Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Beiträge zum ausländischen öffentlichen Rech...
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Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht
Begründet von Viktor Bruns
Herausgegeben von Armin von Bogdandy · Rüdiger Wolfrum
Band 198
Felix Hanschmann
Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft Zur These von der Notwendigkeit homogener Kollektive unter besonderer Berücksichtigung der Homogenitätskriterien „Geschichte“ und „Sprache“ The Concept of Homogeneity and its Usage in Constitutional Law and Community Law – On the Thesis of the Necessity of a Homogeneous Community – (English Summary)
ISBN 978-3-540-79137-9
Springer Berlin · Heidelberg · New York
e-ISBN 978-3-540-79138-6
DOI 10.1007/978-3-540-79138-6
Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht ISSN 0172-4770 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © by Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2008 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Herstellung: le-tex publishing services oHG, Leipzig Einbandgestaltung: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier 987654321 springer.de
Vorwort Exponiert ausgesprochene Danksagungen tragen immer die Gefahr in sich, ins Peinliche abzugleiten, sowohl für den, der den Dank ausspricht, als auch für diejenigen, denen der Dank gilt. Vielleicht liegt in jener Angst vor Peinlichkeit begründet, dass, wie Stefan Zweig einmal über Dankbarkeit schrieb, gerade die Dankbarsten nicht den Ausdruck für ihre Dankbarkeit finden, „sie schweigen verwirrt, sie schämen sich und tun manchmal stockig, um ihre Gefühle zu verbergen.“ Da ich jedoch gegenüber den im Folgenden genannten Personen zweifellos zu den Dankbarsten gehöre und ein Vorwort die seltene Gelegenheit bietet, sich öffentlich zu bedanken, durchbreche ich das verwirrte Schweigen und überwinde meine Scham. Bei Herrn Prof. Günter Frankenberg, an dessen Professur ich beinahe vier Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter und zuvor als studentische Hilfskraft gearbeitet habe, möchte ich mich mit einem Zitat bedanken, das viel besser als meine eigenen Worte geeignet ist, sowohl die von ihm geschaffene außergewöhnliche Arbeitsatmosphäre als auch seinen Einfluss auf mich zu beschreiben: „Die wahren Lehrer, so sein Glaubenssatz, sind jene, die euch unterschiedliche Wahrheiten beibringen.“ Seine intellektuelle Beweglichkeit, seine theoretisch durchdachte und praktisch geübte Toleranz und die immer vorhandene Bereitschaft zum Gespräch sind mir Vorbild und haben mich sehr geprägt. Herrn Prof. Erhard Denninger, dessen Vorlesungen über Verfassungsrecht und Verfassungstheorie dafür verantwortlich sind, dass mich das öffentliche Recht und theoretische Fragestellungen zu Beginn des Studiums begeistert und in der Folge nicht mehr losgelassen haben, danke ich für die zügige Anfertigung des Zweitgutachtens und für die Begeisterung, die er dem Thema entgegen gebracht hat. Seine Offenheit gegenüber neuen Gedanken sowie die Fähigkeit, sich auch von verfestigten Denkpositionen wieder lösen zu können, haben mich immer wieder tief beeindruckt. Herrn Prof. Armin von Bogdandy möchte ich für die intellektuell äußerst anregende Zeit danken, die ich während der Arbeit an seiner Professur in Frankfurt am Main und später am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg genießen durfte. Danken aber auch für sein über mein Beschäftigungsverhältnis hinausgehendes Interesse an der Arbeit, das in anregenden und hilfreichen Gesprächen zum Ausdruck kam. Ihm und Herrn Prof. Rü-
VI
Vorwort
diger Wolfrum danke ich darüber hinaus für die freundliche Aufnahme der vorliegenden Arbeit in die Schriftenreihe „Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht“. Prof. Michael Stolleis hat nicht nur Teile der Arbeit gelesen und kritisch kommentiert, sondern mir darüber hinaus auch die Möglichkeit gegeben, die wesentlichen Thesen aus dem Kapitel über Geschichte und Homogenität im Doktorandenseminar am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main vorzutragen und der Kritik eines fachkundigen Publikums auszusetzen. Letzteres hat mir wiederholt auch Prof. Christian Joerges vom Europäischen Hochschulinstitut in Florenz ermöglicht, dem ich hierfür ebenfalls danken möchte. Prof. David Kennedy, der mir die Möglichkeit gegeben hat, ein Jahr am European Law Research Center der Harvard Law School zu verbringen und dort unter anderem das Kapitel über den Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht zu vollenden, gilt gleichfalls mein Dank. Wenn auch nicht unmittelbar, so doch auf verschlungenen Wegen haben sich in der Arbeit zwei weitere Kreise niedergeschlagen, deren Teilnehmer ich nicht nur aufgrund ihres kritischen Fragens und ihres beweglichen Denkens schätze. Zu nennen sind zum einen der Arbeitskreis Recht und Sprache in Mannheim, der mir durch Prof. Thomas-Michael Seibert und Dr. Dr. Ralph Christensen eröffnet wurde. Zum anderen der „Enten-Zirkel“ in Frankfurt am Main mit den beiden zuletzt genannten sowie Stefan Häußler und Matthias Kronenberger. Danken möchte ich nicht zuletzt meinen Kollegen am Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sie haben in zahlreichen Gesprächen und Diskussionen inhaltlich zur Arbeit beigetragen. Zu nennen sind insbesondere: Nina Malaviya, Dr. Sonja Buckel, Dr. Alexander Hanebeck, Dr. Andreas Fischer-Lescano, Dr. Rainer Nickel, Dr. Dr. Fabian Steinhauer, Timo Tohidipur und Prof. Peer Zumbansen. Bedanken möchte ich mich auch bei der Studienstiftung des deutschen Volkes, ohne deren finanzielle Hilfe in Form eines Promotionsstipendiums ich die Arbeit nicht hätte schreiben können. Gleiches gilt für Sandra Hanschmann, die meine gelegentlichen Launen beim Schreiben der Arbeit aushalten musste und ohne deren Unterstützung die Arbeit nicht fertig geworden wäre. Schließlich gilt mein Dank Verena Schaller-Soltau, die mit großer Geduld die nicht geringe Mühe auf sich genommen hat, diese Arbeit in ein publikationsfähiges Format zu bringen.
Vorwort
VII
Gewidmet ist die Arbeit meiner Frau Wiebke und meinen beiden Kindern, Alanis und Milosch, die ich liebe. Frankfurt, im Februar 2008
Felix Hanschmann
Inhaltsverzeichnis Einleitung ..................................................................................................1 I.
Erläuterungen zum Begriff der Homogenität...................................4
II.
Verfassungstheoretischer und verfassungsrechtlicher Kontext.................................................................................................6
III. Simplifizierungen und Diskreditierungen .......................................11
1. Kapitel: Herausforderungen für den Begriff der Homogenität ..........................................................................................15 I.
Versuch einer soziologischen Analyse moderner Gesellschaften ....................................................................................15
II.
Demographie und Migration............................................................21
III. Globalisierungsprozesse und Europäische Integration..........................................................................................25 1. Globalisierung..............................................................................26 2. Europäische Integration ..............................................................28 a. Europäische Integration und Legitimation..........................30 b. Europäische Legitimation und „Europäisches Volk“ .......................................................................................34 c. Der Begriff der Homogenität: „Europäisches Volk“ .......................................................................................36
2. Kapitel: Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität ...................................................................................41 I.
Homogenität und außerrechtliche Demokratievoraussetzungen ............................................................41
X
II.
Inhaltsverzeichnis
Homogenität und Mehrheitsprinzip................................................48 1. Erläuterungen zum Mehrheitsprinzip........................................48 2. Akzeptanz und Folgebereitschaft...............................................51 3. Voraussetzungen und Bedingungen der Anwendung des Mehrheitsprinzips........................................................................53 4. Homogenität als Bedingung der Anwendung des Mehrheitsprinzips........................................................................55 5. Diskussion und Kritik .................................................................59 a. Mögliche Konfliktlinien ........................................................60 b. Vermeidung struktureller Minderheiten ..............................62 c. Grundrechte und Minderheitenschutz.................................64 d. Pragmatische Kompetenzverteilungen und Stimmengewichtung...............................................................67 e. Politische Partizipation..........................................................68 6. Schlussfolgerungen ......................................................................69
III. Homogenität und transnationale Demokratie ................................70 1. (Un-)Möglichkeiten supra- und transnationaler Demokratie...................................................................................71 2. Diskussion und Kritik .................................................................75 a. Mangelnde Bestimmbarkeit: Unklare Volkswerdungsprozesse.........................................................75 b. Statische Position: Herausforderungen der Globalisierung ........................................................................79 c. Konzepte multipler Demoi und transnationaler Angehörigkeiten ..........................................85 (1) Multiple Demoi..............................................................85 (2) Entkopplung des Demos vom Ethnos: Transnationale Angehörigkeiten...................................88 IV. Homogenität und politische Einheitsbildung .................................96 1. Historische und verfassungstheoretische Hintergründe ...............................................................................97 2. Einheit und Homogenität ...........................................................98 3. Diskussion und Kritik ...............................................................104 a. Homogenität als inadäquate Wirklichkeitsbeschreibung ..................................................104 b. Einheit und funktionale Differenzierung...........................108 c. Demokratietheoretische Bedenken.....................................110
Inhaltsverzeichnis
V.
XI
Homogenität und Zusammengehörigkeit, kollektive Identität ............................................................................................113 1. Homogenität als Voraussetzung und Grundlage eines Zusammengehörigkeitsgefühls .................................................113 2. Diskussion und Kritik ...............................................................116 a. Zur Emergenz kollektiver Identitäten................................116 b. Multiple Identitäten .............................................................120 c. „Zusammengehörigkeit“, „kollektive Identität“ und funktionale Differenzierung.......................122
VI. Homogenität und Harmonie, Stabilität, Befriedung ....................125 1. Homogenität als Grundlage von Harmonie und Stabilität ....125 2. Negativbeispiele.........................................................................130 3. Diskussion und Kritik ...............................................................132 a. Unterkomplexe Konfliktbeschreibung ..............................132 b. Homogenität als Entpolitisierungsstrategie.......................134 VII. Objektivierung, Naturalisierung und Substantialisierung von Homogenitätskriterien ...........................137 1. Objektivierung, Ontologisierung, Naturalisierung und Substantialisierung .....................................................................137 2. Diskussion und Kritik ...............................................................140 a. Konstruktionselemente: Mangelnde Bestimmbarkeit und Erklärungskraft.................................141 b. Demokratietheoretische Folgen: Ontologie statt Politik ...........................................................................144
3. Kapitel: Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien ......................................................................149 I.
Homogenität und Geschichte ........................................................149 1. Begriffsverständnisse und unterstellte Wirkungen..................149 2. „Europäische Geschichtsgemeinschaft“ ..................................154 3. Erläuterungen zum Geschichtsbegriff .....................................159 a. Holistisches, objektivistisches und statisches Geschichtsverständnis .........................................................160 b. Interdisziplinäre Seitenblicke..............................................164 (1) Geschichtstheoretische Erkenntnisse.........................165 (2) Erkenntnistheoretische Aufklärungen .......................170 (3) Konstruktive Elemente nationaler Geschichte..........174
XII
Inhaltsverzeichnis
4. Schlussfolgerungen ....................................................................179 II.
Homogenität und Sprache ..............................................................183 1. Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie.................................186 a. Zur Argumentation Dieter Grimms ...................................186 b. Rechtswissenschaft, Politologie und Soziologie..............................................................................190 2. Zur Diagnose: Europäische Öffentlichkeit..............................196 a. Sprachliche Heterogenität ...................................................197 b. Gegenbeispiele: Schweiz, Belgien etc. ................................200 c. Defizite einer europäischen Öffentlichkeit ........................204 3. Zum Begriff der Öffentlichkeit ................................................207 a. Funktionen von Öffentlichkeit ...........................................208 (1) Er- und Vermittlung von Interessen...........................208 (2) Legitimation und Kontrolle........................................211 (3) Integration und Identität.............................................214 b. Hindernisse beim Denken europäischer Öffentlichkeit .......................................................................215 (1) Nationalismus, Sprache und Öffentlichkeit ..............215 (2) Übertragung nationalstaatlicher Modelle ..................219 (3) Idealisierung nationaler Öffentlichkeiten ..................220 (a) Inhaltliche Restriktionen nationaler Öffentlichkeiten ..................................................221 (b) Segmentierung und Fragmentierung .................222 4. Entstehungsbedingungen europäischer Öffentlichkeiten ......226 a. Übersetzungsleistung der Medien ......................................227 b. Stärkung von Einflussmöglichkeiten ..................................229 c. Registrierung von Betroffenheiten .....................................230 d. Transparenz europäischer Politik .......................................232 e. Personalisierung und Verantwortungszuschreibung .............................................233 f. Institutioneller Vorlauf ........................................................235 5. Schlussfolgerungen ....................................................................236
4. Kapitel: Der Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht ................................................................239 I.
Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 EU: „Verfassungshomogenität“ .............................................................240 1. Begriffsverständnis: föderalistisch und rechtlich.....................241 2. Plausibilität einer „Verfassungshomogenität“ .........................246
Inhaltsverzeichnis
II.
XIII
Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 EU: „Grundwertehomogenität“ ............................................................251 1. Grundwerte, Wertegemeinschaft und Werteordnung.............252 2. Zwischenbetrachtung ................................................................257 3. Diskussion und Kritik ...............................................................258 a. Ungeklärte Begriffe..............................................................259 b. Werte und Integration..........................................................261 c. Gefahr der Ethisierung und Moralisierung von Konflikten.............................................................................268 d. Werte als semantisches Surrogat für demokratische Legitimation?..............................................271 e. Diversitätsanforderungen im europäischen Primärrecht ...........................................................................275
III. „Europäischer Staat“ im Sinne des Art. 49 EU.............................276 1. 2. 3. 4.
Interpretation des Tatbestandsmerkmals „europäisch“..........277 Unbestimmbarkeit und politische Dezision? ..........................277 „Europa“ als homogene Gemeinschaft ....................................279 Diskussion und Kritik ...............................................................284 a. Bestimmbarkeitsprobleme...................................................284 (1) Geographische Kriterien .............................................284 (2) Historisch-kulturelle Kriterien...................................287 b. Vernachlässigung rechtlicher Kriterien ..............................290 c. Exkludierende Tendenzen ...................................................292
5. Kapitel: Abschied vom Begriff der Homogenität .................297 Summary................................................................................................303 Literaturverzeichnis ...........................................................................317 Sachregister ...........................................................................................365
Einleitung Im Zentrum der Arbeit steht der Begriff der Homogenität im Kontext jener verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Positionen, die die sozialstrukturelle Homogenität von Kollektiven mit demokratietheoretischen Prämissen, Annahmen und Thesen verbinden. Darüber hinaus wird in einem gesonderten Kapitel auf die Verwendung und die Bedeutungsweisen des Begriffs der Homogenität unter Bezugnahme auf Normen des europäischen Primärrechts eingegangen. Diesbezüglich konzentriert sich die Arbeit auf die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, wie sie in Art. 6 Abs. 1 und 2 EU normiert sind, auf den in Art. 7 EU vorgesehenen Sanktionsmechanismus, sowie die in 49 Abs. 1 EU geregelten Voraussetzungen für einen Beitritt zur Europäischen Union. Nach einer kurzen Darstellung der aktuellen Herausforderungen, denen jene Positionen ausgesetzt sind, die auf eine sozialstrukturelle Homogenität rekurrieren, werden im umfassendsten Teil der Arbeit die einzelnen Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität beschrieben, die Kontexte und Begründungen illustriert, in und mit denen der Begriff eingesetzt wird, und die rechtlichen und politischen Wirkungen, die der sozialstrukturellen Homogenität eines Kollektivs in der deutschen Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft zugeschrieben werden, erörtert. Schon bei der Darstellung der einzelnen Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität, die auf die außerrechtlichen Demokratievoraussetzungen im allgemeinen und die Anwendbarkeitsvoraussetzungen des Mehrheitsprinzips im besonderen, die politische Einheitsbildung, die (Un-)Möglichkeiten transnationaler Demokratie, die Emergenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls bzw. die Herausbildung einer kollektiven Identität und auf die Harmonisierung, Stabilisierung und Befriedung einer politischen Gemeinschaft zielen, werden diese dem Begriff der Homogenität gegebenen Inhalte sowie die dafür bemühten Begründungen einer kritischen Betrachtung ausgesetzt. Der unvermeidlich interdisziplinäre Charakter ergibt sich daraus, dass die mit dem Begriff der Homogenität gegebenen Antworten auf die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit überhaupt von einem Volk als Legitimationssubjekt gesprochen werden kann, häufig den
Einleitung
2
„Bereich des Juristischen verlassen“1, offen oder verdeckt sozialwissenschaftliche, psychologische, anthropologische, historische oder auch medientheoretische Argumente benutzen und nicht selten zu inhaltlichen Bestandteilen normativer Konstruktionen wandeln. Ein besonderer Fokus richtet sich daher darauf, wann Argumente aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen über den Begriff der Homogenität in den juristischen Diskurs eingeführt werden und ob die Verwendung jener Argumente plausibel ist.2 Hierbei werden Grenzziehungen, die mit dem Begriff der Homogenität vor allem über Kriterien wie Sprache, Kultur, Geschichte oder Religion erfolgen, sowohl hinsichtlich ihres inklusiven als auch exklusiven Charakters erörtert. Aus einer inklusiven Perspektive wird untersucht, welche Rolle dem Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre für die Herausbildung eines Zusammengehörigkeitsgefühls und die soziale Integration eines Kollektivs eingeräumt wird. Der exklusive Moment wird insoweit analysiert, als die jeweiligen Kriterien der Grenzziehungen, die mit dem Begriff der Homogenität transportiert werden, offen gelegt und näher untersucht werden. Besondere Beachtung wird, weil diese nicht nur in der aktuellen rechtswissenschaftlichen Diskussion am häufigsten genannt und am ausführlichsten diskutiert werden, im Anschluss den Kriterien der Geschichte und der Sprache gewidmet. Der Anspruch, die genannten Homogenitätskriterien zu analysieren und ihre Plausibilität zu prüfen, indiziert bereits, dass es weder dahinter liegende Absicht noch Aufgabe dieser Arbeit ist, sich auf die Suche nach homogen strukturierten Kollektiven zu machen und etwa unter Rückgriff auf empirisches Material der Frage nachzugehen, inwieweit sich die Europäische Union auf ein homogenes Kollektiv als Legitimationssubjekt berufen kann oder eben nicht. In methodologischer Perspektive erscheint es problematisch, bezogen auf die einzelnen Kriterien wie Sprache, Geschichte oder Kultur zu untersuchen, ob homogene Strukturen auch auf europäischer Ebene bereits zu finden sind, um erst im Anschluss hieran festzustellen, dass die Forderung nach Homogenität und/oder das jeweils herangezogene Kriterium selbst fragwürdig sind.3 Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich
1
O. Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, 366, 375. 2
Dies gilt insbesondere für die im wissenschaftlichen Diskurs verwendeten Geschichtsbegriffe, siehe hierzu: 3. Kapitel, I. Homogenität und Geschichte. 3
Diesen Weg wählt beispielsweise A. Augustin, Das Volk der Europäische Union, 2000, passim, indem sie umgehend auf die Frage eingeht, ob die für den
Einleitung
3
vielmehr mit der Frage, ob diejenigen außerrechtlichen Bedingungen und Voraussetzungen, die mit dem Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre transportiert werden, wirklich zwingend erforderlich sind, damit die demokratische Organisation eines Gemeinwesens möglich ist und dauerhaft gelingen kann. Selbst wenn man die Notwendigkeit außerrechtlicher und im Sozialen verorteter Voraussetzungen für die Verwirklichung von Demokratie anerkennt, ist damit noch nicht gesagt, dass es gerade die mit dem Begriff der Homogenität beschriebenen Voraussetzungen sind bzw. sich solche Voraussetzungen mit dem Begriff der Homogenität adäquat beschreiben lassen, d.h. im Ergebnis Demokratie tatsächlich nur möglich ist auf der Grundlage und unter der Voraussetzung des Vorhandenseins eines homogen strukturierten Demos.4 Volksbegriff vermeintlich unabdingbaren Merkmale wie gemeinsame biologische Abstammung, Verbundensein im gemeinsamen Schicksal, gemeinsame Sprache, Existenz eines gemeinsamen Kommunikationsraumes, gemeinsame Kultur oder Geschichtsgemeinschaft auch für die EU gegeben sind, ohne zuvor die Plausibilität dieser Kriterien zu erörtern. Auch wenn Augustin, ebd., 114, darauf hinweist, dass „die kritische Frage nach der Leistungsfähigkeit dieser Merkmale [immer] im Hintergrund“ steht und sie bei einzelnen Merkmalen – beispielsweise bei der „Abstammungsgemeinschaft“ oder der „Übereinstimmung der Lebensbedingungen und –stile“ – in aller Kürze die Untauglichkeit oder Fragwürdigkeit des jeweiligen Merkmals bzw. die Unmöglichkeit, ein „Maß“ oder „konkrete Abgrenzungskriterien“ zu definieren, feststellt, so drängt sich angesichts des Aufwandes, der zuvor für den Nachweis homogener Strukturen betrieben wurde, der Eindruck auf, es handele sich bei der Frage nach der Plausibilität der Homogenitätsanforderungen und -kriterien um eine sekundäre oder zu vernachlässigende Frage. Andererseits kann man mit dieser Vorgehensweise denjenigen, die unter Berufung auf eben jene Merkmale die Existenz eines europäischen Volkes verneinen, entgegenhalten, dass das Nichtvorliegen der genannten Merkmale auf europäischer Ebene nicht so eindeutig ist, wie gemeinhin behauptet wird. 4
Die besondere Frage nach einer optimalen oder maximalen Größe eines demokratischen Gemeinwesens, die infolge der aktuellen Globalisierungsschübe von großer Bedeutung ist, kann in der vorliegenden Arbeit nur insoweit behandelt werden, als eine größere Anzahl von Personen eine größere Heterogenität indiziert. Zum problematischen Zusammenhang zwischen demokratischer Organisation, der Größe politischer Einheiten und dem Begriff der Homogenität, siehe bereits: H. Heller, Europa und der Fascismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 463, 467 f., demzufolge „die demokratische Staatsexistenz um so problematischer [ist], je größer der Kreis der Mitbestimmenden und je geringer die vorgegebene Einheit.“ Für die Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert beschreibt H. Maier, Zur neueren Geschichte des Demokratiebegriffs, in: Beyme,
Einleitung
4
Im 4. Kapitel löst sich die Analyse schließlich zunächst von einem über kulturelle, geschichtliche oder sprachliche Kriterien begründeteten Homogenitätsbegriff. Anhand einzelner Normen des europäischen Primärrechts wird untersucht, mit welchen Argumentationsweisen der Begriff der Homogenität in den europarechtlichen Diskurs eingeführt wird und welche Bedeutungsgehalte der Begriff dabei annimmt. Dabei werden semantische Unterschiede zwischen einem sozialstrukturell begründeten Homogenitätsbegriff einerseits und einem auf das europäische Primärrecht bezogenen Homogenitätsbegriff andererseits deutlich gemacht, aber auch Ähnlichkeiten, vor allem hinsichtlich der der postulierten Homogenität zugeschriebenen Wirkungen, herausgearbeitet.
I. Erläuterungen zum Begriff der Homogenität Der Bedeutungsgehalt der Semantik der Homogenität kann mit den Synonymen Gleichartigkeit, Einheitlichkeit, Geschlossenheit umschrieben werden. Etymologisch verweist das Adjektiv „homogen“, welches mit gleich[artig] gleichmäßig, übereinstimmend oder aus Gleichartigem übersetzt werden kann, auf das griechische Wort „homós“, welches als Präfix mit der Bedeutung gemeinsam, derselbe, gleich oder ähnlich verwendet wird. Das ebenfalls aus dem Griechischen kommende Wort „homogenés“ meint gleichen Geschlechts, verwandt oder auch gleicher Herkunft.5 Der Begriff der Homogenität zeichnet sich insofern durch eine auffüllungsbedürftige Leere aus, als ihm erst dann ein konkreter Sinn entnommen werden kann, wenn festgestellt wird, in Bezug auf welches Kriterium etwas homogen ist.6 Juristen ist jene Notwendigkeit eines Vergleichspunktes, der das Gemeinsame zweier verschiedener, miteinander verglichener Gegenstände oder Sachverhalte markiert, das sog. „tertium comparationis“, von Art. 3 GG bekannt. Will man mit dem Klaus von (Hrsg.), Theorie und Politik, 1971, 127-161, die Diskussionen über die Relationen zwischen Demokratie und Größe politischer Gemeinschaften. Aus neuerer Zeit: J. Derrida, Politik der Freundschaft, 2000, 9 ff., 17 ff. 5
F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 2002, 420; W. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2000, 553. 6
E.-W. Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2000, 103, 112, hält daher zutreffend fest, dass der Begriff der Homogenität „ein aus sich heraus noch recht abstrakter Begriff“ ist.
Einleitung
5
Begriff der Homogenität beispielsweise eine Vielfalt von Individuen als Einheit in dem Sinne erkennen, dass ihre Einheit aus dem Teilen von Gemeinsamkeiten resultiert, d.h. alle Angehörigen des spezifischen Kollektivs etwas gemeinsam haben, muss man sagen können, in welcher Hinsicht bzw. in Bezug auf welches Kriterium die Individuen als homogen bezeichnet werden können. Für eine Verdeutlichung des Relationsbedürfnisses, welches dem Begriff der Homogenität eigen ist, kann auf Ausführungen Konrad Hesses zum Begriff der Gleichheit zurückgegriffen werden. Abstrakt hat Hesse jenes Relationsbedürfnis, das mit den Begriffen Homogenität/Gleichheit logisch zwingend verbunden ist, dahingehend beschrieben, dass „die logische Grundvoraussetzung des Gleichheitsurteils eine Mehrheit von Objekten ist, die von der Wahrnehmung des Urteilenden als solche unterschieden werden können.“ Im Unterschied zur Identität, „deren Voraussetzung nur ein Objekt ist“, weist Homogenität/Gleichheit „ein „Verhältnis“ in dem Verschiedenes zueinander steht“ auf. Die Feststellung, etwas sei homogen/gleich, ist demnach „das Ergebnis der gedanklichen Tätigkeit, welche ihre Objekte miteinander in Beziehung setzt, sie vergleicht. Hierbei können die Objekte nie in toto aufeinander bezogen werden, sondern nur in bestimmten Beziehungen, im Hinblick auf eine mehr oder minder große Zahl von Eigentümlichkeiten. Wir können zwei Dinge nicht als gleich bezeichnen, ohne anzugeben, in welcher Hinsicht sie gleich sind. Diese Hinsicht, das unerlässliche „tertium comparationis“, muss identisch sein. Das Gleichheitsurteil kann daher nie schlechthin, sondern nur hinsichtlich bestimmter, auf ihre Übereinstimmung geprüfter Eigenschaften und Verhältnisse ausgesprochen werden. Die Übereinstimmung kann sich auf ein Merkmal, wenige oder eine überwiegende Mehrzahl von Merkmalen erstrecken.“7 Impliziert der Begriff der Homogenität demnach aber immer eine „dreistellige Relation, in der a und b bezüglich der Eigenschaft E gleich sind“8, stellt sich die Frage, nach dem spezifischen Charakter des Kriteriums, welches zur Begründung von Homogenität herangezogen wird.9
7
K. Hesse, Der Gleichheitssatz im Staatsrecht, AöR 77 (1951/52), 167, 172 und 173. 8 9
M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, 50.
Für Hesse, Der Gleichheitssatz im Staatsrecht (Fn. 7), 176, ist denn auch die „Hauptfrage [...] die, welches dieser Gesichtspunkt sein soll, der über Gleichheit oder Ungleichheit der faktischen Voraussetzungen entscheidet.“ Ähnlich auch Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik (Fn. 1), 366, 378 f., demzufolge zwar „die Maßgabe der Identität [...]
Einleitung
6
II. Verfassungstheoretischer und verfassungsrechtlicher Kontext Homogenität als Begriff dringt – noch ohne Rücksicht auf die verschiedenen Bedeutungen, die dem Begriff von Juristen gegeben werden und ungeachtet der Kontexte, in denen er in der Rechtswissenschaft verwendet wird – in den juristischen Diskurs über das Problem der Legitimität politischer Organisationen ein. Moderne Verfassungen können, nachdem eine in der Transzendenz verortete göttliche Instanz an Glaubwürdigkeit verloren hat und als legitimationsstiftende Quelle zerfallen ist, nachdem monarchische Autorität und Souveränität erst erodiert und dann vollständig zum Verschwinden gebracht wurde, nachdem als sakrosankt verstandene und im Naturrecht wurzelnde Traditionen und (Rechts-)Prinzipien dekonstruiert wurden und nachdem schließlich der Versuch gescheitert ist, unter Verweis auf das privilegierte Wissen einer avantgardistischen Elite Herrschaftsausübung zu rechtfertigen, ihre Legitimation nur noch aus der Berufung auf das „Volk“ beziehen. Der Rechtfertigungsbedarf, der die Implementierung von Verfassungen und die Etablierung politischer, Herrschaftsrechte wahrnehmender Systeme begleitet, kann nur noch dadurch bedient werden, dass beim Gründungsakt an das Volk als souveränes und Legitimität stiftendes Subjekt appelliert bzw. dieses im Verfassungstext explizit genannt wird. „Die Funktion des „Volkes“, auf das ein Staat sich beruft, ist immer die“, so Friedrich Müller, „ihn zu legitimieren.“10 Selbst wenn, wie im Falle des Grundgesetzes, eine Verfassung „ohne einen einigermaßen gehaltvoll-demokratischen Prozess der Verfassungsgebung – ausgestaltet als kollektive Selbstbestimmung oder als Vermittlung“11 in Kraft gesetzt wird, muss die – in diesen Fällen wahrheitswidrige – Rede von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes auf semantischer Ebene gewahrt werden.12 Darin kommt das seit der französischen Reals substantielle Gleichheit definiert, nicht aber begründet [wird]. Die Begründung liegt im Kriterium dessen, was die Substanz der Gleichheit ist.“ 10
F. Müller, Wer ist das Volk?, 1997, 37.
11
G. Frankenberg, Pluralität verfassen, in: ders., Autorität und Integration, 2003, 73, 109. 12
Mit einem solchen »Geburtsfehler« ist allerdings noch nicht gesagt, dass es einer Verfassung, die nicht demokratisch in Kraft gesetzt worden ist, auch an Legitimität mangelt. Vielmehr kann die bei der Verfassungsgebung erfolgte bloß metaphorische Berufung auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkes auf verschiedenen Wegen „aktualisiert“ bzw. „geheilt“ werden. Ob es sich bei diesen
Einleitung
7
volution, in der „von Gottes Gnaden König von Frankreich und Navarra“ Ludwig der XVI am 21. Januar 1793 auf dem Place de la Revolution erfolglos „ein letztes Mal der johlenden Menge und dem Henker das Kruzifix entgegen[hält]“ und „damit die Präsenz des Göttlichen und seine Unantastbarkeit als Repräsentant einer jenseitigen Macht“13 beschwört, herrschende „demokratische Dogma“14 zum Ausdruck, demzufolge „allein jene Verfassung ihren Namen verdiene, die aus dem Willen des Volkes hervorgegangen sei, und dass das Volk über die originäre und unverlierbare Potenz verfüge, die Verfassung hervorzubringen, ihr Inhalt und Geltung zu verschaffen, sie zu wahren oder aufzuheben. Diese Potenz ist die verfassungsgebende Gewalt. Das Volk, und allein dieses, gilt als der wahre Verfassungsgeber. Das Volk besetzt hier die Stelle, die im Mittelalter Gott zuerkannt wurde, als Urgrund der politischen Ordnung, nicht aber deren Geschöpf, als Erzeuger des Rechts, nicht aber dessen Untertan. Die theonome Rechtfertigung ist der demokratischen gewichen, weil der Staat sich nur noch als säkulare Einrichtung versteht und seinen Sinn im Horizont des Diesseits finden und ausweisen muss.“15 Zeitlich und inhaltlich über den Moment der Verfassungsgebung hinaus wirkt der Bezug auf das Volk insofern, als die konstitutionellen Akteure mit eben jener Übernahme der Volkssouveränität in den Verfassungstext die demokratische Idee der Selbstgesetzgebung in das politische und rechtliche System einer Gesellschaft einschreiben und deren Umsetzung für die Zukunft fordern. Proklamiert die Verfassung Selbstgesetzgebung und verbindet sie diesen Anspruch u.U. verfahrenstechnisch mit der Einführung des Mehrheitsprinzips, dann kommt der Antwort auf die Frage, „wer „das Volk“ ist, von dem
Aktualisierungen, wie F. Müller, Fragment (über) Verfassungsgebende Gewalt des Volkes, 1995, 23, 26 ff., 46 f., unter Bezug auf Carl Schmitts Ausführungen zur angeblichen demokratischen Legitimation der Reichverfassung von 1871 schreibt, um bloße „Hilfskonstruktionen [...] wie immer billig zu habende, Ideologietexte“ handelt, mag hier dahingestellt bleiben. 13
G. Frankenberg, Die Verfassung der Republik, 1997, 60 f. „Thron und Altar“, schreibt R. Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1986, 28, „sind als Halterungen einer sich emanzipierenden Gesellschaft verloren. Die Gesellschaft hat alle ihre Halterungen heute selbst und neu zu schaffen und zu erhalten.“ Mit skeptischem Unterton, siehe auch: J.-F. Lyotard, Randbemerkungen zu den Erzählungen, in: ders., Postmodernde für Kinder, 1996, 32, 34: „Wo liegt die Quelle der Legitimität in der modernen Geschichte seit 1792? Man sagt: beim Volk.“ 14
J. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, 21.
15
Isensee, ebd.
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alle Staatsgewalt ausgeht, wer der „Demos“ ist, der herrscht, wer „alle“ sind, auf die sich die Legitimation staatlicher Herrschaft stützen muss“16 bzw. „wie die Gruppe, innerhalb derer die Mehrheit entscheidet, zusammengesetzt ist“17, überragende Bedeutung zu. Abseits einer häufig als illusionär-utopisch beschriebenen „Weltdemokratie“, die ihr Legitimationssubjekt in der „Menschheit“ finden könnte, wird die Bestimmung einer organisatorischen Bezugsgröße zwingend, da „von einer Herrschaft des Volkes [...] nur dann die Rede sein [kann], wenn sich bestimmen lässt, wer das „Volk“ ist, d.h. allgemein, was ein Volk ausmacht, und konkret, wer dazu gehört und wer nicht und wie weit sich der legitime Herrschaftsbereich des einzelnen Volkes erstreckt.“18 Folglich wird mit der Forderung nach demokratischer Selbstbestimmung bzw. politischer Selbstgesetzgebung, Selbstregierung oder auch Selbststeuerung die Bestimmung sowohl des potentiellen Subjektes einer Selbstgesetzgebung als auch des potentiellen Objektes ihrer Einwirkung, d.h. die Definition jenes spezifischen „Selbst“, das sich bestimmt, unausweichlich.19 Da jenes „Selbst“ nicht auf die Nation beschränkt 16
A. Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, 1999, 94 und 104. 17
B.-O. Bryde, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, 59, 63. Ebenfalls ausdrücklich auf das Mehrheitsprinzip bezogen U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, 22: „Die Gleichsetzung der Mehrheit mit dem Ganzen [...] legt zugleich klar, dass eine Anerkennung der Mehrheit stets einen bereits geformten sozialen Körper voraussetzt.“ 18
Th. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, 44. H. Abromeit/Th. Schmidt, Grenzprobleme der Demokratie, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, 293, 294, zufolge sind „jeder Konzeptualisierung von Demokratie logisch vorgelagert die beiden Fragen (1) nach der Einheit, innerhalb derer der demokratischer Prozess stattfinden soll, und (2) nach den Teilnehmern an diesem Prozess. Abgrenzung, Grenzziehung, die Festlegung von Kriterien für Inklusion und Exklusion sind insofern grundlegende Themen der Demokratietheorie.“ 19
Derrida, Politik der Freundschaft (Fn. 4), 17, stellt das Problem der Grenzziehung und die damit einhergehende Schließung demokratischer Systeme an den Anfang seines Buches und fragt im ersten Kapitel („Oligarchie: Nennen, aufzählen, auszählen, abzählen“): „Wie viele sind wir? – Kommt es darauf an? Zählt das? [...] Wie zählen? Wie lässt sich das berechnen?“ Zur Notwendigkeit einer Grenzziehung aus soziologischer Perspektive A. Nassehi/M. Schroer, Integration durch Staatsbürgerschaft?, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, 82-104.
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sein muss, gleichwohl aber mit einem nicht-nationalen Vorverständnis nicht zwangsläufig ein kosmopolitisches Weltbürgertum verbunden ist, mit anderen Worten die Welt nicht die unmittelbar der Nation folgende nächst mögliche Einheit darstellt, wie polemisch formulierte Äußerungen in der Verfassungslehre gelegentlich suggerieren20, entgeht man dem Definitionserfordernis auch nicht im Bereich politischer Organisation jenseits der Nationalstaaten. Schließlich entgeht man ihm aber auch nicht dadurch, dass sich die „innerweltliche Nötigung der herrschenden Personen/Gruppen, sich auf „das Volk“ zu berufen“21, im Normtext der Verfassung wieder findet, vielmehr wird die Interpretation des nunmehr als Rechtsbegriff auftretenden Wortes „Volk“ bzw. „Demos“ Gegenstand kommunikativer Auseinandersetzungen, in denen Akteure zum einen um die „richtige“ Bedeutung von „Volk“ streiten und in denen sie zum anderen den Volksbegriff mit spezifischen Wirkungen und Funktionen verknüpfen. Dass ist so, weil mit der „Versetzung aus der Transzendenz in die Immanenz [...] sich das höchste Wesen noch nicht als anschaulich und fassbar“ erweist und es keineswegs so ist, dass der „semantische Proteus eindeutige, feste Gestalt beziehen und behalten [muss], sobald er sich in einen Rechtsbegriff verwandelt und in eine Norm eingeht.“22 Vor diesem Hintergrund wenig überraschend wird, wenn vom Volk die Rede ist, in den meisten Fällen dann auch nicht vergessen, auf die „politische Relativität des Volksbegriffs“23, auf die „außerordentliche Vieldeutigkeit des Wortes ‚Volk’“24, auf das Konstrukti-
20
Siehe die eben deshalb wenig überzeugenden Ausführungen von E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I (1987), § 22 Rn. 27; J. Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, in: Schwab, Dieter/Giesen, Dieter/Listl, Joseph/Strätz, Hans-Wolfgang (Hrsg.). Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft (Festschrift für Paul Mikat), 1989,705, 712. 21
Müller, Fragment (über) Verfassungsgebende Gewalt des Volkes (Fn. 12),
11. 22
Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 705 f.; Lyotard, Randbemerkungen zu den Erzählungen (Fn. 13), 32, 34, spricht vom Volk als einer „Idee, und man streitet sich, man schlägt sich um die richtige Idee des Volkes und um deren Durchsetzung.“ 23
Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik (Fn. 1), 366, 371. 24
H. Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 1971, 3, 246.
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ve, Fiktive und Mythische am Volksbegriff25 oder darauf hinzuweisen, das der „Begriff „Volk“ [...] nur ein Kontinuitätsmerkmal [besitzt]: das des Wandels.“26 Hervorgehoben wird, dass das Volk „eine unbestimmte Größe“27 bzw. der Sprachgebrauch von Volk „überaus schillernd“28 sei oder „zahlreiche, heterogene und widersprüchliche Bedeutungen annehmen“29 könne bzw. „es in Geschichte, Politik und Recht unterschiedliche Vorstellungen“ darüber gebe, „was ein Volk ausmacht und zum Staatsvolk qualifiziert“30. Andere Autoren legen Wert darauf, dass Volk nicht als „abgeschlossener, ein für allemal feststehender Befund“ verstanden werden dürfe, sondern „in täglicher Praxis konstituiert und konkretisiert“31 werden müsse. Während Hans Kelsen sich – und seine Leser – fragt „Allein was ist dieses Volk“32 stellt Ernst-Wolfgang Böckenförde fest, dass „die verfassungsgebende Gewalt [...] begrifflich verfassungsgebende Gewalt des Volkes [ist]“, um sogleich die Frage anzuschließen: „Aber was bedeutet Volk in diesem Zusammenhang?“33 Die Probleme bei der Ermittlung des Bedeutungsgehaltes von »Volk« resul-
25
N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2002, 333: „In jedem Falle aber ist das »Volk« im 18. Jahrhundert ein Konstrukt und erst gegen Ende des Jahrhunderts ein neuer Mythos, der dazu dient, Repräsentation zu fordern und zu rechtfertigen.“ Zum Mystifikationspotential von Volk, siehe auch Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung (Fn. 14), 21. 26
Ch. Gusy/K. Ziegler, Der Volksbegriff des Grundgesetzes, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, 222, 222. 27
L. Hoffmann, Staatsangehörigkeit und Volksbewusstsein, in: Bryde (Hrsg.), Das Recht und die Fremden, 1994, 33, 34 und 42 f. 28
E. Francis, Volk, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 5, 1989, 766. 29
Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 705 ff.
30
R. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 14 Rn. 2. 31
D. Schefold, Volk als Tatsache, Ideologie und politische Kultur, in: von Bormann (Hrsg.), Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, 1998, 57, 63. 32 33
H. Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, 1963, 14.
E.-W. Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, in: ders. (Hrsg.), Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, 90, 96. Als in der Geschichte vorgekommene Antworten auf diese Frage nennt Böckenförde: „Nation“, „eine bestimmte Gruppe oder Schicht in einem Volk“, „Proletariat“.
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tieren dabei nicht allein aus den semantischen Untiefen des Begriffs34; vielmehr scheinen sie auch in der disziplinären Zugehörigkeit der Demokratietheorie begründet. Zwar ist die Rechtswissenschaft, eben weil das »Volk« und damit das demokratische Prinzip der Selbstregierung in den Text moderner Verfassung inkorporiert werden, in besonderem Maße gefordert, sich mit den unterschiedlichen Bedeutungsgehalten auseinanderzusetzen. Werden indes substantielle Voraussetzungen unmittelbar in den Begriff des Volkes hineingelesen oder mittelbar aus demokratietheoretischen Gründen für erforderlich gehalten, d.h. „Voraussetzungen der Demokratie über die Bestimmung des Legitimationssubjektes und des Legitimationsobjektes hinaus ausgedehnt auf die Voraussetzungen dieser Kategorien selbst“, dann „konkurriert die Rechtswissenschaft mit anderen Disziplinen“ insofern, als die „Fragen, wer das Volk ist und was die Herrschaft ist, [...] sich nicht nur juristisch, sondern auch sozialwissenschaftlich, psychologisch oder historisch thematisieren“35 lassen.
III. Simplifizierungen und Diskreditierungen Eine Arbeit, die sich dem Begriff der Homogenität und seiner Verwendung in der deutschen Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft widmet, läuft, wie die oben angedeuteten, in der Semantik des Wortes „homogenés“ liegenden Verweise auf Abstammungsfragen und Genealogien, aber auch die in der Rechtswissenschaft häufig zu beobachtenden Verknüpfungen des Begriffs der Homogenität mit in höchstem Maße kontroversen Begriffen wie „Volk“, „Nation“, „Staat“, „Staatsangehörigkeit“, „Einheit“ oder „Identität“ indizieren, in besonderer Weise Gefahr, sich in ideologisch aufgeladene Kontroversen zu begeben und Auffassungen, die das Erfordernis von Homogenität postulieren, d.h. Homogenitätsvorstellungen vertreten bzw. Homogenitätsforderungen formulieren, vorschnell und ohne Rücksicht auf ihre stellenweise an-
34
Zur Begriffsgeschichte von Volk R. Koselleck, Volk, Nation, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, 1992, 141 ff. Die etymologischen Schwierigkeiten stellt dar G. Sartori, Demokratietheorie, 1992, 29 ff. 35
Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik (Fn. 1), 366, 374 und 375.
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spruchsvollen Begründungen zu diskreditieren.36 Der Begriff ist, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde zutreffend schreibt, zwar „in hohem Maße suspekt“, weil er „wenigstens in Deutschland – durch seine Verwendung in der NS-Zeit den Beigeschmack völkischer oder gar rassischer Artgleichheit erhalten“ hat.37 Jedoch wird eine angemessene argumentative Auseinandersetzung mit den hier untersuchten Auffassungen nicht durch Aussagen ersetzt, sie entsprängen „einer ideologischen Grundhaltung, die historisch belastet ist“38 bzw. einem „ethnischen Fundamentalismus“ und trügen „Züge mythologischen Denkens“39. Auch der Vorwurf, sie beruhten „auf einer einseitigen, verabsolutierenden und wohl auch zu wenig differenzierenden Sichtweise der Entstehungsgeschichte des deutschen Nationalstaates im 19. Jahrhundert“40 bzw. auf „Restbeständen, ererbt aus dem klassischen Zeitalter des europäischen Nationalstaats“41, sagt noch nichts über die Plausibilität jener Auffassungen und verdeckt darüber hinaus die teilweise starken Differenzen in den jeweiligen Begründungen, die für die Forderung nach Homogenität mobilisiert werden. Schließlich sind auch Versuche zurückzuweisen, eine Auseinandersetzung bereits im Ansatz dadurch abzuschneiden, dass Namen von einzelnen Staatsrechtslehrern genannt werden, von denen man glaubt, eine Beschäftigung mit deren wissenschaftlichen 36
U. Haltern, Integration als Mythos, JöR 45 (1997), 31, 51 f., stellt nicht zu Unrecht fest, dass es sich bei den Kriterien, die eine homogene Struktur des Kollektivs und eine kollektive Herkunft begründen sollen, „insbesondere in Deutschland, um ein heißes Eisen“ handelt, weil „Erfahrungen kollektiver Einigkeit in der jüngeren deutschen Geschichte [...] immerhin zu ethnisch definierter Homogenität, „Ausscheidungen und Vernichtung des Heterogenen“, Weltkrieg und Holocaust geführt [haben]“. 37
Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie (Fn. 6), 103, 111.
38
St. Griller, Ein Staat ohne Volk?, IEF Working Paper Nr. 21 (1996), 24. B. Schlüter, Volksbegriff und Volkssouveränität, ZAR 2000, 210, 215 f., spricht von einem „abgründig missbrauchte[n] mythische[n] Volksbegriff“ und verweist auf die „rassistische Pervertierung“ eines „überkommenen ethnischen Volksbegriffs“. Allerdings wendet Schlüter gegen einen solchen Volksbegriff nicht allein die historische Diskreditierung ein, sondern mobilisiert darüber hinaus verfassungsrechtliche und soziologische Argumente. 39
St. Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), 659, 691. 40
Ch. Heitsch, Die Transparenz der Entscheidungsprozesse als Element demokratischer Legitimation der Europäischen Union, EuR 2001, 809, 816. 41
R. Brubaker, Einwanderung und Nationalstaat in Frankreich und Deutschland, Der Staat 28 (1989), 1, 3.
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Positionen lohne sich schon deshalb nicht oder sei zumindest verdächtig, weil jene Personen in der Weimarer Republik und im nationalsozialistischen Terrorregime eine – vorsichtig formuliert – unrühmliche Rolle gespielt haben.42 Antworten kann man auf jene Versuche, einen Reflexionsstopp43 durchzusetzen, mit einer Anmerkung Jacques Derridas zum Denken Carl Schmitts: die Auseinandersetzung mit „einem Denken und einer Arbeit [...], die durch zahlreiche Wurzeln in der fruchtbarsten Tradition der theologischen, juristischen, philosophischen, politischen Kultur Europas, im Boden eines europäischen Rechts verankert sind“, muss nicht zwangsläufig „die unleugbare Verbindung [...] zwischen diesem Denken des Politischen als einem politischen Denken einerseits und jenen Verstrickungen Schmitts andererseits [...], die zu seiner Verhaftung und Verurteilung nach dem Krieg geführt haben“, übersehen oder ignorieren, dass Schmitt „ein Nazi und ohne Zweifel bis zum Ende Antisemit geblieben ist, in einem Antisemitismus, dessen Virulenz extreme Formen annahm.“44 Polemische Strategien, auch wenn 42
Der Name Carl Schmitts steht hier natürlich im Vordergrund. Der Eindruck, dass allein durch die explizite Nennung von Carl Schmitt auch bestimmte demokratietheoretische bzw. rechtswissenschaftliche Positionen hinreichend diskreditiert seien, drängt sich auf bei M. Zuleeg, What holds a Nation together?, AJCL Volume XLV/1997, 505, 510; J. H.H. Weiler, Der Staat ‚über alles’, JöR 44 (1996), 91, passim. Letzterer schreibt allerdings in einer neueren Arbeit, Europe’s Dark Legacy, in: Joerges/Ghaleigh (Hrsg.), Darker Legacies of Law in Europe, 2003, 389, 392: “In politics, calling one’s opponent a ‘Fascist’ became so common as to denature that word. Comparisons to Hitler or, say, Saddam Hussein, Arafat, or, more recently by a German Minister, George Bush, have suffered the same inflationary consequences. And in academia a sure way to occupy the high moral ground and, simultaneously, to boast a critical mind is to stick scare quotes around that ubiquitous whipping boy, ‘liberalism’, proclaimed or otherwise, and to show a Fascist, Racist, or, quelle frisson, Nazi association.” Kritisch zur Umgehung inhaltlicher Auseinandersetzung durch personelle Diskreditierung A. v. Bogdandy, Das Leitbild der dualistischen Legitimation für die europäische Verfassungsentwicklung, KritV 2000, 284, 294 ff.; N. S. Ghaleigh, Looking into the Brightly Lit Room, in: Joerges/ders. (diese Fn.), 43, 49 ff. 43
Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie (Fn. 6), 103, 112, spricht von einem „Frageverbot“. 44
Derrida, Politik der Freundschaft (Fn. 4), 123, Fn. 4. Gerade in der „jahrzehntelang anhaltenden Polemik“ gegen die Schmittsche Theorie des Politischen sieht: U. Preuß, Zum Begriff des Politischen bei Carl Schmitt, in: Bürger (Hrsg.), Zerstörung, Rettung des Mythos durch Licht, 1986, 147, 150, den „beste[n] Beweis ihrer geistigen Vitalität“.
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sie auf historische und ideengeschichtliche Prozesse Bezug nehmen, verbauen sich zum einen die möglicher Weise fruchtbare Auseinandersetzung mit oftmals anspruchsvoll und differenziert argumentierenden Positionen innerhalb der Rechtswissenschaft und unterschätzen zum anderen die aktuelle Bedeutung der Fragen, die um den Begriff der Homogenität kreisen.
1. Kapitel: Herausforderungen für den Begriff der Homogenität Aktuelle Herausforderungen für Konzepte, die das Legitimationssubjekt mit dem Begriff der Homogenität in Verbindung setzen und – unabhängig von den teilweise sehr unterschiedlichen Begründungen – eine homogene Struktur des Kollektivs fordern, ergeben sich insbesondere aus vier Entwicklungen, denen sich die klassischen europäischen Nationalstaaten ausgesetzt sehen.
I. Versuch einer soziologischen Analyse moderner Gesellschaften Ohne auf mögliche Ursachen bzw. Folgen für soziale und politische Prozesse einzugehen45 und ohne hieraus bereits Einwände gegen bestimmte Argumentationen in der Rechtswissenschaft zu folgern, unterliegen moderne Gesellschaften einem Wandlungs- und Modernisierungsprozess, der aus soziologischer Perspektive „als relativ umfassend 45
Fraglos werfen die soziologischen Analysen mit unbarmherziger Dringlichkeit die Frage auf, wie sich unter den Bedingungen einer fortschreitenden Moderne Gesellschaften überhaupt integrieren lassen. Zu den negativen Folgen, die sich für die soziale Integration und den Umgang mit Minderheiten ergeben, siehe die vielfältigen und aufschlussreichen Beiträge in: Heitmeyer (Hrsg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander?, 1997. Zusammenfassend ders., Gesellschaftliche Integration, Anomie und ethnisch-kulturelle Konflikte, ebd., 629651. Aus der nahezu unüberschaubaren Literatur zur Integration moderner Gesellschaften B. Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, 1993; H. Dubiel, Metamorphosen der Zivilgesellschaft II, in: ders., Ungewissheit und Politik, 1994, 106-118; Gebhardt/Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation, 1994. Die verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Aspekte werden in beeindruckender Weise beschrieben von A. v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität, VVDStRL 62 (2003), 156-219. Entgegen dem Titel nicht nur bezogen auf das das Integrationspotential des BVerfG Haltern, Integration als Mythos (Fn. 36), 31-88. Haltern zufolge, ebd., 32, liegt „das Problem der Integration [...] der modernen Gesellschaft im Kern der heutigen politisch-wissenschaftlichen Diskussion, so dass mehr oder minder direkt fast alle zeitgenössischen Beiträge damit zu tun haben.“
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und tiefgreifend und als von besonderer Dynamik zu kennzeichnen ist, so dass von einer unumkehrbaren und langfristigen Transformation der Gesellschaftsstruktur in ihren charakteristischen Merkmalen ausgegangen werden muss.“46 Sich gegenseitig beeinflussende Veränderungsprozesse betreffen die strukturellen und kulturellen Bedingungen sozialen Lebens. Während traditionelle und relativ fest gefügte Bindungen kaum mehr auszumachen sind und sich lokal oder kontextuell begrenzte, auf persönlichen Beziehungen beruhende und dadurch stabilisierte, weitgehend geschlossene Gemeinschaften auflösen, sowie hieran gekoppelte Werte, Normen, Handlungskoordinierungen und Handlungslimitierungen in ihrer Kontingenz deutlich, zumindest aber unübersichtlich und diffus werden, spiegeln sich die freigesetzten bzw. beförderten Differenzierungsund Pluralisierungstendenzen in „alle[n] Formen der Ausbildung unterschiedlicher Sinnwelten, die nicht auf der Ausdifferenzierung funktional spezialisierter Handlungssphären beruhen, sondern relativ unspezifische Überzeugungen, Einstellungen und Erlebnisweisen umfassen.“47 Eine „wertbestimmte gemeinsame Ausrichtung der Staatsbürger“48, d.h.
46
H. H. Bohle/W. Heitmeyer/W. Kühnel/U. Sander, Anomie in der modernen Gesellschaft, in: Heitmeyer (Hrsg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander?, 1997, 29, 58. In der Einleitung zu diesem Band konstatiert Heitmeyer, ebd., 9, 16, dass „vieles dafür [spricht], dass die gesellschaftliche Anomie nicht nur ein episodenhaft wiederkehrendes Übergangsphänomen darstellt, sondern ein andauernder Zustand mit ungewissem Ausgang ist“. 47
B. Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidhardt (Hrsg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, 1994, 42, 69. Epistemologisch interessant ist diesbezüglich, dass die bisher von der Soziologie vorgenommenen Einteilungen der Gesellschaft in begrenzte, hierarchisch geordnete, überschaubare und mehr oder weniger geschlossene Gruppen (Stand, Klasse, Schicht) zunehmend zugunsten einer subjektorientierten Soziologie aufgegeben werden. Aktuelle soziologische Arbeiten beschreiben die gruppenspezifischen Existenzformen eher in Theorien der Milieusegmentierung und arbeiten häufiger mit Begriffen wie ‚soziales Milieu’, ‚soziokulturelles Segment’, ‚Lebensmuster’, ‚Lebensstil’ und ‚Lebenslage’. Hierzu U. Beck/E. Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften, in: dies. (Hrsg.), Riskante Freiheiten, 1994, 10-39. 48
So P. Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat, in: Isensee/ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 1997, § 221 Rn. 6 und 64, der die Lockerung bzw. den Verlust jener „gemeinsame[n] Ausrichtung der Staatsbürger in Sinn- und Orientierungskrisen“ bedauert, sich aber der soziologischen Einsicht einer „zunehmende[n] Individualisierung“ nicht verweigert.
Herausforderungen für den Begriff der Homogenität
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systemübergreifende und allgemeinverbindliche Sinn- und Wertorientierungen lassen sich in funktional differenzierten Gesellschaften, in denen die einzelnen gesellschaftlichen Subsysteme mit den ihnen jeweils eigenen Zweckrationalitäten autonom arbeiten, für spezifische Aufgaben exklusive Zuständigkeiten beanspruchen und mit anderen operativ geschlossenen Funktionssystemen nur noch über strukturelle Kopplungen verbunden sind49, kaum noch ausmachen. Ihre Generierung wird zunehmend unwahrscheinlich, weil unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung „übergreifende Sinnordnungen wie z.B. Solidaritätspotentiale strukturell aufgelöst und gewissermaßen durch das verheißungsvolle Kompensationsangebot des kulturellen Pluralismus ersetzt [werden], zu dem es keine Alternative gibt, die nicht auf Zwang gründet.“50 Zugleich sehen sich die verblassenden traditionellen Sozialformen und -bindungen in Gestalt intermediärer Institutionen und Kollektive (Familie, Sippe, Heimatort, Gutsherrschaft, Dorf, Stamm, Zunft, Stand, Vereine, Parteien, Kirchen, Peer-groups, usw.), in die der vormoderne Mensch hineingeboren wurde und denen er meist lebenslänglich und unentrinnbar angehörte, kaum noch in der Lage, ihre Schutz-, Orientierungs-, Integrations- und Kontrollfunktionen zu erfüllen.51 Den vielgestaltigen, zunehmend variablen, auswechselbaren und der eigenen Gestaltung verantworteten Beziehungsformen können sich die Individuen grundsätzlich ohne gravierende Einbuße von physischen oder sozialen Überlebenschancen entziehen und soziale Bindungen nach eigenen Präferenzen selbst wählen und ebenso freiwillig wieder auflösen. Auch wenn die geschilderten Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Intensität zugenommen haben und es in dieser Phase „zu einer zunehmenden Herauslösung der Individuen aus sozial ho49
N. Luhmann, Soziale Systeme, 1994; ders., Das Moderne der modernen Gesellschaft, in: Zapf (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften, 1991, 87-108; ders., Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum, in: Olk/Otto (Hrsg.), Soziale Dienste im Wandel, Bd. 1 (Helfen im Sozialstaat), 1987, 121-137; P. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 1992, vor allem 6788 und 97 ff.; H. Willke, Soziologische Aufklärung der Demokratietheorie, in: Brunkhorst (Hrsg.), Demokratischer Experimentalismus, 1998, 13-32. Für das Rechtssystem N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993; G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989. 50
W. Heitmeyer, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander?, 1997, 9, 15. 51
N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, 2001, 166 f., 241 f.
18
1. Kapitel
mogenen Milieus und kollektiven Bindungen und Wertbezügen“52 gekommen ist, beruhen Gesellschaften doch bereits seit dem Anbruch der Moderne „auf der vom Gleichheits- und Freiheitsgedanken getragenen Freisetzung der Individuen aus statusmäßigen ständischen, korporativen, lokalen Bindungen; sie machen die einzelnen beweglich und frei, atomisieren sie aber dadurch zugleich.“53 Zugehörigkeiten bestehen in einer historischen Epoche, deren Prinzip das der „Nicht-Zugehörigkeit“54 ist, nicht mehr in der umfassenden Eingliederung der einzelnen Person in einen bestimmten Sozialverband, sondern realisieren sich vorwiegend als Partizipation an verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen durch die Übernahme systemspezifischer und vom jeweiligen System geprägter Rollen. Im „Wandel von der stabilen Gruppenidentität zur selbstreferentiellen individualisierten Ich-Identität, die sich mehr und mehr aus eigenen Ressourcen speisen muss“55, kommt nicht nur der in der Aufklärung formulierte Autonomieanspruch des Subjektes zum Ausdruck, sondern mit ihm eröffnen sich dem Individuum darüber hinaus eine ungeheure und bisher unbekannte Erweiterung der Optionen für die eigene Lebensgestaltung. Wir leben „heute in einer Welt, in der die Menschen das Recht haben, ihr eigenes Lebensmuster selbständig zu wählen, ihrem eigenen Gewissen folgend zu entscheiden, welche Überzeugungen sie vertreten wollen, und die Form der Lebensführung in zahllosen Hinsichten zu bestimmen, über die ihre
52
Bohle/Heitmeyer/Kühnel/Sander, Anomie in der modernen Gesellschaft (Fn. 46), 29, 46, dort auch zu möglichen Gründen für jene Dynamisierung. Nach D. Oberndörfer, Integration oder Abschottung?, ZAR 1998, 3, 11, sind die sozialen Strukturen „noch bis Anfang der 60er Jahre im wesentlichen von den kulturellen Überlieferungen der relativ homogenen kulturellen Milieus Deutschlands im 19. und in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts geprägt gewesen“. 53
E.-W. Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, 34, 58; ders., Die Zukunft politischer Autonomie, ebd., 103, 105, 115 ff. 54
So A. Nassehi, Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit, in: ders. (Hrsg.), Nation, Ethnie, Minderheit, 1997, 177, 195. 55
A. Nassehi, Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung, Soziale Welt 41 (1990), 261, 274. Den Prozess der Veränderung der „Balance zwischen Wir- und Ich-Identität [...] seit dem europäischen Mittelalter“, beschreibt auch Elias, Die Gesellschaft der Individuen (Fn. 51), 262 f.
Herausforderungen für den Begriff der Homogenität
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Vorfahren keine Kontrolle hatten.“56 Konnten „bislang die Tradition der Einheit der Personen, der Familien, der Religionen, der Parteien oder der Gesellschaften sich immer wieder gegenüber den Kräften der Differenzierung und Dissipation behaupten“57, d.h. auch: soziale Ordnung auf dem traditionalen und normativen Fundament einer übersichtlichen Anzahl sozialmoralischer Milieus aufbauen, kommt es nunmehr zu einer auf Permanenz gestellten Vielfalt und Konkurrenz „konträrer Lebenspläne, kontroverser Auffassungen, divergierender Interessen und daraus resultierender Forderungen ohne Unterlass“58. Berücksichtigt man das Potential ausdifferenzierter und kapitalistischer Gesellschaften, immer neue und immer vielfältigere Formen der individuellen Lebensgestaltung zu generieren und zur optionalen Annahme zur Verfügung zu stellen, und berücksichtigt man darüber hinaus die Tatsache, dass die Wahrnehmung und Ausübung der den Individuen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten durch ein freiheitlich-demokratisches Rechtssystem geschützt wird, erscheint es schließlich in höchstem Maße unwahrscheinlich, die beschriebenen Prozesse umkehren, anhalten oder auch nur verlangsamen zu können. Nahezu übereinstimmend beschreiben Beobachter aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen moderne Gesellschaften nicht als homogen, sondern sprechen im Gegenteil von der „Auflockerung ethnisch-kultureller Geschlossenheit und deren räumlicher Abgegrenztheit“59, von „Fragmentierung, Pluralisierung und Vervielfältigung“ der Weltbilder und Kulturen60 oder von „integration, acculturation, assimilation, syncretism, pluralism or multiculturalism” bzw. einem „complex patchwork of different – sometimes overlapping, sometimes colliding – cultural identities”61. Eine kulturell-ethisch fundierte soziale Homoge-
56
Ch. Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, 1997, 7. Ebenfalls auf „Entscheidungsfreiräume, die sich als Subjektivierung von Werten und Normen, Enttraditionalisierung etc. ausweisen“, abzielend Heitmeyer, Einleitung (Fn. 50), 9, 11 und 12. 57
H. Willke, Supervision des Staates, 1997, 238.
58
Frankenberg, Die Verfassung der Republik (Fn. 13), 213.
59
E.-W. Böckenförde, Die Schweiz – Vorbild für Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2000, 25, 31. 60
H. Brunkhorst, Globale Solidarität, in: Günther/Wingert (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, 2001, 605, 625. 61
P. A. Kraus, Political unity and linguistic diversity in Europe, Archives Européennes de Sociologie, XLI, 1, 2000, 138, 138.
1. Kapitel
20
nität, so Erhard Denninger, „kann in Bezug auf die Staaten Europas nicht oder nur sehr beschränkt und gerade im Hinblick auf die angestrebte künftige »Integration« Europas tendenziell immer weniger vorausgesetzt werden.“62 Bereits der „Modellfall eines Nationalstaates mit kulturell homogener Bevölkerung“63 bzw. die Vorstellung der „Nation als homogenitätsbildender Kraft“64 sehen sich einer „Vielfalt an kulturellen Lebensformen, ethnischen Gruppen, Konfessionen und Weltbildern“65 gegenüber. Vereinzelte Versuche in der Verfassungslehre, gegenüber diesem alternativlosen Pluralismus vermeintlich verbindende und stabilisierende Merkmale eines Kollektiv, wie „die gemeinsame Sozialmoral, Sitte und Lebensgewohnheit, der gemeinsame Habitus, das Bild von der gemeinsamen Geschichte, die Lieder, die man miteinander gesungen hat, die Märchen, die in der Erinnerung haften, die Dichter, die einen bewegt haben und anderes Bildungsgut, das eine gemeinsame geistige Heimat begründet“66, aufzuzählen und hervorzuheben, sind angesichts der soziologischen Analysen allenfalls als nostalgische Schwärmereien zu bezeichnen. Aufrechtherhalten kann man sie indes nur um den Preis einer erheblich reduzierten Wirklichkeitswahrnehmung. Dass die empirisch informierten Erkenntnisse über die Strukturen moderner Gesellschaften auch den rechtswissenschaftlichen Diskurs infizieren und demokratietheoretische Überlegungen beeinflussen, überrascht nicht. Im Zentrum der Diskussion steht die problematisch gewordene Konzeptionalisierung des „Demos“, dem „ein gemeinsames kulturelles Fundament und die Grundlage gegenseitiger Anerkennung verloren gegangen ist.“67 Rückwirkungen der veränderten soziologischen Strukturen auf den demokratischen Entscheidungsprozess ergeben sich insofern, als in pluralistischen und fragmentierten Gesellschaf62
E. Denninger, Das wiedervereinigte Deutschland in Europa, KritV 1995, 263, 266. 63
J. Habermas, Der europäische Nationalstaat, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, 128, 142. 64
E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, 92, 112. 65
Habermas, Der europäische Nationalstaat (Fn. 63), 128, 142. Habermas fährt fort: „Dazu gibt es keine Alternative, es sei denn um den normativ unerträglichen Preis ethnischer Säuberungen.“ 66
Siehe R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 2003, 83 f.
67
C. Leggewie, NETIZENS, Transit 13 (1997), 3, 4.
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ten „moralische Wertkonflikte zunehmend unversöhnte Minderheiten [hinterlassen], die von der Mehrheit gesetzte faits accomplis nicht mehr zu akzeptieren bereit sind.“68 Konsequenterweise wird nicht nur in der Rechtswissenschaft daran erinnert, dass freiheitlich-demokratisch organisierte Gemeinwesen nur funktionieren können, wenn zwischen den BürgerInnen nicht unüberbrückbare Konfliktlinien in der Weise bestehen, dass der „Demos“ in unversöhnliche ethnische oder religiöse Gruppierungen zerfällt. Befürchtungen werden artikuliert, dass angesichts der „Aktualisierung vielfältiger und vielschichtiger, desintegrierend wirkender ökonomischer, sozialer und kultureller Fraktionierungen [...] der gesellschaftliche Boden wegrutschen [könnte], in dem eine politisch-institutionelle Ordnung zu verankern wäre.“69 In den Worten von Hasso Hofmann und Horst Dreier: „Mit der Individualisierung und Pluralisierung, mit der sozialen, politischen, kulturellen und konfessionellen Segmentierung der modernen Gesellschaft wird die Herstellung und Bewahrung einer Einheit zum zentralen Problem.“70
II. Demographie und Migration Die Beschreibung moderner Gesellschaften als pluralistisch, heterogen und fragmentiert, gewinnt Plausibilität, wenn man die Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre und die diesbezüglichen voraussichtlichen Daten für die kommenden Jahre sowie die Folgen der Migrations68
Leggewie, ebd. Vollkommen zu Recht zählt E. Denninger, Integration und Identität, KJ 2001, 442, 449, daher zu „den »schwierigsten und dringendsten Fragen« des gegenwärtig beginnenden politischen Zeitalters [...] die nach der möglichen Anerkennung und Berücksichtigung kultureller Verschiedenheiten und Minderheiten in einer demokratisch-egalitär-sozialstaatlichen Verfassung.“ 69
J. Gebhardt/R. Schmalz-Bruns, Was hält heutige Gesellschaften politisch zusammen?, in: dies. (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation (Fn. 45), 7, 28. U. K. Preuß, Zu einem neuen Verfassungsverständnis, in: Frankenberg (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, 1994, 103, 121 f., ruft angesichts der hier dargestellten soziologischen Analysen dazu auf, „konstitutionelle Formen [zu] entwickeln, die die gesellschaftliche und politische Koexistenz bei zunehmender moralischer und ethischer Partikularisierung erlauben“. 70
H. Hofmann/H. Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, 165, 172.
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1. Kapitel
bewegungen für die Aufnahmeländer mitberücksichtigt. Lebten bereits im Jahre 2003 nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes Deutschland in der Bundesrepublik ca. 7.348.000 Nichtdeutsche mit unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Lebensweisen und trugen diese ganz entscheidend zur kulturellen Pluralisierung der Bundesrepublik bei71, legen demographische Untersuchungen die Annahme nahe, dass die Bundesrepublik Deutschland – wie alle europäischen Staaten – in der Zukunft auf vermehrte Zuwanderung angewiesen sein wird, wenn eine „Altersklerose Gesamtdeutschlands“72 vermieden werden soll.73 Wie die meisten Industrieländer weist Deutschland eine verhältnismäßig schwach vertretene junge Generation auf, während gleichzeitig die Lebenserwartung wächst und sich dementsprechend die Altersstruktur ständig zugunsten der älteren Menschen verschiebt. Gehören heute die 35 bis 40jährigen zu den am stärksten besetzten Jahrgängen, werden dies bis zum Jahr 2050 die Menschen im Alter von 58 bis 63 Jahren sein. Bei einer nahezu gleichen Bevölkerungszahl von 69 Millionen im Jahr 1950 und 70 Millionen im Jahr 2050 wird sich der Altersaufbau innerhalb dieses Jahrhunderts umkehren: Waren 1950 etwa doppelt so viele Menschen unter 20 Jahre wie über 59 Jahre alt, so wird es 2050 mehr als doppelt so viele ältere als junge Menschen geben. Die sog. „Alterspyramide“ wird keine Pyramide mehr sein. Vor allem die geringe Fertilitätsrate trägt dazu bei, dass „die Einwohnerzahl – Deutsche und Aus71
Zu den statistischen Angaben, siehe die permanent aktualisierten Daten des Statistischen Bundesamtes: http://www.destatis.de. 72
B.-O. Bryde, Integrationsverzicht als Verfassungsgebot?, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1990, 212, 212. Ähnlich auch D. Oberndörfer, Der Nationalstaat, ZAR 1989, 3, 10: „Altersheim Bundesrepublik“, „beginnenden Alterssklerose der Bundesrepublik“. 73
Bereits im Jahre 1980 stellte M. Zuleeg, Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland, JZ 1980, 425, fest, dass die Aussage, „die Bundesrepublik Deutschland sei kein Einwanderungsland, angesichts der tatsächlichen Entwicklung nicht haltbar“ ist und folgerte daraus eine Reihe von Anpassungen des Rechtssystems an die nicht zu leugnende empirische Situation. Zur Zuwanderung aus rechtlicher Sicht, siehe auch: B.-O. Bryde, Wandlungen des Rechtssystems in der Einwanderungsgesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Das Recht und die Fremden, 1994, 7-13; ders., Integrationsverzicht als Verfassungsgebot?, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1990, 212-221; ders., Die Bundesrepublik Deutschland als Einwanderungsland, in: Köbler/Heinze/Schapp (Hrsg.), Geschichtliche Rechtswissenschaft, 1990, 1-11; R. Grawert, „Volksbildung“. Zum Konzept einer nationalökonomischen Einwanderungspolitik, Der Staat 41 (2002), 163-181.
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länder – von derzeit 82 Millionen in 30 Jahren auf 70 Millionen, in 50 Jahren auf 60 Millionen und gegen Ende des 22. Jahrhunderts weniger als 40 Millionen betragen wird. In diesen Prognosezahlen sind schon Zuwanderungen mitgerechnet, und zwar nach den realistischen Einschätzungen der Gegenwart. Sie ändern nichts am Befund, dass die autochthone deutsche Bevölkerung auf ihrem Territorium sich im neuen Jahrhundert dramatisch verringern wird.“74 Auch weil der Bevölkerungsschwund in besonderer Weise die potentielle Erwerbsbevölkerung, d.h. die Menschen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren betrifft75, wird man in den nächsten Jahren damit rechnen müssen, dass die Zahl der nicht nur kurzfristig, sondern dauerhaft in Deutschland lebenden MigrantInnen steigt, d.h. immer mehr Einwanderer ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben werden. Eine verstärkte Zuwanderung, die die demographischen Defizite ausgleichen und die sich aus den veränderten Bevölkerungszahlen ergebenden Wirkungen abfedern könnte76, wird dazu führen, dass sich verschiedene 74
J. Schmid, Der harte Faktor der Weltveränderung, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52-53/1999, 12, 19. Dass Rechtswissenschaftler jene Entwicklungen, unabhängig von den konkreten normativen Schlussfolgerungen, die sie daraus ziehen, sehr ernst nehmen, zeigt beispielsweise die Abbildung von Tabellen zur Entwicklung von Geburten und Sterbefällen im Handbuch des Staatsrechts: Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat (Fn. 48), § 221, Rn. 1061 und 1062. 75
Fast deckungsgleiche Zahlen zur Verringerung der potentiellen Erwerbsbevölkerung, bei: R. Münz, Geregelte Zuwanderung, Aus Politik und Zeitgeschichte B 43/2001, 3, 4; K. J. Bade/R. Münz, Einführung: Migration und Migrationspolitik, in: dies. (Hrsg.), Migrationsreport 2002, 2002, 11-29. 76
Neben der Möglichkeit einer gesteuerten Zuwanderung diskutieren Bade/Münz, ebd., 11, 21 f., „die Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch Verkürzung von Ausbildungszeiten und Erhöhung des Renteneintrittsalter, die Senkung des Niveaus der umlagefinanzierten Renten, bessere und immer wieder durch Fortbildungen ergänzte berufliche Qualifikationen, die bessere Ausschöpfung von Arbeitsmarktreserven durch gezielte, arbeitsmarkttaugliche und in ihrer Effizienz evaluierte Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen für Arbeitslose sowie durch beschäftigungspolitische Initiativen und die Entwicklung legaler Beschäftigungsmöglichkeiten im Niedriglohn-Sektor, die Erhöhung der in Westdeutschland im internationalen Vergleich niedrigen Frauenerwerbsquote, verbunden mit Veränderungen in der Frauenförderung, in der Familienpolitik und im Schul- und Vorschulwesen“. Zu Alternativen, das sinkende Erwerbspotential zu kompensieren, siehe auch J. Schmid, Zuwanderung aus Eigennutz?, in: Weidenfeld (Hrsg.), Das europäische Einwanderungskonzept, 1994, 89, 115 f.
1. Kapitel
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Ethnien und Kulturen, mit unterschiedlichen Religionen, Lebensformen und Selbstverständnissen „in das soziale Gefüge einbringen und somit auch neue kulturelle Unterschiede erzeugen.“77 Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass die zukünftigen Einwanderer mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht oder nur zu einem kleinen Teil aus europäischen Ländern kommen werden, weil nahezu alle Mitgliedstaaten der EU von ähnlichen, wenn auch teilweise weniger gravierenden oder zu einem späteren Zeitpunkt einsetzenden demographischen Entwicklungen, d.h. einer voranschreitenden Absenkung der Geborenenzahlen und einer Zunahme der älteren Bevölkerung, betroffen sind: „das benötigte Immigrationsreservoir findet sich nicht mehr in Europa.“78 Es findet sich voraussichtlich vor allem in südlichen Regionen, in den Maghreb-Staaten und in afrikanischen Ländern, in denen die Alterspyramide tatsächlich eine solche ist, d.h. eine Explosion der Bevölkerung sowie starke jüngere Jahrgänge festzustellen sind, für die wegen schlechter sozioökonomischer Bedingungen jedoch kaum Perspektiven und Chancen bestehen.79 Schließlich wird es infolge der Osterweiterung der EU, auch wenn die zahlreichen Prognosen zur zukünftigen OstWest-Wanderung bezüglich Ausmaß und Tempo voneinander abweichen und generell mit großen Unsicherheiten behaftet sind, zumindest in den ersten Jahren nach dem EU-Beitritt zu einer Migration von den östlichen Beitrittsländern in die westlichen Mitgliedstaaten der Union und zu einer dauerhaften Erhöhung des Bestandes der ausländischen Wohnbevölkerung aus der östlichen Hälfte Europas in den alten fünfzehn EU-Staaten kommen.80 77
Heitmeyer, Einleitung (Fn. 50), 9, 18.
78
Schmid, Der harte Faktor der Weltveränderung (Fn. 74), 12, 21. Ausführlich zu den – geringen – Unterschieden hinsichtlich der demographischen Entwicklung in den Mitgliedstaaten der EU ders., Zuwanderung aus Eigennutz? (Fn. 76), 89-124; ders., Nationale Identität unter Bevölkerungsdruck, in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, 1995, 34-42. 79
Die Migrationssoziologie spricht von sog. „Push-Faktoren“ (z.B. hohe Arbeitslosigkeit, ethnische Spannungen, die Existenz bedrohende Umweltschäden oder Ressourcenverknappung) und „Pull-Faktoren“ (z.B. ökonomische Attraktivität, Schutz vor politischer Verfolgung und ethnischer Diskriminierung, eine liberale Ausländer- und Asylpolitik oder bereits bestehende Netzwerke). Zur interkontinentalen Süd-Nord-Wanderung, siehe die Zahlen und Prognosen bei K. J. Bade, Europa in Bewegung, 2000, 439 ff. 80
Siehe nur die kommentierende Zusammenfassung von H. Fassmann/R. Münz, Die Osterweiterung der EU und ihre Konsequenzen für die Ost-WestWanderung, in: dies. (Hrsg.), Migrationsreport 2002, 2002, 61-97. Zur Ost-
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Unter diesen Bedingungen und angesichts der demographischen Prognosen wird es für die europäischen Nationen immer schwieriger, sich als „monokulturelle Gesellschaften“81 zu begreifen. Mit dem Druck, den massive globale Wanderungsbewegungen erzeugen und den dadurch hervorgerufenen Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, entweicht dem Nationalstaat das zumindest in den vergangenen zweihundert Jahren einigermaßen stabile, ihn tragende und über eine kollektive Identität verfügende personelle Substrat. Die „Frage nach dessen nationaler Substanz“82 lässt sich angesichts der dauerhaften Anwesenheit von Millionen von Einwanderern kaum noch mit dem Hinweis auf eine gefestigte ethnisch-kulturelle Homogenität beantworten. In besonderer Weise werden die beschriebenen demographischen Entwicklungen und die damit verbundenen Folgen für ein juristisches Denken relevant, das der homogenen Struktur der in einem politischen Gemeinwesen zusammenlebenden Bürger einen nicht unbedeutenden Stellenwert einräumt, sei es dass der Homogenität spezifische Wirkungen zugeschrieben oder aus der Homogenität des Kollektivs normative Folgerungen gezogen werden. Denn die „Suche nach einer neuen Begründung demokratischer Legitimation der Staatsgewalt“ und die Verwirklichung demokratischer Strukturen in der Zukunft werden unter der Bedingung „inhomogener, multikultureller Gesellschaften“83 erfolgen müssen.
III. Globalisierungsprozesse und Europäische Integration Herausgefordert sehen sich demokratietheoretische Konzeptionen, die die homogene Struktur des Legitimationssubjektes betonen, schließlich durch soziale, ökonomische, technische und wissenschaftliche Prozesse, die häufig mit dem semantisch wenig spezifizierten Namen „Globalisierung“ umschrieben werden. Diskutiert wird der Begriff der Homogenität in der Rechtswissenschaft in den letzten Jahren allerdings maßgeblich unter Bezug auf die fortschreitende europäische Integration. Im West-Wanderung seit dem Ende des kalten Krieges Bade, Europa in Bewegung (Fn. 79), 384 ff. 81
J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1998, 603.
82
R. Grawert, Der deutschen supranationaler Nationalstaat, in: ders. u.a. (Hrsg.) Offene Staatlichkeit, 1995, 125, 126. 83
Gusy/Ziegler, Der Volksbegriff des Grundgesetzes (Fn. 26), 222, 245 f.
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Folgenden soll gezeigt werden, aus welchen Gründen die erwähnten Prozesse für den Begriff der Homogenität relevant sind und warum ausgerechnet sie den Begriff der Homogenität in das Zentrum des verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Interesses gerückt haben.
1. Globalisierung Unabhängig von im einzelnen bestehenden Unterschieden bei der Beschreibung der vielfältigen Phänomene meint „Globalisierung“, nicht verstanden als singuläre Bedingung oder linearer Prozess, sondern als differenziertes und multi-dimensionales Phänomen, das sich in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen wie Wirtschaft, Militär, Politik, Technologie oder Recht nachweisen lässt, eine weltweite Verknüpfung und Vernetzung ökonomischer, ökologischer, sozialer und politischer Prozesse, in deren Kontext einerseits scheinbar lokale Ereignisse global Auswirkungen hervorrufen und andererseits weit entfernt stattfindende Ereignisse lokale Ereignisse auslösen können.84 Die Globalisierung der Ökonomie, d.h. die Zunahme des grenzüberschreitenden Warenaustauschs, die Globalisierung der Finanzmärkte und der Dienstleistungen, die zunehmenden internationalen Beziehungen zwischen Unternehmen und die damit verbundene und sich wechselseitig beeinflussende globale Ausdehnung der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie die indirekten Auswirkungen auf Umwelt, Technik, Wissenschaft und Migration, die Globalisierung und Dynamisierung eines menschenrechtlichen Diskurses, der wiederum Implikationen für militärische und kriminologische Fragstellungen aufweist, erzeugen einen die Handlungs- und Gestaltungsspielräume nationalstaatlicher Politik unterminierenden und limitierenden Druck und zwingen die Nationalstaaten dazu, über Möglichkeiten nachzudenken, wie auf die Steuerungs- und Autonomieverluste adäquat reagiert werden kann.85 Politische und rechtliche Teilsysteme, die in der Vergangenheit 84
Mit zahlreichen Beispielen D. Held, Models of Democracy, 1996, 335 ff.; A. McGrew, Demokratie ohne Grenzen?, in: Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, 374, 379 ff. Für die verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Implikationen Ch. Walter, Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, DVBl. 2000, 1-13. 85
Aus der unüberschaubar gewordenen Literatur zum Begriff „Globalisierung“: K. Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität, in:
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vornehmlich in den Nationalstaaten lokalisiert waren und sich auf deren Wirkungs- und Geltungsbereich bezogen und beschränkten, scheinen nur bedingt in der Lage, den veränderten Herausforderungen angemessen zu begegnen. Jedenfalls ist die für das Demokratieprinzip konstitutive und historisch nachweisbare, die Kongruenz von Problemlagen und Problemlösungseinheiten und die damit einhergehende Identität von Herrschaftssubjekten und Herrschaftsobjekten unterstellende Annahme, „dass im Rahmen des Nationalstaats auch die wichtigsten Bestimmungsfaktoren des nationalen Schicksals zu beeinflussen seien, mit der zunehmenden transnationalen Verflechtung der Probleme und ihrer Ursachen höchst zweifelhaft geworden.“86 Zumindest für die Lösung grenzüberschreitender ökologischer, ökonomischer, militärischer, technischer, migrations-, sicherheits- oder medienpolitischer Probleme erweist sich der „Nationalstaat, der im vergangenen Jahrhundert als Gehäuse der entstehenden Industriegesellschaft und als Regelmechanismus für deren Konflikte vernünftig war, der darüber hinaus den einzigen Rahmen für demokratische Institutionen und Verfassungen bildete“87, als zu begrenzt.88 Die „politische Notwendigkeit, auf supranatio-
ders./Wingert (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, 2001, 539-567; U. Beck, Was ist Globalisierung?, 1998, sowie die Beiträge in: ders., (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998. Speziell zu den Folgen der Globalisierung für das Demokratieprinzip M. Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, Politische Vierteljahresschrift 37 (1996), 27, 28 ff.; ders., Jenseits der Staatlichkeit, Leviathan 20 (1992), 490-513. Immer noch lesenswert schließlich N. Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 1971, 1, 6 ff. 86
F. W. Scharpf, Versuch über Demokratie im verhandelnden Staat, in: Czada/Schmidt (Hrsg.), Verhandlungsdemokratie, Interessenvermittlung, Regierbarkeit, 1993, 25, 29. Zur „Vorstellung von einer annähernden Kongruenz von Problemlagen und Problemlösungseinheiten“ als einer der „zentralen Prämissen moderner Demokratie“, die durch „die Globalisierung der Politik“ ausgehebelt worden ist E. Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration, Leviathan 24 (1996), 339, 340. 87
H. Schulze, Das Europa der Nationen, in: Berding (Hrsg.), Mythos und Nation, 1996, 65, 82. 88
Sehr deutlich die Feststellung von C. Leggewie, Europa beginnt in Sarajevo, Aus Politik und Zeitgeschichte B 42/1994, 24, 31: „Die Vorstellung innere und äußere Sicherheit, ökologische Risiken und transnationale Mobilität in „Alleingängen“ bewältigen zu können, ist anachronistischer denn je.“ Ähnlich auch St. Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), 521, 521, demzufolge der Begriff „Globalisierung“ „im Kern nur Ausdruck der Tat-
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naler Ebene politisch handlungsfähige Einrichtungen zu schaffen“89, drängt sich den von Globalisierungsprozessen betroffenen Nationalstaaten zunehmend auf. Um ihre schwindenden Gestaltungsmöglichkeiten zurück zu gewinnen, verschreiben sie sich zunehmend einer intensivierten internationalen Zusammenarbeit, die, weil sich auch die traditionellen Wege über informelle Absprachen oder bi- und multilaterale Abkommen zwischen Staaten nur noch bedingt zur Problemlösung als geeignet erweisen, immer häufiger in der Konstitutionalisierung partiell souveräner trans- und supranationaler Institutionen ihren sichtbaren Ausdruck findet.90 Werden jedoch jene neu geschaffenen Institutionen von den Mitgliedstaaten mit der eigenverantwortlichen Wahrnehmung mehr oder weniger eng definierter Aufgabenbereiche betraut und üben sie darüber hinaus in diesen Bereichen Hoheitsgewalt mit unmittelbarer Wirkung gegenüber den jeweiligen Mitgliedsstaaten und/oder gegenüber deren BürgerInnen aus, evoziert dies zwangsläufig die Frage nach der Legitimität der kollektiv bindenden Entscheidungen und nach dem jeweiligen Legitimationssubjekt.
2. Europäische Integration Die zunehmende europäische Integration in den vergangenen Jahren kann als ein exponiertes Beispiel der soeben skizzierten Prozesse verstanden werden. Zum einen, weil die Union nicht zuletzt als unmittelbarer Ausdruck der Erkenntnis gesehen werden kann, dass zahlreiche Aufgaben in diversen Politikfeldern aufgrund ihres grenzüberschreitenden Charakters von den Nationalstaaten alleine nicht mehr effektiv sache [ist], das viele Aufgaben einfach nationalstaatlich gar nicht mehr zu erfüllen sind, sondern nur noch staatengemeinschaftlich“. 89
J. Habermas, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen?, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, 154, 180. 90
Zur Erosion nationalstaatlicher Autonomie und zur Herausbildung transund supranationaler politischer Entscheidungsebenen, siehe die prägnante Zusammenfassung bei: D. Grimm, Vertrag oder Verfassung, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1995, 509, 524. Bereits vor mehr als 25 Jahren beobachtete und beschrieb das Phänomen U. Scheuner, Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, 102, 131 f. Zum „Verlust an nationalstaatlicher Autonomie“ aus politologischer Perspektive, siehe schließlich auch Scharpf, Versuch über Demokratie im verhandelnden Staat (Fn. 86), 25, 28 ff.
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gelöst, vielmehr nur noch durch größere politische Einheiten wirksam bearbeitet werden können und infolgedessen jeder Staat sich einem enormen Druck ausgesetzt sieht, mit anderen Staaten zusammenzuarbeiten.91 Zum anderen ist die Diskussion um die Integrationsprozesse aber auch deshalb exemplarisch, weil in ihr Legitimationsfragen intensiv thematisiert und behandelt werden.92 Um darzustellen, warum insbe91
Zutreffend betont I. Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 1993, 449, 487 und 588, dass die Europäische Union „kein Selbstzweck [ist], sondern die Antwort auf Herausforderungen unserer Zeit“ und angesichts jener Herausforderungen „jeder Staat in Europa zur Zusammenarbeit mit anderen gezwungen“ ist. Stärker noch formuliert W. v. Simson, Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk“?, EuR 26 (1991), 1, 15: „Die ganze Konzeption einer europäischen Union beruht auf der Einsicht, dass der Staat nur noch als Teil eines Ganzen überleben kann.“ Gegenüber der Eindimensionalität solcher Aussagen macht Walter, Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion (Fn. 84), 1, 3, mit Bezug auf die Beispiele Sicherheitspolitik, Welthandel, Umweltschutz und Menschenrechte allerdings zu Recht darauf aufmerksam, „dass die Europäische Gemeinschaft nicht nur als Beispiel für die Verlagerung von Aufgaben auf eine höhere Ebene und damit als eine Form von Globalisierung dienen kann, sondern dass sie zugleich – wenn auch in geringerem Umfang und weniger deutlich sichtbar – selbst Gegenstand von Globalisierungstendenzen ist“. 92
Aus der kaum zu übersehenden Literatur zum viel diskutierten »Demokratiedefizit« auf europäischer Ebene W. Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995; J. H.H. Weiler/U. Haltern/F. C. Mayer, European Democracy and Its Critics, Harvard Jean Monnet Working Paper 1/95; Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie (Fn. 91), 449, 451 ff.; C. D. Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, AöR 119 (1994), 238-260; Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union (Fn. 39), 659-712; H.-H. Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit, in: Goydke u.a. (Hrsg.), Vertrauen in den Rechtsstaat, 1995, 195-206; Heitsch, Die Transparenz der Entscheidungsprozesse als Element demokratischer Legitimation der Europäischen Union (Fn. 40), 809, 817 ff.; P. M. Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozess, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1992, 349, 350 ff.; ders., Die parlamentarische Demokratie unter den Bedingungen der europäischen Integration, in: ders./Mößle/Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, 1995, 105, 112 ff.; Grimm, Vertrag oder Verfassung (Fn. 90), 509, 516 ff.; A. Randelzhofer, Zum behaupteten Demokratiedefizit der Europäischen Union, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, 39-55. Aus politologischer Sicht, siehe vor allem die Beiträge in Steffani/Thaysen (Hrsg.), Demokratie in Europa, 1995. Ebenfalls aus politologischer Sicht Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem (Fn. 85), 27-55; Grande, De-
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sondere das (Nicht-)Vorhandensein eines genuin europäischen Legitimationssubjektes bzw. dessen spezifische Voraussetzungen und Eigenschaften, und damit der Begriff der Homogenität, zunehmend in den Fokus vor allem der juristischen und politologischen Arbeiten gelangt, ist es hilfreich, zunächst auf einzelne Elemente des europäischen Integrationsprozesses einzugehen.
a. Europäische Integration und Legitimation Die in den letzten 250 Jahren ausgeprägte und weitgehend stabilisierte Kongruenz von Herrschaft und (National-)Staat, von „Rechtsordnung und politischer Raumordnung“93 löst sich insoweit auf, als innerstaatliche Rechtsverhältnisse heute in großem Umfang sowohl vom Gemeinschaftsrecht, das die Mitgliedstaaten und die BürgerInnen unmittelbar bindet und das für seine innerstaatlichen Geltungswirkung teilweise keines staatlichen Vermittlungsaktes durch den nationalen Gesetzgeber mehr bedarf, als auch von der Rechtsprechung des EuGH, der als institutionell unabhängiges Organ das Gemeinschaftsrecht auslegt und dessen Einhaltung überwacht94, durchdrungen werden. Für die BürgerInnen der Mitgliedstaaten der EU bedeutet dies, dass sie nicht länger allein von Entscheidungen des nationalen, durch Wahlen demokratisch legitimierten Gesetzgebers, betroffen sind, sondern zugleich in einem bisher unbekannten Maße auch in eine transnationale rechtliche Ordnung eingebunden werden.95 Dabei nimmt das Gemeinschaftsrecht, mit mokratische Legitimation und europäische Integration (Fn. 86), 339-360; P. Kielmansegg, Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, 47-71.; F.-W. Scharpf, Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1992, 293, 295 ff; R. Hrbek, Der Vertrag von Maastricht und das Demokratie-Defizit der Europäischen Union, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Grabitz, 1995, 171, 171 ff. 93
T. Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, VVDStRL 63 (2003), 41, 59 und 65, der gerade darin, „die entscheidende Neuerung im Unterschied zur Situation um 1900“ sieht. 94
Hierzu M. Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, JZ 1994, 1-8; ders., Die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, BB 1994, 581-587. 95
Beeindruckende Angaben zur steigenden Anzahl europäischer Rechtsetzungsakte und zu den davon erfassten Rechtsgebieten, finden sich bei A. Mau-
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Blick auf Normenhierarchien, insofern eine herausgehobene Stellung ein, als es „nationalem Recht jedweden Ranges vor[geht], auch dem Verfassungsrecht. Gemeinschaftswidriges nationales Recht darf nicht mehr angewendet, abweichendes nationales Recht in dem gemeinschaftsrechtlich besetzten Gebiet nicht mehr erlassen werden. Das nationale Recht weicht, selbst wenn es lex specialis oder lex posterior ist.“96 Unter dem Druck der oben beschriebenen Globalisierungsprozesse anderer gesellschaftlicher Sub-Systeme werden die Bereiche, in denen die Nationalstaaten auf die individuelle Ausübung ihrer Hoheitsrechte verzichten, indem sie Teile ihre Hoheitsgewalt auf die europäische Ebene übertragen, immer umfangreicher: Wirtschafts- und Währungspolitik, Kapital- und Zahlungsverkehr, Verkehr und Landwirtschaft, Sozial-, Umwelt- und Bildungspolitik, Verbraucherschutz, Telekommunikation und Energieversorgung etc. In anderen Politikfeldern, wie Justiz und Inneres, Außen- und Sicherheitspolitik, versucht man die schwindenden Handlungs- und Steuerungsmöglichkeiten immerhin noch durch eine verstärkte intergouvernementale Zusammenarbeit zurück zu gewinnen. Bezogen auf den Legitimationsbedarf, der durch die kontinuierliche Kompetenzerweiterungen der Union entsteht97, kommt hinzu, rer/W. Wessels/J. Mittag, Europeanisation in and out of the EU System, Paper for the DFG-workshop „Linking EU and National Governance“, 2000, 3. Siehe hierzu aber auch Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes (Fn. 93), 41, 48-52. 96
J. Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten, in: Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), Europa – Idee, Geschichte, Realität, 1996, 71, 81. In der Rechtsprechung des EuGH sind diesbezüglich insbesondere zu nennen: EuGH Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 f. Costa/E.N.E.L.; Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rz. 13 ff. Simmenthal II; Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839, Rz. 28 ff. Costanzo; Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433 Rz. 18 ff. Factotame. 97
Prägnant hält R. M. Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas?, 1991, 19, 35, die Erweiterung der Kompetenzen und den dadurch hervorgerufenen Legitimationsbedarf in der Formel fest: „Kompetenzerhöhung führt zur Ressourcenerhöhung und diese zur Legitimitätserhöhung. Kompetenz-, Ressourcen- und Legitimationsallokation stehen in einem funktionalen Zusammenhang.“ Hierzu auch Ch. Kirchner/J. Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, JZ 1993, 760-771; H.-J. Seeler, Die Legitimation des hoheitlichen Handelns der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union, EuR 33 (1998), 721-733; J.-C. Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine?, EuR 2000, 311, 315 ff.; F. Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union, EuR 1999, 133 ff., 152 ff.; U.
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1. Kapitel
dass eine genaue Grenzziehung der übertragenen Kompetenzen etwa über die Subsidiaritätsklausel oder über die Auslegung der Tatbestandsmerkmale der einzelnen Normen zum einen infolge kaum zu vermeidender semantischer Unschärfen nur beschränkt zu leisten ist und zum anderen „die ökonomische und gesellschaftliche Dynamik auch innerhalb des gegebenen institutionellen Rahmens die europarechtliche Aushöhlung nationalstaatlicher Kompetenzen vorantreibt.“98 Für die rechtswissenschaftliche Literatur ist es indes nicht allein die permanente Verschiebung von Entscheidungskompetenzen auf die europäische Ebene, die die Frage nach der Legitimität evoziert. Sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch aus demokratietheoretischer Perspektive ergeben sich Legitimitätsprobleme insbesondere im Hinblick auf den Wegfall des Prinzips der Einstimmigkeit im richtungsweisenden und normsetzenden, aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzten Rat zugunsten des Mehrheitsprinzips.99 Jenes Prinzip ist aber, wie die weitere Untersuchung der Arbeit zeigen wird, und dies nicht erst seit dem Beginn des europäischen Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg, einer der zentralen Referenzpunkte für die Diskussion des Begriffs der Homogenität in der deutschen Staats- und Verfassungslehre.100 Bezogen auf Europa, ändern sich nach häufig vertretener Auffassung mit „dem Übergang zur Mehrheitsentscheidung im Ministerrat [...] die Bedingungen des Transfers demokratischer LegitiDi Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, Der Staat 32 (1992), 191 ff. Aus politologischer Sicht Hrbek, Der Vertrag von Maastricht und das DemokratieDefizit der Europäischen Union (Fn. 92), 171 ff. 98
J. Habermas, Braucht Europa eine Verfassung?, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, 185, 186. Ebenfalls zu jener „transnationalen und potentiell unabschließbaren politischen Dynamik“ J. Goodman, Die Europäische Union, in: Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, 331, 338. 99
J. H.H. Weiler, Problems of Legitimacy in Post 1992 Europe, Außenwirtschaft 46 (1991), 411-437, bezeichnet die Vetomacht jedes einzelnen Mitgliedsstaates als „the single most legitimating element“ im europäischen Integrationsprozess. Zu den Begründungs-, Akzeptanz- und Legitimationsprobleme, die das Umschalten auf Mehrheitsentscheidungen mit sich bringt, siehe auch Seeler, Die Legitimation des hoheitlichen Handelns der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union (Fn. 97), 721, 729 und 732; Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit (Fn. 92), 195, 203. Aus politologischer Sicht Kielmansegg, Integration und Demokratie (Fn. 92), 47, 48, 52 f.; ders., Lässt sich die Europäische Gemeinschaft demokratisch verfassen?, Europäische Rundschau 22 (1994), 23, 30 f. 100
Siehe hierzu unten: 3. Kapitel, II. Homogenität und Mehrheitsprinzip.
Herausforderungen für den Begriff der Homogenität
33
mität von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft grundsätzlich.“101 Wird bei Abstimmungen das Mehrheitsprinzip angewendet, dann unterbricht man „die »ununterbrochene Legitimationskette«, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Volk über die von ihm gewählte Vertretung mit jedem staatliche Aufgaben wahrnehmenden Organ und Amtswalter verbinden muss“102, immer dann, wenn einzelne Mitgliedsstaaten, die trotz ihres Vetos an die getroffenen Entscheidungen gebunden sind und diese in ihrem Territorium umsetzen müssen, überstimmt werden. Aber selbst in dem Fall, in dem ein Mitgliedsstaat nicht zur unterlegenen Minderheit gehört, d.h. die getroffene Entscheidung nicht seinem Abstimmungsverhalten widerspricht, kann der gefasste Entschluss, weil er nur im Zusammenwirken mit anderen Staaten zustande gekommen ist und nur mit anderen zustande kommen kann, kaum noch als autonome bzw. souveräne Entscheidung eines einzelnen Staates aufgefasst werden. Den sich durch die Ausdehnung des Mehrheitsprinzips aufdrängenden Bedarf nach einer originären, d.h. nicht allein durch die Nationalstaaten vermittelten Legitimation, beschreibt Ingolf Pernice zutreffend: „Je umfangreicher der Bereich der Mehrheitsentscheidungen im Rat wird, desto wichtiger wird neben der Exekutivrechtsetzung im Rat durch eine parlamentarische Mitwirkung die Kompensation des frustrierten Willens der überstimmten Regierungen durch eine unmittelbare Legitimation der Entscheidung auf Gemeinschaftsebene.“103 Mit dem Europäischen Parlament besteht auf europäischer Ebene eine Institution, die jenem Bedürfnis, die Ausübung von Hoheitsgewalt jenseits des Nationalstaates demokratisch zu legitimieren und (verfassungs-)rechtlich zu binden, entgegenkommt. Der Ausbau der Kompetenzen, der Beteiligungs- und
101
Kielmansegg, Integration und Demokratie (Fn. 92), 47, 52.
102
Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit (Fn. 92), 195, 200. 103
Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie (Fn. 91), 449, 468. Ähnlich Scharpf, Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus (Fn. 92), 293, 299, der „eine genuin demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen“ fordert, „die künftig in der Lage wäre, Mehrheitsentscheidungen auch dann zu stützen, wenn dadurch bestimmte Interessen in bestimmten Ländern gravierend benachteiligt werden“. Siehe schließlich auch H. Brunkhorst, Taking democracy seriously, in: Eriksen/Joerges/Rödl (eds.), Law and Democracy in the Post-National Union (ARENA Report 1/2006), 433, 454: “The more supranationally a post-national constitutional regime is organised, the higher its need for direct democratic legitimation becomes.”
34
1. Kapitel
Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments104, ist es indes wiederum, der zur Diskussion über ein genuin europäisches Legitimationssubjekt und über dessen spezifische Gestalt Anlass gibt.
b. Europäische Legitimation und „Europäisches Volk“ Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ungeachtet der weiteren Entwicklung der Europäischen Union, bereits das erreichte Integrationsniveau nicht mehr mit dem klassischen intergouvernementalen Verfahren, welches die Union anfangs zwangläufig benutzen musste, erfasst und bearbeitet werden kann.105 Vielmehr ist bereits mit den bisherigen Integrationsschritten das Interesse an einer direkten, d.h. nicht über die Regierungen der Mitgliedstaaten vermittelten Legitimation der europäischen Ebene gewachsen. Das Problem, so Ernst-Wolfgang Böckenförde, „ist einfach zu beschreiben. Eine supranationale Gemeinschaft, in der eine eigenständige Hoheitsgewalt ausgeübt wird, die die Lebensverhältnisse der Bürger und das Recht, das für sie gilt, nachhaltig bestimmt, bedarf im demokratischen Zeitalter ihrerseits einer demokratischen Struktur.“106 Die Tatsache, so Böckenförde weiter, dass die Uni104
Zum kontinuierlichen und graduellen Ausbau der Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments, siehe statt vieler R. Corbett, The European Parliament, 2000. 105
Angesichts der „Verselbständigung des EG-Rechts gegenüber dem Staatsrecht der Mitgliedstaaten“ und der Entwicklung einer „Eigendynamik jenseits des mitgliedstaatlichen Ableitungszusammenhangs“, so Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes (Fn. 93), 41, 47 ff., könne „das geltende Gemeinschaftsrecht nur noch in sehr eingeschränktem Maß auf die einzelstaatlichen Übertragungsakte zurückgeführt werden“. Zu den Leistungsgrenzen des „intergouvernementalen“ Verfahrens U. Fastenrath, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union, EuR-Beiheft 1/1994, 101, 115, bzw. der „Rechtsform völkerrechtlicher Verträge“; Grimm, Vertrag oder Verfassung (Fn. 90), 509, 509. 106
E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1997, 35 f. Zur Notwendigkeit der rechtlichen Bindung und demokratischer Organisation europäischer Hoheitsgewalt, siehe auch D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 585; Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union (Fn. 97), 133, 146 ff., insbesondere 151, derzufolge sich das „Prinzip demokratischer Legitimation nach Art. 20 Abs. 2 GG [...] auf jede Form der Ausübung hoheitlicher Befugnisse [erstreckt], die verbindliche Geltungskraft für das deutsche Volk erlangt, unabhängig davon, ob die Befugnisse durch nationale Stellen oder durch nichtstaatliche europäische Einrichtungen wahrge-
Herausforderungen für den Begriff der Homogenität
35
on ihrer Struktur nach „eine Gemeinschaft von Nationen und Nationalstaaten ist“, entlaste sie nicht davon, „Formen und Vorkehrungen zu installieren oder auszubauen, die den Völkern und Menschen in Europa die Erfahrung vermitteln, dass das Handeln der europäischen Institutionen, ja die europäische Politik, nicht etwas für sie Fernes und Fremdes ist, sondern auch ihre Sache, an der sie beteiligt sind, die sie mitkonstituieren und auch kontrollieren.“107 Mit der sich zunehmend verbreitenden Einsicht, dass die Legitimation europäischer Hoheitsgewalt über die Mitgliedstaaten „den Demokratiebedarf des inzwischen erreichten Integrationsstandes nicht mehr zu decken“108 vermag bzw. „die demokratische Legitimation des in Deutschland zur Anwendung gelangenden Unionsrechts nicht mehr allein über den Bundestag vermittelt werden kann“109 und der daran anknüpfenden Forderung nach einer „unmittelbare[n] Legitimation der Entscheidung auf Gemeinschaftsebene“110, einer „direkte[n] Legitimation der Entscheidungen“111, einer „genuin demokratische[n] Legitimation europäischer Entscheidungen“112, einer „demokratische[n] Legitimation auf der Ebene der Gemeinschaft“113 bzw. „einer eigenen, von den Regierungen der Mitgliedstaaten unabgeleiteten demokratischen Legitimation“114 rückt zwangsläufig die Vorstellung eines europäischen Volkes, welches als Legitimationssubjekt europäischer Politik dienen und „gefährliche Legitimati-
nommen werden“. Anderer Auffassung offenbar Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation (Fn. 92), 238, 241 f.; C. O. Lenz, Vertrag von Maastricht – Ende demokratischer Staatlichkeit?, NJW 1993, 1962, 1963. 107
Böckenförde, Welchen Weg geht Europa? (Fn. 106), 37.
108
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 586.
109
P. M. Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker?, in: Drexl u.a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, 27, 54. 110
Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie (Fn. 91), 449, 468.
111
Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft (Fn. 97), 19. 112
Scharpf, Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus (Fn. 92), 293, 299. 113
Seeler, Die Legitimation des hoheitlichen Handelns der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union (Fn. 97), 721, 723. 114
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 587.
1. Kapitel
36
onslücken“115 schließen könnte, in den Fokus der rechtswissenschaftlichen Diskussion.116
c. Der Begriff der Homogenität: „Europäisches Volk“ Die Behandlung der Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten eines Legitimationssubjektes europäischer Politik ist der zentrale Anlass nicht nur für die rechtswissenschaftliche Literatur, den Begriff der Homogenität zu revitalisieren, ihn in zunehmendem Maße in den juristischen Diskurs einzuführen, sich mehr oder weniger intensiv mit seinen verfassungsrechtlichen und verfassungsgeschichtlichen Hintergründen sowie seinem semantischen Gehalt und den ihm zugeschriebenen Wirkungen und Funktionen auseinanderzusetzen. Grundlage für jene „Renaissance“117 ist eine spezifische demokratietheoretische Vorstellung, die den Volksbegriff nicht allein durch Bezugnahme auf formalrechtliche Zuordnungen von Individuen zu einer politischen Gemeinschaft konzeptionalisiert, sondern ihn darüber hinaus mit kollektiven Charakteristika wie einer gemeinsamen Kultur, Sprache, Geschichte oder einem gemeinsamen Schicksal verbindet und diese zugleich als unerlässliche Voraussetzung für die demokratische Organisation eines Gemeinwesens postuliert.118 Europa allerdings zeichnet sich gerade 115
Habermas, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? (Fn. 89), 154,
180. 116
Abseits demokratie- und verfassungstheoretischer Anforderungen und mit Blick auf das positive Recht folgt der Bedarf nach demokratischer Legitimation aus der Tatsache, dass die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates durch den Vertrag von Amsterdam im europäischen Primärrecht, in der Präambel des EU und in dessen Art. 6 Abs. 1, verankert wurden. Hierzu A. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 171 ff. Für die Übertragung von Hoheitsrechten durch die Bundesrepublik Deutschland auf die EU verlangt darüber hinaus die sog. Struktursicherungsklausel“ des Art. 23 Abs. 1 GG, dass die EU „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“. 117
So Zuleeg, What holds a nation together? (Fn. 42), 505, 510: „the idea of a homogeneous nation has had a renaissance in the context of the European integration“. 118
Umfassend zu den unterschiedlichen Definitionsmerkmalen und zu der Frage, ob in Bezug auf das jeweilige Merkmal von einem europäischen Volk gesprochen werden kann Augustin, Das Volk der Europäische Union (Fn. 3).
