Der Ewige Krieg Version: v1.0
Ich bin der Wächter des Tores. Ich wache seit Äonen. Zeit ist mein Gefängnis. Zeit ist m...
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Der Ewige Krieg Version: v1.0
Ich bin der Wächter des Tores. Ich wache seit Äonen. Zeit ist mein Gefängnis. Zeit ist mein Blut. Hinter mir beginnt der Korridor. Was vor mir liegt, weiß ich nicht. Ich hause in diesem Schacht, jenseits von allem Irdischen. Aber ich kenne nur ein kurzes Stück davon. Er ist lang wie die Ewigkeit, und er besitzt Ausgänge. Nicht nur an seinem Ende, auch in seinem Ver lauf. Schlupflöcher ins … Ich weiß nicht, wohin. Vielleicht habe ich es auch vergessen, in all den Äonen. Ich bin der Wächter. Ich wache und warte. Ich kenne keine Unge duld …
Was bisher geschah Liebe VAMPIRA-Freunde! Seit nunmehr 25 Bänden begleitet ihr die Halbvampirin Lilith bei ihren gefahrvollen Abenteuern, erlebt ihre Siege und Niederlagen mit und folgt ihren teils recht verschlunge nen Pfaden. Um an diesem Wendepunkt ihrer Geschichte noch ein mal Klarheit in die Saga zu bringen, haben wir uns dazu entschlos sen, einige Kapitel der BLUTBIBEL abzudrucken, die seit ewiger Zeit die andere Geschichtsschreibung aufzeichnet. Begleitet Lilith Eden also noch einmal durch
Die Ewige Chronik Er sitzt im Skriptorium. Am Fuß des Tempelberges liegen sieben fluchbela dene Dörfer. Das Scherbengericht. Die Todesboten. Es ist still in der weltabgeschiedenen Schreibstube. Kumar Dass Thoker spitzt den Federkiel und taucht ihn hinein ins lebendige Rot. Es ist ein be sonderer Tag. Ein besonderes Datum. Nicht für ihn selbst, wohl aber für jenes Geschöpf, über das seine Hand gleich berichten wird, während er in Trance weilt. Kumar ist müde. Die Arbeit fällt ihm schwerer von Tag zu Tag, und er ahnt bereits, daß dies sein letzter Anteil an der Chronik werden könnte, be vor … Er seufzt. Dann vergißt er, worüber er sich beklagt. Er beugt sich über die aufgespannte, pergamentene Menschenhaut, wie ungezählte Male da vor. Er beginnt.
Ihr Name ist Lilith. Sie schläft in einem Haus, dessen Zugänge bloße Attrappen sind, versiegelt von Mystik und mächtigem Zauber. Kelchmagie. Lilith ist aus der unmöglichen Verbindung einer unto ten Vampirin und eines sterblichen Menschen hervorgegangen. Ihre Mutter ist Creanna, ihr Vater Sean Lancaster, der in den schottischen Highlands aufwuchs. Sie beide flohen nach Terra Australis, in die Stadt Sydney, wo Creanna, was einer Vampirin verboten ist, ein le bendiges Kind gebar – und dafür die eigene untote Existenz auf die Waagschale legen mußte. Sie bezahlte mit dem, was die Kelchkinder für Leben halten. Wie sollten sie anders mit ihrem Dasein umgehen? Creannas Tochter Lilith ist es aufgetragen, hundert Jahre in jenem besonderen Haus in Sydney zu verbringen. Denn dieses Haus birgt alles Wissen, das Lilith nach Ablauf der Frist benötigen wird, um ih rer Bestimmung gerecht zu werden. Durch Träume erhält dieses Ge schöpf zweier Welten seine täglichen Lektionen und wird vorberei tet auf die Außenwelt … Doch heute unterbricht das Schicksal die lange Kette von Wochen, Monaten und Jahren. Lilith wird von einer uralten Frau aus Schlaf und Traum gerissen. Der Schock ist so gewaltig, daß sie die Greisin nicht erkennt und dem Haus entflieht. Es gelingt ihr mühelos, die Siegel, die es schützen, zu durchdringen. Sie irrt durch die nächtli chen Straßen, ohne zu merken, daß sie verfolgt wird. Auf einem al ten Friedhof schließlich tritt ihr Hadrum entgegen. Hadrum ist eine Dienerkreatur der Vampire. Aber Lilith weiß weder, was eine Dienerkreatur ist, noch welche Rolle die Vampire spielen. Sie hat in ihren Träumen ein ganz norma les Menschenleben gelebt und weiß nach ihrem Erwachen nicht, daß es nur Traum war. Sie hält es für Wirklichkeit. Hadrum gelüstet nach Liliths Blut. Er erhofft sich von ihren Säften eigene Stärkung. Er möchte der Verachtung seines Standes entflie hen. Daß er Liliths Erwachen an die Vampirsippe von Sydney wei
termelden müßte, vergißt er in seiner Gier und Sehnsucht. Aber auch wenn Lilith noch kein bewußtes Wissen über die Zu sammenhänge besitzt – sie weiß sich zu wehren. Es kommt zum Kampf, aus dem sie angeschlagen als Siegerin hervorgeht. Aber sie verliert das Bewußtsein und kommt erst wieder bei Sonnenaufgang zu sich. Hadrum ist noch am Leben. Mit letzten Reflexen versucht er, Lilith zu töten. Die aufgehende Sonne rettet sie. Hadrum zerfällt vor ihren Augen zu Asche. Nach diesem neuerlichen Schock sucht Lilith nach Anhaltspunk ten, wer sie sein könnte, woher sie kommt. In der Brieftasche des To ten findet sie auf einem vergilbten Zettel einen Namen und eine Adresse: Lilith Eden, 333 Paddington Street. Der Name läßt eine be sondere Saite in ihr erklingen, aber sie weiß noch nicht sicher, daß sie diese Lilith ist. Während sie sich zu der Adresse begibt, hat der Todesimpuls der Dienerkreatur die Sippe erreicht. Deren Oberhaupt Hora setzt sich auf die Spur der Vernichtung, findet Hadrums Asche und folgt mit magischen Sinnen Liliths weiterem Fluchtweg. Ein Taxifahrer, der Liliths erwachende Lust auf Blut und Sex be friedigt, fährt sie bis kurz vor ihr Ziel. Von Nick erfährt sie auch, daß sie sich in Sydney befindet. Während er völlig verausgabt in seinem Wagen zurückbleibt, be tritt Lilith das von einer hohen Mauer umfaßte Anwesen, wo hinter dichtem Pflanzenwuchs ein mächtiges Haus mit aufgemalten Türen und Fenstern steht. Lilith findet erneut instinktiv den Weg durch die magischen Siegel – und begegnet im Haus wieder der alten Frau, die im Sterben liegt und ihr nur noch raten kann, den Keller aufzusu chen. Dort lägen die Antworten für Lilith bereit. Lilith gehorcht. Im Keller findet sie in einem Sarg ein rotes Kleid, in das sie wie unter Zwang schlüpft. Es scheint sich förmlich in ihre
Haut zu beißen. Als der Schmerz verfliegt, überfallen Lilith Bilder der Vergangenheit, die sie aus der Sicht ihrer Mutter nacherlebt und die ihr mehr Klarheit über sich selbst und ihre Situation geben. Sie erfährt, aus welcher Verbindung sie bereits im Jahre 1896 her vorgegangen ist. Unter welchen Umständen ihre Mutter starb, und wie ihr Vater sie im Schutz des Hauses aufzog. Von Zeit zu Zeit verließ er das festungsgleiche Gebäude und be sorgte frisches Blut für Lilith. Irgendwann brachte er eine Waise na mens Marsha als Spielgefährtin und spätere Gouvernante für Lilith mit. Diese Marsha alterte im Gegensatz zu Lilith normal. Während der immer längeren Schlafphasen träumte Lilith ein ganz normales Leben – in ihr Unterbewußtsein aber floß immenses Wissen ein. Eines Tages wurde ihr Vater vor dem Haus von Vampi ren überfallen und enthauptet. Lilith lag zu dieser Zeit im Schlaf, Marsha war wach. Marsha konnte das Haus nur in Begleitung von Liliths Vater betreten – und ohne ihn nicht mehr verlassen. Sie fand einen Brief, den er für alle Eventualitäten vorbereitet hatte. Darin bat er sie, sich auch allein weiter um Lilith zu kümmern. Marsha folgte seiner Bitte. Sie ließ Lilith von nun an nur noch schlafen, denn im Schlaf brauchte sie das wenigste Blut, und dieses wenige erhielt sie von Marsha. Deren Nahrung in dieser Zeit war ein magisches Pul ver, das sie am Leben erhielt. Keinem Vampir gelang es je, das Haus zu betreten. Doch noch zwei Jahre vor Ablauf der Hundertjahresfrist spürte Marsha, daß sie den Tod nicht länger betrügen konnte. Sie konnte sich kaum selbst mehr helfen, geschweige denn Lilith. In ihrer Not wußte sie sich nicht anders zu helfen, als ihren Schützling vorzeitig zu wecken … Lilith durchsucht den Keller intensiver – und findet das Grab ihrer Mutter, von dem aus eine Stimme weitere Informationen preisgibt. Aber Liliths Bestimmung bleibt immer noch unklar, nebulös. Sie er fährt nur, wer ihre Todfeinde sind – die Vampire und deren Kreatu
ren – und daß etwas Wegweisendes an ihrem 100. Geburtstag ge schehen sollte. Was dies ist, wird ihr verschwiegen, denn die Nach richt ihrer Mutter setzt voraus, daß sie es bereits weiß. Sie konnte damals nicht vorhersehen, daß Lilith zwei wichtige Jahre zur Reife fehlen würden. Sie erhält noch eine Warnung vor einem mächtigen Feind mit Na men Landru und die Aufforderung, das Kleid zu behalten. Das muß sie wohl auch, denn es läßt sich nicht mehr von ihrer Haut lösen! Was für ein mütterliches Geschenk! Als Lilith den Keller verläßt, werden die Außenmauern für sie transparent, und sie erkennt drau ßen eine aufgebrachte Menschenmenge, angeführt von dem Taxifah rer. Aber die Siegel bieten noch erfolgreich Widerstand, obwohl Li lith fühlt, daß nach ihrem Erwachen Veränderungen mit dem Haus in Fluß geraten sind. Sie beschließt, sich unbemerkt abzusetzen. Das Kleid auf ihrer Haut honoriert diesen Entschluß mit einer plötzlichen Mimikry. Es wird schlicht und bieder, unauffällig. Lilith geht an einer unbeobachteten Stelle »durch die Siegel«. Sie spürt bohrenden Hunger, Hunger nach Blut … Noch unbedarft in den meisten Dingen des wirklichen Lebens, läßt Lilith sich auf den jungen Pornoproduzenten Leroy Harps ein, der mit ihr den Fang seines Lebens gemacht zu haben glaubt. Denn Li lith ist schöner als jede Frau, der er je begegnete. Und so herrlich naiv … Doch am Ende fühlt er sich ausgelaugt und Lilith sich mehr als gesättigt! Dem Parapsychologen Brian Secada gelingt es unterdessen, in das Haus der Attrappen einzudringen. Die Erlebnisse dort kosten ihn den Verstand – und alle Lebenskraft. Als er entfliehen kann, ist er um Jahrzehnte gealtert. Das Haus selbst versinkt, nachdem es noch weiteren Menschen in der Nähe die Energie geraubt hat, in einem Erdrutsch. Der Polizist Jeff Warner ermittelt auf Befehl seines Chefs
Virgil Codd in Sachen »verschwundenes Haus«, obgleich er lieber seine Lieblingstheorie eines Serienmörders weiterverfolgen würde, der nach seiner Ansicht seit langer Zeit sein Unwesen in Sydney und Umgebung treibt und seine Opfer immer mit gebrochenem Genick zurückläßt. Kurz nachdem Lilith Harps verlassen hat, taucht dort Hora auf. Er preßt Informationen und Blut aus Harps heraus und verwandelt ihn in eine Dienerkreatur. Dann nimmt er die weitere Fährte Liliths auf. Horrus, ein Mitglied von Horas Sippe, kann Lilith in einem Park stellen und wird von ihr mit Hilfe des Mimikrykleids getötet. Weite re Mitglieder rotten sich um sie herum zusammen. Auch Hora taucht auf, und ihn tötet Lilith ebenfalls unter tätiger Mithilfe des Kleids. Danach entkommt Lilith in die nächstgelegene Kirche, deren At mosphäre ihr zwar zusetzt, die sie aber der menschlichen Gene we gen nicht vernichtet. Allerdings legen die hier herrschenden Einflüs se Liliths zweites, vampirisches Gesicht offen. Als Pater Lorrimer sie entdeckt, verliert sie das Bewußtsein. Sie erwacht in Lorrimers Ge walt. Er leitet die Kirche am Trumper Park und will, nachdem er ihr Wesen durchschaut zu haben glaubt, durch Exorzismus »ihre Seele retten«. Derweil wird Lorrimers Gehilfe, ein Novize namens Duncan Lu ther, von den immer noch vor der Kirche lauernden Vampiren hyp notisiert und angestiftet, Lilith mit einem speziellen Holzdolch zu pfählen. Im Zuge von Lorrimers Austreibung löst sich das Mimikrykleid von Liliths Haut, wickelt sich um Lorrimers Kopf und raubt ihm das Augenlicht. Als Luther auftaucht, um Lilith zu töten, befällt es auch ihn. Ihm geschieht jedoch nichts, außer daß es den auf erzwungenen fremden Willen in ihm beseitigt. Er schlägt sich auf Liliths Seite. Den Dolch behält er jedoch, als sie unterirdisch durch die Kanalisation
flüchten. Inzwischen bekommt auch Jeff Warners Weltbild immer mehr Ris se. Sein Kollege Stiller versucht ihn zu ermorden. Und Codd schickt ihn trotz akuter Gefahr in einen besonderen Einsatz auf das Anwe sen 333, Paddington Street. In den Garten des versunkenen Hauses. Er soll die Ursache der mysteriösen »Vergreisungen« untersuchen. Er allein. Nachdem Luthers Eltern, bei denen sie Unterschlupf finden woll ten, von Vampiren ermordet wurden, stellt Duncan einen Kontakt zu einer Bekannten her: Beth MacKinsey, Reporterin beim Sydney Morning Herald. Er macht ihr weis, Lilith würde von ihrem gewalt tätigen Ehemann verfolgt und bräuchte – wie er auch – dringend eine Bleibe. Beth läßt sich, wenn auch skeptisch, darauf ein. Lilith er fährt, daß Beth sich von Berufs wegen mit den Vorkommnissen in der Paddington Street beschäftigt. Sie bittet die Reporterin, sie bei ihrer Recherche begleiten zu dürfen. In der Paddington Street wird Beth an der vordersten Polizeisper re barsch abgewiesen, Lilith hingegen dank ihrer hypnotischen Kräf te durchgelassen! Sie betritt den veränderten Garten – und spürt plötzlich, daß sie, falls sie weiterginge, unweigerlich von etwas, das schon sehnsüchtig auf ihre Rückkehr wartet, eingefangen und fest gehalten würde. Während ihres Rückzugs sieht sie kurz einen alten Aboriginal, der ihr bereits als flüchtige »Geistererscheinung« in ih rem Geburtshaus begegnete. Was es mit ihm auf sich hat, weiß sie nicht. Etwa zur gleichen Zeit taucht ein mächtiger Vampir namens Land ru in Sydney auf. Er erfährt von dem Wüten unter der Sippe und er klärt den Vampiren, daß von dem verlorenen Unheiligtum, das er seit langer Zeit sucht, immer noch keine Spur gefunden ist. Beth indes besucht einen Ureinwohner, der ihr als Informant emp fohlen wurde. Sie erhofft sich von ihm auch Hinweise über die von
den Behörden verschleierten Vorgänge in der Paddington Street. Aber Esben Storm, wie sich der Aboriginal nennt, verweigert jegli che Auskunft. Lilith hingegen, die im Wagen wartet, erkennt in ihm den Mann wieder, den sie schon in Haus und Garten beobachtete. Ohne Beth sucht sie dessen Laden noch einmal auf. Ohne viel Aufhebens bietet Storm ihr an, sie auf Traumzeitpfaden mit in das versunkene Haus zu nehmen. Lilith willigt ein. Ihre Astralleiber gelangen zunächst in den Garten ihres Geburtshauses, wo sie eine Anzahl von Menschen dabei beobachten, wie sie die Früchte eines anstelle des Hauses auf ragenden Apfelbaumes essen – und sich danach scheinbar in Luft auflösen. Die Reise geht weiter. In die Erde, wo das Haus immer noch, wenn auch dramatisch verändert, existiert. Das Grab von Liliths Mutter er weist sich als leer. Niemand ist da, der Antworten geben wollte oder könnte. Enttäuscht will Lilith Storm bitten, sie zurückzubringen. Aber Storm ist verschwunden – und das Haus will Lilith auch als Astralkörper nicht wieder hergeben! Landru hat Lilith inzwischen mit Hilfe des konservierten Schrumpfkopfs ihres Vaters aufgespürt. Er dringt in Storms Laden ein. In dem Moment, als er Liliths verlassene Hülle findet, versucht die Kraft des Hauses auch Liliths Körper an sich zu ziehen. Vor Landrus Augen verschwindet Lilith. Aus Rache verwüstet er Storms Laden. Dem entstehenden Brand fällt auch Storms immer noch ver lassene Körperhülle zum Opfer. Storms Astralleib kehrt zurück, ehe sich das Haus Lilith Körper aneignen kann. Er kappt die verbindende »Nabelschnur«, und Lilith erwacht benommen in einer ihr fremden Gasse. Ihr Mißmut gegen Storm ändert sich erst, als sie seinen Laden vernichtet vorfindet. Sie geht davon aus, daß Storms Körper darin verbrannt ist und er von nun an ewig auf die »Traumzeitpfade« verbannt ist.
Ein Sydneyer Vampir, der Landru beeindrucken will, entdeckt und verfolgt Lilith. In einem Park wird sie von ihm überfallen, aber mit Hilfe des Mimikrykleids, das von Storm als lebendiges Wesen entlarvt wurde, mit dem Lilith in untrennbarer Symbiose leben muß, überwältigt sie ihn. Sie preßt ihm wichtige Informationen auch über den geheimen Versammlungsort der Vampirsippe ab, ehe der Symbiont ihn tötet. Landru erhält an eben jenem Versammlungsort unerwarteten Be such einer geheimnisvollen alten Freundin: der Werwölfin Nona. Während die beiden auf die »Jagd« gehen, dringt Lilith in das Reich unter dem entweihten Friedhof ein. Der Unterschlupf ist verlassen, auch Landrus Kammer, die sie mit Glück und Geschick ausfindig macht. Dort findet sie den Kopf ihres Vaters, den sie nicht zu berüh ren vermag. Gerade als sie eine Karte aus Menschenhaut entdeckt, auf der Landrus nächstes Ziel in Nepal vermerkt ist, kehren er und Nona zurück, Lilith verbirgt sich und kann, während die beiden sich ek statisch lieben, entkommen. Lilith macht mit Luther ein Treffen außerhalb von Beth’ Wohnung aus – nicht ahnend, daß Beth ihm heimlich folgt. Und auch Lilith ist jemand gefolgt. Die von Landru gedemütigte Vampirin Hekade. Sie bringt Beth in ihre Gewalt und benutzt sie als Faustpfand gegen Li lith. Offenbar will sie Landrus Gunst durch eine besondere Tat wie dererringen, und auch Mona ist ihr ein Dorn im Auge … Doch Beth kann ihre Gegnerin mit dem Blitzlicht ihrer Kamera blenden. Den Rest erledigt Lilith. Nach diesem Geschehen schenken Lilith und Duncan der Reporterin reinen Wein ein. Landru findet Spuren, die nahelegen, daß Lilith von seinem Ziel in Nepal Kenntnis gewonnen hat. Damit sie ihm nicht zuvorkommt, reist er sofort dorthin ab. Als er in einem Dorf im Himalaja das Blut eines jungen Mädchens trinkt, ahnt er nicht, daß er eine Auserwählte
tötet. In Sydney taucht – nach seinem Besuch in dem verwunschenen Garten – ein veränderter Jeff Warner in Codds Büro auf und gibt dessen Sekretärin, die wie Codd eine Dienerkreatur der Vampire ist, auf mysteriöse Weise ihre Menschlichkeit zurück, indem er sie zwingt, eine apfelförmige Frucht zu essen. Ich bin Jaime. Ich bin ein Schreiber. Mir ist gleich, was der Federkiel auf das Pergament bringt. Ich lese und vergesse es. Es ist nicht wichtig. Ich lebe nur zwischen den Zeiten einer Niederschrift, niemals währenddessen. Ich bin nicht müde, aber auch Tatendrang ist mir fremd. Manchmal glaube ich, die Haut, die vor mir aufgespannt ist, flüstere zu mir. Sie kann es sich sparen. Es interessiert mich nicht, was sie sagt oder wessen Leid sich hinter der gegerbten Fläche verbirgt. Wir alle leiden, und niemand hat Mitleid mit uns … Lilith und Duncan werden in der ersten Etappe ihrer Reise, von Pra desh, dem New Delhi Korrespondenten des Sydney Morning He rald, in Empfang genommen. Beth hat den Kontakt arrangiert. Doch in der Nacht überfällt die Delhi Vampirsippe das Hotel, in dem sie abgestiegen sind. Dabei kommt Duncan Luther ums Leben! Im Himalaja versucht Landru, zu den Tempeln über dem Dorf vorzudringen, wo er Bimal, die Auserwählte, tötete. Er vermutet dort den LILIENKELCH, ein vor 267 Jahren verschwundenes Unhei ligtum, ohne den die Vampire keinen neuen Nachwuchs zeugen können. Die Mönche des Tempels besitzen jedoch unirdische Kräfte. Und sie fordern von den Dorfbewohnern ein Ersatzopfer für jenes, das Landru tötete. Lilith, der erstmals eine Transformation zur Fleder maus gelang, findet auf diesem Weg in das Dorf, wo, wie in sechs
Nachbardörfern, ein seltsamer Kult herrscht. Sie nimmt die Stelle des »Ersatzopfers« ein – einer Frau namens Usha – und wird zum Tempel gebracht. Dort erfährt sie, daß die Haut der Auserwählten als Pergament Verwendung findet. Hier oben in den Tempeln wird an der Ewigen Chronik, der BLUTBIBEL, geschrieben, der auch dieses Blatt bald eingefügt wird, wie alle Geschehnisse der anderen Geschichtsschrei bung seit Anbeginn der Zeit. Also auch alle Hintergründe von Li liths Existenz und dem Aufbewahrungsort des gestohlenen Lilien kelchs.* Doch Liliths Betrug wird durchschaut. Hilflos muß sie den Tod der wahren Usha mitansehen. Danach entkommt sie aus der Gefangenschaft, doch ihr Versuch, die Ewige Chronik in ihren Besitz zu bringen, scheitert. Schließlich wird dieses unersetzliche Werk so gar – so scheint es – ein Opfer der Flammen. In Wahrheit verbrennt nur eine Kopie der Blutbibel. Auch Landru scheitert kurz vor dem Ziel. Gemeinsam müssen er und Lilith im Aufbewahrungsraum der Chronik gegen Halluzinatio nen kämpfen – und es bleibt ihnen auch später unklar, was von dem Erlebten Trug und was Wahrheit war. Die Tempelanlage stürzt in sich zusammen. Landru wird unter den Trümmern begraben. Während er sich mühsam befreit, flieht Li lith allein zurück nach Sydney. Auch Pradesh, mit dem sie Freund schaft schloß, fiel den Geschehnissen zum Opfer. In Sydney überrascht Beth Lilith mit einem ungewöhnlichen »Gast«: Jeff Warner, der nach seinem Aufenthalt in der Paddington Street kein Mensch mehr zu sein scheint. Er eröffnet Lilith, daß das Haus Liliths frühes Erwachen akzeptiert und Helfer für sie rekru tiert habe – ehemalige Dienerkreaturen, denen durch spezielle *Anmerkung: Die betreffenden Angaben wurden für diesen Ab druck getilgt, um das Geheimnis nicht zu früh zu offenbaren.
