Der Roman führt in das England des 15. Jahrhunderts. Die mächtigen Feudalherren des Landes bekämpfen sich auf Tod und Le...
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Der Roman führt in das England des 15. Jahrhunderts. Die mächtigen Feudalherren des Landes bekämpfen sich auf Tod und Leben, um Land und Macht zu erringen. Im Walde bei Tunstall lebt die Gemeinschaft vom »Schwarzen Pfeil«. Zu ihr gehören verjagte Bauern, entlaufene Priester und Bogenschützen, welche die kriegführenden Parteien der Adligen in Schrecken versetzen und ihnen große Verluste beibringen. Zu ihnen findet auch Richard Shelton, ein junger Adliger, der inmitten der allgemeinen Kriegswirren sein Ziel zu erreichen sucht: Er will seine Geliebte befreien, die von einem schurkischen und wortbrüchigen Ritter gefangengehalten wird. Durch geheime Gänge führen seine abenteuerlichen Streifzüge, durch dichte Wälder und in die Schlachten des Krieges. Und immer stehen ihm die Männer vom »Schwarzen Pfeil« treu zur Seite.
Robert L. Stevenson
Der Schwarze Pfeil
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Titel der englischen Originalausgabe: »The Black Arrow« – A tale of the two roses Ins Deutsche übertragen von Rudolf Schaller
© Verlag Neues Leben, Berlin 1952 Für die Ausstattung und die Illustrationen © Verlag Neues Leben, Berlin 1980
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Vorgeschichte John der Rächer
Eines Nachmittags im Spätfrühling hörte man zu ganz ungewohnter Stunde auf Schloß Tunstall die Glocken läuten. Nah und fern, im Walde und auf den Feldern längs des Flusses hielten die Leute alsbald in ihrem Tagewerk inne und eilten dem Klange nach, und im Weiler Tunstall blieb eine Gruppe armer Landleute verwundert stehen. Tunstall bot zur Zeit der Regierung des alten Königs Heinrich des Sechsten fast schon dasselbe Bild wie heute. Etwa zwanzig Häuser, ganz aus Eichenholz, lagen weit verstreut in einem langgestreckten grünen Flußtal. Auf der Talsohle führte die Straße über eine Brücke, stieg auf dem anderen Ufer an, verlor sich am Waldrande in der Richtung des Schlosses und wandte sich dann zum Kloster Holywood. Auf halbem Wege zum Dorfe stand zwischen Eibenbäumen die Kirche. Grüne Ulmen und weitausladende Eichen krönten auf beiden Seiten die Abhänge. Dicht bei der Brücke erhob sich auf einem Hügel ein steinernes Kreuz. Hier standen ein halbes Dutzend Frauen und ein hochgewachsener Bursche in einem groben Kittel und fragten sich nach dem Grund des Läutens. Eine halbe Stunde zuvor war ein Eilbote durch den Weiler geritten, hatte gleich im Sattel einen Krug Bier ausgetrunken, da er wohl wegen der Dringlichkeit seiner Meldung nicht abzuspringen wagte. Aber auch er wußte nicht, was es bedeutete. Er trug nur versiegelte Briefe Sir Daniel Brackleys zu Sir Oliver Oats, dem Pfarrer, der in Abwesenheit des Grundherrn das Schloß verwaltete. Aber jetzt erscholl Hufschlag. Am Waldessaum entlang und dann über die widerhallende Brücke ritt Junker Richard Shelton, das Mündel Sir Daniels. Er wenigstens mußte doch etwas wissen! Sie riefen ihn an und baten um Aufklärung. Bereitwillig zügelte er sein Pferd. Es war ein sonngebräunter, blauäugiger junger Mensch von noch nicht ganz achtzehn Jahren, in einem wildledernen Wams mit schwarzem Samtkragen, einem grünen Hut auf dem Kopfe und
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einer stählernen Armbrust auf dem Rücken. Der Eilbote hatte offenbar wichtige Neuigkeiten gebracht. Eine Schlacht stand bevor. Sir Daniel befahl jedem Mann, der einen Bogen spannen oder eine Hellebarde tragen konnte, sich bei Gefahr seiner schweren Ungnade sofort in Kettley einzufinden. Aber für wen sie kämpfen sollten oder woher der Angriff zu erwarten war, wußte Dick1 nicht. Bald würde Sir Oliver selbst kommen, und Bennet Hatch rüstete sich bereits in diesem Augenblick, denn er sollte den Haufen anführen. »Das ist der Verderb unserer Heimat«, sagte eine Frau. »Wenn die Herren Krieg führen, muß der Bauer Wurzeln essen.« »Aber nein«, entgegnete Dick, »jeder Mann, der mitmarschiert, soll täglich sechs Pence bekommen und Bogenschützen sogar zwölf.« »Wenn sie am Leben bleiben«, entgegnete das Weib, »dann mag das wohl stimmen; aber wenn sie fallen, Junker?« »Sie können nicht besser sterben als für ihren eingesessenen Herrn«, sagte Dick. »Mein eingesessener Herr ist er nicht«, sagte der Mann im Kittel. »Ich folgte den Walsinghams wie alle, die an der Straße nach Brierly wohnen, bis Lichtmeß vor zwei Jahren. Und dann wieder mußte ich für Brackley Partei ergreifen! So wollte es das Gesetz. Nennt Ihr das eingesessen? Aber jetzt, da ich mit Sir Daniel und Sir Oliver ziehe – jener weiß besser um die Gesetze Bescheid als um die Rechte –, habe ich keinen andern eingesessenen Herrn als den armen König Harry2 den Sechsten. Gott segne ihn, den armen Unschuldigen, der nicht weiß, wem er vertrauen darf, der nicht rechts und nicht links unterscheiden kann.« »Ihr sprecht mit einer bösen Zunge, Freund«, antwortete Dick, »Euren guten Ritter und unsern gnädigen Herrn, den König, durch ein und dieselbe Schmähung zu beleidigen! Aber unser König Harry – den Heiligen sei Lob und Dank! – ist wieder zu gutem Verstande gekommen und will alle Dinge friedlich geordnet sehen. Und was Sir Daniel betrifft, so seid Ihr recht tapfer hinter seinem Rücken! Aber ich will kein Zuträger sein, und so laßt es genug sein.« »Ich meine es nicht böse gegen Euch, Junker Richard«, entgegnete der Bauer. »Ihr seid ein Jüngling. Aber seid erst einmal zum Manne gereift, dann werdet Ihr finden, daß Ihr eine leere Tasche habt. Weiter will ich nichts sagen. Die Heiligen mögen Sir
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Daniels Nachbarn beistehen, und die Heilige Jungfrau beschütze seine Pflegebefohlenen!« »Clipsby«, sagte Richard, »Ihr sprecht, was ich nicht in Ehren anhören kann. Sir Daniel ist mein guter Herr und mein Vormund.« »Nun gut, wollt Ihr mir ein Rätsel lösen?« erwiderte Clipsby. »Auf wessen Seite steht Sir Daniel?« »Ich weiß es nicht«, sagte Dick und errötete leicht, denn sein Vormund hatte in den Wirren dieser Zeit nur zu oft die Partei gewechselt, und jeder Wechsel hatte seinen Besitz vermehrt »Ja, ja«, fuhr Clipsby fort, »weder Ihr noch überhaupt jemand weiß es. Denn er ist wahrlich einer, der als Lancasterscher zu Bett geht und als Yorkscher aufsteht.« Da dröhnte die Brücke von Hufschlägen, und als sich die Leute umwandten, sahen sie Bennet Hatch herangaloppieren. Er war ein braungebrannter, grauhaariger Mann von grimmigem Aussehen und starken Händen, mit Schwert und Lanze bewaffnet; den Kopf trug er unter einem eisernen Helm und den Körper unter einem ledernen Koller. Er war ein einflußreicher Mann in dieser Gegend, Sir Daniels rechte Hand im Krieg und Frieden und zu dieser Zeit, zum Vorteil seines Herrn, Eintreiber des Zehnten3. »Clipsby«, schrie er, »auf zum Schloß, und schickt all die anderen Faulpelze denselben Weg. Die Bogenmacher werden Euch Koller und Sturmhauben geben. Wir müssen vor dem Abendläuten reiten. Habt acht: Wer zuletzt am Friedhofstor ist, dem wird es Sir Daniel lohnen! Merkt Euch das! Ich kenne Euch als einen Mann voller Bosheit. – Anne«, fragte er dann seine Frau, »ist der alte Appleyard zur Stadt?« »Sicherlich wird er auf seinem Felde sein«, entgegnete die Frau. Die Gruppe zerstreute sich. Und während Clipsby langsam über die Brücke ging, ritten Bennet Hatch und Junker Shelton die Straße entlang durch das Dorf und an der Kirche vorüber. »Ihr sollt den alten Zankteufel sehen«, sagte Bennet. »Er wird mit Brummen und Schatzen von Harry dem Fünften mehr Zeit vertrödeln, als man braucht, ein Pferd zu beschlagen. Und nur, weil er in den Franzosenkriegen gewesen ist!« Das Haus, das sie aufsuchen wollten, war das letzte im Dorf und lag ganz für sich zwischen Fliederbüschen, auf drei Seiten umgeben von offener Weide, die sich bis an den Waldessaum hinzog. Hatch sprang aus dem Sattel, warf den Zügel über den Zaun und ging mit Dick über das Feld zu dem alten Kriegsmann, der bis an
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die Knie in seinem Kohl stand und grub, wobei er von Zeit zu Zeit mit rauher Stimme Verse aus einem Liede sang. Er war ganz in Leder gekleidet, nur seine Kappe und sein Halskragen waren aus schwarzem Fries und mit Scharlach gebunden. Farbe und Runzeln gaben seinem Gesicht das Aussehen einer Walnußschale; aber seine alten grauen Augen waren noch scharf und seine Sehkraft unvermindert. Vielleicht hörte er schlecht? Vielleicht aber erschien es ihm eines alten Bogenschützen von Agincourt4 nicht würdig, solchen Störungen einige Beachtung zu schenken. Weder die ungestümen Klänge der Glocke noch die Ankunft Bennets und des jungen Burschen schienen ihn im geringsten zu rühren. Er grub hartnäckig weiter und pfiff dabei, jedoch ziemlich schwach und unsicher: Nun, teure Frau, gefällt es dir, So bitt’ ich, hab Mitleid mit mir. »Nick5 Appleyard«, sagte Hatch, »Sir Oliver empfiehlt sich Euch und bittet, daß Ihr gleich zum Schloß kommt, um dort das Kommando zu übernehmen.« Der Alte blickte auf. »Gott zum Gruß, meine Herren!« sagte er grinsend. »Und wohin geht Master Hatch?« »Master Hatch will mit allen Leuten, die wir beritten machen können, nach Kettley«, erwiderte Bennet. »Es scheint, daß ein Gefecht zu erwarten ist, und der Herr hält sich als Reserve.« »Ach, wirklich«, entgegnete Appleyard. »Und was wollt Ihr mir als Besatzung lassen?« »Ich lasse Euch sechs gute Leute und obendrein noch Sir Oliver«, antwortete Hatch. »Damit kann man den Platz nicht halten«, sagte Appleyard; »diese Zahl genügt nicht. Vierzig sind dazu nötig.« »Deshalb kommen wir ja zu Euch, alter Zankteufel!« gab der andere zur Antwort. »Wer außer Euch vermöchte denn in solch einem Hause mit solch einer Besatzung etwas auszurichten?« »So, wenn Euch der neue Schuh drückt, dann erinnert Ihr Euch an den alten«, entgegnete Nick. »Keiner von Euch kann ein Pferd regieren oder eine Hellebarde halten; und was das Bogenschießen betrifft – bei Sankt Michael! –, wenn der gute Harry der Fünfte
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wieder aufstünde, so würde er sich hinstellen und würde Euch, für einen Viertelpfennig den Schuß, auf sich selber schießen lassen!« »Nein, Nick«, sagte Bennet, »es gibt noch manchen, der einen guten Bogen spannen kann.« »Einen guten Bogen spannen!« rief Appleyard aus. »Ja! Aber wer kann einen guten Schuß abgeben? Da kommt’s auf das Auge an und auf den Kopf zwischen den Schultern. Aber was würdet Ihr wohl einen weiten Schuß nennen, Bennet Hatch?« »Nun«, sagte Bennet und blickte umher. »Von hier bis zum Walde, das wäre ein weiter Schuß.« »Oh, das wäre schon ein weiter Schuß«, sagte der alte Mann, während er sich umwandte; und dann legte er seine Hand über die Augen und hielt Ausschau. »Wonach schaut Ihr denn aus?« fragte Bennet kichernd. »Seht Ihr Harry den Fünften?« Der Veteran blickte schweigend weiter nach dem Hügel. Die Sonne lag hell über den Wiesenabhängen. Ein paar weiße Schafe weideten im Grase; alles war still, und nur die Glocke tönte von ferne. »Was gibt es, Appleyard?« fragte Dick. »Nun, die Vögel«, erwiderte Appleyard. Und wirklich, über dem höchsten Punkt des Waldes, dort, wo er sich wie eine Zunge zwischen den Wiesen erstreckte, um in einigen leuchtendgrünen Ulmen zu enden, flatterte in der Entfernung etwa eines Bogenschusses, etwa dreihundert Meter, ein Vogelschwarm aufgeregt hin und her. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Bennet. »Ach!« entgegnete Appleyard, »seid Ihr aber ein kriegskundiger Mann, Master Bennet. Vögel halten gute Wacht; in waldigem Gelände sind sie die erste Schlachtreihe. Seht Ihr, wenn wir hier im Lager wären, dann könnten Bogenschützen, die im Versteck lauern, jetzt von uns Wind bekommen, und Ihr hier würdet nichts davon merken!« »Alter Zankteufel!«, sagte Hatch, »niemand ist uns näher als Sir Daniels Männer in Kettley; Ihr seid so sicher wie im Londoner Tower, und Ihr könnt uns einen Schrecken einjagen wegen einiger Buchfinken und Spatzen!«. »Hört ihn nur!« polterte Appleyard. »Wie gern würde mancher Strolch seine beiden Löffel hergeben, um einen Schuß auf einen
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von uns abgeben zu können. Bei Sankt Michael, Mann! Sie hassen uns wie die Pest!« »Nun, allerdings, sie hassen Sir Daniel«, antwortete Hatch ein wenig ernüchtert. »Ja, sie hassen Sir Daniel, und sie hassen jeden Mann, der ihm dient«, sagte Appleyard; »und in erster Linie hassen sie Bennet Hatch und den alten Niklas, den Bogenschützen. Seht her: Wenn jetzt ein tapferer Kerl drüben im Walde läge, und Ihr und ich stünden als Ziele für ihn da, so wie wir jetzt stehen, bei Sankt Georg, wen würde er wohl wählen?« »Euch – auf jede Wette«, antwortete Hatch. »Meinen Waffenrock für einen Schwertgurt: Ihr würdet es sein!« rief der alte Bogenschütze. »Ihr branntet Grimstone ab, Bennet – sie werden Euch das nie vergeben, Master. Und was mich betrifft, so werde ich bald an einem guten Ort sein – Gott gebe es –, ohne Bogenschüsse und Kanonenschüsse – und ohne all ihre argen Listen. Ich bin ein alter Mann, und mich zieht es mächtig heimwärts, wo das Bett bereitet ist. Aber Ihr, Bennet, müßt auf Eure eigene Gefahr hierbleiben, und wenn Ihr ungehängt mein Alter erreicht, müßte der alte, echte englische Geist gestorben sein.« »Ihr seid der boshafteste alte Grobian im Tunstall-Walde«, erwiderte Hatch, durch diese Bedrohung sichtlich aufgebracht. »Schert Euch an Eure Waffen, ehe Sir Oliver kommt, und unterlaßt für eine Weile solches Geschwätz. Wenn Ihr mit Harry dem Fünften so viel geschwatzt hättet, würden seine Ohren voller gewesen sein als seine Taschen.« Da summte ein Pfeil durch die Luft wie eine riesige Hornisse; er traf den wackern Appleyard zwischen die Schulterblätter und durchbohrte ihn ganz säuberlich. Der Alte stürzte vornüber in seinen Kohl. Hatch stieß einen gebrochenen Schrei aus und tat einen Sprung; dann rannte er tief gebückt fort und suchte Deckung am Hause. Dick Shelton hatte sich sogleich hinter einem Fliederbusche zu Boden geworfen, seine Armbrust gespannt und angelegt und beobachtete nun den Wald. Aber kein Blatt regte sich, die Schafe weideten ruhig, die Vögel waren schlafen gegangen. Der alte Mann lag da, mit einem ellenlangen Pfeil im Rücken. Hatch drückte sich an die Giebelseite des Hauses, und Dick lag geduckt im Anschlag hinter dem Fliederbusch.
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»Seht Ihr etwas?« rief Hatch. »Kein Zweiglein bewegt sich«, gab Dick zurück. »Es dünkt mich eine Schande, ihn liegenzulassen«, sagte Bennet, während er sich mit bleichem Gesicht zögernd aus der Deckung wagte. »Habt ein gutes Auge auf den Wald, Junker Shelton – behaltet ihn scharf im Auge. Die Heiligen mögen uns vergeben! Das war ein guter Schuß!« Bennet hob den alten Bogenschützen auf sein Knie. Er war noch nicht tot; in seinem Gesicht zuckte es, und seine Lider senkten und hoben sich mechanisch. Qual und Entsetzen lagen in seinem Blick. »Versteht Ihr mich, guter Nick?« fragte Hatch. »Habt Ihr einen letzten Wunsch, bevor Ihr hinübergeht, alter Bruder?« »Zieht den Pfeil heraus und laßt mich, in Marias Namen!« keuchte Appleyard. »Ich bin fertig mit Alt-England. Zieht ihn heraus!« »Junker Dick«, sagte Bennet, »kommt her und helft mir, den Pfeil herauszuziehen. Er möchte in Frieden hinübergehen, der arme Sünder.« Dick legte seine Armbrust zu Boden, und mit großer Anstrengung gelang es ihm, den Pfeil herauszuziehen. Ein Blutstrom brach hervor; der alte Bogenschütze erhob sich taumelnd, rief zum letztenmal den Namen Gottes an und fiel dann tot nieder. Hatch, der zwischen dem Kohl auf den Knien lag, betete inbrünstig für das Heil der scheidenden Seele. Aber sogar beim Beten war seine Aufmerksamkeit noch geteilt; denn er behielt die Ecke des Waldes, von wo aus der Schuß gekommen war, immer im Auge. Als er geendet hatte, stand er wieder auf, zog einen Panzerhandschuh ab und wischte über sein blasses Gesicht, auf dem der Angstschweiß stand. »Ja«, sagte er, »das wird auch mein nächster Gang sein.« »Wer hat das getan, Bennet?« fragte Richard, den Pfeil noch in der Hand haltend. »Ach, die Heiligen mögen es wissen«, sagte Hatch. »Hier sind gut vierzig Seelen, die wir von Haus und Hof verjagt haben, er und ich. Er hat seinen Schuß weg, der arme Raufbold, und es wird vielleicht nicht lange dauern, bis auch ich den meinigen bekomme. Sir Daniel treibt es allzu hart.« »Das ist ein seltsamer Pfeil«, sagte der junge Mann, während er ihn betrachtete.
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»Ja, meiner Treu!« rief Bennet aus. »Schwarz, und mit schwarzen Federn. Das ist ein Unglückspfeil, in der Tat! Denn Schwarz, sagt man, bedeutet das Grab. Aber hier sind Worte eingeritzt. Wischt das Blut weg. Was lest Ihr?« »Appulyaird von John dem Rächer«, las Shelton. »Was soll das wohl bedeuten?« »Uh, mir gefällt das nicht«, sagte kopfschüttelnd der Gefolgsmann. »John der Rächer... So nennen jene, die sich in der Welt auskennen, einen Landstreicher! Aber warum hier stehen und sich als Ziel anbieten? Faßt ihn an den Knien, lieber Junker Shelton, während ich ihm unter die Schultern greife, damit wir ihn in sein Haus tragen. Das wird ein schwerer Schlag für den armen Sir Oliver sein.« Sie hoben den alten Schützen auf und trugen ihn in sein Haus, das er allein bewohnt hatte. Dort legten sie ihn auf die Diele, um das Bett nicht zu beschmutzen, und versuchten, so gut sie konnten, seine Glieder zu strecken. Appleyards Haus war sauber und kahl. Dort standen ein Bett mit einer blauen Decke, ein Schrank, eine große Truhe, ein paar Feldstühle, ein Klapptisch in der Kaminecke, und an der Wand hingen die Bogen und die Kriegsausrüstung des alten Soldaten. Hatch begann neugierig umherzuschauen. »Nick hatte Geld«, sagte er. »Er mag an die sechzig Pfund auf die Seite gelegt haben. Ich wüßte gar zu gerne, wo er es verborgen hat. Wenn Ihr einen alten Freund verliert, Junker Richard, dann ist es der beste Trost, ihn zu beerben. Seht einmal diese Truhe. Ich möchte jede Wette eingehen, daß ein Haufen Geld darin liegt. Er, Appleyard der Schütz, hat mit starker Hand genommen und mit harter Hand zusammengehalten. Nun, Gott hab ihn selig! Fast achtzig Jahre war er auf den Beinen und tätig und immer auf seinen Gewinn bedacht; aber nun liegt er auf seinem Rücken, der arme Raufbold, und entbehrt nichts mehr. Wenn seine Habe in die Hand eines guten Freundes käme, würde er – dünkt mich – im Himmel glücklicher sein.« »Kommt, Hatch«, sagte Dick, »achtet wenigstens seine stockblinden Augen. Wollt Ihr den Toten ausrauben, bevor er noch unter der Erde liegt? Bedenkt, er könnte später umgehen!« Hatch bekreuzigte sich mehrere Male; aber sogleich kehrte seine frühere Absicht wieder; denn er war nicht leicht von einem einmal gefaßten Vorsatz abzubringen. Es wäre schlecht um die Truhe
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bestellt gewesen, wenn nicht das Tor geknarrt und sich gleich darauf die Haustür geöffnet hätte, um einen stattlich gewachsenen, frisch aussehenden, schwarzäugigen Mann von nahezu fünfzig Jahren in weißem Übergewand und schwarzem Chorrock einzulassen. »Appleyard«, sagte der Ankömmling, als er eintrat, aber er verstummte, als ob ihn der Schlag getroffen hätte. »Heilige Jungfrau!« rief er aus. »Mögen die Heiligen uns beschirmen! Was für eine Mahlzeit ist das?« »Kaltes Gericht bei Appleyard, Herr Pfarrer«, antwortete Hatch vollkommen aufgeräumt. »Erschossen vor seiner eigenen Tür, und eben jetzt steigt er vor den Toren des Fegefeuers ab. Ja, und dort, wenn wahr ist, was man sagt, wird es ihm weder an Kohlen noch an Kerzen mangeln.« Sir Oliver suchte zu einem Feldstuhl zu gelangen und ließ sich bleich und kraftlos darauf nieder. »Das ist ein Strafgericht! Oh, ein schwerer Schlag!« stöhnte er und leierte gleich mehrere Gebete herunter. Hatch nahm indessen ehrerbietig seine Stahlhaube ab und kniete nieder. »Ach, Bennet«, sagte der Priester, sich langsam fassend, »was mag das bedeuten? Welcher Feind hat das getan?« »Hier, Sir Oliver, ist der Pfeil. Seht, es sind Worte darauf geritzt«, sagte Dick. »Pfui«, rief der Priester, »das hört sich häßlich an! John der Rächer! Ein richtiges Ketzerwort. Und von schwarzer Farbe, gleichsam als Omen! Ihr Männer, dieser Schelmenpfeil will mir nicht gefallen. Aber hier gilt es vor allem, Rat zu finden. Wer sollte das sein? Besinnt Euch doch, Bennet! Wer von so vielen schwarzen Übelgesinnten sollte es sein, der uns so verwegen ins Angesicht trotzt? Simnel? Das bezweifle ich sehr. Die Walsinghams? Nein, sie sind noch nicht so gebrochen; sie glauben immer noch, die Macht über uns zu erlangen, wenn sich die Zeiten ändern. Aber da wäre noch Simon Malmesbury. Was meint Ihr, Bennet?« »Was haltet Ihr von Ellis Duckworth, Sir?« fragte dagegen Hatch. »Nein, Bennet, niemals. Nein, er nicht«, sagte der Priester. »Eine Empörung kommt niemals von unten, Bennet, darin stimmen alle einsichtigen Geschichtsschreiber in ihren Anschauungen überein. Aufruhr geht immer von oben nach unten; und wenn Hinz und Kunz zu ihren Piken greifen, dann schaut nur aufmerksam hin und
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seht, welcher Lord davon den Nutzen hat. Jetzt hat sich Sir Daniel erneut der Partei der Königin angeschlossen, und gleich ist er in schlechtem Geruch bei den Yorkschen Herren. Von dort, Bennet, kommt der Streich – den Grund vermag ich noch nicht zu erkennen. Aber hier ist der Anstifter zu diesem Schlag zu suchen.« »Erlaubt, Sir Oliver«, sagte Bennet, »die Achsen sind in diesem Lande so heißgelaufen, daß ich schon lange den Brand gerochen habe, genau wie dieser arme Sünder Appleyard. Und, mit Verlaub, die Menschen sind uns allen übel gesonnen, daß weder York noch Lancaster sie zu reizen brauchen. Hört, wie ich denke, ganz offen: Ihr, der Ihr ein Geistlicher seid, und Sir Daniel, der mit jedem Winde segelt, Ihr habt vielen Menschen die Habe genommen und nicht wenige geschlagen und gehängt. Ihr habt dafür Rechenschaft geben müssen; am Ende aber, ich weiß nicht wie, habt Ihr vor dem Gesetz immer Recht bekommen, und ihr haltet alles für abgetan. Aber erlaubt, Sir Oliver; der Mann, den Ihr seines Besitzes beraubt und geschlagen habt, ist nur um so zorniger; und wenn ihn eines Tages der schwarze Teufel reitet, wird er seinen Bogen nehmen und Euch einen ellenlangen Pfeil in die Eingeweide jagen.« »Nein, Bennet, Ihr seid im Unrecht. Bennet, Ihr solltet froh sein, zurechtgewiesen zu werden«, sagte Sir Oliver. »Ihr seid ein Schwätzer, Bennet, ein Geschichtenerzähler, ein Klatschmaul. Euer Mund ist größer als Eure zwei Ohren. Bessert Euch, Bennet, bessert Euch.« »Nun gut, ich sage nichts mehr. Haltet es, wie Ihr wollt«, sagte der Gefolgsmann. Der Priester erhob sich jetzt vom Stuhl und nahm aus der Schreibmappe, die um seinen Hals hing, Wachs und eine Leuchte, Stahl und Feuerstein, um mit Sir Daniels Wappen die Truhe und den Schrank zu versiegeln, während Hatch mißvergnügt zusah. Dann brachen sie eilig auf, um von dem Hause wegzukommen und zu Pferde zu steigen. »Es ist Zeit, uns auf den Weg zu machen, Sir Oliver«, sagte Hatch, als er dem Priester den Steigbügel hielt. »Ja; aber, Bennet, die Dinge liegen jetzt anders«, erwiderte der Pfarrer. »Jetzt ist kein Appleyard da – Friede seiner Seele –, den Befehl über die Besatzung zu übernehmen. Ich werde Euch dazu nehmen, Bennet. Ich brauche einen tüchtigen Mann, auf den ich mich an diesem Tage der schwarzen Pfeile stützen kann. ›Der Pfeil, der bei Tage fliegt‹, so heißt es im Evangelium – ich erinnere mich
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nicht an den Zusammenhang –, ach, ich bin ein säumiger Diener des Herrn, ich stecke zu tief in weltlichen Dingen. Nun, laßt uns reiten, Master Hatch. Die Reisigen müßten wohl inzwischen an der Kirche sein.« So ritten sie die Straße hinab. Der Wind blies ihnen in den Rücken und blähte die Schöße des Priesterrockes. Und während sie ritten, kamen hinter ihnen Wolken auf und verdeckten die untergehende Sonne. Sie hatten schon drei der verstreut liegenden Häuser des Weilers Tunstall hinter sich gelassen, als sie nach einer Wegbiegung die Kirche vor sich sahen. Zehn bis zwölf Gebäude lagen dicht um sie herum; aber gleich hinter dem Kirchhof erstreckten sich die Weiden. Am Friedhofstor waren zwanzig Männer versammelt; einige saßen im Sattel, andere hielten ihre Pferde am Zügel. Sie waren verschiedenartig bewaffnet und beritten; einige mit Speeren, andere mit Piken oder Armbrüsten, und einige ritten Ackergäule, auf deren Fell man noch die Spuren der Arbeit sehen konnte. Es war die Hefe des Landes; denn alle besseren Männer mit ihren guten Ausrüstungen waren schon mit Sir Daniel im Felde. »Wir haben nicht verkehrt gehandelt, gepriesen sei das Kreuz von Holywood! Sir Daniel wird recht zufrieden sein«, bemerkte der Priester, während er im stillen die Schar zählte, »Wer da? Steht, wenn Ihr ein Freund seid!« rief plötzlich Bennet. Sie sahen einen Mann, der sich zwischen den Eibenbäumen des Kirchhofs davonschlich. Bei diesem laut schallenden Ruf ließ er alle Heimlichkeit fallen und floh ganz offen dem Walde zu. Die Männer am Tore, die bis jetzt den Fremden nicht beachtet hatten, wurden aufmerksam und schwärmten aus. Die Abgesessenen schwangen sich in den Sattel und nahmen mit den anderen die Verfolgung auf, aber sie mußten einen Umweg um den geweihten Boden machen, und es war offensichtlich, daß ihr Wild entkommen würde. Hatch stieß einen Fluch aus und spornte sein Pferd gegen die Hecke, um ihm den Weg abzuschneiden. Aber das Tier bockte und warf seinen Reiter in den Staub. Obgleich er sofort wieder auf den Beinen stand und den Zügel ergriffen hatte, war einige Zeit verstrichen, und der Flüchtling konnte einen großen Vorsprung gewinnen, so daß keine Hoffnung mehr blieb, ihn einzufangen. Der Klügste von allen war Dick Shelton gewesen. Anstatt an der fruchtlosen Verfolgung teilzunehmen, riß er seine Armbrust vom
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Rücken, spannte sie und legte einen Pfeil auf. Als die anderen von der Verfolgung abgelassen hatten, wandte er sich zu Bennet und fragte, ob er abdrücken solle. »Schießt! Schießt!« rief da schon blutdürstig der Pfaffe. »Legt an, Junker Dick«, sagte Bennet. »Schießt ihn ab wie einen reifen Apfel.« Der Flüchtling war mit wenigen Sprüngen fast schon in Sicherheit; aber der letzte Teil der Wiese zog sich ziemlich steil den Hügel hinan, und der Mann lief nun langsamer. Trotzdem bot er bei seinen ungleichmäßigen Bewegungen kein leichtes Ziel, zumal plötzlich die Dämmerung hereinbrach. Als Dick seine Armbrust anlegte, fühlte er plötzlich etwas wie Mitleid und fast den Wunsch, daß er den Flüchtling verfehlen möchte. Der Pfeil sauste los. Der Mann strauchelte und fiel, und Hatch und die Verfolger stimmten ein Freudengeschrei an. Aber sie schätzten das Korn vor der Ernte. Der Mann war nur leicht getroffen; er stand schnell wieder auf den Füßen, wandte sich um, schwenkte höhnisch herausfordernd seine Kappe und war im nächsten Augenblick im Walde verschwunden. »Daß ihn die Pest...!« brüllte Bennet. »Er hat Diebesfersen; kann der rennen, bei Sankt Banbury! Aber Ihr traft ihn, Junker Shelton; er hat Euch um Eure Beute gebracht, möge er niemals Freude daran haben; ich beneide ihn nicht darum.« »Aber was machte er bei der Kirche?« fragte Sir Oliver. »Ich bin sehr in Sorge, daß hier Unfug getrieben wurde. Clipsby, guter Freund, steigt ab und sucht zwischen den Eiben.« Clipsby kehrte nach kurzer Zeit mit einem Blatt Papier zurück. »Dieses Schreiben war an die Kirchentür geheftet«, sagte er und übergab es dem Pfarrer. »Sonst fand ich nichts, Herr Pfarrer.« »Bei der Macht der Mutter Kirche«, rief Sir Oliver aus, »das grenzt ja an Kirchenfrevel! Daß jemand dem König oder dem Gutsherrn einen Streich spielt – schön! Aber daß jeder Heckenschütze in einer grünen Jacke ein Papier an die Kirchentür heften kann – nein, das grenzt an Gotteslästerung; und dabei hat man schon Menschen wegen schlechten Wiegens verbrannt! Jedoch, was haben wir hier? Es wird schon langsam Abend. Junker Richard, Ihr habt junge Augen. Lest mir diese Schmähschrift.« Dick Shelton nahm das Papier und las laut vor. Es enthielt einige Strophen in holperigen Knittelversen, die in plumpen Buchstaben
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geschrieben und ungeschickt in der Rechtschreibung waren. In verbesserter Wiedergabe lauteten sie so: Vier schwarze Pfeile steckte ich zu mir, Für alle meine Nöte ihrer vier. Vier für die bösen Männer, die viel Weh Für mich bereitet haben eh und je. Der erste, den mit Glück ich abgedrückt, Hat Master Appulyaird in’n Tod geschickt. Der zweite ist für Bennet Hatch bestimmt, Auf den ich wegen Grimstones Brand ergrimmt. Dem Sir Oliver Oats schick’ ich den dritten, Weil Harry Sheltons Hals er hat durchschnitten. Sir Daniel nun, Ihr seid das vierte Ziel: Das scheint uns wahrlich ein gerechtes Spiel. Hinnehmen sollt ihr jeder Euren Schmerz: Ein schwarzer Pfeil in jedes schwarze Herz. Wenn ihr zum Beten Euer Knie auch beugt: Daß Euch der Teufel holt, seid überzeugt! John der Rächer vom grünen Walde und seine fröhliche Schar Übrigens haben wir noch mehr Pfeile und gute Hanfstricke für andere von Euren Anhängern. »Ach, welch ein Unglückstag; heute schüttet der Himmel alle Strafen über uns aus«, rief Sir Oliver kläglich. »Dies ist eine böse Welt, ihr Herren, und sie wird täglich schlimmer. Ich kann beim Kreuz von Holywood schwören, daß ich am Tode dieses guten Ritters so unschuldig bin – sei es in der Tat wie im Vorsatz – wie ein neugeborenes Kind. Auch wurde ihm nicht die Kehle durchschnitten; sogar darin sind sie im Irrtum. Es leben noch glaubwürdige Zeugen, die das beweisen können.« »Es nützt nichts, Herr Pfarrer«, sagte Bennet. »Es ist unnützes Gerede.«
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»Nein, Master Bennet, nicht so. Haltet Euch an dem Platz, der Euch zukommt, guter Bennet«, antwortete der Priester. »Meine Unschuld muß an den Tag kommen. Ich will auf keinen Fall durch einen Irrtum mein armes Leben verlieren. Ich nehme alle Menschen zu Zeugen, daß ich in dieser Sache rein dastehe. Ich war überhaupt nicht im Schloß, ich ward vor neun Uhr mit einer Botschaft ausgesandt...« »Sir Oliver«, unterbrach ihn Hatch, »da es Euch nicht beliebt, in Eurem Sermon einzuhalten, muß ich zu anderen Mitteln greifen. Goffe, blast zum Aufsitzen.« Und während das Signal erklang, rückte Bennet dicht an den verstörten Pfaffen heran und flüsterte ihm heftig etwas ins Ohr. Dick Shelton sah das Auge des Pfarrers für ganz kurze Zeit mit einem überraschten Seitenblick auf sich gerichtet. Er hatte einigen Grund zum Nachdenken; denn dieser Sir Harry Shelton war sein eigener Vater. Aber er sagte nicht das leiseste Wort und wahrte unerschütterlich seine Haltung. Hatch und Sir Oliver erörterten eine Zeitlang die veränderte Lage. Zehn Mann, so hatten sie sich entschieden, sollten zurückbehalten werden, nicht allein als Besatzung für das Schloß, sondern auch, um den Priester durch den Wald zu geleiten. Da Bennet zurückbleiben mußte, wurde der Befehl über die Verstärkung dem Junker Shelton übertragen; denn es gab wirklich keine andere Lösung. Die Leute waren rohe Burschen, ungeschickt und unerfahren im Kriege, während Dick nicht nur beliebt, sondern auch entschlossen und ernst genug für seine jungen Jahre war. Obgleich er seine Jugend in dieser rauhen ländlichen Gegend zugebracht hatte, war der junge Mann durch Sir Oliver in den Wissenschaften wohl unterrichtet worden, während ihn Hatch mit dem Gebrauch der Waffen und den ersten Grundregeln der Führung eines Kommandos vertraut gemacht hatte. Bennet war immer freundlich und hilfreich gewesen; er gehörte zu jenen, die grausam wie das Grab ihren Feinden gegenüber, aber unbedingt treu und wohlwollend gegenüber ihren Freunden sind. Und jetzt, als Sir Oliver in das nächste Haus ging, um in seiner geschwinden, vorzüglichen Handschrift einen Bericht über die jüngsten Ereignisse an seinen Herrn, Sir Daniel Brackley, zu schreiben, näherte sich Bennet seinem Zögling, um ihm für sein Unternehmen Glück zu wünschen.
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»Ihr müßt einen Umweg um die Brücke machen, Junker Shelton«, sagte er; »um Eures Lebens willen! Laßt einen zuverlässigen Mann schußbereit fünfzig Schritt vor Euch hergehen und reitet vorsichtig, bis Ihr den Wald passiert habt. Wenn die Landstreicher Euch anfallen, so reitet davon; denn durch Stehenbleiben werdet Ihr nichts ausrichten. Und bleibt immer vorn, Junker Shelton, geht nicht zurück, wenn Ihr Euer Leben liebt; es gibt keine Hilfe von Tunstall, denkt daran. Und jetzt, da Ihr in die großen Kämpfe um den König geht, während ich weiter hier in höchster Lebensgefahr bleibe und nur der Himmel weiß, ob wir uns auf Erden jemals wiedersehen, gebe ich Euch meine letzten Ratschläge mit auf Euren Ritt. Habt ein Auge auf Sir Daniel, denn er ist nicht zuverlässig. Setzt Euer Vertrauen nicht in den Priesterrock; er führt nichts Böses im Schilde, aber tut den Willen anderer und ist nur das Werkzeug Sir Daniels. Macht von Euren Vollmachten den rechten Gebrauch, wo Ihr auch geht; achtet darauf, daß Ihr Euch gute Freunde gewinnt. Und denkt immer ein Vaterunser lang an Bennet Hatch. Es laufen schlimmere Spitzbuben herum als Bennet. So, und nun gute Fahrt!« »Und der Himmel sei mit Euch, Bennet!« erwiderte Dick. »Ihr waret mir immer ein guter und aufrichtiger Freund – daran werde ich stets denken.« »Und seht Ihr, Junker«, fügte Bennet etwas verlegen hinzu, »wenn mich ein Pfeil von diesem ›Rächer‹ treffen sollte, dann wendet eine Goldmark6 oder vielleicht ein Pfund für meine arme Seele auf, denn es wird im Fegefeuer wohl schlimm mit mir aussehen.« »Diese Bitte soll Euch gewährt werden, Bennet«, antwortete Dick. »Aber was soll das, Mann! Wir werden uns wiedersehen, wir werden mehr Bier als Messen nötig haben.« »Die Heiligen mögen es geben, Junker Dick!« erwiderte der andere. »Aber hier kommt Sir Oliver. Wenn er mit dem Bogen so gewandt wäre wie mit der Feder, wäre er ein tüchtiger Kriegsmann.« Sir Oliver gab Dick ein versiegeltes Päckchen mit der Aufschrift: »An meinen hochzuverehrenden Herrn, Sir Daniel Brackley, Ritter, sei dies in Eile überliefert.« Und Dick, der es an seiner Brust verbarg, versprach die Erfüllung des Auftrages und ritt westwärts dem Dorfe zu.
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Erstes Buch Die zwei Jünglinge
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Erstes Kapitel Unter dem Schild der »Sonne« in Kettley
Sir Daniel und seine Leute lagen in dieser Nacht in und um Kettley, warm untergebracht und gut bewacht. Aber der Ritter von Tunstall war einer von denen, die nie Ruhe vor der Jagd nach Gewinn haben. Und gerade jetzt, als ihm ein Abenteuer bevorstand, das ihn erheben oder verderben sollte, war er eine Stunde nach Mitternacht noch wach, um arme Mitmenschen auszubeuten. Er war ein Mann, der auf sehr gerissene Art in Erbschaftsstreitigkeiten seinen Vorteil suchte; dabei wandte er die List an, sich den Anteil desjenigen, der die geringsten Aussichten hatte, zu sichern und sich dann durch Einschmeicheln bei großen Herren in der Umgebung des Königs ungerechte Entscheidungen zu seinen Gunsten zu verschaffen. Wenn das zu umständlich war, brachte er das umstrittene Rittergut mit Waffengewalt an sich und verstand es, durch seinen Einfluß und Sir Olivers Gesetzeskenntnis das festzuhalten, was er an sich gerissen hatte. Kettley hatte er auch auf diese Weise in Besitz genommen. Es war ziemlich spät in seine Faust gekommen, und er mußte noch gegen die starken Widerstände der Pächter ankämpfen; seine Truppen hatte er in diesen Ort gelegt, um die Unzufriedenheit in Schranken zu halten. Um zwei Uhr morgens saß Sir Daniel in der Herberge dicht am Kamin; denn um diese Stunde war es kalt in den Mooren von Kettley. Vor ihm stand eine Kanne mit Würzbier. Er hatte seinen mit einem Visier versehenen Helm abgenommen und saß da, warm eingehüllt in einen blutroten Mantel, und den kahlen Kopf mit dem hageren, finsteren Gesicht in die Hand gestützt. Am unteren Ende des Raumes standen zwölf von seinen Leuten Schildwache an der Tür oder lagen schlafend auf Bänken. Ein wenig näher lag ein junger Bursche von anscheinend zwölf oder dreizehn Jahren in einem Mantel auf dem Boden ausgestreckt. Der Wirt des Gasthauses »Zur Sonne« stand vor dem großen Herrn. »Nun merkt auf, Wirt«, sagte Sir Daniel, »folgt nur meinen Befehlen, und ich werde allezeit Euer guter Herr sein. Ich brauche gute Leute als Schulzen, und ich will Adam-a-More als
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Oberkonstabler haben; sorgt gewissenhaft dafür. Wenn andere gewählt werden, wird es nicht zu Eurem Vorteil, sondern peinlich zu Eurem Nachteil sein; gegen jene, die an Walsinghams Zins entrichtet haben, werde ich heilsame Maßnahmen ergreifen – so auch gegen Euch, Wirt.« »Teurer Herr«, sagte der Wirt, »ich könnte beim Kreuz von Holywood schwören, daß ich nur unter Zwang an die Walsinghams gezahlt habe. Nein, Herr Ritter, ich liebe diese schuftigen Walsinghams nicht, sie waren so arm wie diebisch, werter Ritter. Ich diene lieber einem großen Herrn wie Euch. Erkundigt Euch unter den Nachbarn über mich, ich bin entschieden für Brackley.« »Mag sein«, sagte Sir Daniel trocken. »Dann werdet Ihr doppelt bezahlen.« Der Gastwirt zog eine entsetzte Grimasse; aber das war ein Mißgeschick, wie es in diesen stürmischen Zeiten schnell einen Pächter treffen konnte, und er war vielleicht noch froh, so leicht davongekommen zu sein. »Führ mir jenen Burschen vor, Selden!« rief der Ritter. Und einer von seinen Leuten führte einen armen, gebeugten alten Mann vor, der so bleich wie eine Kerze und vom Moorfieber geschüttelt war. »Wie heißt Ihr, Mann?« fragte Sir Daniel. »Wenn’s Euer Gnaden gefällig ist«, antwortete der Mann, »mein Name ist Condall – Condall aus Shoreby, Euer Gnaden zu dienen.« »Über Euch wird mir Übles berichtet«, versetzte der Ritter. »Ihr beteiligt Euch an Verrat, Ihr Vagabund. Ihr streut Lügen im Lande aus; Ihr steht unter schwerem, mehrfachem Mordverdacht. Was erdreistet Ihr Euch, Mann? Aber ich werde Euch schon klein kriegen.« »Sehr ehrenwerter und ehrwürdiger Herr«, rief der Alte aus, »das ist Verleumdung; ich bin nur ein armer, unbedeutender Mann und habe niemand etwas zuleide getan.« »Der Untersheriff berichtete das Schlimmste über Euch«, fuhr der Ritter fort... »›Nehmt mir‹, sagte er, ›diesen Tyndal aus Shoreby fest.‹« »Condall, mein guter Herr; Condall ist mein armer Name«, beteuerte der Unglückliche. »Condall oder Tyndal, es ist alles eins«, erwiderte eisig Sir Daniel. »Ihr seid nun einmal hier, und ich bezweifle Eure
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Rechtschaffenheit sehr. Wenn Ihr Euren Hals retten wollt, dann schreibt mir schleunigst einen Schuldschein über zwanzig Pfund.« »Über zwanzig Pfund? Guter Herr!« schrie Condall. »Das ist Wahnsinn! Mein ganzes Einkommen beläuft sich auf keine siebzig Schilling.« »Condall oder Tyndal«, erwiderte Sir Daniel höhnisch, »ich will mich nicht der Gefahr dieses Verlustes aussetzen. Schreibt mir zwanzig auf, und sobald ich alles erhalten habe, werde ich Euer guter Herr sein und Euch das übrige erlassen.« »Ach, mein guter Herr, es kann nicht sein; ich bin des Schreibens unkundig«, sagte Condall. »Wehe!« entgegnete der Ritter. »Dann gibt es hier keine Hilfe. Ich hätte trotzdem Milde an Euch geübt, Tyndal, wenn mein Gewissen es zugelassen hätte. – Selden, nehmt mir diesen alten Übeltäter sacht zur nächsten Ulme, wo ich ihn bei meinem Aufbruch hängen sehen kann. Fahrt wohl, guter Master Condall, lieber Master Tyndall; Ihr werdet bald im Paradies sein, fahrt nun wohl!« »Nein, mein sehr geneigter Lord«, erwiderte Condall und zwang sich zu einem kummervollen Lächeln, »wenn Ihr so herrisch seid, was Euch wohl bekommen möge, will ich eben mit all meiner geringen Fähigkeit Euer Gebot erfüllen.« »Freund«, sagte Sir Daniel, »Ihr müßt nun zweimal zwanzig schreiben. Laßt nur! Ihr seid zu gerissen für ein Einkommen von siebzig Schilling. Selden, seht, daß er mir dies in richtiger Form schreibt, und beglaubigt es gebührend.« Und Sir Daniel, der ein so lustiger Ritter war, wie es in England keinen lustigeren gab, nahm einen Schluck von seinem Warmbier und lehnte sich lächelnd zurück. Inzwischen begann der Junge auf dem Fußboden wach zu werden; er richtete sich auf und sah erschrocken um sich. »Hierher«, sagte Sir Daniel, und als der andere sich auf seinen Befehl erhob und langsam zu ihm kam, lehnte er sich zurück und lachte aus vollem Halse. »Beim Kreuz!« rief er, »ein kräftiger Bursche!« In dem Jungen loderte es auf vor Zorn und Erregung, und ein Blick voller Haß schoß aus seinen dunklen Augen. Als er stand, war es noch schwerer, sein Alter zu schätzen. Sein Gesicht wirkte im Ausdruck etwas älter, obwohl es so weich wie das Gesicht eines
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Kindes war; seine Figur war ungewöhnlich zart und sein Gang etwas unbeholfen. »Habt Ihr mich gerufen, Sir Daniel«, fragte er, »um Euch über meine erbärmliche Lage lustig zu machen?« »Ach, laßt mich nur lachen«, sagte der Ritter. »Guter Zankteufel, laßt mich lachen. Wenn Ihr Euch selber sehen könntet, würdet Ihr gewiß zuerst lachen.« »Wohl«, rief der Junge errötend, »Ihr werdet das verantworten, wenn Ihr für alles andere Rechenschaft geben müßt. Lacht, solange Ihr könnt!« »Nun, guter Vetter«, erwiderte Sir Daniel jetzt mit einem gewissen Ernst, »denkt nicht, daß ich mich über Euch lustig machen will, es sei denn aus Fröhlichkeit wie zwischen Verwandten und den nächsten Freunden. Ich werde Euch eine Heirat von tausend Pfund verschaffen und außerordentlich für Euch sorgen. Ich packte Euch in der Tat etwas unsanft an, wie die Zeit es verlangte; aber von nun an werde ich ohne Murren für Euren Unterhalt sorgen und freudig auf Euer Wohl bedacht sein. Ihr werdet Mistreß Shelton sein – Lady Shelton. Meiner Treu! Der Bursche berechtigt zu guten Hoffnungen. Pfui! Ihr werdet doch nicht vor einem ehrlichen Lachen scheu werden; es vertreibt den Trübsinn. Wer lacht, ist kein Vagabund, guter Vetter. Gastwirt, setzt meinem Vetter, Junker John, ein Mahl vor. Nehmt Platz, Herzchen, und eßt.« »Nein«, sagte Junker John, »ich will kein Brot brechen. Da Ihr mich zu dieser Sünde zwingt, werde ich für das Heil meiner Seele fasten. Aber, mein lieber Wirt, ich bitte Euch höflich, gebt mir aus Gefälligkeit eine Tasse Wasser; ich werde Euch dafür sehr verbunden sein.« »Ihr sollt Dispens haben, wohlan!« schrie der Ritter. »Euch wird leicht verziehen werden, meiner Treu! Gebt Euch also zufrieden und eßt.« Aber der Junge war hartnäckig, trank eine Tasse Wasser und setzte sich, nachdem er sich wieder fest in seinen Mantel gehüllt hatte, nachdenklich in eine entfernte Ecke. Nach ein oder zwei Stunden kam durch die Ablösung der Wachen Unruhe ins Dorf. Man hörte den Lärm von Waffen und Pferden. Dann zog ein Trupp am Tor der Herberge auf, und Richard Shelton zeigte sich dreckbespritzt auf der Schwelle. »Seid gegrüßt, Sir Daniel«, sagte er.
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»Was! Dickie Shelton!« rief der Ritter; und als Dicks Name genannt wurde, blickte der andere Bursche neugierig hinüber. »Was macht Bennet Hatch?« »Ich bitte Euch, Herr Ritter, entnehmt diesem Päckchen Nachricht von Sir Oliver, alles ist darin ausführlich dargelegt«, antwortete Richard und übergab den Brief des Priesters. »Ich bitte Euch ferner, in größter Eile zu Risingham aufzubrechen; denn auf dem Weg zu Euch trafen wir einen wild reitenden Kurier. Seiner Erzählung nach wird Lord Risingham böse bedrängt und verlangte dringend Eure Hilfe.« »Was sagt Ihr? Böse bedrängt?« entgegnete der Ritter. »Nun, dann wollen wir uns schnell setzen, Richard. Wie die Dinge in diesem armen Königreich England liegen, so reitet der am sichersten, der gemächlich reitet. Man sagt, Verzögerung erzeugt Gefahr; aber es ist vielleicht mehr diese Sucht zu handeln, welche die Menschen zugrunde richtet; merkt Euch das, Dick. Aber laßt mich erst sehen, was für eine Horde Ihr gebracht habt. Selden, eine Fackel hier an die Tür!« Sir Daniel trat hinaus auf die Dorfstraße und besichtigte beim roten Schein einer Fackel seine neuen Truppen. Er war ein unbeliebter Nachbar und ein unbeliebter Herr; aber als Führer im Kriege stand er bei allen in Ansehen, die hinter seinem Banner ritten. Seine Kühnheit, sein erprobter Mut, Soldaten, selbst sein rauher Spott waren ganz nach dem Geschmack der kühnen Burschen in Koller und Helm. »Was, beim Kreuz!« rief er, »was für arme Hunde sind das? Da ist einer, so krumm wie ein Bogen, dort einer, so dünn wie eine Lanze. Freunde, ihr werdet in der Schlacht vorn reiten; ich kann euch entbehren, Freunde. Achtet mir auf diesen alten Schurken auf der Schecke! Ein zweijähriger Hammel, der auf einer Sau ritte, sähe soldatischer aus! Ha! Clipsby, seid Ihr das, alte Ratte? Ihr seid ein Kerl, den ich gut und gern missen könnte; Ihr sollt allen vorangehen, mit einem Ochsenauge aufs Koller gemalt, damit Ihr den Bogenschützen ein besseres Ziel bietet. Kerl, Ihr sollt mir den Weg zeigen.« »Ich werde Euch jeden Weg zeigen, Sir Daniel, außer dem Weg, die Partei zu wechseln«, entgegnete Clipsby frech. Sir Daniel brach in schallendes Gelächter aus.
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»Nun, gut gesagt!« rief er aus. »Hast eine böse Zunge im Maul, geh nur! Ich vergebe Euch um dieses Wortes willen. – Selden, seht zu, daß sie verpflegt werden, Mann wie Vieh.« Dann betrat der Ritter wieder die Herberge. »Nun, Freund Dick«, sagte er, »greift zu! Hier ist gutes Bier und Speck. Eßt, während ich das lese.« Sir Daniel öffnete das Päckchen, und als er las, umdüsterte sich sein Blick. Als er fertig war, saß er ziemlich nachdenklich da. Dann blickte er sein Mündel scharf an. »Dick«, fragte er, »habt Ihr diese Pfennigreime gelesen?« Der junge Mann bejahte. »Sie enthalten den Namen Eures Vaters«, fuhr der Ritter fort; »und unser armer Zankteufel von Priester wird von irgendeinem Verrückten beschuldigt, ihn erschlagen zu haben.« »Er stritt es sehr eifrig ab«, antwortete Dick. »Er stritt es ab?« rief der Ritter schneidend. »Gebt nichts darauf. Er ist flink mit der Zunge; er schwatzt wie ein Hans-Spatz. Eines Tages, wenn ich die Muße finde, Dick, will ich selbst Euch ganz vollständig von diesen Dingen unterrichten. Ein gewisser Duckworth wurde damals schwer beschuldigt; aber die Zeiten waren stürmisch, und es war keine Gerechtigkeit zu erlangen.« »Es ereignete sich im Schloß?« wagte Dick unter Herzklopfen zu fragen. »Es geschah zwischen dem Schloß und Holywood«, erwiderte Sir Daniel ruhig, jedoch warf er dabei einen versteckten Blick, düster und voller Argwohn, auf Dicks Gesicht. »Und jetzt«, fügte der Ritter hinzu, »beeilt Euch mit Eurer Mahlzeit; Ihr sollt mit einem Schreiben nach Tunstall zurückkehren.« Dicks Gesicht verdüsterte sich. »Ich bitte Euch, Sir Daniel«, rief er, »sendet einen von den Bauern! Ich bitte Euch dringend, laßt mich in die Schlacht. Ich verstehe einen Streich zu führen – ich verspreche es Euch.« »Ich bezweifle es nicht«, entgegnete Sir Daniel, während er sich zum Schreiben niedersetzte. »Aber hier, Dick, ist kein Ruhm zu erwerben. Ich liege in Kettley, bis ich zuverlässige Meldungen über den Kampf habe, und dann breche ich auf, um mich dem Sieger anzuschließen. Schimpft nicht über Feigheit! Es ist weiter nichts als Klugheit, Dick; denn dieses arme Reich wird von Aufruhr geschüttelt, und der Name des Königs und die Gewalt über ihn wechseln so oft den Besitzer, daß kein Mensch weiß, was morgen
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sein wird. Trunkenbold und Leichtfuß kommen unter die Räder, aber Mylord Guter Rat hält sich heraus und wartet ab.« Damit kehrte Sir Daniel Dick den Rücken zu und begann am anderen Ende des Tisches seinen Brief zu schreiben. Diese Sache mit dem schwarzen Pfeil würgte ihm böse in der Kehle. Während sich Junker Shelton sein Frühstück schmecken ließ, spürte er, wie jemand seinen Arm berührte, und eine weiche Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Laßt Euch nichts anmerken, ich bitte Euch«, sagte die Stimme, »zeigt mir um der Barmherzigkeit willen den kürzesten Weg nach Holywood. Ich bitte Euch, guter Junge, helft einer armen Seele, die in Gefahr und äußerster Not ist. Helft mir, meinen Zufluchtsort zu erreichen.« »Schlagt den Weg bei der Windmühle ein«, antwortete Dick in dem gleichen Tone, »der führt zur Till-Fähre; dort fragt weiter.« Ohne den Kopf auch nur zu wenden, fuhr er mit seiner Mahlzeit fort. Aber mit einem letzten Blick konnte er noch sehen, wie der junge Mensch, den man Junker John nannte, aus dem Raum schlich. Wie, dachte Dick, er ist so jung wie ich und nennt mich »guter Junge«? Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich den Schelm lieber gehenkt gesehen, ehe ich es ihm gesagt hätte. Nun, wenn er durch das Moor geht, kann ich ihn einholen und ihm die Ohren langziehen. Sir Daniel gab Dick eine halbe Stunde später den Brief und bat ihn, diesen in aller Eile zum Schloß zu bringen. Nachdem abermals eine halbe Stunde vergangen war, kam in höchster Eile ein Bote von Lord Risingham. »Sir Daniel«, sagte der Bote, »Ihr büßt wahrhaftig große Ehre ein! Schon vor Tau und Tag begann heute der Kampf, und wir haben ihre Vorhut geschlagen und ihren rechten Flügel in alle Winde zerstreut. Nur die Hauptmacht steht fest. Wenn wir Eure frischen Leute hätten, würden wir sie alle in den Fluß werfen. Wie, Herr Ritter! Wollt Ihr der Letzte sein? Das könnt Ihr nicht bei Eurem hohen Ansehen.« »Nein«, sagte der Ritter, »ich war bis jetzt auf dem Marsche. Selden, blast zum Aufsitzen. Herr, sofort reite ich mit Euch. Vor nicht ganz zwei Stunden traf der Hauptteil meiner Truppen hier ein, Herr Kurier. Was wollt Ihr? Spornen gibt gutes Fleisch,
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vorausgesetzt, es tötet das Schlachtroß nicht. Nun hurtig, Jungens!« Unterdessen klang die Trompete fröhlich in den Morgen, und von allen Seiten strömten Sir Daniels Leute in die Hauptstraße und stellten sich vor der Herberge auf. Sie hatten bei ihren Waffen und mit den gesattelten Pferden geschlafen. In zehn Minuten standen einhundert sorgfältig ausgerüstete und an Manneszucht gewöhnte Soldaten und Bogenschützen in Reih und Glied. Der größte Teil war in Sir Daniels Farben, in Dunkelrot und Blau, gekleidet, was ihren Reihen ein besonders stolzes Aussehen gab. Die am besten Bewaffneten standen an der Spitze. Und fast unsichtbar, am Ende des Zuges, die klägliche Verstärkung der vergangenen Nacht. Sir Daniel blickte mit Stolz die Front entlang. »Hier sind die Burschen, die Euch aus der Klemme helfen können«, sagte er. »Gute Leute, wahrhaftig«, erwiderte der Kurier. »Es vermehrt nur meine Sorge, daß Ihr nicht schon früher marschiert seid.« »Nun«, sagte der Ritter, »was wollt Ihr? Vögel, die früh pfeifen, holt abends die Katze«, und damit schwang er sich in den Sattel. »Halt!« schrie er dann. »John! Johanna! Ha, beim heiligen Kreuz! Wo ist sie nur? Wirt, wo ist das Mädchen?« »Mädchen, Sir Daniel?« rief der Gastwirt. »Herr, ich habe kein Mädchen gesehen.« »Der Junge also, alter Trottel!« brüllte der Ritter. »Konntet Ihr nicht sehen, daß es eine Dirne war? Die in dem rotbraunen Mantel – die Wasser trank, statt zu frühstücken –, wo ist sie?« »Ach, der Himmel sei mit uns! Ihr nanntet sie Junker John«, sprach der Wirt. »Ach, ich ahnte nichts Böses. Er ist fort. Ich sah ihn – sie –, ich sah sie vor einer guten Stunde im Stall; er sattelte ein graues Pferd.« »Ha, beim Kreuz!« schrie Sir Daniel, »die Dirne war mir fünfhundert Pfund und mehr wert.« »Herr Ritter«, bemerkte der Bote mit Bitterkeit, »während Ihr Euch hier aufhaltet und wegen fünfhundert Pfund tobt, wird irgendwo das Königreich England verloren und gewonnen.« »Gut gesagt«, erwiderte Sir Daniel. »Selden, tretet mit sechs Armbrustschützen heraus; spürt sie mir um jeden Preis auf; aber bei meiner Rückkehr möchte ich sie auf dem Schloß finden. Dafür haftet Ihr mir mit Eurem Kopf. Und jetzt marschieren wir, Herr Kurier.«
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Die Truppe setzte sich in Marsch, und Selden und seine sechs Mann blieben unter den verblüfften Dorfbewohnern auf der Straße von Kettley zurück.
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Zweites Kapitel Im Moor
Es war fast sechs Uhr an diesem Maimorgen, als Dick auf seinem Heimwege in das Moor hinabzureiten begann. Über ihm spannte sich der blaue Himmel. Ein starker, frischer Wind hatte sich erhoben, die Flügel der Windmühle von Kettley drehten sich schnell, und die Weidenäste über dem Moor wogten wie ein Kornfeld. Dick war schon die ganze Nacht über im Sattel, aber sein Herz war stark und sein Körper gesund, und so ritt er frohen Mutes. Der Pfad führte ihn tiefer und tiefer in das Moor, bis er nichts mehr erblickte als die Windmühle und die höchsten Wipfel des Waldes von Tunstall. Weiden und ausgedehnte Felder von blühendem Schilfrohr, Wasserlachen, die sich im Winde kräuselten, und heimtückische Moräste so grün wie Smaragd, die den Wanderer irreführen und täuschen, säumten den Wegrand. Der Pfad lief fast gerade durch das Moor. Er war sehr alt; sein Untergrund war schon durch römische Soldaten gelegt worden. Im Laufe der Jahrhunderte war er vielfach abgesackt, und hier und da bedeckte das Wasser des Moores seine Oberfläche auf einige hundert Ellen hin. Etwa eine Meile von Kettley entfernt erreichte Dick eine solche Unterbrechung der Straße. Das Schilfrohr und die Weiden bildeten kleine Inseln, die das Auge verwirrten. Diese Stelle war dazu noch weit ausgedehnt und mußte jeden Fremden in die größte Gefahr bringen. Dick erinnerte sich mit einem Gefühl der Angst an den Burschen, dem er so ungenau Auskunft erteilt hatte. Er warf einen Blick zurück, wo sich die drehenden Windmühlenflügel dunkel vom Himmel abzeichneten, und blickte dann nach vorn zum höchsten Punkt des Waldes von Tunstall, um sich die richtige Orientierung zu verschaffen. Nun ritt er schnurgerade weiter, so sicher wie auf jeder anderen Landstraße, obgleich das Wasser um die Knie seines Pferdes spülte. Auf halbem Wege, als er schon den Pfad erkennen konnte, der hoch und trocken jenseits des Morastes lag, vernahm er zur
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Rechten ein lautes Geplatsche und sah ein graues Pferd, das bis an den Bauch in den Schlick eingesunken war und sich krampfhaft zu befreien versuchte. Als ob es die nahende Hilfe ahnte, begann das arme Tier sogleich durchdringend zu wiehern. Dabei rollte es in wahnsinniger Angst seine blutunterlaufenen Augen; und wie es sich zuckend im Moor wälzte, erhoben sich Schwärme von stechenden Insekten und schwirrten um es herum. Ach Gott! dachte Dick, kann der arme Junge verunglückt sein? Das ist sein Pferd, ganz sicher – ein braver Grauer! Kamerad, wenn du so erbarmungswürdig schreist, will ich alles tun, was ein Mensch kann, um dir zu helfen. Du sollst hier nicht liegen und im Schlick ersaufen! Und er legte seine Armbrust an und schoß dem Tier einen Pfeil durch den Kopf. Nach dieser Tat rauhen Mitleids ritt Dick ruhig weiter und hielt mit gespannter Aufmerksamkeit Ausschau nach einem Anzeichen seines weniger glücklichen Vorgängers auf dem Wege. Ich hätte ihm besser Auskunft geben müssen, dachte er; ich fürchte, er ist im Sumpf umgekommen. Aber als er so überlegte, rief eine Stimme vom Pfade her seinen Namen. Er blickte sich um und sah aus dem Röhricht das Gesicht des Jungen hervorgucken. »Seid Ihr da?« fragte er, während er sein Pferd anhielt. »Ihr steckt ja so tief im Schilf, daß ich Euch nicht bemerkt hätte. Ich sah Euer eingesunkenes Pferd und erlöste es von seinem Todeskampf, was Ihr allerdings als mitfühlender Reiter selber hättet tun können. Aber kommt heraus aus Eurem Versteck, hier wird Euch niemand etwas zuleide tun.« »Guter Junge, ich habe weder Waffen, noch verstehe ich damit umzugehen«, erwiderte der andere und trat auf den Fußpfad hinaus. »Warum nennt Ihr mich Junge?« rief Dick aus. »Ihr seid, glaube ich, nicht der ältere von uns beiden.« »Guter Junker Shelton«, sagte jener, »vergebt mir bitte. Ich will Euch durchaus nicht beleidigen. Vielmehr bitte ich Euch herzlich um Eure Freundlichkeit und Güte; denn ich bin jetzt schlimmer denn je bedrängt, da ich meinen Weg, meinen Mantel und mein armes Pferd verloren habe. Es ist schrecklich, eine Reitgerte und Sporen zu haben, aber kein Pferd, um darauf zu sitzen! Und vor
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allem«, fügte er mit einem kläglichen Blick auf seine Kleidung hinzu, »vor allem, so gräßlich beschmutzt zu sein!« »Ach was!« rief Dick. »Fürchtet Ihr Euch vor dem Schmutzigwerden? Blut von Wunden oder Staub der Arbeit sind eine Zierde für einen Mann.« »Nicht doch, ich mag ihn lieber sauber«, bemerkte der Bursche. »Aber ich bitte Euch, was soll ich tun? Ich bitte Euch, guter Junker Richard, helft mir mit Eurem guten Rat. Wenn ich nicht heil nach Holywood komme, bin ich verloren.« »Nein«, sagte Dick, indem er abstieg, »ich will Euch mehr geben als nur Rat. Nehmt mein Pferd, und ich will inzwischen zu Fuß gehen, und wenn ich müde geworden bin, werden wir wieder wechseln, damit wir – bald reitend, bald laufend – um so schneller vorwärts kommen.« So war der Tausch abgemacht, und sie kamen so rasch voran, wie es die schlechte Straße zuließ. Beim Gehen hielt Dick seine Hand auf dem Knie des anderen. »Wie nennt Ihr Euch?« fragte Dick. »John Matcham«, erwiderte der Bursche. »Und was wollt Ihr in Holywood?« fragte Dick weiter. »Ich suche Zuflucht vor einem Mann, der mich hart bedrängt«, war die Antwort. »Der gute Abt von Holywood ist ein starker Beschützer der Schwachen.« »Und wie kamt Ihr zu Sir Daniel, Junker Matcham?« fragte Dick weiter. »Ach«, rief der andere aus, »nur durch das Recht des Starken! Er hat mich mit Gewalt von den Meinen entführt und mich in diese Tracht stecken lassen; er ist mit mir geritten, bis mir übel wurde; er hat über mich gespottet, daß ich hätte weinen mögen; und wenn Freunde sich darum bemühten, mich zu befreien, stellte er mich an das Ende des Zuges, um sie vom Schießen abzuhalten. Ich wurde sogar von einem Pfeil am rechten Fuß gestreift und hinke beim Gehen. Doch es wird einmal der Tag kommen, an dem er für alles büßen soll!« »Wollt Ihr mit einer Armbrust nach dem Monde schießen?« fragte Dick. »Er ist ein tapferer Ritter und hat eine Hand wie Eisen. Wenn er vermutete, daß ich Euch zur Flucht verholten oder auch nur den Gedanken daran gehegt habe, wäre es schlimm um mich bestellt.«
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»Ach, armer Junge«, erwiderte der andere, »Ihr seid sein Mündel, ich weiß es. Ich bin in derselben Lage. Er hat sogar über meine Heirat verhandelt – ich weiß nicht recht, mit wem; es wird wohl irgendein Vorwand sein, um durch mich reicher zu werden.« »Schon wieder ›Junge‹!« sagte Dick. »Soll ich Euch denn ›Mädchen‹ nennen, guter Richard?« fragte Matcham. »Kommt mir nicht mit Mädchen«, erwiderte Dick, »mit ihnen mag ich nichts zu schaffen haben.« »Ihr sprecht jungenhaft«, sagte der andere. »Ihr denkt mehr an sie, als Ihr vorgebt.« »Niemals«, sagte Dick stolz. »Sie kommen mir nicht in den Sinn. Hole sie der Kuckuck, sage ich. Gebt mir zu jagen, zu fechten und zu essen und mit fröhlichen Waldbewohnern zu leben. Ich hörte noch nie von einem Mädchen, das etwas taugte, mit einer Ausnahme; aber die Arme wurde als Hexe verbrannt, denn sie hatte der Natur ins Gesicht geschlagen und Männerkleidung getragen.« Junker Matcham bekreuzigte sich und schien inbrünstig zu beten. »Was tut Ihr?« fragte Dick. »Ich bete für ihre Seele«, antwortete der andere mit einem Beben in der Stimme. »Für die Seele einer Hexe?« rief Dick. »Aber betet nur für sie, wenn Ihr von ihr hört. Sie war das beste Mädchen in Europa, diese Jeanne d’Arc. Old Appleyard, der Bogenschütze, rannte vor ihr – hat er uns erzählt –, als ob sie Mohammed gewesen wäre. Ja, sie war ein tapferes Weib.« »Gut, aber, lieber Junker Richard«, fuhr Matcham fort, »wenn Ihr Mädchen so wenig liebt, seid Ihr kein wackerer, echter Mann; denn Gott schuf sie beide nach seinem Plan und brachte treue Liebe in die Welt, zur Hoffnung des Mannes und zum Glück der Frau.« »Pfui!« sagte Dick. »Ihr seid ein Muttersöhnchen, die Weiber so zu loben. Wenn Ihr denkt, ich sei kein wahrer Mann, dann kommt nur auf den Pfad herunter. Ihr solltet meine Mannheit schon zu spüren bekommen, sei es durch meine Fäuste, durch das einschneidige Schwert oder durch Pfeil und Bogen.« »Nein, ich bin kein Fechter«, sagte Matcham bitter. »Ich dachte nicht im geringsten daran, Euch zu beleidigen. Ich meinte es nur
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scherzhaft. Und wenn ich von Frauen spreche, so nur deshalb, weil ich hörte, daß Ihr heiraten sollt.« »Ich heiraten!« rief Dick aus. »Das ist das erste, was ich darüber höre. Und wen soll ich heiraten?« »Eine gewisse Johanna Sedley«, antwortete Matcham, wobei er sich verfärbte. »Es geschieht auf Betreiben Sir Daniels, er hat auf beiden Seiten Geld zu gewinnen. Ich habe gehört, das arme Mädchen beklage bei dieser Partie jämmerlich sein Los.« »Nun, eine Heirat bedeutet soviel wie Tod«, sagte Dick gelassen. »Und es beklagt sein Los? Ich bitte Euch nun, überlegt einmal, wie gedankenlos dieses Mädchen ist: sein Los zu beklagen, ehe es mich gesehen hat? Beklage ich mich denn? Nein! Wenn ich heiraten muß, werde ich trockenen Auges heiraten! Aber wenn Ihr sie kennt, so sagt mir doch, wie sieht sie aus? Ist sie schön oder häßlich, zänkisch oder freundlich?« »Ach, was liegt daran?« sagte Matcham. »Wenn Ihr heiraten müßt, könnt Ihr nicht anders als heiraten. Was liegt daran, ob häßlich oder schön? Das sind Nebensächlichkeiten. Ihr seid kein Muttersöhnchen, Junker Richard; Ihr werdet auf irgendeine Weise trockenen Auges heiraten.« »Gut gesagt«, entgegnete Shelton. »Es soll mich wenig kümmern.« »Eure Frau Gemahlin wird mit einem solch freundlichen Gatten glücklich sein«, sagte Matcham. »Sie wird den Gatten haben, den der Himmel für sie geschaffen hat«, erwiderte Dick. »Ich glaube, daß es sowohl schlechtere als auch bessere gibt.« »Ach das arme Mädchen«, rief der andere. »Und warum ›arm‹?« fragte Dick. »Einen Mann von Holz heiraten zu müssen«, antwortete sein Gefährte. »Ich würde mich für einen hölzernen Gatten bedanken!« »Wahrhaftig, ich bin ein Mann von Holz«, sagte Dick, »ich gehe zu Fuß während Ihr mein Pferd reitet; aber es ist gutes Holz, glaube ich.« »Lieber Dick, vergebt mir!« rief der andere aus. »Nein, Ihr habt das beste Herz in England, ich scherzte nur. Vergebt mir jetzt, guter Dick.« »Ach was, keine törichten Worte«, gab Dick zur Antwort, ein wenig verlegen durch die Herzlichkeit seines Gefährten. »Es ist ja nichts geschehen. Ich bin nicht empfindlich.«
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In diesem Augenblick brachte ihnen der Wind, den sie gerade im Rücken hatten, das rauhe Geschmetter von Sir Daniels Trompeten. »Horch!« sagte Dick. »Die Trompete klingt.« »Ja«, sagte Matcham, »sie haben meine Flucht entdeckt, und nun habe ich kein Pferd!« Und dabei wurde er totenblaß. »Nur Mut!« entgegnete Dick. »Ihr habt einen großen Vorsprung, und wir sind nahe an der Fähre. Und mich dünkt, ich bin es, der nicht beritten ist.« »Ach, ich soll gefangengenommen werden!« schrie der Ausreißer. »Dick, lieber Dick, ich bitte Euch, helft mir nur ein wenig!« »Was gibt es denn, was fehlt Euch?« sagte Dick. »Helfe ich Euch denn nicht schon eine ganze Weile? Aber mein Herz ist traurig über einen so zaghaften Burschen! Und seht hier, John Matcham – da Euer Name John Matcham ist –, ich, Richard Shelton, werde Euch heil nach Holywood bringen, komme, was da mag. Die Heiligen mögen mir’s vergelten, wenn ich an Euch fehle. Kommt, seid guten Mutes, Herr Blaßgesicht. Der Weg wird besser; spornt das Pferd, reitet schneller, schneller! Nein, achtet nicht auf mich; ich kann laufen wie ein Reh.« Dick lief leicht neben dem scharf trabenden Pferde her, und sie ließen bald das Moor hinter sich und erreichten die Hütte des Fährmanns am Ufer des Flusses.
