Das Buch Schlagfertig, witzig und sexy: Das ist Pia Petry. Pia Petry hat mal wieder finanzielle Probleme. Deshalb zöger...
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Das Buch Schlagfertig, witzig und sexy: Das ist Pia Petry. Pia Petry hat mal wieder finanzielle Probleme. Deshalb zögert sie nicht, einen äußerst bizarren Auftrag anzunehmen: Die Frau eines reichen Immobilienspekulanten liegt im Koma, nachdem sie versucht hat, sich ihr Badewasser mit einem defekten Tauchsieder aufzuwärmen. Ihre Tochter ist davon überzeugt, dass ihre Mutter ermordet werden sollte. Pia Petry ist skeptisch. Auch der Ehemann des Opfers hält die Mordtheorie für ein Hirngespinst. Aber sind die Ehemänner nicht immer die Hauptverdächtigen? Die Autorin Petra Würth wurde in Saarbrücken geboren, studierte in München Betriebswirtschaft und war viele Jahre in der Werbung tätig. Mit Pia Petry erschuf sie eine frech-chaotische Privatdetektivin, die in den Romanen Blutmond und Todeszauber mit dem aus dem ZDF bekannten Detektiv Wilsberg zusammenarbeitet (Coautor Jürgen Kehrer). Nach Rache ist giftig folgt mit Blond ist der Tod der nächste Fall für Pia Petry. Weitere Informationen sind zu finden unter:
Petra Würth
Blond ist der Tod Ein Pia-Petry- Roman
Vollständig überarbeitete Neuausgabe von Petra Würths Roman Unter Strom
»Das Gute ist einmalig, aber das Schlechte pflanzt sich rapide fort.« Hans Bernhard Schiff
Für Peter und Thomas Kapitel 1 Der Tag fängt gut an. Der Wecker hat nicht geklingelt. Schlaftrunken starre ich auf das Zifferblatt. Doch mich treibt ein ganz anderes Geräusch aus dem Bett. Irgendjemand ist mit seinem Finger in der Türklingel stecken geblieben. Durch das Dauergebimmel werde ich nicht nur wach, sondern auch ziemlich sauer. Mein lieber Nachbar, Siegfried Rebbelmeier, steht vor der Tür und grinst mir ins Gesicht. Er ist der Traum jeder alleinstehenden Frau. Groß, dick, ungepflegt und immer einen süffisanten Spruch auf den Lippen. »Na, Madame« - wie liebe ich dieses Madame -, »ist heute Nacht wohl spät geworden?« Ich blinzle ihn aus verquollenen Augen an. Freundlich wie ich bin, helfe ich seiner schmutzigen Fantasie ein bisschen auf die Sprünge. »Ja, ziemlich spät. Hab jede Menge Jungs vernascht.« »Dabei haben Sie wohl was verloren«, sagt er grinsend und hält mir einen grünen Damenslip unter die Nase. »Nein«, sag ich, »grün ist nicht meine Farbe, nicht bei Unterwäsche.« Das Geheimnis um den grünen Slip ist so schnell nicht zu lüften. Soll er ihn doch behalten, ihn sich über den Kopf stülpen, tief durchatmen und im Rausch seiner miesen Gedanken
versinken. Ich muss weg. Es ist schon acht, und ich muss die Maschine um 9.25 Uhr nach Frankfurt erwischen. 4 Mit einem kurzen Tschüss verabschiede ich Rebbelmeier, sprinte ins Bad und springe unter die Dusche. Mit noch feuchten Haaren schlüpfe ich in eine Jeans und ein Paar hochhackige Pumps, zwänge mich in eine weiße Bluse und werfe mir zu guter Letzt ein schwarzes Jackett über. Schminken werde ich mich auf dem Weg zum Flughafen. Taxi, denke ich, ich rufe ein Taxi. Dafür muss ich aber erst einmal das Telefon finden. Als ich es endlich unter dem Sofa hervorzerre, stelle ich fest, dass der Hörer einen Riss hat. Wie ist das denn passiert? Egal, es funktioniert. »Hallo, hier Petry, Pia Petry, Husumer Straße, ich brauche ein neues Telefon. Oh sorry, ein Taxi natürlich, ich brauche ein Taxi. Kommt erst in zwanzig Minuten? Danke, da fahr ich lieber selbst.« Ich hab den Flieger tatsächlich noch erwischt. Aber ob ich meinen Wagen im Parkhaus je wieder finden werde? Wahrscheinlich nicht. Ob die Frau am Check-in freiwillig je wieder ein Wort mit mir wechseln wird? Eher unwahrscheinlich. Auch die Stewardess guckt ganz indigniert. Na ja, ich hätte sie ja auch nicht gleich über den Haufen rennen müssen. Macht nichts. Hauptsache, ich sitze. Die Jungs um mich herum: ganz die alte Schule. Im grauen Einheitsdress, verschanzt hinter dem Wirtschaftsteil ihrer Zeitungen, sinnieren sie über die Probleme, die die Welt bewegen. Verträumt hängen sie den Erinnerungen an ihr letztes Schäferstündchen mit der Aushilfssekretärin nach. Rechnen noch einmal eventuelle Abfindungen für die Gattin durch und klopfen in Gedanken die Intrige gegen den lieben
Chef auf mögliche Schwachstellen ab. Mein Nachbar, auch ganz grau-in-graues Streifenhörnchen, scheint seine Hausaufgaben schon gemacht zu haben, er schläft. 5 Wohlwollend blicke ich auf die vor und hinter mir aufgereihten Köpfe und Schultern, auf denen das Schicksal Tausender Arbeitnehmer und ihrer Familien ruht. Mein Schicksal ruht da nicht. Ich habe mein Leben selbst in die Hand genommen und mich selbständig gemacht. Als was? Als Privatdetektivin. Frankfurt gehört nicht unbedingt zu meinen Traumzielen. Obwohl ich nicht viel von der Stadt kenne, haben Kaiser-, Taunus- und Moselstraße einen so bleibenden Eindruck hinterlassen, dass mir die Lust auf weitere Exkursionen schnell vergangen ist. Allerdings bin ich nicht wegen Frankfurts Schönheit hierhergekommen, sondern wegen einer Klientin. Was mir schon im Voraus Bauchschmerzen bereitet. Denn mit Klientinnen habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. Meistens wissen sie nicht, was sie wollen: »Finden Sie dieses Miststück, mit dem mich mein Mann betrügt ...« Und wenn es dann so weit ist: »Wie konnten Sie mir nur diese Fotos zeigen? Ich finde in meinem ganzen Leben keine ruhige Minute mehr.« Das war genau die Reaktion, die ich nach drei durchwachten Nächten in einem eiskalten Auto und nach der Präsentation erstaunlich scharfer Fotos erwartet hatte. Nun ja, vielleicht waren die auch ein bisschen zu scharf. Und dann die Probleme mit dem lieben Geld. Denn wenn ich herausgefunden habe, was ja anscheinend gar keiner so genau wissen wollte, ist das Honorar plötzlich zu hoch, oder es gibt finanzielle Engpässe,
oder noch besser, die Zahlungen erfolgen nicht, weil der Ehemann bei so hohen Geldausgaben misstrauisch würde. Leider lässt meine derzeitige finanzielle Situation keinerlei 6 Empfindlichkeiten bei der Klientenauswahl zu. Meine Kontoauszüge sind das reinste Depressivum. Deshalb habe ich auch nicht gleich aufgelegt, als diese Isabelle Dujack anrief und mich bat, nach Frankfurt zu kommen. Als ich dem Taxifahrer die Straße nannte, pfiff er anerkennend durch die Zähne. Die Adresse scheint etwas Besonderes zu sein. Das ist dann auch nicht zu übersehen. Noble Gegend, ein altes Patrizierhaus reiht sich an das nächste. Es riecht nach Geld, nach richtig viel Geld. Wir halten vor einer gelben Villa, die durch einen hohen Zaun und ein großes Eingangstor von der Außenwelt abgeschirmt wird. Als ich auf meinen Pumps die gekieste Auffahrt hochlaufe, bin ich vom Ambiente so hingerissen, dass ich über eine Honorarerhöhung nachzudenken beginne. Vielleicht sollte ich statt meines üblichen Stundensatzes von achtzig Euro lieber hundert verlangen, oder fände Frau Dujack das unverschämt? Reiche Menschen sind ja oft geizig. Aber neunzig Euro müsste sie eigentlich akzeptieren. Nachdem ich einen Range Rover und einen Porsche passiert habe und fast gegen einen der mit Buchsbaumkugeln bepflanzten Terrakottatöpfe gelaufen wäre, entschließe ich mich doch wieder zu der Hundert-Euro-Forderung. Mein Entschluss verfestigt sich beim Anblick der massiven Eingangstür mit schwerem Messingklopfer. Ich klopfe. Und tatsächlich, wer hätte es gedacht, ein Butler öffnet mir die Tür. Er führt mich in ein Wohnzimmer, das mit satten hundert Quadratmetern, einem offenen Kamin und edlen Art-deco-
Möbeln einen beeindruckenden, aber irgendwie auch unbewohnten Eindruck macht. Vorsichtig lasse ich mich auf einem schwarzen Wildledersofa nieder und bewundere die Aussicht 7 in den parkähnlichen Garten, dessen Größe ich gar nicht erst abzuschätzen versuche. Da geht auch schon die Tür auf, und meine neue Klientin kommt herein. Sehr groß, sehr blond, sehr jung und sehr hübsch. Eine einzige wandelnde Ungerechtigkeit. Sie ist gut einen halben Kopf größer als ich, was ihr die Möglichkeit gibt, auf mich herabzusehen. Genauso herablassend wirken ihr Lächeln und der leicht arrogante Zug um ihren Mund. Bemüht, meine Klientinnenphobie in den Griff zu bekommen und nicht gleich beim ersten Treffen stutenbissig zu reagieren, strahle ich sie freundlich an. Mit wohlgesetzten Worten bedankt sie sich für mein Kommen und fordert mich auf, wieder Platz zu nehmen. Sie wird doch nicht studiert haben, schießt es mir durch den Kopf. Ich reiße mich zusammen, besinne mich auf meine Rolle als toughe Businessfrau und nenne meinen nun auf hundertzwanzig Euro angestiegenen Stundensatz, weise auf die Spesen hin und überreiche ihr meine Visitenkarte. Sie reagiert gelassen. »Ja, das geht in Ordnung.« Dabei betrachtet sie meine Karte. »Warum heißt Ihre Firma denn P-Quadrat?« »P-Quadrat ist eine Abkürzung für meinen Namen, Pia Petry.« Dann leite ich auf unser Telefonat über und frage, was es denn jetzt mit ihrer Mutter und diesem ominösen Unfall auf sich habe. »Tja«, antwortet Frau Dujack, »das ist eine merkwürdige Geschichte.«
Auf dem Flug zurück nach Hamburg lasse ich den Fall noch einmal Revue passieren. Nicht nur die Geschichte ist bizarr, 8 auch meine Klientin ist ziemlich schräg drauf. Erst lässt sie mich nach Frankfurt kommen, und dann hat sie nur eine Stunde Zeit. Die Geschwindigkeit, mit der ich meine Fragen stellen musste, war rekordverdächtig. Trotzdem sind eine Menge Punkte offengeblieben. Und das bei dieser Story, die das Skurrilste ist, was ich seit langem gehört habe. Isabelle Dujack hat eine sogenannte Rückführung bei einer Heilpraktikerin gemacht. Mit dieser Methode soll herausgefunden werden, wer man in früheren Leben war und was sich damals abgespielt hat. Nun hat sie während dieser Rückführung aber nichts über ein früheres, sondern etwas über ihr jetziges Leben erfahren. Ich habe noch ihre seltsam unbeteiligt klingende Stimme im Ohr, als sie mir gegenübersaß, eine Zigarette nach der anderen rauchte und davon erzählte. »Als ich zwölf Jahre alt war«, sagte sie, »fiel meine Mutter durch einen Stromschlag ins Koma. Seither ist sie nicht wieder aufgewacht und wird inzwischen in einem Heim gepflegt. Es hieß, es sei ein Unfall gewesen. Das kam mir damals schon eigenartig vor. Meine Mutter soll sich nämlich ihr Badewasser mit einem defekten Tauchsieder aufgewärmt haben.« »Das ist ja eher ungewöhnlich«, warf ich ein. »Stimmt. Wahrscheinlich hat sie es auch gar nicht getan. Ich glaube mittlerweile nämlich nicht mehr, dass es ein Unfall war.« »Sondern?« »Es war ein Mordversuch.«
Mir blieb der Mund offen stehen. »Ein Mordversuch?« »Ich weiß, das klingt ziemlich abenteuerlich.« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Durch die Rückführung«, sagte sie und zog hektisch an ih 9 rer Zigarette. »Während dieser Rückführung habe ich mich an eine Szene aus meiner Kindheit erinnert. Ich stand auf einmal wieder im Badezimmer meiner Eltern, wo ich mir die Hände wusch. Die Tür zum Schlafzimmer, in dem meine Mutter inmitten dieser ganzen medizinischen Geräte lag, stand offen. Ich war so mit mir beschäftigt, dass ich zuerst gar nicht richtig begriffen habe, was da auf einmal passierte. Meine Mutter redete. Können Sie sich das vorstellen? Nicht lange, nur zwei, drei Sätze. Aber sie redete, und ich habe sie verstanden, ich habe sie ganz genau verstanden.« Verblüfft starrte ich Isabelle Dujack an. »Was hat Ihre Mutter denn gesagt?« »Sie sagte, dass sie Angst habe, dass er es wieder versuchen könnte.« »Was wieder versuchen könnte?« »Sie umzubringen.« Einen Augenblick lang war ich sprachlos. So etwas hatte ich ja noch nie gehört. »Hat Ihre Mutter wirklich von umbringen geredet?« »Ja, ganz sicher.« »Und sie hat tatsächlich von einem Mann gesprochen?« Isabelle Dujack biss sich auf die Lippe. »Das weiß ich nicht mehr so genau. Ich glaube, sie hat er gesagt. Aber womöglich hat sie auch jemand gesagt. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern. Aber eins ist sicher, sie glaubte, dass sie ermordet werden sollte.«
»Möchten Sie etwas zu trinken?« Die Stewardess lächelt mich freundlich an. So aus meinen Gedanken gerissen, begreife ich zuerst überhaupt nicht, was sie von mir will. 10 »Ja, äh sicher, geben Sie mir doch bitte einen Orangensaft«, antworte ich, ohne recht zu überlegen. Der Saft steht schon vor mir, als mir einfällt, dass ich ihn wegen meiner Gastritis gar nicht trinken darf. Während die Flugbegleiterin meinen Nachbarn bedient, ihm ein Tütchen Nüsse und eine Tasse Tee reicht, drifte ich gedanklich ab und sehe Isabelle Dujacks Gesicht wieder vor mir. Ihre kinnlangen, blonden Haare, die großen blauen Augen, deren Farbe an einen Gletschersee erinnert, auf dessen Oberfläche kleine türkisfarbene Reflexe tanzen. Und den etwas schmal geratenen Mund, der zu einem Strich verkommt, sobald sie ärgerlich wird. Das Problem ist, dass ich ihr nicht traue. Weder ihr noch dieser Rückführungsgeschichte. Isabelle Dujack ist mir nicht wirklich sympathisch. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas irritiert mich. Vermutlich sind meine Vorbehalte gegen sie aber hausgemacht. Schließlich war meine letzte Klientin auch attraktiv und wohlhabend. Und sie hatte mich aufs Kreuz gelegt. Was übelste Konsequenzen nach sich gezogen hat. So etwas möchte ich nicht noch einmal erleben. Andererseits ist es unfair, meine neue Klientin unter meinen schlechten Erfahrungen leiden zu lassen. Möglicherweise ist sie ja ehrlich, und es stimmt, was sie erzählt hat. Vielleicht bin ich auch nur neidisch auf ihre Jugend, ihr gutes Aussehen und ihr Geld oder zur Zeit einfach nicht in der Lage, Menschen objektiv zu beurteilen.
Die Stewardess spricht mich schon wieder an. Ich soll den Tisch vor mir hochklappen. Das geht aber nicht. Da steht nämlich ein Becher Orangensaft drauf. Ich trinke ihn in einem Zug aus, was meinem Magen bestimmt nicht guttut, händige ihn ihr aus und begebe mich in Gedanken zurück zu Isabelle Dujack. Als ich Zweifel an ihrer Theorie äußerte, 11 reagierte sie unwirsch. Meinen Einwand, dass solche in einer Rückführung erlebten Visionen nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen müssen, schmetterte sie unbeeindruckt ab. Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass ihre Mutter ermordet werden sollte. Und ich soll jetzt den Täter finden. Sie hat mir auch gleich eine Liste mit Namen von Personen überreicht, die ich aufsuchen und befragen soll. Irritiert starre ich aus dem Fenster. Mein neuer Fall. Eine tolle Sache, ein Unfall, der angeblich ein Mordversuch war, ein Opfer, das kein Wort mehr sagen kann und eine Zeugin, deren Erinnerungsvermögen esoterischen Nachhilfeunterrichts bedarf. Klar, diese Story würde sich ein Polizist keine Minute anhören, und unternehmen würde er deswegen schon lange nichts. Der spontane Reflex, Isabelle mit ihren verquasten Rückführungsfantasien alleinzulassen, wird durch die Erinnerung an meinen Kontostand schnell unterdrückt. Nun gut, mit dieser Krankenschwester, die Frau Dujack nach dem Unfall betreut hat, und der ehemaligen Haushälterin kann ich ja mal reden. Für hundertzwanzig Euro die Stunde hab ich schon unangenehmere Dinge gemacht. 11 Kapitel 2
Als das Flugzeug in Hamburg zur Landung ansetzt, hängen dunkle Gewitterwolken über der Stadt. Noch regnet es nicht. Aber es kann jeden Moment losgehen. Der Wind hat kräftig aufgefrischt und bläst mich fast vom Bürgersteig. Ich bin heilfroh, als ich das Parkhaus trockenen Fußes erreiche. Dort erlebe ich eine unangenehme Überraschung. Wo ist mein BMW? Ich suche auf den Parkdecks PI und P2. Ohne Erfolg. Auf P3 werde ich dann überraschend schnell fündig. Kein Wunder, freundlicherweise leuchtet mein Auto mir schon von weitem entgegen. Ich brauche keinen beleuchteten Frauenparkplatz, für die Helligkeit sorgt mein Wagen ganz von alleine. Einen Nachteil hat das Ganze allerdings, er springt nicht mehr an. In meinem Büro in Pöseldorf sitzt mein Assistent Martin Cornfeld an meinem Schreibtisch, dekoriert ihn mit seinen unsäglichen Cowboystiefeln und telefoniert. Als er mich sieht, nimmt er immerhin die Füße vom Tisch. »Mir ist egal, was die Karten kosten«, sagt er, steht auf und lächelt mich entschuldigend an. »Ich muss zu diesem Fußballspiel!« Dann setzt er sich plötzlich wieder hin. »So teuer!« Er schluckt und fährt sich mit der Hand nervös durchs Haar. »Okay. Und das Stadion ist wirklich ausverkauft. Du hast keine Chance ... Ja, ja. Alles klar. Ja, ich nehme sie. Aber gib 12 sie nicht jemand anderem. Ich nehme sie auf jeden Fall. Hast du verstanden? Okay. Ja, danke, bis dann.« Er legt auf. »Welches Spiel?«, frage ich. »HSV gegen Hannover 96.« »Wie viel?« »100 Euro.« »Sie müssen's ja haben.«
»Ich hab's eben nicht. Deshalb tut mir das jetzt auch richtig weh.« Angespannt kaut er auf seiner Unterlippe herum. Als eingefleischter St-Pauli-Fan hält sich mein Mitleid in Grenzen. »Und«, sage ich, »heute schon was gearbeitet?« »Sorry. Aber wir werden im Moment nicht gerade von Auftraggebern überrannt. Ich tue schon, was ich kann«, antwortet er und macht endlich meinen Platz frei. Der Junge hat Betriebswirtschaft studiert und werkelt seit Ewigkeiten an seiner Doktorarbeit. Er ist jung, intelligent und nicht unattraktiv. Mit seiner schlaksigen Figur, den kinnlangen, rötlich-blonden Haaren und der futuristisch anmutenden Designerbrille könnte er einer Boygroup entsprungen sein. Was mich jedoch nervt, ist sein ständiges »Ja, aber ...«. Er gehört zu diesen Bedenkenträgern, die in jeder Suppe mindestens zwei Haare finden und von Problemen weitaus mehr fasziniert sind als von den dazugehörigen Lösungen. Aber ich muss zugeben, dass diese Einstellung manchmal auch Vorteile hat. Da ich selbst eher zu spontanen und nicht immer so ganz durchdachten Reaktionen neige, ist es gut, jemanden wie ihn in der Nähe zu haben, der meine tägliche Fettnäpfchenration in Grenzen hält. Außerdem ist er für 13 meine Buchhaltung und die Finanzen zuständig. Da er ein alter Erbsenzähler ist, hat er diesbezüglich mein volles Vertrauen. Jetzt ist er neugierig und will wissen, was bei dem Frankfurter Termin herausgekommen ist. Ich erzähle es ihm und bitte ihn, uns schnellstens aufschlussreiches Material zum Thema Koma zu besorgen.
»Ist es theoretisch möglich, dass eine Frau, die im Koma liegt, aufwacht, etwas sagt und dann wieder sanft entschlummert? Außerdem brauchen wir noch mehr Informationen über die Leute, die damals im Haus gelebt haben. Von ihrem Vater hat sie mir nur erzählt, dass er mit Immobilienspekulationen und Altenheimen in den achtziger und neunziger Jahren viel Geld verdient hat. Jetzt ist er um die fünfzig und verbringt seine Tage auf den exklusivsten Golfplätzen der Welt. Außerdem gab es da noch eine Schwester namens Simone. Die hat mit elf Jahren Selbstmord begangen.« Cornfeld reißt die Augen auf. »Ein elfjähriges Kind, das sich umbringt. Das ist ja heftig. Hat Isabelle Dujack noch mehr darüber erzählt?« »Nein. Sie hatte sowieso wenig Zeit. Und diesen Selbstmord erwähnte sie erst ganz zum Schluss, als ich nach Geschwistern gefragt habe. So ganz nebenbei. Als ich mehr wissen wollte, blockte sie ab. Das ist wohl so etwas wie der dunkle Fleck in der Familiengeschichte. - Hab ich was vergessen?« »Hat sie Ihnen erklärt, warum sie ausgerechnet eine Hamburger Detektei beauftragt hat?« »Ja. Unsere Homepage hat ihr gefallen. Und außerdem wollte sie eine Frau.« »Ach! Und in Frankfurt gibt es keine weiblichen Detektive mit ansprechendem Internetauftritt?« 14 »Offensichtlich nicht. Allerdings hat sie auch gesagt, dass eine der Frauen, die ich befragen soll, mittlerweile in Hamburg und die andere in Hannover lebt. Weitere Gründe, die für uns sprechen.« »Warum redet sie nicht selbst mit den beiden? Schließlich kennt sie sie besser und länger als wir.«
»Genau hier liegt das Problem. Die Frauen sehen immer noch das kleine Mädchen in ihr, das beschützt und vor dem Bösen bewahrt werden muss. Frau Dujack glaubt nicht, das sie ihr irgendetwas erzählen würden, was sie beunruhigen oder gar ängstigen könnte. Deshalb hat sie eine neutrale Person dazwischengeschaltet. In der Hoffnung, dass die beiden mir gegenüber offener sind. Aber das ist ja jetzt auch egal. Hauptsache, wir haben den Job.« »Und womit fangen wir an?« Ich ziehe die Liste, die mir meine Klientin gegeben hat, aus der Tasche und reiche sie Cornfeld. »Wir könnten mit Frau Bohnacker starten, der ehemaligen Haushälterin«, schlägt er vor. »Ich finde die Krankenschwester, die Frau Dujack die ersten Jahre nach dem Unfall zu Hause gepflegt hat, spannender. Schließlich hatte sie den engsten Kontakt zum Opfer. Und vielleicht ist ihr am Verhalten der Leute im Haus etwas aufgefallen. Denn der Mordanschlag, wenn es denn einer war, ist missglückt, und der Täter musste befürchten, dass Frau Dujack aufwachen und ihn verraten könnte. Also wird er sich vor allem in der Zeit kurz nach dem Stromschlag für die gesundheitliche Situation der Komapatientin interessiert haben«, sage ich und werfe einen Blick auf den Zettel. »Sie lebt jetzt in Hannover und heißt Ramona Bouche.« Mein Assistent grinst. »Ramona Bouche7 Klingt ja toll.« 15 Mit ausgestreckten Armen kommt er auf mich zu. »Ist das Französisch, ma chérie ...? Oh, dann beiß misch, schlag misch, kratz misch, aber mach disch nackisch für misch.« »Cornfeld!«, sage ich drohend. »Lassen Sie das.«
Aber dann muss ich doch lachen. Wenn auch widerwillig. Eigentlich mag ich es nicht, wenn er sich solche Vertraulichkeiten herausnimmt. Schließlich bin ich seine Chefin. Das ist auch der Grund, warum ich ihn nicht duze. Das »Sie« hält ihn auf Abstand und temperiert das Arbeitsklima auf dem richtigen Niveau. Andererseits schätze ich seinen Witz, seine Schlagfertigkeit, seinen manchmal geradezu umwerfenden Charme. Und auch wenn ich es mir nicht eingestehe, so ist er nicht ganz unschuldig daran, dass ich an manchen Tagen ausgesprochen beschwingt ins Büro gehe. »Also«, sage ich, »wir beginnen mit Ramona Bouché. Wäre nett, wenn Sie alles Notwendige veranlassen könnten.« »Aye, Aye, Sir«, schnarrt Cornfeld und verlässt mit der Liste in der Hand mein Büro. Ich setze mich an den Schreibtisch und verfasse ein zwei Seiten langes Protokoll über meinen Ausflug nach Frankfurt. Als ich damit fertig bin, ist es halb sieben. Ich schalte den Computer aus und packe meine Sachen zusammen. Es wird höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Schließlich habe ich heute Abend noch etwas vor. Von der Magdalenenstraße in die Husumer Straße benötige ich mit dem Auto knapp zehn Minuten. Die wunderschöne Lindenallee, in der ich seit fünf Jahren lebe, liegt in Eppendorf. Einem in Hamburg sehr beliebten Stadtteil, der zentral gelegen ist, über viel alte, gut erhaltene Bausubstanz verfügt und im Ruf steht, der ideale Tummelplatz für eine bestimmte 16 yuppiehaft angehauchte Klientel zu sein. Die Gegend ist ausgesprochen beliebt bei Journalisten, Lehrern, Werbeleuten und sonstigen »Kreativen«, die genügend Geld verdienen, um sich die nicht gerade niedrigen Mieten beziehungsweise Kaufpreise
leisten zu können. Daraus hat sich im Laufe der Zeit eine relativ homogene Bevölkerungsschicht entwickelt, die einen Hang zu teuren Autos hat, gerne einen Zweitwohnsitz an der Ostsee oder auf Sylt ihr Eigen nennt und ihre Kinder, denn auch die sind wieder chic, ins Johanneum, ins WilhelmGymnasium oder gleich auf eine Privatschule schickt. Ich habe mich nie bewusst für diesen Stadtteil entschieden, der zugegebenermaßen auch viele Vorteile bietet, wie schöne Geschäfte, tolle Cafés und viel buntes Leben auf den Straßen. Doch als nur mäßig erfolgreiche Privatdetektivin mit einem alten, klapprigen BMW, der immer kurz davor ist auseinanderzufallen, bin ich hier eine absolute Außenseiterin. Hätte mein Vater mir die Wohnung nicht vererbt, wäre ich wahrscheinlich in einem anderen Viertel gelandet. Leider hat die Wohngegend einen Haken. Und das sind die Parkplätze. Für die Suche nach so einer Rarität benötigt man locker eine Viertelstunde. Wenn man Pech hat, auch schon mal sehr viel länger. Doch heute habe ich Glück. Nach nur zehn Minuten Irrfahrt durch sämtliche Seitenstraßen der Umgebung und kaum drei Kilometer vom Haus entfernt, klemme ich meinen Wagen zwischen einen Pick-up und einen alten Käfer. Prima, sitzt, passt, hat keine Luft. Auch egal. Ich eile nach Hause und auf der Treppe des ehrwürdigen Jugendstilgebäudes direkt in Herrn Rebbelmeiers Arme. »Frau Petry«, - na wenigstens nicht Madame -, »Sie glauben nicht, was passiert ist.« Nein, nein, ich glaube es nicht. Vor allem: Ich will es auch 17 gar nicht wissen. Wild mit seinen Händen gestikulierend, kommt er hinter mir die Treppe hinauf. »Es ist eine solche Unverschämtheit, eine solche Frechheit ...«
Mein Gott, denke ich, hoffentlich bricht er mir jetzt nicht in Tränen aus. »Man hat meine Schuhe ...« Weiter kommt er nicht. Ein tiefes Schluchzen erschüttert seinen immensen Speckbauch. Und mir wird angst und bange. Hat er etwa Schuhe gesagt? Der Running Gag in diesem Haus sind die Schuhe von Herrn Rebbelmeier, die zum Entsetzen sämtlicher Bewohner vor seiner Wohnungstür aufgereiht stehen. Nachdem er sich freundlichen Ermahnungen gegenüber nicht gerade aufgeschlossen gezeigt und sich mit dem Hinweis, in seiner Wohnung sei leider kein Platz für all die Schuhe, den Wünschen seiner Nachbarn rigoros widersetzt hat, brach ein erbitterter Grabenkrieg aus. Es endete damit, dass Rebbelmeier jeden Morgen einen seiner Schuhe suchte. Mal lag er im Abfalleimer, mal im Keller, mal auf dem Speicher. Man ging nicht sonderlich zimperlich mit ihm um. Doch bisher haben diese Aktionen nicht viel bewirkt. Mittlerweile sitzt Rebbelmeier auf der Treppe vor meiner Wohnung und jammert wie ein verwaistes Robbenbaby. Soweit ich ihn verstehen kann, hat wohl jemand ein rohes Ei in einen seiner Schuhe gelegt, und er hat es erst bemerkt, als er schon drin stand. Ein voller Erfolg. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. So viel Kreativität hätte ich meinen Nachbarn gar nicht zugetraut. »Frau Petry, Sie müssen mir helfen. Sie können doch bestimmt herausfinden, wer das war. Ich zahle Ihnen auch eine Belohnung.« 18 »Nein, danke, wirklich nicht. Ich habe im Moment so viel Arbeit und für solche Aufträge überhaupt keine Zeit.«
Bevor er widersprechen kann, bin ich in meiner Wohnung verschwunden. Schließlich will ich heute Abend mit Michael ins Theater und muss mich dafür noch etwas zurechtmachen. Doch kaum habe ich die Tür hinter mir geschlossen, poltert Rebbelmeier dagegen. Entnervt öffne ich. »Frau Petry, entschuldigen Sie, ich habe noch etwas vergessen.« »Ja?« »Im Keller, also wegen dem Damenhöschen«, er grinst, »Sie wissen schon, also da in der Nähe, wo das Höschen lag, hab ich heute so Blutstropfen gefunden.« Oh, nein. Sherlock Holmes persönlich. Oder sollte ich sagen Doktor Watson? Genau, er mimt Dr. Watson, und ich soll die Rolle von Sherlock Holmes übernehmen. Ohne mich. Ich hätte ihm nie sagen dürfen, was ich beruflich mache. »Da hat sich jemand geschnitten oder sonst wie verletzt«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Sie wissen ja, die meisten Unfälle passieren im Haushalt. Das Höschen ist jemandem vom Wäschekorb gesegelt, und das Blut stammt wahrscheinlich von einem ungeschickten Heimwerker. Okay?« Ganz zufrieden scheint er mit der Erklärung nicht zu sein. Aber er trollt sich. Gott sei Dank. Nun bin ich im Stress. Um halb acht muss ich bei Michael sein. Wir wollen uns modernes Tanztheater auf »Kampnagel« ansehen, einer ehemaligen Fabrik, die nun als internationales Zentrum für zeitgenössische darstellende Künste genutzt wird. Die Frage ist nur: Was zieh ich da an? Zu edel passt nicht, zu burschikos aber auch nicht. Ich entscheide mich für 19 eine schwarze Hose, einen schwarzen Rollkragenpullover und eine kurze, grüne Satinjacke. Ein Kontrollblick in den Spiegel
zeigt, dass sich die Anstrengung gelohnt hat. Keiner käme auf die Idee, dass die Frau mit den schulterlangen, braunen Haaren und den schräg stehenden, grünen Augen auf über vier Jahrzehnte Lebenserfahrung zurückblicken kann. Und demnächst Geburtstag feiert, wie mir da einfällt. Ein Gedanke, den ich sofort verdränge. Ich liebe es nicht, an mein Alter erinnert zu werden. Allzu viel Weisheit hat sich im Laufe der Jahre nämlich nicht angesammelt. Sonst hätte ich mich nicht kürzlich von meinem nicht heirats- und schon gar nicht zeugungswilligen Ex-Freund Michael umsingen lassen. Vor zwei Jahren habe ich mit ihm Schluss gemacht. Nach einer sieben Jahre währenden Katastrophenbeziehung hatte ich endlich die Kurve gekriegt und ihm den Laufpass gegeben. Was er nie wirklich akzeptiert hat. Immer wieder rief er an und versuchte mich umzustimmen. Ohne Erfolg. Bis vor ein paar Monaten wieder ein Anruf kam. Diesmal war ich angeschlagen, und er wusste es. Er habe gehört, es ginge mir nicht gut, und er wolle wissen, ob er vielleicht helfen könne. Das Problem mit ihm ist, dass er einerseits unglaublich liebevoll, fürsorglich und hilfsbereit sein kann, andererseits aber frauentechnisch absolut gar nichts anbrennen lässt. Wenn ich mit ihm zusammen bin, vermittelt er mir das Gefühl, die einzige Frau auf der Welt zu sein, die einzige, die zählt, die einzige, die wichtig ist. Das ist toll und gut für mein Ego, währt aber nur so lange, wie keine attraktive Konkurrentin am Horizont auftaucht. Als er anrief, war ich viel zu down, um irgendeine Form von Widerstand zu leisten und mir meine schlechten Erfahrungen mit ihm vor Augen zu führen. Er war einfach im rich 20 tigen Moment da, hörte zu, half, wusste genau, was er machen musste, um mich aus meiner Depression herauszuholen. Noch
am gleichen Abend sind wir zusammen essen gegangen und ein paar Tage später in seinem Bett gelandet. Seither sind wir wieder ein Paar. Und bei jeder sich bietenden Gelegenheit versichert er mir, dass er jetzt treu sei und seine Wanderjahre definitiv hinter ihm lägen. Doch so ganz traue ich dem Frieden nicht. Als ich sehe, dass es schon halb acht ist, beende ich die selbstkritischen Betrachtungen vor dem Spiegel und mache mich auf den Weg. Michael ist von Beruf Filmemacher und da die großen Hollywood-Angebote derzeit ausbleiben, produziert er mehr oder weniger gelungene Werbefilme für Seife und Haferflocken. Nichtsdestotrotz ist er natürlich der begabteste Jungfilmer der deutschen Szene, auch wenn er schon satte fünfundvierzig Jahre auf dem Buckel hat und bis dato relativ erfolglos war. Aber das versteht er gekonnt zu überspielen. Zur Zeit ist er mit der Postproduktion eines neuen Waschmittel-Spots beschäftigt und verbringt täglich zehn bis fünfzehn Stunden in einem Schneideraum, den er im Grindelhof angemietet hat. Seit dort die jüdische Talmud-Tora-Schule wieder eröffnet wurde und aus Sicherheitsgründen angebrachte Betonpoller vor dem Gebäude viele Parkplätze gekostet haben, ist das Parken in der Gegend schwierig geworden. Deshalb mache ich mich zu Fuß auf den Weg. Prompt komme ich eine Viertelstunde zu spät und reichlich abgehetzt in den Schneideraum. In dem abgedunkelten Zimmer schlägt mir die spannungsgeladene Stimmung sofort auf den Magen. Ich empfinde mich als unerwünschten Ein 21 dringling. Michael begrüßt mich betont herzlich. Für meinen Geschmack eine Spur zu bemüht. Überschwänglich umarmt er
mich und küsst mich auf beide Wangen. Außer ihm ist noch eine junge Frau anwesend, die, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, am Schneidetisch sitzt und eifrig den Film vorund zurückspult. Ganz in ihre Arbeit vertieft, schenkt sie mir ein kurzes Lächeln, das ich mit einer winzigen Kopf bewegung erwidere, nachdem Michael sie mir mit: »Das ist Rike, unsere neue Cutterin«, vorgestellt hat. Was ich von ihr in dem dunklen Raum erkennen kann, sind ein schmaler Rücken, ein hübsches Profil mit einer ziemlich unreinen Haut und eine Flut dicker, stark naturgewellter, langer, blonder Haare. Blond, denk ich, klar, sie ist mal wieder blond. Michaels Mutter ist blond, nicht von Natur, sondern vom Friseur. Aber das spielt ja keine Rolle. Die unechten Blondinen sind laut Michael sowieso die hübscheren. Ja, und solche Erkenntnisse, im frühkindlichen Entwicklungsstadium erworben, prägen das idealtypische Frauenbild ein Leben lang. Durch die Bank waren alle Frauen, mit denen er mich früher betrogen hat, blond. Ich weiß bis heute nicht, warum er sich eigentlich je mit mir eingelassen hat. Möglicherweise hat es an einer kurzfristig eingetretenen Farbenblindheit gelegen. Ich darf gar nicht daran denken, wie oft ich mit meinem Friseur das Thema »Blondieren oder nicht blondieren?« diskutiert habe. Aber wir sind beide immer wieder zum selben Ergebnis gekommen: Ich bin einfach keine Blondine. Gelb steht mir nicht. Das Einzige, was mich jetzt noch aufrecht hält, sind Rikes Pickel. Das ewige Rumsitzen in dunklen und verräucherten Schneideräumen ist ja bekanntlich auch einer jugendlichen Haut nicht besonders zuträglich. Und auf Pickel steht Mi 22 chael nun wirklich nicht. Während ich noch abzuschätzen versuche, ob meine Eifersuchtsgefühle Reminiszenzen an ver-
gangene Erlebnisse oder tatsächlich begründet sind, dränge ich zum Aufbruch. Schließlich sind wir schon ziemlich spät dran. Das Tanztheater war ein hartes Stück Arbeit. Sehr anspruchsvoll, sehr spröde und sehr laut. Es wurde unglaublich viel gerannt. Auf der Bühne mit Vorliebe im Kreis herum, im Zuschauerraum, vor allem während der ersten zehn Minuten, stringent in Richtung Ausgang. Da hatten sich wohl einige Leute verhoben. Während ich tapfer durchhielt und über den tieferen Sinn dieser Darbietung sinnierte, schlief Michael leise schnarchend neben mir. Als wir das Theater verließen, war ich hundemüde und fast taub, während er ausgeruht und bester Laune den Wunsch nach einem schönen, kühlen Guinness äußerte. Bei unserem anschließenden Zug um die Häuser, irgendwann zwischen zwei und drei Uhr nachts im »Finnegan's Wake«, nach zwei Guinness und drei Kilkenny, war er dann witzig, zärtlich und verdammt unterhaltsam. Und plötzlich wusste ich, warum ich mir diesen Kerl schon wieder antue. 23 Kapitel 3 Auf einen langen Tag folgt meistens eine kurze Nacht. Als ich am nächsten Morgen viel zu spät mit einem klitzekleinen Katerchen ins Büro komme, hat sich schon eine Menge dicker Luft angesammelt. Cornfeld ist sauer. Er hasst Unpünktlichkeit. Mein üblicher Hinweis auf die kapitalistische Ausbeutung im Allgemeinen und meine Domina-Allüren im Speziellen kann auch keine Abhilfe schaffen. Also versuche ich es auf die romantische Tour. »Sehen Sie mich doch nicht so traurig aus Ihren rehbraunen Augen an ...« »Nein«, erwidert er bissig, »die sind nicht rehbraun, die sind blau und grün und grau. Die sind wirklich alles, nur braun sind
sie nicht. Das hätte Ihnen in zwei Jahren Zusammenarbeit auch schon einmal auffallen können.« Ich zeige mich zerknirscht, gebe vor, seine Augenfarbe zu studieren und angele dabei nach seinen Schokoladenplätzchen in der unteren Schreibtischschublade. Was wiederum zu einer gewissen körperlichen Nähe führt, die er heute gar nicht zu goutieren scheint. Mein Hinweis, dass ich nichts von ihm, sondern nur etwas von seiner Prinzenrolle wolle, führt endlich zum gewünschten Erfolg: Er lacht schallend. Während ich meinen Rausch ausgeschlafen habe, ist Cornfeld schon fleißig gewesen. Er hat zum Thema Koma im Internet 24 recherchiert und bereits einen ganzen Berg von Ausdrucken auf seinem Schreibtisch liegen. »Was ist mit Ramona Bouche?«, frage ich. »Haben Sie die schon erreicht?« Er schüttelt den Kopf. »Wollen Sie denn heute noch nach Hannover?« »Klar«, sage ich. »Ich denke, wir sollten den Stier gleich bei den Hörnern packen.« Er greift nach dem Telefonhörer, tippt eine Nummer ein und trommelt mit einem Kugelschreiber auf seine Schreibunterlage, während er wartet. Ich nutze die Zeit, um mir in der Küche eine Aspirintablette zu holen und sie mit reichlich Leitungswasser hinunterzuspülen. Danach schenke ich mir einen Kaffee ein, gehe in mein Zimmer und setze mich an den Schreibtisch. Mit beiden Händen umklammere ich die heiße Tasse und trinke vorsichtig einen kleinen Schluck. Die Kopfschmerzen sind so grausam, dass ich meinen übereilten Vorschlag, nach Hannover zu fahren, schon fast bereue und zu
hoffen beginne, Frau Bouche sei nicht zu Hause oder habe keine Zeit. Cornfeld steckt den Kopf zur Tür herein. »Alles klar«, sagt er und reckt den Daumen nach oben. »Heute Nachmittag muss sie zum Arzt. Aber vormittags ist sie zu Hause.« »Prima«, sage ich wenig begeistert. »Dann mache ich mich gleich auf die Socken. Suchend sehe ich mich um. »Wo sind eigentlich meine Autoschlüssel?« Mein Assistent schüttelt den Kopf. »Mit dem Kater wollen Sie Auto fahren? Das ist nicht Ihr Ernst.« Na ja, fahr ich eben mit der Bahn. Dann brauche ich auch nur eine Viertelstunde länger. 25 Auf der Fahrt nach Hannover habe ich die meiste Zeit geschlafen. Als ich aus dem Zug steige, fühle ich mich zwar noch ein bisschen matt, aber schon um einiges erholter. Auch die Kopfschmerzen haben sich auf ein erträgliches Maß reduziert. Ich mache mich auf den Weg zu Ramona Bouche, die, wie ich feststellen muss, nicht gerade im schönsten Viertel von Hannover lebt - freundlich ausgedrückt. Schon die Straße ist ein Anschlag auf jedes positive Lebensgefühl. Das Mietshaus, in dem sie wohnt, ist alt, schäbig und völlig heruntergekommen. Der Fassade täten ein neuer Verputz und frische Farbe gut, der Hausflur verströmt den Mief der letzten hundert Jahre. Wer in diesem Haus nicht depressiv ist, wird es bestimmt in kürzester Zeit. Ich steige die Treppe hinauf, halte mir vorsichtig die Nase zu und bemühe mich, es zu keinerlei körperlichem Kontakt mit den Wänden kommen zu lassen. Im dritten Stock finde ich
endlich das gesuchte Namensschild. Ich klingle. Mehrmals. Nichts rührt sich. Ich versuche es noch einmal. Diesmal lang und anhaltend. Auch jetzt passiert nichts. Vielleicht ist Frau Bouche ja nur kurz runter, um den Briefkasten zu leeren? Ich presse mein Ohr gegen die Tür. Cornfeld hat doch einen Termin mit ihr vereinbart. Da wird sie doch nicht einfach weggegangen sein. Ich klopfe, rufe ihren Namen. Lausche erneut. Nichts. Ich klingle bei der Nachbarin. Auch die ist nicht zu Hause. Weit und breit ist niemand zu sehen, den ich fragen oder der mir sonstwie behilflich sein könnte. Allerdings ist auch niemand zu sehen, der beobachten könnte, wie ich meine Kreditkarte zücke und sie blitzschnell durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Türstock gleiten lasse. Ich liebe alte Schlösser. Es knackt und die Tür springt auf. 26 Vorsichtig um mich spähend betrete ich die Wohnung und rufe leise Frau Bouches Namen. Ich erhalte keine Antwort. Die Einrichtung ist von einer unsäglichen Spießigkeit. Der Hang zu kitschigem Nippes und dekorativen Elementen wie vergoldeten Spiegeln, künstlichen Blumen und kleinen Filethäkeldeckchen raubt mir fast den Atem. Im Wohnzimmer steht der obligatorische raumfüllende Wandschrank in gediegenem Eichendekor, davor gruppieren sich die pastellig geblümten Polstersessel Marke frühes Karstadt um einen niedrigen Couchtisch. Auch das Schlafzimmer mit dem riesigen Doppelbett, der darüber ausgebreiteten rüschenbesetzten Tagesdecke, den bestickten Kissen, und, natürlich, der halbnackten Zigeunerin in Öl über dem Kopfende, machen die Persiflage auf die frühen Fünfziger perfekt. Nur, dass diese Idylle von der hier waltenden Hausfrau absolut nicht ironisch gemeint ist.
Leise Frau Bouches Namen rufend und auf Geräusche vom Treppenflur lauschend, nähere ich mich der Küche. Ich öffne die Tür. Und dann sehe ich sie. Sie sitzt am Tisch, vor sich eine Tasse Kaffee, und sieht mich an. Aus ruhigen, großen dunklen Augen. Ich brauche zwei Sekunden, um zu realisieren, was ich da sehe. Die grauhaarige, etwa fünfzig Jahre alte Frau mit dem kleinen, feingeschnittenen, leicht verhärmten Gesicht kann mir nichts mehr erzählen. Sie ist tot. Mich trifft fast der Schlag. Mein Herz rast und droht, meinen Brustkorb zu sprengen. Krampfhaft überlege ich, was ich jetzt tun sollte. Erst einmal tief durchatmen und ruhig nachdenken. Einfach verschwinden kann ich nicht mehr. Ich hab ja schon überall Fingerabdrücke hinterlassen. Zuerst sollte ich nach 27 sehen, ob sie womöglich doch noch lebt. Ich berühre Frau Bouche vorsichtig an der Schulter. Sie ist kalt, um nicht zu sagen eiskalt. Dann sehe ich die feuchte Stelle an ihrem Hinterkopf. Das sieht gar nicht gut aus. Das hier ist eindeutig Mord. Mord, schießt es mir durch den Kopf. Mord bedeutet, es muss einen Mörder geben. Und der könnte noch in der Wohnung sein. Schon überflutet mich die nächste Panikwelle. Doch die ebbt ab bei dem Gedanken, dass bei Frau Bouche die Totenstarre eingetreten ist, sie also schon eine ganze Weile tot ist. Ich muss die Polizei anrufen. Für einen Arzt ist es offensichtlich zu spät. Als ich die 110 in mein Handy eintippen will, kommt mir die Idee, erst einmal die Wohnung auf brauchbare Hinweise zu durchsuchen. Während ich wahllos Schubladen und Türen aufreiße, mache ich eine erstaunliche Entdeckung: Das
Innenleben der Schränke und Kommoden steht im krassen Gegensatz zum peinlich sauberen und aufgeräumten Rest der Wohnung. Dieses Durcheinander von Pullis und Schals, von Unterwäsche, Socken und Strumpfhosen, diese wild durcheinandergewirbelten Papiere und Unterlagen in dem kleinen Sekretär wollen so gar nicht zur Wohnungsinhaberin passen. Hat da schon jemand vor mir etwas gesucht? Und vor allem, hat er es auch gefunden? Oder war das Ganze ein simpler Einbruch, und Frau Bouche hat den Fehler gemacht, den Einbrecher zu überraschen? Nein, das passt nicht zu den Todesumständen. Sie saß vor ihrer Tasse Kaffee in der Küche, als der Mörder ihr den tödlichen Schlag versetzt hat. Das sieht nicht nach einer Überraschung für den Einbrecher, sondern eher nach einer Überraschung für Frau Bouche aus. Ich gehe noch einmal zum Eingang und kontrolliere die Tür. Sie ist unversehrt. Da hat 28 sich niemand gewaltsam Eintritt verschafft. Frau Bouche hat ihren Mörder hereingelassen, vermutlich hat sie ihn sogar gekannt. Vielleicht hat sie ihm auch einen Kaffee angeboten, geht es mir durch den Kopf. Zurück in der Küche suche ich nach der zweiten Tasse. Aber es gibt keine - nicht auf dem Tisch und nicht in der Spüle. Na ja, wer sich die Mühe macht, die Tasse abzuwaschen, der stellt sie auch wieder zurück in den Schrank. Ich beginne alle Küchenschränke zu kontrollieren. Sieh da, da ist sie doch, genau die gleiche Tasse, wie sie vor Frau Bouche auf dem Tisch steht, das berühmte Zwiebelmuster von Hutschenreuther. Nur, dass sie zwischen den großen Tellern ein wenig verloren aussieht. Denn da gehört sie gar
nicht hin. Sie gehört ins Wohnzimmer in den repräsentativen Eichenschrank, wo ich den Rest dieses Services gesehen habe. Als ich die Polizei alarmiere, entdecke ich ein blondes Haar auf dem Teppichboden. Tja, Frau Bouche, Blondinen bringen Unglück, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Die Kripobeamten waren natürlich nicht sehr erfreut, eine Privatdetektivin am Tatort anzutreffen. Da passiert in Hannover schon mal ein Mord, und dann hat es eine Hamburger Privatschnüfflerin als Erste bemerkt. Dass ich mich weigerte, über den Grund meines Hierseins sowie über meine Klientin und deren Auftrag zu reden, verbesserte die Stimmung auch nicht gerade. Ein älterer Kripobeamter mit grauem Haar und Oberlippenbart ließ sich meinen Ausweis zeigen, notierte meine Personaldaten, überprüfte meine Bahnfahrkarte und telefonierte mit Cornfeld. Danach schien meine Unschuld ausreichend bewiesen und ich weder als Zeugin noch als Tat 29 verdächtige eine größere Rolle zu spielen. Auch als ich von der Kaffeetasse erzählte, die ich im falschen Schrank gefunden hatte, interessierte das die Kripo nur peripher. Ehe ich mich versah, wurde ich mit der Bitte, Hamburg vorerst nicht zu verlassen, aus der Wohnung bugsiert. Erleichtert, aber irgendwie auch frustriert über die rüde Behandlung, machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof. 29 Kapitel 4 Die Strommasten wischen in regelmäßigen Abständen an meinem Fenster vorbei, während die Landschaft hinter der Glasscheibe langsam in der Dämmerung zu verschwinden beginnt. Windböen peitschen den Regen gegen die Scheibe, be-
decken sie mit tausend kleinen Wassertropfen, die sie als feine Rinnsale schräg über die Glasfläche treiben. Das Wetter passt zu meiner Stimmung. Ich sitze im ICE nach Hamburg und stehe immer noch unter Schock. Man sollte annehmen, dass ich mich langsam daran gewöhne, schließlich war Frau Bouche nicht die erste Tote, die ich gefunden habe. Aber ich gewöhne mich nicht daran. Es ist immer wieder verstörend. Auch wenn es zu meiner Arbeit gehört, auch wenn die ständige Konfrontation mit dem Elend dieser Welt Teil meiner Jobbeschreibung ist, stellt sich bei mir keine Abstumpfung oder gar Routine ein. Es geht mir immer unter die Haut. Das Unrecht, die Gewalt, die Angst, die Einsamkeit, die Verwahrlosung. Und der Tod. Dabei fing mein Erwachsenenleben ganz normal an. Ich habe Jura studiert. Mehr auf Wunsch meiner Mutter als aus eigenem Antrieb. Aber als brave Tochter habe ich das Studium durchgezogen, einen erstaunlich guten Abschluss hingelegt und in den Rechtsabteilungen diverser Großunternehmen Karriere gemacht. Glücklich wurde ich dort aber nicht. Dann 30 starb mein Onkel Rudi und vermachte mir seine Schulden und seine heruntergewirtschaftete Detektei. Was nicht mehr war als ein Büro mit gammeligem Mobiliar und ein paar zerdepperten Taschenuhren. Uhren, die er nachts vor die Autos von zu observierenden Personen legte und morgens zerquetscht von der Straße aufklaubte, um festzustellen, wann besagtes Auto über die Uhr gerollt war. Beim Anblick dieser Uhren hatte ich begriffen, dass sie das Zeichen waren, auf das ich schon so lange wartete. Hier lag meine Chance, meine eigentliche Berufung. Der Gutenachtkrimi als Einnahmequelle. Ich hatte endlich einen Ausweg aus
meinem beruflichen Frust gefunden. Vorbei war es mit dem alltäglichen Einheitstrott, den ewig gleichen Problemstellungen und den grauen Mausgesichtern der Kollegen. Gestohlen bleiben konnte mir auch mein lieber Chef, durch dessen umsichtige Personalpolitik das Betriebsklima immer schön auf dem Gefrierpunkt gehalten wurde und der mit Vorliebe Parasiten und Schmeißfliegen in seiner Führungsmannschaft versammelte, die sich in kürzester Zeit neben den größten Büros auch die dicksten Firmenautos zu sichern wussten. All das konnte ich auf einmal wegzappen wie einen schlechten Film. Das hatte nichts mehr mit mir zu tun. Das Erbe meines verstorbenen Anverwandten hatte mir endlich den Weg aus diesem Fegefeuer intriganten Karrierestrebens gewiesen. Den Tag meiner Kündigung erlebte ich als einen der schönsten meines Lebens. Von morgen an würde nur noch passieren, was ich wollte. Diese Entscheidung habe ich nie wirklich bereut. Auch wenn sich der Jobwechsel finanziell bisher nicht ausgezahlt hat. Aber das kommt noch. Da bin ich mir sicher. 31 Als ich im Büro eintreffe, sind die Räume verwaist. Cornfeld hat mir einen Zettel hinterlassen mit dem Hinweis, dass er leider nicht bis zu meinem Eintreffen habe dableiben können, er müsse einen Termin wahrnehmen. Einen privaten, versteht sich. Ich merke, dass diese Nachricht ein Gefühl zusehends eskalierender Säuernis in meinem Magen hervorruft. Der schon wieder. Termin. Ha, dass ich nicht lache. Dieser elende Besserwisser, dieser verschlafene Spätpupertierende ist der schlimmste Womanizer seit Casanova. Der stellt sogar Michael in den Schatten. Und das will was heißen. Dieser Typ hat so eine hilflos verträumte Tour drauf, dass jede Frau glaubt, sie müsse ihm über die Straße helfen, ihm sagen, wie
ein Spiegelei gebraten wird und wo beim Auto das Benzin reinkommt. In den zwei Jahren, die er hier beschäftigt ist, hatte er sage und schreibe vier feste Freundinnen und das zum Teil gleichzeitig. Ganz zu schweigen von den One-Night-Stands, die zahlenmäßig im zweistelligen Bereich liegen dürften. Und die Mädels rufen alle hier im Büro an. Halten ihn und mich von der Arbeit ab. Eigentlich könnte es mir ja egal sein, wen er nun wieder beglückt. Aber ich komme ins Büro, um von einem Mord zu berichten und erwarte, dass er verdammt noch mal da ist. Was mach ich jetzt bloß? Michael anrufen! Der ist garantiert wieder nicht zu Hause. Bevor ich mich bei ihm melde, gewinnt mein Pflichtbewusstsein die Oberhand, und ich versuche erst einmal meine Auftraggeberin zu erreichen, um ihr von Frau Bouches Tod zu berichten. »Frau Dujack hat das Haus verlassen«, teilt mir der Butler am Telefon kühl mit. »Sie müsste aber in einer Stunde zurück sein. Versuchen Sie es doch bitte dann noch einmal.« 32 Ja, das werde ich tun. Ich lege auf, starte meinen Computer und beginne meine Post durchzusehen, als mir ein Gedanke kommt, den ich ausgesprochen beunruhigend finde. Isabelle Dujack hat mir einen Zettel mit zwei Namen und zwei Adressen gegeben. Zwei Frauen, mit denen ich reden soll. Und gleich die erste, die ich aufsuche, sitzt tot an ihrem Küchentisch. Was ist mit der zweiten? Was ist mit Frau Bohnacker, die einen Kosmetiksalon im Karoviertel betreibt? Liegt sie womöglich schon ermordet auf einer ihrer Behandlungsliegen? Ich greife nach meiner Tasche und meinem Mantel und verlasse das Büro. Besser ich ver-
gewissere mich sofort, dass sie gesund und munter ist. Bevor ich mir irgendwann Vorwürfe machen muss. Einen Parkplatz im Karolinenviertel zu finden, ist noch schwieriger als in Eppendorf. Das Quartier, das zu St. Pauli gehört, hat sich in den letzten Jahren zu einer richtigen Attraktion entwickelt. Vor allem bei jungen Leuten. Vor einem Jahrzehnt galt die Gegend noch als Glasscherbenviertel, wo man weder wohnen noch sich länger aufhalten wollte. Mittlerweile hat es sich aber durch seine alternative Einkaufsmeile mit vielen, kleinen, witzigen Geschäften einen Namen gemacht und zieht nicht nur Hamburger, sondern auch jede Menge Touristen an. Die Folge sind dicht geparkte Autokolonnen, die die schmalen Sträßchen lückenlos säumen. Da fahre ich lieber gleich zu Real in die Feldstraße. Dort kann ich den Wagen problemlos in der Hochgarage abstellen und muss dann nur noch die Straße überqueren, um an mein Ziel zu gelangen. Allerdings regnet es immer noch. Und zwar so heftig, dass der Wind mir fast den Schirm aus der Hand reißt und mir 33 die Regenschwaden ins Gesicht treibt. Als ich die angegebene Adresse erreiche, bin ich nicht nur durchnässt und völlig zerzaust, sondern erlebe auch noch eine herbe Enttäuschung. Frau Bohnackers Laden Siebenschön ist geschlossen. Und zwar nicht, weil ich außerhalb der Geschäftszeiten hier aufgekreuzt bin, auch nicht, weil sie Betriebsferien oder Inventur macht, nein, er ist geschlossen, weil die gute Frau ihren Laden aufgegeben hat. An der Tür hängt ein Schild: »Wir sind demnächst für Sie da: Outfit - young t-shirt-fashion«. Durch die schmutzigen Schaufenster kann ich eine große Leiter, diverse Farbtöpfe, Abdeckfolie und allerlei Gerätschaften
erkennen, die man zum Renovieren benötigt. Nirgends entdecke ich einen leblosen Körper, auch keine am Boden ausgebreiteten Decken oder Tücher, worunter eine Leiche versteckt sein könnte. Sieht ganz so aus, als habe sich Frau Bohnacker vom Acker gemacht. Der Zeitungskiosk neben dem Laden ist meine nächste Anlaufstelle. Eventuell können mir ja die Leute dort etwas über den Verbleib von Frau Bohnacker erzählen. Die junge Deutschtürkin, die kaugummikauend hinter dem Verkaufstresen steht und in einer Zeitung blättert, verzieht das Gesicht, als ich sie nach ihrer Nachbarin frage. »Die ist raus.« Das habe ich mir fast gedacht. »Wissen Sie warum?«, frage ich. Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Weshalb wollen Sie das wissen?« »Ich bin eine Freundin von ihr, war aber eine Zeitlang im Ausland ... « »Die hat schon seit Monaten keine Miete mehr bezahlt«, höre ich da die erboste Stimme eines Mannes, der plötzlich aus einem Hinterzimmer auftaucht. »Wenn Sie Ihre Freundin 34 treffen, dann bestellen Sie ihr einen schönen Gruß von mir. Sollte sie nicht bald zahlen, kann sie was erleben, dann kriegt die so einen Ärger ...« »Bülent!«, sagt die Frau, und der Mann verstummt. Er fixiert mich kurz mit einem wütenden Blick und verschwindet im hinteren Teil des Ladens. »Er ist wahnsinnig sauer«, sagt sie leise zu mir. »Und zu Recht. Wir sind die Vermieter, und die Bohnacker schuldet uns eine Menge Geld, hat uns ständig vertröstet und ist dann eines Tages sang- und klanglos verschwunden. Wir kamen morgens nichtsahnend hierher und mussten feststellen, dass
sie den Salon nachts ausgeräumt hat und einfach abgehauen ist.« »Wissen Sie, wo sie jetzt ist?« Die junge Frau schüttelt den Kopf und sieht mich eine Weile ruhig an. So als würde sie intensiv über etwas nachdenken. »Könnten Sie mich anrufen, wenn Sie sie gefunden haben?«, fragt sie. Erstaunt sehe ich sie an. »Ich bin eine ...« »Sind Sie nicht«, erwidert sie. »Die Bohnacker ist nicht der Typ Frau, mit dem Sie befreundet sind. Da bin ich mir ziemlich sicher.« Der Regen hat etwas nachgelassen, und ich erreiche mein Auto halbwegs trocken. Zuerst rufe ich meine Klientin an. Hoheitsvoll teilt mir der Butler mit, dass Frau Dujack jetzt zu sprechen sei. Kurz darauf habe ich sie am Apparat. Vorsichtshalber beginne ich das Gespräch damit, dass ich ihr von Frau Bohnacker und ihrem ausgeräumten Laden erzähle. Meine Nachricht scheint sie nicht zu überraschen. »Ich weiß, dass sie umziehen wollte. Aber mir war nicht klar, dass sie es so eilig hatte.« 35 »Ja. Das war wohl eine Nacht- und Nebelaktion.« »Tut mir leid, dass Sie nun völlig umsonst dorthin gefahren sind. Aber ich werde gleich versuchen, ihre neue Adresse in Erfahrung zu bringen.« »Das ist nett«, sage ich und räuspere mich erst einmal, bevor ich ihr von meinem Ausflug nach Hannover und von Frau Bouches Ermordung berichte. Sie ist entsetzt, zurückhaltend entsetzt, wie es sich anlässlich des Ablebens einer ehemaligen Angestellten gehört, aber ich habe doch das Gefühl, dass sie auf ihre kühl distanzierte Art tatsächlich Anteil nimmt.
