Nr. 316
Der Jäger und der Göttersohn Ein ungleiches Paar im Kampf gegen Dämonen von Hans Kneifel
Sicherheitsvorkehrun...
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Nr. 316
Der Jäger und der Göttersohn Ein ungleiches Paar im Kampf gegen Dämonen von Hans Kneifel
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der von Atlantis oder Pthor verbannte Berserker, sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Leiter der Invasion ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Und so landen Atlan und Razamon an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Das Ziel der beiden Männer, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, ist, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nahmen, haben Atlan und Razamon zusammen mit ihrem neuen Weggefährten, dem Fenriswolf, durch die Zerstörung des Kartaperators der irdischen Menschheit bereits einen wichtigen Dienst geleistet. Während die Kampfgefährten nun weiter nach Norden ziehen, hat der Androide Koy, der Atlan und Razamon sucht, seine eigenen Abenteuer zu bestehen. Diese Abenteuer gipfeln in der Begegnung: DER JÄGER UND DER GÖTTERSOHN …
Der Jäger und der Göttersohn
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Die Hautpersonen des Romans: Heimdall - Odins ältester Sohn. Koy der Trommler - Der Menschenjäger begegnet einem Göttersohn. Kröbel - Heimdalls Faktotum. Knarder - Ein Ausgestoßener.
1. Die Schroffen und Zinnen des Taambergs bildeten gegen den heller werdenden Himmel eine tiefschwarze, drohende Silhouette. Die hügelige Landschaft lag kalt unter dem letzten Licht der erlöschenden Sterne. Hin und wieder ertönte, mit vielen rollenden Echos nachhallend, ein scharfes Knallen. Irgendwo brach ein Stück Fels los und polterte zu Boden. Wie schlafende Riesentiere duckten sich kleine Hügel in die Ebene. Knarder bewegte sich unruhig in seinen staubigen, zottigen Pelzen. Er wartete bereits die ganze Nacht darauf, was geschehen würde. Er hatte den Trupp der Männer gesehen, die bewaffnet und mit entschlossenen Gesichtern am Abend aus der Gegend des Regenflusses gekommen waren. Was immer passierte, es würde für ihn etwas abfallen. Zuerst hörte Knarder nur das Geräusch. Er kannte es und wußte, was es bedeutete. Er richtete sich auf und spähte zwischen den Felsbrocken in die Richtung des Rasselns. Dann sah er die drei breiten Lichtbalken, die immer wieder aufzuckten, von Steinbrocken oder uralten Stümpfen unterbrochen wurden oder über die Kuppen von Hügeln strahlten. »Es ist der Riese mit seinem Wagen aus Metall!« sagte er leise zu sich selbst und zog den Pelz über die Schultern. Das Rasseln und ein schleifendes Mahlen wurde lauter, als der Truvmer zwischen den letzten Hügeln hervorkroch wie eine Spinne aus Stahl und Glas und Licht. Am Horizont erschien jetzt ein breiter Streifen gelbweißlicher Helligkeit. Genau vor diesem Streifen, scheinbar am Ende der geröllübersäten Steppe, zog das Fahrzeug in seiner eigenen ausgefahrenen Spur vorbei. Zwei der Lichter waren starr nach vorn ge-
richtet, das dritte bewegte sich unruhig wie das leuchtende Auge eines Spähers. Knarder, der Ausgestoßene, sah sich wachsam um. Aber die ganze Nacht über hatte es kein Zeichen dafür gegeben, daß sich Raubtiere oder andere Räuber in seiner unmittelbaren Umgebung befanden. Auch jetzt, beim Morgengrauen, war er noch allein. Der Truvmer fuhr, dreißig Skerzaalschuß weit von Knarder entfernt, in südliche Richtung. Der Wagen sah seltsam aus; der Mann in seiner schweren Rüstung saß in einer großen Kugel, die wie ein merkwürdiger Helm von einem sichelförmigen Visier geschlossen und geöffnet werden konnte. Zwei breite, gepolsterte Sitze befanden sich nebeneinander. Die gläserne Kugel setzte sich nach hinten in einen metallenen Leib fort, der aus einer Anzahl ringförmiger Elemente bestand. Sie verkleinerten sich nach hinten zu und bildeten schließlich eine Art Skorpionschwanz, auf dessen Spitze das schwenkbare Licht saß. Vier röhrenförmige Beine ragten nach beiden Seiten und, durch ein großes, kugelförmiges Gelenk unterbrochen, nach schräg unten. Dort mündeten sie in die breiten Raupenketten, die vom vielen Gebrauch in der felsigen Landschaft glattgeschliffen waren. Vier, fünf Mannslängen maß dieses erstaunliche Fahrzeug, mit dem der Gepanzerte immer wieder zwischen der Straße und dem Taamberg hin und her fuhr. Schon oft hatte Knarder den Wagen gesehen, einmal von fern, dann wieder näher. Viele Atemzüge lang starrte Knarder dem Gefährt nach. Als die ersten Sonnenstrahlen waagerecht über die Ebene zuckten, brachen sie sich in der langen, wolkigen Spur aus hochgewirbeltem Staub. Der Truvmer verschwand schließlich wie-
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Hans Kneifel
der in dem schluchtreichen, bergigen Abschnitt hinter der Steppe. Zwischen den Felsbrocken kamen Staubfontänen und hallende Geräusche hervor. Etwa drei Minuten später drang der laute Donner einer Explosion an Knarders Ohren. Über die Felsen sprang eine Fontäne aus Sand und Steinbrocken hoch. Es war etwas Dramatisches geschehen, genau dort, wo der Gepanzerte mit seinem Metallskorpion verschwunden war. Hatten die Piraten einen Hinterhalt gelegt? fragte sich Knarder. Er würde noch eine Stunde in der wärmenden Sonne schlafen, dann sein karges Frühstück verzehren und sich zum Schauplatz der Explosion schleichen. Vielleicht fand er etwas, das er eintauschen konnte.
* Heimdall bremste beide Gleisketten ab, als er den Felsen in der Fahrspur sah. Er mußte in der Nacht heruntergebrochen und umgefallen sein. Eine große, rostbraune Felsnadel, viermal so lang wie er selbst, lag quer auf dem Sand und dem Geröll. Heimdall kannte den Weg sehr genau. Er ließ die linke Kette schneller werden und bog nach rechts ab. Es ging fünfzig Meter über einen leichten Hang hinunter, an einer Kette dorniger, staubüberpuderter Gewächse entlang und in die kurze Schlucht hinein. Er erinnerte sich, sie vor langer Zeit einmal mit reißendem Wasser gefüllt gesehen zu haben, nach einem stundenlangen Wolkenbruch. Die Gegend der bewachsenen Hügel lag inzwischen weit zurück. Der Truvmer kippte leicht nach vorn, durch die zu einem Schlitz geöffnete Visierscheibe drang der muffige, abgestandene Geruch herein, der zwischen den schwarzen Felsen hing. Einige Sekunden später tauchte die Kabine in den Schatten der breiten Schlucht ein, die mahlenden Geräusche der schweren Ketten verstärkten sich und erfüllten die Schlucht mit ihrem Stakkato. Heimdall wußte auch nicht, warum er kei-
nen anderen Weg gefahren war. Es bot sich an, auch andere Teile dieses trostlosen Stücks Landschaft kennenzulernen. Aber seine Gedanken waren, wenn er von seinen Fahrten zu den Berserkernachkommen zurückkehrte, noch dunkler als sonst. Er suchte die Nähe seines Freundes und die verinnerlichte Ruhe seines Heimes. Wie lange war es her, da Tfohr in voller Blüte stand! Eine Ewigkeit schien es her zu sein; damals lebten die stolzen Berserker in den Mauern des reichen, prächtigen und pulsierenden Tfohr! Heimdall befand sich in der Mitte der Schlucht, zwischen den senkrechten Felsen. Vor sich sah er den breiten Streifen aus Sand und Geröll, der wieder hinausführte in die Halbwüste. Heimdall erinnerte sich, daß er die Scheinwerfer nicht ausgeschaltet hatte und holte dies nach. Die Kabine, in der er saß, war groß genug für zwei von seiner Art, einschließlich der Waffen. Sie hing mehrere Meter vor dem ersten Greifrad der Gliederketten federnd über dem Boden. Heimdall sah jede Handbreit des Geländes, über das die Ketten walzten. Er war wachsam, aber hier in der Wüste gab es nichts, was ihm gefährlich werden konnte. Der Sitz und die Kabine hoben sich, als die Raupenketten griffen und das Fahrzeug die Steigung hinaufschoben. Genau dort, wo der Boden wieder eben wurde, geschah es. Mitten in der Beschleunigung gab es einen schmetternden Schlag. Auf der rechten Seite hob sich der Truvmer jäh hoch, Heimdall klammerte sich instinktiv fest, und dann drehten die gezähnten Räder leer durch. Die linke Antriebseinheit schleuderte den Truvmer hart nach rechts herum. Wütend riß Heimdall an einem Hebel und wurde wieder zur Seite geworfen, als der Wagen ruckartig anhielt und rechts schwer in den Sand schlug. Eine riesige Wolke quoll aus der Schlucht und verdunkelte die Umgebung. Jetzt prasselten Felstrümmer, Steine und trockener Sand auf die Kabine und den Metallkörper herunter und machten Heimdall,
Der Jäger und der Göttersohn der sich in den Sessel duckte, halb taub. »Bei meinem Vater Odin«, sagte Heimdall vor kalter Wut. »Das stinkt nach Hinterhalt oder Überfall.« Er setzte den Helm auf, schloß die Schnalle und griff nach der Khylda, die unter den Sitzen festgeklammert war. Dann knirschte das durchsichtige Visier hoch; Sand hing in den Lagern der Konstruktion. Der älteste Sohn Odins sprang mit einem weiten Satz aus der Kabinenkugel, nahm die lange Streitaxt in beide Hände und blickte unter seinen buschigen Augenbrauen aufmerksam in die Runde. Der Truvmer stand genau an der Stelle, wo die Steigung in den ebenen Boden überging. Die Sonne hing eine Handbreit über dem Horizont und überschüttete diesen Teil Pthors mit grellem Licht. Überall lagen kleine und große Felsen im Geröll und im Sand. Regungslos standen die hartrindigen Pflanzen mit den lanzettförmigen, ledrigen Blättern. Nichts regte sich. Der Himmel war gänzlich leer und fahlblau. »Ich hatte einen Überfall erwartet!« knurrte Heimdall. In seinem gelben, schuppigen Lederkleid und den blauen Metallteilen seiner Rüstung wirkte er doppelt wie ein Riese. Wachsam ging er zurück zum Truvmer. Als er in der Höhe der leeren Kabine war, sah er den zwei Meter tiefen Krater, in dem die Kette lag. Sie war gerissen und nach vorn geschleudert worden; die Greifräder hatten sich um eine Kettenlänge weiter nach vorn bewegt. Zwei Kettenglieder, geriffelte, achtmal handgroße Teile mit Löchern und Führungsstiften, lagen im Sand, ein abgebrochenes Achsstück steckte direkt neben Heimdalls brauner Stiefelspitze. Es gab keine andere Möglichkeit: Heimdall mußte die Kette reparieren und weiterfahren. Er überlegte kurz. Dies war nicht die erste Reparatur einer Kette, die er durchführte. Werkzeug und Teile waren vorhanden. Wenn die Räder und deren Zähne und Lager nicht beschädigt waren, konnte er in zwei Stunden diese ungemütliche Stelle verlassen.
5 »Eindeutig ein Explosionstrichter«, murmelte er und schritt einmal um den Kreis herum. »Ich bin auf eine eingegrabene Mine gefahren.« Der abgebrochene Felsen gab ihm zu denken. Wenn ihn jemand dadurch auf einen anderen Weg geführt hatte, dann hatte dieser heimtückische Wegelagerer sich sehr viel Arbeit gemacht. »Keine Sorge«, flüsterte er mit dunkler Stimme. »Ich werde vorsichtig sein. Sie sollen nur kommen. Ich schicke sie alle mit blutigen Köpfen zurück.« Er lehnte die Khylda, seine eineinhalb Meter lange Streitaxt mit der Doppelschneide, an die langgezogene Antriebseinheit. Dann klappte er den Laderaum auf, holte die Kiste mit den Teilen und dem Werkzeug hervor und hob die schwere Kiste scheinbar mühelos hinunter in den Sand. Heimdall betrachtete die gerissene Kette und richtete sie gerade aus. Dann nahm er ein spatenförmiges Werkzeug und grub ein Loch unter das erste Zahnrad. Immer wieder hob er seinen mächtigen Oberkörper und sah sich um, aber er entdeckte nichts. Er arbeitete schnell und mit sicheren Griffen weiter. Zuerst schleppte er die Kette, bis die ersten Zähne in die Vertiefungen griffen. Dann schwang er sich wieder hinauf in die Kabine und ließ das rechte Element langsam anlaufen. Knirschend und immer wieder anhaltend, wurde die aus vielen Einzelstücken bestehende Kette unter dem langen Teil durch Sand und Steintrümmer gezogen. Heimdall beugte sich aus der Kabine und schaltete die Maschine aus, als auf der ganzen Länge des Triebwerks die Kette hindurchgezogen war und vorn sowie hinten gleich weit auf dem Sand lag. Jetzt kam der schwierigere Teil. Wieder sprang Heimdall hinunter, musterte aufmerksam die Umgebung und fluchte leise. Hatte sich dort in dem langen, pechschwarzen Schatten ein zweiter Schatten bewegt? Heimdall rechnete fest mit einem Überfall. Er konnte sich nicht denken, wer sich in
6 dieser verlassenen Gegend herumtrieb, aber möglich schien fast alles. Pthor war ein Land der ungewöhnlichen Vorfälle. Er zuckte die Schultern. Die Metallstreben des Waffenrocks bewegten sich knirschend. Dann packte Heimdall mit seinen Pranken das vordere Ende der Gleiskette und wuchtete die schweren Stahlglieder hoch, stemmte sich gegen das zerrende Gewicht des Metalls und schleppte das Kettenende bis zur Mitte des Antriebselements aus Rädern, Stangen, Gelenken und Führungsschienen. Überall quoll heißes Fett aus den Lagern. Krachend fiel die gerissene Kette auf die Laufräder. Genau dasselbe machte Heimdall mit dem anderen Ende, das unterhalb des hochgekrümmten Hecks im Geröll lag. Als er keuchend zurücktrat, sah er, daß der leere Raum zwischen den Enden drei Kettenglieder breit war. Zwei fand er in der unmittelbaren Nähe des Truvmers, das dritte suchte er erst gar nicht, sondern nahm es zusammen mit vier neuen Verbindungsrundstählen aus dem kleinen Vorrat. Dann holte er den riesigen Hammer und ein stabförmiges Stück Stahl, um die Reste der Achsen aus den Lagern schlagen zu können. Die Arbeit ließ den Schweiß über sein kantiges, breites Gesicht laufen. Aber er nahm den Helm nicht ab, obwohl sein Haar zu kleben begann. Mit wuchtigen Hieben trieb er die abgebrochenen Stahlstücke aus den Lagern heraus. Als er das letzte Stück des zweiten Kettenglieds bearbeitete, traf ihn ein mächtiger Schlag zwischen die Schulterblätter, schleuderte ihn nach vorn über die Führungsschienen und betäubte ihn für einen Augenblick. Dann aber handelte er. Er warf sich nach vorn, überschlug sich und warf den Pelzumhang ab. Mit einem Satz sprang er zur Seite und griff nach der Khylda. Eine Handbreit neben seinem Kopf schlug ein scharfer Stahlbolzen eine Schramme in das Metall des Gefährts, rutschte ab und er-
Hans Kneifel zeugte einen kreischenden Ton. Heimdall wirbelte blitzschnell herum und hob die Kampfaxt. Von drei Seiten kam ungefähr ein Dutzend bewaffneter Männer auf ihn zu. Immer wieder erklang das typische Geräusch einer vorschnellenden Armbrustsehne. Die Bolzen summten bösartig durch die Luft. Sie sehen aus wie Piraten vom Regenfluß, schoß es Heimdall durch den Kopf. Durch die Lieferung von Nahrung und Gegenständen des täglichen Lebens hatte er verhindern wollen, daß die Berserker ihre wilden Raubzüge irgendwann in die Gegend seiner Behausung vortrugen. Und jetzt stellten sich ihm hier Piraten entgegen. »Was wollt ihr?« schrie er laut, während er auf den ersten Angreifer zurannte und die Kampfaxt schwang. Er bekam keine Antwort. Heimdall stürmte weiter und schlug den ersten Piraten mit einem einzigen, furchtbaren Hieb nieder und warf sich herum, starrte den nächsten Mann in die Augen und schwang die Axt zurück. Er handhabte das schwere, nur am Schaft hydraulisch gefederte Kampfinstrument, als sei es aus trockenem Holz. Der Pirat zielte mit der Skerzaal auf Heimdalls Gesicht, aber der Odinssohn duckte sich, senkte den kleinen Stirnflügel des Helms und hob die Hand im schweren Kampfhandschuh vor die Augen. Einige Männer, sah er flüchtig, rannten auf den Truvmer zu. Er lief durch den Sand, sprang über Felsen und warf seinen Oberkörper hin und her, um den heulenden Bolzen zu entgehen. Mit fünf weiten Sprüngen erreichte er den zweiten Piraten, der ein Mann von bemerkenswertem Mut war. Während die Doppelschneide der Axt durch die Luft pfiff und hinter Heimdall das erste Opfer gellend zu schreien begann, zischte der Bolzen über seine Schulter und prallte gegen Stein. Der Pirat sprang zur Seite, aber die funkelnde Schneide folgte seiner Bewegung und traf. Mit einer gräßlichen Wunde brach der Pirat zusammen.
Der Jäger und der Göttersohn »Weg vom Truvmer!« donnerte Heimdall und rannte ein Stück zurück, um sein Gefährt zu verteidigen. Die Piraten schienen erschrocken zu sein. Vielleicht hatten sie einen anderen Mann am Steuer dieses Wunderkarrens erwartet. Aber dieser riesenhafte Mann von fast zweihundertsechzig Pfund, mit schwarzen, glühenden Augen, schwarzem Haar und dämonischem, schwarzen Bart in seiner schimmernden Rüstung jagte ihnen Schrecken ein. Sie erlebten eine böse Überraschung. Aber auch sie waren mutig und schnell. Immer wieder klirrten gepanzerte Bolzenspitzen gegen Teile der Rüstung. Mit der linken Hand packte Heimdall einen Mann, der den Laderaum zu plündern versuchte, riß ihn vom Truvmer zurück und schleuderte ihn sieben Meter weit hinter sich. Der Pirat stolperte, brach zusammen und schlug mit dem Hinterkopf gegen einen Steinbrocken. »Hierher!« schrie jemand mit rauher Stimme. Heimdalls Khylda beschrieb Kreise, die im Sonnenlicht feurige Blitze warfen. Sein Beil mähte die Angreifer nieder. Einem von ihnen, der ihn mit einem flammenförmigen Dolch ansprang, rammte er den scharfen Dorn an der Spitze der Khylda in die Brust. Schreiend sank der Pirat auf die Knie und preßte die Hände auf die Wunde. »Zurück!« donnerte Heimdall. Ein Pirat packte einen Sack voller Nahrungsmittel und Wasser und rannte davon. Jetzt erreichte Heimdall den Truvmer, trat einen Angreifer zur Seite und schlug einen anderen mit der Breitseite der Waffe zurück auf die klirrenden Kettenglieder auf der rechten Seite. Einen dritten, der halb in die Kabine geklettert war, riß er mit einem wilden Ruck am Gürtel zurück und schleuderte ihn auf einen anderen Kämpfer. Beide überschlugen sich und gingen zu Boden. Heimdall griff abermals ein. Jetzt lief der Schweiß in breiten Bahnen über sein Gesicht und biß in den Augen. Eine wilde, heiße Wut hatte ihn überkommen. Er schien seine Kräfte und seine Geschwindigkeit zu ver-
7 doppeln. Inzwischen hatten wieder einige Piraten die Skerzaals gespannt und feuerten die Bolzen auf ihn ab. Einer streifte den Oberarm und hinterließ eine tiefe Schramme, aus der das. Blut tropfte. Ein anderer riß eine neue Spur in seinen Helm. Ein dritter donnerte gegen die durchsichtige Kuppel und blieb stecken. Aber die Khylda beschrieb weiter ihre Halbkreise, traf hier einen Angreifer, schlug dort einem zweiten seine Waffe aus der Hand, verwundete einen anderen. Sandfontänen wirbelten hoch. Heimdall griff mit der linken nach einem Stein, während er mit dem Dorn zustach und schleuderte den Brocken dem nächsten Mann, der auf ihn zusprang, ins Gesicht. »Zurück! Schnell. Er ist ein Teufel!« schrie es hinter Heimdalls Rücken. Der Pirat wandte sich zur Flucht. Heimdall blieb für wenige Augenblicke stehen, holte tief Atem und blickte dann den Mann an, der den Sack gestohlen hatte und sich inzwischen bei den Felsnadeln befand, stolpernd und rennend. Die anderen flüchteten auf eine Weise, die mindestens einigen von ihnen das Leben rettete. Heimdall wußte, daß einen guten halben Tagesmarsch von hier ein Seitenarm des Flusses im Sand versickerte. Dorther also waren sie gekommen. Er verfolgte den einzelnen Mann, der schwer an dem großen Sack schleppte. Etwa eine Minute lang raste Heimdall hinter dem Flüchtenden her, dann drehte sich der Pirat um und warf in panischer Furcht den Sack von den Schultern. Er wurde danach etwas schneller, aber nach zwanzig weiteren Sprüngen hatte ihn Heimdall eingeholt, bückte sich, packte einen Stein und schleuderte ihn in die Kniekehlen des Piraten. Aufbrüllend strauchelte der Mann und brach zusammen. Er drehte sich ächzend herum und blieb liegen. Er hob in einer schutzsuchenden Geste die Hände, als Heimdall heransprang und ihm die Spitze der Axt an die Kehle setzte. Schwer atmend fragte Heimdall: »Dein Name?« »Ich bin … Keisor.«
8 »Du bist ein Flußpirat?« »Ja, Herr. Einen halben Tagesmarsch … unser Schiff.« »Ihr habt die Mine vergraben?« »Unsere Spione haben uns gesagt, daß bei dir, Herr, reiche Beute zu holen ist.« Heimdall starrte ihn mit mörderischem Grimm an, aber er mochte diesen hilflosen Mann nicht töten. »Vom Regenfluß kommt ihr?« »So ist es. Wir sind arm, und wir haben …« Heimdall senkte die Khylda und bohrte den Dorn leicht in die Haut am Hals seines Gegners. »Schweige! Willst du leben, oder ziehst du einen schnellen Tod vor?« »Leben, Herr. Du bist ein unbesiegbarer Kämpfer.« »Man sagt es. Höre! Folge deinen törichten Freunden. Sage ihnen, daß ich Heimdall bin, der Sohn der alten Götter. Sage ihnen, daß ich dir und den Überlebenden ihr lausiges Leben schenke. Aber niemals wieder sollen sie sich an mir oder meinesgleichen vergreifen. Denn sie sind gewarnt. Ich töte sie alle, ich verfolge euch und lege Feuer an eure Schiffe, und keiner wird überleben.« Er lächelte kalt, und der Mann vor ihm im Sand zitterte. Langsam hob Heimdall die Waffe und steckte sie vor seinen Füßen in den Sand. Er stützte sich mit den Unterarmen auf den Schaft und sagte leise: »Hast du begriffen, Pirat Keisor?« »Ja, Herr. Ich habe verstanden … ich werde es ihnen sagen. Deine Gnade ist groß!« »Laufe jetzt, und sage es ihnen. Ich töte einen jeden, der sich bewaffnet in meine Nähe wagt.« Er hob die Khylda auf und drehte sich herum. Dann stapfte er langsam in die Richtung auf den Truvmer davon. Keisor humpelte davon, so schnell er konnte. Heimdall blieb stehen, warf den staubigen Sack über seine linke Schulter und ging ruhig weiter. Er beachtete die Verwundeten nicht, die vor ihm flohen, und er kümmerte sich überhaupt nicht um die Leichna-
Hans Kneifel me, die zwischen den Steinen und dem Truvmer lagen. Er haßte diese Kreaturen. Abgesehen von diesem Überfall – sie störten ihn. Er kam von hinten an das Gefährt heran, warf den Proviantsack in den Laderaum und lehnte die Waffe wieder an die röhrenförmigen Federbeine des Truvmers. Als er um den Wagen herumging und in die Kabine blickte, erstarrte er. Er konnte es nicht glauben, aber es war so: Quer über die beiden Sitze lag ein Mann und grinste ihn unverschämt an. Dann, mit einem zweiten Blick, noch immer sprachlos und verwundert, entdeckte Heimdall, daß der Fremde eine ungewöhnliche Persönlichkeit sein mußte. Er schien darüber hinaus ungefährlich zu sein, denn er richtete nichts auf Heimdall, das einer Waffe ähnlich sah. Voller Erstaunen fragte Heimdall: »Wer bist du? Was willst du in meinem Truvmer?« Der bärtige Fremde mit den stacheligen Haaren und den beiden seltsamen Fortsätzen an der Stirn grinste und schwieg.
