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Buch Trotz aller Kriegswirren und Bandenkämpfe ist Freistatt auch ein Ort der Liebe – wenn man genügend Geld besitzt, die Damen zu bezahlen, die abends im romantischen Mondschein auf wohlhabende Herren warten. Doch plötzlich sind auch diese heiligen Gefilde der Nacht nicht mehr sicher. Ein verrückter Zauberer hat es auf die Damen der käuflichen Liebe abgesehen. Schnell muß ihm das Handwerk gelegt werden, denn wo sonst können die edlen Krieger des Tages ausspannen, wenn nicht im Park Zum Himmlischen Versprechen? Versprochen ist versprochen: Dieser – vorletzte – Diebesweltband bietet alles, was sich edle Schurken in dunklen Gassen wünschen: schöne Frauen, aufregende Abenteuer und tausend neue Gefahren.
Taschenbücher von ROBERT ASPRIN im BASTEI LÜBBE-Programm: Geschichten aus der Diebeswelt 20089 Die Diebe von Freistatt 20091 Der Blaue Stern 20093 Zum wilden Einhorn 20095 Die Rache der Wache 20098 Die Götter von Freistatt 20101 Verrat in Freistatt 20107 Der Krieg der Diebe 20113 Hexennacht 20122 Sturm über Freistatt 20140 Armeen der Nacht 20149 Die Farbe des Zaubers 20155 Die Säulen des Feuers 20167 Die Herrin der Flammen 20179 Der Bann der Magie 20192 Im Herzen des Lichts 20206 Die Macht der Könige 20084 Ein Dämon auf Abwegen 20085 Ein Dämon kommt selten allein 20086 Ein Dämon macht noch keinen Sommer 20109 Dämonen-Futter 20110 Ein Dämon mit beschränkter Haftung 20137 Ein Dämon für alle Fälle 20144 Ein Dämon dreht durch
Mit Illustrationen von Helmut W. Pesch und Johann Peterka
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 20219
© Copyright 1988/1989 by Robert Lynn Asprin und Lynn Abbey All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1993 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: Uneasy Alliances/Stealer's Sky Lektorat: Reinhard Rohn Titelillustration: David Mattingly Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Schell, Bad Iburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-219-8
Erste Auflage: November 1993
Inhalt Buch ........................................................................2 Inhalt........................................................................6 Anmerkung des Herausgebers ..................................7 Das Versprechen den Himmels ...............................10 Robin Wayne Bailey
Lalos Visionen..........................................................59 Diana L. Paxrton
Werden die Wolken aufbrechen?............................95 Robert Lynn Asprin
Nachtarbeit ............................................................ 100 Andrew Offutt
Das unfähige Publikum ......................................... 149 John DeCles
Ein guter Jahrgang................................................ 193 Duane McGowen
Personenregister................................................... 227
Anmerkung des Herausgebers Dem aufmerksamen Leser fallen möglicherweise kleine Unstimmigkeiten bei den Figuren dieser Stories auf. Ihre Sprechweise, ihre Darstellung bestimmter Ereignisse, und ihre Ansichten, wer in der Stadt mehr oder weniger zu sagen hat, variieren von Zeit zu Zeit. DAS SIND JEDOCH KEINE UNSTIMMIGKEITEN! Der Leser sollte diese scheinbaren Widersprüchlichkeiten noch einmal genauer betrachten und dabei dreierlei bedenken: Erstens: Jede Geschichte wird aus einer anderen Sicht erzählt, und jeder sieht und hört die Dinge eben ein bißchen anders. Selbst augenscheinliche Tatsachen werden durch Wahrnehmung und Standpunkt des einzelnen beeinflußt. So wird beispielsweise ein Spielmann ein Gespräch mit einem Magier anders wiedergeben als ein Dieb, der dasselbe Gespräch mit anhörte. Zweitens: Die Bürger von Freistatt sind zwangsläufig mehr als nur ein bißchen paranoid. Sie neigen dazu, im Gespräch manche Dinge entweder ganz zu übersehen oder abzuwandeln. Sie tun das eher automatisch als vorsätzlich, weil es für das Überleben in dieser Gesellschaft notwendig ist. Drittens: In Freistatt ist der Konkurrenzkampf groß. Man wird z. B. nicht angeheuert, wenn man von vornherein zugibt, ›der zweitbeste Schwertkämpfer der Stadt‹ zu sein. Man schneidet also nicht nur auf, was die eigene Person betrifft, sondern setzt auch seinen gefährlichsten Rivalen herab oder ignoriert ihn. Folglich variiert die Rangordnung in Freistatt je nachdem, wer erzählt – oder mehr noch, wem man glaubt.
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Das Versprechen den Himmels Robert Wayne Bailey Tiana setzte sich verführerisch in Pose und wandte der kleinen Büste der rankanischen Göttin Sabellia auf ihrem Steinpodest den Rücken zu. Der Vollmond schien durch eine Lücke in den Bäumen, erhellte die kleine Parknische mit seinem bleichen Licht, fiel auf die Rundungen ihrer vollen weißen Brüste, die das zu enge grüne Gewand schier sprengen wollten. Sie hoffte, daß das Licht hell genug war, einen Schimmer in ihre tiefgrünen Augen unter den langen, schwarz getuschten Wimpern und auf ihre schönen roten Zöpfe zu zaubern. Sie strich mit den Fingern durchs Haar und schob ihre Hüfte einladend ein wenig zur Seite. Wenn das nicht verführerisch war! Dann streckte sie sich und hob die Arme, bis ihr Mieder wirklich beinahe riß. Sie räkelte sich und spähte noch einmal verstohlen den weißen Kiesweg entlang, der sich durch die Anlage schlängelte. Der Mann stand immer noch da. Er mußte sie gesehen haben! Was war los mit ihm? Mochte er etwa Frauen nicht? Oder war er gar ein Stiefsohn, einer der wenigen, die es noch in der Stadt gab? So ein Pech könnte nur sie haben! Sie wich zurück in die Nische und kaute an einem Fingernagel. Vielleicht hätte sie sich heute nacht eine dunklere Stelle suchen sollen. Im Licht des Vollmonds konnte man sehen, wie verschossen ihr Kleid war, daß das sanfte Rosa ihrer Wangen nur Rouge war, wie hager sie geworden war, trotz der beachtlichen Größe ihres Busens. Sie verfluchte das Schicksal, das sie in diese elende Stadt verschlagen hatte, sie verfluchte den verlogenen Steinmetz, diesen Schürzenjäger, der sie mit seinen Versprechungen und süßen Worten hierhergelockt und dann auf die Straße gesetzt hatte, als eine Hübschere des Weges kam.
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Tiana hatte keine Erfahrung in diesem Gewerbe. Aber sie mußte essen, und Verzweiflung spornte sie an. Dieser Fremde da unten auf dem Weg war heute offenbar der einzige Mann im Park. Hoffentlich hatte er Geld! In der vergangenen Nacht hatte ihr ein Besoffener ein Bündel stinkender Felle für ihre Dienste angeboten. Was sollte sie mit ungegerbten Fellen? Tiana trat wieder auf den Weg hinaus. Die Kieselsteine waren glatt und kalt unter ihren bloßen Füßen, die Luft war frisch. Sie würde zusehen müssen, daß sie bald genug für Schuhe und einen Umhang verdiente. Und für Essen. Sie konnte es sich nicht leisten, sich diesen Mann entgehen zu lassen. Sie bemühte sich um eine gelangweilte Miene und rieb die rechte Brust, bis die Warze fest wurde. Dann blickte sie wieder den Pfad entlang. Verdammt, verdammt, verdammt! Er war verschwunden! Etwa in die Büsche mit einer anderen? Sie ließ die Schultern sinken, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie blickte auf ihre Zehen, schob ein paar der bleichen Steine herum. Hatte ihm ihr Aussehen mißfallen? Vielleicht hatte sie sich ein wenig zu hurenhaft präsentiert? Ihr Götter! Sie hatte solchen Hunger! Wie stellten die anderen Frauen im Park es an? Was war ihr Trick, den sie nicht kannte? Eine volle Woche an diesem trostlosen Ort und sie war noch immer keine Profi. Während sie sich an Sabellias Piedestal lehnte, zog Tiana ihren Magen zusammen, um so vielleicht die Leere weniger zu spüren. Langsam rutschte sie hinunter und setzte sich ins Gras, drückte den Rücken an den kannelierten Stein, zog die Knie an und schlang die Arme herum. Sie fürchtete die Nacht. Die stille Einsamkeit erschien ihr wie ein Raubtier. Die Dunkelheit hüllte sie ein, verschlang sie mit gierigem Rachen, kaute und würgte sie hinab, alles in unnatürlicher Stille. Sogar die Götter, deren Büsten und Statuen entlang der Wege standen, schwiegen in diesem traurigen Park.
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Sie blickte zu Sabellias Antlitz hinauf. Der Mond erschien ihr nur wie ein schwacher, hilfloser Funke in der tiefen Dunkelheit. Tiana fühlte sich klein und allein. Sie wollte nach Hause, aber auch dazu brauchte sie Geld. Sie dachte an ihren Steinmetz, der sie so weit von Ranke fortgelockt hatte. Er war anfangs nett zu ihr gewesen und hatte ihr den Himmel versprochen. Nun, den hatte er ihr gegeben – diesen Park hier, den die Einheimischen Himmlisches Versprechen nannten, und wo sie jetzt ihre Reize anbot. Sie lehnte den Kopf an das Piedestal und ließ endlich den Tränen, die sie so lange unterdrückt hatte, freien Lauf. Jede erschien ihr wie ein Kleinod, ein Splitter ihres Herzens. Eine fing sie auf der Fingerspitze und hielt sie hoch, um sie zu betrachten. Sie schimmerte wie ein winziger kristallener Mond, ein Stückchen ihrer Göttin. Durch ihre Furcht hindurch spürte sie den Schatten, der über sie fiel. Sie schluchzte kurz auf und wischte schnell die Tränen fort, ohne zu bedenken, daß Rouge und Wimperntusche verschmiert würden. Dann stand sie auf, so schnell ihr enges Gewand es erlaubte, und rang sich ein Lächeln ab. Es war derselbe Mann. Die gleiche Größe und Statur, die gleiche dunkle Kleidung. Mondschein fiel auf seine Züge. Er war jung, nur wenig älter als sie, sah auch nicht schlecht aus, trotz einer gewissen Härte und Schärfe in seinem Blick. Sie holte tief Atem und zeigte sich von ihrer besten Seite. Doch dann entspannte sie sich, und ihre Miene hellte sich auf. »Ich kenne Euch!« stellte sie fest. »Ihr seid mit der Arbeiterkarawane gekommen…« »Ich brauche Euch«, unterbrach er sie heiser. Sie blickte ihm in die Augen, sie waren wunderschön, so voll Wärme. »Selbstverständlich«, sagte sie und erinnerte sich, weshalb sie hier war, weshalb er hier war. Und doch war mehr Hoffnung in ihrer Stimme als Betörung. Sie dachte kurz an das Frühstück, das sie sich morgen würde leisten können. Vielleicht sogar ein Zimmer. Es war schrecklich, auf der Straße schlafen zu müssen, sie hatte ständig Angst. Sie mußte ihn nur
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zufriedenstellen, und das dürfte nicht so schwer sein. Er hatte so wunderschöne Augen! »Kommt mit!« forderte er sie sanft auf und streckte eine Hand aus. Sie nahm sie. Seine Berührung wärmte sie. Seine Hand fühlte sich so weich an. Das verwunderte sie. Wenn er einer der Arbeiter war, die zum Neubau der Mauer um Freistatt geschickt worden waren, sollten seine Hände rauh sein. Aber es freute sie, daß sie es nicht waren, und sie verdrängte diesen Gedanken. Da war etwas anderes, woran sie denken, das sie sagen sollte. Was war es nur? »Es kostet…« Sie zögerte verlegen. Sie hatte keine Ahnung, was die Mädchen üblicherweise verlangten. »Ich meine, nun, eine Krone.« O verdammt! dachte sie. Das ist viel zu viel für eine einfache Straßendirne. Eine ganze Goldmünze! Aber er hob die andere Hand dicht vor ihr Gesicht, und einen Moment konnte sie die verlangte Münze sehen, ehe er sie in seiner Faust verschwinden ließ. Tiana konnte ihr Glück nicht fassen. Gold und schöne Augen! So waren ihr die Götter in dieser Nacht doch hold! Er hatte wahrhaftig die unvorstellbarsten Augen, so voll Ozean, voll Dunkelheit, voll Versprechen. »Kommt mit«, sagte er wieder. Seine Stimme war der sanfte Wind; selbst als er nicht mehr sprach, hörte sie seine Worte noch. Er war die Stimme der Nacht. Sie blickte in seine Augen. Hand in Hand traten sie aus Sabellias Parknische auf den Weg hinaus. Aus Achtung vor der Stille des Parks knirschte nicht einmal der Kies unter ihren Füßen. Unbewußt lächelte Tiana. Immer noch schien der Mond auf die kleine Büste im Himmlischen Versprechen. Doch Dunkelheit hüllte das übrige Freistatt ein. Der Vollmond sandte seinen Schein exakt durch das Oberlicht auf Sabellias Altar und verlieh der anmutigen Skulptur der
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Göttin ein sanftes Schillern. Ihre makellosen Marmorzüge schimmerten, als der duftende Rauch von vielen Kohlenbecken aufwirbelte, die am Saum ihres Gewandes in den Boden eingelassen waren. Immer höher stieg er wie Hexenwetterdunst, liebkoste ihre sinnlichen Kurven und kräuselte sich der Silberscheibe am Himmel entgegen. Dayrne blickte auf und suchte Sabellias verschleierten Blick. Er wußte, daß sie bei ihm war, anwesend in dieser ersten Vollmondnacht des Herbstes, während der Silberschein ihren Altar beleuchtete. Er spürte ihre Macht, spürte, wie sie sein Herz berührte. »Cheyne«, murmelte er, als er niederkniete. »Meine Cheyne.« Er betete keine anderen Worte laut. Das brauchte er nicht. Sabellia kannte ihn gut. Die Göttin hatte seine Seele gezeichnet. Er griff in seine Tunika und brachte ein kleines Bündel weißen Satin zum Vorschein. Behutsam rollte er es auf. Mehrere Strähnen feinen blonden Haares glänzten im Mondschein. Ein Silberfaden hielt sie zusammen. Wie lange trug er sie schon heimlich bei sich, diese Haare, die er von ihrer Bürste genommen hatte? Drei Jahre? Vier? Er legte sein kleines Opfer auf Sabellias Altar. Es war kein wertvolles Geschenk, doch ihm war es unendlich teuer. Nur das zählte für die Göttin. Dayrne beugte den Kopf. Doch plötzlich blieben die Gebete aus. Wohin war sie verschwunden, seine Cheyne? Warum hatte sie nicht auf seine Rückkehr mit den Einhundert gewartet? Er schloß die Augen. Es war so leicht, sich ihr Bild mit geschlossenen Augen vorzustellen. In der Stille des rankanischen Tempels flüsterte er ihren Namen. Chenaya. Doch in seinem Herzen nannte er sie Cheyne. Es war einer der Namen, die die Gladiatoren ihr in den rankanischen Arenen gegeben hatten. Für hart wie Metall hatten sie sie gehalten. Doch das war sie nicht. Sie war zäh, ja, doch er hatte die
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Sanftheit kennengelernt, die sie tief in ihrem Herzen vergrub. Den Teil von sich, den sie vor der Welt und vor ihrem Vater verborgen hielt. Manchmal war sie ein Kind. Ein verzogenes Kind. Doch er liebte sie. Cheyne, dachte er. Meine Cheyne, an die ich über jegliche Vernunft gebunden bin. In einem Augenblick, der halb Mitleid, halb Freude war, schüttelte er den Kopf. Gib mich nie frei! Er blickte zu Sabellias Gesicht hinauf. Fast hatte es den Anschein, als verhöhne sie ihn, während sie durch den sich kräuselnden Rauch herunterblickte, und er wußte, daß die Göttin dieses eine Gebet bereits erhört hatte. Aber wohin war Chenaya verschwunden? Er dachte wieder an das eigenartige Porträt, das in ihrem Gemach hing. Seine Macht war erstaunlich. Er bewunderte es zwar als Kunstwerk, doch jedesmal, wenn er es betrachtete, prickelte sein Rücken, und er empfand vage Angst. Es war unverkennbar Lalos Werk. Aber wann hatte sie ihm dafür gesessen? Lowan Vigeles sagte, sie habe es eines Nachts mit nach Haus gebracht, sich bis zum Morgengrauen in ihr Gemach eingeschlossen und sei am Morgen verschwunden, ohne irgend etwas zu irgend jemandem gesagt zu haben. Nicht einmal ihr Vater wußte mehr. Dayrne vermutete jedoch, daß Rashan etwas wußte. Der alte Priester hatte es sich in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht, sich in Chenayas Gemach zu begeben und mit seinem merkwürdigen Lächeln Chenayas Porträt zu betrachten, Chenayas Gesicht und die leuchtende Sonne um sie durch zusammengekniffene Lider anzustarren – die Sonne, die sie zu liebkosen schien, ein Effekt, weit jenseits dessen, was Farbe und Pinselstrich vermochten. Ihr Haar flog auf dem Bild in Feuer und Licht, ihre Augen schienen wie kleine Sonnen. Chenaya war schöner als jede Frau, die er je gekannt hatte, doch nicht einmal sie war so herrlich, wie Lalo sie dargestellt hatte.
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So seltsam schon diese Dinge waren, es gab noch etwas, das ihn erschreckte. Von dem Gemälde ging eine spürbare Wärme aus. Konnte es wahr sein, was Rashan behauptete? Daß Cheyne wahrhaftig die Tochter der Sonne war? Oder war alles ein Trick? Er wandte seinen Blick wieder Sabellia zu, die für Herzensdinge zuständig war. Falls Cheyne eine Göttin war oder ein Avatar Vater Savankalas, welche Hoffnung konnte es dann auf Liebe zwischen ihnen geben? Er berührte die paar Strähnen, die er auf den Altar gelegt hatte. Sie gehörten jetzt der Göttin. Er neigte den Kopf, sprach ein letztes Gebet und stand langsam auf. Der Tempel der rankanischen Gottheiten war still und dunkel. Er schämte sich für seine Landsleute. Der Tempel war nie völlig fertiggestellt worden. Die äußeren Räumlichkeiten mit den Altären für Savankala, Sabellia und Vashanka waren fertig, doch der Bau vieler der inneren rituellen Kammern und der Unterkünfte der Priester war unterbrochen worden. In dieser Nacht müßte eigentlich ein Fest zu Ehren Sabellias abgehalten werden. Rashan hatte jedoch statt dessen seine Priester nach Landende befohlen und hielt die Zeremonien in dem kleineren Privattempel ab, der nicht nur fertiggestellt, sondern auch geweiht war. Das erschien Dayrne jedoch unpassend. Der kleine Tempel war Savankala geweiht. Diese Stunde sollte jedoch ausschließlich Sabellia gehören! Nun, er war nur ein Gladiator. Was verstand er schon von priesterlichen Angelegenheiten? Er schritt durch den Tempel, und seine Sandalen hallten leicht auf dem glatten Steinboden. Einsam und besorgt trat er hinaus und stieg die hohe Freitreppe hinunter auf die Straße. Die Straße sah verlassen aus, aber es wäre töricht, dem Schein zu trauen. Obwohl die Straßenbanden niedergeworfen waren, lauerte im nächtlichen Freistatt immer noch genug Gefahr. Es gab zu verdammt viele Gassen und Schatten in dieser Stadt. Freistatt! Er verzog das Gesicht, als er an diesen Namen
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dachte. Als wäre an diesem Ende des Reiches irgend jemand vor irgend etwas sicher. Er schwang seinen leichten Umhang über die Schultern und schritt lautlos die Straße entlang. Wie fast alle Freistätter Bürger verstand auch er es, sich so gut wie unsichtbar zu machen, zum Schatten zu werden, während er durch die Dunkelheit in der Oberstadt schlich. Cheyne hätte ihn ausgelacht, ihn gehänselt. Sie wäre kühn in Straßenmitte dahinmarschiert. Im Gegensatz zu seiner Herrin vermied Dayrne jedoch unnötige Auseinandersetzungen. Er biß sich auf die Lippe und verfluchte sie stumm, weil sie ihn nicht mitgenommen hatte. Wo, zum Teufel, bist du, Chenaya? fragte er sich verbittert. Dann, als er an Lalos Gemälde dachte: Wer, zum Teufel, bist du? Sorge und Verwirrung machten ihm arg zu schaffen. »Raste«, murmelte er und runzelte die Stirn. Er würde ein längeres Gespräch mit diesem eigenartigen Priester führen müssen. Daphne machte ihre Übungen mit der Trainingsmaschine, und nur der Mond und eine einzige Fackel leuchteten ihr dabei. Sie sprang und duckte sich, als vier wirbelnde, hölzerne Arme nach ihrem Kopf und ihren Knien schwangen. Schweiß glänzte auf ihrem Körper, rann in Bächen ihren Hals und zwischen den Brüsten hinab, ebenso über die Arme und die Faust, die das gewaltige Schwert hielt. Anfangs war ihr das Schwert zu schwer gewesen. Jetzt längst nicht mehr. Eine Zeitlang war ihr Kopf völlig frei, ohne Gedanken, ohne Sorgen. Das geschmeidige Spiel ihrer Muskeln, die Elastizität ihrer Sehnen, der Schlag ihres Pulses, die Erregung ihres Fleisches – das war das einzige, was für sie existierte. Sie atmete die kühle Nachtluft, spürte das Knirschen des Sandes unter ihren Sandalen, lauschte dem rhythmischen Zischen der wirbelnden Maschine. Nichts sonst war ihr wichtig. Aber als die Holzarme langsamer wurden, trat sie aus ihrer Reichweite und holte tief und verärgert Atem. Dann stützte sie sich auf ihr Schwert, schaute sich um und wurde sich der Stille
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und ihres Alleinseins bewußt. Einsamkeit hätte sie es nicht genannt. Ein paar Lampen brannten hinter den Fenstern des Landhauses. In der entgegengesetzten Richtung waren etwas mehr und entferntere Lichter zu sehen, wo die neue Kaserne an der Ostmauer von Landende gebaut worden war. Jenseits dieser Mauer glühte der Himmel rot von den zeremoniellen Feuern, die Rashan und seine Priester am Ufer des Fuchsfohlenflusses bei Chenayas Tempel gezündet hatten. Sie war allein wie üblich, eine Außenstehende. Aber es machte ihr nichts aus. Wichtig für sie waren Training und harte Arbeit. Wenn Dayrne wüßte, daß sie so spät noch hier war, wäre er verärgert, aber auch das machte ihr nichts aus. Er war nur ihr Ausbilder, weiter nichts. Das hatte er oft genug betont. Doch ihre Hand öffnete und schloß sich um den Schwertgriff, als sie an ihn dachte. Er war ihr egal, völlig egal. Plötzlich schwang sie ihre Waffe hoch und hackte ein großes Stück aus einem Arm der Maschine. Der Atem entfuhr ihr zischend, als sie zuschlug. Dann blieb sie einen Moment lang stehen und zitterte. Es war nicht Dayrne, sagte sie sich. Es hatte nichts mit ihm zu tun. Es war ihr verdammter Gemahl. Kadakithis hatte sie wieder in den Palast gerufen. Erneut hatte er sie um die Scheidung angefleht. Angefleht! Ein Prinz von Ranke! Es spielte keine Rolle, daß Scheidungen in der Kaiserlichen Familie verboten waren. Verdammt, es hatte nicht viel gefehlt, und er wäre auf den Knien gekrochen, um sie umzustimmen! Was hatte sie je in diesem Mann gesehen, daß sie sich mit der Heirat einverstanden erklärt hatte? Ganz sicher war es nicht sein dürrer Körper gewesen oder sein Gesicht mit dem spitzen Kinn, mit dem sich Segeltuch nähen ließ, und mit der Nase, mit der man bestimmt eine Rüstung durchbohren könnte. Zweifellos war es auch nicht die grauenvolle Poesie gewesen, die er einst geschrieben hatte, und auch nicht sein mittelmäßiges Harfenspiel.
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Und bei den Göttern, seine Treue war es auch nicht gewesen. Der Bastard hatte sich mit neuen Konkubinen eingedeckt, kaum daß ihr Hochzeitsbett abgekühlt war. Und als die Raggah sie entführt und in die Sklaverei verkauft hatten, war Kadakithis etwa zu ihrer Hilfe geeilt? Nein, er hatte sich statt dessen mit seinem geliebten Fisch vergnügt und es Chenaya überlassen, sie zu retten. Sie hackte zwei weitere Klötze aus der Trainingsmaschine und fluchte bei jedem Hieb. »Verdammt, Chenaya! (Krach!) Warum hast du mich nicht (Krach!) mitgenommen, verdammt?« Es machte nichts, daß Dayrne Chenaya liebte, wirklich nicht. Ihr fehlte das blonde kleine Luder. Trotz der vielen neuen Gesichter in Landende, all dieser Rekruten für Lowans neue Schule, fehlte Daphne jemand, mit dem sie reden könnte. Chenaya war dafür ideal gewesen, obwohl sie gewöhnlich nur Beleidigungen und dumme Bemerkungen ausgetauscht hatten. Aber es hatte eine Verbundenheit zwischen ihnen geschaffen. Chenaya verstand sie, und soweit überhaupt jemand es konnte, glaubte sie, Chenaya zu verstehen. Alle anderen hatten zu große Angst vor Lowans Tochter. Doch nicht Daphne. Zu oft hatten sie einander in die Augen geblickt und »Schlampe« oder Ähnliches gemurmelt. Unwillkürlich mußte sie lächeln. Diese Sache mit Zip war jedoch für Chenaya nicht so gut gelaufen. Daphne vermutete, daß Chenaya, während sie Freistatt von dieser dreckigen Straßenbande befreit hatte, die sich hochtrabend und lächerlicherweise als »Volksfront für die Befreiung Freistatts« bezeichnet hatte, zum Teil ihr Herz an diesen Halunken und Messerstecher verlor, der der Führer der »Vobfs« gewesen war. Typisch für sie, dachte Daphne, einen echten Mann wie Dayrne unbeachtet zu lassen und sich in ein Stück Dreck zu verlieben.
Gehaltene Versprechungen von Robin Wayne Bailey in Geschichten aus der Diebeswelt: Die Farbe des Zaubers, Bastei-Lübbe 20149 Liebe und Verrat von Robin Wayne Bailey in Geschichten aus der Diebeswelt: Die Herrin der Flammen, Bastei-Lübbe 20167
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Jedenfalls war es verdammt gut, daß Chenaya die Stadt kurz nach dem Hinterhalt im Palast verlassen hatte. Wenn sie wüßte, daß Zip freigelassen worden war oder daß Daphnes Gemahl, diese Unzierde des männlichen Geschlechts, ihm sogar eine Machtstellung gegeben hatte… Verdammt, es machte auch sie wütend, wenn sie daran dachte! Wie, fragte sie sich, konnte Shupansea das zulassen? Wenn sie dieses Karpfengesicht zuvor gehaßt hatte, empfand sie nun nur noch Verachtung für die Beysa. Ihre eigenen Leute hatten am meisten durch Zip zu leiden gehabt. Daphne erinnerte sich an das Massaker so vieler Beysiber beim Gemeinen Einhorn. Wieso erinnerte Shupansea sich nicht? War sie nicht die eigentliche Herrscherin dieser Stadt. Wie konnte sie zulassen, daß Zip am Leben blieb, wenn Chenaya praktisch sein Blut in ihren Kelch geleert hatte, den sie nur zu trinken brauchte? Daphne lehnte sich an die Maschine und starrte auf das verschwommene rote Glühen, das in der Dunkelheit im Osten flackerte. Sie hörte den Lärm von Rashans Feier kaum. Nur Tage nach dem Vorfall war Chenaya verschwunden. Reyk, ihr Falke, flatterte lustlos in seinem Käfig. Ihr Vater, Lowan, flatterte selbst wie ein gefangener Vogel durch die Korridore und Gemächer von Landende, verärgert auf seine eigene, stille Weise. Glücklicherweise hatte er viel zu tun, was ihn ablenkte: Die Ankunft von hundert der besten Gladiatoren des Reichs, die Eröffnung der neuen Schule, der Bau einer geeigneten Kaserne im Nordostteil des Grundstücks, für den Holz bis von Bhokar geliefert worden war. Und da waren noch seine Pläne für das
Freistatt bei Nacht von Lynn Abbey in Geschichten aus der Diebeswelt: Der Bann der Magie, Bastei-Lübbe 20179 Alle Macht den Frauen von Chris und Janet Morris in Geschichten aus der Diebeswelt: Hexennacht, Bastei-Lübbe 20113 Nur Toren setzen auf Gladiatoren von Robert Lynn Asprin in Geschichten aus der Diebeswelt: Die Herrin der Flammen, Bastei-Lübbe 20167
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bevorstehende Fest der Krieger. All das bewahrte ihn davor, sich zu große Sorgen um seine Tochter zu machen, und es ließ ihm nicht die geringste Zeit für einen Besuch im Palast. Daphne dagegen war in letzter Zeit gleich zu drei verschiedenen Anlässen dort gewesen. Galle stieg ihr auf, wenn sie Molin Fackelhalter und Tempus' Handlanger – wie hieß er doch gleich? Shit oder Spit? – von Chenayas Verrat und Chenayas Komplott reden hörte. Nicht, daß die beiden sie gesehen hätten. Eine Frau, die in einem Herrscherhaus aufgewachsen war, ohne gelernt zu haben, wie man durch ein Schlüsselloch oder hinter einem Vorhang lauschte, war zu bedauern, oder wenn sie nie gelernt hatte, ein angeregtes Gespräch zu führen, während sie ein anderes belauschte. Daphne hatte während ihrer drei Besuche viel erfahren, und sie schwor sich, noch mehr zu erfahren, wenn sie Kadakithis' neuestem Ruf Folge leistete. Er hatte jetzt keinen anderen Gedanken mehr als an Scheidung. Verrat. Das war alles, woran Daphne dachte. Da war noch ein Verräter, den alle geflissentlich übersahen, ein Mann, der sich mit Chenaya befreundet, der vorgetäuscht hatte, sie zu lieben. Er hatte ihr mit der Falle geholfen, in die Zip in jener Nacht gegangen war, und er hatte Vobfs an ihrer Seite getötet. Dann hatte er Zip freigelassen, hatte diesen menschlichen Abschaum befreit, den er – mehr als jeder andere Mann auf der Welt – Grund hätte zu hassen, zu töten. Es machte Daphne wütend. Sie streckte die Hand aus und versetzte dem obersten Arm der Maschine einen Stoß, daß sie sich zu drehen anfing. Das Getriebe surrte und klickte und setzte die unteren Arme in abgestimmtem Rhythmus in Bewegung. Daphne faßte ihr Schwert fester und unterdrückte nur knapp eine Verwünschung. Sie machte sich daran, aufs neue zu üben. Da kam ihr ein geradezu perfider Gedanke: Sie löschte ihre Fackel im Sand. Sie würde es ohne Licht versuchen. Sie war überzeugt, daß sie es nicht mehr brauchte. Sie war besser, als ihr Ausbilder
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ahnte, und wurde immer noch besser. Sie lauschte dem Klicken, und der pfeifenden Bewegung der Arme. Auf diese Weise war es eine etwas größere Herausforderung, aber nicht viel größer. Der Mond schien noch zu hell. Springen und ducken, springen und ducken. Eine Weile vergaß sie alle Gedanken an Verrat und Rache und fand Ruhe in der geschmeidigen, geistlosen Bewegung. Aber nur eine Zeitlang. Dayrne überquerte den Statthalterweg und schlich die Tempelallee hinauf. Obwohl hinter den Fenstern einiger größerer Gebäude noch Licht brannte, war er allein auf der Straße. Oder, falls nicht allein, dann bewegte sich, wer immer sonst noch unterwegs war, ebenso leise wie er. Diese Möglichkeit durfte in Freistatt nie ausgeschlossen werden. Er hatte beabsichtigt gehabt, direkt nach Landende heimzugehen. Es gab so viel zu tun, die Einhundert zu organisieren und auszubilden. Es waren gute Männer. Er hatte jeden einzelnen selbst ausgewählt. Nach ihrer Ankunft in Freistatt war ihre erste Aufgabe gewesen, ihre eigene Kaserne mit dem Holz zu bauen, das Dayrne in Bhokar gekauft hatte. Da sie damit fertig waren, hatte er ihnen zur Feier Sabellias einen Tag freigegeben. Morgen würde ihr erster Trainingstag sein. Er selbst würde sie beaufsichtigen. Heute nacht jedoch wollte er sich ausschlafen. Trotzdem ging er langsamer, als er sich dem östlichen Eingang zum Himmlischen Versprechen näherte. Zwei steinerne Piedestale, beide halb mannshoch, standen links und rechts des breiten weißen Kieswegs. Er zögerte, dann ging er näher heran – und runzelte die Stirn. In Sabellias gesegnetem Licht sah er auf dem linken einen flachen schwarzen Stein liegen. Solche Steine wurden nur auf dem stadtabgelegenen Ufer des Schimmelfohlenflusses angespült.
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Es war ein Signal. Er nahm den Stein und folgte festen Schrittes dem Kiesweg. Er war keine zehn Fuß gekommen, als der Geruch billigen, aber starken Parfüms ihn anhalten ließ. Eine Frau trat aus den Büschen neben dem Weg. Sie war viel zu alt für ihr erwähltes Gewerbe. Nur hier im Himmlischen Versprechen konnte sie sich erhoffen, mit den ihr noch verbliebenen Reizen ihren Unterhalt zu verdienen. Männer, die hierherkamen, suchten nicht nach makelloser Schönheit, ihnen genügte ein kurzes, schnelles Gestrampel hinter den Büschen. Aber aus dem, was sie noch hatte, machte sie das Beste. Ihr Haar war zu blond, auf ihren Wangen war zuviel Rouge. Auch auf ihren Brüsten war Rouge, und ihre Augen waren fast verführerisch geschminkt. Ihr weißes Gewand bauschte sich, als sie auf ihn zukam. Der bleiche Mondschein verbarg gnädig, wie verschlissen es bereits war. Das Echo einer vergangenen Schönheit ging von ihm und seiner Trägerin aus. »Guten Abend, Asphodel«, grüßte Dayrne leise. »Dein Parfüm. Ich konnte es schon riechen, noch ehe ich dich sah.« Sie lächelte ihn an, und plötzlich wirkte sie nicht mehr ganz so alt. Das Lächeln erhellte ihr Gesicht und verlieh ihm Jugend. »Es heißt Saromes Nacht«, erklärte sie ihm. »Das einzige, das ich mir gerade noch leisten kann, und man kriegt es in großen Flaschen.« Sie strich mit den Fingerspitzen leicht über seine Brust. »Wenn es Eure Nase beleidigt, mein junger Freund, dann schenkt mir doch ein besseres.« Er faßte nach ihrem Handgelenk, hielt es kurz, dann hob er ihre Hand an seine Lippen und küßte sie. Asphodel kicherte wie ein junges Mädchen, entzog ihm die Hand und drückte sie an ihre Lippen, wo er sie geküßt hatte, dann drehte sie die Hand um, daß der schwarze Stein zu sehen war, den er auf ihre Handfläche gelegt hatte. »Du wolltest mich sehen«, erinnerte er sie sanft. Auch wenn sie eine Hure war, Dayrne mochte die alte Frau. Er mochte sie, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, als sie Blumen vor das Haupttor von Landende gelegt hatte. Viele
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Leute hatten Blumen und kleine Gaben dorthin gebracht, seit Cheyne der Vobf das Handwerk gelegt hatte. Vor allem, wie Dayrne vermutete, die Straßenmädchen, deren Gewerbe diese Gruppe durch ihren Straßenterror fast zuschanden gemacht hatte. Asphodel hatte jedoch mehr als nur Blumen gebracht, um ihre Dankbarkeit zu zeigen. »Walegrin hat diesen Bastard Zip gar nicht ins Gefängnis gebracht«, hatte sie Dayrne verschwörerischen Tons erzählt. »Er hat ihn laufen lassen.« Das war das erste Mal gewesen, daß Dayrne von Walegrins Verrat gehört hatte. Doch er war am selben Tag erst mit den Einhundert nach Freistatt zurückgekommen und hatte Chenaya entsetzlich vermißt. Er hatte sich bei Asphodel für die Information bedankt, doch nichts unternommen. Ein paar Nächte später hatte Asphodel ihn wieder vor dem Tor aufgesucht. »Im Palast braut sich was zusammen«, hatte sie gemeldet. »Etwas Genaues steht noch nicht fest. Der Prinz hat jedenfalls nichts damit zu tun, aber einige hohe Herren wollen Rashans Tod, und zwar bald. Ihnen gefällt sein Gerede nicht, daß Lady Chenaya eine Göttin sein soll. Aber viele Leute fangen an, es zu glauben.« »Warum erzählst du mir das?« hatte Dayrne mißtrauisch gefragt. »Wie kommt eine Hure aus dem Himmlischen Versprechen zu solchem Palastklatsch?« Das war das erste Mal gewesen, daß er sie hatte lächeln sehen. Sie hatte sich ans Tor gelehnt und in eine Pose geworfen, die ihn, vielleicht betört hätte, wäre sie zwanzig Jahre jünger gewesen. »Die Frauen, die im Park arbeiten, schulden Eurer Lady viel«, hatte Asphodel geantwortet. »Während Zip und seine verdammten Kerle hier in diesem Stadtteil Schrecken verbreiteten, wagten unsere Freier sich nachts nicht mehr aus dem Haus. Aber einige von uns haben Kinder und Familien zu ernähren. Ohne das Geld, das wir im Park machen, können wir nichts zu essen kaufen. Zip hat uns genauso ausgehungert, als wenn er uns das Brot vom Mund gestohlen hätte.«
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Sie nahm eine andere Pose an. Mit schwachem Grinsen wurde Dayrne bewußt, daß sie gar nicht daran dachte, ihn zu verführen. Ihre Posen waren jahrelange Gewohnheit und völlig unbewußt. Vor langer Zeit mußte diese Frau einmal etwas ganz Besonderes gewesen sein, vielleicht sogar Madam ihres eigenen Hauses. Traurig, wie sich die Zeiten für einen jeden ändern. »Das ist nicht alles, was sie getan hat«, fuhr Asphodel fort. »Oft ist Eure Chenaya durch den Park gekommen und hat ein paar Münzen auf den Weg gestreut. Oh, sie wirkte immer hochmütig, aber diese Münzen sorgten so manches Mal dafür, daß jemandes Baby nicht hungern mußte. Wir sind eine enge Gemeinschaft, wir Frauen vom Himmlischen Versprechen, und wir vergessen es nicht, wenn uns jemand Gutes getan hat – nicht einmal Leute, die gar nicht wissen, daß sie uns geholfen haben.« Dayrne hatte sich gewünscht, Chenaya hätte diese Worte hören können, aber sie hatte die Stadt zu früh verlassen. »Solche Information…«, wollte er noch einmal fragen. Wieder lächelte Asphodel und fuhr sich abwesend durchs Haar. »Wie kommt eine gewöhnliche Staßenhure zu solchen Neuigkeiten?« Sie zog eine fein nachgezeichnete Braue hoch. »Es würde Euch Überaschen, wenn Ihr wüßtet, welche Herren zu uns kommen. Ein weiches Bett ist natürlich etwas Schönes.« Ihr Lächeln wurde schelmisch. »Aber nachts unter den Büschen, in frischer Luft, die Sterne hoch über und die raschelnden Blätter unter einem, ein Körper ohne erkennbares Gesicht und der Wind zwischen den Schenkeln. Das ist mehr als nur Sex. Das ist ein Abenteuer! Und Männer, die hochgeborenen wie die einfachen, finden ihr Leben manchmal recht eintönig. Dann kommen sie zu uns.« »Und sie reden?« fragte Dayrne behutsam. Ihr Lächeln schwand nur ein bißchen, als ein Ausdruck von Weisheit und ein Hauch von Bedauern über ihre Züge huschte. »Könnt Ihr Euch einen Mann vorstellen, der nicht möchte, daß
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die Frau, auf der er liegt, weiß, was er für eine wichtige Persönlichkeit ist?« Sie unterhielten sich die ganze Nacht hindurch. Erst als der Osten sich rosig tönte, trennten sie sich, sie mit einem prallen Beutel in ihrem Mieder. Sie hatte ihn nicht annehmen wollen, aber Dayrne hatte darauf bestanden. Sie hatten sich versprochen, einander zu helfen. Es überraschte ihn kein bißchen, als er einige Nächte später erfuhr, daß sie die Münzen unter allen Frauen im Park verteilt hatte. Den Lederbeutel hatte sie jedoch für sich behalten. Sie trug ihn nun an einer Schnur an ihrer umfangreichen Taille. Dayrne sah ihr zu, wie sie ihn öffnete und den kleinen schwarzen Stein hineinsteckte, mit dem sie ihn rufen konnte. Dieser Stein war der einzige Anhaltspunkt für Dayrne, wo Asphodel sich tagsüber aufhalten mochte; er vermutete, daß sie nahe dem Schimmelfohlenfluß wohnte, vielleicht in Abwind. »Ist Lady Chenaya bereits heimgekommen?« fragte Asphodel mit ehrlicher Besorgnis. Dayrne schüttelte den Kopf. »Wir erhielten auch keinerlei Nachricht von ihr.« Die alte Hure biß sich auf die Lippe. Das rührte Dayrne und brachte ihn seiner neuen, ungewöhnlichen Freundin noch näher. Er blickte den Weg auf und ab und vergewisserte sich, daß sie auch wirklich allein waren. Dann zog er sie sanft in die Büsche. Zu seiner Überraschung enthielt sie sich der erwarteten anzüglichen Bemerkung. Das verriet ihm, daß etwas faul war. »Schwierigkeiten?« flüsterte er. Sie starrte auf seine Hand, die noch ihren Arm hielt, dann in die Dunkelheit. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete sie schließlich. »Vielleicht sollte ich Euch nicht damit belästigen.« Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Wenn sie ihn nicht belästigen wollte, konnte es nichts mit Chenaya von
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Landende zu tun haben. Trotzdem schuldete er ihr Dank. Sie hatte viel für ihn getan und für jene, die ihm etwas bedeuteten. »Belästige mich ungeniert«, forderte er sie auf. Eine weitere Zweideutigkeit, die sie überging. Es mußten demnach größere Schwierigkeiten sein. Asphodel hob einen Finger an den Mund, um am Nagel zu kauen, unterließ es jedoch und faltete die Hände. »Einige der Frauen sind verschwunden«, sagte sie fast zu leise. Doch dann wurde ihre Stimme fester. »Seit über einer Woche jede Nacht eine. Und heute nacht…« Sie stockte und wollte wieder anfangen, Nägel zu kauen. Wieder fing sie sich. »Verschwand ein neues Mädchen. Nettes Ding, aber völlig unerfahren. Sie hieß Tiana.« »Vielleicht hat sie einen Freier mit nach Haus genommen«, meinte Dayrne. Asphodel schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Wir sind hier eine Art Familie. Wir nehmen Neue wie Tiana bei uns auf und versuchen, uns ein wenig um sie zu kümmern.« Unbewußt hob sie aufs neue einen Finger an die Lippen, steckte ihn in den Mund und biß den Nagel ganz durch. Stirnrunzelnd schüttelte sie den Finger und seufzte. »In einem Augenblick arbeitete sie noch bei der Sabelliabüste, im nächsten war sie verschwunden. Niemand hat gesehen, daß sie weggegangen ist. Tatsächlich war der Park fast die ganze Nacht leer.« Sie deutete zum Himmel. »Vollmond«, erklärte sie. »Die Helligkeit hält Freier fern.« Dayrne rieb sein Kinn. »Bist du sicher, daß sie verschwunden sind? Vielleicht haben sie…« Er wählte die Worte behutsam. »… andere Arbeit gefunden. Oder sie sind krank.« Er überlegte, aus welchem anderen Grund sich eine Prostituierte eine Nacht freinehmen könnte. »Ich sagte Euch doch, wir sind eine enge Gemeinschaft. Ich bin zu den Frauen nach Hause. Zwei davon haben Kinder. Die Kleinen waren ganz allein. Eines ist noch ein Säugling. Ich mußte Pflegestellen für sie alle finden.« »Hast du in der Standortverwaltung Bescheid gegeben?«
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Sie blickte ihm fest in die Augen. Es war ein langer, unbehaglicher Moment. »Wir sind Huren«, sagte sie schließlich. »Das ist das Himmlische Versprechen.« Mehr war nicht nötig. Raggah, dachte er. Waren sie wieder im Sklavengeschäft? Er erinnerte sich, was Daphne durch sie mitgemacht hatte; wie diese Wüstenbanditen sie entführt und auf der Aasfresserinsel zur Prostitution gezwungen hatten. Im Himmlischen Versprechen wäre leicht Beute zu machen, falls diese Hundesöhne ihr Geschäft wieder aufgenommen hatten. Falls es die Raggahs waren, hatte er ein persönliches Interesse? Daphne war seine Schülerin. Was ihr widerfuhr, ging auch ihn an. »Sind irgendwelche…« Er suchte nach einem diskreten Wort, aber ihm fiel keines ein, und er zuckte hilflos mit den Schultern. »… Leichen gefunden worden?« »Nein«, antwortete sie. »Überhaupt keine Spuren. Sie sind einfach verschwunden. In Freistatt nichts Ungewöhnliches. Ich hätte mir wahrscheinlich auch nicht soviel dabei gedacht, wenn es nur ein oder zwei Mädchen gewesen wären. Aber eines pro Nacht seit über einer Woche?« Sie schaute sich um, als könne sie durch die Sträucher und Büsche in jeden Winkel des Parks sehen. Dann hob sie den Saum ihres Gewandes, damit er den kleinen Dolch sehen konnte, den sie durch ihr Strumpfband am rechten Schenkel gesteckt hatte. »Meine Mädchen haben Angst. Ich habe Angst.« »Ich werde sehen, was ich herausfinden kann«, versprach er, ohne zu wissen, was er in dieser Sache unternehmen könnte. Er spitzte die Lippen, dann holte er tief Atem. »Sonst noch etwas?« Auch sie holte tief Luft und stieß sie langsam aus. »Nur Gerüchte. Die Arbeiter in der Schlachthausgegend sind ein ziemlich rauher Haufen. Großmäulige Glücksritter, denen die Fäuste und die Messer locker sitzen und denen es Spaß macht, Frauen härter anzufassen, wißt Ihr? Falls sie es hier versuchen, werden sie es bitter bereuen!« Sie tätschelte die Waffe durch ihr dünnes Gewand.
