Stefanie Rafflenbeul und Jana Paradigi
SunQuest Band 2
Der Ewige
Fabylon
Version: 1.0
Auf der Suche nach der lege...
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Stefanie Rafflenbeul und Jana Paradigi
SunQuest Band 2
Der Ewige
Fabylon
Version: 1.0
Auf der Suche nach der legendären Urmutter geraten Shanija Ran und ihre Gefährtinnen ins verkehrte Land, das von einem schreckli chen Fluch beherrscht wird, und entdecken einen Versammlungs platz der Wahrheitssuchenden, wo es angeblich auf jede Frage eine Antwort gibt. Dabei begegnen sie einem Adepten der geheimnisvol len Gilde der Wissensträger, und einem Abenteurer, der mehr ist, als er vorgibt zu sein. Der zweite Band des sechsbändigen Zyklus um die Drei-SonnenWelt im Sternbild Schwan. Eine Welt, in der es keine elektronische Technik gibt, aber Psimagie – und tausende Völker der Milchstraße, denn wer hier einmal gestrandet ist, kommt nie mehr weg.
Stefanie Rafflenbeul Jahrgang 1978, lebt in Rodgau. Nach einem Studium der Germa nistik entschied sie sich für das Schreiben. Schon früh begeisterte sie sich für Heftromane und begann neben der Schule ihre eigenen Gru sel- und Phantastikgeschichten zu verfassen. Mehrere Kurzgeschich ten wurden in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht, ferner ge staltete sie ein Hörbuch mit. 2006 gewann sie den zweiten Preis des William-Voltz-Award mit einer Science Fiction-Geschichte. Seit 2007 publiziert sie unter Pseudonym in verschiedenen Genres im Taschenbuch- und Heftro manbereich. Jana Paradigi Bürgerlich Janka Ptacek, 1972 in München geboren, ist gelernte In formatikerin. Lange Jahre arbeitete sie als technische Leiterin in der Industrie und führt heute ein europaweit agierendes Dienstleis tungsunternehmen in der Slowakei, wobei sie zwischen Geburts stadt und Wahlheimat pendelt. Ihre Vormittage sind seit 2004 dem Schreiben vorbehalten. Unter ihrem Künstlernamen veröffentlichte sie Kurzgeschichten in Kinder-, Jugend- und Fantasy-Anthologien. Neben SunQuest und Beiträgen zu MADDRAX sind weitere Romanprojekte in Vorberei tung. Gabriele Scharf Lebt und arbeitet in der Nähe von München, steuert regelmäßig für diverse Buchausgaben und Magazine Illustrationen bei und hat die Bilder für diesen Band geschaffen.
Dritter Teil
Stefanie Rafflenbeul
Das Schwert des Präfekten
1. Tag des Opferns Ende Du bist nicht mehr weit Sonnenstrahl der Göttin Die von Tod befreit Schwert mit Drachenbildern Klinge rot wie Blut Kämpfe gegen Wahnsinn Grausamkeit und Wut Eile fremde Göttin Bist im All erwacht Auf der Flucht vor Feinden Führ uns aus der Nacht (Niederschrift der Hohepriesterin der Fiogan) Sie flogen ein Stück der rubinroten und der orange glühenden Son ne entgegen. Rubin und Arausio sanken soeben langsam hinter den Horizont. Flavor, die leuchtend gelbe Hauptsonne, war bereits unter dem Mond Less verschwunden, und Pong sah blasse Sternennebel im blau-violetten All. Pongs Entführer, der schwarze Vogel, nutzte einen kräftigen Auf wind. Je höher sie stiegen, desto eisiger wehte der Wind um sie. Der kleine Drache hatte es aufgegeben, sich aus den scharfen Krallen des
Federviehs winden zu wollen. Er war noch nie in einer solchen Lage gewesen und hoffte, dass Shanija ihn nicht aufgab. Dabei hatte sie ihn gewarnt, ihm gesagt, er solle seine kleinen Klauen von den Kris tallen lassen! Doch der Glanz und das innere Feuer der Steine wirk ten immer noch wie magisch auf ihn. Pong flatterte kläglich mit den Flügeln. Wiederholt spuckte er mit Feuer nach dem Vogel, aber das vermaledeite Biest hatte seinen Kopf so unbarmherzig gepackt, dass der dünne Flammenstrahl nutzlos in der kühlen Luft verglühte. Wenn er erst frei war, würde er diesem elenden Vogel sämtliche Federn ausrupfen! Aber zu nächst würden es auch ein paar tun. Er packte eine Feder in seiner Reichweite und rupfte hart daran. Erst nach drei Versuchen segelte das störrische Ding endlich zum ockerbraunen Boden hinab. Das Fe dervieh krächzte empört. »Wenn du mich loslässt, hör ich damit auf, Süße!«, meckerte Pong. Er war sicher, das Biest über ihm war weiblich. So viel Tücke und Starrsinn konnte nur ein weibliches Geschöpf besitzen. Das Flugwesen stieg höher, als wolle es direkt über die sinkenden Sonnen hinweg fliegen. Pong zog die wie Brauen gewölbten Barteln über seinen Augen zusammen. Vor ihnen schwebte auf einmal ein sechs Meter langer Brocken aus Stein, wie eine Insel im Abendhim mel. Ein einzelner Baum wuchs darauf, mit langen, kahlen Ästen, die bizarre Muster vor den blassen Sternen formten. Sie flogen an dem seltsamen Gebilde vorüber und näherten sich ei nem fliegenden Land. Im schwächer werdenden Licht der Sonnen wirkte es wie mit Pastellkreide in den Äther gemalt. Anders konnte der kleine Drache es nicht beschreiben. Mitten in der violettblauen Luft breitete sich fester Boden aus: Stein und darauf Erde. Der Rand war kahl und felsig, doch tiefer hinein wurde das Land immer fruchtbarer – und war bewohnt. Rechteckige Wasserbassins funkel ten zwischen vereinzelten Bäumen. Erste Bauwerke mit spitz zulau fenden Walmdächern, Balustraden und Dachreitern kamen näher. Grüne Flächen lagen unter ihnen: Sorgsam gepflegte Gärten mit blü
henden Obstbäumen und bunt leuchtenden Blumenbeeten. Wasser glitzerte in Brunnen und steinernen Gräben. Ein Ort des Reichtums. Die Häuser sahen aus wie von Menschen gebaut. Verspielte, mit far bigen Mosaiksteinen verzierte Villen, mit Türmchen und Erkern. Von oben glich die Ansiedlung einer dekadenten Luxusstadt für Puppen. Pong konnte mit seinem fokussierenden Blick keinen Schmutz dort unten entdecken, nicht einmal ein kleineres oder krumm gebautes, ungepflegtes Haus. Die Pracht der Siedlung zeigte sich in ungetrübtem Glanz. Tatsächlich lebten Menschen hier, die Pong gelegentlich auf den mosaikbepflasterten Straßen entdeckte. Sie waren in bunte Stoffe gehüllt. In der Mitte des Ortes ragte auf ei nem karmesinroten Hügel ein goldener Palast in die Luft. Auf der Spitze der Kuppel streckte sich ein Adler mit ausgebreiteten Schwin gen dem Himmel entgegen. Er saß auf einer zusammengerollten Schlange. Ein seltsamer Laut drang zu Pong herauf, ein hoher Vogelschrei, so kraftvoll, als würde er mit der Lunge eines Löwen ausgestoßen. Der Drache suchte nach dem Wesen, das dafür in Frage kam, doch er konnte aus der Richtung des Schalls nur geschlossene Gebäude aus Stein sehen. Vielleicht Stallungen. Den schwarzen Vogel schien der unheimliche Schrei weder zu überraschen noch einzuschüchtern. In kollisionsverdächtiger Di stanz glitt er über die goldglänzenden Zinnen hinweg. Pong musste die Klauen und den Schwanz nach oben ziehen, um nicht gegen die mit Blattgold verzierten Steine zu schlagen. »Pass doch auf!« Der kleine Drache hängte eine Reihe derber Belei digungen an, aber das half natürlich nichts. Der Flattermann war immun gegen Pongs Schimpftiraden. Das hat das dämliche Vieh in den vergangenen Stunden bereits hinreichend bewiesen, dachte Pong zornig. Sein Entführer war hier anscheinend nicht gern gesehen, denn ein langer dünner Pfeil pfiff knapp an ihm vorbei. Pong stieß einen ent setzten Schrei aus. »Was machst du denn, du dummes Ding? Willst du uns umbringen?« Er wand sich in den Krallen. Das Miststück
ließ nicht locker. Der Vogel krächzte verärgert, als weitere Pfeile folgten, und hielt endlich Abstand zum Palast. Pong versuchte herauszufinden, wer auf sie schoss, konnte aber niemanden entdecken. Sie ließen Palast und Villen hinter sich, schwebten ein Stück weit über kargen Fels, auf einen Hügel zu, der vor den Sonnen aufragte. Dort stand ein schwarz gewandeter Mann und sah ihnen entgegen. Er erwartete sie wohl. Der Vogel sank in elegantem Bogen zu ihm hinab. Pong umklammerte die vier Kristalle fest mit beiden Krallen händen. Das verdammte Federvieh war also abgerichtet! Was würde jetzt mit ihm geschehen? Er wünschte sich sehnsüchtig in die warme Geborgenheit über Shanijas Brust zurück. Immerhin hatte er dort die besten Aussichten, die man haben konnte, wenn man den Män nern der Eliteeinheit WILD RAMS glauben durfte. Stattdessen wurde er nun diesem bestimmt widerwärtigen Typ gebracht! Der fremde Mann war hager. Seine gepflegten Haare umrahmten die Schultern, das glänzende Weiß zeugte von Körperbewusstsein. Die hellbraune ledrige Haut seines Gesichtes war von winzigen Fält chen durchzogen. Dennoch wirkte er nicht alt, sondern eher zeitlos, was von seinem durchtrainierten Körper unterstrichen wurde. Er trug einfache schwarze Kleidung, die ihm das Aussehen eines Krie gers gab: Die weite weiche Hose und das gegürtete Oberteil mit dem hohen Kragen boten gute Bewegungsfreiheit und erinnerten Pong im Schnitt an irdisch-asiatische Kampfbekleidung. Auf den dünnen Lippen lag ein selbstgefälliges Lächeln. Pong versuchte im Blick des Mannes zu lesen. Obwohl dessen silbrigblaue Augen riesig wirkten, hatten sie nichts Kindliches an sich. Im Gegenteil, verschlagen blick ten sie auf ihn und die vier Kristalle, die er hielt. »Meine liebe Elena.« In der rauen Stimme des Fremden klangen Stolz und Freude mit. »Was bringst du mir denn da Schönes?« Aha. Pong hatte es ja bereits geahnt: Das Vogelmiststück war weib lich. Pongs Schuppen schillerten in aufgeregten rotgrünen Tönen. Der weißhaarige Mann packte Pong mit schmerzhaft festem Griff.
Die andere Hand fingerte gierig nach den Kristallen, während Elena zufrieden krächzend auf der Schulter ihres Herrn landete. Mit einer einzigen Bewegung entwand der Dieb Pong die Steine und ließ sie in den Weiten seines Ärmels verschwinden. Dem kleinen Drachen verschlug es die Sprache. Seine Barteln zo gen sich wütend zusammen und die rubinroten Augen glühten wie heiße Kohlenstücke. Er spuckte zornentbrannt Feuer, doch der Mann drückte ihm mit der freien Hand die Schnauze zu. Der Hand schuh schützte den Kerl vor den Flammen. Pong hustete gequält. Seine Nüstern brannten. »Aua! Verflucht!«, kam es gequetscht her vor. Der Fremde hob ihn hoch. Seine Augen schimmerten. »Es kann sprechen. Nett. Und so passend. Ich hätte da nämlich ein paar Fra gen.« Sein Griff wurde fester. Pong keuchte. »Wenn du mich zerquetschst, sag ich gar nichts!« Der Mann grinste. »Das klingt logisch. Wo ist mein Vater?« »Gib mir sofort meine Kristalle zurück!« Pong biss wütend in den ledernen Handschuh, der ihn umschloss. Der Vogel krächzte be drohlich. Die Spitze des scharfen Schnabels richtete sich auf Pong. Vor Schreck wurden seine Schuppen fahlgelb. Der Mann drehte Pong in der Hand, sodass der kleine Drache mit dem Kopf nach unten hing. »Kleiner, du bist nicht in der Position ir gendetwas zu verlangen. Ich schon. Ich habe dich und deine Beglei terinnen in einer Vision gesehen, und da ich nur Dinge sehe, die für mich wichtig sind, müsst ihr etwas wissen oder haben, was für mich von Bedeutung ist. Also, noch einmal: Was weißt du über den Ver bleib meines Vaters?« Ein Wahnsinniger. Großartig. Pong hatte keine Ahnung, was der Kerl von ihm wollte. »Wenn ich wüsste, wo dein Vater ist, würde ich ihm sagen, er soll dich übers Knie legen und dir Manieren beibringen.« Pong wimmer te, als er zusammengedrückt wurde. Gegenwehr war vergebens, die Finger des Fremden waren so kräftig, als würde der Weißhaarige
zur Übung zwei Drachen pro Tag auspressen. »Hör zu, du Drachenwurm: Entweder du gibst mir die Informatio nen, die ich haben will, oder ich drücke dich langsam von unten her aus, wie eine Tube, und beim Kopf höre ich auf.« Pong schluckte. »Ich weiß wirklich nichts über deinen Vater!« Der Griff um ihn lockerte sich nach einer Weile. »Wie du meinst. Dann warten wir eben auf deine Begleiterinnen. Eine von ihnen ist mit seinem Schicksal verbunden.« * Shanija, As'mala und Seiya blieben auf der Kuppe eines sandigen Hügels nebeneinander stehen. Seiya stützte sich erschöpft auf einen langen Wanderstab, den sie sich auf der Reise gesucht hatte. Ihre schöne Krönungsfrisur mit den hochgesteckten schwarzen Nestern hatte sich wieder aufgelöst. Der Hosenanzug aus grobem, wider standsfähigen Tuch brauchte ebenso dringend eine Reinigung wie seine Besitzerin. Auch As'mala und Shanija hätte ein ausgiebiges Bad gut getan. Dabei schien As'mala trotz ihres Einteilers aus weichem Rauleder am wenigstens zu schwitzen. Shanija fragte sich, wie die blonde Frau das machte. Ihr eigenes olivgrünes Jagdkostüm klebte unange nehm an ihrem Körper. Die mahagonifarbenen Locken hingen sträh nig bis zur Brust. Seit zwei Tagen verfolgten sie Pong. In der Nacht hatten sie eine längere Pause an einem Bach eingelegt und waren erst mit dem Aufgang der Sonnen weitergezogen. Gemeinsam blickten sie nach vorn. Sie waren in die sonderbarste Landschaft geraten, die Shanija je erblickt hatte. Es war erst Mittag, und doch waren die Sonnen nicht mehr zu sehen. Die Glutbälle wurden ausgelöscht von einer gigantischen Gesteinsplatte, die vor ihnen in etwa einem Kilometer Höhe in der Luft hing. Der Stein hat te eine rötliche Färbung. Selbst auf die Entfernung sah man schwar
ze Linien, die ihn durchzogen. Unter ihm bewegte sich ein bis zum Boden reichendes Wolkenfeld entlang. Kleine weiße Wirbel stoben davon auf und reckten sich der Gesteinsplatte entgegen. Der weiße Nebel verbarg alles, was unter ihm lag. Es wirkte, als sei dort unten statt des Bodens der wolkenübersäte Himmel, während hoch oben, über ihren Köpfen, das Land schwebte. Ein verkehrtes Land, dachte Shanija. Sie berührte den Knauf eines der Schwerter an ihrem Gürtel. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Vielleicht, weil der dichte Nebel zudem jedes Geräusch ver schluckte. Tiefe Stille hatte sich über die Umgebung gesenkt, kein Vogel sang mehr sein Lied in der Einsamkeit. Shanija blickte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Seiyas Heimat lag weit hinter ihnen. Sie waren durch die Höhlen geflohen, nachdem es in Mandiranei zum Aufstand gekommen war. Kaum hatten sie die Gefahren überwunden geglaubt, als Pong samt den drei Kristallen und dem Datenspeicher von einem Diebesvogel geraubt worden war. Aber er hatte ihnen eine ungefähre Spur hinterlassen. Eine Fährte aus schwarzen Federn, die er dem Vogel während des Fluges ausgerissen haben musste. Zum Glück wehte nie starker Wind, den noch konnten sie nicht sicher sein, wie weit die Federn abgetrieben waren. Shanija sah unbehaglich zu dem Felsmassiv im rötlichen Himmel. Pongs Spur endete hier. Im Wolkennebel war es unmöglich, ihr zu folgen. Vielleicht war der Vogel über dem Massiv weitergeflogen? Die Kommandantin spähte vergeblich in den Nebel. Irgendwo in der Nähe musste eine Stadt sein! Ein Diebesvogel kam nicht aus dem Nichts. Er gehörte zu einem Herrn oder einer Herrin. Und ein Dieb lebte kaum irgendwo als Einsiedler. Sondern dort, wo es etwas zu holen gab. »Es ist unheimlich hier«, flüsterte Seiya, den Blick ehrfürchtig auf das fliegende Steinmassiv gerichtet. »Wie in einem Grabgewölbe.« »Was ist das?« As'mala zeigte auf ein rundes Gebilde, das schil lernd unter der Steinplatte schwebte. Es hatte vielleicht einen Meter
Durchmesser. Shanija kniff die Augen zusammen. »Es sieht aus wie eine große Kugel.« Die Kommandantin musste an einen Moment ihrer Kindheit denken. An schillernde Blasen aus Wasser und Seife, die die herun tergekommenen Straßen des Gettos von Washington-York für ein paar Sekunden in ein magisches Reich verwandelt hatten. »Rot wie Blut«, flüsterte Seiya erneut, als wage sie es nicht, die Stimme zu erheben. Shanija ging entschlossen voran. »Lasst uns nach Spuren suchen. Vielleicht hat Pong ja weitere Federn hinterlassen.« »Wie sollen wir sie im Nebel finden?« Seiya sah zweifelnd aus, während As'mala bereits die Umgebung abschritt. »Hey!«, rief die Abenteurerin plötzlich aus und beugte sich zu ei nem stachligen Busch hinunter, der verkrüppelt wirkte und sich nur mit sturer Ausdauer am Leben zu halten schien. »Hast du etwas entdeckt?« Shanija war mit wenigen Schritten bei ihr. Sie hoffte, Pong bald wieder zu finden. Sie gab es nicht gerne zu, aber sie vermisste sein aufgeregtes Geplapper. Außerdem hatte er die Pläne bei sich. As'mala grinste vergnügt. Mit einem Wurfmesser stocherte sie im Sand. »Jajamknolle.« Shanija schüttelte den Kopf. »Schon wieder? Du hast dir doch erst heute Morgen eine dieser Knollen mitgenommen. Was ist an dem Zeug so Besonderes?« As'mala hob unschuldig die Schultern. »Du kannst es in Sicheln aufwiegen lassen. Es hilft gegen ungewollte Schwangerschaft und ist exzellent im Geschmack. In manchen Stämmen des Nordens gilt es als heilige Delikatesse.« As'mala schnitt ein Stück von einer un scheinbaren braunen Knolle ab, die unter dem Strauch aus dem Sand hervorlugte. Sie strich die Sandkörner fort und steckte sich den Brocken genießerisch in den Mund. Seiya kam ebenfalls zu ihnen. »Jajamknolle hat heftige Nebenwir
kungen.« »Ach ja? Und warum spüre ich dann noch rein gar nichts von dem Knollenstück, das ich zum Frühstück hatte?« As'mala zückte kauend ihr Messer und schnitt die restliche Knolle geschickt vom Boden ab. Sie verstaute die Pflanze in ihrem Gürtelbeutel. »Weil deine Verdauung nicht mit deiner Fressgier mithalten kann. Du solltest …« »Wir haben wichtigere Probleme«, unterbrach Shanija die beiden. »Ich schlage vor, wir gehen in diese Richtung weiter. Wir haben hier nirgendwo mehr Federn gefunden, und die letzte lag genau vor die sem Massiv.« Shanija machte sich langsam Sorgen, Pong endgültig verloren zu haben. »Hoffentlich fällt es uns nicht auf den Kopf«, brummte As'mala. »Offen gestanden will ich da nicht rein.« Seiya sah unbehaglich in das wabernde Weiß. »Als junges Mädchen habe ich eine Schauerge schichte über das Wolkenland gehört. Ein Land wie dieses hier, in dessen Nebeln schreckliche Monster leben.« »Schauergeschichten.« As'mala grinste breit. »Damit erschreckt man Kinder.« Shanija suchte im Nebel nach Bewegungen. Sie konnte keine aus machen. »Oft steckt in den Geschichten und Legenden von Völkern ein wahrer Kern. Bleibt wachsam. Diese Welt ist nicht unser Spiel platz. Lasst uns hinüber zu dem Felsen gehen, der dort aus dem Ne bel ragt. Vielleicht kann man von seiner Spitze aus etwas mehr er kennen. Irgendwo muss hier eine Siedlung sein.« »Nach euch«, murmelte die Prinzessin. Sie drückte den Wander stab fest an sich. As'mala ging als Erste. Shanija beeilte sich, an ihre Seite zu kom men. Unter ihren Füßen wurde der Boden weicher, als würde sie auf einer Sanddüne laufen. Der Nebel um ihre Beine verdichtete sich. Bald waren alle drei Frauen bis zur Hüfte von den weißen Schwa den umgeben. Shanija sah sich aufmerksam und unbehaglich um
und zog ein Schwert aus dem Waffengürtel. Sie wollte ihre Begleite rinnen nicht verunsichern, aber außer dem klammen Gefühl von Nässe gab es eine andere Wahrnehmung, die sie alarmierte: Eine starke Ausdünstung. Es roch nach Tier. Wie in einem Rattenkäfig, der nicht oft gereinigt wurde. Hier lebte etwas. Inzwischen hatten sie die Hälfte des Weges zurückgelegt. Seiya rümpfte die Nase. »Der Nebel stinkt!« Shanija überlegte, ob sie zurücklaufen sollten, doch selbst wenn der Nebel von Tieren bewohnt war, musste das nicht heißen, dass sie angriffslustig waren. Eine Erschütterung des Bodens ließ Seiya aufschreien. »Was ist das? Ein Beben?« Sie suchte die Nähe von As'mala. Ein Rumoren tief in den Eingeweiden des Sandes ließ Shanija ste hen bleiben. Das Beben gewann an Stärke. Shanija lauschte und fühlte die Bewegungen unter sich. Sie näherten sich zielgerichtet. »As'mala! Seiya! Zur Seite!« As'mala reagierte augenblicklich. Sie riss die Prinzessin mit sich und verschwand mit ihr im Weiß. Shanija wich aus, ihr Schwert fuhr kampfbereit vor. Sie umklam merte es mit beiden Händen, auf alles gefasst. Was auch immer hier lauerte, mit größter Wahrscheinlichkeit war es ein Raubtier, das Beute gewittert hatte. Da brach es auch schon aus dem Boden, dick wie der Stamm einer Eiche. Shanija veränderte blitzschnell die Posi tion ihrer Waffe. Wie ein gigantischer Aal schoss das Tier nach oben – genau in die Klinge hinein. Die Wucht des schweren Körpers ließ Shanijas Hände taub werden, aber sie umklammerte weiterhin die Waffe und ließ nicht locker. Das Untier brüllte vor Schmerz, durch seine heftigen Bewegungen riss es sich den Leib noch tiefer auf. Sha nija musste ihre verkrampften Finger schließlich lösen, als sie den Halt verlor und beinahe mitgerissen wurde. Einen Moment lang er blickte die Frau das Wesen deutlich vor dem Steinmassiv aus dem Nebel emporragen. Ein riesiger Aal, durchsichtig wie Glas, bis auf die Blutbahnen und rot schimmernden Innereien. Knochen waren
nicht erkennbar, nur harte Ringmuskeln. Aus dem weit geöffneten Maul ragten spitze Reißzähne, durchsichtig wie Kristall. Augen konnte Shanija nicht sehen, aber mehrere beulenartige Ausbuchtun gen am Kopf, die vielleicht als Sinnesorgane dienten. Aus der Wun de an der Flanke des Aals sickerte eine schleimige Flüssigkeit. Die Schreie des Tiers brachen ab. Es sackte in sich zusammen und versank im Nebel. Shanija wollte erleichtert aufatmen, doch da spürte sie weitere Er schütterungen. Zu viele, um nur von einem Tier zu stammen. Sie schnitten den Rückweg zum festen Boden ab. Wurden sie einge kreist? As'mala trat aus dem Nebel und winkte, und Shanija schloss zu ihr und Seiya auf. »Ich habe euch gewarnt«, flüsterte Seiya. »Der Rückweg ist von den Glasaalen versperrt. Zum Felsen!« Sha nija griff nach dem Arm der Prinzessin und zog sie mit sich. Sie fühlte sich für die junge Frau verantwortlich, die nicht wie sie und As'mala zu kämpfen gelernt hatte. Sie rannten zu dem Felsen und erreichten ihn unbehelligt, obwohl die Glasaale unter dem Sand schneller sein mussten als sie. Shanija sah zurück und erkannte den Grund. Aus dem Nebel stiegen weiße Wirbel auf, dumpfe Geräusche wie Knurren und Schmatzen dran gen hervor. »Sie fressen den Wurm, den du aufgeschlitzt hast, deswegen las sen sie uns in Ruhe – vorerst.« As'mala schüttelte sich. »Gute Reakti on übrigens.« »Was machen wir jetzt?« Seiyas Stimme zitterte. Shanija musterte die Spitze des Felsens. »Wir nehmen dort oben Deckung und versuchen den Rückweg, wenn sie sich satt gefressen haben und verschwinden.« Sie nahmen die Prinzessin in die Mitte. Shanija kletterte voraus, As'mala sicherte hinten. Ihre tiefblauen Augen blickten wachsam und furchtlos. Beruhigend berührte As'mala einmal Seiyas Arm.
»Wir haben sie gleich abgehängt.« Shanija bekam auf einmal ein seltsames Gefühl, je höher sie ka men. Ein Gefühl, wie sie es lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Es löste Heimweh nach dem Weltraum aus. »Spürt ihr das auch?« Seiyas Stimme klang verunsichert. »Mir ist, als würde ich leichter.« »Angst beflügelt.« As'mala grinste. »Sie hat Recht.« Shanijas Hand schloss sich um den Felsen. »Macht keine ruckartigen Bewegungen und haltet euch fest. Die physikali schen Gegebenheiten sind hier sehr sonderbar.« »Was meinst du?« Seiya sah sich misstrauisch um. As'mala unterbrach sie fluchend. »Bei Zyrkans Eiern, sie holen auf! Drei oder vier dieser Viecher! Anscheinend sind sie nicht satt ge worden.« Shanija schaute nach unten. Tatsächlich, vier Glasaale krochen den Felsen herauf. Ihre langen Körper schoben sich immer länger aus dem Nebel. Sie waren beängstigend schnell im Klettern. Shanija er kannte einmal durchschimmernde Saugnäpfe, die am Gestein kleb ten. »Und jetzt?« Seiya war blass. »Weiter nach oben! Aber vorsichtig!« Shanija setzte den Aufstieg fort. Ihr Blick fiel auf eine der rötlichen Kugeln, die dicht über dem Felsen schwebte. Sie wusste plötzlich, was diese Kugeln waren. In ihrer langen Ausbildung hatte sie Ähnliches gesehen, aber nie war sie auf einem Planeten mit derart extremen Bedingungen gewesen. Die Kräfte, die hier herrschten, hielten sich an keine wissenschaftli chen Gesetze. Die Natur schien durcheinandergeraten, auf den Kopf gestellt. Hinter ihnen kamen die Glasaale näher. Ihre Innereien pulsierten zusehends schneller. Ob sie so ihre Freude über das bevorstehende Mahl ausdrückten? Shanija wollte es nicht austesten. Sie griff nach einem Stein und warf ihn hinauf in die Luft. Es war, wie sie vermu
tet hatte: Der Stein senkte sich nicht dem Boden entgegen. Er behielt die Wurflinie bei und schwebte schwerelos durch den Raum unter der Gesteinsplatte. Inzwischen waren die Riesenräuber beängstigend nah. »Was sollen wir tun?« Seiya deutete nach unten. »Sie sind zu viele, wir haben keine Chance!« As'mala zog ihre Schwerter. »Lass sie kommen. Ich werde schon dafür sorgen, dass sie sich satt essen können.« »Steck die Schwerter wieder ein. Es gibt einen besseren Weg. Einen, der uns vielleicht sogar auf das Plateau führt.« Shanija wies auf die Gesteinsplatte über ihnen. »Springt! Springt so kraftvoll wie möglich ab! Es geht aufwärts!« »Was?« As'mala sah sie verblüfft an. »Springt!«
2. Während Seiya noch zögerte, stieß sich As'mala kraftvoll ab. Sie stieß ein Jauchzen aus, als es sie weiter nach oben trug. »Großartig! Irre!« »Jetzt du!« Shanija stellte sich schützend vor Seiya und richtete ihr verbliebenes Schwert auf das Untier, das den Rachen öffnete, um nach ihnen zu schnappen. Die Prinzessin zögerte noch einmal kurz, dann wagte sie den Sprung. Shanija steckte die Waffe ein und folgte ihr, gerade noch rechtzei tig. Die glasartigen Zähne schlugen mit einem harten Klacken auf einander. Enttäuschtes Gebrüll schallte in Shanijas Ohren. Sie schwebte. Shanija schloss sekundenlang die Augen. Wie lange war es her, dass sie sich im schwerelosen Zustand befunden hatte? Eine Sehnsucht nach ihrer weit entfernten Heimat stieß in ihr Inne res, spitz wie die Zähne der Glasaale, und erinnerte sie schmerzhaft an ihren Auftrag. Ob sie die Erde überhaupt noch retten konnte? Aber wenn sie die Pläne nicht wiederbekam, war erst recht alles aus. Nacheinander, immer noch vom Schwung getragen, schwebten sie nach oben. Keine sagte etwas. Seiyas glänzende braune Augen wa ren groß wie die eines erstaunten Kindes. As'mala hatte die Lider halb gesenkt. Das Plattenmassiv über ihnen kam immer näher. »Seht!« Seiya wies auf eine Öffnung im Stein. »Da ist ein Loch drin, vielleicht eine Höhle.« Gleich darunter trat eine Baumwurzel aus dem Gestein, hing tief herab und ließ sich in der Schwerelosig keit treiben. Aus dieser Perspektive wirkte das Massiv noch verrückter. Ein Land über ihren Köpfen. Shanija fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie träumte.
As'mala griff nach der Baumwurzel und hangelte sich daran ent lang auf die Höhle zu. »Schaun wir mal, was wir da drin finden!«, meinte sie mit mädchenhaft hoher Stimme und kicherte albern. Sha nija blickte rasch zu ihr und sah, wie groß die Pupillen ihrer Beglei terin waren. As'mala krabbelte über die Felsstufe, stieß einen Jauch zer aus und tauchte in die Höhle ein. Shanija fluchte leise und rief ihr nach: »Nicht so stürmisch! Wer weiß, was da drin lauert!« Sie überholte Seiya und stellte sich auf die Stufe, um der Prinzessin heraufzuhelfen. Gemeinsam betraten sie die Höhle. Sie war der Ausläufer eines langen Gangs, der in der Dunkelheit verschwand. Die Schwerkraft hatte wieder zugenom men, entsprach aber noch nicht der gewohnten Anziehung. As'mala ging bereits voraus auf Erkundung, sie hatte die Grenze des Licht einfalls fast erreicht. Aus der Dunkelheit klang ein Trippeln, wie von kleinen Füßen. Angespannt lauschte Shanija in die Finsternis. Das Geräusch entfernte sich, nur As'malas ungleichmäßige Schritte wa ren noch zu hören. Gleich darauf war sie nicht mehr zu sehen. »As' mala! Pass auf!« »As'mala, komm zurück!« Seiya klang besorgt. »Das ist zu gefähr lich! Wir sollten zusammenbleiben!« »Hier geht's lang«, hörten sie As'malas vergnügte Stimme. »Ir gendwo.« Es folgte eine kurze Pause, dann erklang As'malas Stim me erneut. »Oho, grünes Licht. Schick.« Shanija fragte Seiya verwundert: »Was ist mit ihr? Sie ist sonst zwar draufgängerisch, aber nicht dumm.« Seiya seufzte tief. »Jajamknolle ist sehr schwer zu dosieren. Wenn man zuviel davon nimmt, erzeugt sie rauschartige Zustände von Selbstüberschätzung und …« »Mmir isso komisch«, hallte As'malas lallende Stimme aus der Dunkelheit. Gefolgt von deutlichem Würgen. »… Übelkeit«, schloss Seiya süffisant. »Gepaart mit dem Verlust der Orientierung.« »Großartig.« Shanija ging schneller.
Sie folgten dem Gang. Bald schon sahen sie, was As'mala mit »grü nem Licht« meinte. An den Wänden entlang krabbelten Hunderte grünlich schimmernder Käfer, die den Tunnel schwach beleuchte ten. Sie waren etwa handtellergroß und kümmerten sich nicht um die Eindringlinge. Gemächlich suchten sie sich ihre Wege. Der grobe und poröse Fels bot guten Halt. Als hätten diamantene Zähne sich durch ihn hindurchgefressen. Auch auf dem Boden liefen Käfer, die schnell davonhuschten, sobald die Frauen zu nah kamen. As'mala stand schwankend in der Mitte des Gangs. Sie wirkte wie ein Seekranker in stürmischer See. »Bei Anamas Kehrseite – das war wohl doch zu viel von dem Zeug.« Seiya stützte sie. »Du musst immer übertreiben.« Die Schwerkraft war inzwischen wieder vollends hergestellt. Sha nija wies ungeduldig nach vorn. »Los, weiter. Das sieht mir nach ei nem künstlich angelegten Tunnel aus, also wird er uns irgendwann an die Oberfläche bringen.« Der Gang wand sich stetig hinauf. Er beschrieb dabei mehrere krumme Biegungen. Shanija kam sich vor wie in den Minen eines verrückten Zwergenvolkes, das nicht gera deaus graben konnte. Auf dem Weg durch die grünliche Dunkelheit begegnete ihnen niemand. Kein Tier kreuzte ihre Wege. Nur einmal noch hörten sie das weit entfernte Trippeln von vielen Füßen, aber es näherte sich ihnen nicht. Shanija wollte lieber nicht erkunden, um was es sich handelte. As'malas Gesicht hatte eine ungesunde Färbung. Sie schwitzte stark. Es ging ihr zusehends schlechter. Seiya kümmerte sich um sie und half ihr auf dem Weg. Shanija verfluchte As'malas Unbeküm mertheit im Umgang mit der Knolle, die sie jetzt aufhielt. Sie wollte endlich vorankommen! Ein unbestimmbares Gefühl sagte Shanija, dass die Gesteinsplatte einige Überraschungen barg – und dass sie Pong näher kam. Argwöhnisch betrachtete die Kommandantin die käferübersäten Wände und den Weg vor sich. Wann immer der Gang abzweigte,
wählte Shanija denjenigen, der nach oben führte. Sie hatten bereits eine ziemliche Strecke zurückgelegt, als As'mala, die sich auf Seiyas Schulter stützte, in sich zusammensank und zu Boden glitt. »Alles dreht sich«, murmelte As'mala matt. »Der Gang schwankt zu sehr.« Sie sah kleinlaut zu Shanija hoch. »Ich hab wohl echt Mist gebaut.« »Reiß dich zusammen«, sagte Shanija ungerührt. »Ich weiß nicht mehr, wo vorn und hinten ist.« As'mala schloss die Augen. Ihr Körper zitterte. Sie schlang die Arme um ihre Knie. »Ich brauch eine Pause.« Shanija blickte unbehaglich zurück. Sie wollte es den anderen nicht sagen, aber sie fühlte sich seit einiger Zeit beobachtet, von Hunderten winziger Augen. Bösartiger Augen, die sich in den Schat ten verbargen. Je länger sie blieben, desto stärker wurde das Gefühl von Gefahr. Sie gehörten hier nicht her. »Es ist nicht mehr weit, As' mala. So dick wird die Gesteinsplatte nicht sein. Komm schon.« Sie zog die Begleiterin hoch und stützte sie ächzend. Shanija besaß Kraft, aber die Diebin war gebaut wie eine Athletin. As'mala stöhnte und gab sich Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Langsam schleppten sie sich vorwärts. »Dort vorn ist Licht!« Seiya, die ein Stück vorausgegangen war, klang erleichtert. »Hoffentlich gibt es hier nicht dieselben Monster wie im Nebel unten.« Sie schüttelte sich. »Man kann ja viel über die Einsamkeit meines Monolithen schimpfen, aber sicherer war es dort schon.« Shanija schwieg. Zuletzt war die Sicherheit von Seiyas Heimat durch ihren Bruder Tainon zerstört worden. Shanija fragte sich, ob Seiya bereute, mit ihnen gegangen zu sein. Aber letztlich hatte die Prinzessin keine Wahl gehabt. Entweder Flucht oder Tod. Ob Seiya sie verlassen würde, sobald sie auf andere Menschen trafen? Das wäre dann jemand weniger, um den Shanija sich kümmern musste. Das Zentralarchiv konnte sie auch ohne Seiya finden. Ich würde sie trotzdem vermissen. Shanija musterte die Prinzessin un
auffällig von der Seite. Vereinzelte Flechten der zerzausten schwar zen Haare umrahmten ihre hohen Wangenknochen. Die glänzenden braunen Augen gaben dem zierlichen Gesicht einen ätherischen Ausdruck. Seiya war anmutig, wie eine klassische Märchenprinzes sin isoliert und überbehütet aufgewachsen. Trotzdem war sie tapfer auf diese Reise ins Ungewisse gegangen, ohne sich ein einziges Mal zu beklagen. As'mala bat Shanija, sie an der Felswand abzusetzen. Sie atmete schwer, versuchte aber zu lächeln. »Lasst mich einen Moment hier ausruhen. Ich schreie schon, wenn was ist.« »Die paar Meter schaffst du jetzt auch noch.« Shanija zerrte die blonde Frau unerbittlich weiter und setzte sie erst ab, als sie den Ausgang erreicht hatten. Shanija übernahm die Führung und trat als Erste hinaus ins blen dende Licht von Flavor, Rubin und Arausio. Die Kommandantin hatte sich noch immer nicht an das sonderbar intensive Licht auf Less gewöhnt, das alle Farben zum Leuchten brachte und oft genug die Luft flimmern ließ. Der Gang führte aus dem Felsen hinaus auf ein natürliches Pla teau. Darunter lag eine seltsam geformte Landschaft aus kleinen Schluchten. »Was ist das?« Seiya zeigte auf ein schiefergraues Steingebilde ganz in ihrer Nähe. Shanija erkannte, dass all die niedrigen Schluchten vor ihnen er baut waren. Felsbrocken und Steine waren zu turmhohen grauroten Trichtern aufgeschichtet. Die Höhenunterschiede zwischen den ein zelnen Gebilden waren erheblich. Obwohl es keine Straßen oder Wege gab, handelte es sich eindeutig um eine Art Siedlung. Aller dings nicht von und für Menschen errichtet. Einer der Trichter direkt unter ihnen bot Einblick in seine große Öffnung. Das Bauwerk hatte die vergleichbare Größe eines Mehrfa milienhauses aus historischer irdischer Zeit. Eine Art Plattform ragte teilweise hinein, die vielleicht als Regenschutz diente. Weiter nach
unten wurde das Gebilde immer schmaler. Einige andere Bauten erinnerten Shanija an Hörner, wie man sie vor Urzeiten auf der Erde zur Jagd benutzt hatte. Bäume und Pflanzen gab es hier nicht. Nur nackten Fels und Stei ne, soweit das Auge reichte. »Bleibt in Deckung.« Shanija ging in den Schatten des Felsens. Wie sollten sie dieses unwegsame Land durchqueren? Das Klettern wür de Tage in Anspruch nehmen. Die Höhenunterschiede zwischen den Schluchten waren ein zusätzliches zeitraubendes Hindernis. Über ihnen ertönte der helle Schrei eines Vogels. Die Frauen sahen auf. Wie schwarze Blitze schossen gefiederte Leiber auf sie herab. »Zurück in die Höhle!« Shanija packte Seiyas Arm. Sie zog mit der Rechten ihr Schwert. »Warte!« Seiya blieb stehen. »Ich weiß, wer sie sind!« Drei Geschöpfe senkten sich herab, die wie gut zwei Meter hohe Saatkrähen aussahen. Ihre Flügel hatten die unglaubliche Spannwei te von etwa sechs Metern. Im Gegensatz zu irdischen Krähen hatten diese Wesen allerdings drei Beine. Die Vogelwesen landeten auf ei nem kräftigen Standbein, das sich unter ihrem Bauch befand. Ein Stück über diesem Standbein, im unteren Brustbereich, saßen zwei dürre klauenbesetzte Beine, die auch als Arme verwendet werden konnten. Sie waren länger als das Standbein und berührten im aus gestreckten Zustand den Boden. Die Klauen hatten jeweils sechs Fingerkrallen. Die beiden äußeren Fingerzehen waren den anderen gegenübergestellt und konnten wie Daumen eingesetzt werden. Alle drei Geschöpfe waren tiefschwarz, das Gefieder glänzte wie Lack. Anmutig falteten sie die mächtigen Flügel zusammen. Das größte Wesen hüpfte in einer ungeschickt wirkenden Bewegung auf sie zu, aber Shanija war sicher, dass der Vogelartige ein starker Geg ner war, ganz gleich, wie unbeholfen er auf dem Boden wirkte. Die Krallen der Vorderklauen waren scharf, und auf dem Rücken, zwi schen den Flügeln, waren Pfeil und Bogen befestigt. Noch gefährli cher wirkte der leicht gekrümmte, spitze graue Schnabel; eine
furchteinflößende Waffe. »Ich grüße euch, Kinder vom Volk der Fiogan«, sagte Seiya lang sam und laut. »Ich bin Prinzessin Seiya aus dem Reich Mandiranei. Einst kannten sich unsere Völker. Ich bin in Frieden hier und suche keinen Streit.« Der Anführer legte den Kopf schief und sah Seiya mit ausdrucks losen Onyxaugen an. Die grauen Ringe um seine Augen machten den Blick noch starrer und unheimlicher. »Ihrr seid in einem Gebiiet, welches den Menschen verrboten ist.« Seine Sprache war rau und kehlig, aber erstaunlich gewandt. Er sagte etwas in einem unver ständlichen Krächzen zu seinen Begleitern. Sie zuckten mit den an gelegten Flügeln. Shanija hätte gern gewusst, ob dies nun Zustimmung oder Ableh nung bedeutete. Sie senkte die Waffe. »Wir suchen eine Stadt, in der es kleine schwarze Vögel gibt. Abgerichtete Vögel.« Alle drei Fiogan wichen vor ihr zurück. Sie drängten sich dicht an einander und steckten die Köpfe zusammen. Wieder krächzten sie in einer unverständlichen Sprache. Sie wirkten sehr aufgeregt. Fast ein wenig aufgeplustert. Shanija und Seiya warfen sich einen verstohlenen Blick zu. Hof fentlich kam es nicht zu Kampfhandlungen. Der große schwarze Vogel hüpfte schließlich wieder näher heran und senkte den Kopf zu Shanija herab. »Ihrr seid hiierr in Gefahrr … Wirr müssen euch schnell zu euresgleichen brringen.« Er drückte seine Standklaue ganz durch und packte die überraschte Shanija mit seinen Vorderbeinen an den Armen, ehe sie etwas sagen konnte. Doch er hielt sie vorsichtig mit harten Krallen. »Wartet!«, bat sie. »Wir haben eine weitere Begleiterin bei uns.« Mit einer entschlossenen Bewegung brachte sie den Vogel dazu, sie loszulassen und ging zurück zu As'mala, die immer noch in der De ckung neben dem Höhlenausgang lag. Die blonde Frau lag regungs los auf dem Boden, ihre Atmung war flach. Shanija packte besorgt ihre Schultern. Sie hätte nicht gedacht, dass die Wirkung der Jajam
knolle derart verheerend sein würde. »As'mala!« »Nur noch 'ne Minute«, stöhnte die Abenteurerin leise. »Bin gleich wieder für dich da, Liebes.« Ihre Augen blieben geschlossen. »As'mala, drei Vogelwesen, die Seiya Fiogan nennt, sind bereit, uns zu anderen Menschen zu fliegen. Dort kann man dir bestimmt helfen, und vielleicht finden wir auch Pong.« As'mala kicherte albern. »Dann mal los. Ich wollte schon immer ein Adler sein.« Der Fioganführer trat neben Shanija. »Iich nehme das verrletzte Weibchen. Aberr jetzt müssen wirr los. Wirr können ihr nicht helfen. Ihrr müsst zu eurresgleichen.« Er sah Shanija sonderbar an. Einen verrückten Moment lang hatte die Erdgeborene das Gefühl, sie seien einander bereits begegnet. Aber das war natürlich völlig unmöglich. »Mit welchem Namen soll ich dich ansprechen?« »Du könntest meinen wahrren Namen nicht aussprrechen, Son nenstrrahl. Err ist auch nicht von Bedeutung. Schnell jetzt. Wenn die Scherrgen des Einen dich finden, biist du tot.« »Der Eine? Wer soll das sein?« Und warum nannte der Fiogan sie Sonnenstrahl? Spürte er etwa ihre Sonnenkraft? Plötzlich fühlte sich Shanija von dem fremden Wesen bedroht. Was verheimlichten die kalten Onyxaugen vor ihr? Konnten diese Wesen etwa Gedanken le sen? Oder durch einen anderen versteckten Sinn in ihr Inneres bli cken? Die Vorstellung war beunruhigend. Der Fiogan antwortete nicht. Es zog As'mala mit dem Schnabel vorsichtig vom Tunneleingang fort und machte sich zum Abflug be reit. Ein anderer Fiogan streckte nun die Klauen nach Shanija aus. Ob es Sinn hatte zu protestieren? Diese Geschöpfe schienen ihnen helfen zu wollen. Trotzdem zögerte sie. »Warum sollen wir euch vertrauen?« Shani ja hatte noch immer das Heft des Schwertes umfasst. »Wirr haben keine Zeit. Mein Bruderr will deinen Tod.« Verwirrt wollte Shanija nachfragen, wieso der Bruder dieses We
sens explizit ihren Tod wünschte. Schließlich war sie zum ersten Mal hier, auch wenn sie vorhin dieses merkwürdige Déjà-vu gehabt hat te. Der Fiogan nutzte den Moment, um sie zu packen. Einen Augen blick überlegte Shanija, sich zu wehren, doch ihr Instinkt riet ihr, sich jetzt von diesem Ort wegbringen zu lassen, denn in einem hatte der Fiogan auf jeden Fall Recht: Dies war kein Platz für Menschen. Und wenn sie zu Pong gebracht wurde, umso besser. Neben ihr wurden gerade As'mala und Seiya in die Lüfte gehoben. As'mala war kaum noch bei Bewusstsein. Ihre Hautfarbe war blass. Der ruckartige Abflug war unangenehm, doch Shanija hatte Schlimmeres hinter sich. Bald schon stabilisierte sich der Flug des Vogelwesens, und sie glitten ruhig durch die Lüfte. Shanijas anfäng liche Sorge wich, der Fiogan könne ihr Gewicht vielleicht nicht tra gen. Der Geflügelte schien in der Tat erstaunliche Kräfte zu haben. Inzwischen war der Griff der Klauen schmerzhaft fest, aber dafür auch sicher. Neugierig blickte Shanija hinab. Sie hatte eine gute Sicht auf die Kraterstadt unter ihnen. Viel schneller als sie vermutet hätte, endete die Ansiedlung der Vogelwesen. Die nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Nur ein hoher roter Felsen trennte die künstlichen Trichterbauten von der Stadt der Menschen! Beide Siedlungen lagen so nah beieinander, dass sie ohne den Felsen als Barriere dazwischen zusammengehörende Stadtteile gewesen wä ren. Die Fiogan gingen rasch auf Sinkflug. Unten ragten schön gearbei tete Steinhäuser mit spitzen Giebeldächern auf. Bunte Mosaiksteine prangten an den Seitenwänden. Sämtliche Gebäude hatten zwei Stockwerke. Selbst aus dieser Höhe konnte man die mühevolle Ge nauigkeit erkennen, mit der sie erbaut worden waren. In der Mitte der Siedlung befand sich ein großer Platz, auf dem der höchste Laubbaum wuchs, den Shanija je gesehen hatte. Die Fiogan flogen auf einer Höhe von schätzungsweise fünfzig Metern. Der Baum ragte um ein Vielfaches darüber hinaus. Es war keine Frage
mehr, dass die Wurzel von dieser gewaltigen Pflanze stammte, die ihnen im schwerelosen Feld unter dem Plattenmassiv Halt gegeben hatte. Alle Straßen verliefen sternförmig von dem großen Platz mit dem Baum als Mittelpunkt. Die Häuser waren aus bearbeitetem Stein er richtet und mit Bilderzyklen versehen. Jedes Haus schien eine Au ßenhülle aus feinem Mosaik zu besitzen. Shanija wurde von der Pracht eingefangen, die sich da unter ihr ausbreitete. Als Kind war sie nie aus ihrem schmutzigen Viertel herausgekommen, in dem Grau die einzige Farbe zu sein schien. Das hier war ein Paradies. Reichtum, wie Shanija ihn nie zuvor erblickt hatte. Wer sich sein Haus auf eine solche Weise verzieren ließ, musste allerhand Zah lungsmittel besitzen. Kein Fenster, das nicht mit buntem Glas be stückt war, ja, es gab nicht einmal schlecht instand gesetzte Häuser. Die ganze Stadt wirkte wie ein prächtiges, zugleich verrücktes Kunstwerk, bunt und farbenfroh; welch ein harter Kontrast zu den kargen Felstrichtern der Fiogan. Shanija konnte das Schlagen eines Schmiedehammers und das leise Klingen von Glocken hören, die in dem großen Baum hingen und zarte Töne von sich gaben, wenn ein Windhauch durch die Äste fuhr. Auf dem Platz waren Menschen in bunter Stoffkleidung unter wegs. Die meisten hatten helle Haut und bronzefarbenes Haar, das zu aufwändigen Zopffrisuren geflochten war, und die Bärte waren sorgfältig gestutzt. Einige blieben stehen und deuteten auf sie, ihre aufgeregten Stimmen drangen bis zu Shanija hoch. »Baum«, stöhnte As'mala neben ihr geistreich. Shanija war froh, überhaupt ihre Stimme zu hören. Sie landeten auf dem Platz vor dem eschenähnlichen Baumriesen, der mehrere hundert Meter hoch sein musste. Die langen Stiele an den Enden der Äste besaßen über zehn Paare länglicher Einzelblät ter. Farbenfrohe Girlanden zogen sich durch die Unterseite der ova len Krone. Vermutlich wurde die Esche von den Menschen der Stadt verehrt.
Die Fiogan ließen sie los, sobald sie gelandet waren. Der Anführer wandte sich mit gespreizten Flügeln an Shanija. Er sah mit dieser Haltung bedrohlich aus. »Du wirrst deinen Weg finden, Sonnen strrahl.« Ohne ein weiteres Wort der Erklärung oder des Abschieds stießen sich die Wesen von den bunten Mosaiksteinen ab und flatterten in den Himmel hinauf. Seiya schwankte leicht, sie schüttelte den Kopf, als würde sie aus einem Traum erwachen. »Das war unglaublich! Das Segeln mit den mandirischen Drachengleitern hat mir mein Vater immer verboten. Ich hätte nie gedacht, einmal wie ein Vogel zu fliegen.« »Eher wie die Beute eines Vogels«, erwiderte Shanija. Die Worte des Fiogan verwirrten sie. Das Vogelwesen konnte wohl kaum ihren Rückweg zur Erde meinen. Sie neigte leicht den Kopf und beugte sich über die am Boden liegende As'mala. Ihre Finger suchten den Puls. Die blonde Frau öffnete die Augen. »Bei Anamas Kehrseite … nie wieder Jajamknolle.« »Geht es dir besser?«, fragte Seiya. As'mala nickte. »Die Welt hat aufgehört, sich um mich zu drehen. Wo sind wir hier?« Vorsichtig setzte sie sich auf. Eine angenehme Männerstimme erklang neben ihnen. »Verzeiht, wenn ich Euch unaufgefordert anspreche, aber ich kann Eure Frage beantworten. Ihr befindet Euch hier in Khatasta, meine Damen.« Ein mit Schwert und Rundschild gerüsteter Mann trat auf sie zu. Er war nicht viel größer als Shanija. Wie die anderen Bewohner der Stadt trug er die Haare lang, sie fielen in unzähligen geflochtenen Zöpfen über seine Schultern und schimmerten wie Kupfer. Das breite Ge sicht war freundlich, die Nase schmal, edel. Ein wenig sonderbar war die dünne Beschaffenheit seiner Rüstung. Sie glänzte, wirkte aber nicht funktionstüchtig. Abschätzend musterte Shanija das dün ne Zierschwert an seiner Seite. Was wollte der rotblonde Mann da mit tun? Brotscheiben mit Butter bestreichen?
