Der falsche Engel Version: v1.0
Rote Stiefel, ein kurzes weißes Kleid, dunkelblondes Haar – genau so...
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Der falsche Engel Version: v1.0
Rote Stiefel, ein kurzes weißes Kleid, dunkelblondes Haar – genau so sah die Frau aus, mit der ich mich treffen wollte. Ich sah sie durch die Scheiben des Wagens, als die U‐Bahn in der Station angehalten hatte. Gern hätte ich etwas über den genauen Grund des Treffens erfahren, doch den hatte sie mir nicht genannt. Am Telefon hatte sie nicht sprechen wollen. So war zwi‐ schen uns abgemacht worden, dass sie zu einer be‐ stimmten Zeit an einer bestimmten Haltestelle in die U‐ Bahn stieg. Den genauen Grund wusste ich nicht. Ich kannte nur ihren Namen. Die Frau hieß Lorna Peel. Das war sie also. Und als sie mir gegenüberstand, sah ich, dass sie Angst hatte. Todesangst.
Vor dem Treffen hatte ich versucht, etwas über sie herauszufinden. Aber selbst die Spezialisten beim Yard hatten nichts Verdächtiges oder Auffälliges finden können, und genau das hatte meine Spannung noch erhöht. Ich glaube, es gibt keine U‐Bahn‐Station auf der Welt, wo kein Gedränge herrscht. Zu bestimmten Zeiten war es besonders schlimm, und das erlebte ich auch hier. Der späte Nachmittag oder frühe Abend brachte den Berufsverkehr, und der hatte es mal wieder in sich. Da drängten die Menschen aus den Wagen, andere wollten hinein, und es war auch für Lorna Peel nicht leicht, in einen bestimmten Wagen zu steigen. Ich war früher eingestiegen und hatte mich an unsere Absprache gehalten. So stand ich im zweiten Wagen hinter der Zugmaschine. Durch das Fenster schaute ich zu und sah, dass das große Schieben allmählich nachließ. Aber erst zwei Haltestellen weiter standen wir uns in dem Gedränge gegenüber. Lorna wusste, wie ich aussah, und sie hatte sich sehr gut beschrieben. Ich lächelte ihr zu. Sie gab das Lächeln zurück. Etwas scheu, sogar leicht verlegen. Die Augen konnte sie dabei nicht ruhig halten. Sie bewegte die Pu‐ pillen von einer Seite zur anderen wie jemand, der nach bestimm‐ ten Feinden sucht, sie aber noch nicht gefunden hat. »Zufrieden?«, fragte ich. »Ja. Bis jetzt …« »Super.« Sie sagte nichts. Ich beobachtete die junge Frau. Sie musste zwi‐ schen 25 und 30 sein. Ihr Haar war halblang. Sie trug ein helles Kleid, dessen Rock leicht ausgestellt war und über den Knien ende‐ te. Die roten Stiefel reichten mit ihren Schäften fast bis zu den Kni‐ en, und ihr gesamtes Outfit wirkte auf mich ein wenig halbseiden. Es konnte durchaus sein, dass Lorna Peel nicht eben einem sehr bürgerlichen Beruf nachging. Für mich war das noch kein Grund, sie zu verdammen. Sie war eine Frau, die Probleme hatte, das sah ich ihrem gesamten Gehabe an und auch dem Ausdruck ihrer Augen.
Es gab um uns herum zu viele Zuhörer. So hatte es wenig Sinn, mit ihr über die Probleme zu sprechen, die sie quälten. Wenn wir die Bahn verlassen hatten, würde die Zeit noch kommen. Deshalb stellte ich auch keine Fragen. Obwohl ich mich jetzt in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt, blieb der unstete Ausdruck in ihren Augen. Hin und wieder leckte sie mit der Zungenspitze über die spröden Lippen. Auch der leichte Schweißfilm auf dem Gesicht war nicht zu übersehen. »Wann müssen wir raus?« »An der übernächsten.« »Gut.« Ich rechnete kurz nach. Es war eine Station, die noch im Bereich des Hafens lag. Südlich des Flusses. Die Haltestelle Tower Bridge hatten wir passiert. Zumindest war es keine Gegend, in die der Londoner seine Gäste führt. Lorna sprach nicht mehr. Nur ihre ängstlichen Blicke blieben weiterhin bestehen. Mit ihnen suchte sie den Wagen ab, und auch ich wurde davon angesteckt und schaute mich um. Ich sah nichts Verdächtiges. Wenn es tatsächlich eine Gefahr gab, dann hielt sie sich gut versteckt oder hatte sich einen Tarnmantel übergestreift. Das Rumpeln der Wagenschlange war zu hören und auch zu spü‐ ren. Die Menschen schaukelten hin und her. Sie wurden durch einen düsteren Tunnel transportiert, als hätten sie eine Reise zum Mittelpunkt der Erde gebucht, um dort nach versunkenen Kulturen zu suchen. Nur hin und wieder huschten Lichtschleier vorbei. Kaum waren sie zu sehen, verschwanden sie schon wieder, bis es plötzlich hell wurde und ich mitbekam, wie Lorna aufatmete. Wir rollten in die Station. Wieder das gleiche Spiel. Die Menschen außen vor den Wagen. Das recht scharfe Abbremsen. Aus den Schemen wurden Gesichter, dann kam die Schlange zum Stehen. Die Türen öffneten sich mit einem Zischen. Etwas frischere Luft strömte in die Wagen. Menschen stiegen aus. Andere warteten, um einsteigen zu können. Lorna hatte sich von mir weggedreht, um auf
eine Tür zuzugehen. Ich erwischte ihre Hand, merkte ihr leichtes Zusammenzucken, doch sie ließ es geschehen, dass ich die Hand weiterhin fest hielt. Ich merkte nur, dass sie schweißfeucht war. Es lag nicht am Wetter, denn in London war es nach einer kurzen sonnigen Periode wieder kühl geworden. So gehörte es sich eigent‐ lich für den Monat April, der für seine Unbeständigkeit bekannt ist. Fast wäre Lorna beim Verlassen des Wagens noch ausgerutscht. Sie fing sich wieder und drehte mir ihr Gesicht zu. Es war blass. Es war schmal. Die Nase stach etwas spitz hervor. Blasse Lippen, die unruhigen Augen. Wenn ich ihr Gesicht mit dem Outfit verglich, dann passte meiner Ansicht nach beides nicht zu‐ sammen. Bei diesen Stiefeln und dem kurzen Rock hätte man sie wirklich für eine andere Person halten können. Möglicherweise war sie das auch. Wie auch immer, jetzt hatte sie Angst. Wir waren beide dem Pulk der Menschen ausgewichen und blieben nun stehen, und zwar so, dass wir uns gegenseitig ins Gesicht schauten. Lorna war etwas verlegen. Die blassen Wangen hatten eine gewisse Röte bekommen. Sie sah aus wie jemand, der nicht weiß, was er sagen soll. Als ich in ihre Augen schaute, stellte ich fest, dass sie ziemlich blass waren. Beinahe gläsern, mit einem leichten Grünstich. »Ich denke, Sie können jetzt aufatmen, Lorna, wir haben es ge‐ schafft.« Dem wollte sie nicht zustimmen. »Da bin ich mir nicht sicher. Aber es ist gut, dass wir uns gefunden haben.« »Okay, angenommen. Sie wissen, wer ich bin. Polizist, und ich möchte Sie fragen, warum wir uns getroffen haben. Ich meine, Sie müssen von mir gehört haben. Sie werden wissen, womit ich mich beschäftige, und sicherlich haben Sie auch einen triftigen Grund.« Bevor sie sprach, zuckten ihre Mundwinkel. »Ja, den habe ich.« »Das dachte ich mir«, erklärte ich locker, auch, um ihr etwas die Spannung zu nehmen. »Wie sieht Ihr Grund aus?« »Ich habe Angst.« »Tja«, murmelte ich, »die haben leider viele Menschen in der heutigen Zeit.«
»Bei mir ist es eine spezielle. Deshalb habe ich Sie auch gebeten, mich zu treffen.« »Okay. Jetzt bin ich hier. Sagen Sie es deutlicher. Ich muss mich darauf einstellen können.« Lorna Peel nickte yor sich hin. Dann murmelte sie mit kaum hör‐ barer Stimme: »Ich habe große Angst davor, dass man mich tötet, Mr. Sinclair …«
* So überrascht wie es ein nicht Eingeweihter sicherlich gewesen wäre, war ich nicht. Ich fiel nicht aus allen Wolken, ich bedauerte sie nicht, und ich erklärte auch nicht, dass sie jetzt keine Angst mehr zu haben brauchte. Ich nickte ihr nur zu und übernahm dann das Wort. »Sind Sie sicher, Lorna, dass man Sie töten will?« Die Frau schaute sich um, als wäre sie davon überzeugt, dass ihre Feinde in der Nähe lauerten. »Ja, das bin ich.« »Und warum?« Sie schien auf diese Frage gewartet zu haben, denn sie hob schnell die Schultern. »Wollen Sie es mir nicht sagen?« »Nicht sofort, Mr. Sinclair.« »Bitte, nennen Sie mich einfach John. Lassen Sie das Mister weg. Es klingt zu förmlich.« »Danke.« »Und nun?« Lorna schüttelte den Kopf. »Bitte, John, nicht hier. Ich fühle mich unwohl. Das ist nicht meine Welt, wenn Sie verstehen. Ich … ich … möchte am liebsten weg.« »Kann ich verstehen. Und wohin?« »Nach oben.« »Gibt es einen besonderen Ort dort, an dem wir uns in Ruhe un‐ terhalten können?«
»Ja, ich denke schon.« »Dann kennen Sie sich hier aus?« »Ich bin hier aufgewachsen.« »Okay, gehen wir.« Auch mir gefiel es in der Station nicht. Das hing vor allem mit der Luft zusammen, die mir irgendwie feucht und stickig vorkam. Die Decke, die alten Wände, die verschmutzten Reklametafeln, all das sorgte auch bei mir für ein etwas bedrückendes Gefühl. Trotz meiner Nähe wich der unstete Ausdruck in den Augen der Frau nicht. Sie war nervös. Die Angst saß bei ihr einfach zu tief, um sie mit ein paar Sätzen vertreiben zu können. Ich war wirklich ge‐ spannt darauf, was sie mir zu sagen hatte. Über eine Treppe gingen wir nach oben und waren beide froh, bessere Luft einatmen zu können. Die Umgebung war recht belebt, aber sie gehörte wirklich nicht zu denen, die man vorzeigt. Hier lebten die Bewohner, denen es normal ging. Und normal bedeutet nichts besonderes in einer riesigen Stadt, in der die Preise explo‐ diert waren. Auch jetzt schaute sich Lorna vorsichtig um. Sie hatte mir zwar den Grund genannt, der allerdings war mir zu wenig gewesen, und deshalb nahm ich dieses Thema wieder auf. »Bitte, Lorna, Sie müssen mir doch sagen können, vor wem Sie sich fürchten. Es wäre besser, wenn Sie mir eine Beschreibung ge‐ ben. Damit wäre mir schon geholfen.« »Das kann sein.« »Und?« Sie blieb stehen. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, John. Ich weiß es nicht. Es gibt die Gefahr. Sie ist nicht normal. Sie ist unheimlich, und sie hat mit mir zu tun.« »Warum?« »Weil ich so etwas wie eine Verräterin bin.« Für die nächste Frage ließ ich mir Zeit. Ich wartete ab, ob sie noch etwas hinzufügte, was nicht eintrat. Wir standen inmitten dieser lebhaften Gegend auf dem Gehsteig und fühlten uns wie zwei Men‐ schen, die eine Insel erreicht hatten.
»Wen haben Sie verraten?« Lorna wollte mich bei ihrer Antwort nicht ansehen. Sie schaute auf eine graue Hauswand, in der selbst die Fensterscheiben grau wirkten und auch die Gesichter der Menschen, die dahinter zu se‐ hen waren, denn die beiden Fenster gehörten zu einem Friseurladen. »Meine Familie. Meine Beschützer.« »Aha. Vater, Mutter und …« »Nein, nein. Mit denen habe ich keinen Kontakt mehr. Meine Fa‐ milie ist eine andere.« »Und welche?« Sie schüttelte schnell den Kopf. »Nicht hier, John, bitte nicht hier. Lassen Sie uns woanders hingehen.« »Damit habe ich keine Probleme. Wohin?« Plötzlich sah ich sie lächeln. »Ob Sie es glauben oder nicht, es gibt hier eine kleine Gartenanlage. Da haben die Leute ihre Parzellen. Nahe der Bahn.« »Wollen Sie dorthin?« »Gern.« »Warum?« »Weil ich mich da sicherer fühle. Und Sie werden doch sicherlich bei mir bleiben – oder?« »Das denke ich schon. Schließlich haben wir uns nicht grundlos getroffen.« »Ich freue mich auch darüber.« Von Lorna Peel ließ ich mich führen. Ihre Worte hatten mich sehr wachsam gemacht, und so schaute ich mich heimlich sehr genau um, als wir gingen. Mir fiel nichts Verdächtiges auf, aber ich steckte auch nicht in Lorna Peels Lage. »Darf ich mal fragen, wie Sie überhaupt auf mich gekommen sind?« »Ja, ich habe was in der Zeitung über Sie gelesen, John. Das ist et‐ was länger her, doch ich habe es nicht vergessen. Und jetzt habe ich mich wieder daran erinnert.« Ich lächelte. Das klang glaubhaft. Hin und wieder konnte ich es
nicht vermeiden, dass mein Name in der Zeitung stand. Besonders bei Fällen, die spektakulär waren. »Reicht das?«, fragte sie. »Für den Augenblick schon.« »Dann wollen wir jetzt gehen.« »Zu diesem Garten?« »Es bleibt dabei.« Ich schaute auf ihre roten Stiefel. Trotz der hohen Absätze konnte sie darin gut laufen. »Und in dieser kleinen Gartenanlage fühlen Sie sich sicher?« »Es ist besser als hier.« »Warum? Ich kenne sie zwar nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass sie unübersichtlicher ist.« »Als Kind war ich oft dort.« »Mit Ihren Eltern?« »Nein, mit meinen Großeltern. Bei ihnen bin ich aufgewachsen. Meine Eltern haben sich getrennt. Das waren noch welche aus der Hippie‐Generation. Wenn Sie mich direkt fragen, würde ich sie als bindungsunfähig bezeichnen. Es war schon besser, dass sie sich ge‐ trennt haben.« »Leben Ihre Großeltern denn noch?« »Nein, leider nicht mehr«, sagte sie traurig. »Ich habe mich allein durchgeschlagen.« Ich sah ihr an, dass sie sich nicht weiter über ihre Vergangenheit auslassen wollte, und stellte deshalb keine Fragen. Nachdem wir etwa hundert Meter gegangen waren, lenkte Lorna Peel ihre Schritte in eine schmale Gasse hinein. Ihr Ende war gut zu sehen, denn dort war eine Brücke, über die soeben ein Zug rollte. Vor der Brücke senkte sich die schmale Stra‐ ße etwas, und Lorna sagte: »Dahinter sind wir am Ziel.« »Bei den Gärten?« »Ja.« Die schmale Straße wurde nur recht wenig befahren. Trotz des trüben Wetters spielten Kinder im Freien. Zumeist hielten sie sich auf den Gehsteigen auf. Fenster standen weit offen. Stimmen waren
ebenso zu hören wie Musik oder die Geräusche aus den laufenden Fernsehern. Sie schluckten auch die Geräusche der Schritte, die von den Ab‐ sätzen der Stiefel hinterlassen wurden. Lorna sagte jetzt nichts mehr. Sie hielt den Kopf gesenkt und beobachtete ihre Schuhe. Mir fiel erst jetzt auf, dass sie keine Handtasche bei sich trug, und als wir unter der Brücke hergingen, blieb sie plötzlich stehen. Ihren Rücken drehte sie der Wand zu, schaute mich direkt an und fragte: »Kennen Sie das Lauern im Dunkeln, John?« Ich war wegen der Frage leicht verunsichert und sagte deshalb: »Nicht wirklich.« »Aber ich.« Sie zog die Schultern hoch wie jemand, der friert. Meiner Ansicht nach war sie auch zu dünn angezogen. Als hätte sie fliehen müssen und einige Teile vergessen. »Aber ich kenne es.« »Erzählen Sie?« Lorna bewegte ihren Kopf. »Es ist nicht einfach, John. Man muss es spüren. Es ist der Verfolger. Das Lauern im Dunkeln. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.« Es war ein Rätsel, über das ich nachdenken sollte. Ich schob es zunächst mal vor mir her, denn meine Gedanken drehten sich um einen anderen Punkt. War es möglich, dass sich eine Macht Lorna ausgesucht hatte, um mir eine Falle zu stellen? Dass ein Gegner auf meine Hilfsbereitschaft spekulierte und diese nun ausnutzte, um mich ins offene Messer laufen zu lassen? Daran hatte ich zwar vor unserem Treffen kurz gedacht, nun aber drängte sich der Gedanke nahezu auf. Nur traute ich mich nicht, Lorna danach zu fragen, weil ich sie nicht verunsichern wollte. »Lassen Sie uns gehen!« Der Satz wurde von einem rauschenden und ratternden Ge‐ räusch verschluckt, als über unseren Köpfen ein Zug über die Brücke donnerte und für einige Vibrationen sorgte. Lorna ging jetzt sehr schnell, als könnte sie es nicht erwarten, früh genug ans Ziel zu gelangen. Sie ging erst langsamer, als sie die Brücke hinter sich gelassen hatte.
Als ich sie einholte, schaute sie kurz zurück. »Ich … ich … habe immer Angst, dass die Brücke zusammenbricht, wenn ich darunter herlaufe, ehrlich, John.« »Sie hat so lange gehalten, dass sie auch weiterhin halten wird.« »Meinen Sie?« »Bestimmt.« Sie schüttelte sich. Ich hatte sie nicht beruhigen können und sprach auch nicht weiter auf sie ein, denn die neue Umgebung war für mich interessanter geworden. Die Straße gab es noch. Sie durchschnitt nur nicht mehr die beiden Häuserzeilen. Rechts lag ein Brachgelände, das wohl zur Bahn gehörte. Links von uns breiteten sich die Gärten aus, die auch nicht unbedingt so freilagen, weil sie teilweise von alten Mauerres‐ ten verdeckt wurden. Für einen Schrebergarten war das Gelände nicht eben ideal. Auf der anderen Seite sucht sich jeder Mensch einen kleinen Flecken Grün, auf dem er sein Glück finden und verteidigen kann. Mir ging ein bestimmter Satz nicht aus dem Kopf. Lorna Peel hatte vom »Lauern im Dunkeln« gesprochen. Bis es dunkel wurde, hatten wir noch einige Stunden Zeit, sodass die Gefahr eigentlich jetzt nicht bestand. Allerdings konnte sie mit dem Begriff Dunkel auch etwas im übertragenen Sinne gemeint haben. Es war vieles möglich. Für mich blieb sie nach wie vor eine rätsel‐ hafte Person. Das Gelände der im Schatten der Bahnlinie liegenden Schrebergärten war durch einen Maschendrahtzaun gesichert. Für mich war er nicht mehr als ein Provisorium. Jeder Eindringling hät‐ te ihn mit spielerischer Leichtigkeit überklettern können. Auch die alten Mauern waren kein Hindernis. Zudem wurde das Gelände an einer Seite durch die Böschung des Bahndamms begrenzt. Darauf wuchs Gras, und auch hüfthohe Sträucher hatten sich dort ausbrei‐ ten können. Lorna hatte es jetzt eilig. Sie ging so schnell, dass ich zurückge‐ blieben war. Erst als sie stehen blieb, holte ich sie wieder ein. Sie stand vor einem Tor aus Draht mit Verstärkungen aus Metall an
den Seiten. Abgeschlossen war es nicht. Sie schob es auf und betrat das Gelände, das auf den ersten Blick recht übersichtlich, allerdings auch menschenleer war. Es wunderte mich etwas. Bisher war ich davon ausgegangen, dass der Frühling die Menschen in die Gärten trieb. Das war hier jedoch nicht der Fall. »Kommen Sie, John.« »Okay, wie Sie wollen.« Bisher war ich nur hinter ihr hergegangen und wusste verdammt wenig über ihre Beweggründe. Das sollte sich ändern. Jedenfalls nahm ich es mir fest vor. Ich kannte ähnliche Gartenanlagen. Keine war wie diese. Sie wirkte ungepflegt. Die Beete mochten im Winter kahl gewesen sein. Jetzt waren sie bereits vom Gras und anderen Pflanzen überwu‐ chert. Löwenzahn schimmerte in einem hellen Gelb. Wilde Tulpen ließen ihre Kelche in verschiedenen Farben blühen. Es war alles ir‐ gendwie zu feldmäßig. Nichts wirkte kultiviert. Das galt auch für die kleinen Lauben und Hütten. Auch sie machten einen verlassenen Eindruck, und so kam mir in den Sinn, dass diese Anlage bald nicht mehr gebraucht wurde. Ich fragte Lorna Peel danach. »Ja«, sagte sie und blieb stehen. »Sie haben Recht, John. Diese Anlage ist verlassen.« »Warum?« Sie zuckte mit den Schultern. »Den genauen Grund kenne ich auch nicht. Angeblich hat die Bahn das Gelände aufgekauft. Sie will weiter ausbauen. Damit wollen sie im Sommer anfangen. Da haben auch die Proteste nichts genutzt, die Bahn war stärker.« »Das ist auch für Sie schlecht, nicht wahr?« Lorna zuckte nur mit den Schultern und ging vor. Sie nahm den breitesten Weg, der ebenfalls ungepflegt wirkte. Zu den einzelnen Gärten hin führten schmale Pfade. Die durchsichtigen Zäune hin‐ gen oft schief oder waren zusammengedrückt worden. Auch die Lauben sahen aus, als hätten ihre Besitzer sie lange nicht mehr be‐ treten. Wenn Leute da waren, dann Fremde. Stadtstreicher, die bei kaltem Wetter ein Dach über dem Kopf haben wollten. Und trotz‐
dem ließ sich die Natur nicht zurückhalten. Ich sah noch die Blüten der letzten Magnolienbäume, und auch die Zweige der Kirschbäu‐ me zeigten bereits eine Blütenpracht. Apfelblüten schimmerten in einem hellen Weiß. Wo der Wind sie bereits abgeweht hatte, lagen sie auf dem Boden wie Schnee. War ich hier richtig? Immer mehr stellte ich mir die Frage. Nur traute ich mich nicht, sie an Lorna Peel weiterzugeben. Auch wenn ich mir leicht an der Nase herumgeführt vorkam, wollte ich wissen, wo alles endete. Bei einer Laube. Sie bog in einen schmalen Weg ein, der praktisch am Ende des Grundstücks und schon dicht am schrägen Bahndamm sein Ende fand. »Gleich sind wir da, John.« »Zum Glück.« Ich hörte sie leise lachen. Dann drehte sich Lorna nach rechts. Dort lag eine kleine Parzelle, auf der ein ebenfalls kleines Haus stand. Eine Bretterbude, nicht viel mehr, aber sie sah noch recht ge‐ pflegt aus. Vor einer schmalen Holztür blieb Lorna stehen. Sie dreh‐ te sich um und schaute mir entgegen. Ich legte die letzten Schritte über Betonplatten zurück, die eine grünliche Patina bekommen hatten. »Hier war ich oft«, sagte sie. »Bei den Großeltern?« »Ja.« »Sieht aus wie ein Versteck.« Ihr leichtes Zusammenzucken bewies mir, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. »Das ist für mich auch eines gewesen. Immer wenn ich hier war, konnte ich der normalen Welt entfliehen.« Sie lächelte verloren. »Der Garten hier hat mir Trost gegeben. Er war immer mein Fluchtpunkt vor dem Lauern im Dunkeln.« Da war der Begriff schon wieder gefallen, und ich fragte mich, was er zu bedeuten hatte. Lorna sah mir wohl an, dass ich mir dar‐ über Gedanken machte und vertröstete mich auf später. »Aber was sollen wir in der Laube?«, fragte ich sie.
»Das werden Sie sehen.« Die letzten Worte hatte sie sehr ernst gesprochen, damit ich mich auf gewisse Dinge einrichten konnte, wobei ich nicht überlegte, was wir in der Laube entdeckten. Ich hatte einen Zustand erreicht, an dem ich mich überraschen lassen wollte. Eigentlich rechnete ich damit, dass die Tür verschlossen war. Ich irrte mich. Sie sah so aus wie abgeschlossen, aber Lorna Peel kannte den Trick. Sie drückte zwei Mal gegen verschiedene Stellen der Tür. Dann hörte ich ein Kratzen, als sie über den Boden schabte, und beim dritten Schulterstoß war sie offen. Beim Näherkommen vorhin hatte ich die kleinen Fenster in der Laubenwand gesehen. Jetzt stellte ich fest, dass ich mich nicht geirrt hatte. Sie waren tatsächlich klein. Es drang nicht besonders viel Licht in das Innere, sodass der Raum irgendwie schummrig wirkte. Möbel gab es nur wenige. Und wenn, dann verteilten sie sich an den Wänden. Die Mitte war frei. Nein, doch nicht so ganz! Zuerst wollte ich es nicht glauben. Ein scharfer Atemzug verließ meinen Mund. Ich ging schnell näher und schob Lorna zur Seite. Bisher hatte ich geglaubt, an der Nase herumgeführt zu werden. Das stimmte ab jetzt nicht mehr. Vor mir auf dem Boden lag gekrümmt, die Beine angezogen und den rechten Arm vorgestreckt, eine tote Frau. Zwischen Brust und Bauch hatte sich eine Blutlache ausgebreitet, die bereits zu einer Nahrungsinsel für Fliegen geworden war. Der Anblick war schlimm genug. Es gab noch einen zweiten Teil, und der traf mich ebenso hart. Die tote Frau sah aus wie Lorna Peel!