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»Vertreibt Ihr damit nicht eure üblichen Freier?« fragte er leicht amüsiert. »Ist in dieser Dunkelheit leicht zu verstecken«, antwortete sie schwach grinsend. »Aber immer in Griffweite.« Sie traten aus dem Gebüsch auf den Weg. Wieder führte Dayrne ihre Hand an die Lippen. »Ich werde versuchen zu helfen«, versprach er, ehe er sich zum Gehen wandte. Er blickte über die Schulter, doch sie folgte ihm nicht. Als er sich ein zweites Mal umdrehte, war sie nicht mehr zu sehen. Asphodel kannte den Park viel besser als er. Freistatt, dachte er. Himmlisches Versprechen. So viele spaßige Namen für eine Stadt ohne Humor. Sonnenschein schimmerte um Daphne, als sie am Tor an der Hauptstraße aus ihrer Sänfte stieg. Sie hatte sich auf dieses Treffen vorbereitet und ihr Lieblingsgewand aus blauer Seide angezogen. Der Rock war verführerisch bis zur rechten Hüfte geschlitzt, es hatte einen sehr tiefen Ausschnitt und war ärmellos. Sie hatte Stunden damit zugebracht, ihr Haar aufzutürmen und mit Spangen aus Gold und Perlmutt festzustecken. An den kleinen Füßen trug sie silberne Sandalen, und sie hatte sich mit teurem Parfüm betupft, das nach den hier seltenen Zitrusfrüchten duftete. Sie war nicht so umwerfend wie Chenaya, aber sie war schön. Und ehe sie sich mit der Scheidung einverstanden erklärte, würde Kadakithis das bestätigen müssen, ebenso Shupansea, die ihren Platz an seiner Seite wollte. Sie wandte sich an Leyn und Ouijen, die die Sänfte vorn trugen. »Danke, Brüder«, sagte sie formell zu den zwei Gladiatoren. Sie hatten ihr oft beim Training geholfen, und sie empfand große Achtung für sie. Es erfüllte sie mit Stolz, daß die beiden ihr angeboten hatten, sie heute zu tragen. Die zwei an den hinteren Sänftenstangen waren neue Männer. Sie kannte ihre Namen nicht, aber wenn Dayrne sie ausgesucht hatte, verdienten auch sie ihren Respekt. Sie verneigte sich anmutig. »Habt Dank für die Ehre, die ihr mir erwiesen habt.«
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»Wir werden hier auf Euch warten«, erklärte Leyn. Dann grinste er. »Gebt ihnen einen Vorgeschmack der Hölle.« Er war ein schöner Mann. Von Savankala mit dem gleichen Goldhaar gesegnet wie Chenaya, groß, stark, mit der Statur einer klassischen Statue, wie offenbar nur Gladiatorentraining sie geben konnte. Sie blickte in seine tiefblauen Augen und lächelte fast traurig. Warum war es nicht Leyn, den sie liebte? »Ich werde versuchen, euch nicht zu lange in dieser Sonne warten zu lassen«, entgegnete sie. »Und einen Vorgeschmack der Hölle? Ich werde ihnen ein ganzes Bankett zu verdauen geben.« Sie schnitt eine Grimasse, die sich jedoch rasch in eine Unschuldsmiene verwandelte. »Ich bin ja nur eine süße, langweilige kleine Prinzessin aus Ranke.« Doch während sie das sagte, zog sie einen Finger über ihre Kehle und deutete mit den Daumen nach unten. Sie lachten mit ihr, daß die Leute, die auf der Hauptstraße ihren morgendlichen Geschäften nachgingen, erstaunt aufblickten. Dann trat Daphne durch das Tor, überquerte den Vashankaplatz und betrat die Gerichtshalle. Sie war leer. Kadakithis hatte längst aufgegeben, den Eindruck zu erwecken, er regiere die Stadt noch selbst. Es kam nur mehr selten vor, daß er überhaupt eine Audienz gab. An der untersten Stufe eines hohen Podests hielt sie kurz an. Auf dem Podest stand der Thron, von dem aus der Prinz einst Gericht gehalten hatte. Einen Augenblick schwand ihre Entschlossenheit. Sie sank auf ein Knie, blickte hinauf und entsann sich, wie sie mit ihrem Gemahl in dieser götterverdammten Stadt angekommen war. Kadakithis war damals so voller Ideale gewesen. Er quoll fast über von Plänen und guten Vorsätzen, etwas Ordentliches aus dieser schmutzigen Stadt zu machen, deren Regentschaft ihm sein Halbbruder, Kaiser Abakithis, anvertraut hatte. Zu jener Zeit hatte sie ihn geliebt, ja ihm sogar den Harem vergeben, den er von Ranke mitgebracht hatte. Und sie hatte seine Ideale und Träume mit ihm geteilt. Vor allem war sie glücklich darüber gewesen, wie sehr diese Verantwortung ihn verändert hatte.
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Doch nichts war von Dauer gewesen. Die Ideale waren zersplittert wie Glas. Kadakithis hatte seine Herrschaft so kampflos abgegeben, erst an Shupansea und ihre Beysiber, dann an Molin Fackelhalter und seine Kumpane. Sie trauerte um den Kadakithis, der als begeisterter Jüngling in diese Stadt gekommen war, und sie verachtete den Kadakithis, zu dem er sich gewandelt hatte. Es war natürlich nicht seine Schuld. Es war die Stadt. Freistatt korrumpierte von innen nach außen. Zuerst zerbrach es einem die Ideale, dann schmetterte es einen mit dem Gesicht in die Scherben, drückte einen mit dem Fuß auf dem Nacken nieder, bis man den Schmerz nicht mehr spürte. Bis man taub war. Sie war selbst der beste Beweis dafür. Als einst verzärtelte Prinzessin lebte, aß und schlief sie nun wie ein Gladiator, fluchte wie eine Hure, hatte getötet und im Blutvergießen geschwelgt. Oh, Freistatt hatte seine grimmige Magie an ihr gewirkt. Daphne erhob sich von der Stufe, schritt durch die hinterste Tür, die nur für den Prinzen und sein Gefolge gedacht war, in den eigentlichen Palast. Lu-Broca, der Haushofmeister, war nirgendwo zu sehen, darum faßte sie den Arm des ersten Gardisten, der ihr über den Weg lief. »Vor dem Hauptstraßentor warten vier Männer.« Seinen Augen sah sie an, daß selbst eine einfache Palastwache wußte, wer sie war, und sie lächelte insgeheim. Es fiel ihr in letzter Zeit so leicht, jemanden einzuschüchtern. »Ihr persönlich werdet ihnen die kostbarsten Kelche voll des edelsten Weines bringen, den Ihr von der Küche erbitten, entlehnen oder stehlen könnt! Wenn Ihr mich in dieser Beziehung enttäuscht…« Sie klopfte ihm auf die Schulter und zwinkerte ihm zu. »Enttäuscht mich besser nicht…« Sie hatte den Dolch aus seiner Gürtelscheide und unter seinem Kinn, ehe er Zeit für einen Atemzug hatte. »Hoppla«, sagte sie und reichte ihm die Klinge mit der Spitze. »Ihr hättet es fast fallen lassen.« Sie ließ ihn stehen und schritt ruhig den Korridor weiter. Weder rankanische Gardisten noch Beysiber wagten es, ihr den Weg zu verwehren. Sie kannten sie, Prinzessin Daphne, die
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keine Hemmungen gehabt hatte, ihre Beysa eine Hure zu nennen, es ihr ins Gesicht zu sagen und vor den versammelten Edelleuten der Stadt darüber zu lachen. Sie haßten sie, aber sie zollten ihr Respekt, vielleicht, weil nicht einmal ihre Fischgöttin, Mutter Bey, gewagt hatte, sie niederzustrecken. Aber vielleicht bildete sie sich das auch alles nur ein. Manchmal ging ihre Phantasie mit ihr durch. Sie wußte nicht wirklich, was die Beysiber oder Rankaner von ihr dachten. Es war ihr auch völlig gleichgültig. Sie wollte nur vor Chenaya, Dayrne und Lowan Vigeles in gutem Licht dastehen. Und vor sich selbst. Davon abgesehen waren ihr Rankaner, Beysiber und Kadakithis völlig egal. Ihre Loyalität galt Landende. Chenaya hatte sie von der Aasfresserinsel befreit, und Lowan hatte ihr ein Zuhause geboten. Dayrne und seine Gladiatoren hatten ihrem Arm zu Kraft verholfen, ihrem Herzen zu Mut und ihrer Hand zu einem Schwert. Ihnen schuldete sie Loyalität und Liebe. Alle anderen waren weniger als der Dreck unter ihren Füßen. Sie fand Kadakithis in seiner Privatsuite. Es amüsierte sie, daß er sich offenbar einbildete, eine so intime Umgebung könne ihre Entscheidung beeinflussen. Nun, sollte er sich seiner kleinen Eitelkeiten noch ein Weilchen erfreuen. Eine Wache stand vor seiner Tür, öffnete sie für sie und blieb an ihrer Seite, bis der Prinz durch den Vorhang eines Durchgangs kam. Kadakithis setzte sein einnehmendstes Lächeln auf. Daphne unterdrückte einen Seufzer. Er war in so vieler Hinsicht noch der Junge, den sie einst geliebt hatte: das gleiche jungenhafte Gesicht, dasselbe Haar, derselbe dünne, ungleichmäßig wachsende Bart, der wahrscheinlich nie zu eines Mannes voller Zier werden würde. Er war zu dürr, kaum
Gehaltene Versprechungen von Robin W. Bailey in Geschichten aus der Diebeswelt: Die Farbe des Zaubers, Bastei-Lübbe 20149
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mehr als eine Stange, verglichen mit Dayrne oder Leyn. Und doch hatte sie ihn einst wahrhaftig geliebt. Doch das war vorbei. Er hatte ihre Liebe getötet, als die Raggah sie entführten und er sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, nach ihr zu suchen oder herauszufinden, was ihr widerfahren war. Und als sie, dank Chenaya, zurückkehrte, hatte sie ihn mit einer anderen Frau gefunden. Nicht einmal einer richtigen Frau, sondern eher einem Karpfen mit weiblichen Formen. Sie wußte nicht, ob sie ihn haßte. Aber er hatte ihr weh getan, und so wollte sie ihm ebenfalls weh tun. »Daphne!« rief Kadakithis, »du siehst bezaubernd aus!« Sie verschränkte die Arme und wartete, daß er auf sie zukam. »Schmeichle mir noch ein bißchen, Kittykat«, forderte sie ihn kühl auf. »Vielleicht stimmt mich das ein wenig williger, dir zu gewähren, was du wirklich willst.« Er streckte die Hand aus, und sie duldete seine Berührung. Seine Finger strichen über ihre Oberarme. »Bei Savankalas goldener Krone«, flüsterte er in seinem tadelnsten Ton. »Wenn dein Vater wüßte, daß du mit einer Meute Gladiatoren trainierst!« Er kniff ihre Muskeln. »Sie sind ja kräftiger als meine!« »Deine waren nie sehr kräftig, Gemahl«, entgegnete sie spöttisch. »Wir haben beide nur so getan, als wären sie es.« Sie wechselte das Thema. »Versteckt Shu-sea sich hinter jenem Vorhang?« Der Prinz erbleichte flüchtig und blickte nervös über die Schulter zu dem Durchgang. »Natürlich nicht! Wir sind völlig allein.« Er hatte nie gut lügen können, wenigstens ihr gegenüber nicht. »Das ist schade«, sagte sie. Sie entfernte sich von ihm und ging zur hinteren Seite des Gemachs. »Denn ich weiß, sie würde sicher gern hören, was ich dir sagen werde. Ich habe beschlossen, in die Scheidung einzuwilligen, um die du mich angebettelt hast.«
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Wenn sie ihn zuvor nicht gehaßt hatte, änderte sich das nun abrupt. Sein Gesicht leuchtete auf, ein Lächeln zog seine Mundwinkel nach oben, und fast hätte er vor Freude in die Hände geklatscht. Doch dann fing er sich. »Es ist gegen das rankanische Gesetz«, erinnerte sie ihn. »Wir stammen beide aus dem Kaiserhaus. Aber geben wir es ruhig zu, Lieber, wir haben uns so weit von rankanischer Tradition entfernt, daß es völlig egal ist, was wir tun. Den Thron hat jetzt der Usurpator inne, möge Therons Seele verdammt sein! Deine Loyalität gehört deinen beysibischen Verbündeten und meine Chenaya und Landende. Du bist genausowenig mehr ein rankanischer Prinz wie ich eine Prinzessin. Ich bin jetzt eine Gladiatorin und eine auctorata. Du…« Sie stockte, dann bedachte sie ihn mit ihrem vernichtendsten Blick. »Du bist ein Spielzeug für Shupansea und eine Marionette für Molin Fackelhalter.« Kadakithis kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Daphne, es tut mir leid. Ich hätte nie gedacht…« Sie winkte ab und ging wieder zur hintersten Gemachseite. »Erspar mir deine Winselei, Kittycat.« Sie wußte, wie sehr er diesen Namen haßte. »Du hättest wohl nie erwartet, daß ich so vernünftig sein würde? So großzügig, in eine Scheidung einzuwilligen? Oder so ein Luder?« Sie warf den Kopf zurück und lachte erfreut über die Wirkung, die das auf ihren Schwächling von Gemahl hatte. »Nun, ich habe nicht vor, dich zu enttäuschen, Liebling.« Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, obwohl sie versuchte, ihre Wut zu unterdrücken. »Ich werde mich weder als vernünftig noch als großzügig erweisen. Ich werde dir zeigen, was für ein Luder ich wirklich sein kann.« Er starrte sie an, ohne ein Wort hervorzubringen. Sie fand ihn komisch, wie er so mit offenem Mund dastand. Er konnte nicht umdenken, sah in ihr immer noch das süße, sittsame Kind, das er zur Braut genommen, das Kind, das ihn geliebt, ihm gehorcht und nie ein Wort über seine Untreue oder über sein rückgratloses Katzbuckeln vor seinem Bruder Abakithis gesagt hatte.
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Diese Daphne war tot. Die Raggah und der Abschaum auf der Aasfresserinsel hatten sie umgebracht. »Du möchtest die Scheidung? Du möchtest deine fischäugige Liebste heiraten?« Wieder lachte sie. »Das kannst du, mein Kittykat.« Sie richtete einen zitternden Finger auf ihn und ließ ihren Gefühlen, die sich viel zu lange in ihr gestaut hatten, freien Lauf. Der Bastard! Er hatte nicht einmal versucht, sie zu finden! »Aber zuerst bezahlst du!« Fast fletschte sie die Zähne. »Es ist nichts umsonst!« »Was du willst!« stammelte Kadakithis. »Du brauchst es bloß zu sagen…« Sie unterbrach ihn. »Oh, das wirst du bereuen. Aber nicht so schnell, ehemalige Liebe meines Lebens. Das ist mein letzter Auftritt als deine Gemahlin, und ich möchte ein auserlesenes Publikum. Erst dann wirst du meine Bedingungen für unsere Scheidung erfahren.« Kadakithis' Gesicht wurde steinern. Er funkelte sie an. »Ist das wieder eines deiner Spielchen?« Wenn irgend etwas Geeignetes greifbar gewesen wäre, hätte sie es ihm an den Kopf geworfen. Der Gedanke kam ihr plötzlich, ob er vielleicht, um so etwas zu vermeiden, das Gemach hatte räumen lassen. Es stand so gut wie gar nichts Werfbares herum. »Natürlich ist es ein Spiel«, antwortete sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Du armer Junge. Wirst du je erwachsen werden und die Augen öffnen? Es ist alles ein götterverdammtes Spiel. Sieh zu, daß du es lernst, statt dich hier hinter deinen netten, sicheren Mauern zu verkriechen. So wie es jetzt ist, bist du nur eine Spielfigur für Shupansea und Molin. Werde selbst ein Spieler, verdammt! Öffne zum ersten Mal in deinem arglosen, naiven Leben die Augen und sei ein Mann! Bevor dir das nicht gelingt, wird nichts hier wirklich dein sein. Nicht diese Stadt, nicht Shu-sea, nichts!« Er zitterte merklich. Sie sah es, sogar von der entgegengesetzten Seite des Gemachs aus, aber seltsamerweise fand sie wenig Freude an ihrem Triumph. Sie
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wußte, daß nur wenige Personen je gewagt hatten, so zu ihm zu reden, oder ihm so die Wahrheit zu sagen. »Dein Publikum«, erinnerte er sie. Er brachte die Worte kaum hervor; seine Lippen bildeten einen dünnen Strich, und seine Augen waren schmale Schlitze. Daphne atmete langsam ein. Ihre Wut war verraucht. Ihr war die Tiefe der Bitterkeit gegenüber ihrem Gemahl gar nicht wirklich bewußt gewesen. Doch auch sie war verraucht, zumindest zeitweilig. Aber da war immer noch der Zweck – der Grund, weshalb sie sich entschlossen hatte, in die Scheidung einzuwilligen. »Du«, sagte sie leise, »und Shupansea sowie Molin.« Bei jedem Namen hob sie einen Finger und schließlich den kleinen Finger ihrer Rechten. »Vor allem aber unseren teuren Standortkommandanten.« Der Prinz zog mißtrauisch eine Braue hoch. »Walegrin?« Sie gestattete sich ein kleines, grausames Lächeln. »Sein Ruhm eilt ihm voraus, nicht wahr? Meine Bedingungen werden für den lieben Walegrin von besonderem Interesse sein.« Aus seinem Blick sprach keine Liebe, kein Bedauern mehr. Die gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Träume und Ideale bedeuteten ihm nun nichts mehr. Er wollte nur die Scheidung, und zwar so schnell wie möglich, das las sie in seinem Blick. Die Kälte in seiner Stimme veranlaßte sogar Savankala, das Haupt abzuwenden, und das Gemach wurde dunkler, als eine Wolke sich vor die Sonne schob. »Wann und wo soll dein Spiel stattfinden?« fragte er. Dafür gab es nur einen Ort. »In der Gerichtshalle«, antwortete sie. »Morgen. Bis dahin kannst du ruhig ein wenig schwitzen, während du grübelst, was ich vorhabe.« Kadakithis verschränkte die Arme vor der Brust. »Mögen die Götter uns beistehen.« Sie spuckte auf seinen schönen Marmorboden. »Laß die Blasphemie«, warnte sie ihn schneidend. »Die Götter haben nichts mit dieser Sache zu tun.«
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Dann verließ sie ihn und kam auf ihrem Weg zur Tür ganz dicht an ihm vorbei. Sie roch seinen Körper und die saubere Frische seiner Kleidung. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging. Aber sie gönnte ihm keinen weiteren Blick. Es berührt mich nicht mehr, sagte sie sich, es ist alles erloschen. Seltsam gelöst schritt sie durch den Palast, die Gerichtshalle und über den Vashankaplatz. Ihre Freunde warteten mit der Sänfte vor dem Tor. Sie grüßten sie, als sie herbeikam. Jeder der Männer hielt einen schönen Silberkelch in der Hand. »Wir sandten den Wein zurück und baten um Wasser«, erklärte Leyn ihr. »Denn wenn wir in Landende zurück sind, erwartet uns Training.« Sie fand in diesem Augenblick kein Lächeln. »Bringt mich heim, Leyn«, flüsterte sie, als sie in die Sänfte stieg. »Bitte, bringt mich heim.« Sie zog die Vorhänge zwischen sich und die übrige Welt und tat ihr Bestes, ihr Schluchzen zu dämpfen. Dayrne fütterte Brocken frischen Fleisches an Chenayas Falken. Reyk fraß nur widerstrebend. Er nahm die Stücke, kaute kurz daran, dann ließ er sie auf den Boden seines Käfigs fallen. Schließlich stieß er einen langen, schrillen Schrei aus, breitete die Schwingen aus, so weit es ging, dann zog er sie wieder an, kroch schließlich in eine Ecke und wandte sich von dem Mann ab, der ihn füttern wollte. Dayrne gab es auf. Er stellte die Schüssel in den Käfig, falls Reyk es sich doch noch anders überlegte. »Er vermißt Chenaya.« Dayrne drehte sich um. Er hatte Daphne nicht einmal herbeikommen gehört. Er verzog die Lippen. Trug sie denn gar nichts anderes mehr als ihre Trainingskleidung? »Ihr seid bewaffnet!« bemerkte sie. »Wollt Ihr ausgehen?« Er blickte zum Himmel. Abenddämmerung kroch über den Himmel; es konnte nicht mehr lange dauern, bis es dunkel war. Asphodel würde im Himmlischen Versprechen sein und wie eine Glucke über ihre Küken wachen. Er erinnerte sich an den
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kleinen Dolch in ihrem Strumpfband und lächelte grimmig. Wenn Raggah dahintersteckten, würde sie verdammt viel mehr als das brauchen. »Eine persönliche Angelegenheit«, antwortete er Daphne. Er drehte sich um und schritt durch das Vogelhaus, ohne auf die anderen Falken zu achten. Die Vögel waren Lowans Hobby, nicht seines. Daphne hielt Schritt mit ihm, als er Richtung Landhaus ging. »Laßt mich helfen«, erbot sie sich. Dayrne hielt kurz inne. Wenn es Raggah waren, die er jagen würde, hatte Daphne dann nicht das Recht, sich ihm anzuschließen? Er schüttelte den Kopf. Trotz ihres Trainings und Geschicks war sie eine Prinzessin von Ranke. Er durfte sie nicht in Gefahr bringen. Außerdem hatte er keine Beweise, daß es sich wirklich um Raggah handelte. Nur einen Verdacht. »Eine persönliche Angelegenheit«, wiederholte er. Er machte längere Schritte und ließ sie zurück. Sie versuchte nicht, Schritt zu halten, sondern blieb stehen und blickte ihm wütend nach. Er konnte ihren Zorn in seinem Rücken spüren. Die zwölf Gladiatoren, die Lowan Vigeles ursprünglich nach Freistatt begleitet hatten, waren alle im Landhaus untergebracht worden. Zwei waren jetzt tot, nun waren sie nur noch zehn, aber das Bewußtsein, daß seine Brüder mit ihrem Tod dazu beigetragen hatten, Zips Tyrannei ein Ende zu bereiten, linderte Dayrnes Trauer. Sie waren in Ehren gefallen. Er ging zu dem Zimmer, das Dismas und Gestus teilten. Dismas lag am Bettrand mit einem Gedichtband. Sein Liebster, Gestus, beschäftigte sich mit einem Wetzstein und seinem Lieblingsdolch. Sie blickten auf, als Dayrne eintrat. »Ich werde den Großteil der Nacht weg sein«, erklärte Dayrne. »Möglicherweise in den kommenden paar Nächten ebenfalls. Ich wäre euch dankbar, wenn ihr euch heute nacht um die Wache kümmern würdet. Verdoppelt die Posten auch an den anderen Toren.«
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Dismas klappte sein Buch zu. »Erwartest du Unannehmlichkeiten?« »In dieser Stadt?« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Seine Kameraden erhoben sich, um ihm hinaus zu folgen. »Ich will dich nicht ausfragen«, sagte Dismas, der die Tür hinter ihnen schloß. »Aber brauchst du Hilfe?« »Eine persönliche Angelegenheit«, antwortete Dayrne wie bei Daphne. Unter den zehn war keine andere Erklärung erforderlich. Sie waren alle auctorati, freie Kämpfer, und konnten kommen und gehen, wie es ihnen gefiel. Er verließ sie, schritt durch den Landsitz und durchs Haupttor. Leyn und ein dunkelhaariger Riese namens Dendur, ein neuer Rekrut, standen dort Posten. Er wechselte ein paar Worte mit ihnen, ehe er weiterging. Der Eingang zum Versprechen war dunkel wie immer. Doch heute erwartete ihn kein Stein auf dem Piedestal. Es spielte keine Rolle. Er wollte ohnehin nicht, daß Asphodel von seiner Anwesenheit hier wußte. Er schlug sich in die Büsche und blickte kurz zum Himmel. Eine Nacht nach Vollmond. Sabellia schenkte der Welt immer noch ihre Gunst. Genug Licht, etwas zu sehen – genug Licht, gesehen zu werden. Er duckte sich und schlich los. Das Himmlische Versprechen war ein großer Park. Drei Eingänge und drei Hauptwege hießen Besucher willkommen, und Dutzende kleinerer Wege schlängelten sich zwischen Bäumen und Gebüsch hindurch. An diesen schmäleren Wegen befanden sich abgeschiedene Nischen mit Büsten auf hohen Sockeln oder Statuen oder kleine Altäre für die verschieden Götter und Göttinnen, die je in Freistatt verehrt worden waren, und Priester dieser Gottheiten pflegten diese Nischen. Tagsüber war der schattige Park ein beliebter Aufenthaltsort für die Priester und ihre Akolyten, für Philosophen und ihre Studenten. Er war ein Treffpunkt, an dem Gelehrte sich zum
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Gedankenaustausch zusammensetzten und Bittsteller zum Beten kamen. Des Nachts jedoch gehörten die Nischen den Dirnen – und ihren Freiern, die kamen, um sich zu vergnügen. Oder für jemand, der ihnen auflauern wollte, erinnerte Dayrne sich, während er sich von einer Nische zur anderen stahl. Da und dort war ein Kichern zu hören, da und dort die Laute eines schnellen Liebesaktes. Dayrne blieb davon unberührt. Sein ganzes Augenmerk galt seiner Suche. Sabellia zog gemessen durch die Nacht und maß die Zeit. Dayrne wußte nicht genau, wann er den Blick zum ersten Mal auf seinem Rücken spürte. Er erkannte nur, daß jemand ihn beobachtete, jemand, der sich so verstohlen bewegte wie er selbst. Bog er nach rechts ab, tat sein Beobachter es offenbar ebenfalls. Ging er nach links, folgte er ihm. Er war gut, wer immer er auch war – er vermochte ihn nicht zu entdecken. Aber er wußte, daß er da war. Er ging auf das Idol der ilsigischen Göttin Shipri zu, das sich in einer größeren Nische befand, wie er sich erinnerte. Dort würde es mondhell sein. Wenn er es schlau anstellte, konnte er seinen heimlichen Verfolger vielleicht in diese Helligkeit locken. Er tastete nach seinem Schwertknauf und eilte weiter. Und fluchte. Aus der Nische ertönten Stimmen. Aber natürlich. Shipri war eine Göttin der Liebe und Mutterschaft! Gäbe es für eine Prostituierte einen besseren Ort für ihr Gewerbe? Er schob das Gebüsch ein wenig auseinander. Da verstummte das Paar abrupt. Zuerst befürchtete er schon, es hätte ihn gesehen. Doch weder der Mann noch die Frau wandten sich in seine Richtung. Tatsächlich schienen ihre Augen sich überhaupt nicht zu bewegen. Nach einem Moment nahm der Mann das Gespräch wieder auf, doch die Frau schwieg. Nicht ein Wort kam über ihre Lippen, und ihre Augen hafteten am Gesicht ihres Partners.
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Alarm schrillte in Dayrnes Kopf. Er betrachtete den schwarzgewandeten Mann eingehender, konnte jedoch, von seiner Größe abgesehen, nicht viel erkennen. Eine ins Gesicht gezogene Kapuze verbarg seine Züge, der Umhang mögliche Waffen. Aber er war groß, zu groß für einen Raggah. Und er sprach Rankene. »Kommt mit«, sagte der Mann und krümmte den Finger. Die Dirne lächelte und fiel neben ihren Freier in Schritt. Sie verließen die Nische und schritten den breiten Kiesweg entlang. Ihre Schritte verursachten nicht das geringste Geräusch! Fast wäre Dayrne aus seinem Versteck gesprungen. Sein Schwert zog er bereits. Zauberei! Wenn er rasch zuschlug, kam der Unhold vielleicht nicht mehr dazu, zu reagieren. Ein rascher Streich durch den Hals – köpfen war die sicherste Weise, einen Hexer zu töten. Aber er hielt sich zurück. Das mochte zwar dieses Mädchen retten, aber was war mit den vermißten Dirnen? Er schuldete es Asphodel, daß er zumindest den Versuch unternahm, sie zu finden. Er war nicht glücklich über diese Aufgabe, und er verfluchte sein Loyalitätsempfinden. Trotzdem, er schuldete es ihr. Mehr war darüber nicht zu sagen. Etwas wußte er jedoch genau. Dieser Halunke war kein Raggah! Er folgte dem Paar. Offenbar kannte der Hexer den Park sehr gut. Shipris Nische befand sich in einem kaum frequentierten Teil der Anlage. Die Wege waren hier leer. Das Paar vor ihm näherte sich der hohen Mauer an der Südostecke. Dayrne rieb sich das Kinn. Er hatte erwartet, daß es sich auf einen der Eingänge zubegab. Wohin wollte es? In der Ecke, wo die beiden Mauern zusammenkamen, stand eine der größten Götterstatuen des Parks. Dayrne duckte sich hinter einen Busch, als der Hexer und sein Fang sich dem Vater des ilsigischen Pantheons näherten, dem mächtigen Ils. Der Hexer ließ das Mädchen im Schatten der Statue stehen, während er zur Verbindung der Mauern ging. Er legte die Linke auf einen Ziegel in Schulterhöhe der Ostmauer und die Rechte auf einen der Südmauer in Nabelhöhe. Gerade, daß er die
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beiden Steine erreichen konnte, und es kostete ihn Mühe, sie nach innen zu drücken. Dayrne hörte ein Mahlen von Stein auf Stein, und Ils' Statue bewegte sich auf ihrem Sockel. Der Hexer krümmte wieder den Finger, und die Dirne trat zu ihm. Er führte sie zu einem schwarzen Spalt zu Füßen des Idols, und Dunkelheit verschluckte sie. Dayrne biß sich auf die Lippe. Das Mädchen war wie ein Schaf zur Schlachtbank gegangen, wortlos, lächelnd, als hätte sie einen ganzen Beutel Krff geraucht. Wieder war das Mahlen zu vernehmen, der Spalt wurde verschlossen. Dayrne sprang aus seinem Versteck und raste zur Mauer. Welches waren die richtigen Steine? Er strengte sich an, sich zu erinnern. Er war größer als der Hexer und seine Arme waren länger. Er wählte ein Paar und drückte. Nichts tat sich. Er versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Er war sicher, daß er den richtigen linken Ziegel hatte. Aber der rechte? Plötzlich bewegte sich Ils. Dayrne dankte seinen eigenen Göttern, trat an den Rand der Öffnung und blickte hinunter. Steinstufen führten in absolute Schwärze. Flüchtig wünschte er sich, er hätte eine Lampe oder Fackel, dann begann er hinunterzusteigen. Die Luft war drückend und modrig. Er blickte zurück zur Öffnung und dem Mondschein und holte noch einmal tief frische Luft. Er nahm sich nicht die Zeit, nach dem Schließmechanismus zu suchen, sondern umklammerte sein Schwert und tastete sich mit einer Hand an der glitschigen Wand entlang vorwärts. Der Tunnel führte nur in eine Richtung. Er hatte Gerüchte von solch unterirdischen Gängen gehört, aber angeblich sollte es sie nur unter dem Labyrinth geben. Die Dunkelheit veranlaßte ihn anzuhalten. Es war schlimmer, als blind zu sein, denn er wußte, daß er sehen konnte. Seine Augen waren offen und schweiften von Seite zu Seite. Sie strengten sich an, irgend etwas zu sehen, nach dem sie sich richten könnten. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen.
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Trotzdem ging er weiter, denn er konnte das Versprechen nicht vergessen, das er Asphodel gegeben hatte. Ein Gespinst legte sich um seinen Kopf. Er öffnete den Mund zum Schrei, vermochte ihn jedoch in letzter Sekunde noch zu unterdrücken. Dann wischte er mit dem Ärmel übers Gesicht, um sich von dem klebrigen Gewebe zu befreien. Wie, zum Teufel, war der Hexer an ihm vorbeigekommen, ohne es zu zerreißen? Dayrne schlich weiter. Nur allzusehr war er sich der Enge des Ganges und des Gewichts der Erde über sich bewußt. Da! War das ein Licht? Er ging etwas schneller, achtete jedoch darauf, keinen Laut zu verursachen. Der Lichtpunkt wurde zu einer Flamme in der Ferne, dann zu einer Wandlampe und einer zweiten dahinter. Dayrne hielt am Rand der Dunkelheit inne und lauschte. Die unbewegte Luft trug eine leise Stimme. Die Worte zu verstehen war unmöglich, aber nach dem Rhythmus und der Betonung zu schließen, hielt Dayrne es für ein Gebet oder eine Beschwörung. Sehen konnte er jedoch nichts, so schlich er an die Wand gedrückt in den Lichtkreis. Wieder hielt er an. Ein nur zu bekannter Geruch kam durch den Tunnel. Dayrne rümpfte die Nase. Seine Brauen zogen sich zusammen. Er umklammerte den Schwertgriff. Es roch nach Tod, nach verwesendem Fleisch. Zu viele Jahre in rankanischen Arenen, erst als Sklave, dann als freier Gladiator, hatten ihn nur allzu vertraut mit diesem Geruch gemacht. Er biß die Zähne zusammen, bemühte sich, nicht zu oft und nicht zu tief zu atmen, und folgte dem Geruch und der Stimme. Ein Schrei schrillte durch den Tunnel. Die Härchen stellten sich auf Dayrnes Nacken auf. Der Schrei einer Frau. Ein zweiter folgte ihm, dann eine Pause und danach eine lange Reihe von Schreien, unterbrochen von Schluchzen. Dayrne gab es auf, unbemerkt bleiben zu wollen. Der Singsang hatte sich in Lautstärke und Intensität den Schreien
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angepaßt. Die Kakophonie schmerzte in den Ohren. Mit weit aufgerissenen Augen rannte er. Die Furcht hemmte seinen Schritt nicht, sie beschleunigte ihn sogar, bis er den Eingang zu einer Kammer in der Tunnelwand erreichte. Der ursprüngliche Zweck dieses unterirdischen Ganges wurde ihm nun bewußt. Er befand sich inzwischen sicherlich nahe dem Palast, und das war ein alter Fluchtweg für Notfälle, von den Ilsigern erbaut und den gegenwärtigen rankanischen Bewohnern vielleicht gar nicht bekannt. Die Kammer war voll leerer Waffengestelle, aus denen sich Fliehende rasch Schwerter genommen haben mochten, ehe sie im Versprechen an der Oberfläche auftauchten. Doch seine gesamte Erfahrung in der Arena hatte ihn nicht auf den übrigen Anblick vorbereitet. Im Licht eines Dutzends Öllampen sah Dayrne die Leichen von Asphodels verschwundenen Mädchen. Sie hingen an ihren Hälsen von tief in die Wände getriebenen Metallhaken. Hanfseile schnitten durch das geschwollene Fleisch ihrer Kehlen. Offensichtlich aber waren sie vor dem Aufhängen bereits tot gewesen. Die ersten paar Frauen waren lediglich durchs Herz gestochen worden. Die verkrusteten bläulichen Wunden waren auf ihren nackten Brüsten deutlich zu sehen. Die nächste war regelrecht ausgeweidet, wie der weit geöffnete Bauch erkennen ließ. Die Verstümmelungen wurden zusehends grausamer. Von einer waren Haut und Muskeln abgezogen, so daß die Organe frei lagen. Eine andere war verhältnismäßig ganz, doch verrieten dunkle Löcher, daß die Organe entfernt worden waren. Wieder einer anderen waren die sichtbaren Adern der Länge nach aufgeschlitzt. Wo die Leichen hingen, hatte Blut die Wand grauenvoll gefärbt. Alte Lachen und Rinnsale von Blut auf dem Boden unter ihnen waren getrocknet und verkrustet. Dayrne wurde übel. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch rasch auf die schreiende Frau gelenkt. Es war die Dirne, der er von Shipris Nische
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gefolgt war. Sie war auf einen kreuzförmigen Altar in der Mitte der Kammer gebunden. Der Zauber, mit dem der Hexer sie ursprünglich betört hatte, war vergangen. Sie empfand nur noch grauenvolle Angst. Ihre Fuß- und Handgelenke bluteten, so sehr wehrte sie sich in ihren Fesseln. An ihrem Kopf stand der Hexer. Seine Augen weiteten sich plötzlich und richteten sich auf Dayrne. Der Singsang des Folterers erstarb in seiner Kehle. Die schimmernde Klinge, die er über der Dirne geschwungen hatte, wandte sich mit der Spitze auf den Gladiator, und er griff nach einem zweiten Dolch auf einem Instrumententisch neben sich. Zorn unterdrückte jeden Gedanken an Angst. Dayrne stürmte mit erhobenem Schwert auf ihn zu. Der Hexer trat hastig zur hinteren Seite des Altars, um so sein Opfer zwischen sich und den unerwarteten Angreifer zu bringen. Noch in der Bewegung drückte er die Spitzen seiner beiden Klingen aneinander und bellte einen kurzen Befehl in einer Dayrne fremden Sprache. Schmerz stach in des Gladiators Herz. Der Atem entwich ihm zischend, und er preßte die Zähne zusammen. Trotzdem zwang er sich, einen weiteren Schritt vorwärts zu machen, während er gleichzeitig gegen den unerwarteten Schmerz ankämpfte. Ein neuerlicher Schmerz durchbohrte ihn, und als er noch einen Schritt machte, wieder ein Schmerz, noch stechender als die vorherigen. Seine Knie gaben nach; das Zauberfeuer in seiner Brust verzehrte seine Kraft. Ein roter Schleier raubte ihm die Sicht. Seine Finger zitterten wie in einem Anfall um den Schwertgriff. Er kämpfte verzweifelt, nicht zu fallen. Jeden Augenblick erwartete er den Todesstoß durch einen der Dolche. Der Hexer hatte ihn leicht besiegt; Dayrne war vollkommen hilflos. Trotzdem blieb sein Gegner hinter dem Altar und seinem Opfer stehen. Da sah Dayrne Angst, nicht Triumph, im Gesicht des Feindes. Gegen den Schmerz ankämpfend, schleppte er sich zum Eingang zurück. Mit jedem Schritt ließ der Druck auf sein Herz
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ein wenig nach. Er stützte sich auf die Klinke und rang keuchend nach Luft. Der Hexer senkte die Klingen. Schweiß glitzerte auf seiner Stirn, und das Glühen der Öllampen verlieh ihm ein teuflisches Aussehen. Dennoch, die Furcht war unverkennbar. Dayrne sah sie in diesen dunklen, tiefliegenden Augen. Die Dirne schrie mitleiderregend: »Helft mir! Laßt nicht zu, daß er mich umbringt. Ich bin schwanger!« Dayrne blieb bei der Tür. Er brauchte einen Augenblick, um wieder zu Kräften zu kommen und um nachzudenken. Trotz seiner offensichtlichen Macht fürchtete der Hexer ihn. Warum? »Steht nicht herum wie ein nutzloser Eunuch!« schrie die Dirne, als ihr Retter sich nicht rührte. »Er wird mich…« Der Hexer runzelte die Stirn und drückte flüchtig einen Finger auf ihre Schläfe. Ihr Kopf sackte zurück, ehe sie ein weiteres Wort hervorbrachte. Ihre Augen schlossen sich, sie seufzte und erschlaffte. Doch fast unmittelbar darauf flogen ihre Lider wieder auf. Sie schrie und krümmte sich vor der Hand des Hexers zurück, soweit ihre Bande es zuließen. Der Hexer brüllte wütend, nahm beide Klingen in seine Rechte und packte mit der Linken die Frau am Haar. Er riß ihren Kopf hoch, dann schlug er ihn auf den Altar. Ein kurzer Seufzer entrang sich ihr, als ihre Augen zurückrollten und sich schlossen. Ein dünnes Rinnsal Blut sickerte unter ihrem Kopf das Kreuz hinunter und tropfte auf den Boden. »Ich werde dieses Lärms so leid«, sagte der Hexer verärgert. Dayrne sprang über die Schwelle, doch sein Gegner war ebenso schnell. Wieder berührten sich die Klingenspitzen, wieder brüllte er etwas in der fremden Sprache. Dayrne schrie, als Schmerz seine Brust zu zerreißen drohte, und ein Tränenschwall raubte ihm die Sicht. Aber er blieb auf den Füßen und warf sich auf den Altar. Erschrocken wich der
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Hexer zur Wand zurück, und seine Hände an den Dolchgriffen zitterten. »Welcher Gott mir auch die Macht entzieht, sie reicht immer noch aus für dich!« zischte er. Aber seine Stimme bebte. Dayrne lag auf dem Altar und der schlaffen Gestalt der Frau. Seine Finger gruben sich in ihre Schenkel. Er schnappte nach Luft für seine gequälte Lunge und versuchte gegen die Schwäche anzukämpfen, die seine Gliedmaßen lähmte. Er wollte mit der Schwertspitze zustoßen, aber seine Kraft schwand zu schnell, und sein Gegner wich aus seiner Reichweite. Der Hexer drückte sich nun an die Wand, und seine Angst war fast spürbar. Doch dann, als er Dayrnes Hilflosigkeit bemerkte, verwandelte sich seine Furcht in Ärger. »Ich kam den weiten Weg von Caronne zu dieser Kloake!« Er achtete immer noch darauf, daß seine Klingenspitzen sich berührten und auf den Gladiator deuteten. »Selbst so fern wurden Gerüchte über die ungewöhnlichen Geschehnisse hier erzählt. Geschichten von Göttern und Dämonen und toten Seelen, die durch die Straßen wandelten. Offenbar gab es Macht hier, nach der man nur zu greifen brauchte – und wer hätte sie mehr verdient als ich? So kam ich denn verkleidet als Arbeiter zum Bau der Mauer hierher.« Dayrne zischte durch die Zähne, denn er war fast nicht imstande, Worte zu formen: »Menschenopfer? Niemals in unserem Reich – nicht einmal in dieser verkommenen Stadt!« Er wollte einen verstohlenen Blick über die Schulter werfen und fragte sich, ob er es zurück zum Eingang schaffen könnte, der außerhalb der Macht des Hexers war. Aber er wußte, daß es nutzlos wäre. Es war schon eine ungeheure Anstrengung, sich auf einen Ellbogen zu stützen und den Feind anzusehen. »Die Opfer sollen den Gott besänftigen, welcher es auch sein mag, der mir meine Magie genommen hat!« Der Hexer wagte es, etwas näher zu kommen. »In Caronne war ich ein Magier der Hasardklasse – das Schicksal sei verflucht, das mich
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hierher führte! Meine einfachsten Zauber mißlingen. All diese Geschichten von Macht – es muß ein Geheimnis geben!« »Kein Geheimnis«, würgte Dayrne hervor. »Kehrt nach Caronne zurück.« Er zog einen, dann den anderen Fuß unter sich und versuchte aufzustehen. Vergebens. Immer noch hämmerte sein Herz gegen die Rippen, und nun begann sich auch die Kammer um ihn zu drehen. Das Gesicht des Hexers verschwamm. »Tasfalens…« Er plagte sich, die Worte herauszuquetschen, »… Magie brannte aus!« Aber der Hexer hörte oder verstand es nicht. »Ich werde den Gott finden, der mich verfluchte und mir meine Gabe nahm. Und ich werde ihm Blut opfern, um ihn gnädig zu stimmen, bis ich wieder mächtig bin – mächtig genug, euer Geheimnis aufzudecken und mir die Magie zu nehmen, von der diese Stadt durchdrungen ist!« Eine andere Stimme erklang unerwartet von der Tür. »Es ist immer gut, Träume zu haben.« Dayrne erkannte sie sofort und drehte sich um, um eine Warnung zu rufen. Doch er brachte nicht mehr zuwege, als vom Altar zu fallen. Daphne gönnte ihm keinen Blick. »Ich wünsche Euch einen langen in Eurem Todesschlaf.« Ihr Messer flog blitzend durch die Luft. Der Hexer schrie auf, fiel gegen die Wand und umklammerte seine Schulter. Als er sich aufrichtete, sah Dayrne Daphnes Dolchgriff dicht an seinem Schlüsselbein aus der Schulter ragen. Obwohl sein Umhang dunkel war, konnte er die wachsende Nässe von Blut erkennen. Trotzdem gelang es dem Hexer, seine eigenen Dolche zu heben, die Spitzen rasch zusammenzudrücken und seine Worte der Macht zu hauchen. Dayrne glaubte, sein Herz würde bersten. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, daß Daphne sich krümmte, als sie mit gezücktem Schwert über die Schwelle trat. Dann polterte ihre Waffe auf den Boden. Doch unglaublicherweise fing sie zu lachen an. Sie richtete sich auf, warf den Kopf zurück, und schallendes Gelächter kam über ihre Lippen. Sie schaute sich nach ihrem Schwert um, aber als sie sich danach bückte, stolperte sie über ihren
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eigenen Fuß und fiel, was sie so wenig störte, daß sie sogleich immer noch lachend aufstand. Da spürte auch Dayrne es. Die Hand, die sein Herz in lähmendem Griff gehalten hatte, begann es nun statt dessen zu kitzeln. Sein Schmerz machte allmählich neuer Energie Platz. Kraft strömte in seine Gliedmaßen. Er grinste. Und dann fing auch er schallend zu lachen an. Er blickte auf die an den Wänden hängenden Leichen, auf die ans Kreuz gebundene Dirne, auf die überraschte Miene des Hexers. Es war alles so komisch! Der Hexer schlug fluchend seine Dolche zusammen und stampfte mit dem Fuß. Mit Wutgebrüll schlug er sie noch einmal zusammen. Die Klingen brachen, und die Stücke fielen vor seine Füße. Er wurde bleich und riß den Mund auf. Dann raffte er hastig seine Roben und rannte aus der Kammer in den Tunnel. Daphne streckte einen Fuß aus, als wolle sie ihn zu Fall bringen, doch er war bereits an ihr vorbei. Da rollte sie sich wie ein Kätzchen auf den Rücken, drückte die Hände auf den Bauch und überschlug sich vor Lachen. Momente vergingen, bis der verdrehte Zauber seine Wirkung verlor. Dayrne kam auf die Füße und wischte sich Speichel vom Kinn. Er schob sein Schwert in die Scheide und drehte sich um, um der Prinzessin aufzuhelfen. Unwirsch stand sie allein auf. »Wenn Ihr auch nur ein Wort davon verlauten laßt«, drohte sie mit rotem Gesicht, »mache ich mir ein Strumpfband aus Euren Lippen!« »Kümmert Euch um sie«, schnaubte er und deutete auf die Prostituierte auf dem Altar. »Und später möchte ich von Euch wissen, weshalb Ihr mir gefolgt seid! Ich sagte Euch, es sei eine persönliche Angelegenheit!« Sie legte eine Hand auf seine Brust, bevor er an ihr vorbei war. »Doch Ihr seid meine Angelegenheit«, entgegnete sie heftig, und ihre Augen wirkten hart und glitzerten. »Gute Ausbilder sind rar.«
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Er blickte sie kurz an, dann erinnerte er sich an den Hexer. »Wir unterhalten uns noch!« sagte er und verschwand im Korridor. Das Echo fliehender Füße kam aus der Richtung des Versprechens. Dayrne folgte ihm und zog erneut seine Klinge. Er hatte bald die letzte Lampe hinter sich, und die Dunkelheit zwang ihn bald, bedächtiger zu laufen. Er streifte mit der Hand die Wand entlang, so rannte er, so schnell er es wagte, und fluchte atemlos. Die Schritte des Hexers verklangen. Hatte er das Gangende an Ils' Statue erreicht? Wenn er oben angelangt war, würde es schwer werden, ihn zu finden. Die Antwort kam, als er das Mondlicht sah, das in die Dunkelheit herabschien. Doch seltsame Geräusche ertönten durch die Öffnung und wurden lauter, je näher er ihr kam – Schreie und Verwünschungen hoher, wütender Stimmen. Dayrne raste auf den Mondschein zu. Das mußten die Prostituierten sein! Er nahm zwei Stufen auf einmal und gelangte ins Freie. Die Frauen des Himmlischen Versprechens umgaben den Hexer in einem weiten Ring. Er drehte sich verwirrt und schwang Daphnes Dolch, auf dem sein Blut feucht glänzte. Auch die Dirnen schwangen Messer, die kleinen Waffen, die sie in ihren Strumpfbändern verborgen gehabt hatten. Aber sie kannten die Kräfte ihres Gegners nicht! Dayrne versuchte, sie zu warnen. »Asphodel!« Auf seinen Ruf wirbelte der Hexer herum. Flüchtig trafen sich ihre Blicke. Haß und Wut brannten in des Hexers wilden Augen, und Dayrne spürte, wie erneut eine Kraft nach ihm griff. Die Dirnen sahen ihre Chance. Sie stürzten sich auf den Hexer, hackten, stachen und schlugen mit ihren kleinen Klingen auf ihn ein. Arme hoben sich und fielen in zorniger Empörung herab, und bald färbten sie sich mit dem Blut ihres Jägers. Dayrne konnte nichts tun, als zusehen, wie der Hexer unter diesem Ansturm zu Boden ging. Die Frauen kannten kein
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Erbarmen. Sie stachen und stachen und machten all der Wut und der Angst Luft, die sie in den vergangenen Nächten gequält hatten. Schließlich wich Asphodel keuchend und mit weit aufgerissenen Augen zurück. Dayrne trat langsam zu ihr. So sehr zitterte sie am ganzen Körper, daß sie die Worte nur mühsam hervorbrachte. »Wer war er?« fragte sie. Wie sie aussah, hätte sie ein Gespenst sein können, das im Park spukte. Dayrne wischte ihr das Blut von der Wange und strich ihr das Haar zurück, das ins Gesicht gefallen war. »Er kam von Caronne«, antwortete er schließlich. »Seinen Namen habe ich nicht erfahren.« Asphodel seufzte und blickte über die Schulter. Auch die anderen Frauen hatten sich von ihrem grauenvollen Werk abgewandt. Stücke und Fetzen der Leiche lagen weit verstreut. Die Rächerinnen blickten einander verwirrt an, aber auch wütend und befriedigt. Eine nach der anderen verschwanden sie schließlich in den Büschen. Von irgendwoher ertönte Weinen. »Eines meiner Mädchen hat diese Öffnung entdeckt«, erklärte Asphodel. »Wir warteten hier, um zu sehen, wer herauskommen würde. Ich wußte, daß es etwas mit den Verschwundenen zu tun hatte.« Wieder seufzte sie und spähte in den dunklen Tunnel. »Sie sind tot, nicht wahr? Tiana und alle anderen?« Er nickte. »Alle außer der, die er heute nacht mitgenommen hat. Sie lebt, ist allerdings etwas mitgenommen.« In diesem Moment erschien Daphne in der Öffnung. Die Dirne hatte sie über die Schulter geworfen. Etwas unsanft lud sie sie im Gras ab. Dayrne runzelte die Stirn und kniete sich neben die Frau. »So fest hat er sie gar nicht geschlagen. Sie hätte inzwischen zur Besinnung kommen müssen.« »Ist sie auch«, erklärte Daphne. »Doch dann hat sie sich umgesehen und…« Die ehemalige Prinzessin zögerte, blickte
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Asphodel an und sprach etwas sanfter weiter. »Sie hat ihre Freundinnen gesehen und ihr wurde bewußt, wie nahe sie daran gewesen war, deren Schicksal zu teilen.« Daphne zuckte mit den Schultern und legte den Kopf schief. »Sie ist in Ohnmacht gefallen.« Asphodel blickte von Dayrne zu Daphne und zurück zu Dayrne. Sie ahnte, was die Prinzessin meinte, und daß sie sie ein wenig hatte schonen wollen. Ihre alten Augen verschleierten sich, aber sie blinzelte die Tränen zurück. »Einige meiner Brüder werden sie am Morgen heraufbringen«, sagte Dayrne sanft. »Es ist nicht nötig, daß du sie siehst, wie sie sind.« »Sie gehören zur Familie«, antwortete Asphodel. Sie bemerkte, daß sie den kleinen Dolch noch in der Hand hielt. Voll Abscheu warf sie ihn von sich und wischte sich die Hand an ihrem Gewand ab. »Ich werde hier sein, um zu helfen.« Dayrne wollte abwehren, doch Daphne berührte ihn am Ärmel. »Es ist ihre Entscheidung«, sagte sie. »Ihr wißt schon, eine persönliche Angelegenheit«. Dann deutete sie, taktvoll wie üblich, auf die Überreste des Hexers. »Außerdem sehen sie nicht schlimmer aus als er.« Asphodel ging zur Leiche und starrte sie lange an. Daphne folgte ihr, bückte sich und hob ihren Dolch auf, der nicht weit von der Hand des Hexers am Boden lag. »Er ist von Chenaya«, erklärte sie Dayrne. »Sie wäre wütend, wenn ich ihn nicht mehr hätte.« Dann drehte sie sich um und verschwand im Park. Als sie allein waren, legte die alte Dirne kurz die Hand auf Dayrnes Arm. »Danke«, sagte sie. »Wofür?« antwortete er. »Ich habe nichts getan.« Und das stimmte beinah. Bei all dem Blut, das in dieser Nacht vergossen worden war, war seine Klinge die einzige saubere im Park. Daphne schockierte den Palast, denn sie kam nicht in einem Gewand an, sondern in hautenger Kleidung, die sie sich aus
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Chenayas Schrank geborgt hatte. Sie sah ebenso schön wie gefährlich aus in dem weichen schwarzen Leder, an dem Schnallen und Ösen und Waffen schimmerten. Das nachtschwarze Haar wallte über ihre Schultern. Stolz, hocherhobenen Hauptes schritt sie in die Gerichtshalle. Dort hatte man inzwischen zwei Throne auf das Podest gestellt. Kadakithis und Shupansea saßen, Seite an Seite darauf und blickten zu ihr hinab. Molin Fackelhalter stand neben der Beysa, Walegrin neben dem Prinzen. Es war das Publikum, das sie verlangt hatte, und sonst niemand. Ihr Gemahl hatte eben kein Gefühl für einen Auftritt. Aber er hatte ja kein Gefühl für irgend etwas! Sie blickte hoch, als sie auf der untersten Stufe anhielt, und begegnete seinem Blick. Sein Mund war erstaunt aufgerissen. Das war die Bestätigung, die sie sich geschworen hatte, von ihm zu bekommen – und sie schmeckte wahrhaftig süß. »Bedauerst du es jetzt etwa, mein Gemahl?« Sie stützte verführerisch eine Hand an die Hüfte. Seine Hände zitterten. »Du siehst…« Er biß sich auf die Lippe und warf einen verstohlenen Blick auf Shupansea. Der Satz hing unbeendet in der Luft. In diesem Moment sah die Beysa weniger wie ein Karpfen aus, sondern wie ein Hai, der seine Beute bewacht. Daphne hatte gedacht, sie würde triumphieren, ihren Augenblick des Sieges auskosten, aber sie stellte fest, daß sie kein Gefallen daran fand. Es ist besser, entschied sie sich, es rasch zu beenden, ihre Bande zu diesem pathetischen kleinen Mann zu zerschneiden und mit ihrem neuen Leben weiterzumachen. »Du willst eine Scheidung, Kittykat?« Sie blickte jeden der vier auf dem Podest einzeln an und grinste. Es ist alles ein Spiel, hatte Chenaya einmal zu ihr gesagt. Alles ist ein Spiel. Daphne erkannte die Wahrheit dieser Behauptung. Diese Personen hier waren die Spielmeister von Freistatt. »Hör meine Bedingungen.« »Nennt sie, Prinzessin, wir werden sie in Erwägung ziehen.«
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Daphne warf Molin einen vernichtenden Blick zu. »Maul halten, Fackel! Das geht lediglich Kadakithis und mich an. Ihr seid nur als Zeuge hier, und ich gestatte Eure Anwesenheit lediglich, weil Ihr noch versessener darauf seid, daß diese beiden heiraten, als sie es selbst sind. Ich rechne fast damit, daß Ihr die Hochzeitsnacht mit ihnen verbringt.« Molin blieb äußerlich ruhig, aber Daphne durchschaute ihn. Sie wandte sich wieder ihrem Gemahl zu. »Als erstes verlange ich das Land, das südlich von Landende liegt und daran anschließt. Es liegt momentan brach, aber so wie die Leute in letzter Zeit hierherströmen, wird es nicht lange so bleiben.« Sie machte eine Pause und zog die Brauen zusammen. »Ich lasse in keiner Weise mit mir handeln und verlange eine Urkunde.« Kadakithis rieb sich das bärtige Kinn und blickte zu Molin auf. Fackelhalter nickte nicht gerade verstohlen. Daphne lächelte insgeheim. Marionette und Puppenspieler. »Wir werden sie ausstellen«, versicherte ihr der Prinz. »Zweite Bedingung: die Hälfte deines persönlichen Vermögens.« Kadakithis sprang auf, gleichzeitig schossen seine Brauen hoch, und er umklammerte die Armlehnen seines Throns, um sich zu stützen. »Wa-as?« Daphne schnalzte mit der Zunge. »Ist es dir das nicht wert, mich loszuwerden? Außerdem, denk doch nur an das viele Gold auf den beysibischen Schiffen! Ich bin überzeugt, deine Braut bringt eine Mitgift, die eines Mannes wie dir würdig ist.« Der Prinz sank auf seinen Thron zurück. Schließlich winkte er ab. »Gut, verdammt! Selbst darauf werde ich eingehen. Wie du sagst«, fügte er ätzend hinzu, »ist es das wert, dich loszuwerden.« Er funkelte von seinem erhabenen Sitz auf sie hinab. »Du bist nicht mehr das süße Weibchen, das du einst warst.«
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Die Bemerkung traf sie völlig unerwartet, und sie stieß ein barsches Lachen hervor. Zu ihrer eigenen ungeheuerlichen Überraschung verspürte sie plötzlich Mitgefühl für Shupansea. »Dritte Bedingung«, fuhr sie fort, als sie sich wieder gefaßt hatte. »Ich behalte meine sämtlichen Titel und allen Besitz in Ranke, den Theron nicht mit dem Thron an sich gerissen hat.« »Einverstanden«, erwiderte Kadakithis uninteressiert. »Was sonst?« Sie legte die Hand auf den Knauf ihres Schwertes und stieß einen kaum hörbaren Seufzer aus. »Ursprünglich gab es noch eine Bedingung.« Sie musterte Walegrin, bis er sein Gewicht unbehaglich von einem Fuß auf den anderen verlagerte. »Ich wollte das oberste Glied Eures rechten kleinen Fingers, um es an einer Kette um meinen Hals zu tragen«, wandte sie sich an den Standortkommandanten. Sie beobachtete die Gesichter aller, als sie es sagte, und ihre Reaktion enttäuschte sie keineswegs. »Schaut sie an«, sagte sie direkt zu ihm. »Sie hätten es mir auch gegeben.« Molin trat an den Rand des Podests, aber Kadakithis faßte ihn am Ärmel und zog ihn zurück. »Du bist wahnsinnig!« schrie ihr Gemahl sie an. »Stimmt«, entgegnete sie. »Das wurde ich, als du mich den sanften Söldnern auf der Aasfresserinsel überlassen hast!« Nur Shupansea bewahrte etwas Haltung. Sie beugte sich vor und blickte Daphne mit plötzlichem Interesse an. »Warum unser Kommandant?« Daphne wandte sich wieder Walegrin zu. »Ihr habt Lady Chenaya verraten«, beschuldigte sie ihn, »und Zip laufen lassen, nachdem sie Euch den kleinen Hundesohn übergeben hatte. Jetzt lobpreisen die einfachen Bürger dieser Stadt ihren Namen und schmücken ihr Tor mit Blumen, während Molin und die Drahtzieher von Freistatt sich den Mund über ihren sogenannten Verrat zerreißen. Doch niemand spricht von Eurem Verrat, Walegrin. Ihr habt mit ihr das Lager geteilt und sie dann verraten. Ihr habt ihr geholfen, den Plan auszuarbeiten, und Ihr habt an unserer Seite Vobfs getötet.«
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Dann deutete sie auf Fackel und Kittykat. »Auf ihren Befehl habt Ihr den Mann freigelassen, der Eure kleine Nichte ermordet und Eure Schwester mit einer Axt aufgeschlitzt hat.« Sie bedachte ihn mit einem eisigen Blick, doch es gab ihr keine Genugtuung, als er ihm auswich. »Ihr habt Eure Ehre weggeworfen, Kommandant. Molin und seine Kumpane mögen Euch für Euren Gehorsam und Euer Pflichtgefühl loben. Doch die einfachen Leute dieser Stadt kennen Euch jetzt. Blickt ihnen in die Augen, wenn Ihr das nächste Mal durch die Straßen geht. Außer Verachtung werdet Ihr nichts finden.« Sie wandte sich nun Molin zu, der aussah, als wäre er bereit, sich auf sie zu stürzen wie ein Aasgeier, dem er so ähnlich sah. »Behaltet Euren Spielzeugsoldaten, Fackel. Aber haltet ihn mir fern. Er verpestet die Luft!« »Ich bin neugierig«, gestand Shupansea und beugte sich wieder vor. »Wenn Ihr des Kommandanten Finger wolltet, warum habt Ihr es Euch dann anders überlegt?« Daphne gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Das ist etwas, das Ihr wohl nie verstehen würdet«, erwiderte sie. »Aber ich fand vergangene Nacht wahre Ehre in dieser Stadt unter einigen Huren in einem dreckigen Park, wo Frauen sich jeden Moment ihres Lebens abrackern für eine Existenz, die Ihr und ich niemals ertragen würden. Trotz all ihres Elends sorgen sie füreinander wie eine gute Familie.« Sie zögerte. »Ich fand eine ähnliche Art von Ehre in Landende, aber auch das würdet Ihr nicht verstehen. Walegrin mag seinen Finger behalten.« Sie legte den Kopf schief und erinnerte sich an die Nacht im Tunnel und den Gestank, den sie noch nicht vergessen konnte. »Er hätte ohnehin einen übelriechenden Anhänger abgegeben.« Sie drehte den Spielmeistern den Rücken zu und errang ihren größten Sieg, indem sie das Spiel verließ. Vor dem Tor an der Hauptstraße wartete überraschend Dayrne. Er hatte sich seit den Morgenübungen gewaschen und umgezogen, und sein Wesen war süßer selbst als dieser Tag. »Ich dachte, ich könnte Euch zurückbegleiten«, sagte er.
