Nr. 446
Der Arkonide und der Yastor Unter den Nomaden von Dorkh von Peter Terrid
Atlans kosmische Odyssee, die ihren ...
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Nr. 446
Der Arkonide und der Yastor Unter den Nomaden von Dorkh von Peter Terrid
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahr stuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern, Besatzern und Invasoren zu tun haben, trachtet der Arkonide danach, die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis auszuspähen und die Kreise der Mächtigen zu stören. Gegenwärtig geht es Atlan und seinen Gefährten Razamon und Kennon/Axton al lerdings nicht darum, den Machthabern der Schwarzen Galaxis zu schaden, sondern es geht ihnen ganz einfach ums nackte Überleben – und das seit der Stunde, da sie auf Geheiß des Duuhl Larx im »Land ohne Sonne« ohne Ausrüstung und Hilfsmittel ausgesetzt wurden. Die Welt, auf der die drei Männer aus ihrer Betäubung erwachen, ist Dorkh, eine Welt der Schrecken und der tödlichen Überraschungen. Kaum sind Atlan und seine Gefährten den Nachstellungen der riesigen Raubvögel und der seltsamen Gnomen entgangen, da müssen sie auch schon vor den katzen artigen Mavinen die Flucht ergreifen. Sie flüchten in den Dschungel und erreichen den »Jagdteppich« – und dort kommt es zur Begegnung: DER ARKONIDE UND DER YASTOR …
Der Arkonide und der Yastor
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan, Razamon und Axton-Grizzard - Drei Fremde unter den Nomaden von Dorkh.
Grutar-Nal-Kart - Yastor der Zukahartos.
Hirundo - Grutars Bruder.
Lyssod - Grutars Rivale.
Der Extortirnser - Das Orakel der Zukahartos.
1. Als Grutar-Nal-Kart das Knacken hörte und der Körper seines Gegners unter ihm er schlaffte, wußte der Mann, daß er dem Ziel einen Schritt näher gekommen war – einen entscheidenden Schritt sogar. Die Kernix-Zukahartos umstanden den Platz zwischen den Spitzzelten, schweigend, wie es sich bei einem Kampf dieser Art ge bührte. Die Kernix-Zukahartos galten ge meinhin als einer der traditionsbewußtesten Stämme des Jagdteppichs, und sie wußten, was sich bei einem Yastor-Kampf gehörte. Grutar-Nal-Kart erhob sich langsam. Der reglose Körper seines Gegners blieb im Staub liegen. Grutar-Nal-Kart hatte ihm das Genick gebrochen. Der tödliche Aus gang eines Yastor-Kampfes war nicht unge wöhnlich, wohl aber in diesem Fall, denn beide Gegner galten als gleichermaßen stark, geschickt und wendig. »Der Sieger ist Grutar-Nal-Kart«, verkün dete der Thaigoon mit weithin schallender Stimme. Leiser fuhr er fort: »Und schafft den Toten aus dem Lager.« Drei Knaben sprangen auf und packten Grutars Gegner. Der Leichnam wurde vom Kampfplatz geschleppt, ohne daß auch nur einer der Zuschauer einen Blick auf ihn ver wandte. Grutar hob feierlich die Hände zur ewigen Sonne und ihrer Güte. Leise sprach er das Gebet. Er hatte es tagelang auswendig ge lernt, denn er war von Anfang an sicher ge wesen, daß er bei den diesjährigen YastorKämpfen unter den Kernix-Zukahartos kei nen gleichwertigen Gegner finden würde. Nach dem Gebet warf sich GrutarNal-Kart auf den Boden, um die Erdgeister
um Verzeihung zu bitten. Es war Blut ge flossen bei diesem Kampf, und das gehörte sich nicht. Irgendwie hatte Grutar während des Kampfes das Ohr seines Gegners zu fas sen bekommen, ein wenig daran gedreht, und schon war ein Riß in der Haut entstan den, der heftig geblutet hatte. Noch waren Spuren davon auf dem Boden zu erkennen. »Oy!« rief Grutar. »Ich werde gehen.« »Und siegen!« rief die Versammlung. Es stand fest: Grutar-Nal-Kart würde die Sippe der Kernix-Zukahartos bei den Ya stor-Ausscheidungen dieser Blütenperiode vertreten. Und es sah ganz danach aus, als habe er eine reelle Chance, der nächste Ya stor zu werden. Hirundo trat heran und reichte Grutar ein Handtuch aus feinster Perissowolle. Lang sam und bedächtig trocknete Grutar den schweißnassen Körper. Er wußte, daß ihm die versammelten Krieger aufmerksam zusa hen, und schon allein aus diesem Grund ließ er sich Zeit. Die Krieger sollten seine Mus keln sehen können, die Narben auf der Vor derseite seiner Schultern und seinen Rücken, der frei war von Narben. »Wann willst du aufbrechen?« fragte Hirundo. Hirundo war Grutars jüngerer Bruder, die einzige Person im Kernix-Lager, die Grutar aufrichtig liebte – jedem anderen mißtraute er. Hirundo aber war schmal, feingliedrig und wirkte so zerbrechlich, daß die anderen jungen Männer frühzeitig die Versuche auf gegeben hatten, mit Hirundo kämpfen zu wollen. Die Gefahr war zu groß, daß man ihm versehentlich das Genick brach, und das hätte unweigerlich die Rache Grutars her aufbeschworen – und Grutar-Nal-Kart zu fürchten hatten alle frühzeitig gelernt. Grutar spähte in die Höhe.
4 Der Himmel über der Weite des Jagdtep pichs war hochgewölbt und blau; keine Wol ke war zu sehen. Die Zeit der Frühjahrsre gengüsse war gerade erst vorbei, der Jagd teppich stand in herrlichster Blüte. Dies war die rechte Zeit, dachte GrutarNal-Kart. In zwei, höchstens drei Wochen konnte er Yastor sein, Gebieter und alleini ger Herr über Tausende von Zelten. »Morgen früh«, sagte Grutar. Er nahm aus der Hand eines Sippenmitglieds eine Schale kalten Gämmertees und trank bedächtig dar aus. Grutar sah sich kurz um. Die Krieger, die er mitzunehmen gedachte, standen auf dem Platz zwischen den Spitzzelten. Grutar grinste breit. »Ihr werdet meine Unterführer sein«, ver sprach er. »Sobald das Heer des Yastors auf meinen Befehl hört.« Die Männer grinsten zurück. Ihre ganze Hoffnung lag auf Grutars breiten Schultern, und dort war sie gut aufgehoben. »Geht und schlaft früh«, sagte Grutar. »Morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, müssen die Tarpane gesattelt bereitstehen.« Die Männer führten kurz die Griffstücke ihrer Bögen an die Stirn, der traditionelle Gruß der Soldaten an den Heerführer. »Du bist leichtsinnig«, sagte Hirundo lei se. »Dieser Gruß gebührt dir noch nicht. Laß dich nicht erwischen, die Galagos des Ya stors sind geschickt, schnell und grausam.« »Ich fürchte sie nicht«, sagte GrutarNal-Kart. Er durfte sich nun so nennen, seit er seinen letzten Gegner besiegt und damit keinen Widersacher mehr auf seinem Weg hatte. Grutar zog das lederne Hemd über. Hirun do hatte es in langer Nächte Arbeit herge stellt. »Was wirst du tun, wenn du das Große Lager erreicht hast?« fragte Hirundo mit ei nem scheuen Seitenblick. Grutar stutzte, grinste dann breit und ant wortete: »Keine Sorge, kleiner Bruder, du wirst nicht zu kurz kommen.« Hirundo lief feuerrot an, während Grutar
Peter Terrid schallend lachte. Als jemand, der sich nicht einmal um die Kandidatur zum Yastor bewerben konnte, hatte Hirundo natürlich nicht die geringste Aussicht, jemals einem Tempel der Zusam menkunft auch nur nahe zu kommen – es sei denn, Grutar wurde Yastor und nahm ihn mit. Mit einer Handbewegung schickte Grutar seine Gefolgsleute weg. Sie gehorchten so fort. Hirundo sah den Davonschreitenden aus zusammengekniffenen Augen nach. »Wir haben gute Leute, nicht wahr?« »Die besten«, antwortete Grutar-Nal-Kart, während er den Gürtel schloß. »Und wir ha ben mich, vergiß das nicht.« Er lächelte erheitert. Vor zwei Wochen waren die KernixZukahartos aufgebrochen. Seither hatten sie sich nur mit zwei Dingen beschäftigt – sich dem Großen Lager zu nähern und unterwegs den Yastor-Kandidaten zu bestimmen. Beide Ziele waren nahezu erreicht. Das Große La ger war im schlimmsten Fall noch zwei Ta gesritte entfernt, und Grutar-Nal-Kart stand als Bewerber um die Würde des Yastors zweifelsfrei fest. In Kernix, der Felsenstadt der KernixZukahartos, waren nur die ganz Alten übrig geblieben und die ganz Jungen, die zusam men mit den Sklaven die Herden zu bewa chen hatten. Alle kampffähigen Männer so wie die Alten, die zum Rat des Lagers zuge lassen waren, ritten zum Großen Lager. Grutar-Nal-Kart schritt über das Gras des Lagerplatzes zu seinem Zelt. Es stand am Ende der Lagerstraße; bis zu diesem Zeit punkt war Grutar-Nal-Kart nichts weiter ge wesen als ein ganz normaler Krieger der Zu kahartos, dazu noch ein sehr junger. Folglich hatte man ihm nicht erlaubt, in der Nähe des Lagerältesten sein Zelt aufzuschlagen. Das Zelt bot neun Personen und dem Zeltältesten Platz. Der bisherige Zeltälteste trat respektvoll zur Seite und hob das lange gekaute, weiche Leder des Zelteinganges beiseite – früher hatte Hirundo diese Aufgabe übernehmen
Der Arkonide und der Yastor müssen, der jüngste Krieger im Zelt. Alles war vorbereitet. Das kleine Feuer aus Tarpandung brannte, auf dem Dreifuß simmerte das Teewasser. Der anregende Duft nach gesottenem Fleisch füllte das Zelt. Grutar-Nal-Kart hockte sich auf den Bo den. Nacheinander sah er seine neun Zeltge fährten an. Er hatte sie sich sorgsam ausge sucht. Jeder einzelne von ihnen wog minde stens fünf normale Kämpfer auf – Hirundo ausgenommen, aber der Kleine war ein Mei ster der Ränke und in dieser Eigenschaft mehr wert als eine Hundertschaft. »Oy!« sagte Grutar. »Auf den neuen Ya stor!«
* Jeder konnte ihn sehen. Er ritt an der Spit ze des Zuges, wie jeder Yastor-Kandidat. Zu seiner rechten Seite ritt Erinak, der schweig same Hüne, zu seiner Linken der pfiffige Hirundo. Unmittelbar dahinter, auf sehr sel tenen weißen Tarpanen, folgten der Thai goon und Plekoth-Jur-Ger, der frühere An führer der Kernix-Zukahartos. »Unser Zug ist nicht sehr lang und ein drucksvoll«, murmelte Grutar-Nal-Kart. »Es kommt nicht auf die Länge des Zuges an«, versetzte Hirundo einfach. »Die Spitze ist wichtig.« Grutar lächelte verhalten. Aus den Augenwinkeln heraus konnte er andere Sippen sehen, die gleich den KernixZukahartos in feierlicher Parade auf das Große Lager zuritten. Zur Linken erkannte Grutar den Zug der Bassarix-Zukahartos, deutlich am stilisierten Falken zu erkennen, dem Wappen der Bassarixe. Die Kernix-Sip pe hatte noch nie einen Yastor gestellt, durf te daher kein Wappen tragen und galt infol gedessen als wenig vornehm. Über dem Lager wehte an hohem Mast die vierfache Standarte des gegenwärtigen Y-astors, Barbast-Kas-Nin, aus der Sippe der Lagotrix-Zukahartos. Sieben Perioden lang war er Yastor gewesen, nicht gerade der Rekord, aber dennoch eine beein
5 druckende Leistung. Sieben Frühlinge lang hatte er das Heer auf den Jagdteppich ge führt, sieben Sommer war er mit reicher Beute zurückgekehrt. Am Rand des Lagers machten die Reiter gruppen halt. Nur auserwählte Personen hat ten das Recht, sich im umfriedeten Bezirk einzuquartieren – im Fall der Kernix-Sippen waren das die führenden fünf Reiter: der Kandidat mit zwei Sekundanten, der Thai goon der Sippe und der ehemalige Sippen chef. Dazu kam eine Zeltmannschaft Sklaven, die für die Herrschaften die Zelte aufzubau en und die Wachen zu halten hatte. Die rest lichen Mitglieder der Sippen durften den Platz des Großen Lagers nicht betreten. Das Gefolge des Kernix-Kandidaten war lange vorher bestimmt worden und daher schnell zusammengestellt. Grutar brauchte nur wenige Minuten zu warten, dann durfte er seinen Tarpan über das blaßrote Band hinwegführen, das den unverletzlichen Frie densbereich des Großen Lagers kennzeich nete. Wer das Band ohne Befugnis über schritt, starb. Es fehlten nicht mehr viele Sippen, stellte Grutar-Nal-Kart fest, als er seinen Tarpan langsam über die helle Straße führte. Auf ihr zogen die Reiter in das Lager ein und aus; die dunkle Straße war dem letzten Weg zum Tode Verurteilter bestimmt. »Dort ist er«, flüsterte der Thaigoon er regt, als das Zentrum des Lagers erreicht war. Grutar konnte ihn sehen, den Tempel der Verkündung und der Unberührbarkeit. Als einziges Gebäude im Lager war der Tempel nicht aus dünnen Lederplanen in Zeltform erbaut worden; der Extortirnser, das Heilig tum, war unter einer eckigen Holzkonstruk tion verborgen. Grutar wußte nicht, was er von der Ange legenheit halten sollte. Er verstand etwas von Bögen, von geraden Pfeilen und gutge schärften Messern. Von Gottheiten und Hei ligtümern verstand er nichts. Er wußte zwar, daß es den Extortirnser
6 gab, daß er bei allen Feldzügen in einer Sänfte feierlich mitgeschleppt wurde und den Zuka-hartos mit weisen Ratschlägen und Orakeln behilflich war. Grutar wußte auch, daß es Priester gab – pro Sippe jeweils einen – die sorgfältig darauf achteten, daß die vorgeschriebenen Gebetsrituale einge halten wurden. Diese Priester verloren bei der Weihe ihren Namen und wurden nur Thaigoon genannt; bei Zusammenkünften wurden sie mit dem Namen der ihnen anver trauten Sippen gerufen. Bislang hatte Grutar dies alles nur aus weiter Ferne miterleben können; beim letz ten Ritt zum Großen Lager hatte er als Tar panbursche im Außenlager nächtigen müs sen. Nun, sagte sich Grutar-Nal-Kart, in ein paar Tagen bist du Yastor, dann kannst du den Tempel aufsuchen und den Extortirnser mit eigenen Augen sehen. Bis dahin … Er verhielt seinen Tarpan. Das Zentrum des Lagers war erreicht, das große Zelt des Yastors, über dem am Mast die Standarte wehte. Die großen Flügel des Zeltes waren zur Seite geschlagen, im Ein gang saß auf dem elfenbeinernen Thron der Yastor, die offizielle Pelzmütze auf dem Kopf, in der rechten Hand ein gefülltes Trinkhorn, in der linken den Knauf seines Schwertes. »Willkommen!« rief der Yastor. Sein Gruß galt beiden Trupps, die fast gleichzei tig den Platz in der Mitte des Lagers erreicht hatten. Aus den Augenwinkeln heraus konn te Grutar-Nal-Kart die Bassarix-Standarte sehen, gehalten von dem widerwärtigen Lys sod-Fähr-Quel, dem Yastor-Kandidaten der Bassarixe. Grutar wünschte ihn zur Hölle. Die beiden Kandidaten stiegen von ihren Tarpanen. Neben dem Yastor erkannte Grut ar an dem kahlen Schädel den Obersten Thaigoon, die einzige Person, die außer dem amtierenden Yastor stets Zugang zum Extor tirn-ser hatte. Der Thaigoon machte ein ver schlossenes Gesicht. Mit gemessenen Schritten trat Grutar auf den Yastor zu. Sein Konkurrent war ent-
Peter Terrid schieden energischer. Lyssod machte ein paar Schritte und deutete lediglich eine Ver beugung vor dem Yastor an, anstatt sich tief zu verneigen, wie es die Etikette verlangte. Der Thaigoon rümpfte die Nase, der Yastor lächelte milde. Grutar blieb höflich stehen. »Willkommen im Lager, Lyssod«, sagte der Yastor. »Ich freue mich, dich wieder zu sehen. Du willst meinen Platz einnehmen?« »Ich werde«, verbesserte Lyssod herab lassend. Ein verächtlicher Blick streifte Grutar. »Thaigoon!« Eine mehr als herablassende Handbewe gung galt dem Priester als Gruß. Der Yastor hob das Trinkhorn, nahm einen kleinen Schluck und reichte das Horn dann an Lys sod. Der junge Mann setzte das Gefäß an die Lippen und leerte es in einem Zug. »Prachtvoll«, sagte er dann und wischte sich die vergorene Tarpanmilch aus den Mundwinkeln. Grutar lächelte nur. Lyssod nahm sich al lerhand heraus. Nun, er würde dafür bezah len müssen. »Dein Gesicht kenne ich noch nicht«, sag te der Yastor, zu Grutar gewandt. »Aber ich kenne die Züge des Sippenältesten PlekothJur-Ger. Du mußt der Kandidat der KernixSippe sein.« »Ich bin es, Yastor«, sagte Grutar. Er grüßte vollendet den Yastor, ja er ging sogar so weit, den breiten Ring an der linken Hand des Thaigoon zu küssen – was eigentlich nur Priesteranwärter und sehr überzeugte Zuka hartos taten. Lyssod kicherte in sich hinein. »Die Ausscheidungskämpfe beginnen schon morgen«, sagte der Yastor. »Ich hof fe, ihr beide seid gut vorbereitet.« »Selbstverständlich«, sagte Lyssod. »Ich hoffe«, bemerkte Grutar. Grutar bedachte Lyssod mit einem langen Blick. Dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Sieh dir Lyssod noch einmal genau an, Yastor. Du wirst ihn morgen nur noch aus der Ferne sehen können, danach nur noch tot.« Er verneigte sich vollendet vor dem Ya
Der Arkonide und der Yastor stor und ging davon.
2. Die Schneegrenze lag bei eintausendfünf hundert Metern. Die höchsten Erhebungen dieses Gebirges, das die Sirva-Gipfel ge nannt wurde, lag bei nicht ganz viertausend Metern. Was sich uns in den Weg stellte, war kei ne Hügelkette. Wir hatten es mit einem aus gewachsenen Hochgebirge zu tun, das zu durchqueren eine Sache auf Leben und Tod sein mußte. Indes hatten wir keine andere Wahl. »Rast«, verkündete ich, und meine Ge fährten dankten es mir mit Blicken. Zum Sprechen fehlte ihnen der Atem. Der Paß lag hinter uns, aber das hieß noch lange nicht, daß wir unser Ziel erreicht hät ten. Vor uns lag der Abstieg, hinab in die Ebene. Ich war gespannt auf das, was uns dort erwartete. So wie ich Dorkh einschätz te, warteten dort unten allerlei Überraschun gen auf uns. Auf Überraschungen waren wir bestens vorbereitet. Unsere Kleidung bestand aus Lumpen, ausgerüstet waren wir mit unseren Hirnen und Händen, mit sonst nichts. Und unser Gepäck bestand lediglich aus der langsam wachsenden Verzweiflung, daß wir es allem Überlebenswillen zum Trotz vielleicht doch nicht schaffen würden, die Ebene am Fuß der Sirva-Gipfel zu erreichen. Wir konnten das Land von unserem Rast platz aus sehen. Fettes, grünes Land, buntge sprenkelt mit Blumen und blühenden Sträu chern. Vermutlich hatte es dort unten vor nicht allzu langer Zeit geregnet. Dort gab es alles, was wir dringend nötig hatten. Dort gab es ein Klima, in dem es nicht lebensgefährlich war, in Lumpen her umzugehen. Dort gab es Pflanzen, die man essen konnte, dort gab es weiches Gras, auf dem man ruhig schlafen konnte. Dort gab es auch höchstwahrscheinlich Tiere, die man jagen, braten und schließlich auch verspei
7 sen konnte. Ich versuchte, an solche Genüsse besser gar nicht erst zu denken. Um uns herum gab es dreierlei: kaltes Ge stein, kalte Luft und kaltes Wasser. Das Ge stein waren die Schrunde und Klüfte der Sirva-Gipfel; von Weg war in dieser Felswild nis keine Rede. Die Luft war nicht nur eisig kalt, sie war obendrein auch noch arg dünn. Am besten waren wir mit Wasser ver sorgt. Es gab Wasser in fester Form. Es pol terte ab und zu kristallin auf uns herab, und wir hatten es nur unserem Glück zu verdan ken, daß wir noch nicht erschlagen worden waren. Es gab Wasser in Pulverform, fein flockigen Schnee, der manchmal in solchen Mengen auf uns herabrieselte, daß man dar unter begraben werden konnte. Und es gab Bergwässer, deren Kälte bis auf die Kno chen zu schneiden schien. Das Wasser war so kalt, daß man es kaum trinken konnte. »Wann wird dieses Gebirge ein Ende ha ben?« fragte Razamon. Er lag auf dem Bo den und versuchte seine Atmung zu beruhi gen. Ich deutete nach vorne, auf den grünen Fleck am Horizont. »Dort ist die Ebene«, sagte ich. »Zwei Ta gesmärsche, höchstens.« »Vielleicht mehr«, bemerkte eine schwa che Stimme. Grizzard machte einen sehr erschöpften Eindruck. Die Ereignisse und Strapazen der letzten Tage waren an keinem von uns spur los vorübergegangen, aber Grizzard hatten sie besonders gezeichnet. Die Augen lagen tief in den Höhlen, wirk ten düster und müde. Die Bewegungen wa ren langsamer geworden. »Was ist los?« fragte ich meinen Gefähr ten. »Irgendwelche besonderen Schwierig keiten?« »Keine«, versetzte Grizzard matt. »Ich werde nur wesentlich rascher müde als sonst.« »Es wird an den besonderen Gegebenhei ten des Gebirges liegen«, vermutete Raza mon. Auch dem Berserker war anzusehen,
8 wie sehr ihn der Marsch durch die Hölle aus Fels und Eis angestrengt hatte. »Kannst du weitergehen?« fragte ich Grizzard. Er lächelte bitter. »Kann ich liegenbleiben?« fragte er bissig zurück. Er stand auf. Wir setzten unseren Marsch fort. In der Ferne winkte das Grün der Ebene, und die ser Fleck der Hoffnung gab uns Kraft. Es ging bergab auch ein wenig leichter als bergauf. Ab und zu blieb ich stehen, um meine Ge fährten nachrücken zu lassen. Sie verfügten nicht wie ich über einen Zellaktivator, der verbrauchte Körperkräfte schnell regenerier te. Daher wurden sie von den Anstrengun gen des Marsches wesentlich mehr erschöpft als ich. Grizzard wollte mir überhaupt nicht gefal len. Ab und zu hatten seine Bewegungen die Trägheit und Unsicherheit eines alten Man nes – ein krasser Widerspruch zum jugend lichkräftigen Aussehen des Körpers. Gab es da ein Problem? Höchstwahrscheinlich, gab der Extrasinn durch. Am Abend waren wir ein beträchtliches Stück weitergekommen. Vor allem aber hat ten wir endgültig die Schneegrenze hinter uns gelassen. Wesentlich wärmer war es nicht geworden, aber immerhin, wir liefen nicht mehr Gefahr, des Nachts zugeschneit zu werden. In der Nähe des Lagerplatzes, den ich aus gesucht hatte, lag ein Haufen Knüppelholz; der nahe Bach hatte das Treibgut bei Hoch wasser in einem Winkel abgeladen. Das Hochwasser war lange vorbei, das Holz war zwar kalt, aber dafür trocken. Grizzard war kaum noch in der Lage, et was zu tun. Es blieb Razamon und mir vor behalten, das Holz zusammenzutragen und Feuer zu machen. »Was soll das geben?« fragte Razamon mißtrauisch, als er sah, was ich dann mach te.
