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Auf dem Gipfel der Welt von Jo Zybell 25. März 2518 Motoren brüllten durch den Wald. Die Kolon ne pflügte durch die wirbelnden Schneeflocken hangabwarts. Zwei Clinton-I Tauchpanzer an der Spitze, zwei wahre Ungetüme von Transpor tern voll Menschen und Ausrüstung hinter ih nen, und als Nachhut noch einmal zwei ClintonTauchpanzer. Ketten ra sselten und wirbelten Schneematsch, Dreck, altes Laub und mo rsches Gehölz auf. Die Schneedecke unter dem zweiten Transporter riss auf wie brüchiges Linnen. Da r unter tobte und schäumte ein Gebirgsfluss. Das Heck des Panzers senk te sich und tauchte in die reißenden Fluten. Fünf, sechs Männer rutschten aus dem Mannschaftsraum. Als waren sie Bruchholz, drehten sie sich in den Wasserwir beln, b evor sie unter dem Eis verschwanden.
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verhe erend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewa n delt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet -Staffel beim Kometenein schlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … WAS BISHER GESCHAH Der Wettlauf zum Komet enkrater, wo sich laut der ISS-Daten vielfältiges Leben ent wickelt haben soll, hat bego nnen! Doch Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko sind nicht die Einzigen, die sich auf den Weg machen! Der sogenannte Weltrat (WCA) ist der Nachfolger der US-Regierung. Doch Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow setzen ihre Ziele unerbittlich durch, indem sie barbarische Völker unter stützen, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCA-Expedition, begleitet von Professor Dr. Jacob Smythe, der mit Matt Drax aus der Vergangenheit kam, wahnsinnig wurde und Allmachtsfantasien ent wickelte. Auch Matts Freund, der Barbarenhäuptling Pieroo hat sich aus finanziellen Gründen dem Unternehmen angeschlossen. Die zweite Fraktion, die ebenfalls von Washington aus aufbricht, ist eine Rebellengruppe namens Running Men, die gegen den Weltrat kämpft. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Mit dabei sind u.a. Philipp Hollyday, der eine Gedä cht nis-Kopie Professor Dave McKenzies in sich trägt, eines alten Kameraden von Mat thew Drax, und Merlin Roots, der früher als WCA-Agent das Nordmann-Projekt in Skandinavien leitete. Matt, Aruula und Aiko machen sich von Los Angeles aus mit Magnetgleitern auf den Weg. Durch ein Experiment hat Aruula ihre telepathischen Kräfte eingebüßt - was bei den Gefahren, denen sich die Gruppe stellen muss, nicht hilfreich ist. Erst geraten sie in ein »Sanatorium der Cyborgs«, dann treffen sie im ver sunkenen San Francisco auf Menschen und Hydriten, die eine neue Spezies entstehen lassen: die Mendr iten, die mit ihren mentalen Kräften eine Büchse der Pandora öffnen. In Portland versagen wegen der Nähe zum magnet ischen Pol die Gleiter. Man will ein Schiff zur Eisgrenze chart ern - und gerät in eine abenteuerliche Jagd nach mutierten Maulwürfen, die Port land heimsuchen und die Freunde beinahe das Leben kosten. Indem sie den Jägern beistehen, sichern sich Matt, Aiko und Aruula die Überfahrt …
»Gewöhnt euch an den Tod«, sagte Professor Dr. Jacob Smythe. Er stand am Heck des ersten Transporters. »Wir werden ihm noch oft begegnen.« Die Kolonne kam zum Stillstand. Hinter Smythe drängten sich knapp dreißig meist bär tige und langmähnige Männer in Pelzmänteln oder Wildlederjacken. Alle wollten sie einen Blick auf den gefährlich schräg im Steilbett des Flusses hängenden Gefährt erha schen, das die Ausrüstung und einen Teil der Mannschaft transportierte. Rechts und links des Professors lehnten sich zwei auffallend dürre und verwilderte Ge stalten über das Heckgeländer: Phobos und Daimos. Wie sie wirklich hießen, wusste Smythe nicht. Aus einer Laune heraus hatte er sie so getauft. Er nannte sie seine »Jünger«. Und seit einigen Tagen auch hin und wieder »meine Leibgarde«. Daimos betete zu irgendeinem seiner Götter. Und Phobos klammerte sich an seinem Arm fest. Er zitterte; seine Unterlippe bebte. »Es hätte uns treffen können«, flüsterte er. Knapp ein Viertel des Transporters ragte über den Rand des Flussbetts. Sie konnten die Unterseite sein er breiten Ketten sehen. Schneematsch tropfte vom Kettenschuh, Äste ragten aus den einzelnen Gliedern, Schnee und Lehm klebten an ihnen. Die Fahrerkabine hing in der Luft, und über sie kletterten die vier restlichen Barbaren 2
söldner, die sich hatten retten können, aus dem Panzer. »Meister …« Phobos schüttelte den Kopf. Er konnte vor Aufregung nur noch krächzen. »Was, wenn das Eis schon bei uns gebrochen wäre? Wir sitzen in der letzten Bank …« »Uns passiert nichts«, sagte der Professor. »Weißt du, was Vorsehung ist? Sie hat mich zum Herrn der Welt bestimmt! Wenn ihr mir folgt, kann euch nichts geschehen.« Die ersten WCA-Soldaten tauchten auf. Männer und Frauen in weißen Thermomänteln. Einige halfen den Rekruten aus dem verunglückten Panzer, andere knieten am Rand des Steilbetts und. spähten in die tosenden Fluten hinunter. Ein hagerer, schwarzhäutiger Mann riss die Tür der Fahrerkabine auf: Lieutenant Jere miah »Jazz« Garrett, der stellvertretende Kommandant der Expedition. Er zerrte den Fah rer aus dem Kommandostand, schlug auf ihn ein und stieß ihn in den Schnee. »Idiot!«, hörten sie ihn brüllen. »Verdammter Idiot! Zur Hölle mit dir!« Wie von Sinnen drosch und trat er auf den Verängstigten ein. Bis eine rothaarige Frau und ein Lieutenant namens Rüben Miller ihn links und rechts packten und von seinem Opfer wegzerrten. »Gewöhnt euch an den Tod«, wiederholte Smythe seine Worte von vorhin. »Wir haben noch fast zwölftausend Meilen vor uns, und er wird unser treuer Begleiter sein …« Der Jäger aus Montana Wasser tropfte von der Decke der Eisröhre. Louyos wischte es aus Bart und Stirn und tastete sich weiter nach unten. Seine Stiefel verfehlten die ausgetretenen Eisstufen und versanken bis über die Knöchel in Wasser. Louyos merkte es kaum. Manchmal ging es s o steil hinab, dass seine Rechte von den eisernen oder hölzernen Stangen abrutschte, die auf beiden Seiten der Röhre ins Eis eingelassen waren; und manchmal schlug Louyos dann lang hin und scheuerte rücklings ein paar Stufen weit durch Pfützen und Matsch nach unten. All das kümmerte ihn nicht. Aufstehen und weiter. Hinabsteigen, weiter und weiter. Sein Verlangen trieb ihn voran. Hinter jeder Biegung der Röhre, die seine Öllampe der Dunkelheit entriss, wähnte er das Ziel. Und das Ziel hieß Erfüllung seiner brennenden Sehnsucht. Das Ziel hieß Glück. Mit jeder Faser seines ausgemergelten Körpers wusste er es: Glück. Schmerz am Ende der Eisröhre? Grauen? Tod? Nein. Dergleichen kam ihm nicht in den Sinn, nicht ein einziges Mal. Schon seit Monden hatte ihn keine v ergleichbare Gewissheit erfüllt: Glück. Er zitterte vor Kälte und merkte nicht einmal das. Wieder eine Biegung, und wieder eine und gleich die nächste. Spiralförmig wand sich die Eisröhre in die Tiefe, weiter und we i ter. Der Lichtschein seiner Öllampe reichte sieben oder acht Schritte weit. Die Temperatur schien zu steigen; schon lange hatte er keine Eiszapfen an den Haltestangen in der Eis wand mehr gesehen. Er trat in eine tiefe Pfütze; sein Stiefel versank bis über den Schaft darin. Die Felllum pen um sein e Unterschenkel und Füße sogen sich mit Wasser voll. Gleichgültig. Weiter. Das Gefalle der Röhre flachte ab. Über Hunderte von Schritten hatte Louyos gar den Eindruck, sich auf ebenem Grund zu bewegen. Die gewundene Eisspirale ging allmählich in einen fast gerade verlaufenden Tunnel über. Keine Biegung mehr, kein Geländer. Louyos watete durch eine Pfütze, die gar nicht mehr enden wollte. Der Lichtschein seiner Lampe fiel auf eine Treppe, die steil anstieg und so breit war, 3
dass drei Männer bequem nebeneinander gehen konnten. Louyos hob die Lampe. Sieben Stufen zählte er. Als Geländer diente ein Seil, das aussah, als hätte man es aus blauen Tiersehnen geflochten. Es war an runden, im Eis versenkten Stangen befestigt. Hinauf. Louyos packte das Seil und nahm zwei Stufen auf einmal. Nein, es war keine Tiersehne. Wie Tiersehnen sich anfühlten, wusste Louyos genau. Er war Bogenschütze. Ein geachte ter Jäger seines Stammes, ein gefürchteter Schütze bei den Feinden seines Stammes. Aber was kümmerte ihn das harte, unbekannte Material dieses Seils? Verlangen brannte in seiner Brust. Verlangen trieb ihn weiter. Nur sieben Stufen, und dennoch: Louyos atmete schwer, als er oben ankam. Die Mühen der zurückliegenden Monde steckte auch ein Körper, der erst neunzehn Winter gesehen hatte, nicht weg. Er verschnaufte ein wenig und leuchtete in den Gang hinein, der sich vor ihm weitete. Viel breiter als die Eisröhre, war er nicht von rundem, sondern von quadratischem Quer schnitt. Ein wenig erinnerte er ihn an- die Räume, die er in den zerstörten Riesenhütten der Alten gesehen hatte. Und statt aus Eis bestanden die Wände aus oberflächlich behaue nen Steinblöcken. Das Ziel - jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Schritt für Schritt drang er in den Gang ein. Es knirschte unter seinen Stiefelsohlen. Louyos blieb stehen und senkte das Drahtge stell mit dem Fischöldocht. Kein Eis mehr - viele, viele Steine bildeten den Boden des Ganges. Fingernagelkleine bis faustgroße, weiße, graue, schwarze Steine, und alle glatt und rund. Weiter. Das nahe Ziel seines Verlangens beflügelte ihn. Weit konnte es ja nicht mehr sein. Louyos lief schneller. Mit jedem Schritt schien es wärmer zu werden. Der Gang mündete in eine Treppe. Ebenfalls aus Stein wie die erste, führte sie nicht nach oben, sondern sieben St ufen nach unten. Louyos tastete sich hinab. Eine Plattform wie ein Raum ohne Fenster und Türen. Keine Treppe führte weiter, kein Gang. Und jetzt? Louyos leuchtete die Wände aus. Hinter ihm scharrte etwas. Er fuhr herum. Eine Steinplatte schob sich zur Seite, und milchiges Licht fiel auf die Plattform. Man erwartete ihn also! Hieß man ihn nicht sogar willkommen? Wie anders hätte er eine sich öffnende Tür deuten sollen? Louyos zögerte nicht: Er trat durch die rechteckige Mau eröffnung, huschte durch einen we iteren Gang und gelangte erneut an einen Treppenab satz. Louyos blieb stehen: Wie heiß es plötzlich war! Und das Licht … Er lüftete seinen Pelzmantel und schob die Lampe kurz darunter. Dieses rätselhafte Licht! Mild und warm durchsickerte es die Düsternis des Gangsystems. Bereits hell ge nug, um die Konturen der Treppe und das Relief des Gemäuers erkennen zu können. Er zog die Lampe wieder aus dem Mantel und senkte sie auf Kniehöhe. Die Treppe war aus Stein und schmal und führte in engen Windungen steil nach unten. Louyos erinnerte sich, solche Treppen in den Ruinen von Helena gesehen zu haben. Sein Herz klopfte, sein Atem flog, das Blut pulsierte in seinen Lenden. Er stieg hinunter. Sein hartes Glied scheuerte gegen seine lederne Hose. Es wurde heller und noch wärmer. Und auf einmal … Louyos blieb stehen und lauschte. Stimmen von fern. Jemand sang. Ein Chor? Welch schöne, friedliche Melodie! Sie bezauberte ihn. Verzückt schloss er die Augen. Endlich! 4
Endlich am Ziel seiner Sehnsucht. Bei Wudan - wie würde er schwelgen! Den Kopf geneigt, die Augen geschlossen stand er da und lauschte. Das Lächeln eines berauschten Narren lag auf seinen Zügen. Eine Frauenstimme erhob sich über den Chor. Bei allen Göttern, was für eine Stimme! Louyos glaubte eine Trommel und etwas wie Flöten aus dem herrlichen Gesang herauszuhören. Er hätte weinen mögen vor Freude … 26. März 2518 Nasser Schnee bog die unteren Äste der Douglasien teilweise bis zum Waldboden hin unter. Und aus den Wipfeln rauschten im Minutentakt Schneebretter herab, rissen tiefer liegende Äste und Zweige ab oder schlugen dumpf im feuchten Schnee des Waldbodens auf. Kein schöner Ort für ein Rendezvous. Lieutenant Rüben Miller zog die Kapuze seines weißen Thermomantels über den Helm und verschnürte sie unter dem Kinn. Ungewöhn lich kalt war es nicht, drei oder vier Grad über Null vielleicht, aber ein nasskalter Wind fegte durch die Bäume, und die Kälte kroch dem Lieutenant die Beine hinauf. Noch eine Stunde, dann würde sie wahrscheinlich wieder auf Null sinken; die Dämmerung hing schon zwischen den Baumstämmen. Rüben verschränkte die Arme vor der Brust und stampfte in den matschigen Boden. Er fragte sich, wie der Staff Sergeant sich Sex mit vier Kleiderschichten, in knöchelhohem Schneemaatsch und unter Bäumen voller Schneebretter vorstellte. Im Stehen womöglich? Sehr romantisch ! Vorsichtshalber ging Rüben in Gedanken die entsprechenden Stellu n gen durch, die er kannte. Dabei wurde ihm wärmer, deutlich wärmer sogar. Er hatte die Nachricht der schwarzen Frau am Morgen auf dem Kartentisch vor seinem Navigationssessel gefunden. Lieutenant Rüben Miller war Navigator und Bordtechniker eines der vier Tauchpanzer; der Einzige an Bord von Expedition Three, der die Karten anrührte. Alle wussten das, natürlich auch Staff Sergeant Majela Ncombe. Ihre Nachricht lautete: Heute in der Abenddämmerung am Deerpfad. M.N. Hatte sie also endlich reagiert auf seine Blicke, auf die Flirts, die er fast täglich anzuzet teln versuchte. Er hatte schon aufgeben wollen. Am Deerpfad - Rüben wusste sofort, welche Stelle im Waldhang sie meinte. Hier hatten sie gestern Nachmittag einen Deerbullen und zwei seiner Kühe geschossen, Rüben, Maje la und drei der angeheuerten Barbaren. Fünfzehn Schritte entfernt, zwischen den rostbra u nen Farnsträuchern konnte er noch die Spuren des erfolgreichen Jagdzugs erkennen: drei Haufen Eingeweide und um sie herum dunkles Blut im Schneematsch. Ein Windstoß fuhr durch die Bäume. Manche schwenkten ihre vom Schnee schweren Äste, als wollten sie um Hilfe rufe n. Wieder schlugen Schneebretter zu Boden. Der Wald war ein kalter Saal, verlassen und düster. Eigentlich hätte Rüben in der Schlafkoje seines Panzers liegen müssen. Der Gipfel der Appalachen lag nach mühsamer Fahrt endlich hinter ihnen. Aber während der Abfahrt hatten sie sich in einem zerklüfteten Hang verfranzt, und einer der beiden Transporter war in das Steilbett eines Gebirgsflusses eingebrochen. Drei Tote, vier Vermisste. Mit Achsenbruch und einer Schräglage von gut achtzig Grad hing das Gerät zur Hä lfte im durch das Tauwetter reißenden Fluss. Seit zwei Tagen und Nächten arbeiteten sie in drei Schichten rund um die Uhr an der Bergung des Fahrzeugs. Lieutenant Garrett hatte Rüben für die Frühschicht eingeteilt. Und der Lieutenant verlangte ausgeruhtes Personal. 5
Jazz Garrett, nun ja - der Mann war ein Kapitel für sich … Rüben horchte auf. Knirschte da Schnee unter Stiefeln? Er lauschte. Die Baumstämme, kahlen Büsche und das allgegenwärtige Bruchholz verschwammen schon zu einer dunke l grauen Wand mit der hereinbrechenden Nacht. Gut, dass er eine Stablampe mitgenommen hatte. Rüben hörte nichts mehr, das nach Schritten klang. Vielleicht ein Tier, oder aus den Baumkronen gerutschter Schnee. Schade eigentlich. Langsam wurde es Zeit, dass die Lady sich blicken ließ. … Jazz Garrett also. Jede Wette, dass er Majelas Grund war, ein Rendezvous zwei Mei len von Unfallstelle und Lager entfernt in den ungemütlichen Wald zu verlegen. Jazz nämlich, und auch darauf hätte Rüben gewettet, war scharf auf Majela. Nun gut, wer war das nicht? Bei vier Frauen, die Huren der Barbaren nicht mitgerech net, hatte man nicht gerade eine komfortable Auswahl. Eine der vier - die Kommandantin - galt zudem als tabu, völlig klar. Und die anderen beiden … nun ja, Schwamm drüber. Jedenfalls hatte Jazz längst geschnallt, dass er, Rüben, sich in die schwarze Majela ver guckt hatte. Kunststück bei den eindeutigen Blicken, mit denen er sie Tag für Tag ver schlang. Und Jazz war - wie sollte man das sagen? - eine Zeitbombe. Ja, eine Zeitbombe, das war das richtige Wort. Nicht auszudenken, wenn er ihn und Majela erwischte! Er würde kurzen Prozess mit Rüben machen. Da würde es ihm auch nichts nützen, dass er über drei Ecken mit dem stellvertretenden Kommandanten verwandt war. Jazz Garretts Onkel hatte Rubens Großcousine geheiratet. Das Paar arbeitete in einem Geheimprojekt der WCA in Euree … Hinter ihm knirschte jetzt wirklich Schnee unter Stiefeln. Rüben fuhr herum. Ach du Scheiße, aufgeflogen … aufgeflogen, bevor überhaupt was gelaufen ist … »Was’n Zufall!« Er versuchte zu grinsen. »Auch’n Freund der Dämmerung, was?« Er drehte dem Kameraden den Rücken zu und deutete auf die tierischen Eingeweide bei den Büschen. »Wollt vor dem Schlafengehen noch mal den Ort vergangenen Jagdruhms auf suchen, he, he!« Himmel noch mal! Hoffentlich taucht Majela nicht ausgerechnet jetzt auf … Es war ein Fehler, sich umzudrehen. Rüben begriff das, als die Klinge ihm von hinten in Kehle und Luftröhre drang. Beide Hände an den aufgeschlitzten Hals gepresst, knickte er ein. Seine Knie versanken im Schneematsch. Warm und klebrig quoll das Blut zwischen seinen Fingern hervor. Er wollte schreien, aber die Luft, die er ausstieß, erreichte seine Stimmbänder nicht mehr. Sie warf Blasen im Blut an seinen Fingern auf und verspritzte es über seinen Mantel und in den Schneematsch. Dem letzten Impuls seines Hirns folgend, wollte Rüben sich umdrehen, um seinem Mör der ins Gesicht zu sehen. Es gelang ihm nicht mehr, zu schnell sprudelte das Leben aus seinem Hals. Kopfüber schlug er im Schneematsch auf … 3. April 2518 Wir liegen kurz vor den Ruinen Pittsburghs. Am östlichen Horizont verschwimmen die Bergzüge der Appalachen im Dunst. Dreizehn Tage für die Überquerung des Gebirges, dreizehn Tage für knapp 260 Meilen! Offen gesagt: Ich hatte nicht weniger erwartet. Aber der Captain ist unzufrieden. Zwanzig Meilen am Tag, rechnete sie der Mannschaft vor, 6
nur zwanzig Meilen am Tag … Captain Lynne Crow erwartet ein Durchschnittstempo von fünfzig bis sechzig Meilen am Tag, unvorhergesehene Ereignisse, Jagd- und Erholungspausen schon mit eingerech net. Natürlich werden wir unter dem Strich mindestens sechzig Meilen am Tag machen. Aber doch nicht im Gebirge, während des Tauwetters ! Jetzt liegt es hinter uns. Schlamm, Schneematsch, Erdrutsche und vor allem tückische Eisdecken über Flüssen und Bächen haben uns aufgehalten. Acht Mann Verlust insge samt. Sieben wurden von eiskaltem Wildwasser mitgerissen, als einer der Transporter in das Eis eines Gebirgsflusses einbrach. Alles Rekruten aus dem Freiwilligenverband der neuen Menschen (wie ich sie nenne; »Barbaren« scheint mir nicht angemessen). Lieute nant Jazz Garretts Kommentar: »Glück gehabt.« Im Hinblick auf den achten Toten sagte er nichts dergleichen. Der gehörte nämlich zur WCA-Crew: Rüben Miller, ein Lieutenant. Ein Suchtrupp hat seine Leiche mit durchge schnittener Kehle im Wald gefunden, in einem Bach. Die Schneeschmelze hatte alle Spu ren verwischt. Lieutenant Garrett hat jeden der neuen Menschen einzeln verhört, manche dabei ge schlagen und mit der Waffe bedroht. Aber es gibt im Grunde keinen konkreten Verdacht. Wahrscheinlich Wilde, die im Gebirge hausen. Und die es verstanden haben, unsichtbar für uns zu bleiben. Tragische Geschichte. Und dazu ein wirklich herber Verlust, wenn man bedenkt, dass die WCA-Crew nur aus zwölf Mann besteht, mich selbst eingeschlo s sen. Jetzt sind es nur noch elf. Die restliche Mannschaft setzt sich ausschließlich aus rekrutierten Eingeborenen zu sammen, einunddreißig Männer und drei Frauen. Oder nein: dreiß ig Männer und drei Frauen. Den angeblichen Professor Jakob Smythe kann man wohl kaum als Eingeborenen bezeichnen. Ob er nicht trotzdem ein Barbar (und hier passt das Wort!) ist, sei dahinge stellt. Fünf Meilen westlich liegt jetzt also das alte Pittsburgh. Captain Crow hat einen Späh trupp hingeschickt. Verschwendung von Manpower und ein unnötiges Risiko dazu, wenn man mich fragt. Aber mich fragt ja keiner. In den Ruinen von Pittsburgh mag es ein paar wilde Tiere geben. Vielleicht eine Noma denhorde, die sich vorübergehend dort niedergelassen hat. Sonst nichts, was sich zu sehen lohnt. Ich kenne sämtliche Berichte sämtlicher Expeditionen, die je im Auftrag der Regie rung in den Ruinen Pittsburghs gewesen waren. Aber wie gesagt: Mich fragt hier keiner. Dolmetschen ist mein offizieller Job. Und mein inoffizieller: die Augen und Ohren aufhal ten, dokumentieren, interpretieren, aufschreiben. Die Führungscrew sitzt übrigens seit einer Stunde in Expedition One zusammen (wir kürzen das intern übrigens mit EX One und so weiter ab). Die Leute, die hier was zu sa gen haben, sind sich nicht einig über den Kurs. Captain Crow will an dem ursprünglichen Plan festhalten, entlang der Eisgrenze nach Nordwesten bis zu den Hängen der Rocky Mountains zu fahren und dort erst Kurs nach Norden und ins ewige Eis zu nehmen. Lieu tenant Garrett dagegen gibt zu bedenken, dass die frühe Schneeschmelze die geplante Strecke in ein Schlammloch gigantischen Ausmaßes verwandelt haben könnte. Ich denke, da liegt er nicht ganz falsch. Vermutlich würden wir eine Menge Zeit ver wenden, um die Tanks auszugraben. Mehr als für die eigentliche Reise. Garrett schlägt vor, die Ruinen Chicagos anzusteuern und über die hoffentlich zugefrorenen Großen Seen 7
nach Kanada hinein und dann über den Nordpol hinauf nach Alaska und die Beringsee zufahren. Wer sich ebenfalls für diese Variante stark macht, ist dieser Smythe. Offen gestanden: Ich durchschaue ihn nicht. Ich misstraue ihm sogar aufs Äußerste. Anlass genug hat er mir ja in Washington geboten. Nach meinem Geschmack mischt er sich viel zu sehr in Dinge ein, die ihn nichts angehen. Und nach meinem Geschmack schenkt ihm die Kommandan tin mehr Aufmerksamkeit, als er … »Na, Doc? Ganz allein im Panzer?« Stuart blickte von seiner Schreibkladde auf. Ein schwarzes Gesicht unter einem Busch von Rastalocken musterte ihn von der offenen Heckklappe des Truppentransporters aus: Sergeant Majela Ncombe. Sie verschränkte die Arme auf der Ladefläche und legte ihr Kinn auf die weißen Ärmel ihres Thermomantels. »Was schreibst du denn da?« »Schreiben?« Sein Blick irrte zwischen ihren dunklen Augen und seinem Buch hin und her. »Ach so … hm, also ich, an … ich mach so Notizen, könnte man sagen, ja … Noti zen, genau …« »Ganz privat, was?« Majela kletterte auf die Ladefläche. Die Hände in den Mantelt a schen versenkt, schlenderte sie bis zur Metallwand der Fahrerkabine. Dorthin hatte Dr. Jed Stuart sich mit seinem Logbuch zurückgezogen. »Tagebuch?« Mit einer Kopfbewe gung deutete sie auf die Kladde, die er in verräterischer Hektik zugeschlagen hatte. »Oder poetische Eindrücke einer romantischen Winterreise?« Jed gegenüber ließ sie sich auf der Metallbank nieder. Schwarz wie die Nacht war diese Frau, und schön wie die seltenen Sommertage, an denen der Himmel über Washington aufriss und die Sonne sic h im Potomac spiegelte. »Oder ist es vielleicht doch eher wissen schaftlicher Natur, was du da in dein Buch schreibst?« Vier Schritte trennten sie. Selten war der weibliche Sergeant Jed so nahe gekommen; und noch nie hatte er Gelegenheit gehabt, allein mit ihr zu sein. Diese Einsicht verstörte ihn; und gleichzeitig strömte etwas durch sein Zwerchfell, was ihm eine unzensierte Ecke seines Hirns Glücksgefühl zu nennen erlaubte. »Hm … wissenschaftlicher Natur … könnte man … ja, könnte man so nennen. Einer muss doch, denk ich mal, äh … einer sollte doch einen Bericht, also … schreiben.« »Stimmt.« Sie nickte. »So eine Expedition schickt die Regierung schließlich nicht jeden Tag auf die Reise.« »Genau … ich meine, so sehe ich das … ähm, ich seh das genauso, hm, ein historisches Ereignis gewissermaßen; und der Präsident … also die Regierung, wenn du weißt, was sich meine … ich wollte sagen, die Regierung … also, die erwartet, dass …« Sein großer schmaler Schädel wackelte hin und her, als müsste er sich jedes Wort einzeln aus den Hirnwindungen schütteln. Er räusperte sich ein paar Mal. »Die Regierung erwartet einen Bericht … also, eine Art Chronik, das ist … ja, man könnte sagen, das ist … hm, meine Aufgabe.« Majela betrachtete den großen Weißen mit dem Blondhaar aufme rksam. Er schien ihr noch hagerer geworden zu sein seit dem Aufbruch. Ein Jammer, dass ein derart begabter Mann nicht zur Führungscrew der Expedition gehörte. Statt im Cockpit von Expedition One verbrachte er die beschwerliche Reise mitten unter den Halbwilden auf einem der beiden Transporter. So weit Majela wusste, war es das erste Mal, dass der Wissenschaftler Washington verlassen hatte. 8