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Sie grinste zu ihm auf. Er war wirklich der größte Mann, den sie je gesehen hatte, und doch fand sie in ihm eine Sanftheit, wie sie sie nie erwartet hätte. Chenaya war eine Törin, daß sie ihn nicht liebte. Daphne beschirmte die Augen vor der Sonne, als sie ihm ins Gesicht blickte. Die Helligkeit verlieh ihm fast einen Heiligenschein. »Wie wär's, wenn ich Euch statt dessen zu einem Krug Bier einlade? Die Wahl der Schenke überlasse ich Euch. Aber sie soll wirklich eine Lasterhöhle sein.« Er runzelte die Stirn, doch dann legte er einen Arm um ihre Schultern, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich glaube, ich kann eine finden, wo Euch das Blut ins Gesicht schießt«, sagte er. »Eine Goldkrone«, antwortete sie, »daß Euch das nicht gelingt.« Originaltitel: The Promise of Heaven Copyright © 1988 by Robin W. Bailey Ins Deutsche übertragen von Lore Straßl
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Lalos Visionen Diana L. Paxson
Lalo zupfte die Maske über Nase und Mund zurecht und tauchte den Pinsel wieder in die graue Farbe. Noch einen Meter dieser elenden Wand, dann konnte er eine Pause einlegen. Der Pinsel glitt flink über die rauhe Leinwand und schuf die Struktur; ein wenig Schwarz verlieh den Eindruck von Tiefe, und ein weiterer Stein war fertig. Draußen vor dem Eingang wurde gehämmert. Die Premiere der zweiten Inszenierung der ersten und einzigen ortsansässigen Theatergruppe Freistatts stand in nur zwei Tagen bevor. Der Maler fragte sich, ob die Proben und seine Arbeit an den Bühnenbildern rechtzeitig abgeschlossen sein würden. Lalo trat zurück und betrachtete sein Werk. Er verzog das Gesicht unter der Maske. Selbst mit den Schattierungen sah die Leinwand wie eine Ansammlung von Klecksen aus. Er nahm an, daß die Fläche vom Zuschauerraum aus realistisch wirken würde. Dabei wurde ihm bewußt, daß diese Steine Wirklichkeit würden, wenn er seine Maske abnähme und die Farben anhauchte… Widerstand er der Versuchung, weil er nicht sicher war, ob die Bühne das Gewicht der Quader tragen konnte, oder fürchtete er, daß er die Kraft, sie Wirklichkeit werden zu lassen, verloren haben könnte? Lalo sagte sich, daß dies ein geringer Preis für die Rückkehr zu einem annähernd normalen Leben in Freistatt war. Vielleicht konnten sein Sohn Wedemir und das Mädchen aus dem Palast, das er umwarb, dereinst ihre Kinder in Frieden aufziehen. Die Spuren der magischen Erschütterungen, die Freistatt nahezu zerstört hatten, waren beseitigt worden, abgesehen vom Schutt jener Gebäude, denen nur Zauber die nötige Festigkeit verliehen und die nun nach und nach einstürzten, da der Zauber verfiel. Die Stadt wurde wieder aufgebaut. Lalo nahm
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an, daß er zufrieden sein sollte. Aber die Zeit der großen Magie hatte auch seine eigene Kreativität zur Blüte gebracht. Er war jetzt nicht mehr sicher, welche seiner Talente magischer und welche einfacher handwerklicher Art waren. Er kam sich halbblind vor – ›kopfblind‹, so nannten es die Magier. Aber er wagte es nicht, einen Blick zu werfen. So malte er nun Bühnenbilder für die Aufführung, die den Titel ›Der Verwunschene König‹ trug, und die ihm immer deprimierender erschien, je mehr er davon sah. »Also gut, das Ganze noch einmal von vorn«, verkündete Feltheryn über die Schulter, als er auf die Bühne trat. »Zwei Tage bis zur Premiere! Ihr Götter! Wenigstens wird dieses Stück niemanden vor den Kopf stoßen…« Die Nachwirkungen der ersten Produktion des Ensembles begannen erst allmählich in der Erinnerung der Öffentlichkeit zu verblassen. Feltheryn der Thespisjünger, der Gründer der Truppe, Regisseur und Hauptdarsteller, nahm seine Position vor einem Pfosten ein, der zu einem Baum werden sollte, sobald die Zimmerleute dafür Zeit fanden. Geziert mädchenhaft lächelnd, trippelte Glisselrand hinter ihm über die Bühne und ergriff seinen Ellbogen. »Sag mir, Tochter, wohin hast du deinen blinden alten Vater gebracht? Was ist das für ein Ort, Kind?« Feltheryn rezitierte verblüffend stimmgewaltig für den schwächlichen König, den er darzustellen hatte. »Ich erwarte nicht viel und bin wohl auch zufrieden mit weniger. Drei Meister – Schmerz, Zeit und das königliche Blut – haben mich Geduld gelehrt…« Die Bühne erzitterte, als etwas Großes, Schweres am Boden aufschlug. Feltheryn hielt inne und drehte sich um. »Geduld!« brüllte er. »Ihr Götter, gebt mir Geduld – ich muß mit Idioten arbeiten!« »Es war der Aufzug«, erklang eine klägliche Stimme hinter der Bühne. »Ich kann nichts dafür, Herr – das Seil rutschte…«
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»Lempchin! Du mißratener Sohn eines nach Schafskot stinkenden Rankaners!« Er holte tief Luft, und seine Stimme erscholl unheilverkündend über die Bühne. »Was habt ihr fallen lassen?« Es war ganz still, und Lalo bückte sich, um die Pinsel aufzusammeln, die auf dem Boden verstreut lagen. »Es war – die Donnermaschine!« »Bei Vashankas Stab! Weißt du, was das Ding kostet? Es ist ein Geschenk des Prinzen, und nach allem…« Er holte tief Luft und verfiel in einen theatralischen Leidensmonolog, der in das Stück gepaßt hätte. Lalo stellte fest, daß er die Pinsel in ihre Schachtel gegeben hatte anstatt zurück in die Halterung; er verzog das Gesicht. Wie konnte man von irgend jemandem verlangen, zu malen – und wenn es auch nur Bühnenbilder waren –, wenn solche Dinge vor sich gingen? Vor einer Stunde hatte es gedämmert. Gilla war gewiß schon verärgert darüber, daß er so spät kam, aber vielleicht war das Abendessen noch nicht völlig kalt geworden. Er war müde und hatte Hunger. Als Feltheryn hinter die Bühne stürmte, um den Schaden zu begutachten, verschloß Lalo seine Farbtöpfe und verstaute sie. Er befestigte den Pinselkasten am Gürtel und ging zur Tür. »Oh, Lalo, du gehst schon?« rief Glisselrand ihm nach. Er murmelte etwas über Gilla und setzte seinen Weg fort. »Ja, richte der lieben Gilla meine besten Grüße aus – ich arbeite an einem Schultertuch für sie – rosenfarbenes Garn mit Zitronengelb und einem wundervollen Purpur aus Caronne…« Als sich die Tür hinter ihm schloß, konnte Lalo sie immer noch das Farbmuster beschreiben hören. Er schüttelte den Kopf. Der Teekannenwärmer war schon schlimm gewesen. Der Gedanke an ein Schultertuch, groß genug, um Gilla einzuhüllen… Er schauderte. Und Gilla würde darauf bestehen, es zu behalten! Er überlegte, wie er sie überreden könnte, es irgendwo aufzubewahren, wo es keiner sah… Als er durch die Dunkelheit eilte, dachte er noch immer
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mit Schrecken an Glisselrands Farbempfinden, das auf etwas von der Größe eines Schultertuches losgelassen werden sollte. Lalo war um die Ecke des Schlangenwegs gebogen, als er Schritte hinter sich vernahm. Nahe – zu nahe, sie mußten in einer Seitengasse auf ihn gelauert haben. Vielleicht waren auch seine zerstreuten Gedanken der Grund, daß er sie so spät bemerkte. Er griff nach seinem Messer und fuhr herum. Schatten stürzten auf ihn zu. Hinter ihnen sah er die spottende Fratze des Wilden Einhorns auf dem Schild, als die Schranktür sich öffnete, und Licht auf die Straße fiel. »Hilfe! Diebe! Helft mir!« Lalo erkannte die Fruchtlosigkeit seiner Schreie, noch während sie aus seiner Kehle kamen. Sein Messer blitzte, er stieß es nach oben und traf etwas Weiches. Sein Gegner stöhnte, und Lalo stemmte sich gegen die Klinge. Dann betäubte ihm ein Schlag die Hand, und das Messer fiel klirrend auf den Boden. Er hob den Arm, um seinen Kopf zu schützen. Jemand lachte – waren es seine Angreifer oder die Männer, die aus dem Wilden Einhorn kamen? Das kann mir doch nicht passieren! dachte Lalo verwirrt, als er gegen die Wand geschleudert wurde. Nicht nach so vielen Jahren! Fast vor der Haustür… Eine Klinge blitzte auf und stieß auf seine Schulter zu. Als ob ich fremd hier wäre oder ein sorgloser Narr! Wie hatte ihm das passieren können? Jemand griff nach dem Kasten, der seine Pinsel enthielt, und Lalo schlug zu. Er duckte sich, denn er fühlte etwas auf sich zusausen, aber es war zu spät… Die Wucht des Schlages brachte die Welt zum Stillstand. Licht und Schatten, der rauhe Atem seiner Angreifer und die Rufe im Hintergrund, alles verblaßte, als seine Sinne davonwirbelten. Gilla, es tut mir leid… Und dann erloschen auch Bedauern und Schmerz, als Lalo in eine endlose Schwärze fiel.
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Dunkelheit – ein muffiger Geruch, bei dem man die Nase rümpfte. Vom magischen Schlaf steife Glieder strecken sich, die Lunge füllt sich mit abgestandener Luft. Staub kitzelt in der trockenen Nase. Darios erwacht und niest. Ohren lauschen angespannt, aber nur das Geräusch seines eigenen unterdrückten Atems ist zu hören. Er niest wieder. Ich lebe! Ich habe überlebt! Selbst in der Dunkelheit fühlt Darios, wie sein Gesicht sich vor Stolz rötet. Er erinnert sich an die Panik, als die Abwehr der Magiergilde zusammenbrach, erinnert sich an einstürzende Wände und an das Kreischen des randalierenden Mobs. Alle rannten – Lehrlinge und Meister gleichermaßen. Dachte denn keiner der anderen an dieses Gewölbe unter den Stallungen, das von mächtiger Magie versiegelt wurde, noch ehe die Nisibisi aus dem Norden kamen oder die Beysiber in der Bucht Freistatts landeten? Diese Magie würde so lange bestehen wie die Magiergilde, sie hielt ihn in einer zeitlosen Trance, solange… … Solange die magischen Schutzwälle unversehrt blieben, oder kein höherer Magier ihn weckte… Aber Darios ist allein im Gewölbe, und die Tore sind noch versiegelt. Er schluckt, greift um sich und berührt kalten Stein. Seine tastenden Finger finden Nässe. Wasser sickert von irgendwo oben durch die Wand. Darios führt die Finger zum Mund, und die Feuchtigkeit erleichtert ihm das Schlucken. Er atmet tief durch und spricht ein Wort aus… Aber die Dunkelheit weicht nicht. Zum erstenmal fühlt Darios den kalten Griff der Angst. Die Geräusche um ihn verrieten Lalo, daß es Morgen war. Er holte tief Luft und zuckte zusammen, als der Schmerz ihm den Schädel zu spalten schien. Er hielt es für ratsam, die Augen nicht zu öffnen. Der Schmerz glich jedoch nicht dem nach einer durchzechten Nacht, und nun erinnerte er sich an die raschen Schritte und das Handgemenge in der Dunkelheit. Ich lebe noch! stellte er verwundert fest.
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»Bist du wieder bei uns, du verrückter Mann?« fragte Gilla. »Was dachtest du dir dabei, allein und mitten in der Nacht diesen Weg einzuschlagen?« Lalo erkannte an ihrem scharfen Tonfall, daß sie sich um ihn sorgte, und er lächelte. Selbst ihr Schimpfen war ihm willkommen, hatte er doch befürchtet, es nie mehr zu hören. »Du hast mehr Glück als Verstand!« fuhr sie fort. »Dubro hielt dich für tot, als er dich mit dem großen Loch in deinem Schädel fand…« Kein Wunder, dachte Lalo. Er erinnerte sich an einen Schlag, als wäre Feltheryns Donnermaschine auf ihn gefallen. »Setz dich jetzt auf. Ich gebe dir etwas gegen die Schmerzen.« Lalo biß die Zähne zusammen und stützte sich auf die Ellenbogen, dann öffnete er äußerst vorsichtig die Augen. Er mußte sich in der Zeit geirrt haben, denn es war noch sehr dunkel. »Mach den Mund auf…« »Zünde erst eine Lampe an«, antwortete er. »Daß ich den Löffel sehen kann.« »Eine Lampe? Ich öffne die Fensterläden weiter, wenn du mehr Licht willst, aber warum…« Gilla beendete den Satz nicht. Einen Augenblick lang war es still, dann fuhr ihm ein Lufthauch über die Stirn. »Lalo…«, sagte sie und stockte. »Warum hast du nicht geblinzelt? Siehst du meine Hand nicht?« »Nein…« Er wandte sein Gesicht in die Richtung, aus der ihre Stimme kam, und versuchte, ungeachtet der tobenden Schmerzen in seinem Kopf, verzweifelt etwas zu sehen. Er streckte seine Hand nach ihr aus und spürte ihre von Arbeit rauhen Finger, die seine fest packten. »Nein. Gilla, ich kann überhaupt nichts sehen!« Danach, vermutete Lalo, mußte er hysterisch geworden sein und an seinem Verband um den Kopf gezerrt haben, bis der Schmerz wieder die Türen zum Bewußtsein zuschlug. Blind, dachte er, als die Erinnerung quälend wiederkehrte. Wird es wieder vergehen? Was kann ich tun?
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Eine Woche lang dauerte es, bis die Kopfwunde verheilte, und sie hofften, die Blindheit würde sich geben. Der Prinz sandte seinen Leibarzt, der die Wunde untersuchte, mit wichtiger Miene von bösen Körpersäften und vom Einfluß der Gestirne schwatzte, bis Gilla ihn hinauswarf. Wedemir kam und brachte bei seinem nächsten Besuch einen Heiler der Garnison, einen Mann, der mehr zu wissen schien, was aber kaum ermutigender war. Er konnte ihnen nur sagen, daß er auf dem Schlachtfeld Schläge auf den Kopf beobachten konnte, die Blindheit verursachten. Das Sehvermögen stellte sich gewöhnlich nach ein paar Tagen wieder ein. »Aber nicht immer?« fragte Wedemir. Lalo konnte sie in der Ecke flüstern hören. Sie ahnten nicht, wie sehr der Verlust eines Sinnes die anderen schärfte. »Nicht immer…«, stimmte der Soldat zu. Er wußte nicht, warum Lalos Sehfähigkeit angegriffen worden war, und das einzige Behandlungsverfahren, das er empfehlen konnte, war Warten und Hoffen. »Kommst du, Wedemir?« Die Stimme des Heilers wurde leiser und wieder lauter, als ob sie zur Tür gegangen wären und sich dann umgewandt hätten. »Ja – nur einen Augenblick…« Lalo fühlte Wedemirs festen Griff. »Papa, ich muß jetzt wieder zum Dienst. Ich bin aber bald zurück, um nach dir zu sehen!« Die Worte klangen ermunternd, aber Lalo entging das Zittern in der Stimme nicht, das Wedemir zu verbergen suchte. »Zum Dienst, ha! Ich weiß es besser! Du willst nur Rhian wiedersehen!« ließ Latilla vernehmen. »Hast du gewußt, daß er ein Mädchen im Palast hat, Papa? Sie ist eine rankanische Dame und sehr hübsch. Ich habe sie gesehen, als ich letztens Vanda im Palast besuchen durfte.« »Sie ist nicht mehr mein Mädchen – zumindest noch nicht«, fiel ihr Wedemir ins Wort. »Sie war einem Lehrling der Magiergilde versprochen, und sie sagt, daß sie noch gebunden ist…«
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»Der Magiergilde?« staunte Gilla. »Aber diejenigen, die überlebten, sind jetzt über die ganze Stadt verteilt oder aber geflohen…« »Meinst du, ich hätte nicht versucht, ihr das zu erklären?« fragte Wedemir. »Wenn der Junge noch am Leben wäre, hätte er ihr inzwischen gewiß Nachricht gegeben! Es ist nun schon ein Jahr her, daß die Machtkugeln zerbrochen wurden. Wenn er noch lebt, dann verdient er sie nicht!« »Wedi hat ein Mädchen – Wedi hat ein Mädchen!« trällerte Latilla, bis ein Quietschen und Kichern Lalo verriet, daß ihr Bruder sie kitzelte, so wie er es früher getan hatte, als sie noch jünger waren. Lalo versuchte sich vorzustellen, was vor sich ging, aber er konnte sich nur daran erinnern wie sie als Kinder ausgesehen hatten, vor langer Zeit – als er noch sehen konnte… Lalo fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Wedemir begleitete den Heiler zurück zur Garnison, und Vanda ging zu ihrer beysibischen Herrin in den Palast. Glisselrand sandte einen gehäkelten Schal, und Lalo war froh, daß er ihn nicht sehen konnte. Zu Hause nahm alles wieder seinen normalen Verlauf. Lalo träumte von Gemälden, die zu malen er nie Zeit gefunden hatte, und er achtete kaum darauf, was sie ihm zu essen brachten, aber nun hörte er Alfi und Latilla klagen und erkannte, daß Gilla nicht mehr die leckeren Dinge kaufte, an die sich die Familie gewöhnt hatte. Sie fing wieder an, auf eine Art und Weise zu kochen, an die er sich allzugut erinnerte – Bohnen und was immer nahrhaft und billig war. Es war das Essen armer Leute. Und wieder spürte er die verräterischen Tränen unter seinen geschlossenen Lidern hervorquellen. Sie glaubt nicht, daß ich wieder gesund werde… Glaubte er es? Während der ersten Woche war Gilla stets an seiner Seite gewesen und hatte ihn geduldig und aufopfernd umsorgt. Aber
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das änderte sich. Seine Frau sah immer noch darauf, daß er hatte, was er brauchte, aber nun saß Latilla an seiner Seite; Latilla schnitt ihm das Fleisch und gab ihm den Löffel in die Hand. »Was tut deine Mutter?« fragte Lalo eines Morgens – er erriet die Tageszeit an der frischen Luft, die sich im Verlauf des Tages mit allen Gerüchen der Stadt mischen würde. »Sie ist zum Palast gegangen und besucht Vanda«, antwortete seine Tochter. »Vanda sagt, bei den beysibischen Damen gäbe es viel zu nähen wegen der Hochzeit, weißt du, und Mutter kann wundervoll nähen…« Lalo stöhnte. »Papa – bist du in Ordnung? Es macht doch nichts, wenn Mama nicht hier ist – ich bin doch hier, Papa, und ich sorge für dich! Bitte, Papa, weine nicht!« Er fühlte die sanfte Berührung ihrer Hände, als sie ihm über das Haar strich, und die Kühle, die ihm die Tränen vom Gesicht trocknete. »Ich verlasse dich nicht!« Lalo tastete nach ihr und fand ihre Schulter, und Latilla drückte ihn an sich. Ihre Arme waren noch so dünn – die Arme eines Kindes, aber ihr Körper begann zu reifen. Sie war jetzt zwölf. Würde er ihre erblühte Schönheit je sehen? Gilla sucht sich Näharbeit, weil sie glaubt, daß ich nicht wieder gesund werde. Die kalte Tatsache erschreckte ihn. Hatte sie sich deswegen zurückgezogen? Lalo fragte sich, ob er sah, was Gilla selbst noch nicht bewußt war. Er glaubte zu verstehen. Er hatte sie zum letzten Mal im Stich gelassen. Gillas Verantwortung galt nun den Kindern. Obwohl Lalos Körper noch lebte, waren sein Leben – und ihre Ehe – am Ende. Ohne es zu wollen, hatte er Latillas Arm fester gepackt; sie wand sich, und er ließ sofort los. Das Mädchen richtete sich erleichtert auf und fing an, über den Vogel zu reden, der sich auf dem Fenstersims niedergelassen hatte. Lalo lehnte sich in
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die Kissen zurück, er hörte sie kaum. Würde es nun immer so sein? Er vermutete, daß Gilla ihr Schicksal in für sie wesensfremder Schweigsamkeit ertragen würde. Aber Lalo verbrauchte die Mittel, die für die Kinder gedacht waren. Und Latilla – ihr war jetzt nur wichtig, daß sie nun endlich ihren Vater ganz für sich hatte. Lalo begriff, daß sie diese Fürsorge für ihn einen guten Teil ihrer Jungend kosten würde. Vielleicht könnte er sich an die Ecke setzen und auf die Mildtätigkeit der Vorbeigehenden hoffen… In Freistatt? Das war, als wollte man Wärme bei einer Beynit suchen, Gnade bei einem Stiefsohn und mütterliche Liebe bei Roxane! Sein kurzes, bitteres Lachen ließ Latilla an seine Seite eilen. »Hilf mir, mich anzuziehen!« sagte er mit plötzlich erwachter Energie. »Ohne Bewegung werden meine Beine bald ebenso nutzlos sein wie meine Augen! Komm, Latilla – ich möchte, daß du mich durch die Stadt führst.« Einst, vor langer Zeit, hatte Lalo die Blinden als gesegnet betrachtet, weil sie den Schmutz der Stadt nicht sehen konnten. O Gott, damals erschien ihm das komisch. Nun, da er sich an Latillas Schulter festhielt, erkannte er, daß er es besser hätte wissen sollen. Als sie durch die Stadt gingen, verschafften ihm Erinnerung und Vorstellungskraft die Bilder, die zu den Geräuschen und den üblen Gerüchen um ihn paßten. Er stellte sich tausend schreckliche Dinge vor, wußte aber nie, welche davon seiner Phantasie entsprangen und welche Wirklichkeit waren. Es schien ihm wie im nächtlichen Labyrinth, wo in jeder dunklen Gasse Gefahr lauerte und nur der Schein einer Fackel die Furcht vertreiben konnte. Aber für Lalo führten nun alle Straßen durch Dunkelheit. Langsam gingen sie durch die widerstreitenden Verlockungen duftender Spezereien und Speisen im Basar, der Kakophonie der Händler, die ihre Ware anpriesen, und des Stimmengewirrs des nicht immer freundlich klingenden Feilschens. Lalos Nerven
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zuckten, als sie vorbeigingen an klagendem Muhen und dem üblen Gestank von Rinderdung aus den Pferchen der Abwinder. Sie gelangten zu den Landungsstegen. Möwen schrien. Lalo vernahm ihr wildes Flügelschlagen, als sie vorbeisausten und um Fischinnereien zankten. Als ihn Latilla hinausführte über die dumpf tönenden Planken, versuchte Lalo sich an das Sonnenlicht zu erinnern, das sich in den Wellen brach, die pure Schönheit der Vögel, deren Flügel einen lautlosen Bogen über den hellen Himmel beschrieben. In dem Theaterstück, dachte Lalo, verlor der König sein Augenlicht, weil er darauf bestand, zu viel zu sehen und Dinge, die besser verborgen blieben, ans Licht zu bringen. Werde ich bestraft für meine Visionen? Wurde ich geblendet, weil ich es wagte, das Antlitz der Götter zu schauen? fragte er sich. Aber Ils selbst hatte Lalo diese Gabe verliehen, und falls es den Göttern gefiel, ihn zu strafen, so hatten die vergangenen Jahre ihnen einige spektakuläre Gelegenheiten geboten, ihn zu schlagen. Geschah es vielleicht, weil ich der verlorenen Magie nachweinte und den Göttern nie für die Gabe dankte, die ich hatte? Nun habe ich nichts. Alle meine Visionen müssen gefangen bleiben hinter meinen Augen und ich in diesem nutzlosen Körper, als Last für die, dich ich liebe! »Tilla – Latilla! Bist du das? Wo warst du so lange?« rief die Stimme eines Mädchens. »Hallo, Karis…« Sie sprach nicht weiter, und Lalo wußte, daß sie dem Mädchen durch ein Zeichen seine Behinderung erklärt hatte, denn die Stimme der anderen klang bedeutend gedämpfter, als sie antwortete. Lalos Hand berührte das rauhe, verwitterte Holz eines Pfeilers, als er sich setzte. »Geht es dir gut, Papa?« »Ja – ja…« Er zwang sich zu einer Antwort. »Nur ein wenig müde. Laß mich hier am Pfeiler sitzen. Unterhalte du dich mit deiner Freundin. Mir geht es gut.«
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Eine kurze Weile fühlte er noch ihre Nähe, dann wurden die leichten Schritte auf den Planken leiser. Bald hörte er die Mädchen sich unterhalten und hell lachen. Wellen schlugen gegen den Fuß des Pfeilers, ein Fischerboot näherte sich, Masten krängten, und Segel flatterten, als die Landzunge den Wind abschnitt. Ein Mann rief zum Strand hinüber. Lalo fühlte den Landungssteg erzittern, jemand lief, um das Schifftau zu fangen und es festzumachen. All das waren bekannte Geräusche – er versuchte, sich genau vorzustellen, was jetzt geschah, wie man die Segel einholte, an den Trossen zog und das Boot sauber längs zum Steg brachte. Aber er konnte sich nicht erinnern. Er barg das Gesicht in den Händen. Wie oft war er hierher gekommen, um zu denken, manchmal aus Freude, aber auch aus Verzweiflung? Warum hatte er sich nie bemüht, wirklich zu sehen, was um ihn vorging, anstatt seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, bis er müde wurde oder Gilla kam, um ihn nach Hause zu holen? Seine Gedanken wanderten zurück zur Zeit seiner größten Qualen (bis jetzt), als Enas Yorls Gabe zum Fluch geworden war, vor dem es kein Entrinnen zu geben schien. Lalo erinnerte sich an den Tag, als er in Freistatts dreckiges Hafenwasser gestarrt hatte. An diesem Tag war er bereit gewesen, sich hineinzustürzen, hätte er nicht all die Scheußlichkeiten gesehen, die darin herumtrieben. Aber jetzt kannst du nicht sehen, was dort im Wasser treibt… Waren die Worte, die er dachte, seine eigenen? Sanft, o wie sanft die Wellen schwappten – sie klangen beruhigend, wie ein Wiegenlied. Er drehte sich ein wenig, sein Kopf neigte sich dem Wasser zu, er lauschte. Sanft schaukeln, friedvoll dahintreiben – bald änderten sich die Gezeiten, und alles Zerbrochene, Nutzlose, das in die Bucht geworfen wurde, trieb hinaus ins Meer. Das Gewicht seines Kopfes zog ihn nach unten – feuchte Luft kühlte die straffe Haut seiner Stirn. Wie leicht es wäre, sich fallen zu lassen… Wenn
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die dunklen Wasser sich über ihm schlossen, war es gleichgültig, ob er sehen konnte. Er ließ den Atem mit einem langen Seufzen entweichen, erlaubte sich nicht, nachzudenken, er wollte nur Kühle, Dunkelheit, Ruhe… »Papa, Papa! Paß auf!« Kräftige Finger rissen ihn zurück. Einen Augenblick lang sträubte er sich. »Papa, hast du geschlafen? Du wärst beinahe ins Wasser gestürzt!« Lalo schüttelte verzweifelt den Kopf. Er hätte es fast geschafft! Er mühte sich, auf die Beine zu kommen, und machte einen Schritt vorwärts, dann hielt er verwirrt inne. In welcher Richtung war das Wasser? Latillas dünne Arme legten sich um ihn. »Es ist in Ordnung, Papa. Die Richtung stimmt… Ich lasse dich nicht hineinfallen!« Das Wasser lag nun hinter ihm. Alles, was er tun müßte, war sich umdrehen und springen – er fühlte Nässe auf seiner Hand. Latillas Tränen… Ein Sprung und es wäre überstanden, aber nicht für sie. Das Kind würde sich immer schuldig fühlen, auch wenn sein Tod wie ein Unfall ausgesehen hätte. Latilla glaubte, sie habe ihn gerettet. Lalo konnte sich nicht vor ihren Augen töten. O meine Kleine – dachte er, und hielt sie im Arm, wenn du mich nur freigeben würdest… Er ließ sich von Latilla nach Hause führen, versuchte gar nicht sich vorzustellen, welchen Weg sie nahm, ließ ihr munteres Geplauder dahinplätschern, ohne Antwort zu geben. Das Haus war erfüllt mit dem würzigen Aroma gebratenen Huhns, als sie eintraten, aber nicht einmal die Erleichterung in Gillas Stimme, als sie mitteilte, der Prinz habe Lalo eine Pension gewährt, konnte ihn aufheitern. Er sagte, er sei müde vom Spaziergang, und legte sich nieder, mit dem Gesicht zur Wand. Darios atmet langsam und tief, er versucht die Panik unter Kontrolle zu bringen, indem er sich vor Augen hält, daß er die Luft im Raum nicht aufbrauchen wird. Das Wasser, das von den
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Wänden tropft, beweist, daß das Gewölbe nicht länger hermetisch verschlossen ist. Das mußte der Grund für sein Erwachen sein – selbst die Magie, die diesen Ort schuf, hat zu verfallen begonnen. Aber nicht gänzlich. Die Zaubersprüche, welche die Türen verschlossen und verbargen, halten und wirken noch. Darios' Fingerspitzen schmerzen vom Betasten des rauhen Steins. Er hat sogar ein wenig seiner schwingenden Kraft für ein magisches Licht verwendet, aber das blaue Flackern zeigt ihm nur die gleiche leere Oberfläche, die auch schon seine Finger fanden. Ohne eine Möglichkeit, seine Kraft zu erneuern, wagt er keinen weiteren Versuch. Er würde nicht verdursten oder ersticken, aber wie lange kann er ohne Nahrung überleben? Wenn er keine Energie verbraucht und seine Körperfunktionen durch Trance reduziert, kann er seine Existenz verlängern. Aber wozu, wenn er am Ende doch verhungern muß? Wenn er sich nur an das Siegel an der Außenseite der Tür erinnern könnte! In jener Nacht war es nur wichtig für ihn gewesen, in das Gewölbe zu gelangen – und er war sich so sicher, daß ihm sein Meister unmittelbar folgte… Darios atmet tief und zitternd und zwingt sich wieder zur Ruhe. Sind alle Magier in Freistatt tot? Er versucht, sich seines inneren Auges zu bedienen, aber die nötigen Weihungen dafür waren ihm noch nicht zuteil geworden. Alles, was er sieht, ist Rhians Antlitz, graue Augen, klar wie Regenwasser, rostrotes Haar, in dem das Feuer der untergehenden Sonne leuchtet… Werde ich bestraft, weil ich sie betrogen habe? fragt sich Darios. Es war nur ein kleiner Zauber, ein wenig Glanz, um ihren Blick auf mich zu lenken! Er war Student, und er sah auch so aus – die Schultern ein wenig krumm vom Beugen über zu viele Bücher, der Bauch merklich gerundet, wenn er auch glaubte, daß sich dieser inzwischen nach innen wölbte. Wie konnte einer wie er, ein blasser Stubenhocker, mit den muskulösen, braungebrannten Männern der Palastwache konkurrieren? Er aber besaß Fähigkeiten, von denen ein Soldat
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nicht träumen konnte, und es war nur ein kleiner Zauberspruch gewesen, der ihn ein wenig größer, seine Schultern ein wenig breiter gemacht und seinen dunklen Augen einen geheimnisvollen Funken verliehen hatte. Und der Erfolg gab ihm recht! Rhian hatte ihm ihre Liebe geschenkt. O mein süßes Mädchen! Sein Herz ist voll Sehnsucht. Wo bist du jetzt? Bist du am Leben? Denkst du noch an mich? Ihre strahlenden Augen halten seine Furcht in Schach. Mit ihrem Bild vor seinem inneren Auge zwingt sich Darios zurück in den Halbschlaf, der es ihm ermöglicht, einen weiteren Tag zu überleben. »Papa – ich habe Rhian mitgebracht – damit du sie kennenlernst…« Wedemirs Stimme war laut und betont heiter, wie die Stimme aller, die in letzter Zeit das Wort an Lalo richteten. Dachten sie, er merke das nicht? Er vernahm das Rascheln seidener Röcke und wandte den Kopf der Quelle des Geräusches zu. Wie sah sie aus, die junge Dame, in die sich sein ältester Sohn verliebt hatte? »Ich bin sehr erfreut, Euch kennenzulernen.« Ihre Stimme klang gedämpft. Lalo fragte sich, ob seine Blindheit sie verlegen machte oder ob eigener Kummer sie quälte. Selbst die Privilegierten im Palast hatten in diesen Jahren Anlaß zur Sorge. »Du bist im Dienst der Beysiber?« fragte er, um erneut ihre Stimme zu hören. Seide knisterte, als habe sie mit den Schultern gezuckt. »Der Prinz möchte, daß unser Volk und ihres sich näherkommen. Ich war froh, daß ich diese Stellung bekommen konnte. Mein Vater brachte seine Familie hierher, als der Prinz Statthalter wurde, aber meine Eltern waren nach Ranke gereist, als der Kaiser – fiel.«
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Lalo dachte, daß ihre Worte eher wehmütig denn bitter klangen. Ihre Stimme verriet Klugheit und Wärme. Was für ein Gesicht paßte wohl dazu? Er stellte sich klar geschnittene Züge vor, leuchtende Augen und Haare von warmer Farbe – wie Zimt vielleicht. Er hörte Wedemir im anderen Zimmer mit seiner Mutter sprechen. »Man berichtete mir, daß mein Sohn dich umwirbt«, sagte Lalo. Einen Augenblick lang erwiderte Rhian nichts, als sähe sie sich um, um festzustellen, ob noch jemand, außer Lalo, sie hören konnte. »Wedemir ist ein guter Mann«, begann sie langsam, »aber…« Plötzlich erschien ihm ihr rankankischer Akzent ausgeprägter als zuvor. »Aber er ist ein Ilsiger und ein Mann aus dem einfachen Volk!« Lalo versuchte, die Bitterkeit zu unterdrücken, die er längst vergessen geglaubt hatte. »O nein, das ist es nicht!« erwiderte Rhian rasch. »Das alles hat doch nun keine Bedeutung mehr. Aber ehe ich Wedemir traf, hatte ich mich schon versprochen an…« »An einen Magierlehrling…«, erinnerte sich Lalo. »Wedemir erwähnte es. Hast du ihn so sehr geliebt?« Er hielt inne und fragte sich, warum er sie so schonungslos befragte. Antwortete sie freimütig, weil sie nicht befürchten mußte, Mißbilligung in seinen Augen zu lesen? Rhian seufzte. »Wedemir ist herzlich und voller Leben. Wenn ich bei ihm bin, fühle ich mich sicher. Ich weiß, daß ich geliebt werde. Aber ich gab Darios mein Wort.« »Solche Versprechen gelten nicht über den Tod hinaus«, sagte Lalo. »Darios ist nicht tot.« »Das sagt sie immer wieder!« Lalo zuckte zusammen, als er erkannte, daß Wedemir ins Zimmer gekommen war.