Herausforderungen für den Begriff der Homogenität
37
durch die Vielfalt der Sprachen, Kulturen, Regionen und Staaten sowie seine Vielfarbigkeit, Pluralität und Heterogenität aus. Zutreffend wird von der „empirisch aufweisbaren Tatsache der sozialen und kulturellen Fragmentierung und Vielfalt einer Europäischen Union“119, bei der es sich um ein „multiethnisches Gebilde“ bzw. einen „multiethnischen Nationalitätenstaat“120 handele, gesprochen. Und mit Blick auf die Erweiterung der Union wird festgestellt: „je weiter der Kreis der Mitglieder dieses imaginären Bundesstaates würde, desto schwieriger wäre es, eine rudimentäre Homogenität zu erreichen, vor allem, sie zu bewahren.“121 Das „Homogenitätsniveau“, so auch Josef Isensee, „sinkt mit jeder quantitativen Ausdehnung der Ursprungsgemeinschaft.“122 Kontrastiert man den mit Homogenitätsansprüchen und Homogenitätsforderungen angereicherten Volksbegriff mit der konstatierten pluralen und heterogenen Struktur Europas und erhebt diesen Volksbegriff zugleich zum zentralen Bestandteil einer demokratietheoretischen Position, dann kommt man nahezu zwangsläufig zu der weit verbreiteten Annahme, „dass von einem Volk der Europäischen Union im sozialwie rechtswissenschaftlichen Sinne nicht die Rede sein kann“ und es aus
119
G. Frankenberg, Pluralität verfassen (Fn. 11), 73, 75.
120
W. Vitzthum, Multiethnische Demokratie, in: Classen u.a. (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ...“, 2001, 87, 88. 121
K. Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, ZRP 1993, 98, 103. 122
Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 99. Siehe auch: ders., Nachwort, in: ders., Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, 103, 126: „Die kulturelle Homogenität ist ausgedünnt mit der territorialen Ausdehnung.“
38
1. Kapitel
„demokratietheoretischer Sicht [...] angesichts der nationalen Fragmentierung vor allem an der demokratischen Homogenität der EUBürgerschaft“123 mangelt. Eine „vollwertige demokratische Legitimation“124 europäischer Politik, vermittelt etwa über ein Europäisches Parlament, muss auch in langfristiger Perspektive, weil sich homogene Strukturen nur sehr langsam herausbilden und nur bedingt willkürlich beeinflusst werden können, scheitern. Im Ergebnis fehle der Union jene „bestimmte soziale, vor-rechtliche Gleichartigkeit“, die „die Grundlage einer auf der formalen Gleichheit der politischen Mitwirkungsrechte aufbauenden Staatsorganisation“125 bildet. Die fehlende „europäische Homogenität“126 führt zur partiellen Demokratieunfähigkeit des supranat
123
Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 261.
124
A. Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im UnionsVertrag, JZ 1997, 265, 268. 125 126
Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 261.
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 122. „In der Sache“, so Isensee, „geht es um das Mindestmaß an Gemeinsamkeit, das jeder Verband bei seinen Mitgliedern voraussetzen muss.“ Allerdings bezieht Isensee die Forderung nach „europäischer Homogenität“ an dieser Stelle scheinbar nur auf „die Übereinstimmung aller staatlichen Glieder über die gesamtstaatliche Einheit und über fundamentale Verfassungswerte und Verfassungsstrukturen“, nicht jedoch auf sprachliche, kulturelle oder geschichtliche Homogenität als Voraussetzung für die Bildung des Staates oder die Verwirklichung von Demokratie. Dafür spricht auch, dass Isensee, ebd., eine Stelle in Carl Schmitts Verfassungslehre zitiert, an der Schmitt die „Homogenität aller Bundesmitglieder“ erörtert.
Herausforderungen für den Begriff der Homogenität
39
nationalen politischen Systems und die von Jürgen Habermas gestellte Frage, „ob politische Gemeinschaften eine kollektive Identität jenseits der Grenzen einer Nation ausbilden und damit Legitimitätsbedingungen für eine postnationale Demokratie erfüllen können“127, wird mit Bezug auf die kulturelle, sprachliche und geschichtliche Heterogenität Europas wenn nicht grundsätzlich, so doch für die Gegenwart und die nahe Zukunft verneint.128
127
J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation, 1998, 91, 136. 128
Ausdrücklich mit Bezug auf die fehlende Homogenität P. Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, 63, 88, 89, 92, 93 und 99; Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 84 ff. Nach Böckenförde, Welchen Weg geht Europa? (Fn. 106), 39, kann „das europäische Parlament [...] nicht repräsentieren, was es nicht gibt: das europäische Volk“. Ohne expliziten Bezug auf den Begriff der Homogenität, häufig mit dem kurzen Hinweis auf eine fehlende „Identität“, bei der allerdings unklar bleibt, in welchem Maße diese wiederum durch homogene Strukturen geprägt ist, verneinen ein genuin europäisches Legitimationssubjekt Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unions-Vertrag (Fn. 124), 265, 268; ders., Chancen und Gefahren der europäischen Integration, JZ 1990, 301, 302; Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation (Fn. 92), 238, 241. Die beschriebene Argumentation wird zusammengefasst und kritisch kommentiert, von Griller, Ein Staat ohne Volk? (Fn. 38), 1 ff.
2. Kapitel: Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität Um Aufklärung darüber zu bekommen, warum der Begriff der Homogenität durch die geschilderten Entwicklungen herausgefordert wird und er ins Zentrum juristischer Diskussionen über die Möglichkeiten von Demokratie auf europäischer Ebene gelangt, bietet es sich an, eine Begriffsanalyse vorzunehmen, die die verschiedenen inhaltlichen Gehalte des Begriffs untersucht. Insbesondere soll dabei herausgestellt werden, welche Wirkungen die Verfassungslehre mit dem Vorhandensein einer sozialstrukturellen Homogenität verbindet. Eine darin jeweils anschließende kritische Betrachtung soll darlegen, ob die Wirkungen und Effekte, die man sich von der Homogenität eines Kollektivs verspricht, plausibel sind.
I. Homogenität und außerrechtliche Demokratievoraussetzungen Ansatzweise hat die Darstellung der Diskussion um die demokratische Legitimität der EU bereits erkennen lassen, dass der Begriff der Homogenität zunächst jene Bedingungen und Voraussetzungen transportiert, die für erforderlich gehalten werden, um ein Gemeinwesen demokratisch organisieren zu können. Dabei geht es nicht um jene schon positivierten formal-rechtlichen Bestimmungen, die das spezifische demokratische Subjekt näher kennzeichnen und die entsprechenden Verfahren und Organe demokratischer Entscheidungsprozesse in der Verfassung normieren. Der Begriff der Homogenität beschreibt vielmehr die oftmals diffus bleibenden sozialen und geistigen kollektiven Strukturen, die im außerrechtlichen und vorpolitischen Raum verortet werden. Es handelt sich um eine inhaltlich elaborierte Reformulierung des berühmten Zitates von Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der freiheitlich säkularisierte Staat „von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der
42
2. Kapitel
Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, dass heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben.“129 Im Unterschied zu Positionen, die jene für das stabile und dauerhafte Funktionieren eines freiheitlichdemokratischen Konstitutionalismus als notwendig und nur bedingt selbst generierbar erachteten Voraussetzungen eher in den subjektivmoralischen Einstellungen der Bürgerinnen, in Böckenfördes Worten: in „der moralischen Substanz des einzelnen“, und in einem gemeinsamen politischen Bekenntnis im Sinne eines „Verfassungspatriotismus“ liegen sehen130, vermittelt der Begriff der Homogenität, wie bereits das Kumulation signalisierende „und“ in Böckenfördes Zitat erkennen lässt, ein anderes Verständnis jener Voraussetzungen. Der mit dem Begriff „Verfassungspatriotismus“ verbundenen Vorstellung, dass moderne, sich durch eine konflikthafte Heterogenität und Pluralität auszeichnende Gesellschaften, die in ihr permanent produzierten Konflikte in einer verfassungsrechtlich bestimmten und begrenzten politischen Praxis, d.h. über demokratische Verfahren und die Inanspruchnahme von Kommunikationsgrundrechten austragen können, wird ein Demokratieverständnis entgegengesetzt, das auf eine vor jeder Rechtssetzung und vor jeder politischen Praxis liegende Homoge-
129
Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (Fn. 64), 92, 112. An anderer Stelle, ders., Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 22 Rn. 8, spricht Böckenförde ausdrücklich davon, dass „die Funktionsfähigkeit der Demokratie nicht unabhängig von bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen ist“. 130
Siehe vor allem Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 632 ff.; ders., Geschichtsbewusstsein und posttraditionale Identität, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, 1987, 161-179; J. Delbrück, Das Staatsvolk und die „Offene Republik“, in: Beyerlin u.a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung, 1995, 777, 785 ff. Für einen auf Nation und Staat bezogenen Patriotismus und zugleich kritisch gegenüber einem diskurstheoretisch-universalistisch verstandenen Verfassungspatriotismus O. Depenheuer, Integration durch Verfassung?, DÖV 1995, 854-860; J. Isensee, Die Verfassung als Vaterland, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, 1986, 11-35. Vermittelnd J. Gebhardt, Verfassungspatriotismus als Identitätskonzept, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/1993, 29-37. Speziell zum Konzept des Verfassungspatriotismus in Beziehung zu ethnisch-nationalen Differenzierungen Nassehi, Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung (Fn. 55), 261, 277 ff.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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nität abstellt, welche ihre Grundlage in vermeintlichen Objektivitäten wie einer nationalen Gleichartigkeit, in einer gemeinsame Sprache, Kultur, Religion oder in einer gemeinsamen Geschichte findet.131 Aus diesem Grunde müssen die Argumente, die die Bedeutung der auf der gemeinsamen Anerkennung von Verfassungsnormen stattfindenden politischen Praxis hervorheben, an Positionen, die den so konzipierten Begriff der Homogenität in eine enge Verbindung mit der Frage nach Möglichkeiten und Bedingungen der Verwirklichung von Demokratie bringen, abprallen. Denn diesen Auffassungen zufolge, ist die Akzeptanz der Verfassung, in der die für die Konfliktbearbeitung vorgesehenen Prozeduren und Freiheitsrechte normiert sind, ja gerade von einer der Implementierung der Verfassung voraus liegenden Homogenität der politischen Gemeinschaft abhängig.132 Ausdrücklich versteht Böckenförde Homogenität als eine über den Verfassungskonsens und über eine durch die Staatsangehörigkeit vermittelte formelle rechtliche Gleichheit hinausgehende „sogenannte substantielle Gleichheit“, die als „inhaltliches Substrat“133 jenes vorverfas131
Zwar nennt Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 47, daneben auch ein „gemeinsames politisches Bekenntnis“ als mögliche Grundlage der Homogenität. An anderer Stelle, ders., Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (Fn. 64), 92, 112, äußert er sich dieser Möglichkeit gegenüber aber wesentlich skeptischer. Der „Rekurs auf die »Werte«“, so Böckenförde dort, sei „ein höchst dürftiger und auch gefährlicher Ersatz; er öffnet dem Subjektivismus und Positivismus der Tageswertungen das Feld, die je für sich objektive Geltung verlangend, die Freiheit eher zerstören als fundieren.“ Dass die vermeintlichen Objektivitäten wie Sprache, aber vor allem Geschichte und Kultur, nicht minder „dem Subjektivismus und Positivismus der Tageswertungen das Feld“ öffnen, versuche ich vor allem in dem Kapitel über die Möglichkeit transnationaler Demokratie, dort bei der mangelnden Bestimmbarkeit der unklaren Volkswerdungsprozesse, in dem Kapitel über die Objektivierung, Naturalisierung und Substantialisierung von Homogenitätskriterien, sowie in dem Kapitel über Geschichte als Homogenitätskriterium zu zeigen. 132
Darüber hinaus wird vor allem die Integrationsleistung universeller Moral- und Rechtsregeln bezweifelt bzw. den politischen Entscheidungsfindungsprozessen und -verfahren der Effekt abgesprochen, selbst integrierende Wirkungen zu entfalten. Siehe etwa Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 266. Im Anschluss an Niklas Luhmann steht auch Nassehi, Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung (Fn. 55), 261, 279, einer „inklusionssichernden Kraft der Moral“ skeptisch gegenüber. 133
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 47.
2. Kapitel
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sungsmäßige „Fundament politischer Kultur“134 bilde, dessen die „Demokratie, um funktionsfähig zu sein und sich entfalten zu können“135, bedarf bzw. „von deren Vorhandensein ihre Lebens- und Funktionsfähigkeit als Organisationsprinzip der Herrschaftsausübung abhängt“136.137 Erst die als „vorrechtliche Gleichartigkeit“ verstandene demokratische Gleichheit begründe „die relative Homogenität, auf deren Grundlage allererst eine demokratische Staatsorganisation möglich wird“138. Jene demokratietheoretische Konzeption, die dem Begriff der Homogenität eine zentrale Rolle einräumt, weil sie demokratische Organisation nur dann als potentiell möglich erachtet, wenn sich das demokratische Subjekt durch eine vor jeder politischen Organisation und außerhalb der rechtlichen Normen liegende Homogenität auszeichnet, hat in der deutschen Staats- und Verfassungslehre weite Verbreitung gefunden. In Übereinstimmung mit Böckenfördes Ausführungen enthält der Begriff der Homogenität dabei zumindest immer den Sinn, dass mit ihm diejenigen im Legitimationssubjekt liegenden sozio-kulturellen Bedingungen und Voraussetzungen benannt werden, die über „die Frage der tatsächlichen Möglichkeit gelebter Demokratie“ entscheiden: „Diese Möglichkeit ist nach beinahe einhelliger, richtiger Meinung von einer gewissen Homogenität der Bevölkerung abhängig. […] Wenn diese oder jene Bedingung nicht erfüllt ist, wird es keine gelebte Demokratie geben.“139 In ähnlicher Weise und unter Zitierung von Carl Schmitt, 134
E.-W. Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: Müller u.a. (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, 1982, 301, 327. 135
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 1.
136
Böckenförde, ebd., § 22 Rn. 58.
137
Siehe vor allem E.-W. Böckenförde, ebd., § 22 passim.
138
Böckenförde, ebd., § 22 Rn. 47. In Rn. 57 sieht Böckenförde „die Voraussetzung der Demokratie in einem Volk“ in dem „Bestehen vorrechtlicher Gleichartigkeit“ und der „relative[n] Homogenität“. 139
So Th. Schilling, Die Verfassung Europas, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1996, 387, 398. Erstaunlich ist, dass Schilling die mit apodiktischem Gestus formulierte und mit den Attributen „einhellig“ und „richtig“ versehene Behauptung, gelebte Demokratie setze die Homogenität der Bevölkerung voraus, zwar in zwei Fußnoten zu belegen versucht. In der ersten Fußnote, die dem Wort „einhellig“ beigefügt ist, findet sich jedoch lediglich der Hinweis, dass I. Pernice dazu auffordert, den Gedanken der Homogenität ganz fallen zu lassen, während die zweite Fußnote auf Lorenz von Steins Aufsatz „Zur preußischen Verfassungsfrage“ verweist.
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demzufolge ein demokratischer Staat die Voraussetzungen seiner Demokratie „in der nationalen Gleichartigkeit seiner Bürger“140 findet, Demokratie also notwendig auf Homogenität angewiesen ist und nach dessen demokratietheoretischen Ausführungen es sich bei der Frage der nach der Gleichheit der Bevölkerung „nicht um abstrakte, logischarithmetische Spielereien, sondern um die Substanz der Gleichheit“141
140 141
C. Schmitt, Verfassungslehre, 1993, 231.
C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1996, 13 f. und 18 ff. Ausdrücklich hält Schmitt in der dazugehörigen Fußnote fest, dass die „zur Demokratie gehörige politische Substanz [...] wohl nicht im bloß Ökonomischen liegen [kann]. Aus der ökonomischen Gleichheit folgt noch keine politische Homogenität.“ In der Einschätzung der Bedeutung der Ökonomie liegt denn wohl auch der größte Unterschied hinsichtlich des Verständnisses des Begriffs der Homogenität zwischen den beiden Antipoden der Weimarer Staatslehre. H. Heller, Demokratie und soziale Homogenität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1971, 421, 429, verbindet als Sozialist seine Forderung nach der Milderung oder Überwindung von Klassengegensätzen mit der Frage der Möglichkeit von Demokratie und der Bildung politischer Einheit und stellt als „Voraussetzung der politischen Demokratie“ auf einen „Zustand sozialer Homogenität“ ab bzw. sieht die Existenz von Demokratie „in viel höherem Grade als jeder anderen politischen Form [...] von dem Dasein einer sozialen Angeglichenheit abhängig.“ Vor allem die in dem gleichen Aufsatz erfolgende Disqualifizierung von außerhalb des Ökonomischen liegenden Integrationsfaktoren und Identitätsgehalten wie gemeinsamer Sprache, Geschichte, Kultur oder einer „anthropologischen Homogenität“ als Phänomene der Vergangenheit, zeigen, dass Heller primär auf die Überwindung der die Weimarer Republik spaltenden ökonomisch bedingten Klassengegensätzen und den sozialen Ausgleich abzielte. Allerdings weist T. Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, 1990, 79, darauf hin, dass Heller zwar der Prämisse einer vorausgesetzten substantiellen Homogenität der Gesellschaft als Grundlage und Garant politischer Einheit vehement widerspricht, im Gegenteil von der pluralen und heterogenen und von verschiedensten Interessens- und Weltanschauungswidersprüchen durchzogenen Gesellschaft ausgeht und diese zum Ausgangspunkt seiner Staatslehre macht, gleichwohl „diesen pluralismustheoretischen Strang [...] nicht immer konsequent“ durchhält. Weil Heller, so Vesting zutreffend, „in mancher Hinsicht so sehr den etatistischen Ordnungsvorstellungen der Sozialdemokratie verpflichtet ist“, relativiert „die Sorge um einen funktionsfähigen Staat die Einsicht in die Pluralität und Heterogenität der bürgerlichen Gesellschaft an manchen Stellen bis zur Unkenntlichkeit.“ Zum Begriff der Homogenität bei Hermann Heller und den Differenzen zu Schmitts Homogenitätsbegriff, siehe die Beiträge von M. Llanque, Die Theorie politischer Einheitsbildung in Weimar und die Logik von Einheit und Vielheit (Rudolf Smend, Carl Schmitt, Hermann Heller), 157-176, vor allem 171 ff., und U.
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handelt142, spricht Josef Isensee davon, dass die Demokratie nur lebensfähig ist, „wenn das Volk als ihr Herrschaftsträger innere Konsistenz aufweist, der Wille zur politischen Einheit es zusammenhält und dieser Wille hinreichenden Homogenitätsgrund findet“143. Unter der Überschrift „Soziokulturelle Voraussetzungen der Demokratie“ erörtert schließlich auch Marcel Kaufmann „jene soziokulturellen und – strukturellen Faktoren, die sich bislang aufgrund der genetischen Verknüpfung von Demokratie, Staat und Nation vornehmlich im Nationalstaat verwirklicht haben.“144 Wie die zuvor zitierten Autoren versteht auch Kaufmann Homogenität als „eine bestimmte soziale, vorrechtliche Gleichartigkeit“, die „die Grundlage einer auf der formalen Gleichheit der politischen Mitwirkungsrechte aufbauenden Staatsorganisation“ darstelle und die zwingend erforderlich sei, „damit politische Preuß, Die Weimarer Republik, 177-187, vor allem: 178 ff., beide in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, 1995. 142
Zum Begriff der Homogenität im Kontext der Schmittschen Demokratiekonzeption, siehe die umfassende Untersuchung von H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 1995, vor allem 137 ff. und 146 ff. Hofmann schreibt, ebd., 147, zutreffend, dass für Schmitt der „zentrale Begriff der Demokratie [...] Gleichheit im Sinne substanzieller Gleichartigkeit und nicht etwa Freiheit“ ist. 143
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 123. An anderer Stelle schreibt Isensee, ders., Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 708 f., dass die Demokratie nicht notwendig „auf nationaler Einheit gründen“ muss. Allerdings biete „sie ihre optimale Voraussetzung.“ Dass Isensee mit „nationaler Einheit“ „ein Mindestmaß effektiver Homogenität als Grundbestand an Gemeinsamkeiten, wie sie Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur und Interessen hervorbringen können“, meint, ergibt sich aus den der zitierten Stelle vorangehenden Ausführungen. Ähnlich auch P. Kirchhof, Die Staatenvielfalt, in: Hengstschläger u.a. (Hrsg.), Für Staat und Recht, 1994, 947, 949 f.; ders., Der demokratische Rechtsstaat (Fn. 74), § 221 Rn. 9, 14: „Gemeinsamkeit von Kultur, Rechtsverständnis, Tradition, Nachbarschaft, gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen Anliegen“; „gemeinsame Geschichte und Erfahrung“. Im Widerspruch hierzu schreibt Kirchhof später in Rn 75: „Den elementaren Zusammenhalt findet eine Rechtsgemeinschaft in ihrer Verfassung.“ 144
Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 48 f. Als „zweite wesentliche soziokulturelle Bestimmungsgröße einer lebendigen Demokratie“ so Kaufmann, „treten die Institutionen und Strukturen einer politischen Öffentlichkeit hinzu, in denen die öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt.“ Zu der Frage, ob mit dem Verweis auf die Institutionen und Strukturen einer politischen Öffentlichkeit nicht doch wiederum auf eine Homogenität, nämlich eine sprachliche, verwiesen wird, siehe unten: 4. Kapitel, II. Homogenität und Sprache.
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Einheitsbildung im demokratischen Sinne, nämlich als politische Selbstaneignung eines Volkes überhaupt möglich ist.“145 Negativ formuliert wird mit dem Begriff der Homogenität nach alledem die Demokratiefähigkeit dort bezweifelt oder gar geleugnet, wo eine zumeist nicht näher spezifizierte homogene soziokulturelle Struktur des Kollektivs, welches sich demokratisch organisieren will, fehlt bzw. nicht in einem ebenfalls schwer zu bestimmenden ausreichenden Maße vorhanden ist. Die für das Gelingen der demokratischen Organisation politischer Entscheidungsprozesse erforderlichen Voraussetzungen seien, so die mit dem Begriff der Homogenität transportierte Aussage, vielmehr nur dort gegeben, wo eine über eine vorrechtliche und vorpolitische Gleichheit, die ihre Grundlage wiederum in gemeinsamer Sprache, Kultur, Abstammung, Geschichte oder Religion findet, bereits hinreichend integrierte Gemeinschaft besteht. Die hinter dieser Annahme liegende soziologische Prämisse, dass es, wie Thomas Vesting mit Bezug auf Hermann Heller geschrieben hat, „in der Demokratie ein gemeinsames kulturelles Terrain geben muss, in der die unterschiedlichen Wertvorstellungen und Interessen einer pluralistischen Gesellschaft zur Deckung kommen und dass es eines Minimums an sozialer Homogenität bedarf, damit eine friedliche Koexistenz von unterschiedlichen Willen, Mächten und Gruppen in einer sozial differenzierten Gesellschaft möglich ist“146, führt aber nicht nur dazu, dass die Verfassungslehre den „Bereich des Juristischen“147 verlässt und sich auf die Bestimmung der vermeintli145
Kaufmann, ebd., 261 f. Siehe auch Schmitz, Integration in der Supranationalen Union (Fn. 18), 307, demzufolge kein Staat „ohne eine Grundlage von Gemeinsamkeiten existieren [kann]; auch der Einheitsstaat kennt Vorbedingungen seiner Lebensfähigkeit.“ Demokratie habe „„vorrechtliche Voraussetzungen“ und auch diese liegen [...] in einem Mindestmaß an Homogenität.“ Konkretisiert wird jene Homogenität von Schmitz, ebd., 313 ff., als: „Homogenität der Lebensverhältnisse, d.h. der äußeren Umstände, die das Leben vor Ort prägen, soweit sie nicht durch die Natur, sondern die menschliche Zivilisation vorgegeben sind“, Homogenität der zivilisatorischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, „Rechts- und Verfassungshomogenität“, „Homogenität der Wertordnungen“ sowie „Homogenität der Kulturen (i.w.S.)“ und „substantielle Gemeinsamkeiten“. 146
Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation (Fn. 141), 86. Siehe auch Zuleeg, What holds a Nation together? (Fn. 42), 505, 523, der von dem Argument spricht, “that democracy depends on substructures which are not attainable in a multilingual, multicultural and multinational polity.” 147
Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik (Fn. 1), 366, 375.
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chen Homogenitätsmerkmale des Kollektivs konzentriert.148 Darüber hinaus wird Homogenität als Charakterisierung der außerrechtlichen und vorpolitischen Merkmale eines Kollektivs in eine unauflöslich scheinende Verbindung mit der Frage nach der Form politischer Organisation gebracht.
II. Homogenität und Mehrheitsprinzip Wird hinsichtlich des Begriffs der Homogenität allein darauf verwiesen, dass mit ihm außer- oder vorrechtliche, im Sozialen wurzelnde Bedingungen von Demokratie umschrieben werden, bleibt die Frage weitgehend unbeantwortet, warum gerade das Demokratieprinzip in besonderem Maße voraussetzungsreich ist und das Vorliegen bestimmter Bedingungen erfordert. Nähere Aufklärung hierüber lässt sich gewinnen, wenn man die in der Verfassungslehre, aber auch in Politologie und Soziologie diskutierten Interdependenzen zwischen dem Mehrheitsprinzip und dem Begriff der Homogenität untersucht. Dadurch gelangt man nicht nur auf ein weiteres Feld, in dem der Begriff der Homogenität eine zentrale Rolle einnimmt, sondern erhält zugleich eine nähere Spezifizierung des Bedeutungsgehaltes des Begriffs.
1. Erläuterungen zum Mehrheitsprinzip Obwohl seit der Antike bekannt und angewandt und obwohl nicht grundsätzlich mit einer bestimmten Staatsform unauflöslich verbunden, wird das Mehrheitsprinzip149 erst im Zuge der liberal-demokratischen, 148
Siehe hierzu unten: VII. Objektivierung, Naturalisierung und Substantialisierung von Homogenitätskriterien, 2. Diskussion und Kritik, b. Demokratietheoretische Folgen: Ontologie statt Politik. 149
Allgemein zum Mehrheitsprinzip W. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983; Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 17), 1973; ders., Der Mehrheitsentscheid im Rahmen der demokratischen Grundordnung, in: Häfelin u.a. (Hrsg.), Menschenrechte, Föderalismus, Demokratie, 1979, 301-325; H. Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94-118; L. Roos, Mehrheitsregel im Entscheidungsprozess, in: Rauscher (Hrsg.), Mehrheitsprinzip und Minderheitenrecht, 1988, 9-
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gegen die alten monarchischen Gewalten und die Idee einer »pars sanior«, also einer mit qualifizierter Einsicht versehenen Minderheit, gerichteten Strömungen des 19. Jahrhunderts, d.h. „mit dem Aufstieg des Gedankens der Volkssouveränität und der Entstehung politisch bestimmender nationaler Volksvertretungen sowie der Einrichtungen von Volksabstimmungen“ zum „grundlegenden Element der politischen Willensbildung.“150 Kam es zuvor bereits in den ständisch-korporativen Vertretungen zur Anwendung, so wurde das Mehrheitsprinzip in den entstehenden und im politischen System zunehmende Bedeutung einnehmenden parlamentarischen Repräsentativkörperschaften zur „unbestrittenen Entscheidungsregel“151 Benutzt werden konnte es sowohl für die Wahl der Repräsentanten als auch für die Entscheidungsfindung innerhalb der parlamentarischen Körperschaften.152 Demokratietheore53; W. Jäger, Mehrheit, Mehrheitsprinzip, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 1987, Bd. 3, 1082-1085. Zur Geschichte des Mehrheitsprinzips O. v. Gierke, Über die Geschichte des Majoritätsprinzipes, in: Guggenberger/Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 1984, 22-38 (erstmals veröffentlicht, in: Schmollers Jahrbuch 39 (1915), 565 ff.); H. Hattenhauer, Zur Geschichte von Konsens- und Mehrheitsprinzip, in: ders./Kaltefleiter (Hrsg.), Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, 1986, 1-22; Becker, Mehrheitsprinzip (Fn. 149), in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, 1984, 432-438. Zu den zahlreichen Versuchen der Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips R. Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987; Hofmann/Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (Fn. 70), 165, 188 ff; W. Jäger, Mehrheit, Minderheit, Majorität, Minorität, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 1982, 1021, 1027-1062. Im GG ist das Mehrheitsprinzip explizit in den Art. 42 II, 52 III, 54 VI, 63 II-IV, 67 I, 68 I genannt; eine explizite Norm, die das Mehrheitsprinzip als allgemeinen und durchgängig anzuwendenden Entscheidungsmodus bestimmt, fehlt indes. Nach E. Benda, Demokratie, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 1985, Bd. 1, 1192, 1195, gilt es „überall dort, wo nicht, wie etwa für Verfassungsänderungen, andere Mehrheiten als die einfache festgelegt sind“. 150
Scheuner, Der Mehrheitsentscheid im Rahmen der demokratischen Grundordnung (Fn. 149), 301, 304 und 308. Die Forderung, dass „die Generalstände nicht nach Ständen, sondern nach Köpfen abstimmen sollen“, d.h. zu zählen zu gewichten, wurde im Vorfeld der französischen Revolution von Abbé Sieyès formuliert E. J. Sieyès, Qu’est-ce que le tiers état?, 1988, 41 ff. 151 152
Jäger, Mehrheit, Mehrheitsprinzip (Fn. 149), Bd. 3, 1084.
B. Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie?, in: ders./Kempf (Hrsg.). Bürgerinitiativen und repräsentatives System, 1978, 18, 27 f., der von der „Zentralstellung des Mehrheitsprinzips“ spricht.
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tisch nimmt das Mehrheitsprinzip die für die Moderne charakteristische Entdeckung des Individuums, seine Qualifizierung als sozialer und vor allem politischer Handlungsträger in der Weise auf, dass das allgemeine Wahlrecht zwar zunehmend ausgebaut, zugleich aber das Einstimmigkeitsprinzip, das aufgrund der bestehenden Pluralität der Interessen entweder zur Entscheidungsunfähigkeit oder zumindest zu einer nicht praktikablen Aufschiebung der Entscheidung führen würde, zugunsten der Einführung und Anwendung eines für kollektiv bindende Entscheidungen besser geeigneten Entscheidungsmodus zurückgewiesen wird. Aus technischer Perspektive ist das Mehrheitsprinzip gleichwohl nicht mehr, als eine „Entscheidungstechnik kollegialer Beschlusskörper“153, ein „Mechanismus zur Befriedigung des Entscheidungsbedarfs im Gemeinwesen“154, ein „Verfahren der Entscheidung“ bzw. ein „Mittel zur Gewinnung einer Entscheidung“155, ein „Mechanismus der Entscheidungsfindung und Konfliktregulierung“156, eine „bloß formale Entscheidungsregel“157 bzw. ein „Entscheidungsmodus“158, „der eine Sachentscheidung gegebenenfalls auch ohne Einigung ermöglicht.“159 Innerhalb eines Kollektivs ermöglicht es das Mehrheitsprinzip unter mehreren Entscheidungsalternativen auszuwählen und eine Entscheidung zugunsten einer Alternative zu treffen. Als Mindestvoraussetzung seiner Anwendung, unabhängig von der Frage, ob es um Personal- oder Sachentscheidungen geht, muss der als abstimmungs- und entscheidungsberechtigt geltende Personenkreis vor der jeweiligen Abstimmung bestimmt sein, damit überhaupt festgestellt werden kann, ob die für die Entscheidungsfindung ausschlaggebende Mehrheit erreicht wurde. Hierin spiegelt sich ein der Demokratie inhärenter Gedanke, denn diese „setzt ein Gemeinwesen mit Mitgliedern – den Demos – voraus, durch die und für die der demokratische Diskurs mit seinen vielen Varianten stattfindet. Die Autorität und Legitimität einer Mehrheit, sich gegen153
Hofmann/Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (Fn. 70), 165, 186. 154
Ch. Gusy, Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat, AöR 106 (1981), 329, 330. 155
Scheuner, Der Mehrheitsentscheid im Rahmen der demokratischen Grundordnung (Fn. 149), 301, 301. 156
Jäger, Mehrheit, Mehrheitsprinzip (Fn. 149), Bd. 3, 1083.
157
Jäger, Mehrheit, Minderheit, Majorität, Minorität (Fn. 149), 1021, 1024.
158
Benda, Demokratie (Fn. 149), 1195.
159
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1993, Rn. 139.
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über einer Minderheit durchzusetzen, existiert nur innerhalb politischer Grenzen, die durch den Demos definiert werden.“160 Als Folge sieht das Mehrheitsprinzip vor, dass der Wille des vor der Entscheidung definierten Kollektivs mit dem Willen des größeren Teils der zur Teilnahme an der Entscheidung Berechtigten gleichgesetzt wird, Letzterer also für die Gesamtheit als verbindlich erklärt wird.161 Auch wenn mit dieser Fiktion die Einheit des politischen Gemeinwesens zwar nicht mehr „auf zeitlich prinzipiell unlimitierte Wahrheitsansprüche gegründet [wird], sondern auf zeitlich limitierte und sachlich spezifizierte empirische Mehrheitsentscheidungen, die immer vorläufig und revidierbar sind und mithin die Differenz nicht auslöschen, sondern bewahren und bestätigen“, bleibt das Mehrheitsprinzip und dessen Anwendung doch mit der Aufgabe verknüpft, immer wieder die in der Gesellschaft vorhandenen Antagonismen und Spaltungen zu überwinden und demgegenüber in einzelnen Abstimmungen fortlaufend die Einheit des Ganzen herzustellen und zur Geltung zu bringen.
2. Akzeptanz und Folgebereitschaft Eine detaillierte Beschreibung des Problems, die Einheit des politischen Gemeinwesens unter Anwendung des Mehrheitsprinzips immer wieder herzustellen, findet sich bereits bei Hermann Heller: „Demokratie ist Herrschaft des Volkes als Einheit über das Volk als Vielheit. Das technische Mittel der demokratischen Einheitsbildung ist einzig und allein die freiwillige Unterwerfung der Minorität unter den Willen der Majorität, der Verzicht der Minderheit auf ihre gewaltsame Durchsetzung gegen die Mehrheit, der Verzicht der Mehrheit aber auf gewaltsame Unterdrückung der Minderheit und ihrer Aussichten, im nächsten Fall zur Majorität zu werden. Der Majoritätsentscheid ist aber sowohl logisch wie 160 161
Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 94.
Zutreffend spricht M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, 190 f., daher von einem „Instrument verbindlicher Entscheidungsfindung, d.h. der relativen Willensvereinheitlichung im Sinne der Hervorbringung eines verbindlichen Votums, welches dem entscheidungsberufenen Verband als sein „Willen“ zugerechnet werden kann.“ Ähnlich auch N. Bobbio, Die Mehrheitsregel, in: Guggenberger/Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 1984, 108, 125. Zu den Anfängen und zur Begründung dieser „fictio iuris“ im römischen Recht sowie zu den Folgen, siehe Jäger, Mehrheit, Minderheit, Majorität, Minorität (Fn. 149), 1021, 1025 ff.
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politisch-normativ nur innerhalb einer Totalität sinnvoll; Mehrheit hat Verpflichtungskraft nur innerhalb einer Ganzheit.“ Auf die „geistig parlierende Bestätigung“ des politischen Willens, könne man sich nur beschränken und seine „bessere Überzeugung nur dann dem Mehrheitswillen gewaltlos unterordnen, wenn ich die Gesamtexistenz der konkreten Willens- und Wertgemeinschaft politisch (wenn auch religiös und ethisch nur relativ) höher einschätze als die jedesmalige Durchsetzung meiner vielleicht besseren Einsicht.“162 Einheit in diesem Sinne kann demnach nur gelingen, wenn die in der konkreten Entscheidung unterlegene Minderheit die Gleichsetzung der Majorität mit der Beschlussfassung des Ganzen und damit die für alle Mitglieder des politischen Gemeinwesens geltende Verbindlichkeit der von der Mehrheit getroffenen Entscheidung anerkennt. Trotz anderer, möglicherweise unberücksichtigt gebliebener oder gar entgegenstehender eigener Interessen, Überzeugungen oder Auffassungen, sollen auch die der Minderheit angehörenden Bürger entsprechend der von der Mehrheit getroffenen Entscheidung handeln und diese nicht boykottieren. Unabdingbare Voraussetzung einer wiederkehrenden Anwendung des Mehrheitsprinzips innerhalb eines sich als Einheit verstehenden politischen Gemeinwesens ist mithin die Bereitschaft zur Hinnahme und Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung durch diejenigen, die gegen die sich bei der Abstimmung durchsetzende Mehrheit gestimmt haben.163 Auch unter der auf Permanenz gestellten Differenzierung des Gemeinwesens in Mehr162
Heller, Europa und der Fascismus (Fn. 4), 463, 469. Für Heller „sind die sozialen Gegensätze in dem gleichen Augenblick nicht mehr demokratisch zu organisieren, in dem dem politischen Gegner die gemeinsame Diskussionsgrundlage nicht zugebilligt wird.“ Ganz ähnlich findet man diesen Gedanken wieder bei N. Luhmann, Partizipation und Legitimation, in: ders., Soziologische Aufklärung 4, 1994, 152, 159, demzufolge die Auswahl zwischen verschiedenen politischen Orientierungen „nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine moralische Neutralisierung der Option voraus[setzt]. Die Regierenden sind aufgefordert, die Opposition moralisch zu achten und umgekehrt. Die demokratische Einstellung zeigt sich in der moralischen Anerkennung des Gegners. Sie ist Bedingung für das Funktionieren eines binären politischen Code, der die gesamte Politik an der Frage orientiert, wer an der Regierung und wer in der Opposition ist.“ 163
Siehe hierzu Roos, Mehrheitsregel im Entscheidungsprozess (Fn. 149), 9, 15; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 149), 175. J. Isensee, Widerstand gegen den technischen Fortschritt, DÖV 1983, 565, 567 und 570, spricht von der „Bereitschaft, auch die Niederlage im Verfahren“ hinzunehmen und der mit dem demokratischen Entscheidungsprozess verbundenen „Pflicht zum gesetzlichen Gehorsam“.
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heit/Minderheit darf es, wenn die Einheit erhalten bleiben soll, nicht dazu kommen, dass die unterlegene Minderheit der Mehrheitsentscheidung die Anerkennung verweigert, ihre Verbindlichkeit bestreitet und aus dem politischen Verband entweder dissertiert oder gegen die Mehrheit gewaltsam rebelliert.164 Geht man der Frage nach, warum sich die unterlegenen Minderheiten nicht in der zuletzt beschriebenen Weise verhalten und infolge ihrer Abstimmungsniederlage die Einheit des politischen Gemeinwesens aufkündigen, sie sich vielmehr überhaupt auf eine Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip einlassen und sie „nach demokratischen Regeln verlieren können“165, d.h. die Mehrheitsentscheidung ohne Widerstand als für sie verbindlich akzeptieren und befolgen, stößt man in verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen, soziologischen und politologischen Arbeiten auf den Begriff der Homogenität.
3. Voraussetzungen und Bedingungen der Anwendung des Mehrheitsprinzips Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass das Mehrheitsprinzip „kein voraussetzungsfreies, gleichsam selbstevidentes politisches Formprinzip“166 darstellt, seine Geltung und Anwendung vielmehr von spezifischen Bedingungen und Voraussetzungen abhängig ist und auf Grenzen stößt. Die diesbezüglich bestehende Einigkeit lässt sich schon daran ablesen, dass überhaupt die „grundlegende Frage nach den Voraussetzungen und Grenzen des Mehrheitsprinzips als verbindlicher Entscheidungsregel in der Demokratie“ und nach den „Bedingungen, Wirksamkeiten und Gefährdungen der Mehrheitsregel im demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess“167 gestellt wird, man die „un164
Aus soziologischer Perspektive, siehe hierzu bereits den „Exkurs über die Übereinstimmung“ in G. Simmel, Soziologie, 1923, 142-147. 165
Frankenberg, Die Verfassung der Republik (Fn. 13), 1997, 213.
166
B. Guggenberger, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, in: ders./Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 1984, 184, 187. Auch nach Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat (Fn. 149), 94, 101, ist das Mehrheitsprinzip „kein bloß technisches, völlig unpolitisches Formprinzip“, das sich deshalb „auch nicht einfach „herbeidekretieren“ lässt. 167
W. Steffani, Mehrheitsentscheidungen und Minderheiten in der pluralistischen Verfassungsdemokratie, ZParl 1986, 569, 569 f.
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geschriebenen Funktionsvoraussetzungen für die Anwendbarkeit des politischen Formprinzips der Mehrheitsregel“ bzw. die „funktionsnotwendigen Voraussetzungen für die Gültigkeit der Mehrheitsregel“168 erörtert, nach den „Grenzen, innerhalb deren das Majoritätsprinzip mit überzeugender Kraft angewandt werden kann“169 gesucht oder der „Katalog an notwendigen Voraussetzungen zur Sicherung des Funktionierens der Mehrheitsregel“170 thematisiert wird. Häufig werden dabei die dem Mehrheitsprinzip immanenten Anwendungs- und Geltungsvoraussetzungen nicht in dem in der Verfassung institutionalisierten und normierten demokratischen Verfahren, sondern in außerhalb des Rechtlichen liegenden „verfassungsrechtlich z.T. nicht normierbaren soziologischen und politisch-kulturellen Voraussetzungen und Entsprechungen“171 lokalisiert und auf „gleichsam natürliche Schranken“172 bzw. „soziologische Grenzen“173 hingewiesen. Zieht man systemtheoretisch informierte Ausführungen zum Mehrheitsprinzip heran, zeigt sich, dass es sich bei der Behauptung, das Mehrheitsprinzip habe Voraussetzungen und Grenzen, nicht um eine anspruchsvolle Aufladung des Mehrheitsprinzips handelt. Niklas Luhmann zufolge ist die „Differenz von beständig arbeitendem Gesamtsystem und einzelnen Verfahrenssystemen eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Konflikt regulierbar wird. Auf diese Weise lässt sich gewährleisten, dass eine übergreifende Orientierung das Bewusstsein ständig begleitet und dass die Erhaltung dieses Gesamtsystems stets wichtiger bleibt als die Erledigung jeder einzelnen Auseinandersetzung. Diese Orientierung am umfassenden System gewinnt praktische Realität vor allem in der formalen Entscheidungsregel des Gesetzgebungsverfahrens: im Mehrheitsprin-
168
Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie? (Fn. 152), 18, 38.
169
Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 17), 8. Dort, 45 ff., auch zu den „Voraussetzungen und Grenzen seiner Anwendung“. 170
Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat (Fn. 149), 94, 107. 171
Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie? (Fn. 152), 18, 29. Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat (Fn. 149), 94, 102, spricht davon, dass „ein durch nichtrechtliche Bande zusammengehaltenes soziales Ganzes existieren muss“. 172
Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (Fn. 32), 65 f.; ders., Das Problem des Parlamentarismus, 1968, 36 f. 173
P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlichdemokratischen Grundordnung, JZ 1977, 241, 242 und 244.
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zip.“174 Institutionalisiere man dieses für das politische System als Entscheidungsregel und wolle man die „evolutionär sowieso unwahrscheinliche und prekäre binäre Codierung Regierung/Opposition“ aufrechterhalten, um damit die Möglichkeit zu haben, „nacheinander Entgegengesetztes zu tun und die Entscheidung darüber in der politischen Wahl zur Disposition zu stellen“, müsse „ein ausreichendes Maß an Liquidität oder Liquidierbarkeit der Ressourcen und Engagements sichergestellt“175 sein.
4. Homogenität als Bedingung der Anwendung des Mehrheitsprinzips Auch wenn demnach zwar Einigkeit darüber besteht, dass das Mehrheitsprinzip deshalb anspruchsvoll ist, weil es auf Bedingungen und Voraussetzungen angewiesen ist, bleibt eine große Reichweite an qualitativ sehr unterschiedlichen und graduell nahezu beliebig abstufbaren Antworten auf die Frage, wie das auch bei Luhmann unbestimmt bleibende „ausreichende Maß an Liquidität oder Liquidierbarkeit der Ressourcen und Engagements“ näher zu spezifizieren ist. Neben Positionen, die die Akzeptanz- und Folgebereitschaft der in einer Abstimmung unterlegenen Minderheit mit dem Hinweis auf einen „Basis- und Grundkonsens“ im Sinne eines „breiten Fundus weithin akzeptierter Werte, Normen und Ziele“176 zu erklären suchen, dabei allerdings noch insofern im Bereich des Rechtlichen bleiben, als besagter Minimalkonsens in der Verfassung eines Gemeinwesens zu finden sei177, bewegen 174
N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1993, 175 f.
175
Luhmann, Partizipation und Legitimation (Fn. 162), 152, 160. Ders., Die Zukunft der Demokratie, in: ders., Soziologische Aufklärung 4, 1994, 126, 127, schlägt vor, unter Demokratie gerade jene „Spaltung der Spitze des ausdifferenzierten politischen Systems durch die Unterscheidung von Regierung und Opposition“ zu verstehen. Siehe auch: ders., Enttäuschungen und Hoffnungen, ebd., 133, 141, wo Luhmann hinsichtlich der gespaltenen Spitze, d.h. der Codierung durch das Dual Regierung/Opposition von „der unwahrscheinlichsten politischen Errungenschaft der bisherigen Geschichte“ spricht. 176
So H. Sahner, Sozialer Wandel und Konsens, in: Hattenhauer/Kaltefleiter (Hrsg.), Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, 1986, 93, 93. 177
Siehe beispielsweise H. Oberreuter, Abgesang auf einen Verfassungstyp?, in: ders. (Hrsg.), Wahrheit statt Mehrheit, 1986, 23, 28; G. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, 222. Ob es allein auf einen in der Verfassung zum
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sich Antworten, in deren Zentrum der Begriff der Homogenität steht, ganz offensichtlich im außerrechtlichen und vorpolitischen Bereich. Eine der wenigen rechtswissenschaftlichen Monographien, die sich explizit mit dem Mehrheitsprinzip auseinandersetzen, sieht die sich aus der Struktur des Mehrheitsprinzips ergebenden und für das dauerhafte Funktionieren des Mehrheitsprinzips notwendigen Voraussetzungen ausdrücklich im „Bereich des Faktischen, der sozialen und politischen Wirklichkeit“178. Neben „diffusen Übereinstimmungen politischer Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, die sich am besten mit dem Begriff der politischen Kultur umschreiben lassen“ sowie einem „politischen Grundkonsens“, der in der Verfassung seinen positivrechtlichen Ausdruck findet, müsse im Interesse der Stabilität des demokratischen Verfahrens, die „durch rechtliche Regelungen allein nicht abgesichert werden“179 könne, eine „strukturelle gesellschaftliche Homogenität“180 gegeben sein. Diese bilde insofern die Grundlage einer kontinuierlichen Anwendung des Mehrheitsprinzips, als sie jene Voraussetzungen beinhalte, die „der Integration der Minderheit in die politische Ordnung dienen, in der das Mehrheitsprinzip ein wesentliches Element bildet, und auf diese Weise Mehrheitsentscheidungen erst ermöglichen.“181 Verfassungen, die man noch unter den Begriff der „homogenen politischen Kultur“ subsumieren könnte, spiegeln vor diesem Hintergrund lediglich die „weitgehend homogene gesellschaftliche Struktur wider.“182 Eine „strukturelle Heterogenität des Staatsvolkes“183, Zerissen-
Ausdruck kommenden Konsens ankommt oder darüber hinaus eine sozialstrukturelle Homogenität erforderlich ist, wird nicht ganz deutlich bei Hofmann/Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (Fn. 70), 165, 190 f. Dagegen deutlich auf einen außerrechtlichen bzw. vorpolitischen Konsens abstellend Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie? (Fn. 152), 18, 32 und 37; ders./C. Offe, Politik aus der Basis, in: dies. (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 1984, 8, 10, 11 und 15. 178
Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 149), 175.
179
Heun, ebd.
180
Heun, ebd., 183. Als weitere Voraussetzungen diskutiert Heun, ebd., 175201, anschließend „Meinungsfreiheit und öffentliche Meinung“ sowie „Die Chance des Mehrheitswechsels und die Änderbarkeit der Mehrheitsentscheidung“. 181
Heun, ebd., 175.
182
Heun, ebd., 183 f.
183
Heun, ebd., 183.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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heit „durch rassische Gegensätze“184, fehlende „nationale Einheit“ als „wesentliches Element der Verbindung in demokratischen Staaten“185 oder mangelnde „religiös-kulturelle Homogenität“186 hindern nach Heun eine Anwendung des Mehrheitsprinzips, „weil die Probleme, die unmittelbar auf diesen Unterschieden beruhen, durch Mehrheitsentscheidung keiner Lösung zugeführt werden können, da die Interessen der strukturellen Minderheit keine Berücksichtigung bei der Mehrheit erfahren.“187 Als Alternative zu dem nicht anwendbaren Mehrheitsprinzip bleiben „in sozial, national und religiös gespaltenen Demokratien“ nur noch Formen der Entscheidungsfindung, „die unter dem Aspekt der Parität auch in Einzelfragen der täglichen politischen Arbeit einen allgemeinen Konsens zu erreichen suchen, indem Kompromisse nach der Methode des Pakteschnürens und des Junktims geschlossen werden.“188 Diese, die starken Interdependenzen zwischen dem Begriff der Homogenität und dem Mehrheitsprinzip betonende Argumentation, wird von zahlreichen Autoren übernommen. Ausgangspunkt ist immer die oben bereits referierte Feststellung, dass sich in einem politischen Gemeinwesen, das mit dem Mehrheitsprinzip kollektiv bindende Entscheidungen treffen will, mit jeder Entscheidung eine obsiegende Mehrheit und eine unterliegende, zu Gehorsam verpflichtete Minderheit ausdifferenziert. Deren Akzeptanz- und Folgebereitschaft wird dadurch erklärt, dass sich auch die Minderheit in einem „konsens- und akzeptanzstiftenden Rahmen einer vorgeformten Einheit, die auf sozialer Homogenität und Übereinstimmung in grundlegenden politischen Überzeugungen beruht“189, bewegt. Sowohl Minderheit als auch Mehrheit erscheinen als 184
Heun, ebd., 179.
185
Heun, ebd., 180.
186
Heun, ebd., 181.
187
Heun, ebd., 183.
188
Heun, ebd., 187 f. Zu alternativen Entscheidungsmodi (z.B. „einvernehmliche Regelungen (Einstimmigkeit)“, „Proporzregeln und vertragsähnliche Vereinbarungsmuster“) infolge fehlender Homogenitätsbasis, siehe auch Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie? (Fn. 152), 18, 33. 189
Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 51. Kaufmann spricht missverständlich von einem nur „formale[n] Homogenitätserfordernis der Staatsrechtslehre“. Auch wenn man, wie Kaufmann, nur die Funktionen betrachtet, die der Homogenitätsbedingung zugeschrieben werden, d.h. davon ausgeht, dass besagte Bedingung „auf politische Einheitsbildung und auf demokratische Gleichheit als Basis der genuin demokratischen Verfahren
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zwei Teile einer durch „eine bestimmte soziale, vor-rechtliche Gleichartigkeit“ definierten (politischen) Einheit, die überhaupt erst auf der Grundlage ihrer „substantiellen Gleichartigkeit“ in der Lage ist, einen „basalen Konsens über die Grundentscheidungen der politischen Ordnung, auf dessen Grundlage die spezifisch demokratischen Entscheidungsverfahren, nämlich Mehrheitsentscheid und Kompromiss akzeptiert, d.h. als legitim begriffen werden können“190, zu formulieren. Formelle Gleichheit, ausgedrückt und vermittelt über die rechtliche Zugehörigkeit in Form der Staatsangehörigkeit, wird im Hinblick auf die Bereitschaft sich in Einzelfragen überstimmen zu lassen und diese Entscheidungen gleichwohl als verbindlich zu akzeptieren, ohne die Gesamtordnung in Frage zu stellen, als unzureichendes Potential betrachtet, das zwingend der Ergänzung durch „ein bestimmtes inhaltliches Substrat, die sogenannte substantielle Gleichheit, auf der die Staatsangehörigkeit aufruht“191, bedarf.192 Je weniger diese Homogenität in einem politischen Gemeinwesen gegeben, d.h. je größer es von sozialen, ethnischen, religiösen, sprachlichen oder kulturellen Differenzen geprägt ist, desto weniger kann es sich „den demokratischen Regeln der allgemeinen freien und gleichen Wahl und des Mehrheitsprinzips unterwerfen.“193 bezogen“ ist, verbergen sich sowohl hinter der politischen Einheitsbildung als auch der demokratischen Gleichheit in einem nicht unerheblichen Ausmaß materielle Kriterien. 190
Kaufmann, ebd., 261 f. Ganz ähnlich auch Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (Fn. 173), 241, 243 f. 191
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 47. Nach Böckenförde kann die „vor-rechtliche Gleichartigkeit [...] durch gemeinsame Religion, gemeinsame Sprache und Kultur, gemeinsames politisches Bekenntnis gegeben sein. In der modernen Demokratie, wie sie sich mit und seit der Französischen Revolution entwickelt hat, beruht sie auf nationaler Gleichartigkeit und setzt diese voraus.“ 192
So auch F. Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz, DVBl. 1993, 629,
634. 193
Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung (Fn. 14), 92. Umgekehrt formuliert Jäger, Mehrheit, Mehrheitsprinzip (Fn. 149), Bd. 3, 1082: „Je größer die Homogenität [definiert als „eine gewisse materiale Gleichgewichtetheit auf der gesellschaftlichen Ebene“], desto unproblematischer ist die Anwendung der M.regel.“ Zum Verhältnis zwischen Homogenität/Heterogenität und Mehrheitsprinzip, siehe bereits H. Kelsen, Vom Wesen und Wert des „Parlamentarismus“, 1963, 65 f. Hierzu aus politologischer Perspektive Scharpf, Versuch
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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5. Diskussion und Kritik Zuzustimmen ist der geschilderten Argumentation, die die Akzeptanzund Folgebereitschaft der in einer Abstimmung unterlegenen Minderheit unter Bezug auf eine vorrechtliche und vorpolitische, in der sozialen Struktur der Gesellschaft zu findenden Homogenität zu erklären sucht, nur bis zu einem bestimmten Punkt. Richtig ist, dass die Anwendung des Mehrheitsprinzips in einem politischen Gemeinwesen bei jeder Entscheidung die potentielle Gefahr birgt, dass der unterlegenen Minderheit die Erhaltung der politischen Einheit weniger bedeutet als die Durchsetzung eigener Interessen, welche in der konkreten Entscheidung keine oder eine aus der Perspektive der Minderheit unzureichende Berücksichtigung gefunden haben, und sie infolgedessen mit (passiver) Nichtbefolgung, Widerstand oder Sezession reagiert. Versucht man allerdings, das Ausbleiben einer solchen Reaktion durch den bloßen Verweis auf eine vor dem eigentlichen Entscheidungsverfahren liegende soziale Struktur zu erklären, begegnet man möglicherweise selbst einer Gefahr, die zum einen darin bestünde, nicht wahrzunehmen, dass vielleicht erst durch das Betonen der Bedeutung homogener Kollektive jene unüberbrückbaren Konfliktlagen generiert werden, die eine Anwendung des Mehrheitsprinzips erschweren oder unmöglich machen.194 Vor allem aber entzieht man sich durch den Verweis auf die Homogenität des politischen Gemeinwesens zum anderen leicht der Aufgabe, die dem Mehrheitsprinzip eigenen Voraussetzungen hinreichend differenziert zu analysieren. Möglicherweise hängt nämlich die Anwendung des Mehrheitsprinzips nicht oder wenigstens nicht allein von einer zwischen den Angehörigen eines politischen Gemeinwesens bestehenden soziokulturellen Homogenität, sondern von ganz anderen Voraussetzungen und Faktoren, die im Folgenden dargestellt werden sollen, ab.
über Demokratie im verhandelnden Staat (Fn. 86), 25, 33; H. J. Varain, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips im Rahmen unserer politischer Ordnung, Zeitschrift für Politik 11 (1964), 239, 244 f. 194
Dieser Gedanke findet sich bei M. Zuleeg, Die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, BB 1994, 581, 586.
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a. Mögliche Konfliktlinien Bevor jedoch die spezifischen Anwendungsvoraussetzungen des Mehrheitsprinzips untersucht und dargestellt werden, erscheint es angebracht, darauf hinzuweisen, dass es nicht zwingend die mit dem Begriff der Homogenität zumeist transportierten und mit der Geschichte des Nationalismus verbundenen Kriterien wie Sprache, Kultur, Religion oder Ethnie sein müssen, entlang denen sich unüberwindbare Konfliktlinien bilden, die einer Anwendung des Mehrheitsprinzips entgegenstehen. Insofern ist das Hervorheben der genannten Kriterien aus historischer Perspektive zwar nachvollziehbar, übersehen wird dabei aber, dass grundsätzlich jede Auseinandersetzung unter Bezug auf nahezu jeden beliebigen Inhalt zu einem grundsätzlichen und nicht zu überbrückenden Gegensatz avancieren kann.195 Dass innergesellschaftliche Konflikte, die ursprünglich aus ganz anderen Problemlagen entstanden sind, durch – nicht selten konstruierte – religiöse, ethnische, sprachliche oder kulturelle Bezüge aufgeladen werden, zeigt nur, dass man es in diesen Fällen mit einer „kanalisierte[n] und sublimierte[n] Form der Konfliktverschiebung [...] auf den glitschigen Boden der Kultur“196 zu tun hat. Materielle Stratifikations- oder strukturelle Inklusionsprobleme werden in diesen Fällen unter Rückgriff auf eine ethnisch-nationale Semantik reformuliert und dadurch starke Mobilisierungsressourcen freigesetzt. Mit anderen Worten kann die Akzeptanz- und Folgebereitschaft der Minderheit, und dies gilt es im Hinblick auf die Frage nach den dem Mehrheitsprinzip immanenten Anwendungsvoraussetzungen festzuhalten, auch aus Gründen entfallen, die unabhängig sind von innerhalb der Gesellschaft bestehenden religiösen, sprachlichen oder ethnischen Differenzen. So standen im Zentrum einer der letzten großen Diskussionen über Voraussetzungen und Legitimität des Mehrheitsprinzips vor allem inhaltlich-wertbezogene Fragen des technischwissenschaftlichen Fortschritts, die damit verbundenen ökologischen Auswirkungen sowie die Sicherung des Friedens. Drastisch divergierende Einschätzungen zu diesbezüglichen politischen Mehrheitsentscheidungen, das Bewusstsein der Irreversibilität der durch diese Entscheidungen hervorgerufenen Folgen und das Gefühl, des „negativ entscheidungsbetroffenen Bevölkerungsteils [...] in seinen fundamentalsten Interessen wie Überleben, Sicherheit, Freiheit, Glück, Menschenwürde, 195
Zutreffend hält Kelsen, Vom Vom Wesen und Wert der Demokratie (Fn. 32), 66 f., daher fest, dass „selbst die untergeordnetsten Meinungsverschiedenheiten zu vitalen Interessenkonflikten werden können“. 196
Nassehi/Schroer, Integration durch Staatsbürgerschaft? (Fn. 19), 82, 103.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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lebenswerte Umweltbedingungen usw. bedroht“197 zu sein, führten in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dazu, dass das Mehrheitsprinzip selbst in Frage gestellt und den mit diesem Entscheidungsmodus getroffenen Entscheidungen die Legitimität abgesprochen wurde.198 Angesichts einer damals konstatierten „drohenden Vernichtung“, hervorgerufen durch politische Entscheidungen, die „apathische und ignorante Akklamationsmehrheiten und ihre Repräsentanten“ getroffen haben, habe „der Hinweis auf bestehende Mehrheitsverhältnisse [...] allenfalls arithmetischen und statistischen Wert“ und vermöge keine „aus der Qualität der Entscheidung sich herleitende Legitimität zu begründen“199. In dieser kontrovers geführten Debatte waren es weder kulturelle, noch sprachliche oder ethnische Differenzen, die Konfliktlinien innerhalb einer gemeinsamen politischen Ordnung generierten, welche sich als unüberbrückbar erwiesen und die dazu führten, dass die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen bestritten wurde. Die Forderung, ein formales durch ein materiales Legitimitätsdenken zu ersetzen, d.h. die Legitimität politischer Entscheidungen an „Wahrheiten statt Mehrheiten“200 zu messen, erfolgte vielmehr unter Berufung auf die vermeintliche Gefährdung von Kollektivgütern wie Frieden oder Umwelt bzw. elementar gefährdeter Grundrechte wie Leben oder körperli197
Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie? (Fn. 152), 8, 18, 40.
198
Zu der heftig geführten Diskussion über das Mehrheitsprinzip, siehe einerseits die Beiträge in Guggenberger/Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 1984, sowie Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie? (Fn. 152), 18-48 und andererseits die Kritik von J. Isensee, Mehrheitswille und Minderheit im demokratischen Verfassungsstaat, in: Rauscher (Hrsg.), Mehrheitsprinzip und Minderheitenrecht, 1988, 109, 127 ff., der den Autoren des zuerst genannten Sammelwerkes vorwirft, „die parlamentarische Demokratie durch konsens-, plebiszitär- und anarchodemokratische Utopien zu entlegitimieren und zu substituieren.“ Siehe auch ders., Widerstand gegen den technischen Fortschritt (Fn. 163), 565-575. Eine sachliche und ohne Polemik auskommende Kritik, findet sich bei Sahner, Sozialer Wandel und Konsens (Fn. 176), 93-113. Zu dem Sammelband von Guggenberger und Offe, siehe schließlich auch die Diskussionsbeiträge in der ZParl: H. Sahner, Wer fordert die parlamentarische Mehrheitsdemokratie heraus?, ZParl 1984, 571-576; T. Saretzki, Mehrheitsprinzip und Grundkonsens, ZParl 1985, 256-261; St. Eisel, Plädoyer für die Mehrheitsregel, ZParl 1985, 576-580; Steffani, Mehrheitsentscheidungen und Minderheiten in der pluralistischen Verfassungsdemokratie (Fn. 167), 569-586. 199
Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie? (Fn. 152), 18, 27.
200
Oberreuter, Abgesang auf einen Verfassungstyp? (Fn. 177), 23, 30.
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che Unversehrtheit. Schon dies indiziert, dass der Rekurs auf Homogenität, sofern diese allein unter Bezug auf die gängigen Kriterien wie Sprache, Kultur, Religion oder Ethnie definiert wird, eine unzureichende Beschreibung der Anwendungsvoraussetzungen des Mehrheitsprinzips darstellt.
b. Vermeidung struktureller Minderheiten Unzureichend ist der Verweis auf eine bereits vor dem Abstimmungsverfahren vorhandene Homogenität aber auch deshalb, weil dadurch die verfahrenstechnische Ausgestaltung des demokratischen Verfahrens und das konkrete Zustandekommen von Mehrheitsentscheidungen nicht genügend in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangt. Es bleibt dann nicht nur weitgehend unreflektiert, inwieweit das Mehrheitsprinzip selbst eine „Kraft der sozialen Integration“ entfaltet, indem es, wie Hans Kelsen ausgeführt hat, auf unterschiedliche politische Gruppierungen insofern Druck ausübt, als es sie zwingt, Koalitionen einzugehen, Kompromisse zu schließen und „die innerhalb der Gemeinschaft wirksamen zahllosen Differenzierungs- und Spaltungstriebe bis auf einen einzigen grundsätzlichen Gegensatz“201 zu überwinden. Man übersieht auch, dass für die Anwendung und Funktionsfähigkeit des Mehrheitsprinzips nicht primär sprachliche, kulturelle oder ethnische Differenzen entscheidend sind, sondern es primär auf die Vermeidung struktureller Minderheiten ankommt. Innergesellschaftliche Differenzen werden für das Mehrheitsprinzip nur dann zu einem schwer überwindbaren Hindernis, wenn sich entlang dieser Differenzen feste Gruppierungen herausbilden, die sich bei nahezu jeder Entscheidung gerade aufgrund ihrer bestimmten Differenz in der Minderheit wieder finden. 201
Kelsen, Vom Vom Wesen und Wert der Demokratie (Fn. 32), 56 und 62 spricht von der „Kraft der sozialen Integration [...], die das Majoritätsprinzip soziologisch charakterisiert“ und der „durch das Majoritätsprinzip erzwungene[n] politische[n] Integration“ bzw. der „durch das Majoritätsprinzip garantierten Integration“. Der Argumentation Kelsens könnte aus der Perspektive von Positionen, die die Homogenität als Anwendungsvoraussetzung des Mehrheitsprinzips betonen, allerdings der gleiche Einwand entgegengehalten werden, der oben bereits am Beispiel des „Verfassungspatriotismus“ dargestellt wurde: Die Voraussetzung für die „Wirksamkeit dieser Ideologie“, dass „der Wille der ziffernmäßigen Mehrheit siegt“, fehlt ja gerade dann, wenn „die die soziale Gemeinschaft bildenden Individuen“ über keine hinreichende soziale Homogenität verfügen und sich infolgedessen überhaupt nicht erst auf das Mehrheitsprinzip einlassen.
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Wenn also „kompakte Konfliktsfronten, die in der Gesellschaft durchgehend dominieren, einfach in das politische System hinein verlängert werden. Wenn Katholiken und Protestanten, Arbeiter und Kapitalisten, Schwarze und Weiße schon in allen Rollen gegeneinanderstehen, kann ihrem Konflikt nicht auch noch politisch Ausdruck gegeben werden. Das würde den politisch manipulierbaren Konflikt überschärfen und die gesellschaftlichen Gegensätze so versteifen, dass die Bürgerkriegsgefahr akut wird. Deshalb sind gesellschaftlich vielfältig gebrochene Konfliktsfronten Voraussetzung für eine unschädliche Politisierung gesellschaftlicher Konflikte.“202 Eine Anwendung des Mehrheitsprinzips scheint auf den ersten Blick demnach zwar tatsächlich in den Fällen ausgeschlossen, in denen verfestigte, über sprachliche, ethnische, kulturelle oder religiöse Differenzen definierte ständige Minderheiten bestehen, die keine Aussicht auf Erlangen der Mehrheit haben, und in denen die gesellschaftlichen Strukturen nicht „in ihrer präjudizierenden Auswirkung auf das Verfahren neutralisiert“203 werden.204 Eine solche Neutralisierung ist jedoch, und dies ist für die Frage nach den Anwendungsvoraussetzungen des Mehrheitsprinzips von entscheidender Bedeutung, für moderne komplexe Gesellschaften unter anderem darin zu sehen, dass sich in ihnen Individuen aufgrund mobil-flexibler Rollenbeziehungen, individualisierter Lebensmuster und mehrfacher und variabler Systemzugehörigkeiten zur gleichen Zeit hinsichtlich einer politischen Entscheidung in Übereinstimmung mit der Mehrheit befinden, während sie in einer anderen Frage zur Minderheit gehören.205 Weist ein Individuum ein diffuses Bild vielfältiger, konkurrierender und sich widersprechender Interessen, Bedürfnisse und Belange auf, welche nicht dauerhaft entlang sprachlicher, ethnischer, religiöser oder kultureller Differenzen verlaufen und durch diese determiniert, sondern mit je unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen geteilt werden, wird es wahrscheinlich, dass sich Individuen und Gruppierungen in einem unendlichen Prozess fallweise immer wieder neu zusammenfinden und auflösen und sich nicht als hermetisch geschlossene, nach allgemeinen 202
Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. 174), 162.
203
Luhmann, ebd., 196 f.
204
Zur Vermeidung struktureller Minderheiten als Voraussetzung der Anwendung des Mehrheitsprinzips, siehe vor allem Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 17), 58 ff.; ders., Der Mehrheitsentscheid im Rahmen der demokratischen Grundordnung (Fn. 149), 301, 316. 205
Hierzu Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. 174), 158; Eisel, Plädoyer für die Mehrheitsregel (Fn. 198), 576, 577 f.
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Merkmalen spezifizierte Personengruppen gegenüberstehen.206. Die Abnahme starker struktureller Bindungen an geschlossene Gruppierungen und die damit einhergehende personelle Varianz von Mehrheit und Minderheit lässt aber nicht nur die Entstehung struktureller Minderheiten unwahrscheinlich erscheinen, sie motiviert darüber hinaus auch zu kommunikativer Beteiligung und politischem Engagement und bewirkt, dass Konsenschancen in der Weise variabel gehalten werden, als „die Konsensfrage in jedem Einzelverfahren erneut gestellt und ausgehandelt werden muss“207 und eben nicht vor der Abstimmung schon klar ist, wer nach der Abstimmung zur Minderheit gehört, Verhandlung damit überflüssig wird bzw. nur noch als Farce oder zynisches Theater verstanden werden kann. Demnach ist es weniger eine vorausgesetzte sozialstrukturelle Homogenität, als die Vermeidung struktureller Minderheiten, die über die Erfolgschancen der Anwendung des Mehrheitsprinzips innerhalb einer politischen Einheit entscheidet.
c. Grundrechte und Minderheitenschutz Neben der Vermeidung struktureller Minderheiten ist es die Gewährleistung von individuellen Grund- und Freiheitsrechten und kollektiven Schutzrechten, die zum „Katalog an notwendigen Voraussetzungen zur Sicherung des Funktionierens der Mehrheitsregel“208 zählen.209 Letztere gewinnen vor allem dann an Bedeutung, wenn es entgegen den gerade beschriebenen Unwahrscheinlichkeiten doch zur Herausbildung struk206
Dieser Gedanke findet sich schon bei G. Jellinek, Das Recht der Minoritäten, 1996, 27 f.: „Aber alle rein politischen Parteien sind ihrem Wesen nach fluctuirend. Sie sind in ihrer conkreten Ausgestaltung niemals feste und dauernde Erscheinungen im Volksleben. Sie wechseln fortwährend an Zahl, Stärke und Bedeutung. Wer heute conservativ ist, kann morgen gemässigt liberal, wer liberal, nächstens radical sein.“ 207
Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. 174), 197.
208
Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat (Fn. 149), 94, 107. 209
Zu individuellen und kollektiven Rechten und ihrer Bedeutung für die Anwendung des Mehrheitsprinzips Hofmann/Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (Fn. 70), 165, 193 ff.; Isensee, Mehrheitswille und Minderheit im demokratischen Verfassungsstaat (Fn. 198), 109, 110; U. Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, 33, 64; ders., Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 17), 42 f. und 54 f.
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tureller Minderheiten kommt, denen als geschlossene Gruppe die Erlangung der Mehrheit dauerhaft versagt ist und die deshalb mit dem Hinweis auf die gleichen politischen Partizipationsrechte und den gleichen Zählwert jeder individuellen Stimme nicht befriedigt werden können.210 Da sie „wegen ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit kaum eine Chance [haben], die ihnen möglicherweise besonders wichtigen kulturellen Anliegen im politischen Entscheidungsverfahren durchzusetzen“211, bieten sich hier kollektive Schutzrechte an, die die Minderheiten in den Bereichen schützen, in denen sie als Gruppe speziell betroffen sind.212 Eine Relativierung der zahlenmäßigen Unterlegenheit über kollektive Schutzrechte, entweder indem einzelne Bereiche, die für die Selbstdefinition der Gruppe aus der Perspektive der Gruppe von besonderer Bedeutung sind, dem staatlichen Zugriff generell entzogen werden, oder indem das demokratische Entscheidungsverfahren dahingehend pragmatisch manipuliert wird, dass die Stimmengewichtung über Proportionalitätsschlüssel Veränderungen erfährt und dadurch Belange der Minderheit im Entscheidungsverfahren Berücksichtigung finden können, ist für das Mehrheitsprinzip insofern bedeutsam, als dadurch der Entstehung des Gefühls vorgebeugt wird, einer permanenten Fremdbestimmung zu unterliegen.213 Welche Interdependenzen zwischen dem Mehrheitsprinzip und der Absicherung von Bereichen bestehen, die in der Weise (mehrheits-)entscheidungsresistent sind, als sie von politischen Entscheidungen grund210
Zur Rechtfertigung von „Einschränkungen betreffend die Realisierung des Prinzips politischer Gleichheit“ im unionalen Verfassungsrecht, siehe v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre (Fn. 116), 149, 181, und M. Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, 931, 941, beide in: v. Bogdandy (Fn. 116). 211
Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung (Fn. 176), 218 f.
212
Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 149), 232 f.; Roos, Mehrheitsregel im Entscheidungsprozess (Fn. 149), 9, 38 f. J. Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat, in: Stober (Hrsg.), Recht und Recht, 1997, 137, 160, spricht von der „Ergänzung durch Gruppenrechte, die den kollektiven Sonderbedürfnissen Rechnung tragen.“ 213
Andererseits darf aber auch nicht der sich vor allem für das Mehrheitsprinzip als ambivalent erweisende Charakter kollektiver Schutzrechte übersehen werden: Bereits ihre Implementierung, vor allem jedoch die Wahrnehmung kollektiver Schutzrechte, ihre Geltendmachen gegenüber der Mehrheit oder ihre Durchsetzung in juristischen Verfahren können dazu führen, dass sich die kollektive Identität der Minderheit verfestigt und bereits bestehende Differenzierungs- und Abgrenzungstendenzen verschärft werden.
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sätzlich nicht tangiert werden dürfen, wird auch deutlich, wenn man eine historische Situation in den Blick nimmt, in der die Anwendung des Mehrheitsprinzips, das sich zuvor sowohl bei „der Bestellung entscheidender politischer Gremien und der in ihnen erfolgenden Wahlen und Beschlüssen“ als auch in den ständischen Einrichtungen sowie den „städtischen und landschaftlichen Einungen“214 durchgesetzt hatte, problematisch oder gar unmöglich wurde. Unter Berücksichtigung der konfessionellen Spaltung und dem Auftreten religiöser Pluralität scheint die These, dass das Mehrheitsprinzip auf eine der politischen Entscheidung voraus liegende, in diesem Fall religiöse Homogenität angewiesen ist, an Plausibilität zu gewinnen. Allerdings wird zunächst nur deutlich, „dass in besonderen Fragen, hier der religiösen Glaubensüberzeugung, keine Bindung an eine Mehrheit möglich ist, weil der Kern der eigenen Haltung und Stellung betroffen ist.“215 Tatsächlich gibt es demnach Bereiche, in denen das Mehrheitsprinzip keine Anwendung finden kann, weil jene Bereiche für die Betroffenen derart sensibel sind, dass sie einer über die Zählung von Stimmen gewonnenen politischen Entscheidung die Befolgung verweigern würden. Im Umkehrschluss heißt das nicht, dass das Mehrheitsprinzip nur unter der Bedingung sozialstruktureller Homogenität anwendbar wäre. Vielmehr zeigt ja gerade das Beispiel konfessioneller Pluralisierung, dass über die „Ausbildung beispielhafter Formen vertraglicher Sicherung, insbesondere durch Festlegung bestehender Verhältnisse und durch Anerkennung der Parität in Gremien der Entscheidung über religiöse Fragen“216 sowie später über die verfassungsrechtliche Implementierung der Glaubensund Gewissensfreiheit der Modus, dass die Mehrheit über kollektiv bindende Entscheidungen bestimmt, grundsätzlich aufrechterhalten werden konnte.217
214
Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 17), 25-28.
215
Scheuner, ebd., 28; ders., Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem (Fn. 209), 33, 64. 216 217
Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 17), 60.
Historisch ziehen sich die beschriebenen Prozesse von der feierlichen Protestation der evangelischen Stände auf dem Reichstag zu Speyer 1529, die den Grundsatz der Nicht-Überstimmbarkeit in religiösen Fragen zum Inhalt hatte, über das Prinzip „cuius regio eius religio“ im Augsburger Religionsfriede von 1555, die Ausklammerung des religiösen Glaubens aus den Staatszielen im Westfälischen Frieden im Jahre 1648, bis hin zur Trennung von Staat und Kirche in der Französischen Revolution und schließlich der verfassungsrechtlichen Verankerung der Religionsfreiheit. Immer unter Bezug auf das Mehrheitsprin-
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d. Pragmatische Kompetenzverteilungen und Stimmengewichtung Für die Frage, unter welchen Bedingungen die in einer Abstimmung unterlegene Minderheit zur Befolgung der Entscheidung bereit ist, kann darüber hinaus auf einen Gedanken zurückgegriffen werden, der von Hans Kelsen, der die Situation des Habsburgerreiches vor Augen hatte, formuliert wurde. Kelsen zufolge kann das Mehrheitsprinzip, wenn „Nation in erster Linie Kultur- und Sprachgemeinschaft“ ist, nur „innerhalb eines nationaleinheitlichen Körpers vollen Sinn“ haben, hingegen muss „bei übernationalen, internationalen Gemeinschaften, speziell in national gemischten, sog. Nationalitätenstaaten, die Entscheidung der nationalen Kulturfragen dem Zentralparlament entzogen und der Autonomie, d.h. den Vertretungskörpern der nach dem Personalitätsprinzip organisierten nationalen Gemeinschaften (Teilgruppen) überlassen werden“218. Der Verweis auf pragmatische, sektoral umrissene Kompetenzverteilungen innerhalb eines politischen Systems lässt erkennen, dass soziale Heterogenität für die Anwendung des Mehrheitsprinzips nicht grundsätzlich ein Problem darstellt. Eine sozialstrukturelle Homogenität bzw. eine „menschliche Gesellschaft [...], innerhalb deren von vornherein in jeder Richtung wesentliche Interessenharmonie besteht“,219 ist daher auch für Kelsen nicht zwingend Voraussetzung für die Anwendung des Mehrheitsprinzips. Folglich treffe das „bekannte Argument: auf die heutige Menschheit als Einheit angewendet, müsse das Majoritätsprinzip zu absurden Ergebnissen führen, [...] nicht so sehr das Prinzip als solches, als vielmehr nur seine Überspannung bei zu weitgehender Zentralisation.“220 zip, siehe hierzu Becker, Mehrheitsprinzip (Fn. 149), 432, 436 f.; Roos, Mehrheitsregel im Entscheidungsprozess (Fn. 149), 9, 23 ff.; Jäger, Mehrheit, Minderheit, Majorität, Minorität (Fn. 149), 1021, 1027. Ausführlich zur Ausdifferenzierung eines gegenüber der Religion eigenständigen politischen Systems Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (Fn. 64), 92-114; Preuß, Zu einem neuen Verfassungsverständnis (Fn. 69), 103, 118 ff. 218
Kelsen, Vom Vom Wesen und Wert der Demokratie (Fn. 32), 65 f.
219
Zur Frage, welche Beziehungen in der Verfassungslehre zwischen dem Begriff der Homogenität und der Harmonie und Stabilität eines Kollektivs hergestellt werden, siehe unten das Kapitel: VI. Homogenität und Harmonie, Stabilität und Befriedung. 220
Kelsen, Vom Vom Wesen und Wert der Demokratie (Fn. 32), 65 ff.; ders., Das Problem des Parlamentarismus (Fn. 172), 30 ff., 36 ff; ders., Allgemeine Staatslehre, 1966, 324 f.
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Ob hingegen nicht doch insofern eine Beziehung zwischen der Anwendung des Mehrheitsprinzip und der Größe des politischen Systems, innerhalb dessen es angewendet werden soll, besteht, als eine Optimierung des Mehrheitsprinzips auf globaler Ebene deshalb schwierig sein könnte, weil eine adäquate Repräsentation der Differenzen in quantitativer Stimmzuteilung schwer vorstellbar ist, mag fraglich sein.221 Plausibel ist es aber, anzunehmen, dass pragmatische Modifizierungen sowohl der Kompetenzverteilung als auch des Zählwertes bzw. der Stimmengewichtung222 die für das Mehrheitsprinzip erforderliche Akzeptanzund Folgebereitschaft der Minderheit positiv beeinflussen und dadurch, wie Josef Isensee schreibt, in der Lage sind „nationale Inhomogenität institutionell aufzufangen.“223 Auch in dieser Hinsicht ist es demnach nicht die fehlende sozialstrukturelle Homogenität, welche zwangsläufig zur Nicht-Anwendbarkeit des Mehrheitsprinzips führt. Bestehen innerhalb einer Gesellschaft tatsächlich unterschiedliche, sich über starke kollektive Identitäten definierende Gruppen, lassen sich die hierdurch für das Mehrheitsprinzip auftretenden Schwierigkeiten durch pragmatische Lösungen, die nicht zuletzt die Rücksicht und Toleranz der Mehrheit widerspiegeln, bearbeiten.
e. Politische Partizipation Alle bisher erörterten Anwendungsvoraussetzungen des Mehrheitsprinzips lassen erkennen und haben als Hintergrund den Gedanken, dass für die Bereitschaft der Minderheit, Mehrheitsentscheidungen zu 221
Zu diesem Einwand Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25),
222 f. 222
Zu diesbezüglichen Beispielen aus den USA oder der Schweiz, siehe Roos, Mehrheitsregel im Entscheidungsprozess (Fn. 149), 9, 39. Zu den Grenzen territorial-föderativer Lösungen, in den Fällen, in denen man es nicht mit „relativ geschlossenen ethnisch-kulturellen Siedlungsgebieten (z.B. der Schweiz)“ zu tun hat, sondern mit „kulturellen Gemengelage (mit Mischsiedlung)“, siehe Vitzthum, Multiethnische Demokratie (Fn. 120), 87, 90, Fn. 9, und 111. Zum Aspekt der räumlichen Trennung, siehe schließlich auch P. Waldmann, Gewaltsamer Separatismus, in: Winkler/Kaelble (Hrsg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalismus, 1993, 82, 93; J. Rüsen, Gibt es eine europäische Leitkultur?, in: Acham (Hrsg.), Europa – wohin?, 2002, 125, 130. 223
So Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 160. Ähnlich auch Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 48.
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akzeptieren und zu befolgen und diese nicht als Fremdbestimmung zu verstehen, von ganz entscheidender Bedeutung ist, ob effektive Einflussmöglichkeiten auf das politischen Entscheidungsverfahren bestehen. Insbesondere die Entwicklung des Mehrheitsprinzips in Verbindung mit der Erweiterung des allgemeinen Wahlrechts zeigt, dass „die Fähigkeit der parlamentarischen Mehrheit, für das Ganze zu sprechen, eng mit der Übereinstimmung der Zusammensetzung des Parlaments mit den gesellschaftlichen Strukturen und der politischen Anschauung verbunden ist.“224 Kommt Angehörigen eines politischen Gemeinwesens ein gesicherter Rechtsstatus zu, der sie in politische Entscheidungsprozesse einbindet und es ihnen erlaubt, an politischen Entscheidungen mitzuwirken, entwickelt sich ein „Modus sozialer Integration“225, welcher die Akzeptanz- und Folgebereitschaft der in einer Entscheidung Unterlegenen positiv beeinflusst.226 Die Stärkung und Effektuierung politischer Rechte macht es mit anderen Worten wahrscheinlich, dass bei den Angehörigen des politischen Gemeinwesens der Eindruck entsteht, dass die nach ihrem Selbstverständnis relevanten Belange nicht grundsätzlich und dauerhaft unberücksichtigt bleiben und sie infolgedessen bereit, sind, auch Entscheidungen hinzunehmen, die den eigenen Auffassungen und Interessen zuwiderlaufen.227
6. Schlussfolgerungen Im Ergebnis ist das Mehrheitsprinzip tatsächlich auf das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen angewiesen. Jene Voraussetzungen jedoch in einer vor dem eigentlichen Entscheidungsverfahren vorhandenen, nicht 224
Scheuner, Der Mehrheitsentscheid im Rahmen der demokratischen Grundordnung (Fn. 149), 301, 306. 225
Frankenberg, Die Verfassung der Republik (Fn. 13), 148.
226
Es ist auffällig, dass gerade Länder, die eine kulturell, sprachlich oder religiös hochgradig differenzierte und fragmentierte Bevölkerung aufweisen, sich der „integrativen Funktion der direkten Demokratie“ bedienen, um dadurch „auch Minderheiten in das System einzubinden.“ Siehe hierzu M. Strübel, Mehr direkte Demokratie?, Aus Politik und Zeitgeschichte B 42/1987, 17, 20 und 22; Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration (Fn. 86), 339, 353; ders., Post-nationale Demokratie, in: Fricke (Hrsg.), Jahrbuch Arbeit und Technik, 1997, 353, 362. 227
Sehr deutlich E. Denninger, Der Einzelne und das allgemeine Gesetz, KJ 4/1995, 425, 434 f. und 436.
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allein formal-rechtlichen, sondern substantiellen, unter Bezugnahme auf Kriterien wie Sprache, Kultur, Religion oder Ethnie definierten Homogenität zu sehen, wird weder der Komplexität des Mehrheitsprinzips noch der Differenziertheit seiner Anwendungsvoraussetzungen gerecht. Andere Anwendungsvoraussetzungen und Faktoren, die erforderlich und geeignet sind, die vom Mehrheitsprinzip geforderte Akzeptanzund Folgebereitschaft der unterlegenen Minderheit positiv zu beeinflussen, werden, wenn allein oder maßgeblich auf den Begriff der Homogenität abgestellt wird, weitgehend ausgeblendet oder in ihrer Bedeutung für die Anwendung des Mehrheitsprinzips unterschätzt. Als Erklärung dafür, dass sich die in einer Abstimmung unterlegene Minderheit zur Befolgung der Mehrheitsentscheidung bereit zeigt, ist der Verweis auf eine sozialstrukturelle Homogenität jedenfalls unzureichend.
III. Homogenität und transnationale Demokratie Eine demokratietheoretische Position, in deren Zentrum ein homogen strukturiertes Legitimationssubjekt steht, das nicht nur als unabdingbare Voraussetzung der Anwendbarkeit des Mehrheitsprinzips, sondern dessen Gegebensein überhaupt als unverzichtbar für die Verwirklichung von Demokratie gesehen wird, entfaltet erhebliche Implikationen für die Frage nach Möglichkeiten von Demokratie jenseits der Nationalstaaten. Eine derart konzipierte Demokratietheorie legt, wie die Sichtung der einschlägigen Literatur zeigt, die Annahme nahe, dass neuartige politische Organisationsformen, die über die Nationalstaaten hinausgehen, nicht oder nur bedingt demokratiefähig sind. Im Folgenden konzentrieren sich die Ausführungen, in Anknüpfung an die im ersten Kapitel dargestellte Diskussion über die Legitimationsprobleme der supranationalen Ebene, stellvertretend auf das konstatierte »Demokratiedefizit« der Europäischen Union. Zu berücksichtigen ist dabei aber, dass die behaupteten und oben bereits aufgezeigten Verbindungen zwischen der sozialstrukturellen Homogenität eines Kollektivs und dem Demokratieprinzip für alle Versuche, Demokratie in politischen Organisationen jenseits der Nationalstaaten zu diskutieren und für diese nach Verwirklichungsmöglichkeiten demokratischer Strukturen zu suchen, ein Hindernis darstellen.
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1. (Un-)Möglichkeiten supra- und transnationaler Demokratie Die Schlussfolgerung, dass es an einem originären europäischen Legitimationssubjekt mangelt, erscheint geradezu zwangsläufig, wenn man vor dem Hintergrund einer Demokratietheorie, die von der unverzichtbaren Notwendigkeit der sozialstrukturellen Homogenität des Legitimität stiftenden Kollektivs ausgeht, einerseits den personellen Substraten der Nationalstaaten „einen relativ hohen Grad an nationaler Homogenität“228 zuschreibt, während man andererseits die „politische und kulturelle Differenziertheit Europas“ herausstellt, dessen „Reichtum an kollektiver Individualität“ unterstreicht, seine „historische Tiefe und kulturelle[n] Gegensätze“ betont und es schließlich als ein Territorium versteht, in dem sich „größte Vielfalt auf engstem Raum entfaltet“229. Im Unterschied zu den Nationalstaaten, innerhalb derer sozialstrukturelle Heterogenität als etwas Negatives, weil ein die politische Einheit und die Demokratiefähigkeit gefährdender Faktor gesehen wird, bewertet man eine in Europa konstatierte Heterogenität zwar positiv und hypostasiert sie darüber hinaus zum eigentlichen Identitätskern des europäischen Kontinents.230 Verbunden mit der Annahme, dass die geforderte Homogenität regelmäßig nur in scheinbar hermetisch geschlossenen Territorialgrenzen der Nationalstaaten zu finden ist bzw. eine Koinzidenz zwischen der Reichweite der homogenen Sozialstruktur und dem über die Staatsangehörigkeit bestimmten personellen Substrat be228
So J. Isensee, Am Ende der Demokratie, 1995, 53, in Bezug auf das „heutige Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland“. Etwas versteckter schreibt Isensee an anderer Stelle, ders., Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 84 f., dass die „politische Willensbildung im nationalen Raum die erforderlichen sozialen und institutionellen Voraussetzungen findet, während diese im europäischen Raum noch nicht vorhanden sind“. 229
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 137; ders., Integrationsziel Europastaat, in: Due u.a. (Hrsg.), FS Everling, Bd. 1, 1995, 567, 591. Die Annahme, die europäischen Nationen seien (vor allem kulturell) homogen, wohingegen Europa sich durch seine Heterogenität auszeichne, durchzieht auch den Aufsatz von Kirchhof, Die Staatenvielfalt (Fn. 143), 947-958. Ähnlich auch E. Grande, Postnationale Demokratie?, in: Fricke (Hrsg.), Jahrbuch Arbeit und Technik, 1997, 353, 359, demzufolge sich die Europäische Union nicht „auf eine homogene Kultur stützen [kann], wie wir sie in den meisten europäischen Nationalstaaten noch finden.“ Kritisch zu dieser dichotomischen Gegenüberstellung G. F. Mancini, Europe: The Case for Statehood, 4 European Law Journal (1998), 29, 34 ff. 230
591.
Siehe beispielsweise Isensee, Integrationsziel Europastaat (Fn. 229), 567,
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steht231, verhindert jedoch auch die positive Einschätzung europäischer Heterogenität und Vielfalt nicht die mit der dichotomischen Gegenüberstellung argumentativ vorbereitete Schlussfolgerung, dass ein europäisches Volk, das als Zuordnungssubjekt europäischer Politik dienen und Entscheidungen europäischer Organe legitimieren könnte, nicht gegeben ist und es infolgedessen an einer strukturellen Demokratievoraussetzung fehlt. Folglich ist es der Begriff der Homogenität und die mit ihm in einer bestimmten demokratietheoretischen Konzeption konstruierten Verbindungen mit Begriffen wie „Volk“, „Staat“, „Verfassung“ und „Demokratie“, die erklären, warum ein europäisches Legitimationssubjekt kategorisch verneint wird, d.h. teilweise ohne nähere Begründung behauptet werden kann, dass es in Europa an „einem einzigen Volkssouverän, der Legitimationsursprung und Referenzsubjekt der Staatsverfassung wäre“, fehlt, dass die „Form eines Verfassungsgesetzes“ für die supranationale Organisation von vornherein ausscheidet, „weil keine zentrale Instanz als Gesetz- und Verfassungsgeber bereitstände“, dass die Möglichkeit eines „pouvoir constituant in Europa“ als realitätsfern bezeichnet und in Bezug auf Europa von einer „noch nicht existierenden Nation“232 gesprochen werden kann.233 Im Ergebnis führt die dichotomische Gegenüberstellung des nationalen und des europäischen Raumes und die zugleich vorgenommenen Einschätzungen hinsichtlich der jeweiligen kollektiven Charakteristika (Nation: homogen; Europa: heterogen) zu erstaunlichen demokratietheoretischen Folgerungen. Einerseits können supranationale politische Systeme wie die Europäische Union höchstens mittelbar über die Mitwirkung von Organen der Mitgliedstaaten, nicht aber über ein originäres Legitimationssubjekt, demokratisch legitimiert werden, d.h. die demokratische Legitimation europäischer Politik erfolgt allein über die „nationalstaatlichen Kanäle“ und „nationalen Quellen“, weil diese sich auf die „erforderlichen sozialen und institutionellen Voraussetzungen“ stützen können. Sie strömt, wie Josef Isensee schreibt, über die „Parlamente und Regie231
Aus politologischer Perspektive in dieser Hinsicht besonders deutlich Kielmansegg, Lässt sich die Europäische Gemeinschaft demokratisch verfassen? (Fn. 99), 23, 29, der die Nationalstaaten scheinbar als geschlossene Kommunikations-, Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften betrachtet, während „die Pluralität der Kommunikations-, Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften [...] ein europäisches Grunddatum“ darstelle. 232 233
Isensee, Integrationsziel Europastaat (Fn. 229), 567, 581.
Kirchhof, Die Staatenvielfalt (Fn. 143), 947, 949 f., wartet auf „ein organisches Zusammenwachsen von Menschen zu einem Staatsvolk“.
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rungen dem Rat zu und über diesen den anderen europäischen Organen und Einrichtungen.“234 Andererseits ist jede Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlamentes mit Skepsis zu betrachten, weil damit suggeriert wird, demokratische Defizite würden kompensiert, tatsächlich eine solche Kompensation aber wegen des nicht vorhandenen europäischen Legitimationssubjektes gar nicht möglich ist.235 Hinsichtlich seiner Eigenschaft als demokratisches Organ, welches einen institutionellen Raum für die Repräsentation eines Kollektivs und die Anwendung des Mehrheitsprinzips bereitstellt, begegnet das Europäische Parlament insofern Zweifel, als es „nicht repräsentieren [kann], was es nicht gibt: das europäische Volk“236.237 Berücksichtigt man die oben dargestellten, in der Verfassungslehre erörterten Beziehungen zwischen der sozialstrukturellen Homogenität eines Kollektivs und den Anwendungsvoraussetzungen des Mehrheitsprinzips, verwundert es schließlich auch nicht, dass angenommen wird, die Anwendung des Mehrheitsprinzips in europäischen Willensbildungsprozessen müsse aufgrund der fehlenden Homogenität scheitern. Umgekehrt gilt die Tatsache, dass ein politisches System am Einstimmigkeitsprinzip festhält, als Indiz dafür, dass es an einer hinreichenden, auf ethnischen, kulturellen, linguistischen, historischen oder religiösen Gemeinsamkeiten basierenden inneren Integration mangelt. Wie bei anderen völkerrechtlichen Organisationen, in denen Entscheidungen nur über einvernehmliche Regelungen getroffen werden können, seien auch in der Europäischen Union die „Angehörigen der Mitgliedstaaten weit von jener sie einenden substantiellen Homogenität entfernt, die es erlaubte, die einzelnen Völker dem Mehrheitsvotum anderer zu unter234
Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 84 ff. Ähnlich auch H. H. Rupp, Maastricht – eine neue Verfassung?, ZRP 1993, 211, 213. 235
So ausdrücklich P. Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Europarecht 1991 (Beiheft 1), 11, 14. Mit explizitem Bezug auf die fehlende Homogenität wird diese These in den Politikwissenschaften vor allem von Scharpf, Versuch über Demokratie im verhandelnden Staat (Fn. 86), 25, 32 f., vertreten. Siehe auch ders., Regieren in Europa, 1999, 16-26. 236 237
Böckenförde, Welchen Weg geht Europa? (Fn. 106), 39.
Auch für Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 84 f., „ist das Europäische Parlament mangels eines europäischen Volkes keine Volksvertretung, sondern eine Staatenversammlung.“ Ebenso Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 93.
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werfen.“ Im multinationalen Verbund, in dem das „auf der prinzipiellen Gleichheit aller beruhende national-demokratische Konzept versagt“, könne folglich „nicht das demokratische Mehrheitsprinzip die Lösung [bieten], sondern das auf gütliche Einvernehmen und Kompromiss hin angelegte Konzept der Konkordanzdemokratie. Solche Konkordanz im föderalen Staatenverbund herzustellen ist in erster Linie Sache der mitgliedstaatlichen Regierungen. Ihnen obliegt es, einerseits zusammen mit der Gemeinschaftsexekutive, der Kommission, die Entstehung des Gemeinschaftsrechts vorzubereiten, andererseits aber auch, es ins Werk zu setzen, d.h. zu beschließen. Der gouvernementale Charakter des supranationalen Normsetzungsverfahrens ist also unausweichlich.“238 Im Ergebnis führen die behaupteten Verbindungen zwischen Homogenität, Nationalität und Demokratie zu der Schlussfolgerung, dass „die Herrschaft der Mehrheit nur legitim ist innerhalb eines Demos“239. Auf diese Weise konstruiert man, zusammen mit der Annahme, die entsprechenden Demoi seien allein in den jeweiligen Nationalstaaten zu finden, weil nur dort die hinreichende Homogenitätsbasis gegeben ist, ein strukturelles, auf vermeintlich empirischen Fakten ruhendes Hindernis für die Verwirklichung von Demokratie jenseits der Nationalstaaten. Ein Hindernis, das sich aufgrund der organisch-trägen Qualität der Homogenitätskriterien240, wenn überhaupt, nur langfristig beseitigen lässt.241 Solange kein europäischer Demos im beschriebenen Sinne existiert, ist eine originäre demokratische Legitimation undenkbar und kann „die U238
Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit (Fn. 92), 195, 202. Zur Nichtanwendbarkeit des Mehrheitsprinzips in supra- und transnationalen Entscheidungsprozessen, siehe auch Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 17), 52 und 63. Aus politologischer Sicht, ebenfalls mit explizitem Bezug auf eine „relative Homogenitätsbasis“ bzw. eine „soziokulturelle Homogenität“ Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie? (Fn. 152), 18, 33; Grande, Post-nationale Demokratie? (Fn. 229), 353, 357. 239
Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 100 f.
240
Zum statisch-trägen Charakter jener Positionen und zur Naturalisierung, Ontologisierung und Substantialisierung der Homogenitätskriterien, siehe unten: b. Statische Position: Herausforderungen der Globalisierung und das Kapitel über: Objektivierung, Naturalisierung und Substantialisierung von Homogenitätskriterien. 241
Dabei kann zwischen zwei Versionen der “No demos thesis” unterschieden werden: der “soft” bzw. “Not Yet” version und der “hard” version, die das Entstehen eines europäischen demos als gänzlich unrealistisch und nicht wünschenswert betrachtet. Siehe Weiler/Haltern/ Mayer, European Democracy and Its Critics (Fn. 92), 7 ff.
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nion und ihre Institutionen weder die Autorität noch die Legitimität eines ’demos-kratischen’ Staates besitzen.“242
2. Diskussion und Kritik Bevor auf die spezifische Kritik hinsichtlich der demokratietheoretischen Aussagen hinsichtlich der Möglichkeiten von Demokratie jenseits der Nationalstaaten eingegangen wird, sollen zunächst noch zwei Einwände formuliert werden, denen zwar für die Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten von Demokratie oberhalb der Nationalstaaten eine besondere Bedeutung zukommt, die gleichwohl aber als grundsätzliche Einwände gegen den Begriff der Homogenität und seine Verwendung in der Verfassungslehre gelten können.
a. Mangelnde Bestimmbarkeit: Unklare Volkswerdungsprozesse Wenn Homogenität nicht allein unter Bezugnahme auf gleiche staatsbürgerliche Rechte, sondern über eine vor-politische und vor-rechtliche Gleichheit definiert wird, gerät man gleich in zweifacher Hinsicht in Begründungsschwierigkeiten: einerseits müssen aus einer Vielzahl möglicher Alternativen diejenigen Kriterien ausgewählt und benannt werden, die zur Begründung der Homogenität maßgeblich sein sollen. Andererseits müsste man darlegen können, wann ein ausreichendes Maß an Homogenität gegeben ist, wann sich mit anderen Worten im Hinblick auf die geforderte Homogenität ein Kollektiv gebildet hat, das Legitimations- und Zurechnungssubjekt demokratischer Herrschaft sein kann. Entgegen der Bedeutung, die diese Aspekte bei der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Homogenität einnehmen müssten, bleiben sie bei den meisten Autoren, die den Begriff verwenden und mit der Verwirklichung demokratischer Strukturen verbinden, ohne Erläuterung. So bleibt nicht nur weitgehend im Unklaren, auf welche Kriterien 242
Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 100 f. Zahlreiche Autoren haben sich kritisch mit der beschriebenen Argumentation auseinandergesetzt: Griller, Ein Staat ohne Volk? (Fn. 38), 1 ff. U. Haltern, Europäischer Kulturkampf, Der Staat 37 (1998), 591, 605 ff.; H. Schneider, Die Europäische Union als Staatenverbund oder als multinationale „Civitas Europea“, in: Randelzhofer u.a. (Hrsg.), GS Grabitz, 1995, 677, 682 ff.; Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem (Fn. 85), 27, 44 ff.
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es bei der „Bildung einer europäischen Nation“243 ankommen soll, warum also beispielsweise Kriterien wie Kultur, Sprache oder Ethnie für die Begründung von Homogenität eine Rolle spielen sollen, während andererseits ökonomische Homogenität entweder überhaupt nicht genannt wird oder aber zu vernachlässigen sei.244 Auch wird kaum darauf eingegangen, warum es in der Welt der politischen Systeme zahlreiche Beispiele gibt, in denen Sprache als gemeinsames Merkmal nicht ausreicht eine politische Einheit zu konstituieren, umgekehrt eine solche aber über religiöse Differenzen hinweg möglich ist.245 Ebenfalls wird die Frage, ob zwischen den verschiedenen Homogenitätskriterien Relationen in dem Sinne bestehen, dass „Mängel oder sogar das gänzlicher
243
Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 93. 244
Schon Heller, Staatslehre (Fn. 24), 260, hielt fest, dass weder „jedes objektive Merkmal in allen Fällen der Volkszugehörigkeit gegeben [ist], noch reichen sie alle zusammen aus, um das Wesen des Volkes zu bestimmen.“ Deshalb sei die Frage der Volkszugehörigkeit „niemals durch den bloßen Hinweis auf eine objektive, geistige oder gar physische Wesensbestimmtheit zu erledigen.“ Sicherlich kann „Erfindung von Tradition und Konstruktion politischer Identität ebensowenig mit Beliebigkeit gleichgesetzt werden“ und entspringen „politische Praxis und politischer Diskurse [...] nicht wilden Wurzeln“, wie U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), 511, 519, der sich explizit gegen einen „aristotelischen Essentialismus auf kollektiver Ebene“ wendet, meint. Aber auf welche „Wurzeln“ Bezug genommen wird, welche als für den politischen und rechtlichen Diskurs relevant ausgewählt werden und welche nicht, und wie diese »Wurzeln« schließlich inhaltlich gefüllt werden, bleibt Gegenstand von Konstruktionen. Sehr deutlich wird dies bei den Unsicherheiten, die sich in einem Text von Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 148 f., identifizieren lassen: Zwar entzünde sich der Wille zur politischen Einheit „an bestimmten objektiven Momenten, die für die politische Einheit im Staat erheblich sein sollen unter Vernachlässigung der unendlichen Fülle anderer Momente, die ohne politischen Belang bleiben.“ Die entsprechenden „Faktoren unterschiedlicher Art, solche aus Geographie, Wirtschaft, Religion, Geschichte, Kultur“, ließen sich indes „nicht abschließend aufzählen. Keiner von ihnen schöpft die Fülle der Eigenschaften aus, welche die Individuen in das gesellschaftliche Leben einbringen. Keiner ist unerlässlich, damit sich ein Volk als vorstaatliche Einheit bilden kann.“ Jedoch müssten es doch „irgendwelche Vorgaben“ sein, „um die sich eine Nation kristallisiert.“ Im Ergebnis bleibt nur, dass die Nation „Werk des nicht begründbaren politischen Wollens“ ist: „Wir sind wir.“ 245
Zu diesem Einwand, siehe vor allem R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, 42.
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Fehlen einzelner verbindender Elemente und deren stärkeres Hervortreten aufgewogen und ausgeglichen werden“246 können, selten thematisiert. Wahrscheinlich geschieht dies nicht ohne Grund, erfolgt doch, wie Rolf Grawert schreibt, das „Zusammenwirken der Faktoren [...] im Irgendwie.“247 Unbearbeitet bleibt aber vor allem die Problematik, wie Homogenität gemessen werden kann und wann eine »ausreichende« Homogenitätsbasis gegeben ist. Überraschen kann das nicht, ist es doch bei fast allen der genannten Kriterien mit Ausnahme der Sprache, die quantitativen und qualitativen Untersuchungen gegenüber insofern offen ist, als etwa gesprochene Sprachen beobachtet und Sprachkompetenzen empirisch gemessen werden können248, unmöglich, exakte Messungen vorzunehmen oder graduelle Einstufungen plausibel zu begründen.249 Homogenitätskriterien wie Geschichte, Kultur oder Ethnie, die die Einheit eines Kollektivs begründen und den Zusammenhalt der Angehörigen sichern sollen, sind „more a conception than an empirically measurable phenomenon“250. Für sie können „keine exakt messbaren, 246
Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 149), 179.
247
Grawert, Der deutschen supranationaler Nationalstaat (Fn. 82), 125, 131. Zur Problematik der Relationen und Kombinationen von Homogenitätskriterien, siehe auch Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit (Fn. 16), 136. 248
Versteht man sprachliche Homogenität indes im Kontext der Konstituierung einer „Kommunikationsgemeinschaft“, wird es auch bei diesem Kriterium schwierig, exakte Messungen vorzunehmen oder graduelle Einstufungen plausibel zu begründen. Siehe hierzu unten: 4. Kapitel, II. Homogenität und Sprache. 249
Zu defensiv ist daher die Bemerkung von Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 266, dass „es schwierig sein [dürfte], einen konkreten Mindestwert sozialer Homogenität zu benennen, bei dessen Überschreitung die Formierung einer politischen Einheit möglich würde.“ Deutlicher hält R. Grawert, Deutsche und Ausländer, in: Badura/ Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, 319, 329, in Bezug auf die Homogenitätsformel des BVerfG im Maastricht-Urteil fest, das Gericht werde „es angesichts der inzwischen tatsächlich eingetretenen, gesetzlich tolerierten und geförderten Bevölkerungsvielfalt schwer haben, Niveau und Intensität der „Homogenität“ so zu bestimmen, dass der Begriff nicht zur rhetorischen Floskel oder zum Gefäß einer Staatsideologie oder zum metarechtlichen Maßstab für Ein- und Ausgrenzungen degradiert wird.“ Noch deutlicher wird Grawert an anderer Stelle, ders., Der deutschen supranationaler Nationalstaat (Fn. 82), 125, 138, wenn er festhält, dass „nationale Homogenität nicht bestimmt werden kann“. 250
Zuleeg, What holds a Nation together? (Fn. 42), 505, 516 f.
