schien auf einmal eine Tonne zu wiegen. Schwer landete Rex Gardiner auf dem Boden. Er stöhnte nicht einmal mehr, lag da wie tot. Harold Watson griff nach seinem Puls. Da war nichts mehr! Eine furchtbare Ahnung bemächtigte sich seiner. War etwas in der Wohnung von Frank McDowall, etwas, das mit dem Tod und mit Rex Gardiner zu tun hatte? Rex schlug wieder die Augen auf. Verständnislos schaute er sich um. »Was ist denn passiert?« Er konnte sich an nichts erinnern. Harold Watson half ihm hoch. Er beobachtete seinen Freund lau ernd. »Wir unterhielten uns eben über McDowall!«, sagte er hart. Keine Reaktion. Rex Gardiner blieb ganz ruhig. Harold Watson versuchte es abermals. »Als letzten schickte ich Simens hin. Er meldete sich bei mir, bevor er seinen Streifenwagen verließ. Einen Polizisten ließ er zurück. Der Mann steht mit uns in Verbindung. Im Haus bleibt alles ruhig. Die Be wohner sagen, da stimme was nicht. Sie haben Angst vor der Woh nung von McDowall.« Den Namen betonte er deutlich. Noch immer keine Reaktion. Harold Watson gab es auf. »Wir werden hinfahren - du und ich!« Rex Gardiner nickte ihm zu. »Gleich?« Watson knurrte. 70
»Nein, erst kümmern wir uns um Henderson. Bin mächtig ge spannt auf ihn. Vielleicht hat er gar keine Erklärung für sein Verhal ten?« »Die kannst du auch von mir bekommen, Harold. Wen der Tod einmal in den Klauen hat, lässt er nicht mehr los. Henderson ist ein Todgeweihter. Der Tod, der uns persönlich erscheint, ist von einem besonderen Kaliber, scheint mir. Er versteht es, Situationen zu schaf fen, die ihm seine Opfer näher bringen.« * Sie waren unterwegs zu McDowalls Wohnung. Das Gespräch mit Tony Henderson und Janet Falk hatte nichts erbracht. Tony Henderson war völlig durcheinander. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er so gehandelt hatte und nicht anders. Die Waffe hatte er - aus dem Boots haus seines Onkels entwendet - unbemerkt von Rex Gardiner. Es gab einen Waffenschein, ausgestellt auf den Namen Peter Carlson. Den noch würde Tony Henderson mit einer Bestrafung wegen unerlaubten Waffenbesitzes rechnen müssen. Watson gab sich reichlich nervös. Rex fragte sich, was mit dem Freund los war, richtete diese Frage jedoch nicht an den Super. Sie bogen in die Straße ein, in der sich die Mietskaserne befand. Vier Streifenwagen standen vor der Haustür. Der Polizist, der in dem letzten saß, sprang heraus, als er Watsons ansichtig wurde. Auf Rex Gardiner achtete er nicht. »Sir, es hat sich nichts Neues ergeben inzwischen. Im Haus bleibt alles ruhig.« »Wo liegt die Wohnung von McDowall?« Der Konstabler deutete hinaus. »Dritter Stock. Diese beiden Fenster.« Nichts Ungewöhnliches war zu erkennen. Watson winkte seinem Begleiter zu. »Sehen wir nach!« Sie betraten das Haus. Eine unheimliche Stille empfing sie. Rex Gardiner schluckte schwer. Er hatte zwar keine Vision, doch eine dunk le Ahnung machte sich in ihm breit. 71
Was erwartete sie? Beide stiegen über die ausgetretene Treppe. Es knarrte und knackte unter ihren Füßen. Keiner der Hausbewohner zeigte sich. Der Polizist hatte ja schon über Funk angedeutet, dass die Leute Angst hatten. Sie wussten nicht, was in ihrem Haus geschah und mit der Polizei wollte niemand zu tun haben. Und dann standen die beiden vor ihrem Ziel. Sie lauschten ge bannt. Nichts rührte sich hinter der Tür. Watson drückte auf den Klingelknopf. Die Klingel funktionierte nicht. Als er gegen die Tür kam, schwang sie ein kleines Stück auf. Sie war nur angelehnt. Ein eiskalter Hauch streifte die Männer. »Wie war die erste Streife in die Wohnung gekommen?«, erkun digte sich Gardiner heiser. »Das sind alles primitive Schlösser. Ein einfacher Dietrich genügte. Die Beamten hatten einen Durchsuchungsbefehl vom Richter in der Tasche. Sie durften so vorgehen.« Rex konzentrierte sich. Er wollte seine hellseherischen Fähigkeiten einsetzen, doch diese rührten sich nicht. Er fühlte sich innerlich leer und ausgehöhlt. Rex Gardiner knirschte mit den Zähnen. Dann hob er den Fuß und trat gegen die Tür. Ein schwarzes Loch öffnete sich, wie der Schlund eines Untiers. Sturm kam auf, erfasste die beiden Männer und zog sie mit unwider stehlicher Gewalt in den schwarzen Schlund. Irgendwie war Rex Gardiner darauf gefasst. Alles in ihm bäumte sich dagegen auf. Seine Arme schossen vor, hielten Watson fest. Der Super wehrte sich verzweifelt, hatte aber im Grunde genom men keine Chance gegen die unbekannte Macht, die sie verschlingen wollte. Rex Gardiners psychokinetische Kräfte verhinderten, dass beide in den schwarzen Abgrund gewirbelt wurden. Es zog und zerrte an ihnen. Ohne Erfolg. 72
Rex fühlte sich stark wie selten in seinem Leben. Das Phänomen kannte er. Die eingesetzte Psychokinese zehrte nicht so an seiner Sub stanz wie gewöhnlich. Das hing mit der magischen Sphäre zusammen, die hier wirksam wurde. Der Sog verebbte. Aus der Dunkelheit stieg grelles Licht, brandete gegen sie an, stach in ihre Augen. Watson stöhnte auf. Die Nachbartür öffnete sich. Ein muskulöser Mann, oben nur mit einem Unterhemd bekleidet, stolperte ins Treppenhaus. Er riss Mund und Augen auf. Wahrscheinlich hatte er sie durch das Schlüsselloch beobachtet. Er kam einen Schritt näher, nicht ahnend, welche Gefahr hier auch auf ihn lauerte. Doch dann verhielt er im Schritt. Obwohl er noch vier Yards ent fernt war, wurde der Sog für ihn wirksam. Nur Rex Gardiner und Wat son wurden im Moment verschont. Das erkannte Rex Gardiner. Deshalb konzentrierte er die psychokinetischen Energien auf das Innere der Wohnung. Er brauchte sie nicht, um sich zu wehren. Doch dieses Innere gab es nicht mehr. Er stieß ins Leere. Wo sich einst die Wohnung befunden hatte, regierte die Finsternis des Bösen. Rex Gardiner spürte, wie er schwächer wurde. Er zog seine Kräfte zurück, bewegte mit ihnen die Tür, bis sie ins Schloss fiel. Eine zentnerschwere Last schien von ihnen zu fallen. »Was - was war das?«, keuchte Superintendent Watson. »Der Einfluss der Hölle!«, sagte Gardiner. Er musste sich an dem Super abstützen. Der Mann im Unterhemd betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Watson reagierte. »Polizei!«, sagte er hart. Der Mann schrak zusammen. »Ich - ich hörte Ihre Schritte. Meine Frau sagte noch, ich solle mich da heraushalten. Trotzdem blickte ich durchs Schlüsselloch und...« Er brach ab. Seine Stimme versagte ihm den Dienst. Er hatte das Grauen gesehen und schüttelte sich in Gedanken daran. 73
Watson runzelte die Stirn. »Gehen Sie bitte in Ihre Wohnung zurück und verhalten Sie sich ruhig! Ihre Frau hat schon Recht.« Der Mann nickte und verschwand. Watson und Rex Gardiner schauten sich an. »Was sollen wir tun?«, erkundigte sich der Superintendent von Scotland Yard. »Hier haben wir nichts mehr verloren«, konstatierte Rex. »Wir kommen nicht gegen die Macht an, die in McDowalls Wohnung herrscht.« »Aber wie kommt sie zustande?« »Das ist die Frage, mit der wir uns zunächst beschäftigen müs sen.« Sie stiegen die Treppe hinab. Rex Gardiner offerierte seine Gedanken. »Dieser McDowall scheint einen Sonderstatus einzunehmen. Ich frage mich nur wieso.« Watson zuckte die Achseln. Beide gingen mit keinem Wort darauf ein, dass alle Polizisten, die er hierher geschickt hatte, Opfer des Un bekannten geworden waren. Sie mussten sich beherrschen. Es hatte keinen Sinn, zu trauern. Es galt, einen Ausweg zu finden. »Meines Erachtens hat das Ganze mit dir zu tun, Rex!« »Mit mir?« »Ich habe dir von der Vision erzählt, die du in meinem Büro hat test. Es war die zweite dieser Art. Jedes Mal hast du anschließend kei ne Erinnerung daran gehabt.« Rex Gardiner blieb unwillkürlich auf der Treppe stehen. »Möglicherweise hast du Recht, Harold. Ich bin ein Störfaktor für den leibhaftigen Tod. Ich pfuschte ihm mehrmals ins Handwerk. Als er McDowall abholte, wurde ich Zeuge des Ereignisses. Wahrscheinlich versuchte ich, es zu verhindern. Es war jedoch zu spät. Meine Ein flussnahme fruchtete nicht. Doch kam dadurch diese Verbindung zu stande. Ich band einen Teil der schwarzen Kräfte. Die Macht des To des wird in der Wohnung von McDowall wirksam.« 74