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»Rhian, wenn er nicht tot ist, dann hat er dich verlassen! Du schuldest ihm nichts!« »Ich kann seine Gegenwart fühlen! Falls er tot ist, dann ist es sein Geist, der mich verfolgt!« Ihre Worte klangen nun härter, und Lalo fühlte ihre Gegenwart klarer. Sie wandte sich Wedemir zu, ihr Blick glänzte, als hätten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt. Oder war es nur der Schmerz in ihrer Stimme, der ihn sie so sehen ließ? »Er ist in meinen Träumen, Wedemir – Darios ist in Finsternis gefangen und kann sich nicht befreien!« In Finsternis gefangen! dachte Lalo. Wie ich! Einen Augenblick lang überkam ihn ein Entsetzen, das nicht sein eigenes war. Er konnte Stimmen hören, die Sonne auf seinem Gesicht fühlen und seine Lunge mit dem Wind füllen. Zum erstenmal, seit er erblindet war, erkannte er, daß es noch schrecklichere Schicksale als das seine gab. »Er ist noch nicht tot«, fuhr Rhia fort. »Aber er stirbt. Er wurde lebendig begraben, und wenn ich ihn nicht finden kann, wird er in der Finsternis verhungern. Er hat die Hoffnung verloren, aber er denkt noch an mich…« Wieder durchdrang eine Spur Panik Lalos Bewußtsein, so als ob die Gefühle des Mädchens ihn beeinflußten. »Aber wo?« rief Wedemir aus. »Die Spuren der Zerstörung sind zum größten Teil schon beseitigt.« »Noch nicht überall…«, sagte Rhian langsam. »Niemand hat es gewagt, die Ruinen der Magiergilde anzurühren. Dort hat Darios gewohnt. Wenn er nun Zuflucht im Keller suchte und dort eingeschlossen wurde? Diese Möglichkeit raubt mir den Schlaf.« »Das läßt sich leicht feststellen!« Wedemir lachte. »Ich hole mir im Palast eine Genehmigung zur Ausgrabung, dann gehe ich mit ein paar Kameraden und einigen Hacken und Schaufeln hin und wühle den Schutt um. Wir werden deinen Geist zur Strecke bringen, Rhian.«
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Lalo fühlte die plötzliche Feindseligkeit zwischen den beiden. Er verstand Wedemirs Reaktion – er kämpfte um seine Liebe. Aber die rankanische Eleganz verbarg eine Frau aus reinem Stahl. Der Junge würde sich um jede Chance bei ihr bringen, wenn er so weitermachte, gleichgültig, was die Grabenden fanden. Warum konnte Wedemir das nicht sehen? Lalos Miene wurde beschwörend, als wollte er seinem Sohn mit einem Blick bedeuten, still zu sein. Aber er wußte, daß er durch die beiden hindurch sah und daß Darios versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Darios weiß, daß er träumt, denn in seinen Träumen kann er sehen. Aber wenn er die Augen öffnet, in der Dunkelheit, überkommt ihn Furcht. Er wird sterben… Warum versucht er diesen Körper am Leben zu erhalten, wenn es doch nur ein Ende geben kann? Er wird durch die einzige Tür gehen, die sich für ihn öffnen kann, und hoffen, daß ihm die Götter all die kleinen Betrügereien und Ärgernisse eines Studenten der Magie vergeben werden. Ich habe nichts wirklich Böses getan, sagt er sich selbst. Noch irgend etwas besonders Gutes, denkt er weiter. Aber etwas gab es doch, für das ihn der Richter verurteilen könnte, obwohl er glaubt, daß kaum ein Mann in oder außerhalb der Magiergilde Anstoß daran nehmen würde. Er hatte eine Frau getäuscht, um ihre Liebe zu erlangen. War das schlimm? Und er fragte sich: Welche Folgen würde diese Täuschung für mich – für uns – haben, wenn ich am Leben bleibe? Er denkt an Rhians Schönheit und erkennt, daß seine eigene Falschheit diese Schönheit nach und nach beflecken würde. Da ihm der Blick nach außen verwehrt ist, wird der Blick nach innen klarer, er zeigt ihm eine Zukunft, in der eine Täuschung zur nächsten führt, bis er Rhian haßt, dafür, daß er in ihr seine eigene Unzulänglichkeit erkennt – bis er diesen klaren Blick haßt und schließlich vernichtet, der ihn daran hindert, sich so zu sehen, wie er sie ihn hatte sehen lassen. Muß er deswegen leiden? Jetzt erkennt Darios jedoch sein Vergehen. Er ist nun gewiß genug gestraft. Erneut versucht er
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sich des Siegels an der Tür zu erinnern, an das Muster, das er erkennen muß, um sich zu befreien… Aber er kann es nicht sehen1. Es ist auch sinnlos, um Rettung zu beten. Darios weiß nur zu gut, wie der Spruch, der das Gewölbe versiegelt, reagieren würde, wenn jemand den Versuch wagen sollte, mit physischer Gewalt einzudringen… Lalo weiß, daß er träumt, denn er kann sehen. Sein Blick ist so klar wie nie zuvor, auch nicht im wachen Zustand oder selbst im Schlaf, ehe ihm das Augenlicht genommen worden war. In seinen Träumen bewegte er sich durch Freistatt, wie es ihm gefiel, unsichtbar, unverwundbar, als ob alle Energie, die er während des Tages unverbraucht ließ, seine nächtlichen Wanderungen nährte – nächtlich nur in ihrem Ursprung, doch sobald Lalo anfing zu träumen, bewegte er sich durch Nacht oder Tag oder manchmal unter Leuten oder mitten von Geschehnissen, die sein wacher Geist nicht erkannt hätte. Niemals jedoch versuchte er, sich diese Visionen nach dem Aufwachen ins Gedächtnis zu rufen. Der Kontrast wäre zu grausam gewesen. Es war nun Morgen. Das klare Licht fiel auf die Gesichter der jungen Leute, die erwachten und sich fragten, was der neue Tag bringen würde, und es enthüllte gnadenlos die Furchen und Schatten in den Gesichtern der Älteren, die das nur zu gut wußten. Und doch lag eine angenehme Frische in der Luft, und das Sonnenlicht glitzerte freundlich von den Kuppeln der Tempel. Lalo glaubte sich in seine Jugend zurückversetzt, als die großen Karawanen der Stadt einen gewissen Wohlstand verschafft hatten. Beim genaueren Hinsehen erkannte er jedoch die ausgebesserten Risse, die sich unter der neuen Goldauflage verbargen, und als er um eine Ecke bog, erblickte er die gezackten Umrisse der Magiergilde. Er befand sich also in der Gegenwart oder in der Zukunft vielleicht, denn die Stadtmauern im Hintergrund waren merklich höher als in seiner Erinnerung.
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Gemessen an der frühen Stunde, schien auf dem Platz viel los zu sein. Lalo trat näher und sah einen ihm bekannten, lockigen Kopf: Sein Sohn Wedemir war hier, mit einigen Freunden aus der Garnison, große, braungebrannte Männer, die lachten und gut gemeinte Derbheiten austauschten. Aber sie trugen Hacken und keine Speere, und statt der Schwerter führten sie Schaufeln mit sich. Wedemir versuchte, mit mäßigem Erfolg, Anweisungen zu geben. Etwas weiter entfernt sah Lalo seine Tochter Vanda neben einem anderen Mädchen, dessen rostbraunes Haar unter dem Schleier schimmerte. Rhian – ganz unvermittelt wußte Lalo, wer dies sein mußte. Aber wie konnte er das wissen? Er ging näher und rief ihnen einen Gruß zu, aber sie blickten durch ihn hindurch, sie konnten seinen Geist ebensowenig sehen wie er ihre Körper, als sie ihn besucht hatten. Auge und Verstand sehen nicht immer die gleichen Bilder… Diese Erkenntnis erschien Lalo wie die Antwort auf eine lang erwogene Frage. Er war kurz davor, zu verstehen, als ihn ein Ruf ablenkte. Die Soldaten schafften den Schutt an der Schmalseite der Magiergilde fort. Staub stob in die Luft, als der erste der großen Steine bewegt wurde. Der Wind verlieh den Staubteilchen Form und Masse. Gestalten, für die einfache Menschen keine Namen hatten, schienen einen Atemzug lang über den Arbeitenden zu schweben, dann wirbelten sie davon. War das ein Spiel des Lichts, oder hatte Lalo die Kräfte wahrgenommen, die an diese Steine gebunden waren? Wirklichkeit – oder Einbildung? Dieser erste Erfolg hatte die Grabenden ermutigt. Hacken zerklopften Steine in Brocken, die klein genug waren, um beseitigt zu werden. Das Erdgeschoß war freigelegt. Jemand rief, und die Männer versammelten sich um eine mit Schutt angefüllte Vertiefung neben der Wand. »Was haben sie gefunden?« fragte Vanda ihre Freundin. »Das müssen die Stufen sein, die zu dem Gewölbe unter der Magiergilde führen«, antwortete Rhian. »Darios gab damit an, daß ihm der Weg bekannt sei – es war ihm nicht erlaubt, mir
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das anzuvertrauen, denke ich, aber er wollte mir nie glauben, daß er es nicht nötig hatte, mich zu beeindrucken…« »Seine Unbedachtsamkeit rettet ihm nun vielleicht das Leben«, meinte Vanda. »Wenn sie ihn finden und er ist am Leben, wie wirst du dich dann Wedemir gegenüber verhalten?« Rhian zuckte mit den Schultern und errötete. »Ich weiß es nicht. Ich liebe sie beide – kannst du das verstehen? Ich liebe sie auf verschiedene Art.« Vanda schüttelte den Kopf. »Ich war noch nie in einen Mann verliebt und schon gar nicht in zwei. Vielleicht ist das ganz gut so… Oh, schau…«, fügte sie plötzlich hinzu, »Die Männer haben eine Tür entdeckt.« Während die Mädchen sich unterhielten, hatten die Männer weitergegraben. Als die letzten Steine weggeschafft wurden, sah Lalo etwas, das wie eine heilgebliebene Steinplatte aussah. Ein Symbol war tief in die glatte Oberfläche gehauen. Lalo trat näher, um es zu betrachten. Er kannte es nicht, aber die Linien und Flächen weckten vage Erinnerungen. Hatte er nicht etwas Ähnliches bei Enas Yorl gesehen? Er kam jedoch nicht dazu, es näher zu betrachten, denn Wedemir hob seine Hacke und ließ sie mit aller Kraft auf den Stein niedersausen. Violettes Licht flammte aus dem Siegel, so gleißend, daß Lalo geblendet war. Aber er konnte das Krachen hören und Schreie und das dumpfe, unheilvolle Poltern herabfallender Steine. Sein Schrei vermischte sich mit denen anderer, aber der Luftdruck schleuderte ihn zur Seite. Um ihn war es dunkel, doch auf der Innenseite seiner Augenlider hatte sich das Siegel wie mit feurigen Linien eingebrannt. »Wedemir! Wedemir!« Schmerz brannte in Lalos Kehle. Er kämpfte gegen die Dunkelheit, seine Halt suchenden Hände fanden etwas Sanftes, Festes. Arme legten sich um ihn, und sein Atem wurde ruhig. Er wußte, auch ohne sehen zu können, wer ihn hielt. Mit einem
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erschauernden Seufzer lehnte er den Kopf gegen Gillas gewaltigen Busen und sog tief den süßen Duft ihres Haares ein. »Es ist alles in Ordnung – ich bin hier – ruhig, mein Liebster – es war nur ein Traum…« Gilla tätschelte ihm den Rücken, als wäre er ein Kind. Die kühle Luft verriet ihm, daß noch Nacht war. Er hörte aus der Richtung des Labyrinths das ferne Bellen eines Wachhundes und einen Schrei, der abrupt endete. »Ein Traum…«, flüsterte er. »Bei den Göttern, das hoffe ich!« Er wartete, bis sein Herz ruhiger schlug. Bilder zogen an ihm vorbei – das Siegel, Wedemirs Gesicht, als die Steine herabstürzten… »Wedemir hatte doch vor, den Schutt der Magiergilde aufzugraben«, meinte Lalo schließlich. »Wann, Gilla – hat er gesagt, wann?« »Ich weiß nicht genau«, erwiderte sie und zuckte zusammen, als sich seine Finger fester um ihren Arm schlossen. »Morgen vielleicht. Ist es wichtig?« »Wir müssen ihn aufhalten, Gilla. Wenn Wedemir die Schutzwälle zu durchbrechen versucht, wird es sein Tod sein!« »Welche Schutzwälle?« Er fühlte, wie sie ein wenig zurückwich, um ihn zu mustern. »Die Gildenhalle ist ein Trümmerhaufen, Lalo. Ich habe sie gesehen!« »Das habe ich auch!« »Lalo, wovon sprichst du?« fragte Gilla scharf. »In meinem Traum sah ich Wedemir in den Trümmern graben, und ich sah, wie er von den herabfallenden Steinen erschlagen wurde!« »Du machst dir Sorgen um ihn – nun, das tue ich auch«, sagte sie vorsichtig. »Das ist unvermeidlich, wenn man Kinder hat. Ich hatte jede Menge Alpträume, in denen die Kinder in Gefahr waren. Es war ein Alptraum, nichts mehr.« Ihre Stimme klang vernünftig, beruhigend… Lalo schüttelte den Kopf. »Gilla, sprich nicht mit mir, als wäre ich eines der Kinder! Du benimmst dich, als hätte ich neben
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meinem Augenlicht auch noch den Verstand verloren! Hör mir zu, Gilla!« »Wovon redest du? Ich habe dich behandelt wie sonst auch. Ich mußte dich schonen, natürlich, aber…« »So hast du mich also immer schon insgeheim verachtet?« rief er. »Selbst in unseren schlimmsten Zeiten hast du nie im anderen Zimmer geschlafen.« »Du warst verletzt«, begann sie. »Du brauchtest Ruhe und Abgeschiedenheit…« »Gilla, mein Kopf ist seit Wochen wieder heil! Ich bin noch immer dein Ehemann – ich bin noch ein Mann, auch wenn ich nichts sehen kann!« Es war still. Er hörte, wie sie stockend atmete, und kämpfte darum, sein eigenes Atmen unter Kontrolle zu bringen. Ihr Körper war ihm so vertraut – Lalo kannte die großzügigen Täler und Hügel ihres Körpers besser als die seinen. Aber nun schien es ihm, als läge eine Fremde neben ihm. »So hast du es empfunden?« flüsterte sie schließlich. »Das wollte ich nicht. Aber vielleicht hast du recht. Ich hatte Angst – ich konnte nur daran denken, die Kinder zu beschützen. O Lalo, was kann ich tun?« Lalo war froh, daß die Dunkelheit sein unwillkürliches Grinsen vor ihr verbarg. Ihre Frage erinnerte ihn sehr an einen Vers eines schlüpfrigen Liedes, das Gilla, seiner Ansicht nach, wohl kaum kannte. »Laß mich deine Abwehr durchdringen, meine Liebe«, flüsterte er, berührte ihre Wange mit Fingern, die zartfühlender geworden waren, ließ die Hand sanft abwärt gleiten, bis sie sich um ihre Brust rundete, spielte an ihren Brustwarzen, bis er sie fest werden fühlte und sie schwerer atmete. Hierfür brauchte er nicht zu sehen. »Gilla, bitte, laß mich ein…« Die Luft war frischer geworden, und die Stille des frühen Morgens lag über der Stadt, als sie wieder zur Ruhe gekommen waren.
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»Nach so langer Zeit könnte man meinen, daß es keine Überraschungen mehr gäbe«, flüsterte Gilla schläfrig und rollte sich von ihm weg. »Aber jedes Mal lassen wir die Welt neu erstehen…« Lalo fand nur zögernd von dem Höhenflug der Gefühle herab. Er sah die Bilder seines Alptraums nun etwas gelöster, aber sie hatten ihre Klarheit behalten. »Gilla – in meinem Leben hat sich so viel Seltsames ereignet. Dürfen wir das Risiko eingehen und sagen, es war nur ein Traum? Hör zu…«, fuhr er fort, als sie schläfrig murmelte. »Wir haben das Mädchen, Rhian, nie getroffen, erst als ich erblindet war, aber ich kann sie beschreiben – irgend jemand hätte mir wohl von der Farbe ihrer Augen oder Haare erzählen können, aber hätte er auch erwähnt, daß sie einen blauen Gazeschleier trägt, bestickt mit goldenen Kammuscheln am Saum, oder daß sie ein dunkelbraunes Mal auf dem rechten Handrücken hat?« »Das ist wahr«, sagte Gilla und war plötzlich hellwach. »Du hast das Mädchen beschrieben.« Ihre Stimme wurde härter. »Aber wenn dein Traum eine Vorahnung war, dann wird Wedemir sterben!« »Vielleicht war das nur eine der Möglichkeiten«, antwortete Lalo mit mehr Selbstsicherheit, als er empfand, während er Gilla an sich drückte, bis sie ruhiger wurde und ihre Anspannung nachließ. »Du mußt mich zur Magiergilde führen, Gilla, sobald es hell wird. Wir können unseren Sohn retten, wenn es mir gelingt, ihn davon abzuhalten, diese Tür aufzubrechen!« Einmal, als er mit seiner Lehre anfing, hatte Darios in der Werkstatt seines Meisters eine Flasche zerbrochen und war schreiend geflohen, als der Inhalt lodernd explodierte. Ein rascher Spruch des Magiers hatte die Flammen umgekehrt, daß sie sich selbst verzehrten, bis die ganze Substanz aufgebraucht war, aber der Meister hatte Darios daraufhin mehrere Tage lang einen Dämon geschickt, der ihn mit beißenden kleinen Flammen peinigte. Nun träumt er, daß das
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Feuer sich ausbreitet, die schweren Vorhänge verschlingt und sogar den Stein verzehrt. Die Magiergilde ist ein Inferno, Hitzeblasen bilden sich auf seiner Haut, das Licht blendet ihn. Er windet sich und schreit – und erwacht in der kalten Stille seiner Gruft. Schaudernd versetzt sich Darios wieder in Trance. Und erneut peinigt ihn der Traum. Diesmal ist es ein Buch, das zu lesen ihm verwehrt war. Wenn er es jedoch einmal öffnet, kann er der Tyrannei seiner Meister entfliehen, denn dann ist ihr Wissen auch das seine. Er betritt den Raum und legt die Hand auf den Buchumschlag. Licht schießt aus dem Inneren, als er ihn öffnet, das Gleißen explodiert, der Buchdeckel wird aufgerissen. Darios kämpft darum, das Buch wieder zu schließen, aber er kennt den Spruch nicht. Er schreit, und die Welt wirbelt davon. Zweimal aus einem Alptraum zu erwachen ist ein unheilverkündendes Omen. Darios würde gerne wach bleiben, aber im wachen Zustand ist er sich seines Hungers bewußt, der Kälte und der Einsamkeit. Er umgibt sich mit allen Zaubersprüchen, die er kennt, und versucht erneut, ruhig zu werden. Aber wieder träumt er, obwohl er dagegen ankämpft. Diesmal sind Gefährten bei ihm, Zauberlehrlinge wie er vielleicht, die einen Schatz suchen. Sie setzen an, einen Haufen Steine abzutragen, lachend werfen sie die Brocken von sich. Er versucht, sie aufzuhalten, aber bald kommen sie an eine große Steinplatte, die in den Boden eingelassen ist. Etwas steht darauf geschrieben – Darios versucht es zu lesen, aber die anderen sind ihm im Weg. Er sieht, wie sie daran zerren, und dann schießt Licht aus der Erde und schleudert ihn fort. Verzweifelt schreit er Rhians Namen und erwacht, als er das Klirren von Metall auf Stein vernimmt… Lalo und Gilla erreichten die Magiergilde, als die Sonne über dem neu vergoldeten Kuppeldach des Ils-Tempels aufging. Wedemir und seine Freunde arbeiteten bereits. Die protestierende Latilla war zu Hause gelassen worden, wo sie auf Alfi aufpassen mußte, aber Vanda und Rhias waren da, was Lalo bereits wußte. Wedemirs Stimme klang ein wenig
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verärgert, als Lalo ihn bat, mit der Arbeit aufzuhören. Lalo seufzte. Es war schwer genug gewesen, Gilla zu überzeugen, warum sollte sein Sohn auf einen alten, blinden Mann hören? »Um der süßen Shipri willen, hör mir zu, mein Sohn!« platzte er schließlich heraus. »Wedemir, du erinnerst dich an das Schwarze Einhorn?« Eine unangenehme Stille trat ein. Lalo hörte zwei der Soldaten hinter sich flüstern. Er nahm an, daß inzwischen selbst die Rekruten von der Kreatur wissen mußten, die er nichtsahnend erschaffen und auf die Stadt losgelassen hatte. »Was hat das damit…«, setzte Wedemir an, aber Gilla unterbrach ihn. »Du bist jetzt ein erwachsener Mann, und deshalb glaubst du wohl, du müßtest nichts mehr lernen?« schalt sie ihn. »Vor allem nicht von deinen Eltern? Du warst damals nicht so stolz, als dein Vater die schwarze Bestie vernichtet hat – verstehst du denn immer noch nicht, daß er nicht wie andere Männer ist?« »Vater…« Wedemir klang zurückhaltender, als er schließlich antwortete. »Du weißt, warum ich das tue. Ich brauche einen Grund, damit dieser Traum aufhört zu…« »Rhian ist hier, nicht wahr…«, sagte Lalo. »Du hast vielleicht ihre Stimme gehört oder vermutet, sie würde hier sein.« »Glaubst du mir denn nicht? Nun gut, grab weiter. Wenn du den Schutt weggeschafft hast, wirst du auf eine Treppe stoßen, die hinunter führt zu einer Steinplatte. In diese Platte ist ein Symbol eingehauen, Wedemir. Du mußt mir glauben, denn wenn du diese Tür berührst, wirst du sterben!« »Ich gebe zu, es gibt keine natürliche Erklärung dafür, daß du weißt, was sich dort drunten befindet«, sagte sein Sohn. »Wenn wir die Tür finden, hören wir auf. Bist du damit zufrieden, Papa? Wir hören auf, aber du mußt entscheiden, was wir dann tun sollen!« Seine Stimme zitterte vor Erregung.
Ein Hauch Macht von Diana L. Paxson in Geschichten aus der Diebeswelt: Sturm über Freistatt, Bastei-Lübbe 20122
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Das Mädchen, dachte Lalo. Er will sie nicht aufgeben, genausowenig wie ich Gilla aufgegeben hätte in seinem Alter. Sie setzten sich zu Rhian und Vanda und warteten. Lalo hörte die Geräusche der Grabenden, und seine Erinnerung vermittelte ihm die Bilder dazu. Er erkannte, wann sie auf das Erdgeschoß stießen und den Anfang der Treppe fanden. Er sah es auch vor sich, als sie das Ausgraben einstellten und die Steinplatte entdeckten. Die Männer waren sehr still, als Rhian ihn zur Tür führte. Vorsichtiges Betasten mit den Fingern bestätigte ihm, daß das Siegel jenes war, das er gesehen hatte. Lalos Fingerspitzen kribbelten, als er es berührte, und er wußte, daß die Magie, die es bewachte, noch nicht erloschen war. Und in die Stille, nachdem er seine Hand vom Siegel nahm, war ein Geräusch zu vernehmen – zu schwach, als daß es den Lärm der Schaufeln und Picken übertönt hätte oder sogar die Lautstärke normaler Unterhaltung – es war eine ferne Stimme, die rief: »Haltet ein! Wenn euch euer Leben lieb ist, berührt den Stein nicht!« »Er lebt!« flüsterte Rhian. Von Wedemir kam ein Laut wie ein ersticktes Stöhnen. Lalo zuckte zusammen, denn ihm wurde bewußt, daß es Wedemir wahrscheinlich vorgezogen hätte, von den Steinen erschlagen zu werden. Aber er hatte keine Wahl. Er beugte sich vor, bis seine Lippen den Fels fast berührten, und holte tief Luft. »Was können wir tun, um dich zu befreien?« »Ihr könnt nichts tun«, kam die leise Antwort. »Das Gewölbe kann nur geöffnet werden, wenn das Siegel gezeichnet wird, begleitet von den richtigen Worten, und zwar von innen…« »Kennst du die Worte?« Gillas Stimme klang sehr laut in Lalos Ohren. »Ich kenne den Spruch, aber nicht das Zeichen«, kam die Antwort. »Betet für den Geist Darions', Wints Sohn, und Gott segne euch dafür, daß ihr mir helfen wolltet.«
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Rhian begann zu schluchzen. Lalo biß sich auf die Lippen und dachte nach. Die Konturen des Siegels waren ihm sehr lebhaft in Erinnerung. Er hätte es malen können, aber er konnte es nicht beschreiben. Die seltsamen Bögen und Winkel, aus denen es zusammengefügt war, folgten keiner normalen menschlichen Logik und konnten mit menschlichen Worten nicht erklärt werden. Hätte der rankanische Zauberer Randal dieses Rätsel lösen können oder Enas Yorl? Lalo überlegte. Die Grundmauern der Magiergilde bestanden bereits, ehe diese beiden Zauberer gekommen waren. Sie waren alt – ilsigische Magie oder vielleicht eine, die schon davor hier war… »Er kennt die Worte, und du kennst das Symbol«, flüsterte Gilla. »Es muß doch einen Weg geben…« Lalo seufzte. Er war froh, daß Gilla ihm glaubte. Aber selbst wenn er hätte sehen können, so standen er und der junge Darion doch auf den entgegengesetzten Seiten der Tür. »Es ist eine Tür – es ist nur eine Tür…«, flüsterte sie. »Du kannst doch durch solche Dinge hindurchgehen, Lalo. Erinnere dich daran, wie du mit mir durch das Bild auf der Spielkarte gegangen bist. Kannst du nicht dasselbe für den Jungen tun, mit Worten?« Er runzelte die Stirn, langte nach Gilla und fühlte, wie sie seine Hand umklammerte. »Ich nehme es an…«, sagte er langsam. »Wedemir, mein Sohn – verstehst du, warum ich es versuchen muß?« »Ja, Papa«, sagte Wedemir rauh. »Es ist besser, wir bringen es rasch hinter uns, wie immer es auch ausgehen mag.« Wenn er das Mädchen nicht für sich hatte gewinnen können, solange Darions Schicksal ungewiß war, würde er sie schon gar nicht bekommen, wenn ihre erste Liebe hinter diesem Stein langsam verhungerte! »Darios, kannst du mich hören?« sagte Lalo lauter. »Hör zu – ich weiß, daß du das gelernt hast – hör zu und stell dir das vor, was ich sage…« »Ich verstehe nicht…«
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»Hör einfach zu!« Aus Gewohnheit schloß Lalo die Augen. Damals hatte er die S'danzo-Karte vor sich, aber er erinnerte sich lebhaft an jeden Pinselstrich. »Sei ganz ruhig, atme gleichmäßig – du kannst es… Stell dir vor, du blickst auf einen Torbogen – einen Torbogen von einer Größe, daß man einen Streitwagen durchlenken kann. Sieh dir die Steine an. Sie bestehen aus hellem Granit mit dunklen Flecken, die im Sonnenlicht glitzern – sechs große Steine auf jeder Seite, größere obenauf, drei auf jeder Seite und ein trapezförmiger Schlußstein. Siehst du es, Junge?« Lalo sah es klar vor seinem inneren Auge, nicht als gemaltes Bild, sondern als wirklichen Torbogen aus festem Stein. Darios gab zu verstehen, daß er ihn auch sah. »Schau jetzt durch den Torbogen – dort siehst du einen Garten…« Lalo begann das grüne Gras zu beschreiben, die Rosen und Bäume. Während er sprach, sah er es selbst. Er ging darauf zu. »Geh durch den Torbogen, Darios – geh in den Garten – in den Garten hinein…« Lalo fühlte kaum Gillas Arme, die sich um ihn legten, als er seinen Körper verließ und seine eigenen Worte ihn forttrugen. Er empfand es nicht als Schock, daß er sehen konnte, denn dies war nur die Fortsetzung der Bilder seines inneren Auges. Er wandte sich um und sah jemanden auf sich zukommen. Einen hochgewachsenen jungen Mann von ebenmäßigem Wuchs, dessen Haut blaß war, als würde er seine Tage nicht im Freien verbringen. Sein gelocktes schwarzes Haar und der Bart glänzten wie das Fell der verwöhnten Pferde im Palast, und seine dunklen Augen leuchteten. Ein gutaussehender junger Mann, dachte Lalo. Kein Wunder, daß Rhian ihn liebte. Rasch paßte er in Gedanken seine Kleidung an – ein sauberes Hemd und seinen besten Rock. Dann hob er die Hand zum Gruß. Der junge Mann machte große Augen. »Wer seid Ihr?« »Lalo, der Maler.« Es schien eine so unangemessene Antwort für diesen jungen Mann, der im vornehmen Ornat seines Ordens vor ihm stand und ihn verwundert ansah.
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»Ich habe von Euch gehört. Aber Ihr seid kein Magier!« »Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich bin…« Lalo sah sich um. Wenn er nur hier bleiben könnte, hier, wo es so wunderschön war – wo er sehen konnte. Aber zumindest kannte er nun den Weg hierher. »Wenn wir nicht irgend etwas unternehmen, wirst du, mein Sohn, bald tot sein!« Er konzentrierte sich kurz und hielt einen Skizzenblock und Kohle in der Hand. Das Siegel gleißte in Lalos Erinnerung. Er konnte es wohl nicht beschreiben, aber sein Arm bewegte sich leicht und schuf die verzerrten Formen auf dem Papier, und er genoß das Gefühl der Sicherheit, mit der er zeichnete, und da erst wurde ihm bewußt, wie sehr ihn die Enttäuschung, daß er es nicht mehr konnte, verbittert hatte. Hier konnte er wieder malen, auch wenn keiner seine Werke jemals sehen würde. »Wirst du dich daran erinnern?« Er hielt dem jungen Mann das Blatt hin. Darios starrte es an, seine Augen wurde glasig, als tief verwurzeltes Erlerntes die Kurven und Winkel seinem Gedächtnis einprägte. »Ich werde es behalten«, sagte Darios entschlossen. »Ich habe es nie genau gesehen. Das Siegel war nicht in dem Buch, das ich fand – nur der Spruch. Und sollte ich versagen«, seine Lippen verzerrten sich ein wenig, »so habt Ihr mir zumindest einen leichten Ausweg gezeigt. Seid bedankt, Meister Lalo.« Sie reichten einander die Hände. Beide sahen durch den Torbogen, der zurückführte in die Dunkelheit der Welt. Lalo richtete sich auf und erkannte, daß er nahezu ebenso unwillig war, ins Gefängnis seines Körpers zurückzukehren, wie Darios davor zurückschreckte, wieder seine Gruft aufzusuchen. Aber er fühlte die Stimmen derer, die er zurückgelassen hatte, nach seinem Bewußtsein greifen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Dann wurde Lalo von wirbelnder Dunkelheit erfaßt, durch die er eine gewaltige Stimme rufen hörte. »Öffne dich!« und das Siegel leuchtete vor seinem inneren Auge mit Linien aus weißem Feuer. Einen Augenblick lang war er verwirrt. Lalo
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fühlte starke Arme, die ihn stützten. Er starrte auf das Siegel, das in allen Farben des Spektrums schillerte. Dann lösten sich Siegel und Stein auf, und eine hagere Gestalt stolperte ihm in die Arme. »Darios!« stieß Rhian hervor. Aber Lalo hätte ihn auch ohne ihre Ausruf erkannt. Etwas in seinem Geist erkannte den Lebensfunken des Mannes wieder, den er in den Armen hielt, der flackerte wie eine verlöschende Kerzenflamme. Er starrte hinab auf glanzloses, wirres schwarzes Haar, ein zerschlissenes, blaues Gewand, dessen Stoff von schlichterer Qualität war als die Kleidung, die Darios in der Anderwelt getragen hatte, und hinter Darios sah er staubigen Stein. Der gebeugte Körper richtete sich auf; knochige Finger packten Lalos Arme. »Mein Sohn, mein Sohn, weine nicht!« Er strich über die staubigen Locken, als hielte er sein eigenes Kind im Arm. »Es hat geklappt, Junge – du bist frei – du bist frei!« Und dann hielt Lalos Hand inne. Wenn er die Augen schloß, sah er das glänzende Haar und die große Gestalt des Mannes aus der Anderwelt. Aber wenn er sie öffnete, erkannte er, daß der Bursche, den er in den Armen hielt, nicht viel größer war als er selbst, was sich auch nicht ändern würde, wenn er wieder zu Kräften kam. Anstelle des grünen Gartens sah er die schmutzige, schäbige Realität, in die er hineingeboren war – er sah jeden stinkenden Haufen und jeden verwünschten Steinbrocken… Er sah! Vanda und Rhian waren nun auch an Darios' Seite. »Darios – mein armer Schatz! Du siehst aus wie einer deiner eigenen Geister!« Rhian legte ihm den Arm um die Schulter. »Der Hunger…«, flüsterte der Zauberlehrling, »aber selbst davor – sah ich nicht gut aus. Ein Zauberspruch, Rhian – um dir zu gefallen. Vergib mir!« »Du dummer Kerl!« Rhian schüttelte den Kopf. »Denkst du, daß das so wichtig war?«
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»Wir bringen dich nach Hause, und dort wird Mutter dir etwas kochen, damit du wieder ein wenig Fleisch auf die Knochen bekommst!« sagte Vanda und stützte ihn gemeinsam mit Rhian. Lalo ließ ihn los, als die beiden Mädchen ihn auf die Stufen zu führten. Gilla nahm seine Hand und legte sie auf ihre Schulter. »Nein…« Seine Stimme brach, und er legte seine Hand in die ihre. »Ich kann jetzt meinen Weg selbst sehen.« Sie erstarrte, und ihr Blick wanderte von Darios zu ihm. »O Lalo, Lalo!« Ihre Arme schlossen sich um ihn, und er fühlte Tränen über seinen Rücken laufen. Er blinzelte und blickte über ihren geneigten Kopf zu den Stufen. Darios und die Mädchen waren fast oben angekommen. Wedemir wartete auf sie, steif wie ein Denkmal; aller Schmerz brannte in seinen Augen. »Und was wird aus mir?« fragte er, als sie an ihm vorbeigingen. Eine tragische Figur aus einem von Feltheryns Stücken hätte es nicht aufwühlender rufen können. »Rhian, was wird aus mir?« Rhian wandte sich ihm zu. »Ich führe diesen Mann an einen sicheren Ort, Wedemir, nicht zum Traualtar«, antwortete sie schroff. »Im Augenblick weiß ich nicht, ob ich überhaupt jemanden heiraten möchte – weder ihn noch dich!« Darios stützend, gingen die Mädchen vorbei an Wedemir, der ihnen nachstarrte. Lalo brach in Lachen aus, vielleicht über die Art und Weise wie Rhian ihren Kopf zurückwarf, vielleicht über den Ausdruck in Wedemirs Gesicht – vor allem aber aus purer Freude darüber, daß er geheilt war. »Ich liebe dich noch, mein Lämmchen…« Lalo legte den Arm um Latilla, die schluchzte und den Kopf wegdrehte. »Du liebst Mutter mehr…«, murmelte sie.
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Lalo seufzte, er erkannte, daß es in seiner Tochter zwei Seelen gab, von denen eine sich wünschte, er sei noch blind. Aber es wäre nicht gut, ihr das zu sagen. »Ich liebe Mutter anders – aber nicht mehr als dich. Das ist ganz natürlich. Eines Tages findest du einen jungen Mann, der dich auf diese Weise liebt, und du hast dann eine eigene Tochter. Du wirst sehen…« Er seufzte, denn er erinnerte sich, wie unzulänglich er gegenüber dieser Art von Erklärungen in ihrem Alter gewesen war. »Niemand wird mich heiraten – ich bin häßlich!« sagte sie leise. »Haben dir die anderen Mädchen das gesagt?« Er drückte ihre Hand. »Hör zu, Latilla – du wirst wunderschön werden! Das sage ich nicht nur aus väterlicher Liebe, meine Süße – ich sehe, wie du werden wirst!« Sanft drehte er ihr Gesicht dem seinen zu und ließ seinen äußeren und inneren Blick sich vermischen. Er sah Latillas fahlgelbes Haar tiefgold werden, sah, wie sich feingeschnittene Züge unter durchscheinender Haut formten. Es wurde leichter. Anfangs, als sein Augenlicht wieder hergestellt war, mußte Lalo manchmal die Augen schließen, weil er das Durcheinander von Formen und Farben nicht lange ertragen konnte. Während Darios im Nebenzimmer lag, Gillas gutes Essen verzehrte und langsam zu Kräften kam, hatte Lalo wieder sehen gelernt. Aber jetzt war es anders. Er sah die schäbigen Straßen Freistatts wie ein Mann, der nach langer Zeit in seinen Heimatort zurückgekehrt ist. Als er sein Augenlicht wiedererlangte, hatte er auch das andere Sehen gelernt, und Lalo erschien das gewöhnliche Tageslicht ebenso wundervoll wie das klare Licht der Anderwelt. Er hatte begonnen, das innere und äußere Sehen zu benutzen wie noch nie zuvor. »Ich könnte dich malen, wie ich dich sehe, dann könntest auch du es sehen – möchtest du das?« Latilla blickte ihn scheu an, dann sah sie wieder weg.
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Nun habe ich zum ersten Mal damit angegeben, erkannte Lalo. Nein, es war nicht Angabe, er hatte es akzeptiert als eine der Gaben, die ihm eigen waren. Ich bin nicht länger Lalo der Maler, dachte er. Aber was bin ich? »Nein – ich möchte es lieber nicht. Ich glaube dir…«, fügte sie rasch hinzu, »aber ich denke, daß es besser ist, wenn ich es nicht weiß.« Lalo nickte und fragte sich, wie viele Mädchen, die doppelt so alt wie Latilla waren, weniger weise gehandelt hätten. »Du wirst mir sagen, wenn es soweit ist, nicht wahr, Papa? Und wenn Darios Rhian nicht heiratet, dann heiratet er vielleicht mich. Denkst du, er würde das tun?« Sie hielt plötzlich inne und errötete, und Lalo sah den Studenten der Magie in der Tür stehen. »Könnte schon sein – wer weiß?« flüsterte er seiner Tochter ins Ohr. »Lauf nun raus und laß mich hierausfinden, ob er gut genug für dich ist!« Latilla kicherte, sprang auf und eilte, immer noch mit roten Wangen, an Darios vorbei aus dem Zimmer. Es war still, als sie den Raum verlassen hatte. Lalo fragte sich, wie er diese Stille brechen sollte. Manchmal erschien es ihm, daß er und Darios eine gemeinsame Erfahrung der Heilung gemacht hatten, aber es bestand kein Grund zur Annahme, daß der junge Mann ebenso empfand. »Komm herein«, sagte er schließlich. »Wie fühlst du dich? Hast du dir schon überlegt, was du als nächstes tun wirst?« Darios ließ sich auf der anderen Bank nieder. »Mein Meister ist tot, und von der Magiergilde ist nicht viel übriggeblieben«, sagte Darios langsam. »Ich möchte meine Lehre abschließen, bei Euch, Meister Lalo…« »Aber ich bin kein Magier!« entfuhr es Lalo. »Seid Ihr sicher?« Darios blickte plötzlich auf, und Lalo sah den Glanz in seinen Augen, wie damals in der Anderwelt. »Ich kenne die Sprüche, die Rezepte, die Regeln. Aber was nützt das heutzutage, da diese Art von Magie ihre Macht verloren
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hat? Ihr habt mehr vom Geist der Magie in Euren Pinseln als die gesamte Magiergilde in ihren Zauberstäben. Lehrt mich sehen, Meister Lalo, um die Zauberformeln werde ich mich selbst kümmern.« Ein Lehrling! Zum erstenmal seit Jahren erinnerte sich Lalo daran, daß der Mann, der ihn zum Meister gemacht hatte, kein Maler, sondern ein Magier war. Mächte hatten ihre Hand im Spiel, die selbst den Göttern überlegen waren. Und wieder vermischten sich inneres und äußeres Sehen, und er warf einen Blick auf sein Leben, das vor ihm erschien wie eines der großen Wandgemälde in den Tempeln. Er blinzelte, und es verschwand – er war, wie Latilla, noch nicht dafür bereit. Aber eines Tages – eines fernen Tages… Lalo sah Darios an, holte tief Luft und streckte ihm die Hand entgegen. Originaltitel: The Vision of Lalo Copyright © 1989 by Diana L. Paxson Ins Deutsche übertragen von Susi Grixa
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Werden die Wolken aufbrechen? Robert Lynn Asprin
Zalbar fuhr mit einem unterdrückten Fluch hoch, als ihn ein Vorübereilender so heftig anrempelte, daß ihm fast das Essen vom Schoß über die Kaimauer hinabrutschte, auf der er saß. Der Fremde verschwand eilig in der Menge, ohne den verärgerten Höllenhund überhaupt zu bemerken. Zalbar entspannte sich und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er seufzte innerlich und schüttelte den Kopf. Er würde sich künftig in seiner Mittagspause einen anderen ruhigen Platz zum Essen suchen müssen. Bisher waren die Anlegeplätze von der Morgenflut, wenn die Fischerboote ausliefen, bis zum Nachmittag, wenn sie zurückkehrten, fast menschenleer gewesen. Aber jetzt trafen vollbeladene Handelsschiffe der Beysiber ein, deren Waren zu einem guten Teil bereits auf den Schiffen feilgeboten wurden, und die Geschäftemacher, die hier auf günstigen Kauf aus waren, unterschieden sich kaum von der lärmenden, feilschenden Menge im Basar. Normalerweise kümmerte sich Zalbar nicht um die politischen Machenschaften, die in Freistatt so undurchsichtig wie der Schlamm in einem abgestandenen Tümpel waren. Er hielt sich statt dessen an den Standpunkt des Berufssoldaten, nichts zu sehen. Er befolgte die Befehle, ohne nach Beweggründen oder Absichten derer zu fragen, die sie erteilten. In letzter Zeit tat sich jedoch einiges, über das er mehr und mehr ins Grübeln kam, weil es ihn in gewisser Weise auch selbst betraf. Da war einmal der wachsende Reichtum der Stadt. Offenbar waren die Exil-Beysiber, die sich in Freistatt niedergelassen hatten, mit den Mächten in ihrer alten Heimat zu einer Art Frieden oder Übereinkunft gelangt, so daß der Handel über Freistatt als Haupthafen florieren konnte. Zusammen mit der
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neuen Bautätigkeit (die eine Stadtdurchquerung zu einem täglich neuen Abenteuer machte) brachte das Geld und Jobs nach Freistatt, wie es in den Tagen undenkbar gewesen wäre, als er in der Eskorte Prinz Kadakithis' hier eingetroffen war. Natürlich hatte das auch zur Folge, daß die Preise für alles, von Nahrungsmitteln bis Frauen, so in den Himmel schnellten, daß sein bescheidener Sold zwischen den Fingern zerrann. Auffälliger noch waren die Zerfallserscheinungen in den Strukturen seines obersten Befehlshabers, des Rankanischen Reiches. Zalbar war Kadakithis zugewiesen worden und hatte seither seine Befehle von den örtlichen Kommandanten erhalten. Die Befehlskette war in Freistatt über die Jahre immer verschlungener geworden. So gab es Einheiten, welche die Autorität des Prinzen unterliefen und ausschließlich den Befehlen aus der Hauptstadt verantwortlich waren. Jetzt nachdem Theron den Thron an sich gerissen hatte, war das Reich in einem Zustand, den selbst solche Leute wie Zalbar nicht mehr ignorieren konnten, die die Politik lieber anderen überließen. Der Höllenhund konnte nur in purem Unglauben den Kopf schütteln, wenn er an die letzte Einsatzbesprechung dachte. Die große Neuigkeit war gewesen, daß Theron das 3. Rankanische Kommando und die verbliebenen Einheiten der Stiefsöhne in die Hauptstadt zurückbeorderte, um sie zur ›Unterdrückung von Unruhen im Reich‹ einzusetzen. Noch mehr überraschte Zalbar allerdings die Diskussion, die dieser Ankündigung folgte. Statt sich darüber Gedanken zu machen, wie die Ordnung in der Stadt mit so erheblich reduzierten Kräften aufrecht erhalten werden konnte, stiegen die Versammelten in die Niederungen einer Diskussion darüber hinab, ob die geforderten Einheiten dem Befehl des Kaisers überhaupt Folge leisten würden oder nicht! Und selbst jetzt waren kaum Anzeichen irgendwelcher Vorbereitungen für einen Aufbruch zu erkennen.
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Für einen Berufssoldaten wie Zalbar war das undenkbar. Es war eine deutlichere Offenbarung des Machtverlustes des Kaisers als alles, was auf den Straßen und in den Kasernen geflüstert wurde. Und nun fügten sich auch andere kleine Beobachtungen und Unregelmäßigkeiten ins Bild und lenkten seine Gedanken und Überlegungen in eine Richtung, die er geflissentlich vermieden hatte. Er wußte, daß von Freistatt seit geraumer Zeit keine Karawane mit Abgaben zur Hauptstadt aufgebrochen war, denn es waren keine Wachen dafür abkommandiert worden. Er hatte dem bisher keine Bedeutung beigemessen, sondern angenommen, daß das Reich gestattet hatte, daß diese Steuergelder für den Aufbau der Stadt verwendet wurden. Jetzt fragte er sich allerdings, ob der Prinz einfach entschieden hatte, die Gelder einzubehalten. Wenn Ranke nicht einmal mehr in der Lage war, die Steuern einzutreiben… Offen zu diskutieren begann man darüber, als jemand in den Kasernen die Befürchtung äußerte, daß die zurückbeorderten Einheiten dazu ausersehen waren, als Steuereintreiber wiederzukehren. Aber das wurde von den übrigen Soldaten als Spinnerei abgetan. Wenn das wirklich ihr neuer Auftrag sein sollte, warum bekamen sie dann nicht ihre Befehle, solange sie noch hier waren, statt sie erst den weiten Weg in die Hauptstadt zu holen? Nein, alles deutete darauf hin, daß das Reich selbst in großen Schwierigkeiten war und Freistatt den Rücken kehrte, um all seine Kräfte an die neuen, inneren Fronten zu werfen. Von vereinzelten Familien abgesehen, die auf fast marktschreierische Weise ihre Vorliebe für alles Rankanische bekundeten, war kaum noch ein Einfluß des Reiches auf Freistatt zu spüren – und der Rückruf der Truppen war nur ein letzter bestätigender Akt. Und einigermaßen überrascht stellte Zalbar fest, daß er im Grunde weder den Prinzen noch sich selbst als Rankaner sah. Sie waren ein Teil dieser seltsamen Stadt geworden, die einen nicht mehr losließ. Freistatt war ihr Zuhause, war ihr Leben.