Andererseits: Dr. Jed Stuart konnte von Glück sagen, überhaupt noch reisen, überhaupt noch unter Menschen sein zu können. Viel fehlte nicht, und Lieutenant Garrett hätte ihn getötet. Weil der Doc ihn wegen eines Mordes beim Präsidenten melden wollte. Buchstäb lich im letzten Moment hatten Majela Ncombe und der General ihn daran hindern können. Tja - und nun teilte er Provia nt, Transporter und Schlafplatz mit dem bunten Völkerge misch der Barbaren; als Dolmetscher. Im Pentagon konnte er Jazz Garrett nicht mehr anschwärzen, und hier hatte er nichts zu melden. Schade. Eine bessere Alternative als der Tod allemal - keine Frage -, aber dennoch ein Abstellgleis. Die schwarze Frau seufzte. Der Konflikt war vorprogrammiert. Staff Sergeant Majela Ncombe war realistisch genug, um den Tatsachen ins Auge sehen zu können: Irgendwann würde Garrett versuchen, den Doc endgültig loszuwerden. »Hör zu, Jed«, sagte sie. »Du brauchst nicht so rumzustottern, nur weil eine Frau dir g e genüber sitzt …« »Ich … also, ich neige immer dazu, mich … hm, wie soll ich sagen? Mich umständlich auszudrücken, wenn du verstehst, was ich … Entschuldigung, aber …, aber ich darf doch ›Majela‹… ich meine, ich darf dich doch beim Vornamen …?« »Du hast es nicht nötig, so unsicher zu sein, Jed«, schnitt sie sein Gestammel ab. »Du bist der fähigste Anthropologe und der beste Linguist, den die Regierung zur Zeit hat. Du bist eine Koryphäe, kapiert? Niemand hier kann dir das Wasser reichen.« Benimm dich also nicht wie ein Schwachkopf, wollte sie hinzufügen, schluckte es dann aber doch lieber hinunter. »Oh! Das ist …« Seine bleiche Gesichtshaut verfärbte sich rosig. »Ich meine, das ist … also, vielen Dank.« Eine Zeitlang sahen sie sich an. Sergeant Majela Ncombe lächelte, und Dr. Jed Stuart, obgleich er ständig schlucken müsste, strahlte wie ein kleiner Junge, dem man gerade ein Haustier geschenkt hatte. »Was macht dein Sprachschüler?«, erkundigte sich Majela. »Pieroo? Du … also, du weißt davon?« Sie nickte. »Er macht sich gut, doch, wirklich … ich meine, du musst dir vorstellen, wie soll ich sagen, er kann weder lesen noch schreiben, aber … hm, er spricht … ich will nicht übertreiben, aber er spricht schon, also, ein besse res Englisch als vor zehn Tagen noch, doch, wirklich.« Jed Stuart brachte dem Barbaren ordentliches Englisch bei, und Pieroo half im Gegen zug dem Doktor, sich unter den Barbaren und in der Wildnis zu behaupten. Was als Zweckgemeinschaft begonnen hatte, entwickelte sich mittlerweile zu etwas, das Jed bisher nie kennen gelernt hatte: zu einer Freundschaft. In seiner Situation, so schätzte er, bedeu tete eine Freundschaft weit mehr als eine Waffe, mit der er sowieso nicht umgehen konn te. Er beugte sich vor und stützte die Arme auf seine Schreibkladde. »Du kannst es dir … äh, nicht vorstellen, ich meine … vielleicht doch, aber dieser Mann, also Pieroo, unglaub lich, was der schon alles … äh, wie soll ich sagen, erlebt hat. Er kommt aus Euree, aus Fraace, um ganz genau zu sein …« Jed begann von seinem neuen Freund zu schwärmen, von Pieroos Lebenserfahrung, von seiner Zähigkeit, von vielerlei Gefahren, in denen der Barbar sich bewährt hatte. Pieroo war einst Häuptling einer eureeschen Horde der Wandernden Völker, wie die Nomaden 9
Eurees sich nannten. Westlich des Großen Flusses aufgewachsen, hatte er seine Horde durch das ganze ehemalige Frankreich bis weit in den Osten Doyzlands geführt. »… bis in eine Stadt namens Laabsisch, um, äh, genau zu sein. Hm, ich nehme an … also, ich bin fast sicher, dass es sich dabei um das historische Leipzig handelt. Du hast bestimmt schon, ich meine … vielleicht hast du den Namen schon gehört …« Majela schüttelte den Kopf. Euree, seine Landschaften und Städte - weiter nichts als b e deutungslose Begriffe, die sie für irgendwelche Prüfungen im Rahmen der Schulausbil dung gepaukt hatte. Jede beliebige Legende war ihr vertrauter. »Erzähl doch weiter.« »Wenn du willst … also, äh, ehrlich? Na gut, ich meine … gern. Du glaubst ja nicht, welches Kauderwelsch … äh, versteh mich nicht falsch, ich meine … hm, was für ein Mischmasch diese Wandernden Völker sprechen, eine Art, wie soll ich sagen, Synthese aus den alten Sprachen, Französisch, Deutsch, Altenglisch und so weiter, und in Laabsisch … hm, dieses historische Leipzig, das ich, also, erwähnte …« Er erzählte von dem Stadtkönigtum, das Pieroo in Laabsisch erlebte, von den Angriffen kriegerischer Seefahrer auf die Stadt - Pieroo hatte sie Nordmänner genannt -, von der Schlacht um Laabsisch, von seiner Begegnung mit einem Mann aus der Vergangenheit und von Pieroos Erfahrungen in Britanien, wo er in Plymeth den Mann aus der Vergan genheit, einen gewissen Matthew Drax, zum zweiten Mal traf. »Oh.« Irgendwann unterbrach er sich und legte die Hand auf den Mund. »Ich glaub, ich rede zu viel …« »Unsinn! Ich hör dir gern zu, Jed.« Geschrei wurde laut; eine raue Männerstimme brüllte Befehle. Majela und der Doc stan den auf und lugten über die Seitenwand des Transporters. In dem Halbkreis, den die sechs Fahrzeuge bildeten, waren elf Zelte aufgeschlagen wo r den. Bis auf eins ausschließlich für die Söldner; und für den Doc natürlich. Das elfte be wohnte Jakob Smythe mit seiner Leibgarde. Vor einigen Zelten brannten kleine Feuer. In Fell gehüllte Männer standen um sie herum und hielten lange Stöcke oder Speere hinein. Die Söldner; rekrutierte Barbaren aus dem Umland Washingtons. Sie brieten Vögel, die sie geschossen hatten. An seinem schwarzen Pelz und seiner wilden Mähne erkannte Majela Ncombe auch Pieroo, Jed Stuarts En g lischschüler, unter den Männern. Und neben ihm am Feuer seinen kleineren und schmäch tigeren Gefährten Ru’alay. Schneefelder, ausgedehnte und weniger große, bedeckten das niedergedrückte gelbliche Gras. Da und dort spiegelte sich der graue Märzhimmel in Pfützen; ausgedehnte Pfützen zum Teil. Gefolgt von zwei Corporals, stiefelte ein schwarzhäutiger Offizier durch Schnee und Matsch - Lieutenant Jazz Garrett, stellvertretender Kommandant der Expedition. Er fuch telte mit den Armen, schrie irgendetwas, das sie auf die Entfernung nicht genau verstan den. Die Männer an den Feuern sahen zu ihm, wandten die Köpfe zueinander, palaverten und sahen wieder zu Garrett. Schließlich zogen sie ihre Speere und Stöcke aus dem Feuer und legten sie daneben ins vergilbte Gras oder in den Schnee. Nach und nach verließen sie die Feuer und sammelten sich in der Mitte des Platzes. Garrett und die Corporals standen dort und winkten sie herbei. »Na klar.« Majela stieß ein bitteres Lachen aus. »Ausbildung ist angesagt. Er lässt ihnen keine Ruhe.« 10
»Ich weiß nicht …« Jed Stuart klemmte sein Logbuch unter den Arm und kratzte sich den blonden Schädel. »Er könnte sie doch, hm, ich meine … warum lässt er sie nicht erst ihre Vögel braten?« »Disziplin und Gehorsam, Jed«, sagte Majela. »Er will eine schlagkräftige Truppe aus dem Haufen machen.« »Hm, eine schlagkräftige Truppe also, aha … ich meine, hoffentlich werden sie nicht irgendwann ihn schlagen …« Etwas abseits, vor Expedition One, erkannte er den roten Schöpf der Kommandantin. Neben ihr stand Jakob Smythe und redete gestenreich auf sie ein. Und Captain Lynne Crow, zahm wie ein Schoßhund, nickte immerzu. Das gefiel Jed nicht; das gefiel ihm überhaupt nicht. »Was habt ihr … also, ich weiß ja nicht, ob du darüber … vielleicht ist es ja ein Geheimnis, aber …« »Wir nehmen Kurs auf die Großen Seen«, sagte Majela. »Jazz hat sich durchgesetzt, oder eigentlich Smythe.« Die Männer in den Fellmänteln versammelten sich vor Garrett und den Corporals; ein ungeordneter Haufen. Garrett schrie sie an, dass ihm fast das zu groß geratene künstliche Gebiss aus dem Mund flog. »Der Nordwestweg entlang der Eisgrenze sei durch Schlamm und Schmelzwassertümpel unpassierbar, sagt Smythe. Und Captain Crow hat sich dieser Sicht angeschlossen. Mor gen bei Sonnenaufgang gehts nach Norden.« Auf dem Platz zwischen den Panzern und vor den Zelten schritten die Corporals den Haufen ab und dirigierten die Barbaren in Reih und Glied. Ein großes Durcheinander herrschte, und Garrett bellte wie ein angriffslustiger Wildhund. Er hat eigentlich keinen Grund, so wütend zu sein, dachte Majela. »Nach Norden.« Jed rieb sein Kinn. »So, so, er will also … hm, ihr wollt also direkt ins Eis, auf dem schnellsten Weg, meine ich.« »Smythe glaubt, dass wir auf dem Eis doppelt so schnell vorankommen. Und der Ca p tain glaubt das jetzt auch. Garrett sowieso.« Endlich zeigte sich so etwas wie Ordnung in der Menge der etwa dreißig Männer. Ga r rett brüllte einen Befehl, und nach und nach ließen sich die Barbaren in den Schlamm fallen. »Erst mal geht es nach Chicago«, sagte Majela. »Dort ist doch … also, du weißt, dass ich sämtliche Expeditionsberichte, hm, kenne. Ist da nicht eine Station von uns?« »Eine im Augenblick verlassene Basis. Die Eingeborenen sind angeblich ziemlich fein d selig. Doch unser Vorratslager ist gut gesichert. Captain Crow will dort die Vorräte auffüllen. Und danach über die Großen Seen fahren. Smythe hat vorgeschlagen, dort so viel Fisch wie möglich zu erbeuten, um die Vorräte an Trockennahrung zu schonen. Lynne hält das für eine gute Idee. Kurz und gut: Smythe kriegt, was er will - wir fahren über Winnipeg und den neuen Nordpol nach Alaska hinauf.« Die dreißig Männer draußen auf dem Lagerplatz krochen jetzt auf den Bäuchen durch Schnee, Gras und Schlamm. Manchmal, wenn Garrett einen Befehl brüllte, sprangen sie auf und rannten los. Majela Ncombe sah, wie der Lieutenant einen der Männer zu sich rief - Pieroo. Garrett deutete auf die Truppentransporter, während er mit ihm redetet. Smythe und Lynne Crow standen noch immer vor EX One. Sie schienen ganz ins Ge 11
spräch vertieft zu sein. In gebührendem Abstand wartete Smythes Leibgarde, ein ulkiges Duo: Phobos und Daimos nannte der Professor sie, und »meine Jünger.« Smythe war verrückt; Majela hatte es von Anfang an gewusst. »Ich habe … also, ganz ehrlich: Ich habe Angst.« Eine bemerkenswert klare Aussage für einen Mann wie Jed Stuart. Majela antwortete ihm nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie sahen Pieroo über den Lagerplatz laufen, geraden Wegs auf die Transporter zu. Kurz darauf tauchte seine struppige Mähne an der offenen Heckklappe auf. »Hallo, Doc schleche Nachricht: Garrett, die Feldsau, will dich seh’n. Solls mit uns üben.« »Oh, üben …?« Jed klappte sein Buch zu. »Okay, okay, ich komm … ich komm sofort.« Er flüsterte und wurde noch blasser, als er eh schon war. Verlegen äugte er zu Majela Ncombe hinüber. »Sag dem Lieutenant, der Doktor habe keine Zeit.« Die Fauste in die Hüften gestemmt, schlenderte Majela zur Heckklappe. »Sag ihm, Dr. Stuart müsse arbeiten, und erzähl ihm ruhig, dass diese …«, sie schwang die Rechte, als suche sie nach einem passenden Wort, »… dass diese Information von mir stammt. Los, geh schon.« Wäre Majela Ncombe nicht Arthur Crows persönliche Adjutantin gewesen, hätte sie sich die Missachtung der Rang folge nicht erlauben dürfen, in der sie eigentlich unter Garrett rangierte. »Wiede meins.« Pieroo zuckte mit den Schultern. »Sag ich ‘m.« Er lief zurück zu Garrett. Majela und Jed setzten sich wieder auf die Mannschaftsbanken. Beide grinsten. Jed schlug sein Buch auf, nahm seinen Stift und schrieb: … verdient hat. Aber Professor Dr. Jakob Smythe scheint Captain Lynee Crowe ir gendwie zu faszinieren. Ja, ich glaube, sie bewundert diesen schrägen Vogel. Als hätte er sie verzaubert. Und damit liege ich vermutlich gar nicht mal so falsch: Smythe ist ein Magier. Und Garrett ist ein Tier … Der Jäger aus Montana … weiter. Eine Stufe um die andere, immer weiter. In engen Windungen schraubte die Treppe sich nach unten. Louyos schwindelte. Das Licht nahm zu, der Gesang schwoll an. Wieder und wieder blieb er stehen, lehnte gegen das Gemäuer, um Atem zu holen, und lauschte verzückt. Viele Stimmen sangen da in vollkommener Harmonie. Frauenstimmen vor allem, und eine weibliche Stimme schwebte über dem Chor, so lieblich, so volltönend, dass Louyos an den Redcardinayl denken musste, den großen Nachtvogel der Tundra Montanas. Auf wie vielen Jagdzügen hatte Louyos wachgelegen und seinem einsamen Lied gelauscht! Woher aber kam der Gesang? Und woher das Licht? Louyos drehte die Lampe aus, spähte in den runden Schacht, um den die Treppe sich wand. Zwielicht herrschte dort unten, undeutlich sah er Gewölbe, Torbögen, Treppen und Brücken. Doch nirgendwo Menschen, nirgendwo eine Lichtquelle. Gleichgültig. Irgendwo mussten sie sein. Licht und Stimmen wiesen den Weg. Also we i ter. Das Licht nahm zu, die Stimmen schwollen an. Das Echo der Trommeln vibrierte in sei nem Zwerchfell. Sie war nah! Die seine Sehnsucht stillen, die seine Wunden heilen und ihm ein neues Leben schenken würde - sie war nah! Vergessen war all die Mühsal der vergangenen Monde, vergessen der Hunger, die Angst vor dem grausamen Feind, verges sen die Trauer um Verwandte und Freunde, vergessen Kälte, Dunkelheit und Verzweif 12
lung. Wudan - wie er sich sehnte! Wudan - wie er brannte! Er hielt an, griff in die Hose, um sein pochendes Glied nach oben zu ziehen, und stieg weiter hinunter. Und plötzlich war da ein Fenster. Quadratisch und nicht groß, mehr ein Luft loch oder ein schmaler Lichtschacht. Und das Gemäuer war so dick - mindestens drei Schritte dick dass Louyos sich nicht herausbeugen konnte, um einen Blick auf das zu tun, was dort draußen in unwirkliches Licht getaucht war. In Träumen hatte er so ein Licht schon gesehen, Louyos erinnerte sich vage. In Träumen von Welten und Ereignissen, die es gar nicht gab. Jedenfalls nicht in diesem Leben. Warmes, pulsierendes Grün durchzog dieses Licht, und dort, wo es an das stieß, was auf den ersten Blick wie der Himmel aussah, strahlte es in gleißendem Weiß. Aber natürlich konnte das nicht der Himmel sein - den zehnten Teil eines Tages stieg Louyos ja schon nach unten, und immer weiter nach unten. Er seufzte. Wonne und Vorfreude durchperlten ihn. Weiter. So rasch stieg er jetzt die Steinspirale hinab, dass er immer wieder ausglitt. Doch Louy os spürte keine Schmerzen, stand einfach auf und ging weiter. Das schon seit Tagen ver traute Verlangen steigerte sich allmählich zur Gier, und diese Gier machte ihn unempfindlich gegen Schmerzen und Einwände seiner Vernunft. Die Treppe endete in einem kleinen Raum. Die Wände waren kahl bis auf einige Me tallhaken, an denen Felle, Mäntel aus hellem Leder, Schneeschuhe und lederne Hand schuhe hingen. In einer Nische lehnten acht oder neun Paar schmale Bretter, mehr als mannshoch, aus sehr glattem Holz und nach oben gebogenen Spitzen. Lederriemen waren in halber Höhe an ihren Oberseiten befestigt. Schmale Schneebretter, vermutete Louyos. Ähnliche Fortbewegungsmittel hatte er schon bei den Stämmen gesehen, die in den Schneehängen der Rockys hausten. Gesang und Musik klangen jetzt sehr nahe. Eine offene Tür führte in ein gewaltiges Gewölbe. Staunend verharrte Louyos ein paar Atemzüge lang. Die Kuppeldecke schwebte so hoch über ihm, dass er wohl nur mit Mühe einen Speer hätte hinaufwerfen können. Acht Säulen trugen sie. Ganz vorn erkannte Louyos eine kreuzförmige Skulptur, einen Steintisch und ein paar Reihen hölzernen Gebänks. Er erinnerte sich, als Junge in Helena die Ruinen eines ähnli chen Gewölbes gesehen zu haben. Angeblich - die Greise an den abendlichen Feuern in den Gemeinschaftshütten erzählten manchmal davon - hatten die Alten in solchen Riesen hütten ihre Götter verehrt. Der Gesang hallte von Decken und Wänden wider. Doch seine Quelle konnte Louyos noch nirgends entdecken. Er wandte sich nach links. Licht flutete durch ein Bogenportal in das Gewölbe; und mit dem Licht der bezaubernde Gesang. Louyos’ Herz pochte ihm in Kehle und Lenden, wä h rend er sich auf das etwa zehn Schritte entfernte Portal zu bewegte. Eilig hatte er es jetzt nicht mehr; er wusste, dass er am Ziel angekommen war. Auf der Schwelle schloss er geblendet die Augen. Wudan! Wie lange hatte er solch hel les Licht nicht gesehen! Und solche Wärme auf der Haut gespürt! Er stützte sich mit der Linken am Portalrahmen ab. Selbst das Gestein fühlte sich warm an. Und der Gesang! Dieser göttliche Gesang …! Er wärmte nicht nur sein Herz, er brachte sein Blut zum Sie den. 13
Louyos musste ein paar Mal blinzeln, bevor er die Sänger ins Auge fassen konnte. Tü cher sah er zuerst, weiße Tücher, und dann Haut, samtbraun wie die junger Deers. In der Kleidung unterschieden sich diese Menschen nicht. Das Licht zog seinen Blick weit über ihre Köpfe hinauf. Am höchsten Punkt der Kuppel, die Louyos »Himmel« genannte hätte, wenn er nicht genau gewusst hätte, dass sie nicht der Himmel sein konnte - am höchsten Punkt dieser Kuppel flimmerte eine Art Strahle n kranz. Und darüber stand eine Säule aus purem Licht, als würde der Strahlenkranz daran hängen. Von dem Strahlenkranz aus - Louyos wusste nicht, wie er das herrliche Ding da oben sonst nennen sollte - verteilte sich das Licht über die Kuppel, die an den Himmel erinnerte, und strahlte hinab auf seltsame Gebäude, auf die geheimnisvollen Sänger und auf einen See, der genau unter der Lichtsäule und dem Strahlenkranz lag. Dampfschwaden waberten über dem Wasser, grünes Licht pulsierte in ihnen. Louyos konnte kaum fassen, was er doch ganz genau sah. Der Anblick dieser rätselhaften Welt schlug ihn in den Bann, g enau wie der Gesang. Der verstummte von einem Augenblick auf den anderen. Das lenkte Louyos’ Aufmerk samkeit zurück zu dem Chor. Und jetzt erst sah er sie. Sie stand einen Schritt vor dem Chor und lächelte ihm zu. Louyos konnte gar nicht anders, er musste zu ihr gehen. Wie von selbst bewegten sich seine Beine und trugen ihn eine breite, ausgetretene Treppe hinunter, durch knöchelhohes Gras - unglaublich, aber sie hatten Gras hier unten! - näher und näher zu ihr. Er konnte kaum laufen vor Erregung. Sie trug nur das weiße Tuch, lose um den nackten Körper geschlungen und über die Schulter geworfen. Alle waren sie nackt bis auf dieses Tuch; manche hatten ihre Köpfe damit verhüllt. Aber was kümmerten ihn die anderen? Nur sie. zählte für ihn. Sie sah anders aus als die vielen Frauen, von denen er auf dem Weg hierher geträumt hatte: kleiner, zierlicher und mit sehr hellem Haar; Haar, das nicht blond, sondern schon fast weiß war. Und jünger als die Frauen in seinen Wachträumen war sie auch; jünger als er selbst jedenfalls. Wie sie ihn anlächelte! Alle Verheißung, die eine Frau zu geben imstande ist, lag in die sem Lächeln. Starkes Gebräu hätte Louyos nicht halb so berauschen können wie dieser Blick. Er sank vor ihr nieder, umschlang ihre Schenkel mit beiden Armen und drückte seine Stirn in ihren Schoß. »Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich …« 17. April 2518 Fast achthundert Meilen liegen jetzt hinter uns. Die Strecke von Pittsburgh an den Erie see hinauf hat uns zehn Tage gekostet. Sechs davon mussten wir uns durch eine Sump flandschaft unter schmelzendem Schnee arbeiten. An guten Tagen haben wir dreißig Meilen geschafft. Die Kommandantin hat Order gegeben, die Ruinen der großen Städte zu meiden. Eine kluge Entscheidung. Obwohl ich sie gern gesehen hätte, diese verwüsteten Orte, die ich nur aus Büchern und Expeditionsberichten kenne. Pittsburgh, Cleveland, Toledo und so weiter ließen wir also links liegen. Und zum ersten Mal hat man auf mich gehört. Ich schlug vor, die alte Interstate-Trasse zwischen Toledo und Chicago zu suchen. Sie haben mich sogar zwei Tage lang als Scout 14
in EX Three mitfahren lassen; auf Lieutenant Millers verwaistem Navigatoren-Sessel. Ich hab die Trasse gefunden, und wir haben nur vier Tage für die zweihundertfünfzig Meilen gebraucht. Es ist wesentlich kälter hier als in der Gegend von Pittsburgh. Um die null Grad. Den noch war der Eriesee nicht zugefroren; genauso wenig wie der Michigansee übrigens. Überhaupt scheint die Eisgrenze sich ein ganzes Stück nördlicher zu befinden, als sie nach den letzten Expeditionsberichten verlaufen müsste, die ich gelesen habe. Allerdings: Diese Berichte stammen aus dem Jahr 2511 bis 2513. Und jetzt also Chicago. Die Stadt ist weiter nichts als eine Ansammlung von Ruinenfe l dern: zerfallene Vorstadtsiedlungen, schneebedeckte Schutthalden, allgegenwärtiges ka h les Gestrüpp, zusammengebrochene Highways voller Autowracks, ausgedehnte Schmelzwasser-Seen, schwarze Hochhausfassaden, die wie tote Finger in den Himmel deuten, als wollten sie vor dem Unglück warnen, das einst aus jenem Himmel über sie hereinbrach. Seit gestern rollen wir durch diese Stätte des Todes. Außer einigen Vögeln und einem Rudel wilder Hunde ist uns noch kein Lebewesen über den Weg gelaufen. Bis jetzt. Captain Crow hat höchste Alarmstufe ausgerufen. Im Schritttempo rücken wir auf die alte Außenbasis zu; und auf das Vorratslager. Links und rechts der Kolonne und an ihrer Spitze und ihrem Ende marschieren sechs Kampfgruppen; vier Söldner jeweils unter dem Kommando eines unserer Leute. Sogar Lasergewehre hat Garrett an einige der Rekruten ausgeben lassen. Zur Belohnung für ihre Fortschritte in Sachen Disziplin und Gehorsam. So ähnlich hat er sich ausgedrückt. Die Stimmung ist angespannt. Die meisten sprechen nicht viel. Sogar Pieroo, meinem sonst so redseligen Englisch-Schüler, hat es die Sprache verschlagen. Die Ruinen Chic a gos strahlen etwas Bedrückendes aus. Ich glaube, jeder ist froh, wenn wir Treibstoffvorrä te geladen haben, dieser Stadt endlich den Rücken kehren und die Eisgrenze … Ruckartig hielt der Transporter an. Jed Stuart prallte mit der Schulter gegen die Rück wand der Fahrerkabine. Sie vibrierte vom plötzlich leisem Brummen des Motors. Jed warf das Logbuch neben sich auf die Bank, stand auf und spähte über die Seitenwand. Ein Stück vor dem Transporter kauerten ein WCA-Mann in weißem Mantel und vier fellvermummte Gestalten zwischen Schneehügeln. Der bullige Lieutenant Terry Crimson und seine Kampfgruppe, unter ihnen auch Pieroo und Ru’alay. An manchen Stellen sah Jed braune Flecken in ihrer Deckung - rostiges Metall. Autowracks waren es, hinter denen sie Schutz gesucht hatten, Automobilwracks unter verkrusteten Altschneedecken. Warum aber waren sie in Deckung gegangen? »Key! Was ist los?« Lieutenant Crimson und Pieroo drehten sich um und blickten zu ihm hoch. Crimsons Vollmondgesicht war rot wie meistens, und Pieroos drahtiges, fettiges Langhaar stand nach allen Seiten ab. Eine große Nase, buschige Brauen und hochstehende kantige Wan genknochen, mehr sah man selten von seinem Gesicht vor lauter Bart und Locken. Beide, Pieroo und Lieutenant Crimson waren mit schweren Lasergewehren bewaffnet; und beide deuteten fast gleichzeitig nach vorn, zur Spitze der Kolonne. Jed Stuart beugte sich weit über die Seitenwand, konnte aber wegen eines einsam am Straßenrand stehenden Brückenpfeilers nichts erkennen. Er kletterte auf die Bank, von dort auf die Seitenwand und zog sich an der Kante des halb ausgefahrenen Rolldachs nach 15
oben. Jetzt konnte er die Vorhut der Kolonne erkennen, EX One und EX Three. Etwa vierhun dert Meter vor EX Three, dem Führungspanzer, weitete sich ein Geröllfeld. Ruinen säum ten seine Ränder. Der Doc erkannte ein paar flache Hallen, zum Teil eingebrochen, und Überreste einiger Kamine. Dahinter eine mächtige Fassade, durch deren obere Fenster man den Grauhimmel sehen konnte. Ein ehemaliger Fabrikkomplex wahrscheinlich. Auf dem Geröllfeld entdeckte Jed den Grund für den Stopp: Tiere. Wuchtige Kreaturen mit gesenkten Schädeln, nach innen gebogenen Hörnern und zotteligem Fell. Einige scharrten mit den Vorderläufen. Bilder, die sein Hirn aus Archiven und Büchern gesam melt hatte, schossen dem Doc durch den Kopf. »Biisons«, murmelte er schließlich. »Mutation des altmeerakanischen wilden Rinds …« Und jetzt erst bemerkte er die Bewegungen kleinerer, sehr dunkler Gestalten neben den Tieren. Eindeutig Menschen! Er biss sich auf die Unterlippe. Und die eigenartigen Kästen hinter Menschen und Biisons? Waren das etwa Fahrzeuge? »Was meinen Sie, Lieutenant?« Vom offenen Turm des Flaggpanzers aus beobachteten Captain Lynne Crow und Lieutenant Jeremiah Garrett die Eingeborenen und ihre Tiere. »Verhandeln oder angreifen?« »Sehen nicht aus, als wollten sie mit uns plaudern.« Garrett spähte durch seinen Feldste cher. Zwölf Doppelgespanne zählte er, und zwischen jedem ein halbes Dutzend Männer, so dunkelhäutig wie er selbst. »Sie sind mit Keulen und Speeren bewaffnet. Und die Ki sten hinter den Biison-Gespannen - der Teufel soll mich holen, wenn das keine Auto wracks sind!« »Stimmt.« Staff Sergeant Majela Ncombe stand im Schnee links neben EX One. Umg e ben von vier Barbaren-Söldnern, blickte auch sie durch einen Feldstecher. »Sie haben den Fahrzeugen die Dächer abgenommen. In jedem sitzen mindestens vier Bogenschützen.« »Fackeln wir nicht lange.« Garrett setzte sein Glas ab. »Machen wir sie platt.« »Ich weiß nicht, Sir.« Lieutenant Bronco Fernandez saß in der Luke seines ClintonTauchpanzers, EX Three. Die Kommandantin hatte EX One neben die Kolonnenvorhut rollen lassen. »Vielleicht wäre es klüger, erst einmal Kontakt zu ihnen aufzunehmen.« Nach Garrett und Crimson war der stämmige kleine Mann mit dem schwarzen Bürsten haar Captain Crows dritter Stellvertreter. Er hatte nach Lieutenant Rüben Millers Tod dessen Platz eingenommen. »Das sind doch Halbwilde, noch dazu nur leicht bewaffnet, wie es aussieht. Ich würde erst einmal mit ihnen reden.« »Schlag ich auch vor«, sagte Majela. »Wir sind eine Forschungs- und keine Strafexpedition. Elftausend Meilen liegen noch vor uns; wenn die errechnete Route nicht passierbar ist, wahrscheinlich mehr. Wer weiß, welchen Preis wir noch zahlen müssen. Wir sollten jedes überflüssige Risiko meiden.« »Risiko …!« Garrett stieß ein verächtliches Lachen aus. »Haben Sie nicht gehört, was Bronco gesagt hat? Halbwilde sind das, Sergeant!« Mit dem Daumen deutete er über die Schulter. »Und wir haben dreißig Halbwilde dabei, die endlich mal durchs Feuer der Feindberührung müssen!« »Und du, Jake?« Lynne sah nach rechts, wo Jacob Smythe und seine beiden Leib gardi sten dicht an einem Brückenpfeiler standen. »Was meinst du?« Smythe machte eine wegwerfenden Handbewegung über die Schulter. »Betrachten wir diese Wilden doch einfach als kleine Störung, Ladies und Gentlemen.« Er spitzte die 16