Rex Gardiner machte auf dem Absatz kehrt und rannte die Stiege hinauf. So schnell konnte der alternde Harold Watson nicht folgen. Rex Gardiner erreichte die Wohnungstür. Sie war jetzt nur mit ei nem Schlüssel zu öffnen. Ein kurzer Eingriff in das Türschloss mittels Psychokinese hatte ei ne ähnliche Wirkung. Die Tür schwang auf. Der Sog begann erneut zu wirken. Rex bekämpfte ihn relativ mühelos. Er trat vor, blieb auf der Tür schwelle stehen. Diffuse Nebel wallten vor ihm - wie in der Vision, von der ihm Watson im Nachhinein erzählt hatte. Rex stellte sich den Boden der Wohnung vor. Noch einen Schritt. Sein Fuß versank nicht im Nichts. Einen weiteren Schritt nach vorn. Fester Untergrund. Die Tür verschwand im Nebel. Rex Gardiner ging weiter. Er war wie in Trance. Diesmal schwäch te ihn der Einsatz der Psychokinese überhaupt nicht. Es war auf die besondere Beschaffenheit der Sphäre zurückzuführen. Ja, durch ein unerklärliches Phänomen war diese Verbindung zustande gekommen, die nicht mehr riss. Aus ihr schöpfte Rex Gardiner Kraft und schwächte gleichzeitig den leibhaftigen Tod. Jemand brüllte tierisch. Beinahe wäre Rex Gardiner aus seiner Konzentration erwacht. Das Gebrüll kam von draußen. War es Watson? Was widerfuhr ihm? Rex konnte sich jetzt nicht darum kümmern. Hier musste sich die Tür zum Wohnzimmer befinden, linkerhand das Schlafzimmer mit der Leiche. Rex blickte in diese Richtung. Aus dem Nebel schälte sich ein Bild. Diesmal gelang es dem Tod nicht, seine hellseherischen Fähigkei ten zu unterbinden. Rex erinnerte sich auch seiner Visionen. Die Leiche entstand vor seinen Augen - so wie er sie im Gedächt nis hatte. Die Augen waren geschlossen, Frank McDowall schien zu schlafen. Rex Gardiner blickte durch ihn hindurch, sah ein monströses Un geheuer. Es wurde aufmerksam, hob wie witternd den Schädel, schau te in seine Richtung. 75
Ihre Blicke begegneten sich. Der Monströse erstarrte. Rex Gardiner wusste, dass es sich um den verwandelten Geist von McDowall handelte. Der Tod hatte ihn ins Reich der Verdammnis ge führt, in die Hölle der Dämonen. Jetzt war McDowall selber eine Art Dämon geworden, vollkommen abhängig von der Inkarnation des To des. Auf einmal wurde Rex Gardiner alles klar. Die Zusammenhänge wurden deutlich. Langsam schritt er weiter. Die Szene mit dem Monster verblasste. Nur noch die leere Hülle des Menschen Frank McDowall blieb zurück. Das Zimmer erschien aus dem Nichts, verdrängte die Schwärze des Todes, der hier regierte. Rex Gardiner lachte leise. »Du hast dich in einem Punkt verrechnet!«, sagte er wie im Selbstgespräch. »Ich weiß, wer hinter dir steht, Tod. Auch über meine Person weißt du Bescheid. Watson soll sterben, denn er ist eine wich tige Verbindung für mich. Georg Kelly soll den Katalysator bilden. Eine größere Rolle spielt er nicht. Ob er es ahnt? Wie gesagt, deine Rech nung geht nicht auf. Trotz der Macht, die du besitzt, kamen mehrere Visionen zustande und schufen eine für dich unglückselige Verbindung zwischen uns. Es erschwert dein Vorhaben, mich zu beseitigen. Wehr dich nur!« Die Leiche schien von innen heraus zu glühen. Tatsächlich strahlte sie enorme Hitze aus. »Als McDowall seinen Selbstmord einleitete, hattest du deine Kno chenhände noch nicht im Spiel. Es war unsinnig, dass du ihn persön lich abholtest. Es geschah, weil du zu gierig bist. Ein weiterer Fehler war, dass diese Wohnung das Tor zu deiner Welt werden sollte. Eine Schleuse wurde daraus. Alle können von hier hinüber, doch gibt es kein Zurück. Wenigstens vorläufig nicht.« Rex Gardiner blickte sich um. Er wünschte, die verschollenen Poli zisten zu sehen. Und da waren sie. Alle standen sie in der Wohnung herum, starr, leblos. Für sie war die Zeit stehen geblieben. Es waren Lebende. 76
Sie hatten nichts im Zwischenreich verloren, wurden dort nicht angenommen. Nur zum Teil gingen sie in die Sphäre des Grauens ein. Ja, sie konnten nicht zurückkehren in die Wirklichkeit. Rex Gardi ner hatte in diesem Punkt Recht. Auch er vermochte nichts dagegen zu tun. Er betrachtete den Leichnam. Die Hitze wuchs. Die Haut machte plötzlich einen vertrockneten Eindruck. Ein Stöhnen drang aus dem toten Mund, der sich wie in Zeitlupe öffnete. Auch die Lider hoben sich. Dahinter waren Augen wie aus Glas. Die Pupillen richteten sich auf Rex Gardiner. Ein zwingender Bann ging von ihnen aus. Rex machte es nichts aus. Er wartete ab. Im Moment war nichts für ihn zu tun. Ein Grollen stieg aus der toten Brust des Leichnams. Er richtete sich auf. Die Arme bewegten sich wie bei einem Maschinenmenschen. Das Glühen wurde noch intensiver. Die Leiche wollte nach Rex Gardiner greifen, von unbegreiflichen Kräften beseelt und gesteuert. Es war der Versuch des Unheimlichen, sich Rex Gardiners zu ent ledigen. Rex lachte nur. Er blieb innerlich ruhig. Es knisterte wie Pergament. Die Hitze trocknete den Toten völlig aus. Seine Haut riss. Zackige Gräben entstanden wie bei verdorrtem Lehmboden. Ein hässliches Mosaik übersäte den toten Leib. Die ersten Teile dieses Mosaiks fielen nach innen, zerflossen in der Hitze zu einer breiigen Masse. Schon tropften die ersten dicken Tropfen von den Armen. Sie platschten auf das Bett, lösten sich zischend auf. Mit einem erneuten Stöhnen warf sich der Leichnam auf Rex Gar diner. Ganz erreichte er den ehemaligen Yardmann nicht. Da gab es eine unsichtbare Barriere aus psychokinetischer Energie. Diese Energie hat te nicht direkt etwas mit Magie zu tun. Sie war von Paraart, unterlag 77
anderen Gesetzen. Sie war Rex Gardiners eigentliche Stärke im Kampf gegen die Mächte des Bösen. Auch diesmal bewährte sie sich. Der Leichnam fiel in sich zusammen, wurde zu einem brodelnden Brei, der an flüssiges Eisen erinnern ließ. Auch die Hitze konnte Rex Gardiner nichts anhaben. Der Brei verschwand, als sickere er in den Boden. Dann war Rex Gardiner allein. Ein drohendes Grollen hallte von den Wänden wider. Der Tod zog sich zurück. Er hatte eine Niederlage einstecken müssen - die schwers te bis jetzt. Kein Grund für Rex Gardiner zu frohlocken. Der Unheimliche hatte gewiss noch ein paar Trümpfe in der Hand. Tageslicht fiel durch das Fenster herein. Alles in der Wohnung wirkte normal. Das Bett war zerwühlt, als sei Frank McDowall eben erst aufgestanden, um sein Tagewerk zu beginnen. Rex Gardiner wusste es besser. * Die verschwundenen Polizisten kehrten nicht zurück - wie es Rex Gar diner befürchtet hatte. Der ehemalige Yardmann ging zur Tür. Jetzt, da der Tod keine unnötigen Kräfte mehr mit dem Aufrecht halten des Tores verschwendete, wurde sein Einfluss größer. Rex spürte, wie er alle Erinnerungen wieder verlor. Er erkannte die Zusammenhänge nicht mehr in der Klarheit wie vorhin, wusste nicht mehr, was er eigentlich vorgehabt hatte. Und dann dachte er an den Schrei von Harald Watson. Handelte es sich wirklich um den Super? Besorgt lief Rex Gardiner nach draußen. Keine Spur vom Super. Rex setzte seine hellseherischen Fähigkeiten ein - zumindest star tete er den Versuch dazu. Ohne Erfolg. 78