* »Musst du da wirklich hin?«, hatte Sheila Conolly ihren Mann Bill gefragt und ihn dabei fast strafend angeschaut.
»Ich muss nicht.« »Dann bleib zu Hause.« »Aber ich will.« Sheila hatte resignierend abgewinkt und trotzdem noch eine Frage gestellt: »Warum willst du denn dahin?« »Weil Lucio ein Phänomen sein soll.« »Ach. Und das glaubst du?« »Im Moment noch. Aber ich will es herausfinden und werde dann einen Bericht über ihn schreiben.« »Okay, dann warte ich mit dem Essen nicht auf dich. Schade. Ich habe von einer Freundin zwei wunderbare Flaschen Rotwein be‐ kommen. Ein perfekter Merlot aus Südafrika.« »Toll. Den können wir später trinken.« »Wann willst du denn zurückkommen?« Bill hauchte seiner Frau einen Kuss auf die Lippen. »So früh wie möglich.« Als Sheila die Augen verdrehte, wusste Bill, dass sie ihm nicht glaubte. Er konnte selbst nicht sagen, wann die Sitzung ihr Ende fand. Jedenfalls sollte es eine Demonstration sein. Lucio war ein Medium, dass in bestimmten Kreisen eine gewissen Bekanntheits‐ grad erhalten hatte. Angeblich sollte er eine Anhängerschaft haben, die bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft reichte, und Bill Co‐ nolly war darauf gespannt, wen er bei der Sitzung treffen würde. Nachdem er sich von Sheila verabschiedet hatte, war er in Rich‐ tung Wimbledon gefahren. Dort musste er zu einer kleinen Villa, die als Treffpunkt diente. Sie gehörte sicherlich jemandem, aber ob sich der Besitzer unter den Gästen befand, war fraglich. Wahr‐ scheinlich hatte man sie gemietet. Davon gab es zahlreiche Häuser in London und Umgebung. Man war dort ungestört und blieb unter sich. Bill fand sein Ziel recht schnell. Er musste nur eine längere Zu‐ fahrt in Kauf nehmen und sich anhand der Lichter orientieren, die durch das fahle Grau der Dämmerung schimmerten. Das Knirschen des Kieses unter den Reifen verstummte, als Bill den Porsche anhielt.
Er war nicht der einzige Gast. Vor dem Haus, zu dem eine halb‐ runde Treppe hochführte, standen noch mehr Fahrzeuge, unter anderem ein Rolls und zwei Austin Martin. Als er ausstieg, sah er die beiden Schatten, die seinen Porsche schon eingekreist hatten. Sie waren lautlos wie Dschungelkämpfer herangeschlichen, und Bill stellte sich schon innerlich auf eine Aus‐ einandersetzung ein, als er die höfliche Stimme an seiner rechten Seite hörte. »Ihre Legitimation, Sir.« Bill griff in die Tasche seiner braunen Cordjacke, zu der er ein helles Hemd trug, und zog eine kleine Plakette hervor, die im Dun‐ keln grünlich leuchtete. Es war seine Eintrittskarte, die akzeptiert wurde. Der Weg zum Haus war für den Reporter Bill Conolly frei. Die Stufen der Treppe hatte er bald hinter sich gelassen. Aber die Tür war geschlossen. Sie kam ihm wie der breite Teil der Mauer vor, die sich rechts und links des Eingangs ausbreitete. »Nur klopfen!«, rief man ihm vom unteren Ende der Treppe zu. »Danke.« Zwei Lampen schufen etwas Licht. Sie würden heller leuchten, wenn es dunkel geworden war. Bill klopfte nicht mit der Faust gegen das Holz. Er verließ sich auf den altmodischen Klopfer und lauschte den Echos, die sich anhörten wie die eines Gongs. Die Tür wurde aufgezogen. Ein dünner Mann im schwarzen Anzug stand vor ihm. Sein langes Pferdegesicht mit den hochgezo‐ genen Augenbrauen ließ ihn aussehen wie einen überheblichen Butler. Er schaute Bill an. Runzelte dabei die Stirn und war wohl über sein Outfit nicht besonders erfreut, denn Bill hatte sich recht sport‐ lich gekleidet, weil er zur Cordjacke eine Jeans trug. »Ich habe die Probe bestanden, Meister.« »Ich weiß. Kommen Sie rein.« Beinahe widerwillig öffnete der Typ die Tür und ließ Bill in eine Halle gehen, die nicht zu groß und auch nicht zu klein war. Von
den Ausmaßen gerade richtig. So traten sich die versammelten Gäs‐ te nicht gegenseitig auf die Füße. Platz für die Bedienung war auch noch. Ein junges Mädchen trug ein Tablett mit gefüllten Sekt‐ oder Orangensaftgläsern vor sich her. Die Gäste konnten sich nicht nur dort bedienen. Wer Hunger hatte, der nahm sich ein paar Finger‐ foods vom kalten Büffet, das sich auf zwei Tischen verteilte. Licht spendete ein Kronleuchter. Er hing wie eine gläserne Schaukel von der Decke herab. Bill wusste, dass es einen Gastgeber gab. Er hieß Phil Griffin und war Medienunternehmer, was immer man sich darunter vorzu‐ stellen hatte. Bill kannte ihn relativ gut. Von ihm hatte er die Ein‐ ladung bekommen, um die Augen offen zu halten. Griffin wollte erfahren, ob das Medium wirklich echt war. Damit war Bill Conolly für ihn genau der richtige Mann. Bill hob ein Glas mit Saft vom Tablett ab. Die Fingerfoods ließ er links liegen. Langsam näherte er sich Griffin, der sich mit zwei Frauen unterhielt, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatten. Das war zu sehen, obwohl sie sich aufgedonnert hatten. Griffin war um die 50. Ein Graukopf. Einer, dessen Gesicht immer leicht gerötet erschien. Einer wie er musste unter Bluthoch‐ druck leiden, aber Ruhe gönnte er sich nicht. Er war immer auf der Jagd nach neuen Chancen und Sensationen. An diesem Abend trug er einen weißen Smoking und ein grauweiß gestreiftes Hemd. Er war ohne Begleitung gekommen. Bill wusste, dass er bereits drei Ehen hinter sich hatte. Die Ladys flüsterten ihm etwas zu. Griffin lachte pflichtbewusst, während seine Blicke durch den Raum glitten. So konnte es nicht ausbleiben, dass er Bill Conolly sah. Für einen Moment bewegte er sich nicht vom Fleck, flüsterte den Frauen etwas zu, dann verließ er sie und näherte sich Bill mit schnellen Schritten. Von einem anderen Gast ließ er sich nicht auf‐ halten. »He, ich dachte schon, Sie wären nicht gekommen.« »Bleiben Sie cool, Phil. Normalerweise halte ich meine Verspre‐ chen immer.«
»Sie sind spät.« »Zu spät?« »Nein.« »Bitte …« Griffin wusste nicht, ob er grinsen sollte. »Immer noch so lässig. Der alte Conolly eben.« »Man tut, was man kann.« »Und ich wollte Sie fragen, ob ich Sie mit den Gästen bekannt machen soll? Außer uns sind es noch zehn Personen.« »Das ist nicht nötig. Ich setze mich sowieso etwas abseits, wenn möglich. Ich bleibe der Beobachter.« »Alles klar. Nur keine Fotos schießen. Das stört.« »Daran werde ich mich gerne halten. Aber meinen kleinen Re‐ corder kann ich doch einschalten – oder?« Griffin überlegte und kaute dabei, obwohl er nichts im Mund hatte. »Meinetwegen.« »Es kommt letztendlich Ihnen zugute. Sie wollen Lucios Auftritt ausschlachten.« Griffin grinste säuerlich. »Sagen Sie das doch nicht so direkt. Ich möchte davon profitieren. Ist doch ganz legal – oder?« »Ja, das ist es wohl.« Er schlug Bill kurz auf die Schulter. »Bis später dann. Es geht üb‐ rigens gleich los.« »Das hoffe ich auch.« Der Mann verschwand, denn er musste sich auch um die anderen Gäste kümmern, deren Unterhaltungen nur im Flüsterton geführt wurden. Man gab sich gelassen und interessiert zugleich. Man ließ seine Blicke wandern, flüsterte sich gegenseitig etwas zu, lächelte in die Runde, stellte Fragen, freute sich über Antworten, auch wenn sie gelogen waren. Oder tat zumindest so, als würde man sich freu‐ en, aber die Blicke glitten doch des Öfteren zu Bill Conolly hin, der in diesem erlauchten Kreis so etwas wie ein Außenseiter war. Griffin hatte ihm geraten, seinen wahren Beruf nicht zu nennen. Sich als Freund des Gastgebers auszugeben, reichte völlig aus. Daran wollte sich der Reporter halten. Eine der beiden Frauen,
die vorhin bei Griffin gestanden hatten, sprach ihn an. Sie war Bill nicht unbekannt. Ihr Gesicht tauchte in manchen Klatschspalten auf. Er glaubte, dass sie zum Adel gehörte, der allerdings nicht bis an das Königshaus direkt heranreichte. »Oh, ein neues Gesicht.« »Das habe ich schon länger«, gab Bill locker zurück. Die Frau wusste nicht, ob sie lachen sollte oder nicht. Sie ent‐ schied sich dagegen. Es wäre auch nicht gut für ihre Schminke ge‐ wesen. »Sie haben Humor. Das gefällt mir. Hatte mein verstorbener Mann auch, der selige Lord Lester.« »Aber nicht der aus Manchester.« »Nein, nein. Nicht aus diesem … ähm … Industriegebiet.« Den Scherz hatte sie nicht verstanden. »Die Familie gehört zum alten Adel. Mit neureichen Industriellen wollten wir nichts zu tun haben, wenn Sie verstehen.« »Klar. Viele davon sind jetzt auch pleite.« »Ja, junger Mann. Sie sagen es. Da haben Sie wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen.« »Ich ziele immer gut.« »Und wie sehen Sie Lucio, Mister … äh …« »Conolly, Madam, ein Freund des Hauses. Um auf Ihre Frage zu‐ rückzukommen, ich sehe ihn noch nicht. Ich denke, dass es noch einige Minuten dauern wird, bis wir ihn zu Gesicht bekommen.« »So habe ich das natürlich nicht gemeint, Mr. Conolly. Mehr im übertragenen Sinn. Ich habe einiges von ihm erfahren. Und glauben Sie mir, ich bin sehr gespannt.« »Ich auch.« »Dann sind wir uns ja einig.« Das Geräusch des Händeklatschens unterbrach ihr Gespräch. Phil Griffin, der Gastgeber, gab das Zeichen, dass die Sitzung beginnen konnte. »Ladys und Gentlemen«, sagte er, »ich darf Sie jetzt bitten, Ihre Gläser abzustellen und mir zu folgen, denn Lucio ist bereit, sich Ih‐ nen zu präsentieren.«
Die Gesellschaft war sehr angetan. Wobei sich die Reaktionen in Grenzen hielten und man nur nickend und flüsternd seine allge‐ meine Zustimmung bekannt gab. Griffin persönlich öffnete die Flügel einer Doppeltür, sodass frei‐ er Eintritt in den dahinter liegenden Raum geschaffen wurde. Trotz ihrer Erwartung gingen sie langsam, denn was sie sahen, hinterließ bei einigen von ihnen schon ein wenig Unbehagen. Das mochte am Licht liegen, das den Raum hinter der Tür erhellte. Es stammte von Kerzen, deren Flammen allerdings nicht flackerten, denn sie wurden durch Glasbehälter geschützt. Nur wenn Luft durch die oberen Öffnungen drang, zuckten sie leicht hin und her. Sie verbreiteten genau die Atmosphäre, die für eine Seance so wichtig war. Nur keine zu starke Helligkeit. Nur nichts Grelles. Alles musste in einem geheimnisvollen Schleier eingewoben sein. Keine Dunkelheit, die Menschen mussten sich noch gut erkennen können, aber das war auch alles. Der große Tisch im Raum war nicht rund, sondern oval. Die Stühle hatten hohe Lehnen, damit sich die Benutzer auch mal zu‐ rücklehnen konnten, wenn sie etwas erfahren hatten. Zwölf Gäste! Und doch waren es dreizehn, denn Lucio hatte bereits seinen Platz eingenommen. Er saß an einem Ende des Tisches und hatte vor sich ein dunkles Samttuch ausgebreitet, auf dem eine silberne Pyramide stand, die das Streulicht der Kerzen funkelnd zurückwarf und von Reflexen bedeckt war, die immer aufzuckten. Griffin war plötzlich neben Bill. »Bitte, nehmen Sie am gegenüberliegenden Ende Platz. Da können Sie am besten alles beobachten.« »Danke.« Bill schlug trotzdem einen Bogen. Er ging um den Stuhl herum, auf dem das männliche Medium saß. Er wollte sich Lucio anschau‐ en, doch dabei nicht auffallen. Natürlich war er ganz in Schwarz gekleidet. Anders hätte es auch nicht gepasst. Bill dachte, dass er über seinen Kopf ein dunkles
Tuch gelegt hatte. Das war ein Irrtum, denn er hatte nur seine Haa‐ re straff nach hinten gekämmt. Das Licht war leider zu schwach, um ihn ganz genau zu erkennen. Bill sah ihn beim Näherkommen zwar von vorn und wenig später auch im Profil und machte sich auf dem Weg zu seinem Platz so seine eigenen Gedanken über das Medium. Lucio war ein männlicher Name. Seiner Ansicht nach hätte die Gestalt auch Lucia heißen können, denn ihm war er mehr vorge‐ kommen wie eine Mischung aus Mann und Frau. Er hätte wirklich beides sein können, und möglicherweise mischte sich bei ihm auch das Weibliche und das Männliche. Ein Zwitter? Ein Hermaphrodit? Bill schoss einiges durch den Kopf, aber er wollte nach Möglich‐ keit objektiv bleiben und verscheuchte die Gedanken aus seinem Hirn. Sein Stuhl war tatsächlich noch frei geblieben. Es hatte sich niemand getraut, seinen Platz dort einzunehmen. Bill konnte sich den Grund denken. Wenn Lucio seinen Blick hob und ihn über den Tisch schickte, dann schaute er automatisch auf die Gestalt, die ihm am anderen Tischende gegenübersaß, und diesen Blickkontakt konnte nicht jeder vertragen. Bill ließ sich auf dem Stuhl nieder. Dass die Sitzfläche gepolstert war, hatte er zuvor nicht gesehen. Jetzt nahm er dies als eine angenehme Tatsache hin. Bill Conolly war nicht der letzte Gast, der sich gesetzt hatte. Zwei Frauen ließen sich noch nieder und zum Schluss auch Phil Griffin, der rechts von Lucio in seiner Nähe saß. Bill lehnte sich zurück und wartete darauf, dass die Seance be‐ gann. Er rechnete damit, dass Griffin einige einleitende Worte sagen würde, und hatte richtig getippt. Der Mann schlug zwei Mal mit dem Fingerknöchel auf den Holz‐ tisch und bekam die Aufmerksamkeit, die er brauchte. »Es war nicht einfach für mich, und ich bin sehr froh, dass es mir gelungen ist, Lucio zu uns in diese illustre Runde zu holen. Wie si‐ cherlich bekannt ist, stammt er aus einem fernen Land, aus Brasili‐ en, aber ich behaupte auch, dass bei seinen geistigen Kräften eine
Entfernung keine Rolle spielt und sei sie noch so groß. In gewissen Kreisen bezeichnet man Lucio als ein Phänomen. Man sieht ihn nicht mal als Mensch an, sondern einfach nur als jemanden, der sich zwischen den Ebenen bewegen kann. Der seinen Geist geöffnet hat, der mehr sieht als wir Menschen und der sich seiner Kräfte so be‐ wusst ist, dass er sie für die Menschen einsetzen kann, um ihnen zu helfen. Wer ihn fragt, der wird von ihm selbst hören, dass er sich als Philantrop bezeichnet, als Menschenfreund also, und das kann ich nur unterstreichen.« Bill hörte zu. Die Lobeshymnen rissen nicht ab. Wer jetzt noch nicht von den Kräften des Mannes überzeugt war, musste es einfach nach Griffins Worten sein. Bill Conolly saß ebenso still wie die anderen Personen. Aber er bewegte seine Augen. Er wollte sehen, wer oder was sich noch im Raum befand. Oft waren Seancen nichts anderes als der reinste Ho‐ kuspokus. Da wurde mit allen Tricks gearbeitet. Vor allen Dingen mit Licht und auch mit verdunkelten Wänden in der Nähe des Me‐ diums, damit niemand erkennen konnte, was sich dahinter tat. Wenn dann plötzlich der »Geist« auftauchte und als heller Schemen die Schwärze verließ, waren die Menschen überrascht und manchmal auch geschockt. Flüsternde Stimmen drangen oft von versteckten Recordern her. Der Geist war ein bestimmter Dampf oder Qualm, und viele dieser Typen gehörten zu den perfekten Schauspielern. Ihr Job hatte Hochkonjunktur schon seit einigen Jahren. Es gab immer mehr, die sich dazu berufen fühlten, da war eine gewisse Skepsis schon ange‐ bracht. Und bei Lucio? Bill schaute zu ihm hin. Er hatte seine Hände um die silberne Py‐ ramide gelegt und hielt den Blick gesenkt, als wäre es ihm peinlich, die Bewunderer anschauen zu müssen. Bills Gedanken schweiften ab zu Phil Griffin. Er fragte sich, ob er es sich leisten konnte, einen Scharlatan in die Runde zu holen. Sei‐ ner Meinung nach nicht. Er hätte dann zu viel von seinem Renom‐ me verloren. Er war schon aufgrund seines Namens gezwungen,
den eingeladenen Gästen etwas zu bieten. Deshalb wollte Bill sich neutral verhalten und nicht zu skeptisch sein. Dazu gehörte das Einschalten des kleinen Recorders, den er in seiner Seitentasche trug. Es war totenstill. Die Menschen hielten den Atem an. Und plötz‐ lich zuckte jeder zusammen, als er den Stöhnlaut des Brasilianers hörte. Das Medium hob mit einer ruckartigen Bewegung den Kopf an. Starr schaute er nach vorn. Sein Blick traf Bill! Der sagte nichts. Er blieb still. Er bewegte auch seine Augen nicht. Er wirkte in diesem Augenblick wie gelähmt, als hätte man ihn an seiner Stuhlfläche angeklebt. Lucio fing an zu sprechen. »Einer«, flüsterte er so laut, dass alle ihn verstehen konnten, »einer ist unter euch, den ich als Betrüger ansehe …« Seine Worte verklangen. Die Teilnehmer waren geschockt. Sie tauschten Blicke. Dabei blieb es nicht, denn sie flüsterten auch, und Bill Conolly stellte fest, dass der Brasilianer ihn noch immer sehr di‐ rekt anschaute. Bill wusste, dass er gemeint war. Er sagte kein Wort und handelte nur. Seine rechte Hand glitt in die Jackentasche. Die Fingerspitzen fuhren dabei über das Gehäuse des Recorders hinweg. Zwei Se‐ kunden später lief das Band nicht mehr. Das hatte auch Lucio bemerkt. »So ist es besser«, flüsterte er ‘über den Tisch hinweg. »Jetzt gibt es keine Störung mehr.« Phil Griffin atmete hörbar aus. Er schielte dabei zur Seite und nach vorn. Bill wusste, dass er damit gemeint war und deutete ein Nicken an, um bekannt zu geben, dass er nicht ausbrechen würde. Lucio übernahm wieder das Wort. »Jeder, der zu mir kommt, möchte etwas wissen. Über sich, über seine Zukunft oder darüber, wie es seinen Verstorbenen im Jenseits geht. Ich werde mich bemü‐ hen, allen gerecht zu werden, aber ich kann nichts versprechen. Die anderen Mächte müssen uns schon wohl gesonnen sein, sonst werden sie uns keine Antworten geben. Das war schon immer so,
und das wird auch so bleiben. Sie sind eben etwas ganz Besonderes, man kann sie wirklich nicht mit uns vergleichen. Ich hoffe, dass wir an diesem Abend Glück haben und die großen Mächte uns positiv gegenüberstehen.« Er räusperte sich leise, bevor er fortfuhr. »Ich möchte noch sagen, dass ich bei jedem hier nur eine Frage erlauben kann, aber ich werde Ihnen sagen, wann er sie stellen kann. Zuvor muss ich den Kontakt mit der anderen Welt noch herstellen.« Wie er das umsetzte, bewies er in den nächsten Augenblicken, als er mit seinen Handflächen über die Seiten der Pyramide von oben nach unten hinwegstrich. Es war nichts zu hören. Kein Schaben, nicht mal sein Atmen, und durch seine Bewegungen konzentrierten sich die Blicke der Teil‐ nehmer auf die Pyramide. »Ja«, sagte er nach einer Weile und nickte. »Ja, ich sehe, dass sie sich öffnen, aber es ist ein anderer Weg als der, den ihr euch vor‐ stellt. Er hat mit euch nichts zu tun. Ich erkenne keinen von euch darin wieder, sondern andere Personen, und ich weiß nicht, wie ich es deuten soll, meine Freunde.« Griffin beugte sich zu Lucio hinüber. »Kannst du beschreiben, was du siehst?«, flüsterte er. »Das wohl.« »Willst du es auch uns gegenüber?« »Ja, ich werde es tun. Ich muss es tun …« »Danke.« Plötzlich war die Spannung noch dichter geworden. Auch bei Bill Conolly. Er versuchte, sich nicht in den Bann des Mediums ziehen lassen, sein Geist blieb klar, und so achtete er auf jedes Wort, das den Mund des Brasilianers verließ …
* Der Schock traf mich wie ein Gongschlag am Kopf. Ich blieb auf den Beinen, aber ich spürte, dass ich zitterte und nur mit Mühe meine Beherrschung behielt.
Auf dem schmutzigen Boden lag tatsächlich eine tote Frau, und sie sah so aus wie Lorna Peel. Nur eines unterschied die beiden: Die große dunkle Blutlache, die aus ihrer Brust gesickert war und sich vor dem Körper wie ein kleiner See verteilte. Das Schweigen hing zwischen uns wie eine Last. Auch mir fehl‐ ten momentan die Worte, aber ich war froh darüber, dass ich Lorna Peel ernst genommen hatte und bei ihr geblieben war. Dabei hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt, sie allein zu lassen. Die junge Frau war tot. Und sie war sicherlich die Zwillings‐ schwester der Lorna Peel. Aber wer hatte sie getötet und warum? Ich drehte den Kopf nach links, um Lorna anzuschauen. »Sie wussten es, nicht wahr?« »Ja.« »Muss ich noch fragen, wer sie ist?« »Meine Schwester Harriet.« »Ihr seid Zwillinge?« Sie nickte. »Und warum musste Harriet sterben? Können Sie mir mehr dar‐ über sagen?« »Das Lauern im Dunkeln«, drang es leise über ihre Lippen. »Sie wusste zu viel. Ich nehme an, dass es das gewesen ist. Harriet war so lieb und nett zu den Menschen, aber sie hat einen Fehler be‐ gangen, und jetzt ist sie tot.« Lorna weinte nicht. Sie hatte mit sehr spröder und monotoner Stimme gesprochen. Sicherlich wusste sie schon länger, was mit ih‐ rer Schwester passiert war. Sie hatte nur keinen Weg gefunden, das Richtige zu tun und sich zu offenbaren. Sie war nicht zur Polizei ge‐ gangen, weil sie ahnte, dass dieser Mord kein normaler war. Deshalb hatte sie sich in ihrer Not an mich gewandt. Ich konnte jetzt verstehen, dass auch Lorna sich verfolgt fühlte. Zwillinge sind besondere Menschen. Sie teilen vieles, auch ihre Ge‐ heimnisse. Da konnten der oder die Mörder schon erwarten, dass Harriet noch vor ihrem Tod mit Lorna gesprochen hatte. »Welchen Fehler denn?«, fragte ich leise. »Das weiß ich nicht. Irgendeinen.«
»Und wer könnte sie umgebracht haben?« Lorna hob die Schultern. Sie presste ihre Hand gegen den Mund, als wollte sie ein Schluchzen unterdrücken. Ich hatte mich inzwischen an diesen Anblick gewöhnt. Als Poli‐ zist bekommt man da im Laufe der Zeit leider eine gewisse Routine. Zum Leben erwecken konnte ich Harriet nicht mehr, aber ich war bereit, mich auf die Spuren ihrer Mörder zu setzen. Oder ihres Mörders. Mir war schon beim ersten Hinschauen etwas aufgefallen. Der rechte Arm lag ausgestreckt auf dem Boden. Die dazugehörige Hand war erstarrt und ausgestreckt. Aber unter den Fingern lag ein weißes Blatt Papier. Die Blutlache hatte es nicht erreichen können, obwohl sich eine Wunde auf ihrem Handrücken abmalte. Ich musste Lorna zuvor anstoßen, um sie ansprechen zu können. Dabei deutete ich auf das Papier. »Ist es eine Nachricht?« Sie zeigte sich etwas verwirrt. »Ich habe keine Ahnung. Wirklich nicht.« »Aber Sie kennen es?« »Nein, nicht.« Sie hatte die Antworten gegeben wie jemand, der sich in Trance befindet. Ihr Gesicht zeigte noch immer einen starren Ausdruck. So war auch der Blick. Zwar nach vorn gerichtet, aber er verlor sich in einer Leere. Es war sinnlos, wenn ich Lorna weiterhin Fragen stellte. Das Pa‐ pier interessierte mich. Ich umging die Blutlache und blieb neben der ausgestreckten starren Hand stehen. Mein Blickwinkel war jetzt besser. Im ersten Moment hätte man meinen können, dass der Zettel nicht beschrieben war, aber er war es. Nur nicht auf der Seite, auf die ich schaute. Von unten her hatte sich etwas durchgedrückt. Ich zupfte das Blatt unter den starren Fingern hervor und drehte es herum. Ja, das war eine Nachricht. In einer sehr unruhigen und schnell dahingeschleuderten Schrift reihte sich Buchstabe an Buchstabe. Ich las, aber ich bekam meine Probleme mit der Schrift, die kaum zu
entziffern war. Ohne den Text genau zu kennen, ging ich zurück zu Lorna Peel und zeigte ihr die Nachricht. »Ist das die Schrift Ihrer Schwester?« Zögernd blickte sie hin. Sie gab sich auch Mühe, wollte etwas sagen und räusperte ihre Kehle frei, und sie schüttelte nach einer Weile den Kopf. »Nein?«, fragte ich. »Das kann ich nicht genau sagen.« »Aber ihr seid Zwillinge gewesen. Da muss doch die eine von der anderen etwas gewusst haben.« »Ja, das schon. Ich habe sie lange nicht mehr schreiben sehen. Und so schlecht hat sie früher nicht geschrieben.« Da mochte sie Recht haben. Auch ich machte mir natürlich meine Gedanken. Die schnell dahingeschriebenen Worte waren sicherlich unter großem Druck entstanden. Jemand musste sie gequält oder malträtiert haben. Ich bin kein Graphologe, aber etwas konnte man aus dieser Schrift schon herauslesen. Zumindest gab ich mir Mühe, die Nachricht lesen zu können, was auch nicht eben leicht war. Ich sprach halblaut vor mich hin, was ich schließlich herausfand. »Sie wollen … nicht loslassen. Gefährlich. Es sind keine … nennen sich nur so. Brauchen neue … ich will nicht mehr … nein!« Das letzte Wort hatte sie zwei Mal unterstrichen. Mir kam es vor wie ein geschriebener Schrei. Ich wollte mich wieder an Lorna wenden, als ich das schräge Gekrakel entdeckte. Ich hatte es zwar zuvor gesehen, es jedoch nicht unbedingt als Schrift erkannt. Jetzt drehte ich das Blatt in einem derartigen Winkel zurecht, dass ich lesen konnte. Auch nur Fragmente. Die Nachricht allerdings kam mir bekannt vor. »Lauern im Dunkeln«, buchstabierte ich. Da ich halblaut gesprochen hatte, waren meine Worte auch für Lorna verständlich gewesen. »Das kennen wir doch«, sagte ich. Lorna schwieg.