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Drittes Kapitel Die Moorfähre
Der Tillfluß war ein breites, träges, lehmiges Gewässer, das aus dem Moor sickerte. Er suchte hier seinen Lauf zwischen etwa zwanzig sumpfigen Inselchen, die dicht mit Weiden bewachsen waren. Der stimmungsvolle, klare Morgen hatte den schmutzigbraunen Strom verschönert. Der Wind und die Fischotter brachen ihn in unzählige Tümpel auf, und das leuchtende Blau des Himmels spiegelte sich in seinen Wassern. Eine Bucht erstreckte sich zur Straße hin, und dicht an das Ufer geschmiegt lag die Hütte des Fährmanns. Sie war aus Flechtwerk und Lehm erbaut, und das Dach war grün von Gras. Dick ging zur Tür und öffnete sie. Auf einem alten, häßlichen braunen Mantel lag frierend der Fährmann: ein großer, schwerfälliger Mann, aber dürr und vom Fieber dieses Landstrichs geschüttelt. »Heda, Junker Shelton«, sagte er, »wollt Ihr zur Fähre? Schlimme Zeiten, schlimme Zeiten! Nehmt Euch nur in acht. Da treibt sich so eine Bande umher. Ihr tätet besser, Euch auf Euren zwei Fersen umzudrehen und es mit der Brücke zu versuchen.« »Nein, wir haben keine Zeit«, antwortete Dick. »Mir ist ganz heiß vor Eile, Fährmann Hugh.« »Ein eigenwilliger Mensch!« erwiderte der Fährmann und stand auf. »Wenn Ihr wohlbehalten zum Schloß kommt, habt Ihr Glück gehabt; mehr sage ich nicht.« Und als er Matcham erblickte, fragte er: »Wer ist das?« indem er blinzelnd auf der Schwelle der Hütte anhielt. »Es ist mein Vetter, Junker Matcham«, gab Dick zur Antwort. »Ich wünsche Euch einen guten Tag, guter Fährmann«, sagte Matcham, der abgestiegen war und nun herunterkam, das Pferd führend. »Laßt Euer Boot zu Wasser, ich bitte Euch; wir sind in höchster Eile.«
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Der hagere Fährmann starrte verwundert auf ihn. »Potztausend!« rief er endlich und lachte aus vollem Halse. Matcham errötete über und über, und es gab ihm einen Stich ins Herz. Dick legte ärgerlich seine Hand auf die Schulter des Tölpels. »Was soll das, du Flegel!« rief er. »Tu deinen Dienst und spotte nicht über bessere Leute.« Hugh, der Fährmann, machte brummend sein Fahrzeug los und schob es ein wenig in das tiefe Wasser. Dann führte Dick das Pferd hinein, und Matcham folgte. »Ihr seid fürchterlich schmal gebaut, Junker«, sagte Hugh mit breitem Grinsen. »Wahrscheinlich haben sie Euch über den verkehrten Leisten geschlagen. Aber laßt nur, Junker Shelton, ich bin Euch gut«, fügte er hinzu und ergriff die Ruder. »Eine Katze schaut gern nach einem König; ich warf doch nur einen Blick auf Junker Matcham.« »Keine weiteren Worte, Kerl; vorwärts jetzt«, sagte Dick. Sie befanden sich nun an der Einmündung der Bucht, und der Fluß lag offen vor ihnen. Überall waren Inseln zu sehen. An den lehmigen Ufern träumten Weidenbäume, wiegte sich das Schilfrohr, tauchten und pfiffen Fischotter. Nirgends gab es Anzeichen von Menschen in diesem Wasserlabyrinth. »Mein Junker«, sagte der Fährmann, der mit einem Ruder fest das Boot führte, »ich vermute, daß John Fenne auf der Insel ist. Er hegt tiefen Groll gegen alle von Sir Daniels Leuten. Wie, wenn ich mich flußabwärts hielte und Euch einen Pfeilschuß neben dem Pfad ans Land brächte? Ihr tätet am besten, Euch vor John Fenne in acht zu nehmen.« »Wieso denn? Gehört er zu dieser Gesellschaft?« fragte Dick. »Nein, ich will nichts gesagt haben«, sprach Hugh. »Aber ich würde weiter oben landen. Es wäre schlimm, wenn Junker Matcham zu einem Pfeil käme!« lachte er wieder. »Dann gut so«, antwortete Dick. »Nun«, fuhr Hugh fort, »da es so sein soll, nehmt Eure Armbrust aus der Schlinge – so: Macht sie fertig –, gut; legt einen Pfeil vor. Ja, haltet sie so und seht mich grimmig an.« »Was soll das?« fragte Dick. »Nun, wenn ich Euch hinüberbringe, muß es unter Gewalt oder aus Furcht geschehen«, antwortete der Fährmann; »denn sonst,
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wenn John Fenne davon Wind bekäme, würde er mir ein unheilvoller Nachbar sein.« »Treiben es diese Kerle so wild?« fragte Dick. »Gebieten sie über Sir Daniels eigene Fähre?« »Gebt mir acht«, flüsterte der Fährmann mit blinzelnden Augen. »Sir Daniel wird daran glauben müssen. Seine Zeit ist um. Still!« Und er beugte sich über seine Ruder. Er ruderte ein gutes Stück flußaufwärts, bog dann um eine Insel und kam, dicht an einem schmalen Kanal vorüber, nahe an das jenseitige Ufer. Von hier aus steuerte er auf die Mitte des Stromes zu. »Ich muß Euch hier zwischen den Weiden landen«, sagte er. »Hier ist kein Weg, sondern nur Sumpf und Moor«, gab Dick zur Antwort. »Junker Shelton«, fuhr Hugh fort, »ich darf Euch nicht weiter mitnehmen, zu Eurem eigenen Wohl nicht. Er liegt über seinem Bogen und bewacht die Fähre. Alles, was unter dem Namen Sir Daniels geht und seinen Willen tut, schießt er ab wie die Kaninchen. Ich hab’ es gehört, wie er das beim Kreuz schwor. Wenn ich Euch nicht aus früheren Tagen kennte – ja, und sogar von klein auf –, hätte ich Euch in Euer Verderben rennen lassen; aber in der Erinnerung an frühere Zeiten, und dann, weil Ihr dieses Kerlchen bei Euch habt, das für Wunden und Kriegsleben nicht tauglich ist, wage ich meine zwei armen Ohren, um Euch heil hinüberzubringen. Gebt Euch damit zufrieden; mehr vermag ich nicht, bei meiner Seligkeit!« Hugh hatte kaum geendet, als ein lauter Ruf aus den Weiden der Insel erscholl. Dann folgte ein Geräusch, als wenn ein kräftiger Mann ungestüm durch den Wald bricht. »Daß sich die Pest...!« rief Hugh. »Er war die ganze Zeit auf der oberen Insel!« Geradewegs ruderte er auf das Ufer zu. »Bedroht mich mit Eurem Bogen, lieber Dick, droht deutlich«, fügte er hinzu. »Ich habe Eure Haut schonen wollen – schont nun auch meine!« Krachend schoß das Boot in ein unnachgiebiges Weidendickicht. Matcham, blaß, aber sicher und geistesgegenwärtig, sprang auf ein Zeichen von Dick die Ruderbänke entlang und an Land; Dick, der das Pferd am Zügel hielt, suchte zu folgen; aber war der Leib des Tieres nun zu schwer oder das Gestrüpp zu dicht: Es ging weder vor- noch rückwärts. Das Pferd wieherte und schlug um sich. Das
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Boot kam heran, stieß wieder ab und schwankte in einem Strudel heftig hin und her. »Es geht nicht, Hugh, hier kann man nicht landen«, rief Dick; aber er kämpfte tapfer mit dem Gestrüpp und dem scheuenden Tier. Ein hochgewachsener Mann erschien am Ufer der Insel, einen Langbogen7 in der Hand. Dick sah für einen Augenblick, wie er mit großer Anstrengung den Bogen spannte, hochrot vor Eile. »Wer da?« schrie er. »Hugh, wer da?« »Es ist Junker Shelton, John«, rief der Fährmann zurück. »Steht, Dick Shelton!« brüllte der Mann auf der Insel. »Euch soll nichts geschehen, beim Kreuz! Steht! Geht weg, Hugh!« Dick rief eine höhnische Antwort. »Nun denn, so sollt Ihr zu Fuß gehen«, erwiderte der Mann und drückte einen Pfeil ab. Das getroffene Pferd stürzte in Todesangst und Schrecken; das Boot kenterte, und im nächsten Augenblick trieben alle in den Wirbeln des Flusses dahin. Als Dick wieder auftauchte, war er eine Elle vom Ufer entfernt; und ehe er recht zur Besinnung kam, schloß sich seine Hand um etwas Festes und Starkes, und er wurde sogleich vorwärts gezogen. Er hatte die Reitgerte ergriffen, die Matcham, auf einer überhängenden Weide fortkriechend, ihm rechtzeitig griffbereit hingehalten hatte. »Potztausend«, rief Dick, als er an Land war, »ich verdanke Euch mein Leben. Ich schwimme wie eine Kanonenkugel.« Er erhob sich sofort und wandte sich der Insel zu. In der Mitte des Flusses schwamm Hugh, der Fährmann, mit seinem umgestürzten Boot. John Fenne, wütend über den unglücklichen Schuß, rief ihm laut zu, sich zu beeilen. »Vorwärts, Jack«, sagte Shelton, »auf und davon! Ehe Hugh sein Boot hinüberschleppen kann oder ein paar von denen es wieder flottmachen, müssen wir außer Rufweite sein.« Sofort ließ er seinen Worten die Tat folgen, lief im Zickzack durch die Weiden und sprang an morastigen Stellen von Büschel zu Büschel. Er rannte mit vollen Kräften vom Ufer des Flusses landeinwärts und fand dabei nicht die Zeit, auf die Richtung zu achten. Bald aber begann der Boden anzusteigen. Das zeigte ihm, daß er noch auf dem rechten Wege war, und bald darauf erreichten sie
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einen Abhang mit festem Gras, auf dem Ulmen und Weiden wuchsen. Hier warf sich Matcham, der weit zurückgeblieben war, erschöpft nieder. »Laßt mich, Dick!« rief er keuchend, »ich kann nicht mehr.« Dick wandte sich um und kehrte zu der Stelle zurück, wo sein Gefährte lag. »Nein, Jack, Euch verlassen!« rief er aus, »das wäre Schurkerei! Mich in Sicherheit zu bringen, wo Ihr mir das Leben gerettet, Pfeilschuß und Ertrinken meinetwegen verachtet habt. Wahrhaftig; denn warum ich Euch nicht mit mir zog, können allein die Heiligen sagen!« »Nein«, sagte Matcham, »ich hätte uns beide gerettet, denn ich kann schwimmen.« »Könnt Ihr?« rief Dick und riß beide Augen auf. Das war nämlich die einzige männliche Fertigkeit, die er nicht besaß. In der Stufenleiter der Dinge, die er hochschätzte, kam das Schwimmen gleich nach der Überwindung eines Gegners im Zweikampfe. »Nun«, sagte er, »das ist eine Lehre dafür, daß man niemanden geringschätzen soll. Ich versprach, bis Holywood für Euch zu sorgen; aber, beim Kreuz, Jack, Ihr seid eher imstande, für mich zu sorgen.« »Gut, Dick, wir sind jetzt Freunde«, sagte Matcham. »Ach, ich war Euch niemals unfreundlich gesonnen«, gab Dick zur Antwort. »Ihr seid auf Eure Art ein tapferer Kerl, wenn auch in manchen Dingen ein Säugling. Euresgleichen ist mir bis heute noch nicht begegnet. Kommt nur erst wieder zu Atem, und dann schnell weiter. Hier ist kein Platz zum Plaudern.« »Mein Fuß schmerzt scheußlich«, klagte Matcham. »Ach, ich dachte nicht an Euren Fuß«, erwiderte Dick. »Dann müssen wir um so langsamer gehen. Ich wollte, ich wüßte, wo wir eigentlich sind. Ich habe völlig den Pfad verloren; aber das kann auch von Vorteil sein. Wenn sie die Fährte belauern, dann überwachen sie wahrscheinlich den Pfad nicht minder. Ich wollte, Sir Daniel wäre mit vierzig Mann zurück; er würde diese Halunken wegfegen, wie der Wind die Blätter verweht. Kommt, Jack, lehnt Euch an meine Schulter, armer Kerl. Ach, dazu seid Ihr nicht einmal groß genug! Wie alt seid Ihr denn – ich möchte wetten: zwölf?« »Nein, ich bin sechzehn«, sagte Matcham.
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»Dann müßt Ihr kümmerlich herangewachsen sein«, antwortete Dick. »Aber nehmt meine Hand. Wir werden gemächlich gehen; nur keine Angst. Ich verdanke Euch das Leben; ich vergelte alles, Jack, im Guten wie im Bösen.« Sie schickten sich an, den Abhang hinaufzusteigen. »Früher oder später müssen wir auf die Straße kommen«, fuhr Dick fort; »und dann geht’s frisch weiter. Donnerwetter! Aber Ihr habt eine viel zu zarte Hand. Wenn ich eine solche Hand hätte, würde ich es für beschämend halten. Ich möchte darauf schwören«, kicherte er, »daß Hugh, der Fährmann, Euch für ein Mädchen hielt.« »Aber nein, sicherlich nicht!« rief der andere tief errötend. »Doch, wahrhaftig, darauf wette ich!« rief Dick lebhaft aus. »Und er hätte gar nicht unrecht! Ihr seht wirklich einem Mädchen ähnlicher als einem Mann; und ich sage Euch, für einen Jungen seht Ihr seltsam aus; aber als wildes Mädchen, Jack, wäret Ihr gerade recht – auf mein Wort. Ihr wäret wirklich ein ansehnliches Mädchen.« »Ihr wißt recht gut«, sagte Matcham, »daß ich keins bin.« »Ich weiß es; ich scherze nur«, sagte Dick. »Vor Eurer Mutter werdet Ihr ein Mann sein, Jack. Etwa nicht, Bruderherz? Ihr werdet scharfe Streiche führen. Ich frage mich jetzt nur, wer von uns beiden zuerst zum Ritter geschlagen wird; denn ich werde es erreichen oder dafür sterben. ›Sir Richard Shelton‹, klingt prächtig. Aber auch ›Sir John Matcham‹ klingt nicht übel.« »Ich bitte Euch, Dick, wartet doch, bis ich getrunken habe«, sagte der andere, während er an einer kleinen, klaren Quelle anhielt, die aus dem Abhang hervorsprudelte und in ein Becken floß, nicht größer als eine Tasche. »Ach, Dick, wenn ich doch etwas zu essen finden könnte! Mein Herz krampft sich zusammen vor Hunger.« »Ihr seid ein Tropf, daß Ihr nicht in Kettley gegessen habt«, meinte Dick. »Ich hätte gesündigt... Ich hatte nämlich ein Gelübde abgelegt«, Stotterte Matcham: »aber jetzt würde ich heißhungrig essen, und wenn es nur trockenes Brot wäre.« »Dann setzt Euch und eßt«, sagte Dick, »ich werde indessen ein wenig den Weg erkunden.« Damit löste er einen Beutel von seinem Gürtel und entnahm ihm Brot und Stücke durchwachsenen Specks. Während Matcham herzhaft zulangte, schritt Dick zwischen den Bäumen weiter.
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Nach einer Weile erreichte er eine Bodensenke, durch die sich zwischen vertrocknetem Laub ein Bach seinen Weg suchte. Auf der gegenüberliegenden Seite standen Bäume von kräftigerem Wuchs, und der Wald lichtete sich ein wenig. Hier begannen Eichen und Buchen an die Stelle von Weiden und Ulmen zu treten. Das unablässige Rütteln und Rascheln des Windes in den Blättern übertönte das dumpfe Hallen seiner Schritte auf dem Waldboden. Aber trotzdem ging Dick mit großer Vorsicht voran, von einem kräftigen Stamm zum andern schlüpfend und nach allen Seiten um sich spähend. Plötzlich huschte vor ihm, lautlos wie ein Schatten, eine Hirschkuh durch das Unterholz. Er blieb stehen, ärgerlich über dies Dazwischenkommen. In diesem Teil des Waldes hielten sich sicherlich keine Menschen auf. Aber jetzt lief das aufgeschreckte Tier wie ein Bote vor ihm her, seine Ankunft anzumelden; daher wandte er sich zum nächsten hohen Baum, und anstatt weiter vorzudringen, kletterte er rasch empor. Das Glück war mit ihm. Diese Eiche war eine der höchsten hier und übertraf ihre Nachbarn um gut anderthalb Klafter. Als Dick bis zum höchsten Ast gelangt war und sich dort, im Winde schaukelnd, festhielt, sah er das ganze Moor bis Kettley und den zwischen bewaldeten Inselchen hinfließenden Till hinter sich, vor sich aber das helle Band der Landstraße, die sich durch den Wald wand. Das Boot war wieder aufgerichtet und befand sich jetzt auf halber Strecke zum Fährhaus. Keine anderen Spuren von Menschen und keinerlei Bewegung außer dem Wehen des Windes nahm er wahr. Eben schickte er sich an, wieder hinunterzusteigen, als sein Blick auf eine Anzahl schwarzer Punkte fiel, die sich durch das Moor bewegten. Zu gleicher Zeit marschierte ein kleiner Trupp rüstigen Schrittes über die Landstraße. Diese Beobachtung erfüllte ihn mit Unruhe. Er glitt eilends den Stamm hinab und kehrte durch den Wald zu seinem Gefährten zurück.
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Viertes Kapitel Die Waldbruderschaft
Matcham war gut ausgeruht und neu belebt. Die beiden eilten, angespornt von dem, was Dick gesehen hatte, durch das letzte Stück des Waldes, überquerten sicher die Straße und stiegen die Höhe des Waldes von Tunstall hinan. Dieser teilte sich mehr und mehr in einzelne Gehölze, zwischen denen sich sandige Heideflächen erstreckten, die mit Stechginster und hie und da mit alten Eiben bewachsen waren. Der Boden wurde immer unebener und war voller Pfützen. Bei jedem Schritt, der sie der Kuppe des Hügels näher brachte, blies der Wind schärfer, und die Bäume bogen sich unter seinen Stößen wie Angelruten. Sie hatten soeben eine der Lichtungen betreten, als Dick sich zwischen den Brombeerbüschen plötzlich zu Boden fallen ließ und langsam zurückkroch, um im Gehölz Zuflucht zu suchen. Matcham war sehr bestürzt, da er den Grund zu dieser Flucht nicht einsah, folgte aber sofort seinem Gefährten. Kaum hatten sie das schützende Dickicht erreicht, als er sich umwandte und Dick um Aufklärung bat. Statt aller Antwort deutete Dick auf eine Tanne, die am äußersten Ende der Lichtung hoch über die anderen Bäume hinausragte und sich mit ihrer dunklen Spitze scharf vom Himmel abhob. Bis etwa fünfzig Fuß über dem Boden wuchs der Stamm gerade wie eine Säule. In dieser Höhe gabelte er sich in zwei starke Äste, und in der Gabel stand, wie ein zum Toppmast hinaufgeschickter Matrose, ein Mann in einem grünen Waffenrock, der nach allen Seiten umherspähte. Die Sonne glänzte auf seinem Haar. Mit einer Hand beschattete er sein Gesicht, um in die Runde blicken zu können. Sein Kopf wandte sich mit der Regelmäßigkeit einer Maschine von einer Seite zur anderen. Die Burschen wechselten Blicke. »Laßt es uns links versuchen«, sagte Dick. »Beinahe wäre es uns übel ergangen, Jack.« Zehn Minuten später stießen sie auf einen ausgetretenen Pfad. »Hier ist ein Stück des Waldes, das ich nicht kenne«, bemerkte
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Dick. »Wohin mag dieser Weg wohl führen?« »Folgen wir ihm«, schlug Matcham vor. Ein paar Ellen weiter erreichte der Pfad die Kuppe einer Anhöhe und fiel dann steil ab in eine becherförmige Vertiefung. Auf ihrem Grunde, am Rande eines dichten Gehölzes von blühendem Weißdorn, bezeichneten einige dachlose Giebel, die von Rauch geschwärzt waren, und ein einzelner hoher Schornstein die Ruinen eines Hauses. »Was mag das sein?« flüsterte Matcham. »Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Dick. »Ich bin ganz ratlos. Laßt uns vorsichtig weitergehen.« Klopfenden Herzens schlichen sie durch den Weißdorn. Hie und da stießen sie auf Anzeichen früheren Anbaus; Obstbäume und Gemüse wuchsen wild zwischen dem Dickicht; eine Sonnenuhr lag im Grase; es schien, als schritten sie durch einen verwilderten Garten. Noch ein wenig weiter, und sie standen vor den Ruinen eines Hauses. Es war einst ein gefälliges und festes Gebäude gewesen. Ein trockener Graben hatte das Haus umgeben; aber dieser war jetzt mit Mauerwerk gefüllt und wurde durch einen heruntergefallenen Dachsparren überbrückt. Zwei Mauern standen noch, und die Sonne schien durch ihre Fensterhöhlen. Der Rest des Gebäudes war eingefallen und bildete nun einen großen Schutthaufen, der von Rauch geschwärzt war. Im Innern des verfallenden Gemäuers sproßten zwischen den Ritzen schon einige Pflanzen. »Jetzt besinne ich mich«, flüsterte Dick, »dies muß Grimstone sein. Es war der Sitz eines gewissen Simon Malmesbury; Sir Daniel wurde ihm zum Verderben! Bennet Hatch war es, der das Gebäude vor fünf Jahren niederbrannte. In der Tat, es ist schade um das schöne Haus.« Hier unten in der Senke, wo kein Wind wehte, war es warm und still. Plötzlich sagte Matcham »pst«, hob warnend einen Finger und legte eine Hand auf Dicks Arm. Jetzt unterbrach ein seltsamer Ton die Stille. Erst als er sich zweimal wiederholte, erkannten sie, daß es das Räuspern eines starken Mannes war, der seine Kehle frei machen will. Und gleich darauf brach eine rauhe und unharmonische Stimme in einen Gesang aus: Und endlich sprach der Meister, Der König der Banditen:
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Was macht ihr hier im grünen Wald, Ihr meine muntern Leute? Und Gamelyn gab Antwort, Nicht senkend seinen Blick: Die müssen in den Wald wohl gehn, Die nicht die Städte gerne sehn! Der Sänger hielt an, ein mattes Klicken von Eisen folgte, und dann war es wieder still. Die beiden Jungen sahen sich an. Ihr unsichtbarer Nachbar, wer immer er auch sein mochte, befand sich jenseits der Ruine. Plötzlich kam Farbe in Matchams Gesicht. Im nächsten Augenblick hatte er den herabgefallenen Dachsparren überschritten und klomm vorsichtig an dem mächtigen Balkenwerk empor, welches das Innere des dachlosen Hauses füllte. Dick hätte ihn zurückgehalten, wäre dazu noch Zeit gewesen; aber nun war er genötigt, ihm zu folgen. In die rechte Ecke der Ruine waren zwei Sparren kreuzweise derart gestürzt, daß sie einen freien Raum gebildet hatten, nicht breiter als ein Kirchenstuhl. Hier ließen sich die Jünglinge lautlos hinabgleiten. Sie waren vollständig verborgen, und durch eine Schießscharte öffnete sich ihnen der Ausblick auf die andere Seite. Als sie dort hindurchblickten, wurden sie starr vor Schreck über ihre unangenehme Lage. Sich zurückzuziehen war unmöglich; sie wagten kaum zu atmen. Ganz oben am Rande des Grabens, keine dreißig Fuß von der Stelle, wo sie sich niedergekauert hatten, siedete etwas in einem eisernen Kessel über einem glühenden Feuer. Dicht dabei stand in der Haltung eines Lauschenden, als ob er etwas von dem Herumklettern in der Ruine vernommen hätte, ein hochgewachsener, verwildert aussehender Mann mit rotem Gesicht, der einen eisernen Löffel in der rechten Hand hielt und ein Horn und einen furchtbaren Dolch im Gürtel trug. Anscheinend war er der Sänger und hatte gerade in dem Kessel gerührt, als ein unvorsichtiger Tritt zwischen den Trümmern an sein Ohr gedrungen war. Ein wenig abseits lag, in einen braunen Mantel gehüllt, ein anderer Mann im Schlaf; ein Schmetterling schwebte über seinem Gesicht. Ringsumher war alles weiß von Gänseblümchen, und am äußersten Rande hingen über blühendem
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Weißdorn ein Bogen, ein Bündel Pfeile und Teile eines ausgeweideten Rehes. Jetzt verlor sich die gespannte Aufmerksamkeit des Mannes. Er führte den Löffel zum Munde, kostete, nickte, fuhr fort zu rühren und nahm krächzend seinen unmelodischen Gesang da wieder auf, wo er ihn unterbrochen hatte: Die müssen in den Wald wohl gehn, Die nicht die Städte gerne sehn. Oh, Herr, wir schweifen nicht umher Aus Lust an böser Tat; Doch treffen wir des Königs Wild, Fliegt ihm ein Pfeil ins Blatt. Während des Singens nahm er hin und wieder einen Löffel voll von der Suppe, pustete und kostete mit der Miene eines durchaus erfahrenen Kochs. Endlich schien er festgestellt zu haben, daß das Gericht fertig war; denn nun nahm er das Horn von seinem Gürtel und blies drei abgestimmte Signale. Der andere Bursche erwachte, drehte sich um, verscheuchte den Schmetterling und sah zu dem Koch hinüber. »Nun, Bruder«, sagte er, »Mittagessen?« »Ja, Schafskopf«, antwortete der Koch, »es ist ein Mittagessen, ein karges Mittagessen, zu dem es weder Bier noch Brot gibt. Aber es gibt wenig Pläsier jetzt im grünen Wald; die Zeiten sind vorbei, da ein tüchtiger Kerl hier wie ein Prälat leben konnte, wenn es nicht gerade regnete oder Rauhreif lag. Er hatte Bier und Wein, soviel sein Herz begehrte. Aber jetzt sind die Herzen der Menschen tot, und dieser John der Rächer – Gott schütze und bewahre uns! – ist nur noch eine Vogelscheuche, gut genug, um Krähen damit zu schrecken.« »Ach«, erwiderte der andere beschwichtigend, »Ihr seid zu sehr erpicht auf Essen und Trinken, Lawless. Wartet nur; die gute Zeit wird schon kommen.« »Seht Ihr«, sagte darauf der Koch, »eben auf diese gute Zeit habe ich gewartet, seit ich so hoch hinauswollte. Ich war Kapuzinermönch; ich diente als Bogenschütze des Königs, ich war Seemann und durchfuhr die Meere, und ich habe auch im grünen Wald gelebt, fürwahr! und schoß des Königs Wild. Was kommt dabei heraus? Nichts! Ich hätte lieber im Kloster bleiben sollen.
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Unter John dem Abt lebte es sich besser als unter John dem Rächer. – Bei Unserer Lieben Frau! Hier kommen sie.« Jetzt betraten hochgewachsene, ansehnliche Burschen, einer nach dem andern, die Lichtung. Jeder zog sogleich ein Messer und ein Trinkhorn hervor, bediente sich aus dem Kessel und setzte sich ins Gras, um zu essen. Sie waren verschieden gekleidet und bewaffnet. Einige trugen abgeschabte Kittel und nur ein Messer und einen alten Bogen; andere strahlten in voller weidmännischer Eleganz, ganz in Lincoln-Grün, Kappe wie Wams, mit zierlichen Pfauenpfeilen im Gürtel, einem Horn im Wehrgehenk und Schwert und Dolch an der Seite. Vor Hunger sprachen sie kaum, brummten höchstens eine Begrüßung und machten sich sogleich ans Essen. Es mochten etwa ihrer zwanzig beisammen sein, als sich dicht bei den Weißdornbüschen ein Geräusch von unterdrückten Zurufen erhob, und gleich darauf erschienen fünf oder sechs Weidmänner, die eine Bahre trugen. Ein stattlicher, munterer Gesell, leicht ergraut und so braun wie ein geräucherter Schinken, schritt mit gewichtigem Gebaren vor ihnen her, den Bogen auf dem Rücken und einen blanken Sauspieß in der Hand. »Kerls«, rief er, »gute Jungens und meine lustigen Freunde, ihr habt lange genug mit trockener Kehle gesungen und wenig behaglich gelebt. Aber was sage ich immer? Man muß standhaft auf das Glück warten; es dreht sich, dreht sich schnell. Seht her! Da ist sein Erstling – ein gutes Gebräu: Bier!« Ein Beifallsgemurmel erhob sich, als die Träger die Bahre zu Boden setzten und ein Faß von beträchtlicher Größe sichtbar wurde. »Und nun flink, ihr Jungen«, fuhr der Mann fort, »es ist etwas im Gange. Eine Handvoll Bogenschützen sind eben jetzt zur Fähre gekommen; Rotbraun und Blau sind ihre Farben, sie werden unsere Zielscheiben sein – sie alle sollen Pfeile zu kosten bekommen, kein einziger darf diesen Wald wieder verlassen. Denn, Burschen, wir sind fast sechzig, und jedem von uns ist übel mitgespielt worden; einige haben Land, die andern Freunde verloren; wieder andere sind geächtet – unterjocht sind wir alle! Wer ist für dies Übel verantwortlich? Sir Daniel, beim Kreuz! Soll das alles zu seinem Vorteil ausschlagen? Soll er bequem in unsern Häusern sitzen? Soll er auf unsern Feldern ackern? Soll er uns das Mark aus den Knochen saugen? Nein, das soll er nicht. Er mißbraucht das Recht; er gewinnt Prozesse; aber einen Fall soll er
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nicht gewinnen! Ich habe hier eine Klageschrift an meinem Gürtel, die ihn, gefällt’s den Heiligen, zu Fall bringen wird.« Lawless, der Koch, war inzwischen schon bei seinem zweiten Horn Bier. Er hob es, gleichsam um dem Sprecher zuzutrinken. »Herr Ellis«, sagte er, »Ihr seid für Rache – wohl bekomm’s Euch! –, aber Euer armer Bruder vom grünen Walde, der weder Land zu verlieren noch Freunde hatte, die er rächen müßte, sieht mehr, für seinen bescheidenen Teil, auf den Erfolg der Sache. Er hätte lieber ein Goldstück und eine Flasche guten Weins als alle Strafen im Fegefeuer.« »Lawless«, antwortete der andere, »um zum Schloß zu kommen, muß Sir Daniel durch den Wald. Dieser Weg soll ihm bei Gott teurer als eine Schlacht zu stehen kommen! Sollte er mit einer so lumpigen Handvoll, als uns entschlüpfen kann, in seinen Bau entkommen – alle seine großen Freunde gefallen oder geflohen, und keiner kann ihm noch Hilfe gewähren –, werden wir diesen alten Fuchs ringsum einschließen, und schwer wird sein Fall sein. Er ist ein fetter Bock; er wird ein gutes Mahl für uns alle abgeben.« »Ach«, entgegnete Lawless, »man soll nicht vom Essen reden, ehe es gar ist. Die Zubereitung ist eine heiße Arbeit, guter Herr Ellis. Und was werden wir mittlerweile tun? Wir machen schwarze Pfeile, wir schreiben Verse, und wir trinken klares, kaltes Wasser; dieses unbekömmliche Getränk.« »Ihr seid ungerecht, Will Lawless. Ihr duftet noch nach dem Butterfaß der Kapuziner; Eure Habgier ist ein Laster«, antwortete Ellis. »Wir erbeuteten zwanzig Pfund von Appleyard; wir bekamen letzte Nacht sieben Mark von dem Boten, und den Tag vorher hatten wir fünfzig von dem Kaufmann.« »Und heute«, sagte einer von den anderen, »hielt ich einen feisten Ablaßkrämer an, der eilig nach Holywood ritt. Hier ist seine Börse.« Ellis prüfte ihren Inhalt. »Hundert Schillinge!« brummte er. »Narr! Er hatte weit mehr in seinen Sandalen versteckt oder in seiner Kapuze eingenäht. Ihr seid noch ein Kind, Tom Cuckow; Ihr habt Euch den Fisch aus dem Netz schlüpfen lassen.« Aber immerhin steckte Ellis die Börse nachlässig ein. Er stand auf seinen Sauspieß gelehnt und blickte in die Runde. Die anderen schlürften, in verschiedenen Stellungen, gierig die Wildbretsuppe und gossen reichlich Bier hinterher. Das war ein guter Tag; sie hatten Glück. Jedoch die Pflicht rief, und sie beeilten sich mit dem
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Essen. Die ersten Ankömmlinge hatten ihre Mahlzeit beendet. Einige legten sich ins Gras und fielen sofort in Schlaf wie Königsschlangen; andere plauderten miteinander oder pflegten ihre Waffen; und einer, der besonders heiter veranlagt war, erhob sein Trinkhorn und begann zu singen: Gesetz gilt nicht im grünen Wald, An Nahrung fehlt’s uns nicht; ‘s ist froh und frisch, das Wild gibt Fleisch, Wenn sommers herrscht das Licht. Und kommt der Winter stürmisch-rauh, Den Hut zieht ins Gesicht Und macht euch auf zum Heimatherd, Wo’s nicht an Kost gebricht. Während der ganzen Zeit hatten die zwei Jungen gelauscht und mäuschenstill gelegen; nur Richard hatte seine Armbrust abgenommen und hielt in seiner Hand den Bogenspanner bereit. Diese Waldszene war vor ihren Augen wie eine Szene auf dem Theater vorübergezogen. Dann aber trat eine völlig unerwartete Unterbrechung ein. Der hohe Schornstein, der die Trümmer überragte, erhob sich über ihrem Versteck. Plötzlich pfiff es durch die Luft, und dann hörten sie ein Krachen und das Herabfallen der Stücke eines zerbrochenen Pfeils. Aus einem höher gelegenen Teil des Waldes hatte jemand einen Pfeil auf die Spitze dos Schornsteins abgeschossen, wahrscheinlich jener Wachtposten, den sie in der Tanne gesehen hatten. Matcham konnte einen schwachen Ausruf nicht unterdrücken, faßte sich aber gleich wieder. Selbst Dick schrak vor Überraschung zusammen und legte den Bogenspanner aus der Hand. Für die Männer auf der Lichtung bedeutete dieser Pfeilschuß nichts weiter als ein erwartetes Signal. Alle sprangen auf, zogen die Gürtel fest, prüften die Bogensehnen und lockerten Schwert und Dolch in den Scheiden. Ellis hob seine Hand, seine Miene hatte plötzlich den Ausdruck wilder Energie angenommen; das Weiße in seinen Augen leuchtete aus dem sonnengebräunten Gesicht. »Kameraden«, sagte er, »ihr kennt eure Plätze. Laßt euch keine einzige Seele entgehen. Appleyard war nur erst ein Vorgericht; aber jetzt geht es zu Tisch. Drei Männern muß ich bittere Sühne verschaffen – Harry Shelton, Simon Malmesbury und« – dabei
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schlug er sich vor seine breite Brust –, »und Ellis Duckworth, potz Wetter!« Hochrot vor Eile stürzte ein Mann durch das Gebüsch. »Es ist nicht Sir Daniel!« keuchte er. »Es sind nur sieben von seinen Leuten. Ist der Pfeil schon abgeschossen?« »Eben jetzt«, erwiderte Ellis. »Verflucht«, schrie der Bote. »Mir war, als hörte ich ihn sausen. Und ich habe noch nichts gegessen!« In einer Minute waren die Männer vom Schwarzen Pfeil aus der Nähe des zerstörten Hauses verschwunden und hatten ihre Posten bezogen. Nur der Kessel und das Feuer, das nun niederbrannte, und das ausgeweidete Wild auf dem Weißdorn zeugten noch davon, daß sie hier gelagert hatten.
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Fünftes Kapitel Blutig wie der Jäger
Die Jungen lagen still, bis der letzte Schritt verhallt war. Dann standen sie auf, reckten ihre schmerzenden Glieder, kletterten durch die Ruinen und überschritten auf dem Sparren wieder den Graben. Matcham hatte den Bogenspanner ergriffen und ging voran, während Dick mit der Armbrust in der Hand folgte. »Und jetzt«, sagte Matcham, »auf nach Holywood.« »Nach Holywood!« rief Dick aus, »wenn gute Burschen daran glauben sollen? Ich nicht! Eher will ich Euch gehängt sehn, Jack!« »Ihr wollt mich verlassen, wirklich?« fragte Matcham. »Ja, wirklich!« erwiderte Dick. »Wenn es mir nicht gelingt, diese Männer zu warnen, werde ich mit ihnen sterben. Wie! Könntet Ihr glauben, daß ich meine eigenen Leute verlasse, unter denen ich gelebt habe? Nein, das könnt Ihr nicht verlangen! Gebt mir meinen Bogenspanner.« Aber Matcham weigerte sich. »Dick«, sagte er, »Ihr schworet bei den Heiligen, daß Ihr mich heil nach Holywood bringen wolltet. Ihr werdet doch nicht falsch geschworen haben? Wollt Ihr mich verlassen – ein Meineidiger?« »Nein, ich schwor ehrlich«, erwiderte Dick. »Ich meinte es wirklich aufrichtig; aber jetzt, Jack, kehrt mit mir zurück. Laßt mich nur diese Leute warnen und, wenn es nötig sein sollte, an ihrer Seite kämpfen; dann wird alles klar sein, und ich gehe nochmals nach Holywood und erfülle meinen Eid.« »Ihr treibt nur Euren Spott mit mir«, stellte Matcham fest. »Diese Leute, denen Ihr zu Hilfe kommen wollt, sind dieselben, die mich ins Verderben jagen.« Dick kraulte sich den Kopf. »Ich kann nicht anders, Jack«, sagte er. »Es gibt keinen anderen Ausweg. Was wollt Ihr? Ihr lauft kaum Gefahr, Mann; aber diese rennen in ihren Tod!« fügte er hinzu. »Bedenkt das! Was – zum Teufel! – haltet Ihr mich hier noch auf? Gebt mir den Bogenspanner! Bei Sankt Georg! Sollen sie alle sterben?«
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»Richard Shelton«, sagte Matcham und sah ihm voll ins Gesicht, »wollt Ihr denn für Sir Daniel Partei ergreifen? Habt Ihr keine Ohren? Hörtet Ihr nicht, was dieser Ellis sagte? Oder habt Ihr kein Herz für das Geschlecht, dem Ihr entstammt, und den Vater, den diese Menschen töteten? ›Harry Shelton‹, sagte er; und Sir Harry Shelton war so sicher Euer Vater, wie die Sonne am Himmel scheint.« »Was wollt Ihr?« rief Dick wieder. »Wollt Ihr, daß ich Räubern Glauben schenke?« »Nein, ich habe es schon früher gehört«, entgegnete Matcham. »Das Gerücht, daß Sir Daniel ihn umbrachte, ist überall verbreitet. Er erschlug ihn, obwohl er durch Eid gebunden war. In seinem eigenen Hause vergoß er das unschuldige Blut. Der Himmel fordert Vergeltung dafür; und Ihr – der Sohn dieses Mannes –, Ihr tragt Euch damit, den Mörder zu stärken und zu verteidigen!« »Jack«, rief Dick aus, »ich weiß es nicht. Es mag stimmen, vielleicht. Aber seht: Dieser Mann hat mich aufgezogen und gepflegt, mit seinen Leuten habe ich gejagt, und ich habe mit ihnen gespielt; und jetzt, in der Stunde der Gefahr, sie im Stich zu lassen, oh, Mann, wenn ich das täte, wäre ich aller Ehre bar. Nein, Jack, das werdet Ihr nicht verlangen; Ihr werdet nicht wollen, daß ich so schlecht handle.« »Aber Euer Vater, Dick?« sagte Matcham ein wenig unschlüssig. »Euer Vater? Und Euer Schwur, den Ihr mir geleistet habt? Ihr nahmt die Heiligen zu Zeugen.« »Mein Vater?« rief Shelton aus. »Nein, er würde mich gehen lassen! Wenn Sir Daniel ihn tötete, dann soll diese Hand Sir Daniel erschlagen, wenn die Stunde dazu gekommen ist; aber weder ihn noch die Seinigen werde ich in der Stunde der Gefahr verlassen. Und von meinem Eide, lieber Jack, sollt Ihr mich hier entbinden. Um des Lebens vieler Menschen willen, die Euch nichts angetan haben, und um meiner Ehre willen müßt Ihr mich gehen lassen.« »Ich, Dick? Nimmer!« entgegnete Matcham. »Wenn Ihr mich verlaßt, seid Ihr meineidig, und so werde ich es kundmachen.« »Mir kocht das Blut!« sagte Dick. »Gebt mit den Bogenspanner! Her damit!« »Ich gebe ihn euch nicht«, widersprach Matcham. »Ich will Euch bewahren, gegen Euren eigenen Willen.« »Nicht?« schrie Dick. »Ich werde Euch schon helfen!« »Versucht es«, sagte jener.
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Sie standen sich Aug in Auge angriffsbereit gegenüber. Dann sprang Dick los, und obwohl sich Matcham sofort umwandte und die Flucht ergriff, wurde er in zwei Sätzen eingeholt, der Bogenspanner seiner Hand entrissen und ungestüm zu Boden geworfen. Dick stand über ihm und drohte ihm zornsprühend mit der geballten Faust. Matcham lag da, mit dem Gesicht im Gras, ohne an Widerstand zu denken. Dick spannte den Bogen. »Ich will Euch schon lehren!« schrie er voller Wut. »Eid oder nicht, meinetwegen mögt Ihr gehängt werden!« Er wandte sich um und rannte fort. Matcham war im Augenblick wieder auf den Beinen und lief ihm nach. »Was wollt Ihr noch?« rief Dick und hielt an, »Was tut Ihr noch hinter mir? Macht Euch fort von hier!« »Ich werde Euch folgen, wenn es mir paßt«, sagte Matcham. »Dieser Wald steht auch mir offen.« »Schert Euch weg, bei der Heiligen Jungfrau!« entgegnete Dick und erhob den Bogen. »Ah, Ihr seid ein wackerer Junge!« grollte Matcham. »Schießt!« Dirk ließ verwirrt seine Waffe sinken. »Seht her«, sagte er. »Ihr habt mir Übles genug getan. Geht nun. Geht im guten Eures Weges, oder ich muß Euch dazu zwingen.« »Gut«, sagte Matcham hartnäckig. »Ihr seid der Stärkere. Tut das Schlimmste. Ich werde nicht aufhören, Euch zu folgen, Dick, es sei denn, Ihr haltet mich mit Gewalt davon ab«, fügte er hinzu. Dick wußte weder aus noch ein. Es ging gegen seine Natur, ein Wesen zu schlagen, daß so wehrlos war; aber er sah durchaus keinen andern Weg, sich von diesem unwillkommenen und, wie er nun fast glaubte, ungetreuen Gefährten zu befreien. »Ihr seid wahnsinnig, glaube ich«, schrie er. »Narrenkerl, ich eile zu Euren Feinden; so schnell mich meine Füße tragen, gehe ich dorthin.« »Daran zweifle ich nicht, Dick«, erwiderte der Bursche. »Wenn Ihr durchaus sterben wollt, Dick, will ich auch sterben. Ich will lieber mit Euch in den Kerker gehen als ohne Euch frei sein.« »Gut«, sagte der andere, »ich mag nicht länger plappern. Folgt mir, wenn Ihr müßt; aber wenn Ihr ein falsches Spiel mit mir treibt, wird es Euch übel bekommen – merkt Euch das, dann kriegt Ihr einen Bolzen in Euer Gedärm.« Mit diesen Worten beschleunigte Dick seine Schritte und steuerte auf den Rand des Dickichts zu. Er blickte scharf um sich. Nach
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einer Weile verließ er die Schlucht und betrat wieder lichtere Teile des Waldes. Zur Linken lag eine kleine Anhöhe, mit goldgelbem Stechginster betüpfelt und von dunklen Tannen gekrönt. Ich werde mich dort umblicken, dachte er und schritt über eine mit Heidekraut bewachsene Lichtung. Er war nur ein paar Schritte weit gegangen, als Matcham seinen Arm ergriff und ihm etwas zeigte. Ostwärts von der Anhöhe lag eine Senke, fast ein Tal, das sich zur anderen Seite hinüberzog. Die Heide war noch nicht zu Ende; der Boden schimmerte rostfarben wie ein ungeputzter Schild und war spärlich mit Eiben bewachsen. Dort sah Dick zehn Männer in grünen Wämsern, einen nach dem andern, den Hügel hinaufziehen. An der Spitze marschierte – durch seinen Sauspieß kenntlich – Ellis Duckworth selbst. Einer nach dem andern erreichte den Gipfel, wo er sich für einen Augenblick deutlich vom Himmel abhob, und verschwand dann auf der anderen Seite. Dick sah mit etwas milderem Blick auf Matcham. »So sehr haltet Ihr mir die Treue, Jack?« fragte er. »Ich dachte, Ihr rechnet Euch zu der anderen Partei.« Matcham brach in Schluchzen aus. »Was habt Ihr!« rief Dick aus. »Jetzt mögen uns die Heiligen beschützen! Wollt Ihr wegen eines Wortes heulen?« »Ihr tut mir weh«, schluchzte Matcham. »Ihr tatet mir weh, als Ihr mich niederwarfet. Ihr seid ein Feigling, Eure Stärke so zu mißbrauchen.« »Das ist nur Narrengewäsch«, sagte Dick rauh. »Ihr hattet kein Recht, mir meinen Bogenspanner zu verweigern, Junker John, ich hätte Euch gründlich durchprügeln sollen. Wenn Ihr mit mir geht, müßt Ihr mir gehorchen; kommt also.« Matcham überlegte schon, ob er zurückbleiben solle. Als er aber sah, daß Dick mit aller Kraft weiter zum Gipfel lief und keinen Blick zurückwarf, besann er sich eines Besseren und lief hinter Dick her. Aber der Boden war sehr schwierig und abschüssig. Dick hatte die schnelleren Beine und gewann so einen großen Vorsprung. Er war schon lange auf dem Gipfel angelangt, durch die Tannen gekrochen, und hatte sich in einem dichten Ginsterbusch verborgen, ehe Matcham, keuchend wie ein Reh, ihn erreichte und sich schweigend neben ihm hinwarf. Unten, auf der Sohle eines ziemlich weiten Tales, führte der Seitenpfad vom Weiler Tunstall abwärts zur Fähre. Der Weg war
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gut ausgetreten, und das Auge konnte ihn leicht verfolgen. Bald war er durch offene Lichtungen eingefaßt, bald trat der Wald dicht an ihn heran. Alle hundert Schritt führte er an einem Hinterhalt vorbei. Weit unten auf dem Pfad glänzten im Sonnenschein sieben Stahlhauben, und von Zeit zu Zeit, wenn sich der Wald lichtete, waren Selden und seine Leute zu sehen. Sie ritten in scharfem Trab, um Sir Daniels Befehl auszuführen. Der Wind blies schwächer, trieb aber noch sein Spiel mit den Bäumen, und Appleyard hätte aus dem unruhigen Verhalten der Vögel eine Warnung zu ziehen vermocht. »Jetzt paßt auf«, flüsterte Dick. »Sie mögen schon im Walde sein; ihre Rettung liegt im raschen Vorwärtskommen. Aber seht Ihr diese weite Lichtung vor uns und diese vierzig Bäume in ihrer Mitte, die gewissermaßen eine Insel bilden? Dort wären sie gerettet. Wenn sie nur so weit kommen, will ich eine List anwenden, sie zu warnen. Aber ich ahne nichts Gutes; sie sind nur sieben gegen so viele, und sie haben nur Armbrüste. Der Langbogen, Jack, wird immer die Oberhand behalten.« Inzwischen ritten Selden und seine Leute, von der Gefahr nichts ahnend, weiter auf dem Pfade und kamen schnell näher. Einmal hielten sie an, bildeten eine Gruppe und schienen zu lauschen. Dumpfer Kanonendonner, der, vom Wind über die Ebene getragen, von der großen Schlacht kündete, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Diese Tatsache war sicherlich des Nachdenkens wert; denn wenn die Stimme der großen Geschütze so deutlich im Walde von Tunstall zu hören war, mußte sich das Gefecht nach Osten verlagert haben und für Sir Daniel und die Herren von der Roten Rose übel ausgegangen sein. Aber bald setzte sich der kleine Trupp wieder in Bewegung und erreichte einen völlig ungedeckten Teil des Weges, der an der Weide entlangführte und nur von einem Ausläufer des Waldes berührt wurde. Kaum hatten sie die ersten Bäume erreicht, als ein Pfeil im Flug aufglänzte. Ein Mann warf seine Arme hoch, sein Pferd bäumte sich auf, und beide stürzten und wälzten sich in einem Knäuel am Boden. Sogar die Jungen konnten von ihrem Versteck aus die Schreie der Männer hören; sie konnten sehen, wie die erschrockenen Pferde sich aufbäumten. Kaum hatte sich der Trupp von seiner ersten Überraschung zu erholen begonnen, schickte sich ein Bursche an, abzusteigen. Ein zweiter Pfeil glänzte in einem weiten Bogen, und ein zweiter Reiter mußte ins Gras
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beißen. Der Mann, der gerade absteigen wollte, verlor die Gewalt über den Zügel; sein Pferd ging im Galopp durch und schleifte ihn am Fuß den Weg entlang, wobei er von Stein zu Stein gestoßen und von den Hufen des flüchtigen Tieres geschlagen wurde. Die vier die sich noch im Sattel hielten, waren im Augenblick zersprengt und zerstreuten sich; einer drehte sich schreiend im Kreise herum und ritt auf die Fähre zu, die drei anderen galoppierten mit losem Zügel und fliegenden Mänteln den Weg von Tunstall herauf. Aus jedem Gebüsch, an dem sie vorbeistürmten, schnellten Pfeile hervor. Wieder stürzte ein Pferd. Aber der Reiter erhob sich und suchte seinen Kameraden zu folgen; jedoch ein zweiter Schuß streckte ihn nieder. Ein anderer Mann fiel, dann ein weiteres Pferd. Vom ganzen Trupp war noch ein einziger Mann übrig, und der war ohne Pferd. Aus verschiedenen Richtungen hallte gedämpfter Hufschlag von drei galoppierenden, reiterlosen Pferden. Die ganze Zeit über hatte sich nicht einer von den Angreifern auch nur für einen Augenblick gezeigt. Hier und da am Wege wälzten sich Pferd oder Mann in ihrem Schmerz; aber kein mitfühlender Feind brach aus dem Versteck hervor, um sie von ihrer Pein zu erlösen. Der einzige Überlebende stand verwirrt am Wege neben seinem gefallenen Schlachtroß. Er schritt über die breite Lichtung mit der Waldschneise, auf die Dick gezeigt hatte. Er befand sich keine fünfhundert Schritt mehr von der Stelle, wo die Jungen versteckt lagen, und sie konnten deutlich sehen, wie er in der Erwartung des Todes hin und her blickte. Aber nichts geschah, und der Mann begann wieder Mut zu schöpfen, und plötzlich schnallte er seine Armbrust ab und spannte sie. Sogleich erkannte Dick an seinen Bewegungen, daß es Selden war. Bei diesem Anzeichen des Widerstandes erhob sich aus allen Waldverstecken schallendes Gelächter. Wenigstens zwanzig Mann, denn hier war der Hinterhalt am stärksten, stimmten in diese grausame und unangebrachte Heiterkeit ein. Da glänzte ein Pfeil über Seldens Schulter; er sprang beiseite und lief ein Stück zurück. Ein anderer Pfeil stak zitternd neben seiner Ferse. Selden suchte Deckung. Ein dritter Pfeil flog geradewegs auf sein Gesicht zu und fiel kurz vor ihm nieder. Und dann erhob sich wiederum lautes Gelächter, wurde stärker und hallte aus verschiedenen Verstecken wider.
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Es war offenbar, daß die Angreifer ihn nur hetzten, wie die Menschen zu jener Zeit den armen Stier hetzten oder wie die Katze mit der Maus spielt. Das Scharmützel war wohl beendet. Denn weiter abwärts, an der Schneise, suchte ein Bursche in grüner Kleidung in aller Ruhe die Pfeile zusammen. Jetzt genossen sie mit rohem Vergnügen die Qual des armen Verfolgten. Selden begann zu begreifen; er brüllte auf, legte seine Armbrust an und schickte auf gut Glück einen Pfeil in den Wald hinein. Er hatte Erfolg, denn ein dünner Schrei bestätigte es. Dann warf er seinen Bogen weg, lief auf die Lichtung und eilte geradewegs auf Dick und Matcham zu. Die Kameraden vom Schwarzen Pfeil begannen jetzt auf Selden zu zielen. Aber ihre Schüsse waren nicht mehr von Erfolg, denn die meisten von ihnen wurden jetzt von der Sonne geblendet, und der Verfolgte sprang im Laufe von einer Seite zur andern, um sie zu äffen und ihnen das Zielen zu erschweren. Vor allem aber hatte er sie dadurch verwirrt, daß er auf die Lichtung lief, denn dort war nur der eine Schütze aufgestellt worden, den er soeben getötet oder verwundet hatte. Die Verwirrung der Wäldler wurde bald offenbar. Ein Pfeifen ertönte dreimal und dann noch zweimal; es wurde aus einer andern Richtung beantwortet. Die Wälder auf beiden Seiten hallten wider von dem Lärm von Leuten, die durch das Unterholz brachen. Ein aufgescheuchtes Reh lief ins Freie, blieb für die Dauer einer Sekunde auf drei Beinen sichernd stehen und verschwand wieder im Dickicht. Selden war noch immer auf den Beinen. Pfeil auf Pfeil folgte ihm, ohne ihn zu treffen. Es schien fast als werde er entkommen. Dick legte seinen Bogen bereit, entschlossen, ihm zu helfen. Sogar Matcham vergaß seine gute Sache und fühlte Mitleid mit dem armen Verfolgten. Beide Jünglinge glühten und zitterten vor Erregung. Schon war er auf fünfzig Ellen an ihr Versteck herangekommen, als ihn ein Pfeil traf und niederwarf. Er sprang zwar sofort wieder auf, konnte jedoch nur noch wankend weiterlaufen und verlor die Richtung, als ob er blind wäre. Dick sprang auf und winkte ihm zu. »Hier?« schrie er. »Nehmt diesen Weg! Hier ist Hilfe! Lauft, Mann, lauft!« Aber jetzt wurde Selden von einem zweiten Pfeil in die Schulter zwischen den Platten seines Panzerhemdes getroffen. Der Pfeil
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drang durch sein Lederkoller und warf ihn zu Boden. »Oh, der arme Mensch!« schrie Matcham auf und faltete die Hände. Dick stand wie versteinert auf dem Hügel, ein Ziel für die Bogenschützen. Fast wäre er erschossen worden; denn die Wäldler waren wütend und durch Dicks Erscheinen hinter ihrer Stellung unangenehm überrascht. Jedoch augenblicklich erhob sich nahe dem Versteck der Jünglinge eine starke Stimme, die Stimme von Ellis Duckworth. »Halt!« brüllte er. »Schießt nicht! Nehmt ihn gefangen! Es ist der junge Shelton – Harrys Sohn.« Unmittelbar darauf ertönte mehrmals ein schriller Pfiff, der aufgenommen und in einiger Entfernung wiederholt wurde. Das schien John des Rächers Schlachttrompete zu sein, durch die er seine Befehle übermittelte. »Ach, verflucht!« rief Dick. »Wir sind verloren. Flink, Jack, kommt schnell!« Und die zwei wandten sich um und liefen durch das offene Kieferngehölz zurück, das den Gipfel des Hügels bedeckte.
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Sechstes Kapitel Spät am Abend
Es war tatsächlich die höchste Zeit für sie, davonzulaufen. Von allen Seiten stürzten die Männer vom Schwarzen Pfeil auf den Hügel zu. Einige, die bessere Läufer waren oder freies Feld vor sich hatten, waren den anderen weit voraus und schon dicht am Ziel; die andern, die zu Tal liefen, schwärmten nach rechts und links aus und umgingen die Jungen von beiden Seiten. Dick stürzte in ein hohes Eichengehölz mit festem Grund, das frei von Unterholz war. Da es sich hügelabwärts hinzog, kamen sie gut voran. Dann folgte zunächst ein Stück offenes Land, das Dick vermied, indem er sich links hielt. Als sich zwei Minuten später das gleiche Hindernis vor ihnen erhob, umgingen es die Jungen in derselben Weise. Während sie so, dauernd ihren Lauf nach links richtend, näher und näher an die Heerstraße und den Fluß herankamen, den sie vor etwa zwei Stunden überquert hatten, hielt sich der größere Teil ihrer Verfolger gerade entgegengesetzt und lief auf Tunstall zu. Die Burschen hielten an, um Atem zu schöpfen. Der Lärm der Verfolgung war abgeklungen. Dick legte sein Ohr an den Boden; aber es war nichts zu hören. Nur der Wind rauschte noch in den Bäumen und erschwerte es ihm, sich Gewißheit zu verschaffen. »Also weiter!« sagte Dick. Sie rissen sich zusammen und eilten von neuem den Hügel hinunter, obgleich sie müde waren und Matcham wegen seines verletzten Fußes hinkte. Drei Minuten später mußten sie durch ein niedriges Dickicht von Immergrün hindurchdringen. Hoch oben bildeten die mächtigen Bäume ein geschlossenes Dach von Laubwerk. So schien das Gehölz wie von Pfeilen getragen, so hoch wie ein Dom, und es war gut zugänglich und mit Rasen bedeckt, wenn man von den Ginsterbüschen absah, zwischen denen die Jungen sich abquälten. Als sie auf der gegenüberliegenden Seite durch die letzten Ausläufer von Immergrün vordrangen und in das Zwielicht des Wäldchens hinaustraten, wurden sie gesehen. »Halt!« gebot eine Stimme.
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Und da gewahrten sie, keine fünfzig Fuß vor sich, zwischen den riesigen Stämmen einen starken Mann in Grün, der vom Laufen noch ganz außer Atem war. Er legte sofort einen Pfeil auf und zielte auf sie. Matcham schrie auf und blieb stehen, aber Dick sprang ohne Überlegung auf den Wäldler los und riß noch im Laufen seinen Dolch aus der Scheide. Der andere – sei es nun, daß er durch die Kühnheit des Angriffs überrascht war oder daß sein Befehl ihn davon abhielt – schoß nicht, sondern stand unschlüssig; und ehe er Zeit hatte heranzukommen, war ihm Dick schon an die Kehle gesprungen und hatte ihn rückwärts auf den Rasen geworfen. Mit einem schwirrenden Klang sprang sein Pfeil hierhin, sein Bogen dorthin. Der entwaffnete Wäldler wollte seinen Angreifer packen, aber schon blitzte der Dolch auf, und Dick stieß zweimal zu. Mehrere tiefe Seufzer waren zu hören, und Dick sprang wieder auf. Der Mann blieb regungslos mit durchbohrtem Herz liegen. »Weiter!« sagte Dick und rannte vorwärts, während Matcham sich hinter ihm herschleppte. Sie kamen jetzt nur langsam voran, mußten sich beim Laufen gräßlich quälen und schnappten wie Fische nach Luft. Matcham hatte heftiges Seitenstechen, und ihm schwindelte; Dicks Knie wurden so schwer wie Blei. Aber mit unvermindertem Mut hielten sie im Laufen durch und erreichten bald das Ende des Gehölzes. Nur wenige Schritte vor ihnen erstreckte sich die Heerstraße von Risingham nach Shoreby, die an dieser Stelle zwischen zwei Waldstücken lag. Bei diesem Anblick hielt Dick inne; aber sobald er stillstand, vernahm er ein verworrenes Geräusch, das sich schnell verstärkte. Es war zuerst wie das Brausen eines mächtigen Windstoßes, wurde aber bald bestimmter, und dann erkannten sie das Galoppieren von Pferden. Plötzlich brauste eine ganze Schar schwerer Reiter um die Biegung, fegte an den Jungen vorbei und war im Nu wieder verschwunden. Sie ritten, als gelte es ihr Leben, in voller Auflösung. Einige von ihnen waren verwundet. Reiterlose Pferde galoppierten mit blutbefleckten Sätteln dazwischen. Es waren offenbar Flüchtlinge aus der großen Schlacht. Der Lärm ihres Durchzuges war kaum schwächer geworden, als neuer Hufschlag ihren Spuren folgte, und ein weiterer Flüchtling sprengte die Straße entlang, diesmal ein einzelner Reiter. Er war, seiner glänzenden Rüstung nach, ein Mann von hohem Rang. Dicht hinter ihm folgten einige Bagagewagen, die in einem
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ungeschickten Galopp dahinrasselten. Die Fahrer hieben auf die Gäule ein, als ginge es um ihr Leben. Diese mußten schon seit dem frühen Morgen unterwegs sein, aber ihre Verzagtheit half nichts. Denn als sie atemlos dort vorbeikamen, wo die Burschen verwundert standen, überfiel ein Mann in einer zerhackten Rüstung, außer sich vor Wut, die Wagen und hieb auf die Fuhrleute ein. Einige sprangen von den Sitzen und stürzten sich in den Wald, die andern blieben auf ihren Plätzen und wurden dort von dem Wütenden, der sie mit einer kaum mehr menschlichen Stimme als Feiglinge beschimpfte, niedergemacht. Während der ganzen Zeit verstärkte sich der Lärm in der Ferne. Rumpeln der Karren, Pferdegetrappel, Schreie von Menschen trug der Wind auf seinen Flügeln herüber. Die Flucht einer ganzen Armee ergoß sich wie eine Sturzflut über die Straße. Dick stand mit finsterer Miene da. Ursprünglich wollte er der Straße bis zu ihrer Biegung nach Holywood folgen. Jetzt mußte er seinen Plan ändern. Aber vor allem hatte er an den Fliehenden die Farben des Grafen Risingham erkannt und daraus ersehen, daß die Schlacht für die Anhänger der Rose von Lancaster verloren war. Hatte Sir Daniel noch an der Schlacht teilgenommen und war er jetzt ein zugrunde gerichteter Flüchtling? Oder war er zur Yorkschen Partei übergegangen und hatte damit seine Ehre verwirkt? Es war eine häßliche Aussicht. »Kommt«, sagte er rauh, drehte sich auf der Stelle um und schritt vorwärts durch den Wald, während Matcham hinterdreinhumpelte. Eine Zeitlang wanden sie sich schweigend durch den Wald. Es wurde Abend, die Sonne ging hinter der Ebene bei Kettley unter. Die hohen Baumwipfel glühten golden; aber die Schatten wurden schon länger, und der Nachtfrost stieg allmählich aus dem Boden. »Wenn es nur irgend etwas zu essen gäbe!« rief Dick und hielt an. Matcham setzte sich nieder und begann zu weinen. »Ihr könnt einer Mahlzeit wegen weinen, aber als es galt, Menschenleben zu retten, war Euer Herz hart«, sagte Dick verächtlich. »Ihr habt sieben Tote auf Eurem Gewissen, Junker John; ich kann Euch das nie vergeben.« »Gewissen!« rief Matcham aus, wobei er wild aufblickte. »Und Ihr habt das frische Blut jenes Mannes an Eurem Dolch! Weshalb habt Ihr ihn getötet, den armen Kerl? Er zog seinen Pfeil, aber er sandte ihn nicht ab. Er hatte Euch in seiner Hand, aber er
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verschonte Euch! Einen Menschen umzubringen, der sich nicht verteidigt, ist ebenso tapfer, wie ein Kätzchen zu töten.« Dick war für einen Augenblick sprachlos. »Ich tötete ihn gerechterweise. Ich stürzte mich auf seinen Bogen zu«, rief er dann. »Es war eine Tat der Feigheit«, erwiderte Matcham. »Ihr seid nur ein Lümmel und Raufbold, Junker Dick; Ihr mißbraucht günstige Gelegenheiten. Laßt einmal einen Stärkeren kommen, und wir werden sehen, wie bald Ihr zu seinen Füßen liegt. Ihr kümmert Euch auch nicht einmal um Vergeltung für den Tod Eures Vaters, der ungerächt bleibt. Sein armer Geist schreit nach Gerechtigkeit. Fällt Euch aber eine arme Kreatur in die Hände, der es an Geschicklichkeit und Härte fehlt und die Euch Freundschaft bezeigen will, dann soll sie zugrunde gehen.« Dick war zu wütend, als daß er das »sie« bemerkt hätte. »Meiner Treu«, schrie er, »Ihr sagt nichts Neues! Von zweien wird immer einer der Stärkere sein. Der bessere Mann erschlägt den schlechteren, und dem schlechteren geschieht ganz recht. Ihr habt Prügel verdient, Junker Matcham, durch Euer übles Verhalten und Euren Undank gegen mich; und was Ihr verdient, sollt Ihr haben.« Und Dick, der sogar noch in seiner größten Verstimmung den Anschein der Fassung wahrte, schnallte seinen Gürtel ab. »Ihr sollt Euer Abendbrot haben«, sagte er wütend. Matcham hatte die Tränen zurückgehalten. Er war so weiß wie Linnen, aber er sah Dick fest ins Gesicht und rührte sich nicht. Dick tat einen Schritt und schwang den Gürtel. Aber dann zögerte er, verwirrt durch die großen Augen und das zarte, abgespannte Gesicht seines Gefährten. Sein Zorn ließ nach. »Gebt zu, daß Ihr im Unrecht seid«, sagte er in weicherem Ton. »Nein«, erwiderte Matcham, »ich war im Recht. Kommt, Grausamer! Ich bin müde; ich bin schwach; ich wehre mich nicht; ich tat Euch niemals weh; kommt doch und schlagt mich, Feigling!« Auf diese letzte Aufforderung hin hob Dick den Gürtel, aber Matcham erschrak so und zuckte in solch schrecklicher Furcht zusammen, daß Dick es nicht über sein Herz brachte. Der Gürtel verfehlte Matcham, und Dick stand unentschlossen und fühlte sich wie genarrt.
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»Zum Henker mit Euch, Zankteufel!« sagte er. »Wenn Ihr einen so schwachen Arm habt, solltet Ihr um so mehr Eure Zunge hüten! Aber ich will eher gehängt werden, als daß ich Euch schlage!« Und damit legte er seinen Gürtel wieder an. »Schlagen will ich Euch nicht«, fuhr er dann fort, »aber Euch vergeben? Niemals. Ich kenne Euch nicht; Ihr wart der Feind meines Ritters, Ihr habt mich einen Mann von Holz, einen Feigling und einen Raufbold genannt. Zum Teufel, das Maß ist voll und läuft bereits über. Es ist eine gute Sache, schwach zu sein; Ihr könnt das Schlimmste tun, und dennoch werde ich Euch nicht bestrafen. Ihr könnt einem Mann in der Stunde der Gefahr seine Waffen stehlen, und er kann sie sich nicht einmal wiedernehmen. Wenn Euch jemand mit einer Lanze angreift und dabei schreit, daß er schwach ist, müßt Ihr ihn Euren Körper durchbohren lassen! Pfui! Närrische Worte!« »Und doch schlagt Ihr mich nicht!« erwiderte Matcham. »Laßt sein«, sagte Dick, »laßt sein. Ich werde Euch lehren. Ihr seid schlecht erzogen, dünkt mich, und doch habt Ihr das Zeug zu etwas Gutem, und Ihr habt mich – außer aller Frage – vor dem Ertrinken gerettet. Ach, ich hatte es vergessen; ich bin ebenso undankbar wie Ihr. Aber nun kommt, und laßt uns weitergehen. Wollen wir noch diese Nacht oder morgen früh in Holywood sein, müssen wir tüchtig ausschreiten.« Aber obwohl sich Dick in seine gewöhnliche gute Stimmung zurückplauderte, hatte ihm Matcham nichts vergeben. Seine Heftigkeit, die Erinnerung an den Wäldler, den er getötet hatte, der Anblick des erhobenen Gürtels, das waren Dinge, die er nicht leicht vergessen konnte. »Ich danke Euch, um die Form zu wahren«, sagte Matcham. »Aber in Wahrheit, lieber Junker Shelton, wäre ich meinen Weg lieber allein gegangen. Hier ist ein ausgedehnter Wald; ich bitte Euch, laßt jeden seinen Weg wählen; ich schulde Euch ein Essen und eine Lehre. Lebt wohl!« »So«, rief Dick, »wenn das Eure Art ist, so mag es sein; und die Pest über Euch!« Sie trennten sich und begannen ohne Überlegung in verschiedene Richtungen zu laufen, so sehr waren sie mit ihrem Zwist beschäftigt. Aber Dick war kaum zehn Schritt weit gegangen, als sein Name gerufen wurde und Matcham hinter ihm herlief. »Dick«, sagte er »es war sehr ungezogen von mir, mich so kalt von Euch zu trennen. Hier ist meine Hand und mit ihr mein Herz.
