Der Everest ist überall Von großen und kleinen Bergen
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Der Everest ist überall Von großen und kleinen Bergen
Die Titelgestaltung erfolgte unter freundlicher Mithilfe von: Volker Leuchsner, Matthias Robl, Lauric Weber und Ralf Dujmovits. Erste Auflage 1998 © Panico Alpinverlag, Köngen Druck und Weiterverarbeitung: Die Bühlersche, Bad Urach Gesetzt in Berthold Garamond Gedruckt auf Gardapat 13 ISBN 392680^64-4
Inhalt
Vorwort Malte Roep er Eine tolle Länge Frank Jourdan Der Biwaksepp Sepp Karg Die Warmduscher Frank Netz Mission Impossible Gerd Schöffl Eine Trainingseinheit Ralph Stöhr Der Everest ist überall Michael Wärthl Das Rauschen der Zeit Stefan Süß Aufbruch ins Abenteuer Robby Rauch Der brennende Dornbusch Gerald Güntner Die zwei Berge Rolf Stolz Sturz Rainer Bürkle Chamonix Siegfried Bösenecker Drei Tode Harald Weiß Erinnerungen aus der Jugend Heinz Grill Unvergessene Heimat Malte Roeper
6 12 18 32 38 48 54 60 68 102 110 128 146 152 158 168
Vorwort Malte Roeper
1978 bestieg Reinhard Karl den Mount Everest und schrieb: „Wirklich oben bist du nie". In Anbetracht der Tatsache, daß es sich beim Gipfel des Everest um den höchsten Punkt der Erde handelt, war es ein bemerkenswerter Zeitpunkt, dies zu formulieren. Und deswegen eine der klügsten Bemerkungen, die je einer über Bergsteigen gemacht hat. Wirklich oben bist du nie. Erstens bist du am Gipfel ja nirgendwo angekommen. Bevor du nicht wieder im Tal bist, zuhause oder wenigstens im Zelt, ist der Kreis zwischen Traum und Heimkehr nicht geschlossen. Der Abstieg, die Rückkehr gehören dazu. Erst im Tal kann die nächste Bergtour wieder beginnen. Denn Bergsteigen ist keine Straße, sondern ein Kreislauf: Träumen, sich entschließen, aufbrechen, das Boot weit hinausrudern, leiden und Glück empfinden, wiederkehren. Und wieder von vorn. Da ist man niemals wirklich oben. Wirklich oben nie, allein schon, weil die wirklich wichtigen Dinge eben nicht in den Bergen liegen. Wirklich oben, das hieße ja auch, man sei höher als sonst im Leben. Nicht wirklich oben also, nein, aber ein bißchen oben ist man immer wieder. Glücklich für ein paar Momente, nicht mehr und nicht weniger. Aber dieses relative, dieses kleine treue Glück, das du immer wieder finden kannst, das kann eben schon sehr viel bedeuten. Und nicht wirklich oben sein - also genauso hoch wie auf dem Mount Everest -, das kann man dafür fast überall. Bergsteigen, Klettern, draußen sein ist eine der schönsten Nebensachen der Welt. Wer es nicht glaubt, der frage Kletterer und achte auf das glückliche Leuchten in den glücklichen Augen, wenn sie von ihrem Hobby berichten. Wenn dein Schicksal dich Kletterer werden läßt, dann hast
du Glück gehabt. In den Bergen, an den Felsen ist Leben. Davon handelt dieses Buch. Es handelt allerdings auch vom Bittersten und Bösesten, was beim Bergsteigen passieren kann: in den Bergen kann man sterben. Manchmal reißt der Tod einen Kletterer heraus aus dem gelebten Leben, heraus aus der Lebensfreude. Wer es miterlebt, der kann es schwer begreifen. Wie denn auch? Mehrere Geschichten in dieser Sammlung handeln vom Tod in den Bergen. Jede schildert das Plötzliche, das Gewaltsame und das Unbegreifliche. Keiner der Autoren kommt zu dem Schluß, die Kletterei aufzugeben. Eigentlich auch schwer zu begreifen. Ich habe allerdings ebensowenig jemals begriffen, warum Klettern mich glücklich macht. Die meisten Kletterer haben das wohl nicht begriffen. Aber wozu will man sowas auch begreifen? Davon würde das Leben nicht schöner und der Tod nicht weniger grausam. Im Grunde gibt es da nur zwei Dinge, die man begreifen muß: ob man klettern will - und wenn man will, daß man sehr gut aufpassen muß. Pech haben darf man allerdings auch nicht. Gegen Pech ist man machtlos. Der Rest ist irrational wie Statistik, Fußball und die Inflation. Irrational wie das Leben selbst: nicht zu begreifen, aber schön. Wenn auch nicht immer. Den Reigen der Geschichten in der diesjährigen Panico-Sammlung eröffnet Eine tolle Länge von Frank Jourdan, ein Erlebnis auf dem wie so oft schmalen Grat zwischen lebensgefährlich und unheimlich lustig. Über eigene Eitelkeit und Verbissenheit kann man sowieso sehr schön lachen. Wenn es ein bißchen gefährlich war, gleich noch viel mehr. Aus Erleichterung. Kletterer verstehen sowas. In Biwaks sind die Nächte lang, und dann kann man sich erzählen. Über Biwaks zum Beispiel. Und so ist Der Biwaksepp des Allgäuers Sepp Karg eine Geschichte mit Rahmenhandlung: in einem Biwak sitzend, erfährt der Erzähler von einem anderen.
Der typische Kletterer reibt sich in schweren Touren auf, obwohl er in leichteren Touren oft viel mehr Freude und Genuß empfindet. Leute, die ausschließlich leichte und genußvolle Touren machen, sind ihm allerdings irgendwie unheimlich. Eine Variation dieses typisch alpinen Themas sind Die Warmduscher von Frank Netz. Ein bißchen oben kann man fast überall sein, mit genügend Humor selbst dann, wenn man gar keine passenden Felsen findet. Der Franke Gerd Schöffel suchte Neuland in Thailand und wurde nicht fündig. Dafür verbesserte er sein Handicap im Muschelwerfen und schrieb Mission Impossible. Training betreiben die meisten Kletterer aus zwei verschiedenen Gründen: erstens wollen sie die Frauen beeindrucken, zweitens wollen sie ihnen gefallen. Ralph Stöhr verfolgte mit seiner Trainingseinheit die gleiche Absicht, wenn auch - zumindest in diesem Falle - erfolglos. Michael Wärthl erlebt und schildert ungeahnte Höhen und Untiefen während der Besteigung eines Mäuerchens im Mittelmeerraum. Und weil er danach für einen Moment ein bißchen oben war, wurde seine Story zum Leitmotiv dieses Buches: Der Everest ist überall. Wiederholte Begegnungen mit einem verschwiegenen, einsamen doch wahrscheinlich glücklichen Kletterer in wechselnder Umgebung schildert Das Rauschen der Zeit von Stefan Süß. Eine Geschichte voll versteckter Symbolik. Robert Rauchs radikale Ansichten über unsere Gesellschaft und unsere Zeit mögen nicht alle teilen, auf jeden Fall gehören sie zu seinen großartigen Geschichten dazu. Hier denkt sich einer seinen Teil und lebt danach und sagt es offen. Rauch ist ein Beispiel dafür, daß man beobachten muß und mitfühlen und die Menschen lieben und ehrlich sein, um gut zu schreiben. Und er ist ein Beispiel dafür, daß man sowas nicht an den Hochschulen lernt, sondern da, wo die Menschen sind. Und so geht es denn beim Aufbruch ins Abenteuer auch um viel mehr als nur eine Bergbesteigung.
In Gerald Güntners dreiteiliger Geschichte Der brennende Dornbusch erleben zwei junge Bergsteiger mit den wachen Sinnen der Jugend Schritt für Schritt immer mehr vom Gebirge - und kommen knapp davon. Rolf Stolz schrieb eine sich langsam entwickelnde, beklemmende Geschichte, in der Die zwei Berge nur den Ort der Handlung vorgeben. Ein mühsamer, routinierter Beziehungskonflikt nimmt präzis beobachtet seinen Weg, bis die Geschichte eine überraschende, noch beklemmendere Wendung nimmt. Man haßt den Helden spätestens nach seiner Äußerung bei der Rückkehr zur Hütte, und am Ende steht man doch auf seiner Seite. In seinem beinahe lapidaren, eindrucksvollen Bericht Der Sturz schildert Rainer Bürkle einen Bergunfall. Während des Wartens auf die Rettung ist die Situation dessen, was so oft befürchtet wurde und jetzt tatsächlich eingetreten ist, dramatisch und - wie alle Tatsachen - banal zugleich: „Essen werde ich nichts... im Krankenhaus werden sie mir alles, was ich jetzt esse, wieder aus dem Magen pumpen." In Chamonix kam auch Siegfried Bößenecker mit dem Tod in Berührung. Doch nicht er stürzte, sondern ein anderer, und dieser wurde vom Tod nicht nur gestreift, sondern heimgeholt. Dazu viel, viel Atmosphäre aus dem real existierenden Alpinismus, einem „Leben zwischen Bar und Biwak." Der Anblick von Toten ist fast immer furchtbar, doch am schlimmsten ist er wohl, wenn man das Sterben noch gesehen hat. Gleich Drei Tode mußte Harald Weiß miterleben. Am Einstieg einer Gebirgstour wurde er Zeuge eines Seilschaftsturzes, sieht den Sturz und die noch vom Leben warmen Toten. Ein verstörender Alptraum, verstörend und eindringlich geschildert. Als Solokletterer war der Yogalehrer Heinz Grill in den siebziger und achtziger Jahren seiner Zeit weit voraus. Und seine Erinnerungen aus der Jugend, hier an einen Solo-Abstieg der Vinatzer-Führe am Piz Ciavazes, machen neugierig auf seine spirituellen Schriften.
Mein eigener Beitrag Unvergessene Heimat ist ein Rückblick auf die Klettertage meiner Schulzeit in Norddeutschland. Man wird oft melancholisch, wenn man als Erwachsener an die wilden und vor allem so unbeschwerten Zeiten zurückdenkt, die man nicht mehr zurückholen kann. Aber „...eine glückliche Vergangenheit ist eines der kostbarsten Dinge, die ein Mensch überhaupt haben kann. Und eine glückliche Vergangenheit ist vor allem noch etwas anderes: ein Baustein für eine glückliche Zukunft." Wenn dein Schicksal dich Kletterer werden läßt, meint es der liebe Gott gut mit dir. Davon bin ich fest überzeugt. Viel Spaß beim Lesen, beim Klettern und beim Aufpassen wünschen die Autoren, der Verfasser des Vorworts, das Magazin Klettern und der Panico-Verlag. München/Stuttgart/Köngen Oktober 1998
Frank Jourdan, Jahrgang 1962, arbeitet, wenn er nicht gerade an den Bergen der Welt unterwegs ist, als Einzelhandelskaufmann im elterlichen Betrieb in Pforzheim. Schon früh gelangen ihm Alleinbegehungen der drei großen Nordwände, aufsehenerregend schnelle Solo-Enchainements in den Rocky Mountains und den Alpen folgten. Auch im steile Wasserfalleis gehört der Allrounder zur ersten Liga, und beim turnerischen Sportklettern steigt er noch manchem gut trainierten Spezialisten davon. Nach vereinzelten Veröffentlichungen in der Alpinpresse erschien 1995 der biographische Erzählband „Im Lot - Grenzgänge in Fels und Eis" (Panico Alpinverlag, ISBN 3-926807-42-3)
Eine tolle Länge Frank Jourdan
Mit einem letzten Abseilpendler zappelte ich zum Stand, an dem Wolfi schon ungeduldig auf mich wartete. Skeptisch blinzelte ich die nächste Länge hinunter. „Sieht ja mehr als bescheiden aus. Komm, die schenken wir uns." Aber noch bevor ich meine Abneigung detailiert begründen konnte, war Wolfi schon dabei, weiterzuachtern. „Hör auf Mann, das ist eine knattergeile Länge. Das geb' ich Dir schriftlich. Oder hast Du womöglich schon die Hosen voll?" Wenn Beckenbauer Kletterer wäre, hätte er garantiert unheilvoll sein „Schaun mer mal" orakelt. Die Sache stank. Eine lange und luftige Abseilfahrt brachte uns nochmals fünfzig Meter tiefer. Zwei Bohrhaken markierten den Schlingenstand. Unter uns eine dieser typischen, bauchigen Verdon-Auswaschungen, über uns ein nach außen beidseitig rundlich auseinandergehender Riß. Offwidth nennen das die Fachleute. Ich ahnte Schlimmes, aber ich nahm mir vor, cool zu bleiben, und beschloß, die sarkastische Schiene zu fahren. „Toll, Wolfi, sieht ja echt toll aus." „Hab ich Dir's nicht gesagt? Paß mal auf, wie ich jetzt da rauftänzel!" Ein breites Grinsen überflog sein Gesicht, als er sich startklar machte. Ganz offensichtlich bestand die Schlüsselstelle der Länge darin, den ersten Haken und danach den tollen Riß zu erreichen. Von der Schwierigkeit her eigentlich kein Problem für Wolfi. Zwei, drei rhythmische Züge über seichte Verdon-Löcher, doch dann kam der FelsTravolta aus dem Takt. Seine Atemfrequenz stieg hörbar an, und die Tänzelei geriet ins Stocken. Noch bevor ich einen gutgemeinten Tip geben konnte, flog er auch schon mit weit aufgerissenen Augen an
mir vorbei. Ein Gemisch aus hämischer Genugtuung und klammheimlicher Schadenfreude machte sich in mir breit. „Na, Walzerkönig? Ist doch wirklich supergut hier?" Zweiter Versuch. Ein Stückchen weiter rechts diesmal, links zwei, links zwei. Lehrbuchmäßig gespreizt stand Wolfi jetzt zwei Meter direkt über dem Stand, schüttelte abwechselnd die Unterarme, chalk-te ein ums andere Mal nach. Dichter Magnesianebel nahm mir kurz die Sicht, als die Suche nach imaginären Griffalternativen hektisch zu werden begann. Mit der Frequenz eines Scheibenwischerblatts bei Platzregen fuchtelte Wolfis Rechte über den südfranzösischen Musterkalk. „Das wird er nicht wagen, jetzt runterzufliegen!" Ich hatte den Gedanken nocht nicht zu Ende gebracht, als ich eine bunte Hose immer noch lehrbuchmäßig gespreizt - mit einem gleich bunten Hintern auf mich zufliegen sah. Mit schepperndem Krachen klatschten mir Klemmkeilbündel und Expreßschlingen ums Gesicht. Wolfi kam im Schneidersitz auf meiner Sicherung zum Stillstand. „Mann, paß doch auf!" raunzte ich leicht gereizt und schob meine neue Designerbrille wieder gerade. „Was kann ich denn dafür? Soll ich womöglich 'ne Kurve fliegen?" Wolfi konterte betont locker, aber auch bei ihm war ein leicht angenervter Unterton herauszuhören. „Ich glaub', ich hab's jetzt. Ich bau' hier einfach wie der Mariacher im Fisch ein Sandwich und klettere technisch zu dem Scheißhaken." Auf meinen Schultern stehend fummelte er zwei sich gegeneinander verklemmende Keile in ein Felsloch, hängte eine Schlinge ein, stieg mit einem Fuß hinein und drückte sich langsam nach oben. „Sag ich's nicht, Alterchen, das haut hin." Er streckte sich echt enorm, immer noch ein bißchen weiter und hatte den Haken fast in Reichweite. Völlig ausgereizt nestelte er einen Karabiner vom Gurt und wollte ihn gerade einhängen, als das Sand-
wich ansatzlos aus dem Loch flutschte. Fast gleichzeitig knallten mir die Klemmkeile auf die Oberlippe, und Wolfi sprang mir mit beiden Füßen auf den Brustkasten. „Aaaaah! Shit, Shit!" Meine Lippen und meine Wut schwollen sekundenschnell und gewaltig an. „Meine Dechignerbrille.....Oh Mann!....Meine Brille." Ungläubig schleckte ich mit der Zunge durch süßlich schmeckendes Blut. In der Brust spürte ich ein häßliches Stechen, und in den Händen hielt ich mein demoliertes Schmuckstück. Die dicken Lippen zwangen mir einen lispelnden Sprachfehler auf, und mein lautes Wehklagen klang jämmerlich. Mit sich überschlagenden Stimmen begannen wir uns anzuschreien. Zwei völlig abgedrehte Choleriker mitten in einer 300 Meter hohen Kalkwand. Ein absurdes Theater. „Oh Mann, meine Brille! Völlig am Arch!" „Vergiß die blöde Brille, wenn wir oben sind, kauf ich dir eine Brillenfabrik." „Chit! Ich glaub', du hacht mir die Rippen gebrochen. Ich hab' cho ein Chtechen in der Brucht. Chit!" Jetzt erst entdeckte ich unter dem Überhang der Auswaschung einige alte Haken. „Du, ich chichere von dort unten." Langsam ließ mich Wolfi hinunter. Weitaus bequemer als zuvor richtete ich einen Stand ein. Aus nunmehr sicherer Entfernung konnte ich mit dicken Lippen und stechender Brust Wolfis vierten Versuch beobachten, und mon dieu: Spielerisch tänzelnd kletterte er zum ersten Haken, klinkte locker und zog den Riß hoch zum Stand. „Chack und Asche - warum nicht gleich cho!" „Nachkommen!" Von wegen. In meinem Zustand war nicht daran zu denken, die gewaltig abdrängende Auswaschung hinauszuklettern. Ich versuchte Wolfi meine Lage zu erklären, aber er bekam nicht einmal die Hälfte mit. Null Chance.
„Komme!" Das Seil straffte sich erstaunlicherweise, und ich eierte hastig einige Meter hoch. Dann war Sense. Ich konnte gerade noch meinen Finger aus einem Loch ziehen, bevor ich wie ein Haulbag aus der Gufel hinaus ins Freie schoß. „Klache! Jetzt hänge ich hier 300 Meter über dem Boden und chatte acht Meter von den Bohrhaken entfernt." Natürlich hatte ich keine Prusikschlingen dabei. Ich schrie Wolfi zu, daß ich mich am Seil hinaufziehen würde, und glaubte ein leises „Ja" zu hören. Okay! Zweimal kräftig in die Hände gespuckt und ganz tief durchgeatmet. „Du pacht,dach schon!" sagte ich zu mir selbst. Was sind schon acht Meter freihängend hochhangeln. A piece of cake, wie der Ami sagen würde. In der Schule war ich doch auch immer der Taukletterkönig gewesen. Nur mangelte es im Moment an den bewundernden Mädchenblicken, die mich damals angespornt hatten. „Wach cholls, ich much zu Wolfi, loch getch." Schnell hatte ich mich ein paar Meter hochgezogen, doch noch schneller schwanden meine Kräfte. Rote Warnleuchten begannen zu flackern. Es ist halt doch ein Unterschied, ob man sich in der Verdon-Schlucht an zwei Acht-Millimeter-Seilen hochhangelt oder am dicken, rauhen Hanftau in der Turnhalle, drei Meter über der Weichbodenmatte. Flügel wuchsen mir keine, aber irgendwie schaffte ich es, bis unmittelbar vor die Bohrhaken zu kommen. Dann hing ich direkt neben dem Haken, von Angesicht zu Angesicht, das Alarmsignal auf Dauerlicht. Meine Hände waren total verkrampft und das Stechen in der Brust unerträglich. Ich konnte unmöglich loslassen. „Fach auf Wolfi, mich hautch gleich runter! Cheiche, Mann!" Mit dem allerletzten Hemd schnappte ich mit der Linken hinüber und krallte mich allein mit dem schierem Willen in einem Karabiner fest. Überraschend schnell hatte ich mich wieder beruhigt und kletterte los. Ich wunderte mich noch, warum Wolfi solche Schwierigkeiten mit dieser Kletterstelle hatte und piazte gelöst den Riß hoch. An einem großen Klemmblock lehnte ich mich hinaus und schüttelte die
Arme, als plötzlich der ganze Apparat, an dem sich mit Sicherheit schon Generationen ausgeruht hatten, mitsamt mir aus der Wand krachte. Laut fluchend pendelte ich in den Riß zurück und schrubbte die letzten Meter zum Stand. „Wach für ein Cheichtag!" Wortlos kletterte ich an Wolfi vorbei. Zwei herrliche Seillängen kompakten Plattenkalks zogen unter uns durch. Es fiel kein Wort. Auch nicht, als wir nach La Palud in die Kneipe fuhren. Mit beleidigter Miene saßen wir uns gegenüber, bis es Wolfi dann zuviel wurde. Abrupt und direkt brach er die unheilvolle Stille. „Du bist ein richtiger Arsch!" „Nein, du bicht ein richtigech Archloch! Jeder Dorfdepp hat gechehen, dach dach eine cheich Cheillänge wird. Chau mich an. Meine Lippen gechwollen, meine Rippen gebrochen und vor allem meine Brille....." Völlig unvermittelt brach Wolfi in schallendes Gelächter aus. Ich verstand gar nichts, aber dann mußte auch ich lauthals losbrüllen. Tränen standen uns in den Augen. „Aua, Hör auf, ich kann nicht lachen, meine Brucht!" Unser Lachanfall dauerte Minuten. Am Nachbartisch saßen einige Puffimover vor Diätbieren und faden Salatschüsseln, aus denen kein Hauch von fetter Soße schimmerte. Ihre Blicke waren mitleidig, und es fehlte ihnen jegliches Verständnis.
Sepp Karg, Jahrgang 1935, erblickte in Kempten im Allgäu das Licht der Welt. Der mittlerweile nach Villingen-Schwenningen umgesiedelte leidenschaftliche Wochenendkletterer verdient seinen Unterhalt als Schuhmacher, Farbätzer oder Grafiker. Mit dreizehn Jahren begann er im Allgäu mit dem Klettern, wo er in den Grasflanken von Höfats, Rädlergrat und Schneck unterwegs war. Der ersten Auslandsfahrt in die Tannheimer Berge folgten bald Touren im Wetterstein, den Dolomiten und dem Montblanc-Gebiet. Hoffnungslos alpinsüchtig sammelte er die bekannten „Pause-Touren". 1978 bereiste er die Cordillera Real in Bolivien, 1980 bestieg er in Nepal die Annapurna. Schon von den ersten Schritten an verspürte er die Neigung, numerische Kletterschwierigkeiten in Sprache umzusetzen. 1970 belegte er im Literaturwettbewerb des DAV den zweiten Platz, seitdem folgten sporadische Veröffentlichungen von Kletterstories in Berg- und Kletterheftchen.
Der Biwaksepp Sepp Karg
Der Moses Gama war damals noch Wirt auf der Salbitschijenhütte. Er zuckte verlegen mit den Schultern, als Lurchi ihn nach einem Nachtlager fragte. „Weißt', Lurchi", sagte der Moses, „die Sektion Lindenberg feiert heut' Abend hier ihr Hüttenfest, da fmd'st keinen Schlaf." Er zog an seiner Virginia, bis am Ende der Asche ein Ring aufglühte. Dann blies er gewaltig den Rauch in den Nieselregen hinaus und meinte verschmitzt: „Hast ja den Biwaksepp bei dir, der kennt sicher ein trockenes Platzli oben zwischen den Blöcken vom Bergsturz unterm Ostgrat." Der Sepp spuckte im Bogen über die Begrenzungsmauer des Hüttenvorplatzes und grinste dabei. „Nimm's als gutes Omen, Lurchi", sagte er, „wenn der Moses uns ins Biwak schickt." Und während sie wieder ihre Rucksäcke schulterten, hörte man durch die vibrierenden Fensterscheiben Örgelemusik klingen, und die Baßgeige brummte dazu wie ein gekraulter Bär. Der Nebel schwappte schon nach wenigen Metern hinter den beiden zusammen. „Paß auf", hörte Moses noch den Lurchi rufen. „Hier liegen überall Feuersalamander auf dem Weg. Zertritt ja keinen, das bringt vier Wochen lang Regen mit sich." Sie waren aber schon so weit entfernt, daß Moses Sepps Antwort nicht mehr verstand. Der Weg war an den Rändern vom Schmelz- und Regenwasser ausgefräst, so daß man ihn selbst im Dunkeln nicht verfehlen konnte. Die beiden trotteten in Gedanken verloren vor sich hin, als plötzlich ein aufgescheuchtes Schneehuhn gaggernd davonrannte und der grelle Pfiff eines Murmeltiers sie erschreckte. Lurchi stoppte: „Ich glaub, ich spinn'", murmelte er. „Ich höre Geigenmusik?"
„Du spinnst nicht", beruhigte ihn der Biwaksepp und stutzte. „Ja, das ist eine Geige." Sie stolperten bergab durch eine Bodensenke, und als der Weg am Gegenhang wieder anstieg, schälte sich eine dünne Gestalt aus dem Nebel. Ein Mann spielte auf einer Violine unter einer blauen, aufgespannten Plastikfolie. Hinter ihm, in einem hundehüttengroßen Zelt, begleitete ihn sein Kamerad auf einer Maultrommel. Lurchi setzte sich unter seinem Regenschirm auf den Rucksack und stierte auf die beiden Musikanten. Der Geiger trug eine Brille mit dicken Gläsern und bemerkte Lurchi erst, als der Beifall klatschte. Als der Wind sich plötzlich drehte, regnete es dem Mann ins Gesicht. „Verdammt", fluchte Lurchi leise, als er sah, wie das Wasser von dessen Kinn auf die Violine tropfte. Doch der Typ spielte mit stoischer Ruhe Mozarts Nachtmusik zu Ende. Dann verneigte er sich zu Lurchi hin: „Sorry", rief er und kroch zu seinem Kumpel ins Zelt hinein. „Scheiß Regen", schimpfte Lurchi, als er sich aufrappelte und weiter ging. Der Rauch eines qualmenden Feuers drang in seine Nase. Als er ihm nachging, fand er den Biwaksepp. Der hatte zwischen Granitblöcken einen verlassenen Unterstand des Militärs aufgestöbert. „Meine Hochachtung", rief er, als Lurchi gebückt eintrat, „dem unbekannten Soldaten, der für uns Brennholz gesammelt hat." „Du bist halt ein Glückspilz", lachte Lurchi. „Dafür koch' ich jetzt für uns ein Tomatensüppli, Sepp." Lurchi schnupperte: „Ah, du hast inzwischen schon einen Kaffee getrunken. Das kapier' ich nicht, daß du Tag und Nacht diese schwarze Brühe säufst und danach noch schlafen kannst." „Ja, so ist das nun mal", nickte der Biwaksepp. „Der Hermann Buhl zum Beispiel, wenn dir der Name überhaupt was sagt, der Buhl also hatte die Angewohnheit, selbst auf 8000 Meter Höhe während seiner Erstbegehung am Nanga Parbat Tiroler Speck zu essen, ohne zu brechen. Und der Anderl Heckmaier süffel-
te im Biwak am Walkerpfeiler während des zwei Tage anhaltenden Schneesturms Schnaps. So sündigt halt jede Generation auf ihre Weise gegen die Vernunft, sonst würdet ihr heutigen nicht wegen jeder Lappalie den Partner wechseln." „Ja, ja, Alter, beruhige dich, du kriegst gleich was zu essen und zum Nachtisch Rotwein", meinte Lurchi. „Aber nur, wenn ich einen Wunsch frei habe", fügte er hinzu. „Was", knurrte der Biwaksepp, „du Schuft willst mich erpressen?" „Herrje", jammerte Lurchi, „ich will nur aus deiner Erfahrung lernen." „Da brauchst du nicht zu betteln", lenkte der Biwaksepp geschmeichelt ein. Und während Lurchi die Weinflasche entkorkte, preßte er zwischen den Zähnen hervor: „Erzähl" mir doch die Story von der Gemellikante. Um die beneid' ich dich", schnaufte er. Mißtrauisch setzte der Biwaksepp die Rotweinflasche nochmal von den Lippen ab. „He", fuhr er Lurchi an, „zweifelst du etwa an meiner sittlichen Haltung, weil ich mit einem Weibsbild dort biwakiert habe?" „Warum gehst' denn gleich so hoch?" grinste Lurchi. „Wenn man, wie du schon erzählt hast, im Biwak zittert und vor Kälte mit den Zähnen klappert, ist doch gar keine Entgleisung möglich, oder? Und außerdem ist die Tanja eine Dame, schätze ich." Sepps Adamsapfel wich dem Rotwein aus, als er ihn endlich runterschluckte. „Da liegst du richtig", nickte er und wischte sich den Bart ab. „Um es dir gleich zu sagen, ich bin kein linearer Typ. Mein Leben verläuft eher wie ein Mäander, und deshalb mußt du dich gedulden, daß ich etwas umständlich auf dieses Biwak zurückkomme." „Wenn ich mir's an den Fingern abzähle, liegt der erste Versuch etwa fünfzehn Jahre zurück. Mein Gott, hatte ich damals eine Wut im Bauch, weil wir die Gemellikante im Bergell nicht bis zum Gipfel durchstiegen hatten. Weiß der Teufel, irgend ein Idiot fing damit an, nach dem ersten Drittel der Tour, dem sogenannten Bügeleisen, wie-
der abzuseilen. Und wie die Lemminge sich ins Meer stürzen, so hirnlos folgten Gerald, Toni, Herbert und ich diesem neuen Trend, der bis heute anhält. Dabei ist es auf die Dauer stumpfsinnig und raubt dir die Möglichkeit, ein Abenteuer zu erleben. Jedenfalls dösten wir damals am hellichten Nachmittag gelangweilt vor der Sciorahütte im Gras, während mich das Licht und Schattenspiel oben an der Gemellikante zum Narren hielt. Zwei Tage später bereits bekamen wir die Quittung für unsere Unentschlossenheit. Als wir am Morgen nach einer Gewitternacht aufwachten, war der Badi-le bis zum Wandfuß runter frisch verschneit. Enttäuscht trennten wir vier uns daraufhin. Irgendwo im Hinterkopf suchte ich nach einem Schuldigen, als ich hinter dem Herbert nach Bondo hinunterstolperte. 'Der rennt, als wenn er vor sich selbst davonlaufen möchte', schimpfte ich. 'He Herbert, jagt dich der Teufel', schrie ich. Anscheinend hatte er mich nicht gehört. Plötzlich stoppte er. 'Ich hab die Schnauze voll, ich will ans Meer', tobte er. 'He', bremste ich seine Wut. 'Hast doch selbst gehört, daß das Sauwetter vom Mittelmeer her kommt.' 'So', grinste er mich hämisch an, 'ausgerechnet du, der du so mißtrauisch den Wissenschaften gegenüber bist, vertraust seit heute den Meteorologen, weil's dir in deinen Kram paßt.' 'He, halt mal die Luft an', schrie ich. 'Ja du Halbblinder', fuhr er dazwischen, 'siehst mit deiner Brille ein Azorenhoch bis zum Nordpol.' Mir blieb die Spucke weg. Einige Serpentinen tiefer dachte ich, jetzt hat er Dampf abgelassen, jetzt bohre ich weiter. 'Hör mal, wie war's denn mit der Grauen Wand. Die wartet schon lang auf uns.' 'Ausgerechnet auf uns zwei Deppen', überlegte er laut. Oje, dachte ich, jetzt müßte ich ein Weib sein und ihn mit verheulten Augen anschmachten. Als ob er meine Gedanken erraten hätte, schneuzte er
mich plötzlich an: 'Du führst aber die erste Seillänge!' 'Mensch Herbert', schnaufte ich auf, 'du bist doch ein bärenstarker Kerl.' 'Red' doch kein Schmus', lachte er versöhnt. Es ist schon verrückt", sagte der Biwaksepp zu Lurchi, als er nachdenklich eine Rippe Schokolade kaute, „wie abhängig wir vom Erfolg sind. Dabei verändern die unerfüllten Wünsche unser Leben oft viel sinnvoller. Damals mit Herbert", erzählte er weiter, „klappte die Graue Wand, und dadurch ermutigt schnappten wir uns im Herbst auch noch den Salbitschijen-Westgrat. Als ich später hörte, daß Gerald und Toni sich im Bergell verzettelt hatten und leer ausgingen, war auch mein Ehrgeiz gestillt. Doch nach einer Weile, als ich wieder Abstand hatte, ärgerte ich mich über meine Schadenfreude. Es war nicht zu vermeiden, daß ich irgendwann mal dem Gerald in unserem Städtle über den Weg lief." „Hör mal", unterbrach Lurchi den Biwaksepp, „draußen hagelt's ja Katzen." „Von mir aus", erwiderte Sepp, „mit dem Wellblech überm Kopf kann uns nichts passieren. Aber die zwei Typen nebenan, die wird's einweichen." Während Lurchi in der Glut stocherte und ein Scheit nachlegte, drängte er: „Erzähl ruhig weiter. Die beiden Engländer sind waterproof." „Ja, ja, unter den Engländern", nickte der Biwaksepp zustimmend, „gibt's verrückte Hunde. Als ich zum ersten Mal mit Gerald in der Brenvaflanke am Montblanc war, stiefelte im Schein meiner Stirnlampe bei klirrender Kälte so ein wahnsinniger Brite in kurzen Hosen vor mir durch den Mooresporn, während mir im Bart beim Schneuzen die Eiszapfen im Weg waren." Der Biwaksepp kratzte sich am Kopf. „Wo war ich denn stehen geblieben, Lurchi?"
„Als dir der Gerald in der Stadt über'n Weg lief." „Stimmt", sagte er, „mit dem rechten Auge sah er mich, mit dem linken schielte er an mir vorbei. Klar, er war beleidigt. Nachdem wir belangloses Zeug redeten, zog ich ihn kurzerhand in eine Kneipe nebenan. Schon nach dem ersten Bier lockerte sich seine Verstimmung, und nach einer Stunde war uns klar, daß wir im Sommer die Badile-Nordostwand machen würden. Als ich dann wieder alleine war, fiel mir erst auf, daß wir beide das Reizwort Gemellikante vermieden hatten. Weißt, Lurchi, mit einem Ziel vor Augen trainiere ich lieber, und wenn ich dann gut in Form bin, juckt mich das Fell nach einem Abenteuer, und das erwartete uns auch in der Badilewand. Wie du weißt, Lurchi, glaub' ich an keine Zufälle, und oft kapier' ich den Sinn erst nach Jahren. Es war noch Nacht, als wir damals im Schein der Stirnlampen einen Übergang durch das reißende Hochwasser auf dem Weg von der Sciorahütte zum Badile suchten. Der Gischt beschlug mir die Brille, und während ich noch zauderte, hüpfte Gerald mit seinen langen Haxen von Stein zu Stein, bis ihn die Dunkelheit verschluckte. Jetzt oder nie, dachte ich und sprang los. Ohne Anlauf und mit dem Rucksack auf dem Buckel war das ein Horrortrip. Wie ein verzweifelter Frosch klammerte ich mich mitten im Bach mit verrutschter Stirnlampe und Brille auf der Nasenspitze an einem glitschigen Stein fest. Ich sah mich schon bis zum jüngsten Tag in einer Gletschermühle kreisen, als mir Rikas Ausspruch einfiel: Wem der Strick bestimmt ist, ertrinkt nicht! 'Ganz schön nervig am frühen Morgen', empfing mich Gerald am anderen Ufer, als er das Wasser aus seinen Schuhen kippte. Es dämmerte schon, als wir eine Stunde später am Rande des Badilegletschers oben rasteten. 'Der Knechtle steigt grad ein', durchbrach Gerald die eisige Stille, während ich fröstelnd den heißen Tee schlürfte. Gerald kannte ihn aus dem Alpstein, und wie verabredet hatte er uns geweckt, als er mit seinem Freund die Hütte verließ.
