DER AUTOR DER WELTBESTSELLER »GORKI PARK« UND »POLAR STAR« SETZT EINE EBENSO FASZINIERENDE WIE PHANTASTISCHE IDEE IN SZ...
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DER AUTOR DER WELTBESTSELLER »GORKI PARK« UND »POLAR STAR« SETZT EINE EBENSO FASZINIERENDE WIE PHANTASTISCHE IDEE IN SZENE EIN ATEMBERAUBENDER THRILLER!
Was wäre gewesen, wenn die amerikanische Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte? Wenn es Sitting Bull gelungen wäre, nach der Schlacht am Little Big Horn alle Indianerstämme zu einem Staat zu vereinigen? Martin Cruz-Smith spekuliert über dieses hochbrisante Thema: Auf dem nordamerikanischen Kontinent besteht neben den USA ein machtvoller Indianerstaat, der Washington mit Atomwaffen bedroht…
Von Martin Cruz-Smith ist bisher als HeyneTaschenbuch erschienen: »Das Capitol« (01/8029).
MARTIN CRUZ-SMITH
DER ANDERE SIEGER Roman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/8221
Titel der Originalausgabe THE INDIANS WON Aus dem Englischen übersetzt von Michael Görden
Copyright © 1970 by Martin Cruz-Smith Copyright © der deutschen Übersetzung 1984 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Copyright © dieser Ausgabe 1991 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1991 Umschlagillustration: Dia-Express, Grainau Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Gesamtherstellung: Eisnerdruck, Berlin S: hme aka Rydell K: Mik ISBN 3-453-04832-6
I Nichts lebt lange Außer der Erde und den Bergen – WHITE ANTELOPE
enige Fuß über dem Gras schwebte eine dünne Schicht blau-grauen Rauchs. Die Krieger, die durch sie hindurchgingen, wurden von ihr scheinbar in zwei Hälften geteilt. Darunter lagen, vom Rauch unberührt, die Körper der Soldaten, nackt und weiß und rot, wo man ihnen Trophäen abgenommen hatte. Die Körper bedeckten eine Senke des Graslandes und den Hang eines Hügels. Auf dem Rückzug zu diesem Hügel waren die meisten von ihnen gestorben. Zweihundert Wasichu, Weiße, lagen dort zwischen ihren toten Pferden, ihren Gürteln und Mützen. Man hatte ihnen alle Springfields abgenommen. Sie waren entlang des Little Big Horn an den Greasy Grass gekommen, um das Volk, das sie Sioux nannten, zurück zu ihrem Fort zu treiben. Und um Rache zu nehmen. Zweimal schon war die Armee unter den Generälen Crook und Terry von den Lakota, wie die Sioux sich selbst nannten, zurückgeschlagen worden. Crook hatte in der Schlacht am Rosebud fast die 7. Kavallerie verloren. Nur eine List seiner Shoshonen-Scouts unter Häuptling Washakie hatte ihn vor einem Desaster bewahrt. Die Aufgabe General Custers war es, die Lakota in die Enge zu treiben und festzuhalten, bis Terry eintraf.
W
Sogar schon als sie den Schutz ihres Forts verließ, mit dem Song »Garryowen« als Marschlied, war die 7. Kavallerie erwartet worden. Sitting Bull hatte am geheiligten Baum des Sonnentanzes gehangen, bis seine Brustmuskeln rissen und er zu einer Vision gelangte. Hunderte von Soldaten fielen kopfüber in den Greasy Grass. Er war nicht in der Lage zu kämpfen, aber er war in der Lage zu sagen, daß Renos Angriff nur ein Täuschungsmanöver zur Ablenkung der indianischen Verteidigung war. Custer ließ seine Pferde Aufstellung nehmen, um durch das Lager zu stürmen, wie er erfolgreich durch den Bürgerkrieg und seitdem durch schutzlose Indianerdörfer gestürmt war. Doch statt dessen mußte er den Befehl zum Absitzen geben. Vor ihm und an seinen Flanken waren die Lakotas, die Tsistsitas, Inuna-Ina (Arapaho), ihre Räte der San Ares, Oglalas, Uncpapas, Yankton, Santee und Brule. Ihnen voran ritten die großen Häuptlinge, ihr Federkopfschmuck zitterte in der Luft: Gall, White Shield, White Bull und Big Road von den Lakota; Wolf That has No Sense, Yellow Nose und Two Moons von den Tsistsitas; und an der Spitze Tashunka Witko, They Fear His Horses, der Häuptling, den sie Crazy Horse nannten. Insgesamt waren es fünfzehntausend Indianer. Es dauerte kaum mehr als eine Stunde. Pte-san-hunka (White Bull) war nur von einer Kugel gestreift worden. Er kniete über einem Körper und war dabei, ihn zu entkleiden. Sein Freund Bad Soup kam, vor Kampfesfreude taumelnd, zu ihm und fragte, ob White Bull den Skalp wolle. White Bull sagte, es sei ein harter Kampf gewesen, aber der Tote habe zu kurze Haare. Der Wasichu hatte auf ihn geschossen, hatte ihn mit dem Gewehrkolben geschlagen und dann versucht, ihm die Nase abzubeißen.
»Schau ihn dir an«, sagte Bad Soup. »Peshin hanska (Long Hair) hielt sich für den größten Mann der Welt. Nun liegt er hier.« White Bull stand auf und zeigte ihm ein Pistolenpaar mit Griffen aus Perlmutt. Als man die Pistolen zu They Fear His Horses gebracht hatte, wurden Reiter ausgeschickt zu den Agenturen im Westen und Süden und nach Norden zu den Siksika, den Schwarzfuß. Zwei Reiter schickte man mit einer kleinen Ponyherde zum Nachschubholen an die kanadische Grenze. Am 6. Juli erreichte die Nachricht den Osten. In der New York World war diese Schlagzeilenfolge zu lesen: »Custer getötet – Katastrophale Niederlage der amerikanischen Truppen gegen die Indianer – Unsere Besten und Tapfersten hingemordet – Das sind die Früchte von Grants Indianerpolitik: Dreihundertfünfzehn amerikanische Soldaten getötet und einunddreißig verwundet.« Diese neue Politik, die hier verspottet wurde, bedeutete einen Wandel von den früheren Ausrottungsmaßnahmen zu einer Konzentration der Indianer in Reservaten. Man übertrug General Sheridan die Verantwortung, jenem Aufstand ein Ende zu bereiten, durch den zwei Armeen geschlagen und eine dritte ausgelöscht worden waren. Über St. Louis kamen Befehle aus Washington: Wenn die Indianer ihr riesiges Lager abbrachen und sich trennten, um Proviant für den Winter zu jagen, dann sollten Crook und Terry ihnen folgen und eine Gruppe nach der anderen ausradieren. Entlang der kanadischen Grenze streiften die Siksika nicht wie sonst in kleinen Familien umher. Jahrelang waren ihre Jagdgruppen kleiner und kleiner geworden, so wie die Büffelherden kleiner und kleiner geworden waren. Doch nun
sammelten sich die hochgewachsen, Schwarzfuß genannten Siksika wieder; fast reinweiße Antilopenhemden trugen sie und helle Beinkleider aus Decken der Hudson Bay Company. Die acht Horden der Nord-Siksika, die fünfundzwanzig Horden der Piegran, die fünfzehn Horden der Bloods, sie alle sammelten sich und ritten nach Süden durch das Sweetgrass Country. Als sie sich im Montana-Territorium vereinigten, zählte Big Lake sechstausend seines Volkes. Tu-ukumah, Black Horse, war Häuptling der Comanchen, jenes Reiterstammes, der jedes Jahr bis hinunter nach Durango ritt, um die Mexikaner auszuplündern. Nun brachen sie lautlos und schattenhaft von Fort Sill auf; den Hengsten wurden die Nüstern zugehalten, damit sie ruhig blieben: die Detsanaguka (Wanderer) und ihr Häuptling Quanah Parker, die Yapa, Wurzelesser genannt, die verwegenen Kotsoteka (Büffelesser) und der größte Unterstamm, die fanatischen Penateka (Honigesser). Die Kwakari (Antilopen) führten ihre Schlachtreihen aus dem Oklahoma-Territorium, zweitausend Mann an der Zahl. Der Staub von zwanzigtausend Pferden erhob sich in der Dunkelheit. Im Westen verweilte das Tageslicht noch ein paar Minuten länger. Die untergehende Sonne beleuchtete ein Meer von Sonnenblumen. Sie dienten den Utes als Winternahrung und als gelber Färbstoff für ihre Kleidung. Gemahlen benutzten sie die Kerne als phoezhuta sapa (Kaffee) und als Medizin gegen ihre Krankheiten. Die Blumen befleckten die Füße der Familien, als die beiden Häuptlinge der Utes, Omay (Arrow) und Ignacio sich trafen. Das gelbe Meer winkte zum Abschied. In den Sierras von Nevada war vor sechs Jahren White Sun Rising gestorben. Sein Stamm, die Paiute, lebte auf schmalen Streifen Prärielandes, umgeben von gewaltigen Bergen, deren
Gipfel ständig mit Schnee bedeckt waren. Sein Sohn, Wovoka (The Cutter), war der neue Prophet. Der Zwanzigjährige predigte die Prophezeiung seines Vaters – die Wiederauferstehung der Indianer. Als seine Vision sich herumsprach, verließen die muskulösen, sonst eher schwerfälligen Paiutes ihre Farmen und Hütten in den Tälern Nevadas und schlossen sich, von der Vision angezogen, ihrem Propheten an. Sie trafen sich mit ihren Freunden, den Banakwut (Bannock), die von Buffalo Horn angeführt wurden, im Utah-Territorium. Auch General Oliver Howard befand sich auf dem Marsch. Seine Aufgabe war es, die Nimipu (Nez Perce) ins LapwaiReservat zu bringen. Siebenhundert Soldaten der 1. Kavallerie standen ihm zur Verfügung, um den Auftrag auszuführen. Da der Häuptling Old Joseph gestorben war, konnte das nicht allzu schwierig sein, auch wenn die letzten Worte des Häuptlings an seinen Sohn gewesen waren: »In diesem Land ruht der Körper deines Vaters. Verkaufe niemals die Gebeine deines Vaters und deiner Mutter.« In-mut-too-yah-lat-la (Thunder Going Over The Mountains) hörte es wohl. Die Modocs brauchten nicht zuzuhören. Als sie vor drei Jahren in ihr Reservat gebracht wurden, flohen fünfzig von ihnen in die Oregon-Lavabetten. Dort hielten sie sich wochenlang gegen zwölfhundert Soldaten. Als sie sich schließlich ehrenhaft ergaben, wurde ihr Anführer Kient-pos (Captain Jack) gehängt. Ein Schausteller beschaffte sich den Körper und ließ ihn mumifizieren. Der Leichnam ging auf Rundreise durch den Osten, wo er für zehn Cents Eintritt zu besichtigen war. Über den Rand des Oklahoma-Territoriums ritt der Stamm der Kaigwu (Kiowa), dem Ruf ihrer Verbündeten, der Tsistsitas, folgend. Zu ihrer Linken waren ihre meistgehaßten
Feinde, die Texaner. Die Kriegergesellschaft der Ka-itsen-ko (Real Dogs) wachte als separate Reiterhorde zwischen ihrem Volk und der texanischen Grenze. Es würde noch vier Tage dauern, bis sie zu anderen Freunden, den Inde, gelangten. Die Inde nannten die Weißen Pinda Lick-o-yi: Weißaugen. Die Weißen nannten die Inde Apachen. Die Grant Company of Arizona zahlte zweihundertfünfzig Dollar für einen IndeSkalp. Cochise war gerade erst beigesetzt, und die drei Horden der Inde wurden von Victorio, einem Mimbreno, und von Goy-ya-thle (He Who Yawns), einem Chiricahua, angeführt. He Who Yawns wurde von den Weißen Geronimo genannt. Zwar sagten die Weißen, daß die beiden Häuptlinge niemals zusammenarbeiten würden, doch dann hatten sie sie selbst dazu gezwungen. Die 9. Kavallerie erhielt den Befehl, Victorio in die San-Carlos-Reservation zu schaffen, das schlimmste Reservat des Landes; dort sollten die Inde Wüstenboden umgraben, unter Gewehrbewachung und mit numerierten Plaketten auf der Kleidung. Dann verbündete sich die Armee zur Verfolgung von He Who Yawns mit den Mexikanern. Es gelang nicht, ihn zu fangen. Doch seine Frau, seine Mutter und seine Kinder wurden ermordet und, der Belohnung wegen, skalpiert. Als die Kaigwu eintrafen, besaßen Victorio und He Who Yawns tausend zusätzliche Pferde, die sie soeben der 9. Kavallerie gestohlen hatten. Wie ein gewaltiger Wirbelsturm fegten die Lakota, Tsistsitas, Kaigwu, Inde, Numa, Paiute, No-ichi, Inunaana, Modoc, Banakwut, Nimipu und Siksika hinaus auf die Prärie, fünfundsiebzigtausend an der Zahl. Und bald würde der erste Waffentransport des »Canadien Service« bei dieser Streitmacht eintreffen.
»Warum nicht? Das ist doch schon Dutzende von Malen vorgekommen«, sagte General Grierson. Sein Haar, das ihm bis auf die Schultern herabfiel, war schwarz mit weißen Strähnen darin, und sein Bart hatte den gleichen verblüffenden Kontrast. Obwohl er bereits fünfzig Jahre alt war, galt Benjamin Henry Grierson als der zweite Custer des Westens. Sein blauer Waffenrock war fleckig und staubig. Grierson paffte eine Zigarre und zog dabei wie eine Lokomotive eine Rauchfahne hinter sich her. Er drehte dem Adjutanten den Rücken zu und marschierte wieder durch das Vorzimmer. »Ihr Jungs habt ein schlechtes Gedächtnis«, sagte er. »Als ob die Roten sich vorher nie zusammengetan hätten. Noch nie von Metacomet gehört oder – Pontiac – oder Tecumseh – oder Blackhawk – oder Osceola? Verdammt, ihr Kerle seid Ignoranten.« »Aber neuerdings…«, sagte der Adjutant. Grierson wirkte auf ihn so wild wie ein Indianer. Das Kommando über den New Mexico District konnte einen Mann so werden lassen. »Yeah, neuerdings«, sagte Grierson ärgerlich. »Und machen Sie sich gefälligst Notizen über das, was ich sage. General Sherman kann sie dann später zu seinem Vergnügen lesen.« Der Adjutant durchwühlte sein Pult nach Schreibpapier. Als er bereit war, fuhr Grierson fort: »Dieses Bündnis ist bloß das jüngste in einer ganzen Reihe von Bündnissen. Nehmen Sie zum Beispiel die Sioux und die Cheyenne, ein altes Bündnis. Vor dreißig Jahren wurden sie Freunde der Kiowa, der Apachen und der Comanchen. Die Comanchen stehen sich sehr gut mit den Shoshonen und den Paiute. Die Sioux sind mit den Schwarzfuß befreundet. Jetzt, vor drei Jahren, schlossen die Cheyenne Freundschaft mit den Pawnee, einem ihrer schlimmsten Feinde. Die Bannock sind
Freunde der Paiute und stehen sich gut mit den Nez Perce, die wiederum eng mit den Crow verbündet sind.« Der Adjutant hörte auf zu kritzeln und hob nervös den Kopf. Grierson ging hinüber zum Fenster und sah hinaus. Draußen gingen Frauen mit Sonnenschirmen vorbei, gefolgt von Kindern in kurzen Hosen und ihren schwarzen Dienstmädchen. Die Straße aus Lehm und Ziegelsteinen reflektierte die Hitze. Hier in St. Louis waren es 37 Grad. »Nun, wichtig ist, daß es diesmal anders ist, gottverdammt«, sagte Grierson. »Sioux und Pawnee und Kiowa kriechen nicht ohne jeden. Grund in ein und dasselbe Zelt. Plains-Indianer sind Kämpfer, der Kampf ist ein fester Bestandteil ihres Lebens und ihrer Religion. Sie leben dafür, einander zu bekämpfen. Wenn Sie aufhören, sich gegenseitig zu bekämpfen, bedeutet das, daß sie gegen jemand anderes kämpfen werden; und soweit ich weiß, sind wir der einzige Gegner weit und breit, der dafür in Frage käme. Also…« Grierson brach ab, als die Tür aufging. General Sherman, der Oberbefehlshaber der Armee, stand darin, ein kahl werdender, dickbäuchiger Mann mit schweißnassem Gesicht. »Colonel, in diesem Gebäude muß es ein Fenster geben, das noch nicht geöffnet ist. Finden Sie es. Ben, kommen Sie herein.« Shermans Büro war ein langgezogener Raum, zwischen dessen mahagonigetäfelten Wänden sich die Hitze staute. Briefordner und Aktenbündel bedeckten den größten Teil des Fußbodens. General Sherman stieß einen Papierstapel von einem Stuhl und ließ seinen Gast Platz nehmen. »Sie müssen den Colonel entschuldigen. Hier geht alles drunter und drüber, wie Sie sehen. Wir kehren gerade das Unterste zuoberst, um herauszufinden, welcher unserer Agen-
ten den Alkohol und die Gewehre verschiebt. Viel zu viele Männer werden wegen dieser verfluchten Geschäftemacherei getötet. Verkaufen an die Armee, verkaufen an die Rothäute, was kümmert es sie? Jeder Bastard westlich des Missouri versucht, aus der Armee seinen Profit zu schlagen.« Grierson schwieg. Er rieb sich das Gesicht und versuchte, dabei nicht auf das Durcheinander auf dem Fußboden zu blicken. Sherman, ein bleicher Mann, schien sich darin zu verlieren. »Ich weiß, ich weiß, Ben. Wenn ich in Washington wäre, dann wäre alles anders. Es ist unmöglich, eine Armee zu führen, wenn man entweder tausend Meilen vom Kongreß oder tausend Meilen von der Truppe entfernt ist. Befehle gehen hin und her, Anweisungen und Gegenanweisungen. Die Telegraphen-Leute machen ihre Sache wirklich gut.« »General, warum gehen Sie nicht zurück nach Washington? Es herrscht Krieg. Wir brauchen den Oberbefehlshaber der Armee in Washington. Das hier…« Er zeigte mit der Hand auf die Briefstapel und ließ sie sinken. Sherman sprang auf, Ringe aus Schweißperlen glitzerten um seine Augen. »Sagen Sie nicht so etwas. Wir haben keinen Krieg. Es gibt Feindseligkeiten. Feindseligkeiten, das ist alles.« Er stapfte zum Fenster und fächelte sich etwas Luft zu; dabei atmete er tief durch, um sich wieder zu beruhigen. »Was meine Rückkehr nach Washington betrifft: Ich werde zurückgehen, sobald der Präsident sich entschieden hat, auf wessen Rat er in militärischen Belangen hört; auf meinen oder den des Kriegsministeriums. Bis dahin werde ich in St. Louis bleiben, denn hier geht es um meine Ehre und um die Ehre der Armee der Vereinigten Staaten. Im übrigen haben wir bald Wahlen, und dann wird es mit Ulysses ohnehin vorbeisein. Dann
können wir im Triumphzug heimkehren, nicht in Schande. In der Zwischenzeit können Sie doch eigentlich mit Ihrem Bericht weitermachen, General.« »Ja, General«, sagte Grierson. Er hatte es versucht, ohne Erfolg. Eigentlich hatte er sowieso nicht geglaubt, er könnte Sherman dazu bringen, sein Exil in dieser Provinzstadt der Gerber und Brauer aufzugeben. »Die augenblickliche Lage: Der Aufstand ist allgemein. Die 9. Kavallerie hat fünfzig Prozent Verwundete. Santa Fe und Fort Apache sind die einzigen Orte, für deren Sicherheit ich garantieren kann. Das letzte, was ich vor meinem Aufbruch hörte, war, daß die Pueblo und Navaho gerade dabei waren, ihre Decken einzurollen, und das ist…« »Lächerlich.« Sherman fuchtelte mit einem schwarzen Zigarrenstumpen herum. »Apachen, aber nicht die Pueblos.« »Ach ja? Vor dreißig Jahren bekamen sie das letzte Mal ihre Ärsche hoch. Damals brachten sie den Staat unter ihre Kontrolle und skalpierten den Gouverneur. Vor dreizehn Jahren erhoben sich die Sioux, die Arapaho und die Cheyenne, nachdem der Gouverneur von Colorado öffentlich bekanntgegeben hatte, er wolle sie tot sehen. Öffentlich hatte er das bekanntgegeben, stellen Sie sich das einmal vor! Die Folge war, daß sie Denver belagerten. So etwas darf man eben nicht zu den Indianern sagen, sie sind schließlich keine tauben Tiere. Man kann sie töten, aber man darf ihnen das nicht vorher ankündigen. Seitdem ist jeder Stamm aktiv gewesen, jeder Stamm ist schlauer geworden, jeder Stamm ist in Fühlungnahme mit den anderen getreten. Ich gebe Ihnen hier nur einen kurzen Überblick über etwas, das so offensichtlich sein muß wie, Himmel noch mal, die Nase im Gesicht des Präsidenten. Warum also sagen Sie, das sei lächerlich?«
Sherman lächelte grimmig und zog eine Telegraphenmeldung aus der Innentasche seines Waffenrockes. »Deswegen, General. Das ist eine Nachricht, die ich heute erhielt. Sie besagt, daß der Kongreß ein neues Limit für die Größe der Armee der Vereinigten Staaten gesetzt hat. Sie erinnern sich, daß wir eine Aufstockung von dreißigtausend auf fünfzigtausend Mann gefordert hatten? Nun, wir haben fünfundzwanzigtausend Mann bewilligt bekommen.« »Sie meinen, fünfundzwanzigtausend zusätzlich.« »Nein, General. Fünfundzwanzigtausend als Gesamtgröße der Armee. Wenn Sie mir also erzählen, wir hätten einen Krieg vor uns im West-Department und in den Departments New Mexico, Arizona und Utah, dann wissen Sie genausogut wie ich, daß das lächerlich ist.« Beide Männer schwiegen. Grierson erkannte zum ersten Mal, unter welchem Druck der General arbeitete, abgeschnitten von einem Freund, der Präsident geworden war und ihn an den Kongreß verraten hatte; an einen Kongreß, der die Armee wie eine Gesellschaft von Aussätzigen und Dieben behandelte. Er war ein Held, sie alle waren Helden, die von einem Land auf Seite geschoben worden waren, das eifrig damit beschäftigt war, Geld zu verdienen. Und nun, wo das Land kein Geld mehr verdiente und sich mitten in einer großen Wirtschaftsdepression befand, wurden sie ganz einfach ignoriert. Alles, was den alten Helden blieb, waren Zigarren und Whisky. Als könne er Gedanken lesen, öffnete Sherman eine Schreibtischschublade und nahm eine Flasche und zwei Gläser heraus. Der General schenkte zwei ordentliche Schluck ein. »Zur Hölle, Ben, trinken Sie etwas Leopardenschweiß, und entspannen Sie sich ein bißchen. Wir wollen es doch nicht so
weit kommen lassen, daß wir einander anschreien.« Grierson nahm sein Glas und trank es auf einen Zug leer. Sherman goß eine zweite Runde ein. »Es hat immer schon Ärger mit den Indianern gegeben, und das wird auch in Zukunft immer mal wieder vorkommen. Wir werden das schon schaffen. Wir müssen eine Bürgerwehr bewaffnen und ein paar Scouts mehr einsetzen, ich weiß. Das werden wir tun. Und dann gehen wir zurück zum Kongreß, um uns neue Gelder bewilligen zu lassen. Das Leben geht weiter. Fühlen Sie sich jetzt besser?« Grierson knirschte mit den Zähnen und lächelte. Er ließ seinen müden Körper in den Stuhl zurücksinken. Er sehnte sich nach einem richtigen Bett mit daunengefülltem Bettzeug. Sherman verschloß die Flasche. »George Custer hatte sich komische Gewohnheiten zugelegt, als ich ihn zum letzten Mal traf. Er trank seinen Whisky mit Zucker, wie ein Indianer. Wie ich hörte, bevorzugte er auch indianische Frauen. Deswegen hat seine Frau auch… ach, lassen wir die Toten ruhen. Glauben Sie, daß er blindlings in eine Falle gelaufen ist?« Grierson entdeckte einen Aktenkarton, auf den er seine Füße legen konnte. »Nicht mehr als wir anderen auch. Wer hätte schon mit dem halben Sioux-Stamm gerechnet? Wollen Sie wirklich wissen, was ich denke?« Sherman saß auf seinem Schreibtisch, seine knochentrockenen Augen gespannt auf Grierson gerichtet. »Ich habe Sie nicht um diesen einwöchigen Ritt gebeten, damit Sie herkommen und lügen. Aber übertreiben Sie auch nicht. Die Zeitungen werden sonst Wind davon bekommen und ein weiteres Massaker daraus machen. Fahren Sie fort.« »Das ist schwierig. Ich kann nichts Bestimmtes sagen, aber
ich bin jetzt seit sieben Jahren Befehlshaber des New MexicoDepartments und habe ein Gespür für diese Dinge. Die Situation hat sich geändert. Die Zeiten haben sich geändert.« »Natürlich«, sagte Sherman. »Immer mehr Siedler, Bodenspekulanten und verrückte Goldsucher. Ich sehe sie jeden Tag durch St. Louis ziehen, Planwagen-Kolonnen voll mit ihnen. Und dann die Eisenbahnen, sie haben den Westen verändert. Und es gibt immer weniger Büffel. Ich sage, die Eisenbahnen werden die Indianer umbringen, Phil Sheridan sagt, die Ausrottung der Büffel tut es. Jedenfalls werden wir in absehbarer Zeit keine Probleme mehr mit ihnen haben. Dann werden nur noch ein paar Schnapswracks übrig sein, die man von einer Klippe schmeißen kann.« »Nein. So war es bisher. Aber die Dinge haben sich geändert. Wir haben ihr Territorium Stück für Stück eingenommen, mit Hunderten von kleinen Schlägen. Wir waren dabei, mit einem Zermürbungskrieg einen Kontinent zu gewinnen, gegen eine Welt von Primitiven, die zu naiv und verwirrt waren, um damit aufzuhören, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Und genau das hat sich nun geändert. Ich glaube, diesmal organisieren sich die Indianer wirklich. Es gibt mehr Indianer, als die Leute glauben. Wissen Sie, wie viele von ihnen im Bürgerkrieg gekämpft haben? Zehntausend. Ich will damit nicht sagen, daß Veteranen in diese Sache verwickelt sind, aber ich sage, daß jetzt Schluß mit dem Kleinkrieg ist. Der wirkliche Kampf hat begonnen.« Sherman schüttelte den Kopf. Die Indianerkriege waren eine Schöpfung der Groschenromane. In Augenblicken wie diesem beneidete er Sheridan darum, daß dieser nach Europa gegangen war, um aus erster Hand zu sehen, wie die Preußen die Franzosen abschlachteten. Das war ein Krieg gewesen, den
anzuschauen sich gelohnt hätte. »Sie haben versprochen, nicht zu übertreiben, Ben. Ich befehle Ihnen, sich etwas Schlaf zu gönnen. Sie sind erschöpft, erledigt. Und machen Sie sich keine Gedanken mehr wegen der Indianer. Der Präsident bekommt von ihnen jetzt lediglich die Quittung für seine neue Politik. Ich habe ihm schon vor Jahren gesagt, daß die Roten, wenn man sie nicht ausrottet, auf ewig als Armenhilfeempfänger von unserem Nationaleinkommen zehren werden. Na, jedenfalls werden wir die Indianer, wenn sie zu ihren Winterlagern ziehen, aufspüren und Mann für Mann ausräuchern. Und je mehr Indianer wir dieses Jahr töten, um so weniger werden wir im nächsten Jahr zu töten haben. Das nenne ich Politik.« Grierson spürte, daß das Gespräch vorüber war. Sherman glaubte ihm nicht. Wer erinnerte sich schon daran, daß die Cheyenne bei dem Angriff auf Adobe Walls 1874 ein Signalhorn benutzt hatten? Sherman, der vor zehn Jahren von den Dog Soldiers besiegt worden war, war zurück in den Osten gegangen und hatte es vergessen. All die Leute östlich einer unsichtbaren Linie, die sich von San Antonio nach Norden erstreckte, lebten in einer anderen Welt. Es war wie in einem Theater: Diese Menschen standen vorne auf der Bühne, bauten ihre Fabriken, buken ihre Kuchen und gingen in die Schule, während gleichzeitig, ohne daß sie es merkten, ganz hinten im Zuschauerraum ein Kampf mit echtem Blut und echten Kugeln gegen eine Horde echter Wilder stattfand. Sie selbst würden damit niemals in Berührung kommen, und darum lebten diese Leute in St. Louis, Washington oder Philadelphia in einer anderen Welt. »Unterstützen Sie mich in dieser Sache, Ben. Ich denke, ich kann Ihnen einen weiteren Stern versprechen.«
Grierson verließ Büro und Foyer und fand sich auf der Straße wieder. Seine Füße trugen ihn über den Bürgersteig zu einem richtigen, zivilisierten Hotel.
*** Der Passagier Dionicio Duran traf frühmorgens, von Mexico City kommend, in Washington ein. Er war ein gedrungener, dunkelhäutiger Mann mit einem bleistiftdünnen Schnurrbart, der seinen drahtigen Körperbau betonte. Sein kunstvoll gearbeiteter Aktenkoffer paßte zu seinem maßgeschneiderten Anzug. Sein Sitznachbar quittierte die Landung mit einem erleichterten Seufzer, nachdem er sich eine endlose Schimpfkanonade Señor Durans über Zölle hatte anhören müssen. »Ich bin stolz auf mein gutes Englisch. Das macht die Übung«, sagte Duran nach der Landung. »Ja, ja, da muß ich Ihnen recht geben«, pflichtete der Importeur aus Roanoke bei. Er umging Durans Einladung zu einem Drink in der Flughafenbar, indem er eine auf dem Parkplatz wartende Frau erfand. »Hasta luego«, sagte Duran, ohne beleidigt zu sein. Er nahm seinen Aktenkoffer und seinen Regenmantel und ging pfeifend davon. Mit dem Paß gab es keine Schwierigkeiten. Duran nahm ein Taxi und ließ sich auf dem grasgesäumten Highway, der in die Stadt führte, davontragen. Er war nicht zum ersten Mal in Washington. Er wählte ein Einzelzimmer im zweiten Stock des Mayflower, eines mit. Badezimmer, Fernseher und Bibel. Sofort nachdem er die Tür hinter sich zugesperrt hatte, streifte er Anzugjacke und Hemd ab und wusch sich das Gesicht mit
kaltem Wasser. Die Matratze des Bettes war weich und unbequem, aber er schlief sofort ein. Am frühen Abend erwachte er wieder. Es war schon fast dunkel, aber noch waren die Konturen des Zimmers sichtbar. Das Bild der Pilgrim Fathers, die einen Strand betraten, die Kreuze hoch erhoben, um mögliche Dämonen abzuwehren. Das Telefon. Das Lorbeermuster der Tapeten. Das Nachttischschränkchen in Nußbaumimitation. Duran wälzte sich aus dem Bett und schaltete den Fernseher ein. Dann ging er ins Badezimmer. Während er seinen Schnurrbart abrasierte, hörte er dem Fernsehen zu. Es schien eine Showsendung zu sein. Ein Komiker war gerade mitten in einem Monolog. »… sicher, wir haben alle unsere Probleme. Ich verdiene gut, habe zwei nette Kinder, eine schöne Frau, zwei Autos. Doch ich muß dafür bezahlen. Denn ich habe auch eine Schwiegermutter. Ein hoher Preis. Nehmen Sie dagegen die Cheyenne: Bei den Cheyenne darf ein Mann nicht mit seiner Schwiegermutter sprechen, und sie nicht mit ihm. So ist das Gesetz. Und da nennen wir sie dumm! Ha! Eines Tages werde ich mit Kriegsbemalung und Federschmuck nach Hause kommen; und beim ersten Ton, den sie sagt, bekommt sie – wumm! – den Tomahawk in den Schädel.« Ohne den Schnurrbart wirkte Duran um zehn Jahre jünger. Er stutzte seine Koteletten und war äußerst befriedigt darüber, daß er nun wieder sich selbst ähnlich sah. »… natürlich. Doch ein Cheyenne zu sein ist nicht immer ein reines Zuckerschlecken. Wenn so ein Knabe beispielsweise den Großen Häuptling im Himmel bittet, ihm eine Chance zu geben, muß er dafür ein Versprechen abgeben. Und wissen Sie, was er verspricht? Für eine Weile nicht mit seiner Frau zu
schlafen. Für eine Weile? Sieben Jahre lang! Dann wird er plötzlich befördert und schläft sieben Jahre nicht mit seiner Frau. Das Schlafen würde ich dabei gar nicht vermissen, das will ich Ihnen gleich sagen. Aber den Kram, den man im Bett veranstaltet, wenn man gerade nicht schläft! Also, wenn ich ein Cheyenne wäre, ich würde versuchen, einen Kompromiß auszuhandeln.« Er zog die Hose aus und hängte sie zusammen mit der Anzugjacke in der Toilette auf. In seinem Aktenkoffer befand sich ein weiterer konservativer Anzug, zu dem er sich eine neue Krawatte umband. In der Innentasche des frischen Anzugs war ein amerikanischer Paß mit einem neuen Namen. Er zog die gemaserte braune Lederimitation aus selbstklebendem Plastik von dem Aktenkoffer ab und schnitt sie in kleine Schnipsel, die sich im Klo hinunterspülen ließen. Danach verfuhr er mit dem mexikanischen Paß ebenso. »… Leute, ihr wart ein großartiges Publikum. Darum möchte ich euch zum Schluß noch einen nützlichen Rat mit auf den Weg geben. Wie schon General Custer zu sagen pflegte: ›Laden Sie zum Kaffeetrinken niemals Indianer ein.‹ Ich danke euch, vielen Dank.« Durans letzte Handlung, bevor er das Zimmer verließ, bestand darin, eine mit Samt ausgeschlagene Kiste in dem nun glatten schwarzen Aktenkoffer zu überprüfen. Er öffnete die Kiste so vorsichtig, als enthalte sie eine Ikone. Darin lag, in roten Samt gebettet, ein Paar selbstspannender, doppelläufiger irischer Constabulary-Pistolen mit Griffen aus Perlmutt. Er schloß den Aktenkoffer wieder und ging, ohne den Fernseher abzustellen.
***
II Vater, male die Erde auf mich Ich werde ein Volk auf ihr gründen! SONNENTANZ
ie Plains waren unvergleichlich. Die Gras-Savannen erstreckten sich Tausende von Meilen in jede Richtung. Man konnte monatelang reiten, ohne ans Ende zu gelangen. Büffelgras und Granne, ein Wildgras, dessen Wurzeln sechs Fuß tief in den Boden reichten, bedeckten das Land. Wo der Boden schlecht war, überlebten Dschungelreis und Panie-Gras. Aus tausend Fuß Höhe würden die Millionen Büffel, die in diesem größten Grasland der Erde umherzogen, ausgesehen haben wie Schwärme kleiner brauner Fische in einem uferlosen Ozean. Im September, zwei Monate nach Custers Tod, begann General Crook, den die Indianer Nan-tan Lupan oder Gray Wolf nannten, seine Invasion. Truppen aus Fort Fetterman, Fort A. Lincoln und Fort Ellis kamen ins Grasland. Auf der Suche nach den verstreuten Indianerlagern ritt die lange Karawane hinter ihrer Vorhut aus Scouts her. Die erste Spur, die sie fanden, war die des Unterstammes von American Horse, einem Lakota. Es war die auffälligste Marschspur, die sie je gesehen hatten. Das Gras war von den Hufen der unbeschlagenen Pferde beinahe völlig zertrampelt. General MacKenzie erhielt den Befehl, der Spur zu folgen. Dazu gab man ihm elf berittene Kompanien des 2., 3. und 5.
D
Regiments, vier Kompanien der 4. Artillerie, unberitten, und elf Infanteriekompanien des 4., 9., 14. und 25. Regiments. Crook sollte folgen und das Kommando über die Schlacht übernehmen, in der MacKenzie die Reiterbrigaden und Colonel Dodge die Fußsoldaten anführen sollte. Vor den Soldaten ritten die vierhundert Scouts – Pawnee und abtrünnige Lakota, Inuna-ina, Shoshonen, Banakwut und Tsistsitas. Major North, ein Squaw-Mann, führte, wie gewöhnlich, die zweihundert Pawnee; William Rowland führte die wenigen Tsistsitas, und die Shoshonen folgten Häuptling Washakie. Die übrigen wurden von Captain Arnos Mills kommandiert. Hinter den Scouts und Soldaten kam ein Nachschubtrupp aus Planwagen, sieben Ambulanzen und vierhundert Maultieren. Zweihundertfünfundachtzig Maultiertreiber und Packer begleiteten diesen Trupp. Seit der Schlacht am Rosebud maß General Crook der Logistik große Bedeutung bei. Zur selben Zeit operierte aus einer anderen Richtung, aus Kanada, dem »Grandmother’s Land«, ebenfalls eine logistische Linie. Den Canadian Service gab es seit zweihundert Jahren; Mischlinge mit Franzosen-, Indianer- und Negerblut in den Adern, die mit der Handels- und Schmuggelware einer jeden Saison zwischen Mexico und Kanada hin- und herzogen. Von den Amerikanern wurden sie als Tiere betrachtet. Einer dieser Mischlinge vermochte sechs Neunzig-Pfund-Pakete über eine Distanz von fünf Meilen zu tragen. Diesmal transportierten sie Munition, Dörrfleisch und Stoffballen, den Missouri und den Milk River hinunter auf Booten und zu Fuß und auf Planwagen über Land. Das Fleisch stammte aus Australien, wo die große Wirt-
schaftskrise Millionen ungeschorener, unprofitabler Schafe zurückgelassen hatte. Die Gewehre und Patronen waren aus Connecticut über die Umwege England und Türkei nach Kanada gelangt. Es handelte sich um Produkte eines New Havener Hemdenfabrikanten namens Oliver F. Winchester; es waren als Modell 73 bezeichnete Trommel-Repetierer, die von der US-Regierung, als nicht ausreichend getestet, abgelehnt worden waren. Andere Regierungen jedoch kauften sie, und Winchester hatte gute Beziehungen zu den Briten, die als Mittelsmänner für umfangreiche Geschäfte mit dem Nahen und Fernen Osten fungierten. Winchesters bester Verkäufer war »Colonel« Tom Addis, der den mexikanischen Soldaten von Benito Juarez eintausend Repetierer geliefert hatte. Doch das war nur ein kleiner Verkauf, gemessen an den Mengen, die Winchester und Addis an die Kolonialarmeen in China und Indien verkauft hatten. Ganz zu schweigen von den fünfundsiebzigtausend Gewehren, die in London von den Türken bestellt worden waren. Es ist kaum anzunehmen, daß Winchester sich darüber klar wurde, daß die Waffen in Wahrheit für die Indianer bestimmt waren. Addis dagegen war völlig im Bilde, wie spätere Nachforschungen der Regierung ergaben; aber als Händler hatte er eben eine Ware zu verkaufen. Kisten und die Quittungen des Verkaufs wurden von New Haven ans Mittelmeer geschickt. Die Gewehre jedoch gelangten von New Haven nach Neufundland. Jeder vierte Indianer am Greasy Grass war mit ihnen bewaffnet gewesen. Nun brachte der Canadian Service das Gros der Lieferung: Repetierer mit nur zweihundert Yards Reichweite, wenig im Vergleich zu den sechshundert Yards der einschüssigen Springfields, dafür aber kurz, leicht und technisch perfekt; die beste
Reiterwaffe, die je erfunden wurde. Die Maultiere schleppten überschüssige Haubitzen aus dem Bürgerkrieg, die vom Versorgungsamt der Armee verkauft worden waren. Diese Kanonen konnten Kartätschen und Granaten verschießen. Gegen Truppen wurden die Kartätschen eingesetzt, die mit achtundvierzig Musketenkugeln gefüllt waren. Eine solche Haubitze wog komplett, mit Lafette und Munition, eine Dreivierteltonne und mußte von zwei Maultieren gezogen werden. Andere Maultiere waren mit GoroloffGewehren bepackt, einer fünfläufigen Maschinenkanone, die eine russische Kopie des Gatling-Gewehres darstellte. Über Land und auf Lastkähnen waren sie unterwegs zum Crazy Woman Fork im Powder River Valley, dem Lager der Tsistsitas unter Yellow Nose. Hier versammelten sich die Häuptlinge der vielen Stämme. Es waren Krieger aus allen Teilen der Great Plains, die voneinander gehört, sich aber bisher nie gesehen hatten, die letzten großen Häuptlinge, umgeben von einer Aura aus Ruhm, Sorge und gegenseitiger Hochachtung. Die Pfeife wurde von links nach rechts weitergereicht. Es war Brauch bei den Tsistsitas, den Cheyenne, daß niemand lügen konnte, nachdem er sie geraucht hatte. Wenigstens kein Indianer. Draußen im Lager trockneten die Frauen Büffelhäute in der Sonne, die Mädchen bastelten Puppen aus Strohhalmen und die Jungen spielten das Töte-alle-Soldaten-Spiel. Und weil dies Yellow Noses Lager war, wurde ihm die Ehre zuteil, als erster zu rauchen. Er inhalierte die vier heiligen Züge und blies den Rauch in die vier Himmelsrichtungen. In der Schlacht würde er sich einen gelben Streifen ins Gesicht malen. Doch im Augenblick trug er lediglich eine eingekerbte Adlerfeder als Symbol für die durchgeschnittene Kehle eines
Feindes. Als nächster rauchte Two Moons, der junge Kriegshäuptling der Tsistsitas, ein breitgesichtiger Mann, der ein eigenes Lager befehligte. Zu seiner Rechten saß They Fear His Horses, schlank, das Gesicht scharfgeschnitten wie eine Pfeilspitze, das Haar zu zwei glatten Zöpfen geflochten. Er hatte alles weggegeben, was er besaß, damit seine Macht nicht durch Neid geschwächt wurde. Alle Männer in dem großen Tipi aus dreißig bemalten Häuten beobachteten ihn. Gall war an der Reihe, dann White Bull, dann He Who Yawns, der Inde. Er war kleiner und dunkler als die anderen und hatte ein Affengesicht. Seine Kappe aus Wildleder war mit den Mustern der Jahreszeiten bemalt und sein Hemd mit glänzenden Perlen besetzt. Er reichte die Pfeife an Victorio weiter, der eine gelbe Weste aus Rennantilopenfell trug, und Stiefel, die an den Knien festgebunden waren. Big Lake, der Siksika, der einen ganzen Kopf größer war, trug ein weißes Hemd und eine weiße Hose, beides mit Hermelinschwänzen besetzt. Ein Kreis aus Adlerfedern auf einer Kappe aus Hermelinfell krönte sein Haupt. Black Horse, der arrogante Kiowa, rauchte und gab die Pfeife weiter. Er war ein muskulöser, aber zum Dickwerden neigender Mann, vielleicht der beste Reiter von allen. Arrow und Ignacio, stämmige Männer, die eine Mischung aus Bauernund Kriegerkleidung trugen, rauchten für den Stamm der Ute. Buffalo Horn, der Banakwut-Häuptling, dessen Augen vor Feuereifer brannten, rauchte mit zitternden Fingern. Weitere Häuptlinge kamen an die Reihe: Iron Shirt, der mit einem von den Conquistadores hinterlassenen Küraß in die Schlacht zog, Quanah Parker, der grauhaarige Jumper in einem feierlichen schwarzen Anzug, Black Hairy Dog, der
Bewahrer der Heiligen Pfeile, und der gefährliche Black Moon, sie alle rauchten den heiligen Tabak. Schließlich kam die Pfeife zu Wovoka, dem jungen Seher mit dem starren Gesicht und dem kurzgeschorenen Haar. Dann zu einem schmal gebauten, gutaussehenden Mann mit braunem Haar, das über sein Ohr gekämmt war. Er trug ein Lendentuch und ein langes, mit Fransen besetztes Wildlederhemd. John Setter wurde er von den Weißen genannt, Where The Sun Goes von den Häuptlingen. Zu guter Letzt ruhte die Pfeife in den Händen von Sitting Bull, dem langnasigen, mürrischen wichasa wakon, dem heiligen Mann der Lakota. Alle beobachteten ihn. Nicht nur die Männer, die geraucht hatten, sondern auch die Krieger und Botschafter all der anderen Stämme, die in dem Tipi versammelt waren. Ein Inde in Kleidern aus Gras und Kaninchenfell, dessen Haar zu einem schwarzen Knoten zusammengebunden war; ein Omaha mit gefiederten Zöpfen, die bis zu seiner Taille reichten; Ollicut, der Bruder von Thunder Going Over The Mountain; neben ihm saß Stand Watie von den Cherokee, dann ein Shoshone mit tätowierten Armen, ein Pima aus dem Süden, ein Okanagan, dessen Bärenfellmantel über der Brust aufgeknöpft war, ein Lenape mit einem hohen Kragen, ein Choctaw und ein Alabama. Am Eingang standen zwei Dog Soldiers, einer von den Lakota und einer von den Tsistsitas. »Die Soldaten liegen am Greasy Grass begraben«, sagte Sitting Bull schließlich. »Deshalb sind wir nun hier. Bald werden mehr Soldaten kommen. Werden wir dann noch hier sein? Werden wir danach immer noch hier sein? Wenn wir keinen Widerstand leisten wollen, wenn wir zurück zu den Agenturen gehen, wie es von uns verlangt wird, damit einige von uns wie Feiglinge aufgehängt werden
und die anderen unter Anleitung des Wasichu die Erde umgraben, dann laßt uns das jetzt tun. Laßt uns nicht weiter reden, laßt uns gar nichts sagen. Wir werden dann nach Hause gehen wie Squaws, in Schweigen gehüllt, und sie mit uns machen lassen, was immer sie wollen. Ich für meinen Teil habe keine Lust mehr, zu diskutieren oder weitere Verhandlungen über mich ergehen zu lassen. Ich bin bereit zu kämpfen und will keinen Herzschlag länger zögern. Doch laßt uns wieder gehen, wenn ihr nicht bereit seid, denn dann gibt es keinen Grund, noch länger an diesem Ort zu bleiben. Was mich betrifft, der Weltenschöpfer machte mich zum Indianer – aber nicht zum Agenturindianer.« Wieder herrschte eine lange Stille, in der alle auf die Medizinbeutel im Mittelpunkt des Tipis blickten, um jedem die Möglichkeit zu geben, das Zelt zu verlassen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Als Sitting Bull weitersprach, war die Zahl der Zuhörer nicht kleiner geworden. »Vor langer Zeit gab es bei den Lakota einen anderen wichasa wakon, der Wooden Cup genannt wurde. Dieser große Mann hatte mächtige Zauberkräfte und stand in hohem Ansehen, doch er starb als trauriger Mann. Er hatte eine Vision von der Zukunft der Lakota, in der seltsame Leute aus der Richtung des Sonnenaufgangs kamen. Er sagte, ihre Zahl würde größer sein als die der Büffel. Und dann würden die Büffel überall auf den Prärien zu Skeletten werden. Um unsere Mutter Erde würden eiserne Bänder gebunden werden. Unser heiliger Ring, der Kreis der Lakota, würde von der Magie der Fremden zerschmettert werden. Und zum Schluß würde unser Volk in kleinen, flachen grauen Häusern leben, und in diesen Häusern würde es hungern. Das sah er. Und genau das ist mit den Lakota geschehen. Ich, der ich
fünfzig Sommerjagden gesehen habe, weiß, daß es so ist. Ich kann mich noch erinnern, wie Vater Washington um unsere Gunst bettelte, damit er Leute, Fremde, durch unser Land schicken durfte. Als die Soldaten in Frieden kamen und das endlose Grasland und den weiten Himmel sahen, sagten sie, es gäbe hier genug Raum für alle. Und dann baten sie um ein kleines bißchen Land. Und dann um ein weiteres bißchen. Und um mehr und mehr und immer mehr. Unser Freund Where The Sun Goes erzählte mir folgende Geschichte, die von einem Häuptling namens Metacomet stammt, der lange tot ist: Als der erste Wasichu in dieses Land kam, bat er die Indianer nur um so viel Land, daß er seine Decke darauf breiten konnte. Sie sagten, das sei gut, und dann entrollte er seine Decke, und sie war unendlich groß und bedeckte den Horizont. Ich für meinen Teil will nicht von ihr zugedeckt werden. Red Cloud, der alte Häuptling der Lakota, der ein großer Krieger war, ist nicht bei uns. Er hat gekämpft und aufgegeben und ist zu den Orten New York und Washington gegangen, und als er zurückkam sagte er uns, wir sollten nicht mehr kämpfen. Er ist mutig und weise, und er sagte uns, wir sollten die alten Bräuche aufgeben; und wir sollten so sehr zu Wasichu werden wie nur eben möglich, wenn wir überleben wollten. Trotzdem, ein Lakota glaubt nicht, daß es gut ist, alt und ohne Ruhm zu sterben, und darum werden wir kämpfen. Das mag dumm sein, denn sowohl Wooden Cup als auch Red Cloud waren klug und sahen große Dinge. Dennoch werden wir so handeln und lieber als Lakota sterben, anstatt wie Hunde unter den Tritten der Wasichu zu leben.« Er machte eine Pause und streichelte seinen Medizinbeutel, in dem er Knochen des Bullen aufbewahrte, den er als junger
Mann getötet hatte, um seine Vision zu erfüllen. »Nun sagt man mir, wie man auch euch gesagt hat, daß wir mehr wählen können als nur einen ehrenvollen Tod. Für die Vision von Wooden Cup haben wir die Vision Tavibos und seines Sohnes Wovoka. Für Red Clouds Wissen über die Wasichu haben wir das Wissen von Where The Sun Goes. Es sind gute Männer, und ich glaube, daß wahr ist, was sie sagen. Ihr denkt ebenso, denn sonst wärt ihr nicht hier.« He Who Yawns grunzte ungeduldig. Setter lächelte. Der Inde war ein großer Redner, der es liebte, von seinem Talent Gebrauch zu machen. Setter erinnerte sich daran, wie sie sich in den Bergen oberhalb der mexikanischen Grenze zum ersten Mal getroffen hatten. Damals hatte der Inde einen ganzen Tag lang geredet, nur mit ihm, Setter, und einem von der Schneeschmelze angeschwollenen Gebirgsbach als Zuhörer. »Die Gewehre. Laßt uns über die Gewehre sprechen«, sagte He Who Yawns. »Das werden wir«, sagte Sitting Bull. »Aber zunächst müssen wir über die Vision sprechen. Gewehre ohne eine Vision sind nichts. Wir werden jetzt Wovoka zuhören.« Es war nicht ungewöhnlich, daß ein Seher jung war. Der Geist enthüllte sich früh im Leben eines Mannes, damit dieser seinen Namen finden konnte, und einige kamen dabei Gott so nahe, daß sie danach nicht mehr wie andere Männer waren. In Wovokas breitem, offenem Gesicht brannten die Augen wie glühende Kohlen. Er sprach langsam, denn es war Brauch bei den Paiute, daß der Zuhörer jedes Wort, daß er hörte, wiederholte, um dem Sprecher so Gelegenheit zu geben, etwaige Fehler zu korrigieren. Hier wiederholte niemand die Worte, denn sie waren keine Paiute, aber nach jedem Satz blickte er umher, um zu sehen, ob irgend jemand eine Frage hatte.