Früchte ihr Menschsein zurückgegeben wurde. Auch Virgil Codd macht Bekanntschaft mit einer dieser Früchte. Warner tilgt damit den Vampirkeim in ihm. Als Lilith Warner verläßt, gibt dieser ihr noch einen Hinweis, wo die Spuren des Lilienkelchs damals endeten: In Llandrinwyth, ei nem kleinen Dorf in Wales. Dort angekommen, finden Lilith und Beth jedoch kein Dorf, nicht einmal Ruinen. Lilith stößt auf einen graslosen Fleck Erde, der jedes Lebewesen magisch ablenkt. Man kann nur mit größter Mühe darauf zugehen. Keine gute Haut, keine gute Haut, wahrhaftig nicht! Was, denken SIE, können SIE uns anbieten? Ich bin ein Künstler! Terentius klatscht nicht einfach nur Worte auf einen Bogen Pergament – nein! Ich gehe auf in mei nem Werk. MEINEM Werk! Die anderen mögen es anders sehen – be stimmt sehen sie es anders. Ich rede manchmal mit ihnen. Ich mag keinen. Sie jammern nur. Sie wissen nicht zu schätzen, was wir hier schaffen. Wel che Bedeutung es hat. Wir sind Chronisten. Wir halten fest, was niemand anders verewigen könnte. Wir sind wichtig – ich genieße es jedesmal. Auch wenn ich Inhalte vergesse. Das Gefühl bleibt. Erhabenheit. Ja, das ist es. Wenn nur die Häute besser wären! Menschen sollten sich pflegen. Beson ders auserwählte Menschen … Lilith – und später auch Beth – überwinden den Zauber und finden sich in dem verschwundenen Dorf wieder. Was sie nicht wissen: Schon kurz vorher geriet Tom, Mitglied einer skurrilen Freak Show, nach Llandrinwyth. Hier ist alles tot. Sogar die Zeit selbst scheint nicht mehr existent. Das Zentrum des Dorfes ist gut erhalten, zu den Rändern hin herrscht zunehmender Verfall. Das zeigen auch die Verwesungssta dien der Leichen. Trotzdem sind die Toten nicht so tot, wie sie sein
sollten: Sie erheben sich und attackieren die beiden Frauen, die sich in eine Kirche retten, von der jedoch keine christliche Ausstrahlung ausgeht. Es ist das Gotteshaus des Pfarrers Owain Glyndwr, der hier zum Jahreswechsel 1727/28 gegen eine »Hexe« kämpfte, die eines Tages erschien und ein Neugeborenes stahl. Damals führte der Kampf ge gen diese Hexe zum Untergang von Llandrinwyth, das dabei hinter die Spiegel des Ortes verbannt wurde. In den Privaträumen des Pfarrers stößt Lilith auf einen Spiegel, in dem der Lilienkelch plastisch echt eingebrannt scheint. Sie versucht danach zu greifen – und wird in den Spiegel gezogen. In eine Welt, in der alles Gute böse ist und die beherrscht wird vom Bewußtsein des dämonisierten Pfarrers Glyndwr. Lilith erfährt Näheres über die damaligen Vorkommnisse. Daß der Pfarrer eine schwarze Zeremo nie mit dem von der Hexe gestohlenen Kind durchführen mußte – und daß dabei wohl auch der Lilienkelch eine maßgebliche Rolle spielte. Diese »Hexe«, so scheint es, ist die Diebin des Unheiligtums. Glyndwr gibt dem geraubten Kind bei der satanischen Taufe den Namen Creanna. Diese Creanna wird mehr als anderthalb Jahrhun derte später Lilith zeugen … Nur die Hexe und das Kind entkamen dem Inferno, das der Kelch in Llandrinwyth entzündete. Und natürlich nahmen sie den Kelch mit. Lilith, deren vampirische Seite plötzlich gut ist, muß gegen die Schreckensherrschaft des Pfarrers kämpfen. Als sie ihn vernichtet, schrumpft die »Zeitblase«, in der das Dorf eingeschlossen ist. Im letzten Moment entkommt Lilith durch die spiegelnde Wasserober fläche eines Brunnens aus der Spiegelwelt und zusammen mit Beth und Tom Grimaldi auch aus dem verschwundenen Dorf der Gegen wart, auf das die Zerstörung übergreift. Tom erregt Liliths Interesse. Denn an dem Hals des Jungen finden
sich Vampirmale … In der Freak Show, die Toms Vater leitet, treffen sie auf die »gute Vampirin« Fee, von der Lilith Erstaunliches über das weitere Wir ken der Kelchdiebin erfährt. Offenbar ist Fee ein »Experiment« die ser Unbekannten. Sie entkam damals einem Gemäuer im schotti schen Hochland und muß seither in der erschreckenden Mischge stalt einer eigentlich hübschen, aber mit Fledermausflügeln behafte ten Frau durchs Leben irren. Sie vermag nach dem Leid, das sie er fahren hat, ihre Gestalt nicht mehr zu verändern. Und der Keim, den sie beim Bluttrinken weitergibt, hat als einzige Konsequenz eine un erhörte Langlebigkeit ihrer »Opfer« zur Folge. Fee entzieht sich schließlich der Freak Show und damit auch Lilith. Niemand weiß, wohin sie sich wendet. Lilith und Beth kehren nach Sydney zurück, wo sie eine Situation erwartet, die schon lange vorher ihren Anfang nahm. Es beginnt auf dem Anwesen von Liliths Geburtshaus. Dort entar tet, von der fremden Magie angeregt, ein Wondjina, ein australi sches Schöpferwesen der Traumzeit. Menschen geraten in den Ein fluß stofflicher Schwärze. Beth gelangt im Zuge ihrer Recherchen zu einem Hochhaus, in dem sie das Zentrum der Pervertierung vermu tet. Ein Kiefernwald auf der tasmanischen Halbinsel vor Australien entpuppt sich als zusammenhängender, mehrtausendjähriger Orga nismus, dem ein weiteres Schöpferwesen innewohnt. Liliths vom Vampirkeim befreite »Diener« werden dorthin beordert, um sie vor Schaden zu bewahren. Aber der Urbaum wurde bereits von den ent arteten Wondjinas infiziert und vereinnahmt die Menschen. Lilith stattet dem Hochhaus einen Besuch ab. Dort begegnet sie den dämo nisch mutierten Schöpferwesen. Von überall strömen Menschen auf das Hochhaus zu. Die Dämonen wollen sie in sich aufgehen lassen und sich ihre Energie einverleiben.
Als Lilith nach Tasmanien gerufen wird, wird sie mit dem Schick sal ihrer Diener konfrontiert. Sie sind zu Bestandteilen des Urbaums geworden – rettungslos verloren. In den Resten des »Waldes« entdeckt Lilith einen Zweig, in den sich das sterbende Schöpferwesen zurückgezogen hat. Sie nimmt den Zweig und dringt damit ins Zentrum der Dämonen ein. Der Tod im Zweig vernichtet die Entarteten. Lilith flieht aus dem Hochhaus, doch ihr Symbiont hat Schaden genommen. Er verfällt in einen »Traum«, den Lilith gleichzeitig mit erlebt – und auf diese Weise Creannas Werdegang nacherlebt. Ich bin der Neue. Gordon. Nicht, daß ich von den anderen Schreibern nicht gut aufgenommen wurde. Aber es ist seltsam hier. Ich werde Zeit brau chen, bis es mir zur Gewohnheit wird, mit Blut auf Haut zu schreiben. Überhaupt: schreiben. Wann habe ich es erlernt? Ich erinnere mich, es nie gekonnt und dadurch den Spott anderer auf mich gezogen zu haben. Ich liebe es, etwas zu tun, was ich gar nicht kann … Als die Erinnerung des Symbionten endet, sieht Lilith sich und ganz Sydney einer neuen Gefahr gegenüber. Einer der kranken Wond jinas hat vor seinem Tod ein rattenähnliches Nagetier mit einer ma gischen Pest infiziert, die dieses Tier nun nach Sydney einschleppt. Bald sind die Auswirkungen der Seuche überall in der Stadt zu er kennen. Lilith findet den Verursacher und tötet ihn. Die magische Pest endet damit, aber alle vormals Infizierten leiden unter einer eklatanten Nebenwirkung: Die Gefühlswelt der Befallenen hat sich ins Gegenteil verkehrt! Auch Beth wurde infiziert. Das macht sich Landru zunutze; er ver bündet sich mit ihr gegen die ahnungslose Lilith. Auf der Suche nach einem Gegenmittel stößt Lilith auf den Seu
chenexperten und Serologen Frans Stålheim. Sie reist nach Lapp land, wo sich Stålheims Labor befindet, und übergibt ihm den Kada ver des Seuchenverursachers. Dort im Labor erreicht sie ein makabrer Anruf: von dem toten Duncan Luther! Er meldet sieh aus Mauretanien und will offenbar weder von seinem Tod wissen, noch wie er nach Afrika gelangte. Indem Lilith zu ihm weiterreist, verpaßt sie Landrus Ankunft bei Stålheim. Landru bietet dem Serologen in seiner Tarnexistenz Hec tor Landers an, ihm bei der Entwicklung des Heilserums zu »helfen«. In Mauretanien trifft Lilith in El Nabhals Oase auf eine WerwolfSippe, deren »Alpha-Herrin« Landrus Freundin Nona ist. Überra schend einfach kann Lilith Duncan Luther aus dem Gewahrsam be freien – denn damit handelt sie genau nach Landrus Absicht. Doch der Magier El Nabhal ist eifersüchtig und will Landrus Pläne verei teln. Nona tötet ihn mit Hilfe eines seiner eigenen magischen Tü cher. Gemeinsam mit Luther und ohne Nona persönlich begegnet zu sein, kehrt Lilith nach Lappland zu Stålheim zurück. Von ihm erhält sie ein Serum, das von Landru manipuliert wurde. Damit reisen sie nach Sydney, wo es Beth verabreicht bekommt. Duncan glaubt nun zwar, daß er tot war, fühlte sich aber wieder lebendig und nicht im geringsten – wie ihn Lilith verdächtigt – fremdbestimmt. Lilith kostet sein Blut – es schmeckt fade, aber nicht wie das eines Toten. Nach diesem Biß jedoch verschwinden – von ihr unbemerkt – Duncans Schatten und Spiegelbild, was Luther selbst in allergrößten Zwiespalt stürzt. Als Lilith das Serum auch einem Kollegen Stålheims überbringen
will, muß sie erfahren, daß die meisten Kranken bereits wieder ge nesen sind. Auch ohne Medikament. Und der Arzt sieht keine Ver anlassung, seine Patienten einem unerprobten Serum auszusetzen. Er warnt vor Nebenwirkungen. Offenbar waren die »Gefühlsverir rungen« als Nachwehen der Pest zeitlich begrenzt … Als Beth je doch aus ihrem Schlaf erwacht, in den sie nach der Injektion fiel, steht ihre Gefühlswelt immer noch Kopf! Sie wirft Lilith und Dun can aus der Wohnung. Offenbar hat sich alles gegen Lilith verschworen: Dort, wo sie ge boren wurde, lassen die Sydney-Vampire ein zwölfstöckiges Hoch haus errichten, dessen Rohbau und erste Etagen bereits stehen. Als Projektleitung ist eine Firma namens Salem Enterprises angegeben. Und dieses Unternehmen beruht auf der Idee des neuen Oberhaupts der hiesigen Sippe. Irgendwo auf dem Firmengelände von Salem Enterprises soll sich auch, wie Lilith herausfindet, der neue geheime Versammlungsort der Sippe befinden. Dann taucht der Vampir Feyn auf. Er macht Lilith in Virgil Codds verlassener Villa ausfindig; dorthin ist sie mit Duncan ausgewichen. Feyn ist ein sehr spezieller Vampir. Er rettet Lilith vor einem An schlag der Sippe – und bietet sich als Verbündeter an. Liliths Skepsis weiß er mit der Schilderung seiner phantastischen Herkunft zu ent kräften: Er ist – nach Fee – das zweite Produkt undurchsichtiger Ex perimente, die die Kelchdiebin vor rund anderthalb Jahrhunderten im Gebiet von Beinn Dearg, im schottischen Hochland, anstellte. Er haßt, sagt er, Vampire ebenso wie Lilith und vernichtet sie, wo im mer er sie antrifft. Bei Herak, dem neuen Sippenoberhaupt, der sich selbst nach seinem Vorgänger Hora nennt, hat er sich nur ins Ver trauen eingeschlichen, um an Lilith heranzukommen … Unterdessen hat Duncan Luther ein seltsames Hobby entwickelt: Seit Liliths Biß interessiert er sich für das frühere Mesopotamien, den heutigen Irak. Warum, das weiß er selbst nicht zu sagen. Doch
eines Tages ist er plötzlich verschwunden. Am Flughafen kauft er sich ein Ticket nach Uruk im Irak. Feyn versteht es, Liliths Gefühle auszunutzen. Er erringt ihr Ver trauen – besonders als er ihr Informationen über die Absichten von Salem Enterprises besorgt. Bestürzende Details: Offenbar mischt Hora II in den Genlabors dieser Firma althergebrachte Magie mit modernster Forschung. Er will, so scheint es, Mittel schaffen, um Vampire »resistent« gegen verderbliche christliche Symbole zu ma chen – und unempfindlich gegen die bisher wirksamen Tötungsar ten. Aber was davon Wahrheit und was Lüge ist, muß Lilith selbst her ausfinden, denn Feyn entpuppt sich als hinterhältiger Killer. Zwar tötet er tatsächlich Vampire, und seine Beinn-Dearg-Story mag wahr sein, aber er ist keines anderen Freund. Er hat es nur auf Lilith als Trophäe für die Sammlung auf seiner Haut abgesehen, wo die Frat zen seiner bisherigen Opfer als lebende Tätowierungen zu sehen sind. Offenbar übernimmt er die Stärke der Getöteten, weshalb ihn Lilith natürlich besonders reizt … Sie kann ihn besiegen. Seine eigenen magischen Tattoos fressen ihn auf. Lilith bricht jedoch ohnmächtig auf der Straße zusammen und wird in ein Hospital eingeliefert, wo sie in die Hände skrupello ser Ärzte fällt. Diese merken sofort, daß mit ihr – und ihrem Kleid – etwas nicht stimmt. Auf Umwegen gelangt sie in ein geheimes mili tärisches Versuchszentrum außerhalb Sydneys, wo sie von Dr. Ro mano und dessen Kollegen durchleuchtet wird. Der Symbiont wird ihr regelrecht vom Körper geschält und separat untersucht. Dabei wird ein Teil von ihm mit Lasertechnik abgetrennt – worauf der Symbiont Amok läuft. Lilith kann ihn wieder an sich bringen und ahnt zunächst nichts vom Verlust des Teils. Die Ärzte kommen ums Leben, doch kurz vor seinem Tod trinkt Dr. Romano eine Blutprobe Liliths – und wacht als Untoter mit einem bestimmten, im Blut ver
ankerten Auftrag wieder auf. Er reist nach Uruk ins frühere Meso potamien … Lilith kehrt nichtsahnend nach Sydney zurück. Beth mimt die end lich Genesene. Aber sie ist Landru völlig hörig und spielt ihr nur et was vor, um sie nach allen Regeln der Kunst auszuhorchen. Als Lilith bei Salem Enterprises eindringt, erkennt sie die Wahr heit, die noch schlimmer als Feyns Lüge ist: In den Genlabors dort arbeiten hypnotisch beeinflußte Spezialisten an geklonten Vampiren – Hora II will offenbar den Verlust des Lilienkelchs umgehen und auf hochmodernem Weg endlich wieder Nachwuchs für seine Rasse schaffen. Was das für ihn bedeuten würde, ist klar: Er würde globalen Einfluß erlangen und das Knowhow sicher nicht für eine kleine Blutmahlzeit herausrücken. Lilith kann den Prototyp eines Klons vernichten und Chaos stiften. Ein Brand zerstört weite Teile des Laborkomplexes. Aber damit ist nicht mehr als ein Aufschub gewonnen. Als sie zu Beth zurückkehren will, zwingt der Symbiont sie statt dessen, sich zur Paddington Street zu wenden. Dort auf der Spitze des Rohbaus begegnet Lilith der Kelchdiebin, die sich ihr als Felidae zu erkennen gibt und ihr verspricht, mit Hilfe des Lilienkelchs die letzte Reife in Lilith zu aktivieren, die sie benötigt, um ihrer wirkli chen Bestimmung gerecht zu werden. Lilith willigt trotz Zweifeln ein. Ein Treffpunkt, wo das Ritual stattfinden soll, wird ausgemacht: »The Rocks«, eine Art Museums dorf dort, wo einst die Baracken der nach Sydney verbrachten Sträf linge gestanden haben. Felidae trennt sich noch einmal von Lilith, und Lilith bespricht sich mit Beth. Geheuer ist ihr Felidaes Angebot nicht. Sie ahnt, daß sie nach dem, was Felidae als »notwendige Reife« bezeichnet, nicht mehr dieselbe sein wird wie jetzt.
Aber Beth redet es ihr nicht aus. Bei nächster Gelegenheit verrät sie den Treffpunkt und mutmaßlichen Aufenthaltsort des Lilien kelchs an Landru. Der sieht das Ende seiner Verdammnis gekommen. Er, der einstige Kelchhüter will alles daran setzen, das Unheiligtum zurückzuge winnen – und Felidae für ihren Verrat zu strafen. Was Lilith nicht weiß: Nach der »Erleuchtung«, die der Bluttrank aus dem Kelch ihr verleihen soll, wird sie nie mehr eines ihrer Opfer schonen wie bisher. Denn Teil ihrer Bestimmung ist es, den Keim, den sie besitzt und an jedes Opfer weitergibt, auch wirksam werden zu lassen. Das geht nur, wenn ihre Blutspender sterben. Und der Kelch berührt bereits ihre Lippen … Stellen wir für heute den Federkiel zurück. Das Kreuz tut weh. Ich wäre nicht Baghdi, würde ich die Ruhephasen nicht lieber schwatzend mit den anderen zubringen, als mir jetzt schon Kopfzerbrechen über den Fortgang der Historie zu machen … Außerdem wird gemunkelt, einer ginge bald und einer käme. Nach Kumars Abschied noch ein Neuer, Monstamaik mit Namen … Sei’s drum, ich habe schon vergessen, was ich gerade schrieb. Anderen, die es lesen, geht es gewiß ebenso. Ich kenne nur eine Art zu lesen – und zu schreiben: Kurzweilig. Und wer es anders hält, ist selber schuld …
Irak, Uruk Gegenwart Sie waren immer noch zu dritt. Drei, die von den Einheimischen wie Narren begafft und von den Archäologen in der Nähe milde belächelt wurden. Sie mußten nicht im geheimen arbeiten. Sie besaßen die offizielle Genehmigung der örtlichen Präfektur – dennoch verrichteten zwei von ihnen ihre Schufterei vornehmlich von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Nachts. Duncan Luther grub auch bei Tage. Er war auch der einzige, der ab und zu einen Happen zu sich nahm oder sein Schwitzen durch das literweise Trinken von Wasser ausglich. Damit war er der Exot des Trios. Und er war nicht einmal unfroh darüber. Denn die anderen beiden waren tot. Mausetot. Paul Kravetz war als erster hier eingetroffen und hatte den Signal berg, der wie ein hingewürfelter Klotz aus der wüstenhaften Umge bung aufragte, erklommen. Duncan war nicht sehr viel später hinzugestoßen, und dann, als Dritter im Bunde, war George Romano aufgetaucht. Er hatte die meisten Devisen mitgebracht. Er hatte auch das größte Vermögen zu Lebzeiten besessen. Davon zehrten sie. Ein Großteil war zur Beschaffung des Arbeitsgeräts und für die Bestechung des Beamten im nahen Ort draufgegangen. Vom Rest fi
nanzierten sie Duncans Nahrung. Romano und Kravetz schliefen tagsüber im Innern des Felsens. Dort gab es eine kühle Nische, in einer Höhle, die ein Geheimnis barg. Wie der Sand, in dem sie wühlten. Sie waren keine Dienerkreaturen. Sie benötigten kein Blut, um den Keim eines Vampirs zu nähren – jedenfalls hatte Duncan noch nichts dergleichen bemerkt. Was ihre Körper vor Verwesung schützte, ließ sich nicht feststellen. Aber immer, wenn sie abends aus ihrem Ver steck krochen, wirkten sie ausgeruht und gestärkt. Auch konnten sie durchaus Sonnenlicht ertragen; es schwächte sie nur derart, daß sie zu der schweren körperlichen Arbeit nicht fähig waren. Dienerkrea turen dagegen wären unter den Strahlen der Sonne zu Staub zerfal len … Duncan selbst schlief in einem kleinen Zelt. Nach Einbruch der Dunkelheit zog er sich dorthin zurück und legte Decken um sich, damit ihn nicht fror. Selten begleitete ihn einer der anderen. In die ser Nacht jedoch bewegte sich plötzlich das Tuch vor dem Eingang, und Romano kroch auf allen vieren herein. Duncan schlief noch nicht. Eine Petroleumlampe warf Schatten von Gegenständen gegen die spitz zusammenlaufenden Stoffbahnen des Zelts. Die Schatten der Menschen vermochte sie nicht abzubil den. Köpfe, die Hände, alles, was nur von nackter Haut ummantelt war, schien für die Helligkeit nicht zu existieren. Auch Duncans Schattenriß blieb aus. Darüber kam er nicht hin weg, denn noch immer klammerte er sich an etwas, das ebenso of fensichtlich, ebenso nachprüfbar war: Sein Herz schlug, sein Körper war warm, er fühlte Schmerz, er hatte einen Stoffwechsel … Wie konnte er da tot sein? Er hatte noch mit niemandem darüber geredet. Mit Lilith, ja. Aber
das war gewesen, bevor ihm Spiegelbild und Schatten abhanden ge kommen waren!* Romano räusperte sich. Es machte die Situation nicht wirklicher. Romano war, was Duncans Problem anging, gewissermaßen Exper te. »Was ist?« fragte er ihn. »Wir haben etwas freigelegt«, sagte der fünfzigjährige, ehemalige Arzt. Duncan blickte ihn forschend an. Er fragte nicht: Jetzt schon? Es gab keinen Ablauf- oder Zeitplan. Sie waren hierher ins biblische Zweistromland gekommen, jeder für sich von einer unstillbaren Sehnsucht getrieben. Sie wußten nie im voraus, was sie taten. Darin unterschieden Duncan und die Toten sich nicht. In einem aber wohl: Sie schienen sich mit ihrem Ableben abgefunden zu haben … »Habt ihr?« Romano bezog es auf seine Nachricht. »Loverboy stieß darauf«, sagte er, ohne besondere Betonung. Duncan hatte eine Zeitlang gebraucht, um zu akzeptieren, daß Tote auf eine schwer nachvollziehbare Weise über Humor verfügen konnten. Humor der schwärzesten Sorte. Romano nannte Kravetz, seit er kurz mit ihm gesprochen hatte, »Loverboy«. Kravetz war ein Callboy gewesen, eine männliche Hure aus Sydney. Der gemeinsa me Nenner, auf den sie alle drei zu bringen waren, hieß Lilith. Die Halbvampirin hatte irgendwann den Weg eines jeden von ihnen ge kreuzt und ihr Blut getrunken. Deshalb waren sie jetzt hier. »Was ist es?« »Sieh es dir an.« Duncans Körper verselbständigte sich. An Romano vorbei kroch er *siehe Vampira 21: »Tattoo«
ins Freie. Romano folgte. Es war kalt und finster. Die Sternenpracht am Himmel vermochte das Dunkel nicht wirklich zu besiegen. Duncan wußte, daß Kravetz und Romano damit keine Schwierig keiten hatten. Er aber brauchte eine Lampe, um unter diesen Bedin gungen etwas ausfindig zu machen oder gar zu bewerten. Die Lampe brannte bereits. Aber zunächst sah Duncan nur einen aus der Grube dringenden Schimmer. Es war nicht leicht, hier zu graben. Der Sand war auch Meter unter der Oberfläche noch trocken und rieselte unentwegt nach. Man mußte sehr großflächig graben, um überhaupt eine vernünftige Tie fe zu schaffen. Das hatten sie getan. Das Loch sah aus wie ein Krater. Eine provisorische, aus Holzbret tern gezimmerte Treppe führte hinab. Unten stand Kravetz. Er arbeitete wie die mechanische Kopie eines Menschen: stumm und präzise, ermüdungsfrei. Neben ihm hing, an einem in den Boden gerammten Pfahl befestigt, eine Laterne. Sie haben sie nur für mich angezündet, dachte Duncan, von soviel Entgegenkommen fast beschämt. Er ließ Romano den Vortritt, folgte ihm aber dichtauf. Als sie neben Kravetz anlangten, suchte Duncan zunächst vergeb lich nach etwas, das Romanos Behauptung bewiesen hätte. Erst als Kravetz stumm beiseite trat, sah er den geglätteten Stein, eine Art Fundament oder Plattform, vom Sand verschlungen. Duncan bückte sich und sah, womit Kravetz beschäftigt gewesen war. Er hatte eines der Enden, den Rand der Fläche, lokalisiert und
dort weiter gegraben. Wenige Zentimeter darunter war er auf das nächste feste Hindernis gestoßen. Zu dritt schaufelten sie weiter. »Eine Treppe«, sagte Romano, nachdem sie zwei vollständige Stu fen freigelegt hatten. »Beginn oder Ende einer Treppe …« »Der Beginn«, sagte Duncan. Kravetz erwiderte nichts. Bis zum Morgengrauen hatten sie zehn weitere Stufen vom Sand der Zeit befreit. Kein Ehrgeiz vermochte den Selbsterhaltungsin stinkt der Toten auszuschalten. Als die Sonne aufging, ließen sie Duncan stereotyp allein wie jeden Tag und verschwanden im Si gnalberg. Duncan unternahm keinen Versuch, sie zum Weitermachen zu überreden. Er setzte die Schufterei allein fort. Eine große, das Loch überspannende Plane spendete ihm Schatten und verbarg das Feh len eines eigenen. Am späten Vormittag entdeckte er erstmals Runen an den Seiten wänden, die dem Treppenverlauf folgten …
* Sydney, Australien Der Atem der Nacht füllte die Halle. Einziger Quell sonderbaren Lichts blieb das Gefäß in Liliths Händen. Der LILIENKELCH. Unheiligtum der Vampire, von Felidae einst gestohlen und dem Zugriff der Alten Rasse entzogen, die es als Fortpflanzungskelch
nutzte. Felidae war selbst eine Vampirin. Wie Creanna, Liliths verstorbene Mutter. Die Schleier des Warum (Warum hatten sie sich beide gegen ihr ei genes Volk gestellt?) würden sich lüften, sobald Lilith den Inhalt des Lilienkelchs leergetrunken hatte. Felidae hatte es versprochen. Felidaes Blut schwamm darin! Es lockte und versprach – mehr noch, als die Worte der Katzenhaf ten es vermocht hätten. Ihr Blut war der Schlüssel. Es würde die Tür zur Erkenntnis öffnen. Und das absolute Begreifen ihrer Bestim mung – so war zu befürchten – würde Liliths Inneres umkrempeln. Sie würde künftig mit einer völlig anderen Sicht der Dinge durch die Welt gehen. Das Blut floß in dünnem Rinnsal die Wand des Kelchs herab auf ihre willig und erwartungsvoll geöffneten Lippen zu. Aber es netzte weder Mund noch Kehle. Eine unsichtbare Faust schmetterte das Gefäß aus Liliths Händen. Der Inhalt verteilte sich über den glatten Boden, und der Lilienkelch selbst schlug Schritte entfernt so heftig auf, daß es aussah, als müßte er in tausend Stücke zerspringen. Doch das geschah nicht. So filigran er wirkte, so unzerbrechlich und robust war er zugleich. Lilith blickte erschrocken und verwirrt zu Felidae hinüber. Die Frau mit dem animalischen Touch stand ihr gegenüber und ließ den eigenen Blick suchend durch die Museumshalle schweifen. Sie hatte diese Attacke also nicht durchgeführt. Warum hätte sie auch? Es war Felidaes erklärter Wunsch, daß Li lith das Blut der Erleuchtung trinken sollte. Sie hatte ihr vorgewor fen, unwissend und schwach zu sein – viel unwissender und schwä
cher, als der Jahrhundertschlaf es vorgesehen hatte! Der Kelch und das Blut hatten ihr fehlende Erkenntnis einflößen sollen … … und nun dies! »Landru …!« rollte es haßerfüllt über Felidaes samtrauhe Zunge. Im selben Moment sah auch Lilith den Mächtigsten der Vampire aus seinem Versteck treten.