Ich zweifelte an meinen Augen, als plötzlich wie vom Gletscher ausgespuckt zwei Typen unter uns im Hang auftauchten. Die kommen von der Sasc-Furä-Hütte, überlegte ich, während ich die Teekanne zuschraubte. Gerald schlug eilig mit seinen Schuhen Tritte in den glasigen Firn zum Einstieg hinauf. 'Hetzen laß' ich mich heut' nicht', sagte ich, als ich ihn einholte. Vor dem Bergschrund seilten wir uns an. Da standen die zwei jungen Kletterer aus dem Donautal schon neben uns. Jonatan und sein Freund hatten es eilig. 'Schönheit vor Alter', sagte ich und ließ sie vorbei ziehen. Im Nu waren sie unseren Augen entschwunden. Nur die Wassertropfen, die sich weit oben von einem Überhang lösten und neben mir aufklatschten, durchschlugen die Morgenstille. Es roch nach Moder, und die wenigen verrosteten Haken verrieten auch hier den neuen Trend der Zeitschinder, weiter oben von der Nordkante aus über ein Felsband in die Nordostwand hineinzuqueren. Und tatsächlich, nach einigen Seillängen, als ich um eine abdrängende Felsrippe traversierte, sah ich überrascht zwei Frauen in einem Riß verkeilt über mir. Zu Anfang hatten wir gegenseitig Verständigungsschwierigkeiten, denn es waren zwei Tschechinnen. Alice und Kerstin kletterten zu unserem Erstaunen mit Gummihalbschuhen an den Füßen. Gerald und ich staunten nur so, mit was für einer selbstgebastelten Ausrüstung die beiden Frauen sich durch die Wand wurstelten. Auf jeden Fall verstand ich die Reibe- und Zischlaute, die Alice aus ihrem glänzenden Pferdegebiß preßte, so, daß sie sich uns anschließen wollten. 'Okay', meinte Gerald, 'das Vertrauen der tschechischen Felskatzen ehrt uns.' Und sie blieben uns auch bis zum Beginn des großen Gewitters auf den Fersen. Wenn ich mit Alice mal wieder an einem Standplatz zusammentraf, überlegte ich, was mich mehr an ihr fesselte: die großen schwarzen Augen oder das Mona-Lisa-Lächeln, mit dem sie ihre Zähne verdeckte. Plötzlich hörte ich ein schrill knirschendes Geräusch, als wenn ein Bulldozer tonnenschwere Steine bewegt. Und als ich Alices starrem
Blick folgte, sah ich eine Granitplatte auf Jonatan herunterstürzen. Unmittelbar vor ihm schlug sie auf und zerbarst. Eine Wolke aus Felsbrocken und Sand polterte die Wand hinunter. Nachdem das Getöse der Steine verebbt war und ich mir den beißenden Staub aus den Augen gerieben hatte, herrschte Totenstille. Wie ein Perpendikel pendelte Jonatan mit zerschmettertem Kiefer und Schädelbruch am Seilende über dem Abgrund. Als sich mein Schock löste, wunderte ich mich, daß wir alle noch lebten. Die Seile der Schweizer waren zerfetzt, und ihre Rucksäcke lagen im Gletscher unten. Der Knechtle hatte sich ein Bein gebrochen. Während wir noch ganz benommen waren, hatte der Wirt von der Sciorahütte schon die Flugwacht verständigt. Eine halbe Stunde später hörten wir das peitschende Knattern des anfliegenden Helikopters. Inzwischen hatten sich unsere Nerven wieder beruhigt, und die Rückzugsgedanken wichen einem gedämpften Optimismus. Der Heli stand wie eine Libelle in der Luft, während ein orangefarbig bekleideter Mann mit der Winde zu den Verletzten abgeseilt wurde. Noch keine Stunde dauerte die Bergung. Die plötzliche Stille danach schmerzte in den Ohren. Inzwischen hatte ich erfahren, daß Alice verheiratet war und ein Töchterchen zu Hause hatte. Kerstin, die bei einem Zahnarzt in Zürich arbeitete, hatte ihr die Reise in die Schweiz ermöglicht. Doch bis es dann endlich soweit war, hatten die Behörden Alice bis auf die Knochen auf ihre politische Linientreue durchleuchtet. Während wir noch zögerten, sahen wir eine braungrün gefleckte Eidechse die Wand hinaufhuschen, und plötzlich hatten wir vier wieder Lust, weiter zu klettern. Alices Pferdegebiß glänzte unter mir, als ich einen dunklen Kamin hochstemmte. Ihr Lächeln gab mir Mut, schnell und locker zu klettern. Längst hatte ich die Anzahl der Seillängen vergessen, und nur die zunehmenden blauen Schneeflecken in den Granitplatten des Cengalopfeilers gegenüber waren der Beweis, daß die Wandmitte
überschritten war. Nur noch die nötigsten Seilkommandos unterbrachen das eintönige Rauschen des Windes. Es fröstelte mich, als dunkle Schatten um mich flatterten, und als ich überrascht zum Himmel hochsah, verdunkelte eine schiefergraue Wolke die Sonne. Wie aus einem überkochenden Topf rann plötzlich weißer Nebel vom Badilegipfel über die Wand herunter. Geralds verkrampftes Lächeln signalisierte mir Gefahr. 'Scheiß Wetter' hörte ich noch, während das Seil immer schneller durch meine Finger glitt. Zu meinem Schrecken bemerkte ich, daß Alice und Kerstin zögerten und anscheinend einen Biwakplatz suchten. Verblüfft sah ich eine weitere Seilschaft hinter ihnen. Gerald riß am Seil, und ich schrie zu Alice hinunter, doch sie winkte müde ab. Während ich die Verschneidung hinaufkeuchte, zerrten Windböen an meinem Rucksack. Ein orgelndes Heulen erfüllte die Luft. 'Wo sind die Tschechinnen?' schrie mich Gerald an. Ohne ihn anzusehen hetzte ich weiter. Der Sturm riß mir den Atem vom Mund und in meinem Kopf hämmerte es: 'Du mußt das Cassin-Biwak erreichen!' Mein Körper zitterte in der elektrischen Spannung, als ein greller Blitz lautlos wie ein Messer die Dunkelheit durchschnitt. Der krachende Donner peitschte mich weiter. Mit trockener Zunge hechelte ich den engen Riß hinauf, bis ich ins Leere griff. Es war das schmale Felsband des Cassin-Biwaks. Während ich mit der rechten Hand sicherte, zerrte ich mit der linken den Biwaksack aus dem Rucksack. Und als ich endlich Geralds pfeifenden Atem neben mir verspürte, war schon die Hölle los. Er wälzte noch einen Stein auf den Biwaksack, damit ihn der Sturm nicht fortriß, dann erst konnten wir hineinkriechen. Die plötzliche Wärme beschlug meine Brille. Und daß wir einander wieder verstehen konnten, gab mir den Glauben ans Überleben. Doch die trügerische Stille wurde von einem anschwellenden Rauschen erfüllt, und Sekunden später trommelte uns der Hagel zu Boden. Ein eisiger Luftzug streifte mich. Die Angst würgte meine Kehle bis zum Erbrechen. Wie feurige Nattern umzingelten uns end-
lose Blitze. Schützend schob ich die Hände vor die Augen und sah dabei Geralds schweißnasses Gesicht neben mir. Keuchend preßte ich Luft in die Lungen, weil die zentnerschweren Hagelkörner auf dem Biwaksack mir die Brust einschnürten. Das stundenlange geknickte Hocken zermürbte mich, und ich sehnte mich nach dem tödlichen Blitzschlag. Er war mir aber nicht bestimmt. Statt dessen sickerte eine irrationale Sicherheit in mich. Die Angst bröckelte langsam ab. Überrascht sah ich die Arterien der Blitze dünner werden, und die Abstände zwischen dem krachenden Donner dehnten sich immer länger aus. Erschöpft fielen mir die Augen zu, als die Gewitter ins Engadin abzogen. Während ich zähneklappernd vor mich hindöste, zündete Gerald den Kocher an. Doch er raubte uns den restlichen Sauerstoff, und aus Angst zu ersticken riß ich den Biwaksack vom Kopf. Die blinkenden Sterne durchbohrten den schwarzen Himmel über mir, ein fahles Leichentuch verhüllte die Wand. Gerald meinte, Hilferufe zu hören. Aber der tosende Wasserfall aus dem Ausstiegskamin über uns verunsicherte die Ohren. Ich dachte an Riccardo Cassin, wie er bei der Erstbesteigung hier an der gleichen Stelle mit seinen Kameraden Esposito, Ratti, Molteno und Valechi im Schneesturm gelitten hatte. Unwillkürlich witterte ich, aber es roch nicht nach Schnee. 'Du bist verrückt, du schnarchst auch noch', hörte ich Gerald schimpfen. Als ich mürrisch die Augen öffnete, sah ich, wie sich die wasserüberronnenen Felsen aus dem mausgrauen Morgendunst schälten. 'Hoffentlich kommt bald die Sonne, sonst sehen wir alt aus bis zum Abend', meinte Gerald. 'Du Nervensäge, koch' doch Kaffee', drängte ich. Als ich gierig in kleinen Schlucken, um die Zunge nicht zu verbrennen, den Kaffee schlurfte, sahen wir uns beide entgeistert an. Aus dem Nebel über uns senkte sich mit ohrenbetäubendem Lärm und kreisenden Scheinwerfern ein Helikopter die Wand herunter. Deutlich erkannten wir drei Insassen. 'Die holen uns hier raus',
schrie Gerald. Doch nachdem sie uns kritisch gemustert hatten, ging's eine Etage tiefer zu Alice, Kerstin und den zwei Unbekannten hinunter. Sie hatten also während der Nacht Notsignale ausgesandt. Der Heli flog zweimal mit den Geretteten zur Sciorahütte hinüber. Dann knatterte er Richtung Samedan zu seinem Einsatzhafen zurück. Gerald schaute, als hätten ihm die Hühner das Brot weggefressen, während ich froh war, daß sie uns nicht geborgen hatten. Denn ich hatte Schiß, frei am Stahlseil hängend aus der Wand zu pendeln. Wir saßen bedrückt in der Waschküche, und nur mühsam setzte sich die Sonne gegen den Nebel durch. 'Es wird Zeit, daß wir hier wegkommen', meinte Gerald und sah unruhig auf seine Armbanduhr. Es dauerte aber bis zwölf Uhr mittags, bis der Bach oben im Ausstiegskamin versickerte. Inzwischen stach die Sonne aus einem schwülheißen Himmel auf uns nieder und preßte den letzten Saft aus meinen Rippen. Fluchend zappelte ich den mit Hagelkörnern gefüllten Kamin hoch und japste wie ein aufs Land geworfener Fisch, bis ich mich endlich in einem Riß verkeilen konnte. Gerald schielte wieder nach seiner Uhr, denn instinktiv wußten wir: Das nächste Gewitter kommt bestimmt. Zum Glück flachte die Wand ab. Durch die Granitplatten furchten schattengefüllte Risse hoch. Die Luft fing zu sieden an, während am nördlichen Horizont draußen rasch amboßförmige Wolkenpilze hochschössen. Rißklettern ist meine Stärke, und selbst mein ausgelaugter Körper empfand noch so etwas ähnliches wie Freude. Wortlos, wie ein Zombi, spulte Gerald seine Seillängen ab, und erst, als wir den Nordgrat erreichten, sagte er: 'Gott sei Dank'. Es war uns aber keine Rast vergönnt. Im Süden drohte über dem Corner See eine grauschwarze Wolkenburg, in der epileptisch zuckende Blitze glühten. Gleichzeitig hetzten wir über die Gratkante zum Gipfel. Während ich bis fünfzehn zählte, erreichte der Donner meine Ohren. Wir hatten also noch Zeit zum Schauen. Aber Gerald riß energisch am Seil, als schon die Luft zu sur-
ren anfing und das Elmsfeuer aus der Verankerung der Biwakschachtel spritzte. Die ersten schweren Tropfen klatschten auf meine Brille, als er die Tür aufriß. 'Du bist noch schlimmer als Lots Weib', keuchte er, während er mir lachend um den Hals fiel. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, spürte ich meine zerschun-denen Hände. Alle Knochen schmerzten. Ich hatte Hunger und Durst und war in mir zufrieden. Die Sonne schien von einem wolkenlosen blauen Himmel. Über Nacht war Neuschnee gefallen. Er blendete die Augen. Ich hörte den Kocher surren, denn Gerald schmolz Schnee draußen vor der offen stehenden Tür."
Frank Netz, Jahrgang 1962, lebt in Oberursel im Taunus. Er studierte Musikpädagogik und Sport und arbeitet seither im Prinzip als freiberuflicher Gitarrist. Seit zwölf Jahren ruiniert er sich die Finger nicht nur auf dem Griffbrett seines Instruments, sondern auch am Fels. Am gernsten im Sandstein, die Südpfalz ist sein Lieblingsgebiet. Aus Rücksicht aufsein Arbeitskapital - die Finger - bewegt er sich hauptsächlich in Terrain, das im Fachjargon als Genußkletterei bezeichnet wird. Erlebnisse, Typen, Gedanken und Stimmungen geben ihm immer wieder Stoff für kleine Geschichten. Seine Versuche, die bemerkens- und liebenswerten Macken der Gattung „Homo Verticalis" aufzuzeigen, hat er bisher für sich behalten.
Die Warmduscher Frank Netz
Ilka und Michael waren das, was man in ihrem Freundeskreis, der hauptsächlich aus eher leistungsorientierten Kletterern bestand, als Warmduscher bezeichnete. Als Zeltheizer. Als Weicheier oder als Softmover. Mit anderen Worten: Die beiden belauerten die unteren Schwierigkeitsgrade, wobei sie selbst dort die ausgewiesenen Genußtouren bevorzugten. Man sah sie eigentlich immer nur bei ausgesprochen schönem Wetter an den Felsen und belächelte ihren gigantischen Verpflegungskorb, vollgestopft mit ausgesuchten Köstlichkeiten, der nie fehlen durfte. Genauso wie die dicke grüne Picknickdecke und mindestens zwei bis drei Bücher für die entspannende Lektüre in den Kletterpausen. Sie waren bekannt dafür, gegen Abend in irgendeine Pension zu verschwinden, um danach frisch geduscht und umgezogen eine Gastwirtschaft oder ein Bistro aufzusuchen. Nicht selten mußte danach noch eine Eisdiele für den Ausgleich des Kohlehydratverbrauchs des vergangenen Tages herhalten. Am nächsten Morgen erschienen die beiden meist zuallererst wieder am Fels, gestärkt durch ein reichhaltiges Frühstück und eine erholsame Nacht in einem duftenden Federbett. „Oh - unsere Warmduscher sind ja schon da", begrüßte Erik die beiden eines Morgens, als die Sonne schon einige Zeit damit beschäftigt war, einen großen Sandsteinfelsen in der Südpfalz aufzuheizen. „Hallo Erik, hallo Karsten, wie geht' s?" Ilka winkte freudig mit einem in ihrer rechten Hand befindlichen Schokoriegel. „Na ja, geht so", brummte Erik. Karsten sagte gar nichts, kratzte sich nur auffallend oft an Hals und Oberarm, wo man schon von weitem zahlreiche Insektenstiche rot leuchten sah.
„Unser Schlafplatz war nicht so die Wucht", bemerkte Erik, indem er in Karstens Richtung nickte. „Wir waren in einer neuen Pension", mischte sich Michael ein. „Echt nette Leute. Gestern Abend gab es noch Flammkuchen bis zum Abwinken." Erik und Karsten grinsten sich verstohlen an. Ein gewisser Spott war in ihren Blicken nicht zu übersehen. Michael hängte sich unterdessen seinen Klettergurt mit Unmengen von Sicherungsgeräten voll. Er schüttelte wiederholt seine Arme aus und atmete einige Male tief durch. „Was hast du denn vor?", fragte Karsten. „Machst du einen Bigwall?" „Nein, nein, nur den Normalweg. Soll eine 3+ sein." „Aha, eine 3+", kommentierte Erik. „Willst du noch etwas zusätzliches Material von mir?" Karsten lachte los, hielt aber urplötzlich wieder inne und kratzte sich genervt am Hals. „Hör auf, du kratzt dich ja total auf", rief Ilka, wobei sie eine Seitentasche ihres Rucksacks öffnete und eine kleine Tube herauszog. „Was'n das?", wollte Karsten wissen, zumal Ilka sich davon etwas auf den Finger strich und in seine Richtung kam. „Mückensalbe. Eigentlich für Weicheier gedacht, aber ich mache mal eine Ausnahme." Die kühlende Substanz und Ilkas nicht unangenehme, massierende Finger erstickten Karstens Einwände im Keim. „Bist du vielleicht bald soweit, wir haben noch einiges vor." Erik schien etwas gereizt zu sein. Inzwischen stand Ilka wieder am Wandfuß und sicherte Michael, der die ersten Meter des Normalwegs hinter sich gelassen hatte. Dabei legte er in verschwenderischer Weise eine Sicherung nach der anderen und konnte sich vor lauter verbalen Begeisterungsstürmen über die Schönheit der Tour kaum beruhigen. „Eigentlich kann man die solo hochgehen", flüsterte Erik in Richtung Karsten.
„Und wenn man sich noch einen Arm auf den Rücken binden läßt, macht es vielleicht sogar etwas Spaß", gab dieser zurück, was mit einem verschwörerischen Grinsen quittiert wurde. „Geschafft, kannst nachkommen", rief Michael von oben. „Ja-ha, komme!" Ilka band sich ins Seil ein und stieg los. Indessen waren auch Erik und Karsten soweit. Andächtig stand Erik vor einer nicht enden wollenden Wabenstruktur. Den Kopf tief im Nacken schaute er die Wand empor. Seine Hände kramten im Chalk-beutel, und sein Blick schien trotz allem irgendwie leer zu sein. „Eine 8-. Das wird ein harter Brocken", bemerkte er versonnen. „Komm Mann, du schaffst es", feuerte Karsten ihn an, wobei seiner Stimme der Versuch zu entnehmen war, einen noch männlicheren Unterton zu erzeugen. Nachdem sich Eriks Augen regelrecht zu Schlitzen verengt hatten, stieg er los. Inzwischen waren Ilka und Michael wieder beim Abseilen. Natürlich hatten sie erst noch eine Weile die schöne Aussicht genossen und sich im Gipfelbuch verewigt, wobei Ilka dafür bekannt war, mit Herzen versehene Liebesbekundungen an Michael niederzuschreiben. Schon während der Abseilfahrt war Eriks lautes Fluchen zu hören: „Scheißdreck!" Erik war schon beim zweiten Reibungstritt unglücklich abgerutscht und hatte sich das Knie aufgeschürft. „Wart' einen Moment Erik, wir haben Pflaster dabei", rief Ilka, die das Ganze von oben zufällig gesehen hatte. „Zum Glück ist die Bergwacht gleich zur Stelle", brummte Erik kaum hörbar und über seinen Patzer immer noch stocksauer. „Wollt ihr auch was essen?" fragte Michael. Er hatte mittlerweile sorgfältig etwas Obst und einige frische Stückchen auf der berühmten Picknickdecke ausgebreitet. „Nein danke, wir sind zufallig zum Klettern hier", fauchte Erik, der mit bepflastertem Knie schon wieder eingestiegen war. Achselzuckend gesellte sich Ilka zu den morgendlichen Leckereien.
Während sie gerade mit dem Verzehr einer Art Apfeltasche beschäftigt war, cremte ihr Michael vorsorglich den Rücken ein, denn die Sonne brannte mittlerweile mit erhöhter Intensität. Erik ächzte und stöhnte sich am Rand seiner Leistungsgrenze entlang, und Rarsten schwitzte beim stundenlangen Sichern in der prallen Sonne vor sich hin. „Magst du etwas Sonnencreme, Rarsten?" Wieder war es Ilka. „Deine Schultern sind glaube ich ein wenig gerötet." „Nicht nötig", entgegnete dieser, ohne weiter auf das Angebot einzugehen. „Na dann." Ilka fischte eine Banane aus ihrem Rucksack und begab sich zum Einstieg einer auffallenden Verschneidung, die Michael noch vorzusteigen gedachte. Wie gewohnt hing sein Gurt voller Utensilien für das „nervliche Wohlbefinden". „Ist dir klar, daß das eine 5+ ist?" fragte Ilka, die vorsichtshalber noch einmal den Rletterführer zu Rate gezogen hatte. „Ich will's halt mal probieren." „Racke!", brüllte Erik, jetzt etwas weiter entfernt. Er war nach dem Einhängen der ersten Sicherung wieder rausgeflogen und ärgerte sich über sein eigenes Unvermögen. „War doch super bis dahin", rief Ilka aufmunternd hinüber. Anstatt eine Antwort zu bekommen, wurden die beiden Zeugen eines handfesten Streits zwischen Erik und Rarsten. Letzterer wollte auch endlich mal einen Versuch unternehmen, ersterer beschwerte sich über Ungeduld und Egoismus. Schließlich hebelte sich Erik in die Tour zurück und quälte sich weiter nach oben. Michael hatte weniger Glück und gab schon nach kurzer Zeit sein Projekt im oberen fünften Grad auf. „Das ist einfach zu schwer. Ich bin glaube ich schon zu platt." Ilka nickte und begann das Seil aufzuwickeln. „Es ist sowieso viel zu heiß", bemerkte sie. „Wollen wir nicht lieber zum See fahren?"
„Gute Idee." Michael sortierte seine Sicherungsgeräte und genehmigte sich einen Schluck Zitronentee. Mittlerweile hatte sich Erik bis zum zweiten Ring hochgekämpft, wo er sich erst einmal etwas ausruhen mußte. Rarsten fluchte über die Eigensinnigkeit seines Seilpartners und über die Symptome eines aufkommenden Hitzschlags. „Wir haben noch so viel Obst übrig, wollt ihr was?", rief Ilka, bevor sie sich endgültig ihren Rucksack aufsetzen wollte. „Nein danke", tönte es fast gleichzeitig aus zwei Kehlen und für die geringe Entfernung vielleicht eine Idee zu laut. „Na dann, bis später." Ilka und Michael machten sich an den beschwerlichen Abstieg über die typischen engen und verwurzelten Pfade der hiesigen Kiefernwälder. Noch lange hörten sie die lautstarken Diskussionen der beiden anderen. Dann wurden auch diese Geräusche vom dichten Wald geschluckt, und zurück blieb nur ein letzter Blick auf den imposanten Fels und das noch von weitem zu erkennende Leuchten von Karstens verbranntem Rücken. „Irgendwie freue ich mich schon auf die warme Dusche heute Abend", sagte Ilka und legte ihren Kopf an Michaels Schulter.
Gerd Schöffl wurde 1968 in Schweinfurt geboren, studierte in Würzburg Mathematik und Physik und schrieb dort auch seine Doktorarbeit. Inzwischen wohnt er zum ersten Mal außerhab Frankens im nordbadischen Walldorf und arbeitet in einer Softwarefirma. Als Sportkletterer legt er noch heute - wenn er in Deutschland ist - am liebsten Hand an die Felsen der Fränkischen Schweiz. Klettern und Reisen sind für ihn untrennbar verbunden, seine Spezialität sind exotische (potentielle!) Kletterziele wie Thailand, Philippinen, Laos oder Simbabwe. Als Autor und Fotograf veröffentlichte er einige Artikel in deutschen und internationalen Klettermagazinen.
Mission Impossible Gerd Schöffl
Die Dornier dreht langsam vor dem Berg nach links ab, und vor uns sehen wir die von Palmen eingerahmte Staubpiste, die als Landebahn dient. Noch über dem Wasser drückt der Pilot die Maschine nach unten, und unerwartet sanft setzen wir auf. Wow, El Nido. Die Bucht vor der kurzen Landebahn wird von unzähligen kleinen Inseln eingerahmt, die unser Herz höher schlagen lassen: Senkrecht ragen die Felswände aus dem tiefblauen Wasser in den ebenso blauen Himmel. Ein offener Kleinbus bringt uns in einer abenteuerlichen, halbstündigen Fahrt vom Flughafen nach El Nido, einer Ansammlung von zwanzig Hütten. Hier wollen wir also drei Wochen bleiben — es sieht nicht danach aus, als ob hier viel geboten würde. Aber wir sind ja hier, um neue Felsen zu erschließen und nicht, um Beachparties zu feiern. Und Felsen gibt es im Überfluß: Direkt hinter der Bucht, die sich durch die drei dort liegenden Auslegerboote unschwer als Hafen erkennen läßt, ragt eine graublaue überhängende Kalkwand auf. Die Inseln weiter draußen sind rundum von Felswänden umgeben. Wir glauben am Horizont über hundert Meter hohe Abbruche zu sehen. Ohne Zweifel - dies ist ein zweites Phra Nang. Volker und ich sind kaum zu bremsen, aber Sam als erfahrener Neulandentdecker hält uns zurück und besteht auf einem Mittagessen. Phra Nang - dort entstand im letzten Winter die Idee: Es soll in Thailand noch einige unerforschte Inseln geben, und wäre es da nicht reizvoll, ein neues Klettergebiet zu erschließen? Oder vielleicht nicht in Thailand, sondern woanders in Asien? Nachdem Sam wieder zurück in den USA und wir in Deutschland waren, begannen wir, unzählige Reiseführer nach Bildern zu durchkämmen und die Telekom sowie AT&T um einiges reicher zu machen.
Schließlich stießen wir auf El Nido auf Palawan. Palawan ist die zweitgrößte und westlichste Insel der Philippinen. Dennoch ist Palawan wenig erforscht, und noch 1978 wurde hier das achtzigköpfige Naturvolk der Tau't Batu „entdeckt". El Nido war genau das, was wir suchten. Auf jedem Bild entdeckten wir beeindruckende Felswände, eine davon erhebt sich direkt hinter dem Dorf. Die Reiseführer berichteten über Dutzende von einsamen Felsinseln und von Sandstränden, die von über hundert Meter hohen Kalktürmen begrenzt sind. Mit etwas gemischten Gefühlen lasen wir, daß hier auch Salanganen brüten. Einerseits bauen diese Schwalben ihre Nester bevorzugt in großen Höhlen, die jedes Klettererherz höher schlagen lassen. Andererseits werden diese Brutstätten vehement verteidigt - bevorzugt mit Kalaschnikows. Die Nester - mit Hilfe von abenteuerlichen Bambuskonstruktionen „geerntet" - werden teuer nach Hong Kong verkauft. Dort werden sie zu Suppe verarbeitet und zur Steigerung von Potenz und Lebensdauer des Essers und des Vermögens des Zwischenhändlers verspeist. Bis zu hundert Dollar werden für so eine Suppe kassiert. Was machte es schon, daß El Nido fernab jeder Zivilisation liegt? Oder daß Sam von einem anderen Amerikaner hörte, er sei nach mehreren Tagen im Dschungel mit dem Jeep wirklich nicht mehr weitergekommen und habe die Fahrt nach El Nido aufgeben müssen. Schließlich verrieten uns die schlauen Reiseführer, daß sowohl Philippine Airlines als auch Pacific Air nach El Nido fliegen. So trafen wir uns im Flughafen in Bangkok und saßen gemeinsam auf den hintersten Sitzen des Thai-Air-Fluges nach Manila. Die hintersten Sitze erweisen sich aus verschiedenen Gründen als unangenehm: Einerseits sieht man die ganze Kabine vor sich in das nächste Luftloch abtauchen, andererseits muß man der Stewardeß zusehen, wie sie allen anderen die Drinks serviert, und sitzt selbst auf dem Trockenen. Neben uns saß der Bildungsminister von Bangladesch - offen-
sichtlich ist sein Posten nicht der angesehenste in seiner Regierung. Manila ist bekannt für seine eindrucksvollen Slums. Dennoch war ich nicht auf die aus Brettern, Wellblech und Plastikplanen gebauten Siedlungen gefaßt, die sich direkt neben der Rollbahn des Flughafens ausbreiteten. Der Transport vom International Airport zum Domestic Airport führte uns genau hindurch. Neben einem halb verwesten Schwein mitten auf der Straße fielen mir besonders die vergilbten Wahlplakate für Corazon Aquino oder den jetzigen Präsidenten Fidel Ramos auf. Alle versprachen das Gleiche: Eine bessere Zukunft. Am Domestic Airport sollte sich herausstellen, daß El Nido eben doch nicht in greifbarer Nähe lag. Philippine Airlines war nach eigenem Beteuern noch nie nach El Nido geflogen, wir könnten aber auf eine etwas nördlicher gelegene Insel fliegen und von dort aus mit einer Fähre in etwa zwei Stunden nach El Nido übersetzen. Wer in den letzten Jahren die Nachrichten über die Philippinen verfolgt hat, wird drei Dinge dort immer wieder gesehen haben: Unruhen (gehäuft im Süden), Vulkanausbrüche (gehäuft auf Luzon, Panay und Minda-nao) und Fährunglücke (überall gehäuft). Bestärkt durch eine Beschreibung der Fähren in unserem Reiseführer lehnten wir diese Option dankend ab. Auch Pacific Air wußte nichts von einer Flugverbindung nach El Nido. Nach mehreren etwas mulmigen Fahrten zwischen International und Domestic Airport gaben wir entnervt auf und quartierten uns in einer netten und sicheren Lodge ein: Zwei Meter Beton, ein Meter Stacheldraht, zwei Torwächter und zwei scharfe Hunde vermittelten uns ein Gefühl der Geborgenheit. Die belgische Besitzerin, die nach ihrer Pensionierung nach Manila übergesiedelt war, holte uns nicht nur vom Flughafen ab, sondern gab uns auch den entscheidenden Tip. So stand Sam um 10 Uhr abends im Hangar von Suriano Air. Der Mechaniker konnte ihm glaubhaft versichern, daß morgen früh eine Maschine nach El Nido fliegen, der Flug wohl aber „fully booked" sein würde. Trotzdem standen wir um sechs Uhr morgens am Hangar
und konnten doch noch drei Plätze ergattern. Im Wartesaal begrüßte uns neben der hübschen Filipina mit Sandwiches und Kaffee eine ebenso hübsche Blondine auf einem Poster, die sich vor einer riesigen Felswand am Strand räkelte. So verschmerzten wir den unverschämt hohen Flugpreis (250 Dollar für je zwei Stunden Flug) und freuten uns, daß wir nicht wie die übrigen Passagiere in ein ebenso teures und ebenso der Familie Suriano (eine der einfluß- und überhaupt reichsten Familien dieses Landes) gehörendes Tauchresort auf der Insel Miniioc bei El Nido geflogen wurden. Ein Start über Manila in den Morgenstunden ist ein besonders eindrucksvolles Erlebnis. Als wir den Smog der Stadt unter uns gelassen hatten, ging die Sonne hinter der schwarzen Rauchwolke eines Fabrikschlotes auf, der Boden war selbst aus einer Höhe von 200 Metern kaum zu erkennen. Überall in der Stadt rauchten kleine stinkende Feuer. Bekanntschaft mit dieser Eigenart von Großstädten der Dritten Welt hatte ich schon am Abend zuvor gemacht - vor unserer Logde schwelte ein Autoreifen auf einem Haufen Plastik vor sich hin. Wie mir Volker und Sam versicherten, gehören diese Feuer zum normalen Straßenbild. Jetzt sind wir also am Ziel unserer Wünsche. Wir deponieren einige Wertsachen vertrauensvoll im Safe unserer Lodge - der „Safe" stellt sich am nächsten Tag als allgemein zugängliches Fach unter dem Ladentisch des einzigen Geschäftes des Ortes heraus - und versuchen ein Mittagessen zu uns zu nehmen. Kleine Unannehmlichkeiten begleiten dieses Unterfangen: Eine Kobra verwest auf dem Weg. Zwar ist eine tote Kobra eine gute Kobra, aber wo es tote Kobras gibt, finden sich sicherlich auch lebendige. Ein Schwein wird, als gerade unser Essen kommt (glücklicherweise kein Schweinefleisch), vor unseren Augen unter heftigstem Protest seiner Artgenossen abgestochen. Ein zahmes Äffchen sucht nach dem Essen auf meinem Schoß Zuflucht vor der Hauskatze und pinkelt mir zum Dank für meine beschützende Anwesenheit auf den Schoß. Allerdings wird das Mit-
tagessen von einer tiefen Erkenntnis begleitet: Schlagartig wird uns die Bedeutung des Namens „El Nido" bewußt. „El Nido" heißt zu deutsch „das Nest", und dieser Name kommt wohl nicht, wie zuerst vermutet, von den Nestern der Salanganen oder der Tatsache, daß der Ort wie in einem Nest aus Felsen liegt, sondern beschreibt schlicht und ergreifend die Größe und den Charakter des Ortes. Endlich ist auch Sam zum ersten Erkundungsgang bereit, und wir inspizieren als erstes das Massiv hinter dem Dorf. Der Wandfuß hat offensichtlich seit der ersten Besiedlung des Nestes als Müllkippe gedient, doch das stellt kein ernsthaftes Problem dar - die Wand ist sowieso unkletterbar. Außer den Reibungsplatten am Grimselpaß habe ich nie ein so glattes Stück Fels gesehen. Leider ist die Wand hier ebenso überhängend wie Handegg flach ist. Kein Problem, es gibt ja noch diese märchenhaften 1001 kleinen Inseln, deren Kanten sich verheißungsvoll am Horizont abzeichnen. Abet, der Besitzer unserer Lodge, ist uns behilflich, eines der äußerst wackelig aussehenden Auslegerboote zu mieten. Wie selbstverständlich zieht er ein Walky Talky unter seinem Tisch hervor und spricht mit einem Freund. „Da wir hier keine Telephone haben, müssen wir uns doch irgendwie verständigen" - dagegen können wir zwar wenig einwenden, allerdings kommen doch gewisse Zweifel an der Notwendigkeit dieser Anschaffung auf: Die am weitesten entfernte Hütte liegt etwa 400 Meter von der Lodge. Nachdem wir eine Stunde darauf gewartet haben, daß der altmodische Motor in das Boot gehoben und verschraubt ist, können wir endlich unter lautem Getöse - der schallgedämpfte Auspuff war wohl erst nach dem Bau dieses Motors erfunden worden - in See stechen. Mit Gesten erklären wir dem Bootsführer, auf welche der Inseln er zusteuern soll. Im Schneckentempo nähern wir uns einer traumhaften Felswand und erspähen schon erste Linien von mindestens zwei Seillängen. Der Seegang wird immer stärker, das Klatschen des Wassers gegen den Felsen lauter und bedrohlicher. Kaum fünf Meter von
der Wand entfernt dreht der Captain plötzlich ab: Der Fels ist von den Wellen unterspült, und in der zwei Meter hohen Höhle, die sich den gesamten Wandfuß entlang zieht, brechen sich die Wellen mit hoher Gischt. Hier ist kein Durchkommen. Steuert man das Boot näher an die Felsen, wird es unter die Überhänge gedrückt und zerschlagen. Über der Höhle lachen uns hämisch Leisten, Löcher, kleine Sinter und große Dächer an. Alles, was unser Herz begehrt. Wir umrunden in mehrstündiger Fahrt die Insel, und auf der gesamten Westseite bietet sich überall das gleiche Bild. Die Ostseite ist ebenso enttäuschend: flach wie eine Pizza. Aus dem Sand ragen Felsen wie die Pepperonis aus dem Käse - klein, gemein und höllisch scharf. Zwischen Ost- und Westseite befindet sich etwas, was uns bedeutend größere Angst einjagt, als mit dem Boot an der Felswand zu zerschellen: tiefster Dschungel. Sam und Volker versuchten letztes Jahr, sich zu einer neuen Wand am Phra Nang Beach in Thailand vorzuarbeiten. Nur eine Stunde später kamen sie blutverschmiert zurück. Nach zwanzig Metern und hundert imaginären Begegnungen mit Kobras schlug ein Dornengestrüpp in Sams Gesicht, und Volker konnte ihn endlich zum Abbruch der Expedition bewegen. Der Rest der heutigen Bootsfahrt ist nicht geeignet, unsere gedrückte Stimmung zu heben: Alle anderen Inseln bieten uns dasselbe frustrierende Bild. Am Abend halten wir Kriegsrat. Nach mehreren Bieren und vielen Zigaretten - die aus waschbeckengroßen Muscheln bestehenden Aschenbecher sind einfach nicht vollzubekommen glauben wir zu einer realistischen Einschätzung der Lage gelangt zu sein: Hinter den kleinen Inseln erstreckt sich im Westen über eintausend Kilometer das offene Südchinesische Meer. Die Wellen kommen vom Westwind getrieben mit voller Wucht auf die ungeschützten Inseln zu, brechen sich an den Felsen und höhlen diese aus. Frustriert schließen wir, daß die Felsen auf all diesen Inseln unzugänglich sein müssen. Durch den Alkohol um Jahre in der Evolution
zurückversetzt, ist unsere instinktive Reaktion Flucht: Flucht aus El Nido. Erst nach langer Diskussion einigen wir uns auf einen weiteren Tag im Boot - diesmal allerdings mit Klopapier in unseren geschundenen Ohren. Falls diese Erkundungsfahrt auch nicht erfolgreich ist, wollen wir so schnell wie möglich nach Thailand in die bekannten Gefilde von Phra Nang fliegen. Am nächsten Morgen weiß der ganze Ort schon von den verrückten Westlern, die stundenlang mit einem Boot um Inseln herumfahren und vor jedem Felsen eigenartige Verrenkungen machen. Beim Frühstück umgibt uns permanentes Kichern der Einheimischen. Wir versuchen, wenigstens unserem Bootsführer zu erklären, warum wir hier sind und welche Art von Felsen wir suchen. Erst nachdem Sam seinen Kletterführer herauszieht, hellt sich das Gesicht des Filipinos auf: Offensichtlich hat er gerade erkannt, daß wir nicht nur wahrscheinlich, sondern ganz sicher verrückt sind. Selbst Landratten wie wir wissen, daß zwischen Ebbe und Flut etwa zwölf Stunden liegen, und daß ein Boot, das am Abend bei Flut auf den Strand gezogen wird, am nächsten Morgen auf dem Trockenen sitzt. Obwohl wir unserem Bootsführer am Abend noch extra mitgeteilt haben, daß wir das Boot benötigen werden, spielen die Wellen über hundert Meter entfernt von unserem Gefährt mit ein paar Plastiktüten. Anfänglich leicht verärgert dürfen wir nun einem der größten Momente der Menschheitsgeschichte beiwohnen - der Erfindung des Rades. Nach einigen Beratungen schleppt ein Filipino unversehens einen Baumstamm an, auf den unter großen Anstrengungen des halben Dorfes unser Boot gehievt wird. Unter allgemeiner Begeisterung wird das Schiff so weit nach vorne geschoben, bis der Baum das Heck passiert und das Boot wieder in den Sand fällt. Zwar sind wir von der Größe des Augenblicks beeindruckt - Geschichtsunterricht zum Anfassen quasi -, wenig erfreut sind wir allerdings darüber, daß bei einem der Stürze des Bootes ein Teil der Schiffsschraube abgebrochen ist. So kommen wir noch langsamer voran als am Tag zuvor.
Wieder bietet sich uns nur das gewohnte Bild. Von den Höhlen, in denen die Salanganen brüten sollen, sehen wir ebenfalls nicht die leiseste Andeutung. Nach mehreren Stunden erfolglosen Suchens veranstalten wir ein Muschelweitwerfen auf einem idyllischen Palmenstrand, um uns abzureagieren, und mit schmerzenden rechten Armen beschließen wir bei einer Krisensitzung das endgültige Scheitern unserer Mission: Übrigens fliegen große flache Muscheln am weitesten: Versetzt man sie geschickt in Drehung, dann schweben sie wie kleine Frisbees. Wider Erwarten gibt es Dinge auf dieser Welt, die noch schwieriger sind, als nach El Nido zu gelangen - zum Beispiel, von dort zu fliehen. Unser Rückflug ist erst in drei Wochen gebucht, also gehen wir zu dem kleinen Haus von Suriano Air, um diesen vorzuverlegen. Nachdem die Philippinen bis kurz nach dem Krieg amerikanische Kolonie waren, sprechen fast alle Filipinos englisch. Geradezu versessen sind sie auf die Worte „fully booked". „The plane today is fully booked, the plane tomorrow is - fully booked..." Nein, eigentlich ist in der nächsten Woche in der zwölfsitzigen Dornier nie etwas frei, aber wir könnten in einer Stunde wiederkommen. Nach einer Stunde sind zwei Plätze am übernächsten Tag frei. Wir verabreden eine Bar in Bangkok als Treffpunkt und losen aus, wer zurückbleiben muß. Eine Stunde später hat sich die Information wieder geändert, und Volker, der Verlierer des Streichholzziehens, ist erleichtert: Der Flieger ist nun doch „fully booked". In höchster Verzweiflung packen wir unser Gepäck und fahren kurzerhand zur Landebahn. Wie durch ein Wunder ergattern wir noch drei Plätze in der bereitstehenden Maschine. So fliegen wir in der Dämmerung mit all unseren Bohrhaken, der Hilti und den Schachteln voll Chalk wieder gen Manila, ohne die Felsinseln unter uns noch eines Blickes zu würdigen.
Ralph Stöhr, Jahrgang 1960, lebt schon immer in Stuttgart. Der studierte Geologe verbringt den größten Teil seiner Zeit als Redakteur und Mitherausgeber des Magazins „klettern", daneben ist er freiberuflich im Bereich Umwelttechnik tätig. Eine klassische Kletterlaufbahn führte ihn von der Schwäbischen Alb über das Allgäu, die Dolomiten und Chamonix bis ins Pamir-Gebirge und nach Patagonien. In den letzten Jahren traten die alpinen Ziele des Allrounders zugunsten mittelgebirgiger und mediterraner Sportklettereien etwas in den Hintergrund. Als Autor zeichnet er für die „Kletterführer Donautal" und „Sun Rock" verantwortlich. Sein erster schriftstellerischer Versuch, ein abgedrehter Kletterszenekrimi, fand unter dem Titel „ Der Magnesiaring" Aufnahme in die Anthologie „Alles im Griff". Seit 1995 prägt er mit seiner spitzen Feder das Magazin „klettern".
Eine Trainingseinheit Ralph Stöhr
Was ein toller Morgen! Super, das Wetter ist schlecht, kann ich nachher wieder in die Halle zum Trainieren. Vielleicht ist die nette Blonde von gestern wieder da. Erstmal einen Blick in den Spiegel werfen. Noch ein bißchen verschlafen, aber das Potential ist da! Ich bin heute ja wieder soo cool! Frühstücken, dann den richtigen Fummel wählen. Scheiße, das neue Shirt schon wieder dreckig. Wat nu? Könnte das rote Muscle-Shirt probieren. Nee, zu eng, hab' zuviel gefressen letzte Woche, jetzt spannt's am Ranzen so. Vielleicht das gelbe Netzhemd? Schon besser! Aberweiche Hose dazu? Puh, sind das viele, ich komm' ja kaum noch an die da hinten in der Ecke. He, die sieht gut aus, paßt zum Gelb vom Hemd, dazu die rosa Sonnenbrille, zwecks Eyewear und Durchblick. Wow, echt geil Mann, da wird die Blonde Augen machen, und was für Augen, Augen, sag ich Dir!! Obwohl... War wohl doch nichts! Meine neuen Kletterschlappen sind grün, da paßt der Rest nicht zu. Was machen die die geilen Schuhe auch in solchen Drecksfarben! Grün! Da krieg ich kaum was anderes hin als ein abgeschmacktes Jägerdesign. Mal sehen, was ganz unten im Schrank noch wartet. Au scheiße Mann, in 'ner halben Stunde hab ich mein Date mit Til und Jonny an der Wand, da kann ich nicht ewig in diesem blöden Schrank rumwühlen. Ach was, ich laß sie warten. Nur die Blonde zählt heute. „Ich hab's dir schon zigmal gesagt: Wirf endlich was von diesen Karnevalsklamotten raus. Der Schrank bricht fast zusammen. Und ich hab's satt, deine ganze Garderobe jede Woche frisch zu bügeln!"
„Halt' du dich jetzt bitte raus, Mutter!" Das hat ja gerade noch gefehlt. „Wozu brauchst du überhaupt zehnerlei Kletterhosen und Shirts?" „Du hast doch auch nicht bloß ein Sonntagskleid! Und vielleicht hast du mal was von Trend gehört!" Was ich allerdings bezweifle. „Werd' ja nicht Frech!" „Jetzt laß' mich doch zufrieden, ich müßt' schon lange weg sein, meine Kumpels warten." Und die Blonde. Schau, schau, die Kameraden sind auch schon da. Erst mal lässig hinschlendern. „Scheiß Wetter heute, was?" „Ja, echt scheiße, Mann. Wir hängen schon den ganzen Morgen hier rum. Bin total platt, das war' draußen nicht passiert!" „Tja, Jungs, draußen werdet ihr aber auch nicht stärker. Von hier drinnen kommt die Kraft." Ausgerechnet Peter, der Klugscheißer. Auf den arroganten Affen könnt' ich heute ja mal verzichten. Meint, er sei der Kaiser von China, weil er manchmal 'nen Boulder mehr zieht als wir, „Na, Jungmover, auch schon aus dem Bett gekrochen?" Leck mich. „Wülste mitkommen? Hab da drüben 'nen neuen Boulder, knallschwer, zehn oder so." „Ich muß mich erst mal warm machen." „Verrenk' dir nichts dabei! War' ja schade." Arschloch. So ein Scheißzug. Der Peter ist aber auch deutlich größer. Riesenspannweite, der Typ. Klar, daß der locker an den Griff kommt. Ich streck' mich wie irr, und da fehlen immer noch fünf Zentimeter.
„Was'n los, Mann, keine Power heut?" „Rom ham se auch nicht an einem Tag gebaut." „Ach nee, Klugscheißer, ich bin aber im dritten Versuch da oben gewesen. Vielleicht frißte ja einfach zuviel." „Quatsch, an seiner Hose liegt's. So ein idiotisches Muster, da würd ich nicht mal 'nen Achter hochkommen!" Danke, Jonny, die Art Unterstützung kann ich jetzt gebrauchen. „Jetzt haltet doch endlich mal die Fresse, ich kann mich ja gar nicht konzentrieren. So schaff ich den Zug nie." Ist doch wirklich wahr. „Schaffst du eh nicht." Wenn dieser Typ nicht bald die Klappe hält. Diese Griffe tun aber auch nur weh. Möchte wissen, wie der an denen so anziehen kann. Scheiße, ich schaff's wieder nicht. „Was hab ich gesagt, du bringst's nicht." „Das ist einfach ein Scheiß-Problem. Total definiert und unnatürlich. Sowas macht mich nicht an. Da quer' ich lieber noch ein bißchen und mach' was für die Ausdauer." „Ach nee, jetzt kneift er ab. He, du Arsch, komm her und probier nochmal. Wir wollen noch ein bißchen lachen." Das hätte ich mir denken können. So ein Eierkopf. Und die ändern ganz genauso. Alles Schleimer. Bloß weil der kleine Griffe hält. Dabei bin ich noch allemal so gut wie der. Nur nicht so in Form heute. Und meine Hose ist auch in Ordnung. Oha, was'n das für ein hübsches Wesen da drüben. Zwar nicht blond, aber immerhin. Gleich mal rüberqueren. Eigentlich ganz leicht hier, aber wenn man sich ein bißchen verrenkt, sieht's gleich viel schwerer aus. Ah, jetzt guckt sie. Lächeln! Ganz cool lächeln! Mann, tut die Hüfte plötzlich weh, wohl doch zu weit gespreizt. Egal, weiterlächeln. Wahnsinn, sie lächelt zurück. Nachchalken, ganz ruhig bleiben. Und rangehn, bevor die ändern kommen.