Peter Terrid Ich suchte alles an Kräutern und Grün zeug zusammen, was sich in der Nähe fin den ließ. Ich fand auch einen großen Stein, der eine tiefe Mulde enthielt, gerade groß genug für meine Zwecke. »Ich koche«, verriet ich dem Berserker. Meinen zentnerschweren Kochtopf zu be wegen, hatte ich natürlich keine Lust. Das war auch nicht nötig. Ich füllte die Vertie fung mit Wasser, zerrieb die Kräuter und ließ sie in das Wasser fallen. »Und jetzt hältst du ein Feuerzeug daran …«, spottete Razamon. Über Grizzards Gesicht flog ein müdes Lächeln. »Nein«, sagte er matt. »Er wird einige Steine in dem Feuer hier erhitzen und dann in die Mulde werfen. Dort wird die im Stein gespeicherte Hitze die Suppe zum Kochen bringen.« »Genauso werde ich es machen.« Es erwies sich als Kunststück besonderer Art, die heiß gemachten Felsstücke vom Feuer zum Felsenkochtopf zu transportieren, aber es gelang mir. Nach einer Stunde saßen wir um einen Topf voll einer sehr gefährlich aussehenden trüben Flüssigkeit. Der Geruch war nicht minder beängstigend. »Du erwartest doch nicht, daß wir dieses Zeug tatsächlich essen!« erklärte der Berser ker. »Ich erwarte das nicht nur – ich werde euch nötigenfalls prügeln, damit ihr diese Suppe eßt.« Grizzard beugte sich über den Topf und füllte die hohle Hand mit der Flüssigkeit. »Sie schmeckt, wie sie aussieht«, sagte er nach einer Kostprobe und schüttelte sich. »Aber diese Brühe ist warm, und allein das macht sie schon zur Delikatesse. Außerdem enthält sie genügend Vitamine, um uns für kurze Zeit über den Nahrungsmittelmangel hinwegzuhelfen.« Eine Suppe ohne Löffel zu essen, war wahrlich nicht einfach, aber es gelang uns. Der Geschmack war entsetzlich – einen bes seren Ansporn, uns auf dem Weg hinab in die Ebene zu beeilen, konnte es nicht geben.
Der Arkonide und der Yastor
* Razamon und ich hielten Wache bis zum Morgengrauen. An Gefahr glaubten wir nicht, aber einer mußte dafür sorgen, daß das Feuer nicht erlosch. Grizzard überließen wir seinem tiefen Schlaf. Als der Morgen heraufdämmerte, ging all mählich auch das Feuer aus. Wir hatten kein Holz mehr zum Nachlegen. Es wurde Zeit aufzubrechen. Mit etwas Glück konnten wir am Abend schon am Fuß der Sirva-Gipfel lagern. Ich hatte die letzte Wache übernommen. Als erstes weckte ich Razamon, dann Griz zard. Während der Berserker nahezu über gangslos wach wurde und sofort einsatzbe reit war, kehrte Grizzard nur langsam aus seinem Tiefschlaf in die Wirklichkeit zu rück. Mich stimmte das besorgt, aber ich wollte die niedergedrückte Stimmung nicht noch mehr belasten. Gleichgültig, ob wir für Grizzards Erschöpfung eine Erklärung fan den oder nicht – wir mußten in jedem Fall weiter. »Ich verstehe das nicht«, murmelte Griz zard. Er wirkte nicht nur müde, er machte auch einen niedergeschlagenen Eindruck. »Du verstehst was nicht?« fragte ich bei läufig. »Meine Schwäche«, murmelte Grizzard. »Ich kann mich auch gar nicht mehr richtig konzentrieren. Nicht nur meine Muskeln sind butterweich geworden, auch meine Ge danken ermüden.« »Wir alle brauchen Ruhe«, sagte Raza mon trocken. »Aber dazu brauchen wir eine weichgepolsterte Unterlage. Also vorwärts – dort unten winkt das Glück.« Wir machten uns auf den Weg. Mit jedem Kilometer, den wir zurückleg ten, wurde die Sache leichter. Das Gelände war nicht mehr so entsetzlich schroff und zerklüftet, es fiel auch nicht mehr so stark ab. Auch wenn dieser Teil unserer Wande rung erheblich weniger anstrengend war als der erste – das hieß nicht, daß wir diesen
9 Marsch unbegrenzt fortsetzen konnten. Spä testens morgen abend, überlegte ich mir, mußten wir zu einer richtigen Rast kommen, einer ausreichenden Mahlzeit und genügend Schlaf. Schafften wir das nicht, mußten wir zwangsläufig vor Erschöpfung zusammen brechen. Daß diese Gefahr nicht nur in meiner Überlegung bestand, wurde während des Marsches immer deutlicher. Grizzard bekam immer größere Schwierigkeiten, und diese Tatsache bedrückte mich sehr. Ich konnte mir vorstellen, was es für Sin clair Marout Kennon bedeuten mußte, einen solchen Körper zu haben. Und ich konnte mir auch vorstellen, was ein Wesen wie Kennon auszustehen hatte, wenn dieser Kör per so bedenkliche Schwächeerscheinungen zeigte. Kennon/Grizzard mußte unter unglaubli chem psychischem Druck stehen in diesen Stunden. Das Schlimmste war, daß wir ihm in keiner Weise helfen konnten. Mich tröstete dabei nur eines: daß näm lich Razamon und ich ebenfalls solcherart strapaziert wurden, daß wir die Grenzen un serer körperlichen Leistungsfähigkeit er reichten. Wenn Grizzard uns ächzen und keuchen hörte, dann sah er vielleicht ein, daß seine Schwäche erklärbar war. Nicht zuletzt von solchen Überlegungen wurde ich vorangetrieben. Wir marschierten Stunde um Stunde, immer bergab. Je tiefer wir kamen, desto dichter wurde der Bewuchs. Nutzpflanzen fanden wir kei ne. Unsere Aussichten, Fruchtbäume oder ähnliches finden zu können, waren recht ge ring. Aber das allmählich immer kräftiger werdende Grün verhieß, daß es ein Stück voraus Leben in den vielfältigsten Formen gab. Der Abend dämmerte herauf, und wir hat ten die Ebene noch nicht erreicht, als Griz zard einen Schwächeanfall bekam. Er be gann zu taumeln und stolperte. »Ich verstehe das einfach nicht«, murmel te Grizzard. Razamon und ich faßten ihn unter den Ar
10 men. Wir hatten Platz genug, zu dritt neben einander zu gehen. Es war ohnehin höchste Zeit für eine Rast. Nach kurzer Zeit hatten wir einen beinahe idealen Platz gefunden. Windgeschützt durch hohe Felsen, in der Nähe gab es Was ser, genügend Grünzeug und auch hinrei chend Treibholz. Bald brannte ein kleines Feuer, und es dauerte auch nicht lange, bis Razamon und ich aus dem vorhandenen Grünzeug eine Mahlzeit hergestellt hatten – nicht eben wohlschmeckend, dafür aber reich an Mineralien und Vitaminen. Bis zum nächsten Morgen mußte diese Mahlzeit ge nügen. Ich fand auch einige Beeren, die ziemlich süß schmeckten, folglich viele Kohlehydrate enthalten mußten. Es verstand sich von selbst, daß diese nährstoffreichen Beeren für Grizzard reserviert wurden, der sie am nötigsten brauchte. Grizzard/Kennon aß langsam und gedul dig, er zwang auch eine Portion des Salats hinunter, mit dem Razamon und ich den quälendsten Hunger stillten. Grizzard schlief nach dem Essen ein, er konnte die Augen nicht länger offenhalten. Razamon sah mich mit einem Ausdruck großer Besorgnis an. »Was fehlt ihm?« fragte er. »Ist er einfach nur erschöpft? Oder ist er schwerkrank?« Was sollte ich auf diese Frage antworten? Ich war kein Mediziner. Es war durchaus denkbar, daß sich Kennon/Grizzard eine Grippe eingefangen hatte, vielleicht eine Lungenentzündung … es gab viele Möglich keiten, krank zu werden, wenn man im schneebedeckten Gebirge herumkletterte. Mich bedrückte, daß bei Grizzard von normalen Krankheitssymptomen keine Rede war. Er fieberte nicht, er schwitzte nicht stärker als sonst auch, sein Puls war leicht tastbar, schlug kräftig und gleichmäßig. Was also war die Ursache der rätselhaften Schwäche, die ihn immer wieder befiel? Ich wartete auf eine kurze Erklärung des Extrasinns, der normalerweise mit Erläute rungen nicht geizte. Diesmal blieb der Lo giksektor still.
Peter Terrid
Es gab eine Möglichkeit, Kennons Zu stand zu erklären, aber diese Interpretation schob ich vorsichtshalber beiseite, denn wenn meine finstere Vermutung zutraf, schwebte Grizzard/Kennon in einer Gefahr, aus der wir ihn beim besten Willen nicht ret ten konnten. Es war denkbar, daß es zwischen dem Körper des Grizzard und dem Geist des Sin clair Marout Kennon zu Schwierigkeiten kam, zu Unverträglichkeiten. Abstoßungsef fekte dieser Art waren bei OrganTransplantationen an der Tagesordnung. Ei weißstoffe, die mit dem spezifischen Eiweiß des Körpers nicht übereinstimmten, wurden von der körpereigenen Abwehr vernichtet. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich bei diesem Fremd-Eiweiß um eine vereinsamte Bakterie handelte oder um die Zellen eines lebenswichtigen implantierten Organs. In beiden Fällen ging die Immunabwehr des Körpers mit unnachsichtiger Härte gegen den Fremdkörper vor, auch wenn dabei der gesamte Körper zugrunde gerichtet wurde. Hatten wir es bei Grizzard mit einem der artigen Immun-Infekt zu tun? In Grizzards Körper befindet sich nicht ein Molekül, das zu Kennons Körper gehö ren würde. Transplantiert wurde lediglich der Geist, aber kein Stück des Körpers. So lautete die erschöpfende Auskunft des Extrasinns. Dem gab es nichts entgegenzu halten. Ich sah mich um. Es war Nacht geworden, Grizzard und Razamon schliefen. Das Feuer brannte mit gleichmäßig hoher Flamme. Ich schob die Hölzer ein wenig nach. Vorsicht! Ich führte die Bewegung aus, zu der ich angesetzt hatte. Alles andere wäre aufgefal len. Trotz der Warnung des Extrasinns schürte ich weiter das kleine Feuer. Es war klar, Fremde hatten unseren La gerplatz entdeckt. Wo mochten sie sein? Einen Herzschlag später wußten wir es. Sie fielen über uns her.
Der Arkonide und der Yastor
3. Hirundo nahm das saubere Tuch und wischte damit das Blut von Grutars linkem Arm. Das Messer hatte den Muskel zur Hälfte aufgeschlitzt, ohne aber ein lebens wichtiges Gefäß getroffen zu haben. Grutar biß die Zähne zusammen, als Hirundo ein wenig Milch in die offene Wun de schüttete. Das Brennen zu ertragen, fiel schwerer als der Messerstich, den Grutar im Eifer des Gefechtes kaum gespürt hatte. »Du mußt vorsichtiger sein«, sagte Hirun do. »Dein Gegner ist stärker als du.« »Ich habe es bemerkt«, sagte GrutarNal-Kart. Melurs-Han-Faal war ein Klotz von ei nem Zukaharto, praktisch nichts weiter als eine Ansammlung stählerner Muskeln. Was grobe Körperkraft betraf, konnte es keiner mit ihm aufnehmen. Zum Verdruß für Grut ar ab er, der nur noch diesen einen Gegner zu bezwingen hatte, um in den Endkampf zu kommen, hatte sich Melurs auch als überaus wendig und beweglich erwiesen. Ihm mit dem Messer beizukommen, war unglaublich schwer, zumal die Wettbewerbsbedingungen verboten, tödliche Hiebe oder Stiche auszu teilen. Wer nämlich diese Endkämpfe er reichte, war als Kämpfer für das gesamte Volk der Zukahartos entschieden zu wichtig, als daß man es zugelassen hätte, daß sich die Yastor-Kandidaten gegenseitig massakrier ten. Der neue Yastor brauchte schließlich auch erprobte Kämpfer, die er befehligen konnte. »Ich werde ihn schlagen«, sagte Grutar zwischen zusammengepreßten Kiefern. »Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde ihn schlagen.« Es sah eher nach dem Gegenteil aus. Grutar blutete nicht mehr, aber die Wunde war schwerwiegend genug, auch wenn sie nur den linken Arm betraf. Noch eine Ver letzung dieser Art, und Grutar hätte aufge ben müssen. Es wäre keine Schande gewe sen – noch nie war ein Kernix der Siegerkro
11 ne so nahe gekommen wie Grutar, aber zu Grutars Lebenseinstellung gehörte der Grundsatz, daß nur der erste Platz zählte. »Versuche es mit dem Griff, den ich dir beigebracht habe«, raunte Hirundo. Grutar winkte ab. Das sah dem Jüngeren wieder ähnlich. Da er zum richtigen Kämpfen zu schwach war, hatte er sich einige Griffe und Bewegungen ausgedacht, mit denen er seine Gegner zu besiegen gedachte. Grutar war nie dazu ge kommen, sie praktisch auszuprobieren, und er war nicht der Typ Kämpfer, der mitten im Kampf zu irgendwelchen neumodischen Mätzchen seine Zuflucht nahm. Der Thaigoon des Lagers stieß ins Horn, das Zeichen für den Wiederbeginn des Kampfes. »Mach schneller!« herrschte Grutar sei nen Bruder an. Hirundo zögerte, die breiten Lederriemen fest um die Unterarme zu bin den. Am linken Arm mußte das bei der tie fen, bis fast auf den Knochen hinabreichen den Messerwunde entsetzliche Schmerzen hervorrufen. Grutar zog die Riemen mit den Zähnen selbst an, begleitet von einem ver ächtlichen Blick für den Jüngeren. Beide Kämpfer traten wieder auf den frei en Platz zwischen den Zelten. Auf dem Ya stor-Stuhl vor dem Tempel der Unberühr barkeit saß der noch amtierende Yastor; er hatte sich nicht wieder zur Wahl gestellt. Der Thaigoon funkelte Grutar böse an, weil der junge Kernix den Kampfbeginn of fenbar zu verzögern suchte. »Hier bin ich«, sagte Grutar und stellte sich zum Kampf. Beide Gegner waren nackt, bis auf den breiten Gürtel, an dem die Messer befestigt wurden. Beide hatten ihre Körper zunächst eingeölt, um dem Angreifer keinen Halt fin den zu lassen. Durch die Balgerei der letzten zwei Stunden war aus dieser Ölschicht eine schleimige Salbe geworden, die auf dem Körper förmlich klebte. Längst waren beide Kämpfer dazu über gegangen, ihre Messer zu benutzen. Der Kampf mußte in der nächsten halben Stunde
12 ein Ende finden, das stand bei Beginn dieser letzten Runde fest. Es war verboten, mit den Messern zu wer fen, und daran hielten sich alle Bewerber ausnahmslos. Melurs tänzelte, das Messer in der Lin ken, zustoßbereit. Grutar machte zwei Schritte auf den Gegner zu, er ließ das Mes ser aus der rechten in die linke Hand wech seln, und wieder zurück, und noch einmal von vorn. In seinem linken Unterarm tobte der Schmerz, er hätte beinahe das Messer verloren, als er dieses Wechselspiel zum vierten Mal ausführte. Ob dieses Manöver wirkungsvoll gewesen war, ob es den Gegner davon überzeugt hat te, daß Grutar rechts wie links jederzeit zu stoßen konnte – das ließ sich nicht feststel len. Das Gesicht des Gegners war wie ver steinert. Nicht die geringste Gemütsregung war darin zu sehen. Dann machte Melurs den ersten Ausfall. Grutar ließ den Gegner in die Leere lau fen, er machte einen Schritt zur Seite. Er hielt das Messer zu diesem Zeitpunkt in der linken Hand, und er spürte mit Entsetzen, wie seine Finger kraftlos wurden und aus der Faust das Messer fiel und im Boden steckenblieb. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Me lurs hatte den Vorgang noch in der Drehung gesehen, er verzog das Gesicht zu einem boshaften Grinsen. Und hinter ihm, nur knapp zehn Manns längen entfernt, sah Grutar das hämisch grinsende Gesicht seines schärfsten Wider sachers Lyssod. Grutar begriff schlagartig. Wenn er diesen Kampf verlor – und alles sprach in diesem Augenblick dafür –, war er am Morgen nach der Amtseinführung des neuen Yastors ein toter Mann. Es ging nicht länger um die Ehre oder die Würde des Yastors in diesem Zweikampf – es ging um das nackte Leben. Grutar bückte sich, um mit der Rechten nach seinem Messer zu greifen. Auf diesen Augenblick hatte Melurs gewartet. Er griff
Peter Terrid an … … und Grutar bekam das Messer zu fas sen und warf sich mit aller Kraft zur Seite. Er hörte Melurs Klinge an seinem Ohr vor beizischen, dann konzentrierte er sich auf das, was er mit Hirundo geübt hatte. Er brachte es fertig, den Schwung seiner Bewe gung auszunutzen und praktisch sofort wie der auf die Beine zu kommen. Beide Gegner waren knapp fünf Meter voneinander entfernt. Grutar wußte, er hatte bei normaler Kampfweise keine Chance mehr gegen Melurs. Das Messer war wertlos geworden, es behinderte ihn nur. Grutar drehte sich herum. Mit einer flüssi gen Bewegung schleuderte er das scharfge schliffene, perfekt ausbalancierte Messer. Es schlug eine Handbreit neben Lyssods Kopf in einer Zeltstange ein und blieb dort leise wippend stecken. Lyssod zuckte mit keiner Miene. Grutar drehte sich sofort wieder herum. Er hatte jetzt keine andere Wahl mehr. Er mußte diesen Kampf gewinnen, so oder so, notfalls dadurch, daß er seinen Gegner töte te. Verlor Grutar diesen Kampf, hatte er sich vergebens um die Würde eines Yastors be müht und mußte diesen Versuch mit dem Tode büßen. Es gab für Grutar nur eine Überlebensmöglichkeit – er mußte Yastor werden. Grutar griff an. Er tat es so, wie es Hirundo vorgeschla gen hatte. Er machte zwei, drei Schritte, schnellte sich ab und rammte mit einem ge waltigen Sprung seinem völlig verblüfften Gegner beide Füße in die Magengrube. Melurs verlor sofort das Gleichgewicht, kippte hintenüber und ächzte vernehmlich. Dank des gründlichen Trainings kam Grutar rasch wieder auf die Füße. Drei Schritte brachten ihn an Melurs heran, der gerade versuchte, sich wieder zu erheben. Ein Fußtritt vereitelte den Versuch. Grutar war kein Freund von Grausamkei ten. Er trachtete danach, den Kampf so schnell wie möglich zu beenden – er beugte sich zu dem verkrümmten Körper seines
Der Arkonide und der Yastor Gegners hinab und schlug zu. Melurs war vor Schmerz und Schock halb besinnungs los, und Grutar hatte beide Hände zu einer Faust zusammengeballt, die er mit aller Kraft in die Magengrube des Liegenden drosch. Melurs verdrehte die Augen, sein Mund öffnete sich weit, aber der vom Schlag gelähmte Solarplexus versagte den Dienst. Melurs Gestalt streckte sich. Er hatte das Bewußtsein verloren. Grutar stand langsam auf. Von der ledernen Manschette, die seinen linken Arm umgab, troff dunkles Blut auf den Sand hinab. »Der Sieger dieses Kampfes heißt GrutarNal-Kart aus der Sippe der Kernix. Ruhm und Preis dem Sieger!« Der Thaigoon gab sich nicht sehr viel Mühe bei den traditionellen feierlichen Wor ten. Auf den ersten Blick hatten sich beide nicht gemocht, und das galt in gleichem Maß für den Thaigoon wie für Grutar. Da der amtierende Yastor durchaus befugt war, einen neuen Obersten Thaigoon nach eige nem Ermessen zu benennen, ging der augen blickliche Thaigoon seines Amtes vermut lich verlustig. Auf der anderen Seite schien er ganz vorzüglich mit Lyssod übereinzu stimmen – Grutar vermutete, daß zwischen beiden schon seit langem eine gewisse Über einkunft bestand. Daß Grutar bei den Aus scheidungskämpfen ausnahmslos schwere Brocken zu bewältigen gehabt hatte, war si cherlich kein Zufall – Lyssod hingegen hatte es auffällig leicht gehabt, bis in den ent scheidenden Kampf vorzudringen. »Laß deine Wunde verbinden«, sagte der Yastor streng. »Und dann schafft den Toten fort.« »Er ist nicht tot«, versetzte Grutar. »Er ist nur besinnungslos. Bald wird er wieder zu sich kommen.« Der Yastor kniff die Augen zusammen. »Ich habe noch nie einen Mann so kämp fen sehen«, sagte er langsam. »Und ich sah manchen Kampf.« »Ab und zu muß sich jemand etwas Neues einfallen lassen«, gab Grutar mit einer an
13 gedeuteten Geste des Respekts zurück. Grut ar war kein Narr. Er wußte: nur der augen blickliche Yastor konnte ihm helfen, seine Machtposition zu festigen, wenn er es schaffte, den Yastor abzulösen. Er war auf die Mitarbeit dieses guten Mannes angewie sen, also galt es, die Zuneigung des Yastors zu gewinnen. »Du mußt eine Vertagung beantragen«, flüsterte Hirundo. »Unbedingt! Du hast ein Recht darauf.« Der Jüngere hatte sich rasch zu Grutar durchgearbeitet und flüsterte mit vor Erre gung heiserer Stimme. Grutar winkte ab. »Keine Pause«, sagte er energisch. Die Menge erstarrte. »Du Narr!« schimpfte Hirundo. Grutar wußte, was er tat. Bis zum näch sten Morgen war die Wunde am Arm nicht geheilt; es kam im Gegenteil, vermutlich noch Wundfieber hinzu. So geschwächt hat te er gegen Lyssod keine Chance. Grutar un terschätzte die Fähigkeiten seiner Gegner niemals, und Lyssod war als Kämpfer zwei felsohne hervorragend. Und bis zum nächsten Tag konnte sich Lys-sod allerlei einfallen lassen. Es war si cher ratsam, ihm keine Chance zu geben, sich auf Grutars neue Kampfweise einzustel len. »Weitermachen«, drängte Grutar. Der Yastor sah ihn aufmerksam an, dann machte er eine weit ausholende Handbewe gung. »Gebt den Kampfraum frei«, sagte er. »Lyssod, bist du bereit, den Kampf aufzu nehmen?« Lyssod trat auf den Platz. Er nickte nur. Die beiden Kontrahenten stellten sich auf, die Gesichter einander zugewandt, zehn Schritte voneinander entfernt und in der rechten Hand die Messer mit den beidseitig geschliffenen Klingen. Grutar-Nal-Kart wußte, daß ihm der Tod gegenüberstand. Lyssod würde jede sich bie tende Gelegenheit nützen, Grutar zu töten. Die Regeln der Ausscheidungskämpfe gal
14 ten im Endkampf nicht. Lyssod wiegte das Messer in der Rechten. Er plante irgendein Täuschungsmanöver, denn er hielt das Messer so, daß die Klinge unter dem kleinen Finger erschien. Zustoßen konnte er damit nur von oben nach unten, und das war bei einem Messerkampf ein un sinniges Verfahren. Grutar hielt sein Messer so, daß die Klin ge über dem Daumen in die Höhe ragte, ge rade richtig, um die Waffe von unten her dem Gegner in den Leib zu rammen – bei diesem Verfahren wurde bei fast jedem Stich ein lebenswichtiges Organ getroffen. Alles kam jetzt darauf an, den ersten Angriff von Lyssod vorher zu berechnen und ihm mit aller Kraft und Geschicklichkeit zu be gegnen. Grutar wußte, daß die ersten Augen blicke entschieden – einen längeren Kampf hätte er nicht durchstehen können. Lyssod machte aus dem Stand einen ge waltigen Satz, der ihn dicht an Grutar heran brachte. Mit einer geschickten Armbewe gung brachte er das Messer in die Höhe – und wechselte im Bruchteil einer Sekunde den Griff. Aus der Stichwaffe wurde so eine Hiebwaffe, mit der Lyssod einen fürchterli chen Hieb nach Grutars Hals führte. Die Überraschung war fast vollkommen. Mit allem hatte Grutar gerechnet, nicht aber mit dieser Variante. Für einen Stich war Lyssod nach dem ersten Ansprung viel zu weit entfernt, aber durch den blitzartigen Griffwechsel – wie lange mochte Lyssod diesen Trick geübt haben, bis er ihn mit die ser Sicherheit beherrschte? – hatte sich die Reichweite des Gegners erheblich erweitert. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Grutar ließ sich zurückfallen. Mit aller Kraft versuchte er seinen Kopf nach hinten zu werfen. Es war nur Glück, die Sache eines winzi gen Herzschlags. Von der unterarmlangen Klinge von Lyssods Messer konnte ihn bei diesem Angriff nur ein kleines Stück treffen, bestenfalls eine Handbreit von der Spitze an. Aber dieses Stück, getrieben von der Wucht eines weitausholenden, mit aller Kraft ge-
Peter Terrid führten Hiebes, versehen mit fürchterlicher Schärfe, reichte, so es traf, aus, den Hals bis auf den Nackenknochen zu durchtrennen. Grutar spürte etwas Glühendheißes über seine Kehle fahren, aber das Gefühl ging un ter in dem Wirbel von Empfindungen, der ihn bei seinem hastigen Rückzugsmanöver durchströmte. Die Bewegung rückwärts, der haltlos gewordene Blick, der im Leeren irrte, das gellende Schreien der Zuschauer, der Boden, auf den er prallte, die hektischen Be wegungen, die er mehr unbewußt als geplant ausführte … er wußte selbst nicht, wie es dazu kam, daß er wieder auf den Beinen stand, fest und sicher, während Lyssod Mü he hatte, seinen harten Lufthieb auszubalan cieren. Grutar zögerte nicht. Er drehte sich um seine Achse, das rechte Bein abgewinkelt, in einer lächerlichen Pi rouette, die aber unerhört wirkungsvoll war. Der Fußrücken traf Lyssod in der Leibesmit te, und er knickte sofort zusammen. Blitz schnell war Grutar heran. Jetzt hatte er die Oberhand. Vergessen war der feine Schmerz an der Kehle, er dachte nur an eines – den Gegner jetzt für immer zu besiegen. Er riß das rechte Knie in die Höhe, und wieder traf er Lyssod. Lyssod war geschlagen. Kein lebendes Wesen konnte die Schmerzen ertragen, die Grutars beide Treffer in den Eingeweiden des Gegners angerichtet hatten, und dabei noch kämpfen. Ein heftiger Faustschlag in den Nacken brachte das Ende des Kampfes. Wie vom Blitz gefällt, brach Lyssod zu sammen und rollte in den Staub. Die Zukahartos der Versammlung standen still. In der Menge entdeckte Grutar seinen kleinen Bruder, den Mund staunend aufge sperrt, in den Augen einen Ausdruck un gläubiger Verwunderung. Vermutlich, so dachte Grutar, hatte der Kleine selbst nicht an den Erfolg seiner Tricks geglaubt. Nun, er, Grutar, hatte auch nicht daran geglaubt, und jetzt war er Yastor – und wurde ohnmächtig.