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Ranke war nur ein Name, eine lästige ferne Realität, die sich nicht immer ignorieren ließ. Aber es wurde immer leichter. Zalbar wurde bewußt, daß er sich in sinnlosem Grübeln verlor. Er stand auf und warf die Reste seines Mahls ins Wasser, in dem sich der wolkengraue Himmel spiegelte. Frieden und Wohlstand hatten Einzug in Freistatt gehalten, dachte der Höllenhund, aber es war wie mit der Wolkendecke über der Stadt. Würde die Sonne durchdringen und die Stadt in Wärme und Licht hüllen, oder würden die Wolken dunkler werden und Sturm bringen? Ein Soldat konnte nur beobachten und warten – und tun, was immer befohlen wurde. Originaltitel: Introduction Copyright © 1989 by Robert Lynn Asprin Ins Deutsche übertragen von Hubert Straß
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Nachtarbeit Andrew Offutt
Hanse glaubt an sehr wenig. Daher ist er stets auf alles gefaßt, insbesondere auf das Unerwartete. Dies ist ein Charakterzug, der ihm oft geholfen hat. Nachtschatten ist ein Pragmatiker, weil er ein Pragmatiker sein muß – Strick Weisheit ist die Fähigkeit, nur das zu glauben, was du mußt – das Auge Nachtschatten streifte durch Freistatt wie ein hungriger Tiger auf der Pirsch. Sein wirklicher Name war Hanse, und Hanse war verrückt. Besser gesagt, er war zornig, aber war in gewisser Weise auch verrückt, verrückt vor Zorn. Nachtschatten war wahrhaftig weder der erste noch der letzte, der durch Zorn in eine Art Verrücktheit getrieben wurde. Er hatte heldenhafte Taten vollbracht: Er war in das Haus dieses Zauberers eingebrochen und hatte den Ohrring gestohlen, der Nadeesh das Leben rettete und es Strick erlaubte, dem alten Arzt das Wilde Einhorn abzukaufen. Und dann, bei allen Göttern, war der heldenhafte Hanse durch den Willen von Ungerechtigkeit selbst – jenen bösen, koboldhaften Zwerg, der die linke Hand der stets wankelmütigen Dame Glück war – von einem Stolperzauber getroffen worden. Drei große Schurken waren über ihn hergefallen, hatten ihn betäubt, gebunden, geknebelt und in einen großen Sack gesteckt. Er wurde zum Hafen geschleppt, auf ein Schiff verfrachtet und in dessen Laderaum geworfen. Das Ziel: Sklaverei auf den Bandaranischen Inseln. Doch das sollte nicht geschehen. Als Nachtschatten das nächste Mal aus dem schattenlosen Sack auftauchte und wieder ins Licht kam, befand er sich in der düsteren Feste jenes
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düstersten aller Menschen, Jubal. Jubal hatte ihn gekauft. Sicher nach einigem Grinsen und Spötteln hatte er ihn freigelassen, aber nicht als einen Akt des Anstands oder gegen Erstattung des erbärmlichen Preises, den der Bandenchef bezahlt hatte. O nein. Er hatte eine lächerliche Summe gefordert, fast sechzehn Pfund Gold, und Hanse hatte keine andere Wahl, als darauf einzugehen. Eine lächerliche, gigantische Summe – fünfhundert Goldstücke! Lächerlich! Der alte Jubal, dachte Hanse, muß mit seiner Nase statt mit seinem Gehirn gedacht haben. Und er will den Polizeidienst in Freistatt übernehmen. Na klar. Und mich mit der Bewachung aller Juweliere und Geschäfte betrauen. Zumindest wußte Hanse nun, daß einer seiner Entführer Tarkle gewesen war, der als Schläger galt. Und genauso sicher war es, daß Tarkle nicht auf eigene Faust gehandelt hatte. Nein, der Zauberer Marype mit seinen hübschen silbernen Locken mußte den rachsüchtigen Plan für die Beseitigung Hanses erdacht haben, einen Plan, der wahrhaftig ein Schicksal beinhaltete, das schlimmer war als der Tod und somit wahrlich boshaft und schlau war. Wahrscheinlich bezahlte Marype außerdem Tarkle. Hanse wußte noch vier weitere Dinge, die alle sein mußten. Er würde Tarkle finden. Er würde Marype finden. Er würde seine Rache haben. Und irgendwie, irgendwie würde er Jubals verdammten, lächerlichen Preis bezahlen. Natürlich bin ich den Preis wert, aber darum geht es hier nicht. Nachtschatten streifte durch Freistatt wie ein hungriger Tiger auf der Pirsch. Und er konnte Tarkle nicht finden. Strick betrachtete aufmerksam die junge Frau auf der anderen Seite seines blaudrapierten Schreibtisches. Unter einer großen Masse feurigen Haars hervor, das ihr in einem zerzausten roten Pony über die Augen fiel, blickte sie ihn ängstlich an.
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»Ich habe interessante Neuigkeiten für Euch«, teilte er seiner Besucherin mit, deren Name Taya lautete, »vom PrinzStatthalter. Er hegt keinen Groll gegen Euch. Es erwartet Euch ein kleines Haus und eine garantierte Summe Geldes. Sie ist ausreichend, Euch in einer geschäftlichen Unternehmung zu etablieren. Ihr könntet sie aber auch dazu verwenden, Freistatt zu verlassen, wenn Ihr dies wünscht. Dies ist die volle und ganze Wahrheit, Taya. Was nun meine Fähigkeit betrifft, Euer Aussehen zu verändern – ja, das ist möglich, aber eine solche Sache ist keine einfache Angelegenheit, und der Preis mag Euch nicht gefallen. In der Zwischenzeit seid Ihr am besten beraten, Euch für eine Woche oder so zu verbergen. Es entspricht wohl kaum dem, was Ihr gewohnt seid, aber ich würde einen Raum über dem Wilden Einhorn empfehlen.« Ihre Augen hatten sich geweitet. Sie schüttelte schmale und wohlgeformte Schultern. »Dieser… Ort?!« Der riesige Mann spreizte seine Hände. Er sagte: »Wer käme auf die Idee, dort nach Euch zu suchen?« Sie schluckte und starrte die blaue Kappe oder Kapuze an, ohne die noch nie jemand diesen Mann gesehen hatte; sie überlegte angestrengt und nickte schließlich. »Aber ich würde es nie wagen, einen Fuß auf diese… diese…« »Vorsicht, Taya«, sagte der Zaubermeister ihr. »Das Geschäft gehört mir.« Er wiederholte ihr Nicken. »Die Person, die gerade darauf wartet, mit mir zu sprechen, gibt den perfekten Führer ab, Taya. Er wird es für mich tun.« Zwei Leute saßen unten in Stricks Warteraum. Eine, vermummt in ihren kostbaren Schal, war eine recht attraktive Edelfrau, deren Nase eine häßliche, haarige Warze entsproß. Ja, Strick konnte und würde diese Warze behandeln und gut dafür bezahlt werden. Der andere, von dem die Frau sich bewußt fern hielt, war ein Greis mit einer Grabesstimme. Er war es, den Stricks junge Assistentin Avenestra aufforderte, sich zu erheben und ihr zu folgen. Der Greis war erstaunt, jemand anderen in Stricks Büro
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vorzufinden, und betrachtete die junge Frau eingehend. Mit seiner ungewöhnlichen Scharfsichtigkeit – vor allem in der Nacht – erkannte er das leise weinende Mädchen dort bei dem Weißen Magier. Sie warf ihm unterdessen einen kurzen Blick zu und schreckte beim Anblick von runzeligen braunen Händen zusammen, die aus einer alten, ehemals braunen Robe ragten, deren Kapuze sich völlig zerknittert auf seinem Rücken und seinen Schultern ausbreitete. Sein Gesicht lag tief im Schatten eines sonderbar gefiederten Hutes aus irgendeinem fernen und entlegenen Land, zweifellos um Züge zu verbergen, die von Alter und Krankheit verwüstet worden waren und von Schlimmerem – wenn es etwas Schlimmeres als Alter und Krankheit für eine sehr attraktive junge Frau geben konnte, die die Konkubine des Prinz-Statthalters des kaiserlichen Ranke gewesen war. Des einst-kaiserlichen Ranke. »Skarth«, sagte Strick, »dies ist jemand, der für einige Zeit im Labyrinth untertauchen muß.« Der große Hut nickte, und seine leuchtend gelbe Feder wippte müde. »Sie ähnelt auch jemandem, den ich einst in rüder Weise in einem gewissen großen Gebäude in einem gewissen Bett gefesselt und geknebelt habe.« Taya schnappte nach Luft und betrachtete ihn scharf. Er war mit einem Hinken eingetreten und trug einen Gehstock in einer dieser dunklen, alte Hände. Nun nahm sie auch einen übertriebenen schwarzen Schnurrbart wahr, der ebenso schlapp war wie die Feder und genauso groß und herabhängend wie Stricks übergroßer blonder Schnurrbart. »Taya ist verkleidet. Taya, dieser Mann ist verkleidet. Würdet Ihr wohl bitte einen Moment draußen warten? Ich muß ihn von der Wichtigkeit seiner Aufgabe, Euch zu eskortieren überzeugen.« »Nun… o ja«, sagte Taya, die daran gewöhnt war, gebeten zu werden, jemanden zu verlassen und an einem anderen Ort zu warten, während dringendere Dinge geschahen. Schließlich war sie nur einfacher Bettwärmer eines Prinzen gewesen und kaum daran gewöhnt, für sich selbst zu denken.
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Sie erhob sich, albern aussehend in der S'danzo-Tracht, die kaum zu der verschwenderisch großen roten Perücke paßte. Die übergewichtige junge Assistentin / Empfangsdame / Dienstbotin des weißen Magiers lächelte sie an und führte sie einen Korridor entlang, vorbei an einem stämmigen Mann, der wie ein Haudegen aussah. Wie die mehr als nur dralle Avenestra trug er Kleidung von der Farbe, die bereits als StrickBlau bekannt geworden war. »Was soll ich damit anfangen?« fragte der Mann, der Skarth genannt worden war, Strick. Er zeigte hinter Taya her. Plötzlich hinkte er nicht mehr, sondern schritt er mit ungewöhnlicher Anmut heran. Der ganz in blau gekleidete Mann teilte es ihm über seinen blaudrapierten Schreibtisch hinweg mit. »Oh.« Eine runzelige, alte braune Hand gestikulierte. »Kein Problem damit. Wenn einer von den jungen Gockeln seinen Kamm nach dem hübschen kleinen Mädchen aufrichtet, ziehe ich ihm eins mit meinem Stock über, jawohl, das werde ich!« Strick zuckte zusammen. »Wenn du das nächste Mal eine so aufwendige Verkleidung erwägst, solltest du versuchen, eine Lektion oder einen Ratschlag vom Feldherrn zu erhalten.« »Oh, dieser Schauspieler? Gar keine schlechte Idee. Was hast du über Tarkle herausgefunden?« Strick seufzte und schaute mürrisch. »Noch nichts.« Mit einer erstaunlich jungen und vollen Stimme für einen solch alten Mann, sagte der Skarth genannte Mann kurz und bündig: »Verdammt.« »Warte.« Mit einem kleinen Lächeln ließ Strick ein kleines braun und gelbes Tigerauge in die braune alte Hand fallen. »Glas«, sagte Skarth, und Strick lachte. »Richtig. Aber es ist auch das heutige Zeichen. Übergib es Abohorr und frage ihn, was du wissen willst. Bis heute abend wird entweder er oder Ahdio wissen, wo Tarkle sich aufhält.«
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Als sie Stricks Haus verließen, bot Skarth dem lächerlich verkleideten Mädchen seinen Arm an. Sie schreckte vor ihm zurück. Sie huschte neben ihm dahin, während er gebeugt ging, dabei wie ein Seemann schaukelte und die festgetretene Straße mit seinem Stock lautstark bearbeitete. Sie hörte einen einzigen Satz von ihm während ihres Ganges durch das angenehm ruhige, windstille Freistatt; Taya fragte, wie es käme, daß er so alt sei und doch einen noch so schwarzen Schnurrbart besitze. »Farbe«, sagte Skarth tief aus der Kehle. »Auf die einzige Weise, wie eine S'danzo zu rotem Haar kommen kann.« Taya preßte ihre weichen und sinnlichen Lippen zusammen und verschwendete kein weiteres Wort an eine so unfreundliche Begleitung. Als sie schließlich das Labyrinth genannte Viertel erreichten, mit seinem Lärm von kläffenden Hunden und geschäftigen, herumeilenden Leuten inmitten der Gerüche von Kochdünsten und Schweiß, schrumpfte Taya in sich zusammen, zog sich in sich selbst und ihre Unmassen von Kleidung zurück. Jemand stieß hart mit ihr zusammen, und sie suchte Skarths Hand. Er schlug sie aus. »Lehm könnte abgehen«, murmelte er auf schnarrende Art und führte sie weiter, hin zu der Taverne mit dem lachhaft obszönen Schild, auf dem ein unmögliches Tier gezeigt wurde, das eine unmögliche Handlung an sich selbst vollzog. Marype, Geselle des Meistermagiers Markmor bis zu dessen vorzeitigem Ableben, stand vor dem kleinen Häufchen weißer Asche auf dem Boden einer Schale aus reinem Silber. Marypes Gesicht war ruhig, mit hochgezogenen Brauen und großen, nachdenklichen Augen. »Du hattest ein kurzes und angenehmes Leben aber in letzter Zeit nicht allzu viel Spaß, nicht wahr, Marype?« murmelte er. »Sobald ich aus dem Weg war, hast du dieses feine palastartige Heim von jenem schleimigen Krrf-Händler
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übernommen, der auf ewig im Un-Leben gefangen ist… hast die tölpelhafte Schlampe Amoli dazu gebracht, dir zu helfen, ohne deinen eigentlichen Plan zu kennen… nur, um den Ohrring dieses alten Blutsaugers an jenen ungewöhnlichsten aller gewöhnlichen Diebe zu verlieren! Als nächstes zeigtest du, daß meine Ausbildung genutzt hat: Du hattest tatsächlich Erfolg dabei, mich zurückzubringen, um mir eine geistreiche Rache für diesen Dieb auszudenken… schafftest es aber sofort, uns von einem Leimsieder besiegen zu lassen, dessen Bauch die Größe eines Bierfasses hat – und in dem er sicher auch die entsprechende Menge Bier lagert. Hast mich dadurch erniedrigt und beschämt… und mich dazu gezwungen, meinen geheimen Namen dem Leimsieder und den anderen beiden zu nennen. Für den Fall, daß du wissen möchtest, warum du plötzlich fühltest, wie dein Selbst dich verließ, Marype; warum ich deinen Körper genommen habe und dir den meinigen überlassen habe und sicherging, daß er dieses Mal tot ist und keine Gelegenheit hat, zurückzukehren… Nun, dies war es. Von diesen drei erniedrigt und beschämt zu werden, zu wissen, daß sie über uns gelacht haben. Daß sie uns auslachen. Das, mein Lieblingsgeselle, das konnte und kann ich nicht ertragen.« Auf das hinabblickend, was Marype und Markmor gewesen war, tat der Marype, der nicht Marype war, einen mächtigen Seufzer. Und noch immer blickte er hinab auf die Asche, die sowohl er als auch sein Geselle gewesen war. In der Nähe blickte ein glückliches kleines Nagetier in einem goldenen Käfig von seinem Mahl auf, putzte schnell Maul und Schurrhaare und kehrte zu seinem Fressen zurück. »Dein erster Plan war gut, mein Junge. Das Reich von Ranke hat versagt und stirbt. Die Schlacht der beiden machtlüsternen Frauen hat diese Stadt fast zerstört und Kadakithis der Rankaner war nachlässig und langsam – ist noch immer langsam – dabei, damit fertigzuwerden. Es war eine einfache Sache, vergiftete Worte und vergiftete Gedanken über ihn zu verbreiten. Eine einfache Sache, seine seltsame Frau sterben zu lassen und seinen vollständigen Fall herbeizuführen; die volle Katastrophe über diese Stadt zu übernehmen! Firaqa wird
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gut regiert, regiert von Zauberern… warum soll nicht auch Freistatt von einem Zauberer beherrscht werden!« Marype lächelte. Er blickte hinüber zu dem goldenen Käfig auf einem anderen seiner drei Arbeitstische in dem großen Raum. Er enthielt eine glückliche Wühlmaus, die glücklich ausgewählte Nahrungsbrocken verzehrte. In jenem notwendigen Nagetier ruhte die Seele des Magiers Markmor. Andernfalls hätte er nicht den Körper seines Gesellen übernehmen können. Markmor war schon lange tot, von Marype wiederbelebt, nur um von dem Leimsieder Chollandar genarrt zu werden. Jetzt war Marype tot; jetzt bewohnte die essentielle Intelligenz Markmors diesen Körper. Dies schuf eine Anomalie, denn ein Körper konnte nicht zwei Seelen beherbergen – doch ohne die Seele Marype konnte dieser nicht am Leben gehalten werden. Markmor hatte kein Verlangen danach, daß der gutgebaute, jugendliche Körper, den er nun besaß, um ihn herum verfaulte. Markmors Verstand lenkte den Körper seines Gesellen und Sohnes seines ehemaligen Hauptrivalen von vor Jahren. In dem Körper verblieb notwendigerweise die Seele Marypes und daher – die Wühlmaus. Es war ein glücklicher Nager, geistlos, gut versorgt und bestens geschützt in seinem von Zaubern behüteten Heim. »Nachtschatten wurde beseitigt«, sagte Markmor, während er zu einem Spiegel schritt, um in das Gesicht Marypes zu blicken und seinen Mund sich bewegen zu sehen. »Eine Stadt kann nicht ohne Geld übernommen werden, und dank deines Planes kommt eine ganze Menge davon herein.« Er lächelte und sah Marype ihn anlächeln. Vor langer Zeit hatte Markmor gelernt, Gold zu machen. Gutes Gold; wirkliches Gold. Er wußte nicht, ob dies jemals einem anderen Zauberer geglückt war. Aber wenn er das Gold, das nötig war, um seine Ziele in Freistatt zu erreichen, einfach erschuf, würde er mehr und mehr und immer noch mehr benötigen, denn er zerstörte damit die unsichere Wirtschaft des Ortes. Nein, Geld durfte nicht einfach erschaffen werden, es mußte erzeugt werden; verdient werden, nach Freistatt gebracht werden, um der Wirtschaft zu helfen und nicht ihr zu
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schaden. Das war Marypes sinnreicher Plan gewesen, denn auch wenn er ein dummer Junge gewesen war, so war er doch nicht unwissend oder ohne eine gewisse Schlauheit. Genau wie Nachtschatten, dachte der Meistermagier. Und so erklärte sich die ständig steigende Zahl verschwundener Leute in Freistatt. Sie waren nicht verschwunden, sondern nur, mit einem beachtlichen Profit für Markmor von Freistatt, auf die bandaranischen Inseln umgesiedelt worden. Markmor von Freistatt schritt zur Tür. »Tarkle!« Der unfähige Kerl erschien, ein mehr als einfaches Gemüt, aber respektvoll blickend. Sein Haar war ein braunes Gewirr wie ein verwuchertes Stück Brombeerstrauch, das nur dazu geeignet war, ein ängstliches Kaninchen zu verbergen. Allerdings wußte Markmor auch, daß seine eigene neue Schönheit nur äußerlich war. Respektvoll waren auch Tarkies Manieren. »Herr?« »Du und deine Genossen werdet die heutige Nachtarbeit in Abwind tun, Tarkle.« »Abwind.« »Wir lassen das Labyrinth eine Weile in Ruhe – und wer vermißt schon jemanden in Abwind? Nach…« »Niemand.« »Verdammt, das war eine rhetorische Frage. Sei still und hör zu. Kehre nach der heutigen Nachtarbeit hierher zurück. Aber morgen wird es Zeit, daß du dieses schmierige Loch verläßt, in dem du haust. Du wirst dorthin gehen und alles holen, was von deinem Besitz für dich von Wert ist.« »Hierher?« Markmor kämpfte mit seiner Erbitterung über diesen halbintelligenten Halbmenschen. »Ja, hierher. Der Raum in grün gehört dir.« Tarkies Augen ließen Freude erkennen. »Ja, Herr! Oh, ich danke Euch, Herr!« »Ich will dich in meiner Nähe, Tarkle.«
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Sofort trat Tarkle einen Schritt näher. Markmor ging einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hand. »Ich meine nicht jetzt, du…« Er brach ab und seufzte. »Bereite dich auf eine neue Erscheinung vor.« Tarkle sah sich um, als erwarte er, daß eine neue Person erschien. Der Zauberer ignorierte dies und wünschte, er wüßte, wie man Gehirne machte. Oder wie man eines übertragen konnte. Zum Beispiel von einer Katze auf einen Menschen, um so Tarkies Intelligenz zu steigern. »Bereite dich auf eine neue Erscheinung vor«, sagte Markmor mit Marypes Stimme aus Marypes Mund, während er an einer Locke von Marypes langem, silberblonden Haar zupfte. »Ich bin dieses ganze Haar leid. Heute schneide ich es ab und färbe es, und ich will nicht, daß du mich für jemanden anderen hältst, wenn du mich morgen siehst.« Tarkle lächelte und nickte. »Auf keinen Fall, Herr!« Er sah Marype nicken und mit einer Hand wedeln, und ein glücklicherer Tarkle verließ linkisch das Zimmer. Markmor verschloß die Tür und kehrte dazu zurück, in den Spiegel zu blicken. »Das große Tier ist nützlich, aber seine Mutter muß die Tatsache beklagen, daß sie niemals Kinder bekommen kann. Nachtschatten wurde beseitigt«, wiederholte er mit leiser, kontrollierter Stimme, die Marype selten benutzt hatte, »und drei weitere müssen folgen. Drei, die meinen geheimen Namen wissen. Der Weiße Zauberer, den sie Held des Volkes nennen… der ein Kettenhemd tragende Angeber in Fuchs Kneipe und der Leimsieder.« Markmor kicherte, und erneut sah die feiste Wühlmaus auf. »Am besten, er landet in seinem eigenen Kessel. Was für eine Menge Leim er ergeben wird, für die guten Leute in meiner Stadt!« Skarth zeigte dem neuen Mann im Wilden Einhorn das gläserne Tigerauge. Shmurt wendete mit Mühe seinen Blick von Taya ab, sagte: »Was willst du?« und langte danach.
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Skarth zog es zurück. »Ich kann nicht. Ich muß es heute abend Abohorr zeigen, um eine Botschaft zu erhalten.« »Unüblich«, sagte Shmurt. Er war Hausmeister in einem Mietshaus gewesen, das jetzt hauptsächlich aus Trümmern bestand, danach arbeitslos und anschließend Bauarbeiter. Erst vor kurzem hatte der neue Eigentümer des Einhorns ihn als Bedienung eingestellt. »Strick sagte, ich solle dir ein Wort mitteilen«, sagte Skarth und senkte seine Stimme, so daß Shmurt sich über die Bar beugte. »Boodoovagoolarunda«, flüsterte Skarth. Shmurt lächelte und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wo er diese Wörter herkriegt! Was willste?« Skarth sagte es ihm. »Sie will hier wohnen?« »Richtig.« »Bist du sicher?« »Shmurt…« Shmurt nickte eilig, hob beide Hände in einer abwehrenden Geste, und binnen kurzem hatten sie Taya, glücklich oder nicht, in einem der Räume über der Taverne untergebracht. »Edelste Mieterin, die dieses Haus jemals hatte«, sagte Shmurt, als er und Skarth wieder hinuntergingen. »Ich glaube nicht, daß ich dich kenne. Wohnst du in der Nähe?« »Der Name ist Skarth. Du hast mich schon öfter gesehen. Ich wohne drüben im Roten Hof. Bist du sicher, daß du mich nicht kennst?« »Kann nicht sagen, daß ich's tue, Skarth. Tut mir leid, wenn ich's sollte.« Skarth kicherte und bestellte einen kleinen Eimer Bier. Während Shmurt diesen holte, erblickte der alte Mann überrascht ein ungewöhnliches Paar in einer düsteren Ecke des Hauptraumes der ohnehin düsteren Kaschemme. Dort saßen, und weniger scharfe Augen hätten sie wohl übersehen, Furtwan Beutelschneider, Wechsler und manchmal Hehler, und
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Menostric, genannt der Mißadept, der billigste Maler in der Stadt. »Sieh dir die beiden dort an, Shmurt«, sagte Skarth, und sein Stock knallte auf den Boden, während er zur Tür schritt. »Sie könnten dir die Augäpfel stehlen, und du würdest es erst merken, wenn du versuchst, sie anzuseh'n!« Die beiden in der Ecke blickten auf. »Wer, zum Henker, war das?« wollte Furtwan wissen. »Skarth«, rief Shmurt. »Kennt ihr den alten Skarth nicht?« Dann wendete er seinen Blick wieder der leeren Türöffnung zu und versuchte zu ergründen, wer, zum Henker, Skarth war und warum er ihm fast vertraut erschienen war. Der alte Skarth bewegte sich die Straße hinauf und in das Marktgebiet, wobei sein Stock eher knallende als klopfende Geräusche verursachte. Hier drängelten sich so viele Leute, daß es viel wärmer erschien. Die Geschäfte gingen zur Zeit gut, da jeder, der graben, Steine bearbeiten, der Mörtel mischen oder in der Lage war, einen Hammer zu schwingen, sofort Anstellung finden konnte. Er sah Hummy und ihre Tochter Fleisch kaufen und war froh darüber; das bedeutete, daß Hummys Mann zu den vielen anderen gehörte, die beim Bau arbeiteten: dem Wiederaufbau eines besseren Freistatts, nachdem die Natur, zwei bösartig verrückte Frauen, einige hypochondrische Götter und dieser Fremdländer Tempus ihr Bestes getan hatten, diese Stadt zu einer Erinnerung aus verstreutem Schutt zu machen. Dort war auch Lämmchen, die Essen für ihre Brüder und ihren Vater kaufte, was bedeutete, daß letzterer keine Gelegenheitsarbeiten mehr machte, sondern ebenfalls am Wiederaufbau beteiligt war. Skarths Stock schlug auf das Pflaster, und er versuchte, daran zu denken, gebeugt zu bleiben und zu schlurfen, als eine Stimme alle anderen durchdrang: »Hanse!« Skarth tat das schlimmstmögliche: Er erstarrte und begann sich umzudrehen. Er unterbrach die Bewegung, wußte aber, daß es zu spät war. Vor allem war die Stimme eine
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Unmöglichkeit: Sie gehörte Mignureal. Nach so langen Jahren, in denen sie sich mehr als nur ein wenig gekannt hatten und dann oben in Firaqa zusammengelebt hatten, hatten sie übereingestimmt, daß zwischen ihnen unversöhnliche Meinungsverschiedenheiten herrschten. Außerdem hatte sie eine Arbeit und war glücklich. Sie war in Firaqa geblieben. Auch wenn das eine oder andere geschehen war, so daß er nicht gerade auf direktem Wege nach Freistatt zurückgekehrt war, so wußte er doch genau, daß Mignue nicht in der Stadt sein konnte. Aber dennoch klang die Stimme genau wie ihre und erschreckte ihn genug, daß er darauf reagierte und sich verriet. Jetzt blieb er gebeugt, während er sich weiter herumdrehte. Er sah sie und seufzte. Ja, ganz recht, sie klang wie Mignureal, und das hatte einen Grund. Er blickte ihre jüngere Schwester Jileel an, die fast fünf Fuß groß war und ihn ruhig aus großen Augen ansah. Sein umherschweifender Blick verriet ihm, daß ihnen niemand Aufmerksamkeit zu schenken schien, und er hob einen Finger an die Lippen. Gleichzeitig schüttelte er leicht seinen Kopf und bewegte sich auf sie zu. »Leise, ich bin in Verkleidung. Wie hast du mich erkannt?« »Oh, ich würde dich immer erkennen, Hanse«, sagte sie fast atemlos, als wäre er unverkennbar und unstreitbar einfach das bestaussehende Wesen der Hemisphäre. Er stand nun neben ihr und hatte den Kopf gebeugt, damit der große, befiederte Hut aus Firaya seinen Mund beschattete. »Warum bist du in Verkleidung, Hanse?« »Hör auf, das zu sagen.« Er sah sich um. »Ich bin Skarth, Mädchen, Skarth. Ein paar Leute haben mich eingesackt und an Sklavenhändler verkauft. Ich sollte jetzt schon weit auf See sein, in dem verrottenden Laderaum eines verrottenden Schiffes. Sie wissen nicht, daß ich entkommen bin. Ich will nicht, daß sie es erfahren, bevor ich bereit bin. Momentan versuchte ich herauszufinden, wo der Verantwortliche wohnt.«
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»O Han… Skarth, wie schrecklich!« Ihre Hand schoß auf mädchenhafte Weise zu ihrem Herzen, und als sie auf ihre Brust traf, hätte er schwören können, daß sie abprallte. »Du wärst beinahe, du wärst beina…« Er nickte. »Richtig. Es tat weh und hat mich eine Menge Zeit und Ärger gekostet. Obendrein schulde ich einer gewissen Schlange einen dicken Gefallen und eine Menge Gold.« »Gold!« Hanse rollte mit den Augen. Er mußte hier weg, von ihr weg. »Du weißt, wie man mich nennt?« Sie nickte mit einigem Stolz. »Natürlich. Nacht…« Er unterbrach sie schnell. »Richtig. Paß auf, beobachte den Schatten da drüben, und du weißt warum.« Sie drehte ihren Kopf, um in die Richtung zu sehen, die er ihr gewiesen hatte, und Hanse machte einen Schritt zur Seite und einen nach hinten und eilte eine schmale Straße entlang. Einige Abbiegungen brachten ihn zum Roten Hof, wo er in einem bescheidenen Raum im ersten Stock wohnte, der mit einem riesigen alten Wagenrad ausgestattet war. In dem Moment, da er die Tür öffnete, streckte sich sein Körper und er trat in seiner normalen Haltung ein, einem glatten, gleitenden Gang. Ein außerordentlich roter, großer Kater begrüßte ihn mit einer außerordentlichen und entschieden anklagenden Stimme. Irgendwie schauten sogar die Augen des Tieres anklagend. Dann zuckte seine Nase ein paar Mal, und sein ganzes Benehmen änderte sich zu dem einer liebevollen Schmeichelei, während sein smaragdener Blick starr auf den kleinen Eimer fixiert war, den sein Mensch hielt. Er rieb seinen gekrümmten Körper ständig an den Beinen seines Menschen, während Hanse in die kleine Kochecke ging und Bier in eine orange Schale goß. »Tut mir leid, daß ich dich so lange allein lassen mußte, Wunder«, sagte er, »aber Skarth darf nicht mit dem großen roten Monster gesehen werden, das schon zu viele Leute als Nachtschattens Schatten kennen. Hier du… verdammt, Wunder, beruhige dich, sonst verschüttest du das Bier!«
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Er mußte die Schale hochhalten während er sich hinhockte, um den Kater festzuhalten, bis er die Schale Bier mit der anderen Hand auf den Boden stellen konnte. Wunder war groß, schwer und wand sich wie ein Faß voller Würmer. Freigelassen griff er das Bier an wie eine Armee durstiger Pferde, die nach Tagen in der Wüste eine Oase findet. Hanse trat ein wenig zurück, hielt einen Moment inne, um seinen Richtungssinn wiederzuerlangen, und stieß seine linke Hand seinen rechten Ärmel hinauf. Diese Hand peitschte hoch und bis hinter sein Ohr zurück, als er herumwirbelte. Der Arm zuckte nach vorn, und ein langes flaches Stück Stahl erschien in dem Wagenrad an der gegenüberliegenden Wand. Das Ding hier herauf zu bekommen war nicht einfach gewesen, aber es war perfekt, ein solides Rad aus Holz, das nicht durch Nägel, sondern durch Holzstifte zusammengehalten wurde. Hanse hatte den eisernen Rand entfernt. Jetzt wies das Rad zahlreiche Löcher und Spalten auf, die Zeichen von Wurfübungen mit grifflosen Messern und Wurfsternen. Insbesondere die Nabe war weggefressen, während die Wand über und um das Ziel unbeschädigt war. »Verdammt, ich war so damit beschäftigt, Bier für dich zu besorgen und zu versuchen, ein humpelnder alter Mann zu sein, daß ich vergessen habe, etwas zu essen zu kaufen. Ist noch irgendwas da, oder hast du alles aufgefressen? Es sind nicht zufällig ein paar große Ratten hereingekommen und haben die Speisekammer geleert, oder?« Wunder blickte mit tropfenden Schnurrhaaren von seiner Schale auf und starrte Hanse kalt an. Wie immer ganz in Blau, saß Strick allein da. Vor ihm, auf seinem blaudrapierten Schreibtisch befanden sich eine kleine Kiste und mehrere Strähnen menschlichen Haares. Haar und Kasten hatte er von Nachtschatten erhalten, der sie aus den Privatgemächern von Marype dem Magier hatte. Das Haar war das rätselhafte Element; für einen Mann mit Stricks Talenten war seine Aura eindeutig die von Markmor, und doch war es
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weder braun noch grau, sondern silberblond. Sowohl Avenestra als auch seine eigenen Untersuchungen versicherten ihn, daß diese Haare nicht gefärbt worden waren. Das Haar war das von Marype. Der… Eigentümer schien Markmor zu sein. »Unmöglich«, murmelte der Zaubermeister. »Ich habe ihn in jener Nacht mit Marype in Ahdios Hinterzimmer gesehen. Er lebte, sprach, brüllte seinen Gesellen an und teilte uns allen sogar seinen geheimen Namen mit – ein wertvolles Geschenk, wenn er am Leben gewesen wäre. Aber wir beide spürten, daß er es nicht war, nicht wirklich. Marype hatte ihm zeitweises Leben verliehen. Und doch ist dies kein totes Haar. Das heißt, es kam nicht von einem Leichnam, einem Wiederbelebten. Es ist von Marype. Und von Markmor…« Aus fahlblauen Augen betrachtete er die gegenüberliegende Wand, ohne sie zu sehen. Seine Hände bewegten sich über die Strähnen, während er nachsann. Seit seiner Ankunft in Freistatt hatte er es zu seiner Aufgabe gemacht, über die Stadt und ihre Bewohner möglichst viel zu erfahren. Markmor war ihm vorangegangen und war kurz vor Ankunft des rankanischen Statthalters einer der mächtigsten und gefährlichen Zauberer in dieser traurigen Stadt gewesen. Markmor war mehr als nur fähig gewesen, und alles, was Strick erfahren hatte, deutete darauf hin, daß sein Geselle bei weitem nicht alles gelernt hatte, was sein Meister wußte oder auch nur dessen Talenten nahekam. Stricks großer orange-gelber Schnurrbart krümmte sich, als seine Lippen sich bewegten. Fast unhörbare Worte erklangen. Es war eine Gewohnheit, die beim Denken half. Oder vielleicht war es auch nur eine Angewohnheit. »Aus irgendeinem Grund brachte Marype Markmor zurück. Das weiß ich; Ahdio, Cholly und ich haben die beiden zusammen gesehen, und Marype zog dabei nicht an Fäden. Was sagt mir das? Daß sie eins sind?« Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Er starrte weiter ins Nichts, und abrupt blinzelten jene blassen Augen und erwachten zum Leben. »Außer wenn Markmor den
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Körper seines Gehilfen übernommen hat! Oh, was für ein Monster wäre er dann; ein neuer Corstic, der die Jugend eines jungen Mannes vergeudet! Doch noch schlimmer – seinen Körper nicht zu zerstören, sondern sich seiner zu bemächtigen, ihn zu benutzen… Bei der Flamme selbst, dies ist ein sehr, sehr böser Mann, und diese arme, wankende Stadt kann sich einen weiteren von dieser Sorte nicht leisten!« Nach einer Weile stieg ein Seufzer aus der faßförmigen Brust auf. Nun war Strick von Firaqa zerrissen. Seine Bürde, der Preis, den er für seine Kräfte gezahlt hatte, war zweifach. Ein Teil dieses Preises war für immer unter der Schädelkappe mit den Ohrklappen verborgen, die er stets trug. Der zweite Teil bestand darin, daß Strick sich kümmerte, weil er mußte. Er mußte Menschen helfen, nicht ihnen schaden. Dies bedeutete, daß er jene Zauber wirkte, die die Leute Weiße Magie nannten. »Aber… bedeutet nicht, Marype/Markmor zu schaden, den Leuten zu helfen? Nützt es etwas zu – zu versuchen; vielleicht mit Ahdios Hilfe – zu versuchen, Marype/Markmor mit einem Gegenzauber zu belegen?« In blauer Schädelkappe und Tunika über blauen Hosen wie immer saß Torazelan Strick ti Firaqa alleine da und kämpfte mit sich. »Bist du das, Hanse?« »Ich danke dir, daß du deine Stimme senkst, Abohorr. Weißt du – du mußt weniger Bauch haben als jeder andere Schankwirt in dieser oder jeder anderen Stadt!« »Ich beginne damit, wieder anzusetzen«, berichtete der Mann hinter der Theke des Wilden Einhorns ihm. »Diese Arbeit im Stehen die ganze Zeit und so. Ich bin auch viel glücklicher. Du? Ist das eine Verkleidung?« Abohorr konnte das Rollen von dunklen Augen in den tiefen Schatten des großes Hutes nicht sehen. »Muß wohl. Hier.« Eine faltige Hand streckte sich aus, um einen nachgemachten Edelstein Abohorr zu geben.
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Er warf einen flüchtigen Blick darauf. »Ein Teil deiner Haut scheint abzublättern, Skarth.« »Verdammter Lehm! Strick hat dich gebeten, herauszufinden, wo jemand wohnt. Das heißt, er will, daß du es mir sagst.« Abohorr nickte, sah aber nicht glücklich aus. »Ich verstehe. Aber ich habe es nicht herausgefunden. Der Kerl war nicht hier, und meine beiläufigen Versuche, etwas über ihn herauszufinden, haben zu nichts geführt. Es tut mir leid, Hanse.« »Verdammt. Nicht so leid wie mir.« Er sah sich um und hielt inne, um die mädchenhafte Frau zu betrachten, die sich zwischen den Tischen bewegte, Becher und Schalen servierte und Münzen einsammelte. »Silky sieht gut aus. Seltsam; sie hat mehr Sachen an, als ich jemals an ihr gesehen habe! Macht sie sich gut, Ab?« »Sie ist in Ordnung. Die meisten Kunden lassen sie in Ruhe. Ah, sie hat nichts gegen einen Klaps auf den Hintern hier und da, aber sie haßt es, gekniffen zu werden. Hat einen guten Krug auf Harmys Kopf zerbrochen, als der sie vor ein paar Nächten gekniffen hat. Hat ihn mit Bier durchtränkt und auf den Boden gehauen, jawohl! Dann hat sie eine Ankündigung gemacht – sie kann ganz schön laut sein, wenn sie will! – und ich auch, und der Chef hat dieses Schild geschickt.« Abohorr deutete mit dem Kopf zu der Wand hinter ihm. Hanse schaute hin und seufzte. KNEIFEN TUT WEH. KNEIFE UND DIR WIRD SCHLIMMER WEH GETAN. GARANTIERT. – Die Geschäftsleitung »Ab.« »Nun?«
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»Was heißt das?« Abohorr hob seine Ellbogen vom Tresen und drehte sich, um das Schild zu betrachten. »Kneifen tut weh«, entzifferte er langsam. »Kneif un' dir wird schlimmer weh getan. Irgendwas – ich schätze das Wort heißt ›gezeichnet‹ – die Geschäftsleitung.« Er wandte sich wieder Hanse zu, der ein glucksendes Geräusch machte. »Das ist Strick. Ich muß ihn fragen… nenne ich mich jetzt Geschäftsführer?« Der große Hut mit der schlappen Feder wackelte. »Frag ihn besser. Hast du Grailis gesehen, Ab?« »Hast du's nicht gehört? Er hat versucht, den falschen Mann zu überfallen. Er und ein paar andere – aber ich habe gehört, daß Grailis schwört, er wäre allein gewesen. Jedenfalls hat er sich das Schlüsselbein gebrochen.« »Verdammt. Ich wollte ihn bitten, mir bei einer Sache zu helfen.« Hanse klopfte mit einer faltigen braunen Hand auf die Theke. »Ich muß gehen, Abohorr. Danke. Kneif Silky für mich.« Abohorr blickte auf ein Stück brauner Falten auf seinem Tresen hinab und hob dann seine Augen, um Skarth nachzublicken, der seinen Stock den ganzen Weg, bis zur Tür auf den Boden knallte. Mit einem Kopfschütteln nahm der neue Eindaumen sein Thekentuch, um jeden Beweis von Skarths scheinbarer Lepra wegzuwischen. Die beiden Jugendlichen sprachen den alten Krüppel an, als der gerade aus einer Gasse auf den Schlangenweg treten wollte. Zähne blitzten, als sie den dummen Alten angrinsten, der sich auf einen Stock lehnen mußte. »Hübschen Hut hast du da, Bürger!« »Ich nehme die Feder, Opa. Du brauchst sie nicht.« »Dieser Hut hier ist das einzige, was ich habe auf dieser Welt, das ich liebe«, ließ sich eine zittrige alte Stimme unter der übergroßen Kopfbedeckung hören, »und er ist nicht zu verkaufen. Ihr beiden netten Jungen geht jetzt besser weiter.«
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Sie lachten. »Wer hat was von kaufen gesagt«, sagte der linke und trat näher. »Ich hab' einen Schock für dich, Bürger«, sagte der andere mit Büchern. »Wir sind keine netten Jungs.« Er trat näher. »Na, das solltet ihr aber besser sein! Schau, schau – Synabs Junge Hakky, und du bist Sazs kleiner Bruder Ahaz, nicht wahr?« Die Jugendlichen hielten inne, um einen Blick zu wechseln. »Er kennt uns!« wisperte Ahaz mit hoher Stimme. »Sei still«, befahl ihm Hakky. »Also müssen wir etwas Arbeit für Cholly den Leimsieder hinterlassen.« Beide holten tief Luft und gingen auf den verkrüppelten Mann zu. Hakky hielt sein Messer in der Hand. Mit ihrer Beute ging eine wunderbare Heilung vor sich, aber statt sich aufzurichten blieb sie gebückt. Keiner der beiden Angreifer erkannte die Haltung als Kampfstellung, bis der Mann seinen Stock zwischen Hakkys Beine schob und in die Höhe riß. Und noch während Hakky ein Keuchen des Schmerzes von sich gab, tanzte die Beute zurück und versetzte Ahaz einen derart derben Schlag gegen das Schienbein, daß der Junge aufschrie und zu Boden ging. Als sie sich nach einiger Zeit wieder unter Kontrolle hatten, war ihr vermeintliches Opfer verschwunden, in die Schatten, wie es schien. »Verdammter alter Schwindler!« wimmerte Ahaz. »Was für ein gemeiner Trick! Und wir sind doch nur Jungen!« Ein paar Minuten später benutzte der verdammte alte Schwindler seinen Stock, um einige der Schnüre zur Seite zu schieben, die vor dem Eingang der üblen Kaschemme hingen, die Fuchs' Kneipe genannt wurde. Er polterte hinein, ließ seinen Blick über eine große Menge von Trinkern und Schwätzern gleiten und polterte die einzelne Stufe hinab in den lauten, wohlriechenden Hauptraum.