Aber man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu ahnen, was pas siert war. Harold Watson war ein zum Tode Verurteilter und der leibhaftige Tod verstand es, den Dingen immer wieder eine andere Richtung zu verleihen. Direkt konnte er zwar nicht eingreifen, aber er lenkte gewis se Gedanken und Geschehnisse in ihm genehme Bahnen. Rex Gardiner sprang zur Nachbartür, wo der Mann mit dem Un terhemd erschienen war. Ein kurzer Eingriff ins Türschloss genügte. Er drang in die Wohnung ein. Zwei Männer hielten Harold Watson fest. Der mit dem Unterhemd holte gerade mit einem Messer aus. Das Licht der Flurbeleuchtung spiegelte sich in der blanken Klinge. Der Mann wollte zustoßen. Daran gab es keinen Zweifel. Harold Watsons Augen quollen ihm schier vor den Kopf. »Stopp!«, brüllte Rex Gardiner. Die drei Männer wurden unsicher. Der mit dem Messer wollte dennoch zustoßen, doch etwas lenkte den Stoß ab. Die Klinge bohrte sich in die Wand neben Watson. Die Hand des Mannes rutschte vom Griff ab und geriet mit der Klinge in Konflikt. Blut sickerte hervor, tropfte zu Boden. Das brachte den Mann zur Vernunft. Schreiend ließ er das Messer los. Er betrachtete den Schnitt. Es war nicht so schlimm, blutete jedoch stark. Watson riss sich mit einem Ruck los. Er eilte herüber. »Mein Gott, beinahe wäre es zu spät gewesen!« Die drei standen herum wie begossene Pudel. »Es ist noch einmal gut gegangen«, sagte Rex leise. »Lasse die Männer verhaften, aber stell keinen unter Mordklage! Sie handelten nicht aus eigenem Antrieb. Der Tod verstand es nur, latent vorhande ne Aversionen gegen die Polizei auf seine Art auszunützen.« Watson sah ihn entgeistert an. »Das zeigt uns, dass die Macht des Todes wächst! Sie beschränkt sich nicht mehr allein auf diejenigen, die irgendwie mit den Partymit gliedern zu tun haben.« 79
»Die Lösung war noch vor Minuten ganz klar vor meinen Augen. Jetzt ist die Erinnerung daran wieder weg. Dennoch: mir scheint, dass der Tod durch die Übernahme eines Opfers seine Macht ausbaut.« Harold Watson erschrak. »Dann hat es einen weiteren Fall gegeben!« Rex Gardiner wagte ihn gar nicht anzusehen. »Das befürchte ich leider auch!« * Lillys Mutter keuchte die Treppe herauf. »Lil!«, rief sie. »Lil, warum hörst du mich nicht?« Georg Kelly war nicht da. Er hatte behauptet, Freunde aufsuchen zu wollen. Lil Babs hatte ihn nicht aufhalten können. Sie trat aus ihrem Schlafzimmer und blieb am oberen Treppenab satz stehen. »Da will dich jemand sprechen!«, sagte ihre Mutter. »Mich?«, wunderte sich Lil Babs. Sie erwartete niemand. »Wer ist es?« »Ich sagte jemand!«, keifte ihre Mutter. »Meinst du, ich kenne jeden, der hier ein- und ausgeht? Mit dem Betrieb abends habe ich nichts zu tun.« »Männlich oder weiblich?« Lil Babs blieb ruhig. »Weiblich!« Sie drängte sich an der Mutter vorbei und stieg in das Erdgeschoß. Die Besucherin wartete in der Bar. Lilly hatte sie nie zuvor gese hen. »Guten Tag!«, sagte die Fremde freundlich. Eine aufgesetzte Freundlichkeit. Lilly erkannte es an ihren Augen. »Sie wünschen?«, fragte sie reserviert. »Mein Name ist Doris Clasen!« »Der Name sagt mir nichts, tut mir leid.« »So? Das würde mich aber wundern, Miss Babs. Mein Bruder war einmal sehr eng mit Georg Kelly befreundet.« Lil Babs grübelte. Da fiel bei ihr der Groschen. 80
Sie lachte humorlos. »Befreundet ist gut. Sie haben sich die Zelle im Zuchthaus ge teilt.« »Es ist Ihre Sache, wie Sie es nennen wollen.« Lil Babs spürte eine gewisse Feindseligkeit. »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, was Sie von mir wollen. Oder wünschen Sie Georg zu sprechen?« Doris Clasen schüttelte den Kopf. »Nein, bei Ihnen bin ich schon richtig.« Lillys Mutter kam herein. Lilly schickte sie wieder hinaus und schloss die Tür. »Na, dann schießen Sie mal los!« »Es ist wegen Benno. Er lebt nicht mehr.« Lillys linke Augenbraue rutschte leicht nach oben. Das war ihre einzige Reaktion. »Herzliches Beileid!«, sagte sie trocken. »Über so etwas macht man keine Scherze!« »Es war auch nicht meine Absicht. Was habe ich denn mit dem Tode Ihres Bruders zu schaffen?« »Ja, wissen Sie denn nichts von dem schrecklichen Unglück, von der Gasexplosion heute Nacht?« »Tut mir leid, ich habe heute noch keine Zeitung gelesen und auch kein Radio gehört. Die meiste Zeit verbrachte ich mit schlafen. Gestern wurde es sehr spät hier.« »Ein Maskenball bei Peter Carlson. Das Gebäude ist nur noch ein Trümmerhaufen. Niemand entkam.« »Und deshalb sind Sie hier?« »Ja, denn da ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. Ich befand mich vorhin in der Wohnung meines Bruders. Seit seine Frau ihn ver ließ, besitze ich einen Schlüssel. Georg Kelly kam. Er wollte zu Benno.« »Haben Sie ihm nicht aufgemacht?« »Warum sollte ich? Nachdem er weg war, kam ich zu Ihnen.« »Jetzt hören Sie mal gut zu, Kindchen! Ganz interessant, was Sie da von sich geben, aber ich sehe leider keinen Zusammenhang. Es 81
wäre nett von Ihnen, mich einmal etwas aufzuklären. Sonst kommt der Abschied sehr schnell.« »Georg Kelly hat etwas mit dem Tod von Benno zu tun! Vielleicht hat er sogar die Gasexplosion verursacht.« Lil Babs lachte schallend. »Dazu müssten Sie wissen, Miss Clasen, dass Georg erst heute Morgen entlassen wurde.« »Ich weiß zufällig, dass ihn Benno regelmäßig besuchte!« »Okay, das ist neu für mich.« »In letzter Zeit war Benno sehr seltsam. Vor einer Woche erzählte er mir im betrunkenen Zustand eine eigenartige Geschichte.« »Berichten Sie mehr davon! Ich möchte wieder etwas zu lachen haben.« »Benno sagte: ›Der Tod ist auf unserer Seite. Georg und ich ha ben ihn als Partner gewinnen wollen. Es gelang. Die Macht des Todes ist groß. Bald wird Georg entlassen. Das ist der Auftakt zur Herrschaft des Sensenmannes‹.« Lil Babs runzelte die Stirn. Sie lachte nicht. »Ich glaube, ein guter Psychiater müsste bei Ihnen schon ein Wunder vollbringen.« Doris Clasen fuhr ungerührt fort: »Benno erwähnte auch Therese Gabriel. Sie sei eine richtige Hexe, ein Unsicherheitsfaktor ersten Ran ges. Sie habe ebenfalls große Macht und...« »Das Geschwätz eines Betrunkenen!« Lil Babs war außer sich vor Zorn. Sie stampfte zur Tür, riss sie auf. »Auf Nimmerwiedersehen, Miss Clasen!« Doris Clasen ging tatsächlich. Draußen wandte sie sich noch ein mal um. »Ich komme wieder - diesmal aber mit der Polizei!« Lil Babs hörte nur Polizei, dachte an ihren Georg und daran, dass durch diese Irre Georg Kelly wieder hinter Gittern landen könnte. Das raubte ihr den Rest von Beherrschung. Wie eine Furie sprang sie Doris Clasen an. Das Mädchen erschrak und wandte sich zur Flucht. Sie rannte auf die Straße. 82
In diesem Augenblick kam ein Wagen vorbei. Der Fahrer erkannte Doris Clasen zu spät. Er vermochte nicht mehr zu bremsen. Ein furchtbarer Schrei, Krachen und Bersten. Entsetzt stierte Lil Babs auf die Fahrbahn. Sie sah eine Sterbende. Ein Schatten schien sich auf die Unglückliche zuzubewegen - wie der Tod persönlich. Eine schwache Berührung genügte. Die Erschei nung verschwand. Lil Babs rieb sich über die Augen. Sie erwartete, aus einem schrecklichen Alptraum zu erwachen. Doch das Geschehene war Wirk lichkeit. * Watson gab dem Streifenbeamten unten Instruktionen. Der Konstabler erschrak, als er hörte, dass man einen Anschlag auf seinen Super ge wagt hatte. Grimmig alarmierte er seine Kollegen. Watson wandte sich zum Gehen, Rex Gardiner im Geleit. Der Konstabler rief nach: »Sir, was ist mit den anderen?« Harold blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Machen Sie sich keine Gedanken darüber!«, sagte er über die Schulter zurück. Er und Rex Gardiner stiegen in den Wagen. »Du willst ihn nicht aufklären?«, erkundigte sich Rex. »Was soll ich ihm denn sagen? Dass die Polizisten im Zwischen reich der Dämonen gefangen sind, sich aber nicht in solche Monster verwandeln können, weil sie das Zwischenreich nicht anerkennt?« Rex gab ihm Recht. Nein, da war es schon besser, nichts zu sa gen. Sie fuhren in Richtung Präsidium. Harold Watson hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen dienstlich gestellten Wagen persönlich zu lenken. Das tat er meistens. Einen Fahrer lehnte er aus Prinzip ab. Nur wenn es unumgänglich wurde, griff er darauf zurück. Rex Gardiner war es nur recht. So konnten sie sich ungestört un terhalten, ohne Lauscher zu befürchten. 83
»Ein neuer Fall, ein neuer Täter«, murmelte Watson vor sich hin. »Möchte wirklich wissen, wer es diesmal ist.« Es herrschte reger Verkehr um diese Tageszeit. Trotzdem fuhr der Superintendent bis zur oberen Grenze des Tempolimits. Manchmal standen Rex Gardiner die Haare zu Berg. Deine Fahrkünste in Ehren, dachte er, aber wir sollten uns ein we
nig mehr Zeit lassen. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger wird es kaum ankommen.