Der Arkonide und der Yastor
* Als er wieder zu sich kam, wußte GrutarNal-Kart sofort, daß er der neue Yastor war. Er brauchte nur die Augen zu öffnen – der Anblick der Umgebung verriet, daß er nicht mehr in seinem eigenen kleinen Zelt lebte, das ziemlich ärmlich eingerichtet war. Das Zeltdach über seinem Kopf bestand aus fein ster Seide; die Sonne schimmerte hindurch und erfüllte den Raum mit bläulichem Däm merlicht. Grutar richtete sich langsam auf. Sie hatten sich um sein Lager versammelt: Hirundo, die Gefährten aus dem Zelt, der Oberste Thaigoon, der alte Yastor … minde stens dreißig Personen standen im Zelt. Es war Hirundo, der als erster sprach. »Er ist erwacht«, verkündete Grutars jün gerer Bruder. Er löste seinen Gürtel, hängte ihn sich um den Hals und beugte das Knie – die uralte, geheiligte Unterwerfungsgeste der Unterta nen gegenüber dem amtierenden Yastor. Grutar lächelte gerührt. Daß sich sein Bruder als erster zur Unterwerfung bereit fand, war ein deutliches Zeichen brüderli cher Liebe – immerhin hatte Hirundo viel zum Gelingen von Grutars Plänen beigetra gen, und unter Brüdern waren solche Gesten eigentlich nicht erforderlich. Nacheinander huldigten die Männer im Zelt ihrem neuen Anführer. Ein Sklave trat auf einen Handwink heran und überreichte Grutar eine Schale Gämmertee. Grutar nipp te daran, dann gab er die Schale an Hirundo weiter. »Trink«, sagte Grutar. »Wir werden die sen Tee unter uns teilen, und keine Macht wird uns daran hindern können.« Niemand im Zelt mußte diese Sätze in Klartext übersetzen. Grutar versprach damit auch die Beute des alljährlichen Raubzugs gerecht unter seinen Gefolgsleuten aufzutei len – und es war Ziel des Großen Lagers, diesen alljährlichen Beutezug vorzubereiten. Grutar betrachtete seinen Unterarm. Die
15 Wunde war kunstvoll versorgt worden. Sie schmerzte nicht mehr. Grutar hatte demnach beste Aussichten, ein Jahr lang als Yastor amtieren zu können, wenn es dabei blieb und der Wundbrand ihn verschonte. »Fühlst du dich kräftig genug, Yastor?« fragte der Thaigoon. Er stand – und er wußte es – auf Grutars Liste obenan; zwischen diesen beiden war keine Freundschaft möglich. Der Thaigoon hatte sich auch bei der Unterwerfungsgeste sehr viel Zeit gelassen. »Ich bin stark genug, Thaigoon«, sagte Grutar. Er erhob sich von seinem Lager. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er auf so weichen Fellen geschlafen – es war in je der Beziehung vorteilhaft, Yastor zu sein. Ein Sklave reichte Grutar das Hemd, ge arbeitet aus weichstem Leder, kunstvoll ver ziert, das Abzeichen seiner Würde. Auf dem Rücken zeigte er das Wappen der Kernix-Sip pe. Die Sklaven mußten wie besessen gear beitet haben, um das Hemd in der kurzen Zeit seiner Ruhe hergestellt zu haben. Grutar ließ sich Zeit beim Ankleiden, na türlich nur, um die Grobheit des Thaigoons zu erwidern. Nach einer halben Stunde war Grutar endlich fertig. Er konnte das Heilig tum der Zukahartos aufsuchen, den Extor tirnser. Alle Kampffähigen hatten sich auf dem freien Platz des Lagers versammelt, säuber lich in Sippen und Zelte geordnet. Grutar musterte flüchtig die ihm unterstellten Trup pen; er grinste vergnügt: mit diesem Haufen ließ sich eine prächtige Jagd veranstalten. Zwei Wachen standen vor dem Eingang des Tempels. Der Thaigoon wollte pro grammgemäß vorangehen, aber Grutar hielt ihn zurück. »Ich gehe allein«, sagte Grutar kalt. Das war sein uraltes Recht, das allerdings nur höchst selten angewandt wurde. Der Thaigoon erstarrte und knirschte leise mit den Zähnen. Aber er blieb stehen. Grutar trat in den Tempel. Ein geisterhaftes rötliches Licht erfüllte den Raum. Von dem Götzen war nichts zu
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Peter Terrid
sehen. Erkennbar war nur unerhört kostbarer Schmuck aus feinstem Eisen. Man hatte eine Art Rüstung daraus gebaut, eine ziemlich verrückte Rüstung, dachte Grutar. Er trat nä her, um sich diese seltsame Rüstung einmal aus der Nähe ansehen zu können. In diesem Augenblick erklang die Stimme des Extortirnsers: »Nicht anfassen, um Himmels willen, nicht anfassen. Nimm die Finger weg, du Tölpel!«
4. Der Kampf dauerte nicht lange. Wir waren unseren Gegner allein an Zahl hoffnungslos unterlegen, und dazu kam der Erschöpfungszustand, der uns befallen hatte. Ich versuchte zwar, mich zu wehren, bekam aber nach kurzer Zeit einen harten Gegen stand auf den Schädel und schied aus dem Kampf aus. Dieser Hieb reichte nicht aus, mich völlig zu betäuben. Er versetzte mich lediglich in einen Dämmerzustand. Ich konnte sehen, wie die Angreifer auch über die beiden Schläfer herfielen, die gegen diesen An sturm keinerlei Chancen hatten. Zwar schaffte es Razamon noch einmal, sich von der Übermacht loszureißen, aber dann don nerte auch auf seinenSchädel eine Keule hinab, und der Kampf hatte ein Ende. Ich fühlte harte Klauen in das Fleisch meiner Arme eindringen, als ich hochgeris sen wurde. Ich sah in ein annähernd huma noides Gesicht, das zu einem haarlosen Schädel gehörte. Die Augen auffällig schmal, die Wangenknochen traten stark hervor. Die Leichtigkeit, mit der meine Geg ner meinen Körper hin und her stießen, ließ auf beachtliche Körperkräfte schließen. Die Eingeborenen waren ein wenig kürzer als ich, sehr stämmig gewachsen, ihre Haut hat te, soweit sie zu sehen war, etwas Ledernes. »Fesselt sie!« hörte ich eine rauhe Stimme rufen. Ich konnte die Stimme verstehen, und das war sehr beruhigend. Vielleicht ließen die
Eingeborenen mit sich reden. Einstweilen war an eine vernünftige Un terhaltung nicht zu denken. Die Eingebore nen hatten vorsorglich Lederriemen mitge führt, und nach kurzer Zeit war ich sicher und solide verpackt. Als meine Besinnung zurückkehrte, war es bereits zu spät. Ich zog und zerrte probe halber an meiner Fesselung, vergebens. Die Eingeborenen verstanden sich auf diese Kunst; wahrscheinlich wäre auch der legen däre Entfesselungskünstler Houdini in dieser Verpackung hängengeblieben. »Legt sie auf die Tiere«, rief der Anführer der Eingeborenen. Wieder fühlte ich schmerzhaft die Klauen der Eingeborenen. Sie packten mich und schleppten mich fort. In einiger Entfernung hatten sie ihre Reittiere zurückgelassen, recht seltsame Kreaturen, wie ich im Däm merlicht erkennen konnte. Die Tiere hatten vier Beine und zwei Hörner, dazu zwei be achtlich lange Schlappohren und ein Fell, das mich unwillkürlich an die Zeichnung ei nes irdischen Zebras erinnerte. Kein Zusammenhang, gab der Logiksek tor durch. Sie schnürten mich auf dem Rücken eines der Tiere fest. Zuerst wollten sie mich rück wärts durchbiegen, dann aber folgerten sie aus meinen Schreien, daß dieses Verfahren nicht praktikabel war. Anschließend wurde ich so auf einem der Tiere festgeschnallt, das sich beim Ritt die Beine unmittelbar vor meiner Nase bewegten und ich allerhand Kunststücke und Verrenkungen durchführen mußte, wenn ich nicht von einem der Hufe am Kopf getroffen werden wollte. Infolgedessen bekam ich von dem eigent lichen Ritt nicht viel mit. Es ging über Stock und Stein, ein Fluß mußte durchwatet wer den, bei dem mir das Wasser bis zum Hals ging und ich beinahe ertrank, weil niemand auf mein Gurgeln hörte. Es ging an Felsen vorbei, die ich nicht sehen konnte, wohl aber fühlen, weil sie mir den Rücken zerkratzten. Zudem sonderten die Reittiere der Eingebo renen Gerüche ab …
Der Arkonide und der Yastor Obwohl mir mein Verstand, sagte, daß mich dort der Tod erwartete, war ich doch heilfroh, als wir endlich die Siedlung der Eingeborenen erreicht hatten. Es war Tag geworden unterdessen, und ich konnte die Siedlung gut sehen. Im ersten Augenblick fühlte ich mich an die Pueblos erinnert, die ich im südlichen Teil Nordame rikas gesehen hatte. Dann fielen mir die Höhlen ein, die in Anatolien als Wohnungen dienten. Die Eingeborenen lebten teils in Höhlen, die sie vorgefunden hatten, teils in künstlich geschaffenen Höhlungen im Fels, teils auch in Häusern, die aus dem Felsgestein gebaut und sehr geschickt der Gesamtanlage ange paßt worden waren. Ich wußte nicht zu sa gen, wieviel Eingeborene in dieser Siedlung lebten, aber es konnten sehr wohl einige tau send sein. An dieser Stelle ging das Gebirge ziem lich rasch in die weite Savanne über, und vor den Felsbauten gab es eine Reihe spitzer Zelte, den Tipis der nordamerikanischen In dianer nicht unähnlich. Die Ähnlichkeit lag allerdings nicht daran, daß beide miteinan der verwandt waren – die Eingeborenen und die Indianer hatten lediglich mit dem glei chen Problem zu kämpfen gehabt und beide die richtige Lösung gefunden. Räder waren überall im Universum rund. Ein Stück vom Lager entfernt war ein großer Pferch zu sehen, in dem einige Dut zend der seltsamen Reittiere grasten; in grö ßerer Entfernung waren freilebende Herden dieser Tiere zu erkennen. Wir hatten es mit einer seltsamen Misch form höheren Lebens zu tun. Diese Eingebo renen verbanden die Lebensgewohnheiten der Seßhaften mit der Freiheit der Nomaden – und diese Mischung konnte verhängnisvoll sein. Ich kannte die Geschichte der Noma denvölker aus eigener Erfahrung, und ich er innerte mich gut, was sie auf der Erde ange richtet hatten. Wir erreichten den Platz vor den Felshäu sern. Aus allen Öffnungen kamen Bewohner hervorgestürzt, um uns zu begaffen.
17 »Grizzard!« rief ich halblaut. »Razamon?« »Ich bin bei Bewußtsein«, verkündete Razamon gedämpft. »Und Grizzard wird auch gerade wach.« Wenigstens konnten wir sehen, was mit uns geschah. Jemand knüpfte die ledernen Riemen auf, mit denen ich auf dem Rücken des Tieres festgebunden war. Ich plumpste auf den Bo den, unfähig auch nur ein Glied zu rühren. Bei den Eingeborenen löste das schallendes Gelächter aus. Offenbar waren wir dazu aus ersehen, zur Volksbelustigung zu dienen – ein Gedanke, der mich alles andere als erhei terte. Ich versuchte trotz meiner Fesselung auf die Füße zu kommen. Es gelang mir nach ei nigen Verrenkungen, die größte Heiterkeit bei den Bewohnern der Felsenstadt auslöste. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich sehen, wie man Grizzard und Razamon auf die Füße stellte. Mit Püffen und Knüffen trieb man sie zu mir. Mindestens fünfhundert Einwohner der Felsenstadt konnte ich sehen – und darunter merkwürdigerweise nicht eine einzige Frau. Das konnte daran liegen, daß die Eingebore nen eingeschlechtlich waren; diese Interpre tation erschien mir allerdings gewagt. Viel leicht durften die Frauen die Häuser nicht verlassen – wie es auf der Erde im antiken Griechenland und im Orient oft üblich ge wesen war. Mir fiel auch auf, daß es nur wenige kampffähige Männer gab, fast nur Jünglinge und Greise. Das hieß indessen nicht, daß wir uns irgendwelche Freiheiten herausnehmen durften. Die Alten hielten Waffen in Hän den, und sie wußten bestimmt, wie man da mit umzugehen hatte. Einer der Alten trat auf uns zu. »Wer seid ihr, und was wollt ihr im Land der Zukahartos?« Wenigstens wußten wir jetzt, wie unsere »Gastgeber« sich nannten. Ich versuchte ein Lächeln. »Wir sind Wanderer, Fremde, und wir ha
18 ben das Land der Zukahartos nicht freiwillig betreten. Eure Männer haben uns im Gebir ge meuchlings überfallen und gefangenge nommen.« Razamon funkelte böse. »Sie kamen von hinten, Alter.« Der Greis fuhr hoch. »Das hast du nicht umsonst gesagt, Frem der«, zischte er. »Niemand behauptet, unsere Krieger seien Feiglinge – niemand, und wenn es einer tut, dann wird er dafür bü ßen.« »Wenn ihr so tapfer seid, Zukahartos, wa rum habt ihr es dann nötig, drei waffenlose Männer solcherart zu fesseln?« Der Alte machte eine herrische Geste, und sofort machten sich ein paar Zukahartos dar an, unsere Fesselung abzunehmen. Die Zu ka-hartos waren offenbar sehr besonnene und nüchterne Nomaden – sie verzichteten darauf, unsere Fesseln mit dramatischer Ge ste zu zerschneiden. Sie knüpften vielmehr langsam und umständlich jeden einzelnen Knoten auf, und als ich mich wieder normal bewegen konnte, sah ich, wie die Riemen säuberlich wieder aufgewickelt wurden. »Also? Woher kommt ihr?« »Aus dem Gebirge«, antwortete ich. »Und wir wußten nicht, daß dies das Land der Zu kahartos ist.« »Unsinn«, fauchte der Alte. »Wessen soll te das Land sonst sein, wenn nicht unser?« »Wir wußten nicht einmal, daß es euch Zukahartos überhaupt gibt«, sagte ich. Mit mehr Wucht und Zielsicherheit hätte niemand ins Fettnäpfchen treten können. Der Alte riß Augen und Mund weit auf und prallte zurück. »Was?« fragte er gedehnt. »Was sagst du da?« »Ich wollte sagen, daß wir nicht wußten, daß unser Lagerplatz zum Land der Zuka hartos gehört«, versuchte ich meinen Patzer auszubügeln. »Daß es dort, wo wir, lagerten, überhaupt Zukahartos gab, hat uns verwun dert.« Der Alte machte eine weitausholende Ge ste.
Peter Terrid »Was immer du siehst, Fremder, es gehört uns. Uns gehört die Weite des Jagdteppichs jede Kreatur, die darauf und davon lebt, das Gebirge, die Weite des Himmels – und euer Leben, Fremde.« »Oha«, sagte ich. An diesem Punkt hörte die Diplomatie auf. »Da wäre ich nicht so si cher. Unser Leben gehört uns.« Der Alte sagte, begleitet vom beifälligen Gemurmel der Umstehenden: »Nichts gehört euch. Ihr werdet uns als Sklaven dienen oder sterben!« Jetzt galt es, großen Worten mit großen Worten zu begegnen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun denn, so sterben wir. Wo ist der tap fere Zukaharto, der den Mut hat, drei halb verhungerte waffenlose Wanderer abzuste chen?« Ich drehte mich um und kehrte dem Alten meinen Rücken zu. Razamon grinste breit und verächtlich und folgte meinem Beispiel. Grizzard tat wortlos das gleiche. Sekunden vergingen. Wir konnten hinaussehen in die Weite des Landes. Irgendwo in der Ferne verschwamm das Grün der Savanne mit dem Himmel. Das Gras war hoch und saftig, ein wahres Para dies für die Nomaden. Ich versuchte mir auszurechnen, was der Alte mit uns anfangen würde. Uns abzu schlachten verbot ihm die Würde seines Stammes, ganz besonders, nachdem ich ihn zum Meuchelmord angestiftet hatte. Was also konnte er tun? Es gab eine einfache Lösung – aus der Sicht des Alten. Er konnte uns von seinen Kriegern niederknüppeln und in irgendeine Tretmühle schleppen lassen. Hunger und der andauernde Gebrauch einer Peitsche würden die widerborstigen Sklaven früher oder spä ter kirre machen. Zu unserem Glück dachte der Anführer der Zukahartos nicht ganz so nüchtern. Mei ne Rechnung ging auf. »Ihr werdet sterben«, sagte er mit düsterer Stimme. »Aber erst werdet ihr um euer Le ben kämpfen müssen.«
Der Arkonide und der Yastor Ich drehte mich langsam herum. »Ohne Waffen?« fragte ich. Der alte Zukaharto war sehr erbost. Er hatte begriffen, daß er in meine psychologis cheFalle getappt war, und er fand keinen Dreh, sich aus dieser Falle geschickt heraus zuwinden. »Und halbverhungert?« ergänzte Raza mon. Ich sah zu Grizzard hinüber. Er war sehr schweigsam geworden. Sein Gesicht zeigte die mühsam bewahrte Beherrschung eines Mannes, der um keinen Preis seinen Schmerz offen zeigen will. Der Alte klatschte in die Hände. »Holt Nahrung«, befahl er einigen Zuka hartos, die sich ihm sehr unterwürfig näher ten. Ihre Rücken waren von Peitschenstrie men gezeichnet, ihre Gesichter verrieten nur Resignation. Das war das Schicksal, dem wir zu entgehen trachteten. Eine Handbewegung sorgte dafür, daß sich die Bewaffneten in unserer Nähe auf hielten. An ein Entkommen war unter diesen Umständen nicht zu denken. Wir hockten uns auf den Boden. Es gab jetzt, überlegte ich mir, nur eine brauchbare Strategie. Wir mußten jeden Plan, der der Alte oder einer seiner Gefähr ten ausheckte, von vorneherein durchkreu zen. Nur wenn wir, ungeachtet der Verhält nisse, das Heft in der Hand hielten, nur wenn wir bestimmten, was geschah, nur dann hatten wir eine echte Chance, dem Tod oder der Sklaverei zu entgehen. Zunächst lief alles ganz vorzüglich. Daß wir es wagten, uns zu setzen, erstaunte die Zukahartos nicht schlecht. Einer versuchte, uns solche Flausen aus zutreiben. Er versuchte es mit einer Peitsche, zunächst bei Razamon. Dabei kam er an den Falschen. Der Pthorer bekam mit einer blitz schnellen Bewegung das Ende des Leder streifen in der Luft zu fassen. Sofort schlang sich die Schnur um seinen Unterarm. Razamon zog mit gewaltiger Kraft den Peitschenschläger zu sich heran. Der Zuka harto konnte sich nicht dagegen wehren; er
19 hatte sich eine Schlinge am Ende des Peit schenstiels um das Handgelenk geschlungen und kam nun nicht aus der Schlinge heraus. Als der Zukaharto nahe genug heran war, beförderte Razamon ihn mit einem weiteren Ruck in die Reichweite seiner Füße. Ein Tritt in die Magengrube ließ den Peitschen schwinger wie vom Blitz gefällt zusammen brechen. Allein die Tatsache, daß Razamon dieses Kunststück zuwege brachte, ohne auch nur aufzustehen, versetzte den Zukahartos einen nicht geringen Schock. Unsere Aktien begannen zu steigen. Die Sklaven kamen und brachten das Es sen. Mit grimmigen Gesichtern räumten ei nige Zukahartos ihren betäubten Stammes genossen zur Seite. Ihre Gesichter verhießen uns einen grausamen Tod, der uns auf der Stelle ereilt hätte, hätte der Alte seine Leute nicht mit wütenden Blicken gezügelt. Eines stand in diesem Augenblick unwi derruflich fest – wenn wir dieses Pokerspiel um unser Leben verloren, würden sich die Zukahartos alle Mühe geben, unser Ende so langwierig und qualvoll zu machen wie das nur möglich war. Die Nahrungsmittel der Zukahartos ent sprachen nicht gerade dem, was wir erhofft hatten. Wir bekamen einen sehr faden Tee zu trinken, der zudem nach ranzigem Fett roch. Dazu gab es getrocknetes Fleisch, das unseren Zähnen allerhand zumutete. »Wasser!« forderte ich. Eine herrische Geste scheuchte einen Sklaven eilfertig da von. Mein Gegenüber wäre um ein Haar ge platzt – nicht er, ich hatte den Sklaven in Marsch gesetzt, und der Mann hatte unwill kürlich gehorcht. »Bitte!« sagte ich und hielt dem Anführer der Zukahartos eine Schale mit Tee entge gen. »Sei unser Gast!« Russisches Roulette war ein Kinderspiel, verglichen mit den Frechheiten, die ich mir erlaubte. Ich konnte hören, wie Grizzard ne ben mir scharf die Luft durch die Zähne ein sog. Der Alte wies den Tee mit größtmöglicher
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Würde zurück. Ich schielte zu seinen Ge folgsleuten hinüber. Die Zukahartos hatten ihre Wut teilweise vergessen – sie waren größtenteils fassungslos. Meine ChuzpeStrategie schien aufzugehen. »Wie werden wir kämpfen?« fragte ich beiläufig. »Wer gegen wen, und vor allem womit.« »Wir kennen da mehrere hübsche Spiele«, sagte der Alte mit boshaftem Lächeln. »Wie geschaffen für euch.« »Ich nehme an, daß die Anführer gegen einander kämpfen werden«, sagte ich neben bei. »Was ist deine Waffe?« Der Alte grinste mich satanisch an. »Du wirst es noch erleben«, sagte er höh nisch. »Aber iß und trink, Fremder. Du brauchst viel Ziegelfleisch und Gämmertee, wenn du lange leben willst.« Er stieß ein spöttisches Kichern aus, und mir wurde sehr unwohl in meiner Haut. Was denn, wollte der Alte tatsächlich gegen mich antreten? Mir schwante, daß ich den alten Zukaharto unterschätzt hatte – und dieser Fehler konnte sehr leicht tödlich sein.