Jag!" „Hallo." „Kommst du öfters her?" „Nöö, ich bin zum ersten Mal da." „Soll ich dir ein bißchen was zeigen? Da hinten hat's ein paar ganz einfache Boulder, auch für Anfänger." Und scharfe Bräute wie dich! „Geht's noch?" „Sorry, ich wollte ja nur behilflich sein." „Herzlichen Dank, aber Peter hat mir schon versprochen, daß er mir nachher alles zeigt hier, besonders die schweren Moves." „Ach, den Peter kennst du auch?" „Er ist mein Freund." Na prima, ein schönes Paar. Ein arroganter Schnösel und eine keifende Zimtzicke. Das trifft sich ja. „Was willst du von der Ingrid?" „Gar nichts, ich hab nur hallo gesagt." „Er wollte mir ein paar Touren zeigen." „Der? Der kommt doch selbst nichts hoch. Der hat nicht mal in der Schwergewichtsklasse eine Chance! Komm, ich zeig dir ein paar coole Moves." Ja, dampf ab, bevor ich mich vergesse. Langsam stinkt's mir aber wirklich hier. Scheiß Typen. Ich glaub, ich pack's wieder. „Schon wieder da? Du wolltest doch an die Kletterwand?" „War ich auch." „Für 'ne halbe Stunde zwanzig Mark ausgegeben? Du kriegst wohl zuviel Taschengeld!" Das fehlte gerade noch. „Ach, weißt du, Mutter, da war kein Mensch an der Wand heute, total unnormal. Und alleine trainieren macht mir irgendwie keinen Spaß, das ist einfach zu öde."
Michael Wärthl, Jahrgang 1970, lebt in der Außenzone des Münchner Verkehrsverbunds. Nach einem Feinwerktechnik-Studium ernährt er sich heute von der Tätigkeit als freier Bergführer. Der Allrounder kann auf Alleingänge im achten Grad ebenso zurückblicken wie auf einen Gipfelerfolg am Kz, den er im zarten Alter von 24 Jahren bezwingen konnte. Daneben eröffnete er einige schwierige Neutouren im Schüsselkar. Derzeit wechselt er die alpinen Arenen wie die Haarfarbe und fühlt sich dabei in Fels und Eis gleichermaßen zuhause. A propos zuhause: Sein aktuelles Projekt ist der Bau einer Rutsche für seinen dreijährigen Sohn. Die vorliegende Geschichte ist seine erste Veröffentlichung. Für das nächste Jahrtausend plant er aber bereits ein mehrbändiges Kompendium über die sauerstoffarme Bergsportliteratur der Gegenwart. Arbeitstitel: „Senkrecht gegen den Menschenverstand."
Der Everest ist überall Michael Wärthl
Wem von uns, der zur schönen Sommerszeit, nehmen wir einmal an, an den Sandstränden von Bibione röstet statt in Massone, oder altrömische Thermen besichtigt und nicht die Topo-Speisekarte von Sperlonga, der, statt in der Großgruppe in halbverfallene Bauernhäuser ohne Klo und Licht in Südfrankreich einzufallen, aus rein privaten Gründen mit Halbpension in Nizza weilt, kurz: welchem Kletterer, der im Urlaub nicht herbe Entbehrungen und Felsarbeit, sondern Ruhe und höchst regelmäßig Nahrung konsumiert, kam nicht schon über kurz oder weniger lang Dostojewski, der alte Psychologe, in den Sinn: „Was kann man von einem Menschen... erwarten? Überschütten Sie ihn mit allen Erdengütern, versenken Sie ihn in Glück bis über die Ohren, bis über den Kopf, so daß an die Oberfläche des Glücks wie zum Wasserspiegel nur noch Bläschen aufsteigen, geben Sie ihm ein pekuniäres Auskommen, daß ihm nichts anderes zu tun übrigbleibt, als zu schlafen, Lebkuchen zu vertilgen und für den Fortbestand der Menschheit zu sorgen - so wird er doch, dieser selbe Mensch, Ihnen auf der Stelle aus purer Undankbarkeit, einzig aus Schmähsucht einen Streich spielen. Er wird sogar die Lebkuchen aufs Spiel setzen und sich vielleicht den verderblichsten Unsinn wünschen, den allerunökonomischsten Blödsinn, einzig um in diese ganze positive Vernünftigkeit sein eigenes unheilbringendes phantastisches Element beizumischen. Gerade seine phantastischen Einfalle, seine banale Dummheit wird er behalten wollen..." So charakterisierte dieser Seher perfekt den wachsenden Leidensdruck, den eine ganze Spezies befällt, wenn sie auch noch in der Freizeit von zivilisatorischen Standards gezähmt wird.
Wie kann nun die ausweglose Situation aussehen, in die einen instinkthafter Tatendurst bringt? Zum Beispiel so: Meine linke Hand - genauer: zwei Finger - fixieren seit etwa drei Minuten einen unsichtbaren Zementmörtelklecks, der an einem platten Naturstein in fünf Meter Höhe pappt. Währenddessen tastet meine Rechte die kompakte Trockensteinmauer gewissenhaft nach Haltepunkten ab. Von der Ferne mag das wie harmloses Fensterputzen aussehen. Zuerst vorsichtig und zaghaft, mit wachsender Belastungsintensität immer hektischer, jetzt fast verzweifelt wischt die Rechte in Windeseile über die makellos glatte Oberfläche. Der Aktionseifer wächst mit der tatsächlichen Aussichtslosigkeit. Hier oben bin ich ein schwerfälliges Mammut in der Falle: „Was sull i moch'n?" würde Kottan fragen. Sterben - Stehen - verlaß' Dich auf Deine Füße, ist das einzige, was mir einfällt. Mit Erfolg: Der linke Fuß steht so intensiv, daß er sich plötzlich mit rasendschnellem Auf- und Abwippen Bewegung zu verschaffen versucht. Die rechte Fußspitze berührt dagegen höchst provisorisch den Stein. Wie sähe denn das aus, ließe ich ein Bein einfach in der Luft baumeln? Wo ich noch vor wenigen Minuten, als wir an diesem lauen Sommerabend an dem sechs Meter hohen Mäuerchen vorbei auf die süditalienische Kleinstadt zugelaufen waren, lässig zu meiner Freundin gemeint hatte: „Nettes Teilchen, da muß ich schnell mal rauf springen." „Ich geh dann schon ein Stück weiter", hatte sie erwidert. Und ich fliege dann mal eben hier runter, wie es aussieht. Abspringen? Aus fünf Meter Höhe? Ich, den der Anblick noch eines jeden DreiMeter-Brettes stets in Panik versetzt hat? Aufwühlende Bilder schießen mir durch den Kopf. Frühling letzten Jahres: Ein an Krücken gestützter Messner humpelt zum ORF-Interview in seinen Schloßsalon herein. Im Laufe der Sendung erfahre ich, daß ihm sein Grenzgang zur Burgmauerzinne die Gehhilfen beschert
hat. Wenn das Bergsteigen nicht mehr geht, sagt er unbekümmert, mache ich etwas Neues. Dann erfinde ich sofort einen neuen Beruf. Seine souveräne Miene signalisiert dem verzagten Arbeitsplatzbesitzer vor der Röhre, daß es nichts Leichteres auf dieser Welt gibt. Ich habe jetzt schon mehrere Berufe, erklärt der Extremalpinist, als Schriftsteller, Firmenberater oder im Filmgeschäft. Mein Gott, durchfährt es mich, und ich habe noch nicht mal einen! Ich kann doch nicht im Rollstuhl meine Bergsteigerkarriere beginnen! Er habe schon tausend neue Sachen im Kopf, vertraut Messner uns an, die nur auf eine Realisierung warten. Die Sponsoren warten nur auf Einfalle, deren Verwirklichung die Grenzen des Menschenmöglichen wieder ein Stück hinausschieben. Der Beneidenswerte! Haben mir meine beiden leiblichen Sponsoren nicht erst letzte Woche zu verstehen gegeben, ich hätte die Grenzen des Sponsorings seit 26 Jahren permanent vor mir hergeschoben, ohne erkennbare Leistungsduftmarken zu setzen, demnächst sei endgültig Schluß? Was ist denn da so glitschig? Mich ekelt es nicht schlecht, als ich sehe, daß ich soeben eine kleine Nacktschnecke mit der bloßen Hand am Stein zerrieben habe. Ein genauerer Blick läßt mich erschauern: Es ist rush-hour auf der Kirchhofmauer, praktisch die ganze Wand ist komplett von schleimigem Kleingetier überzogen. Der warme, sanfte Nieselregen, der kaum so recht den Boden berührt, hat alles aktiviert, was gewöhnlich die winzigen Nischen, Ritzen und Höhlen bevölkert. Nicht zu fassen, was da kriecht und robbt. Vorausgesetzt, es hat sich nicht schon unter den wuchtigen Profilsohlen meiner Lederturnschuhe gesammelt. Die sind inzwischen verdächtig rutschig geworden, doch eifriges Abreiben am Stein hinterläßt nur bei jedem Mal aufs Neue schwarze Streifen garantiert biologischer Herkunft. Unbeirrt kämpfe ich weiter. Letztes Jahr noch am Kz und nächstes Jahr dann aus dem Krankenhaus entlassen werden, wenn ich hier
abschmiere? Der Schweiß brennt in meinen Augen, die klebrigen Hände nerven. Meine Unterarme sind inzwischen zu Nudelwalzen herangewachsen und der Kopf zu etwas, was einem normalerweise von CSU-Wahlplakaten entgegenstiert. Noch ein tarzanartiger Dynamo, eine letzte gewalttätige Anspannung, und ich bringe ein Knie auf das Plateau. Mir gehen die Augen über: Durch einen Regenbogen gebrochen leuchtet die mittelalterliche Silhouette des Städtchens am Hügel gegenüber, die lauen Regentropfen werden von der tiefstehenden Sonne zu einem Vorhang dünner Silberfäden verzaubert. Im Gemüsegarten des Kirchhofs reifen blutrote Tomaten an runzeligen Blattstengeln. Ein schneeweißes Kätzchen schleicht hindurch. Sonst nur Stille. Ein Spätsommeridyll in dösender Lethargie liegt mir zu Füßen, Ich bin ja so froh, oben zu sein. Mein Gott, ist das schön, dankedanke! Meine Arme zittern zwar noch ein wenig, doch die symphonische Harmonie des Bildes und tausend Düfte aus den niedlichen Gewürzkräuterbeeten haben mich längst aus dem stählernen Gehäuse meines Kletterehrgeizes entführt. Keine Anspannung mehr und kein Ziel, nichts als mein ruhiger Atem. Diese Stimmung ist der Gipfel. Ich muß am Everest sein.
Stefan Süß, Jahrgang 1970, wurde in Ludwigshafen geboren. Seit Kurzem wirkt er nach einigen Umwegen als Rechtsanwalt und Steuerjurist (wirklich!) wieder in Ludwigshafen Mit dem Klettern begann er bereits als Jugendlicher und brachte es beim Sportklettern immerhin bis zum unteren 10. Grad. Auch in den Alpen war er in vielen anspruchsvollen modernen alpinen Sportklettereien, aber auch in abenteuerlichen Klassikern (ScheienfluhWestverschneidung, Großer Drusenturm-Burgerweg) unterwegs. Seit 1990 schreibt er - in erster Linie zur persönlichen Bereicherung - vorwiegend Kurzgeschichten, und dabei meist von Themen, die mit dem Klettern nichts zu tun haben.
Das Rauschen der Zeit Stefan Süß
Jahr und Tag liefen wir in die Wälder, an Felsen im Moos, prügelten unsere Autos durch Europa gen Süden. Mit der Blindheit der Mäulwürfe am Licht. Fluchten auf den Schöpfer, der die Turngeräte abseits dieser Welt stellte. Die Schotten dicht vor allen Reizen. Vielleicht ist folgendes nur ein weiterer Zufall im großen Spiel. Möglicherweise steckt hinter dem heuristischen Moment aber auch System. Zum ersten Mal traf ich ihn in Mont'Ral, Spanien. Es war noch vor der Zeit, wo wir alle schon überall gewesen waren, Landkarten Klettergebiete gleich Städten aufführten, noch vor der Zeit, als Schwärmen zur bloßen Geste wurde. März war es, der kälteste seit langem, wie sie uns sagten. Im Nebel der Tage saßen wir um den tonnenförmigen Ofen des Refugio, fütterten ihn mit Ästen, Stämmen, Wurzeln, Worten, Zeit. Im leeren Gastraum nur wir. Der Schnee vergangener Nächte hielt die Spanier in ihren Städten. Wie eine Schlange kroch die Kälte durch den Raum, Wind und Schnee rüttelten an der Tür, begehrten Einlaß, heulten mit den Kötern um die Wette, vielstimmig. Gleich, wieviel Enden die Welt haben mag, hier war eins davon. Spät in der Nacht das dunkle Brummen eines müden Motors, ängstliches Bellen der Hunde, das Schlagen von Autotüren. Morgens saß er dann im Gastraum, allein, mit Kaffeetasse und Buch. Soweit die Jahre und die Begegnungen mit ihm noch ein Steinchen eines ersten Eindruckes übriglassen, so scheint es diese unglaubliche
Wolke von Distanz zu sein. Eine unsichtbare Mauer umgab diesen Mensch, und ich bin nicht mehr sicher, ob wirklich Dampf aus seiner Tasse quoll, obwohl der Duft in Schwaden durch den Raum zog. Ein "Morgen" blieb alles, wahrscheinlich ein Deutscher. Mit ihm war die Sonne zurückgekehrt. Sie schnitt wie ein Messer durch die kalte Luft, tauchte die Hügel, sagen wir Berge, in ein hartes, fast unwirkliches Licht, wehte diesen seltenen, märchenhaften blauen Schleier über alle Farben. Traumhafte -Tage in der Gelassenheit des Südens. Die Landschaft taute aus ihrer Starre zurück, ließ die Vögel wieder fliegen, gab Bäumen und Sträuchern Erlaubnis, wieder zu wachsen und zu duften. Wir gingen wieder an die Felsen. Ein anfangs unmerklicher Fluß kam in unsere Bewegungen, schwemmte uns durch die Routen, gegen die wir anfangs geschwommen waren. Man sah ihn nicht oft. Wenn, dann tauchte er plötzlich aus den Urwäldern der Maccia auf oder aber wuchs aus den Felsen. Als hätte er, ein Chamäleon, rasch die Farbe gewechselt, die Tarnung gelupft, sei immer schon dagewesen. Er war, so schien es, Teil der Landschaft, eine Selbstverständlichkeit wie oben und unten, ein Element. In den Ruinen des alten La Mussara, wo sie irgendwann den Kampf gegen die steinigen Äcker aufgegeben hatten, das öde Bergland endlich wieder in Frieden ließen, dort, im Auge dieser Welt, saß er, ein Teil der verfallenden Häuser. Ins Gespräch, wie sonst doch fast die Regel, wenn sich die Kinder in der Nähe ihrer vertikalen Sandkästen begegnen, kamen wir nie. Distanz. Dann, am letzten Tag, den wir uns in den Montagnes des Prades schenkten, an dem ich wie üblich das grand final, das Sahnehäubchen zum Abschluß verpatzte, mich von der letzten Route immer wieder abwerfen ließ, an diesem Tag, wo er den Pfad heraufstapfte,
dann die Route, meine Route, hinaufkraulte, mit ihr kämpfte wie ein Cowboy mit einem wilden Pferd, an diesem Tag sah ich ihn zum ersten Mal: Seine Augen leuchteten, als ihn sein Faden weit hinter dem Einstieg wieder auf die Erde setzte, sie leuchteten in allen Farben - und in keiner. In Geuse, Frankreich, traf ich ihn wieder. Die lähmende Hitze des Augusts zersprang jeden Nachmittag im heftigen Gewitter, ihre sanfte Gewalt wurde zu Tale gedonnert, schoß mit den Sturzbächen hinab, hinterließ an den Felsen nur noch klamme Kälte. Jeder Tag wurde zu einem Spiel mit der Zeit, gerade noch unten im Tal das rettende Anwesen des Maitre zu erreichen, oder eben das große Schauspiel begann, ohne daß man die Bühne verließ. Das tägliche high noon: Spannung in der Luft; das Unwetter baut sich auf, stakst breitbeinig über den Himmel, verharrt, die Hand am Gürtel, zum Zerreißen gespannt, unbeweglich wie dein Spiegelbild und explodiert. An einem Nachmittag verloren wir das Spiel, der Regisseur stellte uns Darsteller vor den Vorhang, ein Häufchen Gestrandeter, voraus der tägliche Untergang unseres Schiffes. Schon manches Gewitter hatten wir erlebt in diesen Tagen, mit ihren langen Fingern tasteten sie über die Berge, Ketten, grollten ihre Flüche durch die Täler, direkt in dein Ohr, wuschen dieser Landschaft mit ihren Schauern gründlich den Kopf. Heute hatten die Unwetter den stärksten aus ihrer Mitte geschickt. Wie die Inquisition fuhr, tobte der Sturm durchs Land, bedeckte Gap mit einer einzigen Flutwelle und fiel uns an. Ein Meer fiel aus Wolken, die man nicht mehr sah. Die ganze Gemeinde hockte in einen Winkel der Bühne gedrängt, dort, wo der Himmel unter all den Überhängen am weitesten zum Horizont gedrängt wird, sie hockte da in langer Reihe. Ein antiker Chor, zwischen Mauern aus Stein und Wasser.
Ein französisches Pärchen hatte einen Hund dabei, ein schwarzes, großes Knäuel, aus dessen Fell die Chronologie dieses Tages zu lesen war: Einer von der Sorte, der man die Hand ins Maul steckt und nicht zweifelt, sie feucht, aber unverletzt wieder herauszuziehen. Ein dreckiges und einfältiges Lamm. Hier, unter dem Feuer der Natur im Schützengraben, erwachte in dieser Plüschkarrikatur die ferne Ahnung, die Erinnerung an das Tier: Aus dem Zentrum der Fellmasse ein unbekanntes, dunkles Grollen, die Augen verstoben Funken unter ihren Fransenvorhängen, vermengten sie-, und um die Schnauze erschien Schaum, nicht weiß: rot. Knurrend, fauchend trieb es uns wie eine Herde zusammen, formte aus der langen Reihe eine Traube, eine immer weiter schrumpfende Traube. Zeigte uns und diesem Wetter die Zähne, kein Zureden, Besänftigen dämpfte die Raserei, das Tier schien zu wachsen, Zorn und Macht als Hormone. Ich vermag nicht zu sagen, aus welcher der beiden Wände er wohl kam. Ob er aus dem Boden wuchs, aus dem Inferno fiel. Er war einfach - da. Stand zwischen den Blöcken, dem Buschwerk, im Staub, als ob dies sein Haus sei. Zurück vom Bäcker um die Ecke, die Zeitung unter der Achsel. Tat selbstverständliches: Besänftigte, befriedete, räumte auf, brachte den Hund zum Schweigen, verwandelte ihn, entzündete die Ruhe im Auge des Unwetters. Hockte vor dem schwarzen Haufen, der von der Bestie übrigblieb, ein Zischen löschte das letze Flackern der Raserei. In diesem Moment tat das Gewitter seinen letzten Schlag, endgültig wie eine Uhr, Big Ben am Himmel. Die Mauer vor dem Tal wurde zum Vorhang, auch dieser verschwand, am Horizont tauchte ein langer, diesmal konstant sichtbarer Finger aus den Wolken, als ob nach all dem Zorn es der Feststellung des Unten wieder bedürfe. So wie jedes Gewitter die Landschaft in der Stimmung unwirklicher Klarheit zurückläßt, Ernüchterung über die Täler weht, so blieb die
Szene zwischen uns Herde zurück: ein Objekt, eine Skulptur, ein Gebäude - und er, der Baumeister. Und er war fort, weggeweht, vom Boden verschluckt. Gemeinsam und doch verloren saß die Besetzung noch lange nach dem Stück auf der Bühne, Fragezeichen in den Gesichtern, erst ein gutgenährter Mond sah einen kleinen Tausendfüssler in seinem Licht zu Tale rutschen. Er blieb für dieses Jahr - wie die Gewitter übrigens auch - verschwunden. Es mußte Winter werden und wieder Sommer und dann noch ein früher Herbst, in dem ungeduldige Bäume trotz milder und trockener Witterung ihre Blätter an die Winde beharrlicher Hochs verramschten, Herbst mußte es werden, ihn wieder zu treffen. Der Nebel hatte plötzlich, wie jedes Jahr, mit der Eroberung des europäischen Festlands begonnen. Wie jedes Jahr konzentrierte er seine Kräfte auf die strategisch wichtigen Städte, und nur einige verirrte Kompanien gerieten aufs Land oder in die Berge. Dort schenkte die sich neigende Sonne ihre Strahlen den Ketten, Spitzen, Wänden und Graten, verwandelte die Wälder, Wiesen in ein duftendes Farbenmeer und verschwand abends rot vor Freude auf einen neuen Tag. Rätikon. Vor Sonnenaufgang schon verließen wir die kleine Hütte, kalt war es, der wolkenlose Himmel hatte sich noch zu keiner Farbe entschlossen. Aus einem östlichen Nachbartal kroch ein gelber Ball hervor. Als wir den Wandfuß erreichten, fand er sein Selbstbewußtsein und wurde zur Sonne, der Himmel wählte passend dazu sein tiefstes Blau. Es wurde ein Fest daraus. Wir kletterten, befreit und sorglos, die Gäste im Zauberland. Wärmeschwaden von den Almwiesen trugen uns empor, hinter uns zog es Gräser in den Himmel, Dohlen folgten ihnen, in Kreisen, Loopings. Unbeschreiblich.
Kurz vor Mittag, wir hingen hoch über den Feldern, auf denen die Bergvölker Schotter abbauen, sahen wir dort unten zwei Gestalten, bald sie verschwinden in den großen Bäuchen, wo die Wand am unfreundlichsten wird. Erst als die Sonne den Kehraus andeutete, erreichten wir den Grat, wir langsamen Könige, ein Reich zu Füßen. Zehn Meter weiter, neben einem Steinmann, saß er, eine Dohle auf dem Arm, und ich hörte, schmeckte, roch seine Ruhe und sah, wofür wir nur Glück sagen, weil kein Wort mehr von dem enthält, was da leuchtete. , Und er blieb noch, als wir zusammen mit dem selben freundlichen Mond wie in Ceüse abstiegen, und selbst, als wir nach Stunden unser Auto erreichten, schien dort oben ein Licht zu glimmen, ein Schein, ein Bild, vielleicht, ich gebe es zu, ein Traum. Wochen später, ein Zufall, erfuhr ich von der Erstbehung eines Deutschen im Rätikon. Lang, steil und schwer. Erstbegangen im Herbst, als der Nebel einsetzte. Und wenn es kalt wird im Winter und die Luft keine Gerüche mehr zu tragen bereit ist und die Tage nur noch kurze Besuche vom Licht bekommen, dann hole ich meinen Traum hervor und lerne wieder sehen, riechen und fühlen. Der Name der Route: carpe diem.
Robert Rauch, Jahrgang 1958, lebt seit seinem fünften Lebensjahr in Mittenwald. Wenn er nicht in Bolivien m bescheidenem Umfang Touristen führt, arbeitet er als selbständiger Landschaftsgärtner. Mit zwölf Jahren begann er im Karwendel mit dem Klettern, schon als Jugendlicher stieg er eigenverantwortlich durch extreme Routen. Unzählige schwere Klettereien, darunter auch Erstbegehungen und viele Alleingänge folgten. In den Anden glückten ihm allein, frei und teilweise auf neuen Wegen extrem schwierige Routen an mehrerern Sechstausendern. Über seine Touren hat er nie etwas veröffentlicht, seine 1996 erschienene, gleich satte 260 Seiten starke Biographie „verwegen, dynamisch, erfolglos" (Panico Alpinverlag, ISBN 3-926807-48-2) war seine erste schriftstellerische Unternehmung.
Aufbruch ins Abenteuer Robert Rauch
Deutschland war einmal ein Volk der Philosophen, Dichter und Denker. Heute zählt der Mensch nichts mehr, erlaubt ist nur, was noch immer nicht verboten ist. Viel ist es nicht mehr. Kaum jemand ist bereit, die Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Sie wird an andere abgegeben, die sie auf wieder andere abwälzen. Geld, Besitz und Macht sind die einzig gültigen Ideale. Allmählich wird das kapitalistische System zum superparasitären Industrieungeheuer, zum Tier, das menschliche Regungen mit seinem gefräßigen Maul einfach verschlingt. Die modernen deutschen Unternehmer laufen herum wie Soldaten der Waffen-SS: statt Handgranaten hängen zehn Handys an ihrem Koppel. Das erscheint dem normal, der damit aufgewachsen ist und deshalb nichts anderes kennt. Entfernt man sich gedanklich oder räumlich von diesen Wertvorstellungen, dann wird einem aus der Distanz der anormale Zustand dieser Lebensform bewußt. Eigentlich ist des ganze System der Wahnsinn, ein Wahnsinn, an den wir uns angepaßt haben. Um von all dem Abstand zu nehmen, ging ich nach Südamerika. Im Andenstaat Bolivien fand ich Freunde, lernte eine fremde Sprache in einem anderen Land. Einfach war es nicht. Aber nur wer das Unmögliche versucht, wird das gerade noch Mögliche erreichen können. Der Entschluß, im fast noch jugendlichen Alter von 38 Jahren wieder von vorne anzufangen, fiel schwer. Natürlich habe ich alter Hasenfuß soviel Angst wie jeder andere. Aber an die Angst gewöhnt man sich mit der Zeit. Es ist, wie wenn man eine steile Wand hinaufklettert: Wer hinunterblickt und verzagt, der wird unweigerlich abstürzen. Wer sich durch die Tiefe nicht beeindrucken läßt, der gewöhnt sich
an die Ausgesetztheit und wird sein Ziel erreichen. Blickt man hinter die Angst, dann verbirgt sich darunter nichts Furchteinflößendes mehr, sie wird normal. Es bleibt nur die Gewißheit, daß dir niemand sagen wird, was du tun sollst. Ich führte eine begrenzte Zahl von Touristen gegen Bezahlung auf hohe Andenberge oder durch geheimnisvolle Tropenwälder. Das ermöglichte mir eine Existenz, und ich half als Gegenleistung einer Handvoll Menschen, das zu finden, wonach sie suchten: Die Ehrfurcht vor Pachamama, der Mutter Natur. Zu dieser Arbeit stehe ich, in kleinem Rahmen betrieben fügt sie Bergen und Wäldern keinen Schaden zu. Den Ancohuma, 6427 Meter, höchster Berg der nördlichen Königskordillere, sehe ich von meinem Zimmerfenster in Sorata jeden Tag. Von der Sonneninsel auf dem Titicacasee scheint der Ancohuma mit steilen Flanken wie ein funkelnder Diamant aus der gewaltigen, ozeangleichen Wasserfläche zu ragen. Über allem ein azurblauer Himmel, wie es ihn nur in den Anden gibt. Man reibt sich die Augen, denkt: „Das ist nicht wahr." Es ist wie ein Traum, der einem, noch während man ihn träumt, zu unwahr erscheint, um real zu sein. Aber alles ist möglich, der Ancohuma ist der Beweis für die Wahrheit, die in allen Träumen steckt. Jedesmal zaubert dieser Anblick ein rasches, leuchtendes Lächeln auf mein Gesicht, das aus meinen Augen springt, gleich einem silbrig funkelnden Sonnenfleck auf einem düsteren Fluß. Selten versteht jemand, was ich sehe. Es ist, als ob ich Stimmen lauschte, die die anderen nicht vernehmen. Sie können dort nichts sehen, wo ich die Schönheit der Erde sehe. Ich kann nichts dafür, es ist eben meine Art, daß ich in mich verschlossen ein eigenes Leben lebe und dort etwas sehe, wo niemand sonst etwas bemerken kann. Es ist nicht leicht, so zu sein. Aber so bin ich, und ich lege keinen Wert darauf, anders zu sein. Eine meiner fixen Ideen war die Überschreitung dieses Berges von West nach Ost. Vom verkehrsmäßig relativ gut erschlossenen Sorata
wollte ich losgehen, um über den Gipfel des Ancohuma zu dem vom Fortschritt isolierten kleinen Bergdorf Cocoyo zu gelangen. Von dort wollte ich zu Fuß zum Ausgangspunkt Sorata zurück. Die Dimensionen des Ancohuma-Gebirges sind gewaltig und die Entfernungen beachtlich. Man kann die Schönheit der Erde nur verstehen, wenn man sie mit seinen Füßen ausmißt. Auf solchen Reisen wird man in einen anderen Kreis des Daseins versetzt. Dieses Hirngespinst in Zahlen ausgedrückt: nooo Meter Höhenunterschied und etwa 100 Entfernungskilometer. Die Umsetzung eines solchen Tagtraums in die Wirklichkeit kann bisweilen schwierig sein, aber in Gedanken kann man ihn sekundenschnell, wie einen Pfeil, von einem Ort zum anderen schießen. Für Träume gibt es keine Hindernisse oder Grenzen. Als ich endlich Zeit für diese Bergtour gehabt hätte, wurde das Wetter mitten in der Trockenzeit schlecht. Ungewöhnlich, aber nicht zu ändern. Sobald es aufhörte zu schneien, packte ich die Sachen für meinen Trip. Alles was mir irgendwie entbehrlich erschien, ließ ich zuhause, weil der Rucksack auch mit dem Nötigsten noch schwer genug sein würde. Die Kunst besteht darin, gerade soviel wie unbedingt nötig einzupacken, aber dabei nichts Wichtiges zu vergessen. Allein das Essen für sechs Tage wog schon einiges, am Ende der Reise kalkulierte ich einen oder zwei Hungertage und eventuell körperliche Verausgabung mit ein. Gerade als ich mit Packen fertig war, kam Jose, einer meiner Maultiertreiber, zur Tür herein. Er begleitete mich auf vielen Trips mit Touristen. Für ihn und einige andere Indios wurde ich so etwas ähnliches wie ein Arbeitgeber, und Abenteurer zu sein wurde unser gemeinsamer Beruf. Ich erklärte Jose, daß ich ihn nicht brauchte diesmal. Ich ging ja zu meinem eigenen Vergnügen zum Ancohuma. Worin der Spaß bestand, allein in der Gegend herumzulatschen, versuchte ich gar nicht erst zu erklären - ich wußte es ja selber nicht.
„Bitte nimm mich mit, einmal im Leben will ich auch auf einem 6oooer stehen" bat mich Jose, der Bauer aus dem Bergdorf Quirambaya. Ich hatte mich also getäuscht: Das Verhältnis von Jose zu seinen Heimatbergen ging also doch weit über das Geschäftliche hinaus. Doch die Aymara-Indios sind mißtrauisch und verschlossen. Letztlich kann kein Europäer verstehen, was und wie sie wirklich denken, weil sie ihre Gedanken nur selten preisgeben. Konnte ich einem Freund die Bitte, ihn mitzunehmen, abschlagen? Nun, da Jose mitkam, mußte ich meinen eben mühevoll gepackten Rucksack wieder ausräumen. Da wir zu zweit waren, brauchten wir dreimal soviel Ausrüstung: Seil, Karabiner, Eisschrauben und doppelt soviel Diesel für den Benzinkocher mußten mit. Mein zweites Paar Bergschuhe mußte sitzen, andernfalls würde Jose hierbleiben müssen. Nachdem er seine barfüßigen Quadratlatschen gewaschen hatte, mußte er probehalber seine Füße in meine Schuhe zwängen, wie im Märchen von Aschenputtel und ihrem Prinzen. „Ich komm' mit, die sitzen wie angegossen", meinte er grinsend. „Paßt zur Not auf jeden Fall", stellte auch ich zufrieden fest. Er würde die Zähne zusammenbeißen, wenn er sich die Füße wundlief. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen um fünf vor halb sieben. Erster Tag: Jose kommt um neun. Für einen Bolivianer sind zweieinhalb Stunden Verspätung mehr als pünktlich, vielleicht sogar etwas zu früh. Deshalb verliere ich kein Wort darüber. Ich sagte halb sieben und meinte damit neun oder zehn Uhr. Ein paar Stunden hin oder her fallen bei so einer langen Bergtour ohnehin nicht ins Gewicht. Geschwindigkeitsrekorde, das Hetzen von einem Berg zum anderen, wie sie in den Alpen gängige Praxis geworden sind, haben mir nie sonderlich imponiert. Ich würde lieber in einer Fabrik arbeiten als auf Akkord bergsteigen. Wenn ich keine Zeit habe, bleibe ich unten im Tal und liege faul in der Sonne herum.
Ich habe Zeit und kann für meine Tour so lange brauchen, wie mir das Essen reicht. Uhrzeit oder Tage sind unwichtig. Die Bolivianer nehmen die Uhr und die Arbeit nicht so ernst und lieben lange Gespräche ohne Inhalt. Mit Versprechungen muß man deshalb vorsichtig sein, sie bedeuten manchmal nicht viel. In Bolivien habe ich gelernt zu warten. Ich habe die Geduld dazu und werde auch mit einem Dasein ohne ständigen Zeitdruck ganz gut fertig. Ein Leben nach der Stoppuhr hat mir ohnehin nie richtig behagt. Die europäische Lebensform ist nur eine von vielen tausend möglichen. Andere Lebensweisen funktionieren nach anderen Prinzipien. Hauptsache ist, daß sie funktionieren. Wir bepacken das Maultier und gehen los. Undramatisch und doch entscheidend sind die ersten Schritte. Der Aufbruch in ein Abenteuer ist zwangsläufig auch ein Abschied von Bequemlichkeit und Sicherheit. Ich blicke noch einmal den steilen Hohlweg zurück, den wir hinter dem Maultier langsam höhersteigen. Das Hotel Prefectural mit seinen Türmen sieht von oben aus wie ein Märchenschloß. Es ist mein bolivianisches Zuhause, dort unten lasse ich bescheidenen Luxus zurück und tausche all die angenehmen Dinge, die ich haben könnte, mit einem kleinen, engen Zelt. Eine harte Lagerstätte, eine Ungewisse Zukunft, Hunger, Durst und Gefahren - freiwillig gewählt. Der Antrieb all meiner Aktivitäten ist die Neugier auf das nicht Bekannte, die unvorhersehbaren Überraschungen, die hinter jeder Wegbiegung warten. Ohne dieses „wissen wollen" wären das Rad, die Elektrizität, die Bierbrauereien niemals erfunden worden. Es gibt Menschen, die wollen nichts wissen. Vielleicht sind sie besser dran als ich. „Jose, mir kommt es vor, als hätten wir was vergessen", wende ich mich an meinen Begleiter. „Ich wüßte nicht was", antwortet dieser. „Es fehlt irgendwas - ich komme nur nicht drauf, was. Hoffentlich ist es nichts Wichtiges", lasse ich nicht locker. Wir bleiben stehen und überlegen. Ich schaue das Muli an, das nachdenklich an einem Gras-
büschel kaut. „Jose, Du hattest doch zwei Maultiere?" „Ach Mann, klar! Das eine, das größere ohne Last, habe ich unten im Prefectural vergessen", fallt es Jose wieder ein. Ich warte, der „zerstreute Professor" holt das vergessene Tragtier. Kaum sind wir losgegangen, müssen wir schon die erste Pause einlegen. Alleine wäre ich früher weggekommen und dementsprechend schneller gewesen. Der Gewinn, zu zweit loszuziehen, zählt weit mehr als der Verlust einer insgesamt gesehen unbedeutenden Zeitspanne, die sich während einer Tagesetappe ohnehin in nicht mehr meßbares Wohlgefallen auflöst. Nach der Rast steigen wir Schritt für Schritt bergauf, die störrischen Maulesel vor uns hertreibend. Unser Weg führt durch fruchtbares Acker- und Weideland. Kartoffel- und Maisfelder werden in mühevoller Handarbeit bebaut und bewässert. Ab und zu begegnen wir Schafhirten mit ihren Herden oder schwerbeladenen Indios auf dem Weg hinunter zum Markt nach Sorata. Joses Frau kommt uns entgegen, von weitem schon hat sie uns aufsteigen sehen. Obwohl sie schwanger ist, läuft sie flink wie ein Wiesel. Eingewickelt in ein buntes Tuch trägt sie eine von ihren Töchtern auf dem Rücken. Rosa war 15 und Jose 19, als sie heirateten. Das war vor fünf Jahren. Manche Indio-Mädchen bekommen mit zwölf ihr erstes Baby, sind selber noch Kinder, und keine Polizei verhaftet die schuldigen Väter. In den Bergen gibt es keine Polizei. Rosa hat uns eine Brotzeit mitgebracht. Wir sind vergeßlich, aber Hunger haben wir immer und, so packen wir die in ein Tuch eingewickelten Kartoffeln mit Racachias aus und essen alles auf. Kein Brösel bleibt übrig, wir sind ein ziemlich verfressenes Team. Wir laden unser Gepäck auf das frisch ausgeruhte Maultier um und setzen unseren Weg fort. Rosa geht mit dem überzähligen Muli zurück nach Quirambaya. Viele Stunden steigen wir hinauf bis zur verlassenen Eisenmine Titisani. „Ohne schweren Rucksack ging es sich doch erheblich leichter", meint Jose und zeigt dabei auf sein Muli. Ich gebe ihm recht.
Jahrelang haben sich eine Handvoll Indios hier oben abgerackert. Der problematische Transport des schweren, eisenhaltigen Gesteins mit Maultieren brachte keinen Centavo ein. Vor ein paar Jahren gab auch der letzte, der sturste auf. Seine Jugendjahre sind hier oben begraben, liegen irgendwo zwischen den halb eingestürzten Wohnhütten und dem Bach mit dem erzhaltigen Gestein. Ich erinnere mich noch gut an diesen Don Quichotte, den Indio von der traurigen Gestalt: sein faltenzerfurchtes, eckiges Gesicht, gezeichnet von schwerer Arbeit und einem harten Schicksal. Sein zahnloses Maul und die Hamsterbacken voll Cocablätter. Wenn er uns von da unten erblickte, verzog er den Mund zu einem scheuen, verächtlichen Lächeln. Es war der bittere Spott eines Enttäuschten, eines Geschlagenen, der sich nicht der Erkenntnis beugen wollte, alles verloren zu haben. Seine zwei Maultiere waren dürre Racker, wie er. Da steckte von den dreien keiner was auf. Nichts ungewöhnliches, ein Metallsucher. Ein Drama, wie es viele gibt. Heute wird dieser Ort nur noch von Bergsteigern aufgesucht, die den Ancohuma besteigen wollen. Sie sorgen dafür, daß auch weiterhin Geschichten von Plagerei, Entbehrung und der Jagd nach romantischen, haltlosen Träumen in die dünne Höhenluft geschrieben werden. Surreale Sehnsüchte sind es, die versponnene Abenteurer scheinbar immer wieder hier herauftreibt. Was ist geblieben von all den Opfern, die nie jemand aufgeschrieben hat? Nur der Wind weiß es, der eisig um obskure schwarze Felsen haucht. Wie wird es mir später einmal ergehen? Jeder Mensch hat ein Schicksal, und es ist gut, daß man seine Zukunft nicht kennt. Oberhalb der Ruine Titisani ein wunderschöner Zeltplatz mit Blick auf die Eisriesen Ancohuma, Pico Schulze und Illampu. Bald steht unser Zelt, der Kocher surrt, und wir trinken warmen Tee. Nach einer Woche Sauwetter ist es wieder schön, und wenn es so bleibt, wird der Neuschnee auf den Gletschern schnell auffirnen, die Eisverhältnisse werden dann ganz passabel sein.