Die Ampel weiter vorn war grün. Der rollende Verkehr bog auf die Querstraße ab. Dahinter befand sich das Ufer der Themse. Harold Watson wollte es schaffen, bevor die Ampel auf Rot über sprang. Er gab Gas. Der Wagen schoss vorwärts, erreichte die Abzwei gung. Harold Watson stieg in die Bremsen, weil die Geschwindigkeit zum Abbiegen viel zu hoch war. Nichts tat sich. Die Bremsen versagten! Er konnte drücken wie er wollte. Erfolg zeigte sich nicht. Der Wagen schoss quer über die Stra ße, auf das eiskalte Wasser der Themse zu... * Rex Gardiner überwand seine Schrecksekunde. Der Extrasinn tastete die Bremsschläuche entlang, entdeckte einen Knick. Das Öl war ausge laufen. Gardiners unbeschreibliche Kräfte ersetzten das Öl. Endlich griffen die Bremsen. Der Wagen schleuderte. Kurz vor dem Ufer kam er zum Stehen. »Das war knapp!«, keuchte Harold Watson. Über Funk setzte er sich mit dem Polizisten in Verbindung, der vor McDowalls Wohnung wachte. »Haben Sie jemanden an meinem Wagen gesehen?«, bellte er. »Natürlich nicht, Sir! Was ist denn passiert?« »Eben versagten die Bremsen meines Autos. Beinahe wären wir in der Themse gelandet!« »Aber Sir! Es - es ist unmöglich. Ich habe wirklich niemanden... Auf mein Ehrenwort, Sir!« 84
»In Ordnung, Konstabler! Lassen Sie uns abholen!« Er gab ge naue Positionsbeschreibung durch. Beide hörten sie grollendes Lachen, das langsam verwehte. Gardiner und Watson sahen sich an. Beide waren kreidebleich. Im Nachhinein zitterten noch ihre Knie. Rex Gardiner spürte die Erschöpfung. Sein Körper revoltierte. Wenn er seine Sonderbegabung noch ein paar Mal einsetzen musste, war er krankenhausreif. »Das war möglicherweise nur eine Warnung!«, sagte der Superin tendent. »Ich nehme an, dass unser Gegner noch ganz andere Mög lichkeiten besitzt, uns zu beseitigen.« »Und warum setzt er sie nicht ein?« »Dazu muss wohl erst die Zeit reif sein. Der Tod hat große Macht, doch hat auch die ihre Grenzen.« * Georg Kelly kehrte zurück. Er war mit der Untergrundbahn gefahren. Unterwegs fragte er sich, wieso sich Benno Clasen noch nicht bei ihm gemeldet hatte und auch nicht daheim anzutreffen war. Von dem Unglück im Hause Carlsons wusste er nichts. »Was ist da schief gelaufen?«, murmelte er vor sich hin. Nur Lillys Mutter befand sich in der Bar. Sie war außer sich, rang die Hände, als sie Georg Kelly sah. »Du bringst das Verderben über uns!«, regte sie sich auf. »He, was ist denn los?« »Der Teufel hat dich uns geschickt. Warum bist du nicht geblie ben, wo du warst?« Er packte sie hart an den Schultern. »Wo ist Lilly?« »Die Polizei war da, hat sie mitgenommen. Die junge Clasen wur de überfahren. Sie ist tot.« »Was redest du da? Verdammt, ich will wissen...« »Lass mich sofort los, du Unhold! Du tust mir weh.« 85
»Ich werde es noch schlimmer treiben, wenn du nicht endlich mit der Sprache herausrückst! Was ist mit der jungen Clasen?« »Ich - ich habe gelauscht. Doris Clasen erzählte vom Tode ihres Bruders.« Sie erzählte es ihm und schnappte zwischendurch immer wieder keuchend nach Atem. Georg Kelly ließ sie los und blickte sie entgeistert an. »Benno Clasen tot?« Er wollte es einfach nicht glauben. »Das ist doch nicht möglich.« »Sie hat es jedenfalls behauptet. Dann ging sie hinaus und sagte etwas zu Lilly, was ich nicht verstand. Lilly wurde sehr böse. Doris Cla sen flüchtete auf die Straße. Da geschah es.« Georg Kellys Gedanken wirbelten im Kreis. Benno Clasen war wichtig. Wenn er nicht mehr lebte, was dann? »Wo hat das Unglück stattgefunden, sagst du?« »Im Hause von Peter Carlson. Ich hörte es über Radio, sagte aber Lilly nichts davon. Dachte nicht, dass es für sie von Wichtigkeit sei.« »Und alle kamen um?« »Ja! Es wurden Namen genannt. Ich erinnere mich an Therese Gabriel. Auch die Gastgeber überlebten es nicht.« Für Georg Kelly brach eine Welt zusammen. »Dann ist alles aus.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Arme Lilly, was werden sie nun mit dir machen?« Er wandte sich zum Gehen. »Wohin?«, rief ihm Lillys Mutter nach. »Es wird getan, was getan werden muss!«, antwortete er orakel haft. »Die alten Pläne existieren nicht mehr.« Sie blickte ihm nach. Dann tippte sie sich an die Stirn. »Die sind alle durchgedreht. Eine verrückte Welt ist das. Früher war es anders. Da wusste man noch, woran man war.« Immer wieder die guten alten Zeiten zitierend, begab sie sich nach oben. Es entsprach ihrer Art, dass sie sich nicht offen um das Schicksal ihrer Tochter sorgte. In Wirklichkeit machte sie sich zwar Gedanken darum, doch hätte sie es niemals zugegeben. 86
Und noch einmal sagte sie: »Dieser Georg Kelly ist das personifi zierte Unglück. Wie konnte sich Lilly nur in ihn vergaffen? Er ist ein Verbrecher und wird es immer bleiben. Lilly, du wirst auch noch einen anständigen Mann finden, glaube mir!« Niemand hörte ihre Worte. * Frank McDowall hatte sich verändert, seit er durch Rex Gardiner einen Einblick in die Wirklichkeit gewonnen hatte. Er wandte sich an seinen neuen Partner, an Benno Clasen - oder an das, was in dieser Sphäre aus ihm geworden war. Benno Clasen hatte von dem Intermezzo nichts mitbekommen. »Ich verstehe nicht, dass ihr den Tod beschwören konntet und der euch so übers Ohr gehauen hat«, sagte McDowall. Der Bär, der den Schlangenkörper mit sich herumtrug, horchte auf. »Wieso sprichst du in der Mehrzahl?« »Du hast es doch nicht allein getan, oder?« »Wie kommst du darauf?« »Wer war dein Verbündeter? Ist er hier? Gehört er zu den Opfern der Gasexplosion?« Benno Clasen wurde sichtlich nervös. Der Schlangenkörper peitschte. »Also gut«, gab er zu, »du sollst die Geschichte erfahren. Es gibt diesen Verbündeten. Ich tat mich schon vor vielen Jahren mit ihm zu sammen. Wir beschäftigten uns mit schwarzer Magie und weißer Ma gie und wurden gewissermaßen Experten darin. Einem Zirkel schlossen wir uns nicht an. Das sind alles Scharlatane. Eines Tages wollten wir unsere neu erworbenen Fähigkeiten an den Mann bringen. Ich stand in magischer Verbindung mit meinem Partner, als ich in eine Bank ein drang. Am helllichten Tag geschah das. Mein Partner übermittelte, was draußen geschah. Den Zeitpunkt hatten wir genau berechnet. Die Sterne standen günstig. Böse Kräfte konnten wirksam werden und den Angestellten in der Bank zusetzen.« 87
»Die Sache ging doch schief, oder?« »Ja, wir haben damals unsere Fähigkeiten unterschätzt und nicht bedacht, dass es Schutzeinrichtungen gegen schwarze Magie gibt. Der Kassierer war ein sehr religiöser Mensch. Er trug ein Kreuz auf der Brust. Als ich schon glaubte, Herr der Lage zu sein, indem ich den An gestellten schreckliche Visionen vorgaukelte, stieß er ein Stoßgebet aus. Er verstand nicht, was um ihn herum vorging. Doch das Gebet kam zum rechten Zeitpunkt. Der Zauber erlosch. Schon eine Stunde später nahm mich die Polizei fest. Meinen Partner verriet ich nicht.« Frank McDowall schüttelte den monströsen Schädel. »Niemand hat etwas von euren Machenschaften geahnt!« »Ich wanderte für einige Zeit hinter Gitter. Da traf ich auf einen Mann, der sehr interessiert war: Georg Kelly. Gemeinsam mit ihm widmete ich mich abermals den magischen Künsten. Er hat nicht das Zeug zum richtigen Magier, erwies sich jedoch als wissbegieriger Schü ler. Wir arbeiteten ein Konzept aus. Schon früher stieß ich bei meinen Forschungen auf das Phänomen des personifizierten Todes. Es gibt auf der ganzen Erde die Darstellung des Todes als Sensenmann. Das hat seine Bewandtnis. Einst herrschte ein mächtiger Dämon auf Erden. Er hatte Macht über das Leben, vermachte es, die Weichen des Schicksals zu stellen. Bis es eines Tages gelang, ihn ins Zwischenreich der Dämo nen zu verbannen. Hier war er jetzt gefangen wie alle anderen seiner dämonischen Brüder. Noch im Zuchthaus von Dartmoor führten wir Beschwörungen durch. Es gelang uns die Kontaktaufnahme. Unser Plan sah nun vor, dass wir auf die Entlassung von Kelly warteten. Der Todesdämon brauchte Zeit, um seine Macht neu zu entfalten. Die er heimsuchte, sollten hierher verbannt werden. Aus ihrer Energie schöpfte er Kraft. Der Pakt machte ihn zu unserem Verbündeten. Er verpflichtete ihn, uns behilflich zu sein. Damit er aber wirklich die not wendige Zeit zu seiner Entfaltung erhielt, mussten wir Scotland Yard hemmen. Georg Kelly war dazu der geeignete Mann. Sein Hass gegen Superintendent Watson war schon fast unglaublich zu nennen. Nach seiner Entlassung wollte er Watson verunsichern, seine Aufmerksam keit vom eigentlichen Fall ablenken. Der Tod sollte ihn dabei unterstüt 88
zen und die Schicksalsweichen stellen, bis ihm Watson in die Knochen finger fiel.« »Es kam aber alles ganz anders!«, sagte McDowall schadenfroh. Benno Clasen grollte wütend: »Ja, denn wir wurden verraten. Die ersten Opfer des Todesboten mussten ihm zugespielt werden. Allein schaffte er es nicht. Wir hatten den Zeitpunkt bereits bestimmt, Kelly und ich. Aber mein alter Partner wollte es anders - hinter unserem Rücken. Er wartete die Entlassung nicht ab, manipulierte an der Gas leitung, brachte alle Gäste um, einschließlich mir. Der Todesbote er schien uns, doch interpretierte ich die Zeichen falsch und musste ster ben. Beim Eintritt des Todes wurde das Haus mitsamt seinen sterbenden Gästen ins Zwischenreich entführt. So fand die Explosion zum Großteil hier statt. Die Trümmer kehrten ins Diesseits zurück. Wir blie ben hier. Ich nehme an, dass das Unglück den Kriminalisten einige Rätsel aufgegeben hat. Der Verräter hat alles haargenau geplant. Er hat auch mit einkalkuliert, dass Georg Kelly am Folgetag mit seiner Entlassung rechnete. Kelly würde unabhängig von allem seine Auf merksamkeit Watson schenken.« »Was ist denn an ihm so furchtbar wichtig?«, wunderte sich McDowall. »Sein engster Freund heißt Rex Gardiner. Über Watson mussten wir zu dem gelangen. Gardiner besitzt außergewöhnliche Fähigkeiten. Er ist der einzige, der uns gefährlich werden konnte. War Watson ein mal in den Klauen des Todesboten, war der direkte Weg zu Gardiner offen.« Jetzt wusste McDowall endlich, wen er durch das Fenster ins Dies seits gesehen hatte. Er bezweifelte allerdings, ob dieser Rex Gardiner wirklich die Zusammenhänge erkannte. Er betrachtete seinen Gesprächspartner. »Und jetzt suchst du den Verräter. Du bist doch mit ihm ange kommen, nicht wahr? Erst danach zerstreute sich die Versammlung etwas.« »Der Verräter war nicht dabei!« Benno Clasen brüllte vor Hass, Wut und Enttäuschung. »Ich werde ihn finden und vernichten!« 89
McDowall wurde klar, warum sich Benno Clasen mit ihm verbün det hatte. Er brauchte Unterstützung, fühlte sich allein zu schwach. »Du bist blind!«, warf er Benno Clasen vor. »Einem Phantom jagst du nach. Die Suche können wir uns sparen. Dem Verräter gelang es, sich rechtzeitig abzusetzen, ehe es zu spät dazu war. Er lebt noch im mer und befindet sich im Diesseits. Bald werden wir ihn sehen. Ich nehme an, dass der Todesdämon ein Tor schaffen wird, durch das er uns, seine ihm untergebenen Geister, hindurch lassen kann. Wir sind Werkzeuge in seinen knöchernen Händen und sollen als solche tätig werden.« Benno Clasen blickte ihn entgeistert an. Die ganze Zeit hatte er sich gegen diesen Gedanken gewehrt. Jetzt richtete sich seine Wut gegen Frank McDowall. Sofort warf er sich auf ihn. Doch Frank McDowall hatte damit gerechnet. Auch er verstand es, zu planen und den geeigneten Zeitpunkt zu bestimmen. Das Gespräch hatte Benno Clasen abgelenkt. Die Gruppe von Fabelwesen, die sich ihnen genähert hatte, war ihm gar nicht aufgefallen. Jetzt waren sie da. Sie waren zu viert, eine unüberwindliche Über macht. Frank McDowall sprang zur Seite. Der Angriff ging daneben. Benno Clasen lief dem Gegner genau in die Arme. Die vier waren vorläufig beschäftigt. Zeit genug für Frank McDo wall, sich abzusetzen. Irgendwo in diesem Teil der Grauenssphäre würde Benno Clasen erneut zu leben beginnen. Die Tatsache, dass er sich mit McDowall verbündet hatte, würde sich als Bumerang erweisen, denn dadurch war es McDowall ein Leichtes, ihn jederzeit wieder ausfindig zu ma chen. Benno Clasen wirkte auf ihn wie ein ständig funkender Peilsen der. Ja, ich werde dich finden, dachte Frank McDowall grimmig, denn
ich weiß noch immer nicht, wer dieser mysteriöse Verräter ist. Frau oder Mann? Frank McDowall hatte einen furchtbaren Verdacht. Dabei war dieser nicht einmal so abwegig.