5. Grutar-Nal-Kart erstarrte. Woher war die Stimme gekommen? Doch nicht etwa …? »Wer spricht?« fragte Grutar halblaut. Er kam sich närrisch vor, mit einem Unsichtba ren zu sprechen. »Ich bin der Extortirnser«, sagte die Stim me. »Und fasse mich ja nicht an. Ich kann das nicht vertragen.« »Wo bist du, ehrwürdiger Extortirnser?« fragte Grutar. Er wünschte sich in diesem Augenblick, den Thaigoon mitgenommen zu haben. Die ganze Sache war sehr geheimnis voll und gefährlich. »Ich stehe vor dir, Yastor«, sagte die Stimme. »Nimmst du wohl die Finger weg, du Tropf!« Grutar zuckte zurück. Das war unmöglich. Das durfte es einfach nicht geben. Dieses lächerliche Ding aus
Metall, das da auf einem Holzklotz stand, sollte der Götze der Zukahartos sein? Der sagenumwobene Extortirnser, der – so hieß es an den Lagerfeuern, so weit der Jagdtep pich reichte – vom allerersten Yastor KamEl-Krim entgegengenommen worden war, von einer unbekannten Gottheit. Seither hat te der Extortirnser das Leben der Zukahartos mitentschieden. Oft waren seine Orakelsprü che und Hinweise wichtige Helfer in der Not gewesen. Unwillkürlich hatte Grutar versucht, das seltsame Ding zu berühren, dessen Sinn und Zweck ihm unklar geblieben waren. Offen bar war eben dieses Ding der Extortirnser. Jetzt, da er das Geheimnis kannte, begriff Grutar auch, warum die Gottheit stets mitge nommen werden konnte, wenn der große Beutezug über den Jagdteppich gestartet wurde. Er verstand auch, warum man über der Gottheit eine feste Konstruktion aus Holz errichtet hatte – offenbar war jede Be rührung für den Extortirnser ein Frevel. »Du also bist der neue Yastor«, stellte der Extortirnser fest. »Tritt einen Schritt zurück, und wehe dir, wenn du versuchst, mich zu berühren. Meine Macht würde dich zer schmettern.« Grutar leistete dem Gebot des Götzen Fol ge. »Ich bin Grutar-Nal-Kart«, sagte der Ya stor. »Aha«, antwortete der Extortirnser. »Und warum kommst du nicht in Begleitung des Obersten Thaigoon?« »Ich brauche ihn nicht mehr«, sagte Grut ar. »Und künftig wird außer dem Yastor nie mand mehr zu dir vordringen.« »Eine sehr gute Idee«, sagte der Extortirn ser. Es hörte sich tatsächlich so an, als käme die Stimme aus irgendeinem Winkel der Metallkonstruktion. Wieviel Messer und Pfeilspitzen mußte man aus diesem Metall herstellen können, überlegte Grutar automa tisch. »Was willst du wissen, Yastor?« fragte der Extortirnser. »Wird unsere Jagd erfolgreich sein in die
Der Arkonide und der Yastor sem Jahr?« »Es gibt viele Blumen, die blühen, und manche davon wird gepflückt«, erwiderte der Götze der Zukahartos weise. Die Auskunft half Grutar nicht sonderlich weiter, aber er wußte, daß der Götze sich auch in früheren Jahren sehr seltsam ausge drückt hatte – soviel war über den Extortirn ser jedenfalls bekannt. »Darf ich einmal um dich herumgehen, großer Götze?« fragte Grutar. »Wozu, weshalb, wieso?« fragte der Ex tortirnser sofort. »Willst du etwa nach mir greifen, mich verunreinigen, herabwürdigen, ja sogar beschädigen …?« »Keineswegs«, antwortete Grutar. »Aber ich will mich vergewissern, daß außer mir niemand im Heiligtum ist.« »Du zweifelst an mir?« »Ich zweifle nicht«, sagte Grutar. »Ich will nur sichergehen.« »Tu was du willst«, sagte der Götze schließlich. »Aber wehe, du berührst mich.« »Ich halte Abstand«, sagte Grutar. »Ich weiß, was sich einem Götzen gegenüber ge bührt.« Er traute der Angelegenheit nicht. Da er vor dem Extortirnser stand, konnte er nicht sehen, wer hinter dem Ding stand und so tat, als könne das metallene Ding richtiggehend reden. Grutar war fest entschlossen, diesem faulen Humbug ein Ende zu bereiten – und den Thaigoon, das nahm er sich vor, würde er mit eigener Hand töten. Er ging vorsichtig um den Götzen herum, und mit jedem Meter, den er zurücklegte, wuchs sein Erstaunen – und seine Furcht. Denn er sah, daß es keinen Humbug ge ben konnte. Dazu war der Extortirnser viel zu kurz und zu wenig dick. Er reichte zwar über Grutars Kopf, aber das war nur auf den hölzernen Klotz zurückzuführen, auf dem der Extortirnser stand. Auf den Boden ge stellt, hätte der Extortirnser Grutar bis an die Hüfte gereicht, und was die Dicke betraf, war der Extortirnser nicht einmal umfäng lich genug, um Grutars Oberschenkel aufzu nehmen.
21 Es gab also nur zwei Erklärungen. Entweder saß in diesem Heiligtum ein be sonders winziger Zukaharto, oder aber der Götze war echt. Grutar konnte sich vorstellen, daß es viel leicht einen so winzigen Zukaharto gab, daß er in dem Extortirnser Platz fand. Aber es war undenkbar, daß es jahrhundertelang im mer wieder einen passenden Winzling gab, den man in den Extortirnser hätte schmug geln können. Es blieb nur noch eine Möglichkeit übrig – der Götze war echt. Grutar kehrte an seinen Ausgangspunkt zurück, überzeugt. »Großer Extortirnser«, sagte er ehrfürch tig. »Was kann ich zu deinem Wohlbefinden tun?« »Nichts«, sagte der Extortirnser sofort. »Gar nichts. Und faß mich nicht an, hörst du!« »Ich werde gehorchen«, versprach Grutar. »Ich frage dich, großer und erhabener Extor tirnser: können wir zu unserer Jagd aufbre chen?« »Ihr könnt«, sagte der Götze. »Aber zu vor, so rate ich dir, suche mit deinen Krie gern die Felsenstädte auf. Du weißt schon, warum.« Grutar lief dunkelrot an, und als er das be merkte, schämte er sich noch mehr. »Wir werden es so machen«, sagte er ha stig, dann verließ er rasch das Heiligtum der Unberührbarkeit. Er sah, als er auf dem Großen Platz an kam, die Gesichter seiner Männer auf ihn gerichtet, voll freudiger Erwartung. Grutar fing sich wieder. »Freunde!« rief er laut. »Brecht die Zelte ab. Wir ziehen los – zunächst zu den Felsen städten, danach auf den Jagdteppich.« Ungeheurer Jubel schlug ihm entgegen, und ohne Verzug machten sich die Zukahar tos daran, ihre Zelte abzubrechen – als letz tes das Prunkzelt des neuen Yastors. Hirundo schob sich langsam an Grutar heran. »Nun?« fragte er leise. »Was hat es mit
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dem Extortirnser auf sich?« Grutar sah seinen Bruder ernst an. »Erstens gibt es ihn«, sagte er dann leise. »Und zum zweiten hat er mir geraten, diesen Zug zu beginnen.« Hirundo machte ein verwundertes Ge sicht. »Du glaubst an diesen Humbug?« fragte er entgeistert. »Du, der immer wieder über den lächerlichen Extortirnser-Aberglauben gelästert hat?« »Ich habe mich überzeugen lassen«, sagte Grutar-Nal-Kart würdevoll. In einiger Entfernung stand der Oberste Thaigoon und sah zu Grutar hinüber. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. Grutar wink te ihn heran. »Ich muß dir Abbitte leisten, Thaigoon«, sagte Grutar. Er sagte es laut genug, daß ei nige Umstehende es hören können. Das Ge sicht des Priesters glänzte vor Zufriedenheit. »Ich habe den großen Götzen unseres Volkes gesehen, und ich weiß nun, daß es ihn gibt. Er läßt dir, Thaigoon, aber sagen, daß er künftig nur den amtierenden Yastor zu sehen wünscht – und niemand sonst.« Schlagartig veränderte sich der Gesichts ausdruck des Thaigoons und wurde zu einer Grimasse der Wut und des Hasses. Grutar hatte ihn mit dieser Entscheidung völlig ent machtet – jedenfalls vorläufig.
* Grutar sah zur Seite, wo sein Bruder ritt, und er lächelte verhalten. Hirundo fieberte förmlich, er konnte sich kaum ruhig im Sat tel halten. Nun, das war erklärlich. Die Fel senstadt lag nur wenige Reitstunden voraus. »Beherrsche dich«, sagte Grutar sanft. »Es ziemt sich nicht für einen Ratgeber des Yastors, solche Hast und Hektik zu zeigen.« Hirundo zuckte mit den Schultern und seufzte leise. Grutar sah über die Schulter hinweg nach seinen Männern. Der Zug war beeindruckend. Mehr als fünfzehnhundert Zeltschaften folgten dem
Thaigoon, und Grutar wußte, daß die Zahl der Krieger in den nächsten Tagen noch ein mal um diesen Betrag anwachsen würde. Dreißigtausend Mann, dazu an die hundert tausend Tarpane. Es würde eine prächtige Jagd werden. »Wie lange willst du dich in der Stadt auf halten?« wollte Hirundo wissen. »Nicht länger als nötig«, sagte Grutar. »Zwei, höchstens drei Tage.« Hirundo machte ein sehr enttäuschtes Ge sicht. »Nicht länger?« »Es ist schwer, dreißigtausend Mann im Lager bei Laune zu halten«, sagte Grutar ru hig. »Das einzige, was den Leuten Ab wechslung bringen kann, ist die Jagd. Sie warten ein ganzes Jahr darauf – und wir würden ebenso handeln, hätten wir nicht ge wonnen. Oder irre ich mich?« Hirundo schüttelte den Kopf. »Trotzdem«, sagte er schmollend. Er ließ seinen Tarpan ein wenig zurückfallen. Hirundo dachte – natürlich – an die Tem pel der Zusammenkunft, die es in den Fel senstädten gab. Sie waren wenigen vorbe halten; es gab strenge Regeln – nur der Ya stor war von diesen Vorschriften befreit. Beim Gedanken an die Tempel der Zu sammenkunft beschlich auch Grutar ein selt sames Gefühl. Er hatte noch nie einen Tem pel von innen gesehen und wußte daher nicht einmal annähernd, was ihn dort erwar tete – und was man von ihm erwartete. Was er an Lagerfeuern aufgeschnappt hatte, war als Information alles andere als präzise und erschöpfend gewesen. Die meisten Männer sprachen von den Tempeln entweder im Ton der Herablassung, und das waren meistens die, die nur die Mauern zu sehen bekommen hatten; andere, die einen Tempel betreten hatten, ergingen sich in geheimnisvollen Schwärmereien, die nicht minder schwerver ständlich waren. Von Barbast-Kas-Nin, der nun wieder als einfacher Krieger im Gefolge Grutars ritt, hatte man gesagt, er sei ein aus gemachter Wüstling gewesen, und niemand hatte genau gewußt, was mit dem Wort ge
Der Arkonide und der Yastor meint war – die einen hatten es verächtlich, die anderen grinsend anerkennend gemeint. »Wir werden sehen«, murmelte Grutar. Das Wetter war hervorragend, der Jagd teppich war fruchtbar wie selten. Die Leute vom Dscharkin-Fluß hatten wahrscheinlich ebenfalls ein gutes Jahr gehabt, das brachte den Zukahartos reiche Beute – genau das, was ein Yastor brauchte, um seine Stellung zu festigen. Bei diesem Stichwort mußte Grutar an Lyssod denken, seinen Gegner im Kampf um die Würde des Yastors. Auch LyssodFähr-Quel ritt im Gefolge des Yastors; sei ner Tapferkeit wegen gehörte er sogar zur Unzerreißbaren Kette, der Leibwache des Yastors. Grutar machte sich keine Illusionen, was Lyssod betraf. Es gab in dieser Auseinander setzung nur zwei Möglichkeiten – entweder wurde er von Lyssod irgendwann umge bracht, oder er tötete Lyssod. Grutar über legte, wen er mit der heiklen Aufgabe be trauen konnte, Lyssod zu töten. Für Grutar verstand es sich von selbst, daß er danach auch den Attentäter würde töten lassen müs sen. Das Dilemma war, daß er die Ermor dung Lyssods einem guten Kämpfer und vertrauenswürdigen Freund übertragen muß te, und Grutar hatte nur wenige Freunde, de nen er eine solche Meucheltat zumuten durf te. Grutar bemerkte, daß die Tarpane von sich aus das Tempo erhöhten. Offenbar war man der Felsenstadt näher, als Grutar ge dacht hatte. Die Tiere witterten Wasser. »Oy!« rief Grutar und machte eine ausho lende, energische Handbewegung. »Vorwärts!« Er rammte seinem Tarpan die Hacken in die Weichen und preschte los. Es tat gut, den Wind über den Schädel streichen zu spüren, das Gefühl der Ge schwindigkeit zu genießen. Grutars Tarpan war ein Tier der Sonderklasse, man saß im Galopp darauf wie in einem Sessel. Das Trommeln Tausender Hufe ließ den Boden dröhnen. Das ganze Heer hatte sich
23 in Bewegung gesetzt, ein allgemeines Wett reiten war ausgebrochen. Jeder ritt gegen jeden, die Tarpanburschen natürlich ausgenommen. Sie hatten alle Mü he, die Tiere zu beruhigen, die sie am Zügel führten. Hirundo schloß wieder zu Grutar auf. Er strahlte über das ganze Gesicht. Hirundo war ein vorzüglicher Reiter, und dieser Ga lopp machte ihm größtes Vergnügen. Von links kam ein anderer Unterführer aus Grutars Leibwache näher. Er und Hirun do führten je drei Tarpane. Auf einem ritten sie selbst, einen besaßen sie zum Wechsel in fliegendem Galopp, und der dritte Tarpan bei jedem der beiden war für den Yastor be stimmt. Grutar lachte breit und winkte Hirundo heran. Sofort schloß der Bruder eng auf. Ein Satz genügte, um Grutar von einem Sattel in den nächsten zu bringen. »Jetzt du!« schrie Grutar. »Wir wechseln um die Wette!« Hirundo grinste breit. Dies war eine gute Gelegenheit, dem Heer zu zeigen, aus welchem Holz der neue Ya stor geschnitzt war. Der Wechsel von einem Tar-pan zum anderen war normalerweise sehr leicht; die Kinder übten diesen Trick bereits. Die Sache sah aber anders aus, wenn drei Männer gleichzeitig auf den sieben zur Verfügung stehenden Tieren hin und her sprangen. Sehr leicht konnte es zu einem Zusammenstoß kommen. Wer aber vom Tarpan fiel, war unrettbar verloren – hinter den drei tollkühnen Reitern an der Spitze preschte eine Armee von hun derttausend Tarpanen in vollem Galopp über den Jagdteppich. Wer unter diese Hufe ge riet, war im Bruchteil eines Herzschlags zer malmt. Grutar lachte aus vollem Herzen, während er mit Hirundo und dem Leibwäch ter immer wieder die Tarpane tauschte. Ein Wagnis dieser Art war ganz nach seinem Herzen. Und dann entschloß er sich, dem Heer noch ein weiteres Schauspiel zu bieten. Er wußte, daß jeder ihn sah, und was er in die
24 sen Stunden tat, das würde seinen Ruf bei den Zukahartos bestimmen. »Genug!« rief Grutar. »Haltet ein.« Dem Leibwächter kam dieses Kommando gerade recht, er war sichtlich erschöpft; Hirundo hätte am liebsten weitergemacht, das war ebenso deutlich. Grutar ließ sich im Sattel nach hinten gleiten, bis er am Ende des Tarpans saß. Die Hände hatte er um das Sattelhorn gekrallt. Dann ließ er sich zur Seite fallen. Ein Aufschrei ging durch das Reiterheer. Auch damit hatte Grutar gerechnet. Seine Füße berührten für einen kurzen Augenblick den Boden, dann riß ihn der Schwung des galoppierenden Tarpans wie der in die Höhe. In einem gekonnten Bogen schwang Grutar in den Sattel zurück, dann ließ er sich auf der anderen Seite abrutschen. Als er den frenetischen Jubel hinter sich hörte, wußte Grutar-Nal-Kart, daß er sein Spiel gewonnen hatte. Noch einmal voll führte er das Kunststück, für das er lange und schmerzhaft geübt hatte, dann blieb er im Sattel sitzen. »Wo hast du das gelernt?« fragte Hirundo fassungslos. Grutar lächelte, vergnügt, aber außer Atem. »Zwischendurch«, sagte er keuchend. »Und wie du sehen kannst – man kann sol che Kunststückchen ab und zu brauchen.« »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte der Gardist. »Ich habe große Angst um dich gehabt, Yastor.« »Das ehrt dich«, gab Grutar zurück. Er sah zur Seite und lächelte. »Versuche es nicht, Bruder«, warnte er Hirundo. »Nicht hier und jetzt. Die Gefahr ist zu groß.« »Ich habe keine Angst«, versetzte Hirun do empört. »Das weiß ich«, erwiderte GrutarNal-Kart. »Aber du weißt noch nicht, wo die Grenze liegt zwischen Mut und Tollkühn heit. Ichhabe lange gebraucht, dieses Kunst stück zu üben.« »Wenn du meinst«, gab Hirundo zurück.
Peter Terrid Gänzlich zufriedengestellt war er nicht, das war seiner Stimme deutlich anzuhören. »Die Stadt kommt in Sicht«, sagte der Gardist. »Soll ich voranreiten und den Ein wohnern melden, daß der Yastor kommt?« Grutar parierte seinen Tarpan durch. Mit einer Handbewegung gebot er auch dem Heer Halt. Die Führer der Tausendschaften preschten heran. »Wir lagern hier!« bestimmte Grutar. »Baut die Zelte auf, gebt den Tieren zu fres sen und zu saufen.« Die Tausendschaftsführer rissen ihre Tar pane herum und jagten zum Heer zurück, aus dessen Reihe sich langsam der besonde re Troß löste, der einzig zur Bedienung des Yastors bestimmt war. »Ich will sehen, was in der Stadt ge schieht«, sagte Grutar. »Keine Meldung an die Bewohner.« Er deutete der Reihe nach auf ein Dutzend seiner Leibwachen, darunter auch Lyssod. »Ihr werdet mich begleiten, du ebenfalls, Hirundo!« sagte Grutar. Der kleine Trupp setzte sich in Marsch. Grutar achtete darauf, welche Position Lys sod einnehmen würde. Grutar hatte keine Ordnung bestimmt, jeder konnte sich seinen Platz suchen, wo es ihm gefiel. Lyssod such te weder Grutars Nähe, noch mied er sie in auffälliger Weise. Er benahm sich wie jeder andere Gardist, und das gab Grutar beson ders zu denken. Er war auf der Hut.
6. Der Spaß war wirklich prächtig, jedenfalls für die Zukahartos. An Kampf war nicht zu denken. Man hat te sich auf uns gestürzt, uns überrumpelt und erneut gebunden. Jetzt standen wir auf der Savanne vor der Felsenstadt, weit genug ent fernt, um den Reitern Raum zu geben, nahe genug, um die Einwohner von den Dächern herab gut sehen zu lassen. Man hatte uns Messer gegeben; sie waren sogar recht scharf. Wir durften auch unsere
Der Arkonide und der Yastor Arme bewegen, ja, wir durften sogar ein Stück weit gehen – aber nicht sehr weit, denn an den Knöcheln unserer Füße – je weils am rechten Fuß – saß die Schlinge ei ner zehn Meter langen Lederschnur, die am anderen Ende an einem in den Boden ge rammten Pfahl befestigt war. Die Pfähle hat te man sorgsam so in den Boden geschlagen, daß zwischen uns dreien genügend Raum blieb – wir konnten uns selbst mit weit aus gestreckten Armen nicht berühren. Die Di stanz betrug nur Zentimeter, aber sie genüg te. Der Spaß bestand darin, daß einzelne Zu kahartos auf ihren flinken Reittieren heran gesprengt kamen und versuchten, uns den Garaus zu machen. Einige versuchten es mit eingelegten Lanzen, andere mit Wurfspee ren, wieder andere rückten uns mit Schwer tern zu Leibe. Die Mehrzahl versuchte uns aufzuspie ßen, und wenn wir diesem Schicksal entge hen wollten, mußten wir die abenteuerlich sten Bocksprünge vollführen. Dabei mußten wir zusätzlich aufpassen, uns nicht in den Leinen zu verheddern – die Reiter kamen in genau berechneter, dichter Folge, und wer nicht binnen weniger Augenblicke wieder auf den Beinen stand, bereit zu einem neuen Satz, der lag gewiß einen Herzschlag später im Sand. »Wenn ich einen von diesen Burschen zu fassen bekomme«, brüllte Razamon wütend. »Er wird diesen Tag nicht vergessen!« Vorläufig sah es nicht danach aus, als wä re einer von uns in der Lage, den Zukahartos einen Denkzettel zu verpassen. Im Gegen teil, es waren die Nomaden, die uns das Fürchten zu lehren suchten. Ab und zu, wenn ich für ein paar Atemzü ge Ruhe hatte, sah ich zu Grizzard hinüber. Er hielt sich prächtig, aber es war nicht zu verkennen, daß er sich erheblich mehr an strengen mußte, um dem Tod zu entgehen. Sinclair Marout Kennon war sehr glücklich gewesen, diesen Körper zu besitzen; jetzt aber sah es aus, als würde aus dem biologi schen Präzisionsinstrument ein lebendes
25 Wrack. Noch war der Effekt nur in den An sätzen zu erkennen, aber wer Grizzard genau beobachtete, sah die leise Unsicherheit, die vielen seiner Bewegungen anhaftete. Immerhin, noch vermochte er sich gegen die Zukahartos zur Wehr zu setzen, und das allein zählte. Wieder jagte einer der Reiter auf mich zu, die Lanze gefällt. Sie waren prachtvolle Rei ter, diese Zukahartos, und daß sie noch kei nen von uns richtig getroffen hatten, lag nicht zuletzt daran, daß sie dieses grausige Spiel bestens beherrschten und möglichst in die Länge zu ziehen suchten. Der Reiter war nur noch ein paar Dutzend Schritte von mir entfernt, als ich mich zu ei nem überaus gewagten Manöver entschloß. Dieser Trick konnte sehr leicht ins Auge ge hen, aber er bot eine Chance. Ich wartete, bis der Reiter nahe genug heran war. Dann warf ich mich wieder ein mal mit aller Kraft zur Seite – dieses Mal aber nicht von dem Reiter weg, sondern vielmehr auf ihn zu. Ich sah noch, wie der überraschte Zukaharto die Lanze nach links schwenkte, dorthin, wo ich normalerweise mit meinem Satz gelandet wäre. Das nächste, was ich zu sehen bekam, wa ren die heranjagenden Hufe des Reittiers. Der Trick gelang. Die Tarpane der Einge borenen zeigten die gleiche Scheu, auf le bende Körper oder gar Leichen zu treten wie irdische Pferde. Der Tarpan ging hoch, bäumte sich auf, und begleitet vom Schrei der Menge stürzte der Reiter aus dem Sattel und krachte auf den Boden. Noch während das Tier in die Höhe stieg, hatte ich mich zur Seite gerollt. Jetzt kam es darauf an, schneller zu sein als der Reiter – und vor allem nicht von dem um sich schla genden Tarpan getroffen zu werden. Beides gelang mir. Der Reiter lag halb betäubt am Boden. Es war nicht schwer, ihn mit zwei weiten Sät zen zu erreichen. Ein Handkantenschlag setzte ihn vollends außer Gefecht. »Bravo!« schrie Razamon.