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empirischen Daten angegeben“251, d.h. ihr Niveau oder ihre Intensität kann nicht bestimmt werden. Es handelt sich vielmehr um semantische Begriffe, die hochgradig unbestimmt sind Infolgedessen hängen aber auch „die Antworten auf die Frage, ob die Unionsbürger bereits zu einem Unionsvolk zusammengewachsen sind [...] vor allem vom Standpunkt des Betrachters“252 ab.253 Der vermeintlich natürliche, wirkliche, objektive oder substantielle Charakter der Homogenitätskriterien, der materielle Gewissheit suggeriert, kann mit anderen Worten nur schlecht verdecken, dass über die postulierte Substanz des Kollektivs keine Einigkeit besteht, vielmehr „die zur Begriffsbestimmung herangezogenen Elemente [...] in der Auswahl und der inhaltlichen Ausfüllung subjektiven Wertvorstellungen“254 unterliegen. Jeder Interpret kann sich aus der großen Bandbreite unterschiedlicher Definitionsmerkmale ein Kriterium beliebig herausnehmen und sodann seine Perspektive und seine Inhalte in das ausgewählte Kriterium einzeichnen.255 Erst vor diesem, die subjektiven und konstruktiv-kreativen Elemente des Homogenitätsbegriffs berücksichtigenden Hintergrund, bekommt der für Carl Schmitt erstaunliche, die hier diskutierte Problematik des Begriffs der Homogenität aber in frappierender Weise offen legende Satz: „Wir schaffen heu-
251
Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 149), 179, Fn. 15. Allerdings, so Heun, könnten „generelle, typologische Aussagen gemacht werden, die sich an Hand der geschichtlichen Entwicklung und aktueller politischer Probleme ergeben“. 252
Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? (Fn. 109), 27, 33. 253
Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit (Fn. 30), § 14 Rn. 8, stellt fest, dass es „vielfach Ansichtssache“ sei, welche „Substanzen die Einheitsstiftung eines „natürlichen“ Volkes bewirken und ein Staatsvolk im Innersten zusammenhalten“. 254
O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, 21, 26, 30, 31, 37 und 48; ders., Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik (Fn. 1), 366, 391. 255
Haltern, Integration als Mythos (Fn. 36), 31, 51, hat schon in Bezug auf die Entwicklung eines „natürlichen“ Volksbegriffs in der Weimarer Staatslehre festgehalten, „dass zwar jeder einzelne der genannten Begriffe als integrierend verstanden werden kann und auch wird – dass aber die Pluralität der angebotenen Konzepte ein Einigsein auf einen oder gar eine Reihe von ihnen nicht zulässt. Im Gegenteil deutet v.a. die wissenschaftliche Diskussion darauf hin, dass die Bandbreite der als integrativ in Betracht kommenden Möglichkeiten eher Zwietracht sät und Unruhe stiftet.“
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te zunächst einmal die notwendige Gleichartigkeit“256, einen Sinn. Eine Präzision der Homogenitätskriterien, die Anspruch auf intersubjektive Geltung erheben könnte, scheitert an ihrer Unbestimmtheit und der Vielfalt der Beobachter und Interpreten. Ob ein Legitimationssubjekt, das über die geforderte Homogenität verfügt, besteht, kann aufgrund der begrifflichen Offenheit der Merkmale, die die Homogenität des Legitimationssubjektes begründen sollen, nicht bestimmt werden. Im Ergebnis wird das Legitimationssubjekt, als Ausgangspunkt demokratietheoretischer Überlegungen von zentraler Bedeutung, über den Begriff der Homogenität selbst zu einer inhaltlich unbestimmten und konturlosen „Begriffshülse“257. Die Frage nach der Verwirklichung von Demokratie auf europäischer Ebene wird abhängig gemacht von methodisch-rational nicht zu diskutierenden, im Diffusen bleibenden „Volkswerdungsprozessen“, bei denen weder deutlich wird, warum der Rückgriff auf bestimmte Kriterien demokratietheoretisch notwendig, noch welcher Mindestwert sozialstruktureller Homogenität erforderlich sein soll, vor allem aber, wie und von wem das vorhandene Maß an Homogenität festgestellt werden kann.
b. Statische Position: Herausforderungen der Globalisierung Das Festhalten am Begriff der Homogenität stellt sich als wesentliches Element und zugleich als Bedingung einer statischen Position dar, die in einer auf den Nationalstaat fixierten Betrachtungsweise verharrt und dessen historische Kontingenz nicht zur Kenntnis nimmt. Argumentativer Ausgangspunkt ist die Idealisierung von in den Nationalstaaten
256
C. Schmitt, Das gute Recht der deutschen Revolution, in: Westdeutscher Beobachter, 9. Jg., Nr. 108 vom 12. Mai 1933, 2. 257
Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik (Fn. 1), 366, 391; ders., Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung (Fn. 254), 26 und 30. Gesehen wird dies scheinbar auch von J. Isensee, Grundrechte und Demokratie, Der Staat 20 (1981), 161, 162, der zwar zunächst die Bedeutung „einer auch tatsächlich homogenen Gemeinschaft“ hervorhebt, um im unmittelbaren Anschluss aber zuzugeben, dass „das Grundgesetz die Demokratie nicht auf einen so unsicheren, unabgrenzbaren, schwankenden Grund wie den Wunschvorstellungen vom Volk als naturwüchsigem Organismus oder als ethnischer, historischer, kultureller, soziologischer Einheit“ baut. In „der Selektion der Eigenschaften“, die die „reale Gleichheit innerhalb einer Gruppe“ begründen sollen, so Isensee an anderer Stelle, ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 148 f., breche „sich das Irrationale Bahn“.
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vermeintlich bestehenden Sozialstrukturen, um anschließend das konstruierte Idealbild mit neuen Formen politischer Systeme oberhalb des Nationalstaates zu kontrastieren. Eine solche gedankliche Operation entfaltet nicht nur erhebliche Implikationen für die Frage nach der Möglichkeit von Demokratie jenseits des Nationalstaates. Sie ist darüber hinaus mit einer Einschränkung von politischen Handlungsmöglichkeiten verbunden, die sich auf die Bearbeitung von Problemen, die durch die Globalisierung gesellschaftlicher Teilsysteme generiert werden, auswirkt, weil sie „jede wirkungsvolle Reaktion der Regierungen auf die Herausforderungen von Globalisierung und Regionalisierung“258 zumindest erschwert. Weil die Globalisierungsprozesse in einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen, auf die das Rechts- und das Politiksystem zu reagieren versuchen, keinesfalls, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde glaubt, „entstanden und hervorgerufen [sind] durch eigene politische Entscheidungen („Globalisierungsvereinbarungen“) und frei eingegangene rechtliche Vereinbarungen der Staaten“259 und dementsprechend auch nicht durch entsprechende Entscheidungen des politischen Systems revidiert werden können, der Staat also, um in der Metaphorik Böckenfördes zu bleiben, weder der Zauberlehrling ist, der die Geister [der Globalisierung] rief, noch derjenige, der diese Geister dirigieren oder gar verbannen kann,260 wird man zunächst einmal die Existenz politischer Entscheidungsebenen jenseits der Nationalstaaten anerkennen müssen. Anstatt aber zu versuchen, jene neuartigen Phänomene politischer Organisation dadurch zu verstehen, dass man sich von nationalstaatlich geprägten Begriffswelten und Strukturmustern löst, reagiert jener „strukturelle Konservativismus“261, der bisher unbekann-
258
Goodman, Die Europäische Union (Fn. 98), 331, 344.
259
Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie (Fn. 6), 103, 105.
260
Böckenförde, ebd., 103, 106, bemüht hier auch die Metapher vom „Schicksal des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswerden kann und von ihnen dirigiert wir, statt sie zu dirigieren“, ohne zu sehen, dass der Staat jener Zauberlehrling ganz sicher nicht ist. Stark drängt sich hier der Eindruck auf, dass Böckenförde ein politisches System unterstellt, das aufgrund seiner herausgehobenen Stellung in der Lage ist, die in ihm untergeordneten gesellschaftlichen Subsystemen ablaufenden Prozesse durch unmittelbare Einflussnahme zu steuern bzw. zu determinieren. Das geht freilich nicht nur weit an der Realität vorbei, sondern würde darüber hinaus auch die zumindest teilweise Aufhebung funktionaler Differenzierung bedeuten. 261
H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz, Die Verwaltung 32 (1999), 241, 255.
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te Organisationsformen lediglich als Abziehbild der Strukturen der Nationalstaaten konzipiert, der „die verfassungsrechtlichen Merkmale des Staates einfach nach oben verlängert“ und der davon ausgeht, „dass sich auf der europäischen und der internationalen Ebene die Strukturen der ersten Ebene vollständig oder annähernd wiederholen würden“262, nur durch eine „entschlossene Verweigerungshaltung“263 und das Aufzeigen von Defiziten. Erhard Denninger hat darauf hingewiesen, dass die mit dem Begriff der Homogenität transportierte „Analogie vom nationalen „Volk“ zum „Europavolk“ verlängertes 19. Jahrhundert ist“264 und einer adäquaten Behandlung aktueller Probleme sowie den möglichen Antworten auf die Frage, wie demokratische Strukturen auch oberhalb der Nationalstaaten gesichert werden können, im Wege steht.265 Historisch beispiellose Formen rechtlicher und politischer Herrschaftsausübung werden sich nur unzureichend mit einem Begriffsinstrumentarium theoretisch erfassen und in die Verfassungsdogmatik integrieren lassen, das einer bestimmten geschichtlichen Ausprägung von Demokratie entstammt und das hergebrachte Prämissen wie die Homogenität des Legitimationssubjektes nicht hinterfragt, um es gegebenenfalls den veränderten Herausforderungen anzupassen.266 Durch das Konservieren
262
R. Wahl, Der einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40 (2001), 45, 51 f., 70, nennt dies die „Wiederholungsthese“. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 24 f., bezeichnet es als eine „mittlerweile kanonisierte Erkenntnis, dass demokratische Legitimation der EU nicht durch schlichte Übertragung ihrer nationalstaatlichen Ausprägung, sondern nur unter Berücksichtigung der Eigenart der Integrationsgemeinschaften erfolgen kann“. 263
Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit (Fn. 16),
114. 264
E. Denninger, Menschenrechte und Staatsaufgaben, JZ 1996, 585, 586.
265
Siehe auch Walter, Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion (Fn. 84), 1, 9, der nicht nur die „Ablösung des Verfassungsbegriffs von seinem bisherigen Staatsbezug“ fordert, sondern auch darauf hinweist, dass die „Globalisierung dazu [zwingt], die vielfach vorausgesetzte Verbindung zwischen Volk und demokratischer Verfasstheit zu hinterfragen“. 266
Zutreffend halten Weiler/Haltern/Mayer, European Democracy and Its Critics (Fn. 92), 16, der beschriebenen Positionen entgegen, dass sie dem Versuch entgegenstehen, “to understand (or define it [“the Community or Union”]) in its own unique terms. It is a failure to grasp the meaning and potentialities of supranationalism.” Ähnlich Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz (Fn. 261), 241, 255,
82
2. Kapitel
eines bestimmten, auf den Nationalstaat konzentrierten Begriffsinstrumentariums, zu dem eben auch der Begriff der Homogenität zählt, begibt man sich der Möglichkeit, das Besondere und gegenüber dem Ordnungsmodell des Nationalstaates Abweichende in einer den neuartigen politischen Organisationsformen angemessenen und ihnen eigenen Begrifflichkeit zu erfassen und entsprechende, weniger staatszentrierte, theoretische Demokratiekonzeptionen zu entwickeln. Zwar kann nicht geleugnet werden, dass es aus historischer Perspektive tatsächlich evidente Verbindungen zwischen der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten und der Verwirklichung von Demokratie gibt. Allerdings erstreckt sich die dem Demokratieprinzip inhärente Forderung, dass die Adressaten rechtsförmiger Machtausübung auch als deren Autoren gelten und damit politische Herrschaft überhaupt erst legitimieren, auf jede Form der Ausübung hoheitlicher Befugnisse, die gegenüber den davon Betroffenen Verbindlichkeit beansprucht, unabhängig davon, ob die Befugnisse durch nationalstaatliche Stellen ausgeübt oder durch nichtstaatliche europäische Institutionen wahrgenommen werden.267 Wenn Hoheitsgewalt nicht länger beim Staat monopolisiert ist, sondern auch auf anderen Ebenen als der des Nationalstaates ausgeübt wird und darüber hinaus, wie oben bereits gezeigt, auf europäischer Ebene die Einschränkung des Prinzips der Einstimmigkeit im richtungsweisenden und normsetzenden, aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzten Rat zugunsten des Mehrheitsprinzips die Legitimationskette zwischen den von politischen Entscheidungen Betroffenen und den diese Entscheidung treffenden und exekutierenden Organen unterbricht, weil einzelne Mitgliedstaaten trotz ihres Vetos an die auf supranationaler Ebene mit Mehrheit getroffenen Entder solchen Positionen nicht nur vorhält, dass sie „gegenüber sozialem Wandel eher hilflos“ wirken und „nicht gerade nach zukunftsfähigen Neuerungen“ suchen, sondern der auch feststellt, dass „historisch neuartige Erscheinungsformen von Staatlichkeit in Europa in diesem Weltbild deshalb gar nicht erst vorstellbar [sind].“ Schließlich warnt auch G. F. Schuppert, Demokratische Legitimation jenseits des Nationalstaates, in: Heyde/Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, 65, 65 und 69 ff., davor „nationalstaatliche Verfassungsvorstellungen blaupausenartig auf Europa zu übertragen“ und rät dazu, „nach strukturadäquaten Legitimationskonzepten für Europa Ausschau zu halten“. 267
Sehr deutlich findet sich diese Forderung bei Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 585; ders., Vertrag oder Verfassung (Fn. 90), 509, 513 f; Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit (Fn. 92), 195, 204 f.
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scheidungen gebunden sind und diese umsetzen müssen, drängt sich die Frage nach einer nicht allein durch die Nationalstaaten vermittelten Legitimation und einem originären Legitimationssubjekt mit unvermittelter Dringlichkeit auf. Wird mit dem Argument der fehlenden oder nur in äußerst langwierigen, quasi natürlichen und daher kaum zu beeinflussenden Prozessen herzustellenden Homogenität innerhalb der Europäischen Union bereits die Möglichkeit der Emergenz einer solchen Legitimationsquelle verneint, ergeben sich für die Frage nach der demokratischen Legitimation der supranationalen Ebene nur zwei Alternativen: entweder man wartet auf die Herausbildung ausreichender homogener Strukturen in Europa, nimmt dann aber die oben formulierten Probleme bezüglich der Beobachtung und Einschätzung entsprechender Volkswerdungsprozesse, eine anhaltende Entwicklungsblockade europäischer Integrationsprozesse sowie die aus der Globalisierung einzelner Teilsysteme resultierenden Einschränkungen nationalstaatlicher Handlungsmöglichkeiten in Kauf, oder man konserviert den Nationalstaat und versucht die demokratische Legitimation der europäischen Ebene allein über die schon heute als unzureichend empfundene mittelbare, über die Regierungen der Mitgliedstaaten verlaufenden Legitimationsketten zu vermitteln.268 Der zuletzt genannten Alternative kann jedoch nicht nur entgegengehalten werden, dass es sich beim Nationalstaat um eine historisch kontingente Erscheinungsform der Organisation politischer Herrschaft handelt, die weder „Europas Schicksal“269, noch, wie Konrad Hesse gegenüber Carl Schmitt eingewendet hat, „die ultima ratio der Geschichte“270 ist. Selbst wenn sich die Herausbildung der Nationalstaaten und die Implementierung demokrati268
Angesichts dieser zwei Alternativen hält Haltern, Europäischer Kulturkampf (Fn. 242), 591, 606 und 608, zu Recht fest, dass sich das „Konzept ethnokultureller Integration“, das von einer „monolithischen Übertragung auf die europäische Ebene“ ausgeht, dem „Vorwurf eines non sequitur aus[setzt]: Die Ausübung politischer Herrschaft auf europäischer Ebene ist illegitim, weil sie demokratischen Anforderungen nicht gerecht wird; zu beheben wäre dies allein durch ein europäisches Nationalvolk; auf ein solches darf aber nicht hingearbeitet werden, und eine Entstehung von selbst ist nicht in Sicht.“ 269
E.-W. Böckenförde, Nationen und Nationalstaaten, in: Hoffmann/Kramer (Hrsg.), Das verunsicherte Europa, 1992, 77, 79, für den das „Denken in geschlossenen Nationalstaaten“ und das bedingungslose Festhalten am nationalstaatlichen Prinzip „keine Lösung, sondern einen Rückfall in [...] die leidvollen Auseinandersetzungen und Kämpfe, die das 19. Jahrhundert hindurch und während des 20. Jahrhunderts in Europa ausgetragen worden sind“, bedeuten. 270
Hesse, Der Gleichheitssatz im Staatsrecht (Fn. 7), 167, 189.
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scher Herrschaftsformen nahezu zeitgleich vollzogen haben und zwischen beiden Prozessen starke gegenseitige Verflechtungen nachweisbar sind, bedeutet dies nicht, dass diese Zusammenhänge logisch zwingend und daher nicht wieder auflösbar sind.271 Entgegenhalten muss man dieser Alternative vor allem, dass sie übersieht, dass es sich bezogen auf die demokratische Forderung nach politischer Selbstregierung um ein Prinzip handelt, welches „in den unterschiedlichen historisch-sozialen Kontexten eine unterschiedliche Gestalt an[nimmt], die wiederum informiert ist von differenten philosophischen Traditionen. [...] Der Offenheit von Demokratie als Begriff und Prinzip entspricht also eine Pluralität von ideengeschichtlichen Traditionslinien.“272 Eine mit dem Begriff der Homogenität infizierte und mit einem „essentialistischen oder absoluten Anspruch auf demokratische Souveränität“273 auftretende demokratietheoretische Positionen leugnet gerade jene Veränderbarkeit, Offenheit und Pluralität und verbaut damit im Ansatz die Möglichkeit auf der supranationalen Ebene „Formen und Vorkehrungen zu installieren oder auszubauen, die den Völkern und Menschen in Europa die Erfahrung vermitteln, dass das Handeln der europäischen Institutionen, ja die europäische Politik, nicht etwas für sie Fernes und Fremdes ist, sondern auch ihre Sache, an der sie beteiligt sind, die sie mitkonstituieren und auch kontrollieren.“274 Mit anderen Worten werden Imaginationen, Entwicklungen und Implementierungen demokratischer Strukturen, Verantwortlichkeiten und Rechtfertigungen, die nicht als bloße Abziehbilder nationaler Vorbilder erscheinen, verhindert. Hält man am Begriff der Homogenität und den mit ihm verbundenen demokratietheoretischen Implikationen fest, begibt man sich nach alledem auf einen „Holzweg“275, auf dem einzig der Nationalstaat als Verwirklichungsraum demokratischer Herrschaft gilt, dessen Beschreiten aber ja 271
Zu diesem Argument Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem (Fn. 85), 27, 45. 272
G. Frankenberg, Vorsicht Demokratie!, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, 177, 180. 273
Goodman, Die Europäische Union (Fn. 98), 331, 351.
274
Böckenförde, Welchen Weg geht Europa? (Fn. 106), 37.
275
Schuppert, Demokratische Legitimation jenseits des Nationalstaates (Fn. 266), 65, 70. Nach Habermas, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? (Fn. 89), 154, 182, zeigen sich in der beschriebenen zirkulären Argumentation deutlich die „konzeptuellen Schranken, die der Begriff der substantialistischen Volkssouveränität gegen die Übertragung von Souveränitätsrechten auf supranationale Einheiten errichtet“.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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vielleicht sowieso nur den Zweck verfolgen soll, den Nationalstaat als politisches Ordnungsmodell gegenüber neuartigen Organisationsformen politischer Herrschaft zu sichern und ihn unter aller Umständen zu erhalten.276
c. Konzepte multipler Demoi und transnationaler Angehörigkeiten Im Folgenden sollen zwei weitere Einwände gegen die mit dem Begriff der Homogenität verbundene Demokratiekonzeption formuliert werden, die zugleich als Ansatzpunkte für solche demokratietheoretische Überlegungen dienen können, die den nationalstaatlichen Bezug relativieren und infolgedessen auf theoretischer Ebene eine wesentlich größere Offenheit für Möglichkeiten von Demokratie jenseits des Nationalstaates aufweisen.
(1) Multiple Demoi Es wurde bereits festgehalten, dass die Konzeptionalisierung demokratietheoretischer Modelle, die einem supranationalen, in mehrere Ebenen gegliederten politischen System angemessen sind, blockiert wird, wenn man daran festhält, dass europäische Demokratie nur unter der Voraussetzung einer der politischen Organisation vorangehenden Herausbildung „einer „identité une et indivisible“ realisiert werden kann, weil nur dies ein wahrhaft europäisches, nämlich der europäischen Tradition entsprechendes Leitbild der rechtlichen und politischen Ordnung darstellt.“277 Legt man die Vorstellung zugrunde, dass es nur einen „Demos“ geben kann, der einzig in den jeweiligen Nationalstaaten lokalisiert wird, weil nur dort die erforderliche Homogenität gegeben ist, kann die demokratische Legitimation der jenseits des Nationalstaates liegenden Entscheidungsebene nicht über eine dieser Ebene originär zugehörigen Legitimationsquelle, sondern allenfalls mittelbar durch die Vermittlung über die Nationalstaaten erfolgen. Allerdings bleibt dann völlig unberücksichtigt, dass auch „die moderne Konzeption des „demos“ im Gefolge der Globalisierung problematisch geworden“278 ist. 276
So ausdrücklich die Vermutung von I. Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), 100, 106. 277
Schneider, Die Europäische Union als Staatenverbund oder als multinationale „Civitas Europea“ (Fn. 242), 677, 696. 278
McGrew, Demokratie ohne Grenzen? (Fn. 84), 374, 382 f.
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Insbesondere die Idee einer politischen Gemeinschaft, die ihr aus dem Demokratieprinzip resultierendes Recht auf politische Selbstbestimmung innerhalb territorialer Grenzen wahrnimmt und hinsichtlich derer von einer Kongruenz von Problemlagen und Problemlösungseinheiten und von der Identität von Herrschaftssubjekten und Herrschaftsobjekten ausgegangen werden kann, wird angesichts der beschriebenen Globalisierungsprozesse in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen unplausibel, da infolge der „zunehmenden transnationalen Verflechtung der Probleme und ihrer Ursachen“ nicht mehr unterstellt werden kann, „dass im Rahmen des Nationalstaats auch die wichtigsten Bestimmungsfaktoren des nationalen Schicksals zu beeinflussen“279 sind. Vielmehr hängen die „grundlegenden Interessen des Staates und seiner Bürger [...] zunehmend von Faktoren ab, die außerhalb des Einflussbereiches einzelner Nationalstaaten liegen, sowohl hinsichtlich der physischen Grenzen als auch der Reichweite ihrer Politiken. Damit ist der Staat immer weniger in der Lage, das Schicksal seiner eigenen Staatsangehörigen zu bestimmen.“280 Wenn infolgedessen politische Ordnungsmodelle entstehen, deren Strukturen zwar von denen des Nationalstaates abweichen, die aber gleichwohl Hoheitsrechte wahrnehmen und Hoheitsgewalt gegenüber den Bürgern ausüben, benötigen auch diese politischen Ebenen „eine ganze Reihe demokratischer »Kanäle«, um demokratische Rechte wirksam auszuüben“281. Jene Kanäle lassen sich jedoch nur dann entdecken und nutzen, wenn man sich von den vermeintlich unauflösbaren Bindungen zwischen Nation, Staat und Demokratie distanziert und sich vor allem „im Hinblick auf die soziale 279
Scharpf, Versuch über Demokratie im verhandelnden Staat (Fn. 86), 25, 29. Zur Auflösung der Identität von Herrschaftssubjekten und -objekten als einer „Grundbedingung demokratischer Selbstherrschaft“ Leggewie, NETIZENS (Fn. 67), 3, 4. 280
Haltern, Europäischer Kulturkampf (Fn. 242), 591, 601 und 602. Sehr deutlich auch Held, Models of Democracy (Fn. 84), 338: “The idea of a community that rightly governs itself and determines its own future – an idea at the very heart of the democratic polity – is today, accordingly, problematic. Any simple assumption in democratic theory that political relations are now or could be ‘symmetrical’ or ‘congruent’ is open to question.” Hierfür liefert nicht nur Held, ebd., 335 ff., sondern auch McGrew, Demokratie ohne Grenzen? (Fn. 84), 374, 379 ff., zahlreiche Beispiele. 281
Goodman, Die Europäische Union (Fn. 98), 331, 350 f. Held, Models of Democracy (Fn. 84), 354, spricht von “broad avenues of civic participation in decision-making at regional and global levels” und einem “expanding framework of democratic institutions and agencies”.
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Basis politischer Herrschaft von der Prämisse sozio-kultureller Homogenität“ löst und stattdessen von Modellen ausgeht, die nicht nur „die sozio-kulturelle Heterogenität großräumiger politischer Gemeinwesen zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen“282, sondern die Demokratie darüber hinaus maßgeblich in der individuellen Freiheit des Individuums verwurzelt sehen und dessen rechtlich abgesicherte Partizipations- und Einflussmöglichkeiten im und auf den politischen Prozess in den Vordergrund stellen. Dann müsste man zum einen nicht auf „die Entwicklung einer „europäischen Nation“ im Sinne der objektivkulturellen Komponente warten und bis dahin den Demokratisierungsprozess auf europäischer Ebene unter Berufung auf die nationale (äußere) Souveränität einschränken“283. Zum anderen würde der Blick frei für ein Demokratieverständnis, das mit der Vorstellung rechnet, dass Individuen bezogen auf jeweils verschiedene politische Systeme, von deren Entscheidungen sie betroffen sind, Angehörige unterschiedlicher („multipler“) Demoi sein können. Für derartige Überlegungen stellt das Prinzip der Volkssouveränität kein Hindernis dar, steht es doch „einer Aufspaltung der Herrschaftsmacht des Volkes bezüglich unterschiedlicher Materien auf verschiedene eigenständige Hoheitsträger nicht entgegen.“284 „Demos“ würde im Ergebnis nicht länger als homogen strukturiertes einheitliches Subjekt verstanden, sondern „als mehrschichtige Konzeption, etwa im Sinne konzentrischer Kreise (der innere Kreis etwa stände für lokale/regionale Zugehörigkeit, der mittlere für nationale und der äußere für noch näher zu definierende europäische Identität)“285. 282
Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration (Fn. 86), 339, 356 f. 283
Haltern, Europäischer Kulturkampf (Fn. 242), 591, 599.
284
Fastenrath, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union (Fn. 105), 101, 117. 285
Haltern, Europäischer Kulturkampf (Fn. 242), 591, 607 f., der zutreffend darauf hinweist, dass sich Menschen „seit Jahrtausenden […] als mehr als einem sozialen oder politischen System gegenüber loyal definiert [haben]: etwa als Untertanen eines Königs, Angehörige einer (staatsübergreifenden) Kirche, Mitglieder einer Familie, eines Stammes, einer Nation, oder als Mitglieder von Berufsgilden oder Geheimbünden.“. Welchen Unterschied es macht, dass es sich hierbei allerdings durchgehend um vor- bzw. nicht-demokratische Sozialsysteme handelt, erörtert Haltern jedoch nicht. Siehe auch Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 111 ff., vor allem 130 ff., der die „Unfähigkeit, sich eine Entität mit mehreren nebeneinanderstehenden Identitäten vorzustellen“, kritisiert. A. D. Smith, National Identity and the idea of European unity, 68 International
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(2) Entkopplung des Demos vom Ethnos: Transnationale Angehörigkeiten Eine Demokratiekonzeption, die mit der Vorstellung multipler Demoi arbeitet, erlangt zusätzliche Plausibilität, wenn man Entwicklungen berücksichtigt, die zur Relativierung der Bedeutung der nationalen Staatsangehörigkeit einerseits und zu einer zunehmenden Herausbildung transnationaler Angehörigkeitsregeln andererseits führen. Auf der Ebene der Zugehörigkeitsregeln stellen diese Entwicklungen sowohl eine Reflektion der veränderten politischen Strukturen als auch eine Ausprägung jener „konzentrischen Kreise“ dar, die der Vorstellung multipler Demoi zugrunde liegen. Das Institut der Staatsangehörigkeit, das die rechtliche Zuordnung von Individuen zu demjenigen Volk vermittelt, von dem nach Art. 20 Abs. 2 GG alle Staatsgewalt ausgeht und das demnach als Legitimationssubjekt politischer Herrschaft fungiert, bildet nach herrschender Auffassung in Literatur und Rechtsprechung grundsätzlich die Voraussetzung für das Recht, an Wahlen teilzunehmen.286 Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist die Staatsangehörigkeit „die rechtliche Voraussetzung für den gleichen staatsbürgerlichen Status, der einerseits gleiche Pflichten, zum anderen und insbesondere aber auch die Rechte begründet, durch deren Ausübung die Staatsgewalt in der Demokratie ihre Legitimation erfährt.“287 Im Hinblick auf seine Eigenschaft, Voraussetzung für die Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen zu sein, wird das Institut der Staatsangehörigkeit jedoch bereits durch die oben geschilderten Bedeutungsverluste nationaler Entscheidungsebenen sowie die zunehmende Inkongruenz von Problemlagen und ProblemlösungseinAffairs (1992), 55, 67 f., erinnert diesbezüglich daran, dass “there is a plenty of historical evidence fort he coexistence of concentric circles of allegiance.” Hierzu schließlich bereits Elias, Die Gesellschaft der Individuen (Fn. 51), 269 f. 286
Siehe aus der Rechtsprechung: BVerfGE 83, 37 ff, 50 ff.; 60 ff., 71 ff. Zu den Interdependenzen zwischen Staatsangehörigkeit, Volksbegriff und Demokratieprinzip, siehe Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (Fn. 161), 207 ff.; Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit (Fn. 30), § 14; ders., Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft, Der Staat 23 (1984), 179-204. Kritisch zur Beschränkung des Volksbegriffs des Art. 20 Abs. 2 GG auf Deutsche i.S.d. Grundgesetzes St. Oeter, Allgemeines Wahlrecht und Ausschluss von der Wahlberechtigung, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, 30, 37 ff.; I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1994, 203 ff. 287
BVerfGE 83, 37 ff., 51.
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heiten infolge von Globalisierungsprozessen relativiert. Darüber hinaus schwindet seine auf die politischen Partizipationsrechte bezogene Exklusivität noch in zweifacher Hinsicht. Zum einen wurde das Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG, das bis dahin nur aus den deutschen Staatsangehörigen bestand, mit dem durch den Vertrag von Maastricht eingeführten Kommunalwahlrecht für in Deutschland lebende Unionsbürger, dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit bereits in der Entscheidung des BVerfG zum kommunalen Wahlrecht für NichtDeutsche angedeutet wurde288, personell erweitert und „in seiner Funktion als Legitimationsquelle supranational modifiziert.“289 Zum anderen relativiert sich die Bedeutung der Staatsangehörigkeit als Grundlage der Inhaberschaft demokratischer Rechte aber auch und vor allem hinsichtlich ihrer ausschließlichen Zuordnung von Individuen zu nur einem politischen Kollektiv, indem sich politische Zugehörigkeiten erweitern, transnationale Angehörigkeitsverhältnisse entstehen und Individuen in transnationale Rechtssysteme eingebunden werden. Insbesondere die „Aufwertung des einzelnen im Völkerrecht“290 und ein damit in Verbindung stehender internationaler Menschenrechtsschutz, der im Unterschied zum traditionellen diplomatischen Schutz gerade nicht an die Staatsangehörigkeit des Einzelnen anknüpft, ein Gemeinschafts- und internationales Wirtschaftsrecht, das Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet oder ein im Entstehen befindliches internationales Strafrecht, welches „die Beziehung Heimatstaat-Individuum (und insbesondere deren Ausschließlichkeit) durch zunehmende Anerkennung und einen wachsenden Anwendungsbereich des Universali288
Ausdrücklich hielt der Zweite Senat fest, dass aus der Unvereinbarkeit und Nichtigkeit des kommunalen Ausländerwahlrechts mit Art. 23 I 2 GG nicht folge, „dass die derzeit im Bereich der Europäischen Gemeinschaften erörterte Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer nicht Gegenstand einer nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässigen Verfassungsänderung sein kann“. Siehe: BVerfGE 83, 37, 59. 289
So R. Grawert, Der integrierte Verfassungsstaat, in: Lhotta/Oebbecke/Reh (Hrsg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte, 1997, 133, 139. Ausführlich zur Unionsbürgerschaft und den mit ihr verbundenen demokratietheoretischen Modifizierungen U. Preuß, Probleme eines Konzepts europäischer Staatsbürgerschaft, in: Kleger (Hrsg.), Transnationale Staatsbürgerschaft, 1997, 249-270. 290
Wahl, Der einzelne in der Welt jenseits des Staates (Fn. 262), 45, vor allem 57 ff., der, ebd., 71, auch von der „Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte bzw. Akteure“ und einer „teilweise[n] Anerkennung der Individuen als partielle Völkerrechtssubjekte in menschenrechtlicher Hinsicht“ spricht.
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tätsprinzips und durch die erstarkende supranationale Gerichtsbarkeit“ lockert, führen dazu, dass der Einzelne „nicht mehr in dem Maße auf Schutz und Refugium seines Heimatstaates angewiesen [ist], wie dies beim klassischen Nationalstaat noch der Fall war.“291 Ob deshalb, wie Hauke Brunkhorst vermutet, „Hannah Arendts klassischer Einwand gegen die Menschenrechte, sie seien für Staatenlose wertlos, entfällt und schon heute Staatsbürgerschaft und Rechtspersonalität in dem Maße auseinander getreten sind, dass Rechtspersonalität inzwischen einen viel breiteren Umfang als Staatsbürgerschaft“292 einnimmt, mag fraglich sein.293 Jedenfalls indizieren aber die beschriebenen Entwicklungen, dass weder das Institut der Staatsbürgerschaft unauflöslich mit dem Konzept des Nationalstaates verbunden ist, noch dass zwischen der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft und der Zugehörigkeit zu einer durch vermeintliche Gemeinsamkeiten sich auszeichnenden bestimmten sozialen Gruppe (etwa im Sinne einer Nation) eine unauflösliche Verbindung in der Weise besteht, dass Letzteres zwingende Voraussetzung für Ersteres wäre.294 Die Konzeptionalisierung transna291
J. Kokott, Die Staatslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, VVDStRL 63 (2003), 7, 12 f. 292
Brunkhorst, Globale Solidarität (Fn. 60), 605, 616; zur Qualität der „Rechtspersonalität“ in der EU und zu dem korrespondierenden Bedeutungsverlust mitgliedstaatlicher Staatsangehörigkeit ders., Taking democracy seriously (Fn. 103), 433, 440. 293
Gegenüber Brunkhorst wesentlich skeptischer Nassehi/Schroer, Integration durch Staatsbürgerschaft? (Fn. 19), 82, 100 ff. Auch Grawert, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft (Fn. 286), 179, 184, warnte 1984 noch vor allzu großer „weltbürgerlicher Euphorie“, denn der „Menschenrechtsstatus ist, wie Erfahrungen und Beobachtungen lehren, gewiss noch kein Ersatz für das, was staatliche Rechtsordnungen bieten bzw. bieten können.“ Ähnlich skeptisch gegenüber dem Bedeutungsverlust der Staatsangehörigkeit M. Bös, Ethnisierung des Rechts?, KZfSS 45 (1993), 619, 640, der die „Vermutung, dass die Beutung der Staatsbürgerschaft abnehme“ zurückweist, da „diese gerade heute zentrales Merkmal zur Produktion von legitimer Ungleichheit zwischen Menschen auf der Erde“ sei und „Zugangsrechte zur Mitgliedschaft [...] tatsächlich Zugangsrechte zu Lebenschancen“ darstellten. 294
Zutreffend schreibt S. Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, 1999, 88 f., dass analytisch „der Begriff der Staatsbürgerschaft im Sinne der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft von dem Begriff der Nationalität im Sinne der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sprachlichen, ethnischen, religiösen oder kulturellen Gruppe zu unterscheiden [ist]. Politische Gemeinschaften setzen sich nicht aus national oder ethnisch homogenen Gruppen zusammen.“ Nach Benhabib, ebd., 97 f., ist die „Gleichstellung der Volks-
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tionaler Angehörigkeitsverhältnisse, die die nationale Staatsangehörigkeit keinesfalls verdrängen, sondern neben ihr bestehen können und in deren Folge jene mit der Vorstellung multipler Demoi verbundenen konzentrischen Kreise entstehen, setzt allerdings voraus, dass Angehörigkeitsverhältnisse ent-ethnisiert werden.295 Ent-Ethnisierung rechtlicher Angehörigkeitsregeln in diesem Sinne meint die „Entkopplung einer gemeinsamen kulturellen Identität von Gesellschaftsformation und Staatsform“296, „die Entkopplung republikanisch-staatsbürgerlicher und naturwüchsig-nationaler Identität“297, die „Abkopplung von Nationalität (verstanden im volksbezogenen, ethno-kulturellen Sinne) und Staatsangehörigkeit“298 bzw. die „politisch gesteuerte Entkopplung von Angehörigkeit und Nationalität“299. Positiv formuliert geht es um die Strategie “to define membership of a polity in civic, non-ethno-cultural terms”300. Eine Strategie, die im Ergebnis zur Verneinung der Frage führt, „ob Nationalität in diesem organischen Sinne, als Garant für Homogenität des Gemeinwesens, die ausschließliche Bedingung vollständiger politischer und bürgerlicher Zugehörigkeit zum Gemeinwesen sein muss.“301 „Demos“ würde dann nicht verstanden als vorgegezugehörigkeit mit der Mitgliedschaft in einer organisierten politischen Einheit ein Unfug, den alle nationalistischen Ideologien verbreiten.“ Ähnlich auch E. Meehan, Staatsbürgerschaft und die Europäische Gemeinschaft, in: Kleger (Hrsg.), Transnationale Staatsbürgerschaft, ARSP-Beiheft 62, 1995, 42, 47 f., die darauf hinweist, dass „die moderne Verbindung von Staatsbürgerschaft und Nationalität [...] weder unvermeidlich noch das bestimmende Merkmal des BürgerDaseins ist.“ 295
Zur Konzeptionalisierung transnationaler Angehörigkeitsverhältnisse H. Kleger, Transnationale Staatsbürgerschaft (Fn. 294), 85-99; Y. N. Soysal, Staatsbürgerschaft im Wandel, Berliner Journal für Soziologie 1996, 181-189; U. Preuß, Zum verfassungstheoretischen Begriff des Bürgers in der modernen Gesellschaft, in: Däubler-Gmelin u.a. (Hrsg.), Gegenrede, 1994, 619-636, sowie die Beiträge von Meehan, Staatsbürgerschaft und die Europäische Gemeinschaft, 42-63, und Preuß, Probleme eines Konzepts europäischer Staatsbürgerschaft, 249-270, in: Kleger (Fn. 294). 296
Habermas, Geschichtsbewusstsein (Fn. 130), 161, 168.
und
posttraditionale
Identität
297
Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 265.
298
Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 119.
299
Nassehi/Schroer, Integration durch Staatsbürgerschaft? (Fn. 19), 82, 103 f.
300
Weiler/Haltern/Mayer, European Democracy and Its Critics (Fn. 92), 14.
301
Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 128.
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benes, in substantiellen Gemeinsamkeiten verwurzeltes Kollektiv, dem Individuen von Geburt an angehören, sondern als ein Zusammenschluss von Bürgern, deren Status als Angehörige eines politischen Systems von einer vermeintlich vorfindbaren ethnisch-kulturellen Substanz abstrahiert. Gerade das ist aber nicht der Fall, wenn man das Institut der (Staats-)Angehörigkeit in der Weise materialisiert, und hier wird der Bezug zum Begriff der Homogenität deutlich, dass „die Mitgliedschaft des Individuums im Staat und die daraus resultierenden wechselseitigen Rechte und Pflichten nicht mehr primär nach erworbenen, sondern nach zugeschriebenen und für das Individuum nicht verfügbaren Kriterien definiert wird“302. Wenn zwischen formeller und materieller Staatsangehörigkeit differenziert wird und letztere durch substantielle Homogenitätsmerkmale bestimmt wird, leugnet man nicht nur die „Plastizität der Zusammensetzung des Volkes“303 in dem Sinne, dass dem einfachen Gesetzgeber hinsichtlich der Regelungen über den Erwerb und Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit und damit der Frage, wer das Volk ist, von dem die Staatsgewalt ausgehen soll, eine Bestimmungsund Dispositionsbefugnis zukommt.304 Bestreitet man „die Ansicht, das Grundgesetz belasse dem Gesetzgeber für die Abgrenzung des Kreises der deutschen Staatsangehörigen einen fast unbeschränkten Gestaltungsspielraum“, indem das Institut der Staatsangehörigkeit mit Homogenitätsanforderungen aufgeladen305 oder „die Zugehörigkeit zur
302
Preuß, Zum verfassungstheoretischen Begriff des Bürgers in der modernen Gesellschaft (Fn. 295), 619, 630 f. Zu den historischen Hintergründen der Materialisierung deutscher Staatsangehörigkeitsregelungen Brubaker, Einwanderung und Nationalstaat in Frankreich und Deutschland (Fn. 41), 1, 2 ff., 14 ff. 303
B.-O. Bryde, Ausländerwahlrecht und grundgesetzliche Demokratie, JZ 1989, 257, 259. 304
Von einer solchen Dispositionsbefugnis scheint auch das BVerfG in seinen beiden Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht ausgegangen zu sein, siehe: BVerfGE 83, 37, 52; 83, 217, 239. 305
Für solche Aufladungen der Staatsangehörigkeit durch Homogenitätsanforderungen, siehe etwa Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 145; ders., Grundrechte und Demokratie (Fn. 257), 161, 162; ders., Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 724. Ganz ähnlich auch H. Quaritsch, Einbürgerungspolitik als Ausländerpolitik?, Der Staat 27 (1988), 481, 496 f. Bereits bei Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (Fn. 141), 16, bestimmt nicht unmittelbar die Zuerkennung des Staatsbürgerschaftsstatus, sondern die dieser Zuerkennung voraus liegende sub-
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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deutschen Kulturnation“ bzw. das „Nationalstaatsprinzip“306 in das Institut hineingelesen werden, macht man es bereits im Ansatz unmöglich, einen transnationalen Angehörigkeitsstatus zu entwerfen.307 Aus stantielle Gleichheit den Kreis derjenigen, denen politische Rechte zukommen. Siehe auch ders., Verfassungslehre (Fn. 140), 228. 306
A. Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit?, NJW 1990, 1397, 1398 und 1399. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Bleckmann D. Blumenwitz, Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, 151, 153. Zutreffend kommentiert Bryde, Ausländerwahlrecht und grundgesetzliche Demokratie (Fn. 303), 257, 260, Bleckmanns Versuch, „die Verfassungsprinzipien um ein „Nationalstaatsprinzip“ zu erweitern“ als „nicht überzeugend, aber die Ablehnung des Ausländerwahlrechts wäre in der Tat nur mit Hilfe eines solchen Prinzips, nicht durch das Demokratieprinzip zu begründen“. 307
In welchem Umfang das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht durch ethnisch-kulturelle Homogenitätsansprüche und Homogenitätsforderungen infiziert ist, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Stellte das „Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Unterthan, so wie über den Eintritt in fremden Staatsdienst“ vom 31.12.1842 hinsichtlich der Erlangung der Staatsangehörigkeit noch vornehmlich auf wirtschaftliche und moralische Würdigkeit ab und war dem darin verwendeten Begriff des „Unterthan“ eine Differenzierung nach ethnisch-kulturellen Kriterien insofern unbekannt, als es polnische und deutsche Preußen gleichermaßen zu Untertanen eines sub- bzw. transnationalen preußischen Staates machte, und richtete sich die preußische Verfassung von 1848 durch die Gewährleistung gleicher bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte unabhängig vom religiösen Bekenntnis gegen die konfessionelle Diskriminierungen und gegen den Ausschluss von Juden aus dem Staatsbürgertum, enthielt die Frankfurter Paulskirchenverfassung, die nach D. Gosewinkel, Die Staatsangehörigkeit als Institution des Nationalstaats, in: Grawert u.a. (Hrsg.), Offene Staatlichkeit, 1995, 359, 361 f., „Raum [gab] für eine inhaltliche Bestimmung der Deutscheneigenschaft, die über die bloße Addition einzelstaatlicher Zugehörigkeit und ein darauf aufbauendes gemeinsames Indigenat („Reichsbürgerrecht“) hinausging“, schon einen deutlichen Homogenitätsanspruch, der schließlich im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 zumindest auf den ersten Blick, bekräftigt und normativ umgesetzt wurde. Ob bereits durch die konkrete Ausgestaltung des Gesetzes, wie Gosewinkel meint, „ein Einlasstor für nationale [...] Ab- und Ausgrenzungen der Staatsangehörigkeit geschaffen“ wurde, das in der Folge unter Rückgriff auf ethnischkulturelle Homogenitätspostulate zur Ausgrenzung vor allem von Juden oder »preußischen Staatsbürgern polnischer Nation« genutzt werden konnte, ist umstritten. Nach A. Funk, Wer ist Deutscher? Wer ist Deutsche?, Leviathan 23 (1995), 307, 310 f., fand „der ethnische Nationalismus im Reichstaatsangehörigkeitsgesetz von 1913“, welches „als Instrument zur Erhaltung des Deutschtums konzipiert [wurde], das den Zustrom von Polen und Juden aus dem Osten in Reichsgebiet unterbinden sollte“, zwar seinen „sichtbarsten Ausdruck“, ande-
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2. Kapitel
historischer Perspektive mag die Kongruenz zwischen Nationalität und Staatsangehörigkeit, in deren Kontext nach sukzessivem Abbau interner sozialer Beschränkungen (Besitz, Bildung, Geschlecht, Alter) tatsächlich alle Angehörigen der Nation den gleichen staatsbürgerlichen Status mit den damit verbundenen politischen Rechten besitzen, nachweisbar und nachvollziehbar sein. Auch ist nicht zu leugnen, dass mit dem Nationalismus bzw. dem Begriff der Nation eine Inklusionsformel Wirksamkeit erlangte, die Inklusion nicht wie in der vormodernen ständischfeudalen Gesellschaft „über auf Ungleichheit zielende Loyalitäts-, Privilegierungs- und Gefolgschaftsverpflichtungen stabilisierte“308, sondern der im Gegensatz vielmehr der Gedanke inhärent war, dass die Gesellschafts- und Staatsordnung egalitär konstruiert ist und ein grundsätzlicher Partizipationsausschluss innerhalb einer Nation auf Dauer demnach nicht gerechtfertigt werden konnte“309. Allerdings sollte man dabei nicht nur nicht vergessen, dass gerade die Aufladung der dem Nationalismus inhärenten Egalitätsverheißung durch vermeintliche Subrerseits war „Der Deutsche“ im Gesetz von 1913 [...] noch nicht völkisch aufgeladen; die Bedingungen für eine Naturalisation von Ausländern waren sogar großzügiger gefasst als im späteren bundesrepublikanischen „Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit“ von 1955.“ Deutlicher weist W. Löwer, Abstammungsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, 156, 157, Vorwürfe zurück, die „die Staatsangehörigkeit kategorial in die Nähe der Nationalstaatlichkeit des 19. Jahrhunderts und gar in die Nähe eines Postulats ethnischer Homogenität“ rücken. Grundsätzlich zu Homogenitätsansprüchen und Homogenitätsforderungen im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht A. Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, 1999, passim; Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 115 ff.; G. Frankenberg, Zur Alchimie von Recht und Freiheit, in: Balke u.a. (Hrsg.), Schwierige Fremdheit, 1993, 41, 46 ff. 308
Nassehi/Schroer, Integration durch Staatsbürgerschaft? (Fn. 19), 82, 86. Ausführlich zu den komplexen und vielfältigen strukturellen Voraussetzungen für das Umstellen von einer ständisch-korporativen auf die moderne Inklusionsform „Nationalismus“, siehe H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.1, 1989, 506-530; Bd. 2, 1989, 394-412. Hierzu aus juristischer Perspektive Preuß, Zum verfassungstheoretischen Begriff des Bürgers in der modernen Gesellschaft (Fn. 295), 619, 623 ff.; ders., Probleme eines Konzepts europäischer Staatsbürgerschaft (Fn. 289), 249, 252. 309
D. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, 2000, 22 und 101 f. Langewiesche spricht vom Nationalismus als einer „egalitären Befreiungsideologie“ und von der „Idee der Nation als egalitärer Zukunftsentwurf“. Siehe auch T. Mayer, Prinzip Nation, 1987, 264, demzufolge das „antihierarchische Element der Nation [...] seit jeher konstitutiv für den Begriff und die Sache der Nation [ist].“
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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stantialitäten zu Unterdrückung, Exklusion und Vernichtung geführt hat und dass die behaupteten Verbindungen zwischen dem Begriff der Homogenität und dem Demokratieprinzip aufgrund der Beliebigkeit und Interpretationsoffenheit der homogenitätsbegründenden Kriterien in besonderer Weise geeignet sind, diejenigen auszumachen, die die Entwicklung einer auf einem homogenen Demos basierenden „echten“ Demokratie angeblich verhindern und die deshalb aus der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden müssen.310 Für die aktuell brisante Frage nach der Konzeptionalisierung transnationaler Angehörigkeitsverhältnisse ist vor allem von Bedeutung, dass die explizite oder implizite Anbindung von Angehörigkeitsverhältnissen an substantiell verstandenen Gemeinsamkeiten zwangsläufig dazu führt, dass transnationale Angehörigkeitsverhältnisse, wie die bereits positivrechtlich verankerte Unionsbürgerschaft, nur als defizitäre Angehörigkeitsinstitute gesehen werden können, die eine demokratische Legitimität nicht zu vermitteln in der Lage sind, weil ihnen im Gegensatz zur deutschen Staatsangehörigkeit, deren materielles Element auf einer durch eth-
310
Zu diesem dramatischen „Exklusionspotential“ in jedem Homogenitätsdenken Preuß, Zum verfassungstheoretischen Begriff des Bürgers in der modernen Gesellschaft (Fn. 295), 619, 630 f. An anderer Stelle spricht Preuß, Die Weimarer Republik (Fn. 141), 177, 183, deutlich von einem „latent aggressive[n] Konzept der Politik“. Auch Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (Fn. 53), 34, 55, weist „auf fatale Auswirkungen hin [...], die der ethnischkulturelle Nationbegriff, als Grundlage für die Bildung von geschlossenen Nationalstaaten genommen, gehabt hat und weiterhin hat“. Dass auch dem subjektiv-politischen Nationbegriff ein erhebliches „Exklusionspotential“ zukommt, zeigen R. Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, 163; D. Thränhardt, Allgemeines Wahlrecht und Ausschluss von der Wahlberechtigung, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, 15, 17. Zwar gab es in den Anfängen der Französischen Revolution eine liberalinternationalistische Phase, der allerdings, wie Thränhardt schreibt, spätestens mit Beginn des Krieges eine xenophobe Periode folgte, „in der alles Ausländische als verdächtig galt („conspiration de l’étranger“) und einige der vorher gefeierten Ausländer, denen das Bürgerrecht verliehen worden war, exekutiert oder inhaftiert wurden“. Auch deshalb sollte man gegenüber einer idealtypischen Kontrastierung von offen und integrativ verstandenen republikanischen Staatsbürgerkonzepten (Frankreich, Vereinigte Staaten von Amerika) und exklusiven und ethnisch geschlossenen Modellen (Deutschland) vorsichtig sein. Hierzu aufschlussreich Bös, Ethnisierung des Rechts? (Fn. 293), 619-643; Delbrück, Das Staatsvolk und die „Offene Republik“ Republik (Fn. 130), 777, 783 ff., sowie die ältere, gleichwohl immer noch aufschlussreiche Arbeit von R. Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973.
2. Kapitel
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nisch-kulturelle Gemeinsamkeiten konstituierten und verbundenen deutschen Nation basiert, die nötige Homogenitätsgrundlage fehlt.311 Im Ergebnis stellt sich die durch Bezug auf den Begriff der Homogenität bewirkte Materialisierung von Angehörigkeitsregeln nicht nur als ein kaum zu überbrückendes Hindernis für die Entwicklung transnationaler Angehörigkeitsverhältnisse dar, sondern mittelbar auch für das Konzept multipler Demoi und damit die Möglichkeiten von Demokratie jenseits der Nationalstaaten.
IV. Homogenität und politische Einheitsbildung Nach den Ausführungen zum Mehrheitsprinzip könnte man auf den ersten Blick den Eindruck erlangen, es sei das Mehrheitsprinzip, das als das „technische Mittel der demokratischen Einheitsbildung“312 dafür verantwortlich zeichnet, die „Einheit des Ganzen gegenüber dem Antagonismus der Teile zur Geltung zu bringen“313, d.h. politische Einheit in einem fortlaufenden Prozess immer wieder herzustellen. Allerdings wurde auch deutlich, dass Positionen, die auf den Begriff der Homogenität abstellen, die Akzeptanz- und Folgebereitschaft der Minderheit maßgeblich dadurch erklären, dass sich Minderheit und Mehrheit nur als zwei Teile einer auf sozial-struktureller Homogenität beruhenden Einheit, die vor jeder Implementierung eines politischen Entscheidungsverfahrens immer schon besteht, darstellen.314 In dieser Vorstellung kommt ein weiterer Bedeutungsgehalt des Begriffs der Homogenität zum Ausdruck, der eine Antwort geben soll auf „eine der älteren Grundfragen der Staatslehre, wie denn aus der Vielheit der Menschen, aus der Verschiedenheit ihrer Auffassungen und Interessen, aus der
311
So ausdrücklich die Schlussfolgerungen bei P. Kirchhof, Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU, in: Classen u.a. (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen ...“, 2001, 201, 207, und Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 84 f. 312
Heller, Europa und der Fascismus (Fn. 4), 463, 469.
313
Guggenberger/Offe, Politik aus der Basis (Fn. 177), 8 f.
314
Siehe oben: 3. Kapitel, II. Homogenität und Mehrheitsprinzip, 4. Homogenität als Bedingung der Anwendung des Mehrheitsprinzips.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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Einwirkung der von ihnen formierten Gruppen sich eine politische Einheit bilden und behaupten kann“315.
1. Historische und verfassungstheoretische Hintergründe Der historische und verfassungstheoretische Hintergrund für jenen Bedeutungsgehalt des Begriffs der Homogenität, der auf die (politischen) Einheitsbildung zielt, reicht zurück auf ein zentrales Problem der Staats- und Verfassungslehre in der Weimarer Republik. Nach dem abrupten Ende des überkommenen monarchischen Systems und der Auflösung letzter Reste bürgerlicher Ordnung in einer erratischrevolutionären Stimmung und angesichts einer von massiven ideologischen, ökonomischen und politischen Antagonismen gekennzeichneten Gesellschaft, in der zwischen sich gegenseitig blockierenden und zum demokratischen Kompromiss weitgehend unfähigen Gruppierungen verhärtete Fronten bestanden, die sich über das in der Verfassung normierte Entscheidungsverfahren eines instabilen, permanent in seiner Existenz gefährdeten und von weiten Teilen der Bevölkerung mit Skepsis bis radikaler Ablehnung betrachteten Staates kaum überwinden ließen316, rückte „die Frage nach der Einheit des politischen und rechtlichen Systems nun in das Zentrum der Aufmerksamkeit“317 der Weimarer Staatslehre. Von einer oder der Weimarer Staatslehre zu sprechen, wird von einigen Autoren überhaupt nur deshalb als berechtigt betrachtet, weil man „in den staats- und verfassungsrechtlichen Schriften jener Zeit, Beschreibungen über die Voraussetzungen politischer Einheitsbildung in einer Dichte und Fülle [findet], wie sie das deutsche juristische Denken bis dahin nicht kannte“318. Die nach dem Zusammenbruch der Monarchie von der Staatslehre zu leistende Aufgabe bestand darin, die Rolle des Staates neu zu bestimmen und in diesem Zusammenhang die Fähigkeit des Staates zur Einheitsbildung sowie seine Möglichkeiten, eine von bisherigen Bindungen freigesetzte und hochgradig antagonisti315
Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem (Fn. 209), 33, 35. 316
Mit weiteren Nachweisen, siehe nur M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2002, 90. 317
Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation (Fn. 141),
23. 318
Vesting, ebd.
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2. Kapitel
sche Gesellschaft politisch-rechtlich integrieren zu können, zu untersuchen.319 Eine mögliche Reaktion auf diese der Weimarer Staatslehre gestellte Aufgabe stellt das Abstellen auf eine angeblich bereits bestehende bzw. die Forderung nach einer herzustellenden Homogenität dar. In der Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland finden sich bis heute Aussagen, die starke Beziehungen zwischen der vermeintlichen Notwendigkeit sozialer Homogenität innerhalb eines Kollektivs und dem Problem der inneren bzw. politischen Einheitsbildung behaupten. Im Folgenden soll jenen Aussagen nachgegangen, die dafür angeführten Begründungen dargestellt und einer kritischen Betrachtung unterzogen werden.
2. Einheit und Homogenität Wendet man die Kategorie der Einheit auf menschliche Kollektive an, ergibt sich das bei den einführenden Erläuterungen zum Begriff der Homogenität bereits angesprochene Problem, dass man Kriterien benennen muss, die bezeichnen, was allen Angehörigen des Kollektivs gemeinsam ist, was sie zu einer Einheit verbindet.320 Ernst-Wolfgang Böckenförde unterscheidet explizit zwischen „dem Maß an relativer Homogenität, das Voraussetzung für das Bestehenkönnen eines Staates als politische Einheit und Friedenseinheit ist, und demjenigen Maß, das die Voraussetzung für die Demokratie als Staats- und Regierungsform 319
Für G. Robbers, Die Staatslehre der Weimarer Republik, Jura 1993, 69, 72, kann von der Weimarer Staatslehre im Singular überhaupt nur gesprochen werden, weil sie von einem Problem beherrscht war: „Wie ist Einheit möglich?“. „Übereinstimmend“, so Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat (Fn. 88), 521, 525 und 526, „war für Hans Kelsen, Hermann Heller, Rudolf Smend und auch Carl Schmitt der Gedanke der Einheitsbildung im Inneren wesentliches Kennzeichen moderner Staatlichkeit“, d.h. die „staatliche Fähigkeit zur Einheitsbildung war nach dem von vielen jedenfalls ambivalent betrachteten Übergang von der Monarchie zur Republik das entscheidende Qualitätsmerkmal für Staatlichkeit.“ Ähnlich auch Llanque, Die Theorie politischer Einheitsbildung in Weimar und die Logik von Einheit und Vielheit (Fn. 141), 157, 157: „Politische Einheit [...] als Generalforderung“. Zum Verschwinden des Problems der Einheit aus der Staatslehre nach 1945 Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem (Fn. 209), 33, 36 f. 320
Siehe oben: 1. Kapitel: Der Begriff der Homogenität, I. Erläuterungen zum Begriff der Homogenität, 1. „Tertium Comparationis“: Homogenitätskriterien.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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darstellt.“ Bereits für die politische Einheit wird damit postuliert, dass der politischen Organisation eine Einheitsbildung vorausgehen muss, die wiederum mit dem Begriff der (relativen) Homogenität bezeichnet wird. Anderenfalls lässt sich, so Böckenförde, „weder der Ausschluss von Freund-Feind-Gruppierungen im Staatsinnern noch die Bereitschaft zu gemeinsamem Zusammenwirken in der Bewältigung notwendiger Aufgaben und der Austragung von Konflikten erreichen, was beides für den Bestand eines Staates unerlässlich ist.“321 Ausdrücklich wird 321
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 64. Böckenförde verweist diesbezüglich auf Rousseaus „Contrat Social“, was zumindest missverständlich ist. In dem von Böckenförde zitierten Kapitel schreibt Rousseau über eine von ihm selbst noch nicht gesehene Form der Demokratie, die, und dies ist neben den von Böckenförde zitierten Bedingungen der „Einfachheit in den Sitten“ und der „weitgehenden Gleichheit der gesellschaftlichen Stellung und der Vermögen“ die erste Voraussetzung Rousseaus, auf „einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk einfach zu versammeln ist und jeder Bürger alle anderen leicht kennen kann“, bezogen ist. Niemand wird in Abrede stellen wollen, dass Rousseaus erste Voraussetzung, die Forderung, dass „jeder Bürger alle anderen leicht kennen kann“, in modernen Territorialstaaten nicht zu erfüllen ist. Auch das „sozialistische“ Moment in der dritten Voraussetzung, das Rousseau dahingehend spezifiziert, dass es „wenig oder gar keinen Luxus“ geben darf, weil der Luxus „Reich und Arm [verdirbt], den einen durch Besitz, den anderen durch Begehrlichkeit“ und Reichtümer deshalb zu vermeiden seien, wird in kapitalistischen Systemen weder gewünscht und erst recht nicht realisiert. Trotzdem, d.h. obwohl diese von Rousseau aufgestellten Bedingungen illusionary sind bzw. nicht verfolgt werden, verneint man nicht die Demokratiefähigkeit des modernen Nationalstaates. Die Frage, ob man dann nicht auch auf die zweite Rousseau’sche Forderung verzichten kann, müsste wenigstens gestellt werden. Dass Böckenförde seine These mit einem Bezug auf Rousseau kaum belegen kann, wird auch deutlich, wenn man einem Hinweis von I. Maus, „Volk“ und „Nation“ im Denken der Aufklärung, Blätter für deutsche und internationale Politik 39 (5) 1994, 602, 606 f., folgt. Maus legt dar, dass Rousseau im Unterschied zu seinem Verfassungsentwurf für Korsika, in der „eine so große Homogenität der Gesellschaft [unterstellt wird], dass in das Volk Korsikas nur alle 50 Jahre ein Fremder feierlich integriert werden kann“, im Contrat Social diesen „Sonderfall einer demokratischen Regierungsform [...] wegen der hohen Tugendanforderungen an die Bürger und wegen des Fehlens einer Gewaltenteilung ausdrücklich als unrealisierbar und nicht wünschenswert verwirft“. „Die spezifischen Homogenitätsbedingungen des Volkes in der KorsikaSchrift“, so Maus weiter, „gelten also nur für den auf die kontingente historische Entwicklungsphase dieser Inselgesellschaft berechneten Sonderfall“. Maus interpretiert Rousseau dahingehend, dass das „»Volk« der Volkssouveränität nach alldem gerade in den normativen Bestandteilen von Rousseaus Werk ein ausschließlich verfassungsrechtlicher Begriff [ist], der von allen ethnischen, kul-
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2. Kapitel
Homogenität in diesem Sinne verstanden als ein Reservoir an einheitsbildenden Gemeinsamkeiten, das gegenläufige Tendenzen der Moderne auffängt. Gegenüber einer „vom Gleichheits- und Freiheitsgedanken getragenen Freisetzung der Individuen aus statusmäßigen ständischen, korporativen, lokalen Bindungen“ und der dadurch bewirkten Individualisierung und Atomisierung, die die Einheitsbildung problematisch erscheinen lassen, wird im Gegenzug eine Homogenität postuliert, die die „tendenziell atomisierte Gesellschaft [...] zur handlungsfähigen Einheit“322 verbindet. Selbst wenn nur von einer die politische Einheit „tragende[n] Homogenität“323 gesprochen wird und Homogenität damit eher als ein politische Systeme lediglich stabilisierender Faktor gemeint zu sein scheint, implizieren auch solche Äußerungen immer noch die Unterstellung, politische Einheitsbildung setze notwendig eine homogene Sozialstruktur voraus, aus der heraus sich Einheit entwickeln und auf der Einheit beruhen kann.324 Besteht diese aus sozialstruktureller Homogenität hervorgehende Einheit innerhalb eines politischen Systems fort, sichert sie nicht nur als „„kompensatorische Bedingung“ demokratischer Freiheit eine Zerspaltung oder ein Auseinanderklaffen der staatlichen politischen Einheit in unversöhnliche Gegensätze.“325 turellen oder soziologischen Momenten, sogar von der Notwendigkeit eines Staatsgebiets abstrahiert: die Konstitution eines Volkes nur durch das konsentierte Gesetz ist der eigentliche Inhalt des Kapitels über den „législateur“.“ 322
Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (Fn. 53), 34, 58.
323
E.-W. Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, 344, 354. 324
Siehe beispielsweise Depenheuer, Integration durch Verfassung? (Fn. 130), 854, 859 f., der unter der Überschrift „Homogenität als Voraussetzung politischer Einheit“ behauptet: „Einheit [...] gründet auf vorgegebener Homogenität, auf der allein sie wachsen und gedeihen kann.“ 325
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 63. Soweit Böckenförde hier „relative Homogenität“ nicht als eine im Sozialen verortete Substanz sieht, sondern lediglich als einen „sozialpsychologische[n] Zustand, in welchem die vorhandenen politischen, ökonomischen, sozialen, auch kulturellen Gegensätzlichkeiten und Interessen durch ein gemeinsames WirBewußtsein, einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen gebunden erscheinen“, besteht eine frappierende Ähnlichkeit mit der Staatslehre Hermann Hellers. Vgl. Heller, Demokratie und soziale Homogenität (Fn. 141), 421, 427 ff. Zu den „Berührungspunkten mit dem materialen Denken eines Schmitt oder Smend“ hinsichtlich „einer so zentralen Frage wie der nach den vorpolitischen Bedingungen politischer Einheitsbildungsprozesse“, d.h. nach der Frage,
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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Über diese Wirkung hinaus wird gelegentlich behauptet, dass in der homogenen sozialen Struktur eines Kollektivs bereits ein Gemeinwille angelegt sei, den es im institutionalisierten Verfahren nur noch abzubilden gelte.326 Eine in der Verfassungslehre viel diskutierte Stelle des Maastricht-Urteils, an der das Bundesverfassungsgericht für die Staaten hinreichend bedeutsame Aufgabenfelder fordert, „auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet [...] rechtlichen Ausdruck zu geben“327, kann in diesem Sinne verstanden werden.328 Für eine Analyse der behaupteten Interdependenzen zwi-
„ob Hellers Bezugnahme auf einen Begriff von sozialer Homogenität in irgendeiner Hinsicht von den Homogenitätskonzeptionen eines Schmitt oder Smend unterschieden ist“, siehe Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation (Fn. 141), 81 ff. 326
Zu diesem demokratietheoretischen Ansatz und seiner Ausarbeitung in der Weimarer Staatslehre Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik (Fn. 1), 366, 376 ff. 327 328
BVerfGE 89, 155, 186.
Anlass zu Diskussion und Kritik war vor allem der Versuch des Gerichts, die genannte Stelle durch einen Verweis auf Hermann Heller zu belegen. Aus der daran zahlreich geübten Kritik, siehe die deutliche Stellungnahme von Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 95 und Fn. 10, der hinter der Zitierung des „Sozialisten, Antifaschisten, Juden und Carl Schmitt-Kritiker“ Hermann Heller an der Stelle von Carl Schmitt eine „subtile Scham oder zumindest Unbehagen in der Argumentation des Verfassungsgerichts“ vermutet, „das HellerZitat […] recht merkwürdig“ findet und es sich „nicht anders denken [kann], als dass das Bundesverfassungsgericht es, in Anbetracht von Hellers Biographie und seiner Anschauungen, einfach zweckmäßig fand, ihn anstatt anderer zu zitieren.“ Frankenberg, Pluralität verfassen (Fn. 11), 73, 108 f., vermutet, dass „die Homogenitäts-These im Maastricht-Urteil die reale Pluralität und Heterogenität einer Vielvölker-Union überspielen [soll], indem sie implizit einen einheitlichen nationalen demos beschwört.“ Zutreffend erinnert Frankenberg den Senat daran, dass es Hermann Heller „nicht darum [geht], Pluralität zum Verschwinden zu bringen“, sondern vielmehr darum, „auf die Gefahren „sozialer Disparität“ hin[zu]weisen, die sich in einem „Klassenstaat“ u.a. als „Klassenpolitik“ und „Klassenjustiz“ Geltung verschafft und dann die zivile und formaljuristische politische Homogenität der Bürger und Rechtsgenossen sprengt.“ Folglich sei Heller, „übertragen auf den europäischen Kontext [...] eher ein Kronzeuge für die Kritik des Mythos einer homogenen Union und für eine Erweiterungspolitik, die den sozioökonomischen Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten Rechnung trägt.“ Hätte der Zweite Senat des Gerichts denn den
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schen dem Begriff der Homogenität und der Einheitsbildung sind hierbei mehrere Aspekte von Bedeutung: zum einen, dass nicht explizit von der homogenen sozialen Struktur eines Kollektivs die Rede sein muss, Homogenitätsbehauptungen und damit verbundene Einheitspostulate vielmehr nicht selten mit Begriffen wie „Nation“, „Volk“ oder „kollektiver Identität“ transportiert werden. Nation wird dann als „ethnisch und kulturell homogene Gemeinschaft“329 definiert oder kollektive Identität wird „durch Rückbindung an substanzhafte Homogenität gedacht“330. Beachtet man die zeitliche Abfolge, stößt man zum anderen auf eine „die Diskussion der Staatslehre bis in dieses Jahrhundert“ durchziehende Frage: „wird das Volk erst durch den Staat zum Volk, der dann das, was er als seine andere Seite voraussetzt, auch repräsentiert? Oder wird das Volk in seinen relevanten Interessen im Staat durch ein Parlament repräsentiert?“331 Eine Erklärung für die These, dass der politischen Organisation ein bereits durch seine Gemeinsamkeiten geeintes Kollektiv vorausgeht bzw. die politischen Einheitsbildung zumindest auf der Homogenität eines vorpolitischen Kollektivs aufbaut, dürfte aus historischer Perspektive nicht zuletzt in den spezifischen Entwicklungsprozessen des deutschen Nationalstaates und der damit verbundenen Unterscheidung zwischen „Kulturnation“ und „Staatsnation“ zu finden sein. Während sich die „Staatsnation“ unter Bezugnahme auf eine bereits ausdifferenzierte staatlich-administrative Organisation definieren konnte, musste die „Kulturnation“ in Ermangelung eines politisch-administrativen Systems ihre Einheit über kulturelle, von ihm zitierten Aufsatz Hellers weitergelesen, wäre ihm daüber hinaus aufgefallen, dass das genannte Zitat noch aus einem anderen Grunde in höchstem Maße unpassend erscheint. Heller schreibt in Demokratie und soziale Homogenität (Fn. 141), 421, 433, nämlich auch: „Der herrschenden Klasse selbst ist die Frage höchst problematisch geworden, ob der heutige Nationalstaat der Selbsterhaltung der Nation besser dient, als ein europäischer Bundesstaat. Sehr bald wird sich auch aus diesem Grunde die nationale Idee als ungenügend erweisen, die demokratische Einheitsbildung zu legitimieren.“ Siehe auch ders., Gespräch zweier Friedenfreunde, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1971, 421-424. Dass das Heller-Zitat indes nur eines von mehreren inkorrekten oder zumindest missverständlichen Zitaten der Maastricht-Entscheidung ist, zeigt schließlich H.-P. Ipsen, Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil, EuR 1994, 1, 17 ff. 329
Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (Fn. 53), 34, 55. Ähnlich auch Schmitz, Integration in der Supranationalen Union (Fn. 18), 39. 330
Depenheuer, Integration durch Verfassung? (Fn. 130), 854, 857.
331
Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 333.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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sprachliche und historische Gemeinsamkeiten bestimmen und damit zugleich die Vorgängigkeit des durch diese Gemeinsamkeiten konstituierten einheitlichen Kollektivs behaupten.332 Bei Auffassungen, „die in verschiedenen Härtegraden von einem sozial-kollektiven Essentialismus ausgehen“, wirken die mit der „Kulturnation“ verbundenen Gedanken insofern fort, als staatliche Einheit „dort als auf realen historischen Voraussetzungen aufbauend und als Errungenschaft der frühen Neuzeit [erscheint]. Ideengeschichtlich ist hiermit die Vorstellung einer über die Staatsangehörigkeit hinausgehenden Homogenität des Staatsvolkes verknüpft. Das Staatsvolk als Kultur- und Verantwortungsgemeinschaft stellt hier das eigentliche Subjekt eines noch nicht verfassten, quasi vorrechtlichen Staates dar.“333 Unter fast vollständiger Außerachtlassung neuerer sozial- und geschichtswissenschaftlicher Arbeiten wird daran festgehalten, dass „eine Nation ihrer Idee und ihrem Selbstverständnis nach vor Staat und Verfassung besteht“334. Berücksichtigt man in diesem Kontext schließlich noch die oben bereits erwähnte Definition der Nation als einer „ethnisch und kulturell homogene[n] Gemein332
Zur Unterscheidung zwischen „Staatsnation“ und „Kulturnation“ H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1999, 126-150; ders., Das Europa der Nationen (Fn. 87), 65, 72 ff. Nach Schulze (Das Europa der Nationen, ebd., 65, 74), bezeichnen Kultur- und Staatsnation „nicht mehr als Endpunkte auf einem Koordinatensystem, mit deren Hilfe eine wirkliche Nation innerhalb des Systems geortet, beschrieben und mit anderen Nationen verglichen werden kann.“ Zur Unterscheidung, siehe auch Mayer, Prinzip Nation (Fn. 309), 26 ff.; O. Kallscheuer/C. Leggewie, Deutsche Kulturnation versus französische Staatsnation?, in: Berding (Hrsg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, 1994, 112-162. Mit besonderem Bezug auf Frankreich und Deutschland Brubaker, Einwanderung und Nationalstaat in Frankreich und Deutschland (Fn. 41), 1, 12 ff. Zu den Schwächen dieser Unterscheidung H. Münkler, Die Nation als Modell politischer Ordnung, Staatswissenschaft und Staatspraxis, 1994, 367, 374 f.; B. Estel, Grundaspekte der Nation, in: ders./Mayer (Hrsg.), Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, 1994, 13, 20 ff. 333 334
Haltern, Internationales Verfassungsrecht? (Fn. 244), 511, 517.
Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 709; ders., Staat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 1989, Bd. 5, 151. In jüngerer Zeit äußert sich Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 140 und 146 f., gegenüber der Behauptung der Vorgegebenheit und Vorgängigkeit des Volkes scheinbar zurückhaltender. Schon Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 140), 121, behauptete den zeitlichen Vorrang der „Existenz“ des Volkes vor jeder Konstitution politischer Ordnung: „vor jeder Norm steht die konkrete Existenz des politisch geeinten Volkes“.
2. Kapitel
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schaft“335, werden die behaupteten Verbindungen zwischen dem Begriff der Homogenität und der Einheitsbildung offensichtlich: Einheitsbildung, so die These, findet durch und aufgrund sozialstruktureller Homogenität statt und geht politischer Einheitsbildung, die unter anderen, d.h. nicht-homogenen Bedingungen gar nicht möglich wäre oder zumindest auf erhebliche Schwierigkeiten stieße, zwingend voraus.
3. Diskussion und Kritik Die zwischen dem Begriff der Homogenität und dem Problem der Einheitsbildung hergestellten starken Verbindungen begegnen, unabhängig von der Frage, ob eine soziologisch-empirische Wirklichkeitsbeschreibung geleistet oder eine normative Forderung erhoben werden soll, zahlreichen Einwänden. Im ersten Fall muss man fragen, ob es sich um eine adäquate Beschreibung von Wirklichkeit handelt, wenn von sozialstruktureller Homogenität ausgegangen wird. Verwendet man den Begriff im Kontext einer normativ geprägten Argumentation in der Weise, dass man Homogenität im Interesse einer zu erreichenden und zu stabilisierenden politischen Einheit als ein mit vermeintlich empirischen Bezügen konstruiertes Ideal postuliert, muss man die Plausibilität eines solchen Ideals und seiner Verweisungen zur Einheitsbildung in dem Moment in Frage stellen, in dem sich herausstellt, dass die Realität deutlich anders strukturiert ist, als das in der beschriebenen Argumentation implizierte Bild von Gesellschaft. In beiden Fällen erscheint es folglich angebracht, bevor weitere Einwände formuliert werden, zunächst zu untersuchen, ob die Beschreibung moderner Gesellschaften als sozialstrukturell homogen überzeugend ist.336
a. Homogenität als inadäquate Wirklichkeitsbeschreibung Die Behauptung einer sich durch Homogenität auszeichnenden präexistenten Einheit geht, wie immer man sie auch nennt: „Volk“ oder 335 336
Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (Fn. 53), 34, 55.
An diesem Punkt ist zu berücksichtigen, dass selbst bei einem negativen Ergebnis noch nichts über die Plausibilität der behaupteten Verbindungen zwischen einer sozialstrukturellen Homogenität und der Möglichkeit politischer Einheitsbildung gesagt ist. Festgestellt wäre lediglich, dass die Voraussetzung für eine politische Einheitsbildung nicht gegeben wäre.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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„Nation“, an der Wirklichkeit vorbei. Bereits die im zweiten Kapitel erwähnte Internationalisierung vor allem der Arbeitsmärkte, die Migrationsbewegungen in die europäischen Nationalstaaten, die zunehmende Mobilität von Individuen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die durch Globalisierungsprozesse geforderten Veränderungen politischer Organisationsformen sowie die für die Moderne kennzeichnenden Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse lassen die überkommenen Vorstellungen sprachlich, ethnisch oder kulturell homogener Einheiten unplausibel erscheinen.337 Versuche, Kollektivsingulare wie „(Staats-)Volk“ oder „Nation“ durch Rückgriff „auf eine traditionalistische »Wir-Gruppe« [...] und deren Identitätsbewusstsein“338 zu definieren, können nur noch als kontrafaktische, allein um den Preis der vollständigen Ausblendung sozialer Realitäten zu habende Wunschvorstellungen verstanden werden. Dass die Heterogenisierungs- und Pluralisierungsprozesse „nur Philosophen und Staatsrechtlern verborgen geblieben“339 sind, trifft allerdings nur für die oben dargestellten Positionen, die die Einheitsbildung an die homogene Struktur eines Kollektivs binden, zu. Sie nehmen in der Tat nicht zur Kenntnis, dass die Frage nicht mehr lautet, „ob die europäischen Staaten den Weg in eine multiethnische Gesellschaft gehen wollen oder nicht“340, sondern nur noch das ‚Wie’ zur Debatte steht. Abseits solcher Positionen setzt sich jedoch auch im rechtswissenschaftlichen Diskurs die mit erdrückender empirischer Evidenz untermauerte Einsicht durch, dass sich Einheit nicht länger auf ethnisch-kulturelle Kriterien gründen lässt. Sehr deutlich wird mittlerweile auch in der Verfassungslehre registriert, dass ein Wandel vom homogenen Staatsvolk zu einer relativ heterogenen Einwohnergesellschaft stattfindet und festgestellt, dass weder in den europäischen Nationalstaaten noch auf europäischer Ebene eine auf substantieller 337
Zur Relativierung der Vorstellung eines homogenen Staatsvolkes durch transnationale Migrationsbewegungen Kokott, Die Staatslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes (Fn. 291), 7, 12 f.; Soysal, Staatsbürgerschaft im Wandel (Fn. 295), 181, 182; Leggewie, Europa beginnt in Sarajevo (Fn. 88), 24, 28 f. Zum „Umdenken des personalen Elementes des Staates“ infolge von Globalisierungsprozessen Walter, Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion (Fn. 84), 1-13; Delbrück, Das Staatsvolk und die „Offene Republik“ (Fn. 130), 777, 786 f. 338
Denninger, Integration und Identität (Fn. 68), 442, 450.
339
Willke, Soziologische Aufklärung der Demokratietheorie (Fn. 49), 13, 28 (Hervorhebung F.H.). 340
Funk, Wer ist Deutscher? Wer ist Deutsche? (Fn. 307), 307, 319.
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2. Kapitel
Gleichheit beruhende Einheit gefunden oder wiederhergestellt werden kann.341 Gerade weil man erkennt, dass es unter den Bedingungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum noch plausibel ist, von einer substantiellen Gleichheit oder auch nur Ähnlichkeit der Angehörigen einer Nation im Sinne allgemeiner Kultur- und Verhaltensmuster zu sprechen und der Ausgangspunkt eines homogenen Gemeinwesens für pluralistische und differenzierte Gesellschaften zudem völlig unzulänglich ist, plädiert man entschieden dafür, den „Gedanken der Homogenität [...] ganz fallenzulassen, und mit ihm den Gedanken der in keiner modernen Demokratie vorhandenen substanziellen Gleichartigkeit.“342 Neu und besonders innovativ sind jene Einwände gegen den Begriff der Homogenität freilich nicht, wurden sie doch schon in Weimar von Carl Schmitts Opponenten formuliert. Bereits dort wurde gesehen, dass die von Schmitt formulierte Prämisse der nationalen Homogenität „auch als Idealkonstruktion nicht tragfähig ist und sich schon die politischen Einrichtungen der Weimarer Gesellschaft nicht mehr als Ausdruck einer homogenen Substanz begreifen lassen“, vielmehr mit dieser Prämisse „der in Weimar erreichte Grad der sozialen Differenzierung einfach übergangen wird“ und „Schmitt eine von ihm selbst erzeugte Fiktion von Einheit und Homogenität auf eine Gesellschaft projiziert, die sich einer substanzialistischen Vorstellung von Identität schon lange nicht mehr fügt.“343 Der Vorstellung einer „sozial und politisch homogene[n] Volksgemeinschaft mit einem einheitlichen politischen Volksgeist und Volkswillen, als deren mehr oder weniger automatisches Produkt oder gar nur Epiphänomen die Staatseinheit behauptet wird“, hielt beispielsweise Hermann Heller entgegen, dass sie „im klaren Widerspruch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit“ stehe. „Die Wirklichkeit von Volk
341
Als Ursache hierfür vor allem auf Globalisierungsprozesse abstellend Walter, Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion (Fn. 84), 1-13. Aus soziologischer Perspektive auch N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 1055, demzufolge „riesige, durch ökonomische Ungleichgewichte erzeugte Wanderungsbewegungen“ sowie die Tatsache, dass das „Desiderat ethnisch homogener Staatsbildungen“ zu ökonomisch nicht überlebensfähigen oder extrem krisenanfälligen Kleinsteinheiten führen würde, „dem Begriff einer nationalen Identität, mit der ein Einzelner sich identifizieren kann, die Plausibilität“ entziehen. 342
Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration (Fn. 276), 100, 107. 343
51.
Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation (Fn. 141),
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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und Nation“, so Heller, zeige „in aller Regel keine Einheit, sondern einen Pluralismus von politischen Willensrichtungen, und selbst in den seltenen Augenblicken einer allgemeinen nationalen Erhebung steht der im staatlichen Handeln zum Ausdruck gelangenden nationalen Einheit noch immer eine in Zielen oder Mitteln dissentierende Vielheit im Volk gegenüber. [...] Sowohl durch den politischen Klassenzusammenhang wie auch innerhalb derselben Klasse, durch ökonomische und geistige, konfessionelle, dynastische und alle möglichen andern Gegensätze wird eine große Mannigfaltigkeit von politischen Gegnerschaften erzeugt.“344 Auch für Hans Kelsen war infolge einer im Vergleich zu Heller ähnlichen Wirklichkeitsbeobachtung „nichts problematischer als gerade jene Einheit, die unter dem Namen des Volkes auftritt.“ Das Volk, in dem sich eine Vielheit von Menschen vermeintlich in einer Einheit verwandle, sei tatsächlich von „nationalen, religiösen und wirtschaftlichen Gegensätzen gespalten“ und stelle, „seinem soziologischen Befunde nach eher ein Bündel von Gruppen als eine zusammenhängende Masse eines und desselben Aggregatzustandes dar.“ Daher könne nur „in einem normativen Sinne [...] von einer Einheit die Rede sein. Denn als Übereinstimmung des Denkens, Fühlens und Wollens, als Solidarität der Interessen ist die Einheit des Volkes ein ethisch-politisches Postulat, das die nationale oder staatliche Ideologie mit Hilfe einer allerdings ganz allgemein gebrauchten und daher schon gar nicht mehr überprüften Fiktion real setzt.“345 Hält man mit dem Begriff der Homogenität dennoch an dem Vorhandensein einer weitgehend geschlossenen, in ihrer Homogenität stabilisierten und geschützten Einheit fest, betreibt man demnach zwar auf semantischer Ebene eine fiktional-mythische Re-ethnisierung, immunisiert sich mittels einer damit einhergehenden reduzierten Wirklichkeitswahrnehmung jedoch gegen Einsichten in reale Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen.346 Reflektiert wird dann nicht mehr ein ko-
344
Heller, Staatslehre (Fn. 24), 3, 264 f.
345
Kelsen, Vom Vom Wesen und Wert der Demokratie (Fn. 32), 14 f.
346
Dies gilt, wie folgende Stelle zeigt, nicht immer für Böckenförde, Die Schweiz – Vorbild für Europa? (Fn. 59), 25, 31, der ganz ähnlich den oben zitierten Autoren sieht, dass „die Freizügigkeit der Bürger innerhalb des Gemeinwesens [...] heutzutage, vor allem angetrieben durch unterschiedliche Wirtschaftsentwicklungen, den Sog von Industriestandorten und die Lage von Ausbildungsstätten, notwendig die Auflockerung ethnisch-kultureller Geschlossenheit und deren räumlicher Abgegrenztheit [bewirkt]“.
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gnitiver, sondern höchstens ein normativer, allein mit erheblichen Simplifikationen zu erreichender Erwartungsstil.
b. Einheit und funktionale Differenzierung Gegen die These, dass die homogene Struktur eines Kollektivs zugleich eine Einheit konstituiert oder deren Entstehen zumindest wahrscheinlich erscheinen lässt, kann schließlich ein systemtheoretischer Einwand formuliert werden. Gesellschaftsumgreifende Gehalte, die in und für die Gesellschaft als Ganzes gelten, können in einer funktional differenzierten Gesellschaft, die aus verschiedenen, mit spezifischen Funktionen betrauten und mit unterschiedlichen, schwer miteinander zu vereinbarenden Logiken, Rationalitäten und Kommunikationsformen arbeitenden Subsystemen besteht, nicht mehr identifiziert werden. Als ein für die Moderne typischer Prozess bricht die funktionale Differenzierung „Einheitsselbstverständlichkeiten der Vormoderne“ 347 auf und lässt Einheit deshalb zum Problem werden, weil hochspezialisierte und effiziente, sich nicht an territoriale Grenzen haltende Funktionssysteme (wie Ökonomie, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Verkehrs- oder Gesundheitssystem) permanent eigene divergierende Bilder gesellschaftlicher Einheit entwerfen.348 Sie beobachten zwar „potentiell alle gesellschaftlichen Ereignisse, weil und sofern sie im Lichte der eigenen Leitdifferenz informationell verwertbar und für systemeigene Kommunikationen nutzbar sein könnten“, reduzieren aber ihre Aufmerksamkeit unter der Dominanz eben jener spezifischen Leitdifferenz und des jeweiligen exklusiven Funktionsbereiches auf für sie relevante Ereignisse. Dabei tendiert jeder Bereich „zur Inklusion der ganzen Gesellschaft in den je eigensinnigen Bereich der Relevanz und erzeugt so eine je differente Kopie der Gesellschaft insgesamt. Die Einheit der Gesellschaft geht mit entwickelter funktionaler Differenzierung nicht verloren, sondern sie vervielfältigt sich zu einem vielstimmigen Kanon unterschiedlicher Ausprägungen von Einheiten.“349 Von einer übergreifenden, für al347
Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft (Fn. 49), 96.
348
Willke, Soziologische Aufklärung der Demokratietheorie (Fn. 49), 13-32; ders., Ironie des Staates, 1992, passim. 349
Willke, Soziologische Aufklärung der Demokratietheorie (Fn. 49), 13, 21 f. Deutlich auch N. Luhmann, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung 4, 1994, 67, 67 f.: „Die Gesellschaft kann immer noch als Einheit aufgefasst werden – aber von unterschiedlichen Systemperspektiven aus in unterschiedlicher Weise.“
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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le gesellschaftlichen Subsysteme verbindlichen Einheit des Ganzen kann jedoch nicht mehr ausgegangen werden, weil für die „Repräsentation des Ganzen im Ganzen, die Repräsentation der Einheit eines Systems im System als Moment einer Differenz“, die erforderlichen sozialstrukturellen Voraussetzungen fehlen. Zutreffend schrieb Niklas Luhmann, dass solche Einheitspostulate einzig dann plausibel zu machen wären, „wenn es in der Gesellschaft, sei es eine Spitze, sei es ein Zentrum oder eine Oberschicht, einen städtischen Mittelpunkt gibt, von wo aus eine Deutung konkurrenzfrei vorgeschlagen werden kann.“ 350 Moderne, in Funktionssysteme differenzierte Gesellschaften, verfügen aber gerade nicht mehr über eine derartige privilegierte Position, von der aus Einheit beobachtet werden könnte, weder in Gestalt eines den anderen Subsystemen übergeordneten Supersystems, noch in Gestalt eines die Gesellschaft transzendierenden Beobachters. Positionen, die unter Rückgriff auf eine vermeintliche sozialstrukturelle Homogenität Einheit behaupten, gehen demnach nicht nur, wie oben dargelegt, an der Wirklichkeit vorbei, sie übersehen darüber hinaus auch, dass es die Einheit nicht gibt. Unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung lässt sich Gesellschaft nicht länger als totales Objekt erkennen und sie kann sich auch nicht zu einer Totalität schließen. In den Strukturen der modernen Gesellschaft findet die Konzeption einer homogenen Gemeinschaft, die ihre Einheit in der Gleichartigkeit ihrer Mitglieder findet, keine Entsprechung mehr. Daher erscheint auch der Einwand, „dass Theorien über funktionalistische Ausdifferenzierungen der Gesellschaft nicht mehr befriedigen“, weil sie zwar „verschiedene Lebensbeziehungen des Individuums erklären, [...] aber keine Gesamtheit [konstituieren]“351, wenig überzeugend.352 Denn die Systemtheorie erhebt in keiner Weise den Anspruch, eine Gesamtheit zu konstituieren. Im Gegenteil informiert sie ja gerade darüber, dass Einheitsprojektionen problematisch geworden sind. Zu richten wäre der Einwand daher nicht gegen die Theorie, sondern gegen die funktionale Differenzierung 350
N. Luhmann, ebd.
351
Grawert, Der deutschen supranationaler Nationalstaat (Fn. 82), 125, 130.
352
Ebenso problematisch scheint aber auch, dass die Systemtheorie umgekehrt dezidiert beansprucht, keine Gesamtheit zu konstituieren, wobei die Problematik dann konkret darin liegt, dass sie diesem Anspruch gegenüber keine Alternative zulässt. Zur immer noch wirkungsmächtigen sekundären Differenzierungsformen, die zumindest Einheit fingieren, siehe beispielsweise die Kritik an Luhmann von Nassehi, Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung (Fn. 55), 261, 262.
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der Gesellschaft. Positionen, die Einheitsbildung an die Homogenität der Angehörigen eines Kollektivs binden, können vor dem beschriebenen Hintergrund nur als idealisierende semantische Figuren verstanden werden, „welche die Differenzierung auf den ersten Blick zu unterlaufen scheinen und semantische Einheit suggerieren, wo gesellschaftsstrukturell nur Differenzen herrschen.“353 Eine der erfolgreichsten Strategien, die Einheit der Gesellschaft zu kommunizieren, findet sich im Begriff der „Nation“, der der universalistischen Orientierung der einzelnen Funktionssysteme einen Partikularismus territorial begrenzter Gemeinschaften entgegensetzt und der nicht zufällig mit starken Homogenitäts- und daraus folgenden Einheitsbehauptungen auftritt.354 Ebenso wie unter Bezug auf „Nation“ oder „Volk“ kann unter Rückgriff auf den Begriff der Homogenität und damit verbundene Einheitspostulate der Eindruck erweckt werden, differente Perspektiven seien kohärent und „im Rahmen einer positiven Einheit des Ganzen situiert“355. Einheit und Kohärenz werden unter Rückgriff auf den Begriff der Homogenität entgegen tatsächlich zu beobachtender Differenz, Fragmentierung, Heterogenität und Pluralität vorgetäuscht.
c. Demokratietheoretische Bedenken Von einer durch Homogenität konstituierten und stabilisierten Einheit, die der politischen und rechtlichen Organisation voraus liegt, auszugehen, begegnet schließlich aus demokratietheoretischer Perspektive erheblichen Bedenken. Nicht nur, dass solche Positionen zwangsläufig übersehen, dass politische Einheitsbildung nicht die quasi-natürliche Folge vermeintlicher Gleichartigkeit ist, sondern im Gegenteil „Ergeb-
353
D. Richter, Die zwei Seiten der Nation, in: Nassehi (Hrsg.), Nation, Ethnie, Minderheit, 1997, 59, 60. Aus verfassungsrechtlicher und –theoretischer Perspektive formuliert v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität (Fn. 45), 156, 173, Fn. 76, die Skepsis gegenüber „einheitstheoretischen Vorstellungen“. 354
Hierzu A. Hahn, Identität und Nation in Europa, Berliner Journal für Soziologie 1993, 193, 198; Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation (Fn. 141), 149, weist darauf hin, dass sich auch Hermann Heller zur Beantwortung der „Frage nach der Einheit einer hocharbeitsteiligen Gesellschaft [...] der Idee der Nation als einheitsstiftendem Subjekt und vorgegebener Grundlage der gesellschaftlichen und staatlichen Einheit“ bedient. 355
Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft (Fn. 49), 151 f.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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nis bewusster menschlicher Tat“356 und Verfassungen demnach auch nicht einfach als Abbildungen vorgefertigter und omnipotenter Entitäten, die man als homogene Subjekte präsentiert, verstanden werden können. In zeitlich umgekehrter Abfolge konstituiert nämlich erst ein besonderer Akt der Erklärung, der zugleich die handelnden Akteure zu ihrem Handeln ermächtigt, die Einheit, die angeblich immer schon vorhanden war und auf die in der Erklärung ausdrücklich Bezug genommen wird, d.h. „erst der Prozess der gemeinsamen Verfassungsgebung erzeugt, was die Verfassung voraussetzt“357.358 Über den mit der Verfassungsgebung markierten Anfang eines politischen und rechtlichen Systems hinaus, führen die Annahmen, die mit dem Rekurs auf homogen strukturierte Kollektive transportiert werden, darüber hinaus zu problematischen demokratietheoretischen Folgerungen. Das Denken von Demokratie kann, das haben die oben gemachten Ausführungen gezeigt, nur von der Vielfältigkeit, Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit der in einer Gesellschaft vorhandenen Interessen und Meinungen und damit von der Konflikthaftigkeit gesellschaftlichen Lebens 356
Heller, Staatslehre (Fn. 24), 341.
357
U. Preuß, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994,
7, 29. 358
Zur Selbstermächtigung durch Berufung auf „Nation“, siehe Kallscheuer/Leggewie, Deutsche Kulturnation versus französische Staatsnation? (Fn. 332), 112, 132 ff. und 137. Speziell zur französischen Nationalversammlung H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung?, JZ 1999, 1065, 1070: „Für diejenigen, die behaupten, als Repräsentanten der Nation zu handeln, und für alle, die diesen Anspruch akklamieren, ist die Nation zugleich Akteur und Ergebnis, Subjekt und Objekt dieser konstituierenden Aktion. Erst und allein die werdende Nation bestimmt, was sie ausmacht.“ Siehe hierzu schließlich auch eine in dieser Hinsicht verräterische Stelle bei E.-J. Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, 1988, 89 f., die das Problem der Selbstermächtigung und das damit verbundene Paradox, dass durch Verweis auf das angeblich schon vorher Bestehende erst das Bezugsobjekt des Verweises geschaffen wird, markiert, jedoch mit einem wenig geschickten Hinweis auf Dringlichkeit und Gemeinwohlformel umgeht: „Wem steht es zu die Nation zu befragen? [...] Es ist hier nicht die Rede von einem königlichen Vorrecht, sondern im einfachen und natürlichen Sinn von einer Einberufung. Dieser Ausdruck beinhaltet: Nachricht von der nationalen Dringlichkeit zu geben und eine gemeinschaftliche Zusammenkunft anzuzeigen. Wenn nun das Wohl des Vaterlandes allen Bürgern am Herzen liegt, wird man dann Zeit damit verlieren nachzuforschen, wer das Recht hat zusammenzurufen. Man müsste vielmehr fragen: Wer hat nicht das Recht? Es ist die heilige Pflicht all derer, welche etwas dazu tun können.“
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ausgehen. Man hat es mit „einem extrem unruhigen Material zu tun, das zu unerwartbaren Fluktuationen, zu sprunghaften Aggregationen und Disaggregationen von Meinungen und Motiven neigt, wobei schon die politische Definition der Situation diese verändert und zu neuen Fokussierungen, Spaltungen, Unterscheidungen Anlass gibt.“359 Aufgabe und Zweck des politischen Prozesses kann es daher auch nicht sein, den vermeintlich vorhandenen Gemeinwillen einer präexistenten, zu einheitlichem Handeln entschlossenen und befähigten Einheit durch bloße Abbildung zum Ausdruck zu bringen.360 Der Wille des Volkes, der nach demokratischer Forderung herrschen soll, muss vielmehr formuliert, organisiert und gestaltet werden.361 Auch können politische Entscheidungsprozesse und Institutionen nicht als „Derivate einer als System oder Organismus gefassten Ganzheit gelten.“362 Will man nicht an die Stelle von Pluralität Homogenität setzen und damit potentiell jedes Partikularinteresse als suspekt betrachten, muss eine demokratietheoretische Konzeption entwickelt werden, die nicht vom Axiom homogen strukturierter (Handlungs-)Einheiten ausgeht und damit Differenz und Pluralität von vornherein durch die Annahme einer begrifflich erschlichenen Einheit eskamotiert, sondern von Individuen, deren vielfältigen Interessen divergieren, deren Wertvorstellungen voneinander abweichen, deren politischen Ideen und Ziele sich widerstreiten und die diesen Pluralismus und Antagonismus schließlich an den politischen Prozess herantragen und in den politischen Prozess einbringen.
359
Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 367.
360
Zu diesbezüglich problematischen Schlussfolgerungen für den Begriff der Repräsentation, siehe unten im Kapitel über: Objektivierung, Naturalisierung und Substantialisierung von Homogenitätskriterien, b. Demokratietheoretische Folgen: Ontologie statt Politik. 361
Hierzu bereits E. Fraenkel, Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie, 261, 267, ders., Die ordnungspolitische Bedeutung der Verbände im demokratischen Rechtsstaat, 277, passim, beide in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 1990. 362
C. E. Bärsch, Die Rechtspersönlichkeit des Staates in der deutschen Staatslehre des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in: Göhler/Lenk/ Schmalz-Bruns (Hrsg.), Die Rationalität politischer Institutionen, 1990, 423, 440.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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V. Homogenität und Zusammengehörigkeit, kollektive Identität Ein weiterer Bedeutungsgehalt, der dem Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre zugeschrieben wird, zielt auf die Emergenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls bzw. einer kollektiven Identität. Während bei der soeben erörterten Verbindung zwischen Homogenität und Einheitsbildung eher auf das Vorliegen objektiver Gemeinsamkeiten rekurriert wird, konzentriert sich der im Folgenden dargestellte Inhalt des Begriffs der Homogenität stärker auf sozialpsychologische Phänomene, deren Vorhandensein aber gleichwohl in enger Verbindung mit einer objektiv-substantialistisch verstandenen Homogenität gesehen wird.
1. Homogenität als Voraussetzung und Grundlage eines Zusammengehörigkeitsgefühls Der Begriff der Homogenität wird häufig mit sozialpsychologischen Phänomen verbunden, die als „Zugehörigkeitsgefühl“363, „Zusammengehörigkeitsgefühl“364 oder als „Zusammengehörigkeitsbewusstsein“365, als „Wir-Gefühl“, „Wir-Bewusstsein“366 oder als „Integration“367 bezeichnet werden. Unterstellt wird dabei, dass die “subjective manifestations are a result of, but are also conditioned on, some, though not necessarily all, of the following objective elements: Common language, common history, common cultural habits and sensibilities and – this is dealt with more discretely since the twelve years of National-Socialism – common ethnic origin, common religion.”368 In diesem Sinne transportiert der Begriff der Homogenität, auch wenn im Einzelnen Abwei-
363
Herzog, Allgemeine Staatslehre (Fn. 245), 42 f.
364
Herzog, ebd.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Fn. 66), 81 f. und 85.
365
Schmitz, Integration in der Supranationalen Union (Fn. 18), 306 und Fn. 19. 366
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 63; Heller, Demokratie und soziale Homogenität (Fn. 141), 421, 428. 367
Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (Fn. 64), 92, 111 f. 368
7 ff.
Weiler/Haltern/Mayer, European Democracy and Its Critics (Fn. 92),
2. Kapitel
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chungen hinsichtlich der Selektion sowie der Gewichtung der genannten Kriterien bestehen, durchgängig gesellschaftsstrukturelle Bedingungen, als deren unmittelbares Resultat entsprechende sozialpsychologische Phänomene erscheinen oder die für das Entstehen solcher Phänomene zumindest zwingend erforderlich sein sollen. In Anlehnung an weit verbreitete Definitionen von „Nation“, die das Vorhandensein eines »Nationalbewusstseins« an vermeintlich objektive Gegebenheiten binden369, wird eine homogene Sozialstruktur zur Basis eines Weber’schen „Gemeinsamkeitsglaubens“370, d.h. einer subjektiven Vorstellung aufgrund geteilter Objektivitäten zusammenzugehören. Das dem ein reales soziales Gebilde weder entspricht noch entsprechen muss, wie schon Weber gesehen hat371, wird von Verfassungsrechtlern, die den Begriff der Homogenität in Beziehung setzen zu kollektiv empfundener Kohäsion, meist übersehen. So konstatiert Roman Herzog zwar, dass sich „in der Staatslehre [...] schon seit langem die Auffassung durchgesetzt [hat], dass weder der Rückgriff auf objektive Naturtatsachen noch auf objektive Kulturtatsachen imstande ist, die Völker ausreichend voneinander abzugrenzen und damit ein exaktes Begriffsmerkmal des Volkes in abstracto anzubieten.“ Hinsichtlich eines subjektiven „Zusammengehörigkeitsgefühls einer Anzahl von Menschen bzw. des Zugehörigkeitsgefühls der einzelnen Menschen zu der durch das Zusammengehörigkeitsgefühl konstituierenden Gruppe“, dass das „eigentliche Konstituens des Volkes“ bilde, müsse aber „die geradezu zirkulöse Einschränkung gemacht werden [...], dass es sich nicht um ein irgendwie geartetes Zusammengehörigkeitsgefühl handeln darf, wie es jede Familie und jeder Unterhaltungsverein entwickelt, sondern gerade um ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das auf völkische Zusammengehörigkeit gerichtet ist.“ Zu dessen Wurzeln gehöre aber „im Normalfall sicher“ 369
Hierzu nur Estel, Grundaspekte der Nation (Fn. 332), 13, 18 ff.
370
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, 234 ff.
371
Zum Begriff des „Gemeinsamkeitsglaubens“ bei Max Weber C. Leggewie, Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft, in: Berding (Hrsg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, 46, 51 ff., der zutreffend daran erinnert, dass sich Weber „gegen den affirmativen, essentialistischen Ethnosoder Rassebegriff, also jenes immanente Verständnis völkischer Substanz, das dem Gemeinschaftshandeln von Wir-Gruppen vorausgesetzt sei, und auch gegen politisch-romantische Vorstellungen eines »Volksgeistes« [wendet]. In dieser Frage distanziert sich die soziologische Beobachtung deutlich vom common sense der Gemeinschaftsakteure. Sie spiegelt ihnen die gefühlte, rein subjektive, also auch situationale und wandelbare Seite ethnischer Selbstzuschreibung und – ebenso wichtig – Fremdwahrnehmungen.“
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die gemeinsame Sprache, Religion, Abstammung sowie eine gemeinsame Geschichte.372 Wenn auch zugegeben wird, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl „kein homogener, sondern ein höchst komplexer, im einzelnen oft schwer abgrenzbarer Tatbestand“373 ist, dass die das subjektive Element fundierenden Faktoren „unüberschaubar“ sind, sie sich „auch nicht vollständig aufzählen“ lassen, es darüber hinaus „denkbare Gegenbeispiele“374 gibt und man schließlich ohne Infragestellung der eigenen Position zugibt, dass alle „möglichen, inhaltlich und graduell verschiedenen Komponenten, die sich in mannigfaltiger Weise überschneiden können“375, eine Rolle spielen, bleibt doch eine objektivistisch-substantialistisch verstandene Homogenität Grundlage dafür, dass sich in einer Gemeinschaft ein Gefühl der Zusammengehörig entwickelt, das insofern integrierend wirkt, als es die weiterhin bestehenden „Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen unterhalb der Ebene einer Freund-Feind-Gruppierung“ hält, damit die Gefahr einer „latenten oder offenen Bürgerkriegslage“376 verhindert und die innere Auflösung politischer Systeme unwahrscheinlich erscheinen lässt.377
372
Herzog, Allgemeine Staatslehre (Fn. 245), 42 f. Ähnlich auch, an dieser Stelle jedoch vorwiegend auf ökonomische Homogenität abstellend, Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 63. 373
Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Fn. 66), 85.
374
Herzog, Allgemeine Staatslehre (Fn. 245), 42 f.
375
Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Fn. 66), 85.
376
Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts (Fn. 323), 344, 346 und 348. Siehe auch ders., Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, ebd., 92, 111 f. 377
Auch für Hermann Heller, der hinsichtlich der Grundlagen der sozialpsychologischen Manifestationen wesentlich vorsichtiger argumentiert und demzufolge die „objektiven Kriterien [...] immer nur gewisse Voraussetzungen und Möglichkeiten“ für einen „Volkszusammenhang, der erst subjektiv aktualisiert und gelebt werden muss, damit er Wirklichkeit werde“, ist soziale Homogenität „immer ein sozial-psychologischer Zustand, in welchem die stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessenkämpfe gebunden erscheinen durch ein Wirbewußtsein und -gefühl, durch einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen. Solche relative Angeglichenheit des gesellschaftlichen Bewusstseins kann ungeheure Spannungsgegensätze in sich verarbeiten, ungeheure religiöse, politische, ökonomische und sonstige Antagonismen verdauen.“ Aber auch Heller stellt fest, dass in „der europäischen Neuzeit, deren Ontologie seit der Renaissance verdiesseitigt ist, [...] gemeinsame Sprache, gemeinsame Kultur und politische Geschichte die wichtigsten Faktoren der sozialpsychologischen
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2. Diskussion und Kritik Es soll nicht bestritten werden, dass Gefühle und subjektive Einstellungen für die Emergenz eines sozialen Bandes relevant sind und eine Ressource für die Identifikation mit einem bestimmten politischen System bilden können. Auch die bei allem Variantenreichtum für alle menschlichen Gemeinschaften zu beobachtende Tendenz, kollektive Identitäten unter Rückgriff und mit Hilfe bestimmter Symbolsysteme zu konstruieren, deutet darauf hin, dass die Bildung von Gemeinschaftlichkeit simulierenden und suggerierenden Mythen einen essentiellen und nicht unbeachtet zu lassenden Bestandteil jedweder politischer Organisation darstellt.378 Allerdings lassen sich gegen „essentialistische“ Konzepte, die die Emergenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls bzw. einer kollektiven Identität an eine homogene Sozialstruktur binden und dieser zugleich eine sozialintegrative Kraft zuschreiben, zahlreiche Einwände erheben. Im Ergebnis zeigt sich, dass der Begriff der Homogenität für die Problematiken, auf die er vorgibt, Antworten zu haben, untauglich ist.
a. Zur Emergenz kollektiver Identitäten Die Frage nach der Bildung kollektiver Identitäten379 ist, wie Hermann Heller bezogen auf „Volkszugehörigkeit“ schon in seiner Staatslehre formuliert hat, „niemals durch den bloßen Hinweis auf eine objektive,
Angleichung gewesen“ sind. Siehe Heller, Staatslehre (Fn. 24), 3, 260; ders., Demokratie und soziale Homogenität (Fn. 141), 421, 428. 378
Bezogen auf die Europäische Union siehe beispielsweise W. v. Simson, Was heißt in einer europäischen Verfassung „das Volk“?, EuR 1991, 1, 3 ff. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union (Fn. 18), 331, zufolge muss sich ein politisches Gebilde, um überlebensfähig zu sein und seine Auflösung im Versagensfall zu verhindern, „auf die Kraft der Faszination stützen, die ein eigener Mythos hervorruft“. 379
Wie oben bereits deutlich geworden ist, zeichnet sich der verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Diskurs weder durch ausführliche Definitionen der jeweils benutzten Begriffe noch durch die Verwendung einer einheitlichen Terminologie aus. Was im Folgenden für den Begriff der „kollektiven Identität“ gesagt wird, kann auch für die mit dem Begriff der „kollektiven Identität“ verbundenen bzw. an seiner Stelle verwendeten Begriffe „Zugehörigkeitsgefühl“, „Zusammengehörigkeitsgefühl“, „Wir-Gefühl“, „Wir-Bewusstsein“ oder „Zusammengehörigkeitsbewusstsein“, Geltung beanspruchen.