»Der Wanekiah, der Messias, wird jetzt zu den Indianern kommen. Die Wasichu haben ihn verschmäht, und nun hat er uns auserwählt. Alles wird von Ihm wiedererweckt werden. Alles außer den Wasichu wird auferstehen. Alle toten Indianer, alle toten Büffel – und die alte Art zu leben. Wir müssen um einen Kreis ohne Feuer tanzen. Wir müssen neue Lieder singen. Dann, wenn alle wiedergeboren sind, wird dieses Land wieder den Indianern gehören, und von der Welt der Wasichu werden wir uns nehmen, was wir haben wollen. Das ist die Vision meines Vaters. Das ist meine Vision.« Nachdem alle eine Zeitlang schweigend über Wovokas Worte nachgedacht hatten, fragte Black Horse: »Warum wendet sich der Wanekiah von seinem eigenen Volk ab?« »Weil sie sich von Ihm abgewandt haben. Sie sind zu raffiniert, und darum leben sie wie Ratten, die allen anderen alles stehlen, dessen sie nur habhaft werden können, und doch nie zufrieden sind. So sind sie zwar mächtig, aber sie besitzen nicht mehr länger die Macht, die Er ihnen gab. Er gibt uns jetzt diese Macht.« »Wie bist du zu dieser Vision gelangt?« fragte Ignacio. Er wußte es, aber, wie die anderen auch, wollte er es noch einmal hören. »Ich fastete in der Wüste, bis ich tot war. Da kam dieser Wanekiah zu mir und sprach und machte mich dann wieder lebendig. Im Winter danach traf ich Where The Sun Goes.« Der Seher beantwortete noch einige Fragen, und als schließlich auch die gebildeten Savane, wie die Stämme aus dem Osten genannt wurden, zufriedengestellt waren, wandte sich die Aufmerksamkeit Setter zu. »Ich bin ein Metutahanke, ein Mandane. Mein Stamm ist der Vater aller Stämme der Plains«, sagte Setter, und ein aner-
kennendes Raunen lief durch das Tipi. Er breitete seine Arme weit aus, um alle in seine Geste einzubeziehen. Sein braunes Haar war von Silberfäden durchzogen. »Ihr kennt mich und mein Volk. Wir waren einst sehr mächtig, so wie ihr heute mächtig seid, und die Wasichu aus vielen Ländern fürchteten uns. Die Vereinigten Staaten sandten uns Geschenke, die Engländer baten uns, ihre Freunde zu sein, und die Franzosen sandten uns in Schwarz gekleidete Männer, die Jesuiten. Dann war nur noch Vater Washington übrig, und doch wagte er es nicht, gegen uns zu kämpfen. Er bat um unser Vertrauen. Also vertrauten wir ihm, und er sandte uns weitere Geschenke, Decken – obwohl wir sie nicht brauchten, denn unsere Lager waren reich durch unseren Handel entlang des Missouri, und wir hatten Tausende von Häuten zum Bau unserer Wigwams für den Winter. Wir wußten nicht, daß wir Neider hatten, daß die WasichuHändler den Fluß für sich selbst wollten und daß Vater Washington dies auch wollte. Also nahmen wir die dünnen, muffigen Decken, und bald darauf begannen wir zu sterben. Die weißen Händler hatten die Decken mit wicranran, den Blattern, verseucht. Nach kurzer Zeit gab es nur noch wenige Merutahanke an den Ufern des Missouri. Von dreitausend blieben nur dreißig übrig. Die meisten waren durch Narben entstellt. Ich war damals ein kleiner Junge, und aus irgendeinem Grund überlebte ich und bekam nicht die Pocken. Einer der in Schwarz gekleideten Männer nahm mich mit in den Norden und erzog mich. Es wurde mir möglich, nicht nur nach Washington zu reisen, sondern auch übers Meer zur Großmutter England und zu anderen Orten. Red Cloud sagt, daß die Wasichu zahlreicher sind als die Büffel, und er hat recht. Aber wenn er sagt, daß wir sie nicht besiegen können,
irrt er. Wir sind viele. Bedenkt das. Nimmt man nur die Stämme des Graslandes, so sind wir viermal so groß wie ihre Armee. Nimmt man die Stämme dazu, die sich uns anschließen werden, die sich uns anschließen müssen, weil dies für alle Indianer die einzige Möglichkeit zu überleben ist, so sind wir zehnmal so viele wie ihre Armee. Wie sieht es mit ihrer Macht aus? Ich will es euch sagen. Ein Elefant ist ein Geschöpf, das in einem weit entfernten Land lebt. Er ist groß, zehnmal so groß wie ein großer Büffel, hat schlechte Augen, eine häßliche Haut und eine lange Nase, mit der er ständig nach anderen Dingen greift. Die Macht der Wasichu ist wie der Kadaver eines verwesenden Elefanten; sie siecht todkrank dahin, aber noch in ihrem Todeskampf greift sie nach allem, was in ihrer Reichweite liegt. Warum sollten wir sie fürchten? Wer kämpft für sie gegen uns? Indianer. Seht euch die Truppen von Gray Wolf und Miles an. Zur Hälfte Indianer. Ohne die Shoshonen wäre Gray Wolf am Rosebud gestorben. Wenn die Shoshonen, die Pawnee, die Lenape und die Crow sich ihren Brüdern anschlössen, wären die Wasichu nicht mehr in der Lage, den Weg zurück in ihre hölzernen Städte zu finden. Wenn Männer wie Jumper und Stand Watie, die im Bürgerkrieg der Wasichu Colonels und Majore waren und nun von betrunkenen Wasichu angespuckt werden, sich mit ihren Stämmen uns anschlössen, würden nie wieder Wasichu-Truppen ein Indianerlager niedermachen. Die Vision von Wovoka ist wahr. Die Indianer werden wiedergeboren, aber nicht, indem sie im Kampf sterben, sondern indem sie siegen.« Setter warf einen Blick auf He Who Yawns, dem viele Fragen auf der Zunge zu brennen schienen.
»Waffen? Wir werden Repetierer haben, die besser als die der Soldaten sind. Wir werden auch schwere Kanonen haben und können dann einmal sehen, wie den Wasichu ihre eigene Medizin gefällt. Und wir werden genügend zu essen haben. Trotzdem sollten wir nicht zögern, jeden Wasichu zu töten, der einen Büffel tötet. Aber das alles ist nicht genug ohne die Vision. Ihr müßt immer die Vision vor Augen haben.« Er rieb sich das Gesicht, das seltsam alt geworden war, während er sprach. Fast ließen ihn in diesem Augenblick, für den er so lange gearbeitet hatte, seine Kräfte im Stich. Müde stieß er Wovoka mit dem Ellbogen an, der dann die Rede fortsetzte. »Um die alten Zeiten wiederkehren zu lassen«, sagte Wovoka, »braucht ihr nicht wie die Wasichu zu werden. Aber ihr dürft auch nicht wieder die alten Fehler machen. Folgendes, sagte mir der Wanekiah, müßt ihr tun: Traut keinem Wasichu. Mag er auch ein noch so guter Freund sein, er wird trotzdem eher euch verraten als einen seiner eigenen Leute. Denkt daran, daß dieser Krieg unser Überlebenskampf ist und kein ehrenhafter Wettstreit. Die Wasichu kennen keine Ehre und schießen den Krieger in den Rücken, während er gerade dabei ist, einem Besiegten den Skalp abzunehmen. Ein Indianer, der einen anderen Indianer umbringt, stinkt in der Nase des Wanekiah. Von nun an ist der Lakota der Freund des Chippewa, und der Modoc ist der Bruder des Choctaw. Es ist Sitte bei den Tsistsitas, daß ein Mörder unrein ist, und der Wanekiah sagt, daß diese Sitte bei allen Völkern gelten soll.« »Siquism«, sagte He Who Yawns. »Das Wort für ›Bruder‹ bei den Inde ist ›siquism‹.« Als die Ratsversammlung schließlich endete, war es Nacht,
und tausend Lagerfeuer brannten entlang des Crazy Woman Creek. Es wurde nur wenig gesprochen, während die Männer zu den Lagern ihrer Stämme gingen. Setter taumelte vor Müdigkeit, doch Victorio und He Who Yawns stützten ihn und zogen ihn mit sich zu ihrem Feuer. Victorio schwieg, aber aus He Who Yawns sprudelten nun die Worte hervor, die er so lange hatte zurückhalten müssen. Im Vergleich zu den Wigwams anderer Häuptlinge wirkte das Inde-Tipi ärmlich. Es war lediglich ein Windschutz für die Generäle von siebentausend Kriegern. »Ich kann gut verstehen, wie es für dich war, deine Familie zu verlieren«, sagte He Who Yawns. »Bei mir war es genau dasselbe. Der Anblick ihrer Leichen! Ich war wie gelähmt und hatte kein Ziel mehr vor Augen. Mein Lebensinhalt schien mir genommen. Lange Zeit tat ich überhaupt nichts.« Er seufzte und ließ sich auf eine Decke fallen. Dann warf er Setter einen Streifen mit Paprika gewürzten Fleisches zu. »Es ist nicht viel, aber wenigstens hast du jetzt etwas im Magen. Ja, lange Zeit tat ich nichts.« Victorio rollte eine Kugel aus Mehl und Honig und steckte sie in den Mund. Er lächelte. »Der Apachentöter Dodge nennt meinen Freund hier den schlimmsten Indianer, der je gelebt hat. Also wird er wohl doch hin und wieder ein bißchen getan haben.« Ein Grinsen überzog He Who Yawns faltiges Gesicht. »Die Agenten erzählen ständig schlimme Dinge über He Who Yawns, aber sie selbst betrügen die Inde am laufenden Band. Eines Tages werde ich nach Tuscon reiten und die Männer finden, die die Inde-Reservation nach San Carlos verlegten, wo nichts wächst und wir unser Essen bei ihnen kaufen müssen. Ich werde sie finden und sie mit dem Kopf nach unten über
ein kleines Feuer hängen, und wir werden ihre gerösteten Gehirne essen, wenn sie ihnen aus den Augenhöhlen rollen.« Setter betrachtete die Mehlkugel, die Victorio ihm gegeben hatte, und warf sie weg. Nach einer Weile fing der Mann, den die Zeitungen »Tiger in Menschengestalt« nannten, an zu gähnen, und Setter konnte hinüber zu einem anderen Lagerfeuer gehen. Es war ein großes Feuer. Kaffeekannen hingen über den Kohlen. Stand Watie war gerade dabei, sich aus einem Stück Zeitungspapier eine Zigarette zu drehen. Choctaw, Seneca, Seminolen und Angehörige anderer Savanenstämme saßen dort und beobachteten Setter aufmerksam. »Wir haben gerade von Ihnen gesprochen«, sagte Jumper. Das Feuer beleuchtete das fleischige Gesicht des Seminolen. »Was Sie gesagt haben, war schon beeindruckend, Mr. Setter. Große Ideen. Dennoch sind wir uns über einiges noch im unklaren.« Jumper in seinem schicken, feinen Anzug schien für sie alle zu sprechen. Setter setzte sich und war bemüht, möglichst ungezwungen zu wirken. »Ihr habt noch Fragen? Laßt hören.« »Hier ist die Frage«, sagte Stand Watie. Er nahm den Rest der Zeitung und warf ihn Setter vor die Füße. »Heben Sie das einmal auf und lesen Sie es.« Setter sah auf die Überschrift. Es war der Phoenix. »Ich kenne diese Zeitung«, sagte er. »Es ist die Zeitung der Cherokee, und sie ist sehr gut.« »Richtig«, sagte Jumper. »Eine Cherokee-Zeitung für die gebildeten Cherokees. Für ein Volk, das seine eigene Regierung hat, die vom Kongreß anerkannt ist. So wie die gebildeten Choctaw ihre eigene, vom Kongreß anerkannte Regierung haben. Wie kommen Sie also darauf, daß irgend jemand von
uns, daß irgendeiner der zivilisierten Stämme sich mit einem Haufen Wilder einlassen würde?« »Die Seneca und die Mohawk werden nicht gegen die Regierung rebellieren. Wir haben nicht für die Union gekämpft, um jetzt von ihr abzufallen«, sagte ein einarmiger Mann. »Die Lenni Lenape hatten schon immer ein besonders gutes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten«, sagte ein anderer. »Sie brauchen uns als Scouts, und wir haben immer gut für sie gekämpft. Außerdem sind wir jetzt Christen. Primitive Gesänge beeindrucken uns nicht, nur Gewehre.« Die Blicke dieser dunkelhäutigen Männer in ihren Begräbnisanzügen lasteten schwer auf Setter. Er fühlte, daß es ihre Arroganz nur noch steigern würde, wenn er um ihre Mithilfe bat. Man hatte die Indianer des Ostens in Oklahoma wie Vieh zusammengepfercht, und sie glaubten, sie herrschten wieder über ihre Wälder am Atlantik, nur weil ihre Regierungen anerkannt worden waren. »Soso«, sagte Setter, »ihr wollt also wissen, was ihr mit den anderen Menschen mit roter Haut gemeinsam habt, mit diesen Wilden, die hier hausen und glauben, sie könnten die Armee der Vereinigten Staaten besiegen? Schließlich seid ihr ja vom Kongreß anerkannt? Schön. Wirklich sehr beeindruckend. Damals in Georgia war die Cherokee-Nation auch vom Kongreß anerkannt. Ihr wurdet Christen. Sequoyah schuf euch ein Alphabet, und ihr wart die reichsten und mächtigsten Farmer Georgias. Und was geschah dann mit euch und mit eurer Anerkennung durch den Kongreß? Ein paar Landerschließer sorgten dafür, daß der Staat euch eure Farmen wegnahm. Die Armee trieb euch zusammen und schaffte euch nach Oklahoma.
Jeder dritte Cherokee starb auf dem Marsch, und der Kommissar für indianische Angelegenheiten hatte die Stirn zu sagen: ›Dies ist ein überzeugendes Beispiel für Liberalität. Denn die Gefahr eines Blutvergießens ist beigelegt worden, und wir haben achtzehntausend Freunde friedlich und ruhig ans Westufer des Mississippi gebracht.‹ Das hattet ihr damals von eurer Anerkennung durch den Kongreß.« »Das ist vierzig Jahre her«, sagte Stand Watie. »Sicher, und wenn sie wieder einmal etwas von euch haben wollen, werden sie es sich nehmen. Vielleicht wollen sie euer Land, obwohl es miserabel ist, weil irgend jemand entdeckt, daß man doch etwas damit anfangen kann, oder sie wollen euer Wasser, oder sie benutzen euch als Kanonenfutter in ihren Kriegen oder lassen euch andere Indianer töten. Ihr macht euch zu Narren, indem ihr so tut, als besäßet ihr selbständige Regierungen, und ihr wißt das. Blickt nicht verächtlich auf andere Indianer herab, die keine Narren sein wollen.« Ein Lenape stellte sich hinter Setter und hielt ihm seine entsicherte Pistole, eine Springfield, an den Kopf. Er sagte mit leiser, harter Stimme: »Hör mal, du Schlangengezücht, ich bin nicht den ganzen Weg von Kansas hierhergekommen, um mich von dir einen Narren nennen zu lassen. Du wirst dich jetzt entschuldigen oder, bei Gott, ich blase dir deinen verfluchten Schädel weg.« Setter drehte sich um und blickte in den Lauf des schweren Revolvers. »Kommt darauf an. Von welchem Stamm bist du?« »Delaware, Lenape, du kannst dir aussuchen, was dir lieber ist. Ich gebe dir genau zehn Sekunden, um dich bei mir zu entschuldigen.« Die anderen Savanen saßen schweigend da. Von ihnen hatte er keine Hilfe zu erwarten. Setter sah sich um. Das nächste
Lager war das der Piegan-Siksika, in vierzig Fuß Entfernung. Zu weit weg. »Lenape, wie? Ihr hattet einen berühmten Vertrag mit William Penn, in dem euch euer Land auf Dauer zugesichert wurde. Dann stahl man es euch, um die Gunst der Seneca, eurer Feinde, zu gewinnen. Ihr wurdet in Kansas zusammengepfercht, später in Oklahoma. Belogen und betrogen von den Leuten, für die du mich töten willst. Und warum? Weil ich sage, daß eure Wasichu-Kumpanen euch übers Ohr gehauen haben? Weil ich die Wahrheit sage? Wenn du mich wirklich deswegen töten willst, dann nur zu.« Der Lenape sah ihn an. Er war ein Söldner, wie die meisten Lenape in den letzten hundert Jahren. Als die zehn Sekunden verstrichen waren, sicherte er seine Waffe und steckte sie weg. Sofort ignorierte Setter ihn und wandte sich wieder den anderen zu. »Und bedenkt, ihr stolzen Männer. Wenn erst einmal Blut fließt, steckt ihr mit drin, ob ihr nun wollt oder nicht. Die Wasichu machen keinen Unterschied zwischen guten und bösen Indianern. Ein paar Wochen nach Ausbruch des Krieges wird ein Haufen betrunkener Vigilanten durch eure schönen Reservationen geritten kommen, eure Kinder erschießen und eure Frauen vergewaltigen. Dann werdet ihr wissen, auf welcher Seite ihr seid, doch dann wird es zu spät sein. Entscheidet euch jetzt, nicht erst dann. Und bedenkt auch, daß, wenn der Krieg vorüber ist und die Indianer dieses riesige Land kontrollieren, sich für die gebildeten unter ihnen große Möglichkeiten bieten. Gute Nacht, Gentlemen.« Setter stand auf und ging langsam hinüber zum Lagerfeuer der Siksika. Schweiß perlte auf seiner Oberlippe. Er fühlte sich vollkommen erschöpft, und seine Mokassins schienen im
Boden zu versinken. Eine kalte Brise wehte vom Fluß herauf. Doch kein Savane jagte ihm eine Kugel in den Rücken. Big Lake kam ihm entgegen. »How!« »How! How!« »Cola!« »Es ist eine Ehre für uns, daß du unser Lager besuchst. Ich verspreche dir, daß keine weiteren Reden nötig sind. Wir haben uns bereits entschieden. Diese Last liegt hinter uns, und jetzt können wir uns ausruhen.« Der hochgewachsene Häuptling führte Setter zu einem Ruhebett aus Büffelhäuten. Big Lakes Frau reichte ihm in einer Lederschale ein Eintopfgericht aus Mais und Dörrfleisch. Ein Lakota und ein Siksika spielten das Schätzen-Spiel. Der Lakota ließ eine Kaninchenpfote so schnell von einer Hand in die andere gleiten, daß das Auge nicht zu folgen vermochte. Der andere Spieler mußte raten, in welcher Hand sie sich gerade befand. Der Einsatz war ein Paar Rennponys. They Fear His Horses sah zu und amüsierte sich. »Sie sind Champions«, sagte Big Lake. »Der Lakota gehört zu einer besonderen Gesellschaft, die They Fear His Horses folgt, den Ho-ksi-ha-ka-ta. Hier, bitte.« Big Lake bot Setter eine Köstlichkeit an, eine über dem Feuer gebratene, mit Knochenmark bestrichene Büffelleber. Setter aß sie und grunzte anerkennend. »Du wirst langsam wie ein Elefant«, sagte They Fear His Horses zu dem spielenden Lakota, »was immer ein Elefant sein mag. Ich weiß nur, daß er groß und schwerfällig ist wie ein Wasichu-Pferd.« »Iß«, sagte Big Lake. »Morgen beginnen die Lakota ihren Sonnentanz, und die Leute werden fasten.«
Gall setzte sich neben Setter. Der Lakota war ein muskulöser Mann mit kräftigem Kinn. Vertrauenswürdig, doch nicht allzu intelligent, erinnerte er Setter an Ajax. »Die Savanen werden sich uns anschließen, nicht wahr?« fragte Sitting Bull. »Früher oder später«, sagte Setter. Big Lake beugte sich zu Setter hinüber. »Im Land der Großmutter lassen sie alle Stämme frei umherziehen, ganz besonders dann, wenn sie nach Süden auf die Plains ziehen. Als mir das klar wurde, wußte ich, daß du recht hast.« Gall nahm sich ein Stück Leber, bestrich es fingerdick mit Mark und schluckte die dampfende Masse mit einem einzigen Bissen hinunter. »Köstlich«, sagte er. »Das erinnert mich an den Indianeragenten Myrich in Fort Ridgely. Einmal, im Winter, hungerten wir, und er verkaufte einfach das Fleisch, das man uns geschickt hatte. Als wir die Herausgabe des Essens verlangten, sagte er: ›Freßt doch Gras.‹ Also töteten wir ihn und stopften ihm Gras in den Mund. Das war vor zehn oder fünfzehn Jahren. Ein köstlicher Witz. Wir töteten damals achthundert Soldaten.« Big Lake starrte ins Feuer. Er war hager und wirkte aristokratisch in seinem elfenbeinfarbenen Wildlederhemd. »Sie haben keine Visionen, die Wasichu«, sagte er. »Zuerst fiel es mir schwer, das zu glauben. Wie kann man ohne eine Vision zu einem Namen gelangen? Es ist kein Wunder, daß sie so viel wollen, denn sie werden von keiner Vision geleitet. Das ist, glaube ich, der große Unterschied zwischen ihnen und uns, nicht so sehr die Hautfarbe.« Der Lakota öffnete unter dem Triumphgeschrei der Zuschauer die Hand, in der sich die Kaninchenpfote befand. Setter verabschiedete sich und ging davon. Die Dinge liefen
gut. Sitting Bull und Wovoka waren ebenfalls unterwegs, um Fragen zu beantworten. Er konnte schlafen gehen. Eine Hand berührte seinen Arm. Es war They Fear His Horses. Rufe ertönten vom Lagerfeuer, wo das Spiel fortgesetzt wurde. »Da sind noch ein paar andere Dinge, die ich dich nicht vor allen anderen fragen wollte«, sagte der Oglala Lakota. »Vielleicht können wir uns hier unterhalten.« Setter nickte, und sie setzten sich am Ufer ins Gras. Zwischen den Sternen und den sich endlos erstreckenden Lagerfeuern schien es keinen Horizont zu geben. »Ich werde alle deine Fragen beantworten«, sagte Setter. Es fiel They Fear His Horses offensichtlich schwer, auszusprechen, was ihn bedrückte. Er formulierte die Frage sorgfältig, um Setter auf keinen Fall zu verletzen. »Die erste neue Regel ist, daß wir keinem Weißen trauen sollen. Und doch, die Waffen und die Nahrungsmittel, die wir bekommen, das alles kommt von den Weißen. Vertrauen wir also diesen anderen Weißen? Was verlangen sie als Gegenleistung dafür, daß sie uns helfen? Mir scheint, das gibt keinen Sinn.« Trotz der Dunkelheit hatte Setter das Gefühl, daß der Kriegshäuptling ihn aufmerksam beobachtete. »Wir vertrauen keinem Weißen«, sagte Setter. »Diese anderen Weißen wollen genau das gleiche wie die Soldaten, nämlich alles, was wir besitzen.« »Worin besteht dann der Unterschied?« »Der einzige Unterschied ist, daß sie weiter weg sind.« »Was ist, wenn sie herkommen, um abzukassieren?« »Sie werden nicht das bekommen, was sie haben wollen, sondern das, was wir ihnen geben. Und was wird sie daran hindern, sich einfach zu nehmen, was sie haben wollen? Nun,
sie und die Vereinigten Staaten sind zwei hungrige Wölfe, die denselben jungen Elch verfolgen. Sie sind zunächst vollauf damit beschäftigt, sich gegenseitig zu bekämpfen. Dann, wenn schließlich einer von beiden siegt, hat der Elch inzwischen sein Geweih und kann den übriggebliebenen Wolf töten.« They Fear His Horses dachte über diese Erklärung nach. Dann rief er: »Washtay! Das gefällt mir. Das ist eine Vision nach meinem Geschmack. Für mich bist du ein Lakota, ein Freund. Du hast Zauberkräfte, weißt du. Ich spüre das.« Ein Nachtfalke schrie über ihnen in der Luft. »Man nennt diese Zauberkräfte Marktwirtschaft«, sagte Setter. Bei Sonnenaufgang trafen die Waffen ein. Auf den letzten zehn Meilen wurden die den Powder River hinuntertreibenden Kähne von Reitern unter der Führung von American Horse begleitet. Die Dog-Soldier-Gesellschaften sorgten dafür, daß die Kähne an Land gezogen wurden. Man führte die Maultiere von Bord, wobei das Wasser unter dem Gewicht der Kanonenteile aufspritzte. They Fear His Horses und Brave Wolf inspizierten jede Kiste mit Repetierern, die ans Ufer gebracht wurde. Ihre Befriedigung wuchs zusehends mit jeder Ladung Gewehre. Sogar Jumper, der im Bürgerkrieg Offizier gewesen war, beeindruckte die Menge der Waffen. Victorio lud ein Gewehr und leerte das Magazin in zehn Sekunden. Die Waffen wurden den verschiedenen Kriegergesellschaften zugeteilt. Jumper stand bei den Maultieren und betrachtete die demontierten Kanonen. »Erscheinen sie dir vertraut?« sagte eine Stimme hinter ihm. Two Moons stand dort und ließ seine Hand über den Lauf einer Kanone gleiten. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Schon gut«, sagte Jumper. »Ich vergesse eben manchmal, daß ein paar von euch Englisch sprechen. Mein Fehler. Yeah, sie erscheinen mir vertraut. Es sind Bergkanonen. Sie haben sich kein bißchen verändert. Ich habe mich nur gerade gefragt, ob irgend jemand von euch weiß, wie man sie bedient.« Two Moons schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß es nicht, und ich kenne auch niemanden in meinem Stamm, der es wüßte. Wir haben nie zuvor welche gehabt.« Jumper runzelte die Stirn. »Wie, zum Teufel, wollt ihr sie dann einsetzen?« »Es wird sich schon jemand finden, der sich mit ihnen auskennt«, sagte der Tsistsita offen. »Deswegen mache ich mir keine Sorgen.« »Das darf doch nicht wahr sein!« sagte Jumper. Er zog seine Jacke aus und legte sie sorgfältig gefaltet über einen Sattel. »Nun, bis sich dieser glückliche Jemand einfindet, laßt mich euch wenigstens zeigen, wie ihr diese Bastarde zusammenbauen müßt, ohne euch dabei selbst in die Luft zu jagen.« Schon während das erste Gewehr ausgeladen wurde, waren die Vorbereitungen für den Sonnentanz in vollem Gange. Der chun wakon, der heilige Baum, war aufgestellt, eine schlanke Pappel. Zwei Mädchen mit gutem Leumund hatten die Zweige abgeschnitten, und der Stamm stand auf ebenem Boden, umgeben von Zelthäuten, die sich in der Mitte zur Sonne hin öffneten. Sitting Bull hatte den Baum rot angemalt. Seine Finger waren mit der heiligen Farbe bedeckt. Als das Pflanzloch ausgehoben war, hatte er ein Stück Büffelfett hineinfallen lassen, als Gabe für Maka, die Erdmutter. Dann hatte man den Stamm aufgerichtet. Nachdem lange Riemen an der Spitze des Baumes festgeknotet worden waren, war alles bereit für die Tänzer. Die Waffen waren ausgeladen und die
Männer des Canadien Service versorgt. Alles wartete auf den nächsten Sonnenaufgang. In einem verschlossenen Wigwam befanden sich dreißig Tänzer. Dort bereiteten sie sich mit Schweißbädern vor, während Priester sie mit Salbei einrieben und am ganzen Körper rot anmalten. Die Haupttänzer würden jene Männer sein, die Custer als erste erblickt hatten – Calf, Roan Horse und Bobtail Horse. Als erster kam Roan Horse aus dem Wigwam. Er trug einen riesigen Büffelschädel. Zwei Reihen Lakotaindianer standen Spalier, die Männer im vollen Kriegskopfschmuck und die Frauen mit Blumen im Haar. Noch vor dem Morgengrauen erreichten die Tänzer den Tanzplatz, wo sich Botschafter und Krieger der anderen Stämme den Zuschauern anschlossen. Geführt von Roan Horse, umkreisten die Tänzer langsam den Baum. Sie zitterten vor Kälte. Die übrigen Indianer drängten sich um die Tanzfläche. Jene, deren Söhne oder Brüder tanzten, waren von Stolz erfüllt. Das Blau der kreisrunden Zeltöffnung über dem Baum verwandelte sich zuerst in silbernes, dann in goldenes Licht. Die Sonne war aufgegangen. Die Tänzer blieben stehen. Trommeln wurden geschlagen, und ihr Widerhall an den Zeltwänden mischte sich mit den Stimmen der Trommler. Die Zuschauer schrien aufgeregt. Dann hielten Trommler und Tänzer abrupt inne, und Roan Horse tanzte allein einen Kreis um den Baum. Dreimal stieß er mit dem Büffelschädel von oben gegen einen Haufen aus weißem Lehm. Beim vierten Mal stellte er den Schädel auf die Spitze des Lehmhaufens. Sitting Bull kam zu ihm. Er brachte ihm eine mit Adlerfedern und Wieselpelz verzierte Pfeife und eine Schale aus rotem Lehm. Den Anweisungen folgend, die er in der letzten Nacht
empfangen hatte, legte Roan Horse die Pfeife auf zwei gegabelte, zuvor in den Boden gesteckte Äste. Die Trommeln wurden wieder geschlagen, die Zuschauer riefen, die Trommler sangen, und die Tänzer wirbelten mit den Schritten von Pferden, Antilopen, Adlern und Büffeln um den Stamm. Auch die Tänzer schrien und bliesen auf ihren Flöten aus Adlerknochen. Stunde um Stunde bewegten sich ihre Körper, und ihre Augen starrten auf die Zeltöffnung über dem Baum, sogar noch, als die Sonne dort strahlte wie eine weißglühende Kohle. Dann, auf ein Zeichen Sitting Bulls, verstummten die Trommeln. Der Boden war rosa von der Farbe, die mit dem Schweiß der Tänzer herabgelaufen war. Roan Horse nahm die Pfeife von den Ästen, und die übrigen Tänzer hoben andere, kleinere Pfeifen auf. In einer langen Reihe gingen sie zu den Trommlern und boten ihnen die Pfeifen an. Die Trommler lehnten sie ab. Sie boten die Pfeifen erneut an, und wieder wurden sie zurückgewiesen. Beim vierten Mal nahmen die Trommler die Pfeifen an und verwahrten sie, während die Tänzer sich auf den nächsten Teil des Sonnentanzes vorbereiteten. Sitting Bull und die anderen Wichashas kamen mit Salbei zu den Tänzern und rieben ihnen die Reste der roten Farbe ab. Nun wurden sie mit Gelb bemalt, das ihnen Kraft zu wachsen verlieh. Ihre Arme unterhalb der Ellbogen und ihre Beine unterhalb der Knie wurden mit Blau bemalt, das die Kraft zu leben und zu zerstören symbolisierte. Auf ihre Rücken wurde ein Halbmond gemalt. Als dies geschehen war, sang Roan Horse das erste Lied:
»Vater, male die Erde auf mich, ich werde ein Volk auf ihr gründen. Ein heiliges, zweibeiniges Volk will ich schaffen. Vater, male die Erde auf mich.« Die Wichasha banden Riemen aus Büffelhaut um die Knöchel und Handgelenke der Tänzer, um ihnen Festigkeit für die bevorstehende Tortur zu geben. Die Tänzer gingen zu den Trommlern und bekamen ihre Pfeifen angeboten. Dreimal lehnten sie ab, und beim vierten Mal nahmen sie sie und legten sie zurück auf die gegabelten Stöcke. Die Trommeln wurden wieder geschlagen, während alle Tänzer bis auf zwei mit gelben Körpern und blauen Gliedern um den Baum wirbelten. Jene zwei standen regungslos, ohne mit der Wimper zu zucken, als die Wichashas eine spitze Ahle durch ihre Brustmuskeln stießen und an jedem der aufgetrennten Muskeln einen schweren Riemen befestigten. Als die Schmerzen unerträglich wurden, warfen sie die Köpfe zurück und starrten in die Sonne. Alle Lakota im Zelt sangen: »Sieh, wie die heilige Sonne wandert! In der blauen Robe des Morgens wandert sie, ihre Macht strahlt auf das Gras herab. Hey-o-ha, Hey-o-ha, Hey-o-ha, Hey-o-ha, Hey-o-ha!« Die beiden Tänzer lehnten sich gegen die Riemen, durch die sie über den Baum mit der Sonne verbunden waren. Mit ausgebreiteten Armen flogen sie um den Baum, laut singend und mit vom Starren in die Sonne trockenen Augen. Der Schmerz löste sie von der Erde, hob sie hoch über die anderen Tänzer, gleich Adlern, bis man sie bei Sonnenuntergang losschnitt und
sie auf dem Boden zusammenbrachen. In den folgenden drei Tagen flogen alle Tänzer auf diese Weise. Während dieser Zeit war ihnen weder Nahrung noch Wasser erlaubt. Sie durften lediglich auf einem Stück Rinde kauen, um sich den Mund anzufeuchten. Nachts unterhielten sich beim Wigwam der Tänzer die Männer anderer Stämme und befragten die Lakota über den Sonnentanz. Die Inde akzeptierten den Sonnentanz ohne jede Frage; die Savanen betrachteten ihn mit Verachtung und Schrecken. Eines war für alle klar zu erkennen: der Schmerz in den Körpern der Tänzer, die an jedem Tag nach der Tortur zusammenbrachen. »Es geschieht, um den Stolz aus dem Herzen zu vertreiben«, wurde Black Horse von Sitting Bull erklärt. »Es gibt einen Punkt, wo der Schmerz unerträglich wird. Jeder Mann, egal wie tapfer er ist, weiß, daß er es dann nicht mehr aushalten kann. Und doch erträgt er es.« »Was bedeutet das?« »Es bedeutet, daß er gezwungen wird, sich ganz Wakon Tonka anzuvertrauen. Dann kann er alles überwinden. Der Stolz wird durch diese Erkenntnis ersetzt, die weit wertvoller ist.« »Aha«, sagte Black Horse und leckte sich das Fett einer Büffelrippe von den Fingern, während er zugleich an die Tänzer in ihrem Wigwam dachte, deren Mägen drei Tage leer blieben. »Was ist mit diesem Where The Sun Goes?« fragte er, um das Thema zu wechseln. »Hat er den Sonnentanz mitgemacht?« »Er verlangte es, und wir erlaubten es ihm. Es war nicht leicht für jemanden in seinem Alter, der das zum ersten Mal tut.« »Wo ist er jetzt? Warum ist er nicht bei uns?«
»Er ist zum Großen Salzsee gegangen, um Männer zu treffen, die sich selbst… Heilige nennen.« Am vierten Tag war nur noch Roan Horse übrig. Er sollte als letzter fliegen. Die Lakota trugen ihre feinste Tracht. Der Federkopfschmuck der alten Männer reichte bis auf den Boden. Die Frauen trugen weiche Wildlederkleider, deren Taillen reich verziert waren. Der Vater von Roan Horse führte dreißig Hengste in das Lager, die er an die Armen verschenkte, um die Ehre zu feiern, die seinem Sohn zuteil wurde. Auf der Tanzfläche tanzten diejenigen, die schon geflogen waren, sich aber wieder auf den Beinen halten konnten. Ihre Brüste hatte man mit Po-ipiye verbunden, doch schon bald platzten sie durch die Bewegungen auf. Roan Horse, der erste Tänzer, der einen ganzen Tag lang um den Baum fliegen durfte, war rot angemalt, seine Arme und Beine leuchteten blau. Adlerfedern waren an seinen Handgelenken und in seinem Haar befestigt. Man hatte ihm den wilden, unbezähmbaren Rotschimmel seiner Vision auf den Rücken gemalt. Alles das diente dazu, ihm jene gewaltige Kraft zu verleihen, die er benötigen würde. Sitting Bull ging zu dem geweihten Büffelschädel und füllte Ohren, Augenhöhlen und alle anderen Hohlräume des Schädels mit Salbei. Dabei sang er: »Ein geheiligtes Volk erscheint, seht, es erscheint! Das Büffelvolk erscheint, seht, es erscheint!« Als er das letzte Wort gesungen hatte, fiel der Salbei aus dem Schädel auf den Lehmhaufen. Sitting Bull hob den schweren
Schädel auf und zog einen Riemen durch den Kiefer. Dann schlang er den Riemen um Roan Horses Hals, so daß ihm der Schädel auf dem Rücken hing. Roan Horse sah in die Sonne. Mit zwei kurzen Stichen durchstieß Sitting Bull ihm die Brustmuskeln und befestigte die langen Lederriemen. Als das Spiel der Trommeln begann, ließ Roan Horse sich zurückfallen, um die Riemen zu prüfen, die ihn nun unentrinnbar mit Gott verbanden. Als er um den Baum schwang und das Gewicht des Büffelschädels an ihm zerrte, sangen seine Brüder und Freunde für ihn und dankten ihm so für die Ehre, die er ihnen bereitete. Schließlich, als die Sonne genau über der Zeltöffnung stand, sangen alle Lakotas und priesen den Krieger, dessen Mut seinem ganzen Volk zur Ehre gereichte. Der Mann, dem ihr Gesang galt, hing rot unter einem roten Baum. Seine Brustmuskeln waren zum Zerreißen gespannt. Sein Geist folgte einem schönen Rotschimmel, der durch die Wolken galoppierte. Er schwang sich ein weiteres Mal um den Baum, und die Riemen rissen zuerst einen und dann den anderen Muskel aus seiner Brust. Die Lakotas kreischten vor Freude angesichts dieser größten Tat, die ein Tänzer für sein Volk vollbringen konnte. Black Horse fühlte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Sitting Bull und die anderen Wichashas rannten auf die Tanzfläche, um die Wunden zu verbinden. Roan Horse war wieder auf den Beinen. Er neigte den Kopf, damit sie ihm den Schädel abnehmen konnten. Sitting Bull sah dem Tänzer in die Augen. Er lächelte stolz, als Roan Horse ohne fremde Hilfe aufrecht stand. Sitting Bull führte ihn weg von dem heiligen Baum hinaus zu einem Hügel, von dem man das Lager und den Fluß über-
blicken konnte. Alle Lakotas, Tsistsitas, Wichashas und sonstige Zuschauer folgten ihnen und umringten den Hügel. Auf der Spitze des Hügels wartete ein Hengst, den man dort festgebunden hatte, auf Roan Horse und Sitting Bull. Das Pony war blau angemalt, und eine Adlerfeder war um seinen Schwanz geflochten. »Brauchst du Hilfe?« fragte Sitting Bull freundlich. »Nein, ich danke dir, Wichasha.« Roan Horse legte seine rechte Hand um den Nacken des Pferdes und schwang sich hinauf. Er saß aufrecht und spürte, wie seine Erschöpfung wich, so, als sauge er neue Kraft aus dem Pony. Sitting Bull reichte ihm die geweihte Pfeife, die er von der Tanzfläche mitgebracht hatte. Der Tänzer ritt ein Stück, hielt die Pfeife hoch und ließ das Pferd sich dann nacheinander in jede der vier Himmelsrichtungen aufbäumen. Dabei sagte er so laut, daß es alle hören konnten: »Großvater, du gabst mir diese Pfeife und diesen Morgenstern. Gib mir die Augen zu sehen und die Kraft zu verstehen, so daß ich ein Volk werde und lebe!«
*** Die Fernsehkabel liefen wie Peitschenschlangen von der Vorhalle in den Konferenzsaal. Elektriker schlossen Kameras an. Die Tribüne war so hell erleuchtet, daß die Dog Soldiers und die Presseleute, die von ihnen überprüft wurden, zweidimensional aussahen. Andere Dog Soldiers waren in dem Konferenzsaal, in der Halle und am Haupteingang der Botschaft verteilt. Jeder, der hereinkam, wurde kontrolliert. »Ich melde mich hier aus der indianischen Botschaft«, sagte die CBS-Reporterin in ihre Kamera vor der Tribüne. »Zeich-
nest du das einmal auf, Joe?« Während sie auf das grüne Licht wartete, machte sie sich Notizen. Liz Carney war Mitte Dreißig, chic, mit platinblondem Haar und einem Tweedanzug. »Okay?« Der Kameramann nickte. »Ich melde mich hier aus der indianischen Botschaft. Während Berichte über die Mobilmachung der Nationalgarde das Land überschwemmen, ist hier in der Hauptstadt in allerletzter Minute ein Unterhändler der Indianischen Nation eingetroffen, der gleich eine Pressekonferenz geben wird. Beobachter sind verwirrt. In einer Fernsehansprache erklärte der Präsident gestern abend, daß er angeboten habe, jederzeit überallhin zu gehen, um, wie er sich ausdrückte, ›neue Grenzen und einen ehrenhaften Frieden für Nordamerika mit nach Hause zu bringen‹. Er sagte, daß diese Offerte von den Indianern abgelehnt worden sei. Nun jedoch liefert das plötzliche Erscheinen des Diplomaten Holds Eagles Spekulationen und neue Nahrung, daß Verhandlungen und eine friedliche Neuverteilung dieses Kontinents möglich sind. Eine eilig von der indianischen Botschaft herausgegebene Pressemitteilung besagt, daß Holds Eagles achtundzwanzig Jahre alt ist und als Übersetzer und Gesandter für Sonderaufgaben in zahlreichen Ländern gearbeitet hat. Indianologen sagen übereinstimmend, daß er ein unbeschriebenes Blatt ist. Aber vielleicht ist er deshalb in dieser festgefahrenen Situation genau der richtige Mann. Einigkeit herrscht jedenfalls darüber, daß dieser unbekannte Unterhändler eine Menge Glück brauchen wird, um nach einem Jahrhundert des Mißtrauens und der wachsenden Kriegsbereitschaft die Beziehungen unserer beiden Länder zu kitten.« In der Halle zeichnete der NBC-Mann gerade seinen einlei-
tenden Kommentar auf: »… kann er vielleicht zur Änderung einer Situation beitragen, in der zehn Millionen Indianer ein riesiges Gebiet für sich behalten, ein Gebiet, das unsere Bevölkerung von über zweihundert Millionen so dringend braucht. Irgend jemand sagte einmal, daß Preußen eine Armee mit einem Land gewesen sei. Heutzutage sind die Indianer Preußen in Lederhemden, die versuchen, das Herz des Kontinents mit Hilfe ihres militärischen Machtpotentials für sich zu behalten. Es ist ein bißchen spät für Preußen, uns einen Talleyrand zu schicken.« Ein Regisseur hinter der Kamera schüttelte den Kopf, und der Reporter zuckte mit den Schultern und formulierte neu: »Es ist ein bißchen spät für Preußen, uns Friedenszweige zu schicken.« Wieder schüttelte der Regisseur den Kopf. »Es ist ein bißchen spät für die Indianer, uns Friedenszweige zu schicken. Himmel noch mal.« »Löschen Sie die letzten beiden Worte«, sagte der Regisseur. In einer Ecke drehte das Schulfernsehen: »… noch aufzuhalten ist. Die Wellen der Gewalt, die in den sechziger Jahren ständig anschwollen, scheinen uns nun hinwegzuspülen. Die Ermordung eines Präsidenten und eines Präsidentschaftskandidaten, der Vietnamkrieg, Studentenunruhen und schließlich in diesem Jahr die Ermordung des Indianischen Häuptlings aller Stämme, Buffalo Rider, durch einen Amerikaner, alle diese Ereignisse scheinen auf ein schreckliches Crescendo hinzutreiben. Präsident Nielson traf sich gestern abend mit seinem Kabinett und den Stabschefs. Der Indianische Rat der Häuptlinge hat noch keinen neuen Führer gewählt, und der Präsident steht unter dem Druck, diese momentane Unentschlossenheit politisch auszunutzen.« Zwei Leute der Liberation Press kamen herein. Wie üblich
waren ihre Gesichter gerötet von einer Verfolgungsjagd mit dem FBI draußen auf der Straße. Sie lehnten sich gegen eine Wand und zogen Filmröllchen aus den Verstecken in ihrer Unterwäsche. »Man wird euch alles abnehmen, noch ehe ihr draußen seid«, rief ein ABC-Mann. Die Jungs grinsten und luden ihre Kamera. Sie wäre ihnen tatsächlich abgenommen worden, wenn sich nicht rechtzeitig ein Dog Soldier dazwischengestellt hätte. Ein anderer Dog Soldier kam nun aus dem Saal und erklärte, daß die Pressekonferenz gleich beginnen würde. Die Presseleute kämpften um die vorderen Plätze. Zwei Indianer erschienen und setzten sich an einen Tisch hinter einem niedrigen Zaun aus Mikrofonen. Der eine der beiden war alt, sein Gesicht hatte die Form und Farbe einer Avocado. Das war Bearman, der Botschafter. Der andere war Holds Eagles. Ihre Schatten fielen auf die Flagge an der Wand hinter ihnen. Bearman sprach zuerst: »Diese Pressekonferenz wurde einberufen, um Vertretern der amerikanischen Presse Gelegenheit zu geben, eine Stellungnahme eines Gesandten der Indianischen Nation zu hören. Die Niederschrift dieser Stellungnahme wird nachher verteilt. Außerdem wird Holds Eagles einige Fragen beantworten.« Es gab keinen Beifall. Holds Eagles betrachtete die Wasichu aufmerksam. Unter den Reportern war der »Importeur« aus Roanoke. Als Holds Eagles ihn eine Weile offen anblickte, wand sich der Geheimdienstler unbehaglich und ging schließlich. »Ich bin in die Vereinigten Staaten gekommen«, sagte Holds
Eagles, »um einen Krieg zu verhindern, den keine Seite gewinnen kann. Ich wünschte, ich könnte dem amerikanischen Volk eine Liste neuer Vorschläge präsentieren, doch diese Dinge müssen zunächst von unseren beiden Regierungen auf der Basis gegenseitigen Vertrauens erarbeitet werden. Ich kann nur sagen, daß ich in direktem Kontakt zum Rat der Häuptlinge stehe. Die Häuptlinge wollen nicht, daß die Armeen, die an unserer Grenze konzentriert sind, jemals aufeinandertreffen und daß die Raketen, die auf unsere Städte gerichtet sind, jemals abgefeuert werden. Ich würde den amerikanischen Präsidenten niemals beschuldigen, daß er einen solchen Krieg will. Ich würde auch das amerikanische Volk niemals beschuldigen, daß es den Krieg will. Auch wir wollen den Krieg nicht. Dies sollte die Basis eines neuen und dauerhaften Friedens sein.« Es gab keinen Beifall. Der NBC-Regisseur schaltete sein Walkie-Talkie ein. Eine Stimme darin fragte: »Was hat er gesagt?« »Nichts«, antwortete der Regisseur. Er stieß seinen Reporter mit dem Bleistift in den Rücken. »Was erhoffen Sie sich denn eigentlich noch von dieser Reise, Mr. Eagles?« fragte der Reporter. »Sie sind in eine Botschaft gekommen, aus der der größte Teil des Personals vor einer Woche abberufen wurde. Der Kongreß hat den Präsidenten bereits ermächtigt, alle Maßnahmen zu ergreifen, die er zum Schutz amerikanischer Truppen für notwendig erachtet. Meinungsumfragen zeigen, daß die Mehrheit der Amerikaner will, daß der Präsident die Rückgabe von Gebieten fordert, die von Ihrer Regierung besetzt gehalten werden. Genau besehen, scheint Ihre Reise doch ein recht aussichtsloses Unterfangen zu sein?«
»Ich hoffe, nicht.« »In den Vereinigten Staaten gibt es seit langem eine Gruppe, die mit dem Roten Mann sympathisiert«, sagte der HearstReporter. »Wir nennen diese Leute Pinks. Planen Sie, mit ihnen Kontakt aufzunehmen?« »Ich hoffe, mit dem ganzen amerikanischen Volk und seinen Führern in Kontakt zu kommen.« Einer der beiden Jungs von Liberation Press zog Holds Eagles Aufmerksamkeit auf sich. Er sprach aufgeregt, während sein Freund die Kamera auf den Tisch richtete. »Es gibt Gerüchte, daß Armee, FBI und Justizministerium versucht haben sollen zu verhindern, daß irgendein Unterhändler der Indianischen Nation Washington erreicht. Gerüchte, daß man Sie verhaftet haben würde, wenn Sie es nicht rechtzeitig bis zur Botschaft geschafft hätten. Würden Sie sich dazu bitte äußern?« »Ich möchte mich dazu nicht äußern.« »Aber Sie dementieren es auch nicht?« Das war Liz Carney. »Ich möchte mich nicht äußern.« Sie wollte gerade weiter nachhaken, als jemand von der Daily News fragte, ob Holds Eagles sich darüber im klaren sei, daß kurz vor Pearl Harbor das letzte Mal ein indianischer Gesandter Washington besucht habe. »Ich hoffe, daß jetzt und in Zukunft keine Seite einen Angriff beginnen wird. Wenn das alle Fragen sind, meine Damen und Herren, dann danke ich Ihnen.« Holds Eagles verschwand so schnell, daß kein Protest mehr möglich war. Eine Stunde später sah Präsident Nielson im Weißen Haus zum zweiten Mal eine Aufzeichnung der Pressekonferenz. An den Wänden befanden sich Fernsehschirme und andere elek-
tronische Ausrüstungen. Dekoriert war der Raum mit Erinnerungsstücken an den Krieg im Pazifik, mit Speeren, Macheten und hölzernen polynesischen Schilden. Sie bildeten einen ziemlichen Gegensatz zu den Hummerkäfigen, die Präsident Cabot während der vorhergegangenen Amtszeit aufgehängt hatte. »Wie hat er sich bloß so mir nichts dir nichts nach Washington einschleichen können?« fragte der Präsident. Der Justizminister, ein schrumpliger grauer Mann in einem ebenso grauen Anzug, zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Er ist ganz einfach schlau gewesen. Schließlich hat er uns sein Kommen nicht angekündigt.« »Eines ist jedenfalls sicher«, sagte der Marinechef, »er hat uns die Schau gestohlen. Wir sind jetzt nicht mehr im Vorteil.« »Sie werden mit ihm reden müssen, Sir«, sagte der Pressechef. »Das Fernsehen hat ihm eine Menge Sendezeit eingeräumt. Ich habe Hunderte von Anfragen für ein Interview mit Ihnen.« »Dieser Bastard. Ich denke, wir sollten uns gar nicht um ihn kümmern und einfach weitermachen wie geplant. Wir haben nicht ewig Zeit«, sagte der Justizminister. »Harry hat recht. Gespräche können sich ewig hinziehen«, sagte der Mann von der Staatssicherheit. »Eine Provokation an der Grenze, und wir wären wieder am Ball.« »Ich kann nicht begreifen, warum die Indianer nicht vernünftig sein wollen«, sagte der Präsident. »Warum teilen sie ihr Land nicht mit uns? In dem Land, das jetzt den Pueblos gehört, wäre genug Platz für sie. Den Rest würden wir ihnen abkaufen.« Eine Weile herrschte Stille. Nielson war ein schmächtiger Mann mit einer langen Nase und Wangen, die ständig
aussahen, als äße er gerade saure Trauben. Er zeichnete sich lediglich dadurch aus, daß er vor dreißig Jahren einmal eine Huk-Rebellion niedergeschlagen hatte. Vor seiner Präsidentschaft war er Gouverneur von Kalifornien gewesen. Hier, umgeben von den Mächtigen Washingtons, neigte er dazu, sich auf zweideutige Äußerungen und beifallsträchtige Allgemeinplätze zu beschränken. »So sind die Indianer nun einmal«, sagte der Justizminister schließlich. »Sie wissen eben die Gefälligkeiten, die wir ihnen anbieten, nicht zu schätzen. Was die Provokation betrifft, ihre Raketen sind schließlich auch eine Provokation. Eine Pistole an unserer Schläfe.« »Sie werden sich mit ihm treffen müssen, Sir«, sagte der Pressechef. »Jetzt, wo er schon einmal hier ist. Wenn Sie ihm Ihre Position in punkto Verhandlungen darlegen wollen.« »Ach du Schande! Ihm darlegen. Wir sollten dem Dreckskerl einen Tritt versetzen, daß er bis zur Grenze fliegt. Dort kann er sich dann dem Stamm der Schwarzärsche anschließen«, murrte der Justizminister. »Und die Interviews«, fuhr der Pressechef fort. »Was ist damit?« »Verzeihung, Sir, aber wenn es Interviews geben sollte, ist es wohl besser, vorher zu überprüfen, wer an ihnen beteiligt ist«, sagte der Mann von der Sicherheit. »Natürlich«, sagte der Präsident mit Nachdruck. »Wir wollen schließlich nicht, daß diese Sache zu einem Propagandazirkus wird.« Der Justizminister räusperte sich vernehmlich. »Harry?« fragte der Präsident. »Ich wollte nur noch hinzufügen, daß diese ganze Geschichte natürlich von ihnen von Anfang an als Propagandazirkus
geplant ist. Wir haben seit Wochen jeden diplomatischen Kontakt zu den Indianern untersagt, ihre Funkverbindung ist unterbrochen. Dieser Kerl hat keine Möglichkeit, dem Häuptlingsrat irgendwelche Botschaften zu senden oder von dort Botschaften zu empfangen. Die ganze Sache ist ein Schlag ins Gesicht. Das ist es, was mich so wütend macht.« »Mir kommt da ein Gedanke«, sagte der Marinechef. »Einmal angenommen, die Verhandlungen beginnen. Zweifellos hat Holds Eagles eine vorher festgelegte Liste von Dingen, die er sagen beziehungsweise nicht sagen darf. Wenn es uns nun, gelänge, da irgendwie Verwirrung hineinzubringen, wenn wir die Häuptlinge dazu bringen könnten, zu widerrufen, was er sagt, dann wären die Verhandlungen als Betrug entlarvt. Und wir hätten dann eine noch bessere Rechtfertigung für unsere Kriegsvorbereitungen.« »Nicht schlecht«, sagte der Sicherheitschef. Der Präsident sah den Justizminister an. Harry Moore beriet den Präsidenten seit Jahren, erst als Anwalt, dann als Wahlkampfmanager und nun als Leiter des Justizministeriums. »Sicher«, sagte Moore. »Doch bis es soweit ist, werde ich weiter nachdenken.« An diesem Abend stand der Pressechef während des Essens auf, um einen Telefonanruf entgegenzunehmen. Als er zurückkam, grinste er über das ganze Gesicht. »Harry Moore hat sein Okay gegeben dafür, daß Liz Carney den Indianer übernehmen darf. Sie ist nicht gerade seine Lieblingsreporterin, und deswegen nehme ich an, daß er nun auch für gute Beziehungen zur Presse ist. Ich habe mich also doch nicht allzu sehr in die Nesseln gesetzt.« Am nächsten Morgen wurden von der Polizei die Straßen abgesperrt. Die Pennsylvania Avenue und alle sie kreuzenden
Straßen wurden mit Fahnen geschmückt. Schon früh fanden sich die ersten Zuschauer ein und setzten sich mit Thermosflaschen auf die Bürgersteige. Hot Dog-, Ballon- und Eiskremverkäufer öffneten ihre Stände. Der Lärm der Kapellen, die sich im Park warmspielten, hallte die breite Straße hinunter. Weitere Zuschauer trafen ein, Gruppen, patriotische Vereinigungen, die versuchten, einen prestigeträchtigen Platz nahe der Ehrentribüne zu ergattern. Eagle Scouts stellten sich auf, um gemeinsam mit Männern des Geheimdienstes die Loge des Präsidenten zu bewachen. Die Bürgersteige waren jetzt mit Menschen überfüllt, und das Spiel der Kapellen wurde lauter. Hochrufe erschollen. Die Limousine mit dem Präsidenten und seiner Familie traf ein. Kurz darauf erschien Vizepräsident Ho. Expräsident Cabot erhielt einen Ehrenplatz neben dem Präsidenten. Alle Ehrengäste auf der Tribüne klatschten Beifall, als Präsident Nielson sich erhob und mit beiden Händen winkte. Sofort marschierte die erste Kapelle die Straße hinunter. Es war das Musikkorps der Marine, die Einheit des Präsidenten. Als sie an der Tribüne vorbeikamen, spielten sie sein Lieblingslied »Clementine«. Dahinter folgten die ersten hundert Regimenter unter dem Jubelgeschrei der Menge. Fahnen und Banner wurden geschwenkt. Ein Regiment nach dem anderen marschierte die Avenue hinunter und salutierte, wenn es die Ehrentribüne erreichte. Als alle Einheiten vorübergezogen waren, erhoben sich die Zuschauer auf der Tribüne und klatschten im Stehen, denn das Ende der Parade bildete eine Gruppe von Invaliden in voller Uniform, geführt von einem Major, der zackig salutierte, als er auf seinen beiden Holzbeinen vor der Ehrentribüne entlangschritt. (Die USA hatten den Vietnamkrieg schließlich doch gewonnen.)