Der Mann wandte sich Shanija zu, die grauen Augen in dem kanti gen Gesicht musterten sie nachdenklich. Auf seiner Nase saßen eini ge Sommersprossen, die nicht zu seinen strengen Augen passen wollten. Shanija besann sich und wollte sich vorstellen, doch Seiya kam ihr zuvor. »Mein Name ist Prinzessin Seiya, Tochter des Königs Leeon und der Königin Randra aus dem Reich Mandiranei. Meine Begleiterin nen sind die Geschwaderkommandantin Shanija Ran und die ehren werte Asanfirigylwyddinmala. Wir ersuchen eine Genehmigung un seres Aufenthaltes.« Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Mannes. »Ihr seid so schön, wie Ihr förmlich seid, Prinzessin Seiya aus dem uns bekann ten Reich Mandiranei. Mein Name ist Maltes Balderas. Ich bin Hauptmann der Stadtwache und der Sohn des Präfekten Aridas.« Shanija kniff die Augen zusammen. »Was genau versteht ihr Leute hier unter einem Präfekten?« Der Mann sah entspannt zurück. »Was genau versteht Ihr unter ei ner Geschwaderkommandantin?« As'mala unterdrückte ein Würgen. Maltes richtete erst jetzt seine Aufmerksamkeit auf die Diebin. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich völlig. Shanija bemerkte erstaunt die plötzliche ernsthafte Sorge in seinen sturmgrauen Augen. »Eurer Begleiterin geht es nicht gut. Seid Ihr schon länger hier? Diese Gegend ist gefährlich für Frauen.« »Wir können auf uns aufpassen«, erklärte Shanija bestimmt. Maltes beschrieb in einer weiten Geste den Platz, auf dem sie stan den. »Khatasta. Die Goldene Stadt der Männer. Seht Euch um, edle Frauen. Es ist ein Paradies, aber es birgt das Grauen.« Shanija folgte seiner Geste mit Blicken und erkannte, dass sich tat sächlich nur Männer auf dem Platz befanden. Das war ihr bisher gar nicht aufgefallen. Und es wurden immer mehr. Noch hielten sie re spektvollen Abstand, doch es war offensichtlich, dass das Erschei
nen der drei Frauen auf dem Marktplatz für sie eine außergewöhnli che Attraktion darstellte. »Was sollte uns denn hier bedrohen?«, fragte sie höflich, doch sie konnte den leisen Spott nicht ganz aus ihrer Stimme herausnehmen. Dieser Maltes war ihr eine Spur zu theatralisch. »Eine Krankheit.« Maltes' Augen drückten weiterhin Besorgnis aus, als er zu As'mala sah. »Ein unsichtbarer Feind, der tötet. Und er tötet nur Frauen. Ich … gehöre allerdings nicht zu denen, die das Wissen horten. Andere mögen mehr darüber erzählen können. Al les, was ich weiß, ist Folgendes: Vor vielen tausend Jahren stürzte hier ein Sternenschiff ab. Es zerschellte auf diesem Massiv. Irgendet was ist noch immer davon zurückgeblieben. Unsichtbar. Tödlich. Meine Vorfahren erkannten es erst, als Khatasta bereits zu einer blü henden Stadt herangewachsen war. Darum blieben wir hier, trafen aber Vorsorge.« Shanijas Neugier war geweckt. Ein Raumschiff! »Ist davon noch etwas übrig? Von dem Raumschiff, meine ich?« Maltes schüttelte den Kopf. »Nur der unsichtbar schleichende Tod.« »Du sprichst von einer Strahlung.« Shanija verbarg ihre Enttäu schung und konzentrierte sich auf das Wesentliche. »Genau«, antwortete Maltes. Er schien sich nicht daran zu stören, dass Shanija die höfliche Anrede nicht benutzte. »Es ist eine Strah lung, die für Frauen ab der Geschlechtsreife bedrohlich wird. Ist die Krankheit erst offen ausgebrochen, gibt es keine Hoffnung mehr. Sie verläuft tödlich. Nicht einmal Psimagie vermag sie zu heilen.« »Deshalb also halten sich hier auf dem Platz keine Frauen auf.« »Es gibt Bereiche unserer Stadt, in denen es sicher ist. Dort leben unsere Frauen. Es kommt heutzutage nur noch selten vor, dass eine Frau trotzdem erkrankt und in das heilige Exil Jeraboum gebracht werden muss, in dem sie nur noch auf den Tod warten kann. Oberk hatasta ist ein solcher geschützter Bereich. Es ist besser, wenn ich euch sofort dorthin führe.«
As'mala knuffte Shanija in die Seite. Sie sah deutlich besser aus, wenn sie auch noch blass war. »Sieh«, zischte sie Shanija zu. Shanija entdeckte auf einem herabhängenden Ast zwei schwarze Vögel, die demjenigen glichen, der sich Pong und die Kristalle ge schnappt hatte. Seiya, die As'malas Fingerzeig ebenfalls gefolgt war, sagte: »Ver zeiht, Maltes. Wir sind sehr dankbar für Eure Warnung, aber wir möchten uns noch ein wenig in der Stadt umsehen. Wir werden si cher nicht lange bleiben. Es sei denn … wie gefährlich ist der kurz zeitige Einfluss der Strahlung?« »Nun … zum offenen Ausbruch führt sie erst nach einigen Jahren Aufenthalt abseits der sicheren Bereiche. Aber es kann sein, dass bei einer kurzzeitigen Bestrahlung bereits die Gebärfähigkeit leidet.« »Dann sollten wir uns besser beeilen«, erklärte Seiya entschieden. »Einen Erben hätte ich doch gern …« Sie verstummte und ihr Blick war für einen Lidschlag so leer und verloren, dass Shanija tiefes Mit gefühl spürte. Auch Seiya war wie Shanija aus ihrer Welt hinauska tapultiert worden. Sie würde Zeit brauchen zu verstehen, was mit ihr geschehen war. Und sie würde Zeit brauchen, neue Aufgaben zu finden, falls sie nicht vorhatte eine Armee zu organisieren, die ihren Bruder stürzte. As'mala winkte ab. »Ach was, so kurz gibt es bestimmt keine Schä den. Vielleicht kommen wir später auf dein Angebot zurück, Herz chen.« Sie schaffte es trotz ihres desolaten Zustands, begehrenswert und verwegen auszusehen, als sie ihn anlächelte. Maltes' Blick blieb einen Moment zu lange an ihr hängen. »Wie Ihr wünscht. Ihr könnt kommen, wann Ihr wollt. Frauen haben jederzeit Zutritt in den Palastbereich. Wegen des Weges richtet Euch einfach an die Männer der Wache und verweist auf mich.« Shanija nickte ungeduldig. Sie wollte die schwarzen Vögel endlich näher in Augenschein nehmen. Andererseits … als Hauptmann der Wache kannte Maltes sich bestimmt mit Dieben aus und konnte ih nen einen Tipp geben. »Maltes, wird in dieser Stadt viel gestohlen?«
»Allerdings. Das ist fast der einzige Grund für die Existenz unse rer Wache. Die Männer hier sind friedlich. Aber es kommen immer wieder Fremde, die sich am Reichtum Khatastas bedienen möchten. Nicht alle lassen sich von den düsteren Geschichten über die Fiogan abschrecken.« »Woher stammt dieser Reichtum?« As'mala war nunmehr erholt und neugierig. Ihre azurfarbenen Augen funkelten. »Aus den Bergwerken. Es gibt ein großes Edelsteinvorkommen in diesem Massiv. Darüber hinaus weben wir hier wundervolle Teppi che, die man in vielen Städten erwerben kann. Unsere Händler rei sen weit.« »Vielen Dank für Eure bereitwilligen Auskünfte«, sagte Seiya und zupfte As'mala warnend am Arm. Maltes deutete eine leichte Verneigung an. »Einen schönen Auf enthalt, aber ich empfehle Euch wirklich, den Palast bald aufzusu chen.« Er lächelte unverbindlich. Shanija hob kurz die Hand zum Gruß und ging auf den großen Baum zu, gefolgt von Seiya und As'mala. Nachdenklich blickte sie zum Gasriesen hinauf, der wie ein roter Ball am Himmel hing und ihn fast zu einem Drittel einnahm. Es schien keinen Ort auf Less zu geben, an dem man sicher war. Fast wie auf der Erde.
3. Pong protestierte entschieden, aber vergeblich gegen die erniedri gende Behandlung, die der Weißhaarige ihm angedeihen ließ. Er wurde wie ein Rollbraten verschnürt, geknebelt, in ein kleines Säck chen gesteckt und nachlässig transportiert. Immer wieder schlug er gegen den Oberschenkel seines Peinigers. Durch das Geschaukel wurde ihm übel. Der Dieb holte ihn erst in einem staubigen Hausflur wieder her aus. Das Haus sah aus, als sei es seit Jahren unbewohnt. »Willkommen in meinem kurzfristig geliehenen Heim«, meinte der Dieb spöttisch und zerrte Pong am Schwanz nach oben. »Was denkst du? Ob man dich gewinnbringend verkaufen kann?« Der kleine Drache funkelte ihn empört an. Reden konnte er bedau erlicherweise nicht, mit dem Knebel im Maul. Ihm würde schon ei niges dazu einfallen. Er sah, wie der Weißhaarige die Kristalle aus seinem Ärmel schüt telte, sie geschickt mit der freien Hand auffing, stutzte – und sie dann seltsam unbehaglich musterte. »Und diese kleinen Steinchen erst. Sind bestimmt viel wert.« Der Wortlaut passte jedoch nicht zu seinem Gesichtsausdruck. Pong zappelte zornig. Den Kristallen durfte nichts geschehen! Der Dieb zog ihm den Knebel unsanft aus dem Maul. »Erzähl mir was über deine Frauchen. Sind sie Anhänger von Aridas?« »Wer, bei allen Sternnebeln, ist denn nun schon wieder Aridas?«, keifte Pong. »Wir sind keine Anhänger von irgendwas.« Der Dieb sah ihn prüfend an. »Also nicht? Was sind sie dann? Händler? Abenteurer? Kann man mit ihnen Geschäfte machen? Sind sie ehrlich?«
»Shanija wird dir den Hintern aufreißen, du weißhaarige Missge burt!« »Große Worte. Vielleicht sollte ich das hübsche Funkelzeug doch sofort zu Geld machen.« »Der Fluch der Steine wird dich treffen!«, wetterte Pong. Er konnte es ja mal versuchen, denn so ganz geheuer schienen die Kristalle dem Dieb nicht zu sein. Auf Less waren viele abergläubisch, weil man nie wissen konnte, wo die Grenze lag. Der Dieb musterte die Kristalle eine Weile nachdenklich und mit zunehmendem Widerwillen. Dann runzelte er die Stirn. »Wir wer den sehen. Vielleicht ist es gut, wenn ich die Kristalle vorerst als Druckmittel behalte. Und dich ebenso. Verkaufen kann ich euch auch später noch. In Endergast bekomme ich sicher das Doppelte für euch.« Er steckte Pong zurück in das Säckchen. »Willkommen und viel Spaß in Khatasta.« Pong wimmerte. Hoffentlich fand Shanija ihn rechtzeitig. * Während Shanija sich nach einer Spur umsah, die zu Pong führte, ruhte As'mala sich im Schatten des Baumes aus. Seiya kaufte ihr eine Flasche Wasser an einem Stand am Rand des Platzes und setzte sich zu ihr. Immer mehr Männer traten an den Baum, um in seinem Schatten zu beten. Ihre Huldigung galt wahrscheinlich mehr den Frauen denn einer Gottheit. Shanija bemerkte noch etwas anderes. Am Rand der Stadt schweb ten die Fiogan. Sie flogen allerdings nicht übers Zentrum, sondern hielten sich auf einigem Abstand und in einer bestimmten Höhe. Doch es wurden immer mehr. Shanija dachte an die aggressiven Tauben, die in Washington-York gelebt hatten. Manchmal waren sie über Alte oder Kinder hergefallen, wenn diese etwas zu essen bei sich hatten. Was zog die schwarzen Vogelwesen hier an? Ihr Er
scheinen so nah über Khatasta war offensichtlich nicht normal, denn die Männer der Stadt reagierten auf sie mit gewisser Aufregung. Im mer wieder wiesen sie mit ausgestreckten Fingern auf die Fiogan und murmelten miteinander. Die wenigen Jungen brachte man von der Straße. Seiya und As'mala betrachteten eine silberne Metalllegierung zwi schen den Baumwurzeln. As'mala wies darauf. »Sieht aus wie ein Stück von einem Raumschiff. Vielleicht der letzte verbliebene Rest.« »Kümmern wir uns lieber um die Vögel.« Shanija ging ungeduldig auf und ab, sie war keinem der scheuen Tiere nah genug gekom men, um es genauer in Augenschein nehmen zu können. Seiya fragte: »Warum hast du Maltes nicht nach ihnen gefragt? Du hättest ihm sagen können, wonach du suchst.« Shanija schwieg. Wie sollte die unerfahrene Seiya verstehen, dass man niemandem trauen konnte? Das Erlebnis mit Borschkoj hatte dies nur wieder bestätigt. »Schau an.« As'mala hatte ihre Trinkflasche angehoben und deute te damit zum Platz. »Einer der Männer traut sich zu uns. Hab schon gedacht, das wird nie was. Seht euch die Schultern an! Durchaus brauchbar.« Shanija musterte einen Mann mit langen weißen Haaren, der auf sie zukam. Seine Frisur unterschied sich deutlich von den aufwändi gen Zöpfen der anderen Männer, ebenso die schwarze Kleidung. Er gefiel ihr auf Anhieb nicht. Kein Einwohner Khatastas. Weltgewand ter, und etwas in seinen Bewegungen … Er geht so zielstrebig auf uns zu, als wären wir verabredet, dachte sie alarmiert. Reagiert man so auf Fremde? Und warum macht er so einen weiten Bogen um die Stadtwache? »Mögen die Mächte des Baumes mit Euch sein, edle Damen«, sprach der schwarz gewandete Mann sie an. Der Blick seiner queck silbernen Augen richtete sich auf Seiya. Interessiert musterte er den staubigen Hosenanzug aus grauem Tuch und die ehemals schöne Frisur mit den goldenen Klämmerchen. Die Prinzessin rückte un willkürlich enger an As'mala. Die ließ sich nicht beeindrucken und
trank geräuschvoll wie ein verdurstender Esel. Der Genuss der Ja jamknolle hatte anscheinend einen ziemlichen Brand hinterlassen. »Können wir dir behilflich sein?«, fragte Shanija nicht im freund lichsten Tonfall. Der fremde Mann lächelte zuvorkommend und erwiderte ihren Blick. »Ich denke schon. Aber ich bin unhöflich. Darf ich mich vor stellen: Mein Name ist Capus Dalena, Sohn des Schmiedes Thuanor Dalena.« Dann wartete er, als würde er auf eine bestimmte Reaktion warten. Shanija neigte leicht den Kopf. Ihre Hand legte sich auf den Knauf des Schwertes. Ihr Körper spannte sich. Dieser Mann sprach sie tat sächlich nicht ohne Grund an, und er gefiel ihr immer weniger. »Ich bin Shanija Ran, das sind Prinzessin Seiya aus dem Reich Mandira nei und As'mala.« »Eine Prinzessin aus dem Inzuchtmonolithen Mandiranei. Und die haben Euch rausgelassen?« Capus verzog spöttisch die Mundwin kel. Shanija bemerkte erstaunt, dass Seiya rot geworden war. Anschei nend hatte Capus sie beleidigt, trotzdem wehrte sich die Prinzessin nicht. Das passte nicht recht zu ihr, sie war sonst selbstbewusster. Shanija wollte Seiya später darauf ansprechen. »Hoffentlich haben wir in dieser ärmlichen Stadt etwas, das Euch gerecht wird«, fügte Capus hinzu. As'mala setzte die Flasche ab. »Ein Bier wäre großartig.« »Nun … ich kann Euch gerne zeigen, wo man etwas Brauchbares zu trinken bekommt.« »Ich weiß nicht recht …« Seiya zögerte. Capus machte eine angedeutete Verneigung. »Vorsicht ist nur zu verständlich. Lasst mich einfach vorangehen, dann kann ich euch nicht von hinten niederschlagen.« Er feixte. As'mala verzog das Gesicht. »Manchmal kann auch das, was vor einem liegt, unerfreulich sein. Du könntest nette Freunde haben.«
»Hinzu kommt, dass wir in Eile sind.« Shanija wandte sich ein we nig von dem Mann ab, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Wir brauchen Informationen über Vögel wie diesen.« Sie wies auf einen Schwarzrock, der ganz in ihrer Nähe über die Steine hüpfte. Er war erst vor kurzem eingetroffen und sah ziemlich zerzaust aus. Als hät te ihm jemand die Federn einzeln ausgerupft. »Wie eine Vogelkundlerin siehst du mir nicht aus«, scherzte der Mann und ging ohne weitere Umstände zur formlosen Anrede über. »Ich nehme an, dir wurde etwas gestohlen?« »Das sind also abgerichtete Diebesvögel?«, stellte Shanija sich un wissend. »Wir nennen sie Schwarzelstern. Sie sind sehr intelligent. Hin und wieder versucht man, sie unschädlich zu machen, aber es ist unmög lich, abgerichtete von nicht abgerichteten Schwarzelstern zu unter scheiden, und sie gedeihen hier prächtig. Falls euch etwas gestohlen wurde, könnte ich euch möglicherweise helfen. Hehlerware wird an einem ganz bestimmten Ort verkauft.« Er blickte zu As'mala. »An einem Ort, wo es auch Bier gibt.« Shanija überlegte kurz. Es konnte nur einen Grund geben, warum der Mann sie aufgesucht hatte. Es war möglich, dass eine ganze Ban de hinter ihm steckte, aber irgendwie glaubte sie das nicht. Er wollte etwas von ihnen, wahrscheinlich im Tausch. Sie sah As'mala und Seiya fragend an und las Zustimmung in ihren Mienen. »Gut, gehen wir.« Capus ging voran, über den großen Platz zu einer der Straßen, die sternförmig vom Platz abgingen. Shanija vergewisserte sich, dass sie nicht verfolgt wurden. Sie hatte dauernd das Gefühl, beobachtet zu werden. Unter dem Gasriesen hoch über ihr zog ein Fiogan seine Kreise. Sie vergrößerten den Radius nun doch. Als die zerzauste Diebeselster an Shanija vorbeiflatterte, wunderte sie sich nicht dar über. Als Capus schließlich in eine schmale Nebenstraße einbog, packte Shanija ihn, nach einem kurzen Blick um sich, ob sie allein waren,
und drückte ihn mit aller Kraft gegen die Wand eines der Mosaik häuser. Dabei hatte sie blitzschnell das Messer gezogen und es an die Kehle des Fremden gesetzt. »Wo ist Pong?« Capus hustete überrascht, auch Seiya und As'mala waren erschro cken und verwundert. »Bist du verrückt?«, fragte der weißhaarige Mann scheinbar ängst lich, doch Shanija spürte, dass er sich verstellte. »Du weißt genau, was ich meine. Warum rufst du nicht deine Schwarzelster näher, die mein Drache so hübsch hergerichtet hat?« Capus schwieg. Shanija hielt ihr Messer an sein rechtes Auge. »Die Spielregeln ha ben sich geändert. Also rede schon, Dieb. Ich will meinen Drachen zurück.« »Und die Kristalle nicht?« Capus sah sie spöttisch an. »Das ist in Ordnung, denn dein winziger Freund kann einem ganz schön auf den Geist gehen.« As'mala zog ihre Schwerter. »Hauen wir ihn in Stücke!« Seiya hielt ihren Arm. »Langsam! Zuerst müssen wir herausfin den, wo er Pong und die Steine hat!« Capus hatte sich wieder gefasst. »So jung, so reizend und so klug.« Er warf Seiya einen Blick zu, der sie erröten ließ. »Meine Damen, denkt ihr wirklich, ich wäre zu euch gekommen, wenn ich nicht et was Bestimmtes von euch wollte?« As'mala ließ die beiden Schwertspitzen klingend aneinandersto ßen. »Einen schnellen Tod finden?« Capus wand sich in Shanijas Griff, aber sie ließ nicht locker. »Wo ist Pong?«, wiederholte sie deutlich. »Sag du mir lieber: Wo ist mein Vater?« Capus' Gesichtsausdruck wirkte nicht, als würde er scherzen. »Dein Vater?« Shanija sah sich irritiert um. Noch immer waren sie ganz allein in der schmalen Gasse. Der zerzauste Vogel landete auf dem bunten Mosaik der Straße und krächzte aufgeregt.
Capus schloss kurz die Augen. »Er wurde verschleppt. Ich sah es in einer Vision, zusammen mit euch. Also schickte ich meinen Vogel los, um euch hierher zu bringen.« Shanija schüttelte ungeduldig den Kopf. »Wir haben nichts mit deinem Vater zu tun.« »Ihr drei seid mit dem Schicksal meines Vaters verbunden, das kann ich ganz deutlich erkennen. Ihr seid ausersehen, mir zu helfen, ihn zu finden. Nur deshalb seid ihr hier. Daran lässt sich nichts rüt teln, sonst würde ich es nicht sehen, denn meine Visionen beziehen sich nur auf mich und meine Familie.« »Deshalb also die Entführung, der Diebstahl? Nur, damit wir hier her kommen?« Shanija musste fast lachen. »Und wenn wir Pongs Spur verloren hätten, was dann?« »Es kommt alles, wie es kommen muss. Ich habe es gesehen. Ihr seid jetzt hier. Und freiwillig wärt ihr sicher nicht gekommen. Ich konnte auch nicht zu euch kommen und um Hilfe bitten, weil ich hier weiter nach Spuren suchen musste. Das war der einzige Weg.« »Du wagst ein gefährliches Spiel«, knurrte Shanija. Sie begriff, dass sie schon wieder in etwas verstrickt wurde, das sie nicht wollte. Sie hatte nur einen Weg, ein Ziel, das sie möglichst ohne Umwege erreichen sollte. Die Zeit wurde knapp. Capus seufzte. »Du hast keine Wahl, ebenso wenig wie ich. Außer dem wäre ich bereit, dir das Drachenbiest wiederzugeben.« »Nein, auch die Steine!«, verlangte sie. »Ich verhandle darüber nicht. Bring mich sofort zu Pong und den Steinen, dann bleibst du vielleicht am Leben.« »Willst du mich wirklich töten? So bekommst du weder Drachen noch Steine.« As'mala trat näher. »Wir trennen ihm irgendwas ab, dann wird er sicher gesprächiger.« Sie setzte ein Schwert am Handgelenk des Die bes an. »Geht auch ganz schnell.« Capus war bleich geworden. »Vergiss es, Blondschopf! Nur zu,
schneide mich in Stücke. Ihr bekommt dadurch nichts zurück, denn ich werde schweigen.« Das Messer lag ruhig in Shanijas Hand. »Wer sagt uns denn, ob unser Drachenfreund überhaupt noch lebt? Und dass du die Kristal le nicht längst verkauft hast?« »Das Risiko musst du eben eingehen. Allerdings würde ich mir damit ins eigene Fleisch schneiden.« »Oh, das kann ich für dich übernehmen.« As'mala holte spielerisch aus. »As'mala, warte!« Seiya wandte sich an Capus. »Wie sollen wir dir helfen?« Shanijas Handknöchel traten weiß hervor. »Seiya, du denkst nicht ernsthaft daran, dich mit diesem Kerl abzugeben? Er ist so verkom men, wie er stinkt!« »Zu viel der Ehre«, murmelte Capus ironisch. »Was wäre so schlimm daran, ihm zu helfen, wenn wir dadurch Pong wiederkriegen?« »Ich lasse mich nicht erpressen! Und ich muss weiter, wie du weißt!« Shanija fühlte, wie lange sie schon die schwere Bürde auf ih ren Schultern trug: Die Menschheit zu retten. Einen verrückten Au genblick lang kämpfte sie gegen Tränen an. Es wurde ihr langsam alles zu viel. »Ist ja gut«, sagte Seiya gekränkt. »Was spielt ein Menschenleben schon für eine Rolle.« Shanija fluchte innerlich über sich selbst. Wie konnte sie nur der maßen die Beherrschung verlieren? Sie, Colonel Shanija Ran, von ih rer Einheit als »Cold Angel« bezeichnet. Sie atmete tief ein. »Ich muss meine Welt retten«, erklärte sie ruhiger. »Seiya, neun Milliar den Menschen werden sterben, wenn ich versage. Versteh das bitte.« »Denkst du, das weiß ich nicht? Muss man deswegen über Leichen gehen?« Seiya blickte herausfordernd zu As'mala, die verlegen das Gesicht abwandte.
»Nun … wenn ich auch was dazu sagen dürfte …« Capus lächelte gewinnend. »Die Damen scheinen unter großer Anspannung und ei nem gewissen Druck zu stehen. Schließen wir einen Kompromiss, der nicht mehr als ein paar Stunden eurer Zeit beansprucht. Eine einzige Sache, die nur ihr tun könnt. Wenn ihr sie für mich erledigt, dann gebe ich euch euer Eigentum zurück. Alles.« »Klingt zumindest so, als könnte man es sich anhören«, brummte As'mala. »Der Kerl scheint noch verzweifelter zu sein als wir.« »Eben.« Capus wies auf das Messer, das immer noch vor sein Auge gehalten wurde. »Könntest du es ein bisschen herunterneh men?« »Nein.« Shanija hatte sich wieder gefangen. »Egal wie verzweifelt, dir traue ich keinen Fingernagel weit. Zuerst dein Angebot, dann se hen wir weiter.« »Da ist Aalschleim dran. Das rieche ich doch. Ekelhaft.« »Dein Vorschlag«, erinnerte Shanija ihn kalt. »Schon gut. Egal, wie eilig ihr es habt, auch ihr müsst essen und schlafen, und der Tag schreitet voran. Und da könnt ihr das Ange nehme mit dem für mich Nützlichen verbinden. Ich habe beobach tet, wie ihr mit Maltes gesprochen habt, dem Sohn des Präfekten Aridas. Wie alle Männer Khatastas ist er sehr leicht beeinflussbar durch Frauen. Frauen haben hier ob ihrer Seltenheit einen nahezu göttlichen Status. Ihr könnt das ausnutzen. Wenn ihr Maltes darum bittet, wird er euch sicher eine Unterkunft im Palast anbieten, und sein Vater wird es sich nicht nehmen lassen, euch zum Essen einzu laden. Aridas Balderas ist der oberste Präfekt in dieser Stadt. Er hat alle Fäden in der Hand, und in seinem Besitz befindet sich etwas, das mit meinem Vater zu tun hat. Das macht Aridas gern, anderen etwas Wertvolles wegzunehmen und es in seinem Büro zu verwah ren, auf der Westseite des Palastes. Wenn ihr es schaffen könntet, dort einzubrechen …« Shanija stieß ein spöttisches Lachen aus. »Du bist ein Dieb. Warum brichst du nicht selbst im Palast ein?«
Capus lachte. »Süße …« Er verstummte, als Shanija das Messer nun an seine Wange drückte. »Es ist nicht so, dass ich es nicht ver sucht hätte«, setzte er erneut an. »Für einen Mann, der nicht dem Rat und dessen Familien angehört, ist es schwer, auch nur in Palast nähe zu kommen. Allein schon deshalb, weil die Präfekten Angst haben, ihre wertvollen Töchter könnten von einem Taugenichts be glückt werden. Nun ja …« Er machte eine kleine Pause und grinste anzüglich. »Vielleicht war es ein wenig hinderlich, drei der Damen zu schwängern. Ich wurde zwar nicht verurteilt, da die Damen es wohl sehr genossen haben und sich weigerten, gegen mich auszusa gen, aber … wann immer ich jetzt im Palastviertel auftauche, wird der Ausnahmezustand ausgerufen. Erst vor einer Woche wurde ich von einer Meute erzürnter Mütter mit Backsteinen beworfen, und glaubt mir, Mütter sind noch viel wachsamer als Soldaten. Ich ver mute, da hängen inzwischen Steckbriefe von mir.« As'mala grinste. »Angeber. Womöglich bezeichnest du dich inzwi schen als professioneller Herzensdieb.« »Essen und schlafen in einem Palast.« Seiya klang sehnsüchtig. »Gibt es da auch Badewannen?« Shanija überlegte. »Was sagst du, As'mala?« Ihr fiel das blasse Ge sicht der Abenteurerin auf. Ja, sie alle brauchten eine Ruhepause. Flavor stand über dem Zenit und Shanija spürte eine tiefe Müdig keit, der sie es bisher versagt hatte, in ihr Bewusstsein einzusickern. »Klingt nach einem Abenteuer, das mich in Übung hält«, meinte As'mala. »Und was Vernünftiges zu essen wäre großartig.« Shanija nickte. Und was riskierten sie schon viel? Capus würde sich nicht aus dem Staub machen, bevor er hatte, was er wollte. Und dass er Shanija nicht um Pong und die Kristalle prellte, dafür würde sie schon sorgen. Wie es aussah, sollte sie auf den Handel eingehen. Capus würde das Versteck sonst nicht preisgeben. »Schön. Geh vor an. Du kennst sicher einen Ort, an dem wir alles ungestört bespre chen können?« »Denk ans Bier, das du mir versprochen hast!«, warf As'mala ein.
Der Dieb nickte ergeben. Shanija ließ Capus los. Wieder fühlte sie sich beobachtet. Hoch über ihnen schwebten drei Fiogan in der Luft. Ob es dieselben wa ren, die sie hierher gebracht hatten? Traten sie öfter zu dritt auf? Shanija dachte an die Quinternen, die Feinde der Menschheit, die sich nur in Fünfergruppen bewegten. Mit einem Kopfschütteln ver trieb sie den schlechten Gedanken. As'mala blieb dicht bei Capus. Sie fürchtete wohl, der Dieb könnte doch noch davonrennen. Capus aber bewegte sich so selbstverständ lich zwischen ihnen, als sei er seit Jahren ein Teil der Gruppe. Seiya ließ sich zurückfallen, neben Shanija. Ihre Stimme war leise. »Shanija …« Die Prinzessin wollte nach dem olivgrünen Ärmel des Jagdkostüms greifen, ließ die Hand aber wieder sinken. »Wenn die Menschen von Less dir nichts bedeuten, was … was bin ich dann für dich? Ein Hindernis? Ein Klotz am Bein?« »Seiya, ich …« Shanija fand nicht die richtigen Worte. »Du bist eine Hilfe.« »Ich mag verzogen sein, aber dumm bin ich nicht, Kommandan tin.« Seiya sah verletzt aus. Shanija verstand plötzlich, dass sie und As'mala inzwischen Seiyas Familie ersetzten. Sie hatten ihr Leben gerettet und waren in ihrem Kummer um den getöteten Zwillingsbruder Gorelus bei ihr gewe sen. Sie hatten versucht, die Prinzessin zu trösten. Seiya hatte sonst niemanden mehr. Es war ein hartes Los, sich gegen unfähige, lieblo se Eltern und einen Bruder zu behaupten, der ihr nach dem Leben trachtete. Seiya war reich, verwöhnt und behütet, aber unglaublich einsam aufgewachsen, verhaftet in strengen Traditionen. Die Welt kannte sie nur aus Büchern, und weil sie sonst nichts tun durfte, hat te sie sich hungrig auf Wissen gestürzt. Das vertiefte die Kluft zwi schen ihr und den »normalen« Mandiri nur noch mehr. Vielleicht betrachtete sie Shanija und As'mala bereits als eine Art Schwestern, Freundinnen, die sie nie gehabt hatte. Zumindest reimte Shanija sich das so zusammen, denn bisher hatte Seiya nur sehr wenig über sich
gesprochen, aber ihr Verhalten wies darauf hin. Wahrscheinlich litt Seiya immer noch unter dem Schockzustand, aus Mandiranei geflo hen zu ein, während dort die Revolte ausbrach. »Seiya, du bist klug und unglaublich tapfer, nach allem, was du durchgemacht hast«, versuchte Shanija sie zu versöhnen. »Und du bist schön und stark …« »Ich will nicht hören, was ich für ein Mensch bin. Ich will hören, was du für mich fühlst.« Warum war es so schwer, Freundschaften zu schließen? Shanija schwieg. Seiya wandte sich von ihr ab. Ihr Gesicht sah traurig aus. »Gehen wir«, meinte sie leise. * Sie besprachen sich mit dem Dieb Capus in einer kleinen Gastschän ke, wobei der Begriff dem Ambiente nicht gerecht wurde. Wieder erstaunte Shanija der Reichtum der Stadt, denn selbst das Bier wur de in goldenen Bechern serviert. Die Brotplatte, die man ihnen reich te, hätte auch dem Haushalt einer Gräfin angestanden. Um den neugierigen Blicken der anderen Männer zu entgehen, hatte Capus sie in einen kleinen Nebenraum geführt, in dem sie ganz allein waren. Der Wirt feixte und machte zotige Bemerkungen, zugleich sah man ihm den Neid an. Die Frauen in Capus' Begleitung hatten es ihm sichtlich angetan. Shanija beachtete seine gierigen Bli cke nicht. Er hätte keine Freude an dem Dreiergespann. Nachdem das Bier auf dem Tisch stand, zog Capus die Palastpläne hervor. As'mala zahlte in der Zwischenzeit mit dem Geld, das sie dem Dieb gestohlen hatte. Shanija hatte sie dabei beobachtet, aber Capus hatte es nicht bemerkt, er war viel zu sehr mit dem Plan be schäftigt. Shanija fing an, ihr Misstrauen zu revidieren. Wie es aus sah, war Capus tatsächlich mehr ein Herzensdieb als ein Könner sei
nes Fachs. Der Mann war ohne seine Schwarzelster vermutlich völ lig hilflos und wirklich auf die Hilfe der drei Frauen angewiesen. Sie sollten für Capus ein gewisses Schwert aus dem Büro von Ari das stehlen. Es handelte sich dabei um eine Waffe, die Capus' Vater erst vor kurzem geschmiedet hatte. Er nannte es das »Drachen schwert« und beschrieb die Abbilder von Drachen auf der Fläche der Klinge sowie auf dem Griff. Diese Drachen sahen ähnlich aus wie Pong, den Capus ebenfalls in seiner Vision gesehen und einen Zusammenhang hergestellt hatte. Capus versprach, Pong gut zu behandeln und ihn sowie die Kris talle herauszugeben, sobald die Frauen das Gewünschte zu ihm ge bracht hätten. »Wenn ich sein Schwert zurückhabe, kann ich eine deutliche Vision über den Aufenthaltsort meines Vaters erhalten«, erklärte er. »Dieses Schwert ist etwas Besonderes und darf nicht in Händen von Aridas bleiben. Bereits in meiner ersten Vision erkann te ich, dass darin Psimagie eingeschmiedet ist. Mit diesem Stück Stahl, von seiner Hand gefertigt, werde ich meinen Vater sicher fin den.« Shanija fühlte sich bei der Abmachung nach wie vor alles andere als wohl, aber Seiya wollte unbedingt dem Dieb helfen, und As'mala sah nach dem Studium der Pläne kein Problem. Capus fixierte einen Punkt zwischen dem Mosaiktisch und der Unendlichkeit. »Vor einem Lunarium, als ich mich noch in Triatas befand, zwei Flugtage nördlich von hier, kam die Vision seiner Ent führung über mich. Als wäre ich dabei gewesen, aber so ist es im mer. Die Bilder werden plötzlich lebendig, wie ein aufdringliches Theaterensemble. Der zweite Mond war gerade untergegangen. Sie kamen zu meinem Vater in die Schmiede. Menschen in grauen Um hängen, mit Gugeln auf den Köpfen, den Stoff tief ins Gesicht gezo gen. Sie schlugen auf ihn ein, bis er bewusstlos war. Das Schwert nahmen sie ebenfalls mit. Ich sah den Schatten eines Kryphons und wusste, wohin ich mich wenden musste.« »Kryphon …« Das Wort erinnerte Shanija an irgendetwas von der
Erde. Nicht so wichtig. »Eine schreckliche Vision.« Seiya umfasste ihren Becher fester. »Aber das ist kein Grund, Pong zu entführen.« Der Dieb wirkte belustigt. »Bewahr dir deine Unschuld, Prinzessin Seiya. Man braucht dieser Frau doch nur in die bezaubernden grü nen Mandelaugen zu sehen, um zu wissen, aus welchem Stahl sie ge formt ist.« Er nickte in Shanijas Richtung. »Denkst du wirklich, sie würde mir aus freien Stücken helfen?« Verschwörerisch zwinkerte er der Prinzessin zu. Shanija verzog keine Miene. So leicht würde sie es ihm nicht ma chen. »Warum sollte ich einem Dieb auch helfen?« »Da seht ihr es!« Capus machte eine wegwerfende Geste mit den behandschuhten Fingern. »Echter Fioganstahl, gegossen in den Feu ern der Hölle.« Shanija dachte an ihre schlimmste Zeit zurück. An die Feuer der Hölle. An die Gefangenschaft darin. Sie hatte sie überlebt. Das hier würde nur ein Spaziergang dagegen sein. * Nachdem sie einen Treffpunkt mit Capus vereinbart hatten, mach ten sie sich auf den Weg zum Palast. Durch den gut strukturierten Aufbau der Stadt konnten sie sich einfach geradeaus halten, auf der so genannten »Präfektenstraße«. Sie führte in den »besseren« Teil der Stadt, wie Capus sich ausgedrückt hatte. Shanija war gespannt, wie die Häuser dort aussahen, wenn das hier der »schlechtere« Stadtteil war. Über ihnen erklang das ferne Schlagen von Schwingen. Shanija blickte zum Himmel. Auch Seiya und As'mala waren die Fiogan am Himmel aufgefallen. Sie kreisten über ihnen, schwarze Schemen vor den Gestirnen. Inzwischen waren es gut zehn Vögel, wobei immer wieder einige abflogen und andere hinzukamen. Als wollten alle
Fiogan der Kraterstadt die Frauen begutachten. »Du scheinst mächtig Eindruck auf sie gemacht zu haben, Sonnen strahl«, merkte Seiya spitz an. Seit der letzten Unterhaltung war ihr Verhalten gegenüber Shanija deutlich abgekühlt. Shanija seufzte. Wie konnte sie die Stimmung aufbessern? »Was denkst du, was sie mit der Bezeichnung meinten? Ob es etwas mit meiner Sonnenkraft zu tun hat?« Seiya hob leicht die Schultern. »Wer weiß.« Auch die Männer der Stadt beobachteten sie, aber es wagte weiter hin niemand, sie direkt anzusprechen. Wo immer sie entlanggingen, richteten die Männer die Blicke auf sie, nickten ihnen unsicher zu oder grüßten kurz mit erhobener Hand. Oft scharten sie sich zusam men und flüsterten leise. As'mala wies auf den Hufschmied, an dessen Werkstatt sie gerade vorbeikamen. Er stand mit entblößtem Oberkörper vor seinem Haus, das Kohlenfeuer in der Esse loderte hell. Neben ihm stand ein großer Blasebalg. Da das, was er schmiedete, keine rechte Form be saß, vermutete Shanija auch hier eine zurückhaltende Art von Neu gier, die den Schmied bei der Arbeit hielt. As'mala fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Den Schmied kriege ich. Seiya bekommt das Zuckerstück da hinten.« Sie wies auf einen bewaffneten Wachmann, der ein Stück vor ihnen lief und so tat, als würde er sie nicht beachten. Seiya war verlegen. »Kannst du auch an was anderes denken als an deine Triebe?« »Aber ja.« As'mala grinste. »Ich denke an deine Triebe. Ich finde, der Soldat ist genau dein Typ. Betrachte allein die perfekte Linie sei nes Hinterns.« Seiya schwieg und sah verkrampft zur Seite. Hinter ihnen erklang Hufgetrappel. Räder holperten über die Mo saiksteine. Sie drehten sich um. Maltes saß auf dem Kutschbock ei ner mit Blattgold verzierten Kutsche. Das Gefährt war geschlossen,
besaß aber lange schmale Fenster an den Seiten, durch die man in das mit rotem Stoff ausgekleidete Innere sehen konnte. Aufwändig vergoldete Ornamente in Form von Weinranken befanden sich an den Seiten der Kutsche. Die beiden Schimmel hatten kleine, edle Köpfe mit großen schwarzen Augen. Ihre Nüstern blähten sich, sie hielten die Schweife stolz erhoben. Maltes parierte die Pferde neben ihnen durch. Er lächelte alle drei an, aber As'mala am längsten. »Darf ich die Damen in den Palast einladen?« Er sprang vom Kutschbock und eilte zur Tür, um sie den Frauen aufzuhalten. As'mala grinste vergnügt. »Du bist ein ganz schöner Aufschneider, weißt du das?« Der junge Mann wurde rot. »Wirkt es denn?« Während Shanija noch zögerte, sprang As'mala bereits in die Kut sche. Ihre Finger befühlten den roten Stoff, mit dem die Wände aus geschlagen waren. »Ist das Bourettseide?« »Seide von Silberraupen«, erklärte Maltes zuvorkommend. Er reichte Seiya die Hand und half ihr mit einer leichten Verbeugung einzusteigen. »Prinzessin.« Shanija betrachtete unwohl das Innere der Kutsche. Sie wäre lieber den gesamten Weg gelaufen, als in so einem Gefährt zu reisen. Auf der Erde hatte sie immer versucht, offizielle Anlässe zu meiden. Und diese Kutsche wirkte sehr offiziell und theatralisch. Ich bin doch nicht Cinderella. Shanija versuchte, ihren Unmut zu unterdrücken. Hauptsache, sie kamen schnell voran. »Danke, Maltes«, meinte sie steif. »Es wäre ganz wunderbar, wenn wir für eine Nacht Gäste im Palast sein dürften. Wir werden uns auch bemühen, die Stadt so schnell wie möglich wieder zu verlas sen.« Maltes schmunzelte. »Schöne Frauen sind uns immer willkom men.« Sein Blick suchte dabei wieder As'mala, und Shanija begriff, dass
er ihr bereits hilflos ausgeliefert war. Umso besser. Das konnte durchaus von Vorteil sein. Sie ließ sich ins weiche Polster sinken. Ihre Hand wanderte zum Brustbein, zu der Vertiefung, in der Pong sonst ruhte. Ich bin auf dem Weg, Kleiner.
4. Pong erwachte in der Dunkelheit seines engen Gefängnisses. Er ver suchte, sich zu erinnern. Langsam nahm seine Haut eine schim mernde goldene Färbung an, die das Innere der Schublade erhellte. Genau. Eine Schublade. Das war es. Dahin hatte dieser vorlaute Kerl mit dem verschlagenen Gesicht und den weißen Haaren ihn ge bracht. Und die Schublade hatte er abgeschlossen. Aber das würde ihn, Pong, nicht aufhalten! Aufmerksam sah der kleine Drache sich um. Die Steine waren noch da. Mit einem kleinen glücklichen Seufzen kroch Pong zu dem erdfarbenen Säckchen, in dem er die Kristalle fühlte, alle vier. Sei nem Schatz war nichts geschehen. Erst nach einigen Minuten konnte er sich von dem Säckchen lösen, um es zu öffnen und die Steine her auszunehmen. Der Kristallspeicher unterschied sich kaum von den anderen. Guten Appetit, dachte Pong grimmig. »Für den Boss«, mur melte er dumpf, dann holte er tief Luft, würgte den Kristall hinunter und rülpste. Glücklicherweise ließ das unangenehme Stechen in sei nem Inneren bald nach. Es war, als gäbe es da eine Stelle, an der er den Kristall zwar noch fühlte, an die er aber irgendwie auch gehör te. Pong schüttelte sich angewidert. Was sollte er jetzt tun? Der Dieb hatte behauptet, dass Shanija in die Stadt kommen würde. Vielleicht war sie bereits hier? Nun, Pong würde sie schon finden, eine Frau wie Shanija fiel mit Sicherheit überall auf und hinterließ eine Fährte. Aber zuerst musste er aus der vermaledeiten Schublade. Anzünden? Dann saß er in der Falle. Ein bisschen Feuer schadete ihm nicht, aber sich selbst zu grillen war denn doch nicht unbedingt ratsam. Außer dem war er unsicher, wie die Kristalle darauf reagierten. Vorsichtig schob er sich mit dem Säckchen zum vorderen Ende der Schublade. Er konnte durch ein hauchdünnes Schlüsselloch sehen.
Die Menschen hier schienen filigranen Schnickschnack zu bevorzu gen. Gut für ihn. Vielleicht war die Schublade ja gar nicht so stabil, wie sie aussah. Er warf sich gegen die Wand. Draußen krächzte ein Vogel. Pong erstarrte. Das war das Miststück Elena. Ob der Dieb sie als Wachtposten abgestellt hatte? Ha! Vielleicht konnte er zumindest sie anzünden. Verdient hätte sie es allemal. Zunächst aber musste er hier raus. Elena kam später dran. Behutsam befühlte Pong mit den Klauen das Schloss. Er bog den Rücken durch und tastete es gleich zeitig mit dem gezackten Drachenschwanz ab. Mit ein bisschen Ge duld würde er es sicher öffnen können. * Die Pracht des Präfektenviertels war niederschmetternd. Shanija musste sich zusammenreißen, um die Paläste und Villen nicht mit großen Augen anzustarren. Nie hatte sie einen solchen Überfluss ge sehen, einen derart verschwenderischen Reichtum. Zumindest kei nen realen. Die Bilder der Holospeicher waren für sie Träume gewe sen, Märchen, die fern von ihr erzählt wurden. Während Seiya lächelnd nach draußen blickte, saß As'mala mit leicht geöffnetem Mund da. »Dieser Maltes scheint eine gute Partie zu sein, den muss ich mir warm halten.« Sie berührte mit den Fin gern das Kristallglas der Kutsche. »Er frisst dir ja bereits aus der Hand«, bemerkte Shanija anzüglich. »Wenn du ihn ködern willst, nur zu.« Seiya runzelte die Stirn. »Du willst doch sicher mit Shanija weiter reisen, oder? Ich finde es falsch, wenn du nur mit ihm spielst.« »Du kennst die Männer nicht, Seiya.« As'mala sah feixend zu ihr hinüber. »Sie lieben es, wenn man mit ihnen spielt. Und sie wissen es durchaus zu schätzen, wenn man ihnen eine Nacht schenkt.« Seiya wurde rot. »Ich spare mich lieber auf.« Shanija dachte über das nach, was Seiya zu As'mala gesagt hatte:
Du willst mit Shanija weiterreisen. Aber was wollte Seiya? Sie war eine Prinzessin. Ob sie in dieser dekadenten Luxusstadt Asyl suchen würde? Würde sie versuchen, die Präfekten soweit zu bringen, ge gen ihren Bruder zu ziehen? Oder wollte sie hier ein neues Leben beginnen, heiraten und Kinder bekommen? Wenn dieser Bereich strahlensicher war, war er ein Paradies. Man würde Seiya auf Hän den tragen, ihr jeden Wunsch erfüllen. Überrascht spürte Shanija einen scharfen Stich in ihrem Inneren. War sie neidisch auf Seiya? Neidisch, weil Seiya das Recht hatte, auf Händen getragen zu wer den, während sie, Shanija, immer die Schultern gerade halten muss te, um die Lasten von anderen auf sich zu nehmen? Weil die Verant wortung, die Menschheit zu retten, sie zu erdrücken drohte? Shanija schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich plötzlich, als müsse sie ganz al lein einen Sarg auf den Schultern balancieren. Ich darf nicht zu spät kommen. Entschlossen ballte sie die Fäuste. »Seht!« As'malas ausgestreckte Hand stieß scheppernd gegen das Glas. »Das muss der Präfektenpalast sein, von dem Maltes erzählt hat!« Staunend betrachteten sie die Anlage auf dem karmesinroten Hü gel. Das helle Licht von Flavor ließ die Farben intensiver leuchten, als es auf der Erde möglich gewesen wäre. Mit Blattgold verzierte Mauern erhoben sich aus dem Boden. Weiße Rosen rankten sich an ihnen empor. Auf der Spitze des Hü gels aber wölbte sich ein goldenes Kuppelgebäude, so gewaltig, dass es wie ein Wunder schien, dass die Kuppel nicht in sich zusam mensank und alles unter sich begrub. Über der Kuppel erhob sich auf einer Plattform ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Ein mächtiges Tor wurde geöffnet. Man hatte von dort oben sicher einen guten Überblick und die Kutsche schon lange gesichtet, die auf der Präfektenstraße entlang rollte. Shanija bemerkte noch etwas anderes: Über den Wachleuten schwebten unermüdlich mehrere Fiogan. Shanija konnte es nur undeutlich erkennen, doch wie es aus sah, hielten die Fiogan Bögen in den vorderen Klauen. Oben zwi
schen den Schwingen konnte Shanija längliche Gebilde ausmachen. Die Köcher für die Pfeile, die auch die drei Vogelwesen bei der ers ten Begegnung getragen hatten. Welchen Pakt hatten die Menschen wohl mit diesen Vogelwesen? Vielleicht konnte Maltes ihnen später etwas darüber erzählen. Sie fuhren im Innenhof des Palastes ein. Von dem hohen Kuppel gebäude mit dem Adler ging an jeder Seite ein langgestreckter Sei tenflügel ab. Davor, rund um den Hof, gab es mehrere kleinere Ge bäude, eine Kaserne, über deren Eingang zwei gekreuzte Schwerter hingen, und Stallungen. Hastig, ehe man ihr helfen konnte wie einer hochgestellten Persön lichkeit, öffnete Shanija die Kutschentür und sprang auf das kunst volle Mosaikpflaster. Sie hörte einen schrillen Schrei, wie von einem mächtigen Adler. Er kam aus den Stallungen. Maltes bemerkte ihren fragenden Blick. »Das sind unsere Krypho nen. Halb Löwe, halb Adler, groß genug, um bis zu zwei Menschen zu tragen.« »Greifen!« Shanija konnte es nicht fassen. »Wie ist das möglich?« Greifen waren irdische Sagengestalten. Shanija kannte sie aus den Holomärchen, die sie als Kind gar nicht oft genug sehen konnte. Sie lenkten ab von der Trübsal des Gettos und entführten das kleine Mädchen in romantische Abenteuer mit unglaublichen Fabelwesen. Als Heldin war sie durch die Märchen gereist und auch auf Greifen geritten, doch es war nur Illusion gewesen. Wie konnte es hier also Greifen wirklich geben? As'malas Augen blitzten, als sie sich aus der Kutsche schwang. »Ich habe davon gehört. Es muss großartig sein, sie zu reiten.« Eilfertige Diener kamen ihnen entgegen, die sich darum kümmer ten, die Pferde auszuspannen. Der Präfektensohn sprang elegant vom Kutschbock und hielt die Kutschentür mit einer leichten Ver beugung für Seiya auf. »Dies ist der Palast von Aridas Balderas, Nachfahre der Gründerväter. Ich werde Euch herumführen und die Gästezimmer zeigen. Es wäre mir und meinem Vater eine Ehre,
wenn Ihr später mit uns speist. Macht Euch zuerst frisch und erholt Euch, in vier Stunden wird Euch dann ein Ehrenmahl serviert. Gäste wie Ihr sind selten und uns deshalb herzlich willkommen.« Shanija blickte nochmals hinauf zu den bewaffneten Fiogan. Sie hatte ein schlechtes Gefühl. Wie ein Taucher, der unversehens in einen lauernden Haischwarm geraten war. Erklären konnte sie sich das nicht. Maltes wirkte offen und freundlich, und er ignorierte die Vogelwesen. Shanija versuchte ihre Misstrauen zu verdrängen, sie sollte sich auf ihre Aufgabe konzentrieren, um Pong wiederzube kommen. »Wir freuen uns darauf, mit den Präfekten speisen zu dürfen.« Sie sah Maltes an und hoffte, dass ihr Lächeln nicht gezwungen wirkte. * Die große Flügeltür unter der Sopraporte, einem eingefassten kunst vollen Gemälde, öffnete sich. Seiya trat ins Gemach. Sie trug ein fest liches Ballkleid aus rotem Goldbrokat mit einem weiten Reifrock. Goldene Fäden bildeten Muster von Blättern und Ästen, die an die große Esche auf dem Marktplatz erinnerten. Um ihren Oberkörper spannte sich ein enges Mieder, das ihre Brüste nach oben drückte und sie voller erscheinen ließ. Dienerinnen hatten Seiya mit Kohle und Lippenrot geschminkt. Auf ihren Wangen lag Puder, und ihre Haare waren in kunstvollen Zöpfen aufgetürmt. »Das ist ein Kleid von Maltes' Schwester Jasmina. Seht nur, wie gut es mir passt«, er klärte die Prinzessin stolz. As'mala hatte sich von den Palastdienern gut gearbeitete Leder kleidung bringen lassen. Die enge Hose betonte ihre langen Beine und das bauchfreie Schnüroberteil ließ keine Männerwünsche offen. Sie stieß einen Pfiff aus. »Süße, das ist wundervoll. Ich könnte mich glatt in dich verlieben. Wenn ich ein Mann wäre.« Seiya lächelte glücklich.