Als ich versuche, ihr klarzumachen, dass ich sie unbedingt noch einmal sprechen muss, dass unser erstes Gespräch viel zu kurz und unter zu großem Zeitdruck stattgefunden hat, reagiert sie abwehrend. Doch ich lasse nicht locker. »Frau Dujack, irgendetwas ist in Bewegung geraten. Irgendjemanden haben wir aufgescheucht. Frau Bouche ist ermordet worden, Frau Bohnacker abgetaucht. Das sieht doch so aus, als ob der Täter gerade dabei ist, mögliche Zeugen zu beseitigen, beziehungsweise zu bedrohen. Wir müssen uns unbedingt noch einmal über den vermeintlichen Unfall Ihrer Mutter unterhalten. Ich benötige noch mehr Informationen und Details.« Sie sagt keinen Ton. Am anderen Ende der Leitung höre ich nichts weiter als ihre Atemgeräusche. »Frau Dujack?« »Ja«, sagt sie. »Kommen Sie. Wenn es unbedingt sein muss. Aber dann bitte gleich morgen.« Den Flug nach Frankfurt buche ich noch im Wagen. Danach fahre ich direkt nach Hause. Doch wenn ich gehofft hatte, 36 dort endlich Entspannung und Ruhe zu finden, sehe ich mich getäuscht. Auf der Treppe eilt mir Rebbelmeier entgegen. »Na, was haben Sie denn heute Schönes in Ihren Schuhen gefunden?«, frage ich. Um die Schuhe geht es diesmal nicht. Nein, er war mal wieder als Doktor Watson unterwegs und hat heute Nacht verdächtige Schleifgeräusche aus dem Keller gehört. Und zwar aus genau jenem kaum genutzten Abstellraum, in dem auch der verdächtige Slip gelegen hat. Ah, ja, sehr interessant. »Und was folgern Sie daraus?«
Rebbelmeier blickt sich verstohlen um. »Frau Petry, ich sag's Ihnen, die haben die Leiche beseitigt.« Als ich ihn entsetzt anstarre und frage: »Was denn für eine Leiche?«, antwortet er mir doch tatsächlich: »Von der jungen Frau, die die umgebracht haben.« Oh nein. Ein Mord pro Woche reicht mir. Als ich ihn nach möglichen Spuren oder Indizien frage, ist er beleidigt. Das grüne Höschen und das schon zuvor erwähnte Blut sind Beweis genug. Auf meine Erklärung hin, dass das leider gar nichts beweist, wird sein Blick böse und abweisend. »Sie sind ja gar keine richtige Detektivin«, schimpft er und schlurft davon. 37 Kapitel 5 Am nächsten Tag hat mich Frankfurt wieder. Bei Nieselregen war ich in Hamburg ins Flugzeug gestiegen und bei strahlend schönem Wetter habe ich es in der Mainmetropole verlassen. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel. Dennoch ist es bitterkalt. Mein Atem kondensiert zu kleinen, weißen Wölkchen. Und auf den Autodächern und Bürgersteigen liegen vereinzelt Schneereste, die im hellen Mittagslicht glitzern. Ich steige in ein Taxi und genieße es, ganz gelassen im Hier und Jetzt durch eine mir kaum bekannte Stadtlandschaft kutschiert zu werden. Entspannt lasse ich mich in die Lederpolster sinken und denke über Cornfeld nach, den ich gestern Abend noch über Frau Bohnackers Verschwinden und meinen erneuten Termin bei Isabelle Dujack informiert habe. Da schien mir, als wäre er sauer. Als hätte er den Eindruck, nicht wirklich gebraucht zu werden. Jetzt, wo ich sogar schon meine Flüge allein buche. In nächster Zeit werde ich ihn wieder
stärker einbinden, nehme ich mir vor. Sonst kommt er mir womöglich noch abhanden. Dann krame ich meinen Schminkbeutel aus der Tasche, kontrolliere in dem kleinen Spiegel meiner Puderdose noch einmal mein Make-up und frische meinen Lippenstift auf. Dieses Gefühl, nichts tun zu müssen, für nichts verantwortlich zu sein, ist herrlich, aber nicht von langer Dauer. 38 Eine Viertelstunde später stehe ich wieder vor dem schönen, altehrwürdigen Haus. Kaum lasse ich den Messingklopfer auf die schwere Holztür fallen, öffnet mir der Butler. In seiner Mimik spiegelt sich keinerlei Wiedererkennen. Wie bei meinem ersten Besuch führt er mich durch die große Eingangshalle. Doch diesmal höre ich ein Geräusch auf der Galerie und sehe einen Mann die Treppe herunterkommen. Ganz offensichtlich handelt es sich hier um den Herrn des Hauses. Diese Autorität und diesen Anspruch trägt er förmlich vor sich her. Er ist sehr groß, sportlich durchtrainiert, teuer und geschmackvoll gekleidet, leicht gebräunt und wie seine Tochter sehr blond. Sein kantiges Gesicht, die dichten Augenbrauen und der kräftige Unterkiefer verraten Durchsetzungsvermögen. Für meinen Geschmack ist die Uhr an seinem Handgelenk eine Spur zu protzig und sind seine Haare eine Spur zu lang. Auch die an seinem Hals aufblitzende Goldkette ist typisch für den zu Geld gekommenen Emporkömmling und kein Insignium alten Vermögens. Er kommt direkt auf mich zu. »Frau Petry?« »Ja.« »Guten Tag. Klaus Dujack, ich bin Isabeiles Vater. Sie sind also diese Privatdetektivin, die meine Tochter engagiert hat.«
Er grinst mich süffisant an, so als hielte er meine Berufsbezeichnung für einen schlechten Witz. »Kein angenehmer Auftrag, was?« »Wieso?« »Na, Sie wissen doch so gut wie ich, dass das alles Schwachsinn ist. Diese Mordtheorie ist absurd. Warum hätte jemand meine Frau umbringen sollen?« »Ja, aber die Rückführung ...« 39 »Glauben Sie etwa an diesen Quatsch?« Bevor ich etwas erwidern kann, spricht er schon weiter. »Meine Frau hatte einen Unfall. Verstehen Sie. So etwas kann passieren. Das ist tragisch, aber nicht zu ändern. Da jetzt Tötungsabsichten zu unterstellen, ist wirklich albern.« Während ich noch überlege, ob das der Versuch einer subtilen Einflussnahme war, fixiert er mich mit seinen unglaublich blauen Augen. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich das Kaninchen bin und er ist die Schlange. In diesem Moment kommt Isabelle aus dem Wohnzimmer. »Frau Petry, ich warte.« »Oh Entschuldigung, ich hatte nur ...« Ohne mich auch nur anzusehen oder auf meine Bemerkung zu reagieren, wendet sie sich an ihren Vater. »Ich dachte, du bist längst weg. War der Termin doch nicht so dringend?« Ihr vorwurfsvoll-misstrauischer Ton und die Art, wie sie ihn ansieht, lässt nicht auf ein besonders inniges Vater-TochterVerhältnis schließen. »Ich hatte noch etwas zu erledigen.« »Das sehe ich.«
Er lächelt und schüttelt resigniert den Kopf. »Meine Tochter hat völlig Recht, ich muss weg. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder, Frau Petry?« »Wohl kaum«, zischt ihn Isabelle da an. Der Ton, den sie ihrem Vater gegenüber anschlägt, ist wirklich unglaublich. Diesmal ignoriert Dujack ihre Bemerkung. Er nickt mir zu, und ohne seine Tochter noch eines weiteren Blickes zu würdigen, verlässt er das Haus. Mein Gott, denke ich, während ich ihm nachsehe: Rhett 40 Butler in Blond. Mich hat doch noch nie ein blonder Mann beeindruckt. Du bist auch nicht beeindruckt, echot es in meinem Hirn. Selbstverständlich nicht. Ich folge meiner davoneilenden Klientin und versuche, das peinliche Pink aus meinem Gesicht zu vertreiben. Isabelle Dujack ist so jung und so schön wie beim letzten Mal. Höflich wie ich bin, mache ich ihr ein paar nette Komplimente. Schließlich kostet es eine Menge Arbeit, diesen Grad an äußerlicher Perfektion zu erreichen. Als wir uns gesetzt haben, bringt der Butler eine Flasche Wasser, zwei Gläser und eine Etagere mit Petits Fours und Pralinen. Ich kann mich nicht beherrschen und nehme mir sofort ein mit Vanillecreme gefülltes Biskuit, das noch besser schmeckt, als es aussieht. Isabelle Dujack reicht mir einen kleinen Zettel. »Das ist die neue Adresse von Frau Bohnacker. Sie ist nicht abgetaucht. Und offensichtlich wurde sie auch von niemandem bedroht. Sie ist einfach nur umgezogen«, sagt meine Klientin spitz. »Das freut mich. Dann wird Frau Bohnacker ja bestimmt auch bald ihre Mietschulden begleichen«, erwidere ich, stecke den
Zettel in meine Handtasche und greife nach einem Blätterteiggebäck mit Pudding und Schokoglasur. Meine Klientin beobachtet mich mit undurchdringlicher Miene. Und während mir die Schokolade auf der Zunge zergeht und ich schon nach einer hellbraunen Marzipankugel schiele, fragt sie mich nach den polizeilichen Ermittlungsergebnissen im Fall Ramona Bouche. Mir bleiben die Krümel im Halse stecken. Verdammt. Cornfeld hat zwar beste Kontakte zur Kripo in Hannover, da dort ein ehemaliger Schulfreund von ihm arbeitet, aber viel herausgekommen ist dabei noch nicht. 41 »Nun«, sage ich und spüle erst einmal mit einem Schluck Wasser nach. »Die Polizei ermittelt in alle Richtungen. Eine heiße Spur oder einen Verdächtigen gibt es aber noch nicht«, fantasiere ich ins Blaue. Bevor sie nach weiteren Details fragen kann, gehe ich in die Offensive. »Wie war eigentlich Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester?« Der plötzliche Themenwechsel bringt sie kurz aus dem Konzept. Dann geht sie aber auf meine Frage ein. »Meine Schwester hat mir das Leben gerettet. Welches Verhältnis hat man zu einem Menschen, der so etwas getan hat? Man liebt ihn, nicht wahr?« »Wie hat sie Ihnen denn das Leben gerettet?«, frage ich erstaunt. Isabelle greift nach einem Päckchen Marlboro, steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündet sie an. »Ich bin vor dreizehn Jahren von meinen Eltern adoptiert worden«, sagt sie, bläst den Rauch zur Seite und betrachtet die glimmende Zigarette zwischen ihren langen, schmalen Fingern.
»Das hätte ich nicht gedacht. Sie sind doch auch blond und blauäugig.« »Ja. Und das ist auch gut so. Deshalb hat man mir die Adoption nicht auf den ersten Blick angesehen. Rein optisch passe ich sehr gut zum Rest der Familie.« »Das ist schon ziemlich außergewöhnlich. Oder?« »Eigentlich nicht. Es scheint in Adoptivfamilien häufiger vorzukommen, dass Eltern und Kinder sich ähnlicher sehen, als man es erwarten würde.« »Wissen Sie etwas über Ihre leiblichen Eltern?« »Nicht viel. Ich war eines dieser unehelichen Kinder, deren Väter plötzlich unauffindbar sind und deren Mütter kein 42 Geld haben, um alleine ein Kind großzuziehen. Mit gerade einmal zwei Jahren wurde ich in ein Kinderheim gesteckt. Ich glaube, bis zu meinem elften Lebensjahr habe ich drei solcher Etablissements kennengelernt. Ich sage Ihnen, Oliver Twist hatte eine traumhafte Kindheit dagegen.« Sie stellt das Feuerzeug mit solcher Wucht auf den Tisch zurück, dass ich zusammenzucke. »Waren Sie schon einmal in einem Waisenhaus? Ich meine, haben Sie schon einmal eines von innen gesehen?« Ich schüttele den Kopf. »Da haben Sie nicht viel verpasst. Als Kind habe ich mich immer nach der heilen Welt gesehnt. Nach Mama, Papa und Geschwistern. Was ich hatte, waren Erzieher, Sozialpädagogen oder katholische Schwestern. Fremde Menschen, die kamen und gingen und die kraft Gesetz das Recht hatten, mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen hatte. Dieses Herumgeschubst werden hat mich rasend gemacht.« Sie drückt ihre halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und fährt sich
mit der Hand durch ihren perfekt geschnittenen Bob. »Wissen Sie, dass ich keine Ahnung habe, wie meine Mutter aussieht? Ich weiß nichts von dieser Frau. Als ich ins Waisenhaus kam, war ich so klein, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern kann. Ich habe nie ein Foto von ihr besessen. Nichts, woran ich mich hätte halten können. Keine Ahnung, ob meine Großeltern noch leben, ob ich Geschwister habe.« Ich nicke. »Na ja«, sage ich, »wenn man seine leibliche Familie nicht kennt, neigt man dazu, sie zu idealisieren.« Irritiert sieht sie mich an. »Nun«, sage ich verlegen, »ich meine nur, man vermisst immer das, was man nicht hat.« »Das kann schon sein«, wehrt sie ab. »Aber das ändert 43 nichts daran, dass ich ein Leben lang meine Mutter vermisst habe.« »Lassen Sie uns doch noch mal auf Simone zurückkommen. Wie hat sie Ihnen denn jetzt das Leben gerettet?« »Ganz einfach, sie hat mich da rausgeholt.« »Sie war doch noch ein Kind ...« »Ja, aber ein sehr außergewöhnliches. Vielleicht etwas altklug. Sie hatte immer ein Schwesterchen haben wollen, und als das nicht klappte, eröffnete sie ihren Eltern eines Tages, dass sie dann wohl eines adoptieren müssten. Ganz offensichtlich funktioniere es ja auf konventionellem Weg nicht.« Sie schüttelt lächelnd den Kopf und zieht die Ärmel ihres Pullovers zurück, wobei mehrere Narben an ihrem rechten Unterarm sichtbar werden. Sie sehen aus, als würden sie von Schnittverletzungen stammen.
Als Isabelle meinen Blick registriert, zieht sie die Ärmel sofort wieder nach unten. »Da bin ich als Kind mal in eine Glastür gestolpert«, sagt sie verlegen. Ich nicke. »Wo waren wir stehengeblieben?«, fragt sie. »Bei Simone, die eine Schwester wollte.« »Ja genau. Da war sie acht Jahre alt, wie schon gesagt, ein wenig altklug das Kind. Zuerst haben meine Adoptiveltern sich darüber amüsiert und das Ganze für einen Scherz gehalten, die vorübergehende Laune eines kleinen Mädchens eben. Aber Simone gab nicht auf, und nach einem Jahr hatte sie die beiden dann tatsächlich so weit.« Isabelle Dujack unterbricht ihre Erzählung, um sich eine neue Zigarette anzuzünden, deren Rauch sie tief inhaliert. »Ja und eines Tages kam dieses kleine Mädchen mit seinen Eltern 44 in das Heim, in dem ich damals lebte. Simone wusste genau, was sie wollte. Sie marschierte in unser Spielzimmer und blieb mitten im Raum stehen. Zwischen all den Kindern, die in dem Zimmer herumtobten, ist sie mir sofort aufgefallen. Es war ganz klar, das war keine von uns. Dafür war sie viel zu fein angezogen und wirkte auch viel zu selbstbewusst. Sie stand einfach nur da und musterte die Kinder, eines nach dem anderen. Ich saß etwas abseits auf einem Stuhl und rührte mich nicht von der Stelle. - Pardon, ich habe Sie ja noch gar nicht gefragt, ob Sie einen Kaffee oder Tee möchten.« »Nein danke. Ich bin nicht durstig, ich bin neugierig. Erzählen Sie nur weiter.« »Also, mir war damals sofort klar, dass da etwas ganz Wichtiges passiert und ich unbedingt ihre Aufmerksamkeit erregen müsste. Ich konnte mich aber vor lauter Aufregung nicht
bewegen. Also hab ich sie angestarrt und gebetet, dass sie zu mir kommen solle.« »Und, kam sie?« »Ja, sie kam. Sie sagte: Ich heiße Simone, und wer bist du? Und ich antwortete nur: Isabelle. Mehr habe ich nicht herausgebracht. In der Zwischenzeit waren auch ihre Eltern und die Waisenhausdirektorin in das Zimmer gekommen. Simone drehte sich zu ihnen um und sagte: Das ist Isabelle, die kommt jetzt mit uns. Können Sie sich das vorstellen? Das ist Isabelle, die kommt jetzt mit uns. Diesen Satz werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen.« Isabelle läuft eine Träne über die Wange, die sie schnell wegwischt. »Wissen Sie, wenn Simone mich da nicht rausgeholt hätte, ich weiß nicht, was passiert wäre.« Mein Gott, denke ich, das ist ja eine hinreißende Ge 45 schichte. Ich bin beeindruckt. Sowohl von dem, was sie erzählt hat, als auch, wie sie es erzählt hat. Mein Freund, der Butler, kommt herein, und zündet das Holz im offenen Kamin an. Mittlerweile hat es angefangen zu schneien, und der riesige Garten verschwindet langsam unter einer dünnen Schicht weißer Schneekristalle. Mir ist ein bisschen übel von dem vielen süßen Zeug. Langsam sollte ich die Finger davon lassen. Nachdem der Butler den Raum verlassen hat, sitzen Isabelle und ich uns schweigend gegenüber. Mir schwirren eine Menge Fragen durch den Kopf. Zum Beispiel wüsste ich gern, weshalb ihre Adoptivschwester sich das Leben genommen hat. Aber diese Frage ist schwierig. Sie kratzt am Bild des soeben geschilderten Schwesternglücks. Dennoch muss ich sie stellen.
Als Isabelle antwortet, ist ihr die Anspannung deutlich anzumerken. »Simone hat den Unfall unserer Mutter nicht verkraftet. Sie wurde depressiv, war deswegen auch in Behandlung. Das hat aber nicht viel geholfen.« Isabelle drückt die nächste halbe Zigarette im Aschenbecher aus. Aus irgendeinem Grund scheinen sie ihr nach der ersten Hälfte nicht mehr zu schmecken. »Wir haben diese Krankheit wohl alle unterschätzt. Ich war ja noch ein Kind und habe gar nicht begriffen, wie sehr sie litt. Wir haben geglaubt, das gibt sich mit der Zeit schon. Sie wird darüber hinwegkommen. Aber sie ist nicht darüber hinweggekommen.« »Fehlt Ihnen Ihre Schwester?« »Ja, sehr sogar.« Isabelle steht auf. »Entschuldigen Sie bitte, ich hole mir nur eben ein Taschentuch ...« 46 »Könnte ich jetzt vielleicht doch eine Tasse Tee haben?«, rufe ich hinter ihr her, als sie schon fast aus der Tür ist. Sie nickt und verlässt den Raum. Ich starre ihr nach und habe das deutliche Gefühl, dass sie mir etwas verheimlicht. Irgendwie kann ich nicht glauben, dass in einer intakten Familie niemand bemerkt, dass eines der Kinder derart unglücklich ist und sich sogar mit Suizidgedanken trägt. Andererseits ist es verständlich, dass Menschen, die so dramatische Dinge erzählen, dies nur sparsam tun, weil es schmerzlich ist. Und dass sie nicht gleich mit allen Details aufwarten. Nachdem Isabelle wieder zurück ist und wir uns erneut gegenübersitzen, spreche ich den Unfall ihrer Mutter an. Sofort geht sie in Abwehrhaltung.
»Ich weiß«, sage ich, »das ist alles sehr schwierig für Sie. Aber wenn ich mit dem Fall weiterkommen soll, dann muss ich mehr über diesen angeblichen Unfall erfahren.« »Aber darüber haben wir doch schon geredet.« Sie schlägt die Beine übereinander, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht an mir vorbei in das offene Kaminfeuer. »Wo befindet sich Ihre Mutter eigentlich zur Zeit?« »In einem Krankenhaus. Normalerweise ist sie in einem auf Komapatienten spezialisierten Heim. Aber immer, wenn Komplikationen auftreten, wird sie wieder ins Krankenhaus verlegt.« Wir werden vom Butler unterbrochen, der mit einem beladenen Tablett hereinkommt, das er auf dem Couchtisch abstellt. Nacheinander nimmt er Tasse, Zuckerdose und Milchkännchen herunter und gießt mir dampfenden Tee ein. Ich bedanke mich, warte, bis er sich wieder zurückgezogen hat und wende mich erneut an Isabelle. 47 »Nur noch ein paar Fragen. Nur ganz kurz. Bitte!« Ihr Blick ist so frostig, dass ich mich regelrecht überwinden muss, weiterzureden. »Warum hat Ihre Mutter das Badewasser mit einem Tauchsieder ...« »Das hat sie doch gar nicht getan«, reagiert sie unwirsch. »Aber man hat es angenommen. Also muss dieser Vorgang doch zumindest damals plausibel gewesen sein.« Entnervt zupft sie an den Ärmelrändern ihres T-Shirts. »Mein Vater hatte das Haus ein halbes Jahr zuvor gekauft und es komplett sanieren lassen. Die alten Rohre sind ausgetauscht und ein neuer Warmwasserspeicher installiert worden. Doch irgendetwas hat an dem Abend nicht funktioniert. Auf jeden
Fall kam nur noch kaltes Wasser aus der Leitung. Und dann verfiel meine Mutter angeblich auf die Idee mit dem Tauchsieder.« »Aber in so einer Situation würde man doch eher einen Topf mit Wasser auf den Herd stellen.« Isabelle nickt. »Ja, richtig. Ich habe es auch nie so ganz verstanden. Und nach der Rückführung habe ich es dann auch nicht mehr geglaubt. Aber damals schien es die einzig mögliche Erklärung zu sein. Jetzt denke ich, dass jemand den Tauchsieder manipuliert und in die Badewanne geworfen hat.« Ich nippe an dem heißen Tee. »Und wer sollte das aus welchem Grund getan haben? Haben Sie einen Verdacht?« »Das habe ich Ihnen doch schon bei unserem ersten Gespräch gesagt: Ich weiß es nicht! Wenn ich es wüsste, müsste ich keine Privatdetektivin engagieren«, wird sie jetzt laut. »Aber möglicherweise haben sich ja zwischenzeitlich neue Verdachtsmomente ergeben; ist Ihnen noch etwas eingefal 48 len?«, insistiere ich. So einfach lasse ich mich nicht abspeisen. »Nein«, sagt sie. »Wenn das der Fall wäre, hätte ich Sie längst informiert.« »Wer hätte denn vom Tod Ihrer Mutter profitiert? Finanziell zum Beispiel?« »Niemand. Sie hatte kein Geld. Es gibt nichts, was sie hätte vererben können.« Ich stelle meine Teetasse wieder ab. Irgendwie komme ich nicht so recht weiter. »Wie ist das eigentlich mit der Heilpraktikerin, bei der Sie die Rückführung gemacht haben? Könnte ich mit der einmal reden. Vielleicht kann sie sich ja noch an etwas erinnern, was
Sie bei dieser Rückführung gesagt haben, was Ihnen womöglich entfallen ist?« Isabelle wird blass. »Das ist völlig unnötig«, fährt sie mich an. »Machen Sie nur das, worum ich Sie bitte. Ich bezahle Sie nicht für unnötige Recherchen. Frau Geizer kann Ihnen nichts berichten, was ich Ihnen nicht schon gesagt hätte. Da können Sie ganz sicher sein.« Im Taxi geistert mir Isabelles Geschichte im Kopf herum. Und auch im Hotel lässt sie mir keine Ruhe. Ihre unwirsche, abweisende Art, dieser pampige Ton, wenn ich nach Dingen frage, über die sie nicht reden will, verstärken das Gefühl, dass sie mir etwas vorenthält, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit sagt, dass etwas fehlt. Womöglich habe ich aber auch schon Paranoia. Und bin so misstrauisch, weil meine letzte Klientin mich mit einer frei erfundenen, nicht minder bewegenden Story auf eine völlig falsche Fährte gehetzt hat. Daher bleibe ich vorsichtig und werde, bevor ich weiter recherchiere, 49 erst einmal überprüfen, ob Frau Dujack tatsächlich im Koma liegt und sich dieser angebliche Unfall, wie von Isabelle beschrieben, abgespielt hat. Dazu müsste ich wissen, in welchem Krankenhaus die Patientin zur Zeit untergebracht ist. Vielleicht können ihre Ärzte mehr Klarheit in die Sache bringen? Ich glaube nur nicht, dass Isabelle mir erzählen wird, wo ihre Mutter derzeit behandelt wird. Also versuche ich Trick siebzehn, schnappe mir das Telefonbuch und telefoniere die Frankfurter Krankenhäuser durch. »Guten Tag, mein Name ist Müller. Können Sie mich bitte mit Frau Dujack verbinden?« Bei den ersten drei Krankenhäusern habe ich keinen Erfolg. Keiner der Pförtner hat eine Patientin namens Dujack in sei-
nen Unterlagen verzeichnet. Aber beim vierten Krankenhaus lande ich einen Volltreffer. »Dujack? Marlies Dujack?« »Genau«, antworte ich selbstbewusst. Keine Ahnung, wie Frau Dujack mit Vornamen heißt. Aber Marlies wird schon stimmen. »Frau Müller, es tut mir sehr leid, ich kann Sie nicht verbinden. Möchten Sie den zuständigen Arzt sprechen?« Nein, das möchte ich nicht. Ich versuche erst gar nicht, mich herauszureden, sondern lege gleich wieder auf. 50 Kapitel 6 Das Hotel, in dem Cornfeld mich untergebracht hat, ist wirklich das Letzte. Mitten in Frankfurts Rotlichtviertel in Bahnhofsnähe gelegen strahlt der heruntergekommene Sechzigerjahrekasten den Charme eines miesen kleinen Stundenhotels aus. Mein Zimmer ist winzig, die Beleuchtung in Gestalt einer einsamen Glühbirne deprimierend, und die Möblierung grenzt an Körperverletzung. Das Bett ist schmal und wackelig, die Matratze in der Mitte so durchgelegen, dass sich mir die Spiralfedern in den Rücken bohren. Der Teppichboden weckt in Farbe und Konsistenz Erinnerungen an das unappetitliche Ergebnis durchzechter Nächte. Ich entschließe mich, Cornfeld bei nächster Gelegenheit zu entlassen, allerdings nicht, ohne mich vorher genussvoll und ausgiebig an ihm gerächt zu haben. Einen Fernseher gibt es in dem Loch natürlich auch nicht, dafür aber ein Telefon. Immerhin. Ich brauche jetzt tröstende Worte. Also rufe ich Michael an. Eine Frauenstimme nuschelt mir ein »Hallo?« ins Ohr. Was ist das denn?
»Ist Michael zu Hause?«, frage ich mit dem Ergebnis, dass aufgelegt wird. Habe ich mich verwählt? Ich versuche es noch einmal. Nichts rührt sich. Keiner zu Hause. Das war Rike. Garantiert. Die muss sich aber erschreckt haben! Ich wähle noch einmal Michaels Festanschluss. Wieder nimmt keiner ab. Und in mir beginnt es zu brodeln. Wie wird Michael mir 51 das wohl erklären? Mit Überstunden im Schlafzimmer? Mit meiner Ruhe ist es vorbei. Selbst schuld, denke ich. Warum habe ich mich bloß wieder auf ihn eingelassen? Das war doch zu erwarten gewesen. Das war doch von Anfang an völlig klar. Wie hatte ich nur glauben können, beim zweiten Mal würde alles anders. Die Zimmerdecke kommt bedrohlich näher und bevor sie mir auf den Kopf fällt, sollte ich lieber spazieren gehen. Ich schlüpfe in meinen Mantel und mache mich auf, Frankfurts schmutzige Seite kennenzulernen. Das mit dem Spaziergang war keine gute Idee. Es ist noch kälter geworden. Fröstelnd wickle ich mich in meinen Mantel und vergrabe die Hände tief in den Taschen. Die Gegend ist auch nicht gerade dazu angetan, meine Stimmung zu verbessern. Eine Bumsbar neben der anderen. Ich bleibe auf den größeren, gut beleuchteten Straßen und hoffe, dass mich niemand anspricht. Die Angst ist unbegründet. Mein Jahrgang ist in dieser Branche nicht mehr so gefragt. Als ich überlege, noch irgendwo einzukehren und etwas zu essen, bemerke ich ein junges Mädchen, das am Straßenrand sitzt. Sie trägt einen dicken, etwas schäbig aussehenden Mantel und eine dunkelgraue Wollmütze. Ihren Kopf hat sie in beide Hände vergraben und wiegt sich wie ein kleines, hospitalisiertes Äffchen, vor und zurück. Geh bloß weiter, denke ich. Sich da einzu-
mischen bringt nur Ärger. Aber ich kann meinen Blick nicht von ihr wenden. Die Art, wie sie da sitzt, hat so etwas unglaublich Rührendes, Hilfloses. Ich beschließe, meine sozialen fünf Minuten zu haben und setze mich neben sie. Erschrocken sieht sie mich an. Ihr Gesicht ist von makelloser Schönheit. Ich schätze sie auf fünfzehn, sechzehn Jahre und kann nicht umhin, ihren 52 Bilderbuch-Teint, die langen rötlichen Haare und ihre hinreißend dunklen Augen zu bewundern. Auf meine Frage, ob ich ihr helfen könne, reagiert sie abwehrend. »Nein, nein, wirklich nicht. Ich sein in Ordnung. Müssen Sie sich keine Sorgen machen«, antwortet sie. »Wo kommen Sie denn her?« »Tschechien. Aber müssen Sie sich wirklich nicht um mich kümmern. Ich hier warten. Ich von meinem Freund abgeholt.« »Wie lange warten Sie denn schon?« Sie lächelt verlegen. »Seit um drei Uhr.« »Verdammt, das sind ja bereits vier Stunden. Und das in dieser Kälte. Was ist das denn für ein Freund? Spinnt der?« »Nein, nein.« Sie strahlt mich an. »Ist große Liebe. Er ist wunderbar. Ich weiß ganz genau, er kommen. Wissen Sie. Ich weiß im Herzen. Er bestimmt kommen und mich holen.« Mein Gott, denke ich, wenn der Knabe aus dieser feinen Gegend hier stammt - dann aber gute Nacht. »Wie alt bist du denn?« »Achtzehn Jahre.« So ganz mag ich ihr das nicht glauben. »Pass auf, ich gehe jetzt noch eine Kleinigkeit essen. Vielleicht willst du ja mitkommen. Ich lade dich ein.« »Nein danke, ich keinen Hunger.«
Nach vier Stunden Warten auf der Straße hat sie keinen Hunger. Und das soll ich glauben? »Wenn ich vom Essen zurückkomme und du immer noch da bist, dann kommst du mit mir, und ich bezahl dir ein Zimmer in meinem Hotel. Es ist hier um die Ecke.« »Das sein sehr lieb, aber mein Freund kommen mich holen. Bestimmt.« 53 Ich gebe es auf, verabschiede mich von ihr und schlendere die Straße hinunter. Jedes Mal, wenn ich mich umblicke, sehe ich sie auf diesem Bordstein sitzen. Ein kleines, verlorenes Häufchen Elend. Wie ein Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen ist. So geht das nicht, denke ich, zücke mein Handy und rufe die Polizei an. Der Beamte reagiert gereizt. »Wie alt ist sie, hatten Sie gesagt?« »Sie behauptet, sie wäre achtzehn.« »Dann können wir da nichts machen.« »Aber womöglich ist sie ja auch erst vierzehn«, appelliere ich an sein Mitgefühl. »Tut mir leid. Wenn sie nur da sitzt und auf ihren Freund wartet...« »Aber wenn man sie nach Frankfurt gelockt hat, um sie als Zwangsprostituierte auf den Strich zu schicken ...« »Das wissen Sie doch gar nicht«, bleibt der Beamte stur. »Wie schon gesagt, so wie Sie die Situation schildern, besteht für uns kein Handlungsbedarf.« Super. Entnervt beende ich die Verbindung. Die Polizei, Dein Freund und Helfer. Tolle Helfer sind das.
Mit jeder Menge Wut im Bauch laufe ich die Straße hinunter. Was soll ich bloß machen? Allein habe ich keine Chance. Schließlich kann ich die kleine Tschechin nicht mit Gewalt von hier wegschleppen. Und helfen will mir ja offensichtlich niemand. . Immer noch wütend und ziemlich beunruhigt kehre ich in eine Kneipe ein, die sich allem Anschein nach nicht dem horizontalen Gewerbe verschrieben hat. Ich bestelle ein Bier und Spiegeleier mit Bratkartoffeln. Ein kulinarischer Genuss 54 ist das Ganze nicht, aber ich werde satt. Dann mache ich mich auf den Weg zurück ins Hotel. Wie erwartet, sitzt das Mädchen immer noch da. Ich besorge ihr von einer Imbissbude ein paar Pizzastücke. Und siehe da, sie verschlingt die Pizza in Rekordzeit. Aber auch jetzt lässt sie sich nicht überreden, ihre Wartestellung aufzugeben. Ich nenne ihr den Namen meines Hotels und bitte sie, dorthinzukommen, falls ihr Freund wider Erwarten doch nicht mehr auftauchen sollte. Sie verspricht es. Kurz bevor ich die Straßenecke erreiche, höre ich, wie ein Auto mit quietschenden Reifen hält. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie das Mädchen in einen großen, anthrazitfarbenen S-Klasse-Mercedes einsteigt. Na, wenigstens keine Corvette, denke ich, als der Wagen an mir vorbeifährt. Instinktiv versuche ich, das Kennzeichen zu entziffern. Aber mehr als F-KD 4 ... kann ich nicht erkennen. Die Nacht ist der reinste Horror. Die junge Tschechin lässt mir keine Ruhe. Die ganze Zeit versuche ich mir einzureden, dass ihr Freund nicht aus dem Rotlichtmilieu stammt und sie tatsächlich einen Mann gefunden hat, der es gut mit ihr meint. Aber ich glaube das nicht wirklich. Nicht nachdem, was ich
schon alles über Mädchenhandel und Zwangsprostitution gelesen habe. Gegen zwei Uhr schlafe ich endlich ein und wache am nächsten Morgen mit höllischen Kopfschmerzen und richtig schlechter Laune auf. Und dann kommt mir auch Michael wieder in den Sinn, den hatte ich ja ganz vergessen. Spätestens jetzt sinkt meine Laune auf den absoluten Tiefpunkt. Dagegen muss ich etwas unternehmen. Es wird höchste Zeit, mir etwas Gutes zu tun. Und ich mache, was ich in sol 55 chen Situationen immer gerne tue: Ich gehe shoppen. Schließlich gibt es in Frankfurt die Goethestraße - bekannt für ihre noblen Geschäfte und edlen Designerboutiquen. Doch schon im ersten Laden scheitere ich kläglich. Die Hose von Jil Sander ist wunderschön, super geschnitten und aus einem bestimmt sehr hochwertigen Stoff. Doch als ich das Preisschild sehe, schnappe ich nach Luft. Bei aller Liebe, wer kann das bezahlen? Danach versuche ich es doch lieber bei der günstigen Bekleidungskette mit den zwei Buchstaben. Für das Geld, das ich bei Frau Sander für ein einziges Kleidungsstück los geworden wäre, kann ich hier zwei prall gefüllte Tüten hinausschleppen. Doch richtig zufrieden bin ich mit meiner Ausbeute nicht. Schon auf dem Weg zur Kasse überlege ich es mir anders, bringe die Sachen wieder zurück und steuere erneut den Jil-Sander-Laden an. Einmal im Jahr darf man über die Stränge schlagen, denke ich. Schließlich habe ich bald Geburtstag. 55 Kapitel 7 Isabeiles Mutter liegt in einem Krankenhaus, das zu jenen scheußlichen Zweckbauten zählt, die so abstoßend aussehen,
dass sogar ein Hypochonder bei ihrem Anblick ganz schnell wieder gesund würde. Da ich nicht einfach reinmarschieren und Auskunft über die Krankengeschichte von Frau Dujack verlangen kann, habe ich mich entschlossen, es mit der allseits bewährten Journalistennummer zu versuchen. »Ich komme von der frankfurter Rundschau< und recherchiere eine Geschichte über Komafälle.« Das erzähle ich erst einmal der Dame am Empfang. Die will wissen, ob ich einen Termin habe. »Nein, sorry, den hab ich leider nicht.« Ihr Gesicht sieht so formalinsauer aus, wie der ganze Bunker riecht. Sie telefoniert mit dem zuständigen Arzt, einem Dr. Bayer. Der ist natürlich alles andere als erfreut und hat auch gar keine Zeit. Ich lasse mir den Telefonhörer geben und rede so lange auf ihn ein, bis er kapituliert. »Okay, ich gebe Ihnen fünf Minuten, aber keine Minute länger.« So streng wie Dr. Bayer am Telefon klang, ist er dann aber gar nicht. Er erweist sich als ausnehmend nett, wenn er auch optisch etwas aus dem Rahmen fällt. Groß, ziemlich korpulent, mit reichlich Pomade im weißen Haar und einer Brille auf der Nase, die ihm ständig aus dem Gesicht zu fallen droht. 56 Die opulente Brustbehaarung wird von einem viel zu engen und nur schlampig geschlossenen Hemd freizügig offengelegt, der umfangreiche Bauch hat den sechsten Hemdenknopf weggesprengt, so dass auch der Bauchnabel begutachtet werden kann. Ich bin verwirrt. So hatte ich mir einen weisen Medizinmann eigentlich nicht vorgestellt. Aber wahrscheinlich ist er viel zu sehr mit den Geheimnissen der menschlichen Anatomie beschäftigt, als dass er sich um solche Ne-
bensächlichkeiten wie Kleidungsstil und Lebensart kümmern könnte. Dazu passt auch sein Büro. Sämtliche Wände sind bis zur Decke mit Mahagoniregalen zugebaut, die von Büchern, Fachzeitungen und -Zeitschriften nur so überquellen. Der Schreibtisch sieht aus, als habe ihn jemand zur Mülldeponie umfunktioniert, und der Aschenbecher ist eine Provokation für jeden Lungenspezialisten. Über allem liegt eine feine Schicht jener Asche, die das Inhalieren von sechzig Zigaretten am Tag so mit sich bringt. Wenn Chaos Ausdruck von Kreativität und Wissen ist, dann ist Dr. Bayer ein Genie. Er lächelt mich aus freundlichen, kleinen, braunen Augen an und beantwortet brav meine Fragen. »Wie viele Komapatienten betreuen Sie denn zur Zeit?« »Im Augenblick haben wir nur einen Fall. Eine Wachkomapatientin.« »Wachkoma?«, frage ich. »Ja, der Begriff Wachkoma ist eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Entweder ein Mensch liegt im Koma, dann ist er ohne Bewusstsein, oder er ist wach, dann ist er natürlich bei Bewusstsein. Wir Mediziner reden deshalb auch lieber vom apallischen Syndrom beziehungsweise von Apallikern. Also von Menschen, von denen wir glauben, dass sie subjek 57 tiv nichts mehr erleben und sich in einem tiefen Dauerschlaf befinden.« »Und woher wissen Sie das?«, frage ich. Auf die Antwort muss ich erst einmal warten. Schon während des Gesprächs war Dr. Bayer nervös auf seinem Stuhl hinund hergerutscht, hatte zuerst mit der linken, dann mit der rechten Hand auf seine jeweilige Jackentasche geklopft und
mit den Augen jeden Quadratzentimeter seines Schreibtisches abgetastet. Mir war relativ schnell klar gewesen, was er da so dringend suchte. »Ja, woher wir das wissen ... sagen Sie mal, hätten Sie eine Zigarette für mich?« »Sorry, ich bin Nichtraucherin«, sage ich und zucke bedauernd mit den Achseln. Ächzend erhebt er sich aus seinem Stuhl. »Ich will es mir ja abgewöhnen. Aber es gibt Tage, da geht es einfach nicht ohne.« Das glaube ich ihm sofort. Er schlurft zur Tür und ruft nach seiner Sekretärin. »Sabine, besorgen Sie mir bitte eine Zigarette.« Als er an seinen Schreibtisch zurückkommt, wandern seine Augen wieder suchend über die voll beladene Tischplatte. »Wenn Sie Feuer brauchen, ich hab ein Feuerzeug dabei.« »Nein, nein, ich brauch 'nen Euro.« »Einen Euro?« »Ja, Sabinchen kriegt für jede Zigarette, die ich schnorre, einen Euro. So versuche ich mir das Rauchen abzugewöhnen. Tolle Strategie. Funktioniert nur leider nicht immer.« Sabinchen kommt herein und bringt ihrem Chef die ersehnte Zigarette. 58 »Danke, schreiben Sie sich den Euro auf, ich finde gerade keinen.« Leise seufzend lässt er sich in seinen Stuhl sinken, dreht die Zigarette zwischen seinen Fingern und sieht mich fragend an. »Wo waren wir stehengeblieben?«
»Sie wollten mir erklären, wieso Apalliker subjektiv nichts mehr erleben.« »Stimmt. Also bei Apallikern liegt eine vollständige Unterbrechung der Nervenleitungen im oberen Hirnstamm vor. Das heißt, die Informationen aus der Körperperipherie werden nicht mehr ans Großhirn weitergeleitet. Und wir gehen davon aus, dass diese Informationen für die subjektiven Empfindungen zuständig sind. Auch beginnt hier das ARAS. Das ist ein Nervenbahnensystem, das unsere Aufmerksamkeit und unseren Schlaf-Wach-Rhythmus steuert. Wenn die Zentren im oberen Hirnstamm abgeklemmt werden, wird das Großhirn das nehmen wir zumindest an - auf Dauerschlaf gestellt.« Dr. Bayer bricht das Filterstück seiner Zigarette ab und steckt sich den ausgefransten Glimmstengel zwischen die gelben Zähne. »Aber wieso wird dieser Zustand dann als Wachkoma bezeichnet?« »Weil Apalliker die Augen öffnen. Allerdings nicht als Reaktion auf Außenreize wie Licht, Geräusche oder Schmerz, sondern völlig spontan. Man muss aber aufpassen. Denn es könnte sich auch um ein apallisches Durchgangssyndrom handeln. Das durchlaufen Patienten, die wieder aufwachen. Dann war der Hirnstamm nur vorübergehend abgeklemmt. Es gibt eine ganze Reihe von scheinbaren Apallikern, die 59 später wieder ein normales Leben führen und einem Beruf nachgehen. Wenn sich das apallische Syndrom beim Patienten zeigt, hoffen die Angehörigen natürlich immer, dass es ein Durchgangssyndrom ist. Aber leider verbessert sich der Zustand vieler Patienten nicht mehr, und sie bleiben Apalliker. - Hatten Sie nicht gesagt, Sie hätten ein Feuerzeug?«
»Ja, in meiner Handtasche. Einen Moment...« Ich gebe ihm Feuer und beobachte amüsiert seinen zutiefst befriedigten Gesichtsausdruck, nachdem er seinen ersten Zug genommen hat. »Wissen Sie denn genau, dass Apalliker nichts mehr von ihrer Umwelt mitbekommen?« »Das wird zur Zeit sehr kontrovers diskutiert...« Wir werden vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Fragend sieht er mich an. »Soll ich da drangehen?« »Ich weiß nicht? Vielleicht ist es ja wichtig?« Seelenruhig zieht er an seiner Zigarette und bequemt sich dann langsam, den Hörer abzuheben. »Ja? .... Sabinchen, tun Sie mir einen Gefallen, wimmeln Sie ihn ab. Ich rufe später zurück.« Er legt auf und wendet sich mit einem Kopfschütteln an mich. »Diese Verwaltungsheinis stehlen einem nur die Zeit. Wenn ich mich ständig mit deren Zeug befassen würde, käme ich überhaupt nicht mehr zu meiner Arbeit. Apropos Arbeit: Unsere fünf Minuten sind um.« »Noch nicht ganz. Eine Frage habe ich noch. Wie realistisch ist es, dass ein Apalliker irgendwann wieder aufwacht?« »Je länger ein Patient im Koma liegt, desto geringer sind die Chancen, dass er wieder zu sich kommt. Passiert das wi 60 der Erwarten doch einmal, sind die Patienten sehr oft körperlich und geistig behindert. Allerdings nicht immer. Es gibt Fälle, da haben sich Menschen trotz jahrelangen Komas wieder ganz erholt. Das dauert dann aber sehr lange und bedarf einer intensiven Rehabilitation.« Er sieht auf seine Uhr. »Frau Petry, die fünf Minuten sind um, definitiv.«
»Okay. Vielen Dank, dass Sie mir so viel erzählt haben. Das ist wirklich sehr interessant«, sage ich und stehe auf. Dr. Bayer sammelt einige Papiere von seinem Schreibtisch zusammen und legt sie bedächtig in eine graue Mappe. Über seine Brille hinweg sieht er mich an. »Auf Wiedersehen!«, sagt er mit Nachdruck. »Auf Wiedersehen«, sage ich steif und mache trotzdem keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Er mustert mich irritiert. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und frage, ob ich diese Wachkomapatientin vielleicht kurz sehen dürfe. Das gefällt ihm gar nicht. Ich muss all meinen Charme aufbieten und eine Menge frei assoziierter Argumente vorbringen, um ihn umzustimmen. Nur sehr widerwillig gibt er endlich nach. Das Krankenzimmer von Frau Dujack ist circa zehn Quadratmeter groß und so steril wie eine frisch verpackte Einwegspritze. Immerhin gibt es ein Fenster. Allerdings ist die Aussicht auf den Parkplatz auch nicht sonderlich aufmunternd. Das Ganze hat den Charme einer Gefängniszelle. Niemand hat sich die Mühe gemacht, den Raum mit Blumen oder Ähnlichem ein wenig wohnlicher zu gestalten. Wann die liebe Verwandtschaft das letzte Mal hier war, möchte ich lieber nicht wissen. 61 Als Dr. Bayer und ich den Raum betreten, ist eine Krankenschwester, die laut Namensschild Renate heißt, dabei, die Bettdecke der Patientin frisch zu beziehen. Nur mit ihrem Nachthemd bekleidet, liegt Frau Dujack da wie eine aufgebahrte Leiche. Als ich mich ihr vorsichtig nähere, öffnet sie plötzlich die Augen. Ich mache einen Schritt zurück und werfe fast den Ständer des Infusionstropfs um. »Sind Sie erschrocken?«, fragt Dr. Bayer.
»Ja. Allerdings. Ich dachte für einen Augenblick, sie wäre aufgewacht.« »Das ist sie leider nicht. Was Sie gerade gesehen haben, hat mit dem apallischen Syndrom zu tun, von dem ich Ihnen erzählt habe. Die Patientin öffnet spontan die Augen, aber sie fixiert nicht. Das heißt, sie sieht nichts.« »Macht sie noch andere Sachen?« »Nein«, sagt Dr. Bayer und schüttelt den Kopf. Langsam traue ich mich wieder näher an sie heran. Sie hat die Augen immer noch offen, starrt aber rechts an mir vorbei an die Wand. Auch aus allernächster Nähe lässt sich nicht erahnen, was für ein Mensch sie gewesen ist, wie sie auf andere gewirkt, wie sie ausgesehen hat. Während die Krankenschwester die Patientin versorgt, ihren Kopf vorsichtig auf ein kleines Daunenkissen bettet, den leblosen Körper mit routinierten Griffen in eine neue Position dreht und mit Hilfe von unterschiedlich großen Kissen und zusammengefalteten Decken stabil lagert, ist Dr. Bayer dazu übergegangen, einen Vortrag über die Behandlung von Komapatienten zu halten. Da ist die Rede von künstlicher Ernährung, Nasen- und Magensonden, Blasenkathetern, basaler Stimulation, Krankengymnastik und was weiß ich noch alles. Die Frage ist nur, ob Frau Dujack von diesen Maßnah 62 men auch so begeistert ist. Oder ob sie nicht schon längst ihre Ruhe haben will. Seine Ausführungen finden ein abruptes Ende, als er von einem Krankenpfleger zu einem dringenden Fall gerufen wird und das Zimmer verlässt. Ich bleibe mit der Schwester allein zurück.