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Für all das, wobei Ihr mir so ausgezeichnet genützt und geholfen habt, danke ich Euch, diesmal nicht nur, um die Form zu wahren, sondern von Herzen. Lebt wohl!« »Gut, mein Junge«, entgegnete Dick und ergriff die Hand, »viel Glück, wenn Ihr es so wollt. Aber ich bezweifle es sehr, Ihr seid zu zänkisch.« Sie trennten sich nun zum zweitenmal; und gleich darauf war es Dick, der hinter Matcham herlief. »Hier«, sagte er, »nehmt meine Armbrust; Ihr sollt nicht unbewaffnet gehen.« »Eine Armbrust?« sagte Matcham. »Nein, Junge, ich habe weder die Kraft, sie zu spannen, noch weiß ich, wie ich mit ihr zielen soll. Sie wäre keine Hilfe für mich, guter Junge. Aber doch danke ich Euch.« Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, so daß sie unter den Bäumen das Gesicht des andern nicht mehr erkennen konnten. »Ich werde ein Stück Wegs mit Euch gehen«, sagte Dick. »Die Nacht ist dunkel. Ich möchte Euch wenigstens gern auf einen Pfad bringen, ehe ich Euch verlasse. Ich ahne nichts Gutes; Ihr könntet Euch verirren.« Ohne weitere Worte zu verlieren, schritt er voran, und der andere folgte ihm wieder. Die Finsternis wurde dichter und dichter, und nur hie und da sahen sie durch die Bäume den mit kleinen Sternen besäten Himmel. In der Ferne war noch immer der Lärm der flüchtenden Lancasterschen Armee zu hören; aber mit jedem Schritt ließen sie ihn weiter hinter sich. Nachdem sie eine halbe Stunde schweigend gegangen waren, erreichten sie freies, mit Heidekraut bewachsenes Feld. Es schimmerte im Licht der Sterne in seiner Wildnis von Farnen und in seiner durch Eibengebüsch umhegten Einsamkeit. Hier hielten sie an und blickten einander ins Gesicht. »Seid Ihr müde?« fragte Dick. »Ach, ja, ich bin so müde«, antwortete Matcham, »daß mir ist, als könnte ich mich niederlegen und sterben.« »Ich höre einen Fluß rauschen«, erwiderte Dick. »Laßt uns bis an sein Ufer gehen, denn ich sterbe vor Durst.« Der Boden senkte sich sanft. Im Tale fanden sie wirklich einen kleinen Fluß, der dort murmelnd zwischen Weiden dahineilte. Hier warfen sich beide am Ufer nieder, wo der Fluß eine kleine Bucht bildete, und tranken. »Dick«, sagte Matcham, »es geht nicht mehr. Ich kann nicht weiter.« »Ich sah eine Grube, als wir
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hinuntergingen«, sagte Dick. »Wir wollen uns dort niederlegen und schlafen.« »Ach, von ganzem Herzen!« rief Matcham. Die Grube war sandig und trocken. Dichtes Brombeergesträuch wuchs auf einer Seite und schirmte die Grube teilweise ab. Dort legten sich beide Jünglinge nieder und schmiegten sich, um warm zu bleiben, dicht aneinander, allen Streit vergessend. Und bald senkte sich der Schlaf auf sie herab, und friedlich ruhten sie unter dem Tau und den Sternen.
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Siebentes Kapitel Das verkappte Gesicht
Im Morgengrauen erwachten sie. Die Vögel sangen noch nicht aus voller Kehle; sie zwitscherten nur hier und da in den Bäumen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der östliche Himmel war mit prächtigen Farben gestreift. Halb erschöpft und übermüde lagen sie regungslos in eine köstliche Mattigkeit versunken. Plötzlich drang der Klang einer Glocke an ihr Ohr. »Eine Glocke!« sagte Dick und erhob sich. »Sollten wir denn so nahe an Holywood sein?« Gleich darauf erklang die Glocke von neuem, diesmal schon näher. Und ihr Läuten, oftmals unterbrochen, kam näher und näher und drang durch die Stille des Morgens. »Ei, was mag das bedeuten?« fragte Dick, der jetzt hellwach war. »Es kommt irgend jemand«, entgegnete Matcham, »und die Glocke schlägt jedesmal an, sowie er ausschreitet.« »So scheint es mir auch«, sagte Dick. »Aber wozu? Was macht er in den Wäldern von Tunstall? Jack«, fügte er hinzu, »lache über mich, wenn du willst, aber ich liebe diesen hohlen Klang nicht.« »Ja«, sagte Matcham mit einem Schaudern, »sie hat einen kläglichen Ton. Wenn der Tag nicht gekommen wäre...« Aber jetzt begann die Glocke, als ob die Schritte beschleunigt würden, dicht und schnell zu läuten, dann hörten sie einen einzelnen scharfen Klang wie von einem Hammer, worauf einige Zeit Stille eintrat. »Es ist, als ob der Träger für die Länge eines Vaterunsers gelaufen und dann über den Fluß gesetzt wäre«, bemerkte Dick. »Und jetzt beginnt er wieder gemächlich auszuschreiten«, fügte Matcham hinzu. »Nein«, entgegnete Dick, »nein, nicht so gemächlich, Jack. Das ist ein Mann, der recht eilig geht. Es ist ein Mann, der um sein Leben bangt oder irgendein dringendes Geschäft zu besorgen hat. Merkt Ihr nicht, wir schnell sich das Läuten nähert?« »Es ist jetzt dicht bei uns«, sagte Matcham.
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Sie kletterten zum Rande der Grube, und da diese ziemlich ausgedehnt war, hatten sie einen weiten Blick über einen größeren Teil der Lichtung bis zu den dichten Wäldern, die sie einschlössen. Im grauen Tageslicht sahen sie einen hellen Fußpfad, der durch den Stechginster führte. Er lief einige hundert Ellen von der Grube entfernt vorüber und führte von Osten nach Westen durch die Lichtung. Aus der Richtung seines Laufes schloß Dick, daß er mehr oder weniger gerade zum Schloß Tunstall führen müsse. Auf diesem Pfad näherte sich vom Waldesrande her eine weiße Gestalt. Sie blieb für eine Weile stehen und schien umherzusehen. Dann schritt sie gemächlich und tief gebeugt über die Heide heran. Bei jedem Schritt erklangt die Glocke. Das Gesicht war nicht zu sehen. Eine weiße Kappe, die nicht einmal Sehöffnungen aufwies, verhüllte den Kopf. Wie sich das Wesen vorwärts bewegte, machte es den Eindruck, als erkenne es den Weg durch Berühren mit einem Stock. Eine tödliche Angst befiel die beiden Jungen. »Ein Aussätziger!« sagte Dick heiser. »Seine Berührung bedeutet den Tod«, sagte Matcham. »Laßt uns laufen.« »Nicht so«, gab Dick zur Antwort. »Seht Ihr nicht? Er ist stockblind. Er bewegt sich an einem Stab voran. Laßt uns stilliegen. Er geht gegen den Wind, und er wird vorübergehen, ohne uns zu schaden. Ach, arme Seele, wir sollten ihn lieber bemitleiden!« »Ich werde ihn bemitleiden, wenn er vorüber ist«, sagte Matcham. Der blinde Aussätzige war jetzt auf halbem Wege zu ihnen, und gerade jetzt kam die Sonne heraus und schien voll auf sein verhülltes Gesicht. Er schien ein hochgewachsener Mann gewesen zu sein, ehe ihn die widerwärtige Krankheit gebeugt hatte, und sogar jetzt noch schritt er rüstig aus. Das gräßliche Gebimmel seiner Glocke, das Aufstoßen des Stockes, die augenlose Maske vor seinem Gesicht und die Gewißheit, daß er nicht allein zum Leiden und zum Tode verdammt, sondern auch für immer aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen war, erfüllte die Herzen der beiden jungen Menschen mit Bestürzung. Bei jedem Schritt, der ihn näher brachte, war ihnen, als würden sie von Mut und Stärke verlassen. Als er an den Rand der Grube kam, hielt er an und richtete sein Gesicht auf die beiden. »Maria, beschütze mich! Er sieht uns!« sagte Matcham kraftlos.
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»Pst«, flüsterte Dick. »Er ist zwar blind, Dummkopf, aber er kann hören!« Der Aussätzige blickte auf oder lauschte für einige Sekunden. Dann bewegte er sich weiter fort. Aber er drehte sich wieder um und schien auf die Jungen zu starren. Selbst Dick wurde totenbleich und schloß die Augen, als fürchte er, schon durch den bloßen Anblick angesteckt zu werden. Aber bald läutete die Glocke, und diesmal durchquerte der Aussätzige ohne das geringste Zögern das letzte Stück der kleinen Heide und tauchte im Dunkel des Waldes unter. »Er hat uns gesehen«, sagte Matcham. »Ich könnte darauf schwören!« »Unsinn«, entgegnete Dick, der wieder Mut gefaßt hatte. »Er hörte uns nur. Er fürchtete sich, die arme Seele! Wenn Ihr blind wäret und in ewiger Nacht wandelt, würdet Ihr zusammenfahren, wenn nur ein Zweig rascheln oder ein Vogel piepen würde.« »Dick, lieber Dick, er hat uns gesehen«, versetzte Matcham. »Wenn ein Mensch lauscht, verhält er sich anders, Dick. Dies war ein Ausschauen, aber kein Lauschen. Er meint es böse. Hört doch, ob seine Glocke nicht schweigt.« Dem war so. Die Glocke läutete nicht mehr. »Ach«, rief Dick, »das gefällt mir nicht. Ach«, rief er nochmals, »das gefällt mir ganz und gar nicht. Was soll das bedeuten? Laßt uns gehen, zum Teufel!« »Er ist nach Osten gegangen«, fügte Matcham hinzu. »Lieber Dick, laßt uns geradewegs westwärts gehen. Ich mag nicht Atem holen, bis ich diesem Aussätzigen den Rücken gekehrt habe.« »Jack, Ihr seid wirklich allzu zimperlich«, erwiderte darauf Dick. »Wir sollten ruhig nach Holywood gehen oder wenigstens so weit, wie ich Euch führen kann. Und dazu müssen wir nach Norden.« Sie setzten sich sofort in Bewegung, überschritten den Bach auf einigen Trittsteinen und stiegen auf der gegenüberliegenden Seite, die steiler war, zum Waldrande hinauf. Der Boden wurde sehr uneben, vereinzelt oder in Gruppen wuchsen Bäume. Es wurde schwierig, einen Pfad zu finden und ein Stück zu wandern. Dazu waren sie nach den Anstrengungen des Vortages und durch den Mangel an Nahrung so geschwächt, daß sie sich nur mühsam durch den Sand schleppen konnten. Als sie den Gipfel eines Hügels erreicht hatten, gewahrten sie einige hundert Fuß vor sich den Aussätzigen, wie er in einer
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Bodensenke ihre Wegrichtung kreuzte. Seine Glocke schwieg, sein Stab tastete nicht mehr dm Boden ab, und er schritt geschwind und sicher aus wie ein Mann, der sehen kann. Aber schon war er in einem kleinen Dickicht verschwunden. Die Burschen hatten sich beim ersten flüchtigen Anblick hinter einem Ginsterbusch zusammengekauert und lagen vor Schrecken starr da. »Er verfolgt uns sicherlich«, sagte Dick – »ganz gewiß. Er hielt den Klöppel seiner Glocke mit der Hand fest – saht Ihr’s –, damit sie nicht tönen sollte. Mögen uns jetzt die Heiligen helfen und führen, denn ich fühle mich nicht stark genug, mit der Pest zu kämpfen!« »Was macht er?« schrie Matcham. »Was fehlt ihm? Wer hörte wohl schon davon, daß ein Aussätziger, es sei denn aus reiner Bosheit, Unglückliche verfolgte? Hat er seine Glocke nicht dazu, daß die Leute ihm aus dem Wege gehen können? Dick, dahinter steckt weit mehr.« »Ach, was kümmert’s mich«, stöhnte Dick, »meine Kraft hat mich verlassen; meine Beine sind wie Wasser. Die Heiligen mögen mir beistehen!« »Wollt Ihr hier müßig liegen?« rief Matcham. »Laßt uns zurück ins Freie gehen. Das wäre besser für uns. Er kann uns dann nicht überraschen.« »Ich nicht«, sagte Dick. »Ich tue keinen Schritt mehr; vielleicht geht er an uns vorüber.« »Spannt mir dann Euren Bogen!« rief der andere. »Was? Ihr wollt ein Mann sein?« Dick bekreuzigte sich. »Wollt Ihr, daß ich auf einen Aussätzigen schieße?« rief er aus. »Dabei würden meine Hände versagen. Nein«, fügte er hinzu – »nein, laßt das! Ich will mit gesunden Menschen kämpfen, aber nicht mit Geistern und Aussätzigen. Zu welchen er zählt, weiß ich nicht. Was er immer auch sei, der Himmel möge uns schützen!« »Nun«, sagte Matcham, »wenn das Mannesmut ist, was für ein armseliges Ding ist dann der Mann. Aber wenn Ihr schon nichts tun wollt, laßt uns wenigstens dicht beisammen liegen.« Jetzt kam ein vereinzelter, gebrochener Klang der Glocke. »Er hat den Klöppel losgelassen«, flüsterte Matcham. »Bei den Heiligen! Wie nahe er ist!«
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Aber Dick antwortete nicht. Ihm klapperten fast die Zähne. Bald sahen sie das weiße Gewand zwischen einigen Büschen, und dann wieder erschien nur der Kopf des Aussätzigen hinter einem Stamm. Augenscheinlich untersuchte er genau seine Umgebung, ehe er wieder hervorkam. Ihren angespannten Sinnen schien das ganze Dickicht vom Rauschen und Knarren der Zweige belebt. Einer hörte des anderen Herz schlagen. Plötzlich sprang der Aussätzige mit einem Schrei ins Freie und rannte geradewegs auf die Jungen zu. Mit lautem Aufschrei liefen sie auseinander, verschiedene Wege einschlagend. Aber ihr schrecklicher Gegner heftete sich an Matchams Fersen, rannte ihn geschwind nieder und hatte ihn augenblicklich zu seinem Gefangenen gemacht. Der Junge stieß einen Angstschrei aus, der hoch und weit durch den Wald gellte, wurde von einem Krampf befallen und erlahmte in all seinen Gliedern, so daß er schlaff in die Arme seines Verfolgers fiel. Dick hörte den Schrei und wandte sich um. Er sah Matcham fallen, und im selben Augenblick belebten sich sein Geist und seine Kräfte neu. Mit einem Ausruf des Mitleids und des Zorns faßte und spannte er seine Armbrust. Aber ehe er schießen konnte, erhob der Aussätzige die Hand. »Haltet Euern Schuß an, Dick«, rief eine vertraute Stimme. »Spart Euren Schuß, Ihr toller Kerl! Kennt Ihr Eure Freunde nicht?« Dann legte er Matcham auf den Rasen nieder, nahm die Kappe von seinem Gesicht, und die Gesichtszüge Sir Daniel Brackleys kamen zum Vorschein. »Sir Daniel!« rief Dick aus. »Ja freilich, Sir Daniel!« erwiderte der Ritter. »Wollt Ihr auf Euern Vormund schießen, Schurke? Aber hier dieser...«, und hier unterbrach er sich und fragte, indem er auf Matcham deutete, »wie nennt Ihr ihn, Dick?« »Ach«, sagte Dick, »ich nenne ihn Junker Matcham. Kennt Ihr ihn nicht? Er sagte, Ihr kenntet ihn!« »Ja«, entgegnete Sir Daniel, »ich kenne den Burschen!« Und dabei kicherte er. »Aber er ist schwach geworden; und er brauchte wahrlich nicht viel, um schwach zu werden. He, Dick, habe ich Euch bis in den Tod erschreckt?« »Wirklich, Sir Daniel, das tatet Ihr«, sagte Dick und seufzte noch einmal bei der bloßen Erinnerung. »Ach, Sir, unbeschadet aller Achtung vor Euch wäre ich ebenso gerne dem Teufel persönlich
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begegnet; und, um die Wahrheit zu sagen, ich zittre jetzt noch. Aber was machtet Ihr, Sir, in einer solchen Maske?« Sir Daniels Stirn umwölkte sich sogleich vor Zorn. »Was ich machte?« fragte er. »Recht, daß Ihr mich daran erinnert. Ich versteckte mich um meines armen Lebens willen in meinem eigenen Walde von Tunstall, Dick. Wir waren zu ungünstiger Zeit zur Schlacht gekommen. Wir erschienen nur noch, um in die Flucht mitgerissen zu werden. Wo sind alle meine guten Reiter? Donnerwetter, Dick, ich weiß es nicht! Wir wurden weggefegt; die Pfeile hagelten auf uns nieder; ich habe nicht einen Mann mehr in meinen eigenen Farben gesehen, seit ich drei fallen sah. Ich selbst kam unversehrt nach Shoreby und verschaffte mir, um dem Schwarzen Pfeil zu entgehen, dieses Gewand und die Glocke und kam langsam auf die Straße zum Schloß. Mit einer solchen Vermummung ist keine andere zu vergleichen – das Geklingel einer solchen Glocke würde selbst den kühnsten Geächteten im Walde Schrecken einjagen, sie würden alle erbleichen und die Flucht ergreifen. Schließlich traf ich auf Euch und Matcham. Ich konnte aber nur schlecht durch diese Larve sehen und erkannte Euch nicht ganz sicher, zumal ich – und aus wirklichen guten Gründen – erstaunt war, Euch beieinander zu finden. Zudem fürchtete ich, mich außerhalb des Waldes, wo ich vorsichtig sein und mich mit meinem Stab vorwärtstasten mußte, zu verraten. Aber seht«, fügte er hinzu, »dieser arme Kerl kommt langsam wieder zu sich. Ein Schluck guten Weins wird sein Herz stärken.« Der Ritter zog eine ansehnliche Flasche unter seinem langen Gewand hervor und begann die Schläfen des Patienten zu reiben und seine Lippen zu benetzen, so daß dieser allmählich wieder zu Bewußtsein kam und seine matten Augen von einem zum andern gehen ließ. »Was für ein Gesicht, Jack!« sagte Dick. »Es war trotz allem kein Aussätziger; es war Sir Daniel! Seht!« »Nehmt einen tüchtigen Schluck«, sagte der Ritter. »Das wird Euch Mannheit verleihen. Gleich werde ich euch beiden eine Mahlzeit geben, und dann wollen wir alle drei nach Tunstall. Denn Dick«, fuhr er fort, während er Brot und Fleisch auf dem Rasen ausbreitete, »ich will Euch mit gutem Gewissen offen bekennen, daß es mich drängt, unversehrt zwischen meinen vier Wänden zu sein. Niemals, seit ich ein Pferd besteigen kann, war ich so hart
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bedrängt: Leben, Land und Unterhalt aufs Spiel gesetzt, und schließlich alle diese Halunken im Walde, die mich zur Strecke bringen wollen. Einige von meinen Burschen werden sich schon nach Hause durchschlagen. Hatch hat zehn Mann; Selden hatte sechs. Nun, wir werden bald wieder stark sein; und wenn ich nur mit dem unverdient glücklichen Herzog von York meinen Frieden machen kann – nun, Dick, dann wollen wir wieder Männer sein und wieder recht im Sattel sitzen!« Und bei diesen Worten füllte sich der Ritter selbst ein Horn mit Wein und tat seinem Mündel durch Gebärden Bescheid. »Selden –«, Dick stockte, »– Selden –«, und er hielt abermals inne. Sir Daniel setzte den Wein unberührt nieder. »Was!« rief er mit veränderter Stimme. »Selden! Sprecht! Was ist mit Selden?« Dick erzählte stotternd von dem Hinterhalt und dem Gemetzel. Der Ritter hörte schweigend zu; aber während des Lauschens geriet seine Fassung durch Zorn und Ärger ins Wanken. »Nun, bei allem, was mir teuer ist, schwöre ich«, rief er aus, »daß ich es rächen werde! Wenn ich das verabsäume, wenn ich nicht für jeden der Unsrigen das Blut von zehn dieser Halunken verspritze, soll diese Hand an meinem Körper verdorren! Ich brach diesen Duckworth wie einen Pfifferling; ich brachte ihn an den Bettelstab; ich brannte ihm das Dach über dem Kopfe ab; ich vertrieb ihn aus diesem Lande. Und jetzt kommt er zurück, mir Trotz zu bieten? Aber nein, Duckworth, diesmal wird es scharf hergehen!« Er schwieg eine Weile, und sein Gesicht zuckte. »Eßt!« rief er plötzlich. »Und Ihr hier«, wandte er sich zu Matcham um, »schwört mit einen Eid, daß Ihr mir sofort zum Schloß folgen werdet.« »Ich will meine Ehre zum Pfande geben«, erwiderte Matcham. »Was kann ich mit Eurer Ehre anfangen?« schrie der Ritter. »Schwört mir auf das Wohl Eurer Mutter!« Matcham schwur den verlangten Eid, und Sir Daniel zog die Kappe über sein Gesicht und nahm Glocke und Stab. Als sie ihn in dieser entsetzlichen Verkleidung sahen, lebte in den zwei Gefährten noch einmal der Schrecken auf. Aber der Ritter war schon aufgestanden. »Beeilt euch mit dem Essen«, sagte er, »und folgt mir hurtig zu meinem Hause.« Und damit trat er wieder den Weg in die Wälder an. Gleich darauf begann die Glocke zu ertönen, als ob sie seine Schritte
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zählen wollte, während die Jünglinge bei ihrem unberührten Mahl saßen und hörten, wie es allmählich hügelabwärts in der Ferne still wurde. »Und so geht Ihr nach Tunstall!« wollte Dick wissen. »Ja, gewiß«, sagte Matcham, »man zwingt mich. Ich bin tapferer hinter Sir Daniels Rücken als vor seinen Augen.« Sie aßen hastig und machten sich auf den Weg durch die luftigen, höhergelegenen Teile des Waldes, wo hochstämmige Buchen vereinzelt auf den grünen Grasflächen standen und die Vögel und Eichhörnchen sich auf den Zweigen vergnügten. Zwei Stunden später stiegen sie auf der anderen Seite hinab. Schon sahen sie zwischen den Baumwipfeln vor sich die roten Mauern und Dächer von Schloß Tunstall aufleuchten. »Hier«, sagte Matcham und hielt an, »sollt Ihr Abschied von Eurem Freund Matcham nehmen, den Ihr nicht wiedersehen werdet. Kommt, Dick, vergebt ihm, wenn er gefehlt hat, wie er auch gern und liebevoll Euch vergibt.« »Und warum das?« fragte Dick. »Da wir beide nach Tunstall gehen, werde ich Euch doch – glaube ich – wiedersehen, und sogar recht oft.« »Ihr werdet den armen Jack Matcham nie wiedersehen«, erwiderte jener, »der so furchtsam und lästig war und Euch doch aus dem Flusse zog; Ihr werdet ihn nicht mehr sehen, Dick, auf Ehre!« Er öffnete seine Anne, und die Jünglinge umarmten und küßten sich. »Und Dick«, fuhr Matcham fort, »ich ahne Übles. Ihr werdet jetzt einen neuen Sir Daniel kennenlernen, denn bisher ist alles, was er angefaßt hat, außerordentlich gut gegangen, und das Glück stand ihm zur Seite. Aber jetzt, da ihn das Schicksal geschlagen hat und er das schwerste Abenteuer seines Lebens besteht, wird er sich uns beiden als ein schlechter Herr erweisen. Er mag tapfer im Kampfe sein, aber er hat das Auge eines Lügners. In seinem Blick steht die Angst, und Angst ist grausam wie ein Wolf! Wir gehen hinab in dieses Haus, und die heilige Maria sei weiterhin mit uns!« Und so setzten sie schweigend ihren Abstieg fort und erreichten schließlich Sir Daniels Wasserburg, die dort niedrig und schattig lag, seitlich gedeckt von runden Türmen und betüpfelt mit Moos und Flechten, mitten in den mit Lilien bewachsenen Wassern des Burggrabens. Sobald sie eintrafen, wurden die Tore geöffnet und
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die Zugbrücke herabgelassen. Sir Daniel selbst, Hatch und den Pfarrer neben sich, stand bereit, sie zu empfangen.
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Zweites Buch Die Wasserburg
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Erstes Kapitel Dick stellt Fragen
Die Wasserburg lag nicht weit von dem holprigen Waldweg. Der äußeren Form nach war sie ein festes Rechteck aus rötlichem Stein, das an jeder Ecke von einem runden Turm gedeckt wurde, mit Schießscharten für Bogenschützen und mit Zinnen versehen. Die Innenmauern umschlossen einen engen Hof. Der etwa zwölf Fuß breite Burggraben wurde von einer einzigen Zugbrücke überquert. Das Wasser wurde ihm durch eine Rinne zugeleitet, die mit einem Waldteich in Verbindung stand. Der Graben wurde in seiner ganzen Ausdehnung von den Zinnen der zwei südlichen Türme beherrscht. Abgesehen davon, daß ein oder zwei hochstämmige, dicke Bäume eine halbe Bogenschußweite entfernt von den Wällen geduldet wurden, war das Haus in gutem Verteidigungszustand. Im Hofe fand Dick einen Teil der Besatzung mit Vorbereitungen für die Verteidigung beschäftigt, wobei sie trübsinnig die Aussichten für den Fall einer Belagerung erörterten. Einige fertigten Pfeile an, andere waren damit beschäftigt, Schwerter zu schärfen, die lange nicht gebraucht worden waren. Aber sogar während der Arbeit schüttelten sie die Köpfe. Zwölf Leute von Sir Daniels Streitmacht waren der Schlacht entronnen, hatten das Spießrutenlaufen durch den Wald mitgemacht und lebend die Wasserfeste erreicht; drei von ihnen waren schwer verwundet: zwei bei Risingham in dem Durcheinander der Flucht und einer durch die Schützen von John dem Rächer, als er durch den Wald rannte. So belief sich die Stärke der Besatzung – Hatch, Sir Daniel und den jungen Shelton mitgerechnet – auf zweiundzwanzig kampffähige Männer. Es war auch mit dem Eintreffen weiterer Kämpfer zu rechnen, so daß im Falle eines Angriffs genügend Leute zur Stelle waren. Aber die Furcht vor dem Schwarzen Pfeil bedrückte die Gemüter der Besatzung. Durch ihre offenen Feinde von der Yorkschen Partei fühlten sie sich in diesen bewegten Zeiten bei weitem nicht so sehr beunruhigt. »Die Welt«, wie die Leute damals sagten, »kann sich wieder ändern«, ehe es ihnen an den Kragen ging. Jedoch vor
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ihren versteckten Feinden im Walde zitterten sie. Nicht allein Sir Daniel war der Gegenstand ihres Hasses. Sir Daniels Leute hatten sich in dem Glauben, nicht bestraft werden zu können, im ganzen Lande unmenschlich betragen. Harte Anordnungen hatten sie hart durchgeführt; und unter der kleinen Bande, die jetzt schwatzend im Hofe beisammensaß, gab es nicht einen, der nicht durch irgendeine Gewalttat oder Grausamkeit schuldig geworden war. Und jetzt stand Sir Daniel durch den Wechsel des Kriegsglückes so machtlos da, daß er die Werkzeuge seiner Untaten nicht schützen konnte. Jetzt waren sie durch den Ausgang einer Schlacht, die nur ein paar Stunden gedauert und an der viele von ihnen nicht teilgenommen hatten, straffällige Verräter am Staat geworden, die nicht mehr den Schutz der Gesetze genossen. Jetzt waren sie ein zusammengeschrumpfter Haufe in einer kleinen, schwer zu haltenden Feste und von allen Seiten durch die gerechte Ahndung ihrer Missetaten bedroht. Auch hatte es nicht an grauenvollen Ankündigungen darüber gefehlt, was ihrer harre. Zu verschiedenen Abend- und Nachtstunden waren nicht weniger als sieben reiterlose Pferde, die vor Schrecken wieherten, ans Tor gekommen. Zwei gehörten zu Seldens Trupp, fünf zu Leuten, die mit Sir Daniel ins Feld gezogen waren. Schließlich, noch in der Morgendämmerung, war auf der Grabenseite wankend ein Lanzenknecht erschienen, den drei Pfeile getroffen hatten. Als man ihn hineintrug, gab er den Geist auf. Nach den Worten, die er im Todeskampf noch herausbrachte, mußte er der Letzte einer einst beträchtlichen Schar gewesen sein. Hatch selbst zeigte unter seiner Sonnenbräune die Blässe der Angst; und als er Dick auf die Seite genommen und das Schicksal Seldens erfahren hatte, sank er gebrochen auf eine Steinbank nieder und vergoß ehrliche Tränen. Die anderen, ob sie nun auf Stühlen oder Türschwellen in dem sonnigen Winkel des Hofes saßen, blickten ihn verwundert und bestürzt an. Aber keiner wagte, nach dem Grunde seiner Gemütsbewegung zu fragen. »Ja, Junker Shelton«, sagte Hatch schließlich, »was habe ich gesagt? Uns allen wird es so gehen. Selden war mir wie ein Bruder. Nun, er ist als zweiter gegangen. Gut, wir werden alle folgen! Warum sagte ihr Schelmenvers: ›Ein schwarzer Pfeil in jedes schwarze Herz?‹ Ist nicht alles eingetroffen? Appleyard, Selden, Schmith, der alte Humphrey tot; und dort liegt John Carter, der arme Sünder, und schreit nach dem Priester.«
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Dick horchte. Aus einem niedrigen Fenster nahe der Stelle, wo sie sprachen, drang Stöhnen und Gemurmel. »Liegt er dort?« fragte er. »Ja, in der Kammer des zweiten Pförtners«, antwortete Hatch. »Weiter konnten wir ihn nicht tragen; denn Seele und Leib drohten sich zu trennen. Bei jedem Schritt, den wir ihn trugen, schien er verscheiden zu wollen. Aber jetzt, glaube ich, ist es die Seele, die leidet. Unablässig verlangt er nach dem Priester, und Sir Oliver – ich weiß nicht, warum – kommt immer noch nicht. Es wird wohl eine lange Beichte werden. Der arme Appleyard und der arme Selden, die konnten keine ablegen.« Dick blickte zum Fenster hinein. Die kleine Zelle war niedrig und dunkel. Aber er konnte erkennen, daß der verwundete Soldat stöhnend auf seinem Strohsack lag. »Carter, armer Freund, wie geht es?« fragte er. »Junker Shelton«, erwiderte der Mann in erregtem Flüsterton, »beim lieben Himmelslicht, schafft den Priester her. Ach, ich habe es eilig: Ich liege schwer darnieder, ich bin auf den Tod verwundet. Ihr könnt mir keinen anderen Dienst mehr erweisen; dies wird der letzte sein. Jetzt beeilt Euch, zum Heile meiner armen Seele, wie ein wahrer Edelmann; denn ich habe etwas auf dem Gewissen, was mich schwer bedrückt.« Er stöhnte auf, und Dick hörte, wie er mit den Zähnen knirschte, sei es vor Schmerz oder vor Seelenangst. Da erschien Sir Daniel auf der Schwelle der Halle, einen Brief in der Hand. »Burschen«, sagte er, »wir haben einen Stoß erlitten, wir haben einen Fall getan; warum es ableugnen? Es verpflichtet uns um so mehr, schnell wieder in den Sattel zu kommen. Dieser alte Harry der Sechste liegt ganz am Boden. Kehren wir uns also von ihm ab. Ich habe einen guten Freund in der Umgebung des Herzogs von York, den Lord von Wensleydale. An ihn habe ich einen Brief geschrieben und Seine Lordschaft um Vermittlung gebeten. Ich biete ihm darin volle Genugtuung für das Vergangene und ausreichende Sicherheit für die Zukunft. Zweifelt nicht, daß er ein geneigtes Ohr haben wird. Ein Bittender ohne Gaben ist wie ein Lied ohne Musik. Ich füttere ihn mit Versprechungen, Burschen – ich spare damit nicht. Woran aber fehlt es jetzt? Nun, an etwas Wichtigem: an einem Boten, den Brief zu überbringen. Die Wälder
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– das ist euch nicht unbekannt – liegen voll von denen, die uns übelwollen. Eile ist dringend geboten; aber ohne List und Vorsicht ist alles vergeblich. Wer aus eurer Schar will den Brief nehmen, ihn Lord Wensleydale überbringen und mir seine Antwort übermitteln?« Sofort erhob sich ein Mann. »Ich will es, wenn es Euch gefällig ist«, sagte er. »Ich will sogar mein Leben dafür einsetzen.« »Nein, Dicky Bowyer, so nicht«, erwiderte der Ritter. »Das gefällt mir nicht. Ihr seid allerdings schlau, aber nicht schnell. Ihr seid ein Bummelant.« »Wenn dem so ist, Sir Daniel, so nehmt mich«, rief ein anderer. »Gott bewahre!« sagte der Ritter. »Ihr seid hurtig, aber nicht verschlagen. Ihr würdet geradewegs in John des Rächers Lager hineintappen. Ich danke euch beiden für eure tapfere Entschlossenheit; aber es kann wirklich nicht sein.« Dann erbot sich Hatch selbst, aber auch er wurde abschlägig beschieden. »Ich brauche Euch hier, guter Bennet. Ihr seid meine rechte Hand, wirklich«, bemerkte der Ritter. Als dann mehrere Männer in einer Gruppe vortraten, wählte Sir Daniel schließlich einen und gab ihm den Brief. »Jetzt«, sagte er, »verlassen wir uns ganz auf Eure größte Eile und noch mehr auf Eure Verschwiegenheit. Bringt mir eine gute Antwort zurück, und noch vor Ablauf von drei Wochen will ich meinen Wald von diesen Strolchen gesäubert haben, die uns ins Angesicht trotzen. Aber merkt wohl, Throgmorton: Der Auftrag ist nicht leicht. Ihr müßt Euch in der Nacht davonstehlen und wie ein Fuchs schleichen. Und wie Ihr den Till weder über die Brücke noch mit der Fähre überqueren wollt, das weiß ich nicht.« »Ich kann schwimmen«, entgegnete Throgmorton. »Ich werde unversehrt ans Ziel kommen, fürchtet nichts.« »Gut, Freund, geht jetzt in die Speisekammer«, fuhr der Ritter fort. »Zuvörderst sollt Ihr in nußbraunem Bier schwimmen.« Und damit wandte er sich in die Halle zurück. Hatch nahm Dick beiseite und sagte: »Sir Daniel spricht mit einer verständigen Zunge. Seht, jetzt, da ein geringerer Mann die Sache beschönigt haben würde, spricht er geradeheraus zu seiner Mannschaft. Hier ist eine Gefahr, sagt er, und hier ist eine Schwierigkeit; und indem er sagt, wie es ist, kann er noch scherzen. Wirklich, bei der heiligen Barbara, er ist ein geborener
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Anführer! Kein Mann außer ihm ist noch einigermaßen bei guter Stimmung! Seht, wie sie sich wieder an die Arbeit machen!« Dieser Lobpreis auf Sir Daniel brachte den Jungen auf einen Gedanken. »Bennet«, sagte er, »wie kam mein Vater zu Tode?« »Danach fragt mich nicht«, erwiderte Hatch. »Ich war weder daran beteiligt noch hatte ich davon Kenntnis. Auch weiterhin werde ich mich schweigend verhalten, Junker Dick. Denn seht Ihr, in seinen eigenen Angelegenheiten mag ein Mann sprechen, aber nicht in Hörensagengeschichten und allgemeinem Gerede. Fragt Sir Oliver – ja, oder Carter, wenn Ihr wollt; nicht mich.« Und Hatch entfernte sich, um die Runde zu machen, und ließ Dick nachdenklich zurück. Warum wollte er mir nichts erzählen? dachte der Jüngling. Und warum nannte er Carter? Carter – ja, der war vielleicht daran beteiligt. Er betrat das Haus und kam über einen mit Fliesen belegten, gewölbten Durchgang an die Tür der Kammer, in welcher der Verwundete stöhnend lag. Bei seinem Eintreten fuhr Carter heftig auf. »Bringt Ihr den Priester?« schrie er. »Jetzt noch nicht«, entgegnete Dick. »Ihr sollt mir zunächst ein Wort sagen. Wie kam mein Vater, Harry Shelton, zu Tode?« Das Gesicht des Mannes veränderte sich augenblicklich. »Ich weiß es nicht«, gab er störrisch zur Antwort. »Doch, Ihr wißt es wohl«, sagte darauf Dick. »Macht nicht den Versuch, mich abzuschütteln.« »Ich sage Euch, ich weiß es nicht«, wiederholte Carter. »Dann«, sagte Dick, »werdet Ihr ohne Beichte sterben. Hier bin ich und hier werde ich bleiben. Kein Priester wird an Euch herankommen, dessen seid versichert. Denn wozu nützt Reue, wenn Ihr nicht gewillt seid, die Übeltaten gutzumachen, an denen Ihr teilhattet? Und ohne Reue ist die Beichte nur Heuchelei.« »Ihr sagt, was Ihr nicht meint, Junker Dick«, sagte Carter gelassen. »Es ist schlecht, einem Sterbenden zu drohen, und schickt sich wahrlich wenig für Euch. Und sowenig als es Euch rühmlich ist, so wird es Euch noch weniger nützen. Bleibt, wenn es Euch gefällt. Ihr wollt meine Seele verdammen – erfahren sollt Ihr nichts! Das ist mein letztes Wort.« Und damit drehte sich der verwundete Mann auf die andere Seite.
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Dick hatte übereilt gesprochen und schämte sich jetzt seiner Drohung. Aber er bemühte sich weiter. »Carter«, sagte er, »mißversteht mich nicht. Ich weiß, daß Ihr nur ein Werkzeug in den Händen anderer wäret; ein Bauer muß seinem Herrn gehorchen. Ihm würde ich es daher nicht so sehr nachtragen. Aber es wird mir immer klarer, daß die hohe Pflicht, meinen Vater zu rächen, auf meiner Jugend und Unerfahrenheit liegt. Ich bitte Euch also, lieber Carter, vergeßt meine Drohungen und gebt mir aus reinem, gutem Willen und ehrlicher Reue ein hilfreiches Wort.« Der Verwundete lag schweigend. Dick konnte weder das gewünschte noch ein anderes Wort aus ihm herausbekommen. »Wohlan«, sagte Dick, »ich werde gehen, um den Priester zu Euch zu rufen, wie Ihr es wünscht; denn wie sehr Ihr auch gegen mich oder die Meinen gefehlt haben mögt, ich möchte nicht willentlich an irgend jemand schuldig werden, am allerwenigsten an jemand, der auf seinem letzten Gange ist.« Wieder hörte ihn der alte Kriegsknecht ohne ein Wort oder eine Bewegung an; sogar sein Stöhnen hatte er unterdrückt. Und als Dick sich umwandte und den Raum verließ, war er mit Bewunderung für solche schroffe Festigkeit erfüllt. Und doch, dachte er, was nützt Mut ohne Verstand? Wären seine Hände rein, so hätte er gesprochen. Sein Schweigen bekennt das Geheimnis lauter als Worte. Von allen Seiten dringen die Beweise auf mich ein. Sir Daniel oder einer seiner Leute haben diese Tat getan. Dick hielt in dem steinernen Durchgang mit schwerem Herzen an. Mußte er sich zu dieser Stunde, im Niedergang von Sir Daniels Glück, da er durch die Bogenschützen vom Schwarzen Pfeil belagert und von den siegreichen Yorkschen geächtet wurde, auch noch gegen den Mann wenden, der ihn erhalten und aufgezogen hatte, der ihn allerdings strenggehalten, aber doch unermüdlich seine Jugend behütet hatte? Die Notwendigkeit, wenn sie sich herausstellen sollte, war grausam. »Ich bitte Gott, daß er unschuldig sein möge!« sagte er. Und dann erklangen schwere Schritte auf den Fliesen, und Sir Oliver kam auf den Jüngling zu. »Man verlangt ernstlich nach Euch«, sagte Dick. »Ich bin schon auf dem Wege, lieber Richard«, antwortete der Priester. »Es ist der arme Carter. Ach, da ist alle Mühe umsonst.«
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»Bei ihm leidet die Seele mehr als der Körper«, entgegnete Dick. »Wart Ihr bei ihm?« fragte Sir Oliver mißtrauisch. »Ich komme soeben von ihm«, antwortete Dick. »Was sagte er – was sagte er?« fuhr der Priester heftig auf, begierig forschend. »Er schrie nur ganz erbarmungswürdig nach Euch, Sir Oliver. Es wäre recht getan, um so schneller zu gehen, denn seine Verwundung ist schmerzhaft«, erwiderte der Bursche. »Ich werde gleich bei ihm sein«, war die Antwort. »Nun, wir sind allzumal Sünder. Wir werden alle unser letztes Stündlein durchmachen, guter Richard.« »Ja, Sir; und es wäre gut, wenn wir dann alle rein wären«, antwortete Dick. Der Priester senkte seinen Blick und beeilte sich, einen unhörbaren Segensspruch murmelnd. Er auch! dachte Dick – er, der mich in der Religion unterwies! Ach, was für eine Welt ist das nur, in der all diese Sorge für mich auf der Blutschuld an meinem Vater beruht! Rache! Ach! Was für ein arges Schicksal trage ich, wenn ich an meinen Freunden zum Rächer werden muß! Der Gedanke brachte ihn auf Matcham. Er lächelte bei der Erinnerung an diesen seltsamen Gefährten, und wieder empfand er das Verlangen, zu wissen, wo dieser sich eigentlich aufhielt. Seit sie beide die Tore des Schlosses erreicht hatten, war der Jüngling verschwunden, und Dick empfand jetzt heftige Sehnsucht nach einem Wort von ihm. Etwa eine Stunde später, nachdem Sir Oliver etwas hastig die Messe gelesen hatte, kam die Besatzung zum Mittagessen in der Halle zusammen. Es war ein langer, niedriger Raum, mit grünen Binsen bestreut. Die Wände waren mit Teppichen behangen, deren Muster wilde Männer und schnüffelnde Bluthunde zeigten. Hier und da hingen Speere, Bogen und Schilde. Ein Feuer brannte in dem mächtigen Kamin. Ringsumher an den Wänden standen mit Teppichen bedeckte Bänke, und in der Mitte lud der gutgedeckte Tisch zum Essen ein. Weder Sir Daniel noch seine Gemahlin zeigten sich dabei. Selbst Sir Oliver war abwesend, und von Matcham fand sich wieder keine Spur. Dick begann unruhig zu werden. Er erinnerte sich an die dunklen Voraussagen seines Gefährten und fragte sich, ob ihm irgendeine Büberei in diesem Haus begegnet sein mochte.
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Nach dem Mittagessen traf er auf Gevatterin Hatch, die zu Lady Brackley eilte. »Gevatterin«, sagte er, »bitte, wo ist Junker Matcham? Ich sah Euch mit ihm hineingehen, als wir ankamen.« Die alte Frau lachte laut auf. »Ach, Junker Dick«, sagte sie, »Ihr habt wirklich klare Augen im Kopf, wahrhaftig!« und lachte von neuem. »Ja, aber wo ist er denn?« beharrte Dick. »Ihr werdet ihn nie wiedersehen«, erwiderte sie, »niemals. Das ist sicher.« »Wenn ich ihn nicht wiedersehe«, entgegnete der Junge, »will ich den Grund wissen. Er kam nicht aus völlig freiem Entschluß hierher. Seht mich an, ich bin sein bester Beschützer, und ich will ihn rechtschaffen behandelt sehen. Es gibt hier zu viele Geheimnisse. Ich fange an, des Spiels müde zu werden.« Aber als Dick sprach, fiel eine schwere Hand auf seine Schulter. Es war Bennet Hatch, der unbemerkt hinter ihn getreten war. Mit erhobenem Daumen bedeutete er seiner Frau, sich zu entfernen. »Freund Dick«, sagte er, sobald sie allein waren, »seid Ihr ein mondsüchtiger Idiot? Wenn Ihr gewisse Dinge nicht ruhen laßt, dann wäret Ihr besser in der gesalzenen See als hier in der TunstallFeste. Ihr habt mich gefragt – Ihr habt Carter geplagt. Ihr habt den Hans Pfaff mit Andeutungen erschreckt. Verhaltet Euch klüger, Ihr Tor; und besonders jetzt, wenn Sir Daniel Euch rufen wird, dann zeigt aus Klugheit ein freundliches Gesicht. Man wird Euch scharf fragen. Nehmt Bedacht auf Eure Antworten.« »Hatch«, entgegnete Dick, »an all dem erkenne ich ein schlechtes Gewissen.« »Wenn Ihr Euch nicht desto klüger verhaltet, werdet Ihr bald Blut riechen«, gab Bennet zurück. »Ich warne Euch nur. Hier kommt jemand, Euch zu holen.« Und wirklich, in diesem Augenblick kam ein Bote über den Hof, Dick zu Sir Daniel zu befehlen.
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Zweites Kapitel Die zwei Eide
Sir Daniel ging ärgerlich vor dem Feuer in der Halle auf und ab und wartete auf Dicks Eintreten. Nur Sir Oliver war zugegen, saß aber abgesondert im Hintergrund, murmelnd und über seinem Brevier leiernd. »Ihr habt mich rufen lassen, Sir Daniel?« fragte der junge Shelton. »In der Tat, ich habe Euch rufen lassen«, gab der Ritter ärgerlich zur Antwort. »Denn was muß ich hören? Bin ich Euch ein so harter Vormund gewesen, daß Ihr Euch beeilt, Übles von mir zu glauben? Oder seht Ihr mich, für den Augenblick, als irgendwie herabgesetzt an? Gedenkt Ihr meine Partei zu verlassen? Potztausend, Euer Vater war anders! Der hielt zu seinen Freunden trotz Sturm und Wetter. Aber Ihr, Dick, Ihr seid nur ein Freund in guten Taten, wie es scheint, und sucht Euch jetzt wohl von Eurer Verpflichtung frei zu machen.« »Nein, Sir Daniel, keineswegs«, entgegnete Dick fest. »Ich bin dankbar und treu, wo ich Dankbarkeit und Treue schulde. Und ehe Weiteres gesprochen wird, danke ich Euch und danke auch Sir Oliver; ihr habt große Ansprüche an mich, beide – niemand kann größere haben; ich wäre ein Schuft, wenn ich das vergäße.« »Es ist gut«, sagte Sir Daniel, wurde dann aber zornig, »Dankbarkeit und Treue sind Worte, Dick Shelton.« Dann fuhr er fort: »Aber ich sehe auf Taten. In dieser Stunde der Gefahr, da mein Name befleckt, mein Landbesitz verloren, dieser Wald voller Menschen ist, die nach meiner Vernichtung hungern und dürsten: was nützt mir da Dankbarkeit und Treue? Mir ist nur eine kleine Schar geblieben; ist es dankbar oder treu, ihre Herzen mit Eurem heimtückischen Getuschel zu vergiften? Daß ich vor solcher Dankbarkeit bewahrt bleiben möge! Aber wohlan denn, was ist es, was Ihr wünscht? Sprecht, wir sind hier, um zu antworten. Wenn Ihr etwas gegen mich vorzubringen habt, sagt es.«
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»Sir«, antwortete Dick, »mein Vater fiel, als ich noch ein Kind war. Es ist mir zu Ohren gekommen, daß eine üble Tat an ihm geschehen ist. Es ist mir zu Ohren gekommen – ich will nichts verhehlen –, daß Ihr bei seiner Vernichtung die Hand im Spiele hattet. Und wahrhaftig ich kann keine Ruhe in meinem Herzen finden oder Euch deutlich erklären, daß ich Euch helfen werde, bis diese Zweifel in mir völlig behoben sind.« Sir Daniel ließ sich in einen tiefen Sessel fallen. Er strich sich mit der Hund über das Kinn und sah Dick fest an. »Und Ihr glaubt, ich könnte der Vormund für den Sohn des Mannes sein, den ich ermordete?« fragte er. »Nun«, sagte Dick, »verzeiht mir, wenn ich derb antworte; aber Ihr wißt ja recht gut, daß eine Vormundschaft meist gewinnbringend ist. Habt Ihr nicht all die Jahre meine Einkünfte genossen und meine Leute geführt? Wollt Ihr mich nicht noch verheiraten? Ich weiß nicht, was dabei für Euch herausspringt, aber etwas springt sicherlich heraus. Verzeiht mir nochmals; aber wenn Ihr schlecht genug wäret, einen Mann zu erschlagen, der Euch vertraute, dann gäbe es hier wohl Gründe genug, Euch zu dieser geringeren Schlechtigkeit zu veranlassen.« »Als ich ein Junge von Euren Jahren war«, erwiderte finster Sir Daniel, »neigte mein Herz nicht so zu Argwohn. Und Sir Oliver hier«, fügte er hinzu, »warum sollte er, ein Priester, an dieser Tat schuldig sein?« »Nun, Sir Daniel«, sagte Dick, »wo der Herr befiehlt, dort wird der Hund springen. Es ist allgemein bekannt, daß dieser Priester nur Euer Werkzeug ist. Ich spreche ganz offen; es ist nicht die Zeit für Artigkeiten. So wie ich spreche, so möchte ich Antwort haben. Aber Antwort bekomme ich nicht. Statt dessen stellt Ihr weitere Fragen. Ich rate Euch, nehmt Euch in acht, Sir Daniel; denn dadurch werdet Ihr meine Zweifel nur mehren, anstatt sie zu beheben.« »Ich will Euch billig antworten, Junker Richard«, sagt der Ritter. »Wollte ich behaupten, daß Ihr meinen Zorn nicht erregt hättet, so wäre ich nicht ehrlich. Aber ich will auch im Ärger gerecht sein. Kommt mit solchen Reden zu mir, wenn Ihr erwachsen und ein reifer Mann geworden seid und ich nicht mehr Euer Vormund und folglich hilflos bin, sie zu ahnden. Dann kommt zu mir, und ich will Euch antworten, wie Ihr es verdient, mit einem Schlag ins Gesicht. Bis dahin stehen Euch zwei Wege offen. Entweder Ihr nehmt diese Beleidigungen zurück, bewahrt Schweigen und kämpft
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inzwischen für den Mann, der Euch aufgezogen und während Eurer Minderjährigkeit für Euch gekämpft hat; oder aber – die Tür steht offen, die Wälder sind voll von meinen Feinden – geht.« Die Erregung, mit der diese Worte hervorgestoßen wurden, und die Blicke, die sie begleiteten, verwirrten Dick; und doch konnte er nicht umhin zu bemerken, daß er keine Antwort bekommen hatte. »Ich wünsche nichts ernstlicher, Sir Daniel, als Euch glauben zu können«, versetzte er. »Überzeugt mich davon, daß Ihr mit alledem nichts zu tun habt.« »Wollt Ihr mein Ehrenwort, Dick?« fragte der Ritter. »Das möchte ich«, antwortete Dick. »Ich gebe es Euch«, sagte der Ritter darauf. »Bei meiner Ehre, beim ewigen Heil meiner Seele und so wahr, wie ich mich später einmal für meine Taten verantworten muß, ich hatte beim Tode Eures Vaters weder meine Hand im Spiel, noch hatte ich sonst daran Anteil.« Er streckte seine Hand hin, und Dick ergriff sie begierig. Keiner von beiden bemerkte den Priester, der sich, als dieser feierliche und doch falsche Eid geleistet wurde, in einer aus Schrecken und Gewissensbissen gemischten Erregung halb von seinem Sitz erhoben hatte. »Ach«, rief Dick dabei aus, »Ihr müßt mir in Eurer Hochherzigkeit verzeihen! Was für ein schlechter Kerl war ich doch, Euch zu mißtrauen. Aber hier habt Ihr meine Hand darauf: Ich werde nie mehr an Euch zweifeln.« »Nun, Dick«, erwiderte Sir Daniel, »Euch ist vergeben. Ihr kennt die Welt und ihre Verleumdungssucht noch nicht.« »Um so mehr war ich zu tadeln«, fügte Dick noch hinzu, »als die Schufte nicht direkt auf Euch hindeuteten, sondern auf Sir Oliver.« Bei diesen Worten drehte er sich zu dem Priester um und verstummte im letzten Wort. Dieser große, korpulente Mann mit seinem frischen, geröteten Gesicht und seinem stolzen Gang war – möchte man sagen – in Stücke zerfallen. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, seine Arme hingen schlaff herab, seine Lippen stammelten Gebete. Und jetzt, als Dicks Blicke plötzlich auf ihn gerichtet waren, schrie er laut auf wie ein wildes Tier und vergrub sein Gesicht in den Händen. Sir Daniel war in zwei Sätzen bei ihm und schüttelte ihn ungestüm an der Schulter. In diesem Augenblick wurde in Dick der ganze Argwohn wieder wach. »Nein«, sagte er, »Sir Oliver mag
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auch schwören. Er war es, den sie beschuldigt haben.« »Er soll schwören«, sprach der Ritter. Sir Oliver erhob in stummer Abwehr die Arme. »Ja, wahrhaftig, er muß schwören«, rief Sir Daniel außer sich vor Wut. »Hier auf dieses Buch soll er schwören«, fuhr er fort und hob das zu Boden gefallene Brevier auf. »Was! Soll ich an Euch zweifeln? Schwört, sage ich, schwört!« Der Priester aber war noch nicht wieder fähig zu sprechen. Seine Furcht vor Sir Daniel, seine Furcht vor dem Meineid, beide gleich schrecklich in seinen Augen, würgten ihn. Und gerade jetzt schwirrte ein schwarzer Pfeil durch das hohe Fenster der Halle, prallte auf und stak zitternd mitten in dem langen Tisch. Sir Oliver fiel, seiner selbst nicht mehr mächtig, mit einem lauten Aufschrei zu Boden, während der Ritter, dem Dick folgte, auf den Hof hinausstürzte und die nächste Wendeltreppe hinauf zu den Zinnen stieg. Die Wachen standen auf Posten. Die Sonne schien ruhig auf grüne, mit Blumen bestandene Wiesen und auf die waldigen Hügel, die den Rundblick begrenzten. Es zeigte sich keine Spur von einem Belagerer. »Woher kam dieser Schuß?« fragte der Ritter. »Aus jenem Gebüsch, Sir Daniel«, berichtete eine Wache. Der Ritter stand eine Weile in Gedanken versunken. Dann wandte er sich an Dick. »Dick«, sagte er, »habt ein Auge auf diese Leute; ich lasse Euch dazu hier. Was den Priester betrifft, soll er sich selbst reinwaschen, oder ich will den Grund für sein Weigern wissen. Ich beginne fast, Euren Verdacht zu teilen. Er soll schwören, glaubt mir, oder wir werden beweisen, daß er schuldig ist.« Dick antwortete kühl irgend etwas. Der Ritter warf noch einen durchbohrenden Blick auf ihn und kehrte dann eilends in die Halle zurück. Sein erster Blick galt dem Pfeil. Es war das erste von diesen Geschossen, das er sah. Als er ihn hin und her wandte, erfüllte ihn die dunkle Farbe mit einer gewissen Furcht. Wieder stand da etwas Geschriebenes: ein Wort – »Verkrochen«. »Ach«, rief er, »sie wissen also, daß ich zu Hause bin. Ja, ich habe mich verkrochen, aber kein Hund von ihnen soll mich aufstöbern.« Sir Oliver war wieder zu sich gekommen und erhob sich jetzt.
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»Ach, Sir Daniel«, jammerte er, »Ihr habt einen furchtbaren Eid geschworen; Ihr seid gerichtet bis ans Ende der Tage.« »Ja«, erwiderte der Ritter, »ich habe in der Tat einen heiligen Eid geschworen, du Dummkopf; aber du selbst wirst einen noch heiligeren schwören, und zwar auf das heilige Kreuz von Holywood. Bereite dich vor, halte die Worte bereit. Heute abend wird geschworen.« »Möge der Himmel Euch erleuchten!« erwiderte der Priester; »möge der Himmel Euer Herz vor solcher Widerrechtlichkeit bewahren!« »Seht, mein ehrwürdiger Vater«, sagte Sir Daniel, »wenn Ihr auf Eure Frömmigkeit pocht, sage ich weiter nichts; Ihr beginnt spät, das ist alles. Aber wenn Ihr nur ein bißchen klug seid, so hört mich an. Dieser Bursche fängt an, mich wie eine Wespe zu ärgern. Ich brauche ihn, denn ich möchte seine Verheiratung betreiben. Aber ich sage Euch in aller Offenheit, wenn er mir weiter beschwerlich wird, soll er denselben Weg wie sein Vater gehen. Ich gebe jetzt Befehl, ihn in der Kammer über der Kapelle unterzubringen. Wenn Ihr Eure Unschuld in einem guten, festen Eid und in sicherer Haltung bekräftigen könnt, ist es gut. Der Bursche wird ein wenig beruhigt sein, und ich werde ihn schonen. Wenn Ihr aber auch nur stammelt oder zur Seite blickt oder beim Schwören irgendwie zögert, wird er Euch nicht glauben, und dann muß er, bei allen Heiligen, sterben. Daran müßt Ihr denken.« »Die Kammer über der Kapelle!« stöhnte der Priester. »Eben die«, antwortete der Ritter. »Wenn Ihr ihn retten wollt, rettet ihn; wollt Ihr es nicht, so bitte ich Euch, geht und laßt mich in Frieden! Wenn ich ein voreiliger Mann wäre, hätte ich Euch für Eure unausstehliche Feigheit und Narrheit schon mit meinem Schwert durchbohrt. Habt Ihr gewählt? Sprecht!« »Ich habe gewählt«, sagte der Priester. »Der Himmel vergebe mir, ich werde Böses tun um des Guten willen. Ich werde dem Jungen zuliebe schwören.« »So ist es am besten!« sagte Sir Daniel. »Schickt also schnellstens nach ihm, Ihr werdet ihm allein gegenübertreten. Aber ich werde ein Auge auf Euch haben. Ich werde hier im getäfelten Zimmer sein.« Der Ritter hob den Teppich und ließ ihn hinter sich wieder fallen. Das Geräusch eines Sprungschlosses wurde hörbar, darauf folgte das Knarren von Stufen.
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Sir Oliver, allein gelassen, warf einen Blick voller Furcht an der mit einem Teppich bedeckten Wand empor und bekreuzigte sich mit allen Anzeichen von Schrecken und Zerknirschung. »Wenn er in die Kammer über der Kapelle soll«, murmelte der Priester, »dann muß ich ihn retten, und wäre es auch um mein Seelenheil.« Drei Minuten später fand Dick, der durch einen anderen herbefohlen worden war, Sir Oliver in der Halle am Tisch stehend, bleich und entschlossen. »Richard Shelton«, sagte er, »Ihr habt einen Eid von mir gefordert. Ich könnte mich darüber beklagen und ihn Euch verweigern; aber mein Herz ist Euch geneigt wegen des Vergangenen, und ich werde Euch zufriedenstellen, wie es Euch beliebt. Beim heiligen Kreuz von Holywood, ich habe Euren Vater nicht erschlagen.« »Sir Oliver«, erwiderte Dick, »als wir damals John des Rächers Papier lasen, war ich von so vielem überzeugt. Aber erlaubt mir, zwei Fragen zu stellen. Ihr habt ihn nicht erschlagen; es sei zugegeben. Aber hattet Ihr gar nichts damit zu tun?« »Nichts«, sagte Sir Oliver. Zugleich verzerrte er sein Gesicht und gab ihm seltsame Zeichen mit Mund und Augenbrauen, als wolle er eine Warnung ausdrücken und habe doch nicht den Mut, einen Ton von sich zu geben. Dick betrachtete ihn ganz verwundert; dann wandte er sich um und blickte in der leeren Halle umher. »Was macht Ihr?« fragte er. »Ach, nichts«, erwiderte der Priester, der sich schnell faßte. »Ich mache nichts; ich leide nur; ich bin krank. Ich – ich – bitte Euch, Dick, ich muß fort. Beim heiligen Kreuz von Holywood, ich bin ganz unschuldig, guter Junge, lebt wohl!« Und er schlüpfte mit ungewöhnlicher Gewandtheit aus dem Raum. Dick blieb im Innersten aufgewühlt stehen. Seine Blicke wanderten durch den Raum. Auf seinem Gesicht spiegelten sich verschiedenartige Empfindungen wider – Verwunderung, Zweifel, Verdacht und Belustigung. In dem gleichen Maße, wie seine Überlegung klarer wurde, gewann der Verdacht wieder Oberhand, und er war vom Schlimmsten überzeugt. Er hob den Kopf, fuhr aber gleich heftig zurück. An der Wand hing ein Teppich, in den das Bild eines wilden Jägers gewoben war. Mit einer Hand hielt er ein Horn an seinen Mund, in der anderen schwang er einen
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starken Speer. Sein Gesicht war dunkel, als solle es einen Afrikaner darstellen. Hier lag die Ursache für Richard Sheltons Erschrecken. Die Sonne zog an den Fenstern der Halle vorüber, und zugleich lohte das Feuer in dem großen Kamin hoch und warf einen flimmernden Schein gegen das Gewölbe und die Wandbehänge. In diesem Licht winkte ihm die Gestalt des schwarzen Jägers mit einem weißen Augenlid zu. Er starrte weiter auf das Auge. Das darauffallende Licht ließ es wie einen Edelstein aufglänzen. Es bewegte sich, es lebte. Dann schloß sich das weiße Augenlid wieder für den Bruchteil einer Sekunde, und im nächsten Augenblick war es verschwunden. Ein Mißverständnis war unmöglich. Das lebende Auge, das ihn durch ein Loch in dem Teppich beobachtet hatte, war verschwunden. Der Feuerschein beleuchtete keinen zurückstrahlenden Punkt mehr. Und augenblicklich wurde Dick sich seiner schrecklichen Lage bewußt. Hatchs Warnung, die stummen Zeichen des Priesters, dieses Auge, das ihn von der Wand her beobachtet hatte, flossen in seiner Vorstellung ineinander. Er sah, daß er auf die Probe gestellt worden, daß er wieder von neuem seinem Argwohn ausgeliefert und daß er, wenn nicht ein Wunder geschah, verloren war. Wenn ich nicht aus diesem Hause entkommen kann, dachte er, bin ich ein toter Mann! Und dieser arme Matcham auch – in welch ein Basiliskennest habe ich ihn geführt! Als er noch nachdachte, kam jemand in Eile und erbot sich, ihm seine Waffen, seine Kleidung und seine zwei oder drei Bücher in ein anderes Zimmer zu tragen. »Ein anderes Zimmer?« wiederholt er. »Warum das? Was für ein Zimmer?« »Es ist eins über der Kapelle«, antwortete der Bote. »Es hat lange leer gestanden«, sagte Dick nachdenklich. »Was für eine Art Zimmer ist das?« »Ach, ein schönes Zimmer«, entgegnete der Mann. »Aber doch – «, und dabei ließ er seine Stimme sinken, »sagt man, es sei behext.« »Behext?« erwiderte Dick mit einem Schauder. »Ich habe davon nichts gehört; aber von wem denn?« Der Bote sah ihn an; und dann sagte er in leisem Flüsterton: »Vom Sakristan von Sankt John. Man hat ihn dort für eine Nacht schlafen lassen, und am Morgen – hu! – war er verschwunden. Der
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Teufel habe ihn geholt, wurde gesagt. Andere bezeugten, daß er die letzte Nacht getrunken hatte.« Dick folgte dem Mann mit düsteren Vorahnungen.
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Drittes Kapitel Das Zimmer über der Kapelle
Die Sonne zog westwärts und ging unter. Die Augen all der eifrigen Wachen auf den Zinnen konnten kein Lebewesen in der Umgebung der Feste Tunstall entdecken. Als schließlich die Nacht hereingebrochen war, wurde Throgmorton an eine Stelle geführt, von der aus man eine Ecke des Grabens überschauen konnte. Dann wurde er mit größter Vorsicht hinabgelassen; es war für eine Weile das Plätschern seines Schwimmens zu hören, und bald darauf sah man, wie eine dunkle Gestalt an den Zweigen einer Weide sich ans Ufer zog und durch das Gras weiterkroch. Noch eine halbe Stunde standen Sir Daniel und Hatch in gespanntem Lauschen. Alles blieb ruhig. Der Bote schien sicher durchgekommen zu sein. Sir Daniels Augen erhellten sich. Er wandte sich zu Hatch. »Bennet«, sagte er, »dieser John der Rächer ist nichts weiter als ein Mensch, wie Ihr seht. Er schläft. Wir werden mit ihm schon fertig werden. Wohlan!« Den ganzen Nachmittag und Abend war Dick bald hierhin, bald dorthin befohlen worden, ein Befehl folgte dem andern, bis er von der Zahl und der Dringlichkeit der Aufträge ganz verwirrt war. Er hatte die ganze Zeit über Sir Oliver oder Matcham nicht mehr gesehen, und doch gingen ihm sowohl der Priester als auch der junge Bursche ständig durch den Sinn. Er hatte den festen Entschluß gefaßt, so schnell als möglich aus dem Schloß zu fliehen, und doch ersehnte er, vor seiner Flucht ein Wort mit den beiden zu sprechen. Schließlich stieg er mit einer Lampe in der Hand in sein neues Quartier hinauf. Es war geräumig, niedrig und ziemlich dunkel. Durch das Fenster sah man auf den Graben, und es war, obwohl hoch gelegen, stark vergittert. Das Bett war sehr bequem und mit einem Daunenkissen und einem zweiten, das mit Lavendel gefüllt war, sowie mit einer in einem Rosenmuster gewirkten Bettdecke versehen. An den Wänden ringsherum standen Speiseschränke mit Vorhängeschlössern, durch Wandbehänge und dunkelfarbige
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Teppiche dem Blick verborgen. Dick machte die Runde, wobei er die Teppiche hochhob und an die Täfelung klopfte. Vergeblich versuchte er, die Schränke zu öffnen. Er überzeugte sich, daß die Tür stark und der Riegel fest war. Dann setzte er die Lampe auf ein Pfeilertischchen und blickte noch einmal umher. Aus welchem Grunde hatte man ihn in diesem Zimmer untergebracht? Es war größer und besser als sein eigenes. Sollte es eine Falle sein? Gab es hier einen geheimen Zugang? War es wirklich verhext? Das Blut stockte ihm in den Adern. Unmittelbar über ihm stampfte eine Schildwache mit schwerem Schritt auf den bleiernen Dachplatten. Unter ihm wölbte sich, wie er wußte, das Dach der Kapelle, und neben der Kapelle lag die Halle. Durch das Auge, das ihn durch den Teppich hindurch beobachtet hatte, war er darauf aufmerksam geworden. War es nicht mehr als wahrscheinlich, daß der Zugang zur Kapelle führte und eine Öffnung in sein Zimmer hatte? Hier zu schlafen, dachte er, würde tollkühn sein. Er machte seine Waffen bereit und nahm in einer Ecke des Zimmers hinter der Tür Platz. Wenn Böses geplant war, wollte er sein Leben teuer verkaufen. Der Widerhall von vielen Schritten, das Anrufen und das Losungswort ertönten von den Zinnen her: Die Wachen wurden abgelöst. Und jetzt kratzte es an der Tür. Das Kratzen wurde ein wenig lauter, und dann flüsterte es: »Dick, Dick, ich bin es!« Dick eilte zur Tür, zog den Riegel zurück und ließ Matcham ein. Er war ganz blaß und trug eine Lampe in der einen Hand und einen entblößten Dolch in der anderen. »Schließt die Tür«, flüsterte er. »Leise, Dick! Dieses Haus ist voller Späher! Ich höre, wie sie mir auf den Fluren folgen, ich höre sie hinter Teppichen atmen.« »Gut, beruhigt Euch«, erwiderte Dick, »sie ist geschlossen. Wir sind einstweilen sicher, sofern es in diesen Mauern überhaupt Sicherheit gibt. Aber ich bin hocherfreut, Euch zu sehen. Donnerwetter, Junge! Ich dachte, Ihr wäret fort. Wo steckt Ihr?« »Das tut jetzt nichts zur Sache«, versetzte Matcham, »jetzt, da wir uns getroffen haben. Aber wißt Ihr, woran Ihr seid, Dick? Haben sie Euch erzählt, was morgen geschehen wird?« »Keiner«, sagte darauf Dick. »Was werden sie morgen tun?«
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»Morgen oder in der Nacht, ich weiß nicht«, fuhr Matcham fort, »aber ganz gleich, zu welcher Zeit, Dick, haben sie es auf Euer Leben abgesehen. Ich hörte sie flüstern, ja, es war geradeso, als ob sie es mir erzählten.« »Ach«, sagte Dick, »ist es so? Ich habe es geahnt.« Und er erzählte der Reihe nach die Ereignisse des Tages. Darauf erhob sich Matcham und untersuchte den Raum gründlich. »Nein«, sagte er, »ich kann keinen Zugang entdecken, und doch steht es fest, daß einer vorhanden ist. Dick, ich werde bei Euch bleiben. Wenn Ihr sterben müßt, will ich mit Euch sterben. Und ich kann Euch helfen – seht, ich habe einen Dolch entwendet –, ich werde mein Bestes tun! Und wenn Ihr inzwischen irgendeinen Ausgang entdeckt, irgendeine Ausfallpforte, die wir öffnen, oder ein Fenster, durch das wir hinaussteigen könnten, werde ich hocherfreut jeder Gefahr die Stirn bieten, um mit Euch zu fliehen.« »Jack«, sagte Dick, »Donnerwetter, Jack, Ihr seid die beste Seele und dazu die treueste und tapferste in ganz England! Gebt mir Eure Hand, Jack.« Und er drückte schweigend die Hand des anderen. »Ich will Euch etwas sagen«, fuhr er fort. »Da ist das Fenster, durch das der Bote hinausstieg; das Seil müßte noch im Zimmer liegen. Das wäre eine Möglichkeit.« »Seht!« machte Matcham. Beide lauschten. Sie hörten ein Geräusch unter dem Fußboden, das sich in kurzen Abständen wiederholte. »In dem Raum unten geht jemand auf und ab«, flüsterte Matcham. »Ach«, gab Dick zur Antwort, »unten ist kein Raum; wir befinden uns über der Kapelle. Es ist mein Mörder in dem geheimen Gang. Aber laßt ihn kommen. Es soll ihm übel ergehen!« Und er knirschte mit den Zähnen. »Blast doch die Lichter aus«, sagte der andere. »Vielleicht zeigt er sich.« Sie löschten beide Lampen und lagen still, als ob sie tot wären. Die Schritte unten waren ganz leise, aber doch deutlich zu hören. Sie kamen und gingen mehrere Male, und dann hörten sie das laute Kreischen eines Schlüssels, der im Schloß herumgedreht wurde. Hierauf folgte eine lange Stille. Jetzt erklangen die Schritte von neuem, und dann zeigte sich plötzlich in einer Ecke des Zimmers in der Verschalung ein
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Lichtspalt. Er wurde größer. Eine Falltür öffnete sich, und ein Lichtstrahl fiel ins Zimmer. Sie konnten die starke Hand sehen, die sie aufstieß. Dick hob seine Armbrust und wartete auf den Kopf, der folgen würde. Aber jetzt trat eine Unterbrechung ein. Aus einem entfernten Teil des Schlosses hörte man Geschrei, und ein Name wurde erst von einer und dann von mehreren Stimmen gerufen. Dieses Geräusch hatte offenbar den Mörder verwirrt; denn die Falltür wurde ganz leise auf ihren Platz herabgelassen, und die Schritte entfernten sich schnell, erklangen noch einmal unter den Jünglingen und verloren sich. Das war ein kurzer Aufschub. Dick atmete tief auf, und dann lauschte er auf die Rufe, die den Anschlag unterbrochen hatten und jetzt lauter erschollen. Die Wasserfeste hallte wider von vielen Schritten; Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen, und immer wieder erhob sich die Stimme Sir Daniels, die nach »Johanna« rief. »Johanna!« wiederholte Dick. »Wie – wer zum Teufel sollte das sein? Hier ist keine Johanna, noch je eine gewesen. Was soll das?« Matcham schwieg. Er schien sich ein wenig entfernt zu haben. Nur schwaches Sternenlicht drang durch das Fenster herein, und in dem Teil des Zimmers, wo die beiden standen, herrschte vollständige Dunkelheit. »Jack«, sagte Dick, »ich weiß nicht, wo Ihr den ganzen Tag über waret. Habt Ihr diese Johanna gesehen?« »Nein«, erwiderte Matcham, »ich sah sie nicht.« »Hörtet Ihr auch nicht von ihr reden?« fuhr er fort. Die Schritte näherten sich. Sir Daniel brüllte noch vom Hof her den Namen Johannas. »Hörtet Ihr von ihr?« wiederholte Dick. »Ich hörte von ihr«, sagte Matcham. »Wie Eure Stimme zittert! Was fehlt Euch?« fragte Dick. »Diese Johanna ist ein ganz wunderbares Glück für uns. Sie hat die bösen Absichten Sir Daniels vereitelt.« »Dick«, rief Matcham, »ich bin verloren; wir sind beide verloren! Laßt uns fliehen, solange noch Zeit ist. Sie werden nicht ruhen, bis sie mich gefunden haben. Oder laßt mich fort von hier. Wenn sie mich gefunden haben, könnt Ihr fliehen. Laßt mich, Dick, laßt mich fort!« Sie tastete nach dem Riegel, als Dick endlich verstand.