Shanija trug noch die Reisekleidung. Nachdenklich sah sie die Prinzessin an. »Du solltest hier bleiben, Seiya. Vielleicht finden die Präfekten sogar einen Weg, deinen Bruder zu stürzen. Die Fiogan können viele der Hindernisse einfach überwinden, die uns auf der Flucht fast das Leben gekostet haben. Und du wärst hier in Sicher heit. Behütet.« Zu ihrer Überraschung reagierte Seiya mit zornigem Blick. »Also so willst du mich loswerden? Für dich bin ich nur ein Klotz am Bein! Gib doch zu, dass es dir nur deswegen recht wäre, wenn ich hier bliebe, weil ich dir nicht mehr im Weg wäre auf deiner großen Mission!« »Seiya, ich will nur dein Bestes …« »Mein Bestes.« Seiya schnaubte. »Alle wollen immer nur mein Bes tes! Und weißt du, was mich daran am meisten stört? Nie fragt je mand danach, was ich eigentlich will!« Shanija war überrascht und verwirrt. »Du willst doch sicher zu rück und wieder Ordnung in dein Reich bringen?« »Wieder in einen goldenen Käfig? Gewiss, das Reisen ist anstren gend, aber ich bin endlich einmal in der Welt!« Seiya funkelte sie trotzig an. »Du musst an dein Land denken, Seiya!« Shanija bestürzte die scheinbare Gedankenlosigkeit der Prinzessin. »Warum?«, fragte As'mala. Shanija versuchte, nicht anklagend zu klingen. »Weil es ihre Auf gabe ist.« As'mala schüttelte den Kopf. »Nicht jeder ist so pflichtversessen wie du, Shanija. Seiya begibt sich in Todesgefahr, wenn sie versucht zurückzukehren. Es ist zu früh.« »Allerdings!« Seiya erinnerte Shanija plötzlich gar nicht mehr an eine Prinzessin, sondern an ein normales neunzehnjähriges Mäd chen, das zum ersten Mal ohne Begleitung der Eltern unterwegs war. »Aber das ist ja nicht dein Problem, nicht wahr, Colonel Shanija
Ran? Dich kümmert nur die Erde!« Sie drehte sich wütend auf dem Absatz ihrer goldenen Schnürschuhe um und rauschte aus dem Zimmer. Shanija seufzte. * Shanija hatte sich letztlich für eines der schlichteren Kleider ent schieden, die Maltes ihnen gebracht hatte. Die schwarze Seide lag dünn und eng um ihren Körper, ein elastisches Band hielt den Stoff über den Brüsten fest. Eine Dienerin hatte darauf bestanden, ihr die Haare mit Perlenklammern zusammenzustecken, und Shanija hatte es hingenommen, um ihre Gastgeber nicht zu beleidigen. Aber sie fühlte sich unwohl in dieser eleganten Kleidung. Eine Gettogöre ver kleidete sich als Edeldame. Es passte einfach nicht zu ihr, auch wenn die Dienerin aufrichtig bewundernd meinte, dass sie wunderschön aussehen würde. Das Essen war ebenso dekadent wie die Umgebung. Shanija fühlte sich in dem riesigen Prunkspeisesaal fehl am Platz. Gut zwanzig edel gekleidete Männer saßen links und rechts der Tafel. Zwölf von ihnen hatten Glatzen. Am Kopfende speiste Aridas Balderas. Allein aus der unterwürfigen Art, mit der die anderen Männer ihn behan delten, wurde seine Stellung als Anführer ersichtlich. Er war in ver hältnismäßig schlichte Kleidung gehüllt. Ebenso wie bei den ande ren elf Präfekten war sein Kopf rasiert, was ein Zeichen des Titels zu sein schien. Neben ihm saß sein Sohn Maltes. Sein einziger Sohn, wie sie gerade erfuhren. Der Präfekt hatte auch eine Tochter, Jasmi na. Sie war nach Jeraboum gebracht worden, weil sie sich zu lange im verstrahlten Gebiet aufgehalten hatte und unheilbar erkrankt war. Maltes' Blick war traurig, als er es erzählte, und Seiya berührte unbehaglich das Kleid, das sie trug. Die zwölf Männer stellten den Hochadel Khatastas dar. Sie trugen alle den Titel »Präfekt« und waren durchgängig die direkten Nach
kommen der Gründerväter der Stadt. »Die Gründerväter waren es, die die Edelsteinvorkommen im Plat tenmassiv fanden«, erzählte Maltes stolz. »Ach ja?« Shanija wollte sich nicht von dem Reichtum um sie her um einschüchtern lassen und fühlte sich herausgefordert zu spre chen. »Wir kamen durch einen Gang im Plattenmassiv. Das Gestein sah mir nicht so aus, als trage es Edelsteinvorkommen in sich. Es wirkte wie gewöhnlicher roter Granit.« Für eine Sekunde herrschte tödliches Schweigen. Aridas Balderas lächelte zuvorkommend. »Ihr seid sicher in einem Teil des Massivs gewesen, auf den das auch zutrifft. Aber Ihr habt längst nicht alles gesehen, Shanija Ran. Wir könnten Euch Stollen zeigen, die noch immer von den Fiogan beschützt werden müssen, damit fremde Räuber sie nicht plündern. Zum Glück ist unsere Stadt nur mit flugfähigen Tieren zu erreichen, sonst wären wir sicher ge beutelt durch Kriege. Aber unsere unzugängliche Lage sowie die Kampfkraft der Fiogan gewähren uns große Sicherheit.« Shanija konnte Aridas vom ersten Anblick an nicht ausstehen. Da bei sah er gut aus. Hager, hochgewachsen, eine scharfe gerade Nase, entschlossene blassblaue Augen, die einem General anstanden. Sein haarloser Kopf über der schmalen Brust wirkte wie die lebendige Büste eines römischen Imperators. Durchaus beeindruckend. Aber die kaum merkbare Linie um seinen Mund war hart, grausam. Sha nija spürte, dass sie es mit einem gefährlichen Menschen zu tun hat te. Einem, der über Leichen ging. Sie fand Capus' Befürchtungen nun nicht mehr abwegig, der Präfekt habe etwas mit dem Ver schwinden von Capus' Vaters zu tun. »Ich bitte um Entschuldigung, ich kenne mich nicht mit Gestein aus«, sagte sie kühl. Sie wollte ihn sich nicht sofort zum Feind ma chen. Aber vielleicht war es dafür schon zu spät. Shanija musste an einen Satz von Maltes denken: Es ist das Paradies, aber es birgt die Höl le. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Wenn sie in Aridas' Augen sah, wusste sie, wer diese Hölle regierte.
»Eure Eminenz Aridas.« Seiya sah kokett zu dem Präfekten. Sie saß ihm gegenüber am anderen Kopfende der Tafel. Ein Ehrenplatz, den man ihr zugewiesen hatte. Obwohl die Tischplatte aus schwar zem Holz gut sechzehn Meter lang war, hörte man Seiyas Stimme deutlich. Sie erfüllte den Raum kraftvoll, ohne dass sie laut werden musste. »Ich danke für die Ehre, mit Euch zu speisen. Die Goldene Stadt ist sehr aufgeschlossen und gastfreundlich, und aus diesem Grund möchte ich so vermessen sein, mich mit einem Gesuch an Euch zu wenden. Ich erwarte nicht, dass Ihr es sofort entscheidet.« Shanija bemerkte, wie As'mala die goldene Gabel mit dem aufge spießten Bratapfel sinken ließ. Seiya redete ein wenig angespannt, aber frei heraus. »Wie ich Euch bereits berichtete, gab es eine Revolte in Mandiranei, ausgehend von meinem Bruder Tainon. Ihr könnt Euch gewiss vorstellen, dass ich als rechtmäßige Thronerbin gern zurück in mein Land möchte. Ich weiß, dass dies schwierig ist, da mein Reich wie das Eure sehr schwer zugänglich ist. Dennoch bitte ich Euch um Unterstützung. Natürlich nicht sofort. Überlegt es Euch in Ruhe. Ich wäre bereit, Euch fürstlich dafür zu entlohnen. Auch wenn ich Euch mit diesem Angebot vielleicht beleidige, denn Euer Reichtum verspottet meine armseligen Kronjuwelen.« Aridas lächelte geschmeichelt. »Prinzessin, wir werden über Euren Antrag nachdenken und beraten, was wir tun können. Uns ist an ei ner guten Beziehung zu Eurem Land gelegen. Ein politisches Bünd nis wüssten wir zu schätzen.« Er klatschte in die Hände. »Bringt Rotwein vom ewigen Meer!« Die Diener gingen eilig mit Karaffen um den Tisch und gossen den Wein in kostbare Kristallgläser. Der oberste Präfekt erhob das Glas. »Wir wollen auf Prinzessin Seiya an stoßen und darauf, dass sie eines Tages in ihr Reich zurückkehren kann. Als Königin!« *
As'mala war während des Essens ungewohnt still gewesen. Die ver langenden Blicke von Maltes schien sie kaum zur Kenntnis zu neh men. Auch jetzt, nachdem sie gemeinsam in Seiyas Zimmer zurück gekehrt waren, schwieg sie grüblerisch. Shanija glaubte zu wissen, was in der Abenteurerin vorging. Sie fasste As'malas Arm. »Wir sollten Seiya Glück wünschen. Es ist nur vernünftig, wenn sie nicht mit uns zum Zentralarchiv kommt.« As'mala zog eine Augenbraue in die Höhe. »Vielleicht ist Vernunft nicht immer lebenswert.« Shanija schwieg. Sie blickte zu Seiya hinüber, die die fein gearbei tete Decke mit den goldenen Mustern und Quasten sorgfältig auf dem weichen Bett zurechtlegte. »Seiya … wir wollen noch ein paar Stunden ausruhen, bis alle schlafen und uns dann auf die Suche ma chen. Du … du musst nicht mit uns kommen. Wenn wir erwischt werden, werden wir sagen …« Seiya fuhr zornig zu ihr herum. »Natürlich suche ich mit! Ich habe Gorelus verloren, der genauso zu mir gehört hat wie Pong zu dir. Ich will nicht, dass dir dasselbe widerfährt wie mir. Und der Daten speicher ist zu wichtig, das hast du oft genug betont.« »Danke.« Shanija wandte sich ab und ging zur Tür, die in den Pa lastgang des Gästeflügels führte. Ihr Zimmer lag gleich neben Seiyas. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt und wollte die verblei bende Zeit für eine Pause nutzen. As'mala folgte ihr. Sie hatte sich weitere Kleidungsstücke ausge sucht, die die Palastdiener in Seiyas Zimmer gebracht hatten. Sie verschwand mit einem großen Bündel im Arm in ihrem Gemach ge genüber. Shanija schloss die Tür zu ihrem geräumigen Schlafraum hinter sich und war mit wenigen Schritten bei dem breiten Bett. Es stand auf einem erhöhten Podest an der Seite, mit einem rotgoldenen Bal dachin darüber. Baldachin und Waschtisch bestanden aus prunkvoll verziertem Holz. Die Schnitzereien zeigten die Baumornamente, die Shanija bereits überall im Palast aufgefallen waren. Wandgemälde
zeigten die Gründerväter der Stadt. Sie wurden von weinroten Ker zen in schweren goldenen Haltern beleuchtet, die von der vertäfel ten Decke hingen. Die Kommandantin hatte wenig Sinn für die Pracht des Raums. Sie versicherte sich, auch wirklich die einzige Person im Zimmer zu sein und ließ sich dann auf die weiche Matratze sinken. Ich muss mich ausruhen, wenigstens kurz … Es war schön, für einen Moment allein zu sein. Auch wenn sie sich eingestehen musste, die Gesellschaft von Seiya und As'mala inzwi schen zu genießen. Fast wie in einer Familie, wo man ständig um sich und füreinander da war. Oder zumindest in der Vorstellung sein sollte. Shanija drehte sich auf die Seite. Ihre eigene Familie war nie so gewesen. Der Vater war immer nur darauf aus gewesen, sie zu maßregeln und ihr alles zu verbieten. Und das waren noch die guten Zeiten. Wenn er betrunken war, wurde es weitaus schlimmer. Und ihr Bruder? Ob er noch lebte? Wie lange würde es dauern, bis die Erde vernichtet war? Wie viel Zeit blieb ihr wohl noch? Shanija dämmerte weg, als sie sich endlich Entspannung gönnte. Unruhige Träume quälten sie. Immer wieder sah sie die Erde als leuchtende blaue Kugel in der Schwärze des Alls, getroffen von ei nem blendenden Lichtblitz. Der schimmernde Ball platzte auseinan der wie eine überreife Frucht. In den Missklang der Zerstörung mischten sich schrille Vogelschreie. * Shanija erwachte und rieb sie sich die Schläfen. Ich muss es verdrän gen. Ich habe jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Es zählt nur die Mission. Sie nahm vom Nachttisch neben dem Bett ein goldenes Füll horn aus dem Zierständer und leerte den süßen Fruchtsaft auf einen Zug.
Dann stand sie auf und holte den Plan aus ihren Sachen. Capus hatte ihnen nicht den umfangreichen Grundriss mitgegeben, son dern auf einer kleinen Karte aufgezeichnet, wo das Büro des Präfek ten Aridas zu finden war. Shanija griff nach einem smaragdgrünen Umhang und einer braunen Hüftledertasche und machte sich auf den Weg. Lautlos öffnete sie die Tür zu As'malas Gemach. Leise rief sie den Namen der Begleiterin. Die Diebin gähnte ausgiebig, fluchte, dass ihr einfach kein Schlaf vergönnt sei, und sprang auf. »Bist du wirklich sicher, dass du mitkommen willst?«, fragte As' mala zweifelnd. »Versteh mich nicht falsch – du bist eine tolle Kämpferin, aber als Diebin …« »Vielleicht kommt es ja zum Kampf. Außerdem möchte ich dich nicht alleine gehen lassen.« »Misstraust du mir etwa?« »Du weißt genau, wie ich es meine.« As'mala hob die Schultern. »Also gut. Aber sei mir bloß nicht im Weg!« Gemeinsam traten sie auf den Gang. Seiyas Zimmer lag auf der anderen Seite des mit goldener Tapete verzierten Flurs. Im Palast war es still. Als ob alle schliefen. Shanija wusste, dass der Schein täuschte. Capus hatte sie sehr genau über die Wachen unterrichtet, die im Palast patrouillierten. Wie Schatten huschten die beiden Frauen hinüber zu Seiyas Zim mer. Shanija hatte erwartet, Seiya würde noch schlafen, doch die Prinzessin öffnete ihnen, als sie die Tür gerade erreichten. Sie war vorbereitet und trug einfache Kleidung aus braunem Leinen. Am liebsten hätte Shanija sie gebeten, in ihrem sicheren Zimmer zu blei ben, doch sie wollte die Spannung zwischen ihnen nicht noch mehr verstärken. Gemeinsam machten sich die drei Frauen auf den Weg durch den Palast. Shanija ging voran und spähte die Gänge aus. Schade, dass Pong nicht hier war. Shanijas Hand wanderte unwillkürlich zu der Vertiefung auf ihrem Brustbein. Der Schmuckdrache hätte jeden
Gang problemlos ausspionieren können. Sie gab As'mala und Seiya Handzeichen, wenn die Luft rein war. Dreimal entdeckte Shanija gerade noch rechtzeitig eine Wache, und sie mussten mehrere Minuten in Deckung warten, bis sie weiter konnten. Endlich erreichten sie den Südflügel. »Bleibt stehen«, zischte As'mala plötzlich und hielt Shanija fest. »Dieser Flügel ist eine Todesfalle.« »Woher weißt du das?«, flüsterte Seiya aufgeregt. As'mala wies auf kaum sichtbare dunkle Stellen in den Wänden. »Das sind Geschossvorrichtungen, und dort …« Sie wies auf ein Ge mälde, das einen Baum mit aufgeklebten kostbaren Kristallblättern zeigte, »ist eine Falle für besonders unvorsichtige Diebe. Wenn man die Steine vom Bild nimmt, wird man von Pfeilen gespickt. Aber das ist noch nicht alles. Seht euch die Muster auf dem Boden an. Einige Steine sind teils tiefer als andere und lösen sicher irgendwelche wei tere Fallen aus, wenn man darauf tritt. Falls darunter überhaupt fes ter Boden ist …« »Aridas mag wohl keinen unangemeldeten Besuch in seinem per sönlichen Bereich«, bemerkte Shanija ironisch. »Aber …« Seiya sah fragend zu ihren Begleiterinnen. »Irgendwie muss Aridas doch in sein Büro kommen, oder?« As'mala nickte grimmig. »Klar. Und er nimmt mit Sicherheit nicht diesen Flur. Es muss also einen Geheimgang geben. Lasst mir etwas Zeit … in Lardanoth gab es eine Treppe, die … nein, das ist es nicht.« Hochkonzentriert schritt As'mala die Wände vor dem ge fährlichen Gang ab. Sie ließ sich auf die Knie sinken und klopfte den Boden ab. Shanija beobachtete den Gang, aus dem sie gekommen waren. Je den Moment konnte eine der Wachen passieren und einen Blick auf den Eingang zum Südflügel werfen. Seiya begann As'malas Suche zu unterstützen, indem sie sich ebenfalls auf den Boden hinunterließ und das Gestein abklopfte.
»Ich höre etwas«, meldete Shanija leise. »Schritte von Stiefeln. Ihr habt schätzungsweise noch dreißig Sekunden.« As'mala hatte ein sonderbares Gerät an ihr Ohr gehoben und be lauschte damit die Schläge ihrer Knöchel an der Wand. Es sah aus wie ein kleiner Trichter. Seiya sah As'mala verärgert an. »Mein Horchorium! Du hast es mir gestohlen!« »Nur geliehen.« »Psst!«, zischte Shanija. As'malas Gesicht hellte sich auf. »Eine Illusion!« Sie legte ihre Hände auf eine unscheinbare Stelle an der Wand und drückte kurz dagegen. Mit einem leisen Grollen schwang die Wand nach innen. Die Schritte waren nun deutlich zu hören, zusammen mit dem Klirren eines Schwertes, das gegen eine Rüstung stieß. »Na los!« As'mala sprang in die dunkle Wandöffnung. Die beiden anderen Frauen folgten ihr. Das mannshohe Wandstück schob sich sofort wieder zurück an seinen Platz, kaum dass sie hindurch wa ren. Shanija zog eine der Kerzen hervor, die sie in ihre Tasche gepackt hatte. Wieder fehlte ihr Pong mit seiner feuerspeienden Fähigkeit. »Lass mich das machen«, flüsterte As'mala. Sie holte eins der über langen Schwefelhölzchen hervor, die beim Abendessen auf einem Beistelltisch gelegen hatten. Wenige Sekunden später brannte der Docht der Kerze. Sie standen in einem unangenehm engen Gang. Sie mussten hintereinandergehen, da nicht einmal Platz war, die Arme seitlich auszustrecken. Shanija schüttelte sich. Klaustrophobie war hier drin nicht ange bracht. Früher hatte sie damit keine Probleme gehabt. Ein paar Erin nerungen waren ihr also geblieben, nachdem sie … egal. As'mala ging vor, die Kerze in der Hand. Der Gang war nicht son derlich lang. Sie konnten das Ende bereits sehen, als As'mala uner wartet stolperte. Ein Unheil verkündendes Knacken und Krachen er
klang über ihnen. »Anama blende mich«, fluchte As'mala, während sie einen Riesen satz zur Wand vor sich machte. Hektisch begann sie mit den Hän den herumzutasten. »Wo ist diese Scheiß-Tür …« »Was ist los?«, fragte Shanija alarmiert. »Hab 'ne Falle ausgelöst, verdammt noch mal«, zischte As'mala. Sie drückte Shanija die Kerze in die Hand. »Geht bloß nicht zurück, wenn ihr nicht durchlöchert werden wollt!« Shanija wollte gerade fragen, ob das alles sei, worauf sie achten sollten, als Wasser von oben auf sie niederströmte und die Kerze in ihrer Hand löschte. Gleich mehrere Wasserfälle sprudelten links und rechts aus Löchern von der Decke. Seiya wollte unwillkürlich zu rückweichen. Shanija, die ihre Bewegung spürte, packte sie und zog sie neben As'mala an die Wand. »Beeil dich besser«, spornte sie die Diebin an. »Könnte reichlich ungemütlich werden.« »So hab ich mir ein entspannendes Bad nicht vorgestellt«, versuch te Seiya in der Finsternis zu scherzen. Das Wasser stieg in Sekun denschnelle. Sie standen bereits bis zu den Waden in einem spru delnden See. Wenn As'mala die Tür nicht fand, würden sie hier drin jämmerlich ersaufen. »Ich mach ja schon«, schimpfte As'mala. Shanija hörte durch das Rauschen ihr Klopfen und Hämmern. Wenn das nicht den halben Palast auf die Beine brachte, wollte sie dem Baum ein Dankgebet darbringen, denn dann war ein Wunder geschehen. »Ich hab's gleich!« Shanija fragte sich, ob es nicht bereits zu spät war. Der Wasserpe gel stieg weiter. Sie drückte sich und Seiya gegen die Wand, um nicht von der wirbelnden Strömung von den Füßen gerissen zu wer den. Zu ihrem Erstaunen war Seiya ganz ruhig. Die Prinzessin mur melte kaum hörbare Worte vor sich hin, als ob sie beten würde. »Wer auch immer diese verfluchte Falle gebaut hat, ich häng ihm
das Kreuz aus, dass er den Arsch in 'ner Schlinge heimträgt! Der Kerl scheint pervers zu sein, sich selber dauernd einer solchen Ge fahr auszusetzen. Ah … Moment, da ist es! Na klar, schon unter Wasser. Aber bleibt ruhig, jetzt ist es gleich vorbei.« Platschend tauchte As'mala ab. In diesem Moment hörte das Wasser abrupt auf zu fließen. As'ma la tauchte keuchend neben ihnen auf und schnappte nach Luft. »Was ist jetzt los? Das war ich nicht.« Shanija hob den Arm und berührte eines der Löcher, aus denen bis eben noch Wasser geströmt war. Ihre Hand zuckte zurück. Die Lö cher waren vereist. »Ich war das«, meinte Seiya zitternd. »Ich kann Wasser gefrieren lassen, wisst ihr noch?« Shanija erinnerte sich nur zu gut. Seiya hatte den Verräter Borsch koj vereist, bevor er sie töten konnte. Unwillkürlich drückte sie Seiyas Hand. Das höchste Lob, zu dem sie sich hinreißen lassen konnte. »Ich-ich weiß aber nicht, wie lange das Eis dem Druck standhält, und es ist sehr anstrengend. Also mach endlich, As'mala!« As'mala tauchte wieder ab. Es dauerte noch mehrere Versuche und fast drei Minuten, die Shanija in Gedanken mitzählte, bis die Abenteurerin die Tür endlich geöffnet hatte. Das Wasser drängte ge waltsam hindurch und floss in der Dunkelheit ab. Schließlich brach te As'mala die Kerze wieder zum Leuchten. »Ob man das draußen alles hört?«, stellte Seiya dieselbe Frage in den Raum, die Shanija schon einige Zeit beschäftigte. »Ich glaube nicht«, antwortete As'mala. »Aridas will sich mög lichst lautlos bewegen, damit seine Leute nie wissen, wo er ist. Ein echtes Herzchen, sage ich euch, ich hab Sachen über den gehört …« »Weiter«, brummte Shanija. Sie standen in einem weiteren Gang, an dessen Ende eine Treppe fünf Stufen nach oben führte. Leise plätschernd verlief sich das Was
ser, sie konnten sich jetzt ungehindert bewegen. Das Eis hielt, oder die Falle war deaktiviert worden, nachdem die Tür geöffnet war. »Und jetzt nicht wieder gegen einen Stolperstein treten, du Schafs kopf«, ermahnte As'mala sich selbst halblaut. »Hoffentlich funktionieren diese Fallen automatisch, sonst kriegen wir doch noch ein Problem mit den Wachleuten«, meinte Seiya. »Bestimmt, denn auf diese Weise können beispielsweise unliebsa me Leute einfach verschwinden. Das kenne ich schon von anderen Arbeitseinsätzen.« Shanija war ebenfalls zuversichtlich. »Der Sinn solcher Fallen ist ja, dass sie automatisch sind. Unsere Leichen kann man auch bei der nächsten Überprüfung bergen.« Sie stapften durch den zweiten Gang bis zur Treppe mit einer höl zernen Tür am oberen Ende. Wortlos machte sich As'mala am Schloss zu schaffen und setzte erneut ihre Psimagie ein. Die Tür schwang nach innen auf. Sie befanden sich in Aridas' Büro! * Der Raum war erstaunlich karg eingerichtet, funktional, nicht so pompös wie der Rest des Palastes. Ein schwerer Schreibtisch mit Stuhl, ein Sekretär, über dem ein Bild des Präfekten Aridas hing, und eine sperrige Vitrine standen auf braunem Mosaikboden. Ein Regal reihte sich an das nächste, schmal und tief. As'mala wrang ihre langen Haare aus. »Ein Trockentuch wäre nicht schlecht.« Shanija reichte ihr den Umhang, der zumindest im oberen Drittel nicht vollständig nass war. »Seht!« Seiya verharrte mit leuchtenden Augen vor der Vitrine. Ihr schien die Nässe wenig auszumachen. Shanija und As'mala traten zu ihr. Hinter dem gut polierten Glas waren wunderbare Figürchen
aus edlem Kristall aufgereiht, die im Kerzenlicht funkelten. Sie wa ren filigran, scheinbar über die Schwerkraft erhaben. Shanija sah Blüten, die auf winzigen Stängeln saßen. Menschen, Tiere und Fio gan waren so perfekt aus dem Kristall geformt worden, als habe Ma gie die lebenden Vorbilder verkleinert und erstarren lassen. »Das sind wohl die Steine, von denen Maltes uns erzählte«, flüs terte Seiya. »Sie sind wunderschön.« As'mala machte sich bereits am Schloss der Vitrine zu schaffen. Shanija sah sie finster an. »Finger weg! Deswegen sind wir nicht hier. Sieh dich lieber um, ob es ein Geheimversteck oder einen Safe gibt, denn ich kann das Schwert nirgends entdecken.« Sie kletterte auf den Sekretär und schob das fast lebensgroße Ölgemälde von Aridas zur Seite. Dahinter befand sich nur eine glatte Wand. Seiya und As'mala machten sich ebenfalls auf die Suche, zunächst ergebnislos. Es gab auch keine geheime Falltür im Boden. As'mala stieß schließlich einen leisen Pfiff aus. Sie hatte ihre Hand zwischen mehrere Pergamentrollen geschoben. »Hier ist etwas. Ein Schloss. Aber keines, das einen Schlüssel braucht.« Seiya runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?« »Psimagie?« Shanija trat näher. As'mala nickte. »Ziemlich starke sogar. Viel stärker als die Illusio nen der Wände. Ich werde versuchen, es zu öffnen.« »Ist das nicht zu gefährlich?« Seiya blickte besorgt, aber As'mala hatte bereits angefangen, sich auf die magische Barriere vor sich zu konzentrieren. Shanija und Seiya warteten in angespannter Stille. Es gab eine fühlbare Erschütterung, die Rollen in den Regalen zitterten. As'mala sank fluchend auf die Knie, Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihr Gesicht war so bleich wie nach dem Genuss der Jajamknolle. Trotz dem grinste sie. »Gefahr macht Spaß.« Das mahagonifarbene Regal vor ihnen schwang zur Seite, vor das Bild von Aridas Balderas. Eine dunkle Öffnung wurde sichtbar.
As'mala kam mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Füße. Shanija reichte ihr die Kerze. »Willst du zuerst gehen?« »Klar.« Der Durchgang war niedrig, sie mussten die Köpfe einzie hen. Sie betraten eine kleine Kammer, die bis auf zwei Regale und einen Waffenständer leer war. Auf den Regalen lagen Edelsteine in der Größe von Melonen. As'mala stieß erneut einen leisen Pfiff aus. Shanija hatte keine Augen für die glitzernden bunten Steine. Sie blickte auf das zierliche Einhandschwert, das allein in dem hölzer nen Waffenständer hing. Es erinnerte sie an Maltes' Schwert. Zu leicht und unbrauchbar. Mehr ein Brieföffner denn eine Waffe. Dra chenornamente bedeckten den birnenförmigen Knauf. Das Metall schimmerte im Licht der Kerze rötlich. »Ein Zahnstocher«, spottete Shanija, während sie vorging und ihre Hand prüfend um den schmalen Griff legte. Sie zog die Waffe und hob sie mit der Rechten an. Ihr Blick fiel auf die Klinge. Ein ange nehmes Brennen kribbelte auf ihrer Haut. Es ähnelte dem Gefühl, das sie hatte, wenn sie Pong berührte. Ihre Linke befühlte den Stahl. Er war warm wie menschliche Haut. Auf einmal wollte Shanija das Schwert nicht mehr ablegen. Ihr missfiel plötzlich der Gedanke, die gefundene Waffe zu Capus zu bringen. Das hier war ihr Schwert, als hätte es auf sie gewartet. Zärtlich fuhr sie mit der Fingerkuppe über die Breitseite der Klinge. »Du kannst dem Ding später einen Antrag machen.« As'mala feix te. »Jetzt sollten wir sehen, was wir hier noch finden können und verschwinden.« Seiya bestaunte die funkelnden bunten Kristalle. »Das ist unglaub lich«, flüsterte sie. »Der Reichtum dieses Präfekten spottet jeder Be schreibung.« »Schade, dass die Klumpen so groß sind.« As'mala seufzte sehn süchtig. Sie trat ans Regal und griff nach einer auffälligen, einzeln liegenden Papyrusrolle, auf die sonderbare Bilder gemalt waren. Winzige Figuren überzogen das Blatt. »Schaut mal, auch Drachen.« As'mala rollte es vorsichtig auf. »Sie
haben eine Schutzschicht über den Papyrus gelegt.« Bewundernd hob sie die glänzende Rolle an. »Er muss sehr alt sein, äußerst kost bar. Seht nur das Gold an den Seiten.« »Wir haben das Schwert.« Seiya wies auf Shanija, deren Hand im mer noch die Waffe umklammerte. »Unser Teil der Abmachung ist erfüllt, also lasst uns gehen.« As'mala steckte die Pergamentrolle ein und sah sich weiter in der Kammer um. »Hier gibt es sowieso nichts mehr zu holen. Zumin dest nichts, was wir unauffällig tragen können.« Das tiefe Bedauern in ihrer Stimme ließ Seiya den Kopf schütteln. »Gehen wir«, forderte die Prinzessin entschlossen. Sie traten aus dem kleinen Raum und schoben das Bücherregal zu rück an seinen Platz. Vorsichtig stapften sie durch die beiden feuchten Gänge zurück. Ungehindert konnten sie den Geheimgang verlassen, alles blieb ru hig. Glücklicherweise trugen sie gut eingefettetes Leder-Schuhwerk, sodass sie schon nach wenigen Schritten keine feuchten Abdrücke mehr hinterließen. Auch die teure Kleidung war bereits fast trocken. Sie hatten ihre Zimmer fast erreicht, als Shanija aus einem Seiten gang sich nähernde Schritte hörte. As'mala legte den Finger an den Mund und bedeutete den Gefähr tinnen durch Handzeichen, dass sie nachsehen wollte. Shanija nickte und wisperte verhalten: »Wir bringen das Schwert zu Capus und treffen uns spätestens bei Tagesanbruch am Baum.« Die Diebin verschwand um die Ecke, und kurz darauf hörte Shani ja ihre gedämpfte Stimme: »Maltes, bist du das? Was für ein Glück. Ich suche dich schon die ganze Zeit!« Shanija atmete erleichtert auf. As'mala würde schon etwas einfal len, um Maltes abzulenken und hinzuhalten. Zusammen mit Seiya eilte sie den Gang weiter. In Seiyas Gemach setzte Shanija die braune Tasche ab, wechselte
die Kleidung und legte ihren Waffengürtel an. Sie steckte das Dra chenschwert in die leere Scheide und umwickelte den auffälligen Griff mit einem Lederlappen, den sie gut verschnürte. Seiya betrach tete das Brokatkleid sehnsüchtig, griff dann aber nach einer schlich ten Hose und einem elegant geschnittenen Hemd aus rotem Satin. Dazu nahm sie sich einen fein gearbeiteten Mantel mit Silberborte. Ohne Zeit zu verlieren packte Shanija die wichtigsten Dinge ein und verstaute sie in einem Beutel aus Leinen. Sie sprachen nicht darüber, aber Shanija war klar, dass die Prinzessin sie verlassen würde, so bald sie Pong wieder hatten. Der Gang war leer, keine Wache, auch kein Maltes in Sicht. Ziel strebig gingen sie zum nah gelegenen Dienstboteneingang und stan den bald darauf draußen im Hof, den sie gemessenen Schrittes über querten. Der wachhabende Soldat am Tor blickte erstaunt. »Immer noch wach, die Damen?« »Schon wieder.« Seiya lächelte verzückt. »Dieser Ort ist zu reizend. Wir dachten, wir unternehmen einen kleinen Mondscheinspazier gang.« Der Wachmann stimmte arglos zu. »Khatasta ist wahrhaftig ein Traum, edle Dame. Wir nennen sie auch ›die Goldene‹.« »Der Sonnenaufgang muss herrlich sein«, schwärmte Seiya mit verträumten Augen. Shanija bewunderte sie, wie sie den Soldaten mit ihrer Anmut um den kleinen Finger wickelte. Er hatte nur Blicke für die Prinzessin übrig. Seiya fasste vertraulich seinen Arm. »Wir hörten von einem kleinen Hügel ganz in der Nähe, von dem aus man den Aufgang von Flavor, Rubin und Arausio ganz zaubervoll betrachten kann. Denkt Ihr, wir können geradewegs dorthin? Oder ist es Frauen ver boten, sich frei zu bewegen?« Der Mann sah beleidigt aus. »Selbstverständlich nicht. Ihr dürft je derzeit gehen, wohin es Euch beliebt. Möchtet Ihr einen Begleit schutz?«
Seiya lächelte unschuldig. »Ist es denn notwendig?« »Niemand würde wagen, Hand an Euch zu legen. Frauen sind uns heilig.« »Dann gehen wir lieber allein. Aber vielleicht ein andermal?« Sie zwinkerte schelmisch. »Wir werden spätestens zum Frühstück zu rück sein.« Der Wachmann sah ihnen sehnsüchtig nach.
5. Maltes blickte As'mala verlangend an. »Du hast mich gesucht?« Er stellte die Lampe auf einem steinernen Halter ab. Sie lächelte. »So wie du mich, stimmt's? Oder warum treffen aus gerechnet wir beide uns hier, in der Nähe meines Gastgemachs? Ge hen wir in mein Zimmer oder in deins?« Zögernd wies Maltes mit der Hand den Gang hinunter. »Ich … kann dir gerne mein Gemach zeigen, wenn du möchtest. Deines kenne ich …« Er errötete, als er verstand. »Oh. Entschuldige. Wir ha ben hier in Khatasta nicht sehr viel Übung in solchen … Konversa tionen.« As'mala fasste ihn an der Hand und zog ihn den Gang hinunter. Sie mochte seine kräftigen Hände. Obwohl Maltes dekadent lebte, wirkte er nicht verweichlicht. Ob er im Kampf eine Chance gegen mich hätte? Sie dachte an seinen Körper, stellte sich vor, wie gut Maltes sich unter ihr machen würde. Ihr Grinsen schien ihn zu verunsi chern, aber er folgte ihr ergeben. »Du bist nass …« »Ich hatte eine nette kleine Dusche, nicht der Rede wert. Meine Freundinnen, du verstehst? Immer zu Scherzen aufgelegt. Wo ist denn nun dein Zimmer?« »Hier hinein.« Maltes löste sich von ihr, um ihr die Tür aufzuhal ten. Das gedämpfte Licht einer Öllampe drang aus dem Raum. »Nicht so förmlich.« As'mala ging aufreizend an ihm vorbei. Was konnte es schaden, sich noch ein bisschen mit ihm abzugeben? Sie hatte etwas Zeit, bis Shanija und Seiya den Handel mit Capus abge schlossen hatten. Sie packte Maltes mit beiden Händen am Kopf, kaum dass die Tür zu war, und drückte ihn zu Boden. Die goldumrandete Pergamen
trolle in ihrem Gürtel knisterte. As'mala zog sie beiläufig heraus und ließ sie achtlos neben sich fallen. Maltes keuchte überrascht auf. »Ich … ich habe auch ein Bett …« »Später.« As'mala kam auf seinem Becken zum Sitzen und berühr te seinen verletzlichen Hals. Ihre Finger glitten höher, über seine Wangen. Sein Gesicht war gut rasiert, die Haut glatt und weich. Sie mochte seinen Geruch, liebte den Blick dieser sturmgrauen Augen, die sie voller Verlangen betrachteten. Nein, er war kein Arschloch wie sein Vater, der sich nahm, was er wollte, ohne zu fragen. Er quälte niemanden, so wie Borschkoj, und war gewiss kein Verräter, der sie nur benutzte. Er war genau das, was sie jetzt brauchte. Es war, als könne sie seine Seele in seinen Augen sehen: Jung, ungebro chen, freundlich und offen. Ihre Lippen berührten seine. »Wenn du mich nicht willst, brauchst du es nur zu sagen«, flüsterte sie zwi schen zwei Küssen. Seine Hände packten ihre Hüften. »Dank den Baumgöttern«, mur melte er. * Shanija schaute unbehaglich zum Himmel. Die Fiogan kreisten über ihnen wie eine drohende Sturmwolke. Es mussten inzwischen über hundert sein. Auch Seiya wirkte nervös. »Was haben die nur vor?«, murmelte sie. »Wir sollten uns beeilen. Dort vorn ist der Hügel.« Shanija sah Capus bereits auf sie zukommen. An der Hand führte er einen Kryphon, den er von wer weiß wo gestohlen haben mochte. Bronzefarbenes Gefieder bedeckte das anmutige Tier, vorn Adler, hinten Löwe. Shanija sah zum ersten Mal einen leibhaftigen Greif vor sich, eines der sagenhaftesten Wesen der Erde, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie fragte sich, wer einstmals vor Urzeiten auf der Erde gelandet sein mochte und diese Fabeltiere ausgesetzt
hatte, damit sie nach ihrem Aussterben Eingang fanden in die My thologie. In diesem Moment setzten die Fiogan zum Sturzflug an. Die schwarze Wolke aus Vogelleibern jagte dem Boden entgegen. Seiya schrie auf. Capus beschleunigte und rannte auf sie zu. Er war nur noch zwanzig Meter von ihnen entfernt, als der Kryphon sich in wil der Panik losriss und die Flucht ergriff. Der Dieb fluchte deftig und rief Shanija zu: »Gib mir das Schwert!« »In Deckung!«, schrie Shanija, während sie das Drachenschwert und ihre eigene Waffe zog. Es war bereits zu spät. Die schwarz ge fiederten Vogelwesen hatten sie erreicht, und sie waren in solcher Überzahl, dass jeder Kampf aussichtslos schien. Aber ich werde ein paar von ihnen mitnehmen. Seiya stellte sich ihr in den Weg. Die Prin zessin streckte fordernd die Hand aus. Shanija reichte ihr das Schwert aus Mandiranei. Sie ist wirklich mutig. Die Kommandantin stellte sich Rücken an Rücken mit der Prinzes sin. »Schon mal ein Schwert in der Hand gehabt?« »Die Spitze ist vorn.« »Guter Anfang. Halte die Spitze von uns weg, und wir haben fast gewonnen.« Capus hatte sie beinahe erreicht, als Signalhörner erklangen. Sha nija blickte den Hügel hinunter und sah eine Schar von zwanzig Wachleuten mit gezückten Waffen. Weitere strömten aus dem Pal asthof. Die Fiogan krächzten laut. Eines der schwarzen Geschöpfe packte Seiya im Vorbeiflug, bevor sie das Schwert überhaupt heben konnte. Shanija schlug nach ihm und traf den Bauch, doch nicht kraftvoll ge nug. Da wurde sie selbst von zwei anderen Fiogan an den Armen gepackt und in die Höhe gezerrt. Zur Hölle mit ihnen! Sie wehrte sich nach Kräften, doch das Drachenschwert wurde ihr entrissen. Ein harter Stoß traf ihre Schläfe. Die Welt um sie her wur de kurzzeitig dunkel.
* Als Shanija wieder zu sich kam, befand sie sich bereits hoch in der Luft, in den Klauen eines Fiogan. Neben sich hörte sie Seiya rufen. »Shanija! Bist du in Ordnung?« »Ja! Wo ist …« Aber da sah sie ihn schon. Capus hatte sich an den Fiogan geklammert, der Shanija das Schwert entrissen hatte. Flu chend hielt er sich an dessen Standbein fest. Der Fiogan kreischte wütend, konnte den Mann aber nicht abschütteln. Warum haben sie uns gefangen? Was haben sie mit uns vor? Wenn Shanija nur mehr über diese sonderbare Psimagie wüsste, die in ihr schlummerte. Leider konnte sie die Sonnenkraft, die ihr bereits einmal aus der Gefahr geholfen hatte, im Moment überhaupt nicht spüren. Damals war die Psimagie unkontrolliert aus ihr her vorgebrochen, aber sie hatte zumindest gespürt, dass etwas mit ihr vorging. Doch jetzt – nichts. War es vielleicht wie bei As'mala ein ungünstiger Moment? Immerhin war die Diebin auch schon einmal nicht in der Lage gewesen, auf psimagische Weise Schlösser zu öff nen. Eine sehr eigenwillige Kraft war das, die von Sternkonstellationen abhing, mal funktionierte und mal nicht. Shanija verstand die Wir kung der Psimagie nach wie vor nicht. * Die Fiogan trugen sie in eisige Höhen hinauf. Bald schon konnte Shanija einzelne Schwebebrocken entdecken, die in der Luft über ih nen trieben. Und noch darüber hinaus verschleppten sie ihre Ent führer. »Wohin bringt ihr uns?«, rief sie nach oben. Zu ihrer Überraschung antwortete der Fiogan über ihr sofort.
»Zum ewiigen Herrrn«, schnarrte er kehlig. Shanija erkannte die Stimme. Es war derselbe Fiogan, der sie bereits zum Marktplatz ge flogen hatte. »Warum verschleppt ihr uns?« »Derr Tag ist gekommen. Hab keine Furrcht. Geh deinen Weg.« »Kannst du auch mal eine verständliche Antwort geben?« Shanija versuchte, den aufsteigenden Ärger zu unterdrücken. Ruhig bleiben, ganz gleich in welcher Lage. Sie biss die Zähne aufeinander und be mühte sich um einen reservierten Ton. »Welcher Tag ist gekommen? Und wer ist dein Herr?« »Frremde Göttin.« Die Stimme des Fiogan klang liebevoll. Shanija zuckte bei diesem Klang zusammen. »Du stellst zu viele Frragen. Ich hätte dich gerrn vorr ihm verrsteckt, aberr es ist zu spät. Jetzzt trrägst du das Schwert, also wirrst du kämpfen.« Fremde Göttin? Shanija schüttelte den Kopf. »Du verwechselst mich. Ich bin keine Göttin. Ich bin ein Mensch.« »Der Kampf wirrd es entscheiden«, schnarrte der Fiogan. »Wirr sind gleich da.« In der Tat sah Shanija nun ein großes Bergmassiv vor sich, auf das problemlos ein Raumschiff der Transportklasse gepasst hätte. Karge Felsen schossen in die Höhe wie die Wände eines Vulkans. Shanija meinte das Brüllen eines Tieres zu hören, aber noch konnte sie den Boden des schwebenden Kraters nicht ausmachen. Neben ihr keuchte Capus: »Habt ihr das gehört?« Der Dieb sah mit weit aufgerissenen Augen zu ihr herüber. »Das … das ist …« Der Kraterschlund offenbarte sich ihren Blicken. Entsetzt sah Sha nija hinab. »Was … bei den sieben Höllen …« »Das ist Slintan.« * Sie erwachte von leisem Schluchzen. Es war fremd und erschre ckend, wie kaum ein Laut, den sie bisher gehört hatte. Angespannt
lauschte As'mala ins Zwielicht. Wo befand sie sich? Ihre Augen ge wöhnten sich an das schwache Morgenlicht, das durch die breiten Fenster fiel. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Sie war im Prä fektenpalast, in dieser seltsamen, dekadenten Stadt. Eigentlich hatte sie Maltes nur ablenken wollen, aber dann war da dieses Feuer in ihr gewesen, diese Lust, die er in ihr geweckt hatte. Aber warum war sie noch hier? Sie musste direkt nach dem Akt vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Dabei hatten sie sich nur zweimal geliebt. Einmal auf dem Boden und danach auf einer schweren, mit Blattgold be schlagenen Truhe. Hatte Maltes sie danach in sein Bett gelegt? As' mala blinzelte. Maltes schluchzte. Warum weinte er? Hatte es mit ihr zu tun? »Maltes?« Ihre Hand suchte nach ihm. Er saß am Rand des Bettes. As'mala setzte sich auf und blickte über seine Schulter. In seinen Händen befand sich die Pergamentrolle mit den winzigen goldenen Tierbildern. Die kräftigen Finger hielten das Pergament umklam mert. Sie schlang ihren Arm um ihn, er regte sich nicht. Sein Schluchzen verklang, als habe er niemals einen Laut von sich gege ben. »Maltes«, wiederholte sie lauter. »Was ist mit dir?« Er saß steif und unbeweglich, eine Statue aus Stein. »Woher ist das?«, flüsterte er heiser. Der Tränenfluss auf seinen Wangen war ungebrochen. Sie beugte sich weiter vor und fühlte die Nässe an ihrer Haut. Mit einer plötzlichen Bewegung fuhr er herum, packte As'mala und drückte sie mit überraschender Kraft auf die Matratze. »Woher, bei allen Baumgöttern, hast du das?« As'mala schluckte. »Du … du kannst es lesen?« Sie starrten einander an. Maltes' Blick brannte auf ihr. »Ich will wissen, woher du das hast!« As'mala überlegte kurz, ihn anzulügen. Und entschied sich dage gen. Im Notfall musste sie ihn eben bewusstlos schlagen und flie hen, aber noch bestand Hoffnung, dass er ihr sagte, was er gelesen hatte. Was ihn so aus der Fassung brachte. »Das stammt aus dem Büro deines Vaters«, erklärte sie gelassen.
»Es besteht der Verdacht, dass dein Vater einen Menschen ver schleppt hat, und ich habe dort im Auftrag nach Beweisen gesucht.« »Zu Slintan, ja?« Maltes spuckte die Worte verächtlich aus. »Wer ist Slintan?«, fragte As'mala ruhig. Nun war Maltes verwirrt. »Du kannst es also nicht lesen …«, stell te er fest. Sie schüttelte den Kopf. Maltes ließ sie los. »Ich hatte immer den Verdacht, dass mein Vater … er ist kein guter Mensch … aber das …« Er stand auf und trat mit aller Wucht gegen das Bett. »Ich brauche Antworten! Sofort!« Er wandte sich zur Tür. As'mala sprang auf. Sie bemerkte erst jetzt, dass sie nackt war. Nun ja, warum hätte sie sich auch wieder anziehen sollen? »Was hast du vor?« Sie packte sein Handgelenk. Er fuhr zu ihr herum. »Ich werde meinen Vater zur Rede stellen. Ich werde …« Er verstummte. »Nein. Ich werde mich selbst davon überzeugen. Und wenn er es gewagt hat, meine Schwester Jasmina an Slintan zu verfüttern, werde ich ihn eigenhändig zu den Aalen hinunter stoßen!« Er sah einen Moment zu lange auf ihre nackten Brüste. »Zieh dich an.« Maltes' Gesicht hatte einen furchteinflößen den Ausdruck. »Ich werde herausfinden, was hier gespielt wird, und wenn alles erwiesen ist, werden Köpfe rollen!« * Als sie landeten, waren sie von einer Gruppe Fiogan mit langen Speeren umgeben. Die Vogelwesen hockten auf ihrer kräftigen Standklaue und hielten bedrohlich die Waffen in Krallenhänden. Shanija glaubte Ehrfurcht und Angst zu spüren. Ob sie den Moment nutzen konnte? Nein, aussichtslos. Über hundert bewaffnete Fiogan waren auf dem Boden und in der Luft um sie herum verteilt. Einige Augenblicke herrschte tiefes Schweigen. Der Gasriese hing schwer und bedrohlich am Himmel, rote Wolken zogen unter ihm hinweg.
Es war nichts zu hören als das Pfeifen des kalten Windes, der durch die Felsenschluchten fuhr. Shanija konnte den Krater nicht mehr einsehen. Sie befanden sich auf einem breiten Stück des Steintrichters, das wie eine Plattform vom Rand des Kraters abstand. Ein seltsam schimmerndes Kuppel gebäude aus Metall ragte davor auf. Ob das der Fioganstahl war, den Capus erwähnt hatte? Shanija betrachtete das Gebäude auf merksam. Sie musste sich alles gut einprägen. Wenn ihre Flucht ge lingen sollte, musste sie so viel wie möglich über diesen Ort heraus finden. Abschätzend betrachtete sie die hohen dünnen Türme, die wie gemusterte Blitzableiter neben der Metallkuppel in die Höhe ragten. Sie schienen nicht bewohnt zu sein, waren Stelzen, auf deren Spitzen schmale Plattformen als Landeplatz und Wachpunkt dienten. Gräben und Mauern umgaben den Platz, auf dem Shanija stand. Sie waren kaum für die fliegenden Fiogan angelegt worden. Ein Gefängnis, schoss es Shanija durch den Kopf. Ein Gefängnis für Menschen. Was wird hier nur gespielt? Endlich kam Bewegung in die Fiogan. Ein besonders Großer mit grauem Bauch trat auf sie zu. Er sagte etwas in einer fremden Spra che und erntete zustimmendes Gekrächze. Der Vogelmann, der sie getragen hatte, wies mit der Klaue auf das Kuppelgebäude. »Geh vorran, Sonnenstrrahl.« Shanija dachte nicht daran. »Erst will ich wissen, warum ich hier bin!« Als ihre Stimme erklang, flatterten mehrere Fiogan ehrfürchtig krächzend zurück. Der Fiogan, der wohl als einer von wenigen die Sprache der Men schen erlernt hatte, senkte betreten den Schnabel. »Göttin, du musst dich deinerr Bestiimmung stellen.« Er wies mit der Flügelspitze in Richtung des Kraters, auf dessen Boden Shanija beim Anflug »Slin tan« gesehen hatte, das archaische Wesen, das für die dunklen Tier rufe verantwortlich war. Sie schluckte. »Ich soll gegen das Ding da unten kämpfen?« Es war
ein großes Tier, einem irdischen Saurier nicht unähnlich. Mit der richtigen Waffe normalerweise nur eine Sache von zwei Minuten. Aber eine Strahlenwaffe stand Shanija nicht zur Verfügung, und al les Übrige hatten die Fiogan ihr abgenommen. Shanija sah, wie ein Fiogan das filigrane Drachenschwert ehrfürch tig erhoben auf seinen Vorderklauen darbot. Das war hoffentlich nicht ihr Ernst? Sollte sie dem Biest etwa mit dem Zahnstocher ent gegentreten? Sie warf Seiya einen aufmunternden Blick zu. Die Prinzessin war aschfahl und stand still abseits. Als der Druck der Speere in ihrem Rücken fester wurde, musste Shanija zwangsläufig nachgeben. Langsam ging sie auf das silbern schimmernde Kuppelgebäude zu. Wie kamen die Vogelwesen nur darauf, sie sei eine Göttin? Etwa wegen der Sonnenkraft? Aber wie konnte sich das bereits bis hierher herumgesprochen haben? Und was nutzte sie vor allem, wenn sie diese nicht kontrolliert einsetzen konnte? Nur nicht den Kopf hängen lassen, Lämmchen, hörte sie eine Stimme aus der Erinnerung. Die Stimme von Lance Corporal Chuck Foster. Aber was rede ich da, fuhr die Stimme fort, und Shanija sah das freundliche Grinsen des Corpo rals vor sich. Hab ja ganz vergessen, dass deine Wirbelsäule aus Titan ist, und dein Kinn dran festgeschraubt, Colonel. Shanija straffte stolz die Schultern. Wenn diese Fiogan eine Göttin in ihr sehen wollten, dann sollten sie auch eine bekommen. * As'mala folgte Maltes beharrlich. »Ich komme mit.« Maltes blieb stehen. »Das ist zu gefährlich.« »Trifft sich gut, ich mag Gefahr.« »Ich hab es eilig, ich …« As'mala hielt ihn am Arm fest. »Ich muss wissen, was hier los ist. Und ich kann dir helfen.«
Maltes machte Gefährtinnen?«
sich
von
ihr
los.
»Was
ist
mit
deinen
»Die kommen sicher noch eine Weile ohne mich aus.« »Also gut.« Maltes holte einen großen Baumwollsack und zwei warme Pelzmäntel. As'malas Finger strichen liebkosend über das weiche schwarze Fell. Wofür sie die wohl brauchten? Wie ein Schatten huschte sie Maltes zu den Stallungen nach. Der Hof lag wie ausgestorben da. Nur auf den Wehrgängen der Mauern waren Wachen zu sehen. Ein Mann gestikulierte in Richtung Kaser ne. Unbehaglich sah Maltes sich um. »Es muss eine Beratung der Wache in der Kaserne stattfinden …« Er verstummte verwirrt. »Hast du eigentlich auch den Eindruck gehabt, Hörner zu hören, als wir uns das erste Mal liebten?« »Da hab ich noch ganz andere Dinge gehört.« As'mala grinste. Sie gab ihm hastig einen Kuss. Da kam auch schon ein Wachmann auf sie zugerannt. »Hauptmann Maltes! Habt Ihr uns nicht gehört? Wir suchen Euch schon die ganze Zeit, auf unser Klopfen habt Ihr nicht reagiert! Wir müssen …« »Keine Zeit!«, rief Maltes und hob abwehrend die Hand. »Mein Stellvertreter wird sich kümmern, worum auch immer es geht!« »Aber …« »Ich sagte, keine Zeit, verstanden? Ich muss etwas von höchster Priorität erledigen!« Er zog As'mala mit sich, an dem verstörten Mann vorbei, der keinen Widerspruch mehr wagte. Hoffentlich verzeihen Shanija und Seiya mir, dass ich sie warten lasse, dachte As'mala. Aber sie musste unbedingt erfahren, was Maltes so verstört hatte. Auf dem Papier hatte sie Geschöpfe gesehen, die den Drachen auf der gestohlenen Klinge, und irgendwie auch Pong, äh nelten. Ob dieser »Slintan« etwas damit zu tun hatte? Gab es einen Zusammenhang mit dem Schwert?