90
*
Mit einem Streifenwagen wurden sie abgeholt. Um Watsons Wagen brauchten sie sich nicht mehr zu sorgen. Dafür war bereits gesorgt. Watson würde ihn nur nach der Reparatur in der Polizeiwerkstatt ab holen müssen. Unterwegs sprachen er und Rex Gardiner kein Wort. Über Funk hatten sie erfahren, dass Benno Clasens Schwester überfahren worden war. Damit kannten sie das neueste Opfer des Todes, denn dass die ser wieder im Spiel war, bezweifelte keiner der beiden. Rex Gardiner war auf Lil Babs gespannt. Mit bürgerlichem Namen hieß sie Edua Bocke. Für eine Barbesitzerin passte das wohl nicht. Sie bremsten vor dem Yardgebäude und stiegen aus. Kaum war das geschehen, als etwas dicht an Rex Gardiner vorbei zischte und Harald Watson knapp verfehlte. Ehe der Superintendent wusste, wie ihm geschah, hatte ihn Rex mit sich zu Boden gerissen. »Verdammt, es schießt jemand auf dich!«, knurrte er, als sich Watson heftig wehrte. Die Gegenwehr des Supers erlahmte. Er machte große Augen. »Georg Kelly!«, sagte er. Das Auto war nicht die rechte Deckung. Etwas Besseres bot sich allerdings nicht. Die Polizisten, die sie abgeholt hatten, spritzten auseinander. Sie sprinteten davon. Soweit reichte ihre Liebe zu ihrem obersten Chef nicht, dass sie dafür ihr Leben opferten. Rex Gardiner konnte es ihnen nicht verdenken. Er versuchte, seine hellseherischen Fähigkeiten wirksam werden zu lassen, um den Standort Kellys zu erfahren. Der Todesbote blockte es ab. Wahrscheinlich hatte er an dem Geschehen seine helle Freude. Und dann sahen sie den Sensenmann. Er hockte auf dem Kühler des Dienstfahrzeuges. Wahrscheinlich konnten ihn nur Watson, Gardi ner und Kelly sehen. 91
»Es gibt kein Entrinnen!«, grollte er. »Deine Fähigkeiten nutzen nichts mehr, Rex Gardiner. Du könntest zwar ein Schutzfeld aufbauen, bist aber so geschwächt, dass es nur Sekunden bestehen bleibt.« Rex Gardiner wusste, dass der Todesdämon Recht hatte. Ihm selbst vermochte er nichts anzuhaben, denn der Unheimliche hatte nur sein Abbild geschickt und befand sich an sicherer Stelle. Die zweite Kugel traf einen Reifen. Zischend entwich die Luft. »Kelly wird nicht nur Watson töten, sondern auch dich, Gardiner. Dann ist endlich der Weg für mich frei.« * Benno Clasen entstand erneut. Ein hyänenartiges Wesen mit Vorder läufen wie Tigerpranken. Es sprang auf, als die Erinnerung zurückkehr te. Frank McDowall war bereits zur Stelle. Er ließ sich auf das Wesen fallen und umklammerte es. Jetzt konnte sich Benno Clasen nicht mehr bewegen. »Ich zerdrücke dich«, drohte Frank McDowall. »Sage mir, wie der Verräter heißt!« Benno Clasen weigerte sich. Frank presste fester zusammen. »Deine ehemalige Frau!«, keuchte Clasen. Der Griff lockerte sich. »Therese Gabriel, die Hexe, sie hat uns verraten. Sie lebt und arbeitet mit dem Todesdämon Hand in Hand.« Sie wurden gestört. Ein Fabelungeheuer näherte sich. Frank McDowall fluchte ob der Störung. Er betrachtete den Neu ankömmling, eine Kreuzung zwischen einer Biene und dem Körper eines Schafs. »Doris!«, rief Benno Clasen aus. Neue Hoffnung erfüllte ihn. Ja, es handelte sich um seine Schwester. Frank McDowall blieb keine andere Wahl. Er tötete seinen Wider sacher, denn das Fabelwesen ging sofort zum Angriff über. Der Kadaver des Hyänenwesens löste sich auf. McDowall stoppte den Angriff mit einem Schlag seines peitschenden Schwanzes. Die Bie ne wurde mehrere Yards durch die Luft geschleudert. 92
»Lass meinen Bruder in Frieden!« Die Stimme klang wie das Summen eines Hornissenschwarms. »Das dürfte meine Sorge sein. Ich brauche die Informationen von ihm. Anders gibt es keine Möglichkeit zur Erlösung aus dieser Welt.« »Wie willst du es schaffen?« War das Interesse der Biene echt oder wollte sie nur Zeit gewin nen? »Rex Gardiner besitzt hellseherische Fähigkeiten. Ich muss versu chen, ihm Informationen zuzuspielen. Benno Clasen hat behauptet, Therese Gabriel lebe und treibe im Diesseits ihr Unwesen.« »Es stimmt, was er sagt! Versuche, mit Rex Gardiner Kontakt auf zunehmen!« Während des kurzen Gesprächs hatte sich Frank McDowall vor sichtig genähert. Jetzt war der Abstand richtig. Er vollführte einen ge waltigen Sprung, denn Clasens Schwester durfte er nicht trauen. Sie hielt zu ihrem Bruder, egal, was auch passierte. Sie reagierte, indem sie ihn mit ihrem Giftstachel stechen wollte. Doch der Stachel glitt an McDowalls Schuppenpanzer wirkungslos ab. Er zwang das Fabelwesen zu Boden und unterband jede Bewegung. »So, jetzt wirst du mich nicht stören können.« Er konzentrierte sich und hoffte dabei, dass ihm die Kontaktnahme gelang. * Der dritte Schuss traf unter den Wagen, schrillte als Querschläger wei ter und traf Watsons linke Schulter. In der Jacke erschien ein großes Loch. Der Superintendent schrie auf. Sofort begann die Wunde zu blu ten. Der Todesbote lachte überlegen. »Wie ich schon sagte, ihr habt keine Chance. Bis man euch Feuer schutz geben kann, hat Georg Kelly sein Werk vollendet.« In diesem Augenblick hörte Rex Gardiner den fernen Ruf. Vor sei nem geistigen Auge tauchte der Geist von Frank McDowall auf. Ihm war die Kontaktaufnahme tatsächlich gelungen. 93
Sogleich versuchte es der Dämon zu verhindern. Doch McDowall konnte Rex Gardiner noch den Namen Therese Gabriel zuflüstern. Noch etwas geschah: Die Erscheinung des Todes verschwand, denn er verbrauchte zuviel Energie für die Projektion, die er zum Ab kapseln von McDowall einsetzte. Mit dem Mut der Verzweiflung riss Gardiner den Wagenschlag auf. Eine Kugel zerfetzte die Windschutzscheibe. Rex schaltete das Funkgerät ein. Watson stöhnte fürchterlich. Rex konnte ihm jetzt nicht helfen. Die Kontaktaufnahme von Frank McDowall hatte einen guten Ne beneffekt. Rex Gardiner hatte eine flüchtige Vision, als der Dämon damit be schäftigt war, die Verbindung zu verhindern. Jetzt wusste Rex Gardiner genau, wo Georg Kelly zu finden war. Er gab die Information über Funk weiter. Kelly reagierte zu spät. Die nächste Kugel fuhr in den Tank des Wagens, entfachte dort eine Stichflamme. Der Tank detonierte. Das Auto stand in hellen Flammen. Rex Gardiner konnte sich gerade noch nach draußen retten. Seine Ohren dröhnten von der Druckwelle. Er hörte fast nichts mehr. »Schnell weg!«, schrie er Watson zu. »Die nächste Explosion ü berleben wir nicht.« Der Super nahm allen Willen zusammen. Sie flüchteten im toten Winkel. Georg Kelly musste blind schießen und traf nicht. Hinter einem anderen Wagen ließen sich die beiden zu Boden fal len. Watson presste seine Rechte gegen die Wunde. Er musste furcht bare Schmerzen haben. Trotzdem fragte er: »Was ist passiert?« Rex Gardiner klärte ihn mit knappen Worten auf. »Dann glaubst du wirklich, dass wir nach Therese Gabriel suchen müssen?« »Ich muss es glauben. Wir starten eine Fahndungsaktion. Therese ist die Schlüsselfigur. Die Verbindung zwischen ihr und dem Dämon ist sehr eng. Sie allein ermöglicht sein Hier sein im Diesseits. Der Dämon 94
ist noch nicht stark genug, um selbständig agieren zu können. Durch mein ständiges Eingreifen wird er immer wieder geschwächt.« Jetzt wurde auch vom Yardgebäude aus geschossen. Die Beamten wussten, wo der Heckenschütze postiert war. Sie gaben Feuerschutz. Rex Gardiner und Harald Watson standen auf. Rex stützte den Freund, als sie zum Gebäude liefen. Dort wurden sie von einem Arzt in Empfang genommen. Watsons Schulterwunde musste behandelt werden. * Als Rex Gardiner eine halbe Stunde später das Büro des Supers betrat, steckte Watsons Arm in einer Schlinge. Rex deutete darauf. »Ist es schlimm?« Watson winkte ab. »In drei Wochen ist es vergessen. Dann lachen wir nur noch dar über.« »Dein Wort in Gottes Ohr. Was ist mit Kelly?« »Er machte einen Ausfallversuch und blieb dabei auf der Strecke.« »Und Therese Gabriel?« »Die Fahndung läuft - allerdings bis jetzt ohne Erfolg. Was hast du eigentlich die letzte halbe Stunde gemacht, während man mich behan delte?« »Ich versuchte, zu Lil Babs durchzukommen. Man hatte etwas da gegen.« Watson grinste. »Na ja, du bist halt kein Mitglied des Yards. Seit du weg bist, wur den die Sicherheitsvorschriften verschärft. Man kann sich hier nicht mehr so frei bewegen wie früher.« Er stand auf. »Widmen wir uns der Dame gemeinsam. Vielleicht weiß sie etwas, was uns nicht bekannt ist?« Watson bewies, dass er eine eiserne Natur besaß. Trotz des Blut verlustes machte er keinen geschwächten Eindruck. 95