Ich steckte den Zettel ein. »Okay, Lorna, ich weiß, dass es ver‐ dammt schwer für sie sein muss, das hier zu sehen. Ich gehe auch davon aus, dass Sie zu Harriet eine besondere Beziehung hatten, das ist bei Zwillingen in der Regel so, aber wir beide können Ihre Schwester nicht mehr zurückholen. Aber wir können etwas tun, um diese verruchte Tat aufzuklären. Dabei sollten Sie mir helfen.« »Kann ich das denn?« »Zumindest haben Sie es geschafft, sich an mich zu wenden. Das ist immerhin schon etwas.« »Ich habe keine Kraft mehr.« »Das kann ich sogar verstehen. Aber jetzt sind Sie nicht mehr allein. Ich bin bei Ihnen. Gemeinsam können wir etwas tun.« Lorna Peel gab mir keine Antwort. Sie ging mit kleinen Schritten zu einem weiß gestrichenen Stuhl, der an der Wand stand. Ganz in der Nähe lief ein Rohr von unten nach oben und verschwand in der Decke. Mit einer müden Geste strich Lorna über ihre Stirn. »Ich kann nicht mehr …« »Aber Harriet hat eine Nachricht hinterlassen.« Ich klopfte auf die Außentasche meiner Jacke. »Dort befindet sich das Papier. Da steht es schwarz auf weiß. Sie wollte nicht mehr, und sie hat noch von denen geschrieben, die im Dunkeln lauern. Das kenne ich von Ihnen.« Lorna rieb über ihre nackten Knie. Sie tat, als hätte sie mich gar nicht gehört. Ich gab nicht auf. »Und sie schrieb, dass sie nicht loslassen woll‐ ten. Gewissermaßen die anderen. Wer sind sie, die nicht loslassen wollten? Was steckt dahinter? Wer steckt dahinter? Welche Macht? Wohin soll das führen?« »Ich kenne das Ende nicht.« Okay, ich war schon froh, dass sie überhaupt etwas sagte. »Und wer sind die großen Unbekannten?« »Die Boten.« Jetzt horchte ich auf. »Bitte?« »Die Boten.« »Welche Boten?«
»Die Engel. Diejenigen, die den Engeln die Reinheit wiedergeben wollen. Die zu ihnen halten. Die nicht wollen, dass ihre Namen in den Schmutz gezogen werden. Die Freunde der Engel oder der himmlischen Boten, wie immer gesagt wurde.« »Und wer hat das gesagt, Lorna?« »Bitte nicht.« »Doch, es gibt jetzt kein Zurück. Wir müssen am Ball bleiben. Wer sagt so etwas?« Sie quälte sich. Es tat mir fast Leid, aber auch nur fast, denn ich wusste, dass ich die Tür aufgestoßen hatte, und ich wollte nicht, dass sie wieder zufiel. »ER sagt es!«, flüsterte sie. »Gut. Aber wer ist er? Hat er einen Namen? Oder ist er einfach nur ein Begriff?« »Er ist der Bote.« Ich kniff die Augen zusammen. »Meinen Sie damit den Himmels‐ boten?« »Das kann sein«, flüsterte Lorna. »Wir alle sagen nur Lucio zu ihm. Nur Lucio.« Jetzt hatte ich einen Namen. Wunderbar. Damit allein konnte ich jedoch nicht zufrieden sein. Es musste noch mehr geben, und es gab sicherlich auch mehr. Es war nur fraglich, ob mir Lorna da wei‐ terhelfen konnte oder auch wollte. »Harriet kannte Lucio, nicht wahr?« Sie strich Haare aus ihrer Stirn. »Ich denke schon, dass sie ihn ge‐ kannt hat.« »Sie auch?« So flott wie sie mir vorhin geantwortet hatte, sagte sie jetzt nichts mehr. Den Mund hielt Lorna verschlossen. Sie schaute an mir vor‐ bei und sah aus, als suchte sie noch nach bestimmten Worten. Ich half ihr ein wenig auf die Sprünge. »Ihr seid Zwillinge, den‐ ken Sie daran. Es gibt zwischen ihnen eine andere Verbindung als zwischen normalen Geschwistern. Man ist sich mehr gleich. Doch das muss ich Ihnen ja nicht extra sagen.« »Es stimmt schon. Nur waren wir nicht immer zusammen.« Um
den Kern der Antwort drehte sie sich herum. Ich gab nicht auf, durch die junge Frau an Lucio heranzukom‐ men. Nur auf einem Umweg eben. »Welche Gemeinsamkeiten haben Sie denn gehabt? Was taten Sie zusammen?« »Wir hatten den gleichen Beruf.« »Schon gut. Und welchen?« » Tänzerinnen.« »Am Theater?« Lorna nickte. »Genau. Nicht klassisch. Wir machten in einem Mu‐ sical mit. Tanzende Zwillinge. Wir traten immer gemeinsam auf. Man hat extra Szenen für uns geschrieben. Es war toll. Wir haben viel Beifall und gute Kritiken bekommen.« »Das ist immerhin etwas«, lobte ich sie. »Wie ist es sonst zwi‐ schen Ihnen beiden gewesen? Sind Sie auch privat einen gemein‐ samen Weg gegangen? Nach der Arbeit?« »Nur manchmal«, murmelte sie. »Früher öfter, später nicht mehr. Da hat sich Harriet getrennt. Sie hat den Kontakt zu der Gruppe be‐ kommen …« »Und damit auch zu Lucio!«, stellte ich fest. »So muss man das sehen.« Ich kam wieder auf diese geheimnisvolle Person zu sprechen. »Ist er denn ein Engel? Oder wurde er von Harriet als Engel gesehen? Ich frage mal ganz dumm. Hat er Flügel gehabt oder …« »Nein, das nicht. Sie kam an ihn heran, als sie an einer Sitzung teilgenommen hat. An einer Seance. Er hat sie geleitet. Er war der Meister und der Bote.« »So etwas wie ein Guru?« »Ja«, gab sie nach einigem Nachdenken zu. »Das kann man wohl sagen. Er ist ein Guru. Die Menschen kommen gern zu ihm. Sie erwarten ihn mit offenen Armen. Sie lieben ihn. Für sie ist er etwas ganz Besonderes. Einer, der herabgestiegen ist.« »Also wie ein Himmelsbote.« »So kann man es glauben.« Ich fragte weiter. »Und haben Sie diesen Lucio schon mal gese‐ hen? Hat Ihre Schwester Sie zu einer Sitzung mitgenommen?«
»Das wollte sie. Nur ich wollte es nicht. Das war mir alles zu un‐ heimlich. Aber Harriet war der Meinung, dass ich als Schwester mich nicht dagegen wehren könnte. Ich wäre mitgefangen. Ich bin ja die Zwillingsschwester. Zu gleich sind wir. Und jetzt ist Harriet tot, aber mich gibt es noch, verstehen Sie, John? Es gibt sie, aber es gibt Harriet nicht mehr. Lucio hat sie wohl gemocht. Und weil ich so aussehe wie Harriet, wird er mich auch mögen. So denke ich, und so muss ich das alles auch sehen. Er ist mir auf der Spur. Er lauert. Das Lauern im Dunkeln. Ich habe es gespürt. Ich habe die Gefahr gemerkt. Er ist in meiner Nähe oder war in meiner Nähe. Ich konnte ihn nicht halten. Jetzt habe ich große Angst davor, dass mir das Gleiche passiert wie meiner Schwester. Wer nicht für ihn ist, der ist gegen ihn. Ich fühlte mich so schutzlos, und da habe ich mich an einen Artikel in der Zeitung erinnert, in dem etwas über Sie geschrieben wurde, John. Deshalb habe ich mich an Sie ge‐ wandt. Die Polizei hätte mich nur ausgelacht.« »Das war eine gute Idee.« Lorna lächelte hölzern vor sich hin. Dann sprach sie weiter und hielt den Kopf dabei gesenkt. »Manchmal«, so flüsterte sie, »hatte ich das Gefühl, dass er sich in meiner Nähe aufhält. Ja, da ist er nah bei mir gewesen. Ich spürte ihn. Wieder dieses Lauern im Dunkeln …« »War es denn Nacht, wenn Sie diese Gefühle überkamen?« »Nein, nicht unbedingt. Er war ein Schatten, John, ein Schatten.« Sie riss die Augen weit auf und nickte mir zu. »Er kam als Schatten, obwohl kein Grund bestand, einen Schatten zu produzieren. Schatten kann nur entstehen, wo auch Licht ist. Doch es gab kein Licht. Nur den Schatten, der sich bewegen konnte wie er wollte. Er blieb auch nicht nur bei einer Gestalt. Er wechselte sie. Er war oben, er war am Boden. Ich sah ihn links, ich entdeckte ihn auch an meiner rechten Seite. Furchtbar, kann ich Ihnen sagen. Er war das Dunkel, und ich hörte sein Flüstern.« »Ach, er sprach mit Ihnen?« »Ja.« »Normal?«
Lorna zuckte mit den Schultern. Dann strich sie über ihre rechte Wange. »Ich glaube nicht, dass man es als normal bezeichnen kann. Ich habe die Stimme gehört, aber seine Worte nicht verstanden. So müssen Sie das sehen, John. Nur wenn er meinen Namen aus‐ sprach, verstand ich ihn. Jetzt glaube ich, dass ich Harriets Nach‐ folge antreten soll. Das will ich nicht. Ich will auch nicht so sterben wie sie. Ich habe Angst vor ihm, und ich hoffe, dass Sie mir Schutz geben können.« Ich lächelte Lorna aufmunternd zu. »Den Schutz haben Sie bisher ja auch erhalten.« »Dafür bin ich Ihnen dankbar.« Sie schaute den Leichnam ihrer Schwester an. »So enden wie sie möchte ich nicht. Ich will noch leben, obwohl Harriet tot ist.« »Das kann ich verstehen. Kommen wir noch mal auf Harriet zu sprechen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, könnte ich davon ausgehen, dass sie in Lucio verliebt gewesen ist. Zumindest war sie ihm sehr zugetan. Oder nicht?« Jetzt musste Lorna nachdenken. »Verliebt?«, murmelte sie. »Ich weiß nicht, ob sie verliebt gewesen ist. Und wenn, dann ist es eine besondere Liebe gewesen, die nichts mit Sexualität zu tun hatte. Mehr geistig, würde ich sagen. Auch irgendwie rein und klar. Doch auf der anderen Seite muss sie auch gefährlich gewesen sein, sonst hätte Lucio sie nicht getötet. Oder sie hat etwas getan, was er nicht wollte.« »Kann sie ihn verraten haben?« »Ja, das ist möglich. Obwohl ich nicht weiß, wie das hätte passieren können. Ich bin völlig überfragt, und ich will nur nicht die Stelle meiner Schwester einnehmen. Deshalb habe ich auch Sie gesucht und hoffe, dass Sie mich verstehen.« »Das habe ich schon, Lorna.« »Danke.« Ich kam nun auf einen Punkt zu sprechen, über den wir noch nicht geredet hatten. »Aber es muss weitergehen. Damit meine ich Ihr Leben und meines. Ich denke nicht, dass wir uns hier in der Laube verstecken und darauf warten können, bis er wieder er‐
scheint. Das wäre meiner Ansicht nach der falsche Weg.« Lorna holte tief Luft. »So weit habe ich nicht gedacht. Ich wollte zunächst nur eine gewisse Sicherheit bekommen. Die habe ich jetzt, auch wenn ich sehr traurig bin.« »Das ist völlig normal. Lassen Sie uns nachdenken. Ich weiß nicht, ob Lucio uns finden will. Ob er sich schon auf die Suche nach uns gemacht hat. Das ist möglich, doch darauf sollten wir nicht alle Karten setzen. Deshalb meine ich, dass wir beide den Spieß umdre‐ hen sollten. Nicht er soll uns finden. Wir machen uns auf die Suche nach ihm. Ist das eine Lösung, die Ihnen gefallen könnte?« Lorna sagte erst mal nichts. Sie schaute mich an, sie dachte nach, zuckte dann die Achseln und flüsterte: »Daran habe ich nicht ge‐ dacht. Wahrscheinlich habe ich zu viel Angst gehabt. Und auch jetzt muss ich noch nachdenken. Aber die Lösung ist wohl ganz gut. Nur wüsste ich nicht, wo wir ihn finden sollen.« »Wir werden gemeinsam überlegen. Dabei spielt wieder Ihre Schwester eine Rolle. Nicht als Tote, sondern als Lebende.« »Ich verstehe nicht …« »Abwarten, Lorna. Sie sollten sich nur jetzt anstrengen und dar‐ über nachdenken, ob Ihnen einfällt, wo sich Ihre Schwester mit Lu‐ cio getroffen hat. Gab es einen bestimmten Ort? Einen Platz? Eine Wohnung? Ein Hotel? Ein Lokal …?« »Nicht, nein, nein.« Sie winkte ab. »Sie haben sich eigentlich überall getroffen. An allen möglichen Orten. Doch sie haben mir nichts darüber gesagt.« »Haben Sie nicht gefragt?« »Das schon. Harriet hat mich nur angeschaut und gelächelt. Aber sie hat nicht geredet. Und wenn sie sprach, dann in Rätseln. Da war sie der Meinung, dass ich noch früh genug informiert werden würde und dass ich nicht vergessen sollte, dass wir Zwillinge sind. Früher habe ich darüber noch nachgedacht. Heute sehe ich das anders und gehe davon aus, dass sie praktisch in ihre Zukunft ge‐ schaut hat und auch in meine. Harriet ist tot, aber es ist nicht zu Ende.« Ich gab nicht auf und blieb beim Thema. »Hören Sie, Lorna, gab
es keinen Ort, an dem sich Harriet mit Lucio besonders gern traf? Wo Sie allein waren, zum Beispiel?« Lorna überlegte. Sie knetete ihre Hände. Dabei schaute sie auf ihre roten Stiefelspitzen. Ich sah auch, dass sie schluckte und dabei die Schultern anhob. Doch sie sah nicht so aus, als hätte sie keine Lösung gefunden. »Wenn ich recht darüber nachdenke, gab es eigentlich nur einen Ort, an dem sie beide ihre Ruhe hatten und wo Harriet jetzt ihre ewige Ruhe gefunden hat.« Ich musste nicht lange rätseln, um Bescheid zu wissen. »Sie meinen, dass es hier in der Laube gewesen ist? In dieser Garten‐ anlage?« »Ja, das glaube ich.« Zwischen uns entstand eine Schweigepause. Die Folgerung war nicht schlecht. Ich konnte sie sogar nachvollziehen. Sie hatten sich vermutlich hier getroffen. Ein einsamer Ort inmitten der Stadt. Hier gab es kaum Zeugen. Man hatte die meisten Gärten aufgegeben. Das Gelände wurde anderweitig benötigt, und nur wenige Men‐ schen kümmerten sich darum. »Das hört sich gut an, Lorna.« Sie musste sich räuspern, bevor sie eine Frage stellte. »Und was folgern Sie daraus?« »Dass wir es wie Harriet machen. Wir brauchen uns von diesem Ort nicht wegzubewegen. Wir werden hier in der Anlage bleiben. Womöglich auch in der Laube, und wir werden auf ihn warten und darauf hoffen, dass er erscheint. Er will ja an Sie heran, wenn alles stimmt, was wir angenommen haben. Sie gehören zu Harriet. Sie könnten ihre Nachfolgerin werden. So kann man es sehen.« Lorna war wieder voll konzentriert. Das bewies sie mit der nächsten Frage, auch wenn es ihr schwer fiel, sie zu stellen. »Wenn das so ist, John, warum hat dieser Lucio meine Schwester dann ge‐ tötet? So wertvoll kann sie doch nicht für ihn gewesen sein. Was man liebt, das tötet man doch nicht. Oder habe ich da eine falsche Einstellung?« »Nein, das haben Sie nicht. Ich gebe Ihnen im Prinzip Recht. Aber
wissen wir, was zwischen den beiden vorgefallen ist? Niemand kann das sagen, auch wir nicht. Es könnte auch sein, dass Harriet nicht mehr wollte. Dass sie sich aus Lucios Bann befreien wollte.« »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, weil ich es mir auch nicht vorstellen kann.« »Warum nicht?« »Ich halte ihn für zu stark. Für mich ist er kein Mensch mehr. Er ist für mich ein … ein … ich weiß es auch nicht genau. Eine Mi‐ schung aus Mensch, Geist und Engel. Etwas, das existiert und zu‐ gleich einfach grauenhaft ist.« »Das könnte zutreffen.« »Wollen Sie trotzdem warten?« »Ja.« Lorna schaute auf ihre tote Schwester. Es war zu sehen, dass sie fror. Es lag an der innerlichen Kälte, die sie durchströmte. Ich konn‐ te nur hoffen, dass wir hier nicht grundlos warteten. Ich wollte auch nicht in der Laube bleiben, sondern mich draußen umschauen. Möglichweise war ich in der Lage, ihn zu sehen, wenn er durch das Gelände schlich oder auch flog, denn das war nicht so unwahr‐ scheinlich wie es sich anhörte. Ich öffnete die Tür und setzte einen Schritt über die Schwelle. Hinter mir stellte Lorna eine Frage, auf die ich aber nicht achtete, denn es meldete sich mein Handy …
* Es war still geworden am ovalen Tisch. Lucio, das Medium, war in tiefe Trance gefallen. Dass noch andere Personen in seiner Nähe sa‐ ßen, kümmerte ihn nicht. Er hielt den Kopf nach vorn gebeugt und hatte beide Handflächen gegen die Außenseiten der silbernen Pyra‐ mide gelegt, als könnte er aus ihr die nötige Kraft schöpfen. Allein durch diese Geste hatte er es geschafft, die Teilnehmer in seinen Bann zu ziehen. Eine Ausnahme gab es. Der Reporter Bill Conolly blieb cool, denn er wollte herausfinden, was tatsächlich
hinter diesem Schauspiel steckte. War es der reine Ernst, oder wollte der Guru die Menschen nur an der Nase herumführen? Noch war es nicht möglich, dies herauszufinden. Was immer auch als Ergebnis letztendlich herauskam, nichts wies darauf hin, dass hier etwas wirklich Übersinnliches passierte. Es war nicht mit den Schauerrunden irgendwelcher Tee‐Kränzchen zu vergleichen, wenn man versuchte, Tische zu rücken oder Gläser wandern zu lassen. Eine gewisse angespannte Atmosphäre herrschte schon, und es tanzte keiner aus der Reihe. Selbst Phil Griffin, der Initiator nicht. Er war ebenso gespannt und gefesselt wie seine Gäste. Bill Conolly sah die Dinge lockerer. Er war der Ansicht, dass all‐ mählich mal etwas passieren musste, denn zu lange konnte die Spannung auch nicht aufrecht erhalten werden. Der Reporter hatte einen guten Platz. Lucio saß am anderen Ende des Tisches vor ihm. Wenn er seine Haltung veränderte und sich bequemte, den Kopf anzuheben, dann würde er Bill zwangsläufig sehen müssen, falls er die Augen offen hielt. Im Moment war das der Fall. Noch war er still und in sich ver‐ sunken. Durch seine Haltung hatte er auch seinen Körper klein werden lassen, sodass Kopf und Rücken eine Rundung bildeten. Er stierte auf die Pyramide, die er nicht losließ. Auch weiterhin fuhren seine Hände streichelnd über das Metall hinweg. Für Bill war es unmöglich, dass ein Mensch so lange seinen Atem anhielt, aber Lucio schien es zu schaffen. Er saß auf seinem Stuhl, als wäre er tot oder würde darauf warten, dass man ihn bald hoch‐ nahm und in ein Grab legte. Nur Griffin schaute Bill hin und wieder an. Das Gesicht des Me‐ dien‐Mannes war zur Hälfte durch den Schein einer Kerze erhellt, deshalb wirkte die Haut auch so rot. Der Schweiß schimmerte auf seinem Gesicht wie Regentropfen auf einem Farn. Er stand unter Druck. Bill wunderte sich darüber, dass Phil Griffin dies passierte, gab er sich sonst doch immer wie der große Zampano, dem nichts passieren konnte. Es lag auch an der Atmosphäre. Eben weil nicht gesprochen wurde und das sanfte Licht der Kerzen eine Beleuchtung abgab, die
auch zu einem Begräbnis gepasst hätte. Da Bill nicht auf seine Uhr geschaut hatte, wusste er auch nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sich der Guru in seinen Zustand hineinversetzt hatte. Aber er konnte nicht stundenlang so hocken. Irgendwann musste etwas passieren. Auch Bill Conolly wartete darauf. Es war wirklich warm um ihn herum. Das Glas der Lampen strahlte die Wärme ab. Auch der Reporter spürte den Schweiß auf seiner Stirn. Er wischte ihn nicht ab. Er wollte durch eine Bewegung nicht stören. Dann passierte es. Der Guru gab ein Zeichen. Er bewegte sich nicht, aber jeder hörte sein schweres Seufzen. Es klang so beschwerlich und bedrückt, dass man schon Mitleid mit ihm bekommen konnte. Den Kopf hatte er nicht angehoben, er schaute nach wie vor gegen seine Pyramide, aber es würde etwas passieren, das spürten alle. Dann – endlich – bewegte er sich. Er kam hoch. Sehr langsam, damit sich jeder Teilnehmer wieder auf sein Gesicht konzentrieren konnte. Selbst im Licht der Kerzen sah es blass aus. Da musste alles Blut aus ihm gewichen sein. Mit bewegungslosen Augen blickte er über den Tisch hinweg, und natürlich erwischte sein Blick Bill Conolly. Der hielt ihm stand. Aber er spürte sofort, dass etwas passiert sein musste, obgleich nichts zu sehen war. Es war eben der Blick, der sich in seine Augen bohrte. Über den Tisch hinweg schien sich ein unsichtbares Band gespannt zu haben. Was wusste der Brasilianer? Bill glaubte sogar, dass er ihn er‐ und durchforschen wollte. Die Augen waren einzig und allein auf ihn gerichtet. Da gab es nichts anderes mehr, das er sah. Es war nicht der böse Blick einer Hexe, doch es war zu sehen, dass Lucio Bill irgendwie misstraute und ihn in der Runde als einen Fremdkörper ansah. Die Hände des Mediums berührten weiterhin das Metall der Py‐
ramide. Sie stellte so etwas wie eine Verbindung zwischen zwei verschiedenen Zonen dar. Jeder wartete darauf, dass Lucio etwas sagte. Jeder war mit bestimmten Hoffnungen gekommen, um durch Lucio Kontakt mit einem Verstorbenen zu bekommen. Noch hatte sich keine Hoffnung erfüllt. Eine Frau hielt die Spannung nicht länger aus. Sie saß an der Mitte des Tisches und fragte flüsternd: »Hast du etwas gesehen? Ist dir was gezeigt worden?« »Pst!«, zischte Griffin. Die Fragerin verstummte. Lucio ergriff die Initiative. Er richtete sich auf seinem Stuhl so weit auf, dass er gerade saß. Die Pyramide hatte er nicht losge‐ lassen. Selbst seine Finger wirkten silbrig und dünn. Dann schüttelte er den Kopf. Dabei rutschten die ersten Worte über seine Lippen. »Es ist schwer«, flüsterte er, »so verdammt schwer heute. Etwas stört mich …« »Siehst du denn was?«, fragte Griffin, der Hausherr, der sich verantwortlich fühlte. »Ja, ich habe etwas gesehen.« »Und?« Lucio schüttelte den Kopf. »Was ich sah, war nicht gut. Ich muss erst darüber nachdenken. Ich habe auch nicht gedacht, dass ich es zu Gesicht bekommen würde. Ich werde es euch sagen, aber danach muss ich eine Pause einlegen.« Griffin wollte den anderen Teilnehmern Hoffnung machen und fragte deshalb: »Ist es denn der gewünschte Kontakt mit dem Jen‐ seits gewesen?« »Nein, noch nicht …« Keiner am Tisch gab einen Kommentar und zeigte somit an, dass er enttäuscht war. Aber dieses Gefühl gab es. Man konnte es spü‐ ren, und es gab bei den Menschen auch so etwas wie eine gewisse Entspannung. Manche waren vielleicht froh, dass es nicht sofort ge‐ klappt hatte. Nur konnte es das auch nicht sein. Es war nicht gut, wenn Lucio Probleme bekam.