Weit unten, blau und rötlich schimmernd, das Soratatal. Dahinter Höhenrücken bis zum Horizont. Wie Perlen auf einer Kette reihen sich Gebirge endlos und dreidimensional aneinander. Diese sich ins unendliche ausbreitende Weite, die sich auch bis in die verborgensten Winkel der Seele fortsetzt! Um sieben Uhr abends wird es dunkel und kalt. Schon früh drängen wir uns ins enge Zelt, in dem wir daliegen wie die Ölsardinen in der Konservenbüchse. Draußen ist es kalt und dunkel, drinnen stinkt es nach Stall. Die Aymara-Indios leben hauteng mit ihren Haustieren zusammen und riechen nach einer Mischung aus Ziege, Schaf, Esel und Lama. Mir ist das egal. Wo es stinkt, ist es warm, und wo es warm ist, ist es gemütlich. Satt und matt liegen wir in unseren Schlafsäcken, warm eingepackt und mit vollem Wanst. Eigentlich bedarf es nur wenig, um zufrieden zu sein. Manchmal genügt ein Zeltdach über dem Kopf. Unseres ist uralt, der Reißverschluß geht schon lange nicht mehr zu. Die geräumigen, aber schwereren neuen Zelte liegen unten in Sorata, aus Gewichtsgründen und weil ich sie für die Arbeit schonen will, nahm ich diesmal keines mit. Zum Schlafen ist es noch zu früh, und so liegen wir noch stundenlang nur da und unterhalten uns in ruhigem Tonfall über banale Dinge. Unser Gespräch fließt träge dahin wie der breite, langsame Madeirafluß unten im Tal des schwülheißen BeniBezirks. Jedes Mal, wenn ich am Einschlafen bin, holt mich eine Frage Jose's zurück aus der Welt des Traums in einen nicht wachen und nicht schlafenden Dämmerzustand. „Wie traurig wäre ich jetzt, wenn ich allein hier oben wäre und mit mir selber sprechen müßte", rede ich so vor mich hin. Für den, der diese Worte aber versteht, sind sie inhaltsschwer, sentimental. Kein Mensch genügt sich auf Dauer selbst. Freunde sind mit Gold nicht aufzuwiegen. Jose erzählt von seiner ältesten Tocher. Sie ist vor kurzem gestorben, und der Schmerz ist noch frisch. Ich sage nichts. Was soll ich auch sagen? Viele Indiokinder sterben oben in den Bergen, und viele Frauen sterben nach
einer Geburt. Ins Krankenhaus nach Sorata verläuft sich selten einer aus den Bergen. Lieber sterben sie. So stur, so dumm können K'ollas sein! Nach einer Weile des bedrückten Schweigens lachen wir über irgendeinen blöden, kindischen Witz. Der Tod gehört zum Leben wie der Schatten zum Licht, zuviel Aufhebens um ihn zu machen bedeutet, sich ihm auszuliefern. Schlußendlich kommen wir auf ein uraltes und doch immer wieder neues Thema: Was essen wir zur nächsten Mahlzeit und wie bereiten wir es zu? Darüber schlafe ich endlich ein. Da liegen zwei Menschen, auf über 4000 Metern, in einem engen Zelt, irgendwo. Nur eine handbreit Platz zwischen den Schlafenden. Sie kommen aus verschiedenen Kulturen. So eng beieinander sind sie sich unausweichlich ein Stück nähergekommen. Zweiter Tag: Am Morgen weckt uns ein weiter, knallblauer Andenhimmel. Die acht Schlechtwettertage sind vergessen, als ob es sie nie gegeben hätte. Es ist schneidend kalt, das Zelt mit Rauhreif bedeckt. Das arme Maultier schüttelt sich frierend. Über Nacht haben wir ihm Fußfesseln angelegt, damit es nicht nach Hause zu seinen Kameraden laufen kann. Wenn Maultiere in einer Gruppe unterwegs sind, bleiben sie, allein fühlen sie sich einsam und bekommen Heimweh und hauen über Nacht einfach ab, wenn man sie läßt. Warmer Tee, ein luxuriöses Frühstück und ein paar freundliche Worte wärmen von innen. Wie Kondore morgens mit ausgebreiteten Flügeln sitzen wir da und fangen zitternd die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ein. Über den Titisani-Paß kommt im Laufschritt der von Jose bestellte Mann daher, ein kleiner, kräftiger Bursche aus Qui-rambaya. Mit breitem Grinsen zeigt er ein lückenloses Gebiß, Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Für das Maultier ist der Weiterweg zu schwierig. Eusebio soll uns beim Tragen der Rucksäcke helfen und dann das Maultier nach Hause bringen.
Zu dritt brechen wir auf, ohne auf die Uhr zu schauen. Wann wir losgegangen sind und wann wir ankommen werden, ist nebensächlich, wir wollen nur unsere Tagesetappe schaffen, den Gletschersee. Aber auch das ist keine Hauptsache. Was ist eigentlich wichtig? Leben, das ist alles. Schritt für Schritt geht jeder für sich selbst vor sich hin, ohne Eile und eigentlich nichts suchend. Eine undefinierbare Sehnsucht, eine nicht erklärbare, treibt mich an. Es ist die Neugier, die mich immer wieder in Abenteuer wie dieses verstrickt. Es gibt Menschen, die sind träge und stumpf. Andere suchen sich ein Ziel, um die'Leere, das absolute Nichts damit auszufüllen. Ziele, sich selbst gestellte Aufgaben, lassen das Herz vor Begeisterung brennen. Ist das Ziel erreicht, wird augenblicklich ein neues gesucht. Sich für etwas zu begeistern, macht Sinn in sich, ein Ziel zu haben bedeutet, Ordnung in das Chaos im Hirnkasten zu bringen. Weiter geht es über Granitplatten, Moränenschutt, Geröll. Tief hebt und senkt sich der Brustkorb, die Luft ist dünn, auf dem Rücken die Last des Rucksacks. Hier oben wächst fast nichts mehr. Eine Wüste aus Stein. Früh am Tag erreichen wir den Gletschersee auf etwa 5000 Metern. Ich zahle Eusebio sein mehr als verdientes Tagesgehalt. Dann kochen wir ein leckeres Mittagessen für reichlich drei Personen. Jose hat am Morgen beide Löffel beim Abwasch am Bach liegen gelassen. Hier oben ist das ein herber Verlust, solche Dinge sind notwendig und unersetzlich. Schimpfen hilft auch nichts, leider haben wir keinen einzigen Löffel mehr. Umgerührt haben wir mit Messern und Zeltheringen, essen müssen wir mit den Händen. Unbeschreiblich, die Grimassen und Verrenkungen beim Löffeln einer Nudelsuppe ohne Löffel. Gelächter von drei Einfältigen, die sich selbst belachen, unfreiwillige Situationskomik. Ein Lachen, selbst wenn es unangebracht oder dumm erscheint, besiegt alle Härten des menschlichen Daseins, indem es die Lächerlichkeit von wichtig genommenen Dingen schonungslos bloßlegt. Eusebio macht sich auf den Rückweg.
Jose, ich, das Zelt, ein Bündel Essen und das Kletterzeug bleiben zurück. Ich erkläre Jose den Routenverlauf der Tour, die wir morgen früh beginnen wollen. „Mensch, ist das steil", grübelt Jose. „Was dachtest Du denn? Daß wir einen Spaziergang mit deiner Oma machen?" antworte ich. Jose schaut zum Gletscher, dann sieht er mich an, dann wieder den Gletscher. Schon oft ist es mir früher mit Kletterpartnern so gegangen, und deshalb weiß ich schon im Voraus, was es jetzt geschlagen hat. „Weißt Du was? Ich scheiße mir schon fast in die Hosen, wenn ich nur hinaufsehe", jammert Jose. Im Tal war er begeistert von dieser Idee, ja richtiggehend versessen auf diesen Berg. Vorsätze ändern sich manchmal recht schnell. Es hat mich immer schon angewidert, anderen mit Gewalt meinen Willen aufzuzwingen. Jeder Mensch hat das Recht, eine Meinung zu haben und diese Meinung wieder zu ändern. „Bleib' da oder geh nach Hause, wenn Du willst, Du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Höchstens vielleicht für die verlorenen Löffel. Ich werde morgen früh allein zum Ancohuma aufbrechen. So, wie es ursprünglich ohnehin mein Plan war", sage ich. Jose ist merklich erleichtert. „Was wird aus Dir, wenn das Wetter schlecht wird?" fragt mich Jose. „Das ist meine Sache und es ist gewiß nicht Deine Schuld, wenn mir etwas zustoßen sollte," ist meine Antwort. Spätnachmittags saßen wir da und blickten auf den Gletschersee. Sonnenlicht spiegelte sich in milchig-trübem Wasser, ein paar Eisschollen schwammen darin. Vom uns gegenüberliegenden Ufer erhob sich jäh und schroff ein gigantischer Gletscherbruch, wie ein zu Eis erstarrter Fluß. Schrankenlose Freiheit um mich, in mir drin. Und gespannte Erwartung auf die kommenden Tage voller Ungewißheit, in denen ich am Morgen nicht wissen werde, was am Abend sein wird. In der Frühe noch war der Himmel klar und wolkenlos. Jetzt schieben sich gewaltige Wolkenbänke von Westen heran wie Wattebäusche. Wir packten um. Für meinen Weg nach oben, für Joses Rück-
zug nach unten mit all den überflüssig gewordenen Sachen, die wir umsonst mitgetragen hatten. Der Arme würde gewaltig schleppen müssen. Das Maultier und Eusebio waren auch weg, so würde er morgen selbst das Maultier sein müssen. Zum Abendessen hüllte uns dicker Nebel ein. „Was suchst Du da oben? Gibt es einen See voll mit Gold auf dem Gipfel? Morgen werde ich dasitzen und nicht wissen, wie ich alles alleine tragen soll", jammert Jose. „Mein Rucksack wiegt auch locker 20 Kilo, Dein Weg ist leichter als meiner, und niemand hat Dich gezwungen, mitzugehen. Daß Du hier bist, war Deine Entscheidung", rechtfertige ich mich. Jose hat eine Familie. Ich habe niemanden und bin nur mir selbst verpflichtet. Es ist leicht für mich, allein zu gehen. Wenn ich sterbe, wird kein toter Hund nach mir heulen. Natürlich ist mein Vorhaben rational betrachtet nicht sinnvoll. Den tieferen Sinn, den ich darin sehe, kann ich nicht erklären, ich kann ihn nur leben. In Zahlen und Worten lassen sich Gefühle nicht ausrücken. Bei Anbruch der Nacht liegen wir wieder im Zelt. Wie eigentlich immer. Hier oben gibt es nur Stille und Einsamkeit, nichts sonst. „Paß auf Dich auf", hörte ich Jose noch sagen, bevor ich einschlief. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn ich wieder mit hinuntergekommen wäre. Doch was wäre dann aus meinem Traum geworden? Wenigstens versuchen wollte ich es. Umdrehen konnte ich immer noch, wenn irgend etwas schiefging. Ich bin kein Selbstmörder, und was ich tue, weiß ich genau. Dritter Tag: Morgens um vier wälze ich mich aus meiner Pennhütte, friere, frühstücke. Klarer Nachthimmel. Milchstraße, Kreuz des Südens und Millionen von Sternen. Unwichtig fast erscheint mir die Erde. Auf dieser Erde stehe ich, wie ein kleines Insekt in der Nacht. Bedeutungslos. Mich fröstelt bei dem Gedanken an die bevorstehende Einsamkeit. Kein Grund für Selbstmitleid: Ich will es ja so. Beim ersten
Dämmerlicht breche ich auf; Jose lasse ich schlafen. Das Zelt bleibt auch hier, ich spare mir somit drei Kilo Gewicht und werde die nächsten Nächte im Biwaksack verbringen. Im Eis, in großer Höhe, allein mit mir selbst. Zuerst Dunkelheit. Dann ein mächtiger Lichtstrahl wie erdröhnende Musik. Die Sonne grüßt den Morgen. Geduldig wartet die düstere Erde auf Wärme, Licht und Leben. Schritt für Schritt steige ich dem Himmel entgegen, bald ist es ganz hell, die Nacht ist dem Tag gewichen. Die Beine schreiten gleichmäßig aus, und durch die Bewegung wird mir warm. Bald sehe ich mein grünes Zelt nicht mehr, die letzte gedankliche Verbindung zu Jose, dem letzten Menschen irgendwo am Ende der Welt. Er hat mir versprochen, mich in zwei Tagen in Cocoyo zu erwarten. Ob er wohl kommen wird? Für wie lange werde ich mit niemandem mehr reden können? Zu Beginn schmerzt das Alleinsein immer. Man ist verletzlich, aber auch nur sich selbst verantwortlich und völlig unabhängig. Auch Jose wird allein sein heute. Ich weiß, daß er die Einsamkeit viel schwerer nimmt als ich. Weitläufig umgehe ich Gletschertürme und Spalten rechts. Blauschillernde Eistürme glänzen vor schwarzen Granitblöcken. Ich gehe langsam und gleichmäßig, als ob ich ziellos umherstreifen würde. Hier oben bedeutet die Zeit nichts, selbst Schicksale werden bedeutungslos. Es gibt keine Hast, die die Zeit beschleunigen könnte. Alles ist still. Es gibt keine Worte mehr, die von Mißverständnissen durchtränkt sind. Eis türmt sich auf Eis, Spalten klaffen tief ins Innere der gewaltigen, ozeangleichen Eisfläche. Der Name Ancohuma bedeutet auf Aymara, der Muttersprache Joses, „gefrorenes Wasser". Spanisch ist für ihn wie für mich eine Fremdsprache. Keine Ordnung ist in dem Chaos aus Eis und Fels erkennbar. Und doch folgt diese Nicht-Ordnung strengen Gesetzmäßigkeiten, Kreisläufen von Hitze, Kälte und selbst der Mond beeinflußt und formt das Eis. Niemand kann letztlich diese Geheimnisse begreifen, aber
sie sind erfahrbar. Wer das Staunen über die Erde nicht verlernt hat, der muß große Ehrfurcht vor ihnen haben. Steigeisen knirschen auf Firn. Die Sonne steht jetzt höher, glänzt auf Schneekristallen die Licht versprühen. Eine unermeßliche Fläche voller farbig funkelnder, glänzender Diamanten. Es ist, als ob ich träumte. Faszinierend, unbegreiflich, ergreifend schön leuchten Millionen von Kristallen um mich herum. Kein Laut durchbricht die feierliche Stille, nur das Knirschen der Steigeisen und der eigene Atem sind zu hören. Ohne Schaden zu verursachen, kann ich hier meine Anarchie ausleben. Ein Weg in die Freiheit hat kein Tor, er fängt erst dort richtig an, wo alle Tore aufhören. Der Preis der Freiheit ist hoch, frei zu sein ist brutal hart. Doch mir erscheint es ein viel schrecklicheres Los, so lange man lebt, verriegelt zu sein, niemals den Blick über den Rand seines Bierglases zu wagen. Eingesperrt in sich selbst, keine andere Freude zu kennen als den Neid auf alle, die anders sind. Ich bin immer voller Hoffnung, sonst würde mich diese Wüste aus Eis, die absolute Einsamkeit verrückt machen. Ein Vogel ohne Hoffnung fliegt nicht weit. Er stirbt, wie Blumen in einer goldenen Vase, in der kein Wasser ist. Anstatt mich weiterhin rechts zu halten, wähle ich eine direkte Linie zum Gipfeleisfeld für meinen Anstieg, nachdem ich den unteren Gletscherbruch mit seinen gefährlichen Spalten umgangen habe. Anfangs gibt es keine Hindernisse, auf einem unschwierigen Eisfeld wandere ich höher. Nachdem ich schon glaube, bald vor der Gipfelwand zu stehen, gerate ich in eine Zone von Spalten und hohen Eistürmen, die mir die Sicht versperren. Stundenlang suche ich nach einem Weg aus diesem Labyrinth hinaus in übersichtliches, leichtes Gelände. Steile Eistürme muß ich überklettern, und oft stehe ich plötzlich vor Überhängen oder labilen Schneebrücken über tiefen Spalten, muß auf meiner eigenen Spur zurück, um mir einen anderen Weg zu suchen. Einige Eispassagen, über die ich heraufkam, waren nicht leicht, und ich möchte im Moment lieber nicht wissen,
ob ich mich dort wieder hinuntertraue. Seil und Eishaken zum Abseilen sind im Rucksack von Jose. „Warum bist du nicht rechts gegangen?" schimpfe ich mit mir selbst. Ich habe mich aus Bequemlichkeit verfranst. Nach nervenaufreibender Wegsuche finde ich aus dem Irrgarten heraus. Über einen problemlosen Hang gehe ich bis unter die Gipfeleiswand. Weiter komme ich heute nicht mehr. Mein „Abkürzer" hat mich Kraft und Zeit gekostet. Ich finde einen schönen, ebenen Platz zum Schlafen, dort mache ich es mir gemütlich. Ein kalter, schneidender Wind kostet mich beim Anzünden des Benzinkochers eine Menge Streichhölzer, meine Finger werden klamm und fühlen sich an meinen Wangen an wie Eiswürfel. Sobald der Kocher läuft, krieche ich in den Biwaksack, wärme meine Hände über der Flamme, schmelze Eisbrocken und koche Tee. Warm läuft der Tee die Kehle hinunter, warm liegt die Blechtasse in meiner Hand, und ich fühle mich geborgen. Um den Gipfel jagen Nebelschwaden. Wird das Wetter halten? Der Mond geht auf, noch bevor die Sonne untergeht. Ein erhabener Augenblick, wie will man ihn in starren Formen, wie Worte es sind, festhalten? Als wollte jemand eine rosige Wolke in einem eisernen Gefäß einzufangen. Bald umgibt mich Nacht und Einsamkeit. Ich führe Selbstgespräche, Kälte kriecht von unten in den Schlafsack. Die Nacht ist klar, mondhell glänzt der Schnee. Mein Schatten sitzt wie ein eisiges Gespenst neben mir. Das Gipfeleisfeld hebt sich scharf vom Himmel ab, überglänzt vom Silber des Mondes. Ich schlafe ein, dann rüttelt mich die Kälte wieder wach, und ich blicke gebannt hinauf zu den Sternen, bis mich wieder Schlaf überkommt. Mal wache ich, mal schlafe ich, der Mond zieht seine Bahn am Firmament. So verbringe ich die Nacht, wissend, daß ihr ein neuer Tag folgen wird. Ewige Kreisläufe von Sonne, Mond und Sternen. Ist es nicht auch wie ein Naturgesetz, daß mich eine unerklärbare Sehnsucht immer wieder auf einen Berg treibt? Bin ich ganz oben, dann ist es eine Frage des Überlebens, wieder abzusteigen, dorthin, von wo ich herkam.
Vierter Tag: Ein Morgen in mehr als 6000 Metern Höhe. Alles ist klamm, die Lust aufzustehen hält sich in Grenzen. Nachdem es hell geworden ist, warte ich ungeduldig auf die Sonne, deren erste Strahlen langsam über den Ancohuma klettern. Wegen dem verdammten Wind gelingt es mir nicht, den Kocher anzuschmeißen. Gut fünfzehn Minuten massiere ich meine über Nacht gefühllos gewordenen Füße, bevor ich in die Plastikschuhe schlüpfe. Dann packe ich mißmutig und ohne wärmenden Tee trinken zu können meinen Rucksack und steige in die Gipfelwand, um die Nebelfetzen ziehen. Es wird ohne Zweifel schlechtes Wetter geben. Fragt sich nur, wann. Durst... mein Rachen fühlt sich an wie ein Reibeisen. Natürlich, seit gestern Abend habe ich nichts mehr getrunken. Knapp unter dem Gipfel finde ich ein einigermaßen windgeschütztes, geräumiges Plätzchen in einer Eisnische. Ich setze mich hinein und versuche, den Kocher vorzuheizen. Damit mir das Streichholz nicht ausgeht, stülpe ich meine Essenstüte, ein Geschenk österreichischer Bergsteiger, über den Kocher. „Flughafen Wien, Transit" steht auf der Tüte. Hier oben kommen mir diese Worte vor wie eine Nachricht von einem anderen Planeten. Das erste Zündholz geht mir aus, das zweite entzündet den Diesel in der Vorheizpfanne. Meine schöne Plastiktüte schmort mir an, aber es lohnt sich - der Kocher läuft mit blauer Flamme. Gierig schlürfe ich bald heißen Cocatee. Nachdem ich meinen Durst gelöscht habe, muß ich wohl für eine halbe Stunde eingenickt sein. Beim Packen meiner Sachen passe ich höllisch auf. Wenn mir der Kochtopfoder der Kocher über die Wand hinunterfiele, wäre das eine Katastrophe. Frisch ausgeruht ersteige ich eine letzte Eiswand, 55 Grad steil etwa. Anschließend daran noch ein langgezogenes, flaches Stück. Es erscheint endlos. Ich lasse meinen Rucksack, dieses schwere Miststück, in einer Kuhle liegen. Jetzt fällt das Atmen leichter. Als es nicht mehr höher geht, habe ich den höchsten Punkt erreicht, 6427 Meter, der
Gipfel. Und ich bin froh, bei diesem Nebel nicht mehr weiter hinauf zu müssen. Wenn der Gipfel mein Ziel gewesen wäre, dann hätte ich nur meine Anstiegsspur zurückzugehen brauchen. Der Weg aber ist mein Ziel, und der Gipfel des Ancohuma ist nur eine Etappe auf diesem Weg. Jetzt, da er erreicht ist, ist der Gipfel dadurch bedeutungslos geworden. Ein erreichtes Ziel muß augenblicklich einem neuen weichen, der Blick zurück zählt nicht mehr. Ich verfolge meine Aufstiegsspur bis zum Rucksack. Links führen meine Fußstapfen hinunter, die der Nebel nach wenigen Metern verschluckt. Drüben, auf der anderen Seite nichts, was mir den Weg verraten hätte, keine 50 Meter weit kann ich sehen. Soll ich hier oben biwakieren und auf gute Sicht am frühen Morgen warten? Dazu erscheint mir das Wetter zu schlecht, auf keinen Fall will ich in ein Höhengewitter auf dem höchsten Gipfel der nördlichen Königskordillere geraten. Dazu hänge ich zu sehr am Leben. Ich ersteige einen Höhenrücken und warte dort darauf, daß der Nebel einen Moment aufreißt und die Sicht freigibt. Kühl umstreicht der Wind meine Wangen. Eine Überhose wäre jetzt schön warm. Sie wird im Stall von Jose in Quirambaya liegen. Ich setze mich auf meinen Rucksack, ziehe die Beine an, lege meinen Kopf auf die Knie und starre angestrengt ins Nichts der Nebelsuppe. Der einzige Weg, um hinunterzufmden, ist Geduld, und die ist ärmliche Nahrung für ein ängstliches Herz. Mich fröstelt, noch enger presse ich die Arme an den frierenden Körper. Vor ein paar Tagen noch schlief ich in einem warmen Bett unter einem sicheren Dach. Nun sitze ich hier im kalten Nirgendwo und gleiche einer schmalen Brücke, die die Unendlichkeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart überspannt. Und da ist niemand, der mir rät, was ich jetzt tun soll. Da klart es auf! Schnell zeichne ich in Gedanken den Abstiegsweg. Dort ist der Felsturm, den ich mit Heinz Enz einmal geklettert bin und auf halbem Weg wieder umdrehen mußte. Schräg links drüben
mein Aufstiegsweg von der Sorataseite. Einen Moment lang ist sogar die Sicht frei bis hinunter zum Titicacasee. Der Grat direkt unter meinen Füßen ist also zweifellos die Abstiegsroute. Ohne irgend etwas zu sehen, habe ich mich, nichts anderem als dem Gefühl folgend, genau dorthin gesetzt. Ich kenne diese Route von früher, sonst würde ich den Abstieg heute nicht wagen. Einnial auf der richtigen Fährte kann mich auch dickster Nebel nicht mehr davon abbringen. 55, vielleicht 60 Grad steil ist die Flanke. Oft beschwerlich zu überwindendes Büßereis. Manchmal weiche ich auf brüchige, aber leichte Granitfelsen aus. Steil brechen links und rechts des Grates Wände ab, verlieren sich in grauem Nichts. Polternd verschwinden Steine, die ich lostrete, in der Tiefe. Zügig komme ich tiefer. In der Mitte des Grates nach rechts abzusteigen scheint verlockend. Ich erinnere mich daran, daß es falsch ist und in schwieriges Gelände fuhrt. Also bleibe ich auf dem Grat. Wo er sich verliert, eine kurze Eisflanke rechts hinunter, ein Sprung über die Randspalte und ich bin in leichtem Gelände. Der Nebel steigt auf, gibt die Sicht frei auf die Berge reihum. Unheilvolle Stille. Gewaltige Donnerschläge durchbrechen die gespannte Ruhe, kündigen das fällige Gewitter an. Wie Atompilze steigen Wolken am Illampu auf, schwarze Wolkenriegel hängen über der Condoriri-Gruppe, hunderte von Kilometern östlich. Gebannt bleibe ich stehen, zucke beim nächsten Knall ängstlich zusammen. Noch selten hat mich etwas so beeindruckt. Drohend und still fallen Schneeflocken, bald sehe ich aus wie ein Schneemann. Eine Beklemmung liegt über dem schweigsamen Land, die sich mir stärker und stärker mitteilt. Die Nase tropft, in den Haaren, die über den Mützenrand ragen, klebt Schnee. Ein barbarischer Donnerknall fährt mir durch Mark und Bein, ganz nah. Schnell überwinde ich die nächste Gegensteigung. Hechelnd stehe ich am Kamm. Der Wind wirbelt Schnee durch die Luft, tausend kleine spitze Kristalle in meinem Gesicht, unablässig und dicht. Runter vom Grat, weiter unten
bin ich sicher vor Blitzschlag. Donnergrollen im Rücken, Wetterleuchten von vorne und immer muß ich beim Absteigen aufpassen mit Spalten. Ich bin schon müde, und von Mal zu Mal kostet es mich mehr Überwindung, bei unsicheren Stellen zurückzusteigen, woanders einen besseren Weg zu suchen, der sicherer ist. Zum Glück ist das Unwetter vorbeigezogen, tobt sich weit weg aus. Wie die Mündungsfeuer aus schweren Geschützen leuchten in weiter Entfernung Blitze auf, gefolgt von dumpfem Donnerraunen. Die Sonne steht schon tief, als ich einen herrlichen ebenen Biwakplatz finde. Von einem kleinen zugefrorenen Gletschersee hole ich Eis zum Kochen. Durst. Der Körper saugt die zwei Liter Flüssigkeit auf, als wäre es nichts, die Zunge pappt nicht mehr am Gaumen. Nach dem Durst meldet sich der Hunger. Es wird Nacht, ein herrlich klarer Äquatorhimmel macht mich frösteln. Satt und nicht mehr durstig liege ich ruhig da, die Innenschuhe meiner Plastikstiefel lasse ich diesmal an. Die Kapuze des Schlafsacks ziehe ich mir über die Nase, die kalt geworden ist wie eine Hundeschnauze. Geschützt und geborgen schlafe ich ein. Spät in der Nacht nimmt die Kälte zu. Der Frost schleicht in meinen Körper, setzt sich dort fest. Die Kälte nimmt zu und die Dunkelheit, die Stille, die Einsamkeit. Fünfter Tag: Ein herrlicher Morgen mit klarem Himmel wird mit Zähneklappern begrüßt. Grimmige Morgenkälte begegnet der Hoffnung und dem Wissen um das baldige Erscheinen der ersten Sonnenstrahlen. Bei Sonnenaufgang zeigen sich erste Wolken, glutrot erhebt sich die Sonne aus ihrem Schlaf. Die Eiskristalle der Nacht glänzen auf dem Biwaksack. Als ich mich aus dem Schlafsack schäle, kriecht die Morgenkälte den Rücken herauf. Es schüttelt mich, doch es dauert nicht lange, bis die Sonne höher steht und wärmt, heißer Tee tut ein übriges. „Ohne Sonne wären wir keine Menschen", hat Jose einmal bemerkt. Jose hat niemals eine Schule besucht, er ist durch die harte
Schule der Anden gegangen. Ob die Studenten in den unpersönlichen, kalten Hörsälen der Universitäten sich wohl ebenso wie wir Ungebildeten manchmal nach der Sonne sehnen? Wir leben alle in verschiedenen Welten, und doch haben wir alle gemeinsam nur diese eine Welt, die irgendwie die Heimat für uns alle ist. Die Sonne macht keinen Unterschied zwischen einem Trottel und einem Genie: Sie wärmt uns alle, ob wir Akademiker sind, die für eine Welt ausgebildet wurden, die es gar nicht gibt, ob wir irgend etwas Gescheiteres oder gar nichts tun. Ich blicke hinauf zum Ancohuma. Ist das derselbe Berg, den ich gestern von der anderen Seite erstiegen habe? Von hier sieht er völlig anders aus. Wie ein anderer Berg vor einem neuen Horizont. Andere Ansichten, andere Aussichten werden offenbar. Ein Berg von solchen Ausmaßen hat tausend Gesichter. Man kann ihn nie wirklich kennen, zu wandelbar sind seine Charaktere. Wieder breche ich auf ins Unbekannte, setze Schritt auf Schritt in die Eiswüste, steige den Gletscher abwärts. Aus Bequemlichkeit versuche ich, den Gletscher direkt zu überqueren. Es spart mir weder Zeit noch Kraft, ich muß wegen breit auseinanderklaffender Spalten wieder aufsteigen, zurück zum Biwakplatz. Vielleicht hätten die dünnen Eisbrücken über den Spalten mein Gewicht ausgehalten? Für dieses Vielleicht aber und ein paar Stunden Zeitersparnis werfe ich mein Leben nicht einfach weg. Kann sein, daß es nicht sonderlich wertvoll ist, aber ich hänge daran. In weitem Rechtsbogen umgehe ich die gefährliche Zone. Gletscher, unterbrochen von schwarzen Granittürmen, soweit das Auge reicht. Wieder steigen Nebel auf. Verdammtes Wetter! Von früher weiß ich, daß es noch viel schlechter sein könnte. Mystisch, kalt, unnahbar ragen Ancohuma und Illampu mit eisigen Fingern durch geballte Wolkenfäuste hindurch in den Himmel. Erhabene Augenblicke auf einer langen Reise. Die Eindrücke erschlagen mich fast. Schnee reflektiert Sonnenstrahlen, Wolken quellen am Horizont auf wie Dampfnudeln. Es ist heiß, Durst quält mich. Ich
bücke mich und nehme eine Handvoll Schnee in den Mund. Die Kühle tut mir gut. Auf den Wanderungen in der Schule hatte die Lehrerin das immer verboten. Aber das war eine andere Zeit in einer anderen Welt. Wieder einmal eine Gegensteigung auf einen Kamm. Längs- und Querspalten erlauben nicht, sich einfach gehen zu lassen. Immer muß ich mich voll konzentrieren. Vor der Kammhöhe hüllt mich dicker Nebel ein, ich sehe nichts mehr und muß den Weg nach Gefühl und nach der Erinnerung finden. Der Gletscher hat sich völlig verändert, ist gefährlicher geworden. Spalten drängen mich weit nach rechts ab. Komisch, immer wieder rechts, denke ich mir. Plötzlich stehe ich vor einem tiefen, unüberwindbaren Abbruch. Enttäuscht gehe ich ein Stück zurück, halte Ausschau nach einem anderen Weg. Dort, wo jetzt eine breite, unüberwindliche Spalte klafft, ging es früher einmal lang, ich bin mir sicher. Doch das nützt mir jetzt überhaupt nichts. Dreihundert Höhenmeter muß ich wieder hinauf. Eine bleierne Müdigkeit befällt mich, meine Beine sind schwer. Wie zerschlagen, zerhackt. Müde blicken die Augen, die eigentlich schlafen wollen, in den Schnee, während ich schleppenden Schrittes zurücksteige. Oben angekommen setze ich mich schwer atmend auf den Rucksack, um eine kleine Pause zu machen. Als der Nebel die Sicht für eine halbe Minute freigibt, plane ich schnell den weiteren Rückweg. Es ist der gefährlichste Teil meiner Reise, wo ich mich doch längst in Sicherheit glaubte. Gletscher sind unberechenbar und verändern sich mit der Zeit, das macht sie so gefährlich und ist auch irgendwie der Reiz. Hätte ich Sicherheit und Langeweile gewollt, dann hätte ich jeden Tag in Mittenwald ins Hallenbad gehen können. Mein Leben wäre anders, ich hätte mehr Geld und wäre vermutlich ein eifriger Tennisspieler und Saunagänger. Vielleicht hätte ich eine Frau und müßte jeden Abend vor der Sportschau ihren Zwergpinscher, so einen kleinen Schoßhund mit roter Schleife und rosa Arschloch, Gassi führen. Ob einen
das glücklich macht oder zum seelischen Krüppel, weiß ich nicht. Ich kann mir nichts darunter vorstellen, weil meine Situation eine ganz andere ist. Zwischen Spalten habe ich eine gangbare Linie ausgemacht, über diese mogle ich mich nach unten und erreiche das Ende des Gletschers. Ständig sind meine Nerven gespannt wie Gitarrensaiten. Mir fällt Markus ein, der diesen Sommer beim Bergsteigen ums Leben kam. Er war noch jung und voller Tatendrang. Eine Lawine, eine verdammte Lawine und zwei Menschen waren tot. Ist irgendein Berg so ein Opfer wert? „Man kann nicht immer nur daheimsitzen", sage ich traurig zu mir selbst, und ob ich recht habe oder nicht, ändert nichts an der Endgültigkeit des Todes. Ich finde keinen Übergang auf festen Boden. Müde bin ich, will nur nicht mehr steigen müssen. Eistürme wie Orgelpfeifen streben vom Granitgrund 30, 40 Meter überhängend in die Höhe. Das Eis hält mich mit Adlerkrallen fest, will mich nicht mehr hergeben. Gefangen am Rande eines Eisozeans. Die Beine bewegen sich automatisch, aber ich muß meinen ganzen Willen aufbieten, um mich weiterhin zu konzentrieren. Schließlich gelingt es mir, einen schönen, nicht allzusteilen Übergang zu finden. Noch 20 Meter Abklettern in morschem Eis, dann knirschen die Steigeisen auf einer Granitplatte. Schnell sind sie ausgezogen. Am liebsten würde ich sie wegwerfen. So muß sich ein Seemann fühlen, der nach langer Fahrt endlich wieder festen Boden betritt. Dieser letzte Gletscherhang war ein Monster an Spalten. Ich habe einen guten Durchschlupf gefunden. Diese Feststellung ist unnütz, jetzt, da der Gletscher hinter mir liegt und Vergangenheit ist. Der Weg ist noch lange nicht zu Ende, aber jetzt brauche ich mich nicht mehr zu konzentrieren. Meine Beine steigen automatisch abwärts, wie in Trance verlieren sich träge Gedanken in einem halbwachen Zustand. Ich habe die Handschuhe ausgezogen und in die Hosentasche gesteckt. Das Eisbeil schwingt unnütz in meiner rechten Hand
hin und her, wie ein Pendel. Die Schwere von Beinen und Rucksack nehme ich nicht mehr wahr. Über steilen Moränenschotter komme ich zu einem ebenem Platz mit gewundenem Bach. Die Sonne glänzt silbrig im plätschernden Wasser, läßt mich müde blinzeln. Hämisch grinsend packe ich Schlafsack und Matratze aus. „Und wenn es Saubohnen hagelt, ich schlafe jetzt", stelle ich trotzig fest. Trotz, gegen wen? Schon liege ich im Schlafsack. Irgendein Steinchen drückt mich im Rücken, das ist mein letzter schläfriger Gedanke, bevor ich in schwarzen, traumlosen Tiefschlaf versinke. So schnell ich tief eingeschlafen bin, bin ich auch wieder wach. Schade. Wieviele Stunden mag ich wohl so dagelegen haben? Ich habe keine Ahnung. Hunger und Durst packen mich jetzt mit Gewalt. Ich koche mir ein paar Leckerbissen, alles andere ist im Moment unwichtig. Nachdem der Wanst voll ist, zeigt mein Wecker fünf Uhr nachmittags. Um Sieben wird es dunkel. Soll ich bleiben oder gehen? Ich kenne den Weg gut, es ist Vollmond, und zur Not kann ich mich an jedem beliebigen Punkt des Weges hinlegen und schlafen. Ich trödle noch ein bißchen herum, genieße den Augenblick, den einzigen Moment, in dem ich leben kann. Die Zukunft ist Illusion, es gibt sie noch nicht. In Deutschland sorgen sich Menschen schon zehn Jahre bevor ihnen das Geld ausgegangen ist, was dann sein wird. Ich sitze nur da und denke nicht an den weiten Weg, der noch vor mir liegt, und nicht an die Plagerei der vergangenen Tage. Wozu auch? Die Suppe hat gut geschmeckt - das sagt mir im Moment mehr als die Sorge vor einer fernen, abstrakten Zukunft die unvorhersehbar ist. Vergnügt und ausgeruht mache ich meinen Rucksack fertig. In Sprüngen laufe ich den Berg hinunter. Bald, etwa zwei Stunden später, geht der Mond über dem Gipfel des Villuyo Yacuma auf. Am Rande eines Sumpfes entlang gehe ich bis zum Milchsee, eine mondhelle Nacht hat den Tag abgelöst. Ein paar Enten dümpeln lautlos im Wasser, ihre Spur gleicht einer silberglänzenden Perlenkette. Eine Spur im Wasser,
die genauso vergänglich ist wie meine Spur im Schnee, die längst die Sonne ausgeschmolzen und der Neuschnee des Gewitters zugedeckt hat. Wie kann das bleiche Wasser fühlen, daß der Mond es anzieht? Ihr sitzt Tag für Tag vor euren vergötterten Maschinen und glaubt, mit mathematischen Gleichungen die Welt erklären zu können. Wenn ihr aber über solche Dinge nachdenkt, dann wird euer Hirn so kahl wie ein abgeerntetes Maisfeld, und ihr wendet euch erschreckt komplizierteren Dingen zu. Vielleicht wißt ihr überhaupt nichts. Am linken Ufer umgehe ich den See. Hier oben war ich einmal Zuhause, immer noch kenne ich jeden Stein. Habe eine Zeit meines Lebens dort verbracht, die nicht meine schlechteste war. Dort ist der Klettergarten, den ich mir damals zum Bouldern eingerichtet habe, hier schlug ich mir mit dem Hammer den Fingernagel blau. Viele Jahre ist das her, mir kommt es so vor, als wäre es gestern gewesen. Was ist schon Zeit? Oft ist es nur Einbildung, was der Mensch dafür hält. Immer wieder bin ich hierher zurückgekommen, wie weit ich mich auch von diesem Ort entfernt habe. Kreisläufen gehorchend wie die Bahnen von Sonne, Mond und Sternen. Wie frei kann ein Mensch sein? Es gibt Grenzen, vielleicht kommt aber auch alles so, wie es einfach kommen muß. Nach einer Gegensteigung wird der Bach ohne Brücke überquert. Dann ein kurzer Abstieg zur Laguna negra. Ich setze meinen Rucksack ab, schaue in die Runde. „Eigentlich bin ich nirgends zu Hause", gestehe ich mir ein. Von meiner „alten Heimat" bin ich so scharf getrennt, als ob ein neues Messer einen Zweig vom Baum geschnitten hätte. Das ist nicht ungerecht, nur unvermeidlich. Und das ist das Traurigste, was es überhaupt gibt. In der Ferne Wetterleuchten. Es könnte schneien in der Nacht. Deshalb wähle ich eine aus zwei aneinander gelehnten Granitplatten bestehende kleine Höhle als Lagerplatz. Dort war einmal einer meiner schwersten Boulder, überhängend aus der Höhle hinaus. Heute könnte ich mich dort nirgends mehr halten, mir würde die Kraft in Fingern und Armen fehlen.