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»Donnerwetter!« rief er aus, »Ihr seid nicht Jack; Ihr seid Johanna Sedley; Ihr seid das Mädchen, das mich nicht heiraten will!« Das Mädchen hielt inne und stand still und regungslos da. Auch Dick schwieg ein Weilchen, ehe er fortfuhr. »Johanna«, sagte er, »Ihr habt mir das Leben gerettet, und ich habe das Eure gerettet; wir haben Blut fließen sehen und sind Freunde und Feinde gewesen. Ich nahm meinen Gürtel, um Euch zu schlagen, und bei all dem habe ich Euch für einen Jungen gehalten. Aber nun greift der Tod nach mir. Meine Zeit ist abgelaufen, und ehe ich sterbe, muß ich Euch sagen: Ihr seid das beste und tapferste Mädchen unter der Sonne, und wenn ich noch leben könnte, würde ich Euch mit Freuden heiraten. Leben oder Sterben, ich liebe Euch!« Sie antwortete nichts. »Kommt«, sagte er, »heraus mit der Sprache, Jack. Kommt, seid ein gutes Mädchen und sagt, daß Ihr mich liebt!« »Ach, Dick«, rief sie, »würde ich sonst hier sein?« »Nun, seht her«, fuhr Dick fort, »wenn wir heil davonkommen, wollen wir heiraten; und wenn wir sterben müssen, so sterben wir gemeinsam, und alles hat ein Ende. Aber wie fandet Ihr mein Zimmer?« »Ich fragte Mutter Hatch danach«, antwortete sie. »Gut, diese alte Dame ist verschwiegen«, entgegnete er, »sie wird Euch nicht verraten. Wir haben noch Zeit!« Aber gerade jetzt, wie um seine Worte zu widerlegen, kamen Schritte den Gang entlang, und eine Faust schlug schwer gegen die Tür. »Hier!« rief eine Stimme. »Macht auf, Junker Dick, macht auf!« Dick rührte sich nicht und gab keine Antwort. »Es ist alles verloren«, sagte das Mädchen; und dabei schlang sie ihre Arme um Dicks Hals. Immer mehr Männer kamen an die Tür und stellten sich auf. Dann erschien Sir Daniel selbst, und plötzlich hörte der Lärm auf. »Dick«, schrie der Ritter, »seid kein Esel. Die Siebenschläfer hätten ja schon wach werden müssen. Wir wissen, daß sie bei Euch ist. öffnet also die Tür, Mann!« Dick verhielt sich weiter still. »Brecht sie auf!« befahl Sir Daniel. Und sogleich fielen seine Leute mit Füßen und Fäusten wie wild über die Tür her. Obwohl sie fest war und kräftig verriegelt, würde sie doch bald
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nachgegeben haben. Aber noch einmal half das Glück. Über dem Getöse der Schläge wurde plötzlich der Ruf der Wache vernommen; ihm folgte ein anderer. Geschrei lief die Zinnen entlang, Geschrei antwortete aus dem Walde. Im ersten Augenblick klang es, als ob die Waldbrüder einen Überfall auf die Wasserburg ausführten, und Sir Daniel und seine Leute ließen augenblicklich von dem Sturm auf Dicks Zimmer ab und stürzten davon, um die Wälle zu verteidigen. »Jetzt«, rief Dick, »sind wir gerettet.« Er ergriff die große alte Bettstelle mit beiden Händen und bückte sich, um sie von der Stelle zu bewegen. Aber es war vergeblich. »Helft mir, Jack. Um Eures Lebens willen, helft mit all Euren Kräften!« rief er. Sie zogen mit ungeheurer Anstrengung das mächtige Eichengestell durch den Raum und schoben es aufrecht vor die Zimmertür. »Was Ihr da macht, ist gerade verkehrt«, sagte Johanna traurig, »er wird dann durch die Falltür kommen.« »Das wird er nicht«, entgegnete darauf Dick. »Er darf sein Geheimnis nicht vor so vielen preisgeben. Wir müssen durch die Falltür entfliehen, Horch! Der Angriff ist vorüber. Nein, es war gar keiner!« Und es war in der Tat kein Angriff gewesen, sondern ein weiterer Trupp von Versprengten aus der verlorenen Schlacht bei Risingham hatte Sir Daniel in Unruhe versetzt. Sie waren dem Spießrutenlaufen unter dem Schutze der Nacht entgangen, man hatte sie durch das große Tor hereingelassen, und jetzt stiegen sie unter lautem Rossegestampf und Waffengeklirr im Hofe ab. »Er wird gleich zurückkommen«, sagte Dick. »Zur Falltür!« Er zündete eine Lampe an, und sie gingen beide in die Ecke des Zimmers. Den offenen Spalt, durch den noch Licht fiel, entdeckten sie leicht. Dick hatte ein starkes Schwert aus seiner spärlichen Ausrüstung genommen, trieb es tief in die Fuge und rüttelte kräftig an dem Griff. Die Falltür bewegte sich, öffnete sich ein wenig und stand schließlich ganz offen. Mit beiden Händen zugreifend, warfen die jungen Menschen die Tür zurück. Dadurch wurden einige hinabführende Stufen freigelegt. Auf der ersten Stufe stand eine brennende Lampe, die der Mörder dort stehengelassen hatte. »Jetzt«, sagte Dick, »geht voran und nehmt die Lampe. Ich werde folgen und die Falltür schließen.«
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So stiegen sie hintereinander hinunter; und als Dick die Falltür herabließ, setzten die donnernden Schläge auf die Türfüllung von neuem ein.
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Viertes Kapitel Der geheime Gang
Der Gang, in dem sich Dick und Johanna jetzt befanden, war eng, schmutzig und kurz. An seinem anderen Ende stand eine Tür halboffen; anscheinend dieselbe Tür, die von dem Manne geöffnet worden war. Dichte Spinngewebe hingen von der Decke, und der Steinfußboden gab unter dem leichtesten Schritt einen hohlen Klang. Jenseits der Tür teilte sich der Gang in zwei Abzweigungen, die im rechten Winkel zueinander standen. Dick wählte aufs Geratewohl eine von ihnen, und das Paar eilte mit hallenden Schritten die Vertiefung am Dach der Kapelle entlang. Der Grat der gewölbten Decke erhob sich wie der Rücken eines Walfisches in dem trüben Schimmer der Lampe. Hier und da sahen sie Spählöcher, die auf der anderen Seite durch das Bildwerk des Gesimses verborgen wurden. Als Dick durch eins von diesen hinunterblickte, sah er den gepflasterten Fußboden der Kapelle, den Altar mit seinen brennenden Wachskerzen, und auf den Altarstufen hingestreckt erblickte er die Gestalt Sir Olivers, der mit erhobenen Händen betete. Am anderen Ende stiegen sie ein paar Stufen hinab. Der Gang wurde enger; auf einer Seite zog sich jetzt eine Holzwand hin. Lärm von redenden Leuten und ein schwaches Flackern von Lichtern drang durch die Ritzen. Jetzt stießen sie auf ein rundes Loch von der Größe eines menschlichen Auges, und Dick erblickte, als er hindurchsah, das Innere der Halle, in der etwa ein halbes Dutzend Männer um den Tisch saß. Sie aßen eine Wildpastete und tranken dazu; es waren gewiß einige von den zuletzt Angekommenen. »Hier ist nichts zu machen«, sagte Dick. »Laßt uns versuchen zurückzukommen.« »Nein«, sagte Johanna, »vielleicht führt der Gang weiter.« Und sie drängte vorwärts. Aber nach ein paar Ellen endete der Gang an einer kurzen Treppe, und es wurde klar, daß auf dieser Seite ein
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Entkommen unmöglich war, solange die Söldner in der Halle saßen. In denkbar größter Eile gingen sie den Weg zurück, um die andere Abzweigung zu untersuchen. Sie war sehr eng, für einen großen Menschen kaum geräumig genug, und führte über kleine, halsbrecherische Stufen auf und ab, bis sogar Dick nicht mehr wußte, wie sie wieder herausfinden sollten. Endlich wurde der Seitengang noch enger und niedriger. Die Stufen führten nur noch weiter abwärts; die Mauern fühlten sich feucht und glitschig an, und weit vor sich hörten sie das Geräusch von Ratten. »Wir müssen in den Verliesen sein«, bemerkte Dick. »Und noch immer kein Ausgang«, fügte Johanna hinzu. »Ach, es muß aber doch einen Ausgang geben!« antwortete Dick. Jetzt erreichten sie eine scharfe Ecke, und dann endete auch dieser Gang in Treppenstufen. Zu ihren Häupten war statt einer Falltür eine feste Steinplatte. Gegen diese stemmten sie sich beide mit dem Rücken. Es war unmöglich, sie zu bewegen. »Irgend jemand hält sie«, vermutete Johanna. »Das glaube ich nicht«, sagte Dick, »selbst wenn ein Mann so stark wie zehn wäre, müßte er doch ein wenig nachgeben. Aber das hier widersteht wie totes Gestein. Es muß ein schweres Gewicht auf ihr liegen. Hier können wir nicht hinaus. Wahrhaftig, guter Jack, wir sind hier genauso gefangen, als wenn Fesseln an unseren Fußknöcheln säßen. Setzt Euch nieder, wir wollen miteinander plaudern. Nach einer Weile werden wir zurückkehren, wenn die andern vielleicht weniger wachsam auf ihrem Posten sind. Und dann – wer weiß – könnten wir ausbrechen und entkommen. Aber meiner Meinung nach sind wir so gut wie verloren.« »Dick!« rief das Mädchen, »es war ein Unglückstag, an dem Ihr mich zum erstenmal gesehen habt! Ich Pechvogel und undankbares Mädchen habe Euch in diese Lage gebracht.« »Was redet Ihr!« entgegnete Dick. »Es war alles vorbestimmt, und was vorbestimmt ist, man mag wollen oder nicht, geschieht immer. Aber erzählt mir ein wenig, was für ein Mädchen Ihr seid und wie Ihr in die Hände Sir Daniels gefallen seid. Das wäre für Euch und für mich besser, als daß Ihr Euer Los beklagt.« »Ich bin eine Waise wie Ihr, habe weder Vater noch Mutter«, sagte Johanna; »und zu meinem großen Unglück und nun auch zu Eurem, Dick, bin ich eine gute Partie. Lord Foxham war mein Vormund. Trotzdem scheint es, als ob Sir Daniel vom König das
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Recht erworben hat, mich zu verheiraten. Er mag einen recht hohen Preis dafür gezahlt haben. So stand ich armes Mädchen zwischen zwei einflußreichen und wohlhabenden Männern, die sich um das Recht stritten, mich zu verheiraten. Das alles, während ich noch Kind war. Nun, dann veränderte sich die Welt. Es kam ein neuer Kanzler, und Sir Daniel erwarb das Vormundschaftsrecht über Lord Foxhams Kopf hinweg. Und von da ab steht es übel zwischen den beiden. Aber noch hatte mich Lord Foxham in der Hand und war mir ein guter Beschützer. Schließlich sollte ich verheiratet werden – oder verkauft, wie Ihr es nehmen wollt. Fünfhundert Pfund sollte Lord Foxham für mich bekommen. Hamley hieß der Bräutigam, und ausgerechnet morgen, Dick, sollte ich verlobt werden. Hätte mich Sir Daniel nicht entführt, wäre ich verheiratet worden, ganz gewiß – und hätte dich niemals gesehen, Dick, lieber Dick!« »Also«, fuhr sie fort, »Sir Daniel entführte mich ganz überraschend, als ich mich im Garten befand, und ließ mich in diese Männerkleidung stecken, die zu tragen eine Todsünde für ein Weib bedeutet8. Mit weiterem versorgte er mich nicht. Er ritt mit mir nach Kettley – wie Ihr wißt – und sagte mir, ich solle Euch heiraten. Aber ich war mir in meinem Herzen ganz klar darüber, daß ich, ihm zum Trotz, Hamley heiraten würde.« »Wie!« rief Dick, »so liebtet Ihr also diesen Hamley?« »Nein«, erwiderte Johanna, »keineswegs; ich haßte nur Sir Daniel. Und dann, Dick, halft Ihr mir und waret so gut zu mir und so unerschrocken. Ihr gewannet mein Herz trotz meines Widerstrebens. Und jetzt, wenn wir es nur irgendwie durchsetzen könnten, würde ich Euch mit wahrer Zuneigung heiraten. Und wenn es ein grausames Schicksal anders bestimmt haben sollte, werde ich Euch doch immer treu bleiben. Solange mein Herz schlägt, wird es Euch treu sein.« »Und ich«, sagte Dick, »der ich mir bis jetzt noch nie etwas aus einer Frau gemacht habe, schloß Euch in mein Herz, als ich glaubte, Ihr wäret ein Junge. Ich hatte Mitleid mit Euch, ohne zu wissen, warum. Als ich Euch schlagen wollte, versagte mir die Hand. Aber als Ihr Euch als Mädchen zu erkennen gabt, Jack – immer noch will ich Euch Jack nennen –, war ich ganz sicher, Ihr wäret das rechte Mädchen für mich. Horch!« sagte er abbrechend, »es kommt jemand.«
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Und wirklich wurde jetzt ein schwerer Schritt in dem widerhallenden Gang hörbar, und die Ratten stoben in Rudeln auseinander. Dick erkannte klar die Lage. Die plötzliche Wendung gab ihm einen Vorteil. Er konnte, durch die Mauer gedeckt, sicher schießen. Aber er erkannte, daß ihm das Licht zu nahe stand. Er lief also ein Stück vor, setzte die Lampe mitten in den Gang, kehrte dann zurück und wartete ab. Jetzt wurde am Ende des Ganges Bennet Hatch sichtbar. Er schien allein zu sein und hielt eine brennende Fackel in der Hand, so daß er um so deutlicher zu erkennen war. »Halt, Bennet!« rief Dick. »Noch einen Schritt, und Ihr seid des Todes.« »Also hier seid Ihr«, entgegnete Hatch und spähte suchend in die Finsternis. »Ich sehe Euch nicht. Aha! Ihr habt klug gehandelt, Dick, als Ihr die Lampe vor Euch hinstelltet. Wahrhaftig! Obgleich es geschehen ist, um mir den Garaus zu machen, so freue ich mich doch, zu sehen, daß Ihr durch meine Unterweisungen gelernt habt! Und was macht Ihr jetzt? Was sucht Ihr hier? Warum wollt Ihr auf einen guten Freund schießen? Und habt Ihr das junge Edelfräulein da?« »Nein, Bennet, ich bin es, der fragen sollte, und Ihr solltet antworten«, antwortete Dick. »Weshalb ist mein Leben in dieser Gefahr? Warum kommen Männer, die mich meuchlings in meinem Bett erschlagen wollen? Warum muß ich jetzt aus meines eigenen Vormunds festem Haus fliehen, vor den Freunden, unter denen ich gelebt und die ich nie beleidigt habe?« »Junker Dick«, sagte Bennet, »was sagte ich Euch? Ihr seid tapfer, aber der ungeschickteste junge Mensch, den ich mir denken kann!« »Gut«, erwiderte Dick. »Ich sehe, Ihr wißt alles und auch, wozu ich verurteilt bin. Es ist gut. Hier, wo ich bin, bleibe ich. Soll Sir Daniel mich herausholen, wenn er dazu imstande ist!« Hatch schwieg zunächst. »Hört«, begann er dann, »ich kehre zu Sir Daniel zurück, ihm zu sagen, wo Ihr seid und wie Ihr Euch verschanzt habt. Denn um das zu erkunden, hat er mich hierhergeschickt. Aber Ihr, wenn Ihr kein Narr seid, tätet am besten, auf und davon zu sein, ehe ich zurückkehre.« »Also fort!« erwiderte Dick. »Ich würde schon weg sein, wenn ich wüßte, wie. Ich kann die Falltür nicht von der Stelle bewegen.«
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»Faßt nur mit der Hand an die Ecke der Falltür und seht, was Ihr dort findet«, gab Bennet zur Antwort. »Throgmortons Seil ist noch in dem Braunen Zimmer. Lebt wohl.« Und Hatch drehte sich um und verschwand. Dick kehrte augenblicklich zu seiner Lampe zurück und beeilte sich, nach Hatchs Wink zu handeln. An einer Ecke der Falltür war eine tiefe Aushöhlung in der Mauer. Als er seinen Arm in die Öffnung steckte, fand er einen eisernen Riegel, den er kräftig hochschob. Darauf folgte ein schnappendes Geräusch, und die Steinplatte sprang sogleich in ihr Bett zurück. Sie konnten nun den Gang verlassen. Durch eine geringe Kraftanstrengung wurde die Falltür leicht hochgehoben; sie traten in ein gewölbtes Gemach, dessen Fenster nach dem Hofe lagen, wo zwei Burschen mit nackten Armen die Pferde der zuletzt Angekommenen striegelten. Einige Fackeln in einem eisernen Ring beleuchteten flackernd die Szene.
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Fünftes Kapitel Wie Dick die Partei wechselt
Dick, der seine Lampe ausblies, um die Aufmerksamkeit weniger auf sich zu lenken, schritt die Stufen hinauf und über den Korridor. Im Braunen Zimmer war das Seil am Gestell eines ungewöhnlich schweren alten Bettes befestigt. Es war nicht losgebunden worden, und Dick brachte die Rolle ans Fenster und begann das Seil im Dunkel der Nacht leise und vorsichtig hinabzulassen. Johanna stand neben ihm. Aber als das Seil kein Ende nehmen wollte und Dick es immer weiter hinabließ, wich ihre Entschlossenheit tiefer Furcht. »Dick«, sagte sie, »ist es so tief? Ich versuche es erst gar nicht. Ich würde unfehlbar abstürzen, lieber Dick.« Als sie sprach, erschrak er, und das letzte Ende der Rolle glitt aus seinen Händen und platschte in den Graben. Sogleich ertönte von der Zinne her die Stimme einer Wache: »Wer da?« »Verflucht!« sagte Dick. »Sollen wir verloren sein? Hinunter mit Euch – nehmt das Seil.« »Ich kann nicht«, keuchte zurückschaudernd Johanna. »Wenn Ihr nicht könnt, bin auch ich verloren. Wie soll ich ohne Euch durch den Graben schwimmen? Wollt Ihr mich denn verlassen?« »Dick«, stöhnte sie, »ich kann nicht. Ich habe keine Kraft mehr.« »Zum Teufel, dann sind wir beide verloren!« schrie er auf und stampfte mit dem Fuße. Dann sprang er, da er Schritte vernahm, zur Zimmertür und versuchte, sie zu schließen. Ehe er den Riegel vorschieben konnte, drückten kräftige Fäuste von außen gegen die Tür. Er widerstand für eine Sekunde. Dann lief er, da er fühlte, daß seine Kräfte nicht ausreichen würden, zum Fenster zurück. Das Mädchen war gegen die Mauer der Fensternische gefallen. Sie war fast bewußtlos, und als er versuchte, sie in seine Arme zu reißen, fühlte sich ihr Körper wie der einer Toten an.
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In diesem Augenblick legten die Männer, die durch die Tür eingedrungen waren, Hand an ihn. Den vordersten erdolchte er gleich mit einem wohlgezielten Stich. Dann benutzte er die Verwirrung, in welche die andern für einen Augenblick gerieten, und sprang schnell auf das Fensterbrett, ergriff das Seil und ließ sich hinabgleiten. Das Seil war geknotet, um das Hinuntersteigen zu erleichtern. Aber Dick war so ungestüm und seine Erfahrung in solchen Übungen so gering, daß er in der freien Luft baumelte wie ein Verbrecher am Galgen. Bald prallte er mit dem Kopf gegen das harte Mauerwerk, bald stieß er sich daran die Hände wund. Es sauste ihm in den Ohren. Er sah die Sterne über sich und unter sich ihren Widerschein im Graben, wie welke Blätter im Sturm huschend. Dann verlor er den Halt, stürzte und schoß kopfüber in das eiskalte Wasser. Als er wieder an die Oberfläche kam, erwischte seine Hand das Seil, das, eben erst von seinem Gewicht befreit, heftig hin und her schwang. Dann flammte zu seinen Häupten ein roter Feuerschein auf, und als er hochblickte, sah er oben auf den Zinnen beim Licht mehrerer Fackeln und einer Pfanne voll brennender Kohle die Gesichter vieler Männer. Er konnte zwar ihre Augen erkennen, aber er war so tief unten, daß der Fackelschein ihn nicht erreichte, so daß sie vergeblich nach ihm ausschauten. Jetzt aber bemerkte er, daß das Seil viel zu lang war. Sogleich machte er, so gut er konnte, alle Anstrengungen, das jenseitige Ufer des Grabens zu erreichen, wobei er immer den Kopf über Wasser hielt. So hatte er schon mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt und befand sich in Reichweite des Ufers, ehe das Seil ihn durch sein eigenes Gewicht wieder zurückziehen konnte. Er nahm all seinen Mut zusammen, ließ das Seil los und sprang auf die herabhängenden Weidenäste zu, die schon ein paar Stunden vorher dem Boten Sir Daniels an Land geholfen hatten. Er versank, kam wieder hoch, sank ein zweites Mal. Dann aber erfaßte seine Hand einen Zweig, und in Blitzesschnelle hatte er sich triefend und keuchend an den Stamm des Baumes geklammert, noch ungewiß, ob seine Flucht gelungen war. All das war nicht ohne lautes Plätschern vor sich gegangen, das den Männern auf den Zinnen seinen Standort deutlich verraten mußte. Pfeile und Armbrustbolzen fielen in der Finsternis dicht wie Hagelschauer um ihn herum; und plötzlich wurde eine Fackel
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herabgeworfen, die flackernd durch die Luft sauste, irgendwo für einen Augenblick hell lodernd feststak und gleich einem Freudenfeuer ihren ganzen Umkreis erhellte. Zu Dicks Glück kippte sie dann aber um und fiel in den Graben, wo sie augenblicklich erlosch. Sie hatte jedoch ihren Zweck erfüllt. Die Schützen hatten Zeit gehabt, die Weide zu sehen und Dick zu erkennen, der sich unter ihren Zweigen verbarg. Obgleich der Jüngling augenblicklich höher auf das Ufer hinaufsprang und um sein Leben rannte, war er doch nicht flink genug, einem Schuß zu entgehen. Er wurde von einem Pfeil an der Schulter getroffen, ein zweiter streifte ihn am Kopf. Der Schmerz seiner Wunden verlieh ihm Flügel, und er war kaum auf die Höhe gelangt, als er mit aller Kraft davonlief und geradewegs in die Dunkelheit rannte, ohne an die Richtung seiner Flucht zu denken. Noch einige Schritte weiter folgten ihm Geschosse. Bald aber stellten sie das Schießen ein, und als er schließlich zurückblickte, war er schon ein gutes Stück von der Wasserburg entfernt, obwohl er noch die Fackeln sehen konnte, die sich auf den Zinnen hinund herbewegten. Völlig erschöpft und verwundet, triefte er von Wasser und Blut. Einsam lehnte er sich gegen einen Baum. Er hatte für diesmal sein Leben gerettet, und wenngleich Johanna in der Gewalt Sir Daniels zurückblieb, so machte er sich doch keine Vorwürfe wegen eines Zufalls, dem er machtlos gegenübergestanden hatte. Auch vermutete er keine verderblichen Folgen für das Mädchen selbst. Sir Daniel war zwar grausam, aber wohl kaum gegen ein junges Edelfräulein, das Beschützer hatte, die gewillt und mächtig genug waren, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Es lag näher, daß er sich beeilen würde, sie mit irgendeinem seiner Freunde zu verheiraten. Gut, dachte Dick, ich werde Mittel und Wege finden, um diesen Schurken unschädlich zu machen; denn ich glaube, weiß Gott, daß ich von nun ab jeder Dankesschuld und jeder Verpflichtung ledig bin. Und bei offener Feindschaft hat jeder seine guten Aussichten. Vorläufig jedoch befand er sich in einer üblen Lage. Er arbeitete sich ein kleines Stück Weges mühsam durch den Wald. Aber seine Wundschmerzen, die äußerste Unruhe und Verwirrung seines Herzens und die Finsternis der Nacht machten ihn unfähig, sich weiter zu bewegen oder das dichte Unterholz zu
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durchdringen. So war er schließlich genötigt, sich mit dem Rücken gegen einen Baum zu lehnen. Als er aus einem Zustand, der zwischen Schlaf und Ohnmacht schwankte, wieder zu sich kam, hatte das Morgengrauen schon begonnen, die Nacht zu vertreiben. Ein kühler Wind rauschte in den Baumwipfeln, und wie er so in halbwachem Zustand dasaß und vor sich hin starrte, gewahrte er etwas Dunkles, das in einer Entfernung von einigen hundert Ellen zwischen den Bäumen hinund herschwang. Das fortschreitende Erwachen des Tages und das Wiedererstarken seiner Sinne gestatteten ihm schließlich festzustellen, daß ein Mann vom Ast einer großen Eiche herabhing. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken. Bei jedem stärkeren Windstoß drehte sich sein Körper rundherum, und seine Arme und Beine wurden hin- und hergeworfen wie bei einem lächerlichen Spielzeug. Dick sprang auf die Füße und ging schwankend auf dieses Bild des Schreckens zu, wobei er sich von Zeit zu Zeit an einen Baumstamm lehnen mußte. Der Ast mochte sich etwa zwanzig Fuß über dem Erdboden befinden, und der arme Mensch war von seinen Henkern so hoch hinaufgezogen worden, daß seine Füße ein gutes Stück über Dicks Reichweite hingen. Da man ihm seinen Hut über das Gesicht gezogen hatte, war es unmöglich, den Mann zu erkennen. Dick besah ihn sich von allen Seiten. Schließlich bemerkte er, daß das andere Ende des Seiles am Stamm eines kleinen Weißdornbusches befestigt war, der, voller Blüten, unter dem hochgewölbten Geäst des Eichbaumes wuchs. Mit seinem Dolche, der ihm von seinen Waffen allein geblieben war, zerschnitt Junker Shelton das Seil, und sogleich fiel der Körper mit einem dumpfen Aufprall auf einen Erdhaufen. Als Dick den Hut weggezogen hatte, erkannte er Throgmorton, den Boten Sir Daniels. Er war mit seiner Botschaft nicht sehr weit gekommen. Ein Papier, das offenbar der Aufmerksamkeit der Männer vom Schwarzen Pfeil entgangen war, stak noch im Busen seiner Jacke, und als Dick es herauszog, erkannte er Sir Daniels Schreiben an Lord Wensleydale. »Wohlan«, sagte er sich, »wenn die Zeiten sich wieder ändern, werde ich alles Nötige haben, um Sir Daniel bloßzustellen – ja, um ihn vielleicht auf den Block zu bringen.«
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Und er steckte das Papier in seine eigene Jacke, sprach ein Gebet über dem Toten und setzte seinen Weg durch den Wald weiter fort. Seine Müdigkeit und Schwäche nahmen weiter zu; in seinen Ohren brauste es, sein Gang war schwankend, seine Geisteskräfte schienen zeitweise auszusetzen; so sehr hatte ihn der Blutverlust geschwächt. Er irrte verschiedene Male vom richtigen Wege ab, erreichte aber schließlich doch die Heerstraße, nicht sehr weit entfernt vom Weiler Tunstall. Eine rauhe Stimme befahl ihm, stehenzubleiben. »Stehen?« wiederholte Dick. »Zum Teufel, ich bin dem Fallen näher.« Und, wie um seinen Worten die Tat folgen zu lassen, fiel er in seiner ganzen Länge vornüber auf die Straße. Zwei Männer traten aus dem Dickicht, beide in grünen Wämsern, mit Langbogen, Köcher und kurzem Schwert. »Seht doch, Lawless«, sagte der jüngere von beiden, »das ist der junge Shelton.« »Ah, das wird ein gefundenes Fressen für John den Rächer sein«, erwiderte der andere. »Aber, meiner Treu, er ist anscheinend in Kämpfe verwickelt worden. Hier ist ein Loch in seinem Schädel, das ihn manche Unze Blut gekostet haben muß.« »Und hier«, fügte Greensheve hinzu, »hat er eine Wunde in der Schulter, die ihm gewiß schwer zu schaffen gemacht hat. Was meint Ihr wohl, wer das getan hat? Wenn es einer von den Unsern gewesen ist, dann gnade ihm Gott! Ellis wird ihm eine kurze Beichte und einen langen Strick geben.« »Auf mit dem Jungen«, sagte Lawless. »Hebt ihn mir auf die Schulter.« Und als sie Dick auf seine Schulter gehoben und dessen Arme um seinen Nacken gelegt hatten, fügte der Ex-Franziskaner hinzu: »Nehmt Ihr den Posten wieder ein, Bruder Greensheve. Ich werde ihn allein weiterschleppen.« So kehrte Greensheve in sein Versteck am Wegrande zurück, während Lawless schweren Schrittes den Hügel hinabstieg, wobei er sogar noch pfiff. Dick ruhte in tödlicher Ohnmacht bequem auf seinen Schultern. Die Sonne ging auf, als sie aus dem Walde hervorkamen und den Weiler Tunstall vor sich liegen sahen, der sich am gegenüberliegenden Hügel hinanzog. Alles schien ruhig zu sein,
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aber ein starker Posten von etwa zehn Bogenschützen lag dicht an der Brücke beiderseits des Flusses. Sobald sie Lawless mit seiner Bürde auf der Schulter bemerkten, wurden sie aufmerksam, und da sie wachsame Posten waren, brachten sie ihre Bogen in Anschlag. »Wer da?« rief der Befehlshaber. »Will Lawless, beim Kreuz – Ihr kennt mich doch wie Eure eigene Hand«, entgegnete geringschätzig der Geächtete. »Gebt die Parole, Lawless«, erwiderte der andere. »Nun, der Himmel möge dich erleuchten, du Narr«, gab Lawless zur Antwort. »Habe ich sie dir nicht selbst bekanntgegeben? Aber ihr seid alle wie versessen aufs Soldatenspielen. Wenn ich im grünen Walde bin, schere ich mich den Teufel darum. Und mein Wort für diesen Tag ist: Keinen Pfifferling für alles lächerliche Kriegsvolk!« »Lawless, Ihr bietet nur ein schlechtes Beispiel. Gebt uns die Parole, närrischer Spötter«, sagte der Wachhabende. »Und wenn ich sie vergessen hätte?« fragte jener. »Wenn Ihr sie vergessen hättet – was, wie ich weiß, nicht stimmt –, weiß der Himmel, ich würde Euch einen Pfeil in Euren dicken Wanst jagen«, wurde ihm entgegnet. »Na, und wenn Ihr noch so ein übler Spötter seid«, sagte Lawless, »will ich Euch dennoch die Parole sagen. ›Duckworth und Shelton‹ heißt sie. Und hier, zur Erläuterung, ist Shelton auf meiner Schulter und zu Duckworth bringe ich ihn.« »Passiert, Lawless«, kam es von der Wache. »Und wo ist John?« fragte der Franziskaner. »Er hält Hof, zum Teufel, und nimmt Abgaben in Empfang, als sei er dazu geboren!« rief ein anderer aus dem Trupp. So war es tatsächlich. Als Lawless die kleine Herberge am Ende des Dorfes erreichte, fand er Ellis Duckworth inmitten von Sir Daniels Pächtern, vermöge seiner ansehnlichen Schar von Bogenschützen ganz gelassen damit beschäftigt, Renten einzuziehen und Quittungen zur Bestätigung dafür auszustellen. Aus den Mienen der Pächter war zu lesen, wie wenig dieses Verfahren ihnen zusagte; denn sie vermuteten ganz richtig, daß sie doppelt zu zahlen haben würden. Sobald er erfuhr, wen Lawless gebracht hatte, schickte Ellis die letzten Pächter fort und ließ Dick interessiert und aufmerksam in ein stilles Zimmer des Gasthauses bringen. Dort untersuchten sie
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die Wunden des Jünglings und brachten ihn durch einfache Mittel wieder ins Bewußtsein zurück. »Lieber Junge«, sagte Ellis, wobei er ihm die Hände drückte, »Ihr seid in der Hand eines Freundes, der Euren Vater liebte und deshalb auch Euch liebt. Ruht Euch erst einmal aus, denn Ihr seid ein wenig mitgenommen. Dann sollt Ihr mir Eure Geschichte erzählen. Inzwischen wird sich ein Heilmittel für alles finden.« Als der Tag weiter vorgerückt war, erwachte Dick aus einem erquickenden Schlummer. Er fühlte sich zwar noch sehr schwach, aber klar im Kopf und körperlich frischer, so daß Ellis, als er zurückkehrte und sich zu ihm an den Bettrand setzte, ihn im Namen seines Vaters bat, die Umstände seiner Flucht aus der Wasserburg Tunstall zu erzählen. Es lag etwas in der Festigkeit von Duckworths Auftreten, in der Biederkeit seines gebräunten Gesichts, in der Klarheit und Schalkhaftigkeit seiner Augen, was Dick bewog, dem Folge zu leisten, und er erzählte ihm seine Abenteuer der letzten zwei Tage. »Gut«, sagte Ellis, als er fertig war, »seht, was die gütigen Heiligen für Euch getan haben, Dick Shelton. Nicht allein haben sie Euch aus so vielen und tödlichen Gefahren gerettet, sondern Euch auch in meine Hand gegeben, der ich keinen innigeren Wunsch habe, als dem Sohn Eures Vaters beizustehen. Seid nur aufrichtig zu mir, ich sehe, Ihr seid aufrichtig, und wir werden diese treulosen Verräter zur Strecke bringen.« »Wollt Ihr die Feste angreifen?« fragte Dick. »Ich müßte wirklich ein Narr sein, wenn ich daran dächte«, entgegnete Ellis. »Er hat zuviel Macht; seine Leute sammeln sich um ihn. Diejenigen, die mir letzte Nacht entwischten und in der Tat so günstig für Euch anlangten – die haben ihn sicher gemacht. Nein, Dick, im Gegenteil, Ihr und ich und unsere wackeren Bogenmänner, wir müssen alle schleunigst aus diesem Walde verschwinden und Sir Daniel in Ruhe lassen.« »Ich ahne nichts Gutes. Sie werden Jack etwas zuleide tun«, sagte der Jüngling. »Jack?« wiederholte Duckworth. »Oh, ich verstehe, das Mädchen! Nein, Dick, ich verspreche Euch, wenn irgendwie von Heirat die Rede ist, werden wir sogleich handeln. Bis dahin oder bis die Zeit reif ist, werden wir alle verschwinden, so wie Schatten am Morgen. Sir Daniel soll, wenn er nach Osten oder Westen schaut, keinen Feind erblicken, er soll wahrhaftig denken, daß er
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inzwischen geträumt hat und nun in seinem Bett aufgewacht ist. Aber unsere vier Augen, Dick, sollen ständig über ihm wachen, und unsere vier Hände – dazu mögen uns die himmlischen Heerscharen helfen! – sollen diesen Verräter niederwerfen!« Zwei Tage später war Sir Daniels Mannschaft zu solcher Stärke angewachsen, daß er einen Ausfall wagte und an der Spitze von etwa vierzig Berittenen bis Tunstall vordrang, ohne auf Widerstand zu stoßen. Es flog nicht ein Pfeil, nicht ein Mann rührte sich im Dickicht. Die Brücke war nicht mehr bewacht, sondern stand jedermann offen; und als Sir Daniel sie überschritt, sah er die Dorfbewohner furchtsam aus ihren Türen blicken. Dann faßte sich einer von diesen ein Herz, trat hervor und überreichte dem erstaunten Ritter nach untertänigster Begrüßung furchtsam einen Brief. Sein Gesicht verdüsterte sich, als er den Inhalt las. Er lautete: »An den höchst treulosen und grausamen Herrn und Ritter, Sir Daniel Brackley, folgendes: Ich finde, Ihr waret treulos und herzlos von Anbeginn. Ihr habt meines Vaters Blut an Euren Händen. Gebt Euch keine Mühe, es läßt sich nicht abwaschen. Eines Tages werdet Ihr durch meine Anstrengungen untergehen, soviel lasse ich Euch wissen. Und ich tue Euch ferner kund und zu wissen, daß der Schlag besonders schnell fallen wird, wenn Ihr versuchen solltet, das Edelfräulein Johanna Sedley einem anderen zu vermählen, da ich durch einen heiligen Eid gebunden bin, sie zu heiraten. Der erste Schritt, den Ihr dazu tut, wird der erste Schritt zu Eurem Grabe sein. Richard Shelton«
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Drittes Buch Lord Foxham
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Erstes Kapitel Das Haus am Meeresstrand
Monate waren vergangen, seit Richard Shelton sich der Macht seines Vormunds durch die Flucht entzogen hatte. Diese Monate waren ereignisreich für England gewesen. Die Lancastersche Partei, die damals am Ende ihrer Kräfte gewesen war, hatte noch einmal ihr Haupt erhoben. Die Yorkschen waren niedergeschlagen und auseinandergejagt, ihr Führer im Felde gefallen. So schien es für eine ganz kurze Zeit während des Winters, der auf die bereits berichteten Ereignisse folgte, als ob das Haus Lancaster endgültig über seine Feinde triumphiert hätte. Die kleine Stadt Shoreby am Till lag voll von Lancasterschen Rittern aus der Umgebung. Graf Risingham war mit dreihundert, Lord Shoreby mit zweihundert schwerbewaffneten Reisigen da. Sir Daniel, hoch in Gunst und noch reicher geworden durch beschlagnahmte Güter, lag mit sechzig Mann in seinem Hause an der Hauptstraße. Die Welt hatte sich wirklich verändert. Es war ein dunkler, bitterkalter Abend in der ersten Woche des Januar, mit strengem Frost, starkem Wind und allen Anzeichen, daß es vor Anbruch des neuen Tages noch Schnee geben würde. In einer Nebenstraße, nahe dem Hafen, saßen in einer düsteren Schenke einige Männer, die Bier tranken und hastig eine Eierspeise verzehrten. Sie waren alle vielversprechende, fröhliche, wettergebräunte Burschen mit starken Herzen und kühnen Augen; und obgleich sie einfache Röcke wie Landleute trugen, so würde sich doch sogar ein betrunkener Söldner sehr vorgesehen haben, ehe er in einer solchen Gesellschaft einen Streit gesucht hätte. Ein wenig abseits, vor dem mächtigen Feuer, saß ein jüngerer Mann, fast ein Knabe noch, auf die gleiche Art gekleidet, obwohl man leicht seinem Gesicht ansehen konnte, daß er von höherer Abkunft war und gern ein Schwert getragen hätte, wenn die Zeiten danach gewesen wären. »Nein«, sagte einer der Männer am Tisch, »ich halte es hier nicht aus, ich will weg. Das ist kein Platz für fröhliche Brüder. Ein lustiger Bursche liebt offenes Land, gute Deckung und wenig
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Feinde; aber hier sind wir in einer Stadt eingeschlossen, von Feinden umgeben, und zu alledem wird es vor dem Morgen auch noch schneien.« »Das tun wir alles für Junker Shelton dort«, sagte ein anderer und wies mit einem Kopfnicken auf den Jüngling vor dem Feuer. »Ich will viel für Junker Shelton tun«, erwiderte der erste, »aber für einen anderen an den Galgen kommen – nein, Brüder, das mag ich nicht!« Die Tür der Herberge tat sich auf; ein Mann trat ein und näherte sich dem jungen Menschen vor dem Feuer. »Junker Shelton«, sagte er, »Sir Daniel bricht mit ein paar Fackelträgern und vier Bogenschützen auf.« Dick sprang sofort hoch. »Lawless«, sagte er, »Ihr werdet John Cappers Wache übernehmen; Greensheve, folgt mir; Capper geht voraus. Wir wollen ihm diesmal folgen, selbst wenn er nach York ginge.« Im nächsten Augenblick befanden sie sich draußen in den dunklen Straßen, und Capper, der Mann, der soeben gekommen war, zeigte dorthin, wo in geringer Entfernung zwei Fackeln im Winde loderten. Die Stadt lag schon in tiefem Schlaf. Niemand war auf den Straßen zu sehen, und es gab nichts Leichteres, als unbeobachtet der Abteilung zu folgen. Die zwei Fackelträger gingen als erste, dann folgte ein Mann, dessen langer Mantel im Winde wehte, und den Nachtrab bildeten die vier Bogenschützen. Sie gingen in raschem Tempo und wandten sich durch das Gassengewirr näher an den Strand heran. »Ist er jede Nacht in dieser Richtung gegangen?« fragte Dick in flüsterndem Ton. »Das geht schon die dritte Nacht so, Junker Shelton«, erwiderte Capper, »und stets zur gleichen Stunde und mit demselben kleinen Gefolge, als ob sein Ziel geheimgehalten werden sollte.« Sir Daniel und seine sechs Begleiter hatten die Grenze der Stadt erreicht. Shoreby war eine offene Stadt, und obwohl die Lancasterschen Herren, die dort lagen, an den Heerstraßen Wache halten ließen, war es immer noch möglich, auf den kleineren Straßen oder quer durch das offene Land ungesehen herein- und wieder hinauszukommen. Der Weg, den Sir Daniel verfolgt hatte, endete plötzlich. Vor ihm lag ein rauhes Dünengelände, und man hörte das Brüllen der
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Meeresbrandung. Es waren weder Wachen in der Umgebung noch leuchtete Licht in irgendeinem Stadtviertel. Dick und die zwei Geächteten rückten ein wenig dichter an den Gegenstand ihrer Verfolgung heran, und eben, als sie sich von den Häusern entfernten und einen besseren Überblick bekamen, gewahrten sie eine Fackel, die sich aus einer anderen Richtung näherte. »Hei«, sagte Dick, »ich wittere Verrat.« Inzwischen hatte Sir Daniel angehalten. Die Fackeln wurden in den Sand gesteckt, und die Männer lagerten sich, als wollten sie die Ankunft der anderen Partei erwarten. Diese zog rüstigen Schrittes heran. Sie bestand nur aus vier Männern, zwei Bogenschützen, einem Diener mit einer Fackel und einem in einen Mantel gehüllten Mann, der in ihrer Mitte ging. »Seid Ihr es, Mylord?« rief Sir Daniel. »Ja, ich bin es; und wenn sich je einer als ein treuer Ritter erwies, so ich«, erwiderte der Führer des anderen Trupps; »denn wer würde nicht lieber Riesen, Zauberern oder Heiden trotzen als diesem schneidenden Frost?« »Mylord«, erwiderte Sir Daniel, »ihre Schönheit wird Euch nur um so mehr erfreuen. Zweifelt nicht daran. Aber sollen wir nicht weitergehen? Denn je eher Ihr meine Ware gesehen habt, um so schneller werden wir beide wieder zu Hause sein.« »Aber warum haltet Ihr sie hier versteckt, guter Ritter?« fragte der andere. »Wenn sie so jung und schön und reich ist, warum bringt Ihr sie dann nicht in den Kreis ihrer Kameradinnen? Ihr könntet sie bald gut unter die Haube bringen und hättet nicht nötig, Eure Hände erfrieren zu lassen und Euch der Gefahr auszusetzen, erschossen zu werden, wenn Ihr zu so ungewohnter Stunde in der Dunkelheit umherreist.« »Ich habe Euch den Grund genannt, Mylord«, erwiderte Sir Daniel, »der mich allein dazu veranlaßt. Auch beabsichtige ich nicht, mich weiter zu erklären. Wenn Ihr Eures alten Freundes Daniel Brackley müde seid, dann erzählt es nur weit und breit, daß Ihr Johanna Sedley heiraten wollt, und ich gebe Euch mein Wort, daß Ihr meiner recht bald ledig sein werdet. Ihr werdet mich mit einem Pfeil im Rücken finden.« Währenddessen schritten die beiden Edelleute rasch über die Dünen, Die drei Fackeln, die ihnen vorangetragen wurden,
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flackerten heftig im Winde und verbreiteten Qualmwolken, und die sechs Bogenschützen bildeten den Nachtrab. Dick folgte ihnen dicht auf den Fersen. Er hatte natürlich kein Wort von dieser Unterredung gehört; aber in dem zweiten Sprecher hatte er den alten Lord Shoreby erkannt, einen Mann vom allerschlechtesten Ruf, den in der Öffentlichkeit sogar Sir Daniel eifrig mißbilligte. Jetzt kamen sie ganz nahe an den Strand. Die Luft schmeckte salzig; das Gebrüll der Brandung verstärkte sich. Hier stand in einem großen, ummauerten Garten ein kleines zweistöckiges Haus mit Ställen und anderen Nebengebäuden. Der erste Fackelträger öffnete ein Tor in der Mauer, und als der ganze Trupp den Garten betreten hatte, verriegelte er es wieder. Damit war Dick und seinen Leuten die weitere Verfolgung unmöglich gemacht; es sei denn, sie hätten die Mauer überstiegen und ihren Hals in eine Falle gesteckt. So setzten sie sich nun hinter einen Ginsterbusch und warteten ab. Das rötliche Fackellicht bewegte sich hinter den Mauern auf und ab, hin und her, als ob die Fackelträger ständig im Garten die Runde machten. Es vergingen zwanzig Minuten, und dann kam die ganze Gesellschaft wieder auf die Düne heraus. Hier trennten sich Sir Daniel und der Baron, nachdem sie sich umständlich verabschiedet hatten, und jeder zog mit seinem Gefolge von Leuten und Fackeln heimwärts. Sobald ihre Schritte im Winde verhallt waren, sprang Dick schleunigst auf, da er so starr vor Kälte war, daß er Schmerz empfand. »Capper, haltet mir einmal Euren Rücken her«, sagte er. Sie gingen alle drei an die Mauer heran; Capper bückte sich, und Dick stieg auf seine Schulter und kletterte dann auf die Decksteine. »Jetzt, Greensheve«, flüsterte Dick, »folgt mir hier herauf; bleibt flach auf dem Bauche liegen, damit Ihr nicht so leicht gesehen werden könnt; und seid immer bereit, mir eine Hand zu geben, falls mir auf der anderen Seite etwas zustoßen sollte.« Und damit ließ er sich in den Garten fallen. Hier war alles tiefdunkel; in keinem Zimmer des Hauses brannte Licht. Der Wind heulte in dem dürren Gebüsch, und die Brandung tobte gegen den Strand. Andere Geräusche waren nicht zu hören. Vorsichtig bewegte sich Dick weiter, stolperte zwischen den Büschen umher und tastete sich mit den Händen vorwärts, bis ihm
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das spröde Geräusch von Kies unter seinen Tritten verriet, daß er auf eine Allee geraten war. Hier hielt er an und holte seine Armbrust hervor, die er unter seinem langen Waffenrock verborgen gehalten hatte. Er brachte die Waffe in Bereitschaft und ging mit stärkerer Entschlossenheit und Sicherheit weiter. Der Weg führte gerade auf die Häusergruppe zu. Alles schien traurig und verfallen: Die Fenster des Hauses waren durch morsche Läden verschlossen, die Ställe standen offen und waren leer; auf dem Heuboden lag kein Heu, im Kornkasten war kein Korn. Man hätte annehmen können, das Grundstück sei nicht mehr bewohnt. Aber Dick hatte gute Gründe, anderes zu vermuten. Er setzte seine Besichtigung fort, blickte in die Nebengebäude, prüfte alle Fenster. Schließlich kam er an der Seeseite des Hauses heraus. Dort brannte hinter einem der oberen Fenster ein Licht, zwar spärlich, aber deutlich genug zu sehen. Er ging ein kurzes Stück zurück, so weit, daß er die Bewegung eines Schattens an der Wand des Zimmers sehen konnte. Dann fiel ihm ein, daß seine tastende Hand im Stall einen Augenblick auf einer Leiter geruht hatte, und er kehrte eiligst zurück, um diese heranzuholen. Die Leiter war sehr kurz, aber er konnte dennoch, wenn er auf der obersten Sprosse stand, seine Hand bis an die eisernen Querbalken bringen; er ergriff diese, und es gelang ihm, sich mit aller Kraft so weit hochzuziehen, daß er das Innere des Raumes ganz überblicken konnte. Er sah zwei Personen darin: Die erste erkannte er sofort als Mutter Hatch; die zweite, eine schlanke, schöne und vornehme junge Dame in einem langen, bestickten Gewand – sollte das Johanna Sedley sein, sein alter Waldgefährte Jack, den er damals mit seinem Gürtel züchtigen wollte? Verwirrt ließ er sich wieder auf die oberste Sprosse der Leiter herab, Er hatte seine Liebste nie als so erhabenes Wesen gesehen, und er wurde nun gleich von einem Gefühl der Schüchternheit befallen. Aber es blieb ihm nur wenig Zeit zum Nachdenken. Ein leises »Scht, scht« ertönte aus nächster Nähe, und er beeilte sich, die Leiter wieder hinabzusteigen. »Wer da?« flüsterte er. »Greensheve«, kam es als Antwort in ebenso behutsamem Ton. »Was gibt es denn?« fragte Dick.
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»Das Haus ist bewacht, Junker Shelton«, erwiderte der Geächtete. »Nicht nur wir bewachen es. Soeben, als ich bäuchlings auf der Mauer lag, sah ich im Dunkeln Männer umherstreifen und hörte, wie sie einander leise zupfiffen.« »Alle Wetter«, sagte Dick, »das geht ja seltsam zu! Waren es nicht Leute von Sir Daniel?« »Nein, Herr«, erwiderte Greensheve. »Ich habe Augen im Kopf, und jeder Hans-Aff von denen hier trägt ein weißes Abzeichen an seiner Kappe, gewürfelt mit Schwarz.« »Weiß, gewürfelt mit Schwarz?« wiederholte Dick. »Meiner Treu, ein solches Abzeichen kenne ich nicht. Es ist keins von den Abzeichen dieses Landes. Wenn dem so ist, dann laßt uns so geräuschlos wie möglich aus diesem Garten verschwinden; denn hier befinden wir uns in einer üblen Verteidigungsstellung. Ohne Zweifel sind auch Leute von Sir Daniel in diesem Hause, und zwischen zwei Schußrichtungen stehen wir auf verlorenem Posten. Nehmt diese Leiter. Wir müssen sie dort wieder hinstellen, wo ich sie gefunden habe.« Sie brachten die Leiter in den Stall zurück und tasteten sich wieder zu der Stelle, an der sie den Garten betreten hatten. Capper hatte Greensheves Platz auf der Mauer eingenommen und reichte jetzt seine Hand hinunter, um einen nach dem anderen hochzuziehen. Vorsichtig und geräuschlos ließen sie sich auf die andere Seite hinunterfallen und wagten erst dann wieder zu sprechen, als sie ihr altes Versteck im Ginsterbusch erreicht hatten. »Jetzt, John Capper«, sagte Dick, »zurück mit Euch nach Shoreby, als gelte es Euer Leben. Bringt mir sofort, was Ihr an Leuten zusammentrommeln könnt. Hier soll der Treffpunkt sein; oder wenn die Leute zerstreut sind und es schon Tag wird, ehe sie sich gesammelt haben, dann verlegt den Treffpunkt etwas weiter zurück, etwa nahe dem Stadteingang. Greensheve und ich liegen hier und werden weiterhin beobachten. Eilt Euch, John Capper, und die Heiligen mögen Euch helfen! Und jetzt, Greensheve«, fuhr er fort, nachdem Capper aufgebrochen war, »geht Ihr mit mir in einiger Entfernung ringsherum um den Garten. Ich möchte gern sehen, ob Eure Augen Euch getäuscht haben.« So schritten sie, sich jede Bodenerhebung zunutze machend, zwei Seiten der Mauer ab, ohne daß sie etwas beobachtet hätten. Auf der dritten Seite lag die Gartenmauer dicht am Strand, so daß sie,
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um den nötigen Abstand von ihr einhalten zu können, ein Stück auf den Sand hinuntergehen mußten. Obgleich noch Ebbe, war die Brandung doch so stark, daß sich bei jeder Welle eine große Menge Schaum und Wasser über den flachen Strand ergoß. So mußten Dick und Greensheve, während sie diesen Teil ihrer Untersuchung durchführten, bald bis zu den Knöcheln und bald bis zu den Knien in dem salzigen und eisigen Wasser der Nordsee waten. Plötzlich hob sich von der verhältnismäßig hellen Gartenmauer, wie bei einem chinesischen Schattenspiel, die Gestalt eines Mannes ab. Er gab mit beiden Armen heftig irgendwelche Zeichen. Als er wieder zur Erde gesprungen war, stand ein anderer in geringerer Entfernung von ihm auf und tat ein gleiches. So machten diese Gestikulationen wie eine stumme Parole die Runde um den belagerten Garten. »Sie halten gute Wache«, flüsterte Dick. »Laßt uns an Land zurück, guter Junker«, antwortete Greensheve. »Wir stehen hier zu ungedeckt; denn seht doch, wenn die Sturzseen schwer und weiß dort hinter uns losbrechen, werden sie uns vor dem hellen Hintergrund deutlich sehen.«
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Zweites Kapitel Ein Wachtgefecht
Vollkommen durchnäßt und starr vor Kälte, kehrten die zwei Abenteurer zu ihrem Versteck im Ginster zurück. »Ich bitte den Himmel, daß sich Capper sehr beeilen möge«, sagte Dick. »Ich gelobe Unserer Lieben Frau von Shoreby eine Kerze, wenn er vorzeitig kommt!« »Ihr seid in Unruhe, Junker Dick?« fragte Greensheve. »Ja, guter Bursch«, antwortete Dick; »denn in diesem Hause befindet sich die Dame, die ich liebe. Und wer können die sein, die sie bei Nacht heimlich umzingeln? Sicher doch nur Feinde!« »Gut«, entgegnete Greensheve, »wenn John schnell genug zurückkommt, werden wir schon Abrechnung mit ihnen halten. Sie haben an, der Außenseite keine zwanzig Mann postiert – ich schließe das aus der Aufstellung ihrer Waffen –, und da sie so weit auseinanderliegen, würden zehn Mann sie wie Sperlinge auseinanderfegen können. Und doch, Junker Dick, wenn sie schon in Sir Daniels Gewalt ist, wird es weniger schaden, wenn sie in die Hand eines anderen geriete. Wer könnte das sein?« »Ich vermute, der Lord von Shoreby«, gab Dick zur Antwort. »Wann kamen sie?« »Just in dem Augenblick, Junker Dick«, sagte Greensheve, »als Ihr die Mauer überstiegt. Ich lag noch nicht einmal eine Minute, als ich bemerkte, wie der erste der Schurken um die Ecke kroch.« In dem kleinen Haus war das letzte Licht gelöscht worden, als sie durch die Wellen wateten. Es war unmöglich, vorauszusagen, zu welchem Zeitpunkt die Männer, die rund um die Gartenmauer auf der Lauer lagen, ihren Angriff unternehmen würden. Dick wählte von zwei Übeln das geringere. Es war ihm lieber, daß Johanna in den Händen von Sir Daniel blieb, als daß sie in die Klauen von Lord Shoreby geriete. Er war entschlossen, den Belagerten sogleich zu Hilfe zu kommen, wenn das Haus angegriffen werden sollte. Aber die Zeit verging, und noch immer rührte sich nichts. Von Viertelstunde zu Viertelstunde kam das gleiche Signal über die Gartenmauer, als ob der Führer sich von der Wachsamkeit seiner
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verstreuten Untergebenen zu überzeugen wünschte. Im übrigen aber zeigte sich in der Umgebung des kleinen Hauses keinerlei Veränderung. Jetzt trafen Dicks Verstärkungen ein. Lange vor dem Morgengrauen kauerten sich nahezu zwanzig Mann neben ihn in den Ginsterbusch. Er teilte seine Leute in zwei Scharen und übernahm selbst das Kommando über die kleinere, während er Greensheve die Führung der größeren anvertraute. »Jetzt, Kit«, sagte er zu ihm, »geht mit Euren Leuten zu der nahen Ecke der Gartenmauer am Strande. Verteilt sie gut und wartet, bis Ihr mich auf der anderen Seite angreifen hört. Ich möchte die auf der Seeseite gern in Sicherheit wiegen; denn dort wird der Anführer sein. Die übrigen werden ausreißen. Und nun, Burschen, schießt keinen Pfeil ab, Ihr würdet nur Freunde verwunden. Greift zur Klinge und haltet Euch an die Klinge; und wenn wir den Sieg davontragen, so verspreche ich jedem von Euch einen Goldnobel, sobald ich zu meinem Vermögen komme.« Aus der seltsamen Truppe von Geächteten, Dieben, Mördern und zugrunde gerichteten Bauern, die Duckworth zur Verfolgung seiner Rache zusammengelesen hatte, hatten sich einige besonders kühne und kriegserfahrene Männer freiwillig gemeldet, um Richard Shelton zu unterstützen. Der Befehl, Sir Daniels Schritte in der Stadt Shoreby zu überwachen, war für sie von Anbeginn an ermüdend gewesen und seit kurzem hatten sie angefangen, laut zu murren, und gedroht, auseinanderzulaufen. Die Aussichten auf einen scharfen Zusammenstoß und eine Beute gab ihnen die gute Stimmung zurück, und sie rüsteten sich freudig für den Kampf. Ihre langen Waffenröcke warfen sie ab und standen nun teils in einfarbiggrünen Wämsern, teils in festen Lederjacken da. Manche trugen unter ihren Hüten Hauben, die durch Eisenplatten verstärkt waren. Als Angriffswaffen hatten sie Schwerter, Dolche, einige auch starke Sauspieße, und ein Dutzend blanke Hellebarden versetzten sie in die Lage, sich sogar mit regulären Söldnertruppen einzulassen. Die Bogen, Köcher und Waffenröcke wurden unter dem Stechginster verborgen, und entschlossen gingen die beiden Abteilungen vor. Als Dick die andere Seite des Hauses erreicht hatte, stellte er seine sechs Mann in einer Linie auf, über zwanzig Ellen von der Gartenmauer entfernt, und postierte sich selbst ein paar Schritte
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davor. Dann erhoben sie einstimmiges Geschrei und rückten gegen die Feinde los. Diese, weit zerstreut liegend, starr vor Kälte und überraschend angegriffen, erhoben sich aus ihrer unbequemen Lage und standen unentschlossen. Ehe sie sich fassen oder sich gar ein Bild von der Zahl und Verfassung ihrer Angreifer machen konnten, drang ihnen schon von der entlegenen Seite der Einfriedigung her ähnliches Angriffsgeschrei in die Ohren. Da gaben sie sich verloren und suchten das Weite. So trafen sich die zwei kleinen Trupps der Männer vom Schwarzen Pfeil an der Seefront der Gartenmauer und umzingelten einen Teil der Fremden, während die Masse der übrigen in verschiedenen Richtungen davonlief, um ihr Leben zu retten, und sich bald in der Dunkelheit verlor. Trotzdem begann jetzt erst der Kampf. Obwohl Dicks Geächtete den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite hatten, waren sie den eingeschlossenen Männern doch an Zahl weit unterlegen. Inzwischen hatte die eingetretene Flut den Strand auf einen schmalen Streifen verengt. Und auf diesem nassen Boden zwischen der Brandung und der Gartenmauer begann in der Dunkelheit ein wilder und todbringender Kampf, dessen Ausgang zweifelhaft war. Die Fremden waren gut bewaffnet. Sie fielen in Reih und Glied über ihre Angreifer her, und das allgemeine Handgemenge löste sich in eine Reihe von Einzelgefechten auf. Dick sah sich bald drei Feinden gegenüber. Er hieb den ihm am nächsten Stehenden auf den ersten Streich nieder, aber den zwei anderen, die ihn stürmisch anfielen, mußte er schon weichen, bevor er angreifen konnte. Der eine war ein ungeheuer großer Kerl, fast ein Riese von Gestalt und mit einem zweihändigen Schwert bewaffnet, das er wie eine Gerte schwang. Diesem Feind mit der großen Reichweite seines Armes und der Länge und Wucht seiner Waffe war Dick mit seiner Hellebarde nicht gewachsen. Hätte der dritte den Angriff nachdrücklich unterstützt, wäre der Jüngling unzweifelhaft überwunden worden. Der aber, kleiner von Gestalt und langsamer in seinen Bewegungen, hielt einen Augenblick inne, um in der Dunkelheit um sich zu schauen und auf die Geräusche des Kampfes zu lauschen. Da der Riese immer noch im Vorteil war, floh Dick vor ihm, um in eine günstigere Stellung zu kommen. Da blitzte die ungeheure Klinge und sauste herab. Doch der Jüngling, der zur
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Seite sprang, hieb mit seiner Hellebarde um sich. Ein Schmerzgebrüll erscholl, und ehe der verwundete Mann seine furchtbare Waffe erheben konnte, hatte ihn Dick, seinen Streich zweimal wiederholend, zu Boden geschlagen. Im nächsten Augenblick war er unter günstigeren Umständen mit seinem zweiten Verfolger beschäftigt. Zwischen ihnen bestand kein großer Kräfteunterschied. Der Mann, der mit Schwert und Dolch gegen eine Hellebarde kämpfte und vorsichtig und geschickt parierte, verfügte über eine gewisse Überlegenheit in den Waffen, während Dick sich mehr auf die größere Gewandtheit seiner Füße verließ. Keiner von beiden errang zunächst einen deutlichen Vorteil. Aber der ältere Mann benutzte unmerklich den Kampfeseifer des jüngeren, um ihn dorthin zu drängen, wohin er ihn haben wollte; und plötzlich merkte Dick, daß sie die ganze Breite des Strandes durchquert hatten und jetzt bis über die Knie in dem Schaum und Gischt der Wellen kämpften. Dadurch ward seine größere Gewandtheit unwirksam gemacht, und er fühlte sich mehr und mehr in der Gewalt seines Feindes, zumal er seinen eigenen Leuten fast den Rücken zugekehrt hatte. Er erkannte, daß dieser verschlagene und gewandte Gegner fest entschlossen war, ihn weiter und weiter abzudrängen. Dick knirschte mit den Zähnen. Er wollte den Kampf augenblicklich entscheiden; und als die nächste Welle verebbt war und sie wieder auf dem Trockenen standen, stürzte er vor, parierte mit seiner Hellebarde einen Schlag und sprang seinem Gegner an die Kehle. Der Mann fiel rücklings nieder und brachte auch Dick zu Fall, der über ihn stürzte. Die nächste Welle, die schnell der vorherigen folgte, begrub sie unter ihren Wassermassen. Während der Gegner noch untergetaucht war, entwand ihm Dick seinen Dolch und sprang als Sieger hoch. »Ergebt Euch!« sagte er, »ich schenke Euch das Leben.« »Ich ergebe mich«, erwiderte der andere, während er sich auf die Knie erhob. »Ihr kämpft wie ein junger Mann, unkundig und tollkühn, aber, bei allen Heiligen, Ihr kämpft tapfer!« Dick wandte sich zum Strande. Der Kampf tobte unentschieden in der Nacht. Schlag fiel auf Schlag und übertönte das rauhe Brüllen der Wellen; ringsumher erschollen Schmerzensschreie und Kampfrufe. »Führt mich zu Eurem Hauptmann, junger Mann«, sagte der überwundene Ritter. »Diese Schlächterei sollte aufhören.«
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»Herr«, entgegnete Dick darauf, »soweit als diese braven Burschen einen Hauptmann haben, ist es meine Wenigkeit.« »Dann ruft Eure Bluthunde zurück, und ich will meinen Lümmeln Halt gebieten«, entgegnete der andere. Es lag etwas Anständiges sowohl in der Stimme wie in der Art dieses Gegners, so daß Dick sogleich alle Furcht vor Verräterei fahrenließ. »Legt eure Waffen nieder, Leute!« rief der fremde Ritter. »Ich habe mich gegen Zusicherung des Lebens ergeben.« Der Fremde hatte das in einem unbedingten Befehlstone gesagt, und fast augenblicklich verstummte der Lärm des Handgemenges. »Lawless«, rief Dick, »seid Ihr unversehrt?« »Ja«, rief Lawless, »heil und gesund.« »Ist Sir Daniel nicht hier?« fragte der Ritter. »Sir Daniel?« fragte Dick zurück. »Nein, beim heiligen Kreuz, Gott sei Dank. Es würde mir schlecht ergehen, wenn er hier wäre.« »Euch schlecht ergehen, werter Herr?« fragte der andere. »Nun, wenn Ihr nicht von Sir Daniels Partei seid, dann muß ich gestehen, daß ich gar nicht begreife, warum Ihr dann mein Versteck überfielet, aus welchem Grunde, mein junger und ungestümer Freund? Zu welchem Zweck in aller Welt? Und, um zu einem Ende zu kommen, welchem tüchtigen Herrn habe ich mich ergeben?« Aber ehe Dick antworten konnte, ertönte ganz aus der Nähe in der Dunkelheit eine Stimme. Dick konnte das schwarzweiße Abzeichen des Sprechers und die achtungsvolle Ehrenbezeigung sehen, die er seinem Befehlshaber darbrachte. »Mylord«, sagte er, »wenn diese Herren Gegner von Sir Daniel sind, ist es wirklich ein Jammer, daß wir mit ihnen die Klinge gekreuzt haben. Aber es wäre noch zehnmal schlimmer, wenn sie oder wir jetzt zögern würden. Die Wachen im Hause – wenn sie nicht alle tot oder taub sind – haben den Kampflärm dieser Viertelstunde gehört. Sie haben wahrscheinlich Zeichen zur Stadt gegeben; und wenn wir uns nicht so schnell wie möglich aufmachen, werden wir es wahrscheinlich bald mit einem neuen Feind zu tun haben.« »Hawksley hat recht«, stimmte der Lord bei, »was befehlt Ihr, Herr? Wohin sollen wir gehen?« »Geht meinethalben, wohin Ihr wollt, Mylord«, sagte Dick. »Ich vermute schon, daß wir einigen Grund zur Freundschaft haben,
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und wenn in der Tat unsere Bekanntschaft etwas stürmisch begann, so möchte ich sie doch nicht auf so grobe Weise fortsetzen. Trennen wir uns also zunächst, Mylord, und gebt mir Eure Rechte. Ihr mögt Zeit und Ort nennen, wo wir zusammentreffen und uns beraten können.« »Ihr seid zu vertrauensselig, Junge«, sagte der andere. »Allerdings ist diesmal Euer Vertrauen nicht falsch angebracht. Ich möchte Euch bei Tagesanbruch am Kreuz der Heiligen Jungfrau treffen! Kommt, Burschen, folgt mir!« Die Fremden verschwanden vom Schauplatz mit einer Schnelligkeit, die verdächtig erschien; und während die Geächteten auf den ihnen sympathischen Gedanken verfielen, die Gefallenen auszuplündern, nahm Dick von der Gartenmauer aus noch einmal die Front des Hauses in Augenschein. In einer etwas höher gelegenen Dachluke sah er ein Licht stehen. Da es wahrscheinlich in der Stadt von den Hinterfenstern von Sir Daniels Haus aus sichtbar war, zweifelte er nicht, daß es das von Hawksley gefürchtete Zeichen sei und daß binnen kurzem die Söldner des Ritters von Tunstall auf dem Kampfplatz erscheinen würden. Er legte sein Ohr an den Boden, und es schien ihm, als hörte er ein knarrendes und hohles Geräusch von der Stadt her. Eilends ging er zum Strand zurück. Dort war die Arbeit schon getan; der letzte Leichnam war entwaffnet und bis auf die Haut entkleidet, und vier Burschen wateten schon seewärts, um ihn der Tiefe des Meeres zu übergeben. Ein paar Minuten später, als aus den nächsten Gassen von Shoreby etwa vierzig Reiter, die sich eilends gerüstet hatten, hervorgaloppierten, lag die Umgebung des Hauses an der See still und verlassen da. Inzwischen waren Dick und seine Leute zu der Schenke »Zur Ziege und den Dudelsäcken« zurückgekehrt, um vor der Zusammenkunft des nächsten Morgens noch einige Stunden Schlaf zu gewinnen.
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Drittes Kapitel Das Kreuz der heiligen Jungfrau
Das Kreuz der Heiligen Jungfrau stand ein Stück hinter Shoreby am Saume des Waldes von Tunstall. Dort trafen sich zwei Wege: einer von Holywood, der durch den Wald führte, und dann der Weg von Risingham, auf dem wir die Trümmer einer LancasterArmee in voller Auflösung flüchten sahen. Hier vereinigten sich die beiden Straßen, und dann ging es hügelabwärts nach Shoreby. Ein wenig hinter dem Knotenpunkt stand auf einer kleinen Kuppe das alte, verwitterte Kreuz. Hier fand sich Dick früh um sieben Uhr ein. Es war kalt wie immer; die Erde war silbergrau von Rauhreif, und im Osten stieg in purpurnen und orangenen Farben der Tag herauf. Dick setzte sich auf die unterste Stufe des Kreuzes, wickelte sich in seinen Mantel und spähte aufmerksam nach allen Seiten. Er brauchte nicht lange zu warten. Auf der Straße von Holywood ritt auf einem prächtigen Streitroß ein Edelmann in einer reichen und glänzenden Rüstung, über der er einen Mantel aus kostbarstem Pelzwerk trug. Zwanzig Ellen hinter ihm folgte ein Haufe Lanzenreiter. Diese hielten an, sobald sie den Ort der Zusammenkunft erblickten, während der Herr im Pelzmantel allein weiterritt. Sein hochgeklapptes Visier gab ein Gesicht von achtunggebietender Würde frei, das ganz der Pracht seines Aufzuges und seiner Waffen entsprach. Dick befand sich geradezu in einer Art von Verwirrung, als er sich von seinem Platz an dem Kreuz erhob und hinabschritt, um seinem Gefangenen gegenüberzutreten. »Ich danke Euch, Mylord, für Eure Pünktlichkeit«, sagte er, wobei er sich ganz tief verneigte. »Beliebt es Eurer Lordschaft abzusteigen?« »Seid Ihr allein hier, junger Mann?« wünschte der andere zu wissen. »So einfältig war ich nicht«, antwortete Dick; »und, um aufrichtig gegen Eure Lordschaft zu sein, die Wälder um dieses
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Kreuz herum liegen voll von meinen ehrlichen Burschen, die bei ihren Waffen lagern.« »Ihr habt klug gehandelt«, sagte der Lord. »Das gefällt mir um so mehr, als Ihr in der letzten Nacht tollkühn und eher wie ein wilder Sarazene im Wahnsinn als wie ein christlicher Krieger fochtet. Aber es sei ferne von mir, der ich der Unterlegene war, Euch zu tadeln.« »Ihr waret in der Tat der Unterlegene, Mylord, da Ihr hinstürztet«, entgegnete Dick; »aber wenn mir die Wogen nicht zu Hilfe gekommen wären, dann wäre ich der Unterlegene gewesen. Es mag Euch eine Genugtuung sein, daß Ihr mir einige Verletzungen beigebracht habt, die ich noch fühle. Und schließlich dünkt mich, Mylord, daß ich zwar dieses Nachtgefecht am Strande gewonnen habe, daß aber auch alle Gefahr auf meiner Seite lag.« »Wie ich sehe, seid Ihr wirklich klug, das festzustellen«, erwiderte der Fremde. »Ach, Mylord, nicht klug«, sagte Dick, »ich will damit nicht meine Überlegenheit betonen. Denn wenn ich beim Licht dieses neuen Tages sehe, was für ein gewaltiger Ritter sich mir ergeben hat – nicht allein dank meiner Waffen, sondern auch dank des Glücks, der Dunkelheit und der Brandung – und wie leicht der Kampf mit einem so unerprobten und ungeübten Kämpfer wie mir ganz anders hätte ausgehen können, dann darf es Euch nicht wundern, Mylord, daß ich mich durch meinen Sieg eher beschämt fühle.« »Gut gesprochen«, sagte der Fremde. »Euer Name?« »Mein Name, mit Verlaub, ist Shelton«, gab Dick zur Antwort. »Mich nennt man Lord Foxham«, sagte der andere. »Dann seid Ihr, Mylord, der Vormund des holdesten Mädchens in England«, erwiderte Dick; »und was Euer Lösegeld betrifft und das Lösegeld derer, die mit Euch am Strande gefangengenommen wurden, kann es keine Ungewißheit über die Bedingungen geben. Bei Eurer Güte und Eurem Wohlwollen, Mylord, richte ich an Euch die Bitte, gebt mir die Hand meiner geliebten Johanna Sedley, und nehmt Ihr Eure Freiheit, die Freiheit Eurer Gefolgsmänner und – wenn Ihr wollt – meine Dankbarkeit und meine Dienstwilligkeit bis an mein Lebensende.« »Dann seid Ihr doch der Mündel von Sir Daniel? Ich erinnere mich, wenn Ihr Harry Sheltons Sohn seid, daß es mir so berichtet worden ist«, sagte Lord Foxham.