* Felidae Er hätte keinen schlechteren Zeitpunkt wählen können. In mir ballt sich Wut zu Haß und Haß zu Ohnmacht. Ein Klumpen, dessen Schwerkraft mich zermalmt wie eine kollabierte schwarze Sonne. Für einen Moment sehe ich alles verloren. Alles. Auch die Zukunft, um die ich kämpfen wollte. Der Fehler liegt in der Vergangenheit. Damals hätte ich siegen müssen. Dann würde von ihm heute keine Rede mehr sein. »Diesmal rettet dich kein feiger Betrug!« ruft er mir zu, während sein Blick lüstern am Kelch haftet, den er so lange entbehrte. Ich weiß, daß mir nur noch bleibt, ihn zu töten. Kein Wort könnte ihn stoppen. Aber er besitzt tausendjährigen Erfahrungsvorsprung. Er hält, was ihn treibt, für Recht. Niemand vermag ihn vom Gegen teil zu überzeugen. Er ist ein Hüter. Wie ich. Wir müssen es unter uns ausfechten. Wie damals. Hoffentlich nicht wie damals …
* Felidaes Erinnerung Die Heimstatt der Hüter Ich war leere, begierige Hülle, als ich mich von Nirgendwo auf den Weg nach Irgendwo machte. Ich war so voller Hunger und Durst, daß ich die Geometrie meines Weges aß, jeden Duft und jedes ande re sinnliche Geschenk verschlang, das über Augen, Ohren, Mund, Nase und Nervengeflecht an mich herantrat. Ich kannte meinen Namen. Und meine »Befehle«. Aber ich hatte gerade erst die Augen aufgeschlagen. Eine Kutte wärmte meinen Körper an einem Ort elementarer Kälte. Eine Kapu ze beschattete meinen Kopf, obwohl die Sonne nie hierher fand. Ich wußte, wo ich war. Mir waren Begriffe wie »Sonne« oder »Kut te« oder dergleichen geläufig. Aber sie blieben Theorie bis zu dem Moment, da ich etwas so Benanntes selbst spüren oder betrachten konnte. Dann erst erlangte es Wirklichkeit. Ich ging durch festen Fels, der vor mir schmolz und sich hinter mir neu zusammenfügte. Es war kein Stollen oder Pfad im eigentlichen Sinn. Und nicht ich war es, der ihn mir öffnete. Dann – von einem Moment zum anderen – änderte sich meine Umgebung. Ich trat durch eine Wand und gelangte in einen Raum, der im selben Atemzug seine Beschaffenheit veränderte. Zuvor mußte es ein zeitloser Ort gewesen sein. Ein Exil vor dem pulsieren den Leben draußen. Vielleicht brachte ich das Stasisfeld zum Erlö schen. Wahrscheinlicher aber war es dieselbe Kraft, die meinen Weg
hierher gelenkt hatte und die genau wußte, wann es zu geschehen hatte. Der Schläfer am Boden schlug die Augen auf und starrte mich an. Er war noch jungfräulicher als ich, hatte ich den Verdacht. Sein ge fälliger Körper weckte Gedanken, die zunächst nicht in Einklang mit meinem Befehl zu bringen schienen. Benommen fragte er: »Wer bist du?« »Wer bist du?« »Ich bin der Hüter des Kelchs …«, setzte er an. Aber ich unterbrach ihn barsch: »Das ist falsch!« Er zuckte zusammen. Sein Blick fiel auf die Maske, die zu seinen Füßen lag. Ein stupides Ding, ohne eigene Kreativität. Aber er schi en fasziniert davon, wußte er doch, worum es sich handelte und welche Dienste es ihm künftig leisten sollte … Nichts da! Ich bedauerte durchaus, was ich ihm anzutun hatte. Lieber hätte ich versucht, ihn noch ein wenig hinzuhalten, und zugleich meine Macht über das andere Geschlecht getestet. Dieses Spiel ist uralt. Es begann schon … »Wieso falsch?« Herb schnitt seine Stimme in meine Gedanken. Ich hatte den günstigsten Moment bereits versäumt. Er richtete sich halb auf. Sein Oberkörper war bleich, jedoch auf die befremdli che Art der unseren ästhetisch. Seine Hand griff nach der Maske, de ren zungenloser Mund ihn sogleich warnte: »Vorsicht!« Jetzt konnte ich nicht länger zögern. Wer mir die Befehle gab, hatte gewußt, worauf ich treffen würde. Dieses männliche Wesen vor mir war lange auserkoren, die Tradition der Hüter fortzusetzen. Doch die, die diese Tradition einst ins Leben rief, jene Macht hatte ihre
Meinung geändert. Sie hatte mich erschaffen, um die Kette zu unter brechen. Um etwas NEUES in Gang zu setzen. Das Alte hatte ausge dient, selbst solches, das erst aus dem Kokon seiner Reife schlüpfte und ganz am Anfang zu stehen glaubte … Ich öffnete meine Kutte, um ihn mit den Attributen meiner Weib lichkeit abzulenken und in ähnlichen Zwiespalt zu stürzen, wie sei ne Genitalien es bei mir taten. Ein Funke schien von einem Auge auf das andere überzuspringen. »Wer bist du?« fragte er mit rauher Stimme. »Ich bin die Lust«, entgegnete ich. Ich stellte mich über ihn, die Füße rechts und links von seinen Schenkeln, und dann tat ich, als wollte ich mich auf seinen Schoß niederlassen. Meine Hände suchten Halt in seinem Nacken. Sie fanden ihn. Und ich tat, was getan werden mußte. Es gefiel ihm nicht. Auch mir hätte es nicht gefallen, das Gesicht auf den Rücken gedreht zu bekommen. Der Bruch des Halswirbels erstickte jeden Funken in ihm. Seine Augen brachen. Nur die seinen Lungen entweichende Luft störte kurz die Stille. Und dann jammerte die Maske, die seinen Fingern entglitten war: »Mörderin! Wie konntest du …?« Auch mit ihr verfuhr ich, wie mir aufgetragen worden war. Ich hob sie auf, drehte mir die Rückseite zu und grub meine Vampirzäh ne in das zarte Fleisch. Mein Keim strömte in das geringe Blut der Maske und machte sie fortan nur mir gefügig. Danach schloß ich die Kutte, stülpte das falsche Gesicht über das meinige und befestigte es. Mein wahres Fleisch wurde taub unter der Maske. Aber darauf war ich vorbereitet. Die Nervenenden dieses Dings fanden auf rät selhafte Weise den Anschluß an meine Nerven und ließen sich fortan durch mein Muskelspiel bewegen.
Der Getötete war bereits zu Staub und Asche zerfallen, als ich mich der Tür des Raumes zuwandte. Vor dieser Tür hielt ich dann noch einmal inne und wußte nicht, warum es mich drängte, umzukehren und die feinen Reste des To ten zu bergen. Ich verstaute sie nicht in meiner Kleidung, sondern gesondert an meinem Körper. Es war leicht, dafür ein magisches Ge fäß zu formen. So ging ich hinaus in den Stollen. Hinaus in den Dunklen Dom. Und während ich schritt, wußte ich, daß ich dort erwartet wurde. Von einem, der mir das Amt des Hüters streitig machen würde. Weil er es selbst schon tausend Jahre bekleidete …
* Gegenwart Lilith wich zurück. Ohne den Kopf zu wenden, flüchtete sie aus der unsichtbaren Sphäre, die beide Vampire, Felidae und Landru, um sich erschufen. Als wären sie zwei gleiche Pole, die einander abstie ßen, zugleich aber ein Feld erzeugten, das alles andere darin Befind liche höchster Gefahr aussetzte … Die Benommenheit wollte nicht von Lilith weichen. Und vielleicht war dies sogar gut. Es schützte ihren Verstand davor, ins nächste Ex trem abzukippen, nachdem er zuvor soviel Hoffnung in den barba rischen Akt einer Kelchtaufe gesetzt hatte. Die schlimmste Angst, begriff sie nachträglich, war in der Sorge begründet gewesen, der Lilienkelch müßte sie umbringen, um ihr die fehlende Weihe zu verleihen. So wie er es mit den Menschenkindern
tat, die von Vampiren entführt wurden. Vor ihren Augen prallten zwei Mächtige aufeinander, deren Haß fühlbar war. Deren Haß sich für Außenstehende in tödliche Magie verwandelte. Auch für Lilith. Sie zog sich instinktiv zurück. Ihre Blicke wechselten vom Lilienkelch zu den Kontrahenten. Der Kelch lag ganz nahe – und schien doch wieder in unerreichbare Fer ne gerückt. Lilith wagte nicht, hinzugehen und ihn einfach an sich zu reißen. Sie fürchtete, damit die Aufmerksamkeit Landrus auch auf sich zu lenken. Er schien ihr mehr denn je wie ein Todesbote. Ei ner, der es auf sie ganz persönlich abgesehen hatte. Nur Felidaes Präsenz lenkte ihn ab. Was sie ihm angetan hatte, war klar: Sie hatte das Unheiligtum ge stohlen – eine Vampirin hatte die Vampire beraubt und ihre Zukunft in Frage gestellt! Lilith fröstelte. Die volle Wahrheit ahnte sie nicht. Aber dann war es der Kelch, der aufglomm und ihr die Einsicht in die Vergangenheit öffnete. Noch immer fand sich ein Rest von Felidaes Blut in ihm. Und es schien, als hätte dieses Blut – nicht der Kelch – gespeichert, was sich dereinst zwischen Felidae und Landru zutrug. An einem Ort, der sich Heimstatt der Hüter nannte …
* Zur gleichen Zeit
Diese Nacht war anders. Lime Orkney spürte einen kalten Luftzug und wußte sofort, daß es kein Luftzug war. Es war ein beinahe jenseitiger Hauch. Nichts, wo mit er je etwas am Hut gehabt hätte. Immerhin war es sein Job, keine solchen Anwandlungen zu haben. Aber in diesem Moment stellten sich ihm alle Nackenhärchen steil auf. Verblüfft blieb er stehen. Die wenigen, mattleuchtenden Laternen entlang des Wegs flackerten. Dann erloschen sie. Orkney zog seine Stablampe aus dem Gürtel. Mit der anderen Hand fuhr er nach oben und drehte zweimal die Schirmmütze, so daß sie schließlich wieder genauso auf dem streichholzkurzen Haar saß wie zuvor. Die Hand mit der Lampe zitterte leicht. Angsthasenpremiere! Es machte ihn fertig, nicht einmal sich selbst darüber hinwegtäu schen zu können, daß ihn etwas am Wickel hatte, was er nicht ge brauchen konnte. Irgendwo erklang ein ätzendes Geräusch. Irgendwo? Orkneys Lampe ruckte in die Richtung. Er stand mitten auf der Straße zwischen den Bauten des historischen Viertels »The Rocks«. Hier waren die Baracken instand gehalten worden, in denen damals die Sträflinge nach ihrer Ankunft in Australien gehaust hatten. Eine Art Freilichtmuseum am Rande Sydneys, das des Nachts natürlich für den Publikumsverkehr geschlossen war. Trotzdem bewegte sich vor ihm, außerhalb der Reichweite des Lampenstrahls, irgend etwas. Oder jemand … Orkney besaß keine Schußwaffe, nur einen Schlagstock und ein Handy, mit dem er zur Not in der Zentrale des Wachdienstes, bei
dem er beschäftigt war, Alarm schlagen konnte. Aber es hatte noch nie Anlaß zu einer solchen Maßnahme gege ben. In all den Monaten nicht, die Orkney hier Langeweile schob. Einmal hatte er ein paar betrunkene Halbstarke vertreiben müssen, die über den Zaun gestiegen waren. Aber selbst das war bei seinem Selbstbewußtsein auch ohne Artillerie kein Problem gewesen. Verrückt, wie sich die Zeiten ändern konnten. Und dumm – sehr dumm –, daß er das Handy aus purer Bequem lichkeit in seiner kleinen Wachstube zurückgelassen hatte … »Heh! Halt! Wer ist da …?« Nein, er kniff nicht – obwohl er es am liebsten getan hätte. Aber er erhielt keine Antwort, und in diesem Moment hörte er auch hinter sich ein Geräusch. Es war anders als vorhin. Orkney fuhr herum. Auch dort, wohin er jetzt die Lampe hielt, war nichts zu erkennen. Links von ihm drang ein häßliches Knirschen aus einem der Häu ser. Es hörte sich an, als würde ein nasses Holzbrett mit bloßen Hän den der Faserrichtung nach auseinandergerissen. Ganz langsam. Eine Gänsehaut kroch über Orkneys Rücken. Er krampfte die eine Hand um den Griff der Lampe, die andere um den Griff des Schlag stocks, und marschierte auf das niedrige Haus zu, in dem tagsüber Souvenirs (kleine Galgen und Sträflingsketten mit Kugeln waren der Hit) verhökert wurden. Er besaß Schlüssel zu jeder der Hütten, und die hatte er nicht aus Bequemlichkeit vergessen. Seine Hand ließ den Schlagstock los. Fast traumwandlerisch sicher fand er den passenden Schlüssel und schob ihn ins Schloß. Das Knir schen war immer noch nicht verstummt. Orkney wußte selbst nicht
mehr, ob es der krampfhafte Versuch war, sich selbst Mut vorzutäu schen – oder einfach völlige Verunsicherung, daß er immer noch hier stand und nicht einfach zur Wachstube zurück hetzte und je mandem über die ungewöhnlichen Vorgänge Bescheid gab. Möglich, daß ihn irgendeine Clique hochnahm. Daß sich jemand in den Kopf gesetzt hatte: Heute nacht lehren wir den guten Orkney das Fürchten! Aber auf diese Möglichkeit hoffte er beinahe. Wieder streifte ihn ein nicht vorhandener Wind. Der richtige Wind blies unentwegt vom Meer herüber. Er war von dem, was ab und zu über Orkney hinwegging, mühelos zu unter scheiden. Die Tür öffnete sich. Orkney zog am Griff und hielt die Lampe hinein. Er war soweit gegangen und hoffte immer noch, daß sich sein Durchhaltevermö gen bezahlt machen würde. »Genug, Arschlöcher!« knurrte er in den mit Kartenständern und Vitrinen vollgestopften Raum, durch den Schatten tanzten, weil die Lampe mit Orkney zitterte. »Es reicht –« Seine Stimme krepierte, weil das Licht den Ursprung des durch dringend durch die Stille schneidenden Knirschens fand. Der Boden. Etwas riß vor Orkneys Augen den Boden der Hütte auf! Von unten. In dem Moment, als die Lampe das Loch fand, schob sich eine knöcherne Hand aus der bereits bestehenden Lücke. Als das Licht darüberleckte, hielt sie einen Moment wie erschrocken inne. Dann fuhr sie mit Unterstützung einer zweiten Skelettklaue in ihrem Tun fort.
Orkney versuchte das, was ihm im Hals steckte, herunterzuschlu cken. Er hätte es mit gleichem Erfolg mit einem Backstein versuchen können. Er wußte nicht, was er tun sollte. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr. Alle Kraft wich aus seinem Körper wie Luft aus einem angestochenen Reifen. Als er sich endlich doch noch dazu bringen konnte, von der offe nen Tür wegzutaumeln, zurück zur gepflasterten Straße, prallte er mit etwas zusammen, was sich aus anderer Richtung aus der Dun kelheit genähert hatte. Die Berührung war kalt und knochig. Orkney stürzte zu Boden. Kein Laut rann über seine Lippen. Die Lampe zerbrach. Dunkelheit prallte wie ein Gewicht auf ihn herab und drückte ihn nieder. Neben ihm kratzten Knochen über das Pflaster. Orkney starrte erstickt hinauf zum Himmel und wartete, daß die Sterne verlöschen würden …
* Landru Jetzt, da ich ihr wieder gegenüberstehe, frage ich mich, wie es ihr ge lingen konnte, mich so lange Zeit zu täuschen. Falsche Spuren zu le gen, denen ich nachhetzte. Nicht ein einziges Mal brachte ich sie mit dem Verschwinden des Lilienkelchs in Zusammenhang. Zu sicher war ich, daß sie durch meine Hand gestorben war.
Und ist sie das nicht auch? Ich habe doch ihre Asche gefunden! Ich habe doch den Ort ihrer Vernichtung mit meinen Füßen betreten und mit eigenen Augen gesehen! Immer hat mir eine andere, so viel schrecklichere Version die Sin ne vernebelt. Hat mich mehr als zweieinhalb Jahrhunderte einem Phantomdieb hinterherjagen lassen – obwohl ich insgeheim wohl fürchtete, kein Dieb, sondern der Dunkle Dom selbst – die Macht darin – hätte den Lilienkelch an sich genommen, ihn meines frevel haften Tuns wegen eingezogen und damit alle Vampire für die Untat eines einzelnen strafen wollen … Es war fast wie eine Reinwaschung, eine Wiedergeburt, als ich nach dem Besuch bei Liliths ehemaliger Vertrauter den Namen der Diebin erfuhr. Als mir Beth MacKinsay Felidae antwortete auf die Frage, wer Lilith versprochen habe, sie hier an diesem Ort zu treffen und mit dem Kelch die in ihrer Entwicklung klaffenden Lücken zu schließen. Lilith zu einem noch mächtigeren, noch unversöhnlicheren Verfolger der Alten Rasse zu machen. Creannas Balg … Dort steht sie. Ich kann sie sehen. Ich kann sie spüren. Aber was allein in diesen Momenten zählt, ist das Geschöpf vor mir. Die Verräterin, die alles Recht, das ich ihr einmal zubilligte und mir deshalb so schwer tat, das Geschehene aufzuarbeiten, nun verlo ren hat. Durch eine Täuschung hat sie sich nicht nur all die Zeit meiner Verfolgung entzogen – ebenso betrügerisch muß sie sich das Amt des Hüters überhaupt angeeignet haben! Eine andere Erklärung gibt es nun nicht. Der Dunkle Dom hat mich deshalb damals nicht ge straft, weil er immer wußte, daß mir eine Betrügerin das Amt strei tig machen wollte. Aber warum hat er nicht Recht gesprochen?
»Warum stellst du dich gegen die deinen?« frage ich sie. Mehr als stumme Abscheu erfahre ich nicht. So soll es genug sein. So soll noch einmal der Kampf entscheiden. Doch diesmal – das schwöre ich beim Leben des künftigen Messias – wird es ihr nicht wieder gelingen, mich zu täuschen! Wenn ich sie diesmal besiege, wird nichts und niemand sie erretten. Und der Kelch wird wieder denen zugeführt, die ihn zu ihrer Mehrung brauchen. Ich BIN der Hüter. Der Einzige und Wahre. Ich werde wieder reisen, von Ort zu Ort, von Sippe zu Sippe …
* Felidaes Erinnerung Die Heimstatt der Hüter Ich hatte nicht erwartet, solches Charisma anzutreffen. Landru über traf sämtliche Ahnungen. Der sichtbar verletzte Stolz machte ihn noch attraktiver, als er es ohnehin schon war. Schon damals machte sich meine Neigung bemerkbar, andere zu demütigen. Doch zunächst demütigte er mich. Er forderte mich tatsächlich heraus! Er wollte sein Amt nicht an mich abgeben, und mir wurde sehr bald klar, daß ich auf niemandes Hilfe hoffen durfte. Wer immer mich schuf, hatte damit gerechnet, daß es Komplikationen geben
könnte. Nicht mit dem rechtmäßigen Nachfolger, den ich fast mühe los in den Tod befördert hatte, sondern mit ihm. Ein kurzer, heftiger Kampf entbrannte. Während wir kämpften, veränderte sich der Dunkle Dom. Der Bo den verwandelte sich in ein verkleinertes Ebenbild jener Landschaft, in der sich dieser magische Ort verbarg. Schroffzerklüftete Felsfor mationen entstanden, tiefe Abgründe. Landru schien überzeugt, daß sein Frevel ungesühnt bleiben wür de. Er glaubte das Schicksal zwingen und sich eine weitere Amtszeit aneignen zu können! Der Gedanke, er könnte damit unter Umständen recht haben, spornte mich an, aufs Ganze zu gehen. Ich war mir gerade erst mei ner bewußt geworden und wollte nicht bereits wieder ins Vergessen zurückgeworfen werden. Wie konnte ich sterben, wenn ich noch nicht gelebt hatte? Nein! Aber der Ehrgeiz machte mich im entscheidenden Moment blind. Landrus Erfahrung zahlte sich in bitterer Münze aus. Bitter für mich. In dem Moment, als ich meinte, ihn überraschen zu können, und mich ihm entschlossen entgegenwarf, machte er sich Wut und Schwung meines Angriffs zunutze – und schleuderte mich hinab in die Tiefe! Der Sturz schien eine Ewigkeit zu dauern. Als ich endlich am Boden der Schlucht aufschlug, milderte nichts die vernichtende Härte. Bis zuletzt hatte ich gehofft, von irgendwo her Beistand zu erhalten. Aber ich lag zerschmettert da – regelrecht zerbrochen. Beilscharfe Felsgrate spießten mich auf, teilten mein Fleisch und ließen mein dunkles Blut herausrinnen!
Der Schmerz nährte Wahnsinn in meinem Hirn. Ich wußte, wie Vampire zum Sterben gebracht werden konnten – so wie ich hier lag, reichte es weder zum Sterben noch zum Leben oder Wiederge nesen. Meine regenerativen Kräfte, auch ein Merkmal meiner Art, schienen von der Vielzahl der inneren und äußeren Verletzungen überfordert. Zudem lähmte mich die magische Umgebung, ihre selbst für mich unüberblickbare Bedeutung. Da lag ich also und wartete darauf, daß er zu mir herabsteigen würde, um sich von seinem Sieg zu vergewissern. Jeder an seiner Stelle hätte es getan. Nach einer Weile, während der Schmerz in der Ruine meines Kör pers tobte, wünschte ich mir dann sogar, daß Landru bald kommen und mir den Todesstreich versetzen würde. Sollte er mit dem Kelch tun, was ihm beliebte. Mein Auftrag war gescheitert im Ansatz. Weder meine Stärke noch meine Schläue hat ten genügt, mich gegen den Hüter der letzten tausend Jahre durch zusetzen! »Komm …«, röchelte ich. Zu mehr war ich nicht mehr fähig und hatte doch das Gefühl, es könnte genügen, meinen Henker zu errei chen. »Komm … Töte mich …« Was schließlich kam, war nicht er, sondern … Das LICHT brannte sich wie eine explodierende Sonne in meine Netzhäute. Das LICHT materialisierte in mir und um mich herum. Es war von alles erhellender Stärke. Dennoch strömte von irgend woher die Gewißheit, daß es niemand außer mir in diesem Moment sehen konnte. Das Licht sprach zu mir. Vielleicht nicht mit Worten – ich weiß es heute nicht mehr. Ich wußte es schon damals kurz nach den Geschehnissen nicht mehr. Es war nicht wichtig.
