Klaus Störtebeker Band 2 Dem Piraten auf der Spur von Gloria von Felseneck Wer sein Feind war, hatte nichts zu lachen. ...
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Klaus Störtebeker Band 2 Dem Piraten auf der Spur von Gloria von Felseneck Wer sein Feind war, hatte nichts zu lachen. Zu Lebzeiten berüchtigt, wurde er zur Legende unter den Piraten...
Es war in diesem Jahr zeitig Frühling geworden, was viele Leute im Dorf begrüßten, nahm er ihnen doch die Sorge, mit den Vorräten nicht auszukommen und zum Ende des Winters hungern zu müssen. Der Schnee begann zu schmelzen, das Eis zerbrach und die Wege wurden allmählich wieder passierbar, was so mancher der Männer nutzte, um im Wald ein Reh, ein Wildschwein oder ein paar Kaninchen zu erlegen. Der Wirt vom ›Goldenen Anker‹, der einzigen Schenke im Dorf, hatte die heimliche Jagd nicht nötig. Der erzählte nämlich lang und breit, dass er beim Kauf der Jagdhütte auch das Recht erworben hatte, im Wald von Ritter Kunibert jagen zu dürfen. Man sah den behäbigen Wirt allerdings nur äußerst selten bei der Ausübung des edlen Weidwerks und fragte sich, woher denn das Wildbret kam, das so oft am Spieß und in seinen Pfannen gebraten wurde. Die ganz Gewitzten fragten sich das nicht. Ihrer Meinung nach hatte Hannes Wichmann schon lange keinen Fuß mehr in Wald und Flur gesetzt. Wozu auch? Die Piraten, die hier irgendwo ihr Winterquartier haben mussten, versorgten ihn wahrscheinlich ständig mit frischem Fleisch, weil einer der Anführer hinter der Wirtstochter her war, wie der Teufel hinter der Seele. Ja, ja, eine Hand wusch eben die andere. Dem etwas törichten Grafen von Aldermann, den man im Dorf nur geringschätzig Ritter Kunibert nannte, fiel dieser Diebstahl anscheinend gar nicht auf, er merkte auch nicht, dass seine ehemalige Jagdhütte jetzt einem ganz anderen Zweck diente. Er wollte nur seine Ruhe, derbe Spaße sowie Wein, Weib und Gesang. Wenn Gäste kamen - und es kamen oft welche -, trug er mitunter ein langes faltenreiches Gewand aus purpurrotem oder goldfarbenem Samt, zwängte seine Füße (einschließlich der Hühneraugen) in enge Schnabelschuhe und trug seine Geldbörse am Gürtel. So hoffte er, auf die Damen einen möglichst guten Eindruck zu machen. Die Gäste, die vor vier Tagen angekommen waren, hatten zu seinem Ärger keine Frauenzimmer bei sich. Und sie waren auch keine Gäste im eigentlichen Sinne, sondern Kaufleute, die gemeinsam reisten. Einer von ihnen hatte sich ausgerechnet in der Nähe des Tor4
hauses den Fuß verstaucht und lag nun in einer Kammer, um dort seine Verletzung auszukurieren. Die anderen Männer kümmerten sich nur wenig um den Kranken. Sie marschierten trotz der immer noch sehr kühlen Witterung hinaus in die Natur, um die Tier- und Pflanzenwelt zu beobachten. Ritter Kunibert hatte es nur einmal über sich gebracht, die eifrigen Wanderer zu begleiten. Nach einem Marsch von vielen Meilen, war er vollkommen erschöpft auf sein Lager gesunken und hatte seine Kemenate seitdem nicht mehr verlassen. Er überließ es seiner Gemahlin, für das Wohl der Gäste zu sorgen. Sie würde das schon machen und wenn nicht, dann war ihm das auch egal. Diese langweiligen und wenig trinkfreudigen Kerle konnten ihm gestohlen bleiben. Am allerbesten würde es allerdings sein, wenn sie ihrem bettlägerigen Mitstreiter möglichst bald auf die Beine halfen und dann der Burg unverzüglich den Rücken kehrten. Dann hatte er endlich Ruhe vor ihren flinken Augen und ihren meist so unverständlichen Fragen. Hätte er hören können, worüber die eifrigen Wanderer zu dieser Stunde sprachen, dann hätte er sich trotz seiner Einfalt doch sehr gewundert. Tillmann Roth sagte nämlich: »Sie müssen hier in der Gegend sein, Herr Hauptmann. Es gibt eindeutige Spuren.« Und Alberich Langenhahn fügte missmutig hinzu: »In den Dörfern scheint jedoch niemand etwas von den Piraten gehört und gesehen zu haben. Oder wir haben es nur mit Lügnern und Dummköpfen zu tun.« »Der Dümmste von allen scheint der Graf zu sein«, erwiderte Dietwolf Hademar ärgerlich, während er unruhig im Raum hin und her ging. Er schien seine Verletzung nicht mehr zu spüren, denn er hinkte nicht mehr. »Der Graf ist ein Trottel ersten Ranges«, schimpfte er halblaut weiter. »Ich hatte gehofft, viel mehr von ihm zu erfahren, aber er weiß nichts, sieht nichts und hört nichts. Und ich kann nichts anderes tun, als hier herumzusitzen, weil ich angeblich ein steifes Bein habe und...« »Inzwischen könntet Ihr durchaus genesen sein«, warf Tillmann Roth eifrig ein. »Ein kleiner Spaziergang in unserer Begleitung wird 5
Euch nur gut tun. Vielleicht fällt Euch dann etwas auf, was wir noch nicht bemerkt haben.« »Mag sein«, knurrte der Anführer der Truppe. »Ich würde gern bis zu der Jagdhütte gehen, die der Graf im letzten Herbst an den Wirt vom ›Goldenen Anker‹ verkauft hat. Wenn man dem Gesinde hier Glauben schenken darf, ist der Wirt überhaupt kein Jäger und hält sich nie in der Hütte auf. Aber sie wird benutzt. Die Frage ist nur, von wem?« »Die ist für einen Piratenunterschlupf viel zu klein«, versicherte ihm Alberich Langenhahn. »Wir haben sie schon gesehen. Es ist nichts Auffälliges dran. Männer haben wir noch nie bemerkt, nur einmal eine alte Frau und die kam aus dem nächsten Dorf.« »Und was ist mit den Höhlen in den Kreidefelsen?« Die scharfe Frage ihres Hauptmanns brachte die beiden Soldaten in sichtliche Verlegenheit. Sie blickten sich verzweifelt an und stammelten dann fast gleichzeitig: »Da... liegt noch so viel... Schnee.« Alberich Langenhahn meinte, er hätte nun genug erklärt und sank entnervt auf einen Stuhl. Sein Kamerad, der etwas mutiger war, sprach weiter, eifrig bemüht, seinem Vorgesetzen eine glaubwürdige Erklärung für die bisherigen Misserfolge zu geben. »Wir haben es nicht gewagt, bis dorthin zu gehen, Herr Hauptmann. Man würde unsere Spuren im Schnee... sehen. Und Piraten sind keine... Lämmer und keine Schwachköpfe. Die würden uns auflauern und dann sofort merken, dass wir keine Kaufleute sind.« »Wahrscheinlich.« Der Hauptmann gab ihnen recht, nahm sich aber vor, selbst Erkundigungen einzuziehen, schließlich lautete sein Auftrag, Goedecke Micheel und seine Helfershelfer ausfindig zu machen, alle zu verhaften und dann nach Stralsund zu bringen, wo sie ihre gerechte Strafe bekommen würden. »Ab morgen bin ich wieder gesund«, ordnete er nun barsch an. »Wir ziehen weiter und versuchen, so nahe wie möglich an die Höhlen heranzukommen. Sollten wir Erfolg haben, reitet Ihr, Tillmann Roth, umgehend zu den anderen, damit wir das freche Pack gemeinsam überwältigen können.« 6
»Jawohl, Herr Hauptmann.« Der Angesprochene stand stramm, sein Kamerad, der sich wieder erhoben hatte, ebenfalls. Und allen war klar, dass die nächsten Tage sehr anstrengend werden würden. Bertram Wulflam erwartete nämlich von ihnen, dass sie die gesamte Freibeuterbande um Goedecke Micheel ausfindig machten und gefangen nahmen. * Clara Wichmann hatte eben den eisernen Topf über das Feuer gehängt, in dem sie einen herzhaften Eintopf aus Kohl, Rüben und Kaninchenfleisch zubereiten wollte. Nachdem sie die Zutaten hineingetan hatte, goss sie Wasser dazu und würzte das ganze mit Salz und getrockneten Salbeiblättern. Nun würde es eine Weile dauern, bis alles gar gekocht war. Nun hatte sie Zeit für denjenigen, der ihre Kochkunst zu würdigen wusste - für den Piraten Klaus. Er schlief noch, lag auf der Seite und war nur bis zu den Hüften bedeckt. Sein dichtes blondes Haar war etwas verwirrt und fiel ihm bis auf die Schultern. Er hatte das Gesicht im Kissen vergraben und schlief so seelenruhig, als wüsste er nichts von den ständigen Gefahren, denen er ausgesetzt war und die unweigerlich noch auf ihn und seine Leute zukommen würden. Die junge Frau unterdrückte einen Seufzer, während sie sich auf die Bettkante setzte und den Mann zu betrachten begann, der seit Monaten ihr Freund und Geliebter war. Sie wusste nicht viel von ihm und ahnte, das sie ihn irgendwann für immer verlieren würde. Das Meer war weit, tief und tückisch. Aber noch viel tückischer als das Meer waren die Menschen, besonders jene, die den Reichtum in ihre Kisten scheffelten und nie genug davon bekommen konnten. Sie pressten aus den Armen oftmals den letzten Pfennig heraus und sahen ohne jedes Mitleid zu, wenn viele krank wurden und der Tod reiche Ernte hielt. Klaus und seine Leute versuchten, dieses Elend zu mildern, in dem sie den reichen Pfeffersäcken ihre Waren abjagten und diese zu einem 7
großen Teil den Bedürftigen zukommen ließen. Bis jetzt war dabei das Glück auf ihrer Seite gewesen. Aber wie lange noch? Clara seufzte nun doch und weckte damit Klaus auf. Er gähnte, reckte und streckte sich und murmelte verschlafen: »Es riecht hier so gut. Kochst du etwa schon das Mittagessen?« Sie lächelte. »So ist es, mein lieber Herr. Du hast sehr lange geschlafen... weit über das Morgenmahl hinaus.« Er richtete sich halb auf, griff nach ihr und presste sie an sich. »Es wundert dich doch wohl nicht, dass ich... äh... Erholung bitter nötig hatte. Schließlich hast du mich beinahe die ganze Nacht wach gehalten und meiner Manneskraft nur wenig Ruhe gegönnt.« »So kann man die Scherze natürlich auch nennen, die du mit mir getrieben hast.« Sie kicherte, legte ihre Hände auf seine Schultern und drückte ihn auf das Lager zurück. Sie bettete ihren Kopf auf seine Brust und flüsterte ihm zu: »Ich hatte allerdings den Eindruck, als wenn du selbst wenig Wert auf Pausen legtest. Du warst so gierig und unersättlich, dass ich mich eigentlich auch... ausruhen müsste. Doch was mache ich? Ich koche dir einen schmackhaften Eintopf.« Klaus grinste. »Dann haben wir uns wohl gegenseitig wach gehalten. Jedenfalls werde ich noch oft an unsere wilden Tage und Nächte denken, wenn ich wieder auf See bin. Die Erinnerung an dich wird mir mein Handwerk erleichtern und mich die Einsamkeit besser ertragen lassen.« »Du musst bald fort, nicht wahr?« Clara sah ihn traurig an und als er bestätigend nickte, stand sie auf, ging wieder zur Feuerstelle und rührte die Suppe mit einem großen Holzlöffel um. »Es muss sein«, erwiderte er nachdrücklich. »Wir stehen im Dienst der Königin und haben ihre Aufträge zu erfüllen.« Klaus hatte sich ebenfalls erhoben und stand nun dicht hinter Clara. Er legte seine Arme um sie und zog sie an seine nackte Brust. »Aber ich komme wieder. Das verspreche ich dir. Der Sommer wird sehr schnell vorbei sein und dann werden wir...« Sie drehte sich zu ihm herum und sah nachdenklich zu ihm auf, bevor sie sagte: »Vielleicht täuschen meine Eltern und ich uns, vielleicht sehen wir alle im Dorf Gespenster, aber wir trauen diesen Kauf8
leuten nicht, die seit ein paar Tagen beim Ritter Kunibert zu Gast sind. Sie streifen viel zu oft durch das Dorf, horchen die Leute aus und waren auch schon bei meinem Vater in der Schenke...« »Das machen viele Kaufleute«, warf er sorglos ein, während er seine Hände über ihre Brüste gleiten ließ. »Ja, sicher. Aber diese Männer sehen nicht aus wie Händler und Krämer, sondern viel eher wie... Soldaten oder irgendwelche Krieger.« Er runzelte die Stirn, wandte sich von ihr ab und erwiderte spröde: »Du hast recht. Wir werden aufpassen müssen, dass uns niemand beim Hissen der Segel stört.« »Ich sag's doch. Sei nur vorsichtig. Es ist gefährlich, Gottes Freund und aller Welt Feind zu sein.« »Sei unbesorgt, ich werde schon nicht...« In diesem Augenblick ertönte ganz in der Nähe der heisere Schrei einer Eule. Klaus zuckte zusammen, dann straffte er seine Gestalt und sagte kurz: »Ich muss gehen. Wenn hier jemand vorbei kommen sollte, dann hast du mich nie gesehen.« »Ist... das der... Abschied?«, hauchte sie entsetzt und wurde sehr blass. »Ja, Mädchen«, murmelte er und nahm sie fest in die Arme. »Der Schrei der Eule ist das Signal zum unverzüglichen Aufbruch. Aber ich komme wieder... im Herbst, wenn die Tage kürzer werden. Bewahre mir deine Liebe und bleib gesund.« Er küsste sie leidenschaftlich, dann schob er sie von sich, schlüpfte in Kleidung und Stiefel, warf sich zum Schluss einen alten fadenscheinigen Mantel über und zog dann nach einem allerletzten Blick auf Clara die Tür hinter sich zu. * Sie hatte in aller Eile sämtliche Spuren beseitigt, die auf die Anwesenheit eines Mannes hinwiesen, hatte das Bett gemacht und schließlich das Feuer gelöscht. Danach vertauschte sie das edle Gewand aus blau gefärbtem Leinen gegen das schlichte Kleid einer Bäuerin, bedeckte ihre Haare mit einem Kopftuch und ihren Körper mit einem dunklen Umhang. Zum Schluss bestrich sie sich Stirn und Wangen mit ein we9
nig Ruß und griff anschließend nach einem Rohrkorb, so einen wie ihn die Bettelweiber trugen, die im Wald nach Reisig suchten. Es war ihre übliche Verkleidung, denn sie wollte nicht, dass man sie erkannte. Ihre Verbindung zu einem Freibeuter konnte sie, ihre Eltern und möglicherweise sogar das ganze Dorf, in Schwierigkeiten bringen. Nachdem sie die Hütte verlassen hatte, schlug sie den Weg zum Strand ein. Von dort aus konnte sie ein letztes Mal das Schiff sehen, mit dem Klaus und seine Mannschaft zu fernen Ufern und neuen Abenteuern aufbrechen würden. Der Pfad zum Wasser war vom Schneematsch aufgeweicht, so dass sie nur mühsam vorwärts kam, zumal ihr ein herber Wind ins Gesicht blies. Aber sie ging immer weiter, bis sie in die Nähe des Strandes kam, wo der Weg durch Geröll etwas besser befestigt war und sie zügiger ausschreiten konnte. Die letzten Meter bis zum Ufer lief sie und sah dann tatsächlich noch das Schiff in der Ferne. Sie winkte mehrmals, obwohl sie wusste, dass Klaus sie gar nicht sehen konnte. Und sie weinte, weinte um ihr Glück und ihre Liebe zu einem Mann, den es immer wieder auf das Meer ziehen würde. Tief in ihren Schmerz versunken stand sie da und bemerkte die mit Schwertern und Lanzen bewaffneten Männer nicht mehr rechtzeitig, die sich dicht an sie herangeschlichen hatten. Es waren sechs und es wurden immer mehr. Sie setzten der vor Angst weglaufenden und laut schreienden Frau nach, erreichten sie und warfen sie zu Boden. »Wer bist du und was tust du hier?« Der Anführer der Truppe, ein großer kräftiger Kerl mit dunklem Vollbart zog sie auf die Füße und schüttelte sie derb. »Ich... ich sammle... Reisig«, stotterte sie und zeigte mit zitternder Hand auf den Korb, der ihr aus den Händen gefallen war und nun im Sand lag. »Am Strand suchst du nach Reisig? Was soll diese Lüge? Wir haben alle gesehen, dass du dem Schiff nachgewinkt hast. Und du weißt mit Sicherheit auch, um was für ein Schiff es sich handelt.« »Ich winke oft den Schiffen nach, Herr.« Clara versuchte die Ruhe zu bewahren. »Das ist doch nicht verboten. Und ich sammle hier auch 10
Holz. Seht doch, was das Meer hier alles angeschwemmt hat, Treibholz und...« »Lass deine Ablenkungsmanöver«, unterbrach sie der Hauptmann Dietwolf Hademar mit klirrender Stimme. »Ich weiß doch, dass du lügst, sobald du den Mund aufmachst. Aber das wird dir nichts nützen. Sag uns, was du weißt, dann lassen wir dich wieder laufen.« »Was soll ich denn wissen? Ich bin nur ein armes Weib, das nichts sieht und nichts hört. Wie kann ich...« »Rede nicht so dumm daher, sag lieber die Wahrheit!«, schrie einer der anderen Soldaten sie an und hob drohend sein Schwert. Eine unmissverständliche Handbewegung des Anführers ließ ihn verstummen und innehalten. Er wich zurück und stellte sich zu den anderen Schergen, während der Hauptmann Clara eingehend musterte und dann einen der Söldner barsch fragte: »Ist das hier das Frauenzimmer, das Ihr bei der Jagdhütte gesehen habt?« »Ich glaube nicht, Herr Hauptmann. Das war ein altes Weib, aber dieses hier ist noch jung. Na, die Piraten werden wohl auch keine klapprige Alte haben wollen.« »Richtig, Alberich Langenhahn. Deshalb werden wir uns an die Junge hier halten. Wir nehmen sie mit nach Stralsund. Dort wird sie schon reden. Fesselt sie und werft sie auf den Karren. Habt ihr noch weitere verdächtige Personen entdeckt?« »Nein, leider nicht, Herr Hauptmann«, antwortete ein Soldat, während zwei andere der jungen Frau die Hände auf dem Rücken zusammenbanden. »Ich weiß wirklich nichts«, beteuerte Clara verzweifelt, die sich lieber die Zunge abbeißen würde, als denjenigen zu verraten, den sie liebte. »Ich kann Euch nicht dienlich sein, ich bin doch nur...« »Du bist die Dirne irgendeines Piraten, vielleicht sogar die von Goedecke Micheel oder Klaus Störtebeker. Das sagt mir mein sechster Sinn. Rede endlich! Wenn du es nicht tust, wirst du es bitter bereuen.« Clara stand vor dem Anführer, ignorierte ihn vollkommen und blickte aufs Meer hinaus, wo inzwischen von der ›Maria Anna‹ nichts mehr zu sehen war. 11
»Aus der bekommt Ihr nichts heraus, Herr Hauptmann!«, schrie ein Soldat. »Lasst uns lieber zum Dorf zurück reiten. Irgendeiner von den Bauern wird schon reden, wenn wir ihre Hütten anzünden und ihrem Vieh den Garaus machen.« »Wollt Ihr Unrecht mit Unrecht bestrafen, Johann Mentzel? Haben wir die Leute nicht schon genug ausgefragt? Keiner will die Freibeuter gesehen haben. Und denkt an den guten Namen des Bürgermeisters. Der wird beschmutzt, wenn wir auf einen bloßen Verdacht hin die Dörfer dem Erdboden gleich machen. Es reicht schon, dass wir zu spät gekommen sind und das Diebsgesindel nicht erwischt haben. Doch beim nächsten Mal werden wir klüger sein. Und dabei wird die da uns helfen.« Hademar wies auf Clara, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Die wird Euch nicht helfen, die ist stur und verstockt«, entgegnete Johann Mentzel bissig. »Die wird nicht mal unter der Folter reden.« »Doch, das wird sie. Sie wird uns alles berichten, was wir wissen müssen, um die Piraten auf frischer Tat zu ertappen. Und damit wird dann vielleicht auch der Bürgermeister zufrieden sein. Schafft sie auf den Karren!« Nach diesen scharfen Worten des Hauptmannes wurde Clara nach vorn gezerrt, bis sie vor einem Planwagen mit vier Pferden stand. Im gleichen Moment hob man sie hoch und warf sie wie ein Bündel Flicken auf das Gefährt, der Kutscher folgte, während die übrigen Männer ihre Pferde bestiegen. »Auf nach Stralsund!«, ordnete Dietwolf Hademar laut an. »Je früher wir dort ankommen, je früher können wir das Weibsbild mit geeigneten Methoden verhören.« Clara wurde daraufhin vor Angst ohnmächtig. Hannes und Elrike Wichmann, ihre Eltern warteten an diesem Abend noch lange auf die Tochter - vergeblich. * Wie lange sie ohne Besinnung gewesen war, wusste Clara nicht. Sie merkte nur, wie der Wagen mehr oder weniger schnell fuhr und hin 12