Lippen, und der für ihn so typische geringschätzige Zug trat auf seine Miene. »Auf eine lästige Fliege schießt kein vernünftiger Mensch.« Garretts Kaumuskeln wölbten sich unter seiner schwarzen Haut. Er wusste, dass er gemeint war. Jeder, der zuhören konnte, wusste es. »Feuer doch einfach eine Panzergranate auf irgendeine dieser Ruinen und setz die Kolonne wieder in Marsch.« »Eine Machtdemonstration also.« Lynne Crow lächelte. Der kalte Wind spielte mit ih rem roten Haar. »Keine schlechte Idee.« Sie setzte das Glas wieder an die Augen. »Danke für Ihre Vorschläge, Lady und Gentlemen. Ich wähle eine Kombination.« Sie beugte sich in den Panzer hinein. »Sergeant Laramy! Geschütz in Gefechtsbereitschaft!« Und dann an Majela Ncombe gewandt: »Holen Sie Dr. Stuart. Ich schätze, wir brauchen seine Die n ste.« Garretts Brauen zuckten. »Und vielleicht noch zwei, drei Freiwillige«, rief Lynne ihrem Staff Sergeant nach. »Also doch eine Verhandlungsdelegation?«, wollte Fernandez wissen. »Wir verhandeln nicht«, beschied ihm die Kommandantin. »Wir fordern ungehinderte Passage.« Garrett nickte grimmig. »Und du wirst die Delegation führen, Bronco.« Lynne blickte auf den Professor hinunter. »Ich denke, das ist eine Aufgabe für dich, Jake. Ich würde es gern sehen, wenn du Stuart und den Lieutenant begleitest.« »Es ist mir ein Vergnügen, Ma’am.« Man sah Smythe nicht an, dass er log. Sogar eine Verbeugung deutete er an. Minuten später traf Jed Stuart beim Flaggpanzer ein. Ru’alay und Pieroo begleiteten ihn; sie hatten sich als Freiwillige gemeldet. »Ihr bietet nichts an, ihr gebt keine großen Erklärungen ab.« Captain Lynne Crow erteil te letzte Instruktionen. »Ihr verlangt freien Durchlass und Punkt.« »Aye, Captain«, sagte Bronco Fernandez. Garrett und die Crow sprangen vom Panzer. »Los gehts, Sergeant Laramy!« Alle zogen sich hinter EX Three zurück. Die Luke des Flaggpanzers knallte in die Fassung, der Motor brüllte auf, scheppernd und knirschend setzte sich EX One in Bewegung. Etwa hundert Meter weit rollte die Kampfmaschine den noch immer reglos abwartenden Eingeborenen entgegen. Sein kurzes Geschützrohr schob sich aus dem Turm, dann heulte ein Geschoss über die Ruinen. Knapp zweihundertfünfzig Meter hinter den fremden Krie gern schlug die Granate in die hohe Fassade des ehemaligen Fabrikgebäudes ein und de tonierte. Eine Staubwolke erhob sich, die Fassade stürzte zusammen … Sie ließen EX One hinter sich; und mit dem Panzer die letzte Deckung. Jed ging wie auf einem Wasserbett. Er hielt sich hinter Lieutenant Fernandez und dem Verrückten aus der Vergangenheit. Ihn selbst flankierten Ru’alay und Pieroo. Letzterer hielt sein Lasergewehr umklammert, sein Gefährte ein leichtes Kurzschwert. Beide spähten nach allen Seiten. Jed spürte ihre Entschlossenheit, ihn mit ihrem Leben zu verteidigen. Ihre Nähe war Balsam für sein e aufgescheuchte Seele. Begegnungen mit fremden Eingeborenen - zumal mit offensichtlich kriegerisch gesinnten - kannte er nur aus Archivdateien und Expedit i onsberichten. Den Schluss der kleinen Delegation bildeten Phobos und Daimos, Smythes sogenannte Jünger. Sie wirkten so verwildert und ausgezehrt wie schon am ersten Tag der Expedition. Phobos hatten sie einen Driller in die Hand gedrückt. Unverantwortlich, fand Jed Stuart. Daimos trug ein schweres Beil über der Schulter. 17
Der Staub legte sich wieder an der Stelle, wo die Panzergranate eingeschlagen hatte. Flammen schlugen aus den Ruinen. Dunkler Rauch stieg in den Grauhimmel. Biisons blökten und Hunde bellten. Die Fremden auf dem Geröllfeld hatten sich bei der Detonation auf den Boden geworfen. Jetzt stand einer nach dem anderen wieder auf, blickte hinter sich in den Rauch und die Feuersbrunst und klopfte sich den Dreck aus den Kleidern. Ein Palaver erhob sich unter ihnen, so laut, dass Jed einzelne Worte heraushören konnte. Einige packten das Zaumzeug der Biisons und hielten die aufgeregten Tiere fest. Auch hinter den Gespannen, in den Autowracks tauchten eingezogene schwarze Köpfe wieder auf. Das Hundegebell ebbte ab. Bis auf hundert Schritte näherten sie sich den Fremden. Dann hob Lieutenant Fernandez die Hand. »Bis hierher.« Er wandte sich nach Jed Stuart um. »Ich will ihren Anführer sprechen, Doc. Er soll herkommen. Sechs Männer darf er mitbringen.« Der Lieutenant und Smythe wichen auseinander, und Fernandez fasste Jeds Arm und zog ihn vor sich. »Los. Ve rsuchen Sie das diesem Pack da klar zu machen.« »Hm … ich werds … also, ich werds versuchen, Sir.« Jed formte die Hände zu einem Trichter und versuchte es erst einmal mit dem Pentagon-Englisch. »Chef! Euer Chef soll kommen! Wir wollen reden!« »Doont oundersteend anydin!«, brüllte ein mächtiger Bass zurück. Er gehörte einem der Männer in dem mittleren Wagen. »Dshiif?! Tokin?!« Seine hünenhafte Gestalt erhob sich vom Sitz. Er hielt einen kleinen Hund im Arm. »Sein … nun, sein Dialekt, ich meine sein Slang, tja … er erinnert mich an Sprachdo kumente, die unsere Leute von der Südküste … oder? Doch … auch von Barbaren, ich meine von Eingeborenen … hm, ja, aus dem Nordwesten hab ich sie auch schon …« »Quatschen Sie nicht, Doc!« Fernandez schlug ihm von links auf die Schulter; etwas grob, wie Jed fand. »Los! Versuchen Sie’s mit jedem Kauderwelsch, das Sie kennen!« »›Kaudenvelsch‹… hm, Sir, Kauderwelsch ist vielleicht nicht die präzise, also … nicht das richtige Wort …« »Machen Sie schon!«, zischte ihm Jakob Smythe von rechts ins Ohr. Und Jed Stuart versuchte es: »Wiwonne spiig widjor Tshiifteyn, jor Tshairmeen, ju no ou? Zixmeen aar’alaud tu ‘eskott’im!« Wieder Palaver drüben auf dem Geröllfeld. Der Hüne im Autowrack - er stand jetzt auf dem Beifahrersitz - winkte nach allen Seiten; ein gutes Dutzend Männer versammelte sich um ihn. Sie gestikulierten und schrien durcheinander. Zwei, drei Minuten vergingen. Dann kletterten zwei Männer auf das Heck des Wracks, der schwarze Hüne drückt e sein Hündchen an sich und der Mann auf dem Fahrersitz schwang die Peitsche. Das Biisongespann setzte sich in Bewegung. Die Phalanx der ande ren Gespanne blieb hinter ihm zurück. »Na also, es geht doch«, sagte Smythe. »Genau sechs Mann, sie akzeptieren.« Sein Grinsen gefiel Jed nicht. »Weiter so, Doc!« Wieder versetzte Lieutenant Fernandez Jed einen Schlag auf die Schulter. »Mit diesem Gesindel kommen wir schon klar, was?« Das Biisongespann trottete heran. Das Autowrack hinter ihm holperte über Geröll und verkarsteten Schnee. Bald konnte Jed erkennen, dass der Wagen nicht auf Gummirädern fuhr, sondern die Felgen mit einem lederartigen Stoff umwickelt waren. Unter dem Kü h lergrill hing ein leicht gebogenes Rundholz. Von ihm aus führten Lederseile zu dem Joch, 18
das beide Tiere miteinander verband. Die Männer auf dem Kofferraumdeckel stützten sich auf ihre Speere, die beiden auf der Rückbank hatten Pfeile in die Sehnen gelegt, hielten die Bögen aber gesenkt. Der Hüne auf dem Beifahrersitz ließ den rechten Arm über die Tür baumeln und barg mit dem lin ken das Hundchen an seiner breiten Brust; der Mann neben ihm hielt die Zügel und lenkte die Biisons. In ihren schwarzen Mienen fand Jed keine Spur von Nervosität oder gar Angst. Im Gegenteil: Mit einer schon fast beängstigenden Mischung aus Herablassung und Gleichgültigkeit blickten die Krieger der WCA-Delegation entgegen. Jed überlegte, ob es voreilig wäre, aus dieser Haltung auf eine Dummheit grundsätzlicher Art zu schließen. Alle sechs trugen Ketten, Ohr- und Fingerringe aus silbrigem Metall und bunten Stei nen. Und alle sechs waren sie mit grauem Leder bekleidet - Mäntel, Westen, Kappen, Handschuhe: Schmutziggrau sah alles aus, und Jed musste an Sharxhaut denken. »Die Finger schön am Abzug lassen«, raunte Lieutenant Fernandez. »Schießen nur auf Befehl.« Plötzlich erhob sich wieder Hundegebell. Der kleine Köter im Arm des Chefs, Häupt lings oder was auch immer kläffte aus Leibeskräften. Ein schwarz-weiß geschecktes Fell hüllte ihn so dicht ein, dass Jed weder Ohren, Schwa nz noch Gesicht erkennen konnte; nur ein Stück der kurzen Beine. Doch auch aus dem Font des Wagens bellte ein Hund - oder waren es zwei? - und zwar mit wesentlich rauerer und tieferer Stimme als der Schoßhund des Anführers. Jed wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Fernandez hielt ihn fest. »Ruhig Blut, Doc. Es sind nur Hunde, okay? Nur Hunde.« Zwei kurzhaarige, schwarzpelzige Köter streckten die Schädel seitlich des Wagens her aus und kläfften, als gälte es einem ganzen Deer-Rudel an die Gurgel zu gehen. Runde Schädel und platte Schnauzen hatten sie, breit und mit spitzen Zähnen gespickt. Jed muss te an das viel zu große Gebiss des stellvertretenden Kommandanten denken. Angesichts der angriffslustigen Hunde fragte er sich auf einmal, ob es nicht ein schöner Tod gewesen wäre, von Garrett erwürgt zu werden. Beide Köter sprangen aus dem Wagen, überholten die Biisons und stemmten sich fünf Schritte vor Jed in den Schnee. Große Biester, jedenfalls für Jeds Begriffe - er kannte Hunde nur von Bildern, und sie re ichten ihm bis an die Knie. Als wäre wütendes Gekläff die einzige Lebensäußerung, die sie gewohnt waren, bellten und geiferten sie. Das Haar knäuel des Häuptlings hüpfte diesem aus dem Arm auf die verrostete Kühlerhaube und dann vom Auto unter die Beine der Biisons. Knapp hinter den großen Hunden blieb es stehen und versuchte seine Artgenossen an Gekläff zu übertönen. »Also … ich weiß nicht, Sir …« Jed machte sich von Fernandez’ Griff los und versuchte hinter ihm in Deckung zu gehen. »… ich meine, wenn Sie erlauben …« »Wir erlauben nichts!« Jetzt hielt ihn auch Smythe noch fest. Der Professor zielte mit seinem Driller auf den Köter. »Sie machen Ihren Job oder kommen vor ein Militärge richt!« Der Hüne auf dem Beifahrersitz erhob sich. Über seine Schulter lugte der Griff eines Langschwerts oder eines ungewöhnlich großen Säbels. Er schien es für unter seiner Wür de zu halten, die Waffe gegen die Fremden zu ziehen. Ein Pfiff genügte, um die Köter bis zum Wagen zurückweichen zu lassen. 19
Der schwarze Mann in der grauen Lederkluft stieg aus, ebenso seine Gefährten. Gefolgt von einem Schwertkämpfer - dem Wagenlenker -, zwei Bogenschützen und zwei Speer trägern schaukelte er an den Biisons vorbei und pflanzte sich vier Schritte vor der WCADelegation auf. »Uwäll. Hierai’eim, de king’f Tschikaago. Uwoats demedder?« »Er … also, er sagt, äh, er sei der König, und … tja, er will wissen, was wir von ihm wollen«, dolmetschte Jed. »Sagen Sie, wir sind auf der Durchreise, und seine Leute sollen gefälligst den Weg freigeben.« Fernandez’ Stimme klang heiser. Jed übersetzte für den schwarzen Hünen. Der wollte wissen, wohin ihr Weg führte. »Nach Norden, ins Eis, sagen Sie ihm das.« Jed übersetzte Fernandez’ Antwort. »Juwonne gau raid tude noad?« Der Eingeborenenfürst lachte laut. »Inuode aizuoeld? Jumastbie kraysie! Jumastbi touaudli kraysie …!« Sein Bass dröhnte vor Lachen, und Jed fiel auf, dass seine Gefährten sich entspannten; abgesehen von Smythe - der lächelte den schwarzen Häuptling an und versuchte seinen Wortschwall zu verstehen. »Was sagt er, verdammt noch mal?«, blaffte Fernandez. »Nun ja, er hält uns verrückt, hm … ich glaube, das trifft es …« Die Sache war im Grunde nicht schwer zu verstehen: Die schwarzen Barbaren betrachteten sich als die Wächter des Weges ins Eis und dachten nicht daran, irgend jemanden nach Norden zu lassen - es sei denn, er zahlte. »Er sagt … hm, hoffentlich versteh ich das richtig …« Jed stammelte nur noch, zu un geheuerlich erschienen- ihm die Worte des Stammesführers. »Also, er sagt, da sei ein Gott, genau: Ein Gott, ›Lichtgott‹ nennt er ihn, er hält ihn … hm, er sagt, das sei ein über aus furchtbarer Gott, und er, also der König von Chicago, diene diesem furchtbaren Gott und bewache das Eis … na ja, und dafür, also für seine Dienste, dürfe er Tribut nehmen.« »Was ist los?!« Ferndandez presste die Lippen zusammen. Sein breites Gesicht bekam auf einmal Ähnlichkeit mit denen der großen Hunde hinter den Männern. »… bidsches«, dröhnte der schwarze Barbar und deutete auf den Panzer, »detsde tex, bidsches.« »Er, äh, also er will Frauen …« »Was?!« Fernandez wurde immer ungeduldig. Entsprechend laut klang seine Stimme. Das gefiel den Hunden nicht. Sie pirschten sich an ihren Herren vorbei und knurrten. »Nun … ›Frauen‹… hm, das trifft den Begriff nicht ganz, aber … ja, also … es läuft aufs Gleiche hinaus. Er will Frauen, und dann können wir weiter …« »Er soll sich verpissen und den Weg freimachen!« Jed versuchte zu übersetzen. Der Stammesführer lachte, drehte sich nach dem Rauchpilz über der zusammengeschossenen Ruine herum und deutete abermals auf die Panzerkolo n ne. »Bidsches! Detsde tex! Nodding elsbud bidsches !« Allmählich dämmerte es Jed: Die Kerle hielten es für ein Zeichen der Schwäche, dass der Panzer auf die Ruinen und nicht auf sie geschossen hatte. Er dolmetschte und brachte dem Lieutenant seinen Eindruck so schonend wie möglich bei. »Genug geredet.« Der Professor sagte das merkwürdig ruhig; und ohne jede Hektik zog er auch seinen Driller. Jed presste die Handballen gegen seine Ohren, als Smythe abdrück te. Zwei Mal drückte Smythe ab. Einem der Hunde neben dem schwarzen Hünen und sei 20
nen Kämpen platzte der Schädel weg, als sei es nur ein Luftballon gewesen. Und den zweiten lupfte es bis in Hüfthöhe des schwarzen Häuptlings - er schlug einen Doppelsalto in der Luft und riss in der Mitte auseinander. Etwas Warmes, Feuchtes klatschte Jed ins Gesicht, und die graue Lederkluft der schwa r zen Krieger sah auf einmal aus, als hätten sie synthetische Rote Grütze genascht und ganz fürchterlich dabei gekleckert … Der Explosionslärm hallte von den Ruinenfassaden wider. »Shit …!« Lynne Crow pack te Garretts Arm. »Warum hat er das getan?« Garrett unterdrückte das aufsteigende Triumphgefühl. Die Schüsse des arroganten Pro fessors würde hundertproze ntig nach hinten losgehen. Herzlichen Glückwunsch. »Machtdemonstration«, grinste er. »Vielleicht ist er doch nicht der Schlauberger, für den du ihn hältst.« Er war der Einzige, dem nach Grinsen zumute war. Captain Crow, Majela Ncombe, Lieutenant Crimson und all die ändern, die hinter EX Three lauerten, rissen ihre Waffen hoch. Angespannte Mienen, wohin man sah. Sekundenlang geschah gar nichts dort, wo die beiden Verhandlungsdelegationen sich gegenüber standen. Es war ein wenig, als bliebe die Zeit stehen. Nur das hohe Kläffen des kleinen Köters war zu hören. Er hatte sich unter das Autowrack zurückgezogen. Ohne Vorwarnung zischte ein Strahl aus Lieutenant Fernandez’ Lasergewehr. Eine Stichflamme züngelte aus einem der beiden Biisons. Das Tier bäumte sich auf und ging seitlich zu Boden. Einen Herzschlag später erfüllte das Gebrüll des schwarzen Hünen die Ruinen. Der Mann riss sein Schwert aus der Rückenscheide. Seine Gefährten senkten die Spieße und spannten die Bogensehnen. Donnernd preschten die Gespanne hundertfünfzig Meter hin ter ihnen auf dem Geröllfeld los. Und links und rechts des ehemaligen Boulevards stürm ten schwarzgesichtige Krieger in grauen Ledermänteln und Jacken aus den Ruinen. Sie schwangen Schwerter und Keulen. Ein Schwarm Pfeile prasselte gegen die Außenwände von EX Three. »Panzer gefechtsklar!«, schrie Lynne Crow. Ihre kleine Faust fuhr Jazz Garrett in den Rücken. »Hauen Sie Fernandez und seine Männer raus …!« Neben ihm riss jemand den Doc aus der Schusslinie, und wie aus dem Nichts tauchte der struppige Pieroo an seiner Seite auf. Genau wie der Lieutenant feuerte er einen Laserstrahl nach dem anderen auf die Wilden ab. Die hatten nicht die geringste Chance: Bevor sie überhaupt Schwerter schwingen oder Pfeile abschießen konnten, gingen sie brennend oder mit zerplatzter Brust zu Boden. Smythe selbst zielte auf die Hundemeute, die vor den heranratternden Biisongespannen auf den Königswagen zu preschten. Drei von ihnen übersprangen die Leichen ihrer Herren und starben dann im Hagel von Smythes Explosivgeschossen. Aber damit war das Problem nicht aus der Welt geschafft: Von vorn stampften die Bii songespanne heran, zwischen ihnen rannte speer- und schwertschwingend das Fußvolk der Chicago-Barbaren, und aus den Ruinen seitlich des zerstörten Straßenzuges strömten scharenweise Schwertkämpfer und Bogenschützen. Dazu kamen die vielen Hunde. Gut und gern dreißig Tiere mochten es sein. »Hinter mir her!«, brüllte Lieutenant Fernandez. Smythe schoss um sich und folgte dem Lieutenant dabei zur linken Straßenseite. Er sah noch, wie Ru’alay und Pieroo den Linguisten mit ihren Körpern deckten. Smythe 21
blinzelte, weil ihn die Laserstrahlen blendeten, und die Feuersbrunst, die sie entfachten. Dann verlor er das Trio aus den Augen. Überall waren schwarze Krieger, überall Hunde. Fernandez brannte den Weg in die Ruinen frei, und Smythe und seine Leibgarde folgten ihm. Motoren brüllten, Ketten ra s selten, Panzergranaten detonierten, Schüsse und Geschrei von allen Seiten. Sie schafften es durch die Fassade eines Flachbaus. Dahinter lag ein Trümmerhügel. Schnee häufte sich auf Steinbrocken, Eisenträgern und Rohren. »Hinauf!« Fernandez winkte sie hinter sich her. Smythe keuchte und fluchte, während er über die Trümmer kletterte. Wie unangenehm, sich mit solchen Wilden schlagen zu müssen. Wie ganz und gar unwürdig eines Genies, das zum Herrschen das Licht dieser erbärmlichen Welt erblickt hatte. Wo immer eine graue Lederkluft auftauchte, ein Mantel, eine Kappe, wo immer ein schwarzes Gesicht sich zeigte oder ein Hund - der Professor hielt mit seinem Driller drauf. Was für eine vorzügliche Waffe, dachte er. Daimos hatte sich an seinem Mantel festgeklammert, und Smythe zog ihn mit sich. Hin und wieder stimmte der verstörte Mann ein weinerliches Gewinsel an. »Keine Angst!«, schrie Smythe ihn an. »Ich gebiete dir: Keine Angst! Ich bin bei dir, was fürchtest du dich?!« Ein mittelgroßer brauner Hund schnappte nach Daimos’ Stiefelschäften und verbiss sich in seinem linken Unterschenkel. Daimos schrie, aber er hob seine Axt und spaltete dem Köter den Schädel. »So ist’s recht, mein Sohn!«, brüllte der Professor. Ein schwarzhäutiger Schwertträger stürmte hinter seinem Hund her schräg den Schutt hügel hinauf - Smythe streckte ihn mit einem Schuss nieder. Und Daimos, ermutigt durch den ersten Sieg, erschlug den Kampfköter des Gefallenen. Wacker hielt sich auch Smythes zweiter Jünger: Phobos schien die Ruhe selbst zu sein. Nach links und rechts richtete er seinen Driller und schoss die Angreifer nieder, schwarze Kämpfer und Hunde. »Brav, mein Sohn!«, schrie Smythe. »Brav! Brav!« Er fragte sich, wo dieser Kretin Schießen gelernt hatte. Lieutenant Bronco Fernandez erreichte die Kuppe der Schutthalde als Erster. Er grub sich in Schnee und Geröll ein und gab dem Professor und seinen Jüngern Feuerschutz. So erreichten sie unverletzt die Hügelspitze. Aus einer Kuhle voller Schneematsch und gro ßer Mauerreste schossen sie auf die Angreifer hinunter. Die rannten in kleinen Verbänden zu sechst oder siebt gegen den Hügel an. Speere rauschten über die vier ungleichen Männer hinweg, Pfeile prallten gegen die Trümmer und zischten in den Schnee. Daimos’ Axt sauste pausenlos auf Hunde nieder, denen es gelang, ihre Deckung zu stürmen. Smythe, Phobos und der Lieutenant schossen auf die schwarzhäutigen Krieger, die vor allem von der Straße her in die Ruine eindrangen. Es war, als hätten sich die Eingeborenen ganz auf sie eingeschossen, und Smythe fragte sich, warum sie sich nicht lieber um Stuart und seine beiden Barbaren kümmerten. Oder waren die drei womöglich kein lohnendes Ziel mehr? Die Aussicht, den Wissenschaftler auf derart einfache Weise losgeworden zu sein, beflügelte Smythe. Mit Todesverachtung griffen die Schwarzen an. Schrilles Kampfgebrüll stie ßen sie aus, und Smythe begriff: Der Tod ihres Häuptlings stachelte ihren Hass und ihren Kampfgeist auf. 22
»Verreckt doch!«, schrie Fernandez, während aus seinem Gewehr eine Laserkaskade nach der anderen unter die Angreifer fuhr. Ganz Soldat war er in diesen Sekunden, und die zusammenbrechenden Angriffswellen versetzten ihn in eine Art Rausch. »Wir machen sie fertig«, brüllte er. »Wir schicken sie zur Hölle!« Manchmal, wenn Smythes Blick zwischen zwei Schusssalven auf den Lieutenant fiel, sah er ein wildes Leuchten in dessen Augen, und sein Gesicht war alles andere als das Gesicht eines vom Tod Bedrängten. Es war das Gesicht eines Fanatikers, eines Menschen, den Krieg und Tod geradezu in Euphorie versetzten. Schade, dachte der Mann aus der Vergangenheit, eigentlich ist es schade um dich … Motorenlärm und Kettenrasseln rückten näher und näher, kaum noch Granaten explo dierten. Dafür Geschosse aus Drillern, ganz nahe! Smythe horchte auf. Laserstrahlen tra fen drei Angreifer in den Rücken. Andere, die sich schon anschickten, die Schutthalde zu erstürmen, drehte sich um. Die Sturmwelle kam ins Stocken. Neben dem Professor fluchte Phobos. Er packte seinen Driller und drosch auf einen angeschossenen Hund ein. Für einen Moment schien sich Smythes Luftröhre mit Eis zu füllen: Das Magazin von Phobos’ Waffe war leer! Kurz darauf reagierte auch sein eigener Driller nur noch mit einem metallenen Klicken, als er den Stecher durchzog. Und kein Ersatzmagazin in der Tasche! Fünf oder sechs Krieger kletterten die Schutthalde hinauf; vier Schwertträger, der fünfte schwang ein Beil. Smythe packte einen Steinbrocken und schleuderte ihn auf den nächst besten Angreifer. »Weg mit euch! Verschwindet!« Was immer seine Hände zu fassen bekamen, er warf es auf die schwarzen Krieger hinab. »Ich gebiete euch: Verschwindet!« Lieutenant Fernandez stieß einen Triumphschrei aus. »Garrett!« Er deutete zur Tür der Flachbaufassade. »Garrett schießt uns raus!« Und wirklich: In der zerklüfteten Türöffnung erschien eine in weißen Thermostoff gehüllte Gestalt mit schwarzem Gesicht: Lieutenant Jazz Garrett. Smythe hätte sich einen erfreulicheren Anblick vorstellen können. Aber in dieser Situation kam ihm selbst ein Kotzbrocken wie der Lieutenant recht. Garrett bleckte sein viel zu großes Gebiss, brüllte und sah aus wie ein Raubtier auf zwei Beinen. In der Linken einen Driller, in der Rechten ein Lasergewehr, brachte er Tod und Verderben unter die Angreifer. Links und rechts von ihm schoben sich Barbaren-Rekruten in die Ruine. Die Grauledernen versuchten sie mit Speeren und Äxten abzuwehren, doch ihre Kamp f kraft ließ merklich nach. Die völlig neue Situation verunsicherte sie - von einer Minute zur anderen sahen sie sich zwischen zwei Fronten. Smythe, wütend wegen der nutzlosen Waffe und der Vergeblichkeit seiner Befehle, schleuderte auf die Angreifer, was er finden konnte: Geröll, Rohrstücke, Eisbrocken. Vier Männer und drei Hunde stürmten jetzt den Schutthügel herauf. Bedrohlich nahe rückten sie Fernandez, Smythe und dessen Leibgarde. Die zweite Angriffswelle dahinter fiel Mann um Mann Garretts Feuer zum Opfer. Zwei Krieger konnte Lieutenant Fernandez mit seinem Lasergewehr töten. Smythes Wurfgeschosse verletzten einen dritten so schwer am Kopf, dass der Mann kopfüber die Halde hinab stürzte. Unten erwarteten ihn die Spieße zweier Rekruten. Auch zwei Hunde wehrte der Professor auf diese Weise ab. Doch einem Angreifer gelang es, die Schutthalde seitlich zu erstürmen. Völlig unver hofft erschien er links von Fernandez zwischen einem Stahlträger und Mauerresten. Seine 23
Rechte schwang ein Kurzschwert. Fernandez’ Laserstrahl durchtrennte den Arm oberhalb des Ellenbogens. Die dunkle Miene des Kriegers verzerrte sich vor Entsetzen und Schmerzen; Unterarm und Schwert versanken in Schnee und Gestein. Doch statt aufzugeben, stürzte der Mann sich auf den Lieutenant. Aus den Augenwinkeln sah Smythe, dass Phobos und Daimos sich eines besonders gro ßen Hundes erwehren mussten; auch Garrett sah er knapp drei Schritte entfernt auf die Knie sinken. Die stumpfe Seite eines Wurfbeils schien den stellvertretenden Kommandan ten getroffen zu haben. Unten gewannen die schwarzen Krieger die Oberhand und die WCA-Söldner wichen zurück. Smythe fuhr herum. Wie ein waidwundes Tier schrie der einarmige Angreifer. Er lag auf Fernandez und schlug mit der linken Faust auf ihn ein. Fernandez tastete nach dem Laser gewehr; durch den Aufprall des schweren Körpers hatte er es verloren. Der Schwarze, unablässig brüllend, stellte seine Faustschläge ein. Er griff unter seinen Mantel und zog ein gekrümmtes Messer mit sehr schmaler Scheide heraus. Smythe erkannte seine Chance. Er packte den Lauf seines Drillers, holte aus und zog die Waffe über den Hinterkopf des Angeschossenen. Der Mann erschlaffte. Smythe rang ihm das Messer aus der Hand. »Bei meinen Vorfahren!«, stöhnte der Lieutenant. »Ich dachte schon, es ist aus!« Er stützte sich auf die Ellenbogen, konnte sich aber wegen des Gewichts des Toten nicht aufrichten. »Danke, Professor!« Smythe blickte über die Deckung zur Türöffnung hinunter. Phobos und Daimos stürzten sich mit Axt und Steinen auf die letzten beiden Angreifer, die noch Lust verspürten, die Schutthalde zu stürmen. Das Gros der schwarzen Krieger schlug sich mit einer Handvoll Rekruten, die sich mit Speeren und Langschwertern verteidigten. Smythe sprang aus der Deckung. »Hey!«, rief Fernandez. »Lassen Sie mich nicht al lein!« Der Professor zerrte Garrett in die Mulde hinein. Er blutete stark aus einer Kopf wunde. »Uff! Ich dachte schon, sie wollten sich verdrücken. Jetzt müssen Sie mich nur noch von diesem Scheißkerl befreien!« Der Tote lag quer über seinem Bauch. Fernandez stemmte sich gegen dessen Schultern; er grinste schon wieder. »Packen Sie ihn an den Beinen, Professor!« Smythe packte stattdessen den Griff des erbeuteten Messers. Blitzschnell stieß er zu. Die scharfe Klinge fuhr unterhalb des Kehlkopfs in den Hals des Lieutenants. Halb grinsend, halb staunend starb Bronco Fernandez. Smythe legte das Messer in die Hand des schwarzen Kriegers. Er packte einen Stein, v i sierte Garrets Kopfwunde an und wollte ausholen. In diesem Moment tauchten zwei Ba r barensöldner zwischen den Mauerresten seiner Deckung auf. »Bringt ihn in Sicherheit!« Smythe ließ den Stein fallen und riss Fernandez’ Lasergewehr hoch. »Deckung!«, brüllte er. Phobos und Daimos warfen sich zur Seite, und der Professor feuerte in den Rücken der dezimierten Angreiferschar … Irgendwo bellte ein Hund sich heiser. Vorn, rund um das Geröllfeld vor der Fabrikruine, stiegen Rauchsäulen aus den Ruinen. Am Ende des alten Boulevards klaffte ein Krater. Flammen schlugen daraus hervor. Verkohlte und zerrissene Tierkadaver und menschliche Überreste lagen wie schwarze Lumpen im geschmolzenen Schnee. Drei oder vier Auto 24