»Ich will euch sagen, was ich gesehen habe. Hört genau zu. Es kann sein, dass sich der eine oder andere von euch davon angespro‐ chen fühlt.« »Reden Sie, Lucio!«, flüsterte Griffin. Zuvor huschte ein Lächeln über den Mund des Mediums. Er senkte seinen Kopf wieder und legte ihn zugleich auf die Seite, da‐ mit ein Teil von ihm im Schatten lag. Ein großartiges Statement konnte man von ihm nicht erwarten, und danach sah es auch nicht aus. »Ich habe den direkten Kontakt mit dem Jenseits nicht herstellen können, weil mich etwas gestört hat«, flüsterte er mit seiner mar‐ kanten Stimme, die vor allen Dingen die Konsonanten stark beton‐ te. »Ich war immer nur in der Lage, ein Bild zu sehen. Es drängte sich wie von einer fremden Kraft geleitet in meinen Kopf hinein, und es ist kein gutes Bild gewesen, das muss ich sagen.« »Was hast du denn gesehen?« Wieder hatte die neugierige Frau die Frage gestellt. Sie schaute den Brasilianer an wie ein Geier seine Beute. »Ich sah eine tote Frau …« »Nein!« »Psst!«, zischte Griffin wieder. Lucio fuhr fort. »Sie lag auf dem Boden. Ich sah Blut, aber ich sah noch mehr. Es waren zwei Menschen dort. Ein Mann und eine Frau. Die Frau sah ebenso aus wie die Tote am Boden. Das Gesicht, der Körper, die Kleidung – alles stimmte überein. Zwillinge. Ein Zwilling war jedoch tot.« Er legte eine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. Bill Conolly ließ den Mann nicht aus den Augen. Deshalb entging ihm auch nicht das lauernde Lächeln. Ihm war klar, dass dieser Mann genau wusste, was er tat und wie er seine Worte zu setzen hatte. Er löste seine Hände von der Pyramide und strich über sein Gesicht. Danach stöhnte er wieder auf, bevor er weitersprach. »Aber ich sah nicht nur die beiden Frauen dort. Es gab noch einen Mann in ihrem Umfeld. Er stand da und sprach mit der noch
lebenden Person. Ich weiß, dass er ein besonderer Mann ist. Ich spürte es, denn es gab mir einen Stich. Hier, genau hier!« Er deutete auf seine Brust. »Kannten Sie ihn?«, fragte Griffin, der sich nicht mehr zurückhal‐ ten konnte. »Nicht persönlich.« »Aber Sie …« »Ich spürte ihn!« Die hart klingende Antwort ließ Griffin ver‐ stummen. Er stellte auch keine weitere Frage mehr. Lucio war das sehr recht, wie er durch ein Nicken bekannt gab. »Ich werde ihn euch beschreiben. Er war nicht alt, aber auch nicht mehr ganz jung. Er hat blondes Haar. Er trug eine Jeanshose. Eine Lederjacke. Das Gesicht war nicht besonders schön, aber männlich …« Bill hatte bisher jedes Wort verstanden. Er hörte auch weiterhin zu, nur nahm er die Worte nicht mehr so auf wie die anderen Per‐ sonen um ihn herum. Für ihn brauchte der Brasilianer nicht mehr weiterzusprechen. Er ahnte, wen Lucio gemeint hatte. John Sinclair!
* Bill musste sich zusammenreißen, um keinen heftigen Kommentar abzugeben. Er wollte sich beruhigen und atmete einige Male tief durch, wobei er seine Augen geschlossen hielt. Nur die Ruhe be‐ wahren. Nicht überstürzt handeln. Nachdenken und erst dann das Richtige tun. Lucio war bei seinem Schlusssatz angekommen. »So und nicht anders ist es gewesen, meine lieben Freunde. Es tut mir Leid, dass ich auf eure Probleme nicht eingegangen bin, aber ich kann die Bilder nicht steuern, die sich in meinem Kopf abzeichnen. Das ist mir unmöglich. Man kann das Jenseits nicht manipulieren.« »Das war es doch in diesem Fall nicht – oder?«, fragte eine
Männerstimme aus der Runde. »Stimmt. Es ist nicht das Jenseits gewesen. Trotz der toten Frau, die auf dem Boden lag.« »Und die andere Frau sah aus wie sie?« »Ich habe nicht gelogen.« Bill schob seinen Stuhl langsam zurück. Er wollte nicht mehr länger in der Runde verweilen. Dass Lucio seinen Freund John Sin‐ clair beschrieben hatte, daran gab es für ihn keinen Zweifel. Aber warum? Warum hatte er ihn gesehen? Und was bedeuteten die beiden Frauen, von denen die eine nicht mehr lebte? Die Antwort würde ihm Lucio nicht geben. Die musste sich der Reporter woanders holen. Er wusste auch schon wie, aber er musste vorsichtig sein und wollte vor allen Dingen nicht auffallen. Lucio schaffte es, die Teilnehmer der Sitzung auch weiterhin in seinem Bann zu halten. Es war die Gelegenheit für Bill, den Raum zu verlassen. Dabei musste er geschickt vorgehen. Als er sich von seinem Stuhl erhob, geschah dies mühsam. Bill führte dieses Schau‐ spiel weiterhin fort. Natürlich erregte er die Aufmerksamkeit des Gastgebers, der sich auf seinem Stuhl drehte, als Bill die ersten Schritte gegangen war. »He, was ist mit Ihnen?« »Mir geht es nicht gut.« »Wieso?« Bill blieb stehen. Er stützte sich sogar an einer Stuhllehne ab. »Ich weiß es nicht genau. Aber ich habe das Gefühl, diese Luft nicht mehr atmen zu können. Ich komme gleich wieder. Ich muss nur mal kurz hinaus.« »Soll ich mitgehen?« »Nein, nein, bleiben Sie hier. Das dauert nicht lange. Es wird schon alles wieder okay werden.« »Gut. Aber wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie es.« »Geht klar.« Bill musste sich in den nächsten Sekunden zusammenreißen, um nicht auf die Tür zuzuhuschen. Die anderen Teilnehmer der Seance kümmerten sich nicht um ihn. Sie blieben sitzen und hielten ihre
Blicke auf den großen Guru gerichtet. Bill wanderte durch die dunkleren Stellen des Raumes. Er kam sich vor wie von lebenden Schatten umzingelt und war froh, als er die Tür öffnete und die Halle betrat. Hier verteilte sich tatsächlich eine bessere Luft, sodass Bill zu‐ nächst tief durchatmete. Danach drückte er den einen Türflügel leise zu. Seine Befürchtung, nicht allein zu sein, bestätigte sich leider. Das Catering‐Personal hielt sich noch immer in diesem Raum auf, denn nach der Seance gab es ebenfalls noch etwas zu trinken und die restlichen Fingerfoods. Der Reporter wollte nicht, dass sein Gespräch mit angehört wurde. Mit einer gemurmelten Entschuldigung auf den Lippen ging er nach draußen, froh darüber, dem steifen Butler nicht in die Arme gelaufen zu sein. Er blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. Es war fast dunkel geworden. Der kleine Park lag vor ihm als gespenstische Kulisse. Hin und wieder spielte der Wind mit den noch jungen und kleinen Blättern der Bäume, ohne bei ihnen jedoch ein Rauschen zu hin‐ terlassen. Das Handy hielt Bill bereits in der Hand. Jetzt konnte er nur hof‐ fen, dass John seinen Apparat nicht ausgestellt hatte. Das Pech widerfuhr ihm nicht. Zum ersten Mal seit längerer Zeit huschte wieder ein Lächeln über seine Lippen …
* »Bill«, sagte ich überrascht, als ich wieder die Stimme meines Freundes hörte. »Du hast dich nicht getäuscht.« »Und? Warum rufst du an?« »Es passt dir nicht, wie?« »Nicht so recht.« »Kann ich mir denken, wenn man in der Nähe einer Frauenleiche
steht und eine andere Frau die Begleiterin ist, die aussieht wie die Tote, aber noch lebt.« Ich hatte jedes Wort gehört und glaubte, dass mich der große Klopfer erwischt hatte. »Jetzt bist du baff, nicht?« »Moment mal, Bill«, sagte ich und wechselte den kleinen Apparat von meinem linken ans rechte Ohr. »Hast du zufällig deinen Geist auf die Reise geschickt, damit er alles sehen kann?« »Dann stimmt es also doch, was ich gesagt habe?« »Alles. Perfekt.« »Nun ja …« Er wollte sicherlich noch etwas sagen, aber mich hatte er inzwi‐ schen auf Tausend. Ich fühlte mich wie ein Rennwagen, dessen Mo‐ tor soeben gestartet worden war, der aber noch auf das Senken der Startflagge wartete. »Was ist passiert, Bill? Wieso weißt du, was ich in meiner Umge‐ bung sehe. Wie hast du meinen Aufenthaltsort herausgefunden? Ich habe nicht mal Suko Bescheid gegeben und bin mit Lorna Peel allein hier.« »Und wie heißt die Tote?« »Harriet Peel.« »Super, John, dann stimmt alles.« »Nein, verflucht. Nichts stimmt. Woher …« »Darf ich das erklären?«, fragte Bill mit ruhiger Stimme. »Ich bitte darum.« »Du musst mir versprechen, mich nicht zu unterbrechen.« »Ich werde mir Mühe geben.« »Dann hör zu.« Und ich hörte zu. Was Bill Conolly mir sagte, klang durchaus wahrscheinlich, aber auf einer gewissen Ebene auch unwahrschein‐ lich, denn nachzuvollziehen war das eigentlich kaum. Ich kannte diesen Lucio nur aus den Erzählungen der Lorna Peel. Jetzt musste ich mir eingestehen, dass er mich kannte, jedoch nicht genau wuss‐ te, wer ich wirklich war. Er hatte etwas herausgefunden. Er hatte gespürt, dass ich ihm nicht passen konnte und womöglich Proble‐
me mit mir bekommen würde. »Und was sagst du jetzt, John?« »Das ist nicht einfach.« »So denke ich auch.« »Wie schätzt du ihn ein?« Bill unterdrückte das leise Lachen nicht. »Ich habe mir gedacht, dass du diese Frage stellen würdest. Ich kann dir leider keine kon‐ krete Antwort geben. Ich weiß nicht, wie ich ihn einschätzen soll. Es ist zu schwer, hinter seine Fassade zu schauen.« »Wir können aber davon ausgehen, dass er ein normaler Mensch ist – oder?« »Können wir das wirklich, John?« »Das musst du wissen.« »Er sah zumindest so aus. Es lief ja alles normal. Typisch für eine Seance. Bis er plötzlich auf den falschen Weg geriet, und jetzt muss ich sagen, dass du ihn abgelenkt hast.« »Ha, ich?« »Wer sonst?« »Bill«, sagte ich leise, »ich denke da mehr an mein Kreuz. Ver‐ stehst du? Er muss es gespürt haben, und wir können schon jetzt behaupten, dass er auf der anderen Seite steht. Zudem ist er ein Mörder. Das dürfen wir nicht vergessen.« »Bist du sicher?« »So gut wie. Ich war kein Zeuge, doch es gibt einfach keine ande‐ re Lösung.« Bill blieb weiterhin neugierig. »Und wie bist du überhaupt mit dieser jungen Frau zusammengekommen?« »Das ist ebenfalls eine recht fantastische Geschichte.« »Ich habe noch Zeit.« Das wusste ich ja. Da Bill zu einem weiteren Mittelpunkt des Falls geworden war, sah ich keinen Grund, ihn nicht voll und ganz einzuweihen. Jetzt war er es, der in den folgenden Minuten zuhörte. Ich erzähl‐ te ihm alles, was mir widerfahren war, und er konnte nur staunen. Aus seinem Mund drang hin und wieder der Ansatz einer Frage,
die ich aber schnell erstickte. »Also haben wir wieder etwas gemeinsam am Bein!«, fasste ich zusammen. »Du sagst es.« »Und weiter?« »Du bleibst am Ball. Ich natürlich auch. Wobei ich davon ausge‐ he, dass dieser Lucio noch etwas mit meinem Schützling vorhat. Da ist auch der Name einer Gruppe aufgetaucht, die sich Freunde der Engel nennt. Kannst du damit etwas anfangen?« »Tut mir Leid, davon habe ich noch nie etwas gehört. Woher weißt du das?« »Lorna Peel hat diese Gruppe genannt.« »Ich bin überfragt. Aber ich könnte nachhaken.« »Ja, tu das. Eines haben wir vergessen. Mich würde wirklich in‐ teressieren, wo du bist. Das hast du mir bisher nicht gesagt.« Er gab mir die Adresse durch. »Das ist ziemlich weit von hier.« »Wieso? Willst du kommen?« »Wahrscheinlich. Ich denke nicht, dass die Musik hier spielt. Es sei denn, dieser Lucio verlässt die Sitzung und macht sich auf den Weg zu dieser Gartenanlage.« »Das ist durchaus möglich. Ich gehe wieder rein, und wir bleiben in Verbindung.« »Versteht sich, Alter. Und gib verdammt gut Acht. Mit diesem Lucio ist nicht zu spaßen.« »Weiß ich selbst.« Unser Gespräch war beendet, und ich atmete zunächst mal tief durch. Bills Anruf hatte mich aus einer gedanklichen Lethargie gerissen, denn ich hatte nicht gewusst, wie es weitergehen sollte. Das tote Mädchen und seine Schwester waren einfach zu wenig ge‐ wesen. Hinzu aber kam Lucio. Bisher war er nur ein Name gewesen. Ein Phantom. Das Lauern im Dunkeln, wie mir Lorna gesagt hatte. Allmählich hatte er Gestalt angenommen. Ich wusste jetzt, dass er aus Brasilien stammte und
ein Medium war. Jemand, der es schaffte, die Verbindung zwischen zwei Ebenen, dem Diesseits und dem Jenseits, herzustellen, ein Erbauer von Brücken. Mir war auch bekannt, dass es diese sensi‐ tiven Menschen gab. Allerdings waren sie rar, denn die meisten Personen, die sich als so etwas ausgaben, konnte man einfach nur als Scharlatane und Betrüger ansehen. In diesem Fall nicht. So würden wir uns auf eine harte Ausein‐ andersetzung einstellen müssen. Ich wäre natürlich gern ohne den Ballast einer gewissen Lorna Peel gewesen. Doch wohin mit ihr? Ich konnte sie nicht einfach wegschicken und ihrem Schicksal überlassen. Nein, da musste es schon eine andere Möglichkeit geben, und die lag auf der Hand. Lorna musste bei mir bleiben, auch wenn sie dem Mörder ihrer Schwester begegnete. Kein einfaches Schicksal. Ich würde sie behutsam darauf vorbe‐ reiten müssen. Ich warf einen letzten Blick durch die Anlage. Sie dunkelte immer mehr ein. Über die Leinwand des Himmels schoben sich die dunklen Vorboten der Nacht. Es war auch etwas kühler geworden. Jenseits des Geländes leuchteten die Lichter wie ferne kalte Augen. Langsam drehte ich mich wieder um. Da hörte ich aus der Laube Lornas Schrei!
* Bill Conolly hätte nie in seinem Leben gedacht, dass sich die Dinge so entwickeln würden. Okay, er war Griffins Einladung mit ge‐ mischten Gefühlen gefolgt, dass jedoch sein bester Freund John Sin‐ clair noch mitmischen würde und dass es sogar zu einem Mord ge‐ kommen war, hätte er nicht im Traum gedacht. War alles Zufall gewesen oder hatte der Gastgeber etwas gewusst und die Dinge entsprechend gelenkt? Er kannte Phil Griffin nicht so gut. Sie waren einige Male zu‐ sammengetroffen und hatten geschäftlich miteinander gesprochen.
Das war auch alles gewesen. Was wirklich hinter ihm steckte und welche Pläne er verfolgte, war Bill unbekannt. Oder basierte alles nur auf einem Zufall? Das hätte auch sein können, aber der Reporter war ein Mensch, der nicht so sehr an Zufälle glaubte. Wenn etwas wie Zufall aussah, steckte des Öfteren auch Methode dahinter. Der Reporter drehte sich wieder um. Er wollte zurück ins Haus und würde diesen Guru nun mit anderen Augen sehen, das stand für ihn fest. Nicht mehr so harmlos. Mehr als Mörder. Er musste wieder klopfen. Diesmal öffnete nicht der arrogante Butler, sondern ein Mädchen vom Catering‐Service. Bill bedankte sich und ging an ihr vorbei. Er war in seine Ge‐ danken versunken, weil er darüber nachdachte, wie er sich dem Guru gegenüber verhalten sollte. Völlig objektiv konnte er ihm nicht mehr gegenübertreten, und deshalb würde er versuchen müssen, ein guter Schauspieler zu sein. Zunächst konnte er sich den Guru aus dem Kopf schlagen, denn die rechte Hälfte der Doppeltür wurde geöffnet und Phil Griffin verließ den Raum. Er war in Eile, seine Bewegungen deuteten dar‐ auf hin. Aber er zuckte zurück, als er Bill sah. »Da sind Sie also!« »Ja, warum …?« Griffin schloss für einen Moment die Augen. Er wirkte erleich‐ tert, als wären zahlreiche Sorgen von ihm abgefallen. Doch das nahm der Reporter ihm nicht so recht ab. Hier war das Leben mehr ein Spiel, das auf einer bestimmten Bühne ablief. »Sie waren so lange fort.« Bill grinste schief. »Ehrlich gesagt, die Luft in diesem Raum war nicht gut.« »Da haben Sie Recht. Aber es ging nicht anders. Lucio hat verlangt, dass nichts offen steht. Denn er darf durch nichts in seiner Konzentration gestört werden.« »Sie glauben also noch immer, dass er mit dem Jenseits Kontakt aufnehmen kann?« Griffin rieb seine Hände. Die Frage hatte ihn in leichte Verlegen‐
heit gebracht. »Was heißt hier schon Jenseits, Mr. Conolly? Wir kennen diese Sphäre nicht. Ich denke aber, dass sie sehr viel‐ schichtig ist. Ob man unbedingt mit den Seelen der Verstorbenen eine Verbindung bekommt, ist nicht immer garantiert.« »Er hat es ja nicht geschafft.« »Das ist wohl wahr.« »Warum nicht? Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?« »Nein, noch nicht. Lucio war erschöpft und durcheinander. Dieses Bild, das er sah, muss ihn etwas aus der Fassung gebracht haben. Er hat jetzt noch damit zu kämpfen.« »Eine Überraschung also?« »Ja.« »Selbst für ihn?« Griffin deutete ein Kopfschütteln an. »Was wollen Sie damit andeuten, Bill? Ich habe das Gefühl, dass Sie unzufrieden sind.« »Nun ja, zufrieden bin ich nicht. Ich frage mich die ganze Zeit, was er da gesehen hat. Das ist doch keine Szene aus dem Jenseits gewesen, obwohl es eine Tote gab.« Griffin seufzte leicht. »Wir sollten uns von dem Gedanken befrei‐ en, dass dieses Jenseits nur aus den Seelen der Toten besteht oder wie auch immer. Ich habe selbst noch keinen Blick hineingeworfen, aber ich könnte mir vorstellen, dass es sehr vielschichtig ist.« »Denken Sie an Ebenen?« »Ja.« Bill lächelte bei seiner nächsten Frage. »Die auch bewohnt sein könnten, von wem auch immer?« »Genau das.« Jetzt kam Bill auf den Punkt. »Natürlich auch von Engeln, wenn man den Faden weiterspinnt.« Griffin sagte nichts. Er schluckte und schaute Bill ins Gesicht. »Engel«, flüsterte er, »wie kommen Sie denn gerade auf Engel, Mr. Conolly?« »Nun ja, sie gehören dazu. Zum Jenseits. Zu den anderen Welten. Sie wissen selbst, worüber ich schreibe. Da bleibt es nicht aus, dass ich mich mit bestimmten Themen beschäftige. So bin ich auch auf
die Engel gekommen. Ganz einfach.« Griffins Verhalten änderte sich. Er war misstrauischer geworden. Bill sah es in seinen Augen. Auch die nächste Frage deutete darauf hin. »Wissen Sie denn mehr über die Engel? Haben Sie sich mit diesem Thema beschäftigt?« »Nicht so sehr wie die Engel es tatsächlich verdient hätten. Es ist sehr interessant. Ein wenig weiß ich schon. Leider nur so viel.« Bill deutete den Raum mit Daumen und Zeigefinger an. Trotzdem war bei Griffin die Neugierde geblieben. »Und was ist es? Wollen Sie darüber reden?« »Gern. Es ist ja kein Geheimnis, wenn ich es Ihnen sage. Engel und Menschen haben im Laufe der Zeit schon immer eine besonde‐ re Verbindung gehabt. Ich will da nur die Funktion des Schutz‐ engels erwähnen. Man mag daran glauben oder nicht, Mr. Griffin, aber das Gebiet der Engel ist nicht nur etwas für Kinder, denen da‐ mit das Weihnachstfest verschönt wird. Auch Erwachsene zeigen großes Interesse daran. Als Gleichgesinnte finden sie sich sogar zu‐ sammen. So habe ich zum Beispiel von einer Gemeinschaft gehört, die sich Freunde der Engel nennt …« Bill ließ seine Worte langsam ausklingen. Er achtete dabei genau auf die Reaktion seines Gegenübers. Phil Griffin sagte zunächst kein Wort. Er löste den Blick auch nicht von Bills Gesicht und sah aus, als würde er nach Worten su‐ chen, die er recht schnell gefunden hatte. »Wie kommen Sie ausgerechnet darauf, Bill?« »Es fiel mir nur ein«, erwiderte der Reporter lächelnd. Griffin nickte. »Ja, Sie haben sich nicht geirrt. Es stimmt. Es gibt den Club oder die Vereinigung. Und wenn Sie mich anschauen, se‐ hen Sie den Vorsitzenden der Freunde der Engel vor sich …«
* Der Schrei war für mich ein Alarmsignal gewesen. Ich war wäh‐
rend des Gesprächs etwas tiefer in den Garten gegangen, dann fuhr ich herum und schien über den Boden zu fliegen. Schwungvoll zerrte ich die Tür auf und schaute in die Laube hin‐ ein. Das Bild, das sich mir bot, war prägnant und auch unvergess‐ lich. Zuerst sah ich Lorna Peel. Sie hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt und war dort in ihrer Angst erstarrt. Was sie sah, war auch unglaublich. Ihr Blick war auf Harriet gerichtet, die nicht mehr am Boden lag. Wie von unsichtbaren Armen getragen schwebte der leblose Kör‐ per der Laubendecke entgegen, als sollte er auf diese Art und Weise entsorgt werden. Es war schon erstaunlich, und auch mich nahm der Anblick so stark mit, dass er mich für einen Moment auf der Stelle bannte. Lorna schrie wieder. Diesmal leiser. Das war für mich der Moment, um einzugreifen!