und wieder mächtig schaukelte, sie hörte das Wiehern der Pferde und die rauen Worte der Berittenen. Irgendwann kam sie zu sich und versuchte, sich ihrer Fesseln zu entledigen. Sie schaffte es nicht, hoffte aber, fliehen zu können, wenn man irgendwo anhielt, um den menschlichen Bedürfnissen nachzukommen. Das erwies sich als Trugschluss. Sie durfte sich zwar hinter einem Busch erleichtern, hatte aber eine Kette am Bein. Sie war also weiterhin gefesselt. So vergingen Tage, in denen sie von dem finsteren Hauptmann immer wieder verhört wurde. Doch sie blieb standhaft und verriet nicht, was sie wusste und ahnte, nicht einmal ihren Namen. Irgendwann wurde sie auf ein Schiff getragen, jedoch bald wieder herunter. Eines abends, so schien es ihr jedenfalls, kamen sie in einer Stadt an, denn die Fahrt ging nun über bessere Wege als zuvor. Vor einem großen Gebäude kam der ganze Trupp schließlich zum Stehen. Clara wurde durch einen Seiteneingang hineingeführt, dann eine lange Treppe hinab, bis sie vor einer eisernen Tür standen. Das ist das Gefängnis, dachte sie verängstigt und bebte an Hand und Fuß. Das Gewölbe, in das sie hineingestoßen wurde, war schlimmer als ein Gefängnis. Es war ein Kerker, in dem noch drei weitere Frauen angekettet waren. Man erlaubte ihr, ihre Notdurft auf einem schmutzigen und stinkenden Eimer zu verrichten und setzte ihr Wasser und einen Napf mit einem undefinierbaren Inhalt vor, der offenbar ihre Mahlzeit sein sollte. Sie ekelte sich so davor, dass sie keinen Bissen herunterbrachte und nur das Wasser trank. Danach wurde sie auf feuchtes Stroh gestoßen und angekettet. Die anderen Frauen nahmen keine Notiz von ihr. Sie hatten die Augen geschlossen, waren krank oder bereits halbtot. Genauso würde sie auch bald aussehen, das wusste Clara. In wenigen Tagen würde sie nur noch ein menschenähnliches Wrack sein, zerlumpt, stinkend und krank. Sie machte sich keine Illusionen und hoffte nur, dass Gott sie bald zu sich rufen würde. Dann hatte alle Qual ein Ende. Irgendwann schlief sie doch ein und wachte erst auf, als sie derb geschüttelt wurde und ein untersetzter Mann sie anschrie, während er 13
sie von der Kette löste: »Der Hauptmann will dich verhören, du Schlampe! Mach, dass du auf die Füße kommst!« Sie taumelte empor und folgte dem Wärter oder Kerkermeister mehrere Treppen hinauf, wurde durch dunkle Gänge geführt und landete schließlich in einer Wachtstube, wo der bärtige Hauptmann hinter einem Schreibtisch saß und sie forschend betrachtete. Von nebenan hörte sie Schmerzensschreie. Offenbar wurde dort jemand gefoltert. Den Anführer beeindruckten diese qualvollen Laute nicht. Er schickte den Büttel mit einer entsprechenden Kopfbewegung hinaus, schrieb noch einige Zeilen auf ein Blatt Pergament und fragte dann übergangslos: »Wie heißt das Schiff der Piraten?« »Ich kenne keine Piraten und kein Schiff, das ihnen gehört. Das habe ich Euch doch schon gesagt.« »Aber dir ist inzwischen sicher wieder eingefallen, wie du heißt und wo du herkommst?« »Ja, Herr. Ich bin Nantje Friesen aus Hollerbusch.« »So, so.« Seine Miene blieb ausdruckslos. »Nun, das wird nachzuprüfen sein. Ich glaube dir nämlich nicht. Und du tätest gut daran, endlich die Wahrheit zu gestehen. Was haben die Piraten vor? Wollen sie vielleicht Bergen oder Wismar überfallen oder ein Handelsschiff? Wer sind ihre Helfershelfer? Und wo halten sich Goedecke Micheel und Klaus Störtebeker auf? Von diesen Teufelsbraten hast du doch bestimmt schon gehört?« »Ja, habe ich, aber ich habe sie noch nie gesehen.« »Aber du weißt, wo sie ihr Winterquartier haben, nicht wahr?« Clara schüttelte den Kopf. »Lüg mich nicht an, du Dirne!« Dietwolf Hademar erhob sich, ging auf sie zu und schüchterte sie mit seiner imposanten Gestalt und seiner grimmigen Miene so ein, dass sie schwankte und zu Boden fiel. Er riss sie hoch, hielt sie mit einer Hand fest und antwortete mit einer Stimme, die sie erzittern ließ: »Du rennst durch die Gegend in der Nähe der Höhlen, sammelst angeblich Holz und bist ebenso angeblich bettelarm, hast aber gepflegte Hände und weißt anscheinend ganz genau, was du sagst. Die Piraten haben dir Geschenke gemacht, damit du ihnen zu Willen bist. Wir wissen es, denn uns bleibt wirklich nichts 14
verborgen. Du hast Schmuck und schöne Gewänder bekommen und prächtige Hauben.« Jetzt lügt er, dachte Clara. Ich weiß zwar nicht, ob die anderen
von Klaus' Mannschaft irgendwelche Mädchen oder Frauen beschenkt haben, ich habe jedoch nichts dergleichen angenommen. Sie blickte
den Hauptmann furchtlos an und erwiderte fest: »Ich kenne keine Piraten.« Er ließ sie abrupt los. »Hörst du das Geschrei von nebenan?« Sie nickte beklommen, entgegnete aber tapfer: »So werden Geständnisse erpresst. Ich weiß. Und ich weiß auch, dass es Euch egal ist, ob sie wahr sind oder nicht. Hauptsache ist doch, dass Ihr habt einen Schuldigen gefunden habt.« »Oh nein, so ist es nicht. Diese Menschen haben es nicht anders verdient und müssen ihre Strafe bekommen. Es sind Verbrecher, Mörder und Räuber, vor denen wir die übrige Bevölkerung schützen müssen. Deine Freibeuter, über die du so heldenhaft schweigst, sind auch Mörder und Räuber. Geht das nicht in deinen Schädel hinein?« »Sicher sind sie das«, flüsterte Clara. »Aber ich habe wirklich noch nie einen von ihnen gesehen.« Hademar wurde allmählich ungeduldig. Er stieß eine Tür auf und blaffte: »Zeigt ihr die Folterwerkzeuge, Tillmann Roth!« Das Geschrei von nebenan war inzwischen in ein heiseres Stöhnen übergegangen und verlor sich nun ganz. Der Delinquent war vermutlich ohnmächtig geworden oder gestorben. Clara nahm es nur noch am Rande wahr. Sie wurde von diesem Tillmann in eine Folterkammer geführt und starrte nun entsetzt auf eine Streckbank, auf Daumenschrauben, spitze Messer, Peitschen und glühende Zangen. »Man wird dir die Kleidung vom Leib reißen, bis du ganz nackt bist und dich am ganzen Körper rasieren. Man wird dich zuerst auspeitschen. Und wenn du dann noch nicht redest, dann wird man dich auf die Streckbank legen und die Daumenschrauben zum Einsatz bringen. Vielleicht wird man dich auch mit den glühenden Zangen zwicken. Überlege es dir deshalb reiflich, ob du weiterhin über das Piratenpack schweigen willst. Es wäre doch sehr schade um dein schönes dunkles 15
Haar und deinen rosigen Leib.« Der Hauptmann ließ eine Hand über ihre Schulter gleiten. »Fasst mich nicht an!« Clara stieß ihn heftig zurück und handelte sich dafür einen Backenstreich ein. Sie taumelte daraufhin, aber sie fiel nicht. »Schafft sie fort, Tillmann!« Dietwolf Hademar wandte sich brüsk ab, setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und beendete damit das heutige Verhör. * »Die Metze von Goedecke Micheel will also nicht gestehen? Habt Ihr wirklich alles unternommen? Vielleicht braucht sie... noch ein wenig... Ermunterung?« Bertram Wulflam blickte den Hauptmann seiner Garde verärgert an. »Sie hat seit fünf Tagen jede erdenkliche Ermunterung bekommen, Herr Bürgermeister«, versetzte Hademar ausdruckslos. »Genützt hat es gar nichts. Das Weib verharrt in ständigem Schweigen und ich frage mich mittlerweile, ob es tatsächlich etwas weiß.« »Und ich frage mich«, stieß der Bürgermeister sarkastisch hervor, »ob Ihr und Eure Soldaten, die ich teuer bezahle, ordentliche Arbeit leisten. Ihr wisst, dass mir der Micheel mein Schiff gestohlen hat, wart bis jetzt aber nicht in der Lage, ihn und seine Spießgesellen zu fangen. Statt dessen bringt Ihr dieses verstockte Weib hier an und hofft ein Wunder.« Ehe der Hauptmann sich noch verteidigen konnte, zeterte Wulflam schon weiter: »Es mag ja sein, dass diese Dirne uns viel verraten könnte. Es muss ja bestimmt noch mehr Gesindel in den Dörfern rund um Saßnitz geben, das mit den Piraten Geschäfte macht, was ihr nicht verborgen geblieben sein kann. Aber Eure Methoden haben keinerlei Erfolg gebracht. Und deshalb werde ich das Frauenzimmer selbst verhören. Schafft diese Nantje Friesen sofort her! Dann werde ich Euch zeigen, wie schnell man zu einem umfassenden Geständnis kommt.« »Jawohl, Herr Bürgermeister.« Dietwolf Hademar gab dem an der Tür stehenden Tillmann Roth einen entsprechenden Wink. 16
Es dauerte geraume Zeit bis dieser wiederkam. Und er kam nicht allein. Er und Johann Mentzel hatten Clara in ihrer Mitte. Sie schleiften die abgemagerte, mit blauen Flecken übersäte und halb bewusstlose Frau vor den Bürgermeister, hielten sie aber weiterhin fest. Ob sie befürchteten, sie würde versuchen zu fliehen oder eher zu Boden sinken, war nicht erkennbar und Wulflam völlig gleichgültig. »Lasst sie los!«, schnauzte er die Büttel an, worauf diese unverzüglich Folge leisteten. Sie verzogen sich in eine Ecke des Raumes und sahen von dort aus, genau wie ihr Hauptmann, ungerührt zu, wie der Bürgermeister mit dem Verhör begann. Doch alle Fragen gingen ins Leere. Die Frau antwortete nicht. Sie stand schwankend da, kaum noch ihrer Sinne mächtig, spuckte dann aber ganz überraschend dem Stralsunder Stadtoberhaupt mitten ins Gesicht. Wulflam war danach einige Sekunden völlig sprachlos. Sein Antlitz verzerrte sich zu einer bösartigen Fratze, während er sich den Speichel mit einem Tuch abwischte. Und dann schlug er zu und traf Clara am Kopf. Als sie lautlos zu Boden sank, lachte er höhnisch. Der Hauptmann beugte sich zu ihr nieder und wollte sie wieder auf die Füße stellen. Das gelang ihm nicht, worauf er nach dem Puls tastete und dann ruhig sagte: »Sie ist tot, Herr.« »Na und? Sie hat nichts besseres verdient. Steckt sie in einen Sack und werft sie in den Sund.« Bertram Wulflam, der sich gern und oft damit brüstete, ein gerechter und milder Stadtvater zu sein, marschierte eilig hinaus. Es war nicht gut, wenn man ihn mit diesem plötzlichen Todesfall in Verbindung brachte. Auch er hatte Feinde, die allzu gern seinen Platz im Rathaus einnehmen wollten. »Holt mir einen Krug Bier, Johann!«, rief indessen der Hauptmann. »Und Ihr, Tillmann schafft mir das Frauenzimmer aus dem Raum und steckt es in einen Sack. Ich kann es nicht mehr sehen.« Ein Augenzwinkern, das nur einer der Soldaten zu deuten wusste, begleitete diese Befehle. Kaum hatte Johann Mentzel den Raum verlassen, zerrte der kräftige Tillmann Clara in ein kleines Nebengelass. Dort wurde sie nach einem kurzen Blick unter eine Bank geschoben, auf die der Hauptmann nun allerhand Zeug wie Schabracken für Pferde, Teile von Rüstungen 17
und einen Umhang warf. Sein Bursche hatte inzwischen in den Sack den Leichnam der anderen Frau gesteckt, die vorhin während der Folter gestorben war. Dass man sie entfernte, fiel nicht weiter auf, denn die Henkersknechte nahmen zu dieser Stunde ihr Abendessen ein. Sie würden sich auch später nicht wundern. Es war nun einmal so üblich, dass die so plötzlich Verstorbenen so schnell wie möglich in den Sund befördert wurden. Ein christliches Begräbnis war ihnen ja wegen ihrer Sünden ohnehin verwehrt. Als Johann Mentzel das Bier brachte, war der Sack bereits verschnürt und Hademar sagte verächtlich: »Tut Eure Arbeit!« Mit einer lässigen Handbewegung scheuchte er seine Untergebenen hinaus. Diese trugen bereits den Sack und würden ihn auf den Planwagen werfen, der im Innenhof stand und von Zeit zu Zeit zu jener Stelle gefahren wurde, wo man die Leichen ins Meer warf. Man zählte sie nie. Ein Toter mehr oder weniger - darauf kam es nicht an. Und während Bertram Wulflam sich selbst einredete, dass er ein gutes Verhör geführt und die Welt von einer Verbrecherin befreit hatte, untersuchte der Hauptmann die immer noch bewusstlose Clara, strich behutsam über ihre eingefallenen Wangen und den kahl geschorenen Kopf. Sie lebte noch und so lange sie noch lebte, gab es noch Hoffnung. Hastig wickelte er sie in eine Decke, nahm sie auf seine Arme, öffnete eine Geheimtür und trug sie in der Dunkelheit zu den Stallungen. Dort hatte Tillmann Roth bereits die Pferde gesattelt. * Der Ritt über Land endete vor einem schlichten Gutshaus aus Fachwerk. Es wies zu beiden Seiten einen kleinen Turm auf und war von mehreren niedrigen Gebäuden und einem großen Garten umgeben. Die Ankunft der beiden Reiter war nicht unbemerkt geblieben. Knechte und Mägde stürzten aus dem Haus, machten dann aber ehrerbietig einer älteren stattlichen Frau Platz. Diese trug ein graublaues Schleppenkleid mit langen geschlitzten Ärmeln und einer breiten Schleierhaube aus weißem Stoff. Sie ging geradewegs auf den Hauptmann und seinen Burschen zu, die Clara trugen und fragte in einer 18
Mischung aus Neugierde und Befremden: »Was bringst du mir noch so spät, Dietwolf?« »Ein krankes Mädchen, Frau Tante. Ich habe es bewusstlos am Wegrand gefunden. Nehmt es in Gnaden auf und pflegt es gesund.« Ermengarde Rödersen kannte ihren Neffen gut genug, um zu wissen, dass er wegen der gaffenden und Ohren aufsperrenden Dienerschaft nicht die ganze Wahrheit sagte. Und dafür gab es sicher einen triftigen Grund. »Dann komm herein! Und ihr«, sie wandte sich an ihr Gesinde, »ihr geht wieder an eure Arbeit oder zu Bett. Dich brauche ich allerdings noch, Kathrine.« Der letzte Satz galt einem derben Mädchen, das in unmittelbarer Nähe stand und den Vorgang genau verfolgte. »Kümmere dich um warmes Wasser, Kräutertee und eine kleine Mahlzeit!« »Ja, Herrin.« Das Mädchen eilte davon, die anderen ebenfalls, während die Männer mit ihrer Last der Gutsherrin ins Haus und in die große Halle folgten. Clara war unterdessen immer mal wieder für kurze Zeit zu sich gekommen, bis die höllischen Schmerzen sie erneut in die Finsternis versinken ließen. Sie begriff gar nichts mehr und war auch viel zu schwach, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie spürte nur, dass sie getragen wurde und nicht mehr im Kerker war. Sie roch die frische Luft, hörte Stimmen und fühlte dann ein weiches Lager unter sich. »Du kannst gehen, Tillmann«, sagte eine bekannte Stimme, die sie aber trotzdem nicht einer bestimmten Person zuordnen konnte. Und dann spürte sie, wie ihr die Lumpen vom Körper entfernt wurden und vernahm, wie jemand bestürzt flüsterte: »Mein Gott...« »Ja, Tante Ermengarde, sie sieht sehr schlimm aus und ist mehr tot als lebendig«, erwiderte der Mann leise und deutete auf die Spuren der Peitsche. »Aber mehr konnte ich leider nicht für sie tun.« »Ja, ich weiß. Geh jetzt und lass dir und deinem Burschen etwas zum Essen und einen Krug mit Wein bringen. Ich lasse dich rufen, wenn Kathrine und ich sie gewaschen und versorgt haben.« 19
Der Mann schien sich zu entfernen. Clara spürte den Luftzug, der über ihren Körper strich und versuchte, sich zu bewegen. Sie konnte es jedoch nicht und war wie gelähmt. Entsetzt schlug sie die Augen auf, blickte in das Gesicht einer mütterlichen Frau, sah eine jüngere Frau mit einer Waschschüssel und Handtüchern durch die Tür kommen und machte die Augen schnell wieder zu. Was sie gesehen hatte, konnte nicht von dieser Welt sein. Sie war offensichtlich tot und jetzt im Himmel. »Wach auf, Mädchen und sag uns, was dir weh tut«, befahl die Frau sanft, während die jüngere sie behutsam zu waschen begann. Clara gehorchte, öffnete die Augen erneut und murmelte: »Mir tut alles weh, besonders mein linker... Arm. Aber hier heilt ja wohl alles... sehr schnell.« »Nicht schneller als anderswo. Dein Arm ist gebrochen. Ich werde ihn schienen, damit er wieder ordentlich zusammenwächst. Und auf deinen zerschundenen Rücken, auf die Fußsohlen und auf die Beule am Kopf werde ich eine Salbe auftragen. Sie haben dich übel zugerichtet, die Folterknechte des Herrn Wulflam. Gott wird sie strafen.« Sie war wohl doch nicht tot. Aber vielleicht kannte man im Himmel den Bürgermeister. Gott wusste ja bekanntlich alles. Claras Gedanken verwirrten sich wieder, ihr Kopf sank zur Seite, aber die Alte ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Sie machte sich an dem verletzten Arm zu schaffen, schiente und verband ihn, trug überall Salbe auf und sagte dann resolut: »Hier wird nicht geschlafen. Du musst jetzt essen und trinken. Sonst kommst du nie mehr zu Kräften. Schau, Kathrine hat Tee und Suppe aus der Küche geholt.« Die Frauen stützten Clara vorsichtig, schoben ihr Kissen hinter den Rücken, breiteten eine warme Decke über ihren Unterkörper und eine hielt ihr einen Becher an die Lippen. Clara trank gierig. Der Hals tat ihr zwar weh, aber der Durst war stärker als der Schmerz. »So ist es brav«, gurrte die Alte. »Nun wird auch noch gegessen, dann kannst du schlafen, Mädchen, solange du willst.« 20
Mit dem Essen ging es nicht ganz so gut. Clara schaffte nur wenige Löffel, dann hauchte sie: »Ich... kann... nicht... mehr. Verzeiht, edle Dame.« »Na, besser als nichts.« Die ältere Frau nahm den Napf fort, während die jüngere dafür sorgte, dass die Kranke ordentlich gebettet wurde. »Nun ruhe dich aus.« Das war das letzte, was Clara hörte. Dann versank sie in den Schlaf tiefster Erschöpfung. * Dietwolf Hademar hatte seinen Burschen fortgeschickt. Er wollte allein sein, bis seine Tante kam, um ihm von dem Mädchen zu berichten, das er ganz gegen seinen Willen in sein Herz geschlossen hatte. So etwas war ihm noch nie passiert. Frauen waren für ihn immer nur ältere Damen gewesen, die man respektierte oder leichtfertige Weiber, mit denen er dann und wann das Lager teilte. Nantje Friesen oder wie sie auch immer heißen mochte war anders - ganz anders. Wie mutig und tapfer sie doch war, sie hatte dem Fiesling von Bürgermeister in das gelbe zerknitterte Gesicht gespuckt. Dafür hätte er sie allerdings beinahe erschlagen. Es war eine spontane Eingebung gewesen, als er, Dietwolf Hademar, den schwachen Herzschlag des Mädchens gespürt und dennoch gesagt hatte: »Sie ist tot, Herr.« Hätte er die Wahrheit gesagt, hätte Wulflam sie wahrscheinlich noch länger geschlagen und getreten. Einmal in Rage gebracht, kannte der angeblich so milde und gerechte Bürgermeister keine Grenzen und keine Gnade. Niemand konnte ihn dann aufhalten, man konnte ihn nur überlisten. Er hatte es getan und bereute es nicht. Hauptmann der Garde konnte er nun allerdings nicht mehr bleiben. Er war immerhin Zeuge des vermeintlichen Totschlages gewesen, was Wulflam ihm nie verzeihen würde. Und dann gab es noch dieses Mädchen, das dem Bürgermeister nicht mehr unter die Augen kommen durfte und dass er beschützen wollte. Hier auf dem Land war Nantje Friesen relativ sicher. Hier konnte sie sich erholen und würde eines Tages wieder die 21
hübsche Frau sein, die er am Strand von Saßnitz zum ersten Mal gesehen hatte. Und eines Tages würde sie auch seine Frau sein. Ihre Vergangenheit interessierte ihn nicht sonderlich. Schließlich gab es im Leben eines jeden Menschen Dinge, die er besser unterlassen hätte. Er hatte auch Fehler gemacht, einer davon war, die Stellung bei Bertram Wulflam anzutreten. Aber damals hatte er den Bürgermeister kaum gekannt und war von dessen Lauterkeit überzeugt gewesen, hatte nicht gewusst, dass dieser seinen Vorgänger in den Tod getrieben hatte, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. »Nun schläft dein krankes Mädelchen.« Seine Tante war leise ins Zimmer gekommen und setzte sich zu ihm an den Tisch. »Wie geht es ihr? Wird sie überleben?«, fragte er rau. »Sie ist sehr schwach, aber ich hoffe es trotzdem. Sie hat zumindest getrunken und ein paar Löffel Suppe gegessen.« Dietwolf atmete ein wenig auf, erhob sich dann und sagte: »Ich werde jetzt zu ihr gehen.« Ermengarde Rödersen nickte zustimmend, fragte aber noch: »Was hat sie verbrochen, dass du sie gefangen nehmen musstest? Ist sie eine Diebin?« »Nein.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Eine Diebin ist sie bestimmt nicht, auch keine Mörderin oder ein leichtes Frauenzimmer. Meiner Meinung nach ist sie die Freundin von Goedecke Micheel oder Klaus Störtebeker. Doch ich bitte Euch, Tante, redet mit niemandem darüber, auch mit ihr nicht. Es ist sowieso nur ein Verdacht.« »Du hast sie aber trotzdem mitgenommen... zu Wulflam.« »Ja und das war falsch«, antwortete er brüsk und fügte in Gedanken hinzu: Oder auch nicht. Wenn sie nur am Leben bleibt, dann
werde ich so um sie werben, dass sie ihren Piraten schnell vergisst.