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»Würdet Ihr wohl absitzen, Mylord? Ich möchte Euch gern ausführlich erzählen, wer ich bin, in welcher Lage ich mich befinde und warum ich so kühn in meinen Forderungen bin. Ich bitte Euch, Mylord, nehmt auf diesen Stufen Platz, hört mich bis zu Ende an und beurteilt mich nachsichtig.« Mit diesen Worten reichte Dick Lord Foxham eine Hand, um ihm beim Absteigen behilflich zu sein, geleitete ihn den Hügel hinan zu dem Kreuz, bot ihm den Platz, wo er selbst gesessen hatte, und blieb dann ehrerbietig vor seinem vornehmen Gefangenen stehen, dem er nun sein Leben bis zu den Ereignissen des letzten Abends erzählte. Lord Foxham hörte nachdenklich zu, und als Dick geendet hatte, sagte er: »Junger Shelton, Ihr seid ein sehr glücklich-unglücklicher junger Herr. Das Glück, das Euch zuteil wurde, habt Ihr wirklich verdient, aber das Unglück habt Ihr keineswegs verdient. Seid guten Mutes, denn Ihr habt Euch einen Freund gewonnen, dem es weder an Macht noch an Wohlgeneigtheit fehlt. Ihr selbst – obwohl es sich für einen Mann von Eurer Geburt nicht schickt, sich zu Geächteten zu gesellen – seid, muß ich zugeben, tapfer und ehrenhaft, sehr gefährlich im Kriege, sehr ritterlich im Frieden, ein Jüngling von ausgezeichneter Veranlagung und wackerem Verhalten. Was Eure Güter betrifft, so werdet Ihr sie nicht eher sehen, als bis sich alles einmal ändert. Solange Lancaster die Oberhand hat, solange wird Sir Daniel sie als seine eigenen genießen. Nun zu meinem Mündel: Ich hatte sie schon lange einem Edelmanne versprochen, einem Verwandten unseres Hauses namens Hamley. Das Versprechen ist alt...« »Ach, Mylord, und jetzt hat Sir Daniel sie dem Lord Shoreby versprochen«, unterbrach Dick, »und sein Versprechen, wenn es auch erst jung ist, hat noch mehr Aussicht, gehalten zu werden.« »Das ist die volle Wahrheit«, erklärte der Lord. »Und wenn man ferner in Betracht zieht, daß ich Euer Gefangener bin, gegen keine bessere Bürgschaft als mein nacktes Leben, und noch dazu, daß das Mädchen in anderen Händen unglücklich ist, will ich Euch recht geben. Helft mir mit Euren guten Burschen...« »Mylord«, rief Dick, »es sind dieselben Geächteten, die Ihr einen schlechten Umgang für mich nanntet.« »Laßt sie sein, was sie wollen, sie können kämpfen«, erwiderte Lord Foxham. »Helft mir also; und wenn wir beide uns das
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Mädchen zurückgewinnen, dann soll sie Euch heiraten – bei meiner Ritterehre!« Dick beugte das Knie vor seinem Gefangenen. Aber dieser fing, indem er von seinem Platz vor dem Kreuz schnell aufsprang, den Jungen auf und umarmte ihn wie einen Sohn. »Kommt«, sagte er, »wenn Ihr Johanna heiraten sollt, müssen wir jetzt Freunde sein.«
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Viertes Kapitel Die »Gute Hoffnung« I
Eine Stunde später war Dick wieder in der Schenke »Zur Ziege und den Dudelsäcken«, um zu frühstücken und die Berichte seiner Boten und Wachen entgegenzunehmen. Duckworth war immer noch, wie so oft, von Shoreby abwesend; denn er spielte mancherlei Rollen in der Welt, war an verschiedenen Angelegenheiten beteiligt und hatte hier und da seine Hand im Spiele. Als ein zugrunde gerichteter Mann, der nach Rache und Geld dürstet, hatte er die Bruderschaft vom Schwarzen Pfeil gegründet. Und doch vermuteten jene, die ihn am besten kennen mußten, daß er ein Agent und Kundschafter des großen Königmachers von England, des Grafen Richard von Warwick, sei. In seiner Abwesenheit fiel das Kommando in Shoreby an Richard Shelton. Und als dieser jetzt beim Frühstück saß, war er voller Sorge und sein Gesicht ernst vom Nachdenken. Zwischen ihm und Lord Foxham bestand die Abrede, daß an diesem Abend ein kühner Streich ausgeführt werden sollte, um Johanna mit bewaffneter Hand zu befreien. Es waren aber viele Widerstände zu überwinden, und jeder der eintreffenden Kundschafter brachte ihm aufs neue beunruhigende Nachrichten. Sir Daniel war durch das Geplänkel in der vorigen Nacht in Aufregung versetzt worden. Er hatte die Besatzung des Gartenhauses verstärkt. Aber damit noch nicht genug, hatte er in alle benachbarten Gassen Reiter gelegt, so daß er von jeder Bewegung ohne Verzug in Kenntnis gesetzt werden konnte. Während der ganzen Zeit standen im Hof seiner Burg die Schlachtrosse gesattelt, und die schwerbewaffneten Reiter warteten nur auf das Signal zum Aufsitzen. Die Ausführung des für die Nacht geplanten Handstreichs schien immer schwieriger zu werden. Jedoch plötzlich hellte sich Dicks Miene auf. »Lawless«, rief er, »Ihr wart doch Seemann, könnt Ihr mir ein Schiff stehlen?«
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»Junker Dick«, entgegnete Lawless, »wenn ich Euch hinter mir weiß, bin ich bereit, das Münster von York zu stehlen.« Gleich darauf brachen beide auf und gingen zum Hafen hinunter, der zwischen Sandhügeln lag, umgeben von kahlem Gelände, altem Gerümpel und elenden Häuschen, die dem Einfallen nahe waren. Viele gedeckte Schiffe und offene Boote lagen entweder vor Anker oder waren an Land gezogen. Das anhaltend schlechte Wetter hatte sie von der hohen See in den Schutz des Hafens getrieben. Die große Zusammenballung dunkler Wolken und die kalten Böen, die bald Schneegestöber, bald nur einen Windstoß brachten, verhießen keine Besserung, sondern drohten für die nächste Zeit eher einen noch schwereren Sturm an. Die Seeleute waren wegen der Kälte und des Windes zum größten Teil an Land gegangen und saßen nun lärmend und singend in den Hafenschenken. Viele Schiffe lagen unbewacht vor Anker. Als der Tag vorrückte und das Wetter keine Neigung zur Besserung zeigte, vermehrte sich ihre Anzahl ständig. Auf diese verlassenen Schiffe und vor allem auf jene, die weit draußen lagen, richtete Lawless sein Augenmerk, während Dick, auf einem halb in den Sand eingebetteten Anker sitzend, bald der ungestümen, mächtigen und unheilschwangeren Stimme des Sturmes und bald dem heiseren Gesang der Seeleute in einer nahen Kneipe lauschte. Bald vergaß er seine Umgebung und seine Anliegen gänzlich, so sehr beschäftigte ihn die angenehme Erinnerung an Lord Foxhams Versprechen. Durch eine Berührung seiner Schulter wurde er gestört. Lawless zeigte auf ein kleines Schiff, das ein Stück abseits, aber noch innerhalb der Hafenmündung lag, wo es sich regelmäßig und sanft auf der Dünung wiegte. Ein blasser Strahl der Wintersonne fiel in diesem Augenblick auf das Deck des Fahrzeugs, so daß es sich deutlich von einer finsteren Wolkendecke abzeichnete. In diesem flüchtigen Schimmer konnte Dick sehen, wie einige Leute das Ruderboot längsseits holten. »Dort, Herr«, sagte Lawless, »merkt es wohl, liegt das Schiff für heute nacht.« Soeben stieß das Boot von dem Fahrzeug ab, und die zwei Männer, den Bug gut gegen den Wind haltend, ruderten hurtig dem Lande zu. Lawless wandte sich an einen Müßiggänger. »Wie heißt es?« fragte er, indem er auf das kleine Fahrzeug wies.
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»Es ist die ›Gute Hoffnung‹ von Dartmouth«, antwortete der Bummler. »Ihr Kapitän heißt Arblaster. Er sitzt am Bugriemen in jenem winzigen Boot.« Das war alles, was Lawless brauchte. Er dankte dem Mann schnell und begab sich entlang dem Ufer zu einer sandigen Bucht, auf die das Boot zuhielt. Dort stellte er sich auf, und sobald sie in Rufweite waren, ließ er einen Schwall von Worten auf die Seeleute von der »Guten Hoffnung« los. »Sieh da! Gevatter Arblaster!« rief er. »Nun, Ihr kommt gerade recht, beim Kreuz! Und ist das die ›Gute Hoffnung‹? Ja, ich würde sie unter zehntausend erkennen! – Ein wackeres, schmuckes Schiff! Wie wäre es, Gevatter, wollt Ihr eins trinken? Ich bin zu meinem Vermögen gekommen, wie Ihr sicher gehört haben werdet – Ihr müßt Euch noch daran erinnern. Ich bin jetzt reich. Ich habe Schluß damit gemacht, zur See zu fahren, und segle jetzt meist auf gewürztem Bier. Komm, Kamerad, deine Hand darauf! Komm, trink mit einem alten Fahrensmann!« Kapitän Arblaster, ein schon bejahrter, wettergebräunter Mann mit länglichem Gesicht und mit einem Messer, das an einer geflochtenen Schnur von seinem Halse herabhing – in jeder Hinsicht wie ein Seemann von heute in Gang und Haltung –, zögerte mit unverkennbarer Verwunderung und Verwirrung. Aber der Hinweis auf ein Vermögen und eine gewisse Art von feuchtfröhlicher Vertraulichkeit, die Lawless vortrefflich zu spielen verstand, brachten seinen Argwohn zum Schwinden und machten ihn nachgiebig, so daß er auf einmal seine offene Hand ausstreckte und mit fürchterlichem Griff die des Geächteten umfaßte. »Nein«, sagte er, »ich kann mich Euer nicht erinnern, aber was macht das? Ich kann mit jedermann trinken, und ebenso mein Matrose Tom. Matrose Tom«, fügte er hinzu und wandte sich an seinen Begleiter, »hier ist mein Gevatter, dessen Namen ich zwar nicht mehr weiß, der aber ohne Zweifel ein ausgezeichneter Seemann ist. Laßt uns mit ihm und seinem Kameraden vom Festlande eins trinken.« Lawless übernahm die Führung, und bald befanden sie sich in einer Schenke. Da sie erst vor kurzem eröffnet war und frei und vereinzelt lag, wurde sie weniger aufgesucht als die im Mittelpunkt des Hafens gelegenen. Es war nur eine Hütte aus Holz, ähnlich einem Blockhaus der heutigen Hinterwäldler, und seine dürftige Einrichtung bestand aus ein oder zwei Keltern, einer Anzahl kahler
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Bänke sowie aus Brettern, die man über Fässer gelegt hatte, um die Tische zu ersetzen. In der Mitte des Raumes flackerte, angefacht von der Zugluft, die durch mindestens fünfzig Ritzen eindrang, ein Treibholzfeuer, das dichten Rauch verbreitete. »Ja, nun«, sagte Lawless, »hier ist es richtig für einen Seemann, ein ordentliches Feuer und ein guter, starker Trunk an Land, bei schlechtem Wetter und einer steifen Seebrise, die um das Dach heult! Ich trinke auf die ›Gute Hoffnung‹! Daß sie gut vor Anker liege!« »Ja«, sagte der Schiffer Arblaster, »das ist das richtige Wetter, um an Land zu sein, ganz gewiß. Was meint Ihr, Matrose Tom? Ihr redet verständig, Gevatter; obwohl ich mich nicht auf Euren Namen besinnen kann – Ihr sprecht wahrhaftig gut. Möge die ›Gute Hoffnung‹ sich brav halten! Amen!« »Freund Dickon«, fuhr Lawless, sich an seinen Anführer wendend, fort, »Ihr habt doch einige Geschäfte zu erledigen, wenn ich nicht irre? Nun, ich bitte Euch, laßt Euch nicht davon abhalten. Denn hier bin ich mit dem Ausbund aller guten Kameradschaft, zwei zähen alten Seebären zusammen; und ich versichere Euch, daß diese braven Männer hier warten und Becher um Becher mit mir leeren werden, bis Ihr zurückkehrt. Wir sind nicht wie die Landratten, wir alten zähen Teerjacken!« »Es ist gut gemeint«, erwiderte der Schiffer. »Ihr könnt gehen, Junge, denn ich werde Euren guten Freund und meinen lieben Gevatter bis zum Abendläuten als Gesellschafter behalten – ja, und bei Sankt Maria, bis die Sonne wieder aufgeht! Denn, seht Ihr, wenn man lange genug zur See gefahren ist, dringt einem das Salz durch die irdische Hülle bis auf die Knochen; und tränke man auch einen ganzen Ziehbrunnen leer, so bringt auch das keine Abkühlung.« So von allen Seiten ermutigt, stand Dick auf, verabschiedete sich von der Gesellschaft, ging hinaus in den stürmischen Nachmittag und begab sich auf schnellstem Wege zu der Herberge »Zur Ziege und den Dudelsäcken«. Von dort sandte er Botschaft an Lord Foxham, daß sie bei Einbruch der Dunkelheit ein starkes Fahrzeug haben würden, um damit in See zu stechen. Er nahm zwei Geächtete mit etwas seemännischer Erfahrung mit und kehrte dann zum Hafen und der kleinen Bucht zurück. Das Beiboot der »Guten Hoffnung« lag zwischen vielen anderen, von denen es durch seine Winzigkeit und seine leichte Bauart
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schnell zu unterscheiden war. Und als Dick und seine beiden Leute ihre Plätze eingenommen und alle Kraft aufgeboten hatten, um aus der Bucht in den offenen Hafen hinauszukommen, tanzte die kleine Muschel auf dem Wasser und schwankte unter jedem Windstoß, als ob sie jeden Augenblick sinken wollte. Die »Gute Hoffnung« lag, wie schon gesagt, weit draußen vor Anker, wo die Dünung besonders stark war. In der Entfernung von einigen Taulängen ankerte kein anderes Fahrzeug, und die nächstliegenden waren von den Mannschaften verlassen worden. Als sich das Ruderboot näherte, verbargen dichter Schneeschauer und Dunkelheit die Manöver der Geächteten vor jeder Beobachtung. Im Nu waren sie an Bord, und das Boot tanzte am Heck. Die »Gute Hoffnung« war genommen. Sie war ein gutes, starkes Schiff, am Bug und mittschiffs gedeckt, achtern aber offen. Sie führte einen Mast, und ihre Takelung war ein Zwischending zwischen der eines Ruderschiffes und der eines Loggers. Es hatte den Anschein, daß Schiffer Arblaster eine ungemein gewinnbringende Fahrt gemacht hatte, denn der Raum war voll von Stückfässern französischen Weins. In der kleinen Kabine, neben einer kleinen Figur der Jungfrau Maria, welche die Frömmigkeit des Schiffseigners bezeugte, standen mehrere fest verschlossene Truhen und Schränke, die bewiesen, daß er reich und haushälterisch war. Das einzige Lebewesen an Bord war ein Hund, der wie toll bellte und die Enterer in die Waden biß. Aber bald hatten sie ihn in die Kabine gestoßen und samt seinem gerechten Zorn dort eingeschlossen. Eine Laterne wurde angezündet und in den Wanten befestigt, um das Fahrzeug vom Ufer aus kenntlich zu machen. Eins von den Weinfässern im Raum wurde angezapft und ein Becher des erlesenen Gascogners auf das Abenteuer dieses Abends geleert. Während sich dann einer von den Geächteten anschickte, Bogen und Pfeile bereitzulegen, um das Schiff gegen jeden Angriff zu halten, holte der andere das Boot längsseits, ging von Bord und wartete auf Dick. »Nun, Jack, haltet mir gute Wacht«, sagte der junge Anführer, während er sich bereitmachte, seinem Untergebenen zu folgen. »Ihr werdet es schon recht machen.« »Ach«, entgegnete Jack, »ich werde es sicherlich ausgezeichnet besorgen, solange wir hier liegen; aber wenn dieses arme Schiff erst seine Nase aus dem Hafen
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herausstrecken muß – seht, da zittert es schon! Ach, das arme Ding hat diese Worte gehört, und sein Herz in den eichenen Rippen ahnt nichts Gutes. Aber seht, Junker Dick! Was für schwarze Wolken sich zusammenballen!« Eine erschreckende Dunkelheit breitete sich aus. Große Sturzwellen rollten aus der Finsternis heran, und eine nach der andern hob die »Gute Hoffnung« empor und riß sie im Wirbel mit sich nach der anderen Seite. Ein dünner Schneeschauer und leichte Schaumflocken bestreuten das Deck wie mit Pulver; und der Wind heulte gräßlich in der Takelung. »Es sieht in der Tat schlimm aus«, sagte Dick, »aber was schadet es! Es ist nur eine Sturmbö, und sie wird bald vorüber sein.« Aber seinen Worten zum Trotz wurde er durch den Aufruhr des Himmels und das Heulen und Pfeifen des Windes bald gänzlich niedergedrückt. Als er die »Gute Hoffnung« verlassen hatte und sich mit aller Kraft der Ruder wieder dem Schlupfhafen näherte, bekreuzigte er sich inbrünstig und befahl dem Himmel alle Seelen, die bei einem solchen Seeabenteuer ihr Leben aufs Spiel setzten. An der Landungsbucht hatten sich schon mehr als ein Dutzend der Geächteten eingefunden. Das Ruderboot wurde ihnen überlassen, und Dick befahl ihnen, sich schnell einzuschiffen. Ein wenig später fand Dick oben am Strande Lord Foxham, der ihn schon suchte. Er hielt sein Gesicht unter einem dunklen Hut verborgen und hatte seine glänzende Rüstung mit einem langen, dunkelbraunen Mantel von unscheinbarem Aussehen verdeckt. »Junker Shelton«, sagte er, »wollt Ihr denn wirklich in See gehen?« »Mylord«, entgegnete Dick, »sie liegen mit Reitern rings um das Haus. Es ist von der Landseite nicht zu erreichen, ohne daß Alarm geschlagen würde. Wenn Sir Daniel von unserem Unternehmen erst Wind bekommen hat, können wir es nicht mehr zu einem guten Ende bringen, sondern würden sozusagen gegen den Wind segeln. Wenn wir jedoch den Umweg über das Meer machen, werden uns natürlich die Elemente hart zusetzen. Aber wir haben die Möglichkeit, unsern Plan in die Tat umzusetzen und das Mädchen zu entführen. Und das wiegt alles auf.« »Gut«, stimmte Lord Foxham zu, »also vorwärts! Ich werde mit dabeisein; aber ich gestehe, daß ich lieber im Bett liegen würde.« »Wir müssen hinübergehen«, sagte Dick, »unseren Lotsen zu holen.«
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Und er schlug den Weg zu der einfachen Schenke ein, wohin er eine Anzahl von seinen Männern beordert hatte. Einige von ihnen fand er draußen vor der Tür herumlungern; andere hatten sich, schon kühner, dicht um Lawless und die beiden Schiffsleute versammelt, um ihren Kameraden sehen zu können. Diese waren, soviel man aus ihrer gehobenen Stimmung und ihren benebelten Blicken schließen konnte, schon längst nicht mehr innerhalb der Grenzen der Mäßigung. Als Richard mit Lord Foxham eintrat, stimmten sie gerade ein sentimentales altes Seemannslied an, zu dem der Sturm schauerlich heulte. Der junge Führer warf einen schnellen Blick durch den Raum. Das Feuer war vor kurzem neu aufgeschüttet worden und entsandte große Wolken schwarzen Qualms, so daß es schwierig war, in den entfernteren Ecken etwas zu erkennen. Es war jedoch klar, daß die Geächteten die übrigen Gäste an Zahlen bei weitem übertrafen. Das beruhigte Dick für den Fall, daß bei der Ausführung seines Plans etwas mißlingen sollte. Er schritt auf den Tisch zu und nahm seinen Platz wieder ein. »Nun?« fragte der angeheiterte Schiffer. »Wer seid Ihr, he?« »Ich möchte draußen ein Wort mit Euch sprechen, Master Arblaster«, versetzte Dick, »es handelt sich um das hier.« Und dabei ließ er im Schein des Feuers ein Goldstück vor ihm aufblitzen. Die Augen des Seemannes leuchteten auf, obgleich er unsern Helden immer noch nicht kannte. »Ja, Junge«, sagte er, »ich komme mit. Gevatter, ich werde gleich zurück sein. Trinkt schön weiter.« Er ergriff Dicks Arm, um sich bei leinen schwankenden Schritten auf ihn zu stützen, und stolperte zur Tür der Schenke. Er war kaum über die Schwelle, als ihn zehn starke Arme ergriffen und gebunden hatten; und binnen zwei Minuten hatten sie ihn, mit gefesselten Gliedern und einem kräftigen Knebel im Munde, Hals über Kopf in einen nahen Heuschober befördert. Seines Matrosen Tom versicherten sie sich auf dieselbe Weise und gesellten ihn seinem Kapitän bei. So blieb jeder von ihnen für die Nacht seinen eigenen Betrachtungen überlassen. Und jetzt, als die Zeit der Heimlichkeit vorbei war, wurden Lord Foxhams Leute durch ein verabredetes Signal herbeigerufen. Kühn besetzte die Schar soviel Boote, wie sie benötigte, und ruderte in einer Flottille auf das Licht im Takelwerk des Schiffes zu. Noch längst nicht war der letzte Mann auf das Deck der »Guten
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Hoffnung« geklommen, als ein wüstes Geschimpfe vom Ufer her verriet, daß wenigstens ein Teil der Seeleute das Verschwinden ihrer Boote bemerkt hatte. Aber es war nun zu spät für die Rückgewinnung sowie für die Rache. Von den etwa vierzig Kriegern, die sich auf dem gestohlenen Schiff zusammengefunden hatten, waren acht früher zur See gefahren, so daß sie Arbeiten an Bord übernehmen konnten. Mit ihrer Hilfe wurde das Segel gehißt und das Tau gekappt. Lawless, der unsicher auf den Füßen war und noch den Kehrreim einer Seeballade schmetterte, ergriff die Ruderpinne, und die »Gute Hoffnung« glitt in das nächtliche Dunkel hinaus, um der schweren See, die jenseits der Hafenbarre heftig tobte, die Stirn zu bieten. Richard nahm seinen Platz neben der Luvtakelung ein. Abgesehen von der eigenen Laterne des Schiffes und einigen Lichtern in der Stadt Shoreby, die jetzt leewärts verschwanden, herrschte eine Finsternis so schwarz wie das Grab. Nur dann und wann, wenn die »Gute Hoffnung« schwindelnd in ein Wellental schoß, brach ein Wogenkamm und stürzte wie ein riesiger Katarakt von schneeweißem Gischt heran, verschwand aber im nächsten Augenblick schon im Kielwasser. Manche von den Männern lagen irgendwo angeklammert und beteten laut, noch mehr waren krank und hatten sich unter Deck zwischen der Ladung verkrochen. Bei dem heftigen Schlingern des Schiffes und der unverminderten trunkenen Bravour von Lawless, der am Steuer immer noch schrie und sang, konnte wohl auch das mutigste Herz an Bord das Schlimmste für den Ausgang dieses Abenteuers befürchten. Aber Lawless steuerte mit untrüglichem Instinkt das Schiff durch die Sturzseen und an einer großen Sandbank vorüber, wo das Schiff dann für eine Weile in ruhigem Wasser segelte, bis er es längsseits einer starken Steinmole legen konnte, wo es eiligst festgemacht wurde und dann stampfend und knirschend im Dunkel lag.
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Fünftes Kapitel Die »Gute Hoffnung« II
Die Mole lag nicht weit von dem Hause entfernt, in dem sich Johanna befand. Es kam nun darauf an, die Männer auszuschiffen, das Haus mit einer starken Mannschaft zu umstellen, das Tor aufzubrechen und die Gefangene wegzuschaffen. Dann hatte die »Gute Hoffnung« ihre Schuldigkeit getan: Sie hatte ihre Besatzung in den Rücken der Feinde geführt. Der Rückzug, mochten sie in dem eigentlichen Unternehmen nun Erfolg haben oder einen Fehlschlag erleiden, würde dann unter besseren Bedingungen in Richtung des Waldes, wo Lord Foxhams Reserve lag, durchgeführt werden müssen. Es war indes nicht leicht, die Männer an Land zu setzen. Viele waren seekrank geworden, alle völlig erstarrt vor Frost. Die Verwirrung und Unordnung an Bord hatten die Manneszucht untergraben, das starke Schlingern des Schiffes und die nächtliche Finsternis ihren Mut stark erschüttert. Sie stürzten sich gleich auf die Mole. Mit gezücktem Schwert mußte der Lord seine eigenen Dienstleute zum Gehorsam zwingen. Aber ihre Eigenmächtigkeit war nicht ohne lautes Geschrei zu unterdrücken, was in dieser Lage außerordentlich unerwünscht war. Als die Ordnung leidlich wiederhergestellt war, machte sich Dick mit einigen ausgesuchten Männern ans Werk. Die Dunkelheit am Strande erschien ihm, durch den Gegensatz zur weißen Gischt der Brandung, wie ein undurchdringlicher Körper; und das Heulen und Pfeifen des Sturmes überdröhnte jedes andere Geräusch. Er hatte kaum das Ende der Mole erreicht, als der Wind ein wenig nachließ. Es war ihm, als höre er dumpfen Hufschlag und Geklirr von Waffen. Er gebot seinen Begleitern Halt, ging allein einige Schritte weiter und betrat sogar die Düne. Hier konnte er ganz die Umrisse von Menschen und Pferden wahrnehmen. Sein Mut sank; denn wenn seine Feinde wirklich auf der Hut waren und den Strand in der Nähe der Mole besetzt hielten, waren er und Lord Foxham in eine üble Verteidigungsstellung geraten – hinter ihnen die See und die Männer bei der Dunkelheit auf einem engen
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Dammweg zusammengedrängt. So ließ er das verabredete Signal, ein behutsames Pfeifen, ertönen. Doch dieses Signal hatte nicht den gewünschten Erfolg. Augenblicklich prasselte durch die tiefe Nacht ein Pfeilregen nieder, und die Männer auf dem Damm standen so dicht zusammengedrängt, daß mehr als einer getroffen wurde. Schmerzensschreie und Schreie der Furcht waren die Antwort auf den Pfeilschauer. Durch diese erste Salve wurde Lord Foxham niedergestreckt. Hawksley trug ihn sogleich an Bord. Seine Leute fochten, wenn überhaupt, während der weiteren kurzen Dauer des Scharmützels ohne Führung. Das war vielleicht die Hauptursache des Unheils, das nun hereinbrach. Dort, wo die Mole an den Strand reichte, hielt sich Dick mit einer Handvoll Leute für etwa eine Minute. Auf beiden Seiten gab es schon einige Verwundete. Die Klingen wurden gekreuzt, aber noch gewann keine von beiden Parteien auch nur die geringste Überlegenheit. Dann wandte sich das Glück jählings gegen die Schar vom Schiffe. Irgend jemand schrie laut, daß alles verloren sei, und die Männer waren ganz in der Stimmung, einem verderblichen Ratschlag ihr Ohr zu leihen. Der Ruf wurde aufgenommen. »An Bord, an Bord, Kerls; um euer Leben!« schrie ein anderer. Ein dritter erhob mit dem echten Instinkt des Feigen den unausbleiblichen Ruf aller Rückzüge: »Wir sind verraten!« Im nächsten Augenblick wogte und drängte bereits die Menschenmasse rückwärts den Damm hinab, wobei sie ihre ungeschützten Rücken den Verfolgern zuwandten und die Nacht mit dem wildem Geschrei der Furcht zerrissen. Einer der Feiglinge stieß das Schiff am Heck ab, während ein anderer es noch am Bug hielt. Die Flüchtenden stürzten laut schreiend an Bord und retteten sich entweder hinüber oder fielen zurück und ertranken in den Fluten. Einige wurden auf der Mole von den Verfolgern niedergehauen. In der blinden Hast und dem Schrecken des Augenblicks wurden manche verletzt, als an Deck ein Mann über einen anderen stürzte und ein dritter über den zweiten. Zuletzt, sei es durch Absicht oder durch Zufall, kam der Bug der »Guten Hoffnung« frei. Und der tatkräftige Lawless, der mit Hilfe seiner Körperkraft und des rücksichtslosen Gebrauchs der blanken Waffe in all diesem Drunter und Drüber seinen Platz am Steuer behauptet hatte, brachte das Schiff alsbald wieder vor den Wind. Es schwankte vorwärts auf die stürmische See hinaus,
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die Speigatten von Blut überströmend und das Deck voller gestürzter Männer, die in der Dunkelheit miteinander rangen. Jetzt steckte Lawless seinen Dolch ein und sagte, sich an den nächsten wendend: »Ich habe ihnen einen Denkzettel gegeben, Gevatter, diesen kläffenden, feigen Hunden.« Während des Durcheinanders an Deck hatten die Männer offenbar die rauhen Stöße und scharfen Stiche nicht bemerkt, durch die Lawless in dem Durcheinander seinen Platz behauptet hatte. Aber vielleicht waren sie jetzt schon wieder so weit bei Verstande, oder vielleicht hatte jemand die Worte des Steuermanns gehört. Von Panik gepeitschte Truppen kommen nur langsam zur Besinnung, und Menschen, die sich eben noch mit Feigheit und Schande bedeckt haben, verfallen leicht, als wollten sie die Erinnerung an ihr Versagen auslöschen, äußerster Zuchtlosigkeit. So geschah es auch hier. Dieselben Männer, die ihre Waffen weggeworfen und sich, so gut ihre Beine sie zu tragen vermochten, an Bord der »Guten Hoffnung« gestürzt hatten, beschuldigten nun ihre Anführer und verlangten, daß einer bestraft würde. Der wachsende Unwille richtete sich gegen Lawless. Um besser manövrieren zu können, hatte der alte Geächtete die »Gute Hoffnung« Kurs in See nehmen lassen. »Was!« brüllte einer von den Mißvergnügten, »er bringt uns auf das offene Meer?« »Wahrhaftig«, schrie ein anderer, »wir sind verraten!« Und alle schrien jetzt laut im Chor, daß sie verraten seien, und befahlen Lawless in gellendem Ton und unter schrecklichen Flüchen, daß er wenden und sie schnellstens an Land bringen solle. Lawless steuerte mit zusammengebissenen Zähnen den richtigen Kurs weiter und führte die »Gute Hoffnung« durch die furchtbaren Sturzwellen. Auf ihre leere Furcht oder ihre schimpflichen Drohungen einzugehen war ihm, der zwischen Trunkenheit und Würde stand, zu verächtlich. Die Unzufriedenen rotteten sich gleich hinter dem Mast zusammen wie Haushähne, die krähen, um sich Mut zu machen. Sie wären jetzt auf der Stelle fähig gewesen, eine schreiende Ungerechtigkeit oder Undankbarkeit zu begehen. Dick wollte eben die Leiter hinaufsteigen, da er darauf brannte, dazwischenzutreten, als einer von den Geächteten, der selbst ein halber Seemann war, ihm zuvorkam.
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»Burschen«, begann er, »ihr scheint mir die richtigen Holzköpfe zu sein. Denn um zurückzukommen, zum Henker, müssen wir auf die offene See hinaus, oder etwa nicht? Und dieser alte Lawless...« Einer schlug dem Sprecher ins Gesicht, und im nächsten Augenblick wurde er so schnell, wie ein Feuer trockenes Stroh ergreift, auf das Deck niedergeworfen, unter die Füße getreten und verblutete unter den Dolchen seiner feigen Gefährten. Da konnte Lawless seine Wut nicht länger zügeln. »Steuert selber«, brüllte er mit einem Fluch und ließ, unbekümmert um die Folgen, das Steuerruder fahren. Die »Gute Hoffnung« ächzte in diesem Augenblick auf dem Gipfel eines Wellenberges. Mit erschreckender Schnelligkeit glitt sie auf der anderen Seite abwärts. Dann erhob sich wie ein großes dunkles Bollwerk eine Welle vor ihr, und mit einem niederschmetternden Schlag brach das Schiff durch diesen Wasserberg. Kniehoch schlug das grünliche Wasser vom Vorderbis zum Hintersteven über das Schiff, und der Gischt sprühte bis über den Mast. Und wie ein zu Tode getroffenes Tier erhob es sich wieder auf der anderen Seite mit schrecklicher, zitternder Unschlüssigkeit. Sechs oder sieben von den Unzufriedenen waren über Bord gespült worden. Die anderen aber brüllten, als sie die Sprache wiedergefunden hatten, zu allen Heiligen und baten Lawless jammernd, daß er an seinen Platz zurückkehren und das Ruder wieder ergreifen möge. Lawless ließ sich nicht zweimal bitten. Die schrecklichen Folgen seiner gerechten Wut hatten ihn vollkommen ernüchtert. Er wußte besser als irgend jemand an Bord, wie nahe die »Gute Hoffnung« dem Untergang gewesen war, und er erkannte an der Kraftlosigkeit, mit der sich das Schiff gegen die See stellte, daß die Gefahr keineswegs vorüber war. Dick, durch die Erschütterung niedergeworfen und fast ertrunken, watete bis zu den Knien in dem vollgelaufenen Pumpensod des Hecks und kroch zu dem alten Steuermann. »Lawless«, sagte er, »wir sind alle in Eurer Hand; Ihr seid ein tapferer, standhafter Mann und kennt Euch in der Führung von Schiffen aus; ich werde drei zuverlässige Männer bestimmen, die über Eure Sicherheit wachen sollen.« »Nutzlos, mein Junker, nutzlos«, sagte der Mann am Steuer, während er das Dunkel mit scharfem Blick durchdrang. »Wir
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entfernen uns mit jedem Augenblick mehr von diesen Sandbänken; mit jedem Augenblick setzt uns dann die See schwerer zu. Und was alle diese Jammerkerle betrifft, so werden sie binnen kurzem lang liegen. Denn, mein Junker, es ist fast ein Wunder, aber es ist wahr: Noch nie hat ein schlechter Mann als Seemann etwas getaugt. Nur ein gerader und furchtloser Mann kann das Schleudern eines Schiffes ertragen.« »Ja, Lawless«, sagte Dick lachend, »das ist ein richtiges Seemannswort und hat nicht mehr Sinn als das Säuseln des Windes. Aber sagt mir bitte, wie steht es? Liegen wir gut am Wind?« »Junker Shelton«, entgegnete Lawless, »ich bin Kapuzinermönch gewesen – dem Himmel sei Dank –, ich war Bogenschütze, Dieb und Seemann. Von all diesen Röcken, das war so mein Lieblingsgedanke, war es die Kutte des grauen Bruders, in der ich zu sterben wünschte, wie Ihr Euch wohl vorstellen könnt. Am allerwenigsten aber hegte ich den Wunsch, in John Seemanns Matrosenjacke zu sterben, und zwar aus zwei äußerst guten Gründen: zunächst, weil der nasse Tod einen Menschen ganz unversehens von hinnen nehmen kann, und zweitens aus Furcht vor diesem riesigen Salzwasser, das hier unter meinen Füßen grollt und zischt«, und Lawless stampfte mit dem Fuße. »Wie dem auch sei«, fuhr er fort, »wenn ich nicht den Seemannstod sterbe, noch in dieser Nacht, so gelobe ich, Unserer Lieben Frau eine große Kerze darzubringen.« »Steht es so?« fragte Dick. »Es steht so«, erwiderte der Geächtete. »Fühlt Ihr nicht, wie schwer und träge sich das Schiff auf den Wellen bewegt? Hört Ihr nicht, wie schwer das Wasser in seinem Raum hin und her flutet? Es will gerade jetzt kaum dem Ruder gehorchen. Wartet nur, bis es sich festgefahren hat. Dann wird es wie ein steinernes Standbild unter Euren Füßen versinken, oder es wird stranden und zerfetzt werden wie ein Stück Tuch.« »Ihr sagt das so leichten Herzens«, entgegnete Dick. »Seid Ihr denn nicht darüber entsetzt?« »Warum, Junker?« gab Lawless zur Antwort. »Wenn jemals ein Mann eine üble Bande an Bord hatte, die er in den Hafen bringen sollte, dann bin ich es – ein abtrünniger Mönch, ein Dieb und was sonst noch. Ihr möget Euch wundern, aber ich habe doch noch gute Hoffnung in meinem Ranzen. Wenn ich jedoch ertrinken
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muß, dann will ich klaren Blickes ertrinken, Junker Shelton, und ohne Zittern.« Dick erwiderte nichts; aber er war überrascht, den alten Vagabunden als solch einen entschlossenen Menschen zu finden. Und eine neue Gewalttat oder Verräter fürchtend, suchte er nach drei zuverlässigen Männern. Die meisten Leute hatten inzwischen das Deck verlassen, das unablässig von den Sturzseen überspült wurde und wo sie dem scharfen Winterwind ausgesetzt waren. Sie hatten sich im Laderaum, der von zwei Hängelampen beleuchtet wurde, zwischen den Weinfässern zusammengefunden. Hier nahmen einige ihre Zuflucht zum Gelage und wärmten sich bei Arblasters Gascognerwein auf. Aber als die »Gute Hoffnung« weiter auf den schäumenden Wogen tanzte und ihren Vorder- und Hintersteven abwechselnd hoch in die Luft stieß und tief in den weißen Gischt tauchte, verminderte sich die Zahl der lustigen Kumpane mit jeder Erschütterung und jedem Augenblick. Viele saßen abseits, mit ihren Verwundungen beschäftigt, aber die meisten waren schon seekrank und lagen stöhnend im Kielraum. Greensheve, Cuckow und ein junger Mensch von den Leuten Lord Foxhams, dessen Klugheit und Tapferkeit Dick schon früher aufgefallen war, waren indessen noch imstande, zu begreifen und zu gehorchen. Diese drei bestimmte Dick als Leibwache für den Steuermann und ging, nachdem er einen letzten Blick auf den schwarzen Himmel und die schwarze See geworfen hatte, in die Kabine hinab, wohin Lord Foxham von seinen Knechten gebracht worden war.
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Sechstes Kapitel Die »Gute Hoffnung« III
Das Stöhnen des verwundeten Barons mischte sich in das Gejaule des Schiffshundes. Das arme Tier – ob es nun wegen der Trennung von seinen Freunden gemütskrank war oder ob es in dem Kampf des Schiffes mit den Elementen wirklich Gefahr witterte – erhob seine Schreie gleich Notsignalen über das Toben von Wind und Wellen; und die Abergläubischen unter den Männern deuteten diese Töne schon als das Grabgeläute für die »Gute Hoffnung«. Lord Foxham war in einer Koje auf einen Pelzmantel gebettet worden. Eine kleine Lampe brannte düster vor der Heiligen Jungfrau im Schott, und bei ihrem Schimmer konnte Dick die blassen Gesichtszüge und die hohlen Augen des Verwundeten erkennen. »Ich bin arg verwundet«, sagte er. »Kommt näher an meine Seite, Junker Shelton, damit wenigstens jemand aus adligem Blut bei mir ist; denn nachdem ich mein Leben in Glanz und Reichtum verbracht habe, ist es ein häßlicher Ausgang, daß ich meine Wunde in einem kleinen Jagdscharmützel erhalten mußte und hier in diesem scheußlichen kalten Kasten auf See unter Geächteten und groben Kerlen sterben soll.« »Nein, Mylord«, tröstete ihn Dick, »ich will vielmehr die Heiligen bitten, daß Ihr von Eurer Verletzung genest und daß wir bald heil an Land kommen werden.« »Wie?« fragte Seine Lordschaft, »heil an Land kommen? Ist denn das in Frage gestellt?« »Das Schiff kämpft – die See ist schwer und widerspenstig«, gab der Jüngling zur Antwort, »und nach dem, was ich von meinem Kameraden am Steuer erfahren kann, müßten wir wirklich Glück haben, wenn wir trockenen Fußes an Land kommen.« »Ach!« seufzte der Baron trübsinnig, »sollen denn alle Schrecken den Heimgang meiner Seele begleiten! Herr, betet lieber um ein mühseliges Leben, damit Ihr ein leichtes Sterben habt, anstatt ein Leben lang durch Trommel und Pfeife genarrt und dann in der letzten Stunde in großes Unglück gestürzt zu werden! Wie dem
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auch sei, ich habe etwas auf dem Herzen, was ich nicht für mich behalten darf. – Haben wir keinen Priester an Bord?« »Nein«, entgegnete Dick. »Nun, dann zu meinen weltlichen Angelegenheiten«, fuhr Lord Foxham fort. »Ihr müßt mir im Sterben ein so guter Freund sein, wie Ihr mir im Leben ein ritterlicher Feind wart. Ich sterbe in einer schlimmen Stunde, da es um mich, um England und um die, welche mir vertrauten, schlimm bestellt ist. Meine Leute stehen unter der Führung Hamleys, der Euer Rivale war. Sie werden sich in dem weiten Raum um Holywood sammeln; dieser Ring von meinem Finger wird Euch ermächtigen, meine Befehle zu überbringen. Außerdem werde ich einige Worte aufschreiben und Hamley bitten, Euch das Fräulein zu überlassen. Ich weiß nicht, ob Ihr gehorchen wollt.« »Aber, Mylord, welchen Befehlen?« wünschte Dick zu wissen. »Ach ja«, sagte der Baron, »ach – die Befehle.« Und er sah Dick zweifelnd an. »Seid Ihr Lancaster oder York?« fragte er schließlich. »Ich schäme mich, es sagen zu müssen«, antwortete Dick, »ich kann kaum klar antworten. Aber eines ist gewiß: Seit ich zu Ellis Duckworth gehöre, diene ich dem Hause York. Gut, da dem so ist, erkläre ich mich für York.« »Das ist gut«, entgegnete jener, »es ist ausgezeichnet so. Denn wahrhaftig hättet Ihr Lancaster gesagt, dann wüßte ich nicht um die Welt, was ich getan hätte. Aber da Ihr für York seid, hört mich an. Ich habe diese Lords in Shoreby nur beobachtet, weil mein vortrefflicher junger Herr, Richard von Gloucester9, ausreichende Streitkräfte heranzieht, um über sie herzufallen und sie auseinanderzujagen. Ich habe mir Aufzeichnungen über ihre Stärke, über ihre Vorposten und ihre Stellungen gemacht, und diese muß ich meinem jungen Herrn am Sonntag eine Stunde vor Mittag am Kreuz der Heiligen Jungfrau am Wald übergeben. Diesen Termin kann ich nicht einhalten. Darum bitte ich Euch, um der Ehre willen, an meiner Statt dort zu sein. Und habt mir acht darauf, daß weder Vergnügen, Schmerz, Unwetter, Wunde noch Pestilenz Euch hindern, zur rechten Zeit zur Stelle zu sein. Denn es geht dabei um das Heil Englands.« »Ich erkenne das ganz klar«, sagte Dick. »Was ich tun kann, um Euer Vorhaben auszuführen, werde ich tun.« »Das ist gut«, sagte der Verwundete. »Der Herzog wird Euch weitere Befehle geben, und wenn Ihr ihm mutig und mit gutem
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Willen Gehorsam leistet, ist Euer Glück gemacht. Rückt mir die Lampe etwas näher, damit ich diese Worte für Euch schreiben kann.« Er schrieb eine Mitteilung »An seinen Hochansehnlichen Vetter, Sir John Hamley«, und dann noch eine zweite, die er aber ohne Unterschrift ließ. »Diese ist für den Herzog«, sagte er. »Die Parole ist ›England und Eduard‹ und die Erwiderung ›England und York‹.« »Und Johanna, Mylord?« fragte Dick. »Nun, Johanna müßt Ihr Euch selbst erringen«, erwiderte der Baron. »Ich habe in diesen beiden Briefen mein Wort für Euch eingelegt; aber gewinnen müßt Ihr sie Euch selbst, Junge. Ich habe es versucht, wie Ihr selbst gesehen habt, und nun kostet es mich mein Leben. Mehr kann kein Mensch tun.« Jetzt wurde der Verwundete sehr schwach, und Dick, der die kostbaren Schriftstücke zu sich steckte, versuchte ihm Hoffnung zuzusprechen und überließ ihn dann der Ruhe. Der Tag brach an, kalt und klar, mit heftigen Schneeböen. Dicht unter der Lee der »Guten Hoffnung« lag die Küste mit teils felsigem unbebautem Land und sandigen Buchten, während sich weiter landeinwärts die bewaldeten Gipfel der Hügel von Tunstall vom Himmel abzeichneten. Der Wind und die See hatten sich beruhigt, aber das Fahrzeug lag sehr tief im Wasser und erhob sich kaum über die Wellen. Lawless ließ das Ruder immer noch nicht aus der Hand. Unterdessen waren fast alle Männer an Deck gekommen und starrten nun mit bleichen Gesichtern auf die unwirtliche Küste. »Gehen wir an Land?« fragte Dick. »Ja«, sagte Lawless, »wenn wir nicht vorher untergehen.« Und gerade jetzt stemmte sich das Schiff so matt gegen eine Sturzwelle, und das Wasser wälzte sich so laut in seinem Raum, daß Dick unwillkürlich den Steuermann am Arm packte. »Bei allen Heiligen!« rief Dick, als der Bug wieder über den Wellen lag, »ich dachte wirklich, wir wären gesunken; mein Herz schlug mir bis zum Halse hinauf.« Im Mitteldeck waren Greensheve, Hawksley und die besseren Männer von beiden Scharen dabei, das Deck abzubrechen und ein Floß daraus zu bauen. Dick gesellte sich ihnen bei und arbeitete schwer, um seine Gedanken über die schlimme Lage zu vertreiben. Aber sogar bei der Arbeit erweckte jede Sturzsee, die das arme
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Schiff traf, und jede schwere Erschütterung des Fahrzeugs, wenn es sich taumelnd zwischen den Wellen wälzte, schreckliche Angst und führte ihm die unmittelbare Nähe des Todes vor Augen. Als er von seiner Arbeit aufblickte, sah er, daß sie sich dicht unter einem Vorgebirge befanden; eine unterspülte Klippe, an deren Fuß das Meer schwer und schäumend wütete, stand fast senkrecht über dem Deck; und über dieser wieder war ein Haus zu sehen, das auf dem Gipfel stand. In der Bucht, dort, wo die See sich staute, nahmen Wellen die »Gute Hoffnung« auf ihre schaumgekrönten Schultern und ließen das Schiff, das dem Steuer nicht mehr gehorchte, in Sekundenschnelle mit einer mächtigen Erschütterung auf eine Sandbank fallen. Bis zur Höhe des halben Mastes reichend, brachen sie sich auf dem Schiff und warfen es hierhin und dorthin. Eine andere riesige Welle hob das Schiff wieder hoch und trug es noch weiter auf die Küste zu. Dann folgte eine dritte, die es aus der Reichweite der gefährlichsten Sturzseen wegriß und es nahe der Küste in eine zweite Sandbank einkeilte. »Jetzt, Jungen«, rief Lawless, »haben sich die Heiligen unser erbarmt, wahrhaftig! Die Flut geht schon zurück; setzen wir uns; laßt uns einen Becher Wein trinken, und ehe eine halbe Stunde vergeht, sollt ihr mir alle so sicher wie auf einer Brücke an Land gehen.« Es wurde ein Faß angezapft, und in dem nächstbesten Unterschlupf, der die schiffbrüchige Gesellschaft vor dem Schneegestöber und dem Gischt schützen konnte, saßen sie beisammen, ließen den Becher kreisen und suchten, sich zu erwärmen und wieder Mut zu schöpfen. Dick war inzwischen zu Lord Foxham zurückgekehrt, der in größter Unruhe und Furcht lag, da auf dem Fußboden seiner Kabine das Wasser kniehoch hin und her flutete und die Lampe, sein einziger Lichtspender, durch die Heftigkeit des Schlages zerbrochen und ausgelöscht worden war. »Mylord«, sagte der junge Shelton. »Ihr braucht gar nichts zu fürchten, die Heiligen sind mit uns. Die Sturzseen haben uns hoch auf eine Sandbank geworfen, und sobald die Flut ein wenig zurückgegangen ist, können wir trockenen Fußes an Land gehen.« Es verging noch fast eine Stunde, bevor das Fahrzeug weit genug von der zurückgehenden See freigelegt war und sie an Land gehen konnten, das durch einen Schleier von treibendem Schnee gut zu
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erkennen war. Auf einem kleinen Hügel auf der einen Seite ihres Weges lag eine Gruppe von Männern dicht beisammen, die argwöhnisch die Bewegungen der Angekommenen verfolgten. »Sie könnten vielleicht näher kommen und uns einige Unterstützung gewähren«, bemerkte Dick. »Nun, wenn sie nicht zu uns kommen, dann wenden wir uns an sie«, sagte Hawksley. »Je eher wir ein gutes Feuer und ein trockenes Bett finden, um so besser ist es für meinen armen Lord.« Aber sie hatten erst ein kleines Stück des Weges zum Hügel zurückgelegt, als die Männer sich plötzlich wie auf Kommando erhoben und die schiffbrüchige Schar mit einem Hagel von wohlgezielten Pfeilschüssen überschütteten. »Zurück! Zurück!« schrie der Lord. »Nehmt euch um Gottes willen in acht, daß ihr nicht erwidert!« »Nein«, rief Greensheve, indem er einen Pfeil aus seinem Lederwams zog. »Wir sind gar nicht imstande zu kämpfen, das steht fest. Wir sind völlig durchnäßt, hundemüde und starr vor Frost. Aber bei der Liebe zu Alt-England, was fällt denen ein, so grausam auf ihre bedrängten Landsleute zu schießen?« »Sie halten uns für französische Seeräuber«, antwortete Lord Foxham. »In diesen so unruhigen und entarteten Zeiten können wir nicht einmal Englands Küste verteidigen. Unsere alten Feinde, die wir einst zu Wasser und zu Lande vor uns herjagten, schweifen jetzt nach Belieben umher, rauben, morden und sengen. Es ist ein Jammer und eine Schmach für dieses arme Land!« Die Leute auf dem Hügel blieben liegen und beobachteten die Schiffbrüchigen, wie sie sich vom Strand hochschleppten und sich landeinwärts zwischen öden Sandhügeln hindurchschlängelten. Für etwa eine Meile hefteten sie sich an ihre Fersen und schienen entschlossen zu sein, auf ein Zeichen eine weitere Salve auf die entkräfteten und entmutigten Flüchtlinge abzuschießen. Erst als sie schließlich auf eine feste Heerstraße gekommen waren, rief Dick seine Leute zu einiger militärischer Ordnung, worauf die eifrigen Wächter der englischen Küste lautlos in der Schneelandschaft verschwanden. Sie hatten ihr Ziel erreicht, sie hatten Haus und Hof, ihre Familien und ihr Vieh beschützt; und wenn sie ihr eigenes Gut und Blut in Sicherheit wußten, hätte keiner von ihnen auch nur einen Strohhalm bewegt, selbst wenn die Franzosen mit Feuer und Schwert über jedes andere Kirchspiel im Königreich England hergefallen wären.
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Viertes Buch Die Verkleidung
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Erstes Kapitel Die Höhle
Die Stelle, wo Dick die Landstraße erreicht hatte, lag nicht weit von Holywood und war etwa zehn Meilen von Shoreby am Till entfernt. Hier trennten sich die beiden Mannschaften, da sie sich nun vor weiterer Verfolgung sicher genug fühlten. Lord Foxhams Schar entfernte sich, um ihren verwundeten Herrn in das große Kloster, das für seine Bequemlichkeit und Sicherheit sorgen würde, zu bringen. Dick sah sie abmarschieren und hinter dem dichten Schleier des fallenden Schnees verschwinden. Er blieb ungefähr mit einem Dutzend Geächteter zurück, dem letzten Rest seiner Freiwilligenschar. Einige waren verwundet, alle waren wütend über ihren Mißerfolg und ihre unglückliche Lage; und wenn sie auch sehr froren und zu hungrig waren, um anderes zu wagen, so murrten sie doch und warfen feindselige Blicke auf ihre Anführer. Dick verteilte den Inhalt seiner Börse unter sie und behielt nichts für sich. Er dankte ihnen für den Mut, den sie gezeigt hatten, obgleich er sie, wenn er seinem Herzen gefolgt wäre, lieber wegen ihrer Feigheit gescholten hätte. Nachdem er so die Folgen seines andauernden Mißgeschicks ein wenig eingedämmt hatte, sandte er sie, entweder einzeln oder zu zweit, zur Herberge »Zur Ziege und den Dudelsäcken« in Shoreby. Er selbst wählte sich, den Eindrücken folgend, die er an Bord der »Guten Hoffnung« gewonnen hatte, Lawless zu seinem Weggefährten. Pausenlos und eintönig fiel der Schnee. Der Wind hatte sich gelegt. Die Erde war wie ausgelöscht und lag unter dieser schweigenden Hülle wie mit einem weißen Tuch bedeckt. So bestand die große Gefahr, vom Wege abzukommen und in den Schneeverwehungen zu versinken. Lawless, der seinem Gefährten immer um einen halben Schritt voraus war, seinen Kopf vorgestreckt wie ein Jagdhund auf der Fährte, orientierte sich an jedem Baum über den Verlauf des Weges, als müsse er ein Schiff durch allerlei Fährnisse hindurchsteuern.
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Als sie etwa eine Meile weit in den Wald hineingegangen waren, kamen sie an eine Stelle, wo sich in einem Gehölz von hohen, knorrigen Eichen einige Wege kreuzten. Dieser Punkt konnte selbst bei dem dichten Schneegestöber nicht übersehen werden. »Junker Richard«, sagte Lawless mit besonderer Freude, »wenn Ihr nicht zu stolz seid, der Gast eines Mannes zu sein, der kein Edelmann von Geburt und noch nicht einmal ein guter Christ ist, so kann ich Euch einen Becher Wein und ein gutes Feuer anbieten, um das Mark in Euren froststarren Knochen wieder aufzutauen.« »Dann voran, Will«, antwortete Dick. »Ein Becher Wein und ein ordentliches Feuer! Ach, darum würde ich wer weiß wie weit gehen.« Lawless verschwand unter den kahlen Zweigen des Gehölzes und erreichte, entschlossen gehend, eine abschüssige Grube oder Höhle; die jetzt bis zu einem Viertel vom Schnee zugeweht war. Eine große Buche wurzelte ziemlich unsicher am Rande. Hier bog der alte Vagabund einiges buschige Unterholz beiseite und verschwand in der Erde. Die Buche war offenbar durch einen heftigen Sturm halb entwurzelt worden und hatte dabei ein beträchtliches Stück des Erdbodens aufgerissen. Unter diesem Baum hatte sich Lawless sein Waldversteck gegraben. Die Wurzeln dienten ihm als Dachsparren. Der Erdboden war sein Dach, und Mutter Erde diente als Wand und Fußboden. Bei aller Primitivität zeigten doch der vom Feuer geschwärzte Herd in einer Ecke und eine mächtige, mit Eisen beschlagene eichene Truhe in einer anderen auf den ersten Blick, daß man in der Höhle eines Menschen und nicht in dem Bau eines Tieres war. Obgleich der Schnee vor die Öffnung geweht worden war und bis auf den Boden dieser Höhle gesprüht hatte, war die Luft doch weit wärmer als draußen; und als Lawless einen Funken geschlagen hatte und die trockenen Ginsterbüsche auf dem Herd loderten und knisterten, gewann der Ort sogar für das Auge den Anschein von häuslicher Gemütlichkeit. Mit einem Aufatmen völliger Zufriedenheit spreizte Lawless seine breiten Hände vor dem Feuer, und es schien, als atme er Rauch. »Hier ist also des alten Lawless Kaninchenbau«, sagte er. »Bitten wir den Himmel, daß kein Terrier ihn aufstöbert! Ich bin hin- und hergeworfen worden, seit ich mit vierzehn Jahren mit der goldenen
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Meßkette des Sakristans und einem Meßbuche, das ich für vier Mark verkaufte, zum erstenmal aus meinem Kloster davonlief. Ich bin in England, Frankreich und Burgund gewesen, auch in Spanien, auf einer Pilgerfahrt für meine arme Seele; und ich war auf dem Meere, das niemandem gehört. Aber hier ist mein Platz, Junker Shelton. Das ist mein Heimatland, dieses Erdloch. Mag Regen oder Wind kommen – sei es April, und alle Vögel singen und die Blüten fallen auf mein Bett, oder sei es Winter, und ich sitze allein bei meinem guten Gevatter, dem Feuer, und das Rotkehlchen zwitschert im Walde; hier ist meine Kirche und mein Markt, mein Weib und Kind. Hierher kehre ich immer wieder zurück, und hier – wenn es den Heiligen gefällt – möchte ich einmal sterben.« »Es ist sicher ein warmes Eckchen«, erwiderte Dick, »angenehm und gut versteckt.« »Das war nötig«, sagte darauf Lawless, »denn wenn man es gefunden hätte, Junker Shelton, hätte es mir das Herz gebrochen. Aber hier«, fügte er hinzu, indem er mit seinen starken Fingern in dem sandigen Boden wühlte, »hier ist mein Weinkeller, und Ihr sollt eine Flasche ausgezeichneten Stingos haben.« Und wirklich brachte er nach einigem Graben eine dickbauchige, mehr als eine Gallone10 fassende Lederflasche ans Licht, die etwa zu drei Viertel mit einem berauschenden, süßen Wein gefüllt war. Nachdem sie sich kameradschaftlich zugetrunken hatten und das Feuer aufgeschüttet und wieder angeblasen worden war, lagen sie beide in voller Länge, auftauend und dampfend in der herrlichen Wärme. »Junker Shelton«, bemerkte der Geächtete, »Ihr habt kürzlich zwei Fehlschläge erlitten, und Ihr sollt wohl jetzt um das Fräulein gebracht werden – wenn ich recht verstehe?« »Richtig«, erwiderte Dick und nickte dazu. »Nun gut«, fuhr Lawless fort, »hört einen alten Narren, dem nichts fremd ist und der alles gesehen hat. Ihr geht zuviel in anderer Leute Auftrag, Junker Dick. Ihr geht in Ellis' Auftrag, aber ihm geht es vor allem um den Tod von Sir Daniel. Ihr geht in Lord Foxhams Auftrag; schön – die Heiligen mögen ihn schützen! –, er meint es zweifellos gut. Aber geht doch einmal in Eurem eigenen Auftrag, lieber Dick. Haltet Euch heran, daß Ihr das Mädchen bekommt, werbt um sie, ehe sie Euch vergißt. Haltet die Augen offen, und wenn der richtige Augenblick da ist – fort mit ihr auf dem Sattelbogen.«
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»Ja, aber ohne Zweifel ist sie jetzt im Hause Sir Daniels«, antwortete Dick. »Dann gehen wir also dorthin«, erwiderte der Vagabund. Dick starrte ihn nur an. »Ja, das ist mein Ernst«, nickte Lawless. »Und wenn Ihr so wenig Vertrauen habt, dann seht her!« Und der Geächtete nahm einen Schlüssel, den er um seinen Hals hängen hatte, öffnete die eichene Truhe, griff tief in sie hinein, wühlte herum und brachte zunächst eine Mönchskutte und einen Gürtel aus Hanf, dann aber einen ungeheuren hölzernen Rosenkranz ans Licht, der so schwer war, daß er als Waffe hätte dienen können. »Hier«, sagte er, »das ist für Euch. Zieht es an!« Und als sich Dick in diese geistliche Vermummung gesteckt hatte, holte Lawless Farben und einen Pinsel hervor und malte ihm mit der größten Geschicklichkeit ein anderes Gesicht. Die Augenbrauen wurden verdickt und verlängert; dem Schnurrbart, der kaum erst sichtbar war, half er auf die gleiche Weise nach, worauf er durch ein paar Striche den Ausdruck der Augen veränderte und das mutmaßliche Alter dieses jungen Mönchs erhöhte. »So«, fuhr er fort, »wenn ich das gleiche mit meinem Gesicht getan habe, werden wir ein so nettes Paar geistlicher Brüder abgeben, wie das Auge es sich nur wünschen kann. Wir werden dreist zu Sir Daniel gehen und dort, um der Liebe zur Mutter Kirche willen, gastfreundlich aufgenommen werden.« »Und wie, lieber Lawless«, rief der Jüngling aus, »soll ich Euch das alles vergelten?« »Ach was, Bruder«, versetzte der Vagabund, »ich tue so etwas nur zu meinem Vergnügen. An mich braucht Ihr nicht zu denken. Ich bin einer – bei allen Heiligen! –, der für sich selbst sorgen kann. Wenn mir etwas fehlt, habe ich eine geschmeidige Zunge und eine Stimme wie die Klosterglocke. Damit bitte ich, mein Sohn, und wo Bitten versagt, da nehme ich ganz einfach.« Der alte Schelm schnitt eine fröhliche Grimasse, und obwohl es Dick nicht recht behagte, so großes Wohlwollen einer so zweideutigen Persönlichkeit zu genießen, vermochte er doch seine Freude kaum zu bezähmen.