»Schwester Renate«, sage ich, »wissen Sie, wieso die Patientin im Koma liegt?« »Dazu kann ich Ihnen nicht allzu viel sagen. Es ist ja schon ziemlich lange her. Aber ich glaube, der Auslöser war ein Stromschlag.« »Besteht denn die Chance, dass sie wieder aufwacht?« »Das weiß ich nicht«, sagt sie, breitet die Bettdecke über der Patientin aus und streicht sie glatt. Während ich angestrengt überlege, was ich sie noch fragen könnte, kommt mir eine Idee. »Sind je Komplikationen aufgetreten?« »Bei ihr wohl am Anfang.« »Was ist da passiert?« »Soviel ich weiß, gab es ziemliche Probleme mit den Entzugserscheinungen. « »Entzugserscheinungen?« »Alkohol«, antwortet sie knapp. Ach, sieh mal einer an, Frau Dujack war alkoholkrank. Das ist ja interessant. Davon hat Isabelle überhaupt nichts erzählt. Wahrscheinlich ist es ihr peinlich. Aber wenn sie mir so etwas verschweigt, was hat sie mir dann noch alles verschwiegen? Mein Misstrauen und sämtliche Vorbehalte, die ich mittlerweile gegen meine Klientin hege, werden aufs Neue befeuert. Unterdessen hat die Schwester den Ständer mit dem Infusionstropf neben das Bett geschoben und kontrolliert die Ka 63 nüle und die Einlaufgeschwindigkeit, mit der die klare Flüssigkeit in die Armvene der Patientin läuft. »Würden Sie jetzt bitte das Zimmer verlassen«, sagt sie, ohne den Blick von der Kanüle zu wenden. Ich wüsste aber zu gern, was sich in diesem Infusionstropf befindet. Auf einem kleinen Beistelltisch am Fußende des Bet-
tes liegt ein leeres Medikamenten-Fläschchen. Schwungvoll fege ich es mit meiner Handtasche vom Tisch. Als ich es aufhebe, kann ich gerade noch das Wort H-Insulin entziffern, bevor die Krankenschwester es mir aus der Hand nimmt. Die Erkenntnis, dass Frau Dujack zuckerkrank ist, bringt mich aber auch nicht weiter. Auf dem Weg zum Flughafen bleibt mein Taxi im Stau stecken, und ich verpasse meinen Flieger. Mir bleibt nichts anderes übrig, als im Flughafenrestaurant auf den nächsten Anschluss zu warten. Wie der Zufall es will, entdecke ich dort meine Freundin Alexandra, die anscheinend ebenfalls auf dem Weg nach Hamburg ist. »Was machst du denn hier?« »Ich habe einen Onkel besucht«, sagt sie mit tiefer, rauer Stimme, der man den spanischen Tonfall deutlich anhört. »Du hast in Frankfurt einen Onkel? Das wusste ich gar nicht.« Sie rollt mit den Augen. »Ich muss dir doch nicht alles verzählen.« »Erzählen«, korrigiere ich sie und bemerke, dass die Blicke fast aller Männer im Umkreis von fünfzig Metern auf meine Freundin gerichtet sind. Kein Wunder. Sie ist Spanierin, Mitte dreißig, hat hüftlange schwarze Haare, eine sehr gute Figur, ein äußerst selbstbewusstes Auftreten und einen 64 ziemlich harschen Ton am Leib. Krach sollte man lieber nicht mit ihr bekommen. »Es ist nicht zufällig dein Erbonkel, den du hier besucht hast?«, frage ich. Sie reagiert gereizt. »Geld ist schon wichtig im Leben. Du weißt, wie ich darüber denke ...«
Ja, das weiß ich. Letztes Jahr hat Alexandra sich scheiden lassen, nachdem ich gerade noch hatte verhindern können, dass ihr Gatte sich mit den Familienersparnissen und seiner Sekretärin aus dem Staub machte. Schon drei Monate später stellte mir Alexandra ihren neuen Lebensgefährten vor. Helge, der zwar nicht sonderlich attraktiv, dafür aber ausgesprochen wohlhabend ist. Und wie ich zugeben muss, sich rührend um ihre kleine Tochter Suza kümmert. »... In Spanien ist die Familie das Wichtigste überhaupt«, doziert Alexandra derweil weiter. »Was immer passiert, wir kümmern uns um unsere Verwandten. Im Gegensatz zu euch Deutschen.« »Das stimmt überhaupt nicht«, erwidere ich beleidigt. »Ich kümmere mich auch um meine Verwandten.« »Um deine Mutter?«, fragt sie spitz. »Jawohl, auch um meine Mutter«, antworte ich. »Ich kümmere mich sogar um ihr Haus, während sie im Urlaub ist.« »Wo ist sie denn?« »Auf Teneriffa. Vier Wochen.« »Das heißt, du hast vier Wochen deine Ruhe.« »Ja«, sage ich und seufze aus tiefstem Herzen. Worüber wir beide in lautes Gelächter ausbrechen. Wir wechseln das Thema, und ich werde über die neuesten Highlights aus dem Leben ihrer Tochter Suza informiert. Natürlich ist sie in der Schule eine der Besten, auch im Sport 65 glänzt sie mit überdurchschnittlichen Leistungen, und selbstverständlich sondert sie vierundzwanzig Stunden am Tag geistreiche Bonmots ab. Und wie gewöhnlich bricht bei Alexandra der hemmungslose Mutterstolz und bei mir der kalte
Neid aus, so dass ich froh bin, als sie sich in Richtung Toilette verabschiedet. Die kleine Verschnaufpause kann ich gut gebrauchen. Da ertönt auf einmal die Filmmusik von Sex and the City. Mein Klingelton ist das nicht. Nach meiner akustischen Peilung kommt die Musik aus Alexandras Reisetasche unter dem Tisch. Wahrscheinlich ist es Helge, der ihre Ankunft gar nicht mehr erwarten kann. Die Musik verebbt, um dann kurze Zeit später erneut einzusetzen. Wieder dauert es eine Weile, bis der Anrufer aufgibt. Aber nur, um es wenige Minuten später aufs Neue zu versuchen. Ich bin beunruhigt. Was, wenn das tatsächlich Helge ist? Womöglich mit der Nachricht, dem Kind sei etwas zugestoßen? Helge ist im Umgang mit seiner kleinen Stieftochter manchmal noch unsicher. Vielleicht hat sich Suza verletzt oder an etwas verschluckt und bekommt keine Luft mehr? Und Helge weiß nicht, was er tun soll. Ich ziehe die Tasche hervor, öffne den Reißverschluss und entdecke ein nagelneues iPhone. Hoffentlich mache ich jetzt keinen Fehler, denk ich, nehme das Gespräch an und nuschele ein »Ja, bitte ...« Eine Männerstimme meldet sich. »Hallo Alex, Schatz, das war eine geile Nacht. Ich habe es wirklich genossen ... Alexandra? Hallo ... Alexandra?« Mir fällt fast das Telefon aus der Hand. Die Stimme kenne ich nicht. Aber eines ist sicher, die Stimme von Helge ist das ganz bestimmt nicht. Geistesgegenwärtig blaffe ich ein »Sorry, falsch verbunden« und beende die Verbindung. 66 Sieh mal einer an. Die gute Alexandra, für die die Familie das Wichtigste im Leben ist, befindet sich auf amourösen Abwegen. Von wegen kranker Onkel. Die perfekte Welt mit
perfektem Mann und perfektem Nachwuchs - doch nicht so perfekt. Ich verstaue das iPhone wieder in der Tasche. Und versuche mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass meine Freundin mir so einiges vorenthält. Alexandra, der gefallene Engel. Wie vereinbart sie das wohl mit ihrem konservativ spanischkatholischen Weltbild? Vielleicht sollte ich an der Fassade kratzen, auf der Suche nach der verruchten, fremdgehenden Alexandra, die mal so eben ein paar gesellschaftliche Konventionen über Bord wirft. Das könnte spannend werden. 67 Kapitel 8 Am nächsten Morgen bin ich ausnahmsweise einmal pünktlich im Büro. Dafür kommt Cornfeld zu spät. Als er um Viertel nach neun mein Zimmer betritt, trifft mich fast der Schlag. Er hat rote Bermudashorts an, die, dem Grauton nach zu urteilen, schon so an die zweihundert Waschgänge erlebt haben dürften. Dazu trägt er dunkelblaue Kniestrümpfe und ein Paar ausgelatschte Tod's. Das Ganze wird von einem weißen Hemd und einem grünen Jackett gekrönt. Sehr chic auch der DreiTage-Bart und die gegelten Haare, die aussehen, als hätten sie schon seit Wochen kein Wasser mehr gesehen. Was denkt der sich eigentlich? Das hier ist eine professionelle Detektei. Was für einen Eindruck macht das denn auf die Klienten, wenn mein Mitarbeiter in einem solchen Aufzug herumläuft? Natürlich ist er jetzt beleidigt. Er wirft mir mangelndes Modebewusstsein und unüberwindliche Spießigkeit vor. »Sie sind doch diejenige, die sich immer über die grauen Streifenhörnchen im Flugzeug aufregt. Wenn ich mal Krea-
tivität und Mut beweise, ziehen Sie sich auf lächerliche und altbackene Konventionen zurück.« »Das hat nichts mit Konventionen zu tun«, fauche ich ihn an. »Hier geht es um Geschmack. Und der ist Ihnen heute Morgen ganz offensichtlich abhanden gekommen.« Es hat keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Darüber schon 68 gleich gar nicht. Also schicke ich ihn mit der Bitte um ein möglichst spießiges Outfit nach Hause und überlege mir, ob ich ihn ärgern soll, indem ich ihm einen richtig schönen Nadelstreifenanzug spendiere. Später vielleicht. Wenn meine Finanzen solche Extravaganzen zulassen. Apropos Finanzen. Ich muss mit diesem Fall vorankommen und kann mich nicht ständig von privaten Turbulenzen ablenken lassen. Wenn ich so weitermache, schafft es meine Detektei nie in die schwarzen Zahlen. Die Rechnungen, die sich auf meinem Schreibtisch türmen, schiebe ich erst einmal beiseite und schreibe Cornfeld eine kurze Notiz auf einen Post-it-Zettel: »Bitte erste Teilrechnung für Dujack fertigmachen.« Irgendwo muss ja das Geld herkommen. Allerdings wäre es dann auch ganz gut, wenn wir schon einmal etwas vorweisen könnten. Wenn es erste Teilerfolge gäbe. Den Post-it klebe ich an Cornfelds PC und sehe auch gleich die Unterlagen auf seinem Schreibtisch durch. Mal schauen, ob bei seinen Recherchen schon etwas Vorzeigbares herausgekommen ist. Ein Hefter mit siebenundzwanzig Seiten englischsprachiger Fachliteratur zum Thema Koma weckt meine Neugier. Doch schon nach wenigen Minuten höre ich entnervt mit der Lektüre auf. Das ist mir viel zu kompliziert. Vielleicht sollte ich die Unterlagen heute Abend mit nach Hause nehmen und
sie mir als schlaffördernde Bettlektüre einverleiben. Ich suche nach weiteren, etwas leichter verdaulichen Informationen. Aber entweder tut Cornfeld den ganzen Tag nichts oder er hat die Ergebnisse seiner Arbeit so gut versteckt, dass kein Mensch sie findet. Schließlich entdecke ich doch noch etwas. Mein Assistent hat anscheinend mit seinem Freund bei der Kripo Hannover 69 telefoniert. Der Telefonnotiz entnehme ich, dass Frau Bouche an einem Schädelbasisbruch gestorben ist. Herbeigeführt durch einen Schlag mit einem schweren, stumpfen Gegenstand, der noch nicht näher identifiziert werden konnte. Die Polizei geht davon aus, dass es sich um einen Raubüberfall handelte, da ihr gesamtes Bargeld verschwunden ist. Allerdings glauben auch die Hannoveraner, dass Frau Bouche ihren Mörder gekannt haben muss. Cornfelds Aufzeichnungen werden immer unleserlicher. Seine Handschrift entwickelt sich rasant in Richtung Fliegendreck. Eigentlich brauchte ich eine Lupe, um dieses winzige, schwarze Gekrakel entziffern zu können. Mit Müh und Not kann ich die nächste Zeile lesen: »Ramona Bouche - Künstlername - In den achtziger und neunziger Jahren ...« Und dann muss ich kapitulieren. Das letzte Wort ist bei aller Liebe nicht mehr zu entschlüsseln. Auf dem Weg zurück in mein Büro bemerke ich eine beschriebene Din-A4-Seite, die neben dem Papierkorb am Boden liegt. Als ich das Blatt hochnehme, sehe ich erstaunt, dass es sich um Aufzeichnungen über Isabelle Dujack handelt. Seit wann spionieren wir denn unseren Klienten hinterher? Da diese Notizen wenigstens lesbar sind, überfliege ich sie schnell. Als Erstes kommt die Adresse des Frankfurter Kinder- und Jugendheimes, in dem Isabelle als Kind zuletzt un-
tergebracht war. Es folgt die Adoption und die Einschulung in der ISF, der Internationalen Schule Frankfurt. Studiert hat sie an der amerikanischen Elite-Uni Wellesley. Und wenn ich gehofft hatte, dass sie in Höhere-Töchter-Fächern wie Kunstgeschichte oder Kommunikationswissenschaften dilettiert hat, werde ich enttäuscht. Nein, sie hat sich für Mathematik und Philosophie entschieden. Wahrscheinlich verfügt sie über einen IQ von hundertfünfzig, schreibt nachts nobelpreisver 70 dächtige Romane, malt wie Picasso und hat das absolute Gehör. Die Welt ist ungerecht, aber das wusste ich ja schon. Zwei Stunden später erscheint Cornfeld wieder im Büro. Diesmal in Jeans, Turnschuhen und einem karierten Baumwollhemd. »Schon viel besser«, begrüße ich ihn. Er überhört meine Bemerkung und trägt einen gekränkten Gesichtsausdruck zur Schau. »Es riecht nach Wurst, Herr Cornfeld.« »Was?« »Nach Leberwurst.« »Wieso das denn?« »Nach beleidigter Leberwurst.« Er muss grinsen. »Erwischt«, pruste ich los. »Jetzt hören Sie schon auf. Sie sehen in diesen Jeans und diesem Baumwollhemd zum Anbeißen aus. Wirklich. Das Einzige, was noch fehlt, ist ein freundliches Gesicht und ein bisschen gute Laune.« »Die haben Sie mir verdorben.« »Ach Quatsch. Jetzt seien Sie bloß nicht so empfindlich.« »Ich kündige.« »Was?« »Ich kündige.«
»Cornfeld, das ist nicht komisch.« »Das ist auch nicht komisch.« »Cornfeld, ich will nicht, dass Sie kündigen. Ich bin zufrieden mit Ihnen, sehr zufrieden sogar. Ich brauche Sie.« »Dann behandeln Sie mich auch so.« »Was wollen Sie? Soll ich mich entschuldigen?« »Wäre nicht schlecht.« 71 »Sie sind ein Ungeheuer.« »Soll das eine Entschuldigung sein?« »Nein. Also ich entschuldige mich hiermit. Es tut mir leid. Okay? Ich meine, eigentlich tut es mir nicht leid. Aber wenn Sie wollen, dann tut es mir eben leid. Ja?« »Hat das etwas mit weiblicher Logik zu tun?« »Wieso, verstehen Sie es nicht?« Sein Gesichtsausdruck verfinstert sich schon wieder. »Sorry. Sorry. Das war nicht so gemeint. Ich habe eine Idee. Ich lade Sie heute Abend zum Essen ein. Da können wir ja die Friedenspfeife rauchen.« »Ich rauche nicht.« »Cornfeld, vielleicht essen Sie ja etwas?« »Das wäre möglich.« Er hat gegessen. Und getrunken hat er auch. Und das nicht zu knapp. Er studierte die Speisekarte keine zwei Minuten, und schon wusste er, was er wollte. Das Teuerste, wie sich herausstellen sollte. Ganz nach der Devise, wenn wir die Chefin schon mal schädigen können, dann aber richtig. Als ich ihn fragte, wohin ich ihn ausführen dürfe, musste er nicht lange überlegen. »Henssler & Henssler« sollte es sein. Ein Restaurant mit euroasiatischer Küche und angeschlossener Sushibar, das direkt am Hafen liegt und für sein hervorragendes Essen und das blendende Aussehen des Junior-
Chefs bekannt ist. Allerdings auch für seine herausragenden Preise. Wir hatten kaum unsere Plätze eingenommen, als Cornfeld schon einen Aperitif orderte: einen Champagner Duval-Leroy Rose Brut. Ich schluckte und bestellte mir ein Mineralwasser. Danach ging es weiter mit gebratenem Tuna-Sashimi 72 mit Wasabi-Zitronengraskruste und Caesar's Salad für den Herrn und einer Miso-Suppe für die Dame. Während ich mich mit einem kleinen Sushi-Mix zufriedengab, verlangte es meinen Assistenten nach Rinderfilet vom US-Beef mit Kartoffelpüree Saltimbocca Art. Und dann war da noch das Dessert. Ein gebratenes Vanille-Honigeis mit Roter Grütze, das er so radikal wegputzte, dass der Teller gar nicht mehr hätte gespült werden müssen. Ich nippte an meinem Wasser und ließ die Rechnung kommen. Der Spaß kostete mich inklusive Getränke fast zweihundert Euro. Eine teure Entschuldigung. Aber einen Personalwechsel kann und will ich mir derzeit nicht leisten. Mit der Einladung zum Essen war es dann aber nicht getan. Cornfeld hatte noch Lust auf einen Absacker, wie er sich ausdrückte und schlug einen Lokalwechsel vor. Um des lieben Friedens willen habe ich zugestimmt. Und nun sind wir schon seit einer halben Stunde im »20up«. Einer sehr angesagten Bar im 20. Stock des Riverside-Hotels, mit einem atemberaubenden Blick über den Hafen. Wir sitzen auf schwarzen Barhockern an ebenso schwarzen, hochbeinigen Tischen direkt an der verglasten Frontseite und genießen die Aussicht auf das sich zu unseren Füßen ausbreitende Lichtermeer. Während der süßliche Sahnegeschmack meiner Pina
Colada mir langsam Magenprobleme bereitet, konsumiert mein Assistent genüsslich seinen zweiten Caipirinha. »Cornfeld, ich muss Sie loben«, sage ich. »Dass Sie mit Ihrem Freund in Hannover telefoniert haben, finde ich ziemlich klasse.« »War gar nicht so einfach, ihn auszuhorchen.« »Kann ich mir denken.« 73 Cornfeld verstummt und macht auf einmal einen ausgesprochen unglücklichen Eindruck. »Was ist los?«, frage ich. »Mussten Sie mit ihm ins Bett?« »Schlimmer. Ich musste ihm meine Fußballkarte abtreten.« »HSV gegen Hannover 96?« Er verzieht das Gesicht und ich befürchte schon, er könne gleich in Tränen ausbrechen. »Cornfeld«, sage ich und lege ihm die Hand auf den Arm. »Das sind ja geradezu unmenschliche Opfer, die Sie für die Detektei bringen. Das rechne ich Ihnen ganz hoch an.« »Sie könnten sich an den Kosten beteiligen oder sich anderweitig erkenntlich zeigen«, quengelt er. »Ich habe mich heute Abend schon erkenntlich genug gezeigt«, widerspreche ich, kann aber seinem bekümmerten Dackelblick nicht widerstehen. »Über die Kosten können wir reden«, gebe ich nach. »Aber nur, wenn der Einsatz sich auch gelohnt hat.« »Und ob der sich gelohnt hat«, wird Cornfeld da gleich wieder munterer. »Ich wollte nämlich wissen, ob Frau Bouche Französin war.« »Und?« »Mein Freund war ziemlich gut drauf und fand die Frage äußerst komisch. Er sagte, er sei ziemlich sicher, dass sie
Französisch konnte. Aber aufgewachsen ist sie im Schwäbischen.« »Französisch mit schwäbischem Akzent. Muss ja grauenhaft klingen.« »Sie hat viel Geld damit verdient.« »Sie hat Geld damit verdient?« Mein Assistent beobachtet mich amüsiert. Ganz offensichtlich werde ich hier gerade auf den Arm genommen. 74 »Cornfeld, was soll das? Hab ich was verpasst, hab ich was nicht mitgekriegt? Jetzt kommen Sie schon, wo ist die Pointe?« Er zieht die Augenbrauen hoch und blinzelt mir zu. »In der Zweideutigkeit bestimmter deutscher Wörter.« »Und? Sie hat mit Französisch Geld verdient...« Langsam dämmert mir, was er mir da erzählen will. »Sie meinen, sie war eine Hure.« Cornfeld nickt. »Ramona Bouche war ihr Künstlername. Sie hat getanzt, gestrippt und gepeept und was man sonst noch so alles in dem Geschäft macht. Volles Programm sozusagen.« »Interessant. Dann hat Dujack also eine Prostituierte als Pflegerin für seine Frau eingestellt. Wie kam er denn auf die Idee?« »Sie war ausgebildete Krankenschwester«, sagt Cornfeld. »Aber in dem Job wird ja nicht so wahnsinnig viel verdient. Und da sie sehr gut aussah, hat sie sich offensichtlich auf andere Einnahmequellen verlegt.« Das muss ich erst einmal verdauen. Wenn ich an diese spießige Wohnung denke. An dieses kleine, zarte Gesicht. Eine Hure. Das hätte ich nicht gedacht. »Und wie ist Dujack auf sie gekommen?«
»Keine Ahnung. Womöglich hat er eine Anzeige geschaltet und sie hat sich gemeldet.« »Warum sollte sie?« »Nun ja, der Job ist ja nicht für die Ewigkeit gemacht. Da ist dann irgendwann Schluss. Eventuell hatte sie auch nur die Nase voll und wollte raus aus dem Milieu? Was weiß ich?« »Und da ist sich die Polizei ganz sicher? Frau Bouche war eine Prostituierte?« 75 »Ja. Sie war registriert. Ganz offiziell.« »Ramona Bouche. Klingt ja auch schon so ein bisschen verdächtig. Wie war eigentlich ihr richtiger Name?« »Karin Maierhöfen« »Da hat sie sich aber verbessert.« Wir müssen beide kichern. Obwohl es nicht wirklich komisch ist. »Was ist eigentlich mit der Bohnacker?«, fragt mich Cornfeld, nachdem wir uns wieder beruhigt haben. »Haben Sie deren neue Adresse schon?« »Ja. Da fahre ich morgen hin.« Ich nippe an meinem Glas. Mittlerweile ist es im »20uP« richtig voll geworden. Am Nachbartisch haben sich drei durchgestylte Mädels niedergelassen, die Cornfeld begeistert anstrahlen. Er spreizt seine Flügel wie ein Gockel auf der Balz und fletscht die Zähne, dass man es mit der Angst kriegen könnte. »Passen Sie nur auf, dass Ihnen das Gebiss nicht rausfällt«, zicke ich ihn an. »Eifersüchtig?« »Auf Sie? Wirklich nicht.« Mein Gott, wie liebe ich Männer, die in meiner Anwesenheit mit anderen Frauen flirten. Das schreit nach Rache. Bitteschön, wenn er Anmache braucht, kann er Anmache haben.
»Was ich Sie noch fragen wollte, Herr Cornfeld: Können Sie mir erklären, warum Sie Informationen über Isabelle Dujack eingeholt haben? Falls es Ihnen entgangen sein sollte: Sie ist unsere Klientin.« »Ja, das ist richtig. Aber den Fall kriegen wir nur geknackt, wenn wir uns einen Informationsvorsprung verschaffen.« »Lieber Herr Cornfeld, das bezahlt uns aber keiner. Sollen 76 wir Isabelle etwa eine Rechnung über die Recherche ihrer Vergangenheit schreiben? Die erklärt uns doch für verrückt.« »Ja, aber meinen Sie nicht, dass wir rauskriegen sollten, ob es sich bei unserer Klientin um eine intellektuell unterbelichtete Esoterik-Anhängerin oder um einen intelligenten und logisch denkenden Menschen handelt?« »Vielleicht hätte ich Ihnen nicht erzählen sollen, dass sie so gut aussieht. Vielleicht hat das ja in Wirklichkeit Ihre Neugierde beflügelt?« »Das ist eine Unterstellung. Und eine ziemlich üble dazu.« Bevor er schlechte Laune bekommt, bestelle ich ihm lieber noch einen Caipirinha. Die Mädels vom Nachbartisch sind jetzt ohnehin erst einmal abgemeldet. »Wie sieht es denn mit Herrn Dujack aus? Konnten Sie über den noch etwas in Erfahrung bringen?« »Er hat eine Immobilien- und Anlageberatungsfirma mit ungefähr fünfundzwanzig Mitarbeitern in der Frankfurter City. Der Laden scheint ganz gut zu laufen. Ach ja, außerdem betreibt er noch drei Altenheime.« »Also ein klassischer Spekulant. Wie sympathisch.« Meine Pina Colada liegt mir mittlerweile wie ein Stein im Magen. Ich bestelle mir ein Glas Mineralwasser, um die Sahnebombe etwas zu verdünnen. Cornfeld will unterdessen wis-
sen, was denn in Frankfurt so los war. Also erzähle ich ihm von Isabelle Dujacks Kindheitserinnerungen, von Dr. Bayer und seiner Komapatientin, von meiner kleinen tschechischen Freundin und ihrem Hang zu halbseidenen Männern sowie von den wunderbaren, entzückenden, gemütlichen, liebenswerten Stadthotels, die es in Frankfurt rund um den Hauptbahnhof herum gibt. 77 »Das nächste Mal bring ich Ihnen eine Kakerlake mit. Und zwar eine lebende. Als kleines Souvenir.« Er zeigt sich zerknirscht und gelobt Besserung. Das wäre eine gute Gelegenheit, meinen kleinen Einkaufsbummel in Frankfurts nobler Goethestraße anzubringen. Wo er schon einmal so schön in der Defensive ist. Aber dann mache ich es doch nicht. Es würde ohnehin nichts ändern. Wenn er den nächsten Kontoauszug in die Finger kriegt, gibt es ohnehin Zoff. So oder so. Gegen halb zwölf Uhr nachts verlassen wir das Hotel. Ich relativ nüchtern, Cornfeld schon ziemlich angeschlagen. »Mein Auto steht in der Magdaaaleeenenstraße«, sagt er mit schwerer Zunge. »Können Sie mich da hinbringen?« »Sie haben vier Caipirinhas intus. Da sollten Sie wirklich nicht mehr Auto fahren.« »Kein Problem«, lallt er und läuft gegen den Kotflügel meines BMWs. »Sie sind völlig betrunken«, stelle ich fest. »Ich bin nnnüchtern«, behauptet er. Um dann etwas leiser hinzuzufügen: »Fast jedenfalls«. »Ich bringe Sie heim.« »Sie sind auch nicht nnnüchtern«, widerspricht er.
»Nnnnüchterner als Sie«, mache ich ihn nach und schubse ihn in meinen Wagen. »Das ist Nötigung«, schimpft er und lässt sich schwer auf meinen Beifahrersitz fallen. »Sie wollen mich ja nur abschleeeppen.« »Ja, da haben Sie völlig Recht. Ich bin ganz wild auf besoffene Männer. Das turnt mich unglaublich an«, erwidere ich und starte den Wagen. 78 Während ich meinen BMW durch die Bernhard-Nocht-Straße in Richtung Millerntorplatz lenke, beginnt mein Assistent mit einem kleinen Brainstorming zum Thema: »Wer hat Frau Bouche ermordet, und was hat er sich dabei gedacht?« Alkohol soll für die Kreativität ja manchmal ganz förderlich sein. Aber bei ihm ist das heute Abend nicht der Fall. Er entwickelt gigantische Theorien, die hinreißend logisch und unglaublich kompliziert sind. Komisch sind sie auch. Nur sonderlich wahrscheinlich sind sie leider nicht. Er fabuliert von Mafiageschäften, in die Herr Dujack verwickelt ist, von fiesen Gesellen, die sich an ihm rächen wollen und deshalb versucht haben, seine Frau umzubringen. »Und Frau Bouche?«, frage ich. »Die war ein von der Cosa Nostra eingeschleuster IM, der Herrn Dujack überwachen sollte.« »Ach ja, und wer hat sie dann umgebracht?« »Außerirdische, Aliens«, kichert Cornfeld. »Warum das denn?« »Die mööögen keine Frauen.« Er kringelt sich vor Vergnügen. »Dann ist ja schon mal klar, dass Sie kein Alien sind«, sage ich.
»Richtig«, antwortet er und klingt auf einmal fast nüchtern. »Ich mag Frauen. Ich mag sogar Sie.« 79 Kapitel 9 Ich setze Cornfeld direkt vor seiner Haustür ab und warte im Wagen, bis er endlich seinen Schlüssel gefunden und die Tür aufgesperrt hat. Was geraume Zeit dauert. Zum Abschied winkt er mir zu, dreht sich um und stolpert über die Schwelle. Ich kann nur hoffen, dass er es bis in seine Wohnung schafft, ohne sich größere Verletzungen zuzuziehen. Eine halbe Stunde später sitze ich im Bademantel auf meiner Couch und sehe meine Post durch, als das Telefon klingelt. Mein erster Gedanke gilt Cornfeld: Ist er die Treppe hinuntergefallen, aus dem Fenster gestürzt oder hat er sich den Kopf an der Badewanne aufgeschlagen? Meine Ängste erweisen sich als unbegründet. Michael ist dran und will wissen, wie es in Frankfurt war? Bla Bla Bla. Was ist er nett. Und was sülzt er mir ins Ohr. Sag ich etwas von Rike, die sich unter seiner Festnetznummer gemeldet hat? Bring ich ihn in Verlegenheit? Lass ich ihn die große Märchenstunde abhalten? Treib ich ihm den Verlegenheitsschweiß auf die Stirn? Er wird sich schon eine Ausrede zurechtgelegt haben. Und ich bin nicht sicher, ob ich die hören will. Ich berichte ihm ausführlich von meinen Frankfurter Erlebnissen - und schaffe es dann doch nicht, das Telefonat mit Rike unerwähnt zu lassen. Michael muss nicht eine Sekunde über die Antwort nachdenken. Rike sei in seiner Wohnung gewesen, um ein paar Flaschen Wasser zu holen und Schnittchen herzurich 79 ten. Sie hätten die Nacht durchgearbeitet und dann irgendwann Hunger bekommen.
»Mal was vom Pizzaservice gehört?«, frage ich eisig. »Diese grässlichen Pizzas kann ich wirklich nicht mehr sehen und das ganze Chinese-Food kommt mir auch zu den Ohren heraus«, wiegelt er ab. Und schon ist das Thema für ihn abgehakt. Er kommt auf das nächste Wochenende zu sprechen und schlägt vor, gemeinsam Golf spielen zu gehen. Zunächst lehne ich ab, überlege es mir dann aber anders. Vielleicht könnte ich bei der Gelegenheit mal mit ihm Tácheles reden und mit drastischen Konsequenzen drohen, sollte diese Rike nicht schleunigst aus seinem Leben verschwinden. Allerdings bin ich skeptisch, ob eine Aussprache wirklich etwas bringen wird. Man kann Menschen nicht ändern, hab ich mal gelesen, man kann nur sich selbst ändern. Aber so weit bin ich noch nicht. Ich gehe ins Bad und putze mir die Zähne. Beim Blick in den Spiegel fällt mir plötzlich wieder ein, dass ich bald zweiundvierzig Jahre alt werde. Angesichts meines dramatisch fortschreitenden Alters sieht mein Spiegelbild auf einmal ganz grau aus. »Macht doch nichts«, sag ich zu ihm. »Das mit dem Älterwerden haben schon so viele Menschen geschafft. Das schaffen wir auch.« Jetzt wird mein Spiegelbild wehleidig und jammert mir etwas von verlorener Jugend, schwindender Attraktivität, Falten und Haarausfall vor. »Blödsinn, Frauen in unserem Alter haben ihre besten Jahre doch noch vor sich.« »Quatsch«, giftet mein Spiegelbild. »Absoluter Quatsch, jetzt beginnt die Noch-Ära.« 80 »Die was?«
»Die Noch-Ära. Verstehst du. Noch siehst du gut aus, noch kannst du Kinder und vielleicht auch noch den Mann fürs Leben kriegen. Noch bist du fit und noch klappt's auch beruflich.« »Noch geht jeder Mann mit mir ins Bett«, sage ich leise. »Bist du sicher?«, höhnt es aus meinem Spiegel. Aber ich habe keine Lust, mich von dieser Jammertussi runterziehen zu lassen. »Schönheit kommt von innen. Und Jugend ist eine Frage des Herzens und keine des Aussehens«, erkläre ich selbstbewusst. Mein Spiegelbild beginnt hämisch zu kichern. »Glaub mir, in spätestens fünf Jahren bist du unsichtbar. Kein Autofahrer wird deinetwegen an einem Zebrastreifen halten. Das Risiko, im Straßenverkehr ums Leben zu kommen, wird sich verzehnfachen.« »Das glaube ich nicht, ich werde leuchten. Von innen heraus leuchten. Meine Schönheit wird aus meinem Innern kommen.« »Ja, bestenfalls kannst du dich ja als Straßenbeleuchtung nützlich machen. Dann erfüllst du wenigstens noch einen sozialen Zweck.« Jetzt reicht es. Ich gehe mit der Nasenspitze bis dicht an den Spiegel heran und sage ganz, ganz leise: »Hatte ich dir schon erzählt, dass ich mir einen neuen Spiegel kaufen will?« Das wirkt. Endlich ist Ruhe. Es ist zwei Uhr nachts und ich bin kein bisschen müde. Mein Geburtstag geistert mir immer noch durch den Kopf. Ich könnte eine richtige tolle Fete machen. Mit vielen netten Leuten. Ein Fest auf einem Alsterschiff zum Beispiel. Wir 81
würden geruhsam auf den wunderschönen Kanälen Hamburgs fahren, uns die Jugendstilvillen von hinten begucken und dabei kleine Leckereien und eine Menge Schampus konsumieren. Ein schöner Traum. Aber zu teuer, viel zu teuer. Ich sitze auf meinem Bett und starre aus dem Fenster. Älter zu werden ist ja schon schwierig, aber kein Geld zu haben, um es richtig zu feiern, ist geradezu trostlos. Da kommt mir eine Idee. Vielleicht könnte jemand eine Überraschungsparty für mich organisieren. Das wäre doch nicht schlecht. Aber wen könnte ich in diese Falle tappen lassen? Alexandra! Genau! Die Ideal-Besetzung. Ich müsste Alexandra mit Cornfeld zusammenbringen, einem Organisationstalent, der ihr unter die Arme greifen könnte. Und ich würde ihnen indirekt ein paar Tipps geben, wo das Ganze stattfinden könnte, wer eingeladen werden sollte und so weiter und so weiter ... Je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Idee. Da kann ich nur froh sein, dass ich Alexandra am Flughafen dann doch nicht auf den Mann angesprochen habe, der mir am Handy von der geilen Nacht mit ihr vorgeschwärmt hat. Denn hätte ich ihr gebeichtet, dass ich einfach so an ihr Telefon gegangen bin, wäre es jetzt sehr viel schwieriger, sie für mein Geburtstagsfest einzuspannen. Ein Problem gibt es allerdings. Ich weiß nicht mehr, wo ich den Zettel mit ihrer Telefonnummer gelassen habe. Sie hat sich nämlich nicht nur ein neues Handy, sondern auch eine neue Nummer zugelegt. In meiner Handtasche werde ich nicht fündig, auch nicht auf meinem Schreibtisch. Verdammt. Ich beginne, im Arbeitszimmer die Regalwand zu durchsuchen. Als ich aus einem oberen Fach ein paar Unterlagen herausziehen will, fällt mir der ganze Stapel auf den Kopf. Vorneweg ein kleines rotes Büchlein. Gerührt hebe ich es auf.
83 Mein altes Tagebuch. Mein Gott, ist das lange her. Zwischen meinem elften und fünfzehnten Lebensjahr habe ich Tagebuch geführt. Danach nie wieder. War ja auch nie wieder so spannend. Ich beginne, in dem Buch zu blättern und einzelne Passagen zu lesen. Unglaublich, wie naiv ich damals war. Aber auch unglaublich, was damals alles passiert ist. Während ich am Boden hocke und meine Teenagererlebnisse wieder Gestalt annehmen, bekomme ich auf einmal eine Gänsehaut. Meine Gesichtshaut fängt an zu prickeln, meine Halsmuskulatur verkrampft sich. Das kenne ich. Mich gruselt's. Das passiert immer, wenn mein Unterbewusstsein etwas begriffen hat, was langsam in mein Bewusstsein einzusickern beginnt. Meine Beine kribbeln. Meine Nackenhaare sträuben sich wie bei einer angriffslustigen Katze. Und dann ist es so weit: I got the message. Mir wird vor Aufregung ganz schlecht. Ein Tagebuch. Ein Tagebuch, hämmert es in meinem Kopf. Ich muss nach einem Tagebuch suchen. Gut denkbar, dass Simone ein Tagebuch geführt hat. Das tun Mädchen in diesem Alter ja häufig. Erst recht, wenn es ihnen nicht gutgeht und sie niemanden haben, mit dem sie über ihre Probleme reden können. Ich bin mir ganz sicher. Kein Notizbuch, kein Adressbuch. Ein Tagebuch! Ich sag's ja - weibliche Intuition ist durch nichts zu ersetzen. 83 Kapitel 10 »So ein Blödsinn«, sagt Cornfeld am nächsten Morgen. »Weiberkram. Kein Beweis. Kein Indiz. Aber ein Kribbeln in den Beinen. Oder war es zwischen den Beinen?« »Cornfeld, ich warne Sie.«
»Ja, ja. Ist ja schon gut. Ich nehme alles zurück. Wir streichen es aus dem Protokoll.« »Nun hören Sie schon auf, hier herumzualbern.« »Okay, okay. Sie wollen jetzt allen Ernstes nach einem Tagebuch suchen?« »Ich denke schon.« »Und wer soll dieses ominöse Tagebuch geführt haben?« »Simone.« »Das haben Sie heute Nacht geträumt, oder wie?« »Nein, das nicht. Aber ich habe gestern Abend mein eigenes Tagebuch gefunden, und da ist mir aufgefallen, dass Mädchen in diesem Alter gerne ihre Erlebnisse und Sorgen aufschreiben. Und da ist es doch relativ naheliegend, dass auch Simone das getan hat. Schließlich steht ein Kind, bevor es sich umbringt, unter einem so immensen psychischen Druck, dass es so etwas wie ein Ventil braucht. Vor allem, wenn es anscheinend in seinem Umfeld niemanden gab, an den es sich hätte wenden können.« »Ja, aber dann käme Frau Dujack doch genauso in Frage. Unter Umständen hat sie sich schon vor dem Stromschlag be 84 droht gefühlt oder hat verdächtige Dinge beobachtet und die in einem Tagebuch festgehalten?« »Stimmt«, gebe ich zu. »Auch Frau Bouche könnte Aufzeichnungen über ihre Zeit bei den Dujacks gemacht haben. Dann ist sie vielleicht deswegen umgebracht worden. Und danach hat der Mörder dieses Tagebuch in ihrer Wohnung gesucht und womöglich auch gefunden. Er hat ja alles auf den Kopf gestellt.« »Und wenn Frau Bouche das Tagebuch in einem Schließfach aufbewahrte oder einen Safe in ihrer Wohnung hatte?«
»Ich habe alle Zimmer, alle Schränke, alle Schubladen durchgesehen, hinter jedes Bild geguckt«, sage ich. »Da war kein Safe und kein Schließfachschlüssel. Ich denke, dass Simone ...« »Wenn es tatsächlich Simone war, die Tagebuch geführt hat«, unterbricht mich Cornfeld, »warum wurde dann Frau Bouche ermordet?« »Was«, sage ich. »Was, wenn Frau Bouche dieses Tagebuch, wer auch immer es geschrieben hat, an sich genommen hat?« »Warum? Warum sollte sie das tun?« »Weil etwas Belastendes drin stand. Für wen auch immer. Vielleicht hat sie sogar gewusst, wer den defekten Tauchsieder in Frau Dujacks Badewasser geworfen hat. Oder Simone hat es gewusst und aufgeschrieben. Deshalb hat Frau Bouche das Tagebuch verschwinden lassen.« »Dann hätte sie den Täter gedeckt«, sagt Cornfeld. »Und aus lauter Dankbarkeit hat der sie dann umgebracht.« »Oder sie hat den Täter erpresst.« »Und der hatte nach so vielen Jahren keine Lust mehr zu zahlen. Also das macht doch überhaupt keinen Sinn.« 85 »Vielleicht hat der Täter kalte Füße bekommen, nachdem Isabelle Dujack mich eingeschaltet hat. Schließlich musste er befürchten, dass Frau Bouche doch noch auspacken würde.« »Das sind alles nur Spekulationen«, wehrt Cornfeld ab. »Wir haben nicht den geringsten Beweis. So leid es mir tut, aber Ihr Tagebucheinfall bringt uns keinen Schritt weiter.« »Es sei denn, wir finden eins.« »Das glauben Sie doch selbst nicht.« Wir einigen uns darauf, den schwarzen Peter an Isabelle weiterzugeben und telefonisch nachzufragen, ob eines ihrer
Familienmitglieder oder einer der Angestellten jemals Tagebuch geführt habe. Isabelle müsste es ja wissen. Leider ist sie nicht zu Hause. Und den Butler kann ich schlecht fragen. Also vertage ich das Ganze auf Montag und packe meinen Krempel zusammen. Bevor ich gehe, sehe ich noch einmal bei Cornfeld rein. »Ich fahre zur Bohnacker. Und komme danach wahrscheinlich nicht mehr ins Büro.« »Alles klar«, antwortet er. »Schönes Wochenende.« »Gleichfalls«, sage ich und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. In der Rothenbaumchaussee gerate ich in einen Stau und benötige von der Hallerstraße bis zum Klosterstern fast zehn Minuten. Ganz Eppendorf scheint dicht zu sein. Ich biege in die Oderfelder Straße ein, wo ich relativ schnell einen Parkplatz finde. Von dort bin ich in wenigen Minuten in der Isestraße. Hier stehen wunderschöne großherrschaftliche Jugendstilhäuser und großzügige Stadtvillen. Wer in dieser Gegend wohnt, hat reichlich Geld. Auf der anderen Seite der 86 Oderfelder Straße wird die Isestraße von den Hamburgern »Miesestraße« genannt. Dort sind die Häuser zwar immer noch schön, aber nicht ganz so prächtig. Und durch die Nähe zur U-Bahn-Station ist es relativ laut. Der letzte Teil bis zur Hoheluftchaussee heißt im Volksmund »Fiesestraße« wegen der Hochbahn, die dort verläuft. Nicht jeder liebt es, beim Abendessen von den an den Wohnzimmerfenstern vorbeirasenden U-Bahn-Insassen bestaunt zu werden. Frau Bohnacker hat es mit ihrem neuen Laden also in die »Fiesestraße« geschafft. In den Teil, der schön, angesagt, im-
mer noch relativ teuer ist und durch die Nähe zum Eppendorfer Baum genügend Laufkundschaft verspricht. Ihr Salon befindet sich in einem perfekt restaurierten Jugendstilgebäude, dessen Außenfassade in hellen Beigetönen gehalten ist. Als ich die Tür aufdrücke, ertönt eine Glocke und kurz darauf eine unangenehme Frauenstimme. »Wir haben noch nicht geöffnet.« »Frau Bohnacker«, rufe ich und laufe fast gegen einen Tapeziertisch, als aus einem benachbarten Zimmer eine Frau auftaucht. »Wer sind Sie?« »Mein Name ist Pia Petry.« Sofort verschwindet ihr angespannter Gesichtsausdruck und macht einem süßlichen Lächeln Platz. Sie streckt mir die Hand entgegen. »Frau Dujack hat mir schon gesagt, dass Sie vorbeischauen würden. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« »Ganz meinerseits«, antworte ich steif und schüttele ihre Hand, die klein, dick und feucht ist. Schnell lasse ich sie wieder los. 87 »Sie haben hier einen sehr schönen Laden«, sage ich und sehe mich um. »Ja. Es ist gar nicht so leicht, ein solches Schmuckstück zu ergattern. Vorher war ich ja im Karoviertel. Da ist es auch nicht schlecht. Aber das hier«, sagt sie, und ein seliges Lächeln spielt um ihre Lippen, »das hier ist ein Traum.« Ich nicke. »Frau Bohnacker, wenn Isabelle Dujack mit Ihnen gesprochen hat, dann wissen Sie ja sicherlich, warum ich hier bin.« »Wegen Isabeiles Mutter, ich weiß. Eine schlimme Geschichte.« Betrübt blickt sie zu Boden.
»Können wir irgendwo eine Tasse Kaffee zusammen trinken? Vielleicht vorne im >Kaufrausch<.« Sie schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, aber ich warte auf eine Möbellieferung. Außerdem sollte der Schreiner längst da sein.« Gestresst wirft sie einen Blick auf die Straße. Das passt mir gar nicht. Ich habe keine Lust, eine so heikle Sache mal eben zwischen Tür und Angel zu besprechen. Aber so wie es aussieht, bleibt mir keine andere Wahl. »Frau Bohnacker, hatten Sie je einen Verdacht, wer Frau Dujack den Tauchsieder ...« »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Aber ich kann Ihnen sagen, wem ich es zutrauen würde«, erklärt sie. »Dieser Dujack war ein richtiges cholerisches Arschloch. Wie der sich benommen hat, gegenüber seiner Frau und den Kindern. Das können Sie sich nicht vorstellen.« »War er denn an dem Tag zu Hause? Zu der Zeit, als der vermeintliche Unfall passiert ist?« »Offiziell nicht. Aber er hätte problemlos ins Haus gelangen können, ohne dass ihn jemand gesehen hätte. Die Villa ist riesig und hat zwei Nebeneingänge.« 88 »Wer hat denn die Leiche gefunden?« »Die Kinder«, sagt sie leise. »Da war es kein Wunder, dass Simone depressiv geworden ist und sich umgebracht hat. Sie war ein so wahnsinnig hübsches und sensibles Kind.« »Hat sich nach dem Unfall irgendjemand besonders auffällig um die Gesundheit von Frau Dujack gesorgt? Häufiger nachgefragt, sie oft besucht?« Frau Bohnacker schüttelt den Kopf. »Die Bouché - Gott hab sie selig«, sagt sie und bekreuzigt sich, »die hat Frau Dujack bewacht wie ein Kettenhund, die hat niemanden zu ihr
gelassen. Und wenn, stand sie immer wie ein Zinnsoldat daneben und hat aufgepasst.« »Wissen Sie warum?« »Damals habe ich gedacht, die macht sich wichtig. Die hat ja noch nicht einmal die Kinder unbeaufsichtigt ins Zimmer der Mutter gelassen. Aber jetzt, nachdem sie ermordet worden ist, bin ich mir nicht mehr so sicher.« »Sie meinen, sie wusste etwas.« »Ist doch naheliegend. Sie mochte den Dujack auch nicht. Sie hatte Angst vor ihm, wie wir alle. Aber manchmal hat sie ihn mit einem Blick angesehen, als ob sie ihn hassen würde.« »Und deshalb verdächtigen Sie Klaus Dujack? Weil er unsympathisch und tyrannisch war, weil Frau Bouché ihn nicht mochte, weil...« »Wissen Sie, was auch seltsam war?«, unterbricht sie mich. »Es sind immer wieder Tiere verschwunden.« »Tiere verschwunden?«, frage ich. »Ja. Zuerst ein Hund, ein Welpe, ich glaube, es war ein Golden Retriever. Dann eine Katze, und soweit ich mich entsinne, auch ein Hamster.« »Und wie sind die verschwunden?« 89 »Die waren irgendwann einfach weg. Eines Tages war der Hund fort. Es wurde behauptet, er wäre durch ein Loch im Gartenzaun abgehauen und von einem Auto überfahren worden. Aber es hat sich nie jemand gemeldet, der den Hund überfahren oder den Unfall beobachtet hat, obwohl die Kinder überall Plakate mit einem Foto von dem Tier aufgehängt haben. Dann bekam Simone eine Katze, die ist nach drei Wochen nicht mehr aufgetaucht. Und der Hamster ist nur eine
Woche da gewesen. Danach sagte Dujack, dass er keine Haustiere mehr anschaffen würde.« »Und was glauben Sie, was dahintersteckte?« »Wissen Sie, Dujack war unberechenbar. Entweder hat er seine Töchter vergöttert und sie mit Geschenken überschüttet oder er hatte schlechte Laune und hat die dann an seiner Frau und den Mädchen ausgelassen. In diesen Hochphasen wurden übrigens auch die Tiere angeschafft. Ich fand das alles ziemlich furchtbar und habe auch ziemlich schnell gekündigt.« »Und Sie meinen, wenn er schlechte Laune hatte, dann ...« Wir werden von der Glocke unterbrochen. Die Tür schwingt auf, und ein Mann in Jeans und Lederjacke kommt herein. »Ich such die Frau Bohnacker.« »Das bin ich.« »Derenbach«, stellt er sich vor. »Wir bringen die Möbel.« »Aber der Schreiner ist noch gar nicht da«, schimpft sie. »Ich rufe da sofort an. Das ist eine absolute Unverschämtheit ...« Dann kommt sie auf mich zu und schüttelt mir die Hand. »Tut mir leid, ich habe keine Zeit mehr. Grüßen Sie Frau Dujack ganz lieb von mir.« 90 Und schon zückt sie ihr Handy und ist im angrenzenden Zimmer verschwunden. Ich nicke dem Mann zu und gehe hinaus. Vor dem Laden steht jetzt ein großer gelber Laster, der die komplette Straße einnimmt. Da kann ich nur froh sein, dass ich um die Ecke geparkt habe. Ich mache mich auf den Weg zum »Kaufrausch«. Einer Art Minikaufhaus auf drei Etagen, mit einem Cafe, einer kleinen Mode-Boutique und Abteilungen für Lederwaren und diverse Geschenkartikel. Mein Lieblingsplatz ist am Tresen, auf einem Barhocker direkt am Schaufenster, von wo aus ich die ganze Straße überblicken kann. Während der Kellner mir
einen Cafe Latte zubereitet und mir ein Croissant auf einem kleinen weißen Teller reicht, gehe ich in Gedanken das Gespräch mit Frau Bohnacker noch einmal durch. Die Frau ist wirklich unglaublich. Sie schiebt mal so eben Klaus Dujack die Schuld in die Schuhe. Ohne den geringsten Beweis. Und auch ohne, dass ich hätte nachbohren müssen. Ganz von selbst und völlig hemmungslos. Solchen Aussagen misstraue ich generell. Was einem so leicht in den Schoß fällt, was so schnell und problemlos ausgeplaudert wird, kommt mir immer suspekt vor. Auf der anderen Seite hat ihre Version auch eine gewisse Logik. In dem Zusammenhang kommt mir das blonde Haar wieder in den Sinn, das ich in Frau Bouches Wohnung gefunden habe. Es könnte sehr wohl von Dujack stammen, der seine Haare hinten etwas länger trägt. Und womöglich hat die Bouche tatsächlich gewusst, wer Frau Dujack den Tauchsieder ins Badewasser geworfen hat. Und ist deshalb von ihrem ehemaligen Arbeitgeber ermordet worden. Nachdenklich verrühre ich den Zucker in meinem Kaffee. Was mich allerdings auch beschäftigt, sind Frau Bohnackers finanzielle 91 Verhältnisse. Auf der einen Seite zahlt sie monatelang keine Miete, türmt bei Nacht und Nebel und kann sich dann auf einmal einen Laden in einer solchen Lage leisten. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und tippe die Nummer der jungen Frau aus dem Zeitungskiosk ein. Nach zweimaligem Klingeln geht sie dran. »Pia Petry«, melde ich mich. »Ich war kürzlich bei Ihnen im Laden und ...« »Ja, ja, ich weiß schon.«
»Es geht noch mal um Frau Bohnacker. Haben Sie in der Zwischenzeit etwas von ihr gehört?« »Ja. Sie hat bezahlt.« »Echt?« »Sechs Monatsmieten. In einem Betrag. Brauchen Sie ihre neue Adresse?« »Nein, nein. Die habe ich bereits«, sage ich, bedanke mich und lege auf. Woher hat die Frau plötzlich so viel Geld? Da stimmt doch was nicht. Ich rufe Cornfeld an, erzähle ihm von meinem Gespräch mit Frau Bohnacker und bitte ihn, ihre Finanzen unter die Lupe zu nehmen. Auf dem Rückweg zu meinem Wagen komme ich noch einmal an dem Laden von Frau Bohnacker vorbei. Hinter dem Laster steht ein kleiner weißer Lieferwagen mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Aha, denke ich, nun ist der Handwerker also da. Und der Traum vom exklusiven Kosmetiksalon kann Gestalt annehmen. 92 Kapitel 11 Sonntagmorgen. Der Wecker klingelt. Es ist halb sieben. Ich weiß nicht, warum mein lieber Michael zu solchen Zeiten auf den Golfplatz muss. Acht Uhr. Der spinnt. Kein Mensch ist um diese Zeit fit. Kein Mensch will um diese Zeit abschlagen. Und schon gar nicht im Februar. Mit einer Ausnahme: Michael. Weil der Platz morgens so schön leer und ruhig ist. Der Morgentau noch auf dem Gras glitzert und die Sonnenstrahlen wunderschöne Muster auf den Rasen zeichnen, die Vögel zwitschern, der Fuchs durch die Büsche schleicht und die Kaninchen über das Fairway hoppeln. Natur pur und nur für uns.
Fluchend quäle ich mich aus dem Bett und ärgere mich über meine blöde Nachgiebigkeit. Anderthalb Stunden später treffe ich völlig abgehetzt am ersten Abschlag ein. Wo ich mit Erstaunen feststelle, dass Michael Recht behalten hat. Das Licht glitzert tatsächlich auf den feuchten Grashalmen, am Horizont kann ich drei Rehe erkennen, die auf dem benachbarten Fairway grasen, die Luft ist kalt und klar. Ich atme tief durch und bin froh, meinen inneren Schweinehund überwunden und hierhergekommen zu sein. Allerdings ändert das schöne Wetter nichts an meiner mangelnden Golfpraxis. Mein erster Abschlag ist eine absolute Katastrophe. Wie ein Rohrkrepierer rast der Ball schräg über das Gras, um in einem stacheligen Verhau aus Büschen und 93 Bodendeckern zu verschwinden. Widerwillig gehe ich zu der Stelle, wo ich glaube, dass mein kleiner weißer Freund verschwunden ist, und krieche ins Unterholz. Ich finde ein paar hübsche Pilze, eine tote, von der Natur schon halb verdaute Maus und einen orangefarbenen Ball. Gehört nicht mir. Eindeutig. Aber Ball ist Ball. Da kenne ich keine Vorbehalte. Orange ist auch eine hübsche Farbe. Also zurück aufs Fairway. Danach gelingen mir ein paar ganz ordentliche Schläge mit meinem 7er-Holz. Meine Laune verbessert sich. Der orangefarbene Ball scheint mir Glück zu bringen. Bei Michael hingegen klappt gar nichts. Er ist zwar der weitaus bessere Spieler von uns beiden, aber mittlerweile schlägt er so weit, dass die Bälle kräftig verziehen. Das heißt, sie gehen hoch in die Luft, beschreiben eine leidlich gerade Linie und drehen dann plötzlich ab. Zur Zeit am liebsten nach rechts. Das gibt ziemlich unschöne Töne, wenn der Ball dann gegen einen Baum knallt oder leise raschelnd durch die Büsche
rauscht. Und das Ganze wird auch nicht melodischer, wenn es ständig wiederholt wird. Es kommt, wie es kommen muss. Nach neun Löchern brechen wir ab. Michael hat schlechte Laune. Und ich verabschiede mich von der Idee, mit ihm auf einer geruhsamen, entspannten Runde über unsere Beziehung, unsere Zukunft und seine Vorliebe für pickelige Cutterinnen zu reden. Dafür bleibt keine Zeit, und es scheint auch nicht mehr der richtige Zeitpunkt zu sein. Wortlos stapft Michael neben mir her und scheint in Gedanken jeden einzelnen misslungenen Schlag zu analysieren. Schnell hat er die Schuldigen gefunden. »Mein Putter taugt einfach nichts«, knurrt er, »und der Driver bringt's auch nicht.« 94 Beides sind nagelneue Schläger, von renommierten Firmen versteht sich. Konsequenz? Wir gehen in den Pro-Shop. Während Michael sich einen trendigen Fti-Driver von Callaway für schlappe 379 Euro zeigen lässt, liebäugle ich mit Bällen in Orange. Eigentlich gehört sich das nicht. Ein Golfer, der Stil hat, spielt weiße Bälle. Gelbe, pink- und orangefarbene benutzt man im Winter, um sie im Schnee besser erkennen zu können. Wer im Sommer damit spielt, outet sich als Anfänger oder als neureicher Kretin. Das wurde mir wenigstens erzählt. Orange bringt mir aber Glück. Und das ist ausschlaggebend. In dem Laden gibt es eine große Schale mit preiswerten Golfbällen in allen Farben. Also beginne ich, die orangefarbenen herauszuklauben und sie mühevoll in meiner Armbeuge zwischenzulagern. Gerade als mir durch den Kopf geht, dass ich ja dann auch noch farblich passende Golftees dazu brauche, ertönt eine Männerstimme hinter mir.