2. In der Stille knackte abkühlendes Metall. Eine Wolke erschien am Himmel über dem Ausschnitt, den die Felsen der Schlucht freiließen. Heimdall kämpfte einige Sekunden mit dem Wunsch, vier Meter weit zu rennen und die Khylda zu holen. Er fühlte sich, obwohl dies nicht stimmte, schutzlos und irgendwie nackt. Der freche, kalte Blick des Fremden dort oben war analytisch und prüfend. Eines war sicher: Er war kein Pirat vom Regenfluß. Er mußte sich während der Verfolgung hier eingeschlichen haben. »Ich habe deinen schnellen, überlegten Kampf genau beobachtet«, sagte plötzlich der Fremde und hörte zu grinsen auf. Heimdall knurrte verdrießlich: »Hoffentlich hat dir gefallen, was du gesehen hast.« Er mußte den Kopf in den Nacken legen, um den Fremden anzusehen. Dies störte ihn
Der Jäger und der Göttersohn erheblich. »Ein geplanter Hinterhalt, nicht wahr? Ich hörte deinen Wagen und später die Explosion. Kann ich dir helfen?« Er schien nicht zu spüren, mit welch finsteren Blicken ihn Heimdall anstarrte. »Ich werde allein fertig. Komm herunter aus der Kabine. Wer bist du eigentlich?« knurrte Heimdall. »Ich bin Koy der Trommler. Viele kennen meinen Namen.« »Koy hin oder her. Du machst dich dort oben unverschämt breit. Es ist mein Platz. Verschwinde am besten.« Heimdall hatte den Namen schon oft gehört. Jeder, der etwas über Koy den Trommler erzählte, rühmte dessen Eigenschaften. Dieser unverschämt grinsende Mann also war der berüchtigte Jäger; ziemlich klein, korpulent und muskulös, eine gedrungene Gestalt, die vor Zähigkeit und Kraft strotzte. Aber Heimdall vermochte auch Koy keine echte Sympathie entgegenzubringen. Er, der Göttersohn, war ein Einzelgänger. Er duldete nur Kröbel in seiner Nähe. Er verachtete alle anderen Kreaturen, die auf Pthor umherkrochen. Heimdall registrierte, daß aus dem zerknitterten, wie gegerbt wirkenden Gesicht ihn zwei freundliche schwarze Augen prüfend betrachteten. Dann fragte Koy: »Mir scheint, daß du Heimdall bist, einer der Söhne Odins. Habe ich recht?« »Es läßt sich nicht verbergen«, gestand Heimdall widerwillig. »Es freut mich, dich kennengelernt zu haben«, antwortete Koy, dehnte noch einmal seine Muskeln und sprang dann gewandt aus der Kabine. »Du mußt wissen, daß ich Fremde suchen oder finden soll, die angeblich auf Pthor eingedrungen sein sollen. Ich brach von Agmonth auf. Und dann verlor ich den Kontakt mit meinen Herren, die mir den Auftrag gaben …« Heimdall winkte ärgerlich ab. »Das alles geht mich nichts an. Ich muß mein Fahrzeug reparieren.« Koy war wirklich ein Zwerg, verglichen mit dem Hünen Heimdall. Der Odinssohn
9 ging um die Kabine herum, legte sorgfältig den Helm auf den zusammengefalteten Pelzumhang und machte sich wieder an die Arbeit. Mit wuchtigen Schlägen trieb er die Reste der zweiten Achse aus den Löchern. Ein Schatten fiel auf seine Arbeit. Koy stand neben ihm und sprach stets dann, wenn die Hammerschläge nicht ertönten. »Aber ich habe meine Meinung jetzt geändert. Ich freue mich sozusagen darüber, daß ich die Verbindung verloren habe.« Heimdall grunzte etwas Unverständliches und griff nach dem nächsten Kettenglied. Wieder schlug er wie besessen auf den Stahlstab ein. »Ich freue mich deshalb, weil ich jetzt unbelastet durch Befehle nach meiner Mutter suchen kann. Hast du sie gesehen? Ihr Name ist Dagrissa. Ich gelte bei den Gebietern als verschollen. Jetzt habe ich Zeit und Gelegenheit, nach meiner Mutter zu suchen. Ich fühle …« »Ich kenne sie nicht«, murmelte Heimdall mürrisch zwischen zwei krachenden Hammerschlägen. »Schade. Ich fühle, wie die Jagdlust zunimmt. Du mußt wissen, daß alle meine Sinne schärfer werden, daß meine Schnelligkeit und Ausdauer zunehmen. Man weiß, wie gut Koy der Trommler ist.« Heimdall ließ den Hammer sinken und brummte verdrießlich: »Wahrscheinlich wirst du ein paar Komplexe verdrängen müssen, Zwerg!« »Zwerg?« grinste Koy. »Schon möglich. Aber früh und am Abend werfe ich einen langen Schatten.« »Ich auch. Du hältst mich auf.« Er schlug die letzten Reste der zertrümmerten Achsen aus den Löchern, fettete die neuen Achsen stark ein und legte die drei Glieder nebeneinander. Mit vorsichtigen Schlägen verband er die drei Teile miteinander, fügte sie an das Ende der Kette auf der linken Seite und drehte dann die Sicherheitsscheiben und die Muttern auf die Achsen. Langsam und genau überprüfte er den Sitz der restlichen Verbindungen und ging dann, die letzte
10 Achse in der Hand, zu der klaffenden Verbindung zwischen dem hinteren Ende der Kette und den neu eingefügten Gliedern. Zwischen den Teilen waren fast zwei Handbreit Spielraum. »Jetzt kommt der schwierigste Teil«, kommentierte Koy freundlich, der das technische Problem längst verstanden hatte. »Hmm.« Heimdall ging zur Laderaumöffnung und holte die Hebelübersetzung heraus. Er setzte das zangenartige Werkzeug an, preßte die beiden Hebel zusammen und zog beide Enden der Kette zusammen. Noch immer war drei Finger breit leerer Raum. Ächzend nahm Heimdall die Zange ab, verstellte sie, klinkte sie wieder ein und preßte sie mit aller Kraft zusammen. Nun schoben sich die zungenförmigen Fortsätze des einen Gliedes in die Aussparungen des anderen. Als Heimdall vorsichtig den Zugriff der Zange lockerte, zog das Eigengewicht des Stahles die Kette wieder auseinander. »Ich kann die Achse leicht hineinschieben«, schaltete sich Koy der Trommler ein. Unwillkürlich schüttelte Heimdall den Kopf, holte ein Ende Stahltrosse aus dem Laderaum und wiederholte das Manöver mit der Zange. Dreimal versuchte er, beide Griffe mit seiner Hand zu umspannen und zusammenzuhalten. Dreimal glitten sie auseinander, als er sich anschickte, mit dem Kabelrest die Hebel zusammenzubinden. Schließlich drehte er sich halb herum und brummte eine Spur weniger unfreundlich: »Du kannst mir helfen, Kleiner.« »Stolz und Dummheit sind Geschwister«, antwortete Koy, sprang von dem Antriebselement und ergriff Hammer und Achse. Heimdall setzte leise fluchend die Backen der Zange an, zog beide Kettenteile ineinander, und mit drei leichten Schlägen rammte Koy die Achse in die Löcher. Mit einem satten Geräusch schlug der wuchtige, mit Beilagringen geschützte Kopf an die verbundenen Glieder. Mit flinken, starken Fingern
Hans Kneifel setzte Koy die Scheiben ein und drehte die Mutter auf das Gewinde. Langsam löste Heimdall die riesige Zange und hob den Schlüssel auf. »Danke«, sagte er leise. »Was sind das für Dinge an deiner Stirn, Zwerg?« »Du meinst die Broins?« »Wenn sie so heißen, dann meine ich es. Was soll das? Unpraktisch, wenn du in einem Helm kämpfen solltest.« »Es sind Waffen. Ich richte sie gegen ein Ziel, schlage die kugeligen Enden gegeneinander und vernichte meine Opfer. Sie sterben und hören dabei Trommelschlag. Deswegen habe ich diesen Namen.« »Ich verstehe. Hunger?« »Nein. Aber Durst. Wohin fährst du?« »Zum Fort. Zu meinem Heim. Dorthin, wo ich mich wohl fühle.« »Ich freue mich für dich.« Heimdall sammelte sein Werkzeug und die Teile ein und warf sie in die Kiste, verstaute alles im Laderaum und zog aus dem Proviantsack eine Kanne, die dick mit schwarzem Stoff gefüllt war. Er zog den Korken heraus, trank einen gewaltigen Schluck und hielt den Schnabelkrug hinunter zu Koy. »Hier. Trinke! Ich spüre es, es wird ein lausiger Tag voller Ärger und Aufregungen werden. Bei Odin!« Koy trank eine Art wohlschmeckenden, leicht säuerlichen, aber sehr kühlen Tee, korkte die langhalsige Kanne wieder zu und ging langsam in die Richtung des Vorderteils. Er hörte, wie Heimdall die verschiedenen Fächer des Laderaums schloß und verriegelte. Er hob Mantel, Helm und Streitaxt auf und stapfte durch den Sand. Er schien merkwürdigerweise nicht überrascht zu sein, als er Koy den Trommler neben sich im Fahrerhaus entdeckte. Er sagte kein Wort, sondern kippte das Visier der Kabine nach unten und drückte auf mehrere Schalter. Über den Köpfen der Männer begann das durchsichtige Material sich dunkel zu färben. Der Motor des Truvmers winselte auf, brummte laut und wurde
Der Jäger und der Göttersohn dann leiser. Zuerst knirschend und zögernd, dann immer schneller und in höheren Tönen rasselnd bewegten sich die breiten Gleisketten. Heimdall sah mehrmals nach hinten, aber die Reparatur schien geglückt. »Die Mine hat nur die Kette zerrissen«, sagte Koy fröhlich. »Es ist ein gutes Gefühl, zu fahren. Man lebt bequemer, als wenn man geht.« »Deswegen fahre ich.« Die Spuren führten weitestgehend von Norden nach Süden, wußte Koy. Natürlich nicht in einer geraden Linie, sondern dem Gelände angepaßt. Südwestlich von ihnen lag irgendwo, weit jenseits der Steinblöcke, der winzigen Hügel und der dürren Grasflecken, die Ebene Kalmlech, die Heimat der furchtbaren Horden der Nacht. »Nach Donkmoon?« rief Koy etwas später, als der Truvmer seine volle Geschwindigkeit erreicht hatte. »An Donkmoon vorbei geht die Fahrt. Zur Straße der Mächtigen.« »Das klingt verheißungsvoll«, bemerkte Koy trocken, lehnte sich entspannt zurück und begann, die Gegend zu betrachten. Nur langsam veränderte sich das Aussehen der Landschaft. Sie verlor ihren unwirklichen, sonnendurchglühten Charakter. Der Taamberg mit seinen Gipfeln blieb hinter ihnen zurück und löste sich im Dunst des Vormittags auf.
* Sehr spät sah Knarder die schräge Spur aus Staub, die sich nur ganz langsam senkte. Knarder schob sich behutsam aus dem Schatten eines kühlen Felsblocks hervor. Ein hagerer Mann mit grauer, faltiger Haut und einem Gesicht, das von Entbehrungen gezeichnet war, ging er vorsichtig auf die Schlucht zu. Es waren weitaus weniger flüchtende Regenflußpiraten gewesen, als er heute Nacht gezählt hatte. Einige lagen vielleicht sterbend in der Schlucht und hatten ihren Besitz bei sich. Er mußte mit jeder Kleinigkeit zufrieden sein.
11 Das dünne Leder und der durchscheinende Stoff schlotterten um die mageren Beine und Arme. Knarder rückte den Schild aus Leder zurecht, der seine Augen vor der grellen Sonne schützte, dann ging er weiter. Eine alte, ausgeleierte Skerzaal, ein dünngeschliffenes Messer, einige schlaffe Lederschläuche und ein fast völlig neuer, staubiger Fellmantel waren sein einziger Besitz. Und das, was sich in den Manteltaschen fand und in der kleinen Umhängetasche. Drei Stunden wanderte er langsam zwischen den Steinen entlang und auf die Schlucht zu. Er fand den ersten Toten und begann ihn systematisch zu plündern. Alles. Alles, was brauchbar war, rettete ihn über einige Tage hinweg. Er fand Nahrungsmittel, über die er sich heißhungrig hermachte. Es gab eine halbleere Lederflasche, die warmen Tee oder ein ähnliches Getränk enthielt. Knarder trank sie leer. Ein paar Stiefel wechselten seinen Besitzer; mit einem gellenden Gelächter schleuderte Knarder seine löchrigen Stiefel in die Schlucht hinunter. Er sprang, immer gieriger werdend, zum nächsten Opfer. Es schien kein Leben hier zu geben, aber auf den Wunden und dem trocknenden Blut versammelten sich bereits große Schwärme schillernder Fliegen. Kleine schwarze Insekten kamen aus Löchern im Sand hervor und bildeten in ihrer Masse lange Schnüre auf dem Sand. Als die Sonne fast senkrecht über der Steppe stand und die Schatten ganz kurz geworden waren, wußte Knarder, daß er lange Tage mit Hilfe dessen überleben würde, was er hier gefunden hatte. Es war vor allem etwas, aber kein Reichtum. Eine bessere Waffe, ein scharfes Messer, ein Hemd und eine Hose und so fort. Als Knarder sich zum letztenmal aufrichtete und umsah, wußte er, daß ihn seine Wanderung nach Osten führen würde, weder an den Regenfluß noch zu den Berserkern. Vielleicht überlebte er länger, wenn er in die Richtung von Agmonth wanderte. Als Ausgestoßener hatte er nirgendwo
12
Hans Kneifel
große Chancen.
* Koy der Trommler schlug seine schwarzen Kunststoffstiefel übereinander und bemerkte: »In Wirklichkeit kannst du gar nicht so sein, wie du dich gibst, Heimdall.« »Ich bin ein Einzelgänger. Ich brauche keine Geselligkeit«, brummte Heimdall ärgerlich und runzelte seine dichten, schwarzen Brauen. »Du scheinst verschlossen und düster. Du lachst nicht oft und denkst immer, jeder will gegen dich kämpfen. Wovon träumst du eigentlich, Heimdall?« Koy veränderte seine Stellung auf dem Sitz. Sie fuhren ununterbrochen weiter. Koy war sicher, daß Heimdall es aus Mißtrauen vermied, die Stadt zu betreten. Vermutlich steuerte er erst einige Kilometer jenseits der Stadt auf seinen Straßenabschnitt zu. »Wer sagt dir, daß ich träume?« fragte Heimdall wortkarg, aber seine Reaktion bewies dem Trommler, daß er ins Schwarze getroffen hatte. »Ich glaube, daß du von Odin träumst. Es ist nur natürlich, wenn du daran denkst, daß du mit deinem Vater und deinen Brüdern die alte Herrschaft wieder aufrichten könntest.« »Manchmal träume ich davon«, gab Heimdall widerwillig zu, dann hob er die Schultern und deutete schräg nach Südwest. »Sieht nach Gefahr aus. Irgendeine Bestie aus der Ebene Kalmlech.« »Du meinst, sie kann uns gefährlich werden? Uns beiden, dem Jäger und dem tollkühnen Kämpfer?« lachte Koy. Neben den Sitz hatte er die Reste seiner Ausrüstung geschichtet. Einen Teil der Ausrüstung hatte er bei der zerstörten Vegla zurücklassen müssen. »Ja, wenn das Ungeheuer groß genug ist.« Koy kannte alle Erzählungen und hatte die Ungeheuer auch schon gesehen. Aber noch niemals hatte er gegen einen Bewohner der Ebene Kalmlech kämpfen müssen.
Nachdenklich schüttelte er den Sand aus seinem silbergrauen Haar. »Hassen dich die Herren der FESTUNG?« fragte Koy vorsichtig. »Nein. Wir lassen uns gegenseitig in Ruhe.« Dort drüben ging etwas Sonderbares vor. Wo die Kalmlech aufhörte und in leicht hügeliges Land voller kleiner Büsche und Grasflächen überging, südwestlich von Donkmoon also, bewegte sich eine riesige, rostrote Masse. Die Bewegungen des Truvmers ließen keine genaue Beobachtung zu. Aber diese einzelne Bestie sprang immer wieder in die Höhe und schien in kurzen Abschnitten zu fliegen. Dann senkte sich das Ungeheuer wieder und blieb kurze Zeit auf dem Boden. Wenn es gegen ein anderes Ungeheuer kämpfte, dann war von diesem Gegner nichts zu sehen. »Manchmal greifen sie sogar mich an«, bemerkte Heimdall kurz. »Ich werde dir helfen«, versprach der Trommler und erntete einen verblüfften, fast heiteren Seitenblick des Riesen. »Dann werden wir ja überleben«, murmelte Heimdall. Inzwischen folgte sein Gefährt einer Art breitem Pfad, der im wesentlichen aus zwei Spuren im grüner werdenden Gelände bestand und oft zugewachsen war. Wieder schwang sich das Ungeheuer in die Luft. Es wirkte von hier aus wie ein Wurm mit Fledermausflügeln. Plötzlich erstarrte es mitten in einer aufbäumenden Bewegung. Heimdall zog an seinen Hebeln und ließ den Truvmer langsamer werden. Jetzt sahen sie beide deutlich, was eigentlich vorging. Zwei dieser Bestien kämpften gegeneinander. Ein schlangenartiges Tier raste am Boden hin und her und stieß mit einem blutigen, langen Horn immer wieder auf das rostrote Ungeheuer ein. »Sie kämpfen gegeneinander!« stellte Heimdall fest und ließ den Truvmer wieder schneller werden. Als sie einen leichten Hügel erreicht hatten, blieb der Wagen abermals kurz stehen.
Der Jäger und der Göttersohn Auf der Ebene Kalmlech zogen einzelne Gruppen der nächtlichen Horden hin und her. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, aber über den Bestien schwebten Wolken aus Staub und Sand. Die beiden Männer glaubten, Schreie und Gebrüll zu hören, aber dies war eine Täuschung. Einige Sekunden lang blieben sie in der schattenlosen Hitze stehen und sahen schweigend den Aufruhr am Horizont. »Weiter!« Als Heimdalls Hände nach vorn griffen und die Hebel berührten, stießen gleichzeitig die beiden kämpfenden Tiere ein zorniges Brüllen aus. Sie sahen den Truvmer und griffen blind an. »Auch das noch«, bemerkte Heimdall finster und zog einen zweiten Hebel ganz nach hinten. Der Truvmer wurde ruckartig schneller, und das Rasseln der Ketten verstärkte sich zu einem Inferno. Dies schien die Ungeheuer noch mehr zu reizen. Sie wurden schneller und machten sich an die Verfolgung des Truvmers. Koy beugte sich aus der Kuppel und spähte nach hinten. Der rostrote Wurm war offensichtlich gepanzert. Er lief auf wuchtigen Beinen, deren Krallen den Boden aufrissen. Das Ungeheuer blutete aus zahllosen Wunden, aber es nahm einen rasend schnellen Anlauf, riß seinen gewaltigen Rachen auf und schrie, während es die Schwingen ausbreitete und sich heftig flatternd in die Luft erhob. Es schien nicht wirklich flugfähig zu sein, aber kurze Strecken flatterte es in beängstigender Geschwindigkeit. Das schlangenartige, silbern und weiß schimmernde Tier wurde ebenfalls von einer wilden Wut gepackt und schlängelte sich in einer Reihe grotesker Halbsprünge in die Richtung des dahinratternden Fahrzeugs. »Können sie uns was anhaben?« fragte Koy und strich sich abwesend über den weißen Kreis mit dem Doppelkopf an seinem Pullover. »Nicht sehr viel. Ich bin gut bewaffnet«, sagte Heimdall und deutete kurz auf die
13 Khylda zu seinen Füßen. Ein merkwürdiger Bursche, dieser Heimdall, dachte Koy. Aber auf bestimmte Weise sind wir alle auf Pthor eigenartig. Er griff nach links und nahm seine kurze Feuerlanze hervor, kontrollierte das Gerät durch und betätigte mehrmals den Zünder. Die Waffe war einsatzbereit. »Bist du versessen auf einen Kampf?« brummte nach einer halben Minute der Odinssohn. Das Fahrzeug war schlingernd und schüttelnd den kaum mehr kenntlichen Pfad entlanggefahren und hatte mehrere scharfe Kurven ausgelassen. Das fliegende Ungeheuer schlug schwer in eine Gruppe kleiner Bäume ein, zerfetzte sie und drang wieder daraus hervor. Die Männer sahen riesige Augen und einen Kamm aus sichelartigen Knochenplatten, die sich in die Richtung des Wagens streckten. Das Ungeheuer schrie noch einmal gellend und galoppierte, den langen Schweif über dem Kopf balancierend, auf den Truvmer zu. Schräg hinter dem Giganten drängte sich die Schlange aus dem Unterholz. Sie lief auf einer Unzahl kleiner, haariger Beine. »Wie weit ist es noch bis zu deinem Heim?« schrie Koy durch das Rasseln der Ketten und das Brummen der Motoren. »Ungefähr fünfunddreißig Kilometer von der Grenze Donkmoons liegt das Lettro. Zu weit entfernt.« »Das bedeutet Kampf!« Der riesige Mann setzte den Helm auf sein schwarzes, nackenlanges Haar, ließ aber das Kinnband ungeschlossen. Mit einer Hand steuerte er den Truvmer geradeaus. Noch waren weder die Stadt oder die Straßen zu sehen, obwohl der Geländestreifen nicht sonderlich breit sein konnte. »Meinetwegen.« Koy wußte nicht, ob die Intelligenz der Ungeheuer so groß war, daß sie den Truvmer als das erkannten, was er wirklich war: Vielleicht hielten sie dieses undefinierbare Etwas für einen eßbaren Gegner. Oder sie tobten nur ihre Wildheit aus, die kein Ventil fand, solange die unsichtbare Mauer um
14 Pthor nicht aufgebrochen und die Ungeheuer in die neue Umgebung hinaus entlassen werden konnten. Obwohl Heimdall rücksichtslos geradeaus fuhr, holten die zwei Ungeheuer auf. Sie preschten rechts und links neben dem Truvmer heran und schienen ihn von vorn angreifen zu wollen. Heimdall stieß ununterbrochen leise Flüche aus, deren Sinn Koy nur zum Teil verstand. Und plötzlich tauchten die gräßlichen Schädel der Ungeheuer an beiden Seiten vor dem Truvmer auf. Kreischende Schreie übertönten die Flüche und alle anderen Geräusche. Noch immer ruhig und auf seine Waffen vertrauend, steckte Koy seine Feuerlanze durch den Spalt zwischen Dach und Visier. Er versuchte zu zielen, aber die harten Stöße und das Schwanken der Kabine machten einen sicheren Schuß zum Risiko. Koy drückte trotzdem ab. Aus der röhrenförmigen Spitze der Lanze schoß jaulend ein Feuerstrahl. Das sich ausbreitende Zentrum an der Spitze traf den Schädel des schlangenartigen Ungeheuers und hüllte ihn vollständig ein. Aus dem Rauch und den Flammen ertönte ein Schrei, der Koys Trommelfelle klingen ließ. Die Bestie krümmte sich zusammen. Obwohl der Truvmer weiterfuhr und nur geringfügig die Richtung änderte, breitete sich ein furchtbarer Gestank nach verbranntem Horn und Haar aus. Koy blickte kurz nach hinten und zog die Feuerlanze aus der Öffnung. Das Ungeheuer war mit sich selbst beschäftigt. Es drehte sich im Kreis. Ringsherum brannten und qualmten Gras und Büsche. Koy konnte sicher sein, daß diese Bestie niemanden mehr angreifen würde. »Du mußt in die andere Richtung lenken«, sagte Koy laut, als ein heftiger Stoß das Fahrzeug traf. Ein schleifendes Geräusch erschütterte die Laderäume und das Motorengehäuse hinter dem Fahrerhaus. Das andere Ungeheuer hatte seine Knochenplatten gegen den Truvmer gerammt. »Nach dem Schuß, ich verstehe.« Koy schob die Spitze der Feuerlanze in die ande-
Hans Kneifel re Richtung. Der Truvmer hörte zu schaukeln auf und wurde etwas langsamer. Sofort tauchte die Bestie wieder auf der rechten Seite auf und griff an. Diesmal feuerte der Trommler dreimal. Der erste Schuß traf das Ungeheuer in den Schlund mit den riesigen Zähnen, der zweite verbrannte das Auge und einen Teil des Flügels, der dritte bildete eine gewaltige schwarze Wolke um den Schädel des Tieres. Sofort gab Heimdall mehr Geschwindigkeit auf der rechten Kette, riß den Truvmer nach links und machte ihn schneller. Abermals breitete sich eine Wolke aus Gestank, Rauch und brennendem Fleisch aus. Langsam zog Koy die Feuerlanze zurück, sicherte sie und legte sie zu Heimdalls Waffe auf den Boden der Fahrerkugel. »Und nun«, erklärte er mit seiner angenehmen Stimme, die auf Heimdall ebenfalls nicht den geringsten Eindruck zu machen schien, »können wir folgenden Ereignissen mit Ruhe entgegensehen.« »Hmm.« Das Lettro, von dem Heimdall gesprochen hatte, mußte mit seiner Wohnung identisch sein. Koy fragte sich, wie die Wohnstätte eines solch mürrischen und mißtrauischen Mannes aussehen mochte. War es eine düstere Burg mit abweisenden, kalten Mauern? Oder verbarg er sich in einem Höhlenlabyrinth? Nun, er würde es in Kürze sehen, denn links von ihnen erkannte man undeutlich die Außenbezirke der Stadt hinter dem Blättergewirr. Koy wußte genau, daß die Straße der Mächtigen hinter Donkmoon begann und südöstlich nach Zbohr führte. Wenn er richtig beobachtet hatte, dann fuhr Heimdall in einem weiten Bogen um die Stadt herum und auf die Straße zu. Eine halbe Stunde etwa begegneten sie keinem größeren Lebewesen. Die Hitze nahm zu, die Sonne sank unmerklich dem Nachmittag entgegen. Keiner von ihnen sprach. Heimdall schien kein Bedürfnis zu haben, das Wort an den Weggefährten zu richten. Koy verzichtete darauf, nur ein mürrisches Brummen als Antwort hingeworfen zu bekommen. Also
Der Jäger und der Göttersohn wartete und schwieg er, bis sich die Umstände änderten. Schließlich verfolgte er einen Plan, der nur ihn etwas anging. Wieder änderte sich die Landschaft ganz langsam. Eben noch waren sie durch hügeliges und grün bewachsenes Land voller Bäume und winziger Seen und Bäche gefahren. Jetzt tauchte weit voraus das stumpfsilberne, teilweise unsichtbare Band der Straße auf. Dahinter lag eine Steppe. Von ihr wußte der Jäger Koy, daß sie unbewohnt war, aber keineswegs ungefährlich. Sie wurde von Sigurds Straßenabschnitt im Norden begrenzt. Genau vor der durchsichtigen Rundung der Fahrerkugel tauchte jenseits der Straße ein sehr merkwürdig aussehendes Bauwerk auf. Eine Ansammlung kantiger Mauern, vielleicht dreißig Meter hoch und zweihundert Meter breit. »Ist das dein Lettro?« fragte Koy ein wenig verblüfft. Wieder heulten die Maschinen des Truvmers auf und schleuderten das Kettenfahrzeug förmlich vorwärts. Heimdall stieß brüllend eine furchtbare Verwünschung aus. Kurz vor dem Rand der Straße hielt er den Truvmer hart an, klappte das Visier hoch und schwang sich aus dem Fahrersitz. Er schloß den Halteriemen seines Helmes und packte die Khylda. Dann rannte er auf den Eingang in der riesigen Mauer zu. Koy blickte den bunkerähnlichen Bau an, aber er sah nichts, das Heimdall hätte warnen können. Es mußte ein unsichtbares Zeichen sein. Heimdall rannte mit riesigen Schritten geradeaus, überquerte die Straße und näherte sich dem Zentrum der roten Mauern.