Mit weit ausholenden Schritten ging er zu der Kammer, in der Clara untergebracht worden war, öffnete vorsichtig die Tür und schickte Kathrine, die auf einem Stuhl neben dem Bett saß, hinaus. Er würde jetzt bei ihr bleiben - jetzt und immer. Vielleicht würde seine Liebe ihr helfen, gesund zu werden und ein neues Leben zu beginnen - ein Leben fern von Piraten und Gefahr. 22
Vorerst sah es nicht so aus, als würden sich seine Hoffnungen und Wünsche erfüllen. Clara fieberte stark und behielt das wenige Essen, das sie zu sich nahm, nicht bei sich. Sie war heiß und zitterte dennoch. Alle Bemühungen seiner Tante und ihrer Mägde schienen vergeblich zu sein. Die Kranke stammelte wirres Zeug, das niemand verstehen konnte, war selbst aber kaum ansprechbar. So vergingen mehr als zehn Tage. An diesem Nachmittag saß Dietwolf wieder an ihrem Bett und betrachtete sie besorgt. Er machte sich Vorwürfe. Schließlich hätte er ihr diese Leiden ersparen können, wenn er sie nicht mitgenommen hätte. Das hatte er eigentlich auch nicht tun wollen, er hatte angenommen, sie würde angesichts seiner kriegerischen Übermacht Angst bekommen und alles ausplaudern, was sie wusste. Sie war doch nur eine schwache Frau. Er hatte sich geirrt. Und vielleicht hätte er sie damals doch laufen lassen, wenn er nicht so wütend über seine Niederlage gewesen wäre. Die Piraten waren ihm und seinen Söldnern vor der Nase entwischt. Johann Mentzel, sein Stellvertreter, hatte es ihm mehr als einmal zynisch zu verstehen gegeben. Besser hätte der es allerdings auch nicht gemacht, aber er behauptete es - und gierte nach dem Posten des Hauptmannes. Den konnte er haben - schon bald. Die Frau bewegte sich jetzt und murmelte: »Es... ist... so kalt.« Was sollte er nun tun? Sollte er seine Tante oder eine der Mägde rufen? Nein, vorerst noch nicht. Wenn ihr kalt war, dann würde er sie eben wärmen. Hastig entledigte er sich seiner Stiefel, legte Jacke und Wams ab und kroch zu ihr unter die Decke. Dort war es beinahe so heiß wie in einem Backofen. Er nahm Clara in die Arme, drückte sie fest an sich und raunte ihr beruhigende Worte zu. Sie begriff nicht, was er sagte, aber sie spürte seine Wärme und flüsterte irgendwann: »Klaus... halt mich fest.« »Ich halte dich fest... für immer und alle Zeit«, murmelte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. In dieser Nacht blieb er bei ihr, obwohl seine Tante missbilligend die Stirn runzelte. Wenn das Mädchen ihn für ihren Liebsten hielt und dieser Glaube ihr Kraft gab, dann konnte das nur gut für sie sein. 23
Am nächsten Tag ging es der Kranken etwas besser. Sie erbrach das Essen nicht mehr und fieberte nicht mehr so stark. Dietwolf schöpfte wieder Hoffnung und begann, sein Leben neu zu ordnen. Als erstes kündigte er seinen Dienst beim Bürgermeister. Bertram Wulflam war darüber, wie erwartet, hocherfreut und sagte gönnerhaft: »Wohl dem, der eine alte Tante beerben wird und ein schönes Gut in Aussicht hat. Man kann gar nicht früh genug damit beginnen, sich um diesen Besitz zu kümmern. Die Landwirtschaft liegt Euch anscheinend auch mehr... als der Soldatendienst.« »So ist es, Herr Bürgermeister. Ich hätte noch eine Bitte, bevor ich gehe.« »Und die wäre?« »Sie betrifft Tillmann Roth, meinen Burschen. Ich bin an seine Dienste gewöhnt und würde ihn gern mitnehmen. Ist das möglich?« »Von mir aus«, erwiderte der Bürgermeister wegwerfend. »Der Dummkopf wird Euch auf dem Lande nützlicher sein. Ich brauche ihn nicht. Es gibt genug fähige Männer, die den Dienst in meiner Garde antreten können.« »Ich danke Euch, Herr Bürgermeister.« Dietwolf verbeugte sich und war damit entlassen. * Wie lange war sie schon hier? Clara wusste es nicht, sah jedoch durch das halb geöffnete Fenster, dass im Garten vor dem Haus bereits Kohl und Steckrüben angebaut wurden, dass die Obstbäume und die Blumen blühten und kleine Zicklein über die Wiesen hüpften. Es war längst Frühling geworden. Sie hatte die Tage bisher zum größten Teil verschlafen, hatte gegessen und getrunken und sich nur ab und zu gefragt, wie sie eigentlich hierher gekommen war. Der Bürgermeister hatte sie geschlagen... und dann? Hatte sie fliehen können? Hatte irgendein mitfühlender Mensch sie gefunden und sie zu diesem Haus und damit zu Ermengarde Rödersen, gebracht? 24
»Du bist ja aufgestanden, Mädchen.« Die Herrin des Gutes hatte in diesem Augenblick die Kammer betreten und freute sich sichtlich. »Ich kann doch nicht immer nur im Bett liegen«, antwortete Clara verlegen. »Ich will doch bald wieder ganz gesund werden, damit ich Eure Gastfreundschaft nicht noch länger in Anspruch nehmen muss, Herrin. Aber ich danke Euch sehr... für Eure Hilfe... und Eure Pflege. Ich glaube, ohne Euch wäre ich verloren gewesen.« »Das ist möglich. Da du jedoch jung und zäh wie Leder bist, hast du überlebt. Doch nun leg dich wieder hin, bis Kathrine kommt und dir ein paar Kleider von mir bringt. Was du anhattest, das waren ja doch nur Fetzen.« »Vielen Dank. Ich werde Euch die Gewänder bezahlen, wenn ich wieder Geld habe, das heißt... wenn ich zu meinem Vater zurückgekehrt bin und er...« »Das hat Zeit«, warf Ermengarde ein, als Claras Stimme brach. »Du bist hier gut aufgehoben und wenn du willst, schicken wir deinem Vater eine Nachricht, damit er weiß, dass du lebst und dass es dir gut geht.« Clara machte eine vage Geste, die sowohl ja als auch nein bedeuten konnte. Bevor sie den Namen ihrer Familie und damit auch den ihren preisgab, musste sie den Leuten hier vertrauen können. Besser war es jedoch, schnell gesund zu werden und eines Tages heimlich zu verschwinden. Das war ein gefährliches Vorhaben. Sie würde es erst durchführen können, wenn ihre Haare wieder einigermaßen nachgewachsen waren und sie stark genug war, um den weiten Weg nach Hause antreten zu können. Vielleicht hatte sie Glück und ein Bauer oder Händler nahm sie ein Stück auf seinem Karren mit. Und dann musste sie ja auch noch über das Wasser. Das würde am schwierigsten sein. Sie musste ein Schiff finden, das sie aufnahm. Leise seufzend legte sie sich jetzt wieder ins Bett, was die Alte mit einem anerkennenden Lächeln quittierte. Clara fasste daraufhin immerhin so viel Mut, dass sie beklommen fragte: »Wer... hat mich gefunden und wie komme ich hierher? Und woher wisst Ihr, dass ich... Nantje Friesen... heiße? Wann habe ich Euch diesen Namen denn genannt?« 25
»Mein Neffe hat dich gefunden und hierher gebracht. Er hat mir auch gesagt, dass du Nantje Friesen heißt.« »Euer Neffe?« Clara verstand nun gar nichts mehr. Sie konnte sich nicht erinnern, hier außer einigen Knechten einen Mann gesehen zu haben. Die Gutsherrin nickte nur, dann ging sie hinaus. Nur kurze Zeit später tauchte Kathrine auf, der zwei andere Mägde folgten. Sie brachten eine hölzerne Badewanne mit, große Tücher, ein schlichtes Gewand aus rot gemustertem Stoff, eine Haube, Unterkleider, Strümpfe und Schuhe. Clara brachte vor Erstaunen kein Wort heraus. Sie schwieg auch noch, als die Mägde die Wanne mit warmem Wasser füllten und sie dann baten, hinein zu steigen. Im Kerker hatte man sie misshandelt und gequält, hier wurde sie gehegt und gepflegt wie eine Dame aus besseren Kreisen. Und niemand fragte, warum sie im Gefängnis gewesen war. Aber man musste es wissen. Nur Verbrechern wurde der Kopf kahl geschoren, nur Verbrecher wurden gefoltert. Das war jedenfalls die offizielle Version, die inoffizielle hörte sich ganz anders an. Clara schluckte die Tränen hinunter, die ihr immer in die Augen traten, wenn sie an ihre Eltern und die Einwohner ihres Heimatdorfes dachte. Vermutlich hatten die Soldaten dort noch weiter nach Klaus und seiner Mannschaft geforscht, hatten die Leute in Angst und Schrecken versetzt und vielleicht sogar den einen oder anderen mitgenommen oder getötet. Sie war jedoch aus den Klauen des Bürgermeisters und seiner Folterknechte wieder heraus gekommen. Doch wie hatte das geschehen können? Die Frage blieb bestehen und beschäftigte sie auch, als sie in der Wanne mit dem nach Kräutern duftenden Wasser lag. Eine Antwort fand sie auch jetzt nicht. Es konnte nur sein, dass der Herrgott seine Hand schützend über sie gehalten hatte. * 26
Nach dem Bad half Kathrine ihr, sich anzukleiden. Dabei plapperte sie unentwegt, erzählte von dem Burschen des jungen Herrn, diesem Tillmann, der ihr schöne Augen machte und von dem Fest, das die Herrin einmal im Jahr zu Beginn des Sommers mit all ihren Untergebenen feierte. »Herr Dietwolf hat ja auch schon in den letzten drei Jahren an der Feier teilgenommen, aber er musste immer bald wieder fort.« »Und jetzt muss er das nicht mehr?« »Nein, jetzt nicht mehr. Er hat seinen Dienst gekündigt und will bei der Herrin lernen, ein Gutsherr zu werden. So, jetzt seid ihr fertig, Fräulein. Gefallt Ihr Euch?« Die Magd führte Clara zu einem Spiegel, der in einer Ecke des Raumes hing, den sie aber noch nie bemerkt hatte. Kathrine interpretierte ihre Verwunderung richtig und erklärte: »Wir haben den Spiegel erst heute morgen wieder aufgehängt. Herr Dietwolf wollte nicht, dass ihr Euch vor Eurem eigenen Anblick erschreckt.« Clara betrachtete sich, fand sich blass, mager und krank, aber gut gekleidet. Über einem Unterkleid aus bräunlicher Seide trug sie einen roten Surkot mit einem runden Halsausschnitt. Die dazu passende Haube verbarg ihre noch sehr kurzen Haare. »Ich sehe ja aus wie eine edle Dame«, flüsterte sie. »Aber ich bin keine.« Kathrine äußerte sich dazu nicht. Sie beaufsichtigte schon die Mägde, die das Wasser aus der Wanne in Eimer gossen und wieder fort trugen. Zu Clara sagte sie nur beiläufig, bevor sie sich entfernte: »Setzt Euch doch ans Fenster. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick in den Garten.« Den hatte man durchaus. Die junge Frau meinte sogar, noch nie ein schöneres Fleckchen Erde gesehen zu haben, als diesen Garten. Es gab Blumen, die sie gar nicht kannte, ein großes Kräuterbeet und viele Sträucher und Bäume. »Gefällt es Euch hier, Nantje Friesen?« Da war sie wieder, die Stimme, die sie während ihrer Krankheit mitunter gehört hatte. Sie drehte sich erschrocken um und blickte auf 27
einen großen breitschultrigen Mann, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Er war nach Gutsherrenart gekleidet und trug glänzende Stiefel. Sein Haar war genauso dunkel wie seine Augen, aber er hatte keinen Bart. Wenn er jedoch einen gehabt hätte, dann würde er aussehen wie... der Hauptmann des Bürgermeisters, der sie gefangen genommen und geschlagen hatte. Clara stieß einen angstvollen Schrei aus, sprang auf und wich gleichzeitig erschrocken zurück, denn der Mann kam auf sie zu. Würde er sie wieder schlagen oder festnehmen? »Nehmt doch wieder Platz!« Er drückte sie auf den Stuhl zurück, setzte sich auf einen anderen und fuhr dann ruhig fort: »Ihr habt nichts zu befürchten, weder vom Bürgermeister noch von mir. Ich stehe nicht mehr in seinen Diensten. Und im übrigen glaubt er, Ihr wäret tot.« »Und wieso glaubt er das?« »Sein Schlag war heftig genug, um ihm das einzureden. Diese Lüge hat meinem Burschen und mir die Möglichkeit gegeben, Euch heimlich aus dem Rathaus zu schaffen und hierher zu bringen. Meine Tante hat Euch anschließend gesund gepflegt.« Sie schaute ihn fassungslos an. »Ihr glaubt mir natürlich nicht«, fuhr er in bitterem Tonfall fort. »Das kann ich verstehen. Wie solltet Ihr auch? Durch mich seid Ihr schließlich in diese entsetzliche Lage gekommen.« Clara schwieg weiterhin und ignorierte ihn völlig. Da stand er auf, griff nach ihrer Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Verzeiht mir, Nantje. Es war ein Fehler, Euch mit nach Stralsund zu nehmen. Aber ich dachte, Ihr würdet reden. Dann hätte ich Euch laufen lassen... und die Folter wäre Euch dann erspart geblieben.« Sie erhob sich ebenfalls und wandte ihm den Rücken zu, aber sie zitterte heftig, was ihm nicht entging. Er stellte sich hinter sie und zog sie behutsam an sich. Dabei sagte er: »Ich werde Euch von jetzt an beschützen. Das verspreche ich Euch.« Sie stieß ihn von sich und rief höhnisch: »Beschützen? Das ist doch nur ein Vorwand. Die harte Methode hat nicht funktioniert, nun 28
versucht Ihr auf eine andere Weise, von mir Informationen zu bekommen. Aber ich weiß nichts. Das ist die Wahrheit.« »Nicht ganz, aber das tut jetzt nichts mehr zur Sache und interessiert mich auch nicht. Die Spatzen pfeifen es inzwischen von den Dächern, dass eine Horde Freibeuter in der Umgebung von Saßnitz ihr Winterquartier hat. Ob die berüchtigten Goedecke Micheel und Klaus Störtebeker unter ihnen sind, hat man bis jetzt noch nicht herausbekommen. Aber die Leute in den Dörfern profitieren von ihnen, denn eines muss man diesen Piraten lassen: Sie teilen ihre Beute sinnvoll auf und helfen den Ärmsten der Armen. Wahrscheinlich nennen sie sich deshalb Gleichteiler oder Likedeeler. Niemand, der ein wenig Verstand im Kopf hat, wird sie verraten.« Er hätte nun auch noch sagen können, dass Bertram Wulflam, machtgierig und rachsüchtig, wie er nun einmal war, die Suche nach dem Schiffsräuber Goedecke Micheel keineswegs aufgegeben und in Johann Mentzel ein williges Werkzeug gefunden hatte. Er hatte sogar offiziell verkündet, dass er allen Freibeutern, diesen Dieben und Mördern ihr übles Handwerk legen würde und dass er die Ratsherren der anderen Hansestädte um Hilfe bitten würde. Aber Dietwolf Hademar sagte nichts dazu. Er wollte die Frau, die er liebte, ja nicht in Angst versetzen. »Was habt Ihr mit mir vor?« Claras Frage unterbrach seine Gedanken. »Was ich schon sagte«, antwortete er lächelnd. »Ich werde Euch beschützen und Euch ein neues Zuhause geben - ich werde Euch heiraten.« »Aber ich - Euch - nicht... niemals!« »Das werdet Ihr Euch noch überlegen«, erwiderte er zuversichtlich. »Ich werde der Mann sein, der Tag für Tag für Euch da ist, der Freude und Kummer mit Euch teilen wird, der der Vater Eurer Kinder sein wird... und Euch liebt und achtet.« »Wenn Ihr mich wirklich lieben und achten würdet, dann würdet Ihr mich jetzt von dannen ziehen lassen, dann müsstet Ihr Euch sagen, dass ich nie einen Mann lieben kann, der mich in den Kerker gebracht hat.« 29
Ihre zornig hervorgestoßenen Worte beeindruckten ihn nur wenig. Er lächelte sogar, als er antwortete: »Man soll niemals nie sagen, liebe Freundin. Doch nun wünsche ich Euch einen schönen Tag. Wir sehen uns dann beim Mittagessen.« Er ging und Clara sah ihm verstört nach. * Die ›Maria Anna‹ war mit allem gut ausgerüstet, was man zum Leben und zum Kämpfen brauchte - mit Grütze, Bohnen, Erbsen, Fisch und gesalzenem Fleisch und Fisch. Die Seeleute tranken dazu ihr Quantum Schiffsbier, ein leichtes, dünnes Getränk, von dem es genug Fässer an Bord gab. In den Laderäumen wurden jedoch statt der üblichen Fracht und der Ausrüstung vor allem Waffen gelagert: Beile, Armbrüste, Langbogen, Piken und Pfeile sowie Enterhaken und Enternetze. Letztere wurden kurz vor Beginn des Gefechtes über wichtige Teile des Schiffes gezogen und sollten den Gegner daran hindern, zu schnell an Deck zu gelangen. Goedeckes Schiff verfügte auch über eine Wurfmaschine, mit der man dem Feind schon über eine gewisse Entfernung großen Schaden zufügen konnte. Vor einer Woche, als man das Schiff von Nikolaus Schocke überfallen und geplündert hatte, war der Einsatz dieser Steinschleuder nicht nötig gewesen. Es hatte vollkommen genügt, die schnittige Kogge zu entern und die Mannschaft mit den neuen Feuerwaffen in Schach zu halten. Natürlich hatte es auch Tote und Verletzte gegeben. Freibeuter waren nun einmal keine Chorknaben, sondern hart gesottene Männer, die von Königin Margarete nicht nur Kaperbriefe erhalten hatten. Sie hatten auch das Recht zu handeln, wie sie es für richtig hielten und das Recht zur Eigenentlohnung. »Wir hätten die Kogge behalten und den Kapitän und seine Leute in ein Boot verfrachten sollen«, murrte Goedecke an diesem Morgen. »Es wäre ein schönes Schiff für dich gewesen, Klaus.« 30
Dieser schüttelte jedoch den Kopf. »Nein, so will ich es nicht haben. Ich brauche zwar ein Schiff, aber es soll eines sein, das extra für mich gebaut wird und das ich selbst bezahle.« Der Kapitän grinste. »Na, warum auch nicht? Es war bis jetzt ein guter Sommer. Jeder von uns hat reiche Beute gemacht. Man könnte sich glatt zur Ruhe setzen.« »Wir könnten, aber wir tun es nicht«, versetzte Störtebeker nun nüchtern. »Noch ist kein Frieden in Sicht. Die Königin strebt nach der absoluten Macht im ganzen nordischen Raum. Und die Leidtragenden dieser Kämpfe werden wie immer die kleinen Leute sein, diejenigen, die sich nicht wehren können, die hungern und darben werden. Wir müssen ihnen helfen. Denk an unseren Spruch: »Gottes Freund und aller Welt Feind.« »Ja, zum Teufel!« Der Kapitän, der in seiner Kajüte auf seinem Bett lümmelte, brach in ein schallendes Gelächter aus. »Ich denke, wir werden noch oft Gelegenheit haben, den Pfeffersäcken ihren Reichtum abzunehmen. Da sie ihn nicht freiwillig hergeben, müssen wir eben ein wenig... nachhelfen.« Klaus saß am Tisch, hatte einen Krug mit Bier vor sich und nahm nun einen tüchtigen Zug. Danach wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund und meinte dann wie nebenbei: »Die Männer werden allmählich unruhig. Wir sollten uns eine... äh... Pause gönnen.« »Ja, es wird tatsächlich Zeit dafür«, bestätigte Goedecke und strich sich zuerst über das kurz gehaltene dunkle Haar und dann über seinen Schnauzbart. »Machen wir uns für eine Weile rar auf der Ostsee, segeln wir zum Fischland oder... nach Rügen. Nein, nicht nach Rügen. Das ist viel zu nahe an Stralsund und zu dieser Zeit viel zu gefährlich. Wulflam hat mich noch nicht vergessen.« »Wahrscheinlich nicht«, gab Klaus zu. »Eine dänische Insel wäre besser, aber ich würde schon gern... nach Rügen segeln. Arnold Stuke ist auf dem Weg dorthin. Er hat gesagt, er würde mich mitnehmen.« »Wenn du nicht zu lange wegbleibst, dann mach, dass du fort kommst. Aber lass dich nicht erwischen. Mittlerweile weiß die Obrigkeit, dass du mein Freund bist und wird dich gern in Ketten legen.« 31
Klaus lachte nun auch und sagte unbekümmert: »So schnell fängt man den Adler der Meere nicht.« * Clara betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen zweifellos gut erholt. Ihr Haar war nachgewachsen, aber lockiger als zuvor. Der Arm war geheilt und die Beule an der Schläfe fast wie von selbst verschwunden. Nur einige rötliche Stellen an den Fußsohlen erinnerten daran, dass man sie dort mit glühenden Zangen gequält hatte. Aus diesem Grund hatte sie ihren Plan, heimlich von hier zu verschwinden, immer noch nicht ausführen können. Sie hatte ja noch Schmerzen beim Laufen. Inzwischen taten ihr die Füße jedoch nicht mehr weh. Schon in einer der kommenden Nächte würde sie ein Kleid, Unterzeug und Proviant in ein großes Tuch packen und damit in Richtung Norden wandern, Klaus hatte ihr damals von dem kleinen Hafen erzählt, von dem man am schnellsten nach Thiessow kam. Sicher würde sie einen Fischer überreden können, sie mitzunehmen. Und wenn sie erst auf der Insel war, dann brauchte sie nur noch geradeaus zu gehen. Ihr war bewusst, dass sie viele Tage brauchen würde, um zu ihrem Dorf zu gelangen. Aber was machte das schon? Noch war Sommer, noch konnte sie unter freiem Himmel schlafen und sich von Quellwasser und wilden Beeren ernähren, wenn der Proviant aufgebraucht war. Ihre größte Sorge war allerdings, dass sie kein Geld hatte, mit dem sie die Fahrt über das Wasser bezahlen konnte. Die Herrin oder Kathrine darum zu bitten, kam nicht in Frage. Die einzige Möglichkeit war und blieb Dietwolf Hademar. Er hatte ihr erst gestern angeboten, mit ihr zum Markt von Lievenhagen zu fahren, damit sie sich dort Schmuck und anderen Zierrat zum Sommerfest kaufen konnte. Vielleicht erlaubte er ihr, den Rest des Geldes zu behalten, wenn sie ihn darum bat. Das Bitten fiel ihr sehr schwer und sie war so aufgeregt, dass ihr gar nicht auffiel, wie fremd ihre Stimme klang. 32