* Der Reporter hatte sich während des Gesprächs ziemlich sicher ge‐ zeigt. Damit war es jetzt vorbei. Nach Griffins Antwort wusste er zunächst nicht, was er sagen sollte. Er wich nur etwas zurück und stieß dabei den Atem aus. »Damit haben Sie nicht gerechnet – oder?« »Nein«, gab Bill zu. »Beim besten Willen nicht. Sie sind Vor‐ sitzender dieses Vereins, Mr. Griffin?« »Bitte, Bill, bitte. Sagen Sie nicht Verein. Das hört sich so profan an. Wir sind kein Verein, sondern eine Gemeinschaft Gleichgesinn‐ ter.« »Verstehe«, murmelte Bill. »All die Menschen, die an der Sitzung teilgenommen haben, kann man als Mitglieder betrachten.« »Das ist schon besser.« »Okay, akzeptiert.« Bill hatte sich wieder gefangen. »Und welch
einem Zweck dient der Verein?« Phil Griffin lächelte. »Er dient der Kommunkation. Er soll das Verständnis zwischen Engeln und Menschen fördern. Dafür tun wir wirklich eine Menge.« »Vorausgesetzt, jeder glaubt daran, dass es Engel gibt.« »Das ist klar. Wir glauben auch daran. Sie nicht, Bill?« Bill wich etwas aus. »Schon«, gab er zu. »Nur vielleicht anders als Sie.« »Wie denn?« »Ach, lassen wir das. Mich interessiert mehr dieser Lucio. Ist er in der Lage, die Verbindung zwischen Ihnen, den Menschen, und den Engeln herzustellen?« »Ja, deshalb haben wir ihn geholt.« »Und was sollte ich dabei?« »Darüber später berichten, dass es Engel gibt. Sie publik machen. Wir wollen, dass sie ein Image bekommen. Wir möchten, dass die Menschen an sie glauben. Sie sollen die Beweise dafür liefern.« »Ich habe noch keinen Engel gesehen.« »Das ist leider der Fall. Lucio wurde abgelenkt. Etwas hat ihn ge‐ stört. Er kam nicht durch. Ein anderes Ereignis hat ihn – sagen wir – davon abgehalten. Wir haben nicht damit rechnen können, und jetzt rätseln wir, wer oder was es gewesen sein könnte.« Der Blick des Mannes sprach Bände. Er war weiterhin auf Bill gerichtet, und der Reporter brauchte nur in die Augen seines Gegenübers zu schauen, um erkennen zu können, dass Phil Griffin einen bestimmten Verdacht gegen ihn hegte. »Sie haben mich in Verdacht, nicht wahr?« Griffin wand sich. »Nicht unbedingt. Allerdings gebe ich zu, dass wir daran gedacht haben.« »Sehr gut.« »Bitte, nehmen Sie es nicht persönlich …« »Aber Sie haben mich eingeladen«, unterbrach Bill den Mann. »Es ist richtig. Ich konnte ja nicht wissen, dass sich Lucio gestört fühlt.« »Ach ja, Lucio. Da fällt mir etwas ein.« Bill brachte seine nächste
Frage lächelnd hervor. »Was wissen Sie eigentlich über ihn? Können Sie das sagen?« »Wissen …?« »Klar. Woher er kommt. Was er an besonderen Gaben mitbringt. Das ist wichtig.« »Lucio ist eine Kapazität«, erklärte Griffin nach einer Weile. »Dabei gebe ich zu, dass er nicht jedem Menschen auf der Welt be‐ kannt ist. Nur Eingeweihten. Er stammt aus Brasilien, wo ihn man‐ che Menschen wie einen Heiligen verehren. Seine Fähigkeiten sind unübertroffen. Wer von uns schafft es schon, Kontakt mit anderen Sphären aufzunehmen und uns Menschen darüber zu berichten?« »Das ist in der Tat ungewöhnlich. Haben Sie nie daran gedacht, dass es auch in den von Ihnen erwähnten anderen Sphären einen Dualismus gibt?« »Wie soll ich das verstehen?« »Gut und Böse. Hell und Dunkel …« »Moment, Bill. Was hat das mit den Engeln zu tun?« »Meinen Sie, dass es nur gute Engel gibt? Könnte es nicht sein, dass sich auch andere unter diese guten gemischt haben? Ich denke mir, dass so etwas möglich ist …« Griffin schwieg zunächst. Er schaute misstrauisch. »Können Sie das genauer sagen?« »Ja, das kann ich. Ich denke über den Namen Lucio nach.« »Ein völlig normaler …« »Bitte, Phil, lassen Sie mich ausreden. Lucio ist auch ein normaler Name. Er leitet sich meiner Ansicht nach von etwas ab. Von einem anderen Namen. Es muss nicht zutreffen, was ich Ihnen jetzt sage, aber ausgeschlossen ist es ebenfalls nicht.« »Reden Sie schon.« »Luzifer!«, sagte Bill trocken. Phil Griffin schien geschockt zu sein. Zumindest hatte er kurzfris‐ tig seine Sprache verloren. Er behielt seinen starren Blick bei und schüttelte den Kopf. Danach fing er sich wieder. Seine Antwort be‐ gann mit einem Stöhnen. »Bitte, ich weiß ja, dass … aber Luzifer …? «
»Sie kennen ihn?« »Es ist der Teufel.« »So kann man es auch sagen. Aber dieser Teufel war mal ein Engel, wenn man dem alten Mythos Glauben schenken darf. Er hat versucht, die Stelle des Allmächtigen einzunehmen. Er war in sei‐ ner Gier unbeschreiblich. Es gelang ihm nicht. Er wurde zusammen mit seinen Getreuen in die Tiefe gestürzt, und so ist nach Auf‐ fassung vieler die Hölle und auch das Fegefeuer entstanden. Um noch mal auf Ihren Freund zurückzukommen. Ich habe nur beide Namen miteinander verglichen. Nicht mehr und nicht weniger. Der Gedanke darf mir schon erlaubt sein.« Griffin konnte es noch immer nicht fassen. Er holte ein Tuch aus der Innentasche seines Jacketts und wischte damit den Schweiß aus dem Gesicht. So ganz schaffte er es nicht und schüttelte dabei auch den Kopf. »Was immer Sie gesagt haben, Bill, ich kann Ihnen beim besten Willen nicht folgen. Es tut mir Leid, denn so wie Sie haben wir in unserer Vereinigung nicht gedacht. Wir dienen doch nicht dem Teufel.« »Nun ja. Zumindest nicht offiziell.« »Hören Sie auf. Ich lasse mir da nichts einreden.« »Das will ich auch nicht. Aber bleiben wir bei den Fakten, bevor wir wieder hineingehen. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Sagt Ihnen der Name Harriet Peel etwas?« Der Mann brauchte keine Antwort zu geben. Bill sah ihm an, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Dann bekam er die akustische Be‐ stätigung. »Ja, der Name sagt mir etwas. Harriet Peel hat zu uns ge‐ hört. Sie war so herrlich jung. Die Jüngste von uns. Sie kannte Lucio am besten.« »Wieso?« »Ich weiß es nicht. Sie hat ihn praktisch geholt. Sie hat uns auf ihn gebracht.« »Und sie ist heute Abend nicht dabei.« »Das ist richtig.« »Kennen Sie den Grund?« »Sie ist Tänzerin und musste auf die Bühne.«
»Das meinen Sie.« »Ach, und Sie wissen es besser?«, höhnte Griffin. »Genau. Nicht weil sie auf die Bühne muss, kann sie nicht kom‐ men. Sie wird nie mehr kommen, denn sie ist tot. Wenn mich nicht alles täuscht, wurde sie sogar ermordet. Und ich könnte mir vor‐ stellen, dass der Mörder im Nebenraum sitzt.« Phil Griffin wirkte wie vom Schlag getroffen. Er konnte nichts mehr sagen. Sein Mund schnappte zu. Er wurde bleich. Wäre ein Stuhl in der Nähe gewesen, er hätte sich sicherlich gesetzt. So aber blieb er stehen und schaute Bill fassungslos an. »Das war leider kein Witz, Phil.« Griffin räusperte sich. Er musste seine Gedanken erst sammeln, und Bill gab ihm die nötige Zeit. Wieder wischte er über sein Gesicht. Danach hatte er sich einigermaßen gefangen. Das Tuch hing wie ein zitternder Lappen eingeklemmt zwischen seinen Fingern herab nach unten. »Woher wissen Sie das?« »Ganz einfach. Erinnern Sie sich daran, was unser Freund in sei‐ ner Trance gesehen hat. Er hat alles aufgezählt. Auch das tote Mäd‐ chen oder die tote Frau …« »Aber er hat nicht gesagt, dass es Harriet ist.« »Schon richtig. Ich habe es jedoch von dem Mann erfahren, der bei ihr ist. Die Beschreibung trifft auf meinen besten Freund zu. Er heißt John Sinclair und ist …« Griffin winkte ab. »Sie brauchen mir nicht zu sagen, wer John Sinclair ist. Ich weiß mit dem Namen etwas anzufangen.« »Das hört sich schon mal gut an.« Griffin, der starke Unternehmer, der Mann, der immer unter Dampf stand, sackte innerlich zusammen. Es war sogar zu sehen, wie er seine Energie verlor. Er schaute ins Leere. Seine Lippen zitterten, und es war ihm unmöglich, auch nur einen vernünftigen Satz zu sprechen. Er ging schließlich zu einem Fenster und schaute in die Dunkelheit. Das Personal von der Catering‐Firma hielt sich im Hintergrund auf. Ob die Unterhaltung verstanden worden war, sah Bill den
jungen Leuten nicht an. Sie jedenfalls waren gehalten, sich nicht einzumischen. Auch er wartete ab, bis Griffin sich erholt hatte. Mit einer müden Bewegung drehte er sich um. Dabei hörte Bill seinen Atem aus dem Mund pfeifen. »Und was machen wir jetzt?«, flüsterte er. »Haben Sie schon eine Idee?« »Wir werden hineingehen.« »Und dann?« »Lassen wir uns nach Möglichkeit nichts anmerken. Die Seance wird doch bestimmt fortgesetzt – oder?« »Das denke ich schon. Lucio hat nur um eine kleine Pause gebe‐ ten.« Vor Bill blieb Griffin stehen. »Glauben Sie wirklich, dass sein Name sich von Luzifer ableitet?« »Bei ihm muss man damit rechnen.« »Das wäre ja grauenhaft!« »Im Prinzip schon. Nur sollten Sie daran denken, dass eine er‐ kannte Gefahr nicht mehr so schlimm ist. Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich sogar auf eine Fortführung der Sitzung gespannt.« »Das kann nicht wahr sein.« »Doch, warum nicht?« »Aber wenn er …« »Er wird sich nicht zeigen, nicht seine wahre Gestalt preisgeben. Noch nicht. Er kann die Freunde der Engel nicht enttäuschen. Es kann ja sein, dass er einen entsprechenden Kontakt bekommt. Dann bin ich gespannt, wen er uns auftischen will.« »Ja, das bin ich auch, Bill. Trotzdem kann ich Ihnen nicht ganz glauben. Auch wenn für mich eine Welt zusammengebrochen ist. Ich kann nicht glauben, dass Sie das so locker nehmen und nichts unternommen haben. Sie sind nicht der Typ dafür.« »Moment mal, wer sagt Ihnen denn, dass ich nichts unternom‐ men habe?« »Haben Sie?« »Ja.« »Und was?« »Da würde ich mich an Ihrer Stelle überraschen lassen, Phil. Es ist besser so.«
Griffin sagte zunächst nichts. Bis er mit leiser Stimme fragte: »Oder meinen Sie Sinclair?« »Vielleicht.« Griffin fragte nichts mehr. Er stöhnte nur auf und senkte den Kopf. »Ich begreife es nicht«, flüsterte er. »Ich kann es nicht fassen. Wir, die Freunde der Engel, hatten wirklich lautere Absichten. Ich wollte sie aus ihrem gläsernen Turm hervorholen. Ich habe mir cross mediale Produkte vorgestellt. Bücher und Serien über Engel. Print und TV zugleich. Und jetzt ist alles anders geworden. Mir kommt es vor, als hätte mir die Hölle einen Strich durch die Rech‐ nung gemacht. Kann man das sagen? Oder wie finden Sie den Ver‐ gleich?« »Treffend«, erklärte Bill Conolly, während er nickte und zugleich den rechten Flügel der großen Doppeltür öffnete. Dabei kam ihm der Gedanke, den Teufel zu besuchen …
* Die tote Harriet Peel hatte auf dem Boden gelegen. Da lag sie jetzt nicht mehr. Was Lorna und ich sahen, entstammte keiner Halluzi‐ nation, es war die reine Realität, auch wenn dieses Phänomen nicht so leicht zu begreifen war. Lorna schrie nicht mehr. Sie schien keine Kraft mehr zu haben. Es war ihr Glück, dass die Wand als Stütze diente. Sie zitterte am ge‐ samten Leib und presste auch ihre Handflächen rechts und links des Körpers gegen die kalten Fläche. Ich blieb ruhig, auch wenn mich der Anblick zunächst ziemlich geschockt hatte. Auf dem Boden lag die Blutlache als makabre Er‐ innerung. Nur die heftigen Atemstöße der jungen Frau waren zu hören. Erst jetzt hatte sie mein Eintreten wohl richtig bemerkt. Sie streckte den Arm aus und wies mit zittrigen Bewegungen gegen die Decke, unter der die Gestalt noch nicht schwebte. Aber die Tote war dabei, an Höhe zu gewinnen. Es würde nicht lange dauern, bis sie dort war.
»Es war so plötzlich … so plötzlich«, flüsterte Lorna. Ihre Stimme war kaum zu verstehen. »Auf einmal erhob sie sich. Einfach so. Ich habe sie nicht berührt, nicht angestoßen. Alles ging von allein. Dann … dann … oh Gott, ich fasse es nicht.« Das war verständlich. Selbst ich hatte meine Überraschung erst überwinden müssen, aber ich würde etwas tun müssen, das stand fest. Bisher hatte ich die Leiche nicht berührt. Das würde nicht mehr so bleiben. Ich wollte nicht, dass sie uns, auf welche Weise auch immer, entwischte, ich wollte sie aufhalten. Aber ich tat zuvor etwas anderes. Ich fasste nach der Kette an meinem Hals, zupfte daran und zog so das Kreuz vor meiner Brust hoch. Täuschte ich mich oder strahlte das Silber tatsächlich eine leichte Wärme ab? Als ich die Laube betreten hatte, schwebte die Tote etwa knie‐ hoch über dem Grund. Inzwischen war etwas Zeit vergangen. Auch wenn sie sehr langsam in die Höhe glitt, war sie bereits über meinen Gürtel gedrungen und näherte sich dem Brustkorb. Es war Zeit, etwas zu unternehmen. Noch setzte ich das Kreuz nicht ein. Ich wollte versuchen, sie mit der Hand zu stoppen. Vielleicht bekam ich die Tote wieder zurück auf den Boden. Das Kreuz blieb noch in meiner Tasche verschwunden. So hatte ich beide Hände frei. Lorna meldete sich. »Was wollen Sie tun, John?« »Bitte, lassen Sie mich.« »Okay.« Die Leiche war hoch genug gestiegen, um beide Hände auf sie zu legen. Ich sorgte dafür, dass ich nicht die Wunde berührte und da‐ durch blutige Finger bekam. Die Kälte des Todes drang durch den dünnen Stoff bis an meine Handflächen. Es war wirklich kein gutes Gefühl, so etwas spüren zu müssen. Ich merkte, dass sich auf meinem Rücken ein kalter Schauer bildete. Aber ich nahm die Hände nicht weg. Und ich spürte den Gegendruck. Es war kaum zu fassen. Die Tote erzeugte von unten her einen
Druck. Sie wollte nicht angehalten werden und ihren Weg zur De‐ cke fortsetzen. Irgendjemand oder irgendetwas – eine Kraft mögli‐ cherweise, die ich nicht kannte – wirkte dagegen. Für mich war sie nur eine Marionette in den Händen einer anderen Gewalt. Da fiel mir natürlich der Name Lucio ein. Die Freunde der Engel ebenfalls. Er war ihr Anführer, aber er war nicht hier, sondern einige Meilen entfernt, wie ich von Bill Conolly wuss‐ te. Trotzdem besaß er die Macht, diese Tote hier zu manipulieren, denn eine Alternative dazu fiel mir nicht ein. Ich konnte diese Aktion nicht unbedingt als einen Kampf anse‐ hen. Es war schon ein Messen der Kräfte, dem ich mich nicht mehr länger stellen wollte. Von meiner Position aus gelang mir ein Blick in das wachsbleiche Totengesicht der jungen Frau. Ich tat es nicht aus reinem Spaß, denn ich dachte auch daran, wie oft ich schon gegen Zombies, lebende Leichen, gekämpft hatte. Und hier? Zum Glück hatte ich es bei Harriet nicht mit einem derartigen Wesen zu tun. Meiner Ansicht nach war sie nur manipuliert worden, und das durch eine fern wirkende Kraft. Es stand unentschieden. Sie bewegte sich nicht mehr, aber ich konnte auch nicht nachgeben. Lorna hatte mich beobachtet. Als ich sie sprechen hörte, warf ich einen Blick nach links. Aber sie lachte zuvor. »Ha, ha, ha … kann es sein, dass sie noch lebt?« »Nein, Lorna, nein.« »Aber sie …« »Es ist etwas anderes. Wir erleben hier eine fremde Macht. Sie jetzt zu erklären, wäre zu schwierig, das müssen Sie mir glauben. Aber ich werde dafür sorgen, dass sie nicht gewinnt. Ich kann ihr noch etwas entgegensetzen.« »Wo will sie denn hin?« »Ich weiß es nicht!«, flüsterte ich zurück, »aber ich habe das Ge‐ fühl, nicht gegen sie zu kämpfen, sondern gegen einen unbekann‐ ten Feind, der sich recht weit von uns entfernt befindet.«
»Lucio?« »Wahrscheinlich.« »Können Sie gewinnen?« Ja, das war wohl möglich, obwohl ich es ihr nicht sagte. Dafür brauchte ich einen bestimmten Gegenstand. Ich war davon über‐ zeugt, mit meinem Kreuz einiges ändern zu können. Am besten wäre natürlich ein Zurückkehren ins menschliche Dasein gewesen. Daran jedoch wagte ich nicht erst zu denken. Das schloss ich sogar aus. Harriet Peel war tot. Ich wollte nur, dass sie von der anderen Kraft endgültig erlöst wurde. Deshalb löste ich die linke Hand von ihrem Körper. Ihre Hände waren – zusammen mit den Armen – nach unten gesunken. Sie hingen wie zwei bleiche Stöcke vom Kör‐ per ab. Ich holte das Kreuz hervor – legte es auf den Körper … Was dann passierte, war unglaublich …
* »Nicht mehr sprechen, nicht reden. Bitte das Atmen einschränken. Ich brauche die Ruhe …« Bis auf Phil Griffin waren die Freunde der Engel in dem von Kerzenlicht erfüllten Raum zurückgeblieben, und sie saßen noch immer so starr auf ihren Stühlen. Lucios Worte hatten dafür gesorgt, dass dies auch in der nahen Zukunft so blieb, denn was er nun vorhatte, bedurfte seiner ge‐ samten Kraft und Konzentration. Er wollte nicht nur den Feind finden. Er wollte auch mit ihm die Kräfte messen, und das, ohne ihn zu sehen und zudem auf eine recht große Entfernung hin. Noch einmal bewegte er seine Augen. Die Teilnehmer gehorch‐ ten. Sie waren die Freunde der Engel. Sie würden alles tun, um an ein bestimmtes Ziel zu gelangen. Sie waren unkritisch. Alles was die Engel oder deren Vertreter in die Wege leiteten, hielten sie für
gut. Lucio konnte sich auf sie verlassen. So lange er sich in ihrer Nähe aufhielt, würde auch sein Bann bestehen bleiben. Er war auch das Dunkle, das Böse, das so versteckt lauerte. Es konnte warten. Wenn es jedoch gerufen wurde, war er zur Stelle. Wieder umfasste er mit seinen Händen die Pyramide. Sie war sein Katalysator, denn sie allein bündelte die Kräfte, die er benötig‐ te, um seine Macht zu erhalten. Lucio streichelte sie mit den Händen. Sehr gefühlvoll von unten nach oben, wie jemand, der dabei ist, die gesammelten Kräfte in die Spitze zu senden, um sie von dort auf eine lange Reise zu schicken. Die Augen schauten ihm zu. Die Menschen wussten, dass sie et‐ was Besonderes erwarten konnten. Lucio würde ihnen den Weg zu den Engeln weisen. Niemand von ihnen dachte auch nur entfernt daran, dass die eigentliche Wahrheit ganz anders aussehen konnte. Die Mitglieder des Clubs wirkten am Tisch wie eine Staffage. Je‐ der saß starr auf seinem Stuhl. Und so wirkten sie wesentlich grö‐ ßer als Lucio, dessen Gestalt in sich zusammengesunken zu sein schien. Er hockte am Ende des Tisches und wirkte in seiner Haltung klein und bucklig. Einzig und allein seine Pyramide zählte für ihn. Seine Kräfte waren gebündelt. Das Gesicht schwebte wie ein blei‐ cher Fleck vor und über der Pyramide. Er bewegte seine Lippen, ohne dass die anderen auch nur ein Wort verstanden. Der Bra‐ silianer hatte Zeit genug gehabt, sich auf seinen Gegner einzu‐ stellen, und er wusste auch, dass es nicht einfach sein würde. Er musste den Feind finden. Er würde ihn finden. Der Feind be‐ saß etwas, dem Lucio nicht entgehen konnte. Es traf ihn. Es war eine Botschaft. Es war kein Freund. Sie würden aufeinander treffen, und er durfte ihn auf keinen Fall unterschätzen. Langsam fielen ihm die Augen zu. Er schlief nicht ein, auch wenn es so aussah. Lucio war nur konzentriert, denn in der Pyramide würde sich das Bild zeigen. Dass er mit der Verräterin noch so große Probleme bekommen würde, hätte er nicht gedacht. Und deshalb musste sie einfach entfernt werden. Ebenso wie ihr Schutz! Er war in ihrer Nähe. Jetzt, wo seine Konzentration sehr groß
war, nahm er es überdeutlich wahr. Die Aura des Fremden und des zu Hassenden hatte ihn längst erreicht. Er konnte sehen und fühlen! Nur spielte sich die Szene nicht direkt vor seinen Augen ab. Sie war entfernt, und er erkannte darin zwei Mittelpunkte. Zum einen war es eine Tote, zu der er jedoch eine Verbindung aufrecht erhielt. Zum anderen war es deren Beschützer. Der Fremde mit einer be‐ stimmten Waffe, die sehr gefährlich war. Lucio wusste, dass er sie einsetzen würde. Eiskalt, um alles zu be‐ enden. Das Medium begann zu zittern. In seinem Innern breitete sich ein regelrechter Aufruhr aus. Es gab nichts mehr, was er noch hätte tun können. Der Versuch war misslungen. Seine Kräfte waren zu schwach. Er hatte die eine erwischt, um sie von dem anderen wegzuholen. Jetzt war ihm klar, dass er dies nicht schaffte. Sein Mund öffnete sich. Kein Schrei entstand, obwohl er gern geschrien hätte. In der Py‐ ramide passierte etwas. Sie erhellte sich von innen. Nur war es ein normales Licht. Etwas kreiselte dort und zirkulierte. Unter seinen Händen erzitterte das Metall. Die Vibrationen waren alles andere als gut für ihn. Lucio war auch in einer solchen Realität. Er wusste genau, dass sie dem Angriff der anderen Seite kaum standhalten konnte. Noch gab es sie, und sie zeigte ihm ein für ihn schreckliches Bild. Eine Szene, die aus einem Albtraum stammte, die ihm seine Grenzen aufwies. Und dann, dann … Lucio löste seine Hände von der Pyramide. Die Arme fuhren hoch, und er schrie gellend auf, als aus dem Gegenstand vor ihm eine wilde Flamme in die Höhe schoss.