26 Ich mußte mich höllisch beeilen. Zwei weitere Zukahartos galoppierten auf mich zu. Ursprünglich hatten sie Razamon und Griz-zard angreifen wollen, waren dann aber zu der Einsicht gekommen, daß es besser war, mir den Garaus zu machen. Einen der beiden konnte ich Razamon überlassen. Ich sah, daß der Pthorer sein Messer zum Wurf vorbereitete. Ich konnte mich darauf verlassen, daß er seinen Mann traf. Ich riß meinem betäubten Gegner die Lanze aus den Händen. Da ich nicht vorhat te, zu töten, drehte ich die Lanze so, daß das stumpfe Ende in die Höhe ragte. Der Reiter kam heran. Nun, sollte er es nur versuchen. Ich hatte schon weit bessere Reiter als die Zukahartos aus den Sätteln ge holt. Dies war beileibe nicht die erste Kaval lerieattacke meines Lebens. Der Angriff der beiden Zukahartos schlug fehl. Der eine stürzte zu Boden, als ihn mei ne Lanze aus dem Sattel hob; der andere lan dete unmittelbar vor meinen Füßen, in der Schulter stak Razamons Messer. Ich gab dem Zukaharto eins mit der Lanze über den Schädel, und er brach sofort zusammen. Ich zog das Messer aus der Wunde und warf es Razamon zu. Schlagartig hatte sich unsere Lage verbes sert. Während die Nomaden noch genug damit zu tun hatten, die letzten Kämpfe zu disku tieren, sorgte ich dafür, daß die Waffen un serer Gegner auf uns verteilt wurden. Mit Schwertern und Lanzen ließ sich schon er heblich mehr anfangen als mit den Messern. »Nachschub!« schrie Razamon voreilig. »Wo bleiben eure wackeren Krieger?« Das wütende Gemurmel der Menge wur de lauter. »Reize sie nicht unnötig«, riet Grizzard, noch bevor ich Razamon mit dem gleichen Ratschlag bedenken konnte. »Na wenn schon«, sagte Razamon. Dann sahen wir, daß die Zukahartos zum letzten Angriff ansetzten. Sie hatten offen kundig vor, uns keine Chance mehr zu ge-
Peter Terrid ben. Knapp fünfhundert Meter vor uns for mierte sich eine Reihe, drei Glieder tief, fünfzig Glieder breit, die Lanzen eingelegt. Dann setzte sich diese Phalanx zu Pferde in Bewegung. »Haltet die Lanzen in der rechten Hand«, rief ich meinen beiden Gefährten zu. »Und dann, wenn sie heran sind, müßt ihr blitz schnell wechseln. Ihre linke Seite ist unge deckt.« »Glaubst du noch an eine Chance?« Ich fand keine Zeit, auf Razamons Frage zu antworten. Sie donnerten heran, umweht von einer immer größer werdenden Staubwolke. Der Boden dröhnte unter dem Tritt der Tarpane. »Jetzt!« schrie ich. Wir hatten nur den Bruchteil einer Sekun de, aber die Zeit reichte. Ein Schritt zur Sei te, die Lanze gewechselt, und dann nach vorne geworfen, um den Anprall aufzufan gen. Die Zukahartos wurden überrascht. Drei ihrer Reiter wurden aus den Sätteln geho ben, gerieten zwischen die Beine der Tarpa ne. Die Tiere scheuten, bäumten sich auf und warfen weitere Reiter ab. Ich schlug mit der weitreichenden Lanze auf alles ein, was in meine Reichweite ge riet. Als das Holz zerbrach, griff ich nach dem erbeuteten Schwert. Ein Hieb, und die lederne Fessel war durchtrennt. Ich war wie der frei. Frei, mich in das Getümmel zu stürzen oder davonzulaufen. An Flucht war nicht im Ernst zu denken, dafür war das Chaos zu groß. Es gab nur eines, was ich tun konnte – meine Haut so teuer wie möglich verkaufen. Das erwies sich als leicht gesagt, leichter als in die Tat umgesetzt. Wir staken in einem Gewirr aus Zukahar to- und Tarpan-Leibern, in einem wirren Knäuel aus sich bewegenden Gliedmaßen. Die Tar-pane traten und bissen in ihrer Not, die Zukahartos schrien, brüllten, stöhnten oder jammerten und schlugen auf alles ein, was in ihren Gesichtskreis kam, gleichgül tig, ob es sich dabei um Freund oder Feind,
Der Arkonide und der Yastor Tarpan oder Zukaharto handelte. Ich schlug mit der flachen Klinge, ich wollte kein Blut vergießen, und als ich mit ten im Getümmel eine Keule fand, ließ ich das Schwert fallen und drosch mit der Keule auf jeden kahlen Schädel ein, den ich zu se hen bekam. Der Kampf konnte nicht sehr lange dau ern, das stand fest. Früher oder später mußte sich das Gewirr lichten. Tarpane galoppier ten davon, Zukahartos rollten sich aus der Gefahrenzone. Das Kampffeld begann im mer übersichtlicher zu werden. Ich ließ meine Keule auf einen Schädel herabsausen. Der Getroffene brach lautlos zusammen. Und auch um mich herum war es still ge worden. Ich sah auf. Sie hatten uns umringt, jeder trug ein Schwert in der Hand. In den Gesichtern der meisten Zukahartos stand nackte Mordlust geschrieben. Und dann gellte aus dem Hintergrund eine Stimme: »Macht sie nieder, erschlagt die Frem den!« Der Ring um uns wurde enger und enger. Ich hatte keine Lust zu warten, bis wir kein Glied mehr rühren konnten. »Es gibt nur eines«, sagte ich halblaut. Mein Atem ging hörbar, mein Körper war schweißbedeckt, und auf dem Schweiß kleb te der Staub. »Drauf und dran, bis zum En de.« »Mir nach!« schrie Razamon. Er stürzte nach vorne, auf die Reihen der Schwertträ ger zu. Ein letztes Mal entbrannte der Kampf. Er mußte bald ein Ende finden, wir waren er schöpft, und ich machte mir keine Illusio nen, wie dieses Ende aussehen mußte. Metall klirrte auf Metall, und nach kurzer Zeit floß das erste Blut. Ich wurde leicht an der Schulter verwundet. Der Schmerz war nicht sehr groß, ich nahm ihn im Eifer des Gefechtes zunächst kaum wahr. Aber er gab mir noch einmal die Kraft zum Kampf.
27 Nun, da klargestellt war, daß Blut fließen mußte, war mir jedes Mittel recht, das mir helfen konnte. Ich legte alle Kraft in meine Schwerthiebe, und einige Schritte entfernt konnte ich Razamon toben hören. Wir waren ein wenig größer als die Zuka hartos und körperlich entschieden kräftiger. Wuchtig fielen unsere Hiebe, und sie schu fen uns Raum. Ich trieb einen überaus ge wandten Zukaharto vor mir her und setzte ihn mit einem Schlag gegen die Waffe außer Gefecht. Die Wucht meines Hiebes trieb dem Mann die eigene Klinge ins Fleisch. Er schrie auf und ließ sich fallen. Der nächste. Ein Schlag gegen den leder nen Schild, der unter der Wucht des Hiebes birst. Ein Schlag auf die Kante des Schildes, der sofort aufklafft. Dann ein Hieb auf den ledernen Helm, der Gegner fällt nach hinten. Eine Kreisbewegung, wie eine Sichel fährt die Klinge durch die Luft, zwei weitere An greifer werden verletzt, lassen die Waffen fallen und taumeln zurück, die Hände vor den Leib gepreßt, und zwischen den Fingern quillt Blut. Schweiß strömt über meinen Körper, rinnt mir über das Gesicht, brennt in den Augen, in den kleinen Wunden und Schrammen, und im Arm wütet der Schmerz der Müdigkeit. Ein Hieb läßt eine Lanze zer spellen, ein anderer schlägt einem Angreifer die Waffe aus der Hand. Eine unbewußt aus geführte, blitzschnelle Bewegung lenkt mit einem Schwerthieb ein Messer im Flug aus der Bahn. Hinter mir greift sich ein Zukahar to an die Schulter. Und noch hat der Kampf kein Ende, er wird fortgeführt bis zum unausweichlichen Ende, bis der müde Arm das Schwert nicht mehr in die Höhe bekommt, bis sich kalter Stahl ins eigene Fleisch bohrt oder ein Schlag auf den Kopf allem Denken, Fühlen und Schmerz ein Ende bereitet. Der Schlag bleibt aus. Statt dessen schrillt eine Fanfare über das Feld. Die Zukahartos halten ein. Wieder er klingt die Fanfare, schauerlich schlecht ge blasen. Die Zukahartos weichen zurück. Der
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Kampf ist aus.
* Wir drängten uns zusammen. Grizzard blutete aus einer Beinwunde, Razamon hatte eine unbedeutende Stirnverletzung, die aber wie alle Wunden dieser Art grauenerregend blutete. Unsere Gesichter waren gezeichnet von den Spuren der Kämpfe, bedeckt von Schweiß, von Blut – eigenem wie fremdem – und vom Sand der Walstatt. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Griz zard schweratmend. Ich zuckte mit den Schultern. Die Wunde hatte ich dabei vergessen, und der Schmerz entlockte mir ein Stöhnen. »Wir werden sehen«, sagte ich. Ich sah mich um. Wer auch immer kam und offenbar über sehr schlechte Musiker gebot, die Zukahartos hatten einen Höllenre spekt vor diesem Jemand. Sie ließen uns in Ruhe und nahmen Haltung an. Mit großer Geschwindigkeit formierten sie ihre Abtei lungen, und selbst die Verletzten sahen zu, daß sie ihren Kameraden folgten. Dann konnten wir den Ankömmling se hen. Es war eine Gruppe von Zukahartos auf ihren Tarpanen; auf den ersten Blick war nichts Besonderes zu erkennen. Dann aber fiel mir auf, daß die Gruppierung der Reiter eine gewisse Rangordnung erkennen ließ. Offenbar näherte sich ein Fürst der Zukahar tos der Felsenstadt. Ob das für uns gut war oder schlecht, mußte sich erst noch heraus stellen. Der Trupp hielt in unmittelbarer Nähe des Kampfplatzes, der auf den ersten Blick zu erkennen war. Wir hielten unsere Schwerter und Keulen in der Hand. Wir waren bereit, den Kampf sofort wieder aufzunehmen. Derjenige, in dem ich den Anführer ver mutete, trieb sein Tier dicht an mich heran. Er wirkte erstaunlich jung, ein kräftiger Bur sche, der ein erstaunlich wenig geschmück tes Tier ritt. Neben ihm war ein anderer Zu kaharto zu erkennen, den Gesichtszügen
nach zu schließen der jüngere Bruder des Anführers. Er machte in der gesamten Grup pe den intelligentesten Eindruck. Der Rest war offenbar Leibwache, darunter einige Schlagetots, vor denen man sich in acht zu nehmen hatte. »Laßt die Waffen unten«, sagte ich halb laut. »Wir wollen den Mann nicht provozie ren.« Aus dem Hintergrund schob sich der Chef der Stadt nach vorn, sichtlich nervös und sichtlich verärgert, daß er uns wider Willen präsentieren mußte. »Herr«, sagte das Oberhaupt der Stadt. »Was verschafft …« »Ich bin der neue Yastor«, unterbrach ihn der Fürst. »Und ich will wissen, was das zu bedeuten hat.« Ich sah, wie der Chef der Stadt schluckte. Durch die Reihen der Stadtbewohner ging ein Raunen. Mühsam nach Worten suchend, erklärte man dem neuen Yastor, was sich zugetragen hatte. Unser Freund, der Stadtkommandant, sparte dabei nicht an Lügen und Verleum dungen. Als er geendet hatte, wandte sich der Yastor an mich. »Stimmt das?« »Nur teilweise«, antwortete ich ruhig. Der Yastor sah mich mit ausdruckslosem Ge sicht an. Im Hintergrund erkannte ich, daß sich ein ganzes Heer heranschob, mindestens ein paar tausend Mann. Die Lage wurde immer verwickelter. »Nun«, sagte der Yastor. »Was die Zu rückgebliebenen nicht schaffen, das müßte eigentlich das Heer erreichen können.« »Herr«, mischte sich einer seiner Beglei ter. »Laßt mich das machen.« Ohne sich umzuwenden, sagte der Yastor: »Meinetwegen, Lyssod. Aber wahre dei nen Namen.« Während der Zukaharto namens Lyssod vom Tarpan stieg, musterte mich der Yastor. Ich glaubte, in seinen Zügen so etwas wie stille Schadenfreude entdecken zu können. Ich begriff. Der Mann hatte mit List er
Der Arkonide und der Yastor reicht, daß ich mich mit einem Gegner mes sen mußte, der dem Yastor aus irgendwel chen Gründen nicht gefiel. Wahrscheinlich war mir der Reiterfürst außerordentlich dankbar, wenn ich seinem heimlichen Feind das Gesicht auf den Rücken drehte. Lyssod war ein Bulle von einem Mann, stark und gewandt. Und er war frisch und ausgeruht. Wieder wurde ein Kampfplatz freigege ben, aber diesmal standen nicht Alte und Jünglinge um uns herum – diesmal wurden wir von einer Armee eingekreist. »Wie willst du sie töten?« fragte der Ya stor lächelnd. »Mit Schwert, Speer und Messer. Ihn mit dem Speer, diesen mit Schwert und Messer, und diesen da werde ich erwürgen.« Dieser da war ich. Lyssod hatte sich aller hand vorgenommen. »Mit wem willst du beginnen?« Ich hatte es befürchtet, konnte aber nicht eingreifen. Lyssod griff nach seinem Speer und ließ die Spitze auf Grizzard zeigen. »Keine Sorge«, sagte Grizzard. Ich hörte der Stimme an, wie ausgelaugt Grizzard war. Dieser Kampf war kein ehrliches Ge fecht, es war ein Abschlachten. Ich sah, wie Grizzard schwankte, und öff nete den Mund, um gegen diesen ungleichen Kampf zu protestieren. In diesem Augen blick schickte Lyssod das todbringende Ge schoß auf die Reise. »Volltreffer«, sagte der Extrasinn im vor aus. Der Extrasinn irrte sich. Noch einmal nahm Grizzard alle Kräfte zusammen, noch einmal spornte Sinclair Marout Kennon seinen Gastkörper zu höch ster Leistung an. Der Speer kam herangeflo gen, und Grizzard rührte sich nicht. Er streckte nur den rechten Arm aus. Das Kunststück hatte ich schon einige Male in meinem langen Leben gesehen, aber noch nie mit dieser vollkommenen Ruhe und Sicherheit. Grizzard fing den Speer im Flug auf. Die Spitze kam unmittelbar vor seiner Brust zum
29 Stillstand. Totenstille unter den Zukahartos. Von Grizzards Lippen ein leises Seufzen. Ein Schritt zurück, den Speer gedreht, dann ruckte Grizzards Arm nach vorn. Er traf.
7. Das Gelage war in vollem Gang. Die mei sten Gäste lagen bereits sinnlos betrunken am Boden. Die Zukahartos brauten aus un bekannten Ingredienzien ein alkoholisches Getränk, das es wahrhaft in sich hatte. Und sie besorgten ihre Gelage mit der gleichen Gründlichkeit, mit der sie ihre Tarpane zu ritten. Im großen Prunkzelt des Yastors gab es nur vier Personen, die nicht völlig be rauscht waren. Diese vier Personen waren der Yastor und sein Bruder Hirundo, Razamon und ich. Uns war sogar verboten worden, von dem Schnaps zu trinken, der dem Geruch nach zu schließen aus Tarpanmilch gewonnen wur de. Razamon und ich waren im Dienst – als Leibwächter des Yastors. Der dritte im Bunde, Grizzard, durfte sei ne Erschöpfung ausschlafen. Er hatte sie bit ter nötig. In dem Augenblick, in dem sein Speer Lyssod durchbohrt und getötet hatte, war Grizzard zusammengebrochen. Seither lag er auf weichen Polstern und schlief. Razamon und ich waren unterdessen zu Leibwachen des Yastors erkoren worden. Dieser Aufstieg war nur begrenzt als Ehre anzusehen, denn Grutar hatte uns bereits verkündet, daß er in absehbarer Zeit zu ei nem Kriegszug aufzubrechen gedachte – und daß er ebenfalls gedachte, sich in keiner Weise beim Kämpfen zurückzuhalten. Das bedeutete, daß er einen beachtlichen Ver schleiß an Leibgardisten haben würde – mit uns an der Spitze. Vorläufig war uns das gleichgültig. Wir waren am Leben, man hatte uns zu essen ge geben, zu trinken, warme Kleidung, ein ei genes Zelt. Was wollte man mehr in unserer
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Peter Terrid
Lage? Im Augenblick aber waren wir nicht ge »Fällt dir etwas auf?« fragte Razamon. fährdet. Wir standen im Schutz des Yastors, Ich nickte. und die Zukahartos dachten im Augenblick »Es gibt keine Frauen«, sagte der Pthorer. an ganz andere Dinge. Die Blicke, mit denen Grutar auf seinem Weg verfolgt wurde, wa »Nicht im Zelt und nicht im Lager.« Was das bedeutete, lag auf der Hand. Es ren neiderfüllt und gierig. Es tat gut, die klare Luft im Freien ein gab da ein Geheimnis, was die Frauen betraf – und dieses Geheimnis war derart wichtig, zuatmen. Grutar hingegen machte der plötz liche Sauerstoffüberfall ein wenig Schwie daß nicht einmal der Yastor Frauen in sei nem Zelt haben durfte. rigkeiten. Er begann zu taumeln. Er wäre der Länge nach hingeschlagen, hätten Razamon Leicht schwankend stand Grutar-Nal-Kart und ich ihn nicht aufgefangen. auf. Er grinste in der typischen selbstgefälli gen Art der Betrunkenen. »Wohin, Herr?« fragte ich eilfertig. Grut »Ich werde euch nun verlassen, meine ar konnte nur noch lallen. Wenn ich ihn richtig verstand, wollte Freunde«, verkündete er, und sein Grinsen ließ keine Zweifel offen, wohin er zu gehen Grutar zu einem Tempel der Zusammen kunft geführt werden, und er war auch noch gedachte. »Auch du, Hirundo, wirst hier bleiben müssen – wenigstens heute.« nüchtern genug, uns den Weg zu weisen. Ihn Razamon und ich hatten die Hände an den ohne fremde Hilfe zu gehen, war er nicht Schwertknäufen. Aufrecht standen wir ne mehr imstande, also faßten wir den Yastor ben dem Yastor und starrten unverwandt unter den Armen und trugen ihn zu seinem nach vorn, obwohl in dem verräucherten Bestimmungsort. Zelt kaum noch etwas zu erkennen war. Der Weg war recht weit. Der Tempel lag Die Situation war von bösartiger Ironie: am höchsten Punkt der Siedlung, bereits im Ich hatte früher Schlachtflotten komman Gebirge. Der Weg war steil und beschwer diert, schwere und schwerste Einheiten lich, und während wir uns in die Höhe arbei durch die Galaxis geführt … und jetzt tat ich teten, hatte ich immer wieder das Gefühl, Dienst als Leibwächter eines Nomadenfür von irgend jemand beobachtet zu werden. sten, der weder lesen noch schreiben konnte. Es war still in der Felsenstadt, nur aus den Ist das seine Schuld? fragte der Logiksek Zelten der Krieger ertönte ab und zu Lär tor trocken. Oder dein Verdienst, daß du men. Die meisten Soldaten schliefen bereits. zum Ausfechten von Zwistigkeiten Atombom »Wer kommt?« ben gebraucht hast? Es war eine klare Frauenstimme, die das Grutar schnippte mit den Fingern. Das fragte. Ich hatte mich nicht geirrt, es gab Zu galt uns. Wir sahen ihn an. kaharto-Frauen, und sie lebten in den Tem »Ihr kommt mit«, entschied der Yastor. peln der Zusammenkunft. »Eure Konkurrenz brauche ich wohl nicht zu »Der Yastor«, antwortete ich. fürchten, hehehe.« »Grutar-Nal-Kart.« Die Meute fiel in das meckernde Geläch »Kommt näher«, sagte die Frau. ter ein. Grutar stieg die wenigen hölzernen Ich entdeckte Fackelschein voraus. Auf Stufen hinab, die seinen Thron über die Bän dieses Licht hielten wir zu. Es entpuppte ke seiner Untertanen erhoben. Razamon und sich als kunstvoll aus Bronze geschmiedete ich folgten. Dabei bemühten wir uns, so Laterne, die einen metallbeschlagenen Tor ernsthaft und gelassen wie möglich auszuse bogen beleuchtete. Darin standen drei Frauhen. Die vielen scheelen Blicke, die man uns en, deren Bewaffnung eindrucksvoll war. zugeworfen hatte, waren mir nicht entgan Die Gesichter deuteten an, daß diese Frauen gen. Es gab etliche Zukahartos, die uns lie sehr wohl wußten, wie man mit Schwert und ber tot gesehen hätten. Dolch hantierte.
Der Arkonide und der Yastor »Wer seid ihr? Die Fremdlinge?« »Wir sind es«, bestätigte ich. Grutar war unfähig, auf die Fragen zu antworten. Er war während des Transports eingeschlafen. Die Frauen waren nach den Maßstäben der Zukahartos jung und recht attraktiv. An ders als ich erwartet hatte, machten sie kei nen unterwürfigen Eindruck – die Assoziati on mit einem orientalischen Harem hatte sich geradezu aufgedrängt. »Wir bringen den Yastor hinein«, sagte ich. »Das geht nicht«, erwiderte die Frau und hob abwehrend die Hand. »Nur der Yastor darf den Tempel betreten, niemand sonst darf über die Schwelle.« Ich sah auf Grutar, der schlaff in unserem Griff hing. »Der Yastor ist außerstande zu gehen. Kommt und holt ihn.« »Wir dürfen den Tempel nicht verlassen, das ist Gesetz seit ewiger Zeit.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verknei fen. Was war nun zu tun? »Können wir den Yastor auf der Schwelle absetzen?« Eine Pause entstand, dann sagte die Frau: »Bringt ihn her, aber wagt es nicht, den Fuß über die Schwelle zu setzen. Es wäre euer sicherer Tod.« Wir machten uns daran, diesen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Grutar bekam von al ledem nicht viel mit, er schnarchte leise. Mit vereinten Kräften wuchteten wir Grutar auf die Schwelle des Tempels. Wir stellten ihn auf die Füße und ließen ihn los. Während wir zwei Schritte zurück machten, fingen die Frauen den nach vorne kippenden Yastor auf und trugen ihn ins Innere des Tempels. »Ihr seid entlassen«, sagte die Anführerin. »Geht!« Wir machten kehrt und gingen den Weg zurück, den wir gekommen waren. Nach kurzer Zeit aber machte ich halt. Das also war ein Tempel der Zusammen kunft, ein ziemlich hochtrabender Name für ein Frauen-Wohnheim. Ich hatte im Lauf des Tages einiges über die Tempel erfahren,
31 deren es in jeder Felsenstadt einen gab. Die gemeinen Soldaten redeten von den Tem peln und ihren Bewohnerinnen im Ton größ ter Ehrfurcht; man hätte glauben können, dort lebten Göttinnen. Die Edlen der Zuka hartos aber, die wir im Zelt des Yastors ken nengelernt hatten, schlugen ganz andere Tö ne an. Was war von diesen Erzählungen wahr? Und warum wurde um die ZukahartoFrauen ein solcher Wirbel gemacht? Ich besprach die Angelegenheit mit Raza mon. »Hm«, sagte der Pthorer nach einigem Nachdenken. »Genaugenommen haben wir andere Dinge zu tun, als uns um Frauenhäu ser zu kümmern. Auf der anderen Seite kön nen wir es uns kaum leisten, irgendein Ge heimnis von Wichtigkeit ungelüftet zu las sen. Ich nehme an, du willst dir auch den sa genumwobenen Extortirnser ansehen.« »Ganz bestimmt«, sagte ich. Wir kehrten um, zurück zum Tempel der Zusammenkunft. Natürlich waren wir nicht so dumm, uns den Eintritt erzwingen zu wollen. Wir versuchten es auf anderen Wegen. Ich hatte an einem Felshang Licht gese hen, einen gelblichen Schein, der aus einem Loch im massiven Fels zu fallen schien. Daß der größte Teil des Tempels in den Felsen hineingearbeitet worden war, lag auf der Hand. Vielleicht hatte man auch eine bereits vorhandene Höhlung zu diesem Zweck aus gebaut. Ich deutete auf das Licht, hinter dem ich einen Raum vermutete. »Dort hinauf?« fragte Razamon. »Wir sollten es versuchen«, antwortete ich. Das sagte sich leicht. Wir mußten all un sere Kräfte und unsere ganze Geschicklich keit aufbieten, um diesen Aufstieg ins Werk setzen zu können. Der Fels ragte an dieser Stelle fast senkrecht in die Höhe, und wir mußten höllisch aufpassen, daß wir nicht den Halt verloren. Endlich erreichte ich das Fenster. Es maß knapp zwei Meter im Quadrat, war also groß genug, uns ins Innere zu lassen.