Sie betraten den Flügel, in dem man Lil Babs untergebracht hatte. Zwei Beamte brachten sie in das Verhörzimmer. Sie erkannte keinen der beiden. Watson stellte nur Rex Gardiner vor. Lil Babs wirkte völlig aufgelöst. In ihren Augen flackerte es. Sie brach in Tränen aus. »Ich - ich habe sie umgebracht!«, schluchzte sie immer wieder. »Ich wollte es zwar nicht, habe es aber dennoch getan.« Rex Gardiner legte beruhigend die Hand auf ihren Arm. Watson schickte die Beamten hinaus. Jetzt waren sie mit Lil Babs allein. »Sie reden sich etwas ein, Miss Babs!«, sagte Rex eindringlich. »Wir wissen inzwischen, dass es sich um Mord handelt. Verstehen Sie, Miss Babs, die Sache war geplant! Sie sind völlig unschuldig!« Entgeistert schaute sie ihn an. »Was sagen Sie da? Mord?« Watson mischte sich ein. »Genauso ist es, Miss Babs. Wir wollen den Mörder finden. So lan ge behalten wir sie hier, denn auch Sie sind gefährdet.« »Ich bin gefährdet?« »Ja, Sie müssen uns alles sagen, was Sie wissen. Was haben Sie mit Doris Clasen gesprochen?« Auf einmal war Lil Babs ganz ruhig. Die Worte der beiden Männer hatten ihr neue Kraft verliehen. »Es hörte sich an wie das Gefasel eines Irren. Georg und Benno Clasen haben ein Abkommen getroffen. Diese Doris erzählte von dem Pakt mit dem Tod.« »Gibt es noch einen dritten, der daran beteiligt ist - an diesem Pakt, meine ich?« Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung!« »Könnte es Therese Gabriel sein?« »Therese Gabriel?« »Ja, eine Bekannte von Benno Clasen.« »Die kenne ich nicht!« Sie gaben es auf, ließen Lil Babs wieder abholen. 96
In der Tür drehte sie sich noch einmal um, eine steile Falte auf ih rer hübschen Stirn. »Moment, wie sagten Sie? Therese Gabriel? Ja, diesen Namen hat Doris Clasen erwähnt. Jetzt erinnere ich mich wieder. Sie sprach da von, das sei eine richtige Hexe. Ich unterbrach Sie bei dem Gerede und warf sie hinaus.« Rex Gardiner und Watson sahen sich an. Sie hielten Lil Babs nicht länger zurück. Es wäre sinnlos gewesen. »Also doch Therese Gabriel?«, fragte Harold Watson. * Frank McDowall war mit dem Ergebnis höchst zufrieden. Es zeigte, dass er in diese Welt voll integriert war. Es machte keinen Unter schied, ob man sich jemals mit Magie beschäftigt hatte. McDowall war ein sehr willensstarker Mensch gewesen. Das hatte seinen ge schäftlichen Erfolg garantiert. Er lernte sehr schnell, mit den hier herr schenden Kräften zurechtzukommen. Die kurze Begegnung mit Rex Gardiner hatte genügt, unsichtbare Bande zwischen ihnen zu knüpfen. Vielleicht kann ich dir noch sehr von Nutzen sein!, dachte er grimmig. Er ließ Doris Clasen los. Sofort trat sie die Flucht an. Frank hatte nichts dagegen. Er verließ den Ort des Geschehens, um das zu tun, was er und Benno Clasen vorgehabt hatten: die anderen zu suchen. Er wollte sie über die Zusammenhänge aufklären. Vielleicht hielt sie das davon ab, ihn erneut anzugreifen. Lange brauchte er sich nicht in Geduld zu üben. Er fand zwar die anderen nicht, aber dafür die ihn. Plötzlich sah er sich von ihnen umringt. Ein Fluchtversuch war zwecklos. Sie bildeten eine Gruppe von rund einem Dutzend Wesen. Frank blickte sich in der Runde um. »Der Tod hat euch hierher entführt«, sagte er, »warum fragt ihr nicht einmal Benno Clasen, warum dies geschah? Wir sollten gemein sam versuchen, um unsere Befreiung zu kämpfen.« 97
»Verlorene sind wir!«, zischte eine Riesenschlange mit verkrüppel ten Gliedmaßen. »Eine Rückkehr ins Diesseits ist nicht mehr möglich, da wir alle tot sind.« »Das stimmt leider, doch können wir aus der Sphäre der Ver dammnis befreit werden und in die Gefilde des Jenseits eingehen. Das wisst ihr selber.« Sie zögerten mit dem Angriff, auf den sie gewissermaßen pro grammiert waren. Frank McDowall klärte sie über die Sachlage auf. Er erzählte von dem Pakt zwischen Benno Clasen und Georg Kelly. Ein Einhorn sagte dazu: »Auch Kelly ging inzwischen in diese Welt ein. Wir haben ihn vernichtet und wissen nicht, wo er neu entstand. Die unterste Stufe in dieser Sphäre ist das Menschsein. Jeder bekommt irgendwann seinen alten Körper zurück. In dieser Umgebung eine schlimme Strafe. Jede Vernichtung bringt ihn dieser Stufe näher.« »Nicht Kelly und Clasen sind schuld an eurem Schicksal, sondern meine ehemalige Frau Therese Gabriel. Das sagte mir Benno Clasen. Sie lebt und verstand es, ihre beiden Verbündeten auszutricksen.« Es sollte für die Versammlung eine Sensation sein, doch war die Wirkung ganz anders als erwartet. Die Riesenschlange lachte. Es sah grotesk aus. »Wer, lieber Frank McDowall, glaubst du, bin ich?« Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Er betrachtete die Schlange und erkannte dabei, dass er sich gewaltig geirrt hatte. Dies hier war Therese Gabriel, seine ehemalige Frau! Benno Clasen hatte ihn belogen! Aber wer war der Verräter dann? »Nur ein einziger Mensch kommt dafür in Frage«, zischte Therese. »Frag doch mal Peter Carlson! Uns ist es inzwischen klar. Alle Party mitglieder starben bei dem Unglück. Wir bemerkten nicht, dass sich einer von uns davonstahl, um die Gasexplosion zu verursachen. Es fiel nicht auf, weil kaum jemand wusste, wer sich hinter den Masken verbarg.« Peter Carlson drängte sich vor. 98
»Ja!«, keifte er, das Einhorn, »nicht einmal ich kannte die Maske von meiner Frau. Maryann ist die Hexe, die uns auf dem Gewissen hat. Sie erfuhr von meinem Verhältnis mit Therese. Das brachte sie dazu, mich nicht zu schonen. Seit langem ist mir bekannt, dass sie sich mit Magie beschäftigte.« »Dann ist mir ein furchtbarer Fehler unterlaufen«, stöhnte Frank McDowall. »Ich habe Rex Gardiner falsch informiert. Ihr müsst mich abschirmen, damit ich mit ihm Verbindung aufnehmen kann.« »Der Todesdämon, unser aller Herr, wird es zu verhindern wis sen!«, gab das Einhorn zu bedenken. »Sein Einfluss in dieser Sphäre ist geringer als ihr glaubt«, klärte Frank auf. »Er befindet sich im Diesseits und beschäftigt sich mit dem Ausbau seiner Macht. Wir müssen es einfach versuchen. Einmal gelang es mir. Warum nicht noch ein weiteres Mal?« »Vielleicht weiß ich sogar, wo sich Maryann aufhält?« Frank McDowall sah das Einhorn überrascht an. »Sage es mir!« »Du hast uns überzeugt, Frank! Wir sitzen alle im gleichen Boot. Der Todesdämon missbraucht uns als seine Werkzeuge. Wenn es wirk lich eine Möglichkeit gibt, dem Teufel zu entrinnen, dann nur durch dich. Ich sagte dir vorhin, dass ich von Maryanns Forschungen wusste. Für mich war das alles Unsinn. Ich kümmerte mich kaum darum. Doch Maryann besitzt ein altes, verfallenes Haus in der Nähe des Westfried hofs. Dort führte sie gemeinsam mit Benno Clasen Beschwörungen durch.« Frank McDowall zögerte nicht mehr länger. Er rief nach Rex Gar diner. Die Kontaktaufnahme gelang diesmal nicht, so sehr er sich auch bemühte. Der Tod wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Er machte Frank einen Strich durch die Rechnung. * 99
»Ich kann nicht recht daran glauben«, gab Rex Gardiner zu. »Irgend wie befinden wir uns in einer Sackgasse. Der Tod weiß das und braucht sich im Moment nicht näher mit uns zu beschäftigen. In der Zwischenzeit sucht er neue Opfer. Schließlich hat er eine gute Unter stützung.« »Du meinst, der Kampf gerät in die Endphase?« »Ja, Harold, die unheimliche Macht verschwendete mit uns unnö tig Zeit und Energie. Im Moment kommt sie uns nicht bei. Wir haben unsere Ruhe. Die sollten wir nutzen.« »Was hast du vor?« »Fahren wir wieder zu McDowalls Wohnung! Dort wollte der Dä mon ein Tor errichten. Es muss uns gelingen, mit McDowall erneut Verbindung aufzunehmen. Ich habe da so eine Ahnung, als wäre es von größter Wichtigkeit.« * Auf ihre Rolle als große Unbekannte war Maryann Carlson besonders stolz. Sie war anders als ihr Mann. Man kannte ihr Gesicht, aber nicht ihr wahres Ich. Maryann Carlson war eine kühle, reservierte Schönheit, die nur ein Ziel kannte: Macht. Ihr Leben lang hatte sie nichts anderes getan, als auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Sie heiratete Peter Carlson, weil dieser Geld hatte. Das gab ihr Unabhängigkeit. Der Haushalt wur de von einem Mädchen geführt, während sie sich den magischen Künsten zuwandte. Niemals war sie mit ihrem Können in Erscheinung getreten. Selbst damals, bei dem Banküberfall, hatte sie den stillen Part gewählt. Sie blieb im Hintergrund. Kein Wunder, dass Tony Henderson kaum einen Gedanken an sie verschwendete. Sie hatte in ihrem ganzen Leben keine zehn Worte mit ihm gewechselt. Er interessierte sie einfach nicht. Trotzdem hatte er sterben sollen. Der Todesdämon brauchte seine Opfer, um mächtiger zu werden. Die Hälfte der magischen Kraft, die er erlangte, musste er an sie abtreten. Das hatte sie bewirkt. 100