»Sie werden doch nicht diese Schrottbälle kaufen, Frau Petry?« Das Ergebnis ist, dass meine kleine orangefarbene Pyramide kläglich zusammenbricht und fünfzehn Bälle über den frisch gewienerten Parkettboden in alle Richtungen davon-hüpfen. Ich drehe mich langsam um und ahne schon, was da auf mich zukommt: Rhett Butler in Blond. Seine strahlend blauen Augen treiben mir mal wieder das verhasste Rose ins Gesicht. Ausgerechnet jetzt läuft mein Kreislauf zur Hochform auf und pumpt alle vorhandenen Blutreserven in Richtung der Leuchtdiode, die mal mein Kopf war. Ich grinse hilflos und stottere etwas von Glücksbringern und rassistischen Vorurteilen gegenüber farbigen Golfbällen. Dujack amüsiert sich. Das freut mich und ärgert mich gleichermaßen. Und er sieht wieder blendend aus. 95 Das hat auch Michael bemerkt. Sofort steht er neben mir, legt den Arm um mich und demonstriert Besitzerstolz. Die Art, wie die beiden Männer sich mustern, erinnert an zwei Platzhirsche, die sich mit gesenktem Geweih gegenüberstehen. Fest entschlossen, ihre Revieransprüche durchzusetzen. Sympathie kommt da keine auf. Bevor sie sich die Fehdehandschuhe vor die Füße werfen und sich mit Golfschlägern duellieren, versuche ich die feindselige Stimmung etwas zu entkrampfen. Erst einmal stelle ich die beiden einander vor, damit sie auch wissen, wer ihnen da so unsympathisch ist. Mein Bestreben, ein wenig Smalltalk in Gang zu bringen, gestaltet sich allerdings mühsam. »Was machen Sie denn in Hamburg, Herr Dujack?« »Geschäfte.« »Waren Sie schon oft hier?« »Ein paarmal.«
»Wie lange spielen Sie denn schon Golf?« »Seit fünfzehn Jahren.« »Oh, da sind Sie bestimmt ziemlich gut. Was haben Sie denn für ein Handicap?« »Sechs. Und Ihr Handicap?« »Steht neben mir«, rutscht es mir raus. Was Michael natürlich gar nicht witzig findet. »Sie hat überhaupt kein Handicap«, zischt er wütend. Na, ja, denke ich, wenn man mal von meinem bevorstehenden Geburtstag absieht. Als dann geklärt ist, dass Michael Handicap achtzehn hat, bildet Dujack überraschenderweise doch noch ganze Sätze und fragt uns, ob wir nicht Lust hätten, eine Runde mit ihm zu spielen. Ich bin natürlich sofort dafür, Michael ist natürlich sofort dagegen. Mit dem Spruch »Wir haben leider noch etwas vor«, schmettert er das Ange 96 bot kurzerhand ab. Dass er mich ausbremst und auf traute Zweisamkeit macht, passt mir überhaupt nicht. Dujack grinst. Mein entnervter Gesichtsausdruck scheint ihm zu gefallen. Langsam findet er zu seiner alten Souveränität zurück. »Das ist schade. Aber vielleicht sehen wir uns ja noch, Frau Petry.« Er strahlt mich an. Ich strahle zurück. »Stehen Sie im Telefonbuch?« »Ja, klar. Pia Petry, Husumer Straße.« »Schön. Ich melde mich.« Da geht er hin. Was für ein Mann. Der Meine hat jetzt schlechte Laune. Dujack hat ihn kühl lächelnd abtropfen lassen. Ihn und seine Besitzansprüche ignoriert und sich über seinen Kopf hinweg mit mir verabredet. Eins zu Null für Rhett
Butler. Das kommt davon, wenn man mit Leuten in den Ring steigt, die die falsche Gewichtsklasse haben. »Du wirst doch nicht mit dem Affen da ausgehen«, knurrt er. »Warum nicht. Er ist der Adoptivvater meiner Klientin. Vielleicht kann er mir ja etwas Interessantes erzählen.« »Quatsch. Der will nichts erzählen. Der will was ganz anderes.« Michael ist stocksauer. Eine solche Niederlage hat er schon lange nicht mehr einstecken müssen. Wut und Frust sitzen tief. Das schreit nach Kompensation. Und das Objekt der Begierde ist auch schnell gefunden. Er kauft den 379-Euro-Schläger. Ohne mit der Wimper zu zucken, schiebt er seine Kreditkarte über den Verkaufstresen. Jetzt reicht's mir. »Bist du noch ganz bei Trost?« 97 »Wieso?« »Darf ich dich daran erinnern, dass ich demnächst Geburtstag habe.« »Ja und?« »Wenn du denkst, du kannst mir wieder ein Waschbrett schenken, auf dem steht, dass du dich freuen würdest, wenn wir auch in Zukunft unsere schmutzige Wäsche gemeinsam waschen, dann hast du dich geschnitten.« »Ich dachte, das Geschenk hat dir gefallen.« »Doch, sicher, sehr originell. Sehr einfallsreich. Und in der Anschaffung so preiswert.« »Auf den Preis kommt es doch nicht an.« »Natürlich nicht, Geld spielt keine Rolle. Das sieht man ja an dem schwachsinnigen Schläger hier. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du deinen Slice mit dem Ding da wegkriegst?« »Aber sicher.«
»Aber ganz sicher nicht. Mit ein paar Trainerstunden wäre das Problem billiger und effektiver zu lösen. Das weißt du so gut wie ich. Aber wenn du Frustkäufe so liebst und bereit bist, so viel Geld dafür auszugeben, dann erwarte ich, dass du dir für meinen nächsten Geburtstag etwas ganz Besonderes einfallen lässt. Und ich meine nicht besonders originell, ich meine besonders teuer. Hast du mich verstanden? Sonst kannst du in Zukunft deine schmutzige Wäsche alleine waschen.« Auf der Heimfahrt reden wir kein Wort mehr miteinander. Ich denke die ganze Zeit an Rhett Butler, der bei diesem herrlichen Wetter allein über den Platz geht. Schade eigentlich. Ich hätte gerne eine Runde mit ihm gespielt. Er gehört zu den Männern, die gut aussehen und beruflich erfolgreich 98 sind, die aber zu dominant und einen Tick zu prollig auftreten, um wirklich attraktiv zu sein. Trotzdem hätte ich ihn gerne näher kennengelernt. Schon um festzustellen, ob hinter seiner »Jetzt-komme-ich«-Attitüde mehr steckt als das typische Machogehabe eines Alphamännchens. Denn irgendetwas reizt mich an ihm. Und ich hätte zu gern gewusst, was das ist. Als ich nach Hause komme, liegt ein Brief auf meiner Fußmatte. Rebbelmeier ist ein paar Tage an die Ostsee gefahren und bittet mich, seine Zimmerpalme zu versorgen. Entsorgen wäre mir zwar lieber, aber das kann ich ihm nicht antun. Vor zwei Jahren hat er diese Katastrophe von einer Pflanze aus dem Müllcontainer gezogen und sie liebevoll wieder aufgepäppelt. Seither erzählt er mir immer etwas von seinem grünen Daumen. Nur wenn er auf mein Grünzeug aufpassen soll, dann sind meine Pflanzen anschließend entweder halb ersoffen oder fast vertrocknet. Da ist rein gar nichts von seinem grünen Daumen zu spüren. In seinem Brief schreibt er mir
außerdem, dass er die Besitzerin des grünen Slips ausfindig gemacht hat. Es handelt sich um die sechzehnjährige Tochter von Frau Hoppe aus dem dritten Stock. Gott sei Dank, damit wäre die Mordtheorie ja wohl endgültig vom Tisch. Am Sonntag schlafe ich erst einmal richtig aus. Bis zwölf Uhr. Herrlich. Dann mache ich es mir mit einer Tasse Tee und meinen Zeitungen im Bett gemütlich. Nachdem ich mich wieder ausgiebig über die Ungerechtigkeiten dieser Welt echauffiert habe, begebe ich mich ins Badezimmer. Die nächsten zwei Stunden gehören ganz allein mir. Mir und meiner Schönheitspflege. An solchen Tagen genieße ich mein Singledasein. Kein 99 Mann, der mich mit frühmorgendlichen, hektischen Aktivitätsgelüsten aus meinem heimischen Badezimmer vertreibt. Der den Frühnebel beim Joggen genießen, die Matinee-Vorstellung im Kino oder Dutzende von Kunstausstellungen sehen will. Der ganze Tag gehört mir. Und ich kann damit machen, was ich will. Zum Beispiel um drei Uhr zu Mittag essen. Oder um fünf joggen gehen. Und um sechs auf der Couch einschlafen. Punkt sieben klingelt das Telefon. Total verschlafen robbe ich durchs Zimmer und suche den Apparat. Unter der Couch werde ich fündig. »Petry.« »Dujack.« Jetzt bin ich wach, hellwach. »Hallo, Herr Dujack. Das ist aber nett, dass Sie anrufen.« Will er mich etwa zum Essen einladen? »Hätten Sie Lust, mit mir zu Abend zu essen?« »Ja, gerne«, rutscht es mir heraus. Zurückhaltung war ja noch nie mein Ding. Wir verabreden uns für zwanzig Uhr bei meinem Lieblingsitaliener im Grindelhof.
Während ich ihm erkläre, wie er von seinem Hotel aus dorthin kommt, überlege ich schon fieberhaft, was ich anziehen soll. Eines ist klar: Die Entscheidung wird nicht leicht werden. 100 Kapitel 12 Der Montag ist normalerweise nicht mein Tag. Die bevorstehende Woche zeigt sich dann meistens als speiendes Ungeheuer in meinem Badezimmer und starrt mich drohend aus rotgeränderten Augen an. Arbeit, Hektik und Stress verheißend. Doch heute ist das Ungeheuer nicht erschienen. Und auch der Spiegel ist nett und zeigt mir ein entspanntes, ausgeruhtes, glücklich strahlendes Gesicht. Nur das Wetter spielt nicht mit. Der Winter hat Hamburg fest im Griff. Als ich aus dem Haus komme, wirbeln Dreck, altes Laub und eine schmutzige Plastiktüte durch die Luft. Wild knatternd bleibt die Tüte in einem der benachbarten Gartenzäune hängen. Die kahlen Baumäste ragen schwarz und knorrig in einen Himmel, an dem sich dunkle Regenwolken ballen. Fröstelnd schlage ich den Mantelkragen hoch. Trotz des miesen Wetters lasse ich den Wagen stehen. Die Parkplatzsuche gestaltet sich sowohl in der Magdalenenstraße als auch in der Husumer Straße schwierig. Da ist es einfacher zu Fuß zu gehen. Im Büro erwartet mich ein bestens gelaunter Cornfeld. Das passt ja prima. Sein Wochenende war einsame Spitzenklasse. Er hatte eine Begegnung der dritten Art. Weiblich, zwanzig Jahre jung, Sportstudentin, bildhübsch und wahnsinnig intelligent. Die Frau ist so schlau - und das spricht echt für 100 sie -, dass sie von Cornfeld nichts, aber auch überhaupt nichts wissen will. Damit hat sie alle Voraussetzungen, um die ab-
solute Nummer eins zu werden. Die Frau seines Lebens. Auf nichts hat sie reagiert. Weder auf seinen künftigen Doktortitel noch auf seine angeblich glänzenden Karriereaussichten. Sein sonst unwiderstehlicher Charme prallte an ihr ab wie ein Squashball von der Betonwand. Sie hat sich geweigert, ihre Telefonnummer rauszurücken, seine in den nächsten Mülleimer verfrachtet und etwas gesagt, das nach »piss off« klang. Mein Gott, Cornfeld ist hin und weg. Welches Temperament, welche Klasse. Diese Frau gilt es zu erobern, das ist das weibliche Wesen, das die künftigen kleinen Cornfelds auf die Welt bringen soll. Es ist mal wieder von langfristigen Perspektiven und tiefgehenden Gefühlen die Rede. »Ach Cornfeld, das hatten wir doch alles schon mal. Und zum Schluss hat es dann doch nur für die kleine Liebe am Nachmittag gereicht.« Bevor ich ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen kann, klingelt es an der Tür. Wir erstarren zu Salzsäulen. »Kunde, Auftrag«, wispert Cornfeld. »Geld, Umsatz, Wachstum«, flüstere ich. Wir sehen uns kurz an. Dann rasen wir gleichzeitig los. Cornfeld schafft es als Erster. Er reißt die Tür auf. Vor uns steht ein Blumenstrauß. Der größte und gigantischste, den ich je gesehen habe. Unten gucken zwei Beine raus. Dann fängt der Blumenstrauß an zu sprechen. »Ich habe hier was für Frau Petry.« Ehe ich mich versehe, habe ich das Blumenmonster im Arm. Die beiden Beine komplettieren sich zu einem jungen Mann, der Cornfeld einen Brief in die Hand drückt und abwartend in der Tür stehen bleibt. 101
»Trinkgeld«, zische ich meinem Assistenten zu. Der sieht mich verständnislos an. »Trinkgeld. Geben Sie ihm was.« Während Cornfeld umständlich in seinen Hosentaschen herumkramt, fallen mir unter der Last der Blumen fast die Arme ab. Nach einer Ewigkeit befördert er mehrere Zehn-und Fünf-Cent-Stücke hervor, die er dem Blumenkurier in die Hand drückt. Der nuschelt ein Dankeschön, wünscht uns einen schönen Tag und ist verschwunden. Ich muss die Blumen loswerden, weiß aber nicht wohin. Während ich mich hilflos im Büro umsehe und nach einer Unterbringungsmöglichkeit suche, sehe ich zwischen den dunkelroten Rosen, weißen Lilien, Gräsern und Anthurienblättern hindurch, dass Cornfeld den Brief öffnet. »He! Lassen Sie das! Das ist meine Post.« Ungerührt nimmt er die Karte heraus. »Vielen Dank für den schönen Abend«, liest er genüsslich vor. »Ihr Klaus Dujack. Dujack? Wieso Dujack?« »Jetzt reicht es aber.« Ich lass die Blumen fallen und reiße ihm die Karte aus der Hand. »Das ist meine Privatpost. Das geht Sie überhaupt nichts an.« »Dujack ist privat? Ich dachte, das ist der Adoptivvater unserer Klientin?« »Ja, ich meine, so halb privat. So ein bisschen privat.« »Ohoh! Was haben Sie mir immer erzählt? Privates und Berufliches soll man schön auseinanderhalten.« »Es war ja auch gar nicht so privat. Es war schon beruflich. Also, wenn ich es so recht bedenke, war es sogar sehr beruflich.« »Und das hier ist der berufliche Blumenstrauß?« »Ja, wenn Sie so wollen.« 102
»Was macht Dujack denn in Hamburg? Und wieso sind Sie mit ihm zum Essen gegangen?« »Ist das ein Verhör?« »Nein. Ein rein berufliches Interesse.« »Dujack war geschäftlich hier. Wir haben uns zufällig auf dem Golfplatz getroffen. Und am Sonntag hat er mich angerufen und zum Abendessen eingeladen. Das war alles.« »Und?« »Nichts und.« »Hat er was erzählt? Was für unseren Fall relevant wäre?« »Ja. Schon.« »Was denn?« »Nun, er hat von seiner Frau geredet...« »Haben Sie ihn auf deren angebliche Alkoholsucht angesprochen?« »Ja. Es war ihm ziemlich unangenehm. Aber er hat dann doch zugegeben, dass sie ein Problem damit hatte. Sie fing wohl mit dem Trinken an, weil er nie zu Hause war. Während er seinen Laden aufbaute und Tag und Nacht unterwegs war, hat sie ihre Langeweile in Cognac ersäuft. So zumindest sieht er das Ganze. Er meinte, zum Zeitpunkt des Unfalls sei seine Ehe schon ziemlich zerrüttet gewesen.« »Und Simone. Hat er was zu dem Selbstmord gesagt?« »Von ihr hat er das Gleiche erzählt, was ich von Isabelle auch schon wusste. Dass Simone den Unfall der Mutter nicht verkraftet hat. Das hat ihn wohl ziemlich mitgenommen. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass ihm seine Familie schon wichtig ist, dass er ...« »Was ist mit Isabelle?«, unterbricht mich Cornfeld. »Vater und Tochter scheinen ein ziemlich angespanntes Verhältnis zu haben. Sie fängt anscheinend alles Mögliche an, 103
bringt aber nichts zu Ende. Auch ihr Studium hat sie nicht abgeschlossen. Aber nicht etwa, weil sie überfordert gewesen wäre, sondern, so hat er wenigstens behauptet, aus purer Langeweile. Einerseits hält er sie für genial, andererseits aber auch für ziemlich verwöhnt und launisch.« Cornfeld fällt mir ins Wort. »So Mädels kenne ich. Verbringen ihr Dasein in einer Art Schonhaltung und warten darauf, dass ihnen irgendein Mann das Leben apportiert.« »Werden Sie nicht schon wieder frauenfeindlich. Es gibt auch reiche Söhne, die sich so verhalten.« »Reiche Söhne eifern ihren Vätern nach und vervielfachen das Vermögen.« »Das glauben Sie doch selbst nicht.« Er grinst mich hinterhältig durch seine Designerbrille an. »Haben Sie ihn eigentlich nach Frau Bouche gefragt?« »Logisch. Er hatte keine Ahnung von ihrem Vorleben und reagierte schon etwas schockiert. Dafür hätte es überhaupt keine Anhaltspunkte gegeben, meinte er. Sie war ihm von einem Bekannten empfohlen worden und hat ihren Job als Krankenschwester recht gut gemacht. Aber er hätte sie nicht eingestellt, wenn er gewusst hätte, wie sie ihren Lebensunterhalt früher bestritten hat.« »Sieh mal einer an. Die moralischen Vorbehalte eines Spekulanten. So hält doch jeder das bisschen Ethik hoch, das ihm in den Kram passt.« »Übrigens«, sage ich, »ich hab ihn auch wegen des Tagebuchs gefragt. Er hat keine Ahnung, ob seine Frau oder die Mädchen sich je mit so etwas beschäftigt haben. Ich hatte allerdings auch den Eindruck, dass ihn dieses Thema nicht sonderlich interessierte.« »Tagebücher sind ja auch Weiberkram«, doziert Cornfeld
105 und wuchtet den Blumenstrauß vom Boden. »Liebe Frau Petry, nichts gegen Ihren Dujack. Aber dieser Strauß ist unanständig. So etwas monströs Übertriebenes, Uferloses habe ich noch nie gesehen. Das ist peinlich. Geschmacklos und neureich. Absolut kein Stil, der Mann.« »Er hat zuviel Geld und Sie sind eifersüchtig.« »Quatsch«, sagt er und schleppt die Blumen ins Bad. Als ich ihm kurz darauf folge, sitzt er am Wannenrand und lässt Wasser einlaufen. »Wir sollten mehrere Gebinde daraus machen. Und die im Büro verteilen«, schlägt er vor. »Toll. Und das sieht dann so aus, als wäre hier jemand gestorben.« Cornfeld sieht mich überrascht an. »Genau. Das ist doch keine schlechter Werbegag: P-Quadrat, die Detektei, die jedes Opfer bringt, um Ihren Fall zu lösen.« »Oh, Cornfeld.« »Nun, ich könnte Sie ja auch entlasten und einen Strauß mit nach Hause nehmen.« »Das vergessen Sie mal ganz schnell. Die Blumen für Ihre neue Flamme werden nicht von Herrn Dujack gesponsert. Die zahlen Sie schön selbst.« »War ja nur so eine Idee.« Nachdem die Blumen versorgt sind, machen wir uns von neuem an die Arbeit. Ich rufe Isabelle an. Wieder einmal ist der Butler dran. Er hat gute Nachrichten für mich. »Frau Dujack ist zu Hause. Wenn Sie bitte kurz warten würden.« Ich mache Cornfeld ein Zeichen und stelle das Telefon auf laut.
106 Ein wenig Schiss habe ich schon. Möglicherweise findet sie meine Tagebuchstory ja ganz und gar abwegig. Nicht jeder, der so viel Geld bezahlt, möchte mit Visionen und weiblichen Intuitionen belästigt werden. Was, wenn sie auf sauber recherchierten Ergebnissen besteht? Meine Stimme klingt dann auch ziemlich unsicher, als ich ihr von meinem Verdacht erzähle. Zuerst stutzt sie. Dann reagiert sie aber erstaunlich positiv. »Das könnte natürlich sein. Ich meine, ich habe nie gesehen, dass sie Tagebuch geführt hat. Das nicht. Aber so etwas macht man ja auch heimlich.« »Wenn es tatsächlich Aufzeichnungen von Simone gibt, wo könnten die denn dann sein?« »Vielleicht in ihrem Zimmer.« »In ihrem Zimmer?« »Ja. Simones Zimmer gibt es noch. Es wurde nach ihrem Tod so belassen, wie es war. Da haben wir nie etwas verändert. Allerdings hat mein Adoptivvater nach ihrem Suizid alles auf den Kopf gestellt, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das ihren Selbstmord erklärt, verständlicher macht, irgendetwas, das über den Schmerz hinweghilft. Aber er hat nichts gefunden.« »Das schränkt die Möglichkeiten natürlich ein«, sage ich enttäuscht. »Aber ich habe eine Idee, wo sie vielleicht etwas versteckt haben könnte«, sagt Isabelle und ihre Stimme klingt jetzt aufgeregt. »Ich werde gleich mal raufgehen. Wie lange sind Sie noch im Büro?« »Bis neunzehn Uhr.« »Gut. Ich melde mich.«
Sie legt auf. Und ich werfe Cornfeld einen triumphieren 107 den Blick zu. »Na, was hab ich gesagt. Wahrscheinlich gibt es tatsächlich ein Tagebuch. Sie sucht sogar danach!« »Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wird sie nichts finden«, entgegnet Cornfeld achselzuckend. »Das werden wir sehen.« »Was passiert eigentlich, wenn Isabelle dieses Tagebuch tatsächlich entdeckt, Simone etwas wusste und alles brav aufgeschrieben hat?«, fragt er mich hinterhältig. »Dann sind wir den Job los?«, mutmaße ich. »Bingo! Dann sind wir unseren Job los! Und zwar den einzigen, den wir derzeit haben.« Eine halbe Stunden später ruft Isabelle zurück. Sie ist ganz außer Atem. Es ist tatsächlich so etwas wie ein Tagebuch aufgetaucht. Allerdings handelt es sich nicht um eine Kladde oder ähnliches, sondern um mehrere Schulhefte. Isabelle ist immer noch aus der Puste, als sie von ihrem Fund erzählt. »Als wir eben telefoniert haben«, sagt sie, »ist mir eingefallen, dass sich Simone damals stundenlang mit ihren BarbiePuppen beschäftigt hat. Deshalb habe ich mir ihren alten Barbie-Koffer vorgenommen, in dem sie die Puppen und deren Kleidung aufbewahrt hat. Zuerst konnte ich nichts entdecken, doch dann habe ich gesehen, dass die pinkfarbene Innenverkleidung an der oberen Kante ein kleines bisschen eingerissen ist. Als ich da vorsichtig mit der Nagelfeile reingefahren bin, ließ sich die Verkleidung ganz leicht ablösen und nach vorne klappen. Und dahinter - quasi zwischen Innenfutter und äußerer Abdeckung - steckten die Hefte.« »Geniales Versteck.«
»Ja, aber so wie es aussieht, sind die Hefte nicht vollständig. Die letzte Eintragung wurde ein Vierteljahr vor dem Unfall 108 meiner Mutter gemacht. Und ich glaube nicht, dass Simone auf einmal das Interesse am Tagebuchschreiben verloren hat. Warum hätte sie plötzlich damit aufhören sollen?« »Vermuten Sie, dass jemand die fehlenden Hefte an sich genommen hat?« »Ich denke ja. Obwohl, solche Verdächtigungen sind ja immer problematisch.« »Wer hätte denn die Möglichkeit gehabt, sie zu entwenden?« »Da kommen viele Leute in Frage. Zurzeit leben hier ...« »Stopp, Frau Dujack, ich glaube, da müssen wir ein ganzes Stück zurückgehen. Wenn tatsächlich etwas Belastendes in diesen Heften stand, dann sind sie garantiert kurz nach Simones Tod verschwunden.« »Das stimmt wahrscheinlich«, sagt sie. »Lassen Sie mich mal überlegen, wer damals im Haus war. Mein Vater, meine Mutter, Frau Bouché, die Köchin - allerdings ist die vor zwei Jahren gestorben. Einen Butler hatten wir noch nicht, aber eine Putzfrau, dann Frau Bohnacker und einen Gärtner.« »Okay, sortieren wir mal. Also Ihre Adoptivmutter scheidet aus. Die Köchin ist schon verstorben. Bleiben Ihr Vater, Frau Bouché, die Putzfrau, der Gärtner und die Haushälterin. Richtig?« »Ja. Genau.« »Dann hätten wir fünf Verdächtige. Aber trotzdem glaube ich, dass es Frau Bouché war.« »Warum?« »Weil sie, im Gegensatz zu den anderen, ermordet wurde und der Mörder etwas bei ihr gesucht hat.«
»Ja«, sagt Isabelle nachdenklich, »da könnten Sie recht haben.« 109 Wir verabschieden uns voneinander und beenden das Gespräch. Ich bin zufrieden mit mir. Cornfeld ist es nicht und sieht mich mit seiner unnachahmlichen Besserwissermiene an. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich nur zu gut, und er verheißt nichts Gutes. »Sie haben etwas vergessen«, sagt er. »Was?« »Vielleicht hätten Sie in einem kleinen Nebensatz, in einem ganz kleinen, winzigen Nebensatz, wirklich nur so am Rande, ganz leise, ohne die geringste Betonung, unser bisher größtes, bestes und fantastischstes Rechercheergebnis anbringen können. Nur, damit die Frau weiß, wofür sie uns eigentlich bezahlt.« »Über Frau Bohnacker wollte ich eigentlich nicht mit ihr reden. Schließlich verdächtigt die ihren Vater.« »Das meine ich auch nicht.« »Oh«, sage ich und greife nach dem Telefonhörer. Als ich Isabelle darüber informiere, dass Frau Bouché früher als Hure gearbeitet hat, scheint sie genauso schockiert zu sein wie ihr Adoptivvater. In ihren Augen macht ein solcher Background die Krankenschwester noch verdächtiger. Ich vereinbare mit ihr, dass ich noch einmal nach Frankfurt komme, um mir die Tagebücher anzusehen, die sie in Simones Zimmer gefunden hat. Außerdem gibt es da ja immer noch diese Heilpraktikerin, der ich einen Besuch abstatten möchte. Als ich mein Vorhaben anspreche, reagiert meine Klientin sofort ungehalten. Das kenne ich schon. Aber diesmal setze ich mich durch. Ich will
mit dieser Frau reden. Und insistiere so lange, bis Isabelle nach langem Hin und Her endlich nachgibt und sich bereit erklärt, meinen Besuch bei Frau Geizer anzukündigen. Da 110 nach legt sie auf, ohne sich verabschiedet zu haben. Ich bitte Cornfeld, sich um die Termine zu kümmern. »Um fünfzehn Uhr muss ich bei unserer Klientin sein. Da wäre es ganz gut, wenn ich gegen elf Uhr vormittags bei Frau Geizer vorbeikommen könnte.« Meinem Assistenten bereitet die Zeitspanne zwischen elf und fünfzehn Uhr Magenschmerzen. Da er nicht annimmt, dass ich vier Stunden bei der Heilpraktikerin verbringen werde, befürchtet er finanzielle Ausfälle in Gestalt hemmungsloser Frustkäufe. »Ich glaube, Sie sollten Ihre Kreditkarte lieber hierlassen.« »Wirklich nicht. Wie kommen Sie denn darauf? Buchen Sie mir lieber ein ordentliches Hotel, dann halten sich mein Frust und damit zusammenhängende Kompensationsgelüste auch in Grenzen.« »Halbpension? Ist nicht viel teurer.« »Nein danke, nur Frühstück.« »Soll ich einen Termin für ein gemeinsames Abendessen mit Herrn Dujack arrangieren? Das könnte ich doch gleich miterledigen«, fragt er spöttisch. »Zu freundlich. Aber den Termin mache ich lieber selbst.« »Dachte ich es mir doch.« »Sie sind eifersüchtig.« »Und Sie blind.« »Wieso?« »Weil Sie sich total auf Frau Bouche eingeschossen haben. Als Frau Dujack diesen ominösen Unfall hatte, war Frau
Bouche überhaupt noch nicht im Haus. Damit kommt sie nicht als verhinderte Mörderin, sondern höchstens als Diebin der Tagebücher in Frage. Und mit diesem Diebstahl wollte sie 111 jemanden decken. Und wer das gewesen sein könnte, wissen wir doch beide.« »Das glaube ich nicht. Wenn Isabelle ihn verdächtigen würde, hätte sie uns nie engagiert. Die wird doch nicht ihren eigenen Adoptivvater ans Messer liefern«, widerspreche ich. »Warum nicht? Wenn er es war? Er hatte die Möglichkeiten und ein Motiv.« »Aber ...«, setze ich an, werde aber sofort von ihm unterbrochen. »Er hat Ihnen selbst erzählt, dass seine Ehe nicht mehr viel getaugt hat. Ein Mann seines Schlags hat doch keine Lust, den Rest seines Lebens mit einer Alkoholikerin zu verbringen. Davon aber mal abgesehen, womöglich war seine Frau ja auch versichert.« Ich schüttele den Kopf. »Für eine Tote bekommen Sie ja unter Umständen Geld, aber ganz bestimmt nicht für eine Komapatientin.« »Nun ja, dass es schiefgehen würde, damit hat er natürlich nicht gerechnet.« »Und warum hat er seine Frau dann nicht nachträglich ins Jenseits befördert?« »Weil das zu gefährlich gewesen wäre, mit all den Leuten im Haus. Und seitdem sie im Krankenhaus liegt, ist er das Problem ja auch los.« »Ach ja, und die Versicherungssumme?« »Seine Geschäfte laufen gut. Vielleicht braucht er das Geld gar nicht mehr.«
»Ich kann mir das ehrlich gesagt nicht vorstellen. Dujack hat sehr liebevoll von seiner Frau gesprochen. Auch von den beiden Kindern. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er sich 112 früher zu wenig um seine Familie gekümmert hat und zu sehr mit seinem Geschäft und dem Geldverdienen beschäftigt war. Er fühlt sich mitverantwortlich für das, was seiner Frau passiert ist und scheint sie auch recht häufig im Krankenhaus zu besuchen ...« »Ja, ja«, würgt mich Cornfeld ab. »Und der Storch bringt die Babys.« »Ich glaube, Sie sehen Dujack zu negativ.« »Und Sie sind zu emotional. Ihr Problem ist, dass der Typ Ihnen gefällt.« »Cornfeld, ich warne Sie. Sie überschreiten Ihre Grenzen. Ich bin hier der Boss, und ich sage Ihnen: Dujack war's nicht!« Auf dem Nachhauseweg rege ich mich so über Cornfeld auf, dass ich fast eine rote Ampel überfahre. Was mich aber am meisten ärgert, ist, dass er Recht hat. Natürlich ist Dujack hochgradig verdächtig. Aber wer diesen Mann auch nur ein kleines bisschen kennengelernt hat, weiß, dass er eine solche Tat nie so vermasselt hätte. Dafür ist er viel zu gerissen. Wenn der seine Frau hätte ermorden wollen, dann hätte er das dezent und professionell gemacht. Und vor allem effektiv. Dann wäre sie längst tot. Und jeder wäre davon überzeugt, dass die Ärmste unter massivem Alkoholeinfluss einen Fehler gemacht hat, den sie leider mit ihrem Leben bezahlen musste. Das ist traurig, aber nicht sonderlich verdächtig. In der Milchstraße fällt mir ein, dass mein Kühlschrank dringend aufgefüllt werden muss und ich einen Abstecher in die
Hallerstraße zum Supermarkt machen sollte. Eine Stunde später laufe ich mit schweren Tüten beladen die Treppe hoch 113 und bin nur noch wenige Schritte von der Wohnungstür entfernt, als ich mein Telefon höre. Immer, wenn es schnell gehen muss, bekomme ich den Schlüssel nicht ins Schlüsselloch. Als ich endlich im Flur stehe, ist der Apparat längst verstummt. Der Anrufbeantworter blinkt. Alexandra möchte, dass ich sie zurückrufe. Und Michael will mit mir ins Kino gehen. Seit Dujack in diesem Pro-Shop aufgetaucht ist, mimt Michael den fürsorglichen Lover. Konkurrenz belebt das Geschäft. Er ist in letzter Zeit ständig auf meinem Anrufbeantworter, interessiert sich für meinen Tagesablauf und macht Vorschläge für gemeinsame Freizeitaktivitäten. Vielleicht sollte ich das ausnutzen, mich rar machen und ihn ein bisschen zappeln lassen. Ich rufe ihn an, erzähle ihm etwas von wichtigen Terminen in Frankfurt, von dringenden Vorbereitungen und notwendigem Schlaf. Er ist enttäuscht. Kann ich verstehen. Ich verspreche, mich zu melden, sobald ich zurück bin und wünsche ihm eine wunderschöne Nacht. Danach telefoniere ich mit Alexandra und erzähle ihr, wie ich Michael gerade abgefertigt habe. Sie lobt mich, kann sich aber einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. »Ehrlich gesagt, weiß ich ohnehin nicht, warum du dich noch mal auf ihn eingelassen hast. Nach allem, was du über eure frühere Beziehung erzählt hast.« »Ich weiß, ich weiß«, sage ich. »Aber er hat auch seine guten Seiten.« Dann fällt mir ein, dass ich sie ja auf meine Geburtstagsfeier ansetzen wollte, und ich füge hinzu: »Mal davon ab-
gesehen habe ich mir fest vorgenommen, dass nach meinem Geburtstag alles anders wird.« »Was hat denn dein Geburtstag damit zu tun?« »Alexandra. Das ist meine Chance. Der Wendepunkt. Jetzt 114 geht's auf die Überholspur. Wenn ich jetzt nicht angreife, wann dann?« »Ich finde es toll, dass du das so positiv siehst.« »Ja, das finde ich auch. Das Einzige, was mich ein wenig traurig stimmt, ist, dass ich kein Geld habe, um ein richtig tolles Fest zu feiern.« So, nun weiß sie es. Der Wink mit dem Zaunpfahl. Zugegebenermaßen etwas plump, aber unüberhörbar. Bevor sie mich trösten und das Thema für sich abschließen kann, komme ich wieder auf Michael zu sprechen. So bleibt die Geburtstagsfeier als offener Restposten in ihrem Kopf hängen und macht sich da hoffentlich selbständig. Die Idee mit der Überraschungsparty muss ich ihr beim nächsten Mal einflüstern. Dann aber etwas dezenter. 114 Kapitel 13 Am nächsten Morgen startet mein Flugzeug pünktlich um Viertel nach sieben Richtung Frankfurt. Auf dem Flug kommt es zu kleineren Turbulenzen, und die Maschine sackt ein paarmal durch. Die Anschnallzeichen leuchten auf, und erstaunt beobachte ich, wie die Gesichter einiger Fluggäste eine ungesund-blässliche Tönung annehmen. Mich stört die Schaukelei nicht im Geringsten. Nicht so meine Nachbarin. Bei jedem Ruck werden ihre Augen größer und ihr Mund schmaler. Sie krallt sich in die Armlehnen, als hätte sie Angst, aus dem Flieger katapultiert zu werden. Zugegeben, die Turbulenzen sind
schon ziemlich heftig. Aber mit etwas Selbstbeherrschung ist das nun wirklich kein Problem. Der Frau neben mir steht mittlerweile die pure Panik im Gesicht. Sie sieht aus wie ein Fallschirmspringer, der gerade merkt, dass die Reißleine klemmt. Und dann passiert es. Urplötzlich hat sie eine volle Tüte vor sich stehen. Mein Gott, denke ich, die Ärmste hat sich übergeben. Leider hat diese Tüte eine ungute Wirkung auf meine physische Befindlichkeit. Nicht das Luftloch, in das wir kurze Zeit später knallen, und der anscheinend freie Fall, der kein Ende zu nehmen scheint, sind die Ursache. Wirklich nicht. Nein, es ist eindeutig die Anwesenheit dieses vollen Papierteils und die Vorstellung, welch unappetitlicher Inhalt sich darin befindet, die meinen Magen zu einer spontanen, unkontrollierten Reak 115 tion veranlassen. Ich schnappe nach der Tüte in der Rückenlehne vor mir. Prallgefüllt stelle ich sie eine Minute später auf den Boden und schiebe sie mit dem Fuß unter meinen Sitz. Mein amüsiertes Lächeln ist mir vergangen. Als der Flieger endlich zur Landung ansetzt, schicke ich ein Stoßgebet in die Richtung, aus der wir gerade kommen. Mit einem akademischen Viertel laufe ich bei Monika Geizer, der Heilpraktikerin, ein. Sie ist eine echte Überraschung. Wenn ich den Typ geschäftstüchtige Boutiquebesitzerin im Gewand der esoterischen Quacksalberin erwartet hatte, werde ich enttäuscht. Sowohl sie als auch ihre Praxis machen einen sehr bodenständigen, seriösen, gediegenen Eindruck. Die Räume sind mit hellen Shakermöbeln eingerichtet und vermitteln eine Atmosphäre, die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt. Frau Geizer ist um die sechzig Jahre alt, hat rötliche
Haare, grünblaue Augen und die Ausstrahlung eines jungen Mädchens. Ich mag sie auf Anhieb. Sie kennt die Familie Dujack schon seit zwanzig Jahren und hat Isabelles Mutter lange Zeit behandelt. Isabelle hat meinen Besuch angekündigt und das Gespräch autorisiert, da Frau Geizer mir sonst keine Auskünfte hätte geben dürfen. Auf die Rückführung angesprochen, erzählt sie mir, dass dies eine Therapieform sei, die helfe, in das Unterbewusstsein des Patienten vorzudringen, verdrängte Erlebnisse und Ängste sichtbar und damit therapierbar zu machen. »Messen Sie den in einer Rückführung gemachten Aussagen aber bitte keinerlei historische Bedeutung bei«, sagt sie dann jedoch. Ich bin überrascht. »Das versteh ich nicht. Ich dachte immer, man lässt sich unter Hypnose in eines seiner früheren 116 Leben versetzen und stellt begeistert fest, dass man Tempeltänzerin, Zarin in Russland oder die Kaiserin von China gewesen ist.« Sie lacht. »Ja genau. Nur macht die immense Zahl von Tempeltänzerinnen, Zarinnen und Kaiserinnen, die danach unseren Erdball früher bevölkert haben müssen, die Geschichte etwas fragwürdig. Was die meisten nicht wissen, ist, dass es bei einer Rückführung nicht um historische Wahrheit, sondern einzig und allein um die Identifikationsperson geht. Um die Tempeltänzerin, wenn Sie so wollen, und deren spezielle Problematik, denn die ist der Schlüssel zur Krankengeschichte.« »Sie meinen, die Probleme der Tempeltänzerin sind die Probleme der Patientin?«
»Ja, beziehungsweise der Schlüssel dazu. Im Fall von Isabelle verhält es sich allerdings anders. Sie hat ja erstaunlicherweise etwas über ihr derzeitiges Leben erfahren.« »Und solche Erinnerungen haben nichts mehr mit dem Unterbewusstsein zu tun? Die sind dann real?« »Tja, das ist schwer zu beantworten. Natürlich ist es möglich, dass durch diese Rückführung alte, längst vergessene Informationen wieder an die Bewusstseinsoberfläche gekommen sind. Es kann aber auch sein, dass sie als Kind den Verdacht hatte, dass da etwas nicht stimme. Vielleicht hat sie damals etwas gehört, gesehen oder auch etwas falsch verstanden, nicht richtig interpretiert. Und nun spielt ihr die Fantasie einen Streich und bastelt aus diesen alten Ängsten und Vermutungen eine Vision. Die muss aber nicht unbedingt etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben.« »Das heißt, es kann wahr sein, muss aber nicht.« Sie lächelt mich entschuldigend an. »Es tut mir leid, ich 117 würde ja gerne konkreter werden. Aber es wäre absolut unseriös, wenn ich behauptete, Isabelles Vision habe tatsächlich einen realen Hintergrund. Es liegt im Bereich des Möglichen, ganz klar, aber mit Bestimmtheit sagen kann ich Ihnen das leider nicht.« Ich bin etwas ernüchtert. Womöglich war die Sache mit dem Tauchsieder doch ein Unfall, und ich untersuche einen Mordversuch, der gar keiner war. Dann verstehe ich aber nicht, warum Frau Bouche umgebracht worden ist. So kurz nach dieser Rückführung. »Was hat Isabelle denn unter Hypnose tatsächlich gesehen?«, frage ich.
»Also die Rückführungen, die ich mache, finden nicht unter Hypnose statt. Der Patient soll in einem ruhigen und ganz relaxten Zustand frei assoziieren können, seine Gedanken schweifen lassen und die Bilder, die gewissermaßen von alleine zu ihm kommen, bewusst wahrnehmen und interpretieren. Isabelle hat eine Menge von ihrer Schwester Simone erzählt. Wie gut sie sich verstanden und was sie alles zusammen unternommen haben. Das hat mich, ehrlich gesagt, etwas erstaunt. Denn von ihrer Mutter wusste ich, dass sich die beiden ständig in den Haaren gelegen haben. Aber wahrscheinlich ist das bei Mädchen in dem Alter auch ganz normal.« »Wie war das denn mit Isabelles Mutter, als die angeblich zu reden anfing?«, frage ich. »Warten Sie mal einen Augenblick.« Sie öffnet die oberste Schreibtischschublade und zieht einen Stapel Krankenkarten heraus. Während sie sich eine dieser randlosen Halbbrillen auf die Nase setzt, beginnt sie in ihren Unterlagen zu blättern. »Ich sehe schnell meine Aufzeichnungen durch. Nicht, dass 118 ich Ihnen etwas Falsches erzähle. Ja, hier steht es. Also, Isabelle war im Badezimmer. Das Badezimmer hat eine Verbindungstür zum Schlafzimmer, in dem ihre Mutter lag. Und dann hat sie auf einmal gehört, dass ihre Mutter etwas sagte. Und zwar, dass jemand versucht habe, sie umzubringen und dass sie Angst habe, er würde es noch einmal versuchen.« Sie sieht von ihren Unterlagen auf und mustert mich über ihre Halbbrille hinweg. »Danach ist Isabelle aus diesem Traum, oder, wenn man so will, aus dieser Vision, aufgewacht. Sie hatte einen extrem hohen Puls und war total verschwitzt. Minutenlang war sie so
verstört, dass sie auf nichts mehr reagierte. Mir ist es, ehrlich gesagt, auch eiskalt den Rücken runtergelaufen. Schließlich habe ich Frau Dujack jahrelang behandelt und gut gekannt. Und natürlich habe ich dann auch darüber nachgedacht, ob es tatsächlich ein Mordversuch gewesen sein könnte. Aber im Gegensatz zu Isabelle, die mittlerweile völlig von dieser Mordtheorie überzeugt ist, bin ich mir unsicher, was ich davon halten soll«, erzählt sie und wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Eines würde mich noch interessieren. Vorausgesetzt, Isabelles Erinnerung ist richtig. Kann eine Zwölfjährige so etwas komplett vergessen?« »Ja, das kann passieren. Kinder verdrängen vieles, was sie nicht verstehen, was ihnen unangenehm oder unheimlich ist. Das ist in dem Alter ganz normal.« »Sind Sie sich da sicher?« »Das will ich doch meinen, schließlich habe ich drei Mädchen großgezogen und immer ...« Bevor sie anfängt, mir ihre Erziehungsprinzipien detailliert zu erläutern, unterbreche ich sie lieber. 119 »Kannten Sie eigentlich Frau Bohnacker und Frau Bouche?« Sie nickt. »Ja. Frau Bouche mochte ich sehr gern. Sie war kompetent und hatte nichts gegen alternative Heilmethoden einzuwenden. Sie war auch immer sehr lieb zu den Kindern. Vor allem Isabelle hatte sie ins Herz geschlossen.« »Die Mädchen durften aber nicht so oft zu ihrer Mutter, oder?« »Doch, doch, ich denke schon. Frau Bouche war eine sehr gute Pflegekraft. Natürlich hat sie aufgepasst, dass es nicht zu
viel für ihre Patientin wurde. Damals haben wir ja alle noch gehofft, dass sie wieder aufwachen würde.« »Und Frau Bohnacker?« »Die mochte ich nicht. Die ist dann ja auch rausgeflogen.« »Die ist rausgeflogen?« »Ja. Wegen Diebstahls. Soweit ich mich erinnere, hat sie wohl eine Bluse gestohlen. Herr Dujack hat sie noch am selben Tag vor die Tür gesetzt.« »Aber Herr Dujack soll ja sehr cholerisch gewesen sein ...« »Der stand ziemlich unter Strom damals. Das schon. Aber als cholerisch würde ich ihn nicht bezeichnen.« Schon wieder sieht sie auf ihre Uhr. Und ich habe das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft. »Frau Dujack war ja alkoholkrank. War die Sucht eigentlich der Grund, warum sie von Ihnen behandelt wurde?« Über Frau Geizers Nasenwurzel bildet sich eine scharfe Falte. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen darüber ...« Ehe sie den Satz beenden kann, klopft ihre Sprechstundenhilfe und bittet sie nach draußen. Jetzt bin ich gefordert. 120 Ich überlege, ob ich das, was mir durch den Kopf geht, auch wirklich tun soll. Ich tue es - sause um den Schreibtisch und schnappe mir die Krankenkarten. Die von Isabelle liegt ganz oben auf. Ich habe zu lange überlegt, Frau Geizer ist schon wieder auf dem Rückweg. Mir bleibt gerade noch genügend Zeit, um die Karte aufzuklappen, ein paar Wörter zu entziffern und sie wieder auf den Schreibtisch zu werfen. Der Weg zurück zu meinem Stuhl ist nicht mehr zu schaffen, also haste ich schnell ans Fenster. Angestrengt betrachte ich die gegenüberliegenden Hochhäuser und fasele etwas von »imposanter urbaner Nachbarschaft«, als Frau Geizer wieder hereinkommt.
Es ist nicht leicht, meine heftige Atmung unter Kontrolle zu bekommen und ihrem Blick mit gleichgültiger Freundlichkeit zu begegnen. Sie weiß nicht, was sie von meinem plötzlichen Stellungswechsel halten soll, das ist klar. Und ihr gesunder Menschenverstand ist zu ausgeprägt, um nicht mit Misstrauen zu reagieren. Sie sagt nichts, räumt aber die Karteikarten sofort in die Schreibtischschublade. Ihr Gesichtsausdruck ist verschlossen und abweisend, mein Sympathievorsprung auf Null abgestürzt. Mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln kann ich ihr nicht mehr entlocken. Es ist ganz offensichtlich -meine Audienz ist beendet. Von dem Taxifahrer lasse ich mich bei einem kleinen Cafe absetzen, das auf halber Strecke zwischen der Naturheilpraxis von Frau Geizer und dem gelben Patrizierhaus liegt. Die Einrichtung ist altmodisch, dunkel und spießig. Die letzten zwanzig Jahre haben hier keinerlei Spuren hinterlassen. Ich setze mich an einen Tisch direkt am Fenster und bestelle bei der Kellnerin einen Espresso und ein Stück Käsesahne. 121 Dann zücke ich meinen Notizblock und schreibe mir ein paar Stichpunkte zu dem Gespräch mit der Heilpraktikerin auf. Als ich meine Aufzeichnungen durchlese, bemerke ich, dass ich nicht notiert habe, was ich auf Isabelles Krankenkarte noch entziffern konnte. »Verdacht auf Borderline« schreibe ich zum Schluss unter meine Notizen und unterstreiche es dreimal. Ich habe den Begriff schon einmal gehört. Soweit ich mich erinnere, handelt es sich dabei um eine psychische Erkrankung. Aber was genau darunter zu verstehen ist, weiß ich auch nicht mehr. Da soll sich Cornfeld drum kümmern. Als ich versuche, ihn zu erreichen, muss ich feststellen, dass der Akku meines Handys leer ist. Mir bleibt nichts anderes
übrig, als die Kellnerin, die eine Tasse Espresso vor mir abstellt, um ein Telefon zu bitten. »Kein Problem«, sagt sie und überreicht mir kurz darauf ein kleines silbernes Gerät. Nachdem ich Klaus Dujacks Nummer gewählt habe, meldet sich seine Sekretärin. »Verbindn gann ich Sie im Momend leider nich, da Herr Dujack delefonierd.« Ihr weiches Sächsisch passt so gar nicht zu den knallharten Geschäften ihres Arbeitgebers. Dann kommt auch schon die Frage, die ich so liebe. »Um was gähd's denn? Gann ich Ihnen evenduell weiderhelfn?« Natürlich kann sie mir nicht weiterhelfen, und worum es geht, hat sie überhaupt nicht zu interessieren. »Nein danke, es ist privat. Ich warte«, antworte ich betont freundlich. Während ich in der Leitung hänge, darauf hoffe, dass Dujack endlich mit dem Quasseln aufhört, wird mir klar, dass ich 122 der Sekretärin gegenüber doch etwas ungerecht war. Schließlich würde ich Cornfeld auch den Kopf abreißen, wenn er mir jeden Anlageberater durchstellen würde. »Dujack.« »Petry. Hallo, Herr Dujack. Wie geht's?« »Bestens! Sind Sie in Frankfurt?« »Deshalb rufe ich an. Haben Sie heute Abend Zeit?« »Nein, ich habe schon etwas vor.« Mir wird ganz anders. Damit hatte ich nicht gerechnet. »Aber für Sie werde ich mir natürlich Zeit nehmen. Wo sind Sie abgestiegen?«
Erst jetzt merke ich, dass ich vor Schreck die Luft angehalten habe. Leise lasse ich sie entweichen und nenne ihm den Namen meines Hotels. »Gut, ich hole Sie um zwanzig Uhr dort ab.« »Okay.« »Ich freu mich schon. Bis dann.« Ganz langsam atme ich tief ein und genauso langsam wieder aus. Mein Gott, was hätte ich bloß gemacht, wenn er abgesagt hätte. Wie peinlich. Die Kellnerin steht mit einem Teller Kuchen vor mir und sieht mich mit einem ganz merkwürdigen Blick an. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie das frage«, sagt sie und nimmt mir das Handy aus der Hand, »aber haben Sie gerade mit Herrn Dujack telefoniert? Klaus Dujack?« Erstaunt blicke ich zu ihr hoch, und zum ersten Mal sehe ich sie mir genauer an. Sie dürfte auf die sechzig zugehen, hat ihr weißblond gefärbtes Haar zu einer komplizierten Hochsteckfrisur aufgetürmt und ist dem unvermeidlichen Alterungsprozess mit einer Verdopplung ihrer dekorativen Spachtelmasse begegnet. Ihre Bluse ist blütenweiß, der schwarze 123 Rock frisch gebügelt, ihre Körperhaltung gerade und aufrecht. Sie besitzt eine gewisse Grandezza. Dennoch will es mir nicht so recht gelingen, sie mit Klaus Dujack in Verbindung zu bringen. Und das macht mich neugierig. »Ja«, antworte ich. »Das war Klaus Dujack.« »Ich sag Ihnen nur eines. Lassen Sie die Finger von diesem Mann. Der hat noch niemandem gutgetan.« »Wie meinen Sie das?« »Machen Sie um Gottes Willen einen großen Bogen um den Kerl. Mehr sag ich dazu nicht.«
Diesen Kassandra-Auftritt muss ich erst einmal verdauen. Als ich im Taxi sitze, bin ich immer noch fassungslos. Eine Kellnerin, die plötzlich unheilschwangere Prophezeiungen ausstößt. Das Orakel von Delphi hätte nicht eindrucksvoller, allerdings auch nicht unverständlicher sein können. »Lassen Sie die Finger von diesem Mann. Der hat noch niemandem gutgetan.« Einerseits finde ich das Ganze ziemlich schräg. Andererseits hat sie nicht den Eindruck gemacht, unzurechnungsfähig oder komplett durchgeknallt zu sein. Es war ihr ernst mit dem, was sie gesagt hat. Es war ihr sogar verdammt ernst. Und das bringt mich ins Grübeln. 124 Kapitel 14 Wieder laufe ich mit meinen nun nicht mehr ganz so neuen Pumps die gekieste Auffahrt zum Dujackschen Anwesen hoch. Das nächste Mal werde ich andere Schuhe anziehen. Oder den Taxifahrer bitten, mich bis vor die Tür zu fahren. Als ich knapp die Hälfte der Strecke zurückgelegt habe, kommt hinter mir ein roter Porsche die Auffahrt hochgeschossen. Erschrocken springe ich zur Seite. Aber anstatt leicht abfedernd mit beiden Füßen im weichen Gras zu landen, verkante ich, knicke mit dem rechten Fuß ein und höre ein unschönes Geräusch. Bruch, denke ich, Bänderdehnung oder -zerrung. Mindestens. Etwas Schwerwiegendes auf jeden Fall. Während ich auf den stechenden Schmerz warte, sehe ich erstaunt, dass meine Hüfte in Schieflage geraten und mein rechtes Bein plötzlich kürzer geworden ist. Der Porsche hat auf halber Strecke gebremst, rollt den Weg zurück und hält neben mir. Mit einem leisen Surren schwebt das Seitenfenster nach unten.
»Ihr Absatz, Frau Petry, ihr Absatz ist abgebrochen.« Isabelle Dujack sieht mich mit großen, blauen Augen an. »Entschuldigen Sie. Aber ich wollte Sie nicht erschrecken. Haben Sie sich wehgetan?« Nachdem sich kein Schmerz einstellt, scheint es tatsächlich nur der Schuh zu sein, der etwas abbekommen hat. »Nein, ich glaube, es ist alles in Ordnung - so weit.« 125 Ich stopfe den Absatz in meine Tasche und gehe vorsichtig zu Isabelle Dujacks Auto. »Steigen Sie ein, ich bring Sie rauf.« »Das lohnt sich doch gar nicht mehr. Das schaff ich schon«, wehre ich ab. Mit quietschenden Reifen legt sie einen Kavaliersstart hin. Die Staubwolke, die der Wagen aufwirbelt, bedeckt mich wie Puderzucker einen Marmorkuchen und der Dreck brennt mir in den Augen und reizt meine Lunge. Hustend und leise fluchend humple ich den Weg zum Haus hoch. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass unser heutiges Treffen unter keinem guten Stern steht. Das Gefühl bestätigt sich: Der Butler hat seinen freien Tag und auf der Etagere auf dem Couchtisch liegen statt der Petits Fours gewöhnliche Butterkekse. Toll. Butterkekse mag ich nicht. Während Isabelle ein Paar Schuhe für mich holt, sehe ich die Zeitschriften durch, die auf dem Tisch liegen. »Vogue«, »Marie Ciaire«, »Elle« und »Ambiente«. Passend zum Geschmack der Hausherrin. Als diese zurückkommt, hat sie ein Paar schwarze Pumps in der Hand. »Nur gut, dass wir dieselbe Schuhgröße haben.« »Das ist wirklich sehr nett. Aber das geht schon mit meinen Schuhen.«
»Glauben Sie mir, das geht nicht. Zum Schluss verstauchen Sie sich doch noch den Fuß. Ziehen Sie die Schuhe hier an, die sind noch fast neu. Ich glaube, ich habe sie nur einmal getragen. Probieren Sie sie.« Erstaunt über ihren ungewohnt freundlichen Ton, probiere ich die Pumps an. Sie passen. Wie angegossen. »Na, sehen Sie. Ich schenke sie Ihnen.« 126 Mir bleibt der Mund offen stehen. Was ist denn in die gefahren? Wurde sie einer Gehirnwäsche unterzogen, oder hat sie womöglich in der Zwischenzeit ein AntiaggressionsSeminar absolviert? »Das geht doch nicht«, sage ich völlig verwirrt. »Das kann ich wirklich nicht annehmen. Sie brauchen doch Ihre Schuhe.« »Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich habe genug davon. Mein Adoptivvater hat immer Angst, dass wir noch anbauen müssen, weil wir keinen Platz mehr dafür haben.« »Wie viele sind es denn?« »Fünfhundert Paar oder so.« »Fünfhundert?«, wiederhole ich verblüfft. Sie lächelt. »So hat eben jeder sein Hobby.« Das Hobby hätte ich auch gerne. Ich schlucke. »Na dann vielen Dank«, sage ich. »Sie sind wirklich sehr chic.« Während ich noch die Pumps bewundere, die sehr edel sind und wahrscheinlich auch ziemlich teuer waren, fragt Isabelle nach den Ergebnissen meiner bisherigen Recherchen. Ich erzähle ihr von Frau Bohnacker und von ihrem neuen Laden in der Isestraße, für den sie Miete, Kaution und eine komplett neue Einrichtung finanzieren konnte, obwohl sie im Karoviertel monatelang keine Miete gezahlt hat.