III Nakaha un ampetu owlhanke! Dies ist ein großer Tag, um zu sterben! LAKOTA
m Rabbit Creek spürten Captain Mills’ Scouts das Lager von American Horse auf. Es hatte nicht einmal ein Hundertstel der erwarteten Größe. Bei den Zelten hielten sich nur alte Frauen auf, die dabei waren, Spannpfähle zum Trocknen von Büffelhäuten aufzustellen. Es gab keinen Grund, einen so kleinen Sieg wie diesen mit irgend jemandem zu teilen. Ohne zu zögern, befahl Mills seinen Männern, bei denen es sich zum größten Teil um abtrünnige Indianer handelte, das Lager zu stürmen. Steine stoben unter den Hufen der Pferde, als die Scouts zum Fluß hinabritten. Die Squaws zerstreuten sich wie Krähen, als die Scouts über das Dorf herfielen. Mills konnte den alten American Horse erkennen, der zu einem Tipi mit einem Skalppfahl rannte. Es konnten nicht mehr als dreißig Menschen in dem Dorf sein, die meisten davon waren Frauen. Es würde werden wie eines der großen Dorfmassaker, wie Sand Creek oder Washita. Doch noch ehe der Angriff das Ufer erreichte, fiel die Vorderwand von American Horses Tipi herab. Alle Zelte verloren plötzlich ihre Häute. In American Horses Tipi und in zwei weiteren saßen Schützen hinter den fünf Läufen einer Goroloff. In den übrigen Zelten feuerten Männer, die nun keine Squaw-Kleider mehr trugen, aus Repe-
A
tierern. Früh am nächsten Morgen traf Crook nach einem schnellen Nachtmarsch am Rabbit Creek ein. Vollkommen erschöpft kampierten seine Soldaten am Wasser, während der General mit MacKenzie und Dodge das Schlachtfeld besichtigte. Crook war ein religiöser Mann mit einer Bibel in der Satteltasche und einem neutestamentarischen Bart aus langen grauen Locken. Kein Soldat wagte es, in Gegenwart dieses Patriarchen zu fluchen. Kein korrupter Indianeragent wagte es, diesem Mann zu nahe zu kommen, der auf einem riesigen Maultier namens Apache ritt. General Crook betrachtete seine Aufgabe, die Indianer zu domestizieren, als einen Auftrag Gottes. Er war auf fanatische Weise gut. »Das ist ein Ding«, sagte MacKenzie. »Über hundert Männer haben sich einfach in Luft aufgelöst.« Dodge machte vor einem großen Flecken rötlich verfärbten Bodens halt. »Nicht völlig«, sagte er. »Alles, was die Scouts fanden, war ein kleines Dorf. Nichts, was einer Streitmacht wie der Mills’ hätte gefährlich werden können. Was ist hier bloß geschehen?« fragte MacKenzie. »Was ist die übliche Taktik der Indianer?« fragte Crook. »Ein Hinterhalt natürlich«, sagte McKenzie. »Genau das ist hier geschehen. Und es hat funktioniert.« MacKenzie zwirbelte seinen Schnurrbart. »Verzeihen Sie, General, aber das glaube ich nicht. Sie hätten Gatlings haben müssen, um so viele Männer zu erledigen.« »Sie hatten Gatlings«, sagte Crook. Nun war Dodge skeptisch. »Ich muß darauf hinweisen, daß Gatlings verteufelt… schrecklich viele Patronen verschießen, General, aber hier liegen nirgendwo welche herum.« »Sie haben sie eingesammelt«, sagte Crook.
»Sie haben Tausende von Patronen eingesammelt, nur um uns in dem Glauben zu lassen, sie besäßen keine Gatlings?« fragte MacKenzie ungläubig. »Genau.« Colonel Dodge holte tief Luft. »Wenn das stimmt, dann sind diese Roten viel schlauer, als ich es je für möglich gehalten hätte.« Er und MacKenzie sahen einander verwirrt an. »Endlich fangen Sie an zu begreifen«, sagte Crook. Er ritt auf Apache davon. Sein Bart flatterte im Morgenwind. Der General hielt erst an, als er sich auf der Spitze’ eines kleinen Hügels befand, von wo aus er die ganze Szenerie überschauen konnte. Es war offensichtlich, was geschehen war. Mills und seine Männer waren über ein kleines Dorf gestolpert. Eine solche Gelegenheit konnte man schlecht auslassen. Eine kurze Attacke, und sie hatten die Aussicht, vielleicht sogar mit einem Häuptlingsskalp in der Satteltasche heimzukehren. Die deutlich sichtbaren Hufspuren zeigten, daß sie völlig ahnungslos hinunter zum Fluß galoppiert waren. An der Stelle, wo sie das Dorf erreicht hatten, war der Boden dann von den Hufen sich aufbäumender Pferde aufgewühlt, die aus vollem Galopp abrupt zum Stehen gebracht worden waren. Dort befand sich auch das meiste Blut. Irgendwie war es den Indianern gelungen, die Gatlings bis zu diesem Augenblick zu tarnen. Wie viele Gatlings es gewesen waren, konnte er nicht genau sagen, aber wahrscheinlich vier. Nur wenige Angreifer schafften es bis zur anderen Seite des todbringenden Dorfes, konnten jedoch auch dort dem Kugelhagel nicht entkommen. Einige hatten versucht, zurückzurennen oder seitlich auszuweichen. Einzelne erdbeerrote Flecke auf dem Boden zeigten an, wo diese Fliehenden
niedergeschossen worden waren. So waren Mills und seine Scouts, erfahrene Veteranen, vom Antlitz der Erde verschwunden. Ein Pawnee-Scout kam den Hügel heraufgeritten. »Nan-tan Lupan, wir haben das Grab gefunden«, sagte der Indianer. Sie ritten ungefähr hundert Yards den Fluß hinauf. Eine Gruppe Scouts stand mit Schaufeln am Ufer. Zu ihren Füßen lagen die zerhackten, verstümmelten Leichen. Sogar die Söldner schienen durch diesen Anblick wie gelähmt. Crook saß ab. Er nahm die Bibel aus seiner Satteltasche und las ein Gebet. Die Pawnees sagten ein paar Worte in ihrer eigenen Sprache. »Es ist, wie Sie gesagt haben«, sagte der Anführer der Scouts. Er war ein Weißer namens Frank North, der in den zwanzig Jahren, die er mit den Pawnee lebte, selbst zum Indianer geworden war. »Sie begruben die Körper und verstümmelten sie, um die anderen Scouts zu erschrecken. Und sie taten es direkt am Wasser, um die Seelen der Toten den Wasserteufeln auszuliefern. Das ist nicht gut.« Crooks Augen suchten das Ufer ab. Er erkannte jetzt, daß ein großer Teil davon als Massengrab diente. Der lockere Uferboden war eine ausgezeichnete Tarnung. »Sollen wir die anderen Leichen auch noch ausgraben?« fragte North. »Nein, Major. Graben Sie diese hier wieder ein. Befehlen Sie Ihren Männern, mit niemandem darüber zu sprechen.« North gab die Anweisungen an seine Männer weiter: »Noch etwas, Sir?« »Ja. Ich möchte, daß heute nacht vor der Postenkette scharfäugige Späher aufgestellt werden. Suchen Sie bitte dafür geeignete Männer aus.«
Als Crook zu seinem Zelt zurückkehrte, waren die Soldaten gerade dabei, Essen zuzubereiten. Ihr Lager befand sich am anderen Ufer, gegenüber der Stelle, wo der Kampf stattgefunden hatte. Die Fußsoldaten lagen neben ihren Gewehrpyramiden, die Reiter lagerten auf ihren Sätteln bei den angebundenen Pferden. Die Indianer hielten sich stets etwas abseits. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte der Allmächtige es so eingerichtet, daß der weiße Mann den Geruch des Indianers nicht ertragen konnte, und umgekehrt die Indianer nicht den der Weißen. Die Wege des Herrn waren voller Rätsel. In seinem Zelt fand General Crook zum ersten Mal seit zweiunddreißig Stunden Schlaf. Das Geräusch seiner ins Lager rollenden Packwagen und Geschütze hatte etwa Beruhigendes. Frank North war unterdessen unterwegs zu den Crows. Er war der Mann, der das Massengrab am Fluß entdeckt hatte. Auf seinem offenen, sonnengebräunten Gesicht spiegelten sich Erschöpfung und Furcht. Die verstümmelten Leichen am Rabbit Creek waren ein sehr schlechtes Zeichen gewesen. Nie zuvor war Scouts etwas Vergleichbares geschehen. Mit Soldaten hatten sie so etwas schon öfter gemacht, aber niemals mit Scouts. Er war zu sehr Pawnee, um da keine Furcht zu empfinden. Und nun hatte er gehört, daß zweihundert Crows unter Alligator und Stand-up in der Nähe sein sollten. Normalerweise hätten sich die Crows in diesem Fall längst den anderen Scouts angeschlossen. Daß sie hier waren, ohne sich von sich aus mit Crook zu treffen, war äußerst merkwürdig. Denn für Crows gab es nichts Schöneres, als gegen die Lakota zu kämpfen. Das Gerücht stimmte. North und sein Schwager entdeckten
das Crow-Dorf zehn Meilen westlich. Zwei Krieger ritten ihnen entgegen. Sie begrüßten den Squawman und den Pawnee wie stets freundlich, durch Schütteln der linken Hand. Doch North konnte seinen Blick nicht von den Gewehren der Crow lösen. Es waren funkelnagelneue Winchester-Repetierer. Alligator und Stand-up empfingen North in Stand-ups Tipi. Alligator war die auffälligere Erscheinung der beiden; sein Haar war mit gefärbten Pferdeschwänzen geschmückt. Doch Stand-up war derjenige, der die Entscheidungen traf. Daß er Alligator das Reden überließ, der nur Belanglosigkeiten von sich gab, war seltsam. North beschloß, das Gespräch durch eine Lüge in die richtige Richtung zu lenken. »Es ist so, daß Nan-tan Lupan sich fragt, warum ihr nicht euer Lager abbrecht und euch uns anschließt. Er sagte, es sei viel leichter, Pläne für den Kampf zu machen, wenn ihr ihm beisteht.« Jetzt schwieg Alligator. Stand-up rief nach jemandem. Eine junge Frau betrat das Tipi. Sie war schön und trug die Tracht, für die die Crow-Frauen berühmt waren: eine rote Linie war auf den Scheitel ihres schwarzen Haares gemalt, und dreihundert Elchzähne zierten ihr Wildlederkleid. »Das ist meine Frau«, sagte Stand-up. »Warum sollte ich sie verlassen und kämpfen? Nur ein Verrückter würde das tun. Ich denke, ich werde mich eine Weile ausruhen und den Wasichu seinen Krieg allein führen lassen, wenn er das kann.« »Und du, Alligator?« »Ich werde hier bei meinem Freund bleiben.« Das Gespräch schien an einem toten Punkt angelangt zu sein. North hatte schon an Stand-ups Seite gekämpft und wußte, daß dieser sich nicht von einer einmal getroffenen Entscheidung abbringen ließ. Trotzdem wollte er sich damit
noch nicht zufriedengeben. »Ich möchte dich etwas fragen, Stand-up. Du brauchst nicht zu antworten, wenn du nicht willst. Vertraust du mir?« Der Crow nickte. Er wußte, daß North’ Frage ernst gemeint war, also dachte er laut nach: »Vertraue ich dir? Pehin hanska hat mich gebeten, ihm zu vertrauen. Vater Washington hat mich gebeten, ihm zu vertrauen. Pahuska, Buffalo Bill, hat mich darum gebeten, und auch Nan-tan Lupan. Du dagegen fragst, ob ich dir vertraue. Ich vertraue dir mehr als anderen Wasichu. Das liegt daran, daß du ein kleines bißchen wie wir bist.« North erkannte, daß sie auf einer völlig neuen Ebene miteinander sprachen. Ein Wasichu würde das nicht bemerkt haben, aber, wie Stand-up gesagt hatte, er, North, war nicht mehr völlig ein Weißer. »Dann laß mich dich noch etwas fragen«, sagte North. »Du wirst eine Zeitlang nicht kämpfen?« »Das verspreche ich«, sagte Stand-up. »Ich werde nicht kämpfen, eine Zeitlang.« Als er das Crow-Dorf verließ, war Frank North sich sicher, daß jeder Krieger, der ihm begegnet war, ein neues Gewehr hatte. General Crook und sein Stab beugten sich über eine Karte. Crook zeigte mit dem Finger auf der Karte die Stellen, wo Gräben für das Nachtlager gezogen werden sollten. Er befahl, die Wachen zu verstärken und Leuchtfeuer anzuzünden. »Bitte um Verzeihung, Sir«, sagte MacKenzie, »aber die Männer sind schrecklich müde von dem Marsch in der vergangenen Nacht, und ich habe noch nie erlebt, daß der Feind nachts angreift.« Crooks Hände ruhten auf der Tischplatte. »Tatsächlich,
General?« sagte er ruhig. »Glauben Sie denn, daß er sich im Dunkel fürchtet?« »Nein, es ist nur so, daß ich…« MacKenzie schwieg verwirrt. »Ich will, daß sich die Nachschubwagen in der Mitte des Lagers befinden, nicht an seiner Peripherie«, fuhr Crook fort. »Denn auf den Nachschub und die Pferde wird es Crazy Horse abgesehen haben, genau wie am Rosebud. Major Gordon, Sie haben Erfahrung mit Gatlings. Stellen Sie sie so auf, daß sich ihre Schußbahnen überlappen, und besetzen Sie sie mit Männern, die wach bleiben können. Übrigens, einige von North’ Männern werden vor den regulären Wachen postiert. Wenn sie etwas sehen, schießen sie dreimal. Achten Sie darauf, keinen unserer eigenen Indianer zu treffen. Das ist alles, Gentlemen. General, bleiben Sie bitte noch einen Augenblick. Ich brauche Ihre Hilfe bei der Planung für morgen.« Die anderen Offiziere marschierten hinaus. MacKenzie freute sich, daß Crook ihn wichtig genug fand, um ihn zum Bleiben aufzufordern. »Was ist mit morgen, Sir?« fragte er, als sie allein waren. »Nichts«, sagte Crook. Er setzte sich in seinen Klappstuhl und bot McKenzie den anderen an. »Ich wollte mit Ihnen über unsere gegenwärtige Lage sprechen, Mac. Zu Ihrer Beruhigung, ich halte es nicht für sicher, daß wir heute nacht angegriffen werden. Aber es ist sehr wohl möglich. Gesetzt den Fall, es kommt zu einem Angriff, und mir stößt dabei etwas zu, haben Sie den Oberbefehl. Ich möchte, daß Sie dann möglichst gute Aussichten haben, einen Rückzug zu schaffen.« MacKenzies Mund öffnete sich ein wenig. »Einen Rückzug, Sir? Warum? Sie werden uns niemals angreifen. Dazu sind wir viel zu stark.«
Er wartete darauf, unterbrochen zu werden. »Fahren Sie fort«, sagte Crook. »Wir sind die bei weitem größte Streitmacht, die seit Jahren in dieses Gebiet gekommen ist. Wir haben Artillerie, Gatlings, modernen Nachschub und Elitesoldaten. Gegenwärtig kontrollieren wir durch unsere bloße Anwesenheit das gesamte Gebiet«, sagte MacKenzie. Er wartete auf Crooks Antwort wie ein Schüler auf seine Zensur. »Schön«, sagte Crook. »Ich werde Ihnen jetzt eine etwas andere Darstellung derselben Fakten liefern. Aus der Sicht der Indianer. Sagen Sie mir hinterher, wie sie Ihnen gefällt. Wir sind eine Streitmacht von ungefähr zweitausend Mann, mit Pferden, Verpflegung und Nachschub. Unser Gegner verfügt über eine Kavallerie von mindestens zehntausend Indianern. Unser großer Vorteil gegenüber diesem Feind ist unsere Disziplin, unsere Taktik und unsere überlegene Bewaffnung, Artillerie und so weiter. Angenommen, wir besäßen diese Vorteile nicht. Dann wären wir bloß eine im Zahlenverhältnis fünf zu eins unterlegene Armee. Was hier gestern geschehen ist, sollte uns nachdenklich machen, ob wir wirklich noch alle eben erwähnten Vorteile besitzen. Oder denken Sie daran, daß vierhundert unserer Männer Indianer sind. Diese Indianer kennen dieses Land am besten und sind unsere fähigsten Kämpfer. Hundert dieser Männer haben wir gestern verloren, vermutlich ohne einen einzigen Verlust auf der Gegenseite. Was man mit diesen Toten getan hat, sollte wahrscheinlich dazu dienen, unsere übrigen Scouts davon abzuschrecken, weiter mit uns zusammenzuarbeiten. In diesem Fall wären wir allerdings eine verkrüppelte Armee, unterlegen im Verhältnis von mehr als sechs zu eins.« MacKenzie blickte aus dem Zelt über den Fluß hinweg zu
der Stelle, wo sich das Dorf befunden hatte. »Von dieser Seite habe ich es noch gar nicht betrachtet«, sagte er. Crook schwieg einen Augenblick, dann klopfte er seinem Stellvertreter auf die Schulter. »Kopf hoch, Mac! Ich habe gerade ausgesprochen schwarz gemalt, und ich denke nicht, daß der liebe Gott uns so im Stich lassen wird. Ich wollte Ihnen diese Dinge nur einmal vor Augen führen, damit Sie darauf vorbereitet sind, falls es zum Schlimmsten kommen sollte.« MacKenzie war durch und durch Optimist, und sofort lächelte er erleichtert. Halb wünschte er sich, daß Crook dem Alkohol nicht so abgeneigt wäre, denn dann hätte man diese Schreckensvisionen gemeinsam in etwas kameradschaftlicherer Atmosphäre ertränken können. »Die Tatsache, daß sie Maschinengewehre haben, ist noch lange kein Beweis dafür, daß Crazy Horse hier mit einer Batterie schwerer Artillerie aufkreuzen wird«, fuhr Crook fort. »Ihre Strategien werden auch weiterhin primitiv bleiben, ganz einfach, weil sie ein primitives Volk sind. Und was die Indianer angeht, die unter mir dienen, sie haben mich noch nie im Stich gelassen. Unten in Arizona, gegen Geronimo, hatte ich Navahos, Pimas, Pueblos und sogar einige Apachen. Mit unseren Pawnees hat es noch nie irgendwelche Probleme gegeben. Stand-ups Crows sind ein wenig spät dran, aber ich rechne jetzt jeden Tag mit ihnen, und dann haben wir wieder unsere volle Stärke. Als Christen müssen wir stets daran denken, daß es auch gute Indianer gibt.« Crooks Soldaten legten sich schlafen, als die Sonne unterging und es kühl wurde. Sie zogen sich mottenzerfressene Mäntel um die Schultern. Ihre Mägen waren mit Bohnen gefüllt, die man in Weinessig getränkt hatte, um den fauligen
Geschmack abzutöten. Mit den Köpfen lagen sie neben ihren Karabinern. In ihrer Sklaverei empfanden sie einen perversen Stolz, diese Bürgerkriegsveteranen, deutsche und irische Immigranten und Flüchtlinge vor Zivilisation, Gefängnis oder Familie. Leutnant Bryan Starr war ein Fenier, von den Engländern wegen Mordes gesucht, der mit tausend seiner Landsleute gekommen war, als die Union Brigaden für den Bürgerkrieg angeworben hatte. Er war geblieben, und jeder dritte Dollar, den er verdiente, ging an die Irisch-Republikanische Bruderschaft. Die Tatsache, daß sich in New York ein Geldsammler nach dem anderen mit den Spendengeldern davonmachte, konnte ihn nicht davon abbringen zu zahlen. Hätte er die Zahlungen eingestellt, wäre ihm jede Möglichkeit genommen gewesen, jemals Irland wiederzusehen. Starr blickte gerade hinauf in die Prärienacht, als direkt über ihm die erste Granate explodierte. Weitere folgten kurz hintereinander. Ihr Ziel waren die Nachschubwagen im Mittelpunkt des Lagers. Blitze erhellten den Himmel. Schreie und nutzlose Schüsse der Wachtposten zerrissen die Stille der Nacht. Die Granaten fielen zunächst scheinbar erfolglos auf die Munitionsvorräte, bis schließlich ein Wagen explodierte wie ein gewaltiges Feuerwerk. Räder und Schrapnelle wurden zwischen die Soldaten geschleudert, die in der Nähe lagerten. Während andere Soldaten zu Hilfe eilten, wurden die Pferdegatter geöffnet, und die Pferde galoppierten durch die Reihen. der Männer. Crook rannte mit Dodge durch das Lager und scheuchte die Männer hoch. Auf ein Signal des Hornisten zogen sich die Wachen zurück, als die Lichtblitze weiterer Granaten den Boden erhellten. North versuchte mit seinen Männern, die
Pferde wieder einzufangen. Sergeanten ließen ihre Squadronen schnell durchzählen. Die Gatling-Teams zogen sich, ohne auch nur einen einzigen Schuß abgefeuert zu haben, zur Hauptstreitmacht zurück. Gewehre wurden an die Fuhrleute ausgegeben, während der Stabsarzt Leutnant Starr untersuchte und ihm ein Paar Silberdollars auf die Augen legte. Mit schußbereiten Gewehren und Kanonen erwartete das Expeditionskorps der Vereinigten Staaten den Angriff. Als die Sonne aufging, warteten sie noch immer; gerötete, übermüdete Augen starrten auf leeres Grasland. Köche gingen durch die Reihen und verteilten Speck und Hartbrot. Die Offiziere ritten zu Crooks Kommandoposten auf einer Hügelkuppe. Frank North war bei dem General. Eine triumphierende Entschlossenheit lag auf den Gesichtern des Stabes. »Sie hatten recht, Sir«, sagte General MacKenzie. »Trotzdem haben sie es sich, wie es scheint, doch noch anders überlegt.« Die Morgensonne schimmerte auf ihren Gesichtern. Major Royall goß sich aus seiner Feldflasche Wasser in den Nacken. Funken stoben von den schabenden Hufen der Pferde. »Wie ist die Lage?« fragte Crook. »Besser, als wir zuerst geglaubt haben«, sagte Dodge. »Ein Mann tot, zwanzig verwundet, fünf davon schwer. Wir haben fünfzehn Pferde und einen Wagen verloren. Und natürlich eine Menge Schlaf«, fügte er mit einem Lächeln hinzu. »Was ich nicht begreife, ist, wie sie mit so vielen Männern in unser Lager eindringen konnten«, sagte MacKenzie nachdenklich. Crook sah North an. »Sie waren nicht im Lager«, sagte North. »Es mußte nur ein Mann herein, um unsere Pferde freizulassen. Er ist wahrscheinlich durch den Fluß gewatet.« Er hielt den geschwärzten Schaft eines Pfeiles hoch. »Die Granaten kamen auf diese
Weise ins Lager.« Die Offiziere starrten ungläubig auf den Pfeil, an dem noch immer der Überrest einer detonierten Granate festgebunden war. »Sie brauchten nicht einmal allzu nahe heranzukommen«, sagte North. »Mit einem sehnenverstärkten Bogen kann man einen solchen Pfeil glatt durch die Brust eines Büffels schießen.« Er befühlte die gestreiften Truthahnfedern des Schaftes. »Cheyenne.« »Wie weit waren sie weg?« fragte Dodge. »Mindestens fünfundsiebzig Yards. Jeder Indianer, der seine Mokassins wert ist, kann so nah herankommen und so weit schießen«, sagte North. »Mir scheint, Sie bewundern das, North«, sagte Dodge. »Ich bewundere es«, sagte Crook. »Sie haben so die mobilste Artillerie der Welt. Was raten Sie, Gentlemen, sollen wir dagegen unternehmen?« »Mehr Wachen aufstellen«, sagte ein Captain Henry. »Stolperdrähte«, schlug ein anderer Offizier vor. »Wir könnten Gatlings aufstellen wie letzte Nacht, sie diesmal aber die ganze Nacht hindurch in unregelmäßigen Abständen feuern lassen«, sagte Dodge. »Schön«, sagte Crook. »Vielleicht haben Sie auch eine Antwort darauf parat, warum sie uns mit Granaten beschießen, ohne einen richtigen Angriff zu starten, Colonel?« »Die einzige Erklärung ist, daß wir sie von einem Angriff abgeschreckt haben«, sagt Dodge. »Sie werden die paar Granaten, über die sie verfügen, sicher nicht dafür verschwenden, uns während der Nacht am Schlafen zu hindern.« »Kommt darauf an, nicht wahr?« sagte Crook. »Worauf, Sir?«
»Darauf, ob sie wirklich nur über ein paar Granaten verfügen.« Eine Stunde nach Sonnenaufgang kehrten North’ Scouts zurück. Sie hatten das ganze Gebiet abgesucht, ohne einen feindlichen Indianer zu entdecken. Crook ließ die Hornisten das Signal »Satteln« blasen. Während seine Armee sich zu einer langen Marschkolonne formierte, ruhte Crook sich in seinem Zelt aus und schrieb in sein Tagebuch: »Ich habe den Befehl zum Weitermarsch gegeben. So Gott will, werden wir in zwei Wochen bei Red Clouds Indianeragentur eintreffen. Unsere Situation hat sich gefährlich verändert: Statt einer Offensivstreitmacht sind wir jetzt eine belagerte Defensivarmee. Der Feind verfügt über Waffen, die unseren eigenen in einigen Fällen überlegen sind. Solange diese Waffenlieferungen nicht unterbunden werden, werden wir keinen Sieg erringen können. Ich bin sicher, daß der Schmugglerring, den George Custer in der Red Cloud Agentur aufdeckte, hinter unserem Problem steckt. Ich werde diejenigen Indianer, die uns dort freundlich gesonnen sind, bitten, uns bei der Beendigung des Aufstandes zu helfen. Maj. N. sagt, daß die Crows sich uns nicht anschließen wollen. Merkwürdig.« Er schrieb einen vertraulichen Lagebericht für das ArmeeHauptquartier. Nach dem Eintreffen dieses Berichts hörte man dort drei Wochen lang nichts mehr von Crook und seiner Armee. Der Bericht bewirkte, daß umgehend eine KavallerieEinheit unter General Miles von Fort Keogh aus in Marsch gesetzt wurde.