Im Stall roch es streng nach Ammoniak, die geräumigen Boxen brauchten frisches Stroh, aber intensiver noch war der allgegenwär tige Geruch nach Fisch. Scharfe Rechtecke aus Licht fielen durch die bunten Fenster. Ein Lichtstrahl traf auf die erstaunlichen Geschöpfe in den Boxen. As'mala hatte schon viel gesehen, aber sie war immer wieder beeindruckt von der Vielfalt, die auf Less herrschte. Sie hielt sich wohlweislich fern von der Reichweite der scharfen Schnäbel der Kryphone. »Und diese Tiere lassen sich tatsächlich reiten?« Maltes stellte die Öllampe auf einem Steinpult ab und holte eine Art langgezogenen, schmalen Sattel aus einer Nebenkammer. Der Sattel besaß vier lederne Riemen, die man sich um die Oberschenkel band. Die Schienbeine wurden auf einer Stütze darunter abgelegt, um die Flugarbeit des Kryphons nicht zu behindern. Mit verschiede nen Gurten konnte der Sattel vorn am Hals, aber auch an seinem Brustkorb oder hinter den Flügeln befestigt werden. »Sie wurden von den Fiogan eigens dafür gezüchtet«, erklärte Maltes. »Die Fiogan müssen einst ein mächtiges Sternenvolk gewe sen sein. Sie konnten Tiere erschaffen und hatten beeindruckende Maschinen bei sich, die allerdings auf Less nicht mehr funktionier ten. Erst im Lauf der Jahrtausende degenerierten sie zu dem scha manischen Naturvolk, das von den Menschen übervorteilt werden konnte.« »Woher weißt du das alles?« Maltes' Augen verdüsterten sich, er zog den Bauchgurt so fest zu, dass das Tier einen empörten Laut von sich gab. »Meine Schwester Jasmina ist Fiogankundlerin. Sie hat sich seit ih rer Kindheit mit dem Wissen und den Legenden dieser Geschöpfe beschäftigt und sogar ihre Sprache erlernt. Schon von klein auf teilte sie deren Gabe, die Psimagie anderer Lebewesen zu erkennen. Eine Zeitlang wollte Jasmina sich sogar bei der Gilde der Wissensträger bewerben, aber sie hing zu sehr an dieser Stadt, um es ernsthaft zu versuchen.«
Maltes tätschelte den Kryphon am Hals und ging zu einem hölzer nen Eimer außerhalb der Box. Er zog einen Fisch aus dem Wasser und warf ihn dem Hybridwesen zu, das gierig danach schnappte. »Im Grunde sind die Kryphonen wie unsere Pferde. Lass sie nie herausfinden, dass du schwächer bist als sie, dann bekommst du keine Probleme.« Maltes löste die Eisenkette, die um den Hals des Flugtieres lag und es an der Flucht hinderte. »Brauchst du keine Zügel?« As'mala sah neugierig zu, wie er den Kryphon mit Handzeichen in ihre Richtung dirigierte. Maltes wies auf die Haltegriffe am Sattel. »Nein. Die Kryphonen haben eigens geschaffene Schmerzpunkte im unteren Halsbereich. Sie wirken nur minimal, aber sie genügen, um die Tiere gefügig zu machen.« Er führte das Tier in den verlassenen Hof. Dann drückte er leicht auf eine Stelle am Hals des Doppelwesens, und der Kry phon legte seine löwenartigen Hinterpfoten ab. Danach knickten die vorderen Adlerbeine nach hinten ein. Es sah sehr sonderbar aus. As'mala schwang sich freudig in den Sattel und ließ zu, dass Maltes die breiten Lederriemen um ihre Oberschenkel zog. Danach setzte er sich vor sie. »Um einen Kryphonen zu reiten, braucht man viel Kraft in den Oberschenkeln. Aber die hast du ja bereits unter Beweis gestellt.« As'mala umschlang seine Hüfte. »Ja, das hat dir wohl gefallen.« Maltes antwortete nicht, stattdessen stieß er einen leisen Pfiff aus, und der Kryphon entfaltete seine Flügel. Gemeinsam erhoben sie sich in Richtung der aufgehenden Sonnen. As'mala vergaß alles, was sie über die Fiogan und Slintan fragen wollte, als sie aufstiegen. Der Flugwind zerzauste ihr offenes Haar. Sie schmiegte sich an Maltes' muskulösen Rücken, obwohl sie keine Probleme mit dem Gleichgewicht hatte. Der Palast wurde rasch klei ner unter ihnen. Es schien, als wollten sie sich direkt zu den milchi gen Sternennebeln erheben, die gerade im morgendlich violettblau en Himmel verblassten.
* Die Fiogan trennten Seiya und Shanija von Capus. Die beiden Frau en wurden in das silberne Kuppelgebäude gebracht, während man den Dieb in die Schlucht hinunter flog. Shanija fragte sich, ob er dort wohl geopfert wurde, um Slintan in Stimmung zu bringen. Seiya brach plötzlich das Schweigen. »Shanija … es tut mir leid, dass wir uns gestritten haben. Ich … glaube, es ist an der Zeit, dir et was zu gestehen. Weißt du, warum ich dich und As'mala so gast freundlich aufnahm?« »Ich habe mich darüber gewundert, aber ich dachte mir, du hast deine Gründe. Kein Mensch handelt ohne Grund.« Seiya beachtete die Fiogan nicht, die von hinten drängelten. Sie ging gemäßigten Schrittes, wie es einer Prinzessin anstand. »Meine Eltern wollten mit dir und As'mala das Erbgut des Monolithen auf frischen. Deswegen wurdet ihr als gutes Omen gesehen, so kurz vor meiner Inthronisation. Capus hatte ganz Recht mit seiner Bemer kung über unsere Inzucht. Auch Tainons Wahnsinn mag darauf be gründet sein. Eingepfercht in einen einsamen Felsblock ist irgend wann jeder mit jedem verwandt, und man nimmt gern eine Gele genheit wahr, die Gene zu erneuern. Ich … ich habe meinen Eltern einfach gehorcht, die euch nur benutzen wollten. Ohne weiter dar über nachzudenken, dass man euch damit Freiheit und Würde ge nommen hätte. Immer ging es nur um die Pflicht, und ich schäme mich, weil ich so engstirnig war. Vielleicht hast du Recht. Ich bin nur ein Klotz am Bein.« Shanija unterbrach sie. »Unsinn, Seiya. Ich zürne dir deswegen nicht, denn aus eurer Sicht war es ein Hoffnungsschimmer, den ihr wahrnehmen musstet. Und du bist keine Belastung für mich.« »Nett, wie du lügen kannst.« Seiya lächelte schwach. Shanija wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment stießen ihre Bewacher sie durch eine schwere Stahltür, die sie sofort wieder hinter ihnen schlossen. Mit einem lauten Schlag knallte das Metall
auf den Rahmen. Shanija stellte stirnrunzelnd fest, dass es auf der Innenseite der Tür keinen Hebel oder Griff zum Öffnen gab. Der gut zehn Meter lange Raum funkelte und leuchtete wie eine bunt verglaste Kirche. In gusseisernen Haltern an den Wänden brannten unzählige Kerzen. Es roch nach heißem Wachs. Überall la gen eiförmige Kristalle auf dem Steinboden, groß wie Melonen, die das Kerzenlicht in allen Farben reflektierten. Seiya ging auf eines der Kristallgebilde zu und strich andächtig mit den Fingern darüber. »Wie wunderschön. Ob das die abgebau ten Kristalle der Fiogan sind?« »So viele Kristalle in gleicher und vor allem dieser Größe?« Shanija hob skeptisch die Augenbrauen. »Kein Wunder, dass sie ihre ganze Stadt damit zupflastern.« Durch eine Tür am anderen Ende des Raums traten Frauen ein. Zögernd gingen sie durch die fensterlose Halle auf sie zu. Sie spra chen kein Wort. Das Kerzenlicht malte zuckende Schatten auf ihre verhärmten Gesichter. Shanija und Seiya musterten sie verblüfft. Es waren sechzehn Frauen, gut genährt, wie es schien, aber sie sahen trotzdem nicht ge sund aus. Shanija bemerkte die eingerissenen, teils abgekauten Fin gernägel, das dünne, glanzlose Haar im typischen Rotblond Khata stas, und vor allem die Furchen in Gesichtern und Stirn, den gehetz ten Blick der freudlosen Augen. »Wer seid ihr?«, fragte die Erdgeborene ruhig und ging einen Schritt nach vorn. Eine Frau fiel ihr besonders auf. Sie schien die Anführerin der Gruppe zu sein, denn sie stand an der Spitze, ihr Blick war hasser füllt auf Shanija gerichtet, doch zugleich liefen ihr Tränen über die eingefallenen Wangen. Die Fremde war nicht viel älter als Seiya. Während alle anderen Frauen den Blick beschämt zu Boden senkten, sah diese Frau Shanija offen an. Sie trug ein zerschlissenes goldgel bes Kleid aus Seide, das einmal sehr teuer gewesen sein musste. Ihre bronzefarbenen Haare hingen strähnig herunter, und doch umgab
sie eine aristokratische Ausstrahlung, allein durch die Art und Wei se, wie sie sich bewegte und ihren Körper anspannte. Das helle Blau der Augen kam Shanija bekannt vor, aber sie erinnerte sich nicht, wo sie es bereits gesehen hatte. Die Frau war eine Handbreit kleiner als Seiya, ihre Nase lang und gerade, die Lippen mussten einmal voller gewesen sein, nun waren sie kaum mehr als zwei dünne, blut leere Striche. Sie trat ganz dicht an die Kommandantin heran. Ihre Hand zuckte vor. Instinktiv hob Shanija den Arm, um den Schlag aufzuhalten. Wachsam suchte sie im Gesicht der weinenden Frau nach einer Erklärung. Jeden anderen, der sie so angriff, hätte Shanija auf der Stelle von den Füßen gehebelt. Aber diese Frau war hilflos! Ihre Brust hob und senkte sich hektisch, und sie wirkte keineswegs wie eine Kämpferin. Shanija fühlte sich entwaffnet von den Tränen, die unablässig über die blassen Wangen liefen. »Was soll das?«, fragte sie milde strafend, wie eine Mutter, die ein ungezogenes Kind zur Rechenschaft zieht. »Wieso willst du mich schlagen?« Die wasserblauen Augen funkelten zornig. »Warum, bei allen Baumgöttern?«, flüsterte die Fremde atemlos. »Warum kommst du erst jetzt?«
6. Das fliegende Land mit der Stadt Khatasta war außer Sicht. Wenn As'mala hinunterblickte, konnte sie tief unter sich die weißen Wol ken sehen, aus denen rauchige Wirbel aufstoben. Maltes landete den Kryphon auf einer kleinen fliegenden Insel, nicht größer als ein win ziges Stückchen Land in einem See. Er sprang ab und half ihr galant herunter, was sie amüsiert in Anspruch nahm. Der Präfektensohn löste den Baumwollsack vom Sattel und stülpte ihn um. Zwei schwarze Federknäuel kamen zum Vorschein. Maltes drückte As'mala eines davon in die Hände. »Was ist das?« Sie schüttelte die Federn und den daran befestigten Stoff aus. »Fiogankostüme.« Maltes wies auf den langen Umhang, der fast bis zu den Füßen reichte. »Die Fiogan tragen manchmal solche Um hänge, um sich vor Regen zu schützen oder um sich zu schmücken. Jasmina hat sie selbst gebastelt. Wir haben uns nämlich früher heim lich in die Stadt der Fiogan geschlichen und uns mit Krajenk getrof fen, der Hohepriesterin der Fiogan. Doch bis hierher haben wir uns nie gewagt. Der Ort, den wir jetzt anfliegen werden, ist heilig. Fai rerweise muss ich dir sagen, dass ich dein Leben vermutlich nicht schützen kann, wenn wir entdeckt werden.« As'mala lächelte. »Klingt, als wär's genau mein Ding.« Maltes sah sie zärtlich an. »Du kannst hier auf mich warten, wenn du möchtest.« »Und den ganzen Spaß verpassen?« As'mala hob den hohlen Vo gelkopf in die Höhe. Der falsche Schnabel richtete sich auf Maltes. »Vergiss es, Süßer.« »Willst du mich heiraten?«
As'mala wurde rot. »Das … also ich …« Maltes grinste. »Reingelegt. So weltfremd bin ich auch nicht. Aber für den Fall, dass uns da oben was passiert …« Er wies auf eine rot schimmernde Wolke über ihnen, hinter der eine weitere schweben de Insel liegen musste, der beschriebene heilige Ort. »Danke.« As'mala nickte nur verlegen und schlüpfte wie Maltes ins Vogel kostüm. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Maltes ihr einen ernst haften Antrag gemacht hätte, wenn ihr Zögern nicht so offensicht lich gewesen wäre. Aber heiraten? Das war nun wirklich nicht ihr Ding. Sie setzte sich wieder hinter Maltes auf den geduldig warten den Kryphon. Das Tier hob erneut ab. In der Ferne sahen sie einige Fiogan, doch es kümmerte sich keiner um sie. Es wurde unangenehm feucht, als sie in die Wolke eintauch ten. Sobald der Nebel lichter wurde, schwebten sie auf den Rand ei nes trichterförmigen Kraters zu. Maltes trieb den Kryphon zur Eile an. Sie landeten auf einem von Rissen durchzogenen Gestein an ei nem sonderbar rechteckigen Felsen. Die Ritzen zwischen den Stei nen bildeten bläuliche Sechsecke. Pflanzen oder Gras wuchs dort nicht. An manchen Stellen schossen die Steine wie Säulen nach oben. Auch der Felsen neben ihnen wurde aus solchen Säulen gebil det. Basalt, dachte As'mala, und musste an eine ähnliche Steinland schaft denken, durch die sie vor langer Zeit einmal gekommen war. Es hatte Geschichten zu diesen Steinen gegeben. Es hieß, sie seien von Tiefendämonen, den Plutoiden, aus der Erde gespuckt worden. In diesem Fall hätten die Dämonen sehr hoch gespuckt. As'mala grinste. Einen kurzen Moment gestattete sie es sich, an ihre Heimatstadt zu denken: An Zata die Bunte. Eine Stadt, die so ganz anders war als der Luxus Khatastas. An Gestank und Verrat, aber auch an das ewi ge Schlagen der Meereswellen und das Singen des Windes um die Klippen der Liebe. Nein, ich will nicht heiraten und sesshaft werden. Zu mindest muss ich vorher nach Zata zurückkehren und meinen Geschwis tern berichten, was ich erlebte. Ich will den Muscheldom der Göttin Ana
ma wiedersehen und gemeinsam mit meiner Mutter den Tag der Austrei bung der Wellendämonen Hosindas und Zyrkan feiern, die Anama be kämpften. Sie dachte an das leidenschaftliche Ritual unterhalb der Klippen. Sie war nicht sonderlich gläubig und weder die Göttin Anama noch ihr Gegenspieler, der halbverweste Wellengott Hosindas, hatten sich je leibhaftig in Zata blicken lassen. Das Ritual allerdings hatte As' mala immer genossen. Es war eine Ode an das Leben, wie sie nur Menschen feiern konnten, die ständig dem Schmerz von Armut und Tod nahe waren. Maltes drückte sich dicht an den Felsen, der ebenfalls die charakte ristische sechseckige Säulenstruktur aufwies. Fiogan waren nicht zu sehen. »Es muss hier auf dieser Seite eine Höhle geben«, erklärte Maltes. »Die Hohepriesterin erzählte einmal davon, aber sie wollte Jasmina nicht sagen, was sich darin befindet.« Sie schlichen vorwärts und kamen dem trichterförmigen Schlund näher. As'mala packte Maltes am Arm. »Bei Zyrkans Eiern! Was ist das?« Auf dem Boden des Kraters lag eine schauerliche Kreatur, umge ben von hohen Mauern. Ein Bestiarium mit nur einer Attraktion. Aber die hatte es in sich. Maltes wurde bleich. Seine Hand wanderte unter dem Umhang zum Knauf des zierlichen Schwertes. »Slintan«, antwortete er schwach. »Es gibt ihn also wirklich.« In dem Moment sahen sie eine Gruppe von drei Fiogan über den Rand der Plattform fliegen. As'mala zog Maltes hastig in eine Lücke zwischen zwei Basaltsäulen. »Was ist Slintan für ein … Ding?« As'mala dachte schaudernd an den muskulösen, klobigen Körper, der alabastern auf den Steinen geleuchtet hatte. »Es gibt eine Überlieferung, geheime Aufzeichnungen im Archiv
meines Vaters, die ich einmal in die Hand bekam«, flüsterte Maltes an ihrem Ohr. »Dort heißt es, Slintan sei entstanden, als das Sternen schiff der Fiogan abstürzte. Sie besaßen eine halborganische Maschi ne für die Essensausgabe. Und diese Maschine wurde während des Absturzes durch die psimagischen Strömungen oder was auch im mer zu Slintan, dem weißen Drachen umgewandelt. Statt Essen zu spenden, wurde er ungeheuer fressgierig. Die Aufzeichnungen nen nen ihn auch den ewigen Drachen, denn er ist wie eine Maschine immer noch relativ unsterblich. Zumindest gibt es ihn seit vielen tausend Jahren, wie ich jetzt weiß. Jedenfalls begann Slintan sich da mals zuerst von Fiogan zu ernähren, sie mit immer mehr Genuss zu reißen. Fast hatte er das Volk ausgelöscht, als die Menschen hierher kamen, Slintan in Ketten legten und die Fiogan dadurch retteten. Als Kind hat mich die Geschichte fasziniert, aber später habe ich nicht mehr daran geglaubt. Obwohl Jasmina mir eine ähnliche Ge schichte der Fiogan erzählte, die aber erst mit der Rettung vor der Ausrottung einsetzt.« »Ein nobler Zug von den Menschen. Aber warum haben sie das Ding nur eingesperrt? Man hätte ihm den Kopf abtrennen sollen! Kreaturen dieses Formats sortiert man besser nach Knochengröße.« Die Fiogan flogen auf Abstand an ihnen vorüber, ohne sie zu be achten. »Nun, es heißt, Slintan sei für die Fiogan ein Gott und durfte nicht vernichtet werden.« »Sie haben also mithilfe der Menschen ihren eigenen Gott in Ket ten gelegt?« »Jasmina erzählte mir, sie hätten sich der Notwendigkeit gebeugt. Slintan hätte sie sonst alle gefressen. In ihrer heiligen Ehrfurcht konnten sie ihn nicht töten, ihn aber auch nicht weiter morden las sen. Ihn in Ketten zu legen erschien ihnen als akzeptabler Kompro miss.« »Was macht sie so abhängig von diesem Biest?« As'mala schüttelte verwundert den Kopf.
Maltes seufzte. »Die Fiogan glauben, dass Slintan das gesamte flie gende Land in der Luft hält. Das kann ich mir zwar nicht vorstellen … aber ich hätte auch nie gedacht, dass es den Gott der Fiogan tat sächlich gibt.« »Er sieht mir nicht gerade göttlich aus. Eher wie ein Tier.« Die Fiogan bogen scharf nach rechts ab und verschwanden hinter einer Formation aus Basaltsäulen. Maltes trat vorsichtig vor. »Der Papyrus, den du gefunden hast, ist ein Vertrag.« Er drehte sich zu ihr. »Verstehst du jetzt?« »Noch nicht ganz. Ein Vertrag also.« Dann dämmerte es ihr lang sam. »Hat er mit den Frauen zu tun?« Maltes' Stimme klang dumpf unter der Vogelmaske. »Ich glaube, Slintan frisst keine Fiogan mehr, seit er sich auf Menschenfrauen spezialisiert hat. Es könnte am Geruch liegen. Irgendwie sind die Menschen damals darauf gestoßen und haben die Fiogan damit ge rettet, indem sie ihm eine neue Futterquelle erschlossen. Und diese Opfer lassen sie sich gut bezahlen. Der Vertrag sagt aus, wie viele Frauen für wie viele Fioganeier geliefert werden. Die Fioganeier wiederum sind die Kristalle, auf denen unser Reichtum gründet.« As'mala verschlug es die Sprache. Menschenopfer waren ihr nicht fremd. Es gab Völker auf Less, von denen man erzählte, sie seien so weit degeneriert, dass sie irgendwelchen vermeintlichen Göttern Blutopfer darbrachten. Aber dass die Menschen selbst sich auf diesen Handel eingelassen hatten, war ungeheuerlich und widerwärtiger als alles, was sie je erlebt hatte. Grimmig fuhr Maltes fort: »Deswegen wollte ich unverzüglich hierher. Wir müssen wenigstens eine Frau finden und sie befreien. Das dürfte als Beweis ausreichen, um die Stadtwache hinter mich zu bringen und augenblicklich die Präfekten zu inhaftieren, allen voran meinen Vater. Seit Generationen hüten sie das Geheimnis, nur ich ahnte nichts davon, naiv, wie ich war.« Er ergriff As'malas Hand un ter dem Umhang und zog sie mit sich, den Fiogan nach. Zwischen den Basaltsäulen entdeckten sie eine Höhle. Der Ein
gang war nicht bewacht. Wozu auch? Wohin sollte ein Mensch, der hier gefangen gehalten wurde, fliehen? As'mala folgte Maltes in den Gang, der in eine große Halle führte. Mehrere Fiogan hielten sich im Halbdunkel am anderen Ende auf. As'mala entdeckte in einer entge gengesetzten Ecke zwei Männer auf dem Steinboden kauern, so er schöpft, als hätten sie einen schweren Kampf hinter sich. Als die beiden als Fiogan verkleideten Menschen auf sie zukamen, schaute der alte Mann missmutig und ängstlich zugleich hoch. »Ich tränke das Viech ja gleich«, erklärte er, die Hände beschwichtigend erhoben. Der Mann neben ihm sah sie eher interessiert an. Sein Ge sicht war ziemlich vertraut. As'mala zog scharf die Luft ein. »Capus? Was tust du hier?« »Picknick unter Freunden.« Der Weißhaarige hob seine Arme, die in eisernen Ketten lagen. »Und was hat dich dazu getrieben, in ein Vogelkostüm zu hüpfen, Teuerste?« »Es betont meine Figur.« »Leiser«, zischte Maltes. Er sah besorgt zu den Fiogan hinüber, aber sie schienen sie nicht zu beachten. Aufgeregt krächzten sie mit einander und scharten sich um ein rötlich schimmerndes Einhand schwert auf einer Steinplatte. As'mala wies auf den Alten, der Capus durchaus ähnelte. »Du hast deinen Vater also gefunden, und das ganz ohne unsere Hilfe.« Maltes sah sie irritiert an. »Du kennst den Betrüger? Ich weiß nicht, ob es sich lohnt, für den eine Armee aufzustellen.« Er klang nicht gerade erfreut. Anscheinend hatte Capus in Khatasta ziemlich wenige Freunde. »Wenn ihr mir mal zuhören würdet.« Capus wedelte nachlässig mit der Hand. »Ich denke nicht, dass ihr überhaupt die Zeit habt, eine Armee aufzustellen. Die kleine Prinzessin und deine Freundin sind nämlich mit mir zusammen hierher gereist. Wie es aussieht, wollen sie die hübsche Mandeläugige gegen Slintan kämpfen lassen, schon in wenigen Stunden. Also solltest du, Maltes, der es nie ge schafft hat mir etwas nachzuweisen, deinen adligen Arsch schwin
gen und sie da raus holen, bevor sie Hackfleisch ist. Eine Frau wie die gibt's nicht zweimal.« As'mala sah ihn kalt an. »Wenn Shanija hier ist, dann bist du dafür verantwortlich! Und was soll dieser Unsinn von einem Kampf?« Capus erzählte, was ihm und den Frauen widerfahren war, und was er von seinem Vater über die Legende der Fiogan erfahren hat te. »Sie halten Shanija für eine Art Sonnengöttin, die als Einzige das Anrecht hat, Slintans ewige Fresssucht zu beenden. Die Hohepries terin war hier und hat mit uns gesprochen. Sie sieht in Shanija eine göttliche Vollstreckerin. Anscheinend beschützt sie gerade das Schwert, mit dem Slintan getötet werden soll, damit ihr Bruder, der Shanija tot sehen will, sich nicht daran vergreift.« Er deutete zu dem Schwert auf dem Altarstein. Und wer beschützt Shanija? As'mala sprach es nicht aus, aber eine übermächtige Angst griff plötzlich nach ihr und drückte ihren Brust korb schmerzhaft zusammen. Wo waren Seiya und Shanija? Was mussten sie wohl gerade erdulden? Sie fuhr zu Maltes herum. »Wir müssen Shanija befreien!« Capus' Vater sprach mit dünner Stimme, die nicht zu dem noch immer kräftigen Körper passte. »Sie werden sie besser bewachen als ihre Brut. Sie zu befreien ist aussichtslos. Shanija muss kämpfen, und sie muss das Schwert führen. So wollen es die Götter.« »Die Götter, ja?« As'mala sprach abfällig. »Ich vertraue lieber auf meine eigene Kraft. Du hast da vorhin etwas gesagt, was mich sehr interessiert. Hast du Zugang zu Slintan?« »Ich bin sein Wärter«, erklärte der Alte mit bitterer Stimme. »Drei Wochen, nachdem Aridas mich und seine Tochter Jasmina hierher bringen ließ, wurde der Posten frei. Die Fiogan wissen, warum sie Slintan nicht selbst tränken. Man begegnet seinem Tod – jedes Mal. Deswegen soll ich meinen Sohn schon jetzt einarbeiten.« »Jasmina ist hier?« Maltes hätte sie beinahe durch einen lauten Ruf verraten, aber er riss sich gerade noch zusammen. »Sie lebt? Wo ist sie?«
»Unerreichbar, genauso wie Shanija«, sagte der Alte traurig. As'mala winkte ungeduldig ab. »Später, Maltes, alles der Reihe nach. Sag mir lieber mal, Alter: Wann genau findet der Kampf statt, und was wiegt dieses Vieh?« »Was hast du vor?« Maltes drückte sich in den Schatten der Wand. »Wir können nicht mehr bleiben, es wird zu auffällig.« As'mala legte die Hand auf einen Beutel an ihrem Hüftgürtel. »Dann müssen wir uns eben beeilen.« * Mehrere Stunden waren vergangen. Shanija lag regungslos auf der Liege. Sie starrte auf die Seite gerollt an die kahle Stahlwand und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Jasmina stand neben ihrem Schlafplatz. Shanija war es unange nehm, dass die blauäugige Frau nicht von ihrer Seite wich. Ich bin doch keine heilige Kuh, dachte sie ärgerlich. Aber anscheinend schien Maltes' Schwester genau das in ihr zu sehen. Eine Göttin. Sie hörte Seiya auf der anderen Liege leise schluchzen. Kein Wun der, nach all dem, was sie erfahren hatten. Seiyas Glauben an die Menschheit musste einmal mehr erschüttert worden sein. Shanija rang mit sich, ob sie die Prinzessin trösten sollte. Ihr Inneres war leer, ein ausgedörrter Brunnen, der nichts mehr geben konnte. Sie hatte das Gefühl, nie wieder aufstehen zu können. Zu grausam war Khatastas Geheimnis, zu furchtbar die Hölle, die sich hinter dem Pa radies verbarg. Ihre eigenen Kinder. Shanija schloss die Augen und sah die leuch tenden Kristalle vor sich, die überall herumgelegen hatten, als sie ihr Gefängnis betraten. Und die kostbaren Sammlerstücke in Aridas' Büro … »Es sind Särge«, hatte Jasmina ihnen eröffnet, nachdem sie ihre Tränen getrocknet und sich ihnen vorgestellt hatte. »Befruchtete Fio
ganeier, zu früh von der Nabelschnur der Mutter getrennt.« Sie wies dabei auf eine kleine Einbuchtung, die ins Innere eines der melonen großen Eier führte. »Wenn diese Zufuhr vorzeitig unterbrochen wird, sterben die Nachkommen ab, und ein Gas bildet sich, das den Kristallisierungseffekt der Eier auslöst. Es entstehen diese kostbaren, gezüchteten Kristalle. Man muss die Eier nur lange genug liegen las sen.« Shanija schüttelte sich, sie spürte immer noch den Schock in sich, der noch lange nicht abklingen würde. Und das also war der soge nannte Reichtum Khatastas: Kindersärge, Totenmauern, mit denen die unwissenden Männer Khatastas ihre Stadt schmückten. »Von der Entstehung der Kristalle wissen nur die Präfekten und die Fiogan. Krajenk, die Hohepriesterin, vertraute mir die Wahrheit an. Sie war es auch, die die Zeit für gekommen hielt, dass ich unter meiner Mitwirkung das Schwert schmieden lasse, mit dem du Slin tan töten kannst. Wie Krajenk es verlangte, ging ich zu dem Schmied Thuanor Dalena, und gemeinsam schufen wir Tyr. Aber mein Vater fand es durch seine Spitzel heraus und ließ uns hierher schaffen. Krajenk kann mich nun nicht mehr schützen. Ihr Bruder verurteilte mich, das Schicksal der anderen Frauen zu teilen, und die Mehrheit der Fiogan steht hinter ihm.« Jasminas Stimme hatte nicht bedauernd gelungen. Sie erzählte Tat sachen, die sie hart gemacht hatten, kalt wie die kristallinen Särge um sie herum. Der Präfektentochter waren erst neue Tränen gekom men, als Shanija fragte: »Aber warum? Warum opfern die Fiogan ihre eigenen Kinder für den Reichtum der Menschen? Was bekom men sie dafür?« Als Jasmina nicht antworten konnte, sprang eine der anderen Frauen für sie ein. »Uns. Als Futter für Slintan.« Soviel zu der Lüge von der Strahlenkrankheit. Es gab keine gefähr liche Strahlung in Khatasta, kein unsichtbares Monster. Es gab auch kein Sterbeexil Jeraboum. Die Präfekten schafften mit dieser Lüge auserwählte Frauen fort, um sie an den verfluchten Ort zu bringen,
ohne dass es Nachfragen gab. Shanija fühlte sich elend. Bisher hatte sie auf Less keinen Unter schied zur Erde gefunden, was Habgier, Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit der Menschen betraf. Bestand denn nie Aussicht auf eine Weiterentwicklung? Nach der Havarie der Sunquest auf dem Mond des Drei-Sonnen-Systems wären alle Voraussetzungen gege ben gewesen, neu anzufangen. Stattdessen schien sich auch nach tausend Jahren nichts geändert zu haben. Aus niederträchtiger Hab gier opferten die Präfekten ihre Frauen. Sie gingen über tausende Leichen, nur um an wertvolle Kristalle zu kommen. Ähnliche Zu stände hatte Shanija auf der Erde versucht zu bekämpfen, stets von der Hoffnung angetrieben, dass eines Tages eine bessere Zukunft auf die Menschheit wartete. Vielleicht waren die Quinternen tat sächlich so etwas wie eine Nemesis? Als die Prinzessin sich zögernd zu ihr auf die Liege setzte, war es Shanija recht. Sie ließ es zu, dass Seiya sich schutzsuchend an sie drückte, drehte sich jedoch nicht um. »Keine Angst, Seiya. Ich schaffe das«, sagte sie aufmunternd. »Slintan ist nur ein Tier. Ich töte es, und dann ist Schluss mit diesem Wahnsinn.« Shanija spürte den Blick der tiefbraunen Augen auf sich gerichtet. »Warst du schon immer so stark?« Shanija schloss die Augen. »Ja.« Nein. Unruhe entstand in dem großen Schlafraum. Frauen sprangen ze ternd auf, als Fiogan hereinkamen. Jasmina stellte sich schützend vor Shanija. »Es ist noch zu früh! Lasst sie sich wenigstens ausruhen!« Die Präfektentochter wurde einfach beiseitegeschoben, Seiya von der Liege gescheucht. Shanija drehte sich um, schwang die Beine von der Liege und stand auf. »Es kann losgehen.« Der Fiogan, mit dem Shanija bisher immer gesprochen hatte, trat
vor. »Erst in vierr Stunden ist es soweit, Sonnenstrrahl. Aberr bis da hin will sich mein Brruderr noch mit diirr unterhalten. Err ist ein Hoheprriester, wie ich Hoheprriesterrin bin.« Shanija sah das Vogelwesen überrascht an. Eine Frau! Dann waren sie in diesem Volk größer und schwerer als die männlichen Vertre ter. Das gab es bei manchen Vögeln auch auf der Erde. »Sagt Eurrem Bruderr«, ahmte Shanija spöttisch nach, »die Göttin wünscht Ruhe. Sie kommt nur zum Kampf.« Die sechs anderen Fiogan hoben auf einen Wink der Hoheprieste rin die Speere. »Sonnenstrrahl, ich bin mit meinem Brruderr verrfeindet und nicht frroh, dich zu ihm schicken zu müssen. Aberr es ist Rrecht und Ge setz. Derr Hohepriester hat das Rrecht, dich zu sprrechen vorr dem Kampf. Wisse: Err ist auf Slintans Seite und wünscht sein Überrle ben. Ich aberr will, dass Slintan stirrbt und wirr unserre Brut nicht mehrr herrgeben müssen.« Shanija zuckte gleichgültig die Achseln. »Dann bringt mich zu ihm, wenn es unbedingt sein muss.« Die Hohepriesterin senkte den Schnabel und Shanija wurde von den übrigen Fiogan umringt. Seiya ballte die Fäuste. »Wo wollt ihr mit ihr hin? Shanija, das ist doch eine Falle! Wenn der Bruder Slintan schützen will, wird er dir sicher schaden!« Shanija wies mit einem leichten Kopfnicken auf die martialischen Speere mit den schimmernden Spitzen. »Wir haben keine Wahl, Sei ya. Mir wird nichts geschehen. Ich bin bald zurück.« Seiya wollte sich auf einen der Fiogan stürzen, aber Jasmina hielt sie am Ärmel fest. »Hab Vertrauen in Shanija. Sie ist die Auserwählte, das spüre ich mit all meiner Kraft, und die Fiogan spüren es auch.« Die Präfekten tochter sah Shanija fest an. »Merk dir: Das Schwert trägt den Namen Tyr. Nach den Göttern des Baumes. Vergiss niemals diesen Namen,
denn all meine Psimagie wurde während des Schmiedens in dieses Schwert gebannt. Damit wirst du siegen, Shanija.« Die Kommandantin hörte Seiya hinter sich herrufen. »Das ist Wahnsinn! Die sind hier alle wahnsinnig, egal ob Mensch oder Vo gel!« Die Fiogan führten Shanija in einen kahlen Raum, der näher am Ausgang liegen musste. Aber Shanija hätte nicht daran gedacht, ohne Seiya zu fliehen. Und es wurde ihr sowieso keine Gelegenheit gewährt. Sie wurde sorgfältig in Ketten gelegt, ehe man sie auf einen unbequemen Holzstuhl setzte. Einen sonderbaren Umgang pflegen diese Vögel mit ihrer Göttin. Shani ja beschloss, sich über nichts mehr zu wundern. Die sieben Fiogan verließen den Raum und nickten dem kleineren Vogelartigen zu, der nun eintrat. Shanija betrachtete ihn aufmerk sam. Er hatte einen hellgrauen Bauch, ansonsten unterschied er sich nur in der Größe von den anderen. Die Einzelwesen dieses Volkes waren für Menschen schwer auseinanderzuhalten. »Undd dass soll diie Göttiin sein«, krächzte der Fiogan in einem weitaus schlimmeren Dialekt als die Hohepriesterin. »Ik woollte mitt eigenen Augen sehen, wie falsch unserre Legenden siind.« Sei ne Flügelspitzen hoben und senkten sich zitternd, während er sprach. »Slintaniist ein Gott. Er existierrt, seit wir hierr ankamen. Du biist nichts.« »Wenn du mit deinen Einschüchterungsversuchen fertig bist, sag mir Bescheid.« Shanija sah unbeeindruckt in das Vogelgesicht mit den unheimlichen Onyxaugen. »Ich habe noch zu tun.« Der Fiogan hopste auf seiner Standkralle näher. Sein vorderes Klauenpaar hielt er erhoben und Shanija erkannte den länglichen dünnen Gegenstand darin. Drohte ihr Folter? Sie biss die Zähne zu sammen. Wäre nicht das erste Mal, und vermutlich auch nicht das letzte. Aber trotz intensiven Trainings war man nie ausreichend dar auf vorbereitet. Der Fiogan hatte ein ebenso emotionsloses Gesicht wie seine Art
genossen. Wenn diese Wesen jemals Gefühle zeigten, konnte man sie nicht aus der Miene erschließen. Lediglich durch die Körperhal tung schien es möglich. »Menschen«, krächzte der Fiogan und näherte sich der in Ketten gelegten Frau. »Ihrr seid wie Parrassiten, ein Wunderr eigentlich, dass euch noch kein anderres Sterrnenvolk auslöschte. Die Götterr werrden euchrrichten.« »Ich dachte, die Göttin sei schon hier.« Shanija versuchte zu erken nen, was er in der Hand hielt. Es hatte Ähnlichkeiten mit einer pri mitiven Spritze, mit einer Spitze aus Metall und einem Körper aus Glas. »Du biist keine Göttin«, schnarrte der Vogel. »Die Viisionen der Fiogan sind nur leerre Hoffnungen. Du magst eine besonderre Krraft haben, aberr das ist auch alles. Sie wirrd dirr nicht helfen.« Die rechte Klaue des Fiogan stieß vor. Shanija spürte den unange nehmen Stich in ihrem gefesselten Arm. Flüssigkeit drang in ihren Blutkreislauf. Der Fiogan wippte leicht im Beingelenk, was sie als Schadenfreude interpretierte. »Wenn du Slintan gegenüberr stehst, wirrst du nicht mehrr so vorrlaut sein können.« Shanija kämpfte gegen eine aufsteigende Panik. Was hatte dieser Bastard ihr injiziert? Sie unterdrückte den Impuls, an den Ketten zu zerren. Warum half ihr nicht endlich die Sonnenenergie? Das wäre ein ungemein guter Moment! Sie sah den Fiogan vor sich herausfor dernd an. »Wenn du mich nicht hier und jetzt umbringst, werde ich Slintan töten. Und dich.« Das laute Gekrächze war wohl ein Lachen. Der Fiogan verließ den Raum. Shanija versuchte, Kraft zu sammeln. Pong, jetzt wäre eine wirklich gute Gelegenheit für deinen Starauftritt.
7. Unter triumphierendem Geheul öffnete sich die Schublade, und Pong schwang sich auf ihren Rand. Das braune Säckchen mit den Kristallen hielt er fest an sich gedrückt. »Und jetzt«, verkündete er entschlossen, »beginnt der Krieg!« Der Diebesvogel schien jedes Wort zu verstehen, denn er entfaltete seine schwarzen Schwingen und flog kreischend auf Pong zu. Aber diesmal war der kleine Drache vorbereitet. Ein dünner Strahl aus Feuer schlug Elena entgegen und versengte ihr ohnehin zerrupftes Gefieder. Sie stieß einen wütenden Ruf aus und flog mit gespreizten scharfen Krallen dicht über ihn hinweg. Pong versuchte schnell, sich zu orientieren. Er befand sich in ei nem halbdunklen Raum. Bretter waren vor die Fenster genagelt, und nur schmale Ritze ließen das Sonnenlicht einsickern. Der Raum selbst war leer bis auf den Schrank, in dem Pong gefangen gewesen war. Auf dem Boden lag dicker Staub und man sah deutlich die Fußspuren, die Capus hinterlassen hatte. Gegenüber befand sich eine schwere Holztür, auf die der kleine Drache nun mit flatternden Flügeln zustrebte. Elena wendete und griff erneut an. Eine wilde Jagd in der Luft be gann. Die Kristalle behinderten Pong, aber er war schneller und wendiger als der große Vogel. Trotzdem entkam er zweimal nur knapp dem scharfen Schnabel. Einmal riss er Elena im Flug eine weitere Feder aus. Sie machte ihrer Empörung lauthals Luft. Pong drehte eine elegante Kurve zur Tür und ließ sich schwer auf die Klinke fallen, doch natürlich war sie verriegelt. Er spähte nach dem Schloss. Es war nicht groß genug, um sich hindurchzuwinden. Indessen gab Elena nicht auf. Wut stieg in Pong hoch. »Hast du nichts anderes zu tun?« In Ermangelung von Waffen schlug er mit
dem Kristallbeutel nach ihr. Elenas Krallen fuhren vor und schlos sen sich um das braune Säckchen. »O nein!« Pong spuckte Feuer, bis sie von den Steinen abließ. Er wurde von ihr von einer Ecke des Raums zur nächsten gescheucht. Pong fluchte erzürnt. Langsam ermüdete er. Die ständigen Aus weichmanöver kosteten viel Kraft. Elena setzte erneut zum Sinkflug an, um ihm die Steine zu entreißen. Pong sah keine andere Wahl, als sich zurück in die Schublade zu retten. Mit einem beherzten Schrei flog er in sie hinein und rammte die hintere Wand. Die Schublade schloss sich durch die Wucht seines Aufpralls, gerade noch rechtzei tig. Draußen krächzte Elena wütend. Missmutig sah er sich im ver trauten Gefängnis um. »Na, toll«, murmelte Pong in ärgerlichen Gelbtönen. »Gut ge macht, du Held.« * Das injizierte Gift wirkte. Shanija spürte ihre Zunge als schweren, tauben Klumpen Fleisch, der nutzlos in ihrem Mund lag, zusammen mit einem widerwärtigen süßen Geschmack. Ihre Arme konnte sie kaum noch heben. Bastard, verfluchte sie den Fioganpriester in Gedanken. Anschei nend wagte er es nicht, sie zu töten, wollte aber auf diese Weise ver hindern, dass sie Slintan besiegte. Da musst du schon früher aufstehen, wenn du mich aufhalten willst, dachte sie zornig. Sie krümmte ab wechselnd die Finger, versuchte in ständiger Bewegung zu bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, Slintan in dieser miserablen Verfassung zu schlagen war lächerlich gering, aber Shanija war noch weit vom Aufgeben entfernt. Sie warf hasserfüllte Blicke auf die eintretenden Fiogan, die sie packten und aus dem Raum zogen. Ihre Beine waren schwach, aber sie konnte gehen.
Mir muss etwas einfallen. Shanija sah sich suchend um. Leider konn te sie die Fioganpriesterin nirgends erblicken, aber sie hätte ihr wahrscheinlich auch nicht helfen können. Der Fioganpriester erwartete sie; sie erkannte ihn an seinem hell grauen Bauch. Er trug einen langen Prunkumhang aus roten Federn. Er wandte sich um und führte die Gruppe an. Shanija brannte mit ihren Blicken Löcher in seinen Umhang. Du wirst bezahlen. Sie wurde über den Rand des Plateaus gebracht, hin zu einer stei nernen Treppe, die in die Tiefe führte. Shanija hatte genug Zeit, den Grund des Kraters zu betrachten. Ein eingemauertes Feld von über fünfzig Metern Länge bildete das Gehege von Slintan. Das stämmige Tier mit dem grotesken Vogelschnabel brüllte dumpf. Die Mauer ragte gut zehn Meter in die Höhe. Auf ihrem breiten Rand hockten die Fiogan zu Hunderten. Fehlt nur noch, dass jemand Bier und Brezeln verteilt. Shanija wollte sarkastisch grinsen, aber ihre Mundwinkel hoben sich kaum. Sie dachte an die archaischen Veranstaltungen von historischen Vereinen auf der Erde, die Footballspiele aus der Zeit des Individualismus nachspielten. Sie sah zum Rand des Kraters hinauf, auf dem weitere Fiogan kau erten. Dort stand auch die Fioganpriesterin mit einem großen Gefol ge. Jasmina und Seiya waren bei ihr. Anscheinend hatte Jasmina noch immer einen gewissen Einfluss, auch wenn sie zum Tode ver urteilt war, denn sie waren beide nicht gefesselt und in guter Verfas sung. Die Prinzessin, gut erkennbar in ihrem roten Hemd, befand sich so nah am Rand des Kraters, als würde sie jeden Moment hin unterstürzen. Shanija versuchte Seiya ein Lächeln zu schenken, aber sie bekam ihre verdammten Mundwinkel einfach nicht nach oben. Der Hohepriester wies auf eine kleine Tür aus Stahl, die in die Mauer aus Stein und Metall gefügt worden war. Sie war gerade groß genug für einen Menschen. Shanija hob stolz den Kopf. Ihre Sinne waren angespannt. Als man ihre Ketten löste, schwankte sie leicht, fing sich aber sofort wieder. Der Priester in dem roten Umhang ließ sich von einem kleineren
Fiogan das rötlich schimmernde Schwert reichen. »Nuun kannst du beweiisen, ob du doch eine Göttiin biist«, zischte er verächtlich. Er drückte Shanija das Schwert in die Hände und wich sofort zurück. Glänzende Speerspitzen richteten sich auf sie und machten deutlich, was geschehen würde, wenn sie das Schwert gegen den Priester erheben würde. Shanija hatte aber Mühe, das Schwert überhaupt zu halten. Wie ein wertloser Metallklumpen lag es in ihren Händen, zog die Arme hinab, obwohl es kaum Gewicht haben sollte. Zumindest hatte es sich im Büro von Aridas sehr leicht angefühlt. Unwillen übertrug sich vom Schwert auf sie. Einen Mo ment blinzelte sie überrascht. Was barg dieser Stahl für ein Geheim nis? Jasmina hatte gesagt, sie habe ihre Psimagie in das Schwert ge bannt. Aber was genau bedeutete das? Die krächzende Stimme des Hohepriesters hallte laut von den Steinwänden wieder. Die aufgeregten Gespräche der Menge ver stummten. Shanija konnte sich gut vorstellen, was für eine flammen de Rede der Fiogan hielt. Es störte sie nicht, dass sie nichts davon verstehen konnte. Sie spürte, wie Leben in ihre Zunge zurückkehrte. Sie hob den tauben Zungenrücken in Richtung Gaumen. Viel zu schnell senkten die Fiogan die Speere. Die Metalltür wurde aufgerissen, und Shanija stolperte auf sehr unelegante Weise in das Gehege von Slintan. Ein wildes Krächzen ging durch die Reihen. Viele der Fiogan zuckten mit den Flügeln und den langen Schwanz federn. Zwei fielen vor Aufregung von der Mauer und flatterten taumelnd zu Boden. Shanija fiel schmerzhaft auf die Knie. Da kauerte sie nun. Keine zehn Schritte von dem weißen Vogeldrachen entfernt, der sie aus ge langweilten grauumrandeten Augen betrachtete. Erneut wurden Stimmen laut. Slintan hatte den Ruf einer alles ver nichtenden Fressmaschine. Jasmina hatte berichtet, er stürze sich auf jedes Lebewesen, das es wagte, ihm zu nahe zu kommen. Ein Fiogan hatte den Drachen mit den Worten »leicht reizbar« beschrieben, was als schamlose Untertreibung bezeichnet wurde. Jetzt aber lag Slin
tan, der Frauen fressende Gott, weiterhin im Staub der sechseckigen Steine auf dem Bauch und rührte sich nicht. Er schien sich nicht son derlich für die Sonnengöttin zu interessieren, die mühsam das rötli che Schwert in den zitternden Händen hielt. Träge sah Slintan zu ihr hin. Er wirkte eher wie eine der Abschreckung dienende Statue aus weißem Marmor, die den Eingang eines Tempels bewachte. Shanija kam schwankend auf die Beine. Sie blickte hinauf in die Reihen der Fiogan. Das war es also. Der Götterkampf. Während die Göttin versuchte, ein lächerlich dünnes Schwert mit den Armen anzuheben, kauerte der ewige Slintan auf den sechseckigen Steinen, als sei ihm speiübel. Shanija hätte gelacht, wenn es nicht um ihr Leben gegangen wäre. Vielleicht konnte sie warten. Vielleicht konnte sie sich hier ausru hen, bis die Wirkung des Giftes nachließ. Slintan lag so friedlich un ter den Sonnen wie ein krankes Kätzchen. »Akrrkrrakan Ptiliorrt!«, schrie der Fioganpriester mit zorniger Stimme. Wie ein Racheengel schwang er sich in die Lüfte, einen Langbogen in den Vorderklauen. Es dauerte ihm wohl zu lange. In Ordnung. Warten war ohnehin nicht ihre Stärke. Sie stolperte vor wärts, auf Slintan zu. Der erste Pfeil schlug dicht neben Slintan ein. Der Vogeldrache brüllte zornig und sprang auf die stämmigen Beine. Zu viel Anstren gung, zu wenig Kraft. Schnaufend machte er eine unfreiwillige Rolle zur Seite. Shanija hörte das Krächzen der Fiogan und war sicher: Die Vogelwesen stöhnten. Keiner konnte begreifen, was hier geschah. Beide, Menschenfrau und Drache, wirkten wie Betrunkene, die um den Preis ihres Lebens kämpfen sollten, obwohl sie in ein warmes Bett gehörten. So hatten sich die Fiogan ihren Götterkampf sicher nicht vorgestellt. Shanija torkelte weiter. Slintans Kopf fuhr zu ihr herum. Er stemmte sich erneut hoch und fixierte sie. Staub lag auf seinen wei ßen Schuppen. Der scharfe, armlange Schnabel stieß vor. Er verfehl te Shanija um zwei Meter. Die Kommandantin hob fluchend die
Waffe. Was sollte sie mit diesem Zahnstocher ausrichten? Was hatte Jasmina sich dabei gedacht? Das Schwert war nicht nur winzig, son dern schwer wie ein verdammter Felsblock. Und Slintans Haut war dick wie die Rinde der Riesenesche. Shanija machte einen Ausfallschritt. Sie wollte zustoßen, aber das Metall ließ sich nicht von ihr führen. Stattdessen wurden ihre Arme zur Seite gerissen, als habe die Klinge einen eigenen Willen. Die plötzliche Richtungsänderung der Waffe riss Shanija von den Füßen. Sie prallte auf den Rücken. Die Luft wurde ihr aus den Lungen ge presst, sie hustete keuchend. Slintan war nun über ihr. Der Schnabel senkte sich bedrohlich auf ihren Kopf herab. Er würde ihn knacken wie eine Nussschale. Ob wohl der Schädel schwankte, war er zu nah, um sie zu verfehlen. Shanija wollte das Schwert in die Höhe reißen. Wieder gehorchte die Waffe ihr nicht. Tyr, fluchte sie in Gedanken. So hatte Jasmina das Schwert bezeichnet: Du musst seinen Namen nennen. Sie versuchte, zu sprechen. Zischend strömte die Luft aus ihrem Mund. Sonnenkraft, wo bist du jetzt? Wütend rollte Shanija sich auf die Seite. Keine Se kunde zu spät. Slintans Schnabel schlug neben ihr hart in den Bo den. Er durchdrang die dünne Erdschicht und traf auf Stein. Das sonderbare Brüllen war wieder zu hören, das nicht zu dem mächti gen Schnabel passte, aus dem es drang. Slintan hob ruckartig den Kopf, senkte den Schnabel erneut zum tödlichen Stoß. Shanija wusste, dass sie ihm nicht mehr lange ent kommen konnte, aber sie versuchte es trotzdem. Über sich sah sie einen Greif in der Luft vor dem Gasriesen schweben. Zwei Fiogan mit dunkelgrauen Umhängen saßen auf ihm. Der Greif war umringt von bewaffneten Fiogan, setzte seinen Weg aber unbeeindruckt fort. Auf das aufgeregte Gekrächze der Vogelwesen reagierten die beiden Reiter nicht. »Dreh dich weg!«, schrie da eine nur allzu vertraute Stimme. As' mala! »Nach rechts!« Einer der Fioganreiter gestikulierte wild. Mit Händen!