3. Koy der Trommler packte seine Feuerlanze und kletterte schnell aus der Kugelkanzel. Als er sich umdrehte, sah er noch immer keinen Gegner für Heimdall. Aber der Sohn Odins stapfte mit entschlossenen Schritten auf das Tor zu. Das Lettro war ein rechteckiges, schachte-
15 lähnliches Gehäuse. Es wirkte uneinnehmbar. Ob die Steinblöcke, aus denen es erbaut war, rot waren oder nur rot angestrichen, konnte Koy nicht entscheiden. Die äußerste Mauer mit dem wuchtigen Tor war etwa dreißig Schritt jenseits des Straßenrands. Die seitlichen Mauern hatten dieselbe Höhe, schienen aber nur rund hundert oder einige Meter mehr lang zu sein. Niemand zeigte sich auf den Zinnen oder auf dem Dach. Das Verhalten Heimdalls war rätselhaft. Nichts und niemand belagerte das Tor, nichts war zu erkennen. Heimdall drehte sich kurz herum, als ihn Koy fast eingeholt hatte. Der Trommler schwenkte seine Feuerlanze. »Ich spüre es. Sie sind wieder da!« grollte Heimdall und deutete mit dem linken Arm zurück zum Truvmer. »Wer ist da? Gespenster?« Die dunklen Augen sandten ihm einen ablehnenden Blick. »Geh zurück. Ich verteidige das Lettro selbst. Es ist nicht dein Kampf, Koy!« Koy ging näher und blickte den Riesen kopfschüttelnd an. Er hörte das feine Summen aus dem langen Schaft der Khylda. »Ich helfe dir. Aber da ist niemand? Ich kann keinen Gegner sehen!« »Ich weiß, daß sie da sind. Zurück!« Drohend hob Heimdall die Khylda. Koy sah ein, daß es klüger war, der Aufforderung Folge zu leisten. Er zuckte seine massigen Schultern und blieb stehen, ging dann einige Schritte zurück. Wieder einmal kämpften zwei verschiedene Überzeugungen in ihm. Einerseits ging ihn das, was hier passierte, nichts an, andererseits gebot es eine eiserne Regel, einem Weggefährten im Kampf beizustehen. Aber die Ablehnung Heimdalls war deutlich. Koy blieb zehn Schritt vor dem Truvmer stehen. Die Motoren des Fahrzeugs arbeiteten leise im Leerlauf. Der Jäger stützte sich auf die Feuerlanze und schaute, immer unruhiger werdend, hinüber zu dem wuchtigen Tor. Es schienen Doppelflügel aus metallbeschlagenen Bohlen zu sein, die sich nach innen öffneten.
16 Auf den letzten Metern verwandelte sich Heimdalls hastiges Vorwärtsstürzen in zögernde Schritte. Er faßte seine gewaltige Streitaxt fester und hob sie, dann versuchte er, das Tor zu öffnen. Es gab also einen Mechanismus, der Koys scharfen Augen bisher verborgen geblieben war. Als sich ein winziger Spalt zwischen den Flügeln öffnete, bröckelte oberhalb des Tores ein Stück scheinbar massiver Stein auseinander. Ein riesiger Balken hob sich blitzschnell aus der geheimen Öffnung, überschlug sich halb in der Luft und krachte mit einem Ende zu Boden. Das andere Ende traf Heimdall zwischen Helm und Schuppenpanzer im Nacken, schleuderte ihn gegen das Gefüge des Tores und wieder nach links zurück. Das Stöhnen Heimdalls mischte sich mit dem Geräusch des Aufprallens. Langsam hob Koy die Feuerlanze, er dachte an die tödliche Wirkung seiner Broins, dann erstarrte er wieder. Heimdall lag am Boden und bewegte sich schwach. Seine Hand umklammerte noch immer den Schaft der Waffe. Beide Waffen, die Koy hätte einsetzen können, würden Heimdall ebenso gefährden wie seine noch immer unsichtbaren Gegner. Mit zwei Sätzen war Koy am Truvmer und kletterte in die gläserne Kugel. Das Tor wurde weit aufgerissen. Eine Gruppe von Gestalten war in der hellen Öffnung zu sehen. Sie machten einen seltsam unkörperlichen Eindruck, als wären sie halb durchsichtig. Wer immer sie waren, jedenfalls umringten sie Heimdall und schickten sich an, ihn hochzuheben und wegzuzerren. Gerade, als Koy die Fahrthebel betätigte, sah er, daß Heimdall den Kopf hob und mühsame Anstalten machte, sich zu wehren. Aber wieder sackte er zusammen und rührte sich nicht, während die schattenhaften, nebligen Gestalten an ihm schoben und zerrten. Sie achteten nicht darauf, daß der Truvmer sich näherte. Koy hatte sich entschlossen, zu handeln. Konzentriert steuerte er den Truvmer gera-
Hans Kneifel deaus und auf das Tor zu. Er hob die Lanze, schob sie nach vorn und feuerte, als er zehn Meter vor der Öffnung war. Zwischen den Mauern erschien eine kochende, brodelnde Wolke, aus der Flammen nach allen Seiten zuckten. Wieder stemmte sich Heimdall mühsam hoch. »Aufspringen!« schrie Koy, so laut er konnte. Gleichzeitig drückte er auf einen dicken Knopf vor sich. Der Truvmer gab ein kreischendes, heulendes Geräusch von sich. Die nebelhaften, Gestalten wurden aus der Nähe noch undeutlicher und ließen keinerlei Körperformen erkennen. Heimdall stützte sich vom Boden ab, stierte mit weit offenem Mund den Truvmer an und schien mühsam zu begreifen, was er zu tun hatte. Während die beiden Raupenketten mahlend wieder einsetzten, schob sich die Kugel mit dem Tragegestänge genau über Heimdalls Körper. Er raffte sich auf, sein Bewußtsein schien für einen Moment wiederzukommen. Entschlossen hob Koy den Hebel vorwärts, die wuchtige Maschine machte einen Satz und passierte zur Hälfte den Tordurchgang. Die Schatten sprangen lautlos nach allen Seiten auseinander, wurden aber nicht wesenhafter. Heimdall klammerte sich, ohne seine Waffe loszulassen, an das Gestänge. Unbeirrbar steuerte Koy weiter. Die beiden Ketten trafen mit einem schweren Krachen gleichzeitig auf die Mauer; das Tor war nicht breit genug, um den Truvmer durchzulassen. Heimdall ließ nicht los, als Koy die Ketten schneller rasen ließ. Mauerbrocken flogen nach allen Seiten. Der Stahl erzeugte auf den Steintrümmern ein gräßliches Geräusch, von oben prasselte Schutt auf die Kuppel und das Metall des Laderaums. Dann kippten nacheinander mehrere Blöcke auseinander. Zwei breite Öffnungen entstanden, während sich die Ketten und die Antriebselemente durch die steinernen Torpfosten hindurcharbeiteten. Wieder faßten die Glieder, schleuderten das Fahrzeug vorwärts und rasselten mit ihm in einen geräumigen Innenhof hinein.
Der Jäger und der Göttersohn Irgendwo vor sich sah Koy ein zweites Tor. Heimdall ließ sich aus dem Gestänge fallen und torkelte genau auf dieses Tor zu. Sofort schaltete Koy die Maschine aus und schnellte sich aus der Kanzel. Er packte Heimdall am Gürtel und half ihm, auf eine Art Seitengang zu taumeln, der zu diesem Tor führte. Heimdall öffnete die Tür, fiel in den dahinterliegenden Raum hinein und verlor die Khylda, die klappernd über einen Steinboden schleuderte. Koy wirbelte herum und schlug donnernd das Portal zu. Er fand das Schloß und einige zusätzliche Riegel, die stark und wuchtig wirkten. Er verschloß die Pforte und lief zu Heimdall. Der riesige Mann lag mit bleichem Gesicht auf dem Rücken. Er streckte Arme und Beine aus und wirkte wie tot. Schnell gingen Koys Blicke durch den mittelgroßen Raum. Er entdeckte einige Bänke und Tische und lief suchend die Wände entlang. Dann fand er einen Krug, der Wasser enthielt, und einige leidlich saubere Tücher. Koy hastete zurück, löste die massive Schnalle des Helmes und streifte den Helm behutsam ab. Heimdall stieß ein langgezogenes Ächzen aus und zuckte mehrmals. Koy warf ein Tuch ins Wasser und wischte damit das Gesicht des Mannes ab. Den Rest des Wassers goß er in das Gesicht Heimdalls. Der Körper entspannte sich. Dann öffnete Heimdall die Augen und sagte flüsternd: »Danke. Es geht schon wieder.« Der Trommler stützte den Oberkörper des Kämpfers. Die Situation wurde immer rätselhafter. »Damit du es weißt, Heimdall. Wir sind sicher innerhalb deiner Burg. Hierher kommen deine seltsamen Feinde nicht.« »Du irrst.« Heimdall nahm das Tuch, legte es sich in den Nacken und kam mit Koys Hilfe auf die Beine. Noch stand er schwankend, aber mit jedem weiteren Schritt erholte er sich ein wenig mehr. »Kröbel! Was haben sie … mit Kröbel gemacht?« keuchte er.
17 »Keine Ahnung. Wer oder was ist Kröbel?« »Mein Freund. Wir müssen ihn suchen. Sie haben ihn vielleicht schon verschleppt …« Koy ging wortlos zu der Stelle, an der die Streitaxt lag, hob sie auf und staunte über das Gewicht der Waffe. In ihrem Schaft summte es noch immer. »Hier. Suchen wir also deinen Freund.« »Danke.« Koy nahm die Feuerlanze und ging hinter Heimdall her, der sich immer wieder gegen eine Mauer lehnte oder innehielt, bis er die nächste Tür geöffnet hatte. Der rote Bunker war, diesen Eindruck bekam Koy der Trommler bald, eine einzige Baumasse mit einem Innenhof. Wuchtig wie ein Block, viereckig und in kalter, barbarischer Pracht, reihte sich Raum an Raum. Weiträumige Hallen taten sich auf, angefüllt mit klobigen Möbeln. Für Koy waren sie alle viel zu groß, aber Heimdall mochte sich wohlfühlen. Dann folgte ein Korridor voller rechteckiger Spiegel. Kantige Fenster, die wie Schießscharten wirkten, gingen teilweise in eine andere Halle, teilweise in den Hof hinaus. Der gedrungene, kleine Jäger grinste mehrmals anerkennend, was die tausend Fältchen in seinem braunen Gesicht vervielfachte. »Du lebst hier allein, Heimdall?« rief er. In der weitläufigen Halle erzeugte seine Stimme ein Echo. Gebannt staunte er einen riesigen, radförmigen Leuchter an, der an silbernen Ketten von der Decke hing. »Nein«, rief Heimdall von der anderen Seite des Raumes her. »Zusammen mit dem Magier.« »Mit Kröbel?« »Ja. Hörst du ihn nicht?« »Ich höre nichts, obwohl ich mich anstrenge, etwas zu hören«, entgegnete Koy. Je länger sie suchten, desto unbehaglicher und merkwürdiger schienen die Räume innerhalb des Lettro zu werden. Fast überall lag auf den Platten mehr oder weniger dick der Staub. Der gesamte Prunk wirkte alt und
18 wurmstichig. In den Ecken hingen große Spinnweben. Nachts, wenn nur wenige Lampen brannten, mochte eine Spur von Gemütlichkeit aufkommen, aber das helle Licht enthüllte schonungslos das Aussehen dieser Räume. Irgendwie spiegelten sie Heimdalls seltsamen Charakter deutlich wider. Zwei Männer allein in diesem riesenhaften Bauwerk – ein Wunder eigentlich, daß noch nicht alles in Nachlässigkeit und Schmutz erstickt war. Türen öffneten und schlossen sich knarrend. Heimdall und der Jäger stiegen Treppen aufwärts und abwärts. Aber es gab keine Geräusche in den angrenzenden Räumen, keine Spuren und nichts, das auf einen Kampf hätte schließen lassen. »Kröbel! Wo bist du?« Jetzt standen sie nebeneinander auf einem Treppenabsatz. Sie sahen hinunter in einen Korridor, der mehrere Verbindungen zum Innenhof hatte, auf seiner anderen Seite zweigten abermals Gänge und Türen ab. Heimdall hatte laut gerufen. Seine Stimme hallte, und dann gab es eine undeutliche Antwort. Es war ein dünnes Ächzen, das von überall herkommen konnte. Aufgeregt stieß Heimdall hervor: »Er ist hier. Sie haben Kröbel nicht verschleppt!« »Wen meinst du eigentlich immer mit ›sie‹? Wer sind sie?« rief Koy laut. »Wer sind deine Feinde?« Ohne zu antworten, stürzte Heimdall die Treppe hinunter und rannte auf die erste Tür zu. Jetzt schien er erst zu merken, daß er einen feuchten Lappen im Genick hatte, sah das Tuch verständnislos an und schleuderte es gegen die nächste Wand. Etwas langsamer folgte Koy der Trommler, der sich gewissenhaft umsah und versuchte, die Richtung festzustellen, aus der jener ächzende Laut gekommen war. Der lange Korridor bestand aus weißen Steinplatten, einem schwarzen Steinboden und aus wuchtigen hölzernen Querbalken, die unendlich alt sein mußten. Die Deckenstreifen zwischen ihnen waren einst weiß ge-
Hans Kneifel wesen, jetzt waren sie grau und stockfleckig. Die Kanten der Steintreppe waren durch den Gebrauch völlig rund abgetreten worden; Koy rutschte zweimal aus und stürzte jedesmal beinahe. Krachend warf Heimdall die Türen der Räume zu, in die er hineingesehen hatte. Schließlich rannte er in die linke, hinterste Ecke des langen Ganges und schmetterte dort eine schwere Tür gegen die Wand. Der Lärm erzeugte harte Echos. Koy war, als Heimdall aufschrie, gerade an der offenen Tür. »Hier bist du! Was haben sie mit dir gemacht!« schrie Heimdall auf. Eine Szene, die den Reigen der Merkwürdigkeiten noch verstärkte, breitete sich vor Koy aus. Er wußte nicht genau, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Sie befanden sich eindeutig in einem Wirtschaftsraum des Bauwerks, der halb Vorratskammer, halb Küche war – oder eine ähnliche Funktion erfüllte. Dicht unter der Decke verlief eine Reihe von Fenstern, deren Glas schon lange zerstört war. Vögel flatterten von dort auf, flohen hinaus in die Umgebung oder schwirrten unter den Balken hin und her. An Ketten und Seilen hingen lange, altersschwarze Bretter, auf denen sich runde, gelbe Dinge stapelten. Töpfe und Krüge standen darauf und in gemauerten Regalen. Zwischen Tischen, die von Eßwaren und schmutzigem Geschirr starrten, standen Fässer und Säcke. Aus einem der fast eineinhalb Meter hohen Fässer sah ein erstaunlicher Kopf hervor. Ein bleiches, mageres Gesicht mit brennenden Augen. Ein blaues Tuch war als Knebel verwendet worden. Tiefe Kerben und eingefallene Züge, strähniges und schmutziges Haar, dessen Farbe ein merkwürdiges rotblond war. Aufgeregt zitterte ein grauer, rotgefleckter Kinnbart, als Heimdall in das Faß griff und den kleinen Mann mühelos hervorhob. Der Mann – es mußte wohl jener Kröbel sein – strampelte aufgeregt mit seinen Beinen, die in schwarzen Stiefeln steckten. Mit einem Griff zum Gür-
Der Jäger und der Göttersohn tel zog Heimdall sein Messer und schnitt die Fesseln auf. Dann knotete er den Knebel auf. Der Mann war noch ein paar Fingerbreit kleiner als Koy, aber gegen ihn wirkte der gedrungene, massige Jäger wie das Faß, in dem Kröbel gesteckt hatte. Kaum fiel das Tuch zu Boden, holte Kröbel tief Luft und begann mit keifender Stimme zu zetern. »Wenn du ein einzigesmal pünktlich gewesen wärst, dann würden wir anders dastehen, Heimdall!« In diesem Raum roch es mindestens nach zwanzig verschiedenen Nahrungsmitteln, die langsam verdarben oder schon verdorben waren. Jeder Geruch für sich war unangenehm, zusammen ergab dies einen abscheulichen Gestank. »Aber ich wurde aufgehalten. Flußpiraten stellten mir eine Falle und ließen …« »Du hast jedesmal eine andere Ausrede. Ich bin ein Magier, einer der besten, die es je geben wird, aber die Teufel von Gordy überfielen mich, während ich skullmanente Praktiken studierte.« »Jetzt bist du frei«, sagte Heimdall. Koy konnte nicht sagen, ob sich der riesige Mann wirklich schämte, oder ob er gegenüber dem mageren Zwerg hier einen ausgeprägten Beschützerinstinkt hatte. »In ein Butterfaß haben sie mich gesteckt. Ich konnte ihnen nicht einmal einen Bannfluch hinterherschicken.« Die einteilige Kombination des Kröbel war mit Symbolen bestickt, die nach Koys Auffassung magisch sein sollten. Auch der Umhang war wie alles übrige, eingeschlossen die langen Fingernägel, schwarz. »Wir werden sie in die Flucht treiben!« versprach Heimdall. »Mich haben sie niedergeschlagen. Mit einem Steinquader.« Koy verbesserte ruhig: »Mit dem Ende eines zwölf Meter langen Balkens, der dich in den Nacken traf, Heimdall.« Heimdall zuckte die Schultern, was ihm Schmerzen zu bereiten schien, dann verzog er das Gesicht.