32 Vorsichtig spähte ich über den Rand. Der Raum war leer. Ich sah nur eine kärg liche Pritsche, einen Tisch nebst zwei Stüh len und auf dem Tisch einen Leuchter mit sechs Kerzen. Rasch schlüpfte ich hinein, dann half ich Razamon. »Sieht aus wie die Zelle eines Mönchs«, murmelte Razamon. Ich stoppte. Auf der anderen Seite der hölzernen Tür wurden Geräusche hörbar, Fußtritte, metallisches Scheppern, dann das Klirren von Ketten. Ich gab Razamon einen Wink. Wir stellten uns flach an die Stirnwand des Zimmers. Die Schritte näherten sich, stoppten, dann wurde ein Schlüssel ins Schloß gesteckt. Mir fiel auf, daß es auf der Innenseite der Tür weder Schloß noch Rie gel noch eine Klinke gab. Kreischend bewegte sich die Tür in den Angeln. »Vorwärts!« hörten wir eine energische Frauenstimme, dann flog eine Gestalt an uns vorbei und landete dumpf auf dem Boden. Ketten klirrten, dann wurde die Tür wieder geschlossen. Während sich die Schritte lang sam entfernten, blieb die Gestalt reglos am Boden liegen. Es war eine Frau, an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt. Ich ging zu ihr hinüber und griff nach ihr. Den fürchterlichen Schrecken, den sie empfinden mußte, als sich in der Einsamkeit der Zelle eine Hand über ihren Mund legte, konnte ich ihr nicht ersparen. Sie hätte mög licherweise geschrien, die Wachen auf uns aufmerksam gemacht und so unseren Tod heraufbeschworen. Ich spürte, wie die Frau zusammenzuckte und dann ganz steif und starr wurde vor Angst. »Wir wollen dir nichts tun«, sagte ich lei se. »Du darfst nur nicht schreien.« Ich behielt meine Hand auf dem Mund der Frau, als ich sie langsam herumdrehte. Ihre Augen weiteten sich in panischer Furcht, als sie mich sah. Hinter mir tauchte
Peter Terrid Razamon in ihrem Gesichtsfeld auf, und auch das erschreckte die Frau sehr. Sie rollte mit den Augen, aber sie machte keinerlei Anstalten zu schreien oder mich in die Hand zu beißen. Vorsichtig lockerte ich meinen Griff, je derzeit bereit, den kleinsten Laut zu er sticken. Die Frau holte tief Luft, dann be griff sie, daß ihr von uns keine Gefahr droh te. »Wer seid ihr? Doch nicht die beiden Fremdlinge? Ihr müßt es sein, denn eure Schädel tragen Haare. Was erlaubt ihr euch, hier einzudringen?« Ich versuchte so freundlich wie möglich zu lächeln. »Wir wollten wissen, was es mit den Tempeln der Zusammenkunft auf sich hat, mehr nicht.« Sie sah mich finster an. »In den Tempeln leben wir Frauen«, sagte sie. »Das ist das ganze Geheimnis.« Ich deutete auf die Einrichtung, dann auf ihre Fesseln. »Hat man dich bestraft?« fragte ich. Sie preßte die Lippen aufeinander. »Ja«, sagte sie dann. »Wegen einer Klei nigkeit.« »Was hast du getan?« »Einen Becher Tee verschüttet. Dafür muß ich drei Tage hier büßen.« »Wir könnten dich mitnehmen, wenn du fliehen willst«, sagte ich. Ich wußte selbst nicht, wie ich auf diesen absurden Vorschlag verfallen war. »Mitnehmen? Wohin? Ich will den Tem pel nicht verlassen.« »Nicht einmal der Freiheit zuliebe?« Sie runzelte die Stirn. »Fremder«, sagte sie dann. »Du redest ir re. Was heißt Freiheit? Ich lebe im Tempel der Zusammenkunft, was will ich mehr?« »Warum hält man euch hier gefangen?« fragte ich. »Ich habe keine einzige Frau auf den Straßen gesehen, nicht einmal im Zelt des Yastors.« »Niemand darf uns sehen«, sagte die Frau. »Auch eure Köpfe sind dem Henker
Der Arkonide und der Yastor verfallen, wenn man euch hier trifft.« »Und dein Kopf?« Die Frau zwinkerte verwundert. »Mein Kopf?« »Wirst du nicht bestraft, wenn man uns hier trifft?« »Selbstverständlich nicht«, sagte die Frau. »Niemand schreibt mir meinen Umgang vor.« »Ich verstehe das nicht«, murmelte Raza mon. »Warum trägst du Ketten?« »Auf Befehl der Hohen Frauen.« »Wer sind die Hohen Frauen?« »Die Ältesten und Ehrwürdigsten unter uns«, sagte die junge Frau. »Sie haben alle mindestens zwei Mädchen geboren.« Ich starrte sie verblüfft an. »Mädchen?« Die Auskunft war hochgradig verworren. Die Zukahartos waren ganz eindeutig eine männerorientierte Gesellschaft, wie man es bei einem kriegerischen Nomadenvolk er warten durfte. Und bei Nomadenvölkern dieser Art war eine Vorstellung vom Wert der Frau durchaus üblich, die sich auf der Erde kein weibliches Wesen mehr hätte ge fallen lassen – meist galten Frauen als eine verbesserte Form von Zucht- und Arbeit stier. Offenbar galten bei den Zukahartos ande re Spielregeln. Und mir dämmerte auch, was die Ursache für diese seltsame Sozialordnung war. »Laß mich raten«, sagte ich. »In eurem Volk werden sehr viele Knaben geboren, aber nur sehr wenige Frauen?« Sie senkte beschämt den Kopf, als sei dies ihre Schuld. »So ist es«, flüsterte sie. Jetzt begriff ich die Regeln dieses Spieles. Ursprünglich einmal waren die Zukahar tos ein ganz normales Nomadenvolk gewe sen. Die Männer hüteten das Vieh und führ ten mit den Nachbarn Krieg; die Frauen durften das Haus hüten, arbeiten und Kinder gebären. Dann aber waren immer weniger Mädchen geboren worden, und im gleichen Maß, in dem die Zahl der Frauen zurück
33 ging, nahm ihr Wert in der Zukaharto-Ge sellschaft zu. Jetzt hatten die wenigen Frauen … »Wieviel Frauen leben in diesem Tem pel?« fragte ich. »Achtundsiebzig, davon sind vierzig noch fähig zu empfangen«, lautete die Antwort. … kein Wunder, daß die Frauen jetzt in den Rang von Göttinnen erhoben worden waren. Von dieser Betrachtung ausgenom men waren nur jene, die schon früher über allen anderen gestanden hatten, der Yastor und seine unmittelbaren Gefährten. »Gefällt dir dieses Leben?« fragte ich die Frau. Sie lächelte zurückhaltend. »Es ist nicht immer schön«, sagte sie. »Aber ich würde nicht tauschen wollen.« Es gehörte viel Pragmatismus dazu, die Sache so zu sehen. Die Frauen durften nur mit auserwählten Kriegern der Zukahartos Umgang haben, und diese Auswahl trafen sie höchstwahrscheinlich nicht selbst. Von einem partnerschaftlichen Geschlechterver hältnis waren die Zukahartos weit entfernt, sie hatten lediglich die veralteten Herr schaftsstrukturen den veränderten Bedingun gen ihres Lebens angepaßt. Ich vermutete, daß die Anführerinnen der Frauen in Wirk lichkeit einen erheblich stärkeren Einfluß auf die Zukahartos und ihr Leben ausübten als der stolze Yastor und seine Freunde ahn ten. »Woher kommt ihr, Fremdlinge?« Ich versuchte, der Frau die Zusammen hänge zu erklären. Es gelang leidlich. Sie verstand, daß es auch noch andere Dinge gab als den Jagdteppich und die Tempel der Zusammenkunft. »Weißt du, Fremder, ein Mittel, das uns helfen kann?« fragte die Frau schließlich. »Irgendwann wird es keine Zukaharto-Frau en mehr geben, und dann wird unser Volk aussterben.« Was sollte ich dazu sagen? Die Zukahar tos waren nicht das einzige Volk des Uni versums, das im Lauf der Geschichte ver schwunden war. Wer trauerte heute noch auf
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der Erde den Sumerern nach, den Hethitern oder anderen hochzivilisierten Völkern des Altertums? Niemand. Sie waren im Lauf der Jahrhunderte in anderen Völkern aufgegan gen, und nur ein paar Züge ihrer Kultur wa ren weitergegeben worden. »Ihr müßt der Natur vertrauen«, sagte ich. »Ihre Entscheidung kann niemand umsto ßen.« Eine andere Antwort verbot sich von selbst. Es wäre grausam gewesen, der Frau zu erklären, daß es zwar mögliche Hilfsmit tel der Medizin und Erbbiologie gab, daß aber diese Mittel für ihr Volk unerreichbar waren. Die Frau sah zum Fenster. »Es wird besser sein, wenn ihr bald geht«, sagte sie. »Es wird bald dämmern, und wenn der Yastor seinen Rausch ausgeschlafen hat, wird er sich hier umsehen wollen.« »Wir können nichts für dich tun?« fragte ich die Frau. Sie sah nach irdischen Maßstä ben überaus fremd aus, nach dem Wertsy stem der Zukahartos mochte sie eine Schön heit sein. »Nichts«, sagte die Frau lächelnd. »Ich werde meine Strafe abbüßen und in die Ge meinschaft der Frauen zurückkehren.« »Wirst du ihnen berichten, daß wir hier gewesen sind?« fragte ich. Wieder lächelte sie. »Nein«, sagte die Frau. »Ich werde euch nicht erwähnen, Männer von den Sternen.«
8. Es war ein Anblick, den niemand vergaß, der ihn jemals gesehen hatte. Dreißig Tausendschaften Reiter hatte der Yastor aufgeboten, dazu kam ein beachtli cher Troß und ein Aufgebot an Tarpanen, das seinesgleichen suchte. »Noch nie ist ein Yastor mit einem sol chen Heer aufgebrochen«, sagte Grutar stolz. »Wir werden reiche Beute machen, und unser Name wird den Jagdteppich mit Furcht und Schrecken erfüllen.« Das konnte ich mir sehr gut vorstellen.
Grutars Krieger waren ausgeruht und kampfbereit – und sie waren gute Kämpfer. Hart, erfahren die meisten, Meister der List und Heimtücke ihre Anführer, beutegierig ihr Fürst. Unwillkürlich mußte ich an einen anderen Reiterfürsten denken, an Temudschin, den Anführer der Kiut-Bürtschigin. Als Dschin gis-Khan kannte ihn die Welt, sein Reich war das größte, das je errichtet worden. Was Gru-tar-Nal-Kart, den Yastor der Zukahar tos, mit Dschingis verband, war unbeugsa mer Siegeswille und die ans Märchenhafte grenzende reiterliche Perfektion ihrer Heere. An die Wesen, die Opfer dieses Raubzugs werden sollten, wagte ich nicht zu denken. »Welchen Rat hat der Extortirnser dir ge geben?« erkundigte sich der grazile Hirun do. Ihm war die Leibwache unterstellt wor den, damit war er auch mein Chef und der Razamons. Der Yastor streckte mit Emphase die Hand aus, eine meisterlich einstudierte Ge ste. »Zunächst nach Südwesten, dann den Dscharkin entlang. Und danach … man wird sehen!« Hirundos Gesicht strahlte vor Zufrieden heit. »Oy!« sagte er. »Brechen wir auf!« Das Heer setzte sich in Bewegung, geord net und diszipliniert. Hinter uns blieb die Felsenstadt mit ihren Bewohnern. Von den Insassinnen des Tempels hatten wir nichts gehört, die Frau hatte also Wort gehalten. Grutar hatte ein paar seiner Vertrauten die Erlaubnis erteilt, den Tempel aufzusuchen, den Rest hatte er auf später vertröstet. Es ließ sich leicht ausrechnen, daß die einfa chen Zukahartos wie rasend kämpfen wür den, um dieser Ehre würdig zu sein. Die Truppe fiel in Trab, dann in Galopp. Die Zukahartos waren meisterliche Reiter, und sie wechselten ihre Tarpane in vollem Galopp. Das gab ihren Angriffszügen eine Geschwindigkeit und Weiträumigkeit, mit der die meist gepanzerten Heere von Stadt bewohnern nicht fertig werden konnten.
Der Arkonide und der Yastor Razamon hielt sich an meiner Seite. »Was willst du machen, Freund?« fragte er mich leise. »Zusehen, wie diese Nomaden die Leute am Fluß Dscharkin abschlach ten?« »Wir warten ab«, antwortete ich. »Irgendwann wird sich eine Möglichkeit fin den, den geheimnisvollen Extortirnser zu be suchen, der den Zukahartos die Kriegspläne ausarbeitet. Ich bin gespannt, was es mit dem Orakel auf sich hat.« »Und dann?« »Fliehen wir«, sagte ich. »Wir müssen nur eine Stelle finden, an der die Zukahartos ihre Überlegenheit nicht ausspielen können.« »Das wird nicht leicht sein«, bemerkte Grizzard. Er hatte sich in den letzten Tagen gut von den Strapazen der Gebirgsdurchque rung erholt. Dennoch war er nicht völlig wiederhergestellt. Er kränkelte, ohne daß wir die genaue Ursache dafür kannten. Immerhin war er leidlich gekräftigt, so daß er durchaus in der Lage war, unseren Ritt zu begleiten. Jagdteppich nannten die Zukahartos die weite Ebene, und der Name paßte. Wie ein buntgesprenkelter Teppich erstreckte sich die Savanne, weit und endlos. Zwischen dem Grün der Gräser waren Sträucher zu er kennen, die in schillernden Farben blühten. Ein voller Galopp auf solchem Geläuf mußte jedem Nomaden das Herz weit machen. An den Reaktionen der Tiere war zu erkennen, daß auch sie diesen Ritt genossen. Die Luft war angenehm klar und warm, ein schwacher Wind wehte uns entgegen und trieb den Staub, den die Tarpane aufwir belten, von uns weg. Nach kurzer Zeit fächerte das Heer aus einander, jeder Reiter sollte genügend Raum für sich und seine Tiere haben. Ich hatte die Truppe manövrieren sehen: Im Ernstfall for mierten sich die Schwärme blitzartig zu kompakten Kavallerieeinheiten, deren An sturm jede Infanterie ohne hochmoderne Waffen niederwalzen mußte. Die Zukahartos waren bis an die Zähne bewaffnet. Ihr wichtigstes Angriffswerkzeug
35 waren Pfeil und Bogen. Die hochwertigen Reflexbögen vermochten die Zukahartos noch im vollen Galopp zu spannen, und fast immer saßen die Pfeile im Ziel. Damit be kämpften sie gegnerische Reiter. Fußtruppen sollten mit verheerenden Lanzenattacken niedergeworfen werden; den Rest des bluti gen Handwerks besorgte dann das leicht ge krümmte Schwert. Ich trug kein Verlangen, diese Truppe bei der Arbeit zu sehen. Das hieß, daß ich in den nächsten Tagen bereits eine Möglichkeit zur Flucht zu finden hatte. Vorher aber wollte ich einen Blick auf den Extortirnser werfen, das rätselhafte Ora kel der Zukahartos. Das Ding oder die Per son wurde in einer Spezialsänfte im Heer mitgeführt. Ich brauchte nur über die Schul ter zu sehen, um das Gespann erkennen zu können. Ein Schwarm von Schamanen – sie wurden Thaigoon genannt – hielt in der Nä he des Heiligtums Wacht. Abends wurde der Extortirnser in einer festen hölzernen Hütte geborgen, während der Yastor sich mit ei nem prunkvollen, aber nichtsdestotrotz le dernen Zelt zu begnügen hatte. Vielleicht bot sich am Abend eine Gele genheit, den Extortirnser zu besuchen. Der Zutritt war jedermann außer dem Yastor ver boten, und da die Zukahartos den Befehlen ihrer Anführer widerspruchslos zu folgen gewohnt waren, erübrigte sich eine Nacht wache beim Extortirnser. Es mußte daher ei nigermaßen leicht möglich sein, zu dem ge heimnisvollen Orakel vorzudringen. Ich war fest entschlossen, etwas gegen dieses Orakel zu unternehmen, das hauptsächlich dazu be nutzt wurde, die Kriegszüge der Zukahartos zu planen und auszuführen. Ich war mir klar darüber, daß dies ein schwerwiegender Eingriff in die Geschichte dieses Landes darstellte, aber ich fühlte mich dazu berechtigt, den Zukahartos über ihr seltsames Orakel die Augen zu öffnen. Aberglaube hatte noch keiner Zivilisation geholfen. An diesem ersten Tag unserer Jagd – so bezeichneten die Zukahartos ihre Raubzüge
36 – legten wir eine außerordentlich große Strecke zurück, und jedermann im Heer war müde, als der Abend herandämmerte. Erst als die Nacht fast schon angebrochen war, gab der Yastor den Befehl zum Halten. Auch wir waren dankbar für diesen Stop. Der Ritt war anstrengender gewesen, und für Ungeübte war es sowohl gefährlich als auch unerhört mühsam, den Tarpanwechsel im Galopp vorzunehmen. Wozu die Zukahartos einige Augenblicke brauchten, benötigten wir mehrere Minuten, angefüllt mit harter Arbeit und einer gehörigen Portion Aufre gung. »Sehr oft werde ich diesen Spaß nicht aushalten«, sagte Grizzard, als er steif vom Tarpan stieg. »Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als mit diesen Wölfen zu heulen«, sagte Razamon. »Jedenfalls vorerst.« Ich sah, wie Grutar mich heranwinkte. Seit Grizzard den aufrührerischen Lyssod ausgeschaltet hatte, genossen wir die beson dere Gunst des Yastors – mit allen Vorteilen und Gefahren, die damit verbunden waren. »Ihr haltet euch gut«, sagte Grutar. »Nur eure Wechsel sind erbärmlich. Gibt es dort, wo ihr herkommt, keine Tarpane?« »Nicht so gute«, erwiderte ich diploma tisch. »Und deswegen sind wir auch keine so guten Reiter wie die Zukahartos, deren Kunst alles übersteigt, was wir je gesehen haben.« Das war eine faustdicke Schmeichelei, aber sie kam an. Grutar lächelte selbstgefäl lig. Seine Gefolgsleute waren unterdessen eif rig damit beschäftigt, das Lager aufzubauen. Als erstes wurde die Holzkonstruktion für den Extortirnser errichtet, der danach in sei nem sänftenähnlichen Behälter in das Innere der Hütte transportiert wurde. Ich war ge spannt, was es in der Sänfte zu sehen geben würde. Insgeheim rechnete ich sogar damit, daß unter der Maske des Extortirnsers die Frau – oder eine davon – des Yastors uner kannt den Raubzug begleiten durfte. Grutar wäre nicht der erste Heerführer gewesen, der
Peter Terrid sich über seine eigenen Regeln hinwegsetz te. Danach wurde das Zelt für den Yastor er richtet. Grizzard und ich bauten uns vor dem Eingang auf, Razamon sorgte für unsere Tar-pane. Wenig später kehrte er zurück. »Ich habe gehört, daß es nicht mehr weit zum Fluß ist«, sagte er. »Sollen wir es heute abend versuchen?« Ich überlegte kurz. Warum nicht? Wenn die Gelegenheit günstig war, war dieser Abend so gut wie jeder andere. Wenn wir erst den Fluß hinter uns gebracht hatten … es gab da einige Tricks, die ich gegen den Yastor und sein Heer auszuspielen gedachte. Zu meiner großen Freude spielte der Ya stor in meinem Plan sogar mit. Ich hatte ge hofft, daß er an diesem Tag ein ähnliches Benehmen zeigen würde wie im Lager bei der Felsenstadt. Dort hatte er sich mit beste chender Regelmäßigkeit voll Alkohol ge pumpt, und da er erheblich mehr vertrug als seine Lehnsleute, bedeutete der Vollrausch des Yastors, daß das Heer der Zukahartos in den späten Abendstunden praktisch führer los war. Diese Tatsache galt es auszunutzen. Und tatsächlich gab Grutar auch an die sem Abend nach einer kargen Mahlzeit das Zeichen zum Beginn des Gelages. Er war sichtlich gut gelaunt. »Ihr da, Wachen, trinkt mit!« forderte er uns auf. »Herr«, wagte ich einzuwenden, »das würde die Schärfe unserer Sinne mindern. Wir könnten dich nicht mehr schützen, wenn wir trunken sind.« »Ein paar Schlucke werdet ihr wohl ver tragen«, entgegnete Grutar. Er hatte wirklich gute Laune – andere hatten geringeren Wi derspruch bitter bereut. Ich trank von dem Rauschmittel, das mir der Yastor eigenhändig entgegenhielt. Der Geschmack war entsetzlich, die Wirkung verheerend. Es war kein Wunder, daß die Wesen in diesem Land nicht sonderlich alt wurden, wenn sie ihre inneren Organe von diesem Schnaps zerfressen ließen. Auch Grizzard nippte nur vorsichtig an
Der Arkonide und der Yastor dem Schnaps. Bei ihm mußte ich doppelt aufpassen – wenn er die Kontrolle über sei nen Körper verlor, wie das bei Betrunkenen üblich war, konnte das wesentlich gefährli cher werden als normal. Das Gelage nahm seinen Gang. Es wurde getrunken, gelacht und geprahlt, und Grutar erzählte von den Stunden, die er im Tempel der Zusammenkunft verbracht hatte. Ich hat te alle Mühe, dabei ernst zu bleiben – offen bar hatten die Hohen Frauen den Yastor rasch und gründlich gezähmt. Seine Sprache war zwar immer noch reichlich rüde, ließ aber einen gewissen zähneknirschenden Re spekt vor den Frauen erkennen. Nach zwei Stunden Wache erschienen Zukahartos, um uns abzulösen. Wenn Grutar uns auch vertraute, seine Nachtruhe ließ er von eigenen Leuten sichern, von Mitgliedern seiner Sippe. Unser Zelt wurde von nur drei Personen bewohnt. Kein Zukaharto hatte Lust gehabt, sich mit uns ein Zelt zu teilen – uns hatte das natürlich gefreut. Razamon hatte eine Mahlzeit vorbereitet, die wir hastig herunterschlangen. »Ich habe ein paar ausgesucht schöne Tar pane abgeteilt und in einem besonderen Pferch gesammelt – angeblich auf Befehl des Yastors. Wenn morgen herauskommt, daß es gar keinen Befehl gab …« Razamon hatte recht. Die Nacht der Ent scheidung war gekommen. »Werdet ihr trotz der Müdigkeit reiten können?« fragte ich, vor allem an Grizzard gerichtet. Der gab mit einem Lächeln und ei nem Nicken zu verstehen, daß er sich noch allerlei zutraute. Hoffentlich, dachte ich, hat te er mit dieser Einschätzung recht. Sinclair Marout Kennon war ein vorzüglicher Krimi nalist und Interpret fremder Gedanken ge wesen, aber ich wußte aus eigener Erfah rung, wie leicht es selbst für große Geister war, sich selbst zu täuschen. Ich spähte durch den Vorhang hinaus. Noch gab es Leben im Lager. »Wir können schlafen«, sagte ich. »Zwei, drei Stunden lang, mehr nicht.«