Wichtig war die Botschaft – und das Geschenk. »Du mußt an dich glauben«, sagte das LICHT. »Du bist nicht ge scheitert – er ist es. Seine Zeit ist um. Die Zeit hat ihn geformt, so daß ich ihn nie mehr läutern könnte. Er ist ein Fossil, und das wird er selbst erkennen müssen. Dir gehört die Zukunft. Dm mußt Sorge tragen, daß mein Wille geschieht …« Wie? fragte ich stumm. Ich bin zu nichts mehr nütze. Mein zer malmtes Fleisch wird hier faulen und vergehen. Ich vermag kein Glied meiner Hände zu rühren. Meine Knochen sind Splitter und Mehl! Da war soviel Trost, der alles Böse, das mich ausmacht, krümmte. Aus dem Licht kam etwas auf mich zu. Etwas Dunkles, Amöbenhaftes, das mich umschlang, das Wurzeln trieb in mein Innerstes, in jede Wunde und um jeden Splitter. Und neuen, nie mehr erhofften Zusammenhalt schuf. »Es ist dein«, sagte das LICHT, »und du bist sein! Einer kann ohne den anderen nicht mehr sein. Das ist der Preis. Du hast keine Wahl. Es ist kein Geschenk, sondern Notwendigkeit. Steh jetzt auf!« Ich kann nicht, wollte ich sagen. Aber ich stand auf. Das Geschenk, das keines war, stützte mich wie ein äußeres und inneres Skelett. Es verdeckte die klaffenden, nie mehr heilenden Wunden, und es verband das Zerbrochene in mir. Der Schmerz war auch jetzt noch wie ein dunkles Echo gegenwärtig. Erträglich, aber existent, und er verließ mich nie mehr ganz. Vergessen konnte ich ihn nur während allzu kurzer Spannen, wenn Lust mich zu Gipfeln trieb, die alles überragten. Aber das wußte ich damals noch nicht. Dort unten am Grund der Schlucht, die im Boden des Dunklen
Doms klaffte, war alles andere wichtiger als meine geringen Wün sche und Hoffnungen. Das LICHT blieb bei mir. Es öffnete mir den Fels zu meiner Rech ten, und es war ganz so wie in den ersten Momenten meiner Be wußtwerdung, als ich den ursprünglich vorgesehenen Nachfolger Landrus aufsuchte. Massiver Stein wurde zu gangbarem Weg. Oben, beim Altar, trat ich aus dem Boden. Landru war nirgends zu sehen. »Er ist jetzt unten«, sagte das LICHT. »Er wird die Asche finden, die du bei dir trugst.« Der Kelch stand vor mir, und bevor ich ihn mir nahm, fragte ich mich, warum dies alles so geschehen mußte. Warum das mächtige Licht, das mir das stützende Korsett gebracht hatte, nicht einfach selbst herging und den Kelch nahm, um das zu verrichten, was mir aufgetragen worden war. Ich war nichts gegen die Kraft, die der Helle innewohnte. Weniger als nichts. Kühl und brennend lag der Kelch in meinen Händen. »Geh jetzt. Verberge dich, bis ihn die Scham von hier forttreibt. Das wird geschehen. Aber sei dir gewiß, daß er versuchen wird, dei ner Fährte zu folgen!« Warum läßt du das zu? fragte ich. Warum läßt du ihn wieder aus der Tiefe emporsteigen? Die Antwort, die ich darauf erhielt, durchbohrte mich schier: »Er ist mein Kind – wie könnte ich ihm das antun?« Ich war zu keinem Widerwort mehr fähig. Ich ging auf den versie gelten Stollen zu, den das LICHT mir wies. Das Siegel brach nicht, als ich es durchschritt. Aber dahinter war ich allein. Ich konnte sehen, wie Landru zurückkehrte. Wie er den
Verlust dessen, um das wir gekämpft hatten, entdeckte. Er war der große Verlierer, obwohl er der Sieger war. Es gab kein Mitleid in mir, nur Ungeduld. Ich konnte kaum erwar ten, daß er den Ort seiner schmerzlichsten Demütigung verließ. Aber er trieb sich noch lange herum. Wollte die Realität nicht akzep tieren. Er beschwor die Kräfte, die hier wohnten, seinen Frevel zu verzeihen. Er schwor Sühne. Niemand erhörte ihn. Und endlich wandte er sich ab. Endlich. Die Nähe des Kelchs vermochte er nicht mehr zu erspüren, ob wohl er ihm so lange diente. Ich wußte, wie dies zu verhindern war. Fortan beschirmte ich die Kelchenergie, wann immer es ging. Selbst in Llandrinwyth. Selbst in Beinn Dearg …
* Gegenwart Der Brand war gelöscht. Schon seit Tagen. Die Aufräumarbeiten wa ren in vollem Gange. Aber es gab keinen Grund zu übertriebener Zufriedenheit. Ein Wesen von Heraks dunklem Ehrgeiz gab sich nie zufrieden. Ja, Herak! Sofort nach dem Ersticken der letzten Flamme, die einen Teiltrakt von Salem Enterprises vernichtet hatte, hatte er getan, was die we nigsten an seiner Stelle getan hätten: Er war in die Offensive gegan
gen! Von dieser Stunde an, hatte er die Mitglieder der Sippe wissen las sen, wollte er nicht mehr in der Tradition seines Vorgängers genannt werden – nicht mehr Hora II, nicht einmal nur Hora. Den Anbruch einer neuen Epoche hatte er den Vampiren dieser Stadt angekündigt und versprochen – und damit war ihm ernst. Jedes Ding hatte seine Zeit. Auch Bescheidenheit. Auch das Ver fechten alter Werte. Anders hätte er diesen Thron nie besteigen kön nen. Aber auch wenn der erste Klon vernichtet war und sich die ma teriellen Schäden in Millionenhöhe bewegten, konnte niemand mehr übersehen, daß er auf dem richtigen Weg war. Daß er vor neuen, re volutionären Ideen sprühte! Innerhalb der Sippe brauchte er sich nicht mehr täglich auf den So ckel zu stellen – und was über diese Einflußsphäre hinausragte, konnte warten. Er hatte Zeit. Blut schenkte ihm alle Zeit der Welt … Als sich in dieser Nacht Homer bei ihm zurückmeldete, einer sei ner verläßlichsten Kandidaten, war er bereits vorab über die Vor kommnisse in dem außerhalb Sydneys gelegenen, militärischen For schungszentrum informiert. Deshalb wußte er, daß die dortigen Vorkommnisse auf das Konto jener Feindin gingen, die auch Salem Enterprises angegriffen hatte. Lilith Eden. Herak empfing Homer in dem unterirdischen Reich, das sie hier nach der Aufgabe des ursprünglichen Versammlungsortes geschaf fen hatten. Auf dem Salem-Firmengelände, dessen Gebäudeanord nung, aus der Luft betrachtet, die ungefähre Form eines Kreuzes bil dete – ohne daß dies die Vampire allerdings anfocht. So simpel ließ sich keine schädliche Magie erzeugen. Ein Helikopter hatte Homer abgesetzt. Es gehörte zu seinem Rol
lenspiel, wie auch die Uniform eines Drei-Sterne-Generals, die ihm auf den Leib geschneidert schien. Homer gab ein künstliches Lachen zum besten, als er eintrat, ob wohl er wissen mußte, daß Herak für plakative Darstellungen eines den Vampiren fremden Gefühls nicht viel übrig hatte. Gleichwohl mochte es die Menschen, mit denen Homer Umgang pflegte, täu schen. Seine Uniform war vor der Brust lässig aufgeknöpft, und mit Inter esse blickte Herak auf die Scherbe, die dort befestigt war. Sie ermög lichte Homer unbesorgte Auftritte in der Öffentlichkeit. Seine Rolle verlangte Medienwirksamkeit – für einen Vampir normalerweise ein unlösbarer Konflikt. Die Natur hatte ihm vieles gegeben. Ein Spie gelbild – und damit auch die Möglichkeit, auf Film gebannt zu wer den – gehörte nicht dazu. Aber auch der Gebrauch jener Scherbe würde, wenn die Fort schritte so weitergingen, in absehbarer Zukunft der Vergangenheit angehören. Die Handicaps der Alten Rasse konnten beseitigt wer den. Die bisherigen Erfolge deuteten es längst an. Mit seinem Ge misch aus modernster Wissenschaft und uralter Blutmagie waren die rekrutierten Gentechniker und DNS-Spezialisten auf dem richti gen Weg … »Wo ist es?« fragte Herak ohne Umschweife. »Da drin?« Der Vampir mit dem unechten Lächeln um die Lippen hob den Koffer und stellte ihn vor Herak auf ein Podest. »Ja«, sagte er. Seine fast künstlerisch feingliedrigen Hände ließen erst die Verschlüsse, dann den Kofferdeckel aufschnappen. Ein wei terer Behälter kam zum Vorschein, eingebettet in Schaumstoffpols ter, die jedoch nicht mehr bewirkt hatten, als sein Verrutschen zu verhindern. Der zweite Behälter strahlte jene Bedrohung aus, die Herak auch
erwartete. »Es hat dich – auch bedrängt?« Die bloße Frage schien unvorstellbares Grauen in Homers Erinne rung zu rufen. Alle gauklerische Leichtigkeit zerbrach mit dem Lä cheln um seinen Mund. »Es saugte mich förmlich aus!« »Und das hast du überlebt?« »Wie man sieht … Aber ich hätte es gewiß nicht, handelte es sich um mehr als ein Fragment …« Heraks Interesse erwachte nicht erst jetzt. Aber es wurde noch ein mal bestätigt. »Du bist sicher, daß es sich um ein Stück des verdammten Kleides handelt?« »Mein eigenes Erlebnis vertrieb die letzten Zweifel. Wir kennen die Waffe, die dem alten Hora und seither vielen anderen zum Ver hängnis wurde.« Er sagte sehr bewußt alter Hora. Geschickt fügte er sich in die neu en Gegebenheiten. Zugleich wußte sich Herak aber auch seiner Loyalität sicher. »Ja, wir kennen sie …« Herak streckte die Hände nach der Kapsel aus. Ein Hochsicherheitsbehälter, der auch für radioaktive Stoffe Verwendung fand und sie wirkungsvoll gegen die Außenwelt ab schirmte. »Spürst du es?« Homers Stimme war heiser geworden. Diese plötzliche Unlogik beunruhigte das Vampiroberhaupt. Er faßte Homer schärfer ins Auge. »Was meinst du damit?« Er atmete gepreßt. Kein Schweiß, aber ein seltsam fahler Glanz stand auf seiner Stirn. »Ich hatte, auch nachdem es darin war, noch
das Gefühl, als könnte ich die Fäden spüren, die sich in mein Fleisch bohren wollen, um von meinem kalten Blut zu trinken …« »Das klingt etwas irre«, sagte Herak unverblümt. Homer zuckte zusammen. »Du spürst – nichts?« »Gar nichts. Bist du überhaupt sicher, daß es da drin ist?« Ein neuer Zug von Qual huschte über das Gesicht des Wesens, das mehr und mehr deplaziert in der Uniform wirkte, je weiter sich sein vampirischer Charakter durchsetzte. Er litt, das wurde spätestens jetzt unübersehbar, an einem Trauma, das ihn noch lange begleiten würde. Er hatte überlebt, aber er war gezeichnet. »Wenn du aufmachtest, erhieltest du wohl den Beweis …« »Das werde ich tun«, bestürzte ihn Herak.
* Liliths Verstand verwirrte sich unter den unerwarteten Einsichten, die ihr von der Kelchmagie – der Blutmagie – vermittelt wurden. Landru, ein Hüter des Kelchs? Ein Bewahrer jenes Unheiligtums, das den Fortbestand der Alten Rasse sicherte? Sie hatte immer geglaubt, er jagte dem dunklen Gral nach, weil er ein Vampir war. Das allein hätte als Motiv genügt, auch wenn er dar in offenbar eine Ausnahme bildete. Das Gros der Alten Rasse lamen tierte über den Verlust, aber es war nicht bereit, etwas zur Wieder gewinnung ihrer Existenzgrundlage beizutragen. Grotesk genug. Noch bizarrer war nun die Erkenntnis, daß Landru einst einer war,
der das untote Leben über die Welt ausbreitete. Es in ferne Winkel brachte. Sich in den Dienst der Sippen stellte … Alles, was Lilith in diesen Minuten erfuhr, basierte auf Felidaes Sicht der Dinge. Landrus Blickwinkel blieb ihr verborgen. Dennoch genügte dies, ihr Wissen über die Zusammenhänge explosionsartig zu erweitern. Sie wehrte sich nicht dagegen. Da war kein Zwiespalt, wie vorhin, als sie dachte, die Erkenntnis mit dem Kelch eingeflößt zu bekommen. Dieser Akt war ein anderer. Er hatte mit dem von Felidae vorgese henen Ritual nichts zu tun, und Lilith bewahrte dabei ihre in vielem noch unschuldige Persönlichkeit. Ihre Gedanken reisten auf Felidaes Erinnerung – fast wie Landru einst reiste. Felidaes Wirken war ein Mirakel. Aber es lüftete sich mehr und mehr …
* Felidaes Erinnerung Als ich die Berge Snowdonias durchritt, ruhte der Kelch wohlbehü tet in einer Tasche meines Sattels. Ich hatte mich an das Riemenge schirr um meinen Körper gewöhnt und trug in aller Regel ein nor males Gewand darüber. Mir lag nichts an übertriebenem Aufruhr, sobald ich irgendwo erschien. Mein Äußeres war auch so schon von einer Art, daß sich alle Menschenblicke, egal wo ich hinkam, auf mich richteten. Diese Heuchler!
Ein jeder Mann begehrte mich, aber nur solche, die selbst eine Son derstellung unter dem Gewürm einnahmen, wagten es, sich mit mir einzulassen. Manche zwang ich, aber das war selten der Fall, denn es kratzte an meinem Stolz. Mein Ziel war ein kleines Dorf, über dem sich eine Kirche wie eine Faust erhob. Drohend, und doch sinnlos. Denn ich hatte den Kelch. Der Kelch änderte alles. Die, denen ich auf meinem Ritt ins Dorf begegnete, würden es er fahren. Bald. Denn hier war das Kind. Noch ahnte ich nicht, daß sich mir ein doch ernstzunehmender Widersacher entgegenstellen würde. Vampire hatte ich in diesem abgelegenen Ort nicht zu fürchten. Nur Owain Glyndwr. Ich begegnete ihm erstmals vor der Schenke, in der ich auch Clough Corwen kennengelernt hatte, ein Mann ganz nach meinem Gusto, bei dem mir sofort klar war, daß ich ihn zu meinem Liebha ber für die Dauer meines Aufenthalts machen würde. Und zu einem Spender seines Blutes. Der Herr Pfarrer aber, der sich für mich interessierte, erhielt von mir seine erste Lektion. Ich demütigte ihn vor versammelter Menge, indem ich ihn das Leder meiner Stiefel lecken ließ. Er lernte nichts daraus. Ich mußte bald deutlicher werden. Man schrieb den 25. Decembris 1727, als ich heimlich ein Haus be trat, in dem die Trauer Einzug gehalten hatte. Die Mutter eines gera de zur Welt gekommenen, noch namenlosen Mädchens hatte die Geburt nicht lebend überstanden. Der Vater war nicht zu Hause, und die anderen, älteren Geschwis ter störten mich nicht. Ich beschäftigte sie, indem ich ihnen unsinni ge Streiterei und kleinere Kämpfe untereinander befahl. Später wür
den sie sich meiner nicht erinnern. Anschließend stahl ich das Kind aus der Wiege.
* »Mutter …« Lilith merkte nicht, daß sie es laut murmelte. Noch tiefer verstrick te sie sich in dem Gespinst eines fremden Lebens. Wie damals, als der Symbiont Creannas Werdegang nacherzählte, als wäre sie selbst diese Creanna gewesen.* Nun war sie Felidae. Und erfuhr aus erster Hand, wie die Kelchdiebin einst Llandrin wyth, das erloschene Dorf, heimsuchte und strafte. Wie sie das Kind zum Schein entführte – und doch längst im Sinn hatte, mit ihm zurückzukehren …
* Am selben Tag erreichte ich mit dem blonden Säugling das schon vorher ausgespähte Versteck. Rhymney, der alte Einsiedler, stand noch in der Höhle, wie ich ihn vor meinem Ritt ins nahe Dorf abge stellt hatte. Mich dürstete nicht nach seinem zähen Blut. Auch nicht nach dem des Kindes, dem eine andere Bestimmung geweissagt war. Das Mädchen weinte unentwegt. Ich hatte es in das Tuch gewi ckelt, mit dem es in seiner Wiege zugedeckt lag. Die Züge waren noch so unfertig, daß sie keine Schätzung auf das spätere Aussehen *siehe Vampira 10, 11 und 15
zuließen, aber ich zweifelte nicht, daß etwas Besonderes erwählt worden war. Rhymney, mir ganz ergeben, wurde zur »Amme« des Neugebore nen bestimmt. Ich sagte ihm, was er zu tun hatte, um es zu füttern und am Leben zu erhalten. Er stellte sich an wie ein Klotz. Aber das Nötigste bewältigte er. Unbesorgt konnte ich auf meiner schwarzen Stute Ausflüge zum Dorf machen, es weiter auskundschaften, weiter Angst und Schre cken verbreiten, Aberglauben schüren und den Herrn Pfarrer daran erinnern, wofür allein ich ihn als nütze befunden hatte. Nach außen hin. Im Innern wußte ich längst, daß er noch eine Rolle spielen würde. Er und sein verdammtes Gotteshaus, das seiner Entweihung durch mich entgegensah. Das Datum stand fest. Ich kannte es. Der Herr Pfarrer noch nicht. Ich vertrieb mir die Zeit in Clough Corwens Gasthaus. Corwen war stark. Er gab mir, was ich brauchte. Sein mächtiger Pfahl durch bohrte mich in immer neuen Varianten. Er hatte große Ausdauer, und auch sein Blut verschmähte ich nicht. Ich ahnte nicht, daß wir beobachtet wurden. Daß der Herr Pfarrer längst auf Vergeltung für die Demütigung sann, die ich ihm zuge fügt hatte. Zu Neujahr war es dann, daß er mich in Rhymneys Einsiedelei aufspürte. Am Morgen dieses Tages hatte ich den Alten getötet, weil er mir auf die Nerven ging und weil seine Hilfe in keinem Verhält nis dazu stand. Außerdem brauchte ich Blut, denn die übliche Folge von Tod und Wiedergeburt ließ ich dem Säugling schon an diesem Tag angedei hen. Das Kind sprach darauf ebenso prächtig an wie auf das Purpur
licht, das der Kelch nach getanem Werk wie eine wärmende Decke über die Höhle breitete. Landru hatte keine Möglichkeit, die hier entfachten Kräfte zu er spüren. Die meiste Zeit verdrängte ich die Erinnerung an meinen Verfol ger. Es gab so vieles zu tun, vorzubereiten. Da war kein Platz für einen Gescheiterten. Der plötzliche Überfall überrumpelte mich, ich gebe es zu. Und noch lange danach erzürnte es mich, daß der Kelch mich nicht warn te. Heute weiß ich, wie närrisch es war, zu glauben, er würde sich um solche Nichtigkeiten scheren. Damals aber war der Umgang mit ihm auch für mich noch neu und wunderbar jeden Tag, jede Stunde. Owain Glyndwr preschte in Begleitung eines anderen Dörflers ins Innere der Höhle. Der Purpurschein ließ die Züge der ungleichen Männer gerinnen. Wie sie den Weg in mein Versteck gefunden hat ten, erfuhr ich erst nach dem Überfall dieser zornigen Fanatiker. Ja, Fanatiker. Der eine attackierte mich mit Weihwasser und Kruzifix, der ande re mit einer breiten, wuchtigen Klinge. Der Vorteil der Eindringlinge war, daß ich gerade am Boden kauerte und stumme Zwiesprache mit der Magie des Kelches hielt. Der baumgroße Begleiter des Pfarrers war es, der mich aus meiner Trance riß. Er ließ sein Kurzschwert mit einem Schrei auf meinen Nacken niederfahren und hoffte wohl, mich so einfach köpfen zu können. Er irrte. Das Riemenkleid schützte und hielt diese Partie seit meiner schwe ren Verletzung im Dunklen Dom zusammen. Die Klinge traf den Schild, der nur aussah wie schlichtes Leder. Er hielt das Schwert fest,
so daß mir Zeit blieb, mich auf die Situation einzustellen. Zugleich attackierte mich nun auch der Pfarrer. Er entkorkte eine mitgebrachte Flasche und besprengte mich mit jenem Stoff, der sich wie ätzende Säure in mein Fleisch brannte. Zugleich ersparte er mir nicht die leiernde Aufzählung von Gebeten. All dies war angetan, meine Schönheit fortzuwischen und beiden zu zeigen, daß sie es mit keinem leichten Opfer zu tun hatten, wie sie es wähnten. »Aaah, Priesterchen …!« begrüßte ich den Robenträger. Da gelang es dem anderen, das Schwert zu lösen und in der Um setzung des Schwungs, den er dabei gewann, die Klinge häßlich tief in meinen Leib zu treiben, als wollte er einen Holzstamm in der Mit te teilen. Kein Geflecht schützte jene Stelle, und fürs erste dachte ich tatsächlich, nun könnte alles vorbei sein. Ein wirklich gut gezielter weiterer Hieb hätte alles beendet. Ich brach zusammen und hörte sie neben mir Worte tauschen, übereinkommend, daß der Pfarrer das Kind an sich nehmen und fortschaffen sollte, während der andere mir den Todesstoß versetzen wollte … Bevor er ging, quälte Owain Glyndwr mich noch mit seinem Kru zifix. Das Brandmal ist immer noch da, aber verborgen vom erwei terten Riemengeflecht. Ich wußte mir nicht anders zu helfen, als Rhymney noch einmal zu aktivieren. Es ist anstrengend, über Tote zu gebieten. Aber ich hätte nach jedem Strohhalm gegriffen, dem drohenden Verderben zu ent rinnen. Es gab noch so viel zu tun! Ich stand doch erst am Anfang! Das Kind war noch nicht dafür vorbereitet, was es einst leisten sollte … Endlich würdigte auch die Kelchmagie dies. Kaum war der Pfarrer mit dem Kinde gegangen, floß der Strom auf mich über. Ich narrte den Fliehenden mit einem abrupt abbre
chenden Schrei. Dann zahlte ich dem, der mich vernichten wollte, mit doppelter Münze heim, was er mir bereits zugefügt hatte. Ich wob ihn in ein Feld, das jeden Schrei erstickte. Dann ließ ich seine Hülle aufbrechen – überall – und ihn zusehen, wie sich das Leben aus ihm verabschiedete. Er war zu keiner Gegenwehr mehr fähig. Die Klinge in seiner Faust sah aus wie ein Spielzeug. Noch während er starb, fertigte ich eine Maske von ihm. Keine sol che, wie ich sie im Dunklen Dom zurückließ. Einfach eine Aura, die mich dem menschlichen Betrachter wie dieser Sterbende erscheinen ließ. Bis ins letzte Detail. Selbst seine Stimme würde zu hören sein, wenn mir der Sinn nach Worten stand. Aber all dies brauchte Zeit. Die Wunden waren zu schwer, um sie binnen Stunden zu überwinden. Wenn ich Pech hatte, würde der Pfarrer wieder Verdacht schöp fen. Ich hoffte jedoch, daß ihn das von mir veränderte Kind erst ein mal auf Trab halten würde. Er würde es zurück in die Obhut seiner Familie geben. Und dann … Als ein Trupp Leute aus dem Dorf zu Rhymneys Höhle kam, um nach dem Verbleib von Owain Glyndwrs Begleiter zu forschen, er wartete ich sie bereits als dessen Truggestalt. Ich gaukelte eine »im Kampf gegen die Hexe« erlittene Beinverletzung vor, die mich ge hindert hatte, dem Pfarrer zu folgen. Was aus der Hexe geworden sei, wollten sie wissen. Meine Schilderung, ihr den Kopf abgeschla gen zu haben, worauf sie sich in Rauch und Schwefel auflöste, nah men sie mit dankbarem Schauder auf. Ich wurde auf ein Gerüst hinter ein Pferd geschnallt und so nach Llandrinwyth gebracht, wo man mich wie einen aus großer Schlacht zurückkehrenden Helden empfing. Auch der Pfarrer ließ sich täu schen. Er versicherte mich seiner immerwährenden Freundschaft
und seines Dankes für die mutige Tat und teilte mir sodann im Hau se des alleinlebenden Schmieds (kein anderer war ich für sie) eine Hilfe aus dem Dorfe zu, die mir zur Hand gehen sollte. Danke, Freund. Diese dralle Magd mundete vortrefflich …
* Lilith wand sich unter jedem Gedanken, der purer Bosheit und Ver achtung entsprang. Je mehr sie vom Damals erfuhr, desto größer wurde das Rätsel, wie eine Macht, die die furchtbare Felidae zur Be hüterin ihres Plans erhoben hatte, zugleich aber das Böse stoppen wollte. Die Kelchdiebin stimmte in ihrer Mentalität so absolut mit denen überein, die Lilith verfolgte, daß auch Liliths BESTIMMUNG immer fragwürdiger wurde. Was wollten der Kelch und Felidae aus ihr machen? Eine ähnliche Bestie wie diese geschmeidige, tödlich-schöne »Katze«? Was würde dann aus Liliths Freunden werden – den wenigen jet zigen (eigentlich nur noch Beth) und möglichen künftigen? Die künftigen würde es nie geben, und Beth … Oder was würde geschehen, wenn Felidae hier unterlag? Wenn Landru sich zurück in den Besitz des Fortpflanzungskelchs bringen konnte? Was würde dann aus ihr werden …? Auch die Vergangenheit gab darauf keine Antwort.