Dietwolf, der auf dem Markt dicht neben ihr ging und sie misstrauisch beobachtete, begann zu ahnen, was sie vorhatte. Er sagte jedoch in ruhigem Tonfall: »Dort hinten ist ein Stand, an dem Schuhe angefertigt werden. Die Euren sind zwar für den täglichen Bedarf ausreichend, aber nichts für das Sommerfest. Kommt, gehen wir hin! Und wenn es Euch lieber ist, dann könnt Ihr die Schuhe auch selbst bezahlen.« Er holte einige Münzen hervor und gab sie ihr. »Vielen Dank«, würgte sie hervor, errötete stark und war den ganzen Tag nicht sie selbst. Aber sie erreichte, was sie wollte, denn der ehemalige Hauptmann forderte den Rest des Geldes nicht zurück. Er meinte lediglich: »Behaltet die Münzen nur. Vielleicht seht Ihr noch etwas anderes hier auf dem Markt, was Euch gefällt.« Es gefiel ihr natürlich nichts mehr, was ihn nicht wunderte. Sie wollte ihn verlassen, das spürte er, wollte die Sicherheit und die Fürsorge aufgeben, die er und seine Tante ihr boten. Bei diesen Überlegungen lächelte er nachsichtig vor sich hin. Sie würde nicht weit kommen. * Das Sommerfest hatte bis weit nach Mitternacht gedauert und war eine lang ersehnte Abwechslung für alle gewesen, die auf dem Gut lebten und arbeiteten. Tage des Müßiggangs und des kulinarischen Überflusses gab es nicht oft, auch bei Ermengarde Rödersen nicht. Deshalb hatte man geschmaust, getrunken, getanzt und gelacht, hatte den Gauklern zugeschaut und der kleinen Schauspielertruppe, die ein Mirakelstück zu Ehren der heiligen Apollonia aufgeführt hatte. Clara hatte sich auch amüsiert, schließlich war sie jung und vor einigen Wochen erst den Häschern des Herrn Wulflam entkommen. Dabei hatte ihr allerdings jemand geholfen - Dietwolf Hademar und sein Bursche Tillmann Roth. Warum hatte der Hauptmann das getan? Warum war er jetzt so freundlich zu ihr? Wollte er ihr Misstrauen einschläfern, um sie später leichter ausfragen zu können? Vermutlich! Warum sollte er es sonst tun? Clara verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln, während sie 33
jetzt ihr Bündel zusammenschnürte. Es fiel ihr sehr schwer, diesen sicheren Hort zu verlassen, das gestand sie sich widerwillig ein. Aber sie musste fort. Diese Nacht war besonders günstig, denn Herrschaft und Gesinde waren vor kurzem müde zu Bett gegangen. Während sie nun geräuschlos ihre Kammer verließ und anschließend durch die Halle schlich, dachte sie wie so oft an ihre Eltern. Die beiden waren bestimmt schon krank vor Sorge um ihr einziges Kind. Und Klaus würde sie auch vermissen, wenn er im Spätherbst wiederkam. Die junge Frau, die sich in dunkle und derbe Kleidung gehüllt hatte, zuckte bei diesen Gedanken erschrocken zusammen. Klaus und seine Männer durften ja gar nicht wiederkommen. Jetzt, wo man ihr Versteck anscheinend entdeckt hatte, war das viel zu gefährlich für sie. Sie musste ihn warnen. Wie ihr das gelingen sollte, wusste sie noch nicht. Aber das war in diesem Moment auch egal. Jetzt musste sie nur aus dem Haus heraus. Inzwischen war sie am Ausgang angekommen, wo sie den Schlüssel herumdrehte und die Tür vorsichtig öffnete. Sie huschte hindurch, lief über den Wirtschaftshof und dann zum Torhaus. Dort blieb sie einen Augenblick stehen, um einige Male tief Luft zu holen - und die Tränen abzuwischen, die ihr über die Wangen liefen. In diesem Augenblick hielt sie jemand am Arm fest und sagte gelassen: »Euer Spaziergang bei Nacht ist hiermit zu Ende, liebe Freundin. Kommt, ich bringe Euch zu Eurer Kammer zurück.« Der Hauptmann! Im fahlen Licht des Mondes konnte sie seine vor Zorn funkelnden Augen erkennen und seinen Mund, der zu einem schmalen Strich zusammengepresst war. »Bitte... lasst mich gehen. Ich will zu meinen Eltern... sie sorgen sich und...« »Das kann ich mir denken«, unterbrach er sie ungehalten, während er ihr das Bündel aus der Hand nahm und einen Arm um ihre Schultern legte. »Aber Ihr werdet Euch erinnern, dass meine Tante Euren Angehörigen eine Nachricht überbringen lassen wollte. Doch damit wart Ihr offenbar nicht einverstanden.« »Lasst mich bitte gehen«, wiederholte sie flehend. »Ich nütze Euch nichts und bin Euch und Eurer Tante nur eine Last.« 34
»Wie recht Ihr doch habt.« Er lachte leise und ließ das Bündel fallen. »Ihr seid eine Last, aber eine niedliche und liebliche und eine, die ich nie wieder hergeben werde.« Er hob sie schwungvoll hoch und trug sie zum Haus zurück. * Er hatte sie auf ihrem Bett abgesetzt und neben ihr Platz genommen, obwohl sie heftig dagegen protestierte. »Bitte geht jetzt! Es schickt sich nicht, wenn ein Mann in der Kammer einer Jungfrau ist. Eure Tante wird mit mir schelten.« »Jungfrau?« Dietwolf lächelte amüsiert. »Eine solche seid Ihr ganz bestimmt nicht mehr. Aber wie dem auch sei, Tante Ermengarde wird Nachsicht walten lassen, wenn sie erfährt, dass Ihr in Kürze meine Frau sein werdet.« »Was wollt Ihr mit einer Frau, die im Gefängnis gesessen hat?«, stieß sie spöttisch hervor. »Ich will sie lieben.« Diese schlichte und eindeutige Antwort verschlug ihr für ein paar Sekunden die Sprache. Dann schrie sie ihn an: »Lieben? Das könnt Ihr doch gar nicht. Ihr habt mich geschlagen und...« »Ich weiß. Liebste«, unterbrach er sie hastig. »Ich musste es tun, um dem Bürgermeister und meinen eigenen Leuten Sand in die Augen zu streuen. Nur so konnte ich Euch retten.« »Eine Seeräuberbraut?«, entfuhr es ihr unbedacht. »Seid Ihr die wirklich?«, fragte er spitzbübisch, während er sie liebevoll betrachtete. »Ich kann gar nicht glauben, was Ihr da sagt. Ihr seid meines Wissens doch nur die junge Frau, die am Strand so gern den Schiffen nachschaut und irrtümlich von einem übereifrigen Hauptmann nach Stralsund verschleppt wurde.« Sie erhob sich, denn seine unmittelbare Nähe verunsicherte sie mehr, als sie wahrhaben wollte. In seiner Rüstung und mit dem dichten Vollbart war er ihr unheimlich und gewalttätig vorgekommen. Jetzt, wo er keinen Bart mehr trug und wie ein Schlossherr gekleidet war, wirkte er freundlicher und weniger einschüchternd. Angst hatte 35
sie aber immer noch vor ihm, weil sie nicht wusste, was er mit ihr vorhatte - und weil er Klaus und seine Mannschaft wahrscheinlich auch weiterhin verfolgen würde. »Was habt Ihr nun mit mir vor?«, fragte sie schroff. »Werdet Ihr mich irgendwo einsperren, bis ich gefügig bin?« »Aber nein, selbstverständlich nicht«, versetzte er gelassen. »Aber ich werde auch nicht dulden, dass Ihr diesen Hof verlasst und ohne jeden Schutz bis zu Eurem Elternhaus wandert. Wisst Ihr eigentlich, wie weit es bis dahin ist?« »Ja... so ungefähr«, entgegnete sie kleinlaut. »Ich weiß auch, dass es nicht ungefährlich ist. Eine Frau allein ist Freiwild, aber ich kann nicht anders handeln.« »Ihr wollt Euren Liebsten warnen, nicht wahr?« Sie blickte ihn erschrocken an, worauf er beruhigend sagte: »Ich habe nichts dagegen, halte es sogar für angebracht. Ich weiß nicht, ob Goedecke Micheel wirklich das Schiff vom Bürgermeister gestohlen hat. Ich habe nur im Verlauf der letzten Monate erkannt, dass Wulflam rachsüchtig und verlogen ist. Aber er hat den Herzog und viele Ratsherren der Hanse, unter anderen auch Simon von Utrecht und den Herrn von Putbus auf seiner Seite. Sie werden den Piraten und vor allem dem vermeintlichen Schiffsräuber Goedecke Micheel auch weiterhin auf der Spur sein und planen, ihn und seine Leute in ihrem Winterquartier zu überraschen. Den Rest könnt Ihr Euch denken.« Clara schwieg bedrückt. Was Dietwolf Hademar ihr eben erklärt hatte, wusste sie selbst auch. Klaus und seine Leute hatten zwar beim einfachen Volk viele Freunde, waren aber ständig in Gefahr, von den Mächtigen gefasst und hingerichtet zu werden. Sie seufzte leise und wandte sich ab. Der Mann, der sie hier gefangen hielt, sollte ihre Tränen nicht sehen. »Weint nicht, Liebste«, murmelte er und zog sie trotz ihrer Abwehr in seine Arme. »Bei mir seid Ihr geborgen. Wenn wir erst verheiratet sind, werdet Ihr die junge Herrin hier sein. Ihr werdet Pflichten, aber auch Rechte haben und ein angemessenes Nadelgeld bekommen, so wie es üblich ist.« 36
Seine Beteuerungen und Versprechungen rührten sie, doch das sollte er keinesfalls merken. Deshalb fauchte sie ihn an, während sie versuchte, sich von ihm zu lösen: »Ihr könnt mir erzählen, was Ihr wollt. Ihr könnt mich einsperren und hungern lassen. Ihr könnt mich jedoch nicht zwingen, Euch zu glauben... oder zu lieben.« »Zappelt doch nicht so«, erwiderte er lächelnd. »Ich will doch weiter nichts, als Euch spüren. Doch nun ist es genug für heute. Mein Bursche wird Euer Bündel inzwischen aufgehoben und hergebracht haben. Packt Eure Sachen nur wieder aus und geht zu Bett. Gute Nacht, meine Liebe.« Er hatte sie losgelassen und deutete eine Verbeugung an, bevor er ihre Kammer verließ. Kurz darauf klopfte jemand an die Tür. Es war Tillmann Roth, der ihr schweigend ihr Bündel übergab. Clara bedankte sich und verstaute anschließend ihre Kleidung wieder in der Truhe, die in ihrem Zimmer stand. Es hatte ja doch keinen Zweck zu fliehen. Dietwolf Hademar war ein zu guter Kerkermeister. * Die ›Maria Anna‹ segelte in Richtung Gotland, wo Kapitän und Mannschaft einige Zeit verbringen wollten, um notwendige Reparaturen am Schiff durchzuführen und ein paar Frauen kennen zu lernen, die willens waren, einsame und liebebedürftige Seemänner zu trösten. Klaus hatte die Kogge vor ein paar Tagen verlassen. Arnold Stuke, mit dem Goedecke und er befreundet waren, hatte ihn mitgenommen bis vor die Küste Rügens, wo das Schiff einen Tag ankern würde. Mit einer Schaluppe waren er und Gerrit Wigbald in der Nacht bis kurz vor Saßnitz gerudert und hatten das Boot dann am Ufer versteckt. Sie hatten sich anschließend in blau-gelb karierte Gewänder und Beinlinge aus dunkler Wolle gehüllt, wie sie Musikanten und Gaukler gern trugen und hatten sich schon Tage zuvor darin geübt, ein Instrument zu spielen. 37
So kamen sie im Laufe des Vormittags im Dorf an, gingen die Straße entlang, Klaus spielte auf der Hornpfeife und Gerrit sang dazu mit seiner volltönenden Stimme ein Lied von Liebe und Krieg. Die Einwohner erkannten sie nicht. Wie sollten sie auch? Die beiden Schelme mit ihren bemalten Gesichtern und bunten Kappen, die ihre Spaße machten und die Münzen einsteckten, die man ihnen vereinzelt zuwarf, ähnelten in keiner Weise den rauen Gesellen des Meeres. Und als sie nun den Weg zur Schenke von Hannes Wichmann einschlugen, grölten einige Jungen: »Geht nur hin zum Wirt und seiner Alten! Die werden Euren Spaßen und Eurem Gesang aber nichts abgewinnen können.« »Und warum nicht?«, erkundigte sich Klaus mit heiserer Stimme. »Sie haben ihre Tochter verloren, vor Monaten schon. Soldaten haben sie einfach mitgenommen. Kein Mensch weiß, warum. Seitdem hat man die Clara nicht mehr wieder gesehen und auch nichts mehr von ihr gehört.« Klaus fiel es schwer, sein freundliches Lächeln zu bewahren. Seine Gedanken überschlugen sich, aber er sagte nichts, sondern warf seinem Gefährten nur einen bedeutungsvollen Blick zu. Gerrit Wigbald verstand. Er rief: »Gehen wir trotz allem zum Wirt und spielen dort zum Tanz auf. Das wird ihm und Euch Freude machen.« Dieser Vorschlag fand die begeisterte Zustimmung der meisten Dörfler. Man folgte den Spielmännern, lachte und sang bis man vor der Schenke angekommen war. Dort verstummte man und schaute sich betreten an. Es war leicht, über das Leid der Wirtsleute zu spotten, aber ihm und seiner Frau von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, war viel schwerer. Man befürchtete sogar, dass Hannes Wichmann seinen Hund auf die bunte Truppe hetzen würde. Doch das geschah natürlich nicht. Er nickte nur müde, als man sich an die Tische setzte, die vor der Schenke standen und nach Bier, Wein sowie einer deftigen Mahlzeit rief. Ein dralles Mädchen mit blonden Zöpfen ging dem Wirt zur Hand, brachte Getränke sowie Brot, Käse und Schinken zu den Gästen. 38
Wichmann hatte sie eingestellt, weil er und seine Frau eine Hilfe in der Wirtschaft brauchten, denn Clara würde ja doch nicht wiederkommen. »Hey, Suse!«, rief ein untersetzter Mann. »Beeile dich mit dem Bier. Ich bin am Verdursten.« »Ich komme ja schon, Herr.« Die Schankmagd eilte zu ihm an den Tisch, stellte einen großen Krug vor ihn hin und beugte sich so tief herunter, dass er ihr in den Ausschnitt ihres Kleides schauen konnte. Der Gast tat das offensichtlich gern, wobei er mit der Zunge schnalzte, seine Stimme war jedoch kühl, als er sich leise erkundigte: »Kennst du die beiden Musikanten?« »Ich weiß nicht so recht, Herr«, antwortete sie ebenso leise. »Der größere kommt mir irgendwie bekannt vor... und dem Wirt anscheinend auch. Schaut doch nur, sie unterhalten sich und...« »Nun hast du genug geschwatzt, Mädchen. Geh deiner Arbeit nach und halte die Augen und Ohren offen.« Der Mann machte eine ungeduldige Handbewegung, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Suse störte das nicht, sie kicherte und wandte sich den anderen Gästen zu. Der Mann blieb noch eine Weile sitzen, trank langsam sein Bier aus und stand dann auf. Er verlor sich bald in der Menge. Inzwischen tanzten einige Paare vor der Schenke sozusagen nach Gerrit Wigbalds Pfeife, man hörte das schallende Gelächter der Männer und das Kreischen der Mädchen, wenn einer der Burschen gar zu aufdringlich wurde. Klaus nahm an der Volksbelustigung nicht teil. Ihm war es gelungen, bis zur Küche vorzudringen, wo Elrike Wichmann eben ein Stück Schinken in mundgerechte Scheiben schnitt. »Seid gegrüßt, Frau Wirtin.« Er hatte die Kappe vom Kopf genommen und deutete eine Verbeugung an. Die Frau erkannte ihn nicht gleich, sie schaute ärgerlich zu ihm hin und fragte schroff: »Was wollt Ihr hier?« »Ich komme wegen Clara. Die Leute erzählen, dass sie von Soldaten verschleppt wurde. Ist das wahr?« Sie zuckte zusammen, das Messer fiel ihr aus der Hand, während sie den angeblichen Spielmann bestürzt musterte und ihn schließlich erkannte. 39
»Ihr?«, flüsterte sie entgeistert. »Was wollt Ihr denn noch? Genügt es Euch nicht, die Clara ins Unglück gestürzt zu haben? Wollt Ihr nun meinen Alten und mich noch um Haus und Hof bringen?« »Elrike, er kann doch nichts dafür.« Mit diesen Worten war der Wirt in die Küche gekommen. Er war genauso wie seine Frau in den vergangenen Monaten sehr gealtert. Man sah ihnen an, dass der Verlust ihres Kindes sie fast um den Verstand gebracht hatte. Die Wirtin antwortete nicht, sondern schluchzte leise und wischte sich die Tränen mit dem Schürzenzipfel ab. Ihr Mann gab jedoch Auskunft: »Man hat uns Clara genommen... an jenem Tag, als Ihr diesen Ort verlassen habt. Zwei Jungen, die am Strand nach Bernstein gesucht haben, haben erzählt, wie Soldaten über sie hergefallen sind und sie mitgenommen haben. Seitdem fehlt jede Spur von ihr.« »Habt Ihr denn nicht nach ihr gesucht? Vielleicht haben die Kerle sie... misshandelt und vergewaltigt und dann irgendwo liegen lassen?« »Fast alle im Dorf haben nach ihr gesucht, überall, soweit unsere Füße uns getragen haben. Wir haben die Spuren verfolgt und in den anderen Dörfern nach den Soldaten gefragt. Das einzige, was wir in Erfahrung bringen konnten, war, dass der Trupp die Insel verlassen hat.« Die Stimme des Wirtes brach, was seine Frau veranlasste, ihm über den Rücken zu streichen und laut zu sagen: »Ich lasse es mir nicht ausreden. Man hat sie Euretwegen gefangen genommen, denn es waren schon vorher Unbekannte hier, die viele Fragen nach den Piraten gestellt haben. Und hinterher war es noch schlimmer. Wie die Spürhunde sind sie durch das Dorf geschlichen, haben geschnüffelt und haben nach einem Goedecke Micheel und seinem Freund Klaus Störtebeker gefragt, die ein Schiff des Herrn Wulflam gestohlen haben sollen und jetzt damit die Ostsee unsicher machen. Sie überfallen andere Schiffe, stehlen, morden und...« Klaus war blass geworden. Er unterbrach die Frau und versetzte aufgebracht: »Und Ihr meint, Frau Wirtin, die Obrigkeit stiehlt nicht? Ich nenne es jedenfalls so, wenn die feinen Herren aus den armen Leuten das letzte Geld herauspressen, wenn sie aus ihnen Leibeigene und Vogelfreie machen, wenn sie nie genug bekommen können und bestialische Strafen verhängen, wenn jemand aufbegehrt. Wir versu40
chen nur, die Not der Unterdrückten zu lindem und stehen obendrein in königlichem Dienst.« »Das wissen wir und wir sind auch sehr dankbar«, warf Hannes Wichmann hastig ein. »Aber wir haben unser Kind verloren. Diese Tatsache macht uns ungerecht.« »Schon gut.« Klaus winkte ab und setzte dann entschieden hinzu: »Ich werde nach Clara suchen.« »Das Weib ist im Kerker gestorben!«, rief in diesem Moment ein Mann, der unbemerkt die Küche betreten haben musste und nun höhnisch grinsend vor ihnen stand. »Aber vorher hat es wie ein Vögelchen gezwitschert. Deshalb wissen wir alles über Euch, Klaus Störtebeker und Goedecke Micheel, den Schiffsräuber. Heute haben wir Euch endlich erwischt. Und Euren sauberen Freund werden wir auch noch zu fassen kriegen. Darauf könnt Ihr Gift nehmen.« Er eilte zum Fenster und wollte offenbar jemanden rufen. Doch er kam nicht mehr dazu. * »Ihr werdet gar nichts.« Genauso lautlos wie Johann Mentzel, der neue Hauptmann des Stralsunder Bürgermeisters, war ein hoch gewachsener Mann in die Küche gekommen. Er trug eine Maske, hatte den Hut tief in die Stirn gezogen und ging jetzt mit raschen Schritten auf den Gast zu, dem die Schankmagd Suse vorhin so gefällig gewesen war. Dieser wich unwillkürlich zurück, hatte aber keine Chance gegen den Maskierten, der ihm blitzschnell ein Messer in die Brust stieß. Menzel röchelte nur und war schon tot, als er zu Boden fiel. »Lasst den Verräter hier nicht liegen«, sagte der Mann gelassen zu den Wirtsleuten. »Schafft ihn irgendwohin, wo man ihn nicht sieht.« »Oh, Gott«, stöhnte Elrike Wichmann verzweifelt. »Ein Mord in unserer Schenke! Was soll nun aus uns werden?« »Beruhigt Euch, gute Frau. Seid froh, dass er niemand mehr schaden kann, auch Euch nicht, Klaus Störtebeker.« Mit diesen Worten wandte sich der Fremde an den Freibeuter und fügte dann nachdrücklich hinzu: »Aber die anderen, die zu ihm gehören, können es. In 41
der Schenke wimmelt es inzwischen vor verkleideten Soldaten. Die werden bald nach ihrem Hauptmann suchen. Deshalb geht und seid weiterhin Gottes Freund und all er Welt Feind.« »Wer seid Ihr?«, fragte Klaus geradeheraus. »Ein Freund, der Euch bittet, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen und nie mehr herzukommen. Bertram Wulflam will Euer Leben und das Eurer Besatzung. Dieser Mann«, er stieß mit der Stiefelspitze gegen den Toten, »hatte den Auftrag, hier zu spionieren und so lange mit einem großen Trupp von Söldnern abzuwarten, bis Ihr wieder auftaucht. Man hat gewusst, dass Ihr zu Eurem Mädchen wollt. Heute hat dieser Mann jedoch einen entscheidenden Fehler gemacht, er hat sich überschätzt... und nicht mit mir gerechnet.« »Ihr wisst viel«, erwiderte Klaus zögernd und wiederholte: »Wer seid Ihr und warum wisst Ihr so genau Bescheid?« »Mein Name ist Konrad Hinze. Ich war Schreiber beim Bürgermeister, habe meinen Dienst aber vor einigen Monaten gekündigt.« »Wisst Ihr vielleicht etwas von Clara?« Der Wirt, seine Frau und Störtebeker fragten das fast gleichzeitig. »Sie ist tot. Mehr weiß ich nicht - leider. Doch wir haben jetzt keine Zeit mehr zum Reden. Die Soldaten werden bald hier sein.« Der fremde Mann hatte nicht übertrieben. Wie Katzen sich an Mäuse heranschlichen, so umkreisten einige Unbekannte die immer noch feiernden Dorfbewohner und tauchten jetzt sogar schon in der Nähe der Küche auf. Klaus' Gesicht war wie versteinert vor Schmerz. Clara war tot. Sie hatte seinetwegen sterben müssen. Verraten hatte sie ihn sicher nicht. Sie hatte ja kaum etwas gewusst, nur seinen Namen und der war inzwischen allgemein bekannt. »Geht, wenn Euch Euer Leben lieb ist«, drängte der ehemalige Schreiber des Herrn Wulflam. »Noch hat man Euch nicht erkannt.« »Ihr habt recht.« Klaus spähte vorsichtig aus dem Fenster, stieß dann einen Pfiff aus, den Gerrit Wigbald sofort verstehen würde. Danach legte er dem Wirt kurz die Hand auf die Schulter und murmelte: »Ich habe Clara geliebt und bin jetzt genauso verzweifelt wie Ihr.« 42