wracks brannten. Vielleicht auch mehr - die Trümmerhaufen waren teilweise kaum von einander zu unterscheiden. Captain Lynne Crow betrachtete die Tiere: siebzehn Biisons; einige versuchten vergeb lich die Last ihres toten Jochgenossen und des Autowracks hinter ihnen wegzuschleppen. Andere, noch vollständige Gespanne hatten ihre Wagen an den Rand des ehemaligen Boulevards gezogen und knabberten am kahlen Gestrüpp, das dort aus der Schneedecke ragte. Wieder andere standen einfach nur mit gesenkten Hörnern zwischen den Leichen ihrer Besitzer und harrten ihres Schicksals. »Sucht die drei jüngsten aus«, sagte die Kommandantin. »Bindet sie an einen der Trans porter. Wir schlachten sie, wenn wir diese verfluchten Ruinen hinter uns haben.« Lieutenant Terry Crimson wandte sich an die Barbaren-Söldner, die sich bei EX One versammelt hatten. »Wer von euch kennt sich mit Viehzeug aus?« Eine Handvoll Männer löste sich aus der Gruppe und folgte ihm. Gemeinsam begannen sie die Tiere zu begutach teten. Lynne sah über den ehemaligen Boulevard. Biisonkadaver lagen im Schnee. Umgekipp te Autowracks, tote Hunde und überall die grauen Ledermäntel der getöteten Gegner. Über vierzig hatten die Überheblichkeit ihres Königs mit dem Leben bezahlt. Vielleicht auch über fünfzig - die WCA-Leute hatten die gefallenen Gegner nicht gezählt. Das Gebell des Hundes ging in Geheul über. Der kleine Köter tänzelte neben der massi gen Leiche seines toten Herrn auf und ab. Der König von Chicago konnte ihn nicht mehr in seinem Arm bergen. Die Kommandantin wandte sich nach links. Vor der Hausfassade, dem am heftigsten umkämpften Ort des Gefechts, knieten drei Frauen im Schnee, schlugen sich an die Brust und jammerten lautstark. Um sie herum standen, reichlich betreten, drei Männer und eine Frau in den weißen Thermomänteln der WCA-Crew: der Großteil von Captain Crows Sergeants und Corporals. Die jammernden Frauen im Schnee hatten sich die Kapuzen ihrer dunkelbraunen Fellmäntel über das Haar gezogen und streckten ihre Arme abwechselnd zum Himmel und zu den Toten aus, vor denen sie knieten: Meymi, Atalana und Paulaa, die drei Barbarinnen aus den Nachbarstämmen von Waashton, die sie mit auf die Expedition genommen hatten. Eine Idee von Lynnes Vater General Arthur Crow. Die jungen Frauen spielten die für ein solches Unternehmen unersetzliche Rolle der »Mädchen für alles«, und das im buch stäblichen Sinn: Sie waren Köchinnen, Wäscherinnen, Näherinnen und Huren in einem. Die Toten, die sie so lautstark betrauerten - insgesamt fünf - waren den Pfeilen, den Schwerthieben, den Messern oder Äxten der schwarzen Horde zum Opfer gefallen. Einer von ihnen trug Unifo rm und Mantel der WCA-Crew: Lieutenant Bronco Fernandez. Der Verlust ihres dritten Stellvertreters schmerzte Lynne Crow besonders. Einen knap pen Monat unterwegs, und schon zwei von zwölf WCA-Angehörigen verloren. Und alle beide waren sie fähige Offiziere gewesen. Die Kommandantin warf ihren Kopf in den Nacken, schloss die Augen und seufzte. Was wohl ihr Vater dazu sagen würde? Und der Präsident? So abrupt wandte sie sich um, dass ihr langes rotes Haar um ihren Kopf peitschte. Durch Schnee und Matsch stapfte sie zu EX Three. Das kurze Geschützrohr des Panzers zeigte in die Richtung der Klageweiber, und vor dem Panzerturm auf dem Bug hatten ihre Leute ein paar Ledermäntel ausgebreitet, die sie den gefallenen schwarzen Kriegern ausgezogen 25
hatten. Auf der grauen Lederdecke kniete Warrant Officer Helena Lewis vor dem be wusstlosen Jazz Garrett (Warrant Officers werden für spezielle Aufgaben eingesetzt und haben in ihrem eigenen Bereich Befehlsbefugms). Die korpulente, dunkelhäutige Offiziersanwärterin gehörte mit ihren knapp sechsund zwanzig Jahren zu den jüngsten Teilnehmerinnen der Expedition. Wenn Lynne sich nicht täuschte, sogar zu den drei jüngsten Einwohnern der Pentagonkolonie. Im Februar hatte Helena ihre medizinische Ausbildung abgeschlossen; für Crow lag es nahe, ihr die Aufg a ben eines Expeditionsarztes zuzuweisen. »Wie sieht es aus, Dr. Lewis?« Lynne stützte die Ellenbogen auf dem Panzer auf. Ein metallenes Geräusch ertönte, als sie das Gelenk ihres rechten, künstlichen Armes aufsetz te. »Wird er es überleben?« »Abwarten.« Die dralle Ärztin zuckte mit den Schultern. »Die stumpfe Seite der Axt hat ihn am Scheitelbein erwischt. Ist der Schädel hin oder nicht? Keine Ahnung. Ich kann Jazz hier in keinen Tomographen legen. Der Pupillenbefund und der schnelle Puls spre chen nicht für einen gesteigerten Hirndruck. Vielleicht ist es nur eine schwerer Commo tio.« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf den Bewusstlosen. »Sähe dem zähen Knochen ähnlich.« »Danke.« Am Panzer entlang schritt Lynne Crow die Fahrzeuge ab und näherte sich dem ersten Transporter. Der Hund auf dem Kampfplatz heulte erbärmlich. Captain Crow hatte gelernt, ihr Herz hinter Schutzmauern zu verbarrikadieren, und sentimentale Anfälle kannte sie allenfalls aus den seltenen Vollräuschen ihrer Jugend, aber der kleine Köter tat ihr Leid, ehrlich. Auch vor dem Heck des Transporters hielten sich Barbarensöldner auf; ein halbes Du t zend etwa. Unter ihnen Pieroo und Ru’alay. Neben den Frauen so ziemlich die Einzigen, deren Namen die Kommandantin sich eingeprägt hatte. Von Dr. Stuart wusste sie, dass der eureesche Barbar einst Führer einer Nomadenhorde gewesen war. Aus irgendeinem Grund respektierte sie ihn. Und es wollte viel heißen, wenn General Crows Tochter einen Mann respektierte. Sie fasste den großen Pieroo am Ärmel seines schwarzen Fellmantels. »Siehst du den Hund da hinten neben der fetten Leiche?« Sie deutete auf den Kampfplatz. Der kleine Köter stand mit steifen Beinen neben dem Schädel seines Herrn und jaulte herzzerreißend. »Sah isch«, nickte Pieroo. »Geht hin und fangt ihn ein. Ich will ihn behalten.« Die beiden Gefährten trotteten davon. Lynne stieg auf die Ladefläche des Truppentrans porters. Professor Smythe hatte sich auf der Seitenbank ausgestreckt und stopfte einen Riegel hochkalorischer Trockennahrung in sich hinein. Dabei beobachtete er seine Leib garde. Daimos hockte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Bank gegenüber und Phobos ver band ihm eine Bisswunde am Bein. Auch im hinteren Teil des Transporters waren einige Expeditionsmitglieder mit der Versorgung Verwundeter beschäftigt. Die Kommandantin ließ sich neben dem Professor nieder. Erschöpft war sie, und mis smutig. Sie fragte sich, ob es nicht klüger gewesen wäre, auf ihren Staff Sergeant zu hören. Smythes Kopf berührte ihren Schenkel. Es machte ihr nichts aus. Sie lehnte sich gegen die Außenwand und starrte in den grauen Himmel. Er sah nach Schnee aus. Oder nach Regen. 26
»Wie ist er gestorben, Jake?« »Es war nicht schön, Lynne, wirklich nicht.« Smythe riss einen zweiten Nahrungsriegel auf. »Garrett hatte es bis zu uns hinauf geschafft. Er war angeschlagen, aber einsatzfähig. Die Spitze einer Angriffswelle stürmte unsere Deckung, fünf oder sechs Kämpfer. Die meisten konnten wir erledigen. Aber zwei und ein paar Hunde drangen in unsere Stellung ein. Mich traf ein Fausthieb und ich ging zu Boden. Während ich für ein paar Sekunden bewusstlos war, muss einer der Scheißkerle Bronco die Kehle durchgeschnitten haben.« »Scheußlich!« Die Crow verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Ausgerechnet Fernan dez.« »Ja, scheußlich. War ein brauchbarer Bursche.« Lynne stand auf. Jetzt erst schenkte sie den Barbaren ganz hinten auf der Ladefläche Beachtung. Es waren nicht nur Söldner, die dort einander ihre Wunden leckten. Auch einen weißen Thermomantel erkannte sie, und ein schwarzes Gesicht unter Rastalocken Sergeant Majela Ncombe. Majela hielt den Doc fest. So viel Captain Crow wusste, war Dr. Stuart unverletzt ge blieben. Sie sah ein zweites und ein drittes Mal hin, aber das Bild blieb dasselbe: Dr. Jed Stuart lag in Majelas Armen und weinte. Und sie streichelte sein Haar … Der Jäger aus Montana … er hielt ihre Hüften fest, rieb sein Gesicht an dem weißen Stoff. Ein feiner Stoff, so fein, dass er meinte, die Haut ihrer Schenkel mit seiner Stirn zu berühren. »So weit bin ich gelaufen, um dich zu finden«, flüsterte er. »So weit, um es dir zu sagen: Ich liebe dich …« Die Stirn zwischen die Muskelstränge ihrer Oberschenkel gedrückt, verharrte Louyos. Er wartete auf ihre Antwort. Das Schweigen der Anderen verwirrte ihn nicht einmal. Zuerst spürte er, wie ihm die Frau die Lupafell-Kapuze vom Kopf streifte und ihre Hä n de in sein Haar drückte. Knisternde Wärme strömte aus ihren Fingerkuppen und Handflä chen in seine Schädeldecke, hinunter in seinen Nacken und über die Wirbelsäule bis in seine Beine. Müdigkeit stieg in ihm hoch, und einen Atemzug lang ließ seine Erregung nach. Aber dann roch er den Duft, der ihrem Schoß entströmte: Ein Duft nach feuchter Erde und knospendem Tundra-Gehölz. Der Geruch, mit dem Louyos erwachte, wenn er im Frühjahr mit seiner Jagdhorde am Fuß der Rockys die Fährten der Deers und der Lupas verfolgte, und mit dem er abends zwischen Moos und Gestrüpp wieder einschlief. Mit der Heftigkeit eines Geysirs flammte die Erregung wieder auf. Das harte Glied in seiner Hose pulsierte. Der Druck ihrer Hände nahm zu, Antwort genug für Louyos. Er hielt den Atem an, hob den Kopf ein wenig - und spürte ihr Schamhaar unter dem Tuch. Auch das noch zu ertra gen war er nicht imstande. Er stieß einen Schrei aus, packte die Schöne kn app über den Knien und warf sie über seine Schulter. Leicht wie ein Lupaschweif war sie. Die anderen Weißverhüllten betrachteten ihn - weder erschrocken, noch interessiert. Ei ne weltentrückte Gleichgültigkeit lag auf ihren Mienen, eine Ausdruckslosigkeit, als hätte sie nie ein Schmerz oder eine Freude berührt. Louyos strahlte sie an, ohne ihnen übertriebene Aufmerksamkeit zu widmen. Ihre Passivität deutete er als Einverständnis. Er sah sich um. Am Seeufer stand kniehohes Gras. Ein paar Weiden wuchsen dort. Ja, ein schöner Platz für die Liebe. »Wir sind gleich zurück«, sagte er heiser. Das Mädchen auf der Schulter, schritt er der ersten Reihe des 27
sagte er heiser. Das Mädchen auf der Schulter, schritt er der ersten Reihe des Chores ent lang. Beiläufig registrierte er Pauken, Trommeln und Blasinstrumente. Das Mädchen rührte sich nicht. Das würde sich bald ändern, da hatte Louyos keinen Zweifel. Hände legten sich ihm von hinten auf die Schulter. »Warte, junger Freund.« Louyos drehte sich um. Drei Männer standen hinter ihm, zwei junge Burschen mit weißgrauen Locken und in ihrer Mitte ein haarloser Alter. Alle drei hellbraun, und alle drei einen halben Kopf kleiner und viel schmaler als Louyos. Der Alte war es, der ihn festhielt. »Die Sitten deines Volkes scheinen sich ganz wesent lich von den unseren zu unterscheiden.« »Wie …?« Etwas wie ein Lächeln huschte über das pergamentene Gesicht. »Bei euch mag es üblich sein, sich auf diese überstürzte Weise zu vermählen. Bei uns nicht.« Er deutete auf das Mädchen über Louyos’ Schulter. »Evesix hatte noch nicht einmal Gelegenheit, deinen Namen zu erfahre n.« »Oh … tut mir Leid, wirklich.« Fast schämte sich der Jäger aus dem Süden ein wenig. »Louyos hat mein Vater mich genannt.« Einer nach dem anderen löste sich aus der Chorformation und gesellte sich zu den drei Männern. Bald umringte ihn eine Traube von Menschen. Die Bewegungen dieser Men schen wirkten steif, wie einstudiert. Ihre Nacktheit unter den weißen Gewändern verwirrte ihn. Manchen bedeckte das Tuch nicht einmal die Scham, und bei einigen Frauen schau ten eine oder beide Brüste hervor. Auch die Haut der Brüste und der Scham war bräun lich. Die Erregung klopfte wieder in Louyos’ Lenden. Der Alte deutete nacheinander auf einige der Umstehenden. »Five, Eleven, Evenine, Twentyone, Twentysix, Evetwelve«, stellte er sie vor. »Evetwo.« Er wies auf eine etwas unförmige Frau in vorgerückten Jahren. Auch ihr Gesicht war so ausdruckslos wie das aller anderen. Schlohweiß war ihr Haar, und die rechte Brust hing aus den Falten ihres Tuches, groß und sackartig wie der Euter eines Schneekamaulers. »Evesix’ Mama«, sagte der Alte. »Oh …« Behutsam zog Louyos das Mädchen von seiner Schulter. Die Blicke der Dik ken waren Aufforderung genug. »Frieden für euch alle.« Louyos stellte das Mädchen vor sich und schob sie vorsichtshalber ein Stück von sich weg. »Autsch!« Er verzog das Ge sicht: Das köstliche Geschöpf mit dem ungewöhnlichen Namen Evesix hatte ihm ein Bü schel seiner schwarzen Locken herausgerissen. Drahtig und feucht hingen sie zwischen ihren Fingern. Das Mädchen lächelte ihn an, und der nächste Hitzeschauer rieselte durch seine Knochen. Der Alte legte die Hand auf die Brust. »Mutterhorcher.« Er deutete eine Verneigung an. »Wie … ?« Louyos begriff nichts mehr. »Mit Gästen pflegen wir erst einmal zu essen unä dabei ihre Gastgeschenke entgegenzu nehmen.« Der Alte fasste Louyos’ Arm. Sofort öffnete sich eine Masse in der Menschen schar. »Wir werden uns ein wenig kennenlernen.« Er führte Louyos durch die Menge der Sänger. »Evesix kann dich in Ruhe betrachten, und danach habt ihr immer noch Zeit, euch zu paaren.« »Oh …« Louyos wandte den Kopf. Flankiert von seiner Mama und den jungen Bu r schen lief das Mädchen dicht hinter ihm. Vielleicht seine Brüder? Das Gewand rutschte ihr über die Schulter fast bis zur Hüfte. Ihre Brüste waren klein, spitz und straff und ihr 28
Bauchnabel eine schattige, lehmfarbene Kuhle, in die Louyos gern seine Zunge gebohrt hätte. Er schluckte und stolperte. Das Mädchen lächelte und zog das Tuch wieder über ihr Schlüsselbein. Ihr Gesicht erinnerte Louyos an die Gesichter der Puppen, die sein Vater früher für seine Schwestern geschnitzt hatte. Sein Vater hatte sich meisterhaft auf Schnit zerei verstanden. Seit drei Monden war er tot. Über einen Weg, der mit kleingemahlenem, rötlichen Gestein ausgelegt war, zogen sie einem Gebäudekomplex entgegen. Man schien hier in flachen Steinhütten zu wohnen. In den Öffnungen erkannte Louyos weder Glas, noch Vorhangstoffe, noch Türblätter. Wieder sah er zurück. Das Mädchen verschlang ihn mit ihren grünlichen Augen; jeden falls kam es Louyos so vor. Ihre Lippen waren feucht. Die Mama und die jungen Männer starrten dagegen ausdruckslos durch ihn hindurch. Das Gros des Chores verteilte sich zwischen kleinen Bäumen und Steinhütten. Einige sah Louyos auch in dem riesigen Gewölbe verschwinden, aus dem er diese Welt betreten hatte. Er staunte das schwärzliche Gemäuer an. Bis hoch in die Kuppel reichten seine beiden Türme. Dort tauchten sie in das ein, was Louyos für den Himmel gehalten hätte, wenn er diese Siedlung - und eine Siedlung war es doch, oder? - auf normalem Wege betreten hätte. Auch der größte Teil des schwarzen Gemäuers verschwand in der Eiskuppel. Andere Sänger und Musikanten liefen zum See. Wie steif sie sich bewegten! Der See lag etwa vier oder fünf Speerwürfe entfernt. Die Wasseroberfläche hatte Louyos nur vom Portal des großen Gewölbes aus sehen können. Jetzt verrieten ihm nur das Gras und der von leuchtendem Grün durchflutete Dampf die Lage des Gewässers. Kein Wind wehte hier unten, und das Gras bewegte sich nur an wenigen Stellen. Dort erkannte Louyos menschengroße Körper, die sich kriechend am Boden bewegten. Ihrer Färbung wegen konnte er sie kaum vom Gras unterscheiden. Bis einer von ihnen sich aufrichtete. Louyos meinte ein langes, stumpfes Gesicht zu erkennen, und eine Art Kamm an der Stelle, wo der Nacken bei Menschen in den Rücken übergeht. Ehe er genauer hinsehen konnte, zog der Alte ihn in ein Gebäude hinein. Es roch feucht und süßlich, und es war sehr warm. »Setz dich.« Der Alte wies auf einen dreibeinigen Stuhl an einem runden Steintisch. Louyos fragte sich, ob er sich verhört hatte oder ob der Alte sich tatsächlich mit dem Namen »Mutterhorcher« vorgestellt hatte. Bis auf die Frau namens Evetwo setzten seine Begleiter sich ihm gegenüber an den Tisch. Das Mädchen legte Louyos’ Locken in eine silbrig glänzende Schüssel. Louyos versank in den Verheißungen ihres Blickes. Währenddessen fasste ihre Mama sein Handgelenk, beugte sich über ihn und rieb mit einem daumengroßen Stift über seinen Unterarm. »Autsch!« Ein paar parallel verlaufende Kratzer auf Louyos’ Haut begannen zu bluten. Aus der Unterseite des Stifts ragten feine Stachel. Die Frau legte das seltsame Werkzeug in die Schüssel zu Louyos’ Haar. »Was soll das?« Louyos wandte sich an den Alten und das Mädchen. Empörung schwang in seiner dunklen Stimme. Das Mädchen hörte nicht auf zu lächeln, und der Alte sagte: »Dein zweites Gastge schenk. Das dritte nimmt sich Evetwo jetzt.« Louyos blickte auf. Die dralle Frau hielt ein Röhrchen in der Linken und steckte eine lange spitze Nadel darauf. Danach packte sie ungefragt Louyos’ Oberarm und presste ihn 29
so lange zusammen, bis die Adern in seiner Ellenbeuge hervortraten. Dann stieß sie die Nadel hinein … 20. April 2518 Keine weiteren Angriffe auf dem Weg zur alten Basis. Was für ein Glück! Der Kampf steckt mir noch in allen Knochen. Nacht für Nacht höre ich Hunde bellen und Granaten explodieren. Das Vorratslager in der alten Basis war geplündert. Trockennahrung, Kleider, Werkzeu ge - alles weg. Nur ein paar Ersatzteile haben die schwarzen Barbaren übrig gelassen. Wahrschein lich konnten sie nichts damit anfangen; oder sie waren ihnen einfach zu schwer. Jetzt liegen Chicagos Ruinen hinter uns. Dennoch ist die Stimmung eher noch gedrück ter als vor dem Gefecht. Die Toten sind allgegenwärtig. Und auf den Gesichtern lese ich die Frage, die mich selbst bewegt und die auch ich nicht ausspreche: Was wird noch alles auf uns zukommen ? Wir liegen jetzt etwa fünfzig Meilen nordöstlich der toten Stadt. Captain Crow hat einen Tag Rast angeordnet und das Lager aufschlagen lassen. Während ic h im Navigatorenses sel von EX Three sitze und schreibe, schlachten die Rekruten draußen vor den Panzern die drei Biisons. Ja, ich fahre jetzt bei Lieutenant Crimson auf EX Three mit. Fast vermisse ich die etwas derben, aber doch angenehm lockeren Umgangsfo rmen auf dem Transporter. Und natür lich vermisse ich Pieroo. Ich bin nicht der Einzige, der sozusagen aufgestiegen ist. Lynne Crow hat dem Professor einen Platz in ihrem Flaggpanzer zugewiesen. Ich kann mir nicht helfen, aber habe das Gefühl, Smythe wollte von Anfang an genau dort hin. Lieutenant Garrett ist übrigens wieder bei Bewusstsein. Seit knapp zwanzig Stunden. Ich bin nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll … 31. April 2518 »Majela Ncombe ist tot« - fast hätte ich meinen heutigen Eintrag mit diesem Satz begin nen müssen. Gestern haben wir den Oberen See erreicht. Wie erwartet ist er zugefroren. Lieutenant Garrett - er ist wieder auf den Beinen - hat sechs Löcher ins Eis sprengen la s sen, um Fisch zu fangen. An einem arbeitete Majela mit Jacob Smythe und seiner Leib garde. Sie wollten einen fast zweihundert Pfund schweren Wels aus dem Loch ziehen, als Majela ausrutschte und ins Wasser fiel. Sie konnte sich am Köderseilfesthalten, und Ca p tain Crimson, der am Nachbarloch arbeitete, hat sie mit Smythe und seinen Gardisten aus dem See gezogen. Mein Herz klopft, während ich diese Zeilen schreibe. Wenn Majela ertrunken wäre … Sie ist mir näher als irgendein anderer Mensch in der Welt. Fühlt sich so Liebe an ? Vierhundertdreißig Meilen haben wir in den letzten zehn Tagen geschafft. Je näher der Obere See rückte, desto weniger schlammig wurde der Boden. Seit sieben Tagen etwa fahren wir über eine geschlossene Schneedecke, und der Boden darunter ist gefroren. Die Temperaturen erreichen langsam die Schmerzgre nze: Siebzehn Grad unter Null zeigt das Außenthermometer. Lange kann es nicht mehr dauern, bis wir die Eisgrenze erreichen …
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8. Mai 2518 Eine weiße Wüste, so weit das Auge reicht. Vor vierundzwanzig Stunden haben wir die Eisgrenze überschritten. Die Tage werden länger. Winnipeg liegt keine vierzig Meilen mehr vor uns. Vor uns? Nicht eine einzige Ruine wird uns auf die untergegangene altkanadische Stadt hinweisen! Der Navigationsrechner wird es uns verraten müssen, wenn wir sie erreicht haben. Und Winnipeg - beziehungsweise das, was tiefgefroren noch von der Stadt übrig ist -, wird dann unter unseren Panzern liegen, mindestens siebzig, achtzig Meter tief im ewigen Eis. Trotz der Kälte brennt an manchen Tagen die Sonne vom Himmel. Captain Crow hat Sonnenschutzbrillen verteilen lassen. Viele von uns leiden schon unter Sonnenbränden. Die Creme aus der pharmazeutischen Abteilung des Pentagon taugt nicht viel. Für heute und morgen hat die Kommandantin eine Pause angeordnet. Panzer und Waf fen mü ssen gewartet, Eis geschmolzen und aufgekocht und Schutzkleidung ausgebessert werden. Und ein wenig Kraft schöpfen müssen wir auch. Jedenfalls wir von der WCA-Crew. Die Rekruten bekommen keine Gelegenheit dazu. Wenigstens heute nicht: Garrett lässt sie im Eis exerzieren. Eine Strafmaßnahme, so ver steht er das, und die Kommandantin ist einverstanden. Der Grund: Heute Vormittag zettel te einer der Männer eine Massenschlägerei an. Er hatte eine der drei Huren für sich allein beansprucht - Atalana, die jüngste u nd ohne Zweifel schönste der drei Frauen … Der Panzer vibrierte plötzlich. Jed Stuart sah von seinem Logbuch auf und lauschte. Es war, als würde eine riesige Hand von außen nach EX Three greifen und an der Kampfma schine rütteln. Hinter sich, im Schlafbereich, hörte Jed ein Koje knarren. »Was ist das, Lieutenant?!«, fragte er. »Mach dir keine Sorgen, Doc.« Aus dem Halbdunkel drang Terry Crimons schläfrige Stimme. »Ein verdammter Blizzard ist das, weiter nichts. Daran werden wir uns gewöh nen müssen. Die fallen aus heiterem Himmel über einen her.« Der Panzerkommandant lachte meckernd. »Kriegt man wenigstens keinen Sonnenbrand von.« Jed wollte weiterschreiben, doch die Turmluke öffnete sich. Eine Schneeböe fegte in den Panzer, Stiefel tasteten nach den Sprossen der kleinen Einstiegsleiter, Jazz Garrett schlüpfte durch die Luke. In seinem Mantel hingen Schneeflocken. »Scheißwetter!« Er zog ihn aus. »Schade! Hab grad Sturmangriff auf ein großes Fahr zeug üben lassen!« Er stand mit dem Rücken zum erhöhten Navigationssitz und sprach Richtung Schlafkojen. »Na ja - jetzt rennen diese Scheißer eben ihren Zelten hinterher …« Er lachte und drehte sich um dabei. Die Härte kehrte in seine Miene zurück, als er Jed entdeckte. Mit seinen großen Zähnen erinnerte er den Wissenschaftler an eine Holzskulp tur, die eine Expedition im vergangenen Jahr von der Südostküste mitgebracht hatte: an einen schwarzen Nussknacker. Garretts Blick fiel auf das Logbuch. »Was schreibst du da, Doc?« Er streckte die Rechte nach dem Buch aus. Jed schlug es zu und legte seine Hände darauf. »Persönliche … nun, ganz private Auf zeichnungen.« »Ach …?« Garrett hielt sich am Geländer fest, das den Navigationssitz vom tiefergele genen Kommandostand abgrenzte. »Steht da auch was über mich drin?« Er stieg auf die erste Stufe der Leiter zum Navigationsstand, beugte sich nahe zu Jed und senkte die 31
Stimme. Eine verkrustete Narbe zog sich über seine rechte Schädelhälfte. »Ich … äh, ich notiere nur … also, nur wirklich interessante Dinge.« Garretts Lider verengten sich. Seine Kiefermuskulatur bebte. »Soso … nur wirklich in teressante Dinge …« Er flüsterte jetzt. »Dann könnte ich da sicher was über unseren le k keren Staff Sergeant lesen. Hab ich Recht?« Jed schwieg. »Hab ich Recht, Doc?« Garretts warmer Atem schlug ihm ins Gesicht. Er dachte an den Augenblick, als sich Garretts schwarze Hände um seinen Hals gelegt und zugedrückt hatten. Sechs Wochen war das her; Jed war halb betäubt gewesen von Garretts Faustschlag. Jetzt war er halb betäubt vor Angst. »Hör gut zu, Doc«, flüsterte der stellvertretende Kommandant. »Du weißt, auf welcher Liste du stehst. Ich bin nicht der Ansicht, dass wir dich unbedingt brauchen. Wenn du Washington lebend wieder sehen willst, lässt du deine Finger von der Frau …« Der Jäger aus Montana … sobald Louyos versuchte, den Augen des Mädchens zu entkommen, überfiel ihn eine grenzenlose Verwirrung: sein Haar in der Schüssel, der Stift mit seinen Hautfetzen daneben, das Röhrchen in seiner Vene, das sich langsam mit Blut füllte - was hatte das alles zu bedeuten? Wer, bei Wudan, waren diese Menschen? Und jetzt schloss der Alte auch noch die Augen, verfiel in eine merkwürdige Starre und wiegte den Oberkörper ganz leicht hin und her. Louyos starrte ihn an, und in seinem Schädel begann ein Nebel aus Bildern, Fragen und widersprüchlichen Empfindungen zu rotieren. Aber wenn er dann wieder im Blick des Mädchens versank, fiel die Verwirrung von ei nem Atemzug auf den anderen von ihm ab. Keine Spur mehr von Chaos in seinem Kopf er wusste wieder genau, warum er herg ekommen war: Sie wollte er, sie streicheln, sie küssen, sie ausziehen, in sie eindringen. So einfach war das. Die Frau namens Evetwo zog die Nadel aus seiner Vene. Sie drückte einen kleinen La p pen auf die Einstichstelle und beugte Louyos’ Arm, so dass er den Lappen zwischen Un ter- und Oberarm eingeklemmt festhielt. Das Röhrchen mit seinem Blut legte sie in die Schüssel zu den Haaren und dem Stift mit den Hautfetzen. Eine Zeitlang sprach niemand ein Wort. Die jungen Männer stierten auf die Schüssel, Evesix’. Mama verharrte wie vereist an Louyos’ Seite, das Mädchen lächelte, und Louy os’ Blicke tasteten ihren braunen Hals, die Spangen ihrer Schlüsselbeine und die Konturen ihres Busens unter dem weißen Tuch ab. Bei Wudan - nicht einmal in jungen Jahren war Louyos’ Weib annähernd so schön gewesen. Der Alte wiegte sich die ganze Zeit mit geschlossenen Augen. Seine Miene blieb me i stens starr, nur manchmal zuckte ein Lid oder ein Mundwinkel; und jedes Mal legte sich dann seine hellbraune Pergamenthaut in tausend Falt en, als hätte er Schmerzen oder als müsste er sich ungeheuer anstrengen. Irgendwann öffnete er die wässrigen Augen. Er nickte, während er Louyos ins Gesicht blickte. »Du bist angenommen«, sagte er schließlich. Die jungen Burschen hörten nicht auf, in die Schüssel zu starren, das Mädchen veränderte sein Lächeln um keine Spur, M a ma rührte sich nicht. »Wie …?« Louyos runzelte die Stirn. Kaum wandte er den Blick von Evesix, schon stieg ihm die Flut von Verwirrung und Angst ins Hirn. Sein toter Bruder blitzte vor sei 32