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geistige oder gar physische Wesensbestimmtheit zu erledigen.“380 „Essentialistische“ Identitätskonzepte, die unter Rückgriff auf vermeintliche Objektivitäten wie gemeinsame Geschichte, Sprache, Kultur oder Religion den Eindruck erwecken, man habe es bei kollektiven Identitäten mit zeitstabilen „erstarrten Gegebenheiten“381 zu tun, reflektieren nicht, dass es sich um soziale Konstruktionen handelt. Kollektive Identitäten werden in einer Gesellschaft kommuniziert, sie sind instabile Narrationen, die unter Beteiligung verschiedener Akteure in dynamischen Prozessen permanent reproduziert und die infolge unablässiger Irritationen ständig verändert und deshalb neu konzeptionalisiert werden. Ihre Konstruktion verläuft in einem komplexen, von gesellschaftlichen Konflikten und Auseinandersetzungen geprägten Feld, in dem Identitätsansprüche artikuliert und bestritten werden. Kollektive Identität steht den Einzelnen, wie Jürgen Habermas schreibt, „nicht mehr als ein Traditionsgehalt gegenüber, an dem die eigene Identität wie an einem feststehenden Objektiven gebildet werden kann; vielmehr beteiligen sich die Individuen selbst an dem Bildungs- und Willensbildungsprozess einer gemeinsam erst zu entwerfenden Identität“382. Soziale Identität erscheint mit anderen Worten nicht als unmittelbare Folge substantialistisch verstandener Vorgegebenheiten, sondern als „Frucht einer öffentlichen „Erzählung““, die „sich anhand einer – oft recht begrenzten – Anzahl von „Einträgen“ in einer Art „kollektivem Wörterbuch“, das für jede Gruppe angelegt ist“383, bildet.384 Eine vermeintliche Homogenität kann daher für kollektive Identitäten nicht unmittelbar als ein stabiler, in objektiven Gegebenheiten verankerter Traditionsgehalt relevant werden, sondern höchstens als Element einer Erzählung, die zur Simulation einer kollektiven Identität genutzt wird und „deren 380
Heller, Staatslehre (Fn. 24), 3, 260.
381
Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit (Fn. 294),
109. 382
J. Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 1995, 92, 107. Siehe auch Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit (Fn. 294). 383
v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität (Fn. 45), 156, 169 und 171, der hier auch erkennen lässt, dass kulturelle Hegemonien und soziale Machtverhältnisse eine Rolle spielen. 384
Besonders aufschlussreich J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1999, 130 ff.; R. Wodak u.a., Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, 1998, vor allem 41 ff.
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gesellschaftliche Funktion gerade darin besteht, Unvertrautheit, Uneindeutigkeit und Nicht-Identität unsichtbar zu machen, um soziale Kohäsion zu erzeugen.“385 In chronologischer Perspektive bedeutet dies, dass die objektive Realität einer bereits mit einer kollektiven Identität und einem Zusammengehörigkeitsgefühl versehenen Gemeinschaft nicht vorausgesetzt werden kann. Vielmehr wird gleichsam auf virtueller Ebene, die deshalb für individuelle Identitäten nicht ohne Einfluss sein muss, durch die Konstruktion und Verfestigung entsprechender „symbolischer Dispositive nationaler Identität und Legitimität“386 erst der Eindruck erzeugt, es gäbe diese Realität. Die Objektivierung unter Bezugnahme auf vermeintlich empirische Gegebenheiten wie eine sozialstrukturelle, auf gemeinsamer Sprache, Kultur, Geschichte oder Religion beruhenden Homogenität stellt eine nachträgliche »Entdeckung« von Gemeinsamkeiten dar, welche dem in einer bestimmten historischen Konstellation erzeugten kollektiven Bewusstsein ein stabiles und nicht-kontingentes Fundament verschaffen soll. Scheinbar objektive Gemeinsamkeiten liegen mit anderen Worten der Emergenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls weder voraus, noch liegen sie diesem zugrunde. Im Gegenteil stellt sich die Suche nach zu definierenden Gemeinsamkeiten als Folgeerscheinung eines bereits konstatierten Zusammengehörigkeitsgefühls dar. Nur deshalb kann Rudolf Speth schreiben, dass es „eine europäische Geschichte und die dazugehörigen Geschichtsbilder“ nur geben wird, „wenn es ein Bewusstsein der Gemeinsamkeit“387 gibt. In Bezug auf den Begriff der „Nation“ hat Niklas Luhmann die in den hier erörterten Prozessen liegende Chronologie und Vorgehensweise beschrieben: „Die Nation ist zunächst eine imaginäre Einheit, die dann noch mit Realität gefüllt werden muss, zum Beispiel mit einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen Religion, einer einheitlichen Währung und einem gemeinsamen Rechtssystem unabhängig von den lokalen Gewohnheiten und Gebräuchen. Die Nation definiert sich durch ihre Geschichte, aber die Geschichte muss erst noch geschrieben werden [...]. Jetzt kann man in den neu gefassten Begriff Inhalte einzeichnen, Prob385
Nassehi/Schroer, Integration durch Staatsbürgerschaft? (Fn. 19), 82, 96.
386
Kallscheuer/Leggewie, Deutsche Kulturnation versus französische Staatsnation? (Fn. 332), 112, 116, der sich auf das berühmte Zitat von E. Gellner, Nationalismus und Moderne, 1991, 87, dass es der Nationalismus sei, „der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt“, bezieht. 387
R. Speth, Europäische Geschichtsbilder heute, in: Bock/Wolfrum (Hrsg.), Umkämpfte Vergangenheit, 1999, 159.
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leme politischer Formenwahl diskutieren, sie auf Geschichte und Charakter einer bestimmten Nation zuschneiden und einen Bezugspunkt für Kollektivbewusstsein erzeugen, an das man von oben nach unten und von unten nach oben appellieren kann.“388 Trifft diese Analyse zu, die für ein Kollektivbewusstsein eher auf die narrativen Erzeugungsmechanismen als auf tatsächlich vorliegende sozialstrukturelle Gegebenheiten abstellt und letztere lediglich als „Objektivationen eines konkreten Bewusstsein der Menschen von sich als einem »Volk«“389 betrachtet, ist nicht einzusehen, warum die Entstehung eines entsprechenden Kollektivbewusstseins nicht auch unter Bedingungen sozialer Heterogenität möglich sein soll. Dafür sprechen nicht zuletzt geschichtswissenschaftliche Arbeiten, die nicht nur die Artifizialität der Entstehungsbedingungen nationaler Identitäten beschreiben, sondern die darüber hinaus auch gezeigt haben, dass die homogene Struktur von Gesellschaften für die Bildung nationaler Zusammengehörigkeitsgefühle nur eine geringe Rolle spielte. Von größerer Bedeutung waren hingegen ganz andere Faktoren, etwa die Zunahme und Intensivierung sozialer Aktionen und die sich daraus ergebenden funktionalen Erfordernisse, neue Mobilitäts- und Kommunikationstechniken, veränderte Wirtschaftsabläufe, flexiblere, d.h. durchlässigere Sozialstrukturen oder das Vorhandensein einer administrativen Organisation.390 Sowohl die historische Analyse der Faktoren, als auch die oben beschriebenen artifiziellen und kommunikativen Strukturen kollektiver Identitäten, sprechen schließlich dafür, für die Erzeugung kollektiver Identitäten auch den demokratischen Willensbildungsprozess eines politischen Systems als bedeutenden und fördernden Faktor anzuerkennen. In einer Replik auf Dieter Grimm hat Jürgen Habermas diesen Punkt dahingehend aufgenommen, dass es für die „Bedingungen, unter denen sich auch ein ethisch politisches Selbstverständnis der Bürger kommunikativ ausbilden und reproduzieren kann“, nicht auf ein „vorgefundenes Substrat“ ankomme, sondern der „Witz des Republikanismus“ ja gerade darin liege, „dass die Formen und Verfahren des Verfassungsstaates mit
388
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 341), 1048 f.
389
L. Hoffmann, Das ‚Volk’. Zur ideologischen Struktur eines unvermeidbaren Begriffs, Zeitschrift für Soziologie 1991, 191, 197 und 199, dort auch umfassend zu sog. „objektivistischen Volkstheorien“. 390
Zur Artifizialität und zu den konkreten Entstehungsbedingungen nationaler Identitäten, siehe vor allem die Arbeiten von Karl W. Deutsch, Eric J. Hobsbawm, Hagen Schulze, Benedict Anderson und Dieter Langewiesche.
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dem demokratischen Legitimationsmodus zugleich eine neue Ebene des sozialen Zusammenhalts erzeugen.“391
b. Multiple Identitäten Hinter der Behauptung, ein Zusammengehörigkeitsgefühl bzw. kollektive Identitäten fänden ihre Grundlage in der sozialen Homogenität einer Gemeinschaft oder würden durch eine solche wenigstens positiv beeinflusst, versteckt sich ein Partikularismus, der von einem monolithischen Identitätsbegriff insofern ausgeht, als er die Ausschließlichkeit oder zumindest die Dominanz nur einer gruppenbezogenen Identifikation unterstellt. Zum Ausdruck kommt dies zum einen darin, dass kollektive Identitäten vorwiegend nur in den Nationalstaaten als vorhanden betrachtet werden und zum anderen in der dichotomischen Gegenüberstellung von nationaler und europäischer Identität. Carl Schmitt hatte das gegen sozialpsychologische Erkenntnisse und empirische Umfragen scheinbar immunisierte Paradigma von der Ausschließlichkeit eindimensionaler Identitäten und undurchlässiger Konkurrenzverhältnisse mit den Worten festgehalten, dass „wir Deutsche [...] immer in Gefahr sind, uns entweder hart zu verschließen oder widerstandslos wegzuwerfen und zu verlieren.“392 Die dichotomische Perspektive, die 391
Habermas, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 98), 185, 189. Ähnlich, wenn auch in der Formulierung wesentlich stärker, verweist Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 264, „auf den bewusstseinsformierenden, homogenisierenden Effekt von Wirkungszusammenhängen, politischen Entscheidungsprozessen und damit demokratischen Institutionen.“ 392
So in einem für Carl Schmitt in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Bericht, ungewöhnlich sowohl hinsichtlich einer durch den Text schimmernden Bewunderung für Heterogenität und Pluralität als auch hinsichtlich der vollständigen Abwesenheit drastischer Zuspitzungen und polemischer Äußerungen, C. Schmitt, Illyrien, Hochland 23 (1925), 293, 296. Zu diesem „spezifisch deutschen Einwand gegen die Postnationalisierung“ und zu der „Sorge, dass Deutsche dazu neigen, sich zu stark entweder mit dem eigenen Staat oder mit dem transnationalen Gemeinwesen zu identifizieren“ siehe auch Haltern, Internationales Verfassungsrecht? (Fn. 244), 511, 519 f. Für Isensee, Am Ende der Demokratie (Fn. 228), 54 f.; ders, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 155, resultiert der von ihm konstatierte „Drang der Deutschen, der eigenen Identität zu entrinnen und sich aufzulösen in multikulturellen, supranationalen, kosmopolitischen Ganzheiten“ bzw. „das Bedürfnis der Deutschen, in einem vereinten Europa aufzugehen und sich in ihm aufzulösen, wie Zucker im Kaffee“ aus der „Selbstantipathie der Deutschen“, die mit der Hoffnung verbunden
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von sich unüberbrückbar gegenüberstehenden Identitäten ausgeht und daran anknüpfende Konflikte beschwört, ist jedoch nur plausibel, “if we hold to a Romantic doctrine and view the nation as a seamless, organic cultural unit”393. Bezieht man hingegen neuere sozialpsychologische Forschungen mit ein, wird deutlich, dass Individuen infolge mehrfacher Gruppenzugehörigkeiten und vielfältiger Rollenübernahmen über komplexe, multiple Identitäten in dem Sinne verfügen, dass sie sich durch „gestaffelte, schwer hierarchisierbare und insgesamt schwach besetzte Gemengelagen von Wir-Gefühlen“ auszeichnen, welche sich „vielfach überlappen und vermengen.“394 Darin spiegelt sich „eine bestimmte Auffassung von individueller Identität, die man als Konzept des „postmodernen Subjekts“ bezeichnen mag. Das vormals einheitlich erfahrene Subjekt ist nun fragmentiert. Es ist nicht aus einer einzigen, sondern aus mehreren, sich manchmal widersprechenden Identitäten zusammengesetzt. Identität hat ihre Festigkeit, Eindeutigkeit und Kontinuität verloren. Identitäten können angenommen und verworfen werden wie häufig wechselnde Kostüme. Daraus entsteht eine Art Spiel, das als großes Ziel die Offenhaltung von Optionen bereithält. [...] Der Angelpunkt postmoderner Lebensstrategie heißt nicht Identitätsbildung, sondern Vermeidung jeglicher Festlegung. All dies ist Folge jener Fragmentierung, die man als Ende der großen Erzählungen bezeichnen kann. Identität kann nicht vorgegebenes und Stabiles mehr sein, sondern schlägt um in einen kontinuierlichen Prozess ausgehandelter Selbstnarration.“ Die „Ausschließlichkeit „einheitlicher“ Identität“, die der Begriff der Homogenität transportiert, erweist sich vor dem Hintergrund verflüssigter, multireferentieller, polyphoner und nach unterschiedlichen Intensitäten gestufter Identitäten als „Fehlinterpretation des Wesens von Zugehörigkeit, Loyalität und politischer Identität“395.
sei, „das Kainsmal von Auschwitz würde verschwinden, würden die Deutschen in einer größeren Einheit, etwa der europäischen, aufgehen.“ 393
Smith, National Identity and the idea of European unity (Fn. 285), 55, 56.
394
Leggewie, Europa beginnt in Sarajevo (Fn. 88), 24, 25. Dafür, dass die sozialpsychologischen Erkenntnisse auch von der Verfassungslehre registriert und aufgenommen werden, siehe nur v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität (Fn. 45), 156, 186. Fn. 141; Frankenberg, Pluralität verfassen (Fn. 11), 73, 114. 395
U. Haltern, Recht und Politik in Europa, in: European Law Students’ Association Frankfurt (Oder) (Hrsg.), Die Europäische Verfassung, 2004, 89, 117 f. Ähnlich Smith, National Identity and the Idea of European Unity (Fn. 285), 55, 57 ff.
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Auch wenn man einer solchen Beschreibung nur in abgeschwächter Form zustimmen mag, führt aber doch kein Weg daran vorbei, von einer “more voluntaristic and pluralistic conception” von Identität und damit auch von “multiple identities”396 auszugehen. Einer essentialistischen Definition von Identität, wie sie durch die behauptete Verbindung zwischen der sozialstrukturellen Homogenität einer Gemeinschaft und der Herausbildung und dem Vorhandensein einer kollektiven Identität, vorgenommen wird, entzieht dies den argumentativen Boden.
c. „Zusammengehörigkeit“, „kollektive Identität“ und funktionale Differenzierung Ebenso wie bei der Frage der Einheitsbildung ist es auch hinsichtlich der behaupteten Verbindungen zwischen dem Begriff der Homogenität und der Emergenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls bzw. einer kollektiven Identität angebracht, systemtheoretische Einsichten, die auf ein differenziertes System multipler Identitäten hindeuten, zu berücksichtigen. Anders als im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann heute zumindest für die westeuropäischen Staaten nicht mehr von der Dominanz eines ethnisch-nationalen Identitätsangebotes, das mit Homogenitätsbehauptungen transportiert wird, ausgegangen werden. Globale und dezentrale Systemprozesse sorgen dafür, dass ethnisch-nationale Semantiken nicht nur als gesellschaftliche Selbstbeschreibung zunehmend unplausibel werden, sondern dass sie gerade auch als Identitätsangebot bei den in unterschiedliche soziale Subsysteme inkludierten Individuen nur noch auf geringe Resonanz stoßen.397 War in der nachrevolutionären Moderne „die Zugehörigkeit
396 397
Smith, ebd., 55, 56 ff.
Habermas, Geschichtsbewusstsein und posttraditionale Identität (Fn. 130), 161, 169, spricht von „funktionalen Aspekten“, „unter denen die nationalstaatliche Integrationsebene heute überall an Bedeutung eingebüßt hat“. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 341), 1055, zählt die „Idee der Nation [...] zu jenem Bündel transitorischer Semantiken, die eine Übergangszeit faszinieren konnten, ohne zu verraten, auf welches Gesellschaftssystem sie bezogen waren.“ Und er vermutet daran anschließend, „dass wir uns heute in einer Auslaufphase dieser Idee befinden, in der sie mehr Schaden als Nutzen stiftet und in der Soziologie eines jener obstacles épistémologiques bildet, die auf Grund vergangener Plausibilitäten die jetzt nötigen Einsichten blockieren.“ Generell zum Verblassen ethnisch-nationaler Semantiken und zu den dafür ver-
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zur Nation und Ethnie exklusive, obligatorische Bedingung für die Ausbildung einer stabilen Identität und überhöhte sie die individualisierende Multiinklusion in gesellschaftliche Funktionssysteme zu einer kollektive Identität“, stellt Nation heute nur noch ein Identitätsmerkmal unter vielen dar, das in seiner Bedeutung für den Einzelnen zudem zunehmend von dessen individueller Entscheidung abhängig ist. Zwar verschwinden unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung sekundäre Differenzierungsformen wie Kultur, Sprache oder Nation nicht und es mag auch sein, „dass noch jede „soziale Ausdifferenzierung“ ihre romantische Gegenbewegung hervorgerufen hat“398. Statt auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl abzustellen, das man unter Rückgriff auf zweifelhafte, in vermeintlichen Objektivitäten wurzelnde Gemeinsamkeiten zu begründen versucht, scheint es jedoch sinnvoller, angemessene Selbstbeschreibungen moderner Gesellschaften dadurch zu ermöglichen, dass man von einer mit Homogenitätsbehauptungen versehenen Theorie kulturell-gesellschaftlicher Integration auf eine Theorie systemspezifischer Inklusion, die die jeweils unterschiedlichen Inklusions- und Exklusionsmechanismen in den Blick nimmt, umstellt.399 antwortlichen Faktoren Nassehi, Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung (Fn. 55), 261-282; B. Giesen/K. Junge, Vom Patriotismus zum Nationalismus, in: Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität, 255-303. 398
So Depenheuer, Integration durch Verfassung? (Fn. 130), 854, 859. Wesentlich überzeugender ist die Kritik von Nassehi, Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung (Fn. 55), 261, 262, der gegen Luhmanns weitgehende Außerachtlassung anderer, sekundärer, d.h. neben und trotz der primären funktionalen Differenzierung bestehender Differenzierungsformen einwendet, dass „die Prognose einer exklusiven funktionalen Differenzierung, die ein Verschwinden der Bedeutung von ethnischen und nationalen Merkmalen zur Folge haben müsste, nicht eingetreten ist.“ Entgegen der Annahme, dass „Sprach- und Kulturgrenzen keine Rolle mehr spielen“, sei „eine Internationalisierung der Weltgesellschaft zu beobachten, in der Kulturdifferenzen und Sprachgrenzen zugleich deutlicher hervortreten und hinter anderen Kommunikationsformen zurücktreten – z.B. im Wirtschaftsverkehr, in der Wissenschaft, in politischen Zusammenhängen.“ 399
Zur Umstellung auf eine Theorie der Inklusion/Exklusion N. Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: Berding (Hrsg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, 1994, 15, 21 ff. Eine ausführliche Darstellung der Umstellung von „Integration“ auf „Inklusion“ und deren Folgen kann hier nicht geleistet werden. Neben dem zitierten Aufsatz Luhmanns, siehe hierzu vor allem R. Stichweh, Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, in: Mayntz u.a. (Hrsg.), Differenzierung und Verselbständigung, 1988, 261-293.
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Dann wird schnell deutlich, dass in modernen Gesellschaften von der Möglichkeit, ganze Personen seien „in toto zu integrieren, nicht mehr ausgegangen werden kann. Die funktionale Differenzierung bringt vielmehr das Gegenteil hervor: einen nur noch partiellen, situationsspezifischen, die Individualität von Individuen im weitesten ausklammernden Zugriff auf die Person“400, die sich in rollenspezifisch angelegten Verpflichtungen nur noch als Konsument, Wähler, Schüler, Klient, Patient usw. einbringen kann.401 Eine gesamtgesellschaftliche Inklusion in dem Sinne, dass Individuen als ganze zum Teil eines sozialen Systems gemacht werden, wie es in segmentären Gesellschaften über die Zuordnung von Personen zu bestimmten Segmenten der Gesellschaft oder in stratifizierten Gesellschaften über die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Schicht oder einem Stand erfolgte, und wie es schließlich von Positionen, die von einem aus sozialstruktureller Homogenität folgenden, alle Mitglieder einer Gesellschaft umfassenden Zusammengehörigkeitsgefühl ausgehen, suggeriert wird, ist angesichts der Partizipation von Personen an unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen, die wiederum über Inklusion und Exklusion nach je eigenen Bedingungen autonom entscheiden, nicht mehr möglich. Natürlich gilt „nach wie vor, dass Menschen nur aufgrund einer gesellschaftlichen Ordnung leben können. Aber die Gesellschaft kommt in der Gesellschaft nicht vor.“ Eine „Inklusion des konkreten, leibhaftigen Individuums in die Gesellschaft im ganzen kann demnach nicht in der Gesellschaft stattfinden, in der es nur die einzelnen Funktionssysteme gibt. Inklusion in die Gesellschaft heißt Exklusion aus allen Funktionssystemen also Exklusion aus der Gesellschaft. Inklusion ins Ganze heißt Exklusion aus den Teilen.“402 Vor diesem Hintergrund erscheinen Homogenitätsbehauptungen und damit verbundene Aussagen über vermeintliche Zusammengehörigkeitsgefühle nur noch als auf semantisch-symbolischer Ebene konstruierte Täuschungen einer angeblich bestehenden „obligatorischen Vollinklusion“403.
400
Nassehi, Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit (Fn. 54), 177, 194 und
198. 401
Hierzu Hahn, Identität und Nation in Europa (Fn. 354), 193, 197 f.; Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 341), 1052. 402 403
Luhmann, Partizipation und Legitimation (Fn. 162), 152, 153 f.
Nassehi, Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung (Fn. 55), 261, 270.
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VI. Homogenität und Harmonie, Stabilität, Befriedung Rekapituliert man die bisher analysierten Bedeutungsgehalte, die mit dem Begriff der Homogenität transportiert werden, fällt auf, dass eine der sozialstrukturellen Homogenität zugeschriebene Wirkung bei allen bisher untersuchten Bedeutungsgehalten durchgängig, meist jedoch implizit, unterstellt wird. Dieser besondere Bedeutungsgehalt, der Harmonisierungs-, Stabilisierungs- und Befriedungshoffnungen mit dem Begriff der Homogenität verknüpft, stellt eine Reaktion auf als beunruhigend und destruktiv empfundene (Desintegrations- und Dissoziations-)Tendenzen der Moderne dar. Der für die Moderne typischen Auflösung traditionaler Gemeinschaften und der daraus folgenden Freisetzung von Individuen, die widerstreitende Interessen verfolgen, divergierende Wertvorstellungen aufweisen und die deshalb permanent soziale Konflikte und Auseinandersetzungen provozieren, wird die Vorstellung einer aufgrund ihrer sozialstrukturellen Homogenität prästabilisierten, harmonischen und friedlichen Gemeinschaft entgegengesetzt. Besonders deutlich spiegelt sich in diesem inhaltlichen Element des Begriffs der Homogenität die soziologische Prämisse, „dass es in der Demokratie ein gemeinsames kulturelles Terrain geben muss, in der die unterschiedlichen Wertvorstellungen und Interessen einer pluralistischen Gesellschaft zur Deckung kommen und dass es eines Minimums an sozialer Homogenität bedarf, damit eine friedliche Koexistenz von unterschiedlichen Willen, Mächten und Gruppen in einer sozial differenzierten Gesellschaft möglich ist.“404
1. Homogenität als Grundlage von Harmonie und Stabilität Nach Ernst-Wolfgang Böckenförde, der sich auf Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ bezieht, verbleiben innerhalb politischer Einheiten „alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen“ nur deshalb „unterhalb der Ebene einer Freund-Feind-Gruppierung“, weil sie „von ei404
Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation (Fn. 141), 86. Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit (Fn. 16), 136, spricht von dem „Konsens, dass „irgend etwas an Gemeinsamkeit doch notwendig sei“. Homogenität sei, so Wallrabenstein, ebd., 142, „der Versuch einer Antwort auf die Schwierigkeit, wie der aus Individuen bestehende, aufgrund widerstreitender Interessen zentrifugierende Staat dennoch „zusammengehalten“ werden kann“.
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ner auf relativer Homogenität der zusammenlebenden Menschen beruhenden Zusammengehörigkeit (Freundschaft) übergriffen“405 werden. Einem Dissoziationsgrad, der die innere Auflösung einer politischen Einheit bedeuten würde, steht demnach eine in gesellschaftlichen Strukturen liegende Homogenität entgegen, die das Entstehen sozialer Konflikte zwar nicht gänzlich unmöglich macht, diese jedenfalls aber auf einem Niveau hält, das es überhaupt erst erlaubt, Konflikte innerhalb institutionalisierter Verfahren bearbeiten zu können. Verstanden als vorgegebene, von politischer Praxis und rechtsförmiger Konfliktbewältigung unabhängige „seinsmäßige Gegebenheit“406, avanciert Homogenität zum Garanten für die Möglichkeit des sozialen Ausgleichs und der Verwirklichung von Stabilitäts- und Friedenssicherung im Innern eines politischen Systems. Ihr Vorliegen verhindert das „Chaos des hobbesianischen Bürgerkriegs“407 dadurch, dass sie zum einen die Voraussetzung für das Entstehen der „Bereitschaft zu gemeinsamem Zusammenwirken in der Bewältigung notwendiger Aufgaben und der Austragung von Konflikten“408 bildet und Homogenität zum anderen existentielle Konflikte deshalb in hohem Maße unwahrscheinlich werden lässt, „weil die Bandbreite potentieller politischer Lösungen aufgrund der ähnlichen objektiven Verhältnisse [...] kleiner ausfällt“ bzw. sich „der mögliche politische Dissens aufgrund des höheren Grades an grundsätzlicher Übereinstimmung in Grenzen hält“ und sich infolgedessen die „Verhältnisse insgesamt stabiler“409 darstellen.410 Dagegen führe eine „erhebliche In-
405
Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts (Fn. 323), 344, 346 f. und 348. 406
Böckenförde, ebd., 344, 352.
407
Depenheuer, Integration durch Verfassung? (Fn. 130), 854, 858.
408
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 64.
409
Schmitz, Integration in der Supranationalen Union (Fn. 18), 306 f. Schmitz’ Arbeit konzentriert sich auf den Begriff der Homogenität im Kontext einer föderalen Organisation, nicht primär als Voraussetzung demokratischer Organisation eines politischen Verbandes. Da, wie er selbst schreibt, die von ihm beschriebenen „Konflikte, die den Bestand der Gemeinschaft gefährden, nicht nur im Bundesstaat auftreten können“, sondern auch der „Einheitsstaat auf Homogenität angewiesen ist“, können seine Ausführungen zum Begriff der Homogenität aber auch hier herangezogen werden. 410
Unter der Überschrift „Homogenität als Voraussetzung politischer Einheit“ spricht Depenheuer, Integration durch Verfassung? (Fn. 130), 854, 858 f., von „stabilisierenden und einheitsstiftenden Elementen“, die Teil einer vorpolitischen und immer schon bestehenden politischen Einheit seien, die wiederum
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kongruenz zwischen Staatsverband und Nation [...] zu Spannung und Instabilität.“411 Von diesem „Nationalitätenprinzip, nach welchem eine Nation einen Staat bildet, ein Staat eine Nation umfasst“, aus gesehen, erscheint „ein national homogener Staat [...] als etwas Normales; ein Staat, dem diese Homogenität fehlt, hat etwas Abnormes, den Frieden gefährdendes“412, wie Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre schreibt. Definiert man auch in diesem Kontext »Nation« wieder ausdrücklich als „ethnisch und kulturell homogene Gemeinschaft“413, als „ein Mindestmaß effektiver Homogenität als Grundbestand an Gemeinsamkeiten, wie sie Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur und Interessen hervorbringen können“414 bzw. als „reale Gleichheit innerhalb einer Gruppe und Gemeinsamkeit bestimmter Eigenschaften, die als Unterscheidungsmerkmal nach außen fungieren“415, verändert sich nur der Sprachgebrauch. Der explizite Bezug auf Homogenität wird lediglich durch einen ethnisch-kulturellen Nationbegriff ersetzt, der aber in gleicher Weise die Aussage transportiert, eine sozialstrukturelle Homogenität wirke friedenssichernd, stabilisierend, harmonisierend und konfliktentschärfend. Ein derartiges Verständnis des Begriffs der Homogenität stellt nicht nur, wie oben bereits festgehalten, eine semantische Reaktion auf Unruhe und Unsicherheiten erzeugende Entwicklungsprozesse der Moderne dar. Der Begriff oszilliert zugleich in dem vermeintlich fortwirkenden, dichotomisch strukturierten Spannungsfeld zwischen Gesell-
„gründet auf vorgegebener Homogenität, auf der allein sie wachsen und gedeihen kann“. 411
Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 709. Ähnliche Befürchtungen im Hinblick auf „national nicht homogene Staaten“ teilen Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 48; Herzog, Allgemeine Staatslehre (Fn. 245), 45 f., demzufolge zwar klar ist, „dass das Staatsvolk, d.h. die Summe der einem Staat angehörenden Personen, begrifflich nicht einem einzigen Volk und erst recht nicht in einer einzigen Nation anzugehören braucht“, der aber unmittelbar daran anschließend feststellt, dass es in diesem Fall „natürlich im allgemeinen um die Stabilität eines solchen Staates nicht zum besten bestellt sein dürfte“. 412
Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 140), 231.
413
Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (Fn. 53), 34, 55.
414
Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 709.
415
Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 148.
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schaft und Staat.416 In dieser erstmals von Hegel vorgenommenen Unterscheidung liegt nicht nur der „erste großartige Versuch, eine umfassende Theorie sozialer Verhältnisse auf eine Differenz zu gründen – und nicht mehr auf Einheit.“417 Hegel ist auch der erste politische Philosoph, bei dem die pluralisierte und differenzierte bürgerliche Gesellschaft überhaupt zum Problem wird, weil er die bis dahin übliche Unterstellung einer homogenen sozialen Basis als vorpolitische Voraussetzung und Prämisse staatsrechtlicher Überlegungen nicht länger unreflektiert übernehmen kann. In der von ihm eingeführten, dann von Marx übernommenen und die politiktheoretischen Reflexionen in der Folge dominierenden Gegenüberstellung von (bürgerlicher) Gesellschaft einerseits und (sittlichem) Staat andererseits, erscheint Gesellschaft als der chaotische, unorganisierte und dynamische Sektor, in dem eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen und Individuen, die unter Berufung auf individuelle und kollektive Freiheitsrechte jeweils eigene Interessen und partikulare Ziele verfolgen, miteinander konkurrieren; der am Gemeinwohl orientierte und das Gemeinwohl hervorbringende Staat hingegen als der Stabilität und Frieden gewährleistende Bereich, in dem die Gegensätzlichkeiten, Konkurrenzen und Partikularismen gebändigt, überwunden und aufgelöst, die utilitaristisch und egoistisch Handelnden neutralisiert werden.418 Weil man aber der stabilisierenden 416
Zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, siehe die Beiträge in E.W. Böckenförde, Staat und Gesellschaft, 1976, dort vor allem H. Ehmke, „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem, 241-274; E.W. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, 185-220; ders., Staat und Gesellschaft, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 1989, Bd. 5, Sp. 228-235; K. Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, 437-443. Zur systemtheoretischen Position, die die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als erstmalige Registrierung eines strukturellen Umbaus von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung der Gesellschaft versteht Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 207 ff.; ders., Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft (Fn. 349), 67-73. 417 418
Luhmann, ebd., 67.
Siehe G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1986, vor allem §§ 182-208 und 257-270. Zur „Wesensdifferenz von Staat und bürgerlicher Gesellschaft in der Hegel’schen Rechtsphilosophie“ Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation (Fn. 141), 95 ff., der wohl nicht zu Unrecht in der Hegelschen Staatsphilosophie „die intellektuelle Wurzel für den deutschen Staatsfetischismus, der das antiformalistische Denken noch in Weimar daran hindern sollte, sich für die Erfahrung des Pluralismus und der gesell-
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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und harmonisierenden Wirkungskraft des Staates als dem „Widersacher des Pluralismus“ nicht zu trauen scheint, schreibt man auch der anderen Seite der Unterscheidung, der Gesellschaft, eine aus ihrer Homogenität folgende Harmonie zu, die tatsächlich bestehenden Pluralismus und Antagonismus negiert. Mitunter wandelt sich die soziale Struktur des ins Auge gefassten Kollektivs von einer Bezeichnung zur anderen. So sind für Josef Isensee Gesellschaft und Staat deshalb „inkongruent und inkompatibel“, weil „die Gesellschaft geradezu die auf individueller Selbstbestimmung gegründete, pluralistisch-inhomogene Gegenwelt zum Staatsvolk als dem mitgliedschaftlich verfassten, rechtlich egalitären und homogenen Verband der Staatsbürger“419 ist. Lag Hegels theoretisches Lösungsangebot in der Konzeptionalisierung eines die Widersprüche und Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft aufhebenden und die „vernünftige Sittlichkeit“ verkörpernden Staates, stellt der Begriff der Homogenität den Versuch dar, den Staat als „zentrale Synthetisierungs- und Homogenisierungsinstanz einer heterogen strukturierten Gesellschaft“420 insofern zu entlasten, als dem personellen Verband, der auf politische Organisation drängt und der sich politisch organisieren will, eine von vornherein gegebene harmonische und stabile Sozialstruktur zugeschrieben wird. Schon hier zeigt sich indes die Problematik und Widersprüchlichkeit einer solchen Position: Wenn auch der personelle Verband als ein sich in prästabilisierter Harmonie befindliches Kollektiv beschrieben wird, warum bedarf es dann überhaupt der „ReInkarnation einer möglichst einheitlichen, hinreichend autonomen schaftlichen Heterogenität zu öffnen“, sieht. Für den hier thematisierten Bedeutungsgehalt des Begriffs der Homogenität ist schließlich der Hinweis von Vesting interessant, dass Hegel der atomistischen Gesellschaft vor seiner Jenaer Rechtsphilosophie zunächst ablehnend gegenüberstand und durch antikisierende Bemühungen versuchte, „das »schöne« und »harmonische« Leben der Antike in der absoluten sittlichen Totalität des Volkes unmittelbar wiederzubeleben“. 419
Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 729. Siehe auch ders., Staat und Verfassung, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1987, § 13 Rn. 1 ff, vor allem Rn 46 ff.; ders., Staat (Fn. 334), 133-157; ders., Grundrechte und Demokratie (Fn. 257), 161, 166 ff. H. Lietzmann, Staatswissenschaftliche Abendröte, in: Gebhardt/Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation 1994, 72, 89, erklärt die Argumentation Isensees „für schlicht inkompatibel mit dem Stand geisteswissenschaftlicher Erkenntnis gegen Ende des 20. Jahrhunderts“. 420
A. Göbel, Paradigmatische Erschöpfung, in: ders./van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, 1995, 267, 268 und 283.
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Staatsgewalt, die sich als Garant übersichtlicher Strukturen in einer zerfallenden Welt bewähren könnte“421? Andererseits dürfte es nach der Logik der auf Homogenität rekurrierenden Positionen doch, wie die Ausführungen zur Einheitsbildung und zum Mehrheitsprinzip gezeigt haben, im Falle des Fehlens einer sozialstrukturellen Homogenität überhaupt nicht zur Herausbildung eines derartigen politischen Entscheidungszentrums, zu einer politischen Einheit, kommen. Bevor jedoch weitere Kritikpunkte artikuliert werden, soll noch kurz auf ein Argument eingegangen werden, das häufig als Beleg für die behaupteten Verbindungen zwischen der sozialstrukturellen Homogenität eines Kollektivs und einem friedlichen und stabilen Zustand angeführt wird.
2. Negativbeispiele Als Beleg für die These, dass eine homogene Sozialstruktur harmonisierende und befriedende Wirkung entfaltet, Heterogenität dagegen unüberbrückbare Konflikte generiert, die sich in verrechtlichten Verfahren nicht bearbeiten lassen, heterogene und pluralistische Gesellschaftsstrukturen demnach Faktoren für die Entstehung sozialer Disharmonien und Instabilitäten bilden, wird häufig auf Länder verwiesen, in denen es angeblich aufgrund mangelnder Homogenität zu massiven Auseinandersetzungen, zu Unruhe, anarchistischem Chaos „bis hin zur latenten oder offenen Bürgerkriegslage“422 kommt. Pluralität und Heterogenität, so wird gesagt, seien in diesen Ländern dafür verantwortlich, dass sich ein kollektives Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsgefühl nicht herausbilden kann und infolgedessen auch die Konstituierung einer politischen Einheit, innerhalb derer das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsmodus Anwendung finden kann, ausgeschlossen ist. Hingewiesen wird immer wieder auf die Sezessionsbestrebungen der frankophonen Provinz Quebec in Kanada, die Loslösungsversuche Korsikas von Frankreich, die regionalistischen Konflikte in Nordspanien und Norditalien oder auf die konfessionell begründeten Bürgerkriege in Nordirland und dem Libanon. Genannt werden darüber hinaus Länder wie Belgien, Türkei, Zypern, Bosnien, Albanien, Tschetschenien, Tibet, Pakistan, Südafrika, Nigeria, Somalia, Sudan, Indien, Sri Lanka, Indo421 422
Lietzmann, Staatswissenschaftliche Abendröte (Fn. 419), 72, 99.
Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts (Fn. 323), 344, 348.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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nesien, Malaysia oder die Philippinen.423 Auch der Hinweis auf die innere Auflösung der Habsburgermonarchie im letzten Jahrhundert424 und auf den Untergang der sozialistischen Staaten, die nur deshalb „in ihre einzelnen nationalen Bestandteile“ zerfallen seien, „weil ihnen die nationale Konsistenz abging“425, fehlt nicht, um die negativen Wirkungen sozialstruktureller Heterogenität zu belegen. Ernst-Wolfgang Böckenförde verbindet die beiden zuletzt genanten Ereignisse und stellt zwischen ihnen eine Kontinuitätslinie her, deren Konstruktion ihre Berechtigung aus dem Bezug auf eine destruktiv wirkende ethnischnationale Heterogenität bezieht. Das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzende nationalistische Desaster sei schon in der nach 1918 erfolgten Neuordnung Europas angelegt gewesen, weil „aus der Erbmasse des Habsburgerreiches künstliche Nationalstaaten geschaffen worden [sind], die als Nationalstaaten zu heterogen waren. Sie hatten als solche keine Grundlage, weder in einer einheitlichen politischen noch einer einheitlichen ethnisch-kulturellen Nation.“ Die dadurch programmierten Konflikte hätten zwar in der „Zwischenkriegszeit ebenso wie während der dann einsetzenden kommunistischen Herrschaft überdeckt“ werden können, seien mit deren Erosion aber „offen zutage getreten.“426
423
Gusy, Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat (Fn. 154), 329, 334, Fn. 19; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 149), 182 und 239, Fn. 105; Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 48; Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 145, 160 und 162; Vitzthum, Multiethnische Demokratie (Fn. 120), 87, 89. Aus der Politikwissenschaft, siehe F. W. Scharpf, Demokratie in der transnationalen Politik, in: Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, 228, 232; ders., Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus (Fn. 92), 293, 296 f.; Grande, Postnationale Demokratie? (Fn. 229), 353, 358 f. Für seine Studie, die die Bedingungen untersucht, unter denen „Nationalitätenkonflikte gewaltsame Formen annehmen“, wählt der Soziologie Waldmann, Gewaltsamer Separatismus (Fn. 222), 82-107, vier Fallbeispiele: „die Basken, die Franco-Kanadier, die Katalanen und die Nordiren“. 424
Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Fn. 149), 181.
425
Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung (Fn. 14), 92.
426
Böckenförde, Nationen und Nationalstaaten (Fn. 269), 77.
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3. Diskussion und Kritik Bereits die bei der Kritik an der Verbindung von Homogenität und Mehrheitsprinzip formulierten Einwände, die auf alternative, d.h. nicht an ethnischen, kulturellen oder sprachlichen Kriterien entlang verlaufende Konfliktlinien hindeuteten und die vor allem die Konflikte entschärfende Bedeutung der Vermeidung struktureller, mit individuellen und kollektiven (Partizipations-)Rechten ausgestatteter Minderheiten hervorhoben, ließen sich an dieser Stelle gegen den in der soeben beschriebenen Weise verstandenen Begriff der Homogenität richten. Darüber hinaus sollen im Folgenden gegen die These der harmonisierenden und stabilisierenden, Konflikte vermeidenden oder zumindest ausgleichenden Wirkung einer sozialstrukturellen Homogenität zwei weitere Argumente mobilisiert werden. Während sich das erste Argument auf die immer wieder erwähnten „Negativbeispiele“ zielt, konzentriert sich das zweite Argument auf die Gefahr, über Homogenitätsbehauptungen eine Entpolitisierung zu betreiben, die tatsächlich bestehende gesellschaftliche Widersprüchen, Gegensätzen und Antagonismen überdeckt.
a. Unterkomplexe Konfliktbeschreibung Verweise auf die genannten Länder und auf die in ihnen zu beobachtenden Spannungen sowie auf die historischen Beispiele können die These von der disharmonischen, destabilisierenden und Konflikte fördernden Wirkung sozialstruktureller Heterogenität zunächst insoweit stützen, als sie indizieren, dass „in politischen Gemeinwesen mit soziokulturell heterogener Gesellschaft das Entstehen struktureller Minderheiten besonders wahrscheinlich – und politisch besonders brisant – ist“ und dass sie Zeugnis geben für „die Schwierigkeiten, die die Integration struktureller Minderheiten in demokratische politische Gemeinwesen bereitet.“427 Ebenfalls lässt sich nicht leugnen, dass das „Problem ethnischer Differenzierung und nationaler Konflikte auch im Ausgang des 20. Jahrhunderts noch auf der Tagesordnung der Weltgeschichte“ steht, weil sich „nach wie vor gefährliche Konfliktlagen von weltpolitischem Ausmaß, aber auch binnenstaatliche Auseinandersetzungen zwischen Staatsbürgergruppen an der Scheidelinie zwischen Sprach- und Kulturgemeinschaft, zwischen nationalen bzw. ethnischen Identifikationsfo-
427
358 f.
So der Politologe Grande, Post-nationale Demokratie? (Fn. 229), 353,
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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lien“428 bewegen.429 Tatsächlich sind national, ethnisch, sprachlich, kulturell oder auch religiös bestimmte Grenzziehungen immer noch herausragende Kennzeichen sowie maßgebliche Mobilisierungsressourcen zahlreicher, häufig gewaltsam ausgetragener Konflikte. „Keine Frage“, schreibt der Historiker Hagen Schulze in Bezug auf den europäischen Kontinent, „das Gift, an dem Europa schon einmal fast zugrunde gegangen ist, wirkt fort und droht, den Kontinent erneut zu verseuchen.“430 Dennoch lassen sich auch und gerade unter Berücksichtigung der erwähnten „Negativbeispiele“ Argumente gegen die in der Verfassungslehre verbreitete These von der harmonisierenden und stabilisierenden Wirkung einer sozialstrukturellen Homogenität einerseits und der unüberbrückbare Konflikte evozierenden Wirkung sozialstruktureller Heterogenität andererseits formulieren. Betrachtet man die einzelnen Konflikte jeweils genauer, fällt zunächst auf, dass sie komplexere Ursachen aufweisen, als eine auf nationale, ethnische, sprachliche, kulturelle oder religiöse Differenzen reduzierte Analyse unterstellt.431 Differenzierte, auf die osteuropäischen Staaten in der postkommunistischen Ära bezogene Konfliktanalysen kommen beispielsweise zu der für die Homogenitäts-/Heterogenitätsproblematik nicht unbedeutenden Feststellung, dass, „obwohl Serben, Kroaten, Slowenen, bosnische Muslime usw. über ein viel höheres Maß an ethnisch-sprachlicher Homogenität verfügten, die integrative Kraft ihrer Nationalismen in erheblich engeren Grenzen verharrte als die des magyarischen Nationalismus“. Bezogen auf Tschechen und Slowaken hält der gleiche Autor fest, dass sie vor allem aufgrund eines wirtschaftlich unterschiedlichen Mo428
Nassehi, Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung (Fn. 55), 261, 261. 429
Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit (Fn. 294), 15, spricht von dem weltweiten „Wiedererstarken einer Politik, die um Anerkennung kollektiver Formen von Identität kämpft“ und von einem „Wiederaufflammen ethnischer, nationalistischer, religiöser und kultureller Separationsbestrebungen“. 430 431
Schulze, Das Europa der Nationen (Fn. 87), 65, 65 f., 79 ff.
Hinsichtlich der osteuropäischen Staaten der postkommunistischen Ära wird dies besonders deutlich in den differenzierten Konfliktanalysen von G. Schödl, Die Dauer des Nationalen, 123-155, und D. Geyer, Der Zerfall des Sowjetimperiums und die Renaissance der Nationalismen, 156-186, beide in: Winkler/Kaelble (Hrsg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalismus, 1993. Im gleichen Band finden sich auch differenzierte Analysen aktueller westeuropäischer Nationalitätenkonflikte bei Waldmann, Gewaltsamer Separatismus, 82-107.
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dernisierungsniveaus „trotz sprachlich-ethnischer Verwandtschaft [...] nicht zu einem integralen tschechisch-slowakischen Nationalismus [gelangen]. Stattdessen zwei nationale Integrationsprozesse, zwei Nationalismen“432. Mindestens wird man diesen Aussagen entnehmen können, dass homogene Sozialstrukturen weder unabdingbare Voraussetzung für ein stabiles, harmonisches und friedliches Zusammenleben sind, noch dass sie zwangsläufig zu einem solchen führen. Vielmehr spielen daneben andere Faktoren für die Entstehung von Konflikten eine Rolle, so dass die jeweiligen Konfliktursachen zum einen nicht auf soziokulturelle Heterogenitäten reduziert und die spezifischen Konflikte zum anderen nicht ohne Berücksichtigung komplexer politischer, sozialer Kontexte und historischer Hintergründe analysiert werden können. In vielen Fällen wird man feststellen, dass das Rekurrieren auf eine vermeintliche Homogenität nicht mehr ist als die Verkleidung bzw. die Aufladungs- und Mobilisierungsressource für Konflikte, die ihre Ursachen in ganz anderen Faktoren finden, als eben jenen, die die benutzte (Homogenitäts-)Semantik suggeriert.433 Nicht zuletzt deshalb ist der Bemerkung von Claus Leggewie zuzustimmen, dass der Krieg im ehemaligen Jugoslawien „nicht der Beweis für das notwendige Scheitern supranationaler Regime“ ist, „sondern Beleg der fatalen Wirkungen, die eine Renationalisierung für Europa hat, wenn sich der Wahn völkischer Homogenität als Grundlage politischer Identität durchsetzt.“434
b. Homogenität als Entpolitisierungsstrategie Spätestens bei der Untersuchung desjenigen Bedeutungsgehaltes des Begriffs der Homogenität, der die harmonisierenden und stabilisierenden Wirkungen sozialstruktureller Homogenität betont, wird deutlich, was bei der Formulierung der demokratietheoretischen Einwände gegen die behaupteten Interdependenzen zwischen Homogenität und Einheitsbildung schon angedeutet wurde.435 Sich unter Rückgriff auf vermeintlich homogene Sozialstrukturen eine harmonisierende und sta432
Schödl, Die Dauer des Nationalen (Fn. 431), 143 und 144.
433
Es handelt sich dann um eine „kanalisierte und sublimierte Form der Konfliktverschiebung [...] auf den glitschigen Boden der Kultur“, wie Nassehi/Schroer, Integration durch Staatsbürgerschaft? (Fn. 19), 82, 103, schreiben. 434 435
Leggewie, Europa beginnt in Sarajevo (Fn. 88), 24, 32
Siehe oben: 2. Kapitel IV. Homogenität und politische Einheitsbildung 3. Diskussion und Kritik c. Demokratietheoretische Bedenken.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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bilisierende Wirkung zu versprechen, mag zwar eine infolge von Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen entstandene „übermächtige Sehnsucht nach Einheit“ bzw. einen „schier unersättlichen Bedarf an symbolischer Homogenität“ zu befriedigen und der Wunschvorstellung entspringen, „die Gesellschaft könnte eines Sinnes, eine verschworene Gemeinschaft sein.“436 Trotzdem wird man anerkennen müssen, dass es sich bei der Verwendung des Begriffs der Homogenität mit dem hier beschriebenen Bedeutungsgehalt um nichts weniger handelt als um eine, wie bereits Ernst Fraenkel festgehalten hat, „Flucht aus der Realität der aufgespaltenen heterogenen Gesellschaft in das Traumland einer homogenen Gemeinschaft von Menschen“437. Damit besteht aber die Gefahr, dass tatsächlich bestehende Divergenzen von Meinungen, Weltanschauungen, Werten und Interessen nicht zur Kenntnis genommen oder diese bewusst zugunsten von „Verschmelzungsphantasien“438 überdeckt werden. So wenig jedoch über den Begriff der Nation die für die Moderne typischen Unsicherheiten, die das Herausfallen aus vorgegebenen sozialen, politischen und geistigen Vorgaben erzeugt, jenseits einer nur imaginären Ebene beseitigt oder gar rückgängig gemacht werden können, so wenig vermögen die wahrheitswidrige Behauptung homogener Sozialstrukturen und die damit verknüpften Harmonisierungs- und Stabilisierungseffekte die verloren gegangenen Integrations- und Befriedungskräfte wiederherstellen.439 Ein gemeinschaftliches, dem sozialen Wandel entzogenes Fundament, welches mit dem Begriff der Homogenität unterstellt wird, existiert nicht und auch über den Begriff der Homogenität ist eine Aufhebung der notwendig antagonistischen Struktur moderner Gesellschaften nicht zu leisten: „Zu sehr durchkreuzen tiefe soziale und politische Konfliktlinien ihre Einheit, verfolgen ihre Mitglieder divergierende Lebenspläne und Inte436
Frankenberg, Zur Alchimie von Recht und Freiheit (Fn. 307), 41, 61.
437
E. Fraenkel, Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie (Fn. 361), 261, 270. 438 439
Frankenberg, Zur Alchimie von Recht und Freiheit (Fn. 307), 41, 61.
Heitmeyer, Gesellschaftliche Integration, Anomie und ethnisch-kulturelle Konflikte (Fn. 45), 629, 641, schreibt: „Während in der Mehrheitsgesellschaft der soziale Zusammenhalt verloren geht, werden die nationalen Bindemittel reaktiviert, die die „eigene“ Desintegration zumindest symbolisch rückgängig machen sollen, aber die Re-Integration nur durch Ausschluss anderer bewirken können.“ Gegenüber diesen Prozessen insistiert Frankenberg, Die Verfassung der Republik (Fn. 13), 149, darauf, dass „sich die Risiken der Republik nicht ausschalten lassen“.
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ressen, ergeben sich aus den unterschiedlichen Lebenslagen konträre Auffassungen und Forderungen.“440 Als Antwort auf die Frage, wie der auf Permanenz gestellten Herausforderung sozialer Integration einer empirischen Vielheit von Individuen, deren Gelingen unter den Bedingungen der Moderne sowieso als „unwahrscheinlicher Grenzfall“441 gelten muss, begegnet werden kann, ist der Verweis auf eine durch Homogenität stabilisierte Harmonie des Kollektivs unbrauchbar.442 Darin ist lediglich der Versuch zu sehen, über den mit Harmonisierungs- und Stabilisierungsunterstellungen aufgeladen Begriff der Homogenität eine die sozialstrukturellen Turbulenzen überdeckende mythische Erzählung zu entwerfen, die die Einheit von Gegensätzen, ein in Wandel und Verschiedenheit stabil bleibendes Fundament und eine Überbrückung von Differenzen behauptet und die auf symbolischer Ebene eine auf vermeintlicher Gleichheit beruhende Gemeinschaftlichkeit konstruiert.443 Geschlossen wird die Möglichkeit einer solchen mythischen Erzählung, die entgegen evolutionärer Veränderungen und tatsächlich bestehender Differenzen ein homogenes Kollektiv behauptet, das die in der Gesellschaft vorhandenen Widersprüche, Spannungen und Spaltungen negiert, schließlich auch nicht durch die Positivierung, d.h. Vertextung des Begriffs »Volk«. Friedrich Müller hat nicht nur die zweifelhafte Strategie, Unruhe und Konflikt signalisierende Heterogenität und Pluralität durch entsprechende Definitionen zum Verschwinden zu bringen und in eine in prästabilisierter Harmonie
440
G. Frankenberg, Republik und Sozialstaat, KritV 1995, 25, 26. Sehr deutlich schon Heller, Demokratie und soziale Homogenität (Fn. 141), 421, 428: „Soziale Homogenität kann aber niemals Aufhebung der notwendig antagonistischen Gesellschaftsstruktur bedeuten.“ 441
Frankenberg, Republik und Sozialstaat (Fn. 440), 25, 26.
442
Auf die unübersehbare, vor allem soziologische Literatur zur Frage nach der sozialen Integration moderner Gesellschaften kann hier nicht eingegangen werden. Ein ausführlicher Überblick findet sich bei R. Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, in: Heitmeyer (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, 1997, 66-109. Zur Frage, ob es unter Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht überhaupt angemessener ist, statt von „Integration“ von „Inklusion/Exklusion“ zu sprechen, siehe oben: V. Homogenität und Zusammengehörigkeit, kollektive Identität 2. Diskussion und Kritik c. „Zusammengehörigkeit“, „kollektive Identitäten“ und funktionale Differenzierung. 443
Siehe hierzu B. Giesen/K. Junge, Der Mythos des Universalismus, in: Berding (Hrsg.), Mythos und Nation, 1996, 34, 35 ff.
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verharrende Einheit zu verwandeln, beschrieben, sondern darüber hinaus auch auf die Folgen einer entsprechenden Strategie hingewiesen: „Die heterogene Bevölkerung wird zugunsten der Privilegierten und Etablierten ver“ein“heitlicht, wird zum „Volk“ gesalbt und durch Sprachmonopol und Definitionsmacht der vorherrschenden Gruppe(n) als verfassungsgebend und –erhaltend fingiert. Das hindert wunschgemäß daran, die realen gesellschaftlichen Spaltungen zu benennen, auszutragen und damit zu bearbeiten.“444 Und genau in diesem Sinne verbirgt sich hinter dem Begriff der Homogenität eine Entpolitisierungsstrategie. Aber eben auch nur in diesem Sinne, denn über die im Folgenden darzustellende spezifische Charakterisierung der Homogenitätsgrundlage erfolgt wiederum eine versteckte Re-Politisierung.
VII. Objektivierung, Naturalisierung und Substantialisierung von Homogenitätskriterien Dass es sich beim Begriff der Homogenität sowohl um eine Ent- als auch um eine Re-Politisierungsstrategie handelt, erlangt zusätzliche Plausibilität, wenn man nicht nur auf die einzelnen Bedeutungsgehalte des Begriffs abstellt und untersucht, welche Wirkungen mit dem Begriff in der Verfassungslehre verbunden werden, sondern wenn man darüber hinaus schließlich analysiert, wie die mit dem Begriff der Homogenität verknüpften Homogenitätskriterien verstanden werden.
1. Objektivierung, Ontologisierung, Naturalisierung und Substantialisierung Kriterien, mit denen gesagt wird, in Bezug auf welches Merkmal Einzelne homogen sind, werden in Teilen der deutschen Verfassungslehre häufig als eine auf einer Seinsebene verortete Substanz verstanden. Homogenitätskriterien wie Sprache, Kultur, Geschichte oder Ethnie be444
Müller, Wer ist das Volk? (Fn. 10), 35 f. Preuß, Die Weimarer Republik (Fn. 141), 177, 183, spricht davon, dass sich eine Gesellschaft „durch Flucht in die – trügerische – Einheit, Homogenität und Gleichartigkeit der ethnischen Nation [...] des einzig gangbaren Mittels entledigt, sich in vernünftiger Weise mit ihrer Zerrissenheit zu konfrontieren und trotz dieser Zerrissenheit humane Lebensverhältnisse zu bewahren“.
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trachtet man als „natürliche Merkmale“445; „seinsmäßige Gegebenheit[en]“446 oder „objektive Vorgegebenheiten“447, die eine „reale Gleichheit“448 begründen. Gesprochen wird von „Vorgaben realer Homogenität“449, von „objektiven Naturtatsachen“ und „objektiven Kulturtatsachen“450, von „Vorgefundenem“ bzw. „jeweils vorgefundenen Gegebenheiten“451 oder von einer „vorgefundenen Wirklichkeit“452. Soziale Integrationsprozesse werden unter Rückgriff auf eine biologistisch-organische Rhetorik als „organisches Zusammenwachsen von Menschen zu einem Staatsvolk“453 thematisiert und das unabdingbare Erfordernis sozialstruktureller Homogenität für das Gelingen jener Integrationsprozesse zugleich als „anthropologische Konstante, mit der eine realistische Politik zu rechnen hat“454, bezeichnet. Während die Homogenitätskriterien ontologisiert, naturalisiert, objektiviert und substantialisiert werden, verortet man das individuelle Bedürfnis nach auf Homogenität basierender Integration im Bereich des „Irrationalen“455,
445
Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (Fn. 53), 34 und 35. Böckenförde spricht wahlweise auch von „eher natürlichen Kriterien“. 446
Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts (Fn. 323), 344, 352. 447
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 123.
448
Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 148.
449
Isensee, ebd., 137, 145.
450
Herzog, Allgemeine Staatslehre (Fn. 245), 43.
451
Kirchhof Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 81 und 83. 452
P. Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung, DVBl. 1999, 637, 643. 453
Kirchhof, Die Staatenvielfalt (Fn. 143), 947, 949 f.
454
Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Fn. 66), 83 f.
455
Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 88, 94. Isensee wirft der EU hier vor, dass sie das Irrationale abweise, obwohl sich „just im Irrationalen [...] Zuneigung, Abneigung, Zusammengehörigkeitsgefühl, Gruppenkonsistenz – jene Momente, aus denen Nationalbewusstsein und Wille zu politischer Einheit erwachsen“, bewegen. Ähnlich auch Depenheuer, Integration durch Verfassung? (Fn. 130), 854, 859 f., der „das irrationale Moment eines historisch-kontingent gewachsenen, wechselseitigen ZueinandergehörenFühlens der Bürger“ betont.
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„Unbewussten“456 oder in „Gründen, die tief in der Person des Menschen angelegt sind“457 und entzieht es dadurch einer rationalen Auseinandersetzung. Aus der Vorgegebenheit und Objektivität der Homogenitätskriterien wird die Schlussfolgerung gezogen, dass der Einzelne in sie hineingeboren wird und unentrinnbar, d.h. unabhängig von eigener voluntativer Entscheidung und eventuell vorhandenem Integrationswillen, an sie gebunden ist. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv haftet, weil die maßgeblichen Kriterien auf der Seinsebene verortet werden, „dem einzelnen sozusagen seinsmäßig an.“458 Einer als kontingent und veränderlich empfundenen „bloßen Abhängigkeit von einem Zeitgeist“ wird das „Hineingeborenwerden in Kultur und Geschichte“459 entgegengesetzt, das gegenüber einem konstatierten „Leiden an Abstraktionen, Institutionen, Organisationen“ in einer unüberschaubaren, komplexen und Unsicherheiten erzeugenden modernen Welt Stabilität verspricht und „bilanzierte Verluste an Lebensnähe, die durch Verrechtlichung von Volk und Staat sowie durch Technokratisierung der Gemeinschaft entstanden sind“460 auszugleichen in der Lage ist.461 Angesichts 456
Schmitz, Integration in der Supranationalen Union (Fn. 18), 333 und 334, demzufolge es eine „bis ins Unterbewusste reichende Grundübereinstimmung“ gibt bzw. sich die „notwendige minimale Grundübereinstimmung [...] auch auf den Bereich des Unterbewussten“ erstreckt. 457
Schmitz, ebd., 327.
458
Böckenförde, Die Schweiz – Vorbild für Europa? (Fn. 59), 25. Sehr deutlich in diese Richtung auch Depenheuer, Integration durch Verfassung? (Fn. 130), 854, 859. M. Foucault, Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, 1984, 56, setzt dieser Vorstellung des Hineingeborenwerdens in eine und der sofortigen Vertrautheit mit dieser Gemeinschaft das Bild der Geburt als einer Begegnung zwischen Fremden, die im Laufe der Zeit erst noch lernen müssen miteinander auszukommen, entgegen: „Leute, die wir nicht kannten und die uns nicht kannten, haben es so eingerichtet, dass wir eines Tages plötzlich existierten. Sie gaben vor und haben es sich zweifellos eingebildet, uns zu erwarten. Jedenfalls haben sie unseren Eintritt in die ‚Welt’ mit viel Sorgfalt und ein wenig unbeholfener Feierlichkeit vorbereitet.“ 459
Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 63, 81 f. 460
Grawert, Der deutschen supranationaler Nationalstaat (Fn. 82), 125,
130 f. 461
In dieser Argumentation findet sich die für nationalistische und modernitätskritische Theorien typische Unterscheidung zwischen artifizieller, weil willkürlicher Ordnung des positiven Rechts auf der einen und organisch, naturalis-
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der hypostasierten Homogenitätskriterien erscheinen über positives Recht implementierte Bindungen, Verfahren und Institutionen als solche „nur formal-rechtlicher Art“462, die aus eigener Kraft nicht bestehen können, sondern gerade der Rückbindung an und der Stützung durch objektive, in gemeinsamer Kultur, Sprache oder Geschichte liegenden Realitäten bedürfen. Eine vor jeder politischen Organisation und vor jeder Verrechtlichung bestehende unpolitische natürliche Entität avanciert zu einer das Rechtssystem tragenden Kraft, zu einem „Fundament für Staat und Recht und damit für den Verfassungsstaat.“463 Die auf der Seinsebene lokalisierte Einheit, als „Staatsvolk“ oder „Nation“ bezeichnet, ist es, die „den konkreten Verfassungsstaat rechtfertigt, seine Aufgaben und Maßstäbe bestimmt“ und die „der Staat zu achten und auszugestalten“464 hat. Staat und Recht werden als „als Anerkennung und kontinuitätsverpflichtete Fortbildung von Vorgefundenem gedeutet.“465
2. Diskussion und Kritik Bevor unter unmittelbaren Bezug auf das soeben beschriebene Verständnis der Homogenitätskriterien abschließend noch einmal auf die bereits bei der Einheitsbildung formulierten demokratietheoretischen Bedenken und die bei der unterstellten harmonisierenden und stabilisierenden Wirkung dargestellten entpolitisierenden Effekte eingegangen wird, soll zunächst die Plausibilität jener Ontologisierung, Naturalisietisch, substantialistisch verstandener Gemeinschaft auf der anderen Seite. Zu dieser Unterscheidung Habermas, Der europäische Nationalstaat (Fn. 63). 462
Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 212), 137, 145.
463
Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 63, 83. 464
Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung (Fn. 452), 637, 643. 465
Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 63, 81. Von jeher, so Kirchhof, werde der Staat „nicht als beliebig abgrenzbare und zuordnungsfähige Organisation verstanden, das Recht von jeher nicht als gewillkürte Satzung begriffen“. Im Gegenteil sei „Staatenbildung und Rechtsetzung [...] eher das Aufspüren einer vorgefundenen Ordnung als willentliche Setzung.“ Ob dies nur solange gelten soll, wie „die Welt als Schöpfungsordnung erklärt wird, die menschliche Natur und die Ordnung der Dinge einem göttlichen Schöpfungsplan folgen“, macht Kirchhof nicht deutlich.
Einzelne Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität
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rung und Substantialisierung unter Rückgriff auf einen sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus infrage gestellt werden.
a. Konstruktionselemente: Mangelnde Bestimmbarkeit und Erklärungskraft Auffassungen, „die in verschiedenen Härtegraden von einem sozialkollektiven Essentialismus ausgehen“466, geben zwar gelegentlich zu, dass der Begriff der Homogenität insofern „ein aus sich heraus noch recht abstrakter Begriff“ sei, als „bei der Nationbildung nicht jeweils an ein oder zwei konstante Merkmale angeknüpft wird“ und diese Anknüpfung „nach der gegebenen Situation und den konkreten Umständen der Nationbildung“467 wechselt. Aber selbst wenn das konstruktivdezisionistische Element und damit die, wie Hasso Hofmann in Bezug auf Carl Schmitt schreibt, „ungelöste Problematik des Begriffs der Homogenität“ gesehen wird, erscheint aus der Perspektive von Positionen, die mit dem Begriff der Homogenität argumentieren, Hofmanns Schlussfolgerung, dass man es mit einer „substanziellen Gleichartigkeit ohne Substanz“468 zu tun hat, die Substanz mithin gar keine Substanz mehr ist es, weil der für die Homogenität maßgebliche Bezugspunkt beliebig ausgewählt werden kann, nicht zutreffend. Denn zumindest das, was konkret ausgewählt wird, wird, wie die oben zitierten Stellen deutlich zeigen, weiterhin als vorgegebene Substanz betrachtet. Zwar kann die Entscheidung zwischen nahezu beliebigen Bezugspunkten getroffen werden, gleichwohl wird der ausgewählte Inhalt weiterhin als eine (vor-)gegebene ontische, objektive, natürliche oder reale Substanz, die tatsächlich die Homogenität eines Kollektivs begründet, begriffen. Deshalb greift nicht nur der Einwand zu kurz, die behauptete Substanz sei wegen der Beliebigkeit der Auswahl des die Homogenität bestimmenden Kriteriums und infolge des konstruktiv-dezisionistischen Charakters der Entscheidung gar keine Substanz mehr. Ebenso unzureichend 466
Haltern, Internationales Verfassungsrecht? (Fn. 244), 511, 517.
467
Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (Fn. 53), 34, 41, der auch von der „mögliche[n] Verschiedenheit der Anknüpfungspunkte für die Selbstdefinition der Nation – auch bis hin zur Gegensätzlichkeit“ spricht: „Mal ist es die Gemeinsamkeit der Sprache, mal eine bestimmte geschichtliche Tradition; mal ist es die Zugehörigkeit zu einer bestehenden staatlich-politischen Ordnung, mal ist es die gemeinsame Religion; aber auch Kombinationen kommen vor.“ 468
Hofmann, Legitimität gegen Legalität (Fn. 142), 140 f.
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sind die daran anknüpfenden, häufig im Kontext des Begriffs der Homogenität genannten und gegen diesen gerichteten Argumente, dass es zum einen „feststehende Merkmale zur Abgrenzung und Bestimmung einer einheitlichen Nation oder des Volkes nicht gibt“469 und zum anderen die nationalistische Prämisse, dass die ethnisch-kulturellen (Homogenitäts-)Grenzen mit den territorial-politischen Grenzen kongruent sein müssen, in der Wirklichkeit der Staatenwelt nicht erfüllt wird. Zwar bilden so definierte Nationalstaaten tatsächlich eher die Ausnahme, weil, selbst wenn man Nationen ein hohes Maß an Homogenität zugestehen würde, entweder die Staaten größer sind als die Nationen oder die Nationen größer sind als die Staaten, die geographischen Grenzen der Staaten also im ersten Fall erheblich größer, im zweiten Fall erheblich kleiner sind, als das Territorium, in dem die Angehörigen einer entsprechenden Nation siedeln.470 Die entscheidende Frage, deren Antwort einen viel stärkeren Einwand gegen der Begriff der Homogenität formuliert, müsste jedoch lauten, ob nicht bereits die Behauptung, es handele sich bei den Inhalten, auf die zur Begründung der Homogenität zurückgegriffen wird, um (vor-)gegebene, natürliche, ontische, objektive oder reale Inhalte, unhaltbar ist. Diesem neuralgischen Punkt nähert sich Böckenförde, ohne ihn freilich näher zu thematisieren, wenn er feststellt, dass „die Entstehung der Nationen wesentlich ein Vorgang der Bildung und Formung eines kollektiven Bewusstsein in politischem Kontext ist“ und er sich fragt, ob „es dann dafür Vorgegebenheiten geben [kann], sozusagen einen präexistenten Nationbegriff, anhand dessen sich diese Bewusstseinsbildung vollzieht und zu vollziehen hat“471. Erst wenn man den Einwand des 469
A. Fisahn, Demokratie in Europa, in: Bovenschulte/Grub/Löhr (Hrsg.), Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, 2001, 131, 133. 470
Zu diesem gegen eine Homogenitätsdenken gerichteten Argument U. Ra’anan, Nation und Staat, in: Fröschl/Mesner/ders. (Hrsg.), Staat und Nation in multi-ethnischen Gesellschaften, 1991, 23, 24 f. und 27. Habermas, Geschichtsbewusstsein und posttraditionale Identität (Fn. 130), 161, 166, hält fest, dass in der historischen Wirklichkeit „der Staat mit national homogener Bevölkerung immer Fiktion geblieben“ ist. 471
Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (Fn. 53), 34, 40. An anderer Stelle, ders., Welchen Weg geht Europa? (Fn. 106), 39, sieht Böckenförde den „Zusammenhalt eines Staatsvolkes [...] weit weniger durch biologischnaturale Gegebenheiten als durch ein vor-rational geprägtes, lebendig erhaltenes, in Generationen sich forttragendes kollektives Gedächtnis und Bewußtsein geprägt.“ Allerdings erfolgt in dem zuerst zitierten Text eine Zurücknahme der formulierten Zweifel in der Weise, dass das herausgebildete Zusammengehörig-
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Konstruktivismus nicht nur auf den fiktiven Moment der Auswahlentscheidung des maßgeblichen Bezugspunktes (Kultur, Sprache, Geschichte, Ethnie oder Religion), sondern auf die angeblich auf der Seinsebene liegenden Vorgegebenheiten selbst bezieht, wird deutlich, dass die homogenitätsbegründenden Substanzen, die als natürlich, ontisch, objektiv und vorgegeben ausgegeben werden, selbst Konstrukte sind. Besonders deutlich zum Ausdruck kommen die artifiziell-konstruktiven Elemente, die unten im Kapitel über Geschichte und Homogenität ausführlich beschrieben werden, in dem bei der Frage nach der Emergenz kollektiver Identitäten bereits angeführten Zitat Niklas Luhmanns, demzufolge sich Nationen durch ihre Geschichte definieren, diese aber erst noch geschrieben werden muss.472 Dementsprechend können Nationen auch nicht gefunden, sondern nur erfunden werden und „all ihre empirischen Evidenzen – das Vorhandensein einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen Geschichte, gemeinsamer Lebensgewohnheiten etc. – können den Makel jenes Privilegs der Bezeichnung vor der vermeintlich empirischen Wahrheit, die selbst wiederum nur bezeichnet werden kann, nicht loswerden.“473. Homogenitätssemantiken beziehen sich nicht auf vorgegebene Entitäten oder wirkliche Sozialstrukturen. Sie bringen vielmehr das, was als ontisch-essentieller Referenzpunkt behauptet wird, überhaupt erst hervor. Unter Bezug auf bestimmte Homogenitätskriterien angeblich konstituierte Kollektive sind folglich keine realen, sondern konstruierte und kommunizierte Gemeinschaften. Paradoxerweise kann gerade die Tatsache, dass ihr Bestehen und die sie konstituierenden Gemeinsamkeiten immer wieder postuliert werden, dabei als Indiz für ihren konstruktiven Charakter gelesen werden. Ergäbe sich nämlich das Bestehen der Gemeinschaft aus selbstverständlichen und nicht hinterfragbaren, in der Wirklichkeit verkeitsgefühl sich derart verfestigt, dass es angeblich „eine eigene Entität als objektive Gegebenheit [gewinnt]“, ebd., 52. 472
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 341), 1048 f. Siehe auch W. Kaschuba, Volk und Nation, in: Winkler/Kaelble (Hrsg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalismus, 1993, 56, 63: „Volkstümliche Traditionen werden aufgesucht, wieder belebt, notfalls erfunden. In Geschichtsbildern, Dichtung und Denkmälern produzieren die bürgerlichen Romantiker gleichsam jene Kulturgüter selbst, die sie dann ihrem Ideal der deutschen „Kultur- und Sprachnation“ zuschreiben.“ 473
Nassehi, Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit (Fn. 54), 177, 191. Siehe auch ders./Schroer, Integration durch Staatsbürgerschaft? (Fn. 19), 82, 87: Nation als “self-fulfilling-prophecy”, die die Funktion hat, „im Diskurs um die nationale Gemeinsamkeit diese Gemeinsamkeit erst herzustellen“.
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orteten Gegebenheiten, könnte sie, wie Zygmunt Bauman „kommunitaristischen Bildern“ entgegenhält, „es sich leisten unsichtbar zu sein, und man müsste kein Wort über sie verlieren.“474 Vor allem hinsichtlich der Charakterisierung der homogenitätsbegründenden Inhalte scheinen die von einem ontologischen und substantiellen Verständnis ausgehenden Positionen in der deutschen Verfassungslehre jedoch zu sehr „der Tradition eines spezifischen Strangs deutscher Kulturkritik“475, die mit den Schriften der politischen Romantik im 18. und 19. Jahrhundert beginnt und ihren prägnantesten Ausdruck im konservativ-völkischen Denken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet476, zu ähneln, als dass sie überhaupt in der Lage wären, das Ausmaß an Konstruktion zu reflektieren.477
b. Demokratietheoretische Folgen: Ontologie statt Politik Die Charakterisierung der homogenitätsbegründenden Inhalte als natürlich, ontisch, objektiv oder substantiell tendiert dazu, den „Irrungen und Zumutungen einer verunsicherten und desorientierten Gesellschaft in ungewissen Zeiten“478 ein »ruhendes Sein« entgegenzusetzen, das stabilisierte Zugehörigkeiten, soziale Geborgenheit, Solidarität und die dialektische Überwindung interner Unterschiede und sozialer Gegensätzen verspricht. Aber die Vorstellung eines homogen strukturierten Kollektivs beschwört nicht nur eine in soliden und dauerhaften (Vor-) Gegebenheiten ruhende Gemeinschaft, die den rasanten sozialen und 474
Z. Bauman, Flüchtige Moderne, 2003, 199. Wenn dem aber so wäre, so Baumann weiter, „dann würden die Kommunitaristen keine Bilder malen, geschweige denn sie ausstellen“. 475
So T. Vesting, Erosionen staatlicher Herrschaft, AöR 117 (1992), 4, 27, in Bezug auf Carl Schmitt. 476
Siehe Mancini, Europe: The Case for Statehood (Fn. 229), 29, 34 f.
477
Explizit zu den Passagen des Maastricht-Urteils, in denen das BVerfG auf die relative Homogenität des Staatsvolkes abstellt v. Bogdandy, Das Leitbild der dualistischen Legitimation für die europäische Verfassungsentwicklung (Fn. 42), 284, 294. Sehr ausführlich zur „politischen Romantik“ und zum „konservativ-völkischen Denken“, allerdings besorgt hinsichtlich der analytischen Präzision dieser Bezeichnungen K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Politik, 1994. Ebenfalls sehr aufschlussreich St. Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, 1995, vor allem 11, 16, 37 f., 44 f., 49 ff., 78-86. 478
Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz (Fn. 261), 241, 277.
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ökonomischen Wandlungen einer dynamischen, komplexen und hochgradig differenzierten Moderne entzogen ist. Ein derartiger „struktureller Konservativismus“479 führt darüber hinaus zu gravierenden Folgen für das Demokratieprinzip. In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ hat Thomas Mann nicht zu Unrecht festgehalten, „dass in Deutschland die Bejahung des Nationalen die Verneinung der Politik und der Demokratie in sich schließt“480. Tatsächlich schaffen die oben dargestellten Auffassungen, die natürliche (Vor-)Gegebenheiten unterstellen, welche die Eigenschaften und Merkmale eines Kollektivs definieren und die Homogenität der Angehörigen des Kollektivs begründen sollen, eine „konstruktionsresistente Seins-Ebene“481. Benutzt man aber hinsichtlich des Legitimationssubjektes „Kriterien, die auf die Ermittlung des Seins des Volkes gerichtet sind“482, wird die Verfassungslehre, wenn sie das Legitimationssubjekt zu einem Gegenstand verfassungsrechtlicher oder verfassungspolitischer Erörterungen machen will, „um ein ontologisches Problem angereichert und mit philosophischen Wert- und Wirklichkeitsfragen belastet.“483 Zwar reduziert man im gleichen Moment das in der Verfassung aufgegebene Gebot demokratisch organisierter Herrschaft auf das Legitimationssubjekt und lässt das Legitimationsobjekt, vor allem aber auch das Legitimationsverfahren außen vor. Aber die Komplexität einer derartigen Konzeption von Demokratie wird trotz jener reduzierten Konzentration allein auf das Legitimationssubjekt erhöht, weil es aufgrund der Ontologisierung jenes Subjektes nahezu unerlässlich ist, andere wissenschaftliche Disziplinen heranzuziehen und in der Verfassungslehre zu verarbeiten. In der Sache geht es dann weniger um die Entwicklung einer Demokratietheorie, die sich auf die konkrete Ausgestaltung des demokratischen Willensbildungsprozesses konzentriert, als um die Definitionshoheit und konkrete Bestimmung der vermeintlich ontischen Merkmale und Eigenschaften der spezifischen Entität und um, wie Oliver Lepsius in Bezug auf Carl Schmitts Demokratiekonzeption geschrieben hat, „die Unterord-
479
Schulze-Fielitz, ebd., 241, 255.
480
T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 1983, 264.
481
Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik (Fn. 1), 366, 381. Lepsius spricht auch von der „Konstruktionsresistenz des Volkes“, ebd., 383 und 396. 482
Lepsius, ebd., 366, 376.
483
Lepsius, ebd., 366, 391.
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nung unter eine verpflichtende Seinsordnung, die einen einheitlichen, existenziellen, substantiell gleichartigen Charakter hat.“484 Dadurch, dass seine artifiziellen Konstruktionselemente geleugnet und sie im Gegenteil als ontische Konstanten behauptet werden, immunisiert man das auf der Seinsebene verortete Kollektiv mit seinen homogenitätsbegründenden Inhalten gegen politische oder rechtliche Einflussnahmen und verhüllt den in dieser vermeintlich unpolitischen Konzeption liegenden politischen Kern. Entweder sind die ontischen Konstanten gegeben oder nicht. Sind sie gegeben, können sie nicht verändert, gegebenenfalls aber aufgespürt und offen gelegt werden. Sind sie nicht gegeben, können sie nicht künstlich geschaffen werden. Dementsprechend können auch Untergangsszenarien nur als lang andauernde, schleichend vor sich gehende Zerfallsprozesse beschrieben werden, während umgekehrt die Emergenz eines Kollektivs, das über die geforderten Homogenität verfügt, nur in einem langfristigen, weitgehend unbeeinflussbaren Prozess vor sich gehen kann.485 Ein Legitimationssubjekt zu unterstellen, das wegen seiner substantiellen Vorgegebenheit auch „ohne jegliche Art von politischer oder gesetzlicher Ordnung existieren“486 könnte, führt schließlich nicht nur dazu, dass es gegen politische und rechtliche Entscheidungen und Prozesse hermetisch abgeschottet wird. In umgekehrter Richtung besteht die Gefahr, dass politische Handlungs- und Entscheidungsspielräume sowie juristische Fragestellungen durch die vorausgehende Definition der besonderen Struktur des auf der Seinsebene verorteten Kollektivs bestimmt und begrenzt werden. Man findet sich dann in der aus demokratietheoretischer Perspektive überraschenden Situation wieder, dass das Legitimationssubjekt selbst nicht zur Disposition seiner individuellen Mitglieder steht, 484
Lepsius, ebd., 366, 382. Entscheidend, so Lepsius, wird für Schmitt „worin diese Seinsordnung liegt und wie sie erkannt werden kann.“ Zur Definitionshoheit bzw. Interpretationsmacht, ebd., 391. 485
Hierzu Hoffmann, Staatsangehörigkeit und Volksbewusstsein (Fn. 27), 33, 38, sowie oben das Kapitel: III. Homogenität und transnationale Demokratie. 486
So Grawert, Der deutschen supranationaler Nationalstaat (Fn. 82), 125, 135. Zu den demokratietheoretischen Folgen einer Ontologisierung, siehe auch Preuß, Probleme eines Konzepts europäischer Staatsbürgerschaft (Fn. 289), 249, 259, der den Begriff einer ethnischen Nation auf Herder zurückführt und ihn als ein „ausdrücklich präpolitisches, wenn nicht sogar antipolitisches, jedenfalls als ein rein kulturelles Phänomen“ bezeichnet. Dass die Rolle Herders weitaus differenzierter zu beurteilen ist, als Preuß suggeriert, zeigt Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1 (Fn. 308), 514 f.
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während hingegen das als ontische Entität ausgewiesene und mit substantiellen Inhalten angereicherte Legitimationssubjekt Implikationen für den Prozess der demokratischen Willensbildung entfalten kann. Normative und politische Schlussfolgerungen bilden sich unter diesen Voraussetzungen nicht mehr in einem prozeduralen Entscheidungsprozess, in den die Einzelwillen der Bürger einfließen, heraus, sondern folgen unmittelbar aus den mit zweifelhafter Interpretationshoheit definierten Eigenschaften des Kollektivs.487 Besonders deutlich zeigt sich dies am Begriff der „Repräsentation“: Kollektiv bindende Entscheidungen sind vor dem Hintergrund einer mit natürlichen Charakteristika ausgestatteten Einheit nicht mehr das konstruktive Ergebnis eines komplexen politischen Prozesses, sondern die „Darstellung eines unsichtbaren Seins, das durch Repräsentation sichtbar gemacht wird. Repräsentation erscheint danach nicht als Vorgang, als Prozess, durch den Einheit und gemeinsames Bewusstsein aktualisiert und auch hergestellt wird, er bildet nur etwas bereits Vorhandenes ab.“488 Was aber das ver487
Und genau deshalb handelt es sich bei Homogenitätskonzepten einerseits um eine Entpolitisierungs-, andererseits aber eben auch um eine verdeckte Politisierungsstrategie. Zur Heimlichkeit des Letzteren Grawert, Der deutschen supranationaler Nationalstaat (Fn. 82), 125, 135; Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung (Fn. 254), 28. 488
So Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts (Fn. 323), 344, 364, in einer „Darstellung des staatsrechtlichen Werkes von Carl Schmitt“. In seiner Verfassungslehre (Fn. 140), 209, sagt Schmitt selbst: „Repräsentation ist kein normativer Vorgang, kein Verfahren und keine Prozedur, sondern etwas Existentielles. Repräsentation heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen.“ Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 333 f., attestiert Schmitt, „mit unübertroffenen Sinn für Überholtes am Begriff der Repräsentation festgehalten und von da aus den verfassungsmäßig realisierten Parlamentarismus als Verfehlung des Prinzips beurteilt“ zu haben. Schmitts Verständnis des Begriffs der Repräsentation fasst Luhmann zutreffend wie folgt zusammen: „Entweder Identität oder Repräsentation, und Repräsentation nur als Repräsentation der Identität.“ Das, so Luhmann weiter, werde „zwar dem ursprünglichen Sinn des Begriffs besser gerecht als jede andere Darstellung, belegt genau damit aber die Obsoleszenz dieser Semantik der Selbstbeschreibung des politischen Systems.“ Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus (Fn. 172), 9, 10, 28, spricht vom „fiktive[n] Charakter des Repräsentationsgedankens“, einer „krasse[n] Fiktion“ bzw. von der „Repräsentationsfiktion“. Zu „idealistischen“ und „realistischen“ Repräsentationskonzepten, siehe schließlich auch Hoffmann/Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (Fn. 70), 165, 167 ff.
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meintlich Vorhandene ist und welche normativen Aspirationen aus der Empirie folgen sollen, bestimmen diejenigen, die die Interpretationshoheit über die ontologische Beschaffenheit des Kollektivs besitzen. Sie versuchen und betreiben damit aber nicht weniger als „ein politisches Projekt hinter einer deskriptiven Theorie sozialer Realität zu verstecken.“489
489
Bauman, Flüchtige Moderne (Fn. 474), 200.
3. Kapitel: Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien Im Folgenden werden die Kriterien „Geschichte“ und „Sprache“, die in Verbindung mit dem Begriff der Homogenität häufig genannt werden und in deren Verwendung sich zahlreiche der im dritten Kapitel beschriebenen, dem Begriff der Homogenität zugeschriebenen Wirkungen wieder finden, ausführlich dargestellt und kritisch reflektiert.
I. Homogenität und Geschichte Anders als bei den Kriterien der Sprache oder der Kultur mag es auf den ersten Blick nicht plausibel erscheinen, das Merkmal „Geschichte“ im Kontext einer Arbeit zu untersuchen, die den Begriff der Homogenität im rechtswissenschaftlichen Diskurs untersucht. Im Unterschied zu den beiden zuerst genannten Kriterien wird selten explizit von „geschichtlicher Homogenität“ gesprochen. Sowohl der Begriff „Geschichte“ als auch die Vorstellung einer „Geschichtsgemeinschaft“ sind jedoch, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, eng verbunden mit dem in der Verfassungslehre verwendeten Begriff der Homogenität.
1. Begriffsverständnisse und unterstellte Wirkungen Bei aller Vorsicht, die geboten ist, weil der Begriff der Geschichte bzw. das Verständnis von Geschichtsgemeinschaft von Juristen selten expliziert wird und elaborierte Ausführungen über Bedeutungsgehalte aus juristischer Perspektive bis heute fehlen, können die genannten Begriffe in einer abstrahierenden Zusammenfassung zunächst folgendermaßen beschrieben werden: die Angehörigen eines Kollektivs teilen nicht nur eine gemeinsame Geschichte, sondern dieser Umstand verbindet darüber hinaus die vereinzelten Individuen überhaupt erst zu einem Kollektiv und konstituiert die spezifische Besonderheit und Individualität
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des Kollektivs gegenüber anderen Kollektiven.490 „Geschichtsgemeinschaft“ impliziert die Vorstellung, dass soziale Integration, einerlei ob als subjektiv gefühlter Mentalzustand oder als symbolisches Band zwischen Individuen gedacht, zumindest auch auf dem Umstand basiert, dieselbe Geschichte mit anderen zu teilen. Das Wachsen „in gemeinsamer Geschichte“ 491, die „Prägung der Freiheitsberechtigten durch eine gemeinsame Geschichte und Erfahrung“492, die „Gemeinsamkeit des geschichtlichen Lebens“493 oder schlicht „die allen gemeinsame Geschichte“494 wirkt „gemeinschaftsbildend“495 und vermag „ein Volk zumindest über eine gewisse Zeit hinweg zusammenzuschweißen“496. Stellt man nicht nur auf die „gemeinsamen Erlebnisse“ ab und bezieht des Weiteren auch „die Erinnerung an gemeinsam bestandene Bedrohungen“ oder „an gemeinsam überwundene Gefahren“ und „das Bewusstsein großer gemeinsamer Leistungen“497 mit ein, dann erstreckt sich das aus der Geschichte fließende Band der Zusammengehörigkeit über die jeweils lebende Generation eines Kollektivs hinaus auf die Toten und zukünftig Geborenen. Innerhalb eines Volkes wird aus dem „Erbe überkommenen Reichtums wie überkommener Schuld“ eine Solidarhaftung generiert, die „das gegenwärtige, lebende Volk [...] mit den vergangenen und den künftigen Generationen [verknüpft].“498 Gemeint ist demnach nicht allein das gemeinsame Erleben von Geschichte, sondern ein generationenübergreifendes Sich-Befinden in einem Strom der Über- und 490
Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 63, 65 f., 79, spricht von „Eigenständigkeit“: „Die europäischen Staaten der Gegenwart [...] bewahren aber ihre Eigenständigkeit in [...] der kulturellen Gemeinsamkeit von [...] geschichtlicher Erfahrung“. Der zitierte Text ist weitgehend identisch mit dem Beitrag von P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozess der europäischen Integration, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 183. 491
Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 63, 64. 492
Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat (Fn. 48), § 221 Rn. 14 und 15.
493
Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 140), 231.
494
A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, 135. Ähnlich Herzog, Allgemeine Staatslehre (Fn. 245), 42 und 43: „die gemeinsame Geschichte“. 495
Augustin, Das Volk der Europäischen Union (Fn. 494), 135.
496
Herzog, Allgemeine Staatslehre (Fn. 245), 82.
497
Herzog, ebd., 43 und 82.
498
Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 710.
Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien
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Vermittlung von Vergangenen, dem man als Individuum ausgesetzt ist.499 Anknüpfen können diese in der Verfassungslehre verbreiteten Vorstellungen an John Stuart Mill, demzufolge die stärksten Kräfte, die zur Bildung einer Nation führten, „die Gleichheit der politischen Vergangenheit, der Besitz einer nationalen Geschichte und die daraus folgenden Gemeinsamkeit der Erinnerungen; gemeinsamer Stolz und Demütigung, Freude und Bedauern, welche mit denselben Ereignissen der Vergangenheit assoziiert werden“500, sind. In ähnlicher Weise sah Ernest Renan die Nation als ein „principe spirituel“, welches maßgeblich aus „la possession en commun d’un riche legs de souvenirs“ bestehe und als ein „aboutissant d’un long passé d’efforts, de sacrifices et de dévouements“501 betrachtet werden müsse. Konzentriert man sich wieder auf juristische Autoren, die auf den Begriff der Geschichtsgemeinschaft eingehen, stellt man weiter fest, dass sich die mit dem Teilen einer gemeinsamen Geschichte verbundenen Wirkungen nicht in der Begründung einer Zusammengehörigkeit erschöpfen. Die gemeinsame Geschichte, auch als eine das Volk „konstituierende Kulturtatsache“502 bezeichnet, soll, so Paul Kirchhof, auch die „Idee des Gemeinsamen in der res publica“ fördern und es erlauben, „die Staatsgewalt in die Grenzen der freiheitlichen Demokratie zurückzunehmen“503. Das Fehlen jeglicher Erläuterung, wie Geschichte diese ihr zugeschriebenen Wirkungen entfalten kann, lässt vermuten, dass zumindest bei den zitierten Autoren von Selbstverständlichkeiten ausgegangen wird. Selten finden sich Ansätze einer Erklärung, wie die, dass Geschichte deshalb „gemeinschaftsbildend oder zumindest –kennzeichnend“ sei, 499
Zutreffend schreibt Augustin, Das Volk der Europäischen Union (Fn. 494), 135, dass Kennzeichen der Geschichtsgemeinschaft „die allen gemeinsame Geschichte sein [soll], die auch als allen gemeinsame Geschichte angesehen und überliefert wird.“ Augustin ist insofern eine Ausnahme, als sie den Begriff der Geschichtsgemeinschaft näher analysiert und auf mögliche Einwände hinweist, ebd., 135-138. Allerdings unterstellt auch Augustin die Plausibilität des Begriffs, um im weiteren Verlauf ihrer Arbeit zu prüfen, ob eine Geschichtsgemeinschaft auf europäischer Ebene gegeben ist. 500
J. S. Mill, Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung, 1873, zitiert nach S. Dellavalle, Für einen normativen Begriff von Europa, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Die europäische Option, 1993, 237, 251. 501
E. Renan, Qu’est-ce qu’une nation?, deutsche Übersetzung in: Jeismann/Ritter (Hrsg.), Grenzfälle, 1993, 307 und 308. 502
Herzog, Allgemeine Staatslehre (Fn. 245), 41 f.
503
Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat (Fn. 48), § 221 Rn. 14 und 15.
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„weil sie allen Betroffenen die gleiche kulturell-historische Grundlage“504 vermittle. Die Berechtigung, Geschichte im Kontext einer Arbeit zu untersuchen, die sich mit dem Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre auseinandersetzt, folgt indes nicht nur aus der dargestellten Hypostasierung der Bedeutung einer gemeinsamen Geschichte für die Emergenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls, sondern hauptsächlich aus den ausdrücklich behaupteten Interdependenzen zwischen Geschichte, Geschichtsgemeinschaft und der homogenen Struktur eines Kollektivs. Bei Carl Schmitt erscheinen „gemeinsame geschichtliche Schicksale, Traditionen und Erinnerungen“ und die „Gemeinsamkeit des geschichtlichen Lebens“ als vorpolitische und die Gleichheit der Bürger substantiell begründende Elemente, die „zur Einheit der Nation und zum Bewusstsein dieser Einheit […] beitragen“. Einerseits, so Schmitt unter gewohnter Geringschätzung republikanischer Inhalte, setze „die französische Revolution von 1789 […], trotz ihrer Ideen von Menschheit und allgemeiner Brüderlichkeit aller Völker, die französische Nation als geschichtlich gegebene Größe voraus“; andererseits könnten „echte Revolutionen und siegreiche Kriege […] das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit begründen“505. Inklusionen und Exklusionen werden unter Bezug auf eine aus demokratietheoretischen Gründen für erforderlich gehaltenen und in der gemeinsamen Geschichte fundierten Homogenität begründet. Geschichte dient dazu, Eigenes zu markieren und Abgrenzungen gegenüber Fremdem vorzunehmen, d.h. Grenzen zu ziehen. Neben Merkmalen wie Ethnie, Kultur, Religion oder Sprache ist es die spezifische „geschichtliche Erfahrung“, aus der sich die Besonderheiten einer „in sich homogenen und nach außen abgrenzbaren Einzelgemeinschaft“506 ergeben. Im Ergebnis wird das Teilen einer Geschichte in Übereinstimmung mit den im dritten Kapitel dargestellten Bedeutungsgehalten des Begriffs der Homogenität als entscheidende Bedingung sowohl für die Einheitsbildung, für die Emergenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls als auch für die Dauerhaftigkeit und Stabilität eines politischen Verbandes behauptet. Um das aus Individuen bestehende Kollektiv zusammenzuhalten, zu befrieden und zu stabilisieren bedarf es einer „relativen“507 oder
504
Augustin, Das Volk der Europäischen Union (Fn. 494), 135.
505
Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 140), 231.
506
Schmitz, Integration in der Supranationalen Union (Fn. 18), 33.
507
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 passim.
Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien
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„effektive[n] Homogenität als Grundbestand an Gemeinsamkeiten“508, die wiederum ihre Grundlage in „gemeinsam durchlebter politischer Geschichte“509 findet. Wie auch andere Homogenitätskriterien wird Geschichte dabei als eine „objektive Vorgegebenheit“510 betrachtet, in die der Einzelne hineingeboren wird und an die man unabhängig von willkürlicher Einflussnahme gebunden ist.511 Die gemeinsam geteilte Geschichte als objektive Vorgegebenheit stellt sicher oder lässt es zumindest wahrscheinlich erscheinen, das ein für die Verwirklichung von Demokratie erforderlicher „Wille zur politischen Einheit“512 entsteht, „die rechtliche Einheit des Volkes [...] auf Dauer [...] lebensfähig“513 ist und der „Staat bestehen“514 kann.515 Besonders deutlich wird die Relevanz von Geschichte für den Begriff der Homogenität, wenn Rolf Grawert in Anknüpfung an die hier geschilderten Verbindungen zwischen Geschichte und der homogenen Struktur eines Kollektivs darauf hinweist, dass, nachdem Biologen die These von der ethnischen Homogenität nicht plausibel machen konnten, Homogenitätsbehauptungen 508
Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 708.
509
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 64.
510
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 122 f.
511
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 48; Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 63, 81 f. 512
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 122 f.
513
Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos (Fn. 20), 705, 708.
514
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 122 f.
515
Außerhalb der Verfassungslehre wird die einheitsbildende und demokratietheoretische Bedeutung einer gemeinsamen Geschichte besonders deutlich hervorgehoben von C. Offe, Demokratie und Wohlfahrtsstaat, in: Streeck (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie, 1998, 99, 101 und 102. Offe zufolge geschieht „die Selbstanerkennung eines Volkes als demos [...] im empirischen Bezugsrahmen [...] einer Geschichte [...], die als »uns alle betreffend« gedeutet wird – als ein Fundus von positiven und negativen Traditionen und historischen Akteuren, deren Aneignung die faktische »Eigenheit« derjenigen ausmacht, die sich dann normativ gegenseitig als zum selben »demos« gehörig anerkennen.“ Es sei, so Offe, gerade die „geteilte Anerkennung der gemeinsamen Geschichte und ihrer Bedeutung“, die als „unerlässliche[r] Katalysator für das Zustandekommen einer politischen Gemeinschaft“ fungiere, während eine „scharfe »geschichtspolitische« Polarisierung dagegen [...] ein entscheidendes Hindernis auf dem Weg zur Ausbildung einer politischen Gemeinschaft (oder »Republik«)“ bilde.
3. Kapitel
154
seit dem 19. Jahrhundert auf die unterstellte „kollektive Prägekraft der Geschichte“ gestützt wurden. Und er schließt die leicht sarkastische Frage an: „Also: warum statt der Ethnologen nicht die Historiker?“516
2. »Europäische Geschichtsgemeinschaft« Ruft man sich die oben dargestellten Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität und insbesondere die Bedeutung, die der Begriff in der Diskussion um die Herausbildung eines europäischen Volkes einnimmt, in Erinnerung und berücksichtigt des weiteren die Wirkungen, die der Geschichte von den oben zitierten Autoren zugeschriebenen werden, verwundert es nicht, dass sich infolge der Etablierung und zunehmenden Ausbildung eines supranationalen politischen Systems auch in der Verfassungs- und Europarechtswissenschaft der Fokus der Aufmerksamkeit in den letzten Jahren auf die Suche nach einer genuin europäischen Geschichte verschiebt. Wenn im Zuge einer fortschreitenden europäischen Integration für die Legitimation europäischen Rechts die „Zusammengehörigkeit eines Staatsvolkes“ im Sinne der „Bildung einer europäischen Nation“517 für erforderlich gehalten wird und wenn hierfür wiederum „ein Mindestmaß an identitätsstiftenden Gemeinsamkeiten“ auch „in puncto [...] Geschichte“518 gefordert wird bzw. sich „historische und kulturelle Traditionen der Gemeinsamkeit“519 hinreichend stark ausprägen müssen, dann bekommt – neben anderen Kriterien – die gemeinsame Geschichte eine besondere Bedeutung für die Emergenz eines legitimitätsstiftenden Subjekts europäischer Politik und infolgedessen für die Möglichkeit von Demokratie auf europäischer Ebene.520
516
Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat (Fn. 82), 125, 132.
517
Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 63, 92 und 93. 518
W. Kahl, Montesquieu, Staat und Europa, JöR 45 (1997), 11, 27.
519
Kirchhof, Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU (Fn. 311), 201, 207. 520
Prägnant formuliert findet sich die beschriebene Argumentation vor allem in Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 128), 63, passim. Siehe aber auch ders., Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU (Fn. 311), 201, 207.
Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien
155
Ohne Zweifel ist, wenn man die entsprechenden Publikationen der letzten 15 Jahre betrachtet, eine Veränderung hinsichtlich der behandelten Frage- und Problemstellungen sowie der Forschungsinteressen festzustellen. Während zaghafte Sondierungsversuche die Möglichkeiten eines eigenständigen Faches mit dem Namen „Europäische Rechtsgeschichte“521 ausloten, ist die Vielzahl und Vielfalt der zur „europäischen Geschichte“, zur Geschichte des Begriffs „Europa“ bzw. zu einer „europäischen Identität“ veröffentlichten Titel kaum noch zu übersehen. 522 Dabei kann der Bezug auf Geschichte, je nachdem, ob man einer Intensivierung der europäischen Integration positiv oder ablehnend gegenübersteht, entweder die historischen Gemeinsamkeiten akzentuieren oder aber die Besonderheit, Dominanz und Bedeutung der jeweiligen nationalen Geschichte unterstreichen. In beiden Fällen wird jedoch als selbstverständlich vorausgesetzt, dass mit zunehmender Integrationsdichte das Bedürfnis nach einer europäischen Geschichte steigt. Um eine Zukunft haben zu können, so die weit geteilte Annahme, müsse Europa über eine Vergangenheit verfügen und sich zu einer Geschichtsgemeinschaft entwickeln, die dann bestünde, „wenn die Bevölkerung die Ereignisse auf europäischem Boden als europäische Geschichte ansieht.“523 Dass „die bisherigen nationalen Geschichten schrittweise in eine gemeinsame europäische Geschichte umgeschrieben“524 oder wenigstens die auf nationale Gesichtspunkte verengten Sichtweisen auf europäische Geschichte relativiert werden, wird als Bedingung gesehen für die Herausbildung eines europäischen Zusammengehörigkeitsbe-
521
Hierzu R. Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991; ders., Un nouveau domain de recherche en Allemagne: l’histoire du droit européean, Revue du droit francais et étranger 1992, 29-48. Erste Lehrbücher zur europäischen Rechtsgeschichte sind bereits auf dem Markt: H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 1999 (erstmals erschienen im Jahre 1992). 522
Dies gilt auch und gerade abseits der schon immer europäisch eingestellten Kunsthistoriker, wie ein Blick auf einschlägige Publikationen der letzten fünfzehn Jahre zeigt. 523
Augustin, Das Volk der Europäischen Union (Fn. 494), 137. Siehe auch Speth, Europäische Geschichtsbilder heute (Fn. 387), 159-175, vor allem 165: „Europa braucht eine Vergangenheit, um eine Zukunft zu haben, so könnte man das Anliegen der Historiker, die eine europäische Geschichte schreiben wollen, zusammenfassen.“ 524
R. Hettlage, Euro-Visionen, in: ders./Deger/Wagner (Hrsg.), Kollektive Identität in Krisen, 1997, 320, 327.
3. Kapitel
156
wusstseins, das als Grundlage einer europäischen Nation dienen könnte.525 Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass Untersuchungen zu erkunden versuchen, ob und wie Europa in den Schulbüchern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union dargestellt und im Unterricht vermittelt wird526 und es erscheint angesichts der immensen Bedeutung, die einer gemeinsamen Geschichte für die europäische Integration beigemessen wird, auch konsequent, wenn Ernst-Wolfgang Böckenförde mit Blick auf die Entstehungsbedingungen der „Nationbildung im 19. Jahrhundert“ für die „Herausbildung eines »Volkes der Europäer«“ vorschlägt, einen „allgemeinen Unterricht in europäischer Geschichte nach einem gemeinsam erarbeiteten Curriculum“527 in Europas Schulen einzuführen. Das erstmals im Jahre 1992 publizierte und mittlerweile in 4. Auflage erschienene „Europäische Geschichtsbuch“, das für die Sekundarstufe I und II geeignet ist und in dem 14 Wissenschaftler aus 13 europäischen Ländern die Geschichte Europas darstellen528, oder die von der Europäischen Union betriebene Koordination der nationalen Sprach- und Bildungspolitiken können als ansatzweise Umsetzungen dieser Forderung gesehen werden, die darauf zielen „eine europäische Sichtweise der Geschichte Europas zu befördern“529. Nicht zuletzt in der Vorstellung einiger Verfassungsrechtler, die scheinbar ein „UrVertrauen auf die historische Erinnerung“ teilen und in besonders starkem Maße auf die oben beschriebene Leistungsfähigkeit der Geschichte 525
So ausdrücklich Kahl, Montesquieu, Staat und Europa (Fn. 518), 11, 27. Weiler, Europe’s Dark Legacy (Fn. 42), 389, 394 f., spricht von einer “integration of european history”. 526
Hierzu F. Pingel, Befunde und Perspektiven – eine Zusammenfassung, in: ders. (Hrsg.), Macht Europa Schule?, 1995, 263-293. Für Frankreich, siehe die desillusionierende, weil die starke nationale Ausrichtung französischer Geschichtsschulbücher nachweisende Studie von S. Citron, Le mythe nationale, 1991. 527
Böckenförde, Welchen Weg geht Europa? (Fn. 106), 50, Fn. 79. Hierzu auch Smith, National Identity and the idea of European unity (Fn. 285), 55, 72 und 73. 528 529
F. Delouche (Hrsg.), Das europäische Geschichtsbuch, 2001.
U. Liebert, Transformationen europäischen Regierens, in: Klein u.a. (Hrsg.), Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa, 2003, 75, 80. Dort auch weitere Ausführungen zur Bologna-Erklärung vom 19. Juni 1999 und zum sog. Bologna-Prozess sowie seiner Bedeutung für die Vermittlung europäischer Geschichte.
Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien
157
vertrauen, soll Europa „explizit durch Erinnern geschaffen werden. Durch Erinnerung an seine Vergangenheit und [...] durch Erinnerung an seine gewachsene Kultur.“530 Deshalb werden bereits heute Geschichtsbilder entworfen, die in „Analogie zu nationalmythischer Ursprungsversicherung“531 Europa im Mittelalter verorten.532 Allerdings stößt der mit der Behauptung, das Vorhandensein einer europäischen Geschichtsgemeinschaft könne „aus der Sicht der Geschichtsschreibung oder aus dem Verständnis der Bevölkerung abgeleitet werden“533, formulierte Anspruch auf erhebliche theoretische und praktische Schwierigkeiten. Dass die Sicherheit, die die Verwendung der bestimmten Artikel suggeriert („aus der Sicht der Geschichtsschreibung“; „aus dem Verständnis der Bevölkerung“), möglicherweise ein Trugschluss ist, wird bereits deutlich, wenn man sich die widersprüchlichen Aussagen zum Bestehen bzw. Nichtbestehen einer europäischen Geschichtsgemeinschaft ins Gedächtnis ruft. Bejaht wird eine solche, wenn zur Abgrenzung der „kleine[n] Halbinsel Europa von der Ländermasse Asiens“ ein „geschichtliches Gedächtnis und Selbstbewusstsein der Europäer“534 bemüht oder behauptet wird, die Gemeinschaft sei „immer noch dem „lateinischen“ Teil des Kontinents verhaftet, dem Geschichtsraum des westlichen Christentums, seiner säkularen Derivate und Folgen in Renaissance und Barock, Aufklärung und Romantik, der
530
D. Simon, Wie weit reicht Europa?, in: Tinnefeld/Philipps/Heil (Hrsg.), Informationsgesellschaft und Rechtskultur in Europa, 1995, 23, 31. Siehe auch den aus Seminaren am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz hervorgegangene Sammelband von Joerges/Ghaleigh (Fn. 42), der die dunklen Seiten europäischer Geschichte beleuchtet. 531
Speth, Europäische Geschichtsbilder heute (Fn. 387), 159, 168.
532
Zur Verortung und Verankerung Europas im Mittelalter P. Segl, Europas Grundlegung im Mittelalter, in: Schlumberger/ders. (Hrsg.), Europa – aber was ist es?, 1994, 21, 43. Aufgrund der lückenhaften oder noch fehlenden Forschungserkenntnisse sehr viel vorsichtiger gegenüber der Behauptung unmittelbarer Kontinuitäten B. Schneidmüller, Die mittelalterlichen Konstruktionen Europas, in: Duchhardt/Kunz (Hrsg.), „Europäische Geschichte“ als historiographisches Problem, 1997, 5-24, vor allem 9, 13 ff. und 17 ff.; Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte (Fn. 332), 22 ff. 533 534
Augustin, Das Volk der Europäischen Union (Fn. 494), 136.
Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 97. Das „zuerst bei Herodot auftretende Motiv, Europa kontra Asien,“ so R. Schröder, Europa – was ist das?, ZRph 2003, 26, 26 f., durchzieht „die Geschichte Europas, teils berechtigt, teils unberechtigt-missbräuchlich“.
3. Kapitel
158
Moderne mit Individualismus und Pluralismus, mit kosmopolitischen Menschenrechten, mit Demokratie als Staatsform und nicht zuletzt mit dem Prinzip der Nation.“535 Wie die positive Aufzählung der einzelnen, für bedeutend gehaltenen Identitätsgehalte zeigt, erschöpft sich auch bezogen auf Europa die Funktion einer gemeinsamen Geschichte nicht in der Grenzziehung gegenüber dem Fremden, vielmehr werde „das Ganze durch gemeinsame historische Erfahrungen und Erinnerungen“536 überhaupt erst zusammengehalten. Mit Bezug auf John Stuart Mill sieht der Politologe Frank R. Pfetsch ein „europäisches Band“ in der „historische[n] Erinnerung an „kollektive Gefühle des Stolzes und der Scham, der Freude und des Leides““ und in einer „gemeinsam erlebte[n] bzw. durchlittene[n] Geschichte“537 begründet. Jenseits der jeweiligen nationalen Geschichten und der „nationalen politischen Trennlinien, die im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so klar und so bestimmend waren“ habe sich „ein wirtschaftliches, gesellschaftliches und kulturelles Substrat entwickelt, das eine europäische Gemeinsamkeit“ begründe und dazu führe, dass die BürgerInnnen der EU „dieselbe europäische Identität besitzen“ und „zu demselben europäischen Ganzen gehören“538. Demgegenüber tendieren nicht nur Rechtswissenschaftler dazu, Geschichts- und Erinnerungsgemeinschaften bisher allein in den Völkern der europäischen Nationalstaaten zu sehen.539 Von einer „Gemeinsamkeit der Erinnerung“ könne in Bezug auf Europa deshalb nicht gesprochen werden, weil das, „was war, [...] nicht als eine gemeinsame europäische Vergangenheit erinnert [wird], sondern als eine Mehrzahl von Völkergeschichten“. Auf der Suche nach einer europäischen Geschichte stoße man nur auf „partikulare Erinnerungen an eine partikulare Vergangenheit“ und „Hinterlassenschaften 535
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 126.