Die Granatangriffe erfolgten jede Nacht. Anfangs hatte man diese »Moskitostiche«, wie Dodge sie zunächst nannte, lediglich als Belästigung empfunden. Doch langsam, aber sicher begannen der Mangel an Schlaf und nächtlicher Ruhe und ein Feind, der ständig unsichtbar blieb, die Soldaten zu zermürben. Sie wurden zu einer Armee ohne Selbstvertrauen, deren Ambulanzwagen jetzt mit Verwundeten gefüllt waren. Doch Crook trieb die Männer vorwärts, denn ihm wurde immer klarer, daß diese nächtlichen Torturen erst ein Ende haben würden, wenn seine Armee Red Clouds Agentur erreichte. Viele Kavalleristen mußten inzwischen keuchend zu Fuß gehen, da sie ihre Pferde eingebüßt hatten. Ihr Ziel, Custer zu rächen, war längst vergessen. Sie sehnten sich nur noch danach, auszuruhen oder die Plains ganz zu verlassen. Viele Soldaten, die nachts zusätzlich Lagerwache halten mußten, schliefen tagsüber im Sattel. Am achtzehnten Tag schlugen die Plains selbst zu. Der Nachmittag war heiß und windstill wie üblich. Die Soldaten atmeten durch aufgesprungene Lippen und sahen durch geschwollene Augenlider. Dann änderte sich das Wetter schlagartig. Wenn Wind da ist, bläst er auf den Plains stärker als irgendwo sonst in Amerika, und wenn der Winter kommt, kommt er mit dem Wind. Der Winter des Jahres 1876 brach als arktischer Sturm über Crooks und MacKenzies Männer herein. Der Himmel wurde zuerst blau, dann schwarz. Der Wind blies ihnen stärker und stärker ins Gesicht. Die Temperatur fiel alle dreißig Sekunden um ein Grad. Und noch ehe die Soldaten sich versahen, war sie unter den Gefrierpunkt gesunken, und ein Blizzard umtoste Crooks Armee. Sergeanten rannten umher und brüllten den Männern zu, sie sollten anhalten. Als einige Männer versuchten, Feuer zu machen, trieb der Sturm
ihnen die Flammen ins Gesicht. Die Sanitäter in den Ambulanzwagen mühten sich verzweifelt, die Planen dicht zu halten und die Verwundeten mit Büffelhäuten vor der Kälte zu schützen. Schon bald war jene große Armee, die vor einem Monat voller Selbstvertrauen aufgebrochen war, im dichten Schneetreiben kaum noch zu sehen. Als Crooks Armee schließlich in Red Clouds Reservation einmarschierte, litt jeder fünfte Soldat an Erfrierungen, am Hitzschlag oder war durch Granaten verwundet. Die Männer waren aufgebracht, denn es ging das Gerücht, daß Red Clouds Agentur hinter den wochenlangen nächtlichen Granatangriffen steckte. Wären dieses Gerücht, die Tortur der Nachtangriffe und zum Schluß auch noch der Blizzard nicht gewesen, hätte Crook vermutlich die Disziplin unter seinen Leuten wahren können. Doch wie die Dinge lagen, wurden Crooks Soldaten nur noch von dem Wunsch vorangetrieben, Indianer zu töten, alle Indianer. Red Clouds Wunsch war Frieden. Der Häuptling, der die Kriege der sechziger Jahre geführt hatte, der vor der Cooper Union und im Weißen Haus gesprochen hatte, ritt der Armee unbewaffnet auf einem weißen Pferd entgegen. Crook war ein ehrenwerter Mann, ein alter Freund. Ihr Verhältnis zueinander war von gegenseitiger Achtung gekennzeichnet. Der imposant wirkende Lakota wollte alles in seiner Macht Stehende tun, um weitere, für die Indianer seiner Meinung nach ungewinnbare Kriege zu verhindern. Das Treffen fand auf der Uferwiese eines Flußlaufs am Westrand der Reservation statt. Die Pawnee-Scouts waren Zeugen der nun folgenden Ereignisse. Colonel Dodge war der erste Offizier, der sich mit Red Cloud traf. Der Häuptling bat darum, zu Nan-tan Lupan
gebracht zu werden. Dodge dagegen ließ ihn festnehmen, eine Maßnahme, die bei den Soldaten großen Anklang fand. North kam hinzu und protestierte gegen die Verhaftung, ebenso wie die Pawnees. Die Soldaten waren sich jedoch inzwischen sehr sicher, daß die Scouts sie während des gesamten Marsches bewußt irregeführt hatten. Sie wollten sich nun von keinem hinterhältigen Indianer oder Squawman mehr zum Narren halten lassen. Besonders aufgebracht waren die Männer darüber, daß die Pawnees, die ja von Geburt an mit den Winden der Plains vertraut waren, so wenig unter dem Schneesturm zu leiden gehabt hatten. North wurde von einem eigenmächtig handelnden Trupp Kavalleriesoldaten unter Arrest gestellt. Als Crook eintraf, entspannte sich die Lage scheinbar ein wenig. Der General sagte, der Häuptling, Anführer von zwanzigtausend freundlich gesinnten Sioux, sei als Freund gekommen, und ordnete seine Freilassung an. Dodge gehorchte. North wurde ebenfalls freigelassen. Crook entschuldigte sich bei Red Cloud, verlangte aber, daß alle Sioux zur Agentur kommen und sich durchsuchen lassen müßten. Ihre Waffen müsse er konfiszieren lassen. Er erklärte, daß er zu dieser Maßnahme gezwungen sei, weil über die Agentur Waffenlieferungen an die feindlichen Indianer flossen. Red Cloud entgegnete, daß man die Agentur überprüfen solle, wenn über sie Waffen verschoben würden, nicht aber die friedlichen Indianer. Er fügte hinzu, daß er es begrüßen würde, wenn bei dieser Überprüfung auch gleich herauskäme, warum die Indianer dreimal so viel für Maismehl bezahlen müßten wie die Weißen. Was die Waffen angehe, so sei ihnen in den Friedensverträgen garantiert worden, daß sie Waffen behalten dürften, um damit Wild zu schießen. Ohne die Jagd müßten
sie hungern. Crook versprach, er werde denjenigen Indianern erlauben, ihre Waffen zu behalten, die bereit seien, ihm bei der Ergreifung ihrer auf dem Kriegspfad befindlichen Brüder zu helfen. Wenn das geschehen sei, könnten sie so viel Wild jagen, wie sie wollten. Als ein alter Freund müsse er leider sagen, daß dies die einzige noch offene Möglichkeit sei, zu beweisen, daß die Reservationspolitik funktioniere. Andernfalls müßten die Soldaten alle Indianer zusammentreiben und verhaften. Red Cloud sagte, daß er eine Sache von solcher Wichtigkeit zuerst mit den Hemdenträgern, seinem Häuptlingsrat, besprechen müsse. Sonst würde sein Volk seiner Entscheidung nicht zustimmen. Crook sagte, daß er Red Clouds Antwort noch am selben Tag brauche. Red Cloud nickte, stieg auf sein Pferd und ritt los. Zu sehen, daß der Häuptling, den sie für die hinter ihnen liegende Tortur verantwortlich glaubten, frei und ungeschoren davonreiten durfte, war zuviel für einige Soldaten des 5. Regiments. Crook sah, wie die Gewehre sich hoben, aber es war bereits zu spät. Red Clouds Rücken wurde von Kugeln durchsiebt; Blut spritzte auf den Rumpf seines Pferdes, als der Häuptling zu Boden stürzte. Frank North rannte mit erhobenen Händen los, um den Schützen Einhalt zu gebieten, und wurde gleichfalls erschossen. Das weiße Pferd galoppierte reiterlos zum Dorf der Lakota. Die Pawnee sprangen auf ihre Ponys und stoben, von Entsetzen gepackt, davon. Es war keineswegs unüblich, daß unter Waffenruhe stattfindende Verhandlungen auf diese Weise endeten, aber kein anderer Betrug in der amerikanischen Geschichte hatte solche Folgen wie die Ermordung Red Clouds am Squawman’s Creek. Nur dank der Autorität seiner respekteinflößenden Persönlichkeit konnte Crook die Festnahme der Mörder durch ihre
widerstrebenden Kameraden durchsetzen. Schnell rief er seine Offiziere zu einem Kriegsrat zusammen. Die Mehrheit, geführt von Dodge, war der Überzeugung, daß sie nun sofort Red Clouds Dorf angreifen mußten, um zu verhindern, daß die aufgebrachten Indianer sich Sitting Bull anschlossen und dessen Streitmacht auf das Doppelte vergrößerten. Crook erkannte schließlich, daß ihm die Befehlsgewalt aus den Händen gleiten würde, wenn er einen Rückzug anordnete. Er gab den Befehl zum Angriff. Zu diesem Zeitpunkt hatte das weiße Pony seine Botschaft zu Red Clouds Dorf getragen. Die letzten noch bestehenden Zweifel räumte ein Pawnee aus, der kurz darauf mit einer vollständigen Beschreibung der Ermordung eintraf. Es dauerte nur Minuten, bis Frauen, Kinder und Alte ihre wenigen Sachen zusammengepackt hatten und zu Fuß, mit Pferden und Travois hinaus auf die Plains flohen. Bei der Agentur erschienen Lakotas, brachen die Tür auf und stahlen den Händlern alle vorhandenen Gewehre und Kugeln. Im Dorf baute man eilig provisorische Verteidigungsanlagen. Gräben wurden gezogen und Brustwehren aus lockerer Erde aufgeworfen. Männer holten ihre magischen Schilde hervor und vollzogen, so schnell sie konnten, die notwendigen rituellen Handlungen. Das Dorf war schwer zu verteidigen, denn es lag als langgezogener schmaler Streifen am Ufer eines Flusses. Die gegenwärtig nur zweitausend Krieger – die meisten von Red Clouds Gefolgsleuten befanden sich auf Jagd für den Winter oder in weiter entfernten Dörfern – mußten sich deshalb weiträumig verteilen. Während Major Gordon die erste Phalanx Kavallerie flußaufwärts an das Dorf heranführte, tauchte bei den Verteidigern ein Reiter auf. Es war White Bull, der Teton Lakota, der
Custer getötet hatte. Er sagte den Hemdenträgern, daß nicht nur Crooks Armee in der Nähe sei. They Fear His Horses, der Mann, den sie einen Renegaten nannten, warte mit genügend Kriegern in den Hügeln, um die Wasichu auslöschen zu können. Doch er würde ihnen mit seinen Kriegern nicht helfen, wenn sie danach einfach wieder jenen Männern gehorchten, die Red Cloud getötet hätten. Nein, die Hemdenträger müßten zuvor ausdrücklich erklären, von nun an auf Sitting Bulls Seite zu sein. George Crook, Nan-tan Lupan, marschierte mit Trauer im Herzen vor dem Dorf auf. Er hatte gehofft, den Indianeraufstand nach einem schnellen Sieg friedlich beilegen zu können. Die wahre Aufgabe eines Christen war es, Seelen zu retten, und er hatte gehofft, das nicht nur mit seinem Schwert, sondern auch mit seiner Bibel tun zu können. In diesem Augenblick erinnerte er sich an ein anderes Dorf, ein Cheyenne-Lager, vor zwölf Jahren am Sand Creek. Ein anderer religiöser Mann, Colonel J. M. Chivington, ein Presbyterianer aus Denver, hatte die Indianer gebeten, an einem Fluß zu lagern, um so ihre guten Absichten zu zeigen. Dann hatte er befohlen: »Tötet und skalpiert alle Indianer! Erwachsene und Kinder – skalpiert sie alle! Aus Läuseeiern werden Läuse!« Diesem Chivington würde er es heute gleichtun müssen. Jenem Mann, den er auf der Welt am meisten verachtete, der sich einen Sport daraus machte, Indianerbabys niederzureiten und der selbst Skalps sammelte. Als alles bereit war, ließ er zum Angriff blasen. Als das Horn erklang, fegte Gordon mit vier berittenen Kompanien den Fluß hinunter. Wagen mit Gatlings wurden an den Rand des Dorfes gefahren. MacKenzies drei KavallerieKompanien durchquerten das Wasser. Die Aufgabe der beiden
berittenen Kräfte war es, durch das Dorf zu reiten, zu wenden und wieder zum Fluß zu stürmen. Dabei sollten sie möglichst viele Indianer niedermachen und die übrigen zum Wasser treiben. Dort sollte Dodges Infanterie, die unterdessen durch den Fluß gewatet war, die Überlebenden erledigen. Die wenigen Scouts, die noch geblieben waren, hauptsächlich Shoshonen unter Washakie, sowie eine Gruppe unter Rowland dienten als Crooks Reserve. Gordon führte seine Männer, den Säbel durch die Luft schwingend, im Sprung über die rechte Brustwehr. Die Sioux hinter den Wehren feuerten nach oben, und weiteres Feuer kam aus den Gräben, doch nur wenige Soldaten fielen. Die anderen brausten mit Kampfgebrüll durch Lagerfeuer, Häute und Tipis und schossen dabei ihre Revolver leer. Die Verteidiger auf der linken Flanke gaben unter MacKenzies Angriff nach, wenn auch die Brüste vieler Soldaten mit Pfeilen gespickt wurden. MacKenzies Männer zogen mit ihren Säbeln die Zeltpflöcke heraus, so daß die Tipis über den Indianern darin zusammenfielen. Andere zerrten die Tipis in Lagerfeuer und setzten sie so in Brand. Als die beiden Angriffswellen das Dorf durchquert hatten, hinterließen sie ein Durcheinander aus umherkriechenden Männern, gestürzten Pferden und brennenden Büffelhäuten. MacKenzies und Gordons Einheiten vereinigten sich, wendeten und ritten nun aus der anderen Richtung durch das Dorf. Die Sioux in den Gräben drehten sich um und erwarteten sie, wobei sie die Infanterie, die sich ihnen von hinten näherte, ignorierten. In dem Augenblick, bevor die Kavalleristen wieder über sie herfielen, begannen die Indianer ihr Todeslied zu singen: »Es ist besser, mutige Dinge zu tun und dabei ehrenvoll zu sterben, als ein alter Mann zu werden! Es ist besser zu sterben,
zu sterben!« MacKenzie keuchte, Schweiß und Blut verklebten sein Haar. Seinen Hut hatte er durch einen Streifschuß verloren. Als er sich in den Steigbügeln aufrichtete, um seinen Männern den Sturm auf die Gräben zu befehlen, sah er hinter ihnen neue Reiter, nicht die Gordons. Nach einem Moment der Verwirrung erkannte er erleichtert, daß es sich um die Pawnee-Scouts handelte. Doch dann sah er, daß die Sioux bei ihnen waren und Crazy Horse. Weitere Krieger tauchten aus dem Wald auf, Hunderte von ihnen. Crook hatte den Feind noch vor MacKenzie und Gordon gesehen und führte nun selbst, auf Apache reitend, die Reserve durchs Wasser. Der einzige Ort, der sich verteidigen ließ, war das Dorf. Und dort befanden sich seine Männer. Die Pawnee und Lakota trieben die Kavallerie durch das Dorf zurück zum Fluß. Die Infanterie, die gerade das Ufer erreichte, konnte nicht schießen, aus Angst, die eigenen Leute zu treffen. Crook ließ die letzten Verteidiger durch seine Infanterie töten. Er befahl Sergeanten, die noch stehenden Tipis niederzubrennen. Dann führte er seine Kavallerie, unter vernichtendem Feuer aus den überlegenen Repetierern der Indianer, in einem geordneten Rückzug zu den Gräben am Flußufer. Dort, mit dem zerstörten Dorf auf der einen und dem Fluß auf der anderen Seite, ließ er seine Männer in Stellung gehen. Crazy Horse ließ die Indianer sich ein Stück zurückziehen. Sie saßen ab und luden ihre Gewehre neu. Dann näherten sie sich den Soldaten, auf dem Bauch kriechend, bis auf fünfzig Yards. Jeder Soldat, der seinen Kopf über die Schützenwälle hob, verlor ihn. Zwischen den verletzten Soldaten und Pferden machte Crook seine Schlachtpläne. Gordon und Rowland
waren tot, und Dodge starb, gegen den Kadaver eines Pferdes gelehnt. Die Hälfte der Soldaten war tot oder verwundet. Ein Ring aus Shoshonen unter Washakie diente Crook als Leibwache. »Wir müssen bleiben«, drängte MacKenzie. »Hier haben wir wenigstens Wasser, und mit den Verwundeten werden wir es niemals schaffen, von hier wegzukommen. Wir werden es sowieso kaum schaffen«, sagte er zwischen zwei Schlucken aus seiner Feldflasche. Er wollte die Feldflache an Washakie weiterreichen, doch der wandte sich ab. »Wir müssen hier weg«, sagte Crook. »Hundertfünfzig Nachschubwagen warten draußen auf den Plains darauf, von Crazy Horse gefunden zu werden. Und wenn wir noch einen Tag bleiben, wird es keiner von uns jemals schaffen.« »Aber die Verwundeten«, sagte MacKenzie entsetzt. »Sie werden zum größten Teil hierbleiben müssen. Man wird sie abschlachten und verstümmeln, doch meine Seele kommt schon jetzt sowieso in die Hölle. Ich muß diejenigen retten, die ich noch zu retten vermag.« Seine Stimme war heiser und kratzig vom Befehleschreien während des Rückzugs, und er war kaum zu verstehen. Bei Einbruch der Dunkelheit machten die Soldaten ihren Ausfall. Leuchtsignale wurden in Richtung Indianer geworfen, um sie zu verwirren, während gleichzeitig berittene Soldaten Gewehrsalven abfeuerten. Hätten sie nur eine Minute später losgelegt, es wäre zu spät gewesen. Denn die Indianer waren gerade dabei, die erbeuteten Gatlings zu laden. Da die zurückbleibenden Verwundeten ebenfalls feuerten, zögerten die Indianer. Dieses Zögern genügte Crook, um sechshundert Überlebende im Galopp am Ufer entlang und ins Wasser zu führen. Die ersten von ihnen fielen beim Durch-
queren der dunklen Furt. Unterdessen wurden sie am anderen Ufer von den Lakota unter Gall erwartet. Die beiden Kavallerien trafen im Schatten der Bäume aufeinander, kämpften mit Säbeln und Speeren, mit Revolvern und Bögen. Die erste Welle der Soldaten wurde niedergemacht, doch die übrigen kämpften sich durch die Indianer, schafften es über einen Hügel hinweg hinaus auf die Plains. Dort lieferten sie sich mit den Indianern ein verzweifeltes Wettrennen zu den Nachschubwagen. Die Fuhrleute hörten die Schüsse schon in einer Meile Entfernung, als die Schlacht sich ihnen näherte. Sie ließen ihre zwanzig Fuß langen Peitschen knallen und stellten die Wagen in einem Kreis auf. Dann gingen sie unter ihnen mit den Kanonen in Stellung. Die Artillerie, die Crook zurückgelassen hatte, wurde geladen und abgefeuert, die Geschosse flogen über die Soldaten hinweg zwischen die indianischen Verfolger. Als MacKenzie die Wagen erreichte, befahl er, den Kreis aufzulösen und loszufahren. Sie fuhren mit den Planwagen über die mondbeschienenen Plains. Es war fast wie in einer Seeschlacht. Die Fuhrleute feuerten mit ihren winzigen Zweipfünder-Kanonen über die endlosen Wogen des Grases hinweg auf einen kaum sichtbaren Gegner. Die beschädigten Wagen und die Verwundeten fielen zurück und wurden von der Nacht verschluckt. Als die vierhundertzweiundzwanzig Soldaten, einhundertneunzig Fahrer und einhundert Planwagen die Palisaden von Fort Laramie erreichten, endete die längste Schlacht der Indianerkriege. Crook war nicht mehr bei ihnen. Er war früh gefallen, in der Nähe der vierhundertachtundzwanzig Soldaten, die er bei den Gräben und Tipis zurückgelassen hatte. Sein Körper liegt in dem Fluß, der seinen Namen trägt: Grey Fox’s Creek.
»Was soll das heißen?« fragte Präsident John Taylor auf seinem Thron, von dem aus er das Reich Deseret überschaute. John Setter erhob sich aus seinem Stuhl und stellte sich vor die große Karte, die eine Wand von Taylors Büro bedeckte. Die Mormonenältesten warteten mit kaum verhohlener Spannung. Setters Delegation aus Banakwuts und Kadahadacho gelang es da besser, ihre Hochstimmung zu verbergen. »Das soll heißen«, sagte Setter und ließ dabei seine Hand in einer weit ausholenden Geste über die Karte gleiten, »daß die Vereinigten Staaten keine Autorität mehr über dieses Land haben. Sie sind nur noch Partei in einem Kampf, die verlierende Partei.« Taylor überflog noch einmal die Berichte, die auf seinem Schreibtisch lagen. Die Niederlage von Crooks Armee. Die Erhebung der Indianer jenseits der Grenze. Das alles machte es einem sehr leicht, zu glauben, daß das Wort Mormons nun wahr wurde, so wie Joseph Smith es prophezeit hatte. »Hier ist Gottes Hand im Spiel«, sagte Orson Pratt. »Die Heiden sind von den Lamaniten zurückgeworfen worden. Das ist ein göttliches Gericht, die Prüfung, die den Indianern, den Söhnen von Laman, Sohn von Lehi, wieder Macht und Würde verleiht. Warum zögern wir noch?« Doch Präsident Taylor zögerte. Pratt war der Priester, der für die Bekehrung der Lamaniten verantwortlich war, ein Visionär. Der Präsident von Deseret dagegen durfte sich nicht so schnell überzeugen lassen. Er mußte sorgfältig abwägen. Taylor blickte noch einmal auf die Karte. Vor einiger Zeit hatte Deseret fast das gesamte Gebiet, von Mexiko bis Kanada, von Kalifornien bis zum Mississippi, für sich beansprucht. Daraufhin hatten die Vereinigten Staaten die Mormonen in den
Bezirk Utah abgedrängt. Joseph Smith war von den Heiden in Illinois getötet worden. Brigham Young, Taylors Amtsvorgänger, glaubte, daß die Lamaniten sich, trotz einer vorübergehenden Phase des Niedergangs, siegreich wiedererheben würden und daß sie Mormon und Moroni eine neue Offenbarung brächten. Doch würde die neue Offenbarung von einem so einfachen Lamaniten wie dem kaum des Lesens und Schreibens mächtigen Wovoka kommen? Konnte es tatsächlich eine Zusammenarbeit zwischen primitiven Wilden und den Heiligen der Letzten Tage geben? Konnten die Indianer wirklich die Armee der Vereinigten Staaten stoppen, was noch nicht einmal Mormons eigener Armee, der Nauvoo Legion, gelungen war? »Verraten Sie mir«, sagte Taylor, »was ein Weißer wie Sie, Mr. Setter, in diesem Krieg auf der Seite der Indianer tut? Was springt dabei für Sie heraus?« Setter verschränkte die Arme. »Es ist sehr einfach, Präsident Taylor. Ich bin kein Weißer, ich bin Indianer. Mandane. Bei den Mandanen werden viele mit blasserer Haut und hellerem Haar geboren. Einige nennen es Albinismus.« Das Gesagte traf die Mormonen mit der Wucht einer Offenbarung. »Das erklärt alles!« rief Pratt aus. »Ein Mandane, einer der letzten Söhne von Nephi, wie es Brigham Young prophe…« »Genug!« warnte Taylor. »Es gibt hier im Moment etwas viele Offenbarungen, wie es scheint. Sie brauchen niemandem hier die Gedanken Präsident Youngs über die Bewohner dieses Landes zu verraten. Und ich denke, unser Gast, Mr. Setter, ist der letzte, dem Sie sie verraten sollten.« Er wandte sich wieder Setter zu. »Ein Mandane, wie? Sie sind also einer der wenigen noch lebenden Nachkommen Nephis? Sehr ein-
drucksvoll. Sind Sie ein Mormone, Mr. Setter? Ihre Freunde hier, die Bannocks und Caddos, wurden alle von dem guten Pratt bekehrt. Doch wie steht es mit Ihnen?« »Nein, ich bin kein Mormone«, sagte Setter. »Können Sie mir dann verraten, warum wir Ihnen glauben sollen, egal, ob Sie nun ein Mandane sind oder nicht?« »Sie werden sich entscheiden müssen, wem Sie glauben wollen, den Heiden oder uns. Ich rate Ihnen nur, sich bald zu entscheiden.« Setters Delegation wurde hinausgeleitet, um dem Präsidenten, dem theokratischen Diktator über vierzigtausend Seelen, Gelegenheit zu geben, mit Gott zu kommunizieren. Pratt begleitete sie und zeigte ihnen die Wunder der Stadt Zions. Umgeben von großen Gebäuden, ragte der mächtige Tempel der Mormonen wie ein Berg in den Himmel. Pinien säumten im Abstand von acht Ruten die Straßen. Alles war so gebaut, wie es Jesajah, Hesekiel, die Offenbarungen und das Buch Esther verlangten. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Pratt enthusiastisch, »Präsident Taylor wird das Licht sehen. Es war ihm nur nicht wie mir vergönnt, Brigham ins Tal des Rio Grande zu begleiten und dort die Ruinen der Ho-ho-kim zu finden, Ihrer Vorfahren. Oh, Brigham zweifelte nie daran, daß die Kinder des schlechten Bruders Laman wieder auf den Pfad Mormons zurückgebracht würden. Ich glaube, er wäre sehr beeindruckt von der Tatsache gewesen, daß Sie ein Sohn von Nephi und Moroni sind.« Er rieb sich die Hände. »Oh, dies sind große Tage für alle, nur nicht für die Heiden.« Die großen Mormonenfamilien sahen staunend zu, wie die Indianer, Lamaniten oder nicht, durch die Straßen von Salt Lake City spazierten.
Präsident Taylor hatte seine Besprechung mit Gott beendet und besprach sich nun mit dem Anführer der Söhne Dans, der mormonischen Geheimpolizei. Taylor stellte sich vor die große Karte. »Fort Lemhi in Idaho«, sagte er zu seinem Zuhörer. »Fort Bridger und Fort Supply in Wyoming. Moab in Ost-Utah«, fuhr er fort und zeigte dabei mit dem Finger auf die betreffenden Orte. »San Bernardino in Kalifornien, Genoa in Nevada. Ein siebenhundert Meilen großes Reich. Das waren die Grenzen, die Brigham Young für Deseret festsetzte, Grenzen aus dem Buch Mormons. Ich erinnere mich noch genau daran, was er ’47 sagte. Er sagte: ›Gebt mir zehn Jahre, und danach brauchen wir uns nicht mehr um die Vereinigten Staaten zu scheren.‹« Er schöpfte Atem und sah dabei auf der Karte die tausend reichen, fruchtbaren Städte des mormonischen Traums. »Und wie steht es heute mit uns? Die Heiden haben uns drei Viertel unseres Landes geraubt, dieselben Heiden, die Joseph Smith und Hyrum Smith ermordeten. Sie haben einen sogenannten Gouverneur über uns eingesetzt. Und was wird dieser Gouverneur jetzt tun? Er wird von uns verlangen, als Miliz gegen diese Indianer zu kämpfen, weil wir nämlich schon bald die einzige Armee in diesem Gebiet sein werden, die dazu noch in der Lage ist.« »Genau das wird er tun«, stimmte der Danite zu. »Und zwar schon in den nächsten Tagen.« Er war ein dicker Mann mit einem grauen Kinnbart. Als er jung war, hatte der Prophet ihn gesegnet und gesagt, daß ihm von nun an keine Kugel etwas anhaben könne. Und tatsächlich war er in Schlachten gegen die staatlichen Milizen von Illinois, Ohio und Missouri, und in Kämpfen gegen Indianer in Deseret niemals verwundet worden.
»Nun gut«, sagte Taylor. »Brigham war ein großer Mann, ein großer Apostel, ein Heiliger. Aber vor allen Dingen war er ein Praktiker. Was glauben Sie, wer wird diesen Krieg gewinnen? Haben die Indianer eine Chance?« Der Danite schlug die Beine übereinander, um besser nachdenken zu können. »Nun, Präsident Taylor, noch vor einer Woche hätte ich den Indianern nicht die Spur einer Chance eingeräumt. Heute dagegen muß ich sagen: ja. Ja, sie ist klein, aber es kann doch kein Zweifel mehr bestehen, daß sie eine Chance haben. Denken Sie an diese Mischlinge, von denen ich Ihnen erzählt habe, die den Indianern von Kanada aus Waffen geliefert haben. Außerdem haben sie jetzt auch noch die Hälfte der Ausrüstung von Crooks Armee. Sie sind also ziemlich gut ausgestattet. Außerdem erhalten sie Tag für Tag mehr Verstärkung. Ich weiß nicht, wie die Schätzungen der Armee sind, aber ich denke, es sind jetzt, zusammen mit Red Clouds Stamm, wenigstens fünfzigtausend Indianer. Und sie haben Freunde. Irgend jemand steuert die ganze Sache von Kanada aus, und ich bin sicher, daß die Engländer dahinterstecken.« »Dieser Setter hat ein paar Andeutungen in diese Richtung gemacht, aber er wird uns erst vollständig ins Bild setzen, wenn wir uns auf seine Seite stellen«, sagte Taylor. »Das denke ich nicht. Aber wie dem auch sei, wie die Dinge im Augenblick liegen, wird die Armee siegen. Man wird uns zusammen mit allen anderen Siedlern in diesem Territorium auf Indianerjagd schicken. Egal, wie gut diese indianischen Generäle auch sind, sie werden aufgeben. Früher oder später werden sie aufgeben.« Er hob die Schultern. »Und natürlich werden wir genau mittendrin sein, und es wird einen Haufen toter Mormonen geben, bevor sie aufgeben.«
»Und die Regierung in Washington wird einfach über diese Leichen hinwegsteigen und uns die Stadt Zions wegnehmen, wie sie es schon einmal versucht hat.« »Es ist ein Dilemma, Sir«, sagte der Danite verständnisvoll. »Vielleicht.« Taylor setzte sich wieder. »Einmal angenommen, rein theoretisch natürlich, wir schlössen uns dem Indianeraufstand an, wie ständen dann unsere Chancen? Machen Sie mir nichts vor, mein Freund, ich weiß, daß Sie auch schon daran gedacht haben.« Ein Grinsen erschien auf dem pausbäckigen Gesicht des Daniten. »Halbe-halbe. Ja, zusammen mit der Nauvoo Legion stehen die Chancen für einen Sieg der Indianer eins zu eins.« »Und mit wem würden Sie dort zusammenarbeiten, wenn ich fragen darf?« erkundigte sich Taylor. »Die Dog Soldier sind so eine Art Polizeigesellschaft, die es bei vielen der großen Plains-Stämme gibt«, sagte der Danite zögernd. »Würde es Ihnen denn gefallen, mit Sitting Bull zusammenzuarbeiten?« »Ich…« Taylor suchte nach den richtigen Worten, »nun, auch wenn es mir schwerfällt, ich glaube, daß wir eine gewisse Verantwortung haben, die Prophezeiung von der Rückkehr der Lamaniten zu erfüllen. Wenn nicht wir, wer dann?« sagte er offen. Setter, die Kadahadacho und Banakwuts und der Rat der Zwölf kamen wieder in Taylors Büro zusammen. Der Präsident stützte den Kopf in die Hände, während sie ihre Plätze einnahmen. Die Indianer stießen sich gegenseitig leise an, aus Respekt davor, daß der Mormone gerade mit Gott gesprochen hatte. Taylor seufzte tief und richtete sich auf, sein Gesicht war von Erschöpfung gezeichnet. »Ich bin noch nicht zu einer Entscheidung gelangt«, sagte er
dramatisch. »Aber ich würde gerne mehr über die Visionen Wovokas erfahren.« Es wäre ein leichtes, zu sagen, daß Wovokas Vision den Lauf der Geschichte änderte. Oder das Heldentum von They Fear His Horses – oder die Weisheit Sitting Bulls. Gewiß, europäisches Kapital und die Kirche der Heiligen der Letzten Tage waren begierig, ihren Teil beizutragen. Doch John Setter, Where The Sun Goes, war von allen die wichtigste Figur. Denn er besaß das Genie, alle diese Faktoren miteinander zu verknüpfen. Als Setter Salt Lake City verließ, wußte er sehr wohl, daß er allein den Rassenmythos der Geschichte außer Kraft gesetzt hatte. »Die Annahme, daß es nicht zu schaffen sei«, schrieb er später, »war eine Vermutung, die mehr auf rassischer Eitelkeit basierte denn auf Fakten. Besondere Brillanz meinerseits war nicht erforderlich, nur die Fähigkeit, einfache Gegebenheiten erkennen zu können. Die Briten hatten gesagt, die Amerikaner seien geistig nicht dazu fähig, ihren Freiheitskampf durchzuführen. Sie bezeichneten die Amerikaner als Winkeladvokaten, aufrührerische Handwerker, schlampige Farmer und gesetzesbrecherische Kaufleute. Auch sagten sie, ein Krieg werde die Oberschicht vernichten, ohne die kein Land funktionieren könne. Washington mochte in den Augen der Engländer ein einfacher Mann sein, aber er begriff die Mechanik des Krieges, den er zu führen hatte. Wenn die Kolonien untereinander Einigkeit wahrten, sich nur auf Schlachten einließen, die sie gewinnen konnten, die öffentliche Meinung in Übersee für sich gewannen und durchhielten, würden sie die Engländer in einem Stellungskrieg festnageln können. Und die Amerikaner würden jeden Stellungskrieg gewinnen, denn es war ihr Land.
Während der Indianerkriege übernahmen die Amerikaner die Rolle, die die Briten in den Unabhängigkeitskriegen gehabt hatten. Zwischen den Plains-Stämmen herrschte eine ungewöhnlich einträchtige Zusammenarbeit; die Indianer verfügten über zahlreiche Kriegsveteranen, Anwälte, Farmer und Kaufleute, die willens und in der Lage waren, eine Indianernation aufzubauen, wenn man sie nur ausreichend motivierte; die Mehrzahl der Stämme hatte außerordentlich fähige Führer. Trotzdem glaubten die Vereinigten Staaten, daß wir geistig nicht dazu fähig waren, einen erfolgreichen Freiheitskampf zu führen. Diese Einstellung hielt sich sogar noch zwanzig Jahre, nachdem der letzte Wasichu-Soldat zurück über den Missouri getrieben worden war. Es war eine solch monumentale Eitelkeit – ich sehe noch immer vor mir, wie sie sich im Gesicht Präsident Taylors spiegelte –, daß ich mich ihr stets mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht genähert habe.« Setter war zehn Jahre alt, als die Blattern durch die Erdhütten der Mandanen krochen. Die Epidemie schlug zu, während die Menschen gerade am Feuer Essen kochten, während sie Felle in ihre Boote luden, während sie ihre Toten beisetzten. Nach nur wenigen Tagen waren die Felsen der Mandanen oberhalb des Flusses mit Leichen bedeckt, so als habe dort ein rachsüchtiger Gott gewütet. Die Plage zog nach Westen, vernichtete den Stamm der Hidatsa und verseuchte ein Dutzend anderer Stämme, als die Präriewinde die Erreger verbreiteten. Niemand wagte, sich den Mandanendörfern zu nähern. Ganz gewiß nicht die weißen Händler, die fünfzig Jahre lang Geschichten über die willige Üppigkeit der Mandanenmädchen erzählt hatten. Die Jesuiten jedoch hatten die Indianer nicht wegen ihrer schönen Mädchen so häufig besucht. Seit
mehr als zweihundert Jahren waren die Mitglieder der Gesellschaft Jesu in den Wäldern Nordamerikas unterwegs, ein Canadian Service anderer Art, der statt Fellen Seelen beförderte. Die Annalen der Jesuiten über ihre Beziehungen zu den Indianern waren und sind noch immer die vollständigste Dokumentation über das Leben der Indianer, die je angefertigt wurde. Die Letzten des Mandanenvolkes riefen nach einem Priester. Pater Mercure traf, zehn Tage nachdem die Seuche über das Dorf hergefallen war, ein. Die Mischlinge, die sein Kanu paddelten, hatten sich schmutzige Tücher vor ihre Gesichter gebunden und stanken nach Knoblauch. Sie weigerten sich, den Pater in die Nähe des Dorfes zu begleiten. Statt dessen flohen sie und ließen den Franzosen allein am Ufer zurück, dort, wo die runden Mandanenboote im Uferdickicht vertäut waren. Die meisten waren leer, doch über die Bordwände einiger Boote hingen aufgedunsene schwarze Arme. Als er den Fuß der Klippe erreichte, auf der das Hauptdorf stand, fühlte er eine Leere in sich hochsteigen, die er nie für möglich gehalten hätte, eine Leere, die beinahe seinen Glauben verlöschen ließ wie das Vakuum eine Flamme. Eine Wolke von Aasgeiern verdunkelte den Himmel. Am Rand der Klippe hüpften Geier herum, die zu vollgefressen waren, um zu fliegen. Am Fuß der Felsen lagen die von den Vögeln angefressenen Leichen jener Indianer, die sich freiwillig von der Klippe herab zu Tode gestürzt hatten. Als der Pater den Aufstieg geschafft hatte und das Dorf erreichte, war es ihm, als durchschreite er die Tore der Hölle. Tausend Leichen lagen dort, begraben unter einer lebenden Decke von Aasgeiern. Der Jesuit sank auf die Knie, umklammerte seine Bibel und rief: »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder!«
Direkt vor ihm landete ein Geier. Pater Mercure schlug nach ihm. Der Vogel stolzierte zum Körper eines Jungen, betrachtete ihn und biß dann prüfend hinein. Der Junge schrie vor Schmerz auf. Zum zweiten Mal an diesem Tag blieb Pater Mercure fast das Herz stehen. Die Rippen des Kindes traten hervor, und es war mit den Exkrementen der Vögel beschmutzt. Der Jesuit weinte, als er den kleinen Körper über der Schulter hinunter zum Fluß trug. Der Junge trank das Wasser gierig, erbrach sich, trank wieder und weinte zusammen mit dem Priester. Es konnte kein Zweifel bestehen, er lebte. Pater Mercure baute ein Stück flußaufwärts eine kleine Blätterhütte und legte den Jungen hinein. Dann ging er zurück ins Dorf, um nach weiteren Überlebenden zu suchen. Es gab keine. Trotzdem war der Jesuit von Dankbarkeit erfüllt, daß er dazu ausersehen worden war, dieses eine Leben zu retten. Und er summte ein Lied, als er wieder hinunter zum Fluß ging. Der Junge war wohlauf, als Pater Mercure mit ihm an die Great Lakes zurückkehrte. Da er noch nicht alt genug war, um schon seine Vision gehabt zu haben, und daher noch keinen indianischen Namen trug, wurde er in den Aufzeichnungen der jesuitischen Mission als Christopher geführt. Aufgeweckt und übereifrig, war er schon bald Pater Mercures Lieblingsschüler. Mit fünfzehn diente er dem Priester als persönlicher Sekretär und zeichnete dessen Unterlagen in Französisch, Englisch und in einer Reihe von Indianersprachen auf. Während der Auseinandersetzung um das Papsttum zwischen Frankreich und Italien wurde Pater Mercure nach Europa zurückbeordert. Christopher begleitete ihn. Die beiden blieben auch zusammen, als der Jesuit befördert wurde und
ein Amt im vatikanischen diplomatischen Korps bekleidete. So erhielt Bruder Christopher, wie man ihn nannte, intime Einblicke in die Gesetze der Politik. Auch konnte er aus dieser Position heraus ausgezeichnet die Ereignisse des Jahres 1848 beobachten, als auf dem ganzen Kontinent die Monarchie gegen den Sozialismus kämpfte und siegreich blieb. 1851 schickte man Mercure und seinen Sekretär in die Diözese New York. Dort fand Christopher heraus, daß der größte Revolutionär seiner Zeit, Garibaldi, ebenfalls in New York weilte. Für Setter war er »einer der wenigen lebenden Männer, die fähig sind, die Zukunft Europas umzugestalten, und der einzige Mann, der fähig wäre, Italien zu einer Nation zu vereinen«. Es gelang Setter, sich mit seinem Helden zu treffen. Während ihrer kurzen, aber intensiven Freundschaft vertraute er Garibaldi an, daß er ein Buch schreiben wolle, mit dem er das Gewissen seines Landes wachzurütteln hoffe. Garibaldi verspottete diese Idee eines »bibliothekarischen Sieges«. Statt dessen überzeugte er Setter, daß es notwendig sei, zu lernen, wie man Revolutionen gewinnt, indem man tatsächlich an einer teilnimmt. Diesem Rat folgend, begab sich Setter schon nach wenigen Tagen an Bord eines Dreimasters, der nach Montevideo segelte. Hier wird die Biographie von Where The Sun Goes lückenhaft. Als sicher gilt jedenfalls, daß er zehn Jahre in Südamerika zubrachte und dort von einem Land zum andern und von einer Revolution zur anderen zog. Seine Karriere in Südamerika ähnelte in vielen Dingen der seines Mentors Garibaldi. Er schloß sich einer Söldnertruppe an, die sich aus einheimischen Patrioten, europäischen Idealisten und Kriminellen aus allen Teilen der Erde zusammensetzte. Zuerst war er Melder, dann Soldat, Captain, und schließlich Anführer seiner eigenen
Bande. Wie Garibaldi nahm er sich eine Frau, die an seiner Seite kämpfen konnte, und sie hatten Kinder. Er gewann nie irgendeinen Krieg, aber er wurde auch nicht umgebracht, was allein schon einen Triumph darstellt. Kurz nach Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges tauchte John Setter in London auf. Er handelte mit silbernen und goldenen Kunstschätzen aus der Neuen Welt, und das Warenangebot in seinem Laden schien unerschöpflich. Beliebt und nun wieder unverheiratet, verkehrte er bald sogar in den Salons, in denen Disraeli Kapitel aus seinen Novellen vorlas. Dies war der vierte Abschnitt im Leben von Where The Sun Goes und zugleich der kürzeste. Nachdem er eine Menge Geld verdient hatte, verschwand er eines Tages aus seinem Laden und ging einen Monat später in New York an Land. Schon bald reiste er weiter nach Washington. Alle gingen damals dorthin, um Eisenbahnland zu kaufen, Holz zu verkaufen, Minen zu mieten oder sich auf irgendeine andere Weise an der Staatskasse gütlich zu tun. Setter jedoch war offenbar anders, still, einsiedlerisch, erfüllt von einem fanatischen Interesse an Geschichte. Er verbrachte Wochen in den Bibliotheken und vertiefte sich in die Geschichte der indianischen Stämme, in ihre Religionen und ihr jeweiliges Verhältnis zur weißen Zivilisation. Die Nachmittage brachte er häufig damit zu, mit Lewis Henry Morgan zu diskutieren, einem Eisenbahn-Lobbyisten aus Rochester, dessen Hobby das Studium der Iroquois war. Sie gingen zusammen ins Smithsonian Institut, um sich ein alkoholgefülltes Gefäß anzusehen, in dem das Gehirn von Mangus Colorado schwamm. Mangus Colorado war jener Apachenhäuptling, der während des Krieges von der Armee in Arizona ermordet worden war. Auf einem Schildchen vor dem Gefäß stand, daß das Gehirn
schwerer sei als das Daniel Websters. Dann verschwand John Setter aus Washington, und während der neun Jahre vor der Custer-Schlacht besuchte er einen Indianerstamm nach dem anderen. Er redete und hörte zu, ganz gleich, ob ein Stamm vierzigtausend zählte, wie die Lakota, oder ob er so klein war wie die mutigen Wappos in Kalifornien, von denen nur noch hundertachtzig lebten. »Ich warb nicht für den Aufstand. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn das noch immer nötig gewesen wäre. Wahrscheinlich wäre ich nach Europa zurückgegangen, hätte mich der Wissenschaft oder dem Geschäftsleben zugewandt, wenn sich herausgestellt hätte, daß mein Volk immer noch nicht bereit war, die letzte Chance für seine Befreiung zu nutzen. Doch die Dinge lagen so gut, wie ich es gehofft hatte. Alles, was der Sache noch fehlte, war der Manager, eine Rolle, auf die ich mich ein ganzes Leben lang vorbereitet hatte.« In seinen Memoiren ist Setter allzu bescheiden. In Wahrheit predigte er die Rebellion bei jeder sich bietenden Gelegenheit, das wird ihm sowohl in den »Werken Wovokas« als auch in den Aufzeichnungen von They Fear His Horses bescheinigt. Und wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, sorgte er in Kanada und Europa für die erforderliche Unterstützung des Indianeraufstandes. Für die einen wird seine Arbeit stets Teufelswerk bleiben, für die anderen das redliche Mühen eines Patrioten. »Der jahrhundertealte Überlebenskampf eines Volkes läßt sich nicht einfach auf die Biographie eines einzelnen Mannes reduzieren«, schrieb Setter und schweigt bescheiden über die persönlichen Mühen, die seine Arbeit nach sich zog. General Nelson A. Miles war da nicht so zimperlich.
»Ein paar Halunken haben die Indianer aufgehetzt, und es ist unsere Aufgabe, die Indianer zu stoppen und die Halunken dingfest zu machen«, sagte er seinen Soldaten, als sie ausrückten, um in Fort Laramie zu MacKenzies Überlebenden zu stoßen. General Miles galt als harter Mann, der seine Angriffe in der vordersten Linie befehligte. Er ritt auf einem schönen schwarzen Vollblut, das leicht über dem viele Zentimeter dicken Schnee dahintrabte. »Ich rüstete meine Männer aus, als müßten sie in arktische Regionen vordringen«, schrieb er. Das hieß, daß die Soldaten sich, um die beißende Kälte ertragen zu können, mehr und mehr wie die Indianer kleideten, gegen die sie kämpften. Bei den Soldaten kamen die Bärenfellmäntel in Mode, wie sie ihr General trug, ein Veteran der Kriegführung auf den Plains. Nachts hüllten sich die Soldaten wie die Indianer in Umhänge aus Büffelfell, die einen Mann noch bei minus dreißig Grad warm hielten. Als die Kavalleristen von Fort Keogh nach Laramie ritten, stopften sie ihre Brote zwischen Bauch und Mantel, um sie so am Gefrieren zu hindern. In Laramie wurde eine Parade abgehalten, um die Kampfmoral zu heben. Die Festredner stimmten darin überein, daß die Gründe für einen Vergeltungsschlag sich laufend mehrten und daß die Soldaten sich diese Gründe stets vor Augen halten müßten. Man erklärte ihnen, daß die offizielle Bezeichnung für ihren nächsten Einsatz »Aufspüren und vernichten« laute, und man versicherte ihnen, ihr Land baue darauf, daß sie beides zur vollsten Zufriedenheit erledigten. Bei MacKenzie machte sich ein neuer nervöser Tick bemerkbar. Manche Leute waren jedoch nicht so zuversichtlich, wie die Redner es forderten. Normalerweise meldeten sich, wenn der Winter kam, entlang der Westgrenze Hunderte von Männern
freiwillig. Man nannte sie »Schneevögel«. Es waren Abenteurer und Herumtreiber, die zur Armee gingen, um in der harten Jahreszeit etwas Warmes zu essen zu haben. Sobald der Frühling kam, desertierten sie. In diesem Jahr jedoch tauchte kein Schneevogel auf, nicht ein einziger. Genauso verdächtig wie die Abwesenheit der Schneevögel war die große Zahl der anwesenden Zeitungsreporter. Ein Korrespondent war zusammen mit Custer gefallen. Die New Yorker Herald Tribune beanspruchte ihn für sich, doch in Wirklichkeit war er von einer Zeitung aus Bismarck, North Dacota, gewesen. »Wenn dieser Bericht Sie erreicht, werden wir die roten Teufel gestellt und gegen sie gekämpft haben; mit welchem Resultat, bleibt abzuwarten. Ich gehe mit Custer und werde dem Tod aus nächster Nähe ins Auge blicken«, hatte jener Unglückliche geschrieben. Nun wollten andere es ihm gleichtun, angestachelt von den enormen Honoraren, die die Herausgeber nahezu aller Zeitungen der Vereinigten Staaten dafür zahlten. Der Indianerkrieg war das heißeste Thema seit Jahren. Miles ließ die zehn Glücklichen, die ihn und MacKenzie begleiten durften, durch das Los ermitteln. Er hätte überhaupt keinen mitgenommen, wenn man ihm nicht befohlen hätte, mitzuhelfen, eine nervöse, neugierige Öffentlichkeit zu beruhigen. Es hatten Wahlen stattgefunden. General Rutherford B. Hayes war durch einen Wahlbetrug in zwei Südstaaten Präsident geworden. Die Regierung brauchte das Vertrauen der Leute, und Hayes fühlte, daß es sich am besten durch Berichte über militärische Erfolge in den Zeitungen gewinnen lassen würde. »Nellie«, schrieb er an seinen alten Freund, »laß die Zeitungsjungen ein bißchen bei Dir mitreiten.« General Sherman, der Oberbefehlshaber der Armeen, war nach der Wahl nach Washington zurückgekehrt und
schrieb: »Bringt einen Sieg mit zurück!« Miles ging im Tal des Big Dry auf Indianerjagd. Er hatte praktisch keine Scouts mehr, doch die wenigen, die er noch besaß, waren Meister ihres Fachs. Schon bald war Kontakt zum Feind hergestellt. Im ständig höher werdenden Schnee – er war jetzt schon knietief – gingen die beiden großen Heere in Stellung. Das Lager der Soldaten war nachts ständig von einem Ring aus Leuchtfeuern umgeben, der den Granatangriffen ein Ende machte. Dafür halfen die Feuer jedoch den indianischen Scharfschützen, die mit ihren langen Kentucky-Flinten in fünfhundert Yards Entfernung saßen. Doch Miles nahm die daraus resultierenden kleinen Verluste hin, denn Tag für Tag rückte seine Armee weiter vor, und er fühlte, daß er die Indianer dorthin trieb, wo das Tal zu einer Sackgasse wurde. »Ich bin sicher, daß dem Feind das Essen knapp wird, daß ihm die Munition knapp wird, und ich weiß verdammt gut, daß ihm auch der Platz knapp wird«, schrieb er in seinem Bericht ans Armeehauptquartier. Eine Nachricht erreichte Miles und MacKenzie, nicht vom Armeehauptquartier, dafür aber von Sitting Bull. Sie wurde von einem einzelnen Krieger gebracht, der der auf dem Vormarsch befindlichen Armee entgegenritt. »General: Ich will wissen, was Du vorhast, daß Du auf dieser Straße reitest. Du verscheuchst alle Büffel. Ich möchte hier jagen. Wenn Du jetzt umkehrst, werde ich nicht gegen Dich kämpfen. Laßt alles hier zurück, was Ihr bei Euch habt, Du und Deine Männer, alle Eure Rationen und Waffen, und ich werde Euch ziehen lassen. Du mußt mir jetzt sofort mitteilen, ob Du das tun willst. Dein Freund Sitting Bull.« Da dies eine Offerte war, die kein General annehmen würde, muß die Botschaft als Teil der indianischen Politik
angesehen werden, die darauf abzielte, die Wasichu als Eindringlinge in ein fremdes Land abzustempeln, in dem sie keine Autorität besaßen. Als Antwort ließ Miles dem Indianer, der die Botschaft überbracht hatte, ein Stück nasses Rohleder um den Hals binden. Seine Hände fesselte man am Sattelknauf. Der Indianer ritt, so schnell er konnte, zurück zu Sitting Bull, doch es war zu spät. Das sich zusammenziehende Leder drückte ihm die Luft ab, als er das Lager erreichte. Der General und der Häuptling wußten nun, woran jeder beim anderen war. Am ersten Dezember stellte Miles seine Armee vor dem dreieckig zulaufenden toten Ende des Big Dry auf. Die achthundert Fußsoldaten wurden aufgeteilt, um die Flanken zu schließen und die Indianer der Infanterie in die Arme zu treiben. Hinter den Fußsoldaten gingen zwei Batterien Haubitzen in Stellung. Am Ende des Tages hatte die Armee auf diese Weise zwanzig Hirsche und einen Bären gefangen. Miles las noch einmal seine Befehle aus Washington durch und schrieb einen Bericht über einen Sieg, der Amerikas Vorherrschaft im Norden wiederhergestellt habe. Den enttäuschten Reportern wurde erzählt, die Indianer seien nach Kanada geflohen, um der amerikanischen Übermacht zu entkommen. MacKenzie spürte in einem Cañon des Crazy Woman Fork am Powder River einen indianischen Verband unter dem Kommando des Tsistsitas Yellow Nose auf. Diesmal ging er kein Risiko ein. Captain Lawton von der 4. Kavallerie wurde vorausgeschickt, um Flußüberquerungen zu legen und Brücken über Schluchten zu bauen, damit Kavallerie und Artillerie ohne Verzögerungen vormarschieren und angreifen konnten. Gegen moderne Logistik würden die Eingeborenen, trotz ihrer Verschlagenheit, nichts ausrichten können.