»Vielleicht hat sie eine Erbschaft gemacht«, schlägt Isabelle vor. »Ja. Das könnte sein«, sage ich. »Und? Was hat sie erzählt?« Es macht keinen Sinn, lange drum herumzureden. Deshalb komme ich ohne große Umschweife auf den Punkt. »Sie hat Ihren Vater verdächtigt.« 127 »Wie kommt sie denn auf die Idee?«, geht Isabelle sofort hoch. Ich winke ab. »Machen Sie sich mal keine Sorgen. Die Bohnacker ist absolut nicht glaubwürdig. Von Frau Geizer habe ich nämlich erfahren, dass Ihr Vater sie wegen Diebstahls entlassen hat. Also können wir davon ausgehen, dass ihre Beschuldigungen so eine Art Revanche für den Rausschmiss und damit bedeutungslos sind.« Isabelles Augen werden schmal. »Hat Frau Geizer noch mehr erzählt?« »Im Prinzip hat sie eigentlich alles bestätigt, was ich schon von Ihnen über die Rückführung wusste. Da hat sich nicht viel Neues ergeben.« »Also hätten Sie sich dieses Gespräch auch sparen können«, sagt sie und sieht mich unverwandt an. »Das stimmt. Ich werde es Ihnen auch nicht in Rechnung stellen«, erwidere ich und beiße mir verlegen auf die Lippe. »Das will ich hoffen«, antwortet sie kühl. Sie steht auf und verlässt den Raum. Kurz darauf kommt sie mit einem Stapel blauer Schulhefte zurück, den sie auf den Couchtisch legt. Neugierig starre ich auf die Hefte. Vielleicht verbirgt sich hier der Schlüssel zu unserem Fall. Die gut versteckte, nur dem geübten Auge sichtbare, alles klärende
Information. Ich nehme das oberste Heft in die Hand und schlage es auf. »Wie alt war Simone damals eigentlich?« »Neun oder zehn, glaube ich.« Die Eintragungen sind in einer noch etwas krakeligen Kinderschrift gemacht. Simone hat einen Füller mit blauer Tinte benutzt und ihre Aufzeichnungen mit kleinen Zeichnungen und Aufklebern verziert. Ich blättere ein bisschen und be 128 ginne zu lesen. Sie beschreibt, was zu Hause, in der Schule, beim Sport und in ihrer Clique so passiert. Soweit ich das beurteilen kann, sind es ganz normale, für das Alter typische Alltagsgeschichten. Sie war zur Klassensprecherin gewählt worden, hatte Ärger mit ihrer besten Freundin und war in einen Jungen aus der Hockeymannschaft verknallt. Eine Eintragung macht mich dann allerdings stutzig. Simone machte sich Sorgen um ihre Katze, die verschwunden war. »Ist die Katze wieder aufgetaucht?«, frage ich. »Nein.« »Frau Bohnacker hat behauptet, es wären so einige Tiere verschwunden. Stimmt das?« »Na ja, was heißt schon so einige. Die Katze hat halt irgendwann das Weite gesucht. Vielleicht hat sie jemanden gefunden, bei dem es ihr besser gefiel. Dann gab es noch einen kleinen Hund, der durch ein Loch im Zaun entwischt ist. Es konnte nie geklärt werden, ob ihn jemand einfach mitgenommen hat oder ob er überfahren wurde. Und dann gab es noch einen Hamster, den Simone im Garten frei herumlaufen ließ. Der hat sich relativ schnell in die Büsche geschlagen. Verständlicherweise.« »War Simone sehr traurig darüber?«
»Ja, sicher.« »Und Sie?« »Es waren Simones Tiere. Nicht meine.« Ich nehme wieder das Heft zur Hand und lese weiter. Nach ein paar Seiten unterbreche ich meine Lektüre erneut. Ich bin schon wieder irritiert. Simone scheint weder mit ihrer Mutter noch mit ihrer Adoptivschwester besonders gut klargekommen zu sein. Immer wieder beschwert sie sich über die beiden und schreibt, dass es erneut Zoff gegeben habe, dass sie 129 die Nase voll habe und es ihr endgültig reiche. Eine Stelle ist besonders heftig. »Ständig gibt es Streit. Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, dass mich alle hassen, am liebsten würde ich ganz weit weglaufen.« Als ich Isabelle darauf anspreche, wiegelt sie ab. »Ach, Sie wissen doch, wie Kinder sind. Vor allem in dem Alter. Alles wird dramatisiert. Der kleinste Krach bedeutet das Ende der Welt. Das dürfen Sie nicht überbewerten. Das waren die üblichen Streitereien, wie sie in jeder Familie vorkommen. Im Großen und Ganzen haben wir uns alle sehr gemocht und sind wirklich gut miteinander ausgekommen.« Nun ja, vielleicht hat sie Recht. Die restlichen Eintragungen geben dann auch keinerlei Hinweise mehr auf weiteres Konfliktpotential. »Und diese Hefte haben Sie in Simones altem Kinderzimmer gefunden?« »Ja, ganz recht. Wollen Sie es mal sehen?« »Gern.« Isabelle, die seit meiner Ankunft locker drei halbe Zigaretten geraucht hat, steckt sich einen neuen Glimmstengel zwischen
die Lippen und greift nach der Schachtel und dem Feuerzeug, als wir Richtung Kinderzimmer aufbrechen. Ich folge ihr in die Eingangshalle und steige hinter ihr die imposante Freitreppe hinauf. Über uns wölbt sich in acht Meter Höhe eine Decke, die mit einem Fresko und reichlich kitschigem Stuck verziert ist. Meine Füße versinken in einem dunkelblauen Veloursläufer, der von blank geputzten Messingstangen auf den Stufen fixiert wird. Das Treppengeländer besteht aus gusseisernen Jugendstilornamenten mit einem Handlauf aus massivem, schwarz lackiertem Holz. Wo 130 ich hinsehe, Überfluss und Protz. Das Haus ähnelt der Villa meiner Mutter. Allerdings lässt die schon seit Jahren nur noch das Allernötigste daran machen, so dass das Gebäude eher düster, dunkel und ungepflegt wirkt. Und da kommen mir wieder ihre Blumen in den Sinn, die ich längst hätte gießen müssen. Ich möchte nicht wissen, was für einen Aufstand sie machen wird, sollten die Topfpflanzen bei ihrer Rückkehr vertrocknet sein. Mittlerweile sind wir oben auf der Galerie angekommen und biegen rechts in einen langen, schmalen Gang. »Das hier ist der nördliche Seitenflügel des Hauses«, erklärt meine Klientin. Ihr Tonfall erinnert an eine Fremdenführerin, die eine Horde ignoranter Touristen durchs Museum führt. Ich laufe hinter ihr her, an einer Unzahl von Zimmern vorbei und komme mir langsam vor wie Blaubarts achte Frau, die hinter jeder Tür ein grauenvolles Geheimnis wittert. Endlich bleibt sie stehen und schließt eine der weiß lackierten Türen auf. »Voilä, hier sind wir.«
Wir stehen in einem Jungmädchenzimmer der Sonderklasse. Ein blassrosa Himmelbett mit Dutzenden von Kissen und Kuscheltieren. Lange, geblümte, seitlich geraffte Vorhänge. Stoffbespannte Wände und weiße Schleiflackmöbel. Nur der Schreibtisch schräg vor dem Fenster dürfte eine echte Antiquität sein. Zierlich und verspielt passt er genau in dieses Laura-Ashley- Ambiente. »Das ist ja wirklich wunderschön. Ein Zimmer für eine kleine Prinzessin.« Isabelle lächelt. »Ja, so könnte man sagen.« »Wo haben Sie denn den Barbie-Koffer gefunden?« »Im Kleiderschrank.« 131 »Haben Sie den gesamten Schrank durchsucht?« »Ja, sicherlich.« Ich deute auf die weiße Kommode. »Die auch?« Sie nickt. »Was ist mit dem Schreibtisch?« »Den auch.« Ich streiche mit den Fingerkuppen über die Schreibtischoberfläche, die absolut staubfrei ist. »Wissen Sie, ob es ein Geheimfach gibt?« »Nein. Keine Ahnung. Aber ich habe auch noch nie danach gesucht.« »Nun«, sage ich, »dann sollten wir das vielleicht einmal tun.« Wir machen uns an die Arbeit, ziehen die Schubladen heraus und untersuchen sie genauestens. Ich drücke und reibe an allen möglichen und unmöglichen Stellen dieses Möbelstücks herum, in der Hoffnung, einen Mechanismus auszulösen, der dann eine kleine Lade oder ein Fach zum Vorschein bringt. Nichts passiert. Enttäuscht sitze ich am Boden. Die Vorstellung, Simone könnte hier tatsächlich etwas versteckt
haben und ich bin nicht in der Lage es zu finden, macht mich ganz fuchsig. Ich kontrolliere die Fächer, in denen vorher die Schubladen steckten. Im ersten ist nichts, im zweiten ist nichts, im dritten ist nichts ... Oder? Da war doch etwas. Da hat doch etwas hell geschimmert. Aufgeregt taste ich das Fach ab und werde tatsächlich fündig. Ich befördere ein schmutziges, zweimal gefaltetes Schulheft zutage. Nebeneinander am Boden kniend, falten Isabelle und ich es vorsichtig auseinander. Dabei steigt mir der Rauch ihrer Zigarette unangenehm in die Nase. Noch nicht einmal jetzt 132 kann sie auf die Glimmstengel verzichten. Als ich das Heft aufschlage, stellen wir fest, dass nur die erste Seite beschrieben ist. Die Eintragungen sind wieder mit blauer Tinte und in einer noch krakeligeren und auch etwas kleineren Schrift gemacht. Die Notizen sind undatiert. Diesmal gibt es keine Zeichnungen oder Verzierungen. Einige Stellen sind verwischt, als ob Wasser darauf getropft wäre. Ich beginne zu lesen und kann vor Aufregung die Schrift kaum entziffern. Heute Morgen habe ich mir die Augenbrauen ausgezupft. Das hat höllisch wehgetan. Aber ich konnte nicht damit aufhören, es war, als ob ich es einfach tun müsste. Papa hat fürchterlich geschimpft, als er es gemerkt hat. Er hat gesagt, dass ich mich total verunstaltet hätte und hat auch gleich die Mama geholt. Die fand es nicht so schlimm. »Das wächst doch wieder nach«, hat sie nur gesagt. Papa will mich nicht mehr mit nach Rom nehmen, weil ich so schlimm aussehe. Aber das ist mir nur recht. Ich will gar nicht mit dem nach Rom. Ich hob überlegt, ob ich mit der Mutti reden soll. Aber mit der kann man ja nicht reden, die hört nie zu. Außerdem darf ich ja gar
nicht darüber reden, das hab ich versprochen. Es ist ja meine Schuld. Sie kann mir sowieso nicht helfen. Ich weiß nicht, was ich machen soll, ständig habe ich Albträume. Es ist immer wieder der gleiche Traum. Ein schwarzer Schatten rennt hinter mir her. Ich laufe durch ganz viele dunkle Gänge und weiß überhaupt nicht, wo ich bin. Der Schatten kommt immer näher. Ich versuche noch schneller zu laufen. Aber ich schaffe es nicht. Dann plötzlich schwebe ich an der Decke und sehe von oben, wie der Schatten hinter mir her kommt, und wie er nach mir greift. Das war's. Isabelle und ich sehen uns enttäuscht an. Wir hatten beide etwas anderes erwartet. Einen konkreten Hin 133 weis. Wie zum Beispiel, »die Mutti hat Angst vor ...« oder »die Mutti hat ständig Krach mit...« Uns wird langsam klar, wie naiv das war. Isabelle tippt vorsichtig mit dem Zeigefinger auf die verwischten Stellen. »Sie hat geweint, als sie das geschrieben hat. Meinen Sie nicht auch?« »Ja, das könnte sein.« »Ich frag mich nur, warum sie dieses Heft so versteckt hat? Warum hat sie es nicht mit den anderen Heften in dem BarbieKoffer verstaut?« »Ganz offensichtlich wollte sie auf keinen Fall, dass es gefunden wird, dass jemand es liest.« »Aber es steht doch nichts Außergewöhnliches drin. Der Kummer eines kleinen Mädchens, weil es Krach mit den Eltern hat. Die Beschreibung eines Albtraums, wie ihn wahrscheinlich Tausende anderer Kinder auch schon einmal hatten. Das ist doch nichts Besonderes.«
Isabelle sieht mich ratlos an. Und wieder einmal muss ich ihre blauen Augen bewundern. Dieses Blau ist ganz merkwürdig. Relativ hell und gleichzeitig undurchdringlich. Man kann nichts darin oder dahinter erkennen. Eine verschlossene Tür, ein tiefer, kalter See, der nichts von seinem Innern preisgibt. Sie klappt das Heft zu und steht auf. »Was machen wir jetzt? Wie geht es weiter?«, fragt sie. »Wenn es Ihnen recht ist, würde ich dieses Heft gerne mitnehmen und es einem Psychologen zeigen.« Sie zögert, willigt dann jedoch widerstrebend ein. »Aber ich bekomme es wieder, wenn Sie mit den Untersuchungen fertig sind.« »Klar«, sage ich. Sie lächelt mich an. Mit einem Gesichtsausdruck, den man 134 fast als herzlich bezeichnen könnte. Von so viel Freundlichkeit verunsichert wende ich meinen Blick ab. Aus der Frau soll mal einer schlau werden. Kaum betrete ich mein Hotelzimmer, sehe ich auch schon den rot blinkenden Leuchtknopf am Telefon. Die Rezeptionistin hat eine Nachricht von Herrn Dujack für mich. Meine Knie werden weich. Oh Gott, er sagt ab. Hat jetzt wegen dringender Termine doch keine Zeit. Ganz so dramatisch ist es dann aber nicht. Er kann mich leider nicht vom Hotel abholen. Schickt aber ein Taxi, das mich in sein Büro bringen wird. Auch gut. Hauptsache, es bleibt bei unserem Date. Da ich noch reichlich Zeit habe, rufe ich Cornfeld an und berichte ihm von meinem Besuch bei der Heilpraktikerin und von dem Tagebuch, das wir in Simones Schreibtisch gefunden haben. Als ich ihm den Tagebucheintrag vorlese, reagiert er
ganz anders, als ich erwartet habe. Er ist nicht der Meinung, dass es sich hier um relativ bedeutungslose Kleinmädchenerlebnisse handelt. »Ich bin ja kein Psychologe, aber wenn ein Kind sich die Augenbrauen auszupft, sich also selbst Schmerzen zufügt, mit seinem Vater nicht verreisen will, mit seiner Mutter nicht reden kann und sich im Traum verfolgt fühlt, dann könnte man auch noch auf eine ganz andere Idee kommen.« Ich verstehe nicht sofort, worauf er hinaus will. Doch dann dämmert es mir. »Sie meinen, es könnte auch Missbrauch sein?« »Ja. Wäre doch möglich.« »Das stimmt schon«, sage ich nachdenklich. »Da ist was dran. Andererseits muss man mit solchen Verdächtigungen 135 immer sehr vorsichtig sein. Schließlich ist fast jede Aussage eines Kindes interpretationsfähig und lässt sich unter Umständen ...« »Nehmen wir einmal an«, unterbricht er mich, »rein hypothetisch, Dujack ist Simone zu nahe getreten, die Mutter hat es bemerkt, oder das Kind hat sich der Mutter anvertraut. Dann passt das Puzzle doch auf einmal perfekt zusammen.« »Nun ja ...« »Frau Dujack stellt ihren Mann zur Rede. Der leugnet zwar ab, kriegt es aber mit der Angst zu tun. Er beseitigt das Problem, indem er ihr einen defekten Tauchsieder in die Badewanne wirft. Das Kind ist ihm danach schutzlos ausgeliefert, wird mit der Situation nicht fertig und bringt sich um.« »Und wie passt Frau Bouche in Ihre Version?« »Sie war in Dujack verliebt und hat deshalb das Tagebuch verschwinden lassen. Womöglich ist sie nach all den Jahren
auf die Idee gekommen, ihn damit zu erpressen. Und den Versuch hat sie mit ihrem Leben bezahlt.« »Könnte sein, könnte aber auch nicht sein«, wiegele ich ab. »Das sind leider alles nur Vermutungen, für die wir keine Indizien oder Beweise haben.« »Ja, aber meine These ist schon ziemlich plausibel. - Treffen Sie Dujack heute Abend eigentlich?« »Ja.« »Dann fühlen Sie ihm doch einmal auf den Zahn.« »Super Idee«, sage ich. »Wie macht man denn so etwas? Mal so eben, zwischen Vor- und Nachspeise, einen Vater fragen, ob er sein Kind missbraucht hat? Wie soll das denn gehen?« »Vielleicht nicht ganz so plump.« »Mensch, Cornfeld, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich ein solches Thema anschneide oder auch nur ansatzweise 136 einen solchen Verdacht äußere. Und schon gar nicht aufgrund Ihrer hobbypsychologischen Fernanalyseversuche.« »Ja, wenn Sie das so sehen, kann ich Ihnen wohl nur noch einen wunderschönen, harmonischen Abend mit Herrn Dujack wünschen.« Die Ironie tropft ihm nur so aus den Mundwinkeln. »Keine Angst. Den Abend haben Sie mir schon versaut. Aber bevor ich das Hotel verlasse, werde ich Ihnen diesen Text faxen, und Sie lassen ihn von einem Profi, einem richtigen, voll ausgebildeten Profi, mit soviel akademischen Auszeichnungen und Zusatzausbildungen wie nur irgendmöglich, untersuchen. Dann werden wir ja sehen, was an Ihren Unterstellungen dran ist, Sie Möchte-gern-Freud.« Da sitze ich nun in meinem Hotelzimmer und bin zutiefst verunsichert. Cornfelds Theorie nagt an mir. Der blonde Rhett
Butler - ein Kinderschänder? Ist ihm das wirklich zuzutrauen? Kehrt er nur den fürsorglichen Familienvater heraus, um von seinen eigentlichen Absichten abzulenken? Ich weiß es nicht. Ich mag es nicht glauben, aber ich kann es auch nicht ausschließen. Nach dem Gespräch mit Cornfeld bereiten mir die Vorbereitungen für den heutigen Abend kein sonderliches Vergnügen mehr. Was kann ich von einem Dinner mit einem Mann erwarten, der unter einem solchen Verdacht steht? Aber was, wenn er unschuldig ist? Was, wenn Simones Tagebucheintragungen vollkommen harmlos sind? Dann habe ich mir einen schönen Abend verdorben. Und das muss ja nun auch nicht sein. 137 Kapitel 15 Das Taxi kommt pünktlich. Ich nehme neben dem Fahrer Platz, stelle meine Tasche neben mir am Boden ab und mustere mein geschminktes Gesicht in der Fensterscheibe. Es wirkt transparent und kommt mir irgendwie fremd vor. Habe ich mich zu sehr angemalt? Ich riskiere einen Blick in den Rückspiegel. Bei dem Licht lässt sich das nicht beurteilen. Was soll's, nach dem Gespräch mit Cornfeld ist das ja auch nicht mehr so wichtig. Der Fahrer setzt mich vor einem riesigen verglasten Büroturm ab. Geld will er keins von mir. Ich betrete das Haus durch eine Drehtür, die auch ein kleiner Elefant problemlos passieren könnte. Meine Schuhe klappern aufdringlich auf dem schwarzmelierten Granitboden. Oder ist es Marmor? Die Aufzüge zu finden, ist kein Problem. Sie liegen direkt gegenüber der Drehtür. Man fällt sozusagen automatisch hinein. Um mich herum matt glänzender Edelstahl. Die Tür schließt
lautlos. Und mich packt die Panik. Ich hasse Aufzüge. Sie machen mir Angst. Ich komme mir vor wie eine einsame Sardine in einer Büchse. Man weiß nie so genau, ob das verdammte Ding es sich womöglich anders überlegt, zwischen den Stockwerken hält und mich bei lebendigem Leib verdaut? Ich drücke den Knopf mit der Zwölf. Das hatte mir der Taxifahrer gesagt. »Sie werden im zwölften Stock erwartet.« Wie nett. Der Aufzug ruckt leicht und gleitet nach oben. Auf einem 138 Display über der Tür leuchten die Nummern der einzelnen Stockwerke auf. Bis jetzt geht alles gut. Keine unvorhergesehenen Vorkommnisse. Die Zwölf blinkt. Ich bin da. Und dann passiert es. Die Tür geht nicht auf. Ich erstarre. Panik blockiert mein Gehirn. Der Angstschweiß bildet dicke Tropfen auf meiner Stirn. Doch bevor ich auf den Alarmknopf drücken kann, ertönt eine weibliche Stimme hinter mir. »Wolln Se nich rausgomm, Frau Petry?« Vorsichtig drehe ich mich um. Hinter mir ist auch eine Tür, und die ist offen. Eine sehr gepflegt aussehende Frau mittleren Alters steht davor und lächelt mich ironisch an. »Ich bin Frau Rotloff, de Sekredärin von Herrn Dujack.« »Hallo«, sag ich verdattert. Mein Gott, ist das peinlich. Wie konnte ich mich bloß so blamieren? Als ich endlich wieder auf sicherem Boden stehe, begrüße ich Frau Rotloff und schüttele viel zu lange ihre Hand. Sie führt mich in das Büro ihres Chefs, erklärt, dass er noch in einer Besprechung sei, und offeriert mir Tee oder Kaffee. Ich entscheide mich für Kaffee. Die Nacht wird garantiert lang,
und ich muss fit sein. Da kann so ein bisschen Dope nicht schaden. Interessiert sehe ich mich in Klaus Dujacks Büro um. Etwa vierzig Quadratmeter groß, an zwei Seiten verglast, mit einem umwerfenden Blick über die Frankfurter City, lässt der Raum keine Wünsche offen. Die Möblierung besteht fast ausschließlich aus Möbelklassikern. Der Besprechungstisch dürfte von Frank Lloyd Wright, die schwarze Ledercouch sowie das Beistelltischchen von Eileen Gray sein. Entweder Dujack hat Geschmack oder einen guten Innenarchitekten. Den alles beherrschenden Schreibtisch aus Wurzelholz und 139 Edelstahl kann ich keinem bekannten Designer zuordnen. Die Arbeitsfläche ist absolut leergefegt, da liegt nicht ein Fitzelchen Papier drauf. Das Holz glänzt wie frisch lackiert, die wenigen vorhandenen Schreibtischutensilien sind geschmackvoll, alt und meist aus Silber. Apropos Silber. Sehr auffällig ist ein großer Silberrahmen mit dem Portrait einer jungen und sehr attraktiven Frau. Blond, ovales Gesicht, gleichmäßige Gesichtszüge, großer, erotischer Mund. Seine Tochter ist das nicht. Vielleicht seine Frau in jungen Jahren? Frau Rotloff kommt herein und bringt mir meinen Kaffee, den sie auf dem Besprechungstisch abstellt. »Frau Rotloff, entschuldigen Sie bitte meine Neugier, ist die Frau auf dem Foto da Frau Dujack?« »De zugünfdiche vielleicht. De jetziche ist es ganz bestimmt nich«, sagt sie spitz und verlässt das Zimmer. Die jetzige ist ja auch schon etwas lädiert. Diese Information versetzt mir einen Stich. Er ist liiert. Er hat eine feste Beziehung. Und das, obwohl seine Frau noch lebt und obwohl er
mit mir geflirtet hat. Und zwar so heftig, dass sich die Balken gebogen haben. Mir ist, als würde ich auf einmal geerdet. Als ließe die Wirkung einer stimulierenden Droge nach, höre und sehe ich alles viel klarer und deutlicher. Mein Realitätssinn kehrt zurück. Und mit ihm eine gehörige Portion Argwohn. Ist für Dujacks Verhalten sein mieser Charakter oder ein ausgeprägter Sexualtrieb verantwortlich? Legt er einfach gerne Frauen aufs Kreuz? Oder hat sein Interesse an mir ganz andere Gründe? Will er herausfinden, was ich hinsichtlich des Unfalls seiner Frau herausgefunden habe? Versucht er mich auszuhorchen oder gar zu manipulieren? Bevor sich mein Misstrauen festsetzen kann, stürmt Du 140 jack ins Zimmer. Ohne große Umschweife nimmt er mich in den Arm und küsst mich auf den Mund. Kurz, aber heftig. »Pia, ich freue mich, dass du da bist.« Er duzt mich. Er nennt mich beim Vornamen. Kann ich solche Vertraulichkeiten zulassen? Muss ich mich nicht dagegen verwahren? Ihm ein »Für Sie immer noch Frau Petry« an den Kopf werfen? Meine Verwirrung verhilft ihm zu einem schnellen Sieg. Es bleibt beim Du, bei Pia, bei einer Nähe, die unerwartet und viel zu schnell kommt. »Ich habe einen Tisch für uns reserviert. Ein toller Italiener. Es wird dir gefallen.« Ich lächle angestrengt. Was soll ich dazu sagen? »Das ist ja ganz wunderbar, Klausimausi«, oder »Da verlasse ich mich ganz auf dich, Klausischatzi«? Du lieber Himmel, der Abend fängt ja gut an. Und wieder muss ich in die Sardinenbüchse. Aber diesmal bin ich nicht allein. Die Vorstellung von den dünnen Strippen, an denen dieses Teil hängt, und von dem gähnend schwarzen
Loch unter uns, beunruhigt mich nicht mehr im Geringsten. Ich habe ganz andere Probleme. Klaus Dujack geht zum Angriff über. Langsam schwant mir, dass seine gute Laune etwas mit mir und dem heutigen Abend zu tun haben muss. Weiß er was, was ich nicht weiß? Bin ich als Dessert eingeplant und habe es noch nicht bemerkt? Seine verbalen Vertraulichkeiten gehen mit größter Selbstverständlichkeit in körperliche Nähe über. Er rückt mir auf die Pelle und steht so dicht neben mir, dass ich seine Bartstoppeln zählen kann. »Weißt du überhaupt, wie sehr ich mich auf diesen Abend gefreut habe?«, fragt er lächelnd. Nein, das wusste ich nicht. Hätte ich es gewusst, wäre ich im Hotel geblieben. Irgendetwas habe ich falsch gemacht. Er 141 streicht mir eine Haarsträhne aus der Stirn und kommt mit seinem Gesicht immer näher. Mir wird immer mulmiger. Wie lange braucht dieser verdammte Fahrstuhl noch? »Du bist wunderschön.« »Ich weiß. Ich habe einen Spiegel zu Hause.« Er lacht schallend. »Auf den Mund bist du ja nicht gefallen.« Ich zucke mit den Schultern und bemerke erfreut, dass der Lift endlich stoppt. Das Display zeigt T3 an. Wir befinden uns in der Tiefgarage. Klaus Dujack läuft vor mir her, durch einen nicht enden wollenden Irrgarten von dunklen Betonfluren. Dann stehen wir in der fast leeren Garage. Außer sechs nebeneinander aufgereihten Nobelkarossen, die, frisch gewaschen und auf Hochglanz poliert, um die Wette blitzen, sind kaum noch andere Fahrzeuge vorhanden. »Such dir einen aus.« »Was?« »Die Autos gehören alle meiner Firma.«
Er will mich beeindrucken. Das ist offensichtlich. Und ich tue beeindruckt. Da stehen ein dunkelblauer Bentley, ein Jaguar in British Racing Green, ein schwarzes Porsche-Cabriolet, ein grauer Range Rover, ein knallroter Ferrari und ein anthrazitfarbener S-Klasse Mercedes. »Und die gehören alle dir?« »Klar. Wie unschwer an den Kennzeichen zu erkennen ist.« Die Nummernschilder sämtlicher Autos beginnen mit F-KD. KD für Klaus Dujack. Eitler geht es ja wohl nicht. »Also, welcher soll es sein?« Ich schreite die Autos ab wie ein Staatspräsident die in Reih und Glied aufmarschierten Soldaten bei einer Militärparade. Die Entscheidung fällt mir nicht schwer. »Der Ferrari.« 142 Es ist nicht das erste Mal, dass ich in einem Ferrari sitze. Daher schreckt mich weder die Lautstärke noch die harte Federung, noch die eher nüchterne Ausstattung. Das Auto will ein Rennwagen sein, was erst einmal für Dujack spricht, der den Oldtimer orginalgetreu hat restaurieren lassen, wie er mir erzählt und dabei auf jeden Schnickschnack verzichtete. Es gibt noch nicht einmal einen Bremskraftverstärker. Wer ein solches Geschoss beherrschen will, muss über ein gewisses Maß an fahrerischem Können verfügen. Dujack verfügt ganz offensichtlich nicht darüber. Und ich bin über jede Kurve froh, die er bewältigt, ohne eine Ampel, einen Passanten oder einen Baum umgefahren zu haben. Als er endlich eingeparkt hat, mache ich in Gedanken drei Kreuze und steige ganz schnell aus. Das Lokal verbessert meine Stimmung auch nicht gerade. Wir bekommen zwar einen schönen Tisch und werden hofiert als
wären wir Mitglieder von Frankfurts High Society, aber das alles täuscht nicht darüber hinweg, dass wir in einem typischen Hochstaplerladen gelandet sind. Der Chef kommt an den Tisch und begrüßt lautstark seinen alten Freund Klaus. Der, ganz gebauchpinselt, lässt sich auch gleich den teuersten Wein und zwei Gläser Aperitif aufschwatzen. Für das, was der Aperitif kostet, bekäme man anderswo ein komplettes Essen. Wir werden nicht von einem, sondern von drei Kellnern bedient, die ununterbrochen um uns herumwuseln. Die Gerichte auf der Speisekarte sind einfallslos, dafür aber sauteuer. Klaus Dujack strahlt über das ganze Gesicht. »Toller Laden, nicht?«, fragt er beifallheischend. Ich will ihm die Laune nicht verderben und nicke bestätigend. 143 »Ja, nett, wirklich nett.« Wir werden von Dujacks Handy unterbrochen. Entschuldigend lächelt er mir zu und meldet sich. »Ja? Isabelle! Was? Ich habe dir doch gesagt... Isabelle, ich bin hier mit einem Geschäftsfreund beim Essen ... Nein, nicht mit Viviane. Und wenn es so wäre, ginge es dich auch nichts an.« Er dreht sich zur Seite und senkt seine Stimme. »Hör sofort auf, mich anzuschreien, und hör auf, ständig auf Viviane herumzuhacken. Sie hat dir nichts getan! Isabelle, es tut mir leid, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit, das können wir morgen besprechen. Nun hör schon auf. Sei mir nicht böse, aber ich muss Schluss machen. Ciao!« Er klappt sein Handy zu. »Sie ist ein Schatz, aber manchmal nervt sie.« »Verstehen Sie sich gut mit ihr?«
»Ja doch. Nach dem Unfall meiner Frau und dem Tod von Simone hat sie sich total auf mich fixiert. Es gab ja sonst auch niemanden. Aber langsam wird es Zeit, dass sie sich einen Freund zulegt.« »Hat sie denn keinen?« »Ich habe noch keinen bemerkt. Aber vielleicht versteckt sie ihn ja vor mir.« Nachdem wir unser Essen bestellt haben und ein mittelmäßiger Weißwein eingeschenkt worden ist, gerät unsere Unterhaltung ins Stocken. Ich überlege, wie ich Cornfelds Verdacht thematisieren könnte. Natürlich ohne ihn direkt auszusprechen. »Haben Sie sich auch mit Simone gut verstanden?«, frage ich. »Sind Sie mit ihr auch einmal verreist?« Nach Rom zum Beispiel. Dujack sieht mich erstaunt an. »Wie kommst du denn da 144 rauf? Ich hatte nie Zeit, mit den Kindern und meiner Frau Urlaub zu machen. Als die Mädchen klein waren, habe ich nur gearbeitet. Von morgens bis abends, sieben Tage die Woche. Marlies ist immer alleine mit den Kindern in die Ferien gefahren. Allerdings auch nur so lange, bis sie durch den Unfall dazu nicht mehr in der Lage war.« »Also sind Sie ein typischer Vater gewesen. Nie zu Hause.« »Dafür hatte ich genug Geld, um entsprechendes Personal einzustellen.« »Wie zum Beispiel eine Haushälterin. Frau Bohnacker.« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Du bist aber gut informiert.« »Das ist Teil meines Jobs«, sage ich. »Frau Bohnacker war ja nicht lange bei Ihnen beschäftigt. Warum haben Sie sie ...«
Dujack greift nach meiner Hand. »Was ist das eigentlich für ein Ring, den du da trägst?« Von dem plötzlichen Themenwechsel etwas aus dem Tritt gebracht, dauert es ein paar Sekunden, bis ich ihm antworte. »Der stammt von einer alten Freundin. Theresa. Sie war siebzig und ich vierundzwanzig, als wir uns kennenlernten. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir mochten uns total gern. Sie war mit einem schwulen Maler verheiratet und verkehrte in ihrer Jugend in Künstlerkreisen. Sogar Hermann Hesse hat sie noch persönlich gekannt.« Hermann Hesse sagt Klaus Dujack gar nichts, und meine alte Freundin interessiert ihn nur peripher. Ich unterbreche meinen begeisterten Bericht, denn das möchte ich Theresa nun wirklich nicht antun, jemandem von ihr zu erzählen, dem sie vollkommen gleichgültig ist. 145 »Na ja, und kurz bevor sie gestorben ist, hat sie mir diesen Ring geschenkt.« Die Kellner bringen unsere Vorspeisen. Mein Salat sieht lecker aus, schmeckt aber zu stark nach Essig. Dujack hingegen scheint von seinem Rinder- Carpaccio begeistert zu sein. Er vertilgt es in kürzester Zeit. Danach tupft er sich den Mund mit einer Stoffserviette ab und kommt wieder auf meinen Ring zu sprechen. »Wirklich sehr ausgefallen«, sagt er. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Mit den Fingerspitzen fährt er die Konturen des Schmuckstücks nach. »Darf ich ihn mir mal genauer ansehen?« Ohne meine Reaktion abzuwarten, zieht er den Ring ab. Das macht er betont langsam. Kaum hält er ihn in der Hand, steckt er ihn wieder auf meinen Finger und lässt ihn genauso
langsam zurückgleiten. Das Ganze hat etwas unglaublich Obszönes, und es ärgert mich. Ich entziehe ihm meine Hand. »Das reicht.« Er lacht, greift blitzschnell über den Tisch und erwischt mich erneut. Kraft habe ich ihm nicht entgegenzusetzen. Und das will er damit auch demonstrieren. Er zieht meine Hand zu sich, und während er mich aus den Augenwinkeln beobachtet, küsst er meine Handinnenfläche. Dann lässt er mich los. Ich bin stocksauer und würde am liebsten sofort gehen. Er amüsiert sich köstlich. Dass ich mich ärgere, scheint ihn nicht im Geringsten zu stören. Er strahlt mich an wie ein Bub, dem ein besonders lustiger Streich gelungen ist und beugt sich zu mir über den Tisch. »Jetzt sei nicht so miesepetrig. Du wirst doch so ein bisschen Spaß vertragen.« Und plötzlich sehe ich wieder in dieses seltsame Blau, hell und gleichzeitig undurchdringlich, ein tiefer Gletschersee, auf 146 dessen Oberfläche kleine türkisfarbene Reflexe tanzen. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, spreche ich aus, was mir durch den Kopf geht. »Sie haben die gleichen Augen wie Ihre Adoptivtochter.« Dujack zuckt zurück, als hätte er sich verbrannt. Aber ich bin nicht mehr zu bremsen. »Sie haben die gleichen Augen, die gleiche Haarfarbe, und Sie haben auch den gleichen Mund. Diese Art, die Lippen zusammenzupressen, wenn Ihnen etwas nicht passt. Erstaunlich. Oder finden Sie es normal, dass sich Adoptivvater und Adoptivtochter derart ähnlich sehen?« Doch so schnell bringe ich ihn nicht aus dem Konzept. Er fängt sich im Handumdrehen. »Sind wir wieder beim Sie, Frau Petry?«
»Hatten wir uns je auf ein Du geeinigt, Herr Dujack?« Er lacht. »Okay. Was gibst du mir, wenn ich dir ein Geheimnis verrate?« »Was wollen Sie?« »Du fliegst nächstes Wochenende mit mir nach London.« »Da habe ich leider keine Zeit.« »Schade.« »Also wie sieht's aus? Ist Isabelle Ihre leibliche Tochter? Ja oder nein?« Wir werden von den Kellnern unterbrochen, die die Hauptgerichte servieren. Auf silbernen Tellern mit silbernen Cloches werden sie mit großem Tamtam vor uns auf den Tisch gestellt. Was für ein Zirkus. Alles Augenwischerei. Hokuspokus für den Gast, der zu viel Geld und zu wenig Ahnung oder Geschmack hat. Klaus Dujack starrt geistesabwesend auf seine Saltimbocca. Er sieht von seinem Teller hoch und fixiert mich mit einem ganz merkwürdigen, fast schon resignierten Blick. 147 »Warum soll ich es dir eigentlich nicht erzählen?« Er beginnt das Fleisch vorsichtig zu zerteilen. Dann legt er Messer und Gabel beiseite und sieht mir direkt in die Augen. »Sie ist meine Tochter, meine leibliche Tochter. Ihre Mutter und ich konnten uns nicht um sie kümmern. Wir mussten sie in ein Heim geben. Ein paar Jahre später habe ich geheiratet, ein zweites Kind gezeugt und eine Menge Geld verdient. Und da dachte ich mir, warum das Kind im Waisenhaus lassen, wenn es genauso gut bei mir leben könnte?« »Weiß Isabelle das?« »Ich habe es ihr nie gesagt. Auch meine Frau wusste nichts davon. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Isabelle hätte im Haus haben wollen, wenn sie es gewusst hätte.«
»Und die Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Ihrer Tochter ist nie jemandem aufgefallen?« »Doch schon. Aber es kommt interessanterweise häufiger vor, dass Kinder ihren Adoptiveltern ähnlich sehen. Außerdem ist es ja auch so, dass die Leute nur das sehen, was sie sehen wollen beziehungsweise zu sehen glauben. Und die Ähnlichkeit zwischen mir und Isabelle ist ja auch nicht so frappierend. Man muss schon einen ziemlich guten Blick haben, um es zu merken.« »Das heißt«, sage ich und nippe an meinem Wein, »Sie haben diese Adoption durchgezogen, um sich keinen Ärger mit Ihrer Frau einzuhandeln?« »So würde ich das nicht ausdrücken. Es war einfach die sauberste Lösung. Ein Vater, der sein Kind ins Heim steckt und dann jahrelang dort lässt, gilt nicht gerade als Sinnbild elterlicher Fürsorge. Davon abgesehen, dass ich nicht weiß, wie Isabelle das Ganze aufgenommen hätte. So war ich der 148 strahlende Held, der sie aus reiner Nächstenliebe zu sich geholt hat. Andernfalls wäre ich der Rabenvater gewesen, der sich jahrelang nicht um sein Kind gekümmert hat.« »Dann ging es Ihnen nur um Ihr Image?« »Nicht ganz. Ich konnte ja nicht einfach sagen, ich bin der Vater, und sie lebt jetzt bei mir. Weil ich nie mit Isabelles Mutter verheiratet war, musste ich das Kind ohnehin adoptieren. Damit war ich auf einmal Adoptivvater. Und dabei hab ich es dann belassen. Es war bequemer so. Keine Fragen, keine Vorwürfe. Alle waren glücklich und zufrieden.« »Aber in den Akten des Jugendheims sind Sie doch als leiblicher Vater aufgeführt.«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, meine Liebe, das bin ich nicht. Dafür hab ich schon gesorgt. Ich schätze mal, dass da >Vater unbekannt< steht. Das möchte ich den Herrschaften jedenfalls geraten haben.« »Was ist mit Isabelles leiblicher Mutter?« Er sieht mich schon wieder mit so einem seltsamen Blick an. »Das Thema hat sich erledigt.« »Was heißt das?« »Ich muss dir doch nicht alles erzählen, oder? Und überhaupt, was krieg ich jetzt dafür?« »Gar nichts.« »Gar nichts ist mir zu wenig.« »Tut mir leid, wenn der heutige Abend kein so guter Deal für Sie war, Herr Dujack.« »Ach, das macht nichts. Man kann nicht immer gewinnen. Aber in unserem Fall ist ja auch noch gar nichts entschieden.« »Wenn Sie sich da mal nicht täuschen.« Auf das Dessert habe ich verzichtet und als Dujack die 149 Rechnung bezahlen wollte, meinen Anteil selbst übernommen. »Wissen Sie, ich bin alt genug. Ich kann für mich selbst bezahlen.« »Wie alt bist du eigentlich?« Da kommt mir eine Idee. Männer seines Schlags kann man bestimmt mit Altersangaben abschrecken. Die Frage ist nur, sag ich ihm die Wahrheit, oder mache ich mich noch älter? »Ich bin neunundvierzig«, sage ich. Er reißt die Augen auf. »Was, so alt?« Wusste ich es doch. Er ist schockiert. Da investiert er einen ganzen Abend, baggert wie ein Weltmeister und muss plötzlich realisieren, dass er die ganze Zeit eine Greisin angejault
hat. Aber so einfach ist er nicht aufs Glatteis zu führen. Wie so oft, zieht er seinen Joker aus dem Ärmel. »Komisch, ich dachte, du wärst Anfang vierzig.« Jetzt bin ich baff. »Woher wissen Sie das?« »Ich weiß alles über dich. Wer deine Eltern sind, was du studiert hast, welche Jobs du hattest. Einfach alles.« Ich starre ihn fassungslos an. »Pia, du glaubst doch nicht, dass ich mit jemandem ausgehe, bevor ich nicht ganz genau weiß, mit wem ich es zu tun habe, oder?« Freundlich lächelnd steht er auf und geht meinen Mantel holen. Während ich ihm hinterhersehe, meldet sich mein Misstrauen zurück. Das Gefühl, dass es bei dieser Essenseinladung nicht um mich, um meine Person, sondern um meinen Auftrag geht. Und obwohl er mir den ganzen Abend noch keine einzige verfängliche Frage gestellt hat, habe ich das deutliche Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Der Kerl wird mir langsam unheimlich. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen? 150 Auf der Rückfahrt kommt die Konversation gänzlich zum Erliegen. Dujack sieht starr geradeaus und ist voll und ganz damit beschäftigt, den Sportwagen unter Kontrolle zu halten. Während ich überlege, ob es noch etwas gibt, wonach ich ihn fragen müsste. »Ist die schöne blonde Frau im Silberrahmen auf Ihrem Schreibtisch Ihre Freundin?«, frage ich nach einer Weile. »Viviane? Nein, das ist nicht meine Freundin.« Er mustert mich kurz von der Seite. »Das ist meine Verlobte, die Frau, die ich heiraten werde.« »Sie sind verheiratet!«
»Ach tatsächlich? Das hatte ich ja ganz vergessen.« Bei so viel Sarkasmus vergeht mir die Lust auf weitere Fragen. Und wenn ich ehrlich bin, interessiert mich das Thema auch gar nicht mehr. Der Mann neben mir ist ein mieser, kleiner Spekulant, für den der gesellschaftliche Aufstieg oberstes Lebensziel ist, und der sich doch ständig als neureiches Arschloch outet. Ein Typ, der sich maßlos überschätzt und außer Geld nichts, aber auch rein gar nichts zu bieten hat. Ein Mensch ohne Skrupel. Möglicherweise ist er doch der Typ Mann, der selbst vor dem eigenen Kind nicht haltmacht? Und plötzlich erscheint mir Cornfelds Argumentation erschreckend plausibel. Es hat angefangen zu regnen und die Wischer fegen leise quietschend über die Windschutzscheibe. Wir biegen in eine enge Seitenstraße ab, die auf beiden Seiten von parkenden Autos gesäumt wird. Plötzlich legt Dujack seine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich starre die Hand an und überlege, was ich machen soll. Dujack sieht weiterhin geradeaus und tut so, als wäre nichts geschehen. »Was soll das denn werden, wenn es fertig ist?«, frage ich. 151 »Vielleicht der Anfang einer romantischen Nacht?« »Was sagt denn Ihre Verlobte zu solchen romantischen Nächten?« »Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Oder?« »Ich hätte nicht die geringste Hemmung, sie von Ihren Eskapaden in Kenntnis zu setzen.« Sofort zieht er die Hand weg. »Das ist nicht dein Ernst?« »Aber hallo«, sage ich. Er sieht zu mir herüber. »Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass du so emotional reagieren würdest. Eigentlich hatte ich an einen netten One-Night-Stand ...«
Weiter kommt er nicht. Der Ferrari gerät ins Schlingern. Was das Ergebnis von Dujacks miserablen Fahrkünsten ist. Er ist viel zu schnell in die Kurve gerauscht, versucht nun gegenzusteuern, was die Sache nicht besser macht, reißt hektisch am Lenkrad und verliert endgültig die Kontrolle über den Wagen. Auf dem nassen Asphalt rutscht der Ferrari wie auf Schmierseife über die Straße und schlittert seitlich in eines der geparkten Autos. Es gibt einen höllischen Knall, dann ein widerliches Knirschen, und der Wagen kommt zum Stehen. Dujack ist weiß wie die Wand und brüllt mehrfach laut und hemmungslos »Scheiße!«. Ich steige lieber aus, bevor er auf die Idee kommt, seinen Ärger an mir auszulassen. Er rutscht auf meinen Sitz und verlässt den Wagen ebenfalls auf meiner Seite. Mit grimmiger Miene läuft er um das Auto herum und begutachtet den Schaden. Die Fahrertür ist total eingedellt und die gesamte linke Seite demoliert. Auch der Wagen, in den wir reingekracht sind, ein 7er BMW, sieht nicht mehr sonderlich gut aus. Dujack zückt sein Handy und telefoniert mit der Polizei. Als er das Gerät zuklappt, sieht er mich kühl an. 152 »Das hast du ja prima hingekriegt.« »Wieso ich? Ich lege nicht fremden Leuten die Hand aufs Bein, und außerdem kann ich Auto fahren.« Er würdigt mich keines Blickes mehr. »Die Bullen kommen gleich. Ich ruf dir ein Taxi.« Die Polizei trifft vor dem Taxi ein. Und seltsamerweise findet das große Tamtam, auf das ich gefasst bin, nicht statt. Zu meiner Überraschung regelt sich alles ganz friedlich und ungewöhnlich schnell. Schon als der Polizist aus dem Streifenwagen steigt und auf uns zukommt, irritiert mich sein Ge-
sichtsausdruck. Er grinst uns an, als wären wir alte Bekannte, die zu treffen er nicht erwartet hat. »Guten Abend, Herr Dujack. Wie ist das denn passiert?«, fragt er launig. »Bin leider vom Gaspedal abgerutscht.« »Nun, das hat man bei den Ferraris ja öfter.« Fassungslos stehe ich daneben und lausche diesem Schwachsinnsdialog. Mein Gott, denke ich, fehlt nur noch, dass sie sich in die Arme fallen und ihre Verlobung bekanntgeben. Ein so verständnisvoll-vertrautes Verhältnis habe ich nun wirklich nicht erwartet. Und das war's dann auch schon. »Der Abschleppdienst ist benachrichtigt, und um die Formalitäten kümmern wir uns schon«, versichert der Polizist, als wir uns mit Handschlag von ihm verabschieden. Personalien müssen keine aufgenommen werden, schließlich kennt man sich. »Das hab ich ja noch nie erlebt«, sage ich im Taxi zu Dujack. »Ja, die Bullen in Frankfurt sind ganz in Ordnung«, antwortet er und rückt näher an mich heran. Seine Laune hat sich deutlich verbessert. 153 Was leider dazu führt, dass er wieder auf Tuchfühlung geht. »Aber die hätten doch den Unfallhergang untersuchen müssen. Die hätten doch überprüfen müssen, ob Sie etwas getrunken haben.« »Ach Quatsch, das ist doch völlig egal. Ich komm für den Schaden auf und damit fertig«, sagt er und streicht spielerisch mit den Fingerspitzen über meinen Unterarm. Ich schüttele ihn ab und setze mich so weit von ihm weg, wie mir das auf der engen Rückbank möglich ist. »Woher kennen Sie den Polizisten überhaupt?«
»Wir waren zusammen in der Schule.« »Der ist doch viel jünger als Sie.« »Tja, ich bin halt ein paarmal sitzengeblieben.« »Wie witzig«, sage ich, drehe ihm den Rücken zu und sehe demonstrativ aus dem Fenster. Damit ist das Gespräch erst einmal beendet. Als das Taxi vor meinem Hotel hält, bedeutet Dujack dem Taxifahrer zu warten. Dann sieht er mich an. »Oder schicken wir das Taxi weg?« »Das können Sie halten, wie Sie wollen. Ich weiß nur nicht, wie Sie dann nach Hause kommen. Aber so ein kleiner Fußmarsch wird Ihnen bestimmt guttun«, sage ich und steige aus. Klaus Dujack folgt mir in die Hotellobby. Am Aufzug holt er mich ein. »Wir könnten noch etwas an der Bar trinken«, schlägt er vor. Ich schüttele den Kopf. »Ich könnte mit raufkommen.« »Ganz bestimmt nicht.« 154 »Wir könnten noch einen kleinen Spaziergang machen.« »Kein Interesse.« Er macht einen Schritt auf mich zu und senkt seine Stimme. »Pia. Ich finde dich ausgesprochen sexy. Ich stehe auf kratzbürstige Frauen. Ich hoffe, du bist im Bett genauso temperamentvoll.« »Ja«, sage ich jetzt ebenfalls leise. »Sie sollten mal mein Sortiment an Peitschen, Klammern und Handschellen sehen. Ich stehe total drauf, wenn Männer um Gnade winseln.« »Was immer du willst«, sagt er und grinst breit.
Der Aufzug hält. Die Schiebetüren gleiten auseinander, ich trete ein und drücke auf den Knopf mit der 3. Dujack versucht mir zu folgen. Ich schiebe ihn zurück. »Keine Chance. Lassen Sie es lieber.« »Ich bekomme immer, was ich will. Wenn nicht heute, dann beim nächsten Mal.« »Ein nächstes Mal wird es nicht geben«, sage ich und winke ihm durch die sich schließenden Türen zu. Auf meinem Zimmer stelle ich mit Erstaunen fest, dass es zwar schon ziemlich spät ist, ich aber dennoch das dringende Bedürfnis habe, mit jemandem zu reden. Ich rufe Cornfeld an. Zu meiner Überraschung verbringt er die Nacht im eigenen Bett. »Cornfeld«, tönt es verschlafen aus dem Telefonhörer. »Hallo, hier ist Ihr Boss.« »Um diese Zeit hab ich keinen Boss. Nachts bin ich mein eigener Boss.« »Das ist ja ganz was Neues. Sie sind mein Leibeigener, mein Haussklave.« 155 »Wenn Sie mich weiter ärgern, legt der Haussklave wieder auf.« »Schade, dann kann ich Ihnen ja all die spannenden Neuigkeiten gar nicht erzählen.« »Was für Neuigkeiten?« Langsam klingt seine Stimme etwas wacher. »Ich hatte einen wunderschönen Abend. Dujack ist wirklich ein toller Mann.« »Wenn das stimmen würde, wären Sie jetzt nicht im Hotel.«
Ich muss lachen. »Ja, stimmt. Sie haben Recht. Es war ein Scheißabend, und der Typ ist das letzte Arschloch.« »Was ist denn passiert?« Ich erzähle ihm von dem Autounfall: »... Dujack war stocksauer. Der BMW hatte einen Totalschaden, und der Ferrari musste abgeschleppt werden.« »Nicht schlecht.« »Was mich aber gewundert hat, war, dass Dujack die Polizisten kannte, und zwar ziemlich gut. Die haben ihn mit seinem Namen angeredet und äußerst zuvorkommend behandelt.« »Warum sollen die denn einen schwerreichen Frankfurter Spekulanten nicht kennen? Wahrscheinlich gehört er zu den einflussreichsten Leuten in der Stadt.« »Ja, das schon. Aber trotzdem, irgendetwas stimmt da nicht. Außerdem hab ich noch etwas rausgekriegt. Er ist nicht nur der Adoptivvater von Isabelle Dujack.« »Sondern?« »Er ist ihr leiblicher Vater. Er musste sie adoptieren, weil er nie mit ihrer Mutter verheiratet war.« »Und wer ist die Mutter?« 156 »Hat er nicht gesagt.« »Seltsam«, sagt Cornfeld. »Diese Familie ist ein echt komischer Haufen.« Seine Stimme klingt schon wieder schläfrig. »Ich quäle Sie nicht länger. Gehen Sie ins Bett«, sage ich und beende das Gespräch. Noch immer bin ich nicht müde. Ich schalte den Fernseher ein und zappe durch sämtliche Kanäle. Leider läuft nichts, was mich auch nur ansatzweise interessieren würde. Gelangweilt starre ich aus dem Fenster. Wieder geht mir der heutige Abend
durch den Kopf. Dujack ist wirklich ein Affe. Dieses Theater in der Tiefgarage. Der hat doch tatsächlich geglaubt, mich mit seinem lächerlichen Fuhrpark beeindrucken zu können. Und dann seine Initialen auf den Nummernschildern. Total bescheuert. Und auf einmal habe ich ein Bild vor Augen, das mir das Gefühl gibt, plötzlich in einem völlig anderen Film gelandet zu sein. Als würde mitten in der Kinovorstellung die Filmrolle gewechselt und ich in eine ganz neue Handlung hineinkatapultiert. Ich sehe diesen S-Klasse-Mercedes wieder vor mir. Das Auto, in das die kleine Tschechin eingestiegen ist und von dessen Nummernschild ich im Vorbeifahren nur die ersten drei Buchstaben hatte erkennen können. Und die hießen: F-KD. Oh mein Gott, das gibt es doch nicht. Ich sitze senkrecht im Bett. Wieso ist mir das nicht gleich aufgefallen? Wieso hab ich das nicht schon in der Tiefgarage gemerkt? Du lieber Himmel. Mein Puls rast, mein Magen rebelliert. Armer Cornfeld, jetzt muss ich ihn noch einmal aus dem Bett klingeln. 157 Kapitel 16 Da die Lufthansa-Maschine in Frankfurt mit einer Stunde Verspätung gestartet ist, treffe ich erst gegen halb zwölf im Büro ein. Immerhin habe ich die Zeit genutzt und in der Abfertigungshalle schon sämtliche Protokolle geschrieben. Gutgelaunt hänge ich meinen Mantel im Flur auf. Cornfeld ist dabei, Dujacks verwelkte Blütenpracht zu entsorgen. Und das scheint ihm gar nicht zu schmecken. »Der Typ macht einem doch nur Ärger«, schimpft er vor sich hin. »Was ist denn nun schon wieder los?«
»Erst klingeln Sie mich wegen dieses Deppen zweimal aus meinem wohlverdienten Schlaf, und jetzt muss ich auch noch dieses stinkende Zeug hier durch die Gegend schleifen.« Ich ignoriere sein Gezeter, hole mir einen Kaffee und mach es mir an meinem Schreibtisch bequem. »Hab ich Ihnen eigentlich schon erzählt, dass ich demnächst Geburtstag habe?« Cornfeld kommt aus der Küche, wo er den letzten Blumenstrauß in der Mülltonne deponiert hat. Sein Gesicht hat die gleiche Farbe wie die unappetitliche Soße, die ihm von den Fingern tropft. Angeekelt sieht er auf seine Hände, die er mit einem Papiertaschentuch zu säubern versucht. »Nein, das haben Sie noch nicht erwähnt. Sie haben mir 158 auch noch nicht gesagt, wann und wo die Party steigen wird und ob ich dazu eingeladen bin. Aber eines sage ich Ihnen gleich, Blumen kriegen Sie keine von mir.« »Cornfeld, wie kommen Sie auf die Idee, ich könnte mir eine Fete leisten? Ich bin pleite. Das wissen Sie besser als ich.« »Dann schreibe ich eben noch eine Rechnung für Isabelle Dujack.« »Das wird nicht reichen. Nein. Ein Fest kann ich mir abschminken. So traurig das auch ist.« Leider begreift Cornfeld viel schneller, als ich dachte. Er sieht mich nachdenklich von der Seite an, setzt sich auf mein schwarzes Sofa, legt die Füße hoch und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Liebe Frau Petry, das tut mir ganz schrecklich leid für Sie. Aber nur so zu Ihrer Information: Ich bin auch pleite. Und das
müssten Sie eigentlich am besten wissen - bei dem Gehalt, das Sie mir zahlen.« »Lieber Cornfeld, ich weiß ja nicht, was Ihre Einkommensverhältnisse mit meinem Geburtstag zu tun haben. Aber eines kann ich Ihnen sagen, ich habe Freundinnen, die könnten so eine Party problemlos aus der Portokasse bezahlen.« »Wie heißt sie?« »Wer?« »Ihre Freundin.« »Alexandra, Alexandra Moreno, Johnsallee.« »Unsere ExKlientin?« »Genau die.« Cornfeld kritzelt den Namen auf ein Stück Papier. »Ich hätte noch eine Frage«, sagt er. »Ja.« 159 »Gibt es da nicht diesen Typen? Wie hieß er noch mal gleich? Ach ja, Michael. Der Mann aus Ihrer Vergangenheit. Der erst kürzlich wieder aufgetaucht ist und ständig hier anruft und Nachrichten für Sie hinterlässt.« »Cornfeld«, sage ich entnervt. »Michael ist nicht der richtige Kandidat für so etwas.« »Wieso?« »Nun, der hat ein geradezu erotisches Verhältnis zu seinem Geld. Er hängt einfach sehr dran.« »Sie meinen, er ist geizig?« »So hab ich das nicht gesagt.« »Was ist mit Ihrer Mutter?« Ich verdrehe die Augen. »Die ist dann immer noch auf Teneriffa. Außerdem ...« »... ist sie noch geiziger«, stellt Cornfeld grinsend fest. Da kann ich ihm nicht widersprechen. »Waren Sie eigentlich schon bei ihr und haben sich ums Blumengießen gekümmert?«, fragt er.