536
F. R. Pfetsch, Die Problematik der europäischen Identität, Aus Politik und Zeitgeschichte B 25-26/1998, 3, 8 und 9. 537
Pfetsch, ebd. So auch Schröder, Europa – was ist das? (Fn. 534), 26, 2. Siehe schließlich auch Weiler, Europe’s Dark Legacy (Fn. 42), 389, 396, der feststellt, dass “[t]he Dark Years are an important part of our historical legacy, an indispensable element in European memory. Europe is the appropriate custodian of that memory for without it, it makes so much less sense. And Europe most certainly should not be seen as an agent of amnesia.” 538
R. Girault, Das Europa der Historiker, in: Hudemann/Kaelble/Schwabe (Hrsg.), Europa im Blick der Historiker, 1995, 55, 79. 539
Für die deutsche Verfassungslehre siehe vor allem die oben unter I zitierten AutorInnen.
Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien
159
einer Geschichte, die jedes Volk anders erlebt hat“540, kaum aber auf eine gemeinsame europäische Geschichte. Wolle man „Europa aus sich selbst heraus und auf sich selbst bezogen normativ gehaltvoll und zugleich ohne heroische Idealisierungen definieren“, zerfalle es „es sofort in Teilgruppen von Nationalstaaten, die jeweils intern – historisch, ökonomisch, politisch, konfessionell – größere Affinitäten aufweisen als zu anderen, ebenfalls „europäischen“ Ländern, im Verhältnis zu denen die gemeinsame Geschichte eher als trennend denn als verbindend erinnert wird.“541 Da die europäische Integration weder aus Revolutionen oder bedeutenden historischen Konflikten hervorgegangen sei und Europa mangels charismatischer Gründerfiguren und mythischer Plätze auch nicht über symbolische Zentren verfüge, ferner nicht auf eine große historische Erfahrung in der Art eines gemeinsamen Aufstandes gegen eine fremde Usurpation oder die erfolgreiche Abwehr einer Invasion von Außen zurückblicken könne, gäbe es keinen „Anlass zu einer Erinnerung europäischer Vergangenheit“542 und folglich auch keine europäische Geschichtsgemeinschaft.
3. Erläuterungen zum Geschichtsbegriff Weil in diesem Kapitel allein die Plausibilität der Verwendung von Geschichte als Homogenitätsmerkmal im Vordergrund steht und danach gefragt wird, ob die in der Rechtswissenschaft hergestellten Verknüpfungen zwischen Geschichte einerseits und homogener Struktur eines Kollektivs andererseits überzeugend sind, wird im Folgenden jedenfalls nicht unmittelbar untersucht, inwieweit die Rede von einer europäischen Geschichtsgemeinschaft berechtigt ist oder nicht. Den dargestellten divergierenden Auffassungen über das Vorliegen einer europäischen Geschichtsgemeinschaft soll demnach keine eigene Stellungnahme hinzugefügt werden. Vielmehr soll das mit dem Begriff der Geschichtsge540
Kielmansegg, Lässt sich die Europäische Gemeinschaft demokratisch verfassen? (Fn. 99), 23, 27 ff.; ders., Integration und Demokratie (Fn. 92), 47, 56 f. 541 542
Offe, Demokratie und Wohlfahrtsstaat (Fn. 515), 99, 120.
B. Giesen, Intellektuelle, Politiker und Experten, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte im neuen Europa, 1993, 492, 495. Auf die fehlenden Bezugspunkte für die Erinnerung einer europäischen Geschichte weist auch Smith, National Identity and the idea of European unity (Fn. 285), 55, 73, hin: “There is no European analogue to Bastille or Armistic Day, no European ceremony for the fallen in battle, no European shrine of kings or saints.”
3. Kapitel
160
meinschaft in der Rechtswissenschaft transportierte Verständnis von Geschichte daraufhin geprüft werden, ob Geschichte als Homogenitätsgrundlage dienen bzw. sie die ihr zugeschriebenen homogenisierenden Potentiale entfalten kann, m.a.W. Geschichte die Wirkungen entfaltet, die ihr in Teilen der Verfassungslehre zugeschrieben werden.
a. Holistisches, objektivistisches und statisches Geschichtsverständnis Rekapituliert man die oben beschriebenen Bedeutungsgehalte, die dem Begriff der Geschichte teilweise in der Verfassungslehre, der Lehre vom Europarecht und der Politologie gegeben werden sowie die Kontexte, in denen er verwendet wird, fällt auf, dass es nicht allein darum geht, dass Geschichte etwas ist, mit dem sich ein Kollektiv beschäftigt und das von einem Kollektiv bearbeitet, vielleicht auch verarbeitet wird. Dass das gegenwärtige politische, soziale, ökonomische und kulturelle Leben eines Kollektivs immer und maßgeblich geprägt ist von historischen Prozessen, kann nicht bezweifelt werden. Historische Erfahrungen und Erzählungen beeinflussen das Denken von Menschen und spielen eine nicht unerhebliche Rolle bei der Konstruktion individueller und kollektiver Selbstverständnisse. „Weil politische Kollektive [...] nur selten wirklich neue Gedanken [haben]“, so Michael Stolleis, „leben [sie] überwiegend von jahrhundertelang angesammelten Ideenvorräten“543. Angesichts der „absoluten Dominanz historischer Erfahrungen“ und der permanenten Bewegung in einer „Umwelt mit einem historisch aufgefüllten Gedächtnis“544 können Selbstverständigungsdiskurse zu einem erheblichen Teil gar nichts anderes sein, als Diskurse, in denen auf „Vorräte an Erinnerungen, Gedanken und politischem Habitus sowie ihre kontinuierliche Modernisierung und Umschichtung“545 zurückgegriffen wird. Geschichte und im öffentlichen Diskurs fluktuierende Geschichtsbilder können und werden demnach dazu benutzt
543
M. Stolleis, Das europäische Haus und seine Verfassung, KritV 1995, 275,
294. 544 545
H.-U. Wehler, Aus der Geschichte lernen?, 1988, 12.
Stolleis, Das europäische Haus und seine Verfassung (Fn. 543), 275, 294. Zur Bedeutung von Geschichte in kollektiven Erinnerungs- und Selbstverständigungsdiskursen, siehe die Beiträge in: Rüsen (Hrsg.), Die Vielfalt der Kulturen, 1998, sowie Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Fn. 384).
Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien
161
„sich über die eigene Gegenwart Rechenschaft abzulegen und zugleich Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln.“546 Keinesfalls ist es also so, dass von Seiten der Geschichtswissenschaft die integrative und politische Systeme legitimierende Wirkung, die Geschichts- und Erinnerungsdiskurse und die in ihnen verwendeten Geschichtsbilder entfalten können, bestritten würde. Im Gegenteil scheint es eine weit verbreitete Erkenntnis zu sein, dass Geschichte zu einer „Mobilisierungsressource im politischen Kampf um Masseneinfluss und Macht“ benutzt und Vergangenes zweckgerichtet eingesetzt werden kann, „um gemeinsame Bezüge zwischen diffusen Gruppen zu schaffen“547 und Legitimation für politische Systeme zu generieren.548 Für die Analyse der in den oben dargestellten rechtswissenschaftlichen Arbeiten behaupteten Verbindungen zwischen Geschichte, Geschichtsgemeinschaft und der homogenen Struktur eines Kollektivs ist indes von entscheidender Bedeutung, dass der dort mit dem Begriff der Ge546
D. Langewiesche, Geschichte als politisches Argument, Saeculum 43 (1992), 36, 36. Eine ganz ähnliche Aussage, allerdings aus dem juristischen Diskurs, bei Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat (Fn. 82), 125, 132. 547
E. Wolfrum, Geschichtspolitik und deutsche Frage, Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), 382, 382. 548
Speth, Europäische Geschichtsbilder heute (Fn. 387), 159-175; G. Sandner, Hegemonie und Erinnerung, ÖZP 30 (2001), 5-17. Die Interdependenzen zwischen Geschichte und Geschichtsbildern einerseits und ihrer Bedeutung für Selbstverständigungsdiskurse sowie die Emergenz kollektiver Identität andererseits wird deutlich, wenn man sich für Deutschland etwa an die sog. „FischerKontroverse“, den „Historikerstreit“ oder die „Goldhagen-Debatte“ erinnert. Erstere, in deren Zentrum die Frage der Schuld am Ausbrechen des Ersten Weltkrieges stand, wurde durch das Erscheinen von Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ im Jahre 1961 ausgelöst. Hierzu W. Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland, 1984; Ch. Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit, 1997, 61 und 100 ff. Zum Historikerstreit, in dem in den achtziger Jahren erbittert über das Verhältnis der Deutschen zur nationalsozialistischen Vergangenheit und der in diesem Kontext gefangenen Rolle des Historikers gestritten wurde, siehe nur die Sammlung der wichtigsten Beiträge in: Augstein/Bracher/Broszat (Hrsg.), „Historikerstreit“, 1995. Zur Debatte um Daniel Jonah Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ siehe Heil/Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, 1998; Schoeps (Hrsg.), Ein Volk von Mördern?, 1997. Siehe schließlich auch die eindrucksvolle Darstellung der verschiedenen Geschichtsbilder in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 bei E. Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989, in: Bock/Wolfrum (Fn. 387), 55, 60-76.
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3. Kapitel
schichtsgemeinschaft transportierte Geschichtsbegriff wesentlich anders verstanden wird. Ruft man sich die Rhetorik von der „objektiven Vorgegebenheit“, der „konstituierenden Kulturtatsache“ und der homogenitäts- und einheitsbegründenden Wirkung in Erinnerung, kommt ein Geschichtsverständnis zum Vorschein, das als holistisch, objektivistisch und statisch bezeichnet werden kann. Holistisch, weil mit dem Begriff der Geschichtsgemeinschaft ausgesagt wird, Geschichte könne die Angehörigen eines bestimmten Kollektivs nicht nur mit einem Zusammengehörigkeitsgefühl versorgen, sondern darüber hinaus ein spezifisches Kollektiv als Einheit konstituieren. Die Entfaltung solcher Wirkungen legt aber die Unterstellung nahe, dass es eine Geschichte gibt, die für alle Angehörigen des Kollektivs dieselbe Geschichte ist. Damit verbunden, und dies lässt es berechtigt erscheinen, von einem objektivistischen und statischen Verständnis zu sprechen, wird Geschichte explizit als eine objektive Gegebenheit betrachtet, die von Kollektiven und Individuen „vorgefunden“ wird. Jeder politischen Organisation liegt in dieser Sichtweise ein fester Bezugspunkt in der Art eines Arsenals objektiver Aussagen über Vergangenes voraus. Hier kommt ein „objektivistischer Begriff von Geschichte als der einen totalen Geschichte“549 zum Ausdruck, der sich im 19. und 20. Jahrhundert in der Geschichtswissenschaft durchgesetzt hat und für deren Emanzipation, Etablierung und Professionalisierung als Wissenschaft erforderlich war.550 Betrachtet man die Entstehungsbedingungen von Geschichte als wissenschaftlicher Disziplin Ende des 18. Jahrhunderts und stellt die Bedeutung, die Empirismus und Idealismus in diesen Prozessen eingenommen haben, in Rechnung, wird deutlich, warum sich zunächst jener „naive Objektivismus“, der „durch Subjektivitätsverzicht erkauft“551 wurde, durchgesetzt hat. Einerseits konnte historische Erkenntnis unter den epistemologischen Vorgaben des Empirismus nur dann den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit geltend machen, wenn sie sich auf Beobachtungsdaten, auf primäre Quellen, auf Fakten stützen konnte. Mit „der dokumentarischen Spur und dem Archiv [tritt] ein epistemologisches Paradigma in 549
So der Historiker W. J. Mommsen, Der perspektivische Charakter historischer Aussagen und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis, in: Koselleck/Mommsen/Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, 1977, 441, 443. 550
Wehler, Aus der Geschichte lernen? (Fn. 544), 19 f.; Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (Fn. 548), 22 ff. 551
So F. Jaeger/J. Rüsen, Geschichte des Historismus, 1992, 38, 73, 81 ff, ausdrücklich bezogen auf Leopold von Ranke.
Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien
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Erscheinung, das die Autonomie der Geschichte gegenüber einer anderen Instanz sicherstellt, nämlich gegenüber den Naturwissenschaften. Dem galileischen Paradigma, das durch die Beziehung zwischen Experiment, Modellbildung und Verifikation definiert ist, wird ein Paradigma gegenübergestellt, welches der semiotischen Natur des Gegenstandes Rechnung trägt.“552 Andererseits ermöglichte es der Idealismus, aus der Individualität der historischen Erscheinungsformen „das Allgemeine, das Geheimnis des Weltenganges dechiffrieren“ und ein teleologisches Band zwischen historischen Einzelheiten knüpfen zu können. Damit war, so die Suggestion idealistischen Denkens, ein „privilegierter Zugriff auf den sinnhaften Gang des Weltgeschehens im ganzen“553 gesichert. Reinhart Koselleck zufolge gehört es „seit alters zur Topologie der Kunst- und Wissenschaftslehren der Historie [...], dass die Berichte über menschliches Tun und Lassen, über Taten und Leiden vom Historiker wahrheitsgetreu abzufassen seien. Und die Versicherung, entsprechend verfahren zu wollen, taucht laufend in den Werken der Geschichtsschreibung auf. Die Regeln, nicht lügen zu dürfen und die volle Wahrheit sagen zu sollen, gehören seit Lukian oder Cicero zur methodischen Selbstversicherung aller Historiker, um nicht in das Reich der Fabeldichter verwiesen zu werden.“554 Zweifel, ob die Ansprüche, mit denen Historiker konfrontiert werden, das Vergangene als Bild „in keiner Weise entstellt, verblasst oder verzerrt“555 wie ein Spiegel zurückzuwerfen, unter (erkenntnis- und geschichts-)theoretischen sowie methodischen Aspekten eingelöst werden können und die von Leopold von Ranke dem Historiker gestellte Aufgabe, „bloß [zu] zeigen, wie es
552
Ricoeur, Zwischen Gedächtnis und Geschichte (Fn. 552), 3, 6. Zur Bedeutung des Empirismus für die Entstehung von Geschichte als Wissenschaft Ch. Simon, Historiographie, 1996, 164 ff. und 187 ff.; Jaeger/Rüsen, Geschichte des Historismus (Fn. 551), 34 ff. 553
Dies., ebd., 147, dort, 30 ff. und 47 ff., auch zur Bedeutung der idealistischen Geschichtsphilosophie für die Entstehung des Historismus. 554
R. Koselleck, Standortbestimmung und Zeitlichkeit, in: ders./Mommsen/Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, 1977, 17, 19. 555
So die bereits von Lukian, Wie man Geschichte schreiben soll, Kap. 51, formulierte und häufig wiederholte Metapher vom Historiker als Spiegel des Vergangenen, zitiert nach Koselleck, Standortbestimmung und Zeitlichkeit (Fn. 554), 17, 20. Koselleck sieht in der Spiegel-Metapher eine „häufige Variante der erkenntnistheoretischen Unbekümmertheit.
164
3. Kapitel
eigentlich gewesen“556, von diesem erfüllt werden kann, scheinen angebracht. Einerseits will die historische Wahrheit, die „nur Eine sein“557 kann, nicht unvermittelt und rein erscheinen, andererseits bereitet es offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten, die Geschichte als ein dem erkennenden Subjekt gegenüberstehendes (totales) Objekt zu denken. Würden sich diese Zweifel bestätigen, müsste auch der holistischobjektivistisch-statische Geschichtsbegriff, von dem Teile der Verfassungslehre ausgehen und der die Voraussetzung für die Annahme einer homogenisierenden Wirkung von Geschichte bildet, überdacht und möglicherweise zurückgenommen werden.
b. Interdisziplinäre Seitenblicke Bedienen sich die Verfassungs- oder die Europarechtslehre sozialwissenschaftlicher, psychologischer, anthropologischer oder eben historischer Argumente und/oder Begriffe, muss es nicht nur erlaubt sein, sondern ist es geradezu geboten, die verwendeten Argumente und Begriffe mit den aktuellen inhaltlichen und theoretischen Reflexionen und Erkenntnissen der jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen, denen sie entnommen sind, zu kontrastierten. Zwar ist es richtig, dass jede wissenschaftliche Disziplin ihre eigenen Begriffe ausbilden, festschreiben und mit einem gegenüber anderen Disziplinen differenzierenden Bedeutungsgehalt versehen und verwenden kann. Plausibilitätsprobleme tre556
So in seiner im Jahre 1824 geschriebenen „Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514“, Sämtliche Werke, Bd. 33/34, Leipzig 1874, VII (Einleitung zur 1. Ausgabe von 1824). Das vollständige Zitat lautet: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.“ Später formulierte L. v. Ranke, Englische Geschichte, Bd. 2, Berlin 1860, 3 (Einleitung zum Buch 5): „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen“. Zu „Rankes Begriff der historischen Objektivität“, siehe den gleichnamigen Aufsatz von R. Viehaus, in: Koselleck/Mommsen/Rüsen, (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, 1977, 63-76. Zu Rankes Arbeiten mit Quellen, Archiven und Bibliotheken und seiner Bedeutung für „eine neue Vorgehensweise, die auf einer neuen Art Forschung basierte und in einer neuen Form der Dokumentation zutage trat“ A. Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, 1998, 48 ff. 557
L .v. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 1, Leipzig 1881, X (Vorrede).
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ten aber spätestens dann auf, wenn in der Verfassungslehre an einem Begriffsverständnis festgehalten wird, das nicht lediglich von demjenigen anderer wissenschaftlicher Disziplinen abweicht oder von diesen kritisiert wird, sondern aus deren Perspektive schlicht als unhaltbar bezeichnet werden muss. Um herauszufinden, ob das oben dargestellte, in der Verfassungslehre zirkulierenden Geschichtsverständnis plausibel ist und aufrechterhalten werden kann, soll es daher im Folgenden mit neueren Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft, der Geschichtstheorie und der Erkenntnistheorie konfrontiert werden. Dabei wird sich zeigen, dass der holistische, objektivistische und statische Geschichtsbegriff in der wissenschaftlichen Disziplin, die sich primär und maßgeblich mit Geschichtsbegriffen und Geschichtsverständnissen beschäftigt, in der Geschichtswissenschaft, schon lange an Überzeugungskraft verloren hat und heute nicht mehr vertreten wird. Hielte man in der Verfassungslehre trotzdem unbetrübt an einem holistischen, objektivistischen und statischen Geschichtsbegriff fest, wäre dies nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Vermeidung interdisziplinärer Seitenblicke ihren Sinn allein darin findet, dass eigene Begriffsgebäude um den Preis der völligen Nichtberücksichtigung der Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen aufrechterhalten zu können.
(1) Geschichtstheoretische Erkenntnisse Man muss nicht dem postmodernen linguistic turn, der auch Teile der Historiographie erfasst hat, folgen und die „Frage nach der Literarizität der Wissenschaft von der Geschichte“558 unter Rückgriff auf einen radikalen Textualismus dahingehend beantworten, dass Geschichte nichts anderes sei als Text und infolgedessen auch eine Grenze zwischen fiktionaler Literatur und wissenschaftlicher Geschichte, zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft, zwischen Fakten und Fiktionen nicht mehr auszumachen sei, um zu sehen, dass das Einlösen 558
R.-M. Kiesow, Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit, in: ders./Simon (Hrsg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit, 7, 8. Während H.-D. Kittsteiner, Die Krisis der Historiker-Zunft, 71, 79, im gleichen Band festhält: „Die Angst geht um, dass sich die Geschichtswissenschaft in „Literatur“ auflöse, weil außerhalb des „Textes“ oder der „Sprache“ mit ihrem unendlichen Spiel von Bedeutungen keine hinter ihr liegende „Realität“ existiere“, spricht M. Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt, 1997, 5, von der „Literarisierung von Wissenschaften, die ihr Objektivitätsideal nicht mehr verteidigen“.
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von Objektivitäts- und Wahrheitsansprüchen in der Geschichtswissenschaft problematisch geworden ist.559 Ohne Zweifel erschüttert jedoch der hauptsächlich mit den Arbeiten des radikalen Geschichtstheoretikers Hayden White560 verbundene Versuch, die narrativen und artifiziellen Elemente bei der Geschichtsschreibung hervorzuheben und nachzuweisen, dass die von Historikern produzierten Erzählungen weder strukturell noch graduell von literarischen Erzählungen zu unterscheiden sind, demzufolge also auch keine objektive Darstellung des Vergangenen möglich ist, den objektivistischen, holistischen und statischen Geschichtsbegriff in besonderer Weise.561 Wenn die epistemologi559
Überblicke zum linguistic turn in der Geschichtswissenschaft, finden sich bei Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (Fn. 548), 127 ff. (Kap. VIII); Simon, Historiographie (Fn. 552), 276 ff. Sehr oberflächlich und stellenweise polemisch H.-U. Wehler, Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts, 2001, 63 ff. Zu den unterschiedlichen Vorstellungen von Objektivität innerhalb der Geschichtswissenschaft A. Megill, Four senses of objectivity, in: ders., (Hrsg.) Rethinking objectivity, 1994, 1-21, der zwischen „absoluter“, „disziplinärer“, „dialektischer“ und „prozeduraler“ Objektivität differenziert. Hierzu auch M. Bevir, Objectivity in History, History and Theory 33 (1994), 328-345. 560
Siehe vor allem H. White, Metahistory, 1991; ders., Die Bedeutung der Form, 1990; ders., The fictions of factual representation, in: Tropics of discourse, 1978, 121-134, besonders 127 f, wo White festhält, dass “there is no such thing as a single correct original discription of anything, on the basis of which an interpretation of that thing can subsequently be brought to bear.” In Metahistory, ebd., 60 f., konstatiert White schon für das 19. Jahrhundert: „Die ungehemmte Entfaltung einer Vielzahl gleichermaßen umfassender und einleuchtender, jedoch einander wechselseitig ausschließender Panoramen derselben Ereignisse genügte, um das Vertrauen in den Anspruch der Geschichtsschreibung auf ‚Objektivität’, ‚Wissenschaftlichkeit’ und ‚Realismus’ zu erschüttern.“ Die Krise des Historismus, so White weiter, spiegele sich bereits im Werk Jacob Burckhardts, „das von einem deutlich ästhetizistischen Geist geprägt ist, einen skeptischen Standpunkt und eine zynische Haltung vertritt und jede Bemühung, die ‚wahre’ Natur der Dinge in Erfahrung zu bringen, in Zweifel zieht.“ Kritisch zu Hayden White und seinen Thesen O. G. Oexle, Sehnsucht nach Klio, Rechtshistorisches Journal 11 (1992), 1-18; G. Walther, Fernes Kampfgetümmel, Rechtshistorisches Journal 11 (1992), 19-40. 561
Zum narrativen Charakter der Geschichtswissenschaft, siehe auch R. Chartier, Zeit der Zweifel, Neue Rundschau 105 (1994), 9, 12 und 17, der von der „berechtigten Feststellung, Geschichtsschreibung sei stets Erzählung, mit denselben Formeln wie die imaginären Erzählungen komponiert“, spricht. Für Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt (Fn. 558), 15 und 16, sind „Geschichtsschreiber und Geschichtenerzähler [...] Geschwister im Geiste“ und ist „der Historiker nur eine gelehrte und sich auf ältere Texte und Zeichen stüt-
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sche Krise der Geschichtswissenschaft darin zum Ausdruck kommt, dass „die strikte Grenze zwischen den fiktionalen Texten und den Texten mit (wissenschaftlichem) Wahrheitsanspruch auf einer bestimmten Analyseebene jeden Sinn“ verliert und sich der historische Text deshalb als eine „poiesis“562 präsentiert, weil sich die „durch die Sprache und in der Sprache begründete Realität nicht mehr als objektive Referenz außerhalb des Diskurses denken“563 lässt, dann kann von der Geschichte als einer »objektiven Vorgegebenheit« bzw. einer »konstituierenden Kulturtatsache« nicht mehr ernsthaft gesprochen werden. Mangels objektiver Referenzpunkte in einer dem Beobachter unmittelbar zugänglichen Wirklichkeit wird damit aber auch die der Geschichte zugeschriebene homogenitätsbegründende Wirkung, in der sich die Annahme widerspiegelt, alle Angehörigen eines Kollektivs teilten dieselbe Geschichte, fraglich. Wenn die Sprache „mit ihrem unendlichen Spiel von Bedeutungen“564 einen Raum öffnet, in dem es eine einzige zwingende Feststellung des Vergangenen nicht geben kann, wohl aber eine unendliche Vielzahl differenzierender Lesarten und Interpretationen der Geschichte, die alle mit dem gleichen Anspruch auf Gültigkeit auftreten und „zwischen denen prinzipiell eine unentscheidbare Beziehung besteht“565, kann Geschichte weder die Homogenität eines Kollektivs noch dessen Einheit begründen. Dieses Ergebnis kann, und dies ist für das Homogenitätskriterium Geschichte von evidenter Bedeutung, aber selbst dann noch Geltung beanspruchen, wenn man Historikern und Geschichtstheoretikern folgt, die dem linguistic turn skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Denn selbst wenn die „Phantasie des Historikers [...] durch methodische Pos-
zenden Spezies der Gattung »Dichter/Schriftsteller«“. Die „Nähe des historischen Diskurses zur Erzählung“ hebt schließlich auch Ricoeur, Zwischen Gedächtnis und Geschichte (Fn. 552), 3, hervor. 562
Simon, Historiographie (Fn. 552), 280. Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt (Fn. 558), 16, spricht etwas zurückhaltender von einem „changierende[n] Grenzbereich zwischen gesicherter Geschichtsschreibung und frei erfundener Dichtung“. 563
Chartier, Zeit der Zweifel (Fn. 561), 9, 13 f.: Die „historiographischen Operationen sind von nun an ohne Objekt“. Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (Fn. 548), 177, spricht von der „Substituierung der Wirklichkeit durch ihre (Re-)Präsentation in Texten“. 564
Kittsteiner, Die Krisis der Historiker-Zunft (Fn. 558), 71, 79.
565
Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (Fn. 548), 165.
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tulate, wie sie seit dem 17. Jahrhundert akzeptiert sind, gezügelt“566 wird und „jede historische Erzählung in einem argumentativen Kontext [steht], der es dem Historiker unmöglich macht, einfach seine eigene Erzählung [...] vorzubringen, als wäre er allein auf der Welt“567, d.h. Geschichtsschreibung in einer Kommunikationsgemeinschaft mit eigenen Regeln, (Beweis-)Verfahren, Konventionen und bestimmten Ansprüchen stattfindet568, bleibt eine „vollständige intersubjektive Allgemeingültigkeit [...] ausgeschlossen, weil keine verbindlich prüfbaren Argumente einer Position gegen alle anderen den Wahrheitszuschlag zu geben erlauben. Die Diktatur einer Gegenwartsperspektive über alle anderen ist abzulehnen; es bleibt beim unvermeidlichen Pluralismus normativer Geschichtsbilder, die von Aussagen, die allgemeingültiger Prüfung unterstehen, scharf zu trennen sind.“569 Und selbst wenn unterstellt wird, dass der historische Diskurs auf eine außertextuelle Realität bezogen, d.h. durch Quellen die Beziehung des historischen Wissen zur Realität sichergestellt werden kann und er deshalb nicht mit reiner Willkür, Fantasie oder poetischer Fiktion gleichzusetzen wäre, es demnach Kriterien gibt, anhand derer die relative Qualität bzw. die Wirklichkeitsadäquatheit570 historischer Erzählungen bestimmt und eine Un566
Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt (Fn. 558), 19. Als Beispiele für jene methodischen Postulate nennt Stolleis: „Widerspruchsfreiheit, Trennung von Bericht und Bewertung, Trennung zwischen Quelle und eigener Darstellung, Quellen- und Urkundenkritik zur Ermittlung der »besten« Quelle“. 567
Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (Fn. 548), 185.
568
Auf die Bedeutung disziplinierter Kommunikationsgemeinschaften stellen auch ab Ricoeur, Zwischen Gedächtnis und Geschichte (Fn. 552), 3, 9; Chartier, Zeit der Zweifel (Fn. 561), 9, 17, der neben der Abhängigkeit des Historikers „von den Wissenschaftlichkeitskriterien sowie den technischen Verfahren seines eigenen »Metiers«“ noch die Abhängigkeit „von den Archiven, mithin von der Vergangenheit, deren Spur das Archiv ist“, nennt. 569
H.-W. Hedinger, Standortgebundenheit historischer Erkenntnis?, in: Koselleck/Mommsen/Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, 1977, 362, 385. 570
Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (Fn. 548), 31 und 153, will „das klassische Streben nach Objektivität so auffassen, dass das Forschungsobjekt „adäquat“ bzw. angemessen wiedergegeben werden soll“ bzw. sich Wahrheit „aus der Adäquatheit der Referenz“ ergibt, jedoch nicht ohne im Anschluss sogleich zuzugeben, dass „leicht Uneinigkeit darüber entstehen [kann], was eine adäquate Wiedergabe ist.“ Ähnlich, wenn auch kryptischer formuliert, schreibt Koselleck, Standortbestimmung und Zeitlichkeit (Fn. 554), 17, 28: „Denn der Quellenbefund vergangener Geschehnisse zeigt eine Widerständigkeit und be-
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terscheidung zwischen »historischen« Erzählungen und »fiktionaler« Literatur getroffen werden kann, ist das, „was eine Geschichte zur Geschichte macht, [...] nie allein aus den Quellen ableitbar: es bedarf einer Theorie möglicher Geschichten, um Quellen überhaupt erst zum Sprechen zu bringen.“571 Es verbleiben demnach Unsicherheiten, die mit der Beobachtung eines (historischen) Ereignisses bzw. der Interpretation einer Quelle verbunden sind, weil die Darstellung nur durch und in der Sprache erfolgen kann. Weil Sprache aber „auf bestimmte Aspekte einer Erscheinung und nicht auf die Erscheinung in ihrer Ganzheit“ verweist, handelt es sich bei Tatsachenaussagen immer um „bestimmte Interpretationen von Sachverhalten, in denen bestimmte Aspekte beleuchtet oder selektiert werden“572. Begriffe wie „Mord“, „Staatsoberhaupt“, „Diktator“, „Kollaboration“, „Widerstand“, „umbringen“ oder die Bezeichnung von Sinnzusammenhängen zwischen zeitlich auseinander liegenden Ereignissen als wichtig/unwichtig, fortschrittlich/verhängnisvoll, gut/schlecht oder als „wesentlich für“ lassen erkennen, dass die Sprache kein Spiegel der Wirklichkeit ist, Sprache nicht „wie eine Glasplatte über die Wirklichkeit“ gelegt werden „oder sie wie ein durchsichtiger Film überziehen“ kann, gleichsam „als symbolische Photokopie einer sich unter ihr befindlichen Realität“573. Tatsachen, so es sie denn gibt, bleiben – und dies zerstört einen objektivistisch-holistischen Geschichtsbegriff – „unendlich beschreibbar und auch wieder-
hält sein Eigengewicht, das nicht ex-post durch Parteinahme für oder gegen beliebig verschiebbar ist. Wohl aber können Quellen durch verschiedene Einblicknahmen Verschiedenes zu erkennen geben.“ 571
Koselleck, ebd., 17, 45 f.
572
Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (Fn. 548), 29.
573
Lorenz, ebd., 42. Lorenz beschreibt die Schwierigkeiten, die auf der Ebene der sprachlichen Darstellung des Beobachteten entstehen, am Beispiel der „Hinrichtung“ bzw. „Ermordung“ von „Ludwig XVI“ bzw. „Bürger Capet“. Während der Royalist formuliert: „Heute wurde König Ludwig vom Pöbel ermordet“, notiert der Revolutionär in seinem Tagebuch: „Bürger Capet wurde heute vom Henker hingerichtet“, ebd. 28 f. Ohne Bezug auf ein konkretes historisches Ereignis, siehe auch Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt (Fn. 558), 14 f.; Hedinger, Standortgebundenheit historischer Erkenntnis? (Fn. 569), 362, 366; Simon, Historiographie (Fn. 552), 13 und 279, demzufolge „Aussagen über Vergangenes [...] in der Struktur unseres Sprechens selbst präformiert“ sind und die „Sprache nicht Spiegel der Wirklichkeit ist, sondern ein Baukasten zu ihrer ‚Rekonstruktion’ oder ‚Repräsentation’“.
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beschreibbar“574. Neben den Schwierigkeiten, die der Rekurs auf Sprache mit sich bringt, müssen die räumlich-zeitlich lokalisierbaren Elemente, Vorgänge, Ereignisse und Handlungen, um Geschichte schreiben zu können, schließlich immer noch in Verbindung gebracht, organisiert, gewichtet und die komplexen Zusammenhänge (re-)konstruiert werden. Infolgedessen bleiben historische Erzählungen aber insofern zwangsläufig offen, als durch das Verschieben der Perspektive, durch differenzierende Akzentuierung, durch den Wechsel auf einen anderen möglichen metawissenschaftlichen Standpunkt575 oder durch Erwähnung oder Außerachtlassung von anderen Fakten leicht andere Zusammenhänge konstruiert werden können und eine historische Erzählung demnach nie die einzig mögliche bzw. relevante zu einem Thema sein kann.576
(2) Erkenntnistheoretische Aufklärungen Gestützt werden die mit geschichtstheoretischen Argumenten begründeten Einwände gegen einen holistisch, objektivistisch und statisch verstandenen Geschichtsbegriff durch erkenntnistheoretische Einsichten. Eine hermeneutische Erkenntnisse rezipierende Geschichtswissenschaft macht deutlich, dass sowohl bei der Interpretationsarbeit des Historikers als auch bei der sich über Geschichte und Geschichtsbilder verständigenden Öffentlichkeit die jeweiligen politischen, religiösen, sozialen und intellektuellen Prägungen der Interpreten den Interpretationsvorgang sowie das Ergebnis desselben beeinflussen. Differenzierende 574
H. M. Baumgartner, Die subjektiven Voraussetzungen der Historie und der Sinn von Parteilichkeit, in: Koselleck/Mommsen/Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, 1977, 425, 430. 575
Hierzu Mommsen, Der perspektivische Charakter historischer Aussagen und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis (Fn. 549), 441, 463. 576
Ein gutes Beispiel für die Vielfalt der Geschichten und die Pluralität der vielen Lesarten der Geschichte ist die beeindruckende Darstellung der parlamentarischen Debatte über die sog. „Ostverträge“ vom 22. März 1972, bei H. Schulze, Kleine deutsche Geschichte, 1996, 253 f., der die Debatte wie folgt zusammenfasst: „Man redete von mehreren möglichen deutschen Zukünften und deshalb auch von mehreren deutschen Vergangenheiten.“ Ebenfalls sehr aufschlussreich, die Analyse der Reden der deutschen Bundespräsidenten und der darin enthaltenen Geschichtsbilder von Langewiesche, Geschichte als politisches Argument (Fn. 546), 36-53.
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Vorverständnisse, die notwendigerweise zeitlich, räumlich, sozial und kontextuell determiniert sind, prägen unvermeidlich historische Begriffe und Aussagen.577 Jede Interpretation eines vergangenen Ereignisses bzw. einer Quelle ist demnach abhängig von den weltanschaulichen oder politischen Dispositionen des Exegeten, d.h. dass sich in jeder historischen Aussage unvermeidlich Inhaltsbestandteile finden, die nicht den geschichtlichen Gegenstand, sondern den konkreten Standpunkt des Interpreten innerhalb gesellschaftlicher Konstellationen kennzeichnen. Die aus dieser hermeneutischen Einsicht resultierenden Schwierigkeiten potenzieren sich, wenn es nicht allein um einzelne Ereignisse geht, sondern darüber hinaus von „Was-Fragen“ auf „Warum-Fragen“ übergegangen wird, wenn also über das Beschreiben hinaus versucht wird, zwischen Tatsachen Kausal- und Folgebeziehungen, die selbst nicht wahrnehmbar sind, offen zu legen und „Wirkungen“ festzustellen.578 Dass das gesetzesmäßige Erklärungsmodell für die Geschichtswissenschaft nur bedingt tauglich ist, lässt sich dann an der Semantik ablesen. Es ist nicht mehr von „notwendigen Folgen einer Ursache“ bzw. von „Erklären“ die Rede, sondern bestenfalls von Wahrscheinlichkeiten und „Verstehen“.579 Angesichts der unüberschaubar zahlreichen, vielfältigen 577
Koselleck, Standortbestimmung und Zeitlichkeit (Fn. 554), 17, 19 und 27; Mommsen, Der perspektivische Charakter historischer Aussagen und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis (Fn. 549), 441, 445. 578
Ausführlich zum Kausalitätsproblem in der Geschichtswissenschaft Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (Fn. 548), Kapitel IX, X und XI. N. Luhmann, Ideengeschichten in soziologischer Perspektive, in: Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme, 1981, 49, 49 f., stellt zum Kausalitätsproblem fest: „Die Schwierigkeiten und Hindernisse multiplizieren sich, wenn man Zusammenhänge oder gar Einflüsse tracieren will“ und er fragt: „Wie kann man das, was faktisch gelaufen ist, wie kann man vor allem für jeden Einzelpunkt die Auswahl aus der Vielzahl der Möglichkeiten erklären?“ 579
Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Hinweis von N. Luhmann, Evolution und Geschichte, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd. 2, 1994, 150, 151, dass Prozesstheorien, in denen der vorige historische Zustand Ursache für den nächsten ist, darüber hinaus zu einem unlösbaren Problem für die historische Forschung führen: „Prozeßtheorien sind selbstreferentiell gebaut insofern, als sie zur Erklärung des Späteren auf Früheres verweisen und dies Frühere, wenn sie es einerseits erklären wollen, wiederum auf Früheres zurückführen müssen, um schließlich bei einem Anfang zu enden, der als Grund und Bedingung der Möglichkeit des Prozesses fungiert“. Dies führt, so Luhmann weiter, in eine „unlösbare Abschlußproblematik, weil ihr [der historischen Forschung, F.H.] die zeitliche Lokalisierung von Anfängen nicht gelingen kann“.
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und komplexen Daten, Fakten, Quellen und Details, deren Interpretation, Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung sowie Verknüpfungsmöglichkeiten sich wiederum nach den Sichtweisen, Problemstellungen sowie theoretischen und methodischen Prämissen, die der Beobachter für die Beobachtung eines komplexen Phänomens wählt, und unter Berücksichtigung der Abwesenheit eines für die Geschichtswissenschaft gültigen A priori, welches in der Lage wäre, die Unmenge historischer Details in zwingende Kausalaussagen zu überführen oder in einer Einheit zusammenzufassen, drängt es sich geradezu auf, dass jede Konstruktion einer linear-kausalen historischen Erklärung, jede mit einer zeitlichen Sequenz von „Davor“ und „Danach“ begründete Behauptung einer logischen Folge von „Ursache“ und „Wirkung“ scheitern muss.580 Die Abhängigkeit der Konstruktion und Organisation historischen Materials von einer „komplizierten theoretischen Vorarbeit“581, in deren Folge überhaupt erst präzise, dann aber eben theoretisch imprägnierte Fragestellungen, die an den zu untersuchenden historischen Gegenstand herangetragen werden, ausgearbeitet werden können, führt dazu, dass der Historiker „die geschichtliche Wirklichkeit in ihrer prinzipiell unendlichen Mannigfaltigkeit nie unmittelbar zu erfahren [vermag], sondern immer nur vermittelt durch die Perspektiven, die er selbst in den Erkenntnisprozess einbringt, und durch die Kategorien, Hypothesen, Theorien und Paradigmata, mit denen er die jeweils relevanten Data aus der unendlichen Menge primärer Informationen selektiert und – was vergleichsweise bedeutsamer ist – erklärend ordnet, gleichviel ob in der Form einer herkömmlichen narrativen Darstellung oder einer systematischen Präsentation, die sich von bestimmten expliziten Theorien oder Erklärungsschemata leiten lässt.“ Ein „unmittelbare[r] Zugriff auf die historische Wirklichkeit in ihrer nur als regulative Idee denkbaren Totalität“ ist dem Historiker dadurch verstellt, vielmehr „wird seine Perzeption vergangener Wirklichkeit ähnlich wie jene des
580
Luhmann, Ideengeschichten in soziologischer Perspektive (Fn. 578), 49, 50: „Wenn wir überhaupt der Versuchung einer kausal orientierten Analyse nachgeben [...], geraten wir in eine Art von Komplexität, die sich nicht mehr nachvollziehen lässt.“ 581
Wehler, Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts (Fn. 559), 16 f. und 11 f., demzufolge „die erdrückende Mehrheit der ominösen Tatsachen erst auf der Grundlage einer komplizierten theoretischen Vorarbeit konstruiert wird, mithin eine von Theorie und Fragestellung abhängige Konstruktionsleistung [...] darstellt“.
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Zeitgenossen prinzipiell durch seinen Fragehorizont konditioniert.“582 Das ist offensichtlich, wenn man weiter berücksichtigt, dass auch die Geschichtswissenschaft für einen zumeist überschaubaren Zeitraum von bestimmten theoretischen und/oder methodischen Trends („Psychohistorie“, „Cliometrik“, „New Social History“ bzw. „New Political History“, „linguistische Wende“, „neue Kulturgeschichte“), die neue Fragestellungen aufwerfen bzw. andere Herangehensweisen implizieren, erfasst wird. Schreibt man Diplomatiegeschichte bzw. Politikgeschichte, die sich auf Individuen und Institutionen der jeweiligen politischen Systeme konzentriert, fällt „die Geschichte“ anders aus, als wenn Sozialgeschichte, die soziale und ökonomische Strukturen untersucht, geschrieben wird und wieder anders, wenn sich Historiker kulturgeschichtlich orientieren und Ideen, Leitbilder oder Mentalitäten zum Gegenstand ihrer Forschung machen. Mit systemtheoretisch informierten Argumenten lässt sich die Unmöglichkeit eines unmittelbaren Zugriffs auf das Vergangene schließlich damit begründen, dass auch das „Nebenprodukt Gedächtnis“ auf die Operationsweise des (sozialen) Systems angewiesen ist, d.h. als Kommunikation realisiert werden muss, folglich „nur in der jeweils aktuellen Gegenwart benutzt und reproduziert“ werden kann. Weil das Gedächtnis aber „weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft des Systems operieren, [...] also keinesfalls in die Vergangenheit hinabtauchen [kann], um dort etwas zu suchen und heraufzuholen“583, vermag der Historiker „immer nur die Geschichte der Gegenwart [zu] schrei582
Mommsen, Der perspektivische Charakter historischer Aussagen und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis (Fn. 549), 441, 445 mit Fn. 11. Ein gutes Beispiel hierfür ist der bei der Erforschung des Nationalsozialismus entbrannte Streit zwischen der sog. „intentionalistischen“ Methode, die historische Ereignisse durch Betrachtung der Absichten und Motive der Beteiligten zu erklären sucht und den Holocaust als die stufenweise Realisierung eines in den Köpfen der nationalsozialistischen Elite frühzeitig entwickelten Plans betrachtet und der sog. „strukturalistischen“ oder „funktionalistischen“ Methode, die politische und soziale Strukturen in den Blick nimmt und die Ermordung der europäischen Juden vor allem durch eine komplexe Vernetzung von Einzelentscheidungen verursacht sieht. Für die intentionalistische Sichtweise stehen vor allem die Namen Andreas Hillgruber, Eberhard Jäckel, Karl Dietrich Bracher und Hermann Graml, die strukturalistische bzw. funktionalistische Forschungsrichtung ist maßgeblich mit den Namen Martin Broszat und Hans Mommsen verbunden. 583
N. Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, 1995, 31, 44.
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ben“584 Auch hier ist Gedächtnis „nicht einfach ein Vorrat an vergangenen Tatsachen, sondern in erster Linie eine Organisation des Zugriffs auf Informationen. Diese Organisation, nicht das wirkliche Gewesensein des Vergangenen, entscheidet über die Verwendung in konkreten, jeweils gegenwärtig zu vollziehenden Operationen.“585 Wenn zu den Strukturen historischer Erzählungen nach alledem notwendig Partikularität, Subjektivität und Perspektivität gehört, beseitigt ein Pluralismus offen und permanent miteinander konkurrierender Geschichtsbilder die Fiktion der einen Geschichte, die alle Mitglieder eines Kollektivs teilen.
(3) Konstruktive Elemente nationaler Geschichte Wie bereits ausgeführt, bezieht die These einer in der Geschichte fundierten bzw. auf dieser gründenden Homogenität ihre Plausibilität aus der dieser These voraus liegenden Annahme, es handele sich bei der Geschichte um eine „objektive Vorgegebenheit“ bzw. eine „Kulturtatsache“. Objektivität wie Tatsachencharakter, Substantialisierung wie Ontologisierung, sollen absichern, dass eine bestimmte Geschichte unabhängig von subjektiven Einschätzungen und Wertungen für alle gleich und deshalb in der Lage ist, eine vor jeder rechtlichen Vergesellschaftung bestehende Gleichartigkeit der Angehörigen eines Kollektivs zu begründen. Gegen diese Konzeption von Geschichte sprechen jedoch neben den bereits dargestellten geschichts- und erkenntnistheoretischen Einwänden die in den vergangenen Jahren publizierten Arbeiten vor allem von Eric J. Hobsbawm, Ernest Gellner, Benedict Anderson, Hagen Schulze oder Dieter Langewiesche, aber auch vieler Mediävisten, die unabhängig von der in der Nationalismusforschung verbreiteten Unterscheidung zwischen „Staatsnationen“ und „Kulturnationen“586 in beeindruckender Weise dargelegt haben, in welchem Maße Geschichte erfunden, Geschichtsbilder konstruiert und nationale Geschichte miss-
584
Luhmann, Ideengeschichten in soziologischer Perspektive (Fn. 578), 49 f.
585
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 49), 118. Ohne Rückgriff auf systemtheoretische Begrifflichkeiten hat Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Fn. 384), 48, in ganz ähnlicher Weise formuliert: „Vergangenheit [...] ist eine soziale Konstruktion, deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten [...] ergibt.“ 586
Zur Unterscheidung zwischen „Staatsnation“ und „Kulturnation“, insbesondere auch zu ihren Schwierigkeiten, siehe oben: 3. Kapitel IV. Homogenität und politische Einheitsbildung 2. Einheit und Homogenität, besonders Fn. 332.
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braucht wurde.587 Weit zurückliegende Ursprünge, in ferner Vergangenheit verortete Anfangs- und Herkunftspunkte wurden gesucht und – kaum überraschend – in den meisten Fällen auch „gefunden“, genetisch-teleologisch verstandene Prozesse, die sich, nachdem sie abgeschlossen waren, in kontinuierliche Stabilitäten wandelten, wurden offen gelegt, diskontinuierliche Brüche, heterogene Strukturen, amorphe Verflechtungen, gleitende Fusionen und fließende Übergänge hingegen beseitigt und die objektive und unveränderliche Existenz des Kollektivs mit all seinen Merkmalen und Eigenschaften in einer fernen Vergangenheit verwurzelt. Die beabsichtigte literarische Archaisierung, die Formulierung romantischer Appelle an alte Traditionen und nostalgische Sehnsüchte nach einer weit zurückliegenden Vergangenheit wurden benutzt, um ein gemeinsames Herkunftsbewusstsein zu erzeugen und zu vermitteln. Elitäre, zu Beginn zahlenmäßig überschaubare Trägergruppen, die ihre Mitglieder hauptsächlich aus einem selbstbewusst werdenden Bürgertum rekrutierten, betätigen sich als historische Konstrukteure in der Weise an der Formulierung und Durchsetzung einer nationalen Identität, als sie „eine Gemeinschaft konstituieren, indem sie Geschichten über deren Zusammengehörigkeit erzählen: seien es solche gemeinsamer Erwähltheit und göttlichen Schutzes, unvordenklicher Siedlungsgemeinschaft, gemeinsamer Herkunft oder gemeinsamer Taten, gemeinsamer Sprache oder gemeinsamer politischer Prinzipien.“588 587
E. J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, 1991; ders./T. O. Ranger, The Invention of Tradition, 1983; E. Gellner, Nationalismus, Kultur und Macht, 1999; ders., Nationalismus und Moderne (Fn. 386); B. Anderson, Die Erfindung der Nation, 1993; Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte (Fn. 332); ders., Die Wiederkehr Europas, 1990; ders., Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?, 1998; ders., Kleine deutsche Geschichte (Fn. 576); Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa (Fn. 309). Wichtige Erkenntnisse in Bezug auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten konnten die im Kontext des von der DFG geförderten Sonderforschungsbereichs „Die Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter“ entstandenen Arbeiten bringen. Siehe mit weiteren Nachweisen nur J. Ehlers, Die deutsche Nation des Mittelalters als Gegenstand der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationbildung im Mittelalter, 1989, 11-58; ders., Mittelalterliche Voraussetzungen für nationale Identität in der Neuzeit, in: Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität, 1991, 77-99. 588
Münkler, Die Nation als Modell politischer Ordnung, Staatswissenschaft und Staatspraxis (Fn. 332), 367, 373 f. Zur Bedeutung der aufstrebenden bürgerlichen Eliten für die Herausbildung eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls und die Entwicklung des deutschen Nationalstaates Wehler, Deutsche Ge-
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Mehr noch als für die „Staatsnationen“, die sich durch den Bezug auf ein bereits ausdifferenziertes administratives System und ein politisches Zentrum definieren konnten, gilt dies für die „Kulturnationen“, in denen mit Literatur, Sprache und Geschichte vertraute Bildungsbürger von etwas berichten mussten, „was durch ihren Bericht erst politische Realität werden und Macht erlangen sollte.“589 Wissenschaftliche Disziplinen wie die Geschichtswissenschaft, die Literaturgeschichte, die Philologie, die Pädagogik oder die Ethnologie kommentierten den Prozess der Nationalstaatsbildung und die Emergenz eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls nicht nur retrospektiv und reagierend, sondern beteiligten sich massiv an der oftmals manipulativen Ausbildung kollektiver Gedächtnisse: „Sie haben die wesentlichen Komponenten dessen, was eine Nation ausmacht, »wissenschaftlich« nachgewiesen: Sprache, Territorium und charakteristische Kultur, die sich bis in eine ferne Vergangenheit zurückführen lassen.“590 Um Identitätsbehauptungen stützen, politische Forderungen begründen und Legitimitätsansprüche geltend machen zu können, mussten von einer in politische Programme eingebundenen und an der Konstituierung und Stabilisierung eines deutschen Nationalstaates orientierten Geschichtswissensellschaftsgeschichte, Bd. 1 , 512; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2 (beide Fn. 308), 402 ff.; O. Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, 1994, 34 ff. Zur Bedeutung eines sich ausdifferenzierenden Literatursystems für diese Prozesse M. Lauermann, Der Nationalstaat – Ein Oxymoron, in: Gebhardt/Schmalz-Bruns (Fn. 45), 33, 45 f.; Brubaker, Einwanderung und Nationalstaat in Frankreich und Deutschland (Fn. 41), 1, 17 f., 21 f. Die überragende Bedeutung der bürgerlichen Schichten im Entstehungsprozess des deutschen Nationalstaates wird besonders deutlich, wenn B. Giesen/K. Junge/Ch. Kritschgau, Vom Patriotismus zum völkischen Denken, in: Berding (Hrsg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, 1994, 345, 347, festhalten, dass die „Soziologie der nationalen Identität [...] im deutschen Falle auf eine Soziologie der Intellektuellen angewiesen“ ist und „entscheidende Hinweise aus der Analyse der besonderen lebenspraktischen Probleme dieser Intellektuellen, ihrem Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Gruppen und den besonderen institutionellen Formen der Kommunikation und des Diskurses innerhalb dieser Intellektuellengruppe“ gewinnt. 589
Münkler, Die Nation als Modell politischer Ordnung, Staatswissenschaft und Staatspraxis (Fn. 332), 367, 373 ff.: „Statt über die Ressourcen und Symbole der Macht [...], verfügen sie über die Macht der Symbole und Narrationen.“ Ähnlich Habermas, Der europäische Nationalstaat (Fn. 63), 128, 134. 590
So P. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter, 2002, 46, speziell zur Rolle einer nationalistisch gesinnten Geschichtswissenschaft, Philologie und Archäologie.
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schaft künstliche Mythen geschaffen und propagandistisch verbreitet, d.h. ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben werden. Volksliteratur und Quellen der älteren Geschichte des eigenen Volkes bzw. Staates mussten systematisch und institutionell unterstützt gesammelt, gesichtet und publiziert sowie historische Kompendien verfasst werden.591 Um „die historische Tiefe der Nationalkultur auszuleuchten und deren Erbe im wahrsten Sinne des Wortes »festzuschreiben«“592, mussten bis in archaische Zeiten zurückreichende volkstümliche Traditionen gesucht, wieder belebt oder – nicht selten – erfunden und die vermeintlichen Kontinuitäten einer gemeinsamen geschichtlichen Vergangenheit nachgestellt werden. Dabei erfolgte die Projektion der eigenen Nation in eine weit zurückliegende Vergangenheit des frühen Mittelalters in einer „hochgradig selektiven, stilisierten, idealisierten Form“593, durch „Geschichtskonstruktionen“595, „Ge„Geschichtsklitterung“594, schichtsinszenierungen“596 und die Bildung „»historischer Mythen oder pseudowissenschaftlich gewonnener nationaler Geschichtsbilder«, die selbst vor einer platten Verfälschung der Vergangenheit nicht zurückscheuten“597.598 Wichtig war nur, dass die Geschichte, deren Transfor591
Zur Motivation und zu den Aufgaben historische Forschung im entsprechenden Zeitraum Ehlers, Die deutsche Nation des Mittelalters als Gegenstand der Forschung (Fn. 587), 11, 26 f., 30 ff. und 47. 592
H. Haarmann, Die Sprachenwelt Europas, 1993, 248.
593
Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, 410; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1 (beide Fn. 308), 521. Etwas vorsichtiger spricht Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz (Fn. 53), 34, 52, immerhin noch davon, dass das kollektive Bewusstsein und das kollektive Gedächtnis „regelmäßig eine spezifische – blickverengte – Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Geschichte hervor[bringt]. Diese wird zu »Nationalgeschichte«, die die Identitätsbehauptung der Nation stützt und legitimiert, zuweilen in historischer Projektion auch erst »herstellt« und so dem (kollektiven) Gedächtnis einprägt.“ 594
Oberndörfer, Der Nationalstaat (Fn. 72), 3, 8; ders., Vom Nationalstaat zur offenen Republik, Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/1992, 21, 24. 595
Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa (Fn. 309), 11. 596
Kaschuba, Volk und Nation (Fn. 472), 56, 60.
597
Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1 (Fn. 308), 510.
598
Die Verortung der eigenen Nation im frühen Mittelalter, so Ehlers, Die deutsche Nation des Mittelalters als Gegenstand der Forschung (Fn. 587), 11, 13, entsprach weniger der tatsächlichen historischen Entwicklung als vielmehr einer „Projektion eigener Wunschvorstellung ins Mittelalter“.
178
3. Kapitel
mation in eine »nationale« Geschichte seit dem Beginn des 19. Jahrhundert in allen Nationalbewegungen nachzuweisen ist, die Gegenwart in einer weit zurückliegenden Vergangenheit verwurzelte, um sie dadurch „mit einer historischen Aura zu umgeben“599.600 Verklärte und verzerrte Geschichtsbilder schufen eine simulierte Wirklichkeit, die als „künstlich zurechtkonstruierte Zwangsjacke nationaler Kontinuität und Identität“601 eine unmittelbare und ununterbrochene genealogische Linie zwischen den Deutschen des 19. Jahrhunderts und den Germanen des Altertums zog, ohne zu sehen, „dass die Jahrhunderte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts andere Herrschaftssysteme, eine andere Politik, ganz andere Lebenswelten als die nationalen besessen haben, dass also die nationalhistorischen Kategorien diese Vergangenheit vergewaltigen, ihre Eigenart verfehlen und es uns erschweren, diese vergangene Realität wirklich zu erfassen.“602 Wie der Mediävist Karl-Ferdinand Werner am Ende eines Vortrages über historische Mythen des 19./20. Jahrhunderts feststellt, hält jenes „Wunschdenken einer germanisch-deutschen Kontinuität“, jener „Mythos vom germanisch-deutschen Kontinuum“ und jene „naive Gleichsetzung der Germanen und der Deutschen“, die ein europäisches und christliches Mittelalter in ein deutsches und schließlich in ein germanisches Mittelalter verwandelte, „einer Prüfung im Rahmen internationaler Forschung in vielen Punkten nicht stand“603. Eine solche Kontinuitätsbildung, so auch Joachim Ehlers, „mag lebensnotwendig sein, aber die Wissenschaft kann sie nicht mehr leisten, weil
599
Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa (Fn. 309), 95. 600
Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat (Fn. 82), 125, 132, spricht von der „Rückverwurzelung der Gegenwart, Nachstellen von Kontinuität, Vernachlässigung historischer Abweichungen und Brüche“. Jaeger/Rüsen, Geschichte des Historismus (Fn. 551), 52, beschreiben diese Vorgänge als „Nationalisierung der historischen Identität“. 601
Oberndörfer, Der Nationalstaat (Fn. 72), 3, 5; ders., Vom Nationalstaat zur offenen Republik (Fn. 594), 21 f. 602
H.-U. Wehler, Nationalismus und Nation in der deutschen Geschichte, in: Berding (Hrsg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, 1994, 163, 164. 603
K. F. Werner, Der Streit um die Anfänge, in: Hildebrand (Hrsg.), Symposium Wem gehört die deutsche Geschichte?, 1987, 19, 30, 33, 34 und 35.
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179
ihr die dafür erforderliche Naivität unwiederbringlich verlorengegangen ist.“604
4. Schlussfolgerungen Als Erkenntnis bleibt, dass das, was als die Geschichte einer Nation bzw. eines Volkes behauptet wurde, entgegen einer nationalistisch determinierten und mit organisch-biologistischen Metaphern arbeitenden Rhetorik in einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß konstruiert und artifiziell geschaffen wurde. Auch vor diesem Hintergrund ist der oben beschriebene, in der Verfassungslehre teilweise verwendete Geschichtsbegriff, der Geschichte als eine objektive Vorgegebenheit betrachtet, (nationale) Geschichte scheinbar als hermetisch geschlossenes Arsenal von Aussagen über Vergangenes und Geschichte als Grundlage für eine alle Angehörigen des Kollektivs verbindende Gleichartigkeit betrachtet, nicht haltbar. In deutlichem Widerspruch zu dem in Teilen der Verfassungslehre identifizierten holistischen, objektivistischen und statischen Geschichtsverständnis, ist längst klar, dass es „wenig sinnvoll [ist], von der einen Geschichte als objektiv vorgegebenen Gegenstandsbereich historischer Erkenntnis zu sprechen und zu versuchen, „die Idee der Geschichte in ihrer Totalität zu erfassen“605. Wenn aber die Fiktion der einen Geschichte zugunsten der Vorstellung aufzugeben ist, dass in einer Gesellschaft immer eine „Menge von Geschichten“606 zirkulieren, d.h. „Geschichte im konkreten Fall in eine Pluralität (mathematisch gesprochen: prinzipiell eine „unendliche Menge“) von Geschichten auseinander[fällt]“607 und von einem „Pluralismus offen konkurrierender Geschichtsbilder“608 auszugehen ist, dann kann die Geschichte nicht als Grundlage für die Gleichartigkeit der Angehörigen eines spezifischen 604
Ehlers, Die deutsche Nation des Mittelalters als Gegenstand der Forschung (Fn. 587), 11, 15. Siehe auch Schneidmüller, Die mittelalterlichen Konstruktionen Europas (Fn. 532), 5, 21 f., der die „Überformung mittelalterlicher Befunde durch moderne Wünsche und Perspektiven“ kritisiert. 605
Mommsen, Der perspektivische Charakter historischer Aussagen und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis (Fn. 549), 441, 445 f. 606
Mommsen, ebd., 441, 443.
607
W. Mommsen, Geschichte und Geschichten, Saeculum 43 (1992), 124, 131.
608
Wehler, Aus der Geschichte lernen? (Fn. 544), 20 f.
180
3. Kapitel
Kollektivs dienen. Wahrscheinlicher ist es, dass die unendliche Zahl der Geschichten, die sich denken, erzählen und verbreiten lassen, bestehende, zur Verfestigung neigende oder als selbstverständlich betrachtete Identitäten permanent irritiert, aufwühlt und untergräbt. Wenn es, wie der Historiker Wolfgang Mommsen in Anlehnung an Max Weber schreibt, für uns „gar keinen anderen Weg mehr gibt, als die »Entzauberung« der Geschichte als eines einzigen, objektiven, für uns einsehbaren Prozesses [...] hinzunehmen“ und „wir nicht mehr davon ausgehen können, dass es die eine Geschichte in einem objektiven Sinne gibt, oder das der geschichtliche Prozess einen objektiven Sinngehalt in sich trägt, der sich bei genügend intensiver voraussetzungsloser Inspektion der Quellen objektiv erfassen und explizieren lässt“609, dann eröffnet sich damit zugleich ein Terrain, auf dem verschiedene Akteure am geschichtlichen Gedächtnis arbeiten und um die Deutung des Vergangenen streiten. Unter diesen Bedingungen muss eine freiheitlichdemokratisch organisierte und pluralistisch strukturierte Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass Geschichte umstritten bleibt, d.h. nicht bestimmte Lesarten der Geschichte präferiert, andere hingegen diskriminiert werden. Wissenschaftliche und öffentliche Diskurse über Geschichte müssen so strukturiert sein, dass sie dem totalisierenden Anspruch staatlich-offizieller Geschichtskonstruktionen widerstehen und diese als gefährliche Versuche, politischer Macht unter Berufung auf angeblich historische Kontinuitäten Legitimation und Stabilität zu verleihen, entlarven können.610 In einer demokratischen Gesellschaft muss
609
Mommsen, Der perspektivische Charakter historischer Aussagen und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis (Fn. 549), 441, 449. 610
Zu entsprechenden Strategien in der ehemaligen DDR und zur Funktion, zu den Handlungsspielräumen und Produktionsbedingungen, zur Rolle und zu den Aufgaben der Geschichtswissenschaft in der DDR M. Sabrow, Das Diktat des Konsenses, 2001; ders., „Beherrschte Normalwissenschaft“, Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), 412-445, vor allem 422 ff. Ebenfalls hierzu, jedoch konzentriert auf das Verhältnis der DDR-Geschichtswissenschaft zur nationalsozialistischen Vergangenheit J. Kaeppner, Erstarrte Geschichte, 1999, 39 ff.; J. Herf, Zweierlei Erinnerung, 1998, sowie die Beiträge von O. Groehler, Verfolgten- und Opfergruppen im Spannungsfeld der politischen Auseinandersetzung in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik, 17-30; J. Danyel, Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als Gründungskonsens?, 31-46; M. Lemke, Instrumentalisierter Antifaschismus und SED-Kampagnenpolitik im deutschen Sonderkonflikt 1960-1968, 61-86; N. Frei, NS-Vergangenheit unter Ulbricht und Adenauer, 125-132; A. Timm, Der
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mit anderen Worten die Verständigung über Geschichte eine „Diskussion ohne Ende“611 sein. Nicht die Unentscheidbarkeit, Widersprüchlichkeit und die „Pluralität von Standpunkten, die notwendigerweise zur geschichtlichen Erkenntnis gehören“612, sollten beunruhigen, sondern im Gegenteil jeder Versuch der Schließung des Diskurses, jede Zensur, jede hegemoniale Definition und Bestimmung des Vergangenen und jede Oktroyierung verbindlicher Geschichtsbilder. Was Jean-Francois Lyotard aus der Analyse der Differenzen zwischen mythischen und emanzipatorischen Erzählungen und zwischen Despotismus und Republikanismus entwickelt, dass es „in der Republik [...] mehrere Erzählungen [gibt], weil es mehrere mögliche finale Identitäten gibt; nur eine einzige Erzählung im Despotismus, weil es nur einen Ursprung gibt“613, kann auf die Art und Weise des Umgangs einer Gesellschaft mit ihren Geschichten übertragen werden: Wo zur Begründung der Legitimität eines politischen Systems auf eine Geschichte zurückgegriffen wird und zugleich andere historische Erzählungen diskriminiert werden, sollte man alarmiert sein. Für eine pluralistische Gesellschaft, deren kollektive Erinnerung nur über konkrete soziale Subjekte stattfinden kann, ist offensichtlich, dass „deren symbolische Repräsentationen [...] nicht in jedem Fall durch das einigende Band nationaler Geltung harmonisiert werden“, sondern „soziale und politische Gruppen als Konkurrenten auf dem Gebiet der Erinnerung auftreten und ihre „Gedächtnisorte“ gegeneinander behaupten.“614 Darin eingeschlossen ist aber auch die Möglichkeit oppositioneller Minderheitengruppen, ihre (Gegen-)Geschichte dem dominierenden Geschichtsverständnis, das von Interpretations- und Deutungseliten, die über einen privilegierten Zugang zu den Medien und ausgebaute Informationsapparate verfügen, konzipiert und propagiert wird, entgegenzusetzen und im öffentlichen Raum zur Geltung zu bringen.615 Diesbezüglich spricht der französipolitische und propagandistische Umgang mit der ’Reichskristallnacht’ in der DDR, 213-223, in: Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit, 1995. 611
Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (Fn. 548), 34.
612
Koselleck, Standortbestimmung und Zeitlichkeit (Fn. 554), 17, 29.
613
J.-F. Lyotard, Memorandum über die Legitimität, in: ders., Postmoderne für Kinder, 1996, 57, 70. 614
J. Danyel, Unwirtliche Gegenden und abgelegene Orte?, Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), 463, 465. 615
Zur Geschichte „als Gegengeschichte, als Reservoir gleichsam unterdrückter Traditionen“, die dem „totalisierenden Anspruch offizieller Geschichtskonstruktionen [...] das fragmentierte Gedächtnis entgegengestellt, das
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3. Kapitel
sche Historiker Pierre Nora von einer „»Demokratisierung« der Geschichte“ und meint damit „die mächtigen Befreiungs- und Emanzipationsbestrebungen der Völker, Ethnien, Gruppen oder sogar Individuen, die auf die heutige Welt einwirken; kurz: das rasche, fast schlagartige Aufkommen aller möglichen Formen des Gedächtnisses von Minderheiten, für die die Rückgewinnung ihrer eigenen Vergangenheit integraler Bestandteil ihrer Identitätsfindung ist“, so z.B. für die „sexuelle[n], gesellschaftliche[n], religiöse[n] oder regionale[n] Minderheiten, die sich in den klassischen westlichen Gesellschaften auf dem Weg der Integration befinden und denen die Behauptung ihres »Gedächtnisses« – das heißt in Wirklichkeit, ihrer Geschichte – eine Möglichkeit gibt, sich in ihrer Eigentümlichkeit die Anerkennung der Mehrheit zu verschaffen, die ihr das Recht darauf verwehrt hatte, zugleich aber auch ihre Andersartigkeit und die Treue zu einer sich auflösenden Identität zu pflegen.“616 Vor diesem Hintergrund reflektieren geschichtspolitische Konflikte nichts anderes als die politisch-kulturellen Konstellationen einer pluralistischen Gesellschaft und sind in diesem Sinne nicht zuletzt Ausdruck des Maßes an republikanischer Offenheit und Toleranz, das in einer Gesellschaft zu finden ist. Auf der anderen Seite produzieren sie die Konfliktstruktur stets aufs Neue und sind damit Bestandteil des gesellschaftlichen Kampfes um kulturelle Hegemonie.617 Eine deutsche oder oppositionelle Minderheitengeschichte zur Sprache bringt“ Sandner, Hegemonie und Erinnerung (Fn. 548), 5, 8 f. 616
P. Nora, Gedächtniskonjunktur, Transit 22 (2002), 18, 25 f. Hierzu auch Mommsen, Geschichte und Geschichten (Fn. 607), 124, 132, der von der „Parzellierung der Geschichtswissenschaft in immer vielfältigere Disziplinen“ spricht, „zu denen neuerdings insbesondere das Studium der Geschichte bestimmter sozialer Gruppen oder bestimmter Segmente menschlicher Lebensordnung gehört, die vor allem von einem emanzipatorischen Anspruch angetrieben werden“. 617
Zu kultureller Hegemonie im Kontext von Geschichts- und Vergangenheitspolitik Sandner, Hegemonie und Erinnerung (Fn. 548), 5-17. Sandner, ebd., 14, definiert kulturelle Hegemonie als „die im gesellschaftlichen Konflikt artikulierte Bestrebung politischer Akteure, gruppen- oder klassenübergreifende Geschichtsdeutungen zu definieren, die gesellschaftliche Konstruktion des Vergangenen zu bestimmen. In diesem Sinne entscheidet die kulturelle Hegemonie, was wie erinnert wird, welche diskursiven Strategien und semantischsymbolischen Operationen das Vergangene konstruieren, welchen Stellenwert es im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis erhält.“ Siehe hierzu auch Langewiesche, Geschichte als politisches Argument (Fn. 546), 36-53.
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183
europäische Geschichtsgemeinschaft kann dann aber nicht, wie einzelne Autoren in der deutschen Verfassungslehre glauben, das Ergebnis einer objektiven Vorgegebenheit sein, in die Deutsche oder Europäer hineingeboren werden. Sie kann und sollte vielmehr als Metapher für einen dezentralisierten Platz der Verständigung und Auseinandersetzung der Europäer über die unendliche Vielzahl ihrer Geschichten verstanden werden. Das einende, Gemeinsamkeit stiftende Band, das man der Geschichte zuschreibt, kann unter diesen Voraussetzungen aber nicht aus einer von allen Angehörigen geteilten und ihre Homogenität verbürgenden gemeinsamen Geschichte folgen, sondern höchstens, anlehnend an eine paradoxe Formulierung Yehuda Bauers über das jüdische Volk,618 aus der grundsätzlichen Uneinigkeit über eine „gemeinsame“ Vergangenheit.
II. Homogenität und Sprache Neben dem Kriterien der Geschichte wird schließlich die Sprache unter Rückgriff auf eine Argumentation, die sich auf die historischen und vor allem linguistischen Entwicklungsprozesse bezieht, die zur Herausbildung der europäischen Nationalstaaten geführt haben, in Teilen der Verfassungslehre als eine politisch-rechtlicher Organisation voraus liegende objektive Gegebenheit, als grundlegendes Merkmal von Volk und Nation sowie als konstitutiv für die staatliche Einheit betrachtet.619 In den Worten Paul Kirchhofs baut der Staat „Bundesrepublik Deutschland [...] auf die vorgefundene, natürliche, deutschsprachige Gemeinsamkeit der in seinem Gebiet lebenden Menschen, ist ein auf Einsprachigkeit beruhender Nationalstaat, nicht eine vom Willen verschiedensprachiger Völkerschaften getragene politische Willensnation“. Weil unter der Voraussetzung sprachlicher Homogenität sichergestellt sei, dass „mitmenschliche Verständigung selbstverständlich“ ist, wird Sprache zur „Grundlage persönlicher, geschäftlicher und rechtlich geformter Begegnung, veranlasst und formt [sie] gemeinsames Handeln und ist
618
Y. Bauer, Geschichtsschreibung und Gedächtnis am Beispiel des Holocaust, Transit 22 (2002), 178, 178. 619
P. Kirchhof, Deutsche Sprache, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 18 Rn. 1 ff., 30 ff.; ders., Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, ebd., § 19 Rn. 61 f.; Herzog, Allgemeine Staatslehre (Fn. 245), 42; Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Fn. 66), 83.
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[sie] Voraussetzung gemeinsamer Kultur und Geistesentwicklung.“ Die integrierende Wirkung, die einer gemeinsam geteilten Sprache hier zugeschrieben wird, könne die Sprache dadurch erfüllen, dass sie „einen gemeinschaftsbildenden Bestand an kultureller Überlieferung“ vermittelt, „den inneren Zusammenhalt“ begründet und bestärkt sowie „die Geschlossenheit einer verständigen Gemeinschaft“620 sichert.621 Demgegenüber wird in der Diskussion um die Implementierung einer europäischen Verfassung und ausgehend von der Frage, ob eine auf ein europäisches Volk zurückgehende Verfassung die empfundenen und konstatierten Mängel der demokratischen Legitimation von Hoheitsakten europäischer Institutionen beheben kann, die Notwendigkeit sprachlicher Homogenität in erster Linie mit einer Argumentation begründet, in deren Zentrum die Zusammenhänge und Interdependenzen zwischen Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie stehen. Im Unterschied zu der zuerst skizzierten Auffassung wird das Teilen einer gemeinsamen Sprache weniger „als Ausdruck vorgegebener Gemeinsamkeit, sondern mehr als „technische“ Notwendigkeit der Verständigung“622 thematisiert. Dieter Grimm, der die Notwendigkeit sprachlicher Homogenität betont hat und dessen Thesen zu den Zusammenhängen zwischen Sprache und der Möglichkeit von Demokratie auf supranationaler Ebene im Folgenden ausführlich dargestellt und einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, hat denn auch Vorwürfe, hinter seiner Argumentation „verberge sich die Idee, dass Demokratie nur auf der Basis einer homo620
P. Kirchhof, Deutsche Sprache (Fn. 619), § 18 Rn. 30 und 31.
621
Zurückhaltender formuliert der Sprachwissenschaftler H. Haarmann, Europeaness, European Identity and the Role of Language, in: Ammon/ Mattheier/Nelde (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt, Sociolinguistica 9, 1995, 1, 10 ff., 31 ff.: “The participation of language in enculturation is crucial. In daily interaction, language serves as a fixative of reality. Since language is a means of communication which is transferred from one generation to the next it concentrates the experience of prior generations in its categories. Viewed against this background of tradition, a language functions, in the course of time, as a major organizer of items of knowledge pertaining to a specific culture.” Siehe im gleichen Band auch K. Schröder, Zur Problematik von Sprache und Identität in Westeuropa, 57 ff., der, obwohl er der Sprache eine eminente Bedeutung für individuelle und kollektive Identitäten einräumt, ausdrücklich vor der „traditionsreichen – und verhängnisvollen – Gleichsetzung von Sprache und Volk“ warnt. 622
136 f.
Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit (Fn. 16),
Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien
185
genen Volksgemeinschaft möglich sei“, mit dem Einwand zurückgewiesen, dass die „Voraussetzungen für Demokratie [...] hier nicht vom Volk, sondern von der Gesellschaft her entwickelt [werden], die sich als politische Einheit konstituieren will“623. Diesbezüglich ist Grimm zuzugeben, dass seine die Kommunikationsstrukturen einer Gesellschaft betonende demokratietheoretische Argumentation in einer anderen ideenpolitischen und historischen Tradition steht als die oben beschriebenen Auffassungen und diesen gegenüber im Ausgangspunkt stärker motiviert scheint durch die berechtigte Sorge um Transparenz, Machtbegrenzung, Machtkontrolle und die Herausbildung einer Öffentlichkeit, die zur Legitimierung von Institutionen und Akten der EU beitragen soll.624 Auch nennt er für die geforderte Homogenität mit der Sprache ein Kriterium, das quantitativen und qualitativen Untersuchungen gegenüber insofern offen ist, als etwa Sprachkompetenz oder europaweit erscheinende und wirkende Massenmedien empirisch beobachtet werden können. Im Ergebnis bewertet allerdings auch Grimm das Vorhandensein einer (vor-)politischen Substruktur, die bezogen auf das Merkmal der Sprache homogen sein soll, als eminent wichtige, wenn nicht unerlässliche Voraussetzung für die Verwirklichung von Demokratie.
623
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 589. Grimm reagiert damit auf einen Einwand von B.-O. Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1994, 305, 309: „Ernster sind Einwände zu nehmen, die für das Funktionieren demokratischer Institutionen eine gesellschaftliche Substruktur von solcher Dichte und Homogenität verlangen, wie sie bisher jenseits des Nationalstaates noch nicht erreicht sei. In der deutschen Diskussion ist dabei einerseits die These von Grimm exemplarisch, dass das Europaparlament zur demokratischen Legitimation unfähig sei, solange nicht eine gemeinsame lingua franca, eine gemeinsame Öffentlichkeit ein homogenes politisches System herstellt“. Nach Bryde führt das „idealisierte Demokratiemodell von Grimm in die Sackgasse: Die Internationalisierung von Politikprozessen ohne parlamentarische Legitimation ist unzulässig, eine solche Legitimation aber unmöglich.“ In ders., Vertrag oder Verfassung (Fn. 90), 509, 524, stellt Grimm klar, dass es ihm nicht darum geht die „politische Form des Nationalstaates um ihrer selbst willen“ zu bewahren. Vielmehr könne man die „Existenzberechtigung politischer Einheiten […] nicht ohne Rücksicht auf die Aufgaben beurteilen, deren Lösung von ihnen erwartet wird.“ „Bezogen darauf“, so Grimm, hat der Nationalstaat, verstanden als politische Einheit, die ihre inneren Angelegenheit autonom regelt, seine Zeit hinter sich.“ 624
So auch Mancini, Europe: The Case for Statehood (Fn. 229), 29, 34.
3. Kapitel
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Da diejenigen Auffassungen, die hauptsächlich mit einer den Entstehungsprozessen der europäischen Nationalstaaten verhafteten Argumentation Homogenitätskriterien wie Sprache, Geschichte, Kultur oder Ethnie betonen und diese als vorpolitische bzw. vorrechtliche objektive Gegebenheiten in den Vordergrund rücken, bereits ausführlich erörtert wurden, soll in diesem Kapitel jener Begründungsansatz näher untersucht werden, der für die Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft zunächst und maßgeblich von Dieter Grimm in dessen Aufsatz „Braucht Europa eine Verfassung?“ formuliert wurde.625
1. Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie a. Zur Argumentation Dieter Grimms Grimm stellt nach der Klärung des Begriffs und der Funktion von Verfassungen zunächst fest, dass es der Europäischen Gemeinschaft, die „von den Mitgliedstaaten mit Hoheitsrechten ausgestattet worden [ist], die sie nun an deren Stelle, aber mit derselben Wirkung, also insbesondere mit unmittelbarer innerstaatlichen Geltung ausübt“626, an einer hinreichenden eigenen demokratischen Legitimation mangelt und auf europäischer Ebene ein Demokratiedefizit besteht. Nach Grimm kann das europäische Primärrecht, obwohl es Elemente einer Verfassung (Normen über die Einrichtung und Ausübung von Hoheitsgewalt im 625
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581-591. Seine Thesen wiederholt Grimm in ders., Vertrag oder Verfassung (Fn. 90), 509-531, allerdings ergänzt um „Konsequenzen für die gegenwärtige Reformdiskussion über Legitimationsgrundlage, Institutionenordnung und Kompetenzverteilung in der Union“. Bereits im Jahre 1992 führte Grimm in einem Essay im SPIEGEL seine Auffassung in Ansätzen aus: Der Mangel an europäischer Demokratie, SPIEGEL Nr. 43/1992 vom 19.10.1992, 57. Ansatzweise hat A. Bleckmann, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, JZ 1990, 301-306, im Jahre 1990 den Zusammenhang zwischen Demokratie auf europäischer Ebene, Öffentlichkeit und gemeinsamer Sprache betont. In seiner Analyse der öffentlichen Meinung auf europäischer Ebene hat A. v. Brünneck, Die öffentliche Meinung in der EG als Verfassungsproblem, EuR 1989, 249-261, bereits ein Jahr zuvor Defizite ausgemacht, jedoch ohne das Erfordernis einer gemeinsamen Sprache zu erörtern. Sprache und Kommunikationsmedien werden dort, vor allem 251 f. und 257, jedenfalls nicht als Grund für das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit genannt. 626
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 585.
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Sinne einer Organisation der Gemeinschaftsorgane und Regelung des Verhältnisses der Organe zueinander sowie Kompetenzzuweisungen und Verfahrensbestimmungen, Änderungs- und Vorrangsregelungen für die Rechtsetzung („secondary rules“ im Sinne H.L.A: Hart’s), Festlegung von Zielbestimmungen, umfassender Geltungsanspruch) aufweist627, den Anspruch, „Verfassung“ zu sein, nicht erheben, weil es „nicht auf ein europäisches Volk, sondern auf die einzelnen Mitgliedstaaten zurück[geht] und auch nach seinem Inkrafttreten von diesem abhängig“628 bleibt. Im Unterschied zu Nationen, die „sich selbst eine Verfassung geben“, sei „die europäische öffentliche Gewalt [...] keine vom Volk abgeleitete, sondern eine staatenvermittelte. Da die Verträge auf diese Weise keinen internen, sondern einen externen Zurechnungspunkt haben, sind sie auch nicht Ausdruck der Selbstbestimmung einer Gesellschaft über Form und Ziel ihrer politischen Einheit.“629 Die Frage, ob die „demokratische Kluft“630 über die Implementierung einer auf ein europäisches Volk zurückführbaren „Verfassung, die den Verträgen die fehlenden Elemente hinzufügte“, geschlossen werden kann, führt Grimm zu einer Untersuchung der „meist stillschweigend unterstellten Demokratiefähigkeit der Europäischen Union“631. Grimm legt mit einer demokratietheoretisch anspruchsvollen Argumentation überzeugend dar, dass sich die Verwirklichung demokratischer Strukturen nicht in der regelmäßig stattfindenden Wahl von Repräsentanten des Volkes sowie der Tätigkeit dieser Volksvertreter in einem Parlament erschöpft. Vielmehr seien zusätzliche Organisationen und Einflusswege erforderlich, damit der Einzelne seine Interessen und Meinungen wirksam geltend machen könne und die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen und Meinungen im politischen System ausreichend widergespiegelt werden. Dabei seien Meinungs- und Interessenvermittlung zwischen Gesellschaft und staatlichen Organen sowie Willensbildung, Entscheidungsfindung, Stabilitäts- und Legitimitätssicherung auf einen öffentlichen Kommunikationsprozess angewiesen, der wiederum maß627
Grimm, ebd., 581, 585 f. Zum Verfassungscharakter des europäischen Primärrechts Frankenberg, Pluralität verfassen (Fn. 11), 73 ff.; Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine? (Fn. 97), 311-350, insbesondere 317 ff. 628
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 586.
629
Grimm, ebd.
630
Grimm, ebd., 581, 587.
631
Grimm, ebd., 581, 587 und 590.
3. Kapitel
188
geblich von bestimmten Kommunikationsmedien geprägt und strukturiert ist, „die jene Öffentlichkeit herstellen, durch welche allgemeine Meinungsbildung und demokratische Teilhabe erst möglich werden.“632 Intermediäre Strukturen der Gesellschaft in diesem Sinne werden durch Parteien, Verbände, Assoziationen, Bürgerbewegungen und Kommunikationsmedien gebildet. Weil es auf europäischer Ebene bisher weder ein europäisiertes Parteiensystem noch europäische Verbände und Bürgerbewegungen gebe und auch keine europäischen Funk- oder Printmedien auszumachen seien, fehlt es nach Grimm an der „demokratischen Substanz“, die „sich auch nicht ohne weiteres schaffen“633 lasse. Die Forderung nach sprachlicher Homogenität führt Grimm sodann über eine Analyse des europäischen Kommunikationssystems ein, das nur über europaweit angebotene und nachgefragte Zeitungen und Zeitschriften, Hörfunk- und Fernsehprogramme, die zur Herausbildung eines nationenübergreifenden europäischen Publikums und eines europäischen Diskurses führen, entstehen kann.634 Dies sei allerdings nur „dann der Fall, wenn jeder Publizist sich seiner eigenen Sprache bedienen könnte und doch sicher sein dürfte, allgemein verstanden zu werden, oder – realistischer – wenn sich neben den Muttersprachen eine europäische lingua franca wie ehedem das Lateinische, doch nicht auf die Gebildetenschicht begrenzt, durchsetzen vermöchte.“635 In der sprachlichen Heterogenität Europas liegt damit für Grimm das „größte Hemmnis für eine Europäisierung der politischen Substruktur, von der das Funktionieren eines demokratischen Systems und das Leistungsvermögen eines Parlaments abhängt“636. Wenn sowohl der für die Ver632
Grimm, ebd., 581, 587.
633
Grimm, ebd., 581, 588 und 590 f.: „Das heißt freilich, dass das europäische Demokratiedefizit strukturell bedingt ist. Daher kann es auch durch institutionelle Reformen nicht kurzfristig behoben werden.“ Zur Behebung durch institutionelle Reformen, siehe unten: 4. Entstehungsbedingungen europäischer Öffentlichkeiten, f. Institutioneller Vorlauf. 634
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 588.
635
Grimm, ebd.
636
Grimm, ebd. Grimm verweist an dieser Stelle auf Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 372, nach dem es letztlich das „linguistische Band“ sei, das jede Kommunikationsgemeinschaft zusammenhalte. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich diese nicht nur bei Grimm zitierte Stelle am Ende eines Abschnitt befindet, in dem Habermas lediglich den Begriff deliberativer Politik bei Joshua Cohen referiert. Unmittelbar im Anschluss an den zitierten Satz, beginnt Habermas mit der Kritik jenes Modells deliberativer Politik.
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wirklichung von Demokratie erforderliche Kommunikationsprozess, in dem sich die Bürger über Ziele und Probleme diskursiv verständigen, als auch „Information und Partizipation als Grundbedingung demokratischer Existenz“637 gebunden sind an eine von allen Bürgern geteilte Sprache, dann fehlt der EU das „vorgängige soziale Substrat“638 bzw. „der politisch-soziale Unterbau“639 und ihre Demokratisierung scheint auf lange Sicht nicht möglich.640 Im Ergebnis kommt Grimm über eine im Ansatz überzeugende und zustimmungswerte, die Kommunikationsstrukturen betonende demokratietheoretische Argumentation zu einem – wie im Folgenden gezeigt werden soll – nicht zustimmungsfähigen Resultat: die Forderung nach einer vorpolitischen und außerrechtlichen Substruktur, die bezogen auf das Merkmal der Sprache homogen sein soll. Tragendes Element seiner Argumentation bleibt, dass es entweder eine europäische Sprache gibt oder zumindest jeder Angehörige eines Mitgliedstaates neben der Sprache seines jeweiligen Landes die noch zu definierende offizielle Amtssprache der EU spricht. Allein unter der Voraussetzung einer sprachlichen Homogenität innerhalb der EU kann es demzufolge überhaupt eine der europäischen Politik entsprechende Öffentlichkeit geben, die den politischen Willen der Entscheidungsträger beeinflusst und kontrolliert und demokratische Legitimation verschafft. Eine kollektive Identität im Sinne eines Bewusstseins der Zusammengehörigkeit, das gewährleistet, dass die BürgerInnen einer politischen Einheit „ihre Konflikte gewaltlos austragen, sich auf die Mehrheitsregel einlassen und Solidarleistungen üben“, wurzelt nach Grimm in einer „übernationalen Diskursfähigkeit“641, die wiederum auf das Teilen einer gemeinsamen Sprache angewiesen ist. Letztendlich bleibt die Verwirklichung demo637
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 588.
638
Grimm, ebd., 581, 585: „Die Gemeinschaft existiert mangels eines vorgängigen sozialen Substrats, dem sie ihre Einheit verdankte, überhaupt nur als Rechtsgemeinschaft.“ 639
D. Grimm, Der Mangel an europäischer Demokratie, SPIEGEL Nr. 43/1992 vom 19.10.1992, 57; ders., Vertrag oder Verfassung (Fn. 90), 509, 526: „gesellschaftlicher Unterbau“. 640
„Dagegen hat das vor allem in der Sprachenvielfalt begründete Fehlen eines europäischen Kommunikationssystems zur Folge, dass es auf längere Sicht weder eine europäische Öffentlichkeit noch einen europäischen politischen Diskurs geben wird.“ „Der europäischen Politik fehlt die Öffentlichkeitsentsprechung.“ Siehe Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 589. 641
Grimm, ebd., 581, 589 und 590.
3. Kapitel
190
kratischer Strukturen auf die politische Einheit des Nationalstaates, in dem allein die für das Demokratieprinzip essentielle außerrechtliche Verwirklichungsbedingung der sprachlichen Homogenität nachzuweisen ist, beschränkt. Die Demokratisierung supranationaler Einrichtungen scheitert an dem empirischen Befund der sprachlichen Heterogenität ihrer Bevölkerungen.642
b. Rechtswissenschaft, Politologie und Soziologie Ausführungen zu den Interdependenzen zwischen Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie und zu den Bedingungen der Verwirklichung von Demokratie auf supranationaler Ebene finden sich bereits im Maastricht-Urteil643, in dem das BVerfG über den Vertrag von Maastricht und damit über die Verfassungsmäßigkeit der Beteiligung Deutschlands an einer weiteren europäischen Integration zu entscheiden hatte. Der Senat geht auf den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und Demokratie ein, stellt diesbezügliche Anforderungen auf und entwirft Projektionen für eine fortschreitende europäische Integration: „Demokratie […] ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln […] und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen verformt. […] Derartige tatsächliche Bedingungen können sich, soweit sie noch nicht bestehen, im Verlauf der Zeit im institutionellen Rahmen der Europäischen Union entwickeln. […] Parteien, Verbände, Presse und Rundfunk sind sowohl Medium als auch Faktor dieses Vermittlungsprozesses, aus dem heraus sich eine öffentliche Meinung in Europa zu bilden vermag.“ Darüber hinaus, so der Zweite Senat, sei es für eine Demokratie essentiell, „dass der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er
642
Zur Argumentation Dieter Grimms Mancini, Europe: The Case for Statehood (Fn. 229), 29, 33 ff.; Griller, Ein Staat ohne Volk? (Fn. 38), 3, Fn. 13; Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie (Fn. 91), 449, 452, 475 ff.; Zuleeg, What holds a Nation together? (Fn. 42), 505, 511 f., 523 ff. Aus politikwissenschaftlicher Sicht Ch. O. Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre, 2002, 56 ff.; P. A. Kraus, Kultureller Pluralismus und politische Integration, ÖZP 1998, 443, 444 ff. 643
BVerfGE 89, 155 ff.
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191
unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren kann“644. Ob diese Formulierung, wie Jürgen Habermas vermutet, „die Brücke schlagen [soll] zwischen diesem kommunikationstheoretischen Verständnis von Demokratie und der ansonsten für notwendig gehaltenen Homogenität des Staatsvolkes“645, kann angesichts der nur sehr spärlichen Ausführungen des Gerichts zu der Frage, ob die Herausbildung „vorrechtlicher Voraussetzungen“ mit der Entstehung eines homogenen Sprachraumes gleichzusetzen ist, kaum beantwortet werden. Auf die Behauptung eines Beschwerdeführers, der Vertrag von Maastricht beeinträchtige „die Freiheit des Einzelnen, sich aus europäischen Quellen zu informieren und auf die Öffentlichkeit in den Mitgliedstaaten und damit auf den europäischen Kommunikationsprozess Einfluss zu nehmen“, mithin durch das Vertragswerk Kommunikationsgrundrechte verletzt seien, reagierte das Gericht jedenfalls mit dem lapidaren, für die hier zu behandelnde Problematik allerdings wenig aufschlussreichen Hinweis, dass „die hierbei auftretenden Sprachprobleme […] in der Sprachenvielfalt innerhalb der Europäischen Union angelegt [sind] und schon deshalb kein selbständig zu bewertendes Hindernis in der Ausübung dieses Grundrechts“646 darstellen könnten. Wesentlich deutlicher als in den zurückhaltend und kompromissbereit scheinenden Ausführungen des Gerichts findet sich die Forderung nach sprachlicher Homogenität als Voraussetzung supranationaler Demokratie jedenfalls in der rechtswissenschaftlichen, politologischen und so644
BVerfGE 89, 155, 185. Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration (Fn. 276), 100, 108 (Fn. 39), hält bezüglich dieser Passage des Gerichts fest: „Diese Forderung ist schon jetzt erfüllt.“ Ebenso Schilling, Die Verfassung Europas (Fn. 139), 387, 401, Fn. 163: „Diese Forderung von BVerfGE 89, 155, 185, war also in der E(W)G von jeher erfüllt.“ Gemäß der Verordnung Nr. 1 vom 15. April 1958, ABl. EWG 1958, 358 f., muss sichergestellt sein, dass grundsätzlich alle für die Bürger relevanten Texte der Gemeinschaft in allen Sprachen, die in den Mitgliedstaaten Amtssprachen sind, abgefasst werden und der Bürger mit der Gemeinschaft in jeder dieser Sprachen kommunizieren kann. Umgekehrt kann sich die Gemeinschaft nur in der Sprache des Mitgliedstaates an den Bürger richten, dem der Bürger angehört. Die Verordnung ist abgedruckt bei v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, Handbuch des Europäischen Rechts, Bd. 17 (Stand 1994) I A 93/2.1. Ausführlich zum Sprachenregelung der EU T. Oppermann, Reform der EU-Sprachenregelung?, NJW 2001, 2663-2668. 645
Habermas, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? (Fn. 89), 154, 184, Fn. 54. 646
BVerfGE 89, 155, 178.
3. Kapitel
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ziologischen Literatur. Unter Verweis auf die Vielfalt der in Europa gesprochenen Sprachen verneint beispielsweise Fritz Ossenbühl nicht nur die Herausbildung einer Infrastruktur, die man als europäische Öffentlichkeit bezeichnen könnte, sondern darüber hinaus auch, und hier zeigen sich Bezüge zu Positionen, die die Sprache als ein der politischen Organisation voraus liegendes und das Volk bzw. die Nation konstituierendes Merkmal betrachten, die Entstehung eines europäischen Volkes als „Bezugs- und Ausgangspunkt einer europäischen demokratischen Legitimation“647. Angesichts „der vorhandenen kulturellen und sprachlichen Unterschiede“ bestünden Zweifel, ob es „zu einer solchen Volksbildung überhaupt kommen wird“, denn „um von einem Volk sprechen zu können, das seinerseits demokratische Legitimation zu spenden vermag, ist [...] mehr erforderlich als eine Summe von subjektiven Rechten der einzelnen Bürger. Erforderlich ist eine innere Verbundenheit der Staatsbürger, die durch Kommunikation, gemeinsame Erfahrungen, kulturelle Gemeinsamkeiten und einen gemeinsamen Wertkonsens getragen wird. Nur auf dem Humus einer solchen Minimalhomogenität kann die der Demokratie eigene Mehrheitsregel auf Akzeptanz stoßen. […] Die sprachlichen Unterschiede [...] stellen – auch auf Dauer – kaum allgemein überwindbare Barrieren dar, die sich bei den geplanten Erweiterungen der Gemeinschaft noch potenzieren werden.“648 Nach Udo di Fabio basiert der „für demokratische Politik unverzichtbare Resonanzboden“ auf „lebensweltlich geteilten Selbstverständlichkeiten und gemeinsamer Sinnorientierung einer öffentlichen Meinung.“ An jenen „selbstreferentiellen Funktionsbedingungen parlamentarischer Demokratie“ fehle es aber gerade der EU, da die „Völker der Mitgliedstaaten [...] weder voluntativ noch sprachlich-kulturell noch auch nur institutionell amalgamiert“ seien, sich die öffentlichen Meinungen der Mitgliedstaaten durch ihre Disparität auszeichneten und „wegen der
647
Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz (Fn. 192), 629, 634. Ähnlich, wenn auch ohne jeden Bezug auf die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit als Demokratievoraussetzung, sondern bezogen auf die Existenz einer Nation, die sich eine Verfassung geben kann, stellt H. Hofmann, Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, 155, 165, fest, dass es „schon mangels einer allen geläufigen Sprache […] kein solches zu verfassendes Subjekt der politischen Einheit Europas“ gibt. Siehe auch Rupp, Maastricht – eine neue Verfassung? (Fn. 234), 211, 213. 648
Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz (Fn. 192), 629, 634.
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193
Sprachgrenzen in überschaubaren Zeiträumen auch kaum integrierbar“ wären. Im Zentrum der Argumentation steht eine „kaum beeinflussbare langsame kulturelle Entwicklung einer homogenen europäischen öffentlichen Meinung“649, ohne die Demokratie auf europäischer Ebene auf absehbare Zeit als defizitär gelten muss und von einer Vertiefung der europäischen Integration abzuraten ist. Das Dilemma supranationaler Demokratie liegt demzufolge nicht nur darin begründet, dass ein Staatsvolk im Sinne der Definitionen Ossenbühls oder Di Fabios nicht auszumachen ist, d.h. sich keine „kulturell durch Geschichte, Sprache und Zusammengehörigkeitsgefühl verbundene Gemeinschaft“650 finden lässt. Vielmehr scheitert gerade eine europäische Kommunikationsgemeinschaft oder – stärker formuliert – die „einheitliche öffentliche Meinung“651, welche als wesentliches Element demokratischer Strukturen behauptet wird, bereits im Ansatz an der sprachlichen Fraktionierung der europäischen Völker und der dadurch bedingten Nationalisierung der Öffentlichkeiten.652 Wegen den weitgehend fehlenden sprachlichen Kompetenzen und mangels einer „gleichzeitig in allen Sprachen der EG erscheinenden, also wirklich europäischen Presse“653 nutzten die BürgerInnen der einzelnen Mitgliedstaaten jeweils die in ihren Sprachen erscheinenden Medien und trügen so dazu bei, dass Öffentlichkeit auf europäischer Ebene nach Nationalstaaten getrennt bliebe.654
649
Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes (Fn. 97), 191, 203 f. Di Fabio verweist hier, Fn. 48 und 50, diesbezüglich auf Jürgen Habermas’ politischphilosophische Diskurstheorie, hält dieser aber entgegen, dass sie „wegen des Fehlens einer europäischen Öffentlichkeit in einen heillosen Erklärungsnotstand [kommt], weil auch sie der herrschenden euronationalen Zeitströmung folgt und deshalb ihr Demokratiekonzept hochzonen will, dies aber nicht vermag.“ Auch für Habermas dränge sich „die bange Frage auf, ob der von ihm zu recht in den Vordergrund gestellte interaktive Zusammenhang von öffentlicher Meinung und institutionalisiertem Entscheiden nicht auf europäischer Ebene an Komplexitäts- und Sprachproblemen scheitern muss.“ 650
Di Fabio, ebd.
651
Bleckmann, Chancen und Gefahren der europäischen Integration (Fn. 625), 301, 301 und 303. 652
Siehe etwa Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit (Fn. 92), 195, 205; Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 137. 653
Bleckmann, Chancen und Gefahren der europäischen Integration (Fn. 625), 301, 303. 654
Zur nationalen Zersplitterung der Öffentlichkeit aus juristischer Perspektive Kirchner/Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die
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Übereinstimmend mit den Ausführungen Grimms bleibt das Demokratieprinzip, wenn man es nicht rein formal versteht, d.h. das Bestehen einer funktionierenden Öffentlichkeit in den Begriff der Demokratie einbezieht, auf das Teilen einer gemeinsamen Sprache zwingend angewiesen, da für „Information und Partizipation des Einzelnen [...] die volle sprachliche Kompetenz die wichtigste Voraussetzung [ist]“, die „Sprache [...] darüber hinaus das letzte Bindemittel fragmentierter und mobiler Gesellschaften“ darstellt, das „linguistische Band [...] die demokratischen Konfliktlösungsmöglichkeiten der Verhandlung, des Kompromisses und der Aussprache zusammen[hält]“ und schließlich auf „der gemeinsamen Sprache [...] eine Vielfalt intermediärer Strukturen und Prozesse der politischen Öffentlichkeit: Massenmedien, Meinungsforschung, eine Vielzahl differenzierter Kommunikationsnetze und partieller Öffentlichkeiten, die sich um bestimmte Themen, Kontakte oder Milieus gruppieren“655, beruht. Demokratie, so die auf die beschriebene Argumentation gegründete Schlussfolgerung kann aus strukturellen, d.h. auch hier wieder: kaum zu beeinflussenden Gründen, nur im Rahmen des Nationalstaates verwirklicht werden, da „nur er [...] die sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen für den bürgerlichen Diskurs, in dem der politische Wille sich artikuliert, Streit ausgetragen und Einigung vollzogen wird“656 verbürgt. Politologische Untersuchungen scheinen die in der Verfassungslehre formulierten Bedenken zu stützen, da auch dort für die mangelnde Demokratiefähigkeit der EU vor allem das „Sprachenproblem“ bzw. die „linguistischen Spaltungen“ innerhalb Europas, die das Entstehen Europäische Gemeinschaft (Fn. 97), 760, 767. Der Soziologe J. Gerhards, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 100, führt die Defizite medialer Strukturen auf europäischer Ebene ebenfalls deutlich auf „Sprache“ zurück, wenn er darauf hinweist, dass „Presse und vor allem Tagespresse [...] auf geschriebener Sprache“ basiert, demnach „eine europaweite Zeitung [...] übersetzt werden [müsste], wollte man eine breite Leserschaft erreichen.“ Und weiter: „Die Alternative, eine Zeitung in der noch von den meisten Europäern gesprochenen Fremdsprache Englisch zu produzieren und zu vertreiben, hat wenig Chancen, von einer breiten Leserschicht rezipiert zu werden. Die Sprachkompetenz und die Motivation des Publikums in einer fremden Sprache zu lesen, sind gering.“ 655
Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 61. Siehe auch Kirchner/Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft (Fn 97.), 760, 767. 656
Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 89 und 95.
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einer Kommunikationsgemeinschaft verhindern, verantwortlich gemacht werden. Integrationsprozesse seien, so politikwissenschaftliche Arbeiten, darauf angewiesen, dass gewisse »negative Bedingungen« vorliegen, zu denen unter anderem die Abwesenheit sprachlicher Heterogenität zählt.657 In Übereinstimmung mit den in der Rechtswissenschaft formulierten Thesen verhindert die linguistische Pluralität, dass sich mediale Strukturen im Sinne eines Raumes der Publizität, Responsivität und Diskursivität auf transnationaler Ebene etablieren können und infolgedessen Träger politischer Auseinandersetzungen sowie das Gemeinwesen integrierende Kräfte fehlen: “Democracy needs a shared language. The populations of the fifteen member states which constitute the European electorate cannot constitute the European demos if there is no forum in which European public life can be played out in an exchange of views, persuasion and debate. […] The EU’s lack of a democratic forum for debate is not often mentioned, but it is arguably one of the factors that differentiates the EU’s political process from traditional democratic practice. The great problem is, of course, that there is no language in which Europeans could decide to have a Europe-wide debate.”658 Schließlich weisen auch Soziologen, die sich intensiv mit Medien und Öffentlichkeit auf nationaler und transnationaler Ebene auseinandersetzen, darauf hin, dass es infolge des Sprachenproblems und “despite the increasing technical possibilities”659 an europäischen Massenmedien mangelt und eine Europäisierung und Internationalisierung höchstens bei Zeitschriften stattfindet, die auf andere als sprachliche Signifikanten ausweichen und mit einem hohen Anteil an Bildern arbeiten können (z.B. Mode- und Fachzeitschriften).660 Dies hänge mit den Restriktio-
657
Siehe nur Scharpf, Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus (Fn. 92), 293, 296 ff. 658
S. Wright, A Community that can Communicate, in: Smith/Wright (Hrsg.), Whose Europe?, 1999, 79, 92. Zur beschriebenen Argumentation aus politologischer Perspektive auch H. Mandt, Bürgernähe und Transparenz im politischen System der Europäischen Union, Zeitschrift für Politik 1997, 1, 14 und 16; A. Beierwaltes, Demokratie und Medien, 2000, 214; Kielmansegg, Integration und Demokratie (Fn. 92), 47, 54 f., 57 und 58. 659
R. Grundmann, The European public sphere and the deficit of democracy, in: Smith/Wright (Hrsg.), Whose Europe?, 1999, 125, 136. 660
Hierzu K. Eder/K.-U. Hellmann/H.-J. Trenz, Regieren in Europa jenseits öffentlicher Legitimation?, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, 321, 326; J. Gerhards, Europäisierung von Ökonomie und Poli-
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nen zusammen, denen Fernsehsender ausgesetzt sind, die eine Vielzahl von Personen erreichen wollen, denn zu diesen Restriktionen gehöre, dass „das Programm in der Muttersprache der Rezipienten ausgestrahlt werden muss. Programme in anderen Sprachen haben kaum eine Chance, rezipiert zu werden. Selbst Programme in der lingua franca Englisch haben nur begrenzten Erfolg. Die Fremdsprachenkompetenz der Bürger Europas ist zu gering, die Motivation, sich Programme in anderen Sprachen anzusehen, in nur geringem Maße vorhanden.“661
2. Zur Diagnose: Europäische Öffentlichkeit Ohne Rücksicht auf die Plausibilität der Begründung, die für die Forderung nach sprachlicher Homogenität mobilisiert wird, fällt zunächst auf, dass diejenigen Autoren, die die starken Verbindungen zwischen dem Teilen einer gemeinsamen Sprache und der Herausbildung einer (europäischen) Öffentlichkeit relativieren oder die Notwendigkeit einer sprachlich homogen strukturierten Gesellschaft ganz zurückweisen, dies in einer Weise tun, die der elaborierten und demokratietheoretisch anspruchsvollen Argumentation der Vertreter der dargestellten Thesen entweder nicht gerecht wird oder aber die Bedeutung der Forderung nach sprachlicher Homogenität unterschätzt. Zum einen erfolgt häufig allein der projektive Verweis auf die erwartete oder sogar nur erhoffte Herausbildung einer öffentlichen Meinung auf europäischer Ebene, d.h. man beruhigt sich mit der Feststellung, dass es „keineswegs auszuschließen, vielmehr zu hoffen [sei], dass sich bei einer Erweiterung europäischer Entscheidungszuständigkeit auch allmählich eine europäische Öffentlichkeit“662 bilden wird.663 Zum anderen scheinen selbst Autik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, 2000, 277, 291. 661
Gerhards, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 654), 96, 101. Zur den beschrieben Motivationsproblemen, siehe auch Kraus, Political Unity and Linguistic Diversity in Europe (Fn. 61), 138, 140 und 141. 662 663
J. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, 585, 589.
Auch Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie (Fn. 127), 91, 154 f., verbleibt weitgehend im Bereich der zukünftigen Erwartungen und setzt der Argumentation Grimms ein Szenario entgegen, „wonach sich verschiedene Antizipationen in einem Kreisprozess wechselseitig stützen und stimulieren.“ Auf die linguistische Heterogenität Europas antwor-
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toren, die explizit auf die Forderung nach sprachlicher Homogenität eingehen, zu glauben, dass mit der Nennung von Ländern wie der Schweiz, Finnland, Belgien oder der USA bereits bewiesen sei, dass die sprachliche Heterogenität Europas kein Hindernis für das Entstehen einer nationenübergreifenden Öffentlichkeit darstellt.664 Die folgenden Ausführungen wollen, ausgehend von der Überzeugung, dass das Demokratieprinzip angewiesen ist auf eine funktionierende Öffentlichkeit, die Einwände und Bedenken ernster nehmen und ausführlich der konkreten Frage nachgehen, ob es nicht auch unter den Bedingungen sprachlicher Heterogenität zur Herausbildung einer Öffentlichkeit kommen kann, die in der Lage ist, die ihr zugeschriebenen Funktionen zu erfüllen.
a. Sprachliche Heterogenität Außer Frage steht die Richtigkeit der Analyse Grimms bezogen auf die sprachliche Heterogenität Europas: Wir leben – auf das Erste Buch Mose Bezug nehmend – nach Babel.665 Innerhalb der 25 Mitgliedstaaten der EU wird eine Vielzahl von Sprachen gesprochen, von denen keine als vorherrschend bezeichnet werden kann. Allein als offizielle Amtssprachen gelten Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Irisch, Italienisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch, hinzu kommen eine Vielzahl von Minderheitensprachen, die in Teilen der jeweiligen Mitgliedstaaten gesprochen werden und in unterschiedlichem Maße anerkannt und geschützt sind (z.B. Baskisch, Friesisch, Gälisch, Katalanisch, tet Habermas mit der Hoffnung auf eine sich in der Zukunft realisierende „gemeinsame (Fremd-)Sprachenbasis“. An anderer Stelle verweist Habermas, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 98), 185, 191, auf den „gegenwärtigen Stand der formalen Schulbildung“, in der sich „Englisch als second first language“ durchsetzen werde. 664
So beispielsweise Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation (Fn. 92), 238, 256; Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie (Fn. 91), 449, 479 f.; J. Schwarze, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt, NJ 1994, 1, 4. 665
Erstes Buch Mose 11/1 ff. Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 122, erörtert die „Turm zu Babel“-Metapher im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Nation und dem hierin enthaltenen Gedanken der Originalität und Differenz.