As'mala, du Verrückte. Dein Rechts oder mein Rechts, dachte Shanija fast belustigt, während sie sich auf ihre rechte Seite warf. As'mala hatte sie gefunden, auf welche Weise auch immer. Der Anblick der verkleideten Abenteurerin gab Shanija neue Hoffnung. Gleichzeitig wusste sie, die Fiogan würden nicht zulassen, dass As' mala den Kampf unterbrach. Das hier war der Götterkampf Ge schwaderkommandantin gegen Fressmaschine, und es stand Null zu Null. Shanija versuchte, sich nicht von dem scharfen Schnabel ein schüchtern zu lassen, der sie einmal mehr verfehlt hatte. Anschei nend trachtete Slintan danach, einen lebendigen Fleischspieß aus ihr zu machen. »Sag endlich den Namen!«, rief der andere Reiter von oben. Shani ja erkannte die Stimme des Präfektensohns Maltes. Was hatte der hier zu suchen? Der Greif ging auf Sturzflug. Pfeile wurden auf ihn abgeschossen. Shanija sah nicht, ob Tier oder Reiter getroffen wur den. Slintan stand nun über ihr. As'mala … Ein helles Zischen erklang. Shanija rollte sich schwerfällig weiter nach rechts und versuchte sich aufzurichten. Slintan stieg mit einem wilden Brüllen auf die Hinterbeine. Maltes' Zierschwert steckte bis zum Heft in seinem Hals. Shanija schluckte. Vielleicht sind diese Zahnstocher doch wirkungsvoll? Slintan setzte in einem gewaltigen Sprung über Shanija hinweg, warf sich in die Luft. Unter dem Aufschrei der Fiogan hackte er in die Seite des Greifs. Das Tier stieß einen schrillen Adlerschrei aus und stürzte auf den Boden des Geheges, wo es sich überschlug. As' mala und Maltes wurden durch die Luft geschleudert. Entsetzt konnte Shanija nur zusehen. Aber Slintan konnte keinen zweiten Treffer landen. Shanija spürte die Erschütterungen des Bodens, als das tonnenschwere Tier aufschlug. Schwankend, grollend kam der Menschenfresser wieder auf die Beine. Langsam schob er sich auf den verletzten Greifen zu.
Shanija packte das Schwert fester. Sie fühlte, wie ihre Zunge sich endlich löste. Entschlossen hob sie die Klinge an. »Tyr«, flüsterte sie rau. Das Schwert in ihren Händen schimmerte in weißem Licht. Shanija hörte die singende Stimme von Jasmina in ihren Gedanken. Ein Ge ruch von heißem Stahl und Feuer hüllte sie ein, vermischt mit dem Duft von feuchten Blättern. Die Klinge in Shanijas Händen verän derte sich. Sie wurde länger und leichter. Gleichzeitig strömte Kraft durch Shanija. Jede Faser ihres Körpers wurde von neuer Energie durchdrungen. Wie selbstverständlich legte sich ihre zweite Hand an das verlängerte Heft der Waffe. Diesmal würde Tyr sie nicht im Stich lassen. Sie sprang auf die Füße und stürzte hinter Slintan her. Ehe er weiter auf den Greif einhacken konnte, der mit blutendem Hals und starren Augen am Boden lag, stieß sie mit der Klinge zu. Das Schwert schien glücklich zu summen, als es in Slintans Bein schnitt. Shanija sah flüchtig As'mala neben dem toten Greif liegen. Maltes hatte ihr die Vogelmaske abgenommen und kauerte über ihr, um sie zu schützen. As'malas Gesicht war leichenblass. Ob sie noch lebte? Ich werde dich rächen, As'mala! Vor ihren Augen erschienen sekun denschnell die Gesichter ihrer Einheit, all die Totenbilder der Men schen, die sie in ihrem Leben verloren hatte. Zu oft schon hatte sie die letzten Worte eines Sterbenden gehört. Heute sollte nicht wieder so ein Tag sein! Shanija wirbelte herum, ebenso Slintan. Das mächtige Tier beweg te sich jetzt schneller, wenn auch noch immer leicht schwankend. Er sprang zur Seite und öffnete drohend den Schnabel. Die Kommandantin richtete die schimmernde Spitze auf den Men schenfresser. Die Lähmungen in ihrem Körper waren verschwun den, die Kräfte des Schwertes hatten sie gänzlich zurückgedrängt. Gleichzeitig sang die Klinge ihr Lied und trieb Shanija an. Der Wille des Schwertes ließ Shanija schwindeln. Sie spürte instinktiv, dass sie sterben würde, wenn sie versuchte dagegen anzukämpfen. Das
Schwert war bereit, also hatte auch sie es zu sein. Shanija gab ihren Widerstand auf. Jetzt oder nie. Sie rannte Slintan entgegen. Der scharfe Schnabel fuhr neben ihr in die Erde, hob sich, senkte sich erneut. Aber Shanija war schon außer Reichweite, unterhalb seiner Brust. Sie hob das Schwert mit beiden Händen und stieß zu. Wie das Zier schwert von Maltes drang Tyr durch die dicke Haut, als sei sie ange schmolzene Butter. Die Klinge drang tief ein, bis zu der Stelle, an der Shanija das Herz des Drachen vermutete. Slintan zuckte über ihr, stieß einen gequälten Schrei aus. Shanija zog die Klinge aus ihm und machte, dass sie wegkam. Heftig atmend sah sie zu, wie Slintans massiger Körper zur Seite kippte und schwer auf den staubigen Basaltboden sank. Sie wartet einen Augenblick, hielt die Waffe weiter auf den Vo geldrachen gerichtet. Unter dem lauten Getöse der Fiogan begriff sie, dass sie gesiegt hatte. Dann fuhr sie herum und rannte auf As' mala und Maltes zu. Sie seufzte erleichtert, als sie As'mala neben dem toten Greifen sitzen sah. Die Abenteurerin schälte sich mühsam aus ihrem Kostüm, Maltes half ihr dabei. As'mala tastete kurz ihren Körper ab und hielt dann den Daumen hoch. »Shanija!« Seiyas warnende Stimme erhob sich laut über das Ge krächze der Fiogan. Shanija ließ sich instinktiv zu Boden fallen. Der Pfeil, der dadurch ihren Hals verfehlte, schlug neben ihr ein. Sie blickte nach oben und sah den Hohepriester der Fiogan über sich schweben. Ohne zu zö gern schleuderte sie Tyr auf ihn. Er hatte die Menschenfrau unterschätzt und konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Die Klinge drang tief in den Körper des Fio gan ein. Haltlos stürzte er ab und spießte sich selbst beim Aufprall auf. Tiefes Schweigen senkte sich über die heilige Stätte der Fiogan. Shanija konnte die Spannung fühlen, die sie umgab. In der plötzli
chen Starre der Fiogan lag namenloser Schrecken, ein kollektiver Schock, der jeden Muskel im Körper der Vogelwesen einfror. Sie ging zu dem Leichnam und zog mit einem Ruck das Schwert aus ihm. Da erhob die Hohepriesterin vom Rand des Kraters ihre Stimme. Ihre Worte wurden von den Steinen zurückgeworfen. Die Fiogan verharrten. Krajenk, wie Jasmina die Priesterin vereinfachend ge nannt hatte, wandte sich Shanija zu und suchte ihren Blick. »Jetzt werrden wirr erfahrren, ob du tatsächlich eine Göttin bist. Denn wisse, es warr die Krraft von Slintan, die all die schwebenden Steinmassen in der Luft hielt. Bist du eine Göttin, so wirrd unser Frrevel nicht bestrraft und unserr Rreich bleibt im Himmel.« Einen verrückten Moment war Shanija geneigt zu glauben, Slintan habe die Stadt Khatasta und das gesamte verkehrte Land tatsächlich in der Luft gehalten. Schließlich war auf Less nichts unmöglich. Dann schüttelte sie schwach den Kopf. Nein. Es war nicht Slintan, der das Land in der Luft hielt. Es waren sonderbare kosmische Ver hältnisse, ein Zusammenspiel physikalischer Kräfte durch die be sonderen Atmosphäreschichten von Less, die sich auf dieses kleine Gebiet hier konzentrierten. Vielleicht tatsächlich eine Art Strahlung. Aber Shanija konnte diesen Aberglauben nutzen. Sie blickte kühn in die Runde der Fiogan. »Euer Reich wird nicht in den Staub der Sandhügel sinken! Es war nicht Slintan, der es in der Luft hielt! Erst euer Glaube machte ihn zum Gott, und durch euren Glauben kam das Böse an diesen Ort. Nehmt Slintans Tod als Zeichen für das Ende des alten Bündnisses!« Sie wies auf Jasmina. »Ihr könnt neu beginnen, denn Fiogan und Menschen sind stark. Nur wenige müs sen verurteilt werden, die anderen sind unschuldig, Menschen wie Fiogan. Natürlich, ihr könntet euch jetzt bekriegen und gegenseitig vernichten. Aber wozu? Sinnvoller ist es, gemeinsam einen friedli chen Weg zu gehen. Jasmina Balderas wird einen neuen Vertrag mit euch aufsetzen. Einen Vertrag, der beiden Seiten gerecht wird und euch verbündet!«
Die Augen der Priesterin glühten. »Du sprrichst klug, Sonnen strrahl, aberr die Menschen nahmen uns unserre Kinderr …« »Und ihr habt euch die Frauen der Menschen genommen«, unter brach Shanija scharf. »Die Verbrechen auf beiden Seiten sind groß, keine Seite hat das Recht, der anderen etwas vorzuwerfen. Die Op fer sollen nicht umsonst gewesen sein, wenn ihr den Vertrag auf setzt.« Krajenk senkte das befiederte Haupt. »Slintan ist tot. Doch unserr Land sinkt nicht. Du hast die Wahrrheit gesagt. Ich werrde tun, was du verrlangst, Göttin.« Shanija wollte etwas erwidern, schloss aber den Mund wieder. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, den Fiogan klarzumachen, wie un sinnig ihr Glaube an die Sonnengöttin war. Die Kommandantin war müde und ausgelaugt. Aber es gab noch etwas zu tun. »Ich will euch jetzt verlassen. Ich werde Menschen mit Kryphonen schicken, die alle Gefangenen nach Hause bringen. Gebt mir euer Wort, dass die Frauen solange unter eurem Schutz stehen und alle unbehelligt abziehen können.« »Es soll alles sein, wie du es wünschst, Sonnenstrrahl.« »Danke. Würdet ihr einige eurer Krieger mit uns schicken, Kra jenk? Ich beabsichtige, gemeinsam mit dem Präfektensohn Maltes die wahren Verbrecher Khatastas festzusetzen. Die Männer, die euch seit Generationen eure Kinder nehmen.« »Wirr werrden den Palast umstellen und die Luft überrwachen. Keinerr derr Zwölf wirrd entkommen.« Shanija umklammerte das Schwert fest, als sie endlich aus dem ummauerten Ring trat. Maltes und As'mala folgten ihr. Seiya eilte die Treppe herab auf Shanija zu. Auch Jasmina kam nach unten. Maltes lief ihr entgegen und schloss sie glücklich in die Arme. Kraftvoll trieb Shanija das blutbefleckte Schwert in den Boden. Die Prinzessin lächelte. »Du magst starke Auftritte, was?«
Shanija öffnete die Arme und drückte sie kurz an sich. »Du hast mir durch deine Geistesgegenwart das Leben gerettet. Danke.« »Nach allem, was du für mich getan hast …« Seiya blinzelte mit geröteten Wangen. »Und vergiss As'mala nicht. Ohne sie hätte Slin tan einen besseren Tag gehabt, habe ich Recht?« Fragend schaute Shanija zu As'mala. Die Abenteurerin grinste. »Ich hab dem Biest die komplette La dung Jajamknolle ins Wasser gebröselt. Zum Glück hat es gesoffen wie ein verdurstendes Schwein.« Als sie begriff, schwankte Shanija leicht. As'mala und Seiya hielten sie lachend. Ein Lächeln stahl sich auf Shanijas Lippen. »Das war … gut.« So ziemlich das größte Kompliment, das sie machen konnte. Doch dann fügte sie zu ihrer eigenen Überraschung noch etwas hin zu: »Ihr seid Kampfgefährten, wie man sich keine besseren wün schen kann. Ohne euch wäre ich aufgeschmissen gewesen.« Maltes berührte Tyr am Griff. »Fioganstahl. Immer wieder für eine Überraschung gut.« Shanija sah zurück zum Leichnam Slintans. Noch hatte keiner der Fiogan gewagt, sich ihm und dem toten Hohepriester zu nähern. Jasmina stieß ihren Bruder auffordernd an, und Maltes hob den Arm. »Verschwinden wir von hier. Die Fiogan werden uns be stimmt zum Palast bringen, wenn ihre Göttin es wünscht.« Shanija wischte sich verlegen übers Gesicht. »Bringen wir die Sa che zu Ende.« * Aridas Balderas wartete stolz auf der Spitze der goldenen Palast kuppel, unter dem Adler, der die Schlange gepackt hatte. Die runde Plattform, auf der er stand, wurde von gut hundert Fiogan über wacht. Hin und wieder schlugen Pfeile neben dem Präfekten ein, aber der Mann regte sich nicht, sah nur erhaben hinunter auf Kha
tasta, die goldene Stadt. Seit einer guten Stunde tobten auf den Straßen die Menschen. Sie schlugen Stuckarbeiten und Blattgold von den Wänden, die Villen im Präfektenviertel wurden belagert. Einige brannten. Auch vor dem Palast versammelten sich aufgebrachte Bürger, Männer wie Frauen, die ihrem gerechten Zorn Luft machten und Steine warfen. Es war vorbei. Das Geheimnis der Gründerväter, der Jahrhunderte währende Pakt, mit Flüchen und Blut besiegelt, war gebrochen. Nicht durch die Fiogan. O nein. Die Vogelwesen interessierten sich nicht weiter für die Menschen. Es gab nur zwei von ihnen, die über haupt die Sprache der Nachbarn beherrschten. Nein, es war seine ei gene Tochter, die das Geheimnis hervorgezerrt und ihn verraten hat te. Dabei hatte er im Gegensatz zu seinen Vätern Nachsicht gezeigt und sie nur zu den Fiogan bringen lassen, anstatt sie und den Schmied gleich zu töten, wie es der Kodex Fioganus vorsah. Als Aridas Schritte hinter sich auf der Treppe hörte, drehte er sich nicht um. Das Klirren von Waffen hatte er erwartet. Stur blickte er weiter auf seine Stadt. Er hatte sein Leben gelebt und bereute nichts. Die helle Stimme seiner Tochter erklang hinter ihm. »Willst du mich nicht willkommen heißen, Vater?« Aridas drehte sich langsam zu Jasmina um. Sie war von zwölf Wa chen umgeben, angeführt von ihrem Bruder Maltes. Zusätzlich hatte sie die drei fremden Frauen bei sich. Nachdenklich betrachtete Ari das die Mandeläugige in der Mitte. Er hätte das Unglück spüren müssen, das von der Frau mit dem unbeugsamen Blick ausging, aber er hatte es nicht wahrhaben wollen. »Braucht ihr so viele Krieger, um einen alten, waffenlosen Mann zu stellen?« Maltes trat vor. »Warum hast du Jasmina fortschaffen lassen, Va ter? Als sie die Wahrheit erfuhr, hättest du endlich ein Einsehen ha ben müssen. Du hättest auf sie hören und diesen Wahnsinn beenden sollen!« Aridas lächelte versonnen. »Du kamst schon immer mehr nach
deiner Mutter, Maltes. Auch sie war egomanisch. Ich dagegen habe es vorgezogen, für das Wohl von Vielen einige Wenige zu opfern.« Maltes' Züge verhärteten sich. »Dann wirst du dein eigenes Opfer sicher mit Freuden tragen. Ich verhafte dich wegen Landesverrats, Entführung, Beihilfe zum Mord …« »Erspar es mir, Sohn.« Aridas wich seinem Blick nicht aus. »Ich verabscheue Theatralik.« »Die Glasaale werden deine Meinung vielleicht ändern.« »Gewalt hat mich noch nie beeindruckt. Nur der Verstand. Das solltest du eigentlich wissen. Denn ob du willst oder nicht, du hast viel von mir gelernt. Es war mein Fehler, dass es soweit kam. Ich bin alt und nachlässig geworden, habe mich zu sicher gefühlt.« Aridas sah Maltes unergründlich aus blassblauen Augen an. »Du trägst da etwas am Gürtel, was du niemals hättest finden dürfen. Ich hatte nie vor, dich in Khatastas Geheimnisse einzuweihen, mein Sohn. Ich wusste, du würdest es nicht verstehen.« »Meinst du das hier?« Maltes hielt seinem Vater die Papyrusrolle entgegen, die As'mala gefunden hatte. Aridas bückte darauf. »Wie konntest du die geheime Kammer öff nen? Es war ein magisches Schloss, eines, zu dem es keinen Schlüs sel gibt …« Er verstummte und bückte auf die drei Frauen. As'mala hob die Hand und bewegte grinsend ihre schlanken Finger. »Ich verstehe«, sagte er leise. Dann reckte er das Kinn hoch. Maltes und er sahen einander schweigend an. Es fiel kein Wort, keine Bitte um Gnade, keine Frage nach dem Warum. Beide Männer fochten einen lautlosen Kampf. Die Stille unter dem mit Fiogan übersäten Himmel war gespenstisch. Es war Jasminas kühle Stimme, die das Schweigen brach. »Führt ihn ab.« *
Die Drei verabschiedeten sich von Maltes und Jasmina. Maltes ließ zwei Greifen vorbereiten, auf denen sie weiterfliegen konnten. Er hatte sie mit Geschenken überhäuft und zu Ehrenbürgern Khatastas erklärt. As'malas Finger spielten unentwegt an einer goldenen Kette mit Diamantanhänger. Es war ein gekaufter Stein, der nicht bei den Fiogan gereift war, und die Abenteurerin hatte ihn gern als Erinne rungsstück angenommen. Seiya hatte sich entschieden, Khatasta ebenfalls zu verlassen. Sie wollte verständlicherweise nicht an diesem Ort bleiben. Außerdem fühlte Seiya sich nun als ein Teil der kleinen Gruppe und wollte Sha nija nicht im Stich lassen. »Wir sind jetzt Freundinnen«, erklärte sie rundheraus. »Da macht man sich nicht einfach so aus dem Staub. Mein Reich zurückerobern kann ich auch später.« »Romantikerin«, meinte As'mala gerührt. Shanija war verlegen und erfreut zugleich, konnte allerdings nur lächelnd nicken. Es fiel ihr immer noch schwer, ihre Gefühle auszu drücken. Capus hielt sein Versprechen. Er war froh, seinen Vater wiederzu haben und vor allem dankbar für die Rettung seiner eigenen Haut. Nach einer kleinen Unterhaltung mit As'mala entschied er, den Be ruf als erfolgloser Dieb an den Nagel zu hängen, und bewarb sich stattdessen bei Maltes als neuer Fänger und Wächter über die ehe maligen Zunftgenossen. Er brachte Shanija die Kristalle in einem braunen Säckchen, samt schuldbewusstem, wortkargem Pong, der seine Körperfarben nicht beherrschen konnte und ständig von einer Tönung in die andere fiel. Während Seiya und As'mala ihre Sachen aus dem Palast holten, unternahm Shanija einen kurzen Spaziergang zu dem Hügel, von dem die Fiogan sie entführt hatten. Rubin und Arausio erhoben sich gerade zu einem neuen Tag. Shanija zog in einer plötzlichen Einge bung Tyr aus der Scheide von ihrem Rücken und hielt das schim mernde Metall gegen den orangeroten Himmel. Sie betrachtete die eingravierten Drachen eingehend. »Nicht viel Ähnlichkeit mit dir,
finde ich«, murmelte sie in Pongs Richtung. Der kleine Drache saß auf ihrer Schulter. »Wirf es weg. Ich kann's nicht leiden. Hat eine arrogante Ausstrahlung.« Unter seinem zornigen Blick erwärmte sich das Schwert. Shanija spürte, wie es sich zusammenzog, kleiner und dichter wurde. Wie der konnte sie den Geruch von Schmiedefeuer riechen, vermischt mit dem Duft von feuchten Blättern. In einem weißen Schimmer ver kleinerte sich die Waffe. Der Vorgang dauerte nur wenige Sekun den. Das Gewicht veränderte sich nicht. Erstaunt hielt Shanija den Dolch gegen das Licht, der nun in ihrer Hand lag. »Das nenne ich Instant.« »Falsche Bescheidenheit«, meckerte Pong. »Das ist es. Wirf das un nütze Ding weg!« »Es hat mir gute Dienste geleistet.« »Es ist nicht zuverlässig. Jasmina hat gesagt, es wurde nur für die sen einen Kampf geschmiedet. Du kannst ihm nicht vertrauen. Es wird dich im Stich lassen.« »Ich hab dein Geplapper vermisst.« Pong durchlief ein warmer, rötlicher Schimmer. »Und ich hab dei nen herrlichen Busen vermisst.« Shanija gab ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. »Ich hof fe, du hast den Speicherkristall vorschriftsgemäß geschluckt.« Pong nickte treuherzig. »Dann können wir ja endlich weiter.« Shanija steckte den Dolch unter Pongs Protest in ihren Gürtel. Sie warf einen Blick auf den gol denen Palast, auf dessen Spitze sich der stolze Adler vor dem Gas riesen erhob. »Bei aller Pracht Khatastas, ich bin froh, von hier fortzukommen.« Pong schmiegte sich unterwürfig an sie. »Und ich erst.« Gemeinsam kehrten sie zurück zu As'mala und Seiya, die bereits bei den Kryphonen warteten.
* Man hatte ihn in den Gefängnisturm weitab vom Palast gebracht. Auch die anderen Präfekten waren in dem dunklen Turm inhaftiert, der schon seit Jahren nicht mehr so voll gewesen war. Zwei der Prä fekten hatten es vorgezogen, sich das Leben zu nehmen. Nicht so Aridas Balderas. Er wartete in der Todeszelle geduldig auf die Voll streckung. Als die Stahltür seiner Zelle sich öffnete, war er nicht überrascht. Er ließ sich niemals überraschen. Der Mann, der eintrat, war maskiert. Ein Sandschutz verhüllte den Mund und das spitz wirkende Kinn. Die Kapuze war tief ins Gesicht gezogen. Aridas er kannte ihn dennoch. Die Legende stimmte also. Die Anhänger von Ihm kamen an jeden Ort, selbst in ein nahezu unzugängliches Ge fängnis. Der Fremde hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. Er war nur aus einem Grund hier. Aridas wusste, dass er nach Bestätigung suchte. Der ehemalige Präfekt ließ den Fremden das Gespräch eröff nen. »Sie ist es, nicht wahr?« Der Präfekt senkte den haarlosen Kopf nachdenklich. »Ja, ich zweifle nicht daran. Sie hat die Sonnenkraft. Meine Tochter und die Fiogan erkannten es auf Anhieb.« »Sie muss sterben.« Aridas sah auf und lächelte zynisch. »Ich würde mich ja darum kümmern, mein Freund, aber bedauerlicherweise habe ich zur Zeit genug mit meinem eigenen bevorstehenden Tod zu tun.« »Wir werden das übernehmen. Wir werden ihn schicken. Er ist un fehlbar.« Ein Schauer lief über Aridas Rücken. Gleichzeitig leuchteten seine wässrigen Augen verlangend auf. »Ja, schickt ihn. Es erheitert mich zu wissen, dass auch sie bald sterben wird. Ich werde getröstet aus
der Welt scheiden.« Der maskierte Mann senkte die Stimme. »Vielleicht können wir Euch befreien, Herr von Khatasta.« Aridas schüttelte den Kopf. »Ich kann mit Schande leben, aber nicht in Armut. Ich trage lieber dieses Schicksal, als in der Bedeu tungslosigkeit zu versinken.« »Wie Ihr wünscht, Aridas Balderas. Und habt Dank für Eure lang jährige reichliche Unterstützung.« »Wenn sie stirbt, ist es mir Dank genug. Und ihre Begleiterinnen. Besonders die blonde Frau, die meinen Sohn betörte und damit den Segen Khatastas vernichtete.« »Ich verspreche es.« Der Maskierte legte Aridas die Hand auf die Schulter. »Ich bewundere Eure würdevolle Haltung, Herr. Ihr tragt den Tod wie andere einen Siegelring tragen.« »Es soll sein«, murmelte Aridas müde. »Der Widersacher muss aufgehalten werden. Das allein zählt.«
Vierter Teil
Jana Paradigi
Das flüsternde Orakel
1. »In Ordnung, ihr habt gewonnen.« Mit einem Seufzer streifte Seiya den schweißdurchtränkten Mantel mit der Silberborte ab und ließ ihn hinter sich in den Sand gleiten. Jede Bewegung ein Ausdruck purer Eleganz und Würde, trotz der vielen Stunden, die sie bereits zu Fuß durch diese verfluchte Wüste stapften. Shanija rieb sich mit dem abgerissenen Wadenteil ihrer Hose über die Stirn und zupfte ihr Kopftuch-Provisorium wieder gerade. »Es war unvernünftig, dich so lange an ein reines Luxusgut zu klam mern. Durch das Schwitzen verlierst du nicht nur Wasser, sondern auch lebenswichtige Mineralstoffe und Salze.« »Du musst gerade reden! Nur weil du deine Klamotten in Fetzen reißt, kaschiert das nicht die weißen Ränder unter deinen Achseln – von den verräterischen Gerüchen ganz zu schweigen!« »So ist das nun mal, wenn kein Diener bereitsteht, der dir Luft zu fächelt, dich mit Puder bestäubt und mit Wässerchen wohlduftend macht, Prinzesschen«, mischte sich As'mala ein und wischte sich da bei demonstrativ den Schweiß von Hals und Armen. »Pah! Wer hat sich denn auf fürstlichen Betten gewälzt?« Seiyas sonst so liebreizendes Gesicht verzog sich zu einer Fratze, die jeden gewöhnlichen Angreifer in die Flucht geschlagen hätte – nicht aber As'mala. Als Diebin und Lebenskünstlerin prallten Worte an ihr ab wie Re gen von ihrer Lederkluft. Sie klimperte mit den Lidern, drehte ge spielt eine Strähne ihrer blonden Haare um den Finger und sagte: »Ich bin ein Schwitzschwein, du bist ein Schwitzschwein, wir alle sind Schwitzschweine!« »Ich bin …« Seiya schnappte nach Luft.
»Wahrscheinlich haben die Kryphone sich deshalb entschieden, mitten in der glühendheißen Einöde zu landen und uns wie Zecken von ihren Rücken zu schütteln.« »Oder deine Matratzenkunst ist doch nicht so erfüllend wie dein Schmollmund verspricht. Wenn das der Dank für eine Nacht war«, konterte Seiya mit der ihr höchstmöglichen Bissigkeit. Shanija lachte. »Es ist wahrlich ein Spaß, mit euch beiden unter wegs zu sein. Eine bessere Truppe könnte ich mir nicht erträumen. Immer kampfbereit.« Sie zwinkerte der Prinzessin zu und gab As' mala einen kräftigen Knuff auf den Oberarm. »Oje, sie hat gute Laune und lacht! Unsere Göttin hat 'nen Sonnen stich. Schnell ein Schirmchen!«, flachste die, packte eine von Seiyas luftigen Wickelrocklagen und hielt zur Veranschaulichung ihr Stilett darunter. »Hey, das ist Seide!« »Für den Colonel nur das Beste.« Colonel, Shanijas Rangbezeichnung, weckte Erinnerungen. Sie strich über das Drachenamulett in der Mitte ihres Dekolletes. Noch vor einigen Erdenwochen war sie Geschwaderkommandantin gewe sen und Pong nichts weiter als ihr Gefechtsmodul – ein künstliches Bindeglied zwischen ihr und dem Bordcomputer. Zwar hatte er sich nach langen Jahren der Zusammenarbeit an sie und ihre Denkpro zesse angepasst, war aber nicht annähernd so motzig und emotions getrieben gewesen wie jetzt als Drache. Was Chuck wohl zu diesem ganzen Schlamassel sagen würde? Er war – neben ihr – der Letzte der WILD RAMS gewesen, der im Kampf gegen die Quinternen gefallen war. Jeder Einzelne ihres Ge schwaders hatte zweihundert Prozent gegeben und trotzdem hatten sie verloren. Nur Shanija war übrig, durch einen Zufall in den Sog von Ereignissen geraten, die ihr Verstand immer noch in den Be reich der Märchen einordnete. Genauso verrückt wie ein System mit drei Sonnen, drei Monden und dem Gasriesen Fathom war auch das Leben auf Less. Das Undenkbarste schien möglich.
Und genau deshalb muss ich schnellstens zu diesem Zentralarchiv, muss mithilfe der Bibliothekare die Urmutter finden, um von ihr zu erfahren, wie ich diesen Alptraum verlassen kann. Die Gegner haben eine Schlacht ge wonnen, aber der Krieg ist noch nicht vorbei, nicht solange ich den Kristall mit den Plänen in Händen halte. Sie streichelte Pong über die Schnauze bis vor zu den winzigen Nüstern. Pass gut auf deinen Schatz auf, mein Kleiner, er soll eine ganze Welt retten. Während sich ihre Begleiterinnen immer unflätigere Bemerkungen an den Kopf warfen, suchte Shanija in der Ferne nach einer retten den Insel im Wüstenmeer. Ihr Blick wanderte kilometerweit voraus, ohne an etwas hängen zu bleiben. Die Landschaft war so ebenmä ßig, als hätte ein Gärtner sie geharkt und plan gewalzt. Seit ihrer unfreiwilligen Landung waren sie keinem Tier und kei ner noch so unscheinbaren Pflanze begegnet. Da waren nur diese durchsichtigen Formationen. Wie zufällig aus flüssigem Glas vom Himmel getropft, ragten sie in den Himmel, fingen die Sonnenstrah len ein und schleuderten sie als reflektierende Blitze ins Auge des Betrachters. Wenn der Wind sich erhob, sangen die Gebilde ihr ho hes vielstimmiges Lied. Doch Shanija spukte eine andere Melodie im Kopf herum. Der ge murmelte Singsang verfolgte sie, seit sie die schwebende Stadt ver lassen hatten. Ob er von den Greifen ausgegangen oder ein Echo der Festgesänge aus dem Palast war, konnte sie nicht bestimmen. Etwas Berührendes ging davon aus, etwas Aufwühlendes, das ungewohnt viele Erinnerungen in ihr weckte. Du darfst dich nicht gehen lassen, befahl sie sich selbst. Was sind die obersten Regeln? Überblick verschaffen. Truppe zusammenhalten. Lage si chern. Sie richtete sich auf und straffte die Schultern. Diese Glasfigu ren können nur durch ungeheure Hitze entstanden sein. Mit jeder Stunde, die verstrich, wuchs ihr Unbehagen. Überall gab es Anzeichen dafür, dass eine Wüste auf Less nicht zwangsläufig mit einer Irdischen vergleichbar war. Unter der obersten Sand
schicht spürte sie Adern aus Glas in ihre Stiefelsohlen schneiden. Dieser Landstrich strahlt den Charme einer Todeszone aus. Und das sicher nicht ohne Grund. Nichts wie weg hier! »Hey, ihr Kampfhennen! Spart eure Kräfte. Ich will keine Nanose kunde länger in dieser Hitzehölle verbringen als unbedingt nötig. Pausen werden erst gemacht, wenn keiner mehr da ist, um die Schlappmacher hinter sich herzuschleifen. Klar?« Die Lautstärke und Entschlossenheit in Shanijas Stimme riss die beiden aus ihrem Zwist. »Mehr als klar«, bestätigte As'mala und salutierte. Seiya nickte. »Mich macht diese Weite auch nervös. Ohne einen Zielpunkt hat man das Gefühl, auf der Stelle zu treten.« Aber einen genauen Zielpunkt hatten sie offen gestanden auch beim Abflug von Khatasta nicht gehabt, nur eine Himmelsrichtung: Irgendwo im Osten warteten Antworten auf sie.
2. So tot. So unerbittlich. So schön. Mun stand auf einer der zahlreichen Aussichtsplattformen des gelben Viertels und blickte auf die Wüs tenlandschaft hinunter. Bis zum Horizont erstreckte sich die Einöde, flimmerte in der Mittagssonne, wallte regelrecht. Hier und da blitz ten meterhohe Glassplitter auf – zu Skulpturen geschmolzener Sand. In Muns Augen war Sand wie ein Raubtier: er schlich sich an, um zingelte seine Beute, lauerte ihr auf und sprang sie erst an, wenn sie erlahmt oder unaufmerksam geworden war. Schwaches und Ge brechliches war dem Sand hilflos ausgeliefert. Aber nicht jeder ließ sich so leicht verschlingen; Mun nicht und sicher auch sie nicht. Er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, kniff die Augen zusammen und suchte in der flimmernden Ferne nach der Frau, über die in ge wissen Kreisen ein Gerücht umging. Es hieß, die Trägerin der Son nenkraft sei auf dem Weg. Schneller noch als Rubin den Himmel durchwanderte, hatten sich die Legenden über ihre gewaltigen Kräfte verbreitet. Kein Tag, keine Stunde verging, in der nicht eine weitere phantastische Geschichte durch die Gassen dieses Ortes wehte – und das nicht nur im sprich wörtlichen Sinne. Mun hielt das Gesicht in den Wind und erlaubte seinen Sinnen, die Geräusche um sich herum wahrzunehmen. Sofort kroch das ein dringliche Gemurmel der Großen Flüstertüte in sein Ohr. »Wird sie das Tor zur Hölle öffnen?« »Du musst dich regelmäßig waschen.« »Hat die Nachbarin meinen Mann verhext?« »Ist die Warze Durs Strafe für meine Abkehr vom Glauben?«
»Wohin sind meine Murmeln verschwunden?« »Bringt die Sonnengöttin das Paradies?« »Glaube ist kein Zwang. Folge deinen Herren.« »Ist er so gut, wie alle behaupten?« Mun roch den Duft von Papilio-Blumen und Mondgras. In einer der Gassen klatschten Leute Beifall. Jemand zupfte die Saiten eines Um ptons. Die Haltetaue einer Hängebrücke quietschten im Takt und wurden jäh vom Rattern einer Aufzugskurbel unterbrochen. Diese bizarre Stadt auf Stelen schien genauso wie ihre Einwohner immer während in Bewegung zu sein. Mun war in seinem Leben schon viel herumgekommen, hatte anbetungswürdige und zu verdammende Dinge gesehen, doch dieser Pilgerort mitten in der Wüste ließ ihn je den Tag von neuem staunen. Nicht einmal einen offiziellen Namen hatte diese Stadt, die einst aus einer Ansammlung von dauercampierenden Gläubigen, Heilern, Scharlatanen und Suchenden entstanden war. Vordergründig ein bunt gemischter Haufen, der sich Antworten von der Flüstertüte er hoffte oder in ihrem Schatten sein eigenes Geschäft betrieb. Im Hin tergrund aber lauerte die andere Sorte Nutznießer dieser religiösen Hysterie: Sekten, selbsternannte Propheten und Fanatiker. Einer Berufung zu folgen war das Eine, einen Wahn zu verbreiten oder zu sinnloser Gewalt anzustiften, etwas ganz anderes. Mun strich über das schwarzweiße Adeptensymbol vorn auf sei ner blauen Kutte. Im Allgemeinen war die Möbiusschleife ein Sinn bild für die Ewigkeit. In seinen Augen stand sie für die Vereinigung der zwei Seiten eines Wesens. Nichts war ausschließlich gut oder böse. Um seiner Arbeit mit Erfolg nachgehen zu können, hatte er ge lernt, die Dinge mit Abstand zu betrachten und eigene Gefühle aus zuschalten. Nur so vermochte er die neutrale Aufzeichnung der Ge schehnisse zu garantieren.
Erneut schwappten die Fragen und unsortierten Antworten über Muns Gedanken hinweg in den Fokus seiner Wahrnehmung. »Wird die Sonnenfrau uns vernichten?« »Soll ich ins gelbe oder besser ins lila Viertel ziehen?« »Das Schicksal ist nicht vorherbestimmt.« »Wird das neue Stockwerk hoch genug sein?« Der Adept konzentrierte seine Sinne auf die Wüste und sperrte die Geräusche der Umwelt aus. Die Sonnen Flavor, Rubin und Arausio standen am Firmament und tauchten das Land mit Hilfe von Fa thoms roter Strahlung in ein flammendes Farbenmeer. Drei Tage wartete Mun nun schon, blickte gen Westen und suchte nach der Auserwählten und ihren nicht minder sagenumwobenen Gefährtin nen. In manchen Kneipen der vier Farbviertel trieben die Spekulationen über das Aussehen und die Psikräfte der Kämpferinnen die wildes ten Blüten. Es gab Gerüchte, eine von ihnen sei eine Kuntar – ein Echsenwesen mit Mimikry-Fähigkeiten. »Nur ein Blick von ihr und du bist diesem Weib für immer verfal len, verlässt Frau und Kinder und folgst ihr fortan wie ein Hünd chen seinem Herrn«, wurde getuschelt. Andere Stimmen behaupteten, es sei eine Schiffbrüchige dabei, vor kurzer Zeit erst auf Less angekommen. Von Wasser vereisender Prinzessin bis Männer verschlingender Nymphomanin – die Band breite der Behauptungen und angeblichen Augenzeugenberichte war groß. Doch Mun wusste aus sicherer Quelle, dass die Frauen menschlich waren. Keine Monster, aber auch keine Göttinnen. *
Eine Windbö fegte über die Aussichtsplattform und zerrte an seiner Kutte. Der Stoff rieb über seinen kahl geschorenen Schädel und schenkte ihm eines der wenigen Gefühle, die er sich erlaubte: Rei bung und Schmerz – ein Zwillingspaar, das half, trotz seines Gelüb des nicht zu sehr abzustumpfen. Ein zweiter Windstoß blies Sand gegen die vertäute Gerüstkon struktion. Mun hielt sich den Ärmel vor Mund und Nase. Er hustete, blinzelte sich die Körner von den Wimpern, seiner einzigen Behaa rung. Als sich die Sicht klärte, bemerkte er drei Punkte, die sich durch die Wüste schleppten. Grundsätzlich nichts Besonderes, denn Rei sende gab es viele. Sie strömten in Scharen herbei, in der Hoffnung, Antworten von der Flüstertüte zu erhalten. Mun trat ans Okular, das am Geländer der Plattform angebracht war, warf eine Murmel ein und betrachtete die Neuankömmlinge genauer. Drei Frauen. Wohl proportioniert, durchtrainiert mit erhobenem Haupt und ohne diesen mystischen Hauch, der den Pilgern übli cherweise anhaftete. Das mussten sie sein. »Kommt. Kommt näher. Ich werde euch entgegen gehen«, wisper te Mun, schob das Okular beiseite, befreite sein Gewand von Sand und machte sich an den Abstieg.
3. Endlich schien ein Ende des Wüstenmarsches in Sicht. Erst war Sha nija der sprudelnde Quell wie eine Fata Morgana vorgekommen, dann wie ein Feuer speiender Vulkan, doch jetzt, da sie nur noch ein halbes Diarium davon entfernt waren, erkannte sie die Wahrheit hinter der flimmernden Maske, und musste trotz ihrer Erschöpfung schmunzeln. Das Gebilde vor ihnen war eindeutig von intelligenten Lebewesen erbaut worden, allerdings von solchen, die sehr eigenwillige archi tektonische Vorstellungen besaßen. »Also für mich sieht das Ding wie ein senkrecht in den Boden ge rammtes, antikes Megaphon für Riesen aus«, sagte sie an ihre Be gleiterinnen gewandt. »Was meint ihr?« Seiya zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, was oder wozu das gut sein soll. Hauptsache, die Einwohner sind friedlich, haben eine Herberge mit Einzelbett und eine Möglichkeit, sich zu baden.« »Ich wäre schon zufrieden, wenn sie uns an ihren Brunnen lassen, ohne als Gegenleistung Sklavendienst oder den Kampf mit einem Frauen verschlingenden Monster zu fordern«, gab As'mala mit ei nem Zwinkern zurück, drehte ihre Haare zu einem Zopf, den sie kunstvoll um ihr Haupt drapierte, rückte das Lederbustier zurecht und kontrollierte den Sitz ihres Stiletts und der Handaxt. »Vielleicht stellt es ein Trinkhorn dar«, überlegte die Erdfrau wei ter. »Hier in der Wüste würde so ein Wahrzeichen durchaus Sinn haben. Auch eine religiös gefärbte Verehrung wäre möglich, mit al lerlei Ritualen. So seltsam, wie diese Stadt aussieht, sollten wir uns auf keine normalen Bewohner gefasst machen.« Andererseits, was war auf Less schon normal? Um keine unnöti
gen Überraschungen zu erleben, entschloss sich Shanija, Pong zu wecken und sich seine Analyse der Situation anzuhören. Obwohl das mit allergrößter Wahrscheinlichkeit eine erneute Schimpftirade über die Unzuverlässigkeit der geflügelten Adlerlöwen zur Folge haben würde. Sie konzentrierte sich auf das Drachenamulett und kitzelte Pong am Bauch. Doch ihr kleiner Helfer rührte sich nicht, behielt seine Re liefform bei. Also änderte sie die Strategie. »Himmel! Sie wollen die Kristalle stehlen!« Bei dem Wort Kristalle erklang ein leises Fauchen, Pong schoss als glühender Komet aus Shanijas Brust und hinterließ auf seinem Weg eine Spur aus Rauchwölkchen. »Wie? Wo? Wer will mich berauben?« Die Schuppenfarbe des Mini-Drachens pulsierte in Ringkaskaden von Zornschwarz bis Giftviolett. »Na, schlecht geträumt?«, fragte Shanija mit unschuldiger Miene. Pong verengte seine rubinroten Augen zu schmalen Schlitzen, kam auf sie zugeflattert und rümpfte beleidigt die Nüstern. »Das war ein hundsgemeiner Trick! Mir ist vor Schreck fast mein Uhr werk stehen geblieben!« »Oh, das war kein Trick. Wer weiß, was die Einwohner dort für Vorlieben haben.« Shanija zeigte auf die Gerüststadt. »Was sagt dein gefechtserprobter Verstand dazu? Was sehen deine scharfen Sehzel len?« »Ich sehe …« Der kleine Schmuckdrache kratzte sich eines seiner Hörner und wackelte nachdenklich mit den Barteln. Dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf und seine Schnauze verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich sehe eine Wundertüte, aus der Glitzerzeug sprudelt! Gaaanz viel Glitzerzeug!« »War ja klar.« As'mala rollte mit den Augen. Auch der Prinzessin entfuhr ein entnervter Seufzer. »Typisch Dra che.«
So oder so, es blieb ihnen keine Wahl, wenn sie nicht verdursten wollten. Shanija versicherte sich, dass Tyr in der Beutelfalte ihres Hosenrocks steckte, und ließ sich schweren Herzens auf eine weitere Begegnung mit dem Unbekannten ein. * Als Flavor im Zenit stand und mit kräftigen Strahlen die Welt in sa franfarbenes Licht tauchte, erreichte die kleine Gruppe den Rand der Wüstenstadt. Und sie war nicht die Einzige. Wahre Heerscharen an unterschiedlichen Wesen strömten zu Fuß heran oder landeten mit den absonderlichsten Flugtieren und skur rilen Maschinen in der Nähe des Eingangstors, das in die aus Sand stein und Pfählen erbaute Stadtmauer eingelassen war. »Na, da scheinen wir ja einen wahren Publikumsmagneten ent deckt zu haben«, sagte As'mala mit einem erwartungsvollen Fun keln in den Augen. »Behalt deine flinken Hände bei dir. Wir brauchen Unterkunft und Verpflegung, keinen Ärger.« Auch Menschenwesen drängten sich vor dem Einlass. Einige da von in farbenprächtige Tuniken und Schnürsandalen gekleidet, an dere trugen dunkle, bodenlange Kutten und Hüte, die eher an mehr stöckige Bauten erinnerten. Sie benutzten Wanderstöcke oder mit ih ren Beinen verwachsene Tiere als Gehhilfe. Sogar Nacktheit wurde ohne Scheu zur Schau getragen. Asketen, Gaukler und Könige stan den Schulter an Schulter in der Reihe. Die einen staubig und schlicht, andere behängt mit protzigen Klunkern, Herrschaftssym bolen oder Narrenglöckchen. Aber auch Männer in Uniformen waren dabei, Frauen in barocken Prunkkleidern und Bauern auf Ochsenkarren. Die Aufmerksamkeit aller war auf einen Krötenartigen gerichtet, der – schuppig, faltig und fett – auf einem Podest thronte und über das Kommen und Ge
hen wachte. Ob ein zum Leben erwachtes Gefechtsmodul da auffiel? Shanija beobachtete ihren kleinen Freund, wie er ausgelassen Rauchkringel in die Luft malte, um durch sie hindurchzufliegen. Shanija ent schloss sich zur Wachsamkeit. Nur, weil dieser Versammlungsort wie eine riesenhafte Hippiekommune des irdischen Zwanzigsten Jahrhunderts wirkte, konnte die Erdfrau noch lange nicht die gleiche friedliebende Einstellung und Toleranz erwarten. Shanija rief Pong zu sich, nötigte ihm das Versprechen ab, sich während der Kontakt aufnahme still zu verhalten und zog den Ausschnitt ihres Tops über das drachenförmige Brustrelief. * »Der Nächste.« Die drei Gefährtinnen stellten sich brav vor dem Podest des Kröte richs auf und lächelten. »Was ist euer Anliegen?« »Wir sind auf der Durchreise und suchen Unterkunft und Verpfle gung«, gab Shanija wahrheitsgemäß an. Der Beamte hielt inne, zog eine der warzigen Augenbrauenwülste hoch und schmatzte. »So, so, Durchreise. Ihr wollt also Fahrkarten für den Zug lösen. Keine Audienz bei der Großen Flüstertüte?« Ein Zug – das klang vielversprechend. Aber warum hatten sie ihn aus der Ferne nicht sehen können? Wo verliefen die Schienen? Bevor Shanija nachfragen konnte, trat As'mala vor und ließ eine Handvoll Halbmondmünzen auf das Pult fallen. »Dreimal zum Zen tr …« Shanijas Ellenbogen fuhr mit Wucht in die Rippen der Meisterdie bin. »Aua!« As'mala verzog das Gesicht. »Über das Ziel sind wir uns wohl noch nicht ganz einig.«
»Wann, bitte, fährt der nächste Zug nach Osten?«, fragte Seiya und lächelte entschuldigend. »Fahrplanauskünfte gibt's am Bahnhof im Flüstertüteneingang, Reisegenehmigungen im Rathaus.« Mit diesen Worten grabschte der Kröterich nach dem Geld, zog eine Schublade aus dem Pult und kehrte die Münzen hinein. »Hey! Für nichts gibt's auch nichts!« As'mala umfasste den Griff ihrer Handaxt. Doch der Beamte ließ sich nicht aus der Ruhe brin gen. Unter gelangweiltem Schmatzen deutete er neben sich auf eine aus verschiedensten Latten zusammengezimmerte Kabine. »Umziehen! Eure Kleidung entspricht nicht unseren Bestimmun gen. In der Umkleide findet ihr geeignetere Sachen.« Bevor As'mala dem Warzenkerl an die Gurgel springen konnte, zog Shanija sie und Seiya in den als Umkleide bezeichneten Bretter verschlag. »Ich sagte doch, keinen Ärger. Und frische Kleidung ha ben wir nach der Wanderung alle dringend nötig.« »So dringend?« Seiya stand an einer vollgestopften Garderoben stange und hielt ein rosa-gelb kariertes Ballonkleid in die Höhe. Einige hitzige Diskussionen und etwa dreißig Anproben später trat Shanija mit ihren Gefährtinnen im bonbonfarbenen Partnerlook aus der Kabine. Sie wollte so schnell wie möglich durch dieses ver dammte Tor, raus aus dem Einflussbereich des Warzenklopses und rein in die Stadt. Alles Weitere würde sich schon ergeben. »Ihr da, hinten anstellen!« Da half kein Betteln, Schreien oder Drohen, die Drei mussten zu rück ans Ende der Warteschlange. Und Shanija erkannte im Vorbei gehen, dass sie nicht die Einzigen waren, die diese Prozedur durch laufen hatten. *
Als die Sonnen sich dem Horizont näherten und nur noch zwei ha kennasige Mütterchen vor ihnen in der Reihe standen, vernahm Shanija den flüsternden Singsang von neuem. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren. Doch je angestrengter sie lauschte, desto undeutlicher wurde die Melodie, bis sie schließlich in einem tiefen Brummen mündete und sich zwischen tausendfachem Getrappel verlor. »Habt ihr das gehört?« »Was meinst du?« Seiya runzelte die Stirn, während die Diebin mit den Schultern zuckte, dann aber innehielt. »Meinst du dieses Rattern?« Im nächsten Moment übertönte ohrenbetäubender Lärm das allge meine Grundrauschen. Eine Windbö rollte über den Boden und feg te Sand gegen die wartende Menge. Durch zusammengekniffene Lider sah Shanija, wie sich ein mit Propellerflügeln bestücktes Gefährt vom Himmel herabsenkte und im nächsten Moment direkt neben dem Eingang landete. Aus dem vergitterten Cockpit stieg ein stattlicher Mann – groß, athletisch, gut aussehend. »Der gehört mir«, sagte As'mala, als er mit erhobenem Haupt und wehendem Mantel auf die Dreiergruppe zuschritt. Doch er hatte offenbar anderes im Sinn. Ohne auf die in bunten Tüll gehüllten Frauen zu achten, marschierte er mit einem Rucksack über der Schulter an ihnen vorbei, schnurstracks zum Pult des Be amten. Ein Raunen ging durch die Reihe der Wartenden, und auch in Sha nija regte sich ungewohnt lauter Protest, der raus wollte. »Na warte, gleich kriegst du dein Fett weg, du Lackaffe!«, rief sie. »Für dein dreistes Vordrängeln werden sie dich in einen pissgelben Babystrampler stecken!« Die Prinzessin packte Shanija am Arm und schaute sie mit vor Überraschung geweiteten Augen an.
Hab ich das gesagt? Die ehemalige Kommandantin hielt sich die Hand vor den Mund und drehte den Kopf zur Seite. Dort, in eine lange dunkelblaue Kutte gekleidet, stand eine Art Mönch. Er trug die Ärmel vor dem Körper geschlossen. Sein im Schatten der Kapu ze verborgenes Gesicht war auf sie gerichtet. Dunkel. Leer. Bedroh lich. Als er sich schwebend auf sie zu bewegte, glaubte sie endgültig zu phantasieren. Sie schloss die Augen. Das müssen die Folgen eines Son nenstichs sein. »Das werte Fräulein verträgt offenbar keine Hitze. Haltet sie bes ser an der Leine«, ertönte da wie aufs Stichwort die Antwort des dreisten Dränglers. Shanija rief: »Arroganter Schnösel! Mistkerl! Wichtigtuer!« Auch Umstehende fielen jetzt in den Schwall der Verunglimpfun gen ein. »Ruhe! Ruhe, oder ich lasse das Tor für heute schließen!« Der Krö terich schlug so empört mit der Hand auf den Tisch, dass sein Dop pelkinn dabei schlackerte. Das Getöse erstarb. Nur der dunkelblonde Hüne schien unbeeindruckt, griff in eine der zahlreichen Taschen seines Gewands, hielt dem Amtmann ein Stück Pergament vor die Nase, legte eine Handvoll lila Murmeln auf den Tisch und spazierte ohne weitere Verzögerung durch das Tor. »Das gibt's doch nicht!« Shanija glaubte zu bersten vor Zorn. »Hey, Warzenkopf, was soll die Scheiße? Hast du ein Frauenpro blem? Uns schikanierst du, und von dem lässt du dich vor aller Au gen bestechen?« »Shanija! Bei Zyrkans Eiern, hör endlich auf damit«, zischte As' mala und schob sich mit versöhnlichem Augengeklimper zwischen die Gefährtin und den sichtlich aufgebrachten Beamten. »Hören Sie nicht auf sie. Der noble Herr hatte ganz Recht mit seiner Vermu tung. Die Sonne hat ihr den Geist verwirrt. Deshalb müssen wir so
schnell wie möglich in die Stadt und einen Arzt aufsuchen.« »In der Tat«, erwiderte der Beamte. Sein wulstiger Kinnsack blähte sich, als er ein- und ausatmete. »Heiler findet ihr um die Flüstertüte herum genug.« Wieder machte er eine Pause und rieb sich nach denklich den mit Furunkeln und weißen Punkten übersäten Bauch. »Nun gut, wenn ihr die Huldigungssteuer zahlen könnt, dürft ihr passieren.« »Aber wir haben euch doch schon …« Bevor Shanija den Satz be enden konnte, hatte As'mala sich umgedreht und ihr den Schal des Kostüms in den Mund gestopft. »Abgemacht.« Nachdem As'mala genug Münzen für die Steuer auf das Pult ge legt und vorsorglich auch den Rest in die lilafarbene Murmelwäh rung umgetauscht hatte, war der Weg in die Stadt endlich frei. Sie gingen unter dem Torbogen hindurch und folgten einem Rundweg, der sich zwischen der äußeren und einer inneren, mit Glas überzo genen Mauer erstreckte. Hier und da standen Händler mit Rollkarren am Rand und boten Hüte, Glückssteine oder andere magische Utensilien feil. Doch Sha nijas wachsendes Verlangen galt einzig dem Wasser. Kühlem, erfri schenden Wasser. Im Laufschritt stürmte sie vorwärts, bis eine weitere Toröffnung den Weg in das eigentliche Zentrum der Stadt freigab. Ohne auf das bunte Treiben um sie herum zu achten, hielt sie auf den erst besten Brunnen zu, wühlte sich durch das Gedränge und ließ sich ohne nachzudenken der Länge nach ins Becken fallen. »Shanija, was ist mit dir? Du bist doch sonst die Ruhe und Be herrschtheit in Person?«, erklang Seiyas Stimme über ihr, als sie wie der auftauchte. Die Prinzessin hat Recht. Was zum Teufel mach ich da nur? Langsam richtete Shanija sich auf und blickte in ein gutes Dutzend schaulusti ger Gesichter.