37 Wir räumten das Zelt auf und legten uns nieder. Nach kurzer Zeit waren wir einge schlafen.
* Ich erwachte als erster. Meine innere Uhr hatte mich nicht getrogen. Ich war genau rechtzeitig aufgewacht. Ich weckte meine Gefährten. »Ihr bereitet die Flucht vor, wie bespro chen. Ich gehe zum Extortirnser.« Sie nickten und huschten aus dem Zelt. Das kleine Feuer brannte noch. Ich entzün dete eine Fackel daran und steckte sie in den Boden. Wir würden sie noch brauchen, spä ter. Durch das nächtliche Lager schlich ich zum Extortirnser. Nichts rührte sich. Die Zu kahartos hatten es nicht nötig, sich vor Über fällen in acht zu nehmen – das einzige Volk im Umkreis, das solche Raubzüge startete, waren sie selbst, und wenn es zur alljährli chen Jagd auf den Jagdteppich ging, waren alle Streitigkeiten der Sippen untereinander vergessen. Niemand konnte mich sehen oder hören, als ich zum Heiligtum schlich. Am Eingang blieb ich vorsichtig stehen und lauschte. Im Innern rührte sich nichts. So geräuschlos wie möglich schlüpfte ich hinein. Es gab kein Orakel, wie ich es erwartet hatte. Ich hatte mich auch mit der Interpreta tion geirrt, Grutar schleppe unter dieser Tar nung eine Frau mit. Es gab eine Ampel im Innern der Holz hütte, in der ein Docht brannte und Licht gab. In diesem rötlichen Licht war der Extor tirnser genau zu erkennen. Er mußte es sein, denn außer ihm gab es nichts im Zelt. Der Extortirnser war ein Roboter, präzise formuliert, das Wrack oder Bruchstück eines Roboters, denn ich konnte mir nicht vorstel len, daß irgend jemand einen derart absurd aussehenden Roboter baute. Es handelte sich um einen Zylinder von knapp einem Meter Höhe, der auf einem Holzsockel stand. Der
38 Extortirnser mochte vierzig Zentimeter durchmessen, jedenfalls galt das für den eigentlichen Rumpf, der mit Ausbuchtungen, Antennen, Sensoren, Erhebungen, Fühlern und Schaltern gespickt war, daß man beim besten Willen nicht sagen konnte, wozu die se Apparaturen wohl dienen mochten. Offenbar war der Robot oder die Positro nik desaktiviert. Ich konnte jedenfalls kein Zeichen von Tätigkeit an dem Extortirnser erkennen, zumal es auch keine Energiever sorgung für die Positronik zu geben schien. Die ganze Angelegenheit entpuppte sich als Bluff. Irgendwie war dieses technische Monstrum nach Dorkh geraten, vielleicht hatte es sogar eine Zeitlang funktioniert und den Zukahartos gute Ratschläge gegeben. Jetzt war nur noch der lächerliche Aberglau be übriggeblieben, und niemand wagte es, dem Volk den technischen Tod des Extor tirnsers mitzuteilen. Ich wandte mich zum Gehen. Mit dem Ding ließ sich nichts anfangen, man verlor nur Zeit. In dem Augenblick, in dem ich den Vorhang ergriff, um ihn zur Seite zu schie ben und ins Freie zu schlüpfen, hörte ich ei ne Stimme. »Bleib«, sagte die Stimme. »Bleib und hilf mir, Fremder. Aber fasse mich nicht an, um Himmels willen, fasse mich nicht an!« »Allmächtiger«, platzte ich heraus, als die weinerliche Stimme erklang. »Nein, ich bin der Extortirnser, und du bist kein Zukaharto, wie ich sehe. Wer bist du, und was willst du?« Die Positronik arbeitete also noch. Eine Überraschung mehr. Ich drehte mich herum. Tatsächlich blink ten jetzt kleine Lampen am Rumpf des Ex tortirnsers. Bevor ich die ersten Fragen beantworten konnte, setzte der Extortirnser sein Verhör fort. »Bist du ein Freund oder ein Feind der Zukahartos?« wollte die Positronik wissen. »Kannst du mich retten?« Das Ding war völlig verschaltet, im po sitronischen Sinn übergeschnappt. Aber
Peter Terrid vielleicht konnten wir über den Extortirnser wichtige und wertvolle Informationen über die Zukahartos und Dorkh im allgemeinen bekommen. »Retten?« fragte ich. »Wovor?« »Errette mich«, flehte die Positronik. »Aber fasse mich nicht an, du wirst nur alles zerstören. Rette mich aus den Klauen dieser Wilden, und ich werde dich reichlich beloh nen.« »Bist du denn nicht das Heiligtum dieses Volkes?« fragte ich erstaunt. »Doch, das bin ich«, sagte der Extortirn ser. »Bitte dreh dich um, damit du deinen Atem nicht unmittelbar auf meinen Leib bläst. Er enthält sicherlich korrodierende Feuchtigkeit. Aber diese Zukahartos wollen den Preis nicht zahlen für meine Ratschläge, und dauernd fassen sie mich an, diese Bar baren. Kannst du mich nicht nach Tirn brin gen?« »Was ist Tirn, und wo liegt es?« fragte ich sofort, mit dem Rücken zum Extortirn ser. »Das werde ich dir unterwegs sagen, wenn du mich rettest«, versprach die Po sitronik. Ich hätte gerne gewußt, wozu dieses Ding früher einmal zu gebrauchen gewesen war. Der Schaltbaum, wie ich ihn insgeheim ge tauft hatte, war die verrückteste Maschine, die mir je untergekommen war. Was war zu tun in dieser Lage? Sollten wir uns auf der Flucht, die auch ohne den hypernervösen Extortirnser lebens gefährlich war, auch noch mit einer jam mernden Positronik belasten? Der Extortirnser, meldete sich der Logik sektor, kennt die Verhältnisse besser als du. Er kann dir nützlich sein. Ich hatte gelernt, den Ratschlägen des Ex trasinns zu folgen. Damit war die Entschei dung gefallen. »Wir werden dich retten«, versprach ich. »Wir?« »Meine Freunde und ich«, antwortete ich. »Dann mach zu«, sagte der Extortirnser. »Und sage deinen Freunden, daß sie ihre
Der Arkonide und der Yastor Finger bei sich behalten sollen.« Ich seufzte leise. Die Reise versprach in teressant zu werden: ein ehemaliger Arkon prinz und USO-Lordadmiral, König von At lantis ohne Atlantis, dazu ein Berserker mit einem Zeitklumpen, nebst einem Körper mit einem darin wohnenden Fremdgeist … und nun stieß auch noch eine prüde Positronik dazu.
9. Hinter uns loderte die Steppe. Die Flam men schlugen bis an den Himmel, sie gaben uns Licht und wiesen uns den Weg. Außerdem trieben sie unsere Feinde vor sich her, zumindest deren Reittiere. Den Steppenbrand hatten wir entfacht, um unsere Spuren zu verwischen. Ihn ausbre chen zu lassen, war vergleichsweise einfach gewesen – als Brennmittel hatte uns der hochprozentige Schnaps der Zukahartos ge dient, von dem sie außerordentliche Mengen mit sich führten. Eine leicht brennbare Spur rings um die riesigen Tarpankoppeln hatte völlig genügt. Wir hatten für uns erstklassi ge Tarpane besorgt, in aller Ruhe und unge stört den Extortirnser in seiner Sänfte aufge laden und dann den Schnaps mit einer Fackel in Brand gesteckt. Die Stampede, die wir ausgelöst hatten, trieb die Tarpane der Zukahartos von uns weg, zurück zu den Felsenstädten. Wir hoff ten, daß uns dieser Trick genügend Vor sprung gab, um den Fluß Dscharkin zu errei chen und zu durchqueren. Dort mußten wir unsere Verfolger endgültig abschütteln. Das würde in jedem Fall nötig sein. Die Zukahartos waren nicht blöde, und vom Spurenlesen verstanden sie etwas. Daß wir drei den Brand gelegt und mit dem Heilig tum verschwunden waren, würden sie sehr bald herausgefunden haben – und was der Yastor in dieser Lage unternehmen würde, war leicht auszurechnen. Er würde sein gan zes Heer hinter uns herschicken um uns zu fangen. Waren wir erst einmal in seiner Hand, würden wir wahrscheinlich derartig
39 mißhandelt werden, daß wir unserem Tod mit Hoffnung entgegensahen. Einstweilen war es noch nicht soweit, und bis die Zukahartos die riesige Herde verstör ter Tarpane wieder eingefangen hatten, muß te geraume Zeit vergehen. »Wohin sollen wir uns wenden«, fragte ich den Extortirnser. Der Schaltbaum steckte in seiner hölzer nen Sänfte, in der er zu bleiben wünschte, bis Tirn erreicht war. Wir hatten uns da einen sehr seltsamen Reisebegleiter ausge sucht. »Genau nach Süden«, gab der Extortirnser bekannt. »Erst müssen wir den Dscharkin überqueren, und danach geht unsere Reise zum Cañon von Fryg.« »Aha«, sagte ich, obwohl ich nichts ver stand. »Und dann?« »Das werde ich später eröffnen«, gab der Extortirnser bekannt. »Und reitet nicht so dicht neben mir. Ich möchte nicht riskieren, beschädigt zu werden.« Diese Maschine hatte eine grauenvolle Furcht vor jeder nur denkbaren Beschädi gung. Stets und überall witterte sie Gefahr und Unheil. Es war fast ein Wunder, daß sie sich uns anvertraut hatte. Zudem hatte sich das Verhältnis zwischen dem Extortirnser und uns in wesentlichen Punkten geändert. Ursprünglich hatte die Maschine von uns gerettet werden wollen, war also auf unsere Hilfe angewiesen gewe sen. Unterdessen aber hatte sich das ins Ge genteil verkehrt, jedenfalls nach Ansicht des Extortirnsers. Die Maschine gebärdete sich, als seien wir ihre Untertanen. Immer wieder gab sie Kommentare ab und überschüttete uns mit Anordnungen und Weisungen. Ab und zu spähte ich nach hinten. Der Himmel war glutrot, noch immer brannte die Steppe. Es war bereits früher Morgen, und wir waren die ganze Nacht hindurch gerit ten. Nach menschlichem Ermessen hatten wir einen ordentlichen Vorsprung gewon nen. »Wie weit ist es noch bis zum Fluß?« fragte ich den Extortirnser.
40 »Er müßte bald in Sicht kommen«, gab die Positronik zurück. »Sucht übrigens gar nicht erst nach einer Furt. Wir werden den Dscharkin nur auf einem Schiff überqueren, auf einem großen Schiff, versteht sich. Eine andere Art der Überquerung kommt nicht in Frage.« »Er könnte naß werden, der Arme!« höhnte Razamon. »Hört auf zu spotten«, ermahnte uns die Positronik. »Ich muß unbedingt nach Tirn, und das natürlich unversehrt. Nässe könnte meinen Schaltungen schaden.« »Was sollen wir in Tirn?« wollte ich wis sen. Mit dieser Positronik war nicht leicht auszukommen. »Wir würden lieber nach Osten reiten.« »Wir müssen südwärts«, versetzte der Ex tortirnser. »Tirn liegt im Süden. Seht euch vor, und paßt auf, daß sie mir nichts tun.« »Wer?« fragte ich und sah mich um. Nie mand war zu sehen. Wir sahen nur die Step pe vor uns. »Die Dee-Amie-Doffs«, sagte der Extor tirnser. »Seht ihr sie denn nicht?« Wieder sah ich mich um. Kein Lebewesen war zu sehen, von ein paar Vögeln abgese hen, die über der Savanne kreisten. »Oben!« sagte der Extortirnser. »In der Luft.« Ich sah schärfer hin. Es war durchaus möglich, daß es sich bei den DeeAmie-Doffs um Vogelwesen handelte. Auf der Savanne bedeutete das eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Diese Wesen hatten gleichsam die Lufthoheit, und in der offenen Steppe gab es vor ihren Angriffen keine Deckung. Ich griff nach meinem Schwert, meine Gefährten taten das gleiche. »Gebt acht, daß ihr beim Kampf kein Blut auf mich verspritzt«, ermahnte uns die Po sitronik. »Blut ist naß und klebrig und scha det mir.« »Wir werden unser Möglichstes tun«, ver sprach Grizzard kopfschüttelnd. Langsam sanken die Vogelwesen zu uns herab. Recht bald sah ich, daß uns von die-
Peter Terrid sen Geschöpfen wenig Gefahr drohte. Sie waren unbewaffnet, und die Art, in der sie sich uns näherten, verriet wenig Angriffs lust. »Haltet sie mir vom Leibe«, kreischte der Extortirnser. »Vernichtet, sie. Weg mit ih nen.« »Sie kommen in friedlicher Absicht«, sag te ich laut. »Das sagen sie alle«, jammerte die Po sitronik, »und dann grabschen sie nach mir und tun womöglich sogar noch Schlimme res.« »Halt's Maul!« schnauzte Razamon, und das half. Der Tonfall ließ den Extortirnser verstummen. In gehörigem Abstand landete eine Grup pe von einem knappen Dutzend der Vogel wesen im Gras der Steppe. Sie waren sehr groß für Vögel, mit riesi gen Schwingen und gelblichen Schnäbeln. Entfernt erinnerten sie an Adler, nur fehlten ihnen die Krallen. Statt dessen besaßen sie ein paar außerordentlich geschickte Füße mit einem abgestellten großen Zeh – der Fuß konnte also auch zugreifen, wie es bei irdi schen Affen üblich war. Langsam kamen die Vogelwesen näher, und allein das genügte, mich von ihrer Friedfertigkeit zu überzeugen. Zu Fuß waren sie außerordentlich ungeschickt. Sie wat schelten mehr, als daß sie gingen. »Willkommen«, sagte einer der Näher kommenden mit melodischer Stimme. »Ihr seid keine Zukahartos?« »Wir sind auf der Flucht vor ihnen«, ver riet ich. »Seht ihr das Feuer hinter uns? Es treibt die Zukahartos in ihre Felsennester zu rück.« »Es wäre schön, wären deine Worte wahr, Fremdling. Aber sie stimmen nicht.« »Ihr wißt es besser?« Das vorderste der Vogelwesen machte ei ne zuckende Bewegung mit dem linken Flü gel. »Wir haben sie gesehen, wie immer. Wir sind die Beobachter unserer Siedlung, und jedesmal, wenn eine Blütenperiode aus
Der Arkonide und der Yastor bricht, verfolgen wir die Bewegungen der Zukahartos. Sie sind im Anmarsch!« Ich unterdrückte eine Verwünschung. Mit einer solchen Entwicklung der Dinge hatte ich nicht gerechnet. »Wie nahe sind die Zukahartos?« fragte ich besorgt die Vogelwesen. »Sie werden in weniger als drei Stunden hier sein«, sagte der Sprecher der DeeAmie-Doffs. »Wenn ihr wollt, führen wir euch zum Fluß.« »Wir wären euch dankbar dafür«, sagte ich. »Wo ist eure Siedlung?« »Am Ufer des Flusses«, sagte der Spre cher. Er stieg auf und umschwebte uns in großem Abstand. Seine Schwingen schlugen kraftvoll und regelmäßig, aber er mußte laut sprechen, um sich mit uns verständigen zu können. »Wir leben dort als Fischer. Ihr könnt ein Boot von uns bekommen, mit dem ihr den Fluß überqueren könnt.« »Ein großes Boot, will ich hoffen«, mel dete sich der Extortirnser. »Genügend groß für euch und eure Tie re«, antwortete unser Gastgeber. Wir trieben unsere Tarpane zu höchster Schnelligkeit an. Jetzt kam es auf die Minute an. »Habt ihr keine Angst vor den Zukahar tos?« »Doch«, erwiderte unser Freund von oben. »Aber sie können uns nichts anhaben. Wenn sie kommen, steigen wir in die Lüfte und warten, bis sie sich wieder verziehen.« »Und was tun die Zukahartos?« »Sie plündern unsere Siedlungen und set zen sie in Brand«, erklärte das Vogelwesen. Die freundlichen Wesen schienen unter dem Terror der Zukahartos sehr geduldig und fatalistisch geworden zu sein. Die Stim me des Sprechers verriet jedenfalls nur ge ringe Empörung über die angreifenden No maden. »Hast du diese Raubzüge ausgebrütet?« fragte ich den Extortirnser. »Ich?« fragt die Maschine zurück. »Der Extortirnser? Sicherlich nicht, oder viel leicht doch …?«
41 »Heiliges Pthor«, murmelte Razamon. »An Gedächtnisschwund leidet der Schalt baum auch noch.« »Wie hast du mich genannt?« fragte der Extortirnser, denn Razamon hatte die letzten Worte laut gesprochen. »Schaltbaum«, sagte Razamon, der den von mir geprägten Begriff übernommen hat te. »Unerhört!« empörte sich die Positronik. »Eine Beleidigung wie diese ist mir noch nie widerfahren.« »Erhitze dich nicht«, gab Razamon trocken zurück. »Deine Schaltkreise könnten leiden.« Das brachte den Extortirnser zum Ver stummen, vermutlich nur für kurze Zeit. Die Siedlung der Vogelwesen tauchte auf. Es war eine Gruppe von Hütten, am Rand eines breiten Stromes. Aus der Ferne wirk ten diese Unterkünfte wie auf den Kopf ge stellte Horste, gebaut aus Blattwerk und Ästen. Die Siedlung war sauber und regel mäßig angelegt, sie entsprach ganz dem Bild, das ich mir von den Vogelmenschen gemacht hatte. Am Ufer erkannte ich einige größere Se gelboote, etwa zwölf bis fünfzehn Meter lang, marconigetakelt und offenbar klar zum Ablegen. Zwischen uns und dem Ufer hatten sich die Dorfbewohner versammelt, eine muntere Schar. Vor allem die Kleinen fanden ihre Freude daran, um uns herumzusegeln, An griffe vorzutäuschen und dicht vor unseren Köpfen abzudrehen. Der Extortirnser wimmerte leise, unterließ aber jede Bemerkung. »Führt eure Tiere an Bord«, sagte der An führer der Vogelwesen. »Ihr anderen packt eure Sachen. Wir brechen auf. Die Zukahar tos sind nahe, wenigstens ihre Vorhut.« Wir brauchten eine knappe Stunde, bis wir unsere Tarpane an Bord gebracht hatten. Die Tiere waren die Steppe gewohnt, und der Anblick des Stromes ängstigte sie. Am meisten fürchtete sich, wie nicht an ders zu erwarten, unser metallischer Freund.
42 Was der Extortirnser an Jammern, Heulen, Wehklagen und Schimpfen von sich gab, war abendfüllend. Er überschüttete uns mit seiner Klage, und im Lauf einer Stunde be nutzte er kein Klagewort öfter als einmal. Endlich hatten wir den Schaltbaum samt Sänfte auf dem Boot verstaut. Es wurde Zeit, das Weite zu suchen. Die Dee-Amie-Doffs hatten unterdessen alle Habseligkeiten zusammengepackt und sich auf dem Platz zwischen den Hütten ver sammelt. Ich verließ das Boot und ging auf den Häuptling zu. »Wollt ihr immer nur fliehen?« fragte ich ihn. »Niemals Widerstand leisten?« Ich war nicht fähig, die Bewegungen der Vogelwesen zu deuten. Der Häuptling be wegte leicht die Schwanzfedern. »Was rätst du uns, Fremdling?« Ich überlegte nicht lange. »Ihr könntet Feuer anzünden, Fackeln herstellen«, sagte ich. »Ihr könntet den Zu kahartos entgegenfliegen, die Savanne in Brand setzen und sie zurücktreiben. Ihr könnt ihnen damit drohen, aus der Luft einen Ring aus Feuer um sie herum zu entfa chen, der sie alle vernichten wird.« Wieder bewegte sich das Vogelwesen. Es war still geworden. »Wir haben längst getan, was du uns gera ten hast, Atlan. Wir haben sie zurückzudrän gen versucht, mit dem gleichen Ergebnis wie du. Wenn die Zukahartos jetzt kommen, werden sie zerstören, was wir in langer Ar beit aufgebaut haben. Verletzen oder töten können sie uns nicht, und wir können sie nicht töten.« »Sie werden immer wiederkommen«, sag te ich. »Gewiß«, wurde mir geantwortet. »Immer wieder weht der Wind über die Savanne, und immer wieder duckt sich der Halm unter seiner Gewalt. Was hätte der Halm davon, den Wind für immer abzustellen?« Ich lächelte. »Ihr habt mich überzeugt«, sagte ich. »Ich wünsche euch den Frieden, den ihr ver dient.«
Peter Terrid Die Vogelwesen brachten den Rest ihrer Habseligkeiten auf die Boote, dann stießen sie ab. Der größte Teil des gefiederten Vol kes stieg in die Lüfte auf und kreiste über der Flottille, die sich langsam in Bewegung setzte. Unser Plan stand fest. Wir wollten uns der Flucht der Vogelwesen nicht anschließen. Wir wollten nur übersetzen und auf der an deren Seite des Flusses unsere Spuren so verwischen, daß die Zukahartos uns nicht mehr fanden. Ich traute mir und meinen Freunden durchaus zu, unsere Spuren so gründlich verschwinden zu lassen, daß die Zukahartos glauben mußten, wir hätten uns in Luft aufgelöst. Nur: wir brauchten Zeit für dieses Manö ver. Ich war davon ausgegangen, daß wir ge nügend Zeit haben würden – aber offenbar hatten die Zukahartos sofort nach dem Ent decken unserer Flucht einen Verfolgungs trupp in Marsch gesetzt. »Wir müssen die Sänfte demontieren«, sagte ich, einer plötzlichen Eingebung fol gend. »Auf keinen Fall«, schrie der Extortirnser. »Niemals!« »Schweig, oder wir werfen dich ins Was ser«, herrschte ich ihn an. Das Jammern und Wehklagen der Maschine ging mir auf die Nerven. »Los, helft mir!« Wir machten uns an die Arbeit. Dabei wußten wir, daß in unserem Nacken gleich sam der Sekundenzeiger einer Zeitbombe tickte. Wir mußten unser Manöver abschlie ßen, bevor die Zukahartos uns auf dem Fluß sehen und erkennen konnten. Immer wieder zur Siedlung der Vogelwe sen hinüberspähend, holten wir den still lei denden Extortirnser aus seiner Sänfte, dann zerlegten wir die Aufbauten, unter denen die Positronik bislang verborgen gewesen war. Auf dem Deck des Schiffes bauten wir sie wieder auf. »Bringt uns ans Ufer«, baten wir die Vo gelwesen, und sie erfüllten uns den Wunsch. Noch immer war von den Zukahartos
Der Arkonide und der Yastor nichts zu sehen. Mit vereinten Kräften schafften wir unsere Tiere und den nun wie der jammernden Extortirnser ans andere Ufer. »Kehrt auf die Mitte des Flusses zurück«, bat ich die Vogelwesen. »Die Zukahartos sollen das Boot sehen können!« Auch dieser Wunsch wurde uns erfüllt. Es tat weh, diese Hilfsbereitschaft und Güte mitansehen zu müssen und zu wissen, wie erbarmungslos diese Wesen von den Zuka hartos unterdrückt wurden. »Wohin werdet ihr fliehen?« wollte ich wissen. »Nirgendwohin«, bekam ich zur Antwort. »Wir warten, bis die Zukahartos wieder fort sind, dann bauen wir unsere Siedlung neu auf.« Wieviel Geduld, Einsicht und Demut ge hörte dazu, ein solches Leben zu führen; wieviel Friedensliebe, die Machtmittel, über die sie zweifelsfrei geboten, nicht einzuset zen. Sie hätten ihre Gegner vernichten kön nen, aber sie taten es nicht, weil sie ein Zu kaharto-Leben höher bewerteten als ihre Siedlung. Ob der Dunkle Oheim für diese Geisteshaltung Verständnis aufgebracht hät te …? Das Boot trieb davon, auf die Mitte des Flusses zu. Wir führten unsere Tarpane weit genug vom Ufer fort, daß sie nicht gesehen werden konnten, dann schlichen wir uns ans Ufer zurück. Gespannt warteten wir auf die An kunft der Zukahartos. Wir brauchten nicht lange zu warten. Ein einzelner Reiter erschien am Rande des Gesichtsfelds, dann ein zweiter. Bald war eine ganze Abteilung beisammen, die nach kurzem Sammeln losgaloppierte, auf die Siedlung zu. Derweil tauchten am Hori zont weitere Scharen auf. Wir konnten sehen, wie sie die Siedlung erreichten. Sie hielten ihre Tarpane an, sa hen sich um. Einer entdeckte die langsam da-vontreibende Flotte der Segelboote und machte sich sofort daran, sie zu verfolgen. Er versuchte, sein Reittier in den Fluß zu
43 treiben, aber der Tarpan bäumte sich auf und verweigerte den Gehorsam. Ich sah, wie die Zukahartos wild gestiku lierten. Einige blieben in der Nähe des Ufers und starrten, offensichtlich wutentbrannt, den davonsegelnden Schiffen nach. Die an deren machten sich daran, die Siedlung zu plündern. Große Beute machten sie nicht, die Vogelwesen waren nicht nur friedlie bend, sondern auch arm. Wenig später ging die erste Hütte in Flammen auf. Ich preßte die Kiefer aufein ander. Immer größer wurde die Schar der Zuka hartos, immer mehr Hütten loderten auf. Dann erschien auf einem besonders reich ge schmückten Tarpan einer der Tausend schaftsführer. Er sah sich nur kurz um, dann gab er seine Befehle. Die Zukahartos ließen ihre Beute liegen. Sie rissen ihre Tarpane herum und jagten den Fluß entlang, hinter den Schiffen her. Ich lächelte zufrieden.