Am Tage von Miles Angriff am Big Dry stürmte MacKenzie mit eintausendeinhundertundzehn berittenen Soldaten der 4. und 5. Kavallerie und drei Kanonenlafetten durch das Tal des Powder River. Lawton hatte gute Arbeit geleistet; MacKenzies Verband bewältigte an einem Morgen eine Strecke, für die er normalerweise zwei volle Tage gebraucht hätte. So kam es, daß bei den dahingaloppierenden Soldaten eine gute Stimmung herrschte. Niemand beachtete einen schon bekannten Schrecken, der sich in Gewalt eines schwarzen Himmels drohend hinter ihnen erhob. Als sie sich Yellow Noses Lager näherten, blies ihnen bereits ein kalter Wind in den Rücken, und nun bemerkten alle den nahenden Blizzard. Hastig gab MacKenzie, im Wettlauf mit dem Wetter, seine Befehle für den Angriff. Wenn das Schneetreiben einsetzte, bevor der Angriff im Gange war, konnten die Indianer dies zur Flucht nutzen, und die Jagd würde von neuem beginnen müssen. Er würde die erste Attacke selbst führen und darauf verzichten, zunächst die indianische Verteidigung durch Haubitzenbeschuß lahmzulegen. Leutnant McKinney kommandierte den anderen Flügel. Die beiden Schlachtreihen formierten sich, auf Hornsignale verzichtend, in einem Halbkreis um das friedlich daliegende Dorf. Dull Knife beobachtete die Soldaten durch einen Feldstecher. »Sie kommen jetzt«, sagte er. Die anderen Kriegshäuptlinge der Cheyenne standen neben ihm in einem Gebüsch oberhalb des Dorfes und lauschten seiner Beschreibung des Gegners. »Der große Dicke reitet vorneweg. Er scheint es mächtig eilig zu haben. Er bemerkt offenbar gar nicht, daß keine Frauen und Kinder in dem Dorf sind.« Zwei alte Männer wurden aus dem Dorf geführt und in
einer Schlucht in Sicherheit gebracht. Jeder von ihnen trug ein mit bunten Federn verziertes Bündel. Das eine Bündel bestand aus Kojoten-, das andere aus Büffelfell. Das Kojotenfell barg die vier heiligen Pfeile, das Büffelfell die Bisonkopfhaube, das Herz und die Seele der Tsistsitas-Nation. Wenn einem dieser beiden Heiligtümer etwas zustieß, würde kein Cheyenne jemals wieder kämpfen, denn seine Zauberkraft wäre für immer dahin. »Das Wasser ist nicht tief, Sir, höchstens sechs Inch.« »Kein Problem«, sagte Lawton. MacKenzie blickte über die Schulter in den finsteren Himmel und zog seinen Säbel. Die Pferde bewegten sich zunächst im Schritt, fielen dann in Trab, und als sie den Fluß erreichten, befanden sie sich in vollem Galopp. Der Wind trug den Klang der Hörner davon. MacKenzie führte eine großartige Attacke. Die Kavallerie stürmte in vollstem Galopp in das Dorf und ließ den Scharfschützen, die in den ersten Tipis postiert waren, wenig Zeit zum Zielen. Einige der Verteidiger verließen ihre Stellungen und kehrten zur alten Art des Kampfes Mann gegen Mann zurück, starben ehrenvoll, aber sinnlos. Um für Ordnung zu sorgen, schickten Dull Knife und Yellow Nose Four Spirits hinunter zu den Brustwehren, die zwischen den Tipis verborgen waren. Die gemischten Reihen aus Tsistsitas, Lakota, Arikara und Inuna-Ina wurden von der Wucht des Angriffes zurückgedrängt; von der ersten Verteidigungslinie zogen sie sich zu einer zweiten und einer dritten zurück. Während der ersten Attacke fielen ungefähr fünfzig Mann auf jeder Seite. MacKenzie, der im Sattel hin und her wirbelte und dabei das Magazin seines Colts leerschoß, tötete allein fünf Feinde. Ein Hornsignal gab das Zeichen zur zweiten, von McKinney
geführten Attacke. MacKenzie sammelte seine Männer seitlich vom Dorf, während McKinneys Soldaten durch den Powder River stürmten. Es bestand kein Zweifel, daß die Indianer sich jetzt in die Felsen hinter dem Dorf zurückzogen. McKinney und seine Männer setzten ihnen nach, galoppierten durch das brennende Dorf und den dahinterliegenden Abhang hinauf. Zuerst glaubte MacKenzie seinen Ohren nicht zu trauen. Aus den Felsen erscholl das Geknatter von Goroloffs. McKinney fiel tot vom Pferd. Nach wenigen Minuten lagen die Männer und Pferde der zweiten Attacke tot am Boden. »Das sind Gatlings!« brüllte MacKenzie. Er trieb seine Soldaten zurück über den Fluß. Wenn er erst einmal seine Haubitzen in Stellung gebracht hatte, konnte er die Maschinengewehre aus den Felsen schießen. Als seine Soldaten durch den Fluß flohen, sahen sie, daß die Geschütze bereits in Stellung gebracht worden waren. Ein Trupp Indianer unter der Führung von Two Moons war gerade dabei, sie auf den General und seine Männer zu justieren. Gnädig verhüllte der Blizzard das Ende von MacKenzies letztem Kommando. Miles zog in mäßigem Tempo den Tongue River hinab und hielt nach They Fear His Horses Ausschau. Unterwegs feierte man Weihnachten und Neujahr mit doppelten Fleischrationen, zu denen sich auf geheimnisvolle Weise auch etwas Whisky gesellte. Am 8. Januar lagerte die Armee auf einem von den Wolf Mountains umgebenen Plateau. Ringsum erhoben sich niedrige Bergrücken mit kahlen Bäumen, die wie in den Schnee gezeichnet wirkten. Während sich zwischen den Zelten eine festtägliche Kameradschaft ausbreitete, spazierte der General mit ein paar Reportern zwischen den Planwagen
umher. Die Dämmerung ging in eine pechschwarze Nacht über, die von diamantklaren Sternen kaum erhellt wurde. Ein paar dieser Sterne schienen dicht über einer Bergspitze aufzublitzen. »Ein Komet?« meinte einer der Reporter. »Mündungsfeuer«, stellte Miles ohne jeden Zweifel fest. Dann hörten sie in der Ferne das Dröhnen von Geschützen, und mitten unter den sich ausruhenden Soldaten schlug ein Geschoß ein. »Die Indianer haben Kanonen?« fragte der Mann von der World. Ihm stand der Mund offen. Miles antwortete nicht. Er rannte durch den Schnee zu seinem Zelt, während weitere Geschosse im Lager einschlugen. Er sah auf den Bergen auf der anderen Seite des Lagers weitere Blitze. Ein Pferd samt Reiter wurde zehn Meter neben ihm zerrissen. Weiter hinten traf eine Kugel den Munitionswagen, unter den sich die Korrespondenten geduckt hatten. Die Stabsoffiziere warteten beim Generalszelt, vor Angst alle wieder völlig nüchtern. »Major, wissen Sie, wo diese Geschütze stehen? Haben Sie das Mündungsfeuer beobachtet? Dann holen Sie sich hundert Mann, teilen Sie sie in Kommandos auf, und vernichten Sie diese Batterien. Nehmen Sie niemand sonst mit. Falls es ein Hinterhalt ist, möchte ich keine unnötigen Verluste haben«, befahl Miles. Er ließ alle Lagerfeuer sofort löschen. Die Planwagen rumpelten über die Überreste der getroffenen Wagen und suchten neue Positionen. Die Pferde wurden um die Männer aufgestellt, die nicht mehr laufen konnten. Das Plateau war schnell in völlige Dunkelheit getaucht. Die Howitzer stellten das Feuer ein, aber der Major und seine hundert Mann kehrten nicht zurück.
Die Dämmerung war eine graue, trostlose Angelegenheit. Die Soldaten zitterten in eisüberkrusteten Büffelmänteln. Das Tageslicht zeigte das volle Ausmaß der Zerstörungen, die von den über dreißig Geschossen des nächtlichen Angriffs hinterlassen worden waren. Die Dämmerung brachte auch weiteren Beschuß durch einen soliden Ring von Kanonen, der das Camp eingeschlossen hatte. Miles nickte in seinem Feldstuhl, den Mantel bis an die Nase gezogen. »Ja, ja. Haben uns reinreißen lassen. Dachte, sie wären vor uns weggelaufen.« Rauchfahnen stiegen aus dem Schnee auf. Es war keine Sonne zu sehen, nur ein helleres Grau am Himmel. Die Stabsoffiziere umstanden seinen Stuhl wie schlaflose Zauberlehrlinge. Die Männer, die in der Nähe überall auf dem Bauch lagen, hielten erwartungsvoll das Generalszelt im Auge. »Sir, meinen Sie nicht, wir sollten anfangen, Schützengräben auszuheben?« erkundigte sich ein Captain. »Damit verschwenden wir nur unseren Atem an einem so harten Tag wie dem heutigen«, erwiderte Miles. »Sie haben uns festgenagelt und machen uns ein, Jungs, das muß man anerkennen. Man muß es anerkennen, aber man muß ihnen nicht auch noch dabei helfen. Diese Gräben wären mit Sicherheit unsere Gräber. Was ist das nächste Fort?« »Laramie, Sir.« Miles befahl, seine beiden Kanonen auf den Rauch der indianischen Geschütze bei einem der südlichen Hügel auszurichten. Major Casey erhielt den ehrenvollen Auftrag, die Anhöhe für die restliche Streitmacht zu säubern. Die Armee zog sich wieder enger zusammen, als Caseys zwei Kompanien losritten. Miles bestieg auf freiem Feld sein schwarzes Pferd, das Geschützfeuer ignorierend. Als er sah, daß die indiani-
schen Geschütze auf dem Hügel nach dem Feuer seiner eigenen Batterien schwiegen und Casey bereits den halben Hang erklommen hatte, gab er den Befehl zum Abmarsch. Es war ein weiser und glücklicher Befehl. Zu bleiben hätte katastrophale Folgen gehabt, und der Hügel, den sie sich für den Durchbruch ausgesucht hatten, war einer der wenigen ohne Goroloffs. Miles war in der Lage, seine Truppen in geschlossener Formation durch den Wald zu führen, und machte sich auf den Heimweg. Schnell wurden ihm dabei ein paar erhebliche Nachteile klar, die seine Männer gegenüber den Indianern hatten. Die Roten konnten sich wesentlich schneller bewegen als die Soldaten, denn ihre Streitmacht bestand fast zu hundert Prozent aus Kavallerie. Sobald Miles’ Truppen eine Rast einlegen würden, konnten die Indianer wieder Geschütze in Stellung bringen. Miles hatte keine Ahnung, wie viele Geschütze das waren, während sie genau wußten, wie viele er hatte. Dieses Problem hatte es früher niemals gegeben, weil die Indianer im Winter nicht zusammenblieben. Und Kanonen hatten sie auch noch nie gehabt. Miles strich sich durch sein silbernes Haar. Die Indianer waren aber bisher auch noch nicht zu einer offenen Feldschlacht übergegangen, was auch in die Überlegungen mit einbezogen werden mußte. Mittags wurde der Rückmarsch unterbrochen, und die Soldaten bezogen Stellung. Infanterie und Kavallerie wurden in Gefechtslinien und Karrees aufgeteilt. In den Karrees befanden sich die Planwagen, die Ambulanzen und Miles. Die Armee der Vereinigten Staaten wartete auf den Kampf. Sie wartete den ganzen Tag. Nichts berührte den Schnee um sie her außer der Wind. »Was für ein Feind ist das?« fragte Miles sich selbst. Als die
Soldaten begannen, ein Lager aufzuschlagen, krachten die ersten Geschützsalven. Sitting Bull, They Fear Horses und Big Crow ritten an den Kanonen entlang, als der zweite Tag heraufdämmerte. Sie sahen nicht zu dem eingeschlossenen Lager, sondern nach Westen. Von dort jagte ihnen ein Reiter über das Eis entgegen und schwenkte die Arme, lange bevor er sie erreicht hatte. Krieger, die unterwegs seine Botschaft mitbekamen, stießen Freudenrufe aus. They Fear His Horses schlug Big Crow auf die Schulter. »Sie sind nur noch ein paar Meilen weg, ich habe sie gesehen«, verkündete der Reiter, sobald er sein erschöpftes Pony vor den Häuptlingen zum Stehen gebracht hatte. Eine Stunde später tauchten sie auf, die Gäste aus dem Westen. Nimipu, Northern Shoshones, Western Shoshones, Kalispel und Skitswish, neuntausend Mann zusammen, die Thunder Going Over The Mountains folgten dem Mann, den die Wasichu Häuptling Joseph nannten. Er hatte sie über zweitausend Meilen geführt und gegen drei Armeen. Zuerst war ihm General Howard und seine Erste Kavallerie auf dem Lolo Trail gefolgt, dann stieß er auf General Gibbon in den Bitterroot Mountains und schließlich auf Colonel Sturgis am Cañon Creek. Thunder Going Over The Mountains hatte sie alle geschla-gen und unterwegs andere Indianernationen seiner Streitmacht eingegliedert. Mit seinen Kriegern standen General Miles nun 25.000 Indianer gegenüber. Aus dem Idaho Territorium bemühten sich die Männer an den Telegraphen verzweifelt, eine Botschaft an General Miles zu schicken, die ihn über Tod und Verwundung Howards und Gibbons und den Anmarsch der Nez Perce informieren sollte. Ihre Bemühungen kamen nicht über den ersten umgehauenen
Telegraphenmast hinaus. Weit unten im Süden schickte man ähnliche Botschaften mit Heliographen durch die Wüste. Siebenundzwanzig Spiegel waren auf Mesagipfeln postiert, und sie konnten in Sekunden über fünfzig Meilen morsen. An diesem Tag blitzten sie General Ben Grierson die Nachricht zu, daß die 9. Kavallerie nach Fort Bayard zurückgetrieben worden war. »Gab es sonst noch irgend etwas, irgendeinen Hinweis, wann die Lage dort sich bessern könnte?« fragte Grierson den Reiter. »Nichts. Ich habe noch ein paar Stunden bei der Station gewartet, aber es kam nichts mehr durch. Als ob die Verbindung zusammengebrochen wäre.« »Danke. Besorgen Sie sich was zu essen.« Grierson marschierte über den staubigen Boden des Missionshauses, die Hände in den Gürtel gestemmt. Eine Bauchverletzung hatte seinen Magen ruiniert, und beim Anblick einer Obstschale auf dem Tisch verzog er das Gesicht. Neben dem Eingang zur Missionsstation drehte man gerade einen Wagen um. Seine Soldaten, die meisten von der 10. Kavallerie, suchten, so gut es ging, darunter Schatten. Eine Gatling auf dem Haus und zwei Vorkriegskanonen waren Griersons schwere Artillerie. Bis jetzt hatte er es geschafft, Taos zwei Wochen gegen die Apachen zu halten. Das war nicht schlecht. Man erwartete Entsatz aus Bayard oder Fort Quitman. Das Problem war nur, daß jede Hilfstruppe, die von dort loszog, irgendwo in einem Cañon verschwand, fast so lautlos wie die Heliographenbotschaften. Grierson begriff inzwischen, aber es war zu spät, und er wußte das. Man war davon ausgegangen, daß sie hier gegen die Apachen kämpfen sollten, doch wäh-
rend Grierson gegen die Apachen kämpfte, mußten sich die anderen Kommandeure mit Comanchen und Caddo und Kiowa herumschlagen. Jedes Regiment gegen einen ganzen Stamm. Das gab keinen Sinn, wenn man die Indianer kannte, aber es bereitete Grierson fast ein stilles Vergnügen, sozusagen im Tode noch recht behalten zu können. Sein Sohn, der gerade von einem College im Osten zurückgekehrt war, tauchte in der Tür auf. »Da kommt noch eine Delegation, Dad. Mach dich fertig.« Grierson prüfte seine Knöpfe und setzt den Hut auf. Er überspielte einen Rülpser mit einem Gähnen, als die Delegation hereingeführt wurde. »General, die Sache ist jetzt weit genug gegangen. Wir verlangen Ihren Schutz als Bürger der Vereinigten Staaten«, sagte der Mann an der Spitze. Sie sahen sich alle gleich, rotgesichtige Farmer, die ihre Gewehre wie Mistgabeln hielten. Grierson zuckte die Schultern. »Gentlemen, was soll ich sagen? Ich habe Sie eingeladen, hier zu uns in die Missionsstation zu kommen, damit ich Sie beschützen kann. Statt dessen haben Sie Ihre Familien auf ein Rancho gebracht, das ich von hier kaum sehen kann. Ich kann Sie nicht schützen, wenn Sie sich weigern, bei uns zu bleiben, und, wie ich Ihnen schon häufiger erzählt habe, ist dies hier der Ort, der sich am besten verteidigen läßt. Zusammen könnten wir hier eine Chance haben. Ohne guten Grund voneinander getrennt, können wir uns nur gegenseitig beim Sterben zusehen.« »Es gibt einen guten Grund«, erklärte ein vierschrötiger Kerl mit einer Schrotflinte. »Sie kennen den Grund. Und Sie wissen, daß es Ihre Pflicht ist, Weiße zu schützen.«
»Ihr habt hundert Gewehre«, beharrte Grierson. »Wenn Ihr damit meine Soldaten verstärkt, könnten wir vielleicht heil durchkommen. Natürlich fällt es nicht leicht, sich von alten Gewohnheiten zu trennen, aber es geht schließlich um das Überleben…« »Wir sind nicht in den Westen gekommen, um an der Seite von Niggern zu kämpfen«, erwiderte der mit der Schrotflinte. »Es ist nun aber mal so, daß es sich bei der 10. Kavallerie um eine Negereinheit handelt«, sagte Grierson ruhig. »Möglicherweise die besten Soldaten überhaupt hier draußen. Ich bin sicher, Victorio und Geronimo halten sie dafür. Auf die Hilfe dieser Soldaten zu verzichten wäre eine Sünde.« »Erzählen Sie uns nichts von Sünden«, rief ein Farmer und warf einen schaudernden Seitenblick auf die Schwarzen entlang der Mauern. »Sie wollen nicht kommen oder Ihre Offiziere schicken?« fragte der Vierschrötige. »Das ist richtig.« »Dann verlangen wir, daß Sie uns Ihr Maschinengewehr und die Kanonen übergeben. Das ist das wenigste, was Sie für Ihre eigene Rasse tun können.« Grierson ließ den Blick von einem zum anderen wandern. Sie glaubten so absolut an das, was sie sagten, daß er sich fast als verrückter Außenseiter fühlte. Die meisten der neuen Siedler waren aus dem Süden, einem neuen Süden mit den alten Idealen. Vielleicht war es auf eine seltsame Art sogar seine Pflicht, mit ihnen zu gehen, mit den Gewehren und allem anderen. »Vielen Dank, Gentlemen. Ich glaube, ich kenne meine eigenen Leute.« Eine beängstigende Art von Einsicht schien in ihren Augen
aufzuleuchten. Grierson hatte noch nie so etwas Obszönes in seinem Leben gesehen. »Oh, ja, ja. Jetzt haben wir kapiert«, murmelten sie sich untereinander zu. »Raus hier«, sagte Grierson. »Meine Einladung und die Einladung meiner Männer ist zurückgezogen.« Der Lauf einer Schrotflinte preßte sich in seinen Bauch. »Wir haben uns gedacht, daß Sie so etwas sagen würden, General. Deshalb erzählen wir Ihnen jetzt was. Geben Sie uns die Gatling und die Kanonen, oder ich blase Ihre Eingeweide zum Fenster raus.« Zustimmend richteten sich die anderen Gewehre auf Griersons Brust. Das waren klare Fronten, die dem General wesentlich besser gefielen. Zur Enttäuschung der Delegation entspannte er sich. »Wenn Ihr mich auch nur anrührt«, sagte er mit einem grimmigen Lächeln, »dann bringen die schwarzen Burschen da draußen euch bis auf das letzte Muttersöhnchen um. Damit wird euren Familien nicht viel geholfen sein. Denn soviel ich weiß, werden diese Nigger die Apachen wie verlorene Brüder begrüßen und mit ihnen zusammen zum Rancho ziehen, um eure Frauen zu foltern und eure Töchter zu vergewaltigen.« Die Farmer zitterten vor Haß und Wut, aber sie ließen die Gewehre sinken. Wortlos verließen sie ihn und seine Soldaten. Grierson rieb sich den Bauch und ging hinaus, um mit seinen Offizieren die brusthohe Mauer zu überprüfen. Soldaten legten überall die Munition zurecht. In der zum provisorischen Hospital gemachten Kiva schwitzten die Verwundeten, die kein Gewehr mehr halten konnten, in stiller Ergebenheit. Die Hälfte von Griersons sechshundert Mann waren gefallen, die meisten bei dem Hinterhalt, der ihn und die 10. Kavallerie in diesen kleinen Pueblo in Neu Mexiko getrieben
hatte. Nichts erklärte die eigenartige Hochstimmung, mit der er sich dem Unausweichlichen stellte. Als der General die Treppe zum Dach mit der Gatling hinaufstieg, fragte er sich, ob dies wohl das Gefühl war, das George Custer empfunden hatte. Die Schaltstelle für alle Nachrichten von der Grenze war St. Louis. Shermann befand sich mit seinem Titel und seinem Anhang in Washington, und General Phil Sheridan, der Kampfhahn der Union, hatte das Oberkommando über die militärischen Aktivitäten westlich von Fort Leavenworth. Der erste Befehl, den er an alle Forts schickte, lautete: »Alle Indianer in den Reservationen entwaffnen. Alle Indianer außerhalb der Reservationen töten.« Für gefangene Indianer wurden bei Fort Marion in Florida neue Lager errichtet, weil die alten bereits überfüllt waren. Präsident Hayes trat mit dem Versprechen vor den Kongreß, die Zukunft jedes Siedlers zu sichern, und las den Abgeordneten einen Brief vor, der ihm von einer Gruppe christlicher Indianer geschickt worden war, die um Schutz vor nichtchristlichen Indianern baten. Die Schwierigkeit bestand darin, daß alles, was von der Armee der Vereinigten Staaten zwischen Kalifornien und Kansas noch übrig war, sich hinter hölzernen Palisaden verschanzen mußte. Es wurde Februar, bevor der Osten in vollem Ausmaß begriff, was geschehen war. Über den Missouri kamen die Siedler mit ihrer persönlichen Habe auf dem Rücken zurück, obwohl ihnen von den Indianern kein Haar gekrümmt worden war. Sie umgaben Kansas City, St. Louis und San Antonio mit großen Zeltstädten. Trotz aller Anstrengungen der Regierung enthüllten die Zeitungen die
Schicksale der Geisterregimenter. Neue Namen gesellten sich zu dem von Custer. Crooks Rückzug, das Tongue RiverMassaker. Griersons letztes Gefecht. Und als Goy-ya-thle sich seinen Wunschtraum erfüllt hatte, sagte man: »Denkt an Tucson!« »Es ist eine fortwährende Schande für uns, daß eine Nation von vierzig Millionen zivilisierten und zum größten Teil christlich getauften Menschen völlig unfähig zu sein scheint, auf glaubwürdige Weise mit ein paar Tausend sogenannter Wilder in unmittelbarer Nähe fertig zu werden«, schrieb der Reverend Edward Jacker in einem Artikel im American Quarterly Catholic Review. Der Autor legte nahe, daß es das größte Unglück der Sioux-Nation sei, sich nie von Jesuiten missionieren haben zu lassen. Auf der Titelseite des New York Herald verlangte ein Leitartikel die dauerhafte Eliminierung des Indianerproblems auf permanenter Basis. Andere sprachen von der »Texanischen Lösung«. In Kalifornien war sie auch als »Ben Wrights Methode« bekannt, benannt nach einem Indianeragenten, der vierzig seiner Schützlinge zu einem Fest einlud und sie mit einer Gatling niedermähte, um die Kopfprämie zu kassieren. Zu einem ähnlichen Zweck waren die Texas Rangers ins Leben gerufen worden. Trotzdem strömten die Siedler zu Hunderttausenden aus dem Indianerterritorium und sobald sie sich in Sicherheit fühlten, bildeten sie Vigilantenkomitees. Das Repräsentantenhaus und der Senat billigten einstimmig die Vergrößerung der Armee auf 75.000 Mann. Auch der Aufbau einer Siedlermiliz, doppelt so groß wie die reguläre Armee, wurde gebilligt. Ende Februar schlugen die Vereinigten Staaten zurück. Ein Mob heimatloser Siedler vernichtete die letzten Überbleibsel
der Huronennation, zweihundertfünfzig Frauen und Kinder, auf ihrer Reservation in Oklahoma.
*** »Ich will gesehen werden. Ich will, daß die Leute sehen, ein Indianer ist ein Mensch«, sagte Holds Eagles. Er steuerte den Wagen die Connecticut Avenue hinunter. »Abgesehen davon ist es ein schöner Tag für eine kleine Autofahrt.« Liz Carney sah sich die Leute auf der Straße an. Sie starrten alle auf den dunklen Mann in dem feinen Lederhemd am Steuer des Wagens. »Es ist kein guter Tag dafür«, meinte Liz. »Direkt nach dem Siegesfeiertag. Die Gefühle schlagen dann immer sehr hohe Wellen.« »Leute neigen eigentlich nicht dazu, andere Leute umzubringen«, meinte Holds Eagles. »Aber wenn sie sich erst einmal selbst davon überzeugt haben, daß ihr Feind kein richtiger Mensch ist, dann können sie ihm alles antun. Das ist eine freie Übersetzung von Moose Who Saw A Moon. Einfacher Gedanke und wahr dazu.« »Wenn du glaubst, du solltest hier deine Sterblichkeit unter Beweis stellen, könnte dir das durchaus gelingen. Was ist mit diesen Agenten, von denen du vor ein paar Tagen andeutungsweise gesprochen hast, diesen Burschen, die dich aufhalten wollten?« Holds Eagles hob eine Augenbraue. »Habe ich so etwas gesagt?« Er fuhr langsamer, um ein Schild zu lesen. »Ich bin schon lange nicht mehr in Washington gewesen. Wie kommen wir von hier aufs offene Land?« »Mit dem Flugzeug. Es gibt allerdings noch ein paar freie
Rasenflächen um die teureren Appartementblocks. Darum wollen wir ja etwas von eurem Land, weißt du nicht mehr?« Holds Eagles schnippte mit den Fingern. »Ach richtig.« »Glaubst du, wir könnten uns diesen Kontinent teilen?« fragte sie und verfiel fast automatisch wieder in die Rolle der Reporterin. »Das tun wir doch schon.« Neben ihnen fuhr ein Wagen mit derselben Geschwindigkeit in dieselbe Richtung. Eine Familie saß darin, Mutter und Vater vorne, die Kinder hinten, noch immer ihre Fähnchen vom vergangenen Freitag in den Händen. Ein Junge entdeckte Holds Eagles durch das Fenster, und seine Augen weiteten sich. Er rief etwas, und sein Vater wandte sich um, um ihm auf den Mund zu schlagen, aber dann sah auch er Holds Eagles. Der Wagen wechselte in eine andere Spur und kehrte zurück. Die Mutter zog angeekelt die Nase hoch. Ihre Augen bohrten sich in die von Liz Carney. Ihr Mann schob einen Arm an ihr vorbei und stieß den fleischigen Mittelfinger in die Luft. Der Junge benutzte den Stiel seines Fähnchens als imaginäres Maschinengewehr und ›durchlöcherte‹ den Wagen mit Holds Eagles. Seine kleine Schwester versuchte sich mit Lächeln und Winken am Spiel zu beteiligen. »So, jetzt bist du gesehen worden und hast ins Gras beißen müssen«, verkündete Liz. Hoch über ihnen schwebte ein Hubschrauber und verfolgte den Weg des Wagens.
»Warum sollten wir Ihnen glauben?« fragte Präsident Nielson am nächsten Tag. Holds Eagles wartete ab, bis der Präsident mit dem fertig
war, was er zu sagen hatte. Zu den Dingen, die er bereits gelernt hatte, gehörte, daß der Präsident gerne konkret geworden wäre, aber dabei seine Schwierigkeiten hatte. Am Rande ließ er die georgianisch-hawaiische Atmosphäre des Besprechungsraumes auf sich wirken. Präsidentenberater saßen an einer Seite des langen Tisches, Holds Eagles und Bearman allein auf der anderen. »Wissen Sie, was ich meine?« fragte Nielson, als erwarte er von Holds Eagles das Eingeständnis, Indianern könne man nicht trauen. »Was Ihr Volk während des Krieges getan hat, war nicht gerade hilfreich. Ihre mangelnde Unterstützung, während wir diesen Teil der Welt in Vietnam gesichert haben, war… traurig. Ich bedaure den Zwischenfall, der zu Buffalo Riders Tod geführt hat. Aber solche Dinge können passieren, wenn man feindselige Spannungen wachsen läßt.« Der Präsident schwätzte, begleitet vom zustimmenden Nicken seiner Berater, weiter. Holds Eagles wandte seine Gedanken anderen Dingen zu. Etwa der Frage, warum eine westliche Demokratie regelmäßig Männer von Nielsons Kaliber an die Spitze brachte. Er dachte an den Lenape Buffalo Rider, der so glücklich gewesen war, nach einem Leben als Krieger ein Mann des Friedens sein zu dürfen. Die Reise an die Grenze, als die Vereinigten Staaten ihre ersten Forderungen stellten. Die Gespräche zwischen Buffalo Rider und dem amerikanischen Staatssekretär, einem echten Mann des Friedens. Der Mann in dem schwarzen Mantel, der irgendwie durch die Polizeilinien kam und Buffalo Rider und den Staatssekretär beide je dreimal in Kopf und Brust schoß, bevor man ihn zu Boden zerren konnte. Die Dog Soldiers waren von Buffalo Rider gebeten worden, als vertrauensvolle Geste die Sicherheitsvorkehrungen den Wasichu zu überlassen.
»… tatsächlich gibt es sogar einige Leute, die Zweifel geäußert haben bezüglich Ihrer Fähigkeit, mit Ihren Vorgesetzten Verbindung aufzunehmen.« Er war jetzt an der Reihe, etwas zu erklären, erkannte Holds Eagles. Er ignorierte, was der Präsident gesagt hatte. »Die Indianische Nation versteht Ihre Sorgen wegen des Problems der Überbevölkerung und der Kommunikation zwischen den beiden Hälften Ihrer großen Nation. Wir würden gerne tun, was wir können, um einem Nachbarn zu helfen. Eine der Möglichkeiten dazu wäre unserer Ansicht nach die Erlaubnis, eine Luftverbindung über Indianisches Land zwischen den westlichen und den östlichen Vereinigten Staaten einzurichten. Gleichzeitig erwartet die indianische Nation im Austausch dafür Landerechte für die Indian Airlines auf Flugplätzen der Vereinigten Staaten. Man könnte Kabel über den Kontinent verlegen, die von unseren beiden Ländern benutzt werden könnten. Was die Frage der Überbevölkerung angeht, stehen indianische Experten bereit, um den Vereinigten Staaten dabei zu helfen, Siedlungsraum in den Weiten von Alaska für das amerikanische Volk zu erschließen. Es ist auch durchaus denkbar, daß andere zweiseitige Abkommen sich aus diesem Gespräch entwickeln. Gleichzeitig möchte ich gerne hinzufügen, daß die Kontroversen, mit denen wir uns jetzt konfrontiert sehen, uns am Ende aus der Hand gleiten, wenn sie von Extremisten ausgenutzt werden. Wie Sie lehne ich Extremismus in jeder Form ab. Mit Ihnen würde ich den Extremisten auf beiden Seiten sagen, daß die gemeinsamen Grenzen zwischen den Vereinigten Staaten und der Indianischen Nation seit fast hundert Jahren unverändert bestehen. Es ist fast unmöglich, auf der Erde eine andere Grenze zu finden, die durch die Zeiten unverletzlicher geworden wäre. Kriege und
Mißtrauen haben überall sonst immer wieder die Grenzziehungen verändert; bei uns hat der gegenseitige Respekt die Grenzen nur noch solider gemacht. Weder Sie noch ich würden Extremisten nachgeben, egal welchen Druck sie auch ausüben. Die Sache des Friedens ist zu wichtig, und die Kosten eines Krieges wären zu schrecklich.«
»Die gottverdammte Schlange hat auf kein Wort gehört, was ich ihr gesagt habe. Das Ganze war ein gottverdammtes Affentheater«, meinte Präsident Nielson später in seinem Frühstückszimmer. Es war Abend, aber der Präsident und sein Stab brauchten einen Ort, an dem sie essen und in Ruhe die Statements analysieren konnten. Alle waren in Hemdsärmeln, und auf den Tischen häuften sich Papierstapel neben Sandwichplatten. »Er will uns helfen, eine Lawine aufzuhalten«, erklärte ein Stabsmitglied leicht bewundernd. »Ich wußte gar nichts vom Alter unserer Grenze mit den Indianern«, erklärte Vizepräsident Ho. »Sind niemals offiziell anerkannt worden«, erläuterte der Generalbundesanwalt. »Wir haben ihnen erst 1918 zugestimmt, aber offiziell anerkannt haben wir sie nie. Ich nehme an, Sie haben die Drohung ›Die Kosten eines Krieges wären zu schrecklich‹ herausgehört?« fragte er den Präsidenten. »Ja, und die Art, wie er das mit den Extremisten drehte. Es gibt schließlich keine Indianer, die versuchen, uns Land wegzunehmen, oder?« »Das würden sie nicht wagen«, meinte Moore.
***
IV »He yoho! He yoho ho! Das gelbe Leder, die weiße Haut. Ich habe ihn nun fortgelegt – Ich habe ihn nun fortgelegt – Ich habe kein Mitgefühl mehr für ihn. Ich habe kein Mitgefühl mehr für ihn. He yoho! He yoho ho!« GOTT, IM INUNA-INA-LIED
m Jahre 1877 betrug die Bevölkerung der Vereinigten Staaten vierzig Millionen Menschen. Hunderttausend Indianer hatten die Armee der Staaten, oder besser: das, was von ihr übriggeblieben war, aus dem Feld gefegt. »Es war das Jahr, in dem das Unmögliche möglich wurde«, nannte es ein zeitgenössischer Amateurhistoriker. »Das Land lag in tiefem Elend. Krank vom beendeten Bürgerkrieg, angeekelt vom Zynismus des Eisenbahnzeitalters, überfüllt mit Immigranten, die nicht einmal die englische Sprache beherrschten, fehlte ihm der Kampfgeist, sich dem Fanatismus des roten Mannes entgegenzustellen.« Theodore Roosevelts Theorie war zwar die populäre des 19. Jahrhunderts, aber die falsche. John Setters Theorie, an die sich die Indianer hielten, war einfacher. Die Vereinigten Staaten, der neue große Industriezyklop, waren krank von ihrer eigenen Gier. Sie waren wie ein Riese, der bis zur Hüfte in einem Sumpf von Eigensicht watete, mächtig und machtlos zugleich.
I
Die Eisenbahngesellschaften und ihre Barone versuchten das letzte Drittel des Kontinents in einem großen Biß zu schlucken. Sie dachten, die Sache in den Griff zu bekommen und überredeten den Rest der Amerikaner, ihnen das zu glauben. Als die Schienen nach Westen wanderten, stieg eine Nation in die Züge, spekulierte mit Silber, Gold, Land, Holz, Weizen, Korn, mit Rindern, Schweinen, Schafen; mit Kupfer, Baumwolle, Eisen, mit allem, was man sich vorstellen konnte. Nach einem harten Kampf sahen die Leute vor sich das Paradies auftauchen, das ihnen als ihr Geburtsrecht und als Lohn des Laisser-faire-Kapitalismus versprochen worden war. »Bei Gott, es ist ein großartiges Jahrhundert!« sagte Jay Gould 1870 in der New Yorker Aktienbörse. 1877 sahen die Dinge anders aus. Jay Gould, das Idol der Massen, wurde auf der Straße von einem Mann angehalten, der ihn in eine Einfahrt schubste und zusammenschlug. Passanten standen dabei und lachten. Ein Polizist hielt unter den Zuschauern Ordnung, aber er lachte mit. Der Schläger wischte sich die Hände ab und spazierte unter Hochrufen davon. Gould machte sich nicht die Mühe, Klage einzureichen. Er war in diesem Jahr schon von zwei anderen Männern verprügelt worden. Mit der romantischen Aufbruchsstimmung und dem Versprechen der Eisenbahnentwicklungspläne sah es nach sieben Jahren mager aus. Seit dem Beginn der Depression 1873 ließen sich die meisten der großen Namen hinter den eisernen Straßen von Leibwächtern schützen. Im Westen war die Expansion zum Stehen gekommen, nachdem sich riesige Landentwicklungspläne zerschlugen. Goulds Eisenbahn befand sich wie viele andere in den Händen von Gläubigern. Leute, die in das Eisenbahngeschäft investiert hatten, lasen von der Bestechung des Vizepräsidenten, vom
Credit-Mobilier-Skandal, von Skandalen im Kongreß, von den Regierungsgelder-Skandalen, von einem Skandal nach dem anderen, die von einem Dementi nach dem anderen begleitet wurden. Sie waren verwirrt, aber sie wußten eins: Männer wie Gould verbrachten den Nachmittag damit, einen Diamanten zu kaufen, während sie selbst den Nachmittag damit verbrachten, einen Job zu suchen. Jeder außer den unerschütterlichen großen Industriekapitänen schien auf Arbeitssuche. Einer von vier Männern in den Vereinigten Staaten hatte keine Arbeit, während der Rest sich verzweifelt nach einem Job umsah, bei dem man mehr als zehn Cents die Stunde verdienen konnte. Wenn es in New York City Abend wurde, stellten sich 80.000 Obdachlose auf den Polizeiwachen ein, um sich dort bis zum nächsten Tag warmhalten zu lassen. Das bedeutete: Ein Zehntel der Bevölkerung der größten Stadt des Kontinents lebte im Gefängnis, freiwillig oder unfreiwillig. So etwas wie diese Depression hatte es noch nie gegeben. Fleiß, Stärke, Intelligenz, Ausdauer bedeuteten nichts mehr, als ganze Städte einfach dichtgemacht wurden. Die Leute verstanden Dürrezeiten oder Seuchen oder Naturkatastrophen, aber für den einfachen Arbeiter dieser Ära war die normale Krisenhaftigkeit des Industriekapitalismus ein neues Geheimnis, eine Epidemie ohne sichtbare Krankheit. Während sie verzweifelt in Obdachlosensiedlungen campierten, mußten sie hören, wie die großen Gesellschaften den Homestead Act ausnutzten, um sich Land an der Grenze anzueignen. Tausende Hektar fruchtbaren Landes wurden von Agenten der Gesellschaft abgesteckt, während dem kleinen Farmer kaum ein paar Schollen blieben. Reformgedanken starben schnell, ermordet vom ultimati-
ven Skandal dieser skandalösen Zeit. Samuel Tilden, der berühmteste Kämpfer gegen Korruption im Land, wurde 1876 zum Präsidenten gewählt. Er besaß einen Stimmenvorsprung von einer Viertelmillion vor dem republikanischen Kandidaten General Rutherford Hayes. Doch durch eine Manipulation der Wahlmänner, die dreister und offensichtlicher kaum hätte sein können, gelang es den Geschäftsleuten hinter Hayes, unter Einsatz größerer Geldsummen Tilden doch noch um die Präsidentschaft zu bringen. Mit einer Stimme Vorsprung wurde Hayes von den Wahlmännern zum Präsidenten gemacht. Es gab Gerede über einen Aufstand, der die Ehre der Nation retten sollte. Der Verleger des Courier-Journal in Louisville, ein Republikaner, druckte einen Aufruf, hunderttausend Mann sollten die Hauptstadt verteidigen. Gerüchte verbreiteten sich, die in Washington kampierenden Soldaten warteten auf einen solchen öffentlichen Protest, aber das Gerede von Aufruhr verebbte bald. Es gab andere Dinge, über die geredet werden mußte, verkündeten Präsident Hayes und die Zeitungen und die Republikaner, insbesondere die Beleidigung der Nation durch den Indianeraufstand. Der Herold, der Cincinnati Commercial, die Tribune aus Chicago und andere Zeitungen versprachen, Leute auszurüsten, die ihr Glück im Kampf gegen die Wilden versuchen wollten. Ihre Auflagen stiegen parallel zum Anwachsen von Privatarmeen. Die Geschäftsleute sahen, was der Krieg den Zeitungen Gutes tat, und sie hörten eine Glocke läuten, die sie an die guten Zeiten erinnerte, als Grant tausend Uniformen am Tag in Auftrag gab. Präsident Hayes brauchte nicht gedrängt zu werden, seine Pläne zu verkünden. Die »Botschaft des Präsidenten an die Roten Amerikaner« wurde am 13. März, von lobenden Leitartikeln begleitet, in
den Zeitungen veröffentlicht. Er wandte sich gegen die »unfairen« Stimmen, die behaupteten, nur ein toter Indianer wäre ein guter Indianer. Als Antwort auf solche Vorstellungen, verkündete Hayes, mache er nun alle Amerikaner zu echten Bürgern der Vereinigten Staaten mit allen verfassungsmäßigen Rechten. Das bedeutete natürlich, daß alle Verträge null und nichtig waren, da die Regierung nicht mit ihren eigenen Bürgern Landverträge abschließen konnte. Das Indianerland stand gemäß dem Homestead Act von nun an für jeden offen. Als Ausgleich für die verfassungsmäßige Anerkennung verlangte Hayes nur einen Vertrauensbeweis gegenüber der Regierung: den Dienst in der Armee von allen männlichen Indianern zwischen zwanzig und vierzig. »So haben sie selbst die Möglichkeit, den Verleumdungen ihrer Rasse durch Einsatz für das amerikanische Volk ein Ende zu machen«, schloß Hayes. Man gratulierte ihm allgemein zu diesem taktisch genialen Coup, bei dem er in einer großzügigen Geste geschafft hatte, was anderen seit der Kolonialzeit nicht gelungen war, nämlich die Indianer rechtmäßig von ihrem Land zu trennen. Am nächsten Tag gab es eine kleinere Meldung in der Zeitung. Das Verteidigungsministerium gab bekannt, daß die Aktionen an der Grenze bisher etwa zwanzig Millionen Dollar gekostet hatten, den Verlust von Privatbesitz nicht eingerechnet, und daß die geschätzten Kosten für eine erfolgreiche Beendigung der Kämpfe bei etwa fünfzig Millionen Dollar lagen. Steuererhöhungen kamen ins Gespräch. Die Schlagzeilen wurden für General Sheridan reserviert, als er um Fort Leavenworth seine Armee zusammenzog. Knurrige Sergeanten schliffen grüne Rekruten zurecht. Eine Infanterie, so groß wie die ganze Sioux-Nation, paradierte
über die Grasebene. 20.000 neue Kavalleristen hielten ihre Manöver ab. Veteranen aus dem Bürgerkrieg ließen sich gemeinsam mit ihren Söhnen und ihren alten Gegnern anwerben. Der knapp einssechzig große Phil Sheridan wurde an der Seite von Buffalo Bill fotografiert, der so viele Büffel wie möglich abschießen wollte, um so dem roten Mann die Nahrungsgrundlage zu entziehen, wie die Times versprach. Sheridans Plan, die Hilfsindianer als eine Art Kanonenfutter zu benutzen, wurde wohlwollend in der Presse kommentiert. »Der Hauptgedanke ist, so wenig wie möglich amerikanische Soldaten zu verlieren«, erklärte der General. In St. Louis wurden riesige Truppentransportzüge zusammengestellt. Die Zeitungskorrespondenten wanderten durch die Zeltstädte der geflohenen Siedler und suchten nach Geschichten von indianischen Greueltaten. An solchen Stories mangelte es nicht, allerdings schien es auch an Siedlern nicht zu mangeln. Das ganze Land hole Atem zu einer gesunden Ablenkung von der Wirtschaftsmisere und befreiendem Kriegsgebrüll, hieß es. Im April mußten alle anständigen Amerikaner schockiert erfahren, daß es trotz einem Dutzend dorthin abgesandter Kuriere aus Salt Lake City keine Nachrichten mehr gab. Einige Zeitungen druckten diese Nachricht mit einem schwarzen Trauerrand. Im April begannen sich die Leute auch zu fragen, wann Sheridans Armee denn nun ins Feld ziehen würde. Das Verteidigungsministerium erklärte, die Pläne eines Truppentransportes per Eisenbahn hätten bedauerlicherweise die Zerstörung der Gleisbetten durch die Indianer nicht berücksichtigt. Senatoren aus Nebraska, Minnesota, Iowa, Kansas, Oklahoma, Nevada, Kalifornien, Texas und Oregon machten sich per Eisenbahn auf den Weg zum General. Am ersten Mai fand ein Treffen im Kommandeurszelt der
neu aufgestellten 7. Kavallerie statt. Sheridan benutzte einen Zeigestock, so lang wie er selbst, um sein Unternehmen auf einer farbigen Karte zu erläutern. Die Senatoren verwandelten sich schnell in faszinierte Nachwuchsoffiziere. »Der Bürgerkrieg«, erklärte Sheridan ihnen, »war in erster Linie ein Krieg zwischen den strategischen Zentren, wie es alle Kriege zwischen zivilisierten Gegnern sind. Wenn man dem Gegner die Industrien abnimmt oder zerstört, die Transportwege abschneidet und seine Armeen lange genug fesselt, dann siegt man. Das ist ganz einfach. Doch jetzt haben wir es mit einer völlig anderen Art von Feind zu tun. Er hat keine Industrien, die wir ihm abnehmen können, er muß keine Bevölkerungszentren verteidigen. Er ist mit seinen Ponys sein eigenes Transportmittel. Mit anderen Worten, es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu besiegen. Man muß ihn töten. Keine Städte, keine Geländegewinne zählen in diesem Krieg, nur Leichen.« »Und dafür brauchen wir wohl unsere Hilfsindianer«, meldete sich ein Senator aus Minnesota zu Wort. »So ist es. Ich bin mir bewußt, daß Sie alle als Vertreter von Staaten, die an das Kampfgebiet grenzen, darauf brennen, zu erfahren, wo Ihre Armee nun zuerst operieren wird. Es gibt den nachdrücklichen Wunsch, nach Colorado zu ziehen, besonders weil das Colorado-Territorium letztes Jahr ein eigener Staat geworden wäre, wenn die Unruhen nicht gewesen wären. Ich würde es keinen politischen Druck nennen, sondern besondere Sorge um die Sicherheit eines neuen Mitglieds unserer Union.« Sheridan sah schnell auf die Karte, um sein Gesicht bei diesen Worten verbergen zu können. Bill Sherman hatte gesagt, der Krieg wäre die Hölle, aber Politik wäre noch schlimmer. »Wie es sich ergibt«, fuhr der General fort, »ist Colorado für
uns das natürliche Aktionsfeld. Auf diesem Weg können wir die Pazifikstaaten erreichen und gleichzeitig die Stämme voneinander trennen. Ich bin sicher, die Senatoren hier aus Kalifornien, Nevada und Oregon fragen sich bereits, wann wir ihnen Truppen schicken können. Nun, das geht auf zwei Wegen. Wir können sie per Schiff um das Kap schicken oder direkt durch das Gebiet des Feindes marschieren lassen. Der zweite Weg ist schneller und erledigt unterwegs schon die halbe Arbeit. Also werden wir ihn wählen. Noch ausführlicher kann ich allerdings nicht werden, denn sobald der Feind auftaucht, werden wir ihn notfalls bis zum Nordpol verfolgen. Aber wir werden ihn fassen. Ich habe den Eindruck, daß wir die Indianer in etwa zwei Jahren geschlagen haben. Aufräumoperationen dauern vielleicht noch etwas länger.« Der Senator aus Kansas hob mit verständnisvollem Grinsen die Hände. »Senatoren, ich glaube, wir haben General Sheridan lange genug bedrängt. Er war sehr geduldig mit uns, und ich glaube, jetzt bewegen wir uns auf einem Gebiet, das allein seinem Urteil unterstehen sollte. Ich bin sicher, daß wir in ihm den richtigen Mann für diesen Job gefunden haben. Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich die Botschaft des Präsidenten über die ›guten Indianer‹ gelesen habe – ich war mir nicht sicher, ob man diese Sache mit der nötigen Energie angehen würde. Doch jetzt erinnere ich mich daran, waren es nicht Sie selbst, General, der gesagt hat: ›Der einzige gute Indianer ist ein toter Indianer?‹« Am ersten Tag des Juli marschierte der richtige Mann von Leavenworth aus mit seiner Armee von 40.000 Berittenen, 50.000 Infanteristen, 30.000 zwangsverpflichteten Indianern, 355 Kanonen, 300 Gatling-Maschinengewehren, 20.000 Verpflegungswagen, 15.000 Fahrern und Treibern und 100 Ambu-
lanzen ins Indianerland. Zuschauermassen bewunderten den Abmarsch der Grande Armee, Zeitungsleute aus allen Bundesstaaten und sogar aus Europa sahen zu, der Vizepräsident hielt eine Rede, drei Menschen starben an Hitzschlag. Sheridan sollte über Colorado nach Utah und dann nach Nevada marschieren, um unterwegs eine Verbindungslinie von neuen, vollbemannten Forts zu hinterlassen. Halstücher, auf die diese Route aufgemalt war, verkauften sich wie warme Semmeln. Die Armee ließ hinter sich eine veränderte Nation zurück. Etwas war neu. Zum ersten Mal seit vielen Jahren gab es in den östlichen oder westlichen Küstenregionen des Kontinents, die als die Vereinigten Staaten von Amerika bekannt waren, fast keine Indianer mehr. Hayes hatte damit aufgeräumt, als die Staatsbeamten oder auch der Mob den neuen Bürgern die Häuser abnahmen und sie mit Fußketten der Armee zuführten. Alte Rechnungen wurden beglichen. Der Bund des Langhauses, die Irokesen, die ihr eigenes Imperium errichteten, als die Engländer kamen, besaß große Reservationen in New York, Pennsylvania und sogar Oklahoma. Schon lange hatten die Leute etwas gegen den arroganten Bund gehabt. Den Mohikanern erging es nicht besser. Und den Catawba in SüdKarolina auch nicht. Die Pohatan in Virginia hatten Nat Turner geholfen, das wurde ihnen jetzt heimgezahlt. Die Nanticoke mit ihrem Sklavenblut sperrte man in Viehwaggons. Die Cherokeesen, die dem Marsch der Tränen nach Oklahoma entkommen waren, entwischten wieder und zogen sich diesmal mit den Ikaninksalgi in die Sümpfe zurück, diesem Mischvolk aus verfolgten Schwarzfußindianern, Negern und Spaniern, das man auch Seminolen nannte. Im Norden bestachen die Irokesen ihre Wächter und entkamen über die
Grenze nach Kanada. Oklahoma bedeutete Rote. Doch als die Milizen kamen, um die Indianer in Oklahoma zusammenzutreiben, gab es nicht mehr viele rote Männer. Trotzdem nahmen sie mit, wen sie finden konnten. Doch die Milizen gaben das Schießen schnell auf, um sich um ihre Landansprüche zu kümmern. Texas hatte den Ruf, zu wissen, wie man mit Indianern fertig wird. Man erwartete, daß der Staat mit dem Stern im Banner eine eigene Armee zur Lösung der Probleme nebenan in New Mexico aufstellen würde. Aber die Leute hatten vergessen, daß die Hauptsorge der Texaner nicht die Indianer waren, sondern Mexiko, das seinen Anspruch auf Texas noch immer nicht aufgegeben hatte. Als ein Regiment mexikanischer Dragoner plötzlich am Rio Grande auftauchte, entschieden die Texaner, sich erst einmal um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. In Kalifornien, Oregon und dem Washington-Territorium gab es keine Zwangsrekrutierungen oder Progrome. Dazu bestand einfach kein Anlaß mehr. Von zehn Stämmen, die dort vor hundert Jahren gelebt hatten, existierte höchstens noch einer, und von diesen wenigen hatte kaum einer mehr als ein Zehntel seiner ehemaligen Größe. Es lohnte sich kaum, aus den jämmerlichen Überresten der pazifischen Indianer Truppeneinheiten aufzustellen. Vigilanten tauchten in den letzten Dörfern auf, erschossen, wen sie fanden, und gingen dann als Prospektoren an die Arbeit. Von überall aus den Vereinigten Staaten sickerten die Überreste der Stämme in kleinen und kleinsten Gruppen in das neue Indianerland. Hunderte von Stämmen lösten sich auf, ihre Namen verschwanden für immer, aber zusammen vergrößerten sie das Volk ihrer Brüder in den Prärien um
40.000 Menschen. Sheridan bekam einstweilen keine Indianer zu Gesicht. Das Grasland sah aus, als wäre es bis zur Westküste verlassen. Er machte sich diesen Umstand zunutze, um die indianischen Hilfstruppen von seinen Offizieren trainieren zu lassen. Ganz im Gegensatz zur Botschaft des Präsidenten schienen die einzigen Indianer, die Sheridan hatte, solche unter zwanzig und über vierzig zu sein. Die Männer im kampffähigen Alter hatten sich aufgelöst, zurückgeblieben waren nur Jungen, die kaum ein Gewehr halten konnten, und alte Männer, die zu senil waren, um bei einem Gewehr vorn und hinten zu unterscheiden. Doch mit solchen Truppen kam man nicht gerade schnell voran, und nach einer Woche hatte sich Sheridans Hauptstreitmacht kaum siebzig Meilen von Leavenworth entfernt. Er ließ die gebrechlichsten sowie verkrüppelte oder besonders junge Leute von Nachwuchsoffizieren in die Prärie hinausführen und »vergaß« sie dort. Am Ende der zweiten Woche hatte Sheridan zweihundert Meilen zurückgelegt und befand sich endlich im Innern des von Indianern kontrollierten Gebietes. Er befahl seinen Männern, ihre erste Festung zu errichten. »Fighting Phil« war unterwegs. Am 14. Juli, einem Samstag, legten vierzig Heizer und Bremser der Baltimore & Ohio-Eisenbahn in Camden Station, Maryland, ihre Arbeit nieder. Sie kündigten, weil ihr Lohn um zehn Prozent gekürzt worden war, die dritte zehnprozentige Kürzung in drei Jahren. Am Sonntag kündigten weitere Männer. Gegen Ende der Woche weigerten sich 50.000 Arbeiter, ihre Jobs wiederaufzunehmen. Soweit es sie betraf, war es mit der Depression nun
weit genug gegangen. Sie hatten die Nase voll, und sie waren nicht allein. Weitere 50.000 Männer, keine Eisenbahnbeschäftigten, legten ebenfalls ihre Jobs nieder. Sie waren friedlich, aber sehr entschlossen. Sie hatten ein für allemal genug. Die Eigentümer der Eisenbahngesellschaften erklärten, die Streikenden seien Kommunisten. Zu den ersten Gewalttätigkeiten kam es innerhalb von zwei Tagen nach der Camden-Arbeitsniederlegung, als weitere B & O-Arbeiter in Martinsburg, West Virginia, in den Streik traten. Gouverneur Henry Matthews wurde telegraphisch benachrichtigt. Er befahl den Einsatz der Miliz des Bundesstaates. Diese Miliz war nicht groß, und die Hälfte ihrer Mitglieder weigerte sich, überhaupt an der Aktion teilzunehmen, weil sie mit dem Mob sympathisierte. Am Dienstagmorgen kamen zwei Kompanien der Miliz zum Bahnhof und standen dort achthundert Arbeitern gegenüber. Unter bewaffnetem Schutz versuchte ein Zug abzufahren, und jemand versuchte den Zug aufzuhalten. Er schoß auf einen Wachmann, und der Wachmann erschoß ihn. Sekunden später schoß jeder auf jeden. Die Zugbesatzung rannte davon, und dann ergriff auch die Miliz die Flucht. Auf Bitten von Gouverneur Matthews erklärte Präsident Hayes für West Virginia den Ausnahmezustand wegen öffentlichen Aufruhrs. Am Donnerstag marschierten fünf Kompanien US-Infanterie in Martinsburg ein und vertrieben die Aufrührer aus dem Bahnhof. Doch an diesem Tag fuhren nur zwei Züge nach Westen. Es gab keine Lokführer mehr, die weiterfahren wollten. Die Weigerung, die Lokomotive zu fahren, ging auf eine Entscheidung der Bruderschaft der Lokomotivführer zurück. Martin Irons, Führer der Ritter der Arbeit, schlug im Südwesten zu und blockierte 5.000 Meilen Eisenbahn in
Missouri, Arkansas und Nebraska. Die Gouverneure der drei Staaten appellierten an die Streikenden, aus patriotischen Gründen keine militärischen Transporte zu behindern. Doch die gewählten Vertreter des Volkes merkten schnell, daß es kein so tiefgehendes Interesse an einem Indianerkrieg bei ihren Wählern gab, wie sie angenommen hatten. Die Eisenbahngilden glaubten, die Wut der arbeitslosen Massen unter Kontrolle zu bekommen. Es gelang ihnen nicht. Am Freitag, sechs Tage nach Beginn der Streiks, schickte man in Pennsylvania die Miliz in den Einsatz, nur ein paar Stunden bevor Marylands Gouverneur Carroll die Miliz gegen einen Mob am Eisenbahnknotenpunkt Cumberland schickte. Die explosive Mischung aus Hunger, Wut und Hilflosigkeit war so lange herangereift, bis niemand mehr die Lunte austreten konnte. Überall im Land flammte es auf. Baltimore wurde der Schauplatz einer bürgerkriegähnlichen Schlacht zwischen Tausenden arbeitslosen und wohnungslosen Sympathisanten der streikenden Eisenbahner und den Truppen des General Winfield Scott Hancock, des Oberkommandierenden im Osten der Vereinigten Staaten. Die Bahnhöfe von Pittsburgh waren nicht länger »das Tor zum Westen«. Dort hatte der Mob die ganze Stadt übernommen, Johnsons Waffenfabrik geplündert und die Waffenlager der Company F. Bundestruppen, mit Gatlings bewaffnet, mußten sich in das große Rundhaus des Bahnhofsgeländes zurückziehen. Brennende Eisenbahnwaggons wurden über die Schienen in den Zentralbau gerollt, bis er überall in Flammen stand. Präsident Hayes rief am Sonntag, dem 22. Juli, sein Kabinett zu einer Sondersitzung zusammen. In der Woche zuvor noch von der Begeisterungswoge eines militärischen Abenteuers
getragen, befand sich der Präsident nun in den Tiefen der Depression. Zu einer Zeit, in der die Nation in einer gemeinsamen Anstrengung den Indianerkrieg zu gewinnen Schulter an Schulter hätte stehen müssen, zerfleischte sie sich über die Lohnfrage gegenseitig. »Es sind kommunistische Agitatoren«, stimmten alle am Tisch sofort überein. Hayes schüttelte erschöpft den Kopf. »Unser Fehler«, sagte er. »Die Einwanderungspolitik ist sehr lax gehandhabt worden, viel zu lax. Man konserviert kein Faß mit Äpfeln, indem man faule dazugibt. Die Frage ist: Was machen wir mit denen, die wir nun einmal drinnen haben?« Es wurde entschieden, daß die Polizei alle kommunistischen und sozialistischen Treffen auflösen und vorbeugend alle verdächtigen sozialistischen und kommunistischen Führer als subversive Ausländer verhaften sollte. Diese Befehle zu geben machte dem Präsidenten durchaus Freude. Doch er mußte noch andere erteilen, die ihm das Herz brachen. Über Pennsylvania, Maryland und West Virginia wurde der Belagerungszustand verhängt. Auch in Illinois wurden Bundestruppen in Marsch gesetzt, da dort der Ausnahmezustand in Kürze zu erwarten war. Ein Aufruf für 20.000 Freiwillige, mehr konnte man nach der Aushebung von Sheridans Armee nicht erwarten, erschien in den Zeitungen. Und Sheridans Armee wurde zurückbefohlen. Angesichts von Hayes’ drakonischen Gegenmaßnahmen rechnete man mit einem schnellen Rückgang der Gewalttätigkeiten. Statt dessen steigerten sie sich noch. Von Buffalo bis New Orleans, von San Francisco bis Philadelphia stellten sich die frustrierten Bürger den Truppen ihrer eigenen Regierung auf der Straße entgegen. Die Nation durchlebte ein Erdbeben.