nem inneren Auge auf: Kopfüber hing er am Ast einer verschneiten Douglasie. Im Schneesturm baumelnd, rutschte ihm sein eigenes Gedärm im Gesicht hin und her. Blut troff aus den Darmschlingen in den Schnee. Louyos fröstelte und schüttelte sich, als woll te er Schmerzensbilder, Verwirrung und Angst abschütteln. »Sie hat dich angenommen.« Louyos nahm wieder den Blickkontakt mit dem Mädchen auf. Er entblößte sein gelbes Gebiss und grinste. Und Evesix lächelte ihr unerschütterliches Lächeln. Beklemmung und Trauer fielen von dem jungen Barbaren ab. Aber nur für zwei Atemzüge. Denn dann stand der Alte auf, nahm die Schüssel in beide Hände und trug sie aus dem Haus. Louyos blickte hinter ihm her. Würdevoll stelzte der weißverhüllte Mann über den rötlichen Weg. Er steuerte eine nicht weit entfernte, ver gleichsweise große Steinhütte an, deren Tür- und Fensteröffnungen im Unterschied zu den anderen Gebäuden mit silbrigen Platten verschlossen waren, in denen sich das grünliche Licht des Sees und das gleißende Licht aus dem Kuppelzenit brachen. Auch die Burschen schauten dem Alten hinterher. Evesix aber hatte nur Augen für Louyos. Allein in die Mama kam endlich Bewegung. Sie schaukelte um den Tisch herum, öffnete eine Tür in der Wand und holte Becher und einen Krug Was ser heraus. Louyos beobachtete den Alten, bis sich die glitzernde Tür hinter ihm schloss. Vor ihm auf dem Tisch sammelten sich Teller, Gefäße mit Wasser, Getreidefladen und Speisen, die er nicht kannte. Sie rochen nach Fisch. Louyos wandte sich an die dralle Evetwo. »Wohin bringt er die Schüssel?« Sie schnitt einen Getreidefladen auf und wischte sich einen Krümel von ihrem Busen. »Zu ihr.« »Zu ihr?« Sie hatten ein Geheimnis, ohne Zweifel. Louyos bereute es, nachgefragt zu haben. Er wollte ihre Geheimnisse nicht wissen. Er wollte endlich das Mädchen besteigen. »So ist es, Fremder.« Zum ersten Mal ergriff einer der beiden jungen Männer das Wort. Louyos glaubte sich zu erinnern, dass es derjenige war, den der Alte mit »Twentysix« vorgestellt hatte. »Der Mutterhorcher bringt deine Gastgeschenke zur Großen Mutter …« 18. Mai 2518 Der dritte Tag ohne Schnee. Ein Rasttag - Eis schmelzen, Waffen und Maschinen wa r ten, ausruhen. Pieroo, Ru’alay und einige andere Männer haben zwei große Zelte mit einer Rauchabzugsöffnung gebaut. Während ich das hier schreibe, sitze ich mitten unter den neuen Menschen. Unter ihnen fühle ich mich sicherer als bei der WCA-Crew. Majela Ncombe selbstverständlich ausgenommen. Und vielleicht noch Lieutenant Crimson und Warrant Officer Lewis. Alle anderen sind mit sich beschäftigt, oder abweisend und kühl, wie die Kommandan tin; oder arrogant und bedrohlich wie Smythe; oder feindselig wie Garrett. Ein Feuer brennt in der Mitte des Zeltes, es ist leidlich warm. Wir trinken Wasser und essen getrockneten Fisch. Eintönig verläuft die Route seit Winnipeg. Eis, wohin das Auge blickt. Fast drei Tage gingen durch Umwege verloren, die wir wegen einer breiten Eisspalte und gebirgsähnli chen Verwerfungen in Kauf nehmen mussten. Die Tage sind jetzt deutlich länger als die Nächte. Und wenn es nicht schneit, reißt hin und wieder die Wolkendecke auf und die 33
Sonne brennt aus einem blauen Himmel auf uns herunter. Etwas, das ich nie zuvor erlebt habe. Seit dem Kometeneinschlag befindet sich der Nordpol ziemlich genau dort, wo in den Zeiten vor »Christopher-Floyd« die altkanadische Stadt Edmonton lag. Dass die Katastro phe die Rotationsachse der Erde verschoben hat, wissen wir seit über dreihundert Jahren. Der Punkt liegt nahe an unserer Ro ute. Von Edmonton werden wir ungefähr genauso viel sehen wie von Winnipeg: nichts. Nach meinen Berechnungen trennen uns noch genau vierhundertsiebzehn Meilen vom Nordpol. Wenn uns keine Spalten und Verwerfungen zu Umwegen zwingen und wenn uns keine Schnees türme Pausen aufnötigen, müsste das in einer Woche zu schaffen sein … »Was heißes hia?« Pieroo beugte sich zu Jed herüber und deutete mit seinem schmutzi gen Finger auf das Wort »Nordpol«. Ein Fettfleck blieb auf dem Papier zurück. »Was heißt das hier«, korrigierte Jed. »Was heiß das hia?«, wiederholte Pieroo brav. Er schob ein Stück Fisch zwischen seine Lippen. »Nordpol.« »Nordpol.« Pieroo lauschte dem Klang des unbekannten Wortes nach. »Wassn das, Nordpol?« »Nun … hm, Nordpol … also, wie soll ich dir das erklären?« Jed setzte die gespreizten Finger an die Seiten seines Kopfes. »Die Erde … ahm, die Erde ist eine … also, eine Ku gel.« Alle neun bärtigen Männer verstummten, Paulaas und Atalanas Gekicher hörte auf. Aufmerksam betrachteten sie den Doc. »So ähnlic h … verstehst du, so ähnlich wie mein Kopf … nun ja, etwas runder natürlich … äh, ich sag ja, eine Kugel. Und wenn nun … hm, ich bin nicht sicher, ob du dir das vorstellen kannst … also, wenn mein Kopf die Erde wäre, ja? Dann wäre hier oben …«, mit dem Zeigefinger deutete er auf seinen Scheitel, »… dann wäre also hier … ahm, der Nordpol.« Etwa ein Dutzend Köpfe nickten; andächtig betrachteten die einfachen Männer und Frauen Jeds langen Zeigefinger. Pieroo deutete auf den schmalen Schädel des Docs. »Also isses de Gipfel vonne Welt?« »Der Gipfel der Welt«, wiederholte Jed nachdenklich. »Hm … tja, so könnte sagen, in der Tat …« Mit dem Zeigefinger tippte er auf seinen Scheitel. »Ja, wirklich: Der Nordpol … also, so gesehen hast du Recht, der Nordpol ist eine Art Gipfel der Welt.« »Und da fahren wir hin?«, staunte Ru’alay. »Wir sind schon fast da …« 26. Mai 2518 Heute Morgen hat Captain Crow ihren Stellvertreter im Führerhaus eines Transporters mit Atalana erwischt. Die Söldner standen um das Gefährt herum und schlugen sich auf die Bäuche vor Lachen. Die Kommandantin nahm Garrett in ihrem Flaggpanzer ins Ge bet. Ich weiß nicht, was sie ihm gesagt hat - gewiss nichts übermäßig Kritisches, denn der Lieutenant hat an diesem Tag öfter gegrinst als während der ganzen letzten zwei Monate zusammen. Was ist nur los mit der Mannschaft? Crimson erzählt zotige Witze; die Kommandantin trägt ein mildes Lächeln zur Schau, und das, obwohl ihr Hund vor zwei Tagen erfroren ist; Smythe sieht man praktisch nur noch an ihrer Seite. Die Ärztin turtelt allen Ernstes mit 34
Pieroo, und die meisten meiner eingeborenen Freunde wechseln sich im hinteren Trans porter bei Meymi, Atalana und Paulaa ab. Eigenartig - seit dem Aufbruch habe ich keine derart aufgekratzte Stimmung unter der Mannschaft erlebt; bei den Söldnern nicht, und schon gar nicht bei der WCA-Crew. Und ich selbst - nun ja, gestern Abend habe ich Majela zum ersten Mal geküsst. Und sie - sie konnte gar nicht genug bekommen. Aber zurück zur Lage der Dinge: Noch sechsunddreiß ig Meilen bis zum Nordpol. Heute werden wir es nicht mehr schaffen; in spätestens einer Stunde geht die Sonne unter. Aber morgen … Der Panzer stoppte. Jed sah hinunter in den Kommandostand zu Lieutenant Crimson. Mit halbem Ohr hatte er den Sprechfunk zwischen ihm und dem Flaggpanzer mitgehört. Smythe hatte etwas Ungewöhnliches am Horizont entdeckt. »Ist was?«, erkundigte sich Jed. »Irgendein Naturphänomen, keine Ahnung.« Terry Crimson stand auf, zog seinen Man tel von der Stuhllehne und schlüpfte hinein. »Komm mit, Doc, schauen wir’s uns an. Bist doch Wissenschaftler, oder?« Er stieg die schmale Leiter zur Turmluke hinauf und stieß sie auf. Jed verschloss seinen Stift, zog eine Schraube aus der Seitenwandvertäfelung, bog eine der Metallplatten ab und schob sein Logbuch zwischen Kabelstränge und Ölleitungen. Dann griff er sich seinen Mantel und kletterte zur offenen Luke hinauf. Auf dem Panzer turm warf er sich den Mantel über. Lange hielt er es nicht aus in dieser Kälte. Jedenfalls nicht freiwillig. Etwa vierzig Menschen hatten sich an der Spitze der Kolonne versammelt, die meisten in dunklen Fellmänteln. Ein gutes Dutzend Barbarensöldner waren auf die beiden Panzer geklettert. Dort standen sie Seite an Seite mit WCA-Leuten. Alle spähten nach Norden. Ein seltsames Licht verglomm dort in der Abenddämmerung. Keiner sprach ein Wort, auch die Expeditionsleitung nicht. Captain Lynne Crow, Lieu tenant Jazz Garrett und Professor Dr. Smythe beobachteten die Lichterscheinung durch Feldstecher vom Geschützturm des Flaggpanzers aus. Jed kam es vor, als würde das Licht am Horizont sie ganz und gar in den Bann ziehen. Ihre Mäntel flatterten im Wind und Lynne Crows rotes Haar peitschte ihr um die Schulter, doch sonst rührten sie sich nicht. Alle schienen sie fasziniert von dem Licht am Horizont. Wortlos reichte Lieutenant Crimson seinen Feldstecher an Jed weiter. Der spähte hin durch und stieß einen Ruf des Erstaunens aus. Was für eine wunderschöne Erscheinung! Eine Lichtsäule stieg senkrecht vom Horizont in den Abendhimmel. Oder fiel sie aus dem Himmel auf die Erde? An den Rändern leuchtete sie gelblich und rötlich und im Zentrum strahlend weiß. Das ungewohnte Glücksgefühl, das seit ein, zwei Tagen durch seinen Körper perlte, richtete seine Nackenhaare auf. Jed konnte sich kaum satt sehen an der herrlichen Licht säule. Crimson fasste nach seinem Feldstecher, und weil Jed das Gerät nicht loslassen wollte, riss es ihm der Lieutenant aus der Hand. Jed blieb nichts anderes übrig, als das Licht mit bloßen Augen zu beobachten. Fast eine Stunde lang tat er das, wie alle anderen auch. Bis es mit der anbrechenden Dunkelheit nach und nach verblasste. 35
Irgendwann stimmte Ru’alay ein Lied an. Einer nach dem anderen fiel darin ein; auch Crimson summte mit. Irgend jemand begann rhythmisch in die Hände zu klatschen, und die angeheuerten Barbarensöldner fingen an zu tanzen - zu zweit, zu dritt, in kleinen Gruppen. Eine Traube aus Männern bewegte sich auf einmal klatschend und hüftenschwingend um Meymi, Atalana und Paulaa. Warrant Officer Lewis, die Ärztin, und Sergeant Brian Laramy, der Pilot von EX One, sprangen vom Panzer und mischten sich unter die Söldner. Und auf dem Turm des Flaggpanzers - Jed traute seinen Augen nicht - drehten sich die Kommandantin und Jazz Garrett in engen Kreisen … Der Jäger aus Montana … sie stand auf der Schwelle der Steinhütte. Während sie noch aßen, war sie aufgestan den. Jetzt blickte sie hinaus, und obwohl sie allen den Rücken zuwandte, wusste Louyos, dass sie lächelte. Ja, sie verschwendete ihre Verheißungen an die Steinhütten, den See und das Licht dort draußen. Louyos legte den Getreidefladen beiseite und erhob sich. Im gleichen Moment unterbra chen auch die anderen drei ihre Mahlzeit. Ihre Blicke hingen an ihm. Louyos merkte es nicht - er hatte nur Augen für die Ges talt des Mädchens im Türrahmen. Das gleißende Kuppellicht lag auf Eve-six’ Haar wie Tau auf den harten Blättern des Tundragehölzes im Spätsommer. Das grünliche Licht des Sees umgab sie mit einer schimmernden Patina. Louyos musste an die großen Glühkäfer in den Wäldern der südli chen Rockys denken. Das Licht drang sogar durch den weißen Stoff ihres Körpertuches, sodass Louyos ihre Formen darunter halb sehen, halb ahnen konnte: die geschwungene Linie ihrer Hüften; die prallen Wölbungen ihrer Gesäßbacken und die Kerbe zwischen ihnen; die weiche, langgestreckte Sichel ihrer Oberschenkelmuskulatur. All das füllte sein Hirn aus; nur das und sonst überhaupt nichts. Er stand auf. Das Glied pochte ihm in der Hose. Er schob den Mantelsaum über die verräterische Wölbung, denn er spürte Mamas Blicke. Ganz kurz nur drehte das Mädchen sich um, lächelte ihn an und schritt dann hinaus auf den Weg. Unter ihren Fußsohlen knirschte das rote Geröll, und sie schwang ihren Hintern wie eine halbwüchsige Deerkuh. Louyos sog die Luft ein. Bei Wudan! Wie glühend er diese junge Frau begehrte. Er strauchelte, als er sich in Bewegung setzte. Die Erregung lahmte seine Knie und schwächte seine Muskeln. Nur jenen einen nicht. Noch bevor er die Türschwelle erreichte, setzte Mama Evetwo sich vor ihn, und seine beiden Altersgenossen flankierten ihn. Auf die Idee, dass die drei ihn aufhalten könnten, kam Louyos gar nicht. Gemeinsam liefen sie über den Weg hinter dem Mädchen her. Ein Lichtreflex lenkte Louyos ab. Er blickte nach rechts: Die Tür der großen Steinhütte hatte sich geöffnet. Der Alte stand davor, der Mutterhorcher. Mit auf der Brust ver schränkten Armen sah er zu ihnen herüber. »Was ist das für eine Hütte, in die er mein Blut und mein Haar gebracht hat?«, fragte Louyos. »Das Haus der Geburt«, antwortete Twentysix. Darunter nun konnte Louyos sich etwas vorstellen. Jetzt, außerhalb der Gasthütte, konn te er auch die Nachbarhütte des Hauses der Geburt erkennen: drei Mal so hoch, dunkel, und mit zahlreichen Türmchen, Säulen und Giebeln versehen. Ihre Bauweise erinnerte ihn 36
an Ruinen, die er in Helena gesehen hatte. Ein von Säulen getragener Gang verband die beiden Steinhütten. »Und die dunkle Hütte dort? Wozu dient sie?« Louyos blieb stehen. Unheimlich sah sie aus, die große Steinhütte. Und ihm fiel auf, dass er niemanden außer dem Alten sehen konnte. Wo waren sie, all die Sänger und Musikanten? »Das ist das Haus der Altzeit.« Diesmal antwortete Evetwo. »In der Gemeinschaftshütte meines Stammes«, sagte Louyos, »wenn wir am Feuer sit zen und unsere Ältesten die Legenden erzählen, die ihre Väter und Großväter ihnen über liefert haben, dann sprechen sie manchmal von der ›Zeit der Alten‹. Hat die dunkle Hütte mit jenen Alten zu tun?« Es tat ihm weh, sich an seinen Stamm zu erinnern. »Das ist das Haus der Altzeit«, wiederholte Evetwo. Auch sie und die beiden Burschen waren stehen geblieben. »Von den Alten wissen wir nichts.« »Wir müssen nichts von ihnen wissen«, sagte Twentysix. »Wir haben ja die Große Mut ter.« Der zweite Bursche ergriff das Wort; er hieß Fiftyseven. »Die Große Mutter war vor unserer Zeit, sie war vor der Zeit der Alten, sie ist nach der Zeit der Alten und sie wird nach unserer Zeit sein.« In Louyos’ Ohren klang das wie ein Gebet, und Fiftiysevens Stimme zitterte vor Andacht. »Wir wissen nichts von den Alten«, wiederholte Evetwo. Ihr strenger Blick traf Fiftyse ven. »Das versteh ich nicht.« Wieder dämpfte Verwirrung Louyos’ Erregung. »Wenn ihr eine Hütte ›Haus der Altzeit‹ nennt, dann scheint ihr doch von den Alten zu wissen? Oder zumindest von einer Zeit, die vor eurer Zeit war.« »Du redest wie ein Narr.« Die maskenhafte Miene der Mama nahm einen harten Zug an. »Was gehen uns die Alten an? Wir wissen nichts von ihnen.« »Die Altzeit war die Erdzeit vor der Ankunft der Großen Mutter.« Twentysix wenig stens zeigte sich ein bisschen auskunftsfreudiger. »Vorbei, Fremder, aus und vorbei. Nur noch Zeichen und Geschichten sind übriggeblieben.« »Zeichen und Geschichten«, bestätigte Fiftyseven. »Sie sind im verbotenen Haus begra ben.« »Verboten?«, wunderte Louyos sich. »Ihr dürft die dunkle Hütte nicht betreten?« »One und der Mutterhorcher betreten sie. Und manchmal Eveone. Das reicht.« Evetwo ging weiter. Das Gespräch schien ihr nicht zu behagen. Louyos blickte noch immer hinüber zu der eigenartigen Hütte. Der Kopf schwirrte ihm. Verboten? Begrabene Zeichen und Geschichten? Ankunft der Großen Mutter? »Verehrt ihr denn nicht Wudan, den höchsten der Götter? Ist sie eure Göttin, die Große Mutter?« Fiftyseven und Twentysix fassten ihn links und rechts an den Armen und zogen ihn fort. »Wudan? Wir wissen nichts von Wudan.« Louyos sah grübelnd auf seine Stiefelspitzen. Rötlicher Staub bedeckte sie. Allein fühlte er sich plötzlich, fremd und mutterseelenallein. Er sah zurück. Der Mutterhorcher stand noch immer vor dem Haus der Geburt und beobachtete sie. Angst überfiel Louyos. »War um nennt ihr ihn Mutterhorcher?« »Du redest, wie ein Narr redet«, sagte Evetwo. Louyos hob den Kopf und sah zum Zenit der Kuppel hinauf. Lichtströme zuckten wie Blitze zwischen dem Strahlenkranz und der Lichtsäule über ihm. Louyos schloss geble n 37
det die Augen. Das Mädchen, wo war das Mädchen?! Er riss die Augen auf. Im hohen Gras am Seeufer hing ein weißes Tuch. »Wo ist sie …?« Evetwo deutete mit ausgestrecktem Arm auf eine Birkengruppe. Vo n grünem Licht durchflutete Dampfschwaden hingen in den Baumkronen. Und darunter stand eine nackte Frauengestalt und winkte: Evesix! Wie weggeblasen alle Verwirrung und Angst. Verbrannt in der Flamme der Begierde. Heiß schoss Louyos das Blut in Lenden und Kopf. Dazu war er hergekommen. Nicht, um sein Volk zu betrauern oder sich über langweilige Hütten und Götternamen den Kopf zu zerbrechen. Er beschleunigte seinen Schritt. Twentysix und Fiftyseven hatten Mühe, ihn festzuhalten. Louyos zog sie an der Mama vorbei. »Sie wartet auf dich«, sagte Evetwo. »Nimm sie dir.« Twentysix und Fiftyseven gaben seine Arme frei. Louyos rannte los … 29. Mai 2518 Fünf Meilen vor dem Nordpol liegen wir. Den dritten Tag schon. Und es geht keine Meile voran. Fünf Meilen vor dem Gipfel der Welt. Und seltsam: Jeder hier scheint wirklich zu gla u ben, dass dort, wo dieser herrliche Lichtstrahl zwischen Eis und Himmel leuchtet, dass dort eine Art Gipfel wartet, der um jeden Preis genommen werden muss. Ein Gipfel der Lust, ein Gipfel des Glücks - so ganz präzise habe ich noch niemanden formulieren hören, was ihn eigentlich mit solcher Macht zu dieser Stelle zieht. Und ich selbst? Ich könnte es auch nicht genau begründen. Vielleicht ist es mir auch einfach zu peinlich, es aufzu schreiben. Bei allem Durcheinander in meinem Kopf weiß ich aber doch eines: Der Professor aus der Vergangenheit scheint der Einzige zu sein, der einen kühlen Kopf bewahrt. Er hat sogar einen Streit in der Führungscrew vom Zaun gebrochen - Terry Crimson hat es mir erzählt -, um die Kommandantin zu einer Denkpause zu bewegen. Ja, »Denkpause« nann te er es nach Terrys Bericht. Er traut diesem Licht nicht, er will es erst eine Zeitlang beo bachten, will es untersuchen, sieht eine Gefahr von diesem einzigartigen Naturschauspiel ausgehen. Smythe und Garrett hätten sich fast geprügelt. Warum Captain Crow auf die Forderu n gen des Professors eingegangen ist, weiß auch Lieutenant Crimson nicht. Ich habe mit einigen Männern und Frauen der Expedition gesprochen, die Jacob Smythe für einen Wahnsinnigen halten. Oft denke ich das auch. Doch eine der vielen Stimmen in mir sagt: »Der Mann könnte Recht haben.« Gestern ist etwas Schreckliches passiert, etwas Herrliches, Furchtbares, Wundervolles: Ich habe mit einer Frau geschlafen. Mit Majela Ncombe … Die Mittagssonne stand in flachem Winkel über dem südlichen Horizont. Im Norden, zum Greifen nahe, flimmerte der Lichtstrahl zwischen Himmel und Erde; gelb, orange und weiß. Sie könnten schon hundertfünfzig Meilen weiter sein. »Verfluchtes Ding«, zischte Smythe. Fast eine halbe Meile entfernt vom Lager beobachtete er die rätselhafte Erscheinung. Das Wetter war freundlich, der Wind erträglich und gegen die achtundzwanzig Minusgrade schützte der wattierte Kombi und vor allem der weiße Thermosmantel. 38
Professor Dr. Jacob Smythe trug eine Schutzbrille. Gesicht, Hals und Hände glänzten von der Fettcreme, mit der sich die Expedition mehr oder weniger erfolgreich gegen die starke UV-Strahlung schützte. Seit fast anderthalb Stunden betra chtete er den Lichtstrahl. Nach Dr. Jed Stuarts Berechnungen stand er exakt über dem Ort, an dem vor fünfhundert sechs Jahren die Stadt Edmonton gelegen hatte. »Fünfhundertsechs Jahre«, murmelte Smythe. »Dann bin ich jetzt fünfhundertachtund fünfzig Jahre alt. Ist das nicht ein angemessenes Alter? Gratuliere.« Er drehte sich um und stapfte zum Lager zurück. Der Lichtstrahl, dieser verflixte Lichtstrahl … Ein Naturphänomen? Smythe war zu sehr Astrophysiker, um das glauben zu können. Obwohl: Wer wusste denn, wa s der Komet alles angerichtet hatte mit den Naturgesetzen? Und ging ein Strahl vom Eis aus in den Himmel, oder strahlte eine Lichtquelle in der Atmosphäre auf die Erde nieder? Wie Smythe es auch drehte und wendete, keine Theorie fiel ihm ein, kein physikalisches oder kosmologisches Modell, keine noch so chaotische Differentialgleichung, in der ein solches Phänomen seinen Platz fände. Also blieb nur eine Möglichkeit: keine Naturerscheinung, sondern Produkt einer unbekannten Technologie. Oder? Und dann diese bedenklichen Veränderungen unter den Männern und Frauen der Exp e dition. Geradezu euphorisch verhielten sie sich, wie Pubertierende, deren Hirne von Ho r monen überflutet wurden. Und zwar alle - vom dümmsten Barbaren bis zur Kommandantin. Sogar Smythe selbst spürte von Zeit zu Zeit diese rauschhaften Anwand lungen. Wenn er nicht so fest an seine Bestimmung geglaubt hätte, wenn er nicht genau gewusst hätte, was er wollte … die Verführungskünste der sonst so spröden Kommandantin hätten ihn längst zur Strecke gebracht. »Gehen wir doch einfach hin und sehen nach, wo der Lichtstrahl hinführt«, murmelte er nachdenklich. »Oder wo er herkommt.« Dieser Gedanke begleitete ihn selbstverständlich seit dem Augenblick, als er das Licht zum ersten Mal gesehen hatte. Aber angenommen, die Crow würde einen Spähtrupp an die Quelle des Lichts schicken - was würde es mit den Leuten anstellen? Wo sich die Männer und Frauen jetzt schon abnormal verhielten, ein paar Meilen von dem Lichtstrahl entfernt! Smythe näherte sich dem Halbkreis der sechs Fahrzeuge. Zeltspitzen ragten über Panzertürme und Ladeflächen. Je zwei Zelte hatten sie im Windschatten der Maschinen aufgeschlagen. Aus den abgeflachten Spitzen dreier größerer Zelte quoll Rauch in den arktischen Himmel. Vor diesen Zelten sah Smythe Männer in Warteschlangen stehen, als er zwischen EX Four und EX Two hindurch den leidlich windgeschützten Lagerplatz betrat. Sechs oder sieben Männer warteten vor jedem der drei Zelte. Auch Sergeant Lara my und einen Corporal, dessen Namen er vergessen hatte, erkannte Smythe in der Wart e schlange. Der Professor aus der Vergangenheit musste niemanden fragen, auf was man hier wart e te. Im Inneren der Zelte stöhnten Männerstimmen. Und manchmal mischten sich das Ge kicher oder die Lustschreie einer Frau in das Stöhnen. Meymi, Atalana und Paulaa bei der Arbeit, für die sie bezahlt wurden. Allerdings konnte Smythe sich nicht daran erinnern, dass die Frauen je zuvor in den zehn Wochen seit Auf brach der Expedition so intensiv in Anspruch genommen worden waren. Er vermutete, 39
dass sie seit einigen Tagen weder zum Kochen noch zum Waschen kamen. Seit der ver flixte Lichtstrahl am Horizont die gesamte Besatzung verrückt machte. Smythe wandte sich ab. An den Panzern entlang schritt er zu EX One. Mittlerweile hatte er einen Stammplatz im Flaggpanzer; auf dem Navigatorensitz. Sein Plan machte Fort schritte; es verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht selbst gratulierte. Gänzlich kalt gelassen hatte sie ihn nicht, die Fantasie von den schönen Dingen, die sich in den Freudenzelten abspielten. Seine Lenden pochten und ständig schob sich das Bild der schmachtenden Kommandantin vor sein inneres Auge. Doch was war schon die Liebe einer Frau gegen die Macht? Lust und Sex - konnte das die Weltherrschaft aufwiegen? Allein die Frage war lächerlich, ja erbärmlich. Auf dem Turm von EX Two hockte Terry Crimson, der dritte Stellvertreter der Crow. Auch seine Gedanken schienen nicht mehr um das Ziel der Expedition, um den Kratersee zu kreisen. Er grinste, und zwar irgendwie albern, und winkte Smythe heran. Allein das hätte er sich vor Tagen niemals erlaubt. Aber gut, irgendeine Macht hatte eine Ausnahme situation über die Expedition verhängt, und Smythe war entschlossen, ihr auf die Schliche zu kommen. Also stieg er auf den Panzer und ging neben Crimson in die Hocke. Der deutete in die offene Luke. Auch hier Stöhnen und Kichern. Wie langweilig und pri mitiv! Trotzdem lauschte Smythe. Ein Paar vergnügte sich im Inneren des Panzers. Er erkannte die Stimmen von Lieutenant Garrett und Warrant Offic er Lewis. »O ja«, stöhnte die Ärztin. »Da hinein, beiß mich da hinein …« »Nichts lieber als dass, du süßer kleiner Fettmops«, hörte Smythe den Lieutenant sagen. »Wo sind meine Zähne, verdammt noch mal?!« Garrett bemühte sich nicht einmal um einen wenigstens gedämpften Tonfall. Alle Dämme schienen zu brechen. »Verflucht, Garrett!«, schrie Smythe in den Panzer. »Ziehen Sie sich wenigstens was über! Das Letzte, was wir auf dieser Mission brauchen können, ist Nachwuchs!« Er knall te die Luke zu und sprang vom Panzer. Diese Disziplinlosigkeit ! Sie machte ihn zornig. »Hey, Professor!« Terry Crimson rief ihm hinterher. »Wann fahren wir endlich weiter? Ich will zu dem Lichtstrahl!« Smythe ignorierte ihn. Mit großen Schritten strebte er EX One zu. Die Leute hatten die Kontrolle über sich selbst verloren. Sex! Nur noch Sex hatten sie im Kopf! Doch was war der Grund? Nur wegen eines Naturphänomens? Er musste es herausfinden. Ein Trick, der Menschen nur noch an Sex denken ließ - nicht verkehrt. Sehr praktisch sogar für jeman den, der Ambitionen - und Anspruch ! - auf die Weltherrschaft hatte. Und mittelfristig musste diese Expedition endlich wieder arbeitsfähig werden. Am Ein schlagskrater des Kometen warteten vermutlich noch größere Verheißungen ! Er kletterte in den Flaggpanzer. Lynne Crow lag hinter einem Vorhang in ihrer Koje. »Wir müssen reden«, sagte Crow. »Irgendetwas muss geschehen.« »O ja!« Die Kommandantin streckte die Arme aus. »Weißt du eigentlich, wie ich dich bewundere, Jake?« »Lass uns reden. Ich will, dass du einen Spähtrupp zu dem Lichtstrahl schickst. Ich will das Kommando.« »Natürlich, Jake. Komm zu mir und küss mich …« Sie hauchte nur noch, und Smythe begriff, dass mit ihr erst zu reden sein würde, wenn er ihr gegeben hatte, was sie um jeden Preis wollte. »Also gut«, seufzte er. »Aber danach wird geredet …« 40