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Ouleh, die Männermörderin, saß auf dem Bein von jemandem, ihre Ouleh-gefüllte Bluse tiefst ausgeschnitten, während eine reizlose Frau in einem langen Rock die Tische bediente und ein humpelnder Jugendlicher Krüge zurück zum Tresen trug, wo ein sehr großer Mann in einem Kettenhemd eine große gepökelte Wurst zwischen zwei Schalen Bier auf ein kleines Tablett legte. Immer in Bewegung, stets seine Helfer und seine Gäste im Auge, entging dem Mann nicht die Ankunft des humpelnden alten Mannes mit dem wilden Hut. Außerdem machte der mit seinem Stock genug Lärm, um einen Gott sich die Ohren bedecken zu lassen. Er polterte seinen Weg zum Tresen entlang. »Bist du Ahdio?« Der Mann im Kettenhemd grinste. »Ah-hah. Wie soll ich dich heute abend nennen – Wunder?« Unter dem Hut bewegte sich ein schwarzer Schnurrbart, war jedoch zu dicht, um den Zähnen zu erlauben, ein klägliches Lächeln blitzen zu lassen. »Du weißt alles, nicht wahr? Bist du in Wirklichkeit ein Zauberer, Ahdio?« Ahdio legte eine große Hand auf seine panzerfunkelnde Brust und setzte einen süßen und unschuldigen Blick auf. »Ich? Bist du ein Mitglied der Höllenhunde?« Hanse schnaubte unter dem Hut. »Nenn mich Skarth. Ich wohne im Labyrinth. Du kennst mich seit Jahren. Zapf mir ein Bier, und ich lasse den Rest für Schlecker.« »Nett von dir«, sagte Ahdio und machte sich auf den Weg zum Bier, »aber dieser Kater hat heute nachmittag eine Ratte erwischt; schnell wie der Blitz ging das – und bis auf Innereien und Eingeweide aufgefressen. Die läßt er immer für mich übrig. Katzen! Jedenfalls hält er jetzt seit Stunden seinen Verdauungsschlaf und könnte wahrscheinlich nicht einmal dazu bewegt werden, seine Zunge in eine Schale Bier zu stecken. Wie geht es Wunder?« »Nicht so schläfrig«, versicherte ihn Hanse, »nie! Danke.« Er schob seine Hand in den Griff des Bechers, den Ahdio vor ihn hingestellt hatte, betrachtete ein oder zwei abblätternde Falten
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und machte ein murrendes Geräusch. »Hast du herausgefunden, wonach Strick dich gefragt hat?« »Habe ich. Das Individuum wohnt in Abwind.« Ahdio lehnte sich vor und senkte die Stimme, obwohl das in der übelsten und lautesten Kaschemme der Stadt kaum nötig erschien. »Backsteinbau, vor mindestens zwanzig Jahren blau angestrichen, drei Stockwerke hoch, in der Glücksstraße. Die Rückseite grenzt an eine Gasse direkt gegenüber von einer kleinen Scheune. Ich schätze, er geht mit dem Geschrei von Ziegen in den Ohren zu Bett. Sein Zimmer liegt im dritten Stock, nach hinten raus.« »Perrrfekt«, schnurrte Hanse. »Oberster Stock hinten. Einfach perfekt. Schau dich um, Ahdio. Siehst du jemanden, der vertrauenswürdig erscheint?« Ahdio begann, Umschau zu halten, und ruckte seinen Kopf zurück zu dem Mann mit dem Hut. »Wo bist du? In der Goldenen Oase?« Hanse kicherte. »Dann versuchen wir es so: Ich brauche jemanden, der stark und willens genug ist, mir bei etwas Nachtarbeit behilflich zu sein und dem ich vertrauen kann, daß er zumindest bis morgen seinen Mund hält.« Ahdiovizun runzelte die Stirn. »Du denkst doch wohl nicht daran, einen Mann zu töten, Hanse?« »Absolut nicht.« Ahdio beugte sich näher heran, um sich anzuhören, was Hanse zu tun plante. Plötzlich begann der schwere Mann vor Gelächter zu erbeben. Er öffnete den Gürtel und wischte sich die Augen. »Skarth, das ist – unwiderstehlich.« Ahdio sah sich um und rief seinen hinkenden Helfer, der allzuoft »Humpler« genannt wurde und angeblich der Sohn von Ahdios Vetter aus Twand war. »Throde! Komm mal 'nen Moment her, Junge.« Ahdio hob den Kopf. »Frax! Komm mal 'nen Moment, bitte.« So kam es, daß Stricks Leibwächter einige Stunden als Wirt von Fuchs's Kneipe diente und Ouleh und Nimsy Ahdios Frau bei der Bedienung halfen, während Hanse sich mit den in
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Mantel und Hut gehüllten Ahdio und Throde in das übelste aller üblen Gettos bewegte: Abwind. Dort erfuhren die beiden anderen, daß Hanse unter seiner Robe schwarz trug. Schwarz, schwarz und Messer. Beide erkannten die Arbeitskleidung des Fassadenkletterers namens Nachtschatten. Er hatte auch ein langes, gutes Seil dabei. Nachtschatten und Throde mußten zusammenarbeiten: Obwohl Ahdio riesig groß war, bekamen sie ihn die Seite des Gebäudes hinauf. Linza war das Beste, das Tarkle seit Jahren passiert war. Er konnte nicht begreifen, warum er nicht beliebter bei Vertretern beider Geschlechter war. Oh, niemand hatte ihm jemals gesagt, er sei hübsch oder gutaussehend, aber was bedeutete schon das Aussehen, wenn ein Mann riesig war, es mit jedem aufnehmen konnte und ehrlich versuchte, nett zu sein? Er hatte für mehr als ein Mädchen und so manche Frau Bier, ja sogar Wein gekauft. Aber irgendwie hatte er sie immer verprellt, und sie hatten ihn sitzengelassen und waren allein nach Hause gegangen. Heute schätzte er sich wirklich glücklich. Oh, schon richtig, Linzas Augenbrauen trafen sich in der Mitte, und sie war ganz bestimmt nicht besonders sorgfältig bedacht, ihre Haare zu waschen oder irgend etwas damit anzustellen. Und er war nicht gerade verrückt nach ihrer Stimme. Aber was bedeutete das schon; nur Schönheitsfehler. Die Hauptsache war, daß sie einen wirklich guten Körper hatte und gewillt war, ihn mit Tarkle zu teilen. Außerdem war sie völlig blank und hatte keinen Ort, wo sie die Nacht verbringen konnte. So führte er sie denn die drei Stockwerke hinauf zu seinem Zimmer. Sie sprachen wenig, aber mittlerweile schwankte Linza ganz schön von all dem Bier, das er ihr im Wilden Einhorn spendiert hatte. Dies war eine wunderbare Nacht, dachte er, und sie würde noch wunderbarer werden. Eine Menge Betthüpferei heute nacht!
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Er wußte, daß Linza sein Zimmer mögen würde. Tarkle war groß genug, daß er sich nicht einmal in dieser Umgebung vor irgendwas sorgen müßte, aber der Umstand, daß sein Raum sich im dritten Stock befand, würde sie sich sicherer fühlen lassen. Er hatte einen recht guten Stuhl und einen, der nicht so gut war, zwei kleine Teppiche, das hübsche Stück Holz an der Wand, ein großes Fenster und einen gepolsterten Strohsack zum Schlafen sowie einen Tisch und sogar eine Waschschüssel. Dazu die beiden Bierfässer, die er gestohlen und in der Mitte durchgesägt hatte, so daß einer einen Lampentisch ergab und der andere als Fußstütze diente. Seine Kleidung und die wenigen Besitztümer, die er hier aufbewahrte, waren in dem großen, schweren Schrank, der in der entferntesten Ecke stand. »Ah, gut abgeschlossen«, sagte er, und Linza, deren Arm ihn umschlungen hielt, drückte seine Taille und machte ein Geräusch, das irgendwo zwischen einem Kichern und einem Schluckauf lag. Wieder gratulierte sich Tarkle zu seinem Glück. Er schloß die Tür auf und machte eine weitausholende einladende Bewegung mit dem Arm. Linza bewegte sich auf den mondlichterhellten Raum zu und lehnte sich fröstelnd gegen ihn. »Kommt aber eine ganz schöne Brise durch das Fenster«, sagte sie. »Du solltest dir Vorhänge anschaffen – He! Ist das ein Witz oder was?« Tarkle starrte in das Zimmer. Sein ganzer Magen fühlte sich an, als sei er in den Unterleib gerutscht. Und trotz der kühlen Brise vom Fenster war er plötzlich heiß. Sein Zimmer war leer. Keine Vorhänge. Keine Teppiche oder durchgesägten Bierfässer. Kein Tisch und keine Stühle. Kein Strohsack. Kein Holzstück, das hübsch an der Wand drapiert war. Keine Lampe und keine Waschschüssel. Dies war unmöglich; er hatte zwei andere starke Männer um ihre Hilfe bitten müssen, um den großen und sehr schweren Wäscheschrank hier herauf zu wuchten, und selbst dieser war verschwunden!
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Es war einfach nicht möglich. Er blickte in ein leeres Zimmer, in dem sich nicht einmal ein Bindfaden mehr befand. Es sah größer aus, so leer und so einsam, so schrecklich entblößt, so sauber; und tatsächlich schien sogar der Boden sauber gefegt worden zu sein. Ein Ding, ein einziges von all seinen weltlichen Besitztümern, abgesehen von denen, die er anhatte, war übriggeblieben. Eine Winterhose lag sauber ausgebreitet auf dem Boden, mit dem unteren Ende der Beine in Richtung der Türöffnung, in der er stand. Die Beine waren gespreizt; die Hose war in der Mitte aufgeschlitzt; hoch bis zum Unterleib. Es war einfach nicht möglich, dachte Tarkle, als seine Beine nachgaben. Sie feierten verhältnismäßig ruhig im Hinterzimmer von Fuchs' Kneipe, wer auch immer Fuchs gewesen war. Ahdios Frau Jodeera war über einige der Dinge, die sie von ihm und den beiden anderen heiteren triumphierenden Kumpanen gehört hatte, nicht besonders glücklich; sie murmelte hin und wieder »Jungen, nichts als übergroße Jungen« und warf ihrem Ehemann düstere Blicke zu. Andere richtete sie auf jenen Kerl namens Hanse. Und doch mußte sie ab und an mit diesem Trio von Nachtarbeitern lachen, das nicht aufhören konnte, von dem zu erzählen, was es heute nacht getan hatte. »Hätten alle drei bei draufgehen können«, lachte Ahdio, schlug sich auf den Bauch und reichte über den Tisch, um sich einen weiteren Becher seines besseren Bieres einzuschenken. »Ich hab' euch ja gesagt, wir hätten den Wäscheschrank zuerst wegbringen sollen, als wir noch nicht ermüdet waren«, sagte Nachtschatten, und Throde gluckste. »Hättest du sehen müssen«, sagte Ahdio. »Du hättest es einfach sehen müssen!« »Die Götter wissen, daß ich zumindest genug darüber gehört habe«, meinte Jodeera. »Nicht genug«, sagte er und lachte erneut. »Niemals genug!«
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»Ich würde zu gerne das Gesicht von diesem rüpelhaften Dungkopf sehen«, sagte Throde und starrte versonnen in sein Bier. »Hätten alle drei bei draufgehen können«, sagte Ahdio, »diesen riesigen Schrank aus dem Fenster und auf das Dach hinauf zu ziehen. Diese beiden schoben grunzend und fluchend, und ich zog schwitzend und fluchend den Schrank am Seil hinauf… das verdammte Ding ist größer als ich.« »Du hättest dich verletzen können«, sagte Jodeera. »Mein Mädchen, dein Mann ist groß genug, um einen kleinen Umzug für einen Freund zu bewältigen«, sagte Ahdiovizun sich schüttelnd, während seine Stimme zu einem neuen Gelächter anschwoll. Ahdio schüttelte sich weiter, und der schwanzlose Kater namens Schlecker sprang mit einem schmollenden Gesichtsausdruck davon, als der große Mann vor Lachen fast von seinem Stuhl gefallen wäre. »Außerdem hatte ich diesen Trockenleim an den Füßen«, sagte er. »Das Zeug, das Hanse von Cholly bekommen hat. Damit war es leicht für mich, die Wand hinaufzukommen – fast so leicht wie für diese beiden Wandkletterer.« Er strahlte seinen Angestellten und seinen Freund, den Fassadenkletterer, an. »Komm zurück, Schlecker. Hier, ich gieß dir ein Schlückchen ein.« »Aber was, wenn euch jemand gesehen hätte?« fragte Jodeera. »Wer, meinst du, hätte uns sehen sollen?« »Jemand, der die Straße entlang gegangen ist…«, sagte sie und brach ab, um Hanse anzublicken. »Wir waren in Abwind«, sagte Throde. »Auf einer Mauer über einer Gasse. Niemand geht Gassen in Abwind entlang. Weder bei Tag noch bei Nacht!« »Oh«, sagte sie. »Ich war nie… na ja: ein gemeiner Streich für einen gemeinen Mann«, meinte sie, und wieder konnte sie sich
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ein Lächeln nicht verkneifen. »Meint ihr, Tarkle wird jemals seine Sachen wiederfinden?« »Wie denn?« sagte Throde. »Niemand außer mir und Nachtschatten könnte auf das Dach kommen, um das ganze Zeug zu sehen!« Trotz der unhöflichen Geräusche, die Schlecker dabei machte, als er das Bier aus seiner Schale leckte, blickten alle Hanse an, der sich bereits eine lange, lange Zeit an seinem Becher Bier festhielt. Er lachte nicht und lächelte nicht einmal, sondern sprach zu seinem Becher. »Soviel zu Tarkle«, sagte er grimmig. »Nun zu diesem Schwein Marype.« Ahdios Gesicht wurde ernst. »Es wird Zeit, daß ich dir etwas erzähle, daß Throde vor einigen Nächten Hakky sagen hörte.« Hanse wandte seinen dunkeläugigen Blick Throde zu. »Jemand sprach darüber, daß du wohl wieder untergetaucht seiest«, berichtete ihm Throde, »und Hakky erzählte ihm grinsend, daß Tarkle ihm erzählt habe, daß Amoli ihn angeheuert habe, um dich loszuwerden, und ihm sogar erzählt habe, wie das vonstatten gehen sollte.« Ahdio schnaubte. »Er sagte, daß sie sagte, daß er sagte, daß ich sagte, daß sie s…« »Wer ist Amoli?« unterbrach ihn Jodeera, und Ahdio mußte lachen. »Niemand, den du wahrscheinlich kennen wirst, Schätzchen. Sie ist die Besitzerin eines Hurenhauses namens Liliengarten.« Die reizlos aussehende Frau blinzelte. Sie sah Hanse an. »Aber warum – was hast du getan, um die Madame eines Bordells zu beleidigen, Hanse?« Aber Nachtschatten starrte Throde an. Sein Gesicht zeigte Erstaunen, oder vielleicht war es auch Erkenntnis. Abrupt stand er auf und ging. Die anderen drei starrten auf die Türöffnung, durch die er ihre Gesellschaft verlassen hatte. Ahdio schüttelte den Kopf. »Und auch dir eine gute Nacht, Hanse«, murmelte er.
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Hanse kehrte lange genug in seinen Raum zurück, um seine gepolsterte Weste anzuziehen, den entzückten Wunder aufzusammeln und, sobald sie draußen waren, ungeduldig darauf zu warten, daß der Kater sich erleichterte. Er ging bereits los, bevor Wunder sein Ritual zu seiner Zufriedenheit beendet hatte. Der Kater peitschte Aufmerksamkeit erheischend mit dem Schwanz und eilte ihm nach, wobei er ein anklagendes Geräusch von sich gab. »Sei still, Wunder«, murmelte Hanse. »Wir sind geschäftlich unterwegs.« Wunder antwortete mit einem leisen, grollenden Ton, als er vor der mit einem dunklen Mantel verhüllten Gestalt buckelte, die ihnen auf der Straße entgegenkam. Wenn Wunder buckelte, nahm er eine Größe an, die genügte, große Hunde und größere Menschen einzuschüchtern. Trotzdem achtete der eher kleine Neuankömmling nicht auf ihn, sondern schritt geradewegs auf Hanse zu. Nachtschatten sah ihn auch, und obwohl er kein Geräusch machte, erschien blitzschnell ein Messer in seiner linken Faust. »Hanse«, sagte Mignureal in angespanntem Ton, »Hanse!« »Ruhig, Wunder! Jileel – was tust du hier um diese Zeit…« Hanse verstummte abrupt. Er hatte Mignues Stimme gehört und wußte, es war Jileel, und doch hatte er noch mehr gehört: Es war die seltsame Stimme gewesen, die er bei einigen Gelegenheiten von Mignue gehört hatte. Er machte einen Schritt nach links, so daß sie sich umdrehen mußte. Auf diese Weise zeigte ihm etwas Licht, das aus einem Fenster oben an der Straße fiel, ihre Augen. Ja, und das unheimliche Gefühl hüllte ihn ein. Ihre Augen waren völlig starr. »Hanse – nimm das Messer mit der silbernen Klinge.« Hanse fröstelte. O Vater Ils! Jileel hatte es also auch. Die seherische Begabung der S'danzo. Und sie zeigte sich bei ihr ebenso wie bei ihrer älteren Schwester und damit anders als bei ihrer verstorbenen Mutter und allen anderen S'danzo, die
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Hanse kannte; Jileel und Mignue mußte man nichts geben, sie mußten nicht versuchen, etwas zu sehen. Sie taten es einfach. Seine Stimme bebte, als er sein Messer wegsteckte. Eine weitere, größere Gestalt tauchte auf; die Kapuze ihres Mantels war hochgeschlagen. Dann erschienen zwei weitere Gestalten auf der Bildfläche, und das Messer war sofort wieder in Nachtschattens Hand. »Meine Hände sind gut zu sehen, und du wirst dein Messer nicht brauchen, junger Mann. Beruhige bitte auch diesen riesigen Hund.« »Termagant!« sagte Hanse. »Termagant?« sagte Jileel in einer normaleren Stimme, auch wenn sie schwach klang. Sie schwankte, und die große Frau legte den Arm um sie. »Mrrrauuu…« »Eine Katze?« »Nicht, Wunder, keine Gefahr.« Und zu der hochrespektierten alten Frau des S'danzo: »Was tut Ihr hier?« Die große ältere Frau riß ihren Blick von der erstaunlichen Katze los. »Ich denke, dies fordert eine Erklärung, junger Mann.« »Sein Name ist Hanse. Was tust du hier, Hanse?« »Ich habe einen Namen, alte Frau. Mein Name ist Hanse.« Etwas überrascht und verwirrt blinzelnd, blickte die Termagant auf das Mädchen hinab. »Nein, Jileel, das ist die falsche Frage. Was tust du hier?« »Ohh… draußen… spazieren mit Euch? Ich fühle mich etwas komisch…« »Termagant«, sagte Nachtschatten in einem ruhigen und entschiedenen Ton, der den Blick aller Augen auf sich befahl. »Dies ist Eure Leibwache?« Sie schien größer zu werden. »Eskorte.« Hanse nickte. »Ah-ha. Jileel, du hattest gerade einen Ohnmachtsanfall. Nimm's leicht, aber geh bitte hinüber zu der
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Eskorte, während ich ein paar Worte mit der Termagant wechsele. Paß jetzt auf.« Die verwirrte Jileel gestattete, daß eine der beiden großen Mantel-Gestalten sie beiseite führte, während Nachtschatten seinen Blick keinen Moment von der alten S'danzo abwandte. »Wohnst du hier, Hanse?« »Ja.« »Und woher weiß Jileel, wo du wohnst?« »Termagant, ich schwöre Euch, daß sie es nicht weiß. Ihr habt gerade gehört, wie sie mich fragte, was ich hier tue. Sie kam, um mich zu warnen, ohne zu wissen, wohin ich ging oder wo ich wohne.« Er sah, wie ihre Lippen sich teilten, und hob eine Hand. »Wartet. Hört mir einen Moment zu.« Er erzählte ihr von Mignureal und wie sie ihn mehr als einmal mit einem Wissen gewarnt hatte, das sie nicht besitzen konnte. »Aber sie tat es, Termagant«, sagte er. »Und jetzt hat es Jileel getan, genau wie ihre Schwester.« Sie sah überrascht aus, aber nicht so sehr wie sie sollte. »Ich weiß, daß das über Mignureal der Wahrheit entspricht«, sagte sie. »Ihre Mutter hat mir davon erzählt. Zum Teil ist das der Grund, warum ich mich für das Mädchen Jileel interessiert habe.« Hanse wußte, daß sie sich daran erinnerte, ihn daran zu erinnern, daß Jileel nur ein Mädchen war. Und laß deine diebischen Nicht-S'danzo-Pranken von hier, Straßenjunge, dachte er, ließ sich aber nichts anmerken. »Ergab das, was sie dir sagte, einen Sinn?« »Genau wie es das auch bei Mignue tat. Einmal ist sie einfach aufgetaucht, um mich zu warnen, auf jeden Fall die gestreifte Schale zu nehmen. Ich hatte wirklich eine, aber sie hat sie nie gesehen. Sie enthielt Kalk. Hätte ich in dieser Nacht keinen Kalk dabei gehabt, so hätte mich Kurds Zauberei getötet.« »Kurd!«
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»Ein anderes Mal tauchte sie auf, um mir zu sagen, den ›großen roten Kater‹ mitzunehmen. Sie hatte Wunder niemals zuvor gesehen.« »In der Tat groß.« »Aber wenn ich die Katze nicht mitgenommen hätte, wäre ich in dieser Nacht durch eine Starraugen-Schlange gestorben. Die Schlange einer Beysib, eine…« »Beynit«, ergänzte sie. »Du führst ein spannendes Leben, Hanse. Dieses Ungeheuer, Kurd. Ich glaube, ich frage besser nicht nach dieser Angelegenheit. Und bei keiner Gelegenheit wußte Mignureal, was du vorhattest?« Hanse nickte. Er sagte: »Beide Male wußte sie es nicht. Und auch bei anderen Gelegenheiten, oben in Firaqa, nicht.« »Und heute nacht…« »Ich versichere Euch, Termagant, niemand weiß, wohin ich will. Ein ausgesprochen böser Mann hat versucht, mich als Sklaven verkaufen zu lassen, und ich glaube, er hat bereits durch den Verkauf anderer viel verdient. Ich habe vor, ihn aufzuhalten.« »Bitte… würdest du mir ihre genauen Worte zu dir sagen? Jileels meine ich, von heute nacht.« »Sobald Ihr mir gesagt habt, was Ihr hier tut – ich meine, seid Ihr ihr gefolgt oder wart ihr mit ihr unterwegs und habt sie verloren?« Es kostete sie einen Augenblick, die Tatsache zu begreifen, daß er von ihr etwas forderte. »Ich besuchte sie zu Hause. Plötzlich erhob sie sich und verließ ohne ein Wort den Raum. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich. Als wir sie eilig und in einen Mantel gehüllt davonhuschen sahen, verpflichtete ich ihren Vater zum Schweigen und folgte ihr mit meinen beiden Eskorten. Wir folgten nicht als Spione, sondern als Beschützer, mußten dabei aber nicht heimlich vorgehen; sie schien nichts wahrzunehmen. Sie eilte nur einfach vorwärts. Jetzt weiß ich, warum. Die Kräfte, die sie und ihre Schwester besitzen, übertreffen sogar meine.«
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»Spione können Beschützer sein«, sagte er und ließ sie wissen, daß er es wußte, wenn jemand eine kleine Lüge erzählte, selbst wenn es die Termagant war. Und er beantwortete ihre Frage: »Sie starrte seltsam, genau wie Mignue es tat. Ihre Stimme klang ebenfalls seltsam. Sie sagte zwei- oder dreimal meinen Namen und riet mir, das Messer mit der silbernen Klinge mitzunehmen.« »Hast du ein solches Messer?« »Ich würde es Euch zeigen, aber ich will Eure Eskorte nicht beunruhigen.« Sie lächelte nicht. »Nun, Hanse… kannst du dir vorstellen, warum ein solches Messer dir in dieser Nacht von Nutzen sein könnte?« »Termagant, wenn es mir von Nutzen sein wird. Ihr kennt die Beziehung von Silber und Zauberei.« Ihr leiser Seufzer war fast unhörbar. »Ich weiß über Silber und Zauberei Bescheid, Hanse.« Er sagte nichts; sie hub an zu sprechen; plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Sag mir nicht, dieser ausgesprochen böse Mann, den du erwähnt hast, ist ein Zauberer.« »Ich hatte nicht vor, es Euch zu sagen, Termagant.« Doch dann erzählte er es ihr. »Er ist es.« Sie tat einen tiefen Seufzer, schüttelte den Kopf, warf einen Blick hinüber zu Jileel und blickte wieder den jugendlichen Mann in schwarzem Leder an. »Hanse, vor einigen Tagen verwies ich auf deinen Ruf. Vielleicht ist er etwas mehr, als er sein sollte… oder vielleicht etwas zu wenig… nun, vielleicht wissen jene, die darüber reden, nicht alles, was es über diesen Hanse zu wissen gibt.« »Niemand tut das, Termagant, glaubt mir.« »Ich verspreche, nicht zu versuchen, mehr zu erfahren, als du mich wissen läßt. Wirst du kommen und mich besuchen, Hanse?« »Nicht heute nacht!?«
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»Nein, nicht heute nacht, Hanse. Zu einer vernünftigen Tageszeit, wenn die Arbeit dieser Nacht getan ist. Wirst du das tun?« »Termagant, ich werde kommen.« »Gut«, sagte sie mit einem überschwenglichen Nicken. »Wenn du kommst, um mich zu sehen, dann bring mir dieses mit.« Ihre langfingrigen Hände tauchten aus ihrem Mantel auf, und in einem Augenblick hatte sie ihm ein Stück Schnur um den Hals gelegt. Etwas schlug gegen seine Brust, und er sah hinab. Er war sehr überrascht. »Ihr gebt mir ein Amulett, Termagant?« »Ich leihe dir ein Andenken, Hanse.« »Ich danke Euch, glaube ich. Ist es in Ordnung, wenn ich es unter meine Tunika stecke?« Dieses Mal kicherte sie. »Ja, Hanse, das ist in Ordnung.« Er nickte. »Gut. Ich danke Euch. Ich bin froh, zu wissen, daß Jileel in guten Händen ist. Die Termagant selbst und zwei große Eskorten.« Zum zweiten Mal brachte er sie zum Kichern. Ein äußerst entschiedener junger Mann – und er liebte Gefahr und Aufregung, ja lebte vielleicht sogar dafür! Um das zu sehen, benötigte sie weder Werkzeuge noch Konzentration. »Gute Nacht, Hanse, und viel Glück.« »Wunder, wir müssen uns auf den Weg machen. Euch eine gute Nacht, Termagant und auch dir, Jileel, und euch, ihr großes mächtiges Paar Eskorten.« Mit hocherhobenem Schwanz bewegte sich Wunder neben seinem Menschen, der fast sofort seine nächtliche Angewohnheit annahm, sich in Schatten und Gassen zu halten. Wunder sah nachts ziemlich gut und verschwendete keinen Gedanken darauf, daß der schwarzgekleidete Mann sich genauso sicher bewegte. Tatsächlich bewegte sich Hanse fast ohne zu sehen. Sein Verstand war beschäftigt und versuchte, Jodeeras Information mit dem in Verbindung zu bringen, was ihm widerfahren war.
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Jede Stadt wie Freistatt hatte ihren Teil an Hurenhäusern; guten, schlechten und durchschnittlichen. Sicher, Freistatt hatte wahrscheinlich mehr als seinen Teil, insbesondere an schlechten und durchschnittlichen Häusern. Das beschrieb dasjenige, das von Amoli besessen und geführt wurde: Der Liliengarten war nicht weit vom Labyrinth entfernt, lag aber zumindest nicht innerhalb dieser üblen und gefährlichen Gegend. Damit war es eines der respektablen Bordelle in der Stadt, die man Diebeswelt nannte. Amoli war mit dem Drogenhändler Lastel befreundet gewesen, der verschwunden war. Nachtschatten wußte von dem Tunnel, der von Amolis Etablissement zu dem feinen Haus führte, das Lastel gehört hatte und nun Marype dem Magier gehörte – oder zumindest von ihm bewohnt wurde. Tatsächlich hatte Nachtschatten den Tunnel bereits benutzt. Sein nächtlicher Besuch in Marypes Unterschlupf hatte einem von Stricks Klienten das Leben gerettet; aus Dankbarkeit hatte der Mann das Wilde Einhorn zu einem bescheidenen Preis an Strick verkauft. Unglücklicherweise hatte der gleiche Besuch dazu geführt, daß Marype Rache an dem Dieb der Diebe genommen hatte. Dessen war sich Nachtschatten sicher. Doch etwas nagte an seinem Verstand: Woher hatte Marype gewußt, wer in seinem Bau gewesen war? Also war es Amoli, die Tarkle auf mich gehetzt hat. Arbeitet Tarkle also für sie? Oder sie und Tarkle arbeiten beide für Marype – oder sie und dieser Schleimbeutel von einem Magier sind Partner oder Liebhaber. Und in dem Augenblick, da ich sein Haus besuchte, war ich brillant genug, es sie wissen zu lassen! Verdammt! Dämlich, Hanse, dämlich! Zwei Minuten, nachdem ich sie in dieser Nacht verlassen hatte, muß sie ihre strammen Hüften durch diesen Tunnel geschwungen haben, um es Marype zu berichten! »Wir sollten«, murmelte er, »der Schlampe etwas von dem Fett abrasieren und es sie fressen lassen!« »Mmmau?« »Leise, Wunder, verdammt, ich habe dir gesagt, du sollst sti… Ich hab laut gedacht, was?«
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Wunder gab keinen Kommentar ab. Er war nur ein ungewöhnlich großer und ungewöhnlich schlauer Kater, obwohl er einst ein Mann gewesen war. Plötzlich schien sein Mensch zu verschwinden, und der Kater brauchte zwei oder drei Momente, um ihn zu finden. Er blinzelte, als er zu dem hageren Mann hinaufsah, der eine Ziegelmauer auf eine Art erklomm, die als Übung für ängstliche Kätzchen dienen könnte. Wunder folgte ohne Angst. Er war fast genauso leise, fast genauso geschickt im Klettern. Fast. Nachtschatten machte auf einem Sims, der durch das etwas zurückgesetzte erste Stockwerk gebildet wurde, eine Pause. »Komm her«, flüsterte er, »du bist zu langsam. Klettere auf meinen Rücken.« Wunder ließ ihn wissen, daß er lieber selbst weiterklettern würde, kam aber doch. Grollend fuhr er seine Krallen aus. Hanse störte sich nicht daran; dies war der Grund, warum er sich vor kurzem die gepolsterte Weste besorgt hatte – natürlich in Schwarz. Mit Wunder auf dem Rücken kletterte Nachtschatten weiter auf das Dach hinauf. Wunder mochte den notwendigen Sprung über das lange schwarze Rechteck schaffen, das eine Gasse war, aber Nachtschatten fragte den Kater gar nicht. Er sammelte sich, krümmte sich zusammen, verlagerte sein Gewicht etwas, um trotz des Gewichts des Katers auf seinem Rücken die Balance zu halten. Mit einer Hand griff er hinter sich, um einmal kurz zu drücken und zu streicheln, während er ein paar freundliche Töne murmelte. Dann sprang er. Wunder gab keinen Laut von sich. Er krallte sich einfach fest, ohne die Weste würde Hanse wohl bis zu einen Fuß tiefe Krallenspuren davongetragen haben. Wieder griff er nach hinten, um die Katze ermutigend zu streicheln, und versuchte, sein Gesicht gegen Wunder zu drücken. Wunder bewegte den Kopf und wich seinem Gesicht aus. »Guu-uut, Wunder«, flüsterte Nachtschatten.
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Die Katze begann sich zu winden und bereitete sich darauf vor, herunterzuspringen. Nachtschatten drückte ihn fester. Er murmelte: »Halt dich nur fest, Wunder. Paß auf, wir überqueren dieses Dach…« Er unterbrach sich, als jemand unten auf der Straße vorbeiging. »Dann beginnen wir zu laufen und…« Hanse sprang erneut, eher in der Art, wie Wunder gesprungen wäre, als wie man es von einem Menschen erwartete. Er landete fast geräuschlos auf einem weiteren Dach. Dieses Dach war schräg, und er setzte beide Hände auf und drückte. Er blieb solange in dieser Stellung, bis er sicher war, daß seine Füße festen Halt hatten. Unterdessen zog Wunder alle Krallen ein, sammelte sich und sprang über den Kopf seines verrückten Menschen auf das Dach. Er lief sofort weiter und hielt erst auf dem Firstbalken an. Mit peitschendem Schwanz gab er vor, die ganze Zeit nur daran interessiert gewesen zu sein, einen bestimmten Fleck an seinem Fell zu putzen. Er blickte sich beiläufig um und sah Nachtschatten rittlings auf dem Firstbalken sitzen und ein dünnes und teures Seil von seiner Hüfte abwickeln. »Wenn du nicht auf mich kletterst«, murmelte Hanse über die Schulter, »wird es für dich viel schwerer, hinunter zu kommen.« Wunders Schwanz bewegte sich vor Unentschlossenheit rastlos hin und her, aber er gab vor, sich weiter putzen zu müssen. Ein weiterer flüchtiger Blick sagte ihm, daß der Mensch sein Seil befestigt hatte und sich über die Dachkante hinabließ. Während er den Firstbalken entlangschlenderte, hielt der große Kater an, um seinen Kopf zu senken und in Nachtschattens Augen zu starren. Ziemlich zart für ein Tier seiner Größe, trat Wunder auf die schwarzgekleidete Schulter. Er sank nach unten. Nicht weit. Amoli sonnte sich gern und hatte sich daher vor ihrem Fenster einen kleinen Balken mit Geländer bauen lassen. Für sie war er bei Nacht nutzlos. Nicht so für Nachtschatten. Er flüsterte »Wir sind da« und war Augenblicke später bereit, das dunkle Zimmer zu betreten. Es war alles so einfach, daß…
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Außer, daß sich genau in dem Moment, als er sich über das Fenstersims schwingen wollte, die Tür vom Korridor öffnete und Licht das Zimmer durchflutete. »… sobald wir genug Geld durch das Sklavengeschäft angesammelt haben«, sagte eine Stimme; und es war Marype, der direkt hinter Amoli war. Mit diesen wenigen Worten hatte er Hanse alles erklärt, über was der Dieb nachgedacht hatte. Kater und Fassadenkletterer schmiegten sich flach an die Fassade. Wie er es vor langer Zeit von seinem Mentor Cudget gelernt hatte, versuchte Nachtschatten nicht, zu sehen oder die Luft anzuhalten; er kontrollierte sein Atmen, während er lauschte. Er hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Er mußte nicht hinschauen, um sich bewußt zu sein, daß das Licht in dem Zimmer geblieben war. Er hörte nicht, wie die Truhe geöffnet wurde, vernahm aber das Klimpern und dann das Schließen einer Klappe. Ein Schlüssel wurde in einem Schloß gedreht. »Immer ein Vergnügen«, sagte Amoli. »… Geschäft mit Tarkle«, murmelte die Stimme von Marype, und die Tür öffnete sich erneut und wurde wieder geschlossen. Das Licht blieb. Nachtschatten blieb, wo er war. Sein Kopf war aufgerichtet, so daß er zu einer langsam vorbeitreibenden Wolke aufschauen konnte. Als er entschied, daß sie weit genug getrieben war, erhob er sich und betrat Amolis Privatgemach. Sie saß ein paar Fuß vor ihrem Bett an ihrem kleinen Tisch und sah in den kostspieligen Electrum-Spiegel, den sie vor sich aufgestellt hatte, während sie ihre hochfrisierten Haare richtete. Mit Augen, die viel größer waren als die Goldmünzen, die ›Imperiale‹ genannt wurden, starrte sie auf das dunkelgekleidete Spiegelbild des jungen Mannes hinter ihr. Der Ellbogen seines erhobenen linken Armes deutete auf sie; die Hand war knapp hinter seinem Ohr. Amolis Augen begannen zu flackern, und ihr Mund öffnete sich. »Wenn du versuchst zu schreien oder nach etwas zu greifen, werfe ich«, teilte er ihr ruhig mit. »Ich weiß, wer Tarkle gesagt hat, auf welche Weise er mich loswerden soll. Ich weiß, wer
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Tarkle bezahlt. Ich weiß, was du und Marype vorhabt. Ich weiß, daß du ihm erzählt hast, daß ich in jener Nacht dort gewesen bin, kaum daß ich hier weggegangen bin. Außerdem habe ich gerade euch beide gehört. Amoli, öffne die Truhe.« Sie starrte ihn im Spiegel an. »Ich – er hat den Schlüssel mitgenommen.« »In diesem Fall werden wir einfach das Schloß beschädigen müssen. Darin bin ich kein Anfänger.« Langsam drehte sie sich um. Langsam erhob sie sich – drall und weich, blaßblaue Seide, übersät mit Juwelen und glitzernden Perlen. Nun erst bemerkte sie das große rote Tier. »Oh!« Wunder antwortete mit einem langen Knurren. »Ruhig, Wunder, sie ist zu schlau, um etwas Dummes zu versuchen, wo wir beide mit all diesen scharfen Dingen bewaffnet sind.« Er schenkte Amoli einen offenen Blick. »Erinnerst du dich, daß ich dir von meinem Kater erzählt habe, der auf Angriff dressiert ist? Hast du geglaubt, ich scherze?« »Hast du vor, das Geld zu nehmen, Hanse? Willst du mich berauben?« »Ich habe vergessen zu erwähnen, daß du auch keine dummen Worte versuchen sollst, mich zu überreden«, teilte er ihr in dem gleichen ruhigen Ton mit. »Wir wissen alle, woher das Geld stammt. Sogar mein Preis ist dort drin – der Preis, den die Sklavenhändler deinem Lakaien Tarkle für mich gezahlt haben. Ich muß Jubal einiges mehr zahlen, um mich wieder frei zu fühlen; er hat mich gekauft, Amoli, alte Freundin.« Sie zitterte, und ihre Augen waren weiterhin weit aufgerissen und so glasig wie ihre Ohrringe. »Ich gebe dir…« »Du wirst mir die Perlen geben, Amoli, und sechshundert Stücke Gold. Nur sechshundert.« »O nein, nicht die Perlen!« Ihre Hand griff danach. Er wußte sofort, daß es so war, wie er vermutet hatte; es waren wirklich wertvolle Perlen, und sie bedeuteten ihr mehr als das Gold. Hanse war zufrieden. Er sagte: »Die Perlen.«
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Sie gab einen schluchzenden Laut von sich. Als sie seinen unerbittlichen Blick sah, seufzte sie tief und wischte Klamotten von dem, was wie ein niedriger Tisch aussah. Das enthüllte, daß es sich dabei um eine lange Truhe von ordentlicher Größe handelte. Nach einem Zögern und einem weiteren Seufzer kniete sie sich daneben. Er sah zu, wie sie einen großen schwarzen Schlüssel aus ihren Kleidern hervorkramte. »Er hat mich dazu gezwungen, Hanse. Ich habe nicht…« Er bewegte sich ein paar Schritte, um zwischen sie und die Tür zu gelangen. Er hatte seinen erhobenen Arm entspannt, sorgte aber dafür, daß sie das flache grifflose Wurfmesser zwischen seinen Fingern sehen konnte. »Du hast Glück, daß du nicht diesen Stecher in deinem Schlüsselkasten stecken hast und geradewegs ins Nichts starrst, während ich das Ding öffne«, erklärte er ihr. »Hör einfach auf zu plappern. Sowohl du als auch Marype werdet diese Stadt verlassen. Ich hoffe, du liebst ihn nicht, Amoli. Ich hatte beschlossen, dich davonkommen zu lassen.« »Ich liebe ihn nicht«, sagte sie. »Aber, verdammt, ich liebe diese Perlen.« Er lächelte und beobachtete, wie sie den Deckel des Sarges öffnete. Sie nahm die Säcke heraus und begann damit, Goldmünzen in einen davon zu zählen. Für Nachtschatten klangen die klimpernden Geräusche, als ob ihm parfümierte Lippen süße Nichtigkeiten ins Ohr flüsterten. »Da ist sicher eine Menge mehr drin als sechshundert Imperiale, nicht wahr?« meinte er im Plauderton. Entweder hielt es Amoli für klüger, nicht zu antworten – oder vielleicht war sie zu ärgerlich, darüber nachzudenken, wieviel da war und wieviel davon ihr genommen wurde. »Was meinst du, wiegen fünfhundert Imperiale?« »Längst nicht genug, um so wichtig zu sein«, sagte sie. »Amoli«, sagte er in gefährlichem Ton, »ich habe gefragt…« »Ein paar Pfund. Drei oder vier.«
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»Wenn du fünfhundert in den Sack abgezählt hast, wirf einfach die Perlen obendrauf und zähl den Rest in einen anderen.« »Oh, Hanse, meine Perlen… oh, es tut mir so leid…« Sie begann zu schluchzen. »Nun, ich könnte dich die Perlen behalten lassen, aber sie würden sie dir wahrscheinlich sowieso abnehmen.« »Wer?« »Die Kerle auf dem nächsten Schiff, das nach Bandara fährt, nachdem ich dich ihnen verkauft habe.« Dieses Mal schluchzte sie lauter und erbebte. »Oder Kadakithis' Kerkerwache, sobald ich dich ihm übergeben habe«, sagte Hanse in dem gleichen leisen Ton. »Wußtest du, daß ich eine ganze Nacht gefesselt in einem Sack im Laderaum dieses verdammten Schiffes verbracht habe, Amoli? Oh, ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, Amoli.« Weinerlich straffte sie sich und hob beide Hände, um ihre Perlen abzunehmen. Sie ähnelte einer Mutter, die von ihrem verstorbenen Lieblingskind Abschied nimmt. Liebevoll und bedauernd plazierte sie das Halsband in dem Sack. Und schniefte laut. »Ich bin so dankbar, daß du dich entschieden hast, klug zu sein, Amoli«, erinnerte Hanse sie. »Ich töte nicht gern, aber wenn ich einen Stecher nach jemand werfe, ziele ich gewöhnlich auf die hellste Stelle. Du weißt schon, das Auge.« Die Edelstein-Anhänger an ihren Ohrringen klimperten bei ihrem Erschaudern. Sie schniefte wieder und schauderte erneut, als sie einen Seitenblick auf einen unglaublich roten Kater erhaschte, der groß genug war, um einen Dämon innehalten zu lassen. Sie wischte sich die Augen mit den Fingern. Und sie begann, Goldmünzen in einen neuen Beutel aus weichem Leder zu zählen. »Verzichte darauf, mich an den Prinzen oder die Sklavenhändler zu übergeben«, sagte sie, ohne aufzusehen, »und du kannst alles haben.«
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»Dann wäre ich reich und würde wahrscheinlich anfangen, dumme Gedanken über dumme Dinge zu denken, wie vielleicht, zu versuchen, Freistatt zu übernehmen. Und was ist ein Dieb, der keinen Grund mehr hat, nachts hinauszugehen? Das ist mein Vergnügen am Leben. Nein, ich habe eine bessere Verwendung für das ganze Gold.« »… Neunzig, Einhundert«, sagte sie schließlich. Sie blickte auf. »Warum zwei Säcke?« »Gib mir einfach den da. Ich werde ihn dir zurückgeben. Für die Summe von einhundert Goldstücken kaufe ich den Liliengarten. Schreib das auf, Amoli. Ich wette die Urkunde liegt auf dem Boden der Truhe, richtig?« »Einhun…«, sie preßte die Lippen zusammen. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Ich bin auch mehr wert, als du für mich erhalten hast. Tatsächlich bin ich sogar mehr wert als diese fünfhundert, die ich in einer dunklen Nacht durch Jubals Fenster werfen werde! Schreib es nur richtig auf, Amoli.« Vorsichtig fischte sie das kleine Ölhautpaket heraus und entnahm ihm die Urkunde. Sie hatte gerade damit begonnen, darauf zu schreiben, als jemand an die Tür klopfte. Sie zuckte zusammen und blickte dann Hanse an. Er hob die linke Hand und winkte. Amoli drehte sich auf ihrem lehnenlosen Stuhl herum und sprach in Richtung der Tür. »Ich will nicht gestört werden«, rief sie. »Sieh zu, daß du das jedem sagst. Jedem, Vissy.« »Aber Madame…«, begann die Stimme eines der Mädchen. Hanse verstellte seine Stimme so tief, wie er konnte. »Sollen wir sie in unser kleines Spiel aufnehmen, Schätzchen, oder soll ich nur die schwatzhafte Zunge von dem kleinen Plappermaul für dich rausschneiden?« Es kam kein Laut mehr von der anderen Seite der Tür. Amoli fuhr damit fort, Worte auf die Verkaufsurkunde zu schreiben. Sie unterzeichnete sie und benutzte ihren Stempel. »Es ist fertig. Willst du jetzt dein Zeichen daraufmachen?«
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»Knie dich dort auf den Boden, Amoli. Das ist eine sichere Position, während ich das Dokument unterschreibe.« Sie wußte sehr wohl, daß er weder schreiben noch lesen konnte, hatte aber trotzdem nicht gewagt, ihn zu betrügen. Sie wartete geduldig, während er mehr Zeichen auf das Dokument machte, als er benötigte, um ein X zu zeichnen. Sie war überaus überrascht, zu sehen, daß er fünf ziemlich grob geformte, aber deutlich erkennbare Buchstaben geschrieben hatte: HANSE »Jetzt sage ich dir etwas, Amoli«, meinte Hanse, packte das Dokument in das Paket zurück und steckte die Ölhaut dann in seine Tunika. »Ich gebe dir eine Garantie. Ich werde Marype besuchen. Du legst die Hände auf den Rücken und kreuzt sie, und ich schwöre dir, daß ich wiederkomme und zusehen werde, wie schnell du und der Sack mit den hundert Imperialen aus Freistatt verschwinden könnt.« »Wo soll ich hingehen?« wimmerte sie, während er Stoff zerriß und ihre Handgelenke fesselte. Plötzlich erschien das dunkle Gesicht des Nachtschattens über ihrer Schulter. »Du kannst in jede Hölle gehen, die dir beliebt, du verkommene Menschenhändlerin«, teilte er ihr voller Bosheit mit, »oder werde schlau und halt den Mund und zieh nach Suma, oder wohin auch immer die nächste Karawane geht. Du wirst hundert feine rankanische Imperiale haben, die aus mindestens neunzig Prozent Gold bestehen, um dich in dem Geschäft zu etablieren, das du am besten verstehst.« Sie schluckte und preßte ihre Zähne aufeinander. »Das ist gut. Nun mach weit auf. Weiter, verdammt noch mal!« Er ließ sie auf ihrem Bett liegen, mit dem Gesicht zur Wand. Ihre Handgelenke waren hinter ihrem Rücken gekreuzt und zusammengebunden und durch eine weitere Schnur mit ihren Knöcheln verbunden. Eine Menge Seide steckte in ihrem Mund;
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eine breite violette Schärpe hielt den Knebel am richtigen Platz. Ein breites und gefaltetes Stück Baumwolle verband ihr die Augen. Hanse ließ sie hören, wie er die Truhe schloß. »In Ordnung, Wunder«, sagte er und nahm die Katze hoch, »jetzt setzt du dich hier auf diese Truhe und hast ein Auge – nein, beide Augen auf diese müde alte Hure. Wenn sich ihr fetter Hintern bewegt, haust du Krallen und Zähne hinein!« Während ein neuer Schauer das gefesselte, blinde Bündel auf dem Bett überlief, verließ Hanse das Zimmer – mit Wunder auf dem Arm. Indem er die Hintertreppe benutzte, von der er wußte, daß Amoli sie ausschließlich für sich und besondere Kunden reserviert hatte, stieg er hinab ins Erdgeschoß und bewegte sich kurz darauf wieder einmal durch den dunklen Tunnel, der Amolis Haus mit Marypes Heim verband – das heißt, dem Haus, das Lastel gehört hatte. »Als wir das letzte Mal hierher kamen, hat uns eine große Ratte angegriffen«, bemerkte Nachtschatten. »Eine sehr große Ratte, und ich war dumm genug, sie für eine Illusion zu halten. Erinnerst du dich, Wunder? Wunder? Ah, du erinnerst dich – wie hübsch es aussieht, wenn du drei Fuß hinter mir gehst!« Als Antwort erhielt er ein tiefes Knurren. Sie schritten vorsichtig voran. Nachtschatten mochte die Dunkelheit, aber nicht dunkle Tunnel. Er hatte zuviel Zeit in dem Labyrinth unter Corstics Haus oben in Firaqa verbracht. Dieses Mal war hier nichts. Sie wurden weder von zauberischen noch von nichtzauberischen Dingen überfallen. Wahrscheinlich war Marypes Aufmerksamkeit auf sein ›Geschäft mit Tarkle‹ gerichtet, statt darauf, den modrigen alten Geheimgang zu seiner Feste so zu bewaffnen, wie er es am besten konnte. Andererseits war der zauberische Angriff auf Hanse und Wunder erst passiert, nachdem sie Marypes Unterschlupf besucht hatten; vielleicht ließ der Magier den Weg für Amoli und für Tarkle frei, während etwas Verteidigungsmaßnahmen gegen jemanden in Gang setzte, der das Haus verlassen wollte.