»Muss ich noch machen«, sage ich und wende mich wieder meiner Arbeit zu. Wenn ich meinen Assistenten das nächste Mal für meine Privatangelegenheiten instrumentalisiere, sollte ich seinen IQ berücksichtigen, nehme ich mir vor und die Sache etwas subtiler angehen. Sonst nimmt er mir diese plumpen Wink-mitdem-Zaunpfahl-Manöver irgendwann noch übel. Auf meinem Schreibtisch hat sich eine Menge Post und unerledigter Kleinkram angesammelt. Obenauf liegt ein großer Zettel: »Michael anrufen!« »Was wollte Michael denn?« »Den hatte ich heute schon zweimal an der Strippe. Beim ersten Anruf wollte er wissen, wann Sie aus Frankfurt zurück 160 kommen. Und beim zweiten bat er mich, Ihnen auszurichten, dass er am Montag für acht in der Früh eine Abschlagszeit auf dem Golfplatz gebucht hat.« »Nein, nicht schon wieder! Der spinnt doch. Da kann er allein hingehen. War sonst noch was?« »Ich habe mich mal über die finanzielle Situation von Frau Bohnacker schlaugemacht.« »Bei der SCHUFA?« »Nein, das geht nicht. Da muss man Mitglied sein. Und das können nur Firmen, die ein hohes kreditorisches Risiko tragen. Wie es zum Beispiel bei Kommunikationsunternehmen, Banken oder Spartenversandhändlern der Fall ist.« »Wäre ja auch ein bisschen zu einfach, wenn man mal eben die Bonität der Nachbarn überprüfen könnte.« Cornfeld nickt. »Aber es gibt andere Möglichkeiten. Im Internet habe ich zum Beispiel eine Seite gefunden, die vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen betrieben
wird und auf der die Bekanntmachungen aller deutscher Insolvenzgerichte veröffentlicht werden ...« »Okay«, unterbreche ich ihn, bevor er mich mit weiteren uninteressanten Details langweilen kann, »und da sind Sie fündig geworden. Richtig?« »Richtig! Da habe ich Frau Bohnacker entdeckt. Und -«, sagt er und macht es spannend. »Und?«, frage ich pflichtschuldig nach. »Dort steht, dass sie vor genau einem Jahr Privatinsolvenz angemeldet hat. Die Frau ist komplett pleite. Jetzt fragt sich nur, woher sie auf einmal so viel Geld hat.« »Isabelle Dujack meinte, sie hätte vermutlich eine Erbschaft gemacht«, sage ich. »Ja, oder im Lotto gewonnen«, erwidert Cornfeld und ver 161 zieht das Gesicht. »Vielleicht hat sie auch einen neuen Lover, der ihr das alles finanziert.« Ich sehe meinen Assistenten nachdenklich an. »Merkwürdiger Zufall. Dass sie ausgerechnet in dem Moment Geld hat, in dem ich anfange, den Fall wieder aufzurollen.« »Sie meinen, die Bohnacker erpresst jemanden?« »Ja«, sage ich. »Und zwar jemanden, der auch zahlt. Jemanden, der möchte, dass Dujack verdächtigt wird und ...« »Ach übrigens«, unterbricht mich Cornfeld, »ich hab noch etwas. Diese Psychologin hat sich gemeldet, der ich eine Kopie von Simones Tagebucheintrag gefaxt hatte.« »Lassen Sie mich raten. Sie hat Ihre Vermutungen in allen Punkten bestätigt.« »Nicht ganz. Erst einmal wollte sie zu diesen Aufzeichnungen überhaupt keine Stellungnahme abgeben. Sie sagte, es wäre
ausgesprochen unseriös, anhand eines einzigen Schriftstücks Vermutungen über die Verfasserin anstellen zu wollen.« »Aber wie ich Sie kenne, haben Sie dann doch noch etwas aus ihr rausgekitzelt.« Cornfeld grinst selbstgefällig. »Genau. Eine ganze Menge sogar. Dafür muss ich erst einmal meine Aufzeichnungen finden.« Hektisch wühlt er auf seinem Schreibtisch herum, der von einem Wüst aus Papieren, Klebezetteln, Stiften, Disketten und leeren, verklebten Kaffeebechern bedeckt ist. In dem Chaos, das er ständig um sich herum verbreitet, scheint es aber so etwas wie ein geheime Ordnung zu geben. Das Erstaunliche ist, dass er tatsächlich alles wiederfindet. Und meistens weiß er auch genau, wo er suchen muss. »Ich hab's. Also, diese Aktion, sich die Augenbrauen auszu 162 zupfen, könnte als Selbstverletzung interpretiert werden. Sie fügt sich körperlichen Schmerz zu, um den seelischen nicht mehr spüren zu müssen. Dass der Vater sich über die Verunstaltung aufregt, zeigt, dass ihm das Äußerliche, der Körper seiner Tochter sehr wichtig ist. Dass die Mutter ganz cool reagiert und sagt: Das macht doch nichts, das wächst ja ohnehin wieder nach, könnte ein gewisses Desinteresse an der eigenen Tochter signalisieren. Dafür spricht auch, dass Simone schreibt: Mit der kann man ja sowieso nicht reden, die hört nie zu. Interessant ist, dass sie mit ihrer Mutter über etwas reden will, worüber sie aber eigentlich gar nicht reden darf. Und dann ist der Satz: Ich hin ja auch seihst dran schuld, sehr merkwürdig, um nicht zu sagen, verdächtig.« »Sie meinen, das klingt nach Missbrauch.«
»Ja. Ein Kind, das sich selbst verletzt und mit dem Vater nicht verreisen, also nicht mit ihm allein sein will. Ein Vater, der zuviel Interesse am kindlichen Körper hat, eine Mutter, die wegsieht und nicht für das Kind da ist, wenn es sie braucht. Schließlich ein Geheimnis, über das nicht gesprochen werden darf. Und die Schuldfrage. In Missbrauchsfällen geben sich leider sehr oft die Opfer die Schuld an dem, was ihnen angetan worden ist.« »Wenn man sich vorstellt, was das für die Kinder bedeutet, dass sie ein Leben lang darunter leiden müssen ...«, echauffiere ich mich. »Ich habe noch etwas«, fällt mir Cornfeld ins Wort. »Etwas, das auch zu dieser Theorie passt.« »Und das wäre?« »Die Tiere, die bei der Familie Dujack verschwunden sind, könnten auch ein Hinweis sein. Die Psychologin meint nämlich, dass Männer, die Kinder missbrauchen, ihren Op 163 fern manchmal Tiere schenken. Hunde, Katzen, Kaninchen. Alles was niedlich und kuschelig ist. Und wenn die Kinder nicht tun, was von ihnen verlangt wird, werden die Tiere wieder abgeschafft oder es wird doch zumindest damit gedroht.« »Das heißt, die Tiere werden als Druckmittel gegen die Kinder eingesetzt?« Cornfeld nickt. »Das ist ja perfide. Auf so eine Sauerei muss man erst einmal kommen«, sage ich schockiert. »Aber damit ist Ihre Theorie doch voll und ganz bestätigt, oder?« »Na ja, man kann den Tagebucheintrag so interpretieren, man kann aber auch zu einem ganz anderen Schluss kommen. Außerdem hat diese Psychologin etwas bemerkt, was uns auch hätte auffallen müssen. In dem Text gibt es so gut wie keine
Rechtschreibfehler. Sogar die Kommasetzung ist richtig. Sehr ungewöhnlich für eine Zehnjährige.« »Womöglich ist Simone ja auch so ein kleines Genie gewesen wie ihre hyperintelligente Schwester. Aber mal davon abgesehen, hat sie was zum Thema Borderline gesagt?« »Borderline?« Cornfeld sieht mich an, als hätte ich ihm einen obszönen Begriff an den Kopf geworfen. »Nun sitzen Sie aber auf der Leitung, Cornfeld. Borderline! Schon mal gehört?« »Nein. Was ist das?« »Das wollte ich eigentlich von Ihnen wissen. Haben Sie mein Protokoll über das Gespräch mit dieser Heilpraktikerin nicht gelesen?« »Nein. Wo soll das sein?« »Da, wo es hingehört.« 164 Cornfeld schüttelt den Kopf. »Wenn es da wäre, hätte ich es auch gelesen.« Mir kommt ein schrecklicher Verdacht, der sich bestätigt, als ich meine Tasche öffne. Cornfeld, der mir über die Schulter schaut, amüsiert sich königlich. »Sieh mal einer an. Da ist er ja, der kleine Schlingel. Was muss er sich aber auch immer verstecken.« »Jetzt hören Sie schon auf. So was kann schließlich jedem mal passieren.« »Aber sicherlich.« Wenn es einen Wettkampf im Kleine-blöde-Bemerkungenmachen gäbe, wäre Cornfeld Weltmeister. »Hier, bitteschön, das verspätete Protokoll. Seien Sie freundlicherweise so nett und finden Sie raus, was man unter
dem Begriff Borderline versteht. Das ist nämlich das Wort, das ich gerade noch auf der Krankenkarte von Isabelle Dujack entziffern konnte, als ich einen kurzen, heimlichen Blick drauf geworfen habe.« Cornfeld deponiert den Bericht irgendwo in dem Chaos auf seinem Schreibtisch. »Hat Ihre Psychologin eigentlich auch etwas zu diesem Albtraum gesagt, den Simone in ihrem Tagebuch beschrieben hat?« »Ja. Auch das kann ein ganz gewöhnlicher Albtraum sein. Allerdings könnte die Tatsache, dass sie verfolgt wird, Angst hat und sich aus ihrem Körper löst, und dass sie das, was dann mit ihr geschieht, aus der Distanz sieht, auch ein Hinweis auf Missbrauch sein. Rein theoretisch natürlich.« »Rein theoretisch. Klar. Da haben Sie ja eine ganze Menge recherchiert. Nicht schlecht.« »Ich hab fast zwei Stunden mit der Frau telefoniert und 165 anschließend ein vierseitiges Protokoll verfasst. Als nächstes bringe ich ein Buch dazu heraus.« »Ein ganzes Buch? Ich glaube, das würde ich nicht lesen wollen. Das könnte ich nicht aushalten. Dieses Thema ist so furchtbar und grausam, das würde mich entsetzlich deprimieren.« »Mit einem potentiellen Kinderschänder essen zu gehen, finde ich viel deprimierender.« »Cornfeld, nun fangen Sie nicht schon wieder damit an.« Gegen sieben Uhr mache ich mich zu Fuß auf den Nachhauseweg. Was eine absolute Schwachsinnsidee ist. Es regnet zwar nicht, dafür pfeift der Wind so eisig durch die Straßen, dass mir die Ohren fast abfrieren und meine Füße sich in
gefühllose Eisklumpen verwandeln. Natürlich habe ich weder Mütze noch Schal dabei und bin heilfroh, als ich endlich meine Wohnungstür aufsperre und mir ein Schwall warmer Luft entgegen strömt. Ich lasse die Badewanne volllaufen und lege mich eine halbe Stunde ins heiße Wasser. Danach saniere ich mein Nervenkostüm mit ein wenig Meditation. Doch kaum habe ich mich im Lotussitz vor einer brennenden Kerze auf meinem Flokati niedergelassen, klingelt das Telefon. Alexandra. Nachdem wir Smalltalk gemacht und ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht haben, kommt sie auf den eigentlichen Grund ihres Anrufs zu sprechen. »Pia, ich hab Scheiße gebaut.« »Wieso das denn?« »Ich hab Helge beleidigt.« »Erzähl.« 166 »Wir lagen nebeneinander im Bett. Nachdem wir - na du weißt schon.« »Okay«, sage ich. »Ich kann es mir denken. Und dann?« »Ich habe Helge von einem Schauspieler erzählt, der auf einem Bauernhof lebt und bei dem das Hängebauchschwein sogar ins Wohnzimmer darf.« »Und?« »Ja, und dann hat mich der Teufel geritten. Dann hab ich nämlich gesagt - und bei mir darf das Hängebauchschwein sogar ins Bett.« Ich lache so laut los, dass Alexandra wahrscheinlich einen bleibenden Hörschaden davonträgt. »Das hast du nicht gesagt. Nein, das glaub ich nicht. So dick ist er doch gar nicht«, sage ich. »Willst du dich von ihm tren-
nen? Willst du ihn loswerden? Jeder Eheberater würde sofort aus dem Fenster springen, wenn er das hörte. Du bist dabei, deine Beziehung zu ruinieren. Ist dir das klar?«, rede ich ihr ins Gewissen und muss auf einmal wieder an den Mann denken, der an Alexandras Handy von der geilen Nacht mit ihr gesprochen hat. Beißt sie Helge weg und bringt ihn auf Distanz, weil sie in Wirklichkeit von einem anderen Kerl fasziniert ist? Alexandra kichert leise. »Na ja, eigentlich war es schon ziemlich komisch. Leider fand Helge das gar nicht. Er hat zwei Tage lang nicht mehr mit mir geredet. Und als wir kürzlich miteinander geschlafen haben, hat er doch tatsächlich das Licht aus gemacht.« »Kauf ihm doch ein Abo für ein Fitness-Studio.« »Nein, da geht er ja doch nicht hin. Sport ist Mord. Und warum sich bewegen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Ich finde seinen Bauch ja eigentlich auch ganz süß.« 167 »Dann mach keine Witze darüber. Auch wenn sie gut sind.« »Ich weiß, ich weiß. Du hast ja Recht.« Sie klingt jetzt reuevoll. »Helge ist ein netter Typ. Und er hat alle Attribute, die du an einem Mann schätzt.« Als da wären: Geld, Geld und nochmals Geld. »Also geh sensibler mit ihm um.« »Ja, ja«, sagt sie. »Stimmt schon.« Wir beenden das Gespräch und ich hoffe, sie ist in Zukunft etwas vorsichtiger. 167 Kapitel 17 Es ist acht in der Früh. Und ich stehe schon wieder auf einem Golfplatz. Diesmal ist es der teuerste von ganz Norddeutsch-
land. Falkenstein. Wo sich die Millionäre und Milliardäre die Klinke in die Hand geben und ich eigentlich gar nichts zu suchen habe. Doch Michael hat mich damit geködert, dass die meisten Golfclub-Sekretariate montags nicht besetzt seien und daher auch niemand bemerken würde, dass ich auf dem Platz gar nicht spielen darf. Hinzu kommt, dass die Klientel hier so geldig ist, dass sich ja vielleicht der ein oder andere lukrative Kontakt anbahnen lässt. Gerade die gelangweilten Frauen reicher Männer gehen ja ganz gerne mal fremd. Und wenn so ein gehörnter Ehemann eine Runde Golf mit mir absolviert hat, kommt er womöglich auf die Idee, mich mit der Beschattung seiner Gattin zu beauftragen. Doch die Hoffnung auf solvente Kunden erlischt schnell. Außer uns ist weit und breit niemand zu sehen. Das ändert sich, als ich am ersten Abschlag ein paar Aufwärmübungen mache. Ein älterer Herr kommt, leicht nach vorne gebeugt, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, den Weg vom Clubhaus heraufgeschlurft. Er lächelt uns freundlich zu und fragt, ob wir alleine spielen, und nachdem wir das bejahen, bietet er seine Begleitung an. »Allein über den Platz zu gehen, ist ja immer ein bisschen langweilig.« 168 Selbstverständlich können wir das nicht ablehnen. Michael lässt unserem Begleiter beim ersten Abschlag den Vortritt, ohne vorher nach seinem Handicap gefragt zu haben. Sein Schwung sieht aus, als hätte ihn eine plötzliche spastische Muskelkontraktion in der Magengegend erwischt. Dass er den Ball überhaupt trifft, ist ein Wunder. Der zischt dann auch schräg über das Gras und bleibt nach zwanzig Metern vor einem Gebüsch im Rough liegen.
Mein erster Abschlag hingegen kann sich sehen lassen. Vielleicht wird die Runde ja doch nicht so schlecht. Auch unser Opa wird langsam etwas besser. Er schlägt zwar unmögliche und relativ kurze Bälle, aber die Richtung stimmt, und sie landen Gott sei Dank nicht allzu oft in den Büschen. Nach dem ersten Loch fragt er Michael, ob der nicht Lust auf ein Spielchen habe. Michael grinst über das ganze Gesicht. Klar hat er Lust. Bei so einem miserablen Gegner ist das keine Frage. Wie sich herausstellt, hat der alte Knabe Handicap 18. »Aber die spiele ich zur Zeit nicht.« Ja, das haben wir gesehen. Vielleicht sollte er mal ein paar Trainerstunden nehmen. Die beiden einigen sich auf ein Lochspiel. Jedes verlorene Loch kostet hundert Euro. Das ist ganz schön heftig. Aber schließlich sind wir auf dem exklusivsten Golfplatz Norddeutschlands, und das Risiko hält sich bei dem Gegner ja offensichtlich in Grenzen. Wenn wir nur ein bisschen aufgepasst oder mitgedacht hätten, wir zwei Schlauberger! Aber nein, wir sind voller Begeisterung ins offene Messer gerannt. Wir haben nur einen alten, gebrechlichen Mann gesehen, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und miserables Golf spielte. Und genau das hat sich dann schlagartig geändert. Unser Opa wirkte auf einmal viel dynamischer. Die Schultern strafften 169 sich, die Körperhaltung war plötzlich gerade und aufrecht, der schlurfende Gang wurde übergangslos durch einen energischen, weit ausholenden Schritt ersetzt. Das Tempo verdreifachte sich. Der Mann verjüngte sich unter unseren Augen um mindestens zwanzig Jahre. Sein Abschlag an Loch zwei machte die Verwandlung perfekt. Mit dem Driver schaffte er
mühelos zweihundert Meter. Und sein Schwung? Wie aus dem Lehrbuch. Besser geht es gar nicht. Michael war ganz blass vor Wut. Und mir war schlecht. Schlecht vor Ärger über mich selbst. Wie hatten wir nur auf diesen uralten Trick hereinfallen können? Unser Opa spielte in der Tat keine 18, oh nein, sein Handicap dürfte bei 15, wenn nicht sogar noch darunter gelegen haben. Michael allerdings war so sauer, dass er immer schlechter wurde. Er gewann zwei und verlor neun Löcher. Sechs spielten sie par. Zum Schluss summierten sich seine Verluste auf stattliche siebenhundert Euro. Nachdem Michael zähneknirschend seine Spielschulden beglichen hatte, verabschiedeten wir uns von unserem Begleiter. »Es hat Spaß gemacht, mit Ihnen zu spielen«, sagte er strahlend und entschwand in Richtung Clubhaus. Ein vitaler, älterer Herr, der wegen dringender, geschäftlicher Termine leider keinen Kaffee mehr mit uns trinken konnte. Als ich nachmittags in die Detektei komme, bin ich immer noch angefressen. Michael hat sich wahnsinnig über die Art und Weise aufgeregt, wie der Typ ihn abgezockt hat. Er mag es gar nicht, derart vorgeführt und gelinkt zu werden. Als ich ihm dann im Auto auch noch eröffnete, dass ich kurz bei meiner Mutter zum Blumengießen vorbeifahren müsse, hat das die Stimmung noch weiter in den Keller getrieben. Völlig de 170 primiert saß er neben mir, kaute auf seiner Unterlippe herum und hat kaum noch geredet. Er würde so gern zu den großen Haien gehören, schwimmt aber immer noch im Karpfenteich. Ich tröstete ihn, versuchte ihn wieder aufzubauen, sprach ihm Mut zu. Als ich ihn eine Stunde später im Grindelhof absetzte, war er immer noch ziemlich blass.
Im Büro erwartet mich eine Überraschung. Auf meinem Schreibtisch liegt eine Tafel Schokolade. Vollmilch-Nuss. Meine Lieblingssorte. Cornfeld sitzt auf meinem Sofa und hat sich hinter dem »Hamburger Abendblatt« verschanzt. »Hi«, sage ich. »Von wem ist denn die Schokolade?« »Von mir.« »Was? Das ist ja ganz was Neues. Wie hab ich mir denn solche Aufmerksamkeiten verdient?« »Überhaupt nicht. Ich fürchte nur, Sie werden sie brauchen.« »Warum das denn?« »Schokolade ist gut für die Nerven. Also, Sie holen sich am besten Ihren Kaffee, essen ein Stückchen Schokolade, und dann erzähl ich Ihnen etwas.« »Cornfeld, machen Sie doch nicht immer aus allem ein Rätselraten. Ihre Vorliebe für dramatische Auftritte geht mir langsam auf den Wecker.« Aber er besteht auf dem Ritual. Ich muss mir einen Kaffee holen, mich an meinen Schreibtisch setzen und Schokolade essen. Erst dann ist er bereit, mit seinen neuesten Rechercheergebnissen rauszurücken. »Also. Sie haben mir doch erzählt, dass Dujack das Auto gehört, in das die kleine Tschechin damals eingestiegen ist. Richtig?« 171 »Richtig!« »Und wir hatten darüber gesprochen, dass unser Herr Dujack auch etwas mit dem Frankfurter Rotlichtmilieu zu tun haben könnte. Schließlich hat er gute Kontakte zur ansässigen Polizei und ist als Spekulant nicht unbedingt die Verkörperung hoher ethischer und moralischer Wertvorstellungen. Möglicherweise spekuliert er ja nicht nur mit Immobilien?«
»Cornfeld, das weiß ich alles. Könnten Sie bitte mal auf den Punkt kommen. Was haben Sie herausgefunden?« »Also gut. Ich habe mit meinem Freund von der Kripo Hannover telefoniert. Der hat sich totgelacht, als ich ihn nach Klaus Dujack gefragt habe. Er sagte, wir wären ja eine tolle Detektei, wenn wir auf den auch schon gekommen wären. Ja und dann kam's. Dujack ist eine ganz große Nummer - auf dem Frankfurter Kiez. Mit Zuhälterei hat er angefangen. Aber mittlerweile schätzt die Polizei, dass er auch beim Drogenhandel und bei Autoschiebereien heftig mitmischt. Allerdings konnten sie ihm bisher nie etwas nachweisen.« Jetzt bin ich geplättet. Ich brauche noch mehr Schokolade. Das ist ja ein Ding. Cornfeld beobachtet mich amüsiert, und ich habe langsam das Gefühl, dass er noch nicht sein ganzes Pulver verschossen hat. »Cornfeld, wieso weiß der Polizist in Hannover über Dujack Bescheid?« »Gute Frage. Wirklich eine ganz hervorragende Frage.« Er grinst wie ein Honigkuchenpferd. »Also, die Polizei in Hannover kam relativ schnell auf ihn. Madame Bouche hatte in ihrer wilden Phase nämlich einen Beschützer. Der war zwar damals noch ein Anfänger, aber er hat seine Sache schon recht professionell gemacht.« 172 »Ich glaub es nicht: Dujack war ihr Zuhälter?« »Bingo!« »Es ist nicht zu fassen. Wenn ich nur daran denke, wie er damals reagiert hat, als ich ihm erzählt habe, dass Frau Bouche als Prostituierte gearbeitet hat. Diese moralische Entrüstung. Der Typ ist doch wirklich das Letzte. Erst schickt er die Frau auf den Strich und kassiert sie ab. Und jetzt macht er einen auf Biedermann.«
»Tja, Frau Petry, Sie sollten einmal Ihr Männerbild überdenken. Mit etwas mehr Menschenkenntnis hätten Sie sich diesen netten Abend beim Italiener möglicherweise ersparen können.« »Da haben Sie vollkommen Recht. Mit etwas mehr Menschenkenntnis hätte ich mir wahrscheinlich auch einen etwas fähigeren Assistenten ausgesucht.« »Das ist ungerecht.« »Stimmt. Ich nehme es zurück.« Die Frage ist nun allerdings, ob wir diese Neuigkeit Isabelle mitteilen müssen. Natürlich habe ich keine Lust, sie mit solchen Neuigkeiten zu konfrontieren: »Übrigens, Frau Dujack, Ihr Vater ist ein Zuhälter, Drogendealer und Autoschieber. Und außerdem ist dieses Ungeheuer nicht nur Ihr Adoptivvater, sondern auch Ihr leiblicher Erzeuger. Auf die Gene können Sie sich echt was einbilden.« Ich bin sicher, sie wird vor Begeisterung im Dreieck hüpfen. Cornfeld stört das nicht im Geringsten. »Wir müssen sie informieren. Da kommen wir gar nicht drumherum. Schon um unter Beweis zu stellen, dass wir auch was tun für ihr Geld.« »Cornfeld, eine solche Mitteilung grenzt an Körperverletzung. Mit so etwas müssen wir ganz vorsichtig sein. Schließ 173 lieh weiß man nie, welchen seelischen Schaden man da womöglich anrichtet.« »Ja, aber Sie müssen trotzdem anrufen. Vielleicht weiß sie es ja auch längst. Ich würde es Ihnen gerne abnehmen. Aber mich kennt sie nicht. Sie sind ihr Ansprechpartner, Sie sind ihre Vertrauensperson.«
»Ja, ja, ich weiß. Aber heute ist wirklich kein guter Tag für so etwas. Morgen. Morgen ist besser. Morgen rufe ich sie an. Versprochen.« Um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen, schnappe ich mir das »Hamburger Abendblatt«. »Die wollte ich gerade lesen«, mault Cornfeld. Ich lasse mich erweichen und händige ihm großzügig den Sportteil aus. Während ich den Wirtschaftsteil durchblättere, beschäftigt sich Cornfeld mit den neuesten Gerüchten über angeblich anstehende Spielertransfers beim HSV. Es dauert nicht lange, und ich muss ihn unterbrechen. »Cornfeld, hier steht, dass die Harmann-Tochter Paperware plant, an die Börse zu gehen. Sie sind doch so ein kleiner Aktienspekulant. Interessiert Sie das?« »Ja. Wann wollen die an die Börse?« »Warten Sie mal. Die schreiben hier:... Der geplante Börsengang ist aber noch in weiter Ferne ... Da müssen wir konstant gute Ergebnisse erzielen, sagte der Geschäftsführer Ludwig Schmidt, und das wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen ...« Mein Assistent unterbricht mich. »Das ist alles? Sie planen einen Börsengang, wissen aber noch nicht, wann er stattfinden soll? Die Info hätten sie sich wirklich sparen können.« Er geht in die Küche, um sich einen neuen Kaffee zu holen. 174 »Bringen Sie mir bitte einen mit!«, rufe ich hinter ihm her. Mit zwei Bechern, die er so vollgegossen hat, dass die braune Brühe bei jedem Schritt über den Becherrand schwappt, kommt er zurück. Während ich Cornfelds Eierlauf mit vollen Kaffeebechern beobachte, geht mir der Name Paperware nicht mehr aus dem Kopf. Paperware, Paperware ... Irgendwie
kommt mir der Name bekannt vor. Paperware, das hab ich doch schon mal gelesen. Plötzlich weiß ich es wieder. »Cornfeld, wo ist das Tagebuch von Simone? Dieses Schulheft?« Er verlässt mein Zimmer und ist kurz darauf mit dem Heft zurück. Ich muss nicht lange suchen: Am rechten unteren Rand auf dem hinteren Deckblatt steht es ganz klein: Paperware. Ich blättere hektisch durch meine Zeitung, finde den Artikel und überfliege ihn noch einmal. Und dann habe ich es: »... Die Firma, die vor acht Jahren gegründet worden ist, scheint auf dem richtigen Weg zu sein ...« »Verdammt, diese Firma gibt es erst seit acht Jahren.« »Ja und, stört Sie das?« »Allerdings. Das stört mich sogar ganz gewaltig. Und wissen Sie auch warum? Weil Simone vor elf Jahren gestorben ist.« Cornfeld guckt richtig beeindruckt aus der Wäsche. »Das ist ja ein Ding. Simone kann diesen Tagebucheintrag gar nicht gemacht haben. Zumindest kann sie nicht dieses Heft dafür verwendet haben.« Vor lauter Begeisterung hat Cornfeld seinen Kaffee verschüttet und versucht nun, die sich schnell ausbreitende braune Pfütze mit einem Papiertaschentuch einzudämmen. 175 »Pia, diese Psychologin hat noch etwas ganz Interessantes gesagt. Sollte dieser Tagebucheintrag tatsächlich ein Hinweis auf einen Missbrauch sein, dann ist er nahezu lehrbuchmäßig verfasst. Da steht quasi alles drin, was den Verdacht auf einen sexuellen Übergriff nahelegt. Und dann noch diese seltsam perfekte Rechtschreibung.«
»Das heißt, wer immer diese Eintragung gemacht hat, wollte Dujack als Kinderschänder hinstellen.« »Sieht so aus. Ganz offensichtlich gibt es da jemanden, der ihn nicht sonderlich gut leiden kann und ziemlich massives Geschütz auffährt.« »Aber wenn es Dujack nicht war, wen erpresst dann die Bohnacker?«, frage ich. »Wahrscheinlich dieselbe Person, die diesen Tagebucheintrag gefälscht hat. - Aber um das leidige Thema noch einmal aufzugreifen: Müssten wir nicht Isabelle anrufen und sie über diese Fälschung informieren?« »Cornfeld, ich sagte doch schon, morgen, morgen mach ich das. Morgen ist ein besserer Tag dafür.« 176 Kapitel 18 Gegen sechs verlasse ich das Büro. Ich bin mit Michael verabredet, der mit mir ins Kino und danach zum Essen in ein französisches Restaurant in der Innenstadt gehen möchte. Den Film, den er ausgesucht hat, kenne ich zwar nicht, bin aber sicher, er wird mir gefallen. Michael ist immer sehr bemüht, meinen Geschmack zu treffen. Auch das Bistro hat er ausgewählt, weil er weiß, wie sehr ich französisches Essen liebe. Er kann schon verdammt rücksichtsvoll und fürsorglich sein, denke ich, als ich den Mittelweg hochfahre. Unsere Beziehung könnte so schön sein, wären da nicht die anderen Mädels. Den Gedanken schiebe ich aber gleich wieder beiseite. Ich freue mich auf den Abend und bin fest entschlossen, ihn mir nicht von negativen Gefühlen, Verdächtigungen und Eifersüchteleien verderben zu lassen. Kaum bin ich zu Hause eingetroffen, klingelt es. Michael steht vor der Tür. Er kommt viel zu früh. Damit habe ich überhaupt
nicht gerechnet. Wie ein aufgescheuchtes Huhn laufe ich durch die Wohnung und versuche, mein Outfit mit ein paar Accessoires aufzumotzen. Noch mal Nase pudern ist nicht. Michael will vor dem Kino noch sein Auto waschen lassen. Und darin ist er eigen. Das duldet keinen Aufschub. Mit seinem Wagen ist er fanatischer als jeder Mantafahrer. Er fährt einen breiten Reifen, wie er das gerne nennt. Darauf ist 177 er ganz besonders stolz. Denn der breite Reifen hängt an einem Porsche 911 Targa aus dem Jahr 1970. Zitronengelb mit viel Chrom sieht das gute Stück aus wie ein zu kurz geratenes Postauto. Michael findet die Farbe scharf. Mir ist das Ganze eher peinlich. Vor allem, wenn die Kiste mal wieder nicht anspringt und wir in diesem leider funktionsuntüchtigen Oldtimer sitzen und uns die hämischen Kommentare der Passanten anhören dürfen. Wie immer fahren wir zu Michaels Lieblings-Waschstraße. Da dürfen wir nämlich im Auto sitzen bleiben und können zusehen, wie der Wagen eingeseift, geschrubbt und trockengeblasen wird. Welche Freude. Kaum nähern wir uns der Einfahrt, richten gleich zwei Männer ihre Hochdruckreiniger auf den Porsche. Der erste Wasserstrahl trifft die Motorhaube, der zweite knallt gegen mein Fenster. Erschrocken zucke ich zusammen. Und hätte fast die Klingelmelodie meines Handys überhört. Ich fische das Telefon aus meiner Tasche, nehme den Anruf entgegen und bereue es sofort. Isabelle Dujack ist dran. Das hat mir gerade noch gefehlt. Mir ist überhaupt nicht danach, als Überbringerin schlechter Nachrichten zu fungieren und ihr die Wahrheit über ihren Vater zu erzählen. Doch ich komme gar nicht dazu, etwas zu sagen. Sie unterbricht mich sofort.
»Tut mir leid, Frau Petry, aber Ihr Auftrag hat sich erledigt!« Ich brauche eine Schrecksekunde, bevor ich reagiere. »Aber wieso das denn? Wir wissen doch immer noch nicht, wer versucht hat, Ihre Mutter zu töten.« »Ich weiß es leider, Frau Petry. Meine Mutter ist gestern gegen dreizehn Uhr gestorben.« 178 »Was? Woran denn?« »Die Polizei vermutet, an einer Überdosis Insulin.« »Dann ist sie ermordet worden.« »Ja. So sieht es aus.« »Wissen Sie, wer es war?« »Mein Vater ist seit zwei Stunden auf dem Polizeipräsidium.« »Du lieber Himmel. Wie kommen die denn auf Ihren Vater?« »Er war zum Zeitpunkt ihres Todes im Krankenzimmer. Außerdem lag die Spritze, mit der meiner Mutter die Insulindosis verabreicht worden ist, im Abfalleimer. Und auf ihr befanden sich die Fingerabdrücke meines Vaters. Und zwar nur die meines Vaters.« »Aber warum hat er denn die Fingerabdrücke nicht abgewischt, bevor er ...« »Die Polizei vermutet, dass er von einer Krankenschwester überrascht worden ist und deshalb die Spritze in den Eimer geworfen hat. In der Hoffnung, dass sie dort nicht weiter auffallen würde.« »Aber das ist doch ziemlich blödsinnig ...« »Wie auch immer«, unterbricht sie mich. »Das ist alles ganz schön heftig. Meine Mutter wird ermordet und mein Vater als Haupttatverdächtiger festgenommen. Im Augenblick kann ich das alles noch gar nicht so richtig begreifen.« »Das tut mir furchtbar leid, Frau Dujack. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Schreiben Sie bitte die Abschlussrechnung.« »Aber wollen Sie denn nicht, dass ich weitermache? Nach Entlastungsmaterial für Ihren Vater suche?« »Das ist nett, aber mein Vater kann sich die besten Anwälte 179 leisten. Die werden das jetzt in die Hand nehmen. Davon abgesehen, dass er natürlich in den Knast gehört, sollte er tatsächlich meine Mutter auf dem Gewissen haben. Also schicken Sie mir die Rechnung, und vielen Dank für Ihre Hilfe.« Das war's. Sie hat das Gespräch beendet. Perplex starre ich auf mein Handy. Neben mir kurbelt Michael die Seitenscheibe herunter, nennt einem der Mitarbeiter, der mit gezücktem Geldbeutel an den Wagen herantritt, das gewünschte Waschprogramm und reicht ihm das abgezählte Geld. Irgendwie habe ich den Eindruck, Isabelle ist sauer auf mich. Bisher habe ich ja auch nicht gerade mit sensationellen Ergebnissen geglänzt. Wir hatten die Geschichte nie wirklich im Griff. Ein lockeres Stochern im Nebel. Hier ein kleines Ergebnis, da eine winzige Information, nichts wirklich Bedeutendes. Und was das Schlimmste ist, wir haben nicht verhindert, dass Frau Dujack doch noch ermordet worden ist. Und zwar ausgerechnet von dem Mann, den Cornfeld immer für den Hauptverdächtigen gehalten hat und von dessen Unschuld ich immer überzeugt gewesen bin. Das löst ungute Gefühle in mir aus. Hätte ich die Ermordung verhindern können, wenn ich weniger geflirtet und etwas mehr nachgedacht hätte? Dabei gab es ja auch so einiges, das gegen eine Täterschaft von Dujack gesprochen hat, versuche ich mich zu beruhigen. Aber solche Überlegungen helfen mir nicht wirklich. Ich muss Cornfeld anrufen.
Während ich seine Nummer eingebe, fahren wir in die dampfige Waschstraße ein. Ich drücke das Handy ans Ohr und warte. Die Fensterscheiben beschlagen von innen. So sehe ich wenigstens nicht, wie riesige Bürsten das Auto in die Zange nehmen und Unmengen von Wasser auf uns nieder 180 prasseln. Irgendwie misstraue ich der Stabilität dieses Wagens immer. Außer dem Freizeichen höre ich nichts. Cornfeld geht nicht dran. Als sich seine Mailbox meldet, bitte ich ihn um Rückruf. Noch völlig aufgewühlt und in Gedanken mit Isabelle Dujacks Nachricht beschäftigt, starre ich auf die Windschutzscheibe, als direkt vor meinem Gesicht, wie von Geisterhand gemalt, auf einmal der Abdruck eines Frauenfußes auf dem angelaufenen Glas auftaucht. Verdattert stiere ich auf diese Erscheinung. Was ist das denn? Das war nicht mein Fuß. Sicher nicht. Ich habe Schuhgröße 40, und dieser Fuß passt höchstens in einen Schuh der Größe 37. Davon abgesehen, dass die anatomischen Besonderheiten eindeutig auf eine fremde Besitzerin schließen lassen. Außerdem wüsste ich auch gar nicht, bei welcher Gelegenheit mein Fußabdruck auf diese Windschutzscheibe hätte kommen sollen. Langsam drehe ich mich zu Michael. »Was ist das?« Er ist mindestens so erstaunt wie ich. »Ein Fußabdruck.« »Das sehe ich auch. Wie kommt der da hin?« »Das weiß ich doch nicht.« Plötzlich fängt er an zu lachen. »Mein Gott, ich hab's. Das war Ulli.« Ulli ist der Kameraassistent von Michael, und der junge Mann hat Schuhgröße 44, mindestens.
»Ulli war das ganz bestimmt nicht«, schnauze ich Michael an. »Nein, das meine ich ja auch nicht. Aber Ulli hatte den Wagen letzte Woche für zwei Tage. Er musste eine Menge Zeug transportieren. Und da hat er wohl seine Freundin auf einen 181 kleinen abendlichen Abstecher mit in den Stadtpark genommen.« »Du meinst, die haben es hier im Auto miteinander getrieben?« Michael grinst amüsiert vor sich hin. »Dieser kleine Ganove, dem werd ich was erzählen. Das macht der nicht noch einmal. Das ist ja unglaublich.« Damit hat er Recht, das ist wirklich unglaublich. Als ich nach Hause komme, ist es schon ziemlich spät. Cornfeld hat den ganzen Abend nicht zurückgerufen. Also versuche ich es noch einmal bei ihm. Das ist zwar um diese Zeit ein bisschen unverschämt, aber ich brenne darauf, ihm von den neuesten Entwicklungen im Fall Dujack zu berichten. Und ich brenne auf seine Absolution. Darauf, dass er mich in Schutz nimmt und mir meine Schuldgefühle ausredet. Nach vier Klingelzeichen geht er endlich dran. Er scheint noch nicht im Bett gewesen zu sein, seine Stimme klingt ausgesprochen munter. Ich komme sofort auf den Punkt und berichte ihm, dass Isabelle angerufen und mich über die Ermordung ihrer Mutter informiert hat. »Und«, sagt Cornfeld leise, »haben Sie jetzt ein schlechtes Gewissen?« Verdammt. Das klingt nicht nach einer Absolution. Das klingt nach einer Anklage.
»Cornfeld, wollen Sie mir allen Ernstes eine Mitschuld am Tod von Frau Dujack geben? Weil ich Isabelle nicht rechtzeitig vor ihrem Vater gewarnt habe?« Er lässt sich Zeit mit der Antwort. »So weit würde ich nicht gehen. Es gab ja auch Argumente, die gegen ihn als Täter gesprochen haben. So eindeutig war es nun auch wieder nicht. 182 Auf jeden Fall haben wir unseren Auftrag nicht erfüllt. Wir haben nicht verhindert, dass er noch einmal zugeschlagen und seine Tat vollendet hat.« »Stimmt. Aber vielleicht habe ich ja Recht. Vielleicht ist Dujack doch nicht der Täter, vielleicht irrt sich die Polizei...« »Wie auch immer«, antwortet er. »Unser Auftrag hat sich damit erledigt. Ich schreib den Abschlussbericht und eine Abschlussrechnung. « »Das können Sie tun. Und die nehme ich dann mit, wenn ich morgen nach Frankfurt fliege.« »Was wollen Sie in Frankfurt?« »Unseren Fall aufklären. Denn Sie können sagen, was Sie wollen, Dujack mag ja ein Charakterschwein sein, aber er ist bestimmt kein Idiot. An der Geschichte stimmt was nicht. Da bin ich mir ziemlich sicher. Und das krieg ich raus. Verlassen Sie sich drauf.« Cornfeld ist nicht begeistert. »Wie wollen Sie denn da was rauskriegen. Den Mord klärt die Polizei auf...« »Ich gehe noch einmal in das Krankenhaus, in dem Isabelles Mutter gelegen hat. Da habe ich das letzte Mal ein paar Leute kennengelernt, die mir bestimmt weiterhelfen können.« »Das kostet uns einen Haufen Geld und bringt gar nichts. Das können wir uns überhaupt nicht leisten«, lamentiert er. »Nur weil Sie Ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollen.«
»Cornfeld, buchen Sie mir einen Flug, oder muss ich das selber machen?« »Ich buche Ihnen ganz bestimmt keinen Flug. Sie fahren mit dem Zug zweiter Klasse. Und die Taxifahrten sind hiermit auch gestrichen.« »Sie sind ja nicht ganz dicht.« 183 »Wieso? Sie haben doch so ein hübsches Auto. Damit können Sie morgen ganz gemütlich zum Dammtorbahnhof fahren.« »Da kriegt man morgens aber keinen Parkplatz.« »Wenn Sie früh genug dran sind, ist das überhaupt kein Problem. Und Sie sind früh dran. Ihr Zug geht um sechs Uhr neunzehn.« »Cornfeld, Sie spinnen!« »Dann sind Sie um zehn Uhr in Frankfurt«, redet er unbeeindruckt weiter. »Und können abends wieder zurückkommen. Auf die Art sparen wir auch noch die Hotelkosten.« Ich schnappe nach Luft. Doch leider habe ich kein wirklich schlagendes Gegenargument parat. Irgendwann erwürge ich diesen kleinkarierten Erbsenzähler. Das ist mal sicher. Exakt fünf Minuten nachdem ich aufgelegt habe, klingelt es an meiner Wohnungstür. Ein Wahnsinniger, denk ich. Ein total Bekloppter. Wer bimmelt um diese Uhrzeit bei seinen Mitmenschen? Wer wohl? Rebbelmeier. In einer alten, speckigen Jogginghose und einem Feinripp-Unterhemd steht er vor der Tür. »Herr Rebbelmeier, sind Sie verrückt geworden? Es ist halb zwei. Mitten in der Nacht.« »Sie haben telefoniert. Da dachte ich mir ...« »Sie könnten noch auf ein Schwätzchen vorbeikommen.« Er lächelt verlegen. »Das nicht, aber ...«
»Herr Rebbelmeier«, sage ich drohend, »worum geht es?« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Ich habe eine Halskette gefunden, im Keller«, erzählt er mit verschwörerischer Flüsterstimme. Ich deute mit dem Zeigefinger nach oben und frage ihn 184 ebenfalls flüsternd, ob er schon die Tochter von Frau Hoppe aus dem dritten Stock interviewt hat. Ja, er hat. Der gehöre zwar der grüne Slip, nicht aber diese Kette. Umständlich kramt er in der Hosentasche seiner Jogginghose herum. »Sie ist hier irgendwo. Einen Moment, gleich hab ich sie.« Triumphierend hält er mir eine schwere Halskette aus Lapislazulisteinen unter die Nase. Die blauen Schmucksteine sind in drei untereinanderliegenden Reihen aufgezogen, die vorne in der Mitte von einer großen goldenen Münze zusammengehalten werden. Das Schmuckstück ist wirklich wunderschön und sehr ausgefallen. »Auf der Münze ist ein Männerkopf mit zwei Gesichtern abgebildet«, sagt mein Nachbar. »Der Januskopf«, stelle ich fest. »Genau, und auf der Rückseite ist ein Monogramm. Ein T und ein L. Das passt aber auf niemanden hier im Haus.« »Tja, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen.« »Vielleicht doch. Meinen Sie nicht, dass wir uns noch einmal über meine Mordtheorie unterhalten sollten?« Oh nein. Nur das nicht. »Herr Rebbelmeier, ich bin hundemüde. Ich fahre morgen nach Frankfurt und zwar ganz früh. Ich muss jetzt wirklich ins Bett. Wir reden ein anderes Mal darüber. Versprochen.«
Und ehe er widersprechen kann, schlage ich ihm die Tür vor der Nase zu. 185 Kapitel 19 Cornfeld hat Recht behalten. Um 6.19 Uhr in der Früh ist es tatsächlich kein Problem, einen Parkplatz am Dammtorbahnhof zu finden. Dafür ist es stockduster und unangenehm kalt. Gefühlte 10 Grad minus. Mindestens. Ich kann kaum die Augen offen halten, so hundemüde bin ich, und möchte nur eins, nach Hause in mein warmes Bett. Immerhin ist der Zug pünktlich und sind die Plätze in meinem Waggon nur spärlich belegt. Der Sitz neben mir bleibt frei. Als wir den Hamburger Hauptbahnhof verlassen, nicke ich sofort ein. Die restliche Fahrt hätte ich wahrscheinlich genauso selig weitergeschlummert, hätte mein Handy mich nicht geweckt. »Petry«, melde ich mich verschlafen. »Dito.« »Mama?« Schlagartig bin ich wach. »Ja, hallo, mein Schatz, alles, alles Liebe zum Geburtstag!« Ich bin verwirrt. »Wieso Schatz? Wieso Geburtstag?« »Ganz liebe Grüße aus Teneriffa«, säuselt sie mir ins Ohr. »Mama. Du bist zu früh dran. Ich habe heute keinen Geburtstag.« »Oh. Habe ich mich da vertan?« »Das hast du!« »Ach, weißt du«, sagt sie lachend, »im Urlaub vergeht die Zeit so schnell. Da war ich wohl ein bisschen voreilig.« 185 Hat sie etwas getrunken? Womöglich etwas Hochprozentiges? Normalerweise nennt sie mich nie Schatz, und sie säuselt auch nicht so entsetzlich.
»Wie gefällt es dir denn? Habt ihr schönes Wetter?«, frage ich. »Ja. Ganz wunderbar. Und die Leute sind hier so nett. Ich habe schon ein paar ganz interessante Bekanntschaften gemacht.« Aha, daher weht der Wind. Ich bin mir ziemlich sicher, dass gerade eine von diesen interessanten Bekanntschaften neben ihr steht und durch ihr freundliches Getue von ihrer mütterlichen Fürsorge beeindruckt werden soll. »Kümmerst du dich auch um meine Blumen, Kind?« »Natürlich«, sage ich. »Liebes, ich muss jetzt Schluss machen.« Mir fällt fast der Hörer aus der Hand. Hat sie gerade »Liebes« gesagt? »Ja, alles klar«, antworte ich verdutzt und beende das Gespräch. Sie hat mich tatsächlich »Liebes« genannt. Ich fasse es nicht. Schreckt sie denn vor gar nichts zurück? Und wie schon so oft, frage ich mich, ob ich nicht kurz nach der Geburt im Krankenhaus vertauscht worden bin. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass diese Frau, die einmal Schauspielerin gewesen ist und immer noch jede Gelegenheit für einen Auftritt nutzt, wirklich meine Mutter sein soll. Die Frau, die sich im Geburtsdatum irrt und für jemanden, den sie eben erst kennengelernt hat, die wilde Mama-liebt-ihr-Kind-Nummer abzieht. Dabei ist sie nie eine sonderlich liebevolle Mutter gewesen. Und wird mit Sicherheit auch keine mehr werden. Die restliche Zugfahrt verläuft Gott sei Dank ohne wei 186 tere Vorkommnisse. Wenn auch an Schlafen nicht mehr zu denken ist.
In Frankfurt mache ich mich gleich auf den Weg ins Krankenhaus. Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn ich mir Schwester Renate vorknöpfe, die müsste eine ganze Menge über den Mord an ihrer Patientin erzählen können. Ich steuere direkt auf die Station zu, auf der Frau Dujack zuletzt gelegen hat. Das kleine Krankenzimmer zu finden, ist kein Problem. Allerdings ist von den Pflegerinnen weit und breit nichts zu sehen. Womöglich machen sie gerade Pause? Auf dem Weg zum Aufenthaltsraum kommt mir der Zufall zu Hilfe. Schwester Renate läuft mir auf der Treppe direkt in die Arme. »Hallo«, rufe ich erfreut, »schön, dass ich Sie treffe. Können Sie sich noch an mich erinnern?« Fragend sieht sie mich an, als wüsste sie nicht genau, wo sie mich einsortieren soll, und sagt dann: »Ja, doch. Sie sind diese Journalistin.« »Genau. Und ich bin hier, weil ich immer noch an diesem Artikel über Apalliker arbeite. Diesmal geht es um passive Sterbehilfe.« »Passive Sterbehilfe«, sagt sie spitz. »Wir hatten hier gerade einen Fall von aktiver Sterbehilfe!« »Was?« Der Satz ist ihr aus Versehen herausgerutscht, und erschrocken macht sie einen Rückzieher. »Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.« Sie versucht, an mir vorbei die Treppe herunterzukommen. »Schwester Renate«, sage ich eindringlich. »Ich bin zwar Journalistin, aber ich kann Informationen sehr wohl vertraulich behandeln. Das müssen Sie mir glauben.« 187 Unsicher mustert sie mich aus den Augenwinkeln. »Nun«, sagt sie zögernd, »es wird ja morgen sowieso in der Zeitung stehen.«
»Was wird in der Zeitung stehen?« »Unsere Komapatientin, die Frau Dujack, ist wahrscheinlich mit einer Überdosis Insulin getötet worden.« »Du lieber Himmel. Das ist ja furchtbar.« Sie nickt beklommen. »Aber, was meinten Sie denn mit wahrscheinlich? Gibt es noch Zweifel?« »Na ja, eine Überdosis lässt sich im Blut des Patienten nicht so einfach nachweisen, da Insulin sehr schnell abgebaut wird.« »Und wie kommen Sie dann darauf, dass es eine Überdosis war?« Die Schwester sieht sich vorsichtig um. Dann greift sie nach meinem Arm und zieht mich mit sich die Stufen hinauf. »Bei uns wird natürlich ziemlich viel Insulin verbraucht. Daher werden die Medikamente kartonweise angeliefert. Als ich gestern Morgen für Frau Dujack den Infusionstropf fertig machte, hab ich die letzte Flasche H-Insulin aus einem solchen Karton herausgenommen. Das heißt, danach hätten im Kühlschrank nur noch verschlossene Packungen stehen dürfen. Nach Frau Dujacks Tod haben wir aber festgestellt, dass einer der Kartons aufgerissen war und eine 10ml-Flasche mit 400 Einheiten fehlte.« »Kann das nicht eine der Schwestern gewesen sein?« »Nein, das wurde überprüft.« »Und, gibt es schon einen Verdacht?« »Dazu kann ich nun wirklich nichts sagen.« 188 »Glauben Sie nicht, dass das auch morgen in der Zeitung steht?« Mittlerweile sind wir oben auf der Treppe angekommen.
»Nein, das glaube ich nicht. Tut mir leid. Aber ich habe Ihnen schon viel zu viel erzählt. Mehr möchte ich dazu nicht mehr sagen.« Sie dreht sich um und läuft den Gang hinunter. Ich folge ihr. Vor dem Schwesternzimmer bleibt sie stehen. »Frau Petry«, sagt sie entnervt, »stimmt doch, Petry war Ihr Name, nicht?« »Ja.« »Frau Petry, ich mache jetzt Pause und bin schon viel zu spät dran. Ich habe wirklich keine Zeit, mich noch länger mit Ihnen zu unterhalten. Davon abgesehen, weiß ich auch gar nicht, ob ich überhaupt mit Ihnen reden darf. Ich will da keinen Fehler machen.« Das ist verständlich. Andererseits weiß sie eine Menge. Und natürlich findet sie die ganze Sache auch rasend spannend. In Wirklichkeit platzt sie wahrscheinlich vor Mitteilungsbedürfnis, lässt sich aber von ihren Skrupeln ins Bockshorn jagen. Da muss ich ansetzen. Als sie die Tür öffnet und das Schwesternzimmer betritt, marschiere ich ungerührt hinter ihr her. Der Raum ist circa zwanzig Quadratmeter groß und wird von einem ovalen Holztisch dominiert, um den ein Dutzend Stühle herumgruppiert sind. Eine Wand ist komplett mit Einbauschränken zugebaut. Auf einer Anrichte unter dem Fenster steht eine halbvolle Kaffeemaschine und eine Schale mit Äpfeln und Süßigkeiten. In der rechten Ecke fristet ein mannshoher Ficus, der schon einen Großteil seiner Blätter verloren hat, ein trauriges Dasein. 189 Schwester Renate sperrt einen der weißen Schränke auf und entnimmt einem braunen Rucksack, der am Boden steht, eine
blaue Tupperware-Box. Dann schließt sie den Schrank wieder und setzt sich an den Tisch. Und ich mich sofort daneben. Sie macht ihre Dose auf und fördert ein dickes Käsebrot zutage. Außerdem gibt es noch zwei in Alufolie gewickelte, hart gekochte Eier. »Guten Appetit.« »Danke.« Am liebsten würde ich sie bitten, mich einmal beißen zu lassen. Bevor mein Magen einen geräuschvollen Aufstand macht, frage ich sie, ob ich mir einen Apfel aus der Schale nehmen darf. Ich darf. So sitzen wir schweigend kauend nebeneinander und hängen unseren Gedanken nach. »An dem Tag, als die Frau, wie hieß sie gleich noch mal, Dujack...?« Meine Nachbarin nickt. »Also, als diese Frau Dujack ermordet wurde, ist da irgendetwas Besonderes passiert?« »Etwas Besonders passiert? Sie sind vielleicht lustig. Frau Dujack hat morgens geredet. Richtig geredet. Mehrere zusammenhängende Sätze, die inhaltlich auch einen Sinn ergeben haben, wie >Wo bin ich?<, >Warum bin ich hier?< und Ähnliches.« »Was bedeutet das?« »Sie ist aufgewacht. Das halbe Krankenhaus ist zusammengelaufen. Schließlich war das ja auch so etwas wie ein kleines Wunder.« »Und, Frau Dujack ist von da an bei vollem Bewusstsein gewesen?« 190 »Nein. Das nicht. Nach so einer langen Zeit im Koma wacht man nicht schlagartig auf. Das geht ganz, ganz langsam. Die
Patienten kommen für kurze Zeit zu sich und verlieren dann wieder das Bewusstsein. Man kann nur hoffen, dass die Wachphasen pro Tag immer länger werden. Bis der normale WachSchlaf-Rhythmus wieder funktioniert, kann es aber sehr lange dauern.« Interessant. Von dieser ganzen Aufwach-Arie hat Isabelle Dujack überhaupt nichts erzählt. »Haben Sie die Verwandten von Frau Dujack informiert?« »Ja, sofort. Die Tochter haben wir auch gleich erreicht. Ihren Vater allerdings nicht.« »Kam Isabelle Dujack denn dann ins Krankenhaus?« »Sicher. Sie ist gleich zu ihrer Mutter rauf ins Zimmer, aber da war die schon wieder weggetreten. Sie hat eine halbe Stunde gewartet, aber es passierte nichts mehr. Bevor sie ging, hat sie einer Kollegin die Handynummer ihres Vaters gegeben. Unter der Nummer haben wir ihn dann auch endlich erreicht. Und kurz darauf ist er hier eingetroffen.« Schwester Renate hat mittlerweile ihre Stulle vertilgt und beißt herzhaft in ein Ei. Mit vollem Mund kann sie schlecht reden, also lass ich ihr eine kleine Pause. Als die Tür aufgeht und eine weitere Krankenschwester ins Zimmer tritt, bekomme ich einen Schreck und befürchte aufzufliegen. Aber sie nickt uns nur freundlich zu, holt sich eine Tasse Kaffee und setzt sich auch an den Tisch. »Mahlzeit.« »Mahlzeit«, antworte ich automatisch. Schwester Renate kann nicht antworten, die kämpft noch mit ihrem Ei. Ihre Kollegin heißt laut Namensschild Melanie, 191 ist fast eins achtzig groß, spindeldürr und für ihre Figur mit einem viel zu großen Kittel bekleidet.
»Haben Sie von der ganzen Geschichte mit Frau Dujack auch etwas mitbekommen?«, frage ich und lande einen Volltreffer. Die gute Melanie entpuppt sich als große Naive mit ausgeprägtem Mitteilungsdrang, als die Frau, die alles erzählt und vom Stöckchen aufs Steinchen kommt. Der Überblick über Zusammenhang und Bedeutung geht zeitweilig verloren. Differenzieren und Bewerten ist nicht ihre Sache. Und auch mir fällt es immer schwerer, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Alles verschwimmt zu einem Durcheinander aus Gehörtem, Erlebtem und Reflektiertem, so dass ich am Schluss auch nicht mehr so genau weiß, was die gute Melanie tatsächlich gesehen, gehört oder sich nur selbst zusammengereimt hat. Voller Begeisterung berichtet sie, was sich an dem Morgen abgespielt hat. Mit exakten Zeitangaben und sämtlichen Nebengeräuschen. Das hat sie auch der Polizei schon alles mitgeteilt, und was diese bisher untersucht und herausgefunden hat, ist ihr natürlich auch nicht entgangen. »Der eine Beamte hat mir erzählt, dass der Dujack für die Polizei kein Unbekannter ist. Von wegen Immobilien und so. Der hat seine Finger in jedem lukrativen Drecksgeschäft, das derzeit in Frankfurt ausgebrütet wird. Das ist ein richtiger Schwerverbrecher, ein ganz großer Fisch. Aber die haben dem noch nie was nachweisen können. Nach außen hin immer die seriöse Fassade, immer eine saubere Weste. Aber jetzt hat er einen Fehler gemacht. Kaum ist die Frau aufgewacht, kriegt er es mit der Panik und spritzt ihr 'ne Überdosis Insulin. Eigentlich ganz schön clever, weil so was ja kaum nachzuweisen ist. Aber die angebrochene Packung und die Spritze im Abfallei 192 mer haben ihm dann das Genick gebrochen. Da war er wohl zu schnell. Trotzdem: Ganz schön abgebrüht, hier einfach so
reinzuschneien und die Frau am helllichten Tag ins Jenseits zu befördern. Seine Tochter war ja gleich raus aus der Sache. Die war nicht eine Minute mit ihrer Mutter allein. Bis die um kurz nach zwölf weg ist, war ich immer dabei. Die hat mir die Handynummer von ihrem Vater gegeben und ist dann weg. Der ihr Alibi ist absolut bombensicher ...« Und so geht das ohne Punkt und Komma immer weiter. Melanie ist eine Goldquelle, die das Edelmetall zusammen mit dem Dreck ausspuckt und mir das Aussortieren überlässt. »Wissen Sie, ich bin ja eher der kommunikative Typ. Ich quatsch halt mit den Leuten«, sagt sie selbstgefällig. »Warum hat sie Ihnen die Handynummer erst gegeben, als sie gegangen ist? Warum nicht als sie kam?«, frage ich. »Da hat sie ja selbst noch versucht, ihn zu erreichen. Die stand ja quasi die ganze Zeit mit dem Handy am Ohr im Zimmer ihrer Mutter. Wir waren doch alle völlig aus dem Häuschen. Stellen Sie sich das mal vor, da wacht die Frau nach so vielen Jahren plötzlich wieder auf...« Schwester Renate, die ihre Mahlzeit beendet hat und die Tupperware-Box sorgfältig in ihrem Rucksack verstaut, beobachtet Melanie mit wachsendem Unmut. Offensichtlich wird ihr das Mitteilungsbedürfnis der Kollegin langsam zu viel. »Melanie, die Frau ist Journalistin. Du weißt doch gar nicht, ob wir das alles erzählen dürfen. Außerdem redest du einen unglaublichen Blödsinn.« Schwester Melanie schaut mich erschrocken an. »Sie sind Journalistin?« Dann sieht sie Schwester Renate an. »Ich erzähle Blödsinn?« 193 »Ja. Isabelle Dujack ist doch nicht kurz nach zwölf aus dem Haus gegangen.«
»Natürlich ist sie das. Sie hat mir den Zettel mit der Nummer gegeben und gesagt, sie gehe jetzt. Da war sie hier im Schwesternzimmer. Das können die anderen auch bestätigen. Und wenn du ausnahmsweise mal pünktlich Mittag gemacht hättest, dann müssten wir den Quatsch jetzt nicht diskutieren.« »Unsinn. Um zehn nach zwölf bin ich hier den Gang entlanggekommen, das weiß ich ganz genau. Ich hab nämlich noch auf die große Uhr im Gang geschaut, weil ich eine halbe Stunde später einen Katheterwechsel machen musste.« »Ja und?« »Nix ja und. Da hab ich die Dujack die Treppe raufgehen sehen. Also die war eigentlich schon oben. Sie verschwand gerade hinter dem rechten Pfosten oben an der Treppe.« »Ach, du spinnst doch. Die kam mit mir zusammen ins Schwesternzimmer, hat sich verabschiedet und ist dann weg. Was auch immer du da oben gesehen hast oder gesehen haben willst, die Dujack war's garantiert nicht.« Schwester Renate sieht verunsichert aus. Ein Gefühl, das ich mit ihr teile. Irgendetwas stimmt hier nicht. »Tja, meine Damen, was heißt das nun? Ist sie die Treppe rauf- oder runtergegangen?« Die beiden Frauen sehen mich an, als realisierten sie erst jetzt, dass ich immer noch da bin. Schwester Melanie steht auf und kommt langsam auf mich zu. Der leicht ärgerliche Zug um ihren Mund gefällt mir gar nicht. »Wieso haben Sie mir nicht erzählt, dass Sie Journalistin sind?« »Sie haben mich nicht danach gefragt.« 194 Ich ziehe es jetzt auch vor, mich von meinem Stuhl zu erheben und vorsichtig den Rückzug in Richtung Tür anzutreten.