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Lawless wandte sich wieder der großen Truhe zu und war bald ähnlich verkleidet. Aber unter seiner Kutte verbarg er zu Dicks Verwunderung ein Bündel schwarzer Pfeile. »Weshalb tut Ihr das?« fragte der Jüngling. »Wozu die Pfeile, wenn Ihr keinen Bogen mitnehmt?« »Ach«, sagte Lawless leichthin, »es ist nur für den Fall, daß dort Schädel eingeschlagen werden, ehe Ihr und ich unversehrt entkommen können. Wenn einige fallen, möchte ich, daß unsere Bruderschaft dabei an Ansehen gewinnt. Ein schwarzer Pfeil, Junker Dick, ist das Siegel unseres ›Klosters‹; es zeigt Euch, wer das Schriftstück schrieb.« »Da Ihr Euch so sorgfältig vorbereitet...«, sagte Dick, »ich habe hier einige Papiere, die sowohl um meiner selbst willen als auch im Interesse derer, die sie mir anvertrauten, besser zurückgelassen als an meinem Körper gefunden werden sollten. Wo kann ich sie verstecken, Will?« »Ich werde in den Wald hinausgehen«, erwiderte Lawless, »und mir drei Verse aus einem Lied pfeifen; indessen vergrabt Ihr sie, wo es Euch gut dünkt, und streicht den Sand auf der Stelle wieder glatt.« »Niemals!« rief Richard. »Ich vertraue Euch doch, Mann! Ich wäre ja wahrhaftig ein Schuft, wenn ich Euch nicht traute.« »Bruder, Ihr seid ein Kind«, erwiderte der alte Geächtete, hielt dann inne und blickte von der Schwelle der Hütte auf Dick. »Ich bin ein guter alter Christ und verrate kein Menschenblut und spare mein eigenes nicht, wenn ein Freund in Gefahr ist. Aber Narr, Kind, ich bin ein berufsmäßiger Spitzbube, Spitzbube von Geburt und dem Aussehen nach. Wenn meine Flasche leer und mein Mund trocken wären, würde ich Euch berauben, liebes Kind, so sicher, als ich Eure Taten und Eure Person liebe, ehre und bewundere! Kann es noch deutlicher gesagt werden? Nein.« Und er tappte durch die Büsche und schnalzte mit seinen dicken Fingern. Dick, nun sich selbst überlassen, zog unter Kopfschütteln über die Widersprüche im Charakter seines Gefährten schnell seine Dokumente hervor, sah sie nochmals durch und vergrub sie. Nur eins behielt er zurück, um es weiter bei sich zu führen, da es in keiner Weise seine Freunde bloßstellte und andererseits im Notfall gegen Sir Daniel von Nutzen sein konnte. Das war des Ritters Brief an Lord Wensleydale, der am Tage nach der Niederlage bei
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Risingham durch Throgmorton hatte überbracht werden sollen und einen Tag später von Dick bei dem Boten gefunden worden war. Dann verließ Dick die Höhle, nachdem er die glimmende Kohle des Feuers ausgetreten hatte, und begab sich zu dem alten Geächteten, der ihn unter den kahlen Eichen erwartete und von dem fallenden Schnee schon leicht überpudert war. Sie sahen einander an, und beide lachten, so täuschend und komisch war die Verkleidung. »Jetzt möchte ich nur noch, daß es Sommer und ein heiterer Tag wäre«, brummte der Vagabund. »Dann könnte ich mich in dem Spiegel eines Teiches betrachten. Viele von Sir Daniels Leuten kennen mich, und wenn wir erkannt werden sollten, dann dürfte man Euch, Bruder, gewiß einige Worte vergönnen. Was aber mich betrifft, so würde ich innerhalb einer Vaterunserlänge in einer Seilschlinge verrecken.« So machten sie sich auf den Weg nach Shoreby, der hier dicht am Waldrande und an Hütten von armen Leuten und kleinen Gehöften vorüberführte. Plötzlich hielt Lawless beim Anblick eines dieser Häuser inne. »Bruder Martin«, sagte er mit völlig verstellter, seinem Mönchsgewand angepaßter Stimme, »laßt uns eintreten und diese armen Sünder um Almosen bitten. Pax vobiscum! Ach«, fügte er in seiner gewöhnlichen Stimme hinzu, »es ist, wie ich befürchtete, ich habe das Geflenne fast schon verlernt. Wenn Ihr erlaubt, guter Junker Shelton, werde ich mich in diesen ländlichen Gegenden hier ein wenig darin üben, ehe ich durch Betreten von Sir Daniels Bereichen meinen feisten Nacken aufs Spiel setze. Aber Ihr seht schon allmählich, wie gut es ist, Hansdampf in allen Gassen zu sein! Wenn ich nicht ein Seemann gewesen wäre, wäret Ihr mit der ›Guten Hoffnung‹ unfehlbar untergegangen; wenn ich nicht ein Gauner gewesen wäre, hätte ich Euer Gesicht nicht bemalen können; und wenn ich nicht ein Kapuzinermönch gewesen wäre und laut im Chor gesungen und herzhaft am Tisch gegessen hätte, so könnte ich diese Verkleidung nicht tragen, und diese Hunde würden uns erkennen und wegen der Täuschung verbellen.« Er war in diesem Augenblick dicht am Fenster des Gehöftes. Er hob sich auf Zehenspitzen und schaute hinein. »Ja«, rief er, »das trifft sich ausgezeichnet. Wir werden hier unsere falschen Gesichter ausprobieren, daß es eine Art hat, und
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als Zugabe einen hübschen Spaß am Bruder Capper haben.« Und damit öffnete er die Tür und trat in das Haus. Drei von ihrer eigenen Bande saßen gierig essend am Tisch. Ihre Dolche, die sie neben sich in das Holz gesteckt hatten, und die finsteren und drohenden Blicke, die sie ununterbrochen auf die Häusler warfen, bewiesen, daß sie ihre Bewirtung mehr der Gewalt als der Gastfreundschaft zu verdanken hatten. Zu den beiden Mönchen, die jetzt mit einer gewissen demütigen Würde die Küche betraten, kehrten sie ihre Gesichter mit einer Art von Unwillen, und einer – es war John Capper in Person –, welcher der Anführer zu sein schien, befahl ihnen augenblicklich in rauhem Ton, sich davonzumachen. »Wir brauchen hier keine Bettler!« brüllte er. Aber ein anderer, obwohl er Dick und Lawless keineswegs erkannte, neigte zu gemäßigterem Verhalten. »Nicht so«, rief er. »Wir sind starke Kerle und nehmen, diese hier sind schwach und bitten. Aber letzten Endes werden sie die Oberhand behalten, und wir werden unten sein. Achtet nicht auf ihn, ehrwürdiger Vater, sondern kommt und trinkt aus meinem Becher und gebt mir Euren Segen.« »Ihr seid Menschen von ausschweifendem Sinn, fleischlich und gottlos«, sagte der Mönch. »Mögen die Heiligen mich davor behüten, daß ich jemals mit solchen Gesellen trinke! Aber hier, um des Erbarmens mit euch Sündern willen, lasse ich euch eine geweihte Reliquie und bitte euch, sie um euer Seelenheil zu küssen und zu bewahren.« Lawless donnerte sie an wie ein predigender Mönch. Aber als er gesprochen hatte, zog er unter der Kutte einen schwarzen Pfeil hervor, spießte ihn vor den drei bestürzten Stromern in den Tisch, wandte sich im gleichen Augenblick um und lief, Dick mit sich ziehend, aus dem Raum und tauchte schnell in dem Schneegestöber unter, ehe jene Zeit hatten, ein Wort zu äußern oder einen Finger zu rühren. »So«, sagte er, »wir haben unsere falschen Gesichter erprobt, Junker Shelton. Nun will ich meine arme Haut zu Markte tragen, wo Ihr wollt.« »Gut!« erwiderte Richard. »Es reizt mich, es zu tun. Nun auf nach Shoreby!«
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Zweites Kapitel In meines Feindes Haus
Sir Daniels Wohnsitz in Shoreby war ein hohes, geräumiges Gebäude mit einem flachen Strohdach. Die verputzte weiße Fläche der Mauern wurde von den geschnitzten Eichenbalken des Fachwerks durchbrochen. Hinter dem Hause erstreckte sich ein Garten voller Obstbäume, Alleen und dichten Lauben. Am anderen Ende überragte ihn der Turm der Klosterkirche. Das Haus hätte zur Not auch das Gefolge eines mächtigen Herrn aufnehmen können. Aber sogar jetzt war es schon von Lärm erfüllt. Der Hof erdröhnte von Waffengeklirr und Pferdehufen; die Küche summte vom Kochen wir ein Bienenstock; Lieder fahrender Sänger und Musikanten und die Rufe von Gauklern ertönten aus der Halle. Sir Daniel wetteiferte in allzu großer Freigebigkeit, in der Lustigkeit und Geselligkeit mit Lord Shoreby und stellte sogar Lord Risingham in den Schatten. Alle Gäste waren hier willkommen. Fahrende Sänger, Gaukler, Schachspieler, Verkäufer von Reliquien, Arzneien, Parfüms und allerlei Zauber kamen und gingen, und daneben wurden Priester, Mönche oder Pilger aller Art an der unteren Tafel willkommen geheißen. Sie konnten alle in den geräumigen Dachkammern oder auf den bloßen Dielen des langen Speisesaals schlafen. Am Nachmittag nach dem Schiffbruch der »Guten Hoffnung« waren Speisekammer, Küchen, Ställe und der gedeckte Wagenschuppen, der sich an zwei Seiten des Hofes hinzog, mit müßigem Volk angefüllt, das zum Teil zu Sir Daniels Hauswesen gehörte und in rot-braun-blaue Livree gekleidet war. Zum Teil waren es schwer zu beschreibende Fremde, welche die Habgier in die Stadt gebracht hatte und die aus Schlauheit von dem Ritter aufgenommen wurden oder weil es die Sitte der Zeit so heischte. Der Schnee, der immer noch ohne Unterbrechung fiel, die außerordentlich kalte Luft und die hereinbrechende Nacht bewirkten, daß sie unter ihrem Obdach beisammen blieben. Wein, Bier und Geld waren reichlich vorhanden; manche lagen im Stroh
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der Scheune ausgestreckt beim Spiel, andere waren noch vom Mittagsmahl betrunken. Einen Betrachter von heute würde dieses Bild an die Plünderung einer Stadt erinnern. Aber das Auge eines Zeitgenossen erkannte darin das Treiben irgendeines reichen und vornehmen Haushaltes in einer festlichen Zeit. Zwei Mönche, ein junger und ein alter, waren spät angekommen und wärmten sich nun am Feuer in einer Ecke des Schuppens, umlagert von einer bunten Menge von Gauklern, Quacksalbern und Soldaten. Und mit diesen hatte der ältere bald eine so lebhafte Unterhaltung in Gang gebracht und so viel schallendes Lachen und so viele rohe Witze ausgetauscht, daß diese Gruppe immer größer wurde. Sein jüngerer Gefährte, in dem der Leser schon Dick Shelton erkannt haben wird, saß etwas abseits von dem ersteren und rückte allmählich immer mehr von ihm ab. Er hörte zwar eifrig zu, öffnete aber den Mund nicht, und sein ernster Gesichtsausdruck verriet, daß seine Gedanken mit etwas anderem als mit den Späßen seines Kameraden beschäftigt waren. Schließlich erblickte sein Auge, das wachsam auf alle Eingänge des Hauses achtete, eine kleine Gruppe, die durch das Haupttor eintrat und in schräger Richtung den Hof überquerte. Zwei in dicke Pelze eingehüllte Damen schritten voran, ihnen folgten zwei Kammerfrauen und vier starke Bewaffnete. Sobald sie im Hause verschwunden waren, entschlüpfte Dick durch die Menge von Müßiggängern und folgte ihnen dicht auf den Fersen. Die größere von diesen beiden war Lady Brackley, sagte er sich, und wo Lady Brackley ist, wird Johanna nicht weit sein. An der Tür des Hauses machten die vier Bewaffneten halt, und die Damen gingen nun lediglich unter der Begleitung der zwei Kammerfrauen das eichengetäfelte Treppenhaus hinauf. Dick folgte ihnen, Es war schon die Zeit der Abenddämmerung, und im Hause herrschte fast nächtliche Dunkelheit. Auf den Treppenabsätzen loderten Fackeln in eisernen Haltern. In den Korridoren, die mit Gobelins geschmückt waren, brannte an jeder Tür eine Lampe. Durch die offenstehenden Türen konnte Dick beim Schein der Kaminfeuer sehen, daß die Wände mit Teppichen bedeckt und die Fußböden mit Binsen bestreut waren. Schon hatten sie zwei Flure durchschritten, und auf jedem Treppenabsatz hatte sich die jüngere und kleinere von den zwei Damen lebhaft nach dem Mönch umgeblickt. Dieser hingegen
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hatte sie, da er seinen Blick gesenkt hielt und das gemessene Benehmen nachahmte, das seiner Verkleidung entsprach, nur ein einziges Mal gesehen und war sich nicht bewußt, daß er ihre Aufmerksamkeit erregte. Jetzt trennte sich die Gesellschaft auf dem dritten Flur. Die jüngere Dame stieg weiter hinauf, während die andere, von den Dienerinnen begleitet, den Korridor betrat. Dick stieg eiligen Schrittes weiter, hielt an der Ecke an, schob seinen Kopf vor und folgte den drei Frauen mit seinen Blicken. Ohne sich umzudrehen oder zurückzublicken, gingen sie den Korridor entlang. Das trifft sich gut, dachte Dick. Wenn ich erst Lady Brackleys Zimmer feststellen kann, müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn ich nicht Mutter Hatch auf einem Botengang fände. Im selben Augenblick fühlte er eine Hand auf seiner Schulter, und mit einem unterdrückten Schrei fuhr er herum und packte den Angreifer. Er war ein wenig verlegen, als er in der Person, die er so roh behandelt hatte, die kleine junge Dame im Pelzmantel erkannte. Diese war empört und maßlos erschrocken und zitterte unter seinem Griff. »Gnädiges Fräulein«, sagte Dick und ließ sie los, »ich bitte Euch tausendmal um Vergebung; aber ich habe hinten keine Augen, und ich konnte wahrhaftig nicht wissen, daß Ihr eine junge Dame seid.« Das Mädchen sah ihn weiter an. Aber nun folgte dem Schrecken die Überraschung, und der Überraschung folgte der Argwohn. Dick, der diesen schnellen Wechsel ihrem Gesicht ablesen konnte, war sofort alarmiert und besann sich auf seine eigene Sicherheit in diesem feindseligen Hause. »Schönes Mädchen«, sagte er, sich kaltblütig stellend, »erlaubt mir, Eure Hand zu küssen, zum Zeichen, daß Ihr mir meine Rauheit vergeben habt, und ich werde sofort gehen.« »Ihr seid ein seltsamer Mönch, junger Herr«, erwiderte die Lady, während sie ihm kühn und fest ins Gesicht blickte, »und jetzt, da mein erstes Erstaunen sich ein wenig gelegt hat, erkenne ich an jedem Eurer Worte den Laien. Was macht Ihr hier? Warum seid Ihr so gotteslästerlich angezogen? Seid Ihr Freund oder Feind? Und warum spioniert Ihr wie ein Dieb hinter Lady Brackley her?« »Gnädiges Fräulein«, sagte Dick, »über eins könnt Ihr ganz beruhigt sein: Ich bin kein Dieb. Und selbst wenn ich als Feind hierherkomme, was in einem gewissen Grade zutrifft, so führe ich
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doch keinen Krieg gegen schöne Mädchen. Und deshalb flehe ich Euch an, mich ebenso zu behandeln und mich in Ruhe zu lassen. Denn in der Tat, schönes Fräulein, wenn Ihr aufschreit – falls Euch das zum Vergnügen gereichen sollte –, nur einmal aufschreit und sagt, was Ihr gesehen habt, dann ist der Arme hier vor Euch nur noch ein toter Mann. Ich kann mir nicht denken, daß Ihr so grausam sein würdet«, fügte Dick hinzu; und während er die Hand des Mädchens sanft nahm, blickte er auf sie mit höflicher Verwunderung. »Seid Ihr denn ein Spion, ein Yorkist?« fragte das Mädchen. »Gnädiges Fräulein«, gab er zur Antwort, »ich bin in der Tat ein Anhänger Yorks und gewissermaßen ein Spion. Und was mich in dieses Haus führte – eben das, was mir das Mitleid und die Anteilnahme Eures gütigen Herzens gewinnen soll –, ist weder das Interesse Yorks noch Lancasters. Ich will Mein Leben ganz Euerer Verschwiegenheit anheimgeben. Ich bin ein Liebender, und mein Name...« Aber hier legte das junge Edelfräulein plötzlich die Hand auf Dicks Mund, sah hastig nach allen Seiten, und als sie feststellte, daß die Luft rein war, zog sie den jungen Mann die Treppe hinauf. »Pst!« sagte sie, »und kommt. Ihr könnt nachher erzählen.« Ziemlich verwirrt fügte sich Dick darein, treppauf und über einen Korridor gezogen und plötzlich in ein Zimmer geschoben zu werden, das, wie so viele der anderen, durch brennende Holzscheite im Kamin erleuchtet wurde. »Jetzt«, sagte das Fräulein, während sie ihn auf einen Schemel niederdrückte, »bleibt hier sitzen und unterhaltet mich. Ich habe Macht über Euer Leben und Euren Tod und keine Bedenken, meine Macht zu mißbrauchen. Nehmt Euch in acht, Ihr habt meinen Arm grausam gepreßt. – Er wußte nicht, daß ich ein Mädchen war, sagte er! Hätte er gewußt, daß ich ein Mädchen bin, hätte er mich gewiß mit seinem Gürtel geschlagen!« Mit diesen Worten schlüpfte sie aus dem Zimmer und ließ Dick, der nicht wußte, ob er träumte oder wachte, starr vor Staunen zurück. »... sie mit meinem Gürtel geschlagen!« wiederholte er. Und die Erinnerung an jenen Abend im Wald stieg in ihm auf, und er sah noch einmal Matchams zusammenzuckenden Körper und ihre flehenden Augen. Aber dann wurde er wieder in die Gegenwart mit ihren drohenden Gefahren zurückgerufen. Er hörte, wie sich im
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Nachbarzimmer etwas regte, dann folgte ein Seufzer, der seltsam nah klang; schließlich vernahm er das Rascheln von Röcken und den Klang von Schritten. Als er horchend stand, sah er, wie sich der Teppich an der Wand bewegte. Er vernahm das Geräusch einer Tür und sah, wie die Wandbehänge sich plötzlich teilten. Mit einer Lampe in der Hand betrat Johanna Sedley das Gemach. Sie war in köstliche Stoffe von satten und warmen Farben gekleidet, wie sie für die tiefen, schneereichen Winter besonders gut geeignet sind. Sie trug das Haar zusammengesteckt, so daß es wie eine Krone aussah. Und sie, die Dick in der Verkleidung als Matcham so klein und unbeholfen erschienen war, stand jetzt hochgewachsen wie eine junge Weide vor ihm und schwebte über den Fußboden, als ob sie der Schwerfälligkeit des Gehens spotte. Ohne Zögern und ohne Zittern erhob sie ihre Lampe und sah den jungen Mönch an. »Was macht Ihr hier, guter Bruder?« fragte sie, »Ihr seid gewiß in die Irre gegangen. Wen sucht Ihr?« und damit setzte sie ihre Lampe auf den Kragstein. »Johanna«, sagte Dick, aber dann versagte ihm die Stimme. »Johanna«, begann er von neuem, »Ihr sagtet, Ihr liebt mich; und ich bin ein um so größerer Narr, daß ich es glaubte!« »Dick!« schrie sie. »Dick!« Und dann tat diese wunderschöne und hochgewachsene junge Dame Zum Erstaunen des Jünglings einen Schritt, warf ihre Arme um seinen Nacken und bedeckte ihn mit zahllosen Küssen. »Oh, der närrische Junge!« rief sie. »Oh, lieber Dick! Oh, wenn Ihr Euch selbst sehen könntet! Ach!« fügte sie hinzu, »ich habe Eure Maske verdorben, Dick! Ich habe Euch etwas von Eurer Schminke abgeküßt – nun, das kann wieder ausgebessert werden; was aber nicht ausgebessert werden kann, ist – wie ich fürchte – meine Heirat mit Lord Shoreby.« »Ist sie denn schon festgesetzt?« fragte der Jüngling. »Morgen vormittag, Dick, in der Klosterkirche«, gab sie zur Antwort, »sollen John Matcham und Johanna Sedley zu einem recht bösen Ende kommen. Da helfen keine Tränen, selbst wenn ich mir die Augen ausweinte. Ich habe es nicht an Gebeten fehlen lassen, aber der Himmel nimmt meine Bitten nicht mit Wohlgefallen auf. Und, lieber Dick, bester Dick, wenn Ihr mich nicht vor Tagesanbruch aus diesem Hause fortbringen könnt, müssen wir uns küssen und uns Lebewohl sagen.«
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»Nein«, sagte Dick, »ich gehe nicht, für mich gibt es dieses Wort ›Lebewohl‹ nicht. Es klingt nach Verzweiflung. Solange wir leben, Johanna, solange ist Hoffnung, und ich will hoffen, ja wahrhaftig, und triumphieren! Seht, als Ihr nur erst ein Name für mich waret: Folgte ich Euch nicht, rüttelte ich nicht gute Menschen für Euch auf, setzte ich für den Streit nicht meinen Kopf zum Pfande? Und jetzt, da ich Euch für das erkannt habe, was Ihr seid – das schönste und stattlichste Mädchen von ganz England –, denkt Ihr, würde ich umkehren? Nein, und wenn ich durch das unendliche Meer schwimmen müßte, ich täte es auf der Stelle. Wenn der Weg voller Löwen wäre, ich würde sie wie Mäuse verjagen.« »Ach«, sagte sie trocken, »Ihr macht viel Wesens um ein himmelblaues Kleid!« »Nein, Johanna«, protestierte Dick, »es ist nicht allein das Kleid. Ihr wart damals verkleidet. Hier bin ich verkleidet; und sehe ich zum Beispiel nicht wirklich lächerlich aus?« »Ja, Dick, wirklich«, antwortete sie lächelnd. »Nun, also«, erwiderte er frohlockend. »Es war das gleiche mit Euch, armer Matcham, damals im Walde. Über Euch konnte man wirklich lachen. Aber jetzt...!« – So ging es weiter: Sie faßten sich bei den Händen, wechselten lächelnd verliebte Blicke, und die Minuten eilten wie Sekunden dahin. So hätte es nach ihrem Wunsche die ganze Nacht weitergehen können. Aber dann hörten sie ein Geräusch hinter sich, und sie gewahrten die kleine junge Dame; sie hielt den Finger auf ihre Lippen gelegt. »Beim Himmel«, warnte sie, »was für Lärm macht Ihr! Könnt Ihr nicht mit leiser Stimme sprechen? Und nun, Johanna, mein schönes Mädchen aus den Wäldern, was gebt Ihr Eurer Base dafür, daß sie Euch Euren Liebsten hergebracht hat?« Anstatt zu antworten, lief Johanna auf sie zu und schloß sie ungestüm in die Arme. »Und Ihr, Herr«, fuhr die junge Lady fort, »was gebt Ihr mir?« »Gnädiges Fräulein«, sagte Dick, »ich würde froh sein, Euch mit der gleichen Münze zahlen zu dürfen.« »Gut denn«, erwiderte die Dame, »es ist Euch erlaubt.« Aber Dick, der rot wie eine Pfingstrose wurde, küßte ihr nur die Hand. »Was gefällt Euch nicht an meinem Gesicht, schöner Herr?« fragte sie und knickste fast bis auf den Boden, und dann, als Dick sie schließlich recht schüchtern umarmte, fügte sie hinzu:
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»Johanna, Euer Liebster ist in Eurem Beisein sehr zurückhaltend; aber ich versichere Euch, daß er recht wild war, als wir uns zuerst begegneten. Ich bin ganz braun und blau, Mädchen. Es ist wirklich wahr! Und jetzt«, fuhr sie fort, »habt Ihr Euch alles Wichtige erzählt? Denn ich muß den Helden jetzt eiligst entlassen.« Aber darauf erklärten beide nachdrücklich, daß sie sich noch gar nichts gesagt hätten, daß die Nacht erst angebrochen wäre und daß sie nicht so schnell getrennt sein wollten. »Und das Abendbrot?« fragte die junge Lady. »Müssen wir nicht zum Abendessen hinuntergehen?« »Ach, gewiß«, rief Johanna, »das hätte ich ganz vergessen.« »Verbergt mich, wenn Ihr geht«, bat Dick, »stellt mich hinter den Teppich, schließt mich in eine Truhe ein oder macht mit mir, was Ihr wollt; laßt mich nur bis zu Eurer Rückkehr hierbleiben. Ihr müßt wirklich bedenken, schöne Lady«, fügte er hinzu, »daß wir arg bedrängt sind und uns vielleicht nach dieser Nacht bis zu unserem Tode nicht mehr wiedersehen.« Davon wurde die junge Dame gerührt; und als die Glocke ein wenig später alle Einwohner des Hauses Sir Daniels zu Tisch rief, mußte sich Dick ganz steif gegen die Wand stellen, an einer Stelle, wo ihm ein Spalt im Teppich sowohl zu atmen als auch im Zimmer umherzublicken gestattete. Er hatte noch nicht lange in dieser Stellung zugebracht, als er auf merkwürdige Art gestört wurde. Die Stille in diesem oberen Stockwerk des Hauses wurde nur durch das Knistern des Kaminfeuers und das Zischen eines grünen Holzscheits darin unterbrochen. Aber plötzlich hörte Dick, der gespannt lauschte, wie sich jemand äußerst vorsichtig näherte. Bald darauf ging die Tür auf, und ein kleiner, zwergenhafter Bursche, in Lord Shorebys Farben gekleidet, mit einem dunklen Gesicht, schob erst seinen Kopf und dann seinen schiefen Körper in das Zimmer. Er hielt den Mund geöffnet, als könne er so besser hören, und seine außerordentlich hellen Augen huschten ruhelos hin und her. Er ging ringsherum, wobei er hier und da auf Wandteppiche klopfte; aber Dick entging der Entdeckung wie durch ein Wunder. Dann guckte der Zwerg unter die Möbel und untersuchte die Lampe. Zuletzt schickte er sich mit dem Ausdruck arger Enttäuschung an, genauso leise, wie er gekommen war, wieder zu verschwinden. Aber plötzlich ließ er sich auf die Knie fallen, las etwas aus den Binsen vom Fußboden auf, prüfte und betrachtete es und verbarg
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es dann mit allen Anzeichen der Befriedigung in dem Täschchen an seinem Gürtel. Dicks Mut sank; denn dieser Gegenstand war eine Troddel von seinem eigenen Gürtel, und es war klar für ihn, daß dieser zwergenhafte Spion, der seiner Beschäftigung mit boshaftem Vergnügen nachzugehen schien, keine Zeit verlieren würde, das Gefundene zu seinem Gebieter, dem Baron, zu bringen. Dick war schon versucht, den Wandteppich beiseite zu werfen, über den Schurken herzufallen und unter Lebensgefahr dieses Beweismittel wieder an sich zu bringen. Aber als er noch unschlüssig dastand, wurde er durch ein neues Ereignis in Unruhe versetzt. Eine vom Trinken heisere und gebrochene Stimme war von der Treppe her zu hören, und kurz darauf erklangen ungleiche, torkelnde und schwere Schritte auf dem Gang. »Was macht ihr hier, ihr lust'gen Kerls, Im Busch, im grünen Wald?« sang die Stimme. »Was macht ihr hier? He, Narren, was macht ihr hier?« fügte sie hinzu, und trunkenes Gelächter polterte hinterdrein. Dann erdröhnte wieder ein Lied: »Und wenn du trinkst den Scharlachwein, Mein dicker John, o Bruder mein – Wenn du hier trinkst und ich noch esse: Wer, meinst du – singt dann wohl die Messe?« Ach, es war Lawless, der betrunken durch das Haus torkelte, um sich einen Winkel zu suchen, wo er seinen Rausch ausschlafen könnte. Dick konnte seine Wut kaum bezähmen. Der Spion, der zuerst erschrocken war, hatte sich beruhigt, als er merkte, daß er es mit einem Betrunkenen zu tun hatte. Mit katzenartiger Geschmeidigkeit schlüpfte er aus dem Zimmer und entschwand Dicks Blicken. Was nun tun? Wenn er die Verbindung mit Lawless für die Dauer der Nacht verlor, war er weder imstande, etwas zu planen, noch die Befreiung Johannas voranzutreiben. Wenn er andererseits wagte, den betrunkenen Geächteten anzureden, so konnte das die
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schlimmsten Folgen haben; denn der Spion lungerte vielleicht immer noch in der Nähe herum. Trotzdem setzte Dick jetzt alles auf eine Karte. Er schlüpfte hinter dem Wandteppich hervor und stellte sich mit warnend erhobener Hand in die geöffnete Zimmertür. Lawless kam hochrot und mit verdrehten Augen schwankenden Schrittes näher. Schließlich gewahrte er mit seinem verschleierten Blick seinen Anführer und begrüßte ihn, trotz Dicks gebieterischem Abwinken, sofort laut mit Namen. Dick sprang auf den Betrunkenen los und schüttelte ihn voller Wut. »Du Vieh!« zischte er, »du bist ein Vieh, kein Mensch! Es ist schlimmer als Verrat, so von Sinnen zu sein. Deine sinnlose Sauferei richtet uns beide zugrunde.« Aber Lawless taumelte lachend umher und versuchte, dem jungen Shelton auf die Schulter zu klopfen. In dem Augenblick hörte Dicks scharfes Ohr eine schnelle Bewegung hinter dem Wandteppich. Er sprang auf das Geräusch zu. Im nächsten Augenblick hatte er ein Stück von dem Wandbehang herabgerissen und wälzte sich mit dem Spion am Boden. Schweigend und in furchtbarer Wut fielen sie übereinander und suchten sich an der Kehle zu packen. Aber Dick war dem andern weit überlegen, und bald lag der Spion kraftlos unter seinem Knie. Mit einem einzigen Dolchstich machte Dick seinem Leben ein Ende.
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Drittes Kapitel Der tote Spion
Während dieses kurzen, aber wilden Kampfes hatte Lawless hilflos zugeschaut. Und selbst als alles vorüber war und Dick schon wieder auf den Füßen stand und mit angestrengtester Aufmerksamkeit auf den entfernten Lärm in den unteren Stockwerken des Hauses lauschte, schwankte der alte Geächtete noch wie ein Strauch im Winde und starrte dabei stumpfsinnig auf das Gesicht des Getöteten. »Es ist gut«, sagte Dick schließlich, »sie haben uns nicht gehört – dem Himmel sei Dank! Aber, was soll ich jetzt mit diesem armen Spion anfangen? Wenigstens will ich meine Troddel aus seiner Tasche nehmen.« Mit diesen Worten öffnete Dick die Tasche. Er fand darin einige Geldstücke, die Troddel und einen Brief, der an Lord Wensleydale gerichtet und mit Lord Shorebys Petschaft versiegelt war. Der Name erweckte in Dick Erinnerungen; er erbrach sofort das Wachs und las den Brief. Er war kurz, enthielt aber zu Dicks freudiger Überraschung den klaren Beweis, daß Lord Shoreby in verräterischem Briefwechsel mit dem Hause York stand. Der junge Mann trug gewöhnlich sein Tintengefäß mit Zubehör bei sich, und so war er jetzt, als er neben dem Körper des toten Spions ein Knie beugte, in der Lage, auf eine Ecke des Papiers folgende Worte zu schreiben: »Mylord von Shoreby, der Ihr diesen Brief schriebet, Ihr wißt, warum Euer Mann sterben mußte! Aber nehmt den Rat von mir: Heiratet nicht! John der Rächer!« Er legte das Papier neben den Toten, und Lawless, der mit langsam wiederkehrendem Verstand diese letzten Verrichtungen verfolgt hatte, zog einen schwarzen Pfeil unter seiner Kutte hervor und befestigte damit dieses Blatt. Dann öffnete er den Mund und begann, die Augen fest geschlossen, mit furchtbarer Stimme zu grölen: »Wenn du mir trinkst den Scharlachwein...« »Still, Trunkenbold!« keuchte Dick und preßte ihn eng an die Mauer. »Um es kurz zu machen – sofern mich ein Mann verstehen kann, der mehr Wein als Weisheit in sich hat –, in zwei Worten
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und in Marias Namen: Macht, daß Ihr aus diesem Hause fortkommt, sonst werdet nicht nur Ihr hängen, sondern auch ich! Also, macht Euch auf, und hurtig, oder ich könnte wahrhaftig vergessen, daß ich einerseits Euer Anführer und andererseits Euer Schuldner bin! Fort mit Euch!« Der falsche Mönch fand nun bis zu einem gewissen Grade den Gebrauch seiner Verstandeskräfte wieder, und der Klang von Dicks Stimme und das Funkeln in dessen Augen trugen dazu bei, ihm den Sinn der Worte deutlicher zu machen. »Potz Wetter«, murmelte Lawless, »wenn Ihr mich nicht wollt, kann ich gehen!« Und er torkelte den Flur entlang und tapste dann, gegen die Wand taumelnd, die Treppe hinunter. Sobald er verschwunden war, kehrte Dick in sein Versteck zurück und harrte dort, wie angewurzelt, der weiteren Dinge. Die Klugheit bewog ihn zwar zum Gehen, aber Liebe und Neugier waren stärker. Dem jungen Mann, der kerzengerade hinter dem Wandteppich stand, schlich die Zeit nur dahin. Schon erstarb das Feuer im Kamin, die Lampe war fast niedergebrannt und begann schon zu qualmen. Aber noch immer zeigte kein Geräusch an, daß jemand in die oberen Räume des Hauses zurückkehrte. Nur von weit unten war schwach das Gesumme und Stimmengewirr vom Nachtmahl zu hören, und schweigend unter dem dichten Schnee lag ringsumher die Stadt Shoreby. Endlich aber näherten sich auf der Treppe Schritte und Stimmen, und gleich darauf erreichten einige von Sir Daniels Gästen den Treppenabsatz und bemerkten, als sie den Korridor entlanggingen, den herabgerissenen Wandteppich und den Leichnam des Spions. Einige liefen vorwärts, andere zurück, und alle brachen in lautes Geschrei aus. Auf ihre Schreie eilten Gäste, Bewaffnete, Damen, Diener, mit einem Wort, sämtliche Bewohner des großen Hauses aus allen Richtungen herbei. Ihre Stimmen vereinten sich zu einem gewaltigen tumultuarischen Chor. Der Weg wurde frei gemacht, und es erschien jetzt Sir Daniel selbst und mit ihm der Bräutigam des kommenden Tages, Lord Shoreby. »Mylord«, sagte Sir Daniel, »habe ich Euch nicht von diesen schurkischen Kerlen vom Schwarzen Pfeil erzählt? Da habt Ihr den
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Beweis! Da habt Ihr ihn, lieber Vetter, an einem von Euren Leuten – oder ist es einer, der Eure Farben zu Unrecht getragen hat?« »Wirklich, es ist einer von meinen Leuten«, versetzte sichtlich betroffen Lord Shoreby. »Ich wollte, ich hätte mehr von seiner Sorte. Er war scharf wie ein Spürhund und verschwiegen wie ein Maulwurf.« »Wirklich, Vetter?« fragte Sir Daniel spitz. »Und weshalb schnüffelte er in meinem Hause herum? Aber nun wird er nicht mehr schnüffeln können.« »Mit Eurer Erlaubnis«, sagte jemand, »hier ist ein Papier, mit irgend etwas beschrieben. Es war neben ihm in den Boden gespießt.« »Gebt es mir, auch den Pfeil«, sagte der Ritter. Als er den Pfeil in die Hand genommen hatte, starrte er zunächst eine Weile in düsterem Schweigen darauf. »Ach«, sagte er dann, zu Lord Shoreby gewendet, »dieser Haß folgt mir dicht und zäh auf den Fersen. Dieses schwarze Ding wird mich ins Elend stürzen. Erlaubt einem ehrlichen Ritter, lieber Vetter, Euch einen Rat zu geben: Wenn diese Hunde anfangen, Euch zu wittern, dann ergreift die Flucht! Es ist wie eine Krankheit – es steckt beständig in den Gliedern. Aber laßt uns sehen, was sie geschrieben haben. Es ist so, wie ich vermutet habe, Mylord. Man ist gekennzeichnet wie eine alte Eiche vom Förster; morgen oder übermorgen wird sie der Axt verfallen. Aber was für einen Brief schriebet Ihr denn?« Lord Shoreby riß das Papier von dem Pfeil, las und zerknüllte es. Dann überwand er den Widerwillen, der ihn bisher von dem Leichnam zurückgehalten hatte. Er warf sich neben ihm auf die Knie und durchwühlte hastig und begierig dessen Gürteltäschchen. In etwas unsicherer Haltung erhob er sich wieder. »Gevatter«, sagte er, »ich habe hier wirklich einen sehr wichtigen Brief verloren; und wenn ich den Schurken fassen könnte, der ihn entwendet hat, sollte er sofort einen Strick zieren. Aber laßt uns jetzt zunächst die Zugänge zum Hause sichern. Es ist schon genug Schaden entstanden, bei Sankt Georg!« Dicht um Haus und Garten wurden Wachen postiert, auf jedem Treppenabsatz ein Posten aufgestellt. Ein ganzer Trupp besetzte die große Halle, und ein anderer lagerte sich um das Feuer im Schuppen. Sir Daniels Bewaffnete wurden durch Soldaten Shorebys verstärkt, so daß es an Männern und Waffen nicht fehlte, um das
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Haus zu sichern oder einen lauernden Feind, wenn er sich hier aufhielt, einzufangen. Die Leiche des Spions war inzwischen bei dem Schneegestöber weggebracht und in der Klosterkirche aufgebahrt worden. Ehe noch diese Maßnahmen ergriffen worden waren und sich alles wieder beruhigt hatte, holten die beiden Mädchen Richard Shelton aus seinem Versteck und berichteten ihm ausführlich über das Vorgefallene. Er seinerseits erzählte ihnen von dem Besuch des Spions, der gefährlichen Entdeckung und seinem jähen Ende. Johanna suchte, einer Ohnmacht nahe, Halt an den Wandbehängen. »Es wird nur wenig nützen«, seufzte sie. »Soll ich denn wirklich morgen früh getraut werden?« »Wie«, rief ihre Freundin, »hier ist doch Euer Paladin, der Löwen wie Mäuse jagt! Es scheint fast, als ob Ihr wenig Vertrauen zu ihm hättet. Aber kommt, Freund Löwenjäger, flößt uns etwas Mut ein; sprecht und laßt uns beherzte Entschlüsse hören.« Dick war verwirrt, so mit seinen eigenen großsprecherischen Worten übertrumpft zu werden; er wechselte die Farbe, fand aber trotzdem mannhafte Worte. »Wahrhaftig«, sagte er, »wir sind in einer üblen Lage. Wenn ich indessen nur auf eine halbe Stunde dieses Haus verlassen könnte, hätte ich Hoffnung, daß sich alles noch zum Guten wendet. Die Heirat muß verhindert werden!« »Und die Löwen«, äffte ihm das Mädchen nach, »müssen gejagt werden.« »Ich bitte Euch um Entschuldigung«, sagte Dick. »Ich spreche jetzt nicht aus einer prahlerischen Stimmung, sondern vielmehr als jemand, der Rat und Hilfe sucht; denn wenn ich nicht durch die Wachen aus diesem Hause hinauskomme, kann ich weniger als nichts tun. Versteht mich doch bitte recht.« »Warum sagtet Ihr, er sei ungeschliffen, Johanna?« fragte das Mädchen. »Ich stehe dafür, daß er eine geschmeidige Zunge hat; gefällig, sanft und kühn ist seine Sprache, je nachdem, wie es beliebt. Was wollt Ihr mehr?« »Ach«, seufzte Johanna lächelnd, »sie haben mir meinen Freund Dick vertauscht, das steht fest. Als ich ihn kennenlernte, war er wirklich ungeschliffen. Aber es hilft alles nichts. Für mich armes Mädchen gibt es keine Hilfe, ich muß nun einmal Lady Shoreby werden.«
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»Nicht doch«, wehrte Dick ab, »ich werde das Abenteuer schon bestehen. Ein Mönch wird wenig beachtet, und wie ich eine gütige Fee fand, die mich hinaufführte, so werde ich wohl auch eine finden, die mich hinunterbringt. Wie war der Name des Spions?« »Rutter«, sagte die junge Lady, »ein Name, der ausgezeichnet zu ihm paßte.11 Aber was gedenkt Ihr zu tun, Löwenjäger?« »Ich werde kühn versuchen, aus dem Hause zu kommen«, erwiderte Dick, »und wenn man mich anhält, eine gleichmütige Haltung zu bewahren und zu erklären, daß ich gehe, um für Rutter ein Gebet zu sprechen. Man wird gerade jetzt in der Kirche an seiner armen irdischen Hülle beten.« »Der Einfall ist zwar etwas bescheiden«, erklärte das Mädchen, »aber er mag gelten.« »Nein«, sagte der junge Shelton, »es ist kein Einfall, sondern nur Verwegenheit, die in großer Not oft sehr hilft.« »Ihr habt recht«, sagte sie. »Gut, so geht denn, in Marias Namen und möge der Himmel Euch beistehen! Ihr verlaßt hier ein armes Mädchen, das Euch von Herzen liebt, und ein anderes, das von ganzem Herzen Euer Freund ist. Seid deshalb vorsichtig, damit Ihr in Eurer Sicherheit nicht Schiffbruch leidet.« »Ja«, fügte Johanna hinzu, »geht, Dick. Ob Ihr geht oder bleibt, die Gefahr für Euch ist gleich groß. Geht, mein Herz ist mit Euch; die Heiligen mögen Euch beschützen!« Dick schritt so selbstverständlich an der ersten Wache vorüber, daß der Mann nur unruhig wurde und hinter ihm herstarrte. Aber der Posten auf dem zweiten Treppenabsatz versperrte ihm den Weg mit seinem Speer und verlangte, seinen Namen und seine Tätigkeit zu wissen. »Pax vobiscum«, antwortete Dick. »Ich gehe, um an der Leiche des armen Rutter zu beten.« »Das mag stimmen«, entgegnete der Posten; »aber allein zu gehen, ist Euch nicht gestattet.« Er beugte sich über das eichene Geländer und ließ einen schrillen Pfiff ertönen. »Kommt einmal«, rief er, und dann gab er Dick durch eine Handbewegung den Weg frei. Am Fuße der Treppe fand er die Wache in Bewegung und in Erwartung seines Kommens; und als er noch einmal sein Sprüchlein hergesagt hatte, gab ihm der Wachhabende vier Mann bei, die ihn zur Kirche begleiten sollten.
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»Laßt ihn nicht entwischen, Jungens«, mahnte er. »Bringt ihn zu Sir Oliver. Ihr haftet mir für ihn mit eurem Kopf!« Damit wurde die Tür geöffnet. Dick wurde von je einem der Männer an den Armen gefaßt, ein anderer ging mit einer Fackel voraus, und der vierte seiner Begleiter machte mit gespanntem Bogen und aufgelegtem Pfeil den Nachtrab. So gingen sie im Dunkel der Nacht und im Schneegestöber durch den Garten auf die matt erleuchteten Fenster der Abteikirche zu. Am Westportal hielten Bogenschützen Wache. Sie hatten sich einen Unterschlupf gesucht, soweit das in der Höhlung der gewölbten Toröffnung möglich war, und standen alle mit Schnee bestäubt da. Dicks Begleiter mußten erst die Parole geben, ehe ihnen gestattet wurde, weiterzugehen und das Mittelschiff des Gotteshauses zu betreten. Die Kirche wurde durch die Kerzen auf dem Hauptaltar und durch wenige Lampen, die von der gewölbten Decke vor den Kapellen vornehmer Familien herabhingen, in Zwielicht getaucht. In der Mitte des Chors lag auf einer Bahre der tote Spion. Seine Arme hatte man pietätvoll auf der Brust gekreuzt. Eiliges Gebetsgemurmel schallte durch die Gewölbe. In den Chorstühlen knieten Gestalten in Mönchskapuzen, und auf den Stufen des Hochaltars zelebrierte ein Priester in feierlichen Gewändern die Messe. Als Dick hereingeführt wurde, erhob sich einer von den Kapuzenmännern und schritt die Stufen herab, die vom Schiff zum Chor führten, um den Anführer der vier Wachtposten zu fragen, was ihn zur Kirche führe. Mit Rücksicht auf den Gottesdienst und den Toten sprachen sie zwar im gedämpftem Ton, aber das hochragende und leere Bauwerk fing ihre Worte auf und ließ sie als Echo an den Wänden des Seitenschiffes hohl widerhallen. »Ein Mönch!« entgegnete Sir Oliver – denn er war es –, als er den Bericht des Bogenschützen vernommen hatte. »Mein Bruder, ich war auf Euer Kommen nicht gefaßt«, fügte er dann hinzu und wandte sich zu dem jungen Shelton. »Darf man fragen, wer Ihr seid und auf wessen Veranlassung Ihr Eure Gebete mit den unseren vereinen wollt?« Dick, sein Gesicht in der Kapuze verbergend, bedeutete Sir Oliver, sich einen oder zwei Schritte von den Bogenschützen zu entfernen. Sobald der Priester das getan hatte, sagte er: »Ich kann
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nicht hoffen, Euch zu täuschen, Sir; mein Leben ist in Eurer Hand.« Sir Oliver stutzte, seine feisten Wangen erblaßten, und er war für einen Moment sprachlos. »Richard«, sagte er dann, »was Euch hierherführt, weiß ich nicht; aber ich argwöhne, daß es etwas Schlimmes ist. Trotzdem will ich Euch wegen der einstigen Zuneigung wissentlich nichts Übles widerfahren lassen. Ihr werdet die ganze Nacht neben mir in den Chorstühlen sitzen: Ihr sollt dort sitzen, bis Lord Shoreby getraut und die Hochzeitsgesellschaft wohlbehalten wieder gegangen ist. Wenn alles gut geht und Ihr nichts Böses im Schilde führt, könnt Ihr gehen, wohin Ihr wollt. Aber wenn Ihr Schlimmes sinnt, wird es auf Euer Haupt zurückfallen. Amen!« Und der Priester bekreuzigte sich andächtig, wandte sich um und verneigte sich vor dem Altar. Er sprach dann noch einige Worte mit den Soldaten, nahm Dick bei der Hand, führte ihn zum Chor hinauf und ließ ihn in dem Chorstuhl neben seinem eigenen Platz nehmen, wo der Jüngling sofort niederknien mußte, um den Anschein zu erwecken, als verrichte er seine Andacht. Sein Geist und seine Blicke jedoch wanderten dauernd umher. Er hatte bemerkt, daß drei von den Söldnern sich, anstatt zum Hause zurückzukehren, heimlich an einer günstigen Stelle im Seitenschiff aufstellten. Es stand außer allem Zweifel, daß dies auf Anweisung Sir Olivers geschah. Er saß hier also in einer Falle. Hier mußte er die Nacht in dem geisterhaften Schimmer und Schatten der Kirche zubringen und auf das bleiche Gesicht des von ihm Erschlagenen blicken; und hier sollte er in der Morgenfrühe erleben, wie seine Geliebte vor seinen Augen einem anderen angetraut wurde. Aber trotzdem behielt er sich in der Gewalt und beschloß, in Ruhe der Dinge zu harren, die da kommen würden.
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Viertes Kapitel In der Abteikirche
In der Abteikirche zu Shoreby wurden die Gebete die ganze Nacht hindurch ohne Unterlaß fortgesetzt, bald von Psalmengesang, bald von vereinzelten Glockenschlägen begleitet. Rutter, der Spion, hatte eine würdige Totenwache. Er lag dort aufgebahrt: die bleichen Hände über der Brust gekreuzt, die erloschenen Augen starr nach oben gerichtet. Dicht neben ihm, in dem Chorstuhl, erwartete der Jüngling, der ihn getötet hatte, in arger Unruhe den Tagesanbruch. Nur einmal im Laufe dieser Stunden beugte sich Sir Oliver hinüber zu seinem Gefangenen. »Richard«, flüsterte er, »mein Sohn, wenn Ihr mir übelwollt, so versichere ich Euch beim Heil meiner Seele, daß Ihr gegen einen Unschuldigen etwas vorhabt. Vor den Augen Gottes erkläre ich mich für sündig! Aber vor Euch bin ich weder schuldig, noch bin ich es je gewesen.« Dick erwiderte, gleichfalls flüsternd: »Mein Vater, glaubt mir, ich führe nichts gegen Euch im Schilde. Aber was Eure Unschuld betrifft, so kann ich es nicht vergessen, daß Ihr Euch nur unzulänglich erklärtet.« »Man kann unschuldig schuldig sein«, versetzte der Priester. »Man kann blinden Auges und, ohne etwas vom wahren Zweck zu wissen, mit einem Auftrag betraut sein. So war es mit mir. Ich lockte Euren Vater in den Tod, aber so wahr uns Gott an dieser geweihten Stätte sieht, ich wußte nicht, was ich tat!« »Das mag sein«, räumte Dick ein, »aber seht, was für ein seltsames Netz Ihr gesponnen habt, daß ich in dieser Stunde zugleich Euer Gefangener und Euer Richter sein muß, daß Ihr sowohl mein Leben bedrohen als auch versuchen müßt, meinen Groll zu besänftigen. Mich dünkt, wenn Ihr Euer Leben lang ein aufrichtiger Mann und guter Priester gewesen wäret, brauchtet Ihr mich weder zu fürchten noch mich zu verabscheuen. Und jetzt geht an Euer Gebet. Ich gehorche Euch, da es sein muß, aber ich will mich nicht mit Eurer Gesellschaft belasten.«
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Der Priester seufzte so tief, daß der Jüngling beinahe Mitleid fühlte, und ließ, wie ein von einer Sorgenlast gebeugter Mann, seinen Kopf auf die Hände sinken. Er stimmte nicht mehr in die Psalmen ein, aber Dick konnte hören, wie der Rosenkranz zwischen seinen Fingern klapperte und wie er dazu Gebete murmelte. Nach einer Weile jedoch begann das Morgengrauen durch die bemalten Kirchenfenster zu dringen und den Kerzenschimmer zu beschämen. Das Licht wurde heller und heller, und dann brachen rötliche Sonnenstrahlen durch die südöstlichen Fenstergeschosse und spielten auf den Mauern. Der Sturm war vorüber, die schweren Wolken hatten sich ihrer Schneelast entledigt und waren weitergezogen, und der neue Tag kam über einer heiteren, weißverhüllten Winterlandschaft herauf. Ein Schwarm von Kirchendienern erschien. Die Bahre wurde zur Leichenhalle gebracht und die Blutflecke von den Fliesen entfernt, damit keine Unheilsspuren einen Schatten des Verdrusses auf die Hochzeit Lord Shorebys werfen konnten. Zur gleichen Zeit begannen dieselben Geistlichen, welche die ganze Nacht über eine so traurige Pflicht erfüllt hatten, Morgengesichter aufzusetzen – der fröhlicheren Feier zuliebe, die nun folgen sollte. Und dann fanden sich auch schon, um das Kommen des Tages anzukünden, die Frommen der Stadt ein und fielen vor ihren Lieblingsschreinen zum Gebet nieder oder warteten auf den Priester, der ihre Beichte hören sollte. Dadurch war es natürlich für jedermann leicht möglich, sich der Wachsamkeit der an der Tür aufgestellten Posten Sir Daniels zu entziehen. Als Dick ermüdet um sich sah, fing er den Blick keines Geringeren als Will Lawless' auf, der noch in seinem Mönchsgewand stak. Der Geächtete erkannte im gleichen Augenblick seinen Anführer und machte ihm heimlich mit Händen und Augen Zeichen. Nun war Dick weit davon entfernt, dem alten Landstreicher seine höchst unpassende Trunkenheit zu vergeben; aber er hegte auch nicht den Wunsch, ihn in seine eigene unangenehme Lage hineinzuziehen. Und so bedeutete er ihm, so schnell als möglich zu verschwinden. Als ob er verstanden hätte, verbarg sich Lawless sofort hinter einem Pfeiler. Dick atmete erleichtert auf.
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Wie groß war aber dann seine Bestürzung, als er sich am Ärmel gezupft fühlte und den alten Räuber im Chorstuhl neben sich sitzen sah, dem Anschein nach in die tiefste Andacht versunken! Im nächsten Augenblick erhob sich Sir Oliver von seinem Sitz und schlich hinter den Chorstühlen herum zu den Soldaten im Seitenschiff. Wenn des Priesters Argwohn einmal erwachte, war das Unheil schon geschehen und Lawless in der Kirche gefangen. »Rührt Euch nicht«, flüsterte Dick. »Wir sind, vor allem durch Euer schweinisches Benehmen von gestern abend, in einer ganz verteufelten Patsche. Als Ihr mich hier so seltsam untergebracht sähet – hier, wo ich weder hingehöre noch gern sitzen möchte –, mußtet Ihr da nicht Gefahr wittern und Euch schleunigst aus dem Staube machen?« »Habt Ihr nicht von Ellis gehört?« entgegnete Lawless. »Ellis!« echote Dick. »Ist Ellis denn zurück?« »Freilich«, bestätigte der Geächtete. »Er kam letzte Nacht und schalt mich hart wegen meiner Trunkenheit – so habt Ihr also Eure Genugtuung, mein Junker. Ein toller Kerl ist Ellis Duckworth! Kommt dieser Heißsporn doch von Craven hergeritten, um diese Heirat zu verhindern. Ihr kennt ja seine Art, Junker Dick, nach eigenem Ermessen zu handeln.« »Dann also, mein armer Bruder«, entgegnete Dick gefaßt, »sind wir beide verloren; denn ich sitze hier gleichsam als Geisel und muß mit meinem Kopfe für diese Heirat haften, die er sich zu vereiteln bemüht. Ich hatte eine schöne Wahl! Entweder mein Herzlieb oder mein Leben zu verlieren. Gut, die Würfel sind gefallen – es muß mein Leben sein.« »Bei allen Heiligen«, rief Lawless, während er sich halb erhob, »ich bin verloren!« Aber Dick legte plötzlich seine Hand auf Lawless' Schulter. »Freund Lawless, bleibt ruhig sitzen«, sagte er. »Wenn Ihr Augen habt, seht dort hinüber zur Ecke des Chorgewölbes. Bemerkt Ihr nicht, daß eben, als Ihr Euch rührtet, jene bewaffneten Männer dort drauf und dran waren, Euch daran zu hindern? Fügt Euch, mein Lieber. Ihr wart so kühn an Bord, als wir glaubten, den Seemannstod sterben zu müssen. Seid auch jetzt wieder kühn, da Ihr vielleicht am Galgen sterben müßt.« »Junker Dick, die Sache ist mir wirklich zu plötzlich gekommen«, keuchte Lawless. »Gebt mir einen Augenblick Zeit, bis ich wieder
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zu Atem gekommen bin, und dann, zum Teufel, werde ich genauso beherzt sein wie Ihr selbst.« »Das ist tapfer gesprochen, Kamerad!« gab Dick zur Antwort. »Und doch, lieber Lawless, es geht mir sehr gegen den Strich sterben zu müssen. Aber wozu jammern, wenn Gejammer nichts nützt!« »Ja, wahrhaftig!« gab Lawless zu. »Und was bedeutet schlimmstenfalls das Sterben? Früher oder später muß es doch einmal sein, mein Junker. Für eine gute Sache gehängt zu werden, sagt man, soll ein leichter Tod sein, wenn ich auch noch nie gehört habe, daß jemand zurückgekommen ist, um das zu bestätigen.« Und damit lehnte sich der wackere alte Spitzbube in seinen Chorstuhl zurück, kreuzte seine Arme und sah mit der vollendetsten Miene der Unverschämtheit und Gelassenheit umher. »Übrigens«, fügte Dick hinzu, »ist es noch das beste für uns, uns ruhig zu verhalten. Wir wissen noch nicht, was Duckworth beabsichtigt. Wenn alles, auch das Schlimmste eintreten sollte, so können wir vielleicht doch noch mit heiler Haut davonkommen.« Als jetzt das Gespräch beendet war, vernahmen sie von ferne leise Klänge einer heiteren Musik, die ständig näher zog und lauter und fröhlicher erklang. Dann stimmten die Glocken mit vollem Schwung ihr Geläut an, Menschen strömten in die Kirche, schüttelten sich den Schnee von den Füßen, schlugen die Arme übereinander und hauchten in die Hände. Durch das weit geöffnete Westportal drang ein Schimmer der Sonne und der verschneiten Straße, und in einem Windstoß wehte die scharfe Morgenluft herein. Binnen kurzem war es jedem klar, daß Lord Shoreby früh am Morgen des Tages getraut zu werden wünschte und daß sich schon der Hochzeitszug näherte. Jetzt bahnten Lord Shorebys Leute einen Zugang zum Mittelschiff, wobei sie die Mengen mit den Lanzenschäften zurückdrängten. Außerhalb des Portals sah man die über den verharschten Schnee heranziehenden Musikanten: die Pfeifer und Trompeter mit ihren vom lauten Blasen geröteten Gesichtern und die Trommler und Pauker, die drauflosschlugen, als gälte es eine Wette. Als sie nahe genug an die Tür des Gotteshauses herangekommen waren, schwenkten sie nach beiden Seiten auseinander und standen nun, zu ihrer ohrenbetäubenden Musik den Takt stampfend, im Schnee. Nachdem sie so ihre Reihen geöffnet hatten, erschienen
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hinter und zwischen ihnen die Führer dieses vornehmen Brautzuges. Sie waren in solch bunte und heitere Tracht gekleidet, so prunkhaft wurden Samt und Seide, Pelze und Atlas, Stickereien und Spitzen entfaltet, daß sich der Zug von dem Schnee wie ein Blumenbeet von dem danebenliegenden Wege oder wie ein gemaltes Fenster von der kahlen Wand abhob. Zuerst kam – ein trauriger Anblick – die Braut. Blaß wie der Winter ging sie am Arm Sir Daniels. Als Brautjungfer war ihr die kleine junge Lady beigegeben, mit der sich Dick in der vergangenen Nacht angefreundet hatte. Dicht hinter ihnen folgte, auf einem gichtkranken Fuße hinkend, aber in der glänzendsten Garderobe, der Bräutigam. Als er die Schwelle des Gotteshauses überschritt und seinen Hut abnahm, sah man, daß sein kahler Kopf vor Erregung gerötet war. Und jetzt kam die Stunde für Ellis Duckworth. Dick, der von widerstreitenden Gefühlen betäubt dasaß und sich am Betpult festhielt, bemerkte, daß die Menge in Bewegung geriet, daß die Leute zurückwichen, ihre Arme dabei erhoben und nach oben zeigten, wohin sich nun alle Blicke richteten. Als er der allgemeinen Blickrichtung folgte, gewahrte er einige Männer mit gespannten Bogen, die in der Fenstergalerie des Hauptschiffes lehnten. In diesem Augenblick gaben sie schon ihre Schüsse ab, und noch ehe der Lärm und der Tumult und die Aufschreie der verstörten Menge voll an Dicks Ohr dringen konnten, waren sie schon von ihrem Hochsitz weggehuscht und verschwunden. Das Kirchenschiff war voll von verstörten Menschen und hallte von Geschrei wider. Die Geistlichen drängten erschrocken von ihren Plätzen; die Musik schwieg, und obwohl die Glocken noch einige Sekunden lang droben in den Lüften weiterklangen, schien doch ein Hauch des Unheils sogar seinen Weg in die Glockenstube gefunden zu haben, wo die Glöckner ihre Seile zogen, so daß auch diese ihre Beschäftigung einstellten. Genau in der Mitte des Kirchenschiffes lag, von zwei schwarzen Pfeilen durchbohrt, der Bräutigam. Die Braut war in Ohnmacht gefallen. Sir Daniel stand bestürzt und grimmig da, die Menge überragend. In seinem linken Unterarm zitterte ein ellenlanger Pfeil, und sein Gesicht war von Blut überströmt, da ein zweiter Pfeil seine Stirn gestreift hatte.
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Noch ehe nach ihnen gesucht werden konnte, waren die Urheber dieser furchtbaren Störung eine Wendeltreppe hinuntergerast und durch eine Hintertür entkommen. Dick und Lawless indessen saßen immer noch als Geiseln da. Sie hatten sich beim ersten Lärm erhoben und waren entschlossen davongestürzt, um die Tür zu erreichen; aber durch die Enge der Chorstühle und das Drängen der erschreckten Priester und Chorsänger war der Versuch fehlgeschlagen, und sie hatten gleichmütig ihre Plätze wieder eingenommen. Jetzt aber erhob sich, noch bleich vor Schrecken, Sir Oliver und rief Sir Daniel zu, mit einer Hand auf Dick weisend: »O Unglücksstunde! Hier ist Richard Shelton, der Urheber der Bluttat! Ergreift ihn! – Gebietet, ihn zu ergreifen. Um unser aller Sicherheit willen, nehmt ihn und fesselt ihn! Er hat den Eid abgelegt, uns zu vernichten!« Sir Daniel war geblendet von Wut, geblendet auch durch das warme Blut, das noch immer über sein Gesicht strömte. »Wo?« brüllte er. »Schleppt ihn weg! Beim Kreuz von Holywood, diese Stunde soll ihn gereuen.« Die Menge wich zurück, und ein Trupp Bogenschützen besetzte den Chor. Mit rauher Hand ergriffen sie Dick und schleppten ihn an den Schultern die Chorstufen hinab. Lawless saß mäuschenstill. Sir Daniel wischte das Blut aus seinen Augen und sah seinen Gefangenen blinzelnd an. »So, du verräterischer und anmaßender Kerl«, sagte er, »jetzt habe ich dich; und ich schwöre dir jeden Eid, daß ich dir für jeden Tropfen Blut, der jetzt in meine Augen quillt, einen Schrei aus deinem Körper pressen werde. Weg mit ihm!« fügte er hinzu. »Das ist hier kein Ort für ihn. Fort mit ihm in mein Haus. Ich will für jedes Glied deines Körpers eine Marter ersinnen.« Aber Dick stieß seine Häscher zur Seite und erhob seine Stimme. »Freistatt!« rief er aus. »Kirchenfrevel! Heda, meine Väter! Sie wollen mich aus der Kirche schleppen!« »Aus der Kirche, die du mit Mord besudelt hast, Bursche«, fügte ein hochgewachsener Mann in prächtiger Kleidung hinzu. »Gibt es dafür Beweise?« rief Dick. »Man klagt mich einer gewissen Mitschuld an, aber man hat keine Spur des Beweises. Ich war, das gebe ich zu, ein Bewerber um die Hand dieses Edelfräulein; und sie – ich bin so frei, es zu sagen – nahm meine Werbung günstig auf. Aber was besagt das? Ein Mädchen zu lieben
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ist kein Verbrechen, glaube ich – ebensowenig wie ihre Liebe zu gewinnen. Ich stehe in allem hier frei von Schuld.« Beifallsgemurmel wurde laut, als Dick so kühn seine Unschuld erklärte. Zur gleichen Zeit aber erhob sich eine Schar von Anklägern, die schrien, wie es komme, daß er in der Nacht in Sir Daniels Haus gesehen worden sei und eine gotteslästerliche Verkleidung trage. Und inmitten des Stimmengewirrs bezeichnete Sir Oliver mit Wort und Geste Lawless als Mitschuldigen an dem Geschehenen. Dieser wurde daraufhin auch aus seinem Chorstuhl gerissen und neben seinen Anführer gestellt. Die Empfindungen der Menge wogten hoch auf beiden Seiten, und während die einen die Gefangenen hierhin und dorthin zogen, um ihre Flucht zu begünstigen, fluchten und schimpften die anderen und bearbeiteten sie mit den Fäusten. Dick sauste es in den Ohren, und es schwindelte ihm im Kopf wie einem Manne, der in den Wirbeln eines reißendes Stromes um sein Leben kämpft. Da stellte der hochgewachsene Mann, der Dick schon geantwortet hatte, mit ungeheurem Stimmaufwand Ruhe und Ordnung in der erregten Menge wieder her. »Untersucht sie nach Waffen«, sagteer. »Dann werden wir ihre Absicht klar erkennen.« Bei Dick fanden sie nur einen Dolch, und das sprach zu seinen Gunsten, bis ein Mann ihn diensteifrig aus der Scheide zog. Es zeigte sich, daß er noch nicht von dem Blute Rutters gereinigt war. Darüber erhob sich ein lautes Geschrei unter den Gefolgsmännern Sir Daniels, das der große Mann durch eine Gebärde und einen gebieterischen Blick dämpfte. Aber als nun die Reihe an Lawless kam, fand man unter seiner Kutte ein Bündel Pfeile, die genau den abgeschossenen glichen. »Was sagt Ihr jetzt?« fragte der große Mann Dick und runzelte die Stirn. »Herr«, erklärte Dick, »ich bin hier an einer Freistatt, ist es nicht so? Gut, Herr, ich sehe an Eurer Kleidung, daß Ihr von hohem Rang seid, und ich sehe an Eurem Gesicht Züge der Frömmigkeit und Gerechtigkeit. Euch will ich mich als Gefangener ergeben und im Vertrauen auf Euch freiwillig auf den Schutz dieses heiligen Ortes verzichten. Das ist mir lieber, als der Willkür jenes Mannes ausgeliefert zu werden, den ich hier laut und vernehmlich bezichtige, der Mörder meines leiblichen Vaters zu sein und mir treulos meine Ländereien und Einkünfte vorzuenthalten. Nehmt
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mich, oder ich bitte Euch um die Gunst, mich auf der Stelle zu töten. Ihr habt gehört, wie er mir, ohne daß ich als schuldig überführt worden wäre, mit Martern gedroht hat. Es ist nun eine Sache Eurer Ehre, ob Ihr mich meinem geschworenen Feinde und alten Bedränger ausliefern oder mich nach Billigkeit auf dem gesetzlichen Wege verhören wollt und mich, wenn ich wirklich für schuldig befunden werden sollte, barmherzig töten lassen wollt.« »Mylord«, rief Sir Daniel, »Ihr werdet doch wohl nicht auf diesen Wolf hören? Sein blutiger Dolch straft ihn Lügen.« »Nun – aber erlaubt mir, guter Ritter«, erwiderte der hochgewachsene Fremde, »Eure eigene Heftigkeit spricht ein wenig gegen Euch.« Und hier machte sich die Braut, die schon einige Minuten vorher wieder zu sich gekommen war und erregt auf dieses Schauspiel gesehen hatte, von denen los, die sie stützten, und fiel vor dem letzten Sprecher auf die Knie. »Mylord von Risingham«, rief sie aus, »hört mich um des Rechtes willen. Ich bin nur durch Gewalt in dem Gewahrsam dieses Mannes, der mich meiner Familie entrissen hat. Seitdem fand ich bei keinem Menschen Mitleid, Unterstützung oder Trost als allein bei ihm, bei Richard Shelton, den man jetzt anklagt und vernichten will. Mylord, nur meinetwegen war er gestern nacht in Sir Daniels Haus, er kam nur auf mein Bitten und gedachte nicht, Schaden anzurichten. Solange Sir Daniel ihm ein guter Herr war, kämpfte Richard ehrlich gegen die vom Schwarzen Pfeil; aber wohin sollte er sich wenden, als sein unehrlicher Vormund ihm mit Ränken nach dem Leben trachtete und er, um seiner Sicherheit willen, dieses blutige Haus verließ? Er war hilflos und mittellos. Und wenn er in schlechte Gesellschaft geraten ist, wen wollt Ihr tadeln: den Jüngling, der ungerecht behandelt worden ist, oder den Vormund, der das Vertrauen mißbraucht hat?« Und dann fiel die kleine junge Lady neben Johanna auf die Knie. »Und ich; mein guter Lord und Oheim«, fügte sie diesen Worten hinzu, »ich kann es auf mein Wort vor allen hier offen bezeugen, daß es wahr ist, was dieses Mädchen hier vorbringt. Ich Unwürdige war es, die den jungen Mann hereinließ.« Graf Risingham hatte schweigend zugehört, und als die letzten Worte verklungen waren, stand er noch eine Weile schweigend da. Dann reichte er Johanna die Hand und half ihr auf, seiner Nichte erwies er auffallenderweise nicht die gleiche Höflichkeit.
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»Sir Daniel«, sagte er dann, »das ist eine recht verwickelte Geschichte. Erlaubt mir gütigst, daß ich sie untersuche und schlichte. Gebt Euch also zufrieden; Eure Sache ist in guten Händen, und Euch soll Gerechtigkeit widerfahren. Und in der Zwischenzeit begebt Euch ungesäumt nach Hause und laßt Eure Wunden pflegen. Die Luft ist rauh, und ich möchte nicht, daß die Kälte diese Schrammen verschlimmert.« Er gab mit der Hand ein Zeichen und durchschritt, begleitet von seinen folgsamen Dienern, die seines geringsten Winkes warteten, das Schiff der Kirche. Sofort erklang draußen schrill ein Trompetentusch, und durch das offene Portal marschierten jetzt Bogenschützen und Bewaffnete, alle in Lord Risinghams Farben gekleidet, in die Kirche. Sie nahmen Dick und Lawless aus der Mitte derer, die sie noch in Haft behalten wollten, schlossen ihre Reihen um die Gefangenen, rückten wieder ab und waren gleich darauf verschwunden. Als sie vorüberkamen, steckte Johanna ihre beiden Hände nach Dick aus und rief ihm ihr Lebewohl zu. Die Brautjungfer, die durch das Mißfallen, das ihr Oheim ihr offen bekundet hatte, durchaus nicht entmutigt worden war, warf ihm eine Kußhand zu und rief dabei aus: »Haltet Euch tapfer, Löwenjäger!«, so daß über die Gesichter der Menge zum ersten Male seit dem Zwischenfall wieder ein Lächeln glitt.
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Fünftes Kapitel Graf Risingham
Obwohl Graf Risingham damals der bei weitem mächtigste Mann in Shoreby war, logierte er ganz schlicht im Hause eines Privatmanns am äußersten Rande der Stadt. Nur die bewaffneten Männer an den Türen und die berittenen Boten, die ständig kamen und gingen, verrieten die zeitweilige Anwesenheil eines großen Herrn. So geschah es, daß Dick und Lawless aus Mangel an Raum in dasselbe Gemach gesteckt wurden. »Gut gesprochen, Junker Richard«, sagte der Geächtete; »Ihr habt hervorragend gesprochen, und ich danke Euch herzlich dafür. Hier sind wir in guten Händen; wir werden gerecht behandelt, um einige Zeit später am Abend am gleichen Baume ehrbar aufgeknüpft zu werden.« »Wahrhaftig, mein armer Freund, ich glaube es wirklich«, antwortete Dick. »Jedoch wir haben eine Sehne für unseren Bogen«, sagte darauf Lawless. »Ellis Duckworth ist ein Mann, wie es unter zehntausend nur einen gibt. Er hat Euch in sein Herz geschlossen, sowohl um Eurer selbst als um Eures Vaters willen; und da er weiß, daß Euch keine Schuld an dieser Tat trifft, wird er Himmel und Erde in Bewegung setzen, um Euch zu befreien.« »Das kann nicht sein«, sagte Dick, »was kann er tun? Er hat nur eine Handvoll Leute. Ach, wenn wenigstens der morgige Tag schon angebrochen wäre, wenn ich nur morgen, eine Stunde vor Mittag, eine bestimmte Verabredung einhalten könnte, dann wäre, glaube ich, alles anders. Aber jetzt gibt es keine Hilfe.« »Gut«, schloß Lawless, »wenn Ihr für meine Unschuld eintretet, so will ich für die Eurige eintreten, und das standhaft. Es wird uns zwar nichts nützen, aber wenn ich schon hängen muß, dann soll es nicht deshalb sein, weil ich es am Schwören hätte fehlen lassen.« Und dann, während sich Dick dem Nachdenken überließ, verkroch sich der alte Vagabund in eine Ecke, zog sich die Mönchskapuze übers Gesicht und schickte sich an zu schlafen. Bald
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schnarchte er laut, so sehr hatten die Bedrängnisse und die Abenteuer seines langen Lebens die Empfänglichkeit für Angst in ihm abgestumpft. Am späten Nachmittag, der Tag neigte sich schon, ging die Tür auf, und Dick wurde mitgenommen und nach oben geführt, wo Graf Risingham in einem warmen, kleinen Zimmer nachdenklich vor dem Feuer saß. Beim Eintreten seines Gefangenen blickte er auf. »Herr«, sagte er, »ich kannte Euren Vater als einen Mann von Ehre; und das stimmt mich sehr zur Milde. Aber ich kann Euch nicht verhehlen, daß gegen Eure Person schwere Beschuldigungen vorliegen. Ihr habt Umgang mit Räubern und Mördern; es ist klar erwiesen, daß Ihr den Landfrieden verletzt habt; Ihr steht im Verdacht, Euch seeräuberisch eines der im Hafen liegenden Schiffe bemächtigt zu haben; es hat sich herausgestellt, daß Ihr Euch in einer Verkleidung im Hause Eures Feindes versteckt gehalten habt; an demselben Abend ist ein Mann getötet worden...« »Wenn es Euch beliebt, Mylord«, unterbrach Dick, »will ich sogleich meine Schuld eingestehen, so wie sie ist. Ich erstach diesen Burschen Rutter; und zum Beweis« – dabei suchte er in seinem Wams –, »hier ist ein Brief aus seiner Tasche.« Lord Risingham nahm den Brief, öffnete ihn und las ihn zweimal. »Ihr habt das gelesen?« fragte er. »Ich habe es gelesen«, antwortete Dick. »Seid Ihr für York oder Lancaster?« wollte der Graf wissen. »Mylord, es ist noch nicht lange her, daß mir die gleiche Frage gestellt wurde und ich nicht wußte, wie ich sie beantworten sollte«, erwiderte Dick. »Aber nachdem ich sie einmal beantwortet habe, werde ich in meiner Antwort nicht schwanken. Mylord, ich bin für York.« Der Graf nickte zustimmend. »Ehrenhaft gesprochen«, sagte er, »aber warum übergebt Ihr mir dann diesen Brief?« »Sichern sich denn nicht alle Seiten gegen Verräter, Mylord?« rief Dick. »Ich wollte, es wäre so, trefflicher junger Mann«, entgegnete der Graf, »und ich wenigstens stimme Eurer Meinung zu. Ich merke, daß mehr jugendliche Unerfahrenheit als Arglist in Euch ist. Und besäße Sir Daniel nicht solch großen Einfluß auf unserer Seite, so wäre ich beinahe versucht, für Eure Sache einzutreten. Denn ich
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habe nachgeforscht, und es scheint, daß Euch übel mitgespielt worden ist und Ihr viele Entschuldigungsgründe geltend machen könnt. Aber seht, Herr, ich bin vor allem ein Führer der Sache der Königin; und obgleich ich von Natur gerecht und, wie ich glaube, in meiner Dankbarkeit sogar ausschweifend bin, muß ich meine Handlungen dem Interesse meiner Partei unterordnen, und um Sir Daniel zu halten, würde ich ziemlich weit gehen.« »Mylord«, entgegnete Dick, »Ihr werdet mich für sehr kühn halten, wenn ich Euch einen Rat gebe; aber rechnet Ihr auf Sir Daniels Treue? Mich dünkt, er hat unerträglich oft die Partei gewechselt?« »Ach, das ist in England so. Was wollt Ihr dagegen unternehmen?« fragte der Graf. »Ihr seid ungerecht gegen den Ritter von Tunstall. Und da die Treue in diesem an Untreue so reichen Zeitalter seltsame Wege geht, so steht er seit kurzem rühmlich treu zu Lancaster. Selbst während unserer letzten Rückschläge war er standhaft.« »Wenn es Euch gefällt, einen Blick in diesen Brief zu werfen, so werdet Ihr wohl Eure Ansicht über ihn etwas ändern müssen«, sagte Dick und übergab ihm damit den Brief Sir Daniels an Lord Wensleydale. Die Wirkung zeigte sich sofort im Antlitz des Grafen. Er blickte finster wie ein gereizter Löwe, und seine Hand fuhr jäh an seinen Dolch. »Ihr habt das auch gelesen?« fragte er. »Natürlich«, bestätigte Dick. »Es ist Eurer Lordschaft eigener Besitz, den er Lord Wensleydale anbietet.« »Es ist so, wie Ihr sagt; es ist mein eigener Besitz«, mußte der Graf zugeben. »Ich bin Euch für diesen Brief sehr verpflichtet, er hat mir eine Fuchshöhle gezeigt. Verfügt über mich, Junker Shelton; ich werde mit Dank nicht sparen, und, um den Anfang zu machen: York oder Lancaster, Ehrenmann oder Gauner, ich schenke Euch die Freiheit. Geht, in Marias Namen! Aber beurteilt es richtig, wenn ich Euren Gefährten Lawless zurückhalte und hängen lasse. Sein Verbrechen ist offenkundig, und es wäre angebracht, daß darauf offenkundige Bestrafung folgt.« »Mylord, ich mache es zu meinem ersten Anliegen an Euch, auch ihn zu schonen«, plädierte Dick. »Er ist ein alter verdammter Spitzbube, Dieb und Vagabund, Junker Shelton«, sagte der Graf. »Seit zwanzig Jahren ist er reif für
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den Galgen. Ist es da ein großer Unterschied, ob er morgen oder übermorgen hängt?« »Aber Mylord, er kam aus Liebe zu mir hierher«, machte Dick geltend, »und ich wäre gemein und undankbar, wenn ich ihn im Stiche ließe.« »Junker Shelton, Ihr seid unbequem«, stellte der Graf in ernstem Tone fest. »Auf solche Art kommt man in der Welt nicht vorwärts. Jedoch will ich nicht zuletzt, um Eurer lästigen Bitten ledig zu werden, auch hierin willfährig sein. Geht also beide! Seid aber vorsichtig und verschwindet schleunigst aus der Stadt Shoreby. Denn dieser Sir Daniel (den der Himmel zur Rechenschaft ziehen möge!) dürstet gierig nach Eurem Blute.« »Mylord, ich will Euch nicht mit Worten danken, aber ich vertraue darauf, daß ich Euch schon bald meine Dankbarkeit durch die Tat beweisen kann«, erwiderte Dick, als er das Zimmer verließ.
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Sechstes Kapitel Nochmals Arblaster
Als man Dick und Lawless gestattete, sich durch einen rückwärtigen Ausgang aus dem Hause davonzustehlen, in dem Lord Risinghams Truppen lagen, war es schon Abend. Unter dem Schutz der Gartenmauer hielten sie an, um sich über den günstigsten Weg schlüssig zu werden. Die Gefahr war ungemein groß; denn wenn einer von Sir Daniels Leuten ihrer ansichtig würde und Lärm schlüge, so würden sie augenblicklich überwältigt und niedergemetzelt werden. Und nicht allein die Stadt Shoreby war ein einziges Gefahrennetz für sie, sondern auch im offenen Lande liefen sie Gefahr, den Streifwachen in die Hände zu fallen. Nach einem Stück Weges sahen sie auf offenem Gelände eine Windmühle stehen und dicht daneben einen großen Kornspeicher mit geöffneten Toren. »Wie wäre es, wenn wir uns dort hinlegten, bis es Nacht wird?« schlug Dick vor. Und da Lawless kein besserer Gedanke kam, beeilten sie sich, den Speicher zu erreichen, und versteckten sich hinter dem Tor unter dem Stroh. Das letzte Tageslicht schwand schnell, aber sehr bald überstrahlte der Mond mit seinem silbrigen Licht den gefrorenen Schnee. Jetzt oder nie hatten sie die Gelegenheit, unbeobachtet zur Herberge »Zur Ziege und den Dudelsäcken« zu kommen und ihre verdächtige Verkleidung abzulegen. Aber auch jetzt noch schien es ihnen ratsam, an den Grenzen der Stadt entlang zu gehen und sich nicht in ein Spießrutenlaufen über den Marktplatz zu begeben, wo ihnen ihm dichten Gedränge große Gefahr drohte, erkannt und niedergemacht zu werden. Der Weg war sehr weit. Er führte sie zunächst nicht weit vom Hause am Strande entlang, der jetzt dunkel und ruhig dalag, und brachte sie dann schließlich an den Rand des Hafens. Viele der Schiffe hatten, wie sie bei dem hellen Mondschein erkennen konnten, die Anker gelichtet und waren bei dem ruhigen Wetter ausgelaufen. Daher waren die Spelunken längs des Strandes – obgleich sie, im Widerspruch zu dem »Feuer-und-Licht-Gesetz«,
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noch Feuer und Kerzen brannten – nicht mehr von Seeleuten überfüllt und dröhnten nicht mehr wider von den Kehrreimen der Seemannslieder. Eilends, halb laufend, stampften sie mit ihrer bis zum Knie aufgeschürzten Mönchskleidung durch den Schnee und wanden sich mühsam durch das Labyrinth des Hafengerümpels. Sie hatten schon mehr als die Hälfte des Hafenweges zurückgelegt, als sich plötzlich die Tür einer Schenke auftat, an der sie vorübereilten, so daß ihre fliehenden Gestalten von dem herausfallenden Lichtkegel erfaßt wurden. Sie hielten sofort an und stellten sich, als seien sie in einer ernsten Unterhaltung begriffen. Drei Männer traten nacheinander aus der Schenke, und der letzte schloß die Tür hinter sich. Alle drei waren nicht sicher auf den Beinen, als ob sie den Tag bei einem gewaltigen Zechgelage zugebracht hätten, und standen nun unschlüssig im Mondlicht, wie Menschen, die nicht gleich wissen, wohin sie sich wenden sollen. Der größte von diesen drei sprach mit lauter kläglicher Stimme. »Sieben Faß von einem so guten Gascogner, als jemals ein Weinschenk einen gezapft hat«, sagte er, »das beste Schiff aus dem Hafen von Dartmouth, eine halbvergoldete Jungfrau Maria, dreizehn Pfund gutes Goldgeld...« »Ich habe auch Verluste gehabt«, unterbrach den Sprecher einer der beiden anderen. »Ich habe manches von meinem Gut verloren, Gevatter Arblaster. Mir wurden auf der Martinimesse fünf Schillinge und ein lederner Beutel, der gut und gerne seine neun Pence wert war, geraubt.« Dick gab es einen Stich ins Herz, als er das hörte. Bis zu diesem Augenblick hatte er wohl keine zweimal an den armen Schiffer gedacht, der durch den Verlust der »Guten Hoffnung« zugrunde gerichtet worden war; so wenig kümmerten sich in jenen Zeiten waffentragende Männer um Besitz und Rechte des gemeinen Mannes. Nun rief ihm diese unvermutete Begegnung die gewalttätige Art und das schlimme Ende des Unternehmens in aller Klarheit ins Gedächtnis zurück, und beide, er sowohl wie Lawless, wandten sich um, damit sie nicht erkannt würden. Nun war aber der Schiffshund von dem Wrack entkommen und hatte den Weg nach Shoreby gefunden. Er stand jetzt hinter Arblaster. Plötzlich schnupperte das Tier und spitzte die Ohren,
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dann stürzte es nach vorn und sprang mit lautem, wütendem Gebell auf die zwei falschen Mönche los. Torkelnd folgte ihm sein Herr. »Heda, Schiffskameraden«, rief er, »habt ihr wohl ein Pennystück für einen armen alten Schiffsmann, der von Seeräubern völlig zugrunde gerichtet worden ist? Ich bin ein Mann, der euch beide am Donnerstagmorgen freigehalten haben würde, und jetzt stehe ich hier am Samstagabend und bettle um einen Krug Bier! Fragt meinen Matrosen Tom, wenn ihr mir nicht glauben wollt. Sieben Faß besten Gascognerwein, ein Schiff, das mein war und vorher meinem Vater gehörte, eine Heilige Jungfrau aus Platanenholz und halb vergoldet und dreizehn Pfund in Gold und Silber. He, was sagt ihr dazu? Daß das einem Manne geschehen muß, der sogar gegen die Franzosen gekämpft hat? Denn ich habe gegen die Franzosen gekämpft. Ich habe auf hoher See mehr welsche Kehlen durchgeschnitten als jemals ein Mann, der aus Dartmouth auslief. Bitte, gebt einen Penny!« Weder Dick noch Lawless wagten ihm zu antworten, um sich nicht durch die Stimme zu verraten; sie standen so hilflos wie ein gestrandetes Schiff, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollten oder was sie noch hoffen könnten. »Seid Ihr betrunken, Junge?« fragte der Schiffer. »Kameraden«, fuhr er mit einem Aufstoßen fort, »die sind betrunken. Mir gefällt diese unhöfliche Art nicht; denn – meine ich – wenn ein Mann noch so betrunken ist, wird er als höflicher Mensch doch sprechen, wenn er angeredet wird.« Jetzt schien der Matrose Tom, ein Mann von riesiger Körperkraft, einen Argwohn gegen diese zwei der Sprache nicht mächtigen Gestalten geschöpft zu haben; und da er nicht so berauscht war wie sein Kapitän, stellte er sich plötzlich vor Lawless, faßte ihn rauh an der Schulter und fragte ihn mit einem Fluch, was ihm fehle, daß er seine Zunge so hüte. Der Geächtete antwortete darauf, in der Meinung, daß nun alles verloren sei, mit einem Ringkämpfergriff, der den Seemann in den Sand warf. Er rief Dick zu, daß er ihm folgen solle, und lief durch das Gerümpel davon. Das alles geschah in einer Sekunde. Ehe Dick überhaupt laufen konnte, hatte Arblaster ihn umklammert; Tom, der aufs Gesicht gefallen war, hatte ihn bei einem Fuß gepackt, und der dritte schwang ein entblößtes Entermesser über seinem Kopfe.