Mit einem geringschätzigen Lächeln dachte sie an Benno Clasen. Dieser Narr hatte geglaubt, sich mit ihr messen zu können. Sie war zu einer Frau geworden, die ihre Hexenkünste beherrschte. Benno Clasen war nie klar geworden, wie mächtig sie bereits war. Der Todesdämon war ihr großer Schachzug. Sie hatten den Sensenmann im Griff. Bei ihr biss er sich die Zähne aus, fand er seinen Meister. Auch jetzt blieb sie im Hintergrund. Nur einmal hatte sie das uralte Haus am Friedhof verlassen, als sie die drei Killer engagierte. Rex Gar diner war ihr ein Dorn im Auge gewesen. Sie hatte nicht warten wol len, bis der Todesdämon ihm den Garaus gemacht hatte. Ihr schönes Gesicht verzerrte sich zur hässlichen Grimasse. In die ser Richtung war alles schief gegangen. Sowohl Rex Gardiner als auch Harold Watson, der Superintendent, lebten. Sie waren ein wesentlicher Hemmfaktor in ihren Plänen. Inzwischen war aus dem alten Haus eine magische Festung ge worden. Niemand vermochte es, diese Festung zu betreten, wenn sie es nicht wollte. Hier fühlte sie sich sicher - sicher sogar vor Rex Gardi ner. Durch die Verbindung mit dem Sensenmann war sie über alles auf dem laufenden. So wusste sie, dass Frank McDowall die Kontaktauf nahme mit Gardiner versuchte. Der Tod verhinderte es. Und dann war sie versucht, ihre Festung doch zu verlassen. Als nämlich Gardiner und Watson zu McDowalls Wohnung fuhren. Aber sie überlegte es sich anders. * Unterwegs sprachen sie kaum miteinander. Jeder hing seinen eigenen düsteren Gedanken nach. Gelang es wirklich, was sie sich vorgenom men hatten? Endlich erreichten sie das Mietshaus, in dem McDowall zu Lebzei ten gewohnt hatte. Rex Gardiner blieb noch im Wagen sitzen. Watson sah ihn von der Seite an. »Was ist los? Worauf wartest du?« 101
»Mein Inneres ist leer. Es gelingt mir nicht mehr, eine Vision zu erlangen. Der Tod blockt alles erfolgreich ab. Ich befürchte schon, dass er es schafft, gegen die Psychokinese anzukämpfen. Es wäre das erste Mal, denn diese Energie ist nicht magischer Natur und entzieht sich so dem Zugriff eines Magiers.« Watson erschrak. »Du hast eine seltsame Art, einem Mut zu machen. Das muss ich schon sagen.« Rex Gardiner straffte sich. »Noch ist es hell. Du weißt, dass die bösen Kräfte am wirksamsten in der Nacht werden. Wenn wir den Fall bis dahin nicht erledigt haben, können wir einpacken - ein für alle Mal.« »Du glaubst, hier erwächst eine Gefahr für die gesamte Mensch heit?« Rex nickte. »Genau das wollte ich damit zum Ausdruck bringen, Harold.« Der Superintendent stieg aus. »Also wird es Zeit, die Sache anzupacken!« Der Konstabler, der noch immer auf seinem Posten war, eilte ih nen entgegen. »Hat sich etwas Neues ergeben?«, fragte ihn Watson. »Nein, Sir, alles ruhig. Die Hausbewohner benehmen sich wieder einigermaßen normal. Aber sie haben immer noch einen Horror vor der Wohnung von McDowall. Mehrmals kamen welche zu mir und haben sich lautstark beschwert. Man nennt hier Scotland Yard einen Verein von Versagern, die nicht in der Lage sind, ein so kleines Problem...« Harold Watson winkte mit beiden Händen ab. »Halten Sie ein! Das kennen wir doch alles schon. Es ist immer das gleiche Lied. Die Leute wollen Erfolge sehen. Gibt es diese endlich, vermuten sie sofort, dass die Polizei wieder einmal mit unlauteren Mit teln gearbeitet hat. Was auch geschieht, es gibt immer welche, die an uns und unserer Arbeit etwas auszusetzen haben. Sollen wir uns denn noch darüber aufregen?« Der Konstabler grinste. 102
»Sir, das geht runter wie Butter. Solche Worte müsste man öfter hören. Dann würde einem der Polizistenalltag nicht mehr so trist vor kommen. Es ist halt nicht die Sache eines jeden, sein Bestes zu tun und dabei ständig von unkompetenter Stelle negativ kritisiert zu wer den.« Watson klopfte ihm auf die Schulter. »Machen Sie weiter hier! Wir haben Handsprechfunkgeräte dabei. Sie können mit uns ständig in Verbindung bleiben, wenn wir in die Wohnung eindringen.« Erst jetzt sah der Konstabler die Verletzung seines Supers. »Oh, Sir, wie ist denn das passiert?« Watson lächelte. »Sie werden es später erfahren.« Er gab Rex Gardiner einen Wink. Sie drangen in das Haus ein. Im Flur blieb alles ruhig. Auf der Treppe begegnete ihnen nie mand. Man mied sie offensichtlich. Unbehelligt gelangten sie zu der Wohnungstür. Sie war geschlos sen. Lauschend stellten sie sich davor. Absolute Ruhe. In einer ande ren Wohnung plärrte ein Kind. Irgendwo jaulte ein Hund. Stimmen von der Straße. Rex Gardiner nickte dem Superintendent zu. »Ich bin bereit!«, bedeutete das. Watson zog sich zurück, zückte sein Funkgerät. Rex tat es ihm gleich. Sie machten eine kurze Sprechprobe. Es klappte. Würde auch die Verbindung von drinnen Zustandekommen? »Hoffen wir das Beste!«, murmelte Rex Gardiner. »Vielleicht er wartet mich auch eine Falle. Eine andere Möglichkeit sehe ich jedoch nicht, als hier einzudringen.« Watson ging nicht darauf ein. Er machte ein verkniffenes Gesicht. Ein kurzer Eingriff in das Türschloss. Es schnappte. Wie von Geis terhand schwang die Tür auf. Der normale Flur. Jemand stand mitten drin, unbeweglich wie eine Schaufensterpuppe. 103
Rex sah die Gestalt nur von hinten, erkannte aber an der Figur, dass es sich nur um Chefinspektor Larry Simens handeln konnte. Keine Regung. Rex Gardiner trat auf die Türschwelle. Er konzentrierte sich, baute ein Schutzfeld um sich herum auf. Lange würde er es nicht aufrecht halten können. Magische Einflüsse spürte er keine. Sie mussten dennoch vorhan den sein, sonst hätte er nicht den Chefinspektor sehen können. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals, als er den entscheidenden Schritt vorwagte. Im nächsten Augenblick glaubte er, in einem wilden Strudel zu schwimmen. Unglaubliche Kräfte rissen und zerrten an ihm. Doch sie vermochten ihn nicht zu bezwingen. Der Schutzschirm wurde dadurch nur stabiler. Aus dem Boden wurde ein Abgrund. Rex Gardiner stand hoch über der Sphäre der Dämonen. Sie geiferte regelrecht nach ihm, wollte ihn dem Diesseits entreißen. Ungerührt schritt Rex Gardiner weiter. Der Chefinspektor war ver schwunden. Hatte es sich nur um ein Trugbild gehandelt? Schwärze brach über ihn herein, füllte alles aus, bis er nichts mehr sah. Rex Gardiner kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich stär ker. Er beschwor seine Visionen herauf. Und jetzt gelang es ihm. In dieser Wohnung herrschte eine be sondere Sphäre, auf die nicht nur der Todesdämon Einfluss hatte. Doch durfte Rex nicht zu siegessicher sein. Er wusste von seinem ers ten Besuch hier, dass er das Gleichgewicht nicht lange wahren konnte. Der Todesdämon würde mehr und mehr Oberwasser gewinnen. Er bog in das Schlafzimmer ab. Trotz der ihn umgebenden Schwärze wusste er genau, wie er sich zu bewegen hatte. Vor dem Bett blieb er stehen. Erneut lag der Leichnam von McDo wall darin. Seine Augen waren schreckgeweitet. Ihr starrer Blick war auf Rex Gardiner gerichtet. Ja, das sah Rex ganz deutlich. Die Schwär ze wich allmählich. 104
»Frank McDowall!«, flüsterte Rex Gardiner. Er stellte sich Frank vor, wie er jetzt aussah. Verschwommen war die Erinnerung in ihm entstanden. Und dann war der Kontakt da. Frank McDowall stand mitten in einer furchtbaren Versammlung von Monstern. Aber diese Monster unterstützten ihn. Wie aus weiter Ferne drang Grollen zu ihnen hin. Der Dämon ras te. Mit allen Mitteln versuchte er, den Kontakt wieder zu lösen. Sie mussten sich beeilen. »McDowall«, wiederholte Rex Gardiner. Das Funkgerät war einge schaltet, befand sich an seinen Lippen. Hoffentlich nahm ihn Watson auf. »Ich habe mich geirrt!«, rief der Verdammte. »Nicht Therese Gab riel ist es, sondern Maryann Carlson!« Seine Gedanken lagen plötzlich vor Rex wie ein offenes Buch. »Also befindet sie sich im alten Haus am Westfriedhof!«, murmel te er vor sich hin. Und dann entstand das Chaos um ihn herum. Tausend Seelen schrieen ihm zu. Der helle Wahnsinn tat sich auf. Fratzen huschten vorbei. Etwas berührte ihn mit glitschigen Händen. Rex Gardiner brauchte alle Kraft, um sich umzudrehen. Der Ein fluss des Dämons wurde wirksamer. Rex musste die Wohnung verlas sen, ehe es zu spät dazu war. Wie ein Betrunkener torkelte er durch das Schlafzimmer, das für ihn unsichtbar war. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: Raus hier! Nichts wie raus hier! Er hämmerte ihn sich ein, ließ ihn wie mit Flammenschrift vor sei nem geistigen Auge erscheinen. Dadurch schaffte er es. Als er die Wohnung verließ, brach er Watson direkt vor die Füße. Der Superintendent bückte sich nach ihm. Rex Gardiner hatte das Bewusstsein verloren. * 105