»Ich konnte Sie schlecht nach etwas fragen, was ich gar nicht wusste, oder? Weiß Dr. Bayer eigentlich, dass Sie hier herumschnüffeln?« »Ja natürlich. Das habe ich alles mit ihm abgesprochen.« »Tatsächlich? Was halten Sie davon, wenn wir einmal kurz bei ihm vorbeigehen?« »Gar nichts. Äh, ich meine, das ist eine gute Idee. Ich würde wirklich gerne mitkommen. Aber leider hab ich jetzt gar keine Zeit mehr. Ich muss sofort weg. Termine. Sie verstehen.« Wie von der Tarantel gestochen schieße ich aus dem Zimmer und haste den Gang entlang. Gott sei Dank kommen die Schwestern nicht hinter mir her. Freundlich lächeln, ruhig atmen, nur nicht in den Laufschritt fallen. An der Empfangsdame vorbei, kurzes Nicken, schönen Tag und bis bald. Nichts wie raus hier, bevor die mir wirklich noch Dr. Bayer auf den Hals hetzen. 195 Kapitel 20 Mein Hotelzimmer ist klein, spärlich möbliert, aber sauber. So etwas wie Gemütlichkeit ist nicht beabsichtigt. Ich habe mir alle Mühe gegeben, ein Hotel mit einem günstigen PreisLeistungs-Verhältnis unter Berücksichtigung eines zivilisierten Mindeststandards zu finden. Was in der Kürze der Zeit gar nicht so einfach war. Cornfeld wird nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass ich in Frankfurt geblieben bin und Hotelkosten verursache. Aber nachdem ich nun endlich so etwas wie eine Spur habe, muss ich auch dranbleiben. Und mein Instinkt sagt mir, dass ich der Klärung meines Falls in Frankfurt wesentlich näher bin als in Hamburg. Ich werfe meine Tasche aufs Bett, setze mich in einen Sessel am Fenster und versuche die soeben gehörte Geschichte noch
einmal zu rekonstruieren: Frau Dujack wacht morgens aus dem Koma auf und versetzt die ganze Klinik in einen Freudentaumel. Isabelle eilt sofort an das Krankenlager ihrer Mutter. Die hat sich inzwischen aber schon wieder in ihren Dämmerschlaf verabschiedet. Also verlässt Isabelle das Krankenhaus und hinterlässt die Handynummer von Big Daddy. Der kurze Zeit später im Krankenhaus eintrifft. Als Schwester Renate der Patientin die Insulinspritze geben will und bemerkt, dass jemand den Karton geöffnet und ein Fläschchen entwendet hat, steht Dujack seelenruhig daneben. Selbst als der Tod seiner Frau festgestellt und die Spritze mit seinen 196 Fingerabdrücken gefunden wird, scheint er nicht reagiert zu haben. Und das wundert mich, weil ihm das gar nicht ähnlich sieht. Seit Jahren ist er angeblich als Zuhälter, Dealer und Autodieb unterwegs, und noch nie hat die Polizei ihm etwas nachweisen können. Aber ausgerechnet bei einem Mord stellt er sich derart dämlich an, dass er sofort geschnappt wird. War seine Panik über das Aufwachen seiner Frau wirklich so groß, dass er jede Vorsicht fahren ließ? Und warum hat er so lange Zeit gewartet? Warum hat er sie nicht in den zurückliegenden Jahren ermordet, als es noch jede Möglichkeit dazu gab? Mir kommt das alles nicht sonderlich überzeugend vor. Außerdem ist mir das Ganze zu einfach und zu langweilig. Der Böse ist der Böse, ist der Böse ... Keine Grauschattierungen, keine Abstufungen, keine weichen Übergänge, nur ein hartes, langweiliges Schwarz-Weiß. Was aber, wenn die liebe Isabelle die Treppe nicht hinunter-, sondern hinaufgestiegen ist? Dann ergeben sich völlig neue Verdachtsmomente.
Ich schnappe mir das Telefon und rufe im Büro an. »Detektei P-Quadrat, Cornfeld, guten Tag.« »Hallo Cornfeld, ich hab Neuigkeiten ...« »Ich auch«, fällt er mir ins Wort. »Wir haben einen neuen Auftrag.« »Ehrlich?« »Ja! Das Übliche. Ein Installateur, der sich ständig krankschreiben lässt und wahrscheinlich in der Zeit als Schwarzarbeiter tätig ist. Wir sollen ihn auf frischer Tat ertappen. Der Auftrag lohnt sich. Überwachung rund um die Uhr.« »Super. Und wer ist dann im Büro?« »Sie.« 197 »Ich kann nicht. Ich muss noch hierbleiben.« »Wie? Sie sitzen nicht im Zug?« »Nein, ich sitze im Hotel.« »Oh nein«, stöhnt Cornfeld, »das gibt's doch nicht. Das wird mir jetzt echt zu viel. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Bei meinen Nachbarn war Party angesagt, und ich musste noch ein Seminar für die Uni vorbereiten.« »Nun fangen Sie nicht an rumzujammern. Hätten Sie nicht diesen blöden Assistentenjob bei Ihrem Prof angenommen, müssten Sie jetzt nicht auch noch Seminare vorbereiten.« »Würden Sie mich besser bezahlen ...« Ungeduldig unterbreche ich ihn und erzähle ihm von meiner Krankenhausaktion. Die Treppe-rauf-Treppe-runterGeschichte spare ich mir allerdings bis zum Schluss auf. »... Die eine Schwester sagte, dass Isabelle kurz nach zwölf das Krankenhaus verlassen habe. Die andere behauptete, genau um die Zeit Isabelle oben auf der Treppe gesehen zu haben.« Ich warte auf seine Reaktion. Nichts passiert.
»Cornfeld, sind Sie noch da?« »Ja.« »Fällt Ihnen nichts auf?« »Ja schon, aber auf Zeugenaussagen ist nie wirklich Verlass. Jeder sieht etwas anderes. Das kennen wir doch«, doziert er gelangweilt. »Aber überlegen Sie mal. Möglicherweise haben beide Recht.« »Wie soll das denn gehen?« Entnervt schnaufe ich durch die Nase. Seine Begriffsstutzigkeit ist wirklich unglaublich. »Cornfeld, stehen Sie doch mal kurz auf.« 198 »Nein! Ich sitze nicht auf der Leitung. Nun erklären Sie mir gefälligst, worauf Sie hinauswollen.« »Ganz einfach. Um zwölf Uhr ist Mittagspause. Um, sagen wir mal, fünf nach zwölf verabschiedet sich Isabelle im Schwesternzimmer. Da hat sie ein prima Forum für ihre Abschiedsszene. Alle kriegen mit, dass die Dujack jetzt nach Hause geht. Gut fürs Alibi. Leider gibt es einen Nachzügler. Und das ist die liebe Schwester Renate. Und die sieht, was eigentlich keiner mitkriegen sollte. Isabelle geht nicht die Treppe hinunter, sondern hinauf. Zurück zu ihrer Adoptivmutter.« »Aber warum sollte sie das tun? Warum sollte sie ihre Mutter umbringen? Das macht doch keinen Sinn«, sträubt sich Cornfeld immer noch. »Natürlich macht es Sinn. Sie hat der Schwester die Handynummer ihres Vaters gegeben. Angeblich hat sie vorher schon ständig versucht, ihn zu erreichen. Was sie in Wirklichkeit wahrscheinlich gar nicht getan hat. Erst als sie ging und seine
Nummer weitergab, wurde er tatsächlich angerufen. So hatte sie genügend Zeit, sich von den Schwestern coram publico zu verabschieden, in das Zimmer ihrer Mutter zurückzukehren und sie mit dem Insulin umzubringen. Sie war sich sicher, dass ihr Vater nach dem Anruf relativ schnell im Krankenhaus auftauchen und der Verdacht auf ihn fallen würde.« »Aber das ist doch alles unglaublich riskant.« »Wieso, die Schwestern hatten Mittagspause. Es war klar, dass die nicht so schnell wieder auftauchen würden. Außerdem war Isabelle wahrscheinlich in Panik. Denn wenn sie ihre Adoptivmutter umgebracht hat, dann nur, weil sie Angst hatte, dass die etwas über diesen angeblichen Unfall mit dem Tauchsieder ausplaudern würde, jetzt wo sie aufgewacht war.« 199 »Und wie hat sie das mit der Spritze gemacht?« »Sie wird dafür gesorgt haben, dass ihr Vater irgendwann einmal diese Spritze angefasst hat. Dann hat sie sie an sich genommen, für den Mord an ihrer Mutter benutzt und im Abfalleimer deponiert, bevor sie gegangen ist. Das ist ja nun nicht so schwierig ...« »Aber wie ist sie aus dem Krankenhaus rausgekommen?« »Frau Dujack wird schon seit Jahren immer mal wieder auf dieser Station behandelt. Ich bin sicher, ihre Tochter kennt sich da bestens aus. Die wusste genau, wie sie da ungesehen verschwinden konnte.« »Wenn Sie Recht haben, hätte Isabelle nicht nur ihre Mutter umgebracht, sondern auch versucht, den Mord ihrem Vater in die Schuhe zu schieben.« »Genau, und da hätten wir eine Parallele zum Tagebuch.« »Aber wenn sie die Schuldige ist, warum hat sie uns dann engagiert? Das macht doch überhaupt keinen Sinn ...«
Cornfeld muss unser Telefonat unterbrechen, weil ein anderes Gespräch hereinkommt, könnte ja ein Auftrag sein. Enttäuscht sitze ich in meinem Hotelzimmer und platze fast vor Mitteilungsbedürfnis. Mir fällt nichts Besseres ein, als Michael anzurufen. Die Story muss ich einfach loswerden. Leider werde ich enttäuscht. »Michael ist im Kopierwerk«, erklärt mir Ulli, der Kameraassistent. »Und so wie es aussieht, kommt der heute auch nicht mehr ins Büro.« Hätte ich mir ja denken können. Ich verabschiede mich von Ulli und lege auf. Cornfelds Leitung ist immer noch besetzt. Wenn der so lange quasselt, ist es bestimmt wieder privat. Als ich die Minibar nach einem alkoholischen Stimmungsaufhel 200 ler durchsuche, kommt mir wieder der Fußabdruck auf Michaels Windschutzscheibe in den Sinn. Ich gehe zum Telefon zurück und wähle noch einmal seine Nummer. »Ja?« »Ulli, ich bin's noch mal. Mir ist noch etwas eingefallen. Ich vermisse einen Ohrring. Eine goldene Kreole. Es könnte sein, dass ich sie in Michaels Auto verloren habe.« »Ja?« »Du hattest den Wagen doch letzte Woche für ein paar Tage. Ist dir da vielleicht ein goldener Ohrring untergekommen?« »Ich hatte den Wagen letzte Woche? Du meinst den Porsche?« »Ja sicher.« »Pia, wie kommst du denn darauf? Du weißt doch, die Karre ist heilig. Das Auto dürfte ich noch nicht mal fahren, wenn Michael zwei Promille hätte.« »Da muss ich mich wohl verhört haben. Ich dachte, du hättest etwas damit transportieren müssen.«
»Mit dem Porsche was transportieren? Michaels Golfbag vielleicht. Den Krempel, den ich durch die Gegend schleppe, kriegst du doch nicht in den Porsche rein. Kameraausrüstung, Stativ, Licht usw. Ne, wirklich nicht. Ich fahr die Kiste nicht. Würde ich freiwillig nie tun. Gibt nur Ärger.« Tja, da sitze ich jetzt in meiner Frankfurter Nobelherberge, in meinem heimeligen kleinen Zimmerchen, und kriege einen Tobsuchtsanfall nach dem anderen. Michaels fadenscheinige Erklärung war mir ja gleich suspekt. Aber ich hatte sie ihm abgekauft. War ja auch einfacher. Und jetzt gibt es kein Ausweichen mehr, jetzt haben sie mich mit der Nase draufgestoßen. Ob ich Ulli noch mal anrufe und ihn frage, ob Rike zufällig Schuhgröße 37 hat? Nein, das tue ich nicht. Erstens 201 weiß er es wahrscheinlich gar nicht, und zweitens wüsste ich auch nicht, wie ich meine Frage begründen sollte. Ich bin wütend, aber kein bisschen unglücklich. Sollte das so etwas wie ein Fortschritt sein? Unglücklichsein ist ein Scheißgefühl. Wut hingegen hat etwas ausgesprochen Befreiendes. Und ich verspüre auch so etwas wie Genugtuung. Die Genugtuung, dass er zu weit gegangen ist, dass das Maß voll ist, dass das Fass überläuft. Das Telefon reißt mich aus meinen Rachegedanken. Cornfeld hat sein Dauertelefonat beendet. »Mit wem haben Sie denn so lange geredet?« »Mit unserem neuen Klienten. Er wollte wissen, ob ich schon weitergekommen bin.« »Und, sind Sie?« »Nein. Was ist los? Sie klingen so genervt.« »Ich bin nicht genervt. Also, wo waren wir eben stehengeblieben?« »Bei Isabelle Dujack. Angeblich ...«
»Was heißt hier angeblich. Wenn Sie zu verpennt sind, um meiner Argumentation folgen zu können, sollten wir das Gespräch lieber morgen fortsetzen.« »Ja, aber ...« »Cornfeld! Ich kann es wirklich nicht mehr hören. Ihr verdammtes >ja, aber< hat uns noch nie weitergebracht. Was wir brauchen sind Fakten, Ergebnisse, Resultate. Verstehen Sie? Wir müssen Fragen beantworten und nicht ständig welche stellen.« »Mann, sind Sie sauer. Was ist passiert? Mit wem haben Sie telefoniert?« »Das geht Sie gar nichts an.« »Michael, stimmt's?« »Lassen Sie mein Privatleben da raus.« 202 »Das würde ich ja gerne. Aber wenn Sie mich unter Ihren, von Ihrem heiligen Privatleben verursachten Launen leiden lassen, geht mich das sehr wohl etwas an.« »Mein Gott, wo haben Sie denn gelernt, so komplizierte Sätze zu bilden?« »Pia Petry, jetzt sagen Sie mir endlich, was los ist.« »Man hat mich geärgert.« »Wer?« »Wer wohl?« »Michael?« »Ja.« »Gut. Passen Sie auf. Sie lassen sich jetzt ein heißes Bad einlaufen, entspannen sich schön und meditieren eine Weile. Das beruhigt die Nerven.«
»Tolle Idee. Da müsste ich das gesamte Badezimmer unter Wasser setzen und es mir in der Duschwanne gemütlich machen.« »Okay. Okay. Ich hab verstanden. Soll ich Sie morgen früh wieder anrufen?« »Ja.« »Darf ich Ihnen noch eine gute Nacht wünschen?« »Nein! Und tschüss.« Als am nächsten Morgen das Telefon klingelt, denke ich zuerst, die Rezeptionistin will mich wecken. Aber die ist es nicht, es ist Cornfeld. »Hallo, hallo! Geht es uns heute Morgen besser?«, säuselt er mir ins Ohr. »Ja, ein bisschen.« »Die Sonne lacht, die Luft ist angenehm mild, und es sollen heute fast 10 Grad werden.« 203 »Arbeiten Sie jetzt für den Wetterdienst?« Cornfeld lacht. »Nein, für die Telefon-Seelsorge.« Das finde ich jetzt auch ganz lustig. »Pia ...« »Ja?« »Ich glaube, Sie sollten heimkommen. Das wird doch nichts mehr. Es bezahlt uns ja auch niemand dafür.« »Na ja«, sage ich. »Eigentlich hatte ich gedacht, ich könnte mal bei diesem Waisenhaus vorbeischauen, in dem Isabelle früher gelebt hat.« »Was wollen Sie denn da?« »Nun, in dieser Familie ist keiner das, was er zu sein vorgibt. Ich denke, wir sollten einfach mal an die Wurzeln dieser Sippe gehen. Back to the roots, sozusagen. Möglicherweise finden wir ja noch mehr Leute, die ein Faible für geheimnisvolle Doppelleben haben.«
»Und wie sind Sie dadrauf gekommen? War das Eingebung, oder sind neue Indizien aufgetaucht, die einen solchen Besuch nahelegen?« »Nein, das war mehr meine weibliche Intuition, gepaart mit messerscharfer Logik.« Cornfeld stöhnt auf. »So etwas gibt es nicht.« »Oh doch«, sage ich. »So etwas gibt es.« 204 Kapitel 21 Zwei Stunden später mache ich mich auf den Weg in besagtes Waisenhaus. »Waisenhäuser gibt es nicht mehr«, hatte mich Cornfeld am Telefon belehrt. »Seit Ende des Zweiten Weltkriegs spricht man von Kinder- und Jugendheimen.« Auch gut. Also fahre ich zu dem Kinder- und Jugendheim. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln, versteht sich. Cornfeld sei Dank. Während der Straßenbahnfahrt denke ich über einen möglichen Vorwand nach, der mich berechtigt, Fragen nach Isabelles Kindheit zu stellen. Aber mir fällt nichts ein. Was die Sache noch komplizierter macht, ist die Tatsache, dass der Besuch von Simone und ihren Eltern schon dreizehn Jahre zurückliegt. Und es fraglich ist, ob sich überhaupt noch jemand an Isabelle erinnern kann. Die Leute, die damals dort beschäftigt waren, haben wahrscheinlich längst die Stelle gewechselt, sind pensioniert oder sogar schon gestorben. Eines ist klar, einfach wird dieser Besuch nicht. Vielleicht hätte ich ja in meiner alten Firma bleiben sollen, geht es mir durch den Kopf. Wenn ich mir's recht überlege, war der Job eigentlich gar nicht so übel. Ich saß immer im Warmen, bekam in der Kantine täglich ein Mittagessen und regelmäßig mein Gehalt. Manchmal haben Langeweile und Routine auch etwas für sich. Zuviel Adrenalin ist ungesund,
und ständige Aufregung kann sich nachteilig auf die Lebenserwartung auswirken. Bei Gelegenheit sollte ich wirk 205 lieh noch einmal über die Vorteile des Angestelltendaseins nachdenken. Als ich aus der Bahn steige, kann ich weit und breit kein Straßenschild entdecken. Ich spreche den nächstbesten Passanten an, lasse mir erklären, wie ich zu der gesuchten Adresse komme und mache mich auf den Weg. Unterwegs beschleicht mich das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein. Die Gegend sieht überhaupt nicht nach Waisenhaus aus. Große, alte Villen, dezent versteckt hinter mächtigen Bäumen, auf schwer einsehbaren, riesigen Grundstücken. Nicht so ganz das richtige Ambiente für unser Aschenputteldrama. Aber auch in vornehmen Gegenden gibt es das eine oder andere misslungene Ergebnis architektonischer Schaffenskraft. Also mache ich mich auf einen hässlichen Kasten inmitten dieser Gründerjahrevillen gefasst, umgeben von tristem Beton, eingefasst von hohen, mit Stacheldraht gekrönten Zäunen. Aber dann stehe ich vor zwei alten, wunderschönen und aufwendig renovierten Villen. Die eine weiß, die andere gelb. Cornfeld muss sich mit der Hausnummer vertan haben. Das kann es ja wohl nicht sein. Fehlt nur noch der Rolls vor der Tür. Wenn Isabelle hier gelebt hat, hat sie sich kaum verbessern können. Sie ist von einem Luxusschuppen in den nächsten gezogen. Ich beschließe, mir das Ganze aus der Nähe anzusehen. Auf der Rückseite des einen Hauses finde ich ein Schild, das die beiden Villen eindeutig als Kinder- und Jugendheim ausweist. Cornfeld hat sich also nicht geirrt.
Aber was mache ich jetzt? Soll ich einfach reinmarschieren und nach Isabelle fragen? 206 »Können Sie sich noch an das niedliche, kleine, blonde Mädchen erinnern, das vor dreizehn Jahren hier herumgelaufen ist?« Die erklären mich doch für meschugge. Dann kommt mir eine Idee. Und das ist auch gut so. Denn plötzlich steht ein Mann vor mir und will wissen, was ich hier eigentlich zu suchen hätte. »Ich möchte bitte mit der Heimleiterin sprechen.« Er verzieht das Gesicht. »Darf es auch ein Heimleiter sein?« »Klar«, sage ich. »Okay. Dann erzählen Sie mal.« »Nun, das ist etwas kompliziert, und ein bisschen verrückt ist es auch«, sage ich, nehme die Schultern zurück und werfe schwungvoll mein Haar nach hinten. Ein sicheres Zeichen, dass der Heimleiter Eindruck auf mich macht. Er ist ungefähr Mitte dreißig, circa eins achtzig groß, hat längeres, dunkles Haar und einen leicht spöttischen Zug um den Mund. Während ich meinen ganzen Charme aufbiete, bleibt sein Blick zurückhaltend bis skeptisch. »Geht es um eines der Kinder?«, fragt er. »Nein, beziehungsweise ja. Also passen Sie auf. Ich habe eine Freundin, Isabelle Dujack. Die war vor dreizehn Jahren hier und ist dann adoptiert worden. In drei Wochen wird sie heiraten. Und wir, also ihre Freunde und ich, wir wollen eine Überraschung für sie vorbereiten.« »Schön, und was hat das mit unserem Heim zu tun?« »Also, wir wollen - aber jetzt lachen Sie mich bitte nicht aus wir wollen ein Video drehen. Wissen Sie, so eine Art
Zusammenfassung ihres bisherigen Lebens. Die wichtigsten Leute werden interviewt, auch Freunde, die sie schon lange 207 nicht mehr gesehen hat oder die mittlerweile im Ausland leben.« Er nickt zustimmend. »Nette Idee.« »Sehen Sie«, rufe ich, »Sie finden es auch gut. Das freut mich.« »Und unser Heim wollen Sie in Ihrem Film auch zeigen?« »Genau. Sie hat ja hier gelebt, und hier hat das wichtigste Ereignis ihres bisherigen Lebens stattgefunden. Ihre Adoptiveltern kamen und haben sie zu sich nach Hause geholt. Das ist doch toll.« »Ja, schon, aber wie wollen Sie das in Ihrem Video zeigen?« »Nun ja, ich denke, wir filmen das Haus von außen und wenn es geht, auch ein paar Innenräume, wie zum Beispiel das Speisezimmer oder den Aufenthaltsraum. Und dann wäre es natürlich ganz toll, wenn wir noch jemanden finden könnten, der damals hier im Haus gearbeitet, Isabelle gekannt und das Ereignis sogar live miterlebt hat. Verstehen Sie? Der etwas über sie erzählen kann: Was für ein Kind sie war, und wie das damals so mit der Adoption abgelaufen ist...« Er unterbricht meinen begeisterten Redefluss. »Was Sie da wollen, ist nicht so einfach. Das muss alles organisiert und vorbereitet werden. Wann wollen Sie das Video denn drehen?« »Ich mache heute gewissermaßen die Vorrecherche. Dazu müsste ich natürlich auch mit der entsprechenden Person reden, die später in dem Video etwas sagen soll. Und wenn das alles geklärt ist, könnten wir einen Termin für die Filmaufnahmen vereinbaren.«
Es ist offensichtlich, dass er nicht so recht weiß, was er von meinem Ansinnen halten soll. 208 »Lassen Sie uns reingehen. Das müssen wir ja nicht zwischen Tür und Angel besprechen.« Kaum sind wir in seinem Büro, setze ich alles daran, ihn für mein Projekt zu gewinnen. Mit einem strahlenden Lächeln, jeder Menge treuherziger Augenaufschläge und, wie ich hoffe, schlagenden Argumenten setze ich ihn unter Druck. Doch er scheint für meine Charmeoffensive unempfindlich zu sein. Erst nach fünf Minuten huscht so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht. »Nun, Frau ...?« »Petry«, sage ich. »Pia Petry.« »Nun, Frau Petry. Dann will ich mal nicht so sein. Wenn Sie mir versprechen, dass diese Videoaufnahmen den Tagesablauf im Heim nicht stören und rein privaten Zwecken dienen, können wir das schon machen.« »Oh toll, das ist wirklich ganz lieb von Ihnen«, reagiere ich begeistert. Offenbar habe ich etwas übertrieben, denn er sieht mich unverwandt an. Und nicht nur der Zug um seinen Mund, sondern auch der Ausdruck in seinen Augen scheint mir eine Spur ironisch zu sein. »Könnte ich mir denn einmal die Räume ansehen, die in Frage kämen?«, überspiele ich meine Verlegenheit. »Ja, sicher«, sagt er und steht auf. Der anschließende Rundgang durch die beiden Villen dauert fast eine Stunde. Ich erfahre, dass der Mann an meiner Seite Norman Martens heißt und seit über fünf Jahren diese Einrichtung leitet. Stolz auf sein Vorzeigeheim, beschreibt
und erläutert er sämtliche in den letzten Jahren erfolgten Reno-vierungs- und Umbaumaßnahmen. Die Vorteile der kleinsten Besenkammer werden noch ins rechte Licht gerückt, und 209 auch vor dem Speicher und den Kellerräumen macht er nicht halt. Restlos geschafft sitze ich nach dieser Sightseeingtour in seinem Büro. »Das war eine eindrucksvolle Führung. Vielen Dank. Die Räume sind wirklich toll. Hoch und hell. Jetzt brauchte ich nur noch jemanden, den ich interviewen kann, der Isabelle Dujack noch gekannt hat?« Martens, der sich hinter seinem Schreibtisch niedergelassen hat, schaut an mir vorbei aus dem Fenster. »Vermutlich kann Ihnen die frühere Heimleiterin weiterhelfen. Sie ist allerdings über siebzig und schon pensioniert.« »Wie heißt sie?« »Roswitha Löhbauer. Warten Sie mal. Ich habe hier irgendwo ihre Nummer.« Er tippt etwas in seinen Computer ein und scrollt mit dem Curser durch eine Adressdatei. »Ah, da ist sie. Vielleicht haben wir ja Glück und Frau Löhbauer ist zu Hause. Wenn sie ans Telefon geht, müssen Sie aber laut und deutlich mit ihr reden, sie ist schon etwas schwerhörig.« Die ehemalige Heimleiterin ist tatsächlich zu Hause. Herr Martens erklärt ihr, worum es geht und reicht mir den Hörer. »Hallo, Frau Löhbauer. Mein Name ist Petry. Ich bin eine Freundin von Isabelle Dujack. Können Sie sich noch an Isabelle erinnern?«, brülle ich in die Sprechmuschel.
»Sie heißen Petra, das ist aber nett. Ein schöner Name. Aber Petra, Sie müssen nicht so laut schreien, ich bin doch nicht schwerhörig.« Das fängt ja prima an. »Frau Löhbauer, ich heiße Petry, Pia Petry. Können Sie sich noch an Isabelle Dujack erinnern? 210 »Petra, ich hab Ihren Namen schon verstanden. Sie müssen nicht ständig alles wiederholen. Ich bin vierundsiebzig und nicht hundert. Und komplett verkalkt bin ich auch noch nicht.« »Ja natürlich. Entschuldigen Sie. Sagt Ihnen der Name Isabelle Dujack etwas?« »Aber selbstverständlich. Es ist zwar schon lang her. Aber an das Mädchen kann ich mich noch gut erinnern. Die vergisst man nicht so leicht. Geht es ihr gut?« »Ja, es geht ihr ausgezeichnet. Sagen Sie mal, wissen Sie noch, wie das mit Isabelles Adoption war?« Am anderen Ende der Leitung bleibt es seltsam still. »Frau Löhbauer, haben Sie mich verstanden?« »Ja«, antwortet sie gereizt. »Lassen Sie mich doch mal überlegen. Eine alte Frau ist doch kein D-Zug. Was weiß ich, ob ich Ihnen das überhaupt erzählen darf.« »Ich bin eine Freundin von ...« »Das hatten Sie schon gesagt. Aber am Telefon möchte ich mich nicht dazu äußern. Tut mir leid.« »Darf ich Sie denn einmal besuchen?« Wieder dauert es eine Ewigkeit, bis sie reagiert. »Ja, meinetwegen. Herr Martens soll Ihnen erklären, wie Sie zu mir kommen. Ich wohne ganz in der Nähe des Heims.«
Bevor sie auflegt, kann ich noch ein »Wann wäre es Ihnen denn recht?«, in den Hörer rufen. Was mit einem barschen »Na jetzt, wann denn sonst«, beantwortet wird. Nachdem ich das Gespräch beendet habe, sitze ich etwas verwirrt vor Herrn Martens. »Frau Löhbauer ist doch wirklich eine grandiose, alte Dame, nicht wahr?«, sagt er und verzieht das Gesicht. »Ja und so resolut.« 211 Wir müssen beide lachen. »Herr Martens, könnten Sie mir sagen, wie ich zu Frau Löhbauer komme?« »Natürlich.« Er schreibt die Adresse auf einen Zettel, den ich gedankenverloren einstecke. Seiner Wegbeschreibung höre ich nur mit halbem Ohr zu. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es noch etwas gibt, wonach ich ihn fragen müsste. Etwas Wichtiges, das mir aber partout nicht einfallen will. Martens begleitet mich hinaus. Fast tut es mir leid, dass meine Geschichte erfunden ist, die Videoaufnahmen nie stattfinden und wir uns nicht wiedersehen werden. Er reicht mir die Hand und wir verabschieden uns voneinander. Nachdenklich gehe ich die Treppe hinunter. Und dann fällt sie mir ein: die Frage, die ich unbedingt noch stellen muss. Als ich mich umdrehe, zur Eingangstür hinaufsehe, wo Martens immer noch steht, kreuzen sich für eine Hundertstelsekunde unsere Blicke. Und mir wird schlagartig klar, dass er mir kein Wort glaubt. Dass er genau weiß, dass ich ein falsches Spiel spiele und nichts von dem, was ich ihm erzählt habe, der Wahrheit entspricht. Warum hilft er mir dann aber? Warum vermittelte er mir den Kontakt zu Frau Löhbauer? Weil er neugierig ist, denke ich. Weil ihn
irgendetwas an mir oder an meiner Geschichte neugierig gemacht hat. »Ich habe noch eine Frage«, sage ich, als ich wieder vor ihm stehe. Jetzt um einiges verunsicherter als noch vor wenigen Minuten. »Wer ist eigentlich die Mutter von Isabelle? Gibt es Unterlagen bei Ihnen im Haus, auf denen ihr Name vermerkt ist?« Mit unergründlicher Miene mustert er mich. »Liebe Frau 212 Petry, dazu kann ich Ihnen leider gar nichts sagen. Diese Informationen fallen unter den Datenschutz.« »Okay«, sage ich. »Da kann man dann wohl nichts machen.« »So ist es«, antwortet er und wieder spielt dieses ironische Lächeln um seinen Mund. 212 Kapitel 22 »Haben Sie sich verlaufen? Sie haben ja eine Ewigkeit gebraucht«, herrscht mich Frau Löhbauer an, als ich endlich vor ihr stehe. Ihre kleinen, dunklen Augen funkeln angriffslustig. Erschrocken halte ich ihr die Pralinenschachtel hin, die ich auf dem Weg noch schnell besorgt habe. Eine fadenscheinige Ausrede für mein Zuspätkommen. Denn natürlich hat sie vollkommen Recht, ich habe mich verlaufen. Sie nimmt das Konfekt gnädig entgegen und führt mich durch einen dunklen Korridor in ein nicht wesentlich helleres, mit schweren Holzmöbeln ausgestattetes Wohnzimmer. Ihre rechte Hand deutet auf einen der vier Sessel, die um den Couchtisch herum gruppiert sind. Ich setze mich. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragt sie in diesem barsch autoritären Ton, der die erfahrene, von antiautoritären Erziehungsmethoden gänzlich unbeleckte Heimleiterin verrät.
Doch bevor ich antworten kann, grenzt sie ihr Getränkeangebot erst einmal ein. »Ich könnte Ihnen einen Tee bringen. Wäre das in Ordnung?« Zum ersten Mal lächelt sie und zeigt eine Reihe blendend weißer Zähne. »Tee wäre gut«, antworte ich brav, mich ganz in die mir anscheinend zugedachte Klein-Mädchen-Rolle einfindend. »Sie müssen lauter und deutlicher reden, Frau Petry. Die 213 ses Genuschel kann doch kein Mensch verstehen«, fährt sie mich an. Gequält lächelnd nicke ich ihr zu und wünsche sie insgeheim zum Teufel. Auf dem Tablett, das sie aus der Küche holt, befinden sich zwei Tassen Tee, Zucker, Milch und zwei kleine Silberlöffel. Der Tee ist eiskalt, und der Zucker lässt sich nicht mehr darin auflösen. Mühsam versuche ich meinen Ärger zu verbergen. Am liebsten würde ich ihr die Pralinen wieder abnehmen und dieses gastliche Haus verlassen. Sie aber lässt mich nicht aus den Augen. Ihr Gesicht, von unzähligen Linien, Fält-chen und Furchen durchzogen, könnte einem fast sympathisch sein, wenn da nicht diese verräterische Mimik wäre, die zwischen vorsichtig taxierend und lauernd oszilliert. So als spiele sie ein Spiel mit mir und wolle testen, ob ich die Regeln auch beherrsche. Während ich lustlos in meinem Tee rühre, berichte ich von den angeblich geplanten Videoaufnahmen und frage noch einmal nach den Umständen von Isabelle Dujacks Adoption. Frau Löhbauer blickt gedankenverloren in ihre Tasse und lässt sich Zeit mit der Antwort.
»Dieser Herr Dujack hat sie adoptiert. Ein unsympathischer Kerl. Kennen Sie ihn?« »Ja. Nicht sehr gut. Aber ich kenne ihn.« »Ah ja«, sagt sie gedehnt, zeigt mir ihre schneeweißen Jacketkronen und versinkt wieder in der besinnlichen Betrachtung ihrer Porzellantasse. Sie denkt gar nicht daran weiterzureden, sondern wartet darauf, dass ich ihr jeden Satz einzeln aus der Nase ziehe. Den Gefallen tue ich ihr nicht. »Er ist Isabelles leiblicher Vater, wussten Sie das?«, frage ich. 214 Sie schnappt nach Luft. »Woher wissen Sie das?« »Von ihm, er hat es mir erzählt.« »Was? Und bei uns hat er damals so einen Zirkus gemacht. Keiner durfte wissen, dass er der leibliche Vater ist. Da wurde er fuchsteufelswild. War ihm wohl peinlich, das Kind so lange im Heim gelassen zu haben.« Langsam kommt sie in Fahrt. »Da er mit der Mutter nicht verheiratet war, musste er für Isabelle ein Adoptionsverfahren beantragen. Stellen Sie sich das mal vor. Für das eigene Kind. Ganz schön verrückt. Aber ihm hat das gut in den Kram gepasst. So konnte er sich nämlich als Wohltäter aufspielen ...« Auf einmal wird mir ganz flau. Mein Gott, bin ich blöd. Plötzlich wird mir etwas klar, was ich schon viel früher hätte erkennen müssen. »Frau Löhbauer, ist die Adoptivschwester von Isabelle, Simone, ist die je in dem Heim gewesen?« Irritiert sieht sie mich an. »Eine Schwester? Nein, ich hab immer nur mit diesem Dujack zu tun gehabt. Der hat nie jemanden mitgebracht. Der kam immer allein.« Mir bricht der Schweiß aus. Diese ganze süßliche Geschichte von der Schwester, die sich im Heim die eigene
Adoptivschwester ausgesucht hat, ist pure Fantasie. Simone hat nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt. Das hätte mir damals beim Italiener schon auffallen müssen, als herauskam, dass Dujack Isabelles leiblicher Vater ist. Es war von Anfang an klar, welches Kind adoptiert werden würde. Simone hatte nie eine Wahl. Warum aber hat mir Isabelle dieses Märchen vom trauten Schwesternglück aufgetischt? Weil es so etwas in Wirklichkeit nie gab? »Frau Löhbauer, kam Isabelle gut mit den anderen Kindern im Heim aus? War sie beliebt?« 215 »Beleibt? Nein, wie kommen Sie denn darauf, sie war immer dünn. Sie war nie dick.« Ich versuche es noch einmal. »Ich wollte eigentlich wissen, ob sie mit den anderen Kindern gut zurechtkam? Ob die anderen Kinder sie mochten?« »Seltsam, dass Sie das fragen. Isabelle war ein schwieriges Kind, hochintelligent und hochsensibel. Sie wollte immer im Mittelpunkt stehen, immer von allen geliebt werden.« »Na ja. Wollen wir das nicht alle?« Sie lächelt ein süffisantes Spitzmaullächeln, das mir wohl meine egomane Unzulänglichkeit vor Augen führen soll. »Es hat mich wirklich gewundert, dass Sie gesagt haben, es ginge ihr gut«, antwortet sie in ihrem besserwisserischen Tonfall. »Ich hätte gedacht, dass sie diese Schwierigkeiten nicht so schnell überwinden und sie auch als Erwachsene damit Probleme haben würde.« »Womit?« »Mit diesem Jähzorn, mit dieser unglaublichen Wut, die sie bei der kleinsten Zurückweisung gepackt hat, und mit der sie so gar nicht umgehen konnte. Aber vielleicht hat sie ja eine
Therapie gemacht. Das hab ich zumindest ihrem Vater damals dringend geraten.« »Was hat sie denn gemacht, wenn sie wütend war?« Ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, hinter denen das pure Misstrauen lauert. Ich warte, dann hake ich nach. »Frau Löhbauer, haben Sie mich verstanden?« »Ja«, antwortet sie einsilbig. »Wollen Sie es mir nicht sagen?« »Ich kenne Sie doch gar nicht, und wenn das mit dem Video stimmt, werden Sie ja wohl kaum wollen, dass ich solche 216 Horrorgeschichten über Isabelle erzähle. Der Film soll doch lustig und unterhaltsam sein. Oder nicht?« »Doch, natürlich soll er das. Aber ich muss Ihnen ehrlich sagen, mit diesem Jähzorn hat sie leider immer noch Probleme. Als Freundin verharmlost man solche Vorfälle ja ganz gern und sucht nach Erklärungen und Ausreden. Aber womöglich ist die Sache ernster, als ich dachte.« Mein Gott, hoffentlich hab ich die Kurve gekriegt. Wenn sie mir nur nicht abspringt. Aber ihr Mitteilungsbedürfnis ist größer als ihre Vorbehalte. »Ja, das hab ich auch immer gesagt. Es ist wirklich ein Drama. Dieses Kind. So hübsch, so schlau und so bösartig. Sie hat in ihrer Wut Sachen gemacht, die sich mit ihrer Intelligenz überhaupt nicht vereinbaren ließen. Irgendetwas hat dann bei ihr ausgesetzt, und sie hat blindlings zugeschlagen. Ohne zu überlegen. Aber eines sag ich Ihnen gleich, das bleibt unter uns. Das sag ich nicht vor Ihrer Kamera.«
»Nein, natürlich, ganz klar. Mich interessiert das ja auch nur, weil ich Isabelles beste Freundin bin, und vielleicht kann ich ihr ja helfen.« »Da werden Sie sich schwertun. Ehrlich gesagt, war ich heilfroh, als ihr Vater sie endlich abholte. Ich hatte ständig Angst, dass noch mal was Schlimmes passieren würde.« »Was denn zum Beispiel?« »Also, das bleibt aber wirklich unter uns.« »Großes Ehrenwort.« »Sie hat mal einem Kind Feuerzeugbenzin auf den Pullover geschüttet und dann versucht es anzuzünden. Gott sei Dank funktionierte das Feuerzeug nicht, und das Kind konnte sich losreißen und weglaufen. Stellen Sie sich das mal vor. 217 Ich kann Ihnen sagen, der Vorfall hat mich damals mehrere schlaflose Nächte gekostet.« »Ist so etwas öfter passiert?« »Ja, schon. Aber das war nicht so schlimm, nicht so gravierend. Isabelle hat da ein Problem. Oder hatte. Ich hoffe, sie hat es überwunden.« Auf dem Weg zum Hotel lasse ich das Taxi an einer Buchhandlung halten. Dass Frau Löhbauer Isabelle schon im zarten Alter von zehn Jahren für therapiereif gehalten hat, lässt mir keine Ruhe. Während der Fahrt war mir auch die Karteikarte wieder eingefallen, auf der die Heilpraktikerin »Verdacht auf Borderline« vermerkt hatte. Möglicherweise gibt es da einen Zusammenhang. Borderline scheint der Schlüssel zu Isabelles verquerem Verhalten zu sein. Und ich möchte jetzt endlich wissen, was es damit auf sich hat. Vom Hotel aus rufe ich Cornfeld an. Mein Ausflug in die Buchhandlung war ein voller Erfolg. Und meinen Informationsvorsprung werde ich nutzen, um meinen Assistenten damit
zu beeindrucken. Es dauert eine Ewigkeit, bis er endlich abnimmt und sich meldet. Ich berichte ihm von meinen Gesprächen mit Herrn Martens und Frau Löhbauer und bringe auch gleich mein neuestes Rechercheergebnis ins Spiel. »Haben Sie eigentlich inzwischen herausbekommen, was dieses Borderlinesyndrom ist?«, frage ich. »Ja. Liegt auf Ihrem Tisch.« Schade. Wo ich doch so gerne mit meinem neu erworbenen Wissen angegeben hätte. »Ich lese Ihnen mal schnell vor, was ich recherchiert habe ...« 218 Mein Versuch, ihn zu unterbrechen, missglückt. Er redet einfach weiter. »... Borderlinesyndrom definiert sich als durchgehendes Muster von Instabilität im Bereich der Stimmungen, der zwischenmenschlichen Beziehungen und des Selbstbildes. Es gibt acht unterschiedliche Kriterien, von denen fünf erfüllt sein müssen, damit man von einem Borderlinesyndrom sprechen kann.« »Cornfeld, das weiß ich alles. Die Frage ist doch, ob die Kriterien auf Isabelle zutreffen.« »Das versuche ich gerade herauszufinden. So gut kenne ich die Frau nicht, um das auf die Schnelle beurteilen zu können. Da müssen Sie mir schon helfen.« »Wollen Sie das jetzt wirklich am Telefon durchgehen?« »Ich mache es so kurz wie möglich. Also erstens: Die zwischenmenschlichen Beziehungen von solchen Leuten sind sehr intensiv und durch einen Wechsel zwischen Überidealisierung und Abwertung gekennzeichnet. Trifft das auf die Dujack zu?« »Nicht, dass ich wüsste.«
»Gut, dann machen wir mal weiter. Zweitens: Sie zeichnen sich durch eine gewisse Impulsivität bei mindestens zwei der im folgenden genannten Fälle aus: Geld ausgeben, Sexualität, Substanz- also Drogenmissbrauch, Ladendiebstahl, rücksichtsloses Fahren und Fressanfälle.« Über die Antwort muss ich nicht lange nachdenken. »Sie raucht wie ein Schlot, bunkert zu Hause fast fünfhundert Paar Schuhe und hat mich mit ihrem Porsche beinahe über den Haufen gefahren.« »Sehr gut. Das käme also hin. Der nächste Punkt sind ausgeprägte Stimmungsänderungen.« 219 »Sie meinen, ob sie launisch ist?« »Ja.« »Das ist sie.« »Dann hätten wir übermäßig starke Wut oder die Unfähigkeit, Wut zu kontrollieren.« »Das trifft hundertprozentig auf sie zu. Das hat auch Frau Löhbauer bestätigt.« »Hat sie mal mit Suizid gedroht oder versucht, sich umzubringen?« »Weiß ich nicht.« »Zu dem Punkt gehören auch noch Selbstverletzungen wie Schnittwunden oder Brandmale.« »Schnittwunden«, sage ich. »Sie hat Schnittwunden am Arm und behauptet, sie wäre als Kind in eine Glastür gestolpert. Das kam mir damals gleich komisch vor.« »Okay. Es geht weiter mit ausgeprägten und andauernden Identitätsstörungen, die sich in Form von Unsicherheit in mindestens zwei der folgenden Lebensbereiche manifestiert: dem Selbstbild, der sexuellen Orientierung, in der Art der
Freunde, in den persönlichen Wertvorstellungen und langfristigen Zielen, wie Ausbildung und Beruf.« »Sie hat die Ausbildung abgebrochen und, soweit ich weiß, keinen Beruf. Cornfeld, war's das?« »Noch nicht ganz. Zwei Punkte habe ich noch. Chronisches Gefühl der Leere und Langeweile sowie das verzweifelte Bemühen, ein reales oder mögliches Alleinsein zu verhindern.« »Na ja. Eigentlich trägt sie ständig einen gelangweilten Gesichtsausdruck zur Schau. Ob sie Angst vor dem Alleinsein hat, kann ich Ihnen aber nicht sagen. Sind wir jetzt durch?« »Ja. Nach allem, was wir wissen, könnte bei Isabelle ein Borderlinesyndrom vorliegen«, sagt er salbungsvoll. 220 »Durch was wird diese Persönlichkeitsstörung eigentlich hervorgerufen?«, frage ich. »Also man vermutet, dass es schon eine genetische Prädisposition gibt, die Krankheit aber nur ausbricht, wenn auch ungünstige Umweltbedingungen dazukommen.« »Und was sind das für Umweltbedingungen?« »Zum Beispiel sexueller Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalterfahrungen, die zumeist in frühester Kindheit gemacht worden sind.« »Und schon sind wir wieder beim Missbrauch«, sage ich, als mir plötzlich eine Idee kommt. »Was wäre denn, wenn nicht Simone das Opfer war, sondern Isabelle. Und die sich deshalb an ihrem Vater rächen will und versucht, ihm den Mord an der Mutter in die Schuhe zu schieben.« »Das kommt nicht so ganz hin. Wenn sie sich erst jetzt an ihrem Vater rächt, warum hat sie dann damals versucht, ihre Mutter umzubringen? Dann hätte sie doch gleich dem Vater den Tauchsieder ins Badewasser werfen können.«
»Vielleicht hatte sie vor ihrem Vater zu viel Angst. Und die Mutter hat sie schlecht behandelt, hat sie nicht vor ihrem Vater beschützt ...« »Ja«, unterbricht mich Cornfeld, »es wäre denkbar, dass sie nur auf ihre leibliche Tochter, nicht aber auf die adoptierte aufgepasst hat. Was es für Isabelle natürlich noch viel schlimmer gemacht hat. Und das Kind hat es ihr heimgezahlt, als sie betrunken in der Wanne lag.« »Und nach dem Tod der Mutter wurde Simone nicht mehr beschützt, hat die Situation nicht ertragen und sich umgebracht. Nur passt die Ermordung von Frau Bouche da nicht rein. Wenn sie tatsächlich etwas gewusst hat, warum wurde sie dann erst vor kurzem ermordet?« 221 »In diese Theorie passt so einiges nicht rein«, sagt Cornfeld. »Warum hat Isabelle uns beauftragt? Und warum jetzt? Warum rührt sie die ganze Geschichte auf einmal wieder auf? Was war der Anlass?« »Die Rückführung.« Cornfeld schnaubt. »An den Quatsch glaube ich schon lange nicht mehr.« Da kann ich ihm leider nicht widersprechen. »Was ist eigentlich mit der leiblichen Mutter? Konnten Sie über die irgendwas in Erfahrung bringen?« »Nein. Die Informationen fallen unter den Datenschutz.« »Unser Problem ist, dass wir jede Menge Theorien haben, aber nicht einen einzigen Beweis oder irgendein Indiz finden konnten.« »Stimmt«, sage ich. Wir verstummen und schweigen uns eine Weile am Telefon an.
»Vielleicht«, ergreife ich dann das Wort, »vielleicht liegt das Problem gar nicht in der Dujackschen Familie. Womöglich wurden die Weichen schon viel früher gestellt, bevor Isabelle zu ihren Adoptiveltern kam.« »Das glaube ich nicht.« »Die Löhbauer«, entgegne ich, »hat Isabelle als extrem gestört dargestellt. Zu dem Zeitpunkt, als Isabelle versucht hat, ein Kind anzuzünden, hatte Herr Dujack noch nicht einmal einen Fuß in dieses Heim gesetzt. Ich sage Ihnen, die Lösung liegt bei der Mutter!« »So viel Sie mir erzählt haben, hatte Isabelle eine Odyssee durch mehre Heime hinter sich, bevor sie adoptiert wurde. Auch dort kann etwas vorgefallen sein. Und es muss ja nicht immer auf Missbrauch hinauslaufen. Auch eine massive Ver 222 nachlässigung oder Gewalterfahrungen können zu der Borderlinesymptomatik führen.« Cornfelds Argumentation überzeugt mich nicht. »Wenn Dujack der leibliche Vater ist«, sage ich, »dann weiß er natürlich, wer die leibliche Mutter ist. Und er schweigt sich darüber komplett aus. Irgendetwas stimmt da nicht.« »Und wie wollen Sie an den Namen der Mutter kommen?«, fragt Cornfeld. Ich sage nichts, räuspere mich nur. »Nein«, sagt Cornfeld. »Doch«, sage ich. »Sie wollen nicht wirklich in dieses ...« »Waisenhaus.« »Kinder- und Jugendheim«, korrigiert er mich sofort. »Also gut, in dieses Kinder- und Jugendheim.« »Da waren Sie doch schon.« »Das macht nichts. Dann gehe ich eben noch einmal hin.«
»Aber wie wollen Sie den Namen herausfinden? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hilft Ihnen der Heimleiter da nicht weiter.« »Ich muss ihn mir eben anders beschaffen. Am Heimleiter vorbei. Sozusagen.« »Und wie soll das gehen?« »Die haben in ihren Büros PCs...« »Woher wollen Sie wissen, ob so alte Fälle auf den Computern gespeichert sind?« »Falls nicht, gibt es bestimmt Akten. Und die werden schon irgendwo sein.« Cornfeld zieht scharf die Luft ein. »Wo, Frau Petry! Wo sollen die sein?« 223 »Im - Keller.« »Und wie wollen Sie bitte in den Keller kommen?« »Indem ich da einbreche ...« »Pia! Das werden Sie schön sein lassen. Das ist viel zu gefährlich«, ruft er entrüstet. »Schisser«, sage ich ungerührt und lege auf. 223 Kapitel 23 Das Projekt »Waisenhausbruch« fängt leider im wahrsten Sinne des Wortes beschissen an. Als ich mich vorsichtig über den gepflegten Rasen in Richtung einer der beiden Villen schleiche, höre ich plötzlich ein ungutes Schmatzgeräusch unter meinem rechten Schuh. Frische, sahnigweiche Hundescheiße. »Gottverdammter Mist...«, fluche ich leise. Angeekelt versuche ich den Dreck von meinem Schuh zu wischen. Ob die hier Schmusehunde für die Kinder halten? Während ich noch über süße, kleine Welpen nachdenke, schießt mir
plötzlich ein ganz anderer Verdacht durch den Kopf. Was, wenn die kleinen schnuckeligen Hunde ausgewachsene bissige Pitbulls oder Dobermänner sind, die hier frei durchs Gelände streifen, immer auf der Suche nach einer saftigen Arschbacke. Zu allem entschlossen, umklammere ich meine Taschenlampe. Zur Not muss ich mich eben damit zur Wehr setzen. Doch statt kläffender Wachhunde taucht ein Mann auf, der von der Straße her auf das Tor zueilt und es geräuschvoll aufsperrt. Ich sprinte hinter den nächsten Baum. Der Typ läuft über den Kiesweg zu einem der Häuser und kommt direkt an meinem Baum vorbei. So nah, dass ich ihn erkenne. Es ist der Heimleiter, Norman Martens. Einen Moment bin ich versucht, ihn am Ohr zu ziehen. Doch ich verkneife mir diesen Unfug und gebe keinen Mucks von mir. Der nächtliche Heimkehrer verschwindet in der weißen 224 Villa. Was mir ausgesprochen lieb ist. Denn ich muss in das gelbe Haus, in dem Büro und Archiv untergebracht sind. Es sieht recht einladend aus. In den Fenstern ist nirgends Licht zu sehen. Ruhig und dunkel liegt es inmitten der ausgedehnten Rasenflächen vor mir. Die Bewohner befinden sich hoffentlich alle im Tiefschlaf. Wie sich das um drei Uhr nachts für ordentliche Menschen gehört. Ich laufe geduckt über die Wiese und schleiche mich am Haus entlang zum hinteren Eingang. Die Kellerfenster reichen bis fast zum Boden, sind relativ hoch und unvergittert. Perfekt. Ich habe einen Rucksack mit sorgfältig ausgesuchtem Einbruchswerkzeug dabei. Professionell setze ich einen Toilettenpumpel auf das Glas und schneide eine kreisrunde Fläche heraus. Vorsichtig entferne ich den Pumpel, an dem jetzt die ausgeschnittene Glasscheibe hängt. Als ich durch das Loch greife und den Fenster-
griffherunterdrücke, ertönt ein laut quietschendes Geräusch. Vor Schreck halte ich die Luft an und verharre reglos. Hab ich über mir jemanden aus dem Schlaf geholt, geht irgendwo Licht an, knarren Bettfedern, nähern sich Schritte? Nein, es bleibt ruhig. Gott sei Dank. Mir steht der Schweiß auf der Stirn. Und das gähnend schwarze Loch vor mir macht die Sache nicht besser. Wie tief es da wohl runtergeht? Auch im Schein der Taschenlampe lässt sich das nur schwer abschätzen. Die Vorstellung, die ganze Nacht mit gebrochenen Beinen im Keller zu liegen, unfähig, mich zu rühren, unfähig, mich hinter den dicken Mauern bemerkbar zu machen, womöglich in der Gesellschaft von niedlichen, kleinen Ratten, die mich ein bisschen beschnuppern und vielleicht auch ein bisschen anknabbern, gefällt mir gar nicht. Mich schüttelt's. Igitt. Leider macht sich meine Fantasie in solchen Situatio 225 nen gern selbständig und bombardiert mich ungefragt mit den scheußlichsten Bildern. Think positive, denke ich. Es wird schon nichts passieren. Ich schiebe die Lampe in meinen Hosenbund, klettere rückwärts durch das Kellerfenster und lasse mich vorsichtig nach unten gleiten. Freischwebend hänge ich mit den Händen am Fensterrahmen und spüre noch immer keinen Boden unter den Füßen. Diese alten Häuser haben ja verdammt hohe Räume, 3,50 Meter und mehr. Auch der Keller scheint überdimensioniert angelegt zu sein. Als ich mit dem Gedanken spiele, mich einfach fallen zu lassen und auf mein Glück und die Stabilität meiner Knochen, Sehnen und Bänder zu vertrauen, passiert etwas Unglaubliches. Zwei Hände packen mich an der Hüfte und ziehen
mich nach unten. Vor Schreck bleibt mir der Schrei im Hals stecken. Ehe ich mich versehe, stehe ich auf dem Kellerboden. Schreien, denke ich, ich muss schreien. Aber als ich endlich einen Ton herausbringe, hält mein Angreifer mir den Mund zu. »Seien Sie still, ich tu Ihnen schon nichts«, höre ich eine männliche Stimme hinter mir. »Sie wecken sonst noch das ganze Haus auf. Und das dürfte nicht unbedingt in Ihrem Interesse sein.« Ich signalisiere mein Einverständnis, indem ich mehrmals heftig nicke und mich ansonsten ruhig verhalte. Daraufhin nimmt er mir die Hand vom Mund. Langsam drehe ich mich zu ihm um, starre angestrengt in die Dunkelheit, versuche etwas zu erkennen. Aber mehr als einen diffusen Schatten kann ich nicht ausmachen. »Wer sind Sie?«, frage ich. »Dreimal dürfen Sie raten.« 226 Jetzt erkenne ich die Stimme. »Herr Martens?« »Ich habe nicht erwartet, Sie so schnell wiederzusehen«, sagt er frostig. »Ich auch nicht«, antworte ich. »Vor allem nicht, nachdem ich Sie gerade eben in dem anderen Haus habe verschwinden sehen.« »Die Villen sind durch einen unterirdischen Gang verbunden.« »Den haben Sie mir bei Ihrer Führung aber nicht gezeigt«, maule ich. Er schnauft. »Frau Petry, könnten Sie mir bitte mal erklären, wieso Sie mitten in der Nacht hier einbrechen?« »Können Sie sich das nicht denken?« Er zieht hörbar die Luft ein.