Der alte Mann sagte nichts, seine Frau auch nicht. Sie standen wie erstarrt da, denn sie hatten nun die letzte Hoffnung aufgeben müssen, ihr Kind wieder zu sehen. Sie nahmen kaum noch wahr, wie Klaus Störtebeker und der Fremde sich zunickten und dann die Küche verließen. So standen sie auch noch, als die Schankmagd den Raum betrat. Diese bemerkte den Toten sofort, er lag ja direkt vor den Wirtsleuten und sein Blut hatte auf dem Fußboden eine große Lache gebildet. Suse fielen vor Entsetzen beinahe die Augen aus dem Kopf, aber ihre Stimme versagte nicht. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, der dem lustigen Treiben vor der Schenke ein jähes Ende setzte. * In diesem Augenblick begriffen Hannes Wichmann und seine Frau in aller Deutlichkeit, dass man eventuell ihnen den Mord anlasten würde und dass sie das gleiche Schicksal erleiden würden wie ihre Tochter, wenn sie nicht beizeiten flüchteten. In aller Eile beförderten sie nun die Leiche von Johann Mentzel durch eine hölzerne Falltür in den Keller, wischten das Blut fort, rafften anschließend ihr Erspartes und die notwendigste Kleidung zusammen, setzten die Küche in Brand und verließen das Haus durch den Hinterausgang. Das Geschrei und das aufgeregte Geplapper der Schankmagd hatte die Soldaten unterdessen hellhörig gemacht. Ihr Hauptmann, der vor einer Weile noch am Tisch gesessen hatte, war nirgends zu finden. Und wenn man das Gestammel von dieser blöden Suse richtig interpretierte, dann war ihr Anführer jetzt tot und lag in der Küche der Wirtsleute. Die neugierigen und gaffenden Dorfbewohner rigoros beiseite schiebend, bahnten sie sich einen Weg durch die Menge und wollten ins Haus stürmen. Doch die Tür war verschlossen. Sie schlugen mit Fäusten und Waffen dagegen und hatten schließlich Erfolg. Sie brachen die Tür auf, wichen aber vor dem beißenden Qualm zurück, der ihnen entgegen waberte. »Verflucht noch mal!«, schrie einer der Männer. »Hier brennt es irgendwo.« 43
»Es ist die Küche!«, rief einer, der sich weiter vorgewagt hatte. »Bloß raus hier! Sonst sind wir verloren.« Sich gegenseitig behindernd rannten sie hinaus und begannen mit der systematischen Suche nach Hannes und Elrike Wichmann. Klaus Störtebeker und sein Bootsmann hatten unterdessen die schnell einsetzende Panik genutzt und waren zum nahen Wald gelaufen. Dort entledigten sie sich in aller Eile ihrer bunten Gewänder und zogen die einfachen Kittel über, die sie vorsichtshalber unter einem Strauch versteckt hatten. »Man wird die Wirtsleute verhaften«, stieß Gerrit besorgt hervor. »Wir hätten bleiben sollen, um ihnen dieses Schicksal zu ersparen.« Klaus schüttelte den Kopf. »Wir können ihnen nicht helfen, wir sind nur zu zweit. Wem nützt es, wenn man uns gefangen nimmt?« »Niemandem nützt es«, erwiderte Wigbald betroffen, während er Störtebeker zur Schaluppe folgte. »Wir dürfen nicht unseren Auftrag vergessen. Das ist wahr. Aber eines Tages werden wir stark genug sein, um den Bürgermeister zu besiegen.« »Das werden wir«, bestätigte Klaus festen Tones. »Eines Tages wird er büßen müssen - für alles, was er den Menschen angetan hat. Doch noch ist die Zeit nicht reif dafür, noch haben wir zu wenig Verbündete und zu wenig Waffen.« »Ob dieser Maskierte wirklich auf unserer Seite ist?« Klaus zuckte die Schultern. »Ich glaube schon. Er hat uns die Flucht ermöglicht, indem er den Anführer der Soldaten getötet hat. Ohne ihn hätte man dich und mich erwischt.« »Wer kann denn ahnen, dass die Häscher des Bürgermeisters hier heimlich herumlaufen?« »Man muss auch mit dem Unmöglichen rechnen«, entgegnete Störtebeker nüchtern. »Wir können jetzt nicht mehr tun, als zu verschwinden, die anderen zu warnen und uns für den kommenden Winter ein besseres Quartier suchen. Hierher können wir nicht mehr zurück.« * 44
Hannes Wichmann war kein Dummkopf. Innerhalb von wenigen Minuten hatte er die richtige Entscheidung getroffen. Ehe die Soldaten ihn und Elrike verhören oder gar verhaften konnten, hatte er nicht nur die Schenke, sondern auch noch das Heu in dem zur Zeit leeren Stall angezündet und den laut bellenden Hund von seiner Kette gelöst. Die meisten seiner Gäste waren unterdessen bereits vor Angst davongerannt. Es gab ohnehin nichts mehr zu retten, denn die Schenke brannte inzwischen lichterloh. Der Wirt und seine Frau rannten auch und wollten ebenso wie Störtebeker in den Wald flüchten. Zwei Soldaten bemerkten ihre Flucht trotz des Feuers und setzten ihnen nach... bis sie von Pfeilen getroffen zu Boden sanken. »Gott sei Dank«, ächzte die Wirtin und blieb für einige Augenblicke schwer atmend stehen. »Mögen sie in der Hölle schmoren.« »Ja, ja sollen sie nur«, keuchte der Wirt. »Aber du kannst hier nicht ausruhen, Weib! Komm weiter!« »Ich kann nicht mehr.« »Doch, du kannst.« Hannes Wichmann zerrte seine Frau hinter sich her. »Wir müssen es wenigstens bis zum Strand schaffen.« »Dort finden sie uns auch«, jammerte sie, bemühte sich aber, schneller zu gehen. »Ja, aber nicht gleich. Noch haben wir einen Vorsprung. Und vielleicht haben wir genug Zeit, um das Boot hervorzuholen und damit bis zum Festland zu rudern.« »Oh Gott, oh Gott!« Elrike musste sich erschöpft an einen Baum lehnen. In diesem Augenblick sahen sie den Pferdewagen, der direkt auf sie zusteuerte. »Kommt und steigt hinauf!« Der Maskierte war ihnen gefolgt und ließ seine Pferde unmittelbar vor ihnen zum Stehen bringen. »Na, nun macht schon!«, wiederholte er mahnend, als Hannes und Elrike sich fassungslos und ängstlich ansahen. »Ich bin Euer Freund bringe Euch in Sicherheit. Das schwöre ich.« Tillmann Roth, der das Gespann führte, war bereits vom Wagen gesprungen und half dem Ehepaar aufzusteigen. Kaum, dass sie sa45
ßen, ihre wenigen Habseligkeiten in den zitternden Händen und ihren Hund neben sich, ging es wie die wilde Jagd davon. »Seid unbesorgt«, sagte der vermeintliche Konrad Hinze und tätschelte dem Hund den Kopf. »Ihr habt in dieser Stunde viel verloren, aber es wird bald einen neuen Anfang für Euch geben. Ich habe ein Gut auf dem Festland. Dort werdet Ihr Arbeit und Brot finden.« »Als Leibeigene?« »Aber nein, selbstverständlich nicht«, erwiderte der Mann mit der Maske und beantwortete damit die angstvolle Frage des Wirtes. »Ich will mich in Kürze verheiraten und brauche zuverlässige Leute, die meiner Gemahlin zur Hand gehen.« »Wenn es so ist, Herr, dann danken wir Euch von Herzen für die Rettung«, sagte Elrike Wichmann mit bebender Stimme. »Wir werden Euch und Eurer zukünftigen Frau gern dienen. Das versprechen wir hoch und heilig.« »Das freut mich«, versetzte der Fremde zufrieden. Dann rief er seinem Burschen zu: Eile dich, Tillmann. Je schneller wir das Schiff erreichen, um so eher sind wir den Bütteln des Bürgermeisters entronnen.« Nach diesen Worten nahm er die Maske ab und steckte sie in seine Jackentasche. Und dann sagte er lächelnd: »Ich bin nicht Konrad Hinze, sondern Dietwolf Hademar.« »Ja, aber warum habt Ihr Euch denn unter falschem Namen vorgestellt?«, stotterte Hannes Wichmann und blickte seine Frau verstört an. »Genaues werdet Ihr zu gegebener Zeit erfahren«, erwiderte der Gutsherr. »Wenn Ihr alles wisst, dann werdet Ihr mich auch verstehen.« * »Du hast schon viel gelernt, Mädchen«, meinte Ermengarde Rödersen lobend. »Und du bist fleißig und hast geschickte Hände. Das wird meinen Neffen freuen.« 46
Clara, die am Webstuhl saß und das beinahe fertige Tuch aus blau gefärbter Wolle betrachtete, nickte nur mit dem Kopf. Ihr war es egal, ob Dietwolf Hademar sich freute oder nicht. Sie sah in ihm nach wie vor ihren Feind, dem sie eines Tages doch entwischen würde. Sie musste nur nach einer besseren Möglichkeit suchen. Zur Zeit war er nicht anwesend, war schon vor zwei Wochen mit seinem Burschen aufgebrochen, um in der Stadt Geschäfte zu erledigen. Sie vermisste ihn nicht. Nein, das war nicht ganz richtig. Er fehlte ihr doch, denn sein geduldiges Werben war so ganz anders als die ungestüme Leidenschaft, die sie von Klaus kannte. Aber Klaus war immer ehrlich zu ihr gewesen, Dietwolf Hademar jedoch nicht. Gott mochte wissen, was er mit ihr vorhatte. Ermengarde Rödersen störte sie nicht bei ihren Überlegungen. Sie war zum Fenster gegangen, hatte es weit geöffnet und schaute hinaus. »Dietwolf ist eben zurückgekommen!«, rief sie plötzlich. »Komm, Mädchen, schau ihn dir an. Ist er nicht ein ansehnliches Mannsbild?« »Ja, durchaus.« Clara hatte sich erhoben und stand nun neben der älteren Frau. »Aber es sieht so aus, als hätte er Gäste mitgebracht. Die haben einen... Hund...« Die Worte erstarben ihr auf den Lippen, denn sie hatte in diesem Moment den Mann und die Frau erkannt. Es waren ihre Eltern. In diesen Minuten vergaß sie, dass Dietwolf sie verschleppt, geschlagen und gedemütigt hatte. Sie rannte hinaus, die Treppe hinunter, durch die große Halle und fiel ihrer Mutter um den Hals. Elrike war sehr blass geworden, genauso wie ihr Mann. Sie wollte sprechen und vor Glück lachen, aber sie konnte es nicht. Sie drückte Clara nur fest an sich und murmelte mit schwacher Stimme: »Gott hat meine Gebete erhört. Du lebst und nun ist alles gut.« »Ja, Mama«, flüsterte Clara und warf sich ihrem Vater in die Arme. Das Getätschel und Geschluchze gefiel dem Hund überhaupt nicht. Er begann jämmerlich zu winseln und erreichte so, dass sein schon lange verschollenes Frauchen ihm die gebührende Aufmerksamkeit schenkte. 47
»Joschi, mein Kleiner«, lachte Clara unter Tränen und nahm den kleinen Mischlingshund auf den Arm. »Wie kommt es denn, dass ihr alle hier seid?« »Herr Dietwolf hat uns gerettet und mitgenommen«, antwortete Hannes Wichmann. »Aber mit keinem Wort hat er erwähnt, dass wir dich hier finden würden. Oder hat er nicht gewusst, dass du unsere Tochter bist?« »Ich glaube doch.« Clara setzte den Hund wieder auf die Erde und ging zu Dietwolf Hademar, der in der Nähe der Tür stand und das Wiedersehen von Eltern und Tochter gerührt beobachtet hatte. »Ist es so?«, fragte sie ihn. »Habt Ihr gewusst, wer ich in Wirklichkeit bin?« »Gewusst nicht, aber geahnt«, entgegnete er und strich flüchtig über ihre Wange. »Und da Ihr stumm wie ein Fisch wart und mir niemals die Wahrheit gesagt hättet, bin ich zu Eurem Heimatort gereist und wollte Euren Eltern eigentlich nur sagen, dass Ihr lebt. Doch es ist alles anders gekommen. Die Soldaten des Bürgermeisters sind immer noch da und versetzen mittlerweile mit ihren Drohungen wirklich das ganze Dorf in Angst und Schrecken.« »Warum?« Clara blickte zu ihren Eltern. »Sie sind den Piraten auf der Spur«, entgegnete ihr Vater. »Es geht da um ein Schiff, das Goedecke Micheel dem Bürgermeister von Stralsund gestohlen haben soll... und um einen anderen Mann, der ihm dabei geholfen hat, um Klaus Störtebeker.« »Nun wollte man Euch gefangen nehmen, nicht wahr?« »Ja, Kind. Aber mit Hilfe von Herrn Dietwolf konnten wir fliehen. Er hat uns angeboten, hier ein neues Leben zu beginnen.« »Man wird Euch suchen.« »Nein, man wird entweder annehmen, dass wir in unserem Wirtshaus verbrannt oder auf der Flucht umgekommen sind. Und uns suchen die Soldaten ja eigentlich auch nicht, sondern die Piraten. Und die werden ihnen bestimmt immer wieder entwischen.« »Werden sie nicht«, rief Clara bestürzt. »Sie werden im Herbst wiederkommen und in die Falle gehen, die man ihnen stellen wird.« 48
»Soweit wird es nicht kommen«, bekannte Dietwolf schlicht. »Ich habe Klaus Störtebeker gewarnt.« Clara konnte es nicht fassen. »Aber... wie konntet Ihr...? Ihr kennt ihn doch gar nicht. Wo habt Ihr ihn denn getroffen?« »In der Schenke, als er sich nach Euch erkundigte.« »Was habt Ihr ihm gesagt?« Dietwolf zögerte mit der Antwort, blickte zu Hannes Wichmann und der versetzte nach einem tiefen Atemzug: »Wir haben ihm die Wahrheit gesagt, so wie wir sie zu diesem Zeitpunkt wussten. Dann kam ein Büttel des Herrn Wulflam und schrie uns ins Gesicht, dass du gestorben warst. Er wollte Klaus sofort festnehmen, doch Herr Dietwolf wusste das zu verhindern.« »Klaus konnte also fliehen?« »Ja, er und sein Begleiter sind den Häschern entkommen und vermutlich längst wieder auf dem Meer. Sie werden nicht mehr nach Saßnitz kommen.« Dietwolf hatte einen Arm um Claras Schultern gelegt und setzte nun ruhig hinzu: »Er wird seinen Weg gehen, so wie es ihm bestimmt ist. Ihr solltet Euch nicht allzu viel Sorgen machen.« »Und er denkt nun, dass ich tot bin?« »Ja«, erwiderte der junge Gutsherr knapp. »Ich halte das für besser, in unser aller Interesse. Aber wenn Ihr mit dieser Lösung nicht einverstanden seid, dann werde ich es irgendwie ermöglichen, dass er eine entsprechende Nachricht bekommt.« Clara zögerte, schaute zu ihm hoch, dann zu ihren Eltern und schließlich zu Ermengarde Rödersen, die inzwischen auch in die Halle gekommen war. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte leise: »Lasst alles, so wie es jetzt ist. So ist es gut.« * »Was wird nun aus uns beiden, Liebste?«, fragte Dietwolf am nächsten Tag, als er mit Clara durch den Garten ging. »Wollt Ihr weiterhin in mir Euren Kerkermeister und Feind sehen? Oder lasst Ihr mir doch die Hoffnung, dass Ihr eines Tages meine Gemahlin werdet?« 49
Sie blickte ihn ernst an und erwiderte: »Klaus ist kein Mann zum Heiraten. Das weiß ich längst. Aber er ist noch in meinem Herzen. Ich weiß nicht, ob ich jemals einen anderen Mann lieben kann.« »Das weiß ich doch, aber ich habe Geduld und kämpfe um Eure Zuneigung. Werdet Ihr mir das gestatten, Nantje Friesen oder Clara Wichmann?« Sie lächelte unwillkürlich, beklagte sich aber: »Wie macht Ihr das nur? Ich komme einfach nicht gegen Euch an.« »Ich liebe Euch eben, habe es bereits in dem Augenblick getan, als Ihr mir so tapfer gegenüber gestanden habt. Ich wollte es nur nicht wahrhaben.« Sie glaubte ihm - endlich und sagte nach einer kleinen Weile: »Ich bin Euch sehr dankbar, Dietwolf Hademar, für alles, was Ihr für meine Eltern, für Klaus und für mich getan habt. Ihr seid nicht mehr mein Feind... und ich werde gern Eure Frau sein.« »So ist es recht«, murmelte er und zog dann ihre Hand an die Lippen. »Ihr werdet diesen Schritt nicht bereuen. Kommt, lasst uns gehen, damit wir Euren Eltern die frohe Botschaft mitteilen können.« Sie nickte nur und legte ihre Hand in die seine, auch wenn ihr das Herz noch weh tat. Doch tief in ihrem Innersten wusste sie, dass sie mit Klaus niemals ganz glücklich geworden wäre. Hier auf diesem Gut konnten ihre Eltern einen geruhsamen Lebensabend verbringen, hier war für ihr Alter gesorgt, hier konnten sie ihren Enkeln beim Spielen zuschauen - und hier würde sie selbst die Herrin sein, angesehen und irgendwann vielleicht auch glücklich. * Das politische Gerangel um die alleinige Vorherrschaft im Ostseeraum dauerte an, denn Königin Margarete wollte ihre ehrgeizigen Pläne so bald wie möglich verwirklichen. Dazu war ihr jedes Mittel recht und man munkelte, sie wolle den schwedischen König Albrecht stürzen und auch mit Hilfe der Piraten zum alsbaldigen Angriff übergehen. Inzwischen war ihr Mann, König Haakon VI., gestorben, was sie zur vorläufigen Regentin machte. Nun, das war sie vorher auch schon gewesen, 50
so tratschte man überall, denn der gute Haakon hatte mächtig unter ihrem Pantoffel gestanden. Margarete hatte nun also freie Hand und trachtete danach, die anderen Länder wirtschaftlich zu schädigen, um so am Ende siegen zu können und Königin über die Reiche Dänemark, Norwegen und Schweden zu werden. Störtebeker und Goedecke war diese Tatsache hinreichend bekannt, schließlich hatten auch sie einen Kaperbrief Ihrer Majestät in der Tasche, der sie jedoch nie daran hindern würde, die gesamte Beute denjenigen zu übergeben, die sowieso schon genug hatten und im Krieg niemals so litten, wie das Volk. So war es immer schon gewesen und so würde es auch bleiben. Sie konnten dieses Leid jedoch nur mildern und hatten aus diesem Grund am gestrigen Tag beschlossen, das mächtige Handelsschiff, das in ihrer Nähe kreuzte, zu entern und es um seine Waren zu erleichtern. Die Vorbereitungen waren bereits getroffen worden. Man hatte Steine und Eisen in die Marsen gebracht, um damit werfen zu können, die Armbrustschützen hatten sich versammelt, die Kanone stand gefechtsbereit und das Deck war mit Sand bestreut worden, damit man in eventuellen Blutlachen nicht ausrutschte. Doch zuerst glitten die Schiffe nur aneinander vorbei, bei dem nächsten Manöver gelang es den Freibeutern jedoch schon, die Enterhaken anzubringen und das Schiff mit lautem Geschrei zu stürmen. Der Kampf Mann gegen Mann begann - und er war grausam. Tote und Verletzte lagen bald auf dem Deck. Niemand kümmerte sich um sie. Sie wurden einfach ignoriert. Das Kampfgetümmel endete jedoch unvermutet, als sich der Kapitän des Handelsschiffes ergab. Anscheinend dämmerte es ihm, dass er lieber den Verlust der Güter, als das Ende seines Lebens hinnehmen wollte. »Bringt die Waren zu uns!«, ordnete Goedecke an, während Störtebeker mit den Armbrustschützen die Mannschaft des Handelsschiffes in Schach hielt. »Beeilt Euch, ehe noch ein anderes Schiff diesem hier zur Hilfe kommt.« 51
Nun, man hatte Übung bei der ›Umladung‹. Alles ging schnell und reibungslos vonstatten. Säcke mit Mehl und kostbarem Zucker, mit Bohnen und Erbsen sowie Kisten mit getrocknetem Fisch und mehrere Fässer Wein wurden auf die ›Maria Anna‹ geschafft und dort ordentlich verstaut. Und man versäumte auch nicht, Stoffe, Wolle und die Kiste mit blankem Edelmetall an Bord zu bringen. Ihr Inhalt würde so manche Not lindern und auch die Selbstentlohnung der Freibeuter gewährleisten. Klaus lächelte bei diesen Gedanken. Der Traum vom eigenen Schiff rückte immer näher. Er war der einzige, den er verwirklichen konnte, denn die große Liebe war fortan nur noch Erinnerung. Anna hatte ihn verlassen müssen - auf Anordnung ihres Vaters und Clara war gestorben - weil sie ihn nicht verraten wollte. »Genug!«, schrie Goedecke indessen. »Alle Mann an Deck! Wir segeln weiter. Mögen diese wackeren Kerle jetzt ihre Toten bestatten und die Verletzten versorgen. Und mögen sie bald in einen sicheren Hafen kommen.« Er lachte dröhnend, machte eine weit ausholende Armbewegung und gab damit seinen Männern den Befehl zum Rückzug. Die Piraten hatten keine Toten zu beklagen, aber fünf Männer waren verletzt worden, unter ihnen auch Gerrit Wigbald. Er hatte eine stark blutende Wunde am linken Bein und würde wahrscheinlich längere Zeit nicht gehen können. * Seit mehr als einem Monat war Clara nun schon seine Gemahlin, zumindest nach Gesetz und Kirche. Das war aber auch schon alles, was er erreicht hatte. Am Anfang war es Dietwolf recht leicht erschienen, ihr viel Zeit zu lassen, damit sie sich an ihn gewöhnte und ihren Piraten allmählich vergaß. Doch jetzt, nach fünf unbefriedigenden Wochen, hatte sich seine Meinung doch sehr geändert. Was sollte er denn noch tun, um ihr gefällig zu sein? Sollte er Liebeslieder singen oder vor ihr auf den Knien liegen und um ihre Zuneigung flehen? Ihm lag weder das eine noch das andere. 52