Jed warf seinen Mantel auf die Koje. Er drehte sich um und wollte die schmale Leiter zum Navigatorensitz hochsteigen. Doch da saß bereits jemand: der Professor aus der Ve r gangenheit. Er las in seinem Logbuch. »Sir! Was fällt Ihnen … ahm, halten Sie das nicht für … entschuldigen Sie, wenn ich deutlich werde … ist das nicht ein ungebührlicher Eingriff in meine Intimsphäre?!« Smythe schlug das Buch zu und reichte es ihm. »Ich hab es geahnt, Stuart. Aber ich musste es mit eigenen Augen lesen.« Er lächelte kalt. »Wie? Ich meine … äh, was mussten sie mit eigenen Augen … ?« Smythe zog einen Riegel hochkalorischer Trockennahrung aus seiner Manteltasche. »Wenn selbst ein Milchbub wie du Frühlingsgefühle hat, Stuart, dann stimmt meine Theo rie, dann muss sie stimmen!« Seelenruhig pellte der Professor die Kunststofffolie vom Riegel. »Du hast es mit dem Staff Sergeant getrieben. Aus eigenem Antrieb hättest du das niemals gewagt. Also hat sie auch dich am Wickel. Wie alle anderen auch.« Jed spürte die Hitze in sein Gesicht steigen. »Wer hat mich …? Ich versteh nicht …« »Hast du keine Augen im Kopf, Stuart?« Smythe musterte den schlaksigen Linguisten geringschätzig. »Seit dieser verdammt e Lichtstrahl am Horizont steht, ist an Disziplin nicht mehr zu denken. Alle sind irgendwie euphorisch, alle sind …« Er biss in den Riegel, kaute hastig und schluckte. »Alle sind nur noch geil. Sogar ein verklemmtes Muttersöhn chen wie du.« Er schob sich den Nahrungsriegel zwischen die Zähne. »Erlauben Sie … also wirklich, ich muss schon sagen, Sir …« Smythe lachte ihn aus. »Du solltest dich sehen, Stuart! Wenn ich dir jetzt Blut abnähme, was glaubst du wohl, wie dein Testosteronspiegel wäre? He?« Jed wusste nicht, was er sagen sollte. Die ganze Situation war ihm ungeheuer peinlich. Er drückte sein Logbuch an die Brust und biss die Zähne zusammen. »Du weißt es doch!« Smythe bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust. »Bei jedem in diesem verdammten Lager wäre es dasselbe: ein pathologisch überhöhter Spiegel der Sexualhormone. Und was glaubst du, Stuart, woran das liegt?« Er fischte den nächsten Riegel aus der Manteltasche. »An dem verflixten Lichtstrahl liegt das!« Smythe deutete an die nördliche Panzerinnenwand. »Weißt du, was dein Freund Pieroo mir gestern sagte? Er sagte, er habe von einer wunderschönen Frau geträumt, und er wolle so schnell wie möglich zu diesem verdammten Strahl, weil sie dort angeblich auf ihn wartet! Was sagst du dazu, Stuart?« »Na und?« Jed wollte gelangweilt mit den Schultern zucken, aber die fühlten sich an, als wären sie gelähmt. »Ich hab mich heute in EX Four umgesehen. Das kleine Labor, das eure Clique da ein gerichtet hat, ist nicht von schlechten Eltern, alle Achtung.« Smythe biss wie der in den Riegel. Mit vollem Mund sprach er weiter. »Ich dachte an einen Steroidhemmer oder so was. Vielleicht auch ein Zytostatikaderivat, mal sehen. Ich hab mit der Kommandantin gesprochen. Sie hat mich beauftragt, ein Gegenmittel gegen diese …«, er fuchtelte mit dem Rest des Riegels, als wollte er das passende Wort aus der Luft greifen, »… gegen diesen Einfluss zu entwickeln. Und du wirst mir dabei helfen, Stuart. Du bist zwar eine Witzfigur, aber ich weiß, dass du gleichzeitig ein kluger Mann bist.« Jed hatte das Gefühl, über den Tisch gezogen zu werden. Und davon abgesehen: Er hatte nichts gegen die ungewohnten Gefühle in seiner Brust; ganz im Gegenteil. »Nein, Sir … 41
also, ich wollte sagen … na ja, ohne mich …« »Wenn du bei diesem ›Nein‹ bleibst, Stuart, dann sehe ich mich leider gezwungen, Lie u tenant Garrett darüber zu informieren, dass du seine Angebetete bestiegen hast.« Smythe neigte den Kopf auf die Schulter, griff nach seinem blonden Zöpfchen und wickelte es um den Zeigefinger. Seine Glubschaugen glänzten, und er feixte hämisch. »Aber du wirst nicht bei deinem ›Nein‹ bleiben, denn - wie gesagt: Du bist ein kluger Mann und willst noch ein Weilchen leben …« Der Jäger aus Montana … wie anmutig sie sich bewegte! Nichts von der Steifheit der anderen war an ihr. Sie tänzelte durch das Gras, verschwand im grün leuchtenden Dampf, wurde wieder sichtbar und winkte ihn zu sich. Im grünen Schimmer sah Louyos die Linien ihres Körpers: die glockenförmigen Brüste, die Rundung ihres Gesäßes, ihre schlanken Schenkel, sogar die spitzen Brustwarzen. »Ich komme«, keuchte Louyos. Sein Mund war trocken, er rannte, blieb stehen, spähte nach ihr und rannte weiter, wenn er sie wieder entdeckt hatte. Das Gras raschelte unter seinen Stiefeln. Ihr weißes Körpertuch hing wie ein Schleier in den gebogenen Halmen. Er bückte sich danach und drückte es ans Gesicht. Es war noch heiß von ihrem Körper, und es roch nach mit Schmelzwasser vollgesogener Tundraerde und knospendem Gehölz. »Warte!« Er ließ das Tuch fallen. »Ich komm zu dir!« Wieder verhüllte Dampf ihre Gestalt. Nur ihren Kopf, ihre Schultern und ihren erhobe nen Arm konnte er sehen. Sie winkte und lief tiefer und tiefer in die grünen Schwaden hinein. »Warte doch!« Im Laufen zog er den Fellmantel aus und ließ ihn fallen. Auch die Weste aus Lupapelz und das Lederhemd streifte er im Laufen ab. Beides blieb im hohen Gras zurück. Er nestelte am Gurt seiner Wildlederhose und sah plötzlich eine halbnackte, nur dürftig mit weißem Tuch bedeckte Gestalt vor sich im Gras liegen, einen Mann mittleren Alters. Erschrocken blieb Louyos stehen. Doch der Mann beachtete ihn gar nicht. Er lag auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt, und sah hinauf zum Strahlenkranz und in die Lichtsäule. Sein Mund stand halb offen, sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Louyos machte einen Bogen um ihn und lief weiter. Da! Noch eine Gestalt im Gras, eine alte Frau. Auch sie reglos, auch sie ganz versunken in den Anblick des Lichtes am Ku p pelzenit. Und sie war nicht der letzte Mensch, den Louyos hier am Ufer im Gras liegend fand. Nichts Außergewöhnliches schien daran zu sein. Sie hatten es wohl nicht nötig zu jagen, lagen eben einfach im Gras herum. Er versuchte sie zu ignorieren. Doch das Mädchen, wo war das Mädchen? Während er die Stiefel auszog und sich die Hose von den haarigen Beinen streifte, versuchten seine Augen den immer dichter we r denden Dampf zu durchdringen. »Evesix! Wo bist du?!« Keine Antwort. Weiter. Er ließ die Hose einfach liegen, .knotete im Laufen seinen Lendenschurz auf und rannte nackt in den feucht-warmen Nebel hinein. Schon versanken seine Füße im feuchten Boden. Schmatzend schloss sich matschige Erde über seinen Knöcheln. Und endlich entdeckte er sie wieder, ein verschwommener Schatten im grün leuchten den Dampf. »Ich komme …! « Er achtete nicht auf Büsche und Baumstrünke, sprang über die im Gras ausgestreckten Menschen, schlug das Laub der Birken beiseite. Jetzt konnte 42
er die Wasseroberfläche unter dem Dampf erkennen. Der See strahlte ein pulsierendes Grün aus. Wie aus dem Nichts richtete sich das Wesen vor ihm auf. Louyos stieß einen Schrei aus und prallte zurück. Graugrün war es, sein langer keilförmiger Kopf ging halslos in den Körper über. Nase und Mund konnte Louyos nicht unterscheiden; beides verschmolz zu einer Art langem Schnabel, wie er es bei Wasservögeln weit im Süden schon gesehen hatte, nur dass deren Schnabel aus Hörn bestand und der jener unheimlichen Kreatur aus Fleisch und Knorpel. Obwohl es sich nur zur Hälfte aufrichtete und sich sogar noch mit den Armen im Gras abstützte, stand das Wesen Louyos in gleicher Augenhöhe gegenüber. Das Herz des ju n gen Jägers raste - vor Panik jetzt, nicht mehr vor Erregung. Schritt für Schritt torkelte er zurück, und ein Frosthauch nach dem anderen schien durch sein Hirn zu wehen. Doch das grüngraue Wesen blinzelte ihn nur aus großen, kreisrunden Augen an. Eine Art Fächer richtete sich von seinem Rücken bis hinauf zu seinem Hinterschädel auf, ein Kamm. Es hob den rechten Arm - einen langen, sehnigen Arm, schuppig an der Außen und mu skulös an der Innenseite -, und Louyos sah eine feingliedrige Hand mit fünf schlanken Fingern, deren untere Glieder durch fast durchsichtige Schwimmhäute mitein ander verbunden waren. Doch bis auf diese Einzelheit und die schuppige Haut schien es ihm eine menschliche Hand zu sein; eine erschreckend menschliche Hand. Und erschre k kend menschlich war auch die Geste, mit der das Wesen sie hob und sich den Schädel neben dem Kamm kratzte. Auge in Auge standen sich die unterschiedlichen Kreaturen zwei, drei Atemzüge lang gegenüber und taxierten sich gegenseitig. Louyos das Wesen erschrocken und verwirrt, das Wesen ihn eher neugierig und belustigt. Schmatzend öffnete es schließlich seinen schnabelartigen Mund, stieß ein Krächzen aus und warf sich dann seitlich ins Gr as. Mit gespreizten Händen stemmte es sich vom sumpfigen Boden ab, bog seinen Körper rucka r tig durch und entfernte sich so, halb springend, halb kriechend, in Richtung See. Und für einen Moment konnte Louyos auch seine untere Körperhälfte sehen: Das Wesen verfügte über keine Beine; sein Unterleib lief spindelförmig zu, um dann in einer Flosse zu enden, die bestimmt so breit wie ein Speer lang war und in ihrem Aussehen dem Rü k kenkamm des Wesens glich. Die gewaltige Flosse verschwand als letztes in den Dampf Schwaden über dem Gras. Kurz darauf hörte Louyos Wasser plätschern. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn; kalter, klebriger Schweiß. Obwohl es schwül war, zitterte er. Sein Atem flog, und er vermisste seine Kleider. Das Mädchen und seine Lust auf sie summten nur noch als Hintergrundmelodie durch sein aufgescheuchtes Be wusstsein. Dampfschwaden hüllten ihn ein. Er drehte sich um und wollte zurückgehen, um seine Kleider zu suchen. Die kaum dreißig Schritte entfernte Birkengruppe war nur noch ein undeutlicher Schemen hinter grünlichen Schleiern. Keinen Schritt kam Louyos voran. Er blickte an sich hinunter und merkte erst jetzt, dass er bis unter die Knie im warmen Morast eingesunken war. Der Schlamm blubberte und schmatzte, als Louyos sein rechtes Bein heraus zog; mit dem linken sank er dabei noch tiefer ein. Es gab keinen festen Boden, auf den er den rech ten Fuß setzen konnte: Er trat in den Morast, versank erneut bis zum Knie, bückte sich ins 43
Gras und tastete nach Halt, um sich aus dem Sumpf arbeiten zu können. Da - ein Aststrunk! Louyos griff danach und klammerte sich mit beiden Hände daran fest. Der Ast, oder was immer es war, fühlte sich an wie getrocknetes Leder, steif, spröde und nur wenig biegsam, aber er hielt. Louyos zog die Beine an den Körper und fand Halt unter den Füßen. Er wollte sich aufrichten, als sich der verrottende Baum auf einmal bewegte. Wie eine Schlange bog er sich unter Louyos Sohlen; Wasser und Schlamm gurgelten um seine Knöcheln herum. Etwas zog Louyos mit sich, schmatzende, plätschernde Geräusche er tönten von vorn, und als er hinsah, tauchte ein riesiger Kopf aus dem Gras auf, über und über mit Schlingpflanzen und Wurzelfasern und Morast bedeckt. Schlammige, schuppige Schultern hoben sich, und ein faltiger nasser Hals legte sich in hundert Falten, als der Kopf sich nach Louyos umwandte. Es war ein menschlicher Kopf, und das Gesicht eines Menschen glotzte Louyos an. Der Jäger aus dem Süden war unfähig zu atmen, zu schreien, sich zu bewegen. Nur die Tränen liefen ihm aus den aufgerissenen Augen, und von seinen Lippen tropfte Schleim. Der missmutige Blick des Sumpfmenschen bannte ihn; hätte die Kreatur ihn jagen wollen, Louyos wäre eine leichte Beute gewesen. Doch die Kreatur wollt e nur ihre Ruhe. Sie zischte etwas Unverständliches, ihre rüssel artige Nase zuckte, und sie spuckte Schlamm aus. Und dann schüttelte sich ihr Oberkö r per, nur einmal und nur kurz. Das, was Louyos bis jetzt für einen Aststrunk gehalten hatte, entglitt seinen Händen, die vermeintliche Baumleiche im Morast bäumte sich auf und warf den Jäger rücklings in Gras und Schlamm. Endlich löste sich ein Schrei aus seiner Kehle, ein Schrei, der nicht enden wollte. Doch die Sumpfkreatur scherte sich nicht im Geringsten um ihn. Sie erhob sich, strich Schlamm und Gras aus den Hautlappen auf dem Schädel und zog ihren dicken, speerlangen Schwanz unter Louyos weg und aus dem Morast. Dessen Schrei verstummte, als er das Wesen in voller Größe sah: ein Wesen, fleischfa r ben und grün gescheckt, mit dem Kopf eines Menschen, mit Armen, Rücken und Ober schenkeln eines Menschen - aber mit dem Schwanz eines Reptils, und mit Händen und Füßen, die aussahen, als stammten sie von einer Riesengans … Louyos warf sich auf den Bauch. Auf Ellenbogen und Knien robbte er durch den Mo rast. Weg hier, schnell weg! Lieber draußen im Eis verhungern und erfrieren, als hier unten wahnsinnig oder von Dämonen verschlungen zu werden. Ja, Dämonen! Es konnte nur Orguudoos finstere Tiefe sein, in die es ihn verschlagen hatte! Als hätte er sich selbst in ein Reptil verwandelt, kroch er durch Wasser und Dreck. Er keuchte, sein Atem flog, und bei jedem Atemzug stöhnte er. Die verschwommenen Ko n turen der Birken rückten näher. Dort irgendwo lagen seine Kleider … Plötzlich waren direkt vor ihm zwei nackte Unterschenkel. Louyos blickte nach oben er sah Knie, Schenkel, Scham, Brüste und ein liebliches Puppengesicht. Evesix lächelte auf ihn hinunter. »Du musst keine Angst haben.« Es war das erste Mal, dass er sie reden hörte. Ihre Stimme klang so dunkel wie die ihrer Mama. Er hielt sich an ihren Schenkeln fest und zog sich aus dem Schlamm. »Keine Angst …?« Seine Arme schlangen sich um ihre Hüften. Im Morast kniete er vor ihr. »Diese Ungeheu 44
er … tun sie euch nichts?« »Nein«, lächelte sie. »Wir leben mit ihnen zusammen.« Louyos barg sein bärtiges Gesicht zwischen ihren Brüsten. Schlamm und Wasser rannen aus seinen Haaren auf ihre samtbraune Haut. Es schien sie nicht zu stören, und ihm tat es gut, sie so nah bei sich zu spüren. Sein Herzschlag beruhigte sich. »Wer sind sie?«, flüsterte er. »Woher kommen sie?« »Aus dem Haus der Geburt.« Evesix sagte das in einem amüsierten Tonfall, als fände sie es witzig, den fremden Jäger derart erschreckt zu sehen. »Es sind unsere Brüder und Schwestern. Kinder der ersten fünf Eves, und Kinder der Großen Mutter …« 5. Juni 2518 Tag für Tag in diesem engen Labor, zusammen mit dem Mann, der mich töten wollte. Ich ertrag es nicht mehr. Auch heute sechzehn Stunden lang experimentiert, gerechnet, ins Mikroskop gestarrt, Moleküle zusammengebaut, bis jetzt. Es geht schon auf Mitternacht zu. Ich bin froh, dass es endlich vorbei ist. Dieser Smythe mag wahnsinnig, widerlich, arro gant und unheimlich sein - aber er ist ein Genie. Wir haben ein Präparat entwickelt, das die entscheidenden Synopsen des Nervensystems für die Aufnahme von Sexualhormonen blockiert. Morgen will Smythe es an einigen Söldnern ausprobieren. Und dann so schnell wie möglich einen Spähtrupp zu dem ominösen Lichtstrahl führen. Soll er tun, was er will. Was geht es mich an? In wenigen Minuten treffe ich Majela im Zelt von Pieroo und Ru’alay. Meine treuen Freunde! Sie haben ihre Gefährten überredet, das Zelt für zwei Stunden zu räumen. Ich kann es kaum noch erwarten … Jed zuckte zusammen. Schritte erklangen über ihm auf dem Panzer. »Terry? Hörst du das?« Lieutenant Terry Crimson antwortete nicht. Jemand öffnete die Luke. »Schnell!«, flüsterte eine Stimme. »Ich glaub, auf dem Trans porter nebenan wird jemand vergewaltigt!« Terry schwang sich aus seiner Koje und kletterte aus dem Panzer … Es war eine sternklare Nacht, und eiskalt. Smythe kletterte von EX Four, dem Panzer mit dem Bordlabor herab, lehnte gegen den Kettenschuh und betrachtete die Sterne. Keine einzige Wolke am Himmel; das Band der Milchstraße erstreckte sich funkelnd über das Firmament. Dem Professor fiel ein, dass er es lange nicht mehr gesehen hatte. Seine Hand in der Manteltasche umschloss die Stechampulle: das Mittel, mit dem er die außer Rand und Band geratenen Hormone der Crew zähmen würde. »Du bist unschlag bar«, murmelte er. »Du bist der Größte unter diesen Sternen …« Irgendwo knirschten Schritte im Schnee. Im matten Feuerschein, der aus zwei Zelten drang, sah er eine Gestalt. Sie tastete sich im Dunkeln an einem der Transporter entlang. Smythe spähte in die Dunkelheit. War sie es? Ja, sie war es! Und tatsächlich: Über dem Kettenschuh des Transporters, auf dem die Ausrüstung untergebracht war, zeichnete sich neben dem Gehäuse des Kommandostandes eine zweite Gestalt ab; undeutlich zwar, aber Smythe sah sie trotzdem. Sollte seine Rechnung aufgehen? Er lockerte das Messer unter seinem Mantel, griff dann zum Kolben seines Drillers und entsicherte die Waffe. Die Gestalt auf dem Kettenfahrzeug war ein Mann, das wusste Smythe. Auch war er nicht überrascht, als er sich herab auf die zweite Gestalt warf, eine Frau. Wie zu erwarten 45
hatte der Angreifer leichtes Spiel mit seinem überrumpelten Opfer. Er lag auf dem Rücken der Frau, presste ihr Gesicht in den Schnee und schob ihr von hinten zuerst seine Hand vor den Mund und dann ein Messer an den Hals. Smythe kauerte sich an den Kettenschuh von EX Four. Er biss sich auf die Unterlippe und ballte die Fäuste vor Anspannung. Fünfzig, sechzig Schritte weiter riss der Mann sein Opfer vom Boden hoch und stieß es entlang des Transporters zu dessen Ladeflächenauf gang. Mehr musste Smythe nicht wissen. Er schlich um EX Four herum und dann an EX Two und dem Mannschaftstransporter vorbei. Unter dessen Kommandostand verharrte er. Fünfzehn Schritte entfernt waren der Angreifer und sein Opfer: Der Mann schlug die Frau nieder und zerrte sie dann zur Lade fläche hinauf. Für kurze Zeit glitt ihr Körper durch einen schwachen Lichtstrahl, der sich von den Zelten bis hierher verirrte. Smythe erkannte eine buschige Silhouette - einen Kopf voller Rastalocken … Der Professor huschte auch am Ausrüstungstransporter vorbei. Bis zu EX Three schlich er, bis zu Lieutenant Crimsons Fahrzeug. Er kletterte auf den Clinton-Tauchpanzer, öffn e te die Luke und flüsterte mit verstellter Stimme: »Schnell, ich glaub, auf dem Transporter nebenan wird jemand vergewaltigt …« Danach sprang er mit einem Sprung in den Schnee hinunter und zurück. Der Professor stieg auf den Kettenschuh und spähte über die knapp hüfthohe Seitenwand des bis auf ein Rolldach offenen Transporters hinein. Ein heftiger Kampf tobte dort. Majela Ncombe hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Garrett saß mit gespreizten Schenkeln auf ihr, hielt ihr den Mund zu und drohte ihr mit dem Messer. Sie trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust und ächzte und stöhnte. Mit kaltem Herzen beobachtete Smythe die Szene. Es war fast genauso, wie er es sich vorgestellt hatte, als er Lieutenant Garrett von dem geplanten Rendezvous seiner Angebe teten mit Jed Stuart unterrichtete. Stuart war naiv genug gewesen, während der Arbeit im Labor eine entsprechende Andeutung fallen zu lassen. Aber das Wichtigste fehlte noch. Schritte im Schnee näherten sich. Garrett stutzte kurz, dann ließ er das Messer fallen und schlug zwei Mal zu. Majelas Widerstand erlosch sofort. Näher und näher kamen die Schritte. Smythe hielt den Atem an; er konnte Garretts Anspannung förmlich am eigenen Leibe spüren. Und das hatte seinen Grund. Garrett verharrte genauso reglos wie sein be wusstloses Opfer; wie ein Tier auf der Lauer. Die Schritte verhielten, Stiefel scharrten über Metall, Hände griffen nach der Kante der Seitenwand, ein Kopf erschien über ihr. Der Kopf des Mannes, den Smythe erwartete Crimsons Kopf. Eine Stablampe flammte auf, und Garrett, mit seinem Opfer nun in grel les Licht getaucht, hob beide Arme vor die Augen. Das war der Moment des Professors Dr. Jacob Smythe: Er schwang sich über die Sei tenwand in den Laderaum hinein und schlug Garrett seinen Driller mit aller Macht über den Schädel, bevor der sich überhaupt umdrehen konnte. Der schwarze Lieutenant kippte seitlich von seinem Opfer und prallte auf das Lattenrost am Boden. Lieutenant Terry Crimson kletterte ebenfalls über die Seitenwand. »Key, Professor! Das hat er zwar verdient, aber unbedingt nötig gewesen war’s nicht …« Wieder hastige Schritte im Schnee. Keine Frage für Smythe, wer da herbeieilte, um seiner Liebsten beizustehen - und natür 46
lich zu spät kam. »… wir haben doch beide die Schweinerei gesehen, die er verbockt hat …« Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Crimson da und blickte auf Garrett und Majela Ncombe hinab. »… und die Schweinerei, die er noch verbocken wollte, ist ja wohl eindeutig, oder?« Smythe bückte sich nach Garretts Driller. Viel Zeit blieb nicht mehr: Stuart war schon nah, und weitere Schritte knirschten aus der Dunkelheit. »Zwei Zeugen, das reicht.« Terry Crimson stieg von der Bank und wollte vor der Frau in die Hocke gehen. Sein Blick fiel auf die Waffe in Smythe Hand. »Was soll das, Professor …?« Smythe drückte ab. Crimsons zerschossener Körper berührte noch nicht mal den Boden, da lag Garretts Driller schon wieder dort, wo er nach Smythes Vorstellungen zu liegen hatte: in der Hand des schwarzen Lieutenants. Mit seinem eigenen Driller schlug der Pro fessor auf den bewusstlosen Garrett ein. »Verdammter Scheißkerl …!« Am nächsten Tag rückte ein Spähtrupp aus, und zwei Tage später fand der Prozess statt; auf der Ladefläche des Transporters, auf dem der Mord geschehen war. Ein Standgericht unter der Leitung Captain Lynne Crows. Nur WCA-Angehörige waren zugelassen. Und Jacob Smythe; als Zeuge. »Ich hörte Kampflärm und kletterte über den Kettenschuh auf das Fahrzeug. Ich sah Sergeant Ncombe bewusstlos am Boden liegen und hörte, wie Lieutenant Crimson den Angeklagten zur Rede stellte. Garrett zog seine Waffe. Es gelang mir noch, auf die Lade fläche zu klettern. Aber da drückte der Angeklagte auch schon ab. Ich schlug ihn kamp f unfähig, bevor er seinen Driller auch gegen mich richten konnte.« »Lüge!« Garrett sprang auf. »Ich war’s nicht!« Sie hatten ihn mit Handschellen gefe s selt. »Das ist eine himmelschreiende Lüge!« »Danke, Professor Dr. Smythe«, nickte die Kommandantin. Sie rief Majela Ncombe als Zeugin auf, die den Überfall auf sie schilderte und Garrett identifizierte. Sie rief Stuart auf, der nach dem Professor als zweiter an den Tatort kam und ihn schreien hörte und auf den Angeklagten einschlagen sah. Den Rest kannte Captain Crow aus eigener Anschau ung. Nach zwei Stunden verkündete sie das Urteil: Tod durch Erschießen im Morgengrauen des folgenden Tages. Garrett tobte und brüllte. Zu viert mussten sie ihn festhalten, damit Warrant Officer Lewis ihm ein Betäubungsmittel verabreichen konnte … Der Jäger aus Montana … sie führte ihn durch das sumpfige Ufergras. Wahrscheinlich hätte sie mit geschlosse nen Augen einen sicheren Weg zum Wasser gefunden: Nie sanken ihre Füße tiefer ein als bis zu den Knöcheln. Sie hielt Louyos an der Hand und zog ihn auf einem Pfad hinter s ich her, den nur sie kannte. Wasser plätscherte nicht weit von ihnen; je näher sie ihm kamen, desto feuchter und heißer wurde die Luft, und der Dampf stand dichter und dichter über dem Gras. Von irgendwo her meinte Louyos eine Trommel zu hören. Wenn er sic h umdrehte - und manchmal, wenn das Grauen vor den Sumpfkreaturen ihn überfiel, tat er das -, sah er nur Dampfschwaden. Bodennah schimmerte er grünlich, die 47
oberen Schichten wurden von dem weißen Licht des Strahlenkranzes im Kuppelzenit angestrahlt. Gebäude waren keine mehr zu erkennen, auch Bäume nicht, und Menschen schon gar nicht. Doch irgendwo hinter diesem Vorhang aus Dampf mussten sie sein, denn jetzt konnte er den Trommelrhythmus deutlich hören: ein träger, schleppender Rhythmus. »Bald werden wieder Menschen herabsteigen, um die Große Mutter zu beschenken«, sagte Evesix. Louyos wusste nicht genau, wovon sie sprach. Aber war das nicht auch völlig gleichgültig? Die Panik hatte sich längst aus seiner Brust und seinem Kopf zurückgezogen und wieder dem Kribbeln der Erregung Platz gemacht. Evesix tastete sich sehr langsam durch das Ufergras, und wenn sie manchmal stehen blieb, um sich orientieren, stieß er gegen sie, und ihre Gesäßbacken berührten seine Schenkel. Jedes Mal füllte sich sein Glied dann ein Stück praller mit Blut. Als die Wasserfläche sich endlich unter dem Dampf vor ihnen ausbreitete, konnte er sich kaum mehr beherrschen. Er griff von hinten nach ihren Hüften, zog sie zu sich heran, küsste ihren Hals und legte seine Hände auf ihre Brüste. Heiß und fest fühlten sie sich an. Die Trommeln jenseits der Dampf Schwaden wurden lauter und schneller, und Flöten und Hörner stimmten eine monotone Melodie an. Das Mädchen ließ sich einfach fallen, und weil seine Haut schweißnass war, glitt es zwi schen Louyos’ Armen hindurch. Sie stieß sich von ihm ab und rannte leichtfüßig auf das Wasser zu. Louyos glaubte sie kichern zu hören. Ihm gefiel das Spiel. Es steigerte seine Erregung. Er lief hinter ihr her. »Ich krieg dich!«, rief er. Irgendwo hinter ihm fiel ein Chor in den Rhythmus der Trommeln und die Melo die der Bläser ein. Wasser spritzte. Ein paar Schritte weit hüpfte sie durch seichtes Uferwasser, bis es ihr Gesäß umspülte. Was für ein Anblick! Kopfüber stürzte sie sich hinein und schwamm ein Stück in den See hinaus. Louyos zögerte zunächst. Erst als sie sich zu ihm umdrehte und winkte, wagte er sich ins Wasser. Es schimmerte grünlich, und je weiter er in den See hinein watete, desto leuch tender wurde dieses Grün. Louyos blieb stehen und betrachtete das Wasser. Wie klar es war. Es wogte um seine Knie. Er sah das Spiegelbild seines Glieds wippen und darüber das wilde Gestrüpp seines Bartes und seiner langen Locken. Woher das grüne Leuchten stammte, vermochte er sich nicht zu erklären. »Komm doch …!« Er blickte auf. Das Mädchen schwamm auf dem Rücken und winkte ihm. Nebelfetzen hingen wie Schleier über ihr. Schon fast einen Speerwurf entfernt trieb sie im See. Der Gesang des Chores schwoll an; die Trommeln hallten aus dem Dampf jenseits der Gra s landschaft am Seeufer. Louyos ging in die Knie und stieß sich vom weichen Grund ab. Seine Arme, haarig und blass, teilten das Wasser. Wie warm es war, heiß fast, und wie klar! Mit kräftigen Schwimmzügen hielt er auf Evesix zu. Sie wartete auf ihn, ließ ihn bis auf weniger als einen halben Speerwurf herankommen. Dann erst drehte sie sich um und glitt ruhig durch die Wogen in den Nebel hinein. Sie ließ sich Zeit, und Louyos holte rasch auf. Eine Insel schälte sich aus dem Dunst, nicht groß, vielleicht zwei Speerlängen lang und eine breit. Wie ein kieloben treibendes 48