Hunderte starben, Millionenschäden wurden angerichtet, und ganze Städte brannten ab bis auf die Grundmauern. »Fighting Phil« Sheridans Bild erschien in der New York Tribune mit dem Kinderreim: Der edle Duke of York, der hatte zehntausend Mann, die führte er den Hügel hinauf und wieder runter sodann. Was immer das gewaltige Depressionsfieber den Vereinigten Staaten angetan haben mochte, hatte sich das Land nach ihm, wie ein durch ein Wunder genesener Kranker, subtil verändert. Der Krieg gegen die Indianer schien plötzlich für das Überleben nicht so absolut notwendig, nachdem man selbst nur knapp mit heiler Haut davongekommen war. Selbst die eifrigsten Kriegstreiber hielten erst einmal den Atem an. Als Buffalo Bill mit seiner Wild West Show in New York zugunsten verwundeter Indianerkämpfer auftrat, karikierte Nast ihn als den Oberinvaliden mit falschen Bandagen und dicker Geldkatze. »Nachdem wir durch einen Abgrund von Anarchie gestolpert sind und noch immer an dessen Rand zittern, sollte es dem Land gestattet sein, sich zu fragen, ob es daraus nicht etwas lernen kann«, sagte Charles Francis Adams aus Massachusetts in einem Interview mit einer Bostoner Zeitung. Er war ein ehrenhafter Mann, der eine solche Tugend ausstrahlte, daß die Nation auf ihn hörte. »Was unser Land dabei entdecken könnte, ist der Grund für die landesweite Sympathie für die Streikenden, denn die Streikenden verliehen dem nationalen Ärger über die Machenschaften der Eisenbahngesellschaft
Ausdruck. Die Eisenbahngesellschaften, und niemand sonst, sind für den ökonomisch und moralisch traurigen Zustand verantwortlich. Was war der gemeinsame Kern all dieser Auseinandersetzungen? Die Eisenbahnen. Selbst die Minen in Pennsylvania, in denen sich die aus Immigranten bestehende Arbeiterschaft gegen die Sklaventreiberei erhob, gehören den Eisenbahnen. Was wir gerade um den Preis vieler Toter und einem kaum noch zu kalkulierenden Verlust an Wirtschaftsgütern erlebt hatten, war ein Eisenbahnkrieg. Jetzt stellt sich die Frage, ob das amerikanische Volk angesichts eines bei diesem Unternehmen zu erwartenden noch höheren Verlusts an Leben und Waffen gegen die Bewohner der Wüstenregion, der Middle Desert, zu den Waffen greifen soll, um einen weiteren Eisenbahnkrieg zu führen, denn es sind mit Sicherheit nur die Eisenbahnen, die daran profitieren werden, und nicht die Familien, denen es an Geld für Essen fehlt, weil davon Gewehre gekauft werden müssen.« Die Phrase »der Eisenbahnkrieg« hefte sich wie ein Magnet an die Indianerkampagne. Karikaturen von Jay Gould und Jim Fisk als selbsternannten Grenzern fanden große Verbreitung. Emerson schrieb seinen alten Freunden aus der AntisklavereiKampagne, daß es keinerlei moralische Verteidigung dafür gäbe, anstelle des Tötens untereinander das gemeinsame Töten der Indianer zu setzen, daß der Indianerkrieg auch ein Bürgerkrieg sei. Ein Senatshearing am 2. September brachte dann jedoch auch noch ein unmoralisches Finanzgebaren ans Licht. Die Legislative hatte zunächst dem Kriegsministerium die geschätzten 50 Millionen Dollar zur Beendigung des Krieges bewilligt, dann brannten die Arbeiterstädte. Das war eine brutale Demonstrationsmethode, aber auf diese Weise erfuh-
ren die Repräsentanten des Volkes, daß ihre Wähler wütend über die Löhne und die Steuern waren und nichts mehr von den Eisenbahngesellschaften hielten. General Sherman bezeugte, daß der Unterhalt eines kämpfenden Regiments eine Million Dollar pro Jahr betrug, die Kosten für Kavalleriepferde, Sold und Bewaffnung nicht eingeschlossen. Ein Senator versuchte sich im schnellen Kopfrechnen. »Nach meiner Schätzung«, verkündete er, »kommt man auf 468 Millionen Dollar, und nicht 50 Millionen, wenn man dieses neue 75.000-Mann-Heer in Marsch setzen will.« Man wünschte sich, daß Sherman diese Diskrepanz aus der Welt schaffen konnte. Die 50 Millionen seien nicht auf der Basis von 75.000 Mann errechnet, erläuterte der General, sondern ergäben sich für die Erweiterung der Armee um 50.000 Soldaten über die reguläre Stärke. Davon seien dann 30.000 Indianer, die nur ein Zehntel des Ansatzes kosten würden. So blieben nur 20.000 Mann, die tatsächlich in die Rechnung einzubeziehen seien, und falls die noch immer zu hohe Kosten erwarten ließen, würde die Armee widerstrebend auch auf die 2.000 oder 3.000 Rekruten verzichten können, deren Kosten die bewilligten Millionen überstiegen. An dieser Stelle erinnerte ein Senator aus Missouri daran, daß man nicht vergessen sollte, wie unbedeutend die Kosten für 2.000 Mann im Vergleich zu dem Reichtum wären, den die ganze Nation aus den Prärien ziehen würde. Am Ende entschloß man sich, tausend Soldaten nach Hause zu schicken. Dann ging es den Senatoren mit dem Senatshearing wie den Arbeiterführern mit den Demonstrationen. Die Sache glitt ihnen aus den Händen. Der letzte Zeuge war Karl Schurz, der berühmte deutsche Einwanderer und Gründer der Liberal-
Republikanischen Partei. Mit seinem Ruf, das Gewissen der Nation zu sein, sollte er dem Hearing den Stempel der Aufrichtigkeit geben; und weil er jetzt aus Missouri kam, aus der Nähe der Schlachtfelder, konnte man sich wohl auf sein Wohlwollen für die Armee verlassen. »Aus Quellen in der Armee«, erklärte Schurz, »habe ich erfahren, daß die Kosten für den Unterhalt eines kämpfenden Regiments, wenn es wirklich kämpft, inklusive Pferde, Sold und Waffen, viermal so hoch wie vom Kriegsministerium angegeben sein dürften. Meine Erfahrungen als Offizier in einer Reihe von Armeen, zu denen auch unsere eigene gehört, bestätigen mir diese zweite Schätzung, was nichts anderes bedeutet, als daß die Kosten für diese 75.000-Mann-Armee 1.672.000.000 Dollar betragen.« Er erläuterte dann mit deutscher Gründlichkeit im Detail alle Kosten, während die anwesenden Vertreter des Kriegsministeriums verzweifelte Blicke mit dem Vorsitzenden des Senatsausschusses wechselten. Als die Leute am nächsten Tag die Zeitung aufschlugen, befaßten sich die Schlagzeilen nicht mit der als Volksberuhigung gedachten Entlassung von tausend Soldaten, sondern mit der unglaublichen Summe, die eine verarmte Nation nun für den Eisenbahnkrieg ausgeben sollte. Der Protest gegen den »Preis für die Fahrkarte«, wie Harper’s Weekly es nannte, schwoll schnell zu einer Lawine an, besonders nachdem die Demokraten mit beiden Händen nach der Sache griffen. Plötzlich hatten sie die Keule gefunden, mit der sie Hayes aufs Haupt hauen konnten, und sie ließen sich diese einmalige Chance nicht entgehen. In Windeseile wurden neue Senatshearings angesetzt. Offiziere wurden vorgeladen, um über die Kosten für die Niederschlagung früherer Indianeraufstände zu berichten. Der erste Offizier, der sich äußerte,
gab zu Protokoll, daß die 50 Modocs, die vor ein paar Jahren rebelliert hatten, die Armee der Vereinigten Staaten 40 Tote, 90 Verwundete und eine Million Dollar gekostet hatten. Der Ausschuß grub einen fast vergessenen Senatsbericht aus, der vor nur zwei Jahren über die Ausrottungspolitik gegen die Apachen angefertigt worden war. »… die Amerikaner übernahmen die mexikanische Vorstellung der Indianerausrottung und machten sich die Indianer durch unmenschliche Grausamkeiten und heimtückischen Verrat zu unversöhnlichen Feinden… Diese Politik hat zu einem Krieg geführt, der uns in den letzten zehn Jahren über tausend Menschenleben und 40 Millionen Dollar gekostet hat, ohne daß es in der betroffenen Gegend ruhiger geworden wäre oder die Indianer der Ausrottung näher gekommen wären.« In der Frage, ob die großen Prärien der Nation irgendwelche Reichtümer böten, wurden die Zeitungsleser durch die Hearings daran erinnert, daß die Prärien noch bis vor kurzem als die Große Amerikanische Wüste galten und nur für Indianer bewohnbar. Die Besiedlung begann ernsthaft erst nach dem Bürgerkrieg, und bereits ’73 erlebte die Region die erste große Dürre. Für die Landwirtschaft waren die Prärien ungeeignet, bezeugte John Wesley Powell, und er fügte hinzu: »Weidenutzung ist für das Grasland noch ruinöser als Farmwirtschaft.« Alles in allem gelangte man zu der Einstellung, es wäre vielleicht gar nicht so schrecklich, wenn die Indianer sich dieses Gebietes bemächtigen würden, soweit der Regierung damit Entschädigungen erspart blieben. Jedenfalls wäre es für die Öffentlichkeit kein Verlust. Das Weiße Haus schlug zurück. Geschichten von indiani-
schen Greueltaten tauchten immer häufiger auf, trotz der Fragen der Senatoren, wieviel Weiße denn überhaupt noch im Indianerterritorium übriggeblieben sein könnten bei diesen endlosen Massakern. Die Ehre stand auf dem Spiel. Die Grenzen waren nicht mehr sicher; in jedem Augenblick konnten die Mexikaner oder Kanadier einmarschieren. Man mußte die Indianer vor äußeren Angriffen schützen, bevor jemand anders sich zu ihrem Schutzherrn machte. Dann stiegen die Quäker in den Ring, machten die Logik der Regierung lächerlich und provozierten Hayes durch die Einrichtung einer Vereinigung für Indianerrechte in Philadelphia. Sie verlangten einen neuen Grundlagenvertrag mit den Indianern, der in die Verfassung aufgenommen werden sollte. Die Gesellschaft der Freunde glaubte allerdings nicht daran, daß die Indianer in der Lage sein könnten, tatsächlich einen eigenen Staat zu bilden. Das Jahrhundert der Ehrlosigkeit wurde ein Bestseller. Die Autorin war Helen Hunt Jackson, eine beredte Indianerfreundin. Sie listete die lange Kette der von den Weißen gebrochenen Verträge auf. Überall auf der Welt faszinierte die Menschen der romantische Gedanke, daß Rousseaus edle Wilde sich einen modernen Staat geben wollten. Darwin und Huxley, die gemeinsam die britische Regierung wegen ihrer Strenge bei der Niederschlagung der Sklavenaufstände auf Jamaika gescholten hatten, schickten dem Weißen Haus einen Brief, der um Gnade für die Indianer bat. Der Brief war von über 7.000 britischen Bürgern aller Schichten unterzeichnet. Premierminister Disraeli bot sich als Unterhändler zwischen den Vereinigten Staaten und den Indianern an. Hayes erinnerte Disraeli daran, daß die Monroe-Doktrin die europäischen Nationen von
Aktivitäten in der Neuen Welt ausschloß. Disraeli erwiderte, daß Monroe selbst gesagt hätte, zwischen dem Mississippi und Kalifornien gäbe es ein riesiges Gebiet, in dem sich die Indianer erfolgreich ansiedeln lassen müßten. Die Tatsache, daß England, Deutschland, Frankreich, Belgien und Rußland in bezug auf den Indianerkrieg den gleichen Ton anschlugen, bereitete der Regierung der Vereinigten Staaten keine große Überraschung. Der Zar zum Beispiel berief sich auf die Rolle seines Landes bei der Besiedlung Amerikas, um seine Sorgen um die Indianer zu begründen. Gleichzeitig war Alexander fleißig damit beschäftigt, im eigenen Lande die »Alle Macht dem Volke«-Sozialisten mit Folter und Mord auszurotten. Es war für Nationen üblich, in Fragen der Außenpolitik freiheitlichere Ansichten zu vertreten, als man sie zu Hause duldete. Trotzdem war es bemerkenswert, daß Marx und die Monarchen in einer Frage übereinstimmten. Der deutsche Emigrant schrieb seinen Freunden lange Briefe, in denen er in Anspielung auf seine frühere Tätigkeit für die Tribune erklärte: »Ich dachte, die Revolution käme mit Kanonen, und nicht mit Pfeil und Bogen. Ich wünschte mir, Greeley lebte noch, er hätte mich sofort auf das Schlachtfeld geschickt.« Während die Wasichu-Welt über die historische Entwicklung stritt, bauten die Indianer weiter ihre Streitmacht auf. Mit den pazifischen Stämmen, den Savanen aus Oklahoma, den aus Kanada Zugewanderten und den von Sheridan Heimgeführten betrug die Bevölkerungszahl der Indianernation jetzt über 200.000, von denen die Hälfte das Heer bildeten. Die Mormonen brachten noch weitere 10.000 Soldaten auf. Lager, wie sie die Prärien in dieser Größe noch nicht gesehen hatten, breiteten sich überall aus. Zelte und Hütten der
unterschiedlichsten Bauart standen einträchtig nebeneinander. Es gab endlose Begrüßungszeremonien und Stämme, die noch vor Monaten Erbfeinde gewesen waren, saßen zum ersten Mal in ihrer Geschichte friedlich um ein gemeinsames Feuer. In einem Lager im Westen teilte ein alter Häuptling der hochmütigen, sklavenhaltenden Maklaks seinen Reichtum, den er hatte retten können, mit armen Tingrits und Haidas. Shawnees und Mohawk ritten mit Siksikas über die Prärien, um die Jagd auf Issiwun zu erlernen, den Büffel. Kriegerbünde hießen in wochenlangen Ritualen die Veteranen der Savane willkommen. Die alten Zeiten würden jetzt wiederkehren, erzählte man sich gegenseitig. Aber die alten Zeiten waren für immer vorbei. Sie hatten den primitiven Jägerhorden gehört, und die Indianer waren plötzlich zu etwas anderem geworden.
*** Zwei Wochen mit fünf Treffen zwischen Holds Eagles und dem Präsidenten samt seinem Stab waren vergangen. Nach jedem Treffen fragte das Weiße Haus im Lager der Nationen an, ob Holds Eagles’ verblüffende Sammlung von Teilzugeständnissen vom Rat der Häuptlinge autorisiert wäre, und jedes Mal bestätigte der Rat sie bis ins Detail. »Ich muß zugeben, daß du sie in Atem hältst«, sagte Liz. Es war Abend, und sie gingen gerade vom Parkplatz durch die Sicherheitsschleuse eines Apartmenthauses. Fernsehkameras verfolgten ihren Weg durch die Lobby, und im Aufzug erwartete sie die nächste Linse. »Eigentlich erkunde ich nur alle möglichen Pfade der friedlichen Koexistenz«, erwiderte Holds Eagles.
An der Tür erwartete sie eine Hosteß. Ihre Augen schimmerten so hell wie die Steine ihrer Halskette. Drinnen wartete die Oberschicht der Hauptstadt mit kaum verhüllter Spannung auf das gesellschaftliche Ereignis der Saison. Marsha Manne küßte Liz und legte sanft eine Hand auf Holds Eagles’ Arm. »Sie sind ja noch jünger, als Sie im Fernsehen aussehen. Jeder wartet gespannt darauf, Sie persönlich kennenzulernen.« »Sie sehen aus, als würden sie sich gleich in die Hosen machen, beim Obersten Richter angefangen«, flüsterte Liz. »Du bist schon ein Ereignis.« Holds Eagles mischte sich direkt unter die Partygäste. Er wußte, daß sie hier alle nur seinetwegen gekommen waren. Eine Zeile von Shakespeare fiel ihm ein: »Einem armen Bettler zu helfen, geben sie keinen Pfennig, aber zehn Goldstücke, um einen toten Indianer zu sehen.« »Ich gestehe offen ein, daß es unter meinen Ahnen irgendwann einen Cherokee gegeben haben soll«, verkündete der Oberste Richter. »Deshalb sympathisiere ich vielleicht im Grunde mit Ihnen.« Holds Eagles fragte den Richter, was er von der Legalität der Grenzansprüche hielte. »Das Problem für Sie ist, daß es keine Besitztitel auf das Land gibt. Wäre es Privatbesitz, dann sähe die Sache anders aus.« »Sie spielen auf Zeitgewinn«, meinte ein Kolonist. »Etwas passiert, etwas, das Ihre Wissenschaftler erarbeiteten. Bakterien. Muß etwas in dieser Richtung sein, wenn Sie von den furchtbaren Verlusten reden. Ich wünsch’ Ihnen alles Glück der Welt«, schloß er und griff nach dem nächsten Drink. »Woher haben Sie nur einen so faszinierenden Namen? Hat
Ihre Familie Sie so genannt?« wollte die Tochter eines Senators wissen. »Man könnte sagen, daß er mir im Traum eingefallen ist.« »Ich hoffe, daß ich Ihnen nie am Pokertisch begegne«, sagte ein Admiral. »Ich hab’ schon einiges an Bluffs erlebt, aber das ist nichts gegen Ihre Vorstellung beim Präsidenten. Sie haben wirklich eine indianische Ruhe.« »Wir haben am Freitag so etwas wie einen Kaffeeklatsch«, rief die Frau eines Künstlers, »und wir haben uns überlegt, ob Sie nicht für eine Stunde bei uns hereinschauen könnten, um uns die Situation der Indianer zu erklären. Richtig umfassend, meine ich. Meine Freundinnen sind recht einflußreich.« »Meine Kinder sind ganz begeistert über die Aussicht auf einen Indianerkrieg«, erzählte eine Mutter. »Ich glaube, sie finden das noch toller als Vietnam.« »O ja«, bestätigte ein Vater. »Mein Gott, sie ziehen sich wie Indianer an, sie leben wie Indianer. All ihre Freunde sind genauso verrückt darauf. Ziehen Ihre Kinder sich eigentlich an wie wir?« »Ich nehme an, daß diese Gewaltversessenheit Ihnen langsam auffällt«, meinte ein Soziologe. »Aber wir sind eine gewalttätige Gesellschaft, vielleicht sogar die gewalttätigste, die je existiert hat.« »Was sie so in der Schule über indianische Männer erzählt haben«, seufzte eine unglückliche Ehefrau. »Als Mädchen hat man da ja Dinge gehört. Da muß man sich einfach fragen, ob man sich bei Ihnen eigentlich über weiße Frauen auch solche Wunderdinge erzählt.« »Wie hast du deinen Namen eigentlich wirklich bekommen? Ich habe bisher vergessen, dich danach zu fragen«, sagte
Liz, als sie im ersten Morgengrauen nach Georgetown zurückfuhren. Ein Wagen des Justizministeriums folgte in unauffälligem Abstand. »Wie alle anderen auch. Ich hatte eine Vision. Ich war besonders wild, sie möglichst früh zu haben, weil ich als Kind Laufende Nase genannt wurde. Ganz im Ernst, ich hatte so etwas wie Heuschnupfen und einen sarkastischen Vater.« »Du hattest also eine Vision.« Sie lehnte den Kopf zurück und sah zu den am Wagen vorbeihuschenden Bäumen hinauf. »Lange Geschichte.« »Ich habe noch nie gehört, wie jemand durch eine Vision einen Namen bekommt.« »Okay. Meine Familie war Choctaw, aber sie wurde vor längerer Zeit von den Tsistsitas adoptiert, die du als Cheyenne kennst. Also richteten wir uns nach ihren Bräuchen. Das bedeutete, als ich dreizehn war und ständig wegen meines Namens jammerte, brachte mein Großvater mich zu einem Wichasha, einem Priester. Er war ein netter alter Mann, der mir einige Fragen stellte und sagte, ich wäre reif für eine Vision. Gleich am nächsten Tag kam er zu unserem Tipi – einem zweistöckigen aus Aluminium und Esche, sollte ich vielleicht hinzufügen – und sagte, oben in den Hügeln gäbe es den richtigen Ort für mich. Ich suchte mir mein bestes Pony heraus und ritt mit etwas Dörrfleisch in der Satteltasche los. In den Hügeln kampierte ich für die Nacht. Ich träumte eine Menge, aber eine Vision hatte ich nicht. Es wäre auch seltsam gewesen, wenn ich eine gehabt hätte. Man muß wenigstens zwei Tage fasten, um in der richtigen Verfassung dafür zu sein. Also fastete ich. Nichts essen, nur dreimal am Tag ein Schluck Wasser.« »Reden wir jetzt über Visionen oder Halluzinationen?«
fragte Liz. Holds Eagles lachte. »Das hängt davon ab, ob man ein Indianer ist oder ein Wasichu. Ich muß jedenfalls besonders phantasielos gewesen sein, denn nach vier Tagen hatte ich außer ein paar Ameisen noch immer nichts gesehen. Mein Vater wollte die ganze Sache schon abblasen und mich suchen gehen, aber in der fünften Nacht passierte dann endlich, was ich mir erwartet hatte. Ich dachte, ich wäre noch immer wach. Tatsächlich erschien mir alles so klar, ja noch klarer als das, was du Realität nennen würdest. Hoch über mir in der Dunkelheit schwebte ein Bussard, aber aus irgendeinem Grund konnte ich ihn deutlich sehen, und ich wußte, daß er mich auch sah. In dem Zustand, in dem ich auf dem Felsen lag, muß ich für ihn wie ein Festschmaus gewirkt haben, und ich begann die ganze blöde Idee von. einer Vision zu verfluchen. Ich warf mit einem Stein nach dem Bussard, als könnte ich meilenweit werfen, was ich nicht mehr konnte. Der Vogel verschwand. Mir war entsetzlich elend, und ich bekam Angst, denn es war mir angenehmer gewesen, als ich ihn noch hatte sehen können. Dann gab es einen Windstoß und so etwas wie das Rauschen großer Schwingen. Ein Übelkeit erregender Geruch schlug mir entgegen, erinnere ich mich noch genau. Ich schaffte es, mich zur Seite zu drehen, und da saß er, der größte, bösartigste Bussard, den man je gesehen hatte, einen halben Schritt neben mir. Ich versuchte mich auf dem Rücken davonzuwälzen, aber mit einem Satz saß er mir auf der Brust, ein Gewicht wie von einem Pferd, und stieß mit seinem Schnabel und den bohrenden Augen auf mein Gesicht herab. Möchtest du, daß ich weitererzähle?« »Mit Sicherheit möchte ich nicht, daß du in so einer Lage
bist, ohne daß ich weiß, wie es weitergeht«, meinte Liz. »Es wird noch schlimmer. Er war zu schwer. Er saß einfach da und starrte mich an, während ich schrie, mein Vater solle kommen und den Vogel schießen. Dad war nicht in der Nähe. Also machte der Bussard sich an die Arbeit. Zuerst pickte er mir die Augen heraus, eins nach dem anderen, wie Weintrauben, dann riß er mir die Brust auf und fraß mein Herz, und dann wandte er sich den unteren Regionen zu und fraß meine Hoden. Ich fühlte keine großen Schmerzen, aber ich war entsetzt und erniedrigt. Obwohl ich nichts mehr sehen konnte, wußte ich irgendwie, daß der Vogel mich musterte, um zu sehen, ob es noch etwas gab, das sich zu fressen lohnte. Offensichtlich gab es das nicht, denn er wollte davonfliegen. Da packte ich ihn mir. Beim Abheben ist ein Bussard recht schwerfällig, kommt nur langsam hoch. Er war natürlich wütend, daß ein toter Junge ihn am Boden festhielt und hackte auf mich ein, bis kaum mehr als ein Skelett übrig war, während er verzweifelt mit den Flügeln schlug, um etwas Höhe zu gewinnen. Ich klammerte mich aber aus purem Trotz weiter an ihn, und schließlich brach sich der Bussard einen Flügel an den Felsen. Das war es. Ein Bussard mit einem gebrochenen Hügel ist ein toter Vogel. Er setzte sich neben mich, beruhigte sich einigermaßen und sagte, okay, ich hätte gewonnen und er würde den gebrochenen Flügel gegen meine Augen tauschen.« Liz’ Kopf zuckte vom Sitz hoch. »Er sprach mit dir?« »Wie ich gerade erzählt habe. Er schlug vor, der Flügel für die Augen. Ich sagte nein, und er dachte darüber nach und machte mir ein anderes Angebot, diesmal den Flügel für mein Herz. Nein. Schließlich bot er mir den Flügel für meine Hoden. Wieder nein. Ich will dich nicht mit der Feilscherei langweilen,
die sich die ganze Nacht hinzog, aber er bot mir alle denkbaren Kombinationen für den Flügel. Der Vogel war richtig schockiert, daß ich es wagte, mit ihm so zu verhandeln, aber bei Sonnenaufgang gab er nach. Meine Augen, das Herz und die Hoden so gut wie neu, dazu alles Fleisch, was ich verloren hatte, im Tausch gegen seinen gebrochenen Flügel. Ich stimmte zu. Als mein Vater eine Stunde später kam, war der Bussard entschwunden und ich wieder ganz der alte, abgesehen von den zehn Pfund Babyspeck, die ich verloren hatte.« »Moment mal. Du heißt doch Holds Eagles, also ›Hält Adler‹, nicht ›Hält Bussarde‹. Wo kommen die Adler her?« Er warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, nur um sich zu vergewissern, daß sie noch immer unauffällig verfolgt wurden. »Danach ging ich also nach Hause. Ich erzählte meiner Familie und dem Wichasha vier- oder fünfmal, was ich auf dem Felsen erlebt hatte, damit ich auch ja nichts ausließ. Der Priester war sehr erstaunt. Es stellte sich heraus, daß der Vogel, den ich immer beschrieben hatte, ein Adler war, auch wenn ich ihn für einen Bussard gehalten hatte. Das ist sehr wichtig, weil der Adler für alle Präriestämme etwas besonders Heiliges ist. Man verwechselt ihn nicht mal eben so mit einem Bussard. Ein ganzer Trupp Wichashas setzte sich zusammen und kam zu dem Schluß, daß ich entweder gelogen hätte und damit die Adlermedizin beleidigt – ein übler Jungenstreich – oder daß ich die Wahrheit erzählt hätte, so wie ich sie gesehen hatte. Der einzige Weg, das zu beweisen, bestand für mich darin, einen Adler zu fangen.« »Wie macht man denn so was?« »Hör zu und merk es dir. Es ist’ recht einfach, aber nicht gerade der richtige Sport für einen Dreizehnjährigen. Es ist
etwas für erfahrene Krieger. In der Regel jedenfalls. Nun, mein Vater und mein Großvater hielten zu mir, und wir drei fuhren in unserem kleinen Geländewagen an einen Ort, wo es viele Adler gibt. Wir warteten, bis keine mehr am Himmel kreisten, und dann gruben wir, so schnell wir konnten, ein Loch, das für mich groß genug war, um darin zu sitzen. Sobald wir damit fertig waren, legten wir ein tarnendes Dach aus Gras darüber und fuhren die ausgehobene Erde mehrere Meilen weit weg. Adler sind sehr scharfäugige und mißtrauische Vögel. Es gab nur einen Weg, der erlaubt war, um einen Adler zu töten. Man muß ihn mit einer Schlinge erdrosseln, so daß so wenig wie möglich seiner Federn gebrochen werden. Mein Vater war darin Experte, und er versuchte mir so viele Tips wie möglich zu geben, aber ich glaube, daß ich in dem Loch stundenlang nichts anderes tat, als durch meinen winzigen Spalt in den Himmel zu spähen und zu weinen. Du mußt wissen, ein ausgewachsener Adler hat eine Spannweite von fast drei Metern, einen Schnabel wie eine Axt und entsprechende Klauen. Es war schon unwahrscheinlich genug, daß es mir überhaupt gelingen würde, einen zu mir in die Grube herabzuziehen, wenn ich ihn am Bein zu fassen bekam. Ich bereitete mich auf das weitere Leben vor, das ich mit dem Namen ›Einhand‹ führen mußte. Als ich gerade über diese Aussicht nachdachte, wurde es plötzlich dunkel über der Grube, und ich hörte den Adler am Köder zerren. Der Abend dämmerte, als mein Vater und mein Großvater mit dem Wichasha bei mir auftauchten, und ich bin sicher, daß sie alle erwarteten, meine Überreste einzeln auflesen zu müssen. Der Platz war ein Chaos. Der Adler hatte mich einfach aus der sorgfältig vorbereiteten Grube herausgerissen und einen Meter
hoch in die Luft gezogen. Als wir landeten, bearbeitete er mir den Schädel mit seinem Schnabel, so daß Fetzen von meinem Skalp überall in meiner Gegend herumlagen. Dann zerrten wir uns gegenseitig um die Grube herum, der Adler meistens oben, während ich mindestens ein halbes dutzendmal die Schlinge verlor. Glücklicherweise vertiefte er sich dann in meine Eingeweide, so daß ich ihm die Schlinge überwerfen konnte. Es war keine saubere Arbeit, aber die Sache funktionierte. Mein Vater hat jedenfalls nichts daran auszusetzen gehabt. Und so habe ich meinen Namen bekommen.« Sie hielten vor ihrem Haus an, einem altmodischen Stadthaus im Kolonialstil, das wie alle anderen Häuser der baumbestandenen Straße aussah. Ihr Schatten hielt an der nächsten Ecke. »Lange Geschichte, aber ich habe dich gewarnt«, meinte Holds Eagles. »Sie erklärt eine Menge«, sagte sie. »Auch warum du ein Dutzend sexuelle Anträge auf der Party bekommen hast, wie ich beobachten konnte. Wie würdest du reagieren, wenn du noch einen bekämst?«
***
V »Ich werde ins Indianergebiet ziehen!« RUTHERFORD HAYES
H
ayes befolgte Sheridans Plan. Selbst eine Armee zu führen, war die einzige Möglichkeit für die Republikanische Partei, das Weiße Haus zu halten, versicherten seine Anhänger ihm. Die Kongreßwahlen des Jahres versprachen in jedem Fall eine Katastrophe zu werden. Der Umstand, daß Sheridan während des Winters 77/78 zu Untätigkeit verurteilt worden war, schien eine günstige Gelegenheit zu bieten. Nach Musterung weiterer 30.000 Rekruten für die verschwundenen Indianer machte Hayes sich auf die Suche nach Ruhm und dem Indianer, ganz in der Tradition von Washington, Jackson, Harrison und sogar Lincoln. Die Welt war hypnotisiert von dem Anblick des Präsidenten, wie er auf einem schwarzen Hengst auf den Feldern von Kansas die Reihen seiner Armee abritt. Niemand wollte bestreiten, daß er im Bürgerkrieg ein tapferer, wenn auch nicht gerade genialer General gewesen war. Logistische Verbindungslager folgten der Armee wie Fußstapfen, als sie in der zweiten Maiwoche durch Colorado zogen. Der Generalsstab hielt es für ein gutes Zeichen, daß man keinen Indianer zu Gesicht bekam und daß die Telegraphenverbindung zwischen den Verbindungslagern und dem Osten nicht unterbrochen wurde. Für die begleitende Reporterschar bedeutete es, daß man jeden Abend um dieselbe
Zeit am Ticker feilschen konnte. Hayes erhielt gute Neuigkeiten. Fast jede Stadt im Norden veranstaltete Sympathiekundgebungen für ihn. Am 20. Mai kam über den Draht eine lange Botschaft herein. Anfangs hörte nur der Mann am Ticker zu. Minuten später war der Raum voller Menschen. Die Botschaft kam von Sitting Bull, der sich irgendwo hinter ihnen an den Draht geklemmt haben mußte. Er erläuterte dem Präsidenten, zu welchen Bedingungen man eine Kapitulation des weißen Mannes annehmen würde. Den Reportern bot er an, sich den indianischen Streitkräften anzuschließen. Sie brauchten nur in irgendeiner Richtung aus dem Lager zu reiten, versprach er, und man würde sie überall willkommen heißen. Zum ersten Mal wurde es der Expedition ein wenig unheimlich. Hayes erließ sofort ein entsprechendes Verbot, aber trotzdem schlichen sich in der Nacht ein paar abenteuerlich gesinnte Korrespondenten aus dem Lager. Ihnen ist es zu verdanken, was die Welt zuerst über die Ereignisse erfuhr, die am 30. Mai in den Hügeln von Mchweaming, das der weiße Mann Wyoming nennt, stattfanden. Es gab keinen Hinterhalt, keinen Überraschungsangriff der Indianer. Sie erwarteten Hayes und seine Kavalleriespitze in aller Offenheit, als der Präsident die Gelben Hügel hinaufritt. »Großer Gott, da sind sie ja«, stellte General de Trobriand, Hayes’ Stellvertreter, fest. Hayes besah sie sich durch sein Fernrohr. Er hatte in seinem Leben noch nie so viele Indianer gesehen, und er vermutete, jemand anders auch nicht. »Wer sind sie?« fragte er seinen Scout. Der Scout drehte sich langsam im Sattel, während er durch
sein eigenes Fernrohr blickte. »Wer sie nicht sind, dürfte einfacher zu beantworten sein. Schwarzfüße sind da, Crow, Arapaos, viele Sioux, viele Cheyenne, ich sehe verdammt viele in weißen Anzügen, vielleicht sind das die zivilisierten Stämme Chippewas, Osagen, viele andere dazu. Ich kann sie nicht alle aufzählen.« »Sie sind in militärischer Formation«, bemerkte de Trobriand. »Alles Kavallerie.« »Ich sehe Kanonen«, sagte der Scout. »Haben Sie ihnen gesagt, daß sie uns hier erwarten sollen – oder woher wissen die das?« »Soweit ich gehört habe, handelt es sich bei ihnen immer um Kavallerie«, meinte Hayes. »Wie viele sind es, schätzen Sie?« »30.000, vielleicht auch 40.000«, antwortete de Trobriand. »Sie warten einfach darauf, daß wir etwas tun.« Hayes schlug seinem Adjutanten auf den Arm, und der Offizierstrupp machte kehrt. They Fear His Horses sah auf die Offiziere hinab, wie sie zu ihren Truppen zurückritten. Er hatte keinen Kriegsschmuck angelegt, nur eine gefleckte Adlerfeder hing zwischen seinen Zöpfen. Als er sah, wie die Truppen der Weißen vorrückten, stieg er ab und hob etwas Erde vom Boden auf. Er schmierte davon dem Pony etwas zwischen die Ohren und dann auf die Flanken. Schließlich rieb er sich den Rest ins Gesicht. Er trug niemals im Kampf eine Kriegsbemalung. »Alle tapferen Krieger, die noch einmal vor Furcht pissen müssen, sollten das besser jetzt tun«, rief er, als er aufgestiegen war und seine Linie abritt. Sein Kriegerbund, die Ho-ksi-haka-ta, bedankten sich für die Beleidigung mit der lauten Frage, ob er schon nach Hause reiten wollte, als er an ihnen vorbei-
kam. Sitting Bull und die Wichashas der anderen Nationen standen auf einem von rotem Staub bedeckten Hügel in der Nähe. Die Tsistsita- und Pawnee-Priester hoben ihre heiligen Pfeile gegen die Wachishu-Soldaten, die unten Verteidigungsstellungen zu bauen begannen. Ein aufgespießter Büffelschädel sah ebenfalls zu. Nachdem die Magie vollbracht war, stimmten die kilometerlangen Linien ein Geheul an, das die Feldkaplane, die am Fuß der Hügel ihre Absolution erteilten, zusammenzucken ließ. Die Kriegerbünde begannen mit dem Absingen ihrer Kampflieder. Die Luft war von wilden Männerstimmen erfüllt, darunter auch Cherokee, die »Onward Christian Soldiers« sangen. »Dies ist dein Tag«, sagte Wovoka auf dem Hügel zu John Setter. Der Payute-Prophet hatte seine Umhänge gegen weiße Hirschlederleggins der Tsistsitas eingetauscht. »Du weißt etwas, du hast recht«, sagte Setter, als er den Hügel der Priester verließ, um sich der Linie von Ho-ksi-haka-tas anzuschließen. Gras und Erde explodierten in einiger Entfernung vor den Linien, als Kanonen Hayes’ das Feuer eröffneten. Dog Soldiers patrouillierten überall, um die Disziplin zu bewahren. Die indianische Formation war ein Viereck, das von drei Seiten eines U gebildet wurde. Eine Seite wurde von Savane gebildet, auf der anderen Seite standen Prärieindianer unter Two Moons, und den Boden bildete das Lakota-Heer von They Fear His Horses. Auf sein Signal eröffneten die Howitzer-Batterien der Cherokee das Feuer mit Sprenggranaten. In ihrer sicheren Verteidigungsposition, dem Feind um das Dreifache überlegen,
fragten Hayes und seine Offiziere sich, ob die Indianer wohl die Nerven zu einem Angriff hätten, als das Zentrum der vorrückenden weißen Truppen plötzlich in Fontänen von Dreck, Menschen und Pferdeleibern explodierte. De Trobriand erkannte als erster, was passiert war. »Das Feld ist vermint, sie haben Tretminen gelegt«, rief er. »Das ist ein preußischer Trick.« Der Granatbeschuß steigerte die Verwirrung noch, als Hayes verzweifelt versuchte, seinen Vormarsch wieder in Gang zu bringen. Stand Wattie hob den Arm, und die Linie der Savane galoppierte vorwärts. Die Springfieldgewehre der Soldaten hatten die größere Reichweite, aber auf den wellenförmigen Hügelkämmen bekamen sie die herangaloppierenden Indianer nie lange genug ins Visier. Dann war der Angreifer über ihnen und verschoß einen endlosen Kugelhagel aus den Winchester-Repetiergewehren. Hayes führte tapfer in eigener Person den Gegenangriff der 6. Kavallerie, als die Savane abdrehten. Als die weißen Soldaten näher kamen, hielt plötzlich vor ihnen ein Regiment von Lenape und Potawotami, sprang aus dem Sattel, bezog vierfach gestaffelt Position, liegend, kniend, stehend und zu Pferd, so wie diese beiden Stämme es in ihrem jahrelangen Söldnerdienst gelernt hatten. Die weiße Kavallerie mußte um ein Viereck reiten, aus dem pausenlos Reihe für Reihe gefeuert wurde. Indianer wären aus dem Sattel unter ihre Pferde gerutscht, um Deckung zu finden, aber solche Fertigkeiten besaßen Hayes’ Soldaten nicht. Sie starben wie die Fliegen, bis Hayes den Rückzugbefehl gab. Die 10.000 Reiter von Two Moons rasten um das Viereck herum und stürzten sich auf die linke Flanke der Wasichus. Die Potawotami tauchten weiter fleißig ihre Kugeln in
Wasicho-Blut. Ein Trupp Crows feuerte mit Zedernholzbögen Granaten in die Reihen der fliehenden Soldaten, sobald ein Offizier den Rückzug zum Stehen bringen wollte. Inzwischen hatten They Fear His Horses und die Lakota sich der Jagd angeschlossen, ritten drei Regimenter der 4. Kavallerie über den Haufen und leerten die Magazine ihrer Gewehre unter »Hokahay«-Gebrüll und dem Lieblingsschlachtruf der Dog Soldiers: Ein großartiger Tag zum Sterben! Doch die Armee der Weißen war zu groß, um so leicht in Panik zu geraten. De Trobriand hatte Gatlings auf offenen Wagen postiert und mähte damit einen Angriff der Kit Foxes nieder. Major James begriff den Sinn der Infanterie und sorgte dafür, daß seine Leute bequem und sicher auf dem Bauch lagen. Colonel Arnold formierte trotz feindlichem Feuer die 4. und 5. Kavallerie neu und führte sie in einen Angriff, der nur einem einzigen Ziel galt: They Fear His Horses zu töten. Auf dem Hügel der Frauen gelang dies fast. They Fear His Horses spazierte dort herum und hielt Ausschau nach einem Pony, nachdem sein ursprüngliches Reittier gerade unter ihm weggeschossen worden war. Arnold und hundert Mann der 5. Kavallerie galoppierten auf den Häuptling los. Auf der Hügelkuppe befanden sich die fünf heiligen Homosexuellen der Tsistsitas, die Contraries. Ein Contrary ist von Natur aus ein Krieger, der bis zum Tod kämpft, außergewöhnlich mutig und schwer zu töten. Er darf eine magische Lanze tragen, die normalerweise nicht im Kampf benutzt wird. Setzt ein Contrary diese Waffe doch ein, so muß er im selben Kampf sterben, also wußten die Contraries was sie taten, als sie den Hang hinabritten, um sich Arnolds Hundert entgegenzustellen. Zuerst wußten die Soldaten nicht, was sie von diesen fünf tollkühnen Helden halten sollten, die sich ihnen da entgegen-
warfen. Dann waren die Contraries schon zwischen den Soldaten und hieben mit den Lanzen um sich, während ihre Ponys die größeren Armeepferde niederritten. Sie brauchten nicht mit einem Gewehr zu zielen, und es mangelte auch nicht an Gegner, also wateten die Contraries regelrecht durch die Kavallerie, ohne sich um die eigenen schweren Verletzungen zu kümmern. Als ihre Lanzen zerbrochen waren, rissen sie den Soldaten die Gewehre aus der Hand, und nachdem sie diese Gewehre leergeschossen hatten, benutzten sie sie als Keulen. Als der letzte von ihnen endlich getötet war, hatten sie mehr als dreißig Sättel der 5. Kavallerie geleert, und They Fear His Horses saß wieder zu Pferd und führte eine Angriffswelle von tausend rachedurstigen Dakotas, die James’ Verteidigungslinie durchbrach, sich der Gatlings bemächtigte und die Weißen mit ihren eigenen Maschinengewehren unter Feuer nahm. De Trobriand geriet zusammen mit einer Reihe weiterer Stabsoffiziere in Gefangenschaft. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hayes knapp 2.000 Mann verloren und die Indianer etwa 350, was dem Präsident die enorme zahlenmäßige Überlegenheit bewies, mit der er die Schlacht begonnen hatte. Es war schwer zu glauben, daß die Schlacht für die Weißen schon verloren war, aber das war der Fall. Die Armee befand sich auf dem Rückzug, wich vor den rasch aufeinanderfolgenden Reiterattacken des Feindes zurück, war demoralisiert und hatte ihre besten Führer verloren. Hayes war nicht in der Lage, sich taktisch und strategisch auf einen Gegner einzustellen, dessen gesamte Streitmacht aus Kavallerie bestand. Als der Präsident versuchte, seine Infanterie in Aktion treten zu lassen, schossen die Cherokee-Batterien sich darauf ein. Abteilungen, die sich zum Kampf stellen wollten und Position bezogen, wurden von offenen Wagen mit
Gatlings niedergemäht. Präsident Hayes entschied, einen möglichst geordneten Rückzug zur ersten erreichbaren Anhöhe anzutreten. Es war der erste von vielen Rückzügen in einem Drama, das die ganze amerikanische Öffentlichkeit miterleben sollte. Die Indianer sorgten dafür. Da sie die Telegraphenverbindung kontrollierten, ließen sie die Korrespondenten ausführliche Beschreibungen über jeden Kriegstag durchgeben. Ein solcher Kriegstag bestand für gewöhnlich aus einer Kapitulationsaufforderung von Sitting Bull, die Präsident Hayes ablehnte, einigen in tödlichen Hinterhalten endenden Kavallerieausfällen des letzteren und nächtlichem Granatbeschuß des USLagers. Hayes schaffte es, pro Tag etwa fünfhundert Mann bei dubiosen Versuchen, den indianischen Einschließungsring zu durchbrechen, zu verlieren. Sitting Bull erzählte den Korrespondenten, er wünsche sich sehnlichst, der Kongreß möge den Präsidenten zurückrufen, damit auf beiden Seiten keine weiteren Familien um ihre Männer klagen müßten. Er erinnerte daran, daß alle Kriegshandlungen auf Indianergebiet stattfanden, daß er nur sein eigenes Land verteidigen und nicht die Vereinigten Staaten angreifen wolle. Er behandelte alle Kriegsgefangenen gut und ließ sie Grüße an ihre Mütter schicken. »Wer sind Sie?« fragte die New Yorker World John Setter. »Mein Name ist Where The Sun Goes«, sagte Setter. »Sie scheinen ein Häuptling mit, nun ja, großem Einfluß hier zu sein. Könnten Sie uns sagen, was die weißen Soldaten Ihrer Meinung nach nun tun werden?« »Wir erwarten, daß Präsident Hayes einen verzweifelten Fluchtversuch nach Kansas unternimmt.« »Oh!« Hayes unternahm seinen vergeblichen Ausbruchsversuch.