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Es war nicht so sehr die Gefahr oder der Verdruß, die jetzt die Lebensgeister des jungen Shelton niederdrückten. Es war die tiefe Demütigung, daß er, nachdem er Sir Daniel entkommen war und Lord Risingham überzeugt hatte, nun hilflos in die Hände dieses alten betrunkenen Schiffers gefallen war. Und er war nicht allein völlig hilflos, sondern auch, wie sein Gewissen ihm jetzt, allerdings zu spät, laut sagte, wirklich schuldig. Er war der bankrotte Schuldner des Mannes, dessen Schiff er gestohlen und zugrunde gerichtet hatte. »Bringt ihn zurück in die Schenke, daß ich sein Gesicht sehe«, sagte Arblaster. »Nein, nein«, widersprach Tom, »laßt uns erst seine Börse erleichtern, damit wir nicht mit den anderen zu teilen brauchen.« Aber obgleich sie ihn vom Kopf bis zu den Füßen durchsuchten, fanden sie doch nicht einen Penny bei ihm, sondern einzig und allein Lord Foxhams Siegelring, den sie ihm roh vom Finger rissen. »Schleppt ihn ins Mondlicht«, befahl der Schiffer, faßte Dick beim Kinn und riß mit roher Hand seinen Kopf hoch. »Heilige Jungfrau«, brüllte er dann, »das ist der Pirat!« »Heißa!« schrie Tom. »Bei der Heiligen Jungfrau von Bordeaux, er ist es wirklich!« wiederholte Arblaster. »Habe ich Euch, Seeräuber?« brüllte er. »Wo ist mein Schiff? Wo ist mein Wein? Tom, gib mir ein Tauende her; ich will mir diesen Seeräuber schon zurichten, ihm Hände und Füße zusammenbinden wie einem Truthahn, der auf den Markt gebracht wird – genau so will ich ihn zusammenschnüren, und dann will ich ihn so durchprügeln..., durchprügeln...!« Und so machte er sich mit der den Seeleuten eigenen Behendigkeit daran, das Seil um Dicks Arme zu schlingen, es bei jeder Windung und Kreuzung mit einem Knoten zu sichern und dann mit einem kräftigen Griff das Ganze anzuziehen. Als er damit fertig war, lag Dick wie ein Bündel in seinen Händen, hilflos wie ein Leichnam. Der Schiffer hielt ihn auf Armeslänge von sich und lachte laut. Dann versetzte er ihm einen betäubenden Faustschlag an das Ohr, drehte ihn rundherum und trat ihn voller Wut. Gewaltiger Zorn stieg in Dick hoch und würgte ihn, daß er glaubte, sterben zu müssen. Als aber der Seemann, müde des grausen Spiels, ihn der Länge nach in den Sand schleuderte und sich umwandte, um mit seinen Gefährten zu beratschlagen, kehrte ihm die Geistesgegenwart zurück. Eine kurze
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Frist war ihm gegeben. Ehe sie ihn aufs neue peinigten, mußte er Mittel und Wege gefunden haben, sich aus diesem entehrenden und verhängnisvollen Mißgeschick herauszuwinden. Während seine Peiniger noch berieten, was sie mit ihm tun sollten, faßte er sich ein Herz und redete sie mit fester Stimme an. »Meine Herren«, begann er, »seid ihr denn rein verrückt geworden? Hier hat euch der Himmel eine so wunderbare Gelegenheit gegeben, reich zu werden, wie sie noch niemals ein Seemann hatte und wie ihr bei dreißig Abenteuern zur See keine bessere finden könnt; aber was tut ihr, bei allen Heiligen? Mich schlagen? – Nein, das würde ein böses Kind tun. Aber für schlaue Teerjacken, die weder Feuer noch Wasser fürchten und das Geld ebenso wie das Rindfleisch lieben, seid ihr – scheint mir – nicht klug genug.« »He«, sagte Tom, »jetzt, wo Ihr gebündelt seid, möchtet Ihr uns betrügen!« »Euch betrügen!« wiederholte Dick. »Ach, wenn ihr Narren wäret, wäre das leicht. Wenn ihr aber schlaue Kerle seid, wie ich annehme, müßt ihr klar erkennen, wo euer Vorteil liegt. Als ich euch euer Schiff wegnahm, waren wir viele, und wir waren gut ausgerüstet und bewaffnet; aber jetzt – überlegt doch nur ein wenig: Wer konnte eine solche Mannschaft aufbieten? Unbestreitbar doch nur jemand, der viel Gold zu machen verstanden hat. Und wenn dieser, obwohl er schon reich ist, nach mehr jagt und dann bei einem solchen Sturm, überlegt doch nur einmal – sollte da nicht ein verborgener Schatz dahinterstecken?« »Was meint er nur?« fragte einer von den Männern. »Nun, wenn ihr einen alten Kasten und ein paar Krüge voll essigsaurem Wein verloren habt«, fuhr Dick fort, »so vergeßt das, sie gehören auf den Abfallhaufen. Macht euch lieber an ein Abenteuer, das diesen Namen verdient, das euch binnen zwölf Stunden für immer emporheben oder vernichten wird. Aber hebt mich auf, laßt uns irgendwo hingehen und bei einer Flasche darüber reden; denn ich bin ganz wund und erfroren, und mein Mund steckt halb im Schnee.« »Er will uns nur prellen«, sagte Tom verächtlich. »Prellen! Prellen!« schrie der dritte. »Ich möchte den Mann sehen, der mich prellen könnte! Das müßte wahrhaftig schon ein Betrüger sein! Nein, ich bin nicht von gestern. Ich kann eine Kirche sehen, wenn sie einen Turm hat; und, Gevatter Arblaster,
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mir scheint, daß einiger Grips in diesem jungen Manne steckt. Sollen wir ihn anhören? Sagt, sollen wir ihn anhören?« »Mir wäre eine Kanne Starkbier sehr willkommen, lieber Käpt'n Pirret«, entgegnete Arblaster. »Was sagt Ihr, Tom? Aber dann ist der Beutel leer.« »Ich werde bezahlen«, sagte der andere, »ich werde bezahlen. Ich würde gerne sehen, wie diese Sache ausgeht. Ich glaube auf Ehre und Gewissen, daß Gold an der Sache hängt.« »Nein, wenn Ihr wieder trinken geht, ist alles aus!« schrie Tom. »Gevatter Arblaster, Ihr laßt Eurem Matrosen zuviel Freiheit«, stellte Master Pirret fest. »Wollt Ihr Euch von einem Mann, den Ihr angeheuert habt, Vorschriften machen lassen? Pfui!« »Still, Bursche!« sagte Arblaster, sich zu Tom wendend. »Was habt Ihr Euch einzumischen? Wahrlich eine feine Ordnung, wenn die Mannschaft dem Kapitän dreinreden kann!« »Nun gut, dann macht, was Ihr wollt«, sagte Tom, »ich aber will dann nichts mehr mit Euch zu tun haben.« »Hebt ihn jetzt auf«, sagte Master Pirret. »Ich weiß einen verschwiegenen Platz, wo wir trinken und uns unterhalten können.« »Wenn ich hingehen soll, liebe Freunde, müßt ihr meine Füße losbinden«, sagte Dick, als sie ihn aufrecht wie einen Pfahl hingestellt hatten. »Er hat recht«, lachte Pirret. »Natürlich, er könnte ja nicht gehen, so wie er hergerichtet ist. Heraus mit Eurem Messer, Gevatter, und zerschneidet das Seil.« Sogar Arblaster zögerte bei diesem Vorschlag, aber als sein Gefährte darauf bestand, als Dick eine wahrhaft hölzerne Gleichgültigkeit des Ausdrucks beibehielt und über die Verzögerung nur mit den Achseln zuckte, stimmte der Schiffer zuletzt zu und durchschnitt die Stricke, die Füße und Schenkel seines Gefangenen zusammenschnürten. Das setzte Dick nicht allein in den Stand zu gehen, sondern er fühlte auch, daß sich das ganze Netzwerk seiner Fesseln lockerte, daß der Arm auf seinem Rücken sich bereits freier bewegte; und so konnte er hoffen, ihn mit der Zeit ganz frei zu bekommen. So viel verdankte er schon der dummen Einfalt und der Habgier des Schiffers Pirret. Dieser würdige Mann übernahm nun die Führung und brachte sie in dieselbe Spelunke, in die Lawless an dem Tage des Sturms Arblaster geführt hatte. Sie lag verödet da, das Feuer war zu einem
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Haufen rotglühender Asche zusammengesunken, der Gluthitze ausstrahlte. Als sie ihre Plätze gewählt und der Gastwirt ein Maß gewürzten Bieres vor sie hingestellt hatte, streckten Pirret und Arblaster die Beine aus und stützten wie Leute, die sich eine unterhaltsame Stunde versprechen, ihre Ellbogen auf. Der Tisch, an dem sie saßen, bestand, wie alle anderen in der Kaschemme, aus einem schweren, viereckigen Brett, das über ein paar Fässer gelegt war, und jeder der vier Vertrauten, die auf eine solch merkwürdige Art zusammengefunden hatten, saß an einer Seite des Brettes, Pirret gegenüber Arblaster und Dick dem Matrosen gegenüber. »Und nun, junger Mann«, sagte Pirret, »zu Eurer Geschichte. Es scheint in der Tat, daß Ihr unserem Gevatter Arblaster übel mitgespielt habt; aber wozu darüber reden? Macht es wieder gut an ihm – zeigt ihm nur die Möglichkeit, reich zu werden –, und ich werde dafür eintreten, daß er Euch verzeiht.« Bis jetzt hatte Dick einfach darauflos gesprochen; nun aber war es nötig, unter dem prüfenden Blick von sechs Augen eine wunderbare Geschichte zu erfinden und zu erzählen und, wenn möglich, den hochwichtigen Siegelring wieder in seine Hände zu bekommen. Es war vor allem notwendig, Zeit zu gewinnen. Je länger er blieb, um so mehr würden die drei Männer trinken, und um so sicherer würde sein Fluchtversuch gelingen. Nun, Dick war eigentlich kein Geschichtenerzähler; doch was er jetzt auftischte, glich beinahe dem Märchen von Ali Baba und den vierzig Räubern, nur daß Shoreby und der Wald von Tunstall an die Stelle des Orients treten mußten und daß die Schätze der Höhle eher noch vermehrt als vermindert wurden. Wie der Leser weiß, ist dies eine ausgezeichnete Geschichte, die nur den einen Nachteil hat, daß sie nicht wahr ist, und als diese drei einfachen Seeleute sie jetzt zum ersten Male hörten, quollen ihnen die Augen aus dem Kopfe, und ihre Münder standen offen wie das Maul des Kabeljaus beim Fischhändler. Schon sehr bald wurde ein zweites Maß Würzbier bestellt, und während Dick seine Erzählung kunstgerecht weiterspann, folgte dem zweiten schon das dritte. Gegen Ende des Gelages ergab sich folgende Lage: Arblaster, fast völlig betrunken und halb schlafend, hing hilflos auf seinem Stuhl. Sogar Tom war von der Geschichte sehr eingenommen, und seine Zweifel waren fast verflogen. Inzwischen hatte Dick unbemerkt
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seinen rechten Arm aus den Stricken herausgewunden, und er war fest entschlossen, das Äußerste zu wagen. »Und Ihr«, wollte Pirret wissen, »Ihr seid also einer von diesen?« »Man hat mich gegen meinen Willen dazu gemacht«, gab Dick zur Antwort, »aber wenn ich wenigstens nur einen oder zwei Sack Goldmünzen als meinen Anteil erlangen könnte, wäre ich in der Tat ein Narr, wenn ich weiter in einer schmutzigen Höhle wohnte und Schüsse und Schläge ertrüge wie ein Soldat. Wir sind unser vier, gut! Laßt uns also morgen vor Sonnenaufgang in den Wald gehen. Könnten wir auf ehrliche Art zu einem Esel kommen, wäre es besser; aber wenn das nicht möglich ist, so haben wir doch unsere vier starken Rücken, und ich versichere euch, wir werden schwanken, wenn wir nach Hause kommen.« Pirret leckte sich das Maul. »Und dieses Zauberwort«, sagte er, »dieses Losungswort, mit dem die Höhle zu öffnen ist – wie heißt es, Freund?« »Ach, keiner kennt das Wort, außer den Anführern«, entgegnete Dick. »Aber Ihr habt besonderes Glück, daß man mir gerade heute abend den Zauber anvertraut hat, um sie zu öffnen. Es geschieht höchstens zweimal im Jahr, daß unser Häuptling ihn jemand anders anvertraut.« »Ein Zauber!« sagte Arblaster, als er etwas wacher wurde, und schielte mit einem Auge auf Dick. »Was da! Keine Zauberworte! Ich bin ein guter Christ. Fragt nur meinen Matrosen Tom.« »Ja, aber das ist weiße Magie«, sagte Dick. »Sie hat nichts mit dem Teufel zu tun – nur mit den Kräften von Zahlen, Kräutern und Gestirnen.« »Ja, ja«, bekräftigte Pirret, »es ist nur weiße Magie, Gevatter. Es ist keine Sünde dabei, versichere ich Euch. Aber fahrt fort, mein lieber Junge. Der Zauber – worin sollte er nun bestehen?« »Nun, das will ich Euch sofort sagen«, gab Dick zur Antwort. »Habt Ihr den Ring da, den Ihr mir vom Finger zogt? Gut, nun haltet ihn einmal mit den äußersten Fingerspitzen auf Armeslänge vor Euch hin und dann gegen den Schein dieser glimmenden Asche. So ist es richtig. Und das ist nun der Zauber...« Mit einem kühnen Blick sah Dick, daß der Weg zwischen ihm und der Tür frei war. Er sagte ein heimliches Stoßgebet. Dann schnellte sein Arm nach vorn und ergriff den Ring. Gleichzeitig hatte er die Tischplatte gehoben und sie kräftig gegen den Matrosen Tom geworfen. Der arme Kerl sank zu Boden und
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jammerte laut unter den Trümmern. Ehe Arblaster begriffen hatte, daß hier etwas nicht stimmte, oder Pirret seine benebelten Gedanken sammeln konnte, war Dick zur Tür gesprungen und lief in die mondhelle Nacht hinaus. Der Mond, der schon hoch am Himmel stand, und die große Helligkeit des Schnees machten das offene Gelände um den Hafen taghell. Der junge Shelton, der mit geschürzter Kutte durch das Hafengelände lief, mußte schon von weitem zu erkennen sein. Tom und Pirret liefen mit Geschrei hinter ihm drein. Aus jeder Kneipe schlossen sich ihnen andere an, die durch den Lärm aufgeschreckt worden waren, und bald beteiligte sich eine ganze Mannschaft von Seeleuten an der Verfolgung. Aber »Jan-Maat an Land« war ein schlechter Läufer, auch im fünfzehnten Jahrhundert. Zudem hatte Dick einen Vorsprung, den er in rasendem Lauf erweiterte, so daß er sogar anzuhalten und sich lachend umzudrehen wagte, als er eine schmale Gasse erreicht hatte. Auf dem weißen Schneegelände sammelten sich nun alle Seeleute von Shoreby zu einer dunklen Masse, die in einzelne Gruppen auslief. Jeder schrie und kreischte; jeder gestikulierte mit hocherhobenen Armen; irgendeiner fiel immer wieder zu Boden; und um das Bild vollständig zu machen, wenn einer fiel, purzelten noch ein Dutzend über ihn. Der wirre Lärm, der bis zum Mond zu dringen schien, war für den gejagten Flüchtling komisch und erschreckend zugleich. An und für sich vermochten sie nichts; denn er war sicher, daß kein Seemann im Hafen ihn einholen könnte. Aber von der Heftigkeit des Lärms, der alle Schläfer in Shoreby aus den Betten holen und alle lauernden Schildwachen auf die Straße bringen mußte, drohte ihm tatsächlich Gefahr. Als er daher an einer Ecke einen dunklen Torweg erspäht hatte, schlüpfte er schnell hinein und ließ die seltsame Meute, die immer noch schrie und gestikulierte, an sich vorübersausen. Alle waren rot vor Eifer und viele weiß von Stürzen in den Schnee. Es verging indessen eine lange Zeit, ehe die Überflutung der Stadt aus dem Hafenbereich verebbte und die Ruhe wieder einzog. Noch lange hörte man Seeleute nach allen Richtungen und in allen Stadtvierteln schreiend durch die Straßen stampfen. Streitigkeiten brachen aus, sei es unter ihnen selbst oder mit den Patrouillen; Messer wurden gezogen, Schläge ausgeteilt, und mehr als ein Toter blieb auf dem Schnee zurück, Als eine Stunde später der letzte
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Seemann brummig in das Hafenviertel und in seine gewohnte Schenke zurückkehrte, wäre wohl die Frage berechtigt gewesen, ob er überhaupt wußte, was für einen Menschen er verfolgt hatte. Aber sicherlich hatte er es jetzt schon vergessen. Am nächsten Morgen liefen denn auch viele seltsame Gerüchte um, und nach einer kleinen Weile galt die Legende vom nächtlichen Besuch des Teufels als ein Glaubensartikel bei allen jungen Burschen von Shoreby. Aber auch die Rückkehr des letzten Seemannes lockte den jungen Shelton noch nicht aus seinem kalten Versteck in dem Torweg. Denn noch geraume Zeit später war eine lebhafte Patrouillentätigkeit zu bemerken, und besondere Trupps kamen immer noch hervor, um die Platzrunde zu machen und diesem oder jenem von den großen Herren, deren Schlummer auf solch ungewöhnliche Weise unterbrochen worden war, Meldung zu erstatten. Die Nacht war schon weit vorgerückt, als sich Dick aus seinem Versteck hervorwagte und heil und gesund, wenn ihm auch von dem Frost und den Beulen elend genug war, die Tür der Herberge »Zur Ziege und den Dudelsäcken« erreichte. Wie es das Gesetz verlangte, brannte weder Feuer noch Licht in diesem Hause. Er tastete sich in eine Ecke des eisigkalten Gastzimmers, fand den Zipfel einer Pferdedecke, den er sich um die Schultern schlang, kroch dicht an den nächstliegenden Schläfer heran und war bald in Schlummer gefallen.
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Fünftes Buch Der Bucklige
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Erstes Kapitel Ein schriller Trompetenruf
In aller Frühe, noch vor dem ersten Morgengrauen, stand Dick auf, wechselte seine Kleider und bewaffnete sich wieder wie ein Edelmann, um dann gleich aufzubrechen und Lawless' Höhle im Walde aufzusuchen. Dort hatte er, wie sich der Leser erinnern wird, Lord Foxhams Schriftstücke zurückgelassen. Um sie wiederzuerlangen und zur rechten Zeit mit dem jungen Herzog von Gloucester zusammenzutreffen, war frühzeitiger Aufbruch und kräftiges Ausschreiten dringend geboten. Die Kälte war strenger denn je, die Luft unbewegt und trocken und stach in den Nasenlöchern. Der Mond war untergegangen, aber die Sterne standen hoch und hell und in großer Zahl am Himmel, und ihr Licht brach sich klar und heiter im Schnee. Man brauchte keine Laterne, und die ruhige und doch klirrende Luft verleitete nicht zum Verweilen. Dick hatte schon den größten Teil des offenen Geländes zwischen Shoreby und dem Walde durchquert und den Fuß des kleinen Hügels einige hundert Schritte unterhalb des Kreuzes der Heiligen Jungfrau erreicht, als durch die Stille des dunklen Morgens ein so schriller, klarer und durchdringender Trompetenton erklang, daß er glaubte, nie etwas Ähnliches gehört zu haben. Gleich darauf ertönte ein zweiter Trompetenstoß, von Waffengeklirr begleitet. Der junge Shelton horchte auf, zog sein Schwert und stürmte den Hügel hinauf. Kaum hatte er das Kreuz erreicht, als er ein grimmiges Gefecht zu sehen bekam, das auf der vorüberziehenden Landstraße wütete. Sieben oder acht Angreifer kämpften gegen einen einzigen Menschen, aber dieser eine war so hitzig und flink, griff seine Gegner so erbittert an und trieb sie auseinander, bewegte sich so geschickt beim Fechten auf der vereisten Straße, daß er schon, ehe Dick eingreifen konnte, einen getötet und einen zweiten verwundet hatte und die anderen in Schach hielt.
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»Haltet Euch gut, Herr! Hier ist Hilfe!« schrie Richard. Dabei vergaß er ganz, daß er allein war. Er überlegte auch nicht, daß der Kampfruf »Zu den Waffen! Zu den Waffen!« mit dem er den Angreifern in den Rücken fiel, ziemlich unangebracht war. Aber auch die Angreifer waren starke Burschen; sie ließen sich durch die Überraschung überhaupt nicht beirren, sondern machten Front gegen Dick und fielen mit erstaunlicher Wucht über ihn her. Vier Klingen kreuzten sich mit der seinigen im Sternenlicht, daß die Funken stoben. Einer der Gegner fiel – wodurch, wurde Dick im Getümmel kaum klar; dann erhielt er selbst einen Schlag über den Kopf, und obgleich ihn die Stahlkappe unter seiner Haube schützte, sank er in die Knie, und seine Gedanken tanzten wie Windmühlenflügel. Inzwischen war der, dem Dick zu Hilfe geeilt war, anstatt mit ihm gemeinsam weiterzukämpfen, beim ersten Anzeichen der Unterstützung zurückgesprungen und hatte nochmals, diesmal noch viel lauter und dringlicher, auf der gellenden Trompete geblasen, die schon zu dem ersten Alarmruf erklungen war. Im nächsten Augenblick fielen seine Feinde wieder über ihn her, und er griff nun immer wieder an oder floh, sprang, stach oder ließ sich aufs Knie nieder und gebrauchte Schwert und Dolch, Fuß und Hand mit demselben unerschütterlichen Mut, mit derselben glühenden Tatkraft und Schnelligkeit. Die markerschütternden Töne waren gehört worden. Gedämpftes Geräusch von galoppierenden Pferden drang durch die Schneeluft, und zur rechten Zeit für Dick, der schon die Schwertspitzen vor seiner Kehle blitzen sah, ergoß sich aus beiden Flanken des Waldes ein reißender Sturzbach bewaffneter Reiter mit herabgelassenem Visier und eingelegter Lanze oder entblößtem Schwert. Jeder von ihnen hatte einen Mitreiter in Gestalt eines Bogenschützen bei sich, die einer nach dem anderen absprangen und dadurch sofort die Kampflinie verdoppelten. Die ursprünglichen Angreifer warfen, als sie sich in der Minderzahl und umzingelt sahen, ohne ein Wort ihre Waffen fort. »Ergreift mir diese Burschen!« sagte der Ritter, der die Trompete geblasen hatte, und als sein Befehl ausgeführt war, trat er dicht an Dick heran und sah ihm ins Gesicht. Dick erwiderte den Blick und war überrascht, daß der Mann, der solche Stärke, Geschicklichkeit und Energie entfaltet hatte, ein junger Mensch war, nicht älter als er selbst und zudem leicht
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mißgestaltet. Die eine Schulter war höher als die andere, und in seinem bleichen Gesicht lag ein gequälter und verzerrter Ausdruck.12 Die Augen jedoch blickten mit seltener Klarheit und Kühnheit. »Herr«, sagte dieser Jüngling, »Ihr kamt im rechten Augenblick, keine Sekunde zu früh.« »Mylord«, erwiderte Dick mit der leisen Ahnung, daß er es mit einer hohen Standesperson zu tun habe, »Ihr seid selbst ein so erstaunlicher Fechter, daß ich glaube, Ihr hättet es allein geschafft. Wie dem auch sei, es war ganz sicher gut für mich, daß die Eurigen nicht länger auf sich warten ließen.« »Wie wußtet Ihr, wer ich bin?« wollte der Fremde wissen. »Mylord«, erwiderte Dick, »ich weiß sogar jetzt noch nicht, mit wem ich spreche.« »Ist es so?« fragte der andere. »Und doch warfet Ihr Euch Hals über Kopf in diesen ungleichen Kampf.« »Ich sah einen einzelnen tapfer gegen viele kämpfen«, erklärte Dick, »und ich hätte mich entehrt gefühlt, wenn ich ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre.« Ein kurzes ironisches Lächeln spielte um die Lippen des jungen Edelmannes, als er sagte: »Das sind tapfere Worte. Aber zu dem Wesentlichsten: Seid Ihr Lancaster oder York?« »Mylord, ich mache kein Geheimnis daraus, ich bin entschieden für York«, erklärte Dick. »Bei den Heiligen!« versetzte jener, »das ist gut für Euch.« Und damit wandte er sich zu einem seiner Gefolgsleute. »Ich möchte«, fuhr er in dem gleichen höhnischen und grausamen Ton fort, »diese tapferen Herren hier säuberlich sterben sehen. Hängt sie auf.« Nur fünf der Angreifer lebten noch. Bogenschützen ergriffen sie an den Armen und schleppten sie an den Saum des Waldes, wo jeder unter einen Baum von entsprechender Größe gestellt wurde. Dann legten sie ihnen einen Strick um, und ein Bogenschütze, der dessen Ende hielt, kletterte geschwind hinauf, und ehe eine Minute vergangen war und ohne daß auf der einen oder anderen Seite ein Wort gefallen wäre, baumelten die fünf Männer an den Ästen. »Und jetzt«, rief der unschöne Anführer, »zurück auf eure Posten. Und wenn ich euch nächstens wieder rufe, dann seid schneller zur Stelle.« »Mylord«, sagte ein Mann, »ich flehe Euch an, bleibt nicht
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allein hier. Behaltet wenigstens eine Handvoll Lanzenträger bei Euch.« »Mann«, sagte der Herzog, »ich habe es mir versagt, Euch wegen Eurer Säumigkeit zu tadeln. Widersprecht mir also nicht. Ich vertraue auf meinen Arm, obgleich ich verwachsen bin. Ihr waret nicht hier, als die Trompete ertönte: Jetzt seid Ihr mir zu vorlaut mit Euren Ratschlägen. Aber so ist es immer: mit der Lanze der letzte, mit der Zunge der erste. Daß es doch umgekehrt wäre!« Und mit einer Handbewegung, in der ein gewisser gefährlicher Adel lag, winkte er ihnen ab. Die Männer vom Fußvolk kletterten wieder auf ihre Sitze hinter den Reisigen, der Trupp rückte langsam ab und zerstreute sich in verschiedenen Richtungen in den Wald. Die Sterne erblaßten schon, und der Tag brach nun an. Der erste Strahl des Morgengrauens traf die Gesichter der beiden jungen Männer, die sich jetzt noch einmal Aug in Auge gegenüberstanden. »Hier«, sagte der Herzog, »habt Ihr meine Ahndung gesehen, die, wie meine Klinge, scharf und schnell ist. Aber ich möchte nicht, bei der ganzen Christenheit, daß Ihr mich für undankbar haltet. Ihr, der Ihr mir mit einem guten Schwert und mit noch besserem Mut zur Hilfe kamet, kommt – sofern Ihr nicht vor meiner Häßlichkeit zurückschaudert – an mein Herz.« Und damit breitete der junge Heerführer seine Arme aus. Im Grunde seines Herzens empfand Dick bereits ein Grauen und etwas wie Haß gegen den Mann, den er herausgehauen hatte. Aber die Aufforderung erklang in einem solchen Tone, daß es nicht nur eine Grobheit, sondern auch grausam gewesen wäre, sich zu weigern oder auch nur zu zögern. Und so beeilte er sich, ihm zu willfahren. »Mylord Herzog«, sagte er dann, als der andere ihn wieder freigab, »vermute ich recht? Seid Ihr, Mylord, der Herzog von Gloucester?« »Ich bin Richard von Gloucester. Und Ihr – wie nennt Ihr Euch?« Dick nannte ihm seinen Namen und wies Lord Foxhams Siegelring vor, den der Herzog sogleich erkannte. »Ihr kommt zu früh«, sagte er, »aber warum sollte ich mich beklagen? Ihr seid so wie ich, der hier zwei Stunden vor Tag auf dem Posten war. Aber dies ist die erste Bewährung meiner Truppen; auf dieses Abenteuer, Junker Shelton, werde ich meinen Ruhm gründen oder ihn verlieren. Dort liegen meine Feinde, unter zwei alten erfahrenen Anführern, Risingham und Brackley – gut
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verteilt nach ihrer Stärke, wie ich glaube, aber dennoch auf zwei Seiten ohne Rückzugslinie, eingeschlossen zwischen See, Hafen und Fluß. Mir scheint, Shelton, hier wäre ein schwerer Schlag zu führen, wenn er heimlich und überraschend geführt werden könnte.« »Das scheint mir auch so, wahrhaftig«, rief Dick feurig. »Habt Ihr Briefe von Lord Foxham?« wollte der Herzog wissen. Und nun nahm sich Dick – nachdem er erklärt hatte, weshalb er die Briefe im Augenblick noch nicht zur Hand habe – die Freiheit, so gut als möglich aus eigener Kenntnis über jede Kleinigkeit Auskunft zu geben. »Und ich für mein Teil, Mylord Herzog«, fügte er dann hinzu, »würde sogar jetzt angreifen, wenn Ihr genug Truppen habt. Denn seht, bei Tagesanbruch werden die Nachtwachen zurückgezogen; bei Tage stellen sie weder Posten aus, noch liegen sie in Bereitschaft, höchstens säubern sie die Umgebung der Stadt durch Reiter. Jetzt also, da die Nachtwache schon nicht mehr bewaffnet ist und die übrigen bei ihrem Morgentrunk sind, wäre die richtige Zeit, sie zu überfallen.« »Wie stark schätzt Ihr sie?« fragte Gloucester. »Sie zählen noch nicht zweitausend«, gab Dick zur Antwort. »Ich habe siebenhundert in den Wäldern hinten«, sagte der Herzog, »siebenhundert kommen von Kettley und werden gleich hier sein; hinter diesen sind nochmals vierhundert, und Lord Foxham hat einen halben Tagesmarsch von hier in Holywood fünfhundert stehen. Sollen wir ihr Eintreffen abwarten oder angreifen?« »Mylord«, sagte Dick, »als Ihr diese fünf armen Schelme hängen ließet, entschiedet Ihr diese Frage bereits. Sie waren zwar Spitzbuben, aber in diesen unruhigen Zeiten werden sie vermißt werden, man wird sich nach ihnen umsehen, und es wird Alarm geblasen werden. Deshalb, Mylord, wenn Ihr Euch den Vorteil der Überraschung sichern wollt, solltet Ihr – meiner bescheidenen Meinung nach – nicht einmal eine Stunde mehr zögern.« »Ich bin wirklich derselben Meinung«, bestätigte Crookback13. »Gut, in höchstens einer Stunde werdet Ihr Euch im dichtesten Kampfe Eure Sporen verdienen. Ein schneller Mann muß nach Holywood, um Lord Foxhams Siegelring hinzubringen, ein anderer geradeaus, meine Lässigen anzutreiben! Also, Shelton, beim Kreuz – es gilt!«
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Damit setzte er noch einmal die Trompete an den Mund und blies. Diesmal ließ man ihn nicht lange warten. In einem Nu war der freie Raum um das Kreuz von Mann und Roß besetzt. Richard von Gloucester nahm auf den Stufen Platz und fertigte einen Boten nach dem anderen ab, um das Sammeln der siebenhundert Mann, die in der unmittelbaren Umgebung in den Wäldern verborgen lagen, zu beschleunigen. Ehe eine Viertelstunde vergangen war, stellte er sich an ihre Spitze, und der Zug bewegte sich hügelabwärts auf Shoreby zu. Sein Plan war einfach. Er mußte ein Stadtviertel von Shoreby besetzen, das rechts von der Heerstraße lag, und mußte sich dort eine feste Stellung in den engen Gassen schaffen, bis seine Verstärkungen eintrafen. Wenn Lord Risingham sich für den Rückzug entschloß, wollte Richard ihn verfolgen und ihn zwischen zwei Feuer nehmen. Wenn er aber vorzog, die Stadt zu halten, sollte er in die Zange genommen und durch die wachsende Übermacht überwältigt werden. Es gab nur eine Gefahr, eine drohende, große Gefahr: Gloucesters siebenhundert konnten beim ersten Zusammenstoß aufgerollt und vernichtet werden. Um dies zu vermeiden, mußte die Überraschung durch ihren Angriff so vollständig wie möglich sein. Deshalb ließen die Reiter noch einmal alle Fußtruppen hinter sich aufsitzen. Dick hatte sich die besondere Ehre ausgebeten, hinter Gloucester selbst aufsitzen zu dürfen. Soweit Deckung vorhanden war, gingen die Truppen langsam vor, und als sie das Ende der Bäume erreichten, welche die Heerstraße umsäumten, hielten sie an, um Atem zu schöpfen und aufzuklären. Die Sonne stand nun schon recht hoch und schien mit kaltem, gelbem Glanz, und gegen das Tageslicht ließ Shoreby aus seinen beschneiten Dächern und rötlichen Giebeln seine morgendlichen Rauchsäulen emporsteigen. Gloucester wandte sich zu Dick. »In dieser elenden Stadt«, sagte er, »wo jetzt die Leute ihr Frühstück bereiten, werdet Ihr entweder Eure Sporen verdienen, und ich werde eine ehrenvolle und ruhmreiche Laufbahn in den Augen der Welt beginnen, oder wir beide werden fallen, und keiner wird mehr unsere Namen nennen. Wir heißen beide Richard. Nun denn, Richard Shelton, man soll von diesen beiden
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hören! Ihre Schwerter sollen nicht lauter auf den Helmen der Männer klingen, als ihre Namen in den Ohren der Menschen klingen werden.« Dick war erstaunt über solche Ruhmbegier, die mit so großem Stimmaufwand ausgedrückt wurde, und er erwiderte sehr besonnen und ruhig, daß er seinerseits verspreche, seine Pflicht zu erfüllen, und daß er nicht am Sieg zweifle, wenn jeder das Seine tue. Inzwischen hatten die Pferde verschnauft, und als der Anführer sein Schwert hochriß und seinem Pferde die Zügel schießen ließ, fielen alle Schlachtrosse in Galopp und donnerten mit der doppelten Last von Kämpfern das letzte Stück des Hügels hinab und über die schneebedeckte Ebene, die sie noch von Shoreby trennte.
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Zweites Kapitel Die Schlacht in Shoreby I
Die Entfernung, die noch zurückzulegen war, betrug nicht mehr als eine Viertelmeile. Aber sie waren kaum unter dem Schutz der Bäume hervorgebrochen, als sie auf beiden Seiten Leute sahen, die schreiend über die schneebedeckten Wiesen flohen. Beinahe im selben Augenblick erscholl gewaltiger Lärm in der Stadt, der sich weiter verbreitete und stärker wurde; und sie hatten noch nicht die Hälfte des Weges zum nächsten Haus zurückgelegt, als die Glocken Sturm zu läuten begannen. Der junge Herzog knirschte mit den Zähnen. Bei diesen frühen Alarmzeichen mußte er fürchten, die Feinde vorbereitet zu finden, und wenn es ihm nicht gelang, eine feste Stellung in der Stadt zu gewinnen, wußte er, daß seine kleine Schar bald zerstreut und wieder hinausgeworfen werden würde. Jedoch waren die Lancasterschen in der Stadt durchaus nicht in einer so guten Stellung. Es war so, wie Dick dargelegt hatte. Die Posten der Nachtwache hatten schon ihre Harnische abgelegt, und die anderen rührten sich noch nicht, sondern lagen abgeschnallt, losgeknöpft und ganz unvorbereitet in ihren Quartieren. In ganz Shoreby gab es wohl keine fünfzig vollbewaffneten Männer und keine fünfzig gesattelten Streitrosse. Das Sturmgeläut, die erschreckenden Mahnungen von Menschen, die mit Geschrei auf den Straßen umherliefen und dabei gegen die Türen schlugen, weckten in unglaublich kurzer Zeit aber doch vierzig von diesem halben Hundert. Diese waren schnell im Sattel und sprengten, da der Alarm wild und unbestimmt klang, nach dieser und jener Richtung. So geschah es, daß Richard von Gloucester beim ersten Haus an der Mündung der Straße sich einer Handvoll Lanzenträger gegenübersah, die er hinwegfegte, wie der Sturm eine kleine Barke vor sich herjagt. Als sie etwa hundert Schritte in die Stadt eingedrungen waren, berührte Dick Shelton den Arm des Herzogs. Dieser zügelte sein Pferd, setzte die schrille Trompete an den Mund, blies ein
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verabredetes Signal und wandte sich, die gerade Richtung verlassend, nach rechts. Wie auf Kommando herumschwenkend, folgte ihm seine ganze Schar und brauste im vollen Galopp die enge Nebengasse hinauf. Nur die letzten zwanzig Reiter hielten an und stellten sich in umgekehrter Richtung auf; die Fußsoldaten, die hinter ihnen saßen, sprangen sofort ab. Ein Teil von ihnen spannte die Bogen, während andere in die Häuser eindrangen und sie nach allen Seiten sicherten. Durch diesen plötzlichen Richtungswechsel verblüfft und durch die feste Front der Nachhut eingeschüchtert, wandten sich die paar Lancasterschen nach kurzem Besinnen um und sprengten weiter stadteinwärts, um sich nach Verstärkung umzusehen. Dieses Stadtviertel, dessen sich Richard von Gloucester auf Dicks Rat hin bemächtigt hatte, bestand aus fünf kleinen Straßen mit ärmlichen Häusern, die auf einer nach hinten offenen sanften Anhöhe lagen. Nachdem nun jede der fünf Straßen durch ausreichende Besatzung gesichert worden war, mußte die übrige Mannschaft das Zentrum in der Weise besetzen, daß sie, obwohl außer Schußweite, jederzeit zu Hilfe kommen konnte, wo immer es nötig sein mochte. In diesem Stadtviertel herrschte so große Armut, daß keiner von den Lancasterschen Herren und nur wenige von ihren Gefolgsleuten dort in Quartier lagen. Die Einwohner verließen wie auf Verabredung ihre Häuser und flohen mit Geschrei die Straßen entlang oder suchten über Gartenmauern das Weite. Im Mittelpunkt des Ortes, wo die fünf Gassen zusammenliefen, trug eine ziemlich häßlich aussehende Schenke ein Schachbrett als Schild. Hier schlug der Herzog von Gloucester sein Hauptquartier für den Tag auf. Dem Junker Shelton übertrug er die Sicherung einer der fünf Straßen. »Vorwärts«, sagte er, »erwerbt Euch Eure Sporen, und erwerbt Ruhm für mich, ein Richard für den anderen. Ich versichere Euch, wenn ich aufsteige, sollt Ihr gleich mir steigen. Also geht!« und damit schüttelte er ihm die Hand. Aber Dick war kaum gegangen, als der Herzog einen kleinen, schäbigen Bogenschützen beim Ellbogen faßte. »Geht, Dutton, geht schleunig«, fügte er hinzu, »folgt diesem Jüngling. Wenn Ihr ihn treu findet, steht Ihr mir mit Eurem Kopf für seine Sicherheit ein. Wehe Euch, wenn Ihr ohne ihn
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zurückkehrt! Aber wenn er treulos ist oder Ihr ihm für einen Augenblick mißtraut, dann durchbohrt ihn von hinten.« Inzwischen beeilte sich Dick, seine Stellung zu sichern. Die Straße, die er zu besetzen hatte, war sehr eng und dicht mit Häusern bebaut, deren obere Stockwerke hervorsprangen und sich über den Fahrweg neigten. Aber obwohl es hier eng und dunkel war, mußte man annehmen, daß die Entscheidung des Kampfes an dieser Stelle fallen werde, zumal die Straße in den Marktplatz mündete. Viele Stadtbewohner stürzten in regelloser Flucht über den Markt, aber es gab bisher noch keine Anzeichen eines angriffsbereiten Feindes, und Dick war überzeugt, daß er noch einige Zeit habe, um sich zur Verteidigung zu rüsten. Die zwei Häuser am Ende der Gasse standen menschenleer da mit geöffneten Türen, so, wie die Bewohner sie auf ihrer Flucht zurückgelassen hatten. Dick ließ eilends die Einrichtungen herausschaffen und damit eine Verschanzung an der Mündung der Gasse errichten. Hundert Mann verteilten sich nach seiner Anordnung. Von diesen legte er den größeren Teil in die Häuser, wo sie geschützt waren und ihre Pfeile durch die Fenster absenden konnten. Mit den anderen besetzte er die Barrikade, wo er selbst den Befehl übernahm. Inzwischen hatte das starke Getümmel und Durcheinander in der ganzen Stadt die Oberhand gewonnen, und das hastige Läuten der Glocken, das Schmettern der Trompeten und das Dahinstürmen von berittenen Abteilungen, die Kommandorufe der Befehlshaber und das Geschrei der Frauen betäubten fast das Ohr. Allmählich aber begann der Tumult nachzulassen, und gleich darauf strömten Rotten von Bewaffneten und Trupps von Bogenschützen zusammen und bildeten auf dem Marktplatz eine Schlachtlinie. Ein großer Teil der Streitmacht trug dunkelrote und blaue Farben. In dem aufgesessenen Ritter, der die Truppen befehligte, erkannte Dick Sir Daniel Brackley. Dann trat eine lange Pause ein, bis fast gleichzeitig aus vier verschiedenen Stadtvierteln vier Trompeten erklangen. Eine fünfte ertönte zur Antwort vom Marktplatz, und im gleichen Augenblick setzten sich die Reihen in Bewegung, und ein Hagel von Pfeilen prasselte auf die Barrikade nieder und klatschte gegen die Mauern der zwei Häuser, welche die Flanken bildeten.
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Der Angriff hatte auf ein allgemeines Signal an allen fünf Ausgängen des Stadtviertels begonnen. Gloucester wurde also von allen Seiten berannt, und Dick war sich darüber klar, daß er sich voll und ganz auf die unter seinem Befehl stehenden hundert Mann verlassen mußte, wenn er seinen Posten gut ausfüllen wollte. Sieben Pfeilsalven folgten hintereinander. Mitten im dichtesten Hagel fühlte sich Dick von hinten am Arm berührt und bemerkte einen Pagen, der ihm ein mit glänzenden Stahlplatten verstärktes Lederkoller hinreichte. »Der Herzog von Gloucester schickt Euch dies«, sagte der Page. »Er hat bemerkt, Sir Richard14, daß Ihr ungepanzert ginget.« Dick, dem das Herz schwoll, als er sich so angeredet hörte, sprang auf und legte mit Hilfe des Pagen das Koller an. Er war noch damit beschäftigt, als zwei Pfeile den Panzer trafen, ohne Dick zu verletzen. Ein dritter jedoch traf den Pagen und streckte ihn tödlich verwundet zu Boden. Inzwischen war die ganze Streitmacht des Feindes ständig näher gerückt und befand sich nun so nahe, daß Dick den Befehl gab, ihre Salven zu erwidern. Ein todbringender Pfeilhagel schwirrte sofort hinter der Barrikade und aus den Fenstern der Häuser hervor. Die Lancasterschen aber, als ob sie nur auf ein Zeichen gewartet hätten, antworteten mit lautem Geschrei und begannen ihre Reihen zum Sturm auf die Verschanzung zu schließen. Die Reiter hielten sich mit geschlossenem Visier hinter dem Trupp. Es folgte ein hartnäckiger und tödlicher Kampf Mann gegen Mann. Die Angreifer führten in einer Hand das Schwert und suchten mit der anderen die Verschanzung niederzureißen. Die Verteidiger gebärdeten sich wie Wilde, um ihre Brustwehr zu schützen. So wütete einige Minuten lang ein wortloses Ringen, Freund und Feind ineinander verbissen. Als ein einziger Trompetenstoß von diesem verzweifelten Angriff zurückrief, hatte die Barrikade schon so gelitten, daß das ganze Gefüge auf halbe Höhe herabgesunken war und schwankte, als ob es völlig zusammenstürzen wollte. Und jetzt wich das Fußvolk auf dem Marktplatz nach beiden Seiten zurück. Die Reiter, die in zwei Gliedern gestanden hatten, schwenkten plötzlich herum, und so rasch, wie eine Natter sich auf ihren Feind stürzt, warf sich die gepanzerte Reiterschar auf die stark mitgenommene Barrikade.
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Von den ersten zwei Reitern stürzte einer samt dem Pferde und kam unter die Hufe seiner Kameraden. Der zweite sprengte genau auf die Spitze der Brustwehr zu und durchbohrte einen Bogenschützen mit der Lanze. Fast in demselben Augenblick wurde er aus dem Sattel gerissen und sein Pferd niedergestochen. Dann brach die ganze Wucht und Last des Angriffs über die Verteidiger herein und zerstreute sie. Die gepanzerten Reiter, die über ihre gefallenen Kameraden hinwegritten und durch die Heftigkeit ihres eigenen Angriffs mitgerissen wurden, durchbrachen Dicks beschädigte Linie und ergossen sich dröhnend in die jenseitige Gasse wie ein Strom durch einen gebrochenen Damm. Jedoch war das Gefecht noch nicht vorüber. In dem engen Gasseneingang gebrauchten Dick und einige Überlebende ihre Äxte wie Holzfäller, und schon hatten sich an dem Durchgang aus den Gefallenen und schwerverwundeten Pferden, die im Todeskampfe um sich schlugen, eine zweite, höhere und wirksamere Schutzwehr gebildet. Durch dieses neue Hindernis gehemmt, wich der Rest der Reiterei zurück, und als sich beim Anblick dieser Bewegung der Pfeilhagel aus den Häusern verdoppelte, artete ihr Rückzug fast in Flucht aus. Beinahe zur gleichen Zeit begannen diejenigen, welche die Barrikade durchbrochen hatten und die Straße anfüllten, in übermäßigem Schrecken und Verwirrung regellos zurückzuweichen. Sie trafen vor der Tür des Wirtshauses »Zum Schachbrett« auf den furchtbaren Buckligen und die ganze Reserve der Yorkschen. Dick und seine Leute machten kehrt, frische Kräfte ergossen sich aus den Häusern; ein Hagel von Pfeilen traf die Flüchtigen voll ins Gesicht, während Gloucester schon ihre Nachhut niederritt. Innerhalb von anderthalb Minuten war kein lebender Lancasterscher mehr in der Straße. Jetzt erst reckte Dick seine blutige Klinge hoch und gab das Zeichen zum Hurra. Inzwischen war Gloucester vom Pferde gestiegen und näher gekommen, um die Stellung zu besichtigen. Sein Gesicht war blaß wie gebleichtes Linnen, aber seine Augen leuchteten darin wie seltene Edelsteine, während seine Stimme von der Anstrengung und der freudigen Erregung über den Erfolg heiser und gebrochen klang. Er blickte auf die Brustwehr, der sich Freund oder Feind
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nur mit Vorsicht nähern konnten, so wild schlugen die Pferde in Schmerz und Todesangst um sich. Beim Anblick des Gemetzels flog ein halbes Lächeln über seine Züge. »Erledigt diese Pferde«, sagte er, »sie berauben euch eurer Überlegenheit. Richard Shelton«, fuhr er dann fort, »Ihr habt mir gefallen. Kniet nieder.« Die Lancasterschen hatten sofort ihre Bogenschützen wieder gesammelt, und die Pfeile hagelten dicht in den Eingang der Gasse, aber der Herzog zog, ohne sich darum zu kümmern, bedächtig sein Schwert und schlug Richard auf der Stelle zum Ritter. »Und jetzt, Sir Richard«, sagte er dann, »wenn Ihr Lord Risingham seht, dann schickt auf der Stelle einen Eilboten zu mir. Wäre es auch Euer letzter Mann, laßt es mich ohne jeden Aufschub wissen. Ich würde lieber die Stellung aufs Spiel setzen, als den Kampf gegen ihn verlieren. Denn merkt es euch, ihr alle«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu, »wenn Graf Risingham von einer andern Hand als der meinigen fällt, werde ich diesen Sieg als Niederlage ansehen.« »Mylord«, sagte einer aus seinem Gefolge, »sind Euer Gnaden es noch nicht überdrüssig, Euer teures Leben unnötig der Gefahr auszusetzen? Warum verweilen wir hier?« »Catesby«, erwiderte der Herzog, »hier ist die Schlacht, nicht sonst irgendwo. An den anderen Stellen führen sie nur Scheinangriffe. Hier müssen wir siegen. Und was das ›der Gefahr aussetzen‹ betrifft – wenn Ihr ein häßlicher Buckliger wäret, und die Kinder auf der Straße würden Euch verspotten, so würdet Ihr Euren Körper geringer und eine Stunde des Ruhmes ein Leben wert achten. Indessen, wenn Ihr wollt, laßt uns reiten und die anderen Stellungen besichtigen. Sir Richard, mein Namensvetter, wird hier diesen Zugang weiter halten, wo er bis an die Knöchel in heißem Blut watet. Ihm können wir vertrauen. Aber merkt Euch wohl, Sir Richard, Ihr seid noch nicht fertig; denn das Schwerste ist die Verteidigung. Schlaft nicht.« Er trat ganz nahe an den jungen Shelton heran und blickte ihm scharf in die Augen, und als er mit seinen beiden Händen Richards Hände umfaßte, drückte er sie so heftig, daß fast das Blut herausspritzte. Dick wich vor diesen Augen zurück. Die schreckliche Erregung, die Tollkühnheit und Grausamkeit, die er darin las, erfüllten ihn mit Furcht für die Zukunft. Dieser junge Herzog war in der Tat ein tapferer Geist und zum Heerführer wie
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geschaffen. Aber es war zu befürchten, daß dieser Geist nach dem Kampf, in den Tagen des Friedens und im Kreise seiner vertrauten Freunde, nur Früchte des Todes ans Licht bringen würde.
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Drittes Kapitel Die Schlacht in Shoreby II
Als Dick nun abermals ganz auf seine eigenen Entschlüsse angewiesen war, schaute er um sich. Der Pfeilhagel hatte ein wenig nachgelassen. Der Feind wich überall zurück, und der größte Teil des Marktplatzes war jetzt leer. Der Schnee, hier zu braunem Schmutz zertreten, dort mit Blut bespritzt, war überall mit toten Menschen und Pferden bedeckt, die von gefiederten Pfeilen starrten. Auf seiner Seite waren die Verluste entsetzlich. Die Mündung der kleinen Straße und die Trümmer der Barrikade waren mit Toten und Sterbenden bedeckt; und von den hundert Mann, mit denen er den Kampf begonnen hatte, waren keine siebzig übriggeblieben, die Waffen tragen konnten. Die Zeit verging, und jeden Augenblick konnten die ersten Verstärkungen eintreffen. Die Lancasterschen, schon durch den Mißerfolg ihres verzweifelten Angriffs erschüttert, schienen nicht in der Stimmung, weiteren Eindringlingen standzuhalten. An der Wand eines Eckhauses hing eine Sonnenuhr, sie zeigte in dem winterlich-frostigen Sonnenschein zehn Uhr vormittags an. Dick wandte sich zu einem kleinen, unbedeutenden Bogenschützen, der dicht an seiner Seite stand und eine Wunde an seinem Arm verband. »Wir haben wacker gekämpft«, sagte er, »und, meiner Treu, sie werden uns kein zweites Mal angreifen.« »Sir«, antwortete der kleine Schütze, »Ihr habt recht gut für York gefochten und noch besser für Euch selbst. Noch niemand hat in so kurzer Zeit so starken Einfluß auf den Herzog ausgeübt. Es ist ein Wunder, daß er einen solchen Posten jemandem anvertraut, den er nicht kannte. Aber nehmt Euren Kopf in acht, Sir Richard! Wenn Ihr besiegt werdet, ja, wenn Ihr nur einen Fußbreit preisgebt, werdet Ihr es mit dem Beil oder Strick büßen; und ich habe den Auftrag – ich will es Euch ehrlich gestehen –, Euch auf der Stelle hinterrücks niederzumachen, wenn Ihr etwas Verdächtiges tut!« Dick starrte den kleinen Mann voller Erstaunen an.
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»Es stimmt wirklich«, bekräftigte der Schütze, »und weil ich so etwas nicht gern tue, sage ich es Euch. Ihr müßt diese Stellung durchaus halten, wenn Euch Euer Leben lieb ist, Sir Richard. Oh, unser Buckliger ist ein kühner Draufgänger und ein tapferer Krieger; aber ob mit kaltem oder heißem Blut, er will alles genau nach seinem Befehl getan haben. Wer versagt oder stört, den schickt er in den Tod.« »Wie, bei allen Heiligen!« rief Richard aus. »Ist das so? Und werden die Männer einem solchen Führer gern folgen?« »Ach, sie folgen ihm begeistert«, erwiderte der andere; »denn so streng er im Strafen ist, so hat er auch eine offene Hand im Belohnen. Und wie er das Blut und den Schweiß der anderen nicht schont, so ist er auch freigebig mit seinem eigenen, steht in der Schlacht immer in vorderster Reihe und ist der letzte, wenn es zum Schlafen geht. Er wird es noch weit bringen, Crookback, Dick von Gloucester!« War der junge Ritter vorher tapfer und wachsam gewesen, so war er nun um so mehr zu Wachsamkeit und Mut entschlossen. Die plötzliche Gunst, die ihm zuteil wurde, hatte Gefahren im Gefolge. Und er wandte sich von dem Bogenschützen ab und überschaute noch einmal voller Sorge den Marktplatz. Er war leer wie vorher. »Diese Ruhe gefällt mir nicht«, sagte er. »Zweifellos werden sie uns mit Überraschungen kommen.« Und wie als Antwort auf seine Bemerkung rückten die Bogenschützen jetzt noch einmal gegen die Barrikade vor, und sogleich regnete es wieder Pfeile. Und doch lag etwas wie Zögern in dem Angriff, sie rückten nicht geschlossen vor, sondern schienen ein weiteres Signal zu erwarten. Dick sah unruhig umher, als spähe er nach einer verborgenen Gefahr. Und wirklich, inmitten der kleinen Straße wurde plötzlich von innen eine Tür geöffnet, und das Haus spie einige Sekunden lang einen Strom von Lancasterschen Bogenschützen aus. Sie waren kaum herausgestürzt, als sie auch schon in Reihen standen, ihre Bogen spannten und Dicks Leute von hinten mit einem Schwärm von Pfeilen überschütteten. Zur gleichen Zeit schossen die Angreifer auf dem Marktplatz mit doppelter Schnelligkeit und begannen schon, mit aller Macht über die Barrikade hereinzubrechen.
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Dick rief seine ganze Schar aus den Häusern auf die Straße, und bald nach der einen, bald nach der andern Seite den Blick wendend, entflammte er mit Wort und Tat ihre Tapferkeit und ließ den Schauer von Pfeilen, der von zwei Seiten auf seine Stellung niederprasselte, so heftig wie möglich erwidern. Inzwischen hatte sich in der Straße Haus um Haus geöffnet, und die Lancasterschen fuhren fort, aus den Türen zu schießen und aus den Fenstern herauszuspringen und »Sieg« zu brüllen, bis die Feinde in Dicks Rücken und die vor seiner Front fast gleich stark waren. Die Stellung konnte nicht länger gehalten werden; sie war völlig nutzlos geworden, selbst wenn er sie noch hätte behaupten können. Die ganze Yorksche Streitmacht befand sich am Rande der völligen Auflösung. Die Feinde in seinem Rücken drohten der ganzen Verteidigungsstellung verhängnisvoll zu werden. Gegen sie wandte sich Dick und griff sie an der Spitze seiner Schar an. So kraftvoll war der Angriff, daß die Lancasterschen Bogenschützen zurückwichen und ins Wanken gerieten, und als sie ihre Reihen durchbrochen sahen, wichen sie in die Häuser zurück, aus denen sie eben erst so siegestrunken hervorgebrochen waren. Währenddessen aber hatten die Krieger auf dem Marktplatz die unverteidigte Barrikade erstürmt und griffen von dort aus ungestüm an. Dick mußte nun nochmals seine Front ändern und alles tun, um auch sie wieder zurückzutreiben. Wiederum behielt der Kampfgeist seiner Leute die Oberhand. Triumphierend säuberten sie die Straße. Aber jetzt brachen die eben erst Zurückgeschlagenen wieder aus den Häusern hervor und griffen Dick zum dritten Male im Rücken an. Die Yorkschen wurden mehr und mehr erschüttert; mehrere Male befand sich Dick allein zwischen seinen Feinden und kämpfte mit dem blanken Schwert um sein Leben. Er blutete schon aus mehreren Wunden. Aber noch immer wogte der Kampf in der Gasse unentschieden hin und her. Plötzlich drangen laute Trompetenstöße von den Grenzen der Stadt her an Dicks Ohr. Der Kampfesruf der Yorkisten erfüllte die Luft mit vielen triumphierenden Stimmen. Die Angreifer vom Marktplatz wichen nun fluchtartig zurück und verließen die Gasse. Irgendeiner hatte das Stichwort zur Flucht gegeben. Widersprechende Trompetensignale wurden geblasen, einige riefen zum Sammeln, andere zum Angriff. Es war klar, daß ein großer
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Schlag gefallen war und daß die Lancasterschen, wenigstens für den Augenblick, in volle Verwirrung, ja sogar in eine gewisse Panik gestürzt worden waren. Nun folgte, wie ein Theatertrick, die Schlußszene der Schlacht um Shoreby. Die Angreifer machten kehrt wie Hunde, die nach Hause gepfiffen werden, und flohen mit Windeseile. Im gleichen Augenblick fegte eine Reiterschar über den Marktplatz. Die Lancasterschen wandten sich und versuchten noch mit dem Schwerte zu kämpfen, die Yorkschen aber ritten sie mit ihren Lanzen nieder. Im Handgemenge erkannte Dick deutlich den Buckligen. Er gab hier schon einen Vorgeschmack von der wütenden Tapferkeit und Geschicklichkeit, mit der er sich seinen Weg durch die Reihen der Feinde zu hauen verstand und die nach Jahren, als er schon mit Verbrechen besudelt war, auf dem Schlachtfelde von Bosworth fast die Entscheidung des Tages herbeigeführt und das Schicksal des englischen Thrones gewendet hätte.15 Indem er bald auswich, bald Schläge austeilte, lenkte und manövrierte er sein starkes Pferd, verteidigte er sich so gewandt und trug den Tod so freigebig in die Reihen der Gegner, daß er jetzt den ersten seiner Ritter weit voraus war. Mit dem Stumpf seines blutigen Schwertes bahnte er sich den Weg dorthin, wo Lord Risingham die Tapfersten um sich sammelte. Im nächsten Augenblick waren beide aneinander. Der gewaltige, berühmte Krieger stand gegen den verwachsenen, schwächlichen Jungen. Shelton indessen hegte keinerlei Zweifel an dem Ausgang des Zweikampfes, und als sich ihm gleich darauf wieder ein Ausblick auf die Kämpfenden bot, war die Gestalt des Grafen verschwunden, aber immer wieder trieb der bucklige Richard sein Pferd an und gebrauchte den Stumpf seines Schwertes. So hatte der Jüngling, der später unter dem Namen Richard der Dritte dem Fluch der Nachwelt überliefert wurde, seine erste wichtige Schlacht gewonnen; und er verdankte diesen Sieg sowohl dem rechtzeitigen Eintreffen seiner siebenhundert Mann Verstärkung wie der Tapferkeit, mit der Shelton die Mündung jener Straße gegen den ersten Angriff verteidigt hatte.
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Viertes Kapitel Die Plünderung von Shoreby
Kein Feind ließ sich mehr auf Schwerteslänge sehen, und als Dick wehmütig den Rest seiner tapferen Schar überblickte, begann er den Preis des Sieges abzuschätzen. Er selbst war jetzt, nachdem die Gefahr vorüber war, so steif und zerschlagen, so verbeult und gebrochen und vor allem durch die verzweifelte Anspannung aller seiner Kräfte im Kampf so erschöpft, daß es ihm schien, als sei er jeder neuen Anstrengung unfähig. Aber die Stunde des Ausruhens war noch nicht gekommen. Shoreby war durch einen Angriff genommen worden, und obgleich es eine offene Stadt war und ihr der Widerstand durchaus nicht zur Last gelegt werden konnte, war nicht anzunehmen, daß diese rauhen Kämpfer jetzt, da der Kampf beendet war, weniger rauh sein würden und daß sich die weit schrecklichere Seite des Krieges nicht noch zeigen würde. Richard von Gloucester war nicht der Feldherr, der die Absicht hatte, die Bürger vor seinem Kriegsvolk zu schützen; und selbst wenn er dazu willens gewesen wäre, erschien es fraglich, ob er die Macht dazu gehabt hätte. Es war daher Dicks erste Sorge, Johanna zu finden und zu schützen; und dazu hielt er jetzt unter den Gesichtern seiner Leute Ausschau. Die drei oder vier, die ihm gehorsam und besonnen genug erschienen, nahm er auf die Seite. Indem er ihnen reiche Belohnung und eine besondere Empfehlung beim Herzog versprach, führte er sie über den Marktplatz, der jetzt frei von Reitern war, in die Straßen auf der anderen Seite. Hier und da wüteten noch kleine Gefechte zwischen Gruppen von zweien bis etwa einem Dutzend auf offener Straße; hier und da wurde noch ein Haus belagert, aus dem die Verteidiger Stühle und Tische auf die Köpfe der Angreifer warfen. Waffen und Leichen lagen auf dem Schnee verstreut. Aber abgesehen von diesen einzelnen Gefechten lagen die Straßen verlassen da, und die Häuser, die teils offenstanden, teils verschlossen und verschanzt waren, entsandten keinen Ofenrauch mehr zum Himmel.
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Dick vermied ein Zusammentreffen mit diesen Plänklern und führte seine Leute rasch in Richtung der Abteikirche. Aber als er die Hauptstraße entlangkam, entrang sich seinem Munde ein Schreckensschrei. Sir Daniels großes Haus war erstürmt worden. Die Tore hingen zertrümmert in den Angeln, und ein Gedränge von Soldaten, die entweder Beute suchten oder wegschleppten, ergoß sich durch den Eingang. Indessen wurde den Plünderern in den oberen Stockwerken noch einiger Widerstand geleistet; denn gerade als Dick auf Sichtweite an das Gebäude herangekommen war, wurde ein Fensterflügel von innen gesprengt und ein bedauernswerter Mensch, in dunkelrot-blauer Kleidung, der laut schrie und sich heftig sträubte, durch das Fenster auf die Straße gestürzt. Die entsetzlichsten Befürchtungen stiegen in Dick auf. Er stürzte wie ein Besessener weiter, erzwang sich Zutritt zum Hause und stieg ohne Aufenthalt zu dem Zimmer im dritten Stockwerk hinauf, wo er sich von Johanna getrennt hatte. Es war vollständig zerstört, die ganze Einrichtung war umgestürzt, die Schränke aufgebrochen, und in einer Ecke lag noch ein Stück des Wandteppichs glimmend in den Resten des Feuers. Dick, fast von Sinnen, erstickte die drohende Feuersbrunst im Keime und blieb dann verwirrt stehen. Sir Daniel, Sir Oliver, Johanna – alle waren fort; aber ob sie auf der Flucht umgekommen oder heil aus Shoreby entronnen waren, wer konnte das sagen? Er hielt einen vorübergehenden Bogenschützen am Rock fest. »Kamerad«, fragte er, »wäret Ihr hier, als dieses Haus besetzt wurde?« »Laßt mich«, sagte der Schütze. »Daß Euch die Pest...! Laßt mich, oder ich ziehe.« »Hört«, erwiderte Richard, »dazu gehören zwei. Steht, und seid vernünftig.« Aber der Mann, vom Kampfe noch erregt und dazu noch angetrunken, schlug Dick mit der einen Hand gegen die Schulter, während er mit der anderen an sein Koller faßte. Da packte den jungen Anführer die Wut. Er riß den Kerl wie ein Kind an sich und quetschte ihn in eiserner Umarmung gegen die Platten seiner gepanzerten Brust. Dann hielt er ihn auf Armeslänge von sich und forderte ihn auf, jetzt zu sprechen, wenn ihm sein Leben lieb sei.
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»Bitte um Vergebung!« japste der Bogenschütze. »Hätte ich geahnt, daß Ihr so zornig werden könnt, dann hätte ich mich vorgesehen, Euch zu widersprechen. – Ja, ich war hier.« »Kennt Ihr Sir Daniel?« fragte Richard weiter. »Gewiß kenne ich ihn«, war die Antwort. »War er hier im Hause?« »Ja, Herr«, bekundete der Bogenschütze; »aber gerade als wir durch das Hoftor hereinkamen, ritt er durch den Garten davon.« »Allein?« fragte Dick weiter. »Er mag etwa zwanzig Lanzenträger bei sich gehabt haben«, sagte der Mann. »Lanzenträger! Also keine Frauen?« fragte Shelton. »Ich habe keine gesehen«, versicherte der Bogenschütze. »Aber es waren gar keine im Hause, wenn Ihr danach fragt.« »Ich danke Euch«, sagte Dick. »Hier ist ein wenig Schmerzensgeld.« Aber als er in sein Gürteltäschchen griff, fand er nichts. »Fragt morgen nach mir«, fuhr er dann fort – »Richard Shel... Sir Richard Shelton«, verbesserte er sich, »Ihr sollt anständig belohnt werden.« Dann durchfuhr Dick ein Gedanke. Er eilte in den Hof hinunter, lief rasch durch den Garten und erreichte das Hauptportal der Kirche. Es stand weit offen. Innen war jedes Fleckchen des Fußbodens von geflohenen Bürgern besetzt. Sie hatten ihre Familien mit sich und waren mit ihren wertvollsten Habseligkeiten beladen. Am Hochaltar flehten Priester in vollem Ornat die Gnade Gottes an. Als Dick die Kirche betrat, setzte der Chor so laut ein, so daß es von dem hohen Gewölbe widerhallte. Er stürmte durch die Gruppen von Flüchtlingen hindurch und kam an die Tür der Treppe, die im Turm hinaufführte. Aber hier trat ihm ein hochgewachsener Geistlicher entgegen und versuchte, ihn am Weitergehen zu hindern. »Wohin, mein Sohn?« fragte er streng. »Ehrwürdiger Vater«, antwortete Dick, »ich bin hier mit einem militärischen Auftrag. Haltet mich nicht auf. Ich vertrete hier meinen Herrn von Gloucester.« »Den Herzog von Gloucester?« wiederholte der Priester. »Ist denn die Schlacht so schlimm ausgegangen?« »Die Schlacht, ehrwürdiger Vater, ist aus, die Lancasterschen sind weggefegt. Lord Risingham – der Himmel gönne ihm Frieden! – ist im Kampf gefallen. Und nun erlaubt bitte, daß ich meine
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Pflicht tue.« Und während er den Priester, der von diesen Neuigkeiten ganz verblüfft zu sein schien, beiseite schob, stieß er die Tür auf und polterte, vier Stufen auf einmal nehmend, ohne anzuhalten und ohne zu stolpern hinauf, bis er die offene Plattform unterhalb der Turmspitze erreichte. Der Kirchturm von Shoreby beherrschte nicht nur die Stadt, sondern sah weit über Land und Meer. Der Schnee warf das strahlende Licht der Mittagssonne zurück und blendete das Auge. Und als Dick in die Runde sah, konnte er die Folgen des Kampfes überblicken. Der Lärm und das verworrene Geräusch des Durcheinanders auf den Straßen drang bis an sein Ohr, und hin und wieder, wenn auch ganz selten, war noch Waffengeklirr zu hören. Nicht ein Schiff, nicht ein Ruderboot lag noch im Hafen, aber die See wimmelte von Segelschiffen und Ruderbooten, die mit Flüchtlingen beladen waren. Auch am Strande war die weite Fläche der schneebedeckten Wiesen von Reitertrupps durchbrochen worden; einige von ihnen versuchten, sich zum Waldrande durchzuschlagen, während andere, die zweifellos zur Yorkschen Partei gehörten, ihnen mit aller Gewalt den Weg verlegten und sie in die Stadt zurückschlugen. Das ganze Gelände war von gefallenen Männern und Pferden bedeckt, die sich vom Schnee deutlich abhoben. Das Bild ergänzten Fußsoldaten, die keinen Platz auf einem Schiffe gefunden hatten und unter der Deckung der am Strande liegenden Schenken ein Geplänkel mit Pfeil und Bogen weiterführten. In diesem Viertel waren auch einige Häuser in Brand gesteckt worden, und der Rauch stieg in der frostklaren Luft empor und zog in mächtigen Wolken seewärts. Dicht am Rande der Wälder, etwa in der Richtung auf Holywood, fesselte ein vereinzelter Haufe von flüchtenden Reitern die Aufmerksamkeit des jungen Beobachters auf dem Turm. Es war ein leidlich starker Haufe von Lancasterschen, wie man ihn nirgends sonst auf dem ganzen Schlachtfelde noch fand. Sie hatten eine breite dunkle Spur auf dem Schnee hinterlassen, so daß Dick, ihren Weg Schritt für Schritt zurückverfolgend, erkennen konnte, wo sie die Stadt verlassen hatten. Während Dick sie noch beobachtete, erreichten sie ungehindert den Saum des kahlen Waldes, und als sie ein wenig ihre Richtung änderten, überflutete für einen Augenblick die Sonne den Trupp,
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der sich klar von dem Hintergrunde des dunklen Waldes abzeichnete. »Dunkelrot und blau!« rief Dick. »Ich möchte darauf schwören – dunkelrot und blau!« Schon stieg er die Treppe hinab. Es galt nun, den Herzog von Gloucester aufzusuchen, der in dem Drunter und Drüber aller Kräfte allein in der Lage war, ihm eine genügend starke Mannschaft zu geben. Der Kampf in der Stadt selbst war jetzt zu einem Ende gekommen; und als Dick hierhin und dorthin lief, um den Befehlshaber zu suchen, waren die Straßen voll von schwankenden Soldaten, die entweder zuviel Beute mit sich schleppten oder betrunken waren. Keiner konnte sagen, wo der Herzog zuletzt gesehen worden war. Schließlich fand ihn Dick, aber nur dank eines günstigen Zufalls, im Sattel sitzend und gerade die Befehle zur Vertreibung der Bogenschützen aus dem Hafen erteilend. »Sir Richard Shelton, Ihr kommt wie gerufen«, sagte er, »ich verdanke Euch eine Sache, die ich wenig schätze, nämlich mein Leben; und eine, die ich Euch niemals vergelten kann: diesen Sieg. Catesby, wenn ich zehn solcher Hauptleute wie Sir Richard hätte, würde ich geradewegs auf London losmarschieren. Und jetzt, Herr, fordert Eure Belohnung.« »Frei, mein Lord«, sagte Dick, »frei und offen. Es ist einer entkommen, gegen den ich einigen Groll hege, und er hat jemanden mit sich genommen, dem ich Liebe und Hilfe schuldig bin. Gebt mir also fünfzig Lanzenreiter, damit ich die Verfolgung aufnehmen kann; und alle Dankespflicht, die Euer Gnaden gegen mich zu haben glauben, ist damit vollkommen erfüllt.« »Wie heißt er?« fragte der Herzog. »Sir Daniel Brackley«, antwortete Dick. »Auf und ihm nach, diesem Doppelzüngler!« rief Gloucester. »Das soll keine Belohnung sein, Sir Richard, damit leistet Ihr mir einen neuen Dienst, und wenn Ihr mir seinen Kopf bringt, entsteht mir daraus eine neue Dankesschuld. Catesby, gebt ihm diese Lanzenreiter; und Ihr, Sir, überlegt Euch inzwischen, welche Freude, welche Ehrung oder welchen Vorteil ich Euch gewähren soll.« In diesem Augenblick griffen die Yorkschen Schützen eine von den Schenken am Strande an, umschwärmten sie von drei Seiten und trieben ihre Verteidiger heraus oder nahmen sie gefangen.