Er wurde nur verdrießlicher von Tag zu Tag. Es war inzwischen Herbst geworden. Man hatte die Ernte eingebracht, Schweine und Kühe geschlachtet, deren Fleisch gepökelt und geräuchert und einen großen Vorrat an Honig angelegt. Ob das alles ausreichen würde, den Winter gut zu überstehen und alle hungrigen Mäuler zu stopfen, wusste man nie so ganz genau. Doch da zum Besitz seiner Tante ein ausgedehnter Wald gehörte, würde er zur Abwechslung des Speiseplanes Hirsche, Rehe und Niederwild erlegen. Auf diese Art und Weise würde er oft unterwegs sein und abends demzufolge so müde, dass das Verlangen nach seiner Ehefrau sich in erträglichen Grenzen hielt. »Geht Ihr morgen wieder auf die Jagd?«, fragte Clara an diesem Abend, als sie und Dietwolf in ihrem gemeinsamen Wohnraum am Kaminfeuer saßen. Ihre Eltern und Tante Ermengarde hatten sich bereits in ihre Gemächer zurückgezogen, weil sie, wie Clara annahm, den jungen Eheleuten mehr Zeit zum Alleinsein geben wollten. »Ja, natürlich«, erwiderte Dietwolf festen Tones. »Es ist auch dringend erforderlich.« »Wieso? Habt Ihr noch nicht genug Tiere erlegt?« »Darum geht es nicht, sondern vielmehr darum, den Wildbestand zu erhalten und unsere Haustiere zu schützen. Ich habe es Euch bisher nicht gesagt, aber seit zwei Wochen treiben sich Wölfe herum, die viel Schaden anrichten. Ich muss sie zur Strecke bringen, ehe der Winter kommt und sie noch aggressiver werden.« Clara wurde blass, fragte aber beherrscht: »Und wie geht so eine Wolfsjagd vor sich?« »Oh, ziemlich einfach. Da ich einige Wolfspfade bereits kenne, werde ich Fleischstücke dort entlang schleifen. Die Bestien werden die Witterung aufnehmen und sich so weit nähern, dass ich sie erlegen kann.« »Geht Ihr... etwa... ganz... allein?« »Selbstverständlich nicht. Ich nehme die Hunde mit.« Der Gutsherr nippte an seinem Becher mit Wein und er lächelte. Doch das sah Clara nicht, weil sie viel zu erregt war, um sitzen zu bleiben. Sie war aufgesprungen, ging ruhelos ein paar Schritte hin und her und sagte 53
schließlich: »Ich habe gehört, dass an einer Wolfsjagd immer mehrere Jäger teilnehmen. Es wäre sicher besser und weniger gefährlich, wenn Euch die Männer aus der Nachbarschaft begleiten.« »Wozu denn?«, tat er unbekümmert. »Ich werde mit dem räuberischen Gesindel auch allein fertig.« »Das bezweifle ich. Ihr könnt Eure Augen nicht überall haben. Was wollt Ihr tun, wenn die Wölfe Euch von allen Seiten umzingeln? Da nützen Euch Eure Pfeile und die Hunde sehr wenig.« »Sie werden ja nicht von allen Seiten kommen«, antwortete er sorglos und schenkte sich Wein nach. »Kommt, setzt Euch wieder zu mir und trinkt auch einen Schluck. Dieser Wein ist köstlich.« Sie überging seine Aufforderung und fauchte ihn statt dessen an: »Und wenn die Wölfe doch in Scharen über Euch herfallen?« »Dann seid Ihr Euren Ehemann, den Ihr ja sowieso nur verachtet, endgültig los. Ihr seid dann eine wohlhabende Witwe und werdet den verliebten Gockel bald vergessen haben.« Seine Stimme klang träge, aber seine Augen musterten sie unablässig, als wollte er ihre Seele ergründen. Clara war so bestürzt, dass ihr sekundenlang die Worte fehlten. Er schien von allen guten Geistern verlassen zu sein und machte sich obendrein noch über sie lustig Doch sein Spott würde ihm vergehen. »Was Ihr da eben von Euch gegeben habt, ist blanker Unsinn. Und Euer Grinsen ist auch überflüssig. Eine Frau wird sich doch wohl Sorgen um ihren Mann machen dürfen. Aber so etwas versteht Ihr ja nicht, Ihr wollt ja nur mit Eurer Tapferkeit prahlen. Anscheinend glaubt Ihr, dass mir Euer Übermut gefällt. Doch so ist es nicht... überhaupt nicht.« »Was gefällt Euch dann?«, fragte er mit weicher Stimme, während er sich erhob und zu ihr ging. »Sagt es mir doch. Soll ich Euch prächtige Gewänder kaufen, kostbare Geschmeide oder einen Mantel aus Zobelpelz?« »Nein.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Mir genügt es, wenn Ihr nicht allein die Wölfe jagt und Euch vorseht. Ich... ich möchte Euch doch nicht... verlieren.« 54
Seine Augen begannen zu leuchten. »Heißt das, dass Ihr mich doch ein bisschen gern habt?« »Nicht nur ein bisschen«, gab sie errötend zu. »Sonst wäre ich doch nicht Eure Frau geworden.« »Clara, weißt du auch genau, was du da gesagt hast?«, murmelte er und presste sie verlangend an sich. »Sicher weiß ich das. Aber ich weiß auch, dass mein Ehemann meine Kammer meidet und lieber auf die Jagd geht, als...« Sie konnte nicht weiter sprechen, denn er hatte sie stürmisch an sich gerissen und küsste sie wie jemand, der lange auf diesen Augenblick warten musste. * »Wie fühlst du dich, Liebste?«, erkundigte sich Dietwolf lächelnd, wartete eine Antwort aber nicht ab, sondern ließ seine Hände über Claras Brüste gleiten und versetzte sie damit in einen erneuten Rausch der Gefühle. Sie stöhnte und flüsterte irgendwann: »Ich fühle mich wie neu geboren und leicht wie eine Feder. Du bist ein wundervoller Liebhaber und machst mich sehr glücklich.« »Du mich auch. Ich liebe dich, ich brauche dich und werde immer für dich da sein... in guten und in schlechten Tagen.« »Heute ist ein guter Tag«, murmelte sie und streichelte seine breite Brust. Bald glitten ihre Hände tiefer und sie wiederholte, während sie seine Schenkel streichelte: »Ja, heute ist ein guter Tag. Bitte beweise es mir doch noch einmal.« »Nichts lieber als das, mein liebes Weib.« Er zog sie auf seinen Körper und küsste sie leidenschaftlich, wobei seine Hände ihren Rücken streichelten. In dieser Nacht schliefen sie nur wenig. Sie flüsterten sich verliebte Worte zu, lachten miteinander und taten so die ersten Schritte in eine glückliche Zukunft. 55
»Unsere erste Tochter wird Nantje heißen«, verkündete Dietwolf gegen Morgen. »Ich habe mich nämlich so an diesen Namen gewöhnt.« »Wie du meinst«, erwiderte sie, strich zärtlich über sein zerzaustes Haar und schmiegte sich vertrauensvoll an ihn. Zwei Stunden später stand Dietwolf auf, wusch sich und zog sich seine Jagdkleidung an, was Clara wütend zur Kenntnis nahm. »Du willst also doch zu den Wölfen?« Er grinste sie verschmitzt an. »Nein, meine Liebste. Ich habe in unserem Wald noch nie welche gesehen.« Sie saß im Bett, starrte verblüfft zu ihm hin und fragte dann argwöhnisch: »Du hast mich demnach... angelogen?« »Ja, meine liebe Frau«, gab er zu und setzte sich zu ihr. »Ich musste mir doch etwas ausdenken, um dich aus deinem Schneckenhaus zu locken. Ich hatte es satt, von dir wie ein Bruder behandelt zu werden. Ich wollte endlich dein Mann werden. Verzeihst du mir die kleine Notlüge?« »Ja«, flüsterte sie und legte die Arme um seinen Hals, »aber nur, wenn du jetzt für uns beide ein gutes Frühstück bringen lässt.« »Das mache ich doch sofort. Ich muss doch dafür sorgen, dass mein Schätzchen wieder zu Kräften kommt.« Er gab ihr einen schnellen Kuss auf die Nasenspitze und verließ dann laut vor sich hin pfeifend die Kemenate. Seine gute Laune wurde im ganzen Haus wohlwollend zur Kenntnis genommen und man war sich darüber einig, dass der junge Herr und seine Gemahlin nun endlich für immer zueinander gefunden hatten. Clara tat die Liebe ihres Mannes gut, viel mehr, als sie jemals gedacht hatte. Und sie konnte sich ihr Leben bald nicht mehr ohne ihn vorstellen. * Gerrit Wigbald saß lustlos vor seinem Humpen Schiffsbier. Er war unzufrieden mit sich und der Welt, aber vor allen Dingen mit seinem 56
Bein. Es war zwar allmählich geheilt, war aber nur wenig belastbar. Und das bedeutete, dass der Abschied vom Meer nicht mehr weit war. Welcher Kapitän brauchte schon einen kränkelnden Bootsmann? »Du grübelst viel zuviel, Gerrit.« Mit diesen barschen Worten riss Klaus seinen Freund aus dem Selbstmitleid. »Und wenn du hier nur herumsitzt und trinkst, dann wird sich dein Bein ganz bestimmt nicht erholen. Du musst es bewegen, damit sich neue Muskeln bilden.« »Ach ja?« »Ja, zum Teufel!«, blaffte Störtebeker ihn an. »Deshalb wirst du mich begleiten, wenn wir vor Lübeck angekommen sind. Der Kapitän und ich haben beschlossen, dass wir in diesem Winter getrennte Wege gehen und uns erst im Frühjahr wieder hier treffen werden. So fallen wir weniger auf.« »Und wohin gehen wir?«, fragte Gerrit uninteressiert. »Das weiß ich noch nicht so genau. Wahrscheinlich nach Westen. Dort kennt man uns noch nicht. Wir suchen uns irgendein Dorf, bitten beim Schmied oder auf einem Gut um Arbeit und Unterkunft. Und schon sind wir für die nächsten Monate versorgt.« »Hört sich sehr einfach an, ist es aber nicht. Mein lahmes Bein wird weder einen Schmied noch einen Ritter von meiner Arbeitstauglichkeit überzeugen.« Klaus, der sich unterdessen auch einen Humpen Bier von dem großen Fass geholt hatte, wurde ärgerlich und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nun nimm dich endlich zusammen, Gerrit Wigbald und greine nicht wie ein altes Weib. Wir haben alle unser Los zu tragen und müssen das Beste daraus machen. Sieh lieber zu, dass du deinen Rucksack packst. Goedecke wird das Schiff mit Henning, Sven und Fietje bis nach Gotland bringen. Dort werden sie auch überwintern. Wir beide machen uns aber schon im Morgengrauen auf den Weg. Verstanden?« »Natürlich. Du schreist ja laut genug.« Diese patzige Antwort ließ Klaus Störtebeker flüchtig lächeln. Wenn Gerrit ihn schon wieder anschnauzte, dann war er bald wieder gesund. 57
* »Ihr seht wunderschön aus, Herrin«, sagte die Zofe und ehemalige Amme andächtig, während sie die Falten an dem himmelblauen Seidenkleid ihrer Gebieterin ordnete. »Euer Gemahl wird stolz auf Euch sein. Eine schönere Dame findet man im ganzen Umkreis nicht.« Heloise von Rüden, die sich gerade im Spiegel betrachtete, lachte spöttisch und sagte nachsichtig: »Ach, Liese, du weißt doch ganz genau, dass mein Gemahl mich kaum anschaut. Ich bin doch kein dicker Foliant. Nur einen solchen drückt er liebevoll an sein Herz, nicht mich.« »Er ist ein Narr«, erwiderte die Alte respektlos. »Statt froh zu sein, dass er in seinen Jahren noch zu einem schönen Gutshof und einer jungen Frau gekommen ist, vergräbt er sich in seiner Kammer und studiert Tag für Tag die Kirchengeschichte.« »Und lebt nach einem Gelübde, das er niemals ablegen durfte«, vollendete Heloise lächelnd, als ihre Vertraute verärgert schwieg. »Aber mir soll es recht sein. Mag er nur nach den Regeln des heiligen Benedikt selig werden. Solange er nichts gegen meine Art zu leben hat, werden wir uns auch weiterhin blendend verstehen.« Die junge Frau ließ sich nun von ihrer Zofe mit einem goldfarbenen Haarnetz und einer Haube mit einem halblangen weißen Schleier schmücken, nickte ihrem Spiegelbild dann zufrieden zu und wollte die Kemenate verlassen. In diesem Augenblick stürzte jedoch ein ältlicher dürrer Mann in den Raum. Er war blass und nur mittelgroß, sein Kopf schon ziemlich kahl und sein Rücken gebeugt. Und er war ziemlich aufgeregt. »Heloise, meine Liebe, wie gut, dass Ihr noch nicht zum Turnierkampf geritten seid. Stellt Euch vor, da bitten mich zwei wackere Gesellen um Arbeit und Unterkunft. Der Vogt hat sie zu mir geschickt. Er muss nicht ganz richtig im Kopfe sein, dass er... mich... mit diesen weltlichen Angelegenheiten belästigt. Ich weiß doch auch nicht, was ich mit diesen Kerlen anfangen soll.« »Aber Balthasar, echauffiert Euch doch nicht so.« Heloise tätschelte ihrem schwächlichen Ehemann den mageren Rücken. »Geht 58
nur wieder in Eure Studierstube. Ich werde mir die Männer umgehend anschauen und dann entscheiden, ob sie für eine Tätigkeit auf unserem Gut zu gebrauchen sind.« »Ich danke euch von Herzen.« Der spitznasige Mann in dem kuttenähnlichen Gewand atmete erleichtert auf und eilte wieder hinaus, fest davon überzeugt, dass er seinen Pflichten als Gutsherr wieder einmal hervorragend nachgekommen war. Seine junge Frau, die er auf Befehl seiner Familie vor mehr als sechs Jahren hatte heiraten müssen, verließ ebenfalls den Raum. Ihre Zofe folgte ihr in gebührendem Abstand, bis sie in der Halle ankamen. Wie eine Fürstin schritt Heloise die Treppe hinab. Und wie eine Fürstin sah sie auch aus. Das fanden jedenfalls die beiden Männer, die in der Halle vor einem der Bleiglasfenster standen. Gerrit Wigbald starrte sie an, als wäre sie ein Engel in Menschengestalt. »Mach den Mund zu!«, zischte Klaus leise und stieß ihn leicht in die Seite. »Die edle Dame muss sonst noch annehmen, dass unser Gehirn nicht mehr funktioniert.« »Ich bin Frau von Rüden und die Herrin hier«, begann Heloise kühl, aber nicht unfreundlich. »Wie ich eben hörte, sucht Ihr Arbeit.« »So ist es, Herrin.« Klaus verbeugte sich tief und übernahm anschließend die Rolle des Sprechers (von Gerrit war sowieso vorläufig kein vernünftiges Wort zu erwarten) und fügte beflissen hinzu: »Ich bin Klaus Derenborg und das hier«, er wies auf seinen immer noch fassungslosen Begleiter, »ist mein Freund Gerrit Wigbald. Wir kommen aus Wismar und wollen uns hier ansiedeln. Habt Ihr vielleicht Arbeit für uns, damit wir ein wenig Geld verdienen können?« Heloise lächelte gewinnend. Sie hatte die beiden Männer bereits diskret, aber eingehend gemustert. Sie fand sie beide gut aussehend, aber dieser blonde Riese mit dem eindrucksvollen Brustkorb gefiel ihr ganz besonders. Er schien Muskeln aus Eisen zu haben und würde es wahrscheinlich mühelos fertig bringen, ihren kleinen Balthasar hochzuheben und auf den Kleiderschrank zu setzen. Viel besser würde es allerdings sein, wenn er sie auf die Arme nahm und zu dem breiten Bett trug, das in ihrer Kemenate stand. Nun, man würde sehen. 59
»Welche Arbeit könnt Ihr denn leisten?«, fragte sie geradeheraus und ging ein paar Schritte auf die Männer zu, wobei sie ganz genau wusste, dass sie von Liese missbilligend beäugt wurde. »Wir kommen vom Land und können gut mit Tieren umgehen«, antwortete Klaus bescheiden. »Auch mit Pferden?« »Ja, mit Pferden ganz besonders gut.« Heloise warf Klaus einen unergründlichen Blick zu und erwiderte dann: »Ich brauche einen Stallmeister. Das wäre eine Aufgabe für Euch, Klaus Derenborg. Euer Freund kann Euch dabei zur Hand gehen. Alles weitere erfahrt Ihr vom Vogt. Er wird Euch alles genau erklären und Euch auch eine Unterkunft anweisen. Und ich werde mich zu angemessener Zeit selbst davon überzeugen, wie gut Ihr Euer Handwerk versteht.« Sie nickte huldvoll und rauschte dann aus der Halle. Klaus und Gerrit sahen ihr beinahe betroffen nach und dachten:
Wenn diese stolze Frau nicht mit unserer Arbeit zufrieden ist, dann sind wir schneller wieder auf der Landstraße, als das Huhn ein Ei legt. *
»Ich glaube, wir haben großes Glück gehabt, dass wir gerade hier gelandet sind«, meinte Klaus, während er von einer geräucherten Putenkeule ein großes Stück abschnitt und sich in den Mund steckte. »Das Gut ist recht abgelegen, aber offensichtlich ertragreich. So gute Mahlzeiten hatten wir schon lange nicht mehr.« »Ja, mir hingen Erbsen und Zwieback auch schon zum Halse heraus«, bestätigte Gerrit undeutlich, denn er nagte hingebungsvoll an einem gebratenen Hühnerflügel. »Unsere edle Dame scheint keine Not zu leiden und hat offensichtlich auch ein Herz für ihr Gesinde, ganz besonders für ihren neuen Stallmeister.« »Das bildest du dir denn nur ein. Die Dame ist verheiratet.« Klaus winkte nachlässig ab. 60
»Mit einem mageren Zwerg, der viel lieber Mönch geworden wäre. Der weiß wahrscheinlich gar nicht, dass seine Gemahlin ohne ihre Kleider noch viel schöner ist, als ohnehin schon.« »Aber du weißt es.« »Oh, ja. Ich habe ihr gestern heimlich beim Baden zugesehen.« Gerrit trank mit Behagen einen großen Schluck Wein und sprach dann weiter: »Ich habe durch ein Loch in der Bretterwand geschaut. Dame Heloise hat herrliche Brüste, die sind so rosig wie Milch und Blut. Und ihre Taille ist nur so schmal, dass du sie mit deinen großen Händen ohne weiteres umfassen kannst... und Beine hat sie, lang und wohlgeformt. Wenn sie die um deinen Rücken schlingt...« »Hör auf mit deinem Gefasel!«, rief Klaus ungehalten und warf den inzwischen abgenagten Knochen in eine Schale. »Du weißt genau, dass ich den Weibern nur Unglück bringe. Deshalb will ich keines mehr haben. Geh du doch zu ihr!« »Würde ich schon gern, aber sie will ja nicht mich, sondern dich.« Der Bootsmann lächelte wehmütig, fuhr aber in seinem lustigen Tonfall fort: »Du solltest ihr den Gefallen jedoch unbedingt tun, denn sie hat nur kräftige Pferde, aber keinen kräftigen Mann.« »Der mich aber trotzdem in des Teufels Küche bringen kann, wenn er bemerkt, dass ich das Lager seiner Gemahlin teile.« »Fürchtet sich Klaus Störtebeker etwa vor diesem verhinderten Mönch?« »Nein, das nicht. Ich möchte der Herrin nur keinen Ärger machen. Außerdem habe ich keine Lust.« »Wer's glaubt, wird selig.« Klaus antwortete nicht. Er war mit seinen Gedanken bei Clara. Mehr als acht Monate war es jetzt her, seitdem er ihr in der Jagdhütte ihres Vaters Lebewohl gesagt hatte. Er hätte sie damals gern mitgenommen, aber Frauen waren an Bord aus sehr verständlichen Gründen nicht erlaubt. Das Leben war zu hart für sie; die ständigen Kämpfe, die Stürme und die Gier der Männer würden ihnen das Dasein zur Hölle machen. Es war vernünftiger, wenn eine Frau zu Hause blieb. So hatte er damals gedacht und war überzeugt gewesen, sie im Herbst wieder zu sehen. Nicht ein einziges Mal war ihm in den Sinn 61
gekommen, dass sie für die Garde von Bertram Wulflam von Bedeutung sein könnte. Er hatte sich geirrt und wusste nun, dass seine Liebe ihr Todesurteil gewesen war. Gerrit störte ihn nicht, denn er ahnte, wie sein Freund sich fühlte. Er war nicht mehr der fröhliche Klaus, dessen Lachen viele Frauenherzen höher schlagen ließ. Er war grüblerisch geworden und zog sich oft in sich selbst zurück. Die Stille im Raum wurde plötzlich unterbrochen. Jemand klopfte kurz an die Tür und öffnete sie anschließend. Es war Melchior, einer der zahlreichen Diener. »Herr Derenborg«, sagte er förmlich und wandte sich an Störtebeker. »Der Herr und die Herrin laden Euch zum Abendessen ein. Es wäre allerdings wünschenswert, wenn Ihr Euch entsprechend kleiden würdet.« Der Diener maß die bäuerliche und abgetragene Kleidung mit verächtlichen Blicken. Klaus bemerkte das, lächelte ebenso verächtlich zurück und hatte schon eine Absage auf der Zunge. Er schluckte diese jedoch im allerletzten Moment hinunter. Es war nicht klug, Heloise von Rüden zu verärgern. »Richte den Herrschaften meinen Dank aus«, erwiderte er ebenso förmlich wie Melchior. »Sage ihnen, dass ich mein bestes Gewand anziehen und pünktlich sein werde.« Der Diener nickte herablassend und entfernte sich. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, flüsterte Gerrit: »Ein Abendessen mit den Herrschaften? Das hört sich ja richtig gut an. Ich bin mir sicher, dass Balthasar von Rüden sehr bald vom Schlaf übermannt wird.« »Kann schon sein«, meinte Klaus trocken. »Ein alter Mann muss eben mit den Hühnern ins Bett.« »Sag ich doch«, lästerte Gerrit weiter. »Er mit den Hühnern und du mit... Heloise.« * 62