*
Ich war immer unter ihnen. Sie sahen Guy Fenian, den Schmied, aber ihn gab es nicht mehr. Jedoch wurde er würdig vertreten von mir. Bis die Zeit von Eiddyds Taufe näher rückte. Eiddyd … Auf diesen Namen wollte der Vater des Kindes, Bart Drefach, die Erwählte unter dem Dach seines Gottes taufen lassen. Das würde ich zu verhindern wissen. Nicht die Taufe – nur die er wartete Form. In der Nacht vor der Zeremonie suchte ich Owain Glyndwr in sei ner Festung heim. O ja, er hielt sie für uneinnehmbar für solche mei ner Art. Er kannte die Macht des Kelchs nicht – und auch nicht seine Natur. Ich riß ihn aus seinem Schlaf. Überschüttete ihn mit gefräßigem Licht, das seine Spuren in ihn grub, und offenbarte ihm das wahre Gesicht »Guy Fenians«. Er wurde weiß wie manche Wand. Er nannte mich Satan, wie ich so vor ihm stand, nur mit den Riemen geschirrt – pralle Weiblichkeit in amazonenhaftem Schmuck. Ich lachte ihn aus. Dann zwang ich ihn, mich in sein Gemach zu führen. Den Kelch trug ich, als schritte ich an der Spitze einer unsichtbaren Prozession. Auch damit verhöhnte ich seinen Glauben. Es war eine Lust für mich, mich dort zu bewegen, wo es den unse ren niemand zutraut. Noch größere Lust aber verschaffte mir die er neute Demütigung unseres Herrn Pfarrers. Ich stellte den Kelch auf einer Kommode ab und legte mich zu Owain Glyndwr ins Bett. Kam über ihn, um ihn einzuweisen in die tatsächlichen Abläufe der mor gigen Zeremonie. Da ärgerte er mich zum letzten, nein zum vorletzten Mal.
Irgendwie bekam er einen hölzernen Kerzenhalter neben dem Bett zu fassen, schlug die Kerze herunter und nutzte den Dorn, der sonst nur Wachs aufspießte und festhielt, um ihn mir in den Leib zu sto ßen. Einem Reflex verdankte ich, daß er nicht den Weg zum Herzen traf, nur den flachen, ungeschützten Bauch. Es war schrecklich genug. Ich konnte nicht an mir halten und verfluchte ihn, wie ich noch keinen verfluchte. Dabei mußte ich mir den Dorn selbst wieder aus dem Fleisch ziehen, indem ich vom Pfarrer, der ihn immer noch fest hielt, wegglitt. Ein Schwall dunkles Blut drang mit dem Holz her aus. Glyndwr stierte mich nur an, als ich den Kelch an mich riß und da mit hinaus ins Kirchenschiff wankte. Nach einer Weile hörte ich seine mich verfolgenden Schritte und wußte wirklich nicht, ob er nun so tapfer oder so wahnsinnig war, daß er immer noch nicht von mir abließ. Mit etwas Abstand wurde mir später klar, daß er einfach mehr Angst vor einer weiteren Rück kehr hatte als vor einem Schrecken, dessen Ende er jetzt herbeifüh ren konnte … Er konnte es nicht. Ich setzte die Kelchmagie ein, um zu entkommen. Und wiederzukommen.
* Sie fanden die Magd in Fenians Schmiede. Und sie fanden in Rhym neys Höhle ein Weib aus dem Dorf, das den Fehler begangen hatte, Eiddyd die Mutterbrust ersetzen zu wollen. Dabei war es von dem Säugling gebissen worden, dem kein Sinn mehr nach solcher Nah
rung stand. Er trug schon den Keim. Er trug ihn, seit ich ihn mein Blut aus dem Kelch trinken ließ. Seit er gestorben und auferstanden war. Er war kein Mensch mehr. Und so hatte er seine erste Kreatur ge schaffen, ohne daß selbst ich zu sagen vermocht hätte, ob dies be wußt oder einfach zwangsläufig geschehen war. Die Dörfler enthaupteten die Kreatur. Dabei wurde offenbar, daß sie meinten, ich könnte in neuer Tarnung vor ihnen stehen. Aber ich war nur als stille, stumme, wohlverborgene Beobachterin dabei. Ich sah, wie sie – um sicherzugehen – mit ihr verfuhren. Wie sie ihr Haupt verbrannten und den Torso mit einem Pflock durchs Herz im harten Boden festnagelten. Den Kelch hatte ich so in die Höhle gestellt, daß Owain Glyndwr ihn finden mußte. Notfalls hätte der Kelch ihn gefunden. Er nahm ihn mit, wurde vom Kelch unterjocht und band ihn in den Akt der Taufe ein. Kurz darauf tötete der Pfarrer Bart Drefach, der Verdacht geschöpft hatte. Und am selben Abend fand die satani sche Taufe statt, erhielt die Erwählte den letzten Anstoß, dem Kelch zu dienen, und ihren wahren Namen. Creanna. Ein letztes Mal versuchte Owain Glyndwr das Procedere zu stö ren. Er verging sich sogar am Kelch. Schleuderte ihn vom Altar zu Boden vor die versammelte Gemeinde. Dafür büßte er. Dafür büßte jeder Bewohner von Llandrinwyth. Selbst die Erwählte und ich entkamen dem Inferno nur mit knapper Not. Licht, das nie diese Welt beschienen hatte, sickerte aus den Wänden des Kelchs. Ich weiß nicht, woher es kam. Ich weiß nicht, was es war. Wir entkamen. Das Dorf wurde aus der Wirklichkeit getilgt. Dort
hin, wo alles auf dem Kopf steht. In die Welt hinter die Spiegel.
* Gegenwart Herak hatte alle Vorbereitungen abgeschlossen, die er für nötig er achtete. »Du willst es wirklich tun?« fragte Homer. »Es hat dir mehr geraubt, als ich zuerst dachte«, erwiderte er. »Früher hast du nicht so geredet …« Herak ließ den Vorwurf wirken. Er verfing. Die Spezialtür glitt auf. Der Ort befand sich im unterkellerten Be reich von Salem Enterprises. Bis hierher war das Feuer nicht vorge drungen. »Wurde eigentlich der Saboteur gefunden und bestraft?« erkun digte sich Homer, als wären sie immer noch allein. Sie waren es im Grunde auch. Die Kreatur, die im Raum gewartet hatte, zählte nicht. Und sie wußte es. »Nein«, antwortete Herak. »Aber es kamen Wissenschaftler im Feuer um. Vielleicht war er darunter.« »Das klingt, als hieltest du es für normal, daß unsere Hypnose ge brochen und von einem anderen Willen ersetzt wurde. Ich dachte immer …« »Genug«, unterbrach ihn Herak – in einer Weise, die klarmachte, daß er sich wirklich nicht länger darüber auslassen wollte. Homer schwieg.
»Komm her!« befahl das Oberhaupt der Dienerkreatur. »Dein Name?« »Ich habe keinen Namen, Herr.« »Keinen Namen?« »Ich hatte ihn schon vergessen, als ich noch lebte.« »Warst du krank?« »Ja, Herr. Ich bin es immer noch.« Die Vampire tauschten Blicke. Herak hatte dem nächstbesten Sip penmitglied aufgetragen, Ausschau nach einer entbehrlichen Die nerkreatur zu halten. Daß dies dabei herauskommen könnte, hatte er nicht erwartet. »Wessen Diener bist du? Wer gab dir den Keim?« »Ich habe es vergessen.« Aus Homers Kehle drang ein Laut der Verachtung. Gleichzeitig blickte er aber zu Herak, als fürchtete er insgeheim, Anzeichen dafür zu entdecken, daß dieses Stück unfreiwillige Komik für ihn insze niert sein könnte. Herak konnte bizarre Umwege gehen, um einem Familienmitglied klarzumachen, daß er durch das Netz seiner Gunst gefallen war. Unsinn! mahnte er sich. Es gäbe keinen Grund. Ich habe nicht versagt. Im Gegenteil. Es bestürzte ihn dennoch, daß er eine solche Möglichkeit in Be tracht zog. Das Oberhaupt schien von solchen Erwägungen nichts zu ahnen. Herak konzentrierte sich ganz auf sein Versuchskaninchen. »Verges sen? Aber du nennst mich Herr – also erinnerst du dich zumindest, wer ich bin?« »Es wurde mir gesagt, bevor ich hereinkam. Ich vergesse – aber nicht so schnell.«
»Wie nannte sich deine Krankheit – als Mensch?« »Ich habe es vergessen.« Herak klatschte wie ein Regisseur, der nun genug mit einem seiner Akteure gesprochen hatte, in die Hände. Das löste den Bann. Homer registrierte dankbar, daß ihn ein Nicken aufforderte, den Raum in Heraks Begleitung zu verlassen. Zuvor erfuhr die namenlose Krea tur aber noch, was sie zu tun hatte. »Meinst du, du kannst es behalten, bis wir draußen sind?« »Ich bemühe mich.« »Was hältst du von ihm?« fragte Herak, als sie vor der Sicherheits verglasung standen und zusahen, wie die Kreatur ansetzte, die Kap sel zu öffnen. »Dem Fragment wird es egal sein«, antwortete Homer, »ob sein Essen ein gutes oder ein schlechtes Gedächtnis …« Er brach mitten im Satz ab. Schneller, als es zunächst anhand der etwas plumpen Bewegungen ausgesehen hatte, glitten die beiden Hälften der Hülse auseinander. Der Gesichtsausdruck der Kreatur schien im ersten Moment beina he spannender als das Warten auf das eigentliche Ereignis, von dem Homer aus leidvoller Erfahrung nicht zweifelte, daß es eintreten würde. »Niemand hat je behauptet«, sagte Herak, »daß der Keim auch die Intelligenz fördert. Wer immer dieses lebensuntüchtige Geschöpf geschaffen hat, statt es zu eliminieren, ist der Eigentliche, der zur Verantwortung gezogen werden müßte.« »Du kannst ja den nächsten Test mit ihm gestalten.« Es war nicht ernst gemeint. Herak schien dem Einwand jedoch nicht rundweg ablehnend ge genüberzustehen, was erneut Homers tiefgründendes Unbehagen
schürte. Die Zeiten änderten sich für seinen Geschmack etwas zu ra dikal. Zwischenzeitlich konnte nicht einmal mehr dem Kodex blind vertraut werden. Die Gerüchte über Verstöße häuften sich in sol chem Maße, daß ein wahrer Kern dahinterstecken mußte. Das Gesicht der Kreatur verzerrte sich plötzlich. »Ich glaube«, sagte Herak, »es geht los.« Es war ein sehr spezieller Raum, in dem der Versuch stattfand. Herak hatte sich zu Herzen genommen, was ihm von den Vorfällen in dem Militärlabor berichtet worden war. Dort hatte Liliths leben des Kleid sich nicht einmal von gepanzerten Türen stoppen lassen. Inwieweit dieses abgetrennte Fragment zu solchen Anstrengungen fähig war, ließ sich noch nicht sagen. Es mußte schwächer sein, sonst hätte Homer den Kontakt mit ihm nicht überlebt. Herak wollte trotzdem jedes Risiko ausschließen. Es haßt Feuer, hatte Homer ihn wissen lassen. Herak entzündete die Rinne. Die Rinne war mit hochbrennbarer Flüssigkeit gefüllt und umgab den Standort der Dienerkreatur ringförmig. Der Durchmesser dieses Kreises betrug etwa drei Meter. Bis zu den Raumwänden waren es im Schnitt weitere zwei Meter. In diesem Brandkreis stand die Kreatur und starrte mit aufgerisse nen Augen zuerst dorthin, wo seine Herren durch die Tür ver schwunden waren, und dann … Das Fenster, vor dem sie ihre Position bezogen hatten, war nur einseitig durchsichtig. Dennoch fragte Homer: »Kann er uns wirk lich nicht sehen?« Herak verstand, was er meinte. Auch er hatte das Empfinden, von den Augen der Kreatur erfaßt und mit einem Fluch überschüttet zu werden. Wie könnt ihr mir das antun? schienen die hervorquellenden Pupil
len zu brüllen. Was habe ich getan …? »Ich kann jedenfalls nichts sehen«, reagierte Herak ungehalten. »Die Kapsel ist offen. Trotzdem …« In diesem Augenblick schleuderte die Dienerkreatur beide Hülsen von sich – aber noch immer war an ihr selbst keine spektakuläre Veränderung auszumachen. Sie ging lediglich in die Knie und be grub das verzerrte Gesicht in den Händen. »Die Hände«, sagte Homer. »Es könnte sich in den Innenflächen der Hände befinden, oder …« »… oder immer noch in dem Labor vor der Stadt!« unterbrach ihn Herak. »Könnte es sein? Du hast mir die Masse beschrieben. Derglei chen erkenne ich nicht an ihm. Du?« Homer blieb nichts anderes übrig, als zu verneinen. »Es wäre schlecht, wenn ich recht hätte«, sagte Herak. »Ich hatte große Pläne mit diesem Fragment. Du ahnst nicht, welche Hoffnun gen ich damit verknüpfte. Weißt du, was Klonen ist?« Homer nickte. »Jede Körperzelle enthält den Bauplan des komplet ten Wesens, dem sie entnommen wurde. Beim Klonen wird aus ei ner solchen Zelle ein Wesen gezüchtet, das –« »Was meinst du, wie viele komplette Stücke sich aus dem Fragment erschaffen ließen?« unterbrach ihn Herak. Homer erzitterte. Dann keuchte er: »Es ist da! Es muß da drin sein. Ich sah mit eigenen Augen, wie es hineingesperrt wurde in den Be hälter …« »Dann zeig es mir! Hole es!« Er erstarrte. »Du meinst …? Ich soll …?« »Es wird dich schon nicht töten. Ich passe auf.« Homer warf einen gehetzten Blick in den brennenden Kreis, wo die Kreatur immer noch kniete, immer noch das Gesicht in den Hän
den … »Wir können fragen, was los ist«, sagte er und deutete auf die Ge gensprecheinrichtung neben dem Fenster. »Versuch es«, nickte Herak. Erleichtert drückte Homer auf den Knopf und rief in die Sprechril le: »Heh! Hörst du mich?« Der Kopf der Kreatur hob sich etwas in seine Richtung. Die Finger spreizten sich, als versuchte sie durch sie hindurchzuspähen, ohne loszulassen. »Wer – bist du?« fragte der Diener. »Ich war gerade bei dir. Was ist los mit dir? Ist etwas … aus der Kapsel gekrochen? Spürst du es in dir?« Die Kreatur stöhnte. »Ich erinnere mich nicht an dich. Woher kommt das Feuer? Kann man es löschen? Lösche es bitte. Ich weiß es nicht sicher, aber ich glaube, ich mag kein Feuer. Die Hitze …« Homer spürte Heraks Blick auf sich ruhen. »Sieh es ein«, fauchte er. »Er ist verrückt. Ich werde ihn auf keinen Fall mehr aus dem Kreis lassen. Aber wir brauchen das Teil!« Am liebsten hätte Homer geschrien: »Dann hol es dir doch selbst!« Aber das wagte er nicht. Obwohl die Erinnerung an die Schmerzen ihm den Verstand trübte. Noch einmal wollte er keinesfalls die Fä den in sich spüren. »Könnte es sein, daß es ihn – übernommen hat?« Homer zuckte hilflos mit den Schultern. Tonlos sagte er: »Ich gehe hinein.« Heraks Züge blieben unbewegt. »Das werde ich dir nie vergessen.« Homer ignorierte die Krämpfe in seinem Innersten. Er öffnete die Tür.
Dann ging alles sehr schnell.
* Es sah nicht nur aus, als würden sich zwei gleichwertige Gegner ge genüberstehen und Witterung aufnehmen – es traf wohl auch den Kern. Lilith, benommen von den ihr zuteil werdenden Erinnerungen, entschloß sich, wieder selbst das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Nicht weiter in Passivität zu verharren. Felidae und Landru waren beschäftigt. Wie lange aber diese Ruhe vor dem sicheren Sturm noch anhalten würde, war unabsehbar. Deshalb galt es, den Lilienkelch zu sichern, ihn aus jener Zone zu bergen, welche die beiden ehemaligen Hüter in der Museumshalle errichtet hatten. Fast automatisch rief Lilith sich in Erinnerung, wo sie eigentlich war. »The Rocks« hatte Felidae als Treffpunkt bestimmt. Hier hatte Li lith die fehlende Weihe erhalten sollen. Das Wissen, worauf es wirk lich ankam bei ihrem Kampf gegen das eigene Stiefvolk. Auf diesem Boden hatten sich einst die Sträflingsbaracken erho ben. Unglaubliche Gettos, wie Beth erzählt hatte. Manchmal waren Menschen schon wegen des bloßen Diebstahls eines Laibs Brot aus der Alten Welt hierher deportiert und zu Schwerstarbeit vergattert worden. Grauenhafte Zustände hatten damals diesen Ort geprägt. Aber natürlich hatte es auch richtig Kriminelle getroffen. Halsab schneider, Mörder, finsterstes Gesindel … Der Grund, warum sie gerade jetzt, da der Kelch mit der Übermitt lung des Gestern aufgehört oder zumindest eine Pause eingelegt
hatte, daran dachte, lag an der Ausdünstung dieses Bodens. Auch wenn neue, prunkvollere Bauten errichtet worden waren, das Fun dament unter dem Fundament war dasselbe geblieben. Hier überall lagen die Gebeine zu Tode Gefolterter oder auch heimtückisch von ihresgleichen Ermordeter. Die friedlich Gestorbenen spürte Lilith dagegen nicht. Sie hatten ihre Ruhe längst gefunden. Nichts bewegte sie mehr. Nichts konnte sie noch mißbrauchen. Und dann, während sie sich behutsamen Schrittes der Stelle näher te, wo der Lilienkelch lag – wo Felidaes Blut wie die Spur eines die ser alten, ungesühnten Verbrechen auf den Planken des Holzbodens verspritzt war –, kamen sie, um dem finalen Kampf zweier Giganten beizuwohnen. Die imaginären Ränge eines Amphitheaters füllten sich mit augenlosen Zuschauern. Lilith hatte sich schon einmal gegen Skelette zur Wehr setzen müs sen. Im vom Fluch des Kelchs beherrschten Dorf Llandrinwyth. In jener »eingefrorenen« Wahrscheinlichkeit jenseits der normalen Welt.* Doch hier sah es nicht nach einem Angriff aus. Es verstärkte nur noch die Präsenz des Gespenstischen, Irrealen. Nicht alle, die kamen, taten dies ordentlich durch den Eingang. Manche brachen einfach durch Scheiben oder schoben sich aus bers tenden Bodendielen. Sie alle verharrten dort, wo auch Lilith die Grenze spürte. Die unsichtbare Linie, jenseits derer sich nun bald zeigen mußte, wer diesen Ort als Sieger verlassen würde. Und hinter der das begehrte Objekt lag. Der Gral des Leids. *siehe Vampira 10 und 11
Lilith wartete nicht, bis sie von allen Seiten umgeben war mit Ge rippen, morsch, gilbüberzogen. Sie alle hatten wieder begonnen zu leben. Und längst nicht allein durch die hier freigesetzte Magie. Schon vorher hatte eine sehr rührige Art Leben Einzug gehalten in sie: Würmer, Maden und Käfer jeder Schattierung. Lilith übertrat die Grenze. Schnell wollte sie nach dem Kelch grei fen. Aber die Entladung, die sie unsanft durch die hohe Halle schleuderte und schließlich noch unsanfter gegen eine zersplitternde Vitrine prallen ließ, war den berühmten Tick schneller. Landru und Felidae berührte dies nicht. Sie schienen den Versuch nicht einmal zu bemerken. Und die Gerippe, dachte Lilith beschämt, verhielten sich aus nahmslos klüger als sie.
* Es lauerte gleich hinter der Tür – nicht hinter dem Feuerkreis. Es mußte sich noch in der Hülse befunden haben, als die Kreatur sie von sich schleuderte, und fast drängte sich der Verdacht auf, es könnte die Kreatur als Komplizen eingespannt haben, um so die Feuerlinie zu überwinden … Homer sah es in dem Moment, als er den Zugang in die Kammer öffnete, an sich vorbeihuschen. Weder er noch Herak hatten diese Möglichkeit in Betracht gezogen. »Vorsicht!« Homers Ruf kam zu spät. Daß das Ding schnell sein konnte, wußte er bereits. Aber so ver dammt schnell … Der Vampir konnte eine gewisse Genugtuung, daß nicht erneut er
das Opfer war, nicht verhehlen. Gebannt sah er zu, wie sich das Fragment an Herak hochschob (hochkroch) und dieser eine ähnliche Reaktion zeigte, wie er es draußen im Militärlabor getan hatte. Als die haarfeinen Tentakel des kleinen Ungeheuers sich bis in sein schwarzes Blut gebohrt und begonnen hatten, es aus ihm heraus zusaugen …! »Hilf – mir!« verlangte das Sippenoberhaupt. Homer rührte sich nicht. »Wie?« Erst als Herak auf ihn zuwankte, überwand er die Lähmung. Er wich durch die bereits offene Tür in die Kammer zurück, wo der brennende Kreis immer noch die Kreatur wie ein sonderbares Tier einzäunte. »Helft mir!« wimmerte sie. »Kein Feuer … Bitte … kein … Feuer …« Einen Moment hatte Homer das Gefühl, von der Unwirklichkeit dieser Szene fortgeschwemmt zu werden. Herak torkelte in die Kammer. Sein Gesicht war angespannt, als müßte er Zentnergewichte balancieren. Aber er trug nur sich selbst – und ein Ding von wenigen Gramm … Homer überlegte, ob er ihm helfen konnte. Ob sie gemeinsam eine Chance gegen dieses Vampirblut trinkende, amöbenhafte Monstrum gehabt hätten, das sich wie ein Pflaster um Heraks Schienbein preß te. Der Stoff seiner Kleidung hinderte es nicht, sich auf Heraks Haut festzuhaken, und ebenso sicher schien, daß es längst seine Fühler in das Oberhaupt entsandt hatte! Lenkte es ihn bereits wie eine Marionette? Homer mußte etwas tun, sonst würde Heraks Reaktion, sollte er sich selbst befreien können, fürchterlich ausfallen. Homer wählte von allen Übeln das kleinste. Zumindest hoffte er es. Er faßte Herak an den Schultern – und schob ihn auf den Flam
menkreis zu. »Bist du … verrückt?« »Löschen … Bitte, löscht es …!« jammerte die Kreatur hinter ihren gespreizten Fingern. Homer ließ sich nicht mehr beirren. Er hoffte nur, das Biest möge nicht auf ihn überspringen. Er schlang die Arme von hinten um He raks Brustkorb, hob ihn an und stellte ihn mit einem Ruck nicht in den Kreis, sondern auf ihn. Seine Schuhe tauchten in die brennende Flüssigkeit. Sie und der Stoff seiner Hose sogen sich voll und fingen sofort Feuer. Homer hielt alles im Auge. Heraks Gebrüll ließ ihn kalt. Er wartete auf den richtigen Moment, mußte sich jetzt aber auch noch Heraks Schlägen erwehren. Dann war es soweit. Das von den Flammen bedrohte Ding löste sich schmatzend vom Bein des Vampirs. Zunächst sah es aus, als wollte es höher kriechen. Aber dann fiel es einfach ab, und Homer stellte Herak blitzschnell in den Kreis, so daß auch das Fragment dort landete. Mit einer letzten Kraftanstrengung riß Homer das Oberhaupt der Sippe wieder aus dem Kreis heraus und warf sich mit seinem gan zen Körper über die brennenden Beine, um die Flammen zu ersti cken. Herak war still geworden. Bewegungslos ließ er alles geschehen. Dafür machte sich die Kreatur im Kreis wieder bemerkbar. Ihr Ge sicht war unkenntlich, obwohl sie endlich die Hände davon gelöst hatte. Etwas Schwarzes, Seidiges hatte sich wie ein eng anliegender Schleier darüber gebreitet. Die Schreie dahinter kamen merkwürdig gedämpft. Der Körper zuckte, als liefen hohe Voltzahlen hindurch.