19 »Siehst du! Das ist immer so. Sie warten den besten Moment ab, dann schlagen sie zu. Es sind richtige Stadtteufel, diese Gordys!« »Ich weiß. Wir sind hungrig. Das ist Koy der Trommler. Er half mir, die Kette zu reparieren!« Koy hob seine Feuerlanze und lächelte breit. Das Männlein starrte ihn in offenem Mißtrauen an. »Einer aus Donkmoon?« »Nein. Koy der Jäger«, erklärte Koy ruhig. »Und nebenbei habe ich verhindert, daß Heimdall von irgendwelchen kaum sichtbaren Gestalten verschleppt wurde. Sind das die Gordys?« Heimdall schüttelte den Kopf und stöhnte dabei. »Nein. Ihre Werkzeuge. Ich mag sie nicht.« »Wen magst du schon?« setzte Koy dagegen. »Kröbel, wenn du Magier bist, dann kannst du sicherlich die Torpfosten draußen reparieren und die Gordy-Werkzeuge vertreiben. Außerdem bin ich sicher, daß zwei Männer in diesem Raum hungrig sind.« »Ich bin kein Koch!« fuhr Kröbel kreischend auf. »Ich bin der größte lebende skullmanente Magier.« »Was bedeutet skullmanent?« erkundigte sich der Trommler noch immer freundlich und höflich. Das Bizarre an der Situation verhinderte, daß er sich ernsthaft zu ärgern begann. Heimdall stampfte an ein halbblindes Fenster und blickte hinaus in den Innenhof. Dort stand der Truvmer, aber sonst schien nichts den Göttersohn zu beunruhigen. Die keifende Stimme senkte sich zu einem geheimnisvollen Flüstern, das mehr ein abgehacktes Pfeifen war. »Skullmanent ist die größte der erreichbaren magischen Wissenschaften. Es ist die Steigerung aller Fähigkeiten. Wunderbarer kann es nicht mehr gesteigert werden. Das ist skullmanent. Großartig, einmalig, exzeptionell und überzeugend. Der Triumph magischer Einsicht über lebende und tote Mate-
20 rie. Einfach alles: Das ist skullmanent.« »Verblüffend!« erwiderte Koy, nur mäßig beeindruckt. »Und wo bleiben die Proben deines Könnens?« »Wegen eines dicken Mannes mit weichen Hörnern auf der Stirn werde ich mich wohl in Stücke reißen!« antwortete Kröbel wegwerfend und näherte sich einem steinernen Behälter, der halbvoll Wasser war. Er steckte die Hände in das Wasser und sah von Heimdall zu Koy. »Drüben ist Essen. Genug für eine Horde solcher klobiger Riesen wie Heimdall. Es wird auch noch für dich reichen, obwohl du aussiehst wie der Große Fresser aller Dinge.« »Vielleicht«, wagte Koy laut zu sagen, »solltest du ein wenig mehr essen, um die Wirkung deiner skullmanenten Wissenschaft zu verstärken. Wenn ich euch richtig verstanden habe, dann wird dies nötig werden.« Heimdall ging an Koy vorbei und öffnete eine etwas kleinere Tür. Der Trommler sah im Nebenraum einen gedeckten Tisch, der einen ziemlich einladenden Eindruck machte. Im Vorbeigehen sagte Heimdall: »Du mußt wissen, daß Kröbel unter den berühmten Magiern in der Großen Barriere von Oth lebte.« Und wahrscheinlich haben sie diesen angeberischen Wichtigtuer mit Schimpf und Schande davongejagt, dachte Koy belustigt. Wenn es richtige Magier waren, dann bot sich dieser Ausweg an. Noch immer hielt Kröbel seine Hände in den Wasserbottich und grinste Koy herausfordernd an. »Ich bin auf der Straße der Mächtigen gepilgert, um Bescheidenheit, Ruhe und Bedürfnislosigkeit zu lernen, die wichtigsten Tugenden eines Magiers!« »Was dir, wie leicht zu erkennen ist, auch gelang!« bestätigte Koy der Trommler sarkastisch, was den Magier nicht sonderlich zu berühren schien. Vermutlich entbehrte er, wie die meisten Bewohner Pthors, des Sinnes für Ironie. »Richtig. Zwischen Zbohr und Donk-
Hans Kneifel moon stießen wir – ich und mein skullmanentes Talent – auf Heimdall. Schnell wurden wir zu echten Freunden.« Er nahm eine Hand aus dem Wasser, auf dessen Oberfläche sich leichte Dampfwolken zu kräuseln begannen, dann winkte er mit knochigem Zeigefinger dem Jäger. Heimdall wird ihn aufgelesen und Mitleid mit ihm bekommen haben. Seither leben sie hier, weil Heimdall jemanden braucht, dem er zeigen kann, daß er schlechte Laune hat. Sonst würde sie sinnlos, mangels Publikum. Und doch, durchfuhr es Koy, kommt er zu den armen Berserkernachfahren und bringt ihnen unaufgefordert Nahrungsmittel und Gebrauchsartikel. Seltsam. Er trat an den Bottich und sah hinein. Perlen stiegen an die Wasseroberfläche und platzten, ein Zeichen, daß das Wasser bald zu kochen anfangen würde. »Ich reinige meine Hände. Und was geschieht?« rief meckernd der kleine Mann, während Heimdall nebenan mit Geschirr und Besteck klapperte. »Was geschieht? Die Hände werden sauberer. Ein großes Wunder!« sagte Koy höhnisch. »Nichts da. Faß hinein, du vorwitziger Musikant.« Koy verzichtete darauf, dem klugen Magier zu erklären, daß seine beiden Broins keineswegs etwas mit Tanzmusik zu tun hatten. Er steckte einen Finger in das Wasser und zog ihn sofort wieder heraus. Das Wasser war kochend heiß. »Und was geschieht?« krähte triumphierend Kröbel und sprang von einem Bein zum anderen. »Das Wasser wird warm«, rief Koy. »Das Wasser kocht! Du bist derselbe Ignorant wie Heimdall. Siehst du?« Tatsächlich kochte das Wasser. Koy bückte sich und suchte nach einer versteckten Hitzequelle, aber er sah nichts anderes als einen wuchtigen Holztisch, auf dem der Bottich stand. Er war zweifellos heiß, und ebenso zweifellos kochte das Wasser. Koy wußte nun nichts mehr, als daß der Magier
Der Jäger und der Göttersohn tatsächlich eine einzige magische Wissenschaft beherrschte, nämlich das Erhitzen einer kleineren Menge Wasser mit den Händen. Kröbel trocknete seine Finger an seinem schwarzen Umhang ab und deutete geradeaus. »Dorthin. Und nach dem kurzen Imbiß werden wir es Ihnen zeigen! Sie haben mich brüskiert und beleidigt. Mich, Kröbel, zu beleidigen. Ich schwöre Ihnen ewige Rache und baldige Vernichtung.« »Nach dem Essen!« bestätigte Koy. Kröbel hüpfte voran, Koy folgte ihm. Der angrenzende Raum war ein wenig kleiner und auch sauberer. Er hatte ein breites, offenes Fenster, das in den Innenhof zeigte. Dort war nichts Feindseliges zu beobachten, wie sich Koy schnell vergewisserte. Heimdall hatte auf rührendunbeholfene Weise den Tisch gedeckt. Die Nahrungsmittel waren ebenso barbarisch wie das wuchtige Geschirr und die restliche Umgebung: riesige Schinken, Humpen mit schäumendem Bier, halbe Früchte mit schwarzen Kernen, eine Schale voll gebratener Geflügelteile, ein Kegel gelber Butter. Die Messer sahen aus wie Dolche, die Gabeln wie Mordinstrumente. Koy setzte sich in einen hölzernen Stuhl, der eine Nacht lang einen großen Kamin hätte heizen können. Schweigend aßen sie. Hin und wieder setzte Heimdall den Tonbecher an die Lippen und trank saure Milch, dann wieder das schwarze Bier. Dicke Scheiben des fetten Schinkens und wuchtige Brotkanten, dick mit Butter beschmiert, verschwanden in beängstigendem Tempo. Selbst der Magier verschlang staunenswerte Mengen. Als Koy satt war, trank er einen Schluck Bier und lehnte sich zurück. Etwas weniger ruppig erkundigte sich Heimdall jetzt: »Die Herren der FESTUNG, also? Sie suchen Fremde von … draußen? Und du sollst sie fangen?« »Um sie zu fangen, müßte ich erst einmal wissen, wer sie sind und wo ich sie finden kann. Aber da ich keine Verbindung mehr
21 mit ihnen habe, werde ich meine Mutter Dagrissa suchen. Ich glaube, meine Jagdlust ist wieder erwacht, und dies ist immer ein gutes Zeichen.« Kröbel starrte ihn an und zwinkerte dann mehrmals. »Ich habe die Aktivitäten der Gordys für einige Zeit unterbunden. Wenn wir uns stark und satt fühlen, werde ich wieder eingreifen. Dann spüren wir sie auf, und schon bald werden sie sich wünschen, dem Lettro ferngeblieben zu sein!« erläuterte mit grenzenlos überlegener Miene der Magier. »Darf ich dieses Mal helfen?« fragte Koy ruhig den schwarzbärtigen Sohn Odins. Als Heimdall den Mund zur Antwort öffnete, erschütterte übergangslos eine kurze Reihe schwerer Schwankungen und Vibrationen den Bunker. Sämtliche Gegenstände bewegten sich. Klirren, Bersten, Krachen und Poltern mischte sich in den dröhnenden Schrei, den Heimdall in äußerster Wut ausstieß. »Sie sind eingedrungen! Der Saal des Schatzes ist in Gefahr. Jetzt müssen wir kämpfen!« Er raffte sein Kampfbeil an sich und winkte Koy. Der Trommler hatte eine andere Antwort erwartet, aber dies war ein ebenso deutliches Signal. Die Merkwürdigkeiten rissen nicht ab. Die Gordys schienen zugeschlagen zu haben – vielleicht hatte einer von ihnen die Drohung des Magiers gehört. Koy der Trommler fürchtete sich nicht vor schattenhaften Gespenstern, aber er war brennend neugierig, was er im Saal des Schatzes vorfinden würde.
4. Heimdall riß eine andere Tür auf und stürmte mit langen Sätzen eine schmale, dunkle Treppe hinunter. Koy der Trommler folgte ihm auf den Fersen. Irgendwo hinter ihm keifte der Magier. Koys Stiefel rutschten auf den schlüpfrigen Stufen aus, aber er bewegte sich schnell und sicher. Heimdall wußte, in welche Richtung er rannte. Nach zwanzig Stufen riß die Treppe ab und mün-
22 dete in einen schmalen Gang. Dieser Teil der Anlage schien noch älter als alles andere zu sein, denn die Farbe und der grünliche Belag der Mauerquadern, der stechende Geruch und die Feuchtigkeit ließen keinen anderen Schluß zu. Heimdall war hier zu Hause und rannte wie ein Rasender schweigend geradeaus. Dicke, verkrustete Kabel waren mit rostigen Klemmen im Stein befestigt und endeten immer wieder in schmutzigen Lampen, die eine trübe Helligkeit warfen. »He, Heimdall«, schrie der Jäger. »Nicht so schnell!« Der Boden bestand aus gebranntem Lehm und war leidlich sauber, so daß sowohl der Sohn Odins als auch Koy der Trommler gut und schnell vorwärts kamen. Der Weg zum Schatzsaal führte zunächst eine Strecke lang geradeaus, dann mündete er in ein simples Labyrinth aus lauter rechteckigen Abzweigungen. Koy wußte, daß er einen Teil seiner Erfahrungen vorübergehend vergessen oder ignorieren mußte. Hier befand er sich in einer Umgebung, die für ihn neu und teilweise wirklich unerklärlich war. Koy, der darunter litt, daß er über seine persönliche Geschichte zu viel Erzählungen Dritter kannte und zuwenig Fakten hatte, der ziemlich genau über die Kräfte Bescheid wußte, die an seiner Seele zerrten, und zwar in verschiedene Richtungen, hatte im Moment keine Möglichkeit, dies alles zu vergessen. Er befand sich in einer Phase, in der er auf alles nur reagieren konnte. Bewußtes und geplantes Handeln wie bei fast allen bisherigen Jagden war ihm unmöglich gemacht. Darüber hinaus entwickelte er ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit von Befehlen, die aus der FESTUNG kamen. »Du mußt wissen, Koy, daß die wertvollsten …«, schrie Heimdall, der seinen Magier inzwischen völlig vergessen zu haben schien. Da er um die nächste Ecke bog, verstand Koy die folgenden Worte nicht mehr deutlich. Für ihn war es eine Folge unidentifizierbarer Töne. Er versuchte, etwas schnel-
Hans Kneifel ler zu rennen, aber die häufigen Richtungswechsel machten dies unmöglich. »… alle möglichen Schätze zusammengetragen. Es sind Stücke aus einer Zeit, die längst vergangen …« Entweder liefen sie im Kreis, oder die unterirdischen Korridore führten ganz bewußt zu einem bestimmten Raum. Koy wußte, daß es für ihn keine andere Möglichkeit gab, als bedingungslos Heimdall zu folgen. Er hatte sich ihm freiwillig angeschlossen – jetzt konnte er nicht mehr zurück. Ein Gefühl der Unsicherheit und deutlich kommender Gefahren tobte in seinem Verstand und seinen Eingeweiden. Dennoch rannte er hinter dem Riesen her und sah weit vor sich eine vage Helligkeit. Der Korridor schien dort aufzuhören und entweder in einen hellen Raum oder ins Freie zu münden. »… auch ich habe den Schatz zusammengetragen. Aber der Besitz ist ein Risiko.« Die letzten Worte Heimdalls schlugen an Koys Ohren. Die vielen rechten Winkel hörten jetzt auf; der schmale Gang mündete in eine flache, aufwärtsführende Rampe. Nicht nur die Lichtverhältnisse änderten sich, sondern auch der Geruch wechselte. Jetzt roch es nicht mehr nach Feuchtigkeit und wuchernden Moosen, sondern wieder nach dem Inhalt eines Raumes, der eine Ewigkeit lang nicht gelüftet, geputzt und instandgesetzt worden war. Es roch nach der Vergangenheit. Zehn Schritte hinter Heimdall rannte Koy die Schräge aufwärts, schaltete die Sicherung seiner Feuerlanze aus und sprang schließlich aus dem tiefgelegenen Halleneingang auf den Boden eines riesigen Raumes, der weder im Dunkel noch in gleißender Helligkeit lag. Der Fußboden befand sich eine Mannslänge tiefer als die Böden der Räume, die Koy bisher kennengelernt hatte. Er bestand aus einem Gemisch; selten hatte Koy solche Kostbarkeiten gesehen. Schon mit dem ersten, schnellen Rundblick stellte er dies fest. Das Gemisch bedeutete in diesem Fall, daß sich weiße, hochglänzende Fliesen mit solchen abwechselten, die aus
Der Jäger und der Göttersohn Edelmetallen und wertvollen Steinen zusammengesetzt und mit einer durchsichtigen Glasur versehen waren. Die Halle war gewiß nicht viel kleiner als sechzig zu sechzig Meter. Ihr tiefster Punkt befand sich an der Stelle, an der Heimdall und Koy standen. In einzelnen Stufen, jeweils etwa einen halben Meter höher und mehrere Meter breit, erstreckten sich Rampen mehr oder weniger rechteckig nach oben. Auf jeder Rampe oder auf mehreren gleichzeitig befanden sich Sockel, die aus Halbedelsteinen geschliffen oder mit kostbaren, wenn auch staubigen Stoffen bezogen waren. »Der Saal meiner Schätze!« sagte Heimdall leise und grimmig. »Aber ich sehe keine Kreaturen der Gordys.« »Und ich verstehe rein gar nichts«, pflichtete ihm Koy bei. Langsam sah er sich um und bewunderte uneingeschränkt die wahllose Zusammenstellung barbarischer Prunkgegenstände. Alles, woran so ziemlich jedes lebende Wesen dachte, wenn es sich ein Museum wertvollster Gegenstände vorstellte, war hier vorhanden – und dazu kam, daß dies alles ausnahmslos von unbekanntem Alter war. »Ich lebe für diese Schatzkammer«, brummte Heimdall und sprang mit mühelosen Sätzen die Rampen aufwärts. Seine Stimme hallte von den weißen Wänden zurück, seine Schritte klangen auf den kostbaren Fliesen. Koys Blicke fielen nach wenigen Sekunden auf ein Gestell, das aus hunderten kurzer Stahlrohrstücke bestand, die durch kugelartige Elemente zusammengefügt waren und einen Viertelkreis bildeten. Koy erstarrte, als er begriff, was er hier eigentlich sah. Schlagartig vergaß er die Gefährdung durch die Kreaturen der Gordys und kletterte näher an das Gerüst aus goldschimmerndem Gestänge heran. »Diese Bruchstücke …« flüsterte er gebannt. Er wußte, was er vor sich sah. In dem Gerüst waren mehrere Dutzend verschieden große Bruchstücke mit klauenartigen Klemmen eingefaßt wie Edelsteine in einem Schmuckband.
23 Dunkelgrau, metallisch, hart und brüchig wirkten die völlig willkürlich zerbrochenen Teile. Einige von ihnen waren mit ihren Bruchrändern zusammengefügt, und die Zeichen und Buchstaben liefen ineinander über. »Parraxynth-Bruchstücke!« sagte Koy laut. »Noch nie habe ich gehört, daß ein einzelner Mann so viele Bruchstücke besitzt. Und gesehen habe ich natürlich auch immer nur das eine oder andere.« Heimdall unterbrach seinen unruhigen Lauf durch das Museum und rief: »Dieser unermeßlich wertvolle Schatz ist von meinem Vater, und zum Teil habe ich die Stücke gesucht und gefunden und hier befestigt.« »Wenn du lange genug lebst und weiter suchst«, rief Koy ehrlich verwundert, »dann könntest du eines fernen Tages das Geheimnis von Pthor lösen?« »Ich beabsichtige, beides zu tun.« Das Gerüst, dessen tragende Elemente mit dem Boden fest verbunden waren, hatte eine Länge von etwa zehn Metern und eine Höhe von drei Metern. Die Anordnung der Parraxynth-Bruchstücke schien bis auf wenige Ausnahmen willkürlich zu sein, aber Koy erkannte, daß Heimdall oder sein Vater oder beide versucht hatten, diejenigen Teile nebeneinander anzuordnen, die so aussahen, als gehörten sie zusammen und an genau diesen Platz. In einigen Fällen war dies geglückt, in fast allen anderen nicht. Es gab offensichtlich kein erkennbares System. Auch jetzt empfand Koy genau das gleiche Gefühl wie jene, die ihm davon berichtet hatten: Alle diese verschiedenen großen Stücke waren nichts als Bruchstücke, die irgendwann entstanden waren. Etwas oder jemand hatte diese große Tafel auseinandergeschlagen oder in Fetzen zerspringen lassen. Und – Koy glaubte daran, daß an dem Tag, an dem alle Bruchstücke vorhanden waren und in sinnvollen Bezug zueinander gebracht werden konnten, Pthors Geheimnisse gelöst waren. Koys Blick irrte ab und heftete sich auf die anderen Gegenstände dieser Schatzkammer. Waffen und Bilder, völlig unverständli-
24 che Fundgegenstände, steinerne und metallene Zeugen einer längst vergessenen Vergangenheit, dies alles war auf Sockeln, an Wandmontagen, in gläsernen Kuben, die von der Decke herunterhingen und auf gemeißelten Säulenstümpfen standen. Koy kletterte einige Stufen höher hinauf und rief: »Wenn es jemanden gäbe, der mir erklärt, was alle diese kostbaren und funkelnden Gegenstände bedeuten, wäre ich klüger.« »Ich kann es nicht«, antwortete Heimdall, der mit der summenden Streitaxt in beiden Händen unruhig entlang der Wände rannte. Sie verständigten sich, indem sie fast schrien. »Aber du bist der Besitzer dieser Kostbarkeiten!« »Ich habe mehr damit zu tun, sie gegen andere zu verteidigen. Kann mich nicht um Historien kümmern.« »Wer will hier eindringen und stehlen? Was sind die Gordys?« »Eine Familie«, brüllte Heimdall wütend. »Eine Sippe aus Donkmoon. Aber sie sind nicht die einzigen. Sie wollen alle die Parraxynth-Teile.« Koy hatte die oberste Rampe erreicht, die entlang der vier Mauern lief. Schmale, senkrechte Fenster an drei Seiten des Raumes ließen gelbgefiltertes Tageslicht herein. Die goldenen Waffen und Rüstungen schienen aufzuglühen, aber die stumpfgrauen Flächen der Bruchstücke saugten das Licht an und blieben glanzlos und geheimnisvoll. »Unterstützen die Herren der FESTUNG diese Sippe?« rief Koy der Trommler. »Ich kann es nicht glauben. Sie waren immer … nun, gleichgültig. Oder jedenfalls nicht gegen mich.« Koy lehnte sich gegen die Mauer, hielt wachsam seine Feuerlanze in den Händen und ließ seine Augen hin und hergehen. Er bewunderte die wahllose Zusammenstellung der Zeugen einer unbekannten Zeit. »Warum wollen die Gordys die Bruchstücke?« »Weil sie ihre Position gegenüber den Herren der FESTUNG verbessern wollen.
Hans Kneifel Wer die Bruchstücke hat, hat die Macht«, rief Heimdall. »Oder auf alle Fälle mehr Macht. Verstanden, Zwerg?« »Verstanden. Und was tun die Gordys?« »Sie versuchen immer wieder, die Bruchstücke zu rauben. Auf hundert verschiedene Arten. Bin ich hier, dringen sie ein. Bin ich weg, beleidigen sie Kröbel und versuchen, die Stücke zu bekommen. Sie werden gleich wieder losschlagen. Es ist ein Nervenkrieg. Sie wollen mich dazu bringen, aufzugeben. Wenn doch mein Vater hier wäre! Aber ich schwöre Ihnen, er wird kommen, und dann hat die verdammte Schinderei ein Ende.« Es war die längste Rede, die Koy von diesem merkwürdigen Mann gehört hatte. Alles, was er tat und dachte, kreiste um diesen Zustand des verlorenen Glücks. Auch seine Versuche, durch Auffinden anderer Bruchstücke seine Sammlung zu vervollständigen, zielten darauf ab, diesen Zustand wieder herzustellen. Selbstverständlich würde Heimdall den wertvollsten Teil seines Schatzhauses mit seinem Leben verteidigen, wenn es nötig war. Koy erinnerte sich an die schattenhaften, halb unsichtbaren Wesen, die um das Tor herumgegeistert waren, und er fragte: »Ist der Kampf zwischen dir und den Gordys gefährlich, Heimdall?« Heimdall schüttelte seinen Kopf. Er wurde immer unruhiger; also erwartete er einen Angriff. »Ja und nein. Sie werden mich nicht töten, höchstens durch einen unglücklichen Zufall. Die FESTUNGS-Herren gestatten es ihnen nicht. Sie würden an Reputation drastisch verlieren.« »Es wird immer wirrer und undurchsichtiger. Die Gordys wollen also versuchen, dich verrückt zu machen oder zu veranlassen, ihnen die Parraxynth-Trümmer freiwillig zu geben?« »Du hast es erraten, dicker Kleiner.« »Keine Beleidigung«, rief Koy laut. »Ich helfe dir, und zusammen werden wir die Gespenster der Gordys erfolgreich in die Flucht
Der Jäger und der Göttersohn schlagen.« »Du kennst sie nicht. Sie werden es immer und immer wieder versuchen«, schrie Heimdall. »Sie wollen mich fertigmachen, weißt du!« »Ich hab's begriffen, Odinssohn.« Nun war Koy ein Bewohner von Pthor, zwar mit Können, Kenntnissen und einer einmaligen Begabung ausgestattet, aber selbst keineswegs frei von Zweifeln und Problemen, was seine eigene Existenz betraf. Wie würden solche Beobachtungen auf die Fremden wirken, die er zu suchen hatte? Was würden sie denken, wenn sie beispielsweise die Gespräche der letzten halben Stunde zwischen Heimdall, ihm selbst und diesem skullmanenten Kröbel gehört hätten? Es war nicht auszudenken. »Aber diese abscheulichen Nachkommen von vergessenen Vätern und namenlosen Müttern – wo sind sie?« schrie Heimdall wütend auf. Er rannte noch immer wie ein Besessener in seinem Museum hin und her und erwartete den Angriff oder Überfall der Gordys. »Wenn wir lange genug warten, werden sie sicher kommen. Sie waren da, als wir mit dem Truvmer kamen.« »Sie sind auch jetzt noch da. Sie warten«, dröhnte Heimdall, »bis ich unaufmerksam bin.« »Das spricht für ihr taktisches Geschick.« Was von Kröbel, dem skullmanenten Magier, zu halten war, wußte Koy der Trommler nun genau. Nichts. Möglicherweise konnte er mit seinem heißen Wasser gut Tee kochen, aber das war alles. Sollte es zu einem Kampf kommen, dann war er nutzlos.