Ein indianisches Pony konnte jedes Armeepferd auf kurzen Strecken an Schnelligkeit übertreffen. Was lange Strecken anging, ernährte das Pony sich zufrieden vom Präriegras, während die Armeepferde Hafer brauchten. Und das wichtigste war, daß die Indianer ihren Krieg mit riesigen Herden von Ersatzpferden, die ständig hinter den Kriegern herzogen, führten, während die US-Kavalleristen die ganze Zeit auf einem Pferd reiten mußten. Nach zwei Tagen hatten die Indianer 5.000 Mann aufgerieben, die den Anschluß zu Hayes’ Heer verloren hatten. Die weiße Armee befand sich in der Auflösung. Am 12. Juni erschütterten zwei weitere Nachrichten aus dem Indianerland die Vereinigten Staaten. Sheridans Expedition von 5.000 Mann in New Mexico hatte ein trauriges Ende in der Wüste gefunden, wo sie fast bis zum letzten Mann von fast 10.000 Apachen, Kiowa, Comanchen und Yuma unter He Who Yawns, Victorio und Black Horse vernichtet worden war. Am Ende hatten die Soldaten sich die Handgelenke aufgeschnitten, um ihren Durst mit dem eigenen Blut zu stillen, ein grausiges Schicksal, das nicht zum ersten Mal Männern widerfuhr, die wagten, in der Wüste gegen Goy-ya-thle zu kämpfen. Aus Nevada wurde über die San Francisco Volunteers berichtet, eine 7.000 Mann starke Miliztruppe unter der Führung des Gewerkschaftsbosses Denis Kearney, der sonst die Zuwanderung von Chinesen bekämpfte. Kearney und 3.500 Milizionäre waren tot, ausgelöscht von den Paiutes, Utes, Shoshonen und der Nauvoo-Legion. Am folgenden Tag verkündete der Rat der Häuptlinge seinen »Appell an das amerikanische Volk«. Man erklärte, die Armee unter Präsident Hayes kämpfe tapfer, sei aber bereits besiegt, eine Fortsetzung des Krieges könnte nur in einem
Massaker an den weißen Truppen enden, an dem die Indianer keine Schuld haben wollten. Im Interesse der Menschlichkeit baten sie das amerikanische Volk, den Präsidenten Hayes aufzufordern, seine Soldaten die Waffen niederlegen zu lassen und danach sicher heimzuziehen. Präsident Hayes, fügte man hinzu, würde mit allen Ehren, die einem Staatsoberhaupt zustanden, nach Hause eskortiert werden. In Washington forderten die Demokraten ein Ultimatum des Kongresses an Hayes, endlich mit den Indianern Verhandlungen aufzunehmen. Die republikanische Mehrheit verhinderte das Gesetz, aber die Mehrheit des Volkes war inzwischen anderer Meinung. Hayes hatte das Weiße Haus gestohlen, in fast jeder größeren Stadt amerikanische Bürger niederschießen lassen, und nun hatte er die Vereinigten Staaten auch noch in ihre bisher schlimmste militärische Niederlage geführt, bei der es um Landgebiete ging, die sowieso niemand haben wollte. Wenn das Kriegsministerium und die Armee behaupteten, man dürfe aus Gründen der Sicherheit niemals die Kontrolle über das Prärieland in der Mitte des Kontinents aufgeben, sagten sich die Leute, daß man bei der Sorte von Generälen, wie die Armee sie offensichtlich besaß, sichere Grenzen nur in der Mitte von Asien hätte. »Mit der moralischen Entschiedenheit, dem Kampfgeist und der Militärführung, wie wir sie während des Krieges zwischen den Staaten hatten, wäre diese Sache in einem Monat erledigt gewesen«, sagte Grant. »Dieser Kampf ist noch nicht zu Ende, weil das amerikanische Volk niemals seine Grenzer im Stich lassen wird, jene Bürger, die unsere Zivilisation ausbreiten«, hieß es in einem Aufruf, den Volksvertreter der westlichen Bundesstaaten verbreiteten. »Die christliche Zivilisation steht auf dem Spiel«, verkündeten Erzbischof McCloskey und die Ritter der
weißen Kamelie am selben Tag. Drei Wochen nachdem er die Indianer in den Gelben Hügeln zum ersten Mal gesehen hatte, ritt Präsident Hayes aus seinem Lager, um mit seinem Feind unter einer weißen Fahne zu verhandeln. Zwischen den beiden Heeren wurde ein Tipi aufgeschlagen. In Begleitung von Hayes befanden sich zwei Generalmajore und ein Sekretär. Die Indianer wurden von Sitting Bull, Stand Watie, Where The Sun Goes und einem Schullehrer der Shawnees, der Protokoll führte, repräsentiert. »Es ist vorbei!« schrie ein Reiter, als er mit seinem Pferd über eine Kanone setzte und die gute Nachricht ins Indianerlager brachte. Eine endlose Reihe von Wasichu marschierte nach Osten die Hügel hinab und ließ einen Berg von Gewehren, Kanonen und Munition zurück. Für die Indianer begann eine Siegesfeier, an der sich alle noch existierenden Stämme beteiligten. Es wurde das erste nationale Fest der neuentstandenen Indianernation.
*** »Ich habe mir die Indianer immer als so eine Art Muskelpaket vorgestellt. Du bist gar nicht so. Geschmeidig und kühl wie Kupfer bist du.« Sie strich ihm mit den Fingern langsam über den Rücken, während er sich über die Sonntagszeitungen beugte. Er legte den Star zur Seite und griff nach der Times. Liz blickte ihm über die Schulter auf ein Bild von ihnen beiden, unter dem etwas von einer ständigen Begleiterin stand. »Steht da auch, daß du mich mit deinen Geschichten angemacht hast?« fragte sie.
»Siehst du das so mit uns, meine Desdemona?« sagte er und ließ die Zeitung sinken. »Du kennst die Geschichte von Othello und Desdemona?« »Muß man hier nicht auch von jemandem sprechen, der zu sehr liebt und diese Liebe über seine Klugheit gestellt hat?« »Du kennst diese Geschichte also.« Sie zündete sich nervös eine Zigarette an. »Sieh mich lieber als eine schon etwas in die Jahre gekommene Schönheit.« »Dann schon lieber als Land von Milch und Honig, wie es jeder gute Mormone nennen würde.« Er nahm ihr die Zigarette aus dem Mund. In einer anderen Gegend der Stadt trat Präsident Nielson unter der Dusche hervor und begann sich heftig zu frottieren. Ginny Nielson sah ihrem Ehemann besorgt zu. »Don, du hast doch vor der Kirche schon geduscht. Warum duschst du denn jetzt schon wieder?« »Wegen dem verdammten Indianer. Sie haben so einen feinen Geruchssinn. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe immer das Gefühl, daß er mich riechen kann, während ich mit ihm verhandle.« »Unsinn, niemand kann dich riechen. Wenn ich dich nicht rieche, wie soll dich dann sonst jemand riechen?« Nielson schüttelte unangenehm berührt den Kopf und sprühte sich Deo unter die Arme. »Wie soll ich jemanden beeindrucken, wenn ich nach Schweiß rieche?« meinte er und häufte eine doppelte Portion Zahnpasta auf seine elektrische Zahnbürste. »Dieser Mann bringt dich aus der Fassung. Das gefällt mir nicht«, stellte Mrs. Nielson fest. »Die Sache dauert jetzt schon fast einen Monat, und er klopft im Grunde immer noch nur
auf den Busch. Kannst du die Gespräche nicht einfach abblasen?« Sie setzte sich auf die Toilette. »Ich bin wirklich erstaunt, daß du und Harry nicht mit einem einzelnen Indianer fertig werdet.« Er spuckte einen Mundvoll Zahnpasta in den Spülstein. »Er bringt immer neue Sachen auf den Tisch, gibt mal diese Andeutung und dann jene, und man weiß nie, woran man am nächsten Tag ist. Die Presse stürzt sich auf jeden Nebensatz von ihm, und dann geht er und hält Volksreden bei den Vereinten Nationen. Es steht verdammt viel auf dem Spiel, wir dürfen kein Risiko eingehen. Wie sollen sich unterentwickelte Länder entwickeln, wenn sie erst anfangen, auf die Indianer zu hören?« Er füllte sich den Mund mit Desinfektionsspülung. »Ja – und?« Ein Strahl Mundwasser spritzte in den Spülstein. »Na, wenn wir ihn einfach ins Gefängnis werfen würden, wird das auch niemand besonders beeindrucken, die Vereinten Nationen jedenfalls bestimmt nicht.« »Und was ist mit den Studenten? Alle Nachrichtensendungen sind voll mit Berichten über Studentenunruhen. Hat Harry denn keine Idee?« »Er arbeitet an irgend etwas.« Der Präsident riß sich ein Haar aus, das aus einem Nasenloch vorgestanden hatte. Ginny Nielson seufzte dramatisch. »Ich wünschte mir, du würdest dich für mich genauso liebevoll zurechtmachen wie für diesen Wilden.« »Jetzt fang bloß nicht so an, Ginny, bitte«, flehte der Präsident. Er schmierte sich Perlweiß auf die Zähne und übte vor dem Spiegel ein breites Lächeln.
***
VI »Unsere Schicksalsbestimmung ist es, uns über die Ozeane auszubreiten, die uns von der Vorsehung anvertraut wurden zur freien Entwicklung unserer sich jährlich vervielfachenden Millionen.« U.S. MAGAZINE und DEMOCRATIC REVIEW Ich ziehe meinen Kreis, Ich ziehe meinen Kreis, Um die Grenzen der Erde, Um die Grenzen der Erde, Trage die weißen Schwingen auf meinem Flug, Trage die weißen Schwingen auf meinem Flug. INUNA-INA
W
ann wird aus einer Flutwelle eine Woge und dann ein Plätschern, das schließlich erstirbt?« fragte der amerikanische Historiker Commager. »Wenn die Vereinigten Staaten das Innere des Kontinents nicht an die Indianische Nation verloren hätten, welche Auswirkungen hätte das wohl auf die amerikanische Geschichte gehabt? Sicherlich wären unsere Energien dann für ein Jahrhundert oder länger an die Grenze der inneren Wildnis gebunden gewesen. Schon die Veränderungen auf den Landkarten hatten ihre Auswirkungen. Wir haben ja nicht nur die indianischen
Namen für Städte, Staaten und Gewässer abgelegt, so daß Chicago heute Sheridan heißt oder Nebraska in Lincoln umgetauft wurde. Unsere Vorstellung von der Welt wäre eine andere gewesen, nach innen gewandt und auf uns selbst bezogen, nicht so sehr in die Ferne gerichtet. Andere Führer hätten uns zu anderen Zielen inspiriert. Angenommen, daß die Geschichte nicht dem festen Verlauf gefolgt wäre, den so viele Menschen für unausweichlich halten. Hätten wir dann nicht eine andere Folge von Präsidenten gehabt? Wäre Teddy Roosevelt nur aufgrund einiger wenig erfolgreicher Vorstöße mit seinen Rauhreitern ins Indianerland ins Weiße Haus gewählt worden? Oder Admiral Dewey für die Seeschlacht, durch die er die Philippinen und Kuba zu Bundesstaaten der Union machte? Wenn die Schlacht von Hastings der große Wendepunkt der englischen Geschichte gewesen ist, dann muß man dies von der Schlacht in den Gelben Hügeln sicher auch im Hinblick auf unsere Geschichte sagen.« Lange Zeit schafften die Vereinigten Staaten es nicht, diesen Wendepunkt mit der nötigen Gelassenheit zu akzeptieren. Kein Vertrag wurde geschlossen, bis es beim Ende des Ersten Weltkrieges dann zur Vereinbarung von Sacramento kam, die jene Grenzen endlich institutionalisierte, die Hayes hatte akzeptieren müssen, bevor man seiner geschlagenen Armee erlaubte, heimwärts zu ziehen. In dieser Vereinbarung erkannten die Vereinigten Staaten völkerrechtlich an, daß die Indianer freiwillig die Kontrolle über Nevada und Oklahoma aufgaben, die westlichen USA bestanden damit aus Nevada, Kalifornien, Oregon und Washington. Die westliche Grenze der Oststaaten bildeten Texas, Oklahoma, Kansas, Nebraska, eine Ecke von Iowa und Minnesota. Als die USA Reparations-
forderungen stellten, antworteten die Indianer darauf mit dreimal so hohen eigenen Ansprüchen, und die Sache wurde stillschweigend fallengelassen. Für die Amerikaner war die neue Nation in ihrer Mitte ein Paradoxon. Man betrachtete es als unausweichlich, daß die Stämme sich jetzt vereinigten und daß ihre vereinigte Streitmacht von nun an unschlagbar war. Regierungsstudien führten dafür den ausführlichen Beweis, indem sie die schwerfällige US-Militärmaschine mit ihrer langsamen Infanterie, der Wagen voller Pökelfleisch, Mehl, Erbsen, Zucker, Kaffee, Essig, Seife und Zitronen folgen mußten, mit den freibeweglichen Indianerheeren verglich, die Dörrfleisch und Fladenbrot in den Satteltaschen mitführten. Man stellte Rekrutierung und Ausbildung amerikanischer Soldaten der schon in frühester Kindheit beginnenden Kriegererziehung bei den Indianern gegenüber. Die indianischen Ponys waren unschlagbare Reittiere für Kämpfe in der Prärie, und die Prärieländer das perfekte Terrain für eine reine Reiterarmee. Doch zur gleichen Zeit wollte kein Amerikaner recht daran glauben, daß die Indianer jemals in der Lage sein könnten, sich selbst zu regieren. Täglich wurden Berichte veröffentlicht, daß Anarchie und Hungersnot in der Indianischen Nation herrschten, daß Sitting Bull und seine Sioux die anderen Indianer mit Terror unterdrückten oder daß hinter allem ein Mann namens Where The Sun Goes stand, der eigentlich ein Weißer war und im Auftrag aller möglichen überseeischen Mächte agierte. Doch nach und nach wandten die Vereinigten Staaten ihren Blick und ihre Gedanken anderen Dingen zu. 1880 ratifizierten Hayes und die Republikaner in einem letzten Versuch, den Respekt der Wähler zurückzugewinnen,
plötzlich die Waffenstillstandsvereinbarung mit der Begründung, daß eine überseeische Macht sonst die Bucht von Samana als Handelsstützpunkt kaufen würde. Statt dessen machten sich dort die Vereinigten Staaten breit. Admiral MacMahon verkündete: »Dieser Schritt zu den Weltmeeren bedeutet nichts, solange wir keine Flotte haben, mit der wir unsere Ansprüche sichern können. Ohne eine große Seestreitmacht werden die Vereinigten Staaten sich immer damit begnügen müssen, nur eine zweitrangige Rolle in der Weltpolitik spielen zu können.« Die große Flotte entstand bald, als die Nation sich unter der Führung energischer Admiräle über die Meere auszubreiten begann. Um die Kommunikation mit dem Westteil der Union zu sichern, wurde der Panamakanal gebaut, der allen Sezessionsbestrebungen vorbeugte. Spanien wurde aus der Karibik vertrieben, und der Kongreß nahm fleißig neue karibische Bundesstaaten auf. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges konnten die Vereinigten Staaten auf ein atlantisches und ein pazifisches Seereich blicken, das von einer Flotte geschützt wurde, die der Großbritanniens in nichts nachstand. In der Zwischenzeit hatten sich die amerikanischen Hoffnungen, daß die Indianische Nation durch innere Zwistigkeiten auseinanderfallen würde, beinahe erfüllt. Nach dem Ende des Krieges wandten die Stämme sich instinktiv wieder ihren alten Heimatregionen und ihrem überkommenen Lebensstil zu. Sie begriffen nicht sofort, daß auch unter indianischer Führung die alten Zeiten vorbei waren. Alles, worauf sie sich einlassen wollten, insbesondere die Inde unter He Who Yawns, war die Abstellung von Regimentern aus jedem Stamm für eine gemeinsame Grenzsicherung. Erfolg hatte Setter zunächst nur bei den Tsistsita, den Savane und anderen
Stämmen, die sich sowieso im Land der Indianischen Nation erst ansiedeln mußten. Sie paßten sich wesentlich bereitwilliger den Bedürfnissen der neuen Nation an, von der sie adoptiert worden waren. Ein Telegraphennetz, Schulen und eine Volkszählung wurden fast ausschließlich von den Savane betrieben. Setter ließ den älteren Häuptlingen Zeit, ihr Amt an Jüngere zu übertragen, mit denen die eigentliche Reorganisation der Indianischen Nation begonnen werden konnte. Doch die Zeit stand nicht still. General Philippe Regis Denis de Kereden de Trobriand, der ehemalige Kriegsgefangene der Indianer, wurde der neue Repräsentant des europäischen Konsortiums. Die Europäer hatten die indianische Armee mit Waffen ausgerüstet, und jetzt verlangten sie den Preis für ihre Investition, das hieß, die Kontrolle über alle Edelmetalle, das Pelzgeschäft und den Holzhandel zusammen mit der Entwicklung und dem Eigentum von Dampfschiff- und Eisenbahnlinien. De Trobriand, Sohn eines Barons, im Zivilberuf Anwalt und in seiner Heimat Frankreich bekannt als Autor von »Quatre Ans de Campagnes a l’Armee du Potomac« wurde eingestellt, um das Beste aus der Situation herauszuholen. Als er feststellen mußte, daß Sitting Bull sich unter Setters Einfluß befand, machte er sich daran, die Stämme gegeneinander aufzuhetzen. Der Inde-Aufstand brach bereits 1880 los. De Trobriand hatte die Chiricahuas unter He Who Yawns dafür bezahlt, eine Eisenbahnlinie nach Mexiko eröffnen zu können. Setter führte eine Armee von Savane nach New Mexico und sprach mit Victorio. Der alte Mimbreno-Häuptling stimmte zu, daß schnelles Handeln notwendig war, aber er lehnte es ab, seine Männer gegen seinen alten Kampfgefährten zu führen. Die Rebellion endete ’81 auf dem Hang eines Cañons, der
sehr jenem glich, an dem Setter und He Who Yawns sich vor Jahren zum ersten Mal begegnet waren. Ein Gebirgsbach sprudelte über die Felsen, um hundert Meter in die Tiefe zu stürzen. He Who Yawns lag im Schatten eines Felsbrockens, während ihm das Leben aus einer Granatwunde aus der Brust rann. »Weißt du, es gefällt mir hier«, sagte er zu Setter, der ein Hemd für einen Notverband in Streifen riß. »Es ist die Art, auf die ich immer fortgehen wollte. Streite nicht mit mir, erzähle mir nicht, daß ich falsch gehandelt habe. Ich hätte nachgeben müssen, das weiß ich. Aber wir haben gewonnen, du hast gesagt, wir haben gewonnen, und als wir hierher in unsere Heimat zurückkamen, um Inde zu sein, wolltest du plötzlich von uns, daß wir wie sie denken sollten, wie die Weißen. Wir wollten nur in Ruhe gelassen werden. Deshalb haben wir wieder mit dem Kampf begonnen. Dann hast du auch gewollt, daß unsere Männer nach Norden und Westen gehen, fort von zu Hause. Das waren nicht die alten Bräuche, dafür haben wir nicht all die Jahre gekämpft. Die Weißen wollten uns immer dahin und dorthin schicken, um zu kämpfen, und das hat uns nie gefallen. Dann gewinnen wir, und wir müssen feststellen, daß es alles das gleiche für uns ist, ob wir gewinnen oder verlieren. Du mußt uns verzeihen, wenn wir darüber verwirrt waren. Wir dachten, wir hätten für etwas anderes gekämpft. Nun, ich sterbe hier, und das ist nicht das schlechteste. Wenn ich weiterleben würde, müßte ich auf deine Art leben, und, ehrlich gesagt, diese Art hat für mich einen üblen Geruch. Ich sterbe auf meine Art, die alte Art, und ich bin dabei glücklich. Habe ich gut gekämpft?« »Du hast immer gut gekämpft«, erwiderte Setter. »Gut. Wenn du mir nun vergibst, will ich versuchen, dir
auch zu verzeihen«, sagte Goy-ya-thle, und dann war er tot, ein krummbeiniger, ausgemergelter alter Mann mit grauen Haaren, den man »den schlimmsten Indianer unter der Sonne« genannt hatte. Setter kleidete den kleinen Leichnam mit einer Jacke, die in hellen Stickereien die vier Winde zeigte, so daß man die zerschmetterte Brust nicht sehen konnte. Auf den Kopf setzte er ihm eine Kappe mit Antilopenhörnern, damit die Antilopen den Geist im schnellen Lauf in die Geisterwelt trugen. Danach versuchte de Trobriand es bei den Mormonen. An der Westflanke des Indianergebiets wurde es Präsident Taylors Heiligen der letzten Tage langsam unheimlich, während sie darauf warteten, daß man ihnen die Führung über das ganze Land übertrug. Die Söhne des Laman zeigten wenig Glauben an mormonische Oberhoheit. De Trobriands Angebot, ihnen bei der Wiedererrichtung des Reiches Deseret unter die Arme zu greifen, klang recht verlockend. »Es gibt etwas ausgesprochen Anziehendes an der Kirche von Mormon«, sagte Setter. Er befand sich in Taylors Büro. Bei ihm waren Wovoka und eine Abteilung Dog Soldiers. Bei Taylor waren das Haupt der Söhne Dans und eine Schar seiner Unterführer. Hinter ihnen hing noch immer die große Karte, nur daß jetzt ein großer unregelmäßiger grüner Fleck in ihrer Mitte prangte, der den Namen Deseret trug. »Zum Beispiel«, fuhr Setter fort, »die Wiedergeburt aller Heiligen der letzten Tage, wie sie den Ungläubigen verwehrt ist. Ich weiß, daß ihr deshalb mit Ungläubigen nie etwas zu schaffen haben werdet«, fügte er hinzu und schwieg bedeutungsvoll. »Also scheint mir die Einbeziehung aller restlichen
Länder der Söhne Lamans in das Reich sehr wichtig. Volle Teilnahme an allen religiösen Aktivitäten ist dazu wichtige Voraussetzung, darin gebe ich Ihnen recht.« »Tatsächlich«, meinte Taylor, »sind die Söhne Lamans noch nicht durch Mormon gereinigt. Sie können keine Priester werden, selbst falls sie sonst überall teilhaben. Um wirklich geläutert zu sein, bedarf es für sie einer besonderen Offenbarung.« »Wem könnte diese Offenbarung zuteil werden?« »Gott wird sie mir senden.« »Aha«, stellte Setter fest. Er ging in der Mitte des Raumes auf und ab, als müsse er intensiv nachdenken. »Wie lange werden Sie wohl noch brauchen, bis Sie diese Offenbarung erhalten?« »Das liegt bei Gott«, verkündete Taylor würdevoll. »Mir scheint es so, daß diese Offenbarung schon ein wenig überfällig ist. Hier stehen wir, Söhne Lamans und Söhne Nephis, siegreich in unserem eigenen Land, genau wie Moroni prophezeite. Was brauchen Sie noch mehr?« »Das liegt nicht an mir.« »Es liegt bei Gott, schön. Wir wissen aber, daß ER Ihnen diese Offenbarung heute zukommen läßt. An diesem Nachmittag. Denn wenn Er das nicht täte, müßten wir eure Stadt Zion niederbrennen. Gerade in diesem Augenblick reiten 40.000 Krieger in die Stadt. Überlegen Sie es sich.« Taylor schickte einen Daniten hinaus, um nachsehen zu lassen, ob Setters Statement den Tatsachen entsprach. Ein Blick auf das Gesicht des Polizisten, als er wieder hereinkam, bestätigte Setters Worte. Durch das Fenster tönte Musik herein, und als der Präsident sich hinausbeugte, sah er eine endlose Reihe von bewaffneten Indianern, die einer Bläserkapelle der
Cherokeesen folgten. An ihrer Spitze führten sie ein riesiges Transparent, auf dem stand »Tauftag der Söhne Lamans«. Die Leute auf den Straßen waren überrascht, aber sie applaudierten. »Sie werden ihr Lager vor dem Tabernakel aufschlagen«, erklärte Setter dazu. »Noch etwas. Sehr wahrscheinlich wird Gott Ihnen auch offenbaren, daß Wovoka, der sich ja bereits als großer Prophet erwiesen hat, Ihnen in der Führung der Kirche gleichberechtigt an die Seite gestellt wird. Ich glaube, das ist nur angemessen.« »Sonst noch etwas?« fragte Taylor mit allem Sarkasmus, den ein humorloser Mann aufbringen konnte. »Ja. Ich weiß, daß Sie Wovoka und mich für Opportunisten halten, die Ihnen mit angelegtem Gewehr Bedingungen diktieren. Letzteres ist absolut richtig, versichere ich Ihnen. Aber Wovoka ist kein Opportunist. Er ist ein wahrer Prophet, und alles, was er gesagt hat, ist so gekommen. Ich bin zwar ein Opportunist, aber selbst mir will es scheinen, daß hier eine große Chance für euch wartet und dies ein großer Tag für Mormon sein kann. Gott hat euch mit euren Brüdern, den Indianern, über die Feinde triumphieren lassen, doch Sie gehen her und machen Geschäfte mit schmierigen Kaufleuten, ohne zu erkennen, was Gott Ihnen gegeben hat. Die Tatsache allein, daß wir gesiegt haben, ist eine große Offenbarung, und wenn Sie jetzt nein sagen, müssen wir glauben, daß Sie sich weigern, auf Gott zu hören. Mormon hat uns heute hier zusammengeführt. Sie können seine Stimme und seine Offenbarung leugnen und damit die Zerstörung Seiner Stadt und Seiner Schüler herbeiführen, oder Sie können auf Gott hören, auf daß der ganze Himmel über unsere große Vereinigung jauchzt.«
»Was sollten diese letzten Sätze denn eigentlich?« erkundigte sich Agate, einer der Dog Soldiers, als die Indianer im Korridor auf Taylors Antwort warteten. Es gab nur eine Tür, die aus Taylors Büro führte. Die Daniten hatte man in ein anderes Zimmer eingesperrt, damit der Präsident ungestört nachdenken konnte. »Zuletzt ging es darum, einen Mann glauben zu machen, daß er im Grunde schon immer gewollt hat, was er nie haben wollte«, erklärte Setter. »Vielleicht spricht Gott wirklich mit ihm«, meinte Agate. »Genau.« Präsident Taylors Botschaft vom 2. März 1881 wurde der Beginn des indianischen Mormonismus. Gleichzeitig bedeutete sie das Ende von de Trobriands Intrigen in der Indianischen Nation. Der Rat der Häuptlinge erklärte dem Konsortium, daß man die Vereinbarungen nur einhalten würde, wenn der General sofort den Befehl erhielt, das Indianerland zu verlassen. Sollte er bleiben, würde man ihn töten. Das Konsortium, das in anderen Teilen der Welt so ausgesprochen erfolgreich operiert hatte, mußte feststellen, daß es gegen die Indianer wenig in der Hand hatte. Waffen- und Munitionslieferungen zu sperren brachte nichts, weil die Indianer bereits über ein gewaltiges Arsenal von gelieferten oder erbeuteten Waffen verfügten. Die erste indianische Industrie war die arbeitsteilige Produktion von Kugeln und Granaten. Die hatte bereits vor der Schlacht in den Gelben Hügeln begonnen. Nachdem die Büffel nur noch als Nahrungsquelle und für den Fellbedarf getötet wurden, stabilisierten die Herden sich. Die Cherokees waren schon immer die besten Farmer des ganzen Landes gewesen, und die
Pawnees erweiterten ihre Getreidefelder ständig. Aushungern war also keine erfolgversprechende Alternative. Und zu allem Übel mußte das Konsortium auch noch feststellen, daß militärische Einschüchterungsversuche, das letzte Mittel, nur Gelächter auslösten. Man verstand bald den Grund der indianischen Heiterkeit. Es gab keine Möglichkeit, die Indianer mit Kanonenbooten einzuschüchtern, da die Vereinigten Staaten beide Küsten sicherten. Als man im Sommer ’83 entlang der kanadischen Grenze Truppen aufmarschieren ließ, sah Europa sich nicht nur den Indianern, sondern einer aufgebrachten US-Regierung gegenüber. Washington hegte keine Sympathie für die Indianer, mit denen man sich formell noch im Kriegszustand befand, aber das Letzte, was man statt eines unabhängigen Indianerlandes haben wollte, war eine europäische Machtbasis. Präsident Bayard ließ von seinem Außenministerium verkünden, daß die Vereinigten Staaten sich, falls die Drohungen gegen die Indianische Nation in die Tat umgesetzt würden, zu einer Invasion Kanadas gezwungen sähen. Die Monroe-Doktrin war keineswegs tot. Während die Geschäftemacher in London und Paris von den Indianern aufs Kreuz gelegt wurden, sahen die USA mit hämischem Grinsen zu. »Die Geschichte wiederholt sich auf ihre besondere Art, hat einmal ein Wasichu gesagt. Um ihre Revolution zu gewinnen, schlossen die Amerikaner einen Freundschaftsvertrag mit den Franzosen gegen die Engländer. Nachdem die Engländer geschlagen waren, brachen sie ihn schnell wieder. Wir haben mit den Europäern eine Vereinbarung geschlossen, um gegen die Amerikaner kämpfen zu können, wir werden diese Vereinbarung nicht brechen, aber die Europäer haben unser
Vertrauen zerstört, so daß wir ihnen nur noch Dinge verkaufen werden, die uns unmittelbaren Nutzen bringen. Die Hauptsache dabei ist, daß wir für sie interessant bleiben, damit die Wasichus aus Europa und die Wasichus aus Amerika sich ständig gegenseitig deswegen belauern, und nicht uns. Ihre gegenseitige Gier hält sie in Schach, während wir in Ruhe stark werden können.« Setter beendete seine Rede, damit die Häuptlinge diesen Gedanken unter sich besprechen konnten. Man saß auf fellbedeckten Bänken, die sich kreisförmig um Setter erhoben. Der hölzerne, einem Tipi gleichende Bau war zwanzig Meter hoch und besaß eine Öffnung an der Spitze, um den Himmel hereinzulassen. Er war errichtet worden, um die erste Konferenz aller Häuptlinge zu beherbergen, und sein Holz stammte aus allen Teilen der Indianischen Nation. »Laßt mich dieses sagen«, begann Black Horse, als er sich erhob. Seit den ersten Kriegstagen hatte er sich in manchem verändert. Seine Arroganz war einer stillen Zuversicht gewichen, die Narben des Sonnentanzes mochten dafür verantwortlich sein. »Wir verstehen, was du für uns tun willst, wenn du mit dem Wasichu sprichst. Aber wir wundern uns, was das sein soll, wenn du uns sagst, wir müßten eine Art Föderation von Nationen und Stämmen bilden wie die Wasichu. Müssen wir ihnen denn wirklich so ähnlich werden?« Setter nickte voller Sympathie und wandte sich den Senecas zu. Ein hochgewachsener Mann, der eine Brille trug, stand auf. »Die Wasichu haben es darin uns nachgemacht, und nicht umgekehrt«, verkündete er mit fester Stimme. »Die Liga des Langhauses war genauso eine Föderation. Dies ist eine sehr verwickelte Geschichte, aber ich will versuchen, sie einfach zu
erzählen. Als die Wasichukolonien sich zum ersten Mal zusammenschließen wollten, um vereint gegen ihre Feinde zu kämpfen, versammelten sie sich in der Konvention von Albany, einem Ort bei New York. Es gab große Unstimmigkeiten, auf welche Art ein solcher Zusammenschluß zu bewerkstelligen sei. Der weiseste Mann dort war Franklin, und er schlug vor, daß man uns, die Liga, zum Vorbild nehmen sollte. Die Kolonien waren aber noch nicht zum Kampf bereit, und so führte das Treffen zu nichts. Aber 1776, ein paar Jahre später, waren sie dann bereit, und Franklin wurde wieder gefragt, bei der Ausarbeitung der Gesetze für die neue Föderation zu helfen. Vieles von dem, was die Wasichu untereinander verabredeten, war nur eine Nachahmung der Liga. Ihr seht also, daß wir nicht dem Weg des weißen Mannes folgen, sondern nur uns selbst.« Der Seneca-Anwalt erklärte ausführlich die Struktur einer solchen Liga, die Funktionen von Friedenshäuptlingen und Kriegshäuptlingen, die Wahlverfahren und die Stellung der Frauen. Die Versammlung war beeindruckend. Viele Punkte glichen den Bräuchen ihrer eigenen Nationen, und man stieß begeisterte Rufe aus, wann immer sich Übereinstimmungen ergaben. Setter hörte zu und war doch mit seinen Gedanken nicht dabei. Der Seneca erschien ihm plötzlich wie ein Universitätsprofessor, nicht wie ein Indianer. Was ihn selbst anging, er würde niemals wirklich ganz hierhergehören. Er würde sterben, um die Nation zu verteidigen, bei deren Geburt er geholfen hatte, aber sein Geist gehörte auch anderen Menschen und Orten. Von Rom bis Bolivien gehörten Setters Herz und seine Erinnerungen der ganzen Welt. Es war diese Konferenz im Jahre 1883, die den Rahmen für die Verfassung der Indianischen Nation erarbeitete. Jede
Nation sandte wenigstens einen Repräsentanten in den Rat der Häuptlinge. Wenn es eine außergewöhnlich große Nation, wie etwa die der Sioux war, konnten auch die einzelnen Stämme innerhalb der Nation Häuptlinge in den Rat entsenden, soweit der Rat dem vorher mehrheitlich zugestimmt hatte. Für alle Beschlüsse bedurfte es einer Zweidrittelmehrheit. Auf diese Weise sollten die kleineren Nationen geschützt sein. Der Rat besaß die Macht, Kriege zu erklären. Er hatte nicht die Macht, Steuern zu erheben, aber da es allgemeiner Brauch war, mit den Armen zu teilen und Gemeinschaftsaufgaben freiwillig zu übernehmen, waren Steuern nicht unbedingt wichtig. Der Rat besaß keinerlei Befugnis, sich mit den internen Problemen der Nationen zu befassen, solange er nicht beschlossen hatte, daß ein solches Problem eine Gefahr für andere Stämme darstellte. Zu einem solchen Beschluß brauchte er eine Mehrheit von vier Fünfteln. Der Rat besaß keine Polizeimacht. Doch die Existenz der Dog Soldiers und anderer Kriegerbünde garantierte die Durchsetzung von Ratsbeschlüssen. Der Rat garantierte den Wasichu-Mormonen einen Häuptling. Die Kriegshäuptlinge wurden von den Kriegerbünden gewählt, doch keine Nation mußte einen Kriegshäuptling entsenden, wenn sie nicht wollte. Der Rat der Kriegshäuptlinge entschied, welcher Kriegsbund wie lange für den Schutz eines bestimmten Grenzabschnittes verantwortlich war. Häuptlinge wurden von den Bünden wie früher gewählt, entsprechend ihrem Erfolg im Kampf und danach, wie viele Krieger sie lebend heimbrachten. (Dies ist eine der Erklärungen dafür, warum They Fear His Horses einen letzten Vernich-
tungsangriff gegen Hayes’ Armee vermied. Ein Häuptling, der Siege um jeden Preis errang, wurde allgemein für krankhaft veranlagt gehalten.) Im nächsten Jahr erlag Häuptling Taylor aus Salt Lake City einem Schlaganfall. Wovoka blieb der Führer der Mormonenkirche, und es kam bald zu Neuerungen. Dem strikten Alkoholverbot wurde die Erlaubnis von Peyote zur Seite gestellt. Die meisten Präriestämme benutzten es sowieso und selbst einige der aus dem Osten, etwa die Tuscarora. Peyote half bei Visionen und im Kampf gegen den Whisky, den amerikanische Händler immer wieder über die Grenze schmuggelten. Tavibo wurde in der Mormonenhierarchie mit Moroni gleichgestellt. Joseph Smith erhielt indianische Vorfahren. Mormon selbst wurde zum Sohn von Wakon Tonka erklärt, dem Großen Geheimnisvollen. Mormons neue Aufgabe war die eines Bewahrers des Donnervogels. Wie man erwarten kann, packte eine große Zahl von Mormonen und verließ das Indianerland. Doch eine überraschend hohe Zahl, fast die Hälfte, war so beeindruckt von Wovokas monumentalem Ernst und blieb ihrem Glauben treu. Zusammen mit den Cherokees waren sie für die Einführung der Farmwirtschaft bei den Nationen und die Gründung der ersten landwirtschaftlichen Hochschulen verantwortlich. Mit Wovoka als Kirchenführer, Sitting Bull an der Spitze des Rates der Häuptlinge und Victorio als Führer der Kriegshäuptlinge, zog John Setter sich vom Lager der Nationen zurück, der Stadt, die sich schnell um den Konferenzbau zu entwickeln begann. Er setzte sich auf den Sugar Hill in Mchweaming mit einer Reihe brillanter junger Sekretäre zur Ruhe, die von seinen Lippen gespannt die Kunst der Außenpolitik erlernten. Sitting Bull blieb Häuptling der Nation bis zu seinem Tod
1890. Unter ihm wurden Eisenbahnlinien vom Lager der Nationen wie die Speichen eines Rades in alle Richtungen gebaut, die sich nur bogen, um den Weidegründen des Büffels auszuweichen. Die Europäer waren nicht in der Lage, hier den Lohn-Preis-Steuer-Kreislauf einzuführen, mit dem sie in China erfolgreich waren, aber sie hießen das Gold und das Silber willkommen, das ihnen der Handel mit der Indianischen Nation in großen Mengen einbrachte. They Fear His Horses baute etwas anderes. Jede Neuerung der Waffentechnologie wurde von seinen Kriegern sofort getestet. Seine Dog Soldiers waren die ersten, die mit dem neuen Hotchkiss-Gewehr ausgerüstet wurden, einem gasgetriebenen Maschinengewehr. 9-inch-Krupp-Kanonen ersetzten die Howitzer des Bürgerkriegs. Stoßtrupps, die von den Vereinigten Staaten zu Überfällen ermuntert wurden, fanden ein Ende, das nicht zur Nachahmung anreizte. Als They Fear His Horses zum Häuptling der Nation gewählt wurde, hinterließ er eine Kriegsmaschine, die selbstverständlich als erste in der Welt eine echte Luftwaffe aufbaute. Besucher ohne Gewehre waren immer willkommen. Die Indianer lieferten einen bedeutenden Beitrag zur Weltkunst, erst als Thema und dann als Inspirationsquelle. Edgar Degas reiste nach New Orleans, um seine Verwandten zu besuchen; er konnte einem Ausflug in die Indianische Nation nicht widerstehen, wo er zwei Jahre malte, Lakota-, Crow- und Siksika-Frauen bei ihren täglichen Arbeiten. Andere Künstler folgten. Remington, Manet, Pissarro, Cassatt, Gauguin, der für immer blieb und in neuerer Zeit Benton, Dali und Riggs malten alle die Indianer. Doch es war erst Picasso, der als Maler die indianische Kunst selbst anerkannte und in sein Werk einbezog – Lakota-Piktographien, Chilka- und Navajo-
Decken, Iroquois-Masken, Pueblo-Sandmalereien, MaklakSkulpturen, Zuni-Schmuck. Pollack, Mondrian und Moore waren weitere Künstler, die die indianische Vorstellungswelt erkundeten. Die immer größeren Holz- und Stahl-Tipis, die sich über die Prärien ausbreiteten, wurden von den Architekten ignoriert, bis Ludwig Mies van der Rohe in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts seine folgenschwere Reise unternahm. Erstaunlicherweise wurde außer Abenteuergeschichten wenig über die Indianische Nation geschrieben, bis sich zu Beginn dieses Jahrhunderts Jack London und später Ernest Hemingway dieses Themas annahmen. Vielleicht lag das am Fehlen einer eigenen Literaturtradition der Indianer oder am Einfluß von John Setter, der vor seinem Tod erklärte: »Die große Privatbibliothek ist der Schatz des intelligenten Idioten.« Oder vielleicht lag es auch an den schlechten Erfahrungen mancher Schriftsteller, die denen von Friedrich Engels geglichen haben mögen. Setters alter Freund in Washington, Morgan, publizierte ein Buch namens »Ancient Society«. 1877 erschienen, begeisterte es Marx und veranlaßte Engels, Morgans Werk als Grundlage für sein »Vom Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« zu nutzen, das sieben Jahre später herauskam. Es handelte überwiegend von den Irokesen und der Verfassung der neuen Indianischen Nation. Engels jubelte: »Und was für eine wunderbare Verfassung das in ihrer kindlichen Einfachheit ist! Keine Soldaten, keine Gendarmen oder Polizisten, keine Adeligen, Könige, Präfekten, Regenten oder Richter, keine Gefängnisse, keine Gerichtsprozesse.« Er konnte kaum erwarten, dieses Kriegerparadies selbst zu besuchen. Über anarchosyndikalistische Schriften rümpfte
man in marxistischen Kreisen plötzlich nicht mehr die Nase; der Urkommunismus geriet ungeheuer in Mode. Bei einer Reise von Vera Cruz aus hatte Engels das Glück, sowohl They Fear His Horses als auch John Setter persönlich kennenzulernen. Seine Begeisterung wuchs. Trotz der Tatsache, daß die indianische Regierungsform sich direkt aus einer jahrtausendealten Tradition des Gemeinschaftslebens entwickelt hatte, glaubte Engels, hier den Kommunismus im Rohzustand gefunden zu haben. Er wußte nicht, wie roh! Nachdem er seine Notizbücher mit Beobachtungen über das Fehlen jedes Privatbesitzes und der Teilung aller Güter auf der Grundlage von »Jedem nach seinen Bedürfnissen« gefüllt hatte, schloß Engels sich einer Dog-Soldier-Patrouille an der texanischen Grenze an. Wie auf Bestellung wurde die Patrouille von einem Trupp Texas-Rangers angegriffen, der Jagd auf Indianerskalpe machte. Gall, der alte Lakota, führte die Indianer. Er lockte die Rangers in eine Schlucht, ließ seine Männer kehrtmachen und den Feind niederschießen. Niemand entkam. Engels stürzte erschöpft vom Pferd, sein Reitanzug von Schweiß durchtränkt. Als die Indianer sahen, daß ihm nichts Ernstes fehlte, wandten sie sich wieder den Texanern zu, um den Leichen alles Wertvolle abzunehmen. Engels schleppte sich zu Gall, der auf einer Leiche hockte und ihm den Rücken zuwandte. Der große Theoretiker sprach den Häuptling an, um seine Aufmerksamkeit und einen Schluck Wasser zu erhalten. Gall hörte ihn und drehte sich um. Engels’ Magen sprang wie ein Kaninchen und entleerte sich vor die Füße des Häuptlings. Gall war gerade dabei, das Herz des Texaners zu essen. Blut bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts, seine Hände und seine Brust. Die Leiche unter