»Eindeutig Wüstenkoller«, diagnostizierte As'mala und streckte Shanija eine Hand entgegen. »Oder hat dich der hübsche Chauvi vorhin so aus dem Konzept gebracht?« Die Umstehenden grinsten. »Sag uns, Sonnenfrau, wird Dur erscheinen, wenn die Zeit der Passage gekommen ist?« Shanija zuckte zusammen und sprang so hastig auf, dass die Men ge erschrocken zurückwich. »Gib uns ein Zeichen. Wird der Ewige Licht oder Dunkelheit mit sich bringen?« »Wer spricht da? Was sollen diese Fragen?« Die Erdfrau drehte sich verwirrt um die eigene Achse. Wieder grölten die Schaulustigen und bildeten eine Gasse. Da war er: Ein Greis, der vor einer Holzkiste kniete. Auf der Kiste stand ein vollbusiges Weib in gelbem Talar. Sie trug ein strahlenförmiges Drahtgeflecht im Haar und hielt die Hände, als würde sie ein un sichtbares Trinkhorn halten. Es ist bloß ein Schauspiel, oder eine fahrende Predigerin. Shanija atmete auf und betrachtete das Treiben ringsum genauer. Dicht an dicht drängten sich Menschen und andere Wesen auf dem Platz um den riesigen, senkrecht aufgestellten Trichter. Überall gab es kleine Verkaufsstände, Marktschreier mit Körben, und Harle kins. Kinder schlängelten sich lachend und kreischend durch die aus Resten zusammen gezimmerten Bauten, kletterten Stege und Taue hinauf oder zogen sich mit einer der vielen Seilbahnen in höher ge legene Stockwerke. Alles stand auf Stelzen – aufgetürmt, übereinander geschachtelt, angeflickt, genagelt oder festgebunden. Ein Sammelsurium aus Bret tern, Steinen und Metallplatten, schief und krumm, in blassen bis schrillen Lila-, Blau-, Gelb- oder Orangetönen. Und über allem lag das Geplapper aus der sogenannten Großen Flüstertüte. Eine fortwährende Salbaderei aus Fragen und Antwor
ten. »Wird das Universum zusammenfallen?« »Ein Ende ist gleichzeitig ein Neuanfang.« »Werden die Bauarbeiter rechtzeitig fertig werden?« »Wo bekomme ich Nasenverlängerungen?« »Hier ist definitiv nicht nur die Kleiderordnung schräg«, sagte Sha nija und zupfte ihr Tüllmieder zurecht, das nass und faltig an ihrem Körper klebte. »Stimmt. Und es scheint ansteckend zu sein«, bemerkte Seiya mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Da! Seht! Die Sonne!« Die Predigerin sprang vom Podest, umarm te die verdutzte Prinzessin und rief: »Gepriesen sei Dur! Sie ist auf gewacht, hat die dunklen Schatten im Turm zurückgelassen, um in der Ferne einen Neuanfang zu wagen.« Shanija wusste für einen Moment nicht, was sie unternehmen soll te. Litten hier alle unter Wahnvorstellungen? »Komm, Sonnenfrau.« Die Predigerin wollte Seiya mit sich ziehen, doch die Prinzessin schüttelte sie heftig ab, wie eine Spinne, die über sie krabbelte. Die Frau ließ sich nicht beirren, legte Seiya lächelnd die Hand auf die Schulter und wandte sich dem Publikum zu. »Ihr alle, befreit euch von den Fesseln der Vergangenheit. Feiert den Übergang ins Licht. Heute Abend! In Babas Tandra-Kurs!« Die Menge klatschte und jauchzte, formierte sich unter den Augen der sprachlosen Gefährtinnen zu einer Polonaise und folgte der wandelnden Tandra-Werbung im Sonnenkostüm durch das Gewim mel über eine Rampe hinauf in die nächste Stadtetage. »Das ist wirklich ein seltsamer Ort«, flüsterte die Prinzessin. »Verwirrend«, gab Shanija zu und As'mala ergänzte: »Beängsti
gend.«
4. Mun stand im Getümmel und ließ die Neuankömmlinge nicht aus den Augen. Aber welche der Frauen war die Richtige? Welche der Frauen trug wohl die Sonnenkraft in sich? Die Rothaarige, die sich wie eine Verrückte ins Wasser gestürzt hatte? Die Blonde mit der Zopffrisur? Oder war es die zierliche Schwarzhaarige, die von der Tandra-Schülerin Sonnenfrau genannt worden war? Der Auftritt der Schaustellerin war effekthascherische Show gewe sen. Die Magie der Flüstertüte dagegen war echt – wenngleich seit der Großen Hitze verwirrt. Im Einflussbereich solcher Macht war al les möglich. Auch, dass eine Hochstaplerin die Wahrheit sprach. Doch um sicher zu gehen, blieb Mun nichts anderes übrig, als sich im Hintergrund zu halten und abzuwarten. Während die Frauen diskutierten, schlich Mun sich unauffällig nä her. »Ich bin dafür, dass wir uns trennen«, schlug die Rothaarige gera de vor. »Fühlst du dich denn fit genug?« Aus dem Gesichtsausdruck der Zierlichen sprach Besorgnis. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich suche nach einer Unterkunft. As'mala, du besorgst uns für morgen Zugtickets, und unsere Prin zessin könnte sich derweil um den Proviant kümmern. Einverstan den?« Einhelliges Nicken. »Jeder macht, so schnell er kann. Treffpunkt ist der Brunnen, heute Nachmittag. Viel Glück.« Damit ging das Trio auseinander und Mun musste sich entschei den, wem er folgte.
Wählst du bewusst, hörst du dein Herz flüstern. Folgst du der Intuition, sei auf Überraschungen gefasst – ein Leitspruch seines alten Meisters Alman a Sant kam Mun in den Sinn. Früher oder später würde er die Richtige erkennen, ob beim ersten Versuch oder beim Dritten. Wichtig war sein Auftrag. Obwohl er bereits den Ruf des Zentralarchivs im Hinterkopf spür te, würde er sich für diese eine Sache noch die nötige Zeit nehmen. Und zwar bevor die Trägerin in die Fänge von Durs Anhängern ge riet. Denn auch in dieser Hinsicht hatte die Tandra-Predigerin rich tig gelegen. Die Passage war nah. Die Gottesanbeter, Erlösungsverkünder und deren Gegner formierten sich, um den prophezeiten Neubeginn – oder das apokalyptische Ende zu feiern. Die Auserwählte als Opfer gabe zu besitzen, musste die Sekten anlocken. Wenn … ja, wenn das Gerücht über die sagenumwobene Macht denn wirklich stimmte. Mun schob sich hinter den Federfächer eines als Pfau verkleideten Mannes, schlüpfte im Schatten einer quer gespannten Hängebrücke durch die Menge und machte sich an die Verfolgung der Frau, die von den anderen Prinzessin genannt worden war. * Sie bewegte sich geschmeidig, steuerte zielstrebig den Stelengang an, der hoch zur Marketendergasse führte, und ignorierte dabei die Blicke der Männer. Schönheit war eine der wenigen Güter, die auch an den überfülltesten Orten Beachtung fand. Ihr langes, onyxfarbenes Haar umspielte ihre Schultern und ging in einen ebenso anmutigen Rücken über. Wie bei einer Mähnenkatze, dachte Mun und wich im nächsten Moment einer Ladung Spülwas ser aus, die aus einer der obersten Etagen der Gerüststadt herabreg nete. Die Händler überschlugen sich geradezu mit einladenden Gesten,
zeigten ihre Zähne und riefen Komplimente. Doch die Prinzessin schien alles Buhlen und Balzen zu übersehen. Ihr Blick glitt über die Körbe und Karren, verharrte an dem einen oder anderen Preisschild, um gleich darauf zur nächsten Auslage weiter zu wandern. Was hatte solch eine Frau einem Angreifer entgegenzusetzen? Würde ein verblendeter Sektierer die Magie dieses Wesens bemer ken? Würde er die Zartheit ihrer Knöchel … Mun hielt inne. Was gehen mich Knöchel an? Was Schicksale? Ich bin Adept und damit höheren Prinzipien verpflichtet. Gerade er musste sich doppelt beweisen. Tagtäglich, von Beginn an bis an sein Lebensende. Doch diese Bürde machte ihn nicht schwach, sie machte aus ihm einen Fels – unverrückbar und hart. Seine Hand strich über den Lederbeutel an seiner Seite, suchte nach dem Etui mit der kleinen, scharf geschliffenen Klinge, die sein Leben seit neunzehn Jahren bestimmte. Als die Finger weiter über das ab gewetzte Leder wanderten und dabei den Schaft der Flöte fanden, gefror in ihm der letzte Anflug von Emotion. »Zeig mir deine Macht, offenbare mir deine Kraft, damit ich sicher sein kann«, flüsterte er. Die Prinzessin merkte davon nichts. Sie war viel zu sehr mit dem Betrachten der Angebote beschäftigt. Ausgerechnet am Stand eines Kuntars blieb sie stehen und begann mit dem schmalbrüstigen Ech senartigen um ein paar gefüllte Wasserschläuche zu feilschen. Kein besonders kluger Entschluss. Denn ein Mensch konnte sich nur sel ten den betörenden Mimikryfähigkeiten dieser Spezies entziehen. Gespannt beobachtete Mun den wortreichen Schlagabtausch. Der Händler wand sich vor der schwarzhaarigen Schönheit, tänzelte hin und her und zeigte ihr seinen unschuldigsten Kulleraugenblick. Mit Erfolg. Eine ganze Handvoll Murmel wechselte den Besitzer – ein Vielfa ches des tatsächlichen Wertes. Leere Schläuche hätten gereicht, Was ser gab es schließlich kostenlos an den Brunnen rund um die Flüs tertüte. Von dem nun zu schleppenden Gewicht ganz abgesehen. Doch die Prinzessin ließ sich nicht beirren und stürzte sich in die
nächsten Verhandlungen, diesmal mit einem Verkäufer von Tro ckenfrüchten und Dörrfleisch. Nach einem halben Dutzend weiterer Stationen erwartete Mun je den Moment den Zusammenbruch dieser zierlichen Frau, so voll be packt quälte sie sich den schwankenden Pfad hinauf, über eine Hän gebrücke und auf der anderen Seite eine schräge, breitstufige Spros senleiter wieder hinunter. Mittlerweile waren sie im blauen Viertel angelangt. Hier machten die Marketender und Straßenhändler einer anderen Sorte von Ver führern Platz. In kleinen, aus farbenfrohem Stückwerk zusammen gebauten Logis hockten verschrumpelte Mütterchen, klapprige Grei se, aber auch Mädchen, die noch die unschuldige Röte der Kindheit auf den Wangen trugen, eins neben dem anderen, und warteten auf Kundschaft. Die Schilder und Aushänge versprachen eine spirituelle Direktlei tung zu Gott, Erleuchtung durch Tandra, das Brauen von Liebes tränken, wirksame Verwünschungen, Heilsalben, Glücksbringer, Verstärker der Manneskraft oder der jeweiligen Psimagie. Es gab Souvenirläden, Fakire, die sich mit einem Nagelbrett geißelten und jede Menge Prediger und Verkünder. »Die Zeit ist nah! Der Ewige wird kommen und die Welten verei nen. Er wird uns erlösen von unserem Wurmdasein! Folgt Aliandur, nur er hat die Gabe. Er allein spricht mit unserem Herrn und wird uns ins Paradies führen!« Der Redner in schwarzer Robe packte Mun an der Schulter und blickte ihn mit seinen riesigen Glubschaugen an. Die geschlitzten Pupillen schlossen und öffneten sich ruckartig, die gespaltene Zun ge des Echsenartigen huschte über den Lippenrand. »Was ist mit dir, Bruder? Willst du nicht auch von Durs Hand beschützt werden, wenn das Kontinuum den Weg zwischen den Welten frei gibt?« Mun griff die Hand des Dur-Anhängers, drehte dessen Handflä che nach oben und bog sie ihm nach außen – eine leichte Selbstver teidigungstechnik, die Alman a Sant ihn gelehrt hatte.
Der Kuntar stöhnte auf vor Schmerzen und senkte den Blick. »Ver gebt mir, ehrwürdiger Adept. Ich bin nur ein dummer Diener im Dienst des Erlösers, Ihr dagegen seid wissend und über solch banale Tricks wie den meinen erhaben. Das sehe ich jetzt und verneige mich.« Demütig zog er den Kopf ein und züngelte. Mun war versucht, ihn noch tiefer zu zwingen, doch ihm blieb kei ne Zeit. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Prinzessin in einem Geschäft verschwand. Er ließ von der Echse ab, zog seine Kapuze ins Gesicht und trat einen Augenblick später ebenfalls in Lillys Schatzkammer ein. Wo steckt sie? Mun schlich an Regalen mit Salben und Tinkturen für ewige Schönheit, Reichtum und immerwährende Ekstase vorbei, wühlte sich durch einen Vorhang aus erdfarbenen Tüchern, doch die Prinzessin war spurlos verschwunden. Hatte sie ihn bemerkt? Konnte sie sich mithilfe der Sonnenkraft unsichtbar machen? Mun wusste es nicht. Niemand wusste, was diese sagenumwobene Kraft bewirkte. Angebliche Augenzeugen be richteten von einem Ausbruch in Castata. Ein verheerender Feuer sturm in Form eines gigantischen Drachen – so erzählte man sich. In seine Überlegungen versunken drückte Mun einen Bastvorhang zur Seite und … erstarrte. Da stand die Prinzessin – nackt, makellos, wie aus Porzellan gegossen. »Hey! Diese Umkleide ist besetzt!« Ihre Augen blitzten auf und statt ihre Blöße zu bedecken griff sie ihn an und stieß ihn heftig zu rück. Ein eiskalter Hauch wehte durch die Kabine. Mun stolperte rückwärts, verhedderte sich in einem Ständer mit bestickten Hemden, riss bei seiner Flucht ein Gestell mit hölzernen Schlangenimitaten um und tauchte einen Moment später im Strom der Fußgänger unter. So wunderschön. Ich meine, sie ist eindeutig psimagisch hochbegabt. Aber nicht die Trägerin der Sonnenkraft!, dachte Mun. Es war wohl sein Herz gewesen, das die Wahl getroffen hatte. Verfluchte Mensch lichkeit.
Er bohrte sich die Fingernägel in den Unterarm. Schmerz schoss durch seine Glieder und löste die übrigen Gefühle auf. Welche der beiden anderen Frauen war die Richtige? Wie sollte er sie im Ge tümmel ausfindig machen? Zugkarten!, erinnerte sich Mun. Die Blonde, As'mala, wollte Zugkar ten besorgen, und dafür braucht sie eine Reisegenehmigung. Also kann sie nur an einem Ort sein. * Ein Dutzend Aufzugsfahrten mit der Seilwinde und der Überque rung einer der wenigen stabilen Holzbrücken später stand Mun im obersten Stockwerk des lila Viertels. Mit etwas Glück hatte sich As'mala noch nicht bis hierher durch gefragt. Flink huschte Mun die frisch gestrichenen Stege der letzten Treppe hinauf bis vor den leuchtend violetten Bau, der alle anderen Gebäude um eine Armlänge überragte. Neben dem Eingang prangte ein goldenes Schild mit der Aufschrift: »Rathaus«. Gerade noch rechtzeitig, dachte Mun, als er die Menschenansamm lung sah. Mitten drin stand As'mala und schrie einen Uriani an. Der krötenartige Beamte hielt die Arme vor der Brust verschränkt und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das Amt ist bereits geschlos sen.« »Sie wollen sagen, ich bin dieses Labyrinth – diesen Kletterpar cours durch die ganze verdammte Stadt – umsonst raufgehetzt?« »Es werden keine Ausnahmen gemacht.« »Ich will keine Ausnahme, ich will Zugtickets!« Die Frau stampfte auf. »Für Fahrkarten benötigen Sie eine abgestempelte Reisegenehmi gung. Und die gibt's erst wieder morgen früh«, erklärte der Uriani unbeeindruckt.
»Aber ich war doch rechtzeitig da! Die Tür stand noch offen, als ich mich hinter den Wartenden angestellt habe.« »Bei Sonnenuntergang schließen wir, daran ändert auch unver schämtes Gezeter nichts.« »Das ist unerhört! Wie abartig muss man sein, um sich solche Schi kanen auszudenken?« Als sich der fettleibige Beamte anschickte, den Heimweg anzutre ten, zückte As'mala wutentbrannt ihre Dreikantklinge. »So einfach kommst du mir nicht davon, Freundchen! Wir gehen jetzt schön brav zusammen da rein und du gibst mir die Stempel!« Die sonst grünliche Haut des Krötenartigen verfärbte sich orange. Sprühfeine Tröpfchen bildeten sich an der Oberfläche. »Oder was?« »Oder ich bohr dir ein drittes Nasenloch«, sagte die Frau und drückte ihre Waffe gegen den hornigen Nasenwulst. Der Kröterich blähte seinen Kinnsack und stieß gleichzeitig ein tie fes Brummen aus. Die umstehenden Zuschauer hielten den Atem an. As'mala grinste böse. In dem Moment, als sie den Mund aufmachte, schoss die Zunge ihres Gegenübers hervor, klatschte zäh und klebrig gegen ihre Stirn und zog sie in Sekundenbruchteilen mit sich – zurück in den aufge rissenen Schlund des Uriani. Mun brauchte seine ganze Beherrschung, um nicht zu lachen. Da war also die vermeintliche Auserwählte: hilflos zappelnd im Maul eines friedliebenden Beamten. So hatte Mun sich den Verlauf der Geschichte nicht vorgestellt. Oder würde sie ihre Kraft einsetzen? Im Geiste sah er den armen Amtsträger bereits innerlich erglühen, sich aufblähen und mit dem Ausbruch des Feuerdrachens in tausend Fetzen zerbersten. Aber nichts dergleichen geschah. Der Uriani wartete geduldig ab, bis ihm die Rathausgarde zu Hilfe kam und die Aufrührerin in Ketten legte. Erst dann gab er ihr Haupt frei und sah mit sichtlicher Genugtuung zu, wie sie an den Büßer
pfahl gehängt wurde. As'mala bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Vom Kopf bis zu den Schultern mit Speichel eingeschleimt, baumelte sie über dem Abgrund. Die Zuschauer klatschten Beifall, bespuckten sie und machten zotige Bemerkungen. Was nun? Mun entschied abzuwarten, ob As'mala nicht doch noch eine Überraschung auf Lager hatte. Er musste sich nicht lange gedulden. Sobald sich der Platz geleert hatte, wurde die blonde Frau aktiv. Nach ein paar erstaunlichen Verrenkungen und offensichtlichem Einsatz von Psimagie war As' mala frei. Mun war beeindruckt und enttäuscht zugleich. Wieder hatte ihn sein Instinkt im Stich gelassen. Jetzt blieb nur noch eine Kandidatin übrig. Geräuschlos und unsichtbar wie ein Schatten bei Nacht heftete sich Mun an die Fersen der Entfesselungskünstlerin. Ich finde dich, Sonnenkraftträgerin.
5. Shanija wühlte sich durch die Menschenmenge. Ihr bonbonfarbenes Kostüm war getrocknet – einer der wenigen positiven Effekte des heißen Wüstenklimas. Zuhause auf der Erde wäre es ihr anders er gangen. Dort brachte der Abend in solch einer sandigen Einöde Käl te mit sich. Aber Abend war eben nicht gleich Abend und Tag nicht gleich Tag. Auch Licht und Dunkelheit wechselten weniger gleich berechtigt. Was auf Less Nacht bedeutete, hätte man auf der Erde eher späte Dämmerung genannt. Trotzdem hatte die nächtliche Hälfte des Dianoctum auch an diesem weit entfernten Flecken typische Veränderungen zur Folge. Wo eben noch Mütter mit kleinen Kindern an der Hand spaziert waren, standen jetzt verführerische Schönheiten und lockten mit vollen Lippen, üppigen Hüften und Worten, die dunkle Phantasien wahr zu werden versprachen. Auch die Laufkundschaft änderte sich. Statt hektisch und laut schnatternd bewegten sich die Leute nun schlendernd durch die Gassen. Hier und da bildeten sich Grüppchen – eng beisammenstehend, tuschelnd, im Verborgenen tändelnd. Aber wo um alles in der Welt schliefen all die Wesen? Shanija hatte sich über verschiedenste Hängebrücken und Verbin dungsplanken gewagt und war bereits in der vierten oder fünften Etage angelangt, als sie endlich das Aushängeschild einer Herberge entdeckte. Haus zur feuchten Aussicht stand dort auf einer schräg über die Tür genagelten Latte. Nicht ganz das, was sich die ehemali ge Kommandantin als Unterkunft vorgestellt hatte, aber hier gab es wohl Betten, also ging sie hinein. »Na, Täubchen, suchst du ein Plätzchen zum warmhalten oder willste arbeiten?« Das dreckverschmierte Gesicht eines jungen Mäd chens tauchte hinter dem Tresen des winzigen Empfangszimmers
auf. Die ist keinesfalls älter als fünfzehn!, dachte Shanija. »Was ist, hat dir wer die Sprache geklaut?« Shanija schluckte ihr Erstaunen hinunter und versuchte sich von eingefahrenen Wertevorstellungen freizumachen. Alter hin oder her, so selbstbewusst, wie die auftritt, habe ich es hier mit der Herbergsmutter zu tun. »Ich brauche ein Bett für mich und zwei Begleiterinnen, sonst nichts.« »Sonst nichts? Pah! Hast du's nicht gesehen? Die Leute da drau ßen? Das sind Kunden! Dutzende von zahlungskräftigen geilen Ker len! Für geschniegelte Rührmichnichtans sind mir die Zimmer zu schade.« »Nur für eine Nacht«, versuchte es Shanija freundlich und zeigte einen Teil der lila Murmeln, die As'mala vor der Trennung an sie verteilt hatte. »Und dafür blockiert ihr stundenlang die Matratzen? Nee, Täub chen, das is zu wenig. Sieben Om pro Kopf, für 'nen ruhigen Platz müsst ihr schon was springen lassen. Zehn für die Luxus-Suite mit Waschschüssel.« Shanija wühlte in den Taschen und zählte ihr Vermögen. »Acht zehn Murmeln für drei Personen inklusive Badeutensilien, mein letztes Wort.« Mit einem Lächeln, das zwei geschwärzte Zahnleisten zum Vor schein brachte, klatschte das Mädchen einmal schallend in die Hän de. Und im nächsten Augenblick fand sich Shanija draußen vor der Tür wieder. »Das heißt wohl Nein.« Shanija fühlte ihre Disziplin schwinden. Zähe Ausdauer und Sie geswillen waren seit ihrer frühesten Kindheit Eigenschaften gewe sen, auf die sie stolz war. Sie hatte in der Ausbildung gebüffelt, bis zur Erschöpfung trainiert, hatte sich innen wie außen gestählt – aber
gegen Magie … wie sollte man gegen Magie vorgehen? Auf Situatio nen, bei denen regelmäßig das Unmögliche möglich wurde, war sie nicht vorbereitet. »Ich hasse diese Hilflosigkeit! Ich hasse, hasse, hasse sie! Es ist doch sinnlos. Ich bin in einem Schauermärchen gelandet und hängen ge blieben. Mit dem rettenden Schlüssel gegen die Quinternen in der Hand, aber über hundert Lichtjahre von der Erde entfernt.« Tränen sammelten sich in Shanijas Augenwinkeln. Hastig wischte sie sich über das Gesicht, ließ die Schultern hängen, lehnte sich mit zurückgelegtem Kopf gegen eine Handkarre und blickte in den von Schlieren durchzogenen Nachthimmel. Meat und Meadow pflügten durch das Firmament und zogen einen Dunstschleier aus Dunkelrot und Grün hinter sich her. Töne mischten sich in das Farbenspiel – ein Summen so fesselnd wie die Seidenfäden einer Spinne. Chuck. Was würde ich darum geben, wenn du hier wärst. Vielleicht habe ich es nie gesagt, aber deine Freundschaft hat mir in Krisensituationen Halt gegeben. Deine Scherze haben mich aufrecht gehalten, wenn ich droh te, an mir und meiner Aufgabe zu zweifeln. Wer reicht mir jetzt die Hand? Je intensiver die säuselnde Melodie wurde, umso tiefer versank Shanija in Gefühlen und Traumbildern. Szenen aus früher Zeit, ge prägt von Angst und Wut. Heruntergekommene Straßenzüge, Ar mut, Kämpfe rivalisierender Banden. Die Zeit ihrer Jugend. Die Er innerung mischte sich mit dem Jetzt. Eine endlose Wendeltreppe wuchs zwischen den Wolkenkratzern von Washington-York-State in den düsteren Sternenhimmel. Und auf ihr, ganz am Ende wartete dieser Mönch in seiner dun kelblauen Robe. Reglos. Lauernd. Bedrohlich. Einer düsteren Statue gleich schwebte er auf sie zu. Wurde größer und größer, bis das gesichtslose Nichts unter der Kapuze sie ver schlang. Erlöse mich, bat Colonel Ran. Rette mich aus dem ewigen Kampf. Schließ mich in die Arme und nimm mich in dir auf. »Stopp, halt, Pause!«, rief da eine bekannte Stimme.
Was … »Komm endlich zu dir, Boss!« Pong schrie jetzt. »Was soll das wehleidige Gesülze? Du bist die Anführerin der WILD RAMS! Du bist hart, stark, unnachgiebig und unbeugsam! Kämpfe, Colonel, kämp fe!« Shanija Ran blinzelte. »Wo bin ich?« * Eben hatte sie sich noch vor dem Gasthof zur feuchten Aussicht befun den, nun stand Shanija mit einem Mal in einer anderen, ganz und gar menschenleeren Gasse. Die Läden links und rechts waren verna gelt, verrottet und verlassen. Keine Fackel oder sonst eine Lichtquel le erhellte den Ort. Der Lärm auf den überfüllten Wegen war zu ei nem fernen Rauschen zusammengeschrumpft. Nur das ewige Ge plapper der Flüstertüte echote noch in sinnlosen Wortfetzen von den Wänden. Pong löste sich aus der Halsmulde auf Shanijas Brust, flog ein paar Schleifen, streckte sich, machte einen Buckel und flatterte schließlich in Augenhöhe vor ihr auf der Stelle. »Was war mit dir los, Boss? Hast du geträumt?« Seine Zacken glühten in einem Grellorange. Und auch der Rest seines Körpers drückte deutlich Alarmbereit schaft aus. »Ich … weiß nicht«, antwortete sie. »Dieser Typ in Kapuzenmantel war so gruslig, dass mir von den Hörnern bis zur Schwanzspitze Gänsehaut gewachsen ist.« Shanija stutzte. »Du hast den Mönch auch gesehen?« »Und wie ich den gesehen habe!« »Das würde ja heißen, dass du neuerdings meine Gedanken und Träume miterleben kannst?« Der kleine Drache wackelte nachdenklich mit seinen Barteln und zog die Nüstern kraus. »Nein, kann ich nicht. Ich les da grad gar
nichts bei dir.« »Das bedeutet …« Von einem Moment zum anderen war Shanija hellwach. Ihr Blick wanderte die Ecken und schattigen Schlupfwin kel entlang. »… der Kerl war echt und, wenn mich nicht alles täuscht, drückt er sich hier noch irgendwo herum. Wie sieht's aus Pong, haben deine Augen was von Papa Nachtsichtgerät geerbt?« »Nee, nur von OPA – dem otologischen Prälogismus-Adapter. Und der sagt mir, dass eine Armee Tausendfüßer auf dich lauert.« »Sehr hilfreich, danke.« Shanija zückte Tyr, das immer noch die Größe eines Dolches besaß, ließ das störrische Schwert aber vorerst schlafen und schlich weiter. Pong dagegen schnaubte sichtlich eingeschnappt und segelte im Tiefflug über die Planken des wackligen Stegs, der das Fundament der Gasse bildete. Mit kleinen Feuersäulen erleuchtete er bei jedem Schnaufer den Weg, verkokelte den ein oder anderen losen Span und zeichnete so eine Spur aus glimmenden Punkten. Plötzlich hörte Shanija es auch, vielmehr spürte sie es. Der Sand unter ihren Füßen vibrierte. Die Schwingung eines tiefen Grollens drückte auf ihre Brust. Es klang wie ein Stampfen … nein, wie ein Paukenschlag. »Pong, was ist das?« Shanija blieb stehen und versuchte die Quelle des Geräusches zu orten. Immer näher kam das dumpfe Hämmern. Der Sandbelag des Stegs tanzte zwischen den verglühenden Funken. Die Erdfrau presste die Hand instinktiv auf ihr Herz, als könne sie damit das Pochen im In neren dämpfen. »Tyr, bist du wach?«, flüsterte sie ihrem psimagischen Schwert zu. »Ich brauche dich wahrscheinlich, und dann werde ich keine Zeit haben, dir erst gut zuzureden.« Die Waffe bog sich wie zu einem langgezogenen Gähnen und wuchs auf Armgröße heran. Da! Ein Knacken, dann lautstarkes Quietschen. Etwas sauste von
links oben herab. Landete krachend auf den Planken und hüllte Sha nija in eine Wolke aus Sand. Sie sprang rückwärts, streckte das Schwert vor und hustete. Im fahlen Licht glänzte die Silhouette einer wannenförmigen Me tallröhre, die von einer der oberen Ebenen herunter führte. Shanija sah verwirrt zu ihrem Drachenfreund; unsicher, ob sie diesmal phantasierte. Doch auch Pong hatte den Auftritt des Dings bemerkt, fuhr in die Höhe und fauchte: »Es hätte mich erschlagen können!« Dann, ehe beide recht wussten, was sie tun sollten, spiegelten sich Flammen in der polierten Rutsche. Gejohle und Gejauchze erklan gen. Bunte Gestalten schossen die Röhre herab und kugelten jap send vor Shanijas Füße. Gaukler! Sie grinste. Wenn ich schon vor Kaspern und Clowns Angst bekomme, wird es ernsthaft Zeit für eine ordentliche Mahlzeit und ein biss chen Schlaf. »Shanija!« Pongs feuriger Atem züngelte etwas abseits einen Holz balken entlang und strahlte in die Düsternis. »Dort!« Ein Schatten huschte um die Ecke. Krabbelte. Wuselte, als würde er aus brodelndem Teer bestehen. »Also doch! Los, jetzt drehen wir zur Abwechslung den Spieß um!«, rief Shanija, hielt Tyr Überkopf, drängelte sich durch die fei ernde Artistenschar und hastete dem schwarzen Alp hinterher. Pong flatterte mit kräftigen Flügelschlägen und kampflustig schwarz-violett schimmernden Schuppen voran. Sie hetzten verwinkelte Gänge entlang, eine Stiege hinauf, quer durch einen leer stehenden Hauseingang, bis sie eine Loggia erreich ten und am anderen Ende einen mit Lampions erleuchteten Garten erblickten. Shanija bremste ab und duckte sich hinter einen der ausladenden Äste eines dicht bewachsenen Laubbaums. »Pong, Lagebericht«, flüsterte sie, als der Drache sich zu ihr gesellte.
»Das garstige Gewimmel hat sich in die Büsche geschlagen.« »Welche Richtung?« Ihr Freund züngelte zwei, drei Mal, zupfte sich mit seinen winzi gen Händen die Barteln und hob schließlich ratlos die Schultern. Shanija fuhr sich erschöpft übers Gesicht. »Seit wir in dieser ver rückten Stadt angekommen sind, stolpere ich von einer Katastrophe in die Nächste. So viel Rumgerenne, und ich habe immer noch keine Unterkunft auftreiben können. Hoffentlich ist es As'mala und Seiya besser ergangen. Komm, Pong, wir sollten zurückgehen. Die beiden warten bestimmt schon auf uns.« »Wie wär's mit Freiluft-Campen? Du hast doch früher auch kein Samtkissen für deinen Hintern benötigt«, antwortete der Drache un beeindruckt und schlängelte sich neugierig durchs Unterholz. In der Tat sah der Garten einladend aus, wie eine Oase mitten in der Trostlosigkeit der Wüste. Shanija atmete tief ein und sah sich um. Was für ein Aufwand an Pflege, vom Wasserverbrauch ganz zu schweigen. Diese namenlose Gerüststadt mitten in der Wüste war und blieb rätselhaft. »Los, Pong.« Sie deutete auf die Linien ihres Brustreliefs. »Schla fenszeit.« Der Drache murrte, folgte aber und ließ sich auf seinem Stamm platz nieder. »Blödes Wimmelwusel«, hörte sie ihn noch zischeln, dann kauerte er wieder in seiner Kuhle und war nichts weiter als ein hübsch anzusehendes Relieftattoo. Als Shanija zurück zur Loggia ging, fiel ihr beim Näherkommen ein Schriftzug über dem Torbogen auf: Paradieshof – Ruhen wie die Götter. Ein Hotel? Ohne groß zu überlegen, klopfte sie an die nächstbeste Tür, öffnete sie und fand einen mit blauem Teppich ausgelegten Gang. Aus kleinen Muscheln an den Wänden flackerte Licht und zauberte eine angenehm warme Atmosphäre. Stimmengewirr drang vom anderen Ende an ihr Ohr.
Shanija blickte an sich hinab. Das Tüllkleid sah dreckig und zer rupft aus, dazu die robusten Stiefel, die sie sich in Khatasta ausge wählt hatte. Ihre Hand umschloss immer noch Tyr. Würde man je mandem in so einem Aufzug überhaupt etwas Besseres als einen Stall anbieten? Angeekelt von ihrem Äußeren, fuhr sie sich durch die verklebten Locken, klopfte den gröbsten Dreck von der Kleidung und rückte das Wickeloberteil zurecht. Anschließend ersuchte sie Tyr im Flüs terton, sich bitte so klein und unauffällig wie möglich zu machen, versprach ihm eine extra lange Pflegebehandlung und steckte es dann, dankbar für die unerwartet widerstandslose Kooperation, zwischen zwei Tüllfalten unter den Stoffgürtel. Wie sagt As'mala immer? Brust raus, Hüfte locker schwingen lassen und lächeln, lächeln, lächeln. So grazil wie in Stiefeln eben möglich, schritt die Erdfrau den Gang entlang, bis sie in einem Raum mit Tresen ankam – offenbar Haupteingang und Empfangshalle des Hotels. Danke! Doch als ihr Blick mit den steingrauen Augen eines fröhlich plaudernden Gastes zusammentraf, rutschten ihr die Mundwinkel abwärts bis zu den Kniekehlen. Warum musste sie in dieser großen Stadt ausgerechnet hier die sem arroganten Wichtigtuer, den sie am Stadttor so derb beschimpft hatte, wiederbegegnen? Und was das Schlimmste war, nicht nur sie hatte ihn erkannt, auch er grinste jetzt breit. »Na, immer noch nicht genug von mir, Schätzchen?« Ich geh dir gleich eins drauf, Schätzchen!, grollte Shanija, rang sich zur Begrüßung ein notdürftiges Nicken ab und wandte sich ohne weitere Höflichkeitsbekundungen dem Hotelier zu. »Ich benötige eine Unterkunft für mich und zwei Begleiterinnen; wenn möglich mit Fließendwasser und Badewanne.« »Tut mir leid, Fräulein. Es ist nur noch ein Bett frei. Das letzte in
Betracht kommende Zweizimmer-Apartment habe ich eben an Herrn Hag vergeben.« Der Gastwirt wies auf den Mann mit den grauen Augen, der heiter zwinkerte. Hag. Shanija dachte spontan an die Werbeeinblendungen am Ge tränkeautomat in den Quartieren der Cygnus-Basis – damals, bevor die WILD RAMS zu ihrer wichtigsten Mission aufgebrochen waren. Zu diesem Selbstmordkommando. Und doch hatte Shanija sich dabei wohler gefühlt als in der Rolle der gestrandeten Geschwaderkom mandantin. Sie war gut darin, Situationen schnell und präzise zu analysieren, Befehle auszuführen, zu erteilen und gerade so viel mit dem Risiko zu spielen, wie nötig war. Aus politischen Rangeleien oder zivilen Streitigkeiten hatte sie sich – von den Bandenkämpfen in ihrer Jugend abgesehen – herausgehalten. Kalkuliert langsam drehte sie sich dem Mann in genau sitzenden, teuren Klamotten und Umhang zu. Eine Antwort ist das Echo auf eine Frage, hatte ihr Kwon-Wu, der strategische Ausbilder, im ersten Jahr auf der Militärakademie er klärt. Das gleiche Prinzip wie beim Schachspielen: Um den Gegner in die gewünschte Richtung zu lenken, gilt es, ihm ein kurzfristiges Erfolgserleb nis anzubieten. Shanijas Bauernopfer sollte ihr Stolz werden. Sie zwang sich zu ei nem Lächeln. Senkte den Kopf und blickte dem Angeber, der sie mit gut zehn Zentimetern überragte, gespielt schüchtern ins Gesicht. Er war durchaus ein stattliches Exemplar der menschlichen Rasse, das musste sie zugeben (es war ja nicht so, dass sie vor lauter Pflichtbewusstsein völlig blind war). Hochgewachsen, ordentlich ra siert, mit kräftigen Kiefermuskeln und einer dominanten, aber nicht unförmigen Nase. Dunkelblondes, leicht zerzaustes Haar umrahmte sein Profil und ließ ihn jugendlich wirken. Ganz im Gegensatz zu seinen Augen. Grau waren sie. Steingrau, mit leichten Marmorierun gen darin. »Ich höre?« Hags Mund formte sich zu einem verschmitzten Halb mond.
»Bitte, glauben Sie mir, ich bedaure meinen Auftritt am Tor zu tiefst. Sie hatten vollkommen Recht. Die Hitze hat mir das Gehirn aufgeweicht und mich wie eine Irre handeln lassen. Und meinen Ge fährtinnen erging es kaum anders.« Die Verlogenheit ihrer Worte schmerzte Shanija – so, als hätten die Silben, die sie hervorwürgte, Widerhaken. Trotzdem lächelte sie be ständig weiter, während sie fortfuhr: »Haben Sie Erbarmen mit drei reisenden Frauen, denen das Schicksal arg mitgespielt hat.« Sie machte eine Pause und bemühte sich um einen möglichst verführe rischen Augenaufschlag, den sie sich von As'mala abgeschaut hatte. »Bitte, als Kavalier und Gentleman, überlassen Sie uns großzügiger weise das Apartment. Der Hotelier wird Sie sicher irgendwo anders fürstlich unterbringen.« Kurz bevor der Würgereflex sie zu einem Hustenanfall zwang, beendete sie ihre Ansprache und blickte den Widerling erwartungsvoll an. »Netter Versuch, aber trotzdem vollkommen unglaubwürdig. Das erste Mal?« Mit dieser unverfrorenen Erwiderung ließ er Shanija ste hen und marschierte die Treppe hinauf. Shanija war sprachlos. Dann platzte sie. »Ja, gibt's denn so was! Ist das hier ein Versammlungsplatz für Irre und Mistkerle?« Wutent brannt marschierte die ehemalige Kommandantin zum Hauptaus gang, stapfte auf die Straße und knallte die Tür hinter sich ins Schloss. »Das war mein letzter Versuch! Ein für alle Mal, ich hab ge nug. Dann lieber das Haus zur feuchten Aussicht.« * Spät in der Nacht schleppten sich die drei Gefährtinnen über die verschlungenen Pfade des Gerüstlabyrinths. Beim Zusammentreffen am Brunnen waren sie allesamt zu ausge laugt gewesen, um noch großartig von ihren Erlebnissen zu berich ten. Einzig Seiya wirkte trotz des turbulenten Tags fröhlich und zu frieden. Neben Wasserschläuchen und jeweils einer Tasche mit Pro
viant hatte sie offenbar genug Zeit gehabt, um sich neu einzuklei den. Statt des giftgelben Tülls umschmeichelte jetzt ein Kleid aus violetter Seide ihren zierlichen Körper – knöchellang und an der Sei te geschlitzt. Ein mit Sternen bestickter Schal um die Hüfte rundete das Ensemble ab. Die Erdfrau konnte nicht umhin, die Prinzessin für ihren Adel zu bewundern. Würdevolles Auftreten und Eleganz zählten nicht gera de zu Shanijas Stärken. Beim Militär ohnehin eine Nebensächlich keit, und um Festivitäten hatte sie sich zumeist gedrückt. Hier, im Trubel fremder Kulturen, hing einer solchen Begabung beachtens werte Macht an. Wahrscheinlich hätte Seiya den arroganten Herrn Hag mit links um den Finger gewickelt. Shanija, die es gewohnt war, sich im Hintergrund zu halten, fühlte sich hier damit immer ein wenig deplatziert. Ganz im Gegensatz zu As'mala. Die Diebin wusste sich mit ihrem kontaktfreudigen Wesen überall durchzuboxen, und das mitunter durchaus im wörtlichen Sinne. Eine sich prima ergänzende Truppe, dachte Shanija. Sie strich über das Schmucktattoo in ihrer Halsgrube. Und ein bisschen Dickschädel gehört natürlich auch dazu. »Wann geht endlich die Sonne auf?« »Was will mir Gott mit diesem nässenden Ausschlag sagen?« »Hass ist ein beißwütiges Tier, das auch seinen Herrn nicht schont.« Die Stimme der Flüstertüte hallte mit ihren immerwährenden Fra gen und Antworten durch die Gassen. Ein sinnloses Durcheinander, fast so, als würde sie die Suchenden verhöhnen wollen. Doch Shanija war zu müde, um über den Sinn und Zweck solch ei ner Stätte zu philosophieren. Sie wünschte sich nur noch Schlaf – ru higen, erholsamen Schlaf. Ob nun auf Samtkissen oder einem Sack voll Stroh, ganz egal. Hauptsache, sie konnte für ein paar Stunden
loslassen, sich entspannen und in sicherer Umgebung neue Kräfte sammeln, um zu ihrer gewohnten Disziplin zurückzufinden. * Wie erwartet, brannte im Innern der Unterkunft noch Licht. Die jun ge Herbergsmutter begrüßte sie mit selbstgefälligem Lächeln und streckte Shanija schmierige Hände entgegen. »Drei Weiber … macht dreißig Om.« »Dreißig? Als ich vorhin nachgefragt habe, hast du gesagt, sieben Om pro Kopf«, schimpfte Shanija. Das Mädchen grinste breit und schob drohend die Hände überein ander. »Okay, okay … was immer du willst, setz uns bloß nicht vor die Tür.« Shanija legte ihre achtzehn Om auf die Theke. As'mala griff in ihre Kleidertaschen und ließ die restliche Anzahl Murmeln einzeln in die Klauen der Hexe fallen. »Oberstes Stockwerk, die linke Leiter«, krächzte diese sichtlich zu frieden und nickte mit schmutzigem Kinn in Richtung Wand. Dort, Holm an Holm, standen verschieden lange Leitern, die jeweils in ei nem Loch in den unterschiedlichen Etagendecken mündeten. »Seid ihr schwindelfrei?«, fragte Shanija müde und begann, ohne auf eine Antwort zu warten, den Aufstieg. »Und für solch ein Rattenloch bist du stundenlang durch die Stadt gelaufen?«, fragte As'mala. »Da sah ja der Büßerpfahl noch einla dender aus.« »Lass sie«, mahnte Seiya und kraxelte hinterher. »Meckern macht es auch nicht besser.« Das sah die Diebin ein und entschied sich nach ein paar unartiku lierten Unmutsäußerungen ebenfalls für die Kletterpartie. Auf dem Dachboden, der sie am Ende der Sprossen erwartete, war es düster und stank. Verschieden stimmiges Schnarchen ließ auf mindestens
zwei weitere Zimmergenossen schließen. Männliche, der Tonlage nach. Shanija kroch auf allen Vieren in die entgegengesetzte Richtung, ertastete eine mit Stoff bezogene, leere Matte und wickelte sich mit einem ergebenen Seufzer in die darauf platzierte Filzdecke ein. Gedämpftes Gestöhne und Gepolter drang von den tiefer liegen den Stockwerken bis unters Dach. In dieser Nacht träumte nicht nur Seiya von einem königlichen Bad, wohlriechender Seife und flauschigen Laken.
6. Mun lag in seiner Hängematte auf der obersten Aussichtsplattform des lila Viertels und betrachtete den Nachthimmel. Er wusste jetzt, wer die Sonnenkraft in sich trug. Obwohl er immer noch Zweifel hegte, ob die Geschichte über die Sonnenkraft nicht nur eine weitere Legende war. Nein. Die Beschreibung des Reisenden über die Trägerin war zu detailliert, zu treffend gewesen. Die unglaubliche Energiewelle, ihre glühenden Augen während des Spektakels, der feuerspeiende Dra che, der den Feind mit einem einzigen Hauch seines Atems ver dampft hatte. Aber war eine Menschenfrau überhaupt fähig, solch eine Kraft zu beherrschen und gezielt einzusetzen? Wusste sie um die Mythen? Dass er mit der Auserwählten ausgerechnet hier, in der Stadt der Suchenden, zusammengetroffen war – an dem Ort, der einst auf al les eine Antwort gewusst hatte – schien ihm wie ein Fingerzeig Got tes. Oder Durs? Mun fuhr sich über das rasierte Haupt und die haarlosen Brauen. Gott. Dur. Segen bringender Heiland oder Qual verheißender Dä mon. Er glaubte weder an den einen noch an den andern. Aber an die Passage glaubte er. Der Riss im Kontinuum war kein Hirnge spinst der Agnostiker, er war geschichtlich belegt. Eine seit Jahrhun derten überlieferte Prophezeiung, die kurz vor ihrer Erfüllung stand. Was sie genau mit sich bringen würde, darüber stritten Got tesanhänger mit Teufelsanbetern, Gläubige wie Skeptiker. In seiner Adeptenausbildung war Mun beigebracht worden, dass dieser Riss vermutlich eine Verbindung zu einem anderen Univer sum öffnen würde. Ein Schauspiel, das sich wiederkehrend in Inter
vallen von zehntausend Quartennien ereignete und den Weg eine gewisse Zeitlang für etwas frei gab. Etwas, das entweder durch den Spalt kommen oder diese Welt zu sich hinüber saugen würde. »Was für eine Rolle spielen die Bewohner von Less dabei?«, fragte er, den Sternen zugewandt. »Welche Figur auf dem Schicksalsbrett ist für mich reserviert?« Er spürte, dass die Erlebnisse der letzten Wochen und Monate die maximale Kapazität seines Aufnahmevermögens fast erreicht hat ten. Er war voll. Und doch konnte er – nein, wollte er – noch nicht aufbrechen. Nicht ohne sie. Die rot gelockte Fremde trug eine schwere Bürde, war – für ihn, für die Bibliothekare und für Less – zu bedeutsam, als dass er sich einfach abwenden konnte. Sein Auftrag war eindeutig und er würde ihn erfüllen. * Meat und Meadow hatten die Hälfte ihres nächtlichen Spaziergangs bereits hinter sich gebracht und mussten sich beeilen, wenn sie noch vor den Strahlen der ersten Sonne den Horizont erreichen wollten. Ein warmer Windstoß schwappte über die Balustrade der Aus sichtsplattform und schaukelte Muns Hängematte hin und her. Er genoss diese Zeit des Erwachens. Die Flüstertüte hatte ihre Stimme zu einem leisen Wispern gesenkt. In der Gerüststadt herrschte für wenige Stunden fast völlige Stille. Nur das Quietschen und Knarren der Balken, der Bohlen und Banden war zu hören. Als ächzte ein ge fangenes Tier in den hölzernen Wänden und Gemäuern. Lautlos richtete Mun sich auf, setzte erst Zehen, dann Fußballen und zuletzt die Fersen auf den Boden, öffnete sein Gewand und streifte es ab. Morgenluft umwehte seinen blassen Körper. Er stand auf, griff in seinen Lederbeutel und zog die rasiermesserscharfe Klinge aus dem
Etui. Zeit für das Morgenritual.
7. Shanija erwachte, als etwas Klebriges über ihre Wange fuhr. Sie hielt den Atem an, sammelte sich, öffnete dann blitzschnell die Augen, schleuderte mit einem Rückhandschlag den Angreifer zur Seite und fasste mit der anderen nach Tyr. »Was, zum Teufel …« Vor ihr lag, zusammengerollt und kläglich winselnd, ein haariges Knäuel, das Shanija entfernt an einen Koalabär erinnerte. As'mala und Seiya waren von ihrem Gefluche erwacht und blick ten sie aus verschlafenen Augen an. »Is was?«, fragte As'mala und streckte sich, während die Prinzes sin ihre langen schwarzen Haare schwungvoll nach vorn über den Kopf warf und mit einem Kämmchen zu ordnen begann. »Muksch!« Ein gurgelnder Ruf kam vom Schlafplatz gegenüber, aus dem sich ein Echsenwesen schälte. »Muksch, du lästiger Floh! Wo steckst du?« Die Glubschaugen des Kuntar rollten in den wulstigen Augenhöh len. Als er das Knäuel neben Shanija entdeckte, verengten sich seine Pupillenspalten. Eine blassblaue, gespaltene Zungenspitze schoss aus dem Maul, tastete die Luft ab und verschwand. »Herrje! Ausge rechnet schwache Menschlein hat er sich ausgesucht.« Das Gurgeln der Echse ging in ein heiseres Gelächter über. Shanija spürte Feindseligkeit in seinen Gesten und zog die Beine an, um bei Bedarf rascher aufspringen zu können. Sie sah aus den Augenwinkeln, dass ihre Gefährtinnen sich ebenfalls anspannten. Der Kuntar klappte sein zahnbewehrtes Maul mit lautem Schnap pen zu, streckte den Kopf vor und machte sich lang, wie ein Hund, der etwas Unbekanntes taxiert. Dann zischte er: »So geht das nicht.
Ihr könnt Muksch nicht einfach nehmen und behalten.« »Das wollen wir gar nicht«, gab Shanija ruhig, aber bestimmt zur Antwort. »Aber er möchte es. Also, wie steht's? Dein Vorschlag?« »Das ist ein Missverständnis. Ich habe kein Interesse an deinem Tier.« Wieder dieses heisere Lachen. »Du bist ein dummes Weibchen! Arglos und schwach. Muksch, die sind nichts für dich. Komm zu mir.« Der Kuntar gab leise lockende Schnalzer von sich, machte einen Schritt nach vorn und streckte die Hand nach dem haarigen Wesen aus. Doch Muksch, dachte nicht daran zu gehorchen. Er sträubte sein Fell, zog eine Schnute und hoppelte näher zu Shanija. Sie stöhnte innerlich. Konnte ein Tag nicht einfach mal ganz nor mal beginnen? Sie stand auf und nahm automatisch Kampfstellung ein; eine Hand bereit zum Block, die andere auf Tyr gelegt. »Wir sind auf der Durchreise und haben keine Verwendung für deinen kleinen Freund. Also, pfeif ihn zurück, und die Sache ist erledigt.« »Er lässt sich nicht so leicht zurücknehmen. Nicht gegen seinen Willen.« Ein fragender Blick zu As'mala und Seiya, die beide ratlos die Schultern hoben. Es blieb wohl an ihr hängen. Shanija bückte sich, packte den Kuschelbär und hob ihn auf … oder versuchte es zumin dest. Denn als ihre Finger ihn berührten, verwandelte er sich. Sein Fell zerschmolz zu einer glatten, glänzenden Oberfläche. Wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte den plötzlich bleischweren Metall klops nicht bewegen. Der Kuntar lächelte süßlich. »Du kriegst Muksch für nur zwanzig Om. Zwanzig sind nicht viel, ein guter Preis. Ein faires Geschäft.« »Aber ich will keinen …«, setzte Shanija an. »Fünf!« As'mala war ebenfalls aufgestanden. Shanija fiel auf, dass sie das Gesicht nicht dem Kuntar zuwandte.