* Das Unglaubliche trat ein. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich kannte mein Kreuz. Ich hatte erlebt, dass es die dämonischen Feinde zerstörte. Ich war über alles sehr genau informiert, aber ich
erlebte wieder etwas Neues, was eine Zerstörung anging. Der Körper der Toten veränderte sich auf eine Art und Weise, die mich völlig überraschte. Es war kaum zu fassen, obwohl ich mit eigenen Augen zuschaute. Die Festigkeit verschwand, das kannte ich, wenn ich einen Vampir vernichtete, der alt genug war. Aber hier lief es anders ab. Harriet Peel verwandelte sich nicht in Staub, und trotzdem wurde sie zu Staub. Es fing bei ihrem Gesicht an. Zum einen leuchtete es für einen Moment auf. Sie schien als Lei‐ che in das ewige Licht hineingeglitten zu sein. Doch das stimmte nicht. Sie blieb in der Luft schweben, und ihr Kopf mit dem Gesicht war plötzlich zu einem silbrig schimmernden Etwas geworden, das sich aus unzähligen und winzigen Partikeln zusammensetzte. Hell. Auch silbrig und funkelnd. Kein normaler Staub. Nein, hier sah ich einen besonderen vor mir. Engelsstaub! Das Kreuz lag auf dem Körper der schwebenden Toten. Ich hatte es zwar von meiner Hand gelöst, hielt aber die Kette noch fest, weil ich die Verbindung nicht abreißen lassen wollte. Als mir der Begriff in den Sinn kam, hielt ich den Atem an. Ich stand und spürte trotzdem den Schwindel, der mich erfasst hatte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Das musste dieser Staub sein. Der Staub der Engel. Etwas Wunderbares auf der einen Seite, aber etwas Tödliches auf der anderen. Ich zog mein Kreuz vom Körper zurück und trat auch etwas von der schwebenden Leiche weg. So bekam ich einen besseren Blick auf den Körper, der noch immer nicht zu Boden fiel und dafür von den Auflöseerscheinungen erfasst wurde. Der Hals, die Brust, die Schultern, die Arme bis hin zu den Händen – jede Festigkeit verschwand. Es gab weder Haut noch Knochen. Es existierte nur dieser Staub, und der behielt die Form eines Menschen bei. Die zittrige Gestalt schwebte nach wie vor in Bauchhöhe, und die Verwandlung schritt fort. Sekunden später bestand Harriet Peel nur noch aus glitzerndem und funkelndem Engelsstaub. Unzählige Partikel blitzten und leuchteten. Da kam mir beinahe der Vergleich mit einer Wunder‐
kerze in den Sinn, nur war hier nichts zu hören. Im Mund und auch in den Augen hatten sich die Partikel ausge‐ breitet. Der Körper war auch innen davon erfasst worden, sodass nicht nur die Haut betroffen war. Ja, das musste Engelsstaub sein. Ich wusste noch keine andere Lösung. Meine Sinne waren gespannt. Ich hielt das Kreuz nach wie vor fest. Mir kam der Gedanke, dass Harriet Peel ein falscher Engel gewesen sein musste. Bei einem normalen wäre dies nicht passiert, denn die Engel standen für das Kreuz und nicht dagegen. Ich konnte nicht sagen, wie lange die Gestalt in der Luft schwe‐ bend vor mir gelegen hatte. Irgendwann war Schluss, da hielt sie nichts mehr zusammen. Und so wurden Lorna und ich Zeuge des endgültigen Todes dieser noch so jungen Frau. Ohne dass es einen Hinweis auf das Folgende gegeben hätte, fiel die Gestalt von einem Augenblick zum anderen zusammen. Noch einmal leuchtete jedes noch so winzige Körnchen, dann war es vor‐ bei. Der Engelsstaub rieselte zu Boden. Wir hörten nichts. Alles ge‐ schah lautlos, und ebenso lautlos trafen die unzähligen winzigen Teilchen auf dem Boden auf. Dort leuchteten sie nicht mehr weiter, sondern verglühten. Was zurückblieb, waren die Kleidung und auch die roten Schaftstiefel. Auch die Blutlache war nicht verschwunden. Erst jetzt löste sich meine Spannung. Ich konnte wieder normal durchatmen. Dann schaute ich auf mein Kreuz, das die Verant‐ wortung übernommen hatte. Ich steckte es weg, und ich drehte mich langsam um, weil ich Lorna anschauen wollte. Sie war ebenfalls eine Zeugin gewesen. Und es war ihre Schwester, die sich aufgelöst hatte. Ich wusste, dass in ihrem Innern etwas zerbrochen war. Eine Szene wie diese konnte kein Mensch auf der Welt so locker hinnehmen. Lorna sah auf den Boden. Ihren Rücken hielt sie noch gegen die Wand gedrückt. Sie jammerte leise vor sich hin, war aber nicht in der Lage, etwas zu sagen. Der Schock saß zu tief, und ich sah auch, dass sie zitterte. Wahrscheinlich fror sie, was bestimmt nicht an der
Kälte lag, sondern an den Umständen. »Lorna …« Sie hatte mich gehört und schrak zusammen. Ich berührte sie an der Schulter und wollte ihr Trost zusprechen so gut ich konnte, in diesem Fall war es jedoch nicht nötig. Zu‐ mindest jetzt nicht, denn sie sprach von allein. »Ist es vorbei?« »Ja.« Ich bekam mit, dass sie ihre Augen öffnete. Gleichzeitig hob sie auch den Kopf an. Sie schaute automatisch dorthin, wo die Klei‐ dung am Boden lag. Dabei drang ein Laut aus ihrer Kehle, der ein Lachen, aber auch ein Schluchzen hätte sein können. Ich spürte, dass ich Lorna in Ruhe lassen musste. Sie brauchte Zeit, um sich an die schreckliche Wahrheit zu gewöhnen. Zu meinem Erstaunen hielt sie sich sehr tapfer. Sie schrie nicht auf, sie drehte nicht durch und hielt ihren Blick auf die zusammengesack‐ ten Kleidungsstücke gerichtet. Dann begann sie zu sprechen. »Ich hatte mal eine Schwester, eine Zwillingsschwester. Wir haben uns nicht nur gemocht, wir haben uns geliebt. Wir waren als Kinder immer zusammen und untrenn‐ bar. Wir taten alles gemeinsam, aber jetzt ist es vorbei. Meine Schwester ist tot, sie ist irgendwo, ich kann nur für ihre Seele beten und mich daran erinnern, dass ich sie oft genug gewarnt habe, nicht den Weg zu gehen, den sie eingeschlagen hat. Sie war nicht zu be‐ lehren. Sie hat es einfach getan, weil die Freunde der Engel sie so fasziniert haben. Schon immer hat sie Engel gemocht. Egal, ob sie kitschig waren oder von irgendwelchen Künstlern modern gemalt oder gestaltet wurden. Die Engel waren ihre Freunde, und sie haben für ihren Tod gesorgt …« Ich ließ Lorna sprechen. Es musste so sein. Es war der Abschied von ihrer geliebten Schwester. Das musste sie sich einfach von der Seele reden. Und wieder holte sie Luft. Dann ballte sie die Hände zu Fäusten. »Aber keiner hat dir gesagt, wie grausam die Engel sein können!«, schrie sie in die Laube hinein. »Dass sie nicht die freundlichen
Wesen sind, die du immer so verehrt hast. Sie sind schlimm, sie sind böse, sie sind keine Freunde der Menschen. Du hast dich vertan, du hast dich tödlich geirrt, und ich konnte dir nicht helfen, weil du dir nicht hast helfen lassen wollen. So ist es doch gewesen, verflucht nochmal! Und das hasse ich. Ich hasse mich dafür, denn dich kann ich nicht hassen. Ich kann nicht mal Abschied nehmen von dir. Ich kann dich nicht streicheln, ich kann dir nicht die Augen zudrücken, nichts kann ich. Ich habe versagt, und mit dir ist auch ein Teil von mir gestorben. Das im Dunkeln lauernde Böse hat ge‐ wonnen. Es hatte sich nur verkleidet und dich mit in den tödlichen Strudel hineingerissen. So und nicht anders muss es gesehen werden …« Es war vorbei. Lorna konnte nicht mehr sprechen. Die lange Rede hatte sie angestrengt. Sie verschluckte sich beim Luftholen, dann sackte ihr Kopf nach vorn, und erst jetzt strömten die Tränen aus ih‐ ren Augen. So würde sie sich Erleichterung verschaffen, was ich zu‐ mindest hoffte. Ich kam mir überflüssig vor. Ich ließ sie allein und ging zur Tür. Es war besser so. Ich blieb vor der Tür stehen, schaute in die Dun‐ kelheit über der Gartenanlage und hing dabei meinen Gedanken nach. Musste ich mir Vorwürfe machen? Hatte ich falsch reagiert? Hät‐ te ich das Kreuz nicht einsetzen sollen? Ich bestürmte mich selbst mit zahlreichen Fragen, ohne eine kon‐ krete Antwort geben zu können. Wahrscheinlich hätte ich nicht so reagiert, wäre Harriet normal auf dem Boden liegen geblieben. Aber nein, ihr Körper war in die Höhe geschwebt. Er hatte der Gravitation getrotzt. Genau das war mein Problem gewesen. Da hatte die Magie oder welch eine Kraft auch immer der Physik nicht nur getrotzt. Sie hatte sie sogar überwinden können. Aus eigenem Antrieb war es der Toten sicherlich nicht gelungen. Für mich stand fest, dass sie aus der Ferne einen Befehl bekommen hatte. Irgendeinen magischen Impuls. Ein Name kristallisierte sich hervor. Lucio!
Ohne einen eindeutigen Beweis zu haben, wusste ich, dass er im Hintergrund die Fäden zog. Bill Conolly hatte mir über ihn einiges berichtet, und so stand er als Nächster auf meiner Liste. Wäre Lorna nicht bei mir gewesen, hätte ich mich längst auf den Weg gemacht. Ich konnte sie jedoch unmöglich in ihrem Zustand allein lassen. Mein Verantwortungsgefühl ihr gegenüber war stär‐ ker geworden. Ich musste sie mit einbeziehen. Perfekt wäre es gewesen, hätte ich meinen Rover in der Nähe ge‐ habt. Da musste ich leider passen. Da ich auch nicht fliegen konnte, blieb uns nur der Ausweg, ein Taxi zu besorgen. Wobei noch fraglich war, ob sich Lorna überhaupt in der Lage fühlte, weiterhin an meiner Seite zu bleiben. Sie würde es mir sagen. Ich wollte wieder in die Laube hineingehen, als mir Lorna ent‐ gegenkam. Sie hatte ihren Abschied beendet. Wie ein normaler Mensch ging sie nicht. Sie schwankte bei jedem Schritt und blieb auf der Türschwelle stehen. Sie sah mich, blieb aber stumm. Ihr Gesicht war vom Weinen geschwollen. Die Lippen zuckten, und ihr Blick war irgendwie gläsern und ins Leere gerichtet. »Es muss weitergehen, nicht wahr, John?« »So sehe ich das auch.« »Und wie geht es weiter?« »Das kann ich Ihnen nicht im Detail sagen und …« »Lucio!«, stieß sie hervor. Dabei war der Hass in ihrer Stimme nicht zu überhören. »Er ist Dreh‐ und Angelpunkt.« »Sie wollen also zu ihm?« »Sicher!« »Ich will es auch!« Sie hatte mir nicht genau gesagt, was sie wollte. Aus ihren Worten hörte ich es hervor. Sie wollte sich rächen. Sie konnte es nicht hinnehmen, dass diese Person ihre Zwillingsschwester letzt‐ endlich getötet hatte. Hätte Lucio jetzt vor ihr gestanden, sie hätte vielleicht versucht, ihn mit den eigenen Händen zu ermorden. Ich ließ mir mit meiner Antwort bewusst Zeit und sagte dann: »Auch ich habe in meinem Leben schon schwere Verluste erlitten,
Lorna, und kann verstehen, was Sie durchleiden. Ich bin ebenfalls von einer Gefühlswelt überschwemmt worden, aber ich kann Ihnen mit gutem Gewissen sagen, dass Hass keine Lösung ist. Hass be‐ deutet auch ein unüberlegtes Handeln. Hass bremst die Logik. Hass überschwemmt alles und kann deshalb ins eigene Verderben füh‐ ren.« »Worte!«, schrie sie mich an. »Nichts als leere Worte, verflucht noch mal! So redet ein Prediger, aber keiner, der …« »Das stimmt nicht!« »Was ist denn wahr?« Sie hatte wieder geschrien. Speicheltröpf‐ chen tanzten vor ihrem Mund. »Die Wahrheit ist, dass ich mich um Lucio kümmern werde, Lor‐ na. Das verspreche ich.« »Ja, ja, versprechen kann ich vieles. Sie sind Polizist. Sie werden versuchen, ihn festzunehmen, um ihn dann vor Gericht zu stellen. Darüber kann ich nur lachen. Ich will ihn tot sehen, verstehen Sie? Tot, tot, tot!« Bei jedem Wort schlug sie mit der Faust gegen die Tür, wollte noch mehr sagen oder auch handeln, doch sie hatte keine Kraft mehr. Sie drehte sich nach rechts und stützte sich mit der Schulter an der Tür ab. Ich wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Danach versuchte ich, vernünftig mit ihr zu reden und sprach sie auch mit sehr ru‐ higen Worten an. »Bitte, Lorna, Sie müssen mir einfach glauben, dass ich den glei‐ chen Weg verfolge wie Sie. Aber der Hass ist keine Lösung. Man darf sich auch in einem solchen Fall nicht von seinen Gefühlen lei‐ ten lassen. Sie müssen anders denken.« »Wie denn?« »Nicht so emotional. Ich weiß genau, dass es schwer für Sie sein wird, aber verlassen Sie sich auf mich. Außerdem dürfen wir Lucio nicht unterschätzen. Ich weiß nicht genau, wer er ist, aber ich gehe davon aus, dass wir es bei ihm mit keinem normalen Menschen zu tun haben. Er besitzt möglicherweise Kräfte, die wir nicht einmal ahnen. Ich habe es nur gespürt und auch gesehen, denn die Leiche Ihrer Schwester ist nicht aus eigener Kraft in die Höhe gestiegen.
Dafür hat jemand gesorgt, der eben mit besonderen Kräften ausge‐ stattet ist. Mit übernatürlichen, da bin ich ehrlich. Ich zweifle, ob Sie, Lorna, dagegen ankommen. Ich möchte nicht, dass Ihnen das Gleiche widerfährt wie Ihrer Schwester.« Meine Worte hatten gewirkt. Sie war ruhig geworden, und sie blieb auch ruhig. »Aber ich gehe mit!«, sagte sie. Am liebsten hätte ich dagegen gesprochen, doch mein Gefühl sagte mir, dass Lorna Peel sich wie eine Klette an mich hängen würde, sodass ich sie nur mit Gewalt abbekam. Das wollte ich nicht. »Also gut, ich werde Sie mitnehmen. Aber bitte, keine eigenmächtigen Aktionen.« »Ich werde mich bemühen.« So richtig überzeugt war ich davon nicht. Aber was hätte ich ma‐ chen sollen? Außerdem war Lucio im Moment unwichtig. Viel dringender brauchten wir einen fahrbaren Untersatz, der uns so schnell wie möglich ans Ziel brachte. Für mich war es ein Notfall. Auf ein Taxi wollte ich mich nicht verlassen, und deshalb rief ich die uniformierten Kollegen an. Ich wollte, dass man uns abholte, denn das gute alte Blaulicht war noch immer die beste Möglichkeit, das Ziel so schnell wie möglich zu er‐ reichen …
* Bill zog den Flügel der Tür auf, um den Raum zu betreten, als er den Schrei hörte. Sofort stoppte er. Griffin konnte nicht so schnell anhalten. Er prallte gegen ihn. Er wollte etwas fragen, aber er brauchte nur an Bill vorbeizuschauen, um die Lösung zu sehen. Das Licht der Kerzen schuf auch weiterhin diese warme und wunderbare Atmosphäre, in der sich ein Mensch geborgen fühlen konnte. Jetzt nicht mehr, denn der heftige Schrei hatte alles
verändert. Lucio hatte ihn ausgestoßen. Er saß auch jetzt auf seinem Platz und hatte seine Arme in die Höhe gerissen. Er schrie nicht mehr, jetzt hörten alle Anwesenden nur noch das Echo. Bill und Griffin trauten sich nicht, die Schwelle zu übertreten. Sie beobachteten die Szene aus einer gewissen Distanz. »Was hat er, Bill?«, fragte Griffin. »Keine Ahnung.« »Ich sehe nicht, dass etwas passiert ist. Die Leute sitzen da wie erstarrt und …« »Schauen Sie mal auf die Pyramide.« Griffins Kopf ruckte nach vorn. »Nun ja, sie hat sich verändert. Sie ist …« »Verformt.« »Genau!« »Nur noch ein Klumpen.« »Und wie kommt das?« Bill hob die Schultern. »Ich denke, dass uns die Antwort nur dieser Lucio geben kann. Der aber wird sich davor hüten, glaube ich. Hier ist etwas passiert, mit dem auch er nicht rechnen konnte.« »Aber was, Bill? Keiner der Engelfreunde hat eingegriffen. Außerdem stehen wir auf seiner Seite.« »Das würde ich mir an Ihrer Stelle noch genau überlegen«, er‐ widerte der Reporter trocken. Griffin schwieg. Er beschäftigte sich bestimmt mit seiner ge‐ danklichen Kehrtwendung. Das, wonach er gestrebt hatte, war zerbrochen. Er und die Mitglieder des Clubs hatten eben auf das falsche Pferd gesetzt und mussten sich jetzt von den Engeln im Stich gelassen fühlen. Bill dachte über die Engel nach. War Lucio ein Engel? Auch er kannte die Geschöpfe in verschiedenen Arten und mit ihrem unter‐ schiedlichen Aussehen. Trotzdem glaubte er nicht, dass er in Lucio einen Engel vor sich hatte. Zumindest keinen, wie ihn die Men‐ schen sahen. Es konnte durchaus sein, dass er sich so sah und sich auch mit den Engeln beschäftigt hatte und bestimmt nicht nur mit
den positiven. Er war jemand, den man eher als Höllenengel anse‐ hen konnte und der trotzdem keine Ähnlichkeit mit Belial, dem Lügenengel, besaß. Er war ein Medium. Ein sensitiv begabter Mensch, der seinen eigenen Weg gegangen war, und möglicherweise sogar einen Kon‐ takt zu den Engeln geschafft hatte und ihnen recht nahe gekommen war. Nur waren das diejenigen, die auf die dunkle Seite gehörten und die mit den von vielen Menschen verehrten Lichtwesen nichts zu tun hatten. Eine Frau, die zu jammern begann, wollte aufstehen. Sie kam nur halb hoch, als der Befehl sie erreichte. »Bleib sitzen!«, schrie Lucio sie an. Die Frau sackte sofort wieder zurück. Mit einer wütenden Bewegung fegte Lucio seine veränderte Py‐ ramide vom Tisch. Er wandte sich an die Teilnehmer der Seance. »Glaubt nur nicht, dass es schon zu Ende ist«, flüsterte er ihnen mit scharfer Stimme zu. »Denkt nur nicht daran. Ich bin nicht besiegt. Ich werde auch nicht besiegt werden. Ich mache weiter. Und ihr werdet sehen, wozu ich fähig bin.« Er lachte gellend auf. »Ihr seid doch die Freunde der Engel, und jetzt könnt ihr beweisen, wie sehr ihr euch mit ihnen angefreundet habt und wie nahe ihr ihnen steht. Ab jetzt bin ich euer Engel, denn mich habt ihr geholt, um den Kon‐ takt zu bekommen.« Griffin stieß Bill an. Der Medien‐Mensch hatte einen Teil seiner Fassung verloren. »Glauben Sie das? Glauben Sie, was Sie hören?« »Sicher.« »Was hat er … ich meine … schafft er es?« »Ich hoffe nicht.« Phil Griffin atmete schwer. »Verdammt noch mal, das habe ich nicht gewollt. Ich … ich … Sie müssen es mir glauben, Bill. Das wollte ich wirklich nicht.« »Das weiß ich doch. Ihre Absichten waren lauter. Sie wollten et‐ was Besonderes in die Welt setzen und haben Lucio deshalb kom‐ men lassen. Jetzt sehen Sie, dass diese Wesen sich nicht von irgend‐ welchen Menschen führen lassen.«
»Ja, leider …« Bill Conolly verstand den Zorn des Brasilianers. Er hatte sich si‐ cher gefühlt und sich darauf verlassen, die Menschen unter seinen Bann zwingen zu können. Bill glaubte ihm auch die Verbindung zur Welt der Engel. Die war jetzt zumindest eingeschränkt, denn was er mal als Katalysator benutzt hatte, lag wie ein verformtes Stück Metall auf dem Boden und würde ihm nichts mehr bringen. Lucio hatte sich wieder gefangen und gab dies deutlich zum Aus‐ druck. »Man hat mich zerstören wollen«, erklärte er mit rauer Stimme. »Ja, man wollte mich vernichten. Aber es ist der anderen Seite nicht gelungen. Ich bin noch da, und ich werde immer da sein. So leicht lasse ich mich nicht vertreiben, denn ich weiß, wer mich schützt.« Er musste wieder lachen, schlug mit den flachen Händen auf den Tisch und stoppte sein Gelächter. Dann bewegte er nur seinen Kopf. Jeder am Tisch fühlte sich, als würde gerade nur er angeschaut. »Ich sage euch«, flüsterte Lucio. »Ihr seid nicht umsonst gekommen. Ihr werdet noch erleben, wozu Engel fähig sind. Ich werde es euch vorführen, und ich werde dafür sorgen, dass ihr sie in der Zukunft noch mehr verehrt.« »Er will was?«, fragte Griffin leise. »Was hat er vor?« »Lassen Sie es ihn demonstrieren.« »Ha, Sie haben Nerven, Bill.« »Die muss man haben.« Griffin sagte etwas, von dem Bill nichts verstand. Außerdem hatte der Mann mehr gestöhnt. Wichtig war für ihn der Brasilianer. Er hatte sich von seiner Niederlage erholt, wobei Bill sich fragte, wie sie zu Stande gekommen war? Nicht hier. Nicht durch die Anwesenden, sondern aus einer anderen Position. Wahrscheinlich aus einer entfernten, und da gab es für ihn nur eine Lösung. John Sinclair! Er wusste nicht, wieso, aber er konnte es drehen und wenden wie er wollte, etwas anderes kam ihm nicht in den Sinn. Es gab keinen weiteren Feind, der Lucio gefährlich hätte werden können. Zu‐ mindest keinen, der sich in der Nähe befand.