Klaus hatte angenommen, dass eine größere Anzahl von Gästen zum Abendessen kommen würde. Doch der Tisch war nur für vier Personen gedeckt worden. Er wunderte sich, bekam aber sofort eine Erklärung, denn die Hausfrau betrat nun den Speiseraum, worauf ihn der gedeckte Tisch nicht mehr interessierte. Er verbeugte sich vor ihr und dankte nochmals für die Einladung. Heloise, die heute ein pfauenblaues Samtkleid trug, schenkte ihm ein berückendes Lächeln und sagte dann: »Mein Gemahl erwartet heute seinen Freund, den Bruder Florian vom Benediktinerkloster. Ihre Diskussionen langweilen mich, was Balthasar sehr wohl weiß. Daher meinte er, ich hätte mit Euch sicher noch Verschiedenes zu besprechen, was sich in angenehmer Atmosphäre ja auch besonders gut machen lässt.« »In der Tat, Herrin«, murmelte Klaus leise und verbeugte sich erneut. In diesem Moment kamen die Herren. Der Gutsherr sah neben dem dicklichen Mönch noch mickriger aus als sowieso schon und Klaus fragte sich unwillkürlich, ob es in den Klöstern wirklich so spartanisch zugehe, wie allgemein erzählt wurde. Bruder Florian sah jedenfalls nicht so aus, als würde er sich nur von Gebeten und Züchtigungen ernähren. Das Essen half ihm offenbar, das Zölibat gut zu ertragen. Angesichts der Speisen, die die Diener eben herein trugen, strahlte er in wahrer Vorfreude und kommentierte das unaufhörliche Gelaber des Hausherrn nur noch mit einem immer passenden ›Amen‹. Das Mahl bestand aus mehreren Gängen. Es gab gekochten Fisch, Schwanenfleisch und geschmorten Fasan. Dazu allerlei Gemüse, Süßspeisen und Zuckerwerk sowie Wein und Bier. Balthasar von Rüden gefiel sich weiterhin in schwungvollen Reden über Gott und die Welt und füllte lediglich den Raum mit leeren Worten, aber nicht seinen Bauch. Bruder Florian aß derweil genüsslich und lobte mehrmals den Koch, während Heloise und Klaus während des Essens scheinbar sachlich das Für und Wider einer Pferdezucht erörterten. Dabei waren sie noch, als Balthasar von Rüden sich mit näselnder Stimme an seine Frau wandte: »Du entschuldigst uns jetzt wohl, meine liebe Heloise, 63
aber ich möchte Bruder Florian gern meine neu erworbenen Bücher zeigen und noch ein wenig diskutieren. Er wird dann in der Kammer neben der meinen übernachten.« »Dann wünsche ich noch einen angenehmen Abend.« Die schöne Frau bedachte Ehemann und Mönch mit einem spöttisch nachsichtigen Lächeln und sagte aufatmend, als beide ganz traulich vereint hinausgegangen waren: »Wie glücklich ist man doch, wenn man den rechten Glauben hat.« »Habt Ihr den nicht, Herrin?« »Doch, natürlich, aber zum wirklichen Glück gehört ja noch... viel mehr.« »Da habt Ihr recht, Herrin. Gesundheit, Freude und ein gutes Einkommen gehören auch dazu.« »Ihr habt noch etwas vergessen«, erwiderte sie, während ein sinnliches Lächeln ihren Mund umspielte. »Was denn?« »Die Liebe - sie gehört zu unserem Leben wie das Salz zur Suppe. Ohne sie gibt es kein rechtes Glück. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche.« Klaus stimmte ihr im stillen zu, denn trotz seiner Sehnsucht nach Clara blieb sein Körper von der Schönheit und Anziehungskraft der Gutsherrin nicht unberührt. Heloises Augen waren blau wie Vergissmeinnicht, sie signalisierten ihm unmissverständlich ihr Wohlgefallen und ihre Bereitschaft. Als er immer noch nach Worten suchte, meinte sie beiläufig: »Mein Gemahl hatte seinerzeit als jüngster Sohn nur wenig Aussicht, der Herr dieses Gutes zu werden. Doch alle seine Brüder starben im Kampf und an der Pest, so dass Balthasar seinen Wunsch, Mönch zu werden, aufgeben musste. Heiraten wollte er aber trotzdem nicht und lebte lange Jahre allein, bis seine und meine Eltern unsere Vermählung beschlossen. Man war der Ansicht, dass eine junge Frau ihn doch noch an seine... äh... dynastischen Pflichten erinnern würde.« »Es scheint nicht funktioniert zu haben«, warf Klaus ein und unterdrückte ein Lachen. 64
»Nein, leider nicht. Mein Gemahl hat sich wohl zu lange in der Keuschheit geübt und...« Heloise sparte sich den Rest des Satzes und legte wie unbeabsichtigt ihre Hand auf Störtebekers Unterarm. »Ja, Dinge, die nicht benutzt werden, sind eines Tages gar nicht mehr zu gebrauchen.« Klaus lachte nun doch, sie lachte mit und meinte dann schließlich: »Meine Schwiegereltern sind inzwischen gestorben, aber sie haben mir oft gesagt, dass sie gerne Enkel gehabt hätten - schon wegen des Gutes.« »Ihr habt doch sicher einen Erben aus der Verwandtschaft.« »Es gibt selbstverständlich ein paar Vettern«, antwortete sie. »Aber jeder von ihnen würde mich nach dem Tod meines Gatten abschieben. Hätte ich aber einen Sohn, dann würde dieser Fall nicht eintreten. Ihr versteht?« Oh ja, er verstand vollkommen. Die Frage war nur, was würde Balthasar von Rüden zu so einer ›Vaterschart‹ sagen. Sie erriet seine Gedanken und versicherte ihm: »Mein Gemahl betet täglich um ein Kind und hofft auf Gottes Unterstützung.« Klaus strich sich über sein glatt rasiertes Kinn und murmelte, während er Heloise einen verlangenden Blick zuwarf: »Man sagt mir nach, ich wäre Gottes Freund. Wäre Euer Gatte auch mit dessen - Hilfe einverstanden?« »Aber sicher wäre er das«, beteuerte sie und erhob sich. »Balthasar wird dem Herrn auf Knien danken, dass er ihm eine so stattliche Unterstützung geschickt hat. Kommt, machen wir einen kleinen Spaziergang durch das Schloss. Ich möchte, dass Ihr immer den richtigen Weg findet.« * Das Schlafgemach der Gutsherrin lag weit entfernt von dem ihres Mannes. Es war ein Turmzimmer, von dem eine Wendeltreppe direkt in den Wirtschaftshof führte. Das ist praktisch, dachte Klaus amüsiert. Sollte Balthasar seine Gemahlin wider Erwarten besuchen wollen, konnte er sich schnell aus dem Staube machen. 65
Heloise hatte inzwischen die Haube abgelegt und ihre Zöpfe gelöst, so dass ihr prächtiges Haar lang über ihre Schultern fiel. Klaus dachte flüchtig an Gerrit. Ob der die Herrin auch so gesehen hatte? Doch eigentlich war das völlig egal. Hier, in diesem Gemach, gab es keinen eifersüchtigen Bootsmann und keinen betenden Ehegemahl, sondern nur eine Frau und einen Mann, die unwiderstehlich voneinander angezogen wurden. Er wollte nicht mehr fragen und denken. Er wollte nur noch handeln und zog deshalb Heloise ganz dicht an sich heran, bog ihren Kopf ein wenig nach hinten und küsste sie leidenschaftlich, wobei seine Hände bereits die Häkchen an ihrem Kleid öffneten. Sie erwiderte seine Küsse und flüsterte irgendwann: »Lass uns ins Bett gehen. Dort haben wir es bequemer.« »Viel bequemer«, raunte er ihr zu, während ihre Gewänder nun endgültig zu Boden fielen. »Aber zuerst muss ich mich ausziehen.« »Lass mich das machen«, bat sie und machte sich bereits an seinem Wams zu schaffen. »Ich habe so selten Gelegenheit dazu.« Klaus hielt ganz still. Er liebte diese Frau nicht, nicht so, wie er Anna und Clara geliebt hatte, aber er begehrte sie. Das wusste sie auch und es war schließlich auch nicht zu übersehen. »Wie stark du doch bist«, flüsterte sie. »Das habe ich schon gespürt, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Du wirst mir all das geben, was ich von meinem armseligen Gemahl nicht bekommen kann.« »Ja, Herrin, das will ich gern tun, denn Ihr seid eine Frau, die für die Liebe geschaffen ist«, erwiderte er und ließ seine Hände über ihre Brüste gleiten. Sie streichelte ihn auch, denn sie hatte ihn unterdessen ganz entkleidet und berührte ihn genau da, wo er berührt werden wollte. Und da das bereits nach wenigen Sekunden kaum noch auszuhalten war, hob er sie mit einem leisen Stöhnen hoch und trug sie zum Bett. Sie hatten die Kerzen nicht gelöscht, die demzufolge noch sehr lange brannten und zwei Männern anzeigten, dass die Herrin wohl noch sehr beschäftigt war - oder beschäftigt wurde. 66
Gerrit Wigbald stand an eine mächtige Eiche gelehnt und beobachtete den Turm. Er wünschte sich sehnlichst, jetzt an Störtebekers Stelle zu sein. Balthasar von Rüden wünschte sich das nicht. Nachdem Bruder Florian laut gähnend zu seiner Kammer gegangen war, hatte er noch einen Rundgang um das Schloss gemacht, hatte das Licht in der Kemenate seiner Frau gesehen und zufrieden geflüstert: »Gut so! Es wird bestimmt ein hübsches Kind... und ich werde ein stolzer Vater sein.« * Bertram Wulflam hatte die zweite Niederlage seiner Soldaten in Saßnitz und Umgebung nur mit viel Zorn und Groll verkraftet. In seiner Garde schien es nur unfähige Milchbärte, notorische Faulenzer, Trottel und Drückeberger zu geben. Zumindest waren sie alle nicht in der Lage, bei der Piratenjagd auch nur den kleinsten Erfolg zu verzeichnen. Der Mann, der an diesem eisig kalten Wintertag den Bürgermeister in seinem Stadthaus besuchte, schien jedoch aus härterem Holz geschnitzt zu sein. Er war noch jung, hatte markante Gesichtszüge, volles dunkles Haar, war ordentlich gekleidet und kam zweifellos aus gutem Hause. Und er schien neugierig zu sein, denn seinen Augen entging nichts. Während er dem Diener folgte, der ihn zu dem Hausherrn führte, musterte er die Zeugen des Wohlstandes, die kostbaren Möbel, Teppiche, Vorhänge aus Samt und die Fenster aus Buntglas. Bertram Wulflam musste überaus reich sein, denn Glas war selten und sehr teuer. Nur in Kirchen und Palästen konnte man sich diesen Luxus leisten. Seine Eltern mussten sich zum Beispiel mit Scheiben aus poliertem Hörn zufrieden geben. Der Besucher lächelte ein wenig vor sich hin. Es war ein Lächeln, dem jegliche Wärme fehlte. Der Bürgermeister wartete unterdessen bereits auf seinen Gast. Er hatte diesen erst im vergangenen Herbst kennen gelernt, als er der alljährlichen Parade der Turnierkämpfer zugeschaut hatte, zu der nur Männer aus angesehenen Familien zugelassen wurden. Eine ganze Woche hatten die Ritter um den Sieg gerungen. Man kämpfte im alten Stil, also ohne Turnierschranke, mit Keulen und 67
Schwertern und führte auch Gefechte im Wasser aus. Im letzteren Fall ruderten zwei Mannschaften aufeinander zu, wobei jeweils ein Mann im Bug versuchte, den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen und ins Wasser zu befördern. Sieger in allen Disziplinen war ein kräftiger ansehnlicher Bursche gewesen, dem zu seinem Glück nur eines fehlte viel Geld. Um zu diesem Ziel zu gelangen, würde er alles tun, würde er keine Skrupel haben und wahrscheinlich seine eigene Mutter opfern. Das hatte der Bürgermeister bald in Erfahrung gebracht. So ein Mann war gefährlich wie eine Raubkatze, aber unter Umständen auch sehr hilfreich. Er würde für eine gute Entlohnung alles machen, was sein Auftraggeber von ihm verlangte. Wulflam hatte ihn inzwischen empfangen, in einem Raum, den er lediglich für seine privaten Geschäfte nutzte und den seine Frau und seine Kinder nicht betreten durften. »Setzt Euch doch.« Der Bürgermeister wies auf einen Stuhl mit Rückenlehne und Armstützen. »Vielen Dank.« Der junge Mann lächelte zufrieden, denn ihm wurde ein Platz angeboten, wie man ihn nur für hochgeschätzte Personen übrig hatte. Ganz gewöhnliche Leute saßen auf Bänken oder Schemeln. Nachdem sein Gast sich gesetzt hatte, ließ Wulflam Wein bringen, setzte sich danach ebenfalls und sagte in freundlichem Tonfall: »Ich habe mich in den vergangenen Wochen nach Euch erkundigt und bin nun der Ansicht, dass Ihr genau der Mann seid, den ich für ein riskantes Unternehmen brauche. Ihr seid gut ausgebildet - in jeder Hinsicht und seid ein guter Seemann.« »So ist es, Herr Bürgermeister«, kam es selbstgefällig zurück. Diese Sprache gefiel dem arroganten Stadtoberhaupt nicht, Selbstgefälligkeit kam schließlich nur ihm selbst und nicht einem dahergelaufenen Ritter zu. Doch dieser Sohn eines Edelmannes verkörperte leider all das, was er selbst nicht vorweisen konnte. Er war stark wie ein Bär, konnte mit jeder Waffe umgehen und ihm wurde nicht übel, wenn er die Planken eines Schiffes unter seinen Füßen hatte, ja mehr noch, er konnte ein Schiff sogar führen. 68
»Dann wollen wir zu den Einzelheiten kommen.« Wulflam erklärte nun lang und breit und mit schlecht unterdrücktem Ärger über die bisherigen Misserfolge, was er von seinem zukünftigen Geschäftspartner erwartete und schloss mit den Worten: »Ihr müsst unbedingt das Vertrauen dieser Strauchdiebe, Mörder und Schiffsräuber gewinnen. Nur so werdet Ihr hinreichend über ihre Pläne und Machenschaften informiert sein und nur so wird es mir und der Hanse möglich sein, den Geißeln des Meeres das schmutzige Handwerk zu legen. Wir werden Euch für Euren Einsatz natürlich sehr gut bezahlen.« Der Bürgermeister nannte eine Summe, die den Gast anerkennend nicken ließ und fügte dann noch hinzu: »Selbstverständlich habt Ihr wie alle anderen das Recht, für Euren Eigenbedarf zu sorgen. Es wird Euch niemand fragen, wenn Eure verehrte Frau Mutter plötzlich Pelze aus Nowgorod trägt.« »Das hört sich alles sehr gut an«, entgegnete der angehende Geschäftspartner kalt. »Es reicht mir aber nicht.« »Was wollt Ihr... denn... eigentlich noch?« Wulflam, der gerade seinen Becher zum Mund geführt hatte, stellte diesen wieder zurück und schaute den Mann unangenehm überrascht an. »Ich will Euer Schwiegersohn werden.« Wulflam war entsetzt und murmelte: »Wie soll das gehen? Meine Tochter ist erst dreizehn.« »Ihr sagtet selbst, dass ich das Vertrauen der Freibeuter gewinnen müsste. Das wird dauern. Bis dahin können Monate, vielleicht sogar Jahre vergehen... und bis dahin wird Eure Gertrude schon im heiratsfähigen Alter sein. Ich denke, mein guter Name und Euer Vermögen werden sich vorteilhaft ergänzen.« Wulflam liebte seine Tochter auf seine herrische Art und trachtete danach, sie möglichst gut zu verheiraten, das hieß: Geld zu Geld. Er hatte keinesfalls die Absicht, sie einem Mann zu geben, an dessen Händen offiziell Blut klebte und dessen Ruf Schaden genommen hatte. Das sagte er natürlich nicht, er lächelte wohlwollend und erwiderte mit öliger Stimme: »Nun, das ist ein Gedanke, der mir noch gar nicht gekommen ist. Aber er ist vortrefflich. Gertrude wird in Euch einen guten 69
Gemahl haben, der ihre stattliche Mitgift ausgezeichnet verwalten wird.« Der Gast bedachte ihn nun mit einem teuflischen Grinsen und sagte dann entschieden: »Wir sind uns also einig. Lasst uns deshalb unseren Pakt zu Papier bringen.« »So sei es.« Der Bürgermeister tauchte selbst die Feder in die Tinte und begann zu schreiben. * Der Winter auf dem Gut hatte Gerrit Wigbald zwar nicht seelisch, aber körperlich sehr gut getan. Die Wunde an seinem Bein war endgültig verheilt und schmerzte nicht mehr, er war kräftiger geworden und hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Und er hatte viel Freude an der Arbeit. Da Klaus oft bei der Herrin weilte, blieb es ihm überlassen, die Pferde zu betreuen, was er nach anfänglichen Schwierigkeiten sehr gern tat. Und bald graute ihm davor, die edlen Rösser - und Dame Heloise - wieder verlassen zu müssen. Aber es musste wohl sein. Klaus wurde allmählich unruhig und begann, die Tage bis zum Aufbruch zu zählen. Ihn zog es auf See und nach Lübeck, wo er sich ein Schiff bauen lassen wollte. Heloise von Rüden wusste nichts von den Plänen ihres Freundes, aber sie ahnte schon bald, dass er sie im Frühjahr für immer verlassen würde. Er würde ihr fehlen, sehr sogar. Es war so schön, sich an einen jungen Mann zu schmiegen, der weiter nichts sein wollte, als ihr Geliebter. Doch etwas würde ihr von ihm bleiben - sein Kind. Selbstverständlich wusste er nichts von ihrer Schwangerschaft und sie beabsichtigte auch nicht, ihm davon zu berichten. Wenn Klaus fort war, würde sie zu angemessener Zeit ihren Gemahl informieren und ihm damit eine schwere Last von den Schultern nehmen. Sicher würde es ein wenig Gerede geben, das Balthasar jedoch großzügig überhören würde. An ihren Freund, an ihren Mann, an das Kind und an die Zukunft dachte Heloise auch an diesem Abend. Sie hatte sich in ihre Kemenate zurückgezogen und wartete auf Klaus. Schon bald hörte sie seine fes70
ten Schritte, spürte seine Arme um sich und seinen Kuss auf ihrem Mund. Und in diesem Kuss lag bereits der Abschied, sie fühlte es. »Du musst fort, nicht wahr?«, fragte sie, als sie später nebeneinander im Bett lagen. »Ja, schon morgen«, gab er nüchtern zu. »Ich kann nicht bleiben.« »Wirst du... wiederkommen?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ein einsamer Wolf, der aber trotzdem ein Rudel zu führen hat, ein Rudel, in dem eine Frau keinen Platz hat. Und ich weiß nicht, wohin mich der Sturm des Lebens hintragen wird. Aber auf alle Fälle bin ich kein Mann, der sein Leben auf dem Lande beschließen will. Das wollte ich noch nie. Es ist daher besser, wir trennen uns.« »Ich werde dich sehr vermissen.« »Du wirst dich bald trösten.« Klaus lachte leise und küsste sie flüchtig auf die Wange. »Es gibt genug Männer, die nur auf ein Wort von dir warten.« »Ja, sicher«, erwiderte sie gedehnt. »Aber ich möchte jemanden, der immer bei mir bleibt. Leider ist das unmöglich. Welcher Mann findet sich schon mit Balthasar ab?« »Ich wüsste einen.« Sie war so verblüfft, dass sie sich im Bett hinsetzte und ihn fassungslos ansah: »Wer soll denn das sein?« »Gerrit Wigbald... er liebt dich und würde sehr gern für immer hier bleiben. Ich glaube, dass es ihm genügen würde, in deiner Nähe zu leben. Und dein Mann...« Klaus lachte spöttisch, »... dein Mann und er werden sich gut verstehen. Ich kann mir vorstellen, dass sie sogar Schach miteinander spielen. Außerdem ist Gerrit sehr diskret und hat ein Herz für schwachbrüstige Mönche.« »Dein Freund ist nicht wie du.« »Nein, aber wesentlich zuverlässiger. Ich würde ihn behalten, denn mit ihm kannst du nur gewinnen - und viele Kinder haben.« Sie lehnte sich, nachdenklich geworden, in die Kissen zurück und sagte nach einer Weile: »Er ist nicht wie du, aber doch sehr ansehnlich. Ich mag zwar am liebsten blonde Männer, denen die Kraft 71
und die Lust aus den Augen schauen. Doch vielleicht hast du recht, vielleicht ist ein romantischer Page mit dunklen Locken auch nicht so verkehrt. Doch nun wollen wir nicht mehr von ihm sprechen, sondern unseren letzten Abend genießen.« »Ja, Herrin, ich werde dein gehorsamer Sklave sein und alle deine Wünsche erfüllen.« Heloise weinte, als Klaus sie nach Mitternacht verließ. Doch sie war nicht die Frau, die sich zu lange den Tränen hingab. Sie hatte wunderschöne Monate mit ihm verlebt, war endlich schwanger und würde nie mehr so einsam sein wie zuvor. Und dann war da ja noch Gerrit Wigbald. Ihn würde sie nicht fortziehen lassen. Am Morgen darauf, beim offiziellen Abschied von Klaus, stand sie neben ihrem Gemahl, reichte ihrem Geliebten die Hand, gab ihm seinen Lohn und wünschte ihm eine gute Reise und viel Glück. Zu Gerrit sagte sie jedoch: »Wie ich gehört habe, würdet Ihr gern weiterhin in unseren Diensten bleiben.« »So ist es, Herrin.« Der Bootsmann verbeugte sich tief. »Dann sei Euch diese Bitte gewährt«, erwiderte Heloise gelassen. »Mein Gemahl und ich schätzen Euch sehr. Bringt nun Euren Freund mit der Kutsche nach Lübeck. Wenn Ihr von dort zurückgekehrt seid, werden wir über Eure kommenden Aufgaben sprechen.« Sie nickte ihm und Klaus freundlich zu und wandte sich dann ab. Ihr Ehemann, gedanklich schon wieder beim heiligen Benedikt, folgte ihr wie ein treuer Hund. Klaus und Gerrit hatten unterdessen in der Kutsche Platz genommen. Diese wurde von vier Pferden gezogen und würde in wenigen Tagen in Lübeck sein. Während der Fahrt wurde nur wenig gesprochen. Und es gab ja auch nicht mehr viel zu sagen - bis auf wenige Sätze. Klaus sprach sie aus, als sie in der Hansestadt angekommen waren. »Ich vertraue dir Heloise an«, sagte er ernst und legte Gerrit beide Hände auf die Schultern. »Sei ihr ein guter Mann... und sollte sie ein Kind von mir bekommen, dann sei diesem ein liebevoller Vater.« »Das verspreche ich dir, Klaus, bei allem, was mir heilig ist.« Gerrits Stimme klang gepresst. 72