5. Die Plantage war jetzt, kurz nach Mittag, ziemlich ruhig. Aber die Farmer und die Arbeiter standen nach wie vor im Schatten und sahen hinüber zu den seltsamen Maschinen, Projektoren und Anlagen, an denen noch immer die Mitglieder der Sippe hantierten. Es war heiß, es roch nach den zertrampelten
25 und ruinierten Pflanzen, und die Wut der Farmer wurde größer. In den Gebäuden nahe der großen, grünen Plantage wohnten rund zweihundert Mitglieder der Familie Gordy. Viele von ihnen waren zwischen den Anlagen beschäftigt und arbeiteten trotz der Hitze und des grellen Sonnenlichts fieberhaft. Es war nicht genau zu erkennen, was dort geschah. Zwischen den Bäumen, an denen die Früchte zu reifen begannen, breiteten sich die seltsamen Geräte aus. Zwischen ihnen befand sich eine Plattform, die noch viel mehr ein Fremdkörper war als alles andere, das die Bauern und Arbeiter mit Furcht und Staunen erfüllte. Fünfzig Angehörige der Sippe waren in den letzten Tagen hier aufgetaucht. Es waren hauptsächlich Techniker und Wissenschaftler. Sie hatten viele der gebogenen und gewundenen, schwarzen und leuchtenden Gerätschaften mitgebracht, aufgestellt und justiert. Sie hielten die Farmer von den notwendigen Arbeiten ab, aber es fiel ihnen nicht einmal ein, eine Erklärung zu geben. Die Farmer wußten nicht, worum es ging, aber sie erkannten, daß die Gordys unter starker innerer Spannung arbeiteten. Sie waren hektisch und aufgeregt. Irgend etwas ging hier vor. Man erkannte es auch an dem Gesichtsausdruck der Sippenangehörigen. Sie versuchten etwas zu tun, wovon sie sich etwas Wichtiges versprachen. Einer der Farmer wagte sich etwas weiter heran. Er sah, daß ein Angehöriger der Gordys sich der Plattform näherte. Das Farmgebiet befand sich etwa zehn Kilometer südlich der Stadt Donkmoon. Dorthin wurden die Früchte und die landwirtschaftlichen Erzeugnisse geliefert, die man hier anbaute und kultivierte. Was ging dort auf der Plattform vor? Einzelne Gruppen umstanden Schaltpulte und transportable Energieerzeuger. Mehrere Projektoren richteten sich summend so aus, daß sich ihre unsichtbaren Strahlen im Zentrum der runden Plattform kreuzten. Der
26 Gordy, der einen entschlossenen und irgendwie wütenden Eindruck machte, kletterte auf die Plattform und blieb auf einem gekennzeichneten Punkt stehen. »Was tut er?« Der Farmer warf einen zögernden Blick auf die kantigen, weißen Gebäude der kleinen Vorstadt weit vor den Grenzen Donkmoons. Niemand war dort zu sehen; die Straßen, die Terrassen und die Treppen waren leer und verwaist. Es gab nur kalkweiße Flächen und die kantigen tiefschwarzen Schatten. Alles konzentrierte sich auf die Rasenanlagen zwischen den Fruchtbäumen. Eine Lautsprecherstimme sagte knarrend: »Das ist Nummer zweiundzwanzig. Beginn der Reduktion in fünfundzwanzig Sekunden. Alles klar?« »Klar.« Schon mehrmals waren Gordys, offensichtlich besonders mutige junge Männer, auf die Plattform gestiegen und dort verschwunden. Sekundenlang schienen sie sich in einen Nebel zu verwandeln, aber das war in der grellen Hitze nicht deutlich zu beobachten gewesen. Jedenfalls war alles sehr merkwürdig. Der Farmer preßte sich an einen Baumstamm und spähte zwischen zwei brummenden Fahrzeugen hindurch auf die Plattform. »Zehn Sekunden.« Überall war das Gras zertrampelt. Die Fahrzeuge hatten Äste abgebrochen und die heruntergefallenen Früchte zermalmt. Im Augenblick bewegten sich die anderen Gordys nicht, sondern starrten gebannt ihren Familienangehörigen an, der sich bemühte, still zu stehen und sich dennoch rührte. Er schien trotz der Hitze zu zittern. Wieder sagte eine Lautsprecherstimme knapp: »Fünf Sekunden.« Das Summen verstärkte sich. Nach fünf Sekunden ertönte ein peitschender Knall, der die Bäume zittern ließ. Der Mann auf der Plattform löste sich binnen weniger Sekunden auf, er wurde durchsichtig, verlor seine Konturen, und das grelle Sonnenlicht machte alle seine Bewegungen unwirklich. Mit
Hans Kneifel einigen Sätzen turnte er hinüber, stellte sich vor einen Projektor, dessen schüsselförmiger Sender ihn ganz verschwinden ließ. Der Bauer hörte, wie ein Gordy zu dem anderen sagte: »Das war der letzte. Nummer zweiundzwanzig. Es wird sich jetzt kein mutiger Gordy mehr melden.« »Sie werden seine Botschaft hören und Heimdall so belästigen, daß er die Teile freiwillig herausgibt.« »Das hoffen wir.« Also war dieser entstofflichte Gordy in dem riesigen Wohnbunker des Odinssohns verschwunden, so wie alle einundzwanzig vor ihm, erkannte der erschrockene Bauer. Wie konnten die Gordys aus Gleidruss es wagen, nicht nur die Plantage zu verwüsten, sondern auch Heimdall zu belästigen? Die Bauern waren machtlos dagegen; hier herrschten die Bewohner der Siedlung Gleidruss. Vorsichtig zogen sie sich zurück. Sie würden ärgerlich sein, wenn sie sahen, daß man sie belauschte und beobachtete. Zweiundzwanzig Gordys tobten jetzt dort, etwa fünfzehn Kilometer weit weg, in Heimdalls Hallen und Kammern und machten ihn wahnsinnig und böse. Der Farmer wußte nicht, daß die Gordys alles sehr gut hatten vorbereiten können. Sie wußten, daß Heimdall seinen Truvmer ausrüstete und mit Nahrungsmitteln belud. Das war das Zeichen für die Wissenschaftler und Forscher gewesen, in rasender Eile ihre Gerätschaften herzubringen und aufzubauen. Als der Truvmer das Fort verließ, war alles bereit gewesen. Kurz darauf tauchte der erste halbentstofflichte Gordy im Fort auf und begann mit seiner zerstörerischen Tätigkeit. Mit einigen Sprüngen rannte der Bauer auf den Maschinenschuppen zu und warf sich hinter den Büschen in Deckung. Einige Zeitlang geschah nichts. Die Gordys verließen ihre Plätze und bildeten große Gruppen. Sie diskutierten aufgeregt miteinander und schienen sich zu freuen, daß ihr Anschlag auf Heimdall geglückt war.
Der Jäger und der Göttersohn Plötzlich stürzte aus einem der großen Fahrzeuge aufgeregt ein junger Mann, lief auf die erste Gruppe zu und rief in heller Panik einige Sätze, die der Farmer nicht verstehen konnte. Augenblicklich rannten die Leute auseinander. Sekunden darauf ertönte wieder die Lautsprecherstimme, die schon den ganzen Tag über ihre Befehle durch die Plantage gebrüllt hatte. »Achtung! Meldung aus Donkmoon! Eben wurde uns durchgegeben, daß Artol Forpan nicht mehr lebt. Der Kartaperator wurde zerstört, das Projekt ist damit zusammengebrochen. Forpan soll sich das Leben genommen haben! Donkmoon befiehlt, daß alle Forscher, Wissenschaftler und ihre Assistenten sofort zurückkommen. Das war der Text der Meldung. Wir wissen, was unsere Pflicht ist.« Der Bauer kannte Artol Forpan nicht. Aber er wußte, daß die Meldung für die Gordys von Gleidruss von ausschlaggebender Wichtigkeit war. Was er sah, gab ihm recht. Er erlebte einen hastigen, teilweise ziellosen Aufbruch mit. Maschinen wurden abgeschaltet, Wagen fuhren umher und walzten die Pflanzen nieder, Männer sprangen auf Transportmittel und entfernten sich in Richtung der weißen Häuser. Was hatte der Tod dieses Forpans geändert? Warum verließen so viele Männer den Schauplatz ihrer Versuche, nachdem sie die Plantage halbwegs zertrampelt und zerwühlt hatten? Und wer kümmerte sich um die durchsichtigen, wesenlosen Gordys, die der unsichtbare Strahl in Heimdalls Fort geschleudert hatte? So viele Hast, so viele Aufregung, dachte der Farmer. Wie leicht konnte in den Schaltungen oder in der Energieversorgung etwas durcheinandergeraten. Nur ein einziger Schalter, und alles veränderte sich. Er zuckte die Schultern und dachte daran, daß er wieder schuften mußte, wenn die Herren von Gleidruss abgezogen waren.
27
* Heimdall hörte mit seiner rastlosen Wanderung kreuz und quer durch die Schatzkammer auf und schob eine eiserne Lade zur Seite. Sie quietschte gräßlich. Ein Bündel aus Sonnenstrahlen fiel in den Raum und verwandelte Teile davon in Zonen betäubenden Glanzes und irrlichternder Reflexe. Die Bruchteile des Parraxynth blieben bleiern stumpf. »Dort draußen sind sie. Sie gehen durch Mauern wie durch Wasser«, sagte er schließlich, als gäbe er ein großes Geheimnis frei. »Das kann nicht dein Ernst sein. Ich habe niemals von Wesen gehört, die das vermögen«, antwortete Koy voller Verwunderung. »Die Gordys von Gleidruss, einer Vorstadt Donkmoons, haben solche Geräte. Deswegen sind sie auch hier eingedrungen. Ich kann nichts gegen sie tun, verstehst du?« »Jetzt verstehe ich manches!« brummte Koy. Jeder Kampf und jeder Versuch, diese Art von Eindringlingen wieder hinauszuwerfen, war sinnlos und lächerlich, da die Eindringlinge einfach durch die nächste Wand verschwanden und sich in einem anderen Raum befanden. Für sie war zwar das Wohnfort nicht aus Glas, aber überall zu durchdringen. Weder er, Koy, noch Heimdall, konnten einen der Gordys packen. Sicher würde die Feuerlanze eine wirksame Waffe sein, aber der Preis für jeden Schuß wäre ein Brand, den sie selbst löschen mußten. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik, fand Koy, aber die Gefahren wurden dadurch nicht kleiner. Was Heimdall tat, war sicher das beste Verfahren. Er wartete hier an der Stelle, an der sich sein teuerster und nicht wieder herstellbarer Besitz befand: jene Dutzende von Bruchstücken. Alles andere war vergleichsweise unwichtig und konnte wiederhergestellt und wieder herbeigebracht werden. Und selbstverständlich blieb für einen fremden Gordy hier optisch gesehen
28 eine Mauer auch eine Mauer: dick, schallsicher und keineswegs transparent. Das bedeutete wiederum, daß die Gordys die Schatzkammer auch suchen mußten wie jeder Dieb. »Jetzt verstehe ich fast alles«, wiederholte Koy der Trommler einschränkend. »Ich sehe, du bist hilflos ohne mich, Heimdall.« »Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt.« »Begreiflich. Wir können nichts anderes tun als hier warten. Wie lange dauert der Angriff? Weißt du es?« Heimdall sah ihn unter den buschigen schwarzen Brauen wütend und verzweifelt an. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie können diesen Zustand nicht sehr lange aushalten. Aber es kommen neue. Einer nach dem anderen. Die ganze verdammte Sippe war schon hier in meinem Haus. Sie kennen es teilweise besser als ich selbst.« »Und Kröbel?« Bis jetzt schien noch keiner der Gordys den Saal der Schätze entdeckt zu haben. Heimdall und Koy warteten weiter, während die Sonne tiefer und tiefer sank. »Vergiß Kröbel. Ich nahm ihn auf, weil er mich dauerte. Er war halb verhungert, als ich ihn fand. Er kann vielleicht etwas, aber er ist das Faktotum hier. Er hört zu, wenn ich spreche.« »Was immerhin recht selten ist«, murmelte Koy und begann zu ahnen, daß aus allen Richtungen die Gordys sich in das Zentrum der Anlage vortasteten. Sie passierten Mauer um Mauer, orientierten sich und drangen weiter vor. Früher oder später würden sie hier eindringen, und dann gab es Kampf. Die Unruhe der beiden ungleichen Männer stieg, je mehr Zeit verstrich. Das Gebäude war völlig still, es schien ausgestorben zu sein. Nicht einmal Kröbel war zu hören. Auch im Innenhof, wo noch immer regungslos das Kettenfahrzeug stand, rührte sich nur der Sand, wenn ein Windstoß durch das geborstene Tor hereinwehte und ihn zu kleinen, wandernden Säulen hochwirbelte. Gerade in dem Augenblick, als Koy die
Hans Kneifel Augen schloß und merkte, wie die Müdigkeit ihn ergriff, ertönten krachende Detonationen und wilde, kreischende Schreie aus allen Richtungen. Dicht neben ihm brach aus der massiven Wand ein Fuß und ein ausgestreckter Arm hervor, wurde deutlich und verlor seine schattenhaften Umrisse und bewegte sich krampfartig. Die Schreie wurden lauter, und die Mauern und Wände begannen drohend zu knirschen und zu knistern. »Sie sind da!« brüllte Heimdall und riß die Khylda hoch.
6. Während Koy der Trommler mit einem gewaltigen Satz aus der Reichweite des umhertastenden Arms sprang, fuhren ihm rasend schnell eine Serie von Erklärungen und Erkenntnissen durch den Kopf. Etwas war geschehen, das die Gordys ihres geheimnisvollen Zustands beraubte. Sie waren nicht mehr fähig, Wände zu durchschreiten. Aber sichtlich waren nicht alle von ihnen mitten im Durchgang steckengeblieben. Welch ein grauenhaftes Schicksal! dachte er und sah, wie vier junge, wild aussehende Männer die schräge Rampe im untersten Punkt des Saales heraufstürmten und mit ihren Blicken die Parraxynth-Bruchstücke suchten. »Weg hier. Ich bringe euch alle um. Verfluchte Brut aus Gleidruss!« schrie Heimdall, schwang seine summende Streitaxt und sprang von einer Rampe auf die nächstniedrige hinunter. Koy suchte einen günstigen Schußwinkel, aber wie er sich auch drehte und wendete, er würde überall Ausstellungsgegenstände und Schätze von unaussprechlichem Wert vernichten. Er gab einen kurzen Schuß schräg in die Höhe ab und duckte sich schräg unter dem Feuer weg. Zwei Gordys hechteten durch die Öffnung, die in den Innenhof zeigte. Sie alle waren mit stählernen Dingen bewaffnet, die wie merkwürdig geformte Schwerte aussahen. Heimdall stürzte sich auf den ersten Ein-
Der Jäger und der Göttersohn dringling und schlug mit der Schneide der Axt zu. Aber er konnte sich nicht ungehindert bewegen. Überall waren die Sockel und die Vitrinen im Weg, die Rüstungen oder Bündel von fremdartigen, stangenähnlichen Gerätschaften. Die Schneide der Khylda klirrte mit ungeheuerer Wucht gegen das Schwert in der Hand des Gordys. Die Gordys waren in Panik geraten. Jetzt waren sie durchaus gegenständlich und Wesen aus Fleisch und Blut. Sie fühlten sich in die Enge getrieben. Nach und nach drangen zwölf Männer hier ein. Aus der gekrümmten, flammenartig geschliffenen Schneide des Schwertes schoß eine Funkengarbe und blendete Heimdall und den Gordy. Dann prellte der Schlag der Waffe mit den Zinken und Zacken an der Spitze aus der Hand des Angreifers. Das Schwert überschlug sich mehrmals, als es in die Höhe gewirbelt wurde und wieder herunterstürzte. Es blieb mit einem krachenden Schlag in der Schädeldecke eines riesigen hölzernen Kopfes stecken, der mit gläsernen Augen in die Richtung der Bruchstücke blickte. Der Gordy warf sich zur Seite und ging hinter einem plastischen Bild in Deckung, das einen Palast zeigte, in dem sich prunkvolle Pthorer bewegten. Heimdall sah sofort den nächsten Gordy an. Er sah, daß die wütenden Männer von allen Seiten auf ihn eindrangen. Ein Schwerthieb traf die Panzerplatten der Rüstung im Rücken, erzeugte ein kreischendes Klappern und einen klirrenden Schlag, als sich die Spitze in eine der Bodenfliesen bohrte. »Jetzt haben wir dich, Heimdall!« schrie einer von rechts. »Du hast unsere Brüder verwandelt und lebend eingemauert.« Noch immer schrien und zappelten diejenigen, die in Mauern und in den wuchtigen Felsquadern steckten. Die Erschütterung schien einen Mechanismus in dem Kopf ausgelöst zu haben. Die Augen öffneten sich weit, die Lider hoben sich, zwei blendend weiße Strahlen zuckten daraus hervor und
29 badeten, wie vorher die Sonnenstrahlen, das Gerüst und die Bruchstücke in ein grelles Licht. Die Stäbe und Kugeln flammten auf, die Bruchstücke verloren an den Rändern ihre stumpfe Farbe und schienen winzige Funken zu sprühen. Koy wirbelte herum und schlug den langen Lauf der Feuerlanze in den Nacken eines Gordys, der an ihm vorbeitaumelte und langsam von Ebene zu Ebene hinunterfiel. Der Schwerthieb pfiff wirkungslos eine Handbreit neben dem rechten Ohr vorbei. Nicht einmal im Fallen ließ der Gordy sein blutrot gefärbtes Schwert fallen. Der Riesenkopf klappte die Kiefer auseinander und schrie in altertümlichem Pthora: »Verflucht sei, wer die Teile des Parraxynths stehlen will. Ich werde ihn verfolgen und niedermachen …« Das Schwert in seinem Scheitel schwang zwischen den silberfarbenen Haaren langsam hin und her. Die hallenden, donnernden Sätze mischten sich mit dem Schreien der Eingemauerten und dem Knirschen der Balkenkonstruktionen. Heimdall verteidigte den Raum rund um die Bruchstücke. Aber immer wieder zuckte er zurück; die langgeschäftete Waffe zog weite Kreise und gefährdete die Bruchstücke. Er duckte sich unter dem ausgestreckten Arm einer Statue, stieß einen Angreifer mit dem Dorn der Khylda nieder und sprang auf den nächsten zu. Noch immer brüllte der hölzerne Riesenschädel seine Verwünschungen hinaus. »… verflucht sei er. Niemand soll sie antasten, Heimdall soll sie schützen mit seinem Leben …« Wieder zuckten zwei Schwerter auf ihn zu. Sie waren tatsächlich alle in verschiedenen leuchtenden Farben gehalten. Blaue und silberne, rote und gelbe Lichter blendeten von den wirbelnden Schneiden. Klirrend prallte die Khylda gegen das Schwert und schleuderte es zur Seite, dann wehrte Heimdall den anderen Angreifer ab und machte einen Ausfall, der ihn von dem Gerüst der Bruchstücke wegbringen sollte.
30 Koy packte einen verzierten, schweren Speer und hob ihn in der rechten Hand, dann schleuderte er ihn mit aller Wucht nach vorn und traf einen Gordy tief in die Schulter. »Heimdall! Hinter dir!« schrie er. Der schwarzhaarige Kämpfer fuhr herum, seine Axt schrammte am Boden entlang und traf mit der letzten Ecke das Gerüst, das einen ächzenden Laut von sich gab. Aber dann wirbelte die Axt hoch, zischte senkrecht herunter und spaltete einem Angreifer den Schädel. Inzwischen bildeten sieben oder acht Gordys eine Art Kreis um Heimdall. »Sogar meine Schwerter habt ihr gestohlen! Gesindel!« schrie Heimdall aufgebracht und sprang hin und her. »Und du hast sie alle grausam umgebracht!« schrie ein Gordy. Heimdall hätte sie alle binnen kurzer Zeit in die Flucht geschlagen, aber hier mußte er auf seine Kostbarkeiten Rücksicht nehmen. Jeder wuchtige Schlag konnte unwiederbringliches restlos zerstören. Und selbstverständlich trennte er sich nicht von dem bewußten Gerüst mit den Bruchstücken. Wie ein Wolf umkreiste er es immer wieder und begegnete jedem Angriff. Das Schreien der Eingemauerten und Steckengebliebenen war leiser geworden. Der sprechende Kopf hatte aufgehört, seine Verwünschungen hinauszubrüllen. Noch immer steckte das Schwert in seinem Scheitel. Auch die Balken und Mauern knisterten nicht mehr. »Das ist nicht wahr!« Wieder beschrieb die Axt einen Viertelkreis, entwaffnete mit einem schneidenden Schlag einen Gordy und traf den nächststehenden am Arm. Koy baute sich schräg hinter Heimdall auf, hob eines der heruntergeschlagenen Schwerter auf und fragte sich, ob er den Angriff mit den Broins restlos zurückschlagen sollte. Aber dies war eine tödliche Waffe, und die Gordys hatten ihm nichts getan. Ein Gordy warf ein Schwert. Zwei Männer, die vor ihm gegen Heim-
Hans Kneifel dall kämpften und immer wieder den zögernd geführten Schlägen und Ausfällen auswichen, sprangen auseinander. Das Schwert, die mehrfach auseinandergespreizte Spitze nach vorn, zischte zwischen ihren Schultern hindurch und traf Heimdall. Die Rüstung über seinem Herzen klirrte, das Schwert blieb zwischen den einzelnen Platten der Rüstung stecken. Heimdall taumelte und strauchelte. Nur seine Geistesgegenwart und der Umstand, daß er schnelle Reflexe hatte und sich wehrte, ohne denken zu müssen, retteten ihm das Leben. Der Schwerthieb, der ihm den Kopf von den Schultern getrennt hätte, ging ins Leere. Heimdall war im richtigen Sekundenbruchteil mit dem Kopf und dem Oberkörper nach rückwärts ausgewichen. Die beiden Angreifer sprangen nach vorn, als Heimdall auf dem Rücken lag, vor Schmerzen aufstöhnte und das Kampfbeil hochriß, um sich gegen sie zu wehren. Er versuchte, auf die Füße zu kommen, aber schon schwebte ein Schwert über ihm. Dem zweiten Schwerthieb würde er nicht entgehen können. »Schluß!« sagte Koy laut und schmetterte mit einem wilden, gezielten Schlag das erbeutete Schwert nach rechts. Der Angreifer wurde mitten im Lauf gestoppt, das Metall seines Schwertes brach klirrend dicht hinter dem Griff ab. Koy fixierte den Angreifer, der in drei oder vier Sekunden Heimdall töten würde. Die beiden Fühler, die aus seiner Stirn herausragten, bewegten sich wie zitternde Grashalme. Die kugelförmigen Verdickungen schlugen schon nach wenigen Vibrationen lautlos gegeneinander. Psionische Impulse suchten sich ihr Ziel und trafen denjenigen Gordy, der mit erhobenem Schwert auf Heimdall lossprang, der sich seinerseits halb aufgerichtet gegen zwei andere Eindringlinge wehrte, keinen Meter von den untersten Parraxynth-Bruchstücken entfernt. Jetzt war aus der Vibration der beiden Broins ein rasendes Stakkato geworden. Koy stand da und starrte den Angreifer an. Dieser
Der Jäger und der Göttersohn schien sich mitten in der Bewegung zu Stein verwandelt zu haben. Das Schwert fiel aus seiner Hand und klirrte laut auf den Fliesen. Seine Kameraden bemerkten die Veränderung und hielten im Kampf inne. Jetzt schien man die beiden Kugeln der Broins nicht mehr sehen zu können; die Vibrationen waren zu schnell. Niemand der Anwesenden beachtete Koy den Trommler. Alle blickten auf den Gordy, der mit hocherhobenem Arm dastand und ein langgezogenes Stöhnen von sich gab, das aus dem tiefsten Grund seines Körpers zu kommen schien und nichts Natürliches mehr an sich hatte. Er riß beide Arme an den Körper. Dann hielt er sich mit den Handflächen die Ohren zu, schrie laut und gellend auf und schloß die Augen. Sein Körper zerbarst wie eine Steinfigur in tausend kleine Bruchstücke, die auf die Fliesen herunterfielen und einen flachen Haufen bildeten. Koy drehte den Kopf um wenige Zentimeter und faßte den Angreifer ins Auge, der eben versucht hatte, auf den kämpfenden Heimdall einzudringen. Der Mann warf sein Schwert weg und rannte auf die Fensteröffnung zu. »Weg von hier! Hier herrscht Magie!« kreischte er in hysterischer Furcht auf. Wie von Furien gehetzt, lief er Rampe um Rampe aufwärts und sprang kopfüber durch das offene Fenster. Die anderen folgten ihm. Zwölf Männer waren hier eingedrungen. Neun von ihnen waren noch in der Lage zu fliehen. Sie warfen die Waffen achtlos weg, drehten sich herum und rannten auf die einzige Öffnung zu, die sich ihnen bot. Zwei prallten kurz vor dem Fenster zusammen, ein dritter sprang über sie hinweg und taumelte schreiend vor Entsetzen hinaus. Man hörte die schnellen Schritte der ersten Flüchtenden. In rasender Eile folgten die anderen Gordys. Sie alle hatten miterlebt, wie sie wieder voll verstofflicht wurden, und wie einer von ihnen zerborsten war. Dies alles war
31 für sie zuviel. Sie quetschten sich durch die Fensteröffnungen, sprangen hinunter in den Sand und Kies des Innenhofs und rannten schreiend durch das zerstörte Tor. Dreißig Sekunden später herrschte vollkommene Stille. Langsam ging Koy der Trommler auf Heimdall zu. Ächzend schaltete dieser die Vibrationseinrichtung der Khylda aus und blickte Koy hohläugig an. Koys Broins bewegten sich nicht mehr, sondern sahen so wie immer aus; aufrecht und regungslos. »Der Gordy ist vor meinen Augen zu Schutt zerfallen«, sagte Heimdall dumpf und schien erst jetzt zu bemerken, daß das Schwert noch immer zwischen den Teilen der Rüstung steckte. Er stand auf, packte das Schwert am Griff und riß es, obwohl zwischen den Platten aus Metall frisches Blut glänzte, mit einem einzigen Ruck heraus und warf es achtlos weg. »Ich habe versucht, dich und die Parraxynth-Stücke zu retten. Die Gordys hätten dich getötet.« In Heimdalls Gesicht bildeten sich harte, scharfe Linien und Kerben. Er maß Koy mit einem langen Blick voll brennender Intensität. Koy ahnte nicht, was Heimdall jetzt dachte. Langsam sagte er: »Was ist passiert? Einige von ihnen steckten in Mauern.« Als kehre er aus einem Ausflug in tagelange Alpträume zurück, sah sich Heimdall um und bemerkte mit dunkler, rauher Stimme: »Ich weiß es nicht. Ich war es nicht, der sie wieder zu normalen Wesen werden ließ. Es gibt keine Anlagen dieser Art hier in Heimdallsheim.« Koy warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Kröbel, der skullmanente Magier?« »Er wird sich vor Angst in seinen Büchern oder unter einem leeren Butterfaß vergraben haben!« war die Antwort. »Also keine magische Beeinflussung?« »Nein. Aber dieses Zerbröckeln … du warst es?«
32 »Ja. Ich war es. Meine Broins trommelten. Ich sagte es bereits einmal: eine Waffe von absoluter Tödlichkeit.« Verblüfft starrte Heimdall auf den kleinen, wuchtigen Mann. Er schien es immer noch nicht zu begreifen. »Sie sind alle geflüchtet. Das blanke Entsetzen hat sie gepackt«, murmelte er und achtete nicht auf das Blut, das aus der Rüstung tropfte. »Sie werden rennen, bis sie Gleidruss erreicht haben. Vielleicht haben die GordyWissenschaftler in der Vorstadt einen Fehler begangen. Wir kennen Geräte und Instrumente, und jedermann weiß, wie schnell sie zerstört werden können.« »Das ist möglich. Was, denkst du, tun sie jetzt?« Voller Überzeugung sagte Koy, der als berufsmäßiger Spurenleser und Jäger die Reaktionen anderer Pthorer sehr genau abschätzen konnte: »Sie tun nichts anderes als rennen, bis ihre Kräfte sie verlassen werden. Die Furcht ist in ihnen. In den nächsten hundert Tagen wirst du sicherlich Ruhe vor ihnen und ihren schlimmen Streichen haben.« Er überlegte kurze Zeit und rief sich die Eindrücke ins Gedächtnis zurück, die er während der letzten halben Stunde gesammelt hatte, teilweise bewußt, zum anderen Teil unbewußt. Dann sagte er zögernd: »Ihr Angriff war nicht echt. Sie waren verzweifelt. Niemals hätten sie von sich aus den Mut aufgebracht, daß sie alle Chancen und jedes Gramm Wohlwollen der Herren der FESTUNG verloren hätten. Es war eine Art Notwehr, eine Mischung zwischen Trotz, Verzweiflung und Unsicherheit. Und gegenseitig schaukelte sich ihre Wut hoch. Ebenfalls ihr Mut. Wenn du sie genau angesehen hast, dann wirst du entdeckt haben, daß sie alle jung waren. Nur ein Narr wagt es, gegen dich zu kämpfen. Das ist, meiner Überzeugung nach, die Wahrheit. Ich glaube, wir können diese Nacht trotz des geborstenen Tores ruhig schlafen.« Heimdall mochte ein blitzschneller
Hans Kneifel Kämpfer sein, der bisher alle Auseinandersetzungen seines langen und womöglich niemals endenden Lebens gewonnen hatte. Aber mit Überlegungen dieser Art tat er sich nicht sehr leicht. Er traute dem Frieden und der Ruhe nicht. »Was jetzt?« fragte er dumpf. Koy und er standen direkt vor den Parraxynth-Bruchstücken. Drei tote Gordys lagen an verschiedenen Punkten der Schatzkammer. »Was? Nichts! Ich werde ausschlafen und, denke ich, weiterziehen. Es sei denn, es ergeben sich umwerfend neue Gesichtspunkte.« Heimdall stützte sich schwer auf sein Kampfbeil. Koy dachte sich, daß sich der Odinssohn verhielt, als habe er einen schweren Hieb direkt auf den ungeschützten Kopf erhalten. Deswegen schlug er vor: »Wir gehen zurück zu Kröbel. Vielleicht hat er wieder heißes Wasser erzeugt, in dem du dich baden kannst. Ich werde deine Wunden versorgen. Möglicherweise gestattest du mir, eine Nacht unter dem breiten Dach von Heimdallsheim zu verbringen. Keine Sorge – ich werde deine großzügige Gastfreundschaft nicht mißbrauchen.« Heimdall lachte kurz. Plötzlich war er wieder der alte. Er überwand schnell eine gewisse Verlegenheit. Trotzdem wirkte er, als sei er aus der Tiefe eines langen Schlafes aufgewacht. »Entschuldige«, sagte er und verzog sein bleiches Gesicht zu einem gewinnenden Lächeln. »Entschuldige bitte, Koy, aber ich bin eingesponnen in mein Leben, in meine Probleme. Hin und wieder vergesse ich, was sich schickt, und was eines Mannes Brauch und Sitte ist. Bisher war ich mürrisch und abweisend zu dir. Ich schäme mich! Aber ich muß immer mißtrauisch sein, denn du selbst weißt jetzt, wie mir nachgestellt wird. Du hast mir geholfen – selbstlos und wie einer der Meinen.« »Keine Übertreibungen!« warnte Koy leichthin. Er rang sich ebenfalls ein herzliches Lächeln ab.