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Wieder einmal betraten ein lebender Schatten und eine wachsame Katze auf geisterhafte Weise die dunklen Hallen, die einst das Heim von Lastel gewesen waren und nun Marype/Markmor gehörten. Dieses Mal durchschritten sie die dunklen Korridore, ohne sich die Zeit zu nehmen, hinter die geschlossenen Türen zu schauen, die sie passierten – die weichen Halbstiefel waren auf dem Teppich ebenso leise wie die Tatzen des Katers. Ohne jemanden zu sehen und ohne ein Geräusch zu verursachen, gingen der Mann und die Katze direkt zu dem Raum, in dem sich ein Arbeitstisch befand sowie Dinge, bei denen sich die Haare in Hanses Nacken sträubten. Und auch Wunder war nicht glücklich darüber, sich der großen Tür zu nähern. Nachtschatten trat dicht an die große vertäfelte Tür heran und preßte sich gegen die angrenzende Wand. Er lauschte. Er hörte auch tatsächlich Geräusche aus dem Raum von Marypes Zaubereien. O Vater Ils und alle Götter, wie sehr ich Zauberei und alle, die sie ausüben, hasse! Und: Er ist also zu Hause. Jetzt sollte ich einfach… Sein Herz machte einen Sprung, als etwas gegen sein Bein stieß. Er ließ seinen Atem entweichen und konzentrierte sich auf regelmäßiges Atmen: er hatte natürlich Wunder gespürt. Hanse bewegte sein Bein langsam als antwortende Liebkosung. Warum tue ich dies? Warum vergessen wir die Sache nicht einfach? grübelte er. Wir könnten etwas tun, das mehr Spaß macht und ungefährlicher ist, wie zum Beispiel auf die Spitze des Palastes des Statthalters zu klettern und hinunterzuspringen oder uns auf ein Nickerchen in den Stall eines ungezähmten Pferdes zu legen oder – Der Griff klickte, und einen Augenblick später öffnete sich die Tür. Licht ergoß sich in den Korridor. Zur Abwechslung war Nachtschatten einmal nicht froh darüber, Wunder als Begleitung zu haben; Hanse hätte einfach stehenbleiben können und den Magier passieren lassen. Aber das war nicht die Art eines erschreckten Katers. Wunder zischte und spuckte. Genauso erschreckt reagierte der auftauchende Marype mit
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einem Fluch und einem Tritt. Sein Stiefel traf sein Ziel, und der Kater segelte mehrere Fuß den Korridor entlang. Neben Nachtschatten, doch ohne ihn zu sehen, fluchte ein nicht mehr silberhaariger Marype erneut, starrte den Kater an und begann etwas zu murmeln… Nachtschatten traf ihn hart mit der Faust in den Magen und sprang drei Fuß weit zurück, um herumzuwirbeln und in geduckter Haltung dem Zauberer gegenüberzustehen. Weiche Halbstiefel traten beinahe auf Wunder. Der Kater sprang davon; der Mensch war still und bewegungslos, außer daß eine Hand hinter sein Ohr hochzuckte. Der Magier keuchte und krümmte sich mit den Händen am Bauch. Er richtete sich wieder auf, und sein Mund sprang auf, um zu schreien. Damit schuf er ein Ziel, das für Nachtschatten groß genug war. Sein Arm sauste nach vorne, und der Dolch flog. Er flog in das Ziel: das offene Loch zwischen Marypes Nase und Kinn. Die silberziselierte Klinge heftete Marypes Zunge an die Rückseite seines Mundes. Der Magier machte ein gurgelndes Geräusch, und beide Hände flogen an seinen Mund. Gleichzeitig stolperte er zurück in seine zauberische Höhle. »Warte!« rief Nachtschatten, aber Wunder rannte an ihm vorbei hinter dem Mann her, der es gewagt hatte, ihn zu treten. »Wunder!« Nachtschatten sprang dem Kater nach. In der Kammer mischte sich ein scheußliches katzenhaftes Jaulen mit den gurgelnden Geräuschen, die Marype durch eine Mundvoll Messer und Blut machte. Hanse stürzte herein und sah den Kater, der noch größer als sonst aussah, weil alles an ihm gesträubt war. Wunders steifer, ausgestreckter Schwanz ähnelte einer roten Stahlbürste. »Hier, Zauberer, nimm dir noch ein Messer!« Der verwundete, entsetzte Marype hätte nicht in der Lage sein dürfen, sich so schnell zu bewegen, wie er es tat; schnell genug, um der sausenden Klinge auszuweichen. Doch Marype taumelte davon, und in seiner Verzweiflung war er nun zu einer schrecklichen Tat fähig; er zog sich das Messer aus dem Mund.
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Unterdessen fielen verschiedene Werkzeuge seines Gewerbes von dem Tisch, gegen, den er geprallt war, auf den Fußboden. Darunter auch ein sehr hübscher Käfig, in dem sich ein kleines pelziges Tier befand. Der Käfig traf mit einem rasselnden Knall auf dem Boden auf, der die Stäbe aus weichem Metall eindrückte und verbog. Voller Schrecken zwängte sich das kleine pelzige Tier heraus und jagte davon. Doch der Kater hatte es bemerkt und sprang. Einen Augenblick später zermalmte er etwas. Aus seinem Mund hing der Schwanz einer Wühlmaus. Und Marype, der Markmor war, schrie; ein schrilles Jammern, das rasch versiegte. Marype war tot; Markmor bewohnte diesen Körper, während seine eigene Seele in dem Körper der Wühlmaus gewesen war, die Maus aber war gefressen worden. Marypes Körper war weder bewohnt noch am Leben. Er begann zu verfallen, eilte, die um mehrere Wochen verzögerte Fäulnis nachzuholen. Der Anblick war häßlich, abscheuerregend; der Gestank schlimmer als scheußlich. »Igitt!« Nachtschatten hielt sich die Nase zu. »Wunder! Raus hier!« Und er floh, während ein riesiges dämonisches Ding hinter ihm herstürmte. Sie rasten durch das Haus und hinab in den verborgenen Eingang zu dem alten Tunnel. Sie hörten nicht auf zu laufen, bis sie wieder den Liliengarten erreicht hatten. Während er Amoli von Knebel, Augenbinde und Fesseln befreite, erzählte Hanse ihr von dem Grauen, vor dem Wunder und er gerade geflohen waren. »Marype ver… ver…« »Das war nicht Marype«, gelang es ihr zu sagen, nachdem sie sich mehrmals die Lippen geleckt hatte. »Marype ist tot. Er war dumm genug, Markmor wiederzubeleben, und Markmor belohnte ihn, indem er ihn umbrachte. Dein Kater hat Markmor getötet, und du hast beobachtet, was mit einem toten Mann geschieht. Und ich sage dir eins, Hanse Nachtschatten – du hast mir heute nacht einen Gefallen getan. Ich habe hundert
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Imperiale und mein Leben, und ich werde froh sein, so schnell wie möglich diese Stadt zu verlassen!« Und sie ging. Am nächsten Tag besuchte Hanse Strick, um ihm zu berichten, daß er ein feines Geschäftsunternehmen für Taya gefunden habe. Strick tat, was er konnte, und schickte sie für einen dauerhaften Zauberspruch zu Ahdio. Als sie wiederkam, war sie immer noch attraktiv, aber nicht länger Taya, die frühere Gespielin des Prinzen. Sie war Altaya, Betreiberin und, gemeinsam mit Strick, Eigentümerin des Liliengartens. An diesem Nachmittag lieferten zwei Männer in Stricks-Blau den klimpernden Inhalt von Amolis und Marype/Markmors Truhe im Palast ab – das Geld sollte für den Wiederaufbau der Stadt verwendet werden. ›Auf daß Freistatt unabhängig von Ranke ist‹, hieß es in der Botschaft, die von Strick und Hanse unterzeichnet war. Hanse überreichte unterdessen dem Vater von Mignureal und Jileel einen Beutel, der feine und viel zu wertvolle Perlen enthielt, die er nicht gestohlen hatte. Er schlug eindringlich vor, daß Teretaff aus den Perlen Ohrringe für seine zahlreichen Töchter machte und »den Rest irgendwo unter dem Fußboden vergrub«. Er ging, ohne daß Teretaff etwas von dem Sack Goldmünzen wußte, den Hanse in seinem Heim zur sicheren Verwahrung verborgen hatte. Einige Stunden später steckte Hanse im Wilden Einhorn dem Serviermädchen Silky einen Haufen Imperiale zu und gab eine Lokalrunde nach der anderen, bis es im Einhorn so hoch herging, daß er es nicht mehr aushielt und zu Fuchs' Kneipe schlenderte. Dort gab er Lokalrunden, bis die Kaschemme so laut wurde, daß er es auch hier nicht mehr aushielt. Er ging mit einem Eimer Bier nach Hause und genoß es, Wunder dabei zuzusehen, wie der Kater sich ordentlich betrank. Eine Woche später verhandelte Hanse mit Cholly wegen eines Dolches, den er erkannte: eine hübsche Angelegenheit.
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Sicher, sein Griff war beschädigt, aber wer konnte der schönen, mit Silber eingelegten Klinge widerstehen? Originaltitel: Night Work Copyright © 1989 by Andrew Offutt Ins Deutsche übertragen von Rainer Gladys
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Das unfähige Publikum John DeCles ERSTER AKT »Es ist mir völlig egal, ob er der Cousin des neuen Kaisers ist!« schrie Feltheryn der Thespianer und schwenkte ein Plakat durch die Luft, das er von einer Wand gerissen hatte, bevor der Leim getrocknet war. »Wenn Kaiser Theron ihn mögen würde, wäre der Kerl nicht in Freistatt!« »Liebling«, sagte Glisselrand, während ihre Finger über ein Gewirr vielfarbigen Garns flogen, »es ist ein Unterschied, ob man seine Verwandten mag oder ihnen Übles wünscht. Denk daran, daß Kaiser Abakithis auch unseren lieben Kittycat hierher nach Freistatt geschickt hat, vermutlich, weil er ihn für eine Bedrohung hielt. Niemand hat den geringsten Zweifel daran, daß er Kittycat aus dem Weg haben wollte, aber genausowenig zweifelt irgend jemand daran, daß er erbarmungslos mit jedem umgesprungen wäre, der königliches Blut vergossen hätte.« »Ich habe ja nicht behauptet, daß wir Vomistritus umbringen sollten«, erwiderte Feltheryn, den die Gelassenheit seiner Frau reizte. Glisselrand lachte. »Wenn nicht, mein Süßer, dann ist er der erste Kritiker, dem das erspart geblieben ist, nachdem er eine derartige Besprechung abgeliefert hat!« (Ja, es stimmte! Der mit Abstand niederträchtigste aller Schurken hatte sich in Freistatt eingeschlichen, ein derart übles Geschöpf, daß alle früheren Widersacher – von Roxane vielleicht einmal abgesehen – neben ihm blaß aussahen. Irgend jemand hatte einmal geschrieben – lange vor dem Fall Rankes, lange vor dem Fall Illsigs –, daß das Erscheinen von Kritik der
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Vorbote des ersten Anzeichens der Reife einer Kunstform gewesen sei. Doch soweit es Feltheryn betraf, war er der Meinung, daß das Erscheinen der Kritiker das erste Warnsignal der totalen gesellschaftlichen Dekadenz gewesen sei, ein Zeichen, daß die Leute die Kontrolle über ihren Verstand und ihren Geschmack verloren hatten und deshalb auf die Meinung von anderen zurückgreifen mußten.) »Und das zu Recht!« grollte Feltheryn. Dann begann er pedantisch zu dozieren: »Ein Kritiker ist ein Mensch, der die Ansicht vertritt, man müßte sich von seiner emotionalen Anteilnahme an einem Kunstwerk lösen und unumstößliche Maßstäbe an sämtliche Kunstwerke anlegen, um dadurch ein Urteil über jedes einzelne dieser Werke fällen zu können, das auf Grund von rationalen Kriterien zustande kommt. Und doch ist ein Kunstwerk etwas, das laut seiner Definition die Emotionen direkt anspricht, das Gefühle in etwas hineinträgt, das in Wirklichkeit nichts weiter als ein kaltes Konstrukt ist, ein Kanal, durch den das Herz eines vielleicht längst schon verstorbenen Künstlers das Herz eines Menschen berühren kann, der lange nach ihm lebt!« Glisselrand sah von ihrer Strickerei auf, die aus einer Reihe kleiner orange-, purpurfarbener und roter Quadrate bestand, die später zu einer volkstümlerischen Steppdecke zusammengefügt und noch später irgend jemandem arge Kopfschmerzen bereiten würde. Sie hob fragend eine elegant geschwungene Augenbraue und forderte ihn damit auf, fortzufahren. (Es hatte eine Zeit in ihrer Liebesbeziehung gegeben, vielleicht vor dreißig Jahren, als er sich bei solchen Gelegenheiten gefragt hatte, ob sie ihn wirklich verstand, ob es ihr wirklich wichtig war, oder ob sie ihn einfach nur aufzog. Mittlerweile spielte das allerdings keine Rolle mehr, denn es lief letztendlich darauf hinaus, daß sie wollte, daß er weiterredete, und er wollte ebenfalls weiterreden, und außerdem würde sich dadurch sowieso nichts ändern.)
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Er atmete tief ein und verkündete seine Schlußfolgerung: »Das bedeutet natürlich, daß ein Kritiker absolut unfähig ist, Kunst überhaupt zu genießen.« Glisselrand hörte einen Augenblick lang auf zu stricken und überdachte seine Behauptung. Dann lächelte sie, und ihre Finger flogen wieder über die Fäden. »Wo du es gerade erwähnst«, sagte sie, »genauso schien es in Ranke gewesen zu sein. Dort hat man eine Menge über Form, Struktur und Stil geredet, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals einen Kritiker getroffen habe, bei dem ich das Gefühl hatte, er würde wirklich verstehen, worüber er sprach. Blitz ohne Feuer, wie der Dichter sagt. Und wenn ich an unsere Jahre in Ranke zurückdenke, glaube ich, wir können froh sein, daß Freistatt nur einen Kritiker hat, selbst wenn der ein besonders übler Zeitgenosse ist und dann auch noch der Cousin des Kaisers.« Feltheryn knurrte wieder, und Glisselrand fragte sich, ob er vielleicht daran dachte, Die Schlüsselblume aufzuführen, ein Stück, in dem er auf magische Weise in ein Kamel verwandelt wurde. »Bei all den Fehlern dieser Stadt«, fuhr Feltheryn fort, »bei all den Schrecken, die sie erduldet hat, hat sich das alte Vorurteil über Freistatt schließlich doch als falsch erwiesen. Es war doch nicht der einzige Ort, wie man ihn schlimmer nicht finden kann. In diesem Punkt konnte das stinkende Freistatt erhobenen Hauptes einherschreiten, und ich bin der Meinung, das hätte es ohne einen verdammten Kritiker problemlos weiter tun können!« »Ja, mein Lieber«, sagte Glisselrand, »darin stimme ich dir zu. Es erstaunt mich bloß, daß die Bürger von Freistatt ganz verrückt danach sind.« »Das ist natürlich eine Frage des Geldes!« tobte Feltheryn weiter. »Weil es so teuer ist, Theater überhaupt zu produzieren, selbst mit der großzügigen Unterstützung, die wir hier bekommen, ist es auch nicht gerade billig, ins Theater zu gehen. Das ist alles, was ein Geier wie Vomistritus als
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Aufhänger braucht! Ein bißchen geschickte Rhetorik, eine bissige Ausdrucksweise, ein paar bezahlte Schreiber, die seine Texte fehlerfrei kopieren können, dann muß er die Schimpftiraden nur noch überall in der Stadt ankleben lassen, und schon geben die Leute lieber ein Kupferstück aus, um zu erfahren, was er zu sagen hat, bevor sie ihre Ersparnisse angreifen, um sich die Aufführungen selbst anzusehen. Das gemeinste an der ganzen Sache aber ist die selbstgefällige Befriedigung derjenigen, die nie auch nur eine unserer Aufführungen gesehen haben und sich doch dazu befähigt fühlen, darüber zu diskutieren!« »Wie lange hängen diese Wandzeitungen eigentlich schon aus?« fragte Glisselrand. Sie unterbrach unvermittelt ihre Arbeit und bedachte Feltheryn mit einem Blick, der dem nicht unähnlich war, den sie dem betrügerischen Gerichtsdiener in der großartigen Gerichtsszene von Der Preis des Kaufmanns zuwarf. »Also, der Leim war noch feucht, als ich dieses hier abgerissen habe«, erklärte Feltheryn. »Es kann noch nicht allzu lang her sein.« »Sehr gut!« sagte Glisselrand. »Dann sollten wir Lempchin losschicken, um sie heute noch alle runterzureißen. Dabei sollten wir ihm dann auch gleich die Gelegenheit geben, seinen Auftritt in Verkleidung durchzuführen, damit es nicht so offensichtlich ist, daß wir dafür verantwortlich sind. Wenn Vomistritus nicht gerade sehr wohlhabend ist, wird er seine Schreiber nicht dazu bringen können, die Abschriften so schnell anzufertigen, wie wir sie wieder entfernen. Vielleicht verliert er ja schon bald die Lust daran, Kritiker zu sein, und findet eine andere Möglichkeit, den Leuten auf den Geist zu gehen!« Lempchin wurde gerufen, und Glisselrand hatte leichtes Spiel, den dicklichen Jungen dazu zu überreden, sich im Interesse der Belegschaft zu verkleiden. Schon kurz darauf konnte sich Feltheryn wieder auf den Text von Die Hochzeit der Zimmermagd konzentrieren, das nächste Stück, das die Truppe aufführen würde.
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Ihr derzeitiges Stück, Der Niedergang eines Stars, lief recht erfolgreich, aber Feltheryn spielte den Schurken nicht gerade gern, und Glisselrand wachte jeden Morgen nach den Vorstellungen mit Schmerzen auf, die vom Finale herrührten, von der verzweifelten Szene, in der die Schauspielerin, der ›Star‹ aus dem Titel, sich von der Schloßmauer stürzte, um der Mordanklage aus dem zweiten Akt zu entgehen. Natürlich gehörte Feltheryn als Schurke diese herrliche Szene im zweiten Akt, in der er einen Monolog über die Freuden der Wollust hielt, und die folgende Szene, in der er die Folterung Snegelringes befahl (eine fürchterliche Sequenz, die aber aus dem Off gespielt wurde), Snegelringe würde allerdings bald eine richtige Folterung verdienen, wenn er sich nicht den Schlafzimmern gelangweilter Damen der besseren Kreise von Freistatt fernhielt. Rounsnouf, der Komödiant der Truppe, spielte den Folterknecht, und er machte seine Sache nicht schlecht, auch wenn man ihn mit eiserner Hand führen mußte, damit er die Szene nicht derart übersteigerte, daß das Publikum zu lachen begann, und das wäre bei einem Stück von solcher Leidenschaft und Gewalttätigkeit unverzeihlich gewesen. Es war ein gutes Schauspiel, daran bestand kein Zweifel! Doch Feltheryn hätte es vorgezogen, seine eigene Ermordung bis zum letzten Akt herauszuzögern. So jedoch lag er am Ende des zweiten Aktes tot in einer Lache aus Schweineblut, und ein volles Drittel der Spielzeit hatte er nichts anderes zu tun, als hinter der Bühne in seinem Kostüm und voller Theaterschminke auf den letzten Vorhang und die anschließende Verbeugung zu warten. Und er konnte sich nicht des heimlichen Verdachts erwehren, daß sein Applaus erheblich größer ausfallen würde, hätte das Publikum nicht die Zeit zu vergessen, wie gut er war, wenn Glisselrand ihm am Abendbrottisch das Messer in die Kehle rammte. Aber genug davon! Es wurde Zeit, daß die Truppe eine Komödie aufführte, und Die Hochzeit der Zimmermagd war vermutlich die beste Komödie, die jemals geschrieben worden war. Tragödien waren fraglos sehr gut und zogen unvermeidlich größere Mengen an, aber Freistatt war eine Stadt, die
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genügend eigene Tragödien aufzuweisen hatte. Freistatt konnte ein paar Anlässe zum Lachen gut gebrauchen. Es gab nur ein kleines Problem, und das bestand darin, daß ihrer Truppe eine dritte Frau fehlte. Glisselrand würde natürlich die Gräfin spielen und Evenita die Titelrolle, die Zimmermagd. Aber dann gab es noch Serafina, das Schulmädchen, zu besetzen, und dazu brauchte man eine gute Schauspielerin, denn die Rolle beinhaltete eine große Menge an Text und ein Lied, und während des größten Teils war die Schülerin auf der Bühne als Schüler verkleidet. Das lag daran, daß sie auf kindliche Weise in die Gräfin vernarrt war und auf ebendiese kindliche und unschuldige Weise ihre Liebe erringen wollte. Sie hatten früher einmal versucht, die Rolle mit einem Jungen zu besetzen, doch das hatte sich als Katastrophe erwiesen. Das war, bevor sich ihnen Lempchin angeschlossen hatte. Sollten sie gezwungen sein, auf Lempchin zurückzugreifen, würde es schlimmer als eine Katastrophe werden! Und davon abgesehen liebte es das Publikum, ein hübsches junges Mädchen in engen Hosen zu sehen, das vorgab, ein Junge zu sein. Das war Tradition und sogar ein bißchen erotisch. Nein, sagte sich Feltheryn seufzend, als er am Küchentisch saß und den Text las, sie mußten eine weitere Frau finden, etwas anderes blieb ihnen nicht übrig. Und die beste Gegend, um nach Frauen zu suchen, war das Aphrodisiahaus in der Straße der Roten Laternen. Myrtis hatte ihnen schon einmal geholfen, vielleicht konnte sie ihnen wieder helfen. Er stieg ins erste Stockwerk hinauf, wo sich Glisselrand auf ein Nachmittagsschläfchen vorbereitete, erklärte ihr ganz genau, was er vorhatte, und erhielt ihren Segen. Was auch immer man sonst von Die Hochzeit der Zimmermagd halten mochte, es war das Stück, in dem alle Sympathie und Liebe der älteren Frau galt, nicht der jüngeren Hauptdarstellerin, und Glisselrand hatte ein Alter erreicht, in dem sie das genoß. Selbstverständlich würde Feltheryn den Grafen spielen, der auf gewisse Weise ebenfalls ein Schuft war, aber wenigstens
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würde er diesmal bis zum letzten Vorhang auf der Bühne stehen. Sein Spaziergang zum Aphrodisiahaus wurde nur durch die von Vomistritus verteilten Wandzeitungen getrübt. Anscheinend war Lempchin noch nicht bis in die Straße der Roten Laternen vorgedrungen. Feltheryn riß ein paar herunter, an denen er vorbeikam, aber der Leim begann bereits zu trocknen, und es war schwer, ihn wieder von seinen Händen loszubekommen. Als er schließlich an die Tür des Aphrodisiahauses klopfte, mußte er sich für seinen Zustand entschuldigen, bat um eine Waschschüssel, und da der Leim noch klebriger war, als er geglaubt hatte, mußte er eine der Damen des Hauses um Hilfe bitten. Feltheryn war nicht unempfänglich für die Reize der entzückenden jungen Frau, die ihm half, noch verfehlte die geschickte Professionalität, mit der sie zu Werke ging, ihre Wirkung auf ihn. Das älteste Gewerbe der Welt bestand zu mindestens achtzig Prozent aus Theater, wie er sich aus der Zeit seiner wilden und leichtsinnigen Jugend noch erinnerte. Jede Frau konnte Sex für Geld anbieten, aber es erforderte Talent, diesen Sex so erstrebenswert zu machen, daß das Publikum immer wieder zurückkam, um die Show zu genießen. Und es war eine Show, der Akt selbst war lediglich der letzte Vorhang eines Abends, der sich aus schönen Kostümen, exotischen Parfümen, anmutigen Bewegungen, anregenden Gesprächen, stimulierender Musik und einer Umgebung zusammensetzte, die ein Wunder an weiblicher Kunstfertigkeit war. Das Aphrodisiahaus zu besuchen bedeutete, eine Show zu genießen, die nur eine Handlung, aber immer wieder wechselnde Darsteller hatte, und es war dieser Punkt, der den Unterschied zwischen Myrtis' eleganten Kurtisanen und den traurigen und verzweifelten Frauen ausmachte, die sich nachts im Garten des Himmlischen Versprechens herumtrieben. »So, fertig«, sagte die junge Frau und trocknete Feltheryns Hände mit einem bestickten Tuch ab. »Wir haben alles
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herunterbekommen, Meister Feltheryn. Ich werde die Unordnung hier beseitigen, und Ihr könnt mit der Madame sprechen. Kennt Ihr den Weg zu ihren Gemächern?« »Nein, ich fürchte, ich hatte noch nicht das Vergnügen«, erwiderte Feltheryn auf seine höflichste Art, als er sich von seinem Stuhl vor dem kleinen Tischchen erhob. »Dann werde ich Euch den Weg von einem der Mädchen zeigen lassen«, sagte sie, während sie eilig damit begann, Ordnung zu schaffen. »Shawme! Shawme, würdest du Meister Feltheryn bitte hoch zu Myrtis' Gemächern begleiten? Ich habe ihr bereits ausrichten lassen, daß er hier ist.« Shawme, noch ein halbes Kind, aus dessen blauen Augen ungebrochener Stolz leuchtete, lächelte Feltheryn zu und führte ihn die Treppe hinauf. Kurz darauf saß er in einem kleinen Empfangszimmer, erklärte Myrtis, der Eigentümerin des Aphrodisiahauses, seine Notlage und nippte an dem Brombeertee, den sie ihm gereicht hatte. »… seht Ihr also, meine wunderschöne Dame«, kam er zum Schluß, »sie muß talentiert und bereit sein, die Schauspielerei zu lernen, wenn sie das noch nicht kann; sie muß einigermaßen gut aussehen und außerdem die Art von Figur haben, der auch Männerkleidung paßt. Den größten Teil des Stückes über muß sie als Mann verkleidet spielen, und ihre Verkleidung darf nicht lächerlich wirken. Das Publikum wird seine Zweifel, ob ein junges Mädchen in engen Männerhosen glaubwürdig ist, eine Zeitlang unterdrücken, aber es würde keine Frau mit zu weiblichen Formen in dieser Kleidung akzeptieren. Ich möchte das Stück wirklich sehr gern aufführen, aber ich fürchte, ohne Eure Hilfe kann ich es nicht tun.« Myrtis lachte. »Mein lieber Feltheryn! Es ist eine Tatsache, daß eine ganze Menge Leute in dieser Stadt in den Kleidern des jeweiligen anderen Geschlechts herumläuft, und die meisten davon sind Frauen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund sind sie der Meinung, daß diese Verkleidung ihre einzige Möglichkeit ist, ihre kostbare Keuschheit zu bewahren. Nicht daß ich in
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irgendeiner Form dafür Verständnis hätte, wenn ein Mann eine Frau mißbraucht, aber es gibt wirklich so viele andere und bessere Methoden, eine Vergewaltigung zu verhindern! Seht, Ihr könntet keine sanfteren und betont weiblicheren Frauen als die Damen finden, die in meinem Haus wohnen, aber jede von ihnen könnte Euch ein Dutzend Möglichkeiten nennen, wie man sich eines Mannes erwehrt, der sich etwas nehmen möchte, das ihm nicht gehört. Und doch sind es nicht die schönen, sanften und zerbrechlichen Frauen, die sich deswegen sorgen und die sich manchmal tatsächlich Sorgen machen sollten. Es sind diese harten, unduldsamen Frauen. Sie haben nie in ihrem Leben versucht, sich für die Männer attraktiv zu machen, und doch glauben sie, sie wären für alle, die auf drei Beinen daherkommen, einfach unwiderstehlich. Ha! Sie sollten einmal versuchen, hier zu arbeiten und einen armen Händler in Stimmung zu bringen, der sich mehr Gedanken darüber macht, ob er sein Geld richtig anlegt, als ob er hier eine schöne Zeit verbringt! Aber darüber hinaus haben diese Frauen alles Erdenkliche getan, um sich mehr als unattraktiv für Männer zu machen; oft haben sie auf Grund ihrer Ängste irgendeine verheerende Kampftechnik gelernt und sich dabei Manieren angeeignet, die ihnen den Zutritt zu meinem Haus verwehren würden, wenn sie Männer wären. Und trotzdem gehen sie in der Annahme durch das Leben, daß hinter jeder Ecke eine Vergewaltigung lauert! Also verkleiden sie sich als Männer und verschwenden den größten Teil ihrer Lebenskraft damit, sich darüber Sorgen zu machen, ob man ihre Verkleidung durchschaut. Das macht mich tieftraurig. Eine Frau sollte ihr Leben leben, indem sie mit aller Kraft voranschreitet und nicht voller Furcht vor etwas, das vielleicht nie passiert, geduckt dahinschleicht.« »Aber Myrtis«, warf Feltheryn ein, »einige Frauen werden tatsächlich vergewaltigt.« »Aber natürlich passiert ihnen das!« bestätigte die Bordellmutter. »Und einige werden ermordet, einige werden beraubt, einige werden gequält, und eine ganze Menge werden in ihrem ehrbaren Eheleben von ihren Männern in ihrem
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gemütlichen kleinen Zuhause verprügelt. Die mit Abstand meisten Frauen sterben bei der Geburt eines Kindes! Aber das Leben dreht sich eben um das Leben, Meister Schauspieler, nicht um den unbedeutenden kleinen Moment an seinem Ende, wenn man stirbt. Oh, einige dieser verängstigten Frauen sind gute Freundinnen von mir, und ich gebe mir alle Mühe, sie zu verstehen. Aber es erscheint doch dumm, einer Vergewaltigung eine derart große Bedeutung zuzumessen, wenn für die Frauen in dieser Stadt die Gefahr, beraubt oder ermordet zu werden, sehr viel wahrscheinlicher ist. Das, worauf es ein Vergewaltiger wirklich abgesehen hat, kann er nicht bekommen, es sei denn, die Frau gestattet es ihm, und das ist nicht ihr Körper, sondern ihre Würde. Sie mag den körperlichen Aspekt abstoßend finden, vielleicht sitzt er ihr Leben lang wie ein Krebsgeschwür in ihr, wenn sie das zuläßt, aber ganz offen, niemand kann meinen Körper benutzen, um mich zu demütigen. Ich bin ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, aber ich bin auch mehr als das. Ich bin eine Frau und unbändig stolz darauf, und das können mir weder Schmerzen noch Erniedrigung nehmen. Abgesehen davon werden auch Männer vergewaltigt; also taugt die Verkleidung auf lange Sicht gar nicht so viel. Genaugenommen wäre es in Freistatt nicht einmal sehr viel besser, sich als Ziege zu verkleiden!« »Ich habe schon davon gehört, daß auch Ziegen vergewaltigt werden«, meinte Feltheryn. »Erst seit dem Zustrom von all den Fremden, die an den Mauern arbeiten.« Myrtis lächelte. »Aber um auf das Thema zurückzukommen, ich glaube, ich kenne ein Mädchen, das die Voraussetzungen erfüllt. Sie heißt Sashana. Ihre Familie ist von Raggah in der Wüste getötet worden. Sie hat sich in den Dünen versteckt, und weil sie noch sehr jung war, ist es ihr gelungen, als Junge bei der nächsten Karawane unterzuschlüpfen, die vorbeizog. Das war unter den gegebenen Umständen eine vernünftige Maßnahme, aber jetzt lebt und kleidet sie sich wieder wie eine Frau. Sie ist tatsächlich eine derart bezaubernde Frau, so daß ich mir oft gewünscht habe, sie hätte etwas weniger Geld gehabt, als sie nach Freistatt gekommen
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ist. Sie hätte mir ein Vermögen einbringen können! Ich werde Euch ihre Adresse und einen Brief an sie geben, in dem steht, wer Ihr seid. Sie verkleidet sich zwar nicht mehr, aber sie geht auch kein Risiko ein!« Als Feltheryn das Aphrodisiahaus verließ, war es bereits zu spät, um Sashana noch einen Besuch abzustatten. Heute abend würde eine Aufführung stattfinden, er mußte sich schminken, und davor benötigte er noch eine kleine Ruhepause. Schließlich war er ja kein junger Mann mehr. Als er. durch die Straße der Roten Laternen ging, bemerkte er, daß alle Wandzeitungen verschwunden waren, und wenn doch noch ein paar dort hingen, waren sie zumindest genug verunstaltet, um für die Passanten uninteressant zu sein. Feltheryn kehrte zum Theater zurück, stieg die Treppe zu dem Zimmer hinauf, das er mit Glisselrand bewohnte, und legte sich neben sie auf das Bett. Einen Augenblick lang brachte ihn die Anregung, die ihm Myrtis' elegante Umgebung beschert hatte, auf den Gedanken, seine Hauptdarstellerin zu einem nachmittäglichen Liebesspiel zu wecken, aber daran zu denken, führte schnell dazu, davon zu träumen, und in seinen Träumen war er noch mehr Mann, als er es tatsächlich jemals gewesen war. Mit dem Alter hatte er die eine Wahrheit entdeckt, der sich ein junger Mann nicht zu stellen wagt, daß Träume immer besser als die Realität sind. Lady Sashana wohnte in einem kleinen, aber gut eingerichteten Haus in einer der besten Wohngegenden, die Freistatt zu bieten hatte. Sie beschäftigte nur wenige Diener, doch jeder von ihnen war stark und gesund, und Feltheryn, der in ihrem Empfangszimmer wartete, vermutete, daß sie ihr auch als Leibwächter dienen konnten. Die Wände des Empfangszimmers waren mit Regalen versehen; darin standen Schriften, schöne Bände, die in feines Leder gebunden waren. Als Feltheryn die Titel las, verstand er genau, warum Myrtis ihn zu Sashana geschickt hatte. Die meisten der Schriften waren
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Theaterstücke, die anderen Bücher mit Erzählungen über ferne Länder und Zauber. Er entdeckte sogar einige, die er selbst einmal gelesen hatte! Lady Sashana betrat das Zimmer mit anmutigen, aber festen Schritten, die Haltung ihres feingeschnittenen Kinns drückte Selbstbewußtsein aus, und die Klarheit ihrer grünen Augen verriet Intelligenz. Ihr Haar war kastanienbraun, nicht lang, aber auf eine Art mit Perlen durchwirkt, die den Eindruck verhaltener Fülle hervorrief. Sie trug ein smaragdgrünes Seidensatinkleid mit einem malvenfarbenen Chiffonüberwurf, Farben, die ihre Schönheit noch mehr betonten als die in poliertem Holz und leder- und cremefarbenen Velours gehaltene Einrichtung, die ihr Empfangszimmer auszeichnete. »Myrtis' Brief hat mich neugierig gemacht«, sagte sie, setzte sich und forderte Feltheryn auf, in dem Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen. Ihre Stimme war volltönend und dunkel und hatte ein natürliches Timbre. Ohne weiter nachdenken zu müssen, wußte Feltheryn, daß sie genau die richtige Frau für die Rolle war, wenn es ihm nur gelang, sie zu überreden. »Das freut mich«, sagte er, »denn nachdem ich Euch jetzt begegnet bin, weiß ich, daß Myrtis' Lob nicht einmal halb so groß ausgefallen ist, wie es hätte sein müssen. Um es kurz zu machen, ich sehe an Eurer Bibliothek, daß Ihr Euch für das Theater interessiert. Ich habe ebenfalls bemerkt, daß Ihr eine Ausgabe von Die Hochzeit der Zimmermagd besitzt und deshalb mit der Rolle von Serafina vertraut seid. Das ist die Rolle, die ich Euch gern spielen lassen würde, falls Ihr überhaupt in Erwägung ziehen würdet, an der Aufführung eines Theaterstücks in der Öffentlichkeit teilzunehmen.« Lady Sashana lachte, ein tiefes wohlklingendes Lachen, wie der Gesang von großen Wald Singvögeln. »Meister Feltheryn, könnt Ihr Euch den Skandal vorstellen, den es in Ranke verursachen würde, wenn eine Frau meiner Stellung und Herkunft auf einer Bühne erschiene? Oh, man würde mir zu keinem ehrenwerten Haus mehr Zutritt gewähren
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und mich für Jahre vom Hof verbannen! Aber dies ist nicht Ranke, Meister Feltheryn, dies ist Freistatt, und hier besteht für mich kaum die Gefahr, gezwungen zu werden, das langweilige und zurückgezogene Leben zu führen, das meine Mutter bis zu ihrem viel zu frühen Tod gelebt hat.« Sie stand auf und klatschte mit all der Kraft und Entschlossenheit eines Töpfers in die Hände, der sich anschickt, einen neuen Klumpen Ton zu bearbeiten. »Natürlich werde ich es tun, falls Ihr mir versprecht, mir alles beizubringen, was ich wissen muß!« Sie ging zu den Regalen hinüber, und Feltheryn bemerkte voller Entzücken, daß sie bereits ihre Körpersprache dem Charakter anpaßte, den sie spielen würde. Was das betraf, würde sie keine Anleitung brauchen, dachte er, als sie den blau eingebundenen Band aus dem Regal zog. Sie drehte sich zu ihm um und hielt das schwere Buch wie einen heiligen Schatz mit beiden Armen gegen ihre Brüste gedrückt. »Oh, ich liebe diese Stadt!« rief sie aus, und ihre Augen funkelten vor Begeisterung. Am nächsten Morgen tauchten die Wandzeitungen wieder an den Gebäuden Freistatts auf, doch eins hatte sich verändert: Sie waren mit einem anderen Leim geklebt. Der Leim, der so hartnäckig an Feltheryns Händen geklebt hatte, war nichts im Vergleich zu dem Zeug, das Lempchin heulen und stammeln ließ, als er nach seinen Rundgängen zum Theater zurückkehrte, Hände, Gesicht und Kleidung mit Papierfetzen bedeckt, auf denen die beleidigende Kritik stand. In kaum einer Stunde war er zu einer jämmerlichen, kleinen wandernden Reklametafel geworden, und was sie auch versuchten, nichts brachte den Klebstoff dazu, sich aufzulösen. »Tja«, bemerkte Rounsnouf, der beim Frühstück an einem kalten Stück Geflügel nagte, »nichts bleibt an einem Schauspieler so haften wie Kritik!« »Rounsnouf, das ist überhaupt nicht lustig!« schimpfte Glisselrand böse. Sie war in ihre besten und würdevollsten Kleider geschlüpft, um an diesem Tag ein wenig für die Truppe
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zu sammeln. »Siehst du nicht, daß der arme Junge völlig verängstigt ist?« »Es wäre schlimmer, wenn irgend jemand den Kleber auf den Rand seines Nachttopfes geschmiert hätte«, sagte Rounsnouf. »Da er ihn heute morgen nicht ausgeleert hat, würde er jetzt wirklich in argen Schwierigkeiten stecken!« Das veranlaßte Lempchin, nur noch heftiger zu heulen und trostsuchend zu Glisselrand zu eilen, aber sie wich ihm gewandt aus, und so prallte er statt dessen mit Rounsnouf zusammen und klebte danach so fest an dem kleinen dicken Komödianten, daß beide wie ein kugelförmiger Abfallkübel aussahen. »Das reicht!« schrie Feltheryn, mittlerweile endgültig aus seinem Frühstück und der Lektüre eines Manuskriptes herausgerissen. »Lempchin, hör sofort mit dem Geheul auf! Und du, Rounsnouf, hast nur den gerechten Lohn für deine Sticheleien bekommen. Jetzt klebst du an ihm fest, zumindest so lange, bis ich euch beide in die Gerberstraße schaffen kann. Dieser Kleber ist ein Ärgernis, aber ich bezweifle, daß er ewig hält. Er stammt garantiert von Meister Chollandar, und ich bin mir sicher, daß er ein Lösungsmittel dafür hat. Es wird einige Zeit dauern, aber ihr werdet schon bald genug wieder frei sein, um mir andere Probleme zu bereiten. Vielleicht können wir bei der Gelegenheit auch noch genug von dem Lösungsmittel bekommen, um diese verdammten Wandzeitungen runterzureißen!« »Den Göttern sei Dank!« sagte Glisselrand, unverkennbar erleichtert, daß sie niemanden in die Gerberstraße begleiten mußte. »Da das geregelt ist, kann ich mich ja auf den Weg machen. Auf Wiedersehen, mein Schatz. Paß auf, daß du nicht dein Nickerchen verpaßt, falls ich mich verspäte.« Sie küßte Feltheryn auf die Wange. »Komm nicht zu spät, meine Liebe«, erwiderte Feltheryn und küßte sie ebenfalls auf die Wange. »Du brauchst deinen Schönheitsschlaf genauso dringend wie ich, gerade wegen diesem fürchterlichen Sturz am Ende des dritten Aktes. Und
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lauf nicht in Straßen herum, die gefährlich aussehen. Denk daran, daß die Bürger von Freistatt wenig Geld haben, das sie spenden können, wenn sie nicht gerade sehr wohlhabend sind.« »Ich weiß, Liebling.« Sie lächelte. »Aber es gibt ein paar wohlhabende Leute in höheren Positionen, die wir noch nicht besucht haben, und ich habe die Absicht, das zu ändern. Also dann, auf Wiedersehen, und sei vorsichtig.« Sie machte einen Abgang durch die Küchentür. Es kam nie vor, daß Glisselrand einen Raum einfach verließ. Sie machte stets einen Abgang. Hätte Lempchin mit irgend jemand anderem als Rounsnouf zusammengeklebt, so wäre der Weg durch die Straßen von Freistatt für den Jungen zu einer Demütigung geworden. Aber als der Komiker, der er war, wurde daraus ein amüsantes Erlebnis. Wenn die Leute mit den Fingern auf sie zeigten und lachten, gab Rounsnouf die Spötteleien zurück: »Lacht nicht, meine Dame, ich kann den Mann sehen, an dem Ihr festklebt!« »Wenn ihr das schon schlimm findet, hättet ihr mich erst einmal letzte Nacht sehen sollen, bevor ich wieder nüchtern geworden bin!« »Ich habe meinem Schneider gesagt, in diesen Kleidern wäre Platz genug für zwei, also hat er noch jemanden in sie hineingesteckt!« »Es ist nicht so, wie ihr denkt! In Wirklichkeit bin ich Enas Yorls Zwillingsbruder. Beide Teile von mir!« So führte Feltheryn seine beiden Mitarbeiter in den Gestank hinein, der die Gerberstraße durchdrang, vorbei an Zandulas Gerberei und in Chollandars Leimgeschäft. Ein schlaksiger Junge mit einem wirren goldenen Haarschopf bat sie zu warten, und kurz darauf kam der Leimmacher, der sich seine blutbesudelten Hände abwischte, aus dem hinteren Teil seines Ladens.
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Feltheryn erzählte mit knappen Worten, wie sein Komödiant und sein Faktotum in diese mißliche Lage gekommen waren, und schloß mit den Worten: »Dann sind da außerdem noch die Wandzeitungen. Ich werde eine größere Menge des Lösungsmittels kaufen, um die elenden Dinger von den Wänden dieser anständigen Stadt und natürlich auch von Rounsnouf und Lempchin zu entfernen.« Chollandar verzog das Gesicht und stützte sich schwer auf den Ladentresen. »Meister Feltheryn, Ihr seid immer ein guter Kunde gewesen, habt den gesamten Leim und ähnliche Dinge für Eure Bühnenarbeiten bei mir gekauft, aber… Nun, ich kann Euch das Lösungsmittel für diesen Kleber nicht verkaufen.« »Wieso denn nicht?« wollte Feltheryn wissen. »Weil mir Vomistritus eine gewaltige Menge Geld dafür gegeben hat, das Mittel nicht zu verkaufen. Zu dem Zeitpunkt, als ich mich dazu bereit erklärt hatte, wußte ich nicht, daß es derartige Probleme geben würde…« Er deutete auf den sich windenden menschlichen Haufen, der Lempchin und Rounsnouf war. »Aber die Abmachung war eindeutig. Er hat mir erzählt, er hätte Schwierigkeiten mit Vandalen, und ich habe angenommen, er würde den Leim für irgendwelche Sicherungsmaßnahmen brauchen. Er klebt Holz, Metall, einfach alles, was Ihr Euch denken könnt, natürlich auch Menschenfleisch, aber ich habe nie damit gerechnet…« Der Leimmacher verfiel in ein sorgenvolles Schweigen, den Blick auf den Ladentisch gesenkt. »Vielleicht könnte ich den Vertrag lösen«, schlug Feltheryn vor, »indem ich Euch einfach mehr biete.« Chollandar lachte. »Ich glaube nicht, daß Ihr das könntet!« sagte er. »Die Summe, die er mir angeboten hat, war so hoch, daß ich zuerst geglaubt habe, er würde einen Witz machen. Er hat gesagt, ich könnte seine Kreditwürdigkeit bei Renn nachprüfen, was ich auch getan habe, und offen gesagt, Meister Feltheryn, ich frage mich, ob überhaupt noch Geld in Ranke geblieben ist. Wenn Ihr
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mich fragt, ich würde sagen, der Kaiser hat die Schatzkammer geplündert und alles in den Taschen seiner Cousins verstaut. Zuerst läßt sich der edle Abadas hier nieder, mietet ein Haus voller ilsiger Diener an und macht klar, daß der Kaiser ein paar sehr nette Verwandte hat. Dann taucht der alles andere als edle Vomistritus auf und demonstriert, wie unangenehm die Verwandten des Kaisers werden können. Wenn ich Kaiser Theron wäre, würde ich Abadas und seine Familie heimholen und Vomistritus die Geldzufuhr abschneiden. Aber ich bin nicht der Kaiser und nicht in der Position, meine Vereinbarung mit einem Cousin des Kaisers einfach aufzukündigen. Trotzdem erscheint es mir etwas unmenschlich, diese Burschen…« In diesem Moment wurde ihr Gespräch durch einen Aufruhr auf der Straße unterbrochen, und ein Junge, der genauso pummlig wie Lempchin war, aber eine olivfarbene Haut hatte, platzte in den Laden. »Meister, Meister!« rief er. »Da kommt eine ganze Armee die Straße entlang!« »Wirklich, Sambar?« fragte Chollandar. »Dann müssen wir uns wohl darauf einrichten, die Festung zu verteidigen, was, Meister Schauspieler?« Sie traten alle durch die Vordertür des Geschäfts ins Freie, und was sie dort erblickten, war vielleicht keine Armee, aber zumindest ein grimmiger Kriegstrupp. Pagen, Fußsoldaten und eine beunruhigende Anzahl von Gladiatoren. An der Spitze dieser Truppe marschierte ein älterer Mann, dessen Gesicht wie von Gewitterwolken überzogen aussah. In der Mitte der Gruppe trugen acht Gladiatoren eine verschleierte Sänfte, und aus ihr erklang das erschreckte Kreischen einer Frau, die gerade einen hysterischen Anfall hatte. »Großer Gott«, sagte Rounsnouf ruhig. »Es ist Lowan Vigeles, und er scheint aufgebracht zu sein.« »Wer ist Lowan Vigeles?« fragte Feltheryn genauso ruhig. »Er ist Molin Fackelhalters Halbbruder«, erklärte Rounsnouf. »Warum haben wir ihn dann noch nicht im Theater gesehen?« wollte Feltheryn wissen.