breites Ruderboot sah sie aus, leicht gewölbt und von ovaler Form. Evesix hielt auf die Insel zu. Dort also wollte sie ihm geben, wonach er so sehr verlangte? Auf dieser Insel wollte sie genommen werden? Fasziniert und zittrig vor Erregung beobachtete Louyos, wie das Mädchen sich auf den kleinen flachen Hügel zog, wie sie sich aufrichtete und auf die Fersen setzte und ihr nasses Haar mit beiden Händen fasste, es auswrang, über ihre Schul tern warf und dabei ihren Körper durchbog und ihre Brüste nach vorn streckte. Der Atem stockte ihm; fast vergaß er zu schwimmen. Wie flüssiges Feuer schoss es durch seine Adern - die Gier füllte seinen Körper aus. Er holte zwei Mal tief Luft. Alle Vorsicht aufgebend, tauchte er über die restliche Distanz zu jener Insel. Das warme Wasser schloss ihn ein. Trommeln, Bläser und Chor verstummten von einem Atemzug zum anderen. Durch die geschlossenen Lider hindurch drang das grüne Licht in sein Hirn. Er hätte für alle Zeiten so tauchen mögen, so behaglich und geborgen fühlte er sich. Ein Mal wagte er es, die Augen zu öffnen. Am Grund des Sees pulsierte ein Leuchten. In gleichmäßigem Rhythmus wechselte es vom warmen, dunklen Grün zu lichtdurchflute tem, hell strahlenden Grün. Als würde ein riesiger Mund am Grund des Sees sich öffnen und schließen und jedes Mal grünes Licht ausspucken. Als würde dort unten ein Herz pulsieren und grünes Feuer in den See pumpen. Louyos kniff die Augen zusammen und tauchte auf. Wild schlugen die Trommeln von fern, der Chorgesang brauste über das Wasser, Hörner- und Flötentöne vereinten sich zu einem Crescendo. Ein Grausen ließ den Jäger aus dem Süden trotz des warmen Wassers frösteln. Hier lebte etwas, das größer war als er selbst, bedeutender und mächtiger. Er schüttelte das Schaudern ab, und der Anblick des nackten Mädchens machte es ihm leicht: Was für ein süßes Geschöpf! Was für eine betörende Frau! Sie kniete auf der kle i nen Inselkuppe, strich sich über Schenkel und Bauch, und hob ihre Brüste an, als wollte sie ihm ihre Reize anbieten. Musik und Gesang schienen allgegenwärtig zu sein. Louyos’ Hände stießen unter Wasser gegen etwas Hartes. Stein oder Holz, er wusste es nicht, und es kümmerte ihn nicht. Er zog sich daran hoch, stellte seinen Fuß darauf und stemmte sich aus dem Wasser. Die schwarzgrüne Oberfläche der Insel war vollkommen gleichmäßig - kein Gras, kein Stein, keine Erde. Wie nasses Leder fühlte sie sich an. Das Mädchen fasste seine Handgelenke und half ihm herauf. Er kroch auf die leicht gewölbte Oberfläche dessen, was er für eine Insel hielt. Die schwankte ein wenig; und unter ihrer harten Oberfläche summte etwas. Als würde sie einen Bienenschwarm beherbergen. Vermutlich eine künstliche Insel, vermutlich doch eine Art Boot; vielleicht war es im Grund vera nkert. Louyos kniete sich vor das Mädchen. »Dieses grüne Licht - was ist das?« Evesix lächelte, wie sie seit Stunden lächelte. Oder schon seit Tagen? Plötzlich war es ihm, als hätte er jedes Zeitgefühl verloren. »Wir treiben auf dem Schoß der großen Mut ter«, sagte sie. Und wieder fasste sie nach ihren Brüsten, hob sie hoch und spreizte dabei die Schenkel ein wenig. Louyos begriff nicht, was das Mädchen da sagte, und was ging es ihn auch an? Er ver gaß das pulsierende Licht, das Summen unter seinen Knien, den See und die ganze fremd artige Welt hier unten. Er wollte das Mädchen, und zwar jetzt. Schmerzhaft klopfte die Lust in seinen Lenden, sein Atem rasselte feucht, und in seiner 49
Kehle schien ein Feuer zu brennen. Er richtete sich auf und streckte seine Arme nach ihren feuchten Brüsten aus. Der Chorgesang verstummte jäh, Hörner und Flöten tönten in einem langgezogenen A k kord, und das Echo eines Trommelwirbels brach sich am künstlichen Himmel. Wasser plätscherte hinter ihm, und ein Geräusch, das er nicht einordnen konnte, mischte sich in das Plätschern und Gurgeln. Als er sich umdrehen wollte, war es zu spät. Etwas wie eine Schere packte seine Taille, spitze Krallen bohrten sich in seine Kopfhaut, und eine Kraft, der er nichts entgegenzusetzen hatte, riss ihn nach hinten weg und zurück in den See … 8. Juni 2518 Die Stimmung unter der Mannschaft ist wie die Landschaft: kalt, freudlos, feindselig. Auch wenn viele froh sind, Garrett endlich loszuwerden - die Ereignisse der letzten Tage schockieren jeden hier. Unser Hormonhemmer mag seinen Anteil an dieser Stimmung haben. Es wirkt hervor ragend: Niemand mehr denkt an Tanz oder Liebe. Vor zwanzig Stunden kam Sergeant Laramys Spähtrupp zurück. Er hat einen senkrech ten Schacht im Eis entdeckt, in welcher der Strahl bei Tag verschwindet - oder aus der er sich in den Himmel bohrt. Endgültig konnte der Spähtrupp die Frage nicht beantworten. Laramy hat ein paar Messungen vorgenommen und Anhaltspunkte für relativ hohe Tem peraturen etwa hundertvierzig Meter unter dem Eis gefunden; lebensfreundliche Tempera turen. Und vor allem: Sein Trupp hat einen Zugang ins Eis entdeckt; eine Art Höhle, von der aus ein gangbarer Weg in engen Serpentinen steil nach unten führt. Sogar von aus dem Eis gehauenen Stufen ist die Rede. Captain Crow und der Professor diskutieren schon seit Mitternacht das weitere Vorg e hen. Ja: Captain Crow und der Professor. Jacob Smythe gilt jetzt nämlich auch ganz offi ziell als das, was er de facto schon länger ist: als stellvertretender Kommandant. Ein ungeheuerlicher Gedanke bewegt mich. Diesem Papier will ich ihn anvertrauen: Es würde mich nicht wundern, wenn wir den Kratersee unter dem Kommando dieses Mannes erreichen … Inzwischen machen Gerüchte die Runde, nach denen Garrett auch Lieutenant Rüben Miller ermordet, ja sogar den Tod Lieutenant Fernandez’ zu verantworten hat. Ich habe mehr als nur einen Grund, diese Gerüchte zu glauben. Draußen im Lager wartet Garrett in einem Zelt auf seinen Tod. Sechs Rekruten unter dem Kommando Majelas bewachen ihn, darunter Pieroo und Ru’alay. Majela soll auch die Hinrichtung durchführen. ‘Sie hat sich freiwillig gemeldet. In drei Stunden ist die Nacht vorbei. Dann schlägt Lieutenant Jazz Garretts Stunde … »Es bleibt bei dem Urteil, Jake! Wie steh ich denn vor meinen Leuten da!?« Die Fäuste in die Hüften gestemmt, lehnte Lynne an der Leiter unter der Luke. Hinter ihr, im Sessel des Kommandanten, saß Smythe. Er betrachtete ihren Rücken und wählte seine Worte sorgfältig. »Bedenke: Wenn er tot ist, besteht die WCA-Crew nur noch aus neun Leuten …« »Aus zehn! Du bist offiziell mein Stellvertreter! Und notfalls mach ich diesen Pieroo zum Offizier …« Der Professor ließ sich seine Genugtuung nicht anmerken. »Wir können eigentlich ke i 50
nen Mann entbehren.« Es war keineswegs so, dass Smythe über Nacht seine humanisti sche Ader entdeckt hatte: Konkrete Pläne beschäftigten ihn; sie hätten nicht konkreter sein können. »… er könnte uns noch einen wertvollen Dienst erweisen.« »Sieh doch hin, Jake!« Lynne drehte sich nach dem Professor um. Ihre grünen Augen blitzten zornig. »Jazz wollte an die Spitze. Alle drei Opfer sind meine Stellvertreter gewe sen! Glaubst du da etwa an einen Zufall?!« Smythe war der Letzte, der an einen Zufall glauben würde. »Und ich, Jake, ich war die Nächste auf seiner Liste!« Ihre Handkante zerschnitt die Luft. »Nein! In drei Stunden stirbt er!« »Ich bin ja ganz deiner Meinung, Lynne: Er muss sterben. Nur der Zeitpunkt gefällt mir nicht. Ob er nun in drei oder in dreißig Stunden stirbt: Mir geht es darum, dass er der Expedition noch einen Dienst erweist, einen letzten. Das ist er der WCA schuldig.« »Was meinst du damit?« Sie kam zu ihm herunter in den Kommandostand. »Ein Himmelfahrtskommando! Wir verpassen ihm ein Mikrofon und schicken ihn unter das Eis …« »… und er findet heraus, was da unten los ist!« Die Verbissenheit in ihrer Miene wich einem spöttischem Grinsen. »Du bist ein Fuchs, Jake. Ein ganz gerissener Fuchs …« Kurz darauf ging sie allein zu dem Todeskandidaten. In knappen Worten machte sie ihm das Angebot: Himmelfahrtskommando statt Hinrichtung. Garrett willigte ohne langes Zögern ein. Er erklärte sich mit allem einverstanden. Wenn er nur nicht sterben musste. Sergeant Majela Ncombe erschoss niemanden, als der Morgen dämmerte. Stattdessen brach ein Konvoi aus zwei Tauchpanzern zum Lichtstrahl auf. Ein Dutzend Barbarensöldner hockten bei Jazz Garrett außen auf den Panzern. In EX One fuhren die Kommandantin mit Professor Smythe und Sergeant Brian Lara my, in EX Three Jed Stuart, Sergeant Majela Ncombe und Warrant Officer Helena Lewis … Der Jäger aus Montana … die Zangen um seine Hüften schnürten ihm die Nieren ein, die Klauen um Stirn und Hinterkopf bogen seinen Schädel in den Nacken. Eben noch das nackte Mädchen vor Augen, musste er jetzt in das gleißende Licht des Strahlenkranzes am Kuppelzenit blik ken. Doch nur einen Herzschlag lang, dann schlug das warme Wasser über ihm zusam men. Grünes Leuchten hüllte ihn ein, und sein Gebrüll erstickte in Gurgeln und Rö cheln. Er wollte Atem holen und schluckte Wasser; er wollte seinen Kopf aus diesem eisenhar ten Klammergriff befreien und wand sich in Krämpfen; er strampelte, bog und stemmte sich gegen die knochigen Zangenbacken über seinen Hüften, und sie pressten sich mit solcher Kraft in seine Taille, dass er nur noch aus Schmerz bestand. Wie ein ins Wasser geschossener Pfeil bohrte er sich in die Tiefe. Sein langer Bart stieg ihm vor die Augen, Beine und Arme hingen ihm neben Ohren und Schultern und schienen einem anderen zu gehören. Louyos begriff nicht, welche Kraft ihn da nach unten riss. Er begriff aber mit grausamer Klarheit, dass er verloren war. Aus, zu Ende, ja - es war vor bei. Vergeblich widerstand er dem Drang einzuatmen - Wasser schoss in seine Lungen. Kopfüber rauschte er durch den See, sah das pulsierende Grün über und die Unterseite der schwimmenden Insel unter sich. Sie hatte plötzlich Beine und Füße und Schwimmhäute zwischen den Klauen. Und vielgliedrige Arme - oder wie sollte er das nennen, was sich da 51
über und hinter ihm bog und ihn in weitem Bogen durch das Wasser riss? Die unbegreifliche Kraft schlug seinen Körper von unten gegen die Insel, ein Mal, zwei Mal, drei Mal, und zog ihn dann den ganzen gnadenlosen Bogen zurück durch das Wasser und hinaus aus dem See. Chor, Bläser und Trommeln ertönten plötzlich ganz nah, als hätte das Orchester sich di rekt am Ufer versammelt. Triumphierend der Gesang, fröhlich die Flöten, siegesgewiss die Hörner, und die Trommeln, als würden sie die Ankunft eines Gottes verkü nden. Schlaff hing Louyos in den Scherenbacken eine Speerlänge über der Wasseroberfläche. Die Sinne drohten ihm zu schwinden. Er erbrach sich schwallartig - Wasser, ein Brei aus Mamas Getreidefladen, und noch einmal Wasser. Knapp unter ihm kniete das Mädchen. Viel größer war die Insel jetzt, ruderte an jeder Seite mit drei Flossenbeinen, und die vie l gliedrigen Arme, in deren Scheren er jetzt hing, wuchsen aus ihrer Vorderseite. Sie senkten sich langsam wieder der Wasseroberfläche entgegen. Louyos keuchte und hustete. Der Druck in sein Nierenbecken hatte nachgelassen, sein Kopf hing bewegungs los in mächtigen Scheren, die er nur erkennen konnte, wenn er die Augen verdrehte. Sein Bedürfnis, sich aus der Umklammerung zu befreien, war einer tiefen Resignation gewi chen, einer Ohnmacht, die bereit war, auch den grässlichsten Tod zu akzeptieren. Seine Füße tauchten wieder ins Wasser ein. Die Scheren an seinem Schädel schlossen sich noch weiter, und stechender Schmerz bohrte sich in seine Kopfhaut. Einen Atemzug lang hing er auf gleicher Augenhöhe mit Evesix. Die gefalteten Hände auf den nackten Schenkeln, kniete sie auf dem Rücken seines Mörders und betrachtete ihn neugierig. Sie lächelte das gleiche Lächeln, das sie gelächelt hatte, als er sie vor Stunden (Tagen? Wochen?) zum ersten Mal im Chor der Sänger entdeckt hatte. Sterben. Louyos war vollkommen einverstanden damit. Er hatte nichts anderes verdient als den Tod. Weil er sich der magischen Gier überlassen hatte, weil er diese Frau bestei gen wollte, statt sie zu töten. Versagt hatte er, auf ganzer Linie versagt, als Mann, als Jäger, als Krieger. Also sterben. Sänger, Trommeln und Blasinstrumente steigerten sich zu einem rasenden Finale. Evesix glitt nach oben aus seinem Blickfeld, und Louyos tauchte bis über die Schultern ins warme Wasser ein. Ertrinken also, warum nicht? Besser doch, als von den Scheren dieser Bestie zerteilt zu werden. Das Wasser stieg an seinem Hals hinauf über sein Kinn, bis zu seinem Mund. Er presste die Lippen zusammen. Den Wasserspiegel knapp unter den Nasenflügeln, hielten die Scheren und Gliederarme ihn fest. Und jetzt sah Louyos die Vorderseite dessen, was er für eine Insel gehalten hatte: Schwarze Fühler bogen sich aus ihr heraus, und grünliche Au gen, groß wie Menschenköpf e, glühten an kurzen schuppigen Stielen. Louyos’ Unterkiefer begann zu zittern. Er versuchte die Lippen fester zusammenzupre s sen, damit kein Wasser in seinen Mund eindrang. Dennoch schlugen seine Zähne gegen einander, und das Geräusch erschien ihm wie ein Trommelwirbel des Todes. Ihm fiel auf, dass Chor und Instrumente schwiegen. Viele Stacheln bohrten sich in seine Schädeldecke, tiefer und tiefer, und die glühenden Augen verschwammen zu einem grü n lichen Feuer. Summen und Pochen füllten seinen Schädel aus, und auf einmal gaben seine Hirnwindungen alle Bilder seiner Erinnerung frei. Es war ein bunter, lebendiger Traum, und Louyos verlor jedes Bewusstsein für Wirk lichkeit und Fantasie: Er spürte die Milch aus der Brust seiner Mutter in seinen Mund 52
strömen; er hörte ihre zärtlic he Stimme; er fühlte die Hand seines Vater seine kleine Kin derhand umschließen, hörte den Schnee unter ihren Schneeschuhen knirschen und den Sturm an den Wipfeln der Douglasien rütteln; er blickte dem ausgestrecktem Arm seines Vaters hinterher und sah die Silhouette des Eiskondors am Winterhimmel; er sah seinem Großvater beim Schnitzen von Kochgeschirr, Puppen und Dolchgriffen zu; er hörte die Legenden der Ältesten an den Feuern der Gemeinschaftshütte; er stritt und lachte mit seinen Geschwistern, balgte mit den Jungen des Stammes, baute Hütten, schoss Pfeile auf Deerbullen, häutete Lupas, hub Gräber aus, spaltete Schädel, drang in sein Weib ein, herz te seine Kinder, verbrannte Leichen, trocknete Fleisch, schlief im Moos der Tundra, schaute ehrfürchtig hinauf zu den Eisgipfeln der Rockys … Sein ganzes Leben zog vor seinem inneren Auge vorbei. In solch scharfen, lebendigen Bildern sah er sich selbst als Kind, als Halbwüchsiger, als bewährter Jäger, hörte er die Stimmen seine Lieben, roch er die Düfte der Hütten, Wälder und Beutetiere, dass er glaubte, sein Leben noch einmal zu leben. Er weinte sogar und schrie, als er die Schwarzvermummten in sein Dorf eindringen, ihre Krummschwerter in der Sonne blitzen und das Blut seiner Kinder und Eltern den Schnee rot färben sah. Er brüllte, während seine Frau in den Qualen aufschrie, die sie ihr zufüg ten. Unerschütterlich stand er mit den anderen Kriegern seines Stammes auf dem Dorf platz und schoss Pfeil um Pfeil auf die Eindringliche ab. Er sah sich fliehen - zu zwölft waren sie da noch, zwölf Überlebende von einhundert dreizehn Menschen ihres Stammes -, sah sich mit der Axt der Verfolger erwehren, sah die Schlitzaugen eines Feindes unter gespaltener Stirn, sah den Eiskondor über den Leichen seiner Gefährten. Als Einziger wankte er schließlich über das ewige Eis nach Norden. Auch das sah er deutlich und fühlte dabei den Hunger und die Verzweiflung, die ihn auffraßen bis zu je nem Tag, als er. das Licht am Horizont entdeckte … Das Licht - das letzte Bild zeigte ihm noch einmal das Licht. Er fühlte nichts mehr, wusste nichts mehr, sah nur noch jenes Licht und spürte noch einmal, wie die Sehnsucht sich aufbäumte, das brennende Verlangen, das ihn zum Licht hingezogen hatte, und zu Evesix. Und dann wurde es dunkel. Und still. Sehr, sehr still … 9. Juni 2518 Dreißig Stunden liegen wir schon am Nordpol, nur fünfzig oder sechzig Schritte von diesem unglaublichen Lichtstrahl entfernt. Der Professor wollte nichts überstürzen. Er hat gründliche Messungen vorgenommen. Der Strahl besteht aus hochkonzentrierten Licht quanten, die sich aus der Atmosphäre in den Schacht hinein bewegen. Und er strahlt Wärme ab. Tagsüber schmilzt das Eis um die Eintrittstelle herum, und ein flacher Tümpel bildet sich. Nachts ist das Licht nicht sichtbar und der Tümpel gefriert; dennoch strömt messbare Energie in den Schacht. Darüber hinaus hat Smythe eine Strahlung gemessen, die er CF-Strahlung nennt. Er glaubt, dass hundertzwanzig bis hundertfünfzig Meter unter uns einer jener Kristalle liegt, die der Komet einst auf die Erde gebracht hat und von denen es an unserem Expeditions ziel, am Einschlagskrater, nur so wimmeln soll. Nun gut, warten wir’s ab. Jazz Garrett ist kurz nach Sonnenaufgang in die Einstiegshöhle geklettert und marschiert 53
nun durch einen gewundenen Tunnel im Eis Meter um Meter in die Tiefe. Ihn zu bewaff nen war der Kommandantin zu riskant. Ein Messer allerdings hat sie ihm zugestanden. Warrant Officer Lewis verabreichte ihm eine hohe Dosis des Testosteronhemmers, und der Professor hat ihm ein Mikrofon in die Haut unterhalb seines Kehlkopfes gesetzt. Über einen Kleinstkopfhörer in seinem Ohr empfängt Garrett die Anweisungen der Komman dantin. Hier in EX One sitzen wir vor dem Empfänger und hören seinen Atem und jeden seiner Schritte … »… Rundhölzer und altes Metallgestänge. Sieht aus wie Baumaterial, das sie aus Ruinen geborgen haben. Ein Geländer, mit Rohrschellen im Eis befestigt.« Garrett kam schnell voran. Der Lichtkegel seiner Kopflampe spiegelte sich in den Eiswänden. Biegung um Biegung führte der Gang in die Tiefe. »Es wird wärmer, ich trete schon in Pfützen; Schmelzwasser …« Er beschrieb, was er sah. Hundert oder mehr Meter über ihm hockten sie am Empfänger, um sich ein Bild von dieser Knacke hier unten zu machen, Captain Crow und dieser Hund aus der Vergangenheit. In Gedanken hatte Garrett dem Professor schon hundert Mal den Hals umgedreht. Er gelangte an eine Treppe. »Holzstufen, ein dickes Nylonseil als Geländer. Die Wände im Gang bestehen nicht mehr aus Eis, grobe Steinquader. Ich geh über Kies, schon wieder eine Treppe …« Anderthalb Stunden war er schon unterwegs. Garrett gab sich keinen Illusionen hin: Er musste da durch. Aber vielleicht gab es dort unten Waffen, oder Verbündete. Aufgeben kam nicht in Frage; nicht für einen wie ihn. Er wirbelte herum und griff nach dem leeren Drillerholster, als Gestein hinter ihm knirschte. »Ein Durchgang öffnet sich im Gestein. Jemand scheint mich zu erwarten.« »Geh durch, Lieutenant!« Die Stimme der Kommandantin schnarrte aus seinem Ohr stöpsel, kühl und sachlich wie meistens. Garrett gehorchte. Was blieb ihm übrig? »Eine Wendeltreppe … ich steig runter. Komisches Licht hier, irgendwie unwirklich. Scheint die Ruine einer Kathedrale zu sein. Ich höre Stimmen …« »Weiter, Jazz, immer weiter. Wir hören dich gut.« Minuten später betrat er ein Kirchenschiff. Gesang und Licht erfüllte es. Das Portal stand offen. Davor sang ein Chor. »Hier sind Menschen! Halb nackt und nur mit weißen Tüchern bekleidet. Sie singen und spielen Flöte … auch Trommeln kann ich hören. Unheimlich, das Ganze.« Er steuerte den Ausgang der Kathedrale an. »Ziemlich heiß hier unten.« Er trat aus der Kirchenruine und ging langsam zu dem Chor. »Sehen aus wie Puppen, völlig ausdrucklo se Visagen … und dann dieses Licht!« Garrett beschrieb den Nebel über dem See, das grüne Leuchten, das er reflektierte, und den Lichtkranz am Zenit der Eiskuppel. »… Kollektoren, wenn ihr mich fragt, riesige Kollektoren! Sie fangen den Lichtstrahl ein, transformieren ihn und strahlen ihn als Licht und Wärme in die se Kuppelwelt ab. Der See scheint am meisten abzubekommen …« Der Gesang verstummte. Eine Frau stand etwas exponiert in der Mitte der ersten Reihe und einen halben Schritt vor ihr. Eine junge Frau, sehr jung; das Tuch enthüllte mehr ihre Reize, als dass es sie verbarg. Sie lächelte Garrett an und schien auf irgendetwas zu wa r ten. »Haben eine Haut, als würden sie den ganzen Tag in der Sonne braten. Trotzdem wirken sie irgendwie krank auf mich.« 54
»Waffen?«, erkundigte sich Lynne. »Musikinstrumente.« Die Menschenmenge vor der Kirche wartete, ohne Zweifel. Irgendetwas sollte er jetzt tun - Singen? Sich vorstellen? »Keine Ahnung, was die von mir wollen.« »Sprich sie an, Jazz, los, sag irgendwas.« Garrett hob die Rechte. »Hi. Lieutenant Jazz Garrett. Freut mich, euch kennen zu lernen …« Neben Lynne Crow hockte Jed im Kommandostand von EX One. Sie lauschten Garretts Stimme. Im Navigatorensessel saß Majela mit einem Stift vor einem Stapel Papier. Sie versuchte Garretts knappe Beschreibungen in Skizzen umzusetzen. Von Smythe sah man nur die Stiefel und ein Stück seines Mantelsaums. Er blickte zur Turmluke hinaus und beobachtete den Lichtstrahl. Manchmal hörte Jed das Geräusch reißenden Verpackungsmaterials, und manchmal schmatzte der Professor laut. Seine rech te Stiefels pitze wippte nervös auf und ab. Ein sicheres Zeichen, dass er konzentriert nach dachte. »… endlich kommen sie zu mir. Ein alter Kerl und ein halbes Dutzend junge Burschen.« Wieder Garretts Stimme aus dem Empfänger. »Sie scheinen irgendwie enttäuscht zu sein. MUSS wohl was falsch gemacht haben … Puh, ist das heiß hier …« »Wie viele Personen zählst du?«, fragte Lynne. »Dreißig oder vierzig. Weiß aber nicht, wie viele sich in den Baracken da hinten aufhal ten. Ich fass es nicht! Eine subtropische Enklave unter dem arktischen Eis! Und dieser See! Dampft wie eine Sauna … und wie grün er leuchtet …« Smythe stieg die Treppe hinunter. Er fasste die Lehne des Kommandantensessels und beugte sich über Lynnes Schulter. »Ich soll jetzt mit ihnen gehen …«, hörte er Garrett sagen. »Tu es, Jazz.« Lynne tauschte einen triumphierenden Blick mit dem Professor aus. »Sie sind ja nicht bewaffnet. Wir bleiben auf Empfang.« »Am See steht das Gras kniehoch. Hab noch nie solches Gras gesehen. Und dieser Kollektorenkranz! Geniale Idee! Warum sind wir nie auf so was gekommen? Ob sie Akkus da oben eingebaut haben? Irgendwie müssen sie die Energie doch speichern. Für die Nacht, mein ich … Jetzt betreten wir eine dieser Baracken …« Smythe richtete sich auf. Er schlug sich mit der Faust in die flache Hand. »Die Leute dort unten müssen eine Technologie entwickelt haben, die das Streulicht des Himmels bündelt. So gewinnen sie die Energie für ihre Arche Noah.« »Für ihre was!«, fragte Majela. »Nichts von Bedeutung.« Smythe winkte ab. »Wenn der Stra hl lebensnotwenig für sie ist und wir ihn abstellen, sind sie erledigt«, schlussfolgerte Lynne. »Aber wie?« »Also, wenn sie mich … ich meine, hm … ich wüsste da was, glaub ich …« Alle Augen richteten sich auf Jed. Der räusperte sich. »Wir … nun ja, es ist ganz einfach im Grunde. Wir müssen nur … nun, wir rollen ein fach einen Panzer über den Lichtschacht …« Der Jäger aus Montana … ein Mädchen streckte ihm den Arm entgegen. Er ergriff ihre Hand und ließ sich aus 55
dem Wasser ziehen. Erschöpft streckte er sich auf der Hand der Großen Mutter aus. Das Mädchen hieß Evesix, er wusste es einfach. Die Haut seiner Hüften brannte, seine Nieren stachen, sein Kopf schmerzte und über seine Stirn rann eine warme Flüssigkeit. Es war ihm gleichgültig. Das Mädchen lächelte, er lächelte zurück. Sie hatte kleine spitze Brüste, ihre Schenkel waren braun und feucht, und zwischen ihnen kräuselte sich weißblondes, drahtiges Haar. Er betrachtete das nackte Mädchen, wie er früher die zufällige Form einer Regenwolke betrachtet hatte. Ohne jede Regung. Wasser plätscherte, der Nebel lichtete sich, die Hand der Großen Mutter schwamm dem Seeufer entgegen. Evesix strich ihm über die Stirn. Blut klebte an ihrer Hand, als sie sie zurückzog. »Louyos?«, fragte das Mädchen. »Wie?« Die beiden Silben sagten ihm nichts. »Louyos? Ich verstehe nicht.« »Schon gut«, sagte das Mädchen. »Es ist nichts.« Nichts war, genau, überhaupt nichts. Selbstverständlich der grünleuchtende Dampf, der See, die Flossen, die auf beiden Seiten das Wasser teilten. Der Strahlenkranz am Zenit, die weißgewandten Sänger am Ufer, Flöten, Trommeln, Hörner und Festgesang - als wäre all das immer schon da gewesen. Die Hand der Großen Mutter glitt in die Schlingpflanzen im Morast des Seeufers. Ev e six sprang ins Gras und half ihm an Land. Er wankte und spürte seine Beine kaum, aber es kümmerte ihn nicht. Aus der Schar der Sänger und Musikanten löste sich ein greiser Mann. Er wusste ein fach, dass es One war. Der Greis schritt durch das hohe Gras auf ihn zu. Er trug ein wei ßes, gefaltetes Tuch über dem rechten Arm. Vor ihm blieb er stehen. »Willkommen, Nintynine«, sagte One. »Willkommen in den Armen Ora’sol’guudos, der Großen Mutter.« Und er entfaltete das Tuch, legte es über seine Schultern und wickelte es um seinen nack ten Körper. Nintynine nickte. Ora’sol’guudo - nichts war ihm vertrauter als dieser Name. »Danke«, hörte er sich krächzen. »Danke für alles.« One nahm Evesix an der Hand. »Wir müssen gehen. Es ist wieder ein Geschenk für die Große Mutter eingetroffen. Es hat schwarze Haut.« Er führte das Mädchen durch die Menge der Sänger und Musikanten zu den Häusern. Der Chor löste sich auf. »Twentysix und Fiftyseven werden dir deine Aufgabe erklä ren«, sagte eine Frau, die Eveone hieß. »O ja.« Zufriedenheit breitete sich in Nintynines Hirn aus und strömte schwer und träge durch seine Glieder. Früher, als er noch wusste, wer Louyos war, hätte er diese Zufrieden heit »Langeweile« genannt. »O ja, ich möchte meine Aufgabe kennen lernen.« Twentysix und Fiftyseven standen auf einma l links und rechts von ihm. Es wunderte ihn nicht. Twentysix deutete auf die Häuser, und sie schritten durch Gras und Morast. Einer seiner Brüder lag unter einer Birke. Er hob seinen riesigen Kopf; die Hautlappen fielen über die Ohren. Er zuckte mit dem mächtigen Schwanz und hob die linke Flosse, wie zum Gruß. Nintynine nickte ihm zu und lächelte. Bald ließen sie Seeufer, Sumpf und Gras hinter sich und erreichten den mit rotem Geröll ausgelegten Weg. »Wie geht es dir, Nintynine?«, fragte Twentysix. »Es geht mir gut«, sagte Nintynine. »Ich bin sehr zufrieden, wirklich.« Das Licht des 56