»Ich bin immer noch auf der Suche nach dem Namen von Isabelle Dujacks leiblicher Mutter«, sage ich schnell, um ihn nicht noch weiter zu verärgern. »Die Geschichte mit dem Video war doch gelogen, oder?« »Na ja, gelogen würde ich das nicht nennen. Eher geschummelt.« »Worum geht es wirklich?«, fragt er gereizt. So wie es aussieht, sollte ich wohl langsam mit der Wahrheit herausrücken. Ihn weiterhin zu belügen, erscheint mir nicht wirklich ratsam zu sein. Ich gebe mir einen Ruck und erzähle ihm die ganze vermaledeite Geschichte. »... Wenn Sie mir nicht helfen, kommt womöglich ein unschuldiger Mensch lebenslang hinter Gitter.« Er schüttelt den Kopf. »Das ist ja absolut hanebüchen. Sie erwarten doch nicht allen Ernstes, dass ich Ihnen diesen Quatsch glaube.« »Doch«, sage ich. »Das müssen Sie mir sogar glauben. Denn 227 kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, sich so etwas auszudenken.« »Da ist allerdings was dran.« Nervös fährt er sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich komme in Teufels Küche, wenn herauskommt, dass ich einer Privatdetektivin geholfen habe, Akten einzusehen, die sie gar nicht einsehen darf.« »Das wird ja auch niemand erfahren«, sage ich, ziehe die Taschenlampe aus meinem Hosenbund und schalte sie ein. »Also, was ist, helfen Sie mir?« Unverwandt sieht er mich an. Und trotz der Dunkelheit und den Schatten auf seinem Gesicht ist mir sehr bewusst, dass Norman Martens ein verdammt gut aussehender Mann ist.
»Es gibt doch keine Zeugen«, appelliere ich an ihn. »Sie gehen so gut wie kein Risiko ein.« Als ich einen Schritt auf ihn zu machen will, stolpere ich über eine am Boden stehende Holzkiste und komme gewaltig ins Trudeln. Geistesgegenwärtig packt er mich an den Schultern und verhindert, dass ich zu Boden gehe. Für einen Sekundenbruchteil kommen wir uns so nah, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren, ich sein After Shave riechen kann, das nach Sandelholz und Bergamotte duftet, ich seine Finger durch den Stoff meiner Jacke auf meinen Schultern spüre, so intensiv, dass meine Haut unter seinen Händen zu prickeln beginnt. Viel zu schnell lässt er mich wieder los. »Wie geht's jetzt weiter?«, frage ich und vermeide es, ihn anzusehen. »Ich helfe Ihnen«, sagt er mit belegter Stimme. »Wie lange ist die Adoption noch einmal her?« »Dreizehn Jahre.« »Dann müssen wir hier unten suchen. Frau Löhbauer hat 228 sich so lange sie konnte gegen die Einführung von Computern gesträubt. Deshalb würde ich mal davon ausgehen, dass so alte Fälle im Keller archiviert sind.« Er nimmt mir die Taschenlampe aus der Hand und zieht mich den Kellergang hinunter. »Hier lang. Passen Sie auf, die Schwellen sind ziemlich hoch.« Blind tappe ich hinter ihm her und laufe ihn fast um, als er in der Dunkelheit unvermittelt stehen bleibt. »Vorsichtig!«, flüstert er und drückt eine alte, knarrende Holztür auf, die in einen riesigen Raum führt, voll mit deckenhohen Regalen, die, in Reih und Glied aufgestellt, das gesamte Kellergewölbe auszufüllen scheinen.
»Wie war noch mal der Name?«, fragt er. »Isabelle Dujack.« »Okay. Sie bleiben hier stehen, sonst rennen Sie noch gegen eines der Regale. Ich bin gleich zurück.« Schemenhaft zeichnen sich die mit Aktenordnern und Heftern vollgestopften Schränke vor mir ab. Spinnweben streifen mein Gesicht, der Geruch nach feuchten, verschimmelten Wänden und der Staubnebel, der im Mondschein vor den Kellerfenstern flimmert, erzeugen klaustrophobische Gefühle in meiner Magengegend. Mir wird schwindlig. Ich stütze mich an der Wand ab und trete aus Versehen gegen die metallene Türschwelle. Das Geräusch hallt durch den Raum wie eine Kirchenglocke am Sonntagvormittag. Norman lässt vor Schreck etwas zu Boden fallen. »Pssst«, höre ich ihn. »Wollen Sie das ganze Haus aufwecken?« »Ist gut«, rufe ich leise zurück. »Ich passe ja schon auf.« Norman taucht aus dem Dunkel auf. »Die haben den Sla 229 lom neu gesteckt«, sagt er. »Aber ich habe sie trotzdem gefunden.« Siegesgewiss wedelt er mir mit einem Hefter vor dem Gesicht herum. »Fantastisch. Das ist ja super«, lobe ich ihn. »Sie schauen da schnell rein, und danach bring ich die Akte zurück.« »Okay«, sage ich, setze mich auf den Boden, schieb den Rucksack unter meinen Hintern und blättere die Unterlagen durch. Norman leuchtet mir mit der Taschenlampe über die Schulter, wobei eine seiner Haarsträhnen immer wieder leicht mein Gesicht berührt. Was ich ausgesprochen irritierend finde. Da die Akte nicht sehr dick ist, finde ich relativ schnell, was
ich gesucht habe. »Vater unbekannt«, und darunter steht er: der Name der Mutter. Ich weiß sofort, dass er mir etwas sagen müsste, aber was, will mir absolut nicht in den Kopf. Meine Konzentrationsfähigkeit ist im Moment auch etwas unterbelichtet. »Müssen Sie jetzt eigentlich gleich nach Hause?«, fragt Norman da. Verunsichert sehe ich zu ihm hoch. »Wie meinen Sie das?« »Na ja«, sagt er und räuspert sich. »Ich könnte uns noch einen Jasmintee machen. Wenn Sie möchten.« Einen Jasmintee, denke ich und rolle innerlich mit den Augen. So nennt man das also in Pädagogenkreisen: Jasmintee! »Und Sie hatten nur an Teetrinken gedacht?«, frage ich. Er lacht leise. »Wenn uns noch etwas anderes einfällt, wäre das doch auch ganz nett. Aber das entscheiden Sie.« Wie zufällig berührt seine Hand meine Schulter. Eine Berührung, die das nur zu bekannte Prickeln auslöst und mir besser gefällt als mir lieb ist. Die Idee eines One-Night-Stands 230 rückt in greifbare Nähe. Warum eigentlich nicht, denke ich. Warum nicht eine Nacht mit einem Mann genießen, von dem man nur guten Sex erwartet? Und nichts weiter. Doch Norman scheint nett zu sein und ist auch noch ausgesprochen attraktiv, da habe ich unter Umständen am nächsten Tag ein Problem. Verliebe mich womöglich in ihn. Wenn ich dagegen verschwinde, riskiere ich nichts. Höchstens, dass ich mit achtzig im Altersheim Depressionen bekomme, weil ich auf eine aufregende Erfahrung verzichtet und einen solchen Typ von der Bettkante geschubst habe. Ich bin ratlos. Was würde Cornfeld tun? Ganz klar, der würde gnadenlos zuschlagen. Aber der ist ja auch ein Mann.
Norman wird langsam nervös. Wir haben eine Menge Krach gemacht, und er fürchtet unliebsamen Besuch aus den oberen Etagen. »Ich bin gleich zurück«, sagt er, nimmt mir die Papiere aus der Hand und verschwindet zwischen den Regalen. Das ist meine Chance. Wenn ich auf ihn warte, werde ich seine Einladung wohl annehmen müssen. Und nach meiner heftigen körperlichen Reaktion auf den kleinen Zusammenstoß eben bin ich mir ziemlich sicher, dass es nicht beim Teetrinken bleiben wird. Ich entscheide, es nicht darauf ankommen zu lassen. Feigheit siegt. So leise wie möglich sprinte ich die Treppe hoch und laufe durch den Flur im Erdgeschoss. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, vor wem ich eigentlich weglaufe. Vor Norman oder vor mir. Aber das spielt nun auch keine Rolle mehr. Schwer atmend erreiche ich die Eingangspforte. Aber so sehr ich auch an dem schweren Griff herumdrücke und ziehe - die Tür bewegt sich nicht. Das hätte ich mir denken können. Schließlich bin ich in einem Kinder-und Jugendheim. 231 Da höre ich Schritte auf der Kellertreppe. Es wird Zeit, dass ich hier rauskomme. Ich sehe mich um. Rechts vom Eingang entdecke ich eine Tür, auf der »Toilette« steht. Toiletten haben ja manchmal ein Fenster. Also nichts wie rein. Und tatsächlich, es gibt ein Fenster, das weder vergittert noch abgesperrt ist. Leider ist es nicht besonders groß. Aber in Ermangelung von Alternativen quetsch ich mich hindurch. Die Beine zuerst, den Rest hinterher. Als ich den Fensterrahmen loslasse, plumpse ich wie ein nasser Sack in die Rabatten, mitten hinein in die wunderschön stacheligen Strauchrosen. Meine Hände sehen aus, als hätte ich mich auf einem
Nagelbrett abgestützt, meine Hose wird von Dutzenden feiner Stacheln durchsiebt und von mikroskopisch kleinen Widerhaken festgehalten. Was für ein Abgang. Plötzlich höre ich ein Geräusch an der Flügeltür. Verdammt, das ist Norman. Ohne Rücksicht auf Verluste durchpflüge ich das Rosenbeet und renne über die Wiese zurück zur Straße. Wahrscheinlich steht Norman jetzt an der Tür und sieht, wie sich sein One-Night- Stand mit zerrissener Hose, klapperndem Rucksack und aufgelösten Haaren im Mondschein über die Wiese auf und davon macht. Diesmal allerdings, ohne in die Hundescheiße zu treten. 232 Kapitel 24 Eigentlich sollte ich ja öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Den Bus oder die Straßenbahn zum Beispiel. Doch ich gönne mir ein Taxi. Das hab ich mir verdient, so hundemüde wie ich bin. Die ganze Nacht hatte ich mit Cornfeld diskutiert, gestritten und psychologisiert. Wir wussten zwar nun den Namen der Mutter, aber damit war der Fall noch lange nicht gelöst. Jedes Mal, wenn wir glaubten, jetzt haben wir es, so muss es gewesen sein, fiel uns irgendetwas ein, das die ganze schöne Konstruktion wieder zum Einstürzen brachte. Aber dann mitten in der Nacht um vier Uhr - war es endlich so weit: We got it. Zumindest glauben wir das. Isabelle Dujack ist zu Hause. Um ihr nicht die Gelegenheit zu einer Absage zu geben, habe ich mich vorsichtshalber erst gar nicht angemeldet. Mein kleiner Überraschungsbesuch schmeckt ihr gar nicht. »Warum haben Sie nicht angerufen?«, fragt sie gereizt, als wir uns in der Halle gegenüberstehen.
»Ich dachte, das wäre nicht nötig. Es dauert ja auch nicht lange.« Entschlossen marschiere ich an ihr vorbei ins Wohnzimmer, wohin sie mir widerstrebend folgt. »Wie geht es Ihrem Vater?« 233 »Gut. Sind Sie etwa hergekommen, um sich nach dem Befinden meines Vaters zu erkundigen?« »Ja, aber nicht nur. Ich habe die Abschlussrechnung dabei und ...« Weiter komme ich nicht. Sie fällt mir ins Wort. »Frau Petry, die hätten Sie mir auch mit der Post schicken können. Dafür hätten Sie sich nun wirklich nicht nach Frankfurt bemühen müssen.« »Da haben Sie Recht. Aber ich wollte auch noch einmal so etwas wie ein Abschlussgespräch mit Ihnen führen.« »Das ist vollkommen unnötig«, blafft sie mich an. Ich muss mich zusammenreißen, um mich nicht für ihren unverschämten Ton zu revanchieren. »Es gibt da etwas, worüber ich gerne mit Ihnen reden würde. Es dauert auch nicht lange. Aber vielleicht könnten wir uns ja einen Augenblick setzen«, sage ich und bemühe mich freundlich zu bleiben. Ohne ihre Reaktion abzuwarten, lasse ich mich in einem der Sessel am offenen Kamin nieder. Sie setzt sich mir direkt gegenüber auf die vordere Kante der Sitzfläche und signalisiert mir damit, dass unser Gespräch zeitlich begrenzt ist und bei Nichtgefällen sofort beendet werden kann. Ich kontere, indem ich mich möglichst tief in den Sessel sinken lasse und es mir so richtig bequem mache. Als der Butler hereinkommt und nach unseren Wünschen fragt, bedeutet sie ihm mit einer
unwirschen Handbewegung, wieder zu verschwinden. Meine Hoffnung auf Petits Fours und einen Tee lösen sich damit in Luft auf. »Nun, Frau Petry, worüber wollen Sie mit mir reden?« »Über Simones Tagebuch zum Beispiel.« Fragend sieht sie mich an. 234 »Es ist gefälscht.« »Gefälscht? Wieso das denn?« »Nun, die Firma, die dieses Schulheft hergestellt hat, gibt es erst seit acht Jahren. Simone ist aber vor elf Jahren gestorben.« »Erstaunlich.« Mit zur Seite geneigtem Kopf zündet sie sich eine Zigarette an, inhaliert tief und wirft mir einen ironischen Blick zu. »Ja, so was. Was sagt uns das nun?« »Das sagt uns, dass jemand versucht, Ihren Vater mit gefälschten Indizien als Sexualverbrecher hinzustellen.« Der unangenehme Zug um ihren Mund verstärkt sich. »Finden Sie es nicht seltsam, dass jemand versucht, einen Zuhälter, also einen Menschen, dem ohnehin alles zuzutrauen ist, als Kinderschänder zu brandmarken?« »Sie wissen, womit Ihr Vater sein Geld verdient?« »Natürlich. Er ist ein Schwein. Ein menschliches Schwein. Er würde einen Engel auf den Strich schicken, wenn er seiner habhaft werden könnte. Er schreckt vor nichts zurück, vor rein gar nichts.« »Auch nicht vor seinen Kindern?« Sie lacht leise auf. »Wieso fragen Sie mich das? Ich denke, das Tagebuch ist nicht echt?« »Warum hassen Sie Ihren Vater?« »Ich hasse ihn doch gar nicht.«
»Es klang aber gerade so. Und ich denke nicht, dass es daran liegt, dass er Zuhälter ist. Ich glaube auch nicht, dass er sich an seinen Kindern vergangen hat. Das hat er nicht nötig. Er kann bei seinem Job alle sexuellen Perversionen ausleben, die ihm in den Sinn kommen, da muss er wahrscheinlich nicht auf seinen Nachwuchs zurückgreifen.« 235 Die Ironie in ihrem Gesicht wird übergangslos durch genervte Langeweile ersetzt. »War das alles, Frau Petry? Das Tagebuch ist gefälscht. Gut. Jemand hat versucht, meinem Vater eine Falle zu stellen. Fein. Spielt das noch eine Rolle? Meine Schwester ist tot, meine Mutter wird in zwei Tagen beerdigt und mein Adoptivvater wird von der Polizei des Mordes verdächtigt. Im Moment sieht es gar nicht gut für ihn aus.« Mit spitzen Lippen bläst sie den Zigarettenrauch zur Seite. Ich sehe ihr direkt in die Augen. »Freut Sie das?« »Natürlich nicht.« Ihr Gesichtsausdruck straff sie Lügen. Und plötzlich kommt mir ein Gedanke. Womöglich weiß sie ja doch nicht alles. Und ich kann sie mit einem gezielten Angriff von ihrem hohen Ross herunterholen. »Frau Dujack, Ihnen ist schon klar, dass Klaus Dujack Ihr leiblicher Vater ist?« Sie hält in der Bewegung inne und starrt mich mit ausdruckslosem Gesicht an. »So ein Quatsch, wie kommen Sie denn auf den Blödsinn?« »Das ist kein Blödsinn! Das ist die Wahrheit. Ihr Vater hat es mir selbst erzählt.« »Der hat Sie verarscht. Und Sie sind darauf reingefallen«, sagt sie und macht eine wegwerfende Handbewegung.
»Er hat es mir wirklich erzählt«, insistiere ich, »und die ehemalige Heimleiterin hat es bestätigt. Es ist tatsächlich wahr.« »Es ist nicht wahr!« Ihre Stimme bekommt einen scharfen Unterton. »Klaus ist definitiv nicht mein Vater!« Mir ist unklar, warum sie die Tatsache, dass Dujack ihr leib 236 licher Vater ist, so weit von sich weist. Was ist da vorgefallen? Was steht zwischen den beiden? Zum zweiten Mal an diesem Tag stelle ich ihr dieselbe Frage: »Warum hassen Sie Ihren Vater? Was hat er Ihnen getan?« »Ich hasse ihn nicht«, sagt sie und ihr Blick wandert von mir zum Fenster. »Ich habe ihn einmal geliebt.« »Geliebt?« »Ja, geliebt. Er war der Einzige, der sich um mich gekümmert, der mich aus dem Heim geholt hat und immer für mich da war.« »Simone kam nicht mit. Damals. Die ist nie in diesem Waisenhaus gewesen. Oder? Ihr Vater war es. Er hat sie von dort weggebracht.« Sie drückt ihre Zigarette aus, steht auf und geht zu einem Servierwagen, auf dem eine ganze Batterie unterschiedlicher Flaschen mit alkoholischen Getränken und Trinkgläsern steht. Routiniert mixt sie sich einen Gin Tonic und kehrt dann wieder zu ihrem Sessel zurück, ohne mir etwas angeboten zu haben. »Simone war eine blöde Kuh«, sagt sie und nippt an ihrem Drink. »Genauso blöd wie meine Adoptivmutter. Die mochten mich nicht. Ich hab nie herausgefunden, warum. Aber beide waren von Anfang an gegen mich.« »Wer hat Ihrer Adoptivmutter den Tauchsieder in die Badewanne geworfen?«
Isabelle fängt an zu kichern. »Simone, Simone war es.« Perplex starre ich sie an. »Simone?« »Ja, Simone. Die war so doof. Ich bin zu ihr ins Kinderzimmer und hab gesagt, sie soll den Tauchsieder holen. Mutti wolle sich das Badewasser aufwärmen. Die war so doof, die hat das tatsächlich gemacht.« 237 »Und Ihre Adoptivmutter?« »Die war besoffen, wie meistens. Die hat nichts mitgekriegt.« »Wussten Sie, dass der Tauchsieder defekt war?« »War er das?« Wieder kichert sie und lässt den Gin Tonic in ihrem Glas kreisen. »Was war mit Simone? Warum hat sie sich umgebracht?« »Na hören Sie mal. Die hatte unsere Mutter auf dem Gewissen. Damit ist sie nicht fertiggeworden. Die Arme.« Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. »Das haben Sie ihr eingeredet. Nicht wahr? Sie haben ihr so lange Schuldgefühle eingeredet, bis sie es nicht mehr ausgehalten und sich umgebracht hat. Sie haben Ihre Schwester benutzt, um Ihre Mutter loszuwerden. Und danach haben Sie sich Ihrer Schwester entledigt, indem Sie sie in den Tod getrieben haben.« Isabelle fixiert mich aus den Augenwinkeln. »Meinen Sie? Dann müsste ich ja ein Ungeheuer sein.« »Sie haben völlig Recht«, sage ich jetzt wütend, »Sie sind ein Ungeheuer. Sie waren es doch auch, die Ihrer Adoptivmutter die Überdosis Insulin verabreicht hat. Mit einer Spritze, auf der die Fingerabdrücke Ihres Vaters waren und die Sie dann in den Abfalleimer geworfen haben, damit die Polizei sie dort
finden konnte. Wissen Sie, was ich glaube? Sie sind nicht normal, Sie sind völlig irre. Sie gehören in die Psychiatrie.« »Ja. Genie und Wahnsinn liegen dicht beieinander«, sagt sie selbstgefällig. »Was ist mit den Tieren?«, frage ich. »Haben Sie die verschwinden lassen? Um sich an Simone zu rächen?« 238 Sie zuckt mit den Schultern. »Die sind weggelaufen.« »Und Sie haben die Tür geöffnet und dafür gesorgt, dass sie nicht wiederkamen.« Geradezu mitleidig mustert sie mich von Kopf bis Fuß. »Ich habe nichts getan, gar nichts hab ich getan. Sie fantasieren, meine Liebe. Das waren alles unglückliche Umstände. Sehr unglückliche ...« »Wenn Sie Ihren Vater geliebt haben, warum haben Sie das Tagebuch gefälscht?«, komme ich wieder auf unseren Ausgangspunkt zurück. »Hab ich das?« Irgendwie drehe ich mich im Kreis und habe keine Chance an sie heranzukommen. Meine Fragen tropfen an ihr ab wie Butter von heißen Kartoffeln. »Wenn Sie Ihren Vater früher geliebt haben, warum hassen Sie ihn dann jetzt?« »Tu ich das?« Versonnen betrachtet sie das Glas zwischen ihren Händen und gibt mir keine Chance zum Blickkontakt. Mir kommt eine Idee, wie ich sie doch noch aus der Reserve locken könnte. »Kennen Sie die Verlobte Ihres Vaters? Ist sie Ihnen sympathisch?«
Ruckartig bewegt sie ihren Kopf in meine Richtung und funkelt mich wütend an. »Er ist nicht verlobt. Viviane ist auch nur wieder eines von seinen Flittchen.« »Ach so, er ist also nicht verlobt, und er wird diese junge Frau auch nicht heiraten?« »Die werden bestimmt nicht heiraten«, erregt sie sich. »Ganz bestimmt nicht. Oder glauben Sie, dass sich diese Kuh auf einen Mann einlassen wird, der seine eigene Frau ermordet hat? Wohl kaum.« 239 »Heißt das, Sie wollten verhindern, dass er heiratet? War das Sinn und Zweck der ganzen Aktion?« »Der heiratet niemanden mehr. Der wird den Rest seines Lebens im Knast verbringen. Und die Einzige, die ihn da besucht und sich dann noch um ihn kümmert, werde ich sein. Verstehen Sie! Ich allein.« Sie leert ihr Glas auf einen Zug und stellt es hart neben sich am Boden ab. »Warum haben Sie mich eigentlich engagiert, Frau Dujack?« »Damit Sie verhindern, dass meine Mutter doch noch ermordet wird. Leider ist Ihnen das nicht gelungen.« »Das glaube ich Ihnen nicht. Sie wollten, dass ich Beweise gegen Ihren Vater sammele. Wie dieses Tagebuch zum Beispiel. Sie haben mich von Anfang an belogen. Mit dieser rührseligen Arie von Simone, die Sie aus dem Heim geholt hat. Alles frei erfunden. Diese Rückführung. Genau das Gleiche. Sie haben dieser Heilpraktikerin etwas vorgemacht. Sie haben die Rückführung vorgeschoben, um einen Grund zu haben, mich zu engagieren. Um mich auf die Fährte Ihres Vaters zu hetzen. Haben Sie deshalb eine Hamburger Detektei
beauftragt? Weil wir uns in Frankfurts Rotlichtmilieu nicht auskannten und man uns leichter manipulieren konnte?« Auf meine Fragen bekomme ich keine Antwort. Stattdessen zündet sie sich in aller Ruhe die nächste Zigarette an. »Aber Ihr Plan war nicht so richtig durchdacht«, fahre ich fort. »Es war eher eine Panikreaktion auf die bevorstehende Hochzeit. Stimmt's? Da ist eine Menge schiefgelaufen.« »Finden Sie?«, fragt sie spöttisch. »Sie haben der Bohnacker Geld gegeben, damit sie Ihren Vater belastet. Eventuell auch, damit sie nicht verrät, wer 240 wirklich hinter dem Anschlag auf Ihre Mutter steckte. Womöglich weiß sie es ja.« »Wohl kaum. Oder meinen Sie, die würde dann noch leben?« Ich schlucke. Heißt das, die Bohnacker lebt noch, weil sie die wahren Zusammenhänge nicht kennt? Und bedeutet das im Umkehrschluss, dass Frau Bouche gestorben ist, weil sie Bescheid wusste? Weil sie den Täter kannte? Jetzt stecke ich in der Bredouille. Eigentlich müsste ich nachfragen, müsste der Sache auf den Grund gehen. Aber ich habe mir fest vorgenommen, nicht mit Isabelle über Frau Bouche zu reden. Doch so wie es aussieht, werde ich nicht umhinkommen, genau das zu tun. »Hatten Sie in den letzten Jahren noch Kontakt zu Frau Bouche? Haben Sie sie mal besucht oder mit ihr telefoniert?« »Nein.« »Auch nicht, um sie auf meinen Besuch vorzubereiten? Um ihr zu sagen, dass da eine Privatdetektivin kommt, die wegen des Unfalls Ihrer Adoptivmutter Untersuchungen anstellt?« »Nein.« »Sicher? Sind Sie da ganz sicher?« »Ja.«
»Das stimmt doch nicht. Natürlich waren Sie dort. Sie wollten mit ihr reden. Ihr klarmachen, wie sie sich mir gegenüber verhalten und was sie mir erzählen soll. Aber irgendetwas ist schiefgelaufen. Hat sie nicht mitgespielt? Hat sie etwas erzählt, das Sie geärgert oder beunruhigt hat?« Isabelle verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich bin nie in dieser Wohnung gewesen. Es gibt keine Spuren«, sagt sie. 241 Das stimmt nicht, denke ich und sehe wieder das blonde Haar vor mir, das ich in Frau Bouches Wohnung auf dem Boden gefunden hatte. Natürlich ist Isabelle dort gewesen. Und ich muss sie dazu bringen, mir zu erzählen, was damals passiert ist. »Nein, natürlich kann die Polizei Ihnen nichts beweisen. Sonst wäre die ja schon längst hier gewesen.« Sie nickt. »Genau. Nichts können die mir nachweisen, gar nichts.« »Wer immer Frau Bouche umgebracht hat, er hat es verdammt clever angestellt. Das war ein perfekter Mord. Alle Hochachtung«, lobe ich den Täter und begebe mich auf sehr dünnes Eis. Nach allem was ich weiß, haben Borderliner eine instabile Persönlichkeit, die zwischen Selbstüberschätzung und tiefen Minderwertigkeitsgefühlen hin und her pendelt. Sie sind narzisstisch bedürftig und brauchen viel Anerkennung. Da muss ich ansetzen. Ich muss meine Klientin bei ihrer Eitelkeit und ihrer Überzeugung, unangreifbar zu sein, packen. »Was meinen Sie, ist der Täter schon mit der Absicht hingegangen, Frau Bouche zu töten?«, frage ich. Isabelle steht auf und geht zum Fenster. Dort bleibt sie stehen und sieht in den Garten, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.
»Nein! Ich meine ...« Sie dreht sich kurz zu mir um, »ich weiß das natürlich nicht.« »Klar, woher auch. Sie waren ja nie dort. Vollkommen richtig. Aber irgendjemand ist dort gewesen. Was meinen Sie, was hat sich da abgespielt - rein theoretisch?« »Keine Ahnung.« »Lassen Sie doch einmal Ihrer Fantasie freien Lauf. Was 242 könnte diese Person von der Krankenpflegerin Ihrer Mutter gewollt haben?« Sie antwortet mir nicht. »Schade«, sage ich, »das ist wirklich schade, dass wir nie erfahren werden, was an diesem Tag in Hannover passiert ist. So wird ein wahrscheinlich geniales Verbrechen für immer im Dunkeln bleiben.« Unsicher studiere ich Isabeiles Gesichtsausdruck und hoffe, dass ich jetzt nicht übertrieben habe und sie die Falle längst gewittert hat. Sie wendet mir ihr Gesicht zu und fixiert mich mit einem vollkommen ruhigen, kalten Blick. Auf dem blauen Gletschersee in ihren Augen hüpfen keine türkisfarbenen Reflexe mehr, da treiben meterdicke Eisschollen. »Vielleicht«, sagt sie dann, »vielleicht wollte der Mörder, dass Frau Bouche nett zu Ihnen ist, Ihnen bestimmte Dinge erzählt.« »Gut, das könnte eine Möglichkeit sein. Aber warum wurde sie dann ermordet?« »Weil Frau Bouche unter Umständen viel mehr gewusst hat, als dieser Person recht sein konnte. Weil sie vielleicht ein Tagebuch besaß, in dem die Wahrheit stand, und weil sie vielleicht dieser Person Vorwürfe gemacht hat.«
Mein Gott, Isabelle hat es mir tatsächlich erzählt. Sie hat es wirklich rausgelassen. Mir bleibt fast die Luft weg. »Frau Dujack, habe ich Sie richtig verstanden? Diese Person hat einen Mord begangen, weil Frau Bouche die Wahrheit über den Unfall, über den Tauchsieder und über den Selbstmord von Simone wusste. Weil sie dieses Tagebuch damals gelesen und an sich genommen hat. Haben Sie das gemeint? Haben Sie es so gemeint?« 243 »Ja, so könnte es doch gewesen sein. Rein theoretisch, natürlich.« »Und dann kamen Sie auf die Idee, mir ein gefälschtes Tagebuch unterzujubeln.« »Lassen Sie mich da raus. Das hat mit mir überhaupt nichts zu tun«, fährt sie mich an. »Ja natürlich. Sie haben vollkommen Recht«, versuche ich sie zu beruhigen. Allerdings habe ich jetzt ein Problem. Nach dem, was sie mir da gerade erzählt hat, bin ich mir sicher, dass sie es war. Aber darf ich ihr sagen, was ich weiß? Sie hat ihre Adoptivmutter ermordet, ihre Adoptivschwester in den Tod getrieben und ihren Vater ins Gefängnis gebracht. Eigentlich reicht das, um sie ein Leben lang in der Hölle schmoren zu lassen. Trotzdem bin ich mir unschlüssig, ob ich ihr sagen darf, was ich im Keller dieses Kinder- und Jugendheims entdeckt habe. Schließlich ist sie ein psychisch kranker Mensch. Aber beginnt nicht jede Heilung mit der Konfrontation? Ich gebe mir einen Ruck, entschließe mich das Risiko einzugehen und ihr die Wahrheit zu sagen. »Frau Dujack, wissen Sie eigentlich, wer Ihre Mutter ist? Ich meine, Ihre leibliche Mutter?«
»Ja, ich kenne ihren Namen. Nach dem sechzehnten Lebensjahr kann man Einsicht in die Adoptionsvermittlungsakte nehmen und die Unterlagen beim Standesamt einsehen. Und das hab ich getan. Was ich allerdings nicht gefunden habe, war der Name meines Vaters. Der wird unter der Rubrik >unbekannt< geführt. Nur so zu Ihrer Information. Vielleicht hätten Sie ja auch schon mal einen Blick in diese Unterlagen werfen können?« »Haben Sie versucht, Ihre Mutter zu finden?« 244 »Natürlich, ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Aber es ist nichts dabei herausgekommen.« »Und Ihr Vater? Konnte der Ihnen nicht weiterhelfen?« »Wieso sollte mein Adoptivvater etwas über meine leibliche Mutter wissen? Außer ihrem Namen?« »Weil er nicht Ihr Adoptivvater, sondern Ihr leiblicher Vater ist«, antworte ich und bemühe mich ruhig zu bleiben. Sie sieht wieder aus dem Fenster und schnippt die Asche ihrer Zigarette auf den Teppichboden. »Nun«, sage ich und hole tief Luft. »Wie Sie wissen, bin ich Privatdetektivin. Da findet man immer Mittel und Wege, um an bestimmte Informationen heranzukommen. Meinen Sie nicht?« Isabelle dreht sich langsam zu mir um. »Was wissen Sie?« »Alles.« »Herrgott, was heißt alles?« »Ich weiß alles über Ihre Mutter.« »Heißt das, Sie wissen, wo sie ist?« »Als ich mit Ihrem Vater einmal beim Essen war, habe ich ihn nach Ihrer Mutter gefragt. Er sagte, das habe sich erledigt. Eine seltsame Aussage, finden Sie nicht?«
Sie reagiert unwirsch. »Was soll er auch sagen, er hat sie doch gar nicht gekannt...« »Er hat sie sehr wohl gekannt«, widerspreche ich und mache eine kleine Pause. »Sie war eine von seinen Prostituierten.« Einen Moment lang herrscht Totenstille. Die berühmte Stille vor dem Sturm. »Das ist eine bösartige Unterstellung. Sie lügen. Sie lügen doch nur, um mich zu verletzen«, wird sie laut. »Nein, das tue ich nicht. Sie war eine polizeilich registrierte 245 Hure. Das lässt sich nun mal nicht ändern, so brutal es auch klingt«, antworte ich. »Hören Sie auf, ich will nichts mehr hören. Sie erfinden das alles nur, um mir wehzutun. Verdammt schäbig und billig, finden Sie nicht?«, schreit sie mich an. »Glauben Sie mir doch, ich belüge Sie nicht, wirklich nicht. Ich kann Ihnen auch noch mehr über Ihre Mutter erzählen. Eigentlich war sie Krankenschwester.« Isabelles Blicke werden immer feindseliger. Drohend kommt sie auf mich zu. »Halten Sie den Mund. Halten Sie endlich den Mund. Oder es passiert was.« Doch ich bin nicht mehr zu stoppen. »Tja, und weil Ihre Frau Mutter unter ihrem bürgerlichen Namen Maierhöfer nicht im Milieu arbeiten wollte - klingt ja auch ein bisschen spießig, nicht? -, hat sie sich einen, nun ja, Künstlernamen zugelegt.« »Hören Sie auf! Hören Sie endlich auf!« Dass Isabelle sich die Ohren zuhält, hilft ihr auch nichts mehr. Ich bin sicher, dass sie mich ganz genau versteht. »Ihre Mutter nannte sich Bouche, Ramona Bouche.« 245
Kapitel 25 Die Rückfahrt nach Hamburg gestaltet sich alles andere als angenehm. Abgesehen davon, dass der Zug ausgebucht ist und ich neben einem Mann sitze, der so breit wie hoch ist und einen unangenehmen Schweißgeruch verbreitet, lässt mir das Gespräch mit Isabelle Dujack keine Ruhe. Als ich den Namen Ramona Bouche aussprach, war ich auf einen hysterischen Anfall gefasst. Doch sie reagierte völlig anders, als ich es erwartet hatte. Sie wurde ganz still, sagte kein Wort mehr, stand reglos im Zimmer und starrte an die Wand. So, als ginge sie das alles nichts an. Möglicherweise eine Art Schock, ein Nicht-Fassen-Können oder -Wollen. Ich weiß es nicht. Auf äußere Reize reagierte sie überhaupt nicht mehr. Langsam wurde mir mulmig, und ich lief in die Eingangshalle, um nach dem Butler zu rufen. Dem erzählte ich etwas von plötzlich aufgetretener Apathie und Reaktionslosigkeit. Während er einen Arzt informierte, nutzte ich die Gelegenheit zu einem schnellen Abgang. Dem Doktor wollte ich nun wirklich nicht in die Arme laufen. Als ich auf das Taxi wartete, beschäftigte mich die berühmte Frage nach Schuld und Sühne. Mir war schnell klar, dass ich Isabelles Geständnis nicht einfach so auf sich beruhen lassen konnte. Dass ich nicht nach Hamburg zurückfliegen und das Ganze einfach vergessen durfte. Selbst die Tatsache, dass Du 246 jack ein Zuhälter und Menschenhändler der aller übelsten Sorte ist, schien mir kein ausreichender Grund zu sein, ihn die nächsten fünfzehn Jahre unschuldig im Knast schmoren zu lassen. Was aber viel schwerer wiegt, ist Isabelles Borderlineerkrankung. Sie wird mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft Probleme auf ihre eigene radikale Art und
Weise lösen. Und dann werden die nächsten Toten zu beklagen sein. Ich ließ mich vom Taxifahrer direkt von der gelben Villa zur nächsten Polizeistation fahren und gab bei der Kripo eine umfassende Aussage zu Protokoll. Ich kann weder Beweise noch Indizien vorweisen. Aber vielleicht findet die Polizei ja welche. Schließlich verfügen sie über ganz andere Möglichkeiten als ich. Was jetzt auch immer passiert, ich bin raus aus dieser Geschichte. Was mein Gewissen allerdings nicht wirklich erleichtert. Als der ICE in Hamburg einfährt, ist die Stadt in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Nur vereinzelt sind ein paar weiße Kumuluswolken an einem strahlend blauen Himmel auszumachen. Willkommen in der schönsten Stadt der Welt, denke ich, als ich den Dammtorbahnhof verlasse. Kaum habe ich meinen Fall gelöst, schon bessert sich das Wetter. Dabei fällt mir ein, dass ich vor vierzehn Tagen das erste Mal nach Frankfurt geflogen bin. Ich also genau zwei Wochen gebraucht habe, um den Fall zu lösen. Wenn auch nicht mit dem Ergebnis, das sich meine Klientin vorgestellt hat. Gute Arbeit, denke ich und klopfe mir in Gedanken selbst auf die Schulter, als mir der unangenehme Gedanke kommt, dass ich die Abschlussrechnung auch gleich in den Schredder schieben kann, da kaum anzunehmen ist, dass Isabelle Dujack sie noch bezahlen wird. 247 Das hat man davon, wenn man immerzu die Wahrheit wissen und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen will, denke ich frustriert. Es wird einem nicht gedankt. In der Husumer Straße laufe ich die Treppe hoch, zücke meinen Schlüssel und will die Eingangstür aufsperren, als ich ein Geräusch in meiner Wohnung höre. Oder war es gar nicht in
meiner Wohnung? Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich habe ich mich verhört. Habe ich nicht. In dem Augenblick, in dem ich die Tür öffne, geht das Licht an, und eine Horde von fast fünfzig Menschen grölt los. »Happy birthday to you, happy birthday liebe Pia, happy birthday to you ...« Mich trifft fast der Schlag. Mein Geburtstag. Den hab ich ja total vergessen. Und das ist wohl die Überraschungsparty, auf die ich Cornfeld und Alexandra angesetzt habe. Wie nett. Wie lieb. Wie aufmerksam. Und wie unpassend. Nach dem Gespräch mit Isabelle Dujack ist mir absolut nicht nach Feiern und tausend Menschen in meiner Wohnung zumute. Aber was soll ich machen? Ich bemühe mich um einen gerührten Gesichtsausdruck und stammele etwas von Begeisterung, toller Überraschung und unvergesslichem Liebesbeweis. Meine Gäste haben schon eine ganze Weile auf mein Erscheinen gewartet und sich die Zeit mit viel Alkohol und dem Auseinandernehmen des kalten Büffets vertrieben. Ich werde umarmt, geherzt, geküsst und gedrückt, bekomme jede Menge sinniger und unsinniger Sprüche zum Thema Älterwerden zu hören und versuche mich einem Stimmungslevel anzupassen, das nur mit drei Gläsern Schampus zu erreichen ist. Auf der Suche nach Cornfeld und Alexandra läuft mir im 248 Flur Rebbelmeier in die Arme. »Hallo Frau Petry, alles Liebe zum Geburtstag.« Wer hat den denn eingeladen? In seinem nagelneuen Jogginganzug ist er mit Abstand die peinlichste Erscheinung des ganzen Abends. Aber er kann sich noch steigern. »Frau Petry, ich wollte Sie noch einmal wegen der Halskette Sie wissen schon.«
Das darf doch nicht wahr sein. Jetzt fängt er schon wieder mit diesem Quatsch an. Ich berufe mich auf meine Gastgeberinnenpflichten und lasse ihn stehen. Ich muss Cornfeld finden. Während ich durch die Zimmer laufe, weiterhin Hände schüttele und Glückwünsche entgegennehme, versuche ich seiner habhaft zu werden. Ich erwische ihn in der Küche. »Cornfeld, vielen Dank für dieses gelungene Fest. War das Ihre Idee?« »Nein, Ihre.« Er freut sich tierisch über den Gag und gackert wie ein Huhn über ein besonders großes Ei. Ein eindeutiger Hinweis darauf, dass sein Alkoholspiegel schwindelerregende Höhen erreicht haben dürfte. »Cornfeld, ich habe ein zweistündiges Gespräch mit Isabelle Dujack hinter mir und bin anschließend noch stundenlang bei der Kripo in Frankfurt rumgesessen. Mir ist wirklich nicht nach Geburtstagsfete ...« »Sorry«, sagt er, »aber da müssen Sie jetzt durch. Sie wollten eine Überraschungsparty. Und jetzt haben Sie Ihre Überraschungsparty. Alexandra und ich hatten einen Haufen Arbeit, um das alles hier auf die Beine zu stellen ...« »Wo ist eigentlich Alexandra?« »Im Schlafzimmer. Die ist hackedicht. Hat wohl Zoff mit 249 ihrem Freund. Und dann hat sie immer noch etwas von einem Marcel gelallt, und dass sie so unglücklich ist. Ich bin echt nicht schlau daraus geworden. Auf jeden Fall hab ich sie erst einmal aus dem Verkehr gezogen und ins Schlafzimmer verfrachtet. Da kann sie sich in Ruhe ausschlafen.« »Und wo steckt Michael?«
»Der kommt später.« Herrlich, läuft ja alles nach Plan. Im Schlafzimmer finde ich Alexandra heulend auf meinem Bett. Ich setze mich zu ihr und nehme sie behutsam in den Arm. »Was hast du denn, was ist denn passiert?« »Ich habe alles falsch gemacht«, schluchzt sie. »Helge will mich verlassen, und Marcel hat sich schon seit einer Woche nicht mehr gemeldet. Jetzt verliere ich sie beide.« »Alexandra, was ist das für ein Typ in Frankfurt, dieser Marcel?« »Marcel...«, weiter kommt sie nicht. Der nächste Heulkrampf setzt ein. So sieht also der Traum vom idyllischen Familienleben aus der Nähe aus. Was habe ich sie beneidet. Um diesen liebevoll-fürsorglichen Partner, der immer für sie und das Kind da ist und der andere Frauen nur in der Rolle von Haushälterinnen, Kindermädchen und Lehrerinnen wahrzunehmen scheint. Um ihre goldige Tochter, die so wohlerzogen, talentiert und begeisterungsfähig ist, dass man sie sofort einpacken und mitnehmen möchte. Warum hat Alexandra das alles aufs Spiel gesetzt? Aus Langeweile? Wollte sie auch noch ein anderes Leben? Eines, das wild, unkontrolliert und geheimnisvoll ist? Wollte sie ihre dunkle Seite ausleben? Natürlich verstehe ich sie auch ein bisschen. Nur Mutter und Hausfrau zu spielen, kann auf Dauer wahrscheinlich 250 auch ganz schön ätzend sein. Aber alles aufs Spiel zu setzen für einen Kerl, der ihr den Kick im Bett verschafft? Also ich weiß nicht. Kopfschüttelnd betrachte ich das schluchzende Etwas. Mein Neid auf ihr Leben und ihre Erfolge löst sich in Mitleid auf.
Keiner scheint mit dem zufrieden, was er hat. Interessant ist immer nur das, was man nicht leben, was man nicht haben kann. Ich lasse Alexandra mit ihrem Kummer allein. Im Moment kann ich ohnehin nichts für sie tun. Als ich aus dem Schlafzimmer komme, steht Michael im Flur und hilft Rike aus dem Mantel. Cornfeld, der ein gutes Gespür für sich anbahnende Katastrophen hat, steht sofort neben mir. »Mein Ehrenwort, die hab ich nicht eingeladen.« »Das möchte ich Ihnen auch geraten haben.« Während mir der Kamm schwillt, sieht Rike sich neugierig in meinem Flur um. Ich kann es mir nicht verkneifen, einen Blick auf ihre Schuhe zu werfen. Niedliche kleine Füßchen hat sie. Schuhgröße 37 höchstens. Michael eilt strahlend auf mich zu. »Alles, alles Liebe zum Geburtstag«, ruft er, nimmt mich in den Arm und küsst mich auf den Mund. Dann drückt er mir einen Blumenstrauß aus halbverwelkten Gerbera und bräunlich verfärbten Margari-ten in die Hand. Den Strauß hat er an einer Tankstelle erstanden. Da wette ich drauf. »Sorry«, sagt er, »ich war die letzten Tage so im Stress, dass ich es nicht geschafft habe, dir ein Geschenk zu besorgen. Aber das hole ich nach.« Dann deutet er auf seine Cutterin. »Ich habe Rike mitgebracht. Wir kommen gerade vom Kopierwerk. Und ich dachte mir, du hast doch bestimmt nichts dagegen, wenn sie mitkommt.« 251 Ich blicke auf den halb verwelkten Blumenstrauß, sehe dann auf, zu Michael, der dicht neben Pake steht. Mustere die beiden, die schon wie ein Paar aussehen. Und im Bett wahrscheinlich längst eins sind. Und merke, wie sich etwas in mir löst. Wie Wut, Ärger und Eifersucht, Gefühle, die seit
Wochen in meinem Magen toben wie Pitbulls in einem Zwinger, wie die sich auf einmal auflösen, um einer neuen Erkenntnis Platz zu machen: Es reicht nicht, wenn ein Mann nett und hilfsbereit ist. Es reicht nicht, wenn er im richtigen Moment anruft und mich aus einem emotionalen Loch herausholt. Er muss auch treu, immer und zu jeder Zeit zuverlässig sein. Er muss zu mir stehen. Selbst dann, wenn Angelina Jolie ihn anbaggern sollte. Und erst recht, wenn es eine Rike tut. Als Rike mir die Hand entgegenstreckt, reagiere ich nicht. Verunsichert sieht sie erst mich und dann Michael an. Der begreift, dass sich da gerade ein gewaltiges Unwetter über seinem Kopf zusammenbraut und dilettiert in Schadensbegrenzung. »Ich dachte, es freut dich, wenn ich Rike mitbringe. Schließlich ist sie im Moment meine engste Mitarbeiterin und ich dachte, es wäre nett, wenn ihr euch ein bisschen näher kennenlernen würdet.« »So nah, wie ihr euch schon kennengelernt habt?«, frage ich spitz. Michael schnappt nach Luft. »Wie kommst du denn auf die Idee?« »Heute«, sage ich kalt, »ist mein Geburtstag, mein Fest, meine Veranstaltung. Und ich möchte dich bitten, deine Cutterin ans Händchen zu nehmen und zu verschwinden. Und zwar so schnell wie möglich.« Rikes Mund verzieht sich zu einem verkniffenen Strich. 252 Und Michael realisiert, dass ihm da gehörig was außer Kontrolle gerät.
»Pia, du bist überarbeitet. Du reagierst total über. Rike hat dir überhaupt nichts getan. Ich weiß wirklich nicht, was das soll.« »Du weißt genau, was das soll.« »Wenn du uns rausschmeißt, dann ...« »Genau, ganz genau. Dann ... du hast vollkommen Recht. So sollten wir es handhaben. Und tschüss.« Ich habe keine Lust mehr auf diese dämliche Diskussion und lasse die beiden stehen. Wo die Tür ist, wissen sie ja. Toller Auftritt, ich fühl mich wirklich klasse. Genau so hatte ich mir meinen Geburtstag vorgestellt. Gott sei Dank kommt Cornfeld hinter mir her gerannt. »Pia, alles okay?« Ich bleibe stehen und atme tief durch. »Ich weiß nicht«, sage ich und horche in mich hinein. Der Rausschmiss hat keinerlei Gefühlsaufruhr in mir ausgelöst. Da ist kein Schmerz. Ich fühle mich leicht und ruhig. Es war die richtige Entscheidung. Und es war der richtige Moment. »Es geht mir gar nicht mal so schlecht«, sage ich langsam. »Ich glaube, es geht mir sogar ziemlich gut.« »Das ist doch prima. Und damit das auch so bleibt, bekommen Sie jetzt erst einmal was zu trinken.« Er fasst mich bei der Hand und zieht mich hinter sich her ins Wohnzimmer, wo das kalte Büffet aufgebaut ist. Dort drückt er mir ein Glas Sekt in die Hand. Wir stoßen an und ich leere den Kelch auf einen Zug. »Auf Ihren Geburtstag«, sagt Cornfeld. »Auf Pias Geburtstag!«, ertönt es da mehrstimmig um mich herum. Ich sehe in die fröhlichen, lachenden Gesich 253 ter meiner Freunde und plötzlich wird mir ganz warm ums Herz. Ich bin beliebt, denke ich stolz. Ich habe Freunde.
Freunde, die da sind, wenn man sie braucht, die mich auffangen, wenn es mir schlecht geht, die sogar eine Überraschungsparty für mich organisieren. Und sich im Gegensatz zu meiner Mutter nicht im Datum irren. Was will ich mehr. Cornfeld packt mich an den Schultern und dreht mich zum Fenster. Dort sind meine Geschenke aufgebaut. Auf einem Beistelltisch, der unter der Flut von in schillernd buntes Papier eingepackten Päckchen und Paketen schier zusammenzubrechen droht. »Was halten Sie davon, wenn Sie die jetzt auspacken?«, fragt er. »Davon halte ich ganz viel«, sage ich strahlend und greife nach dem zweiten Glas Sekt. Gegen halb vier verlassen die letzten Gäste die Wohnung. Ich liege auf der Couch und warte auf Cornfeld, der in der Küche verschwunden ist, um mir einen Baldriantee zu kochen. »Das ist jetzt genau das Richtige für Sie«, hat er fürsorglich gesagt. Ich stopfe mir zwei Kissen in den Rücken und warte darauf, bedient zu werden. Als er mit zwei dampfenden Tassen zurück ist, machen wir es uns auf der Couch gemütlich. Den ganzen Abend haben wir keine Gelegenheit gehabt, über Isabelle zu reden. Nun, wo die nötige Ruhe eingekehrt ist, holen wir das nach und ich berichte Cornfeld, was sich in Frankfurt zugetragen hat. »Also hatten wir doch Recht«, sagt er. »Isabelle war es.« »Ja. Und sie hat es verdammt geschickt eingefädelt.« »Aber warum? Hat sie gesagt, warum sie es getan hat?« 254 »Ja. Die Adoptivmutter und Simone haben sie wohl nicht sonderlich gemocht. Und, das hat ja die Heimleiterin schon gesagt, mit Zurückweisungen konnte sie nicht umgehen.«
»Und warum will sie, dass ihr Vater in den Knast geht?« »Damit er nicht heiratet.« »Das gibt es doch nicht.« »Doch. Sie glaubt, dass sie ihn endlich ganz für sich hat, wenn er im Gefängnis sitzt. Da kann ihn ihr niemand mehr wegnehmen.« »Das hört sich nach einem Ödipus-Komplex mit vertauschten Geschlechtern an.« »Ja, eine griechische Tragödie mitten in Frankfurt.« »Aber wissen Sie, was ich auch tragisch finde?«, sagt Cornfeld. »Die Vorstellung, dass Frau Bouché jahrelang mit ihrer eigenen Tochter unter einem Dach gelebt hat und ihr nicht sagen durfte, dass sie ihre Mutter ist, sie nie in den Arm nehmen, trösten und ihr einmal einen Kuss geben durfte. Das ist doch unglaublich grausam.« »Frau Geizer hat mal erwähnt, dass Frau Bouché Isabelle besonders gern mochte, aber offensichtlich ist niemand auf die Idee gekommen, dass sie ihre leibliche Tochter sein könnte.« »Aber warum hat Dujack der Mutter seiner Tochter eine solche Situation zugemutet? Das ist doch brutal. Das muss doch ein unglaublicher emotionaler Kraftakt für sie gewesen sein.« »Der Mann ist ja nicht gerade für seine Empathie berühmt«, sage ich. »Um den Job zu machen, muss man schon ziemlich gefühlskalt sein. Wahrscheinlich fand er es einfach nur praktisch. Seine Frau brauchte eine Krankenschwester und Frau Bouché war Krankenschwester. So war das Problem schnell 255 gelöst. Vielleicht hat er sich sogar eingebildet, ihr etwas Gutes zu tun. Weil sie ja so in der Nähe ihres Kindes war.«
»Das ist alles ziemlich krank«, sagt Cornfeld und ich kann ihm nur zustimmen. Friedlich sitzen wir nebeneinander und trinken unseren Tee, dessen beruhigende Wirkung sich langsam bei mir bemerkbar macht. »Was hat die Polizei eigentlich gesagt?«, fragt Cornfeld. »Gar nichts. Die haben meine Aussage zu Protokoll genommen, meine Daten notiert und mich nach Hause geschickt. Natürlich werden sie sich des Falls annehmen. Aber was sie als nächstes tun werden oder im Detail planen, haben sie mir natürlich nicht verraten.« »Meinen Sie, es war richtig, Isabelle die Geschichte mit ihrer Mutter zu erzählen?« »Sie wühlen in Wunden«, sage ich schläfrig. »Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Während des Gesprächs war ich der Meinung, dass sie es erfahren muss. Ich glaubte, sie würde durch die Konfrontation mit ihrer Tat so eine Art heilsamen Schock erleiden. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich hätte es wahrscheinlich einem Profi überlassen sollen. Einem Psychologen, der ihr Borderlinesyndrom behandelt und der weiß, wann er ihr welche Informationen zumuten kann. Und der sie entsprechend therapeutisch begleitet.« Meine Augenlider sinken langsam auf Halbmast. »Sie ist ja auch Opfer.« »Stimmt schon«, sagt Cornfeld. »Aber vor allem ist sie Täter. Und zwar mit einem enormen Wiederholungspotential. Haben Sie sich eigentlich mal überlegt...« Ich höre schon nicht mehr zu. Der Baldriantee tut seine Wirkung. Erschöpft sinke ich zur Seite, schiebe mir ein Kis 256
sen unter den Kopf und verabschiede mich ins Reich der Träume. Am nächsten Morgen werde ich vom Fernseher geweckt. Cornfeld zappt durch sämtliche Programme. Beunruhigt sehe ich mich um. Ich habe auf der Couch geschlafen. Gut. Aber wo hat Cornfeld ...? Dann sehe ich einen Verhau von Kissen und Wolldecken auf dem Fußboden und bin beruhigt. Seine Zapperei geht mir allerdings langsam auf die Nerven. »Was machen Sie denn da?« »Ich suche ntv. Wegen der Aktienkurse.« Noch bevor ich mich darüber aufregen kann, sehe ich plötzlich eine Halskette in Großaufnahme auf dem Bildschirm. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich wieder weiß, woher ich sie kenne. »Cornfeld, gehen Sie zurück. Ja, noch einen Kanal. Gut so. Stopp.« Die Kette ist immer noch zu sehen, und es ist eindeutig dieselbe, die Rebbelmeier im Keller gefunden hat. In der nächsten Einstellung wird das entstellte Gesicht eines toten Mädchens gezeigt. »... Die Leiche der neunzehnjährigen Tina Lehmann wurde am frühen Morgen von einer Spaziergängerin in Ovelgönne am Elbstrand gefunden. Die Polizei vermutet, dass die Tote schon drei Tage im Wasser gelegen hat und heute Morgen durch die einsetzende Flut angespült worden ist. Laut Obduktionsbericht war das Mädchen bereits tot, als es in die Elbe geworfen wurde. Ob es sich um ein Sexualverbrechen handelt, konnte bisher noch nicht festgestellt werden. Tina Lehmann war mit einer Jeans und einem weißen T-Shirt bekleidet. Vor ihrem Verschwinden trug sie eine auffällige Lapislazulikette. 257
Diese Kette konnte bisher nicht sichergestellt werden. Die Polizei bittet um Hinweise aus der Bevölkerung. Wer diese Halskette nach dem ...« »Cornfeld.« »Ja.« »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.« Mein Assistent beginnt wieder mit dem Schnelldurchlauf sämtlicher Programme. »Die gute bitte zuerst.« »Ich glaube, wir haben einen neuen Fall.« »Prima! Und die schlechte?« »Keiner wird uns dafür bezahlen.« Endlich legt Cornfeld die Fernbedienung aus der Hand und dreht sich zu mir um. »Eigentlich wollte ich Sie ja fragen, ob ich nicht als Partner bei Ihnen einsteigen kann. Aber bei den Einkommenserwartungen ...« Da meldet mein Handy mit einem durchdringenden Piepston den Eingang einer SMS. Als ich die Taste mit dem kleinen grünen Briefumschlag drücke, taucht die Textnachricht im Display auf: Liebe Pia, der Tee wird langsam kalt. The one and only: Norman. Daneben ein mir zuzwinkerndes Smiley. Mir bleibt aber auch nichts erspart, denke ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Erstaunt registriere ich, dass mein Herz ziemlich schnell und ziemlich laut klopft. Was soll das denn bedeuten? Warum freue ich mich so über die SMS? Und wie ist Norman überhaupt an meine Handynummer gekommen? Schon allein um das herauszufinden, werde ich ihn wohl zurückrufen müssen. Immer noch grinsend lege ich mein Telefon beiseite. »Was ist jetzt mit der Partnerschaft?«, fragt Cornfeld. »Sorry, aber ich brauche keinen Partner.« 258
»Wie wäre es mit einem Mann? Sie sind doch wieder solo. Und ich wäre bereit, mich zu opfern.« »Das ist aber lieb von Ihnen. Ich schreibe Sie gerne auf meine Liste. Auf Position 687.« »Na, dann bin ich ja in zwei Wochen dran.« »Ein wenig länger werden Sie wohl warten müssen«, sage ich, schenke ihm ein zuckersüßes Lächeln und greife unauffällig hinter mich. Das erste Kissen fegt ihm die Brille von der Nase ...