»Zwanzig! Soviel ist er wert.« »Sieben, und du lässt sofort deine Grimassentricks, oder ich werde deine Augen mit meiner Stilettspitze bearbeiten. Seiya, gib ihm die Murmeln, aber schau ihn nicht an.« Seiya kramte die letzten Murmeln hervor, zählte sieben ab und warf sie dem Kuntar vor die Füße. »Nimm sie und verschwinde!«, rief As'mala. »Sofort!« »Gar nicht so dumm, Menschlein. In Ordnung.« Der Kuntar bück te sich, sammelte die lila Steinkügelchen auf, griff nach seiner Habe und huschte die Leiter hinab. »Was war das denn eben?«, fragte Shanija. »Nur ein Hohlkopf oder Blinder handelt mit einem Kuntar. Ein Kampf mit so einem Mimikrymeister wäre geradezu Selbstmord. Der buddelt sich in deinen Verstand, und das war's.« »Also, ich hab gestern nicht das Gefühl gehabt, dass diese Echsen sehr gefährlich wären«, meinte Seiya, »Man muss halt aufpassen, dass man nicht übers Ohr gehauen wird.« »Du hast dir beim Einkaufen ausgerechnet einen Kuntar als Ver handlungspartner ausgesucht?« As'mala streckte theatralisch die Hände gen Himmel. »Das würde allerdings erklären, warum wir pleite sind. Oder liegt es vielleicht an den netten Kämmchen und Kleidchen, die du dir beim Schlendern durch die Stadt gegönnt hast, während ich beinahe verreckt wäre?« »Suchst du Streit?« Mit elegantem Schwung richtete Seiya sich auf, wischte ihre lange Mähne nach hinten und hob kampflustig die Fäuste. »Kannst du haben!« As'mala stutzte und prustete los, und Seiya fiel mit ein. Shanija runzelte die Stirn. »Seid nicht albern. Lasst uns lieber früh stücken gehen.« Sie packten ihre Sachen zusammen, verteilten den Proviant und schickten sich an, die Leiter hinab zu klettern, als der unbewegte Metallklumpen sich zurückverwandelte und in großen Sprüngen
hinterher gehoppelt kam. »Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge«, scherzte die Diebin und rutschte geschickt die Stiegenholme entlang nach unten. Shanija verzog das Gesicht. Das Plüschtier starrte sie aus weit auf gerissenen Kulleraugen an. Schließlich streckte sie den Arm aus, da mit es auf ihren Rücken krabbeln konnte. * »Als Erstes werden wir uns heute die Zugkarten besorgen«, ent schied Shanija, während sie lustlos mit dem Löffel in dem grobkör nigen Brei herumrührte, den ihnen die Herbergsmutter in großzügig gefüllten Schalen vorgesetzt hatte. »Und damit As'mala nicht wieder Opfer ihres Temperaments wird, werden wir sie diesmal begleiten.« »Alle?« Die Diebin deutete mit einem Kopfnicken auf Muksch, der am Boden zwischen Shanijas Füßen hockte und leise schnurrte. Die Erdfrau zuckte die Achseln. »Ich kann ihn ja schlecht irgend wo anbinden, oder?« »Wenn du ihn behältst, gibt das bestimmt ein Eifersuchtsdrama«, sagte Seiya und tippte sich gegen das Brustbein. »Unsinn, Pong ist vernunftbegabt. Das ist etwas ganz anderes.« As'mala klopfte geräuschvoll mit dem Löffel an ihre Schale. »Heda, Wirtin, brauchst du noch 'ne pelzige Einlage für diesen Schweinefraß?« Das schmuddlige Mädchen kam mit gelangweiltem Blick hinter dem Tresen hervor und stellte sich breitbeinig in den Gang. »Schmeckt's dir nicht? Kein Problem.« Bevor die Diebin antworten konnte, hörte Shanija das bekannte Klatschen zweier Hände und fand sich samt Gefährtinnen und Fell knäuel draußen auf der Straße wieder. As'mala wollte sofort wutschnaubend zurück und die Bude mit ih
rer Handaxt kurz und klein schlagen, doch Shanija hielt sie zurück. »Lass gut sein, As'mala. Zeig uns lieber den Weg zum Rathaus. Ich, für mein Teil, möchte so schnell wie möglich raus aus diesem Affen stall.« * Als sie nach einigen Irrläufen durch die verwinkelten Gassen der Gerüststadt endlich auf dem obersten Plateau des lila Viertels anka men, stießen sie statt auf eine Warteschlange nur auf Heerscharen von Bauarbeitern. Das Gebäude glich einem Skelett, abgenagt und ausgeschlachtet. As'mala war fassungslos, lief im Kreis und gestiku lierte wild. »Ich schwöre, das sah gestern noch ganz anders aus! Dort waren Stufen. Genau da habe ich mich mit dieser fetten Kröte angelegt. Und auf der anderen Seite stand der Büßerpfahl.« Shanija suchte nach einer logischen Erklärung. »Das ergibt keinen Sinn. Bist du sicher, dass das hier der richtige Platz ist?«, sagte sie schließlich. »Ja, ich bin sicher!« »Dann sollten wir fragen, was passiert ist«, warf Seiya ein und marschierte auf den nächstbesten Arbeiter zu. »Das Rathaus«, antwortete der bullige Handwerker gerade, als Shanija dazu kam, »liegt jetzt im orangefarbenen Viertel. Die Halun ken haben letzte Nacht auf ihrer Seite heimlich ein Stockwerk drauf gesetzt. Und wer am höchsten wohnt, der ist eben Oberbürgermeis ter, so will es das Gesetz.« »Hat denn hier jeder den Dummkoller?« As'mala kochte vor Wut und wollte den Mann packen. Muksch war schneller. Wie ein Ge schoss raste das Pelztier auf die Diebin zu, umschlang ihre Hände und verformte sich zu einem fest geschnürten Klumpen Tauwerk. »Lass aus! Runter mit dir, du Ableger eines stinkenden Meeresteu fels!« As'mala versuchte es mit ihrer Psimagie, doch Muksch blieb
hartnäckig, wand sich wie eine Schlange immer neu um ihre Arme, bis sie aufgab. Shanija schmunzelte. »Muksch, das reicht. Ich denke, sie hat sich beruhigt.« »Dann baut ihr hier fortlaufend um die Wette nach oben?«, sagte Seiya zu dem Bauarbeiter, der sich achselzuckend abwandte. »Ir gendwann kracht euch alles zusammen!« »Auf der Erde würde man Leute, die sich solch verquere Gesetze ausdenken, Schildbürger nennen. Betitelt nach einer Sammlung von Schelmengeschichten, die im fiktiven Schilda spielen«, dozierte Sha nija. Auch eine Erinnerung der Kindheit, als sie ihre »Eulenspiegel«-Phase hatte. »Zum Beispiel haben die versucht, mit Eimer Sonnenlicht einzufangen und ins Rathaus zu tragen, weil sie beim Bau die Fenster vergessen hatten.« »Schilda – den Namen solltest du dem Bürgermeister empfehlen!«, schlug die Diebin vor, während sie sich die befreiten Handgelenke rieb. Muksch, der seine bärige Gestalt wieder angenommen hatte, ga loppierte über die Baustelle und sprang aufgeregt an einer gepark ten Korbgondel hoch. »Sollen wir?«, fragte die Erdfrau. * Während das Gefährt sich – von Seiya und As'mala mit der Kurbel angetrieben – das Seil entlang hangelte, bemerkte Shanija beim Zu rückblicken einen Schatten, der im Inneren der alten Rathausruine stand und ihnen nachblickte. Der Mönch. War er es gewesen, der Pong und sie am Abend zuvor in der Gasse belauert hatte? Während sich langsam Erker, Ecken und violette Dächer zwischen Shanija und ihren Verfolger schoben, versuchte sie, einen Zusam menhang zu finden. Seit wir angekommen sind, schleicht dieser Kerl um
uns herum. Oder ist es jedes Mal ein anderer? Schließlich ist dieser Ort ein Mekka für solche Leute. »Wer sind eigentlich diese Typen in dunkelblauem Umhang und Kapuze?«, fragte sie laut. »Die mit dem Signet der schwarzen Schleife auf Weiß? Das sind sogenannte Adepten«, antwortete Seiya. »Ausgesandte der Biblio thekare. Sozusagen wandelnde Chronisten. Über die habe ich viel gelesen.« »Lesen und Erleben sind zwei Paar Stiefel«, stichelte As'mala. »Ich glaube, die meisten sind Insektoide oder Flossenwesen. Verschlage ne Gesellen, die nach Sensationen gieren und das Leid anderer teil nahmslos begaffen. Mit denen bin ich schon öfter zusammengetrof fen.« »Zusammengetroffen? Du bist mit ihnen wahrscheinlich zusam mengestoßen, um ihr letztes bisschen Besitz aus den Taschen zu fi schen«, gab die Prinzessin kühl zurück. Shanija war erstaunt. »Sie kommen vom Zentralarchiv? Warum befragen wir sie dann nicht nach der Urmutter und bitten um ihre Hilfe?« »Weil sie Adepten sind – wandelnde Tagebücher ohne eigenen Willen oder Emotionen. Deine Wünsche und Bedürfnisse sind de nen scheißegal. Auch wenn sie vor dir stehen, während du nur noch mit einem Finger an der Klippe hängst, würden sie dir nicht helfen. Die mischen sich nie in irgendwas ein. Elendiges Insektenpack!« As'mala spuckte aus. »Aber sie sehen so menschlich aus«, sagte Shanija und suchte in ihrer Erinnerung nach verräterischen Details. »Jemand wie wir kann kein Adept werden. Mensch ist eine Art Schimpfwort bei diesen Archivaren«, erklärte Seiya mit einem Sei tenblick auf die Diebin. »Und das Zentralarchiv? Werden sie uns dort eine Antwort geben?« Auf diese Frage herrschte längeres Schweigen.
Als das Ende des Seils in Sicht kam, ließen die Zwei die Zahnrad kurbel los, Shanija rastete die Bremse ein, und die Transportkabine blieb schwankend auf Höhe eines leuchtend orangefarbenen Lan dungsstegs stehen. »Na dann, auf zu Rathaus Nummer Zwei«, brummte As'mala. Als Shanija ausstieg, spürte sie ein Ziehen in ihrem Körper. Zwi schen das andauernde Wortgewimmel der Flüstertüte mischte sich fremdes Gewisper, eine leise Melodie. Ihr Blick wanderte umher, suchte die Umgebung nach weiteren Verfolgern ab. Und blieb an einem langen, vom Wind aufgebausch ten Umhang hängen. Einbildung? Verfolgungswahn? Oder kam dort drüben, über eine der Hängebrücken, nicht derselbe arrogante Kerl, der sich am Tor vorgedrängelt und ihr danach das letzte be wohnbare Zimmer vor der Nase weggeschnappt hatte? Aber diesmal nicht, diesmal bin ich die Erste! Shanija blickte nach oben. »Wer am höchsten baut, gewinnt. Also müssen wir hier lang. Die Leitern hoch. Schnell!« Mit Muksch an der Spitze eilte die Truppe Stiege um Stiege hinauf, bis sie auf einem kleinen, in verschiedenen Orangeschattierungen bemalten Platz ankamen. Eine Traube Wartender stand am Fuß einer erhöhten Terrasse. Rechts und links bewachten zwei dunkelhäutige, groß gewachsene Frauen in kostümartigen Uniformen eine hüfthohe Schwingtür – der Einlass in das Freiluftbüro der frischgebackenen Bürgermeisterin. »Wieder so eine Kröte.« Shanija stöhnte. »Und dazu noch eine Weibliche. In der Not fressen die sogar ihre eigenen Kinder«, erklärte As'mala voller Abscheu. Folgsam stellten sie sich in die Schlange und Shanija konnte nicht umhin, von Zeit zu Zeit einen Blick hinter sich zu werfen, um nach dem Fatzke im Umhang Ausschau zu halten. Arrogant und unver schämt war er. Straßenköterblond war er; eine Farbe wie nasser Sand. Und dazu diese Augen … zwei Monde auf der Wasseroberflä
che eines tiefen Brunnens. Unergründlich. Sehnsüchtig … »Shanija?« »Was?« Die Erdfrau blickte in Seiyas besorgtes Gesicht. »Geht's dir nicht gut? Du träumst doch sonst nicht am helllichten Tag.« Die Prinzessin hatte Recht. Irgendwas stimmte nicht. Diese ganzen süßlichen Bilder, die sich neuerdings in ihre Gedanken schlichen, waren völlig untypisch für sie. Shanija Ran war keine sentimentale Romantikerin, die alten Liebschaften nachtrauerte oder sinnlich in erotischen Phantasien versank. Sie war Pragmatikerin. Gelegentli cher Sex war in Ordnung, eine Bindung aber nicht bei ihrer Beru fung. Sie nahm die Schultern zurück und straffte sich. Kopf hoch. Brust raus. Die Augen auf den Feind gerichtet, befahl sie sich stumm. Doch die flüsternde Melodie ließ sie nicht los. Verscheuchte das Licht und trank die Farben dieser Welt aus. Die Widersacher kamen von allen Seiten, stürmten auf Shanija ein. Graue Schatten, überall Mönche, und dazu dieser eitle Laffe, der mit seinem Reichtum protzte … Shanija taumelte. Sie spürte, wie Seiya ihren Arm fasste und sie stützte; nicht leicht für das zierliche und kleinere Mädchen. Shanijas Hände suchten fahrig nach einem Halt, fühlten Stoff und krallten sich darin fest. Die Zeit verstrich. Kopf wie Watte. Taub. Nur diese Stimmen, die sie riefen. Als Shanija die Augen wieder aufschlug, blickte sie in zwei steingraue Monde. »Na, das nenn ich mal eine umwerfende Begrüßung.« Mister Snob zwinkerte ihr zu und schob sie zurück in die Senkrechte. Shanija nahm vage die Prinzessin an der einen und As'mala an ih rer anderen Seite wahr. Wut und Scham flossen in ihrem Magen zu sammen und entzündeten ihr Blut. Hitze schoss ihr in den Kopf.
»Lasst mich! Es geht mir gut! Hauptsache, dieser … dieser Macho fasst mich nicht an!« »Ein widerspenstiges Kätzchen, was?« Er lächelte. Charmant. Be törend. Aber Muksch kam ihr zu Hilfe, blähte sich auf wie ein Kugelfisch, verwandelte sein Fell in ein Stachelkostüm und rollte drohend vor dem Kerl auf und ab. Genau, Muksch. Da ist die Grenze. Keinen Schritt näher, sonst vergesse ich mich. Shanija ignorierte die fragenden Blicke der Gefährtinnen, machte auf dem Absatz kehrt und rückte in der kürzer werdenden Warteschlange auf. Begleitet von dem beständigen Wispern in ihrem Hinterkopf. * »Der Nächste.« Shanija drückte das Gatter mit dem Oberschenkel auf und trat auf die Terrasse. Die warzige Kröte mit ihren kleinen verschrumpelten Brüsten kratzte sich den Bauch. Der Luftsack hob und senkte sich in gleich mäßigem Rhythmus. »Anliegen?« »Ich heiße Shanija Ran. Und das ist …« »Namen tun nichts zur Sache. Dein Anliegen?« »Wir sind durch ungünstige Umstände hier im Nirgendwo ge strandet und müssen schnellstmöglich weiter Richtung Osten. Dazu wollen wir den Zug nehmen und brauchen, wie uns gesagt wurde, eine Reisegenehmigung.« »Wie viele?« »Drei Tickets«, antwortete Shanija, hob aber gleich darauf die Hand, sah auf das stachlige Etwas, das sie immer noch schützend
umkreiste, und verbesserte dann: »Dreieinhalb Tickets. Für mich, meine Begleiterinnen und einen Werbär.« Die Uriani schmatzte träge und entschied: »Das macht zusammen zehn Om. Zahlbar sofort.« Erleichtert über den moderaten Preis, legte Shanija die letzten Murmel, die sie noch besaßen, auf den Tisch und wollte nach den abgestempelten Fahrkarten greifen, als … Ein schwabbelnder Schauer lief durch den aufgedunsenen Körper der Bürgermeisterin. Sie schnappte nach Luft, ruderte mit den Ärm chen und quakte erbost: »Sieht hier etwa irgendetwas Lila aus? Ist auch nur eine Latte, Span oder Nagel in diesem scheußlichen Misch masch aus Blau und Rot bepinselt? Nein! Denn das hier ist das oran gefarbene Viertel. O-R-A-N-G-E!« Mit einem Wisch waren die Murmeln vom Tisch gefegt, und die Wachen schickten sich gerade an, die verdutzte Gruppe zum Aus gang zu bugsieren, da mischte sich eine nur allzu bekannte Stimme ein: »Ich könnte aushelfen und den nötigen Betrag in die richtige Währung tauschen – zu einem mir angemessenen erscheinenden Wechselkurs, versteht sich.« »Das wäre außerordentlich n …«, begann Seiya. Shanija unterbrach. »Niemals!« »Die Wechselstube ist unten am Tor«, warf einer der anderen War tenden ein. »Lieber lauf ich mir die Füße wund, als von dem da Hilfe anzu nehmen!« »Steckt dir 'ne Gräte im Arsch, oder was soll dieser Aufstand?« As'mala packte Shanija an den Schultern und schüttelte sie. Aber sie wollte sich nicht beruhigen. Im Gegenteil. Lange aufge staute Gefühle brachen sich ihren Weg an die Oberfläche und befrei ten sich mit einem Schrei aus ihren Fesseln. »Weg von mir! Alle!« Ohne nachzudenken, lief Shanija los, boxte sich den Weg frei, sprang die Stufen hinab, schwang sich über Umzäunungen, Balus
traden und Tauwerk. Blind vor Zorn auf die Welt und sich selbst stürmte sie Stege, Brücken und Rampen entlang. Doch die Stimmen in ihrem Kopf hielten Schritt.
8. Shanija rannte, bis ihr Herz gegen die Schläfen pochte und ihre Lun ge sich in ein Nadelkissen verwandelt hatte. Gejagt. Verfolgt, wie ein Tier. Sie brauchte einen Ausweg. Ein Versteck. Ein Ziel. Sie stolperte, fing sich in letzter Sekunde, klammerte sich orientie rungslos an einen Stützpfeiler und sackte schließlich mit dem Rücken an einer Hauswand entlang zu Boden. Was war denn nur los mit ihr? Wo war Colonel Shanija Ran geblieben, die man hinter ihrem Rücken Cold Angel genannt hatte? Ein Gefühl von Enge zentrierte sich in ihrer Halsgrube. Im nächs ten Moment purzelte Pong aus der Reliefmulde und landete keu chend im Staub. »Willst du uns umbringen?« Die Schuppen des kleinen Drachen schillerten in Wellen aus Braun und Grün. Seine Bartelhaare zuckten nervös, als er zu Shanija aufsah und sich hektisch durch den Straßenstaub schlängelte. »Sag schon, Boss, biste durchgeknallt?«, fragte er unverblümt. »Oder ist das dei ne Art, Verliebtheit auszudrücken?« »Ich … bin nicht verliebt«, antwortete Shanija schwach. »Also Nervenzusammenbruch, na toll. Hast du dabei mal an mich gedacht?« »Angst um deinen Schatz?« Shanija verzog den Mund zu einem erschöpften Lächeln. »Dein Schatz ist mein Schatz, vergiss das nicht.« Pongs Farbe schlug in Aschgrau um, während er aus Mund und Nüstern Rauchwölkchen blies. »Ich kenne dich, bin ein Teil von dir. Du kannst mich nicht verstoßen.« Tack. Tack-Tack-Tack.
Shanija und Pong fuhren gleichzeitig herum. Blickten um sich. Sie kannten dieses krabbelnde Geräusch. »Der Schatten«, flüsterte die Erdfrau und registrierte mit Schre cken, dass sie sich ein zweites Mal in einer abgelegenen Seitengasse befand, ohne recht zu wissen, wie sie hierher gekommen war. Lang sam erahnte sie ein Muster. »Pong, kannst du seine Position orten?« Der Drache erhob sich mit ein paar langgezogenen Flügelschlägen in die Luft und segelte in einer Spiralbewegung wieder zu ihr herab. »OPA sagt: Am Ende der Straße«, raunte er, als er auf Kopfhöhe angelangt war. Die ehemalige Kommandantin zog ihr Schwert. »Tyr, wach auf und streck dich. Es gibt Arbeit.« Die magische Waffe gehorchte und baute sich unter leisem Ächzen zu seiner vollen Größe auf. Shanija packte den Griff fester und legte die andere Hand unterstützend ans Heft der Waffe. Mit aller Macht versuchte sie die chaotischen Gedanken auszu blenden, sich zu konzentrieren. Nur mit klarem Kopf und Entschlossen heit kann man siegen. Aber ihr Kopf war nicht klar und ihre Entschlossenheit irgendwo im Sumpf der Mysterien verloren gegangen. Schwarzer, wuselnder Teer schob sich über die Bohlen und an den Häuserwänden entlang auf sie zu und brachte die Stimmen zurück, lauter als je zuvor. Beschwörende, bezirzende Worte, die Shanija schwindlig machten. Figuren türmten sich aus dem Meer aus schwarzem Gewimmel auf. Lockende, winkende Hände. Wiegende Arme. Streichelnde Fin ger. Dahinter die Silhouette des Mönchs. Shanija ließ ihr Schwert sinken. »Erlöst mich endlich!«, rief sie. Und das Ungeheuer kam, um ihren Wunsch zu erfüllen. Die Woge der Insekten schoss heran – mal von links, dann von rechts, als wollte man sie vor sich hertreiben. Doch Shanija blieb stehen, wie sehr Pong auch mit seinen kleinen
Ärmchen an ihr zerrte. »Shanija, verflixt nochmal! Was macht du? Einen öffentlichen Selbstmord inszenieren?« As'malas Stimme. Wie in Trance beobachtete die Erdfrau ihre Gefährtinnen, die sich schützend um sie scharten. Die Prinzessin nahm den Kopf zurück, öffnete den Mund, und die erste Riege der Angreifer erstarrte zu Eis. Und noch jemand fegte durch die Schar der Angreifer – Muksch. Wie ein überdimensionaler Igel aus Chrom walzte er durch die Rei hen, zermalmte und spießte auf, was ihm in die Quere kam. Doch die Schneisen füllten sich genauso schnell wieder, wie sie geschla gen wurden. Der Feind war übermächtig. Da zog er sich plötzlich zurück. Shanija starrte auf die sekundenschnell leer gefegte Straße. »Habt ihr das gesehen?« »Und ob! Offenbar sind deine Einbildungen realer als wir dachten«, antwortete die Diebin und wischte Stilett und Handaxt sauber. »Was wollen diese Kreaturen?« Shanijas Verstand ordnete sich nur langsam. »Dich und deine Gabe würde ich meinen«, warf Seiya ein. »Hallo? Pong an Höhenflieger! Bin ich der Einzige hier, der sich über diesen Monstermutantenigel wundert?«, mischte sich der klei ne Drache mit hysterischem Unterton ein, hüpfte in Wellenlinien auf und ab und deutete aufgeregt auf Muksch. Shanija rieb sich die Schläfen und seufzte. »Darf ich vorstellen: Pong, das ist Muksch, unser neuer Begleiter. Muksch, Pong.« Der Drache schlängelte um den rückverwandelten Kampfbär her um und beäugte ihn misstrauisch. »Ist das mein Ersatz? Willst du mir auf diese Weise sagen, dass du genug von mir hast?« Er züngel te. »Aber meine Kristalle bekommt dieses Felldings nicht. Nicht einen Einzigen!« »Das sagt auch keiner. Glaubst du, ich bin dir bis nach Khatasta
gefolgt und habe mein Leben im Kampf gegen dieses Fressmonster namens Slintan riskiert, um dich eine Woche später wegzujagen?« »Aber das war …« »Bitte, Pong, ich bin nicht in der Stimmung zu streiten.« Shanija tippte sich gegen die Brust, und ihr drachengewordenes Gefechts modul murrte zwar, gehorchte jedoch. Zu As'mala und Seiya ge wandt sagte Shanija anschließend einen Satz, der ihr nur schwer über die Lippen kam. »Ich brauche Hilfe.« »Was du schleunigst brauchst, ist eine Fahrt raus aus dieser Stadt, ein ordentliches Essen, ein Bett und etwas Ruhe«, meinte die Diebin und lächelte. »Wie sagtest du, hieß die Nobelabsteige, in der dieser liebreizende Macho wohnt?« Während Seiya sich allein auf den Weg zum Tor machte, um die Kette mit Diamantanhänger, die As'mala von Maltes zum Abschied geschenkt bekommen hatte, gegen orangefarbene Murmeln einzut auschen, begleiteten die Diebin und Muksch Shanija zum Paradies hof. Shanija hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Kette und des damit verbundenen Andenkens, aber As'mala tat es mit einem Ach selzucken ab. »Wie gewonnen, so zerronnen. So läuft das bei mir im mer. Vergessen werd ich Maltes deswegen noch lange nicht. War ein wirklich netter Kerl.« * »Ich sagte Ihnen doch bereits bei Ihrem letzten Besuch, dass das in Frage kommende Apartment vergeben ist. Und daran hat sich nichts geändert«, sagte der Hotelier und rümpfte sichtlich pikiert die Nase. »So, so. Ist der Herr, der unbedingt in zwei Zimmern wohnen muss, da?«, fragte As'mala. »Wie hieß er noch gleich? Quark?« »Hag«, verbesserte Shanija. »Darren Hag, um genau zu sein. Bedaure, Herr Hag ist nicht an wesend.«
»Warum sind Sie da so sicher? Können Sie durch Wände sehen?« As'mala drückte ihren Busen an den Tresen und beugte sich vor. Hauptsache, er beherrscht diesen Hände-Klatsch-Trick nicht, dachte Shanija und lächelte nervös. Der ältere Mann im Rüschenfrack blinzelte irritiert, als die Diebin noch näher rückte. »Wenn Herr Hag hier wäre, würde ich wirklich alles tun, um ihn umzustimmen. Sie verstehen?« Am liebsten wäre Shanija vor Scham im Boden versunken. Was für eine platte Anmache! Aber sie funktionierte. Und Shanija begann ein weiteres Mal, die taktische Relevanz dieser ausgesprochen unkon ventionellen Waffe zu überdenken. Sie hatte gelernt, sich wie ein Militär zu bewegen und zu verhalten, im Hüftschwingen, verbun den mit den etwas höher befindlichen Argumenten, war sie völlig ungeübt. »Wenn … wenn ich es recht bedenke …«, stotterte der Hotelier, der mittlerweile deutlich schwitzte. »Der Herr von Apartment Sieb zehn könnte vielleicht doch …« Bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, stieß sich As'mala von der Theke ab und lief die geschwungene Treppe hoch in den ersten Stock. Shanija und Muksch folgten. »Haustiere sind in unserem Etablissement nicht erlaubt!«, rief der Alte hinterher. Der Plüschbär sprang einem Gummiball gleich die Stufen nach oben und pirschte anschließend, mit der Schnauze in den Teppich flusen, den Flur entlang. Tock, tock. Tock, tock, tock. Hinter der Tür mit der Nummer Siebzehn regte sich etwas. Schrit te. Das Klimpern eines Schlüssels. Ein Klack. Die Tür ging auf, und Mister Lackaffe blickte ihnen überrascht ent gegen. »Ihr schon wieder?« As'mala ging augenblicklich zum Angriff über. Sie grinste frech,
zupfte wie beiläufig an ihrem eng geschnürten Mieder aus transpa rentem, blauem Tüll. »Herr Darren Hag. Können wir die Streitereien nicht vergessen und nochmal ganz von vorn beginnen? Mein Name ist Asanfirigylwyddinmala, kurz As'mala für meine Freunde, und das ist …« »Shanija Ran, wie ich beim Rathaus vernommen habe«, unterbrach Hag, reichte der Erdfrau die Hand und trat zwischen sie und die verdutzte Diebin. »Hat die Raubkatze sich wieder beruhigt?« Bevor Shanija etwas erwidern konnte, legte As'mala ihre Hand auf die des Mannes und sagte: »Die Raubkatze ist erschöpft und braucht dringend Ruhe und Schlaf. Wie wäre es also, wenn Sie wieder gut machen, was Sie beim Einlass und heute Mittag angerichtet haben? Überlassen Sie uns das Apartment. Als ganz offensichtlich wohlha bender und einflussreicher Ehrenmann finden Sie doch spielend Er satz. Und Sie können es bestimmt nicht zulassen, dass drei arme Frauen wie wir auf der Straße übernachten müssen.« Dem Gegner seine Schwäche zu offenbaren war normalerweise keine besonders kluge Strategie, um Mitgefühl zu heischen kein po pulärer Charakterzug. Auf der Erde nicht und auch auf Less nicht, soweit Shanija das bisher beurteilen konnte. Andererseits … wen man nicht besiegen konnte, den machte man sich am besten zum Freund. Wenn er es denn zuließ. Darren Hag ließ es zu. Ohne viele Worte arrangierte er seinen Um zug vom Apartment in ein kleineres Zweibettzimmer. Als »Gegen leistung« bestand er auf einem gemeinsamen Abendessen in der ho teleigenen Wirtsstube auf seine Kosten. Eine angenehme Abwechs lung. Shanija nutzte die Zeit, bis Seiya mit dem Murmelnachschub zu rück war, um sich ausgiebig zu duschen. Auch As'mala machte sich zurecht, flocht ihr langes strohblondes Haar zu neuen Zöpfen und drapierte diese anschließend zu einer kunstvollen Steckfrisur. »Mal sehn, ob der Stockfisch doch noch anbeißt«, sagte sie froh ge launt und zwinkerte. »Oder willst du ihn?«
Shanija hob abwehrend die Hand. »Ich bin nur auf der Durchreise. Für deinen Verschleiß an Männern fehlt mir die Sammelleiden schaft.« »Sicher?« Die Diebin grinste sie von der Seite an. »Ganz sicher«, antwortete Shanija und dachte dabei an ihre Ge fühlsaufwallungen am Rathaus zurück. Ein Hauch dieser Sehnsucht steckte noch immer in ihren Knochen. Es war lange her, dass sie sich an jemandes Schulter gelehnt hatte. Aber sie war im Dienst. Und sie würde es bleiben, bis sie diesen Mond wieder verlassen und den Kristall mit den Geheimplänen zur Erde gebracht hatte. »Wenn ich dieses Tüllkleid noch einen Tag länger tragen muss, st erbe ich«, sagte As'mala gerade, als die Tür aufging. »Dann lass mich deine Rettung sein«, antwortete die Prinzessin und hielt ihr ein Bündel Kleider entgegen. »Und für unsere Ge schwaderkommandantin ist auch etwas Passendes dabei.« Shanija verzog skeptisch den Mund. »Ist es ein Rüschenkleid oder ein Blümchenensemble?« »Glaubst du, ich kenn dich so schlecht?« Seiya zwinkerte. »Rau schender grellroter Taft mit einer knallgrünen Schleife, natürlich!« Als sie Shanijas entsetztes Gesicht sah, lachte sie. »Das war ein Scherz!« As'mala breitete die Stücke auf dem Doppelbett aus. »Schick! Ab sofort frage ich in modischen Dingen nur noch dich, Prinzessin. Le derkluft für mich, Heldenkostüm für den Colonel.« »Alles, nur kein Tüll«, sagte Shanija. * Der Nebenraum der Wirtsstube, den Darren Hag für sie reserviert hatte, war klein, aber angenehm sauber und behaglich eingerichtet, und vor allem abseits aller neugierigen Augen gelegen. Statt der in den Gassen üblichen Fackeln, die ihre rußigen Spuren in Haaren
und Kleidern hinterließen, verbreiteten muschelartige Wandleuchter ein warmes goldgelbes Licht im Raum. Bratenduft wehte aus der nahe gelegenen Küche heran. Die Holztische waren mit Decken und Kerzen geschmückt. Auf den Bänken lagen Kissen. Als Darren Hag ihr Eintreffen bemerkte, winkte er und stand auf. Heuchler, dachte Shanija und achtete bei jedem Schritt darauf, dass ihre olivfarbene Korsage nicht zu tief rutschte. Der Rest ihres Kör pers steckte in einer dazu passenden, engen, knielangen Hose, die knapp unter dem Bauchnabel mit einem geflochtenen Gürtel gehal ten wurde. Nicht gerade das, was die Erdfrau sich unter bequemer, zweckdienlicher Kleidung vorstellte, aber immerhin besser als ein Kleid. »Drei wundervolle Damen an meinem Tisch – ich bin ein Glückspilz«, begrüßte sie ihr Gönner. »Eher ein gerissener Verhandlungspartner«, entgegnete As'mala und lächelte kokett. Darren Hag wartete, bis die Gefährtinnen sich gesetzt hatten, und goss Wein in bauchige Gläser. Ganz so, als wäre dies tägliche Routi ne für ihn. Seine Lippen behielten ein Lächeln in den Mundwinkeln. Seine Augen dagegen drückten eine überraschende Scheu aus. »Einen ungewöhnlichen Schmuck tragen Sie da«, sagte er, wäh rend sein Blick kurz auf Shanijas Dekollete verharrte, um dann wei ter über die Tischdekoration zu gleiten. Shanijas Hand schnellte instinktiv nach oben und bedeckte das Drachenrelief. »Was treibt Sie in diese bizarre Stadt? Geschäft oder Vergnügen?«, stellte sie Gegenfragen, um abzulenken. »Ich bin beruflich hier.« »Und was genau ist Ihr Beruf?«, hakte As'mala nach, während sie einen Tropfen Wein mit dem Finger am Rand abfing und ableckte. Shanija betrachtete die Diebin von der Seite. Das ist doch affig. Glaubst du, der fällt auf diese Masche rein? »Ich bin Erfinder, Organisator, Mediator, Berater … je nachdem,
was gerade gebraucht wird.« »Und das offenbar ziemlich erfolgreich, so wie die Leute kuschen«, fuhr Shanija schärfer dazwischen als beabsichtigt. »Ich bin zufrieden, wenn mein Auftraggeber zufrieden ist.« »Und wer ist das in diesem Fall? Bauen Sie für den Bürgermeister des lila Viertels ein höheres Rathaus, oder waren Sie bereits erfolg reich für eine der anderen Seiten tätig?« Shanija hörte die Härte ih rer Worte und biss die Zähne zusammen. Halt die Klappe. Er hat dir geholfen. Du hast keinen Grund, ihn so aggressiv anzugehen. »Mit Bürgermeister liegen Sie richtig. Allerdings wurde ich nicht um meine Dienste als Architekt gebeten, sondern als einfallsreicher Bastler. Ich soll die Flüstertüte reparieren.« »Na, das wär aber auch wirklich an der Zeit. Dieses ständige Ge schwätz macht einen auf Dauer wahnsinnig«, sagte As'mala und schenkte Shanija ein kurzes entschuldigendes Lächeln. »… im über tragenen Sinne, meine ich natürlich.« Gehört das zu deiner Taktik? Mögliche Rivalinnen lächerlich zu machen?, dachte Shanija verärgert und sagte an Hag gewandt: »Was genau ist eigentlich die Funktion dieser Flüstertüte?« »Man sagt, sie könne jede Frage beantworten. Und so war es wohl auch bis zur Großen Hitze. Damals war die Flüstertüte ein echtes Heiligtum, das nur derjenige betreten durfte, wer die unglaubliche Summe von fünftausend Om bezahlen konnte. Erst dann wurde dem Glücklichen der Gang auf die Befragungsplattform direkt unter dem Herzstück im Inneren gewährt, und die Flüstertüte gab auf alle seine Fragen Antwort.« »Märchen und Aberglaube«, sagte Shanija. »Diese Flüstertüte ist wahrscheinlich genau das, was ihr Name ausdrückt: ein überdimen sionales Sprachrohr, welches das Geschnatter an seinem unteren Ende auffängt, verstärkt und oben wieder ausspuckt.« »Eine Skeptikerin, wie?« Hag richtete seine grauen Augen auf sie und rieb sich mit dem Handrücken das glattrasierte Kinn.
»Logik- und Pragmatikerin«, verbesserte Shanija. »Erzählen Sie uns doch von diesem Ereignis – von dieser großen Hitze«, bat As'mala und lenkte die Aufmerksamkeit wieder erfolg reich auf sich. In diesem Moment kam der Wirt und servierte das Menü des Ta ges: Wüstengecko am Spieß mit Knollengemüse und ein Kompott aus gegorenen Früchten. »Wie war das genau mit der Großen Hitze?«, wandte Hag sich an den Kellner, während Shanija prüfend den Duft der Mahlzeit ein sog. »'ne Katastrophe war das, 'ne einzige Katastrophe. Fast alle sind damals krepiert. Verglüht sind die, auf offener Straße. Einer dieser brennenden Windstöße hat gereicht, und schwups war man ein Aschehäufchen. Aber ich hab's überlebt. Hab's noch runter in den Bahnhof geschafft, bevorse den Eingang wegen Überfüllung dicht gemacht ham. Nach 'nem knappen Diarium war alles vorbei. Ein rie siger Ascheberg war das. Und der Rest sah wie vereist aus – der Sand, wissense – der ist zu Glas zerschmolzen.« Shanija dachte an die singenden Skulpturen in der Wüste, an die scharfkantigen Rillen unter dem Wüstensand und an die innere Stadtmauer, die wie mit Zuckerguss überzogen auf sie gewirkt hat te. »Diese Hitze hat uns viel Unglück gebracht, aber auch Gutes. Jetzt plappert die Flüstertüte von morgens bis abends. Wenn man genau hinhört und wartet, beantwortet sie einem jede Frage, auch ohne dass man dem Krötenpack sein Vermögen in den Rachen wirft.« »Und damit's in der Stadtkasse wieder klingelt, soll Darren Hag das rückgängig machen«, sagte As'mala mit einem Zwinkern. »Sie sind Darren Hag? Der Sohn von Earl Hag?«, fragte Seiya, die die Unterhaltung bisher still mitverfolgt hatte und seinen Namen erst jetzt mitbekam. Die anderen hatten schlicht vergessen, es ihr zu erzählen. Ebenso wenig hatten sie die Prinzessin vorgestellt.
Ein kurzer Schatten huschte über Hags Gesicht, dann nickte er und stand auf. »Ja, ich bin Darren Hag, Sohn von Earl Hag. Bitte verzei hen Sie meine Unhöflichkeit, mich Ihnen nicht gebührend vorge stellt zu haben. Lassen Sie mich damit entschuldigen, dass ich es nicht gewohnt bin, mit drei gleichermaßen liebreizenden wie schö nen Damen am Tisch zu sitzen.« Er verneigte sich leicht in Seiyas Richtung, kam aber nicht zu weiteren Höflichkeiten. »Wer ist Earl Hag?«, fragte As'mala dazwischen. »Ein überaus erfolgreicher Händler und Politiker«, antwortete Sei ya. »Einer seiner Handelsleute war mal bei uns und hat geholfen, die modernen Drachengleiter zu konstruieren. Ein beeindruckender, wenngleich wohl auch nicht ganz leicht zu handhabender Ge schäftsmann, wie ich hörte.« »Die Angelegenheiten meines Vaters sind ausschließlich die sei nen. Ich gehe eigene Wege«, gab Darren barsch zurück. Er setzte sich, nahm einen tiefen Zug aus seinem Weinglas und sagte dann versöhnlich: »Jetzt, da meine Identität gelüftet ist, erzählt ihr drei mir vielleicht auch ein bisschen mehr über euch?« Er blickte Shanija an, doch sie wollte nicht antworten. »Genau, da wir so gemütlich beisammensitzen, lasst uns zum Du übergehen«, schlug As'mala vor. Hag nickte. »Gerne. Ihr könnt mich Darren nennen.« »Ich bin Seiya, Prinzessin der Mandiranei, rechtmäßige Thronerbin des Monolithenstaats«, stellte Seiya sich vor. »Und mehr gibt es von mir schon nicht zu berichten.« »Ja, und ich bin ständig als Abenteurerin unterwegs, und Shanija …«, setzte As'mala fort und wurde von der Erdfrau unterbrochen: »… ist eine kürzlich Gestrandete.« »Gestrandete oder Verirrte?«, fragte Darren mit einem Schmun zeln. Shanija legte die Gabel beiseite und richtete sich auf. »Ich bin durchaus in der Lage, mich allein zurechtzufinden.«
»Ach so?« As'mala zog die Augenbraue nach oben. Verdammt! Warum trieb dieser Kerl sie bei jedem Zusammentref fen zur Weißglut? In seiner Gegenwart sagte Shanija Dinge, die sie eigentlich ganz anders meinte. Unüberlegte Dinge. »Wenn ich mich richtig erinnere, sagtest du vor der Bürgermeiste rin, dass ihr mit dem Zug weiterfahren wollt?«, lenkte Darren das Thema in eine neutrale Richtung. Shanija nickte. »Eine mutige Wahl. Nicht jeder traut sich in dieses sonderbare Ge fährt.« »Wieso nicht?«, fragte As'mala. »Es gibt die absonderlichsten Gerüchte über verschwundenes Ge päck, wunderliche Erscheinungen; manche behaupten sogar, dieser Zug würde sich von seinen Insassen ernähren.« Die Diebin winkte ab. »Wir haben schon Schlimmeres überstan den, stimmt's, Mädels?« Hag blickte Shanija tief in die Augen. Doch sie hielt stand, bis er blinzelte. »Ich kann gut nachvollziehen, dass einen das Leben hart und verschlossen werden lässt«, sagte er nach einer Pause. »Mein Leben geht niemanden etwas an! Glaub ja nicht, dass du mich mit diesem Zimmertausch gekauft hast. Ich schulde dir gar nichts!« Shanija sprang auf und verschwand ohne Erklärung, ließ die anderen sprachlos zurück. Wütend stampfte sie auf ihr Zimmer. Da war dieser Moment gewe sen. Ein Funke. Ein Kribbeln. Er ist ein Frauenheld und Geschäftemacher, dem man keine Sekunde trauen kann! Er ist … ich will diese Nähe nicht. Wo sollte das hinführen? Er und ich, das geht nicht. Außerdem verlasse ich Less bald. Andererseits gehörte Flucht nicht zu ihren bevorzugten Manö vern. Irgendwas stimmt nicht mehr mit mir, dachte sie unglücklich.
9.
23. Dianoctum/11. Lunarium/3.891. Quartennium Mun rollte seine Schlafmatte aus. Hier, zwischen dem dichten Geäst im Garten des Hotels, würde er ausruhen und ihr gleichzeitig nahe sein können. Shanija Ran. Sie war groß gewachsen, schlank, mit grünen, leicht mandelförmigen Augen. Eine interessante Frau, aber nichts an ih rem äußeren Erscheinungsbild deutete die Macht an, die ihr inne wohnte. Hatte er sich geirrt? Trotz der Gefahr durch die Ameisenhorde hatte sie die Sonnen kraft nicht eingesetzt; es nicht einmal versucht, soweit Mun das aus der Ferne beurteilen konnte. Zu gerne hätte er das Schauspiel gesehen, es im Geist aufgezeich net, um es der Sammlung des Zentralarchivs zu überbringen. Nicht, weil er auf Ruhm aus war. Solche Gefühle waren Adepten verboten. Aber die Vorstellung, die alten Sagen, die sich um die Sonnenkraft rankten, mit einem Beweis aus erster Hand bestätigen zu können, reizte ihn dennoch. Die Passage stand kurz bevor, im 13. Lunarium dieses Quartenni ums – des 3.891en seit Beginn der offiziellen Geschichtsschreibung vor 100.000 Jahren. Überall auf Less fanden die Sekten regen Zulauf. Angst und Hoffnung trieben die Bewohner in die Fänge von Fanati kern. Ein Massenphänomen. Je mehr sich zu Gott, Dur oder sonst ei nem Überwesen bekannten, umso größer wurde der Druck auf die restliche Bevölkerung. Dabei zu sein schien regelrecht zu einem Zwang zu werden.
Und hier an der Flüstertüte – dem okkultesten Platz, den Mun bis her in seinem fast vierzig Jahre währenden Leben bereist hatte –, trieb der religiöse Wahn besonders groteske Blüten. Jünger opferten sich für ihre Vision von einer besseren Welt, oder wurden geopfert. Für die Sekte des Wiedergängers mochte die Trägerin der Sonnen kraft die Vorbotin Gottes sein – dem Schöpfer des Universums, der sich dereinst nach der Erschaffung der Gestirne, der Welten und des Lebens zurückgezogen hatte, um auszuruhen. Mit Vollendung der Passage sollte Gott in dieses Universum zurückkehren, um den Fort gang der Schöpfung zu bewerten und zu vollenden. Eine seit zwei hundert Jahren bestehende, äußerst populäre Bewegung unter der Führung des Erhabenen Propheten Raban. Ein faszinierender, charis matischer Mensch, dessen Alter nicht bekannt war. Manche munkel ten, er sei selbst der Gründer der Sekte, aber das war natürlich über trieben. Mun schlug die Kapuze zurück und erlaubte seinen Sinnen einen Augenblick lang, die Gerüche um ihn herum einzusaugen. Da wa ren feine, blumige Düfte; das herbe Aroma von trockener Borke und Laub; Erde – der Nährboden dieser ungewohnt üppigen Pracht, mit ten in einer Wüstenstadt. Rund um ein Orakel, das einst tatsächlich funktioniert hatte. Der Besitzer des Hotels musste einen guten Draht zu den Bürger meistern haben. Denn Wasser war ein wertvolles Gut, auch wenn es jeder aus dem sprudelnden Quell unterhalb der Flüstertüte oder aus den Brunnen rund um den Eingang entnehmen durfte. Gärten – be sonders solche mit richtigen Bäumen – gab es dennoch nur wenige. Schon die Konstruktion des Trägergerüsts hatte sicher ein Vermö gen gekostet, ganz zu schweigen von den Leitungsrohren für die Be wässerung. Mit geschlossenen Augen lauschte Mun der nächtlichen Musik. Hier und da raschelten Blätter. Irgendwo zirpte ein Tier, brummte ein Insekt. Gott oder Dämon, wer hatte diese Vielfalt an Leben her vorgebracht?
Dur, der Ewige, wurde bereits seit über tausend Jahren als Erschaf fer verehrt. Die Anhänger der Sekte des Erlösers priesen seine schöp ferische Macht. Der offizielle Verkünder dieser Sekte, der nicht menschliche Aliandur, sprach vom Herrscher aller Herrscher, der im Augenblick der Passage beide Universen, die er erschaffen hatte, vereinigen würde. Hierzu gab es allerdings eine Gegenströmung, die sich einst von der ursprünglichen Sekte abgespalten hatte. Die Warner unter Füh rung des gesichtslosen, masketragenden Corundur sahen Dur in zwischen als Bedrohung an. Sie bezeichneten ihn als den ewigen Wi dersacher, der bei der Passage die beiden Universen zwar miteinan der verband, sie aber in die Hölle verwandelte, was unweigerlich den Untergang der Schöpfung auf dieser Seite hervorrief. Deswegen hatte der Anführer der Sekte sich auch den Namen Corundur gege ben, »Feind des Dur«, als Gegensatz zu Aliandur, »Sprecher des Dur«. Mun betrachtete in seiner Funktion als Adept das bevorstehende Ereignis aus einem nüchterneren Blickwinkel. Ja, es würde diesen Riss im Kontinuum geben, das war erwiesen. Und es mochte sich dadurch vielleicht sogar eine Verbindung zu einem anderen Univer sum öffnen. Doch ob für die Folgen Gott, Dur der Erlöser oder Dur der Widersacher verantwortlich gezeichnet werden konnte, wagte Mun nicht vorherzusagen, und er dachte auch nicht darüber nach. Spekulationen waren unwichtig. Für den Adepten zählten aus schließlich mit eigenen Augen aufgenommene Informationen ohne Wertung und Gefühlsfärbung. Liebe, Hass, Leidenschaft – all das schwächte den Geist. Shanija Ran war dafür ein gutes Beispiel. Sie kämpfte innerlich wie äußerlich mit ihren ganz eigenen Dämonen. Wer hinter dem heuti gen Angriff auf sie steckte, konnte Mun nur vermuten. Aber er wusste, dass man es wieder versuchen würde. Der Ausgang der Ereignisse geht mich nichts an, ermahnte er sich selbst. Ich bin Beobachter. Ein Gefäß, das Informationen aufnimmt und
beizeiten wieder abgibt. Mehr nicht. Er atmete tief ein und aus, schob die Gerüche und Geräusche bei seite und versenkte sich für das allabendliche Ritual in vollkomme ne Stille. Dann holte er das Etui aus seinem alten Beutel, entnahm das Messer, spannte einen Riemen zwischen Zeh und Hand und be gann mit der Rechten die Rasierklinge Strich um Strich über das ab gewetzte Leder zu ziehen.
10. Nach einem turbulenten Tag und einer von Verlangen und Reue halb durchwachten Nacht drängte es Shanija mehr denn je zur Wei terreise. Die ersten Sonnenstrahlen ließen die Stelenstadt erglühen, als sie aufstand. As'mala und Seiya teilten sich das Doppelbett im Zimmer neben an. Muksch wollte unbedingt bei Shanija in dem Einzelbett schlafen. »Wie kann ein so kleines Wesen nur so laut schnarchen?«, schimpfte sie übernächtigt. Muksch brummte. »Tu bloß nicht so unschuldig. Schau dir meine Füße an! Überall blutige Kratzer, nur weil du schlecht geträumt hast.« Der flauschige Bär klimperte mit seinen großen runden Augen und rieb sich den Bauch. »Ich habe deinetwegen Schmerzen, und du verlangst nach Futter?« Shanija beugte sich drohend über das zusammengekauerte Knäuel. Doch dann entspannten sich ihre Gesichtszüge, ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Gut, du hast gewonnen. Aber erst wecken wir die anderen.« Shanija zwängte sich in die hautenge Dreiviertelhose und die seit lich geknöpfte Korsage, schlüpfte in die Stiefel und striegelte ihre Lockenpracht notdürftig mit den Fingern. Ob Darren Hag wohl braunes Haar mit Rot mochte? A.ch was! Der mag nur sich selber und lässt sich bestimmt in jeder Stadt von einer anderen anbeten. Trotzdem hätte sie diesen Mann mit den Marmoraugen gern wie dergesehen. Für den unangebrachten Ausbruch gestern Abend war
eine Entschuldigung fällig, immerhin hatte er zum Essen eingela den. Es wäre anständig, Lebwohl zu sagen. Einmal noch seine Stimme hören, mit der er sie so frech-charmant herausgefordert hatte … Dumme Schwärmerei. Was soll das bringen? Außerdem kenne ich nicht mal seine Zimmernummer. Ein bettelndes Fiepen erinnerte Shanija an ihr Versprechen. Mit ei nem Seufzer strich sie Muksch über den Pelz und klopfte dann kräf tig gegen die Verbindungstür. »Seid ihr wach? Zeit, aufzubrechen.« Sie meinte, jemand grunzen zu hören, bekam aber keine Antwort. »Also schön, ihr hab es nicht anders gewollt.« Shanija zog die Tür auf und rief: »Los, Muksch, zeigen ihnen, was eine echte Stachel-Massage ist!« Einen Augenblick später erklang ein Kreischen und Fluchen aus dem breiten Bett, die Decken wurden hoch gerissen, Kissen flogen durchs Zimmer, und zwei halb nackte, zerzauste Frauen sprangen schimpfend aus dem Bett. * Beim Frühstück unten in der Wirtsstube hoffte Shanija erneut, Dar ren Hag zufällig zu begegnen. Doch außer einem turtelnden Pär chen in pompösen, altertümlichen Kostümen tauchte so früh kein weiterer Hotelgast auf. Während As'mala und Seiya die Sachen holten, überlegte Shanija, an der Rezeption eine Nachricht zu hinterlassen, entschied sich aber dagegen. Schließlich war sie nicht auf Vergnügungsreise. Und Dar ren Hag hatte sie wahrscheinlich schon als fehlgegangene Erobe rung abgehakt und vergessen. Heftiger Wind fegte durch die Gassen, als die Drei dann das Hotel verließen, kräuselte sich als schmaler Sandwirbel in den Ecken und
Winkeln der Geschäfte und trieb den Passanten körnige Nebelschlei er ins Gesicht. Eilig huschten die Leute vorbei, fest in Umhänge ge wickelt, an die Häuserwände gedrückt. Es knarzte und krachte, quietschte und klapperte. Selbst die sonst so eindringliche Stimme der Flüstertüte schien durch die Windgewalten heiser geworden zu sein und beschallte die Stadt nur noch mit fern klingenden, kräch zenden, abgehackten Satzfetzen. Während sie sich bei Gegenwind den Weg hinauf zum Rathaus des orangefarbenen Viertels kämpften, bekam Shanija erneut das Gefühl, verfolgt zu werden. Sie sah um sich, spähte nach oben, in die höher liegenden Etagen, und glaubte für einen Moment, den Kerl in Mönchskutte in einer der Gondeln zu erkennen. Doch auf den zweiten Blick entpuppte sich die Gestalt als hagere alte Frau, die sich mühsam abseilte. Endlich auf dem obersten Plateau angekommen, entschieden die Gefährtinnen, dass diesmal Seiya ihr Glück bei der Bürgermeisterin versuchen sollte. Am Eingang waren weder die hünenhaften Frauen in Uniform zu sehen, noch eine Warteschlange. Das hieß entweder, dass die Audi enz wetterbedingt ins Innere des Gebäudes verlegt worden war, oder dass die Reisenden erneut Opfer des Wer-baut-am-höchsten Possenspiels geworden waren. Als Seiya nach nur wenigen Minuten zurückkehrte, befürchtete Shanija Schlimmes. Doch die Prinzessin wedelte mit drei grell oran gefarbenen Papierstreifen und rief: »War kein Problem! Ich hab die Reisegenehmigungen!« Der Wind fegte unter den Seidenstoff von Seiyas Kleid und wirbel te ihre langen schwarzen Haare durcheinander. Die ergatterten Ob jekte in ihrer Hand zappelten, als wollten sie sich aus dem Griff be freien. »Hier«, sagte die Prinzessin und streckte Shanija die Dokumente entgegen, »aber pass gut darauf auf!« As'mala klopfte Seiya anerkennend auf die Schulter.