Lucio hatte sich erhoben. Bills Gedanken wurden wieder zu ihm hingeleitet und auch seine Blicke. Er wollte anschauen, was nun passierte, aber Lucio tat noch nichts. Er blieb an seinem Platz wie ein Feldherr stehen und ließ sich vom Licht der Kerzen bescheinen. Erst in diesem Augenblick nahm ihn der Reporter so deutlich wahr wie nie zuvor. Lucio war von seiner Gestalt her kein Sieger‐ typ. Er war nicht überdurchschnittlich groß. Er war nicht kräftig. Man konnte ihn eher als schmal bezeichnen, und sein Körper besaß mehr weibliche Formen als männliche. Er besaß keine Brüste, aber der Schwung der Schultern und auch der Hüften wies darauf hin. Zu seiner Gestalt gehörte auch das Gesicht. Im Profil präsentierte er es den beiden Zuschauern an der Tür. Auch dieser Gesichts‐ schnitt glich in seiner Weichheit eher der einer Frau als einem Mann. Lange Haare, zurückgekämmt, dabei flach auf dem Kopf liegend, den weichen Schwung des Kinns und die kleinen Ohren. »Wer bist du?«, murmelte Bill. »Was haben Sie gesagt?«, fragte Griffin verständnislos. Der Reporter winkte ab. »Schon gut.« Der Brasilianer stand noch immer vor seinem Stuhl. Wieder schaute er sich die Teilnehmer der Sitzung an. Und wieder legte sich ein wissendes Lächeln auf seine Lippen. Die Augen gaben einen gewissen Glanz ab, was nicht an ihnen allein liegen musste. Es fing sich in ihnen auch das Licht der zahlreichen Kerzen. »Ich werde euch den Beweis antreten, dass ich nicht besiegt worden bin. Wer sich jetzt freut, der hat es zu früh getan. Ich bin einfach zu mächtig, und das sollt ihr sehen. Ihr werdet erkennen, zu wem ihr aufzuschauen habt. Ihr habt die Engel gesucht, ihr habt euch nach ihnen gesehnt, und jetzt werdet ihr erleben, wozu Engel fähig sind.« »Also doch!«, stöhnte Griffin. »Ich habe es schon geahnt. Ich …« »Ruhe!«, flüsterte Bill. »Ist ja schon gut.« Plötzlich bewegte sich Lucio wieder. Mit einer glatten Bewegung stieg er auf den Stuhl. So konnte er alles überblicken. Eben wie ein
Engel, der sich in einer bestimmten Höhe aufhielt. Bill überlegte, was der Typ im Schilde führen könnte. Irgendet‐ was Spektakuläres, doch was es genau war, dazu reichte seine Fan‐ tasie nicht aus. »Komm her zu mir!« Der scharfe Befehl unterbrach Bills Gedankengang. Schon zuvor war ihm das Drehen des Kopfes aufgefallen. Seit einigen Sekunden schaute der Brasilianer zur Tür, und Bill sah seine hellen Augen, de‐ ren Blick zwingend und hypnotisch war. Es gab für Bill keinen Zweifel, dass er gemeint war. Nur kam er der Aufforderung nicht nach. »Her zu mir!« »Ich?« Bill tippte gegen seine Brust. »Ja, du!« »Und dann?« »Du sollst kommen.« Der drohende Unterton in der Stimme war nicht zu überhören. Bill sah ein, dass es besser war, wenn er ge‐ horchte. Tat er es nicht, würde sich Lucio möglicherweise an den anderen rächen, und das wollte er nicht. »Himmel, Sie gehen wirklich zu ihm?«, fragte Griffin entgeistert. »Ich muss es tun, Bill.« »Aber …« »Keine Sorge, ich weiß mich zu wehren.« Ob das tatsächlich der Fall war, würde sich noch herausstellen. Wohl war dem Reporter jedenfalls nicht. Die Strecke war nur kurz, und Bill ging mit besonders kleinen Schritten. Wieder betrat er den mit einer anderen Atmosphäre angefüllten Raum. Die Kühle der Diele war verschwunden. Das Licht der Kerzen störte ihn etwas. Er zwinkerte, er saugte durch die Nase diesen anderen Geruch auf, der sich so schwer über den Raum gelegt hatte. Die Gesichter der meisten Teilnehmer waren ihm zugedreht. Bill konnte sie jetzt aus der Nähe anschauen, und es gab keines, das auf ihn entspannt gewirkt hätte. Die Menschen standen unter einem Druck, den sie nicht ausgleichen konnten. Aus diesem Grunde sa‐
hen sie auch so hart und zugleich ängstlich aus, als erwarteten sie das große Grauen. Sie konnten auch froh darüber sein, dass es nicht sie erwischt hatte, sondern diesen Fremden. Daraus schöpften sie Hoffnung, dass der Kelch an ihnen vorbeiging. »Stell dich dort hin!« Lucio deutete auf eine bestimmte Stelle an seiner rechten Seite. Bill gehorchte auch diesmal. Er wollte auf keinen Fall etwas ver‐ kehrt machen. Das Medium war zufrieden. Bill hätte nur den Arm lang zu ma‐ chen brauchen, um Lucio anzufassen. Davor hütete er sich allerdings. Seine Zeit, um einzugreifen, war noch nicht gekommen. »Ich!«, rief Lucio laut, damit ihn auch jeder verstehen konnte. »Ich werde euch beweisen, wer hier der Herr ist. Wer das be‐ herrscht, von dem die Menschen schon immer geträumt haben. Ihr wolltet die Engel sehen. Ihr habt sie geliebt. Ihr habt einen Club ge‐ gründet. Ihr seid die Freunde der Engel, und jetzt werde ich euch beweisen, was ein Engel ist …« Mehr erklärte er nicht. Aber er tat etwas. Er ließ sich nach vorn fallen und hätte auf die Tischplatte prallen müssen, was auch der Fall war. Nur fiel er nicht so hart, wie es hät‐ te sein müssen. Sein Fallen glich einer Zeitlupenaufnahme, und er berührte den ovalen Tisch nicht mal. Er blieb darüber liegen. Einen Moment später breitete er die Arme aus und glitt wie ein Schwimmer über die Tischplatte hinweg …
* Schweigen kann eine Last sein. Schweigen kann erstaunt oder be‐ drückend sein. In diesem Fall traf alles zu. Keiner der Zuschauer war in der Lage, auch nur ein Wort zu sprechen. Was vor den Augen der Menschen geschah, war unglaublich und unwahrscheinlich. Lucio hatte die Kräfte der Erdanziehung über‐
wunden und glitt tatsächlich weiter. Er brauchte auch seine Arme nicht mehr zu bewegen. Jetzt hatte er sie nach vorn gestreckt. Eben‐ falls wie ein Schwimmer, der einfach nur durch das Wasser glitt. Hier war kein Wasser, hier gab es nichts, was ihn hochgeschwemmt hätte, hier existierte einfach nur die Luft, die er als Trägermedium benutzte und den staunenden Augen der Zuschauer etwas demons‐ trierte, was sie nicht fassten. Auch Bill war von dieser Aktion überrascht worden, obgleich er mit einer außergewöhnlichen Demonstration des Mediums gerech‐ net hatte. Dieser Lucio war stärker, als er gedacht hatte. Er be‐ herrschte die Kunst der Teleportation. Er bewegte sich dank seiner geistigen Kräfte fort und konnte dabei auf seine Beine verzichten. Sehr langsam glitt er über die Tischplatte hinweg. Ein gestreckter Körper, der sehr bald den Platz erreicht hatte, auf dem Bill Conolly mal gesessen hatte. Dort nahm er nicht Platz. Kurz vor der hohen Rückenlehne glitt er wieder in die Höhe, und dabei blieb sein Körper noch immer ge‐ streckt, nur jetzt leicht durchgedrückt, und jetzt war die Decke sein Ziel, die er schnell erreicht hatte. Dort drehte er sich. Auch die Zuschauer drehten sich auf ihren Sitzen, denn keiner von ihnen wollte sich das spektakuläre Schauspiel entgehen lassen. Lucio brauchte einen Standort, von dem aus er den Raum und besonders die Menschen überblicken konnte. Er wollte sie unter sich haben und so etwas wie der von oben kommende rächende Geist sein. Alle blickten zu ihm hoch. Auch Bill Conolly machte da keine Ausnahme. Er fragte sich nur, was diese Demonstration zu bedeu‐ ten hatte. Wollte er den Menschen hier beweisen, wie leicht es war, ein Engel zu sein? Er war kein Engel! Daran glaubte Bill Conolly fest. Er war nur ein Mensch mit besonderen Fähigkeiten. Davon gab es nicht viele auf der Welt, aber es gab sie. Von der Höhe aus schickte er den Zuschauern ein Grinsen zu. Es offenbarte all seinen Triumph, den er empfand. Er war jemand, der
herrschte und den Überblick besaß. »Ich«, sagte er, »ich habe es geschafft und bin den Engeln nahe gekommen. Ich weiß, wie sie sich bewegen. Ich weiß, wo sie exis‐ tieren, und es waren die Engel, die mir die Kraft verliehen haben. Ihr alle habt es gelaubt, bis auf einen unter euch. Er ist ein Skep‐ tiker. Er hat mich reinlegen wollen, und weil er das getan hat, wird er die andere Seite der Engel zu spüren bekommen. Sie sind ja nicht nur gut. In den Urzeiten haben sie sich geteilt, aber die Menschen haben sie niemals vergessen. Immer wurde die Menschheit von ihnen be‐ obachtet, und sie haben hin und wieder sogar eingegriffen, ohne dass die Menschen es gemerkt haben. Es war dieses kleine Wunder, von dem ich gesprochen habe, dieser wundersame Kontakt, der mich den Engeln näher gebracht hat. Ich liebe es, so zu sein. Ich freue mich darüber, und ich bin hier, um euch eine Botschaft zu überbringen. Man braucht euch. Die Engel brauchen euch. Die Engel um Luzifer wollen euch alle haben …« Gerade der letzte Satz war schlimm. Er endete in einem grau‐ samen Gelächter, das nicht nur Bill durch Mark und Bein fuhr. Wahrscheinlich war er der Einzige, der den Inhalt des Gesagten richtig verstand, und das ließ nicht eben Freude in ihm hochsteigen. Diese Rede wies darauf hin, dass Lucio von Luzifer geschickt worden war. Wie der Name schon sagte … »Mit einem von euch werde ich den Anfang machen, und ich werde beweisen, wie gering die Kräfte eines Menschen sind, wenn er gegen einen Meister wie mich antreten muss …« Mehr brauchte Lucio gar nicht zu sagen. Bill wusste, dass der Brasilianer nur ihn gemeint haben konnte. Er war das Hindernis im Räderwerk seines Plans. »Schau mich an!« Bill drehte den Kopf. Lucio glotzte schräg in die Tiefe. Wie ein fliegender Teufel hing er unter der Decke. Sein Maul war zu einem Grinsen verzogen. Er strahlte eine Kälte und Bösartigkeit ab, die den Reporter erschauern
ließ. Sein Gesicht besaß weder etwas Menschliches noch etwas Wei‐ bisches, es war einfach nur zu einer Fratze geworden. Bill verfluchte den Umstand, keine Waffe mitgenommen zu haben. Er hatte die Gefahr einfach unterschätzt. Er hatte auch mehr an faulen Zauber geglaubt als an eine tatsächliche Seance, die zu den Engeln hingeführt hätte. »Na, wie fühlst du dich?« »Was willst du hören?« »Die Wahrheit!« »Okay.« Bill gab sich gelassen. »Ich denke im Moment über dich nach und frage mich, wer du wirklich bist.« »Einer aus einem anderen Reich oder aus einer anderen Welt. Du kannst es dir aussuchen.« »Schon ein Engel von Luzifers Gnaden?« »Nicht ganz, Fremder, nicht ganz. Aber ich bin auf dem richtigen Weg. Erst wenn ich alle Hindernisse aus dem Weg geräumt habe, bin ich perfekt für sein Reich. Ich lege mir eine Mannschaft zu. Noch bin ich zum Teil Mensch, zum Teil aber auch Engel. Ich besitze die Fähigkeit, zu schweben, und das macht mich stark. Alle wollten mir dienen, nur du nicht. Du wolltest mich reinlegen. Ich habe es gespürt. Schon als du eingetreten bist, wusste ich, dass ich in dir einen Feind sehen muss. Und wir, das merke dir, hassen un‐ sere Feinde.« Er griff an …
* Die beiden Kollegen im Streifenwangen waren so schnell wie möglich gekommen. Jetzt saßen Lorna Peel und ich auf dem Rück‐ sitz des Fahrzeugs, und ich hielt Lornas zitternde Hand. Den Kollegen hatte ich nur gesagt, wohin sie zu fahren hatten. Weitere Erklärungen waren nicht nötig gewesen, dank meiner Voll‐ machten, die ich nur selten nutzte. Hier allerdings waren sie nötig, denn ich ging davon aus, dass wir auch ein Zeitproblem hatten.
Es war nicht gerade nahe bis zu unserem Ziel, und deshalb war es gut, dass wir mit Blaulicht und Sirene fuhren. Lorna Peel zitterte nicht nur an der Hand. Hin und wieder lief das Beben durch ihren gesamten Körper, und da war es gut, wenn sie meine körperliche Nähe spürte. Sie sprach nicht und saß nur apathisch neben mir. Manchmal be‐ wegte sie die Lippen. Hin und wieder zuckten auch ihre Wangen unkontrolliert, und ich sah auch ihre tränenfeuchten Augen. Es war nicht nur der Tod ihrer Zwillingsschwester, der sie so sehr mitnahm. Hinzu kam auch, wie Harriet gestorben war. Auf eine Art und Weise, die kaum glaublich war. Man hatte sie »nor‐ mal« getötet, aber sie hatte selbst als Leiche noch unter dem Bann einer anderen Person gestanden, die mir Rätsel aufgab. Wer war dieser Lucio? Aus der Ferne gesehen nur ein Medium. Ein Mensch, der sehr sensitiv war. Tatsächlich jedoch musste er mehr sein. Ich konnte mir vorstellen, dass er von der schwarzmagischen Seite war. Kein di‐ rekter Dämon, mehr ein Helfer. Oder auch jemand, der auf dem Weg war, zu einem Dämon zu werden. Derartige Kreaturen fanden dank ihrer ungewöhnlichen Kräfte immer wieder Helfer. Hier waren es die Freunde der Engel. Men‐ schen, die letztendlich falsch geleitet worden waren und dafür nun bezahlen mussten. Das war zumindest bei Harriet Peel so gewesen, die einfach hatte aussteigen wollen. »Warum fragen Sie mich nicht was?«, flüsterte Lorna »Möchten Sie es denn?« »Ja. Ich will weg von meinen Gedanken.« »Kann ich über Ihre Schwester sprechen?« »Gern.« »Wie stand sie zu Lucio?« Lorna lachte. Es hörte sich mehr an wie ein Husten. Mit der lin‐ ken Hand winkte sie ab. »Sie war von ihm nicht nur angetan, sie war sogar begeistert. Es gab nur ihn. Sie war auf dem Weg, alles hinzuschmeißen, aber dann muss etwas passiert sein, was ihr die Augen öffnete. Sie kehrte um, machte den Schwenk, wollte nicht
mehr. Wollte sogar reden und an die Öffentlichkeit gehen. Sie war von einer Gefahr überzeugt, die von Lucio ausging. Das hat er ge‐ merkt und sie umgebracht. Wobei sein Einfluss selbst noch bei ih‐ rem toten Körper zu spüren war. Sonst hätte er sich nicht auf eine solche Art und Weise aufgelöst.« »Das muss man wohl so sehen.« Die freie Hand ballte Lorna zur Faust. »Ich hasse Lucio. Ich hasse ihn sogar noch stärker. Je mehr wir uns ihm nähern, desto größer wird mein Hass auf ihn. Ich will ihn nicht nur tot sehen. Ich will ihn einfach nur vernichtet haben, verstehen Sie?« »Auf eine gewisse Art und Weise schon. Aber Sie wollen selbst Hand an ihn legen und ihn umbringen …« »Warum auch nicht?«, schrie sie so laut, dass sich der Kollege auf dem Beifahrersitz umdrehte. Ich beruhigte ihn mit einer Handbewegung und gab Lorna eine Antwort. »Rache ist nicht das richtige Mittel. Mal ganz davon abge‐ sehen, dass er nicht eben schwach ist.« »Sie trauen es mir nicht zu?« »So ist es.« »Aber ich werde es …« »Nein, Lorna, Sie lassen es bleiben. Es kann und es soll nicht sein. Es steht fest, dass er uns nicht mit offenen Armen empfangen wird. Es wird zu einem Kampf kommen, zweifelsohne, aber Sie sind da nicht zuständig. Das werden Sie mir überlassen.« »Und Sie schaffen es, wie?« »Das hoffe ich!« Sie wollte nichts mehr sagen und presste ihre Lippen zusammen. Ich allerdings ging nicht davon aus, dass ich sie hatte überzeugen können. Zu tief saß der Stachel der Rache und des Hasses. Zu stark war die Liebe zu ihrer Schwester Harriet gewesen. London war dunkel geworden, aber nicht verkehrslos. Wir fuh‐ ren über Straßen, die voll mit Autos waren, doch zum Glück öffnete uns das Blaulicht und auch die Sirene immer wieder eine Gasse. Auch wenn man zahlen muss, um mit dem Wagen in die City zu fahren, leerer war London deshalb nicht geworden. Manchmal
konnten die Kollegen ihre Flüche über die anderen Verkehrsteil‐ nehmer nicht unterdrücken. Ich hatte nichts zu tun. Am liebsten hätte ich selbst hinter dem Lenkrad gesessen und die Dinge in die Hand genommen. So aber hockte ich im Fond und konnte nichts tun. Sollte ich Bill anrufen? Es war nur ein Gedanke. In die Tat setzte ich ihn nicht um. Ich wusste nicht, in welch einer Lage sich mein Freund befand. Lucio war für mich ein unberechenbarer Feind. Da konnte in der Zwi‐ schenzeit einiges passiert sein. Lorna stellte wieder eine Frage. Diesmal wie ein kleines Kind. »Wann ist es denn so weit?« »Keine Sorge, wir packen es.« Sie schaute mich an. In ihren Augen schimmerten Tränen. Aber die Spur des Hasses war nicht daraus verschwunden …
* Über den Tisch war der seltsame Mensch oder Engel nur langsam geglitten, doch jetzt zeigte er seine wahren Qualitäten. Er jagte auf Bill zu wie ein Torpedo. Sein Körper blieb nach wie vor gestreckt, und es sah so aus, als wollte er Bill in den Boden rammen. Der schleuderte sich zur Seite. Er krachte dabei gegen den Stuhl, auf dem Lucio gesessen hatte. Für einen winzigen Moment spürte Bill die Sitzfläche unter sich, dann fiel er mit dem Möbelstück zu Boden und hatte Glück, dass er auf ihm zu liegen kam. Trotz seiner Geschwindigkeit hatte sich Lucio verschätzt. Bill war zu schnell gewesen und hatte sich zudem entschlossen, sich zu wehren. Es war ihm gelungen, den Stuhl zu packen. Das Ding war verdammt schwer. Doch in gewissen Momenten wächst ein Mensch über sich hinaus, und das war bei Bill jetzt der Fall. So schaffte er es, den Stuhl hochzureißen. Mit den Beinen voran wuchtete er ihn dem angreifenden Lucio entgegen, der ihm nicht ausweichen konnte.
Die Ende der Beine bohrten sich in seinen Körper hinein. Sie drückten gegen die Haut und das Fleisch, ohne jedoch irgendwel‐ che Wunden zu hinterlassen. Aber Bill schaffte es, ihn zurückzuschieben. Damit hatte er Zeit gewonnen, nicht aber den Kampf, denn so schnell gab einer wie Lucio nicht auf. Er sprang zurück. Bill hörte seinen Schrei, als er auf die Füße kam. Der Reporter war wesentlich kräftiger als Lucio, aber er durfte ihn nicht un‐ terschätzen. Oft täuschte der äußere Eindruck. Keiner der Clubfreunde mischte sich ein. Sie würden sich nicht gegen ihren Meister stellen, und so blieben sie auf ihren Plätzen hocken und warteten ab. Bill griff an. Diesmal war er es, der es schnell zu Ende bringen wollte. Er kam sich vor wie ein Stier, der ein rotes Tuch sah. Er wollte nicht, dass der andere ihm zuvorkam, schwang den Stuhl in die Höhe und schlug damit zu. Der Brasilianer wich zurück. Bill setzte nach. Er schrie dabei, er gab sich selbst Power. Der Stuhl schwebte jetzt über seinem Kopf. Er wollte ihn von oben nach unten schlagen, um Lucio von den Füßen zu holen oder besser noch, richtig zusammenzuschlagen. Er drosch zu! Und diesmal war Lucio schneller. Wie ein fließender Schatten glitt er zur Seite. Noch bevor der Stuhl auf den Boden krachte, wusste Bill, dass er einen Fehler begangen hatte. Dann hörte er das Geräusch des Aufpralls und nahm auch ein Splittern wahr, als das alte, jedoch noch sehr stabile Holz zu Bruch ging. Der Stuhl zerbrach in einige Teile, und als Bill auf seine Hände schaute, hielt er nur noch die Lehne in der Hand. Lucio griff an. Er lachte dabei. Bill fegte herum, und diesmal war es zu spät. Der Brasilianer berührte nicht den Boden. Wie ein dunkles Tier huschte er darüber hinweg und erwischte den Reporter mit einem Schlag gegen die Stirn.
Bill sah die Sterne in einem geschlossenen Raum. Der Treffer war nicht so hart gewesen, um ihn auszuschalten. Er sorgte aber leider dafür, dass er den Überblick verlor. Er merkte nur, wie er zurücktorkelte und sich sein Blickfeld veränderte, denn um die Sterne herum war es dunkel. Instinktiv riss er beide Arme hoch, um sich vor dem nächsten Schlag zu schützen, aber er hatte das Falsche getan. Er hätte lieber seinen Oberkörper abdecken sollen. Ein Tritt wie von einem Pferdehuf traf ihn oberhalb der Gürtel‐ schnalle. Bill bekam plötzlich keine Luft mehr. Er verlor vollends die Kontrolle und merkte, dass er auch keinen Kontakt mehr mit dem Boden hatte. Er merkte noch, dass er fiel, und schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Wieder strahlten die Sterne, wieder verlor er die Übersicht, und ihn erwischte ein starker Druck auf der Brust, als hätte jemand ein großes Stück Eisen darauf niedergelegt. Er lag noch nicht rücklings am Boden, doch der Druck auf seiner Brust sorgte dafür, dass er allmählich tiefer sackte und schließlich neben den Kerzenlichtern liegen blieb. Nichts mehr passierte. Kein neuer Schlag traf ihn, nur noch der Druck blieb bestehen, und Bill konnte sich vorstellen, dass er aus‐ reichte, um seine Knochen langsam brechen zu lassen. Er musste Luft holen. Es klappte, aber es war mit Schmerzen ver‐ bunden. In seinem Kopf rauschte es. Hinter den Schläfen schienen sich kleine, spitze Werkzeuge zu bewegen. So wie er fühlte sich je‐ mand, den man durch die Mangel gedreht hatte. Bewusstlos wurde er nicht. Es ging ihm sogar besser, auch wenn die Schmerzen nicht nachließen. Ob das ein Vorteil für ihn war, wagte er nicht zu sagen, jedenfalls hielt er die Augen nicht geschlossen. Er öffnete sie so weit wie möglich. Wie bei einem schlechten Film, der überarbeitet wird, klärte sich ganz allmählich sein Blickfeld, und er sah das Gesicht des Brasilianers über sich. Es sah anders aus als sonst und kam dem Reporter aufgepumpt vor. Als er den Blick etwas senkte, um sich seine Brust anzuschauen, das stellte er fest, was den Druck verursachte. Es war kein Stück Eisen, sondern ein Fuß, und der gehörte natürlich Lucio.
Der »Engel« hatte alles im Griff! Da er den Fußdruck etwas lockerte, gelang es Bill, wieder besser durchzuatmen. Die Schmerzen aber blieben. Lucio grinste. Wie ein Teufel!, dachte Bill. Ich habe mich von dieser verdamm‐ ten Gestalt fertig machen lassen und … Die Worte des anderen zerstörten seine Gedanken. »Jeder hat gesehen, wie schwach der Mensch ist, wenn er sich gegen einen Engel behaupten will. Jeder hier weiß nun Bescheid, dass ich es bin, der hier die Kommandos gibt. Es kommt kein anderer in meine Nä‐ he. Ich lasse es nicht zu. Ich bin besser, denn ich bin mehr als ein Mensch. Habt ihr das verstanden? Ich habe die Kraft der Engel. Ich bin Richter und Vollstrecker zugleich. Die Engel mögen keine Men‐ schen, die sich gegen sie stellen. Genau das hast du getan, wobei ich nicht mal deinen Namen kenne.« »Ist auch nicht wichtig«, würgte Bill hervor. »Sage ihn trotzdem.« Lucio verstärkte den Druck seines Fußes, der wirklich mit Eisen gefüllt zu sein schien. »Conolly … Bill Conolly …« »Aha, so heißt du also. Und du hast gedacht, stärker zu sein als ich. Welch ein Irrtum! Welch eine Anmaßung! Aber so habe ich viele Menschen erlebt, bis mir klar wurde, dass ich einen anderen Weg gehen muss, um nicht so zu werden wie sie. Ich habe ihn ge‐ funden. Ich bin göttergleich, und ich werde die Stufen immer höher hinaufschreiten, um zu meinem endgültigen Ziel zu gelangen.« »Nein, das ist alles nicht wahr …« Zuerst konnte Bill es kaum glauben, dass er eine Stimme gehört hatte. Es war die von Phil Griffin, der alles mit angesehen hatte und einfach nicht zulassen konnte, was hier mit seinem Bekannten ge‐ schah; er hatte ihn schließlich in diese Lage gebracht. Jetzt wollte er eingreifen. Er war dabei über seinen eigenen Schatten gesprungen. Lucio würde es nicht akzeptieren, wenn ihn jemand von seiner Tat abhalten wollte. Daran dachte Griffin nicht. Er wollte auch daran nicht denken. Er musste seinen Weg gehen. Lucio hatte ihn gehört und reagierte auch auf seine Bemerkung.
»Alles nicht wahr?«, flüsterte er. »Was ist alles nicht wahr? Los, ich will es von dir hören!« Griffin blieb neben Lucio und Bill stehen. Er wagte nicht, in das Gesicht des Reporters zu schauen. Er rang seine Hände. Er fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er spürte die Schläge sogar in seinem Kopf. Seine Hand‐ flächen waren so feucht, als hätte er sie erst kurz zuvor gewaschen und nicht abgetrocknet. Griffin deutete auf Bill. »Er … er … wollte dir nichts.« »Was nicht?« »Dich angreifen oder so.« »Weiter.« »Er ist auf meinen Wunsch hin gekommen. Ja, auf meinen Wunsch. Ich habe ihn geholt, damit er über dich und über uns einige Zeilen schreibt. Es sollte ein toller Bericht werden. Ich wollte dich und die Freunde der Engel bekannt machen. Die Menschen sollten erfahren, dass es euch gibt, und ich wünschte mir, dass ihr noch mehr Zulauf bekommt. Es war alles ganz harmlos. Das kann ich schwören.« »Harmlos?« Das folgende Lachen klang einfach widerlich. »Schau ihn dir an. Da siehst du, wie harmlos es gewesen ist. Es fing bereits mit seinem kleinen Recorder an. Ich denke nicht so naiv wie du. Es hat mehr dahinter gesteckt, das weiß ich. Denn ich habe meine Pyramide verloren. Sie ist zusammengeschmnolzen. Und nicht durch mich, darauf kannst du dich verlassen. Ich habe damit nichts zu tun. Es war etwas anderes, das dafür gesorgt hat. Kannst du mir die Antwort geben?« »Nein.« »Soll ich Conolly fragen?« »Tu es.« »Ja, das werde ich auch. Es kann sein, dass du dich geirrt hast und er gar nicht allein gekommen ist. Möglich ist alles. Vielleicht hat er einen Partner und …« »Aber er ist allein gekommen, verdammt. Ganz allein. Oder hast du jemanden gesehen?«
»Nein.« Griffin rang die Hände. Er flehte Lucio nahezu an. »Dann musst du mir einfach glauben.« »Das kann und das werde ich nicht.« »Was willst du dann tun?« Lucio lachte. Diesmal leiser. Es klang auch kichernd. »Ich rechne immer sofort ab. Auch hier. Ich werde deinen Freund töten, und niemand wird mich daran hindern können. Oder hast du das etwa vor, Phil Griffin? Willst du mich hindern …« Griffin hatte die Frage zwar gehört, sie aber nicht richtig erfasst. Er schaute ins Leere. Hinter seiner Stirn bewegte sich etwas. Ge‐ dankenfetzen drangen durch seinen Kopf, und er musste sich als Medienmensch auch klar machen, dass dies hier kein Film war und keine Show, die fürs Fernsehen aufgenommen wurde. Das war alles so verdammt echt, zu echt. Lucio schlug Griffin gegen den Hinterkopf. »Antworte. Los, ich habe nicht viel Zeit!« Jetzt wusste Griffin, was die Stunde geschlagen hatte. Er griff zum letzten Mittel. Nicht zur Gewalt. Da fühlte er sich unterlegen. Aber es gab noch andere Menschen in der Nähe. Nur saßen sie un‐ beteiligt am ovalen Tisch. Bestimmt hatten sie alles gehört, doch sie getrauten sich nicht, einzugreifen. Die Freunde der Engel wollten leben und waren nicht lebensmüde. »Bitte«, flehte Griffin. »Wir müssen gemeinsam etwas unter‐ nehmen. Wir können doch nicht zusehen wie …« »Lass ihn«, sagte ein Mann, der Bankier war und jeden Tag Ent‐ scheidungen treffen musste, mit müder Stimme. »Wir können nichts dagegen unternehmen …« Griffin brach zusammen. Nicht nach außen hin, sondern inner‐ lich. Schlagartig wurde ihm klar, wie allein er auf weiter Flur stand. Er konnte nichts mehr ändern. »Hast du vergessen, dass sie zu mir gehören?«, flüsterte Lucio. »Hast du das wirklich?« »Nein.« Griffin wusste nicht, woher er den Mut nahm, noch zu widersprechen. »Aber ich habe immer eine andere Vorstellung von
den Engeln gehabt. Ich habe sie als gerecht empfunden und nicht als brutale Mörder. Du bist nicht gerecht, du bist …« »Doch!«, rief Lucio, »ich bin gerecht. Es ist nur eine andere Ge‐ rechtigkeit. Es ist meine Gerechtigkeit, verstehst du das. Es gibt die Gerechtigkeit der Engel, und nur das zählt.« »Nicht der Engel, die Michael, Gabriel und …« Der Schlag mit dem Handrücken traf Griffins Mund. Die Lippen platzten auf. Er schmeckte Blut. In seinem Kopf rauschte es, und er hörte durch das Rauschen hindurch die Stimme des Brasilianers. »Wenn ich noch eine Gegenmeinung von dir höre, bist du als Nächster an der Reihe.« »Ja, dann töte mich und …« Eine Hand schoss vor. Die Finger waren zusammengelegt. Einige Spitzen berührten die Brust des Mannes, der nicht wagte, sich zu rühren. Lucio drückte zu. Es war grausam, es war schlimm, denn seine Fingerspitzen wurden plötzlich zu Messern. Aus großen Augen schaute Griffin an sich herab und musste mit ansehen, wie ein Teil der Hand bereits in seiner Brust verschwunden war. Mit einer heftigen Bewegung zog Lucio seine Hand wieder her‐ vor. Jetzt hatte das Blut freie Bahn und strömte an der Brust entlang und über die Kleidung in Richtung Gürtel. Phil Griffin wurde bleich. Panik stieg in ihm hoch. Sein Gesicht verzerrte sich. Dann brach er zusammen. Lucio nickte. Er war eine Sorge los und wandte sich wieder dem Reporter Bill Conolly zu …
* Ich wandte mich an die beiden Kollegen und sagte mit recht lauter Stimme. »Bitte, stellen Sie jetzt das Blaulicht und die Sirene ab.« »Gut, Sir, wie Sie wünschen.« Wir hatten es so gut wie geschafft.