Nach einer Weile richtete sich Herak auf und starrte auf die ver kohlte Haut, die sich von seinen Beinen schälte. Dann wechselte sein Blick in den Feuerkreis und anschließend zu Homer. »Komm«, sagte er. »Gehen wir. Ich lasse mich auch nur ungern beim Mahl stören …«
* Felidaes Erinnerung 1728-1761 Nachdem ich Creanna zu Nürnberg in Karls Obhut gegeben hatte, begab ich mich über den Kanal zurück nach England und weiter bis Schottland. Es war meine erste Reise so hoch in den Norden der In sel, und ich wußte nicht konkret, was mich in den berüchtigten Highlands erwarten würde. Wohl trug ich schon den Namen des Ziels in mir, mehr aber auch nicht. Auf dieser Reise begegnete ich etlichen Formen des Zusammenle bens, Reichtum und tiefster Armut und zuletzt einem Filz schier un durchschaubarer Clans. Vampire konnte ich meiden wie stets, obwohl auch sie längst über all im Verborgenen ihre Macht ausspielten. Doch was das anging, fand ich immer die rechten Wege. Selten kam es zu Zusammenstö ßen, und wenn doch, entschied ich sie für mich. Unter den Vampiren fürchtete ich nur einen … Ich hatte bald erfahren, was das Riemengeflecht um meinen Leib wirklich war: nicht einfach raffiniertes, lebenserhaltendes Korsett, sondern auf schwer beschreibbare Weise lebendig und an mir teilha
bend. Aber Geben und Nehmen hielten sich die Waage. Ich ver dankte ihm alles – und es machte mir nichts aus, daß es dafür ab und zu etwas von meinem Blute stahl. Es geschah nie maßlos. Und es passierte überhaupt nicht, wenn es mir gelang, ihm rechtzeitig andere Nahrung zuzuführen. Dann konnte es unersättlich sein. Dann spürte ich sein Behagen, das nicht selten die Gier nach eigenen Op fern in mir weckte. Nach Wochen erreichte ich den Landstrich, der von den Einwoh nern und auf Karten Beinn Dearg geheißen wurde. Es war, wie späte re Reisen belegten, ein Stück typisch rauh-grandiosen Hochlands, wo Wind nie und Regengüsse selten zur Ruhe kamen. Zur verfallenen Abtei fand ich durch den inneren Wegweiser, der mir schon bei meinem Werden mitgegeben worden war. Dieser Kompaß versagte nie den Dienst. Das Gemäuer formte ich nach meinen Bedürfnissen um. Gestaltete das Kellergewölbe. Schuf Verliese. Magie half mir bei alledem. Ohne Magie wäre mein Leben und Wirken undenkbar. Es war eine einsame Gegend. Nur ein paar verstreute Dörfer und einzelne Cottages existierten in der Nähe. Die Abtei war bereits seit Hunderten von Jahren dem Verfall preisgegeben. Ihre Magie war verpufft. Was noch an Spuren des gräßlichen Glaubens da war, wob ich geschickt in meine Zwecke ein. Ohnehin hatte ich nichts dergleichen zu fürchten. Der Kelch bot mir Schutz, denn er beherbergt nicht nur das dunkle Leben … Nachdem ich den Ort verändert hatte, begab ich mich eines Nachts in ein entlegenes Dorf. Ich war zu Pferde unterwegs, denn meine Beute hätte ich nicht auf ledrigen Schwingen zu tragen vermocht. Auf diesem ersten Diebeszug nach dem Raub des Kelchs (den ei gentlich nicht ich gestohlen hatte) drang ich in drei Häuser ein,
zwang die Bewohner in hypnotischen Bann und ließ mir die Neuge borenen aushändigen. In einem Fall konnte ich mich nicht beherrschen. Der Anblick eines schwarzlockigen Jünglings ließ die Gier nach seinen Säften förmlich in mir explodieren. Er starb bei meinem ungestümen Saugen, und danach, als ich wieder bei Sinnen war, mußte ich ein tüchtiges Ar rangement treffen, das die geheime Freude der Menschen an unlös baren Verbrechen befriedigte. Schon das Verschwinden dreier Kin der würde die Menschen weit über das Dorf hinaus in Atem halten – aber der zeitgleiche Mord in einem der Häuser schürte noch ein anderes Feuer in ihnen. Es gab keine Zeugen der Tat. Alle Beteilig ten litten nach meinem Fortgang an völliger Amnesie … Im Umgang mit plärrenden Kindern hatte ich seit Creanna Erfah rung. Meine Magie machte sie rasch stumm und zahm. Keines war älter als drei Jahre. Leicht formbar also und für meine Pläne gerade recht. Gleich nach meiner Rückkehr zur Abtei begann ich den Grund stein für Studien und Experimente zu legen, die mich mit Unterbre chungen anderthalb Jahrhunderte beschäftigen sollten. Nicht ich, der Abdruck des LICHTS in meinem Geist wollte es so. Dieser unsichtbare Begleiter auf jedem meiner Wege forderte den Diebstahl immer weiterer Menschenkinder. Ich hatte keine Möglich keit, mich zu widersetzen. Und warum hätte ich es auch sollen? Die Gründe kamen mir zugute, denn ich züchtete aus den gestohlenen Kindern Helfer und Verbündete, mit begrenzter Eigenintelligenz versehen. Ich entließ sie mit festen Aufträgen hinaus in die Welt: falsche Fährten zu legen für meinen Verfolger. Für Landru. Meine Schöpfungen glaubten vielfach, den Kelch gestohlen zu ha ben – und führten deshalb, wohin immer ich sie entsandte, ein von den Sippen isoliertes Dasein. Immer bedacht, unter den Menschen
Spuren zu hinterlegen, die Landru aufmerksam machen und vom Ort meines wahren Wirkens ablenken sollten. All diese Schöpfungen hatten anfangs eine sehr begrenzte Lebens zeit. Ein paar Jahre genügten, um sie in die entlegensten Erdteile rei sen und dort agieren zu lassen. Mir war nicht unbedingt daran gele gen, auch nur eines dieser speziellen Kelchkinder je in Landrus Hän de fallen zu lassen. Zu wenig wußte ich über seine Möglichkeiten. So kam es, daß ich einem jeden »Mechanismen« mitgab, die zur rest losen Selbstzerstörung führten, sobald die Aura des betrogenen Hü ters ihn berührte. Wie gesagt, anfangs schuf ich nur Vampire mit sehr begrenztem Intellekt. Nach fast einem Jahrzehnt erschien mir dann erstmals wieder das LICHT – und verblüffte mich mit einer Forderung, die ich in dieser Form nie erwartet hätte, konnte sie doch alles gefährden, was mit Creannas Zeugung eingeleitet wurde. Aber das LICHT ließ mir keine Wahl. Es informierte mich über meinen Widersacher und sagte, was ich zu tun hatte. Daß Creanna dabei umkommen könnte, berührte es nicht. Ich gehorchte. Ich stellte meine Experimente ein. Falls Creannas Mission Erfolg beschieden war, würde es keine Fortsetzung mehr geben. Welchen Sinn hätte es machen sollen? Erst wenige meiner Schöpfungen hatten Beinn Dearg verlassen … Kriege erschütterten das Gefüge der Welt, als ich eilends nach Deutschland zurückkehrte. Ich wußte, auf wessen Konten die großen Blutvergießen sämtlich gingen. Krieg, so schien es mir schon damals, ist ein elementares Geschick. Im großen wie im kleinen war Krieg etwas ewig Gültiges, eine Kraft, die das Gesicht der Welt stän diger Veränderung – und stetem Fortschritt unterwarf. Und war ein
Sein ohne solche Veränderung überhaupt denkbar? Auch mein und Creannas Handeln war Krieg im kleinen. Ich schuf mir »Soldaten« – sie würde dereinst einen einzigen erschaffen. Den wichtigsten. Wenn sie die Mission, in die ich sie schicken mußte, überstand. Es stimmte mich zufrieden, daß sie mich nicht mit Vorwürfen überschüttete, als wir uns wiedersahen. Sie gedieh erstaunlich als Karls Mündel, und wohlinteressiert ließ ich mir zunächst von ihr be richten, was sie in den Jahren erlebt und dazugelernt hatte. Doch lange konnte ich den wahren Grund meines Besuchs nicht verhehlen. Ich schälte den Kelch vor ihren Augen aus meiner Tasche – und stürzte sie damit in völliges Vergessen. Die Stube der Herberge war erfüllt vom Purpurschein des Kelchs, der in Creanna die Aufgabe verankerte, bar jeder Erinnerung nach Prag zu reisen und die Nähe und Zuneigung eines Verdammten zu suchen. Das LICHT hatte es bestimmt. Creanna sollte sich bewähren. Sie sollte das Vertrauen des ehemaligen Hüters erschleichen und ihn, wenn es möglich schien, vernichten. Vernichten! Landru! Noch bevor der Purpur erlosch, geschah etwas, womit auch ich nicht gerechnet hatte: Aus dem am Boden stehenden Kelch quoll et was hervor. Etwas Dunkles, Amorphes von quecksilbriger Konsis tenz, das aus ihm hervorschäumte und sich fladenförmig über den Boden bewegte. Mich würdigte es keiner Beachtung, obwohl ich das Gefühl hatte, mein Riemengeflecht versuchte sich von mir zu lösen, um sich mit dem Formlosen zu verbinden. Glücklicherweise gesch ah dies jedoch nicht. Die zähe Masse erreichte die völlig erstarrte Creanna und kroch an ihr empor, schob sich unter das Kleid, das sie
trug und … Ich begriff. Als der Kelchpurpur erlosch, riß ich Creanna den toten Stoff vom Leib. Dann befahl ich Karl, die Kutsche im Hof vorfahren zu lassen. In dem weißen, rüschenbesetzten Kleid, das kein Kleid war, setzten wir Creanna in den Fahrgastraum. Der Kutscher stellte keine Fra gen. Karl hatte ihn zurecht empfohlen. Danach erlebte ich Erstaunliches. Ich hielt mich noch Tage in Nürnberg auf. Karl bat mich, ihm im geheimen zuzusehen, wenn er wieder einmal seinen kannibalischen Gelüsten frönte. Ihm zu Gefal len tat ich es, aber die meiste Zeit verbrachte ich einfach in einem dunklen Zimmer und fühlte, was mit mir geschah. Der Symbiont auf meiner Haut vermittelte mir die Wahrnehmun gen seines Pendants – und so sah ich Landru also in gewisser Weise selbst wieder. Erlebte seine Begegnung mit Creanna und staunte über das geringe Mißtrauen, das er ihr entgegenbrachte. Nach Tagen, in denen ich immer besser mit diesen anderen Wahr nehmungen umzugehen vermochte, erhielt auch Karl ein »Ge schenk« des Kelchs. Nichts, was ihm als Waffe hätte dienen können und auch nur entfernt dem ähnlich, was Creanna und ich in Sym biose trugen. Aber es erlaubte mir, mich ihm auch über große Ent fernung mitzuteilen und ihm Bitten aufzutragen. Karl sträubte sich nicht. Ihn und mich verband vom ersten Tag un serer Begegnung ein besonderer Funke. So verließ ich ihn, aber er war immer bei mir – wie Creanna. Ich kehrte nicht nach Schottland zurück, sondern bereiste Persien. Ich suchte jene Stätte auf, der in noch ferner Zukunft große Bedeu tung zukommen sollte. Uruk. Das verborgene Tor … Ich tat, was ich tun mußte. Überall. Zugleich begleitete ich Creannas Reisen mit Landru. Ich spürte,
wie sich ihr Verhältnis über die Jahre abnützte – und wie der Jäger des Kelchs sich in immer tieferen Selbstzweifeln verstrickte. Er hatte sogar ein »Gelübde« abgelegt. Er trank von seinen Opfern nicht mehr wie ein Vampir, sondern beraubte sie ihres Blutes mit einem magischen Replikat des Lilienkelchs. Es tat gut, sein Leid in mir aufzunehmen. Immer wieder war es mir neuer Ansporn. Doch dann nahte die Zeit, da absehbar wurde, daß das Verhältnis zerbrach. Creanna und er wurden einander frem der mit jedem Tag. 1761 hielt ich mich in Holland auf, während sie aus Italien nach Deutschland zurückkehrten, und ich fühlte mich von dem Abdruck in mir bedrängt, den Lauf der Dinge in die Hand zu nehmen. Ich versetzte Karl in Bereitschaft. Er reiste den beiden entgegen. Da Landru stets nach überall seine Fühler ausstreckte, um mögliche Hinweise auf den Lilienkelch zu erhalten, war es nicht schwer, ihm eine gefälschte Spur zuzuspielen, die nach Nürnberg zeigte. Er schnappte diesen Köder. Und Creanna handelte so, wie es in ihr verankert war. Als sie von Landrus »heißer Spur« erfuhr, löste ihr Unterbewußtsein den An griff des Symbionten aus. Ich erlebte mit, wie er den tausendjähri gen Vampir zu verschlingen versuchte – und scheiterte. Landru überlebte angeschlagen. Am Ende blieb Creanna nur die Flucht. Oh, ich glaubte nie, daß es gelingen könnte. Ein Hüter ist ein Hü ter. Ich schickte Karl in Creannas Zuflucht. Er brachte sie zu mir nach Amsterdam, wo ich mit ihr brach. Ich tat, als sei alles verloren und als gäbe ich ihr die Schuld daran.
Ihre Erinnerung an mich und alles andere war in dem Moment zu rückgekehrt, als sie sich gegen Landru stellte. Nun verstieß ich sie. Sie mußte mich dafür hassen, denn sie traf keine wirkliche Schuld. Sie hatte sich gut geschlagen. Ich aber handelte weiter nach dem, was der Abdruck des LICHTS mir auftrug. Ich erwähnte das magische Datum. Von nun an in 135 Jahren mußte Creanna ihre Frucht gebären. Aber bewußt war ihr dies nicht, als ich sie auf den wurmstichigen Planken eines Bootes in Amsterdams Grachten zurückließ. Danach begegneten wir uns nie wieder. Und doch war ich immer bei ihr. Während sie gegen die Leere ankämpfte, die ich in ihr hin terlassen hatte, begab ich mich nach Schottland zurück, wo ich mei ne Experimente wiederaufnahm. Ich grub mich mit neuer Leidenschaft in diese Aufgabe. Aber Eifer und Ehrgeiz trübten mir mehrfach den Blick für die Grenzen des Machbaren. Es kam zu Zwischenfällen …
* Gegenwart Felidae Ich versuche Kontakt zum Kelch herzustellen. Seine Kraft zu trinken wie die Jahrhunderte davor. Es mißlingt. Der Kelch, so scheint es, hat sich seines Hüters erinnert. Er akzep
tiert uns beide. Und keinem wird er ein Leid antun. Selbst Lilith grenzt er aus, verhindert, daß sie mir zu Hilfe kommt … Ich könnte schreien vor Enttäuschung. Wem diene ich eigentlich? Dem LICHT oder dem KELCH? Lange war es für mich dasselbe. Nun wuchern die Zweifel. Aber Zweifel schwächen, und ich darf nicht noch einmal an Land ru scheitern. Mein Sieg ist wichtiger denn je, weil Lilith den Plan noch nicht begriffen hat. Sie braucht mein Blut aus dem Kelch, um zu verstehen, was die Vorsehung von ihr verlangt … »Du wirst deine Tat bitter bereuen. Du und deine Brut …«, höre ich Landru. Er ist nicht mehr der Verdammte. Er klingt unerschüt terlich in seinem wiedererlangten Selbstbewußtsein. »Fangen wir an! Tragen wir es aus!« Ja, tragen wir es aus. Ich glaube fast, er spürt, daß ich seit damals nicht viel stärker ge worden bin. Während ich mich in Schlaf und Vergessen flüchtete, blieb er wach. Schon damals hatte er tausend Jahre Erfahrung. Nun ist es noch mehr geworden …
* Felidaes Erinnerung 1762-1862 Ich stahl wieder Kinder – oder besser, ich ließ stehlen, denn ich hatte mir Handlanger besorgt. Junge Burschen aus ferneren Dörfern, von niemand vermißt, weil ich ihre Angehörigen stets tötete. Niemand
sollte die Entführten wiederfinden wollen. Sie kamen in meine Ob hut wie Waisen – und kümmerten sich um andere »Waisen«, die sie in meinem Auftrag von nah und fern entführten. Meine Experimente hatten ein Stadium erreicht, das längst nicht mehr allein mit Landru zu tun hatte. So gut wie gar nicht. LICHT und Kelch gestatteten mir dennoch den Zeitvertreib, denn auch sie schienen an das Datum gebunden, das ich Creanna nannte. Ich machte nur das Beste aus dem Warten. Die Vorbereitungen bei Uruk waren abgeschlossen – viel mehr konnte ich auch dort nicht tun. Zwar würde ich mich noch einmal hinbegeben, aber erst nach dem Creanna ihr Kind sicher deponiert hatte. Während Creanna also unentwegt gegen Frustration und Zweifel ankämpfte und wohl auch wieder nach meinem Verbleib zu for schen begann, widmete ich mich meinem Zeitvertreib. Draußen in der Welt war das Leben der Vampire seiner Vision be raubt worden – aber hier in der kleinen Welt von Beinn Dearg wu cherten die Phantasien und Möglichkeiten, die der Lilienkelch dem Hüter bot. Je länger ich damit Umgang hatte, desto stärker zweifelte ich, daß Landru auch nur andeutungsweise seine Möglichkeiten ausge schöpft hatte. Er hatte vielleicht bis hinab auf den Boden des Kelchs geblickt, dorthin, wo sich der Blutsatz ansammelte und mit den Jahrtausenden eine bemerkenswerte Patina gebildet hatte. Aber er hätte tiefer blicken können. Was sich dort unter der Patina verbarg, schürte meine Überzeugung, daß man mit dem Unheiligtum mehr bewerkstelligen konnte, als herkömmliche Vampire aus Menschen kindern zu schaffen. Meine tastenden Versuche bestätigten dies, und der ersten Schöp fung, auf die ich mit Stolz blickte, gab ich folgerichtig den Namen
First. First war in der Lage, Wochen und Monate ohne Blut auszukom men. Das hieß nicht, daß er überhaupt keine entsprechenden Gelüs te hatte. Aber er besaß auch keinen Keim, gar keinen, und sein Leib wies regelrechte »Kammern« auf, in denen er das Blut seiner Opfer sammelte. Das verrückteste an ihm aber war, daß er dieses Blut wie der abzugeben vermochte. First sah, was sein Äußeres betraf, nicht sonderlich gelungen aus. Aber seine anderen Qualitäten machte ich mir nutzbar, indem ich ihn wie einen Blutsammler hinaus in die Gegend schickte und mit prallgefülltem Leib wiederkommen ließ. Er war der Hypnose mäch tig und hatte bald erkannt, wie vorteilhaft es war, die Opfer am Le ben zu lassen und immer wieder aufzusuchen. Menschen, wenn man sie hegt und pflegt, sind ein fast unerschöpflicher Quell des guten Blutes, denn ihr Organismus erneuert die entnommene Fehlmenge binnen kurzer Zeit. So half mir First also, meine anderen Studien zu nähren, denn bald neigte ich dazu, sie nicht mehr ohne weiteres von der Stätte meines Wirkens fortzulassen. Ich wurde sehr wählerisch. Sie mußten harte Prüfungen absolvie ren, bis ich über sie entschied. Jene, die durch das Sieb meines An spruchs fielen, tötete ich ohne Skrupel. Der Kelch erledigte dies für mich. Er entzog ihnen, was er ihnen einst gab, und wenn er mit ih nen fertig war, hatten sie nichts Vampirähnliches mehr an sich. Sie waren reduziert auf eine unansehnliche Urmasse, die ich in einer Grube hinter der Abtei sammelte. Dort war sie Wind und Wetter ausgesetzt, aber ich bemerkte nie Prozesse der Verwesung oder, was ich erwartet hätte, Tiere und Ungeziefer, die sich darüber hermach ten. Selbst unter Aasfressern schien sich eine Abscheu gegen solchen Stoff nicht überwinden zu lassen.
Was meine sonstigen Begierden anging, kasteite ich mich keines wegs in dieser Zeit. Ich fand immer wieder kurzzeitigen Gefallen an einem der Burschen, die für mich auf Raubzug gingen. Aber von den wenigsten nahm ich außer Sex auch Blut, denn was ich Creanna in den ersten Wochen ihrer schnellreifenden Existenz lehrte, traf auch für mich zu: Es war nicht gut, mit dem Keim allzu verschwen derisch umzugehen, und hier in meiner kleinen Welt konnte ich auch mit dem Leben meiner Helfer nicht unbegrenzt Schindluder treiben. Nein, ich hatte zwei, drei Kerle für die Geilheit, die mich im mer wieder überkam, und zwei, drei Kerle, von denen ich Blut nahm, sie aber zunächst am Leben ließ, damit nicht auch sie noch mit dem kostbaren Trank versorgt werden mußten. Stets bemühte ich mich, meine Schöpfungen gegen die Einflüsse christlicher Symbolik abzuhärten. Ich fand nie heraus, warum wir (auch ich, wenn der Kelch mich nicht schützte) gerade gegen diese Religion so anfällig waren. Aber ich versuchte, es abzubauen. Dabei war es keineswegs mein Ziel, »Supervampire« zu zeugen. Das hätte das LICHT nie zugelassen, denn es wollte ja deren Unter gang. Nein, wenn ich neue Vampire schuf, dann mußten sie ein Kri terium ausnahmslos erfüllen: Sie mußten andere Vampire als natür liche Feinde ansehen und so – wenn auch im kleinen – den Plan un terstützen. Doch kam es, wie gesagt, zu einer Handvoll Zwischenfällen unter schiedlicher Wertigkeit. Der Schlimmste, an den ich mich erinnere, war Feyn. Feyn hatte von mir, um den verhaßten Glauben zu verhöhnen, das Zeichen der Urchristen in die Innenseite einer Hand gebrannt be kommen: die Schlange am Kreuz. Und Feyn besaß übernatürliche Fähigkeiten, die mit »Magie« nur sehr unzureichend zu umschrei ben waren. Seine Stärke machte selbst mich betroffen, kaum daß er seine volle körperliche Reife erlangt hatte. Er war sicher verwahrt in
einem der Verliese, wie die anderen. Aber wie gering die üblichen Maßnahmen bei ihm wogen, demonstrierte er mir eines Tages blu tig. Ich war anderweitig engagiert, sonst hätte ich vielleicht noch ein schreiten können. So aber gebärdete er sich zuvor wie ein Tollwüti ger. Er durchbrach die Tür seiner Zelle und tat – anstatt sofort den Weg ins Freie zu suchen – dasselbe bei zwei anderen. Vielleicht lockte ihn das Blut dahinter. Schwarzes Blut. Denn Feyn war ein Krieger. Ein Mörder mit kannibalischen Zügen. Um beide Opfer war es nicht schade. Ich wollte Faradne und Fana don ohnehin in der Grube hinter dem Gemäuer versenken. Ihre Ma kel waren zu groß. Sie vermochten nicht einmal im Dunkeln zu se hen oder einfache Transformationen durchzuführen. Aber dieser Ausbruch offenbarte auch Feyns unkontrollierbares Wesen. Ich stellte ihn und hatte die Wahl, ihn zu vernichten oder zu ver stoßen. Ich entschied mich für ersteres, aber es war das erste und einzige Mal, daß der Kelch sich weigerte, einen meiner Mißgriffe zu Brei zu zermahlen. Daraufhin änderte ich meine Meinung. »Du hast Glück, daß du nur Schwache gerissen hast, die ohnehin verenden mußten«, sagte ich ihm. »Geh! Ich verstoße dich! Das ist mehr, als du erwarten durftest. Aber verschwinde und kehre nicht zurück. Stell meine Launen nie wieder auf die Probe …« Weder ich noch der Kelch ahnten damals, was für eine schreckli che Konsequenz diese Gnade fast gezeitigt hätte. In ferner Zukunft. Für Creannas künftige Leibesfrucht …
* Gegenwart Lilith hatte nicht versucht, sich vor dem neuen Erinnerungsschub zu verschließen. Sie sog jede Information wie ein trockener Schwamm in sich auf und wußte, daß von ihr die Rede gewesen war. Von ihr und Feyn, dem sie allzu bereitwillig auf den Leim gegangen war – weil sie sich nichts mehr ersehnte als verläßliche Verbündete. Nun schien der Strom aus dem Kelch wieder versiegt zu sein – endgültig oder von den realen Geschehnissen überlagert. Denn dort, innerhalb der von Skeletten umlagerten Zone, war in diesem Moment der Kampf zwischen Felidae und Landru ent brannt! Lilith erhob sich vom Boden, wo sie hingeschleudert worden und zunächst liegengeblieben war. Faszination überstimmte das Grauen, das von dem Szenario aus ging. Die beiden Kelchhüter hatten sich verwandelt. Ihre Gestalt war immer noch in Umrissen menschlich, aber die Wildheit erschreckte Lilith, die sich nie während einer ihrer Kämpfe selbst beobachtet hatte. Felidae und Landru – das waren Raubkatze und Wolf. Nicht in letzter Konsequenz, zumindest nicht hier, aber diese tierischen Ei genschaften traten wie eine Doppelbelichtung aus ihrer bekannten Physiognomie hervor. Sie stürzten sich nicht einfach aufeinander – sie verschmolzen scheinbar miteinander. Auch ihre Einzelbewegun gen kamen so schnell und aufeinanderfolgend, daß es kaum nach vollziehbar wurde, was sie einander dort in der Sphäre antaten. Ein Sieger zeichnete sich nicht ab.
Bis … ja, bis alles ins Stocken geriet. Der Kampf gerann regelrecht. Die Hüter erstarrten wie eingefroren in dem Medium, das ihrer Magie entsprang – und in diesem Moment wurde für Lilith erkenn bar, daß Felidae bereits am Ende war. Landru hielt nur inne, um sich an der Qual der Unterlegenen zu ergötzen. Seine Klauen hatten eine Verletzbarkeit gefunden, die Feli dae nur indirekt betraf. Aber mit welchen Folgen! Er hatte das Geflecht des Symbionten, das Riemenkleid, gleich an mehreren Striemen gepackt und wie die dicken Fäden einer Mario nette mit seinen mutierten Händen umfaßt. Damit nicht genug, hat te er dieses »Korsett« von Felidaes Haut weggerissen – und darunter nie verheilte Wunden sichtbar gemacht. Mehr als zweieinhalb Jahr hunderte alte, tödliche Verletzungen, die noch schmerzten wie am ersten Tag. Das war in Felidaes verzerrten Zügen deutlich zu sehen. In ihren schwefelgelben Augen, die wie ein kochender Geysir kurz vor der Eruption standen. Ihre Lippen öffneten sich, blieben aber stumm. Landru lachte böse. Und Lilith fragte sich, warum das Riemenkleid seine Trägerin nicht schützte. Dabei lag die Antwort auf der Hand: Das Kleid hatte damals schon in ständiger geistiger Verbindung zu Creannas Symbi onten gestanden. Es hatte miterlebt, was Landru während des Atten tats mit ihm angestellt hatte. Nun war es gelähmt von der Angst ei ner Wiederholung. Auch Liliths (Creannas) Symbiont hatte sich selbst in verzweifelter Situation geweigert, noch einmal gegen den Kelchhüter vorzugehen … Aber hier ging es nicht nur um Felidaes Existenz, sondern auch um die ihres Symbionten!