Der Jäger und der Göttersohn »In der Tat«, sagte Heimdall und zog Koy mit sich auf den Ausgang zu. »Wie ein Edelmann hast du dich verhalten. Sei mein Gast, koste die fetten Schinken ebenso wie das schwarzschäumende Bier. Bleibe hier und fühle dich wohl, Koy!« Sie betraten die schiefe Ebene. Heimdall schulterte die Khylda, und Koy trug seine Feuerlanze. »Es mag sein, daß ich andere Pläne habe«, sagte Koy vorsichtig. Langsam gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Heimdall schien seine Wunden zu ignorieren. »Welche?« »Jedenfalls nicht jene, die mich zwingen, nach Agmonth zurückzukehren«, erklärte der Jäger. »Für diesen Abend und diese Nacht nehme ich deine Einladung mit Freuden an. Vielleicht bade ich mich auch in Kröbels Heißwasser, wer weiß?« Heimdall lachte leise. »Wenn du schon wandern und reisen willst, so magst du dich hier ausrüsten, wie immer es dir beliebt. Zuerst aber – suchen wir den furchtsamen Kröbel, und dann werden wir ein Abendessen zusammen schmausen, als ob mein Vater Odin die Tafel krönen würde.« »So sei es!« schloß Koy. Er hatte das Herz Heimdalls offensichtlich gewonnen. Aber auch dieser Bunker mit all seiner ranzigen Butter und seinen zwei merkwürdigen Bewohnern und Schätzen war nur eine Station für ihn. Er vergaß die Herren der FESTUNG und entschloß sich, nicht nur seine Mutter zu suchen, sondern möglichst auch die Fremden zu finden. Sie waren auf eine noch genauer zu beschreibende Weise seine Verbündeten, auch wenn sie noch nichts davon ahnten. Durch das Labyrinth der Gänge, Korridore und Winkel liefen sie unterhalb des Bodens durch die halbe Anlage, dann kamen sie wieder nahe der Küche oder der Vorratskammer in den bewohnten Teil des Forts. Von Kröbel war nichts zu sehen. Heimdall warf seine Khylda auf einen
33 Tisch, hob beide Hände an den Mund und schrie: »Kröbel! Skullmanenter Magier Kröbel!« Schweigen … »An deiner Stelle würde ich unter den Butterfässern und den Mehlsäcken nachsehen«, riet Koy dem Odinssohn. »Und vielleicht solltest du endlich deine Handschuhe und die Rüstung ablegen. Rost und offene Wunden vertragen sich nicht sonderlich gut.« Langsam suchten sie Raum um Raum ab. Von Küche und Lager führten einige Treppen und schmale, verwinkelte Gesindekorridore nach oben. Schließlich entdeckten sie Kröbel, der in einem kleinen Zimmer vor einer Tischplatte hockte und selbstvergessen in einem Folianten las. »Kröbel!« donnerte Heimdall. Der Kleine drehte sich um, machte einige Bewegungen, als wolle er Fliegen verscheuchen, dann klappte er resignierend das Buch zu und fragte: »Was ist los?« Koy der Trommler entschied in diesem Moment, daß er Kröbel nicht mochte. Das dürre Männlein verlangte alles und gab nichts. Er sagte im Tonfall harter Entschiedenheit: »Der Gönner, der dich aus dem Straßengraben aufgelesen hat, ist müde, hungrig, verletzt und ärgerlich. Wir brauchen jede Menge heißes Wasser und ein Nachtmahl. Du kannst nichts, du forderst viel, und du lebst nur durch Heimdalls Gnade. Los! Schnell! Wir müssen Heimdall verbinden.« Kröbel sprang auf und warf ihm einen unbeschreiblichen Blick zu. Aber dann zupfte er sich mehrmals an seinem roten, graugesprenkelten Bart und murmelte: »Oftmals benehmen sich Gäste schlimmer als Hausherren. Heimdall ist mein Freund. Schön und gut. Er soll nicht leiden; wir werden ihn heilen. Die Kraft meiner magischen, skullmanenten Finger wird die furchtbaren Wunden dazu bringen, sich schnell zu schließen.« »Vorwärts! Hinunter in Heimdalls Schlaf-
34 raum. Du nimmst ihm die Rüstung ab, und ich mische Heilkräuter. Zum Nachtessen ist er wieder einer der Unseren. Schnell, Mann mit den biegsamen Hörnern!« »Ich habe schon mächtigeren Magiern, als du es bist, die Richtung gezeigt«, knurrte Koy voller Grimm. »Und ich bin gern bereit, dich wieder in ein Faß mit Resten ranziger Butter zu stecken und dein loses Mundwerk mit einem stinkenden Lappen zu schließen. Entweder du hilfst mir, oder ich mache Ernst.« »Worte, nichts als Worte. Ich gehorche. Aber ich werde dir Magengrimmen verursachen.« Sie brachten Heimdall in einen Schlafraum. Auch dieses Zimmer war riesengroß und von barbarischem Prunk. Sie zwangen ihn, sich auf dem mehr oder weniger schmutzigen Bett auszustrecken, dann machte sich Koy daran, die Haken und Schnallen der Panzerung zu lösen und die Rüstung abzuziehen. Das verkrustete Blut klebte die Stahlteile an den Stoff und diesen an die Haut. Mit heißem Wasser weichten sie die Krusten auf und lösten den Panzer, die Handschuhe, die Stiefel und das Schuppenhemd. Dann rissen sie weißen Stoff in Streifen. Kröbel brachte stechend riechende Salbe. Koy reinigte die Wunden und strich dick jene gelbliche Salbe darauf, dann wickelte er die Binden um den Oberkörper des Göttersohnes. Schließlich, nach zwei Stunden, streiften sie ihm einen Hausmantel über und verließen das Zimmer, da Heimdall mit Hilfe eines Trankes aus der Hand des skullmanenten Magiers tief schlief. Sie trafen sich in der Küche. Koy reinigte und trocknete sich ab, so gut es ging, und dann sagte er: »Nichts für ungut, Gevatter Kröbel. Ich bin durstig, hungrig und müde. Und morgen werde ich euch verlassen und niemals wieder hierher zurückkommen. Ich habe gekämpft, und du wirst den Abendtisch versorgen. Wo schlafe ich?« »Oben, dicht neben Heimdalls Raum.
Hans Kneifel Habt ihr die Gordys in die Flucht geschlagen? Ich habe unablässig skullmanente Flüche und Verwünschungen ausgestoßen.« »Sie haben geholfen«, sagte Koy und zuckte die Schultern. »Wo ist das Bier?« »Hier, der Krug.« Tiefer Friede senkte sich über den roten Bunker. Die Vögel kehrten in ihre Nester hoch über den Küchenherden und den Vorratsregalen zurück. Die Sonne, die jenseits der Wüstenei den Horizont berührte, überschüttete alles mit einem einschläfernden roten Licht. Kröbel mochte ein mieser Magier sein, aber als Koch oder Anrichter war er hervorragend. Binnen zweier Stunden, in denen Koy sich leidlich erholte und säuberte, seine Kleidung reinigte und sich halbwegs reisefertig machte, sprang Kröbel zwischen Herd und Kammer hin und her. Der letzte Schein der Sonne verging. Noch immer umgaben Einsamkeit, Stille und Ereignislosigkeit die vier langen, roten Mauern des Forts. Koy, der sich inzwischen besser fühlte, hörte undeutlich, wie Heimdall erwachte und die Treppe hinuntertappte. Kurze Zeit später folgte Koy und sah ein überraschendes Bild. Im stillen entschuldigte er vieles, was ihn an Kröbel gestört und verärgert hatte – aber nicht alles. In einem anderen Raum – in dem es nicht stank! – brannten Holzkloben in einem mächtigen Kamin. Ein großer runder Tisch strahlte im Schmuck eines schneeweißen Tuches; Becher, Teller und Besteck schimmerten an drei Plätzen. Helle Decken und kostbare Felle lagen über drei hochlehnigen Stühlen. In der Mitte des Tisches standen und lagen ausgesuchte Nahrungsmittel. Suppe dampfte in einer silbernen Schüssel. Zwischen den Schalen standen hohe Kerzen in goldenen Leuchtern. Eindeutig war es für Koy: Der Magier versuchte, sein schlechtes Gewissen durch diese Demonstration zu beschwichtigen. Koy blickte die Anordnung an und bemerkte anerkennend: »Ich bin überwältigt, Kröbel. In der Tat,
Der Jäger und der Göttersohn du bist ein Magier nach meinem Herzen.« Kröbel schob einen Wagen herbei, auf dem andere Köstlichkeiten aus Kammer und Küche gestapelt waren. Er grinste kurz und versicherte: »Nicht für dich, Fremder. Es ist meine Pflicht, Heimdall zu bedienen.« Heimdall saß in einem langen und wallenden Mantel von tiefem Schwarz am Tisch und zog gerade einen Kragen aus schwarzem Pelz hoch. Er blickte Kröbel an, dann Koy, schließlich sagte er leise: »Wir sind allein hier. Jetzt solltest du mangelnde Raffinesse mit Herzlichkeit entschuldigen, Koy. Ich habe lange nachgedacht, als ich auf meinem Bett lag. Ich danke dir. Aber niemand wird ahnen können, wie dieser Tag endet.« Koy zuckte seine breiten, runden Schultern und erwiderte: »Der morgige Tag endet friedlicher, Heimdall. Zumal ich eure Gastfreundschaft nicht länger strapazieren werde. Nichtsdestotrotz: Ich fühle mich so wohl wie schon seit Jahren nicht mehr.« »Du hast auch allen Grund dazu!« kicherte der Magier und schlenkerte seine Finger. Tropfen heißen Wassers flogen durch den Raum. »Iß, Fremder! Trinke! Und dann – schlaf dich aus. Kröbel mit seinen skullmanenten Fähigkeiten wird den Schlaf von euch beiden bewachen. Und wenn ich bis morgen kein Auge zutun kann … es ist mir gleichgültig. Und morgen, Heimdall, werden wir die Spuren unseres verbissenen Kampfes beseitigen!« »Meinetwegen«, brummte Heimdall. Koy hielt an sich. Er aß und trank mäßig. Heimdall wurde schläfrig und wortkarger. Kröbel plapperte ununterbrochen vor sich hin, beschimpfte die Gordys und versicherte jeden, der das Fort in Zukunft angreifen würde, seiner vernichtenden Feindschaft. Koy der Trommler hörte aufmerksam zu und versuchte, die Geheimnisse zu entdecken, aber es schien keine zu geben. Heimdall hütete das Erbe seines Vaters und hoffte auf einen Wandel und somit auf eine Zeit, in der
35 er und seine Brüder wieder herrschten. Und darüber hinaus glaubte er, daß Vater Odin zurückkommen und ihnen allen helfen würde. Immer wieder senkten sich seine schweren Lider; er wurde müder und schläfriger von Minute zu Minute. Koy wischte sich die Lippen mit einem sauberen Tuch ab und sagte: »Noch einen Schluck Bier, und ich bin reif für einen langen Schlaf. Vorher bringen wir jedoch Heimdall zu Bett.« »Gemacht«, kicherte Kröbel. »Ich sehe, du bist ein Mann, der die Zeichen richtig deutet!« »Viele sagen es«, erwiderte Koy der Trommler und sehnte sich plötzlich nach Ruhe, Stille, Einsamkeit und Schlaf. »Los. Hilf mir!« »Gern.« Sie brachten Heimdall dazu, sich von ihnen helfen zu lassen. Sie schleppten ihn die Treppen aufwärts, zogen ihm die Stiefel aus und deckten ihn zu. Heimdall schlief mitten in ihren Handlungen ein und begann zu schnarchen, als wollte er die nistenden Vögel und die schwärmenden Fledermäuse vertreiben. Koy nickte dem Magier zu und sagte leise: »Ich schlafe auch. Morgen früh … wir werden uns um die Gordys kümmern. Gute Nacht, skullmanenter Magier.« Kröbel wisperte geheimnisvoll: »Ich werde wachen und in den alten Aufzeichnungen studieren. Mein Auge wird sich nimmer schließen. Tag und Nacht, bei Sonnenschein und dem Licht von Unschlittfunzeln – ich suche, lerne und prüfe die Texte auf Wirksamkeit. Du bist sicher, Koy. Denn mein Zauber und meine magischen Kräfte werden dich beschützen.« Koy versicherte lustlos: »Demzufolge kann ich sicher sein, morgen mit durchschnittener Kehle fröhlich aufzuwachen.« Beleidigt zog Kröbel davon und schlurfte die Stufen hinunter. Koy öffnete das Fenster und hörte das Summen der Mücken und die sägenden Geräusche unbekannter Insekten.
36
Hans Kneifel
Er schob beide Riegel vor die Tür, legte die Feuerlanze griffbereit neben das Bett und zog sich aus. Sekunden später war er eingeschlafen. Als er wieder aufwachte, hatte er keinerlei Erinnerungen an seine Träume mehr.
* Nachdem Koy der Trommler erwacht war, verschränkte er seine muskulösen Unterarme hinter seinem Nacken, blieb regungslos liegen und dachte nach. Niemand störte ihn, keiner stellte Forderungen, es gab nichts, das ihn ablenkte. Sein Pflegevater hatte ihm gesagt, was er war, und wer er war. Es gab keine Illusionen. Die Herren der FESTUNG wollten, daß er die Fremden – falls es solche gab – fand und auslieferte. Aber die Herren schienen weder ehrlich zu sein, noch gab es klare Gründe, warum sie Androiden und andere Wesen (zu denen er sich zu rechnen hatte) nicht an ihren Gedanken und Überlegungen teilnehmen ließen, sondern von allen Informationen ausschlossen und lediglich als Werkzeuge benutzten, die sklavisch zu gehorchen hatten. Heimdall und Kröbel waren nicht mehr als eine kurze Station auf seinem Weg. Heute noch würde er weiterziehen. Heimdall würde ihn ausrüsten, ehe er mit Kröbel zusammen versuchte, die Schäden an seinem Fort auszubessern. Es war der kühle Morgen eines sonnigen Tages. Koy reinigte sich gründlich, säuberte seine Kleidung und Ausrüstung und zog sich in Ruhe an. Immer wieder hörte er Kröbels zeternde Stimme und Heimdalls Brummen; sie arbeiteten offensichtlich im Innenhof. Schließlich ging er hinunter, zapfte sich einen kleinen Becher Bier und stapfte langsam auf den Hof hinaus. Heimdall wuchtete die halb geborstenen Torflügel hoch und zerrte einen davon zur Seite. Schutt und Mauerbrocken polterten nach allen Seiten. »Einen guten Morgen wünsche ich«, sagte
er wohlgelaunt. Die Strapazen und die Kämpfe waren für ihn bereits Vergangenheit. »Danke. Die Gordys haben das Weite gesucht. Diese Nacht war ruhig und erholsam«, sagte Heimdall. Er hatte, so schien es jetzt, seinen Mißmut verloren. Er wirkte lockerer und entspannt. »Ich habe herrlich geschlafen, tief und ohne böse Träume«, erklärte Koy. »Und nun will ich weiterziehen und meine Suche fortsetzen.« Heimdall ließ vor Überraschung den Balken fallen. Weißer Staub wirbelte hoch. »Nein!« rief er entschlossen. Kröbel sprang auf einem Bein über einen zerbrochenen Quader und zeterte: »Wir haben sie gemeinsam in die Flucht geschlagen!« »Das ist richtig. Mit Nachdrücklichkeit«, bestätigte Koy der Trommler und warf einen langen Blick auf den Truvmer. Ein kurzer nächtlicher Regen hatte ihn ein wenig gesäubert. Die Maschine sah stark, schnell und unverwundbar aus. »Und deshalb bitte ich nun meinen Mitstreiter«, sagte Heimdall mit unbeholfener Feierlichkeit, »unser Gast zu sein. Wirklich. Ich meine es ehrlich.« Koy wußte, wie es gemeint war. Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich war euer Gast. Es hat mir gut gefallen, und ich danke euch beiden. Aber mein Ziel ist es, meine Mutter zu finden und die beiden Fremden. Jene, die ich suchen und fangen soll, könnten meine Freunde werden – ich ahne es. Ich werde unruhig und kein guter Gesellschafter, wenn ich nicht jage. Es ist meine zweite Natur. Deswegen die Zeichnung auf meiner Brust.« Er deutete auf den Kopf mit den beiden Gesichtern und nickte. Dann fiel sein Blick durch den offenen Bogen des Portals hinaus in den Streifen Land vor der Straße. Dort sah er drei längliche Hügel aus aufeinandergeschichteten Steinen. Am Kopfende des mittleren Grabens saß ein riesiger purpurfarbener Aasfresser und versuchte, die Stein-
Der Jäger und der Göttersohn brocken mit dem Hakenschnabel umzuwenden. »Die drei Gordys aus der Schatzkammer …« »Sind begraben«, murmelte Heimdall, richtete sich auf und stemmte die Arme in die Seiten. Mit dröhnender Stimme sagte er in einem Tonfall, der kaum Widerspruch duldete: »Ich habe dich gebeten, Zwerg, mein Gast zu sein. Du hast dein Leben gewagt und mein Leben gerettet. Noch niemals hat ein Sohn Odins sich nicht gebührend bedankt. Ich bitte dich, bleibe hier und fühle dich wohl. Äußere deine Wünsche – sie werden dir erfüllt.« »Ich werde skullmanente Sprüche aufsagen, auf daß es zu deinem Wohl sein wird!« krähte der Magier überschwenglich. »Das Ding, mit dem ich flog, die Vegla, ist zerborsten. Ich werde die Fremden im Norden suchen, denke ich. Ich habe eine große Bitte, Heimdall. Aber du mußt verstehen, daß ich nicht bei euch bleiben kann. Ich bin Koy der Trommler. Die Jagd ist mein Leben. Ich sterbe, wenn ich hier bleibe. Willst du das?« »Nein. Es ist dein fester Wille, Zwerg?« »Es ist mein fester Wille. Ich muß. Ich kann nicht anders, Heimdall!« entgegnete Koy fest. »Bei Odin! Ein mutiger Zwerg!« rief Heimdall aus. »Deine Bitte?« »Stelle mir den Truvmer zur Verfügung, Heimdall. Ich lasse ihn irgendwo stehen, wo du ihn holen kannst. Denn nicht jeder Weg kann von ihm befahren werden.« »Wahr! Den Truvmer, wie? An deiner Stelle hätte ich nichts anderes gewünscht, Zwerg. Ich gebe ihn dir nicht gern, aber du hattest mein Wort. Nimm ihn – vorher räumen wir noch heraus, was wir brauchen. Wie lange?« Koy zog seine Schultern hoch und bemühte sich, sein Erstaunen nicht allzu deutlich zu zeigen. Vielleicht würde dann Heimdall beleidigt reagieren. »Ein paar Tage. Nicht länger. Du bist
37 großzügig und großherzig, Heimdall. Es ist gut, dein Freund zu sein.« »Wir Odinssöhne sind alle gutmütige Herren. Nun, wir werden einige Tage zu tun haben, um das Tor wieder zu reparieren. Wann willst du losfahren?« Der Innenhof lag noch fast vollkommen im Schatten. Die Sonne hatte sich noch nicht über die Mauern und Säulen erhoben. Nur im westlichen Teil kennzeichnete ein schmaler Streifen die kommende Helligkeit des Tages. Es roch nach feuchtem Sand und Staub. »Nach einem ausgedehnten Frühstück. Ich denke, ihr werdet auch hungrig sein!« erklärte Koy. »Einverstanden, Zwerg.« Der Magier hob beide Arme und spreizte die Finger. Mit stechend flüsternder Stimme sagte er: »Und wenn sich die Staubwolke der Raupenketten am Horizont verliert, Koy, dann werde ich dort oben auf dem Dach stehen und dir nachschauen. Skullmanente Geister und magische Formeln werden um den Truvmer und um dich sein. Sie werden dich schützen und verbergen. Die Guten sehen dich, den Bösen wird der Blick auf dein rundes, zerknittertes Antlitz versperrt bleiben. Und nun, auf zum Bier und zum fetten Käse!« »Ich weiß, daß du ein furchtbarer, ernstzunehmender Magier bist«, gab Koy zurück und krümmte sich innerlich vor Lachen. Immerhin war die Absicht durchaus positiv, wenn auch vollkommen nutzlos. »So ist es. Ich sehe, wenigstens du verstehst mich!« »Vorher mußt du noch mit anfassen! Dort hinüber mit dem Holzzeug!« brummte Heimdall und grinste breit. Tatsächlich! dachte Koy voller Verblüffung. Er lächelte. Welche Wandlung ist in ihm vorgegangen. »Selbstverständlich.« Zusammen schleppten und zerrten sie die schweren Tore in die Nähe von offenstehenden Kammern, die den Eindruck von Werkstätten machten. Bekannte und unbekannte
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Hans Kneifel
Geräte standen zwischen allen nur denkbaren Teilen aus Eisen, Hölzern und anderen Materialien. Aufgeschreckte Eiervögel flatterten nach allen Seiten und flüchteten unter umgestürzte Körbe. Dann gingen die drei so ungleichen Männer wieder in den Nebenraum der Küche, und diesmal halfen sie alle zusammen, um den Tisch so zu decken, daß er sich zu biegen drohte.