Dem Superintendent kam der rettende Gedanke. »Stellen Sie die Verbindung zur Leitstelle her!«, bellte er in das Handsprechgerät. Dann ließ er Rex Gardiner einfach liegen und rannte die Treppe hinunter. Als er den Streifenwagen erreichte, brauchte er nur noch den Hö rer zu übernehmen. »Hören Sie! Einer muss zu Tony Henderson. Sofortige Fahndung nach Maryann Carlson. Sie ist die Brandstifterin im Falle Carlson. Fra gen sie Tony Henderson nach einem alten Haus am Westfriedhof! Fra gen Sie, ob er es kennt. Wenn ja, sofort eine Hundertschaft Bereit schaftspolizei dorthin! Alles muss abgesperrt werden. Nicht eine Maus darf entrinnen. Ich komme persönlich. Haben Sie mich verstanden?« »Jawohl, Sir!«, versicherte der Beamte auf der Leitstelle. Beruhigt kehrte Watson ins Haus zurück. Er ging die Stiege em por. Rex Gardiner schlug gerade die Augen auf. Er war kreidebleich und sah aus, als wäre er eben dem Tod von der Schippe gesprungen. Weit hergeholt war der Gedanke gar nicht. »Was - was ist los? Wo - wo bin ich hier?« Watson half ihm auf die Beine. Dann klärte er Rex Gardiner auf. »Der Kampf ist noch nicht zu Ende. Frischen Mut, Rex! Wir fahren gleich los. Hoffentlich kann sich dieser Tony Henderson an das be wusste Haus erinnern.« * Er konnte! Tony Henderson hatte zwar keine Ahnung, was die Frage nach seiner Tante überhaupt sollte, auch klärte ihn niemand darüber auf, doch er konnte die Adresse sagen. »Ich war allerdings noch nie da!«, versicherte er. Es hörte niemand mehr. Die Polizisten liefen davon, wie von Fu rien gehetzt. Tony Henderson ging zur Tür. »Was ist denn los mit euch?« 106
Die Tür wurde ihm vor der Nase zugeschlagen. Langsam dämmerte es ihm. »Kann es sein, dass die Tante noch lebt? Hat sie ihren Mann um gebracht?« Ein wahrer Gedankenblitz. Näher betrachtet, leuchtete er Tony al lerdings nicht mehr ein. Er kam ihm einfach absurd vor. Und doch entsprach er der Wahrheit. Denn die Wahrheit ist oft mals fantastischer als das wildeste Fantasieprodukt. * Als Watson und Gardiner zum Schauplatz der Ereignisse kamen, war die Aktion schon fast abgeschlossen. Scotland Yard handelte wieder einmal so wie man es von ihm gewöhnt war prompt und zielstrebig. Niemand hatte die Bobbys in der Eile mit Waffen ausgerüstet. Doch die englische Polizei hatte in der Vergangenheit oft genug bewie sen, dass es auch ohne ging. Sie würde es auch diesmal schaffen! Watson und Gardiner drängten sich durch die Absperrung. Gottlob war Watsons Gesicht weitgehend bekannt. Sie bekamen kaum Schwie rigkeiten. Chefinspektor Percy Astaire leitete die Aktion. Watson wurde zu ihm geführt. Astaire deutete auf das Haus. Es stand allein, von einem verwil derten Garten umgeben. Damit passte es gar nicht in die Umgebung. Rex Gardiner packte Watson am Arm. »Du bleibst hier!«, sagte er leise, aber bestimmt. Watson betrachtete ihn. Rex hatte sich zwar erholt, aber der Su per hatte seine Bedenken. »Du willst es allein wagen?« Rex Gardiner nickte. »Gib mir zehn Minuten! Wenn ich mich bis dahin nicht zeige, kannst du machen, was du willst!« »Einverstanden!« 107
Ohne ein Abschiedswort ging Rex Gardiner auf das Haus zu. Das rostige Tor quietschte schaurig, als er es öffnete. Er trat ein. Der Weg zum Gebäude war unkrautüberwuchert. Rex spürte, dass eine unheimliche Macht auf ihn lauerte. Im In nern der Umfassungsmauer war es düsterer als draußen. Etwas schluckte das Tageslicht. Die Strecke bis zum Eingang kam ihm endlos weit vor. Die Sekun den tropften träge dahin. Die Tür ließ sich mühelos öffnen. Etwas Dunkles, Großes senkte sich auf Rex Gardiner. Sofort setzte er seine psychokinetischen Kräfte ein. Er tat es fein dosiert, wollte kei nen weiteren Zusammenbruch riskieren. Es genügte. Schritte kamen auf ihn zu: Maryann Carlson, hoch gewachsen, stolz, unnahbar. »Niemand betritt dieses Haus, wenn ich es nicht wünsche!«, sagte sie überheblich. »Dann haben Sie mich also hereingelassen?« Sie nickte. »Ja, ich wollte dir persönlich begegnen, wollte meinen Widersa cher kennen lernen, ehe ihn der Tod in seine Arme nimmt.« »Sehen Sie, Mrs. Carlson, jeder Gegner hat eine schwache Stelle. Ihre ist die grenzenlose Überheblichkeit. Sie haben einen Fehler ge macht, den man jetzt nicht mehr rückgängig machen kann.« Rex Gardiner zog einen Gegenstand aus der Tasche, zeigte ihn Maryann Carlson. »Was ist das?«, fragte sie regungslos. »Nichts Besonderes. Ich weiß inzwischen, dass Sie in magischen Dingen sehr bewandert sind. In diesem Haus haben Sie eine eigene Sphäre geschaffen, in der Ihnen niemand etwas anhaben kann. Das ist mir klar. Es war auch nur ein Problem, wie ich hereinkommen konnte. Dieses Problem kann man wohl als gelöst betrachten.« »Was ist das?«, fragte sie abermals und eine Spur zu schrill. 108
»Eine Flasche hochprozentiger Alkohol!«, klärte sie Rex Gardiner auf. »Eigentlich ganz harmlos, wenn man ihn nicht gerade in einem Zug leer trinkt. Aber in meiner Hand eine Bombe!« Sie verstand noch immer nicht, ballte die Hände zu Fäusten. »Genug!« Ihre Beherrschung war dahin. Sie weckte die dämoni schen Kräfte, um Rex Gardiner zu vernichten. Er warnte sie: »Ein Gedankenimpuls genügt! Ich bin Psychokinet, vergessen Sie das nicht. In dieser Umgebung nutzt mir diese Fähigkeit zwar nicht viel, aber ich vermag, die Flasche zur Explosion zu bringen. Sie können das nicht verhindern. Es sei denn, Sie geben auf.« »Niemals!«, schrie sie. Das war für Rex Gardiner der Auslöser. Er warf die Flasche. Bevor sie von der Hexe abgewehrt werden konnte, gab Rex Gardiner den Feuerimpuls. Der hochprozentige Alkohol detonierte in einer gewaltigen Stich flamme. Die Druckwelle erreichte die Hexe. Die Wände stürzten ein. Da half kein magisches Mittel mehr! * Die Explosion blieb nicht unbeachtet. Das Gebäude geriet ins Wanken. Es war ohnedies baufällig. Watson hatte das Gefühl, eine eiskalte Hand packe nach seinem Herzen. Rex Gardiner hatte ihm nichts von seinem Vorhaben gesagt. Deshalb kam es für ihn völlig unerwartet. Wie ein Kartenhaus brach das Gebäude in sich zusammen. Feuer entstand, breitete sich rasch aus. Die Trümmer standen bald in hellen Flammen. Watson dachte nur noch an seinen Freund Rex Gardiner. Er bellte seine Befehle. Aber die Bobbys kamen nicht nahe genug heran. Sie konnten dem ehemaligen Yardmann nicht helfen. 109
»Deshalb war er so seltsam auf der Herfahrt!« Harold Watson merkte, dass ihm die Tränen kamen. »Er wählte den Freitod, um die Menschheit vor einer schrecklichen Gefahr zu bewahren.« Einer der Konstabler rannte herbei. »Sir, Chefinspektor Larry Simens und die anderen sind wieder aufgetaucht! Sie können sich an nichts erinnern.« Harold Watson hörte gar nicht hin. Langsam schritt er auf die brennende Ruine zu. Er blieb stehen, als er die Hitze nicht mehr ertra gen konnte. Und da gewahrte er den Schatten, der auf ihn zutorkelte. Der Schatten war von einer glühenden Aura umgeben. Watson traute seinen Augen nicht. Zum zweiten Mal an diesem Tag brach Rex Gardiner genau vor seinen Füßen zusammen. Ein psychokinetischer Schutzschirm hatte ihn vor dem Tode be wahrt. Dennoch sah es nicht gut aus um den ehemaligen Yardmann. * Erst nach zwei Wochen erwachte er aus der tiefen Bewusstlosigkeit. Das Erwachen geschah fast übergangslos. Harold Watson saß neben dem Bett. »Hallo!«, sagte Rex Gardiner. »Was macht inzwischen dein Arm?« »Verdammt und zugenäht!«, schimpfte der Superintendent, »du kannst einem vielleicht einen Schrecken einjagen. Ich hatte dich schon abgeschrieben.« »Ist inzwischen etwas passiert?« Watson schüttelte den Kopf. »Der Todesdämon hat sich nicht mehr gezeigt, falls du das meinst.« Rex Gardiner nickte, wirkte beruhigt. »Dann ist es gut. Ich kann mich wieder an alles erinnern. Die Ge fahr ist gebannt.« »Was ist mit den Toten, die als Geister im Zwischenreich der Dä monen hausen mussten?« 110
»Ich weiß, dass sie erlöst sind!« »Ja, dann ist wirklich alles gut!«, sagte Superintendent Harold Watson. Wenig später konnten sie wieder Witze machen. Watson hatte ei nen guten Schluck mitgebracht. Er trank ebenfalls, obwohl er dabei seine Leber förmlich schimpfen hörte. Doch für ihn war es ein Festtag. Ende
111