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Richard der Bucklige verfolgte den Kampf voller Freude, und nachdem er sein Pferd näher herangelenkt hatte, wollte er die Gefangenen sehen. Es waren vier oder fünf Mann, darunter zwei von Lord Shorebys und einer von Lord Risinghams Leuten und als letzter, in Dicks Augen jedoch nicht der Geringste, ein großer, ergrauter alter Seemann, der offenbar nicht ganz nüchtern war und um dessen Füße winselnd ein Hund sprang. Der junge Herzog maß sie für kurze Zeit mit kaltem Blick. »Gut«, sagte er dann. »Aufhängen.« Und er wandte sich schon auf die andere Seite, um dort den Fortgang des Kampfes zu verfolgen. »Mylord«, sagte Dick, »ich habe, wenn Ihr es erlaubt, meinen Lohn gefunden. Laßt mir zuliebe jenen alten Seemann am Leben, und schenkt ihm die Freiheit.« Gloucester drehte sich um und sah dem Sprecher ins Gesicht. »Sir Richard«, kam es von seinen Lippen, »ich führe nicht Krieg mit Pfauenfedern, sondern mit Stahlschäften. Wer mein Feind ist, den töte ich, ohne Entschuldigung und ohne Gnade. Denn bedenkt: In diesem Königreich England, das so in Stücke zerrissen ist, gibt es keinen meiner Anhänger, der nicht einen Bruder oder Freund hätte, welcher der Gegenseite angehört. Wenn ich also anfangen würde, jemandem auf diese Weise das Leben zu schenken, hätte ich mein Schwert besser in der Scheide gelassen.« »Das mag stimmen, Mylord, und doch will ich so tollkühn sein, mich auf das Versprechen Eurer Lordschaft zu berufen, selbst auf die Gefahr hin, bei Euch in Ungnade zu fallen«, versetzte Dick. Richard von Gloucester lief rot an. »Merkt es Euch wohl«, sagte er scharf, »ich liebe weder das Erbarmen selbst noch Leute, die damit hausieren. Ihr habt heute das Fundament zu Eurem großen Glück gelegt. Wenn Ihr mir mein Wort, das ich Euch gegeben habe, entgegenhaltet, gut, so will ich nachgeben. Aber, bei aller Herrlichkeit des Himmels, damit stirbt die Gunst!« »Mein ist der Verlust«, sagte Dick. »Gebt ihm den Seemann«, befahl der Herzog und wandte dem jungen Shelton den Rücken, indem er sein Pferd herumschwenkte. Dick war weder froh noch traurig. Er kannte den jungen Herzog schon zu gut, um viel auf seine Zuneigung zu geben. Das Aufkeimen und das Wachsen der Gunst, die ihm zuteil geworden,
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waren zufällig und zu rasch vor sich gegangen, als daß sie ihm allzu großes Vertrauen hätte einflößen können. Er fürchtete nur, daß der nachtragende Herzog die Überlassung der Lanzenreiter widerrufen könnte. Aber damit unterschätzte er sowohl Gloucesters Ehrbegriff als vor allem seine Entschiedenheit. Wenn er einmal in Dick den rechten Mann erkannt hatte, Jagd auf Sir Daniel zu machen, so war er nicht der Mann, seinen Entschluß zu ändern. Das bewies er nun sogleich, indem er hinter Catesby her brüllte, sich zu beeilen; denn sein Getreuer zögerte noch. In der Zwischenzeit wandte sich Dick an den alten Schiffer, der den Anschein erweckte, daß ihn sowohl das Urteil wie seine gleich darauffolgende Freilassung nicht im mindesten berührten. »Arblaster«, redete ihn Dick an, »ich handelte übel an Euch, aber jetzt glaube ich, daß ich es wiedergutgemacht habe.« Der alte Schiffsmann sah ihn ausdruckslos an und schwieg. »Kommt«, fuhr Dick fort, »ein Leben ist ein Leben, und es ist mehr wert als Schiffe oder Schnaps. Sagt, daß Ihr mir verzeiht; denn wenn Euch auch Euer Leben nichts mehr wert ist, so hat es mich doch mein Glück gekostet. Kommt, ich habe teuer dafür bezahlt; seid nicht so hart.« »Wenn ich mein Schiff gehabt hätte«, sagte Arblaster, »wäre ich weggekommen und hätte mich auf die hohe See hinaus gerettet – mich und meinen Matrosen Tom. Aber Ihr raubtet mir mein Schiff, Gevatter, und ich bin jetzt ein Bettler, und meinen Matrosen Tom hat ein schuftiger Kerl von den Rotbraunen niedergeschossen. ›Daß dich die Pest...!‹ war sein letztes Wort, und damit entfloh seine arme Seele. Er wird nie wieder zur See fahren, mein armer Tom.« Dick war von vergeblicher Reue und von Mitleid ergriffen; er suchte nach der Hand des Schiffers, aber Arblaster entzog sich unwillig der Berührung. »Nein«, sagte er, »laßt sein. Ihr habt ein teuflisches Spiel mit mir getrieben, und das laßt Euch genügen.« Das Wort erstarb Richard in der Kehle. Er sah mit tränengetrübtem Blick den armen alten Mann, vom Schmerz wie vom Schnaps benebelt, gesenkten Hauptes durch den Schnee fortwanken. Um seine Füße winselte der unbeachtete Hund. Dick begann das verzweifelte Spiel zu verstehen, das wir im Leben spielen, und daß einmal Geschehenes durch Reue nicht geändert oder gar wiedergutgemacht werden kann.
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Aber es blieb ihm jetzt keine Zeit für müßiges Bedauern. Catesby hatte die Reiter zusammengebracht und ritt auf Dick zu, sprang ab und bot ihm sein eigenes Pferd an. »Heute morgen«, sagte er, »war ich ein bißchen eifersüchtig auf die Gunst, die Ihr fandet; sie ist nicht von langer Dauer gewesen. Jetzt aber, Sir Richard, biete ich Euch aus aufrichtigem Herzen dieses Pferd an, damit Ihr auf ihm davonreitet.« »Erlaubt mir doch einen Augenblick«, erwiderte Dick. »Worauf war diese Gunst begründet?« »Auf Euren Namen«, war Catesbys Antwort. »Es ist Mylords hauptsächlichster Aberglaube. Wenn ich Richard hieße, würde ich morgen Graf sein.« »Gut, Herr, ich danke Euch« entgegnete Dick, »und da es wenig wahrscheinlich ist, daß mir dieses große Glück weiter zuteil wird, will ich Euch gleich Lebewohl sagen. Ich will nicht behaupten, daß mir mißfallen hätte, mich auf dem Weg zum Glück zu sehen, aber ich will auch nicht behaupten, ich sei besonders traurig darüber, wenn es nun damit sein Bewenden hat. Zu herrschen und über Reichtümer zu gebieten ist sicher etwas Kostbares; aber ein Wort im Vertrauen zu Euch – Euer Herzog ist ein furchtbarer Mensch.« Catesby lachte: »Ja, wer mit dem buckligen Dick reitet, muß fest im Sattel sitzen. Nun, Gott behüte uns alle vor Unheil! Und jetzt beeilt Euch!« Dick setzte sich an die Spitze seiner Schar und gab den Befehl zum Reiten. Er zog mitten durch die Stadt und schlug die Richtung ein, die Sir Daniel vermutlich genommen hatte. Dabei hielt er nach irgendwelchen Anzeichen Ausschau, die ihm bestätigen könnten, daß er auf dem rechten Weg sei. Auf den Straßen lagen Tote und zahlreiche Verwundete, deren Los bei dem strengen Frost bei weitem am bemitleidenswertesten war. Banden der Sieger gingen, manchmal mit Gesang, plündernd und schändend von Haus zu Haus. Als der junge Shelton weiterritt, drangen aus verschiedenen Stadtvierteln Schreie an sein Ohr, durch Ausschreitungen und Vergewaltigungen hervorgerufen. Bald hörte man die Schläge des Vorschlaghammers an verrammelte Türen und dann wieder das entsetzliche Geschrei von Frauen. In Dick war das Gewissen erwacht. Er hatte soeben die grausamen Folgen seiner eigenen Tat erkannt; nun erfüllte ihn der
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Gedanke an das volle Maß des Elends, das jetzt über ganz Shoreby hereinbrach, mit Verzweiflung. Schließlich erreichten sie die Häusergrenze, und dort erkannte er gerade vor sich die breite Spur durch den Schnee, die er bereits von der Plattform des Kirchturms aus bemerkt hatte. Er beschleunigte seinen Trab, hatte aber im Vorbeireiten doch ein wachsames Auge auf die gefallenen Männer und Pferde, die neben der Spur lagen. Viele von ihnen – das stellte er mit Erleichterung fest – trugen Sir Daniels Farben, und bei einigen, die auf dem Rücken lagen, konnte er sogar die Gesichter erkennen. Etwa auf halbem Wege zwischen der Stadt und dem Walde waren jene, die er verfolgte, offenbar von Bogenschützen angegriffen worden, denn die Leichen lagen hier ziemlich dicht gesät, und jede hier war von einem Pfeil durchbohrt. Und nun erkannte Dick unter den übrigen den Körper eines ganz jungen Burschen, dessen Gesicht irgendwie quälende Erinnerungen in ihm weckte. Er ließ haltmachen, sprang ab und ergriff die Hände des jungen Menschen. Dabei fiel der Hut zurück, und eine Fülle langen braunen Haares löste sich. Zugleich schlug der Junge die Augen auf. »Ah, Löwenjäger!« sagte eine schwache Stimme, »sie ist schon weiter voraus. Reitet – reitet nur tüchtig!« Und dann wurde die arme junge Lady wieder von einer Ohnmacht befallen. Einer von Dicks Leuten hatte eine Flasche mit einer kräftigen Herzstärkung bei sich, und damit gelang es Dick, sie wieder zu Bewußtsein zu bringen. Dann nahm er Johannas Freundin zu sich auf den Sattelbogen und ritt von neuem dem Walde zu. »Warum nehmt Ihr mich mit?« fragte das Mädchen. »Ihr vermindert damit nur Eure Geschwindigkeit.« »Nein, Fräulein Risingham«, erwiderte Dick. »Shoreby ist voll Blut, Trunkenheit und Zügellosigkeit. Unter meinem Schutz seid Ihr sicher. Beruhigt Euch.« »Ich will keinem von Eurer Partei zu Dank verpflichtet sein«, schrie sie, »laßt mich absteigen.« »Gnädiges Fräulein, Ihr wißt nicht, was Ihr sagt«, entgegnete Dick. »Ihr seid verwundet...« »Ich nicht«, erklärte sie. »Mein Pferd wurde getötet.«
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»Das ändert nicht ein Jota«, entschied Dick. »Ihr seid hier mitten im Schnee und ringsum von Feinden umgeben. Ob Ihr wollt oder nicht, ich nehme Euch mit. Ich bin froh, die Gelegenheit zu haben; denn so kann ich einen Teil unserer Schuld ausgleichen.« Sie schwieg für eine kleine Weile. Dann fragte sie plötzlich: »Mein Oheim?« »Lord Risingham? Ich wollte, ich könnte Euch gute Nachrichten geben, gnädiges Fräulein, aber ich habe keine. Ich sah ihn nur einmal während des Kampfes, nur dieses eine Mal. Laßt uns das Beste hoffen.«
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Fünftes Kapitel Nacht in den Wäldern
Es war fast sicher, daß sich Sir Daniel nach seinem Wasserschlosse aufgemacht hatte; aber bei dem starken Schneefall und der vorgerückten Stunde sowie bei der Notwendigkeit, die wenigen Wege zu vermeiden und sich quer durch den Wald zu schlagen, war es ebenso sicher, daß er nicht hoffen konnte, es vor dem nächsten Tage zu erreichen. Es gab für Dick zwei Möglichkeiten: entweder der Fährte des Ritters weiter zu folgen und ihn, wenn möglich, noch in der Nacht in seinem Lager zu überfallen – oder einen eigenen Weg einzuschlagen und so zu versuchen, mit seinen Leuten zwischen Sir Daniel und sein Ziel zu kommen. Gegen beide Pläne sprachen gewisse Bedenken, und Dick, der es nicht darauf ankommen lassen wollte, Johanna der Gefahr eines Gefechtes auszusetzen, war noch unschlüssig, als er schon den Waldrand erreichte. Von hier aus hatte sich Sir Daniel ein wenig nach links gewandt und war geradewegs in einem Gehölz von sehr hohen Bäumen untergetaucht. Um zwischen den Bäumen durchzukommen, hatten sich seine Reiter enger aneinandergeschlossen, und so war ihre Spur im Schnee entsprechend tiefer und schmaler. Dicks Auge folgte ihr geradeaus unter dem kahlen Geäst der Eichen. Kein Geräusch von Mensch und Tier war zu hören, nicht einmal das Flattern eines Rotkehlchens, und zwischen den schwarzen Schatten, die das knorrige Astwerk auf den schneeweißen Boden malte, lag silbern die Wintersonne. »Was meint Ihr«, fragte Dick einen von den Reitern, »sollen wir ihnen weiter folgen oder quer durch nach Tunstall reiten?« »Sir Richard«, riet der Reisige, »ich würde den Spuren folgen, bis sie sich zerstreuen.« »Ihr habt zweifellos recht«, gab Dick zu, »so kommen wir so schnell ans Ziel, wie es die Umstände gebieten. Hier sind keine Häuser, es gibt keine Verpflegung und kein Unterschlupf, und wir werden beim Morgengrauen nichts als eiskalte Finger und einen
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leeren Magen haben. Was meint ihr, Kameraden? Wollt ihr des Erfolges wegen Not leiden, oder sollen wir uns nach Holywood wenden und bei der Mutter Kirche zu Abend essen? Da die Sache wirklich zu überlegen ist, will ich keinen Mann drängen; aber wenn ihr euch von mir führen lassen wollt, würdet ihr das erste wählen müssen.« Die Männer erklärten, fast wie aus einem Munde, daß sie Sir Richard folgen wollten, wohin er wolle. Und Dick gab seinem Pferde die Sporen, und es ging wieder vorwärts. Der Schnee in der Spur war festgetreten, und die Verfolger befanden sich dadurch den Verfolgten gegenüber stark im Vorteil. Sie konnten einen flotten Trab einschlagen. Dabei vereinte sich das Stampfen von zweihundert Hufen auf der vom Schnee gebildeten Pflasterung mit dem Waffengeklirr und dem Schnauben der Pferde unter dem Ästegewölb des Waldes zu kriegerischem Lärm. Plötzlich bog die breite Fährte der Verfolgten in die Heerstraße nach Holywood ein, so daß sie für eine kurze Strecke nicht mehr zu erkennen war. Als sie dann wieder in den unzerstampften Schnee auf der andern Seite führte, war sie zu Dicks Überraschung schmaler und zugleich viel weniger festgestampft. Offenbar hatte Sir Daniel seine Schar bereits auf der Straße aufgelöst. Da die eine Chance so viel Erfolg versprach wie die andere, verfolgte Dick die gerade Spur weiter. Diese aber zersplitterte sich nach einstündigem Weiterreiten in die finstersten Tiefen des Waldes plötzlich wie eine zerplatzte Granate in zwei Dutzend andere, die nach allen Richtungen der Windrose führten. Dick hielt verzweifelt sein Pferd an. Der kurze Wintertag ging fast schon zu Ende. Die Sonne schwamm, ihrer Strahlen beraubt, wie eine trübrote Orange zwischen den kahlen Bäumen, und der Schnee war nicht mehr weiß, sondern schien schon grau in der beginnenden Dämmerung. Der Frost biß grausam auf den Fingernägeln, und Atem und Dampf der Pferde stiegen in Wolken in die eisige Luft. »Nun, wir sind überlistet«, mußte Dick eingestehen. »Laßt uns trotzdem den Weg nach Holywood einschlagen. Es liegt näher als Tunstall, nach dem Stand der Sonne zu urteilen.« So schwenkten sie nach links ab, wandten dem roten Schild der Sonne den Rücken und ritten querfeldein auf das Kloster zu. Aber jetzt konnten sie nicht mehr flott auf einem Pfade dem Ziele
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zutraben, der durch die vorauseilenden Feinde festgestampft worden war. Jetzt mußten sie sich in träger Gangart durch den hinderlichen Schnee hindurchpflügen und dabei häufig anhalten, um die Richtung zu bestimmen, oder sich durch Schneewehen hindurcharbeiten. Die Sonne hatte sie bald verlassen, schon schwand auch das Abendrot, und dann umfing sie eine Dunkelheit, durch die nur das kalte Sternenlicht drang. Schließlich mußte ja der Mond hinter den Hügeln hervorkommen, und dann würden sie wieder eine schnellere Gangart einschlagen können. Bis dahin aber mußte sie jeder Schritt aufs Geratewohl nur weiter vom Wege abbringen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu lagern und zu warten. Es wurden Wachen aufgestellt und ein geeigneter Platz vom Schnee gesäubert; und nach einigen Versuchen loderte in der Mitte ein wohltuendes Feuer. Die Reisigen setzten sich dicht um dieses Lagerfeuer, teilten unter sich, was sie noch an Vorräten hatten, und ließen die Flasche rundum gehen. Dick brachte das Beste, was er von dieser rauhen und dürftigen Kost zusammenbringen konnte, der Nichte Lord Risinghams, die ein wenig abseits gegen einen Baum lehnte. Sie saß auf einer Pferdedecke, war in eine zweite eingewickelt und starrte vor sich hin auf die vom Feuer erhellte Szene. Als ihr das Essen angeboten wurde, fuhr sie zusammen wie jemand, der aus einem Traum erwacht, und lehnte schweigend ab. »Gnädiges Fräulein«, sagte Dick, »ich bitte Euch, bestraft mich nicht so grausam. Wodurch ich Euch beleidigt habe, weiß ich nicht. Ich habe Euch zwar mit mir genommen, aber mit freundlichem Zwang. Ich habe Euch allerdings der Unbill der Nacht ausgesetzt; aber die Hast, die mich beflügelt, hat die Rettung einer anderen zum Ziel, die nicht weniger zart und nicht weniger freudlos ist als Ihr. Ihr schadet schließlich nur Euch selbst, Fräulein; daher eßt, und wenn nicht aus Hunger, so doch, um neue Kraft zu schöpfen.« »Ich werde nichts aus den Händen dessen nehmen, der meinen Verwandten erschlug«, gab sie zur Antwort. »Liebes Fräulein«, rief Dick, »ich schwöre Euch beim Kreuz, daß ich ihn nicht angerührt habe.« »Schwört mir, daß er noch am Leben ist«, entgegnete sie darauf.
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»Ich will nicht mit Euch feilschen«, erklärte jetzt Dick. »Das Mitleid verbietet mir, Euch zu verletzen. Aber mein Herz sagt mir, daß er in der Schlacht getötet worden ist.« »Und Ihr verlangt von mir, daß ich essen soll!« brach es aus ihr hervor. »Ach, und man nennt Euch ›Sir‹! Ihr habt Euch die Sporen erworben, indem Ihr meinen guten Verwandten erschlugt. Und wäre ich nicht zugleich Törin und Verräterin gewesen, dadurch, daß ich Euch im Hause Eures Feindes rettete, so wäret Ihr schon tot, und er – er, der zwölfmal soviel wert war wie Ihr – wäre noch am Leben.« »Ich tat nur mein Bestes, ebenso wie Euer Verwandter auf der anderen Seite«, beteuerte Dick. »Wenn er noch lebte – ich gelobe es bei Gott, daß ich dies wünsche! –, so würde er mich loben und nicht tadeln.« »Sir Daniel hat es mir berichtet«, fuhr sie fort. »Er bemerkte Euch an der Barrikade. An Euch, so hat er gesagt, scheiterte ihre Partei; Ihr wäret es, der die Schlacht gewann. Nun, so wäret Ihr es also, der meinen guten Lord Risingham getötet hat, so sicher, als wenn Ihr ihn selbst erwürgt hättet. Und Ihr wollt, daß ich mit Euch essen soll, da Eure Hände noch nicht einmal von der Blutarbeit gewaschen sind? Aber Sir Daniel hat geschworen, Euch zugrunde zu richten. Er wird mich rächen!« Dick war sehr unglücklich und versank in Trübsinn. Der alte Arblaster kam ihm wieder in den Sinn, und er stöhnte laut. »Für so schuldig haltet Ihr mich?« fragte er, »Ihr, die Ihr mich verteidigt habt und die Ihr Johannas Freundin seid?« »Was suchtet Ihr in der Schlacht?« entgegnete sie bitter. »Ihr gehört zu keiner Partei; Ihr seid bloß ein Bursche ohne Beherrschung durch Verstand oder Klugheit! Warum kämpftet Ihr? Aus Freude am Totschlagen, bei Gott!« »Ach«, rief Dick, »ich weiß es nicht. Aber das ist der Lauf der Dinge im Königreich England. Ein armer Edelmann, wenn er nicht auf der einen Seite kämpft, muß notgedrungen auf der anderen fechten. Er kann sich nicht absondern, so etwas gibt es nicht.« »Wer kein Urteilsvermögen hat, sollte nicht das Schwert ziehen«, sagte darauf die junge Lady. »Ihr kämpftet nur auf gut Glück. Was seid Ihr also anders als ein Mörder? Der Krieg kann nur durch seinen Grund gerechtfertigt werden, und Ihr selbst habt diesen Grundsatz geschändet.«
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»Gnädiges Fräulein«, sagte Dick, dem ganz elend zumute war, »ich sehe bis zu einem gewissen Grade meinen Irrtum ein. Ich habe übereilt gehandelt. Ich habe mich zu früh betätigt. Ich stahl ein Schiff in der Überzeugung – das schwöre ich –, gut zu handeln, und verschuldete dadurch nur den Tod manchen Unschuldigen und das Herzeleid und den Ruin eines bedauernswerten alten Mannes, dessen Anblick mich heute wie ein Dolchstoß traf. Heute morgen hatte ich nur im Sinn, mir Ehre zu erwerben und mich mit Ruhm zu bedecken, um heiraten zu können; und seht, ich habe den Tod Eures lieben Verwandten, der mir zugetan war, heraufbeschworen. Und was ich sonst noch verschuldet habe, weiß ich nicht. Denn, ach! Ich wollte, daß York auf den Thron gelangt, und das könnte die Schlimmere Sache sein und England Schaden bringen. Oh, Fräulein, ich sehe meine Sünde ein. Ich tauge nicht für das Leben. Ich werde aus Reue und, um größeres Übel zu vermeiden, wenn nur erst dieses Abenteuer beendet ist, in ein Kloster eintreten. Ich werde Johanna und dem Waffenrock entsagen. Ich werde Mönch werden und täglich für die Seele Eures guten Oheims beten.« Als Dick in seiner Demütigung und Reue so weit ging, war ihm, als ob die junge Dame gelacht hätte, und wie er sein Gesicht erhob, bemerkte er beim Schein des Feuers, daß sie mit einem seltsamen, aber nicht unfreundlichen Ausdruck auf ihn blickte. »Fräulein«, rief er, in der Annahme, daß ihr Lachen eine Sinnestäuschung gewesen war, und infolge ihrer veränderten Mienen dennoch voller Hoffnung, ihr Herz berührt zu haben, »Fräulein, kann Euch dies nicht zufriedenstellen? Ich will alles Üble, was ich getan habe, wiedergutmachen. Ich will Lord Risingham die ewige Seligkeit sichern. Und all das an eben dem Tage, an dem ich mir meine Sporen erworben und geglaubt habe, der glücklichste junge Herr auf Erden zu sein.« »Oh, Junge«, sagte sie, »lieber Junge!« Und dann wischte sie, zu Dicks höchster Überraschung, erst ganz zärtlich die Tränen von seinen Wangen, und dann, als ob sie einem plötzlichen Impuls nachgebe, legte sie beide Arme um seinen Nacken, zog sein Gesicht an sich und küßte ihn. Eine Gefühlsverwirrung überkam den harmlosen Dick. »Nun aber«, sagte sie ganz aufgeräumt, »müßt Ihr essen, da Ihr ein Befehlshaber seid. Warum eßt Ihr nicht?« »Liebes Fräulein Risingham«, antwortete Dick, »ich wartete nur darauf, daß erst mein Gefangener essen würde; aber, um die
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Wahrheit zu sagen, die Reue erlaubt es mir nicht, den Anblick von Speisen zu ertragen. Ich täte besser daran zu fasten, liebe Lady, und zu beten.« »Nennt mich Alicia«, sagte sie, »sind wir nicht alte Freunde? Und jetzt vorwärts, ich will mit Euch essen, Bissen um Bissen und Schluck um Schluck. Ich werde nicht essen, wenn Ihr nicht eßt; wenn Ihr aber herzhaft zugreift, so will ich wie ein Ackersmann essen.« So griff sie zu, und Dick leistete ihr, da er grenzenlosen Hunger verspürte, ständig Gesellschaft. Nach anfänglichem Widerwillen aß er jedoch, je mehr er in Stimmung kam, mit wachsender Kraft und Hingebung. Zuletzt vergaß er sogar, auf sein Vorbild zu achten, und hielt sich ganz herzhaft dafür schadlos, was ihn dieser Tag an Anstrengung und Aufregungen gekostet hatte. »Löwenjäger«, sagte sie endlich, »Ihr schätzt wohl ein Mädchen in Männertracht nicht sehr?« Der Mond stand nun am Himmel, und sie warteten nur noch, bis sich die ermüdeten Pferde ausgeruht hatten. Beim Mondenschein bemerkte der noch reuige, aber jetzt wohlgesättigte Dick, daß sie ein wenig kokett auf ihn herabsah. »Fräulein«, stammelte er, überrascht von diesem neuen Zug in ihrer Art. »Ach«, unterbrach sie, »es hat keinen Zweck, es zu leugnen. Johanna hat es mir erzählt. Aber sagt mir doch, Sir Löwenjäger, seht mich an: Bin ich so häßlich? – Sagt!« Und sie sah ihn mit strahlenden Augen an. »Ihr seid etwas klein, in der Tat« – begann Dick. Und auch jetzt unterbrach sie ihn sogleich, diesmal mit einem schallenden Gelächter, das seine Verwirrung noch vermehrte. »Klein!« rief sie aus. »Nun, jetzt seid so ehrlich, wie Ihr kühn seid. Ich bin ein Zwerg, oder ein bißchen besser; aber bei all dem – nun sagt mir, bei all dem leidlich hübsch anzusehen, nicht wahr?« »Ja, gnädiges Fräulein, außerordentlich hübsch«, sagte der bedrängte Ritter, der krampfhaft versuchte, gleichmütig zu erscheinen. »Und ein Mann würde recht glücklich sein, mich zu heiraten?« »Oh, gewiß, Fräulein, sehr glücklich!« bestätigte Dick. »Nennt mich Alicia«, sagte sie. »Alicia«, wiederholte Dick gehorsam.
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»Nun also, Löwenjäger«, fuhr sie fort, »da Ihr meinen Onkel erschlüget und mich ohne Stütze ließet, so schuldet Ihr mir jede Art von Wiedergutmachung; ist es nicht so?« »Gewiß, Fräulein«, mußte Dick zugeben. »Allerdings fühlte ich mich wirklich nur teilweise schuldig an dem Blute dieses tapferen Ritters.« »Wollt Ihr mir ausweichen?« rief sie. »Fräulein, das nicht. Ich habe Euch alles gesagt; wenn Ihr es gebietet, will ich sogar Mönch werden«, sagte Richard. »Dann seid Ihr also in allen Ehren mein Eigentum?« folgerte sie. »In Ehren, Fräulein, ich setze voraus...«, begann der junge Mann. »Ach, geht!« unterbrach sie, »Ihr wollt mir immer ausweichen; Ihr gehört mir, bis Ihr Eure Schuld bezahlt habt.« »In Ehren, ja«, sagte Dick. »Hört also«, fuhr sie fort. »Ihr würdet, scheint mir, einen schlechten Mönch abgeben; und da ich nach Belieben über Euch verfügen kann, so werde ich Euch eben zum Gatten nehmen. Bitte, jetzt keine Worte!« rief sie, »sie nützen Euch nichts. Denn seht, wie gerecht es ist, daß Ihr, der mich der einen Heimat beraubt hat, mich durch eine neue entschädigt. Und was Johanna betrifft, so wird sie die erste sein, glaubt mir, die den Wechsel loben wird; denn da wir liebe Freundinnen sind, ist es doch ganz gleich, mit welcher Ihr Euch vermählt.« »Fräulein«, sagte Dick, »ich werde in ein Kloster gehen, wenn es Euch gefällt, es mir zu befehlen. Aber irgendeine außer Johanna Sedley auf dieser weiten Welt zu heiraten, das ist etwas, worauf ich nicht eingehen kann, weder unter dem Zwang eines Mannes noch einer Dame zuliebe. Verzeiht mir, wenn ich meine klaren Gedanken klar ausspreche; aber wo ein Mädchen sehr kühn ist, da muß ein Mann eben noch um so kühner sein.« »Dick«, sagte sie, »Ihr süßer Junge, Ihr müßt mir für dieses Wort einen Kuß geben. Nein, fürchtet Euch nicht, Ihr sollt mich anstelle Johannas küssen. Und wenn wir uns finden, werde ich ihr den Kuß wiedergeben und ihr sagen, daß ich ihn gestohlen habe. Und was Eure Schuldigkeit betrifft, nun, lieber Einfältiger, so will ich bedenken, daß Ihr nicht allein in diesem großen Kampfe wäret. Selbst wenn York schon auf dem Thron säße, so wäret Ihr es nicht, der ihn daraufsetzte. Ihr habt ein gutes, liebes, redliches Herz, Dick, und wenn es in meiner Art läge, Eurer Johanna etwas zu mißgönnen, so würde ich ihr Eure Liebe mißgönnen.«
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Sechstes Kapitel Dick und Johanna
Die Pferde hatten um diese Zeit den geringen Futtervorrat aufgezehrt und sich völlig von ihren Strapazen erholt. Dick ließ das Feuer mit Schnee ersticken, und während seine Leute wieder müde in den Sattel stiegen, suchte er sich, wenn auch ein wenig spät, nach der im Waldlande üblichen Vorsichtsmaßregel eine hohe Eiche und kletterte flink bis zum höchsten Ast empor. Von hier aus konnte er den verschneiten und im Mondlicht glänzenden Wald weithin überschauen. Im Südwesten erstreckte sich vor dem dunklen Horizont jenes mit Heide bedeckte Hügelland, wo er und Johanna das grauenhafte Erlebnis mit dem »Aussätzigen« gehabt hatten. Dort blieb sein Auge auf einem rötlich leuchtenden Fleck haften, der nicht größer als ein Stecknadelkopf war. Er machte sich jetzt wegen seiner Nachlässigkeit heftige Vorwürfe. Wenn da, wie es den Anschein hatte, der Schein von Sir Daniels Lagerfeuer war, dann hätte er es längst sehen und darauf losmarschieren müssen. Vor allem hätte er unter keinen Umständen durch Anzünden eines eigenen Feuers seine Annäherung verraten dürfen. Jetzt durfte er nicht noch weitere wertvolle Stunden verschwenden. Das Hügelland lag mehr als zwei Meilen entfernt; aber der Weg führte durch eine sehr tiefe, steil abfallende waldige Schlucht, die für Reiter nicht passierbar war. Auch der Eile wegen schien es Dick besser, sich von den Pferden zu trennen und das Abenteuer zu Fuß fortzusetzen. Zehn Mann wurden zur Bewachung der Pferde zurückgelassen. Signale wurden verabredet, durch die sie im Notfalle miteinander in Verbindung treten konnten. Dann brach Dick an der Spitze der übrigen auf, Alicia Risingham, kräftig ausschreitend, ihm zur Seite. Die Männer hatten sich von der schweren Rüstung befreit, ihre Lanzen zurückgelassen und marschierten jetzt in sehr guter Stimmung bei dem erheiternden Mondlicht auf dem vom Frost klirrenden Schnee. Der Abstieg in die Schlucht, wo ein kleiner Wasserlauf sich durch Schnee und Eis hindurcharbeitete, ging in
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Ruhe und Ordnung vor sich. Auf der anderen Seite angelangt, waren sie nur noch eine knappe halbe Meile von jener Stelle entfernt, die Dick erspäht hatte. Hier machte der Trupp halt, um vor dem Angriff noch einmal zu verschnaufen. In dem grenzenlosen Schweigen des Waldes waren auch die geringsten Geräusche weithin vernehmbar, und Alicia, begierig zu hören, hob warnend einen Finger und beugte sich vor, um zu lauschen. Alle folgten ihrem Beispiel. Aber außer dem Ächzen des vom Frost eingezwängten Wasserlaufes in der Schlucht und dem Belfern eines Fuchses in einer Entfernung von mehreren Meilen konnte Dick trotz angespanntestem Lauschen nicht einen Atemzug vernehmen. »Und doch höre ich ganz deutlich Harnischgerassel«, flüsterte Alicia. »Gnädiges Fräulein«, entgegnete Dick, der sich vor dieser jungen Dame mehr als vor zehn Kriegern fürchtete, »ich möchte nicht sagen, daß Ihr Euch irrt; aber es wird wohl von dem einen der beiden Lager gekommen sein.« »Es kam nicht von dort, es kam von Westen«, behauptete sie. »Es mag sein, was es will«, entgegnete Dick, »es wird gehen, wie es Gott gefällt. Kümmern wir uns kein Jota darum, sondern gehen wir nun um so schneller weiter und machen wir die Probe darauf. Auf, Freunde, genug verschnauft.« Je weiter sie vorrückten, um so mehr Hufspuren waren im Schnee zu sehen, und es wurde offenbar, daß diese zum Lager einer beträchtlichen Schar Berittener führten. Bald sahen sie zwischen den Bäumen Rauch aufsteigen; er war an seinem unteren Rande rötlich gefärbt und streute helle Funken aus. Jetzt begannen sich Dicks Leute nach seinem Befehl zu verteilen, krochen heimlich und gedeckt heran und schlossen das Lager ihrer Gegner von allen Seiten ein. Er selbst schlich, nachdem er Alicia unter dem Schutzdach einer mächtigen Eiche geborgen hatte, auf das Feuer zu. Schließlich umfing sein Blick das ganze Bild des Lagers. Das Feuer, das auf einem mit Heidekraut bewachsenen Hügel angezündet und auf drei Seiten von Dickicht umgeben war, brannte jetzt sehr stark, heulte laut und loderte in hellen Flammen. Um das Feuer herum, saßen, warm eingehüllt, fast ein Dutzend Leute. Obgleich der Schnee ringsum festgetreten war, blieb Dicks Umherspähen nach Pferden vergeblich. Es überkam ihn die
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schreckliche Befürchtung, daß er überlistet worden war. Zugleich erkannte er in einem großen Mann mit einer Eisenhaube, der an den Flammen seine Hände wärmte, seinen alten Freund und auch als Feind noch gütigen Bennet Hatch, und in zwei anderen, die ein wenig im Hintergrund saßen, trotz ihrer Männerkleidung Johanna Sedley und Sir Daniels Gemahlin. Gut, dachte er, selbst wenn ich meine Pferde verliere, muß ich meine Johanna wiedererlangen. Warum sollte ich klagen? Jetzt ertönte von der anderen Seite des Lagers her ein ganz leises Pfeifen, das anzeigte, daß sich seine Leute vereinigt hatten und der Ring geschlossen war. Bennet sprang bei dem Ton auf, aber ehe er nach seinen Waffen greifen konnte, begrüßte ihn Dick. »Bennet«, sagte er, »Bennet, alter Freund, ergebt Euch. Ihr werdet nur vergeblich Menschenleben vernichten, wenn Ihr Widerstand leistet.« »Es ist Junker Shelton, bei Sankt Barbara!« rief Hatch aus. »Mich ergeben? Ihr verlangt viel. Wieviel Leute habt Ihr?« »Ich sage Euch, Bennet, Ihr seid sowohl an Zahl unterlegen, als auch umzingelt«, sagte Dick. »Cäsar und Karl der Große würden um Pardon bitten. Ich habe vierzig Mann unter meinem Befehl, und mit einer Pfeilsalve könnte ich euch alle erledigen.« »Junker Dick«, sagte Bennet, »es widerstrebt meinem Herzen, aber ich muß meine Pflicht tun. Mögen die Heiligen helfen!« Und damit setzte er eine kleine Trompete an die Lippen und gab ein mächtiges Signal. Ein Augenblick der Verwirrung folgte. Während Dick aus Besorgnis um die Damen noch zögerte, den Befehl zum Schießen zu geben, liefen Hatchs wenige Leute zu den Waffen und stellten sich Rücken an Rücken zu entschlossenem Widerstand auf. In dem Wirrwarr, der jetzt entstand, sprang Johanna von ihrem Sitz auf und eilte pfeilgeschwind an die Seite ihres Liebsten. »Hier bin ich, Dick!« rief sie und ergriff seine Hand. Dick blieb unentschlossen stehen. Er war noch zu unerfahren in den beklagenswerten Notwendigkeiten des Krieges, und der Gedanke an die alte Lady Brackley erstickte jedes Kommando in seiner Kehle. Seine eigenen Leute wurden störrisch. Einige von ihnen riefen nach ihm, andere begannen, von sich aus zu schießen, und gleich der erste Schuß warf den armen Bennet Hatch zu Boden. Da erwachte Dick aus seinem Sinnen.
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»Vorwärts!« schrie er »schießt, Jungens, und nehmt Deckung. England und York!« Aber dann erklang plötzlich lauter Hufschlag von vielen Pferden aus der nächtlichen Stille, näherte sich mit unglaublicher Schnelligkeit und schwoll immer stärker an. Zugleich wiederholte sich immer und immer wieder das Antwortsignal auf den Ruf von Hatch. »Sammeln, sammeln!« rief Dick. »Her zu mir! Sammelt euch, um eures Lebens willen!« Aber seine Leute – unberitten, zerstreut, angegriffen in der Stunde, da sie auf einen leichten Sieg rechneten – begannen nicht nur vereinzelt zu weichen, sondern zogen sich sogar unschlüssig und vereinzelt in die Dickichte zurück. Und als die ersten Reiter durch die offenen Zugänge heransprengten und wütend ihre Streitrosse in das Unterholz lenkten, wurden einige der Versprengten niedergeritten oder zwischen das Buschwerk gespießt, jedoch der größte Teil von Dicks Schar hatte sich schon bei dem Lärm der Annäherung aufgelöst. Dick stand für einen Augenblick reglos und erkannte mit Bitterkeit die Früchte seiner voreiligen und unweisen Tapferkeit. Sir Daniel hatte das Feuer gesehen und war mit dem größten Teil seiner Kräfte aufgebrochen, um seine Verfolger entweder anzugreifen oder sie von hinten zu fassen, wenn sie den Angriff wagen sollten. Seine Truppe war die eines erfahrenen Anführers, Dicks Männer das Geleit eines eifrigen Jungen. Hier stand nun der junge Ritter, seinen Herzensschatz fest an der Hand. Aber sonst war er allein, sein ganzer Trupp von Männern und Pferden in dem nächtlichen, weiten Walde zerstreut, wie Nadeln in einem Heuschober. Daß die Heiligen mich erleuchten mögen! dachte er. Es ist gut, daß ich für die Tat von heute morgen zum Ritter geschlagen wurde; dies bringt mir wenig Ehre. Und darauf begann er zu laufen, wobei er Johanna immer noch festhielt. Die Stille der Nacht wurde jetzt von den Rufen der Männer von Tunstall durchbrochen, als sie hierhin und dorthin galoppierten, um hinter Flüchtenden herzujagen. Dick brach kühn durch das Unterholz und lief wie ein Reh. Das silbrige Mondlicht auf dem weißen Schnee ließ die Finsternis der Dickichte um so dichter erscheinen. Die Jagd nach den Überwältigten führte die Verfolger
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in weit auseinandergehende Richtungen. Deshalb wagten Dick und Johanna für eine kleine Weile in einem dichten Versteck zu rasten und hörten nun, wie der Lärm der Verfolgung, der sich in alle Richtungen ausbreitete, bereits in der Ferne verebbte. »Wenn ich doch eine Reserve zusammengehalten hätte,« rief Dick voller Bitterkeit aus, »dann hätte ich das Blatt wenden können! Nun, wir leben und lernen; das nächste Mal wird es besser gehen, beim Kreuz.« »Ach, Dick«, sagte Johanna, »was tut es? Hier sind wir wieder einmal beisammen.« Er sah sie an, und da stand sie – John Matcham, wie damals, in Hose und Wams. Aber jetzt kannte er sie. Jetzt kannte er sie sogar in dem seltsamen Anzug; sie lächelte ihn an, strahlend vor Liebe, und sein Herz war hingerissen vor Freude. »Liebste«, sagte er, »wenn Ihr diesem Toren vergebt, was brauche ich mich dann zu sorgen? Gehen wir geradewegs nach Holywood, wo Euer guter Vormund und mein gütiger Freund Lord Foxham liegt. Dort wollen wir uns trauen lassen. Ob wir arm sind oder reich, berühmt oder unbekannt – was tut es? Heute, mein teures Herz, erwarb ich mir die Sporen; ich wurde wegen meiner Tapferkeit von bedeutenden Männern gerühmt und hielt mich selbst für den größten Kriegsmann in ganz England. Dann ging ich der Gunst eines Mächtigen wieder verlustig und bin nun geschlagen worden und habe alle meine Soldaten verloren. Das war gewiß ein Sturz! Aber, Liebste, ich mache mir keine Sorgen; wenn Ihr mich noch liebt und mich heiraten wollt, legte ich meine ganze Ritterschaft ab und gäbe nicht ein Jota darum.« »Mein Dick!« rief sie aus. »Und Ihr wurdet zum Ritter geschlagen?« »Ja, mein Herz, und Ihr seid jetzt meine Lady«, antwortete er liebevoll, »oder Ihr werdet es sein, vor morgen mittag – wollt Ihr nicht?« »Das will ich, Dick, mit freudigem Herzen«, bestätigte sie. »Wirklich Herr? Ich dachte, Ihr müßtet Mönch werden!« klang ihnen eine Stimme in den Ohren. »Alicia!« rief Johanna. »Ja, sie ist es«, erwiderte die junge Lady und trat vor. »Alicia, die Ihr als tot zurückließet, die Euer Löwenjäger fand und wieder ins Leben zurückrief und der er wahrhaftig den Hof machte – wenn Ihr es zu wissen wünscht.«
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»Ich kann es nicht glauben«, rief Johanna aus, »Dick?« »Dick?« ahmte Alicia nach. »Dick, in der Tat! Ja, edler Herr, und Ihr verlaßt arme Mädchen in der Not«, fuhr sie, zu dem jungen Ritter gewandt, fort, »Ihr laßt sie einfach stehen. Jene müssen wohl recht haben, die behaupten, daß das Zeitalter der Ritterlichkeit vorbei sei.« »Gnädiges Fräulein«, rief Dick verzweifelt, »bei meiner Seele, ich hatte Euch ganz und gar vergessen. Fräulein, Ihr müßt versuchen, mir zu vergeben. Seht, ich habe Johanna wiedergefunden!« »Ich nahm nicht an, daß Ihr es absichtlich getan habt«, erwiderte sie. »Aber ich werde grausam geächtet werden. Ich möchte Lady Shelton ein Geheimnis anvertrauen, ihr, die bald Lady Shelton werden wird«, fügte sie mit einem Knicks hinzu. »Johanna«, fuhr sie dann fort, »ich glaube wirklich, Euer Schatz ist ein kühner Bursche im Gefecht, aber er ist, laßt mich das offen aussprechen, der weichherzigste Tropf in England! Wohlan, Ihr könnt Euer Vergnügen mit ihm haben! Und jetzt, närrische Kinder, erst küßt mich, jeder von euch, vor Glück, aus Zuneigung, dann küßt euch, dann laßt uns alle drei, so schnell wir können, nach Holywood aufbrechen; denn diese Wälder sind voll von Gefahren und ungewöhnlich kalt.« »Aber, machte Euch mein Dick den Hof?« fragte Johanna, wobei sie sich an ihren Liebsten anschmiegte. »Aber nein, närrisches Mädchen«, erwiderte Alicia, »ich suchte ihn in meine Netze zu ziehen. Ich bot ihm allerdings an, mich zu heiraten, aber er hieß mich gehen, um meinesgleichen zu heiraten. Das waren seine Worte, Ach, das will ich Euch noch sagen: Er ist ehrlicher, als er angenehm ist. Aber jetzt, Kinder, macht euch um der Vernunft willen auf den Weg. Sollen wir noch einmal durch die Schlucht gehen oder uns geradewegs nach Holywood begeben?« »Nun«, sagte Dick, »ich möchte gar zu gerne auf einem Pferd sitzen; denn ich bin in diesen Tagen auf gar manche Art arg geschunden und zerschlagen worden, so daß mein armer Körper eine einzige Beule ist. Aber wie denkt Ihr? Wenn die Männer auf den Gefechtslärm hin geflohen sind, würden wir vergeblich einen Umweg machen. Geradeaus sind es nur drei kurze Meilen nach Holywood. Die Uhr hat noch nicht neun geschlagen, der Schnee ist schön fest, um darauf zu gehen, und der Mond scheint hell; wie, wenn wir so gingen, wie wir sind?« »Einverstanden!« rief Alicia;
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aber nur Johanna ergriff Dicks Arm. Damit brachen sie auf; durch offenes, kahles Gehölz und tief in Schnee gehüllte Baumreihen unter dem silberhellen Licht des winterlichen Mondes gingen Dick und Johanna Hand in Hand in einem Himmel voller Seligkeit. Ihre wohlgemute Gefährtin folgte, das Gefühl ihrer eigenen schmerzlichen Verlassenheit tapfer bekämpfend, einen oder zwei Schritte hinter ihnen und hielt bald die beiden wegen ihres Schweigens zum besten, bald wieder malte sie ihnen Bilder ihrer gemeinsamen glücklichen Zukunft aus. Noch waren allerdings in einiger Entfernung vom Walde die Reiter von Tunstall zu hören, wie sie die Verfolgung fortsetzten, und von Zeit zu Zeit zeigten Schreie oder Waffengeklirr den Zusammenstoß von Feinden an. Aber in diesen jungen Menschen, die mitten in den Wirren des Krieges aufgewachsen waren und eben erst so viele Gefahren bestanden hatten, konnten weder Furcht noch Mitleid Raum finden. Zufrieden, daß der Lärm sich immer weiter wegzog, überließen sie sich dem Zauber dieser Stunde und schritten – wie Alicia sich ausdrückte – gleichsam im Hochzeitszuge dahin. Weder die rauhe Einsamkeit des Waldes noch die Kälte der frostigen Nacht vermochten ihre Seligkeit zu überschatten oder zu stören. Endlich sahen sie von einer Anhöhe aus das Tal von Holywood. Die großen Fenster des Waldklosters erstrahlten von Fackeln und Kerzen. Die hohen Türme und Spitzsäulen erhoben sich klar und ruhig, und das goldene Kreuz auf der höchsten Spitze glitzerte hell im Mondschein. Überall brannten Lagerfeuer, und der Boden war mit Zelten besät. In der Mitte sahen sie das gewundene Bett des vom Froste starren Flusses. »Bei den Heiligen«, sagte Dick, »da lagern noch Lord Foxhams Scharen. Der Bote ist gewiß in die Irre gegangen. Nun, um so besser. So haben wir Macht zur Hand, Sir Daniel die Stirn zu bieten.« Aber Lord Foxhams Leute lagerten aus einem ganz anderen Grunde noch auf dem Werder bei Holywood. Sie waren in der Tat nach Shoreby marschiert. Aber ehe sie sich noch auf halbem Wege befanden, erreichte sie ein zweiter Bote mit dem Befehl, an die Stelle ihres Morgenlagers zurückzukehren, um die Straße für Lancastersche Flüchtlinge zu sperren und so der Hauptarmee von York viel näher zu sein. Denn als Richard von Gloucester die Schlacht beendet und seine Feinde in dieser Gegend
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vernichtet hatte, marschierte er schon bald weiter, um sich mit seinem Bruder zu vereinigen; und kurz nach der Rückkehr der Truppen Lord Foxhams stieg der Bucklige selbst vor der Klosterpforte vom Pferde. Zu Ehren dieses hohen Gastes strahlten die Fenster im Lichterglanz; und um dieselbe Stunde, da Dick mit seiner Geliebten und ihrer Freundin anlangte, wurde das ganze herzogliche Gefolge mit aller Freigebigkeit dieses mächtigen und üppigen Klosters bewirtet. Dick wurde, nicht ganz mit seinem Einverständnis, vor sie gebracht. Gloucester, krank von den Strapazen, saß da, sein bleiches und furchterregendes Gesicht in eine Hand gestützt; Lord Foxham, von seiner Verwundung erst halb wieder genesen, saß auf einem Ehrenplatz zu seiner Linken. »Nun, Sir?« fragte Richard, »bringt Ihr mir Sir Daniels Kopf?« »Mylord Herzog«, erwiderte Dick tapfer, aber mit einem plötzlichen Herzklopfen, »ich habe nicht einmal das Glück, mit meiner Abteilung zurückzukehren. Ich wurde – Euer Gnaden mögen mir verzeihen – wirklich geschlagen.« Gloucester sah ihn mit einem furchtbaren Stirnrunzeln an. »Ich gab Euch fünfzig Lanzenreiter16, Sir«, sagte er. »Mylord, ich hatte nur fünfzig Reiter«, erwiderte der junge Ritter. »Wie steht es damit?« fragte Gloucester. »Er bat um fünfzig Lanzen.« »Mit Verlaub, Euer Gnaden«, erklärte Catesby geschmeidig, »für die Verfolgung gaben wir ihm nur die Reiter.« »Es ist gut«, versetzte Richard, »Shelton, Ihr könnt gehen.« »Halt!« sagte Lord Foxham. »Der junge Mann hatte auch von mir einen Auftrag. Es kann sein, daß er diesen besser erfüllt hat. Sagt, Junker Shelton, habt Ihr das Mädchen gefunden?« »Gott sei gelobt, Mylord«, erwiderte Dick, »sie ist in diesem Hause.« »Wirklich? Gut! Dann, Mylord Herzog«, fuhr Lord Foxham fort, »schlage ich mit Eurer Billigung für morgen, ehe die Armee abrückt, eine Vermählung vor. Dieser junge Herr...« »Junge Ritter«, unterbrach Catesby. »Was sagt Ihr, Sir William?« rief Lord Foxham. »Ich selbst schlug ihn für einen guten Dienst zum Ritter«, sagte Gloucester. »Er hat mir zweimal mannhaft gedient. Ihm fehlt nicht die Tapferkeit in Taten, sondern das Herz von Eisen. Er wird nicht
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hoch steigen, Lord Foxham. Er ist ein Mensch, der ohne Zweifel in einem Handgemenge tapfer seinen Mann stehen wird, aber sein Herz ist einfältig. Indessen, wenn er heiraten will, dann verheiratet ihn in Marias Namen!« »Ja, er ist ein tapferer Junge – ich weiß es«, sagte Lord Foxham. »Beruhigt Euch, Sir Richard, ich habe die Sache mit Junker Hamley ins reine gebracht, und morgen könnt Ihr heiraten.« Worauf Dick es für klug hielt, sich zu entfernen; aber er war noch nicht ganz aus dem Refektorium17, als ein Mann, der soeben erst vor dem Tor abgesessen war, die Treppe hinaufstürzte und durch die Klostergeistlichen hindurch auf den Herzog zueilte, vor dem er sogleich ein Knie beugte. »Sieg, Mylord«, rief er aus. Und ehe Dick in das Zimmer gelangt war, das man ihm als Lord Foxhams Gast bereitgestellt hatte, brachen die um ihre Feuer auf dem Werder gelagerten Truppen in Freudengeschrei aus. An demselben Tage hatte, keine zwanzig Meilen entfernt, ein zweiter vernichtender Schlag die Heeresmacht der Lancasterschen Partei getroffen.
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Siebentes Kapitel Dicks Rache
Am nächsten Morgen war Dick schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Nachdem er sich mit Hilfe von Lord Foxhams Bagage möglichst vorteilhaft gekleidet und gute Nachrichten von Johanna empfangen hatte, ging er umher, um seine Ungeduld zu verlieren. Eine Weile lang machte er Runden um das Kriegsvolk, das sich in dem winterlichen Zwielicht der Morgendämmerung und bei dem rötlichen Fackelschein an seine Waffen begab; aber allmählich streifte er mehr in die Weite, so daß er sich schließlich jenseits der Vorposten in dem frostklaren Walde befand, wo er auf die Sonne wartete. Ruhe und Glück erfüllten seine Gedanken. Er fand, daß er der flüchtigen Gunst des Herzogs nicht nachzutrauern brauche; mit Johanna als Weib und Lord Foxham als treugesinntem Schutzherrn blickte er glücklich in die Zukunft, während er in der Vergangenheit nur wenig fand, wovon er sich mit Bedauern hätte trennen müssen. Während er so nachdenklich umherschweifte, nahm das festliche Licht des Morgens an Helligkeit zu; im Osten kündete die Färbung des Himmels schon die aufgehende Sonne an, und ein scharfer Wind blies über den gefrorenen Schnee. Er machte kehrt, um zurückzugehen. In dem Augenblick, als er sich umwandte, fiel sein Blick auf eine Gestalt hinter einem Baum. »Halt!« rief er. »Wer da?« Die Gestalt schritt weiter und winkte mit der Hand, als wäre sie stumm. Sie war wie ein Pilger gekleidet und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, aber Dick erkannte trotzdem sogleich Sir Daniel. Er trat auf ihn zu und zog sein Schwert. Der Ritter steckte seine Hand unter seine Kutte, als suche er dort nach einer verborgenen Waffe, und erwartete standhaft sein Kommen. »Nun, Dick«, sagte Sir Daniel, »was wollt Ihr tun? Wollt Ihr gegen einen Geschlagenen noch kämpfen?«
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»Ich machte nicht Jagd auf Euer Leben«, versetzte der Jüngling, »ich war Euer treuer Freund, bis Ihr mir geradezu gierig nach dem Leben trachtetet.« »Ach was, ich handelte aus Notwehr«, erwiderte der Ritter. »Und nun, Junge, haben mich die Nachrichten über den Ausgang der Schlacht und die Anwesenheit dieses buckligen Teufels hier in meinem eigenen Walde hoffnungslos darniedergeworfen. Ich gehe nach Holywood, um dort eine Zuflucht zu finden, und will von dort mit so viel, als ich tragen kann, über See und in Burgund oder Frankreich ein neues Leben beginnen.« »Ihr dürft nicht nach Holywood«, erklärte Dick. »Wie? Darf nicht?« fragte der Ritter. »Seht, Sir Daniel, dies ist mein Hochzeitsmorgen«, sagte Dick, »und jene Sonne, die jetzt gleich aufgehen wird, soll den leuchtendsten Tag bringen, der je für mich anbrach. Euer Leben ist verwirkt, doppelt verwirkt: durch Eure Blutschuld an meinem Vater und Eure Machenschaften gegen mich. Aber auch ich habe Böses getan und den Tod von Menschen verschuldet, und ich will an diesem glücklichen Tage weder Richter noch Henker sein. Und wäret Ihr auch der Teufel selbst, so würde ich doch nicht Hand an Euch legen. Wäret Ihr auch der Teufel selbst, Ihr dürftet meinetwegen hingehen, wohin Ihr wollt. Sucht die Verzeihung Gottes, die meinige habt Ihr aus freien Stücken. Aber nach Holywood zu gehen, das ist etwas anderes. Ich kämpfe auf der Seite der Yorks, und ich werde keinen Spion hinter ihre Linien gelangen lassen. Wenn Ihr nur einen Schritt in dieser Richtung tut, könnt Ihr sicher sein, daß ich meine Stimme erhebe und den nächsten Posten rufe, damit er Euch ergreift.« »Ihr spottet meiner«, sagte Sir Daniel. »Ich finde nirgendwo Sicherheit als in Holywood.« »Das kümmert mich nicht mehr«, stellte Richard fest. »Ich lasse Euch nach Osten, Westen oder Süden gehen, nur nicht nach Norden. Holywood muß Euch verschlossen bleiben. Geht, und macht keinen Versuch, wiederzukommen. Denn seid Ihr erst fort, dann werde ich jeden Posten dieser Armee warnen, und dann wird eine so scharfe Kontrolle aller Pilger durchgeführt werden, daß es Euer Verderben bedeuten würde, wenn Ihr – und wäret Ihr der Teufel selbst – den Versuch wiederholen solltet.« »Ihr verhängt ein Urteil über mich«, versetzte Sir Daniel kläglich.
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»Ich verurteile Euch nicht«, entgegnete Dick. »Wenn es Euch gut dünkt, Eure Stärke an mir zu erproben, dann gut; und obgleich ich fürchte, daß es verräterisch gegen meine Partei ist, will ich Eure Herausforderung offen und frei annehmen und mich als einzelner mit Euch schlagen und niemanden zu Hilfe rufen. So werde ich mit gutem Gewissen meinen Vater rächen.« »Ach«, sagte Sir Daniel, »Ihr habt ein langes Schwert, ich nur einen Dolch.« »Ich vertraue nur auf den Himmel«, gab Dick zur Antwort und warf sein Schwert hinter sich in den Schnee. »Kommt nur, wenn Euer schlimmes Schicksal es Euch gebietet; und wenn es der Wille des Allmächtigen ist, so will ich mich unterstehen, Eure Überreste den Füchsen zum Fraße zu lassen.« »Ich wollte Euch nur auf die Probe stellen, Dick«, sagte der Ritter mit einem erzwungenen Lächeln. »Ich will Euer Blut nicht vergießen.« »So geht, ehe es zu spät sein könnte«, riet Shelton, »in fünf Minuten werde ich den Posten rufen. Es scheint mir schon, daß ich zu langmütig bin. Wäret Ihr an meiner Stelle und ich in Eurer Lage, so läge ich schon seit einigen Minuten an Händen und Füßen gebunden.« »Gut, Dick, ich werde gehen«, versetzte Sir Daniel. »Wenn wir uns nächstens wieder begegnen, soll es Euch gereuen, daß Ihr so abweisend zu mir waret.« Damit wandte sich der Ritter und verschwand zwischen den Bäumen. Dick sah ihm mit seltsam gemischten Gefühlen nach, wie er schnell und doch vorsichtig davonschritt und immer wieder einen bösen Blick auf den jungen Mann zurückwarf, der ihn geschont hatte und dem er doch nicht traute. An einer Seite des Weges, den er einschlug, wuchs ein Dickicht, das stark mit Efeu durchflochten und sogar in seinem Winterkleid gänzlich undurchsichtig war. Von da erklang plötzlich wie Musik der Ton von einem Bogen. Ein Pfeil schwirrte, und mit einem erstickten Schrei, in dem sich Schmerz und Wut mischten, warf der Ritter von Tunstall die Hände hoch und stürzte vornüber in den Schnee. Dick eilte zu ihm und richtete ihn auf. In seinem Gesicht zuckte es verzweifelt, und sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. »Ist der Pfeil schwarz?« keuchte er. »Er ist schwarz«, antwortete Dick mit tiefem Ernst.
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Und dann schüttelte, ehe er noch ein weiteres Wort hervorbringen konnte, ein schrecklicher Schmerzanfall den Körper des zu Tode getroffenen Mannes, so daß er in Dicks Arme sank und unter furchtbaren Qualen seinen Geist aufgab. Der Jüngling legte ihn behutsam in den Schnee zurück und betete für diese unvorbereitete und schuldige Seele; und als er betete, brach plötzlich die Sonne durch, und die Rotkehlchen in dem Efeu stimmten ihr Gezwitscher an. Als er sich erhob, fand er nur wenige Schritte hinter sich einen andern Mann auf den Knien. Er wartete mit entblößtem Kopf; bis auch dieses Gebet beendet war. Es dauerte lange. Der Mann, der den Kopf gesenkt und das Gesicht mit den Händen bedeckt hielt, betete wie in großer Qual und Verwirrung. Aus dem Bogen, der neben ihm lag, mußte Dick schließen, daß er der Schütze war, der Sir Daniel niedergestreckt hatte. Endlich stand auch er auf; es war Ellis Duckworth. »Dick«, sagte er ernst, »ich hörte Euch. Ihr wähltet den besseren Teil und gewährtet Verzeihung; ich wählte den schlechteren, und da liegt mein Feind im Staube. Betet für mich.« Und er ergriff Dicks Hände. »Herr«, sagte Dick, »ich werde gewiß für Euch beten, obgleich ich noch nicht weiß, ob mein Gebet etwas vermag. Aber wenn Ihr so lange Eure Rache verfolgt habt und jetzt von so bitterem Schmerz darüber ergriffen seid, müßt Ihr dann nicht einsehen, daß es wohl getan wäre, anderen zu verzeihen? Hatch – ist tot, der arme Kerl! Ich hätte ihn gern geschont; und Sir Daniel – hier liegt er tot. Aber was den Priester anbetrifft: Wenn ich Euch dazu bewegen kann, so möchte ich, daß Ihr ihn laufen laßt.« In Ellis Duckworth' Augen blitzte es auf. »Ach«, sagte er, »der Teufel ist noch stark in mir. Aber seid ruhig – der schwarze Pfeil fliegt nimmermehr. Die Kameradschaft ist aufgelöst. Die noch leben, sollen – soviel an mir liegt – ein stilles und reifes Ende finden, wie es der Himmel ihnen bestimmt. Und Ihr geht, wohin Euer besseres Los Euch ruft, und denkt nicht mehr an Ellis.«
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Achtes Kapitel Schluß
Um neun Uhr morgens führte Lord Foxham sein Mündel – das jetzt wieder so gekleidet war, wie es seinem Geschlecht zukam – in Begleitung von Alicia Risingham zur Kirche von Holywood, als Richard der Bucklige, das Auge schon wieder von Sorgen überschattet, ihren Weg kreuzte und anhielt. »Ist dies das Mädchen?« fragte er, und als Lord Foxham seine Frage bejahte, fuhr er fort: »Schönes Fräulein, erhebt Euer Gesicht, damit ich seine Anmut sehe.« Mürrisch blickte er etliche Zeit auf sie. »Ihr seid schön«, sagte er schließlich, »und wie ich höre, habt Ihr eine gute Mitgift. Wie, wenn ich Euch eine glänzende Heirat vorschlüge, wie sie Eurer Schönheit und Eurer Abkunft entspricht?« »Mylord«, erwiderte Johanna, »wenn es Euer Gnaden gefällig ist, möchte ich lieber Sir Richard heiraten.« »Warum?« fragte er rauh. »Heiratet Ihr nur den Mann, den ich Euch bestimme, und noch vor Abend ist er Lord, und Ihr seid Lady. Was Sir Richard betrifft, so laßt mich Euch sagen, daß er einmal als Sir Richard sterben wird.« »Ich erflehe nichts mehr vom Himmel, Mylord, als dereinst als Sir Richards Weib zu sterben«, beteuerte Johanna. »Hört Euch das an«, sagte Gloucester, indem er sich zu Lord Foxham wandte. »Das ist mir ein Paar! Der Mann hat mir gute Dienste geleistet, so daß ich ihn meiner Gunst versicherte, und als er vor die Wahl gestellt wurde, zog er die Begnadigung eines alten betrunkenen Schiffers vor. Ich warnte ihn nachdrücklich, er aber verharrte in seiner Torheit. ›Damit ist meine Gunst verwirkt‹, erklärte ich ihm; und er, Mylord, sagte nachdrücklich stolz und frech: ›Mein ist der Verlust.‹ – So soll es sein, beim heiligen Kreuz!« »Sagte er das?« rief Alicia. »Dann war es wohlgesprochen, Löwenjäger!« »Wer ist das?« fragte der Herzog.
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»Eine Gefangene von Sir Richard«, antwortete Lord Foxham, »Fräulein Alicia Risingham.« »Seht zu, daß sie an einen ehrlichen Mann verheiratet wird«, sagte der Herzog. »Ich habe an meinen Verwandten Hamley gedacht, mit Euer Gnaden Einverständnis«, entgegnete Lord Foxham. »Er hat unserer Sache gut gedient.« »Damit bin ich ganz einverstanden«, stimmte der Herzog zu. »Sie sollen bald heiraten. Sagt, schöne Jungfrau, wollt Ihr heiraten?« »Mylord Herzog«, sagte Alicia, »wenn der Mann gerade gewachsen ist...«, aber da erstarb ihr in jäher Bestürzung das Wort im Munde. »Er ist gerade gewachsen, mein Fräulein«, bestätigte Richard in aller Ruhe, »ich bin der einzige Bucklige in meiner Partei; wir sind also von leidlich gutem Aussehen. Meine Damen und Ihr, Mylord«, fügte er mit einem plötzlichen Übergang zu würdevoller Höflichkeit hinzu, »haltet mich nicht für flegelhaft, daß ich Euch verlasse, aber ein Führer ist in Kriegsläuften nicht Herr seiner Zeit.« Und mit artigem Gruß ritt er weiter, seine Offiziere hinter ihm drein. »Ach«, sagte Alicia, »ich bin verloren!« »Ihr kennt ihn nicht«, beruhigte sie Lord Foxham, »es war für ihn nur eine Kleinigkeit; er hat Eure Worte längst vergessen.« »Dann ist er ja die wahre Blüte der Ritterschaft«, stellte Alicia fest. »Ach, er hat ganz andere Sorgen«, entgegnete Lord Foxham. »Laßt uns nicht länger säumen.« Im Hohen Chor wartete Dick im Kreise einiger junger Männer, und dort wurden er und Johanna vereint. Als sie glücklich und doch recht ernst wieder in die kalte Luft und den Schein der winterlichen Morgensonne hinaustraten, zogen sich die langen Reihen der Armee schon die Straße entlang. Vor dem Kloster wurde soeben das Banner des Herzogs von Gloucester entfaltet, und bald flatterte es auf dem Marsche, von einem Wald von Lanzen umgeben. Hinter ihm zog inmitten stahlgepanzerter Ritter der kühne, finstere, ehrgeizige Bucklige seinem kurzen Königtum und seiner ewigen Schande entgegen. Die Hochzeitsgesellschaft aber ging in entgegengesetzter Richtung und setzte sich dann mit einer gewissen ernsten
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Fröhlichkeit zum Frühstück. Der Bruder Kellermeister sorgte für ihre Bedürfnisse und saß bald mit ihnen an der Tafel. Hamley, der alle Eifersucht vergessen hatte, begann, der keineswegs abgeneigten Alicia den Hof zu machen. Und während die Trompeten klangen und der Lärm der abrückenden Armee mit Waffengeklirr und Pferdegetrappel immer noch anhielt, saßen Dick und Johanna zärtlich Seite an Seite und Hand in Hand und sahen sich mit immer noch wachsender Zuneigung in die Augen. Staub und Blut jener wilden Zeiten gingen von jetzt ab an ihnen vorüber. Fern von allem Lärm blieben sie in dem grünen Walde, wo ihre Liebe aufgekeimt war. Zwei alte Männer erfreuten sich in Frieden und Wohlergehen der Ruhe des Alters, vielleicht sogar mit einem Überfluß an Bier und Wein. Der eine war sein Leben lang Schiffer gewesen und hörte nicht auf, um seinen Matrosen Tom zu klagen. Der andere, der ein bißchen von allem gewesen war, neigte sich zu guter Letzt der Frömmigkeit zu und starb als Bruder Honestus in dem benachbarten Kloster eines seligen Todes. So war der Wunsch des alten Lawless, als Mönch sein Leben zu beschließen, in Erfüllung gegangen.
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Index 1 Dick ist die englische Kurzform des Namens Richard. 2 Harry ist die Kurzform des Namens Henry (zu deutsch Heinrich). 3 Anteil der Ernte und des Viehbestandes, den die leibeigenen Bauern an den Grundherrn bzw. die Kirche abführen mußten. 4 Am 25. Oktober 1415 fand bei dem französischen Dorf Agincourt eine Schlacht statt, in der die Franzosen den englischen Eroberern unterlagen. Ausschlaggebend für den Ausgang dieser Schlacht war die Überlegenheit der englischen Bogenschützen. 5 Nick ist dir Kurzform von Nicholas (= Nikolaus). 6 Alte englische Münze, ungefähr 13 Schilling. 7 Der englische Langbogen, über 2m hoch, schoß einen 1m langen, befiederten Pfeil etwa 500 Meter weit. Die Schießgeschwindigkeit übertraf die der Armbrust um das Dreifache, die der damaligen Handfeuerwaffen um das 36fache. Außerdem besaß er eine ungeheure Durchschlagskraft. Daher war der Widerstand gegen die Einführung der Handfeuerwaffen in England besonders stark (noch im Jahre 1627 gab es dort reguläre Bognertruppen). 8 Nach den mittelalterlichen Gesetzen war es den Frauen streng verboten, Männerkleidung zu tragen. Dieses »Vergehen« wurde vielfach mit dem Tode bestraft. So wurde die französische Nationalheldin Jeanne d’Arc von einem kirchlichen Gericht zum Tode verurteilt und verbrannt, weil sie Männerkleidung getragen hatte. 9 Zu der Zeit, in der diese Erzählung spielt, konnte Richard Crookback noch nicht zum Herzog von Gloucester erhoben worden sein; aber der Klarheit halber wird er so genannt werden (Anmerkung des Verfassers). 10 Englisches Hohlmaß = 4,5 Liter. 11 Der Name bedeutet soviel wie »Schürzenjäger«. 12 Richard der Bucklige dürfte zu dieser Zeit in Wirklichkeit weit jünger gewesen sein (Anmerkung des Verfassers). 13 Bedeutet im Deutschen »Buckliger«; hier volkstümliche Bezeichnung für den verwachsenen Richard von Gloucester. 14 »Sir Richard« entspricht ungefähr dem deutschen »Ritter Richard«. 247
15 In einer Schlacht in der Nähe des englischen Fleckens Bosworth (Leicestershire) verlor der Herzog von Gloucester, der spätere König Richard III.. nach verbissenem Kampf Thron und Lehen. 16 Der Ausdruck »Lanzenreiter« schließt eine nicht ganz bestimmte Zahl von Fußsoldaten ein, die den schweren Reitern beigegeben wurden (Anmerkung des Verfassers). 17 Speisesaal in Klöstern.
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