Nach den Nächten im Eis kommt mir dieser Platz wie ein Hotel vor. In den Bergen wird man bescheiden, wenn man lange genug dort verweilt. Ich habe alles, was ich brauche: fließendes Wasser vom Bach, eine bequeme Kochstelle und eine Wohnhöhle, die nach einer Seite hin offen ist, mit Blick auf einen unvergleichlich klaren Äquatorhimmel mit Milliarden von Sternen. Morgen werde ich in Cocoyo sein und einkaufen können. Ausgenommen heute habe ich mit Brennstoff und Essen geknausert, nicht wissend, wie lange die Vorräte reichen würden. Aber jetzt kann ich meinen Proviant zum Abschuß freigeben. Was ich heute wegputze, brauche ich morgen nicht mehr zu tragen. Ich sitze wie ein Einsiedler in meiner Höhle, froh, es bequem zu haben, und veranstalte eine Freßorgie mit so vielen Gängen, wie ich hinunterschlingen kann. Was ist der Sinn des Lebens? Fressen! Sechster Tag: Ich hatte einen seltsamen Traum, sah das vertraute Gesicht meines Bruders. Er atmete durch den Mund, wie er es immer tat, als wir noch klein waren, in den Jahren, in denen wir zusammen in dem winzigen Eckzimmer ohne Heizung schliefen. Es war kein Paradies, aber wir waren dort daheim. Meine Biwakhöhle brauche ich mit niemandem teilen. Habe gut geschlafen. Schnell ziehen Wolken am Himmel vorbei. Am Abend werde ich wieder unter Menschen sein, deshalb rasiere und kämme ich mich am Fluß, ziehe mein einziges Ersatzhemd an. Ich will nicht wie ein Wilder ankommen. Versteckspiel, niemand zeigt sich so, wie er eigentlich ist. Wäre ja auch ziemlich ernüchternd. Zum Frühstück haue ich noch einmal ordentlich rein, es bleibt fast nichts mehr übrig. Eine ganze Weile sitze ich auf meinem gepackten Rucksack, rülpse und hänge alten, sentimentalen Erinnerungen an diesen Platz nach, dann reiße ich mich los und beginne zu marschieren. Der Himmel behängt sich mit einem dichten Schleier, bald hüllt mich undurchdringlicher Nebel ein. Eine halbe Stunde später schneit
es heftig, ich sehe kaum fünf Meter weit. Ich kenne den schmalen Weg, der zeitweise über Granitplatten führt und dort kaum noch auszumachen ist, so gut, daß ich ihn selbst bei diesem Wetter nicht verliere. Sogar bei Dunkelheit würde ich ihn finden. Auf- und absteigend quere ich nasse, schlüpfrige Granitplatten, auf denen die Schuhe manchmal gerade noch auf Reibung halten. Den Abgrund unter den Platten sehe ich nicht, kann ihn nur erahnen. Bei hohem Schnee ist dieser Weg nicht mehr möglich, bei schönem Wetter ein Spaziergang, und heute geht er gerade noch. Vieles ist eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Wird Jose unten in Cocoyo auf mich warten? Ich glaube nein, aber hoffe ja. Ich komme tiefer, der Schnee geht in Regen über, es schüttet wie aus Eimern. Die Nässe dringt bis auf die Haut, von den Hosenbeinen fließt ein kleines Rinnsal in meine Bergschuhe. Die Nase läuft, ich wische die lästige Rotzglocke nicht mehr ab. Nach einer langen Zeit, so kommt es mir jedenfalls vor, steigt die Wolkendecke und gibt den Blick frei auf Cocoyo mit seinen grünen Almwiesen, den Fischteichen, dem Fußballplatz und einigen Indiohütten. Es hört auf zu regnen. Vor Freude und Aufregung beginnen meine Hände zu zittern. Dann, ich glaube es zuerst gar nicht, erblicke ich mein Zelt. Ein winziger grüner Fleck, der sich mehr durch seine für die Landschaft ungewöhnliche Form als durch die Farbe von seiner Umgebung abhebt. Es steht in einer Mulde, so weit weg. Wo mein Zelt ist, da muß auch Jose sein. Ich will laut rufen, aber ich rufe nicht, weil ich weiß, daß niemand mich hören würde. Vor Freude laufe ich los, so schnell, daß ich fast ins Stolpern gerate. Nach einer Weile verfalle ich in den alten Trott, Cocoyo ist noch zu weit weg für einen derartigen Sprint. Das Dorf und das grüne Zelt vor Augen wird mir die Zeit nicht lang. Rasch und ohne Zwischenfälle erreiche ich Cocoyo. Vertraute Geräusche: Schafe blöken, ein Hirte spielt auf der Panflöte, und irgendwo weint ein Kind. Auf einer Anhöhe steht eine Lamaherde, scharf
heben sich die Konturen der Tiere vom grauen Himmel ab. Ich bin wieder unter Menschen. Cocoyo ist ein kleines Dorf, 300 Personen etwa. Einfache Hütten, kein elektrisches Licht und nicht eine einzige Toilette. Aber eine Schule mit Lehrer und einen von Schweineschnauzen zerpflügten Fußballplatz mit zwei Toren gibt es. Für einen durchnäßten Wanderer der Inbegriff von Zivilisation. Drei junge Gören folgen mir in einigem Abstand, neugierig gaffen sie mir nach. Drei Menschen. Es kommt mir nach der Einsamkeit bereits wie ein Volksauflauf vor. Cocoyo liegt auf 3500 Metern. Die Leute leben von kärglichen Erträgen aus Ackerbau und Viehzucht. Außerdem arbeiten sie praktisch alle in der nahen Goldmine „Candelaria". Schnurstracks gehe ich zu dem kleinen Laden, den eine Chilenin betreibt. Wie sie hierherkam, weiß keiner. Wo es Gold gibt, können die Leute bezahlen, in Goldstaub oder Bolivianos. Darum lohnt sich der Laden, deshalb existiert er. Ich mache die Tür auf. Die Chilenin ist da, völlig eingehüllt in einen dicken Poncho hockt sie schlafend zwischen Kartoffelsäcken und Bierkästen. Der Laden ist etwa zehn Quadratmeter groß, ohne Fenster und ohne Heizung. Noch schläfrig schaut die am Boden Hockende zu mir auf. „Roberto, wo warst Du solange, wohin hast Du Dich verlaufen?" begrüßt sie mich nach vielen Jahren Abwesenheit. Wer erinnert sich in München nach einer Woche noch an dich? Den großen roten Schlapphut hat sie auf, seit ich sie kenne, und das ist schon so lange, wie ich meinen verblichenen Pullover mit den blauen Ellbogenflicken trage. Jose hat gestern nach mir gefragt, erzählt die Chilenin. Sein Zelt steht etwa drei Kilometer entfernt von hier. Ich beauftrage ein paar rumhängende Jugendliche damit, mir Jose zu bringen, und verspreche ihnen dafür ein Trinkgeld. Die Chilenin läßt mich in ihrer Backstube übernachten. Der Lehmboden der kleinen Hütte glänzt von ranziger Butter. In einem Eck steht ein moderner gasbetriebener Backofen. Mit seinen vielen Schaltern erinnert er an das Cockpit eines
Sportflugzeugs. Ich lege ein paar alte Pappdeckelkartons auf den fettigen Boden, darauf kommt die Schlafmatte und der Schlafsack. Meine Klamotten hänge ich zum Trocknen an die Brotpalette. Einige Quadratmeter Platz, vier Wände, ein Raum, der erlaubt, aufrecht zu stehen und ein fast wasserdichtes Blechdach auf das der Regen trommelt. Unmittelbar daneben der winzige Laden, in dem ich Lebensmittel kaufen kann, soviel ich brauche. Ein heimeliges, dreckiges Quartier für einen nassen, müden Wanderer. Es kommt mir vor, als ob genau hier das Schlaraffenland wäre. Für einen Sauberkeitsfanatiker mit -hohen Hygieneansprüchen wäre die staubige, fettige Backstube vielleicht die Hölle auf Erden. Es dauert eine ganze Weile, bis Jose nebst Maultier eintreffen. Freudig begrüße ich beide. Jetzt fehlt wirklich nichts mehr, mir ist, als wäre ich im Paradies. Jose ist beleidigt, weil ich ihn einen Tag hier warten ließ. Indios haben alleine Angst vor Räubern und Geistern. »Du läßt mich einfach hier warten. Vor Einsamkeit und Angst habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen, und als der Regen kam, machte ich mir große Sorgen um Dich. Ich bin völlig übernächtigt und sehe fürchterlich aus", motzte Jose. „War das Wetter, Jose. Ist nicht meine Schuld, hat mich einen ganzen Tag gekostet", lüge ich so überzeugt, daß ich es selbst glaube. Ein schmackhaftes Abendessen läßt alles Unangenehme vergessen, der Regen, der aufs Blechdach trommelt, interessiert nicht mehr. Wir bekommen noch zahlreichen Besuch in der Hütte, alles alte Bekannte von mir. Es gibt viel zu reden. Ich erzähle, was draußen in der Welt so passiert ist, die Indios erzählen mir Neuigkeiten aus Cocoyo. Kaum, daß alle Personen stehend Platz in der Hütte finden. Am meisten interessiert die Indios aber, ob ich Arbeit mit Touristen für sie habe. „Morgen fährt ein Jeep nach Sorata", weiß jemand. Ich kenne die Unsicherheit solcher Versprechen, sie bedeuten nichts. Morgen kann morgen, genauso gut aber nächste Woche oder nächstes Jahr sein. So ist das hier, und daran kann man nichts ändern,
muß man auch nicht. Auf jeden Fall will ich zu Fuß nach Sorata. Ein Weg, den man nur zur Hälfte geht, hat einen gewaltigen Schönheitsfehler. Sich einfach in ein Auto zu setzen, nur weil es ein bißchen regnet, wäre wie technisch Klettern, wo es einen freien Weg gibt. An einem technischen Weg habe ich aber ganz allgemein keine Freude, er genügt den Ansprüchen, die ich habe, nicht. Ich glaube, daß der Begriff Moral von den Kletterern, die versuchen, ihren Ehrgeiz mittels Bohrhaken zu verewigen, falsch interpretiert wird. Eine gute Moral ist für mich mehr als nur der Schneid, sich vom letzten Haken wegzutrauen. Gegen einen Jeep als Transportmittel spricht auch, daß der ohnehin schon miserable Fahrweg bei diesem Wetter schnell lebensgefährlich werden kann. Spät am Abend sind Jose und ich wieder allein. Draußen schüttet es in Strömen. Als hätten wir nie etwas anderes getan, liegen wir im Schlafsack und plappern ohne Pause, ein Wort gibt das andere. Ich hätte nicht vermutet, daß so viele Worte in mir sind. Mitten in einem halb begonnenen Satz beamt es mich weg in traumlosen Tiefschlaf. Siebter Tag: Es ist noch dunkel, jemand rüttelt an meinen Schultern. Sonst schläft Jose immer so lange, bis ich ihn wecke. „Mann, wenn Dir was passiert wäre! Geh nicht mehr allein, hörst Du? Es ist gefährlich. Jemand kann Dir nachts die Kehle durchschneiden oder Du brichst Dir einen Fuß, kannst nicht mehr weiter und verhungerst jämmerlich", redet Jose auf mich ein. „Wen interessiert es schon, ob ich bin oder nicht?" entgegne ich. Weil mir nichts anderes einfällt, weil es stimmt und weil ich mindestens bis Tagesanbruch weiterschlafen möchte. „Du würdest uns allen ziemlich fehlen", sagt Jose. Worte können lügen, nicht aber der Klang einer Stimme. Ich krieche in meinen Schlafsack und zerdrücke ein paar Tränen. Dieser Satz hat mich mitten ins Herz getroffen. Immer muß ich gleich flennen. Vielleicht hätte ich besser ein Weibsbild werden sollen.
Draußen regnet es ohne Pause, und wenn wir noch eine Runde schlafen, versäumen wir nichts. Der gestern groß angekündigte Jeep fährt nicht, in drei Tagen geht angeblich der nächste. Ich freue mich schon auf den Weiterweg, will aber den warmen Schlafsack noch nicht verlassen. Ein schöner Weg wächst, je mehr Zeit vergeht, mit der Distanz, die zu Fuß zurückgelegt wird, wird er größer. Ein Weg gleicht einem Apfelbaum, der gepflanzt wird: Jeden Tag wächst er ein kaum merkliches Stück, und wer Zeit hat zu warten, wird erleben, daß er Früchte trägt. Sich auf einen langen Fußweg zu begeben bedeutet, die Pfade des Materialismus zu verlassen und sich statt dessen auf Wege der Einsicht zu begeben. Jose stöhnt, als er sich umständlich aus dem Schlafsack wälzt, um Zündhölzer zu suchen. Ich stehe nun auch auf, gehe hinüber in den Laden und kaufe drei Plastikplanen: Je eine fürs Gepäck, für mich und für Jose. Außerdem noch einen Regenschirm und Kichutes, chinesische Billigturnschuhe (meine Bergschuhe sind tropfnaß, und mit meinen Badeschlappen könnte ich mir Erfrierungen holen). So ausgerüstet kann uns das üble Wetter nichts mehr anhaben. Bester Dinge gehen wir los, direkt auf den Nebel zu, der uns bald verschluckt. Es schüttet wie aus Gießkannen. Wir müssen hinauf zum Chkorua-siniPaß, 4400 Meter. Bald erreichen wir die Schneegrenze. Unter einem überhängenden Felsvorsprung finden wir Schutz vor dem Wetter. Dort essen wir zu Mittag. Gerade noch finden wir zu zweit unter dem Vorsprung Platz, einer sitzend mit angezogenen Knien und einer liegend. Es gibt gerösteten Mais, Brot und Thunfisch zu essen. Wir haben eine Mordsgaudi und großen Appetit, wie immer, wenn es eng und gemütlich ist. Bei Erreichen der Paßhöhe klart es auf, wir können hinuntersehen nach Cocoyo, von wo wir hergekommen sind. Auf der anderen Seite steigen wir hinab Richtung Ancohuma, 3500 Meter, an dem wir links vorbeigehen. Für eine halbe Stunde scheint sogar die Sonne, die uns wärmt und unsere Kleider trocknet. Über Felder, Anhöhen und Abstiege trotten wir vor uns hin.
Am Abend steht unser Zelt, das altersschwache „Hotel Roberto", da wie ein Model auf dem Laufsteg, und wir fressen wieder, im strömenden Regen, knapp unter der Schneegrenze. Mit Anbruch der Nacht liegen wir in unserer Sardinenbüchse. Vom offenen Eingang, der provisorisch mit einer Plastikplane verhängt ist, kommt es naß, vom längst undichten Boden feucht herein. „Wie gern ich in der Pampa schlafe, wie interessant diese Reise doch ist", ruft Jose voll echter Begeisterung aus. Die meisten bekannten Bergakrobaten heute berichten nur noch von blindem Ehrgeiz und fiesem Kraftmeiertum. Robocops, die gut funktionieren und völlig auf ihr Ego fixiert sind, die in einem Berg weiter nichts als ein Turngerät sehen. „Ich werde diese Tour aufschreiben, damit sie nicht vergessen wird, es ist eine Geschichte der Begeisterung" sage ich zu Jose. „Gute Idee, mir wäre es zuviel Arbeit", antwortet Jose wenig überzeugt. Das läßt auch bei mir Zweifel aufkommen, ob jemand anderes als ich etwas damit anfangen kann. Achter Tag: Aufwachen im Regen, vermischt mit Schnee. Mein feuchter Daunenschlafsack sieht bemitleidenswert aus. Wir müssen 1400 Höhenmeter rauf zum Illampu-Pass. Es liegt mehr Schnee als gestern. Unterwegs treffen wir einen besorgten Vater, der seinen durchgebrannten Sohn sucht. Der Arme sieht mitgenommen aus. Auf der Paßhöhe ein großer Steinhaufen, ein magisches Zeichen, das erschöpften Wanderern neue Kraft geben soll. Viele Reisende legen noch einen Stein oben drauf. Das bringt Glück und läßt den riesigen Steinmann auf 4700 Metern immer höher werden. Es folgt der Abstieg nach Quirambaya, zum Abendessen sind wir in Joses Haus. Ich lege mich in der Vorratskammer hin, und Jose muß mit seinem Hund runter auf ein Feld. Dort schläft er in einem Zelt aus Ichu-Gras und paßt auf, daß kein Schakal eine seiner jungen Ziegen reißt. Er und seine Frau wechseln sich mit dieser Aufgabe ab.
Wenn Jose nicht zuhause ist, muß seine Frau auf die Kinder und die Tiere gleichzeitig aufpassen. Sie ist im achten Monat schwanger, trotzdem verrichtet sie klaglos Schwerstarbeit. Niemand verliert in den Bergen ein Wort über solche Schwierigkeiten, es ist normal. Zusammen schlafen sie oft lange nicht, doch Eheleute bleiben trotz aller Härten des Daseins so gut wie immer ein Leben lang zusammen. Warum? Ich weiß nicht, zum Teil sind es Sachzwänge oder vielleicht auch der soziale Druck der Dorfgemeinschaft. In Europa hält es niemand mehr lange miteinander aus. Vielleicht hat man sich nichts mehr zu sagen. Ein luxuriöses, von unerfüllten und überzogenen Wünschen geprägtes Leben kann öde sein wie eine Wüste. Ob es einen Mittelweg gibt? Wenn ich ihn finde, dann will ich ihn gehen. Das Bergsteigen kommt mir gar nicht mehr so wichtig vor wie früher. Ob ich auf meine alten Tage doch noch erwachsen werde? Neunter Tag: 600 Höhenmeter hinab nach Sorata sind ein Katzensprung. Auf den Paßhöhen liegt viel neuer Schnee. Im Hotel Prefectural werde ich freudig von den Besitzern Rüben und Gina La Hera begrüßt. Sie haben sich Sorgen um mich gemacht. Jose geht zurück nach Quirambaya, 600 Meter höher, sechs Kilometer weiter und durch Welten von Sorata getrennt. Irgendwo sind unsere Wege für eine kurze Zeit zusammengelaufen. Es war eine friedliche Begegnung unterschiedlicher Kulturen ohne Gewalt. Meine „Eroberung" der Berge ist keine kriegerische, ich will keine Zerstörungen hinterlassen. Sorata: Das ist ein warmes Bett, das ist elektrischer Strom, ein gutes Buch und was es sonst noch für zivilisatorische Errungenschaften gibt. Es ist kein Paradies. Aber ich bin dort daheim.
Gerald Güntner wurde 1941 in Eger geboren, arbeitet als Gymnasiallehrer (Deutsch, Literatur, Philosophie, Geschichte und wissenschaftliche Politik) und lebt mit seiner Familie in Stuttgart. Die Leidenschaft des Kletterns erwischte ihn mit 14, er wußte nie, ob er sich zu ihr beglückwünschen oder ob er sie verfluchen sollte, was wohl eben das Besondere an einer Leidenschaft ist. Bergsteigen war für ihn aber stets die Hohe Schule der Daseinsbewältigung: Training des Durchhaltens und Überlebenswillens. Betreibt die Schriftstellerei als Hobby und veröffentlichte bisher zwei Romane: „Die Angst des Vogels im Käfig" und „Die Trauer im Lachen", etliche Erzählungen, Essays, Rezensionen und Gedichte.
Der brennende Dornbusch Gerald Güntner
Nebel, riesenhafter, faunsköpfiger Nebel. Die Ache stürzt ihnen entgegen wie ein bissiger Hund. Verständnislose Bergkiefern; Steine und Felsen. Tropfenbehangene Grasmatten und Moospolster, wie Drahtgeflecht über die Erde gespannt. Der Weg verkrampft sich, nur das Mahlen ihrer Schritte. Gelegentlich ein Windstoß, der die grauen Vorhänge aufbläht, um sie darauf um so dichter zusammenzuziehen. Die Teilnehmer des Hochgebirgskurses, die, von einem Bergführer abgeholt, auf dem Weg zur Hütte sind, stapfen schweigend in einen echolosen Raum. Am nächsten Morgen schwimmt die Berghütte in weißer Lauge. Das fing ja heiter an. Der Leiter des Kurses beginnt mit dem Unterricht, spricht über Schönheit und Gefahr des Hochgebirges, verdeutlicht die Notwendigkeit einer alpinistischen Ausbildung und prägt die sorgfältige Vorbereitung von Bergtouren ein. Sie üben die Seilknoten. Die hungrigen Blicke aus dem Hüttenfenster bringen keine Sättigung. Erst gegen Mittag. Bewegung kommt in den Nebel, er wird dünn und durchsichtig wie Gaze. Sie stürzen nach draußen. Das Geheimnis! Und blau schwappt es über sie. Eine gewaltige, blendende Woge bricht auf sie nieder, schwemmt den Nebel weg, prallt an die granitenen Bergwände, jagt über die achtlosen Flanken, braust die großen Leiber herab, übergießt sie mit schmerzendem Licht, strudelt, strömt, schießt in die Tiefe, reißt sie mit, reißt sie alle mit, die Dastehenden, Staunenden, Erstarrten, wirbelt sie fort, hinaus in die Weite des sich in jähem Blau öffnenden Himmels. Das Herz schlägt ihm gegen die Brust wie ein Vogel mit flatternden Flügeln; er ist zum ersten Mal in den Bergen.
Und da sind sie! Ja! Die Berge! Die gewaltigen Berge. Ringsum und so hoch über ihm, ihre Türme, Dächer, Firste, Giebel, ihre riesenhafte Geometrie, ihre Gletscher, diese Kaskaden aus Salz, Marmor, Emaille, Glanz, das ist, nein, er kann schon nicht mehr fliehen, es ist die Stunde des Telresias, die Stunde des Jünglings zu Sais, es ist der Augenblick des brennenden Dombuschs, vor der Überfülle dieses unglaublichen, efbarmungslosen, schmerzenden, reinen Lichtes ...... Obwohl die dunklen Felswände unter den Hängegletschem wie Fischmäuler nach ihm schnappen, obwohl die Gletscher ihre gewaltigen Hörnet stoßbereit halten, obwohl die Eisbrüche brüllen und die Schneefahnen die Grate schärfen .... zu spät! Er weiß, er ist ein Gezeichneter. Schon der Name - Totenkirchl! Aber sie waren gut in Form, und es handelte sich um eine berühmte Führe. Als sie vor die Hütte traten, kalkte die Sonne die obersten Zacken der Gipfel. Die Luft schnitt kalt, und der Himmel zeigte sich tief. Sie stiefelten los, von der Hütte talauswärts, dann links ins Kar zum Einstieg. Es war still. Aus den westlichen Felswänden lief der Schatten wie Sand aus einer Sanduhr, ihr Berg aber, hoch über ihnen auffahrend und mit seiner Westwand sonnenabgekehrt, war abweisend wie eine hart aufgestellte Handfläche. Trotzdem! Ein Grashang, gerölldurchsetzt, täuschte mit gemäßigter Neigung, der anschließende Lawinenkegel, direkt an den Fuß der Wand gepreßt, blockierte schon. Der Schnee war hart wie Glas, und sie konnten sich nur durch raffiniertes Balancieren hinanmogeln. Die Randkluft gähnte wie ein Rachen. Wie hinüber? Sie entdeckten einen schmalen Absatz in der Kluft, riskierten den mannshohen Sprung und kletterten jenseits heraus. Nach rechts in die Schlucht. Am grauen Fels das Muster ihrer nassen Sohlen. Als sich rundgeschliffene Steilstufen querstellten, seilten sie sich an.
Der erste Verhauer. Laut Führer sollten sie die Schlucht oberhalb eines auffallend gelben Kamins nach links verlassen. Aber gelbe Wandstufen und Risse gab es immer wieder. Als nach mehreren Seillängen ein Band den Weiterweg nach links anbot, glaubten sie sich richtig. Zu früh. Nach einer Seillänge - Endstation. Abseilhaken wiesen auf die Korrektur des Irrtums. Diese kostete Zeit. Es wurde später Vormittag, bis sie die richtige Route gefunden hatten. Was tun? Umkehren? Am nächsten Tag ihr Glück unter besseren Voraussetzungen versuchen? Aber das Wetter! Und die anderen auf der Hütte! Also weiter! Rinnen, Rippen, Risse. Die ersten schweren Kletterstellen. Auf einem Felskopf Mittagspause: Brote, Schokolade, Dörrobst, ein Büchschen Kondensmilch. Sie schnippten die leere Büchse über die Wand, um den Abgrund zu vermessen. Das Scheppern des ersten Aufpralls kam, kaum noch hörbar, von sehr weit unten. Der zweite Verhauer. Nach weiteren schweren Wandpassagen, Nasenquergang, Zickzackwandl, orientierte sich der Voransteigende an den falschen Haken. Erst Flüche, dann Rufe der Unsicherheit, schließlich verzweifelte Schreie. Stunden verrannen, ehe der Voranklettemde die drohende Katastrophe abgewendet, den Rückzug geschafft und den richtigen Weiterweg gefunden hatte. Der erneute Zeitverlust war groß. Die beiden beschlossen ein Biwak. Die Sonne verglühte am Horizont und die Nacht floß erst blau, dann taubengrau, schließlich dunkel und schwarz über die Felsen des Hauptkammes. Sterne bohrten das Universum auf. Das Abendessen fiel kärglich aus. Sie hatten nicht mit Komplikationen gerechnet. Schlimmer als der Hunger erwies sich der Durst. Der Nachmittag in der sonnensammelnden Westwand war allzu lang gewesen. Sie dösten durch die Nacht, mehr und mehr auch von Kälte gepeinigt, trotz Biwaksack, und immer wieder aufgeschreckt durch einen hohl brausenden Wind. Über die gezackten Grate der gegenüberliegenden Gipfel schoben sich Wolken, lauernd wie Haifischnasen.
Die scharfe Kälte der Morgendämmerung schüttelte die beiden hoch. Nichts zu essen, nichts zu trinken. Durch Armschlagen und Kniebeugen bemühten sie sich, die ausgefrorenen, erstarrten Glieder geschmeidig zu machen. Sie zögerten mit dem Aufbruch. Ihr Wille schien wie gelähmt. Unerklärlicherweise. Der Schatten des Berges war längst aus dem tief liegenden Kar geschmolzen, als sie sich aufrafften und die Sicherheit des Biwakplatzes mit der Unsicherheit des steilen Felses vertauschten. Gleichbleibende Schwierigkeiten, Seillänge um Seillänge. Die Zunge klebte ihnen am Gaumen, die Anstrengung würgte sie. Die Sonne begann, erneut nach ihnen zu stechen. Obwohl die Stimmen derer, die auf leichteren Wegen den berühmten Gipfel erklommen, längst von oben herabdrangen, die Wand wollte kein Ende nehmen. Jetzt nur keine Hektik! Erst dicht unter dem Gipfelkreuz leichteres Gelände, ein kurzer Kamin, ein kleiner Absatz, die letzte Rinne. Die anderen Gipfelstürmer bestaunten die Neuankömmlinge respektvoll. Denen war die Bewunderung gleichgültig. Sie bettelten um ein paar Schlucke zu trinken. Eine holländische Seilschaft trat den Erschöpften kameradschaftlich freundlich eine Flasche gesüßten Tees ab; dieser erfrischte sie notdürftig. Sie verweilten auf dem Gipfel, weil es sich so gehörte. Die Landschaft interessierte sie nicht. Gespräche erschienen ihnen überflüssig. Das Geheimnis des Lebens! Noch so ein berühmter Berg. Schon von den Vorgebirgen fiel der weiße Schild seiner Eiswand auf: Segeiförmig gebogen, wie vom Wind gebläht, schien sie das mächtige Bergmassiv wie zu großer Fahrt davonzutreiben. Sie galt als Gütezeichen, wies prominente Opfer auf. Das Wetter dieses Bergsommers war zum Kotzen gewesen; ein Tiefdrucksystem jagte das andere. Die Berge tauchten kaum länger als einen Tag oder zwei aus Nebel und Wolken auf, glänzten verführe-
lisch im frischen Schnee, erhabene Anblicke für Sommerfrischler, aber dann, am nächsten Morgen - aus der Traum. Die Bergsteiger fluchten. Sie warteten den dritten Tag. Morgens, kaum aus den Decken, galt der erste Blick dem Himmel. Abends führte der letzte Gang vor die Hüttentür: Rissen nicht die Wolken auf? Wo blieben die Sterne? Was machte der Wind? Sie vertrieben sich die endlose, graue Zeit mit Schach- und Skatpartien, schmökerten die wenigen uralten zerfledderten Bergsteigerzeitschriften vorwärts und rückwärts, blätterten im Hüttenbuch nach berühmten Namen und starrten apathisch in den Nebel. Zwischendurch ein Ausbruchsversuch. Sie machten sich auf den Weg in Richtung Einstieg, Erkundung. Doch das Unternehmen scheiterte rasch an den unzuträglichen Verhältnissen. Ausgedehnte Beratungen, ob man das Warten abbrechen und in die gewiß viel sonnigeren Dolomiten weiterfahren oder noch einen oder zwei Tage zugeben solle. Aber die Wand stand schon so lange auf ihrer Liste. Am Morgen des vierten Tages schien sich die Geduld gelohnt zu haben. Die Wolken waren wie von einer gewaltigen Faust in die Täler gedrückt, Berge und Gipfel stemmten einen blitzenden eisigblauen Himmel auf. Aber noch kein Grund, loszustürmen. Während der eine drängte, die quälend ersessene Gelegenheit beim Schöpf zu ergreifen und die Wand abzuhaken, zögerte der andere. Alpinistische Grundregel: nach Schlechtwetter bei Eistouren einen Tag abwarten. Damit der Neuschnee abging. Sie stritten: Zweckoptimismus contra Schwarzseherei. Schließlich knebelten sie: Wappen oder Zahl. Zahl gewann, Zweckoptimismus hatte gesiegt. Die Lawine erwischte sie ungefähr in der Wandmitte. Der erste war, nachdem er das Seil bis zum letzten Meter ausgegangen war, gerade dabei, einen Standplatz zu bauen, als mit einem scharfen, zischenden Sensengeräusch ein breiter Schneewulst auf sie zuschoß.
Der zweite, die Arbeit des Freundes aus der Tiefe beobachtend, wollte noch warnen, mit einem erschrockenen Reflex retten, aber der Schnee war zu schnell über ihnen und hobelte schon den ersten aus der Wand. Auf der niederschießenden Lawine flog er heran wie auf dem Kamm einer Welle. Dem zweiten blieb gerade noch Zeit, das Seil festzuklammern und sich in die ach so kleine Nische seines Standplatzes zu pressen. Schon war der Schnee auch über ihm, riß ihn in die Selbstsicherung, krallte sich kalt um Genick und Hals, fingerte knöchern durch seinen Kragen den Rücken hinunter, fummelte an seinen-Handgelenken. Es wurde dunkel über ihm, auf Kopf und Schultern wuchs ein Zentnergewicht. Der Schneegeruch hauchte ihn an wie der Atem eines kalten Raubtieres. Zwei Rucke im Seil, nacheinander: die erste und die zweite Eisschraube. Aber der Zug auf ihrem Lebensfaden erschlaffte jedesmal sofort, die Schrauben hatten nicht gehalten. Erst die dritte leistete entschieden Widerstand. Das Seil straffte sich wie eine bis zum Zerreißen gespannte Bogensehne. So schnell, wie er gekommen, war der Spuk vorbei. Plötzlich war es wieder sehr hell und grell. Als ob nichts gewesen wäre. Über dem Kopf des zweiten hatte sich ein Schneekegel gebildet, lang und spitz wie ein Zuckerhut. Sein erster Blick ging nach unten, wo die Lawine wie eine breite Tierzunge auf den flacheren Gletscher hinausleckte. Mit dem zweiten Blick suchte er den Freund. Dieser hing nur wenige Meter rechts von ihm auf gleicher Höhe im Steileis. Bewegungslos. Was war mit ihm? Er brüllte den Namen des Freundes hinüber, und, als löse der Anruf eine Art Todesstarre, kam plötzlich wieder Leben in die scheinbar leblose Gestalt. Sie rappelte sich auf, sah verwundert um sich, blickte herüber, stieß die Steigeisen entschlossen in den Firn, ergriff den am Handgelenk baumelnden Pickel, ein paar Hiebe, daß die Eissplitter wie Diamanten flogen, schon war er bei ihm am Standplatz. Hängte sich zu ihm in die Sicherung. „Alles klar?" fragte der zweite besorgt.
'„Ay, ay, Käpt'n", antwortete der Freund schnoddrig, ohne das Zeichen irgendeiner inneren Erregung. „Mensch, vierzig Meter!" „Tja, wenn einer eine Reise tut, da kann er was erleben. Das nächste Mal laß ich Majestät den Vortritt." Und, als breche eine Lawine ganz anderer Art los, und zwar in ihnen, mußten sie lachen. Unbeherrscht und wild. Ihre Antwort über dem Abgrund. „Scheiß Neuschnee!" „Mann, das hätte verdammt in die Hose gehen können!" „Wie sagt doch der kluge Mann: Wer nicht hören will, muß fühlen." „Er sagt: Glück muß der Mensch haben." „Nein, er sagt: Eisschrauben muß der Mensch haben." Sie setzten den Aufstieg durch die Eiswand fort. Gemächlich. Der Weg war saubergefegt. Sie konnten sich Zeit lassen.
Rolf Stolz wurde 1949 in Mülheim an der Ruhr geboren, studierte Psychologie in Köln und Ulm. Lebt in Köln und widmet sich neben der Schriftstellerei der Photograhie, Materialbildern und der Kopierkunst. Viele Reisen führten ihn nach Afrika, Asien und Lateinamerika. Wo es Berge gab, stieg er hinauf: Kibo, Cotopaxi, Montblanc ... Seine literarische Arbeit umfaßt Lyrik, erzählende Prosa, Dramatisches, Essays und Kinderbücher. 1991 erhielt er ein Stipendium des Landes NRW, 1994 den Anerkennungspreis der Stadt Wölfen. Buchveröffentlichungen u.a.: „Der unverminderte Schrecken", Frankfurt a.M. 1991 (Prosaband) und „Eine Betrügerin macht ihr Glück", München 1997. Veröffentlichung von Essays, Prosatexten und Gedichten in Sammelbänden, Zeitschriften und Zeitungen.
Die zwei Berge Rolf Stolz
Sie hatte sich mit ihm auf ihre erste Bergtour gewagt, dabei bleibt es auch, die erste und einzige und letzte, ich aus dem platten Marschland, ich soll hier hoch, nur für dich, ich brauche das nicht diese Selbstbestätigung durch Höhenmeter ich habe meine Gipfel in mir selbst ich komme anders zu Höhepunkten als durch Gekrabbel und Blutundwasserschwitzen, aber es lockte sie doch, einmal von oben in einen Vulkankrater hineinzuschauen die weißen und schwefligen Rauchschwaden und unter einer dünnen Gesteinskruste bereitet sich der nächste Knall vor mit einem großen Knall nicht mit einem Geflüster Gewimmer vielleicht reizte sie auch die Aussicht auf die Hütte unterhalb des Gipfels, auf heißen Kaffee aus rußgeschwärzten Gußtöpfen und eine speckigdreckige weiche Matratze aus der sie mit seiner Isoliermatte ein Liebeslager fabrizieren. Ich will dir diese Illusion nicht nehmen es kann sein daß sie dir Auftrieb gibt und dich vorwärtstreibt, du wirst es noch merken daß dich eine Blechund-Bretter-Bude erwartet, einige Schemel, ein Tisch. „Wdrumfahren wir immer weiter, Jean-Pierre, warum sind wir jetzt in Costa Rica und nicht mehr in Nikaragua?", es ist ein Auslöschen unser Gedächtnis von eben auf Null gebracht an der Grenze was war vorher wo kommen wir eigentlich her, die Desinfizierung der Autos alle Reifen mit einem weißen Zeugs abgespritzt keine Lebensmittel nichts Lebendes nehmen wir mit, nur uns selbst. Er war zwanzig Meter vor ihr gegangen ich bin schon da, du mußt deinen eigenen Schritt finden ich bin weiß Gott kein Maßstabfür dich. Er hatte sich auf einem geeigneten Felsen hingelümmelt und wartete, bis sie heranwar ein Küßchen ein paar Worte und weiter im Text ich bin ausgeruht und dir hängt die Zunge aus dem Hals das Leben ist ungerecht ich renne gemütlich und du schleichst mit letzter Kraft. Er war sich fast sicher, daß sie ihm Vorwürfe machen würde er
habe sie überfordert und überschätzt er hätte mit seiner großen Erfahrung wissen müssen wieviel ihr möglich sei und hätte sie immer wieder fragen müssen auch wenn sie nichts sagte, ich konnte es selbst nicht merken ich habe mich nicht getraut es von mir aus zu sagen du hättest mich auslachen können ich hatte meine Verantwortung für mich selbst abgegeben an dich ich mag es mit Führer zu gehen, es bleibt alles am Führer hängen selbst die Kosten für die letzte Kiste. Ein einheimisches Paar kam ihnen entgegen Humberto Blanco und Dona Elena sozusagen, kastilisch und wohlgeboren, mit einem Söhnchen, teils vom Vater getragen teils an einer Art Leine laufend, „Du siehst wie harmlos es hier ist, selbst mit Babys läßt es sich machen", „Du kannst mich ja auch auf den Schultern tragen", „Aber nur wenn du nach hinten schaust", es erinnerte ihn wieder einmal an die ungeklärte nie gestellte Frage mit dem Kind, Kinderwunsch mitten in einer Katastrophe das gibt es ohne jeden Zweifel warum nicht trotzdem noch. Er sprach mit dem Mann über das Wetter und den Weg, der vor ihnen lag, Katrin spielte mit dem Kind und zeigte zwischendurch der Frau einige Photos von zuhause Verwandtschaftsszenen zwischendrin schon einmal ein Mann, von dem er sich nicht sicher war ob sie ihm auch alles gesagt hatte oder eine Bildlegende erfunden hatte das ist mein Cousin Franz und das Scbwippsckwager Leopold. Sie erreichten die Hütte am frühen Nachmittag. Tatsächlich gab es außer zwei Stühlen mit abgebrochener Lehne und vier in etwa unversehrten Stühlen nur noch eine Art Tisch, eine große an der Wand befestigte und wegklappbare Platte, einige verdreckte Kunststoffbecher und eine Handvoll Blechgefäße zum Wasserholen und zum Kochen über offenem Feuer, an einem Lagerfeuerdreibein neben der Hütte, in einer windgeschützten Ecke voller rosa Papierreste. Er holte Wasser und machte mit alten Zeitungen und Kleinholz ein Feuerchen, kochte ihr einen Aufgußkaffee, für meine Liebste mit ganz viel Herz drin, du darfst diesmal die Prinzessin sein.