* Die Unruhe, die in ihm stärker und stärker wurde, hinderte Koy daran, zu essen und zu trinken, bis er sich nicht rühren konnte. Für eine kurze Stunde waren die dunklen Geheimnisse, die Heimdall und sein Fort umgaben, vergessen. Erste Sonnenstrahlen fielen in den Raum und machten ihn trotz des Schmutzes und der Unordnung gemütlich und anheimelnd. Koy begann zu ahnen, daß er freiwillig aus einer Oase der Ruhe und des Wohllebens floh, wenn er den Truvmer durch jenes Tor gesteuert hatte. Es tat ihm leid; in seinem harten Leben gab es wenige Plätze dieser Art, an die er sich erinnern konnte. Mit heiserer Stimme sagte er übergangslos: »Ehe ich meinen Entschluß bereue, meine neuen Freunde, breche ich auf. Ich weiß jetzt, Heimdall Odinssohn, was dein Angebot bedeutete. Wenn ich nicht diese stechende Unrast in mir spürte, würde ich hierbleiben.« »Niemand zwingt dich! Bleibe!« sagte Heimdall herzlich. »Vieles zwingt mich. Ich gehe. Kommt, bringt mich zum Truvmer.« »Deine Feuerlanze?« »Ich hole sie schnell.« »Wir warten draußen auf dich.« Ein neuer Abschnitt in seinem Leben begann. Für den Augenblick fühlte sich Koy der Trommler frei und unbeschwert. Er wußte, daß dies nicht lange anhalten würde – sein Leben hieß nicht Ruhe, Frieden und Zufriedenheit. Es hieß: Kampf, Gefahr und
Tod. Er rannte die Treppe aufwärts, holte seine kostbare Waffe und war kurze Zeit später wieder zurück im Innenhof. Der Streifen goldenen Sonnenlichts an den Zinnen des Daches war breiter geworden. Heimdall und Kröbel entluden den Truvmer. Es war nicht viel in den Laderäumen, das sie herauswuchteten. Heimdall fragte ruhig: »Du kannst ihn steuern, Zwerg?« »Nicht genügend fachmännisch. Zeige es mir. Fahren wir eine Runde um dein rotes Fort, Heimdall.« Sie klappten den Einstieg hinunter, schoben das gläserne Visier hoch und ließen die Maschinen an. Heimdall bemerkte nach einigen Schaltungen: »Du könntest bis zum Taamberg und zurück fahren. An Treibenergie ist also kein Mangel, wie du hier sehen kannst.« Koy überwand sich nur geringfügig zu einer Geste, die er sich und dem skullmanenten Magier schuldig war. Er machte eine Handbewegung und bat damit Heimdall, etwas mit seinen Erklärungen zu warten. »Einen Augenblick.« Er sprang hinunter, streckte dem Magier beide Hände entgegen und sagte laut und deutlich: »Kröbel! Zuerst erschienst du mir wie ein hungernder, ahnungsloser Magier. Jetzt weiß ich, daß du der beste Freund eines Mannes sein kannst! Heimdall weiß es schon länger. Du hast einen Platz in meinem Herzen, und wenn ich jemals wieder lebend in diesen Teil Pthors komme, wird mein erster Besuch dir gelten. Lebe wohl, und jeder Zauber, den du aussprichst, möge wirksam sein und bleiben.« Kröbel schluckte und war sprachlos. Dies hatte ihm noch niemals jemand gesagt. Um seine Rührung und Bewegung nicht allzu deutlich zeigen zu müssen, zuckte er die knotigen Schultern und begann zu schimpfen. Koy begriff alles. »Hau ab! Ich lasse mich von dir nicht auf den Arm nehmen. Nimm den Truvmer und schlage dir den Schädel an einem Felsen ein,
Der Jäger und der Göttersohn du verrückter Jäger. Viel Erfolg. Glück auf der Jagd. Und Freude an der Beute!« Koy schenkte ihm ein herzliches Lächeln und erwiderte: »Danke. Ich rechne fest damit, daß deine skullmanenten Beschwörungen meinen Weg begleiten!« »Für dich lasse ich mir etwas ganz Teuflisches einfallen!« keifte Kröbel und versetzte einem Packen einen furchtbaren Tritt. Eine Sekunde später hüpfte er wimmernd über den Hof und hielt seinen rechten Fuß fest. Grollend startete der Truvmer, die Ketten wühlten sich tief in den Untergrund. Heimdall steuerte das Fahrzeug haarscharf durch die Lücke des Tores und hielt an, als der Truvmer genau zwischen Straße und Mauer stand. Schwerfällig schwang sich der Aasvogel in die Luft und krächzte abscheulich. »Dies ist der Hebel der Geschwindigkeit …«, begann er, während sie die Plätze wechselten. »Und dieser für die Richtungen. Du bremst ein Element ab, das andere dreht den Truvmer …« Je länger sie fuhren, desto schneller begriff Koy, was es mit den Hebeln, Schaltern und Uhren auf sich hatte. Nach zwei Umkreisungen des Forts verstand er alles. Und im übrigen rechnete er mit seinem eigenen Sachverstand. Und darüber hinaus beabsichtigte er nicht, die Grenzen Pthors mit dem Truvmer zu überschreiten. »Ich habe alles verstanden. Und woher wirst du wissen, wo der Truvmer steht?« Sie kletterten hinunter und blieben im Schatten der großen, durchsichtigen Kuppel stehen. »Heimdall ist kein Narr. Ich werde es schnell erfahren.« Koy streckte seine Hand aus. Heimdall ergriff sie und drückte zu. »Ich danke dir, Heimdall. Wenn unsere Wege sich wieder kreuzen, wissen wir, was wir voneinander zu halten haben.« Heimdall zeigte seine weißen Zähne und erwiderte kurz: »Wahr! Fahre jetzt. Wohin willst du zuerst?«
39 »Nordwest. Scharf vorbei am Taamberg. So plane ich es. Was daraus wird, liegt im Dunkel der Zukunft.« »Ich wünsche dir alles Glück. Ruiniere den Truvmer nicht; er soll mir noch lange gute Dienste leisten.« »Ich werde darauf aufpassen wie auf meine Broins!« versprach Koy. Er kletterte hinauf. Heimdall schob die Leiter hoch. Das Visier senkte sich bis auf einen schmalen Spalt. Dann schob Koy die Hebel nach vorn. Die breiten Gleisketten bewegten sich und schoben den Truvmer langsam vorwärts. Immer schneller wurde das Fahrzeug, und es fiel Koy leicht, die Spuren zu erkennen, sobald er das stumpfsilberne Band der Straße der Mächtigen überquert hatte. Nach einer Kurve blickte er auf den Richtungsanzeiger. Er steuerte nordwestlichen Kurs. Hinter ihm wirbelten die Zacken und Kanten der Ketten den Staub auf. Ein Blick in den Spiegel: Das rote Fort verschwand hinter den Staubwolken. Koy glaubte, zwischen den Kanten des Portals den wuchtigen Heimdall zu erkennen und auf dem Dach den kleinen, dürren Zauberer. Mit einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit fuhr er weiter. Je mehr er sich von dem Fort entfernte, desto mehr schwand dieses Gefühl und machte echter Sorge Platz. Die Beklemmung wuchs. Er war nur scheinbar frei. Er wußte nicht, was ihn unterwegs und am Ende dieser Fahrt erwartete. Koy fuhr durch das flache Land und hoffte, so lange zu überleben, bis er in einigen Punkten Gewißheit hatte.
7. Sie standen schweigend und in Gedanken verloren da und sahen die Staubfahne, die sich hinter den Ketten des Truvmers erhob und sich langsam wieder senkte. Die Sonne stieg eine Handbreit höher. Sowohl Heimdall als auch Kröbel hatten das deutliche Gefühl, einen Freund verloren zu haben. Oder
40 genauer: einen Mann, der ihr Freund hätte werden können. Ein mutiger Mann. Ein Androide, aber echter als die wirklichen Menschen auf Pthor. Er war ein Mann nach ihrem Herzen. Immer niedriger wurde die Wolke, immer kleiner und schwächer. Der Truvmer bewegte sich in mäßigem Tempo genau nach Nordwesten. Er zielte ziemlich genau auf die Gipfel des Taambergs. Was suchte Koy? Wen jagte er? Welchen Erfolg versprach er sich davon, daß ihn das wache Auge nicht mehr erblickte? Heimdall knurrte finster: »Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Aber … Müßiggang verdirbt die Sitten. Wir müssen diese verdammten Gordys aus den Wänden schlagen.« Er ging in den Innenhof zurück und legte beide Hände an den Mund. »Kröbel!« Nach einigen Sekunden kam die Antwort vom flachen Dach über dem Tor zurück. »Hier bin ich. Ich kann ihn gerade noch sehen.« »Komm her. Wir gehen in den Saal der Schätze. Sonst fangen sie an, in den Mauern zu stinken.« »Ich komme, Heimdall. Schade, daß ich keinen skullmanenten Zauberspruch und keine magische Formel gefunden habe, die uns diese lästige Arbeit ersparen. Schade. Ich habe die halbe Nacht in den Folianten geblättert. Nichts. Es gibt keinen Zauber für die Beseitigung von erstickten Gordys.« Ungeduldig winkte Heimdall. »Wir brauchen keinen Zauber. Wir brauchen Hämmer und Meißel, Beile und Hacken. Und zehn Gordys – oder sind es neun? – müssen aus den Mauern herausgeschlagen werden. Vergiß Koy den Trommler. Er wird uns nicht helfen.« »Nein. Diese verdammte Arbeit bleibt uns. Aber die Bruchstücke haben sie nicht einmal berührt, diese verbrecherischen Gordys!« kreischte Kröbel. Sie suchten die Werkzeuge zusammen, dann gingen sie schweigend durch die Stollen und Korridore bis zum Saal der Kostbarkeiten. Heimdall zählte die Stellen, an denen
Hans Kneifel ein Körperteil aus der Mauer ragte. Er packte eine riesige, spitze Hacke und begann wie ein Rasender, auf die Wände loszuschlagen. Ziegeltrümmer, Brocken von Füllmaterial und Stücke von wuchtigen Quadern flogen nach allen Seiten. Nach einiger Zeit hielt Kröbel in seinem Versuch, eine Leiche aus der Mauer herauszuschlagen, inne. Er warf einen langen, nachdenklichen Blick auf seinen bärenstarken Freund. Die flüchtige Heiterkeit hatte Heimdall verlassen. Seit Koy weggefahren war, verdüsterte sich seine Miene zusehends wieder. Er wurde schweigsam und in sich gekehrt. Kröbel kannte die kurzen Momente einer unglaubwürdigen, aber nichtsdestotrotz echten Euphorie. Sie beschäftigte sich ausnahmslos mit der Zukunft. Aber die Gegenwart war für den Sohn Odins schon immer eine Qual gewesen, die schwer auf seinen Schultern und noch schwerer auf seinem Herzen lastete. Jetzt schien sich die Gelöstheit umzukehren. Schwarze Gedanken und Empfindungen suchten Heimdall heim. Wie ein Rasender drosch er auf die Wand in der Umgebung eines aufgedunsenen Kopfes mit hervorquellenden Augen, eines Knies und eines ausgestreckten Armes ein. Kröbel versuchte, auf Heimdall einzuwirken. Er rief: »Heimdall?« Er mußte seinen Ruf dreimal wiederholen, denn der schwarzhaarige Mann arbeitete wie ein Berserker. »Ja? Was ist los?« »Du warst vorhin weiter. Warum bist du jetzt wieder böse, in dich gekehrt und wie ein Fremder?« Heimdall schlug weiter mit der Hacke auf die Mauer ein. Ein Drittel seines Körpers war in Umrissen schon erkennbar. Ein Geruch nach Verwesung breitete sich ekelhaft aus. »Ich kann nicht lachen, wenn ich solche Scheußlichkeiten sehe«, rief Heimdall. »Ich will nicht, daß du lachst!« »Sondern?« Heimdall kniff die Augen zusammen. Im-
Der Jäger und der Göttersohn mer wieder beschrieb die wuchtige Hacke einen Halbkreis und traf mit der Spitze dicht neben das Loch und die Spalten des vorhergegangenen Schlages. Gesteinssplitter surrten durch den Saal der Schätze und klirrten auf die kostbaren Bodenfliesen. »Du sollst nicht so schwarz und so düster sein.« Nach zwanzig weiteren Schlägen stieß Heimdall hervor: »Mein Vater Odin hat es prophezeit!« Kröbel war verblüfft. Stockend erkundigte er sich: »Was hat er geweissagt, Heimdall?« Es würde ihm nicht gelingen, seinen rätselhaften Freund ein wenig aufzuheitern. Die Gelöstheit des vorangegangenen Abends und die heiteren Gespräche des Frühstücks waren vorbei und vergessen. Wieder senkte sich die graue, nebelartige Verzweiflung über Heimdall. »Er sagte, daß ein Tag käme, an dem alles in Bewegung geraten würde. Die festen Dinge sind dann nicht mehr fest. Fremdes dringt ein, Unbekanntes macht sich breit und verändert die bekannten Werte.« Kröbel bewies, daß auch er zwei Gesichter hatte. Für einige Sekunden vergaß er den Status, den er hier genoß. Er wurde sehr ernst – aber nur für ganz kurze Zeit, dann gewann sein Bestreben, es aller Welt zeigen zu müssen, wieder die Oberhand, und deswegen sagte er: »Mir scheint, dich suchen Visionen und Schreckensbilder heim?« »So ist es. Eines Tages werde ich alle Teile besitzen, alle Bruchstücke dort!« »Und dann?« »Dann werde ich das Geheimnis Pthors ergründen. Vater Odin sagte es. Die Zeit der Unsicherheit ist nahe. Spürst du es nicht, Magier?« Schlagartig fand Kröbel zu dem Bild zurück, das sich alle anderen von ihm machen sollten. »Ich spüre es zweifellos. Aber anders als du, Heimdall. Koy der Trommler ist nur eines von vielen Zeichen. Aber … was willst
41 du tun?« »Warten, Kröbel, warten!« »Worauf?« »Auf ein neues Ereignis. Fremde sollen gekommen sein. Ich sage dir: Alles wird sich verändern. Vielleicht kommt Vater Odin wieder und zeigt es allen, wohin der Weg führt. Er war der beste aller göttlichen Herrscher.« »Bevor du dich in Tagträumen verlierst«, schrie Kröbel und versuchte, die Gedanken seines Freundes in andere Bahnen zu lenken, »versuche wenigstens, die stinkenden Leichen dieser verbrecherischen Gordys aus der Wand zu hacken. Los, du Monstrum! Schlag zu! Tobe deine Wut am Stein aus.« Heimdall starrte ihn schweigend an. Sein Blick glich dem eines zu Tode getroffenen Tieres. Dann spuckte er in die Hände, griff wortlos nach der Hacke und schwang sie wie seine Khylda in die Höhe. Er holte aus und jagte die scharfgeschliffene Spitze krachend in die Mauer. Mehr und mehr schälte sich der Körper des steckengebliebenen und erstickten Gordys aus dem Mörtel und den uralten Ziegeln. Diese Reaktion war kennzeichnend: Heimdall war zutiefst unsicher und tobte sich in Aktionen und Kraftanstrengungen aus. Kröbel hob die Schultern und sah dem schweigend schuftenden Freund eine Weile lang zu, dann fing auch er wieder an, auf die Wand einzuschlagen. Brach wirklich eine neue Zeit an? War der Besuch Koys eine Art Zeichen gewesen? Oder hatten die Fremden etwas damit zu tun? Würde Odin wiederkommen? Kaum zu glauben, aber immerhin möglich – Pthor war eine Welt der wunderbaren Zufälle und der ständig wechselnden Außenwelten. Wie auch immer: Die nächste Zeit würde alles andere als einfach oder leicht sein. Und er, der skullmanente Magier, befand sich mitten in der Auseinandersetzung. Aber er hatte Heimdall als Freund.
8.
42 Seine Waffen und die Ausrüstung lagen auf dem Nebensitz. An runden Haken baumelten Wasserflaschen und ein Paket mit Nahrungsmitteln aus dem roten Fort. Die Maschinen brummten gleichmäßig, das Rasseln und Rattern der Ketten war ein angenehmes, gleichförmiges Geräusch. Die letzten Häuser von Donkmoon verschwanden rechts in der Staubwolke des Truvmers. Koy der Trommler schob die Hebel nach vorn und registrierte, daß der Truvmer etwas schneller wurde. Ihm war daran gelegen, möglichst schnell weit nach Norden zu gelangen, in die Richtung der dunklen Regionen und der Eisküste. Odin mochte wissen, wo für ihn die Reise zum erstenmal endete. Immer wieder spähte er nach vorn, sah in die Spiegel und hielt Ausschau nach rechts und links. Niemand schien an diesem späten Morgen von ihm Notiz zu nehmen. Vielleicht dachte jedermann, Heimdall mit seiner furchtbaren Khylda sei wieder unterwegs, um an irgendeiner abgelegenen Stelle nach einem Parraxynth-Bruchstück zu suchen. Koy lächelte kurz und lachte leise auf. »Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin es, der kleine Jäger mit den Broins und dem scharfen Spürsinn. Es gibt keine Spuren und keine Hinweise.« Eine Stunde lang fuhr er weiter, in langgezogenem Zickzackkurs, den flachsten Stellen der Landschaft folgend. Er bemühte sich, die Ketten stets auf felsigem oder steinigem Grund zu halten, oder auf Sand, wo sie bald von Bergen und Wind verwischt werden würden. Natürlich kam er schnell vorwärts, aber dafür verschmolz er nicht wie sonst mit der Natur und verbarg sich in ihren eigenen Verstecken. Vor ihm tauchte ein schwarzer Punkt auf. Er bewegte sich langsam am Himmel und zog dort weite Kreise. Nachdem Koy eine Baumgruppe umrundet hatte, hob er wieder den Kopf – und da waren es schon vier schwarze, winzige Silhouetten geworden. Er kannte sie. Es waren Raubvögel. Große Aasfresser,
Hans Kneifel die auch Lebende nicht verschmähten. Ihre langen, sichelförmig nach vorn gekrümmten Schwingen waren unverkennbar, auch der kurze, breitgefächerte Schwanz mit den drei langen Endfedern, die sich im Lauf der Entwicklung zu biologischen Peitschenschnüren herausgebildet hatten. Zwei weitere Yrkans kamen hinzu, schließlich waren es ein Dutzend, dessen Kreise immer enger wurden, die immer tiefer schwebten. »Ein Aas dort vorn. Oder etwas anderes. Nun, ich brauche keinen Umweg zu fahren.« Bis jetzt hatte sich Koy etwa an die Spuren gehalten, die Heimdall durch das Land gepflügt hatte. Weit links sah er wieder die Wolken aus Staub und Sand, die von den Bestien der Ebene Kalmlech erzeugt wurden. Das Grün des Landes weit entfernt von Donkmoon und der Straße verlor jetzt seine saftige Farbe und änderte sich; es wurde heller, schon begannen Gräser und Blätter zu dorren und sich mit dem feinen gelbweißlichen Staub zu überziehen. Koy fuhr geradeaus. Seine Wachsamkeit nahm zu. Er fühlte, daß tief in seinem Innern eine Stimmung erwachte. Auch sie war ihm gut bekannt – das Jagdfieber. Tatsächlich schienen sich seine Sinne zu schärfen, seine Konzentration nahm zu, und er versuchte, die winzigsten Bedeutungen zu erkennen und richtig zu deuten. Sein Leben und der Erfolg seiner Jagd hingen davon ab. Schräg links vor ihm erschien jetzt ein Teil des Schattens, den der Truvmer warf. Die Ketten glitten jetzt über Gras und riesige schillernde Moosflächen und zwischen kuppelförmigen Büschen mit Blättern hindurch, die wie gepanzerte Stacheln aussahen. Vor ihm breitete sich eine kleine, ebene Fläche aus, mehr ein Talkessel, von kleinen Hügeln umgrenzt, an deren Hänge sich Baumgruppen duckten. Die Yrkans benahmen sich jetzt, als ob ihre Mahlzeit unmittelbar bevorstünde. Der erste winkelte die Schwingen an und leitete eine schräge Sturzbahn ein. Hinter der Kuppe des am weitesten entfernten Hügels verschwand das Raubtier, aber als Koy die Maschine beschleunigte und quer
Der Jäger und der Göttersohn über den Talkessel ratterte, schwang sich der schwarze Vogel wieder schräg aufwärts und schlug hastig mit seinen Flügeln. Die anderen behielten ihre Kreisbahnen bei, aber sie befanden sich nur noch hundert Meter über dem Boden. Koy war jetzt ernsthaft beunruhigt. Der Truvmer beschrieb kurz vor dem Ende der Talfläche einen Bogen und klirrte auf den Spalt zwischen zwei Hügeln hinein. Ein Bachbett tauchte auf, ein zwei Handbreit tiefes Rinnsal lief inmitten eines breiten Streifens aus weißgewaschenen Kieseln. Die Maschine vibrierte kurz, als die Ketten sich leer durchdrehten und einen Hagel von Kieseln und Splittern nach hinten schleuderten. Dann faßten sie wieder, und Koy jagte das Bachbett aufwärts, schwang den Truvmer zwischen den Bäumen hindurch, schrammte an einem Felsen entlang und brach dann zwischen den Hügeln hervor. Die Yrkans waren jetzt direkt über ihm. Ab und zu jagte ein schwarzer Schatten dicht über die Kuppel des Fahrerhauses hinweg. Der metallene Skorpion gab einen heulenden Warnschrei von sich, als Koy sah, was sich vor ihm abspielte. Auf einer Moosfläche, die im Sonnenlicht seltsam glänzte, stand ein mittelgroßer Mann. Er war abenteuerlich gekleidet, aber er blutete aus unzähligen Wunden. Er hielt einen Arm über den Kopf und schlug nach einem Yrkan, der ihn angriff. Der Hakenschnabel riß eine Kopfwunde, die Klauen fetzten Leder und Haut von der Schulter des Mannes. Die schwarzen Flügel, von denen Federn weggerissen wurden, schlugen das Schwert aus der kraftlosen Hand. Koy steuerte den Truvmer, ununterbrochen scharfe Warntöne aus dem verborgenen Horn ausstoßend, genau auf den Mann zu. Im selben Augenblick, als Koy die Ketten anhielt und mit der Feuerlanze in der Hand aus dem Frontspalt sprang, gab der Mann ein langgezogenes Stöhnen von sich und brach zusammen. Mit drei, vier Sätzen war Koy bei ihm. Jetzt sah er, warum das Moos so glänzte. Es
43 waren blutige Yrkanfedern und das Blut des übel zugerichteten Mannes. Jetzt erfolgte der eigentliche Angriff. Die Yrkans waren rasend vor Hunger und Gier. Drei oder vier von ihnen stürzten sich aus verschiedenen Richtungen auf die beiden Männer. Koy riß die Lanze hoch, entsicherte sie und kniff die Augen zu schmalen Spalten zusammen. Dann feuerte er und drehte sich schnell um seine eigene Achse. Eine riesige Flammenwolke breitete sich heulend und knatternd aus, bildete einen Kreisring, der kochend heiß aufstieg, in die Flugbahnen von einigen riesigen Vögeln hinein. Die weiße Glut blendete sie, äscherte ihre Federn ein und verbrannte Gefieder und Klauen. Viermal ertönte ein schriller Todesschrei. Hier und dort schlugen die Körper wie Geschosse ins Moos und blieben zuckend als qualmende Bündel liegen. Der Mann lag auf dem Rücken. Ein Arm hatte sich unter den Körper geschoben. Zu seinem Entsetzen sah Koy einen abgesplitterten Armbrustbolzen oberhalb des Magens in dem blutigen Fleisch stecken. Der Geruch des Todes ging von dem Unbekannten aus. Koy hielt die Lanze schußbereit in der Rechten, beschattete seine Augen und starrte zu den Yrkans hinauf. Ein Dutzend etwa drehte weiterhin ihre Kreise, aber jetzt ließen sie sich von dem warmen Aufwind aufwärts tragen. Sie würden hier bleiben und auf ihre Sekunde warten, aber die Todesschreie ihrer Artgenossen hatten sie gewarnt. Koy kauerte sich neben dem Sterbenden ins Moos und fragte: »Wer hat dich so zugerichtet, Fremder?« Der Fremde bewegte die Lippen. Ein pfeifendes Geräusch drang aus seiner Lunge. Dann öffnete er die Augen. Koy nestelte die kleine Wasserflasche von seinem Gürtel und träufelte Wasser auf die aufgerissenen Lippen. »Die Regenflußpiraten … der Pfeil. Dann die verfluchten Vögel. Sie kamen ganz plötzlich … der Truvmer?«
44 »Heimdall lieh ihn mir. Wo hast du die Piraten getroffen?« Es mußten Angehörige der Gruppe gewesen sein, mit denen sich Heimdall diesen schnellen und erbarmungslosen Kampf geliefert hatte. Koy glaubte, die auffallend gut gearbeiteten Stiefel wiederzuerkennen. Einer der Toten hatte sie getragen. »Vor Stunden. In der Nacht. Sie sind rasend vor … Wut. Wer bist du?« »Ich bin Koy der Trommler.« »Koy?« Der Sterbende versuchte, den Kopf zu heben. Mit entsetzten Augen starrte er den Trommler an. Das Wasser tropfte auf seine Augen und die Nase. Ächzend sank er wieder zurück. »Ich bin … ich war Knarder. Ein Ausgestoßener. Ich wanderte hin und her und überlebte. Am Abend traf ich den Kramolan. Er sprach … von dir.« Koy witterte neue Geheimnisse, neue Gefahren. Er warf einen argwöhnischen Blick zu den Totenvögeln. Sie verhielten sich noch immer abwartend. Gierig schluckte der Sterbende das kühle Wasser. »Wer ist Kramolan?« Knarder schwieg. Er begann röchelnd zu atmen. Seine Augen schlossen sich. Koy schob die Hand vorsichtig in den Nacken des Mannes. Seine Finger wurden klebrig vor Blut und kaltem Schweiß. »Zwischen hier und den Goscholt-Klippen … einen halben Tagesmarsch … ein weicher Felsen. In einer Höhle … der Kramolan. Du wirst ihn erkennen … silbern, groß mit drei Augen. Manchmal sieht er in die Zukunft oder hinaus in die fremden Welten. Er sagte, daß ich dich treffen …« »Offensichtlich hatte er recht«, antwortete Koy. »Kann ich etwas für dich tun? Ich fürchte, ich kann dich nicht mehr retten.« Ihm fiel das Fläschchen ein, das ihm Kröbel beim Frühstück gegeben hatte. Immer dann ein paar Tropfen, wenn du denkst, es ist unbedingt nötig. Es ist eine skullmanente Medizin. Sie hilft Toten auf die Beine, hatte
Hans Kneifel Kröbel gesagt und listig gekichert. Schnell holte Koy die Ampulle aus seiner Tasche, öffnete sie und träufelte vier oder fünf Tropfen auf die Lippen des Sterbenden. Ein durchdringender Geruch breitete sich aus und wurde vom Wind fortgetragen. Die Wirkung war schnell und verblüffend. Die gequälten Züge des zerrissenen, blutverkrusteten Gesichts glätteten sich. Ein Ausdruck von Frieden erschien. Knarder öffnete die Augen und brachte eine Art dankbares Lächeln zustande. Automatisch verkorkte Koy das Fläschchen wieder; es war nicht sehr viel von der geheimnisvollen Flüssigkeit darin. »Du hast schon viel getan, Koy. Ich danke dir, daß du dich um einen Ausgestoßenen gekümmert hast. Bevor ich sterbe … geh zum Kramolan. Sprich mit ihm. Vielleicht erfährst du, was du wissen willst. Er ist eigenartig, aber klug. Mir sagte er, daß meine Leiden bald ein Ende haben. Wie wahr …« Er schloß die Augen. Durch seinen Körper ging ein langsames Zittern, und er starb. Koy stand langsam auf und wischte sich mechanisch die Hände an den Hosen ab. »Die Medizin hat dir zwar nicht auf die Beine, aber zu einem sanften Tod ohne Schmerzen verholfen«, murmelte er. Dann packte er Knarder am Gürtel und schleppte ihn mit der linken Hand an den Rand der Moosfläche. Eine halbe Stunde lang sammelte er große Steine und bedeckte damit den Körper des Ausgestoßenen. Die Vögel hielten sich in achtungsvoller Höhe, von den vier verschmorten Körpern stiegen Rauchsäulen auf. Koy schulterte die Lanze, ging zurück bis zum Wasserlauf und wusch das Blut von seinen Händen und den Stiefeln. Als er weiterfuhr, ließ sich ein Yrkan nach dem anderen fallen und landete auf dem Steinhaufen oder dicht daneben. Die Vögel schrien gellend. Zwei von ihnen sprangen mit ungefügen Schritten hinüber zu ihren verbrannten Artgenossen und schlugen mit den Schnäbeln auf die Körper ein. Koy wandte schaudernd den Kopf und sah in der Ferne die Gipfel des Taambergs auf-
Der Jäger und der Göttersohn tauchen. Leichter Dunst und einige weiße Wolken hüllten die obersten Spitzen ein. Sie wirkten wie die zahllosen Legenden, die sich um den Berg und seine Umgebung rankten.