An diesem Punkt der Erkenntnis konnte Lilith sich nicht mehr zu rückhalten. Sie hatte erlebt, wie die Sphäre der Duellierenden sie ab gestoßen und zurückgeschleudert hatte. Dennoch wollte sie nicht ta tenlos zusehen, wie sich Landru nicht nur Felidaes für alle Zeit ent ledigte, sondern auch wieder den Lilienkelch in seinen Besitz brach te. Alles wäre umsonst gewesen. Die Vampire würden die lange Zeit ihrer Stagnation wahrscheinlich durch ein um so hektischeres Zeu gen von Nachwuchs vergessen machen. Was das für die Menschen und auch sie, Lilith, bedeutete, wollte sich die Halbvampirin gar nicht ausmalen. Sie warf sich durch die Reihe der Gerippe, die keinen einzigen Versuch unternommen hatten, sie anzugreifen. Sie standen nur vor der Sphäre wie Motten vor hellem Licht und vollführten groteske Unruhebewegungen. Lilith berührte die unsichtbare Wand – und erwartete den Stoß, den sie schon einmal gefühlt hatte. Diesmal war es anders. Diesmal schien die Barriere nachgiebig. Zäh zwar, aber wie eine sandige Masse, deren einzelne Körner man mit genügend Kraft ver drängen konnte und so zeitlupenhaft vorankam. Felidae war am Erhalt dieser Sphäre beteiligt gewesen. Ihr Kräfte schwund ließ sie durchlässig werden. In diesem Moment hörte Lilith Felidaes Schrei. Landru hatte die Riemen in seinen Klauen zerrissen! Liliths Ohren dröhnten unter dem Echo des Schmerzes, der sie auch auf geistiger Ebene erreichte. Sie sah Felidae sterben – und Landru siegen. Sie konnte die Schwefeläugige nicht rechtzeitig erreichen. Unmög
lich. Und der Kelch lag in noch unerreichbarerer Ferne … In diesem Augenblick ruckte Landrus Kopf herum. Sein triumpha ler Blick traf Lilith. Ohne nach unten zu sehen, zerfetzte er weitere Bestandteile des Geflechts um Felidaes Körper. Für ihn war das Me dium, in dem er steckte, ideal. Er war hundertmal schneller als die auf ihn zukriechende Lilith. Wie sehr er dies genoß, zeigte er offen. Zugleich spürte Lilith, wie sich der Symbiont an ihrem Körper in brennenden Schmerz verwan delte – und plötzlich gar nicht mehr fühlbar war. Es war, als hätte die Verstümmelung seines »Bruders« ihn endgül tig auch zerstört. Doch dann sah Lilith die Wahrheit. Und im selben Moment sah auch Landru es.
* Felidaes Erinnerung 1863-1896 Es war soweit. Jedes Ding verliert irgendwann einmal an Reiz. Auch das Schaffen besonderer, untoter Leben. Creannas Versuchung war geboren, und ich machte mich auf, sie zu finden. Meine Hinterlassenschaft in der Abteiruine war gering. Ich beseitigte die Spuren, so gut es ging. Nur die, von denen ich mir falsche Fährten für Landru oder andere Dienste erhoffte, entließ ich. Auch meine Helfer, die keinen Keim trugen, schickte ich mit ver
änderter Erinnerung zurück, woher sie kamen. Ihre Namen habe ich vergessen bis auf einen. John. Denn er hatte sich in eines meiner Ge schöpfe wahrhaftig verliebt; erstaunlich unter diesen Umständen. Zuletzt verließ ich selbst das Gemäuer, das ein Jahrhundert ohne Unterbrechung meine Zuflucht gewesen war. Ich reiste weiter Richtung Küste. Dort, in einem Ort, von wo aus man über das Meer die Insel Skye sehen konnte, stand das Haus der Lancasters, in dem gerade ein Knabe zur Welt gekommen war. Oh, was konnte ich gesittet und wohlanständig auftreten, wenn es darauf ankam. Die Familie Lancaster war eine der besseren zu jener Zeit, auch wenn ihre Blüte mit meinem Erscheinen den Höhepunkt überschritten hatte. Ich ging sehr behutsam vor, freundete mich mit der Frau des Hau ses an, nicht mit dem Mann, zu dem ich stets kühle Distanz wahrte – nun ja, zu Anfang jedenfalls –, und fand bald in ihr die beste Ver traute, die man sich wünschen kann. Natürlich wußte und ahnte sie nichts von meiner wahren Natur. Aber ich war klug und von der na türlichen Weisheit eines Alters und Erlebens, das diese Menschen sich nicht einmal vorstellen konnten. Die Konversation mit mir zog Margo, so der Name der Dame, wann immer ich es wünschte in den Bann. Ich faszinierte sie mit Episoden, die ich in veränderter Form tatsächlich erlebt hatte, und sie mußte sich wohl oft fragen, wie ein »Mensch«, noch dazu ihres Geschlechts, überhaupt soviel erleben konnte, denn dem Äußeren nach war ich nicht älter als sie selbst, Mitte Zwanzig. Es blieb nicht aus, daß ich häufiger Gast in ihrem Hause wurde, eingeladen stets von Margo, nie von ihrem Mann, dem ich lange nicht persönlich begegnete, weil er viel auf Reisen war. Er hatte einen kleinen Handel mit überseeischen Produkten, und das Kontor befand sich in der viele Meilen entfernten nächsten Hafenstadt. So kam es, daß Margo oft allein war und eine gute Freundin brauchte.
Zugleich war sie für ein Leben abseits der Großstadt geschaffen. Sie wäre nie von hier fortgegangen, und das wußte auch Robert, ihr Gatte. So lobend sie in seiner Abwesenheit über ihn sprach, so schwär merisch mußte sie ihm wohl auch von mir berichtet haben. Denn ei nes Tages wollte er sich nicht mehr hinhalten lassen und mich auch kennenlernen. Derweil hatte ich schon Bekanntschaft mit dem Knaben in der Wiege geschlossen. Sean war ein kräftiger Junge. Aber wohl nie mand außer mir ahnte, wofür er auch bestimmt sein würde. Er sollte einmal die Geschäfte seines Vaters übernehmen, so war es im Hause Lancaster vorgesehen. Noch ließ ich ihnen diesen Glauben. An dem Tag, da ich Robert kennenlernen sollte, setzte Margo kurzfristig eine böse Migräne außer Gefecht, die ich ihr am Vortag suggeriert hatte. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, floh jedem Hauch von Helligkeit, bestand aber darauf, daß meine Verabredung bestehen blieb. Robert würde sich meiner auch allein annehmen können, meinte sie. Nun, das tat er. Ich ließ ihn zappeln, aber, wie Männer nun einmal sind, er verfiel mir sofort. Daß seine Frau ein Stockwerk höher bei geschlossenen Vorhängen sich vor Kopfschmerzen fast krümmte und halb wahn sinnig wurde oder daß jederzeit ein Bediensteter hinzutreten konn te, hinderte ihn nicht, mir schon nach kurzer Zeit eindeutige Avan cen zu machen. »Aber Robert«, tadelte ich. Das Spiel genoß ich wohl. Schließlich hatte ich es von Beginn an darauf angelegt. Um ständig in Seans Nähe zu sein, war es ratsam, sich mit beiden Hausparteien gut zu stellen. Er lächelte wie ein Mann, der es gewohnt ist, von seinem Geld und
seiner Macht erotisiert zu sein. Ich war sicher, daß er es genoß, sein Kontor in der Stadt zu haben. Ganz sicher besaß er dort mehr als eine Mätresse, von der seine naive Frau nichts ahnte. Als er sich zu mir ans Kaminfeuer stellte, trug er ein Glas Portwein in der Hand – aber auch das hielt ihn nicht davon ab, die letzte höfli che Distanz fallenzulassen. Er drängte sein Becken spürbar gegen mein Gesäß, dessen Formen ihn ebenso wie die deutlich unter dem Kleid ablesbaren Rundungen meiner Brüste um den Verstand zu bringen schienen. Als ich mich nicht ernsthaft wehrte, stellte er das Glas auf den Kaminsims und legte jede Vorsicht ab. Seine Lippen gruben sich stürmisch in meinen Nacken – wo sie auf die Ausläufer des Riemengeflechts trafen. Das Kleid war ein Kleid, nur darunter schirrte mich das Korsett. Seine Hände preßten sich grob um meinen Busen, während die harte Wölbung, die sich im Schritt seiner Hose gebildet hatte, von hinten gegen meinen Schoß pochte. »Was ist das?« fragte er, mehr berauscht von mir als von seinem Getränk. »Eine Überraschung«, antwortete ich rauchig. Er meinte immer noch das Band um meinen Hals. »Wo … sind wir ungestört?« Oh, dieses männliche Siegergehabe. Wenn sie wüßten, wie lächer lich ihre Posen manchmal anmuten. Aber ich ließ ihm sein Hochgefühl. Ein deprimierter Liebhaber brachte mir nichts ein, und ich genoß es, sie ohne jegliche Hypnose um den Finger zu wickeln. »Komm!« Er führte mich in eine Kammer ganz am Ende eines Kor ridors, sagte »Warte!« und verschwand kurz. Als er wenig später zurückkehrte, lächelte er befreit und fiebernd zugleich. »Ich habe ar rangiert, daß wir ungestört sein werden.« »Wie?« »Das ist mein Geheimnis.«
Meines war viel gewaltiger. Deshalb ließ ich es dabei. Ich hatte be reits die Rückenverschlüsse meines Kleides geöffnet, und als er nun auf mich zukam, ließ ich es durch eine einzige geschmeidige Bewe gung zu Boden fallen. Die Augen quollen Robert fast aus den Höhlen. Sicher hatte er noch nie eine »Wäsche« wie die meine erblickt – und würde sie auch nirgends sonst zu sehen bekommen. Seine Zunge leckte über die austrocknenden Lippen. Ich bot ihm meine an. Gierig zog er mich zum Bett. Es war viel zu weich, aber ich stemm te mich Roberts Stößen entgegen, so daß wir doch erhielten, wonach uns der Sinn stand. Er hatte es nicht einmal mehr richtig aus den Kleidern geschafft. Aber das holten wir nach, kaum daß er sich ein erstes Mal in mich verströmt hatte. Oh, er schien es auch nicht gewohnt zu sein, nach Erreichen dieses Ziels sofort eine nächste Etappe ins Auge zu fassen. Aber was das anging, mußte er sich umgewöhnen. Und er war lernfähig. Gerade zu begierig zu lernen! Von diesem Tag an war Robert kaum mehr in seinem Kontor an zutreffen. Wohl auch nicht zu Hause. Er erfand immer neue Lügen, um sich an immer neuen Plätzen mit mir zu treffen. Bald mußte ich doch einschreiten, denn es wäre viel zu früh gewesen, Margo gegen mich aufzubringen. Es schien mir das Beste, auch mit ihr ein Geheimnis zu teilen. Und so verführte ich sie eines Tages, als sie mich bat, ihr beim Schminken behilflich zu sein. Ich machte ihr Komplimente ihr Aussehen betref fend und schlug zugleich vor, sie solle ihren Typ doch ein wenig verändern. Die Frisur, die Garderobe … Feuer und Flamme fragte sie sogleich um Rat, den ich ihr nicht vorenthielt. Sie schickte ihre Hausdame in den Ort, um ein paar Fär
bemittel und andere Kleinigkeiten zu besorgen. Vorher ließ ich ihr noch ein Bad herrichten. Und während ich sie wie eine Freundin von Kindheit an einseifte und mit weiteren Komplimenten ihrer Weiblichkeit bewußt werden ließ, berührte ich auch all jene Stellen, die sie allmählich vor mir in der Wanne schier zerfließen ließen. Meine Lippen auf ihren Lippen und meine Zunge an ihrer Zunge ließen schließlich alle Dämme in ihr niederreißen. Ich streichelte sie noch im warmen Wasser zu einem Orgasmus und verwöhnte sie später auf einem Diwan noch dort mit meiner Zunge, wo es kein Mann zuvor tat. Mit Roberts Phantasielosigkeit hatte ich schon vor her eigene, leidvolle Erfahrungen gesammelt … Am Ende mußte ich doch meine speziellen Fähigkeiten einsetzen. Nicht weil Margo plötzlich Gewissensbisse bekam – nur, weil ich vermeiden wollte, daß sie irgendwann meinte, etwas Verbotenes und Unverzeihliches begangen zu haben. Ich wollte ihre Herzensfreundin auch über diesen lustvollen Tag hinaus bleiben. Und so geschah es. Derweil ich nun ein fast ständiger Gast im Hause Lancaster wur de, wuchs Sean zu einem prachtvollen Jungen heran, und ich be gann mit den ersten Behandlungen ihn betreffend. Über Jahre hinweg konditionierte der Kelch ihn. Aber nie geschah es so, daß er sich in seinem späteren Leben an diese Vorgänge seiner Kindheit hätte erinnern können. Mein Aufenthalt bei den Lancasters ging mit Eintritt von Seans Geschlechtsreife seinem Ende entgegen. Bis dahin war ich auch auf anderem Gebiet nicht untätig geblieben. Ich hatte Robert unmerklich von einem geschäftlichen Desaster ins nächste gesteuert, und als Sean seinen zwölften Geburtstag feierte, war das traditionsreiche Unternehmen de facto bankrott. Es war nur noch eine Frage von Ta
gen oder Wochen, daß sich Robert vor den Gerichten verantworten mußte, denn ich hatte auch einige Betrügereien angezettelt. Daß das LICHT Sean erwählt hatte, war nicht zu kritisieren. Aber sein Umfeld war denkbar ungeeignet für das unvermeidliche Zusam mentreffen mit Creanna. Wenige Tage vor seiner Verhaftung überredete ich Robert und Margo, den Jungen wenigstens für die Dauer der Prozesse aus der »Schußlinie« zu bringen. Ich schlug ihnen eine eher ärmliche Ver wandtschaft auf der Insel Skye vor, die sich einige Zeit um ihn küm mern konnte. Natürlich willigten sie ein. Sean selbst verstand das al les noch nicht. Und es gab keinen Anlaß, ihn klüger zu machen, als er war. Wenige Tage nach seinem Verbringen auf die Insel beging Margo mit großen Mengen Schlafpulver Selbstmord – und auch Robert überlebte sie in der Zelle seiner Untersuchungshaft nur unwesent lich länger. Ich gestehe, in beiden Fällen half ich etwas nach. Nun gut. Von dieser Zeit an wirkte ich wieder im Verborgenen. Ich verfolg te Creannas Tun über den Symbionten – und beobachtete Sean, der nun ein unsichtbares Mal trug, ohne daß er je etwas davon erfahren hätte. Sein Leben im Wohlstand wurde mehr und mehr zu einer ver schwommenen Erinnerung, zumal seine Pflegeeltern anständige Leute waren und er es gut bei ihnen hatte. Es gab nichts zu erben außer Schulden, und daran war niemand interessiert. Sean wuchs in bescheidensten Verhältnissen auf. Auch als seine Vormünder starben, blieb er auf Skye, bis er 33 Jahre alt war. Dann fand ihn Creanna. Und auch Landrus Weg führte nach Skye – ich weiß bis heute
nicht, ob es wirklich Zufall war. Ich erfuhr nur über den Symbionten von der Beinahe-Katastrophe, die Creanna und Sean zur sofortigen Flucht nach Australien trieb. Ich fuhr auf demselben Schiff nach Sydney. Ich war dabei, als sie das Haus bezogen und es präparierten. Mit der Magie, die Creanna vom LICHT in Beinn Dearg erhalten hatte. Und dem, was ich noch beisteuerte. Und lange vor Creanna wußte ich, daß eine Frucht in ihrem Ute rus reifte, an der sie sterben würde …
* Gegenwart In dem Moment, als Felidaes Erinnerungsimpulse aus dem Kelch versiegten, fühlte Lilith sich von einer Last befreit. Sie nahm sich keine Zeit, über das Erfahrene nachzudenken. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf den Symbionten. Ihren Symbionten! Während sie selbst nur mühsam durch die magische Sphäre vor ankam, schien ihr Kleid solcherlei Hemmnisse nicht zu kennen. Es glitt von ihr herab und überließ damit seinen Wirtskörper sich selbst. Der Zwang, seinem »Bruder« um Felidaes Körper zu Hilfe zu ei len, mußte unwiderstehlich sein. Selbst die Erinnerung an den Schreckenstag in Prag verblaßte wohl vor dem Wissen, daß der an dere Symbiont vernichtet würde, wenn nichts zu seiner Rettung ge schah … Felidae war nicht mehr in der Lage, sich zu verteidigen. Sie lag im
Sterben. Landru hörte nicht auf, ihr Korsett zu zerstören, die Wur zeln dort herauszureißen, wo sie zermalmte Knochen zusammen fügten, nie heilende Schnitte nähten. Mitleid war ihm fremd. Es machte ihn seiner Gegnerin so ähnlich … Diese beiden Wesen, begriff Lilith erschüttert, hätten die Welt aus den Angeln heben können – wenn sie sich einig gewesen wären. Das waren sie nicht. Und bald würde es auch nur noch einen Kelchhüter geben! Als Landru den zweiten Symbionten auf sich zukriechen sah, ebensowenig von dem zeitlupenhaften, alles verlangsamenden Ef fekt betroffen wie er, hielt er kurz inne. Es war zu sehen, wie es hin ter seiner Stirn arbeitete. Plötzlich glitt er von Felidae herunter und ließ die Fetzen des Rie menkleids wie Wasser durch seine Klauen rinnen. Lilith versuchte ihr eigenes Tempo zu beschleunigen. Aber noch immer hinderte sie unsichtbarer Treibsand, watete sie wie durch eine breiige Masse. Ihr Symbiont dagegen forcierte sein Tempo noch und näherte sich weiter den beiden Kontrahenten. Landru schien kein Risiko mehr eingehen zu wollen. Er klaubte den Kelch vom Boden auf, hielt kurz inne, als müßte er den Moment konservieren, da er ihn nach so langem Verlust wiedererrungen hat te – und rannte dann mit ausgreifenden Sätzen aus der Sphäre hin aus. Fort in die Nacht. Fort von einem Schlachtfeld, wie nur er es hinterlassen konnte. Liliths Blicke folgten ihm noch, bis er die Museumshalle verlassen hatte. Mit einiger Verspätung erlosch die Sphäre. Ringsum stürzten ihres
unwirklichen Halts beraubte Skelette zu Boden. Lösten sich in ihre morschen Bestandteile auf. Und noch zweierlei geschah: Die erstarrten Fetzen des Riemenkleids gerieten wieder zögerlich in Bewegung, zogen sich dann aber immer schneller zu ihrer Träge rin zurück, wo sie mit einer Art Reparatur begannen. Und Liliths eigener Symbiont kehrte um und glitt zu ihr zurück, als gäbe es für ihn nun nichts anderes mehr zu tun. Lilith konnte sich nun um Felidae kümmern – oder Landrus Ver folgung aufnehmen. Die Entscheidung fiel leicht. Er besaß den Kelch – und damit das Werkzeug, das ihn in die alte neue Position als Kelchhüter rückte. Soweit durfte es nicht kommen. Noch war er vermutlich selbst von seinem leichten Sieg verblüfft – und angreifbar. Aber das konnte sich mit jeder verstreichenden Se kunde ändern. Wenn es nicht gelang, ihm den Lilienkelch wieder zu entreißen oder den Kelch zu vernichten, würde der Krieg zwischen Mensch und Vampir nie enden. Lilith hetzte hinter Landru her. Felidae blieb zurück. Die Riemen auf ihrem geschundenen Leib sa hen aus wie häßliche schwarze Schlangen, die den Kadaver einer Toten bewachten.
* Uruk
»Ein Tor«, sagte Kravetz. Es war Nacht, aber eine Ahnung von kommender Morgenhelle lag bereits über Himmel und Wüste. Die Sterne, die hinter der Plane hervorlugten, die die Grabungsstelle überspannte, schienen in glei chem Maße ihren Glanz einzubüßen, wie die »Drohung« des neuen Tages fortschritt. Duncan Luther stand zwischen Kravetz und Romano am Ende ei ner zweiundzwanzigstufigen Treppe, von der er – auf sich allein ge stellt – bis zum Ende des Tages nicht mehr als fünf weitere Ab schnitte hatte freischaufeln können. Erst als die beiden Toten wieder zu ihm gestoßen waren, war es ihnen im Laufe der Nacht gelungen, bis zum Ende des steil nach unten führenden Verlaufs zu gelangen. Mit den Stufen hatten sie zugleich auch eine senkrechte Steinwand freigelegt, auf welche die Treppe in einem Winkel von 45 Grad zu lief. Und in dieser Wand befand sich ein Tor. Es war mit ähnlichen Ru nen übersät wie auch schon die Seitenabstützungen der Treppe. Symbole unbekannter Bedeutung. Dies hatte einige Verunsicherung hervorgerufen. Bislang waren sie der unerschütterlichen Überzeugung gewesen, nicht nur willkom men zu sein, sondern auch erwartet zu werden. Es war wie immer: Keiner wußte, woher diese Erwartungshaltung rührte, aber sie war da. »Wie können wir es öffnen?« fügte Kravetz seinen Worten hinzu. Er erhielt keine Antwort. Duncan trat vor und legte die Hand auf eine der runenhaften Ein prägungen. Er lauschte in sich hinein, als hoffte er, die Schrift über den Tastsinn lesen zu können. Er konnte es nicht. Aber offenbar nahmen es die beiden Toten zum
Anlaß, seinem Beispiel zu folgen. Im nachhinein war nicht mehr wichtig, wann genau und durch wessen Berührung das Knirschen einsetzte. Jedenfalls schwoll es mehr und mehr an und erstarb auch nicht mehr, als die drei Männer zurückwichen. Vor ihnen glitt, sehr bedächtig, die schwere Steinplatte in den Bo den. Als ihre Oberkante etwa in Brusthöhe angelangt war, wurde deutlich, daß die Platte fast zwanzig Zentimeter stark war. Welcher Mechanismus sie nun absenkte, blieb ihnen verborgen. Hinter der Platte lag gähnende Finsternis, die auch den Augen von Toten Probleme bereitete. Niemand redete ein Wort. Erst lange nachdem die Platte vollstän dig im Boden verschwunden war und glatt mit ihm abschloß, fragte Duncan: »Spürt ihr es?« »Was?« Romano scharrte mit dem Fuß. »Den … Wind …« »Da ist kein Wind«, sagte Kravetz. »Da ist nur Stille.« Duncan hatte keine Lust, deswegen zu streiten. Er meinte immer noch den leisen Zug zu spüren, der ihn in die Öffnung zu atmen versuchte. Aber es war kein Problem zu widerstehen. Vielleicht war aber gerade dies das Problem. Denn er wollte gar nicht gegen die Sehnsucht, durch das Tor zu schreiten, ankämpfen. »Ich glaube, da … kommt etwas«, sagte Kravetz. Er hatte recht. Etwas kam auf sie zu. Etwas Wunderschönes.
*
Die Frau war zeitlos jung. Ihr Haar fiel glatt und seidig über Schul tern, die wahrscheinlich nur ihres Umhangs wegen breit und mus kulös wirkten. Sie war blond, mit schmalen, klar und unschuldsvoll geschnittenen Zügen. Ihre Augen blickten scheu zu den drei Män nern, denen sie sich bis auf eine geringe Distanz näherte. Die Dun kelheit (oder was immer den Raum, in dem sie sich aufhielt, ausfüll te) wich vor ihr zurück. Die Silhouette der schönen Frau wirkte wie mit einem silbernen Stift nachgezogen. »Wo ist die Erlöserin?« fragte sie. Was für wunderbare Lippen sie hatte. Sinnlich und unverdorben. Duncan, der ihr genauso nah oder fern war wie jeder des Trios, hat te den morbiden Gedanken, sie solle sich in die Unterlippe beißen. Ein Tropfen Rot, der über ihr blaß-zartes Kinn ranne, mußte eine überwältigende Wirkung erzielen. »Wo ist die Erlöserin?« wiederholte die sanfte, wie mit Samt aus geschlagene Stimme. »Die Erlöserin?« fragte Duncan, von einem Schwindel ergriffen, dem er nur mühsam widerstand. Zugleich meinte er, der Luftzug aus der Öffnung sei stärker geworden. »Wo ist sie? Nur ihr gebührt der Zutritt – oder jedem in ihrer Be gleitung.« »Wer bist du?« mischte sich Romano ein. Kravetz schwieg. Er blickte nur verklärt auf die unerwartete Er scheinung. »Ich bin die Wächterin dieses Tores. Ich wache und warte seit Äo nen. Ich kenne keine Ungeduld …« »Du willst uns den Zutritt verwehren?« vergewisserte sich Dun can. Er hatte plötzlich das Gefühl, dieses Lüftchen, das er wahr nahm, könnte Vorbote eines Sturms sein. Einer verheerenden, zerset
zenden, sie strafenden Kraft … Die Schöne lächelte. Sie hatte den Umhang vor der Brust überlap pend zusammengeschlagen und hielt seine oberen Ränder mit fein gliedrigen Fingern fest. Die sichtbaren Nägel schimmerten lack schwarz, und es mochte an den merkwürdigen Lichtverhältnissen liegen, daß diese Schwärze wie finstere, dahinrasende Wolken aus sah. »Nein«, sagte sie. »Nie würde ich jemandem verbieten, zu mir zu kommen … Ihr kennt die Erlöserin?« »Nein!« schnarrte Romano. Duncan wünschte, er hätte es nicht getan. Plötzlich sahen auch die Augen der Frau aus, als zöge dahinter ein brodelndes Gewitter auf. Kravetz seufzte. Duncan hatte keinen der beiden Toten je seufzen gehört – in der ganzen Zeit, die sie zusammen waren, nicht. Und bevor er ihn zurückhalten konnte, trat Kravetz über die Schwelle. Ging der Schönen, die in geringer Distanz dahinter warte te, entgegen. »Dieser Narr«, sagte Romano emotionslos. Aber ein wenig klang auch Verständnis darin. »Kommt«, sagte die Wächterin in diesem Moment. »Ja, kommt alle … Es ist schön hier. Ihr werdet nie mehr fort wollen …!« Noch mehr wurde sie zur Versuchung. Noch mehr verkörperte sie Wünsche, die offenbar auch Toten gefährlich werden konnten – zu mindest, wenn es sich um solche Toten handelte. In dem Moment, als auch Romano den Lockungen der Sirene erlie gen wollte, schoß Duncans Hand hoch und umklammerte seinen Arm.