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Letzebuergsch, Saamisch, Sorbisch oder Walisisch).666 Selbst unter Berücksichtigung der zunehmenden Fremdsprachenkompetenz vor allem in den jüngeren Generationen stellen die beiden am weitesten verbreiteten und die Institutionen der EU dominierenden Sprachen Französisch und Englisch weiterhin für ca. 80 % der Unionsbevölkerung eine Fremdsprache dar. Englisch, das viele als künftige oder bereits existierende „lingua franca“ sehen, mag sich über den ökonomischen, wissenschaftlichen und technischen Sektor hinaus stärker verbreiten, wird aber zur Zeit und wohl auch in naher Zukunft bei weitem nicht in dem Maße beherrscht, um eine passive Aufnahme fremdsprachiger Kommunikationsinhalte oder gar eine aktive Kommunikation mit anderen Unionsbürgern unproblematisch zu gewährleisten. Aus diesem Grund scheint es völlig unzureichend und sowohl unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse als auch im Hinblick auf die differenzierte Argumentation Dieter Grimm’s darüber hinaus unangemessen, hoffnungsvoll darauf hinzuweisen, dass sich das Problem der sprachlichen Heterogenität Europas durch die Zunahme der Fremdsprachenkenntnissen der Bevölkerung in naher Zukunft lösen wird.667 Aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen erscheint es andererseits nahezu ausgeschlossen, dass sich Europa in absehbarer Zeit zu einem homogenen Sprachraum entwickelt und es zu einer nennenswerten Reduktion des bestehenden Multilingualismus kommt oder sich analog zu prä-nationalistischen mittelalterlichen Zuständen eine für einen gewissen Zeitabschnitt dominierende europäische lingua franca herausbilden wird.668 Und dies gilt selbst unter der Annahme, dass, wie Sue Wright in 666
Schon vor der Osterweiterung der Union gab A. Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU, 1998, 9, die Zahl der Minderheitensprachen mit 33 an. 667
Entsprechende Hinweise bei Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie (Fn. 127), 91, 155; Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642), 57 und 62; Wright, A Community that can Communicate (Fn. 658), 79, 91, 92 und 95. In keiner Weise der Argumentation Dieter Grimms angemessen, ist schließlich auch die Aussage von Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie (Fn. 91), 449, 480: „Sprachen werden gelernt und übersetzt.“ 668
Zur sprachlichen Heterogenität Europas, zu den Zahlen sowie zu den sich daraus ergebenden Folgen Beierwaltes, Demokratie und Medien (Fn. 658), 220; Gerhards, Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 660), 277, 290, ders., Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 654), 96, 100; D. Martiny, Babylon in Brüssel?, ZeuP 1998, 227, 228. Ernüchternde – wenn auch schon ältere – Zahlenangaben zu Eng-
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einem bemerkenswerten Aufsatz überzeugend nachgewiesen hat, linguistische Entwicklungen an politische, ökonomische und kulturelle Vorherrschaften gebunden sind und diesen nachfolgen.669 Naiv dürfte es auch sein, auf eine der zahlreichen zum Universalismus neigenden Kunstsprachen, die seit der Antike immer wieder entworfen wurden (z.B. Esperanto oder Volapük), zu vertrauen. Angesichts des geringen Erfolges, die diese „versponnenen Gedankenspiele“670 in den vergangenen Jahrhunderten hatten, ist es kaum wahrscheinlich, dass sich auch nur eine von ihnen über einen sehr begrenzten Kreis von begeisterten Aktivisten hinaus ausdehnen wird.671 Schließlich kann auch der Vorschlag, sich innerhalb der europäischen Institutionen auf eine, zwei oder maximal drei Sprachen zu beschränken, nicht überzeugen.672 Es geht weder in der Problemanalyse Grimms noch bei dem Begriff der Öffentlichkeit, unabhängig davon, wie stark oder gering dieser normativ aufgeladen wird, um die Verständigungsmöglichkeiten eines elitären politischen und administrativen Personals europäischer Institutionen, sondern vielmehr um die Kommunikationsmöglichkeiten und Kommunikationsfähigkeiten von BürgerInnen. Neben der Tatsache, dass die aus zahlreichen historischen Beispielen bekannten Maßnahmen zur Sprachstandardisierung weder wünschenswert noch wahrscheinlich sind, zeigen vor allem die teilweise skurril anmutenden, aber vehementen Versuche einzelner Mitgliedstaaten der EU, ihre jeweilige National-
lischkenntnissen in europäischen Ländern finden sich bei M.-L. Große-Peclum, Gibt es den europäischen Zuschauer?, Zeitschrift für Kultur-Austausch 1990, 185, 193. 669
“History teaches us”, so Wright, A Community that can Communicate (Fn. 658), 79, 82 ff., 91, “that language practices change when the political situation changes”. 670
Martiny, Babylon in Brüssel? (Fn. 668), 227, 235.
671
Ein in der Antike beginnender historischer Überblick über die zahlreichen und erfolglosen Versuche, eine „Weltsprache“ zu kreieren und zu etablieren, findet sich bei Haarmann, Die Sprachenwelt Europas (Fn. 592), 318- 324. Mit viel Ironie ebenfalls sehr skeptisch gegenüber der Vorstellung, dass eine der Kunstsprachen zur neuen „lingua franca“ wird U. Eco, Auf der Suche nach der vollkommenen Sprache, 1994, 324 ff., 328 ff. und 342 ff. 672
Zu diesen Vorschlägen Kraus, Kultureller Pluralismus und politische Integration (Fn. 642), 443, 452 ff.; Haarmann, Die Sprachenwelt Europas (Fn. 592), 326 ff.
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sprache zu schützen673, dass der Sprachenpluralismus auch zukünftig „eines der Hauptcharakteristika kultureller Heterogenität in Europa“674 sein wird. Trifft dies zu, dann muss – um die These Dieter Grimms zu widerlegen – der Nachweis erbracht werden, dass sich eine europäische Öffentlichkeit auch unter der Bedingung sprachlicher Heterogenität herausbilden kann.
b. Gegenbeispiele: Schweiz, Belgien etc. Um diesen Nachweis ohne besonderen intellektuellen Aufwand zu erbringen, weisen die meisten Autoren schlicht auf Länder hin, die eine multilinguale Sprachstruktur aufweisen, gleichwohl aber von außen stehenden Beobachtern eine funktionierende bis lebhafte Öffentlichkeit attestiert bekommen und als demokratische Staaten angesehen werden. Mit dem Hinweis auf Länder wie die Schweiz, Finnland, Belgien, Indien, Kanada oder Spanien sei belegt, dass „Demokratie weder kulturelle Homogenität noch eine einheitliche Sprache“675 voraussetze. Auf die entsprechenden, oben zitierten Stellen des Maastricht-Urteils, reagierte beispielsweise Jürgen Schwarze, indem er dem Senat vorwarf, dass „die Urteilsgründe insbesondere dort einen provinziellen Zuschnitt verraten, wo der Senat die Kommunikation des Bürgers mit der Hoheitsgewalt in 673
So ist es Ziel der sog. „Loi Toubon“, englische Ausdrücke durch entsprechende französische zu ersetzen. Noch etwas skurriler ist das anlässlich des Beitritts Österreichs zur EU entworfene „Protokoll Nr. 10“, mit dem u.a. sichergestellt werden soll, dass aus Lungenbraten nicht Filet, aus Topfen kein Quark, aus Powidel nicht Pflaumenmus und aus Paradeisern nicht Tomaten werden. Das genannte Protokoll ist abgedruckt im Handbuch des Europäischen Rechts, Bd. I A 0 – I A 9, I A 7/8, 75 und 76. So skurril diese Beispiele anmuten, sind sie aber doch Indiz dafür, dass sich Sprache nicht darauf reduzieren lässt, „technisches Kommunikationsmittel“ zu sein. Sprache, als bevorzugter Gegenstand von Anerkennungskämpfen, kann sowohl als Instrument für inkludierende wie exkludierende Prozesse genutzt werden, mit ihr können sozio-ökonomische oder politische Differenzen sichtbar gemacht und kulturelle Identitäten akzentuiert werden. 674
P. A. Kraus, Von Westfalen nach Kosmopolis?, Berliner Journal für Soziologie, 10, 2, 2000, 203, 209. Auch aufgrund der kulturellen Bedeutung der Sprache gelangt Haarmann, Die Sprachenwelt Europas (Fn. 592), 80 ff., 280 ff., 327 ff., zu der Schlussfolgerung, dass „der Sprachnationalismus bis weit ins nächste Jahrhundert überleben wird.“ 675
Fastenrath, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union (Fn. 105), 101, 117.
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der ihm eigenen Sprache zum Demokratiegebot erhebt“ und fügte hinzu: „Als ob der vielfach gepriesene Schweizer Bundesstaat gerade an seiner Sprachenvielfalt litte.“676 Stefan Griller nennt als „Gemeinschaften“, denen „wohl kaum jemand ihre Staatlichkeit absprechen [wird], obgleich sie die hier zur Debatte stehenden Homogenitätsanforderungen offensichtlich nicht erfüllen“, die „USA, Kanada, Belgien oder die Schweiz“677. Nahezu übereinstimmend, allerdings das Prinzip der Demokratie explizit nennend, schreibt Ingolf Pernice, dass es Staaten gebe, „wie die Schweiz, Belgien oder die USA, die je auf ihre Weise mehrere Sprachen und Kulturen verbinden und denen die Qualität einer funktionsfähigen Demokratie schwerlich abgesprochen werden“678 könne. Umgekehrt gebe es Länder wie z.B. Österreich und Deutschland, die, obwohl sie territorial aneinander angrenzen und über eine gemeinsame Sprache verfügen, voneinander getrennte, je eigenständige Öffentlichkeiten bilden.679 Noch ohne ausdrücklichen Bezug auf Entstehung und Vorhandensein von Öffentlichkeiten, hatte bereits Ernest Renan den Hinweis auf die in der aktuellen Diskussion genannten Länder genutzt, um darzulegen, dass die sprachliche Homogenität nicht das die Nation bestimmende Kriterium sein könne: „La langue invite à se réunir; elle n’y force pas. Les États-Unis et l’Angleterre, l’Amérique espagnole et l’Espagne parlent la même langue et ne forment pas une seule nation. Au contraire, la Suisse, si bien faite, puisqu’elle a été faite par l’assentiment de ses différentes parties, compte trois ou quatre langues. Il y a dans l’homme quelque chose de supérieur à la langue: c’est la volonté. La volonté de la
676
Schwarze, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt (Fn. 664), 1, 4. 677
Griller, Ein Staat ohne Volk? (Fn. 38), 6.
678
Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie (Fn. 91), 449, 479 f. Ähnliche Hinweise auf multilinguale Länder bei Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation (Fn. 92), 238, 256; Fastenrath, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union (Fn. 105), 101, 117; Weiler, Der Staat ‚über alles’ (Fn. 42), 91, 112; ders./Haltern/Mayer, European Democracy and Its Critics (Fn. 92), 13. Bereits Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission, sah die sprachliche Vielfalt Europas nicht als Begrenzung und Hemmnis, sondern als Bereicherung und Ansporn. „Die Schweiz“, so W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1973, 12, „liefert uns das klassische Beispiel dafür.“ 679
So Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642), 57.
3. Kapitel
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Suisse d’être unie, malgré la variété de ses idiomes, est un fait bien plus important qu’une similitude souvent obtenue par des vexations.“680 Ob die genannten Beispiele die These, dass sich eine europäische Öffentlichkeit infolge der sprachlichen Zersplitterung Europas nicht herauszubilden vermag und die EU damit an einem strukturellen Demokratiedefizit leidet, widerlegen, ist fraglich. Grimm selbst scheint die Einwände beim Verfassen seines Aufsatzes antizipiert zu haben, wenn er schreibt, dass „Mehrsprachenstaaten wie die Schweiz, Belgien oder Finnland oder [...] multinationale Einwanderungsländer wie die U.S.A.“ kaum mit der EU verglichen werden können. Zum einen, so Grimm, sei die Anzahl der in den genannten Ländern gesprochenen Sprachen wesentlich geringer als die Anzahl der Sprachen in der EU. Zum anderen müsse jede Analogie bereits an der quantitativen Differenz der zu integrierenden Bevölkerung scheitern.681 Dem häufigen Rekurs auf die Schweiz setzt er darüber hinaus noch entgegen, dass diese „schon lange vor der Konstitutionalisierung eine nationale Identität ausgebildet hatte und seinen mehrsprachigen politischen Diskurs darauf bezieht.“682 Die USA schließlich, die mit ihren ca. 250 Millionen Einwohnern der EU mit einer Bevölkerung von 450 Millionen Menschen zumindest in diesem Punkt vergleichbar sei, habe im Unterschied zu Europa „ihren nationalstaatlich geprägten Zusammenhalt aber gerade aufgegeben und sich auf eine neue politische Heimat mit einer Mehrheitssprache und landesweiter Kommunikation eingelassen.“683 Geht man auf die genannten Länder näher ein, ergeben sich in der Tat erhebliche quantitative und qualitative Differenzen, die an einer Vergleichbarkeit mit der EU zweifeln und fraglich erscheinen lassen, ob sie tatsächlich geeignet sind, die These der unabdingbaren Verknüpfung zwischen dem Teilen einer Sprache und der Entstehung von Öffentlichkeit zu widerlegen. So ist die häufig erwähnte Schweiz zwar offensichtlich ein multilinguales Land. Allerdings wird dort „nur“ die im Vergleich zur EU geringe Anzahl von vier Sprachen gesprochen, wobei das Deutsche mit einem Anteil von ca. 66 % gegenüber 19 % französisch, 8 % italienisch und 1 % rätoromanisch sprechender Bevölkerung deut680
Renan, Qu’est-ce qu’une nation? (Fn. 501), 303.
681
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 589. Die quantitativen Unterschiede stellt ebenfalls heraus Mancini, Europe: The Case for Statehood (Fn. 229), 29, 34. 682
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 589.
683
Grimm, ebd.
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203
lich überwiegt.684 Das offiziell dreisprachige und ebenfalls oft gegen Grimms Thesen angeführte Finnland kann nur schwer als sprachlich heterogen bezeichnet werden, da 95 % aller finnischen StaatsbürgerInnen Finnisch als Muttersprache sprechen.685 Belgien, in dem Niederländisch, Französisch und Deutsch als offizielle Amtssprachen anerkannt sind, weist eine nahezu paritätische Verteilung zwischen Niederländisch und Französisch auf, wohingegen Deutsch nur eine marginale Rolle spielt.686 In allen diesen Ländern genügt demnach für die Verständigung mit allen anderen Staatsangehörigen und für die Partizipation am öffentlichen Kommunikationsprozess das Erlernen von einer, maximal zwei Fremdsprachen.687 Meistens unerwähnt bleibt schließlich auch, dass die Sprachenvielfalt in einigen der als Gegenbeispiele angeführten Ländern zu erheblichen Problemen führt, die man in komplexen, die Autonomie der einzelnen Sprachgemeinschaften sichernden, allerdings nicht immer erfolgreich funktionierenden Organisationsstrukturen zu lösen versucht.688 Wichtiger ist aber, dass der Einwand, die sprachliche Heterogenität Europas könne durch die diffizile Austarierung eines föderalen politischen Systems und die Gewährung von Autonomierech684
J. Coenen-Huther, Zwei mehrsprachige Länder im Vergleich: Belgien und die Schweiz, in: Hettlage/Deger/Wagner (Hrsg.), Kollektive Identität in Krisen, 1997, 142-148, charakterisiert die Schweiz daher als „deutschsprachiges Land mit verschiedenen Minderheiten“. 685
Hierzu Haarmann, Die Sprachenwelt Europas (Fn. 592), 101 f.
686
Coenen-Huther, Zwei mehrsprachige Länder im Vergleich: Belgien und die Schweiz (Fn. 684), 142-148. 687
Ebenfalls sehr skeptisch hinsichtlich der Vergleichbarkeit der genannten Länder mit der EU Kraus, Kultureller Pluralismus und politische Integration (Fn. 642), 443, 445; Kielmansegg, Lässt sich die Europäische Gemeinschaft demokratisch verfassen? (Fn. 99), 23, 28. 688
Eine drastische Darstellung der belgischen Sprachprobleme findet sich bei Lauermann, Der Nationalstaat – Ein Oxymoron (Fn. 588), 33, 37: „Der Staat ist von seinen Nationen aufgelöst worden.“ Bezüglich der Schweiz erinnert Ra’anan, Nation und Staat (Fn. 470), 23, 44 ff., daran, dass es in der Geschichte der Schweiz in zwei Fällen zu einer Neugliederung der Kantone kam, wobei die Neugliederung in beiden Fällen entlang ethnisch-kulturell-religiöser Grenzen verlief: Im ersten Fall setzte die französisch-katholische Bevölkerung des Jura die Abspaltung von dem überwiegend deutsch-protestantischen Kanton Bern durch, im zweiten Fall wurde der Kanton Appenzell in den katholischen HalbKanton Inner-Rhoden und den protestantischen Halb-Kanton Ausser-Rhoden geteilt. Zum Zusammenhang zwischen Sprachenpluralismus und Föderalismus Böckenförde, Die Schweiz – Vorbild für Europa? (Fn. 59), 25, 30 ff.
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3. Kapitel
ten bearbeitet werden, ebenso an der Argumentation Grimms vorbeigehen, wie der oben erwähnte Vorschlag, sich innerhalb der europäischen Institutionen auf eine, zwei oder maximal drei Sprachen zu beschränken. Streitpunkt ist weder die Toleranz gegenüber einzelnen Sprachgemeinschaften oder der ihnen zu gewährende Respekt noch der Umfang der Autonomie, die diese innerhalb eines föderalen politischen Systems genießen sollen, sondern die Frage, ob sich in einem politischen System, das eine multilinguale Bevölkerung aufweist, eine Öffentlichkeit herausbilden kann.
c. Defizite einer europäischen Öffentlichkeit Es spricht viel dafür, dass der Zustand einer europäischen Öffentlichkeit gegenüber dem supranationalen politischen System, dem sie korrespondieren soll, defizitär ist. Gemessen an Bedeutung und Macht, die der EU zukommt, hinkt die transnationale Öffentlichkeit hinterher und erscheint angesichts des fortdauernden Transfers von Kompetenzen, Kontrollen und Ressourcen von den Nationalstaaten zur supranationalen Organisation als zu schwach, um die ihr zugeschriebenen Funktionen erfüllen zu können. Analysiert man das empirische Material, dann entspricht der Verlagerung von Hoheitsbefugnissen und Herrschaftsrechten auf die Union offensichtlich keine erhöhte Aufmerksamkeit der Medien, weder für die Übertragungsprozesse selbst noch für die politischen Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden. Der Europäisierung der Politik steht ein weitgehend auf nationale Politik konzentriertes und den nationalstaatlichen Strukturen verhaftetes Mediensystem gegenüber689, während man europäische Massenmedien, 689
Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642), 56 ff. hält bezogen auf die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten, d.h. die vermehrte Berichterstattung über europäische Politik in nationalen Medien, fest, dass die Frage „ob und inwieweit eine transnationale Öffentlichkeit besteht, [...] eine empirisch offene Frage“ ist, kommt aber dennoch zu einem optimistischen Ergebnis. Ebenso Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? (Fn. 109), 27, 47 f., der für die vergangenen Jahre „wenn auch statistisch nur schwer zu belegen – eine vermehrte Inanspruchnahme demokratisch bedeutsamer Schutzgüter – wie der Meinungs-, Presse-, Rundfunk- und Versammlungsfreiheit – durch die Unionsbürger“ feststellt. J. Gerhards, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: Kaelble/ Kirsch/Schmidt-Gernig (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, 2002, 142 und 145, hält zwar ebenfalls fest, dass die Frage, „ob sich die Öffentlichkeit in ihrer Berichterstattung, ähnlich wie die Poli-
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„die in der Lage sind, über ein Zeitungswesen und Hörfunk- und Fernsehkanäle ein europäisches Publikum zu adressieren“690, welches zur gleichen Zeit über die gleichen Themen informiert wird und diese simultan diskutiert, vergeblich sucht bzw. nur in Ansätzen vorhanden sind.691 So existiert einzelnen Untersuchungen zufolge zwar ein begrenzter, in einigen Segmenten auch wachsender europäischer Medienmarkt. Dieser bedient sich jedoch durchgängig der englischen Sprache und zielt darüber hinaus vornehmlich auf eher marginale und elitäre Fachöffentlichkeiten, nicht jedoch auf ein europäisches Massenpublikum.692 Transnationale Fernsehprogramme, wie das von deutschen, niederländischen, italienischen, portugiesischen und irischen Sendern ins Leben gerufene „Europa-TV“, wurden entweder wegen des ungelösten Sprachenproblems nach kurzer Zeit wieder eingestellt oder erreichen, wie das lediglich zweisprachige „Arte“ (Französisch und Deutsch) oder der in sieben Sprachen (Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch und Russisch) sendende Nachrichtenkanal „EuroNews“ nur ein sehr begrenztes Publikum.693 Bei den Printmedien, die tik, europäisiert hat, […] eine empirisch offene und strittige Frage“ ist, hält aber im Gegensatz zu Meyer und Huber eine pessimistische Sichtweise sowohl für die letzten zehn Jahre als auch für die Zukunft für angebracht. 690
Eder/Hellmann/Trenz, Regieren in Europa jenseits öffentlicher Legitimation? (Fn. 660), 321, 326. 691
Angaben und Zahlen finden sich bei H. Sievert, Europäischer Journalismus, 1998; R. B. Hodess, News Coverage of European Politics, in: Jopp/Maurer/Schneider (Hrsg.), Europapolitische Grundverständnisse im Wandel, 1998, 449-472; M. Van de Steeg, An Analysis of the Dutch and Spanish Newspaper Debates on EU Enlargement with Central and Eastern European Countries to Suggest Elements of a Transnational European Public Sphere, in: Baerns/Raupp (Hrsg.), Transnational Communication in Europe, 2000, 61-87. 692
D. Kevin/Ph. Schlesinger, Can the European Union Become a Sphere of Publics?, in: Eriksen/Fossum (Hrsg.), Democracy in the European Union, 2000, 206-229; J. Blumler/W. Hoffmann-Riem, New Roles for Public Television in Western Europe, Journal of Communication 41 (1992), 20 ff. Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642), 57, nennt die Financial Times, den Economist, Euronews oder die European Voice und zudem spezielle Nachrichtendienste und Internetportale wie Agence Europe, Afra Europe oder EurActiv. 693
Erfolgreicher sind sog. Sprachraumprogramme, die in einer Sprache gesendet werden, meist von mehreren öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten betrieben und zusammengestellt werden und für die Bewohner der jeweiligen Sprachregion konzipiert sind. Beispiele sind das für Deutschland, die Schweiz und Österreich produzierte 3-SAT oder der frankophone Sender TV 5, der von
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zudem noch viel stärker national oder regional gebunden sind, scheiterte schließlich der Versuch, mit der Zeitschrift „The European“ ein europaweit erscheinendes Printmedium zu installieren, schon nach kurzer Zeit.694 Selbst wenn es zutrifft, dass „transnationale Formen von öffentlicher Meinungsbildung und Kontrolle schon heute wirksam sind – trotz kultureller Vielfalt, Mehrsprachigkeit und vornehmlich national vermarkteten Medienprodukten“695, wird man doch feststellen müssen, dass politische Entscheidungen europäischer Organe nur selten breitere Aufmerksamkeit finden, sie infolgedessen kaum kritisch erörtert werden und im Ergebnis einer öffentlichen Kontrolle weitgehend entbehren. Besteht für Politiker “no requirement […] to perform according to the expectation of a ‘European’ constituency”696, dann kann es nur zu einer sehr begrenzten Einflussnahme europäischer Öffentlichkeit auf Entscheidungsprozesse der Unionsorgane kommen. Weder scheinen Strukturen ausgebildet, die eine Vermittlung von Interessen zwischen der Bürgerschaft und dem supranationalen politischen System sicherstellen noch ist gewährleistet, dass eine wirksame Kontrolle europäischer Politik stattfindet. Solange sich Massenmedien in ihrer Berichterstattung auf nationale, regionale oder kommunale Ereignisräume konzentrieren, „festigen sich dadurch aber auch Identifikationen mit der Lokalität, über
französischen, belgischen, schweizerischen und kanadischen Fernsehanstalten betrieben wird. Zu den Konzepten der Mehrsprachen-, Sprachraum- und Lingua-franca-Programmen, siehe W. Gellner, Sprachregion, Mehrsprachigkeit, Lingua Franca, Medium 1989, 18-21. Unter besonderem Bezug auf den Fernsehsender „Arte“, der das Sprachproblem durch Synchronisation, Untertitelung bzw. 2-Kanal-Tontechnik zu lösen versucht, informiert O. Hahn, Arte – der europäische Kulturkanal, 1997, über die Möglichkeiten von sog. Mehrsprachenprogrammen. 694
Siehe mit weiteren Nachweisen Gerhards, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 654), 96, 100; Beierwaltes, Demokratie und Medien (Fn. 658), 224 f. Zum Internet als sich anbietendes globales Netzwerk Leggewie, NETIZENS (Fn. 67), 3, 12 ff. 695
So Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642), 10, der diese Aussage unter Rückgriff auf empirisches Material in beeindruckender Weise darlegt. 696
Grundmann, The European public sphere and the deficit of democracy (Fn. 659), 125, 136.
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die man laufend informiert wird“697, sodass auch von einer Integrations- und Identitätsbildungsfunktion auf europäischer Ebene kaum gesprochen werden kann.698
3. Zum Begriff der Öffentlichkeit Wenn die Diagnose Grimms also nicht nur in Bezug auf die sprachliche Heterogenität, sondern auch hinsichtlich des defizitären Zustandes einer europäischen Öffentlichkeit zutreffend ist, bedeutet dies doch nicht, dass damit auch seine These, die Herausbildung einer entsprechenden Öffentlichkeit sei nur unter den Bedingungen eines homogenen Sprachraums möglich, bewiesen wäre. Bevor jedoch auf die spezifischen Entstehungsbedingungen einer europäischen Öffentlichkeit eingegangen und damit zugleich die Frage erörtert wird, ob sprachliche Homogenität für die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit tatsächlich zwingend erforderlich ist oder sich eine solche nicht vielleicht auch unter multilingualen Bedingungen entwickeln kann, sollen im Folgenden kurz verschiedene Begriffe von Öffentlichkeit dargestellt und die Funktionen, die Öffentlichkeit erfüllen soll, erläutert werden. Im Anschluss hieran werden mögliche Gründe für die verbreitete pessimistische Grundhaltung identifiziert, die das Denken transnationaler Öffentlich697
Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 308, der auch das enorme Problem für die Emergenz einer europäischen Öffentlichkeit fokussiert: „Gegenüber der Kontingenz und Volatilität von Verhältnissen und Ereignissen der großen Welt können sich über Informationsverdichtungen Präferenzen für die engere eigene Welt einspielen, die sich als Verstärkung eines Ethnozentrismus auswirken und dann auch politisch nicht mehr ignoriert werden können.“ 698
Im Ergebnis einer defizitären europäischen Öffentlichkeit stimmen die folgenden Analysen weitgehend überein H. Kaelble/M. Kirsch/A. SchmidtGernig, Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, 7, 27; H. Kaelble, Das europäische Selbstverständnis und die europäische Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert, 85, 105 f.; K. Imhof, Öffentlichkeit und Identität, 37, 51; alle in: Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig (Fn. 689). Gerhards, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 654), 96, 96 ff.; ders., Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 660), 277, 293 ff. Medien- und Kommunikationswissenschaftler kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen P. Glotz, Integration und Eigensinn, in: Erbring (Hrsg.), Kommunikationsraum Europa, 1995, 17, 19, 21 und 22; Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU (Fn. 666), 22.
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keiten erschweren und dazu führen, dass diese häufig als defizitär bezeichnet werden.
a. Funktionen von Öffentlichkeit Aussagen über das Bestehen, Nichbestehen oder über Defizite einer transnationalen Öffentlichkeit machen nur dann Sinn, wenn man zuvor klärt, welche Erwartungen an den Begriff der Öffentlichkeit gestellt werden und was Öffentlichkeit für das supranationale politische System leisten soll. Erst dann können eventuell bestehende Defizite ausgemacht und kritisiert werden. Im Rahmen dieser Arbeit kann es dabei nicht um eine möglichst umfassende Darstellung und Wertung der zahlreichen gesellschaftstheoretischen Ansätze gehen, die „sich sowohl in der Begrifflichkeit und den theoretischen Modellen, mit denen sie Öffentlichkeit oder öffentliche Kommunikation erfassen, wie auch darin, welche Funktionen oder Leistungen sie öffentlicher Kommunikation zuweisen oder zutrauen, etwa im Hinblick auf soziale und politische Integration oder Erfüllung bestimmter Demokratiepotentiale, oder genereller im Hinblick auf Aufklärung oder kulturelle Rationalisierung“699, unterscheiden. Wichtig für die hier zu erörternde Frage ist allein, ob für die Erfüllung der identifizierten Funktionen zwingend eine gemeinsame Sprache erforderlich ist oder nicht vielleicht die dem Begriff der Öffentlichkeit zugeschriebenen Funktionen auch unter multilingualen Bedingungen erfüllt werden können.
(1) Er- und Vermittlung von Interessen Zunächst ohne Rücksicht auf die grobe und idealtypische Einteilung in systemtheoretisch inspirierte Modelle („Beobachtungs-„ oder „Spiegelmodell“) und diskursive bzw. deliberative Modelle, die sich gegenüber den zuerst genannten durch eine deutlich stärkere normative Aufladung und eine vermehrte Funktionszuschreibung auszeichnen700, 699
B. Peters, Die Leistungsfähigkeit heutiger Öffentlichkeiten, in: Imhof/Jarren/Blum, (Hrsg.), Integration und Medien, 2002, 23, 23. 700
Zur Differenzierung zwischen diesen Idealtypen J. Gerhards/F. Neidhardt/D. Rucht, Zwischen Palaver und Diskurs, 1998, die allerdings zwischen einem „liberalen“ und einem „deliberalen“ Modell unterscheiden. Siehe auch Peters, Die Leistungsfähigkeit heutiger Öffentlichkeiten (Fn. 699), 23-35, sowie die Beiträge von F. Neidhardt, Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale
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kann festgehalten werden, dass Demokratie nicht „mit Parlamentarismus gleichgesetzt werden darf“ und der „parlamentarische Betrieb allein [...] noch keine demokratischen Strukturen“ gewährleistet, sondern der Einzelne „zur Geltendmachung seiner Meinungen und Interessen vielmehr auf zusätzliche Organisationen und Einflusswege angewiesen“ ist. In modernen und komplexen Massendemokratien erfolgt die Teilhabe der BürgerInnen am politischen Geschehen maßgeblich indirekt und vermittelt über Kommunikationsmedien, die, wie Dieter Grimm zutreffend schreibt, „die Verbindung zwischen den Einzelnen, ihren gesellschaftlichen Assoziationen und den staatlichen Organen“ aufrechterhalten und die „Wechselbeziehung zwischen Volk und Staat“ sichern.701 Periodisch stattfindende Wahlen zu einer Volksvertretung müssen in einer Demokratie demnach ergänzt werden durch ein „intermediäres System, dessen politische Funktion in der Aufnahme (Input) und Verarbeitung (Throughput) bestimmter Themen und Meinungen sowie in der Vermittlung der aus dieser Verarbeitung entstehenden öffentlichen Meinungen (Output) einerseits an die Bürger, andererseits an das politische System besteht.“702 Öffentlichkeit in diesem Sinne fungiert als ein strukturierter Artikulationsraum, in dem Meinungen und Themen fluktuieren, Informationen gesammelt, aggregiert und ge-
Bewegungen, 7-41, und Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, 42-76, beide in: Neidhardt (Fn. 47). Zu Begriff, Geschichte und Funktion der „Öffentlichen Meinung“ bzw. „Öffentlichkeit“ L. Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, 1979; ders., Öffentlichkeit, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1975, 413-467; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.1, 303-331; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2 (beide Fn. 308), 520-546. Zum systemtheoretischen Ansatz Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 274-318; ders., Die Beobachtung der Beobachter im politischen System, in: Wilke (Hrsg.), Öffentliche Meinung, 1994, 77, 83 ff. Zu den Funktionen von Öffentlichkeit mit besonderem Bezug auf die europäische Integration Gerhards, Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 660), 277, 288 ff.; Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU (Fn. 666), 12 ff. 701
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 587 f. Zur ständigen Betonung der Interdependenzen zwischen Demokratie, Öffentlichkeit und Kommunikationsgrundrechten in der Rechtsprechung des BVerfG, siehe: BVerfGE 5, 85, 135, 298, 205; 7, 198, 208; 12, 113, 125; 20, 56, 97; 35, 202, 221 f.; 42, 133, 169; 59, 231, 266; 69, 315, 344 ff. 702
J. Gerhards/F. Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, in: Müller-Doohm/Neumann-Braun (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, 1991, 34 f., 40 und 79.
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wertet, Bedürfnisse geäußert und politische Forderungen gestellt, kollektive Probleme identifiziert und alternative Politiken und Problemlösungsvorschläge kontrovers debattiert, Werte und Normen behauptet und revidiert werden können und in dem schließlich eine Vermittlung „zwischen dem politischen System einerseits, den privaten Sektoren der Lebenswelt und funktionell spezifizierten Handlungssystemen andererseits“703 stattfinden kann.704 In der einen Richtung dient Öffentlichkeit für das politische System mithin als „relativ sensibler Resonanzboden“ für in der Bürgerschaft generierte öffentliche Meinungen, in der anderen Richtung „vermittelt sie politische Entscheidungsprozesse an dieses Publikum und kann damit die Eigensteuerung und Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft erhöhen.“705 Der durch Kommunikationsgrundrechte abgesicherte Bereich der Öffentlichkeit soll gewährleisten, dass der Prozess der politischen Willensbildung vorstrukturiert, d.h. Vor- und Nachteile anstehender Entscheidungen erörtert und zustimmende bzw. ablehnende Stellungnahmen sortiert werden und dadurch „die Bürger auf den ständigen Prozess der politischen Entscheidungsfindung Einfluss nehmen können.“706 Selbst bei normativ weniger anspruchsvollen Konzepten, wie dem oben bereits genannten systemtheoretisch-funktionalen Modell, ist ein Moment von Er- und Vermittlung insofern noch erkennbar, als auch hier Öffentlichkeit für den Raum steht, in dem sich die beteiligten Akteure mit den Informationen versorgen, die sie dann im politischen Prozess strategisch verwenden.707 Aus systemtheoretischer Perspektive ist das politische System gezwungen, bei seinen Operationen immer mit zu 703
Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 451 und passim. Siehe auch das Vorwort zur Neuauflage, ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1995, 38. 704
Zur Vermittlungsfunktion von Öffentlichkeit, siehe auch H.-J. Trenz, Einführung, in: Klein u.a. (Hrsg.), Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa, 2003, 161, 161. Speziell zur europäischen Ebene Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (Fn. 8), 60 und 61. 705
Gerhards/Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit (Fn. 702), 31, 41, 79 und 81: „Politik kann über Öffentlichkeit die Themen und Meinungen der Gesellschaft beobachten und muss darauf reagieren. Die Gesellschaft kann umgekehrt über Öffentlichkeit die Politik beobachten und kontrollieren, ob deren Output mit ihren Interessen übereinstimmt.“ 706
Kirchner/Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft (Fn. 97), 760, 766 f. 707
47 f.
Siehe hierzu vor allem Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit (Fn. 47), 42,
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beobachten, wie es beobachtet wird: „Aber auch und gerade Herrscher werden beobachtet; und sie beobachten, dass sie beobachtet werden“708. Wenn man aber „die Selbstbeobachtung darauf einstellen [muss], dass und wie man beobachtet wird“709, heißt das auch unter Berücksichtigung aller Scherben und Brüche, die der vorgehaltene Spiegel „Öffentlichkeit“ enthält, nichts anderes als dass das, was Politik tun kann, sich zumindest auch nach dem bemisst, was Öffentlichkeit als Resonanz gibt. Konsequenterweise muss auch Niklas Luhmann festhalten, dass die politischen Parteien „nicht umhinkommen, intern die Kontroversen und Konflikte zu copieren, zu denen die Schemata und Skripts der öffentlichen Meinung Anlass geben.“710 Zwischen den unterschiedlichen Konzeptionen und Verständnissen von Öffentlichkeit mag es demnach zwar Unterschiede in Bezug auf die Unmittelbarkeit bzw. die interdependenten Aufnahme und Verarbeitungsweisen zwischen Öffentlichkeit und politischem System geben. Aber auch bei dem in dieser Hinsicht wesentlich vorsichtiger angelegten systemtheoretischen Begriff von Öffentlichkeit kann noch die Funktion der Er- und Vermittlung von Interessen identifiziert werden.
(2) Legitimation und Kontrolle Weitere wichtige normative Funktionen, die dem Begriff der Öffentlichkeit zugeschrieben werden, konzentrieren sich zum einen auf die Generierung von Legitimation und zum anderen auf die Kontrolle des politischen Systems. Indem „auch zwischen Abstimmungsverfahren Verantwortlichkeit und Responsivität von politischem Handeln“711 ge708
Luhmann, Die Beobachtung der Beobachter im politischen System (Fn. 700), 77, 83. Aus historischer Perspektive ist diesbezüglich der Hinweis von A. Schulz, Der Aufstieg der „vierten Gewalt“, Historische Zeitschrift 270 (2000), 65, 81, interessant, dass die Presseerzeugnisse des Berliner Verlegers August Scherl „am Hof intensiv studiert [wurden], weil man wusste, dass sie in Gasthöfen und Vereinslokalen auslagen, in Bahnhöfen und auf den Straßen verkauft und von jedermann gelesen wurden.“ 709
Luhmann, Die Beobachtung der Beobachter im politischen System (Fn. 700), 77, 85. 710
N. Luhmann, Meinungsfreiheit, öffentliche Meinung, Demokratie, in: Lampe (Hrsg.) Meinungsfreiheit als Menschenrecht, 1998, 99, 109. 711
Ch. O. Meyer, Die Wächterfunktion von europäischer Öffentlichkeit, in: Klein u.a. (Hrsg.), Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa, 2003, 231, 234. Zur Rückkopplung der staatlichen Entscheidungen an das Volk
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fördert und im öffentlichen Raum eingefordert wird, nähert man sich der dem Demokratieprinzip inhärenten Vorstellung, dass der konkrete und mit dem Mehrheitsprinzip arbeitende politische Entscheidungsprozess der ausführlichen Diskussion möglichst vieler Betroffener entspringen soll und das Volk als demokratischer Souverän effektiven Einfluss auf die Staatsgewalt bewirken kann, d.h. die Ausübung der Staatsgewalt ihrem Inhalt nach vom Volk hergeleitet bzw. mit dem Volkswillen vermittelt und auf diese Weise die Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk sichergestellt werden kann.712 Die Legitimation politischer Autorität erfolgt in einer öffentlichen kommunikativen Sphäre, in der die diskursive Auseinandersetzungen der Bürgerschaft nicht beendet werden und in der niemand mit dem Monopol der Letztentscheidungskompetenz auftreten, das politische System folglich immer wieder zur Orientierung am öffentlichen Machtkreislauf genötigt werden kann.713 Zeichnet sich demokratische Legitimität aber durch die kommunikative Verbindung der BürgerInnen untereinander sowie durch eine Kommunikation zwischen BürgerInnen und dem politischen System aus, dann ist es neben den formalisierten Verantwortungs- und Delegationszusammenhängen maßgeblich das Vorhandensein einer funktionierenden Öffentlichkeit, das „die Bürger instand [setzt], das politische Bestimmungsrecht, welches die Demokratie ihnen verleiht, auch umzusetzen und aktiv wahrzunehmen. Demokratie mit abgeschotteter Information, Demokratie ohne die Möglichkeit öffentlicher Meinung kann nicht bestehen; sie bleibt Fassade für einen andern politischen Gehalt.“714
und zur Sichtbarmachung von Verantwortungszusammenhängen auf europäischer Ebene Kirchner/Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft (Fn. 97), 760, 767. 712
Siehe nur Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 14 und 21, der besonders die Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte hervorhebt. Ebd., Rn. 37. 713
Frankenberg, Die Verfassung der Republik (Fn. 13), 133; Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), passim; ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit (Fn. 703), 44: „Diskurse herrschen nicht. Sie erzeugen eine kommunikative Macht, die die administrative nicht ersetzen, sondern nur beeinflussen kann. Dieser Einfluß beschränkt sich auf die Beschaffung und den Entzug von Legitimation.“ 714
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 68. Ganz ähnlich auch Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 588.
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Kaum zu trennen von der Legitimierungsfunktion der Öffentlichkeit ist die Kontrollfunktion. Wenn das Demokratieprinzip fordert, dass das politische System von unten, d.h. von den BürgerInnen bestimmt werden soll, dann bedeutet dies zugleich, dass die BürgerInnen über Möglichkeiten und Einflusswege verfügen müssen, politische Entscheidungen und politische Amtsträger zu kontrollieren. Und dies nicht allein über die in regelmäßigen Zeitabständen stattfindenden Wahlen und institutionellen Vorkehrungen, sondern eben auch durch das Vorhandensein einer „gesamtgesellschaftlich zentralen Rückkopplungsschleife“715 in Gestalt eines intermediären Kommunikationssystems mit der Bezeichnung Öffentlichkeit. Dass die Kontrollfunktion trotz der teilweise gravierend unterschiedlichen Konzeptionen auch in einem systemtheoretischen Öffentlichkeitsbegriff eine Rolle spielt und in Verbindung gesetzt wird zum Demokratieprinzip, zeigt sich in der folgenden Formulierung Niklas Luhmanns: „Ohne öffentliche Meinung wäre, um dies nochmals zu betonen, keine Oppositionskultur und damit keine Demokratie möglich.“716 Das politischen Personal, das aufgrund des Wahlmechanismus von der Zustimmung der BürgerInnen abhängig ist, kann kritisiert und kontrolliert und über in der Öffentlichkeit erzeugten Druck für Fehler oder Machtmissbrauch zur Rechenschaft gezogen werden: „Die massenmediale Herstellung von Öffentlichkeit bietet einer großen Zahl von Bürgern Zugang zu Informationen über potentielle Normverletzungen und stellt zugleich ein Instrument symbolischer Macht dar, um Reaktionen vom politischen System einzufordern.“717 Daher verwundert es auch nicht, dass die Kontrollfunktion von Öffentlichkeit besonders im Moment des politischen Skandals virulent wird, in dem „einem kalkulierten Machtmissbrauch im Nicht-Öffentlichen die Möglichkeit des Machtgebrauchs einer mobilisierten Öffentlichkeit
715
Gerhards/Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit (Fn. 702), 31, 38 f. 716 717
Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 302.
Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642), 54. Zur Kontrollfunktion mit explizitem Bezug auf die Frage der Demokratiefähigkeit der EU, siehe auch Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? (Fn. 109), 27, 37 f., demzufolge sämtliche Partizipationsmöglichkeiten Stückwerk blieben, „wenn die demokratisch gebildeten Organe nicht einer wirksamen öffentlichen Kontrolle unterlägen“.
214
3. Kapitel
entgegengehalten“718 und damit die Ausübung politischer Herrschaft kontrolliert wird.719
(3) Integration und Identität Eine weitere Funktion, die dem Begriff der Öffentlichkeit zugeschrieben wird, kann schließlich in dem Beitrag gesehen werden, den die stattfindenden Kommunikationen für die Integration einer Gesellschaft und für die Konstruktion ihrer kollektiven Identitäten leistet. Wurde die Bedeutung von Öffentlichkeit für die Fusion kleinerer zu größeren Gemeinschaften sowie für die Grenzziehung zwischen politischen Gemeinwesen und für die Emergenz kollektiver Identitäten bereits von Historikern, die die Entstehungsbedingungen und -prozesse der europäischen Nationalstaaten untersucht haben, herausgearbeitet720, so wird die Integrations- und Identitätsfunktion heute vor allem von denjenigen Autoren besonders hervorgehoben, die die Strukturen transnationaler Öffentlichkeiten analysieren und in diesen Strukturen Mechanismen erblicken, die „zur Schaffung, Förderung und Stabilisierung einer bürgerschaftlichen Identität unter den sozialen Gruppen einer politischen Einheit beitragen.“721 In der Einleitung zu dem Sammelband über „Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert“ halten die Herausgeber fest, dass sich infolge von Transnationalisierungsprozessen „Wandlungen und Kontinuitäten des kollektiven Selbstverständnisses in erster Linie in den öffentlichen Debatten und auf den verschiedenen Ebenen der nationalen wie vor allem auch der entstehenden transnationalen Öffentlichkeiten [manifestieren]. Das bedeutet, dass kollektive Identitäten vor allem über die verschiedenen 718
H.-J. Trenz, Korruption und politischer Skandal in der EU, in: Bach (Fn. 660), 332, 339. 719
Generell zum Verhältnis zwischen politischem Skandal und Öffentlichkeit R. Ebbighausen, Inszenierte Öffentlichkeit und politischer Skandal, in: Göhler (Hrsg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, 1995, 231, 234. Konkret zur Bedeutung des Skandals für die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit Trenz, Korruption und politischer Skandal in der EU (Fn. 718), 332-359; K. Eder, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa, Berliner Journal für Soziologie 2000, 167, 196 ff. 720
Siehe unten: b. Hindernisse beim Denken europäischer Öffentlichkeit, (1) Nationalismus, Sprache und Öffentlichkeit. 721
Meyer, Die Wächterfunktion von europäischer Öffentlichkeit (Fn. 711), 231, 233; ders., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642), 55.
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Kanäle der Öffentlichkeiten manifest und schließlich handlungsrelevant werden.“ „Kollektive Identitäten“, so fahren sie fort, sind „vor allem aber auch grundlegend an „Öffentlichkeiten“ im weitesten Sinne gebunden, d.h. sie müssen in einem öffentlichen Raum artikuliert und medial vermittelt sein, um überhaupt auf kollektiver Ebene wirksam zu werden zu können. Das gilt vornehmlich bei steigender Ausdifferenzierung der Gesellschaft: Je stärker moderne Gesellschaften in Subsysteme mit eigenen Steuerungsmedien zerfallen, desto schwieriger ist „Gemeinschaft“ überhaupt noch herzustellen, desto wichtiger werden Integrationsmedien der Öffentlichkeiten.“722
b. Hindernisse beim Denken europäischer Öffentlichkeit Dass über die Nationalstaaten hinausgehende, auf das supranationale politische System bezogene Öffentlichkeiten, in der Verfassungslehre häufig als defizitär beschrieben oder die Chancen ihres Entstehens skeptisch bewertet werden, ergibt sich nicht allein aus der Rezeption der oben zitierten soziologischen, politologischen und kommunikationswissenschaftlichen Literatur, die zumindest für den aktuellen Stand diese Bedenken zu bestätigen scheinen. Sie beruhen vielmehr auch auf historischen Argumenten und resultieren aus der simplen Übertragung nationalstaatlicher Modelle auf die europäische Ebene einerseits und der Idealisierung nationalstaatlicher Öffentlichkeit andererseits.
(1) Nationalismus, Sprache und Öffentlichkeit Zahlreiche, vor allem historische Arbeiten haben in den vergangenen Jahren verdeutlicht, dass die Entstehung und Verbreitung des Phänomens Nationalismus sowie die Konstituierung der europäischen Nationalstaaten eng verbunden sind mit der Entdeckung, Konstruktion, Festigung, Schließung und Emanzipation von Sprachgemeinschaften und der Verdichtung von Kommunikationen. In gegenseitiger Beeinflussung und Durchdringung gingen diese Prozesse einher mit dem Entstehen eines ebenfalls dichter werdenden und verbesserten Verkehrsnetzes, mit rasanten Entwicklungen in der Nachrichtentechnik, dem Ausbau logistischer und journalistischer Netzwerke sowie der Entstehung politischer Parteien und gesellschaftlicher Verbände und Vereine. Einsetzen722
Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig, Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert (Fn. 698), 7, 13 und 21.
216
3. Kapitel
de Urbanisierung und zunehmende Alphabetisierung führten zur Expansion neuer Leserschichten.723 Jenes bürgerliche, politisch erwachende und sich seiner gesellschaftlichen Bedeutung stärker bewusst werdende Publikum wurde im 18. Jahrhundert von einem in dieser Größe und Dynamik bisher unbekannten, stark expandierenden Buch- und Zeitschriftenmarkt und einer Fülle von Literatur in deutscher Sprache versorgt.724 In dieser Phase der historischen Entwicklung kommt es zu einer zirkulären Entwicklung in der, so der Historiker Hans-Ulrich Wehler, „die Verbreitung der inhaltlichen Elemente des Nationalismus an die Existenz eines allmählich enger werdenden Kommunikationszusammenhangs in einem zunächst locker verknüpften Verband gebunden zu sein [scheint]. Zunehmende Intensität des Nationalismus setzt, so gesehen, wachsende Dichte des Kommunikationsgeflechts voraus, wie der Nationalismus seinerseits diesen Zusammenhang wiederum fördert und fordert. Solche Kommunikationsnetze beruhen einmal auf der soziokulturellen Standardisierung einer Schrift- und Umgangssprache, auf gemeinsamen Normen, Symbolen und historischen Erinnerungen. Institutionell und sozialhistorisch werden sie getragen – und in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert historisch erst ermöglicht – durch wirkungsvolle Kommunikationsmedien wie die Zeitschriften und Zeitungen, private und wissenschaftliche Korrespondenzen, durch das Verlagswesen, die Universitäten, die Akademien, durch eine geographisch mobile Beamten-, Gelehrten- und Studentenschaft, überhaupt durch den Ausbau des Erziehungs- und Verkehrssystems. Postwesen, Straßen, Kanäle und schließ723
Hier sind vor allem die Arbeiten von K. W. Deutsch, Nationalism and Social Communication, 1966; ders., Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, 1972, zu nennen. Zu den Interdependenzen zwischen Nationalstaat, Kommunikationsverdichtung und nationaler Öffentlichkeit, siehe aus historischer Perspektive auch Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte (Fn. 332), 147, 160 ff.; Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990 (Fn. 588), 30, 34 f., 67, 103, 134, 165, 211, 251, 319. Nach Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa (Fn. 309), 29 und 32, war es die „Kommunikationsrevolution des 19. Jahrhunderts“, die „die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den modernen Nationalismus“ schuf und „eine „Nationalisierung der Massen“ bewirkte.“ Aus linguistischer Sicht siehe Haarmann, Die Sprachenwelt Europas (Fn. 592), 248-271, 279 ff.; ders., Europeaness, European Identity and the role of language (Fn. 621), 1-55, vor allem 31 ff. 724
Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990 (Fn. 588), 35; Giesen/Junge, Vom Patriotismus zum Nationalismus (Fn. 397), 255, 266.
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lich Eisenbahnen gehören in diesem Sinn auch zu den materiellen Grundlagen erleichterter nationaler Kommunikation, die mit der Ausdehnung des Lesepublikums, der Bildungsmöglichkeiten, des publizistischen Marktes und überhaupt der Marktwirtschaft, der Wehrpflicht, der Verwaltungs- und Besteuerungsinstitutionen sowie später mit der Urbanisierung, der horizontalen Mobilität und Wahlbeteiligung ein immer feineres Gewebe entwickelte, das schließlich die Nationalisierung der Gesamtbevölkerung gestattete.“725 Die angenommene Koinzidenz zwischen Sprache, Öffentlichkeit und Nationalstaat und die Vorstellung, dass Öffentlichkeit nur innerhalb nationaler Grenzen besteht und durch diese abgesteckt wird, beziehen ihre Plausibilität zu einem nicht unerheblichen Teil daraus, dass die entstehende Öffentlichkeit ab einem gewissen Punkt als Teil einer nationalstaatlich organisierten Gesellschaft auftritt und das Publikum mit den Mitgliedern der Gesellschaft bzw. das politische Publikum mit der Gesamtheit der (aktiven) StaatsbürgerInnen gleichgesetzt wird. In dieser Hinsicht korrespondiert dem Begriff der Öffentlichkeit „das Bewusstsein von einer fortschreitenden geistigen, politischen und räumlichen Integration des Volkes, die sich im zunehmenden Verkehr von Meinungen und Menschen über Landes- und ständische Grenzen hinweg manifestierte. Er erschloss damit die Vorstellung von einem politisch homogenen sozialen Raum und bereitete so den Bedeutungswandel in der 2. Jahrhunderthälfte vor, als ‚Öffentlichkeit’ die Bedeutung eines Personenkollektivs annahm.“726 Auch wenn die Nationalsprache sowohl in den sog. Staats- als auch in den Kulturnationen727 eine bedeutende Rolle im Prozess der Konstitu725
Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.1 (Fn. 308), 512.
726
Hölscher, Öffentlichkeit (Fn. 700), 413, 430 ff.
727
Zutreffend erinnert Kraus, Von Westfalen nach Kosmopolis? (Fn. 674), 203, 209 f., daran, dass es „im Ergebnis häufig keinen wesentlichen Unterschied [macht], ob wir es mit Staats- oder Kulturnationen zu tun haben. Beide nationalstaatliche Konstruktionsvarianten haben dem Faktor der Sprache in ihren jeweiligen politischen Integrationskontexten einen hohen Stellenwert eingeräumt. In sogenannten Staatsnationen wurde die Durchdringung des öffentlichen Raums mit einer einheitlichen Sprache in aller Regel zum erklärten Ziel der Eliten in Politik und Administration. In Kulturnationen bildete umgekehrt das „vorgefundene“ gemeinsame Band der Sprache einen der elementaren Bezugspunkte für die Definition kollektiver Identitäten nicht nur durch Dichter und Denker, sondern zunehmend auch durch politisch maßgebliche Akteure. Sprachpolitisch ergaben sich im einen wie im anderen Fall oft ähnliche Effekte. Nationalstaaten waren im Allgemeinen bestrebt, sprachlich möglichst homogene Kommunikationsräume zu schaffen.“ Zu dem „französischen Bestehen auf
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3. Kapitel
ierung und Konsolidierung des politischen Systems und der Herausbildung einer nationalen Öffentlichkeit spielte, so kommt der Sprache bei den zuletzt genannten doch insofern eine besondere Bedeutung zu, als hier die nationalen Kräfte, lange bevor sie politische Wirksamkeit entfalteten, mangels eines bereits existierenden Machtzentrums zunächst als linguistisch-kulturelle Bewegungen begannen und die gemeinsame Sprache zum Mittelpunkt ihrer Argumentation machten.728 Die von diesen Bewegungen in den Blick genommenen Spracheinheiten bestanden indes nicht als organische, aus der Geschichte vorgegebene Wesenseinheiten, vielmehr bedurfte es in nahezu allen europäischen Staaten erheblicher Standardisierungs- und Homogenisierungsmaßnahmen, die über die Einführung von offiziellen Amtssprachen, die Durchsetzung der Nationalsprache in den Schulen bis hin zur massiven Unterdrückung von Minderheitensprachen reichten.729 Sie begünstigten und unterstützten wiederum jene Verdichtung und Bündelung der Kommunikation, die sich innerhalb des jeweiligen Nationalstaates realisierte, sich auf dessen politischen Geltungsbereich bezog und innerhalb seiner territorialen Grenzen das generierte, was wir als Öffentlichkeit bezeichnen. Ob indes die historischen Entwicklungsprozesse, in denen zwischen einer gemeinsamen Sprache und der Entstehung von Öffentlichkeit tatsächlich enge Verbindungen nachzuweisen sind, tatsächlich als Argument dafür angeführt werden können, dass die Entstehung von über die territorialen Grenzen der Nationalstaaten hinausgehenden Öffentlichkeiten unwahrscheinlich ist, mag schon fraglich sein. Jedenfalls erweist sich aber die mit historischen Argumenten begründete Begrenzung von Öffentlichkeit auf den Nationalstaat am Anfang des 21. Jahrhunderts als Problem. Während, wie gezeigt, politische Systeme auf supranationaler Ebene entstehen und sich die Nationalstaaten in trans- und supranationale Organisationen einbinden, um dem Verlust der Steuerungsfähigkeit zu begegnen, den sie dadurch erleiden, dass sich andere gesellschaftliche Teilsysteme nicht mehr an die traditionellen politischen sprachlicher Einheitlichkeit seit der Revolution“, siehe auch Hobsbawm, Nationen und Nationalismus (Fn. 587), 32 f.; Haarmann, Die Sprachenwelt Europas (Fn. 592), 93 f. 728
Kraus, Von Westfalen nach Kosmopolis? (Fn. 674), 203, 209 f.; ders., Kultureller Pluralismus und politische Integration (Fn. 642), 443, 449. 729
Siehe hierzu Böckenförde, Die Schweiz – Vorbild für Europa? (Fn. 59), 25, 28; ders., Nationen und Nationalstaaten (Fn. 269), 82 f.; Scheuner, Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung (Fn. 90), 105 f.
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Grenzen halten, bleibt die Frage offen, wie Demokratiemodelle zu konzipieren sind, die auch außerhalb des nationalstaatlichen Rahmens effektiv umgesetzt werden können. Wird aber das Demokratieprinzip mit dem Vorhandensein einer wie immer strukturierten Öffentlichkeit verbunden, dann ist man – ob man will oder nicht – mit dem „Problem konfrontiert, wie angesichts übergreifender Problemlagen, Globalisierungs- und Migrationseffekten, dieses nationalstaatliche Korsett politischer Öffentlichkeit erweitert werden kann.“730
(2) Übertragung nationalstaatlicher Modelle Stellt man die soeben beschriebenen Prozesse in Rechnung, mag deutlicher werden, warum in den in Verfassungs- und Europarechtslehre stattfindenden Diskussionen häufig das Modell einer nationalstaatlich verfassten Öffentlichkeit auf ein neuartiges politisches Gebilde wie die EU übertragen wird, um sodann in einem nächsten Schritt danach zu fragen, in welchem Umfang die Merkmale und Strukturen des nationalstaatlichen Modells auch auf europäischer Ebene anzutreffen sind. Misst man aber „die europäische Öffentlichkeit an den nationalen Öffentlichkeiten in Europa und erwartet, dass die Geschichte der europäischen Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Art spätes Replay der Geschichte der nationalen Öffentlichkeiten seit dem 19. Jahrhundert war, so kommt man notgedrungen zu dem Schluss, dass sie in der jüngeren Geschichte und auch in der näheren Zukunft schwach entwickelt und diese Schwäche sogar ein dauerhaftes, in der Natur Europas liegendes Hindernis für eine volle demokratische Kontrolle der europäischen Entscheidungen ist.“731 Auch wenn die Vorstellungen und Konzepte von sowie die Erfahrungen mit Öffentlichkeit nicht zuletzt wegen der dargestellten historischen Entwicklungen bisher hauptsächlich auf den spezifischen Erscheinungsformen nationaler Öffentlichkeiten beruhen, kann es im Hinblick auf eine angemessene Analyse der Bedingungen und Strukturen europäischer Öffentlichkeit
730 731
Imhof, Öffentlichkeit und Identität (Fn. 698), 37, 40 f.
H. Kaelble, Die europäische Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Grüttner/Hachtmann/Haupt (Hrsg.), Geschichte und Emanzipation, 1999, 651, 655 f. Siehe auch K. Eder/C. Kantner, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach (Fn. 660), 306, 325 f.
220
3. Kapitel
nicht darum gehen, sich auf „die Suche nach dem Nationalstaat auf europäischer Ebene“732 zu machen. Sinnvoller scheint es demgegenüber, der „etatistischen Verengung“ im Sinne einer „alternativlosen, geschlossenen Staats- und Föderationsmodellierung“733 die Suche nach „funktionale Äquivalente zu dem, was der Nationalstaat geboten hat“734, entgegenzusetzen. Hierfür bedarf es allerdings einer Vorgehensweise, die nicht nur die Besonderheiten der supranationalen Ebene in Rechnung stellt und versucht, diesen insofern gerecht zu werden, als sie einen an diesen Besonderheiten orientierten Begriff von Öffentlichkeit entwirft, sondern die vor allem und zunächst einmal die Angemessenheit des Standardmodells nationaler Öffentlichkeiten hinterfragt sowie ein realistisches, von Idealisierungen befreites Bild nationaler Öffentlichkeiten zeichnet.
(3) Idealisierung nationaler Öffentlichkeiten Gravierender noch als die Übertragung nationaler Modelle auf neuartige politische Strukturen wirkt die idealisierende Konzeptionalisierung nationaler Öffentlichkeiten, die der soeben geschilderten Übertragung vorausgeht. Abstrakt wird die „normative Komponente von Öffentlichkeit zum Kriterium von Öffentlichkeit und die ideale Selbstbeschreibung von Öffentlichkeit zum empirischen Maß ihrer Existenz“ gemacht, um sodann dieses idealtypische normative Modell von Öffentlichkeit mit Ansätzen einer europäischen Öffentlichkeit zu vergleichen. Geht man in dieser Weise vor, handelt man sich jedoch das Risiko ein, „ein Nichts dort sehen zu müssen, wo sich abweichend von der idealen Beschreibung reale Wirklichkeiten öffentlicher Kommunikation ausmachen lassen.“735
732
Eder, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa (Fn. 719), 167, 168 und 171 f. 733
H.-P. Ipsen, Europäische Verfassung – Nationale Verfassung, EuR 22 (1987), 195, 200-204, 211 f. 734
Eder, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa (Fn. 719), 167, 168 und 171 f. 735
Eder/Kantner, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa (Fn. 731), 306, 325 f.
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(a) Inhaltliche Restriktionen nationaler Öffentlichkeiten Auffällig oft wird in den Schriften, die sich zur defizitären europäischen Öffentlichkeit äußern, entweder überhaupt keine nähere Spezifizierung des eigenen Begriffs von Öffentlichkeit vorgenommen oder aber ein unterkomplexer, emphatischer bzw. idealisierter Begriff von Öffentlichkeit verwendet. Letzteres ignoriert aber, dass auch die Öffentlichkeiten in den Nationalstaaten Restriktionen unterworfen sind und Mängel aufweisen.736 So erscheint es bereits im Nationalstaat unwahrscheinlich, „dass sich in der Öffentlichkeit Allgemeinheit auch nur annähernd repräsentativ unmittelbar zu Sprache bringen kann“737. Vertritt man implizit oder explizit einen Öffentlichkeitsbegriff, der den allgemeinen Zugang jeder Person unter grundsätzlich gleichen Bedingungen einschließt, und beharrt man aus diesem Grund auf dem Erfordernis einer gemeinsamen Sprache, dann wird übersehen, dass jener idealisierte Kommunikationszusammenhang schon auf nationaler Ebene erheblich relativiert werden muss. Unter anderem bleibt bei Zugrundelegung eines Begriffs von Öffentlichkeit, der die allgemeine Diskursfähigkeit der Akteure voraussetzt, unberücksichtigt, dass die gesellschaftliche Verteilung kognitiven Wissens, „das angesichts zunehmender sozialer Problemkomplexität für den Beitrag zur Lösung dieser Problemlagen oder aber auch für das Verständnis (und damit der Kontrolle) der angebotenen Problemlösungen von eminent wichtiger Bedeutung ist“738, ungleich verläuft. Vor dem Hintergrund einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft geht es dabei nicht allein um den Erwerb von Wissen in einem inhaltlichen Sinne, sondern auch und gerade um den Erwerb derjenigen Kenntnisse, die jemanden dazu befähigen, „erfolgreich“ an spezifischen Sprachspielen teilzunehmen.739 Schließlich sehen sich aber auch andere 736
Zum Folgenden siehe nur Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit (Fn. 47), 42-76. 737
Gerhards/Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit (Fn. 702), 64. 738 739
Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit (Fn. 47), 42, 51 ff.
Die „kommunikativen Asymmetrien in modernen Öffentlichkeiten“ werden von Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit (Fn. 47), 42, 51 ff., ausführlich dargestellt. Nach Peters, ebd., 55, geht es „nicht um die bloße Verteilung des Wissens in einem quantitativen Sinn. Es geht auch um unterschiedliche Formen des Wissens oder des Umgangs mit Wissen, um unterschiedliche kognitive Stile und Relevanzsysteme. Es handelt sich um den Erwerb von Spezialsprachen im weitesten Sinn, um die Sozialisation in Sprachspiele, welche die Kenntnisse von
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3. Kapitel
Merkmale, die einer allzu idealisierten Öffentlichkeit zugeschrieben werden, wie Gleichheit und Reziprozität oder Offenheit und adäquate Kapazität, strukturellen Beschränkungen ausgesetzt, die etwa auf sozialen Stratifikations- und Machtstrukturen, internen Differenzierungen oder auf damit verbundenen, aber weitgehend diffus bleibenden Selektionsmechanismen beruhen.740
(b) Segmentierung und Fragmentierung Zutreffend ist, wie oben gezeigt wurde, dass es starke Interdependenzen zwischen der Entstehung der Nationalstaaten und der Herausbildung nationaler Öffentlichkeiten gegeben hat. Fraglich ist aber, ob es sich hierbei um eine einheitliche Öffentlichkeit gehandelt hat und ob Öffentlichkeit darüber hinaus heute als „homogener, eigenständiger Akteur“741 gesehen werden kann. Sollten sich nationale Öffentlichkeiten nicht als einheitliche erweisen, sondern vielmehr als ein Kommunikationszusammenhang vielfältiger und segmentierter Öffentlichkeiten, dann wäre dies ein starkes Argument gegen die Forderung nach sprachlicher Homogenität als Voraussetzung des Entstehens einer europäischen Öffentlichkeit. Und tatsächlich wird bereits für das Entstehen nationaler Öffentlichkeiten Mitte des 18. Jahrhunderts von einer intern stark differenzierten, aus mehreren Teilöffentlichkeiten bestehenden Öffentlichkeit ausgegangen: „Eine breite Teilöffentlichkeit konsumiert
Begriffssystemen ebenso voraussetzen wie Wissensbestände, in welche diese Begriffe eingebettet sind, und praktische Fertigkeiten sowie bestimmte praktische Interessenrichtungen und Erfolgskriterien.“ Ähnlich auch Gerhards/ Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit (Fn. 702), 31, 66, die „soziostrukturell begründete und sozialstrukturell vermittelte Ungleichheiten hinsichtlich der allgemeinen Öffentlichkeitsbereitschaft der Bürger“ ausmachen, welche „zu einer selektiven Rekrutierung und zu weiteren Repräsentationsverzerrungen des Öffentlichkeitssystems“ führen. 740
Zu den Schwierigkeiten von Öffentlichkeit auf nationaler Ebene, siehe auch Frankenberg, Die Verfassung der Republik (Fn. 13), 36 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 402 ff. Dass der Begriff der Öffentlichkeit bereits im 19. Jahrhundert ein im hohen Maße idealisierter und mit Pathos aufgeladener Begriff war, der die realen Verhältnisse kaum passend widerspiegelte, zeigt eindrucksvoll Schulz, Der Aufstieg der „vierten Gewalt“ (Fn. 708), 65, 73 ff. 741
J. Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), 5, 7.
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Reiseberichte, Modenachrichten, Korrespondenzreportagen; daneben bildete sich eine politische Publizistik aus. Ferner entwickelt sich ein Publikationszusammenhang, der auf pragmatisch-wissenschaftliche Themen bezogen war, bezogen auf die beginnende Auffächerung der Disziplinen in den Wissenschaften; schließlich [...] ist die [...] literarische Öffentlichkeit zu nennen.“742 Auch wenn die nationalen Öffentlichkeiten schon damals nicht den aufklärerischen Vorstellungen einer allgemeinen, gebildeten, politisierenden und objektiven Instanz eines universalen Vernunftwillens entsprachen, umspannten sie quantitativ doch die jeweilige Sprachgemeinschaft und integrierten die vielfältigen Teilöffentlichkeiten jedenfalls in stärkerem Maße zu einer Öffentlichkeit als dies heute der Fall ist.743 Heute lassen sich nationale Öffentlichkeiten, wenn man nicht vollständig die Realität ignorieren will, mit dem Bild einer einheitlichen und infolgedessen Gemeinschaft erzeugenden Öffentlichkeit nicht mehr adäquat beschreiben. In den europäischen Nationalstaaten ist dieses Bild eine Fiktion744, die sich als „Mythos eines gemeinsamen Trägers öffentlicher Kommunikation nur mehr kontrafaktisch durchhalten“745 lässt, zugleich aber keinen Anlass gibt, an der Demokratiefähigkeit dieser Staaten zu zweifeln. Auch im Nationalstaat wird man keinen alle BürgerInnen umfassenden Kommunikationszusammenhang finden, weil dies die Existenz eines monolithischen, auf ganz wenige Multiplikatoren reduzierten Mediensystems voraussetzen würde, das von allen BürgerInnen genutzt würde. Mediale Öffentlichkeiten sind aber gerade nicht durch ein solches singuläres Forum gekennzeichnet. Sie bestehen vielmehr aus einer ausdifferenzierten pluralen Medienlandschaft und einem komplexen, vielfältigen, und segmentierten Geflecht von Teilöffentlichkeiten. Die Nation versammelt sich nicht mehr zur gleichen Zeit vor dem Fernseher, über den das einzige öffentlich-rechtliche Programm, das den Kommunikationsstoff für den nächsten Tag generiert, empfangen wird. Spätestens seit der Einführung des Privatfernsehens kann aus einer Vielzahl unterschiedlicher Programme und Programm742
Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft (Fn. 49), 150 f.
743
Zur Herausbildung von Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, siehe aus historischer Perspektive Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse (Fn. 741), 5, 7 f.; Schulz, Der Aufstieg der „vierten Gewalt“ (Fn. 708), 65, 73 f. 744 745
Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU (Fn. 666), 11 und 209.
Eder, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa (Fn. 719), 167, 177.
3. Kapitel
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angebote ausgewählt werden. Thomas Vesting stellt zu Recht fest, dass „an die Stelle des öffentlich-rechtlichen Integrationsrundfunks mit einer universalistischen Programmphilosophie inzwischen unterschiedliche Anbieter getreten [sind], die auf der Grundlage divergierender Unternehmensverfassungen mit immer neuen Programmen und Programmformen auf die steigende Varietät des Geschmacks, der Vorlieben und persönlichen Nutzungsmuster ihrer Zuschauer und Hörer zu reagieren versuchen (und diesen Prozess dadurch selbst beschleunigen).“746 Ähnliche Entwicklungen können für den Bereich des Hörfunks und der Printmedien festgestellt werden.747 In der Differenziertheit der Medien spiegelt sich die Pluralität einer komplexen Gesellschaft, deren Interessenvielfalt, Widersprüche und Antagonismen die aufklärerische Idee einer einheitlichen Öffentlichkeit und die Vorstellung einer einheitlichen öffentlichen Meinung sprengen. Mit dem Hinweis auf die mediale Pluralität ist die Diagnose der Fragmentierung nationaler Öffentlichkeit allerdings noch lange nicht erledigt. Empirisch lässt sich sehr gut nachweisen, dass man einer adäquaten Beschreibung der Wirklichkeit näher kommt, wenn man von „Teilöffentlichkeiten […] mit porösen Grenzen“748, „sektorale[n]“749, „ständig wechselnde[n] Teilöffentlichkeiten“750, „einer sektoral vielfach unterteilten öffentlichen Sphäre“751 oder von „segmentierten Öffentlichkeitsebenen“ im Sinne einer „Vielzahl strukturell mehr oder weniger stark verbundener Öffentlichkeitsforen“752 ausgeht.753 Auch wenn das Bild einer einheitlichen Öffentlichkeit eher Stabilität und Ruhe signalisieren mag, schädlich ist die Fragmentierung und Segmentierung nicht. Im Gegenteil sorgt die Pluralität der öffentlichen Agenden zum einen dafür, dass potentiell alle Themen eine 746
T. Vesting, Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten, AöR 122 (1997), 337, 353 f. 747
Eder/Kantner, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa (Fn. 731), 306, 312 f.; Augustin, Das Volk der Europäischen Union (Fn. 494), 151. 748
Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit (Fn. 47), 42, 56.
749
Trenz, Korruption und politischer Skandal in der EU (Fn. 718), 332, pas-
sim. 750
Vesting, Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten (Fn. 746), 337, 353 f. 751
Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse (Fn. 741), 5, 14. 752
Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU (Fn. 666), 14 ff.
753
Siehe hierzu auch Frankenberg, Die Verfassung der Republik (Fn. 13), 37.
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realistische Chance haben, öffentlich gemacht zu werden und zum anderen ermöglicht sie „spezielle Kompetenzsteigerungen durch intensive Beschäftigung mit bestimmten Themengebieten.“754 Dementsprechend findet auch die öffentliche Kontrolle des politischen Systems nicht durch eine allumfassende Öffentlichkeit, sondern dezentralisiert statt.755 Die Bandbreite der Akteure und der Öffentlichkeitsebenen ist ebenso groß, wie ihre strukturellen, organisatorischen und quantitativen Differenzen. Bezogen auf die Ebenen gehen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt von einfachen Interaktionssystemen, öffentlichen Veranstaltungen und Massenmedienkommunikation aus. Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Menge der jeweiligen Kommunikationsteilnehmer, der Kommunikationsdichte, der Ausdifferenzierung und Professionalisierung, dem Grad der strukturellen Verfestigung, der möglichen Wirkungskraft und der spezifischen Art der Informationssammlung, -verarbeitung und -verwendung.756 Teilöffentlichkeiten können sich innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Subsysteme (z. B. Wirtschaft, Kirche, Wissenschaft) entfalten oder sich im Hinblick auf spezifische Themen konstituieren, sie können lokal, regional, national oder global organisiert sein und ihre Arbeit auf eine dieser räumlichen Ebenen konzentrieren. Auf den verschiedenen Ebenen agieren wiederum ebenso vielfältige und unterschiedlich interessierte Akteure wie Parteien, Verbände, Nichtregierungsorganisationen, Interessengruppen und soziale Bewegungen jeglicher Art, Bürgerinitiativen, Vereine und sonstige Gruppen sowie Einzelpersonen.757 Von dem Kollektivsingular „Öffentlichkeit“ und auch von der Metapher des Raumes, die häufig im Kontext des Begriffs »Öffentlichkeit« benutzt wird, muss man sich demnach verabschieden und stattdessen von einem komplexen (aber auch diffusen) System mehr oder weniger intensiv 754
Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit (Fn. 47), 42, 62. Demgegenüber weist Vesting, Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten (Fn. 746), 337, 353 f., auch auf die negativen Folgen hin, wenn er den beschriebenen Prozessen eine „dissoziierende, desintegrierende Drift“ zuschreibt. 755
Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU (Fn. 666), 16 f.
756
Das von vielen Autoren übernommene Modell wurde erstmals von Gerhards/Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit (Fn. 702), 31, 49 ff., entwickelt und ausführlich dargestellt. 757
Neben dem bereits erwähnten Aufsatz von Gerhards/Neidhardt, ebd., siehe vor allem Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 451 f.; Kaelble, Die europäische Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Fn. 731), 651, 653 ff.
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miteinander verbundener und sich gegenseitig beeinflussender Öffentlichkeiten ausgehen.758 Zutreffend stellen Klaus Eder, Kai-Uwe Hellmann und Hans-Jörg Trenz fest, dass spätestens die „Entstehung transnationaler Politikfelder [...] die Homogenität von Öffentlichkeit auf[löst]“ und „sich heterogene Öffentlichkeiten, die sich voneinander abgrenzen und die Ausbildung von Teilöffentlichkeiten vorantreiben“, bilden. Damit, so die Autoren, wird „die Homogenität der Kommunikationsgemeinschaft vom „Volk“ abgekoppelt und als Pluralität von Teilöffentlichkeiten je nach Sach- und Interessenlage neu konstruiert.“759
4. Entstehungsbedingungen europäischer Öffentlichkeiten Ausgehend von einem derart entidealisierten und enträumlichten Öffentlichkeitsbegriff kann nunmehr abschließend der Frage nachgegangen werden, ob die Entstehung europäischer Öffentlichkeiten, die in der Lage wären, die oben beschriebenen Funktionen von Öffentlichkeit zu erfüllen, tatsächlich auf sprachliche Homogenität angewiesen ist. Dass ein Bedarf nach europäischen Öffentlichkeiten besteht, kann nicht bezweifelt werden. Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft, die „von den Mitgliedstaaten mit Hoheitsrechten ausgestattet worden [ist], die sie nun an deren Stelle und mit unmittelbarer innerstaatlicher Geltung ausübt“, kann nicht mehr davon gesprochen werden, dass, wie in den 200 Jahren zuvor, „Herrschaftsbefugnisse allein beim Staat“ konzentriert sind und „völkerrechtliche Verpflichtungen oder Entscheidungen internationaler Organisationen immer erst aufgrund eines staatlichen Vermittlungsaktes“760 innerstaatliche Geltung erlangen. Wenn aber der Staat „rechtlich gebunden [ist], weil und sofern er öf758
Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 282 und 284, spricht vom „semantische[n] Problem des Begriffs der öffentlichen Meinung“ und sieht dieses in „dessen Singularfassung“ und in der mit dem Begriff verbundenen „Prämisse einer mehr oder weniger monolithischen Einheit der öffentlichen Meinung“. 759
Eder/Hellmann/Trenz, Regieren in Europa jenseits öffentlicher Legitimation? (Fn. 660), 321, 325. 760
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 585. Zum Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Recht sowie zur unmittelbaren Bindungswirkung des Gemeinschaftsrechts, siehe bereits oben: 2. Kapitel, III. Globalisierung und Europäische Integration, 2. Europäische Integration.
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227
fentliche Gewalt ausübt“ und diese Ausübung von Gewalt „das Missbrauchs- und Gefahrenpotential [enthält], das von der Staatsverfassung gezügelt werden soll“761, dann muss die aus dem Demokratieprinzip resultierende Forderung nach einer funktionstüchtigen Öffentlichkeit auch an neuartige politische Organisationsformen, die Hoheitsgewalt ausüben, adressiert werden. Insbesondere wenn es sich um trans- oder supranationale Institutionen handelt, die über weitreichende Kompetenzen und Befugnisse verfügen, sind Formen und Strukturen transnationaler Öffentlichkeiten zu kreieren, die als funktionale Äquivalente zu den nationalen Öffentlichkeiten gelten und sowohl der Er- und Vermittlungs-, der Legitimations- als auch der Kontrollfunktion von Öffentlichkeit gerecht werden können. Stünde dem die linguistische Heterogenität innerhalb Europas entgegen, läge damit tatsächlich ein strukturelles, nur schwer zu überwindendes Hindernis für die Verwirklichung von Demokratie auf europäischer Ebene vor. Entscheidend wird demnach die Frage nach den Entstehungsbedingungen von Öffentlichkeit, insbesondere europäischer Öffentlichkeiten.
a. Übersetzungsleistung der Medien Europäische Öffentlichkeiten können auf zwei Weisen Realität werden. Zum einen kann sich eine eigenständige, die nationalstaatlichen Öffentlichkeiten überlagernde oder ergänzende europäische Öffentlichkeit herausbilden. Eine solche, über die Ländergrenzen hinausgehende mediale Integration, müsste aus europäischen Medien bestehen, die in jedem Mitgliedstaat verfügbar sind und deren Inhalte von den UnionsbürgerInnen gleichermaßen rezipiert werden. Für diesen Weg stellt die sprachliche Heterogenität Europas neben anderen strukturellen Barrieren in der Tat ein kaum zu überwindendes Problem dar. Die europaweit erscheinenden Medien müssten sich, wenn sie ihr Produkt nicht zeitgleich in mehreren Sprachen konzipieren und verfügbar machen wollen, für eine Sprache entscheiden. Für die zweite Möglichkeit der Entstehung europäischer Öffentlichkeiten gilt dies nicht. Sie bestünde in der Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten, d.h. in einer vermehrten Berichterstattung verbunden mit einer Synchronisierung öffentlicher Debatten über europäische Politik entlang thematisch-inhaltlicher Kriterien.762 Entscheidend dafür, dass Sprachgrenzen nicht zu Kommu761 762
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 585.
Zu diesen beiden Möglichkeiten Gerhards, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn.
228
3. Kapitel
nikationsgrenzen werden und politische Meinungsbildung auf nationalstaatliche Politik konzentriert bleibt, ist dann die „Fähigkeit der Medien [...], politische und soziale Diskurse in andere Sprachräume zu übersetzen und zu vermitteln.“763 Informieren sie zeitgleich über identische politische Inhalte europäischer Politik, über die Arbeit europäischer Institutionen und über deren Entscheidungsträger, dann entsteht ein über die Grenzen der Nationalstaaten hinausgehender europäischer Kommunikationsraum, der potentiell in der Lage ist, die dem Begriff der Öffentlichkeit zugeschriebenen Funktionen zu erfüllen. Infolge der Eigenschaft der nationalen Medien, als Transmissionsriemen fungieren zu können, wird es möglich, dass europäische Politik synchron Aufmerksamkeit in allen Mitgliedstaaten der Union findet, „vor Ort“ in der jeweiligen Nationalsprache debattiert und kritisiert werden kann und es im Ergebnis zur Neutralisierung sprachlicher Barrieren kommt. Visualisierung und massenmediale Repräsentation europäischer Politik wäre demnach nicht gebunden an die Existenz einer einheitlichen Arena in Gestalt eines eigenständigen europäischen Kommunikationssystems, das auf die Voraussetzung einer einheitlichen Sprache oder entsprechende qualifizierte Fremdsprachenkenntnisse angewiesen ist. Europäische Diskurse – nicht Räume – könnten sich mittels der Übersetzungsleistungen der nationalen Medien realisieren, so dass „die Mindestbedingungen einer funktionierenden politischen Kommunikation über Themen der europäischen Politik auch durch den Einsatz nationaler Medien gesichert“764 erscheint. Die in allen Mitgliedstaaten der Union geführten Debatten um die Einführung einer europäischen Währung, über den Rücktritt der Kommission wegen Korruptionsvorwürfen oder die BSE-Krise haben bereits gezeigt, dass es zu einer Synchronisierung nationaler Medien und zur Herausbildung eines europäischen Publikums, das gegenüber dem politischen System über ein Druckpotential
654), 96, 100; ders., Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 660), 277, 288 ff. Habermas, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 98), 185, 190, fordert „eine politische Öffentlichkeit, die den Bürgern ermöglicht, zur gleichen Zeit zu gleichen Themen von gleicher Relevanz Stellung zu nehmen“. 763 764
Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642), 30.
So Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union (Fn. 92), 62. Zu einer potentiellen Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten Eder/ Kantner, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa (Fn. 731), 306, 312; Trenz, Korruption und politischer Skandal in der EU (Fn. 718), 332, 336 ff.
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229
verfügt, kommen kann.765 Vor diesem Hintergrund will es nicht einleuchten, warum nicht nur Grimm die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten grundsätzlich als unzureichend bezeichnet und bezweifelt, dass dadurch ein europäisches Publikum erzeugt und europäische Diskurse initiiert werden können.766
b. Stärkung von Einflussmöglichkeiten Gleichwohl wird sich die beschriebene Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten nicht von selbst einstellen. Sie ist angewiesen auf das Vorliegen bestimmter Faktoren. Von ganz entscheidender Bedeutung für eine intensivierte und synchronisierte Berichterstattung über europäische Politik in nationalen Öffentlichkeiten dürfte zunächst sein, dass den UnionsbürgerInnen wirksame Partizipations- und Einflussmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Öffentlichkeit, so lässt die Beobachtung nationalstaatlicher Kommunikationssysteme vermuten, wird generiert, wenn BürgerInnen Einfluss nehmen können auf Organe, die relevante, d.h. die Lebenszusammenhänge der BürgerInnen betreffende Entscheidungen treffen.767 Andererseits kann so gegenüber den politischen Entscheidungsträgern, die zur Umsetzung ihrer politischen Programme und vor allem hinsichtlich ihrer Wiederwahl auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind und es sich infolgedessen nicht erlauben dürfen, den Bildschirm Öffentlichkeit nicht zu beobachten, öffentlicher Druck erzeugt werden. Die Intensivierung der Kommunikationsdichte wäre danach zum einen die Folge der Wahrnehmung kompetenter politischer Zentren und zum anderen der gleichzeitig gewährleistete Einfluss der von den Entscheidungen betroffenen BürgerInnen auf diese Zentren. Der Vorschlag, europaweit stattfindende Referenden durchzu765
Entsprechende Fallanalysen finden sich bei Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642); Grundmann, The European public sphere and the deficit of democracy (Fn. 659), 125, 137 ff. 766
„Ein europäisiertes Kommunikationssystem darf nicht mit vermehrter Berichterstattung über europäische Themen in den nationalen Medien verwechselt werden. Diese richten sich an ein nationales Publikum und bleiben damit nationalen Sichtweisen und Kommunikationsgewohnheiten verhaftet. Sie können folglich auch kein europäisches Publikum erzeugen und keinen europäischen Diskurs begründen.“ Siehe Grimm, Braucht Europa eine Verfassung (Fn. 106), 581, 588. 767
Hierzu Eder/Kantner, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa (Fn. 731), 306, 328.
230
3. Kapitel
führen, in denen europapolitische Themen thematisiert und folgenträchtige Entscheidungen getroffen werden, wäre eine weitere Alternative, Öffentlichkeit herzustellen. Wie die von starken Mitbestimmungsmöglichkeiten der BürgerInnen gekennzeichneten Referenden über den Vertrag von Maastricht in einigen europäischen Ländern gezeigt haben, beschränkt sich in Referenden die Kommunikation keinesfalls auf den Akt der Stimmabgabe. Vielmehr wird schon im Vorfeld die Aufmerksamkeit des Publikums geweckt und öffentliche Kommunikation angeregt.768
c. Registrierung von Betroffenheiten Dass BürgerInnen aufmerksam werden in Bezug auf Operationen der europäischen Institutionen, hängt wiederum davon ab, ob ihnen bewusst wird, dass die Entscheidungen der supranationalen Ebene die eigenen Lebensverhältnisse und –bedingungen tangieren. Bereits heute ist zu beobachten, dass die Schaffung europäischer Institutionen, die auf bestimmten Sektoren mit Kompetenzen und Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sind, zur Folge hat, dass die von diesen Entscheidungen betroffenen Interessenverbände ihre Orientierung von den nationalen auf die europäischen Zentren umstellen und versuchen, sich in die entsprechenden Entscheidungsprozesse einzuschalten.769 Ebenso befinden sich zivilgesellschaftliche Organisationen, die als öffentliche Akteure und Akteure der Öffentlichkeiten fungieren, die Protest zunehmend auf europäischer Ebene und über Massenmedien mobilisieren, die Einfluss auf Entscheidungsprozesse zu gewinnen versuchen und für bestimmte Themen Öffentlichkeit herstellen, in einem Transnationalisierungsprozess, weil sie realisieren, dass die sie und ihre Klientel betreffenden Entscheidungen (auch und zunehmend) auf der supranationalen Ebene getroffen werden.770 Die geschilderten Prozesse entsprechen zum einen 768
Gerhards, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien (Fn. 689), 135, 152. Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem (Fn. 85), 27, 49, schreibt europaweiten Referenden gar ein „gemeinschaftsschaffendes Potential“ zu und erhofft sich von ihnen die Herausbildung einer kollektiven europäischen Identität. 769
Zu dieser Umstellung Gerhards, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien (Fn. 689), 135, 151; ders./Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit (Fn. 702), 31, 72. 770
Hierzu Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642), 60. Gerhards, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entste-
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der Beobachtung, dass die Etablierung überstaatlicher Institutionen wie der EU die Ausbildung zivilgesellschaftlicher transnationaler Netzwerke nach sich zieht oder gar bewusst fördert, die verstärkte zivilgesellschaftliche Organisation auf europäischer Ebene mithin als Reflex auf veränderte institutionelle Rahmenbedingungen europäischer Politik gedeutet werden kann771, und zum anderen der Erwartung, dass die in den letzten Jahren zu beobachtende Vertiefung der europäischen Integration sowie die Erweiterung der Kompetenzen der Union, die sich auf immer mehr Lebensbereiche beziehen, zu einer Steigerung der Aufmerksamkeit für europäische Politik führen wird: „Betroffenheit motiviert zum Eintritt ins Publikum“772. Die skizzierten Mechanismen weisen hin auf Möglichkeiten, wie europäische Politik im Raster der Auswahlkriterien der Massenmedien, „die aufgrund der Überfülle von Nachrichten nur über Themen berichten, die von politischer Tragweite und den Themen der nationalen Politik jedenfalls gleichwertig sind“773, hängen bleibt und infolgedessen eine Europäisierung nationaler Öffentlichkeit stattfinden kann.
hung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 654), 96, 102, stellt bezogen auf das Korrespondentenheer in Brüssel fest, dass die „Korrespondenten der Medien in Brüssel selbst als ausdifferenzierte europäische Vorposten bereits eine Antwort der nationalen Öffentlichkeiten auf die Bedeutungszunahme der EG“ sind. 771
Ausführlich hierzu die Beiträge von T. Fetzer, Zivilgesellschaftliche Organisationen in Europa nach 1945, 355-392; A. Schmidt-Gernig, Ansichten einer zukünftigen „Weltgesellschaft“, 393-421; H.-P. Schmitz, Nicht-staatliche Akteure und Weltöffentlichkeit, 423-443, in: Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig (Fn. 689). Ebenfalls hierzu Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität (Fn. 85), 539-567. Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? (Fn. 109), 27, 48, empfiehlt einen Blick in die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, um festzustellen, wie intensiv bereits heute „sich die Unionsbürger zur gemeinsamen Interessendurchsetzung zusammenschließen und über Parteien und Lobbies Einfluss auf die europäischen Entscheidungen nehmen“. 772
F. Neidhardt, Die Rolle des Publikums, in: Derlien/Gerhard/Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse, 1994, 315, 318. Ebenso auch M. Zuleeg, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker?, in: Drexl u.a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, 11, 20. 773
61 f.
Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union (Fn. 92),
3. Kapitel
232
d. Transparenz europäischer Politik Betroffenheiten zu registrieren und gegenüber europäischen Entscheidungen aufmerksam zu werden setzt indes voraus, dass das Publikum überhaupt Einblick in die entsprechenden Entscheidungsverfahren erlangen und sich mit Informationen über europäische Politik versorgen kann. Nur dann ist potentiell gewährleistet, dass sich öffentliche Arenen herausbilden, Willensbildungsprozesse diskutiert und politische Entscheidungen kritisiert werden können. Carl Schmitt hat zu Recht festgehalten, dass „das Postulat der Öffentlichkeit seinen spezifischen Gegner in der Vorstellung [hat], dass zu jeder Politik Arcana gehören, politisch-technische Geheimnisse, die in der Tat für den Absolutismus ebenso notwendig sind, wie Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse für ein auf Privateigentum und Konkurrenz beruhendes Wirtschaftsleben.“774 Eine „Arkanstrategie“ der politischen Entscheidungsträger ist jedoch nur solange möglich und durchführbar, als eine „schweigende Zustimmung“ unterstellt werden kann. Detaillierte Untersuchungen europäischer Skandale haben gezeigt, dass in dem Moment, in dem konkrete Betroffenheiten registriert werden, der Rückzug in eine Arkanstrategie kontraproduktiv ist, weil dadurch die sich formierende und Legitimationsdruck erzeugende Öffentlichkeit herausgefordert wird.775 Ob und in welchem Maße eine europäische Öffentlichkeit in der Lage ist, die ihr zugeschriebenen Funktionen zu erfüllen und dafür zu sorgen, dass das politische System sich auch aus diesem Gesichtspunkt heraus genötigt sieht, den Bildschirm Öffentlichkeit zu beobachten, sich daran zu orientieren und diese eventuell institutionell einzubinden, hängt demnach nicht unwesentlich von der Transparenz des politischen Prozesses ab. Aus demokratietheoretischer Perspektive ist Transparenz jedenfalls „die grundlegende Voraussetzung dafür, dass „Publizität“ und damit auch der bedeutsame und fundamentale Vorgang der Kontrollwahrnehmung durch ein „europäisches Volk“ in Gang gesetzt werden kann“776.777
774
Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (Fn. 141), 48. 775
Siehe vor allem Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre (Fn. 642). Mit besonderem Bezug auf eine entsprechende Arkanstrategie Eder, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa (Fn. 719), 167, 180 f. 776 777
Beierwaltes, Demokratie und Medien (Fn. 658), 240.
Zur Bedeutung von Transparenz für die Herstellung europäischer Öffentlichkeiten J. Lodge, Transparency and Democratic Legitimacy, Journal of Com-
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233
e. Personalisierung und Verantwortungszuschreibung Ein weiterer Faktor, der die Herausbildung europäischer Öffentlichkeiten positiv beeinflussen kann, liegt in der Möglichkeit, Politik konkreten Personen, Verbänden oder Institutionen zurechnen, d.h. Verantwortung für bestimmte Politiken zuordnen zu können. Es entspricht den Aufmerksamkeitsregeln von Öffentlichkeit herstellenden Massenmedien, dass sie sich auf Personen, die mit spezifischen Programmen oder Entscheidungen verbunden werden, konzentrieren. Nach Niklas Luhmann sind „Personen, vor allem bekannte Persönlichkeiten ein bevorzugter Kristallisationspunkt für Selektion und Darstellung von Nachrichten“778. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Personalisierung von Sachfragen und inhaltlichen Positionen und mit Bezug auf die Smend’sche Integrationslehre, sieht Ingolf Pernice das Exponieren einzelner Politiker gar als einen „Faktor der persönlichen Integration“. Dadurch, dass die Fraktionen des Europaparlaments sich zunächst auf einen Kandidaten einigen müssen, um anschließend „ihren Wunschkandidaten mit seinem Programm europaweit in Auseinandersetzung mit dem Gegenkandidaten propagieren“ zu können, d.h. eine „Verbindung von Person und politischem Programm im Wahlkampf“ hergestellt wird, sei man auf dem „Weg zur Bildung einer öffentlichen europäischen Meinung“779. Mindestens wird man jedenfalls zugeben müssen, dass die Frage, ob europäische Themen, die mit regionalen, nationalen und globalen Nachrichten um die begrenzte Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums konkurrieren, in den Selektionsmechanismen der Medien ausgesondert werden, von der Personalisierungsmöglichkeit europäischer Politik abhängt.780 Unter diesem Gesichtspunkt verursacht der Charakter der EU als Mehrebenensystem im Sinne einer Pluralisierung von Steuerungsebenen Schwierigkeiten, da ein solches System „keinen eindeutigen Akteur, der für Entscheidungen zuständig ist und dem Verantwortung zugerechnet werden kann, erkennen“ lässt mon Market Studies 1994, 343-368; Mandt, Bürgernähe und Transparenz im politischen System der Europäischen Union (Fn. 658), 1-19. 778
Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 308.
779
Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration (Fn. 276), 100, 119. 780
Zur Bedeutung der Prominenz von Personen oder Institutionen für die Herstellung von Öffentlichkeit Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit (Fn. 700), 42, 52 f. Bezogen auf die EU schreibt Augustin, Das Volk der Europäischen Union (Fn. 494), 152, knapp: „wegen der mangelnden Personalisierung von Sachfragen und inhaltlichen Positionen fehlen wichtige Nachrichtenwertfaktoren“.
3. Kapitel
234
und „eine für eine Medienresonanz so wichtige Personalisierung der Politik dadurch erschwert“781 wird. Eine „strukturelle Verantwortlichkeitslücke“782 bzw. ein System „organisierter Verantwortungslosigkeit“783 generiert keine Öffentlichkeit und wenn doch, dann reagiert das Publikum im besseren Fall mit Desinteresse, im schlechteren mit Aversionen gegenüber einem unpersönlichen und amorphen Politikapparat. Ein hiergegen sich wendender erster Ansatz bestünde beispielsweise darin, im Europäischen Parlament politische Alternativen, zwischen denen die BürgerInnen wählen können, sichtbar zu machen. Solange aber “the voters have no choice at all between clear and visible political alternatives” und solange “the current elections for the European Parliament do not offer alternatives for neither personal (leaders) or programmatic choice”784 werden sich europäische Öffentlichkeiten schwerlich einstellen. Die Möglichkeit, über Personalisierung Öffentlichkeit herzustellen, wird jedoch bereits im Ansatz verbaut, wenn man sich, wie Dieter Grimm, in eine zirkuläre Argumentation begibt, nach der „das Amt eines Unionspräsidenten einen Grad an Einheit vorspiegeln [würde], der auf absehbare Zeit nicht erreichbar ist und deswegen auch keiner Repräsentation in einer Person bedarf. Einem solchen Amt würde vielmehr die nur auf einer europäischen Identität beruhende innere Legitimation gerade fehlen.“785 Im Ergebnis bedeutet dies, dass es politische Identifikationsfiguren auf europäischer Ebene, deren Vorhandensein zur Herausbildung europäischer Öffentlichkeiten führen könnte, nicht geben darf, weil es jenen Identifikationsfiguren an dem ihre Stellung legitimierenden Unterbau, der wiederum maßgeblich aus eben jenen europäischen Öffentlichkeiten bestünde, mangelt.
781
Gerhards, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien (Fn. 689), 135, 151 f. 782
Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration (Fn. 86), 339, 352. 783
M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1995, 80 ff., beschrieb mit diesem Terminus im Jahre 1918 den außenpolitischen Apparat des Deutschen Reiches vor und im Ersten Weltkrieg. 784
Brunkhorst, Taking democracy seriously (Fn. 103), 433, 449 und 454.
785
Grimm, Vertrag oder Verfassung (Fn. 90), 509, 525.
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235
f. Institutioneller Vorlauf Die ausweglose Zirkularität in der Argumentation Grimms reflektiert ein wesentliches Merkmal derjenigen Positionen, die in nicht unerheblichem Maße die Bedeutung vor-politischer bzw. vor-rechtlicher Demokratievoraussetzungen herausstellen. Entweder verlagern sie die Demokratisierung der EU unter Verweis auf das nur sehr langsame Entstehen entsprechender Voraussetzungen in eine ferne Zukunft oder sie verneinen kategorisch die Demokratiefähigkeit der EU.786 Sowohl bei der Ausdifferenzierung politischer Zentren als auch bei der Personalisierung europäischer Politik ist deutlich geworden, dass das geforderte „vorgängige soziale Substrat“787 bzw. „der politisch-soziale Unterbau“788 größere Chancen hat, sich herauszubilden, wenn ein gewisser institutioneller Vorlauf gewährt wird. Wie Grimm zutreffend erkennt, „besteht zwischen gesellschaftlichen Strukturen und politischen Institutionen kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Institutionelle Vorgriffe können auch gesellschaftliche Entwicklungen anstoßen.“ Allerdings müssten „unter den gegebenen Bedingungen [...] dafür aber lange Entwicklungszeiträume veranschlagt werden“ und „der institutionelle Vorgriff [...] deshalb nicht überdehnt werden.“789 Zumindest für die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit scheint aber genau jener institutionelle Vorlauf positive Effekte auszulösen und die zirkuläre Argumentation aufbrechen zu können. Ruft man sich noch einmal die Entstehungsprozesse europäischer Nationalstaaten in Erinnerung, fällt auf, dass zumeist „der Aufbau von landesweiten politischen Institutionen der Ausbildung einer nationalen Identität voraus[ging].“790 Ein institutioneller Vorlauf wäre demnach keine unter Verweis auf fehlende mediale Strukturen begründete Unmöglichkeit, sondern in begrenztem Maße unter der Bedingung zu gewähren, dass beobachtet wird, ob es tatsächlich zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit kommt. Stimmt die hier vorgenommene Analyse der Entstehungsbedingungen von Öffentlichkeit, insbesondere hinsichtlich der Aufmerk-
786
Hier begegnen einem erneut die oben (Fn. 241) schon erwähnten zwei Versionen der „No demos thesis“. 787
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 585.
788
Grimm, Der Mangel an europäischer Demokratie (Fn. 639), 57.
789
Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Fn. 106), 581, 590 f.
790
Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem (Fn. 85), 27, 44 f. und 49.
3. Kapitel
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samkeitsregeln und Selektionskriterien von Massenmedien und Publikum, dann spricht viel dafür, dass dies der Fall sein wird.791
5. Schlussfolgerungen Sowohl angesichts der dargestellten Entstehungsbedingungen von Öffentlichkeit als auch der entidealisierten Bestandsaufnahme, die von den nationalen Öffentlichkeiten gezeichnet wurde, ist nicht zu begründen, warum es ein „einheitliches europäisches Fernsehprogramm“792 oder die „EG-einheitliche öffentliche Meinung“793, die auf einen homogenen Sprachraum angewiesen wären, geben soll. Die Forderung, man müsse „versuchen, zu einer einheitlichen europäischen Meinung vorzustoßen“794, ist entweder nur ein Vorwand wider besseren Wissens, um gegen die europäische Integration zu mobilisieren, oder – dies ist wahrscheinlicher – sie basiert auf der Unkenntnis der soziologischen, politologischen und kommunikationswissenschaftlichen Literatur zum Begriff der (nationalen) Öffentlichkeit. Die Schlussfolgerung, „kommunikative Homogenität sei auch eine allgemeine und notwendige Voraussetzung der Demokratie, resultiert letztlich aus einem irreführenden Verständnis von dem Ort, an dem Kommunikation bzw. Sprache eine herausragende Bedeutung einnimmt: der Öffentlichkeit.“795 Wenn Öffentlichkeit nicht einheitlich, sondern als vernetztes System vielfältiger und dezentraler Teilöffentlichkeiten zu denken ist, dann verliert die Forderung nach sprachlicher Homogenität an Bedeutung. Europaweit
791
Zu den politischen, ökonomischen, technischen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen eines europäischen Kommunikationsraumes aus medienund kommunikationswissenschaftlicher Sicht, siehe schließlich noch die Beiträge in: Erbring (Fn. 698). Interessant ist, dass keiner der in diesem Band versammelten Autoren das Erfordernis einer homogenen Sprachstruktur als unabdingbare Voraussetzung der Entstehung eines europäischen Kommunikationsraumes behauptet. 792
Gerhards, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (Fn. 654), 96, 101. 793
v. Brünneck, Die öffentliche Meinung in der EG als Verfassungsproblem (Fn. 625), 249, 252. 794
Kirchner/Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft (Fn. 97), 760, 767. 795
Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU (Fn. 666), 5.
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stattfindende Kommunikation ist in diesem Fall nicht auf zentralisierte Medien angewiesen, wie es die oben angesprochene Herausbildung einer eigenständigen europäischen Öffentlichkeit indiziert. Europäische Kommunikation kann sich situieren in einem verzweigten Netzwerk von vielfältigen Foren und Agenden und kann geführt werden von ebenso zahlreichen Akteuren. Eine derartige Konzeption von Öffentlichkeit lässt sich darüber hinaus leicht mit der oben beschriebenen Übersetzungsleistung der nationalen Medien kombinieren. Innerhalb des Netzwerks wird wechselseitig aufeinander Bezug genommen, Nachrichten, Kommentare, Einstellungen und Meinungen werden übersetzt, übermittelt, wiedergegeben, ausgetauscht, kritisiert und in Frage gestellt. Dadurch entstehen verdichtete Kommunikationszusammenhänge. Weder für die Entstehung einer Kommunikationsgemeinschaft noch für die Partizipation an demokratischen Verfahren ist es notwendig, „dass jeder mit jedem reden kann“796 und jeder „dieselben Medien nutzt oder die Nachrichten zur gleichen Uhrzeit sieht.“797 Es mag sein, dass sich die Schwierigkeiten mit der Zahl der Sprachen potenzieren und die Pluralität der Sprachen „die wichtigen auf Europa hin orientierten Verbindungen der jeweiligen Teilöffentlichkeiten nicht gerade leichter“798 macht, aber Multilingualität führt nicht kategorisch zur Unmöglichkeit dieser Prozesse. Legt man also die Übersetzungsmöglichkeiten der Medien einerseits und die „Abkehr von der Funktionslogik einer einheitlichen und homogenen öffentlichen Sphäre“ andererseits zugrunde, dann ergibt sich das Bild eines „polyzentrische[n] Ensemble[s] thematisch miteinander verschränkter und mehrsprachiger Teilöffentlichkeiten“799. Deren Entstehen und Funktionsfähigkeit sind tatsächlich auf das Vor796
Fastenrath, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union (Fn. 105), 101, 117 f. 797
Eder/Kantner, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa (Fn. 731), 306, 312. Siehe auch Augustin, Das Volk der Europäischen Union (Fn. 494), 151. 798
Beierwaltes, Demokratie und Medien (Fn. 658), 235. Ebd., 11, formuliert Beierwaltes, „dass zwar eine gemeinsame Sprache die kommunikative Integration einer Gemeinschaft stärken kann, aber ein solches Maß an Homogenität ist nicht Voraussetzung für eine europäische Öffentlichkeit und damit für die Demokratie in Europa“. 799
Kraus, Kultureller Pluralismus und politische Integration (Fn. 642), 443, 455 f. Siehe auch Eder, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa (Fn. 719), 167, 177.
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3. Kapitel
liegen bestimmter Faktoren angewiesen. Ein homogener Sprachraum in dem Sinne, dass die Angehörigen eines bestimmten politischen Verbandes eine gemeinsame Sprache sprechen, gehört allerdings nicht zu diesen Faktoren. Öffentlichkeiten, die die ihnen zugeschriebenen Funktionen erfüllen, können sich auch unter der Bedingung sprachlicher Heterogenität herausbilden. Mit dem Argument der sprachlichen Heterogenität Europas kann die strukturelle Demokratieunfähigkeit der EU daher nicht begründet werden.
4. Kapitel: Der Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln ein Homogenitätsbegriff untersucht wurde, der Homogenität unter Rückgriff auf außerrechtliche Kriterien begründet und behauptet und sodann zwei dieser Homogenitätskriterien näher analysiert wurden, soll im abschließenden Kapitel auf einen Homogenitätsbegriff eingegangen werden, der auf positivierte Normen, nämlich solche des europäischen Primärrechts Bezug nimmt. Neben der Darstellung und inhaltlichen Präzisierung der Normen, anhand derer der Begriff der Homogenität in Bezug auf das europäische Primärrecht diskutiert wird, soll dieser letzte Abschnitt insbesondere der Verdeutlichung dienen, ob und inwiefern die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Bedeutungsgehalte des Begriffs der Homogenität und vor allem die einer angenommenen Homogenität zugeschriebenen Wirkungsweisen (z.B. als Voraussetzung für die demokratische Organisation eines Gemeinwesens im Allgemeinen und die Anwendung des Mehrheitsprinzips im Besonderen oder für die Entstehung eines Zusammengehörigkeitsgefühls), über die Interpretation bestimmter Normen des Primärrechts in die (europa-)rechtswissenschaftliche Diskussion Eingang finden. Dabei fällt zunächst auf, dass der Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht ausdrücklich nicht vorkommt. Vergleichsweise leicht lassen sich im europäischen Primärrecht jedoch diejenigen Normen identifizieren, die Anlass für eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Homogenität geben. Neben Art. 6 Abs. 1 EU sind dies die auf diese Norm Bezug nehmenden Bestimmungen des Art. 7 und des Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU. Während Art. 6 Abs. 1 EU normiert, dass die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beruht, und besagt, dass diese Grundsätze allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, sieht Art. 7 EU einen abgestuften Sanktionsmechanismus für den Fall vor, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze durch einen Mitgliedstaat besteht. Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU öffnet schließlich die Europäische Union für jeden „europäischen“ Staat, der die in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze achtet. Da sowohl Art. 7 als auch Art. 49 EU auf die Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EU verweisen, soll zunächst verdeutlicht werden, mit welcher
240
4. Kapitel
Argumentation Art. 6 Abs. 1 EU als Einfallstor für die Verwendung des Begriffs der Homogenität im juristischen Diskurs genutzt wird, wie der Begriff der Homogenität dabei verstanden wird und welche Wirkungsweisen ihm zugeschrieben werden. Abschließend werden diese Fragen gesondert auf das Merkmal des „europäischen“ Staates in Art. 49 Abs. 1 EU bezogen.
I. Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 EU: „Verfassungshomogenität“ Nach Art. 6 Abs. 1 1. Halbsatz EU beruht die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Diese Grundsätze sind, so der zweite Halbsatz des Art. 6 Abs. 1 EU, allen Mitgliedstaaten gemeinsam.800 Die nicht lediglich deklaratorisch gemeinte Etablierung eines normativen Fundaments, das für Union, Mitgliedstaaten und UnionsbürgerInnen Verbindlichkeit beansprucht und als „Verfassungskern der Europäischen Union“801 betrachtet wird, ist zugleich die zen-
800
Der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE), der ursprünglich am 1. November 2006 in Kraft treten sollte, bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden jedoch nicht die erforderlichen Mehrheiten gefunden hat, normiert in Art. I-2 S. 1 unter der Überschrift „Die Werte der Union“ in leichter terminologischer Abwandlung und unter Hinzufügung neuer Gehalte, dass die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, sind. Gegenüber Art. 6 Abs. 1 EU hinsichtlich der Adressatenstellung ebenfalls leicht abgewandelt, bestimmt sodann Satz Art. I-2 S. 2, dass diese Werte allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam sind, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet. 801
B. Beutler, in: v. d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Bd. 1, 2003, Art. 6 EUV Rn. 1. Ähnlich T. Straub, Zum Verfassungsvertrag für Europa und dem Beitritt der Türkei, StudZR 2005, 199, 200, demzufolge in Art. 6 Abs. 1 „die Identität der Union ihren normativen Kern“ finde. Für Ch. Calliess, Europa als Wertegemeinschaft, JZ 2004, 1033, 1040, bilden die „Grundwerte des Art. 6 Abs. 1 EUV“ die „rechtliche Basis“ bzw. die „„Geschäftsgrundlage“ der Mitgliedschaft in der EU“. B. Speer, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, DÖV 2001, 980, 986, spricht von der „zentralen materiellen Norm des allgemeinen Unionsrechts“. Ähnlich auch M. Nettesheim, EU-Recht und nati-
Der Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht
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trale Norm, die den Begriff der Homogenität in das europäische Primärrecht transportiert. Mit ihr, so Frank Schorkopf, habe „die Europäische Union ein grundlegendes Ordnungsprinzip zusammengesetzter Verbände in ihre Rechtordnung aufgenommen: das Prinzip der Homogenität.“802
1. Begriffsverständnis: föderalistisch und rechtlich Verstanden wird der Begriff der Homogenität demnach nicht als Chiffre einer soziokulturellen Voraussetzung für die Einheitsbildung, Demokratisierung sowie Stabilisierung eines politischen Verbandes. Vielmehr handelt es sich um einen auf föderal organisierte Verfassungsstaaten bezogenen Homogenitätsbegriff, der das Verhältnis zwischen Gliedstaaten und Gesamtstaat betrifft und der auf den supranationalen Verband, den die Union darstellt, übertragen wird.803 In Verbindung mit dem durch den Amsterdamer Vertrag neu eingeführten und im Rahmen der Vertragsrevision von Nizza hinsichtlich der Einbeziehung auch bloßer Gefahrenlagen geänderte Art. 7 EU, der im Falle einer schwer wiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EU normierten Grundsätze abgestufte Sanktionen seitens der Union ermöglicht804, sichert Art. 6 Abs. 1 EU die strukturelle Kompatibilität
onales Verfassungsrecht, in: Schwarze/Müller-Graff (Hrsg.), XX. FIDEKongress, Europarecht, Beiheft 1 (2004), 7, 67: „eine der Kernbestimmungen des Unionsrechts“. Als „wichtigste Bestimmung des gesamten Europarechts“ wird Art. 6 Abs. 1 EU schließlich betrachtet von T. Schmitz, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte, in: Blumenwitz/Gornig/Murswiek (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005, 73, 83 f. 802
F. Schorkopf, Verletzt Österreich die Homogenität in der Europäischen Union?, DVBl. 2000, 1036, 1037, Hervorhebung im Original. Ähnlich auch Schmitz, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte (Fn. 801), 73, 83 f., der in Art. 6 Abs. 1 EU eine „Grundwerte- und Homogenitätsklausel“ verankert sieht. 803
F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, 2000, 27, 28 f. und 34; O. Luchterhand, Verfassungshomogenität und Osterweiterung der EU, in: Bruha/Hesse/Nowak (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa?, 2001, 125, 125. 804
T. Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung, in: Blumenwitz/Gornig/Murswiek (Fn. 801), 49, 69, spricht von einem „sanktionsbewehrten Homogenitätsanspruch der Union“ und davon, dass sich
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4. Kapitel
zwischen den Mitgliedstaaten untereinander, wie auch in ihrem Verhältnis zur Union.805 Lagen die Kriterien, auf die zur Begründung der Homogenität abgestellt wird, bei den in den vorangegangenen Kapiteln untersuchten Homogenitätsbehauptungen in außerrechtlichen Merkmalen wie einer gemeinsamen Kultur, Geschichte oder Sprache, zielt die unter Bezug auf Art. 6 Abs. 1 EU postulierte Homogenität auf das Teilen gemeinsamer Rechts- bzw. Verfassungsprinzipien. Als Bezugspunkt der Homogenität fungiert mithin eine die einzelnen Mitgliedstaaten und die Union auf eine gemeinsame rechtliche Basis stellende „Verfassungshomogenität“806. Wenn dem Homogenitätsprinzip in diesem Zusammenhang bestimmte Funktionen, etwa eine Konsens-, Legitimations-, Integrations- oder Sicherungsfunktion, zugeschrieben werden807, dann können damit zwar ganz ähnliche Funktionen gemeint sein, die ebenfalls mit einem auf außerrechtliche Faktoren zurückgreifenden Begriff der Homogenität verbunden werden. So kann beispielsweise die Integrationsfunktion des Homogenitätsgebotes dahingehend interpretiert werden, dass durch strukturelle und substantielle Gemeinsamkeiten „die Grundlage für ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl, d.h. eine europäische Identität, als wesentlicher Faktor der Integration geschaffen“808 wird.809 Gleichwohl bezieht sich die diesen Funktionszuschreidie EU mit der Schaffung des Art. 7 EU „von einer werthaften zu einer wehrhaften Gemeinschaft entwickelt“ hat. Ähnlich auch G. N. Toggenburg, Cultural Diversity at the Background of the European Debate on Values, in: Palermo/Toggenburg (eds.) European Constitutional Values and Cultural Diversity, 2003, 9, 19: “a mechanism for homogeneity-control”. Ausführlich zum Sanktionsverfahren nach Art. 7 EU W. Hummer/W. Obwexer, Die Wahrung der „Verfassungsgrundsätze“ der EU, EuZW 2000, 485, 486 ff. 805
Siehe M. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 6 EUV Rn. 3; Calliess, Europa als Wertegemeinschaft (Fn. 801), 1033, 1040; v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre (Fn. 116), 149, 189, ders., Zweierlei Verfassungsrecht, Der Staat 2000, 163, 168. 806
Von Verfassungshomogenität sprechen ausdrücklich Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 43 und 102; Luchterhand, Verfassungshomogenität und Osterweiterung der EU (Fn. 803), 125, 127, 128, 129 und 146; v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre (Fn. 116), 149, 189. 807
Umfassend zu den Homogenitätsfunktionen in diesem Sinne Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 36-42 und 68; M. Hilf/F. Schorkopf, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Band I, Art. 6 EUV Rn. 7. 808
So Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 41.
Der Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht
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bungen dann zugrunde liegende Gleichartigkeit in Analogie zu den im deutschen Grundgesetz in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Staatsstrukturprinzipien auf positivierte Rechtssätze, d.h. auf die die Strukturen einer Verfassung bestimmenden grundlegenden Verfassungsprinzipien, die für die gesamte Rechtsordnung der Union maßgeblich sein sollen.810 Zutreffend kann man deshalb sagen, dass der europäische Verfassungs809
Ähnlich auch G. Nicolaysen, Europarecht I, 2002, 178, der die in Art. 6 Abs. 1 EU zum Ausdruck kommenden Homogenitätsanforderungen „nicht nur als Voraussetzung grundlegender Konsensfähigkeit, sondern als Band für den Zusammenhalt der Integration und als Rechtfertigung des Zusammenschlusses“ betrachtet. 810
Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), der von der Gleichartigkeit der „Verfassungsstrukturen“ (42, 45, 63, 67, 69) bzw. der „Leitprinzipien“ (43, 44, 45, 63) oder der „Rechtsprinzipien“ (68, 100), von „Verfassungshomogenität“ (43, 102), der „Konformität der mitgliedstaatlichen Verfassungen und der Verfassungswirklichkeit“ (211) oder von einer „gemeinsamen Verfassungsidentität“ (212) spricht. Ebenso Beutler, in: v. d. Groeben/Schwarze (Fn. 801), Art. 6 EUV Rn. 20: „Verfassungsgrundlagen oder prinzipien“; W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar EUV/EGV, 2002, Art. 7 EUV Rn. 1: „verfassungsrechtliche Homogenitätsanforderungen“; R. Geiger, EUV/EGV, 2004, Art. 6 Rn. 1: „fundamentale Rechtsprinzipien“; J. Bitterlich, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 6 EUV Rn. 5: „gemeinsamen fundamentalen europäischen Verfassungsprinzipien […], die gemeinhin von allen europäischen demokratischen Staaten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Grundlagen ihrer Verfassungen und Verfassungswirklichkeit anerkannt und befolgt worden sind.“; v. Bogdandy, Zweierlei Verfassungsrecht (Fn. 805), 163, 168: „liberal-demokratische Verfasstheit“ bzw. „normativer Grundbestand der Moderne“; St. Schmahl, Die Reaktionen auf den Einzug der Freiheitlichen Partei Österreichs in das österreichische Regierungskabinett, EuR 2000, 821, 821: „verfassungsrechtliche Leitprinzipien“; Toggenburg, Cultural Diversity at the Background of the European Debate on Values (Fn. 804), 9, 14 f.: „common legal principles“ bzw. „constitutional values“. Bereits vor der Verankerung der Art. 6 Abs. 1 und 7 EU im europäischen Primärrecht war von einem „Homogenitätsprinzip“, einer „Mindesthomogenität“, der „Gewährleistung der gemeinschaftsrechtlich relevanten Homogenität“ bzw. von einer „Homogenitätsverletzung“ die Rede. Allerdings bezog man sich auch damals schon auf Rechtsprinzipien wie das Demokratieprinzip, auf „angemessene rechtsstaatliche Standards“ und auf den Schutz von Grundrechten bezogen auf „den internen Verfassungszustand der freiheitlichen Demokratie“. Siehe J. A. Frowein, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozess, EuR 1983, 301, 309 ff.; ders., The European Community and the Requirement of a Republican Form of Government, Michigan Law Review 82 (1984), 1311-1322.
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4. Kapitel
staat im Unterschied zu stark kulturell orientierten Nationalstaatskonzeptionen „den eigenen Hoheitsanspruch an das Recht und nicht ausschließlich an den vorrechtlich und absolut definierten Geltungsanspruch nationaler Identität zurück[bindet]“811. Zwar können sich bei einzelnen Autoren über die Forderung nach Beachtung auch der Verfassungs- bzw. Rechtswirklichkeit unmerklich Homogenitätsforderungen einschleichen, die sich von einer rein auf das Rechtssystem bezogenen Perspektive distanzieren, indem jene „reale Verfasstheit der Staaten“ mit dem Vorhandensein außerrechtlicher Voraussetzungen verknüpft wird.812 Gleichwohl wird Homogenität im europäischen Primärrecht ganz überwiegend konstruktiv in dem Sinne verstanden, dass eine wie immer geartete Gleichartigkeit politischer Ordnung nicht in Form einer außerrechtlichen Substanz, die sich der normativen Deutung entzieht, vorgegeben ist, sondern „diese normative Deutung und ihre Umsetzung vielmehr Aufgabe einer europäischen Verfassung, ihrer Lehre und Kommentierung“813 ist. Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn man sich die auf das Rechtssystem bezogenen Anforderungen an einen Beitrittskandidaten vergegenwärtigt. Im Vordergrund stehen konkrete rechtliche Ausgestaltungen und Rechtswirklichkeiten, legislative und ordnungspolitische Maßnahmen, Reformen der rechtlichen, institutionellen und administrativen Strukturen sowie deren praktische Umsetzung.814 Es geht gerade nicht 811
Beutler, in: v. d. Groeben/Schwarze (Fn. 801), Art. 6 EUV Rn. 9. Ähnlich W. Wallace, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris?, International Affairs 76 (2000), 475, 485 f., demzufolge Art. 6 Abs. 1 EU “sets out constitutional – rather than cultural, historical or geographical – conditions for membership”. Entscheidend sei “western Europe’s contemporary constitutional self-definition”. 812
So beispielsweise J. Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, FS Stern, 1997, 1239, 1249 und 1251 f. 813
Beutler, in: v. d. Groeben/Schwarze (Fn. 801), Art. 6 EUV Rn. 23. Ähnlich auch H. Schmitt von Sydow, in: v. d. Groeben/Schwarze, ebd., Art. 7 Rn. 10, demzufolge „die Funktion des Wortes »gemeinsam«“ in Art. 6 Abs. 1 EU eher darin liegt, „bei der Aufdeckung der bestehenden Grundsätze zu helfen“. 814
Auf die Bedeutung der Beachtung nicht nur der textuellen Umsetzung, sondern auch der Rechtswirklichkeit weist auch Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 209, hin, wenn er hinsichtlich der Erfüllung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze „eine fortlaufende Beobachtung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und Rechtswirklichkeiten“ fordert. In der Stellungnahme der EU-Kommission zu den Beitrittsanträgen der osteuropäi-
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um ontologisch und als vorgegeben verstandene, schwer bis gar nicht veränderbare Gegebenheiten, sondern um eine von einer instrumentellen Perspektive dominierte Sphäre, in der Handlungs- und Umsetzungsspielräume sowie willentlich gesteuerte Machbarkeiten und gezielte Interventionen stillschweigend vorausgesetzt werden.815 Bezogen auf potentielle Beitrittskandidaten sind demnach nicht außerrechtliche Kriterien, sondern vielmehr die „Verfassungsorientierungen neuer Mitgliedstaaten“, die den „Essentialia der EG-Verfassung genügen“816 müssen, entscheidend. Auch „mögliche Konsensgehalte“ werden auf europäischer Ebene zumeist schließlich nicht in außerrechtlichen Gemeinsamkeiten gesucht, sondern vielmehr wird danach gefragt, „ob es im Recht der Union gar keine Gehalte gäbe, die auf verbreitete Zustimmung hoffen dürften.“817 Als Bezugspunkte für einen derartigen Grundkonsens werden dann neben den in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Rechtsprinzipien primärrechtliche Grundrechtsgehalte, das Diskriminierungsverbot, die Grundfreiheiten oder der Subsidiaritätsgrundsatz ausgemacht.818 »Homogen« sollen die Mitgliedstaaten der Union dem positiven Recht nach im Ergebnis folglich hinsichtlich ihrer fundamentalen Verfassungsprinzipien und der Realisierung dieser Prinzipien in der Rechtswirklichkeit sein.
schen Staaten in der „Agenda 2000“ wird ausdrücklich festgehalten: „Von den Ländern, die Mitglieder der Union werden wollen, wird erwartet, dass sie sich nicht nur zu den Grundsätzen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennen, sondern dass sie sie im Alltag auch tatsächlich praktizieren.“ Vgl. die Texte zur „Agenda 2000“ in: Wiehler (Hrsg.), Die Erweiterung der Europäischen Union, 1998. Die zitierte Stelle findet sich auf S. 63. 815
Umfassend zu den Anforderungen an beitrittswillige Staaten und die im Assoziierungs- und Beitrittsprozess eingesetzten Instrumente G. Renner, Zum Stand der Erweiterung der Europäischen Union, ZAR 2002, 380 ff. 816
H.-P. Ipsen, Über Verfassungs-Homogenität in der Europäischen Gemeinschaft, in: Maurer (Hrsg.), Das akzeptierte Grundgesetz, FS Dürig, 1990, 159, 166 f. und 173. 817
v. Bogdandy, Zweierlei Verfassungsrecht (Fn. 805), 163, 163 (Hervorhebung F.H.). 818
Siehe nur v. Bogdandy, ebd., 163, 163 ff.; Calliess, Europa als Wertegemeinschaft (Fn. 801), 1033, 1034 ff.
4. Kapitel
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2. Plausibilität einer „Verfassungshomogenität“ Bereits an dieser Stelle ist jedoch Vorsicht gegenüber einer unbedachten Verwendung des Begriffs der Homogenität angebracht. Unter Bezugnahme auf primärrechtliche Normen von Homogenität zu sprechen, ist überhaupt nur unter Beachtung der im Folgenden skizzierten Einschränkungen folgenden Einschränkungen plausibel. Zunächst können die allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätze, wie sie in Art. 6 Abs. 1 EU genannt sind, nur dann als Homogenitätsbasis bezeichnet werden, wenn man zugleich die unterschiedliche konkrete Ausgestaltung jener Grundsätze in den einzelnen Mitgliedstaaten in Rechnung stellt. Zwar finden sich die in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze ihrem Begriff nach in nahezu jedem Verfassungstext der Mitgliedstaaten der Union. Auch dürfte jeder Mitgliedstaat als Staat qualifiziert werden, der die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit in seiner jeweiligen Rechtswirklichkeit in der Regel achtet und verwirklicht. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass diese Grundsätze in der Vergangenheit, in der sich die politischen und rechtlichen Systeme der Nationalstaaten unter Rückgriff auf unterschiedliche Traditionen und Erfahrungen sowie unter Berücksichtung ökonomischer und sozialen Besonderheiten unabhängig voneinander entwickelten, sowohl in der jeweiligen Verfassung als auch in der je unterschiedlichen konkreten Verfassungswirklichkeit eine differente, teilweise eigenwillige Ausformung erfahren haben.819 Hinzu kommt, dass die in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze ihre originäre Ausformung in den Nationalstaaten gefunden haben, nunmehr aber für die supranationale Union, die gegenüber nationalstaatlichen Organisationsmodellen vielfache Besonderheiten aufweist, definiert werden müssen. Einer stark an nationalstaatlichen Kategorien verhafteten Übertragung der Grundsätze, die die Eigenheiten der politischen Organisation auf supranationaler Ebene nicht respektiert, sind damit Grenzen gesetzt.820 Dies in Rechnung stellend, wird hinsichtlich der postulierten Homogenität häufig lediglich von einem „gemeineuropäischen Verständnis“821 von 819
Zu diesem Argument Calliess, Europa als Wertegemeinschaft (Fn. 801), 1033, 1041; v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre (Fn. 116), 149, 189 f. 820
Hierzu Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 79. Zum insoweit besonders problematischen „Grundsatz der Demokratie“, ebd., 89 ff. 821
Nicolaysen, Europarecht I (Fn. 809), 164.
Der Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht
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Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten oder von der Einhaltung „liberal-demokratischen Mindeststandards“822 ausgegangen. Lässt man sich ein auf diese an sich schon problematischen Formulierungen, die immer noch, wenn auch stark reduzierte, Homogenitätsbehauptungen transportieren, kann die unterstellte Homogenitätsbasis aber wiederum nicht mehr sein, als eine im Wege der rechtsvergleichenden, die mitgliedstaatlichen Verfassungen, aber auch völkerrechtliche Verträge einbeziehenden Analyse erfolgende Freilegung einiger elementarer Kerngehalte der genannten Grundsätze.823 Jürgen Habermas hat das dahingehend formuliert, dass „in einem künftigen europäischen Bundesstaat dieselben Rechtsprinzipien aus den Perspektiven verschiedener nationaler Überlieferungen, verschiedener nationaler Geschichten interpretiert werden müssen. Die eigene Tradition muss jeweils aus einer an den Perspektiven der anderen relativierten Sicht so angeeignet werden, dass sie in eine übernational geteilte westeuropäische Verfassungskultur eingebracht werden kann.“824 Das bedeutet nicht, dass man den präzisen materiellen Inhalt der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Rechtsprinzipien offen lässt und sich ihrer Übersetzung in anwendungsfähige Regeln verweigert.825 Dies mag zwar für die Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen größeren politischen Gestaltungsspielraum von Vorteil sein, ist aber schon deshalb nicht möglich, weil Art. 6 Abs. 1 EU als Tatbestandsmerkmal der Art. 7 und 49 Abs. 1 EU fungiert und damit sowohl für das Auslösen von unter Umständen weit reichenden Sanktionen gegenüber einem Mitgliedstaat als auch für den Beitritt zur Union von entscheidender Bedeutung ist.826 Für den Begriff 822
Nettesheim, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht (Fn. 801), 7, 67.
823
Zur Entwicklung gemeinsamer Verfassungsprinzipien durch Rechtsvergleichung J. A. Frowein, Die Herausbildung europäischer Verfassungsprinzipien, in: Kaufmann/Mestmäcker/Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, FS Maihofer, 1988, 149-158; J. H.H. Weiler, European Neoconstitutionalism, Political Studies 1996, 517-533. Siehe auch die Beiträge in MüllerGraff/Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 1998. Weitere Nachweise, auch auf französische, englische und italienische Literatur, bei v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre (Fn. 116), 151 Fn. 11. 824
Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 642 f.
825
Zur näheren inhaltlichen Bestimmung der in Art. 6 EU genannten Prinzipien v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre (Fn. 116), 163 ff., der ebd., 157, allerdings auch auf die geringe „»Tiefenschärfe« dieser Prinzipien“ hinweist. 826
Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 73, ebenso ebd., 70, 79 81 und 99. So auch Beutler, in: v. d. Groeben/Schwarze (Fn. 801), Art. 6 EUV Rn. 23.
4. Kapitel
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der Homogenität und seine Verwendung im europäischen Primärrecht bedeutet es aber, dass das Primärrecht über Art. 6 Abs. 1 i.V.m. der Struktursicherungsklausel des Art. 7 EU streng genommen keine Homogenität, sondern lediglich einen gemeinsamen semantischen Rahmen formuliert.827 Diese Annahme lässt sich durch eine Reihe von weiteren Argumenten stützen, die hier abschließend nur kurz skizziert werden können. Macht man beispielsweise die Rechtsvergleichung zur maßgeblichen Praxis für das Herauspräparieren der gemeinsamen Grundlagen, dann handelt man sich damit zugleich die praktischen, theoretischen und methodischen Schwierigkeiten jeder rechtsvergleichenden Tätigkeit ein.828 Berücksichtigt man diese Schwierigkeiten aber und stellt in Rechnung, dass eine selbstkritische Rechtsvergleichung „Sprachprobleme und hermeneutische Hindernisse, unterschiedliche Prämissen, Vorverständnisse und politische Visionen“ beachten, ihre eigenen Perspektiven und Interessen reflektieren und sich von der „irreführenden Idee eines neutralen Referenten“829 verabschieden muss, dann wird die auf die Präzisierung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze bzw. der in der Grundrechte-Charta aufgeführten Grundrechte gerichtete rechtsver827
Ebenfalls skeptisch gegenüber der Verwendung des Begriffs der Homogenität in diesem Zusammenhang Schmitt von Sydow, in: v. d. Groeben/Schwarze (Fn. 801), Art. 7 Rn. 7 ff.; ders., Liberté, démocratie, droits fondamentaux et Etat de droit: analyse de manquement aux principes de l’Union, Revue de Droit de l’Union Européenne, 2001, 285-325, insbesondere 288 und 289. Sehr zurückhaltend auch v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre (Fn. 116), 149, 189 f., demzufolge Art. 6 Abs. 1 EU „nur auf einer eher abstrakten Ebene einen strukturellen Gleichklang, nicht aber Verfassungshomogenität“ normiert. Ein Prinzip der „Verfassungshomogenität mit substantiellen und einheitstiftenden europäischen Vorgaben für die nationalen Verfassungssysteme“ ist für Bogdandy „derzeit zumindest in der Verfassungspraxis nicht wirksam“. Bereits vor über 20 Jahren mahnte hinsichtlich des Verhältnisses von Mitgliedstaaten zur supranationalen Ebene bzw. zwischen den Mitgliedstaaten zur „Vorsicht gegenüber übertriebenen Homogenitätsvorstellungen“ Frowein, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozess (Fn. 810), 301, 308. 828
Hierzu G. Frankenberg, Kritische Vergleiche, in: ders. (Fn. 11), 299-363; P. Legrand/R. Munday (eds.), Comparative Legal Studies, Cambridge University Press 2005. Hinweise vor allem auch auf praktische Grenzen der Rechtsvergleichung finden sich bei F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, 2003, 104 ff.: „zu zeitraubend und voraussetzungsvoll“. 829
Frankenberg, Kritische Vergleiche (Fn. 828), 299, 306 und 313.
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gleichende Operation nicht einen kleinsten gemeinsamen Nenner im Sinne eines „liberal-demokratischen Mindeststandards“ als Ergebnis auswerfen. Bereits methodische Einsichten führen dann vielmehr dazu, dass die rechtsvergleichende Operation die Analyse der „gemeinsamen Verfassungstraditionen“ in eine originäre Definition dessen transzendiert, was Demokratie oder Rechtstaatlichkeit im und für das europäischen Recht bedeuten. Bestätigt wird diese Annahme, wenn man die Rechtsprechung des EuGH betrachtet. So wird bezogen auf die Entwicklung und Präzisierung europäischer Grundrechte zwar immer wieder betont, dass maßgeblicher Orientierungspunkt hierbei die „gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten“ seien. Der tatsächliche sachliche Gehalt, den der Gerichtshof einem konkreten Grundrecht zuschreibt, wird allerdings nicht im Wege einer Operation konstruiert, die die unterschiedlichen grundrechtlichen Schutzbereichniveaus in den einzelnen Mitgliedstaaten als Bezugspunkt nimmt, diese harmonisiert und damit zu einer Definition dessen kommt, was ein bestimmtes Grundrecht auf europäischer Ebene an Bedeutungsgehalt aufweist. Es ist nicht einmal so, dass die nationalstaatlichen Grundrechte den maßgeblichen Bezugspunkt der europäischen Grundrechtsbildung bilden. Der Gerichtshof lässt sich nach eigenen Aussagen bei seiner Rechtsprechungstätigkeit von diesen Grundrechten „leiten“, bezieht sich darüber hinaus aber auf zahlreiche andere Quellen, so z.B. auf die „völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte […], an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind.“830 Einschlägige Bezugspunkte sind insbesondere die bisher nicht in Kraft getretene Charta der Grundrechte und die EMRK831, völkerrechtliche Verträge wie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte832 oder das Übereinkommen über die Rechte des Kin830
Europäisches Parlament/Rat der Europäischen Union, Urt. v. 27. Juni 2006 – C-540/03, Rn. 35. 831
Siehe unter anderen: ERT, Urteil v. 18. Juni 1991 – C-260/89, Slg. 1991, I-2925 Rn. 41; Connolly/Kommission, Urt. v. 6. März 2001 – C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611, Rn. 37; Roquette Frères, Urt. v. 22. Oktober 2002 – C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 25; Schmidberger, Urt. v. 12. Juni 2003 – C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71; Omega, Urt. v. 14. Oktober 2003 – C-36/02, Slg. 2003, I-9609, Rn. 33. 832
Vergleiche hierzu: Europäisches Parlament/Rat der Europäischen Union, Urt. v. 27. Juni 2006 – C-540/03, Rn. 37; Orkem/Kommission, Urt. v. 18. Oktober 1989 – 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 31; Dzodzi, Urt. v. 18. Oktober 1990 – C-297/88 und C-197/89, Slg. 1990, I-3763, Rn. 68; Grant, Urt. v. 17. Februar 1998 – C-249/96, Slg. 1998, I-621, Rn. 44.
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4. Kapitel
des.833 Als semantische Grundlage der Definition europarechtlicher Prinzipien und Rechte fungiert demnach eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtstexte. Zu beachten ist darüber hinaus ein weiterer Punkt: Abgesehen von den Verhältnissen zu den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten, die in der Vergangenheit häufig durch Konflikte gekennzeichnet waren, ist der EuGH ein gerichtlicher Spruchkörper neben einer Vielzahl anderer voneinander unabhängiger und sektorial agierender Gerichte und Konfliktlösungsspruchkörper.834 In diesem Ensemble von internationalen, nationalen und regionalen Spruchkörpern, in dem widersprüchliche Einzelfallentscheidungen, Norm- und Prinzipienkollisionen sowie differente oder gar inkonsistente Dogmatiken zu beobachten sind, agiert der EuGH mit einer institutionellen Eigendynamik, entwickelt seine eigene Methodik und Dogmatik und definiert versehen mit einem spezifischen Interesse an seiner institutionellen Autonomie die terminologische Grundlagen.835 Hierbei bedient sich der EuGH, das hat insbesondere die Herausbildung und Entwicklung der europäischen Grundrechte gezeigt, nicht immer unproblematischer dogmatischer Konstruktionen, die die eigene Tätigkeit legitimieren und die Stellung des Gerichtshofes sowohl im Institutionengefüge der Union als auch im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten und vor allem deren Judikative festigen sollen.836 Dass die methodische Praxis auf die Herausbildung elementarer Gemeinsamkeiten, die aus den Verfassungen der Mitgliedstaa833
Europäisches Parlament/Rat der Europäischen Union, Urt. v. 27. Juni 2006 – C-540/03, Rn. 37. 834
Das „Project on International Courts and Tribunals“, das im Jahre 1997 durch das Center on International Cooperation (CIC) der New York University und die Foundation for International Environmental Law and Development (FIELD) gegründet wurde, seit 2002 als gemeinsames Projekt der CIC und des Centre for International Courts and Tribunals des University College London betrieben wird, zählte die imponierende Zahl von 125 Institutionen, in denen unabhängige Spruchkörper verfahrensabschließende Rechtsentscheidungen treffen. 835
K. Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, 38, spricht bezüglich dieser insitutionellen Auseinandersetzungen von “doctrinal negotiations”. Siehe auch J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy (Fn. 116), 583, 587, der von einem „kritischen Dialog“ spricht. Hierzu auch S. Buckel, Subjektivierung und Kohäsion, 270 ff., i.E. 836
Beeindruckend hierzu Buckel, ebd., 240 ff. Differenziert zur in diesem Zusammenhang häufig thematisierten teleologischen Auslegung in der Rechtsprechung des EuGH, siehe auch Müller/Christensen, Juristische Methodik (Fn. 828), 67 ff. und 266 ff.
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ten extrahiert werden, hinausläuft, lässt sich nur behaupten, wenn man die Augen vor diesen soziologischen Aspekten der Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofes versperrt. Unwahrscheinlich ist die Homogenisierung der rechtlichen Begrifflichkeiten in der Weise, dass der EuGH die substantiellen verfassungsrechtlichen Begriffe der Mitgliedstaaten, die sich dem Wortlaut nach ebenfalls im europäischen Primärrecht finden, lediglich rezipiert und in Richtung auf Gemeinsamkeiten kompatibilisiert, schließlich aber auch deshalb, weil der supranationale Spruchkörper in seiner Rechtsprechung durchgängig die spezifischen Charakteristika der Union, ihre Ziele, Aufgaben und institutionelle Struktur berücksichtigt. Gerade Begriffe wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die in den Nationalstaaten “concepts with hierarchical connotations” sind, müssen in eine “polycontextural ’language’”837 übersetzt, d.h. unter Berücksichtigung der besonderen heterarchischen Struktur des supranationalen Verbandes formuliert werden.838 Unter diesen Bedingungen von einer Gleichartigkeit der Mitgliedstaaten untereinander bzw. der Union und der Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihrer verfassungsrechtlichen Grundlagen zu sprechen, scheint, auch wenn damit nur ein minimaler Standard an entsprechenden Gemeinsamkeiten gemeint ist, problematisch.
II. Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 EU: „Grundwertehomogenität“ Eine umfassende Analyse des Begriffs der Homogenität und vor allem die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit Bedeutungsgehalte, wie sie einem auf außerrechtliche Kriterien Bezug nehmenden Homogenitätsbegriff zugeschrieben werden, möglicherweise auch von einem auf primärrechtliche Normen rekurrierenden Begriff der Homogenität transportiert werden, kann bei der bisherigen Analyse nicht stehen bleiben. Eine gänzlich andere Bewertung der Verwendung des Homo-
837 838
M. Amstutz, In-Between Worlds, 11 ELJ, 766, 767 ff. (2005).
Zum sog. „Gemeinschaftsvorbehalt“ Kühling, Grundrechte (Fn. 833), 583, 591, der darin „eine Interpretationsmaxime für den gesamten Konkretisierungsprozess“, die es erlaubt, „das Einfügen in die Besonderheiten einer supranationalen Rechtsordnung“ zu berücksichtigen. Ferner sei hier „der Raum für teleologische Überlegungen vor dem Hintergrund der Aufgaben und Ziele der EG und damit für gemeinschaftseigene Wertungen gegeben“.
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genitätsbegriffs im europäischen Primärrecht ergibt sich nämlich, wenn man die mit der Entwicklung der Union von einem ökonomischen Zweckverband hin zu einer politischen Union und mit dem fortschreitenden Konstitutionalisierungsprozess verbundene Verwendung des Begriffs des „Wertes“ in der juristischen Literatur in die Beobachtung mit einbezieht.839
1. Grundwerte, Wertegemeinschaft und Werteordnung Zunehmend werden die in Art. 6 Abs. 1 EU aufgeführten Grundsätze und vor allem auch die in der Charta der Grundrechte der Union enthaltenen Grundrechte als „Werte“ bezeichnet, die Union als »Wertegemeinschaft« verstanden und ihre primärrechtlichen Grundlagen als „Werteordnung“ oder „Wertsystem“ charakterisiert.840 Die dieser Entwicklung zugrunde liegende Prämisse ist, dass ein Verband, der sich nicht länger auf restriktive Funktionen wie eine rein wirtschaftliche Integration beschränkt, sondern sich vielmehr als „Integrationsgemeinschaft der Bürger“ versteht, im Interesse seines eigenen Erfolges über ein eigenes gemeinsames Wertfundament verfügen muss. In diesem Wertfundament drücke sich sowohl die volle Entfaltung der europäischen Rechtsordnung als auch die spezifische Identität des supranatio-
839
Auf den Zusammenhang zwischen dem Fortschreiten des Integrationsprozesses und der zunehmenden Werterhetorik weist ausdrücklich hin Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung (Fn. 804), 49. Generell zur Entwicklung des Integrationsprozesses und den damit verbundenen verfassungstheoretischen Implikationen Brunkhorst, Taking democracy seriously (Fn. 103), 433, 438 ff. 840
Siehe etwa B. Beutler u.a., Die Europäische Union, 2001, Rn. 1313 ff.: „eigenständiges“ bzw. „unionsspezifisches Wertsystem“; Hummer/Obwexer, Die Wahrung der „Verfassungsgrundsätze“ der EU (Fn. 804), 485, 486; Speer, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft (Fn. 801), 980, 986; Schmitz, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte (Fn. 801), 73: „Wertegemeinschaft“; Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 221: „Wertordnung“; Calliess, Europa als Wertegemeinschaft (Fn. 801), 1033, 1036: „Grundwerte“; Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung (Fn. 804), 49, 66: „Grundwertehomogenität“; Schmahl, Die Reaktionen auf den Einzug der Freiheitlichen Partei Österreichs in das österreichische Regierungskabinett (Fn. 810), 821, 822: „Wertekatalog“.
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nalen Verbandes aus.841 Der Entwurf für eine Verfassung für Europa, der die Werterhetorik aufgreift, scheint dies zu reflektieren. In Art. I-2 VVE ist im Unterschied zu Art. 6 Abs. 1 EU nicht mehr von „Grundsätzen“, sondern von den „Werten der Union“ die Rede. Die Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, sind, so der Wortlaut des Art. I-2 VVE, die Werte, auf die sich die Union gründet. Im zweiten Satz heißt es dann, dass diese Werte allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet, gemeinsam sind. Darüber hinaus signalisiert aber nicht nur die veränderte Semantik die zunehmende Bedeutung des Wertbegriffs im europäischen Recht. Sie zeigt sich auch in der Architektur des Verfassungsentwurfes, in dem das Wertbekenntnis anders als im EU vor die Bestimmung der Ziele der Union gezogen und damit zum Ausdruck gebracht wird, dass sich die Union primär über die ihr zugrunde liegenden Werte definieren will.842 Grundsätzlich erscheint dabei die „europaweit um sich greifende Renaissance der Wertthematik“843, der inflationäre und ubiquitäre Gebrauch des Werttopos, auch im Hinblick auf eine an der Analyse des Begriffs der Homogenität interessierte Perspektive nicht problematisch. Dies gilt jedenfalls dann, wenn zum einen nur deshalb von Werten statt 841
Schmitz, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte (Fn. 801), 73, 74, 78 und 81; Beutler u.a., Die Europäische Union (Fn. 840), Rn. 1313 ff. 842
So auch Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung (Fn. 804), 49, 56. 843
M. Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union, in: Derra (Hrsg.), Freiheit, Sicherheit und Recht, FS Meyer, 2006, 49, 49. Siehe auch Toggenburg, Cultural Diversity at the Background of the European Debate on Values (Fn. 804), 9, 11 f., demzufolge “the ‘value debate’ gained in the last years a prominent position in public discourse, the notion of ‘European values’ became epidemic in usage.” Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung (Fn. 804), 49, 57, sieht den Begriff des Wertes mittlerweile als einen „Schlüsselbegriff der europäischen Verfassungsordnung“. Instruktiv zur Rede von Wertezerfall, Wertegemeinschaft, Werterelativismus, Werteskeptizismus, Wertesubjektivismus, Wertepluralismus, Wertewandel, Grundwerte, Leitwerte, Wertordnungen, Wertevermittlung, Werteverteidigung usw. R. Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung, in Transit 21 (2001), 172, 172 ff.
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von Grundsätzen, Prinzipien oder Normen die Rede ist, weil Letztere eine „nüchterne Technizität“ ausstrahlen, die die positiven Konnotationen des Wertbegriffs und damit verbundene Folgewirkungen, die man für eine fortgeschrittene Integration als unerlässlich betrachtet, vermissen lassen.844 Zum anderen generiert die Verwendung des Wertbegriffs solange keine Friktionen, wie zwar von einer »Wertegemeinschaft« oder einer „Werteordnung“ gesprochen wird, damit aber nichts anderes in Bezug genommen wird als die in Art. 6 Abs. 1 EU und in der Grundrechte-Charta enthaltenen Rechtsprinzipien und subjektiven Rechte. In diesen Fällen handelt es sich eher um eine Unachtsamkeit auf der begrifflichen Oberfläche, als um die vorsätzliche Verdrängung der gegenüber einer unbedachten Werterhetorik berechtigterweise angebrachten Skepsis.845 Allerdings zeigen sich, wenn die in Art. 6 Abs. 1 EU genannten „Grundsätze“ oder die in der Grundrechte-Charta enthaltenen Grundrechte bedacht oder unbedacht in „Werte“ umdeklariert werden, häufig hinsichtlich der dem Begriff der Homogenität zugeschriebenen Wirkungen frappierende Analogien zu den in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Homogenitätsverständnissen. So ist es hinsichtlich der oben bereits beschriebenen These von der chronologischen Vorgängigkeit der Homogenitätsbasis vor jeder rechtlichen und politischen Verfasstheit zumindest missverständlich, wenn Art. 6 Abs. 1 EU dahingehend interpretiert wird, dass in dieser Norm nur der Rückriff auf „eine fundamentale, der politischen Union voraus liegende Größe“, zu sehen sei. Das den europäischen Institutionen vorausgehende und diesen gegenüber unabhängige Fundament, so die Annahme, bestehe in den „Wertüberzeugungen der Menschen und der europäischen Gesellschaften“, habe mithin „in den Gesellschaften der Mitgliedstaaten ihren „Sitz im Leben““846. Aus dieser Perspektive bildet das europäische Recht 844
Dies vermutet Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung (Fn. 804), 49, 57. Bezogen auf die Wert-Rechtsprechung des BVerfG hat bereits Erhard Denninger gefragt, ob „es wenigstens psychologisch erträglicher und ideologisch ertragreicher [ist], im Namen objektiver Werte zu herrschen und zu richten als im Namen der Freiheit, zahlloser individueller Freiheiten?“ Siehe E. Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, 143, 145. 845 846
Siehe hierzu unten: II. 3.
H. Joas/Ch. Mandry, Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, 541, 546 f., wobei die Autoren betonen, dass dieses vorinstitutionelle Potential nicht allein legitimationstechnisch von den Hoheitsträgern benutzt, sondern „auch kritisch
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folglich in Art. 6 Abs. 1 EU nur einen moralischen Konventionalismus ab, der in den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten empirisch ermittelt werden kann und der der politischen Organisation auf europäischer Ebene voraus liegt. Da dieser auf gemeinsame Werte bezogene Konsens aber nicht nur vorgängig ist, sondern darüber hinaus als fragil und imperativisch kaum steuerbar betrachtet wird, überrascht des Weiteren auch nicht die im Kontext von Wertbehauptungen zu beobachtende affirmative Bezugnahme auf die häufig wiederholte, aber selten hinterfragte These von Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der freiheitliche säkularisierte Staat „von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.“847 Ungeachtet der an dieser Formel geübten beachtlichen Kritik848, wird behauptet, dass auch die „freiheitliche, säkularisierte Europäische Union von Voraussetzungen [lebt], die sie selbst nicht schaffen und gewährleisten kann“849. Auffällig sind weiter die starken Verknüpfungen, die zwischen dem Vorhandensein einer gemeinsamen europäischen Wertebasis und dem Entstehen eines die Angehörigen der Mitgliedstaaten verbindenden Zusammengehörigkeitsgefühls bzw. der Herausbildung einer europäischen Identität gezogen werden. Den in Art. 6 Abs. 1 EU und der Grundrechte-Charta der Union genannten „Werten“ und dem darin zum Ausdruck kommenden
gegen den Zustand der Institutionen und gegen die konkrete Politik gewendet werden“ könnte. 847
Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (Fn. 64), 92, 112. An anderer Stelle, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 129), § 22 Rn. 8, spricht Böckenförde unbestimmt davon, dass „die Funktionsfähigkeit der Demokratie nicht unabhängig von bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen ist“. 848
Gegen Böckenfördes These hat H. Brunkhorst, Verfallsgeschichten, DZPhil 52 (2004), 295, 301, eingewendet, dass sie eine verdeckte politische Ordnungsvorstellung vor jeder Verrechtlichung behauptet und aus angeblichen Vorgegebenheiten normative Implikationen zieht, obgleich die Vorgegebenheiten selbst „sich der partizipativen Erfahrung ebenso wie dem selbstbestimmten Zugriff der jeweiligen Bürgerschaft“ entziehen. In der dazugehörigen Fußnote weist Brunkhorst deutlich auf den „demokratietheoretischen Haken“ dieser Formel hin, die darin besteht, dass sie „dem Staat und der konkreten Ordnung des Politischen eine von demokratischer Selbstgesetzgebung unabhängige, zweite und (vorgeblich) tiefer liegende Legitimationsbasis“ verschafft. Diesen und weitere Einwände gegen die These Böckenfördes formuliert auch J. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, 2005, 106-118. 849
Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union (Fn. 843), 49, 52.
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„Wertekonsens“ wird zugetraut, den europäischen BürgerInnen ein europäisches Bewusstsein zu vermitteln und sie als Zivilgesellschaft zu konstituieren. Integration als ein Prozess, der einerseits auf die Identifikation der BürgerInnen mit einem bestimmten politischen Organisationsverband und andererseits auf die Emergenz eines sozialpsychologischen Phänomens in dem Sinne zielt, dass sich die Angehörigen dieses Verbandes als abgrenzbares Kollektiv wahrnehmen und miteinander verbunden fühlen, wird als unmittelbare oder doch zumindest wahrscheinliche Folge der Verankerung gemeinsamer Werte im Rechtssystem dieses Verbandes betrachtet. Werten scheint man diesbezüglich eher zu vertrauen, als steril anmutenden Grundsätzen, Rechtsprinzipien oder subjektiven Rechten.850 Unerheblich in Bezug auf die unterstellte Wirkung scheint zu sein, ob die Werte, die Grundlage der gemeinsamen Identität sein sollen, in gemeinsamen Traditionen kulturalistisch verankert werden und damit mittelbar doch wieder auf außerrechtliche Homogenitätsressourcen zurückgegriffen wird, oder aber die Bedeutung der Werte gerade deshalb betont wird, weil Europa „nur schwer als einheitlicher sprachlicher, religiöser, politischer, ökonomischer, geografischer oder ethnischer Raum erfassbar“851 ist. Eine weitere auffällige Analogie zu einem prä-politisch und prä-rechtlich konzipierten Homogenitätsbegriff liegt schließlich in der Bedeutung, die Teile der juristischen Literatur einer Homogenität der Werte auf europäischer Ebene in Bezug auf Solidaritätspotentiale im Allgemeinen und das Hinnehmen von Mehrheitsentscheidungen im Besonderen einräumen. Sowohl die in einem Gemeinwesen vorherrschende Solidarität als auch die Akzeptanz- und Folgebereitschaft gegenüber Mehrheitsentscheidungen, die den eigenen Interessen zuwiderlaufen, werden nicht in einer substantiellen Gleichartigkeit, sondern in einem gemeinsamen Wertefundament verankert. Das Bewusstsein, Teil einer europäischen Wertegemeinschaft zu sein, erkläre, warum majorisierte Mitgliedstaaten und ihre Staatsangehörigen bereit sind, eine für sie unter Umständen nachteilige Verteilungsentscheidung ohne Widerstand hinzunehmen und Teil des supra-
850
Borowsky, ebd., 49, 56; Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 41; Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung (Fn. 804), 49, 52 und 54. Angesichts einer „konstitutiven Pluralität“ sehr skeptisch gegenüber der Vorstellung, dass das europäische Recht als „Ausdruck eines Wertekonsenses zu begreifen [ist], in dem sich materielle Gemeinsamkeit ausdrückt“ v. Bogdandy, Zweierlei Verfassungsrecht (Fn. 805), 163, 171 ff. 851
Calliess, Europa als Wertegemeinschaft (Fn. 801), 1033, 1039.
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nationalen Verbandes zu bleiben. Ähnlich wie bei Anhängern substantieller Homogenitätspostulate, scheinen sich die zugestandenen politischen und ökonomischen Interessensgegensätze innerhalb eine Rahmens zu halten, der nunmehr allerdings durch ein gemeinsames Wertfundament, welches den konsentierten Bereich des Unabstimmbaren markiert, abgesteckt wird. Im Ergebnis werden Bestand, Funktionsfähigkeit und Konsolidierung der Union abhängig gemacht von der „Selbstvergewisserung des Staaten- und Verfassungsverbundes der EU über seine Werte“852.
2. Zwischenbetrachtung Fokussiert man die Analyse der rechtswissenschaftlichen Diskussion über europäische Werte, eine europäische Wertgemeinschaft bzw. Werteordnung, die sich auf die primärrechtlichen Grundlagen der Union, insbesondere auf Art. 6 Abs. 1 EU und die Grundrechte-Charta bezieht, allein auf die Funktionen, die mit einer solchen Terminologie verbunden werden, kommt man zu überraschenden Analogien. Ganz ähnlich den Positionen, die mit einem auf eine gemeinsame Kultur, Geschichte, Religion oder Sprache rekurrierenden Homogenitätsbegriff operieren, kommen Auffassungen, die maßgeblich auf eine europäische Wertehomogenität abstellen, zu der Schlussfolgerung, dass die Grundlage der Homogenität nicht nur vor jeder politischen Organisation bereits vorhanden ist, sondern Homogenität darüber hinaus auch verantwortlich zeichnet für das Entstehen eines Zusammengehörigkeitsgefühls bzw. einer spezifischen kollektiven Identität, für die Herausbildung der für die Anwendung des Mehrheitsprinzips vermeintlich erforderlichen sozialpsychologischen Voraussetzungen, für die Emergenz belastbarer Solidaritätspotentiale, die die Hinnahme von Verteilungsentscheidungen ermöglichen, sowie insgesamt für die von friedlicher Konfliktaustragung geprägte Funktionsfähigkeit des politischen Verbandes. Damit soll nicht behauptet werden, dass substantiell begründete Homogenitätskonzepte einerseits und wertbezogene Homogenitätskon-
852
Calliess, ebd., 1033, 1040. Ebenso Ch. Dorau, Die Öffnung der Europäischen Union für europäische Staaten, EuR 1999, 736, 749 f.; Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung (Fn. 804), 49, 65 f.
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zepte andererseits darüber hinaus Ähnlichkeiten aufweisen. Schon hinsichtlich des Bezugspunktes der Homogenität weisen Letztere trotz ihrer gelegentlichen Verweise auf einen empirisch vermeintlich feststellbaren Wertekonsens eine wesentlich größere Distanz zu essentialistischen, naturalistischen und ontologischen Hypostasierungen auf. Des Weiteren entbehren wertbezogene Homogenitätspostulate durchgängig der etatistischen Stoßrichtung in dem Sinne, dass über Homogenitätsbehauptungen und Homogenitätsforderungen der Nationalstaat als politisches Ordnungsmodell konserviert und gegenüber supra- oder transnationalen Organisationsformen zumindest hinsichtlich der Frage demokratischer Legitimationsfähigkeit präferiert wird. Im Gegenteil stehen Auffassungen, die sich auf eine im Unionsrecht vermeintlich zum Ausdruck kommende Homogenität der Werte beziehen, der Europäischen Union ausgesprochen positiv gegenüber. Das wird bereits daran deutlich, dass auf bereits dargestellte Dichotomisierungen gänzlich verzichtet wird. Anders als bei Anhängern eines außerrechtlich begründeten Homogenitätsbegriffs wird die Homogenität, auch wenn ihre vorgängige Grundlage zuerst in den Gesellschaften der Mitgliedstaaten verortet wird, ja gerade auf der europäischen Ebene als selbstverständlich vorhanden betrachtet. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass dann, wenn primärrechtliche Normen nicht mehr oder nicht nur als Rechtsprinzipien, Rechtsgrundsätze oder subjektive Rechte, sondern darüber hinaus als Werte bezeichnet werden, das Unionsrecht zu einer Werteordnung aufgewertet, die Mitgliedstaaten bzw. ihre Angehörigen als Wertegemeinschaft bezeichnet und die Homogenität der Werte postuliert werden, mit dem Homogenitätsbegriff nahezu identische Wirkungen verknüpft werden, wie dies bei einem substantiell verstandenen Homogenitätsbegriff der Fall ist. Zumindest hinsichtlich dieser dem Begriff der Homogenität zugeschriebenen Wirkungen erscheint daher im Ergebnis ein wertbezogener Homogenitätsbegriff lediglich als Substitut eines auf außerrechtliche Kriterien Bezug nehmenden Homogenitätsbegriffs.
3. Diskussion und Kritik Angesichts der Tatsache, dass bezogen auf das europäische Recht von starken Homogenitätsbehauptungen Abstand genommen und nur sehr begrenzt Hoffnung in die Verbindung zwischen einer konstatierten Homogenität einerseits und den aufgezeigten Folgewirkungen andererseits gesetzt wird, solange die primärrechtlichen Bezugspunkte der Homogenität allein als Rechtsprinzipien und subjektive Rechte begrif-
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fen werden, liegt die Annahme nahe, dass es gerade der Werttopos ist, der es erlaubt, dem Begriff der Homogenität in der europarechtlichen Diskussion eine inhaltlich anspruchsvollere Bedeutung beizumessen. Folglich soll im Folgenden der Begriff des Wertes und seine oftmals unkritische Verwendung im juristischen Diskurs näher untersucht und insbesondere gefragt werden, ob sich die einer wertbezogenen Homogenität zugeschriebenen Wirkungen tatsächlich plausibilisieren lassen.
a. Ungeklärte Begriffe Auffällig ist zunächst, dass zwar an das Vorhandensein einer gemeinsamen Wertgrundlage und der Annahme des Bestehens einer europäischen Wertegemeinschaft bestimmte Wirkungen geknüpft werden, eine Klärung des Wertbegriffs, der für diese Positionen von eminenter Bedeutung sein müsste, gleichwohl fast durchgängig unterbleibt. Nimmt man jene wenigen Ausnahmen, die sich um eine begriffliche Präzisierung bemühen, in den Blick, zeigen sich zudem ganz unterschiedliche Terminologien. So stellt Thomas Schmitz beispielsweise auf „Werte im staatswissenschaftlichen Sinne ab“ und definiert diese als „auf politischphilosophischen Werturteilen beruhende Leitideen für die Tätigkeit politischer Institutionen.“ Differenziert wird dabei zwischen „Werten (wertbezogene Leitideen) und sonstigen (an sich wertneutralen) Leitideen.“ Während zu Ersteren die Achtung der Menschenwürde, das Demokratieprinzip, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, sowie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gehören soll, beträfen Letztere „vor allem tradierte Grundmuster der Organisation der hoheitlichen Macht wie die Bundessstaatlichkeit, die Einheitsstaatlichkeit oder die kommunale Selbstverwaltung; ferner etwa das Subsidiaritätsprinzip.“ Die Grundrechte-Charta, so Schmitz, befasse sich mit der Umsetzung von „obersten, systemprägenden Werten, auf denen alle anderen aufbauen oder denen sie sich unterzuordnen haben. Diese sind im Gegensatz zu den einfachen Werten (z.B. in einer beliebigen Grundrechts- oder Staatszielbestimmung) als Grundwerte zu bezeichnen.“853 Christian Calliess hingegen definiert Werte als „Grundeinstellungen der Gesellschaft oder auch Einzelner, die sich durch eine besondere Festigkeit und Überzeugung von der Richtigkeit auszeichnen“. Während sich die Ausführungen Schmitz’ auf in Rechtstexten normierte Werte beziehen und
853
Schmitz, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte (Fn. 801), 73, 80 f.
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eine empirische Rückkopplung zumindest nicht thematisiert wird, besteht das „Wertesystem einer Gesellschaft“ bei Calliess gerade in der „Gesamtheit der Werte“, die gesellschaftlich weithin geteilt werden. Aus der Perspektive des Rechtssystems handelt es sich Calliess zufolge bei Werten um „Güter, die eine Rechtsordnung als vorgegeben oder aufgegeben anerkennt.“854 Bezogen auf die Union differenziert Calliess zwischen „Leitwerten“, „Grundwerten“ und „Einzelwerten“. Erstere sollen solche Werte sein, „die der EU als Integrationsverband immanent sind und sie von Beginn an definieren. Es handelt sich bei ihnen um Werte, die (zumindest implizit) seit jeher das Fundament der EU bilden und ohne die sie nicht das wäre, was sie heute ist. Die Leitwerte formen die Basis des europäischen Integrationsprojekts und sind so gesehen für die EU quasi existenziell. Es handelt sich zunächst um die miteinander eng verbundenen Werte Frieden, Integration und Marktfreiheit (Integrationsformel) sowie um die Werte der Solidarität und Subsidiarität“. Bei Grundwerten hingegen handele es sich um solche Werte, „die – ausgehend von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten – im Zuge der fortschreitenden Integration zu Strukturmerkmalen der EU geworden sind.“ Zu solchen Grundwerten, so Calliess, seien vor allem die in Art. 6 Abs. 1 EU aufgeführten Grundsätze zu zählen. Die „Einzelwerte“ schließlich seien Werte, „die Teilaspekte der Leitund Grundwerte für bestimmte Bereiche konkretisieren“. Einzelwerte ließen sich „allesamt den Grundwerten zuordnen. Sie haben daher keine eigenständige Bedeutung, sondern schärfen nur das Bewusstsein dafür, welcher Wert hinter einer Kompetenz oder einem normierten Rechtsgut steht.“855 Bereits diese Darstellung unterschiedlicher Bemühungen um die Präzisierung des Wertbegriffs zeigt, dass, wenn überhaupt Definitionsversuche unternommen werden, diese zu teilweise stark voneinander abweichenden Terminologien führen. Daneben überrascht aber auch, dass, obwohl naheliegend, weitgehend darauf verzichtet wird, sich mit den zahlreichen kritischen Argumenten an der Rhetorik der Werte auseinanderzusetzen. Zwar räumt man gelegentlich die mit dem Wertbegriff auftauchenden Probleme ein, betont die „Sinnvariabilität des Begriffs
854 855
Calliess, Europa als Wertegemeinschaft (Fn. 801), 1033,1034.
Calliess, ebd., 1033, 1038 f. Einen Überblick über verschiedene Wertverständnisse auf europäischer Ebene findet sich bei Toggenburg, Cultural Diversity at the Background of the European Debate on Values (Fn. 804), 9, 11 ff.
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der Wertegemeinschaft“856, stellt fest, dass die inflationäre Verwendung einer Werterhetorik „zu verunsichern, gar zu befremden“ scheint und konstatiert „ein gewisses Unbehagen“, die die „bisweilen schon beklagte Hypertrophie der Werterhetorik hinterlässt“857. Auch zitiert man, freilich ohne sich dann damit auseinanderzusetzen, die Polemik Carl Schmitts gegen die „Tyrannei der Werte“.858 Es stimmt: „Das Thema „europäischer Werte“ steht nunmehr auf der Tagesordnung, es stellt sich unausweichlich.“859 Das entlastet aber gerade in den Fällen, in denen man mit den Begriffen des Wertes, der Wertegemeinschaft und der Werteordnung weitreichende Assoziationen verknüpft, nicht davon, diese Begriffe sowohl im Hinblick auf ihre sozialwissenschaftlichen Prämissen als auch bezüglich ihrer normativen Implikationen näher zu explizieren und einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.
b. Werte und Integration Nimmt man die Anfänge der semantischen Karriere des Wertbegriffs in den Blick, überrascht es zunächst überhaupt nicht, dass der Begriff des Wertes häufig in Zusammenhang gebracht wird mit dem Entstehen einer kollektiven Identität. Abseits seiner zunehmenden Prominenz im Europarecht beginnt diese Karriere des Wertbegriffs, der zuvor aus856
Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung (Fn. 804), 49, 52. Ähnlich auch Schmitz, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte (Fn. 801), 73, 80, der die Frage stellt, ob es sich bei dem Begriff der Wertegemeinschaft „nur um einen weiteren Modebegriff im inflationären Wissenschaftsbetrieb“ handelt. Deutlicher Joas/Mandry, Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft (Fn. 846), 541, 542, denen zufolge die Vorstellung Europas als einer Wertegemeinschaft „sowohl begrifflich ungeklärt sowie inhaltlich häufig unausgewiesen als auch – als normativ gehaltvolle Vorstellung – politisch keineswegs „harmlos“ ist.“ 857
Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union (Fn. 843), 49. Dass der Begriff des Wertes „ebenso umstritten und von willkürlicher Verwendung bedroht [ist] wie der Begriff »Europa«“, betont aus soziologischer Perspektive auch H. Joas, Die kulturellen Werte Europas. Eine Einleitung, in: ders./Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2005, 11, 13. 858
So Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union (Fn. 843), 49, der allerdings lediglich auf Schmitts Schrift hinweist, sich inhaltlich mit dieser jedoch nicht auseinandersetzt und den Wertbegriff darüber hinaus ungeklärt lässt. 859
Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union (Fn. 843), 49.
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schließlich ein dem ökonomischen Sektor vorbehaltener Begriff war, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der Ausprägung funktionaler Differenzierung, d.h. mit der Herausbildung zunehmend komplexer werdender gesellschaftlicher Subsysteme wie Recht, Wirtschaft, Moral, Wissenschaft und Politik expandiert der Begriff und bilden sich jeweils unterschiedliche Wertterminologien auch in diesen gesellschaftlichen Bereichen aus.860 Zugleich erzeugt eine in verschiedene Funktionssysteme aufgespaltene Gesellschaft aber auch den Bedarf nach funktionsübergreifenden Sinngehalten. Für deren Rekonstruktion, so Niklas Luhmann bietet sich die Wertform an. Grundwertkonzepte, die keine konkreten Ergebnisse festlegen, dienen als „Start- und Stützbegriffe für öffentliche Kommunikation“861. Werte „dienen dazu [...] vorausgesetzten Konsens auszudrücken und Verständigungsmöglichkeiten zu postulieren.“862 Sie formulieren Präferenzen, bei denen man in der Kommunikation unterstellen kann, dass sie gerade aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades und der Nicht-Determinierung konkreter Handlungen oder Entscheidungen auf allgemeine Akzeptanz treffen. Überzeugend sind Werte demnach aus systemtheoretischer Perspektive nicht deshalb, weil man sie begründen kann, sondern weil man stillschweigend davon ausgehen kann, dass gegen sie keine Einwände erhoben werden. Aktualisiert werden sie nicht dadurch, dass man sie begründen könnte, sondern vielmehr durch Anspielung. Sie sind daher, so Luhmann, das Medium für eine Gemeinsamkeitsunterstellung, die einschränkt, was gesagt und verlangt werden kann, ohne zu determinieren, was getan werden soll.“863
860
Zum Beginn der semantischen Karriere aus systemtheoretischer Perspektive Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 181; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 341), 340 und 342 m.w.N. Ungefähr auf den gleichen Zeitpunkt, jedoch nicht unmittelbar auf Ausdifferenzierungsprozesse rekurriert C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie, FS Ernst Forsthoff, 1967, 37, 53, der „die Nihilismuskrise des 19. Jahrhunderts“ für den „unbestreitbaren Erfolg“ der Wert-Philosophie verantwortlich macht. Siehe schließlich auch M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 5 (Holzwege), 1977, 193, 227. 861
N. Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. I, 1980, 9, 55 f. 862
N. Luhmann, Positives Recht und Ideologie, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 1, 1984, 178, 197. 863
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 341), 343.
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Vor dem Hintergrund einer solchen Definition des Wertbegriffs ist aber bereits die Prämisse fraglich und kritisierbar, ein über gemeinsame Werte konstruierter Konsens könne zugleich als empirisch verifizierbare Grundlage und Ausdruck eines belastbaren Zusammengehörigkeitsgefühls fungieren.864 Freilich gibt es für diese Annahme in der deutschen Staatsrechtlehre mit Rudolf Smend und dessen Integrationslehre ein prominentes Beispiel. Smend zufolge will ein primär auf das Ziel der gesellschaftlichen Integration ausgerichteter Grundrechtskatalog „eine sachliche Reihe von einer gewissen Geschlossenheit, d. h. ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem normieren, und er normiert es als nationales, als das System gerade der Deutschen, das allgemeinere Werte national positiviert, eben dadurch aber den Angehörigen dieser Staatsnation etwas gibt, einen materialen Status, durch den sie sachlich ein Volk, untereinander und im Gegensatz gegen andere, sein sollen.“865 Die nun-
864
Nur in der Fußnote sei angemerkt, dass der angenommene Konsens empirisch gar nicht verifizierbar ist. Hiergegen wird man einwenden, dass sich über Umfragen wie beispielsweise dem Eurobarometer kollektive Werteinstellungen ermitteln lassen. Das Problem solcher Umfragen liegt aber in einem dem Wertbegriff inhärenten Spezifikum: Die grundsätzlich positive Konnotierung von Werten und eben nicht die affirmative Hervorhebung des negativen Gegenwertes sorgt dafür, dass sich kaum jemand für den Gegenwert, d.h. gegen Freiheit, Grundrechte und Gleichheit, gegen Demokratie, gegen Frieden oder gegen rechtsstaatliche Strukturen aussprechen wird. Virulent und sichtbar werden differente Werteinstellungen eben erst, wenn Werte in Konflikt geraten. Luhmann spricht diesbezüglich von „der Schwierigkeit, mit Fragen nach Werteinstellung (wie immer raffiniert geplant) auf festen Grund zu kommen. Man erhält nur Antworten auf die Fragen; und auf andere Fragen andere Antworten.“ (Luhmann, ebd.) Aber selbst wenn sich jener die Gesellschaftsmitglieder integrierende Konsens empirisch ermitteln ließe, kann daraus nicht gefolgert werden, dass „deshalb den objektiven Strukturen dieser Vergesellschaftung und dem Wertekanon realexistierender Gesellschaften kriteriologische Priorität zukomme“. Diese Folgerung beruht nämlich, wie I. Maus gegenüber kommunitaristischen Positionen geltend macht, „auf der Verwechslung normativer und deskriptiver Aspekte [...]. Zwar ist zuzugeben, dass nur in einem konkreten Gemeinwesen kommunikatives Handeln und Formen der Nomenbegründung eingeübt werden, aber die realexistierenden Werte einer realexistierenden Gemeinschaft können selbst nicht etwa Maßstab, sondern nur Gegenstand diskursiver Prüfung sein.“ Siehe I. Maus, Volkssouveränität versus Konstitutionalismus, in: Frankenberg (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, 1994, 74, 79 f. 865
R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 1968, 119, 264.
264
4. Kapitel
mehr auf europäischer Ebene zu beobachtenden Versuche, über die Kodifizierung gemeinsamer Werte bei den europäischen BürgerInnen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit bzw. eine spezifisch europäische Identität zu erzeugen, weisen frappierende Ähnlichkeiten zu Smends Konzeption auf. Dagegen lässt sich aber nicht nur einwenden, dass sich das überaus komplexe Problem der Integration radikal pluralisierter, multiethnischer Gesellschaften mit dem Bezug auf eine gemeinsame Wertegrundlage kaum angemessen erfassen und bearbeiten lässt.866 Ohne den oben zitierten Autoren, die in der Kodifizierung europäischer Werte Integrationspotentiale erblicken, zu unterstellen, dass sie ein autoritativ-interventionistisches Modell sozialpsychologischer Einheitsbildung propagieren und ohne zu bestreiten, dass „Einheitsbildung durch autoritär-staatliche Intervention oder durch einen elitär gesetzten Wertekodex wohl denkbar ist“867, muss daran erinnert werden, dass die Annahme eines für sich schon hinreichend problematischen substantiellen Wertekonsenses potentiell die Gefahr in sich trägt, für ein hoheitlich-paternalistisches Integrationsmanagement in Anspruch genommen zu werden, das genau jene – auch wertbezogene – Pluralität und Heterogenität sowie die daraus resultierende permanente Konfliktstruktur überdeckt, die Kennzeichen moderner Gesellschaften sind. Dabei ist es gerade diese Gesellschaftsstruktur, die dazu zwingt, normativ abgesicherte Zugehörigkeitsverhältnisse und daran gekoppelte Rechte gerade auch dann zu garantieren, wenn gemeinsame Wertüberzeugungen nicht geteilt werden. Behauptet man hingegen einen empirisch nachweisbaren Wertekonsens und macht diesen verantwortlich für die soziale Integration von Individuen, besteht die Gefahr, dass von der empirischen auf die normative Ebene geschlossen wird, d.h. abstrakt verbürgte Zugehörigkeit abhängig gemacht wird von der Teilhabe an einer hypostasierten
866
Dies zeigt sich bereits dann, wenn man nur wenige Arbeiten aus der kaum noch zu übersehenden Literatur zum Begriff der „Integration“ heranzieht. Aus soziologischer Perspektive Peters, Die Integration moderner Gesellschaften (Fn. 45). Aus politikwissenschaftlicher Perspektive Gebhardt/Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation. Die politische Integration moderner Gesellschaften, 1994. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive G. Frankenberg, Tocquevilles Frage, in: ders. (Fn. 11), 136 ff. Und schließlich aus philosophischer Sicht W. Kymlicka, “Community”, in: Goodin/Pettit (eds.), A Companion to Contemporary Political Philosophy, 1993, 366-378. 867
Frankenberg, Tocquevilles Frage (Fn. 866), 136, 165. Frankenberg sieht in der autoritativen und autoritären Setzung eines Wertekonsenses geradezu die Externalisierung des Integrationsproblems, ebd., 163.
Der Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht
265
homogenen Wertegemeinschaft.868 Problematisch erscheinen die einer gemeinsamen Wertegrundlage zugeschriebenen Integrationswirkungen darüber hinaus aber auch deshalb, weil, wenn man die Vergesellschaftung der Individuen allein über einen vermeintlich prästabilsierten Wertekonsens erklärt, in der Verfassung institutionalisierte Verfahren, die es „ermöglichen, einen einheitlichen und handlungsfähigen Willen der von Konflikten zerrissenen Gesellschaft allererst herzustellen“869, vernachlässigt. Der Fokus ist mit anderen Worten tendenziell eher auf die RePräsentation von etwas bereits Vorhandenem gerichtet, nicht hingegen auf das erst konstruktiv Hervorzubringende. Des Weiteren blenden Positionen, die starke Assoziationen zwischen wertbezogenen Konsensunterstellungen und integrativen Effekten behaupten, häufig die universalistische Konzeptionalisierung der in Art. 6 Abs. 1 EU und der Grundrechte-Charta aufgeführten Prinzipien und Rechte aus. Diesbezüglich scheint es berechtigt zu fragen, inwieweit über die Kodifizierung von Grundsätzen, die einen Anspruch auf universale Geltung und Implementierung erheben, derartige sozialpsychologische Phänomene in Bezug auf abgrenzbare Kollektive sollen entstehen können.870 Aus dem rechtswissenschaftlichen Diskurs über die integrativen Potentiale von gemeinsamen Werten wird schließlich ein weiteres Problem ausgeblendet, das ebenfalls zu Zweifeln an jenem Potential Anlass gibt. Die Behauptung von in Werten begründeten “inviolate levels”871, die trotz 868
Hierzu Maus, Volkssouveränität versus Konstitutionalismus (Fn. 864), 74,
81 f. 869
U. Rödel, Zivilgesellschaft und Verfassung, in: Gebhardt/Schmalz-Bruns (Fn. 45), 123, 126. 870
Skeptisch gegenüber dem „integrativen und moralischen Potential von Rechten“ im Hinblick auf die Entstehung einer europäischen Identität U. Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, 352 ff. Für den Historiker Jürgen Kocka ist der Universalismus der Rechtsprinzipien und Menschenrechte der Grund, warum im Hinblick auf die Entstehung eines europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls die gemeinsame Verpflichtung auf Werte durch Selbstpaktierung nicht ausreicht. Siehe J. Kocka, Die Grenzen Europas, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Fn. 846), 275, 283 f. 871
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 341), 341. Ganz ähnlich betrachtet Frankenberg, Tocquevilles Frage (Fn. 866), 136, 152 f. die „Grundkonsens- oder Grundwerte-Debatte“ als einen „Reflex jener durchaus modernen Suche nach Einheit in einer heillos uneinigen Welt“ bzw. als „weiteres Beispiel für die seit den kontraktualistischen Gründungsmythen typisch moderne Magie, die Eintracht und Ordnung heilig spricht, um die Gefahren der aus Uneinigkeit entspringenden Konflikte zu bannen“.
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266
und jenseits der unübersehbaren Differenzierungen und Pluralisierungen moderner Gesellschaften deren mögliche Gesamtintegration suggerieren, wird in dem Moment problematisch, in dem im Einzelfall bestimmt werden muss, wie die Werte in konkreten Handlungsprogrammen zu realisieren sind.872 In dieser Situation zeigt sich nämlich, dass Werte aufgrund ihres vergleichsweise hohen Abstraktionsgrades, der es überhaupt erst ermöglicht, dass sie als „synthetisch-integrierende Formeln für die Darstellung sozialen Konsenses“ dienen können, für den im Einzelfall auftretenden Wertekonflikt keine Anwendungsregeln enthalten.873 Als Regeln des Vorziehens und damit auch des Verzichtens sind Werte zwar unentbehrliche Orientierungsgesichtspunkte menschlichen Handelns und gerade in einer zunehmend rationalisierten Welt, die fast für jede Situation Handlungsalternativen offen hält, von unabschätzbarer Bedeutung“874. Auch mag bezogen auf das Rechtssystem der häufige Rekurs auf Werte und nicht auf Normen funktionell insofern sinnvoll sein, als hierarchisch auf einer höchsten Ebene angesiedelte Werte „ein Schema begrenzter Flexibilität und Änderbarkeit des Rechts“ anbieten, d.h. „niedrigere Normen spezifiziert und nach Bedarf geändert werden können, ohne dass höherrangige Werte dadurch in Frage gestellt werden.“875 Gleichwohl muss berücksichtigt werden, dass sich zwischen Werten und Handlungsprogrammen keine starren Relationen etwa in der Weise herstellen lassen, dass Werte einfach in Handlungsprogramme übersetzt werden, d.h. der Wert selbst schon vorgibt, wie er im Einzelfall zu konkretisieren sei.876 Gerade im Konfliktfall,
872
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 341), 341 f.
873
Nach Speer, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft (Fn. 801), 980, 981 f., ist die „inhaltliche Definition gemeinsamer Werte, die über eine selbstaffirmative Bekräftigung ihres Vorhandenseins hinausgeht“ aufgrund der „dem Wertbegriff inhärenten Faktoren der Unbestimmtheit, Vielschichtigkeit, Subjektivität und Kontextbezogenheit“ jenseits eines „relativ hohen Abstraktionsniveaus“ gar nicht nachweisbar. Dies wird auch eingeräumt von Calliess, Europa als Wertegemeinschaft (Fn. 801), 1033, 1034. 874
N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1974, 44, Fn. 12.
875
Luhmann, ebd., 1974, 28 f.
876
Dies wird übersehen von Joas/Mandry, Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft (Fn. 846), 541, 550, wenn gesagt wird, dass Normen und Prinzipien das formulieren, was „Werte eigentlich zu tun empfehlen oder anweisen.“ Dagegen wendet Toggenburg, Cultural Diversity at the Background of the European Debate on Values (Fn. 804), 9, 13, zu Recht ein, europäische Werte seien “point to commitments and convictions which hardly can be nailed down
Der Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht
267
und mit diesen Fällen hat es das Rechtssystem zu tun, müssen die mit der Zuschreibung allgemeiner Akzeptanz versehenen Werte aber respezifiziert, d.h. in konkret-anwendungsfähige Regeln transformiert werden.877 In diesen Fällen wird schnell deutlich, dass der Rückgriff auf eine scheinbar konfliktfrei propagierte Wertgrundlage versagt und man es stattdessen mit einer Vielzahl von konfligierenden Werten zu tun hat, zwischen denen sich keine hierarchischen Rangverhältnisse herstellen oder gar stabilisieren lassen.878 Die hier skizzierten Bedenken und Einwände sollen nicht generell bestreiten, dass die Kodifizierung von Prinzipien oder subjektiven Rechten im europäischen Primärrecht, die zugleich als Werte verstanden werden, zu einer stärkeren Identifikation der UnionsbürgerInnen mit der Union und zur Herausbildung führen kann.879 Aber sie geben Anlass zur Vorsicht gegenüber der Postulierung eines angeblich vorhandenen Wertekonsenses und damit verbundener, vorschnell aufgestellter Kausalitätsbehauptungen des Inhalts, dass eine vorfindbare wertbezogene Homogenitätsgrundlage zur Entstehung eines europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls führen wird, das im Hinblick auf die Akzeptanz von Mehrheits- und Verteilungsentscheidungen hinreichend belastbar ist.
in legal terms or identified in treaty provisions. Their legal value is weak and even the political consensus underlying them is shaky.” 877
Diesbezüglich kann man einwenden, dass dies auch für die relativ abstrakten Rechtsprinzipien des Art. 6 Abs. 1 EU gilt. Allerdings, darauf weist Nettesheim hin, kann sich deren Konkretisierung sowohl auf bereits vorhandene Rechtsprechung nationaler und europäischer Gerichte sowie auf eine „befruchtende Auseinandersetzung mit den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten“ stützen. Siehe Nettesheim, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht (Fn. 801), 7, 67. 878
Siehe hierzu Luhmann, Positives Recht und Ideologie (Fn. 862), 178, 183 und 190; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 341), 341 mit Fn. 265; ders., Das Recht der Gesellschaft (Fn. 49), 522 f. ders., Grundrechte als Institution (Fn. 874), 214 f. Dass „kein Wert von Haus aus einen unbedingten Vorrang vor anderen Werten beanspruchen kann“ bzw. eine „Flexibilität der zwischen Werten herzustellenden Rangordnungen“ besteht, wird auch von Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 310 und 313, in seiner Kritik an der Werteordnungsjudikatur des BVerfG und dem damit verbundenen Verfahren der „Güterabwägung“ zwischen verschiedenen Werten hervorgehoben. 879
So A. v. Bogdandy, Europäische Verfassungspolitik als Identitätspolitik, Kritische Justiz 2005, 110, 121.
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268
c. Gefahr der Ethisierung und Moralisierung von Konflikten Ein weiterer Einwand gegen eine allzu leichfertigen Verwendung der Wertsemantik zielt nicht auf die integrativen Effekte, die mit der Postulierung von Werten assoziiert werden, sondern auf die potentielle Eskalation von Konflikten. Dem Einwand liegt die Erkenntnis zugrunde, dass sich zwar zwischen dem rechtlichen und dem moralischen Diskurs vielfach Überschneidungen beobachten lassen und sich „das Projekt der Schaffung und Erhaltung von Recht eine normative Vision vom (breit gefächerten) Diskurs der Moral“880 entleiht.881 Nicht übersehen werden darf aber auch, dass sich das Recht gegenüber der Ethik und der Moral in der Moderne deshalb als eigenständiges und ihnen gegenüber unabhängiges gesellschaftliches System ausdifferenziert hat, weil Moral und Religion sich nicht mehr als Konflikt vermeidend, sondern im Gegenteil als Ursache und Verschärfung von Konflikten erwiesen haben.882 Macht man vor diesem Hintergrund in der juristischen Diskussion nicht hinreichend deutlich, dass man zwar unbedacht von Werten spricht, tatsächlich aber Rechtsprinzipien und subjektive Rechte meint, entsteht die Gefahr, dass Wertbehauptungen moralisch verstanden werden. Dann geht es in der Kommunikation aber zum einen nicht mehr um Recht oder Unrecht, sondern um Gut und Böse, Achtung und Nichtachtung, um teleologisches statt obligatorisches Handeln. Zum anderen müssen die postulierten Werte, da sie ihre Geltung in Anerkennung verankern, „permanent behauptet, durchgesetzt, anerkannt und dadurch »realisiert« werden.“ Für eine politische Ordnung, die sich der Wertsetzung verschreibt und sich als Wertordnung versteht, führt das dazu, dass sie sich im Interesse der Inanspruchnahme der legitimatorischen Kraft von Werten unablässig verpflichtet fühlt, „gegen vermeintliche und tatsächliche Wertnegationen“ die eigene Wertordnung „zu verteidigen, zu propagieren und offensiv zu aktualisieren.“883 Darüber hinaus gefährdet man bei einer unbedachten oder vorsätzlichen Remoralisie880
Haltern, Europarecht und das Politische (Fn. 870), 369.
881
Siehe auch Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 312, demzufolge zwar „auch teleologische Gehalte ins Recht einwandern“, gleichwohl aber „das durch ein System der Rechte definierte Recht [...] gleichsam die Zielsetzungen und Wertorientierungen des Gesetzgebers durch den strikten Vorrang normativer Gesichtspunkte [domestiziert]“. 882
Siehe hierzu eindringlich H. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353, 356 ff. 883
Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung (Fn. 844), 143, 149.
Der Begriff der Homogenität im europäischen Primärrecht
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rung des Rechts im Konfliktfall allgemeine Akzeptanzchancen für die Entscheidung des Konflikts. Letztere verlässt sich dann nämlich nicht mehr auf das im Rechtssystem vorhandene ausdifferenzierte rationalmethodischen Instrumentarium zur Begründung von Entscheidungen, sondern setzt stattdessen auf eine diffuse Wertethik, von deren Prämissen und Maximen, dies wurde oben bereits angemerkt, jedoch nicht auf den Einzelfall deduziert werden kann. Die Lösung besteht dann in einer zweifelhaften »Abwägung«, die „entweder willkürlich oder unreflektiert nach eingewöhnten Standards und Rangordnungen“884 verfährt. Einen rechtlichen Konflikt in Wertkategorien zu fassen, birgt demnach immer die Gefahr, dass der Konflikt auf eine Ebene verschoben wird, auf der sich dessen Lösung als bedeutend schwieriger erweist. Die Anwendung der rechtlichen Instrumente, die für die Bearbeitung des Konflikts bereitstehen, leidet darunter, dass der Konflikt nicht mehr als Rechtskonflikt, sondern als ein primär moralisch zu beurteilender Konflikt verstanden wird. Als Beispiel hierfür können die Sanktionsdrohungen gesehen werden, die vierzehn Mitgliedstaaten unter der portugiesischen Ratspräsidentschaft in einer Gemeinsamen Erklärung vom 31. Januar 2000 gegenüber Österreich für den Fall ausgesprochen haben, dass die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) an der Bildung einer neuen österreichischen Regierung beteiligt werde.885 Angesichts der damaligen Diskussion, die sich durch eine extensive Verwendung von Wertbegriffen auszeichnete und in der immer wieder die vermeintlich erforderliche Verteidigung einer Werteordnung beschworen wurde, stellte man in der Rechtswissenschaft fest, „dass Werten wegen ihres überschießenden ethischen Gehalts durchaus ein aggressives Potential innewohnt, das Kompetenzund Verfahrensnormen im Dienste höherer Werte beiseite schiebt.“886 Im Vordergrund der Konfliktbearbeitung stehen mit anderen Worten nicht mehr rechtliche Programme, sondern deren Bedeutung wird viel884
Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 315 f. Ebenso Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 49), 231. 885
Zu den gegenüber Österreich ausgesprochenen Sanktionen Hummer/Obwexer, Die Wahrung der „Verfassungsgrundsätze“ der EU (Fn. 804), 485, 485 ff.; Schorkopf, Verletzt Österreich die Homogenität in der Europäischen Union? (Fn. 802), 1036, 1036 ff.; Schmahl, Die Reaktionen auf den Einzug der Freiheitlichen Partei Österreichs in das österreichische Regierungskabinett (Fn. 810), 821, 821 ff. 886
Rensmann, Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung (Fn. 804), 49, 70 f.
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mehr unter Berufung auf vermeintlich höherrangige Werte implizit oder explizit heruntergespielt.887 Freilich stößt man auch hier unvermeidlich auf die Einsicht, dass moderne Gesellschaften hinsichtlich der in ihr vorfindbaren moralischen Wertvorstellungen von irreduzibler Vielfalt sind. Genau in dieser Pluralisierung von Wertvorstellungen liegt ja gerade der Grund für die Trennung von Moral- und Rechtssystem und für die Differenzierung ihrer Bezugspunkte (Moral: forum internum; Recht forum externum). Diesen Zusammenhang zwischen heillos pluralistischen Gesellschaften einerseits und grundsätzlicher Neutralität der Rechtsordnung andererseits hat Erhard Denninger dahingehend formuliert, dass „auch der »Verfassungspatriotismus« der übergreifenden gemeinsamen politischen Kultur, obschon aus historischen Erfahrungen gespeist und »ethnisch imprägniert« [...] den Sinn für die differentielle Vielfalt und die Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärfen“888 muss. Eine inflationäre Verwendung der Werterhetorik, die Umwandlung von Rechtsprinzipien und subjektiven Rechten in Werte, die unbedachte Rede von der Wertegemeinschaft und wertbezogene Moralisierung von Konflikten, würde dem zuwiderlaufen.889
887
I. Maus, Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2004, 835, 849, nennt diesen Vorgang die „Aushöhlung des demokratischen Rechtstaats durch den Vorrang einer entformalisierten Verfassung“. Aus einer ganz anderen theoretischen Richtung hat N. Luhmann, Ethik in internationalen Beziehungen, Soziale Welt 50 (1999), 247, 250, das Problem folgendermaßen formuliert: „Wer sich auf die Seite der Ethik begibt, ist im Recht, ob er nun in der Minderheit oder in der Mehrheit ist.“ 888 889
Denninger, Integration und Identität (Fn. 68), 442, 451.
Sehr deutlich wird dies auch betont von Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung (Fn. 843), 172, 175. Siehe auch U. Preuß, Die Verfassung als Wertordnung, in: Klein (Hrsg.), Grundwerte in der Demokratie, 1995, 44, 45, demzufolge der Staat, der sich durch die Verrechtlichung ethischer und moralischer Postulate mit – unvermeidbar partikularen – Werten identifiziert, wesentliche Prinzipien des egalitären Staatsbürgertums verletzt, „da er alle diejenigen entfremdet und innerlich ausgrenzt, die andere Wertüberzeugungen haben. Das erzeugt dann die paradoxe Situation, dass gerade besonders wertbeladene Verfassungen, jene also, die an die edelsten Fähigkeiten des Individuums und der Gesellschaft appellieren, häufig entgegen ihren zweifellos besten Absichten nicht integrieren, sondern desintegrieren.“
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d. Werte als semantisches Surrogat für demokratische Legitimation? Als ein möglicher Grund für die um sich greifende Verwendung des Wertbegriffs in der juristischen Literatur wurde bereits die Wandlung der Union von einem ökonomischen Zweckverband hin zu einer politischen Union genannt. Bezogen auf das politische System lassen sich der Zeitpunkt und die Situation, in welcher die Werterhetorik bei europäischen Institutionen Anklang findet und von diesen öffentlichkeitswirksam propagiert wird, genauer bestimmen: „Ausgangspunkt dürfte die Legitimationskrise gewesen sein, die die Union nach dem Rücktritt der Santer-Kommission 1999 durchlebte. Greifbar war und ist das Verlangen, den Bürger zurückzugewinnen (Strategie des reconnecting), der Union und dem Integrationsprojekt neue Legitimität zu verleihen, Europa gar „eine Seele zu geben“.“890 Ursache des gezielten Einsatzes des Wertetopos ist mithin eine Krisensituation, in der die supranationalen Institutionen die Akzeptanz ihrer Politik bei den europäischen BürgerInnen über die Kodifikation gemeinsamer Werte, die der Union als Strukturprinzipien zugrunde liegen sollen, zu gewinnen suchten. Allerdings lässt sich, nachdem die Annahme des EU-Verfassungsentwurfes bei Referenden in den Niederlanden und in Frankreich abgelehnt wurde, vermuten, dass der auf Legitimations- und Akzeptanzbeschaffung gerichtete Rekurs auf Werte die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten nicht überzeugt hat. Zwar zeichnet sich der VVE, der in Art. I-2 von den Werten spricht, auf die sich die Union gründet, gegenüber dem EU, der in Art. 6 Abs. 1 EU mit weniger Pathos die „Grundsätze“ der Union normiert, „durch mannigfaltige ethische Grundierungen“891 aus. 890
Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union (Fn. 843), 49, 55. Bei Borowsky, ebd., 53 ff., findet sich auch eine instruktive Auflistung, wann und in welchen offiziellen Dokumenten die Rede ist von „europäischen Werten“ oder der EU als „Wertegemeinschaft“. 891
Haltern, Europarecht und das Politische (Fn. 870), 368, der, allerdings mit einer problematischen kulturalistischen Begründung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, die Akzeptanz jener ethischen Grundierungen bezweifelt und eine „Schere zwischen Elite und Volk“ beobachtet. Haltern argumentiert, „dass der fundierende Text einer politischen Gemeinschaft insofern willensgestützt ist, als er an der imaginierten Authentizität einer Ursprungshandlung teilhat und diese speichert. Was den Text zu „unsrigem“ macht, ist das Opfer, welches zunächst auf den Körper gezeichnet und dann in den Verfassungstext eingeschrieben wird. Hierdurch wird der Text zu einem Träger authentischen Zeugnisses. In der Verfassung ist idealer historischer Sinn gespeichert, der – als Gedächtnis und Erinnerung – wieder herausgelesen werden kann. Allein in dieser Struktur liegt begründet, warum Texte als Quelle morali-
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Gleichwohl mag es bezüglich der komplexen Motivationslage für die Ablehnung des Verfassungsvertrages, bei der innenpolitische Spannungen ebenso von Bedeutung waren, wie die Angst vor sozialer Deklassierung oder den Folgen weiterer Beitritte892, auch eine Rolle gespielt haben, dass die BürgerInnen der Mitgliedstaaten die Werterhetorik und die Wiedergeburt der Wertegemeinschaft auf europäischer Ebene lediglich als Sedativum für weitergehende Forderungen nach politischer Beteilung und Demokratisierung politischer Macht durchschaut haben. Die französischen und niederländischen BürgerInnen „haben die Botschaft verstanden, und sie konnten auch lesen, was in dem 263-seitigen Verfassungsdokument mit seinen juristischen Tricks und Finessen, Ausnahmen und allerlei Schlupflöchern nicht drinstand: die Vorschrift, die alle Gewalt der Union ohne Wenn und Aber in die Hände ihrer Bürger gelegt hätte. Statt des einfachen We the people der USConstitution, statt des Muts der UN-Charta, kontrafaktisch die Verrechtlichung einer Utopie anzustreben, die kleinlaute Beschwörung von allerlei Werten, die schon zerfallen sind, wenn sie zum ersten Mal herbeizitiert werden. Nicht Werte, die Verrechtlichung der Utopie ist das Erbe des christlichen an das postchristliche Europa. Stattdessen bekennt man sich feierlich zum Wert der Demokratie, schickt in ihrem Namen Soldaten in alle Welt und schweigt über Verfahrensnormen.“893
schen Einstehens Loyalität einfordern können. Europas Texte können keine Loyalität einfordern. […] Es gibt keinen Ursprungsmythos: keine Körper, keine eingezeichneten Spuren, kein Opfer. Der Text ist nicht der „unsrige“, sondern einfach nur ein Text. Durch ihn wird keine „Tiefe“ politischer Ordnung in Gang gesetzt. Möglicherweise gibt es eine idealisierte Bedeutung; diese aber hat keine Letztbedeutung, sondern ist allein aus der Semantik der Vernunft heraus umrissen. Auch der Verfassungsvertrag kann trotz seiner Bezeichnung als „Verfassung“ nicht als Gedächtnis fungieren, denn ohne Ursprungsmythos gibt es keinen sozialen Sinn, der – als „unsriger“ transportiert werden könnte. Der Text ist eine leere Hülle, eine Idee, der die Kraft fehlt, Ansprüche auf Körper zu erheben. Niemand wird bereit sein, seinen Körper hierein zu investieren. Entgegen aller Rhetorik handelt es sich um ein reines Vernunftprodukt, nicht um einen Neubeginn, da es an der begründenden, schöpferischen Kraft des Opfers mangelt.“ Siehe ebd., 370 ff., 416 ff. 892
Zu diesbezüglichen Vermutungen J. Wuermeling, Die Tragische, ZRP 2005, 149, 150 ff. 893
H. Brunkhorst, Zwischen transnationaler Klassenherrschaft und egalitärer Konstitutionalisierung, Unveröffentlichtes Manuskript, 2006. Siehe auch ders., Taking democracy seriously (Fn. 103), 433-454, insbesondere 436: “The old treaties and the new draft are a constitution meant for the organs of both the
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Dass Letztere tendenziell in der Gefahr sind vernachlässigt zu werden, wenn von Werten, Werteordnungen und Wertegemeinschaften die Rede ist, wurde bereits gegen Carl Schmitt, der der „Werthaftigkeit“ des Grundrechtsteils gegenüber dem demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahrensteil der Weimarer Verfassung den Vorrang einräumte, um den parlamentarischen Gesetzgeber einzuhegen, geltend gemacht.894 In ganz ähnlicher Weise problematisierte die Kritik an der Wertordnungsjudikatur des Bundesverfassungsgerichtes nicht nur die methodischen, sondern vor allem auch die theoretischen und praktischen Folgen für Formen der demokratischen Legitimation, wenn eine Verfassung über eine vorwiegend an Werten orientierte Semantik substantialisiert wird. Selbstverständlich verbieten sich hinsichtlich der Rezeption der Kritik und ihrer Übertragung auf die europäische Ebene vorschnelle Analogisierungen. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass es auch für die normativen Grundlagen der Union einen erheblichen Unterschied macht, ob man die rechtlichen Basistexte entweder als ein durch Prinzipien strukturiertes Regelsystem oder aber als Ausdruck einer konkreten Werteordnung versteht. Neben den gravierenden methodischen Schwierigkeiten, die daraus resultieren, dass man zwischen Rechtsprinzipien und Werten begrifflich nicht hinreichend differenziert895, kann man in Anlehnung an Ulrich K. Preuß’ Kritik an der wertebezogenen Rechtsprechung des BVerfG beispielsweise die problematischen Aspekte sowohl einer „Übernormativierung“ als auch einer „Unternormativierung“ des europäischen Primärrechts beleuchten. Erstere zielt darauf, dass eine politische Ordnung zugleich Wertordnung sein will. Auf die europäische Ebene bezogen besteht das Problem hierbei nicht in der inhaltlichen Anerkennungswürdigkeit der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten „Werte“. Problematisch ist vielmehr, dass die Verbindung der Rechtsform mit einem bestimmten Wertinhalt insofern zu einer Auflösung der Member States and the Union, for judges and lawyers, for professional politicians, for boards of directors, for union leaders, for television presenters and bureaucrats, for Sabine Christiansen, Olaf Henkel and Jacques Chirac. To put it bluntly, the European treaties are a constitution for a political class, which has allied itself with economic power and the mass media in order to become a new, highly flexible, transnational class, only referring to the citizens ‘as the people out there’. They are a part of a cosmopolitan project, but unfortunately their cosmopolitism is a ‘cosmopolitism of the few’.” 894
Siehe beispielsweise C. Schmitt, Legalität und Legitimität, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, 263-350, vor allem: 299 und 344 f. 895
Ausführlich zu den Unterschieden zwischen „Rechtsprinzipien“, „Normen“ und „Werten“ Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 309 ff.
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rechtlichen Bindung des Hoheitsträger führt, als eine Instanz erforderlich wird, die die notwendig vieldeutigen und stets auslegungsbedürftigen Werte, die je nach Kontext sehr unterschiedliche Inhalte haben und folglich sehr unterschiedliche Verhaltensweisen einfordern, interpretiert und autoritativ feststellt, was die Wertordnung erfordert. Damit, so Preuß, schützt das Recht aber „nicht mehr gegen die Wechselhaftigkeit herrschender gesellschaftlicher Strömungen, sondern wird zu dessen Einfallstor.“896 Was Preuß über den Wert der freiheitlich demokratischen Verfassungsordnung sagt, kann auf die rechtliche Ordnung, wie sie in Art. 6 Abs. 1 EU normiert wird, übertragen werden: Zweifellos handelt es sich um Werte, die es „zu verteidigen gilt – aber sie verwirklichen sich in der lebendigen Vielfalt der rechtlich garantierten individuellen und kollektiven sozialen Verkehrsformen, nicht dadurch, dass eine staatliche Instanz nach Art eines die Wahrheit verwaltenden weltlichen Hohepriesters autoritativ definiert, was der wahre und authentische Inhalt von Demokratie ist.“ Ebenso lassen sich die problematischen Aspekte, die Preuß mit dem Begriff der „Unternormativierung“ verbindet, für die europäische Ebene diskutieren. „Unternormativierung“ beschreibt nach Preuß dass Phänomen, dass „Verfassungswerte aufgrund ihrer juristischen Unvollziehbarkeit zur reinen Rhetorik degenerieren und keinerlei rechtliche Verbindlichkeit aufweisen. Dadurch könnte langfristig die Normativität der Verfassung insgesamt beschädigt werden. Denn es würden dann leicht auch diejenigen Verfassungsgehalte, die zweifellos juristisch vollziehbar sind, wie die negatorischen Freiheitsrechte oder der gesamte organisatorische Teil, in die Abgründe einer nur noch symbolischen Verfassungskultur gezogen.“897 Unter Berücksichtigung dieser Kritiken überrascht nicht so sehr, dass sich die politischen Eliten im Bemühen um die Herausbildung einer europäischen Identität und zur Legitimationsbeschaffung für ihre Politik
896
Preuß, Die Verfassung als Wertordnung (Fn. 889), 44, 46. Zur problematischen Wandlung der sich an Werten orientierenden Gerichte, siehe auch Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 81), 314 ff.; I. Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, Rechtstheorie 20 (1989), 191, 192 f. 897
Preuß, Die Verfassung als Wertordnung (Fn. 889), 44, 46. Zur Kritik an der Wertejudikatur des BVerfG, siehe auch Maus, Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat (Fn. 887), 835, 842 f.; dies., Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts (Fn. 896), 191, 194.
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auf Werte berufen.898 Überraschend ist hingegen, dass die europarechtwissenschaftliche Diskussion sich zwar in extensiver Weise auf die von den politischen Eliten im Konstitutionalisierungsprozess vorgegebene Werterhetorik einlässt, dabei jedoch in keiner Weise auf die beschriebenen Gefahren einer wertmäßigen Überladung von Verfassungen eingeht. Dabei scheint gerade die Beschäftigung mit der hier nur rudimentär wiedergegebenen Kritik dazu in der Lage, jenen Vorstellungen gegenüber eine gewisse Vorsicht zu entwickeln, die das europäische Primärrecht in erster Linie als Ausdruck einer bestimmten Wertordnung verstehen.
e. Diversitätsanforderungen im europäischen Primärrecht Wenn man angesichts der in Art. 6 Abs. 1 EU normierten Grundsätze von einer europäischen Wertegemeinschaft spricht, begeht man nicht nur in empirischer Hinsicht einen Fehler, weil man entgegen dem für moderne Gesellschaften typischen Faktum einer pluralistischen Wertevielfalt eine Homogenität in Bezug auf die von den BürgerInnen der Mitgliedstaaten geteilten Werthaltungen behauptet. Es bleibt auch ungeklärt, wie sich eine über die lediglich einen Rahmen für politisches Handeln definierenden Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 EU hinausgehende Homogenität angesichts der umfangreichen normativen Absicherung von Heterogenität und Diversität im europäischen Primärrecht behaupten oder herstellen lassen soll. Art. 6 Abs. 3 EU schützt die nationale Identität der Mitgliedstaaten, Art. 151 Abs. 4 EGV enthält eine auf kulturelle Vielfalt gerichtete Klausel und Art. 22 der Charta der Grundrechte der Union bestimmt explizit, dass die Union „die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“ achtet. Zu nennen wären des Weiteren strukturelle Mechanismen der Absicherung von Diversität wie das in Art. 2 Abs. 2 und der Präambel des EU enthaltene Subsidiaritätsprinzip, das in Art. 5 EU und Art. 5 EGV normierte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung oder das in Art. 48 EU geregelte und die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erfordernde Vertragsänderungsverfahren. Ebenso lässt sich zahlreichen Dokumenten, Verlautbarungen, Erklärungen und Initiativen der Union entnehmen, dass neben der Betonung einheitsbildender Faktoren die Förderung und Sicherung von 898
Am wenigsten überraschend ist dies für die Systemtheorie. Ihr zufolge ist Legitimation nach der Absage an externe Legitimationsquellen immer Selbstlegitimation und zu dieser bezieht sich das politische System heute auf „Werte“. Siehe hierzu Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Fn. 25), 358 ff.
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Heterogenität und Diversität ein wesentliches Element europäischer Politik darstellt.899 Bezogen auf die politischen Organisationsstrukturen der einzelnen Mitgliedstaaten der Union sind die Folgen der Diversitätsabsicherungen des europäischen Rechts nicht zu übersehen. Man findet „Republiken und Monarchien, parlamentarische und semipräsidentielle Systeme, starke und schwache Parlamente, Konkurrenz- und Konkordanzdemokratien, solche mit starken und solche mit schwachen Parteistrukturen, mit starken und schwachen gesellschaftlichen Institutionen, unitarische und föderale Ordnungen, starke, schwache und fehlende Verfassungsgerichte sowie beachtliche Divergenzen hinsichtlich des Gehalts und der Schutzintensivität von Grundrechten.“900 Diversität kann demnach selbst als ein „Wert“ des europäischen Rechts beschrieben werden, der Homogenitätspostulate und Homogenitätsforderungen nicht nur in empirischer, sondern auch in rechtlicher Hinsicht problematisch erscheinen lässt.
III. „Europäischer Staat“ im Sinne des Art. 49 EU Deutlicher und argumentativ weniger verdeckt als über Art. 6 Abs. 1 EU gelangen Homogenitätsbehauptungen und Homogenitätsforderungen über Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU in die juristische Diskussion. Als primäres Einlasstor für Homogenitätsbehauptungen und Homogenitätsforderungen fungiert denn auch nicht der Verweis auf die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit, sondern vielmehr die Formulierung, dass es sich bei dem um Mitgliedschaft in der Union bewerbenden Staat um einen „europäischen“ Staat handeln muss.901
899
Siehe hierzu umfangreich Toggenburg, Cultural Diversity at the Background of the European Debate on Values (Fn. 804), 9, 19 ff.; A. Hatje, Grenzen der Flexibilität einer erweiterten Europäischen Union, EuR 2005, 148, 153 f. 900 901
v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre (Fn. 116), 149, 189 f.
In Art. I-58 VVE, der ebenfalls den Verweis auf die im VVE in Art. I-2 genannten Werte enthält, wird die Aufforderung zur Achtung ergänzt um die Verpflichtung, den Werten gemeinsam Geltung zu verschaffen.
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1. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „europäisch“ Während Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU mit dem Verweis auf die in Art. 6 Abs. 1 genannten Grundsätze materiellrechtliche Voraussetzungen für jedes Beitrittsgesuchs verankert, die Erfüllung der Grundsätze von dem Beitrittskandidaten zwingend fordert, insoweit die Entscheidung über einen Beitritt zu verrechtlichen und „die Frage einer Erweiterung oder Nichterweiterung der Europäischen Union allein dem uneingeschränkten politischen Ermessen der beteiligten Staaten“902 zu entziehen versucht, bleiben Auslegung und Justiziabilität des Merkmals „europäisch“ weitgehend unklar. Gerade in dieser semantischen Unsicherheit dürfte aber auch der Grund dafür zu sehen sein, dass die in den vorangegangenen Kapitel thematisierten außerrechtlichen sprachlichen, religiösen, kulturellen oder geschichtlichen Homogenitätspostulate über Art. 49 Abs. 1 EU Eingang in die europarechtswissenschaftliche Diskussion findet.
2. Unbestimmbarkeit und politische Dezision? Wenn das Merkmal „europäischer“ Staat in der juristischen Debatte dazu genutzt wird, Homogenitätsbehauptungen zu provozieren und Homogenitätsforderungen zu postulieren, setzt dies zwingend voraus, dass „europäisch“ gerade nicht als ein interpretatorisch unbestimmbarer, d.h. als ein „beliebiger Inklusions- und Exklusionsbegriff“903 betrachtet wird. Letzteres scheint indes nicht nur in der rechtswissen-
902
So T. Bruha/O. Vogt, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung, Verfassung und Recht in Übersee, 1997, 477, 479, die zwar zugestehen, dass bei der Entscheidung über einen Beitritt „nicht Rechtsfragen, sondern Fragen des politischen Willens und der wirtschaftlichen Machbarkeit“ im Vordergrund stehen und die die „Rolle, die das Recht angesichts dieses Primats des Politischen spielen kann“ als „naturgemäß sehr begrenzt“ sehen, andererseits aber auch darauf hinweisen, dass sich für Fragen der Erweiterung „dem Unions- und Gemeinschaftsrecht eine Reihe von normativen Vorgaben und rechtliche Voraussetzungen entnehmen“ lassen. „Diesbezügliche Entscheidungen“, so die Autoren, ebd., 501, würden „nicht dem Bereich des freien politischen Ermessens“ unterfallen, sondern seien vielmehr „rechtlich „zielgebunden“ wenn auch naturgemäß nicht justiziabel“. 903
So H. Münkler, Die politische Idee Europa, in: Delgado/Lutz-Bachmann, (Hrsg.), Herausforderung Europa, 1995, 9, 10.
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schaftlichen, sondern auch in der politik- und geschichtswissenschaftlichen, ja sogar in der geographischen Literatur eine häufig vertretene Position zu sein. Weil sich „Europa“ definitorischer Bestimmbarkeit entziehe, vielmehr zu einer Vielzahl von Interpretationen Anlass gebe, welche auf unterschiedliche und mannigfache kulturelle Kriterien, historische Prägungen, religiöse Ursprünge und differente geographische Grenzbestimmungen Bezug nehme, sei jeder Versuch einer begrifflichen Klärung zum Scheitern verurteilt. Offen wird eingeräumt, dass „beachtliche Schwierigkeiten hinsichtlich der juristisch handhabbaren Bestimmung des Begriffs „europäischer Staat““904 bestehen und kritisiert, dass „über Europa immer so geredet [wird], als sei völlig klar, was damit gemeint ist“905, obgleich „es weder einen feststehenden Inhalt noch eine zumindest oberflächliche Definition von „Europa““906 gebe. Man sucht nach der mythologischen Herkunft des Begriffs, betreibt umfangreiche begriffsgeschichtliche Studien und knüpft an historische, religiöse und kulturelle Traditionen an, verharrt jedoch gleichwohl weiter in der scheinbar unbegrenzten semantischen Ambivalenz des Begriffs »europäisch«. In Anlehnung an Milan Kundera, demzufolge es sinnlos wäre, Europas Grenzen exakt ziehen zu wollen, weil dessen Grenzen imaginärer Art sind und in jeder neuen geschichtlichen Situation neu gezogen werden müssen,907 ziehen dann auch viele Autoren die Schlussfolgerung, dass die Entscheidung, ob ein Staat „europäisch“ im Sinne des Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU sei, letztlich nur auf politischen Ebene gefällt werden kann.908
904
E. Šarþeviü, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV, EuR 2002, 461, 465. Ähnlich auch E. Tortarolo, Europa. Zur Geschichte eines umstrittenen Begriffs, in: v. Bogdandy (Fn. 500), 21 f. 905
D. Murswiek, Der Europa-Begriff des Grundgesetzes, in: Böhmer u.a. (Hrsg.) Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, FS Ress, 657, 657, allerdings bezogen auf den Europa-Begriff des deutschen Grundgesetzes. 906
Dorau, Die Öffnung der Europäischen Union für europäische Staaten (Fn. 852), 736, 736. 907
M. Kundera, Die Tragödie Mitteleuropas, in: Busek/Wilflinger (Hrsg.), Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents, 1986, 133-144. 908
So ausdrücklich R. Streinz, Europarecht, 2003, Rn. 78; J. Bitterlich, in: Lenz/Borchardt (Fn. 810), Art. 49 EUV Rn. 1; H.-H. Herrnfeld, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 49 Rn. 3; W. Meng, in: v. d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar EU/EG, Bd. 1, 2003, Art. 49 EUV Rn. 53, jedenfalls für „Grenzfälle“ „an den Randgebieten Europas“; C. Iliopoulos,
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3. „Europa“ als homogene Gemeinschaft Positionen, die nicht unter Bezugnahme auf die in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze lediglich von einer Verfassungshomogenität sprechen, sondern vielmehr über das Merkmal „europäisch“ solche Homogenitätsbehauptungen aufstellen, die auf außerrechtliche Quellen rekurrieren, müssen der beschriebenen interpretatorischen Resignation zwangsläufig widersprechen. Wenn die Frage nach der Geeignetheit eines Beitrittskandidaten nicht allein daran bemessen werden soll, ob der um Beitritt suchende Staat die in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze in seiner Rechtsordnung und Rechtswirklichkeit achtet, sondern dem Merkmal „europäisch“ eine eigene – inklusiv oder exklusiv wirkende – Bedeutung zukommen soll, dann muss diese Merkmal substantiell gefüllt werden. Die Frage nach der Bestimmung der europäischen Identität im Sinne eines Mindestmaßes an Gemeinsamkeiten der Mitgliedstaaten, die sich nach Josef Isensee bei jedem Beitrittsgesuch stellt, könne deshalb auch nicht lediglich durch den Verweis auf eine bestehende, in jedem föderalen Verband notwendige VerfassungshomogeniRechtsfragen der Osterweiterung der EU unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Republik Zypern, EuR 2002, 637, 639; F. Böllmann, Aktuelle Entwicklungen im Rahmen der Assoziation der Türkei mit der EU, ZEuS 2003, 643, 654; Straub, Zum Verfassungsvertrag für Europa und dem Beitritt der Türkei (Fn. 801), 199, 201. Auch Bruha/Vogt, Rechtliche Grundfragen der EUErweiterung (Fn. 902), 477, 482, sind scheinbar dieser Auffassung, wenden andererseits aber gegen Herfried Münklers Formulierung vom „beliebigen Inklusions- und Exklusionsbegriff“ ein, dass das Antragserfordernis des „europäischen“ Staates „nun einmal im Vertrag [steht], so dass ihm die normative Bedeutung nicht ohne weiteres abgesprochen werden kann“, siehe ebd., 480. Ob man sich um eine exakte Bestimmung des Inhalts der in Art. 49 Abs. 1 genannten Antrags- und Beitrittsbedingungen allerdings im Hinblick auf deren Justiziabilität bemühen muss, erscheint fraglich. Zwar müsste ein von einem nichteuropäischen Staat gestellter Beitrittsantrag bereits als unzulässig zurückgewiesen werden. Auch unterliegt die Vorschrift des Art. 49 EU gemäß Art. 46 lit. e EU der Zuständigkeit des Gerichtshofs. Da jedoch der Abschluss eines Beitrittsvertrages als völkerrechtlicher Vertrags „zur Disposition des einmütigen Willens seiner Vertragsstaaten“ steht, kann die Feststellung, dass ein Beitrittskandidat die in Art. 49 Abs. 1 normierte Voraussetzung, ein „europäischer“ Staat zu sein, nicht erfüllt, rechtlich nicht überprüft werden. Eine Anfechtungsklage vor dem EuGH könnte sich mithin nur gegen die Handlung eines Gemeinschaftsorgans richten, nicht gegen den unter Missachtung der Beitrittsvoraussetzungen von den Mitgliedstaaten geschlossenen Beitrittsvertrag. Siehe hierzu Meng, in: v. d. Groeben/Schwarze (in dieser Fn.), Art. 49 EUV Rn. 54; Herrnfeld, in: Schwarze (in dieser Fn.), Art. 49 Rn. 16.