Es konnte nichts mit dem erträumten Gekuschel werden, schon weil sie auf dem Hinweg zuviel Zeit verloren hatten und sie sich würden beeilen müssen, um nicht ins Dunkel zu geraten. Er klappte die Fensterläden wieder zu, klemmte die brüchige Hüttentür mit einem Stein fest, schulterte den Rucksack und schob Katrin sanft an: „Du gehst vor, du mußt jetzt im Abstieg das Tempo bestimmen auf dem ersten Stück, solange die Wege so schmal sind. Gehe so langsam, wie es für dich gut ist, laß dich nicht von mir hetzen. Ich bleibe etwas zurück, du brauchst keine Angst haben, daß ich hinter dir stehe, dir zuschaue und dich nervös mache." Es war immerhin kein wegloses Gelände, es war ein prinzipiell einfacher Pfad, der allerdings oft sich sehr verengte und von rutschigen Steinen übersät war, und man konnte, wenn man unbedingt wollte, einige hundert Meter hinab. Er erfuhr es erst später, daß ihr an einer bestimmten Wegbiegung, meine private Schlüsselstelle, die Knie so sehr zitterten, daß sie einen halben Meter abrutschte. Sie war aus seinem Gesichtsfeld gewesen. „Hast du wirklich ernsthaft gedacht, daß du jetzt sterben mußt?" „Ich bin fast gestorben, ich konnte nicht mehr. Ich habe so etwas noch nicht erlebt." Sie hatte es ihm Tage später gesagt und ihm vorgeworfen, daß er sie überhaupt mitgenommen hatte auf eine solche Tour, er hätte es wissen müssen, daß sie das überforderte. Sie hatte keine Erfahrungen und hatte sich auch überschätzt und wollte natürlich unbedingt auf die Hütte, sie hatte sich nicht getraut, es ihm zu verraten, wie schwach sie sich fühlte, aber er hätte das sehen müssen, wie es um sie stand. Immerhin hatte sie seinen Vorschlag abgeschmettert, noch einen Umweg zu machen zu einem in den Reisebüchern erwähnten Aussichtspunkt, ein pittoresker Schwefelsee, wie sie ihn am Santa Ana in El Salvador gesehen hatten, eher im Vorbeifahren. Der letzte Teil des Abstieges geriet ins Halbdunkel, einige Weidezäune, rote Hausdächer und blaue Schuppendächer, blaue Wände der Häuser und Schuppen. Sie hatten schon fast die Straße erreicht, und es konnte eigentlich nichts mehr passieren. Nur schaffte sie es doch
noch, über ihre eigenen Füße zu stolpern, hinzuschlagen und sich den Knöchel zu verstauchen. Sie heulte vor sich hin, hatte sich aber immer noch so in der Gewalt, daß sie ihm jetzt gleich keine Vorwürfe machte. Er umarmte sie, hielt sie fest, Festhalten als Erziehungsmethode auch wenn das Zappelkind sich wehrt nur so kannst du beruhigen und Ruhe hineinbringen. Es schien kein bleibender oder auch nur nachhaltiger Effekt zu sein. Sie gingen schweigend die letzten Kilometer bis zum Hotel, außerhalb des Waldes gelegentlich ein freundliches Kopfnicken eines Bauern oder ein winkendes Kind, alles wie Staffage weit zurückgestuft, abgerückt in einem milden unwirklichen Licht, wir sind eingeschlossen in einem gefrorenen Aquarium das ferner und ferner wird. Erst in einem Gespräch im Hotelgarten, in den Augen nachzitternde Strahlen der Sonne die längst unter dem Horizont war, er erbaute sich diese Idylle lobte den traumhaften Tag und das unwahrscheinliche Gefühl, doch einmal alles erreicht zu haben, Selbstbestätigung des großen Führers der ins gelobte Land geleitet hat und heil zurück, als hätte er gewußt, daß sie ihn zurückholen würde, als hätte er das noch abwehren gekonnt durch diese Beschwörungen. Es brach ein, als er einige harmlose Bemerkungen machte über eine unförmige Frau, die sich offenkundig gehen ließ, unvorteilhaft, gefräßig, mit abgöttisch schiefen und fauligen Zähnen, wie kannst du das auf dich beziehen, als ob ich jemals etwas gegen jemanden sagen würde der ohne eigene Schuld seine Haare verliert oder im Rollstuhl aufwacht, es ist nur dieses Laufenlassen, dieses Hinschluren und Durchhängen das ich verabscheue das ist das protestantische Erbe ich kann nicht anders das ist drin in der Grundausstattung, wir haben immer nur Mitleid mit denen gehabt die es unbedingt verdient hatten und mit uns selbst genau so wenig. Sie hielt ihm vor, sie gegen ihren Willen gezwungen zu haben, am Abgrund entlangzulaufen, und daß er sie nicht mehr lieben werde, wenn sie nicht mehr seinem billigen Schönheitsideal entsprechen werde, wenn die ersten grauen Haare da sind, wenn die Bauchhautfaltig wird und ich einen Büstenhalter brauchen werde, wenn mir die Zähne
ausgehen und ich nachts die Prothese herauslege, was bin ich für dich anders als ein Nutzobjekt, das mit der Zeit abgeschrieben und rechtzeitig abgestoßen wird, was wird sein wenn ich alt bin. „Mein Gott, ich habe immer gedacht, daß du eine schöne und flotte Witwe sein wirst und daß ich, wenn ich dann durch mein Foto über deinem Bett herunterkiebitze, wie du es dir gutgehen läßt und dir deine Tierchen verwöhnen läßt, richtig stolz sein werde darauf, eine solche Frau gehabt zu haben. Die meisten machen es nicht so lange wie ihre Liebste, es ist die Männlichkeit, die uns kaputtmacht, ich wäre ja auch lieber deine Busenfreundin oder deine Domina, wenn ich es dadurch zehn Jahre länger machen würde." Aber diese Spaße waren nur ein Teil einer unbeeinflußbaren mechanischen Verzögerung, es braucht etwas länger bis die schwarze Botschaft ankommt, man verhindert so das spontane Aufschreien und den ersten Schmerz, dafür handelt man sich ein Elend ein das nicht weggeht. „Wie kannst du so etwas sagen, nach einem solchen Tag? Warum willst du uns alles zerstören, was wir haben? Warum kannst du nicht einfach glücklich sein?" Es war unmöglich für ihn geworden für diesen ganzen Abend, mit ihr mehr zu sprechen als einige Floskeln oder sie anzufassen. Im Bett reichte es gerade noch dazu, daß er ihr über die Stirn strich, etwas wie „Schlaf gut" murmelte und sich nach einigen Sekunden in den Schlaf flüchtete. Sie hatte sich geschworen NIE WIEDER, FRAG DEN RABEN NIMMERMEHR, aber er hatte sie doch bereden gekonnt, wenigstens bis in eine Berghütte auf halber Höhe mitzukommen, er hatte ihr zugesichert und aus den Büchern bewiesen, daß es im unteren Teil Straßen und Feldwege waren, ein Lastwagen brächte sie gegen Bezahlung diesen Teil der Strecke hoch und dann ein breiter Weg durch ein hügeliges Gelände, noch keine Bergwelt, eher Ardennen und ganz ohne Risiko, daß es auch hier Schlangen gab, ließ er außen vor, er wollte ihr nicht eine neue Ausrede liefern. Sie brachen in aller Herrgottsfrühe auf, warteten eine geschlagene Stunde auf den am Vorabend georderten LKW eines Gemüsehändlers und wollten, als er doch
noch ankam, sich schon fast auf den Marsch machen. Jean-Pierre hatte im Hotel zwei dänische Burschen und ein englisches Pärchen interessieren können, es senkte die Transportkosten und versprach Ablenkung durch Reisepalaver, dieses unwahrscheinliche Glück beim Pläneschmieden, was alles sein könnte und vielleicht sogar sein wird wenn es auch sicher nie sich ereignen wird. Er döste vor sich hin auf der Ladefläche, bekam kaum etwas mit von dem Weg, Serpentinen durch ein teils naßgrünes, teils trockengebranntes Gelände, der Ort unten bald in einem flachen Nebeldunst zurückverschwunden. Es war wie bei den Fahrten zur Arbeit, in seiner Hilfsarbeiterzeit während des Studiums, Halbschlaf im Morgenrot, Gedämmer zwischen den herumbrabbelnden Malochern, einfach keine Augen für die Landstraßen und Vorstadtkulissen, durch die sie rollten, ganz verdummdämmerte Tage, Bretterholen und Steineschichten, Gerüstbastelei und das ewige Entrosten, die Haut muß auch noch herunter, und der feine braune Staub durchsetzt den Rotz, wenn du ausspuckst. Sie hatten sich mit dem Gemüsebonzen für den nächsten Tag gegen zwei Uhr mittags zur Rückfahrt verabredet, „Bergab geht es leichter, aber für die paar Kröten lohnt es nicht zu laufen", es gab an dieser Stelle sogar einen windschiefen Pfahl mit einem rostigen Schild, das den Beginn des Naturparks anzeigte, aber keinerlei Wächter zur Eingangskontrolle und zur Oboluserhebung, keine Wanderkarte und keine Andenkenbude, Es war unübersehbar, wo der Weg zur Hütte begann, anfangs durch Wiesen, dann durch einen dichten Wald, schließlich durch einen überwachsenen Hohlweg. Sein alter Fehler, er hatte sich schon wieder zuviel aufgeladen und sich wieder gegen alle denkbaren Ereignisse vorsorglich schützen wollen, außerdem war er noch gar nicht an die Höhe gewohnt, vielleicht auch angegriffen und ausgelaugt. Jedenfalls spürte er schon nach den ersten hundert Metern, daß er mit seinem überreichlichen Rucksack nicht würde mithalten können mit den anderen, die sich lediglich einen minima-
len Tagesbeutel gepackt hatten oder ganz ohne laufen konnten wie die englische Jungfrau und Katrin. Er versuchte es noch, er wollte es ihnen zeigen, schon weil sie ein paar Jahre jünger waren als er, aber es war aussichtslos, er schwitzte sich kaputt und kam trotzdem nicht mehr mit. Schließlich blieb er stehen und ließ ihnen den Triumph, „Ich bin noch nicht akklimatisiert und habe zuviel auf dem Buckel, geht schon vor, ich komme nach", selbst Katrin war unter diesen Umständen schneller als er, sie wollte erst mit den anderen mitgehen, deutete aber seinen schrägen seitlichen Blick richtig, er hätte ihr diesen Verrat nicht verzeihen können. Sie blieb mit ihm zurück und versuchte ihn aufzumuntern durch Streichelei und Scherze, auch das war nicht richtig. Er hätte es vorgezogen, ohne Zeugen zu sein. Auf der Hütte passierte nicht mehr allzuviel, sie machten einige kleine Erkundungsgänge in den inzwischen grau vernebelten Heidebereich, bis an den Rand der schlammigen Aschenfelder, beobachteten kleine Vögel, dieser kalte klare Tag in den Vogesen, sieben oder acht Dompfaffe auf einem schon abgeblätterten Ebereschenstrauch, unbekümmert darum, daß er sich hingekauert hatte und sich gar nicht genug sattsehen konnte an ihnen, dieser vom Roten Holunder überwucherte Bombentrichter, in dem sie gezeltet hatten und morgens störten Leute sie auf, die ein Waldfest vorbereiten wollten, diese kleine Lichtung, wo Valerie und er nackt in der Sonne lagerten, an einem Septembertag, und von hoch oben, von der alten Grenze zwischen dem Elsaß und Lothringen aus hatten sie in der Ferne den Montblanc gesehen, weißer Fluchtpunkt, die Aufhebung aller Zwischenräume für einen einzigen Tag. Wie sie es abgesprochen hatten, blieb Katrin am Morgen allein in der Hütte zurück. Es war bei ihnen allen nicht der entfernteste Gedanke da an eine Gefahr, hier so weit draußen, nur kleine Farmen und Weiler in einem weiten Umkreis, jeder mußte dort jeden kennen, und der nächste Ort war fünf Stunden Fußmarsch entfernt, auch das nur ein Provinzstädtchen. Er hatte sich trotz der Erfahrung vom Vortag nicht
entschließen können, sein Sturmgepäck zurückzulassen und ihr zur Verwahrung zu übergeben. Während die anderen vier kaum mehr mithatten als eine Wasserflasche und einen Regenumhang, schleppte er sein umfangreiches Sicherungsmaterial, völlig überflüssig, als wolle er es sich besonders schwer machen und die Niederlage garantieren. Es blieb bei einem wattigen einschnürenden Nebel und einem Dauerregen, der irgendwo weiter oben in Schneefall übergehen mußte. Seine Mitstreiter schienen einigen Ehrgeiz darauf zu setzen, ihn abzuhängen, vielleicht war es ihnen auf die Nerven gegangen, wie er gestern aus dem reichen Geschichtenschatz seiner Bergsiege fabuliert hatte, seine Sechstausender, vielleicht wollten sie ihm zeigen, wer er eigentlich ist, aber vielleicht war es nur einfach jugendlicher unbekümmerter Schwung, der sie vorwärtstrieb, in gehobenen Turnschuhen und ausgebleichten Jeans, ohne irgendeine Bergerfahrung, die in diesem Gelände, wo es nur darauf ankam, den Kraterrand an irgendeiner Stelle zu erreichen, relativ entbehrlich war. Nach einer halben Stunde konnte er nicht mehr mithalten. Er blieb stehen, keuchte sich etwas aus und versuchte dann, in seinem eigenen Schrittmaß zurechtzukommen und den Gedanken abzuwehren, für heute die Sache aufzugeben und es am nächsten Morgen noch einmal zu versuchen. Der Gedanke blieb ihm erhalten, baute tentakelige Argumentationsmuster in seinem Hinterkopf auf, es sprach auch wirklich alles dafür, jetzt zurückzugehen, man muß auch lockerlassen und verlieren können, es ist ja kein wirklicher Verlust, du wirst morgen den Berg für dich allein haben und ansteigen in strahlendem Sonnenlicht. Als er umkehrte, auf halbem Wege, nur wenige Meter Sicht, der Conquistador, der sich notgedrungen zurückzieht aber wiederkehren und El Dorado finden wird, war er sich nicht einmal sicher, ob seine Abstiegsrichtung stimmte, aber er fand die Steinpyramide der Landvermesser und die Trittspuren wieder. Katrin begrüßte ihn enthusiastisch. Sie wirkte hektisch, rotfleckig und wuselig. Sie hatte ihr Taschenmesser aufgeklappt auf den Tisch gelegt. „Hattest du etwa
Angst?" „Nicht so, doch etwas schon, als ihr alle wegwart, habe ich daran gedacht, wer mich hier schreien hören wird und wie lange ich ernsthaft dieses Rattenloch verteidigen kann gegen einen Angreifer. Ich habe gemerkt, wie allein ich war." „Du bist einfach zu mißtrauisch, typisch europäisch. Das ist hier die Einöde als Paradies, das Paradies als Einöde. Der einzige, der dich hier vergewaltigen wird, bin ich." Gegen Mittag kamen die anderen. Sie hatten den höchsten Punkt des Kraterrandes erreicht, ohne sonderlich viel zu sehen, nichts mit den schwefligen Fumarolen und Aschenhügeln im Kraterinneren, die sie von einer inzwischen etwas abgegriffenen Ansichtskarte her schon kannten, nur nasse Luft und Dauerregen. Jean-Pierre zwang sich dazu, ihnen regelrecht zu gratulieren. Es war eine kalte traurige Wut. Er konnte es ihnen nicht einmal dadurch zeigen, daß er weiter kam als sie, er konnte ihren Marsch nur wiederholen, und wenn er zurückkam, würden sie längst schon über alle Berge sein oder allenfalls gleichgültig mit der Schulter zucken und kichernd bemerken: „Das ist nett, daß Sie es auch geschafft haben. Ein ganz netter Berg, wirklich nicht allzu schwer." Die vier Gipfelbezwinger packten in aller Eile ihre Sachen. Sie wollten pünktlich um zwei Uhr am Abholpunkt sein. Katrin schloß sich ihnen an. Sie wußte, daß Jean-Pierre sie lieber in seiner Nähe gehabt hätte, am allerliebsten als Nachzüglerin, die eine Stunde nach ihm den Gipfelpunkt erreichte, aber sie verspürte eine zunehmende Angst, Wegrutschen des Bodens, feldgroße abwärtsschießende Schrofenteppiche, dunkle Felsorgane die nach dir greifen^ aufspringende Lavahöhlen, Besuch aus dem Nichts. Jean-Pierre enthielt sich jedes Kommentars zu ihrem Rückzug, abgesehen von der Empfehlung an die vier: „Passen Sie gut auf diese Dame auf! Sie wird noch gebraucht." Er küßte Kati, eine jener Umarmungen, die schon automatisiert abrufbar sind, an seiner Haustür in Auteuil, Sylvie noch im Morgen-
rock, fast an jedem Morgen, die begrenzten Möglichkeiten des Vokabulars die unbegrenzten Wiederholungen: Kommst du später kommst du pünktlich ich werde pünktlich kommen ich werde später kommen ich weiß noch nicht wann ich kommen werde ich rufe dich an wenn ich es schaffe rufe ich dich an. Er genoß es, allein zu sein, den Rest des Tages für sich zu haben, keine größeren Vorhaben, keine Verpflichtungen. Er kochte sich über einem Feuer eine Dosensuppe, zerschnippelte eine Dauerwurst und preßte die Stückchen in einen Brotrest. Er hängte sein Unterhemd auf einen Ast und setzte sich in die Sonne. Er war fast eingeschlafen, als die Gäste erschienen. Obwohl es nicht allzu weit war bis zu den ersten Weiden und einigen kümmerlichen Äckern, obwohl sie gestern beim Hochkommen Axtschläge und das Gewieher von Pferden gehört hatten, hatte er nicht im mindesten mit Menschen gerechnet, zumindest nicht mit Einheimischen, die Besseres zu tun haben mußten, als zu einer muffigen gerümpeligen Hütte zu spazieren, wo weder Coca-Cola noch Cuba Libre kredenzt wurde, wo es nichts zu sehen und nichts zu holen gab. Allenfalls hätte er mit Ausländern gerechnet, aber das waren keine Ausländer, es waren auch keine Holzfäller, keine peönes. Ein älterer Mann und ein Junge, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, kamen auf ihn zu, zwei seltsame Figuren, dazu ein tapsiger Hund. Der Mann ein verkrüppelter Gnom, glatzköpfig und mit einer Hasenscharte verziert, der Junge eher großgewachsen für sein Alter, ein graues Hütchen, die Lippen nach unten, eingeschnitten, die dunklen Augen ständig in Bewegung. Beide zerlumpt und verdreckt, aber kein bißchen demütig und eingeschüchtert. Sie traten auf, als seien sie die berittene Forstpolizei oder zumindest die amtlich eingesetzten Hüttenverwalter, grüßten kurz, nur ein Hola, nichts sonst, und gingen dann das Gelände um die Hütte ab, blickten den Berg hoch und dort, wo er gestern Kolibris an einem Miniaturwasserfall beobachtet hatte, verschwanden sie kurz hinter dem Felsvorsprung. Sie verschaffen sich einen Überblick,
sie sichern sich nach allen Seiten ab, zwei ladrones gegen ein GringoGreenhorn, schöne Aussichten. Der Zwerg kam auf ihn zu, halb Humpeln, halb Bocksprünge, aber mit reichlich Geschick und Tempo. Einige Schritte vor ihm blieb er stehen, nahm einen Felsbrocken und schleuderte ihn den Hang hinab, zog dann mit einem zufriedenen Grinsen ein Messerchen aus der Tasche seiner Loch-anLoch-Hose und begann, einen Stock spitz zuzuschnitzen. Jetzt also der psychologische Vorkurs, Präparation des auserwählten Opfers durch Einschüchterung und Blutgefrieren, ich zeige dir meine Waffen und du zeigst mir deine Angst. Jean-Pierre tat, was er in solchen Situationen immer getan hatte, er begann zu reden, was gerade herauskam heraus damit, es kam nicht darauf an, was er jetzt sagte, nur alles in einem ruhigen unverfänglichen kühlfreundlichen Tonfall, niemanden provozieren nichts verraten sich nicht festlegen vor allem Zeit gewinnen für eine geniale Ausrede für einen unglaublichen Ausbruchsversuch. Der Strolch hörte stumm zu, kappte zwischendurch einige Gräser mit seiner Machete (rostig und schartig, aber scharf genug für ein weiches weißes Hälschen) und fragte dann ganz beiläufig, ob der Senor denn allein unterwegs sei. Der Senor schüttelte regelrecht rappelig den Kopf: „No, no, estamos seis, altri estän abajo." Er deutete mit großer Geste Richtung Gipfel. Erst viel später, beim Vokabellernen, fiel ihm ein, daß „abajo" „unten" hieß und er „arriba" hätte sagen müssen, aber es kam auch nicht so sehr auf die Worte an. „Vienen en algunos minutos." Damit war die Konversation erst einmal beendet. Der Alte ging zurück zu seinem Schildknappen, sie tuschelten leise miteinander, mit kaum geöffneten Lippen. Er war noch zu keinem Entschluß gekommen. Wenn er jetzt den Rückzug antrat, würde er den beiden Gaunern zeigen, daß er die Hosen vollhatte und sie vielleicht erst recht zum Angriff reizen, von hinten in die offene Flanke, er würde diesen Berg aufgeben müssen, aber was war das für ein Verlust, eine Niederlage mehr oder weniger, was kommt es darauf an, und war nicht von den sechsunddreißig Arten
einer Gefahr zu begegnen die Flucht die einzig sichere die immer angebrachte? Wie ließ sich diese Bude verteidigen eine ganze Nacht lang, wenn es ihm wirklich gelang die beiden bis abends draußen zu halten, die Bruchsteinmauern das war kein Problem, aber die Brettertür der wacklige Holzladen vor dem Fenster das Wellblechdach, an allen Ecken brennt es gleichzeitig, wir räuchern dich aus, wir kriegen dich schon, und dann keine Minute schlafen, immer auf dem Posten bleiben bis zum Morgen und dann mit allem auf dem Kreuz bis ganz oben sich durchschlagen, keine Chance für ein bis zur Rückkehr sicheres Materiallager oder eben Ausbruch aus dem Kessel, eine simple raffinierte Ablenkung durch ein Täuschungsmanöverchen und schon würde er durchbrechen können zu den anderen, hier bin ich aus Todesgefahr entronnen ich mußte mich selbst befreien es war wieder niemand sonst zur Stelle. Das Bübchen spannte seine Schleuder, schaute zu ihm herüber, er wollte gerade schon aufspringen und Deckung suchen, aber es war nur an eine demonstrative Vorführung gedacht, das können wir das ist unser komplettes Waffenarsenal. Der Stein traf einen gelb-roten Vogel auf einem Ast, vielleicht sieben Meter Entfernung, ein Ziel fünfmal fünf im Karre. Das Steinchen gibt den Ausschlag, ab jetzt wird der Rückzug eingeläutet, Kreuz durchdrücken, alles zur Hand was zur Hand ist, und dann die Straße frei zum ersten Mai. Er hätte jetzt sein Stilett aus der Tasche ziehen mögen, das gute alte Stilett, ein Überrest aus der Kampfzeit. Er hatte es zuhause zu den Reiseutensilien gelegt und auf nahezu jeder Reise mitgenommen, auch diesmal, aber es war unten im Hotel zurückgeblieben, genauso der arabische Krummdolch aus Flores. Damals hatte er es praktisch immer dabei gehabt, bei jeder Demonstration, obwohl er es nie brauchte, obwohl es der helle Wahnsinn gewesen wäre wenn man ihn damit eingesammelt hätte, in einer Situation, wo die Polizei einen braucht, dem sie eine schöne Leiche anhängen können und den sie für acht Jahre einlöten wollen, hier bin ich, ich bin der reine Tor, Gurne-
manz der Dummsack, ich bleibe gleich hier, aber er war ja immer wieder davon abgekommen, immer rechtzeitig seitlich verschwunden, nur einmal hatte er sein Perlmuttspielzeug in einen Busch werfen müssen auf einem Kinderspielplatz, mitten in einer Gaswolke, er hatte gejubelt als er es am nächsten Tag unversehrt wiederfand, mein Messer mein Freund. Jetzt hätte er mit der Klinge über die Innenseite der linken Hand streichen, sich betont langsam und unaufgeregt die Fingernägel säubern können. „Donde estan los companeros, senor?" „Vienen, vienen en corto tiempo." Die ladrones steckten wieder die Köpfe zusammen. Sie nickten kurz, nicht einmal unbedingt in seine Richtung und verschwanden in den Büschen oberhalb der Hütte, wohl Richtung Gipfel, wohl um den Hang nach den Entsatztruppen abzusuchen. Er wartete einige Sekunden, bis er nichts mehr von den beiden hörte und sie ihm wirklich verschwunden zu sein schienen, bis auf weiteres wir garantieren für unsere Wiederkehr. Er raste in die Hütte, stopfte seinen Krempel kreuz und quer in den Rucksack, schon jetzt schwitzig und gehetzt, beruhige dich erst einmal du hast doch jetzt eine klare Linie und einen satten Vorsprung jetzt können sie dich mal. Das Klebeband, mit dem er oben und unten einen Gummischutz an seinem Eispickel befestigt hatte, ging nicht los, ein Eispickelfür Mittelamerika schon ganz schön seltsam und spleenig, die Zollmännchen hatten ihn jedesmal ganz erstaunt gefragt, wozu er das Ding denn brauche, hier ist doch nicht der Himalaja, und er hatte jedesmal etwas von einer Expedition erzählt die er plane en America del Sur, das schien ihm wahrscheinlicher und plausibler als die Version mit der Nordroute über Mexiko und die Rockies bis zum Mount McKinley man kann ja schlecht sagen senores ich weiß es selbst noch nicht so genau es ist alles möglich ich will für alle Fälle gerüstet sein. Immerhin hatte der Pickel in diesen Bergen hier als eine Art Krückstock gedient zum besseren Halt im Sandgeröll, zum Gelenkeschonen beim Abstieg. Endlich hatte er die Spitze des Eispickels frei. Er piddelte an dem
weißen Band herum, mit dem der Gummischutz um Schneide und Haue gehalten wurde, ließ es dann erst einmal sein, dafür werden wir unterwegs Zeit haben, schnallte seinen Kletterhelm fest. So ging es in die Schlacht, ins Finale. Draußen war alles ruhig. Vielleicht dreihundert Meter Vorsprung, wenn sie jetzt seine Flucht bemerkten, sie würden hinter ihm laufen müssen, und weil der Weg im ersten Stück fast schnurgerade verlief, würde er sie von weitem hören und sehen. Er rannte so gut es mit dem schweren Rucksack ging, du kleiner verlorengegangener Kreuzfahrer in deinem schweren Harnisch, selbst ein Kettenhemd wäre zU starr und zu gewaltig, wenn die Sarazenen in ihren flatternden Gewändern über Bord springen, Krummdolch und Krummschwert gegen Doppelklinge und Hellebarde. Am Ende des offenen Weges blickte er sich um - nichts. Jetzt wartete nur noch der gewundene Hohlweg, die ideale Falle, die Ratte kann nicht mehr vor und nicht mehr zurück, wird an Ort und Stelle zerlegt. Onkel Francois hatte eine solche Konstruktion gehabt, er hatte sie selbst aus alten Mauereisen zusammengeschweißt, die er rot und blau angepinselt hatte. Mit der Ratte darin wurde die Falle in halber Höhe an einen Baum gehängt, die Hunde sprangen hoch und geiferten, versuchten sie herunterzureißen und aufzusprengen, aber sie wußten eigentlich schon, daß bald ein altes Ritual ablaufen würde, daß der Onkel sich die Falle packen würde, um sie zu einer kleinen Schlucht zu tragen. Dort öffnete Onkel Francois, immer elegant, selbst unter der Woche, auf jeden Fall ein feiner Herr, die Klappe und die Ratte bekam die Chance, sich von den Hunden herausholen oder auf der Flucht zerfetzen zu lassen, kurzes Festbeißen kurzes Schütteln, dann entriß der Onkel, der sich einen alten Lederhandschuh übergezogen hatte, den Hunden die Rattenleiche und schleuderte sie ins Gelände. Onkel Francois hatte immer behauptet, bei ihm und bei seinem Vater sei nie eine Ratte heil weggekommen, aber bei seinem Großvater sei es einmal einer geglückt, die ganz weiß war und einen bösen triumphierenden Blick gehabt hatte, ein Rattenerzteufel.
Er war vielleicht zwei Minuten in dem Hohlweg unterwegs, als er hinter einer Biegung einen Köter bellen hörte. Er hielt an, hob seine Ersatzstreitaxt und schlich sich langsam und lauernd durch die Kurve. Am rechten Rand des Weges standen die beiden Wegelagerer. Der Hund winselte im Hintergrund. Anscheinend hatte er sich gerade einen Fußtritt gefangen für sein vorzeitiges Gebell. „Hola, como esta usted, senores?" Sie antworteten nicht, standen nur dumm herum und schienen darauf zu warten, daß er weiterging. „Despues de usted, senores. Hay tiempo, hay mucho tiempo." Der Alte murmelte etwas, das nicht zu verstehen war, machte dann eine regelrechte Grandezza-Geste, er solle nur ruhig vor ihnen gehen, er hätte doch nicht etwa Angst vor ihnen, er wolle sie doch nicht verdächtigen, einem Menschen etwas zu tun, sie seien arm aber ehrlich undsoweiter undsoweiter. Jean-Pierre blieb stur stehen in etwa fünf Metern Abstand, bewegte seinen abgewetzten Eispickel in der Hand und kratzte gut sichtbar mit den Fingernägeln das Klebeband los, du treuer Begleiter in zwei bis drei fast tödlichen Umständen, fast schon im freien Fall in den Eishang geschlagen, eben noch abgefangen. Er wiederholte einfach nur sein Sprüchlein „Hay tiempo", irgendwann wird es ihnen zuviel werden, irgendwann kneifen sie den Schwanz ein und ziehen ab. So war es auch, plötzlich gab der Alte dem Jungen einen Schubs, Jean-Pierre wollte gerade sein Gerät hochreißen, aber es ging nicht gegen ihn. Die beiden verschwanden mitsamt Hund in den Büschen, wie weggeschluckt. Obwohl er sich sicher war, daß er es nun geschafft hatte, rupfte er doch noch den letzten Rest des weißen Bandes herunter, stopfte den Gummischutz in die Tasche und lief los. Er war fast aus dem Wald heraus, der Hohlweg war schon etwas flacher geworden, als sie es noch einmal versuchten. Sie waren schneller als er gewesen, obwohl sie seitlich im Unterholz sicher nicht so einen komfortablen Pfad hatten. Er hatte nichts gehört, es war ein plötzliches Zusammenzucken eine rasante Gewißheit, da sind sie genau hinter dir in diesem Augenblick
und an dieser Stelle. Ein Stein knallte gegen seinen Helm, das war die Schleuder Söhnchen, jetzt hast du keine Hand frei, jetzt bist du dran. Er traf den Burschen an der Schulter er hatte mit der Schneide des Pickels zugeschlagen. An seinen Füßen kläffte das Hündchen, versuchte vielleicht sogar zuzubeißen. Der Alte kam auf ihn zu, die Machete gezückt. Es war automatisch, ohne irgendwelches Überlegen, daß Jean-Pierre Mihiel, Professor der Rechte an der Sorbonne, den Pickel drehte und mit der Haue zuschlug, zwischen die Augen, alles in diesem einen Schlag, alles. Er war gerannt bis er in offenes Gelände kam, von weitem eine Bauernfamilie sah und seine Leute, die immer noch am Straßenrand standen. Das letzte Stück war er bewußt langsam und gleichmäßig gegangen zur Selbstberuhigung, keine unnötigen Fragen provozieren, keinen verdächtigen Anschein erwecken, es auslaufen lassen in ein unschwieriges Geplauder. Er rekapitulierte die Ratschläge aus den Fernreisebüchern, unsere vielleicht etwas fragwürdige aber aus praktischen Erfahrungen entstandene Empfehlung jenseits des moralischen Aspektes, ein Huhn überfahren - nicht anhalten, Vollgas geben bloß weiterkommen, ein Kind überfahren - erst recht, nur keine Hoffnung darauf, es klären zu können oder ein faires Verfahren zu erhalten, jede Verwicklung vermeiden um jeden Preis. Katrin winkte als erste, sie schien sich zu freuen, daß er jetzt schon kam, mit ihnen mitkam. Dieses Sich-Sorgen-Machen, diese erdrückende Anhänglichkeit, die er immer verabscheut hatte, aber dieses Mal konnte man es hinnehmen, es hatte ja einen Anschein von Berechtigung für sich. Er küßte sie, hungrig ausgehungert und ganz friedlich freundschaftlich. „Ich bin so gerannt, ich hatte schon befürchtet, daß ihr mit dem LKW wegseid und ich den ganzen Weg allein traben muß, ich habe es mir anders überlegt, ich werde es ein andermal machen, es paßt so besser in meine Reiseplanung." Er redete den anderen, die eigentlich noch warten wollten, zu, jetzt keine Zeit mehr zu verschwenden, der Gemüsehändler, der schon fast eine Stunde überfällig war, werde jetzt nicht mehr kommen, das ist
doch typisch für diese Gegend der Welt, daß man nichts zuverlässig für den nächsten Tag vereinbaren kann, der hat einfach das Risiko gescheut, daß wir es uns anders überlegt haben und er für umsonst eine Spritztour hier hoch machen muß.
Einer der Dänen hatte sich die Füße aufgescheuert und humpelte wie am Stock. Es gelang ihnen, für ihn in einer Finca ein Maultier zu mieten, das vom Sohn des Besitzers am Zügel geführt wurde. Es war schon fast dunkel, als sie unten ankamen und der Junge zurückreiten konnte. Der Alte hatte am Boden gelegen, tot oder doch noch nicht tot, das Bübchen hielt sich jammernd die Schulter und schien eher auf Abhauen aus als auf Versorgung seines Kumpanen oder auf einen zweiten Versuch. Trotz allem ein Zeuge, den man befragen würde, wenn der machetero es nicht überstanden hatte oder besser gesagt es überstanden und alles hinter sich hatte, aber der Verdacht würde sich verteilen auf mehrere Fremde, die in verschiedene Himmelsrichtungen abreisten und kaum den Namen voneinander wußten. Jean-Pierre hatte den Bauernjungen erst noch fragen gewollt, ob er von Strolchen und Strauchdieben in dieser Gegend wisse, aber er ließ es dann doch, es sind oft die kleinen läßlichen Fehler eben und Dummheiten, die uns verraten, es ist besser, nichts zu sagen über all das, über das man nichts sagen kann. Wenn ich Glück habe, werde ich nie erfahren, was aus ihm geworden ist, was ich getan habe, habe ich getan.
Rainer Bürkle, Jahrgang 1958, kam in Peru zur Welt. Er wuchs in Lima, Hamburg, Stuttgart und Herford auf. Das Soziologiestuidum brach er ab und schulte autodidaktisch zum Softwareentwickler um. Seit 1988 lebt er in der Bergsteigerhauptstadt München. Schon ab dem sechsten Lebensjahr besuchte er regelmäßig die Berge, meist zum Skifahren in Graubünden. Nach dem Umzug nach München zogen ihn Bergwanderungen und Klettersteige ins Gebirge, auch Trekkingtouren in Nepal standen auf dem Programm. 1994 dann der erste Kletterkurs, danach Kletterrouten an der Kampenwand, im Wetterstein und in Arco. Seit dem hier geschilderten Unfall hat sich sein Schwerpunkt eindeutig in Richtung Genußklettern verschoben. Von den 500 Seiten unveröffentlichter Gedichte, Geschichten und Reisebeschreibungen ist die hier veröffentlichte Episode die erste, die in gedruckter Form erscheint.
Sturz Rainer Bürkle
Schon seit Tagen war das Wetter gut. Warm, sonnig und nicht allzu schwül. Wir konnten also davon ausgehen, nicht von einem Gewitter überrascht zu werden. Auch als wir am Samstagabend im Biergarten saßen und die Route für den nächsten Tag besprachen, war es angenehm warm gewesen. In unserer Blödellaune, die wir nach einer Maß Radler hatten, überlegten wir, ob wir nicht ein Handy auf unsere Klettertour mitnehmen sollten; beschlossen aber, daß wir das sowieso nicht brauchten. Als ich auf den Parkplatz fuhr, war Luis schon da, obwohl es erst kurz nach sieben war. Ich war überrascht, wie pünktlich er war. Wir hatten uns an diesem Sonntagmorgen um halb acht zur zweiten Gebirgstour dieser Saison verabredet. Die Autobahn nach Garmisch war leer. Wie immer, wenn wir mit Luis' Auto fuhren, war auch der Tank fast leer, so daß wir unsere Fahrt an der nächsten Tankstelle unterbrechen mußten. Als wir weiterfuhren, sahen wir Heißluftballone am Himmel, und Alpspitze und Zugspitze grüßten uns mit einer kleinen Wolkenmütze. Es schien ein wunderschöner Tag zu werden. Ideal zum Klettern. Vom Wetter hatten wir also nichts zu befurchten auf dem „Weg der Freundschaft", der Route, die wir uns für heute vorgenommen hatten. Laut Kletterführer sollten es fünf Seillängen sein, in überwiegend festem Gestein, mit Stand- und Zwischenhaken der Erstbegeher abgesichert (das Datum der Erstbegehung war, wie wir einige Tage später erfuhren, 1968, und die Route war seitdem selten wiederholt worden). Die Schlüsselstelle mit einer Schwierigkeit von 6+ entsprach dem, was jeder von uns sich zutraute, der Rest wäre einfache Genußkletterei im vierten und fünften Schwierigkeitsgrad.
Kühler, als wir es uns vorgestellt hatten, war es am Parkplatz der Osterfeldbahn, wo wir unser Material sortierten: Klemmkeile, Friends, Expreßschlingen. Den Felshammer und die Haken, die ich mir neu gekauft hatte, nahm ich natürlich auch mit, obwohl Luis meinte, daß das überflüssiges Gewicht wäre und daß wir die Haken sicherlich nicht brauchten. Er ist eben ein typischer Sportkletterer, dem jedes Gramm zuviel am Gurt wie unerträglicher und behindernder Ballast vorkommt. Wir gingen davon aus, daß es sehr warm werden würde - die Route befindet sich an der Südwestseite des Höllentorkopfes -, und Luis, der wie immer keinen Rucksack mitnehmen wollte, steckte nur eine dünne lange Hose in meinen Rucksack. Mit insgesamt zweieinhalb Liter Getränken, diversen Schokoriegeln, Brotzeitdose, der Bergapotheke, meiner Goretex-Jacke und meiner Regenüberhose hatte der Rucksack ein ordentliches Gewicht, und wir beschlossen, daß jeweils der Nachsteiger das Ungetüm schultern sollte. Ohne Apotheke und Regenkleidung hatte ich noch nie eine Bergtour gemacht, egal wie immer das Wetter auch aussah. Ich wollte auch diesmal, obwohl das Wetter stabil schien, nicht darauf verzichten. Kalt schlug uns der Wind entgegen, als wir an der Bergstation ins Freie traten. Nur noch 30 Minuten bis zum Einstieg. Wir waren beide richtig heiß aufs Klettern. Wollten nach der langen Zeit in Hallen und Klettergärten endlich mal wieder echten Fels unter den Fingern und Schuhen spüren. Vor einigen Wochen waren wir zwar schon einmal an der Kampenwand gewesen, doch seitdem hatte das Wetter weiteren Felswochenenden einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Weg führte steil über Geröll und Schroffen bis unter die Wand. Auf dem Weg dorthin trafen wir eine andere Seilschaft, die wie wir mit einem Führer in der Hand den „Weg der Freundschaft" suchten. Luis und ich überlegten, ob wir nicht eine andere Tour gehen sollten, doch als die anderen uns den „Weg der Freundschaft" überließen,
weil sie sich nicht ganz sicher waren, wo der Einstieg sein sollte, stiegen wir über mittelschweres Schrofengelände ohne Seil bis zu einem kleinen Absatz, von wo aus wir in die Wand einsteigen wollten. Ich führte die erste Seillänge, hatte aber, nachdem ich eine kleinere Kante überwunden hatte und mich in einem Geröllfeld wiederfand, keine Ahnung, wo die Route weitergehen sollte. Ich verglich die Skizze aus dem Buch, die ich mir eingeprägt hatte, mit dem Gelände, das ich sah, und fand schließlich die Verschneidung, die den Beginn der zweiten Seillänge markieren sollte. In dem Geröll fand ich zwei alte verwitterte Bandschlingen, die ich als Bestätigung meiner Annahme, daß dies der richtige Weg sei, betrachtete. Auf der Suche nach einem geeigneten Standplatz trat ich mehrere hundert Kilo Geröll los, die in Luis' Richtung ins Tal prasselten. Der erste Standplatz bestand schließlich aus einer um eine Felsschuppe gelegten Bandschlinge, die zusammen mit einem mehr oder weniger fest sitzenden Friend zu einem Kräftedreieck verbunden war. Zur Sicherheit war das Ganze nach unten hin mit einem zer Klemmkeil abgespannt. Wohl wissend, daß dieser Standplatz keinen harten Fangstoß halten würde, sicherte ich Luis mit dem Halbmastwurf an meinem Gurt und vertraute mich selbst dem Standplatz an. Als Luis zu mir hochkam, stellten wir fest, daß wir für diese erste Seillänge bereits über eine Stunde gebraucht hatten, und das in relativ einfachem Dreiergelände. Wie würde es dann erst an der Schlüsselstelle werden? Luis übernahm das Sicherungsmaterial und stieg die Verschneidung hoch. Immer noch auf der Suche nach dem richtigen Routenverlauf machte er unterhalb eines großen Überhangs Halt und baute aus einer Bandschlinge und einem Friend einen recht wackeligen Standplatz. Bis zu dieser zweiten Seillänge hatten wir noch keinen der im Führer erwähnten Stand und Zwischenhaken entdeckt. Wir schauten uns das Gelände an, verglichen wieder und wieder mit der Skizze in unserem
Buch und kamen zu dem Schluß, daß die einzige vernünftige Möglichkeit für die Route weiter links unterhalb des Überhangs führen müßte. Luis wollte nur mal schauen, wie es hinter dem nächsten Absatz aussieht, und fand schließlich, nachdem er fast 30 Meter ohne Zwischensicherung hochgestiegen war, den ersten Haken der Tour. Daß wir damit den „Weg der Freundschaft" verlassen hatten und uns auf der „Westkante" befanden, stellten wir erst Wochen später fest, nachdem wir das in einem anderen Kletterführer abgebildete Wandphoto genau studiert hatten. Luis war sich nicht sicher, ob der Haken, den er gefunden hatte, stabil genug für einen Standplatz war, und wählte als zweiten Fixpunkt einen Friend in einem wie dafür vorgesehenen Loch. Angesichts der nun folgenden Schlüsselstelle, einem überhängenden Riß im oberen sechsten Schwierigkeitsgrad, wollte er sich offensichtlich auf einen stabilen Standplatz verlassen können. Dieser befand sich an ausgesetzter Position oberhalb eines etwa 30 Meter hohen Steilabsturzes. Als ich Luis beobachtete, wie er sich vorsichtig durch die mit fünf wackeligen, rostigen Haken gesicherte Schlüsselstelle kämpfte, wurde mir der Abgrund unter mir deutlich bewußt. Jedesmal wenn er an einem der Haken kurz rastete und ich das Seil straff in die Sicherung nahm, sah ich, daß der von ihm gelegte Friend lediglich mit drei seiner vier Segmente satt am Felsen auflag. Mir wurde klar, daß auch dieser Standplatz einen Sturz von Luis höchstwahrscheinlich nicht halten würde. Und als ich sah, wie schwierig die Stelle war, die ich gleich mit dem schweren Rucksack nachsteigen sollte, machte ich mir Gedanken darüber, ob es nicht besser wäre, den Rückzug anzutreten. Doch keinem unserer bisherigen Standplätze hätte ich soviel Vertrauen geschenkt, um mich daran abzuseilen. Also weiter nach oben die Flucht nach vorne antreten. Luis erzählte mir später, daß er in dieser Situation wohl auch mit dem Gedanken an Rückzug gespielt hatte, sich aber nicht vorstellen konnte, daß ich darauf eingegangen wäre, und des-
halb weitergegangen war. Offensichtlich kennen wir uns doch noch nicht gut genug, um genau zu wissen, wie der andere in Extremsituationen denkt, fühlt und handelt. Als ich mich durch die Schlüsselstelle kämpfte, eigentlich mehr an den Expreßschlingen hangelnd als sauber am Fels kletternd, sah ich, wie wackelig und rostig jeder einzelne Haken war und daß wahrscheinlich bei einem Sturz von Luis die ganze Kette wie ein Reißverschluß aufgegangen wäre. Keuchend erreichte ich den nächsten Standplatz, der mir recht sicher erschien. „Warum mache ich das eigentlich hier", war meine erste Frage, als ich wieder halbwegs zu Atem gekommen war. Aber ich kannte die Antwort ja. Sie lag in diesem befriedigenden Gefühl, eine große Schwierigkeit gemeistert zu haben, gemeinsam mit einem Partner ein Hindernis überwunden zu haben im gegenseitigem absoluten und unbedingten Vertrauen auf die Fähigkeiten und Entscheidungen des anderen. Mittlerweile war es vielleicht eins oder halb zwei. Den Rest würden wir auch noch schaffen. Wir waren in der richtigen Route, und die Schlüsselstelle lag hinter uns. Das einzige, was uns jetzt noch bedrängte, war der immer kälter werdender Wind und die langsam sich verdichtenden Wolken über der Alpspitze. Wir nahmen uns vor, die restlichen drei oder vier Seillängen zügig durchzusteigen, und freuten uns schon auf einen heißen Milchkaffee in der Bergstation. Ich führte die nächste Seillänge. Die Route folgte hier in logischer Linie der Südwestkante hoch zum Gipfel des Höllentorkopfes. Es war eine schöne Genußkletterei, ausgesetzt über den Grat. Ich stieg zügig hoch, da uns mittlerweile kalt geworden war. Der Wind war stärker geworden, und auch die Sonne kam nur noch selten durch die Wolken über der Alpspitze hindurch. Ich fand genügend - wenn auch nicht besonders gute - Haken als Zwischensicherungen, und als nach 40 Metern die Seilreibung zu stark wurde, baute ich in einer ausgesetzten Scharte einen Standplatz.