»Nein …« Kravetz hatte sein Ziel noch nicht erreicht. Aber er ging auch sehr langsam. Und seltsam: Mit jedem Zentimeter, den er sich von der Schwelle entfernte, wirkten seine Bewegungen träger und zäher, als bliese auch ihm plötzlich ein Wind von Sturmstärke entgegen. Zu gleich gab es dafür aber kein einziges anderes Indiz. Seine Haare zit terten nicht einmal. Ebensowenig wehte oder flatterte seine weitge schnittene Kleidung. Er drehte sich – geradezu bizarr langsam – zu ihnen um und öffne te den Mund. »Eeeuuurrr kööönnnnnnt koammenn …« Romano schüttelte sich wie ein begossener Pudel. »Was – bedeutet das?« wandte er sich an Duncan. »Ich hoffe, nicht das, was ich glaube …« »Und das wäre?« »Daß wir nicht willkommen sind.« »Aber sie sagte …« Romano verstummte. »Sie sagte«, nickte Duncan. Seine Hand hielt Romano immer noch fest. Er wagte es nicht, ihn loszulassen. In diesem Moment, noch bevor Kravetz bei ihr war, öffnete die Frau ihren Umhang. Darunter war sie nackt, und sie besaß den per fektesten Frauenkörper, den Luther je gesehen hatte. Er hatte dies immer von Lilith geglaubt, aber nun … Kravetz hatte wieder das Gesicht geradeaus gewandt. Er sah eben falls, was ihnen (und ganz besonders ihm) dargeboten wurde. Mit ei nem alles versprechenden Lächeln trat die Schöne ihm entgegen. Ihre seitlich von sich gestreckten Arme hielten immer noch den Saum des Umhangs und ließen ihn wie ausgebreitete Flügel erschei nen. Als sie Kravetz erreichte, umschlang sie ihn und deckte seinen
Rücken mit den Fittichen zu. Duncan und Romano beobachteten, wie sie Kravetz küßte. Nein, mehr. Sie vergewaltigte ihn förmlich mit ihrem Mund. Sie selbst war in ihren Bewegungen nicht eingeschränkt. Kravetz stand puppen haft da. Man sah nur seinen Hinterkopf – und ihre lüsternen Bewe gungen. Das fordernde Streicheln, das Wiegen und Reiben ihrer Hüften an dem Mann … Plötzlich hielt sie inne. Ohne die Umarmung zu beenden, schob sich ihr Gesicht an Kravetz’ Kopf vorbei, so daß die beiden Warten den wieder das reine Gesicht der Schönen erkennen konnten. Sie legte ihr Kinn verliebt auf die Schulter des Mannes, der sich nun gar nicht mehr bewegte. Auch nicht langsam. Duncans Ahnung von Gefahr wuchs ins Unendliche. »Da …«, keuchte Romano. »Sie – weint …!« Es war keine Träne. Jedenfalls kein Ausdruck von Trauer. Aus einem ihrer Augen löste sich ein praller Blutstropfen … und rollte ihre Wange hinab. Er hinterließ keine Spur. Und im nächsten Moment verging alle Schönheit. »Ihr werdet nie sein Glück erfahren!« keifte der zynisch verbogene Mund. Es war der letzte menschliche Ton. Der schöne Frauenkörper verging wie in einer Eruption aufquel lenden Fleisches. Die makellose Haut warf Blasen, formte sich neu und wucherte dabei wie eine Krebsgeschwulst im Zeitraffer. Als es vorbei war, hielt ein blutrünstiges Ungeheuer Kravetz in seinen Armen, zerriß und verschlang ihn.
*
Auch Romano machte einen Schritt über die Schwelle – als könnte er noch etwas für einen Verlorenen tun. Aber das war unmöglich. Alles, was er erreichte, war, daß sich das Monster nun ihm zu wandte. Es sah aus wie ein krötenhaft kauerndes, pockennarbiges Gebirge. Aber es bewegte sich auf seinen acht Beinen, als gäbe es keinen idea leren Körper in dieser Umgebung, um Eleganz zu zelebrieren. Da war nichts mehr von der schönen Frau, nichts mehr von einem Men schen. »Icchh binnn derrr Wächchterrr dess Toress«, knirschte die Stim me des Ungetüms wie zerberstender Stein. Dann sprang es. Duncan konnte Romano gerade noch zurückreißen. Schreiend stürzten sie beide rückwärts auf die Stufen der Treppe. Sie sahen das Ungeheuer bereits über sich, sie zermalmend unter seinem tonnenschweren Gewicht und zerfetzend unter messerschar fen Nägeln und Zähnen. Aber hinter der Schwelle stand die blonde Schönheit und zog einen Schmollmund. Duncan richtete sich auf. Im Grunde seines Seins drängte es ihn noch immer durch das Tor, und er wußte, daß Romano ebenso emp fand. »Was hast du vor?« fragte der Tote. Ich weiß es nicht, dachte Luther. Er war nur eine winzige Distanz von der Bestie entfernt. Sie stand unmittelbar hinter der zwanzig Zentimeter starken Linie, die nichts anderes war als die Oberkante des versunkenen Steintors. Jetzt erst fiel Duncan auf, daß sich auch auf diesem Streifen Runen
befanden. Magische Symbole, die den Übertritt des Monsters ver hinderten? Es kam nicht zu ihnen. Es schien nicht zu ihnen zu können. »Ihr kennt die Erlöserin?« fragten die Lippen, die gerade Kravetz gefressen hatten. Weder Blut noch Tränen standen in dem engels gleichen Gesicht. »Zur Hölle mit deiner Erlöserin!« fluchte Duncan. Es tröstete ihn kaum, daß Kravetz schon nicht mehr wirklich gelebt hatte. Was war denn wirkliches Leben? Sein eigenes konnte auch nicht mehr so benannt werden, und doch ging es ihm gut oder dreckig, konnte er immer noch leiden. »Ja«, sagte sie. »Ja!« lachte Romano. Es klang ein klein wenig irre. Duncan setzte sich zu ihm auf die Stufen. »Du willst es auch«, sagte er, »oder?« »Was?« »Hinein!« Romano schwieg. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »So ist es nicht.« »Nicht?« »Ich will nicht, ich muß hinein.« Duncan nickte. »Dann komm. Ich habe eine Idee …« Gemeinsam stiegen sie die Treppe zurück nach oben. »Ihr kommt wieder«, höhnte das Monster. »Ihr kommt bestimmt wieder!« Es war gut möglich, daß es recht behielt – aber auch, daß seine Freude darüber verfrüht war …
* »Es ist körperlich«, sagte Duncan bestimmt. »Ich weiß nicht, was es ist, aber es scheint greifbar!« »Vielleicht«, entgegnete Romano. »Sicher! Es war kein Trugbild. Es mag uns mit seinem Aussehen narren, aber es ist materiell. Es scheint mit der Zeit zu spielen. Wie Kravetz sich vorwärtsbewegte … Je näher er ihm kam, desto langsa mer wurde er!« »Es nicht.« »Nein, es nicht.« »Vielleicht liegt es an dem Gang hinter dem Tor und nicht an der Bestie«, warf Romano ein. »Vielleicht läuft die Zeit dort generell an ders ab.« »Und das Monster? Es war davon völlig unabhängig.« Romano schüttelte den Kopf. »Wir werden es nie begreifen – und selbst wenn, es gibt kein Vorbeikommen an einem solchen Wesen!« »Wer redet von Vorbeikommen?« entgegnete Luther. »Wir brau chen eine List. Es muß seine Gründe haben, warum es nicht zu uns herauskam, obwohl wir ihm nie hätten ausweichen können!« Dann verriet er Romano seinen Plan. Der sah ihn leer an. Schließlich nickte er. »Einverstanden.« Es kann nicht gutgehen, dachte Duncan Luther. Warum tue ich Narr das? Weil er mußte. Weil in ihm etwas drängte und drangsalierte. Etwas, dem er auf Dauer so wenig wie Romano widerstehen konnte. Es würde sie wie
Kravetz durch das Tor schicken, und es war ihm egal, ob dort ein Ungeheuer lauerte oder nicht. Sie mußten den Weg vorher freimachen! »Ich wußte, daß du mich nicht verläßt«, sagte das attraktive Mons ter. Es trug wieder seinen Umhang und sonst nichts. Verführerisch stand es dicht hinter der Schwelle und gewährte Luther Einblicke, die ihn – er erkannte es mit Grausen – nicht kaltließen. Seine Hand umfaßte den Schaft des Holzes fester. »Was hast du da?« fragte die Kreatur. »Ein Geschenk.« »Aaah …« Sie schürzte die Lippen. Luther glaubte sich in dem Nässefilm spiegeln zu sehen – aber er besaß kein Spiegelbild mehr. »Ich fürchte«, bedauerte sie, »ich bin nicht bestechlich … Außer dem: Es gefällt mir nicht.« »Das hoffe ich«, erwiderte Luther rauh. Er holte aus. In stundenlanger Arbeit hatten er und Romano aus einem Stück Eisen und einem starken Holzstiel eine Harpune geformt – zumin dest sah das Ergebnis verdächtig nach einem großen Widerhaken aus. Mit aller Kraft, zu der er fähig war, stieß er die Waffe vor. Er wuß te, daß sie direkt hinter der Schwelle auf unsichtbaren, bremsenden Widerstand stoßen würde. Aber zugleich stand das Ungeheuer so überheblich nahe, daß es funktionieren konnte. »Jetzt!« brüllte Luther, als die Spitze den Umhang und das dahin terliegende Fleisch durchbohrte. Die Bestie lachte. Ihr Blick war auf das Spielzeug gerichtet, das zwischen ihre üppigen Brüste gedrungen war. Schmerz schien sie nicht zu empfinden. Hochmut glitzerte in ihrem Blick. Sie sah, daß
Luther das Ende des zu ihm herausragenden Holzschaftes mit bei den Händen umschlossen hielt, als wollte er sie mit weiteren Stößen attackieren. Blitzschnell wich sie zurück. Luther hatte damit gerechnet, trotzdem wurde er fast über die Schwelle gerissen. Er ließ los. »Jetzt, verdammt!« brüllte er noch einmal. Endlich fuhr der von Romano gesteuerte Jeep oben an. Das taudi cke Seil, das mit dem Ende des Harpunenschaftes verbunden war, spannte und straffte sich binnen einer Sekunde zum Zerreißen. Aber es hielt. Es hielt, was Luther sich davon versprochen hatte. Das Monster jenseits der Schwelle wurde von der Wucht von fast hundert Pferdestärken überrascht. Es hätte die Harpune wie ein Streichholz knicken oder das Seil kappen können. Aber es begriff zu spät die Absicht, mit der Luther das »Spielzeug« geschleudert hatte. Bis zuletzt hatte er das Seil mit seinem Körper verdeckt. Und nun … … floh er stolpernd die Treppe hinauf. Rannte wie noch nie in seinem Leben. Er bildete sich ein, den fauligen Atem im Nacken zu spüren. Den Odem des Ungeheuers. Niemand konnte wissen, ob der Torwächter die Außenwelt tat sächlich fürchten mußte. Vielleicht sah er auch einfach keinen Grund, herauszutreten. Luther drehte sich um. Der Schrei des Ungetüms zerriß die Plane über der Grabungsstät te. Ein Sturm zog auf. Steinpartikel platzten vom freigelegten Trep
penverlauf und stoben wie Granatsplitter durch die Luft. Das Monstrum, das Kravetz verschlungen hatte, längst nicht mehr die wunderschöne Frau, wurde mit einem Ruck ins Freie geschleu dert. Und hier verstummte der Schrei binnen einer Sekunde, legte sich der Orkan. Luther starrte auf ein rasend schnell alterndes, mumienhaft schrumpfendes, hundert Metamorphosen durchlaufendes Unwesen, das nicht fassen wollte, was mit ihm geschah. Noch im Sterben riß es sich die Harpune aus dem Leib. Es spürte gar nicht, daß ein gewalti ger Fetzen dorrenden Fleisches mit herauskam. Es versuchte zurück hinter die Schwelle zu kriechen, zurück in die leere Schwärze, die sich nun kaum merklich mit Substanz zu füllen schien. Luther ballte die Fäuste und biß die Zähne aufeinander. Er wußte, daß alles umsonst war, wenn das Monstrum sein Ziel erreichte. Es schaffte es nicht.
* Romano beugte sich zu der flockigen, rußigen, unansehnlichen Mas se hinab, die von dem »Wächter« übriggeblieben war. »Wen mag es mit ›Erlöserin‹ gemeint haben?« Luther bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Deine Schwerhö rigkeit hätte mich fast umgebracht.« Romano sah auf. Er lächelte düster. »Vielleicht wäre es auch an der Zeit …« »Halt den Mund und nimm das Seil!« Romano griff zu.
Luther überwand einen letzten Widerwillen – und gab dann dem unterdrückten Sehnen nach, das nichts anderes von ihm erwartete, als die Schwelle zu übertreten. Das Seil, das Romano umklammert hielt, war um Luthers Brust gebunden. Der andere konnte ihn jeder zeit zurückziehen … Aber das wurde nicht nötig. »Es ist vorbei!« signalisierte ihm Luther, als er ein gutes Stück ins Innere des Korridors vorgedrungen war und immer noch keinerlei Anzeichen spürte, daß die Zeit ihn bremste. Natürlich hätte dies sein subjektives Empfinden sein können. Aber dann wäre Romano ihm jetzt nicht gefolgt. Er hätte gemerkt, wenn immer noch alles verlangsamt wäre. »Offenbar«, sagte er, als er bei Luther ankam, »war es doch der Wächter, der diesen Effekt hervorrief.« Luther knotete das Seil auf und ließ es fallen. »Offenbar.« Der Korridor war breit wie ein Eisenbahntunnel. Seine Wände be standen aus einer glatten, undefinierbaren Masse. Es gab kein Licht und kein Dunkel. Zumindest konnte auch Luther problemlos sehen. Und er sah einen Korridor, der vor ihnen, leicht abfallend, scheinbar in die Unendlichkeit zu laufen schien. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, setzten sie sich in Bewegung. Die Sehnsucht lockte sie in die Tiefe. In die Ewigkeit … ENDE
Adrian Doyle = Manfred Weinland Manfred Weinland =??? Lebensläufe können lang- oder kurzweilig sein, erfreuen oder übel aufstoßen. Dies liegt meist an der Person, die sie verfaßt hat – und erst in zweiter Linie an der Person, die sie liest. Man taucht ja eigent lich gerne in die tieferen Gründe von Menschen, die einen interessie ren – und genau da beginnt die Schwierigkeit: Es gibt nichts Schwe reres, als über sich selbst zu reden. Andere darf man lobhudeln – bei sich selbst sollte man es tunlichst vermeiden. Zumal man nie genau weiß, ob man dazu Anlaß hat. So viele Geschmäcker es gibt, so un terschiedlich wird das Geleistete beurteilt. Damit muß man leben, auch wenn es – mir zumindest – nicht immer leicht fällt. Ich schreibe. Ich verdiene mein Geld damit … Aber das ist nicht al les – es kann gar nicht alles sein. Irgendwann fängt es an. Man liest. Man beschäftigt sich mit dem, wofür man fiebert, bei dem man mit fiebert. Man kann es oft kaum erwarten, bis eine Woche um ist (oder zwei) und man wieder eine ersehnte Fortsetzung seiner Lieblings heftserie in der Hand hält. Bei mir war dies in allererster Linie Perry Rhodan, und damals spielte es wirklich keine Rolle, in welchem Ver lag diese Lektüre erschien. Vielleicht spielt es heute eine Rolle, wenn man wieder den eigenen Broterwerb in den Vordergrund stellt. Aber damals hat man so ein Heft genommen und sich schnell in den stillsten Winkel verkrochen, der gerade verfügbar war (notfalls hat man laute Winkel zu stillen gemacht – meist genügte es da schon, das Heft aufzuschlagen, und man war sonstwo … mit der MARCO POLO in Gruelfin … mit Perry in Naupaum, wohin es sein geklau tes Gehirn verschlagen hatte …).
Noch heute erinnere ich mich manchmal, wenn es die Situation ge rade heraufbeschwört, an Gerüche, die mich damals bei meinen klei nen Fluchten umgaben. Oft las ich im Keller, weil ich da wirklich meine Ruhe hatte. Und ich höre immer noch meine Mutter, die mich mahnte, mich nicht immer dort unten in der feuchten Kälte herum zutreiben (alte Keller sind feucht und kalt, aber nicht so sehr, daß sie einen Zwölfjährigen schrecken könnten). Damals, dort im Keller, den ich mir so heimelig wie möglich her richtete, machte ich auf einer klapprigen, mechanischen Schreibma schine auch meine ersten eigenen »Gehversuche«. Ich schrieb – erst für mich, später sandte ich die fertigen Kurzge schichten stolz zu jener Adresse, die auf den PR-Leserseiten abge druckt war und an deren Ende immer ein so freundlich klingendes Bis in einer Woche. Euer Willi Voltz stand. Willi (Wilhelm »William«) Voltz war zu jener Zeit und auch noch lange danach, während schon meine eigenen Romane veröffentlicht wurden, ein unerreichbares Idol. Kein Idol wie ein Popstar (solche Anwandlungen hatte ich nie), aber einer, den ich immer wegen sei ner Art der Schilderung bewunderte. Als er starb, las ich Perry schon nicht mehr so enthusiastisch, aber es traf mich trotzdem wie ein Schlag in die Magengrube, und noch heute – mehr als zehn Jahre später – frage ich mich manchmal, was dieser Mann noch alles hätte schreiben, womit er mich in den Bann hätte ziehen können … Ich schreibe, denke ich, einen ganz anderen Stil als er – und den noch hat er mich geprägt. Er und vielleicht noch zwei, drei andere Autoren, aber wenn ich ehrlich bin, glaube ich schon, einen eigenen Stil gewonnen zu haben (wie gesagt, es ist schwer, so etwas über sich selbst zu sagen). Und es dauerte »unendlich« lange, bis ich eine Plattform dafür gefunden hatte. Manche werden es wissen, daß ich schon relativ früh ins »Heftge schäft« kam. Meine erste Veröffentlichung war ein Silber Grusel Kri
mi unter dem Agenturpseudonym Roger Dämon, und der Verlag ver paßte ihr einen Titel, der mich schon damals maßlos ärgerte, weil ich ihn für absolut dümmlich halte: Das Schattenreich läßt zittern. Der Ro man selbst war sicherlich auch kein Meisterwerk – aber er war mein erster Schritt auf dem so reizvollen Parkett. Warum es ein Gruselroman wurde, obwohl mein damaliges Inter esse eigentlich bei der Science Fiction lag, hatte den simplen Grund, daß ich – im Fandom relativ rührig – über fünf Ecken von einem hörte, der junge Autoren unter Vertrag nahm und förderte. Dieser Jemand war Jürgen Grasmück (Dan Shocker), und er schaffte das Kunststück, besagten Erstling und später immer mal wieder einen anderen Roman von mir bei den Verlagen unterzubringen. Nach zweimaligem Zauberkreis-Gastspiel war das in erster Linie Bastei mit der Reihe Gespenster-Krimi und den Serien Professor Zamorra und Damona King. Damals begann auch die Freundschaft zu Werner Kurt Giesa (Ro bert Lamont), die bis heute gehalten hat und hoffentlich nie aufhört. Über Werner weiß man vermutlich mehr als über mich, erwähnt sollen aber hier unsere Co-Produktionen sein, die wir zwar mit Ein verständnis der Agentur, aber nicht immer mit Wissen der jeweili gen Redakteure schufen. Zwei Gespenster-Krimi Trilogien und meh rere Einzelromane sowie ein Taschenbuch kamen dabei heraus. Und es machte Freude ohne Ende, Texte ohne Ende hin und her zu schi cken, bis einer von uns den geforderten Umfang erreichte und das Zauberwörtchen ENDE darunter tippen durfte. Manchmal auch ENDE des 1. Teils, das gab dann gleich ein ganzes Honorar für jeden von uns, weil wir uns zu einem Doppelband entschlossen hatten. Damals hatte ich noch nicht meinen eigenen Stil gefunden. Ich lehn te mich da sehr an Werners Art zu schreiben an, und wer seine prä genden Vorbilder sind, weiß er selbst besser. Zerschlagen hat sich diese Co-Arbeit an seiner eigenen Auslastung
und auch daran, daß ich etwa drei Jahre lang überhaupt keine Lust mehr zum Schreiben hatte. Nachdem ich verdaut hatte, daß man für Zamorra keine Manuskripte mehr von mir wollte, beschäftigte ich mich erst einmal mit Freizeit. Einen »bürgerlichen« Beruf hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch: Bis 1992 führte ich die Werbeabteilung eines Unternehmens in meiner Heimatstadt Zweibrücken. Doch dann geschah einiges, was in mir wieder den Glauben an die Machbarkeit aufkommen ließ, das Hobby, die eigentliche Leiden schaft, zum Beruf zu machen. Der Wiedereinstieg in die Schreiberei wurde mir leicht gemacht. Über den Mitternachtsroman knüpfte ich neue Kontakte zum Bas tei-Verlag. Ich weiß nicht, ob es damals überhaupt eine Rolle spielte, daß ich Jahre zuvor schon für dieses Haus geschrieben hatte. Jeden falls erhielt ich Chance um Chance, durfte Jerry Cotton schreiben und mich eigentlich überall dort versuchen, wohin es mich selbst irgend wann drängte. Beim Trucker King kam der erste Kontakt mit Michael Schönenbröcher zustande, meinem jetzigen Vampira-Redakteur, der mich auch in Dino-Land schleuste und mich – nach dem planmäßi gen Abschluß der Kurzserie – mit dem Anruf überraschte: Wir beide machen eine neue Serie. Überleg dir mal was mit einer Vampirin … Vielleicht ist es nicht original zitiert, aber sinngemäß kommt es hin. Er fiel mit der Tür in ein Haus, das nur zu bereitwillig öffnete, obwohl ich genau zu diesem Moment in der zeitraubenden Buchbe arbeitung alter Ren Dhark-Hefte steckte. Daneben standen noch zwei, drei Trucker-King-Termine offen, und so kam es, daß mein seit heriger »Termin-Balanceakt« eigentlich schon begann, bevor der ers te Vampira aus meinem Computer floß. Inzwischen sitze ich am fünf undzwanzigsten Band (eigentlich der dreiundzwanzigste, denn zwei Gastautoren halfen bislang aus, wenn der Streß am schlimms ten wurde, dafür an dieser Stelle Danke), und »Monster-Mike« und ich wurden, glaube ich, eine gutes Team.
Den fünfundzwanzigsten Vampira sehe ich durchaus als kleines Ju biläum, denn bedenkt man all die Kassandra-Rufer, noch bevor der erste Band im Handel war, ist diese Zahl schon eine erste Genugtu ung. Die nächste wird das nächste Jubiläum sein. Band 50. Bis dahin cheerio – und danke für die Lesetreue! Nachtrag: Wohnhaft und auch geboren: seit 23.04.1960 in Zweibrücken/Pfalz. Glücklich verheiratet mit und verliebt in Edith. Vernarrt in Töchterchen Annika (1 Jahr). Fan von James Ivory Filmen sowie gutgemachten Science-Fiction-, Hor ror- und Fantasyreihen. Lieblingsfilme: »Zimmer mit Aussicht«, »Grüne Tomaten«, »Das Geisterhaus« … Naja, es gäbe noch etliche andere. Lieblingsbücher: »Die Säulen der Ewigkeit« von Ken Follet, und »ES« von … jetzt fällt mir der Name nicht ein. Musik: Liedermacher wie Konstantin Wecker, Ulla Meinecke oder Klaus Hoffmann, ansonsten gern Van Morisson, Springsteen, Klassik ganz allge mein. Da ich mit dem Kopfhörer auf den Ohren schreibe, lasse ich mich täglich wechselnd davon »berieseln«.
Lilith x 2 = ? von Marten Veit Landru ist am Ziel seiner Wünsche. Mit dem Lilienkelch macht er sich davon. Lilith kann sich nicht um die schwerverletzte Felidae kümmern. Wenn sie verhindern will, daß Landru als Kelchhüter eine neue Generation Vampire erschafft, muß sie ihn aufhalten. Doch so leicht läßt Landru sich nicht stoppen. Als Lilith sich ihm entgegenwirft, aktiviert er die Magie des Kelches – und schafft eine zweite Lilith aus deren Spiegelbild. Damit trennt er die Gene ihrer Abstammung. Die eine Lilith wird wie ihr Vater zum Menschen: gut, verletzlich, ohne jede Magie. Während die zweite erfüllt ist vom Erbe ihrer Mutter. Ein hundert prozentiger – und böser – Vampir …