* Gegen Mittag tauchte am Horizont etwas auf, das wie ein Pilz aussah. Konnte dies der weiche Felsen des Kramolan sein? Mit steigender Unruhe steuerte Koy weiter und hielt genau darauf zu. Es schien zu stimmen: Wenn er eine Linie zog zwischen dem Steinhaufen, der Knarder bedeckte, und dem kleineren, südlicheren Gipfel des Taam-Massivs, dann konnte dies die bewußte Stelle sein. Die Figur kam näher und verschmolz allmählich mit der Landschaft. Ein heller Felsen von der Farbe des Sandes. Ein dicker Stumpf wuchs aus dem Boden, und die Erosion hatte sowohl die oberste Fläche als auch die überhängenden Teile ausgewaschen. Der Fels sah wie ein Pilz aus und war voller Löcher, Beulen und bewachsener Stellen. Als Koy nahe genug heran war, um genau zu sehen, erkannte er im Stumpf ein paar Öffnungen, die nicht von der natürlichen Verwitterung herrührten. Er suchte zwischen üppig wuchernden, eigentümlich runden Vegetationsinseln und kargeren Teilen der Umgebung seinen Kurs und steuerte den Truvmer von Westen an den Pilz heran. Einmal drückte er kurz auf den Knopf, und wieder ertönte das laute, drohende Horn. Koy wollte diesen rätselhaften Mann nicht erschrecken. Silberhäutig? Drei Augen? Klug und eigenartig? »Er ist sicher eigenartig«, murmelte Koy und lenkte den Truvmer, der immer langsamer über die Steine kroch und schwankte, halb um den Pilz herum. Verschieden große und unterschiedlich geformte Öffnungen befanden sich in verschiedenen Höhen, aber stets mindestens fünf Meter über dem Boden. Der gesamte Pilz mochte eine Höhe
45 von dreißig Metern haben. Der Truvmer fuhr in den Schatten hinein. Auf der südöstlichen Seite führte eine bogenförmige Treppe, in minuziöser Arbeit aus dem Stein herausgemeißelt, aufwärts. Niemand war zu sehen. Keine Posten, Ungeheuer oder kleine, bösartige Tiere stürzten sich aus Verstecken auf den Truvmer. Koy hielt einige Meter vor dem Fuß der Treppe an, wählte aus seinem Waffenarsenal einige Gegenstände aus, dann schob er das Visier hoch und klappte die Steigleiter herunter. Zögernd blieb er auf der untersten, größten Stufe stehen. »Ich bin Koy der Trommler. Ich suche den Kramolan!« rief er. Niemand antwortete. Nur der Mittagswind fauchte hohl in den leeren Fensteröffnungen. Langsam und mit äußerster Vorsicht stieg Koy Stufe um Stufe hinauf. Auf halber Höhe, etwa doppelt mannshoch über dem Boden, blieb er stehen und schaute sich um. Von hier aus hatte man einen hervorragenden Blick über das gesamte Land, die Horizonte waren sehr weit entfernt. Auf seine Weise war der Ausblick eintönig und faszinierend zugleich; es wiederholten sich nur wenige Bestandteile sehr häufig: Bauminseln, Gesteinsfelder, kleine Hügel und ebene Flächen. Darüber spannte sich der Himmel, über den nicht das kleinste Wölkchen trieb. Nur drüben am Taamberg bildeten sich Schleier und langgezogene Felder. Koy ging weiter und hielt die Feuerlanze schußbereit. »Ein harmloser Besucher will den Kramolan sprechen!« rief er, als er den Eingang erreicht hatte. Es gab keine Tür, sondern nur eine gerundete, schmale Öffnung. Sie war von Dhorm-Fruchtkernen optisch verschlossen; die kugelförmigen Samen waren auf dünne Fäden kettenartig aufgezogen. Der Vorhang rasselte und klapperte, als Koy ihn zur Seite schob und eintrat. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die veränderten Heiligkeitsverhältnisse. Er blieb in der Mitte eines annähernd runden Baumes stehen, sah sich um, horchte und zog scharf die Luft ein.
46 Die Stille mochte natürlichen Ursprungs sein, ihn machte sie gespannt und ließ ihn Gefahren erwarten. Das leise Winseln des Windes zerrte an den Nerven. Er glaubte nicht, daß ein einzelner Mann diesen Felsen ausgehöhlt hatte. Es war eine Unmenge Arbeit gewesen. Es gab kaum scharfe Kanten. Alle Böden und Wände und Decken standen nicht in rechten Winkeln zueinander. Vertiefungen in den Wänden enthielten in unregelmäßig geformten Nischen Gegenstände, die so fremd waren wie jeder andere Eindruck hier. Den Finger auf dem Hahn der Feuerlanze ging Koy weiter, kam in einigen leeren oder fast leeren Kammern vorbei, in denen hohe, vasenförmige Behälter standen. In einer leeren Fensteröffnung saß ein riesiger Schmetterling mit zuckenden Flügeln. »Kramolan!« rief Koy nochmals. Wieder erhielt er keine Antwort. Er drang tiefer in das Gebäude ein. Treppen und Rampen führten in allen denkbaren Windungen aufwärts und abwärts. Koy versuchte, keine Abzweigungen zu nehmen, sondern ging in dem breitesten Stück des Korridors. Nachdem er festgestellt hatte, daß er immer weiter nach oben kam, öffnete sich vor ihm der bisher größte Raum. Hier gab es vier große Öffnungen, die in alle Himmelsrichtungen hinausgingen. In der Mitte des Raumes, der am besten von bisher allen anderen eingerichtet war, lag eine Art dicker Teppich auf einem Podest. Darauf kauerte ein Mann, der wahrhaft seltsam aussah und noch merkwürdiger wirkte. »Du bist Kramolan?« fragte Koy und senkte die Lanze, an der er den Mechanismus gesichert hatte. Von diesem Mann drohte ihm keine Gefahr. Ganz langsam, als ob er aus einem tiefen Traum erwachen würde, bewegte sich der Kramolan. »Wer bist du?« fragte er leise. »Man nennt mich Koy den Trommler«, sagte Koy überwältigt. »Ich habe den Ausgestoßenen Knarder begraben. Die Piraten und die Yrkans haben ihn getötet.« »Dies war abzusehen und lag im Bereich der engeren Wahrscheinlichkeit.«
Hans Kneifel Der Kramolan trug weiche Stiefel aus Stoff mit dem Leder aus Echsenhaut. Eine kurze Hose und eine offene Jacke waren seine einzige Bekleidung. Seine Haut schien geschuppt zu sein wie die eines Fisches. In der halben Dämmerung des Raumes war der Umstand, daß sie tatsächlich silberfarben war, nicht zu übersehen. Auch das längliche, asketische Gesicht mit der kühn vorspringenden Geiernase war silbern und völlig haarlos. In der Stirn, direkt über der Nasenwurzel, gab es etwas, das man als drittes Auge bezeichnen konnte. Es sah aus wie ein Stück Metall oder Edelstein in der Form einer Kugelkalotte. Die Farbe war ein marmoriertes Blau. Koy sah weder Lider noch Wimpern. »Bevor er starb, sprach er mit mir«, begann Koy. »Sonst wärst du nicht hierher gekommen. Ich sah den Truvmer Heimdalls. Hast du ihn gestohlen?« »Nein. Ich half Heimdall. Und er half mir. Er überließ mir den Truvmer. Wer bist du wirklich, Kramolan?« »Meine Herkunft tut nichts zur Sache«, sagte er. »Was willst du?« »Mit dir über die Zukunft oder über Dinge reden, die weiter liegen als bis wohin das Auge reicht.« »Das wollen sie alle.« »Knarder schickt mich. Er sagte, du hättest über mich gesprochen.« »Ich spreche über vieles. Nimm Platz.« Breite Armbänder und überbreite Bänder aus fein ziseliertem schwarzem Metall zierten die silberne Haut des Kramolan. Mehrere Ketten in ebensolcher Technik hingen von seinem schlanken Hals bis auf die unbehaarte Brust. Kramolan saß regungslos da und betrachtete Koy aus zwei grauen Augen. Ganz sicher war Kramolan ein Einsiedler und ein Eigenbrötler. Aber was verbarg sich hinter dieser ungewöhnlichen Maske, die selbst im Reigen aller anderen Eigentümlichkeiten im Land Pthor eine Ausnahme darstellte? Koy setzte sich auf ein würfelförmiges
Der Jäger und der Göttersohn Stück Sandstein, auf dem ein einfaches Kissen lag. Er schwieg und wartete. Nach einiger Zeit, in der er regungslos aus dem im Süden gelegenen Fenster hinausgestarrt hatte, wandte sich der silberne Mann Koy zu, zog seine Beine unter seinem Körper hervor und federte mit einer blitzschnellen Bewegung vom Postament hinunter. Koy sah, daß er starke Knochen und scharf modellierte Muskeln hatte, die sich in spielerischer Leichtigkeit bewegten. »Du bist ein Sklave der Herren der FESTUNG, nicht wahr?« »Ja. Sie schickten mich aus, um Fremde zu suchen. Kannst du, der du die Zukunft kennst, mir sagen, ob es diese Fremden gibt? Ich habe die Verbindung zum Wachen Auge verloren und bin praktisch frei.« Koy hatte unzählige Legenden und viele Berichte in allen Teilen des Landes gehört. Aber nicht eine Erzählung sprach vom silbernen, dreiäugigen Kramolan. Der Mann und das, was er angeblich vermochte, waren ihm völlig neu. Und überdies war er skeptisch. Schaden konnte es nicht, wenn er sich mit diesem Rätselwesen unterhielt, aber vielleicht nützte es auch nichts. Jedenfalls war Kramolan sehr bemerkenswert in allem, was er tat, und vor allem, wie er es tat. Eine Aura der Geheimnisse und der Rätsel umgab ihn. »Die Fremden sind in Pthor«, sagte Kramolan und setzte sich Koy gegenüber an den Rand des Podests. »Wo?« »Ich weiß es nicht. Ich sah Leute, die von ihnen erzählten. Aber ich sah sie selbst nicht.« »Ich fahre nach Norden, nach Nordwesten, genauer. Werde ich sie dort treffen, jene Fremden? Und … was kannst du mir über die Fremden sagen?« »Sie sollen wild und kämpferisch sein, durchtrieben und schnell. Sie haben eine große Fähigkeit, so weiß ich, sich allen Umgebungen anzugleichen wie gewisse Tiere, die ihre Farbe wechseln. Im Augenblick sind sie unsichtbar und irgendwo auf Pthor, nie-
47 mand weiß, wo. Du sollst sie suchen und vernichten?« Koy sagte sich, daß es sehr viel klüger war, seine Absichten nicht klar zu schildern. Da er sie als seine potentiellen Verbündeten betrachtete, mußte er sie so oder so finden, um mit ihnen sprechen zu können. Dies traf ebenso auf den Befehl der Herren der FESTUNG zu. »Ich bin gehalten, sie schnell zu finden«, sagte er. »Und ich weiß, daß es alles andere als leicht und einfach sein wird. Was mich zur nächsten Frage bringt. Was werde ich erleben, ehe ich auf die Fremden stoße?« Kramolan hatte ihm bestätigt, was er geahnt hatte. Niemand, der auf Pthor überlebte, war ein Schwächling oder ein Dummkopf. Und wenn es Fremden gelang, den Schirm zu durchbrechen, den sie selbst um Pthor gelegt hatten und noch immer zu leben, dann mußten es wahre Wunderexemplare sein. Kramolan schüttelte den Kopf und lächelte kühl. »Jede Information ist ihren Preis wert. Was könntest du bieten?« Ohne zu zögern sagte Koy: »Ich kenne den Besitzer der meisten Parraxynth-Bruchstücke. Er wird es, denke ich, sein, der in absehbarer Zeit alle Geheimnisse von Pthor löst. Er hat, so wie ich es sehe, die besten Chancen dazu.« Das dritte Auge Kramolans leuchtete plötzlich auf. Ein kaltes blaues Licht erfüllte sekundenlang zuckend den Raum. Koy fuhr zurück und zwinkerte. Er war kurz geblendet worden. »Ein schöner Effekt«, sagte er schließlich. »Ein Zeichen meiner Erregung. Das dritte Auge leuchtet auch, wenn ich tief in die Geheimnisse eindringe.« Der größere Bruder von Kröbel, dachte sich Koy. Aber er fragte: »Bist du an dieser Information interessiert?« »Selbstverständlich. Ich kenne mehrere, die ebenfalls Bruchstücke haben. Keine großen, aber voller Zahlen, Ziffern und
48 Buchstaben. Sie werden Ehren einheimsen, wenn sie sich mit dem Manne verbünden, der die meisten hat.« »Ich kann mich nicht erinnern, gesagt zu haben, daß es ein Mann ist!« gab Koy zurück. »Eine Frau? Undenkbar.« »Du hast recht. Nimmst du diese meine Information in Zahlung, Kramolan? Ich muß weiter, es zieht mich nach Nordosten. Aber versuche bitte nicht, mich mit Hinweisen auf drohende Gefahren und große Entbehrungen zu überschütten. Ich weiß, daß es kaum eine Stelle auf Pthor gibt, die nicht voller Gefahren ist. Was mich betrifft, so führe ich seit langem ein entbehrungsreiches Leben.« Als Kramolan seine Schultern hob und den Kopf schüttelte, klirrte der eiserne Schmuck. »Du wirst, ehe du die Fremden findest, den absolut tiefsten Punkt im Lauf deiner Existenz erreicht haben. Nachher wirst du ein anderer sein, nicht äußerlich, aber innerlich. Die Schmerzen, die man dir zufügt, sind körperlich und treffen ebenso dein Herz. Man wird dich darüber hinaus des letzten Restes deiner Würde zu berauben versuchen. Das sehe ich ganz deutlich.« Koy starrte ihn schweigend an. Hinter seiner runden Stirn überschlugen sich Gedanken und Empfindungen. Woher nahm dieser Mann das Wissen und diese ruhige, echte Selbstverständlichkeit? »Ich kann nicht behaupten, daß mich deine Erklärungen freuen. Aber wenn du nicht lügst, dann weiß ich, was mir droht. Danke für deine Rede, Kramolan. Ich weiß jetzt, daß ich kein leichtes Leben haben werde.« »Die Linien des Schicksals sind wirr. Ich sehe Teile davon, aber ich vermag sie nicht zu entknoten. Wer ist der Besitzer der vielen Bruchstücke?« Ruhig sagte Koy: »Heimdall, der Sohn Odins.« Wieder zuckte flackernd das blaue Auge auf wie ein Scheinwerfer des Truvmers. Kramolan stieß heiser hervor: »Der schwarze, düstere Heimdall, der
Hans Kneifel Pthor mit seinem Kettenwagen durchforscht! Ausgerechnet er! Nun, ich werde nichts tun, um ihm die Teile zu stehlen. Aber es ist gut, zu wissen, wer vermutlich die Herren der FESTUNG ablösen wird.« Koy nickte bedächtig und stand zögernd auf. »Siehst du die Schicksalslinien des heutigen Nachmittags, Silberner?« »Zum Teil.« Koy schulterte die Feuerlanze und ging einige Schritte in die Richtung des Ausganges. »Sind darunter meine persönlichen Linien, Kramolan?« Die Worte, die er gehört hatte, fraßen sich langsam in ihm fest. Wenn der Silberne die Wahrheit sprach, dann hatte er nicht gerade schöne Tage vor sich. Seine Mutter fiel ihm ein; ein weiterer Punkt, an dem er ernsthaft verwundbar war. »Zum Teil, Koy«, sagte der Silberne lächelnd. »Was sagen sie? Was bedeuten sie?« »Der Rest dieses Tages wird dir keine Gefahren bringen. Nimm den Truvmer und steuere auf dein Ziel zu. Du bist nicht gefährdet. Mag sein, daß du auf dem Weg Dinge siehst oder erlebst, die gefährlich aussehen mögen, aber für dich, Jäger, bedeuten sie keine wirklichen Gefahren.« Koy nickte dankend und streckte die Hand aus. »Ich danke dir, Kramolan. Wenigstens ein paar Stunden voller Ruhe habe ich noch vor mir. Und du? Du bleibst hier und starrst abwechselnd durch eines der vier Fenster in die Ferne?« »Glaube mir«, war die ruhige Antwort, »daß ich auf diese Weise Dinge sehe, die dir und den anderen verborgen bleiben.« Er schüttelte Koys Hand mit einem festen, harten Griff und deutete in die Richtung des Ausgangs. »Wie auch immer«, murmelte Koy. »Ich danke dir, und ich wünsche dir bessere Schicksalslinien, Silberner.« »Da ich mein Leben betrachtend, abwar-
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tend und weitestgehend passiv betreibe, ist die Gefahr gewaltsamer Unterbrechungen gering. Viel Glück, Koy. Du wirst es brauchen.« »Warten wir's ab!« murmelte Koy und verließ nachdenklich den pilzförmigen Felsen. Er hatte sich, sah er am Stand der Sonne, nicht lange aufgehalten. Er kletterte in das kugelige Vorderteil des metallenen Skorpions, ließ die Maschine an und klappte das Visier herunter. Langsam drehte sich das Fahrzeug auf der Stelle. Als vor Koy die drei Gipfelmassive des Taambergs erschienen, schob er beide Hebel nach vorn und ließ das Fahrzeug schneller werden. Schweigend und sehr nachdenklich fuhr er in die Richtung, die er eingeschlagen hatte. Es gab zwei Möglichkeiten: Skepsis oder Glaube.
Koy der Trommler versuchte, während er steuerte, eine Art Bilanz zu ziehen. Was ihn auch auf dem weiteren Teil seiner Suche oder Jagd erwartete, es würde hart sein und mörderisch. Die Unterbrechungen, wie sie beispielsweise bei Heimdall und Kröbel stattgefunden hatten, waren selten und kostbar. Vor ihm lag eine lange Strecke. Vor ihm waren Gefahren, Erniedrigungen und Gewalt. Er konnte jetzt noch umkehren und alles vergessen. Er fuhr weiter. Er glaubte, daß er seinem eigenen Tod entgegenfuhr. Heute, morgen oder an einem der folgenden Tage …
ENDE
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