Luis kam schnell nach, übernahm das Sicherungsmaterial und folgte dem Grat weiter nach oben. Nach 30 Metern rief er „Stand", und ich folgte ihm, froh, endlich aus dem kalten Wind zu kommen, der mich mittlerweile ausgekühlt hatte. Bald war ich bei Luis am nächsten Standplatz: zwei solide aussehende Felshaken zu einem Kräftedreieck verbunden, das einen recht vertrauenerweckenden Eindruck machte. Mir war kalt und ich wollte schnell auf den Gipfel, sah ihn schon zum Greifen nah. Nur noch diese eine Seillänge, dann würde ich mir etwas Warmes anziehen können, dann würden wir etwas essen und trinken und unseren "Weg der Freundschaft" feiern können. Luis hatte bereits vier Seillängen geführt, ich erst zwei, und ich wollte die nun folgende Seillänge, die Gipfelseillänge, unbedingt führen. Ich hatte die letzte Seillänge im Nachstieg trotz Rucksack gut und ohne Probleme bewältigt und fühlte mich sicher und stark genug, den Rest bis zum Gipfel auch mit Rucksack führen zu können. Ich sagte Luis, daß ich den Rucksack behalten würde, damit ich am Gipfel meine Goretexjacke anziehen könne, und stieg weiter. Es folgte ein kleiner Absatz, der mit einem Haken abgesichert war. Als ich oberhalb des Hakens weiter steigen wollte, sah ich zunächst keine weiteren Haken. Ich spürte das ziehende Gewicht des Rucksacks. Der Grat war hier noch einmal recht steil und ausgesetzt, und ich wollte kein Risiko mehr eingehen so kurz vor dem Gipfel. Ich dachte für einen Moment daran, zu Luis abzuklettern, um ihm doch den Rucksack zu überlassen, da bemerkte ich rechts ein kleines Felsband, das um die steile Kante herumführte. Mittels eines Seilzugquergangs könnte ich auf dieses Felsband und das darauf folgende leichte Gelände gelangen. Ich schaute noch einmal kurz hinter mir nach unten und sah die ungefähr 80 Grad steil abfallende Flanke des Südwestgrats, die nach 40 Metern in einen senkrechten Abfall überging. Mir fiel auch der scharfe Rand einer großen, leicht von der Wand abstehenden Fels-
schuppe auf, und ich dachte: „Wenn Du da drauf stürzt, das wäre nicht gut." Also arbeitete ich mich langsam und vorsichtig auf das Felsband vor. 15 Meter links unterhalb von mir stand Luis, das Seil straff haltend. Ich griff mit der rechten Hand nach einer Felsschuppe, zog meinen rechten Fuß nach und stürzte ab. Unter mir war nichts mehr. Im allerersten Moment war es wie jeder andere Sturz im Klettergarten oder in der Halle. Bei all diesen Stürzen war immer die Gewißheit da, nach maximal einer Sekunde im Seil zu hängen. Doch diesmal war es dramatisch anders. Ich spürte, wie ich aufschlug, spürte, wie ich mich mehrfach überschlug, wie ich immer schneller wurde. Wie ich mit dem Rucksack auf meinem Rücken gegen Felsen schlug, wie mein Helm hart an der Wand entlang scheuerte. Ich schaute nach oben und sah, wie etwas aus der Wand gerissen wurde. Aus irgendeinem Grund war es für mich sofort klar, daß das Seil gerissen war, und ich dachte: „Jetzt ist es vorbei. Nur noch 40 Meter bis zur Kante, dann 200 Meter freier Fall und noch ein letzter Aufschlag. So ist das also, wenn man abstürzt. Das war's dann wohl. Ich will doch noch nicht sterben, aber ich kann offensichtlich nichts mehr dagegen tun; bin diesen brutalen Kräften, die mich tiefer reißen und immer wieder gegen den Fels schlagen, hilflos ausgeliefert." Ich dachte an Moni, der ich morgens noch in ihre besorgten Augen versprochen hatte, daß ich aufpassen würde, daß uns nichts passieren würde. In diesem Moment dachte ich überhaupt nicht an Luis, ich ging ja davon aus, daß das Seil gerissen war, daß er also außer Gefahr war. Ich hatte auf eine seltsam ruhige und gelassene Art und Weise mit meinem Leben abgeschlossen. Ich war bereit für den Schritt auf die andere Seite ohne Angst. Mit einem Ruck blieb ich nach knapp 30 Metern mit dem Rücken zur Wand im Zwillingsseil hängen; ein Seilstrang links hinter meinem Helm, der andere irgendwo rechts im Gurt des Rucksack verheddert. Als hätte mich das Seil aus diesem abwärts führenden Tunnel herausgerissen, war ich plötzlich wieder in der Welt, aus der ich mich
eben erst verabschiedet hatte. Ich war noch am Leben. Aber ich war weit gestürzt, und mir tat alles weh. Ich stand unter Schock. Ich schrie vor Schmerz und vor Wut. „Luis, mich hat's erwischt! Ich blute!" Ich war benommen und verwirrt von dem Sturz und schrie einige Minuten lang mehr oder weniger konfuses Zeug, bis ich mich allmählich beruhigte und mich zwang, mich zusammenzureißen und die Situation zu analysieren. Wo waren die Schmerzen am schlimmsten? Irgendwo rechts im Fuß. Ich schaute herunter zu meinem rechten Fuß und sah nur ein unförmig dick verformtes Gebilde, das von einem Kletterschuh zusammengehalten wurde. Oben aus dem Schuh quoll langsam Blut. Ich drehte mich zur fast senkrechten Wand und versuchte, mit dem rechten Fuß aufzutreten. Irgend etwas in der Ferse knirschte fürchterlich wie eine Mischung aus Kiesel, Schotter und Sand und der Fuß fühlte sich an wie Brei. „Rainer hatte mir zugerufen, ihn durch Seilzug zu unterstützen. Ich sah ihn vorsichtig nach rechts auf das Felsband queren. Dann ging alles viel zu schnell. Ein kurzer Schrei, und er fiel wie ein Stein die zehn Meter hohe Steilwandherunter. Ich konnte nicht glauben, was ich sah, wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich betete, daß die Haken am Standplatz fest genug wären, um den Sturz zu halten. Ich wußte, daß der Fangstoß brutal hart werden würde, und hatte Angst, daß er mich aus dem Stand reißen könnte. Rainer war mittlerweile auf die nicht ganz senkrechte Flanke aufgeschlagen, und ich sah, wie er sich mehrfach überschlug, wie er wie ein Gummiball immer wieder gegen Fels schleuderte und dabei schneller wurde. Ich konnte es immer noch nicht begreifen, daß er gestürzt war, daß er an mir vorbei in Richtung Abgrund weiterpurzelte. Da bleibt nicht viel übrig, dachte ich mir. Dann verschwand er hinter der nächsten Kante in die nun folgende senkrechte Wand, und ich bereitete mich darauf vor, den Fangstoß zu halten. Er riß mich fast um. Die Seile rutschten ein Stück durch den Abseilachter, und das Restseil wickelte sich um meine Arme.
Wow, die Haken hatten gehalten. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Aber was war mit Rainer? Ich war völlig fertig. Ich hielt ihn für tot. Um so überraschter und glücklicher war ich, ah ich ihn hörte: „ Luis, mein Fuß ist kaputt!" Ich war überrascht, wie klar er sich anhörte." Ich konnte Luis nirgends sehen, hing hilflos in meinem Gurt an einer fast senkrechten Wand. „Luis! Mein rechter Fuß ist gebrochen! Er blutet! Ich kann nicht mehr gehen! Es tut so weh!" „Bleib' ruhig!" kam seine Antwort von oben herab. Hoch würde ich nicht mehr kommen, mit diesem Fuß, zumal Luis, wie ich wußte, erstens keinen Flaschenzug bauen konnte und zweitens nicht einmal das Material dafür dabei hatte. Hier, wo ich jetzt hing, in fast senkrechtem Fels, hatte ich Angst, noch einmal abzustürzen, hier konnte ich mich nicht lange halten. Hier konnte ich nur im Gurt hängen und einen Blutstau in den Beinen riskieren. Wie lange könnte Luis mich hier halten? Er kann ja nicht einmal den Schleifknoten, mit dem er das zu mir führende Seil fixieren könnte, um eventuell Hilfe zu holen. Er hielt mich wahrscheinlich nur im Abseilachter. Das würde er nicht lange durchhalten. Mein Verstand begann völlig klar zu arbeiten. Könnten wir uns vielleicht abseilen? Aber an welchen Haken? Der Fels war brüchig. Alle Haken, die wir für Standplätze verwendet hatten, erschienen mir jetzt nach dem Sturz noch viel unsicherer als vorher. Ich war eben gerade noch einmal davongekommen. Ich hatte schon abgeschlossen und war doch noch am Leben. Jetzt war die Angst vor einem weiteren Sturz das Mächtigste in meinem Kopf. Ich komme hier raus, aber wie? Mit dem Hubschrauber klar. Aber ich wußte, daß er mich aus dieser Lage und aus dieser Position in der Wand nur schwer hätte bergen können. Daß ich damit recht hatte, bestätigte ein Bergrettungsmitglied später Luis gegenüber. Ich sah etwa 15 Meter unter mir ein vielleicht 30 Zentimeter breites Felssims, das mir als Basis für eine Bergung geeignet erschien. Ich rief Luis zu, daß er mich langsam ablassen sollte.
Das Ablassen dauerte endlos. Jedesmal, wenn Luis stockte, kam die Angst wieder. Ich bettelte um jeden Meter. „Luis, bitte! Noch fünf Meter. Bitte laß mich doch weiter runter!" „Ich war wahrscheinlich weitaus mehr geschockt als Rainer. Er schien völlig klar im Kopf zu sein und genau zu wissen, was zu tun war. Ohne ihn wäre ich in dieser Situation völlig aufgeschmissen gewesen. Ich hätte nicht gewußt, was ich tun sollte. Wahrscheinlich war der Bergrettungskurs, den er im Frühjahr mitgemacht hatte, doch recht sinnvoll gewesen. Wir hatte damals noch Witze darüber gemacht, daß, wenn einer von uns stürzen sollte, dies meine Angelegenheit- wäre, damit er mich retten kann. Nun war es genau anders herum. Ich war hilflos, und er hatte die Situation voll im Griff, faszinierend. Ich konnte ihn nicht sehen und ich wußte nicht, wie schwer er verletzt war und zu allem Überfluß hatte sich das Seil hoffnungslos in meinen Karabinern verwickelt und schnürte meine Arme ab. Das Ablassen war mühsam, immer wieder krangelte das Seil." Endlich auf dem Felssims angekommen, versuchte ich, mich mit einem Haken zu sichern. Mindestens vier Mal sprengte ich dabei große Felsschuppen ab, die ich tief unter mir die Wand herunterprasseln sah. Endlich zog der Haken in einen Spalt. Obwohl sich das Gestein rundherum etwas bewegte und auch der Klang des eingeschlagenen Hakens eher dumpf und hohl als singend hell klang, erschien mir dies als Absicherung ausreichend. Ich klinkte mich mit einer Bandschlinge in diesen Haken ein und fühlte mich zunächst einmal sicher. Außerdem war da immer noch das Zwillingsseil, das vom Berg herunter hing und an dessen anderen Ende Luis war. Luis, wie ging es ihm? Er muß mich stürzen gesehen haben. Er hat meinen Sturz gehalten, hat mich vor dem Abgrund, vor dem mir schon als sicher erscheinenden Tod gerettet. Mein Gott, ihm muß kalt sein. Und ich habe seine Sachen hier bei mir im Rucksack. Von oben kommt sein Ruf: „Hallo Rainer! Ich geh' Hilfe holen!" „Laß mich nicht allein!" Ich will nicht alleine bleiben. Ich hole die Trillerpfeife aus meiner Bergapotheke und gebe das alpine Notsignal.
Luis ruft Touristen zu, die auf der Rinderscharte talabwärts gehen. Niemand scheint zu realisieren, daß das Ganze kein Spaß ist. Sie winken zurück und gehen weiter. Luis beschimpft sie wütend in einer Mischung aus Deutsch und Spanisch. Mir wird allmählich klar, daß Luis Hilfe holen muß. Er ruft mir noch zu, daß ich etwas essen soll, und läßt mich dann alleine auf meinem Felssims zurück. Ich zittere vor Kälte, vor Schmerzen. Vor Angst? Schock? Wann wird Luis zurück sein? Hält das Wetter? Was könnten wir tun, wenn Luis hier bei mir wäre? Notfalls eine Nacht biwakieren. Mit dem zerschmetterten, blutenden Fuß? Nein, es war schon okay, daß er mich zurück gelassen hat. Ich halte schon durch. Fühle mich trotz allem stark. Ich versuche zu überlegen, was zu tun ist. Essen werde ich nichts; wenn ich nachher im Krankenhaus bin, werden sie mir alles, was ich jetzt esse wieder aus dem Magen pumpen. Ich trinke einen Schluck, schlucke zwei Schmerztabletten, rauche ein paar Zigaretten und lagere meinen Fuß hoch. „Noch wütend über die Leute unten auf dem Weg knote ich mich aus dem Seil und suche vom Standplatz aus einen Weg nach oben. Ich versuche eine Möglichkeit unterhalb der Stelle, an der Rainer abgestürzt ist. Zunächst klappt es recht gut, obwohl ich innerlich total aufgewühlt bin von dem eben Erlebten. Ich darf nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn ich hier stürze ohne Seil, ich muß mich aufs Klettern konzentrieren. Und doch komme ich in eine Situation, in der ich plötzlich merke, daß ich keine Hand mehr für den nächsten Griff loslassen kann, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Meine Beine, meine Arme, mein ganzer Körper beginnt zu zittern. "Luis, reiß Dich zusammen, Du hast schon weitaus schwierigere Stellen geklettert", versuche ich mich zu beruhigen. Endlich leichtes Dreiergelände. Gerade noch einmal gut gegangen. Ich zittere immer noch. Und dann sehe ich eine andere Seilschaft aus einer Nachbarroute aussteigen. Ich rufe ihnen zu, daß wir Hilfe brauchen. Ich will mit ihnen gehen, aber sie sagen mir, ich solle da bleiben, wo ich bin, und warten. Wie die Gemsen klettern sie die restlichen Meter zum Gipfel hoch." 139
Es wird kälter. Luis antwortet nicht auf meine Rufe. Ich ziehe meine Goretexjacke an, ziehe die Regenhose vorsichtig über, stülpe einen Packbeutel über meinen blutenden rechten Fuß, um ihn warm zu halten, wickele mein Halstuch um die Fleischwunde am linken Knöchel. Ich hänge alles Material von meinem Gurt ab und binde es zusammen - im Krankenhaus werde ich es nicht mehr brauchen. Mir ist immer noch kalt. Der Fuß tut höllisch weh. Ich decke mich mit dem ausgebreiteten Seilsack zu und wickle mich zusätzlich in die Rettungsfolie, die ich immer im Rucksack habe. War das ein-Hubschrauber? Ich höre genauer hin. Nein. Fange ich schon an zu phantasieren? „Luis!?" Keine Antwort. „Luis! Wo bist Du?" Immer noch keine Antwort. Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. Noch ist es hell, und das Wetter bleibt sicher noch zwei oder drei Stunden stabil genug für den Hubschrauber. Ich sortiere den Rucksack neu, sichere ihn und das Material von meinem Gurt ebenfalls an dem Haken und versaue dabei alles mit dem Blut, das aus unzähligen Schürfwunden an meinen Händen und Armen heruntertropft. Mein Gott, das war knapp. Ich hätte tot sein können, einfach weg. Ich hätte Luis mitreißen können. Ich habe mich und Luis in Gefahr gebracht. Später erfahre ich, daß er an dem letzten Standplatz eine Änderung vorgenommen hatte, die uns beiden wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Den Abseilachter, mit dem er mich sicherte, hatte er, als ich begann, die letzte Seillänge vorzusteigen, aus dem Zentralpunkt des Kräftedreiecks herausgenommen und direkt in seinen Gurt eingehängt. Der tonnenschwere Fangstoß wurde also zunächst durch seinen Körper abgedämpft, bevor er den Standplatz traf. Was habe ich nur falsch gemacht? Obwohl ich es oft genug gelesen hatte und auch Moni oft genug erklärt hatte, daß man fremde, nicht selbst geschlagene Haken am besten immer mit einem Schlag des Felshammers prüft, um am Klang festzustellen, wie fest der Haken noch sitzt, hatte ich auf dieser Tour, obwohl ich einen Hammer dabei hatte, überhaupt nicht mehr daran gedacht. Gut, es war das erste Mal,
daß ich überhaupt einen Hammer beim Klettern dabei hatte, könnte ich zu meiner Entschuldigung einbringen. Aber andererseits zeigt es doch, wie unerfahren wir doch eigentlich im alpinen Klettergelände waren, wie groß der Unterschied zwischen dem Wissen aus Büchern und den durch Handeln erworbenen Erfahrungen ist. Endlich wieder Luis' Stimme: „Rainer!? Der Hubschrauber kommt gleich!" „Luis, komm zu mir!" Wieder endloses Warten. Ich glaube, eine Stunde habe ich insgesamt auf dem schmalen Sims zugebracht. Alleine mit meinen Gedanken, mit den Schmerzen. Gehalten von einem nicht ganz sicheren Haken und der Hoffnung auf baldige Rettung. Aufgewühlt durch das eben Erlebte. Tief beeindruckt von dieser unglaublichen Grenzerfahrung, die mich bis ganz knapp an den Rand der Existenz und zurück ins Leben geführt hat. Endlich, da ist das typische Hubschraubergeräusch. Diesmal bin ich mir sicher. Ich kann ihn sehen, wie er näher kommt und über mir kreist. Der starke, durch die Rotorblätter verursachte Wind wirbelt kleine Steine auf. Ich höre Bewegungen oberhalb von mir. „Luis?" Es ist ein Mann der Bergrettung. Er kommt zu mir. Er fragt mich, was passiert ist, ob ich laufen kann. Ich sage ihm, daß mein Fuß gebrochen ist und daß er blutet. Gemeinsam räumen wir alles, was vom Hubschrauber weggeweht werden könnte, in den Rucksack: Rettungsdecke, Seilsack, Bergstiefel. Er sichert sich ebenfalls an meinem Haken und bindet mich aus dem Seil, mit dem ich immer noch verbunden bin. Aus dem Hubschrauber kommt an einer Winde ein zweiter Retter. Der Hubschrauber steht jetzt genau über mir. Ich lasse von dem ersten Retter meinen Gurt auf Beschädigungen überprüfen. Der zweite Retter ist jetzt bei uns, sichert sich ebenfalls an meinem Haken und hängt mich in das Stahlseil des Hubschraubers ein. Ich entferne meine letzte Selbstsicherung und schwebe frei in der Luft. Unter mir fast 400 Meter nichts als nackter Fels. Ein kurzer Gedanke daran, ob
der Gurt auch wirklich hält, dann sehe ich Luis und zwei andere Kletterer auf dem Berg stehen. Ich winke ihnen zu. Ich drehe mich am Seil und nähere mich langsam den Landekufen des Hubschraubers. „Z,um ersten Mal nach seinem Sturz kann ich Rainer wieder sehen. Er hängt über dem Höllental an der Winde. Ich weiß immer noch nicht, wie schwer er verletzt ist. Er winkt mir und der anderen Seilschaft ganz locker zu. Unglaublich." Ich habe Angst, daß der Hubschrauber mit mir am Seil hängend davonfliegt, aber er steht ruhig auf der Stelle und wartet, bis ich in der offenen Seitentür hänge. Ich ziehe mich rückwärts hinein. Lasse mich auf den Boden fallen. Eine Ärztin nimmt meine Sicherungsschlinge und klinkt mich irgendwo im Hubschrauber ein. Es ist laut. Niemand redet. Ich sehe die beiden Piloten vorne, den Mann an der Seilwinde. Alle in Uniform. Ich denke an die Vietnam-Filme, die ich gesehen habe. Es ist derselbe Hubschraubertyp, nur andere Uniformen. Die Ärztin legt mir beruhigend die Hand auf die Brust und den Hals, und ich schließe die Augen - gerettet -, bis mich der brennende Schmerz in meinem Fuß wieder zusammenzucken und stöhnen läßt. In der Notaufnahme schließlich viele Fragen: Wieviel Meter bin ich abgestürzt? Was tut alles weh? Wo bin ich versichert? Blutige Kleidung wird ausgezogen und von den Beinen geschnitten. Jemand legt eine Nadel in meinen Arm. Alles sehr ruhig, ohne Hektik. Plötzlich eine warme weiche Welle in meinem Hirn. „Was war das denn?" „Morphium." „Hm, das ist gut." Der rechte Kletterschuh wird vom Fuß geschnitten. Ein Schwall von Blut ergießt sich über die Trage auf den Boden. Dann endloses Warten vorm Röntgen. Der brennende Schmerz wird wieder unerträglich. Nach fast 30 Minuten das besorgte Gesicht der Röntgenärztin: „Das sieht gar nicht gut aus," Wieder zurück in der Notaufnahme die Diagnose: Offener Fersenbeintrümmerbruch und gebrochenes Sprunggelenk. „Wir müssen sofort operieren. In einer
halben Stunde. Haben Sie noch Schmerzen?" „Ja." „Wollen Sie noch Morphium?" „Ja, gerne!" Vor der Operation darf ich noch telefonieren. „Hallo Moni. Mir geht's nicht gut. Ich bin abgestürzt." Minutenlang kann ich nur noch Schluchzen, bricht alles aus mir heraus; die Angst, der Schmerz und die unbeschreibliche Freude, das fassungslose Staunen, die unbegreifliche Überraschung darüber, daß ich noch mit ihr reden kann, daß mein Leben noch nicht vorbei ist. Daß es weitergeht. Die starke Faust, die mich schon mit festem Griff am Nacken gepackt hatte, mich geschüttelt und zerschlagen hat, war diesmal wenigstens unseren Schutzengeln unterlegen. In Wattewolken gehüllt komme ich in den OP-Saal, dann geht alles sehr schnell. Eine Maske mit Sauerstoff vor meinem Gesicht. Die freundliche blonde Narkoseärztin sagt noch zu mir: „Jetzt schlafen Sie." „Es ist schon spät, als ich im Krankenhaus ankomme. Gemeinsam mit der zweiten Seilschaft und den Jungs von der Bergwacht haben wir noch das Seil und den Rucksack eingesammelt. Dann alles auf den Gipfel geschleppt, hin zur Bergwachthütte und von dort aus auf endlosen Wegen ins Tal gefahren. Ich bin völlig überrascht, Moni zu treffen, sie sicher auch. Rainer ist gerade im OP. Moni will ihn unbedingt noch sehen. Man läßt uns warten. Zwischenzeitlich kommt ein Arzt und erklärt uns genau die Verletzungen und wie sie wieder zusammengeflickt worden sind. Wir trösten uns gegenseitig und reden und reden. Spät in der Nacht erfahren wir, daß Rainer jetzt auf der Intensivstation liegt und wir nicht zu ihm dürfen. Also fahren wir beide nach München zurück."
Als ich wieder wach werde, ist meine erste Frage: „Wie spät ist es?" Um mich herum ist Dämmerlicht. Monitore, Schläuche an meinen Armen, Schläuche, die unter der Bettdecke hervorkommen und irgendwo unter das Bett führen, ein Schlauch in meiner Nase. Mein rechter Fuß: ein diffuser Knödel von Schmerzen. „Zwei Uhr morgens", antwortet die Schwester. Um 6 Uhr wache ich wieder auf.
Irgendwann gibt es Frühstück. Irgendwann wäscht mich die Schwester. Gegen Mittag werde ich aus der Intensivstation auf eine normale Station verlegt. Der Fuß tut weh, ich liege im Bett, schaue aus dem Fenster. Die Tür geht auf und Moni kommt herein. Wir fallen uns in die Arme. Halten uns fest. Haben uns wieder. Nicht nur, daß ich Luis' Leben aufs Spiel gesetzt habe — von meinem einmal abgesehen -, ich habe auch Moni jede Menge Sorgen und Unglück bereitet. War es das wirklich wert? War es nötig, daß wir uns an solch einer Tour beweisen mußten? Warum mußte ich unbedingt mit dem schweren Rucksack vorsteigen? Warum haben wir die Vernunft nicht schon früher siegen lassen und die Tour abgebrochen? Wir waren beide davon überzeugt, diese Tour zu schaffen. Und wir haben beide viel gelernt in dieser Tour. Wir werden sicher wieder zusammen klettern gehen, da bin ich mir sicher. Aber solch einen "Weg der Freundschaft" werden wir nie wieder gehen, dazu ist mir die Freundschaft zu Luis zu wichtig, dazu ist mir mein Leben zu wertvoll, dazu ist mir die Liebe zu Moni viel zu bedeutend. Als Luis am späten Nachmittag in der Tür des Krankenzimmers steht, noch gezeichnet von der letzten Nacht, die er zur Hälfte mit Moni in der Notaufnahme wartend verbracht hat, gezeichnet von dem gestrigen Tag, als er zu mir ans Bett kommt, nehme ich ihn das erste Mal, seit ich ihn kenne, in die Arme. „Du bist der Held des Tages", denke ich, „ohne dich wären wir beide tot". „Danke Luis", ist alles was ich sagen kann, dann kommen nur noch Tränen und für Minuten halten wir uns beide in den Armen. Wir waren beide dem Tod sehr nahe und sind ihm noch einmal entronnen. Wir haben jeder auf den anderen vertraut. Mensch Luis, fast hätte ich dich mit in den Abgrund gerissen. Wir haben den Gipfel zwar nicht erreicht. Aber mit Sicherheit war dieser Tag und dieses gemeinsame Erlebnis ein ganz besonderer Abschnitt auf unserem "Weg der Freundschaft".
Siegfried Bößenecker wurde 1947 in Fürth geboren. Seine Tätigkeit als Verwaltungsangestellter verschlug ihn 1997 glücklicherweise nach Grainau. Mit 17 begann er in der Fränkischen mit dem Klettern, ein Jahr später stieg er durch die Watzmann-Ostwand. Der typische Abenteueralpinismus der 7oer Jahre führte ihn durch alle angesagten Routen im Wetterstein, im Kaiser, an den Zinnen, der Civetta oder in Chamonix. Sozusagen als Altlehrling ließ er sich von der Rotpunktbewegung anstecken und ist bis heute ganz gut dabeigeblieben. Für die Sektion Garmisch-Partenkirchen ist er als Schriftführer tätig und hat für deren Mitteilungsblatt auch einige Geschichten geschrieben. Sein Beitrag gehört zu den Highlights der Anthologie „Wände, Grate, Dome - Kletterwelt Oberreintal" (Panico Alpinverlag, ISBN 3-926807-56-3)
Chamonix Siegfried Bößenecker
Ein Wort, so klar und fließend wie ein Gebirgsbach, so sanft wie der tiefe Schlaf. Chamonix, das ist der Traum des Winters, die Hoffnung des Frühlings, und das ist der Sommer. Irgendwann sind es nur noch 100 Kilometer bis Chamonix, und dann sind es nur noch 60 Kilometer, doch mit den Gedanken ist man bereits da. Aus der GrandCapucin-Ostwand beobachten wir, wie sich das Gewitter über dem Mont Blanc zusammenbraut, wie es wächst, sich dehnt und reckt. Schon hat es das letzte Drittel der Brenvaflanke verschlungen. Wir sitzen auf einem schmalen Felsband in der Ostwand, 300 Meter über dem Gletscherbecken. Der Biwaksack ist ausgebreitet. Wir können nur noch warten und hoffen. Der erste Blitz schlägt in die Gipfelkalotte des Capucin. Es kracht, die Wand vibriert, ein Graupelschauer bricht los. Wir kriechen unter den Biwaksack. Der zweite Einschlag, augenblicklich sind wir grellrot beleuchtet, das Krachen folgt wie ein Kanonenschuß. Die Beklemmung ist der nackten Angst gewichen. Ich presse den Kopf zwischen die Knie. Sprechen kann ich nicht mehr. Nur noch ein Gedanke: Ich will weg. Angst tut weh. Das Gewitter tobt stundenlang über dem Capucin, bis die Kraft endlich gebrochen ist. Es grummelt noch ein wenig in der Ferne, dann ist es ruhig. Wir dösen ein. Am nächsten Morgen ist alles grau. Es schneit, still und friedvoll, wie an Weihnachten. Im Pulverschnee tasten wir uns zur Nordwand und finden eine vorbereitete "Abseilpiste". Die Erleichterung ist riesengroß. Das schlechte Wetter hat sich verzogen. Die Heerscharen der Bergsteiger, Sportkletterer, Alpinisten und Abenteuersüchtigen fallen in Chamonix ein. Die Campingplätze sind überfüllt. In "La Cliaze" hat
sich wieder einmal die Garmischer Kolonie eingenistet. Amadeus bastelt große Steigeisen auf kleine Schuhe und lacht über unser Capucin-Spektakel. Sepp studiert zum x-ten Male die Anstiegsskizze des Walkerpfeilers. Abends treffe ich Joe Smith aus Glasgow in der Nationalbar. Wir haben zusammen am Rognon biwakiert. Joe lümmelt barfüßig an der Theke und trinkt Bier. Seine Zehen sind blau. „Hey Joe", sage ich zu ihm, „what's about your feet - frost?" Er starrt mich entgeistert an; wahrscheinlich versteht er meinen BavarianEnglish-Slang nicht so richtig. Dann sagt er ganz trocken: „No, boy - only dirty". Weil ich um seine dreckigen Zehen so besorgt bin, spendiert Joe ein Bier und lädt mich zum Eisklettern an den Ben Nevis ein - und zum Whiskeytrinken, fugt er grinsend hinzu. In Chamonix drehen sie alle durch. Jeder glaubt an das "tausendjährige" Hoch. Unterm Freney will es natürlich keiner mehr machen. Mit Bernhard und Werner verabrede ich die Dru-Nordwand. Weil es im Schwimmbad so gemütlich ist und der Himmel über Chamonix so schön blau, setzen wir noch den Walkerpfeiler dran, so nach dem Motto: über den Petit Dru direkt zum Walker. Die „Ghana-Experten" lachen sich halbtot über unsere Planung und über unsere Rucksäcke. Biwak am Rognon unterhalb der Dru. Die Anwärter der direkten West des Bonatti staunen über unseren Komfort: Schlafsäcke, Kocher, Menü i oder Menü 2. Die Zigaretten glühen, und wir starren in den Sternenhimmel. An der Blaitiere ein Lichtschein; Werner schnarcht. Klettern in der Dru-Nordwand; schmaler Riß vereist, breiter Riß vereist, zur Abwechslung ein sehr breiter Riß - auch vereist. Mit unseren Rucksäcken eine Knochenarbeit, so zwischen Steinbruch und Möbelpackerei. Im ersten Wanddrittel werden wir von einer Seilschaft überholt. Engländer sind es; eine Frau ist dabei. „Darling, go on", höre ich ein Seilkommando, und weg sind sie. Der Allain-Riß ist eisgepanzert. Bernhard packt ihn als erster. Pickelspitze reingedroschen, Eishammer rein; dann zieht er sich wieder am Eispicke! hoch. Meter um Meter ackert er sich über die Schlüsselstel-
le. Ausgezeichnet macht er das, aber ich kann nicht mehr zuschauen. Eissplitter prasseln auf uns herunter. Weiter oben wird Bernhard von einer großen Eisplatte getroffen. Er flucht und schreit, dann hängt er schlaff in seiner Selbstsicherung. Werner klemmt 20 Meter über uns in einem vereisten Riß. Ich starre ins Tal auf einen winzigen blauen Fleck: das Schwimmbad von Chamonix, das Paradies. Bernhard erholt sich schnell. Ein paar blaue Flecken, ein paar Schrammen. Was ist das schon gegen den Petit Dru, gegen die Nordwand. Der Gipfel ist das Glück. Die Jorasses in der Sonne. Braune Granitpfeiler und weiße Gletscher. Beim Abstieg treffen wir die Engländer wieder. Sie sind ausgelaugt, fertig, kaputt. Wir helfen ihnen beim Abseilen und bei der Querung des Charpua-Gletschers. Vom Walkerpfeiler wird nicht mehr gesprochen. Punkt n.oo Uhr sind wir im La Sugar und bestellen Käsefondue. Der Ober, ein Franzose wie aus dem Bilderbuch, rauft sich die Haare. Käsefondue am Morgen, das darf es nicht geben, das kann nicht wahr sein. Als wir Bier bestellen, bricht die Welt des Grand Gourmet für ihn zusammen. Wir spüren seine Leiden. Oh Maestro, verzeihe uns Barbaren unser schändliches Treiben. Den Nachmittag vertrödeln wir im Zentralcafe. Dort kann man die Füße so schön ausstrecken, das Menschengedränge beobachten und sich weltmännisch eine Gauloise anzünden. Ein Helikopter knattert über Chamonix und verschwindet in Richtung Grepon. Aus dem Gedränge tauchen Werner und Kurt auf; sie setzen sich zu uns. Bernd kommt vorbei. Irgendwann haben wir eine ganze Tischreihe besetzt. Endlose Diskussionen. Walkerpfeiler hin und Walkerpfeiler her. Gestern an der Dru habe ich noch für den Rückzug gestimmt; da war ich noch der Vernünftige. Heute in Chamonix bin ich bereits die lasche Sau, die wieder einmal gekniffen hat. Vor lauter Ärger trinke ich einen Pernod, obwohl ich das Zeug nicht ausstehen kann. Tägliches Frühstück auf dem Campingplatz „La Cliaze", meistens von acht bis zwölf. Daneben Tourenplanung und Partnerwahl; end-
loses Palaver. Gegen Mittag melden sich unsere „Wetterfrösche" aus Chamonix. Das Atlantiktief wird von einem kleinen Hochdruckkeil durchbrochen. Große Hektik. Lauter Spinner und Verrückte, und du bist mitten drin und kommst nicht mehr raus. Noire-Südgrat bei unbeständiger Wetterlage; Schwachsinn oder Kampfgeist? Am Einstieg des Noire-Südgrates versammeln sich zehn weitere Spinner. Es ist noch dunkel. Internationales Getuschel. Lampenkegel wandern über die Einstiegsseillänge. Karabiner klirren; Sonnenaufgang. Krieg der fünf Nationen an der Noire. Jeder will an die Spitze. Die Letzten-in der Reihe verlieren vier bis fünf Stunden. Das bedeutet Biwak und Wettersturz. Zuerst brechen wir durch ein belgisches Dreierteam. Einer hat ein steifes Bein. „Non guerre", sagt er zu mir wir sind hier nicht im Krieg". Keine Zeit für lange Erklärungen. Zum Teufel mit der Völkervereinigung. Bis zum ersten Pfeilerkopf klettern wir ohne Sicherung. Endlich an der Spitze. Wettlauf gegen die Zeit und gegen die Wolkenbank über dem Montblanc. Seillänge um Seillänge - noo Höhenmeter. Der Abstieg von der Noire ist beschissen und gefährlich. Es dämmert; die ersten Regentropfen. Gegen Mitternacht taumeln wir in die Noirehütte. Das Rennen ist gewonnen. Was ist mit den anderen? Wir wissen es nicht. Schlechtes Gewissen? In erster Linie ist man für sich selbst und seinen Partner verantwortlich. Im Drugstore wird gefeiert. Hermann und Bernd sind am Nachmittag von der Hemming zurückgekommen und erzählen Schauergeschichten. Hubert spielt auf. Seine bayerischen Fetzer reißen sogar die Spanier von den Stühlen. Der Kellner bringt Bier auf einem großen Tablett. Dann jongliert er ein zweites Tablett heran. Das Dritte schmeißt er runter. Biergläser klirren. Der Saal tobt. Beifallsstürme. Klaus Werner, unser Initiator von der Noire, spendiert ein "Monstre"; einen Zweiliterkrug. Eine Runde trinken wir auf die Belgier, die wahrscheinlich immer noch an der Noire biwakieren. Eine Runde trinken wir auf den prasselnden Regen. Weil uns das Wetter absolut egal ist,
trinken wir noch eine Runde, einfach so auf Chamonix. Klaus Werner ist ziemlich blau und schimpft wieder einmal auf unseren Staat. Er besitzt ein Spitzendiplom als Ingenieur, aber leider keinen Job. Als ich einlenken will, nennt er mich einen alten Beamtenarsch, der da nicht mitreden kann. Recht hat er. Klausi hätte sich trotzdem nicht so reinsteigern sollen. Zwei Tage später stürzt er in der Plan-Nordwand tödlich ab. Unfaßbar; in einem Dreiergelände 40 Meter über dem Einstieg; genau in eine Gletscherspalte. Warum hat er nicht geschrien? Sieben Jünger sind ihrem Meister zur Plan-Nordwand gefolgt, und jetzt stehen wir hilflos herum und können es einfach nicht glauben. Hermann seilt sich in die Gletscherspalte ab. Es muß kein schöner Anblick gewesen sein. Die Gendarmerie de Haute Montagne wird alarmiert. Ein Helikopter landet auf dem Gletscher. In einem grünen Leichensack ziehen sie Klausi aus der Spalte und schleifen ihn zum Helikopter, der sofort wieder startet. Schnelligkeit und Routine. Eine Blutspur bleibt zurück. Was ist das für ein Spiel, das so endet? Ein grüner Leichensack, eine Blutspur und ein knatternder Helikopter. Die Zeit ist vorüber; ein letztes Mal im Schwimmbad. Vor einem Spiegel im Duschraum schabe ich die Bartstoppeln ab. Ein verändertes, nein, ein fremdes Gesicht schaut mich aus dem Spiegel an. Hager und braun, tiefliegende Augen. Die Zeichnung eines Lebens zwischen Bar und Biwak, Front und Etappe. Mein Gott, wenn Bernhard am Allainriß abgetaucht wäre und die Standsicherung gezogen hätte. Milliarden Menschen sind vor uns schon gestorben und Milliarden werden nach uns sterben. Aber dieser grüne Leichensack und diese Blutspur! Irgendwie sind wir doch nur traurige Hemingway-Figuren, so auf Zeit. Doch diese Zeit ist vorüber. Jetzt bin ich glattrasiert und wieder sehr vernünftig. Nicht einmal Joe aus Glasgow werde ich besuchen, und für die Beerdigung von Klausi muß ich mir noch einen schwarzen Schlips besorgen.
Harald Weiß, Jahrgang 1966, kam außer während des Studiums in Tübingen nie dauerhaft von Stuttgart los. Das Lehramtsstudium in den Fächern evangelische Theologie, Sportwissenschaft und allgemeine Rhetorik führte zunächst in die Arbeitslosigkeit. Seit der Reifeprüfung klettert er, zunächst bevorzugt in den Klettergärten der schwäbischen Heimat. 1991 gelingt ihm mit der „Comici" in der Nordwand der Großen Zinne seine erste große klassische Fahrt. Seit 1993 ist er Fachübungsleiter für Alpines Klettern und Hochtouren, und hat mittlerweile besonders seine Fähigkeiten im Sportklettern weiterentwickelt. Seine schriftstellerische Tätigkeit beschränkte sich bisher auf universitäre und ähnliche Bereiche. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden entweder abgeheftet oder landeten im Reißwolf.