Strahlenkranzes blitzte in einer Tür auf. Nintynine sah One und Evesix das Haus der Ge burt betreten. »Was ist meine Aufgabe?« »Die Große Mutter hat dich zum Boten bestimmt.« »Zum Boten?« »Du wirst zum See der Neunundvierzig Symbiotischen Einheiten gehen. Viele Söhne und Töchter der Großen Mutter erschaffen und walten dort. Die Große Mutter will ihnen eine Botschaft überbringen.« »Das ist eine gute Aufgabe«, sagte Nintynine. »Eine wirklich gute Aufgabe …« Smythe nahm sich zehn Minuten Zeit für seine Entscheidung. Sechzig Meter vor der Lichtlanze stand er im Schnee und dachte nach. Tief unter ihm gab es Dinge im Eis, die er besitzen wollte. Wer es verstand, das Sonnenlicht derart zu bündeln und zur Erschaffung einer tropischen Oase mitten in der Arktis zu nutzen, der verfügte auch über andere tech nische Spielereien, die einem zukünftigen Herrscher nützlich sein konnten. Die Menschen da unten gaben sich friedlich. Aber waren sie es wirklich? Smythe wollte nichts zerstören. Jedenfalls nichts, das er noch brauchen konnte. Ande rerseits: Ein CF-Kristall lag dort und trieb sein Unwesen; daran zweifelte der Professor keinen Augenblick. Diese rätselhaften Artefakte des Kometen hielt er für unkalkulierbar in ihren Absichten. Er ordnete sie als lebensgefährlich ein, solange ihn keine Fakten vom Gegenteil überzeugten. Und schließlich: Nachts erlosch der Strahl und trotzdem konnte die Kolonie unter dem Eis existieren. Allzu viel zerstören würde er also nicht … Er drehte sich um. Auf den Panzern wartete Lynne Crow mit ihren Unteroffizieren und mit Stuart und den Barbarensöldnern. »Einverstanden!«, rief Smythe. »Lasst es uns tun!« Sergeant Laramy kletterte in die Luke von EX Three, alle anderen sprangen von dem Panzer herunter. Der Motor brüllte auf, das Gefährt setzte sich in Bewegung, seine Ketten rasselten. Smythe persönlich lotste den Panzer in den Lichtstrahl. Das stählerne Ungetüm schob sich über den Schacht, und der Professor ruderte mit beiden Armen. »Halt!« EX Three blieb stehen. Der Lichtstrahl erlosch. Der Alte hockte mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl und schaukelte hin und her, als wollte er sich einen schwierigen Sachverhalt einprägen. »Ach du Schande«, sagte Garrett. »Jetzt wollt ihr mir auch noch Blut abnehmen?« Alles, was sie taten, kommentier te er mit Fragen, damit die Crew oben im Panzer mitbekam, was sich hier abspielte. Die fettleibige Frau beugte sich über seine gestaute Armvene und stach die Nadel hin ein. Seit er das Haus betreten hatte, wich sie nicht mehr von seiner Seite. Das Mädchen neben dem Alten auf der anderen Seite des Tisches lächelte ihn an, als gälte es einen Preis dafür zu gewinnen. Die drei oder vier Burschen am Tisch starrten in eine Schüssel, in der ein paar Hautfe t zen von Garrett lagen und ein Büschel seines Brusthaares. Das Mädchen hatte sie ihm ausgerissen, und fast hätte er ihr dafür eine Ohrfeige verpasst. Jetzt legte die Matrone auch die Kanüle mit seinem Blut in’ die Schüssel. Gastgeschen ke für jemanden, den sie »Große Mutter« nannten, so hatte ihm der Alte erklärt. Minutenlang geschah nichts. Garrett hockte auf wie Kohlen. »Und jetzt?« Niemand ant 57
antwortete, niemand rührte sich. Außer dem Alten, der schaukelte und meditierte. Garrett versuchte zu grinsen. Diese beklemmende Atmosphäre machte ihn schrecklich nervös. »Also, wie gesagt, ich bin Lieutenant Garrett vom Weltrat in Waashton, nicht wahr?« Er ärgerte sich, weil er plötzlich fast wie Stuart redete. »Und ihr, was ist mit euch? Kommt schon, lasst uns ein wenig plaudern …« Der Alte öffnete die Augen, hörte auf zu schaukeln und starrte ihn an. »Du bist, verwo r fen.« »Was?« »Die Große Mutter hat dich nicht angenommen.« »Oh! Schade irgendwie. Und wieso nicht?« »Du magst Evefive nicht, du bist kein Mann. Außerdem hast du keine Zähne.« »Du Arschloch«, knurrte Garrett. »Du bist verworfen.« Garrett atmete drei Mal tief durch, um seiner Wut Herr zu werden. »Na gut. Dann geh ich jetzt wieder.« Etwas Klügeres fiel ihm nicht ein. Er stand auf und schritt zur Tür. Draußen vor dem Haus standen mindestens zweihundert Männer und Frauen in weißen Tüchern. Sie bildeten einen Halbkreis und versperrten ihm den Weg zurück zur Kirchen ruine. Garrett trat aus der Baracke. »Hört zu, ihr lächerlichen Figuren. Lieutenant Jazz Garrett geht jetzt zurück zu seiner Einheit, ist das klar?« In diesem Moment erlosch das gleißende Licht unter dem Kuppelzenit. Geschrei klang auf Garrett duckte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Dämmer erfüllte die untereisische Oase, als würde in Kürze die Nacht anbrechen. Aber dank des pulsierenden grünen Lichts aus dem See konnte Garrett die Menschen noch erkennen, sogar ihre Gesichter und Münder. Er blickte nach oben. Kein Lichtstrahl drang mehr aus dem Schacht. Die Kollektoren aber glühten noch. Ein Stein traf ihn an der Brust. »Verflucht …!« Ein zweiter am Oberschenkel. Links und rechts von ihm prasselten Steine herab. Er rannte los. Die Weiß verhüllten schrien und jagten ihm nach. Steine prasselten auf seinen Rücken, einer traf seinen kahlen Schädel. Gras peitschte um seine Knie. Hundert oder hundertfünfzig Schritte weiter lag der See. Gespenstisch hingen die Nebelschleier über dem Wasser. Abrupt blieb Garrett stehen. Er drehte sich um, duckte sich vor dem Steinhagel. Auch seine Verfolger standen still, hörten aber nicht auf, Steine nach ihm zu schleudern. »Ihr verdammten …« Wieder sah er zum See. Er hatte verstanden: Sie wollten ihn ins Wasser treiben! Ihre Stirnlampen erhellten die Eiswände, Biegungen und ins Eis gehauene Stufen. Ser geant Brian Laramy, Pieroo und Ru’alay bildeten die Spitze. Laramy und der eureesche Hordenführer trugen Lasergewehre; Ru’alay hatte der Captain immerhin mit einem Driller ausgerüstet. Smythe lief hinter ihnen, Seite an Seite mit Warrant Officer Lewis. Die Ärztin mit unter das Eis zu nehmen, erschien dem Professor ratsam. Wer wusste denn, was sein Komma n do da unten erwartete? Die Nachhut bildeten vier Barbarensöldner. Nur einer von ihnen trug einen Driller, die anderen drei waren mit Schwertern und Speeren bewaffnet. 58
»Garrett sitzt in der Scheiße«, schnarrte Lynnes Stimme aus dem Headset des Profe s sors. »So tief wie die, in der er gestern Morgen noch saß?« »Tief genug.« Lynne Crow ging nicht auf seine zynische Bemerkung ein. »Beeilt euch einfach ein bisschen.« »Aye, Sir.« Wollte sie ihr Gesicht wahren, oder warum lag ihr das Leben des Verurteilten plötzlich am Herzen? Gleichgültig. Was genau mit Garrett dort unten geschah, war dem Professor allerdings nicht gleichgültig. Er hoffte darauf, dass ihm der Lieutenant einen Großteil der Arbeit abnahm … »Helft mir, verdammt noch mal!« Am Seeufer entlang rannte Garrett durch das hohe Gras. »Schickt endlich ein Kommando und haut mich hier raus!« Manchmal bückte er sich nach einem Stein, der neben ihm im feuchten Boden aufschlug, und schleuderte ihn zurück in die Menge der Verfolger. Garrett schrie vor Wut. »Kommt her, ihr verdammten Feiglinge!« Die teils Nackten, teils Weißverhüllten blieben auf Distanz. Selten nur traf ihn ein Stein. Die Dampfschwaden aus dem See hüllten ihn ein; das Wasser war nur etwa vierzig Schrit te entfernt. Plötzlich versank er bis zum Knie im Morast. »Shit …!« Et was richtete sich vor ihm auf - eine Echse? Doch der Lieutenant hatte schon zu viel gesehen in seinem knapp dreißig jährigen Leben, um in Opferstarre zu verfallen. Nachdem er die Schrecksekunde über wunden hatte, stürzte er sich auf das Wesen. »Mistvieh!« Seine Fäuste trafen die kleinen Augen, das spitze, schnabelartige Maul. Das Wesen wich aus, drehte sich um, und ehe Garrett nachsetzen konnte, traf ihn eine Flosse, die so groß war wie er selbst. Die Luft blieb ihm weg, und für kurze Zeit drohte sein Bewusstsein sich in roten Nebeln zu verlieren. Als er die Augen wieder aufriss, lag er im Morast. Das Biest packte ihn mit unglaublich starken Armen und schleppte ihn zum Seeufer. Eine Hälfte von Garretts Geist konzentrierte sich darauf, trotz des eisernen Klammer griffs um seine Brust Atem zu holen, die andere steuerte seine Rechte zum Stiefel hinun ter. Unter sich hörte den Morast schmatzen, über sich die knurrenden Atemgeräusche seines unheimlichen Gegners. Endlich ertastete seine Hand den Messergriff im Stiefe l schaft. Er zog es heraus und stieß zu. Etwas Dünnflüssiges, Lauwarmes strömte über seine Messerhand. Das Blut des Wesens - nicht halb so warm wie das eines Menschen fühlte es sich an. Der Griff um seine Brust lockerte sich. Im Fallen riss Garrett der Kreatur das Messer aus der Brust. Es stand seku n denlang im Gras und beäugte ihn vorwurfsvoll. Dann stürzte es mit dem Schnabelschädel voran in den Morast. Garrett hustete und keuchte. Schwer atmend stand er auf. Siebzig Schritte entfernt er kannte er die Silhouetten der Eismenschen am Grasrand zwischen den Birken. Sie beo bachteten ihn. Er sah zum See. Auch von dort, aus dem grünen Dampf heraus belauerte ihn ein Augenpaar. Er sah einen leicht gewölbten Panzer, dunkelbraun und gut drei Meter im Durchmesser, er sah Fühler, so lang wie die Birken hinter ihm, und er sah zwei kopf große Augen unter dem Panzer und zwischen vielgliedrigen Beinen, die in flachen klobi gen Scheren endeten. Die Augen funkelten grünlich und gelblich. Und ihr Licht spiegelte 59
sich im Wasser. »Leck mich …«, flüsterte Garrett. »Was bei allen Mutanten dieser beschissenen Welt ist das …?« Er schluckte und wankte seitwärts. Das Tier - oder was auch immer das Ding dort im See sein mochte - rührte sich nicht. Doch seine Augen folgten Garrett. »Verdammt, Lyn ne!«, rief er. »Da ist irgendein Vieh, groß wie ein Panzer! Ihr müsst mir helfen!« Er wollte weiter rennen, doch seine Beine versanken im Morast. »Ihr müsst mich hier rausholen! Ihr müsst! Ihr müsst …!« Schon wieder flogen Steine. »Laramy, Lewis und Smythe sind unterwegs«, kam es emotionslos aus seinem Ohrstöp sel. Garrett klemmte sich das Messer zwischen die Zähne und warf sich flach auf den Bauch. So ging es; so kam er voran. Nur weg von diesem See, nur weg von dieser Bestie! Er robbte durch Gras und Schlamm. Bis seine Hände in etwas Zähes, Schleimiges griffen. Wie altes Leder fühlte es sich an. Es gluckerte und schmatzte. Etwas erhob sich unter seinen Händen. Ein riesiger Schädel bohrte sich direkt vor ihm aus dem Sumpf … Ungehindert stürmten sie aus der halb im Eis verborgenen Kathedrale. Es herrschten Lichtverhältnisse wie zwanzig Meter unter dem Meeresspiegel. Tatsächlich - eine Zivilisation unter dem Eis, dachte Smythe fasziniert. Schade, dass sie sich feindselig zeigen; es tut mir fast Leid, sie vernichten zu müssen. Na, Hauptsache, ihre technischen Errungenschaften bleiben unbeschädigt … »Nimm dir vier Männer und sichere die Baracken da unten!«, rief er an Laramys Adre s se. Der Sergeant winkte die vier Barbarensöldner der Nachhut hinter sich her. Zu fünft liefen sie zu der Ansammlung von Gebäuden, die vier- oder fünfhundert Meter voraus im Halbdunkel zu erkennen waren. »Und wir gehen zum See.« Der Professor deutete auf die Menge der weiß gekleideten Menschen, die im hohen Gras des breiten Uferstreife ns standen. Ohne Hast rückten Smythe und seine Begleiter auf den See vor. Ohne Hast, obwohl Lynne Crow die Todes not des schwarzen Lieutenants über Funk schilderte. Es krächzte und rauschte in Smythes Kopfhörer, doch er verstand, dass Garrett aus dem letzten Loch pfiff. Sie bildeten eine Linie von etwa dreißig Metern Länge. Pieroo und der Professor mit ih ren Lasergewehren gingen außen. Zehn Schritte neben Pieroo sein Gefährte Ru’alay, und noch einmal zehn Schritte weiter Warrant Officer Helena Lewis. Beide hielten die ge schwungenen Kolben ihrer Driller mit beiden Händen. Smythe hob das Gewehr und gab einen Warnschuss ab. Ein Strahl zischte in die Kuppel hinauf. Flammen züngelten für kurze Zeit dort oben, etwas warf Blasen, bog sich und stürzte herunter. Ein Kunststofffetzen, oder synthetisches Glas. Das Trümmerteil schlug zischend im See auf. Eisbrocken und Wasserfontänen folgten ihm. Wie ein Mann fuhren die Menschen herum. Ein Aufschrei ging durch die Menge, und dann wogte sie Smythe und seinen Kampfgefährten entgegen. »Feuer!«, befahl der Pro fessor. Helenas und Ru’alays Driller spuckten ihre tödlichen Explosivgeschosse aus, die Laser gewehre eine Feuerkaskade nach der anderen. Reihenweise gingen die Weißgekleideten zu Boden. Wer nicht getro ffen wurde, rannte weiter, manche mit brennenden Tüchern um 60
den Leib. »Weiter!«, brüllte Smythe. »Weiter!« Ein Steinhagel prasselte ein paar Schritte vor ih nen auf den Boden. Pieroo wurde getroffen und verzog sein Gewehr. Ein Laserstrahl fuhr ins Kuppelzenit. Der Kollektorenkranz stürzte herab, erlosch im Wasser und versank. Über ein Dutzend Tote und Verletzte lagen bereits im Gras. Trotzdem dauerte es noch weitere zwei Minuten und über zwanzig Opfer, bis die restlichen Oasenbewohner aufg a ben, zum See liefe n und sich ins Wasser stürzten … Ein menschliches Antlitz beäugte Garrett, mürrisch und von schmutzigem Grün wie der Schlamm, der es bedeckte. Gestrüpp und Dreck klebten an den Hautlappen auf seinem Schädel. Die kurze Rüsselnase warf Falten, als das Monstrum grunzte. Garrett riss sich sein Messer aus dem Mund - und mit ihm seine zweiten Zähne. Er merkte es nicht einmal. »Hau ab! Weg von mir!«, brüllte er in Panik. Nur nützte es nichts. Das Sumpfmonstrum holte kurz aus und fegte ihm das Messer aus der Faust. Dann packte es Garrett und schleppte ihn zum See. Der Lieutenant strampelte und schlug um sich - vergebens. Ungerührt stapfte das Wesen ins Uferwasser. Sein schuppiger Schwanz peitschte ein paar Mal in den Schlamm, dann warf es sich samt seiner Beute in s warme Wasser. Pfeilschnell tauchte es etwa hundert Meter weit auf den See hinaus, wo es wieder an die Oberfläche kam. Und Garrett unver mittelt losließ. Dann tauchte es weg, und nur noch ein paar Luftblasen zeugten von seiner Nähe. Garrett spuckte Wasser. Überzeugt davon, dass dieses Ungeheuer noch nicht fertig mit ihm war und die trügerische Sicherheit gleich wieder zerstören würde, ruderte er keu chend mit den Armen und drehte sich ein paar Mal um sich selbst. Doch der schuppige Sumpfmensch kehrte nicht zurück. Gerettet? Garrett wagte sein Glück noch nicht zu fassen, als er Richtung Ufer kraulte. Und er tat Recht daran. Auf halber Strecke versperrte etwas seinen Weg, als nur vier, fünf Meter vor ihm ein gewölbter Panzer aus den Fluten auftauchte und schein werfergroße Augen grüngelbes Licht versprühten … Niemand stellte sich dem WCA-Trupp mehr in den Weg. Ungehindert erreichten sie das Ufer. »Da!« Helena Lewis deutete ins Wasser. Drei-, vierhundert Meter entfernt zappelte Lieutenant Jazz Garrett in den Scheren eines Tieres, das den Professor entfernt an einen Hummer erinnerte. Warrant Officer Lewis, obwohl sie schon bis über die Stiefelschäfte im Schlamm versank, arbeitete sich weiter an das Ufer heran. Sie hob ihren Driller und zielte. Smythe folgte ihr, und er war flinker als die etwas behäbige, zur Fettsucht neigende Ärz tin »Nicht schießen!«, rief er und drückte ihren Arm mit dem Driller herunter. »Sie könn ten Garrett treffen!« »Aber Sir! Das ist die einzige Chance für ihn …!« Er hat seine Chance gehabt, dachte Smythe. In zwei Teilen fiel Garretts Körper ins Was ser. Helena wandte sich ab und erbrach sich. 61
Jacob Smythe stampfte durch den Morast, um eine gute Schussposition zu finden. Doch schon schwappten die Fluten über den Panzer des Hummers; er versank. Ein Schrei ließ den Professor herumfahren. Ein graugrünes Monstrum war aus dem See aufgetaucht wie ein Kastenteufel und packte die schwarze Ärztin. Helena zappelte in Händen, die aussahen wie die Schwimmfüße eines Riesenfrosches. Doch bis auf sie, den Schwanz und die Hautfarbe wirkte das Wesen menschlich. Es war unmöglich, mit Lasergewehr oder Driller auf die Kreatur zu schießen, ohne auch dem Warrant Officer den Rest zu geben. Ru’alay war es, der den Schock zuerst überwand: Er zog sein Schwert und ging mit To desverachtung auf das schlammige Monstrum los. Das wirbelte die Ärztin durch die Luft und ließ los. Sieben, acht Meter weit flog sie durch Dampfschwaden, bevor sie im Wasser aufschlug. Dann war Ru’alay heran und rammte dem Mutanten das Schwert in den Ba uch. Es schien die Wunde gar nicht zu spüren, holte mit der Flossenhand weit aus und fegte den Barbaren mit einem Schlag zur Seite. Damit hatte Pieroo freies Schussfeld. Er hob den Driller und drückte ab - und der Brust kasten des Wesens explodierte. Diese Verletzung konnte es nicht mehr ignorieren! Rück lings fiel es in den Schlamm und erhob sich nicht mehr. Smythe stampfte ins flache Uferwasser. »Helena!« Die Frau zappelte im See, als würde etwas sie festhalten. Hinter ihr tauchte der Panzer der Hummerbestie auf. Smythe legte das Gewehr an, doch schon schloss sich das Wasser wieder über dem Tier - und über Helena. Fassungslos standen sie im seichten Wasser. Zumindest Pieroo und Ru’alay waren fa s sungslos. Der Professor beobachtete die Ringe und die platzenden Luftblasen auf der Wasseroberfläche eher mit dem distanzierten Interesse des neugierigen Wissenschaftlers. Grünes Licht pulsierte auf dem Seegrund. Mindestens zwei Minuten standen sie so - dann tauchte Helena unvermittelt wieder auf. Sie schnappte nach Luft und ruderte mit den Armen. Pieroo sprang zwei Schritte weit in den See hinein, doch dann zögerte er. Kalten Blickes suchte Smythe die Wasseroberfläche ab. Eine Welle, zwei Hand hoch vielleicht, schwappte Richtung Seemitte. Darunter musste es sein! Er richtete sein Gewehr auf die Fläche hinter der verräterischen Welle und drückte ab. Der Laserstrahl zischte in den See. Wasser kochte, Dampf verdichtete sich über der Stelle, an der Smythe eben noch die Welle gesehen hatte. Jetzt sah er gar nichts mehr. Aus eigener Kraft schwamm Warrant Officer Lewis bis nahe an das Ufer heran. Als sie noch fünfzig Meter entfernt war, raffte Pieroo all seinen Mut zusammen, sprang in den See und kraulte ihr entgegen. Smythe aber beobachtete den Nebel über der Stelle, in die sein Laserstrahl gefahren war. Ganz allmählich nur verlor er sich. Viele kleine Teile trieben auf der Wasseroberflache. Der Professor setzte sein Nachtglas an die Augen: Trümmerteile - Scherenbacken, Kunststoffstangen, Panzerfetzen, ein glühender Schein werfer, Kabelstränge … Kalt wurde es in der arktischen Oase; bitter kalt und dunkel. Obwohl die Kommandantin 62
EX Ihres vom Lichtschacht rollen ließ, baute sich der Strahl nicht wieder auf. Smythe forderte einen Scheinwerfer an, und Lynne Crow ließ ihn durch zwei Barbare n söldner unter das Eis bringen. In seinem Licht und dem Schein ihrer Stirnlampen durc h forsteten Smythe und sein Kommando die untereisische Welt. Fast dreißig Stunden lang. Dr. Helena Lewis wurde derweil in einem der Panzer versorgt. Mit der Frau war nichts mehr anzufangen. Sie stand unter Schock. In dem einzigen Gebäude, dessen Fenster und Türen durch Metallplatten verschlossen waren, machten Smythe und sein Kommando einen grausigen Fund. Auf einer Art gynäkologischem Stuhl hing ein totes Mädchen. Sein Mörder lag neben dem Stuhl; vermutlich hatte er sich selbst vergiftet. Ein Raum dieses Gebäudes enthielt weiter nichts als Hunderte von Zellkulturen in Brutkästen. In einem anderen fanden sie rechteckige Glasgefäße, die auf Rollen standen. In ihnen lagen neugeborene Kreaturen, graugrün oder schwarz zumeist. Viele schuppenhäutig und mit Reptilienschwänzen. Ein i ge hatten menschliche Gesichter und Schädel, andere einen Panzer wie Schildkröten oder Hummer. Wieder andere sahen fischähnlich aus, hatten Rückenkämme, Flossen oder schnabelfö rmige Köpfe wie Delphine. Viele waren tot, manche atmeten oder zuckten noch. Smythe hätte gern ein paar Exemplare mitgenommen und konserviert. Aber was sollte er auf der beschwerlichen Reise und bei dem beengten Platz in den Panzern mit solchen Studienobjekten anfangen? Er funkte die Kommandantin an ließ Majela Ncombe in die sterbende Kolonie kommen. Sie fertigte Skizzen der seltsamen Züchtungen an. In einem Gebäude, das Smythe an eine Jugendstilvilla erinnerte, stießen sie auf ein Ar chiv voller Bücher und Datenspeicher. Der Professor nahm sich fast zehn Stunden Zeit, um diejenigen auszusortieren, die ihm am wesentlichsten erschienen. Er ließ sie nach oben in die Panzer schaffen. Sie trafen auf keinen einzigen überlebenden Einwohner mehr. Viele lagen erschossen und verbrannt im Gras am Seeufer, einige waren vermutlich ertrunken, und manche moch ten sich in Winkel verkrochen haben, die Smythes Truppe nicht entdecken konnte. Egal. Noch wenige Stunden, dann würden sie erfrieren. Pieroo und Ru’alay stießen auf einen Toten, der sich von den anderen unterschied. Sein Haut war blass, und lange Locken und ein struppiger Bart rahmten sein Gesicht ein. Er lag nackt im Sumpfgras und starrte aus gebrochenen Augen in die dunkle Kuppel hinauf. Nach dreißig Stunden hatte sich der Nebel über dem See längst verflüchtigt. Das grüne Leuchten an seinem Grund pulsierte nicht mehr und war deutlich schwächer geworden. Eine Eisschicht bildete sich auf der Wasseroberfläche. Smythe schien es, als hätte sich der Eisgang schon sichtbar verengt, als sie wieder hin auf an die Eisoberfläche stieß. 18. Juni 2518 Dreißig Minusgrade zeigen die Außenthermometer an. Der Nordpol liegt schon zwe i hundertvierzig Meilen hinter uns. Und vor uns noch etwa achttausendachthundert Meilen bis zum Kratersee! Ich sehne mich nach meiner sicheren Wohnzelle im Pentagonbunker. Aber es gibt keinen Weg zurück mehr. Professor Smythe hat begonnen, das Material zu sichten, das er aus der Oase unter dem Eis geborgen hat. Erst einen Bruchteil, aber in groben Zügen können wir die Geschichte 63
der seltsamen Kolonie inzwischen nachzeichnen: Als »Christopher-Floyd« im Jahre 2012 in die Atmosphäre eindrang, losten sich Myria den von Bruchstücken und gingen in verschiedenen Regionen der Welt nieder. Smythe kennt das Phänomen aus Europa. In diesen Brocken waren grün leuchtende Kristalle ent halten, und die meisten wurden freigesetzt, als die Reibungshitze den Felsmantel ver dampfte. Einer der Kristalle muss in Edmonton abgestürzt sein. Er wurde gefunden und in das örtliche medizintechnische Universitätslabor gebracht. Irgendwie hat er im Laufe der ersten postapokalyptischen Jahrzehnte mentalen Einfluss über die dortigen Wissenschaftler gewonnen. Vermutlich haben sie unter der geistigen Diktatur des Kristalls einen künstlichen Lebensraum geschaffen: die Lichtkollektoren, den See, die biogenetischen Geräte und seinen furchterregenden Avatar, den Robothummer. Sogar unter der wachsenden Eisschicht konnte die Kolonie der versklavten Wissenschaftler und ihrer Nachkommen überleben. Sie - und der, für den sie lebten und arbeiteten. Warum das alles? Nun, Smythe glaubt spätestens am Ziel unserer Reise die Antwort d a raufzufinden. So weit seine Meinung. Ich selbst finde diese ganze These … nun ja, äußerst gewagt, um es vorsichtig zu formulieren. Aber warum nicht im Klartext? Es ist nach meiner Mei nung die Spekulation eines Wahnsinnigen. Wenn ich glaubte, was der Professor uns da erzählt, wurde ich versuchen, zu Fuß nach Washington zurückzukehren. Denn am Krater see, also dort, wo »Christopher-Floyd« einschlug, soll es angeblich Tausende solcher Kristalle geben … Warrant Officer Helena Lewis übrigens macht uns allen große Sorgen. Wahre nd ich hier schreibe, liegt sie in ihrer Koje und versucht ein medizinisches Grundlagenwerk zu lesen. Sie scheint die einfachsten Dinge ihrer Ausbildung vergessen zu haben. Vermutlich steht sie noch unter Schock. Es muss furchtbar für sie gewesen sein, von dem Roboter in die Tiefe gerissen zu werden. Manchmal erinnert mich ihr ausdrucksloses Gesicht an das einer Puppe … ENDE
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Das Rätsel der Insel
von Michael J. Parrish
Eine grüne Insel mit blühenden Bäumen, mitten in der Eiswüste des zugefrorenen Pazi fik? Und darauf eine gewaltige, prachtvolle Festung, menschenleer, aber in einem Zu stand, als wäre sie gestern erst fertig gestellt worden? Als die drei Gefährten auf ihrem Weg nach Norden die Insel entdecken, ahnen sie gleich, dass sich ein Rätsel darum ranken muss. Doch während Matthew und Aiko eine fortgeschrittene Technologie vermuten, die den ewigen Winter abhält, glaubt Aruula an schwarze Magie. Wer von ihnen Recht behält, wird völlig belanglos, nachdem sie in die Burg eingedrungen sind. Denn jetzt zählt nur noch der Kampf gegen den Wahnsinn …
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