ihm war aufgeschlitzt, und die Eingeweide hingen nach allen Seiten heraus. Gall kaute gleichmütig weiter, während er dem Weißen gut zuredete. Die Tatsache, daß Gall sich nur die Tapferkeit des toten Mannes einverleiben wollte, indem er sein Herz verzehrte – ein zu dieser Zeit selten gewordener, aber von einigen alten Kriegern noch zu Ehren tapferer Feinde praktizierter Brauch –, bot Engels keine ausreichende Erklärung. Er kehrte auf dem schnellsten Weg nach London zurück. Schon die leiseste Erwähnung von Indianern verursachte ihm fortan Magenkrämpfe. Für die Vereinigten Staaten war jedoch die Hauptsache, daß man die Indianer als Kommunisten etikettiert hatte. Wenn es in den Vereinigten Staaten seit den 1870ern eine staatstragende Emotion gab, dann die Kommunistenhatz. Mißtrauen gegenüber den Indianern wuchs ständig, bis nur noch die überlegene Bewaffnung der Dog Soldiers einen amerikanischen Angriff abschreckte. Besonders der Westteil der USA war von Furcht vor der roten Gefahr besessen. Als der Kongreß nach der Schlacht in den Gelben Hügeln strengere Einwanderungsgesetze verabschiedete, war die Bevölkerung von New York City bereits zu über 50 Prozent im Ausland geboren. Die meisten der Einwanderer dort waren Deutsche und Iren. Die neuen Immigranten aus Italien und Mitteleuropa gingen dorthin, wo man sie eher willkommen hieß, in die relativ leeren pazifischen Staaten. Besitzgierig und gleichzeitig voller sozialistischer Sehnsüchte und mit großen zu versorgenden Familien, halfen die neuen Amerikaner dabei, ein reiches und turbulentes Land entstehen zu lassen. Es gab nur eine Möglichkeit, merkten sie schnell, dem Mißtrauen der aggressiven staatlichen Autoritäten zu entgehen. Man mußte lauthals
allen Vorstellungen des Kommunismus und Anarchismus abschwören. Also lief durch Kalifornien, Oregon, Nevada, Washington und Alaska eine Welle der Radikalenhatz. Keine Siedlung war zu winzig, um nicht wenigstens einen Radikalen zu haben, den sie teeren und federn konnten. Hawaii hatte 1901 seine erste Lynchjustiz. Glocken läuteten, und die Bürgermilizen liefen zu den Waffen, als die Kunde von der russischen Revolution die Pazifikstaaten erreichte. Jeder war sofort überzeugt, daß die Bolschewiken mit ihren roten Fahnen bald in Alaska einfallen würden. Als die Invasion nicht erfolgte, war man sich sicher, daß nur die eigene Wachsamkeit das Schlimmste verhindert hatte. Westamerika fühlte sich in seiner Hysterie bestätigt und erklärte sich zur Bastion der Demokratie. Man brauchte keine Zimmermann-Depesche, um unter Alpträumen von ungewaschenen kommunistischen Horden zu leiden, die sich über die Zinnen dieser Bastion schwangen. Die Depesche fiel am 17. Januar 1917, drei Jahre nach Kriegsausbruch, in englische Hände. Die Vereinigten Staaten hatten sich bisher aus dem Krieg herausgehalten, weil sie sich den Briten nicht besonders verbunden fühlten. Amerika unterhielt jedoch eine weltweite Flotte, und ein unbegrenzter UBoot-Krieg drängte es auf die Seite der Alliierten. Ein Dechiffrierexperte namens De Grey entschlüsselte den numerischen Code des Telegramms, das der deutsche Außenminister Zimmermann an Graf von Bernstorff, den deutschen Botschafter bei der Indianischen Nation, gesandt hatte. Es lautete: »Wir haben vor, mit dem 1. Februar einen unbegrenzten UBoot-Krieg zu eröffnen… Wir schlagen der Indianischen
Nation ein Bündnis auf der folgenden Basis vor: Gemeinsame Kriegführung, gemeinsame Friedensverhandlungen, großzügige finanzielle Unterstützung und ein gemeinsames Ziel, daß die Indianische Nation ihre verlorenen Gebiete Kalifornien, Nevada, Oregon und Washington zurückerhält… Informieren Sie unter äußerster Geheimhaltung den Häuptling der Nation, sobald der Ausbruch des Kriegs mit den Vereinigten Staaten sicher ist, und schlagen Sie ihm vor, daß er aus eigener Initiative Japan zu sofortigem Beistand auffordern und gleichzeitig zwischen Japan und uns vermitteln soll… Zimmermann.« Die Drohung kam nicht aus dem Norden, nicht einmal von Weißen, sondern aus Ost und West und von den Gelben und Roten! Die Vereinigten Staaten standen mit ihrer ganzen Macht in weniger als einer Woche an der Seite Englands und Frankreichs. Pferde und Wagen patroullierten ständig entlang der Grenze zum Indianerland, um sofort den indianischen Angriff auszumachen. Natürlich gab es keinen solchen Angriff. Der deutsche Vorschlag war von beinah infantiler Gutgläubigkeit. Die Indianer erinnerten sich nur zu gut an den Kaiser als den Mann, der in den Botschaften von Berlin ein von ihm in Auftrag gegebenes Gemälde kursieren ließ. Das Bild zeigte nach einem Entwurf von kaiserlicher Hand einen tollwütigen Wovoka, der auf einem Thunderbird über die brennenden Städte Amerikas und Europas ritt. An seiner Seite waren ein Chinese und ein Japaner, die vor Lust geiferten, während sich die unheilige Dreifaltigkeit einer Gruppe spärlich bekleideter Damen näherte, die wohl die weißen Nationen symbolisieren sollten. Ein Erzengel, der das Ganze mit ansehen mußte, rief als Bildunterschrift: »Völker der weißen Rasse, schützt euren kostbarsten Besitz!« Wilhelm war bei seinen potentiellen Bundes-
genossen alles andere als populär. Anders sah es mit den Beziehungen zwischen der Indianischen Nation und Japan aus. They Fear His Horses legte die Würde des Häuptlings der Nation 1910 nieder und richtete einen Fünfjahresturnus für dieses höchste Amt ein. Zu dieser Zeit waren japanische Militär- und Handelsmissionen in den Prärien ein vertrauter Anblick. Die ersten Eisenhütten der Tsistsitas wurden mit japanischer Hilfe errichtet. Diese Freundschaft zwischen den Indianern und Amerikas stärkstem Rivalen im Pazifik war für die Gemüter in Sacramento und Washington Quelle beständiger Sorgen. Zimmermanns Trugschluß wurde von den Vereinigten Staaten weit genug geteilt, um sie zur Vereinbarung von Sacramento im Juni 1918 zu veranlassen. Zum ersten Mal erkannten die USA formell die Indianische Nation an. Als ob sein Werk nun endlich vollendet sei, starb in diesem Sommer, von Ehren überhäuft und im Alter von neunzig Jahren Where The Sun Goes, ein Mandane, der auch als John Setter bekannt geworden war. Entsprechend seinem letzten Wunsch verbrannte man seinen Leichnam und streute die Asche in die vier Winde. Die zwanziger Jahre vergingen für die Vereinigten Staaten wie ein Rausch. Samoa wurde Teil des amerikanischen Seereiches, als Teil der Kriegsbeute, und seine Entwicklung beflügelte die Spekulation im Pazifik. Die Wirtschaft blühte. Die Briten hatten den USA als Kompensation für den Kriegseintritt Bermuda und Jamaika überlassen, und diese Neuerwerbungen verhalfen auch den Oststaaten zur Hochkonjunktur. Die Welt hatte nie zuvor ein solches Seereich erlebt. Selbst Präsident Coolidge war es nicht zu geschmacklos, seine Wahlkampagne mit einer Kapitänsmütze zu führen. Präsidentschaftsanwärter wie Franklin Roosevelt machten den Dienst für das Marine-
ministerium zum festen Bestandteil ihrer Karriere. In der Indianischen Nation, ohne eine Flotte oder ein Kolonialreich, schien der Fortschritt stillzustehen. Der Kapitalzuwachs betrug kaum ein Hundertstel des großen Nachbarn, da die Bergarbeiter ihre Zeit zur Hälfte damit verbrachten, Besänftigungszeremonien für Mutter Erde abzuhalten. Selbst Ölquellen wurden mit heiligen Männern umringt, die ständig die Erdgeister beschwichtigten. Familien fertigten sich weiterhin selbst ihre Kleider und versorgten sich durch Jagd und Landwirtschaft im Subsistenzverfahren. »Sie können sich nicht verändern«, schrieb National Geographic als Bildunterschrift zum Photo eines indianischen Piloten, der seinen Medizinbeutel an den Steuerknüppel seiner Maschine hängte. Der dazugehörende Artikel erläuterte breit, daß trotz all ihrer Errungenschaften für die Indianer die Wohltaten der westlichen Zivilisation noch immer unerreichbar geblieben waren. Ihre Logik war anders, ihre Farben, ihre Emotionen, ihre Bedürfnisse, ja selbst ihre Definition dessen, was real oder unreal sei, blieben dem Weißen unterlegen. Die Amerikaner fühlten sich wie ein Lehrer, der unter einem extrem langsamen Schüler leidet. Doch ein paar Jahre später, als die zweite Große Depression über das Land hereinbrach, Staubstürme von Texas bis Südkalifornien fegten und die Bankguthaben von unsichtbaren Winden davongetragen wurden, betrachtete Amerika die Indianische Nation mit offenem Neid. Dort war das Land fruchtbar und unverwüstet. Die ignoranten Wilden, die dort hausten, merkten praktisch von der weltweiten Wirtschaftskrise nichts, weil ihre Ökonomie fast ausschließlich nur der Erfüllung ihrer eigenen Bedürfnisse diente. Banken existierten nicht, weil man die Idee, Geld zu horten, als unanständig
empfand. Fabriken wurden als kommunale Einrichtungen betrieben, zu der sich die Menschen eines Stammes zusammenschlossen, nachdem sie die Idee ausführlich diskutiert und darüber abgestimmt hatten. Und Fabriken dienten im allgemeinen nur der Erzeugung von Produkten für andere Indianer. Die Vorstellung, fremde Völker als Märkte zu benutzen und sich selbst als Lieferant von Rohstoffen ausnutzen zu lassen, fand bei den Indianern nirgendwo Gegenliebe. Das Endresultat war, wie Joseph Kennedy schrieb, daß die »Indianer einfach zu dämlich waren, um unter den Konsequenzen des modernen Kapitalmarktes zu leiden«. Es gab einige Versuche, besonders vom Gouverneur von Louisiana, Huey Long, einen Krieg mit der Indianischen Nation zu provozieren, um damit dem Arbeitslosenheer Jobs zu verschaffen. Wenn Hoover, der asiatische Ausbeutungsexperte, noch im Weißen Haus gesessen hätte, wäre Long vielleicht erfolgreich gewesen. Aber der neue Präsident war Franklin Roosevelt, eine starke Persönlichkeit, der erklärte, daß »Longs Vorschlag zum Arbeitslosenproblem ihn zum gefährlichsten Mann Amerikas machte«. Roosevelts Bemerkung zeugte nicht nur von Idealismus. Charles Lindbergh hatte ihm berichtet, daß die indianische Air Force der deutschen Luftwaffe nicht nachstand. Amerika behalf sich also mit zivilen, statt militärischen Arbeitsbeschaffungsprogrammen, während Präsident Roosevelt eine Politik der guten Nachbarschaft mit dem Häuptling der Nation, dem Inde Francisco, betrieb. Zum ersten Mal wurde ein amerikanischer Präsident ins Lager der Indianischen Nation eingeladen, wo man zu seinen Ehren einen Sonnentanz abhielt. »War ziemlich wie ein Virginia Reel, würde ich sagen«, berichtete Roosevelt den Amerikanern beim nächsten Kamingespräch, »außer den
Skalps natürlich.« Am 7. Dezember 1941 fand die Ära der guten Beziehungen ein Ende. Ein imperialistisches Japan stürmte durch das amerikanische Pazifikreich gegen Kalifornien. Hirohito verlangte zur gleichen Stunde wie Roosevelt indianischen Beistand. Häuptling der Indianischen Nation war zu dieser Zeit der Tsistsita Water Knife, ein großer, schwerer Mann, nicht unähnlich einem dunkelhäutigen Washington, bedächtig und sicher in seinen Überlegungen. Auf Hunderten indianischer Flugplätze rollten die Crews ihre Maschinen auf die Startbahnen. »Was würdest du sagen, wenn wir uns den Japanern anschließen?« fragte er seinen Kriegshäuptling Buffalo Rider, einen Lenape. »Die Deutschen haben in Europa gewonnen, solange ihnen nicht der Treibstoff ausgeht. Die Japaner kontrollieren den Pazifik. Bekommen sie unser Öl und unsere Flugzeuge, wird es den Engländern und Amerikanern schwerfallen, lange durchzuhalten«, sagte Buffalo Rider. Er war noch jung, mit Haaren bis auf die Hüfte, eine typische Erscheinung für die kühnen Offiziere der Armee. »Du klingst nicht gerade enthusiastisch«, meinte Water Knife. Es gehörte sich für einen Krieger, bescheiden zu sein, aber der Lenape klang ungewöhnlich bedrückt. »Das bin ich auch nicht. Vor einer Stunde hätte ich dir vielleicht eine andere Antwort gegeben, daß wir bereit und willig an die Seite der Japaner treten sollten. Du darfst nicht vergessen, daß ich viele japanische Freunde habe. Aber inzwischen habe ich mich an die oberste Pflicht eines Kriegshäuptlings erinnert. So viele Leben seiner Männer zu retten, wie er nur kann. Ich würde viele Indianer töten, wenn ich zu einer Kriegserklärung rate, nicht wahr? Wir würden
nichts dafür bekommen als unsere Rache, und das ist es nicht wert, nehme ich an.« »Rache für was?« fragte Water Knife. Die Frage ließ Buffalo Rider verstummen. Er dachte eine Minute nach, hob die Hände und grinste. An diesem Abend sprach Water Knife mit Präsident Roosevelt. Die Indianische Nation würde sich auf keiner Seite am Krieg beteiligen, erklärte er ihm. Sie würde sich gegen jede Nation verteidigen, die ihre Grenzen überschritt. Als Roosevelt meinte, das wäre Unterstützung für die Japaner, erklärte Water Knife, es sei genau das Gegenteil. Es bedeutete, daß eine japanische Invasion der Weststaaten automatisch in ihrem Hauptziel scheitern müsse, da der Rest des Feindes durch eine feindliche Indianische Nation abgesichert sei. Als Beweis ihrer guten Absichten würden die Indianer allen kriegführenden Staaten ein Ölembargo erklären. Auch dieser Schachzug hätte nur nachteilige Auswirkungen für die Achsenmächte. Außerdem hatten die Vereinigten Staaten sich, solange sie neutral waren, genauso verhalten. Aber er würde keinesfalls weiter gehen. Am anderen Ende der Telephonleitung blieb es eine ganze Weile still, und dann sagte der Präsident: »Dandy!« Es gab keine japanische Invasion, und es gab keinen Sieg der Achse. Statt dessen gab es die Vereinten Nationen, in denen die Vereinigten Staaten für jeden ihrer beiden Teile eine Stimme erhielt. Es war nicht der einzige Fortschritt für die Weststaaten. Die 20. Verfassungsergänzung legte eine abwechselnde Präsidentschaft zwischen dem Osten und dem Westen fest. Inzwischen umfaßte das Pazifische Reich die Karolinen, Okinawa und Midway. Als Südkorea von nordkoreanischen Kommunisten bedrängt wurde, eilte man ihm von amerikani-
scher Seite sofort zu Hilfe, vom größten Teil der UN applaudiert. Die Indianische Nation wurde kein Mitglied der Vereinten Nationen. Die Frage, ob man sich zur Mitgliedschaft entschließen sollte oder nicht, wurde in allen Lagern des Landes diskutiert, vom Great Fox River im Land der Lakota bis Goyya-thle’s Rifle in den Mesas der Inde, aber man entschied, daß es keinen Grund für Indianer gab, in fernen Ländern die Kriege anderer Völker zu kämpfen, was man für eine der Hauptverpflichtungen aus der UN-Mitgliedschaft hielt. Es war eine Sache der Wasichu, und wie konnte man schon die Streitereien der Wasichu verstehen? Die Amerikaner sagten immer, daß die Indianer verrückt seien, weil sie keinen richtigen Staat hätten, und die Indianer fragten zurück, warum sie einen Staat haben müßten. Hier lebte die eine Nation, und dort lebte die andere Nation. So einfach war das. Die Weigerung der Indianischen Nation, den Vereinten Nationen beizutreten, kühlte die Beziehungen zu den USA wieder ab. Auch Sowjetrußland war darüber nicht glücklich, weil es die Indianer nicht überreden konnte, sich der anderen Seite anzuschließen. Die beiden Großmächte starrten die Indianer drohend an und wedelten bedeutungsvoll mit ihren Atombomben. Im Oktober 1952 rief der Häuptling der Nation, Orange Moon, die Weltpresse in das Auditorium des neuen vierzigstöckigen Regierungstipi der Hauptstadt. Der phlegmatische Maklak erzählte den Reportern, daß indianische Wissenschaftler ihre eigene Atombombe entwickelt hätten. Die Korrespondenten waren schockiert. Wann ist die Bombe getestet worden? Sie ist nicht getestet worden, erklärte Orange Moon. Wann würde sie getestet werden? Orange Moon hob die Augenbrauen. Niemals, sagte er. Wer würde schon eine so
furchtbare Sache entfesseln, nur um auszuprobieren, ob sie funktioniere? Mutter Erde war ein viel zu kostbarer Geist, sie leichtfertig zu beleidigen. In Windeseile kamen Telex-Botschaften aus Washington, Moskau und London. Sie alle verlangten, daß die Bombe getestet würde, damit man wissen könnte, ob Orange Moon die Wahrheit sagte. Er ließ antworten, daß seine Wissenschaftler ihm gesagt hätten, die Bombe funktioniere, und ihm reiche das aus. Weitere Botschaften kamen herein und boten den Indianern Testorte an, damit sie ihr eigenes Land nicht verwüsten müßten. Orange Moon verkündete angewidert, daß er selbstverständlich erst recht nicht dafür verantwortlich sein wollte, anderer Menschen Land zu ruinieren. Die Indianer hatten die Bombe, und damit war die Sache erledigt. Monatelang amüsierten sich die Zeitungen der Welt über die indianische Papierbombe, aber am Ende glaubten sie doch alle selbst daran. Auf gewisse Art war die Bombe wie die Indianer. Während die westliche Zivilisation, die sozialistischen Volksrepubliken, die Dritte Welt, die Nationalprodukte, das Pro-Kopf-Einkommen, die Inflation und der freie Welthandel unaufhaltsam ihrem krisengeschüttelten Fortschritt folgten, waren die Indianer ein fast unglaubwürdiger Affront. Trotz aller Beweise des Menschen des 20. Jahrhunderts, mit denen er sich bestätigte, daß er auf dem richtigen Weg war, existierten gleichzeitig die Indianer und hatten bereits fast ein Jahrhundert als Nation existiert. Sie hatten seit ihrer Befreiung keinen Krieg geführt, keine ökonomische oder psychische Massendepression erlebt, niemals Zeichen intellektueller Unzufriedenheit erkennen lassen. Der Grund lag auf der Hand. Sie hatten die Stagnation dem Fortschritt vorgezogen. Doch die Situation
glich ein wenig der von Cro-Magnon-Menschen, die plötzlich eine Insel von glücklichen Neandertalern zwischen sich entdeckten. Die USA und der Rest der Welt waren gezwungen, die Sache zu glauben, aber sie gefiel ihnen nicht.
*** »Ihre Geschichte hat Sie ins Meer zurückgeführt wie eine umgekehrte Evolution. Sie endeten vor den Grenzen Asiens und glaubten, dort kämpfen zu müssen. Das war nicht rational, aber logisch. Ich nehme an, falls die Philippinen nicht amerikanischer Bundesstaat gewesen wären, hätten Sie nie gegen die Vietnamesen Krieg geführt. Sie haben gewonnen und versuchen, ein Zuhause auf diesem Kontinent zu finden. Vielleicht haben Sie sogar friedfertige Absichten, aber Sie sind so von Gewalt infiziert, daß Sie unseren obersten Häuptling umbringen und uns dafür die Schuld geben können. Nun sind Sie sogar gewillt, einen Teil dieses Landes zu zerstören, um alles davon für sich zu gewinnen. Warum? Weil Sie und die Sowjets Ihre eigene Art von Frieden geschlossen haben, mit dem Sie sich gegenseitig das Töten erlauben, solange Sie nur in der eigenen Einflußsphäre bleiben. Die Russen ermorden Tschechen und Chinesen. Da ist es nur fair, daß Sie Indianer umbringen. Der Vorteil, den Sie uns gegenüber haben, ist, daß Sie so viele Menschen verlieren können, ohne sie zu vermissen. Und daß jeder Häuptling seit Orange Moon geschworen hat, die Indianische Nation würde niemals ihre Atomwaffen einsetzen, bevor sie nicht atomar angegriffen wird. Meine letzte Rücksprache mit dem Lager der Nationen hat dies geändert. Der neue Häuptling hat die Handlungsfreiheit, jederzeit Nuklearwaffen einzusetzen, sobald ihm die Unver-
sehrtheit der Indianischen Nation in Gefahr erscheint. Er glaubt, daß diese Position beim erfolgreichen Abschluß unserer Gespräche hilfreich sein wird, weil sie solche Extremisten entmutigt, die einen Präventivschlag gegen Indianische Nation befürworten.« Die Reihe von Gesichtern auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches zeigte schockierte Reaktionen, seit Holds Eagles mit seiner Rede begonnen hatte. Einen Augenblick lang sagte niemand ein Wort, während die Stenographen den letzten Satz des Eröffnungsstatements heruntertippten. Es war das 20. Treffen, und die Vereinigten Staaten hatten dazu ein Ultimatum für den Rückzug der Indianer aus den Nordterritorien vorbereitet. Das konnte man jetzt aus dem Fenster werfen. »Das ist gegen Ihre Religion«, brach es aus Nielson heraus. »Sie dürfen doch Mutter Erde nicht verletzen.« »Es hat diesbezüglich eine neue Offenbarung gegeben«, erklärte Holds Eagles. Harry Moore verzog den Mund. Die beiden Indianer warteten auf eine Antwort, die offenbar nur zögernd kam. Der polierte Tisch spiegelte zwei Miniaturfahnen, eine mit 55 Sternen und 13 Streifen in Rot, Weiß und Blau, die andere mit einer roten Sonne in einem weißen Ring auf einem grünen Feld. »Ich schlage vor, daß wir uns zurückziehen und die Implikationen dieser Erklärung der indianischen Regierung diskutieren«, meinte Moore schließlich. Tatsächlich gingen dann aber die Indianer, von ihrem Presseführer begleitet, während Nielson und sein Stab sich in den Sesseln zurücklehnten. »Puh! Wo sind all die schönen Worte geblieben? Heute hat er Tacheles geredet«, meinte jemand aus dem Justizministerium.
»Vielleicht hat er zu dick aufgetragen. Vergewissern wir uns beim Rat der Häuptlinge und hören, ob sie diese Drohung tatsächlich mitmachen«, meinte der Flottenchef und klatschte in die Hände. Er stürzte enthusiastisch aus dem Raum. »Harry«, sagte der Präsident. »Ja?« »Harry, die Dinge laufen nicht so, wie du gesagt hast, daß sie laufen würden. Nichts hat geklappt. Hast du gestern ferngesehen, die Demonstrationen in New York, sogar in Sacramento?« »Wir müssen schnell handeln, da bin ich einer Meinung, Mr. Präsident.« Ein Sicherheitsmann hüstelte und machte sich auf den Weg nach draußen. »Moment«, rief Nielson. Es war ein Befehl, etwas für den Präsidenten sehr Ungewöhnliches. »Ich will, daß jeder folgendes hört: Harry, du hast gesagt, daß wir die Sache ohne jeden größeren Schaden über die Bühne bekämen. Sie würden nie eine Rakete in die Luft bekommen, hast du gesagt. Ich halte das zur Zeit nicht mehr für wahrscheinlich, wenn Holds Eagles die Wahrheit gesagt hat. Ich mag ein Narr sein, aber ich bin auch der Präsident. Ich lasse nicht die halbe USA von der Weltkarte bomben, nur um herauszubekommen, ob du recht hattest. Vielleicht habe ich mein Leben größtenteils auf den Inseln und mit Rosenzüchten in Pasadena verbracht, aber ich werde nicht als der Idiot in die Geschichte eingehen, der die größte Nation der Erde ruiniert hat. Hast du mich verstanden, Harry?« »Ja, Mr. Präsident.« »Ich beginne auch etwas zu riechen, Harry, und das stinkt.« Das Gesicht des Generalbundesanwalts überzog sich mit
peinlicher Röte. »Ich verstehe nicht, Mr. Präsident. Du läßt die Vereinigten Staaten von einem Botenjungen erpressen. Es gibt keinen Grund, unseren ursprünglichen Plan aufzugeben. Wir haben das alles doch schon durchgespielt. Wir haben die größte Militärmaschine der Welt und das größte Militärbudget. Das müssen wir schließlich irgendwie rechtfertigen. Zum ersten Mal haben die Indianer nicht nur keine europäischen Verbündeten, sondern wir haben auch noch die Zustimmung der Russen. Dies ist die größte Chance, die sich den Vereinigten Staaten in den letzten hundert Jahren geboten hat. Außer wenn du Gefallen an hundert Jahren voller Amerikaner – fünfhundert Millionen davon – findest, die wie Vieh an die Küsten gepfercht werden, damit ein paar Stammeshorden in Ruhe Steinzeit spielen können. Niemand hat je gesagt, daß es eine nette Sache ist, Präsident zu sein.« »Tatsächlich ist es ja eine Entscheidung, die viele Präsidenten in der Vergangenheit auch schon treffen mußten«, bemerkte ein aus Harvard beurlaubter Präsidentenberater. »Washington, Jackson, Harrison, Adams, Grant, alle mußten sie die gleiche Auseinandersetzung um das gleiche Ziel führen – sichere Grenzen.« »Das habe ich alles schon einmal gehört«, erwiderte der Präsident. »Sie haben übrigens jemanden ausgelassen: Hayes. Sobald wir etwas vom Indianischen Rat erfahren haben, lassen Sie es mich wissen. Bis dahin vertage ich die Sitzung.« Der Präsident fuhr mit dem kleinen Aufzug in den Wohnbereich des Ostflügels hinauf. Eine Galerie seiner Vorgänger blickte aus ihren Rahmen auf ihn herab, als er kopfschüttelnd durch den Korridor ging. Am Ende des Ganges hing ein Geschenk der Anheuser-Busch-Company, ein Gemälde von Custers letzter Schlacht, mit dem General
lebensgroß in der Mitte, die Pistole auf ein imaginäres Ziel über Nielsons linker Schulter gerichtet. Das Gemälde erinnerte den Präsidenten daran, daß von den Männern auf seiner Seite des Verhandlungstisches nur er jemals von Mann zu Mann mit braunen Guerillas den Krieg erlebt hatte. Er war fast ein Fossil in dieser Hinsicht. Custer sah sehr heldenhaft auf seinem kleinen Hügel aus, umgeben von tausend angreifenden Indianern. Aber so war der Krieg nicht. Es war eigenartig, aber er spürte, daß Holds Eagles der einzige andere Mann im Raum war, der das wußte. So war es nicht im geringsten. Der Admiral berichtete dem Generalbundesanwalt zuerst. Der Rat hatte alles bestätigt und autorisiert. »Haben sie den neuen Häuptling der Nation bekanntgegeben?« erkundigte sich Moore sofort. »Nichts da. Es war eines der üblichen Statements. Ich verspreche Ihnen, daß die Übertragungswagen der Sender uns hier bald die Zufahrt blockieren, wenn die Presse erst geschaltet hat. Jetzt oder nie, heißt es. Böse Zeiten für einen Präsidenten, der anfängt, unter Selbstzweifeln zu leiden. Was ist mit der Idee, die Sie mir neulich angedeutet haben?« »Überlassen Sie das nur mir«, meinte Moore. Während des letzten Monats war Liz Carney aufgeblüht. Als der schwarze Wagen mit dem Diplomatenkennzeichen an der Ecke des Pressehauses hielt, strahlte sie wie ein Schulmädchen. Sie stieg nach hinten zu Holds Eagles. Vorne saßen zwei Dog Soldiers. »Laß uns zu mir fahren, damit du mir alles in Ruhe erzählen kannst«, schlug sie vor. »Leider nicht«, wehrte er ab. »Die Dinge sind in Bewegung. Ich wollte nur einen kurzen Augenblick mit dir sprechen,
dann muß ich zurück in die Botschaft.« Sie blickte zu den grimmigen Dog Soldiers und dann auf die Waffen neben den Sitzen. »Ich sehe, was los ist. Im Weißen Haus ist der Teufel los, kann ich dir sagen. Nachdem du weg warst, muß es Krach gegeben haben, meinen die Gerüchte. Willst du mir etwas Bestimmtes sagen?« »Ja.« »Etwa, daß ich dich längere Zeit nicht sehen werde, ja?« »Es tut mir leid. Ich kann dich bei dir zu Hause absetzen, aber ich muß sofort zurück.« »Danke. Na, es war schön, solange es gedauert hat. Es konnte nicht ewig dauern. Bevor ich in Tränen ausbreche, laß mich lieber professionell werden und noch ein paar Fragen stellen. Meine Jahre als Reporterin sind schließlich nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich glaube, ich habe etwas herausgefunden. Insbesondere, wer der neue Häuptling der Nation ist.« Die Dog Soldiers auf den Vordersitzen fanden das entschieden nicht zum Lachen. »Wer?« fragte Holds Eagles. »Du natürlich«, sagte sie stolz. »Es ist so einfach wie das ABC. Es gibt keine geheime, nicht abzuhörende Nachrichtenverbindung zwischen deiner Botschaft und dem Rat der Häuptlinge. Das war nur ein Trick. Alles, was sie bei dir zu Hause machen, ist, generell mit allem übereinzustimmen, was du hier erzählst, wie wild das auch sein mag. Du bist kein Diplomat, du bist der echte Bursche, der Boß vom Ganzen.« Holds Eagles lächelte. »Glaubst du das wirklich? Ich empfinde das als großes Kompliment.« »Es liegt so auf der Hand, wie nur irgendwas, sobald man einmal die Perspektive gewechselt hat. Nur auf diese Art
ergibt alles einen Sinn.« Die Limousine bog in eine vertraute Straße ein. »Hier sind wir«, meinte Holds Eagles. Sie hielten vor dem Haus, während das übliche Verfolgerauto an der Ecke wartete. »Trotzdem ist es eine verrückte Theorie.« »Ich weiß«, sagte Liz. »Deshalb werde ich sie auch für mich behalten, bis wir uns wiedersehen. Leb wohl.« Sie sprang aus dem Wagen und lief schnell ins Haus. Holds Eagles wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann ließ er die Limousine weiterfahren. Der Wagen an der Ecke folgte. Die Limousine fuhr mit ihrem Schatten im Schlepptau durch Georgetown. Der Dog Soldier am Steuer beschleunigte und verlangsamte probeweise, um die Reaktion des dunklen Sedans zu testen. Als sie auf eine der breiten Avenues einbogen, die zurück in die City führten, bemerkte der Fahrer: »Jetzt sind es zwei. Sie holen auf.« »Versuch nicht, sie abzuschütteln. Bleib dicht bei anderen Wagen«, antwortete Holds Eagles. Ein drittes und ein viertes Auto setzten sich jetzt vor sie. Alle waren unauffällige Sedans mit zwei Männern. Der Dog Soldier neben dem Fahrer zog eine Maschinenpistole unter dem Sitz vor. Holds Eagles hob eine kleine, schwere Schatulle auf seinen Schoß und fragte sich, ob man mit den Pistolen darin wohl noch schießen konnte. »Sie verständigen sich über Funk. Vor uns sind jetzt noch mehr Wagen«, stellte der Fahrer fest. Ohne einen Befehl abzuwarten, riß er die Limousine in eine Nebenstraße und beschleunigte hart. Die Indianer rasten zur nächsten Durchgangsstraße, die sie finden konnten. Ein Polizeiwagen nahm die Verfolgung auf,
sah das Diplomatenkennzeichen und stoppte mit fluchender Besatzung wieder. Sie waren jetzt in Washington und näherten sich der breiten Allee zwischen dem Capitolhügel und dem Washington-Monument. »Geschafft«, rief der Fahrer grinsend. »Gute Medizin.« Ein dunkler Sedan, der ihnen entgegenkam, scherte plötzlich auf ihre Spur aus und drängte die Limousine gegen einen Lichtmast. Zwei Sedans rasten von hinten heran. Der Dog Soldier am Steuer war tot, sein Kopf hing halb durch die Windschutzscheibe. Holds Eagles stolperte aus dem Wagen, die Schatulle fest unter dem Arm. Zwei Männer mit Pistolen rannten auf ihn zu. Der andere Dog Soldier sprang vorne aus dem Wagen, die Stirn blutverschmiert. Er schoß die ersten beiden Männer mit der Maschinenpistole nieder und wirbelte dann auf den Knien herum, die restlichen unter Feuer nehmend. Er erwischte sie alle, bis auf einen, bevor er nach vorne fiel. Das lange schwarze Haar bedeckte sein Gesicht. Holds Eagles spurtete über die Straße. Er sah nicht zurück, wechselte aber mit jedem Schritt leicht die Richtung. In der Spitze des Washington-Monuments spähten Touristen durch die engen Schießschartenfenster und deuteten auf den Mann, der wie verrückt heranhetzte, von pistolenschwingenden Gestalten verfolgt. Holds Eagles spürte, wie etwas sein Lederhemd aufriß, und er sah die Erde neben sich aufspritzen. Wagen hielten vor dem Monument, und Männer liefen ihm entgegen. Er sah sich um und entdeckte hinter sich einen Sedan, der wendete und seine Verfolgung aufnahm. Der Wagen zwang die schießenden Männer auszuweichen. Holds Eagles kam als erster an. Der Wagen bremste abrupt, als der Indianer sich in die Touristenmenge vor dem Monu-
ment drängte. Er drängte sich zu einer Gruppe von Teenagern, die Lederjacken wie er selbst trugen und Transparente hielten. »Lauft, die Polizei schlägt alles zusammen!« rief er. Das brauchte er ihnen nicht zweimal zu sagen. Die Jugendlichen stoben in alle Richtungen auseinander. Ein Karussell hielt an und entließ eine Ladung Kinder zurück zu ihren Müttern. Eines sah sich verwaist um. Holds Eagles nahm den Jungen bei der Hand und erklärte ihm: »Deine Mami hat mich geschickt, damit ich dir ein Eis kaufe.« Die Augen des Jungen weiteten sich voll freudiger Erwartung, und er hielt den Mund. Holds Eagles warf seine bestickte Jacke weg, während er mit dem Kind vorsichtig zum Bürgersteig zurückging. Die Männer aus den Wagen sammelten still und professionell die erschrockenen Teenager ein. »Meine Mami hat mich gar nicht hergebracht, ich bin mit meinem Daddy hier«, sagte der Junge, als sie einen halben Häuserblock weiter waren. Ihm schien die Verschwörung zu gefallen. Hinter ihnen tauchte der Vater auf, schrie und brüllte. Holds Eagles gab dem Jungen einen Klaps auf den Hintern und schickte ihn zurück zum Karussell, dann marschierte er entschlossen auf eine Menschenschlange vor einem großen, schloßähnlichen Gebäude zu. »Sind Sie Mitglied dieser Gruppe?« fragte eine weißhaarige alte Dame mit Brille ihn. »Ja, aber ich habe mein Namensschild verloren«, erklärte Holds Eagles. »Na, dann kommen Sie mit mir«, sagte sie freundlich, »und wir besorgen Ihnen später ein neues Schildchen.« Drinnen erwartete sie ein Führer, der sie unter altmodischen Flugmaschinen durch zu einer anderen Touristengruppe
führte. Die Besucher bewunderten Raketen und Lokomotiven und historische Gestalten in Wachs und ein konserviertes Gehirn, das schwerer als das von Daniel Webster sein mußte. Bei dem Karussell parkten die grauen Sedan inzwischen in einer langen Reihe. Am Ende der Reihe hielt eine Limousine der gleichen Farbe, und der diensthabende Oberagent stürzte zu ihr. »Wir haben ihn verloren. Ein Kerl sagt, er wäre mit einem Kind weggegangen. Das Kind ist zurück. Aber den Indianer suchen wir noch.« Der Generalbundesanwalt kam zur Dinnerzeit im Weißen Haus an. Er stürmte direkt aus der Tiefgarage mit einem Stoß Papieren unter dem Arm zum Präsidenten. »Bitte entschuldige, Mr. Präsident, daß ich so über dich herfalle«, sagte er, als er in das Präsidentenbüro stolperte. »Ich weiß, du bist gerade beim Abendessen.« »Abendessen?« meinte Nielson und blickte in die Runde. »Ich seh’ hier kein Abendessen. Setz dich.« »Wichtige Sache«, begann der Generalbundesanwalt. »Zu wichtig für das Telephon. Erinnerst du dich daran, daß ich dir erzählt habe, dieser Indianer Holds Eagles trifft sich privat mit der Fernsehreporterin Liz Carney? Ich komme gerade aus ihrem Haus. Sie ist ermordet und verstümmelt worden. Es muß vor etwas mehr als einer Stunde passiert sein. Der Indianer hat es getan. Hier sind die Polizeiberichte.« Er placierte den Papierstapel vorsichtig vor den Präsidenten. Nielson blickte erstaunt. »Man hat ihn mit ihr hineingehen und mit blutigen Kleidern herauskommen sehen. Eine ganze Reihe Zeugen«, fuhr der Bundesanwalt fort. »Du weißt natürlich, welche
Folgen das für die Gespräche hat.« »Ich bin schockiert. Aber diese Berichte sind ja recht ausführlich. Sehr sogar«, meinte der Präsident, während er darin blätterte. »Meine Männer haben mitgeholfen. Ich fürchte, die Medien haben aber schon Wind bekommen, dafür kamen wir zu spät.« Präsident Nielson lehnte sich in seinem Sessel zurück und widmete Moore die Wohltat eines bestätigenden Lächelns. »Ich bin sicher, du hast dein Bestes getan, Harry. Deiner Ansicht nach gibt es keinen Zweifel?« »Absolut keinen. Ich habe noch andere Neuigkeiten, Sir. Holds Eagles wird tatsächlich der neue Häuptling der Nation. Mir ist das schon heute morgen bei unserem Treffen eingefallen. Aber ich wollte nichts sagen, bevor ich es überprüft hatte. Das habe ich jetzt. Wir haben ihn wirklich in der Hand.« »Da hast du recht«, sagte Nielson. Er stand aus seinem Sessel auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Sehr recht. Übrigens, Harry, hast du dir eigentlich dieses Büro schon einmal in Ruhe angesehen? Diese Erinnerungsstücke, die ich hier ständig vor Augen habe?« »Mr. Präsident…« »Nun warte doch mal. Schau her, eine der ersten ’45er, wie sie auf den Philippinen benutzt wurden. Ein Kriegsschiff aus Samoa. Präsident Deweys Marschbefehl für Manila. All diese Fußspuren, im übertragenen Sinne natürlich, unseres Marsches über die Ozeane, während die amerikanische Nation ihre Macht ausbreitete. Ein Samuraischwert von Tarawa. Eine Musketenkugel aus Jamaika. Wahrscheinlich von einem Piraten verfeuert. Mein eigener Schiffsschreibtisch. Das ist Geschichte, Harry, hier direkt vor unseren Augen.« »Ich verstehe schon, Mr. Präsident, aber die Zeit drängt
leider.« »Ich weiß. Und dann sieh dir das hier an. Vielleicht das größte historische Souvenir, das es in unserem Land überhaupt geben kann.« Er nahm eine Schatulle von seinem Schreibtisch und öffnete sie vorsichtig. In Samt gefaßt lagen darin zwei alte, glänzend polierte Pistolen. »Zweischüssige irische Polizeipistolen. Die Griffe mit echten Perlen verziert. Custers Pistolen, Harry, stell dir das vor. Die Pistolen, mit denen er seine letzten Kugeln verschossen hat.« Der Generalbundesanwalt sagte nichts. »Der größte historische Schatz der Indianischen Nation, den mir Häuptling Holds Eagles als Zeichen der Wertschätzung zum Geschenk gemacht hat, während du ihn gleichzeitig jemanden hast umbringen lassen, mit Zeugen und allem Drum und Dran. Wie willst du das erklären, Harry?« Holds Eagles trat durch eine Seitentür ein. Er kämpfte mit der Versuchung, den grauhaarigen Mann zu töten, seit er durch die Tür die Anschuldigungen mitgehört hatte. Aber er beherrschte sich dank seines Trainings, weißen Schmutz zu ignorieren. Mit einem Akt äußerster Konzentration nahm er Moore einfach nicht als anwesend zur Kenntnis. Der Präsident schien bester Laune. »Der Häuptling war gerade auf dem Weg hierher, um mir ganz privat dieses Geschenk zu überreichen, als einige deiner Männer ihm beim Monument begegnet sind. Er rief mich aus dem Smithonian an, und ich ließ ihn von einem Wagen des Weißen Hauses dort abholen. Wir haben uns bis eben unterhalten. Er hat mich über seinen wahren Status in der Indianischen Nation unterrichtet. Das heißt wohl, daß du versucht hast, ein ausländisches Staatsoberhaupt zu ermorden. Man muß sich direkt fragen,
wie das eigentlich damals mit Buffalo Rider gewesen ist. Als dein engster Freund und Ratgeber, Harry, muß ich dir etwas sagen: Du bist in Schwierigkeiten.« Die Gespräche zwischen der Indianischen Nation und den Vereinigten Staaten wurden zwei Wochen später wieder aufgenommen. Diesmal war der Verhandlungstisch auf beiden Seiten voll besetzt. Der Präsident eröffnete die Gespräche für die Vereinigten Staaten. »Obwohl alle Truppen von den Grenzen zurückgezogen worden sind«, sagte er, »heißt das nicht, meine Regierung würde nicht weiterhin dringend eine Neuregelung dieser Grenzen wünschen. Die nächsten hundert Jahre werden gewaltige Veränderungen für den Kontinent bringen, den wir uns teilen. Wir müssen den Herausforderungen dieser Veränderungen gemeinsam entgegentreten. Auch wir müssen uns verändern.« Nachher gingen der Präsident und Holds Eagles gemeinsam ein paar Schritte spazieren. Im Osten konnten sie die amerikanische Seite der Grenze sehen, von einer blauen Dunstglocke markiert, die über einer kleinen Industriestadt schwebte. In die andere Richtung erstreckte sich von ihnen aus das Grasland unberührt bis an den Horizont, nur von einem gelegentlichen Hügelzug und dem schimmernden Aluminiumtipi unterbrochen, in dem die Konferenz stattfand. Indianer und Amerikaner standen rauchend in gemischten Gruppen zusammen. Die beiden Staatsmänner waren ein seltsames Paar. Nielson trug einen formellen dunklen Anzug. Der Hemdkragen schien für seinen kräftigen Nacken zu eng zu sein. Holds Eagles
steckte in weißem Hirschleder, die Jacke über der Brust geöffnet. Sein Haar wurde bereits wieder länger, und er trug es von einem einfachen Stirnband gehalten. »Ich war sehr von dem beeindruckt, was du über Veränderungen gesagt hast«, erzählte er dem Präsidenten. »Du hast völlig recht damit.« Während Nielson zu dem klaren Horizont aus Grün und Blau starrte, holte Holds Eagles Tabak und Zigarettenpapier aus einem Beutel. Mit geübten, bedächtigen Bewegungen rollte er die Zigarette. Nielson zündete sie ihm mit seinem Feuerzeug an und sah Holds Eagles zu, wie der Häuptling den süßen Rauch tief inhalierte. »Hey«, sagte der Präsident, »kannst du mir auch eine drehen?«
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