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tät beantwortet werden. Entscheidend für das „Erfordernis der europäischen Verfassungshomogenität“ sei vielmehr „die tatsächliche Verfasstheit des Gemeinwesens, seine gelebte Ordnung.“ Damit ist allerdings nicht gemeint, dass es auf die jeweilige Verfassungswirklichkeit, d.h. die effektive Implementierung und Einhaltung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze durch den Beitrittskandidaten ankommt. Es sind ausdrücklich „außerrechtliche Faktoren [...], welche die Lebenswelt des Gemeinwesens ausmachen, gesellschaftliche Strukturen und Konventionen, Kultur und geistige Überlieferung.“909 Konkretisiert wird jene, wenn auch durch die territoriale Ausdehnung ausgedünnte europäische Homogenität dahingehend, dass nach Isensee „die Gemeinschaft immer noch dem „lateinischen“ Teil des Kontinents verhaftet [ist], dem Geschichtsraum des westlichen Christentums, seiner säkularen Derivate und Folgen in Renaissance und Barock, Aufklärung und Romantik, der Moderne mit Individualismus und Pluralismus, mit kosmopolitischen Menschenrechten, mit Demokratie als Staatsform und nicht zuletzt mit dem Prinzip der Nation.“910 Diese „kulturelle Homogenität“ ist nach Isensee nicht nur vorhanden, „sondern auch für die tagtägliche Ausfüllung des Integrationswerks unabdingbar“911. Unübersehbar ist auch die exkludierende Stoßrichtung, die mit der Behauptung kultureller Gemeinsamkeiten einhergeht. Besonders deutlich wird dies bei der Diskussion über den möglichen Beitritt der Türkei zur EU.912 Zwar wird in der kontrovers geführten Debatte von einigen Autoren hinsichtlich eines erfolgreichen Beitrittsverfahrens allein auf die Verankerung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten rechtlichen Prinzipien in der türkischen Verfassung, ihre effektive Implementierung in der legislativen, exekutiven und judikativen Praxis sowie auf die Erfüllung
909
Isensee (Fn. 122), 103, 124 f.
910
Isensee, ebd., 103, 125 f.
911
So Meng, in: v. d. Groeben/Schwarze (Fn. 908), Art. 49 EUV Rn. 52, der von der „relativen Nähe der Staaten europäischer Kultur zueinander, welche die Homogenität schafft“, spricht. 912
Ausführlich zu den Beziehungen zwischen der Türkei und der Union F. Sen, Probleme und Perspektiven der Türkei auf dem Weg in die Europäische Union, ZAR 2003, 3-7; ders., Die Türkei zu Beginn der EUBeitrittspartnerschaft, Aus Politik und Zeitgeschichte B13-14/2001, 27, 27-38; A. S. Jacobs, Die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union und die Frage des türkischen EU-Beitritts, Aus Politik und Zeitgeschichte B 29-30/2000, 22-28, jeweils mit weiteren Hinweisen.
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der sog. Kopenhagener Kriterien913 abgestellt. Auch werden vielfach Bedenken pragmatischer und utilitaristischer Natur, die auf den Erhalt der institutionellen Handlungs- und Funktionsfähigkeit der Union zielen, eine potentielle Schwächung des Integrationsprozesses adressieren oder makroökonomische Nachteile prognostizieren, formuliert. Davon abweichend sind Positionen jedoch nicht zu übersehen, die über das Merkmal „europäisch“ außerrechtliche Kriterien im Sinne substantieller Homogenitätsanforderungen in die Interpretation des Art. 49 Abs. 1 EU hineinlesen und zum entscheidenden Maßstab für die Frage der Mitgliedschaft der Türkei in der Union machen. Ankommen soll es nicht auf die Änderung und Anpassung nationaler Gesetze und sich daran anschließende Einschätzungen der konkreten Ausgestaltung und wirksamen Umsetzung der Rechtsordnung des Beitrittskandidaten914, sondern vielmehr auf eine diffus bleibende „soziokulturelle Verfassung“915, die sich aus religiösen, historischen und kulturellen Bezügen zusammensetzt. Stelle man auf diese außerrechtliche soziokulturelle Grundlage ab, die die Homogenität der bisherigen Mitglieder der Union verbürge, erweise sich die Türkei nicht als Teil der europäischen Staatengemeinschaft.916 Die in den vorhergehenden Kapiteln beschriebene Dichotomisierung zwischen sozialstrukturell homogenen Nationalstaaten einerseits und einer heterogenen und pluralistischen EU andererseits wird nunmehr von den gleichen Autoren implizit widerrufen und stattdessen dahingehend instrumentalisiert, dass die nunmehr als homogen gekennzeichnete Union vor heterogenen Einflüssen bewahrt werden muss. Geht es um die weitere Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene oder um deren Demokratisierungsfähigkeit, betont man die nicht ausreichende Homogenität innerhalb Europas; geht es um den möglichen Beitritt eines unwillkommenen Staates zur 913
Europäischer Rat, Erklärung vom 21./22. Juni 1993, Bull. EG Nr. 6/1993, I. 13. Zu den Kopenhagener Kriterien, ihrer Rechtsnatur und ihrer Verbindlichkeit Bruha/Vogt, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung (Fn. 902), 477, 484 ff. 914
Umfassend zu den gesetzlichen Anpassungsbemühungen der Türkei Straub, Zum Verfassungsvertrag für Europa und dem Beitritt der Türkei (Fn. 801), 199, 207 ff. 915 916
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 121.
Nach Murswiek, Der Europa-Begriff des Grundgesetzes (Fn. 905), 657, 683, ist ein Beitritt der Türkei abzulehnen, weil Letztere nicht zum „europäischen Kulturkreis“ gehöre und an der „historisch-kulturellen Identität Europas“ nicht teilhabe.
282
4. Kapitel
EU, erscheint Europa hingegen als homogene Gemeinschaft, die sich dem in Gestalt des Beitrittskandidaten auftretenden Heterogenen verweigern muss.917 Während innerhalb der bisherigen Mitgliedstaaten „Grundeinstellungen, Denkmuster, Traditionen und Lebensformen“918 über die Jahrhunderte lange Prägung und Formung durch die christliche Religion eine hinreichende Gleichartigkeit aufweisen, erweist sich das kulturelle Erbe der Türkei als das dieser Gleichartigkeit gegenüberstehende „Andere“.919 Im Ergebnis beinhaltet das Merkmal „europäisch“ im Sinne des Art. 49 Abs. 1 EU diesem Verständnis nach eine auf die abendländisch-christliche Lebensform bezogene und dadurch begründete Homogenitätsbehauptung. Die positiven und negativen Wirkungen, die man der außerrechtlich fundierten, nunmehr „europäischen“ Homogenität zuschreibt, entsprechen dabei weitgehend denen, die in den vorangehenden Kapiteln bereits dargestellt worden sind. So wird beispielsweise geltend gemacht, dass zur Stabilisierung des politischen Systems und zur Aufrechterhaltung politischer Handlungsfähigkeit „ein bestimmtes Maß an Homogenität und Konsistenz“920 erforderlich ist. Auch wird der Zusammen917
Die Begründungen für die wechselnden Dichotomisierungen können bis ins Absurde getrieben werden. So gründet nach Murswiek das Grundgesetz „die politische Einheit also auf die nationale Identität der Deutschen, die wiederum auf historisch-kulturellen, insbesondere sprachlichen Gemeinsamkeiten beruht.“ Dieser Nationalstaat öffne sich nunmehr „zum »vereinten Europa« hin, also nicht in ein übernationales Nirgendwo, sondern in eine größere Einheit mit wiederum konkretem Raumbezug und kulturellen Gemeinsamkeiten“. Ungeachtet der doch leicht feststellbaren sprachlichen Heterogenität Europas werde dabei der „Grundgedanke des Nationalstaats – ethnische, und das heißt vor allem: kulturell-sprachliche Gemeinsamkeiten sowie gemeinsame historische Erfahrungen als Basis des Staates – auf internationaler Eben wieder aufgenommen.“ Siehe Murswiek, Der Europa-Begriff des Grundgesetzes (Fn. 905), 657, 665 f. 918
E.-W. Böckenförde, Nein zum Beitritt der Türkei, FAZ vom 10.12.2004,
S. 35. 919
In besonderer Weise exemplarisch hierfür sind die Arbeiten von Josef Isensee. Siehe für ein vermeintlich homogenes Europa einerseits Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103-138. An anderer Stelle wird hingegen gerade die Heterogenität Europas hervorgehoben, ders. Europäische Union – Mitgliedstaaten (Fn. 96), 71, 84 ff. Der Eindruck, dass hier unter Verzicht auf jegliche Kohärenz je nach Einzelfall strategisch-instrumentell vorgegangen wird, lässt sich kaum vermeiden. 920
H.-J. Blanke, Erweiterung ohne Vertiefung?, EuR 2005, 787, 797 f.
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hang mit der Herausbildung einer kollektiven Identität und dem damit verbundenen Entstehen eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das die Befolgung politischer Entscheidungen und insbesondere die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen garantieren soll, hergestellt und betont, dass ein solches Bewusstsein nicht entstehen könne, wenn sich ein politischer Verband durch religiöse oder kulturelle Heterogenität auszeichne. Jedes Beitrittsgesuch, so die Prämisse, müsse daher „unter den Aspekten der Wahrung der normativen Kraft und Durchsetzbarkeit des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten, ihrer Loyalität und Folgebereitschaft sowie einer hinreichenden Homogenität der Union geprüft werden.“ Maßgeblich für den „inneren Zusammenhalt“ seien dabei jedoch nicht nur „politische, ökonomische oder institutionelle Faktoren“; vielmehr werde ein die Angehörigen der Mitgliedstaaten verbindendes Zusammengehörigkeitsgefühl „maßgeblich durch spirituelle, intellektuelle und religiöse Bewegungen und Traditionen bestimmt.“ Fehle bezogen auf Europa jenes sozialpsychologische Phänomen, dessen Fundament in einer hinreichenden Homogenität liegt, stehe nicht nur die Befolgung einzelner Entscheidungen des supranationalen politischen Systems in Frage, sondern letztendlich das „politisch-kulturelle Überleben“921 der Union.922
921 922
Blanke, ebd., 800 f.
Ganz ähnlich Ch. Langenfeld, Erweiterung ad infinitum?, ZRP 2005, 73, 74 f. An einigen Stellen argumentiert auch F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen, 2000, in diese Richtung. Ihm zufolge hat die „politische Einheitsbildung [...] ihre Grundlagen in Elementen der Gemeinsamkeit. Bei diesen Elementen handelt es sich um eine Ansammlung aus objektiven Gegebenheiten und kollektiven Interessen (Ideale). Zum ersten Bereich gehören Elemente wie die geopolitische Lage, die Kultur und Geschichte eines Landes […]. Vor diesem Hintergrund hat das Homogenitätsprinzip die Funktion, einen Vorrat an Gemeinsamkeiten zu definieren, der Grundlage der gewünschten Einheitsbildung sein kann und soll. Mit den objektiven Gegebenheiten wird dabei nur das Umfeld der potentiell integrationsfähigen Verbände abgesteckt – die Union stellt mit Art. 49 Abs. 1 EU V an Beitrittskandidaten die Anforderung, Teil der europäischen Geographie zu sein.“ Andererseits betont Schorkopf, ebd., 203 f., dass der Versuch, Europa „über die kulturellen und religiösen Traditionen zu definieren“ zwar „von dem soliden Fundament gemeinsamer historischer Erfahrungen getragen werden“, andererseits aber „hinreichend bestimmbare Maßstäbe für die Homogenität hinsichtlich der kulturell-religiösen Traditionen, die eine trennscharfe Abgrenzung erlauben“ fehlen. Daher, so Schorkopf ausdrücklich, soll es sich „bei diesem Kriterium folglich nicht um ein Homogenitätselement“ handeln.
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4. Diskussion und Kritik Im Folgenden soll die soeben beschriebene Auslegung des Wortes „europäisch“ im Sinne des Art. 49 Abs. 1 EU, soweit dies nicht schon über die in den vorangehenden Kapiteln formulierte grundsätzliche Kritik am Begriff der Homogenität erfolgt ist, unter Rückgriff auf drei Argumente hinterfragt und kritisiert werden. Nachdem zunächst auf die oben bereits angedeutete problematische inhaltliche Konkretisierung des Merkmals „europäisch“ eingegangen wird, richtet sich das zweite Argument gegen die Vernachlässigung bzw. Diskriminierung normativer, im europäischen Primärrecht enthaltener Beitrittsanforderungen. Abschließend werden die grundsätzlich exkludierenden Tendenzen einer essentialistisch-kulturellen Interpretation des Art. 49 Abs. 1 EU kritisiert.
a. Bestimmbarkeitsprobleme Unabhängig davon, auf welche Kriterien zur Bestimmung einer nichtrechtlichen Identität Europas zurückgegriffen wird, seien es geographische, kulturelle, geschichtliche oder religiöse Kriterien, bleibt kein substantiell angereicherter Definitionsversuch von einer ihn konterkarierenden Erzählung verschont.
(1) Geographische Kriterien Konzentriert man sich bezüglich der Konkretisierung des Merkmals »europäisch« in Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU in Übereinstimmung mit einer in der Literatur weit verbreiteten Auffassung923 beispielsweise auf geographische Kriterien, kommt man für die Bestimmung der problematischen Grenzen im Osten und Südosten zu keinem eindeutigen Ergebnis. Man stellt fest, dass sich die Geographie, zumindest dann, wenn wie im Falle Europas, kein von Meeren umgebener und damit abgrenzbarer Kontinent besteht, von der Vorstellung „natürlicher“ Grenzen verabschiedet und erkannt hat, dass Grenzziehungen, wie auch Josef Isensee bemerkt, „Werk menschlicher Willkür“924 sind. Sie sind abhängig von 923
Siehe etwa T. Oppermann, Europarecht, 2005, § 32 Rn. 8; Beutler u.a., Die Europäische Union (Fn. 840), Rn. 64; E. Šarþeviü, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV, EuR 2002, 461, 465 f. 924
Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 106.
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geographischen Kenntnissen, sich wandelnden politischen Konstellationen, Interessen und Zwecken sowie von philosophischen, geschichtlichen, religiösen, politischen oder wirtschaftlichen Auffassungen. Zwar können sich über längere Zeiträume in der öffentlichen Wahrnehmung bestimmte Konventionen herausbilden, so zum Beispiel die, dass der Ural die Grenze Europas im Osten bildet.925 Gleichwohl bleiben auch solche in der Gesellschaft weithin geteilten Überzeugungen Gegenstand konträrer Diskussionen. Das hat auch damit zu tun, dass sich die moderne Geographie, auf die der um Klärung des Merkmals »europäisch« bemühte Jurist zurückgreift, von essentialistischen Raumkonzepten verabschiedet und sich einem konstruktivistischen Raumverständnis geöffnet hat. „Natürliche Grenzen“ kommen in ihrer Terminologie, wenn überhaupt, nur noch bezogen auf von Meeren umgebene Kontinente vor. Fokussiert wird stattdessen, unter welchen Bedingungen Raumkonzepte in einer Gesellschaft diskursiv produziert, verbreitet und durchgesetzt werden, wie bestimmte Raumvorstellungen entstehen und wieder vergehen, weil sie durch alternative oder ganz andere Raumkonzepte ersetzt werden.926 Bestätigung finden jener geographische Konstruktivismus und die Artifizialität jeder Grenzziehung gerade unter Berücksichtigung der von Widersprüchen gekennzeichneten (Erweiterungs-)Geschichte der Europäischen Union. So ist mit der Geographie allein nicht zu erklären, warum Zypern, das nur 200 Kilometer von der Küste des Libanon entfernt ist, südlicher liegt als Algiers oder Tunis und östlicher als Kiew, ohne Debatte geographischer Kriterien
925
Zu dieser konventionellen Überzeugung Murswiek, Der Europa-Begriff des Grundgesetzes (Fn. 905), 657, 660. Der Hintergrund der auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur vielfach wiederholten Behauptung, dass der Ural die Ostgrenze Europas bilde, zeigt in besonderem Maße sowohl die Instrumentalisierung als auch das Artifizielle und Voluntaristische jeder Grenzziehung. Aufgestellt wurde diese These erstmals von dem russischen Historiker und Geographen Wassilij Tatischtschew, dessen Grenzziehung sich gegen die im 18. Jahrhundert weit verbreitete Auffassung, der Moskauer Staat und seine Erben gehöre zu Asien, richtete. Hierzu bemerkt Kocka, Die Grenzen Europas (Fn. 870), 275, 282: „Die Vorstellung hat sich durchgesetzt, trotzdem bleibt sie willkürlich: eine wenig begründete, wenig belastbare Konvention.“ 926
Aufschlussreich hierzu die Arbeiten des Berliner Geographen HansDietrich Schultz. Siehe beispielsweise H.-D. Schultz, Die Türkei: (k)ein Teil des geographischen Europas?, in: Leggewie (Hrsg.), Die Türkei und Europa, 1994, 39-53; ders, Europa als geographisches Konstrukt, 1999; ders., Erdteilindividuum oder Konstrukt?, in: Wetter (Hrsg.), Die Europäische Union und die Türkei, 2006, 39-96.
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Mitglied der Union wurde. Ohne dass geographisch begründete Zweifel aufkamen, gehörten darüber hinaus Algerien sowie die überseeischen französischen Departements Guadeloupe, Martinique und Réunion seit ihrer Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an.927 All dies verstärkt nicht nur den Eindruck, dass die Mitgliedstaaten, „wenn opportun, die Geographie beiseite schieben und sich an anderen Gesichtspunkten orientieren“928. Es verdeutlicht vor allem, dass es nicht möglich ist, vermittels geographischer Erkenntnisse eine auch nur annähernde Eindeutigkeit darüber zu erlangen, wo die Grenzen des „Europäischen“ verlaufen.929 Aber selbst wenn man den konstruktiven Charakter geographischer Aussagen und die damit einhergehende Variabilität jeglicher Grenzziehung einmal beiseite lässt, gewinnen Homogenitätsbehauptungen in Bezug auf Europa, sofern sie allein auf geographische Argumente rekurrieren, keine Plausibilität. Zwar kann man, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde, auch geographische Kriterien in exkludierender Weise verwenden und einen Beitritt der Türkei, die „sich über 1500 Kilometer auf asiatisches Gebiet“ erstreckt, ablehnen, weil „mit dem Beitritt der Türkei aus der Europäischen Union eine europä927
Zu solchen und anderen geographischen Merkwürdigkeiten Wallace, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris? (Fn. 811), 475, 484; T. Oppermann, Die Grenzen der Europäischen Union oder das Vierte Kopenhagener Kriterium, in: Gaitanides/Kadelbach/Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Europa und seine Verfassung, FS Zuleeg, 2005, 72, 74 f. 928
Oppermann, ebd., der unter Bezugnahme auf das geographische Kriterium von „Voluntarismus“ und einer „Politisierung der Beitrittspraxis“ spricht und festhält, „dass Geographie Europas und „europäischer Staat“ im Sinne von Art. 49 EUV wenig miteinander zu tun haben.“ 929
Ebenso A. v. Bogdandy, Konturen des integrierten Europas, EuropaArchiv 1993, 49, 56; Bruha/Vogt, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung (Fn. 902), 477, 481; Dorau, Die Öffnung der Europäischen Union für europäische Staaten (Fn. 852), 736, 738 f. und 750; Oppermann, Die Grenzen der Europäischen Union oder das Vierte Kopenhagener Kriterium (Fn. 927), 72, 75; Wallace, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris? (Fn. 811), 475, 483 f. Aus historischer Perspektive ebenfalls sehr deutlich Smith, National Identity and the idea of European unity (Fn. 285), 55, 68 f.: “lack of any serious geographical barriers”. Grenzziehungen, so Smith, ebd., seien “historical claims, not geographical ‘facts’”. Zum Beleg der These, dass die Geographie bei der Auslegung des Merkmals „europäisch“ in Art. 49 Abs. 1 EU kaum weiterhilft, siehe schließlich auch die zahlreichen, auf die Unabschließbarkeit dieser Frage eingehenden Wortmeldungen in: Körber-Stiftung (Hrsg.), Europa – aber wo liegen seine Grenzen? (104. Bergedorfer Gesprächskreis), 1995, vor allem: 14, 16, 18, 53, 60 und 68.
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isch-kleinasiatische Union“930 würde. Jedoch lässt sich einem wie immer geographisch begrenzten Europa keine Aussage über die internen gesellschaftlichen Strukturen und damit auch keine Aussage über eine »europäische Homogenität« entnehmen. Mittels einer Geographie, der man entgegen den oben formulierten Bedenken zutraut, überzeugende stabile oder gar „natürliche“ Grenzziehungen zu garantieren, mag sich ein konkreter Raum abstecken lassen. Rückschlüsse auf die substantiellen Gemeinsamkeiten der Bewohnerinnen innerhalb eines derart begrenzten topographischen Raumes lassen sich – wenn überhaupt – daraus jedoch nicht unmittelbar folgern.
(2) Historisch-kulturelle Kriterien Wohl auch deshalb erfolgt häufig der Rückgriff auf eine gemeinsame, alle Mitgliedstaaten der Union verbindende kulturell-religiöse Grundlage. Als Bezugpunkte werden schlagwortartig und wiederholt genannt: Antike, griechische Philosophie, römisches Recht, (okzidentales) Christentum, Renaissance, Aufklärung, kurz: der christlich-abendländische Kulturkreis.931 Abgesehen davon, dass in solchen Aufzählungen bestimmte historische Erfahrungen und kulturell-geistesgeschichtliche Strömungen, die zu Unterdrückung, Verfolgung, Krieg und Massenvernichtung geführt haben, stillschweigend ausgeblendet oder unter der pathetischen Beschwörung einer abendländischen Kultur verloren gehen932, begegnen solche Bestimmungsversuche einer gemeinsamen eu930
Böckenförde, Nein zum Beitritt der Türkei (Fn. 918), 35.
931
Siehe nur Blumenwitz/Gornig/Murswiek, Vorwort, in: dies. (Fn. 801), 5, 6; Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 125 f. Nach Auffassung des Soziologen Erwin Faul machen der „griechisch-römische Kulturfundus, das (okzidentale) Christentum, Renaissance und Aufklärung [...] die einzigartige kulturelle und zivilisatorische Weltbedeutung Europas“ aus. Diesem Fundus, so Faul, stünden „islamisch geprägte Länder, wie die Türkei [...] in einem über tausendjährigen kriegerischen Antagonismus“ gegenüber. Siehe E. Faul, Eine Aufnahme der Türkei untergräbt die Legitimität und innere Sicherheit der EU, Internationale Politik und Gesellschaft 4 (1997), 446, 449 f. 932
Zur Nichtberücksichtigung der “bitter experiences” Ch. Joerges, On the Disregard for History in the Convention Process, European Law Journal, Vol. 12, No. 1, January 2006, 2-5, der, ebd., 5, festhält: “The historical indifference of the convention meant that the strongest legitimating basis for the drive towards European unity remained unexploited.” Hierzu auch die Beiträge in: ders./N. S. Ghaleigh (Fn. 42).
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ropäischen kulturellen Grundlage erheblichen Bedenken. Vermögen schon die geographischen Definitions- und Begrenzungsversuche keine feststehenden und stabilen Konturen des in Art. 49 Abs. 1 EU angesprochenen Europas zu vermitteln, „so verschwimmen die Konturen einer historisch-kulturellen Definition vollends.“933 Zum einen lassen Aufzählungen, wie die soeben genannten, an semantischer Unbestimmtheit nichts zu wünschen übrig, zum andere verdecken sie mit ihrer apodiktischen und holistischen Art Widersprüche, Diskontinuitäten, Flexibilitäten, Ambivalenzen und Interdependenzen im Sinne gegenseitiger Beeinflussung und Durchdringung. Sie suggerieren Eindeutigkeit, Kontinuität sowie die Möglichkeit klarer Grenzziehungen und postulieren entgegen zu beobachtenden kulturbezogenen Internationalisierungs- als auch Nationalisierungstendenzen scheinbar hermetisch geschlossene, über eine gemeinsame Kultur, Religion und Geschichte konstituierte „Kulturkreise“.934 Mühsame Konkretisierungen der beschworenen spezifisch europäischen Kultur werden gemieden, die kulturelle Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit innerhalb der nunmehr angeblich homogen strukturierten Gesellschaften der Mitgliedstaaten, die oftmals als „Sprengstoff und Spaltpilz fungieren“935, werden eingeebnet oder geleugnet.936 Meist wird nicht einmal der jeweils verwendete Begriff der »Kultur« selbst einer näheren Klärung zugeführt, obgleich Schwierigkeiten, “emanating from the inherent polysemy of the term and the variety of doctrinal approaches to cultural phenomena”937, unübersehbar sind. Wenn man allerdings über das Merkmal »europäisch« in Art. 49 Abs. 1 EU außerrechtliche Aspekte zur Voraussetzung des 933
Bruha/Vogt, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung (Fn. 902), 477,
481. 934
Deutlich hierzu v. Bogdandy, Konturen des integrierten Europas (Fn. 929), 49, 53 f. 935
Kocka, Die Grenzen Europas (Fn. 870), 275, 284.
936
Zu diesen Argumenten, insbesondere auch zur erwähnten Internationalisierung bzw. Nationalisierung von Kultur, siehe Joas/Mandry, Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft (Fn. 846), 541 f. Sehr aufschlussreich hierzu auch Tortarolo, Europa (Fn. 904), 21, 21 ff.; Wallace, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris? (Fn. 811), 475, 483 ff. Bezogen auf die problematische Annahme einer „deutschen Kulturgemeinschaft“ schließlich Denninger, Integration und Identität (Fn. 68), 442-452. 937
So zutreffend und mit weiteren Nachweisen V. Mitsilegas, Culture in the Evolution of European Law, in: Fitzpatrick/Bergeron (eds.), Europe’s Other, 1998, 111, 120.
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Beitritts eines Kandidaten macht und als antragsberechtigt nur solche Staaten gelten lassen will, die an einer angeblichen maßgeblichen kulturellen Substanz teilhaben938, müsste man zumindest den Versuch einer genaueren Bestimmung wagen. Unbestrittene Narrationen, die auf religiöse, kulturelle oder historische Faktoren rekurrieren und die Grenzen der Union zwingend festlegen, lassen sich aber, das zeigt insbesondere die gesamte Diskussion über den Beitritt der Türkei, nicht identifizieren. “Historical and cultural definitions of Europe”, so William Wallace, “are not only inherently subjective, but also unavoidably political in their consequences- and in their intention.”939 Vor diesem Hintergrund wird auch die Kritik an der Formulierung des Art. 151 Abs. 1 EU, der die „Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ als Aufgabe formuliert, zu der die Gemeinschaft einen Beitrag leistet, verständlich. Die Vorschrift, so der Einwand, “generates obfuscation and uncertainty. It presumes a definition of something that is simply not defined, or, in the sense of being debated, barely exists at all.”940 Als inhaltlich umrissene Substanz, die als gegeben vorausgesetzt wird und nur auf ihre »Hervorhebung« wartet, wird man das in Art. 151 Abs. 1 EGV angesprochene gemeinsame kulturelle Erbe weder lokalisieren noch stabilisieren können. Entgegen der auch im Vertragstext insinuierten definitorischen Stabilität stößt man stattdessen auf “ever shifting boundaries”941. Daran können auch paradoxe Formulierungen wie „Vielfalt in Einheit“ oder „Einheit durch Vielfalt“ nichts ändern, weil sie die Frage nach der Bestimmung der die Homogenität begründenden Grundlage nur auf den Begriff der unbestimmt bleibenden Einheit verschieben, dadurch die Frage aber nicht beantworten, sondern lediglich invisibilisieren.942 Ob man folglich die über eine gemeinsame kulturelle Grundlage fundierte Homogenität Europas hervorhebt oder aber die 938
Siehe zum Beispiel Langenfeld, Erweiterung ad infinitum? (Fn. 922), 73, die als antragsberechtigt nur solche Staaten betrachtet, die „historisch-kulturelle und geistesgeschichtlicher Aspekte“ erfüllen, gleichwohl aber nicht sagt, worin diese Aspekte genau bestehen und wann sie von dem Beitrittskandidaten erfüllt sind. 939
Wallace, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris? (Fn. 811), 475, 484. 940
I. Ward, The Culture of Enlargement, The Columbia Journal of European Law 12 (2005/2006), 199, 201. 941 942
Ward, ebd., 199, 206.
Zur Hilflosigkeit der genannten paradoxen Formulierungen, siehe Mitsilegas, Culture in the Evolution of European Law (Fn. 937), 111, 125.
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Heterogenität kultureller Traditionen betont, entscheidet sich, das zeigen nicht zuletzt die bereits erwähnten, auf wechselnde Einheiten und die zwischen ihnen bestehenden Differenzen rekurrierenden, entweder Homogenität oder Heterogenität behauptenden Dichotomisierungen, jeweils anhand (argumentations-)strategischer und politischer Ziele. Vor diesem Hintergrund ist es dann auch nicht überraschend, dass weite Teile der europarechtlichen Literatur bezogen auf das Merkmal „europäisch“ auf problematische Essentialisierungen im Sinne von Homogenitätsbehauptungen bzw. -forderungen verzichten und die Einstufung eines Staates als „europäisch“ als eine Entscheidung sehen, die dem politischen Primat der entscheidenden Akteure obliegt.943 Den Behauptungen einer imaginierten europäischen Homogenität kann damit zwar, wenn sie im gesellschaftlichen Diskurs Gehör findet und von den politischen Akteuren als relevant erachtet werden, zwar politische Bedeutsamkeit zukommen. Für die inhaltliche Präzisierung des Merkmals „europäisch“ in Art. 49 Abs. 1 EU sind sie jedoch vollkommen unergiebig.
b. Vernachlässigung rechtlicher Kriterien Das europäische Primärrecht nennt in Art. 6 Abs. 1 EU neben der Anforderung, dass es sich bei dem um Beitritt nachsuchenden Staat um einen „europäischen“ Staat handeln muss, die Achtung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit als Beitrittsvoraussetzungen. Konkretisiert werden die Beitrittsvoraussetzungen in den vom Europäischen Rat im Jahre 1993 formulierten sog. Kopenhagener Kriterien. Letztere formulieren bestimmte Kriterien, die alle Beitrittskandidaten erfüllen müssen: das politische Kriterium zielt auf die institutionelle Stabilität als Garantie für die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten; das wirtschaftliche Kriterium fordert eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten; das sog. Acquis-Kriterium verlangt vom beitretenden Staat die Fähigkeit, die sich aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu Eigen zu machen, d.h. das gemeinschaftliche Regelwerk zu übernehmen; das letzte 943
Streinz, Europarecht (Fn. 908), Rn. 78; Bitterlich, in: Lenz/Borchardt (Fn. 810), Art. 49 EUV Rn. 1; Herrnfeld, in: Schwarze (Fn. 908), Art. 49 Rn. 3; Meng, in: v. d. Groeben/Schwarze (Fn. 908), Art. 49 EUV Rn. 53.
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Kriterium bezieht sich schließlich nicht auf an den Beitrittskandidaten zielende Anforderungen, sondern vielmehr auf die Erweiterungsfähigkeit der Union, d.h. auf die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten.944 Es mag sein, dass sowohl die in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze und vor allem auch die Kopenhagener Kriterien ihrem Wortlaut nach eine kaum zu kontrollierende Unbestimmtheit aufweisen und das Verhältnis der einzelnen Kriterien zueinander Probleme aufwirft.945 Wichtig ist aber, dass weder Art. 6 Abs. 1 EU noch die Kopenhagener Kriterien die Union unter Rückgriff auf geographische Aspekte oder gar unter Bezugnahme auf eine kulturell, geschichtlich oder religiös begründete Homogenität definieren. Für die Qualifizierung eines Staates als „europäisch“ sind vielmehr aus der Perspektive des Art. 6 Abs. 1 EU rechtliche Anforderungen maßgeblich946, während die Kopenhagener Kriterien “in effect define institutionalized Europe in civic terms”.947 „Kulturelle Identität“ kann daher nichts anderes bedeuten als die Achtung der im Primärrecht kodifizierten Rechtsprinzipien sowie die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien. Anders formuliert materialisiert sich „das, was gemeinhin als „europäisches Erbe“ bezeichnet wird, gerade in den vier Prinzipien des Art. 6 Abs. 1 EU“.948 Liest man über 944
Europäischer Rat, Erklärung vom 21./22. Juni 1993, Bull. EG Nr. 6/1993,
I. 13. 945
In der Literatur weitgehend nicht diskutiert ist beispielsweise die Frage, ob der Erfüllung eines der Kriterien eine größere Bedeutung zukommt als der Erfüllung eines anderen Kriteriums oder ob Defizite bei der Erfüllung eines Kriteriums, beispielsweise hinsichtlich einer schwachen Wirtschaft, durch die überdurchschnittliche Erfüllung eines anderen Kriteriums, beispielsweise durch einen besonders effektiv funktionierenden Menschenrechtsschutz, ausgeglichen werden können. Ansatzweise hierzu Ward, The Culture of Enlargement (Fn. 940), 199, 203. 946
H.-J. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Fn. 810), Art. 49 EUV, Rn. 5.
947
Wallace, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris? (Fn. 811), 475, 486. 948
Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 203 f. Ebenso Beutler u.a., Die Europäische Union (Fn. 840), Rn. 64; H. Schneider, Europäische Identität, integration 14 (1991), 160, 160 und 164. Bezogen auf den Beitritt der Türkei, siehe schließlich auch W. Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, 1, 6, demzufolge im Verhältnis zwischen der EU und der Türkei „Kultur- und Religionsdifferenzen und frühere blutige Auseinandersetzungen [...] im Unterschied etwa zu Demokratie- und Menschenrechtsfragen, für einen eventuellen Beitritt keine Rolle spielen [sollen]. Insofern versteht sich EU-
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das Merkmal „europäisch“ hingegen substantielle Beitrittsanforderungen in das europäische Primärrecht hinein, besteht das Problem nicht nur in einer rational nicht begründbaren und nachvollziehbaren Begründung für oder gegen den Beitritt eines Staates. Als wesentlich bedeutsamer erweist sich, dass vor allem die rechtlichen Anforderungen an einen Beitrittskandidaten marginalisiert werden. So können beispielsweise die umfassenden Gesetzesnovellen und Gesetzesreformen der Türkei, die die Umsetzung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze realisieren sollen949, dadurch als unbeachtlich für den in Aussicht gestellten Beitritt erklärt werden, dass man die formalrechtlichen Beitrittsvoraussetzungen als nicht allein ausschlaggebend bzw. ergänzungsbedürftig bezeichnet.950 Die kulturellen, historischen und geistesgeschichtlichen Aspekte, die sodann für die Frage des Beitritts ins Spiel gebracht werden, entziehen sich aber, anders als rechtliche und wirtschaftliche Anpassungsbemühungen, weitgehend dem willentlichen Einfluss der Akteure sowie der empirischen Überprüfbarkeit. Sie sind entweder gegeben oder nicht gegeben. Auf ihrer Grundlage wird auf vermeintlich sicherem Boden über Mitgliedschaft oder NichtMitgliedschaft entschieden, ohne dass auch nur ein Rest jener Rationalität verbleibt, die die positivierten Aufnahmekriterien und ihre Nachprüfung in politischer und sozialer Wirklichkeit verbürgen.
c. Exkludierende Tendenzen Unübersehbar ist, dass die Aufladung des Merkmals „europäisch“ durch außerrechtliche Kriterien und die damit vollzogene Distanzierung von rechtlichen Beitrittskriterien fast durchgängig einen bestimmten Zweck verfolgen. Solche Interpretationen sind, wie sich an der Diskussion über den möglichen Beitritt der Türkei deutlich zeigen lässt, „von dem Motiv getragen, bestimmten Staaten den Beitritt zur EuropäiEuropa weder als „Kulturgemeinschaft“ im Sinne von Johann Gottfried Herder, noch als „Erinnerungsgemeinschaft“, wie Max Weber, einmal die Nation definierte.“ 949
Umfassend zu den Anpassungsbemühungen der Türkei Straub, Zum Verfassungsvertrag für Europa und dem Beitritt der Türkei (Fn. 801), 199, 207 ff 950
So vor allem Böckenförde, Nein zum Beitritt der Türkei (Fn. 918) 35 und 37; Langenfeld, Erweiterung ad infinitum? (Fn. 922), 73, 74 f.; Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 121; ders., Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte (Fn. 812), 1249 und 1251 f.; D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek, Vorwort, in: dies. (Fn. 801), 5 f.
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schen Union objektiv unmöglich zu machen“951. Im Vordergrund steht mit anderen Worten nicht so sehr der Versuch, das spezifisch Europäische im Interesse einer diskursiven Selbstvergewisserung über die eigene – positiv bestimmte – Identität hervorzuheben. Anders als bei Autoren, die bezüglich der Beitrittsaspirationen der Türkei auf die in Art. 49 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EU genannten Rechtsprinzipien, auf die Erhaltung der institutionellen und politischen Handlungsfähigkeit oder auf ökonomische Aspekte abstellen, lässt sich bei Autoren, die hinsichtlich der Voraussetzungen für einen Beitritt zusätzlich auf religiöse, kulturelle oder historische Aspekte abstellen, mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ergebnis der Argumentation prognostizieren. Der Skizzierung eines holistisch, undurchdringlich und im Innern kulturell homogen gedachten europäischen „Kulturkreises“ folgt nahezu immer die Aussage, dass ein Beitritt der Türkei gerade deshalb nicht in Betracht komme, weil sie einem anderen „Kulturkreis“ angehöre bzw. an der zuvor konzipierten historisch-kulturellen Substanz nicht teilhabe.952 Dies spricht dafür, dass „Definitionsversuche anhand dieser „weichen“ Kriterien“953 für einen instrumentalistischen Einsatz in besonderer Weise geeignet sind. Unzureichend wäre es, den Grund hierfür allein darin zu sehen, dass sich in der „andauernden Kontroverse über einen Beitritt der Türkei zur EU [...] wie in einem Brennglas die Frage nach Grenzen und Schicksal der EU“954 bündelt. Unbeantwortet bleibt dann nämlich, warum jene Grenzen und jenes Schicksal gerade über den Rückgriff auf eine vermeintlich homogene europäische Kulturgemeinschaft bestimmt
951
Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 203 f.
952
Siehe etwa Isensee, Nachwort (Fn. 122), 103, 121; Murswiek, Der EuropaBegriff des Grundgesetzes (Fn. 905), 657, 683; Böckenförde, Nein zum Beitritt der Türkei (Fn. 918), 35 und 37, der allerdings auch geographisch-geopolitische sowie politisch-integrative Argumente gegen einen Beitritt der Türkei anführt. Exemplarisch für die beschriebene Argumentation sind auch die Stellungnahmen der Historiker Heinrich August Winkler und Hans-Ulrich Wehler. Siehe H. Winkler, Wir erweitern uns zu Tode, Die Zeit vom 7.11.2002 (Nr. 46), S. 6; ders., Europa am Scheideweg, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.2003 S. 10; ders., Grenzen der Erweiterung, Internationale Politik 2003, 59-66; H.-U. Wehler, Das Türkenproblem, Die Zeit vom 12.9.2002 (Nr. 38), S. 9; ders., Die Selbstzerstörung der EU durch den Beitritt der Türkei, in: ders. (Hrsg.), Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2003, 41-52. 953 954
Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (Fn. 803), 203 f.
So Oppermann, Die Grenzen der Europäischen Union oder das Vierte Kopenhagener Kriterium (Fn. 927), 72, 78.
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werden und dies zwangsläufig zu der Aussage führt, dass ein Beitritt der Türkei ausgeschlossen sein soll. Verständlicher werden die exkludierenden Tendenzen allerdings, wenn man berücksichtigt, dass sich Europa in der Vergangenheit immer wieder über die Abgrenzung zum Orient zu definieren versucht und die Türkei als Grenze zum orientalischen „Anderen“ imaginiert hat. Diese Abgrenzung erfolgte zumeist über die Hervorhebung der okzidentalen Kultur einerseits und der Diskriminierung der orientalischen Kultur andererseits.955 Dabei scheinen sich gerade kulturelle Argumente aufgrund ihrer Unbestimmtheit in besonderer Weise dazu zu eignen, Ziel orientiert instrumentalisiert zu werden. Spielt man die “cultural, or “civilizational” card”956 kann man Inklusionen, vor allem aber Exklusionen vermeintlich überzeugend begründen. Die Verschiebung der Diskussion „auf den glitschigen Boden der Kultur“957 erlaubt es, entgegen unerwähnt bleibender begrifflicher Schwierigkeiten des Terminus „Kultur“ und entgegen historischer Einsichten gegenseitiger Durchdringung und Beeinflussung hermetisch geschlossene Einheiten zu konstruieren und deren kulturelle Homogenität im Innern zu behaupten. Hinter dem Rücken einer vermeintlich plausiblen Aufzählung spezifisch europäischer Eigenheiten und Prägungen wird die diskursive Auseinandersetzung indes irrationalisiert: “The problem, clearly, is that impression, stripped of any intellectual pretension, simply dissolves into gut feelings. And some things just feel right. It is here, of course, that the equally slippery notion of culture comes into play. For what seems right, and what seems not, often tends to be rooted in cultural perception, and prejudice.”958 Diese Gemengelage aus emotional aufgeladenen Vorurteilen, vermeintlich unüberbrückbaren Differenzen zwischen voneinander abgeschlossenen Kulturkreisen und damit verbundenen Inklusions- und Exklusionsbehauptungen erzeugt schließlich aber nicht nur problematische
955
Die immer noch maßgebende Arbeit hierfür ist: E. Said, Orientalism, 1979. Siehe hierzu auch Ward, The Culture of Enlargement (Fn. 940), 199, 200 ff.; E. Gellner, The Turkish Option in Comparative Perspective, in: Bozdo÷an/Kasaba (eds.), Rethinking Modernity and National Identity in Turkey, 1997, 233-243. 956
Ward, The Culture of Enlargement (Fn. 940), 199, 215.
957
A. Nassehi/M. Schroer, Integration durch Staatsbürgerschaft? (Fn. 19), 82,
103. 958
Ward, The Culture of Enlargement (Fn. 940), 199, 207.
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Wirkungen hinsichtlich der Abgrenzung gegenüber einem angeblich heterogenen Anderen außerhalb der beschriebenen politischen Einheit. Kennzeichnet man unter Rückgriff auf kulturelle Besonderheiten die substantielle Gleichartigkeit der Angehörigen eines bestimmten Kollektivs, stellt sich die Frage, auf welche Personen sich diese Behauptung bezieht. Das spezifisch „Europäische“ in einer „abendländischen Kultur“, die maßgeblich auf der Prägung durch das Christentum basiert, blendet für die Konzeptionalisierung einer europäischen Identität notwendig diejenige kulturellen Prägungen aus, die in den vergangenen Jahrzehnten mit der Einwanderung von Migranten in die Mitgliedstaaten der Union gelangt sind. Lässt man jene kulturellen Identitäten bei der Diskussion über das „gemeinsame kulturelle Erbe“ unberücksichtigt oder diskriminiert man sie gar dadurch, dass eine exklusive christlich-abendländische Kultur überhöht und von einer differenten orientalischen Kultur kategorisch getrennt wird, werden jedoch nicht nur im Primärrecht enthaltene Appelle an Toleranz und kulturelle Diversität diskreditiert. Letztendlich erzeugt man bei denen, die dem als hergebrachter Mehrheitskultur qualifizierten „gemeinsamen kulturellen Erbe“ nicht angehören, Gefühle des Ausschlusses und der Diskriminierung.959 Die exkludierenden Tendenzen von Homogenitätsbehauptungen richten sich mithin nicht nur nach außen gegen beitrittswillige Staaten, sondern vielmehr auch nach innen gegen jene, die nicht Teil der postulierten Mehrheitskultur sind. Nicht zuletzt deshalb sollte darauf verzichtet werden, „europäisch“ i.S.d. Art: 49 Abs. 1 EU mit Homogenitätsbehauptungen und Homogenitätsforderungen aufzuladen.
959
Deutlich Mitsilegas, Culture in the Evolution of European Law (Fn. 937), 111, 126: “This ‚common cultural heritage’ is not to be viewed as an amalgam of values accepted on a majority basis and on quantitative criteria. By disregarding the multicultural features of the Union, the enhancement of diversity is rendered meaningless.” Siehe hierzu auch P. Fitzpatrick, New Europe and Old Stories, im gleichen Band, 27-45.
5. Kapitel: Abschied vom Begriff der Homogenität Aus den vorangehenden Kapiteln lässt sich nur die Schlussfolgerung ziehen, den Begriff der Homogenität aus dem begrifflichen und theoretischen Instrumentarium der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft zu entfernen. Weder, das haben die vorangehenden Untersuchungen seiner einzelnen Bedeutungsgehalte sowie die Analysen der Homogenitätskriterien „Geschichte“ und „Sprache“ gezeigt, kann der Begriff als normatives Leitbild politischer Organisation und schon gar nicht als Beschreibungsformel für reale Verhältnisse Plausibilität beanspruchen. Für die Herausforderungen, vor denen Verfassungs-, Europarechts- und Völkerrechtslehre angesichts der Globalisierung gesellschaftlicher Teilsysteme, des dadurch bewirkten Bedeutungsverlustes der Nationalstaaten und der darauf reagierenden Konstitutionalisierung transnationaler politischer Systeme, insbesondere der Europäischen Union, stehen, erweist sich der Begriff der Homogenität als untauglich. Dabei resultiert seine Untauglichkeit nicht schon daraus, dass er der Semantik einer vergangenen historischen Epoche entstammt, sondern liegt vielmehr und hauptsächlich in der Tatsache begründet, dass er die von dieser Epoche geprägten Bedeutungsgehalte nicht reformulieren und an die veränderten politischen und sozialen Verhältnisse anpassen kann. Einer adäquaten Problembehandlungen steht der Begriff damit im Wege. Seine fortwährende Verwendung in der deutschen Verfassungslehre sowie seine inflationäre Verwendung im Kontext der Diskussion um die europäische Integration im allgemeinen und die Möglichkeiten der Implementierung demokratischer Strukturen auf europäischer Ebene im besonderen, verdeutlichen nur, dass es – wenn man nicht rein strategisches Handeln unterstellt – Teilen der Verfassungslehre schwer zu fallen scheint, sich von veralteten, in anderen historischen Epochen und Sinnzusammenhängen zu Dominanz gelangten Semantiken zu verabschieden. Ändern sich indes die sozialen und politischen Strukturen, hat dies Auswirkungen auf die Semantik, die versucht, jene Strukturen zu erfassen. Offensichtlich ist, dass „Homogenität“ als Chiffre für die Beschreibung moderner Gesellschaften, d.h. als Versuch adäquater Wirklichkeitserfassung nicht zu gebrauchen ist. Die Darstellung der Segmentierungs-, Fragmentierungs-, Differenzierungs- und Pluralisierungsdynamiken,
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denen die sozialen Strukturen und geistig-kulturellen Ressourcen moderner Gesellschaften ausgesetzt sind, die kurze Übersicht über vergangene, gegenwärtige und infolge der demographischen Daten zu prognostizierende Migrationsbewegungen und deren Folgen für die Zusammensetzung der Bevölkerungen europäischer Staaten, der an mehreren Stellen dieser Arbeit erfolgte Rückgriff auf systemtheoretisch inspirierte Einsichten hinsichtlich der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaft und schließlich die an Merkmalen wie „Geschichte“ oder „Kultur“ ausführlich nachgewiesene Diffusität und Unbestimmbarkeit der Homogenitätskriterien, auf die man sich beziehen muss, will man den Begriff der Homogenität verwenden, haben in frappierender Weise gezeigt, dass von homogenen Kollektiven nur unter der Voraussetzung einer erheblich verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung, d.h. unter Verleugnung der tatsächlichen sozialen und geistigen Strukturen moderner Gesellschaften ausgegangen werden kann. Bestenfalls handelt es sich demnach beim Begriff der Homogenität um eine Fiktion. Selbst Kriterien wie eine empirisch verifizierbare gemeinsame Sprache oder vermeintlich naturwissenschaftlich begründbare geographische Grenzziehungen stoßen auf Einwände, die die Notwendigkeit der Verwendung des Begriffs der Homogenität und die Plausibilität der mit diesem Begriff verbundenen Assoziationen zweifelhaft erscheinen lassen. Jene Assoziationen, die in Teilen der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft mit der Annahme sozialstruktureller Homogenität verknüpft werden, haben sich bei näherer Analyse zumindest als nicht hinreichend komplexe Beschreibungsversuche herausgestellt. So lassen sich weder politische Einheitsbildung noch das Entstehen einer kollektiven Identität bzw. eines Zusammengehörigkeitsgefühls mit dem Hinweis auf die vermeintliche Homogenität eines Kollektivs auch nur annähernd plausibel erklären. Durchgängig erweisen sich die diesbezüglichen (Entstehungs-)Bedingungen als komplexer und differenzierter, als der Begriff der Homogenität suggeriert. Auch verbürgt eine sozialstrukturelle Homogenität, wenn man sie denn bestimmen könnte, nicht zwangsläufig einen prästabilisierten Zustand harmonischen und friedlichen Zusammenlebens, in dem Konflikte zumindest insoweit gebunden sind, als es nicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt, wie umgekehrt das Fehlen von Homogenität nicht notwendig zu einem hobbesianischen Chaos führt, in dem in der Gesellschaft bestehende Kontroversen nicht in institutionalisierten Verfahren gelöst werden könnten. Vor allem die differenzierte Untersuchung der Anwendungsvoraussetzungen des Mehrheitsprinzips, aber auch die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten demokratischer Strukturen auf europäi-
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scher Ebene, haben deutlich gemacht, dass zum einen mögliche Konfliktlinien, die die demokratische Organisation eines Gemeinwesens erschweren oder gar unmöglich machen, nicht unbedingt entlang jener Kriterien verlaufen müssen, die in der Verfassungslehre häufig mit dem Begriff der Homogenität verbunden werden, also entlang sprachlicher, religiöser, kultureller oder ethnischer Differenzen. Zum anderen handelt es sich bei der homogenen Struktur eines Kollektivs um ein zumindest zu vernachlässigendes Element, wenn es um die Frage nach den außerrechtlichen Voraussetzungen demokratischer Organisation geht. Von wesentlich größerer Bedeutung sind diesbezüglich die Vermeidung struktureller Minderheiten, die Gewährleistung von Grundrechten, ein effektiver Schutz von Minderheiten, eine zwischen verschiedenen Ebenen der politischen Organisation verlaufende Verteilung von Kompetenzen, eine eventuell erforderliche pragmatische Gewichtung von Stimmen sowie tatsächlich vorhandene Möglichkeiten politischer Partizipation. Schließlich erweist sich der in dem Begriff der Homogenität liegende Demokratiekonservatismus gegenüber nahezu allen Versuchen, neue, den veränderten politischen Bedingungen angemessene Konzeptionalisierungen demokratischer Legitimationsvermittlung und Herrschaftskontrolle zu entwerfen, als schwer zu überwindendes Hindernis. Das einzige, was den meisten seiner Befürworter angesichts neuartiger politischer Systeme einfällt, ist, letztere als Abziehbilder des Nationalstaates zu konzeptionalisieren, um in einem zweiten Schritt, wenig überraschend, die defizitären Strukturen trans- bzw. supranationaler politischer Systeme „offen zu legen“. Versteht man den durch außerrechtliche Bezugspunkte begründeten Begriff der Homogenität hingegen nicht als Formel für die adäquate Beschreibung der tatsächlichen Strukturen moderner Gesellschaften, sondern als Forderung, Homogenität herzustellen, um die in dieser Arbeit beschriebenen, mit dem Begriff der Homogenität in Teilen der Verfassungslehre verbundenen Wirkungen sicherzustellen, diskreditiert er sich in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung, die die Autonomie ihrer BürgerInnen achtet und diese mit Grundrechten rechtlich gewährleistet, selbst. Aber selbst wenn nicht explizit die Herstellung von Homogenität gefordert wird, die nur über repressive, verfassungsrechtlich und moralisch inakzeptable Maßnahmen zu erreichen wäre, symbolisiert der Begriff der Homogenität immer ein „[l]atent aggressives Konzept der Politik“960, das zur Verleugnung von tatsächlich bestehender Heteroge960
Preuß, Die Weimarer Republik (Fn. 141), 177, 183. N. S. Ghaleigh, Looking into the Brightly Lit Room (Fn. 42), 43 f., spricht hinsichtlich “the debates
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nität und Pluralität, zu Assimilation und Apartheid, zu Diskriminierung und Ausgrenzung bis hin zu Vertreibung und Völkermord, neigt. Jedenfalls erscheint nicht nur der Umgang mit Minderheiten, sondern schon die Auseinandersetzung mit Individuen, die von der vermeintlichen Homogenität abweichen, prekär, transportiert doch die Behauptung homogener Strukturen immer eine im doppelten Sinne exklusive Aussage: exklusiv zum einen hinsichtlich des als homogen beschriebenen und sich gerade durch spezifische (Homogenitäts-)Kriterien in besonderer Weise auszeichnenden Kollektivs und exklusiv hinsichtlich des Ausschlusses derer, die an jener Homogenität nicht teilhaben und angesichts der häufig vorkommenden Ontologisierung bzw. Substantialisierung nur schwerlich teilhaben können. Minderheiten werden vor dem Hintergrund einer vermeintlich homogenen Mehrheitskultur von der sich kraft ihrer Homogenität einig fühlenden und wissenden Mehrheit bestenfalls in ihrer Existenz geduldet und mit einem Minimum an Rechten versehen. Eine solche Duldung durch hegemoniale Mehrheiten bedeutet allerdings keinesfalls, darauf hat Erhard Denninger zutreffend hingewiesen, „dass den Minderheiten die volle Gleichberechtigung eingeräumt wird. Die Minderheit wird als Ausnahme behandelt, die zwar sprichwörtlich die Regel bestätigt, rechtlich aber in der Weise, das die „Regel“, also der Mehrheitskonsens, um so unverbrüchlicher durchgesetzt wird. „Toleranz“ bedeutet auf dieser [...] Entwicklungsstufe des demokratischen Bewusstseins, dass die geduldete Minderheit es hinzunehmen hat, dass die Mehrheit sich voll, auch mit Unterstützung des Staates, entfalten kann, während sie selbst ein zwar rechtlich gesichertes, aber doch ein „Außenseiterdasein“ fristen muss. Charakteristisch und folgenreich ist die Behandlung des abweichenden Minderheitsverhaltens als „Ausnahmeerscheinung“, mit der die Rechtsordnung „irgendwie“ fertig werden muss. Dadurch wird es von vornherein als das „Abnorme“, als von der Norm Abweichende, ja die Norm negierende stigmatisiert und, wo nicht sogleich ins Unrecht gesetzt [...], so doch in Grau- und Randzonen rechtlicher Minderwertigkeit abgedrängt.“961 Aus der Perspektive des Individuums stellt sich das Beharren auf einer vermeintlichen Homogenität in gleicher Weise problematisch dar, macht sich der einzelne Bürger doch zumindest auffällig, wenn er von entsprechenden gemeinschaftlichen Vorgaben abweicht oder an ihn gerichtete Erwartungen oder Forderungen, die unter Rückgriff auf die over democracy, demos and homogeneity” von “a violent pointedness in an era of European right-wing extremism”. 961
Denninger, Der Einzelne und das allgemeine Gesetz (Fn. 227), 425, 429.
Abschied vom Begriff der Homogenität
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Homogenität des schon vor jeder Verrechtlichung bestehenden Kollektivs begründet werden, mit Verweis auf individuelle Grundrechte zurückweist.962 Schließlich erweist sich das Festhalten an der Forderung nach Homogenität für den demokratischen Prozess dann als Problem, wenn die politischen Partizipationsrechte in der Weise mit der homogenen Struktur einer Kollektivs verbunden werden, dass die Teilhabe an Letzterem zur Voraussetzung der politischen Partizipation gemacht wird. In diesem Fall wird sich die Anzahl derjenigen, die von demokratischer Partizipation ausgeschlossen sind und die lediglich als „Staatsbetroffene“963 ohne politische Rechte gelten, in Zukunft vergrößern und damit die der Demokratie zugrunde liegende regulative Idee der Identität von Regierenden und Regierten, Autoren und Adressaten der Gesetzgebung, Befehlenden und Gehorchenden zunehmend unterlaufen.964 Hier wird deutlich, dass es nicht nur nicht die sozialstrukturelle Homogenität ist, die die für das Demokratieprinzip im allgemeinen und die Anwendung des Mehrheitsprinzips im besonderen erforderlichen außerrechtlichen Voraussetzungen markiert, sondern sich gerade das Homogenitätspostulat im Widerspruch zur Idee der Demokratie befindet und die Implemen962
Zu diesem Problem der „Kompatibilität von solidaritätsgeprägter Ordnung und rechtlicher Ordnung“ E. Denninger, Verfassungsrecht und Solidarität, KritV 1995, 7, 15. Siehe hierzu auch Habermas, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? (Fn. 89), 154, 169. 963
Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat (Fn. 48), § 221, Rn. 17: „Die freiheitliche Demokratie baut auf die Unterscheidung zwischen den zur demokratischen Mitwirkung berechtigten Bürger und allen von der Staatsgewalt betroffenen Grundrechtsträgern. Der Bürger legitimiert die Staatsgewalt in dauernder Zugehörigkeit, der Betroffene mäßigt sie in gegenwärtiger Beschwer. Der Bürger nimmt in der Wahl Einfluss auf Handlungsprogramme und Handlungsberechtigte zukünftiger Staatspolitik und richtet dabei politische Herrschaft auf die Rechte und Anliegen der des Einzelnen aus; der Betroffene wehrt sich gegen eine Verletzung seiner Rechte durch den Staat und stärkt in der Summe der Einzelerfahrungen die gegenwärtige Freiheitlichkeit des Staates. Diese doppelte Freiheitssicherung durch Staatsvolk und Betroffene öffnet den demokratischen Rechtsstaat auch für die Freiheit des Nichtstaatsangehörigen, schließt damit seine politische Ausgrenzung oder Entrechtung von vornherein aus.“ 964
Siehe hierzu, insbesondere auch zur Einführung der Kategorie „Staatsbetroffene“, Gusy/Ziegler, Der Volksbegriff des Grundgesetzes (Fn. 26), 222, 230 und 245; Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit (Fn. 16), 139 ff.
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tierung demokratischer Verfahren erschwert, „weil ein monistisches Wir-Gefühl notwendig zur Unterscheidung zwischen von „Wir“ und „Anderen“ zwingt, und so über Ausgrenzungen strukturelle Minderheiten erzeugt werden. Das heißt, es entstehen erst Minderheiten, denen die Chance genommen wird, Einfluss auf Entscheidungen zu gewinnen, potenzielle Mehrheit zu werden. Die Voraussetzungen der demokratischen Kultur werden so von der sich selbst abgrenzenden Mehrheit durchbrochen, mit der Gefahr, dass die Ausgegrenzten die Legalität aufkündigen.“965 Was vom Begriff der Homogenität an plausiblem inhaltlichem Gehalt übrig bleibt, ist die innerhalb einer demokratie- und verfassungstheoretischen Position verankerte soziologische Prämisse, dass eine Gesellschaft, wenn sie sich politisch organisieren will, ein wie immer geartetes gemeinsames Fundament haben muss oder, negativ formuliert, nicht in unversöhnliche und unüberbrückbare Antagonismen auseinander fallen darf. Angesichts der Bedeutung, die der Begriff der Homogenität in der deutschen Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft einnimmt, des Argumentationsaufwandes, der in seinem Umfeld betrieben wird, vor allem aber auch unter Berücksichtigung der negativen Implikationen des Begriffs, ein dürftiges Resultat, das sich zudem ohne expliziten Rekurs auf „Homogenität“ angemessener, d.h. vor allem: mit stärkerer begrifflicher Prägnanz und ohne gefährliche Untertöne zum Ausdruck bringen lässt.
965
Fisahn, Demokratie in Europa (Fn. 469), 131, 143.
Summary The Concept of Homogeneity and its Usage in Constitutional Law and Community Law – On the Thesis of the Necessity of a Homogeneous Community –
I. Introduction 1. “Homogeneity” can be synonymously translated with similarity, uniformity, or closeness. However, concepts of homogeneity rely on a reference point of comparison. In order to identify a multiplicity of individuals as a unity it is necessary to specify the similarities that the individuals have in common and that, thus, constitute their unity. Homogeneity, in other words, implicates a three figured relation: Saying that two objects are homogeneous makes sense only if one can say in what respect these two objects are homogeneous. Mainly as a result of the idiosyncratic conditions of the development of the German nation state and the corresponding idea of a “culture state”, often mentioned criteria of homogeneity in German Constitutional and European Law Scholarship are a common history, culture, religion, or language. 2. Even though the notion of a homogeneous people seems to be precarious at least since the national-socialist perversion of a “Volksgemeinschaft” (ethnic community), the concept of Homogeneity is still being widely used in German Constitutional Law and Community Law Scholarship. It stands for the thesis that the homogeneous structure of a community is an essential precondition for the democratic organization of a community. From the perspective of authors who argue in favor of the concept of homogeneity the majority rule cannot successfully be implemented if there is no socio-structural homogeneity. Furthermore, the homogeneity of a community is being made responsible for the stabilization of a political unity as well as for the emergence of a psychosociological phenomenon in the sense of a feeling of togetherness and a collective identity, respectively. But to focus on homogeneity and to link homogeneity with far reaching legal and political effects is increasingly confronted with developments that not only undermine the idea
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of a homogeneously structured society, but that, ultimately, erode a constitutional theory built upon the ostensibly indispensable requirement of homogeneity.
II. Challenging Developments for Concepts of Homogeneity All positions that refer to a socio-structural homogeneity anchored either in a common past, a shared culture or in a joint language need to face at least three objections. 1. First of all, most attempts to analyze the particular composition and structure of modern societies lead to the insight that heterogeneity rather than homogeneity can function as a formula to adequately describe modern societies. While traditional and relatively stable communities like the family, the township, political parties or the church loose their ability to integrate individuals into solid communities, particular modern processes of pluralization and diversification exhibit their dramatic potential. In modern societies individuals are being released from socially and morally homogeneous environments and strong collective ties. Values, norms and behavioral guidelines become diffuse and overarching contexts are increasingly questionable in a society that is composed of several autonomous social subsystems operating with different rationalities and logics. Not surprisingly, observers from different scientific disciplines describe modern societies in terms of integration, acculturation, assimilation, syncretism, pluralism or multiculturalism. Rather than being homogeneous entities, even the societies of the nation states are complex patchworks of different – sometimes overlapping, sometimes colliding – cultural identities. 2. Secondly, the large quantities of immigrants that have been coming into the European countries since the end of the Second World War have already dramatically changed the structure of the national societies. Furthermore, demographic calculations forecast a scenario in which the Member States of the European Union will have an enormous demand of immigrants in the forthcoming decades. It is primarily the low birth rate as well as the increased life expectancy that leads to a reduction of younger generations in the European countries. Because this diminution of the autochthonal population will concern the economically active population, i.e. the people in the age between 20 and 60, it is likely that an increasing number of non-Europeans will permanently take residence within the European countries in the near future.
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But permanent residents with different cultural backgrounds will undoubtedly intensify the erosion of homogeneous structures in modern societies. 3. Lastly, processes of Europeanization and globalization put pressure on concepts of homogeneity. In the last years many observers have ascertained both the emergence of trans- and supranational institutions and the transfer of competences from the nation states to these new organizations. One reason for this development is the insight that the nation state as a particular model of political organization is increasingly incapable of adequately reacting to economic, ecologic, military, scientific or technical problems that transcend national borders. In order to regain regulation competences, it seems indispensable to create political units at a trans- and supranational level. But if these organizations exercise sovereignty at least in a limited realm of competence and enact directly applicable law, the question of legitimization arises. Therefore, the search for a people on a trans- or supranational level has begun. But unlike the national level, the lack of a homogeneous collective is obvious. Thus, positions that link the homogeneity of a collective to democratization face difficulties when the question arises of how to legitimize the legislation of trans- or supranational organizations.
III. Alleged Effects of Homogeneity In the legal discourse one can find several effects that are linked with the existence of a socio-structural homogeneity. The latter is allegedly an indispensable precondition for the implementation of the majority rule. It has also been made responsible for the emergence and the stabilization of a political unity, for the formation of a feeling of togetherness or rather a collective identity, and, finally, for the absence of violent conflict. 1. According to the proponents of concepts of homogeneity, the minority will only follow the majority decision if the community is not disrupted by elementary conflicts. Although the minority cannot achieve acceptance for its views, the homogeneity of the community ensures that the existence of the political unity is more important for the minority than the defeat in the particular vote. The answer to the question why the minority is willing to accept a decision against its interest and voting is therefore not to be seen as a consensus concerning the procedural rules but rather as the social-homogeneous structure of the com-
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munity. However, the preconditions for the successful usage of the majority rule are not anchored in a common culture, shared history, or in the fact that the citizens speak the same language. Of greater significance are the prevention of the emergence of structural minorities, the protection by constitutional rights, may they be either individual or collective, a pragmatic distribution of competences among several political levels as well as a pragmatic weighing of votes and, finally, the opportunity to effectively participate in the political decision process. 2. Furthermore, concepts of homogeneity tend to found the unity of a community on cultural, religious, ethnic, linguistic or historical commonalities. In this view, a multiplicity of isolated individuals can be considered as a unified community only because there are extra-legal facts that work as the driving force for collectivization. As a compensatory condition these substantial similarities should limit and mitigate modern individualist tendencies that are perceived as being destructive. Political unity is thus not the result of a deliberate consensus concerning basic legal requirements but rather a pre- and extra-legal phenomenon. But to ground the unity of individuals on such allegedly ontological resources becomes questionable exactly at the moment when societies increasingly loose their homogeneous substance. Neither on the national nor on the European level can the unity of fragmented and plural societies be explained by reference to unidentifiable similarities. Moreover, two other arguments speak against the thesis that political unity is dependent on socio-structural homogeneity. First, modern societies are not only plural and heterogeneous, they are also a system of functionally differentiated subsystems, each operating as an autopoietic system, which permanently observes its environment and creates its own imagination of unity. Instead of providing one unity, functionally differentiated societies thus produce a multiplicity of different unities. Thus, the viewpoint from which the unity can be observed has been lost in modern societies. From this it follows that the assertion of homogeneity can only be seen as a semantic strategy trying to suggest a unity where we can observe nothing but differences. Second, concepts of homogeneity are prone to deduce normative implications from supposedly empirical facts. Concepts of homogeneity consider the function of the democratic process to be the representation of the will of an allegedly pre-existing social unity that is based on certain commonalities rather than the constructive production of a particular decision out of numerous conflicting interest and opinions. 3. Homogeneity is further considered to be an indispensable precondition for the emergence of what is often called a »collective identity« in
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the sense that the members of a community share a feeling of togetherness. The assumption is that such socio-psychological phenomena are a result of, but are also conditioned on, some, though not necessarily all, of the following objective elements: Common language, common history, common cultural habits and sensibilities, common ethnic origin and common religion. However, collective identities do not automatically arise from such similarities. Indeed, they are artificial narratives, perpetually reproduced anew by various actors in dynamic processes. Their construction takes place in a complex environment in which identity claims are continuously being articulated and contested. Social identities are, in other words, not the immediate result of an objective homogeneity but rather an unstable imagination in an ongoing and infinite process. 4. Finally, homogeneity is often linked with the pacification and stability of a community. In this context the term »homogeneity« obviously functions as a semantic figure that is designed to counter or to hide modern processes of disintegration and dissociation. The dissolution of traditional communities, the release of individuals from strong ties as well as the related appearance of a multiplicity of different values and mentalities seemingly triggers the demand for a diametrical fiction of a harmonic community without self-destructive conflicts. The assumption reads as follows: A framework shaped by homogeneity allows communities to prevent conflicts from escalating. Only within this kind of framework the procedural resolution of conflicts is even possible. As examples for this thesis proponents of homogeneity-concepts often mention countries like Belgium, Cypress, Bosnia, Albania, Chechnya, Tibet, Pakistan, South-Africa, Nigeria, Somalia, Sudan, India, Sri Lanka, Malaysia, or the Philippines. Frequently one can also find reference to the downfall of the Habsburg Empire or the collapse of the Soviet-Union. But to identify the reasons for such conflicts only in cultural, religious or linguistic diversity means on the one hand to ignore their complexity. On the other hand, social interaction and peaceful coexistence is not necessarily precluded by the heterogeneity of a community.
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IV. History and language as criteria of homogeneity
A. History 1. Concepts of homogeneity often refer to a common past or a ‘community of history’. The underlying assumption is that the members of a collective not only share one history. Exactly this crucial element is being made responsible for the aggregation and unification of isolated individuals into a particular entity as well as for the peculiarity and individuality of this entity. From an internal perspective, the concept implies the assumption that successful social integration, either thought of as an intersubjectively shared feeling of togetherness or as an objective bond between individuals, is – to a remarkable extent – the result of the ostensibly given fact that individuals share the same history with others. This refers not only to the joint experience of history, but rather to the idea that every individual is inevitably exposed to a stream of narratives about the past that transcends generations. According to Carl Schmitt “common historical destinies, traditions and memories” and “the commonness of historical life” are understood as elements existing prior to any political organization and functioning as the substantial or organic basis for the equality of the citizens. Exclusions and inclusions are justified, collective particularities are marked and demarcation lines between “us” and “them” are drawn with reference to a common history. Among other characteristics, like ethnicity, culture, religion or language, it is the specific historical experience from which a homogeneous and definable individual community emerges. Finally, one can clearly see the assumed connections and interdependencies between history, a community of history and the homogenous structure of a collective. To some authors the sharing of one history ultimately appears as the decisive condition both for the creation of “political unity” and its persistence and stability, for the compliance with majority decisions as well as for the acceptance of redistribution measures. In order to integrate the individuals into a collective, to pacify and stabilize the latter, a relative or effective homogeneity as a joint base stock of similarities, which in turn finds its basis in a jointly experienced political history, becomes an essential element. Within this context history is partly described as a ‘cultural fact’ that constitutes community or, as an ‘objective given fact,’ to which individuals are bound regardless of their own deliberate decision. This objectivity and pre-existence of history ascertains or at least renders it likely that a will to political unity evolves.
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2. Taking into account the described functions and effects both attributed to the term “history”, it is anything but a surprise that the focus of attention in German Constitutional Law and in European Law has generated a far-reaching search for a genuine European history. In so doing the reference to history can, depending on one’s attitude towards a further intensification of the European integration process, either accentuate the historical similarities or emphasize the peculiarity, dominance and significance of the respective national histories. Without questioning the doubtful plausibility of the concept of a community of history even on a national level, it is taken for granted that the need for a European history increases with the deepening of the European integration. To have a future, these authors suggest, Europe must have a past and it needs to transform itself into a community of history. 3. What is continuously overlooked, however, is that neither theoretically nor practically can a European community of history be deduced from the point of view of the science of history or from the perception of the population. The certainty with which many authors today speak of the self-evidence of a European history (as origin and prerequisite of a community of history), is drawn from a particular use of scientific knowledge: this becomes evident in formula such as “from the point of view of the historiography” or, “from the perception of the population.” Such affirmations stand in striking contrast to the otherwise manifold and contradictory statements concerning the existence and non-existence of a European community of history. Of course, the present political, social, economic and cultural life of a collective is always and significantly coined by the past. Historical experiences und narratives affect the thinking of human beings and play a more than negligible role for the creation of individual and collective self-conceptions. And obviously there is also an integrative and legitimizing impact that discourses on history as well as the particular historical „pictures” framed and used within these discourses may develop. But the concept of history, which is used in judicial discourse and implies a „community of history”, is perceived in a significantly different way. Here an understanding of history appears that can be described as holistic, objective and hermetically sealed. Holistic, because the concept of a community of history tacitly includes the message that history not only supplies the members of a particular collective with a sense of togetherness, but above all is capable of constituting a particular collective as a political unity. However, the development of such an effect strongly suggests that there is one history that is the very same for all members of a collective. Closely linked with this assumption, and this seems to make it
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legitimate to speak of a hermetically sealed perception, history is often explicitly understood as an objective fact existing before any individual cognition as well as before any form of political organization. Every political organization, as this perspective suggests, can refer to a consolidated reference point in terms of an arsenal of objective statements about the past. Skepticism towards whether the demands with which historians are confronted can be met, i.e. to reflect the past like a mirror, is legitimate. In light of the epistemological and theoretical as well as methodological challenges to historical recording, it becomes highly doubtful whether the task posed to historians by the famous German historian – often considered the founder of “scientific” history: Leopold von Ranke – to write history “as it actually was”, can actually be performed. On the one hand, the historical truth that there “can only be one” will not appear immediately and pure, on the other hand, it causes remarkable difficulties to think of history as a (total) object being opposed to the discerning subject. Insights from epistemology, the theory of history as well as nationalism research have revealed the untenability of a holistic, objectivistic and hermetically sealed understanding of history. Historians know for sure that there neither is nor will be the historical truth. In contrast, this totalizing perception of the one history has to be replaced by an irreducible variety of differentiating interpretations of history: histories instead of history. Furthermore, hermeneutically inspired approaches could show that respective political, religious, social and intellectual imprints of the interpreter play a decisive role not only in the work of historians but also for the public sphere in which historical aspects and narratives are discussed. The interpretation and the result of the interpretation, historical terms and statements are inevitably affected by different prejudices in a positive hermeneutical sense, i.e. the question how sources are interpreted is always dependent on the ideological or political character of the exegete and his social background. 4. As a result, the above described understanding of history as it is widely used in contemporary legal discourse, the fiction of the one history is to be abandoned. Rather, the term ‘history’ is to be used as a metaphor describing a space where a plurality of competing histories prevails, a plurality that permanently irritates and undermines existing identities, considered as self-evident and prone to consolidation. In this space various actors are engaged in ‘working on the historical memory’ and arguing about the interpretation of the past. Under these conditions, a liberally and democratically organized and pluralistically structured society has to provide for spaces in which history remains a con-
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tentious issue. The yardstick of democratic culture becomes society’s capacity to remain aware of the “particularity” and contestedness of historical interpretation. Scientific and public discourses on history need to be structured in a way that they can resist state-aided official interpretations of history. They must be capable of unmasking such interpretations as dangerous attempts to legitimize and stabilize political power with reference to alleged historical continuities. Conflicts between numerous and irreconcilable interpretations of the past reflect the political and cultural situation of a pluralistic society. In this sense they are always an expression of the republican openness and tolerance that can be found in a society. A European community of history cannot be, like some German Constitutional and Community Lawyers obviously seem to believe, the result of something given or of an objectivity which Europeans are born into, but rather a “European community of history” can and should be understood as a metaphor for a decentralized place where Europeans discuss and argue about the infinite multiplicity of their histories.
B. Language 1. Language is another criterion of homogeneity to which judicial discourse often refers. In the debate on Europe’s political future, it was particularly the German lawyer Dieter Grimm who related a shared language with the constitutionalization and democratization of the EU’s institutional framework. According to Grimm the European Union suffers from a shortage of democratic legitimacy that is in turn caused by the linguistic diversity in Europe. In his view democracy in general and the acceptance of the majority principle in particular presuppose the existence of a community of communication. Based on an ambitious theory of legitimization, Grimm doesn’t reduce democracy to periodic elections and the work of the representatives but rather includes the existence of a public as an essential element of democratic legitimacy. However, due to linguistic diversity, there are no newspapers, journals, and radio or television networks available Europe-wide that can trigger the emergence of a specific European public. If both information and participation as basic requirements of democracy are dependent on the fact that all citizens speak the same language the democratization of the EU is impossible as long as there is no linguistic homogeneity. To put Grimm’s argumentation in a nutshell: There can be no European democracy as long as there is no European public sphere.
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There can be no European public sphere as long as there is no common European language. 2. Obviously, Europe is a linguistically heterogeneous place. 23 languages are approved as an official language, some other languages are officially approved as minority languages within specific Member States. Despite the increasing language skills observed particularly in younger generations, French and English as the languages that prevail the Union’s institutions continue to appear as foreign languages to more than 80 percent of the European population. Both legal and factual reasons render a transformation of Europe into a homogeneous language area highly unlikely in the foreseeable future. Furthermore, the common objection that countries like Switzerland, Finland, Canada, Spain or Belgium constitute democratic states even though their citizens speak more than one language, is not qualified to refute Grimm’s thesis. Most of the countries mentioned are not comparable with the European Union in quantitative and qualitative terms. Moreover, in some of these countries the linguistic diversity does cause serious friction. However, the frequently made proposal to restrict the official languages of the Union is a sign that Grimm’s arguments have been misconceived, because his interest is not directed towards a communication among European elites but instead towards a broad public discourse with potentially no limits of accession. 3. In opposition to Grimm’s assumption, the linguistic heterogeneity is by no means an insurmountable obstacle on the way to a European public sphere. Although it is true that there is no Europe-wide media yet, this is not an absolute condition for the emergence of a European public capable of satisfying the functions usually attributed to the public sphere. Indeed, on the grounds of linguistic homogeneity communication among the members of a particular community might be easier and might render the formation of a functioning public sphere more likely. But other factors are of far greater significance. First, the Europeanization of the national public spheres can happen in two ways: either as the emergence of an autonomous European public sphere with media published and receivable in all European countries, or as the transmission of issues by the national media. Only the first possibility is dependent on a shared language while the second scenario, in which the national press and television would translate political and social issues into the respective language, can take place under conditions of multilingualism just as well. In this scenario the role of the media would lie in the synchronization of the coverage. Thus, all European Citizens would be informed about identical issues at the same time and a
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Europe-wide discourse would emerge. Even today journalistic and sociological analysis shows that the coverage of particular issues is not restricted to national boundaries. Second, strengthening the influencing capabilities of European citizens is of essential importance for an intensified European public sphere. If citizens recognize that the decisions of particular institutions significantly affect their lives, debates on the legitimacy and convenience of these decision are inevitable. Third, another important impetus towards the expansion of a European public sphere is to be seen in the transparency of European policies. Fourth, transparency implies the clear allocation of competences and responsibilities. Both political parties and European politicians must act as a point of crystallization for particular policies, i.e. to act in such a way as to enable European citizens to identify political programs with concrete parties and persons. Fifth, the socio-structural foundation that is demanded by Grimm is more likely to emerge when an »institutional advance« is granted. Any argument that highlights the meaning of prelegal conditions for the democratic organization of a political body results in a vicious circle: Either, due to the slow formation of the sociostructural requirements, the democratization is postponed into the far future, or the lack of democracy is declared unrecoverable. Although it is not unobjectionable from the perspective of an ambitious theory of democracy, an institutional advance seems capable of triggering social developments similar to what concepts of linguistic homogeneity demand. 4. If the public sphere is not to be thought of as a unitary space but rather as a complex network of multiple and decentralized public spheres, the demand for linguistic homogeneity becomes untenable. In this case, a Europe-wide communication does not rely on a centralized media system. European communication can be situated in a widely ramified network of different fora with various actors. Within this kind of network each national media system would mutually refer to the coverage in the other Member States. Under these circumstances news, commentaries, attitudes and opinions would be translated, transferred, reproduced, and criticized by each medium. As a result, monolingualism is neither an absolutely necessary precondition for the emergence of such a condensed communication nor for the democratic participation of the citizens.
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V. “Homogeneity” in the Primary Sources of European Community Law
Article 6 (1) and 7 TEU: “Constitutional Homogeneity” 1. According to many lawyers Articles 6 (1) and 7 TEU guarantee a minimum of constitutional homogeneity within the EU. At first sight, the meaning of homogeneity as the term is discussed with reference to Community Law is different from those concepts of homogeneity that refer to a pre-legal substance either founded in a common history, common culture, or in a shared language. First, homogeneity is, as both the prefix “constitutional” and the point of reference indicate, considered as a legally based homogeneity. The reference point of homogeneity is not to be seen in extra-legal factors like history, religion, culture or language but rather in common legal principles and rights. Second, the term homogeneity in Community Law discourse is an integrating element of the debate on European federalism. In the latter sense, homogeneity stands for the indispensable consensus among the Member States on the one hand and between the Member States and the EU on the other. Pursuant to Article 6 (1) TEU, the Union “is founded on the principles of liberty, democracy, respect for human rights and fundamental freedoms, and the rule of law, principles which are common to the Member States.” Article 7 TEU provides a sanctioning mechanism for the case of serious and persistent breaches of the principles mentioned in Article 6 (1). But even such a less ambitious concept of homogeneity is questionable insofar as the principles laid down in Article 6 (1) TEU find a different specification in each Member State. Moreover, these principles that historically originated in the Nation States will necessarily change their meaning when being transferred to the supranational level. Only in consideration of these objections it does make sense to speak of a constitutional homogeneity within the European Union.
A. Article 6 (1) TEU: “Homogeneity of Values” 1. Beside assumptions of a constitutional homogeneity in judicial discourse on Community Law one can find an understanding of homogeneity that characterizes the legal principles as values, the primary law as a system of values and the EU as a community of values. Although the
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inflationary usage of the term ‘value’ is harmless, it is striking that the effects attributed to a community of values are the same as those linked with the existence a socio-structural homogeneity. The former is understood as something that exists before any juridification. Furthermore, a feeling of togetherness is build upon a common value base; the ‘values’ laid down in Article 6 (1) TEU shall be responsible for the development of a European consciousness and the constitution of a European citizenry. Finally, shared common values shall enable the implementation of the majority principle. The willingness of the minority to accept majority decisions is anchored not in a socio-cultural homogeneity but in a common basis of values. 2. To assume a social consensus on the basis of shared values is plausible only as long as these values do not come into conflict. In cases of conflict between two or more values it becomes clear that the integrative effect of values is a fiction, which cannot be verified empirically. Moreover, to speak of a value consensus carries the risk of disregarding the plurality and diversity of modern societies. But the thesis that the integration of individuals is mainly a result of preexistent values not only underestimates the radically plural structure of modern societies but also the integrative meaning of institutionalized procedures provided by the constitution. Again, the focus is directed towards the representation of something that is already there rather than towards the inventive construction in legal procedures. The imprudent usage of the term ‘value’ and the corresponding moralization of conflicts furthermore triggers the risk that conflicts escalate to a level where they cannot longer be solved. Finally, one can get the impression that the rhetoric of values officially propagated is designed to distract from the problematic lack of legitimacy. Instead of giving citizens effective rights of participation, the solemn appeal to European values seem to work as a substitute for an actual exercise of influence.
B. Article 49 TEU: “European State” 1. In a disguised manner, concepts of homogeneity enter the judicial discourse on Community Law through Article 49 TEU. According to this Article ‘any European State which respects the principles set out in Article 6(1) may apply to become a member of the Union.’ Particularly the debate on the potential EU-membership of Turkey has shown that this provision is one of the most important legal windows for assertions of or claims for homogeneity. In contrast to authors who consider ‘Europe’ as an indefinable term, some German constitutional lawyers
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Summary
do not refuse to define alleged characteristics of Europe. In their view, a European State is a State that participates in a homogeneity rooted in specifically European commonalities in culture, history, or religion. Often mentioned characteristics of this kind of socio-structural homogeneity are Greek philosophy and mythology, Christianity, the power struggle between the Catholic Church and the secular rulers, the Reformation and the Counter-reformation, the eras of the Renaissance and of the Humanism, the Secularization and the Enlightenment, the European Rationalism and the corresponding emergence of sciences, the Industrial Revolution as well as individualism. 2. However, every attempt to define a substantial homogeneity with reference to culture, history or religion is doomed to failure. Every narrative will be countered and undermined immediately by a different narrative. Neither geographical nor historical, neither cultural nor religious narratives are ‘objective’ and, therefore, intersubjectively convincing. Comprehensive listings of allegedly indispensable characteristics are not only semantically vague but they also conceal the antagonisms, interdependencies, flexibilities, inconsistencies, and discontinuities among the mentioned characteristics. Finally, if the accession to the EU is dependent on the question whether a particular State shares a diffuse socio-structural homogeneity, legal conditions of accession become insignificant.
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Sachregister Autorität: 274
50, 75, 212, 264,
- Monarchische ~: 6 Befriedung: 47, 50, 125 ff. Demokratie: 7, 11, 27, 119 f., 145, 151, 274, 280, 301 f. Defizit der ~: 29 f., 70 ff., 184, 186, 202, 272 - Europäische ~: 30 ff., 34 ff., 72, 79, 83 f., 85, 87, 154, 184, 18 ff., 297 ff. - Europäisches Primärrecht: 239, 240, 246, 249, 251, 253, 276, 290 - Mehrheitsprinzip: 48 ff. - Öffentlichkeit: 184, 186 ff. - Theorie: 11, 20, 32, 70, 71 f., 75, 79, 82, 84, 110 ff., 144 ff., 152, 185, 196, 255 - Transnationale ~: 70 ff. - Voraussetzungen der/von ~: 3, 11, 20 f., 25, 41 ff., 72, 95, 98 f., 106, 125, 153 f., 180 f., 184 f., 186 ff., 235, 238, 299, 301 Demographie: 21 ff., 298 -
Demos: 9, 50 f., 74, 88 ff. -
Europäischer ~: 74 f., 195, 235 Homogenität: 3, 20, 21, 74, 85, 91 f., 95, 101, 153 Multiple Demoi: 85 ff.
Differenzierung: 16, 19, 62, 106, 110, 266, 297 f. Ethnisch-nationale ~: 132 f. - Funktionale ~: 16, 17, 108 ff., 122 ff., 215, 221, 262, 270, 298 - Mehrheit/Minderheit: 52 f. - Öffentlichkeit: 222 ff. Einheit -
Homogenität: 98 ff. Politische ~: 21, 46 f., 51 ff., 96 ff. Einstimmigkeitsprinzip: 50, 73, 82 -
32,
Ethnie: 20, 21, 24, 37, 42, 60 ff. - Einheit: 102 ff. - Konflikte: 132 ff, 203, 299 - Säuberung: 20 - Staatsangehörigkeit: 88 ff. Exklusion: 88 ff., 95, 122 ff., 136, 152, 277, 279 ff., 297 f., 292 ff., 300 74, 203 f., Föderalismus: 241 ff., 276, 279 f. Geographie: 142, 278, 283 -
Homogenität der ~: 284 ff.
Gesellschaft -
-
Moderne ~: 15 ff., 42, 63, 94, 104, 108 ff., 122 ff., 135, 209, 215, 264, 266, 270, 275, 297 ff. Vormoderne ~: 17, 94, 108
Sachregister
366
Gleichheit: 222, 253
12, 18, 74, 100,
Begriff: 5 Formal-rechtliche ~: 37 f., 43, 46, 58 - Substantielle ~: 43 ff., 58, 75, 105 f., 127, 136, 151 f. - Ökonomische ~: 45 Globalisierung -
Begriff: 25 ff. Herausforderungen: 79 ff., 88 f., 105, 219, 297 Gott: 4, 6 f., 140, 175 -
Grenzen Europäische Union: 278, 284 ff., 293 - Geographisch-territoriale ~: 51, 86, 108, 110, 142, 217, 218, 227 f. - Ständische ~: 217 Grenzziehung: 2, 8, 133, 158, 214, 284 ff., 298 -
Harmonie ~ des Kollektivs: 1, 125 ff., 181, 298 - Interessen: 67 Herrschaft: 6 ff., 27, 30, 44, 46, 51, 74, 75, 81 ff., 87 f., 145, 178, 204, 214, 226, 299 -
- Subjekt/Objekt: 27, 46, 86 Historikerstreit: 161 Identität -
Begriff: 5, 11, 18, 91, 180 ff. Europäische ~: 71, 87, 154 f., 158, 230, 234, 240, 242 f., 252 f., 255 f., 264, 274 f., 279, 284, 291, 293, 295
Homogenität: 1, 106, 116, 134 - Kollektive ~: 18, 25, 39, 68, 102, 105, 113 ff., 116 ff., 122 ff., 143, 175, 178, 189, 202, 261, 283, 298 - Multiple ~: 120 ff. - Öffentlichkeit: 214 f. Individualisierung: 15 ff., 63, 100, 105, 112, 125, 135, 158 -
Individuum: 18, 50, 63, 87 ff., 92, 109, 121, 122 ff., 151, 162, 173, 264 f., 300 Inklusion: 2, 60, 94, 108, 122 ff., 136, 152, 277, 279, 294 Integration Ethnisch-kulturelle ~: 83 Europäische ~: 20, 25 f., 28 ff., 83, 154 ff., 190 ff., 204 ff., 231, 233, 236, 252 ff., 260, 281, 291, 297 - Homogenität: 113 ff., 242 f. - Mediale ~: 214 f., 222 ff., 227 ff., 237 - Öffentlichkeit: 214 f. - Politische ~: 56, 73, 132, 208, 217 - Soziale ~: 2, 16 ff., 45, 62, 69, 125, 135 ff., 150, 208, 214 f. - Umstellung auf Inklusion: 123 f., 136 - Werte: 261 ff. - Wirtschaftliche ~: 252 Interaktionssystem: 225
-
Sachregister
367
Kompetenzen
Maastricht
Erweiterung: 31, 204, 227, 231, 281 - Europäische Union: 31 f., 230 f. - Europäisches Parlament: 33 f., 73 - Nationalstaatliche ~: 32 - Sprachliche ~: 77, 185, 193 f., 196, 198 - Verteilung: 67 f. Konsens
-
-
Europäisches Primärrecht: 242, 245, 252 ff. - Grund~: 55, 56, 125, 245 - Mehrheitsprinzip: 55, 57, 58, 64, 300 - Verfassungs~: 43, 55 f. - Werte~: 192, 255, 256, 258, 262 ff. Kulturgemeinschaft: 132, 288 -
Europäische ~: 291 f., 293 f. Legitimität/Legitimation: 28, 31 f., 39, 71, 118
-
Demokratische ~: 6, 7, 28, 39, 41, 75, 95, 154, 212, 271 - Europäische Union: 30 ff., 36 ff., 41, 71 ff., 95, 154, 271 - Geschichte: 176, 181 - Mehrheitsprinzip: 32, 50, 60 f. - Öffentlichkeit: 187, 211 ff. Legitimationssubjekt: 1, 8, 11, 15, 25, 41, 44, 77, 79, 81, 85 ff., 88 ff., 145 ff. -
-
Europäisches ~: 2, 28, 30, 34 ff., 71 ff., 82, 154
Urteil: 77, 101 f., 144, 190, 200 - Vertrag: 89, 190, 191, 230 Medien: 183 ff. Übersetzungsleistungen: 227 ff. Mehrebenensystem: 79 ff., 85, 233, 299 -
Mehrheit: 5, 8, 21, 50 ff., 96, 182, 300, 302 Mehrheitsentscheidung: 32 ff., 51 ff., 256, 267, 283 Mehrheitskultur: 295, 300 Mehrheitsprinzip: 212, 239, 298
1, 7, 96,
Begriff: 48 ff. Europäische Union: 32 f., 73 ff. - Grundgesetz: 49 - Homogenität: 55 ff., 130, 132, 257, 301 Methode: 2, 163, 167 f., 172 f., 249, 250, 273 -
Migration: 21 ff. 105, 219, 298 Minderheit: 197 f.
21, 33, 49, 57,
Schutz: 64 ff., 181 f., 253, 290, 299 f. - Strukturelle ~: 57, 62 ff., 132, 302 - Unterlegene ~: 51 ff., 59 f. 67, 70, 96 Moderne: 17, 50, 100, 105, 108, 125, 127, 135 f., 145, 158, 268, 280 -
Sachregister
368
Nation Begriff: 11, 102 f., 110 f., 114, 118 f., 135, 141 ff., 174, 176, 197, 280 - Demokratie: 8, 46, 49, 57, 67 f., 71 ff., 82, 85 ff. - Ethnisch-kulturelle: 102 f., 122 f., 127, 131, 137, 142, 146, 282 - Europäische: 76, 87, 154, 156 - Geschichte: 151 ff., 247 - Homogenität: 20, 25, 43, 45, 57, 71, 91, 95 f., 102, 105 ff., 137, 190, 194, 201, 236 - Identität: 39, 42, 91, 106, 116 ff., 120, 175, 202, 235, 244, 275, 282 - Kommunikationsraum: 215 ff. - Staatsangehörigkeit: 88 ff. Nationalismus: 60, 133 f., 215 ff. -
- Gleichheit: 94 - Staatsangehörigkeit: 88 ff. Nationalsozialismus: 12, 113, 161, 173, 180 Nationalstaat: 158 -
-
Homogenität: 20, 25, 71 f., 74, 85, 95, 131, 142, 158 f., 185, 258, 281 f. - Ordnungsmodell: 26, ff., 79 ff., 85, 126 ff., 131, 185, 215 ff., 246, 251, 258, 297, 299 - Recht: 31, 281 - Zugehörigkeit: 88 ff. Öffentlichkeit: 170, 183 ff., 271 -
- Begriff: 207 ff. - Europäische ~: 196 ff. Parlament: 49, 67, 69, 72 f., 147, 187, 192, 209, 273, 276 Europäisches ~: 33 f., 37, 73, 185, 233 f. - Geschäftsordnung: 231 Partizipation -
Mediale ~: 203 Politische ~: 65, 78 f., 87, 88 f., 132, 189, 194, 229, 237, 299, 301 - Systemische ~: 18, 124 Pluralismus: 16, 20 f., 37, 42, 45, 47, 55, 101, 105, 107, 112, 125, 128 ff., 136, 158, 224, 264, 266, 280, 297, 300 -
9, 26 ff., 46,
-
Demokratie: 46, 70 ff., 75 ff., 85 ff., 219 Entstehungsgeschichte: 12, 81, 83 f., 102 f., 119, 156, 175 ff., 183, 186, 214, 222, 235, 246 Europäische Union: 30 ff., 72, 204, 282 Herausforderungen: 15 ff.
-
Europäisches Primärrecht: 253 Geschichtsbilder: 84, 168, 170, 174, 179 ff. Kultureller: 17, 19, 22 Medien: 223, 224, 226 Religiöse ~: 66 Sprachen: 195, 197 ff., 237 Werte: 253, 264, 270, 275
Sachregister
369
Primärrecht: 36 Homogenitätsbegriffe: 239 ff. - Verfassungscharakter: 186 f. Repräsentation: 9 f., 68, 73, 109, 147 f., 181, 221 f., 228, 234 -
Selbstbestimmung: 129, 187
6, 8, 86,
Selbstregierung: 8, 11, 84 Solidarität: 17, 107, 130, 144, 253, 256, 257, 260 Souveränität: 6 f., 28, 33, 49, 72, 84, 87 Sprache Amts~: 189, 191, 197, 203, 218 - Fremd~: 194, 196, 198, 203, 228 - Geschichtswissenschaft: 165 ff. - Homogenitätskriterium: 183 ff. - Kunst~n: 199 - Minderheiten~: 197 f., 218 - Mutter~: 188, 196, 203 - Öffentlichkeit: 186 ff. Staatsangehörigkeit: 43, 58, 71, 86, 103, 203, 256, 301 -
- Begriff: 88 ff. Staatsgewalt: 7, 25, 88, 92, 130, 151, 212, 301 Stabilität: 130, 139, 175, 224, 289 -
Institutionelle ~: 290
-
Politische Ordnung: 56, 125 ff., 152, 180, 187, 290
Subjekt: 18, 164, 121, 181
Subsidiarität: 32, 36, 245, 259, 260, 275 Supranationalität: 28 ff., 70 ff., 134, 184, 190 ff., 204 ff., 218, 220, 227, 230, 241, 246, 251, 271, 283, 299 System: 17 f., 26, 31, 63, 80, 83, 86, 108 ff., 122 ff., 215, 218 f., 225, 262, 266 ff., 297 Politisches ~: 7, 26 f., 39, 49, 55, 63, 67 f., 72, 76, 80, 85, 87, 92, 100, 111, 115, 119, 126, 154, 161, 176, 181, 204, 206, 209 ff., 218, 225, 228, 232, 246, 271, 282, 297, 299 - Rechtliches ~: 7, 19, 26 f., 80, 89, 111, 118, 140, 244, 246, 256, 260 Transparenz: 185, 232 f. -
Verfassung Akzeptanz: 43 Demokratische ~: 7, 9, 27, 41, 54, 145 - Europäische ~: 184, 186 f., 240, 243 f. - Mitgliedstaatliche ~: 246 ff. - Moderne ~: 6, 11, 111 Verfassungsgebung: 6 f., 10, 72, 111, 137, 192 -
Verfassungshomogenität: 240 ff., 279 f. Verfassungskonsens: 43, 55 f. Verfassungslehre: 1 ff., 9, 11, 20, 32, 41, 44, 47, 48, 73 f., 101, 105, 113, 133, 137, 144, 145, 297 ff.
Sachregister
370
Geschichtsbegriffe: 150, 151, 152, 158, 160 ff., 179, 183 - Öffentlichkeitsbegriffe: 183, 186, 194, 215 - Weimarer ~: 12, 45, 78, 97 f., 101, 106, 273 Verfassungspatriotismus: 42, 62, 270 -
Verfassungstext: 246, 271 f., 289
6 ff., 136,
Verfassungswerte: 271 ff. Vielfalt/Pluralität: 19 f., 42, 50, 66, 84, 110, 112, 120, 130, 136, 187, 194, 224, 270, 275, 289, 300 Europäische ~: 36 f., 71 f., 101 - Geschichte: 170, 179 ff. - Mediale ~: 222 f. - Sprache: 189, 191 f., 195, 201, 203, 237 - Werte: 256, 264, 270, 274, 275 Volk -
-
-
-
Begriff: 6 ff., 11 f., 37, 46, 72, 75 ff., 81, 104 ff., 114 f., 136 f., 145, 192, 263 Europäisches ~: 34 ff., 72 f., 154 ff., 184, 187, 192, 232 Gemeinschaft: 106, 184 f. Geschichte: 149 ff. Souveränität: 7, 33, 49, 51, 72, 84, 87, 99 f., 112, 212 Staats~: 10, 56, 88 ff., 101 ff., 105, 127 ff., 138, 140, 191, 193, 209
Werte Begriff: 252 ff., 259 ff. 263, 266 - Europäische ~: 251 ff., 257, 261, 264, 266 f. - Grund~: 251 ff., 260 - Homogenität: 251 ff. - Wertegemeinschaft: 252 ff., 261, 265, 270, 272, 273, 275 - Werteordnung: 252 ff., 261, 268 f., 273 f., 275 - Wertesystem: 252, 260 Zugehörigkeit: 18, 63, 87, 93 f., 98, 106, 110, 113 f., 121 f., 124, 139, 144 -
-
-
Geschichte: 149 ff. Rechtlich-politische ~: 58 f., 69, 73, 88 ff., 94, 264, 301 Transnationale ~: 85 ff., 88 ff.
Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht Hrsg.: A. von Bogdandy, R. Wolfrum Bde. 27–59 erschienen im Carl Heymanns Verlag KG Köln, Berlin (Bestellung an: Max-Planck-Institut für Völkerrecht, Im Neuenheimer Feld 535, 69120 Heidelberg); ab Band 60 im Springer-Verlag Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo, Hong Kong, Barcelona 198 Felix Hanschmann: Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft. 2008. XIII, 370 Seiten. Geb. E 84,95 197 Angela Paul: Kritische Analyse und Reformvorschlag zu Art. II Genozidkonvention. 2008. XVI, 379 Seiten. Geb. E 84,95 196 Hans Fabian Kiderlen: Von Triest nach Osttimor. 2008. XXVI, 526 Seiten. Geb. E 94,95 195 Heiko Sauer: Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen. 2008. XXXVIII, 605 Seiten. Geb. E 99,95 194 Rüdiger Wolfrum, Volker Röben (eds.): Legitimacy in International Law. 2008. VI, 420 Seiten. Geb. E 84,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 193 Doris König, Peter-Tobias Stoll, Volker Röben, Nele Matz-Lück (eds.): International Law Today: New Challenges and the Need for Reform? 2008. VIII, 260 Seiten. Geb. E 69,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 192 Ingo Niemann: Geistiges Eigentum in konkurrierenden völkerrechtlichen Vertragsordnungen. 2008. XXV, 463 Seiten. Geb. E 94,95 191 Nicola Wenzel: Das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenschutz und Individualschutz im Völkerrecht. 2008. XXXI, 646 Seiten. Geb. E 99,95 190 Winfried Brugger, Michael Karayanni (eds.): Religion in the Public Sphere: A Comparative Analysis of German, Israeli, American and International Law. 2007. XVI, 467 Seiten. Geb. E 89,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 189 Eyal Benvenisti, Chaim Gans, Sari Hanafi (eds.): Israel and the Palestinian Refugees. 2007. VIII, 502 Seiten. Geb. E 94,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 188 Eibe Riedel, Rüdiger Wolfrum (eds.): Recent Trends in German and European Constitutional Law. 2006. VII, 289 Seiten. Geb. E 74,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 187 Marcel Kau: United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht. 2007. XXV, 538 Seiten. Geb. E 99,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 186 Philipp Dann, Michal Rynkowski (eds.): The Unity of the European Constitution. 2006. IX, 394 Seiten. Geb. E 79,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 185 Pál Sonnevend: Eigentumsschutz und Sozialversicherung. 2008. XVIII, 278 Seiten. Geb. E 74,95 184 Jürgen Bast: Grundbegriffe der Handlungsformen der EU. 2006. XXI, 485 Seiten. Geb. E 94,95 183 Uwe Säuberlich: Die außervertragliche Haftung im Gemeinschaftsrecht. 2005. XV, 314 Seiten. Geb. E 74,95 182 Florian von Alemann: Die Handlungsform der interinstitutionellen Vereinbarung. 2006. XVI, 518 Seiten. Geb. E 94,95 181 Susanne Förster: Internationale Haftungsregeln für schädliche Folgewirkungen gentechnisch veränderter Organismen. 2007. XXXVI, 421 Seiten. Geb. E 84,95 180 Jeanine Bucherer: Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 Abs. 1 AMRK und Art. 14 Abs. 1 des UN Paktes über bürgerliche und politische Rechte. 2005. XVIII, 307 Seiten. Geb. E 74,95 179 Annette Simon: UN-Schutzzonen – Ein Schutzinstrument für verfolgte Personen? 2005. XXI, 322 Seiten. Geb. E 74,95
178 Petra Minnerop: Paria-Staaten im Völkerrecht? 2004. XXIII, 579 Seiten. Geb. E 99,95 177 Rüdiger Wolfrum, Volker Röben (eds.): Developments of International Law in Treaty Making. 2005. VIII, 632 Seiten. Geb. E 99,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 176 Christiane Höhn: Zwischen Menschenrechten und Konfliktprävention. Der Minderheitenschutz im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). 2005. XX, 418 Seiten. Geb. E 84,95 175 Nele Matz: Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge. Völkervertragsrechtliche und institutionelle Ansätze. 2005. XXIV, 423 Seiten. Geb. E 84,95 174 Jochen Abr. Frowein: Völkerrecht – Menschenrechte – Verfassungsfragen Deutschlands und Europas. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Matthias Hartwig, Georg Nolte, Stefan Oeter, Christian Walter. 2004. VIII, 732 Seiten. Geb. E 119,95 173 Oliver Dörr (Hrsg.): Ein Rechtslehrer in Berlin. Symposium für Albrecht Randelzhofer. 2004. VII, 117 Seiten. Geb. E 54,95 172 Lars-Jörgen Geburtig: Konkurrentenrechtsschutz aus Art. 88 Abs. 3 Satz 3 EGV. Am Beispiel von Steuervergünstigungen. 2004. XVII, 412 Seiten (4 Seiten English Summary). Geb. E 84,95 171 Markus Böckenförde: Grüne Gentechnik und Welthandel. Das Biosafety-Protokoll und seine Auswirkungen auf das Regime der WTO. 2004. XXIX, 620 Seiten. Geb. E 99,95 170 Anja v. Hahn: Traditionelles Wissen indigener und lokaler Gemeinschaften zwischen geistigen Eigentumsrechten und der public domain. 2004. XXV, 415 Seiten. Geb. 84,95 169 Christian Walter, Silja Vöneky, Volker Röben, Frank Schorkopf (eds.): Terrorism as a Challenge for National and International Law: Security versus Liberty? 2004. XI, 1484 Seiten. Geb. E 169,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 168 Kathrin Osteneck: Die Umsetzung von UN-Wirtschaftssanktionen durch die Europäische Gemeinschaft. 2004. XXXIX, 579 Seiten. Geb. E 99,95 167 Stephan Sina: Der völkerrechtliche Status des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens nach den Osloer Verträgen. 2004. XXI, 410 Seiten. Geb. E 84,95 166 Philipp Dann: Parlamente im Exekutivföderalismus. 2004. XXIII, 474 Seiten. Geb. E 89,95 165 Rüdiger Wolfrum (Hrsg.): Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz. 2003. VIII, 299 Seiten. Geb. E 74,95 164 Rüdiger Wolfrum, Nele Matz: Conflicts in International Environmental Law. 2003. XI, 213 Seiten. Geb. E 64,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 163 Adam Bodnar, Michal Kowalski, Karen Raible, Frank Schorkopf (eds.): The Emerging Constitutional Law of the European Union. 2003. IX, 595 Seiten. Geb. E 99,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 162 Jochen Abr. Frowein, Klaus Scharioth, Ingo Winkelmann, Rüdiger Wolfrum (Hrsg.): Verhandeln für den Frieden/Negotiating for Peace. Liber Amicorum Tono Eitel. 2003. XIII, 866 Seiten. Geb. E 129,95 161 Michaela Fries: Die Bedeutung von Artikel 5 (f ) der Rassendiskriminierungskonvention im deutschen Recht. 2003. XIX, 429 Seiten. Geb. E 84,95 160 Helen Keller: Rezeption des Völkerrechts. 2003. XXXV, 855 Seiten. Geb. E 129,95 159 Cordula Dröge: Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention. 2003. XX, 432 Seiten. Geb. E 89,95 158 Dagmar Richter: Sprachenordnung und Minderheitenschutz im schweizerischen Bundesstaat. 2005. LIV, 1315 Seiten. Geb. E 179,95 157 Thomas Giegerich: Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß: Wechselseitige Rezeption, konstitutionelle Evolution und föderale Verflechtung. 2003. LXV, 1534 Seiten. Geb. E 199,95 156 Julia Sommer: Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht. 2003. XXX, 891 Seiten. Geb. E 129,95 155 Frank Schorkopf : Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich – Möglichkeiten und Grenzen einer ,,streitbaren Demokratie” auf europäischer Ebene. 2002. XIII, 217 Seiten. Geb. E 64,95