Danach umarmten sich die beiden Männer. Sie wussten, dass sie sich nie mehr wieder sehen würden. * Störtebeker hatte mehrere Stunden gebraucht, um den Meistern der Schiffbaukunst seine Wünsche und Vorstellungen bezüglich einer schnittigen Kogge darzulegen. Aber schließlich war man sich doch handelseinig geworden. Klaus ›Derenborg‹ bestellte ein Schiff, versprach, in einem Jahr wiederzukommen und schlug dann den Weg zum Hafen ein. Er musste nicht damit rechnen, von der Obrigkeit und ihren Söldnern erkannt zu werden, denn die Straßen waren so belebt, dass er in der Menge untertauchen konnte. Seine Gedanken verweilten ab und zu noch bei der schönen Gutsherrin, die ihm in den vergangenen Monaten wieder zu neuem Lebensmut verhelfen hatte - und bei Gerrit, der nun seinen Platz einnehmen würde. Goedecke würde nicht begeistert sein, wenn er erfuhr, dass der Bootsmann die Seefahrt aufgegeben hatte, aber er würde sicher bald Ersatz finden. Im Kampf zwischen Königin Margarete und ihren Widersachern wurden nach wie vor mutige Männer gebraucht. Sie kamen aus allen Schichten der Bevölkerung und hofften zum überwiegenden Teil darauf, schnell reich zu werden. Klaus war inzwischen in der Nähe des Hafens angekommen. Er hörte die Geräusche der Geschäftigkeit und spürte den Duft der gesalzenen Heringe, die man auch als Gabe Gottes an die Armen bezeichnete. Sein Blick schweifte umher und blieb schließlich an einer Frau hängen. Sie war noch relativ jung, aber verhärmt und verbraucht und offensichtlich Mutter von mehreren Kindern, denn drei hingen ihr sozusagen am Schürzenzipfel. Die Kleidung von Frau und Kindern war sauber, aber mehrmals geflickt und verschlissen, Störtebeker beobachtete, wie die Frau nun zu einem Stand ging, wo ein Händler Heringe verkaufte. Er folgte ihr wie unabsichtlich und bemerkte, dass sie nicht genug Geld hatte, um wenigstens Heringe in ausreichender Menge kaufen zu können. Eben hatte sie ein dürftiges Bündel in Empfang genommen und ging langsam mit ihren Kindern weiter. 73
In diesem Augenblick hatte Klaus einen Entschluss gefasst. Er rannte der Frau nach, sprach sie an und drückte ihr dann verstohlen einen Beutel mit Münzen in die Hand. »Teilt es Euch gut ein, junge Frau«, sagte er leise und eindringlich. »Und prahlt damit nicht vor anderen. Das erweckt nur Neid.« Die Frau starrte ihn zuerst an, als wüsste sie nicht, wie ihr geschah. Doch dann verbarg sie den Beutel in ihrem Mieder, bedeckte dieses mit einem großen Tuch und flüsterte: »Habt Dank, edler Herr. Vergelte Euch Gott Eure milde Gabe.« Klaus nickte nur, strich den Kindern über die Köpfe und ging dann mit schnellen Schritten davon, wobei er sich hastig nach allen Seiten umsah, ob der Vorgang das Interesse der übrigen Leute geweckt hatte. Offensichtlich nicht, niemand gaffte ihn an oder heftete sich an seine Fersen. Da atmete er auf und strebte noch schneller jenem verschwiegenen Ort zu, wo die ›Maria Anna‹ vor Anker lag. * Gerrit Wigbald war umgehend zum Gut zurückgekehrt, immer noch ein wenig fassungslos von dem Angebot der Herrin. Ihm war zwar bewusst, dass Klaus sein Fürsprecher gewesen sein musste, aber er hatte doch nicht angenommen, dass er bleiben durfte. Immerhin hatte die schöne Heloise ihn bisher kaum beachtet, hatte nur dann und wann nur ein paar freundliche Worte mit ihm gewechselt und sich im übrigen nur auf Klaus konzentriert. Er fragte sich beklommen, was sie nun mit ihm machen würde und fand doch keine erschöpfende Antwort. Er sollte anscheinend wirklich nur ihr Stallmeister sein. Diesen Eindruck hatte er zumindest, als er ihr an einem herben Frühlingsmorgen gegenüberstand. »Da Ihr nun für immer hier bleiben möchtet«, meinte sie in neutralem Tonfall, »werdet Ihr ab sofort im Schloss wohnen, so wie der Hofmeister und der Koch auch. Kommt, ich zeige Euch Eure Kammer.« Sie machte eine einladende Handbewegung, worauf er ihr in gebührendem Abstand folgte. Kurz darauf kamen sie im Westflügel des Schlosses an. Hier befanden sich die Unterkünfte der langjährigen Be74
diensteten, von denen er ja nun auch einer werden wollte. Er bekam ein großes Zimmer mit guten Möbeln zugewiesen, was ihn freudig sagen ließ: »Vielen Dank, Herrin. Ich werde gewissenhaft für Euch arbeiten und immer Euer Diener sein.« »Ich werde Euch von Zeit zu Zeit an dieses Versprechen erinnern«, antwortete sie und warf ihm einen unergründlichen Blick zu. Danach verließ sie den Raum. In den nun folgenden Monaten sah er sie zwar fast täglich, hatte jedoch wenig Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Das lag allerdings vor allem daran, dass oft Gäste kamen, die sich von der angehenden Vaterschaft des sonst so keuschen Gutsherrn überzeugen wollten. Balthasar von Rüden genoss seinen ›Zustand‹ sichtlich und wurde nicht müde, Gott zu preisen, der seine Manneskraft auf so wundersame Weise gestärkt hatte. Ob man ihm glaubte oder nicht, war ihm gleichgültig. Er würde sich hüten, seine Gemahlin nach allen Einzelheiten für das Zustandekommen ihrer gesegneten Umstände zu fragen und er hatte auch nicht vor, sie für ihre Bemühungen zu strafen, wie es ihm sein Vetter Theobald riet. »Gibt es Euch nicht zu denken«, hatte dieser höhnisch gefragt, »dass Euer Weib just dann schwanger wurde, nachdem Ihr zwei junge Kerle als Stallmeister eingestellt habt?« »Nein.« Der Gutsherr hatte kaum von seinem Buch aufgesehen, aber doch entschieden hinzugefügt: »Ich habe schon öfter junge Kerle eingestellt. Heloise ist jedoch nie schwanger geworden. Sie ist mir eine getreue Frau und ich wünsche nicht, dass Ihr oder jemand anders schlecht über sie redet.« Damit nahm der ›werdende Vater‹ seinem missgünstigen Verwandten den Wind aus den Segeln und allen anderen wohlmeinenden Schwätzern übrigens auch. Er strahlte vor Glück, tätschelte seiner Gemahlin mitunter vor allen Leuten den sich mehr und mehr wölbenden Bauch und stand an einem sonnigen Tag im Juli vor der Wiege, in der ein blondes Bübchen lag. »Ich glaube, er sieht mir etwas ähnlich«, meinte er verschmitzt und kitzelte den Säugling unter dem Kinn. »Was meint Ihr, meine Liebe?« 75
Heloise, die sich noch von den Anstrengungen der Geburt erholen musste und im Bett lag, versetzte lächelnd: »Ohne Zweifel. Ich hoffe jedoch, dass unser kleiner Hubertus nicht so ein Stubenhocker wird, wie Ihr einer seid.« »Aber nein, ganz bestimmt nicht.« Das klang entrüstet. »Ich werde unserem Sohn zwar das Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen, lege aber größten Wert darauf, dass er oft die frische Luft genießt und mit seinen... äh... Geschwistern im Park spielt und alles das lernt, was ein Junge können muss. Er kann zum Beispiel gar nicht schnell genug reiten lernen. Ihr solltet Euch rechtzeitig mit unserem Stallmeister in Verbindung setzen. Er wird wissen, wann der geeignete Zeitpunkt für derartige Lektionen ist.« Nach dieser ungewöhnlich langen Rede küsste Balthasar seiner Frau die Hand und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich ziehe mich jetzt zurück, meine Liebe. Ihr bedürft noch sehr der Ruhe. Und dabei will ich Euch ganz gewiss nicht stören.« »Wie fürsorglich Ihr doch seid«, murmelte die junge Mutter, während sie sich bemühte, nicht laut zu lachen. Sie tat es erst, als ihr Gatte hinausgegangen war. Und sie hatte auch allen Grund dazu. Balthasar hatte ihr eben zu verstehen gegeben, dass er Vater von weiteren Kindern werden wollte. Das kann er haben, dachte sie erfreut. Nichts
ist leichter als das.
* Bürgermeister Wulflam war gezwungen gewesen, seinen geheimen Geschäftspartner als Sohn eines lieben, guten Freundes seiner Familie vorzustellen. Er hatte diesen Schritt, der ihm mächtig widerstrebte, tun müssen, um den Meisterspion bei Laune zu halten. Nun, er hatte sich seiner nicht schämen müssen. Der junge Mann besaß gute Manieren und war höflich und zuvorkommend. Leider hatte er auch Frau und Tochter bezaubert. Das Stadtoberhaupt von Stralsund hatte diese Tatsache insgeheim mit saftigen Flüchen kommentiert und die Tochter ganz allgemein gewarnt, sich zu früh mit einem Mann einzulassen. 76
Ob sie seine Ratschläge beherzigte, wusste Wulflam nicht. Wer konnte schon sagen, was im Kopf eines Weibes vor sich ging? Ihm musste es genügen, dass es noch nicht zu einer heimlichen Verlobung gekommen war. Der junge Mann hatte ja nicht ständig im Haus des Bürgermeisters ein und aus gehen können, er hatte schließlich seine eigentliche Tätigkeit aufnehmen müssen und befand sich nun auf dem Meer. Mit genug Geld versehen, hatte er sich einigen adligen Seefahrern angeschlossen, die im Dienste des Mecklenburger Herzogs standen und versuchten, der Dänenkönigin das Leben schwerzumachen. Dabei war zu erwarten, dass er eines Tages auch auf Goedecke Micheel und Klaus Störtebeker treffen würde. Und dann, das schwor sich der Bürgermeister zum wiederholten Male, würde er mit diesen Strauchdieben gnadenlos abrechnen und als Held in die Geschichte der Hanse eingehen. * Heloise war so schön wie eh und je. Gerrit fand sogar, dass die Mutterschaft sie noch attraktiver machte. Sie hatte unterdessen wieder ihre Ritte in die nähere Umgebung aufgenommen, bei denen er nun der Mann an ihrer Seite war. Auch heute waren sie wieder unterwegs, um sich vom Gedeihen der Ernte zu überzeugen, während Klein Hubertus und ›Papa‹ Balthasar ihr Mittagsschläfchen hielten. »Wir reiten heute zum Vorwerk«, hatte Heloise angekündigt, als Gerrit ihr beim Aufsteigen behilflich gewesen war. »Ich muss dort dringend nach dem Rechten sehen. Das wird vermutlich einige Stunden dauern.« Der Stallmeister nickte zustimmend und ritt dann neben seiner Herrin am Waldrand entlang und überquerte mit ihr einige Wiesen, bis sie den Weiler erreichten, der noch zum Besitz der Familie von Rüden gehörte. Vor einem bescheidenen Gutshaus zügelte Heloise ihre Fuchsstute. »Wir sind da«, sagte sie und ließ sich anschließend von Gerrit vom Pferd helfen. »Lasst die Tiere dort auf der Weide grasen und kommt dann nach!«, ordnete sie noch an, bevor sie zum Haus ging. 77
Er gehorchte schweigend, betrat danach das Gebäude durch die offene Tür und blickte sich suchend um. In dem Augenblick hörte er die Stimme seiner Herrin: »Hier bin ich.« Sie schien in seiner unmittelbaren Nähe zu sein. Gerrit stieß die erstbeste Tür auf und stand dann in einem Schlafgemach. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, Schlafräume gab es schließlich überall. Ungewöhnlich, ja geradezu bezaubernd und verheißungsvoll war nur, dass das Bett in dieser Kammer nicht leer war. Heloise rekelte sich darin. Sie hatte die Decke bis über ihre Brüste gezogen und sagte leise zu dem entgeistert dastehenden Gerrit: »Schließ die Tür ab... und dann komm her!« »Ja, Herrin«, stammelte er, drehte den Schlüssel herum und machte dann ein paar Schritte auf das Lager zu. Vor dem Bett blieb er unschlüssig stehen, setzte sich dann auf die Kante und beugte sich über die schöne Frau. »Liebe Herrin«, hauchte er. »Ihr macht mich so glücklich.« »Ihr mich hoffentlich auch«, flüsterte sie und bedachte ihn mit einem aufreizenden Lächeln, während sie beide Arme um seinen Hals legte. »Ich will es versuchen.« Er rutschte näher an sie heran, sah ihr tief in die Augen und zog dann die Decke fort. Danach waren keine Worte mehr notwendig, denn Lust und Sinnlichkeit hatten ihre ganz eigene Sprache. Heloise und Gerrit verstanden diese auch in den folgenden Jahren sehr gut. Und so wurde nach und nach aus dem keuschen Balthasar ein Vater von sechs munteren Kindern. * Die Ernte war in diesem Jahr nur mager ausgefallen und würde vermutlich nicht reichen, um Mensch und Tier über den Winter zu bringen. Hilfe war nicht zu erwarten, denn dem Herrn von Mohnbrink ging das Leid und die Armut seiner Pächter, der freien Bauern und der Leibeigenen nicht nahe, es reichte ihm, wenn er und seine Familie genug hatten. 78
Die Kirche hatte auch kein Einsehen, denn sie beharrte kategorisch auch weiterhin auf den Abgaben, die einen großen Teil der Felderträge ausmachten. Was den Menschen im Dorf blieb, war zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel. So pflegte man zu sagen, aber an diesem Tag meinte jemand zuversichtlich: »Wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten.« Der Mann musste es wissen, denn er gehörte zu denjenigen, die sich in der letzten Nacht am Strand verborgen und auf die Ankunft des Schiffes gewartet hatten. Einer geheimen Botschaft zufolge kam von dort all das, was man zum Überleben brauchte. Der wackere Bauer hatte nicht gelogen. Gemeinsam mit sieben anderen Männern hatte er Ballen, Säcke, Kisten und Körbe aus den Booten gehoben und an Land getragen. Ins Dorf selbstverständlich noch nicht, das wäre nur aufgefallen. Man würde sich sehr vorsichtig bedienen müssen, damit dem Herrn von Mohnbrink nichts zu Ohren kam. Einige Seeleute waren ebenfalls an Land geblieben, um an einem verschwiegenen Ort mit den Dörflern zu reden, Bier zu trinken und über die nächste Lieferung zu beraten. »Die Not im Land ist groß«, hatte Klaus Störtebeker gesagt, »der Reichtum der Pfeffersäcke ebenfalls. Wir wollen ihn gerecht verteilen. Aber es ist besser, wenn Ihr über die Herkunft der Vitalien schweigt. Nennt es offiziell eine eiserne Reserve, die Ihr Euch selbst angelegt habt.« Nach diesen ernsten Worten war es lustiger geworden, man hatte gut gegessen und getrunken, hatte gelacht und Spaße gemacht und sich schließlich im Morgengrauen zur Ruhe begeben. Der Schlaf war nur kurz gewesen. Die Sonne hatte schon bald ihre Strahlen auf die Erde geschickt, die Menschen, Tiere und Pflanzen erwärmten und über die See einen goldenen Schein hauchten. Klaus, der allein am Strand entlang ging, genoss dieses Naturschauspiel und er dachte unwillkürlich an Anna, seine erste Liebe. Wie oft hatten sie am Strand gesessen und dem Rauschen der Wellen zugehört und von einem gemeinsamen Leben geträumt. Ja, Träume waren es gewesen, die nicht in Erfüllung gehen konnten. Anna war von 79
ihrem Vater verheiratet worden und jetzt anscheinend glücklich. Doch Clara hatte ihre Liebe zu einem Piraten mit ihrem Leben bezahlen müssen. Darüber kam er einfach nicht hinweg. Ein Lachen unterbrach seine Erinnerungen. Hastig versteckte er sich hinter einem Strauch und spähte von dort um sich. Doch es waren offensichtlich keine Feinde, sondern nur ein Mann und eine Frau, die wie übermütige Kinder durch den Sand liefen. »Fang mich doch!«, rief die Frau immer noch lachend und rannte dann geradewegs auf den Busch zu, hinter dem sich Klaus versteckt hatte. Sie war so schnell, dass er ihr nicht mehr ausweichen konnte. Er wollte es auch gar nicht, denn vor ihm stand - Clara. Oder war es nur ihr Geist? Hielt ihn vielleicht ein himmlisches Wesen zum Narren? »Klaus«, flüsterte die Frau mit heiserer Stimme und machte eine Bewegung, als wollte sie ihn umarmen. Sie tat es jedoch nicht, berührte aber seine Wange mit einer Hand und murmelte: »Ich habe nicht geglaubt, dass ich dich jemals wieder sehen würde.« Er starrte sie an, sah, dass sie gut gekleidet und hübscher als je zuvor war und würgte schließlich hervor: »Clara... Liebes... man hatte mir gesagt, du wärest... tot.« »Ich war im Kerker, wurde aber in letzter Minute gerettet.« »Gott sei Dank. Damit ist eine Last von mir genommen worden, die mir die Tage und Nächte getrübt hat. Was meinst du, wie oft ich mir vorgeworfen habe, an deinem Tod schuld zu sein. Ich verstehe nur nicht, warum deine Eltern mich belogen haben, als ich im vorigen Sommer nach dir gefragt habe.« »Sie haben es nicht besser gewusst... damals noch nicht. Inzwischen leben sie bei mir und bei... meinem Gemahl.« Die letzten Worte sagte Clara nur zögernd, denn sie wusste, dass sie Klaus weh tun würden. »Du bist... verheiratet?«, stieß er dann auch bitter enttäuscht hervor. »Warum hast du nicht auf mich gewartet? Ich wäre doch immer wieder zu dir zurück gekommen.« »Ja, ich weiß, aber immer nur für einen Winter. Im Frühjahr zieht es dich wieder hinaus aufs Meer. Mir bleibt nichts als die Angst um dich und die Hoffnung, dich doch noch einmal wieder zu sehen.« 80
»So ist mein Leben nun einmal und so will ich es haben.« Sie lächelte traurig und erwiderte leise: »Viele Monate habe ich darum gebetet, du würdest die Seefahrt um meinetwillen aufgeben, damit wir eine Familie gründen können. Doch das wirst du nicht tun. Das weiß ich jetzt.« »Du hast recht. Ich werde mich erst an den Ofen setzen, wenn ich für die See nicht mehr tauge.« Clara schaute ihn forschend an und entgegnete dann ernst: »Es war schön mit dir, Klaus und ich danke dir für alles. Aber nun gehöre ich zu einem anderen.« »Zu dem da, nicht wahr?« Er machte eine Handbewegung zu Dietwolf Hademar, der langsam näher gekommen war. »Ja, zu ihm«, bestätigte sie, während sie ihrem Ehemann einen liebevollen Blick zuwarf. »Er hat mich vor Bertram Wulflam gerettet und er wird eines Tages der Vater meiner Kinder sein.« Störtebeker musterte den Mann, der nun unmittelbar vor ihm stand und fand, dass er diesen schon einmal gesehen haben musste. Doch wo war das nur gewesen? »Wir kennen uns schon, Klaus Störtebeker.« Dietwolf sagte das sehr ruhig. »Damals habe ich allerdings eine Maske getragen und mich Konrad Hinze genannt.« »Ihr wart das also. Warum diese Maskerade?« »Ich wollte nicht, dass die Soldaten des Stralsunder Bürgermeisters ihren ehemaligen Hauptmann erkennen.« »Ihr wart Hauptmann, kein Schreiber?« »Stimmt... ich habe Euch damals belogen.« »Dann habt Ihr sicher auch gewusst, dass Clara lebt?« Störtebekers Stimme war scharf und grollend geworden. Sein Gesicht hatte sich gerötet und er war drauf und dran, Dietwolf Hademar anzugreifen. Doch er beherrschte sich, denn ihm fiel ein, dass dieser nicht nur Clara gerettet hatte, sondern ihn und Gerrit ebenfalls und wie er eben gehört hatte, auch den Wirt und seine Frau. »Ja, ich habe es gewusst«, bestätigte der ehemalige Hauptmann. »Weil ich Euch die Frau weggenommen habe, darum könnt Ihr mich nun zum Zweikampf fordern.« 81
»Nein!«, schrie Clara voller Angst und Zorn. Sie stellte sich zwischen die Männer und maß sie mit ärgerlichen Blicken. »Wozu soll dieser Kampf gut sein? Ich werde bei dem Mann bleiben, den ich liebe und dessen Gemahlin ich bin.« »Clara...« Dietwolf zog sie an seine Seite, während Klaus versuchte, ruhiger zu werden. Es gelang ihm, so dass er beinahe freundlich sagen konnte: »Wir werden nicht kämpfen. Da kannst du ganz unbesorgt sein, Clara. Dein Mann hat mich zwar belogen... deinetwegen, aber er hat mir auch das Leben gerettet, damals in Saßnitz, als ich beinahe in die Falle getappt bin, die die Büttel des Herrn Wulflam mir gestellt hatten. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.« Dietwolf Hademar atmete erleichtert auf, dann lächelte er und nannte Klaus seinen richtigen Namen. »Clara und ich, wir werden für immer Eure Freunde sein«, setzte er noch hinzu und reichte Klaus dann seine Hand. Dieser nahm sie und drückte sie kräftig. Danach fragte er: »Lebt Ihr hier in der Nähe?« »Nein«, antwortete Clara. »Wir sind nur auf der Durchreise, wir wollen nach Rostock und haben hier nur Rast gemacht.« »Wir wohnen auf einem Gut bei Lievenhagen«, fügte Hademar hinzu. »Dort werdet Ihr uns stets willkommen sein.« »Das soll gelten.« Störtebeker hatte seine Bitterkeit und seine Enttäuschung weitgehend überwunden. Er lachte sogar ein wenig, küsste Clara leicht auf die Wange und reichte Dietwolf noch einmal seine Rechte. Danach drehte er sich um und ging davon, blieb jedoch nach etwa hundert Metern stehen und hob grüßend die Hand. Die Eheleute sahen ihm schweigend nach, bis er im Wald verschwunden war. Dietwolf hatte den Arm um die Schultern seiner Frau gelegt und fragte nun zögernd: »Hast du mich wirklich lieb? Oder hast du das nur gesagt, damit Klaus Störtebeker und ich nicht miteinander kämpfen?« »Ich habe dich wirklich lieb«, bekannte sie innig und schmiegte sich an ihn. »Natürlich werde ich Klaus niemals vergessen, aber er ist kein Mann, mit dem ich alt werden möchte. Dieser Mann bist du... und ich verzeihe dir deine Lügen.« 82
»Du...«, flüsterte er tief bewegt. »Du bist wunderbar und ich liebe dich.« Danach riss er sie in seine Arme und küsste ihren Mund. Klaus beobachtete sie von weitem. Er war traurig, aber nicht so traurig wie in den vergangenen Monaten. Clara lebte und war glücklich. Und wenn sie es war, dann konnte er es eines Tages auch wieder sein. Seine Heimat war und blieb doch das Meer, sein Zuhause die ›Maria Anna‹ und dort waren auch seine Freunde, die mit ihm das Unrecht in dieser Welt bekämpften. Jetzt lachte er und schaute auf die See hinaus, dorthin, wo sein Schiff vor Anker lag. Ende
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