10. Er mußte sich festhalten, um nicht umzu fallen. Grizzards Gesicht war wachsbleich, seine Hände zitterten. Der Mann schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Ich sah dies mit steigender Besorgnis. Sinclair Marout Kennon bekam mit dem Körper, den er übernommen hatte, immer größere Schwierigkeiten. Seine Feinmotorik ließ deutlich zu wünschen übrig. Noch zeig ten sich diese Erscheinungen am Ende eines strapazenreichen Tages, aber es würde wahr scheinlich nicht viel Zeit vergehen müssen, bis er bereits am Morgen Händezittern be kam, Werkzeuge fallen ließ und sogar ab und zu einen Sprachfehler an den Tag legte. »Wir rasten!« bestimmte ich. »Das werden wir nicht tun«, widersprach man mir. »Wir müssen weiter, nach Tirn. Dieses Klima schadet meinen Innereien. Je der Tag, den wir hier verbringen, läßt mich hinfälliger werden. Und dieses Rumpeln und Schaukeln und Stoßen bekommt mir eben
44 falls nicht.« Unschwer zu erraten, der Extortirnser war es, der diesen Protest einlegte. Ständig be schwerte sich der Schaltbaum, unablässig keifte, jammerte, zankte er. Es war eine Tor tur für das Gemüt, diesen Ergüssen lauschen zu müssen. Leider hatte ich nicht herausfinden kön nen, wo der Extortirnser seine Sprechwerk zeuge hatte. Dazu hätten wir ihn anfassen müssen, und das verbot er uns strikt. Ich hat te es einmal, mehr zufällig als absichtlich, versucht, und das Geheul, das er angestimmt hatte, hatte die Tarpane verrückt spielen las sen und uns fast um den Verstand gebracht. »Wir rasten!« bestimmte ich energisch. »Und wenn du nicht ruhig bist, schütten wir kaltes Wasser über dich.« Der Extortirnser verstummte. Meine Dro hung hatte ihm die Sprache verschlagen. Ich war allerdings nicht so leichtgläubig anzu nehmen, daß dies von langer Dauer sein würde. »Ruhe dich aus«, schlug ich Grizzard vor. Er war tatsächlich nicht nur körperlich er schöpft; er litt auch unter immer schwerer werdenden psychischen Ausfallerscheinun gen. Das war nicht verwunderlich. Kennon hatte schon immer unter psychischen Er krankungen gelitten, und völlig stabilisiert worden war sein Geist nie. Ich konnte mir vorstellen, mit was für Ängsten dieser Mann nun leben mußte, zumal die heraufdämmernde Katastrophe bei weitem nicht der einzige Schicksalsschlag dieser Größenordnung war, den Sinclair Marout Kennon hinzunehmen gehabt hatte. Die niemals abreißende Kette von Katastrophen hätte auch stärkere Gemü ter zermürbt. Die depressive Struktur seines Charakters kam jetzt wieder voll zur Geltung. Wenn Grizzard meiner Aufforderung so fort Folge leistete, ja, nicht einmal mehr den Versuch machte, Stärke und Gewandtheit vorzutäuschen, dann war es schlimm um ihn bestellt. »Probleme?« fragte ich knapp, während ich das Holz zusammenschichtete, das Raza-
Peter Terrid mon gesammelt hatte. Er suchte jetzt nach Nahrung, während ich mich um das Feuer, Grizzard und den Extortirnser kümmerte. Grizzard sah mich an. In seinen Augen war kein Ausdruck zu erkennen. »Möglich«, sagte er nur. »Schmerzen?« »Weiß nicht …« Ich kannte solche Dialoge. Grizzard war im Augenblick nicht recht ansprechbar. Für Grizzard war alles gleichgültig ge worden. In ihm war, das konnte jeder sehen, nur noch eine große Leere, die zu füllen er außerstande war. Ob er lebte oder starb, was zählte das? Ich wußte, daß gegen diesen depressiven Schub nichts zu unternehmen war. Grizzard hätte in die Hände eines erfahrenen Psycho therapeuten gehört, aber der war nicht zu finden. »Wie weit haben wir bis Tirn noch zu rei ten?« fragte ich den Extortirnser. Irgend etwas machte ein Geräusch, das ich aber nicht eindeutig identifizieren konn te. Ich wiederholte meine Frage und bekam ein Wispern zur Antwort: »Darf ich reden?« »Ja, du darfst«, beantwortete ich die fast unhörbare Frage des Extortirnsers. Versuch te die Maschine mich auf den Arm zu neh men? Oder war sie tatsächlich derart sonder bar konstruiert worden? »Ich weiß es nicht«, sagte der Extortirn ser, nun wieder mit normaler Lautstärke. »Ich weiß aber, daß der Rauch und die Hitze dieses Brandes meinen Schaltungen ganz er heblich zusetzen wird. Macht das Feuer aus!« »Wir frieren sonst in der Nacht«, sagte ich. »Und bei mir verbiegen sich wegen der Hitze alle Gelenke«, erklärte die Positronik. »Ihr seid nur irgendwelche Lebewesen, aber ich bin der Extortirnser und darf erwarten, daß man Rücksicht auf mich nimmt.« »Pah«, sagte Razamon. »Du bist nichts weiter als ein fehlprogrammierter Computer,
Der Arkonide und der Yastor wie man ihn in dieser Preisklasse in Kauf häusern findet. Plustere dich nur nicht auf …« Das Geräusch, das der Schaltbaum mach te, erinnerte mich stark an ein Zähneknir schen. Razamon hatte seinem Selbstbewußt sein einen fürchterlichen Schlag versetzt. »Ist schon gut«, sagte Razamon plötzlich. »Ich entschuldige mich in aller Form.« Ich drehte mich herum, und sah, daß der Extortirnser den größten Teil seiner Anten nen und Auswüchse eingezogen hatte. Au ßerdem stand er offenbar mit dem Rücken zu uns und produzierte einen tiefen Baßton; das Heiligtum der Zukahartos schmollte. »Nimmst du die Entschuldigung an?« fragte ich den Extortirnser. »Ungern«, erklärte die Maschine. »Ihr seid barbarische Rohlinge. Ich werde euch mit Verachtung strafen.« Bei solcher Strafe konnte man zum Maso chisten werden. Es war eine Wohltat; zum ersten Mal seit geraumer Zeit speisten wir ohne betrunkene Zukahartos, ohne Schnee stürme, ohne einen weinerlichen Roboter. Das Mahl war kärglich, sättigte aber. Nach meiner Schätzung hatten wir minde stens einen Tag Vorsprung vor den Zukahar tos, und da wir unsere Spuren auf dem südli chen Ufer des Flusses gründlich verwischt hatten, durften wir sogar hoffen, den Zuka hartos endgültig entronnen zu sein – obwohl ich mir ab und zu insgeheim wünschte, sie möchten kommen und uns von dem Extor tirnser befreien, dessen Gesellschaft zur Pla ge geraten war. Grizzard streckte sich nach dem Essen aus und war nach ein paar Sekunden eingeschla fen. »Was machen wir mit ihm?« fragte Raza mon. »Du kannst ihm nicht helfen, ich kann ihm nicht helfen, der Extortirnser kann es ebensowenig …« »Wer hat das gesagt?« empörte sich die Maschine. »Ich weiß zwar nicht, was eurem Freund fehlt, aber in Tirn wird man ihm si cherlich helfen können. Tirn ist nämlich eine intakte Stadt, müßt ihr wissen.«
45 »Was heißt das, intakte Stadt?« »Was es heißt? Nun, was ich gesagt habe. Es ist eine intakte Stadt. Man wird euch si cherlich sehr dankbar sein, daß ihr mich zu meinen Leuten zurückbringt.« »Wie sieht eine intakte Stadt aus?« fragte ich den Extortirnser. »Ich weiß es nicht genau«, sagte die Ma schine mit einem traurigen Unterton. »Es ist viel Zeit seither vergangen, und diese Barba ren haben mich sehr schlecht behandelt. Meine Speicher sind nicht mehr die besten. Was wollt ihr wissen?« »Wie eine intakte Stadt aussieht?« fragte ich. »Worin besteht der Unterschied zu an deren Städten.« »Nun, Tirn ist intakt, und die anderen Städte sind es nicht, glaube ich jedenfalls.« Nichts liebte ich mehr, als Informationen mit solcher Präzision und Aussagekraft zu bekommen. Mit dem Extortirnser hatten wir uns einen sehr merkwürdigen Reisegefähr ten eingehandelt. »Könntet ihr das Feuer noch ein wenig schüren, oder mich näher an die Flammen heranrücken. Die Hitze beschleunigt so an genehm die Zirkulation der Hydraulikflüs sigkeit«, sagte der Computer zur allgemei nen Überraschung. »Welches Gebiet erreichen wir als näch stes?« fragte ich, nachdem ich mit Raza mons Hilfe den Extortirnser näher an das Feuer gerückt hatte. »Auf was für Wesen werden wir stoßen?« »Laßt mich nachdenken«, sagte der Extor tirnser. Auf seinem metallenen Körper warf das Feuer seltsam zuckende Schatten. Fast hätte man glauben mögen, der Schaltbaum habe ein Gesicht. »Da wären zunächst die Saddier«, erin nerte sich der Extortirnser. »Was sind das für Leute?« fragte Raza mon. Ab und zu warf er einen Blick auf Grizzard. Unser Freund schlief wie ein To ter. »Freundlich?« »Sehr!« betonte der Extortirnser. »Ganz reizende Wesen, liebenswürdig und um gänglich – glaube ich jedenfalls. Sie leben
46 auf Bergen und ernähren sich vom Abend tau.« Razamon und ich sahen uns an. Wir waren allerlei gewohnt, aber das …? Von Abendtau hatte ich noch nichts be merkt in diesem Land, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß es irgendeine le bende Spezies gab, die von kondensierter Luftfeuchtigkeit allein leben konnte. Zu al lem Überfluß aber gab es in Sichtweite nur ein einziges Gebirge, in dem die Saddiers hätten leben können, und das waren die Sirva-Gipfel, die hinter uns lagen. »Wie weit sind wir von den Saddiers ent fernt?« wollte ich wissen. »Nicht sehr weit«, sagte unser robotischer Freund. »Höchstens eine Tagesreise.« »Aber im Umkreis einer Tagesreise ist nicht ein einziger Berg zu sehen«, warf Raz amon entgeistert ein. »Nicht?« wunderte sich der Extortirnser. »Seltsam, wirklich seltsam. Sollten die Sad diers umgezogen sein? Oder handelte es sich um negative Berge?« »Was soll denn das sein, ein negativer Berg?« erkundigte ich mich. »Nun, ein Berg, der nicht in die Höhe geht, sondern in die Tiefe«, belehrte mich der Schaltbaum. »Es gibt auch negative Flüsse.« »Bei denen das Wasser bergauf fließt?« »Nein, nein. Das Wasser bleibt stehen, aber das Bett bewegt sich bergauf.« Razamon und ich starrten uns wieder an. Die Sache wurde immer rätselhafter. Auf was für einer Welt waren wir gelandet? »Kennst du noch andere Naturerscheinun gen dieser Art?« fragte ich. »Viele«, sagte der Extortirnser. »Es ist wirklich angenehm an diesem Ort. Ja, es gibt da noch die Sturzwolken …« »Was sind das für Gebilde? Fallen sie auf die Bewohner von Dorkh herab?« »Sie steigen in die Höhe, ganz rasch und plötzlich. Sie bilden sich ganz rasch, und plötzlich steigen sie auf und fallen zum Himmel. Dort schlagen sie sich als Abend tau nieder und davon ernähren sich Sad-
Peter Terrid dier.« »Faß mit an«, sagte ich zu Razamon. »Unser Freund verträgt keine Hitze. Er dreht durch.« »He!« rief der Extortirnser. »Was wollt ihr von mir? Laßt mich los, ihr Schurken! Ich will beim Feuer sitzen, nur noch ein paar Augenblicke, gar nicht lange. Bitte, bitte, nur noch ein paar Minuten am Feuer!« Wir packten zu und wuchteten den Extor tirnser vom Feuer weg, das er offenbar sehr schlecht vertrug – oder viel zu gut, das hing vom Betrachtungsabstand ab. Unser Freund aus Metall jedenfalls legte genau das Verhalten an den Tag, das man von einem Süchtigen erwarten durfte, dem man plötzlich seine Droge entzieht. Er jam merte und drohte, bat und schimpfte, er tat alles, uns dazu zu bewegen, ihn zum Feuer zurückzutragen. Wir achteten nicht auf sein Heulen und ließen ihn erst einmal ausküh len. »Was meinst du?« fragte Razamon, als wir an das Feuer zurückgekehrt waren. »Sollen wir das Blechding nicht besser hier lassen? Er hält uns nur auf, und was von sei nen Informationen zu halten ist, haben wir ja gerade gehört.« Ich wartete auf einen Kommentar des Lo giksektors, der sich auch prompt meldete. »Wir nehmen ihn mit«, entschied ich schließlich. »Der Extortirnser ist das hoch wertigste technische Gerät, das wir bisher auf Dorkh gesehen haben. Wenn wir ihn zu seinem Volk zurückbringen, kann uns das von Nutzen sein.« »Wer weiß, wie lange der Blechkerl schon bei den Zukahartos herumgestanden hat, bis wir ihn befreiten? Vielleicht Jahrtau sende. Bei diesem Ding weiß man nie, wor an man ist.« »Ich vermute, daß er seit Jahrhunderten im Besitz der Zukahartos ist, aber das ändert nichts daran, daß wir kaum eine andere Wahl haben, als ihn mitzunehmen. Er weiß zwar nicht viel, und es ist eine Menge Falsches darunter, aber er weiß wenigstens etwas, während wir gar keine Kenntnisse ha
Der Arkonide und der Yastor ben. Wir müssen nur aufpassen, daß er künf tig nicht mehr so stark erwärmt wird – das scheint ihn völlig zu berauschen.« »Vielleicht wird er in der Kälte der Nacht depressiv, und bei zuviel Helligkeit schizo id, und bei zu großer Luftfeuchtigkeit ent wickelt er Verfolgungswahn …« Wider Willen mußte ich lachen. Razamon mochte den Extortirnser nicht sehr. Das war verständlich, mir gefiel der Schaltbaum auch nicht sehr gut. »Eines möchte ich klarstellen«, sagte Raz amon plötzlich, ohne mich anzusehen. »Selbst wenn er nur noch röcheln kann – im Zweifelsfall werde ich stets zuerst Grizzard zu retten versuchen, sollte das notwendig werden.« Ich lächelte. »Ich würde nicht anders handeln«, sagte ich. »Leg dich hin und schlafe. Ich werde Wache halten.« »Glaubst du, daß das notwendig ist?« fragte Razamon, während er sich ausstreck te. Das Feuer knisterte sehr leise, und ir gendein harziger Ast darin entwickelte einen betäubenden Duft. »Nein«, sagte ich. »Wir sind hier völlig sicher. Die Zukahartos haben wir längst ab gehängt.« »Hoffentlich hast du recht«, murmelte Razamon. Er wickelte sich in seine Decke, und ein paar Augenblicke später war er ein geschlafen. Und irgendwo hinter mir stand der Extor tirnser im Freien und summte leise. Ihm schien dieses Leben zu gefallen, hatte es den Anschein. Ich war gespannt, mit was für Überraschungen Dorkh und der Extor tirnser noch aufwarten würden.
* Grutar-Nal-Kart, Yastor der Zukahartos, sah in die Höhe. »Vogelgesindel!« schimpfte er halblaut. Er ärgerte sich, daß nicht einmal der beste Bogenschütze der Zukahartos in der Lage war, einen der Gefiederten vom Himmel zu
47 holen. Sie kreisten über dem Heer der Zuka hartos, weit außerhalb der Reichweite der Bögen, und was den Yastor fast noch mehr ärgerte, war die Tatsache, daß die Vogelwe sen keinen Angriff starteten. Grutars Heer war kleiner geworden. Un gefähr zehntausend Mann hatte er eingebüßt. Diese Reiter waren damit beschäftigt, die Tarpane wieder einzufangen, die bei dem Steppenbrand ausgerissen waren, und sie würden mindestens ein paar Tage brauchen, bis die Herden wieder zusammengetrieben worden waren. Der Rest des Heeres war schändlich berit ten. Die meisten Männer hatten nur einen einzigen Tarpan zur Verfügung, nur einige wenige besaßen zwei Reittiere. Dadurch wurde der Vormarsch der Zuka hartos sehr behindert. Man mußte auf die Tarpane Rücksicht nehmen, sie brauchten häufiger eine Pause, mehr Futter und Was ser. Und an allem waren diese Schurken schuld, die mit dem Heiligtum der Zukahar tos verschwunden waren. Der Yastor knirschte mit den Zähnen, wenn er daran dachte. In Gedanken malte er sich aus, was er mit den drei Verbrechern anfangen würde, wenn er ihrer habhaft wurde. Man konnte sie beispielsweise in eine frisch abgezogene Tarpanhaut einnähen und in die Sonne legen. Es dauerte für gewöhn lich Stunden, bis sich das trockene Leder so weit zusammengezogen hatte, daß dem Ver urteilten endgültig die Luft ausging. Man konnte sie auch bis zum Hals in Tarpanmist eingraben, dann wurden sie im Lauf der nächsten Tage durch die Hitze getötet, die darin entstand. Dies und einige andere Möglichkeiten er schienen Grutar-Nal-Kart unangebracht. Er nahm sich vor, sich etwas wesentlich Besse res einfallen zu lassen – vor allem mußte das ganze Heer etwas von der Hinrichtung ha ben. Grutar wußte, daß sein Ruf schwer ange schlagen war.
48 Es hatte Yastors gegeben, die nach ihrem Amtsantritt nicht mehr aus den Tempeln der Zusammenkunft herausgekommen waren. Es hatte Yastors gegeben, die vom ersten bis zum letzten Tag ihrer Amtszeit berauscht gewesen waren. Es hatte Yastors gegeben, die wichtige, manchmal sogar entscheidende Schlachten durch Unfähigkeit verloren hat ten – aber noch kein Yastor hatte sich den kostbarsten Besitz der Zukahartos abnehmen lassen, noch dazu auf so schmähliche Weise und von drei hergelaufenen Halunken zwei felhafter Abstammung. Wenn es GrutarNal-Kart nicht gelang, den Extortirnser zu rückzuerobern und die Übeltäter angemes sen zu züchtigen, würde seine Regierungs zeit sehr schnell ein Ende finden. Wahr scheinlich würden die Zukahartos ihn hin richten; der Einmaligkeit des Verbrechens würde die Einmaligkeit dieser Hinrichtung angemessen sein. »Wie lange noch bis zur ersten Siedlung der Flatterer?« fragte der Yastor. »Eine knappe Stunde Weges!« sagte Hirundo. Er wirkte bedrückt. Kein Wunder, er würde das Schicksal des Yastors teilen müssen, so oder so. »Glaubst du, daß sie sich zu den Flußfischern geflüchtet haben?« »Die Spuren sind eindeutig«, sagte Grut ar. Ein Reiter erschien auf dem Hügelkamm voraus. Er sah das heranrückende Heer und verhielt. Ein Zeichen mit der Feldfahne ließ ihn antraben. Er ritt zu Grutar hinüber. »Wir haben sie!« verkündete der Reiter. »Wir haben die Verbrecher gefunden.« »Wo?« »Sie haben sich mit den Flußbewohnern zusammengetan und fliehen mit ihnen den Fluß entlang.« Grutar kniff die Augen zusammen. »Woher wollt ihr das wissen?« »Wir konnten sie sehen«, sagte der Bote. »Sie haben ein großes Boot genommen, und oben darauf steht die Sänfte des Heilig tums.« »Hm«, machte Grutar. Er traute dem Braten nicht.
Peter Terrid Wie es die Schurken geschafft hatten, mit einem Schlag den halben Jagdteppich anzu zünden, war ihm ein Rätsel. Wie sie es des weiteren bewerkstelligt hatten, den stets jammernden Extortirnser zu verschleppen, ohne daß dessen Geschrei das ganze Lager geweckt hätte, war das nächste Rätsel. Personen, die solche Kunststücke zuwe gebrachten, traute Grutar noch ganz andere Listen zu. »Wir werden uns die Sache ansehen«, be stimmte er. »Los, treibt die Tarpane an. Wir haben es eilig.« Einmal mehr wurden die Tiere vorange trieben. Grutar gönnte seinen Männern so wenig Schonung wie sich selbst. Er brauchte eine knappe halbe Stunde, bis er das Ufer des Dscharkin erreicht hatte. Da bei wiesen ihm die Rauchsäulen über den lichterloh brennenden Hütten den Weg. »Wo sind sie?« erkundigte sich Grutar, als er das Wasser des Flusses vor sich sah. Er spürte größte Lust, seinen müden, ver schwitzten Körper mit einem Bad im Fluß zu erfrischen, aber er wußte, daß er dazu keine Zeit hatte. Außerdem sahen seine Un tertanen, jedenfalls die meisten von ihnen, ein Bad als eine Art unsittlicher Handlung an. »Dort, flußabwärts«, wußte der Anführer des kleinen Trupps zu berichten, der vom Vorauskommando zurückgeblieben war. »Die Hauptstreitmacht des Generals ist dem Boot schon auf den Fersen.« Grutar rieb sich mit der flachen Hand durch das Gesicht, das von Müdigkeit und Erschöpfung gezeichnet war. »Wir rasten«, sagte er schließlich. »Und sucht eine Furt, wir setzen noch heute über den Strom.« »Willst du denn …« »Hirundo«, sagte Grutar müde. »Nie und nimmer ist dieser Verbrecher mit dem Ex tortirnser zusammen in einem Boot den Fluß hinuntergefahren. Er weiß, daß wir mit unse ren Tieren schneller sind als das schnellste Boot. Wir würden ihn finden.« »Aber die Sänfte!« sagte der Jüngere.
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»Man hat sie deutlich gesehen.« »Natürlich«, sagte Grutar. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem wassergefüllten Kür bis, den man ihm entgegenhielt. »Genau das war auch bezweckt. Oh, er ist listig, dieser Atlan, gerissen und hinterhältig. Er will, daß wir den Fluß entlangjagen und ihn an seinen Ufern suchen. Er wird sich verrechnen.« Er stieg vom Tarpan und ging langsam zum Fluß hinunter. Seine Männer ruhten sich entweder aus oder bereiteten den Über gang vor. Knapp fünfzehntausend Mann standen Grutar jetzt zur Verfügung, und das war eine Streitmacht, mit der sich etwas an fangen ließ. »Du willst tatsächlich übersetzen?« fragte Hirundo. »Zu den Saddiers?« »Warum nicht?« »Sie gelten als heimtückisch und ver schlagen«, sagte Hirundo, der sich in sol chen Dingen auskannte. »Vielleicht gehört Atlan zu diesen Sad diers«, sagte Grutar. Er legte sich in das saf tige Gras neben dem Wasser. »Wir wissen gar nicht, wie es auf der anderen Seite aus sieht, wenn man von den ersten Reitstunden absieht. Tief in das Land jenseits des Dscharkin ist noch kein Zukaharto vorge drungen. Heda, Kurier!« Der Reiter nahm Haltung an. »Nimm dir das beste Tier, das du finden kannst, und jage hinter dem Tropf von Füh rer her. Er soll seine Tausendschaften kehrt machen lassen. Sie sollen hier warten, bis der Rest des Heeres sich gesammelt hat, und dann auf unserer Spur folgen.« Der Kurier wiederholte den Befehl, ein schließlich des Wortes Tropf, was Grutar sichtlich amüsierte, dann machte er sich auf den Weg. »Du wagst viel«, sagte Hirundo. »Pah«, sagte Grutar. »Was soll's? Was werden unsere Leute mit mir – und auch dir, kleiner Bruder – machen, wenn der Extor tirnser verschwunden bleibt?« »Sie werden uns töten«, sagte Hirundo dumpf.
»Und was werden die Saddiers mit uns tun, schlimmstenfalls?« »Uns töten«, sagte Hirundo wieder. »Wo also ist das Risiko? Beide Wege können in den Tod führen. Der eine Weg ist sicher, der andere bietet viele Möglichkeiten und Überraschungen. Welchen Weg wirst du wählen?« Hirundo lächelte. »Angriff!« sagte er. »Über den Fluß hin weg. Welchen Weg wird Atlan nehmen?« Grutar brauchte nicht lange zu überlegen. Mit dieser Frage hatte er sich seit Stunden beschäftigt. »Er wird nach Süden reiten«, sagte der Yastor. »Und zwar ziemlich genau südwärts, auf das Gebiet der Saddiers zu. Nur dort kann er hoffen, Verbündete gegen uns zu finden.« »Er könnte sich in die Weite des jenseiti gen Jagdteppichs flüchten«, bemerkte Hirundo. »Er ist keiner von uns«, sagte Grutar selbstsicher. »Die Weite ist nicht seine Sa che. Außerdem, was will er mit dem Extor tirnser auf dem Jagdteppich? Nein, er wird nach Süden gehen wollen, zu den Saddiers. Und dort werden wir ihn finden.« »Und dann?« Grutar lächelte. »Wenn wir ihn haben, wird er sterben, langsam und qualvoll, und mit ihm seine Gefährten. Sie werden den Tag verfluchen, da sie geboren wurden.« Er stand langsam auf, sah über den Fluß hinweg. »Er ist dort drüben«, sagte er langsam. »Ich weiß es genau, und bei allen Göttern, wir werden ihn dort finden.« Er stieg die leichte Schräge des Ufers hin auf. Seine Reiter warteten. Er schwang sich in den Sattel, sah sich um. »Aufgesessen. Die Jagd beginnt!«
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Peter Terrid Weiter geht es in Band 148 von König von Atlantis mit:
Die Jäger von Dorkh
von Peter Terrid