»Gut gemacht. Endlich können wir diesen Käfig voller Spinner verlassen.« Shanija nickte und ließ ihren Blick über den leeren Platz schwei fen. »Genau das sollten wir schleunigst tun.« * Während sie die Stege, Hängebrücken und festgetrampelten Ram pen nach unten zum Fuß der Flüstertüte eilten, wuchs der Wind zu einem ausgewachsenen Sturm heran. Händler verschnürten mit Seilen und Planen ihre Habe, kämpften sich mit Handkarren durch die Gassen, räumten Fässer, Kisten und Töpfe zurück in die Geschäfte und schlossen die Fensterläden. Die Brücken schwankten abenteuerlich. Sand sammelte sich in jeder noch so kleinen Falte, rieb auf der Haut und kroch in alle möglichen Körperöffnungen. »Dur wird kommen, um die Sünder von dieser Oberfläche zu til gen, so wie einst die Große Hitze säubernd über das Land gerollt ist! Gereinigt werden wir auferstehen!«, mahnte ein langhaariger, aus gemergelter Mann in Lendenschurz, der dabei war, sich mit einem Lederriemen an einen Stützpfeiler zu binden. »Euch alle wird er ver schlingen! Dich und dich, und dich!« Mit rot geäderten Augen starr te er die Gruppe an und zeigte mit seinem knöchrigen Zeigefinger nacheinander auf die Gefährtinnen. »Hört doch, wie er lacht! Wie er euch verspottet. Ihr, die ihr wie Gewürm zu seinen Füßen kriecht, euch windet in Ignoranz und Verblendung!« »Weiter! Lasst euch keine Angst machen«, brüllte Shanija gegen das Sturmgetöse an. Sie kannte diese Art der religiösen Fanatiker nur zu gut. Hatte es selbst miterlebt – diese Art der Gehirnwäsche, der Angstmacherei und Kontrolle der Gutgläubigen. Damals in Washington-York-State, als ihre Eltern sich der LICA-Sekte angeschlossen hatten. Als Klein
kind hatte Shanija sich noch über das familiäre Zusammensein mit so vielen Menschen gefreut. Doch als sie sich mit sieben Jahren den Unterarm gebrochen hatte, war die Kehrseite dieser naturverbunde nen Gemeinschaft zutage getreten. Gefolgt waren höllische acht Wo chen, in denen ihre Eltern ihr etwas von Selbstheilungskräften des Körpers erzählt hatten, sie von Ärzten fernhielten und weinend in ihrem Zimmer liegen ließen. Acht Wochen Pein, nach denen keine Träne mehr in ihr gewesen war. Noch heute spürte sie manchmal ein Ziehen nahe dem Ellenbogen. Shanija merkte, dass bei der Erinnerung ihre Hand ganz automa tisch über den kleinen Knorpel strich, der sich an der Bruchstelle ge bildet hatte, und biss die Zähne zusammen. In jenen Tagen hatten ihre Eltern unwissentlich den Samen ge pflanzt, der Shanija mit zwölf Jahren bewogen hatte, sich für eine Karriere beim Militär zu entscheiden. Und wo hatte dieser Ent schluss sie hingeführt? Shanija hustete, spuckte aus, nur um im nächsten Moment die doppelte Menge Sand in den Mund gewirbelt zu bekommen. Über all hatte er sich verteilt. Innen wie außen. Bildete Krusten auf ihrem spärlich bedeckten Oberkörper und rieselte in kristallenen Klümp chen aus Haaren und Kleidung. Gasse um Gasse quälte sich das Trio vorwärts, gefolgt von einem zur Flunder mutierten Muksch, der dicht an den Boden gepresst da hinwuselte. Der Abstieg schien endlos zu dauern und Shanija wurde zuse hends unruhiger. Irgendetwas war da. Beobachtete sie. Lauerte in den Spalten, hinter den durchtosten Fugen der Häuser und näherte sich. Kroch in ihren Kopf. »Ich glaube, wir werden verfolgt!«, schrie sie As'mala ins Ohr und bedeutete ihr, auch Seiya zu warnen. »Welche Aufgabe habe ich in diesem Leben?«
»Einst flogen wir durchs All, auf der Suche nach Wissen.« »Kann man eine Fremde lieben?« Mit jeder Etage, die sie tiefer kamen, wurde die Stimme der Flüster tüte lauter und mischte sich mit dem heimlichen Wispern, das er neut an Shanijas Bewusstsein nagte. Schwarze Augen hafteten an je der ihrer Bewegungen. Beinchengetrappel ringsum. * »Dort ist der Brunnen!«, rief As'mala. Gegen den Sturm gelehnt, stapften sie an dem Wasserbecken vor bei, in das sich Shanija nach Betreten der Stadt so hemmungslos ge worfen hatte. Sie hatten jetzt wieder festen Boden unter den Füßen. Doch das Wetter gaukelte Shanija eine aufgewühlte Meeresoberflä che vor. Sandwellen rasten auf sie zu, umspülten ihre Beine und peitschten gegen die Häuserwände. Die Flüstertüte ragte wie eine riesige, senkrecht stehende Muschel in den Himmel und warf ihren Schatten dort, wo sich ihr Schaft in das Dach des Unterbaus bohrte. »Was ist dein Geheimnis?« »Werden sie mich zu ihrem Anführer machen?« »Tun ist Wahrheit, Wollen nur Traum.« Die Stimme der Flüstertüte klang wie die eines Gemarterten – ganz im Gegensatz zu diesem anderen, süßen Singsang. Shanija war ver sucht, ihre Augen zu schließen und sich dem betörenden Klang zu ergeben. Doch jedes Mal, wenn sie langsamer wurde, packten As' mala oder Seiya sie am Arm und zerrten sie mit sich. Sie liefen über den Platz, auf dem sich bei ihrer Ankunft hunderte
Schausteller und Besucher getummelt hatten. Jetzt lag er verlassen da, der Blick freigegeben auf den aufgerissenen Schlund der offenen Eingangshalle in der Mitte. »Hoffentlich fahren bei diesem Sauwetter die Züge überhaupt«, meinte die Diebin. Stimmt. Die Fahrkarten. Sie wollten mit dem Zug fahren. Irgend wohin. Shanijas Gedanken hingen wie Fliegen in einem Netz. »Hey, nicht einschlafen!«, befahl As'mala und schüttelte sie. Die Gefährtinnen erreichten schnaufend das muschelförmige Ge bäude, das wie eine Orchesterbühne wirkte. »Ich sehe den Fahrkartenschalter!«, brüllte Seiya und zeigte auf eine kleine Kabine unter dem gekalkten Vordach. Doch der Schalter war geschlossen. Eine Gardine war innen vor die Scheibe geschoben. »Das darf nicht wahr sein!« Die sonst so beherrschte Prinzessin hämmerte mit der Faust gegen das Glas. »Aufmachen, sofort aufma chen! Hier ist Kundschaft!« Endlich ging Licht an. Fahrkartenschalter und Eingangshalle erstrahlten in einem war men Goldgelb, das Shanija an den Abend mit Darren Hag erinnerte. Sie hatte sich schrecklich benommen; war blöde eifersüchtig gewe sen, als As'mala versucht hatte, ihn zu bezirzen. Ich hätte mich gern entschuldigt, dachte Shanija. Ich wäre gerne in seine Arme gesunken. Meine Hände in seinen Haaren, mein Körper an seinem … »Colonel, die Reisegenehmigungen!« Shanija sah die Prinzessin einen Moment lang fragend an, dann griff sie in ihre Provianttasche und zog die orangefarbenen Papiere hervor. »Wohin fährt der nächste Zug?«, fragte As'mala. Der Fahrkartenverkäufer zuckte mit den Schultern. »Das kommt ganz auf den Zug an.«
»Sagen Sie uns einfach, welcher Zug nach Osten fährt.« Wieder ein Achselzucken. »Sie sind wohl das erste Mal hier, was? Aber ich denke, Sie haben Glück. Der Wind kommt von Westen, und auch ein Zug kann faul sein.« »Was soll das hei …« Bevor As'mala ihren Satz beenden konnte, hatte der Schalterbeamte das Fenster bereits wieder ge schlossen, zog die Gardine vor und löschte das Licht. Shanija griff sich an die Brust. Pong. Es passiert schon wieder. Auf Kommando schälte sich der Drache aus seiner Ruhestatt und wirbelte in Kreisen und Kringeln durch die weitläufige gewölbte Eingangshalle. »Hui, was für ein Lüftchen!« Seine Kapriolen erinnerten Shanija an etwas. Himmelsschlachten. Die Quinternen. Chuck. Die verbotene Zone. Das Drei-Sonnen-System. Sie spürte ihre Schläfen pochen. Du bist Soldatin. Dein Auftrag kommt an erster Stelle. Halte den Blick auf das Ziel gerichtet und stemme dich mit jeder Faser deines Seins gegen den Feind. »Der Schatten. Er greift nach meinem Verstand«, sagte sie. Sofort war der kleine Drache bei ihr, umkreiste sie, spähte nach dem Widersacher. »Ich höre ihn. Tausende kleiner Beine, die uns umzingeln«, meldete er. »Wo ist er?«, fragte Seiya, die sich alarmiert Rücken an Rücken zu Shanija aufstellte. »Wie sollen wir gegen einen Feind kämpfen, der sich nicht zeigt?« »Der wird sich schon noch zeigen«, sagte As'mala mit ruhiger Stimme. »Der spielt nur, bis er uns hat, wo er uns haben will.« Die Gefährtinnen zogen ihre Waffen. Muksch machte sich auf sei ne Art abwehrbereit. Schritt für Schritt bewegten sie sich durch die Halle auf einen erleuchteten Durchgang zu, der hoffentlich zu den Gleisen führte. Die Wände waren mit Plakaten beklebt. »Da! Der Mönch!« Shanija zeigte auf einen dunkelblauen Schemen, der sich draußen in den Schatten einer Häuserflucht drückte. »Be stimmt derjenige, der uns die ganze Zeit verfolgt! Schnell weiter!«
Sie zwang sich zur Konzentration. Ihr Blick war auf den Adepten gerichtet, der immer noch abwartend draußen im Sturm stand, als sie plötzlich im Vordergrund eine Bewegung wahrnahm. Vor ihr, mitten in der Halle, hockte wie aus dem Boden gewachsen ein faustgroßes Insekt und trillerte mit seinen Antennenfühlern. Eine Ameise. Der wuselnde Schatten! Im gleichen Moment zeigte sich der Feind in seiner vollen Stärke. Hunderte und Aberhunderte von Tieren strömten aus ihren Verste cken und formierten sich zu einem brodelnden schwarzen Teppich aus Fühlern und Beißzangen. Shanija und ihren Gefährtinnen blieb nur ein Weg zur Flucht. Wei ter den breiten Gang entlang. Pong flog an der Spitze voraus, und Muksch kam als wirbelnder Metalligel hinterdrein. Ihre Schritte brachen sich hallend an den perlmuttfarbenen Wän den und vervielfachten sich zum Stakkato. Komm und ergib dich mir, hörte Shanija die Stimme in ihrem Inne ren jetzt klar und deutlich säuseln. »Raus aus meinem Kopf, du Feigling! Wenn du mich willst, dann stell dich mir! Zeig dich und kämpfe!« Wie du willst. Vor ihnen verzweigte sich der Gang. Ein Weg führte bergab, der andere, schmalere in einem Bogen nach oben. »Ich sehe den Zug!«, rief Seiya. »Der Bahnhof liegt unterirdisch.« »Wartet! Das ist zu einfach. Die treiben uns in eine Falle!«, warnte Shanija plötzlich und warf einen Blick zurück. Der krabbelnde Schatten sammelte sich am Rand der Gabelung, überschwemmte Wände und Decke. »… und haben uns schon in die Zange genommen«, ergänzte As' mala und blieb gleichzeitig mit Seiya stehen. Ein zweiter Pulk Ameisen hatte sich am Bahnsteig versammelt und walzte von unten auf sie zu.
»Garstige Zappelviecher! Ich röste euch, schmelz euch ein, wie Marshmallows!«, tönte Pong, sauste im Tiefflug über die Köpfe der Ameisen hinweg und zog eine grelle Feuerspur durch die Reihe der Angreifer. »Seht ihr, die schaff ich doch mit Links!« »Pong, pass auf!« Der kleine Drache beugte seinen langen Hals und blickte mit auf gerissenen Augen unter seinem Bauch hinweg auf die zum Gegen schlag erhobenen Hinterleiber. Da ertönte ein Knacken und Knistern. Eine chromblitzende Kugel rollte über die schwarzen Insekten hinweg und zermalmte alles un ter sich. Wütendes Gebrüll erklang in Shanijas Kopf. Sie fasste sich an die Stirn. Hämmernder Schmerz fraß sich durch ihr Gehirn, gefolgt von der Stimme. Ich warte auf dich, Trägerin der Sonnenkraft. Seiya hatte Recht gehabt. Es ging dem Feind um ihre Psimagie. »Muksch, das sind zu viele!«, rief Shanija. »Sich bis zum Bahnsteig durchzukämpfen hat keinen Sinn. Ich weiß jetzt, was er will.« Sie wandte sich den Gefährtinnen zu. »Er will nur mich, wegen meiner Kräfte.« »Wer?«, fragte Seiya. »Das werde ich gleich herausfinden.« »Das werden wir gleich herausfinden.« As'mala trat an Shanijas Seite. »Pong, du versteckst dich und schützt um jeden Preis, was ich dir anvertraut habe. Verstanden?« Der Drache schluckte. Seine sonst so schillernden Schuppen wur den blass, als er sich gehorsam im Dunkel in Deckung brachte. Geschlossen schritten sie den gewundenen Pfad hinauf, während sich der Gang hinter ihnen in ein Meer aus schwarzen Leibern ver wandelte.
11. »Frage, und dir wird Antwort gegeben«, las As'mala vor, als sie einen Durchgang erreichten, über dem ein kunstvoll bemaltes Schild prangte. »Die Befragungsplattform. Meinem Gefühl nach müssten wir jetzt etwa zwanzig Meter über dem Erdboden sein«, sagte Shanija, wäh rend sie unter dem Schild hindurch auf eine schwankende Ebene trat. Die von unzähligen Füßen abgetretenen Holzbalken knarrten bei jedem Schritt. Seltsamer Modergeruch lag in der Luft, wie Shani ja ihn von schlammigen Tümpeln in den Armutsvierteln kannte. Das an den Ecken mit dreifach verdrillten Seilen aufgehängte Pla teau hatte die Größe eines Boxrings. Sie befanden sich über dem Mittelpunkt der konisch auseinanderdriftenden Flüstertüte. Über ih nen, nur über eine Strickleiter zugänglich, hing ein tropfenförmiges Bassin. Unter ihnen befand sich die Eingangshalle. Hinter ihnen ver harrte die Insektenmeute, links und rechts – abgetrennt durch ein hüfthohes Geländer – wartete der Abgrund, und vor ihnen … der Mönch. Er war größer, als Shanija bisher angenommen hatte. Seine Kutte hing wie ein Leichentuch von seinem Körper herab. Als ob das We sen darunter nur aus Haut und Knochen bestünde. Wie bei ihrer ers ten Begegnung am Tor hatte es die Ärmel ineinander gelegt. Das Ge sicht unter der weiten Kapuze war verborgen. »Da bin ich«, sagte Shanija, um die quälende Stille zu durchbrechen. Du bist einzig und allein hier, weil ich es wollte, höhnte die Stimme in ihrem Kopf. Ich habe dich längst besiegt. In deinen Geist zu dringen war kaum schwerer als bei den stumpfsinnigen Kryphonen. »Den Greifen?« Shanija bemerkte die fragenden Gesichter der Be gleiterinnen und erklärte: »Dieser Mistkerl ist Telepath. Von der Sor
te, die in deinem Gehirn herumstochert, um dich zu manipulieren. Deshalb haben uns die Greifen so unsanft in der Wüste abgesetzt!« Wie du siehst, hatte ich dich von Anfang an unter Kontrolle. Menschen sind so leicht zu beeinflussen, weil sie viel zu abhängig von ihren Gefühlen sind! Shanija ging in Gedanken die einzelnen Stationen ihrer Reise durch. Da war diese säuselnde Musik in der Wüste gewesen, die sie als Nebeneffekt der singenden Glasskulpturen abgetan hatte. Dann dieser unkontrolliert aggressive Ausbruch am Tor, gefolgt von ih rem weiteren unvernünftigen, viel zu emotionsbehafteten Verhalten. Die ganze Zeit hatte sie unter dem Einfluss dieses Wesens gestan den. Aber warum dieses Zögern? Entweder war dieser Vermummte ein Perverser, der sich in den letzten Tagen an ihren emotionalen Entgleisungen ergötzt hatte, oder seine Macht war begrenzter, als er ihr glauben machen wollte. »Das sind doch bloß billige Zaubertricks. Trugbilder, die mich eine Zeitlang in die Irre geführt haben. Aber Illusionen können mich nicht töten.« Als Antwort erklang ein Knurren und Schaben, als würde die Ge stalt unter ihrem Umhang die Messer wetzen. Shanija fuhr fort, zu höhnen: »Sind diese Käferchen alles, was du zu bieten hast? Die zertrete ich auf einem Bein hüpfend mit einem Absatz.« Sie ging auf den Ameisenteppich zu und hob drohend den Fuß. Natürlich war dies nur Schau, sie konnte unmöglich mehrere tausend Insekten auf einmal erledigen. Aber zumindest wollte sie Stärke und Furchtlosigkeit demonstrieren. Und immerhin verharrte der Attentäter noch. Er studiert mich. Er versucht, meine Stärke abzuschätzen und wartet auf die richtige Gelegenheit, auf einen Moment der Unachtsamkeit. Im Gegenzug suchte Shanija unter der Kutte nach Anzeichen, die die Absichten des Feindes verrieten. Und dann wusste sie es plötz lich. Die Sonnenkraft! Ihr Gegner nahm an, dass sie ihre Psimagie gezielt einsetzen konnte, und wollte es nicht riskieren, wie der Herr
der Fäulnis zu enden. Sie setzte ihren Fuß knallend auf dem Boden ab und streckte drohend Tyr vor. »Geh. Oder glaubst du wirklich, du kannst mich in einem offenen Kampf besiegen?« As'mala schüttelte sacht den Kopf. »Das klappt nie im Leben. Schließlich sitzen wir in seiner Falle und nicht umgekehrt.« »Er fürchtet meine Kräfte«, flüsterte Shanija. »Ich bin sicher, wenn wir zusammenarbeiten, können wir ihn schlagen.« Und ganz leise setzte sie hinzu: »Los, Tyr, mach dich bereit.« As'mala hob das Stilett und fasste mit der anderen Hand den Griff ihre Handaxt fester. Muksch ließ die vielen kleinen Spitzen auf sei ner Oberfläche zu dicken Zacken verschmelzen und sah jetzt wie ein riesiger, dreidimensionaler Wurfstern aus. Als Letztes ging auch Sei ya in Angriffsstellung. Jämmerlich. Im nächsten Moment hallten laute Klick- und Schnalzgeräusche durch den Schaft der Flüstertüte. Die Ameisenarmee stürmte los und Shanija erstarrte. Die sonst säuselnden Stimmen brüllten nunmehr auf sie ein. Füll ten ihren Kopf, hämmerten, bohrten und explodierten schließlich hinter ihrer Stirn. Reglos stand sie da, wie paralysiert, und konnte das Geschehen um sich herum nur noch in Zeitlupe beobachten. Die Ameisen bewegten sich in Wogen auf die Frauen zu und schnappen mit blitzenden Maulzangen nach ihnen. As'mala pflügte durch das Heer. Seiya atmete ein, ging leicht in die Knie, und blies Eiswolken in die Massen. Kleine, durch die Luft gewirbelte Chitinkörper rieselten wie Schneekristalle zu Boden und zersprangen. Der Mönch riss sich die Kutte vom Leib, schleuderte die Verklei dung über das Geländer und offenbarte seine wahre Gestalt. »Das nenn ich mal 'ne ausgewachsene Kakerlake!«, rief As'mala, während sie sich schlagend und tretend um sich selbst drehte. Ameise, dachte Shanija träge. Sie verspürte nicht den Wunsch, sich
zu bewegen. Das mannsgroße Insekt fletschte die Kieferzangen, stemmte zwei Paar Vorderbeine in die Bohlen und schob seinen Hinterleib nach vorn. Überall hingen Helferameisen, wie ein lebendiger Schutz schild. Sie stützten den Hinterleib, sodass die Riesenameise zu schweben schien. »Shanija, geh in Deckung!«, schrie die Prinzessin neben ihr. Doch die Bedeutung der Worte drang nicht zu der Erdfrau durch. »Das ist ein Megaparaponera! Diese Viecher haben hinten tödliche Säuredrüsen sitzen!«, rief As'mala und versuchte, Shanija zur Seite zu bringen. Aber die Insektenarmee hielt sie mit Masse und Zangen auf. Zischend schoss die ätzende Flüssigkeit aus dem stachelähnlichen Fortsatz. Gefahr, dachte Shanija. Doch die körperliche Reaktion auf das Warnsignal blieb aus. Tyr zuckte in ihrer Hand, als wollte es sich selbstständig dem Feind entgegen werfen. Aber Muksch war schneller. Mitten aus dem Gewühl an Ameisen wechselte er zurück in die Bärenform, stieß sich ab und hechtete auf den Säurestrahl zu. Im Flug glättet sich sein Fell bereits wieder, ge wann seine metallene Beschaffenheit zurück. Doch zu spät. Muksch jaulte auf. Die Säure verdampfte Pelz und Fleisch, durchlöcherte den tapferen kleinen Kerl in Sekundenbruchteilen. Was übrig blieb, plumpste als unkenntlicher Klumpen zu Boden und wurde vom schwarzen Getümmel überrannt. Muksch! Wut und Trauer vermengten sich in Shanija zu einer Zor nesflamme und mobilisierten ungeahnte Kräfte. Für einen Moment gewann sie die Kontrolle über sich zurück und reagierte. »Tyr, zeig, was du kannst!« Wie mit der Sense schnitt Shanija sich den Weg durch die Ameisenbrut frei. Die Prinzessin folgte ihr, ver eiste einen weiteren Säurestrahl, während As'mala die Rückende ckung übernahm.
»Ich schlitz dir deinen verdammten Wanst auf und hack dich in Stücke!«, schrie Shanija, duckte sich geschickt unter der dritten Fon täne hinweg. Sie wollte dem Megaparaponera gerade die Klinge durch das schmale Verbindungsglied zwischen Rumpf und Unter leib ziehen, als es in ihrem Kopf schrie: Genug! Das Spiel wird lästig. Shanijas Körper fror mitten in der Ausholbewegung ein. Eins … Eine weitere Säureladung zischte um Haaresbreite an ihrer Schul ter vorbei. Dann ein Aufschrei. As'mala! Aus den Augenwinkeln sah Shanija ihre Kampfgefährtin in die Knie sinken. Auch Seiya schien am Ende ihrer Kräfte angelangt zu sein. Ihre eisige Magie war nur noch ein Nebelhauch. Sie röchelte mehr, als dass sie atmete. … Zwei … Die Helferameisen rückten näher. Überfluteten das Kleid der Prin zessin und legten sich als wimmelnder Schatten über ihren Körper bis hoch zu ihrem Gesicht. Ich muss etwas unternehmen. Eine Finte. Einen neuen Angriff. Irgendet was! Shanija versuchte sich zu konzentrieren, den geistigen Bann zu brechen. Regelkatalog für eine scheinbar ausweglose Situation? Erster Schritt: Wahrscheinlichkeitsberechnung der möglichen Ausfallmanöver. Aber dafür brauchte sie ihr Gefechtsmodul. »Pong!« Wie ein feuerroter Komet mit wehenden Barteln sauste der kleine Drache aus dem Dunkel des Gangs herbei, schlängelte sich durch die hoch schwappenden Insektentürme und rief: »Tu's endlich! Setz die Sonnenkraft ein!« Bevor sie widersprechen konnte, klatschte Pong gegen ihre Brust und verschmolz mit dem Relief. Sie hatte doch keine Ahnung, was damals in Castata diese zerstö rerische Energie freigesetzt hatte. Vielleicht war der Auslöser Ver zweiflung, Mut, irgendein spezieller Gedanke gewesen? Sie musste es zumindest versuchen.
Feuerdrache, erscheine! Brenn, Ameise! Bei allem … Ein stechender Schmerz tilgte die letzte verzweifelte Gegenwehr. … Drei.
12. So muss sich eine Seifenblase kurz vor dem Zerspringen fühlen. Der Me gaparaponera verzog die Mandibeln zu einem Grinsen, schubste Shanija mit einem borstigen Bein rückwärts bis an den Rand der Plattform und stellte sich in Position für den tödlichen Schuss. Das Vibrieren der Fühlerhärchen verriet Anspannung. Der sackar tige schwarze Unterleib der Ameise lud die tödliche Säure mit sicht baren Pumpbewegungen in die am Stachel befindliche Drüse. Ist das mein Ende?, fragte sich Shanija. »Ist das mein Ende?«, wiederholte die Flüstertüte. »Nicht, wenn ich es verhindern kann!« In dem Moment, als der Megaparaponera seinen Strahl abfeuerte, zog eine unbekannte Kraft Shanija über die Brüstung. Sie fiel ohne einen Laut. Zeitgleich wurde das Rieseninsekt zur Seite gerissen, schleifte, wie von fremder Hand gezogen, über den Boden, wurde gleichfalls über das Geländer gehoben und ins Leere geschleudert. Sauste an Shanija vorbei. Im Sturz sah Shanija nach oben. Darren Hag stand auf dem schma len Umlauf des durch die Säureattacke beschädigten Tropfenbassins und blickte ihr nach; die Stirn in Falten gelegt, die Lippen aufeinan der gepresst. Der Megaparaponera kreischte, strampelte mit allen sechs Beinen und feuerte in wilder Raserei eine Säuresalve nach der anderen Richtung Shanija ab, während er wie ein Stein fiel. Shanija jedoch nicht. Als würde sie der Schwerkraft trotzen. Wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden wurde sie zur Seite, nach oben oder unten gezerrt und immer aus dem Bereich des Säure
strahls gehalten. Nach drei Sekunden freien Falls klatschte die Riesenameise auf den Boden. Der Chitinkörper zerbarst. Borsten, Beine und Gedärm verteilten sich in der Eingangshalle der Flüstertüte. Auslaufende Säure fraß sich in den Sandstein und zeichnete ein schauriges Todes muster. Shanija dagegen wurde sanft in sicherer Entfernung abgesetzt. Ihr zitterten die Knie, und sie brauchte eine Weile, bis sie den Schrecken überwunden hatte und begriff, dass sie nicht nur am Leben war, sondern dass auch die geistigen Barrieren endgültig verschwunden waren. Sofort erinnerte sie sich an die Gefährtinnen. »As'mala! Sei ya!« Sie war schon drauf und dran, irgendwie die Fassade nach oben zu klettern, als sich endlich ein von struppigen schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht über die Brüstung schob. Die sichtlich angeschlagene Prinzessin hob die Hand. »Wir sind okay! Die Viecher sind weg. Wie hast du es angestellt, heil da run terzukommen?« Shanija zeigte auf Darren, der immer noch auf dem Umlauf des kokonartigen Beckens stand und hektisch den sich rasch vergrö ßernden Riss zu flicken versuchte. Die Muschellichter an den Wänden flackerten. Dann ertönte ein Knall. Funken tanzten die Streben des Metallgerüsts entlang. Darren Hag schrie auf, sprang zur Befragungsplattform herab, während das Bassin aufbrach und die herausströmenden Massen sich den Weg nach unten bahnten. Shanija reagierte zu spät. Ein Sturzbach aus grüner Grütze ergoss sich über ihr Haupt. Etwas Glitschiges prallte gegen ihren Hinter kopf, flutschte den Rücken hinunter und platschte in die Brackwas serpfütze, die über den Boden verlief. Shanija wischte sich die nassen Locken aus dem Gesicht und be trachtete das schleimige Geschoss genauer. Ein etwa armlanger Wurm, der aus weißer geleeartiger Masse bestand. »Ist das eine Lar
ve?« Sie stupste das Wesen vorsichtig an, schaute nach oben in die Flüstertüte und lauschte dann in die plötzlich eingetretene Stille. Sie begriff augenblicklich den Zusammenhang. »Ich glaube, die Ameise hat statt mir das wahre Orakel getroffen!« »Und darüber werden die Bürgermeister nicht gerade erfreut sein.« Überrascht von der fremden, volltönenden Stimme war Shanija so fort wieder kampfbereit, riss das Schwert hoch und hielt es in einer schnellen Drehung vor die Kehle des groß gewachsenen Mönchs, der – unbemerkt! – neben sie getreten war. »Eine Bewegung, und dir geht's genauso wie deinem Insekten kumpel!« Der Kuttenträger blickte auf die im Schlick schwimmenden Über reste der Riesenameise. »Ich hätte dich längst töten können, wenn ich gewollt hätte. Aber ich bin keine Gefahr für dich.« Ganz langsam zeigte er seine leeren Hände und schlug die Kapuze zurück. »Ich bin Mun. Adept des Zentralarchivs. Meine Aufgabe besteht darin, zu beobachten und Informationen zu sammeln, nicht anderen Schaden zuzufügen.« Shanija war nicht überzeugt. »Ein Adept? Das war der da auch.« »Er lügt! Es gibt keine menschlichen Adepten«, rief Seiya, die zu sammen mit Darren Hag As'mala stützte. Die Drei trafen gerade ein. »Einen Augenblick.« Shanija hob mahnend den Zeigefinger. »Rühr dich nicht, wir reden gleich weiter, aber zuerst sind meine Freunde dran.« Sie steckte das Schwert ein, denn Mun hatte Recht – wenn er sie hätte töten wollen, wäre das längst geschehen. Er war aus einem anderen Grund hier, aber das konnte noch etwas warten. Erleichtert wandte Shanija sich den Gefährtinnen zu. »Ich bin glücklich, euch einigermaßen heil wiederzusehen!« Beinahe wäre sie ihnen um den Hals gefallen, aber sie hielt sich gerade noch zurück. Anscheinend eine Nachwirkung der geistigen Beeinflussung der letzten Tage. Ihre Augen suchten den Blickkontakt mit Darren. »Danke. Wie auch immer du das gemacht hast.«
»Vergaß ich bei unserem letzten Date zu erwähnen, dass ich Tele kinet bin?« Er zwinkerte. »Ich hoffe, du verzeihst mir die etwas gro be Rettungsaktion. Ich hatte zu wenig Zeit, um einen eleganteren Plan zu entwickeln.« »Verstehe. Jemanden über die Brüstung zu schubsen, nennt man Rettung. Na, prima.« Shanijas Augen funkelten. »Wenn ich nicht da gewesen wäre, hättest du einen ganz anderen Höhenflug unternommen.« »Warum warst du überhaupt da?« »Ich sollte die Flüstertüte reparieren, klingelt's jetzt?« »Oder du steigst mir nach! Seit ich hier angekommen bin, läufst du mir ständig über den Weg.« »Ich dir …« Darren lachte lauthals. »Du träumst wohl!« »Bei uns zu Hause in Zata sagt man: Was sich liebt, das fetzt sich«, bemerkte As'mala. Seiya grinste fröhlich. »Bei uns gibt es einen ganz ähnlichen Spruch.« Shanija winkte ab. Ihre Aufmerksamkeit wanderte zurück zu dem Adepten. »Also gut, dann noch mal zu dir: Wer bist du? Und dies mal will ich die Wahrheit hören.« »Mein Name ist Mun. Ich bin Angehöriger der Gilde der Wissens träger. Ausgebildeter Adept. Unterwegs im Auftrag des Zentralar chivs.« »Aber du siehst aus wie ein Mensch«, sagte die Prinzessin dazwi schen. Der schwarzäugige Mann zeigte keine Regung. Er stand gelassen da in seiner schlichten dunkelblauen Kutte, einen abgewetzten Le derbeutel um die Schulter hängend. Auf der Brust war ein Zeichen eingestickt, ein in sich verschlungenes Band. Sein Kopf war kahl ge schoren. Sogar die Brauen hatte er entfernt. Dadurch war sein Alter schwer zu bestimmten. Doch die Fältchen in den Augenwinkeln ver rieten Shanija, dass er die Dreißig bereits weit überschritten hatte.
»Genau genommen bin ich der erste menschliche Adept«, erklärte Mun ruhig. »Einst ausgebildet von meinem Meister Alman a Sant, habe ich zahlreiche Prüfungen bestanden und diene seither dem Ge meinsinn der Bibliothekare. Es ist nicht die Kleidung, die mich zu dem macht, was ich bin, es ist die Gesinnung.« Er ging langsam auf den zerfallenen Rumpf des Megaparaponera zu, beugte sich über ihn und wischte den Chitinpanzer mit dem Ärmel ab. »Einem Adep ten ist es streng verboten, Partei zu ergreifen oder sich aktiv ins Ge schehen einzumischen. Hass, Gier, Leidenschaft – all das ist uns fremd.« »Auch die Liebe?«, fragte As'mala ungläubig. Der Mann mit dem kahl geschorenen Haupt lächelte. »Jedes Ge fühl ist subjektiv, also eine Gefahr für die neutrale Dokumentation von Ereignissen.« »Dann hat dieses Rieseninsekt entweder jede eurer Regeln miss achtet, oder die Kutte war eine Verkleidung«, zog Darren daraus den Schluss. Der Adept nickte. »Jemand, der die Sonnenkraft besitzt, zieht nicht nur die Aufmerksamkeit von Bewunderern auf sich.« »Sonnenkraft?« Darren Hag schaute mit großen Augen in die Run de und blieb bei Shanija hängen. »Hast du noch mehr solcher Über raschungen auf Lager?« »Noch einige«, antwortete sie und strich dabei über ihr Drachenre lief. »Aber erst sollten wir diese Situation klären.« Mun nickte. »Ich kann euch keinen Beweis liefern, dass ich Adept bin, aber ich kann nachweisen, dass dieser Attentäter hier nicht zur Gilde gehört.« Er rubbelte über den Brustpanzer des Kadavers und hob ihn an. »Seht ihr diese Tätowierung? Es ist ein W, das in der Mitte durch eine gezackte Linie gespalten wird – das Zeichen der Warner, einer Sekte, die Dur für einen Dämon hält und mit allen Mitteln zu verhindern versucht, dass er während der Passage in un ser Universum übertritt.« »Und weiter? Was hat das mit Shanija und der Sonnenkraft zu
tun?«, bohrte Seiya skeptisch nach. »Die Warner halten die Sonnenkraft für den Schlüssel. Sie glauben, Dur kann nur mit ihrer Hilfe in diese Welt kommen. Deshalb sollte die Trägerin der Sonnenkraft sterben.« »Na, prima. Dann haben die anderen Sekten mit ziemlicher Wahr scheinlichkeit auch ein Interesse an ihr«, ergänzte As'mala, während sie sich stöhnend die Schulter rieb. Shanija runzelte die Stirn. »Worum geht es hier? Was für Sekten, welcher Dämon oder Gott?« »Ich hab dir doch schon von der Passage erzählt …«, setzte As'ma la an, doch Mun unterbrach sie. »Ich schlage vor, diese Dinge später zu klären und erst eure Wun den zu versorgen«, sagte er. »Vorausgesetzt, ihr haltet mich nicht mehr für eine Bedrohung.« Shanija zögerte, tausend Fragen brannten in ihr. Aber dann sah sie, wie erschöpft Seiya und As'mala waren, und auch sie selbst spürte bleierne Müdigkeit und einen heftigen Druck im Kopf. Wie durch ein Wunder war sie den Säureattacken entkommen … Sie zuckte zusammen. Muksch! Der stachelige Plüschbär hatte sich beim ersten Angriff für sie geopfert. Einfach so. Noch eine Schuld mehr. Shanija straffte die Schultern und drängte den Schmerz um das freundliche kleine Wesen, das sie in der kurzen Zeit lieb gewonnen hatte, zurück. Umso bedeutender, dass sie sich wieder auf das Ziel konzentrierte, damit nicht alle Opfer umsonst waren. »Also gut, Adept, dann sag mir Folgendes: Kommen wir mit einem Zug von hier zum Zentralarchiv? Wie weit müssen wir fahren, was ist der schnellste und kürzeste Weg?« »Wenn ihr erlaubt, werde ich euch gern persönlich dorthin führen«, antwortete Mun. »Du willst dich unserer Gruppe anschließen?«, fragte Seiya miss trauisch. »Aber ich dachte, Adepten gehen keinerlei Bindungen
ein?« »Adepten nicht, aber Menschen«, antwortete der Kahlköpfige. »Ihr werdet mich brauchen, wenn ihr euer Ziel erreicht habt. Denn nur Wissensträgern ist es gestattet, das Archiv zu betreten. Und ich bin ohnehin auf dem Weg dorthin, wir würden uns also wahrscheinlich wiederbegegnen.« »Ich bin auch dabei«, erklärte Darren Hag. »Also steigst du mir doch nach«, konterte Shanija sofort. Er grinste. »Nein, es ist eher … ich sollte mich hier nicht mehr all zu lange aufhalten. Die Flüstertüte ist endgültig hinüber, und das ist nicht gut für meinen Ruf. Ich habe hundertprozentige Wiederher stellung garantiert und mich im voraus bezahlen lassen, ein erkleck liches Sümmchen. Die Uriani hier sind ziemlich … sensibel. Ich könnte für lange Zeit ins Gefängnis wandern und unangenehme Dinge durchmachen.« »Dann mach dich mal schnell auf den Weg«, riet Shanija. »Er will aber bei dir bleiben, der Gockel«, sprach As'mala dazwi schen und grinste breit. Es schien sie nicht zu stören, dass Darren für sie nicht mehr erreichbar war. »Kapier das doch endlich, Shani ja.« »Aber warum?« Da musste selbst Mun kurz lächeln. »Er hat dein Leben gerettet. Ich schätze, er möchte sich versichern, dass sich daran so schnell nichts ändert.« »Willst du mich nicht an deiner Seite?« Darrens graue Augen ruh ten sanft auf ihrem Gesicht. »Meine Fahrkarte habe ich schon.« »Bist du nicht mit diesem Ein-Mann-Flieger gekommen?« »Der war zum Verkauf bestimmt. Nach Fertigstellung wollte ich mit dem Zug weiter nach Osten. Das Archiv liegt schließlich im bro delnden Zentrum, wo es für jemanden wie mich einiges zu tun gibt.« Shanija fiel es schwer, loszulassen. Aber es war an der Zeit. Wel
che Absichten Darren Hag auch immer hegte, er war stets da gewe sen, wenn sie Hilfe gebraucht hatte. Sie würde es schon herausfin den, wie ernst es ihm war. Manchmal musste man auch ein Risiko eingehen. »Doch, es … wäre mir angenehm, wenn du mitkommst«, stieß sie hervor. »Und ich bin dir wirklich dankbar, was du für mich getan hast.« Plötzlich streckte sie sich und küsste ihn kurz auf den Mund. Darren war so verdutzt, dass es ihm die Sprache verschlug. »Ich glaube, unsere Kommandantin steht schon wieder unter ei nem Bann.« As'mala seufzte. »Falls jemand mal an mich denkt: Ich könnte jetzt einen ordentlichen Schluck Hochprozentiges vertragen.« »Uns bleibt noch ein wenig Zeit«, mischte sich Mun ein. »Vor mor gen früh geht kein Zug. Heute wird auch sicher kein Haftbefehl ge gen Darren mehr erlassen.« »Also dann, zurück ins Hotel«, schlug Darren vor. »Der Gastwirt schuldet mir ohnehin noch was.« Zu fünft verließen sie das Schlachtfeld und humpelten durch den schwächer werdenden Sturm den beschwerlichen Weg zurück in die oberen Etagen der Gerüststadt. Als sie das Hotel erreichten, erklang ein fernes Alarmsignal. * »Was ist eigentlich mit den Myriaden kleiner Ameisen passiert?«, fragte Shanija, nachdem die Gruppe die Zimmer von neuem bezo gen, ihre Wunden verarztet und sich zum Essen im Nebenraum der Wirtsstube versammelt hatten. »Als der Megaparaponera über die Brüstung fiel, haben die Winz linge gemacht, dass sie wegkamen«, erzählte As'mala und lachte. »So schnell konnten wir gar nicht gucken, da standen wir schon al lein da.«
»Warum warst du eigentlich so früh bei der Flüstertüte, und in diesem Sturm?«, wollte Seiya von Darren wissen. »Um mich von dem ewigen Geplapper nicht verrückt machen zu lassen, habe ich meine Arbeitzeit in die ruhigen Stunden verlegt, und der Sturm kam mir gerade recht.« Mun war froh, dass sich offenbar niemand näher für das Innere des Bassins zu interessieren schien. Der Tod war aller Wahrschein lichkeit nach eine Erlösung für den Draawen gewesen. Mun war sich zwar nicht ganz sicher, aber dieses Wesen hatte den Larvenarti gen sehr ähnlich gesehen. Möglicherweise war der Draawe vor lan ger Zeit über die unterirdische Wasserquelle hierher geraten und be gründete damit das Orakel. Die letzte Hitzekatastrophe schädigte seine Zellen vermutlich so schwer, dass sie sich nicht mehr regene rieren konnten. Die Zerstörung seines Schutzbehältnisses tötete ihn endgültig. Die große Flüstertüte würde nun für immer schweigen. Doch das brauchte nicht jeder zu wissen. Für dieses Geheimnis war es jetzt nicht an der Zeit, gelüftet zu werden. Deshalb hatte Mun den Wurm vor Verlassen der Flüstertüte unauffällig in die Schlaf matte gewickelt, mitgenommen und in einem unbeobachteten Mo ment und mit gebührendem Respekt im Hotelgarten beerdigt. Erst danach hatte der Adept die Einladung von Darren Hag, sich bei ihm im Zimmer mit einzuquartieren, guten Gewissens angenom men; selbst überrascht von der Selbstverständlichkeit, mit der er die Nähe zu anderen und die damit einhergehenden Gefühle zuließ, die als Folge dieses Entschlusses auf ihn einstürmten. Er war es nicht mehr gewohnt, sich innerhalb eines sozialen Bun des zu bewegen. Doch vielleicht war es von Bedeutung, und er sollte dem nachgeben. Muns Blick glitt unwillkürlich zu Seiya, und er schrak zusammen, als sie ihn plötzlich ansprach: »Und dieser Mega paraponera war also so etwas wie ein Telepath mit hypnotischen Fä higkeiten?« Mun nickte. »Diese Begabung kommt bei der Rasse häufiger vor. Die idealen Mörder. Denn sie schaffen es, dass sich ihnen die Opfer
mehr oder weniger willig selbst ausliefern. Dass dieses Exemplar noch dazu eine solch große Gefolgschaft kontrolliert hat, bedeutet, dass seine Psimagie stark ausgeprägt gewesen sein muss.« »Und ob, wenn sich unsere sonst so streng disziplinierte Komman dantin plötzlich einem Hallodri an den Hals wirft!«, rief As'mala vergnügt über den Tisch. Darren nahm es ihr nicht übel, im Gegenteil, er hob den Becher zum Salut. Und Shanija lachte tatsächlich mit geröteten Wangen. Die Runde stieß johlend die Becher zusammen, und auch Mun gestattete sich ein Lächeln. Morgen würden sie zum Zentralarchiv aufbrechen. Heimreise und Abenteuer gleichermaßen.
Epilog Rubin und Arausio schoben sich langsam über den Rand des Hori zonts und verscheuchten mit blassen orangeroten Strahlen das Grau der Nacht. Im Erdgeschoss des Paradieshofs war der Hotelier hinter dem Tre sen gerade damit beschäftigt, die Buchungen der nächsten Tage durchzugehen, als er über sich Getrampel hörte. Eine Tür fiel kra chend ins Schloss. Dann folgte ein Decken und Wände durchdrin gender Aufschrei. »Bei allen Meeresteufeln!« Der Alte schüttelte resigniert den Kopf. »Nichts als Ärger hat man mit diesen vergnügungssüchtigen Touristen.« Er zupfte die Rüschen seines Fracks in Form und stieg anschlie ßend gemessenen Schrittes die Stiegen hinauf, um nach dem Rech ten zu sehen. Die aufgebrachte Frauenstimme war aus Nummer Siebzehn ge kommen – dem Apartment, das am Vortag erst geräumt worden war, um wenige Stunden später von Herrn Hag ein zweites Mal für dieses impertinente Trio und noch einen Mann dazu gebucht zu werden. Der Hotelier seufzte. Die Wünsche des Sohns von Earl Hag hatten natürlich Vorrang, egal wie lang die Gästewarteliste war. Schließlich hatten die vier Bürgermeister ihn ja auch persönlich gerufen. Und solch eine ein stimmige Entscheidung war an sich schon etwas Besonderes. Aber diese drei Frauen und dazu ein Adept! Wenigstens hatten sie diesmal kein Haustier dabei. Als der Hotelier vor dem Apartment ankam, atmete er einmal tief
ein, nahm die Schultern zurück und klopfte. »Benötigen die Damen eventuell Hilfe?« Die Tür wurde aufgerissen. Eine Frau mit langen blonden Haaren starrte ihn aus aufgerissenen Augen an und stotterte: »Ich wollte doch nur … aber das Bett ist leer … und dann … das Fenster …« Der Gastwirt schaute in die Richtung, in die ihr zitternder Finger zeigte, registrierte die zerwühlten Laken auf dem Bett und sah erst dann das aufgebrochene Fenster. Die Frau rief außer sich: »Shanija ist entführt worden!«
Anhang Über Less Schon der Himmel ist ganz anders als bei uns auf der Erde – drei Sonnen, ein Gasplanet, Brudermonde und eigene Trabanten. Das Farbenspektrum des Tages zeichnet nahezu alle Regenbogenfarben; Grundton ist eher rötlich denn blau. In der Nacht sind die Brudermonde Hades und Orcus wie Mars und Venus bei uns als eher ferne Punkte (rötlich und gelb) sichtbar; die beiden kleinen Trabanten teils von fast weiß bis rot beziehungs weise grün, ziehen in nur etwa 120.000-180.000 km Entfernung über den Himmel. So richtig dunkel wird es nie durch die Nähe des rot strahlenden Fathom. Dadurch bedingt sind auch nur selten die Sterne der Milchstraße zu sehen (eher als milchiges, kaum sichtbares Band); meistens ist mit bloßem Auge nur das eigene System zu erkennen. Lebensbedingungen Die Welt ist erdgroß, mit – unter normalen Verhältnissen – nahezu denselben atmosphärischen Bedingungen und Gravitation. Bei ver schiedenen Konstellationen der Sonnen und Monde kann es aber re gional und zeitlich begrenzt höhere oder niedrigere Schwerkraft ge ben, ebenso andere Atmosphärenzusammensetzung. Hierfür gibt es keine einheitlichen Intervalle. Es herrschen größtenteils ausgeglichene Klimaverhältnisse um die 20 Grad Celsius, örtlich sind aber auch Regionen von 15-60 Grad möglich. Frühling und Sommer finden gleichzeitig statt, Herbst nur in kühleren Bergregionen oder tiefen Tälern. Frost und Winter gibt
es nicht auf natürliche Weise. Das Verhältnis von Land zu Wasser liegt bei 40 zu 60. Die größte Landmasse stellt ein einziger Konti nent. Von den Umweltbedingungen her ist Less idyllisch und fruchtbar, aber: Flora und Fauna sind widerstandsfähig, zumeist be drohlich oder zumindest passiv gefährlich. Historie Heutzutage ist nicht mehr bekannt, ob sich auf dieser Welt einmal ursprüngliches (intelligentes) Leben entwickelt hat. Atmosphäre und Pflanzen hat es in jedem Fall schon gegeben, als die ersten Raumfahrer notlandeten. Durch die extremen Bedingungen im Drei-Sonnen-System und die besondere Konstellation hat sich vor über zwei Milliarden Jahren um den mittleren Mond ein Psifeld entwickelt, das Less wie ein Schutzschirm umgibt und nicht nur Leben ermöglicht, sondern auch jedem organischen Wesen übersinnliche Kräfte verleiht. Allerdings: Diese Kräfte sind nicht kontinuierlich nutzbar, sondern hängen von den Umweltverhältnissen ab, und nicht jeder kann alles, sondern be sitzt meistens nur ein psimagisches Talent. Das Psifeld verhindert allerdings ähnlich wie ein elektromagneti scher Impuls (EMP) zugleich jegliche elektronische Technik. Einmal auf Less gestrandet, gibt es keinen Abflug mehr. Im Zentralarchiv findet man die ältesten geschichtlichen Aufzeich nungen von vor hunderttausend Jahren. Artefakte und archäologi sche Ausgrabungen deuten aber darauf hin, dass schon seit mindes tens einer Million Jahre, wenn nicht länger, raumfahrende Völker sich hierher verirrt haben. Die Gilde der Wissensträger ist überall gleichermaßen hoch geachtet. Dies Cygni dürfte bei den meisten (inter-)galaktischen Raumfah rern als verbotene Zone gelten, weil durch die besondere Sternen konstellation die Einstein'schen Gesetze aufgehoben sind und einen direkten Raumanflug unmöglich machen. Sollte ein Raumfahrer zu fällig oder erzwungen dem System zu nahe kommen, wird er durch
die Anomalien wie durch einen »Traktorstrahl« von dem Kraftfeld eingefangen und zur Notlandung gezwungen. Shanija Rans Hyper flug durch eine Sonne war allerdings bisher, soweit bekannt, einma lig erfolgreich. Es ist nirgends verzeichnet, dass jemandem jemals wieder der Start von Less gelungen wäre. Aufgrund der Vielzahl der raumfahrenden Völker, die teilweise Haustiere und Zoos mit sich führten, bildete sich auf Less ein großer Reichtum intelligenter Wesen und Tierarten, die im Lauf der Jahr hunderte teils mutiert sind, teils sich abgespaltet und neue Arten ge bildet haben. Auch neue Pflanzen sind hinzugekommen, so dass die ursprünglichen nicht mehr bekannt oder zu unterscheiden sind. Kultur, Religionen, Regierungsform So vielfältig wie die Völker sind auch die Kulturen und Religio nen. Teils haben die Völker ihren ursprünglichen Glauben behalten, größtenteils aber zu einem neuen umgewandelt. Es gibt auch über greifende Glaubensgemeinschaften verschiedener Volksgruppen, wie die seit Annäherung der Passage immer größere Beliebtheit fin denden populären drei Sekten der Wiedergänger, Erlöser und War ner. Regierungsformen gibt es nur lokale, eine zentralistische Ober-Re gierung hat sich nie durchsetzen können, obwohl es durchaus im mer wieder, vor allem diktatorische Ansätze dazu gab. Es gibt durchaus politische und geographische Grenzen, die aller dings nirgends offiziell festgehalten sind. Das bedeutet, wer ein Ge biet besetzt hält, dem gehört es solange, bis es ihm ein anderer ab nimmt. Scharmützel, Streitigkeiten und politische wie religiöse Aus einandersetzungen sind an der Tagesordnung. Allerdings gibt es keinen sich kontinental ausweitenden Krieg, weil es viel zu viele – tausende – Fraktionen gibt. So bleiben Auseinandersetzungen größ tenteils lokal begrenzt. Viele größere Gemeinschaften haben Gilden gebildet, vor allem im Bereich des Handwerks, die überall auf dem Kontinent ihre Häuser
haben. Ein Gildemitglied findet somit außerhalb seines Geburtsortes leichter Arbeit. Aber es gibt natürlich auch genügend Freie, die um herziehen und ihre Dienste überall anbieten. Einige Kulturen haben Sklavenhaltung, wobei das nicht immer of fiziell mit Stempel besiegelt ist, sondern manchmal schlicht durch Diktatur. Maßeinheiten und Zeit Zusammen mit der neuen Namensgebung für das System haben die Menschen vor ca. 1000 Jahren auch einheitlich das metrische Maßsystem eingeführt. Mechanische Uhren gibt es zwar fast überall in den Städten, aber kaum jemand verabredet sich exakt um 10 Uhr 30, sondern beispielsweise »zum Verdauungsspaziergang nach dem Frühschoppen«, oder »beim Aperitif vor dem Mittagessen«. In Fa briken herrscht natürlich ein strenges Zeitmaß – zumindest auf dem Papier. Ziemlich exakte Datierungen werden nur im Zentralarchiv gesammelt. Ein Tag auf Less teilt sich auf in Diarium und Noctum, also jeweils die Hälfte Tag und Nacht. Bei der Geschichtsschreibung wird dieser Tag in Dianoctum zusammengefasst. Less umkreist Fathom innerhalb eines Lunariums, was gleichzeitig auch die Phasen der beiden Trabanten symbolisiert: Es gibt ca. 5 Nächte Vollmond, wobei größtenteils beide Monde am Himmel sind, 10 zunehmende und 10 abnehmende Nächte, wo die Monde auch abwechselnd am Himmel zu sehen sind. Neumond gibt es kei nen. Ein Sonnenzyklus, also ein Jahr, hat 31 Lunarien. Ein Jahreszy klus wird als Quartennium bezeichnet: 25,7 Jahre nämlich brauchen die Sonnen, um einander einmal zu umkreisen.
Das sterbende Land von Roman Schleifer und Wolfgang Oberleithner Shanija Ran ist entführt worden. Den gerade überstandenen Erleb nissen nach zu vermuten, von Anhängern einer der drei Sekten. Aber wohin und warum? Gemeinsam machen sich Shanijas Freunde auf die Suche – und ge raten in einen Strudel gefährlicher Abenteuer an Bord eines Zuges, der einen eigenen Willen besitzt. Als habe sich die ganze Welt gegen sie verschworen, müssen sich die Gefährten vieler Feinde erwehren. Der Einfluss der Sonnenkraft hat auch sie erfasst. Auf einem Raumschifffriedhof findet Shanija Ran endlich weitere Informationen und vielleicht die Chance, Less zu verlassen. Doch immer noch sind ihr die Glaubensführer der Sekten auf den Fersen und schicken jeweils ihre besten Assassinen, um der Trägerin der Sonnenkraft habhaft zu werden – oder sie zu töten.