Auf dem letzten Kilometer wollte ich kein unnötiges Risiko einge‐ hen. Im Vergleich zur City fuhren wir durch eine recht einsame Gegend. Der Klang der Sirene wäre einfach zu weit zu hören ge‐ wesen. Lorna hatte bisher geschwiegen. Sie saß noch still neben mir, doch ihre Haltung hatte sich verändert. Ihr Kopf war nach vorn gesunken, und sie wirkte wie eine Schlafende. Das traf nicht zu. Hin und wieder gab sie Geräusche ab, die durchaus zu einer wa‐ chen Person gehörten. Sie räusperte sich oder seufzte und wirkte insgesamt wie ein Mensch, der mit seinem Schicksal unzufrieden ist. Manche Menschen stört es, wenn es leise um sie herum ist. So war es auch bei Lorna. Kaum war der Klang der Sirene verstummt, änderte sich ihre Haltung. Sie schaute hoch, blickte sich dann um, und ihre Hand rutschte aus meinem Griff. »Nur noch ein paar Minuten, Lorna.« »Ja, ja, ich weiß!« Sie schnaufte beim Atmen. »Dann kann ich ihn endlich sehen, den verdammten Mörder meiner Schwester.« Sie war noch immer von ihren Rachegedanken beseelt. Verständ‐ lich, jedoch nicht gut in ihrer Lage, denn sehr leicht konnte sie sich selbst überschätzen. »Lassen Sie es mich machen, Lorna. Tun Sie mir einen Gefallen und halten Sie sich bitte zurück.« Zwar nickte sie, trotzdem konnte ich ihr nicht glauben und nahm mir vor, ein wachsames Auge auf sie zu halten. Weg von der Straße. Abbiegen in einen schmaleren Weg. An dessen Ende schimmerte Licht, das noch nicht von den voll belaub‐ ten Blättern der Bäume absorbiert wurde. »Halten Sie bitte an.« Der Fahrer stoppte. »Und jetzt, Sir?« »Sie können wieder zurückfahren. Und herzlichen Dank für Ihre Hilfe.« »War uns ein Vergnügen.« Lorna Peel hatte es eilig und bereits vor mir den Wagen verlassen. Sie lief direkt auf das Licht zu, das zu einem Haus ge‐
hörte. Seine dunkle Fassade schälte sich allmählich hervor, und dann sah ich auch die freie Fläche, auf der einige Autos parkten, unter anderem der Porsche meines Freundes Bill Conolly. Die junge Frau drehte sich nicht mal um, als sie weiterging. So ei‐ lig hatte sie es damit, dem Mörder ihrer Schwester endlich gegen‐ überzustehen. Wenn sie sich da nicht mal irrte. Ich hatte sie bald eingeholt. »Bitte, keine eigenen …« »Ich habe doch nichts getan.« »Bleiben Sie stehen. Beide!« Wir waren von einer fremden Männerstimme angesprochen worden. Dann lösten sich zwei Gestalten aus der Dunkelheit und stellten sich uns in den Weg. Sie sahen nicht so aus, als wollten sie sich die Butter vom Brot nehmen lassen. Bodyguards, Wachtposten, die gemietet werden konnten, oder wie immer man sie auch bezeichnete. Lorna Peel war einen Schritt zurückgewichen und stand jetzt neben mir. Ihr hef‐ tiges Atmen zeugte davon, wie stark sie unter Druck stand. Die Männer verlangten eine Erklärung. Ich gab sie ihnen, indem ich meinen Ausweis hervorholte. Einer holte eine Punktleuchte aus der Tasche. Er las das Doku‐ ment und reichte es mir zurück. »Bitte, Sir. Darf ich trotzdem fragen, ob Sie hier die richtige Adresse gefunden haben?« »Bestimmt. Wir wurden angerufen. Und jetzt lassen Sie uns durch.« »Ja, allerdings müsste ich die Tür öffnen.« »Bitte, tun Sie das.« Der Mann im dunklen Anzug begleitete uns. Sein Rasierwasser roch nach Sandelholz. Lorna hielt sich dicht an meiner rechten Seite. Die Begegnung mit den beiden Typen hatte ihren Sinn für Realismus wieder gefördert. Sie hielt sich mehr unter Kontrolle. Wir stiegen eine halbrunde Treppe hoch, gerieten in den Schein der Lampen, und der Mann neben uns holte einen schmalen Schlüssel hervor. Bevor er ihn einsetzen konnte, stellte ich ihm eine Frage. »Ist Ih‐
nen möglicherweise etwas aufgefallen, was die Menschen dort drinnen angeht? Gab es Streit, Ärger …« »Nein, wir haben nichts bemerkt. Die Leute sind ruhig ge‐ blieben.« »Sehr gut.« Das nahm ich ihm zwar nicht ab, fragte aber trotzdem weiter. »Wie viele sind es?« »Mehr als ein Dutzend.« Ich nahm die Antwort hin und ließ es zu, dass der Mann uns die Haustür öffnete. Neben mir zeigte Lorna eine gewisse Ungeduld. Sie scharrte fast mit den Füßen über das Gestein. Ihr Atem drang in unregelmäßigen Stößen aus dem Mund. »Bitte, Lorna, keine Panik. Sie müssen sich jetzt zusammen‐ reißen.« »Ich weiß es.« Die Tür war offen. Auf meine Handbewegung hin zog sich der Aufpasser wieder zurück. Wir hörten Schritte auf der Treppe ver‐ klingen. Dann betraten wir das Haus! Ich war schneller als Lorna und entspannte mich bereits nach dem ersten Blick. Uns erwartete keine Gefahr. Es gab Tische, auf denen sich Platten mit Fingerfoods verteilten, kleine Happen, über die man eine Schutzfolie gedeckt hatte. Es standen auch Gläser und Flaschen bereit, aber einen Menschen sah ich nicht, auch kein Per‐ sonal einer Catering‐Firma, das die Häppchen und die gefüllten Gläser verteilt hätte. Möglicherweise hätten wir alles sehr schneller und auch genauer gesehen, wenn das Licht besser gewesen wäre, doch es war schummrig, und so nahmen wir die zweiflügelige Tür gegenüber erst beim zweiten Hinschauen wahr. Sie lag zudem im Schatten und nur eine Hälfte stand offen. Der linke Flügel war geschlossen. Dahinter tat sich etwas. Ich war noch zu sehr mit der nahen Umgebung beschäftigt. Ganz im Gegensatz zu Lorna Peel. Sie konnte plötzlich losrennen, da ich sie nicht hielt. Und ich hörte ihren Wutschrei, als sie durch die offen
stehende Tür in das andere Zimmer rannte …
* Bill spürte die Finger der Gestalt an seinem Hals. Ob Engel, Mensch oder Halbengel, das war ihm verdammt egal. Er wollte nicht, dass es ihm so erging wie Griffin, in dessen Körper sich die Finger wie Messer gebohrt hatten. Die Angst war vorhanden. Zugleich auch der Wille, es nicht so weit kommen zu lassen. Er selbst wehrte sich. Beide Hände legte er um das Gelenk der Würgehand. Er drückte zu. Er wollte die Klaue zugleich von seinem Hals wegzerren. Atem schöpfen konnte er nicht mehr, denn seine Kehle war wie zugesperrt. Hinzu kamen die Blessuren, die er beim Kampf zuvor erlitten hatte. Er hielt die Augen offen. Ebenso wie sein Feind. Die beiden starr‐ ten sich an. Bill las eine Gnadenlosigkeit im Blick des anderen, die ihm sagte, dass Lucio nicht eher loslassen würde, bis er seinen Gegner tot vor sich liegen hatte. Es war kein Kampf der Giganten, denn Bill Conolly war einfach zu schwach. Noch waren die Finger nicht in seine Halshaut hinein‐ geglitten. Lucio zögerte Bills Tod etwas hinaus. Er flüsterte ihm ins Gesicht. Verstehen konnte der Reporter nichts. Bill merkte bereits, dass etwas mit seiner Lunge geschah. Sie schien sich aufzublähen. Das Gefühl, dass sie dicht vor dem Platzen stand, nahm immer mehr zu. Den Schrei bildete er sich nicht ein. Dann zuckte das Gesicht des Brasilianers hin und her. Er hörte ein Klatschen und sah, dass der Kopf seines Gegners zur Seite flog. Zugleich bekam der Körper den Drall nach links und kippte weg. Automatisch rutschte die Hand von seiner Kehle weg, und in einem Reflex pumpte Bill Conolly frische Luft in seine Lunge. Er wusste nicht, was genau passiert war. Für ihn war nur wichtig, dass er frei atmen konnte, auch wenn er dabei Schmerzen spürte. Aber es klärte sich auch sein Blick. Er schaute nach vorn und sah
eine fremde blonde Frau in einem hellen Kleid. Sie hatte ihn gerettet. Sie hatte Lucio zu Boden geschleudert. Sie schrie ihn an. Sie war die Anklägerin und brüllte immer nur einen Satz. »Du hast meine Schwester getötet! Du hast meine Schwester ge‐ tötet! Du hast …« Lorna konnte nicht mehr. Sie erstickte fast an ihren eigenen Worten, und Bill sah auch, dass sie schwach war und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Lucio war wirklich überrascht worden. Er fing sich jedoch schnell wieder und glitt zurück auf seine Beine. Ein schmaler Typ, der nicht mal so gefährlich aussah und jetzt den Kopf schüttelte, als wäre ihm noch nicht bewusst, was hier passiert war. »Du … du … bist …« »Ja, ich bin Harriets Schwester!«, brüllte Lorna ihn an. »Ihre Zwillingsschwester Lorna. Du hast Harriet getötet. Ich habe sie in ihrem Blut in der Hütte liegen sehen. Noch jetzt sehe ich die große Wunde in der Mitte ihres Körpers vor mir und …« Lucio kicherte. »Ja, ja, das stimmt.« Er streckte seine rechte Hand vor. »Damit habe ich sie getötet. Mit meiner Hand. Mit meinen Fingern. Ich bin gut. Ich brauche keine Waffe. Ich schaffe das einfach so.« »Warum?«, schrie Lorna. »Warum hast du sie getötet?« »Weil sie mich verraten hat. Sie war mir wirklich Untertan, aber sie hat es sich anders überlegt und wollte aus meinem Dunstkreis verschwinden. Ich hasse es, wenn man mich verraten will. Und deshalb musste ich sie töten.« »Und ich werde sie rächen!« Mit einer derartigen Antwort hatte Lucio nicht gerechnet. Er war überrascht und konnte zunächst nichts sagen. Doch er schüttelte den Kopf. »Ich töte dich!«, schrie Lorna. »Wie denn?« »Ich habe die Kraft!« Lucio zeigte sich noch immer amüsiert. Er lachte Lorna ins
Gesicht. »Das glaubst du nicht im Ernst. Wie willst du mich töten? Wie willst du jemanden töten, der mehr ist als ein Mensch? Der es geschafft hat, den Weg zu den Engeln zu finden und der schon jetzt von ihnen profitiert? Wie willst du den töten?« Lorna Peel fand nicht mehr die richtigen Worte. Es war aus mit ihrem Selbstbewusstsein. Plötzlich stand sie wieder auf dem Boden der Tatsachen, und die sahen nicht eben gut aus. Es war ihr eingefallen, dass sie keine Waffe hatte, und die Gestalt vor ihr brauchte keine. Sie konnte sich auf ihre Hände verlassen. Blut klebte an den Fingern der rechten Hand. Wenn sie einen Blick nach rechts warf, sah sie einen fremden Mann am Boden liegen, aus dessen Brustwunde noch immer das Blut rann. Der Anblick er‐ innerte sie wieder an ihre Schwester, und dann sah sie im Gesicht des Brasilianers das spöttische und zugleich überhebliche Grinsen. Er würde nicht nachgeben. Er würde es ihr zeigen. Er würde alle töten, die ihm im Weg standen. Und er hatte die Veränderung bei Lorna bemerkt. »Nun? Willst du mich noch immer töten?« Er breitete die Arme aus. »Versuch es, ich stehe dir zur Verfügung.« Das Ja lag ihr auf der Zunge. Nur war sie nicht in der Lage, dieses eine Wort auszusprechen. Nicht mal ein Krächzen brachte sie her‐ aus. Es kehrte die Angst zurück, und sie machte sich auch klar, wer da vor ihr stand. Der Mörder ihrer Schwester. Ein eiskalter Killer, der immer stärker sein würde als sie. »Bitte, ich warte …« Sie schüttelte den Kopf. »Unsicher?« Lorna schwieg. »Versuch es doch! Du hast es dir vorgenommen. Du hast doch deine Schwester geliebt. Okay, ich bin hier. Ja, ich bin der Mörder dieser Verräterin. Und ich werde auch dich töten …« »Nimm dir nicht zu viel vor, Lucio …«
*
Diesen Satz hatte ich gesagt. Aus bestimmten Gründen hatte ich so lange gewartet. Ich wollte mehr erfahren. Dabei hatte ich alles gese‐ hen. Auch ich hätte Bill retten können, aber Lorna war in diesem Fall schneller gewesen. In ihrer Ungeduld war sie einfach nicht auf‐ zuhalten gewesen und musste nun den Rückzieher machen. Deshalb war jetzt meine Stunde gekommen. Die Zeit der Abrech‐ nung. Nicht Lucio reagierte zuerst, sondern Lorna. Sie schrie meinen Namen, und ich hörte die Erleichterung. Auch Bill hatte etwas bemerkt. Er flüsterte ein Wort, das ich nicht verstand. Ich war auf dem Weg in diesen seltsamen Raum, durch den das Licht der Kerzen schwamm und Menschen wie erstarrt an einem großen ovalen Tisch saßen. Sie taten nichts. Sie schauten nur. Sie waren entsetzt und eine im Schrecken erstarrte Staffage. Das sah ich beim Hereinkommen. Und Lucio schaute auf die Be‐ retta in meiner Hand. Den letzten Trumpf hatte ich noch nicht gezo‐ gen. Das Kreuz war in der Tasche verborgen. Ich würde es gegen Lucio einsetzen, auch gegen einen Engel, und es würde sich heraus‐ stellen, ob er wirklich auf dem Weg war, ein Engel zu werden. Ich glaubte es nicht. Kein normaler Engel. Höchstens einer, der zu Luzifers Soldaten gehörte. Er hatte sich von seiner Überraschung erholt. Alle anderen waren für ihn unwichtig geworden. Jetzt zählte nur noch ich, und er starr‐ te mich aus komisch blassen Augen an. Im unteren Teil seines Gesichts bewegte sich der Mund. Ich hörte ein leises Schmatzen und danach seine Frage, in der noch Erstaunen mitschwang. »Wer bist du?« »Ich heiße John Sinclair!« Nach dieser Antwort blieb ich stehen und wartete auf seine Reaktion. Er dachte nach. Legte den Kopf schief. Grinste wieder. Dann nickte er. »Ja, John Sinclair«, wiederholte er meinen Namen. »Ich habe ihn schon gehört. Er ist mir nicht unbekannt. Du bist auch einer, der es immer wieder versucht. Aber du bist ein Mensch …«
»Ich weiß!« »Und wir sind besser.« »Das wird sich noch herausstellen.« Lucio breitete mit einer blitzschnellen Bewegung seine Arme aus. »Glaubst du mir nicht? Will nicht in deinen Kopf hinein, dass es auch für Menschen Wege gibt, die hin zu den Engeln führen? Die dann dafür sorgen, dass ihre Macht größer wird?« »Doch, das weiß ich alles. Aber es kommt auf die Engel an. Oder auf die, die man als Engel ansieht. Die sie aber in der Wirklichkeit nicht sind. Ich zähle sie zu den Dämonen und nicht zu den Engeln, und den Beweis werde ich bei dir antreten.« Die Pistole beeindruckte ihn nicht. Er grinste mich wieder kalt und herausfordernd an. Dabei flüsterte er: »Versuch es! Zeig mir deine Macht, Sinclair. Ich werde dir meine vorführen. Schon in der nächsten Sekunde wirst du sie erleben.« Er griff mich nicht an. Das hätte ich auch nicht zugelassen. Er tat etwas anderes. Vor allen Augen breitete er wieder seine Arme und ging zugleich einen Schritt zurück. Noch während er dies tat, drückte er seine Beine vom Boden in die Höhe und schwebte plötz‐ lich über dem Boden. Er lag waagerecht in der Luft, doch es blieb nicht bei dieser Demonstration, denn er hatte noch etwas anderes vor, um mir seine Macht zu demonstrieren. Durch leichte Bewegungen seiner Arme gelangte er in die Höhe. Jeder Zuschauer bekam wohl große Augen, als er Zeuge wurde, wie Lucio der Decke entgegenschwebte. Es war kein Fliegen, wie ich es von meiner jungen Freundin, dem Vogelmädchen Carlotta, kannte, nein, er segelte, er schwebte der Decke entgegen, als würde er von unsichtbaren Bändern in die Höhe gezogen. Das traf nicht zu. Einer wie Lucio schaffte es aus eigener Kraft. Kaum hatte sein Körper die Decke berührt, verharrte er in dieser Lage und schaute auf uns nieder. »Jetzt weißt du Bescheid, Sinclair. Jetzt frage ich dich, ob auch du in der Lage bist, das zu tun?« »Bestimmt nicht.«
»Aber ich!« »Ist das der Weg zu den Engeln?« »Richtig.« Ich tat etwas, was wohl jeden Zuschauer verwunderte. Mit einer gelassenen Bewegung steckte ich meine Beretta wieder weg. Mit dieser Geste hatte ich selbst Lucio überrascht, der sich aus der Höhe meldete. »Hast du aufgegeben?« »Kann sein.« Er lachte widerlich. Gleichzeitig hörte ich, dass mich Lorna an‐ sprach. Sie hielt mich für lebensmüde und war davon überzeugt, dass ich alle in tödliche Gefahr brachte. Mit Blicken versuchte ich ihr klar zu machen, dass nicht alles be‐ endet war. Ob sie es begriff, war fraglich. Wir wurden zudem abge‐ lenkt, denn Lucio verließ seinen luftigen Platz und bewegte sich langsam nach unten. Während dieses leichten Falls klappten seine Arme immer mehr zusammen, die schließlich wieder am Körper lagen, als er mit seinen Füßen den Boden berührte. »Aufgabe, Sinclair«, sagte er. Seine Stimme troff dabei vor Hohn. »Ich wusste gar nicht, dass es so vernünftige Menschen gibt.« »So sieht es aus.« »Schön. Und jetzt? Du ahnst doch, wie es weitergeht? Dass ich keine Zeugen am Leben …« »Eins noch«, unterbrach ich ihn. »Ich möchte noch mal auf dich selbst zu sprechen kommen.« »Na und?« »Du bist ein Engel – oder?« »Noch nicht. Ich bin auf dem Weg dorthin. Ich hab mir den größ‐ ten Wunsch seit meiner Kindheit erfüllt …« »Das kann ich nachvollziehen. Aber Menschen sollten Menschen bleiben und Engel eben Engel.« »Na und?« »Ich habe noch einen letzten Wunsch an dich. Wenn du so positiv den Engeln gegenüberstehst, wirst du dich sicherlich darüber freu‐ en, wenn ich dir etwas zeige, das die Engel mir hinterlassen haben.
Es ist …« Ich stoppte mitten in meiner Rede. Lucio reagierte sehr menschlich. Er sah plötzlich aus wie jemand, dem ein Licht aufge‐ gangen war. Er hatte auch schnell die richtigen Worte gefunden und sprach sie aus, während sich auf seinem Gesicht Erstaunen aus‐ breitete. »Die Verräterin. Harriet. Ihre Leiche. Ich spürte, da war etwas. Ja, da ist …« »Es war das!«, sagte ich und holte das Kreuz hervor. Für einen Moment nur präsentierte ich es ihm, und er starrte es auch an, wäh‐ rend sich auf seinem Gesicht der Schrecken abmalte. Der Anblick hatte ihn für eine kurze Zeitspanne wirklich bewe‐ gungsunfähig gemacht. Ab jetzt war es mein Spiel. Bevor er sich versah, war ich bei ihm. Mit einer gedankenschnellen Bewegung streifte ich die Kette über seinen Kopf. Jetzt hing das Kreuz plötzlich vor seiner Brust. Er schrie! Mein Talisman leuchtete auf! Zugleich unternahm Lucio einen letzten Fluchtversuch. Er stieg in die Höhe, doch es blieb bei dieser Bewegung. Er kam nur eine Handlänge vom Boden weg, dann fiel er wieder herab und brach in den Knien ein. Vor aller Augen landete er auf dem Rücken. Das Kreuz hatte sich etwas zur Seite verschoben, aber es lag noch auf seiner Brust. Wahre Engel hätten es bewundert und hätten ihm auch vertraut. In seinem Fall bewies das Kreuz, dass er nicht zu ih‐ nen gehörte, denn mit ihm passierte das Gleiche wie mit Harriet. Zahlreiche Augenpaare schauten zu, wie sich der falsche Engel allmählich auflöste. Sein Körper verwandelte sich in Staub. Auch diesmal blieb es nicht bei einem normalen Staub. Die Umrisse des Körpers schienen ab jetzt aus den Blitzen zahlreicher Wunder‐ kerzen zu bestehen. Es war nur kein Laut zu hören. Lucio, der Halbengel, starb lautlos. Es blieb nichts mehr von ihm übrig. Das Gesicht, die Hände, der gesamte Körper – alles löste sich auf. Es gab nichts mehr, was sei‐ nen Körper noch zusammengehalten hätte. Nur dieser auf be‐
stimmte Umrisse begrenzte Funkenwirbel, den ich durchaus als ein himmlisches Feuer ansah und das erst erlosch, als von Lucio selbst nichts mehr übrig geblieben war. Abgesehen von der Kleidung und einem wunderbaren Silber kreuz, das auf ihr lag und das ich jetzt an mich nahm …
* »Jetzt ist der Tod meiner Schwester gerächt!«, vernahm ich die leise Stimme meines Schützlings. Ich drehte mich zu Lorna um. Sie konnte nichts mehr sagen. Sie stand auf der Stelle und weinte lautlos. Es gab nicht nur sie, sondern auch meinen Freund Bill Conolly und einen blutenden Mann, der auf dem Boden lag. Bill, der mir verdammt angeschlagen vorkam, war zu dem Mann gekrochen. Er kniete neben ihm. Den Kopf hatte er auf seinen Unterschenkel ge‐ bettet. »Er lebt noch, John, aber bitte, ruf einen Notarzt an.« »Okay.« Sekunden später war es erledigt. Ich wusste nicht so recht, was ich noch sagen sollte. Viele Erklärungen zu geben, hatte keinen Sinn, und die Menschen am Tisch waren mir alle fremd. Sie kamen allmählich wieder richtig zu sich. Sie sprachen auch. Ob sie alles begriffen hatten, war fraglich. Da‐ für lächelte ich Lorna zu. Obwohl es ihr nicht gut ging, lächelte sie zurück und sagte dann mit leiser Stimme: »Das Lauern im Dunkeln ist jetzt vorbei. Oder wird es noch mal zurückkehren?« Ich schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht, Lorna. Doch auf falsche Engel kann man überall auf der Welt treffen …« ENDE
Im Bann der schönen Nymphe von Jason Dark Freuen Sie sich in einer Woche auf eine neue Begegnung mit der rätselhaften Aibonwelt. Erleben Sie, wie ein elfjähriges Mädchen mit dieser unheimlichen Magie konfrontiert wird. Lernen Sie einen Gartenteich kennen, der in Wirklichkeit der Einstieg in das Drui‐ den‐Paradies ist. Wenn das geschehen ist, dann sind auch Sie
Im Bann der schönen Nymphe