Drei Tode Harald Weiß
"Die ersten Strahlen der Sonne, die durch die vorbeiziehenden Wolken drangen, leuchteten am Himmel und Erde. Der Nebel wallte in den Tälern, der Tau spielte glänzend auf dem Grün, die durchsichtigen, weißen Wölkchen verteilten sich eilig am bläulichen Horizont. Im Dickicht zwitscherten die Vögel etwas weltfremd Seliges; froh und ruhigflüsterten die saftvolkn Blätter in den Kronen, und die Äste der lebenden Bäume rauschten langsam und majestätisch über dem Gestürzten." Aus der Erzählung „Drei Tode" von Leo Tolstoj
Die Sonne bringt Leben in Kopf und Glieder. Kein schöner Tag als dieser, an dem die Nebel grad' verschwinden, als die Berge nah genug, um sie mit den Augen zu erhäschen. Der schwarze Morgen, der uns aus Schlaf und Betten warf, ist jetzt schon hell, noch ehe wir am Wandfuß stehen, den warmen Fels berühren, das Kreuz bei uns hinab und in die Weite sehen; womit uns dieser neue Tag beglückt, ist ein Gefühl, das über Winter ausgetrocknet war; es ist das Gefühl, das uns von neuem in die Berge zieht, das wir in der Vergangenheit genossen, das wir schon jetzt genießen, noch ehe wir des Tages Freuden sehen. Dieses Gefühl aus vergangen Gelebtem eilt mit dem Licht dem Erleben des Tages voraus. Ich kenne den Parkplatz, den Weg an der Hütte vorbei. Nach Westen auf dem schmalen Pfad, der unter den Südwänden entlangfuhrt. Sie werden schon warm. Außer den Strahlen der Sonne berühren sie wenige Hände. Groß unser Mut, den der Vorfrühling und die aufgestaute Gier geschaffen. Kühn eingestiegen in die schwersten ersten Meter der Rote Flüh-Südostwand. Bereits am ersten Stand - die feuchte Kühlung aus dem Wasserfall genieße ich, doch nicht die nas-
sen alten Haken und die in ihnen hängenden Schlingen - haben die Unterarme den Mut an Größe übertroffen. Um der zu oft gemachten Erfahrung, bei der Eingehtour einzugehen, zu entgehen, seilen wir ab und suchen den Führer ab nach Leichterem. „Aha! Die Siebener-Stelle läßt sich technisch meistern!" So wird aus der Sieben eine Vier und eine reelle Möglichkeit, kein zweites Mal nach 30 Metern schon die Gefahr des Scheiterns in Betracht ziehen zu müssen. Wir folgen dem Pfad weiter nach Westen. Ich gehe voran, erspare mir das Wechseln der Schuhe; meine Wanderstiefel dürfen bleiben, wo sie waren. Vor den Steinen, die aus den Wänden spritzen, müssen wir uns ich acht nehmen, zu nah ist der Winter: Auf seiner Flucht nimmt er Eis und Schnee mit, er wirft nach dem Frühling mit Steinen. Am Fuße des Vorbaus der Südwestwand ist eine kleine Höhle. Dort liegen die Rucksäcke, die Schuhe und Jacken derer, die über uns klettern. Ich lege das Seil in das rauhe Gras, das sich wie ich in der warmen Luft räkelt. Ich schaue hinauf zu den Besitzern der Jacken, der Schuhe, der Rucksäcke. Eine schöne Wand, der Fels aus einem Stück. Ich sehe drei Seilschaften, die den vor uns liegenden Genuß schon erleben. Heute ist der Tag, an dem der Kletterer im siebten Himmel schwebt, an dem er das Glück seines Tuns an Leib und Seele erfährt. Nichts, das das Hochgefühl trüben könnte; Motivation, Wetter und Fels fließen harmonisch ineinander. Ich schaue hinauf und beneide die Kameraden. Mein Seilpartner kommt und teilt meinen erwartungsvollen Blick nach oben. Ich schreibe, während ich träume. Ich weiß nicht, wann ich diesen Traum zum letzten Mal träume - vielleicht in meiner Todesstunde -, aber ich weiß, daß ich ihn zum ersten Mal träumte, als ich an jenem schönen Vorfrühlingstag nach oben in den schönen Fels schaute, wo Kletterer gerade ihr Leben genossen. Es muß ein Traum sein, denn er kommt immer wieder, er kommt bei Tag und bei Nacht, wenn die Sonne mich wärmt und wenn die Stille der Nacht mich umgibt, die Sterne am Himmel für die Verstorbenen scheinen. Was sonst als ein
Traum läßt mich Bilder sehen, die außer mir niemand sieht? Die Bilder hängen in der Luft, doch in der Luft ist nichts. Es ist kein schöner Traum. Vielleicht kann ich ihn mit Worten binden. Ich sehe einen Menschen, weit, weit über mir. Er stürzt. Auch ich bin schon gestürzt. Die letzte Zwischensicherung wird seinen Sturz beenden. Er schreit. Ich schreie auch immer, wenn ich stürze - ich fürchte mich vor dem Stürzen, bereits einen Meter über der letzten Sicherung zittern meine Knie. Doch dieser Schrei aus der Wand ist anders. Es ist ein letzter Schrei. Nur ein einziger Schrei! Dieser Schrei ist das Leben des Schreiers. Kein weiteres Mal wird er schreien, nie wieder kann er schreien. Mit diesem Schrei stürzt sein Leben in die Tiefe. Der Schrei ist schneller als der Leib, aus dem er dringt. Er ist schon angekommen, er ist dem Leib vorausgeeilt. Der Mensch stürzt dem ihm vorauseilenden Schrei, dem gellenden, von allen Wänden widerhallenden Schrei, der alles Blut aus meinem Herzen preßt, hinterher und kann ihn nicht erreichen. Er stürzt hinab, so weit sein Sturz, oh Gott, er endet nicht! Oh Gott, er endet nicht! Warum hört er nicht auf zu fallen? Er muß anhalten! Halt an! Oh Gott, halt doch endlich an! Er muss aufhören zu stürzen, er muß sagen: „Bin ausgerutscht! Alles o.k.!" Dann wieder hochklettern, das Leben kletternd erleben. Warum sagt der Mensch, der keinen Laut von sich mehr geben wird, der immer näher, näher kommt, das nicht? Er muß das sagen! Sag es! Du mußt! Oh Gott, er stoppt nicht, fällt und fällt, nichts bremst ihn. Nur kurz, so scheint es, als er dem Ort, wohin sein Schrei ihm vorausgeeilt ist, ins Auge blickt - der letzte Blick - reißt kurz die Zeit. Dann folgen ihm, ganz lautlos, die zwei Gefährten, eng umschlungen, hinab in die bodenlose Tiefe. Der Tod ließ ihnen keine Zeit zu schreien. Wie Dummy-Puppen werden sie durch die Luft gewirbelt, gegen die Felsen geschlagen. Ein dumpfer Schlag, ein zweiter, ein dritter, ein vierter. Dem Weg des Schreis, der von den Felsen widerhallt und wie ein Eisenstab von Ohr zu Ohr durch meinen Kopf getrieben, folgen sie nach. Dort, wo der erste zu einem Klumpen
Fleisch verstümmelt, da überholen die ändern zwei ihn und spritzen ihr warmes Blut auf toten Stein. Ich kann nur schreien. Daß meinem ersten Schrei zehn weitere folgen, bedeutet Leben. „Oh Gott, oh Gott!" Ich schrei' es in die Höhle, die mich davor bewahrt, der vierte Mann in dieser Todesseilschaft zu werden. Ein Luftzug streift meinen Rücken. Es ist der Tod. Er hat drei Opfer und läßt für heute mich entkommen. Aber der Traum will nicht enden; er ist wie der letzte Sturz dreier armer Leiber. Leblose Reste von Gliedern an zerrissenem Rumpf - der Traum geht weiter. Wir waren bisher zwei Lebende und drei Tote. Nun verlagert sich das Verhältnis zugunsten des Todes. Alleine steige ich hinab ins Reich der Schatten. Es wird kalt. Es zieht mich hinein in die eisigen Grüfte, wo die Zukunft dieser Menschen liegt. Rote Streifen auf dem weißen Schnee. Der sterbende Winter nimmt mit sich rot verfärbten Schnee. Die Sonne kommt zu spät. Fest umschlungen hält der nie mehr Schreiende die Überreste eines toten Stumpfes. Der Gebremste ist dem Bremser gleich geworden, nur jener ist noch warm und düngt mit seinem letzten Blut vergeblich abgestorbenes Holz. Und die Gefährten strecken ihre Köpfe nach dem Tal. Ich rufe, aber keine Antwort kommt. Was soll ich tun, wenn einer von den dreien stöhnt, wenn einer atmet, wenn sein Herz noch schlägt? Was soll ich tun auf diesem steilen Schneefeld, auf dem die drei mit ihrem Seil zusammenhängen, verknotet, stranguliert? Ich, allein? Und könnte ich etwas tun, wie sollte ich in verschobene Münder Luft einblasen, wie einen verdrehten Hals überstrecken, eine Seitenlage versuchen, wo keine Seite ist, wo der Unter- gegen den Oberkörper wüst verdreht, der Beckenknochen die Haut durchstößt, die Unterarmknochen bloßgelegt, die Muskeln offen liegen, das Hinterhaupt unterm Helm vordringt? Doch kein Laut, kein Atmen oder Stöhnen läßt Leben ahnen, wo es vor drei Sekunden noch pulsiert. Nicht weit entfernt setzte ich mich nieder. Nicht lange. Wann hört der Traum endlich auf? Ich gehe noch einmal zu den dreien, zu den zwei unteren zuerst.
Ich berühre sie. Ich taste mit den Fingern nach der Halsschlagader. Ich habe Angst davor, ein Pochen zu spüren. Ich fühle die warme Haut. Neben dem Kehlkopf liegt meine Hand. Die Köpfe liegen so, daß ich wenigstens auf einer Seite nach dem Puls suchen kann. Die Gesichter sind wenig entstellt, die Augen geschlossen - das macht es mir leichter. Die Wärme, die meine Finger spürt, wird von keinem Pochen bestätigt. Ich träume tief. Wenn ich wach bin, pulsiert jeder warme Hals. Der erste Kopf ist blau, der Mund des zweiten ist leicht geöffnet; ich sehe Zähne. Ich taste den Kehlkopf, drücke - Blut quillt aus dem Mund. Ich stapfe durch den Schnee hoch zum dritten meine Füße längst schon durchnäßt. Auch hier hat der Tod alles bis auf die Wärme geraubt. Ich kann nichts mehr tun, will ich nicht selber sterben. Ich habe den Tod nicht gesehen - ich hätte ihn ertragen. Ich sah kein Leben mehr, wo es im Augenblick noch war. Wo ist es hin? Ich möchte es finden! Ich verlasse diesen Ort. Lange genug waren wir vier allein mit einem Leben. Der mir entgegenkommt, spricht mich nicht an. Er hat vergessen, daß man nur mit Lebenden sprechen kann. Sprache belebt nur Lebende! Ich kann den Traum wohl nicht beenden, indem ich ihn in Worte fasse. Er hört nicht auf, indem er immer wieder kommt. Er endet erst, wenn sein Inhalt und mein Leben sich treffen.
Heinz Grill, 1960 bei Wasserburg am Inn geboren, fand seinen Lebensauftrag als Begründer des »Yoga aus der Reinheit der Seele«, den er in Vorträgen und Seminaren weitervermittelt. Er wohnt inzwischen in Bad Häring in Tirol. Seine außergewöhnliche Bewegungsbegabung und Nervenstärke ermöglichten ihm während seiner Jugendjahre sehr intensive Klettererfahrungen. Seilfrei durchstieg er extreme klassische Routen an der Laliderer-Nordwand und der Marmolada-Südwand. Noch im Jahr der Eröffnung der „Pumprisse", der ersten alpinen Kletterei im siebten Grad, gelang ihm die erste Solobegehung. Von Heinz Grill liegen zahlreiche Veröffentlichungen zur Selbstfindung und einer praktisch ausgerichteten Spiritualität vor. Seine „Erinnerungen aus der Jugend" sind aus Karl Eibergs Buch „Vom Wesen des Berges, Bergberichte und philosophische Betrachtungen von und über Heinz Grill" (Verlag für Schriften von Heinz Grill, ISBN 3-9805742-0-2) entnommen.
Erinnerungen aus der Jugend Heinz Grill
Jedesmal, wenn ich unter der Ciavaces-Südwand in der Nähe des Sellapasses stand und einen Blick in die bezaubernden, übereinanderliegenden Mauern richtete, kam immer wieder ein leises Empfinden einer vergangenen und doch immer gegenwärtigen Freude in das Bewußtsein. Diese Erinnerung betrifft vor allem die scheinbar so unwürdige und im Schatten der Sportkletterer stehende Soldaführe. Die heute schon nahezu vergessene Route benützt nicht die schönen kompakten Platten, Risse und Verschneidungen der zentralen Wandzone, sondern eine tief eingerissene und doch völlig senkrechte, ja sogar überhängende Schluchtwand mit vielfach tropfend-nassen, gelb-schwarzen und brüchigen Wülsten. Es ist beim Anblick der furchterregenden Wandschlucht nicht verwunderlich, wenn die jüngeren Kletterer andere Touren bevorzugen und ihr Gemüt mehr an den sonnenwarmen und gut gesicherten Platten zufriedenstellen, als sich unnötigen Abenteuern in gefährlichen, brüchigen Passagen auszuliefern. Zudem fand im oberen Teil, im Schlüsselstück, ein großer Felsausbruch statt, der eine ganze Seillänge unbegehbar machte. Obwohl es nahezu schon zwanzig Jahre zurückliegt, als mich mein jugendlicher Eifer allein, ungesichert und ohne Mitnahme eines Seiles durch diese schwarz-gelben Wülste der Soldaführe hindurchwies, blieb bis zum heutigen Tage eine so genaue und lebendige Erinnerung im Gedächtnis, als ob die Tour nur wenige Tage zurückläge. Welchen Grund mag es haben, daß sich Erinnerungen über so lange Zeit so real und nahe erhalten? Waren es die angsteinflößenden, wasserübertropften Überhänge, der dunkle, lichtarme Kamin, der aus Versehen neben der Originalroute begangen wurde und mich mehr in einen von Schmutz befleckten Kaminkehrer verwandelte? Waren es
die Schwierigkeiten in der Schlüsselseillänge, die hohle Piazschuppe mit den rostigen Ringhaken, oder was war die Ursache? Nein, es war nicht eine einzelne Passage, eine aufregende Wandstelle, ein besonders heikler Quergang, eine überdurchschnittliche Schwierigkeit, es war etwas mehr Ungreifbares, das sich so tief in das Gedächtnis einprägte und zu einer immer wiederkehrenden, entzückenden Erinnerung führte. Es war nicht etwas Konkretes, das man erzählen könnte, es war nicht eine kurzlebige Erinnerung an eine einstmalige erbrachte Leistung. Im Gedächtnis verblieb ein tiefer Eindruck um etwas Geheimnisvolles und somit um etwas, von dem man heute nicht mehr spricht. Eine Route ist in ihrem Charakter und in ihrem Wesen eine Geschichte, sie ist durch ihre Faszination, durch ihren Geist, ihre Logik, ihre Ästhetik und Dynamik ein lebendiges Kunstwerk. Eine Route im klassischen Stil ist weniger dem Berg von außen aufgezwungen, sie ist mehr herausgearbeitet, im lebendigen Zusammenspiel erkundet und in Mut und Geschicklichkeit von einem Anfang zu einem Ende geschaffen. Obwohl der Anfang am Einstieg liegt und das Ende am Gipfelpunkt, so existiert sie in einer doch unendlichen Natur als ein geschaffener und immer hinzugehöriger Teil. Eine Tour ist in ihrem unsichtbaren Wesen von dem Geist ihres Erstbegehers getragen, so wie eine Musik vom Geiste des Komponisten inspiriert ist. In den klassischen Routen leben noch die Ehrfurcht und der Respekt der Erstbegeher wie auch das Können und die Begeisterung in einer feinen Sphäre über den Felsen. Diese feinen Eindrücke über die Wesensart und Wesensstimmung der Soldaführe sind es, die mich immer wieder in der Erinnerung mit einem freudigen Herzenslicht an die schon lange vergangene Alleinbegehung beglücken. Nicht die Leistung im Selbstwertgefühl vermag diese inneren Seeleneindrücke zu ersetzen, denn viele, weitaus noch schwierigere Alleinbegehungen sind mir in meiner Jugendzeit geglückt. Eine Bestätigung des eigenen Wertgefühles ist von einem so
sehr begrenzten Maße und sogar von einem gewissen Schmerz geprägt, da diese nur äußeren Wertgefühle das eigene Herz von der Natur und der inneren Wesensseite der Berge entfremden. Die Freude des Herzens und die sanfte Wärme der Erinnerung kommen tatsächlich von jener ureigenen Schönheit des Berges selbst und seiner Route, die in einer Einheit und Zusammengehörigkeit ein lebendiger Teil von ihm geworden ist. Für mich sind die Berge großartige Persönlichkeiten, ein jeder nach seinem Charakter anders, von einem stillen Schöpfergeist gestaltet, edel und rein im Ausdruck der Wände und Grate, in der Einfalt gütig und gerecht. Die Berge sind immer die größeren, zu deren Antlitz das Auge mit einer größtmöglichen Ehrfurcht hinaufblickt. Der Bergsteiger kann sich eigentlich keine Stunde dem Eindruck verwehren, daß er in der Klettertour, und dies ganz besonders in einer der klassisch großen Führen, sich immer in der Abhängigkeit dieses größeren Herrn befindet. Das Alleinsein beim Klettern durch große Wände und von selten begangenen Routen stärkte mich jedesmal in der Einordnung und gab meinem Tun eine Note der Bescheidenheit. Was wäre, wenn die entscheidende Piazschuppe herausbricht oder wenn der letzte Ausstiegsriß durch Vereisung ungangbar ist? Im Alleingang am Berg fehlt der Gesprächspartner, mit dem man seine Bedenken, Ängste, Freuden und seine Begeisterung austauschen könnte. Es bleibt nur noch der Berg in seiner so unmittelbaren Größe als der stille Gesprächspartner. Um seine Antworten zu hören, war es mir nötig, sein inneres Wesen zu erkennen und in stiller Bescheidenheit um seine Gunst zu werben. Diese Einordnung und dieses Bewußtsein der Abhängigkeit von seiner unermeßlichen Größe schenkten meinem jungen Gemüt gerade dann, wenn der Ehrgeiz und Stolz seine Stimme verkündete, eine doch achtsame und bis ins Fromme neigende Seelenstimmung. Der Weg über eine Kletterroute auf einen Gipfel ist nicht wirklich ein Weg zu einem endgültigen, bestimmten Fixpunkt, er ist ein langsa-
mes Emporturnen im Spiel der Bewegung von der Talsohle beginnend, in eine scheinbar erdfernere, gewagte Höhe. Die einzelnen Schritte gleiten im wachsenden Rhythmus leichter und gewinnen den Charakter eines Tanzes, bei dem ständig die Schwerkraft im dynamischen Auf und Nieder überwunden wird. Gerade hier am Piz Ciavazes wurde jener so faszinierende Atem eines unendlichen Bewegungsspiels spürbar, der sich ganz in den Höhen und Weiten der Felsmauern verliert. Dieses Sich-Verlieren und -Vergessen in den Gliedern führte mich zu einem Empfinden, das erst viele Jahre später eine konkrete Form erhielt. Vielleicht war noch ein Hauch von Leistungssuche in der Gesamtmotivation beigemischt, aber es war nicht diese Suche nach dem gesteigerten Selbstwertgefühl, es war die unentrinnbare Sehnsucht nach einer Einheit mit dem Berg. In jenem feinen Atem der hinaufgleitenden Bewegungen werden die Sinne freier und die Gedanken so gelöst und bescheiden, daß ein winziger Hauch der Unendlichkeit in das Bewußtsein einzumünden vermag. Es war nur ein winziger Hauch dieser unaussprechlich bestehenden Realität, die sich so geheimnisvoll in den fernab liegenden Höhen und scheinbar noch unberührten Felsdimensionen verströmte, aber dieser nur geringe Hauch erfüllte mich mit tiefster Dankbarkeit und Ehrfurcht. Der Anblick der hohen und größeren Dimensionen, das gewagte und gewährte Spiel der Bewegungen in schwindelnder Höhe, die vollkommene Reinheit des Berges und sein zeitloses Wesen machten mich im Selbstwertgefühl kleiner, aber dafür um so erfüllter. Wir Menschen gehen in die Berge und steigen auf leichteren, schwierigen oder ganz extremen Wegen auf die Gipfel. Wir suchen uns immer wieder neue Ziele, größere Möglichkeiten, Steigerung im Reiz und Anspruch. Gleichzeitig ist mit dieser Suche eine unmerkliche Sehnsucht nach einer verlorenen Harmonie und Einheit mit der Natur verbunden. Wir sehen die Realität der Berge, aber wir sehen sie von außen und setzen ihnen unseren individuellen Stempel auf. Die Wirklichkeit ihres Seins und Wesens nehmen wir dennoch nicht
wahr. Doch wird es wohl bei jedem Bergsteiger Augenblicke geben, in denen das äußere Wertempfinden zerbricht und sich ein stiller Eindruck von einer unendlichen Realität öffnet, die die Berge selbst durch ihre Weite und vielleicht auch durch ihre beständig mahnende Gefahr ermöglichen. Nach der Alleinbegehung der Soldaführe kam mir damals am Gipfel die Idee, über die benachbarte Vinatzerführe abzusteigen, die etwas leichter und angenehmer vom Charakter ist. Für die damalige Zeit vor zwanzig Jahren war ein solcher Abstieg ohne Seil über eine doch immer noch anspruchsvolle Kletterroute eine sehr verwegene und ungewöhnliche Idee. Es ereignete sich aber auch deshalb bei diesem Abstieg eine recht beschämende Situation, die meinem Gewissen ein tiefes Merkmal einprägte. Die Vinatzerroute am Piz Ciavazes wurde deshalb zu einer meiner letzten Routen, die als Abstieg benützt wurde. Die Sonne schien am damaligen Tage herbstlich und warm, und die Felsen zeigten sich im trockenen, ruhigen Schimmer des milden Lichtes. Es lag eine ausgesprochen friedvolle Stimmung über den Bergen. Das Abklettern der ersten beiden Seillängen bereitete einige Schwierigkeiten mit der Wegorientierung. Das Gelände versteckte sich förmlich unter den Überhängen. Schließlich, nach Überwindung der Schlüsselstelle, erblickte mein Auge eine heraufsteigende Seilschaft. Mit diesem überraschenden Blick überkam mich eine belastende Unruhe, die das rhythmische Bewegungsspiel mit Angst zu lahmen drohte. Was werden sich diese Bergsteiger denken, wenn da jemand ganz ohne Seil in der umgekehrten Richtung von oben nach unten an ihnen vorbeiturnt? Ist es nicht eine unausgesprochene Beleidigung für jene, die sich des Aufsteigens erfreuen, wenn da einer in seinem jugendlichen Turnerstil entgegen jeder Bergsteigerregel herabklettert? Zu dieser Zeit gab es noch nicht den heute allseits bekannten Begriff des Sportkletterns, und auch die Schwierigkeitsskala war noch nicht
über den sechsten Grad hinaus erweitert. Man kletterte noch in festen Schuhen mit Stahleinlage und führte fast immer Rucksack, Hammer, Haken und Fiffi in der Tour mit. Die Vinatzerführe stand im Lichte einer anspruchsvollen, ernsten Freikletterei, die niemand zu dieser Zeit auf die leichte Schulter nahm. Sie zeigt eine klassische, zwingende Linie durch ihr ausgeprägtes Riß- und Verschneidungssystem. Die Schlüsselstelle liegt in der Mitte bei einem ausladenden Überhang, der in freier Kletterei überwunden wird. Mein leichtfertig gewählter Abstieg kam mir nun sehr unangebracht vor und erschien mir als eine'Verletzung der Route. Gehört nicht eine Tour in ihrer Stilform so rein erhalten wie möglich? Sollte nicht eine so schöne, herrlich erdachte und herausgearbeitete Linie, wie es die Vinatzerroute am Ciavazes ist, frei von solch eigenartigen Ideen bleiben, daß man sie einfach im umgekehrten Sinne zum Abstieg benützt? Mein Gewissen signalisierte ein so deutliches Gefühl über mein verletzendes Tun, daß mich das Bedürfnis überkam, mich vor der heraufsteigenden Seilschaft zu verstecken. Die Bergsteiger besaßen zu dieser Zeit allgemein noch ein achtsameres Empfinden für die Einzigartigkeit einer Kletterroute. Man schätzte ihren Charakter, man wußte um ihre Eigenart. Sie lebten noch mehr mit ihren Gliedern in den Seillängen, empfanden die Haken als notwendige Hilfe und auch als einen unschätzbaren Teil in der Gesamtheit der Linie. Diese Empfindungen sind heute in der gegenwärtigen Sportkletterei ganz verloren gegangen. Dies zeigen die vielen Veränderungen, die in den Routen vorgenommen werden, die ihre Wesensnatur verändern und sie nahezu zu Autobahnen des Klettersportes machen. Neue und schwierigere Routen entstehen und kreuzen oftmals die klassisch so lebendig erdachten Linien. Die Griffe sind vom Magnesiapulver weiß bezeichnet. Der alte Holzkeil ist durch einen in die Platte geschlagenen Bohrhaken ersetzt. Der Bergsteiger klettert heute hinauf und hinunter, oftmals seilfrei und sportlich, mit kürzesten
Begehungszeiten mißt er seine akrobatischen Kräfte, indem er mehrere Routen an einem Tag erklettert. Diese vielen Fortschritte in der Entwicklung von einer Tradition zu einer sportlichen Disziplin brachten unweigerlich ganz andere Empfindungen in die Gegenwart. So wie die einzigartige Wesensnatur einer Kletterroute im Geiste der Zeit doch sehr verlorengeht, so neigt auch der einzelne dazu, sich in seiner Individualität im Strome des Leistungswettbewerbes zu verlieren. Gerade beim Abklettern der Vinatzerführe, als jene Seilschaft von unten entgegenkam, drückte mich mein Gewissen, denn mir war zumute, daß jenes so schnelle Benützen der Führe als Abstiegsweg eine Entweihung ihrer Einzigartigkeit ist. Es schien mir so deutlich, daß mit einer solchen Tat die Harmonie des ganzen Berges einen Hauch des Schmerzes erhält. Ein Aufstieg ist erdacht als ein Aufstieg, und er besitzt darin seine Einzigartigkeit. Der Abstieg gehört aber an jene Seite des Berges, die leicht und begehbar sich von der Natur her anbietet. So verlangte die Vinatzerführe nun auch ein beständiges Herumsuchen nach dem richtigen Kamin oder einem begehbaren Riß. Von oben her sieht die ganze Linie anders aus, sie versteckt sich förmlich vor den Augen ihres unerwünschten Eindringlings, während sie sich im Gegensatz für die von unten kommenden Kletterer ohne jede Schwierigkeit anbietet. Die Kletterer, die die Wand heraufkamen, waren überaus freundliche Italiener, die aber kein Deutsch sprachen. Meine Italienisch-Kenntnisse reichten nicht aus, um überhaupt mehr zu sagen als »Ciao« . Sichtlich aber bewunderten sie im Erstaunen die ungewöhnliche Begehung von oben herab. Mir aber war ganz und gar nicht nach Bewunderung zumute. Mein Gewissen ließ mich ängstlich, fast wie einen Dieb, an ihnen vorbeischleichen. Diese Gedanken aus einigen Erinnerungen der Jugend waren schon damals für andere schwierig zu verstehen, und sie sind heute ebenfalls sehr schwer nachvollziehbar. Wir Menschen aber brauchen wie-
der eine innigliche, ästhetische und achtsame Verbindung zu der Natur und zu den Bergen. Nichts als ein tieferes Erleben und Mitfühlen mit den Geheimnissen der Schöpfung, mit ihren Schönheiten und Faszinationen benötigen wir mehr. In diesen tieferen Empfindungen liegen bleibende Werte und freudige, erbauende Gedanken. Wir benötigen ebenfalls wieder einen tieferen Sinn für das einzigartige Wesen eines Weges oder einer Route. Denn dies haben vor allem die Kletterer unter dem Druck des Leistungsehrgeizes verloren. Der Weg des Bergsteigers führt mit diesen Bemühungen in die tiefe Einheits- und Harmoniewelt der Berge. Der Weg führt auch zu einer inneren Klarheit und persönlichen Freiheit, zu einer Sicherheit im eigenen Beurteilen. Der leidenschaftliche Drang nach dem Gipfel der Leistung verliert darin seinen unbenannten Schmerz, und die Freude, die mit dem in die Einheit führenden Erleben verbunden ist, ist größer als der größte Erfolg.
Malte Roeper, 1962 in Bad Schwartau bei Lübeck geboren, kam zum Klettern, weil ein Arbeitskollege seines Vaters die Jugendgruppe der Sektion Lübeck des DAV leitete. Nach der Schule zog er nach Freiburg und lebt seit 1997 in München. Freier Autor. Seine alpine Vorliebe wurden die Berge von Chamonix, wo ihm rund fünfzig Touren gelangen, bevorzugt im Winter, am liebsten mit Biwak. Ihm gelangen unter anderem die Eigernordwand solo und je drei Routen an den Nordwänden von Droites und Grandes Jorasses. Sein erstes Buch, der Roman „Strategie und Müßiggang", erschien 1992 im Panico-Verlag. Zahlreiche Veröffentlichungen in alpinen Zeitschriften sowie die Bücher „Kopf in der Wand" (Panico), „Auf Abwegen" (Bergverlag Rother) sowie „Sportklettern in den Alpen" (Kompass-Verlag).
Unvergessene Heimat Malte Roeper
Am Fahnenbergplatz in Freiburg, gleich gegenüber von der AOK, gibt es ein Vertriebenendenkmal. Ein wuchtiger Betonklotz steht wie ein Turm in der Brandung des Berufsverkehrs und darauf eine Inschrift: 'Unvergessene Heimat'. Und immer, wenn ich diese Inschrift lese, denke ich an den Ith. Das ist meine Heimat, von dort komme ich her. Sicher, aufgewachsen bin ich ganz woanders. In Bad Schwartau, einem Vorort von Lübeck, knapp dreihundert Kilometer vom Ith entfernt. Und als ich zum ersten Mal in den Ith kam, war ich schon zwölf oder dreizehn, aber das ändert daran nichts. Neulich haben wir das Haus ausgeräumt, in dem ich meine Kindheit verbrachte und wo meine Mutter noch wohnte, seit ich 1982 nach Freiburg ging. Fünfzig Jahre in Bad Schwartau haben ihr nicht das Gefühl geben können, dieser Ort sei jetzt ihre Heimat, und so zog sie im reifen Alter von fünfundsiebzig Jahren zurück nach Dresden. So ein Umzug, bei dem sich letztmals und endgültig die Tür hinter so vielen Kindheitserinnerungen schließt, ist eine melancholische Sache. Voll von Wehmut und tausend plötzlich aufkeimenden Erinnerungen halfen meine Schwester und ich unserer Mutter beim Packen. Und deutlicher als je zuvor merkte ich, daß dieses Haus meine Heimat nie war. Meine Heimat war der Ith. Die Wiese mit den Zelten, der Hütte, den Buchen und den Felsen. All das und die zahllosen Wochenenden während meiner Schulzeit. In 'Paris, Texas' erzählt der einsame Trevis, daß er das Grundstück gekauft hat, wo seine Eltern vor seiner Geburt gelebt haben, weil ihn das Stück Land fasziniert: wo er gezeugt wurde. Meine Eltern waren nie auf dem Ith, sie wissen nicht einmal, wo das alles liegt. Meine
ganze Familie weiß nichts, ahnt nichts von alledem, weiß eigentlich gar nichts von mir. Und doch habe ich immer das Gefühl, als sei ich dort entstanden. Dort wurde ich der, der ich bin. Dort lernte ich die Grundlagen all dessen, was ich heute weiß, auch wenn das vielleicht nicht viel ist. Aber zum Beispiel, daß man sich seine Ziele immer in der richtigen Größenordnung suchen soll. Ist das Ziel zu einfach und zu leicht zu erreichen, wird es nicht befriedigen oder ist nicht einmal ein richtiges Ziel. Ist das Ziel zu schwierig, schafft man es nicht, vergeudet seine Energie und hat nur die Frustration. Lange nachdenken, was man eigentlich will, dann nachdenken, was möglich und was wirklich unmöglich ist und von der Grenze zum Unmöglichen ein paar kleine Schritte zurücknehmen. So etwas ist ein Ziel. Die erste 7war so ein Ziel, der erste Sechser solo, der erste Achter. Später andere Dinge, wichtigere, die nichts mit Klettern zu tun hatten, aber das Augenmaß hatte ich dort gelernt, auf dem Ith. Dort ist ein magischer Ort. Nicht nur für mich, der ich so pathetisch drüber schreibe, sondern für viele andere auch. Ein sehr, sehr schöner Ort war das schon immer, und ein magischer Ort wurde es spätestens durch all die Liebe, die die Kletterer ihm seit Jahren entgegenbrachten. Helmut gab mir einmal einen Tip für die Westkante des Haderturms: mit dem Dreifinger-Untergriffloch für die linke Hand sollte ich den Überhang klettern. So sei die Stelle kinderleicht und elegant obendrein. Es stimmte. Und merkwürdig, ich behielt seinen Tip „als eine ungewöhnlich wertvolle Lehre (in) meinem Gedächtnis und verstaute sie in meinem Gehirn, wo sie bis zum heutigen Tage aufbewahrt blieb". Ein paar andere Kletterstellen habe ich ähnlich genau in Erinnerung, auch wenn kein Detail mir je so bedeutsam vorkam wie dieser Tip von Helmut für eine Tour, die nicht schwieriger ist als 5+. Die große Kelle an der Dachkante im „Briefkasten" zum Beispiel - der besten 6der Welt - oder meine Variante am Einstieg der „Anaconda"". Die „Anaconda", damals eine Furcht und Begeisterung erregende Neu-
heit, wird heute so oft geklettert, daß die weiß gechalkten Löcher und Schuppen fast automatisch die richtige Griffabfolge vorgeben. Aber die beiden kleinen Zweifingerlöcher vor dem ersten Überhang, die ich dort mal entdeckte und mit denen der Einstieg wirklich leichter fällt, werden offensichtlich von kaum jemandem benutzt. Wie ein kleines Geheimnis im Kinderzimmer: die roten Murmeln glänzen noch etwas schöner als die blauen. Es ist zuviel Erinnerung, um auch nur ein Inhaltsverzeichnis der wichtigsten und schönsten Momente anzugeben. Das Wochenende mit Axel, als wir in zwei Tagen sage und schreibe über ein Dutzend Sechser kletterten, eine Leistungssteigerung, wie sie in diesem Maße nie wieder vorkam. Axel lebt heute leider nicht mehr. All die Aktionen mit Helmut, die nächtliche Aktion mit Ebi am Buchenschluchtfels, der Tag, als Axel nach zwanzig Flaschen Bier den „Drachentöter" nachstieg. Was nützte es uns, daß wir besser kletterten als Axel, dachten Helmut und ich, wenn wir nie soviel saufen konnten wie er? Das damals traditionelle Fußballspiel zu Ostern gegen die Dorfmannschaft von Holzen. Der Tag, als mir der „Schulterweg" gelang, meine erste 9-. Streng genommen nicht gelang, weil ich am ersten Haken ruhte, aber an der ersten Schlüsselstelle war der Griff patschnaß und die Route insgesamt schwieriger, aber auch egal: „Ich kann es gar nicht mehr schaffen", hatte ich nach der Stelle zu Jan gesagt, „ich bin viel zu k.o.". Aber aufgegeben wurde nicht, und den Dynamo an der oberen Schlüsselstelle sprang ich so verzweifelt weit, daß ich fast über das Ziel hinausschoß und tatsächlich noch oben ankam - ein herrlicher Kampf. Der Tag mit Hansi Weninger in all seinen Neutouren in den Holzner Klippen. Der Tag, als dieser polnische Schauspielschüler aus Kiel vor der Hütte stand und laut deklamierend eine Rede von Catilina auf das Geschehen am Fels abwandelte: „Bürger von Rom! Wir sind heute zusammengekommen, um an den Leisten zu zerren!" Grandios. Und ein Traum wurde wahr, als ich einmal einen Kasten Einbecker Urbock hell - das trinkt man im Ith - mit in Cha-
monix hatte. Dies Bier ist auch bei völlig nüchterner Betrachtung eines der besten in Deutschland. All die Currywürste drüben im IthHotel. All die Nächte unter freiem Himmel. Klettern und Bergsteigen haben viel mit Willen zu tun, und unter anderem deswegen kann einen dieser nutzlose Zeitvertreib so glücklich machen. Glücklich oder wenigstens zufrieden ist man, wenn man ein Ziel oder einen Zustand erreicht hat, denn man sich wünschte. Das heißt, Wunsch oder Wille sind Voraussetzungen fürs Glück. „Wunschlos glücklich" kann man ohne einen vorher bestehenden Wunsch'gar nicht werden. Und es folglich auch kein Zufall, daß man in deprimierten Phasen keinen rechten Willen aufbringt. Klettern ist ganz allgemein so schön, daß man oft nicht anderes will als Klettern, Klettern, Klettern. Wegen der Bewegung, wegen des schönen Gesteins, wegen der Landschaft und der frischen Luft, wegen der großertigen Menschen, die man dort trifft und mit denen man diese Begeisterung teilt. Und dann will man klettern und dann geht man klettern und schon ist man glücklich. Am Fels selbst dann liegen Wille und Erfüllung nochmal ganz nah zusammen. Manchmal, ja manchmal ist das Leben wirklich ganz einfach. Und vor allem: das ist Leben an den Felsen, das ist keine Flucht vor der Wirklichkeit oder Kompensation seelischer Verknotungen und was immer irgendwelche Psychologen behaupten. Natürlich gibt es auch Torfköpfe an den Felsen, und ein paar Psychopathen gibt es auch, aber wie denn auch nicht? Das kommt in den besten Familien vor, in unserer senkrechten Familie ebenfalls, und in der Gruppe der Psychologen sowieso. Ich bin viel gereist, und Heimweh hatte ich nicht oft. Wenn, dann war es Heimweh nach der deutschen Sprache und nach dem Ith. Wieder zuhause sein, da sein, wo man herkommt. Wo alles so ist, wie es schon immer war, wie es gut ist und genau, wie man es kennt. Wo alles an seinem Platz ist. Jeder Felsen, jeder Griff. Per Anhalter und die letzten Meter zu Fuß auf den Parkplatz kommen, den fünfzig
Meter langen Weg zur Hütte. Herz und Augen und die Lungen werden ganz groß, und den Rucksack abstellen. Die Kletterschuhe rauskramen und im Dauerlauf und mit feuchten Augen und feuchten Händen in den Wald und solo den „Kakteenweg" hinauf. Corning home. Auf spanisch: volver a casa oder auch: volver a tu tierra. Heute darf man ja theoretisch nicht mehr solo klettern. Dann steigt man nämlich auf die Felsköpfe aus, und die darf man nicht mehr betreten. Es gibt tausend gute Gründe, die Bürokraten, die sich das ausgedacht haben, mit einer großen Moulinex zu zerstückeln und die zu Brei zerkleinerten stinkenden Kadaver so tief zu vergraben, daß kein Tier sich je an diesem seelenlosen Abschaum vergiftet. Daß sie uns damit auch das Eumeln - Soloklettern - verboten haben, ist nur ein Grund von vielen. Der einzige Grund, warum auch ich mich an die Dinge halte, die die IG Klettern ausgehandelt hat, ist, den Bürokraten und bösen Magiern aus dem Reich der falschen Behauptungen keine Munition für weitere Einschränkungen zu liefern. Und: Ihr wiegt euch in falscher Sicherheit, Bürokraten!, wenn Ihr glaubt, daß all die jungen Sportkletterer in ihren Kellern wirklich trainieren würden. In diesen angeblichen Trainingskellern werden in Wahrheit große Moulinex-Zerstückler gebastelt, und eines Tages werden wir -und oh, wir sind viele! - in all euren Schreibstuben auftauchen und ZickZick-Zyliss! wird es vorbei sein mit euch. Doch vergessen wir vorerst wieder jene nutzlosen Kreaturen, die es nicht wert sind, unsere Gedanken mit ihnen zu beschmutzen. Die Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten haben es heute schwer in der Öffentlichkeit. Wer seit fünfzigjahren im Westen lebt, dem geht es meist besser als denen, die heute in den Häusern der damals Vertriebenen wohnen. Wenn man noch bedenkt, daß die Verbrechen von deutscher Seite größer und grausamer waren als die ebenfalls begangenen, schweren Verbrechen an den vertriebenen Deutschen, ist deren Festhalten an jener Heimat rational schwer zu verstehen. Aber man fühlt eben nicht rational. Es ist eben die Hei-
mat. Und ganz gleich, ob man vertrieben wurde oder freiwillig ging, ob Kriegsverbrechen eine Rolle spielen oder wohlmeinende, aber eben ahnungslose Umweltbürokraten, man hängt an seiner Heimat. Man hat nur eine. Und weil Heimat meist eine Erinnerung an die Kindheit ist, hängt man an ihr mit solch kindischer Empfindsamkeit. Und alle Wehmut, die immer wieder aufkommt, wenn man mit den Freunden von damals über die Zeiten von damals redet, sollte über eines nie täuschen: eine glückliche Vergangenheit ist eines der kostbarsten Dinge, die ein Mensch überhaupt haben kann. Und eine glückliche Vergangenheit ist vor allem noch etwas anderes: ein Baustein für eine glückliche Zukunft. Ich klettere lang nicht mehr soviel wie früher, und auch das Bergsteigen hat nicht mehr den gleichen Stellenwert. Nicht annähernd, aber Klettern wird immer wie ein großer Schrank in meiner Wohnung sein. Denn ein Teil von mir gehört nicht mir. Ein Teil von mir gehört dem Klettern. Ein Teil von mir gehört eigentlich da oben hin, in den Norden, in den Ith: Unvergessene Heimat.