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»Möglicherweise, weil sie sich entfremdet haben«, sagte Rounsnouf, »und möglicherweise, weil er auf seinem Landsitz Landende bleibt, wo er Gladiatoren trainiert, und möglicherweise, weil er…« Rounsnouf beendete seine Erläuterungen, als Lowan Vigeles vor dem Leimgeschäft stehenblieb. »Also, Leimmacher, wie ich an Eurer Gesellschaft sehe, habt Ihr Euch bereits vom Erfolg Eurer Formel überzeugen können!« verkündete Lowan Vigeles. Chollandar stieß ein abgrundtiefes Seufzen aus und begann noch einmal, die Vereinbarung zu erklären, die er mit Vomistritus, dem Cousin Kaiser Therons, getroffen hatte, aber der rankanische Adlige schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Es ist mir absolut gleichgültig, was die erbärmlichen Verwandten dieses Emporkömmlings Euch an Reichtümern bieten! Es geht hier einzig und allein darum, daß meine Schwägerin, Lady Rosanda, an diesem Mist festklebt, genau wie dieser Mann und dieser Junge!« Mit diesen Worten zog er die Vorhänge der Sänfte zur Seite, so daß Lady Rosanda zu sehen war, an der zwar nicht so viel Papier klebte wie an Rounsnouf und Lempchin, aber immer noch genug, um sie wieder einen hysterischen Anfall erleiden zu lassen. »Also, Leimmacher, Ihr werdet eine Flasche mit Lösungsmittel besorgen, Ihr werdet Lady Rosanda aus ihrer demütigenden Lage befreien, und dann werden wir uns mit Eurer Situation befassen, in die Euch der Vertrag mit Vomistritus gebracht hat.« Chollandar warf die Hände in einer Geste hoch, die allen Geschäftsleuten überall auf der Welt zu eigen ist, eine Geste, die besagt, daß die Lage hoffnungslos ist und der Gewinn abgeschrieben werden kann. Er eilte in seinen Laden, und nach einer Handbewegung Lowan Vigeles' gesellten sich zwei Gladiatoren zu ihm, nur für den Fall, daß er versuchen sollte,
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eine andere Lösung als die in Erwägung zu ziehen, die Lowan verlangt hatte. Schon nach kürzester Zeit war Lady Rosanda von dem Papier und dem Kleber befreit und wieder sicher in der Sänfte verborgen. Chollandar benutzte dann etwas von seinem Lösungsmittel für Rounsnouf und Lempchin und erlöste sie so gleichzeitig von den beleidigenden Wandzeitungen und voneinander. Dann folgte eine längere Unterhaltung zwischen Lowan Vigeles, Chollandar und Feltheryn, in der es um das Verhängnis ging, das sich mit Vomistritus' Ankunft über Freistatt gesenkt hatte. Wie sich herausstellte, hatte Lady Rosanda nur versucht, eine der Wandzeitungen mit nach Hause zu nehmen, damit auch ihre Familienangehörigen sie lesen konnten, doch ihre Sympathien galten nun eindeutig dem Theater. Außerdem stellte sich heraus, daß Lowan Vigeles ein äußerst besonnener Mann war, solange er nicht durch die Schreie seiner Schwägerin provoziert wurde, und darüber hinaus gut in Rechtsfragen bewandert. Bedauerlicherweise fiel Lowan Vigeles auch nach einer ausführlichen Erörterung der Situation keine vernünftige und legale Möglichkeit ein, Chollandars Vertrag mit Vomistritus zu kündigen, zumindest keine, bei der der Leimmacher das Leben behalten und eine angemessene Entschädigung bekommen würde. Die Frage eines Mordes wurde mit größter Behutsamkeit umgangen und eindeutig als allerletzte Möglichkeit zurückgestellt. »Schließlich«, sagte Lowan Vigeles seufzend, »würde diesem Usurpator Theron nichts gelegener kommen, als eine Rechtfertigung, um seine Armee hierher zu schicken, Freistatt zu zerstören und dem Erdboden gleichzumachen. Aber genug davon! Ich muß Rosanda nach Hause bringen. Ich werde unmißverständlich klarmachen, Chollandar, daß Ihr keine andere Wahl hattet, als auf mein Verlangen hin das Lösungsmittel zu benutzen. Trotzdem müssen wir uns alle
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etwas überlegen, wie wir Vomistritus aus dem Weg räumen können, bevor er uns aus dem Weg räumt!« »Vielleicht«, schlug Feltheryn vor, »könnten wir diese Angelegenheit nach einer Vorstellung noch einmal besprechen, vielleicht bei einem späten Abendessen. Ich hoffe doch, daß wir Euch und Lady Rosanda in nächster Zeit einmal im Theater sehen werden.« »Oh, ganz bestimmt«, bestätigte Lowan Vigeles. »Ganz bestimmt!« Als er zum Theater zurückgekehrt war, fühlte sich Feltheryn müde genug für sein Nachmittagsschläfchen, aber Evenita erinnerte ihn daran, daß er den Maler Lalo gebeten hatte, vorbeizukommen und sich die Pläne für die Bühnenausstattung des Stückes Die Hochzeit der Zimtnermagd anzusehen. Also holte er den Text und die groben Skizzen, die er angefertigt hatte und nach denen der Maler zuerst Reinzeichnungen und dann die eigentlichen Bühnenbilder erstellen würde. Evenita hatte sich außerdem die Mühe gemacht, während Glisselrands Abwesenheit ein Essen für Feltheryn und Lalo zuzubereiten, und als sie die beiden bediente, war Feltheryn einmal mehr froh, daß er und seine Frau die Bewerbung Evenitas, sich der Truppe anzuschließen, angenommen hatten. Über die Jahre hatte es eine ganze Menge solcher Bewerbungen gegeben, von jungen Frauen und Männern, die schöner, weniger schön oder genauso schön gewesen waren, und viele hatten aus ähnlichen Gründen um Aufnahme in die Truppe gebeten: aus dem Wunsch, einem unerträglichen Leben zu entkommen, und in der Hoffnung, einen gewissen Ruhm zu erlangen. Die meisten dieser Bitten waren allerdings abgewiesen worden. Es mochten durchaus verständliche Gründe sein, aber nicht die, die einen richtigen Schauspieler oder eine Schauspielerin ausmachten. Dem Theater aus diesen Gründen beizutreten war genauso dumm, wie aus den gleichen Gründen zu heiraten!
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Evenitas Geschichte war jedoch so mitleiderregend gewesen, ihr Leben zu diesem Zeitpunkt so sehr in Gefahr, daß sie sich erbarmt, sie aufgenommen und sicher aus ihrem Heimatort herausgebracht hatten. Evenita hatte ihnen ihre Freundlichkeit mit einem Fleiß und einem Talent vergolten, mit dem sie nicht gerechnet hatten, das sogar geradezu spektakulär war, und jetzt gehörte sie zu den bescheideneren Edelsteinen in ihrer kleinen Krone. Ihr dunkles Haar und die warmen braunen Augen, ihr rundes Gesicht und die vollen Lippen waren von einer Schönheit, die einen starken Kontrast zu Glisselrands vornehmen Gesichtszügen und ihrem goldbraunen Haar bildeten. Und sie konnte kochen, wie die kleinen, gewürzten Muscheln, die sie ihnen zum Mittagessen servierte, bewiesen! Lalo stellte eine Reihe gezielter Fragen, machte Vorschläge (die Feltheryn im allgemeinen akzeptierte), packte dann seinen Notizblock ein und verabschiedete sich. Feltheryn dachte einen Augenblick lang an das Bett, das ihn im ersten Stock lockte, doch dann fiel ihm noch ein Detail zu der Bühnendekoration ein (eine Tür, die wirklich sein und sich öffnen und schließen lassen mußte), das er Lalo gegenüber nicht erwähnt hatte, und so eilte er dem Maler hinterher. Als er ihn endlich (im Wilden Einhorn) gefunden, die Sache geregelt hatte und zum Theater zurückgekehrt war, war auch schon die Zeit gekommen, sich zu schminken und noch einmal die Dialoge durchzugehen. Und als wären all die bisherigen Aufregungen des Tages noch nicht genug gewesen, verspätete sich auch noch Glisselrands Rückkehr von ihrer Sponsorensuche! Feltheryn schminkte sich weiter und schlüpfte in sein Kostüm, aber als die Nacht hereinbrach, wurde er immer besorgter, und er stand schon kurz davor, die Vorstellung abzusagen und eine Suchmannschaft loszuschicken, als sich die Tür öffnete, seine Hauptdarstellerin kam und begann, sich umzukleiden. »Liebster, du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein aufregender Tag das gewesen ist!« rief sie fröhlich, schlüpfte aus ihren Kleidern heraus und in ihr Kostüm hinein. »Ich könnte raten«, erwiderte Feltheryn, während er mit einem winzigen Kamelhaarpinsel Lippenrot auftrug.
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»Weißt du«, plapperte sie munter weiter, »alle haben mich immer wieder gedrängt, ich sollte mich von dem schäbigen kleinen Haus unten am Schimmelfohlenfluß fernhalten, aber irgend etwas in mir, irgendein Instinkt, hat mir gesagt, daß jemand, der so wunderschöne Blumen züchtet – du hast sie doch bestimmt auch schon einmal gesehen, die schwarzen Rosen, nicht wahr? –, wirklich ein netter Mensch sein muß! Also, nachdem ich drei Häuser aufgesucht hatte, deren Besitzer alle eindeutig eine Menge Geld, aber keinen Geschmack haben, ohne auch nur eine einzige Spende zu bekommen, habe ich beschlossen, meinem Gefühl zu folgen!« Feltheryn hörte auf, sich zu schminken, und saß stocksteif da, den Pinsel reglos in der Hand. Er wußte ganz genau, wer in dem Haus am Schimmelfohlenfluß wohnte. Seine Nackenhärchen begannen, sich aufzustellen. »Ich war natürlich nicht so dumm zu versuchen, die Schutzzauber am Eisentor zu verletzen«, fuhr sie fort. »Schließlich benutzen die Leute ja nicht ohne Grund Schutzzauber. Statt dessen bin ich weitergegangen und habe an den Rosen geschnuppert. Sie haben einen lieblichen Duft. Das hat genügt, um die Aufmerksamkeit der Dame des Hauses zu erregen, ohne ihr das Gefühl zu vermitteln, ich wäre aufdringlich oder würde versuchen, ihre Privatspähre zu verletzen. Als ich weder gegangen bin noch versucht habe, die Blumen zu pflücken, war ihre Neugier geweckt, und sie ist auf die Veranda herausgekommen. Ich habe ihr zugewinkt, ihr zu ihren Rosen gratuliert und sie gefragt, wo man irgendwo ähnliche Pflanzen kaufen könnte. Sie hat nur darüber gelächelt, ich glaube mit einer Andeutung von Verachtung, aber ich habe mich nicht davon stören lassen. Ich habe ihr erzählt, wie sehr mich ihre Rosen an die erinnern würden, die wir aus Papier herstellen müssen, wenn wir Rokallis Tochter aufführen, und dadurch wußte sie natürlich, daß ich beim Theater bin. – Hilfst du mir mal in das Korsett, Liebster? – Also, das Tor ist aufgeschwungen, und sie hat mich zum Tee eingeladen! Das ist einer der angenehmeren Aspekte, wenn man beim Theater ist, meinst du nicht auch, Feltheryn? Fast alle freuen sich, wenn
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sie einen Schauspieler zu sich einladen können, vielleicht aus dem Gefühl, an der Berühmtheit teilhaben zu können. Abgesehen natürlich von so einer Sache wie damals in Sofreldo, als die ganze Stadt den Baron und die Baronin gerügt hat, nur weil sie eine Schauspielerin zum Frühstück eingeladen haben, aber andererseits war das ja auch eine Grenzstadt. Du kannst dir jedenfalls gar nicht vorstellen, wie entzückt ich war, als ich das Innere ihres Hauses gesehen habe. Feltheryn, es war, als wäre ich wieder zu Hause gewesen. Es war eine herrliche Farbenpracht! Seide, Satin und Samt, alles war auf die fröhlichste und wildeste Art wahllos verstreut! Ich habe ihr meine Strickarbeit gezeigt und glaube, sie war davon sehr angetan. Und ich habe ihr einen kleinen Beutel von meiner Ptisane gegeben, du weißt, die, die ich immer den Leuten schenke, die einen größeren Beitrag für das Theater leisten. Das arme Schätzchen, sie scheint wirklich schüchtern zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie viele Freundinnen hat. Sie ist außergewöhnlich schön, und du weißt ja, daß das viele Frauen eifersüchtig macht. Ich habe deswegen über all die Jahre selbst viel gelitten. So, ich glaube, ich bin fertig!« Feltheryn schluckte mühsam. »Hat sie also etwas gespendet?« fragte er, öffnete die Tür zur Garderobe und war bereit, jeder Gottheit, die für die sichere Rückkehr seiner Frau verantwortlich war, ein stummes Gebet zu widmen. »Also, nein«, erwiderte Glisselrand auf eine für sie äußerst ungewöhnlich zaghafte Art. »Sie hat gesagt, daß sie im Augenblick nichts Passendes im Haus hätte. Und… nun, ich hoffe, du bist nicht allzu böse mit mir, Lämmchen, aber… nun, ich… ich habe ihr gesagt, ich würde Lempchin Bescheid geben, damit sie sich eine Aufführung kostenlos ansehen kann. Sie heißt Ischade, und ich bin sicher, wenn es ihr wieder besser geht, finanziell, meine ich, werden wir sie ständig unter den Zuschauern sehen.«
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Als wären die Schwierigkeiten der letzten Woche noch nicht genug gewesen, brachte Lempchin an dem Morgen, nachdem Glisselrand Ischade eine Freikarte für das Theater gegeben hatte, einen Hund mit nach Hause, eine struppige kleine Hündin mit einem beunruhigenden Leuchten in den Augen und einer unerklärlichen starken Ausstrahlung, die Feltheryn davon abhielt, nein zu sagen, als der Junge mit der üblichen Geschichte herausrückte, daß sie ihm hinterhergelaufen sei und ob er sie behalten könnte? »Nur wenn du ihr Kunststücke beibringen kannst!« sagte der Meisterschauspieler. »Und wenn du sie Beneficence nennst.« »Meister Feltheryn«, sagte Lempchin, und auf seinem rundlichen Gesicht erschien ein besorgter Ausdruck, »man kann nicht spazieren gehen und einem Hund zurufen: ›Komm her, Beneficence!‹ Alle würden lachen, und außerdem würde man den Namen über eine größere Entfernung gar nicht mehr verstehen!« »Da hast du recht«, gab Feltheryn zu, »aber als ich ein Junge war, bevor ich Schauspieler geworden bin, hatte ich einen Hund namens Beneficence, den wir Benny gerufen haben, was man auch noch über eine große Entfernung recht gut verstehen kann, meinst du nicht auch?« »O ja, Meister Feltheryn!« rief der Junge. »Vielen Dank!« Die kleine Hündin blickte zu Feltheryn auf, als fände sie diese Idee entsetzlich, und einen Moment lang glaubte er, sie würde genau verstehen, was er sagte. Sie schob sich ein paar Schritte zurück, und ein leises Knurren drang zwischen ihren Lefzen hervor. »Ich fürchte, Benny, wir machen es so, oder du suchst dir ein anderes Zuhause«, sagte Feltheryn fest. Der Hund zögerte, als würde er lieber genau das tun, als auf seinen neuen Namen zu hören, aber in diesem Augenblick betrat Molin Fackelhalter den rückwärtigen Teil des Theaters, eilte den Mittelgang entlang, und das schien alles zu verändern. Der Hund sah zuerst Molin an, dann wieder Feltheryn, vollführte
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drei saubere Rückwärtssalti und verschwand dann hinter den Kulissen, bevor Molin die Bühne erreicht hatte. »Eine geborene Schauspielerin«, sagte Feltheryn, zerzauste Lempchins Haar und wandte sich daraufhin seinem Gönner zu. »Ich habe gehört«, begann Molin ohne Umschweife, aber mit Verlegenheit, »daß Rosanda das Theater besuchen wird. Könntet Ihr mich immer auf dem laufenden halten, an welchen Abenden Ihr sie erwartet, damit ich dann fernbleiben kann?«
ZWEITER AKT Wie durch eine göttliche Fügung (und in Freistatt schien das die einzige Möglichkeit zu sein, wie so etwas passieren konnte) begannen die Dinge, sich gut zu entwickeln. Vomistritus' Wandzeitungen erschienen zwar auch weiterhin, aber seinen giftigen Kritiken gelang es nicht, die Einnahmen des Theaters allzu sehr zu schmälern. Diejenigen, die die Kritiken als begründet ansahen und dem Theater fernblieben, wurden von denjenigen wieder ausgeglichen, die seine derbe Schreibe so neugierig gemacht hatte, daß sie kamen, um sich selbst zu überzeugen, ob irgend etwas tatsächlich derart schlecht sein könnte. Lalo brachte die endgültigen Entwürfe für Die Hochzeit der Zimmermagd, und sie erwiesen sich als seine bisher inspiriertesten Arbeiten. Die Blumenlaube für die Hochzeitsszene war von außerordentlicher Schönheit, und alle Beteiligten begannen voller Begeisterung mit der Herstellung der Kostüme und Requisiten. Lady Sashana entpuppte sich nicht nur als schön und enthusiastisch, sondern auch als gute Schülerin. Glisselrand errötete tatsächlich, als das verkleidete Schulmädchen ihr das Liebesständchen hielt, und von einer Schauspielerin, die diese Rolle mehr als fünfzigmal selbst gespielt hatte, war das kein geringes Kompliment.
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Was Myrtis anging, so gefiel es ihr, ihren Beitrag zu der Aufführung in Form des Talents einiger ihrer jüngeren Schützlinge beitragen zu können, und die Mädchen selbst waren froh und entzückt (und belustigt), die Brautjungfern der Zimmermagd spielen zu dürfen. »Das einzige Problem«, stellte Myrtis fest, »ist dieses Lied, wenn sie davon singen, rein und keusch zu sein. Es könnten einige ihrer Freier im Publikum sitzen, und sollten die armen Kerle lachen müssen, werden ihre Frauen ihnen auf die Schliche kommen!« Lempchin fand heraus, daß sein neuer Hund jedes Kunststück mit größter Leichtigkeit lernen konnte. Es dauerte nicht lange, da hatte er Glisselrand dazu überredet, ein flauschiges Halsband für den Hund zu nähen, und nicht viel länger währte es, bis Benny eine Rolle in der Aufführung hatte, in der er Kunststücke für die Gräfin vollführte. Meister Chollandar stattete dem Theater einen Besuch ab, um etwas Leim zu bringen, und dabei erzählte er, daß Vomistritus wegen der einen unerlaubten Anwendung, um Rosanda, Rounsnouf und Lempchin aus ihrer mißlichen Lage zu befreien, die Hälfte seiner enormen Bezahlung für die ausschließlichen Rechte an dem Lösungsmittel zurückgefordert hätte. »Ich habe mich eine Weile mit ihm gestritten«, berichtete Chollandar, »aber schließlich habe ich mir gesagt, daß ich seinen Forderungen nachkommen müßte. Und das ist gar nicht einmal so schlimm, denn es war wirklich eine Menge Geld, die er mir bezahlt hat. Aber ich habe ihn dazu verpflichtet, auf jede Wandzeitung die Warnung schreiben zu lassen, daß der Leim gefährlich ist und vielleicht nicht mehr entfernt werden kann. Und ich habe ihm gesagt, daß ich keine Verantwortung für die Konsequenzen übernehme, falls er den Hinweis nicht auf die Plakate schreibt.« »Und hat er das akzeptiert?« fragte Feltheryn. »O ja«, sagte Chollandar. »Ich glaube, ihm gefällt die Vorstellung, etwas Gefährliches in Freistatt zu verbreiten. Vielleicht kommt er sich dadurch finster vor.«
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Kurz bevor Der Niedergang eines Stars vom Spielplan abgesetzt wurde, tauchte direkt nach der Vorführung auf dem Tisch in der Garderobe ein kleiner Geldbeutel auf. Obwohl sich Lempchin nicht daran erinnern konnte, sie hereingelassen zu haben, ging aus einer Nachricht, die in dem Geldbeutel steckte, hervor, daß das darin enthaltene Gold ein ›kleines‹ Geschenk von Ischade sei. Glisselrand meinte dazu, sie sei froh, daß für die liebe scheue Frau anscheinend nicht nur etwas bessere Zeiten angebrochen wären, sondern daß, dem Umfang des Geschenks nach zu urteilen, die Dinge für sie sogar sehr gut stehen mußten. Glisselrand stellte die in verschiedenen Rottönen leuchtende Steppdecke fertig und überreichte sie eines Tages, als die Proben besonders gut verlaufen waren, Sashana, die sie taktvoll annahm, da sie wußte, wie das Geschenk gemeint war. Danach erkundigte sie sich (unter vier Augen) bei Evenita, ob sie irgendein Mittel gegen Kopfschmerzen hätte, und Evenita, die ebenfalls eine solche Steppdecke besaß, eilte zu einer Apotheke, um einige der kleinen Blätter zu besorgen, deren Extrakt, wenn man sie zerquetschte, lindernd auf Augenreizungen wirkte. Der Niedergang eines Stars wurde zum letzten Mal aufgeführt, es gab das übliche Fest für die Truppe und ein paar Freunde, das nach jeder Schlußvorstellung stattfand, und dann begannen die Vorbereitungen für das nächste Stück. Die alten Kulissen wurden abgerissen, die Holzkonstruktionen und Leinwände ausgeschlachtet, das Theater hallte von Textproben wider und wurde von dem penetranten Geruch frischer Farbe durchzogen. Lowan Vigeles und Lady Rosanda schickten ein Schreiben, in dem sie ihr Bedauern darüber zum Ausdruck brachten, daß sie es nicht mehr geschafft hatten, das kürzlich abgesetzte Stück zu besuchen, und in dem sie um die Reservierung der besten Plätze des Hauses für die Premiere von Die Hochzeit der Zimmermagd baten. Das stellte ein Problem dar, weil die besten Plätze die in der königlichen Loge waren, und die würden bestimmt von Prinz Kadakithis und der Beysa
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Shupansea besetzt sein, die wiederum, wie Rounsnouf Feltheryn versicherte, nicht gerade zu den beliebtesten Leuten der Bewohner des rankanischen Anwesens in Landende gehörten. Feltheryn fragte Glisselrand in dieser Angelegenheit um Rat, und sie entwarf schnell einen Brief an Lowan Vigeles, in dem sie ihn dafür um Verständnis bat, daß es sich bei den besten Plätzen um die in der königlichen Loge handelte, die auf Kosten des Prinzen und der Beysa ausgekleidet worden waren, und beide würden mit größter Wahrscheinlichkeit bei der Premiere anwesend sein. »Meinst du, es ist klug, das zu schreiben?« fragte Feltheryn zweifelnd, während er den Brief las. »Lies weiter«, forderte ihn seine Frau auf. In dem Brief drückte Glisselrand weiterhin ihr Bedauern darüber aus, daß das Theater über keine zweite Loge von vergleichbarer Pracht verfügte, und sie wies darauf hin, daß das Theater der Truppe in Ranke drei solcher Logen besessen hätte: die königliche in der Mitte und die beiden anderen rechts und links der Bühne, die Würdenträgern und Gästen des Theaterintendanten vorbehalten gewesen waren. Dann erkundigte sie sich höflich, ob Lowan Vigeles die königliche Loge für die zweite Nacht oder eine einfachere Loge für die Premiere reservieren lassen wollte, und sie fügte hinzu, daß viele Besucher die zweite Vorstellung bevorzugten, da die anfängliche Nervosität, die bei der Premiere herrschte, sich bis dahin gelegt hätte. Feltheryn lächelte. »Ich sehe, du versuchst, noch mehr Glanz und Glitter herauszuschlagen«, stellte er fest, und Glisselrand grinste. »Es könnte nicht schaden, Liebling«, sagte sie. Die Proben gingen weiter, die Kostüme und Kulissen wurden fertiggestellt, und schon bald war der Premierenabend gekommen. Lowan Vigeles und Lady Rosanda ließen die königliche Loge für die zweite Vorstellung reservieren, Molin Fackelhalter begleitete den Prinzen und die Beysa zur
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Premiere, und alles lief reibungslos wie ein Uhrwerk. Am Ende des ersten Aktes schien dann sogar das Unmögliche zu passieren. »Ja, er ist es!« rief Rounsnouf. Er spielte den Diener, der sich als der Vater des Bräutigams entpuppte. Der Bräutigam wiederum wurde von Snegelringe dargestellt. »Dieses Lachen ist unverkennbar. Schau durch das Guckloch! Siehst du diesen großen, fetten, häßlichen Mann? Das ist Vomistritus, und er scheint sich tatsächlich zu amüsieren!« Feltheryn spähte durch das Loch, entdeckte den Mann und mußte zugeben, daß Vomistritus in der Tat groß, fett und häßlich war. Sein Gesicht erinnerte an eine verfaulende Zuckermelone. Er hatte ein Mehrfachkinn und eine gräuliche Hautfarbe, die einem die Frage aufdrängte, ob er es (regelmäßig mit Leichen trieb. Seine kurzen, dicken Finger ruhten feucht auf dem Geländer, und seine hervorquellenden Augen waren blutunterlaufen. Sein Mund war schlaff; Feltheryn fragte sich, ob er auch noch sabberte. Als er lächelte, wurden Zahnstummel sichtbar, und sein Lächeln war dem Antlitz eines Hais nicht unähnlich. Er trug weite Gewänder in der Farbe von grünem Gänsekot, die seine Fettleibigkeit nicht verbergen konnten. Die junge Frau, die neben ihm saß, war hübsch und offensichtlich eine bezahlte Begleiterin. »Angenommen, er stellt sich als ein aufrichtiger Kritiker heraus?« fragte Lady Sashana, die in ihrer engen blauen Satinreithose und dem weißen Brokatmantel atemberaubend aussah. »Ein aufrichtiger Kritiker?« fragte Snegelringe. Er stand dicht neben ihr, doch bisher war es ihm nicht gelungen, sie mit seinem Charme zu betören. »Ja«, sagte Sashana. »Angenommen, er schreibt wirklich das, was er denkt. Dann könnte es passieren, daß wir, wenn wir morgen früh aufwachen, überall in der Stadt gute Besprechungen an die Wände geklebt vorfinden.«
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»Solche Dinge sind tatsächlich schon passiert, mein Kind«, bemerkte Glisselrand, »aber das ist selten. Ich glaube, es liegt nicht so sehr daran, daß Kritiker in der Hoffnung ins Theater gehen, ein schlechtes Stück zu sehen, sondern daß sie eher schon so viele Vorführungen gesehen haben, daß sie abgestumpft sind. Ich vermute, es geht ihnen wie den Kurtisanen: sie hoffen immer auf das Außergewöhnliche und werden meistens enttäuscht.« »Einmal daran«, stimmte Feltheryn zu, als er von dem Guckloch zurücktrat, das es den Schauspielern ermöglichte, das Publikum zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, »und dann an dem Umstand, daß es leichter ist, irgend etwas in Fetzen zu reißen, als ihm Leben einzuhauchen.« »Das stammt aus Die Wahl der Magier, nicht wahr?« fragte Sashana. »Ja.« Feltheryn lächelte. »Als Demetus erkennt, daß selbst ein Kind töten kann, aber daß er, der größte aller Magier, den Toten kein Leben zu geben vermag, kein wahres Leben. Danach verläßt er den Pfad des Kriegers.« Sashana seufzte. »Ich würde so gern die Retifa spielen!« Glisselrands Augenbrauen schossen in die Höhe, und einen Augenblick lang fragte sich Feltheryn, ob die Truppe heute abend noch bis zum zweiten Akt kommen würde. Retifa war eine von Glisselrands Lieblingsrollen. »Natürlich«, fuhr Sashana fort, »bräuchte ich etwa dreißig Jahre Bühnenerfahrung, bevor ich mich an die Rolle heranwagen würde. Und vielleicht hätte ich selbst dann nicht das nötige Talent dazu. Es bedarf schon einer wirklich großen Schauspielerin wie Euch, Glisselrand, um eine solche Aufgabe zu übernehmen. Habt Ihr die Rolle schon einmal gespielt?« Feltheryn entspannte sich, überzeugt, daß der innere Friede wiederhergestellt war. Und dann wurde es auch schon Zeit für den zweiten Vorhang.
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Am Ende der Vorstellung war das gesamte Ensemble voller überschwenglicher Begeisterung, und als sie die letzte Verbeugung hinter sich gebracht hatten, war ihnen vor gegenseitigen Glückwünschen schwindlig. Alle waren sich darin einig, daß in Freistatt noch nie so viel Gelächter geherrscht hatte, so viel unverfälschte gute Laune. Sie eilten gemeinsam in die Garderobe, nahmen vor dem Tisch Platz, hinter sich Blumenkübel voller Blumen und Topfpalmen, und schon bald wimmelte der Raum von Menschen, die ihnen gratulierten. Zuerst erschienen der Prinz und die Beysa, dann Molin Fackelhalter und mehrere Adelsfamilien, denen einige Aspekte der Produktion zu verdanken waren. Es war ein Schock für Feltheryn, als er aufsah und eine die Tür ausfüllende taubenmistgrüne Masse erblickte, aber er bewahrte Haltung, als Vomistritus auf ihn zu watschelte und jeden einzelnen beglückwünschte. »Ich habe das Stück noch nie so gut gespielt gesehen!« rief der Kritiker mit einer lauten Baritonstimme. »Diese Finesse! Dieser Stil! So viel geschmackvoller als die kitschige Tragödie, die Ihr beim letzten Mal aufgeführt habt! Meinen Glückwunsch! Ihr könnt versichert sein, daß meine Wandzeitungen morgen zu Euren Gunsten ausfallen werden. Ihr, Madame Glisselrand, wart superb! Ich hätte fast geweint, als Ihr über die Untreue des Grafen nachgegrübelt habt. Und Ihr, Meister Feltheryn, wart ein solch meisterhafter Possenreißer; wie habt ihr das nur fertiggebracht, sie in der letzten Szene auf einem Knie um Verzeihung zu bitten? Man sollte glauben, ein Mann in Eurem Alter hätte Schwierigkeiten mit derartigen Verrenkungen. Ah, aber mein größtes Lob gebührt Euch, Lady Sashana! Euer Gang! Euer Lied! Eure verliebte Eleganz! Wie könnte irgend jemand Eurem Flehen widerstehen? Wirklich, ich muß zugeben, ich hatte den Eindruck, die Gräfin hätte ein Herz aus Stein, als Ihr Euer Anliegen vorgetragen habt! Und wenn ich dieses Gefühl hatte, dann seid versichert, muß auch Euer Publikum das gleiche gefühlt haben! Denn ist das nicht die Aufgabe eines Kritikers? Das gesamte Publikum zu ersetzen? Zu versuchen, das Stück zu erfühlen, nicht nur so, wie er es
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allein empfindet, sondern so, wie es alle und jeder einzelne empfinden? Das unterscheidet sich gar nicht so sehr von der Aufgabe des Regisseurs, nicht wahr, Meister Feltheryn? Nur daß Ihr versucht, vor der Aufführung das Publikum zu ersetzen, während ich versuche, das zu tun, nachdem Ihr das Stück aufgeführt habt. Zu sehen, ob das, was Ihr gesehen habt, das gleiche ist, was sie sehen. Seht Ihr? Sehen! Gesehen haben!« Und so ging es weiter, viel länger, als es für einen Mann schicklich war, der am Anfang einer langen Schlange stand, und in einem bemerkenswerten Kontrast zu dem Tonfall, mit dem er die Truppe bisher bedacht hatte. Als er schließlich verschwunden war und auch die restlichen Gratulanten ihre Glückwünsche abgestattet hatten und gegangen waren, waren alle erschöpft. Sie begaben sich in die Küche, wo Lempchin kalte Teigtaschen aufgetischt hatte, und nachdem sie noch einmal den Triumph des Abends genossen und wieder die Kraft getankt hatten, die die Schauspielerei gekostet hatte, gingen sie alle zu Bett, und jeder fragte sich im stillen, ob vielleicht die schwache Magie des Theaterstücks irgendeine Veränderung in Vomistritus bewirkt hatte. Der zweite Abend war ein genauso überwältigender Triumph wie der erste. Es waren nicht nur Lowan Vigeles und Rosanda gekommen, sie hatten auch so viele Gladiatoren mitgebracht, daß die Sitzplätze im Theater kaum ausreichten. Alle Gladiatoren trugen ihre beste Ausgehkleidung, und das von Gold widergespiegelte Kerzenlicht lenkte fast schon von den Darbietungen auf der Bühne ab. Es wurde nur noch von Lady Rosanda überstrahlt. Sie war auf eine Art im Stil des rankanischen Hochadels gekleidet, die ungefähr genauso beeindruckend wie die formelle Cosa war, die die Beysa am Abend zuvor getragen hatte. Natürlich mit dem Unterschied, daß die Brustwarzen Lady Rosandas bedeckt waren. Am dritten Morgen klebten Vomistritus' Wandzeitungen überall in der Stadt, und sie waren voll von reichlichem Lob für
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die Aufführung und sämtliche Darsteller. Wenn man in seinen Ausführungen überhaupt ein unvernünftiges Vorurteil finden konnte, stellte Feltheryn während eines Frühstücks fest, das aus heißer Zitronenkrautptisane und in ausgelassenem Speck gebratenen Eiermais bestand, dann war es das übermäßige Lob für Sashana. »Sie ist zweifellos großartig«, murmelte er kauend. »Aber so großartig nun auch wieder nicht!« Deshalb kam es völlig überraschend, als Lady Sashana am vierten Morgen nach der Premiere mit ihren Leibwächtern im Theater erschien und ihren Entschluß verkündete, sie würde den Cousin des Kaisers umbringen, koste es, was es wolle. »Mein armes Kind!« rief Feltheryn aus, zog einen Stuhl an den Tisch heran, damit sie sich setzen konnte, und bemerkte dabei, daß ihr Gesicht blaue Flecken aufwies. »Was, um alles in der Welt, ist passiert?« Lady Sashana ballte die Fäuste auf dem Tisch und versuchte zu sprechen, aber sie konnte nur stoßweise atmen, und der Ansturm widersprüchlicher Gefühle, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, machte es ihr unmöglich, ein artikuliertes Wort hervorzubringen. Feltheryn musterte die Leibwächter und stellte fest, daß sie ebenfalls blaue Flecken und darüber hinaus noch Schnittwunden und Abschürfungen hatten. Was noch schlimmer war, jeder, den Feltheryn ansah, schlug die Augen nieder, und alle Gesichter waren rot vor Scham. »Er…«, begann Sashana, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Glisselrand betrat die Küche, erblickte Sashana und stellte sofort eine Tasse heiße Ptisane vor ihr auf den Tisch. Myrtis, die hinter Glisselrand eingetreten war, erstarrte, und ihr Gesicht wurde ausdruckslos. Sashana trank etwas von der Ptisane, hustete und begann noch einmal von vorn. »Gestern nacht habe ich nach der Vorstellung eine Nachricht von Vomistritus bekommen. Darin stand, er würde eine kleine Feier mit einem Abendessen veranstalten und um mein
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Kommen bitten. Nach all den netten Dingen, die er über die Aufführung und meine schauspielerische Leistung gesagt hatte, dachte ich, ich sollte hingehen.« »Zu dieser späten Stunde?« fragte Glisselrand. »In Freistatt?« Sashana lächelte reumütig. »Ich bin kein Dummkopf, jedenfalls kein völliger Dummkopf! Ich habe meine Leibwächter mitgenommen, und ich konnte es ja auch sehr gut damit begründen, daß es für mich zu gefährlich gewesen wäre, zu dieser späten Zeit alleine durch die Straßen zu laufen. Vomistritus hat mich persönlich eingeladen, und er schien äußerst erfreut, auch meine Männer bewirten zu können. Er hat seinen Dienern befohlen, sie mit Wein und Fleisch zu versorgen, und mich dann nach oben geführt, wo die Feier stattfinden sollte.« Sie trank einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse. »Ich habe sofort begriffen, was mir bevorstand, denn der Tisch war nur für zwei gedeckt. Ich wollte gehen, aber die Tür war von außen verschlossen worden. Ich habe von ihm verlangt, sie zu öffnen, aber er hat nur gelacht. Ich habe, so laut ich konnte, wie Ihr es mir beigebracht habt, nach meinen Männern gerufen, aber keine Antwort erhalten. Dann ist Vomistritus zum Tisch gegangen, hat sich gesetzt und die Speisen aufgedeckt und sich dabei benommen, als hätte er die Schlacht schon gewonnen. Und dann, dann hatte diese übergewichtige Imitation eines Abwinddreckschweins die ungeheuerliche Unverschämtheit, mir gegenüber Euren Monolog zu zitieren, Meister Feltheryn, den aus dem Ende des zweiten Aktes von Der Niedergang eines Stars!« »Die Menschen nennen mich korrupt, und doch kennen sie nicht die Abgründe meiner Verdorbenheit und meiner Gelüste…«, begann Feltheryn. »Ja, diesen Monolog!« fiel ihm Sashana ins Wort. »Könnt Ihr Euch das vorstellen? Und er hat ihn schlecht vorgetragen. Also, ich habe natürlich mein Stichwort aufgegriffen und bin zum Tisch gegangen, aber so ein Idiot ist Vomistritus nun doch
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nicht. Es waren keine Messer da. Alle Speisen waren so zubereitet, daß sie mit den Fingern gegessen werden konnten, und sie sahen auch nicht gerade sonderlich appetitlich aus.« »Er hätte Euch wenigstens ein anständiges Essen bieten können«, meinte Glisselrand. »Woher sollte ein Kritiker den Unterschied kennen?« fragte Rounsnouf. »Ich habe ihm gesagt, ich würde es eher mit der Leiche eines syphilitischen Aussätzigen treiben«, sagte Sashana kalt. Dann brach ein bitteres Lachen aus ihr hervor. »Ich hätte wissen sollen, daß eine derbe Sprache ihn nur erregen würde. Er ist vom Tisch aufgestanden und auf mich zugekommen, genau wie im Theaterstück. Aber er hatte weder mit meiner üblichen Vorsicht gerechnet, noch mit dem Dolch, den ich immer im Strumpfband unter meinen Kleidern trage. Ich habe damit nach seiner Kehle geschlagen, und, bei den Göttern, der Schnitt hätte ihn töten müssen!« Ihre grünen Augen glühten wie Höllenfeuer. »Was ist dann passiert?« fragte Feltheryn, durch Gewohnheit und von Natur aus ein ebenso guter Zuhörer wie Schauspieler. »Ich habe seine Kehle aufgeschlitzt, aber sein verdammtes Fett hat ihm das Leben gerettet! Er hat gebrüllt, Blut ist gespritzt, aber mein Dolch hat seine Halsschlagader verfehlt. Daraufhin sind seine Männer hineingestürzt und haben mich gepackt. Ich glaube, einem fehlt jetzt wenigstens ein Finger, aber es waren zu viele, und sie haben mich zu Boden gedrückt. Und dann wurde es schlimmer. Vomistritus hat sich den Hals mit einem Leinentuch verbunden, seine Augen sind noch weiter herausgequollen, und seine Diener haben meine Leibwächter hereingebracht, alle entwaffnet und gefesselt. Meine Männer wurden festgehalten und gezwungen zuzusehen, wie er…« Wieder brach Sashanas Stimme, und Zorn, Verzweiflung und Entsetzen kämpften auf ihrem Gesicht um die Vorherrschaft. Einer ihrer Diener weinte.
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»Er… er hat noch mehr aus dem Stück rezitiert«, fuhr sie schließlich fort. »Wie ich es liebe, den Kampfgeist der Tigerin in ihr zu brechen…« Einen entsetzlich kalten Augenblick lang herrschte Stille. Dann sagte Myrtis ruhig: »Er hat dich vergewaltigt.« Das war das Stichwort, das Sashana gebraucht hatte. »Ja, der Bastard hat mich vergewaltigt!« schrie sie, und mit einem blitzschnellen Sprung war sie auf den Beinen, den Dolch in der Hand, und irgendwie zerschellte die zerbrechliche Tasse, aus der sie getrunken hatte, an der gegenüberliegenden Wand. »Und ich werde ihn töten1.« Von allen Anwesenden war Myrtis die einzige, die sich rühren konnte, die einzige, der es gelang, angesichts des eisigen Ausbruchs von Wut und Entsetzen, der die anderen gefangenhielt, etwas zu unternehmen. Sie ging zu Sashana, nahm sie in die Arme, und da ließ Sashana ihren Tränen endlich freien Lauf, unterdrückte das Schluchzen nicht mehr. Nach einer Weile wurde sie ruhiger und flüsterte dann, an Myrtis' Brust gedrückt, wieder: »Ich werde ihn töten.« »Nein, Kind«, sagte Myrtis. »Du wirst ihn nicht töten. Wenn du ihn tötest, dann ist es für ihn vorbei, und du bleibst mit deinen Schmerzen zurück, ohne ein Ziel, auf das du sie richten kannst.« »Was meint Ihr damit?« fragte Sashana. »Ich meine, daß Gerechtigkeit eine Frage des Ausgleichs ist«, erklärte die Bordellmutter. »Er hat dir nicht das Leben genommen, also wäre es eine unangemessene Bestrafung, ihm das Leben zu nehmen. Statt dessen müssen wir versuchen, ihm genau das anzutun, was er dir angetan hat. Wir müssen versuchen, dein Leid zu heilen, indem wir es ihm aufbürden.« »Redet Ihr von Magie?« erkundigte sich Feltheryn. »Oder…« »Myrtis«, mischte sich Glisselrand ein. »Ich glaube nicht, daß wir irgend jemanden finden werden, der bereit ist, Vomistritus zu vergewaltigen.« Myrtis schnaubte auf eine sehr unfeine Art.
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»Dies ist Freistatt, Glisselrand«, stellte sie fest. »Das wäre unser kleinstes Problem. Es ist nicht der sexuelle Aspekt des Verbrechens, um den es mir geht, sondern die Gewalt und die Demütigung. Und darüber hinaus eine Möglichkeit, wie wir diesen Schurken bestrafen können, ohne die Stadt in Mitleidenschaft zu ziehen.« Sashana zog sich etwas zurück. »Oh, dessen ist er sich bewußt!« sagte sie. »Als er fertig war, hat er gesagt, ich wäre gar nicht in der Lage, Rache zu üben, denn wenn ihm etwas zustoßen würde, würde der Kaiser Freistatt niederreißen und seine Einwohner dezimieren lassen. Er war sehr stolz darauf zu wissen, was dezimieren bedeutet. Er hat Witze darüber gemacht und mich gefragt, wen von meinen Freunden ich gerne vor meinen Augen sterben sehen würde, wenn jeder zehnte getötet wird.« »Meine Herrin!« rief der Diener, der geweint hatte, »gebt mir die Erlaubnis, mich um ihn zu kümmern, und wenn ich mit ihm fertig bin, werde ich mich dem Prinzen zur Hinrichtung ausliefern! Das wird Freistatt retten, und wir werden gleichzeitig alle gerächt werden!« »Ein edles Angebot, Miles«, versicherte Sashana. »Aber ich kann dich nicht für eine Kreatur opfern, die so unendlich weniger wert ist als du.« »Lady Sashana«, warf Rounsnouf ein, und endlich einmal klang die Stimme des Komikers todernst. »Dürfte ich einen Plan vorschlagen?« Sashana drehte sich zu ihm um. Sie zitterte immer noch, aber die Aussicht, irgend etwas zu unternehmen, schien sie zu beruhigen. »Ja?« »Myrtis, wie gut kennt Ihr den Eigentümer des Hauses der Peitschen?« fragte der Komiker an die Bordellmutter gewandt. »Gut genug«, erwiderte Myrtis. »Dort gibt es einen kleinen Hof mit Prangern«, sagte Rounsnouf. »Es war ein sehr beliebtes Etablissement, als die Stiefsöhne noch in der Stadt waren, zumindest habe ich das
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gehört, doch jetzt sind seine goldenen Zeiten vorbei, besonders seit dieser Ziegenzüchter…« »Ja, ja«, unterbrach ihn Feltheryn, der allmählich begriff, worauf der Komiker hinauswollte. »Was ist mit den Prangern?« »Jeder, der sie noch nicht selbst erduldet hat, glaubt, sie wären eine milde Form der Folter«, erklärte Rounsnouf, »aber wenn man gezwungen ist, vornüber gebückt zu stehen, den Hals und die Handgelenke durch die Öffnungen in dem Brett gesteckt und das Hinterteil entblößt, kann das eine Qual sein. Zuerst tut der Rücken weh, dann die Muskeln an Schultern, Beinen und so weiter. Sie schmerzen, sie verkrampfen sich, und am Ende des ersten Tages ist man bereit, alles zu tun, damit man wieder freikommt. Und das selbst ohne die Nachhilfe der Herren dieses Hauses, von denen es vielen das größte Vergnügen bereitet, den so festgesetzten Opfern noch eine Vielzahl weiterer Qualen zuzufügen.« »Das wäre schon einmal ein guter Anfang«, sagte Lady Sashana, die jetzt wieder ein wenig gefaßter wirkte. »Aber wir sprechen hier nicht von einem gutaussehenden Sklaven, wir sprechen von Vomistritus.« »Meine Dame«, entgegnete Rounsnouf, und seine kleinen Augen begannen vor Einfallsreichtum zu funkeln, »es gibt diesen Hof, weil es Menschen gibt, die besonderen Gefallen darin finden, in aller Öffentlichkeit gedemütigt zu werden. Um diesen Hof herum sind Sehschlitze in den Mauern angebracht, durch die man beobachten kann, was sich dort abspielt, ohne selbst gesehen zu werden. Auch das sind Gelüste, die das Haus befriedigt. So kann man dort unerkannt stehen und jedem, der eine besonders gute Vorstellung geliefert hat, ein oder zwei Kupferstücke zuwerfen. Und ich bin sicher, daß es eine Menge Leute in Abwind gibt, die sich noch nie eine Nacht in der Straße der Roten Laternen leisten konnten, viele, deren Geschmäcker wir uns nicht einmal in unserer schwärzesten Phantasie ausmalen könnten. Man könnte die Sache durch Morruth, den Bettlerkönig, verbreiten lassen, und wer weiß, was dabei herauskommt? Obwohl Ihr es vielleicht nicht glauben
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werdet, es gibt in Freistatt Menschen, die noch unansehnlicher als Vomistritus sind!« Sashana atmete einmal tief ein und hörte auf zu zittern. Ihr stolzes Kinn hob sich, aber noch immer warf sie Myrtis einen hilfesuchenden Blick zu. Myrtis nickte ihr zu, und ihr Lächeln hätte selbst den mächtigen Tempus vor Angst erstarren lassen können. »Es wäre am besten«, sagte Glisselrand, und ihre wohlklingende Stimme war plötzlich die Sachlichkeit selbst, »wenn keiner der daran Beteiligten erkannt werden kann. Und was noch wichtiger ist, was soll Vomistritus davon abhalten, mit seinen Peinigern zu sprechen und ihnen mehr Geld für seine Freilassung zu bieten, als wir alle zusammen besitzen?« Rounsnouf kicherte. »Wir streichen ihm den Leim, durch den Lempchin und ich aneinander festgeklebt waren, auf die Lippen«, erklärte der Komiker. »Bevor wir ihn seinem besonderen Fegefeuer ausliefern, wird er nicht mehr in der Lage sein, um seine Freilassung zu bitten!« »Schon besser!« rief Sashana. »Und, Meister Feltheryn«, fuhr Rounsnouf fort, »wir haben schon mehrere Jahre lang nicht mehr Der dicke Gladiator aufgeführt; könnten wir vielleicht die Dämonenkostüme aus der letzten Szene benutzen? Wir werden ihn mit irgendeiner List in den Wald locken, genau wie in dem Theaterstück, und dort auf ihn warten. Dort werden wir ihm entsetzliche Angst einjagen, ihn fangen, fesseln, ihm den Mund verkleben, und er wird nicht sagen können, wer ihn in das Haus der Peitschen gebracht hat! Danach können wir die Kostüme verbrennen und damit sämtliche Beweismittel vernichten.« Alle Blicke richteten sich auf Feltheryn, doch Feltheryn antwortete nicht sofort. Daß sie verlangten, ein paar alte Kostüme zu vernichten, war bedeutungslos. Ebensowenig störte er sich an dem Risiko. Natürlich würde Vomistritus irgendwann im Laufe der Ereignisse das Komplott aus Der dicke Gladiator erkennen und begreifen, daß es die
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Theatergruppe war, die sich an ihm rächte, aber das spielte keine Rolle, denn der Kritiker würde sie nicht alle töten lassen können. Ein solches Vorgehen würde Kaiser Theron nicht dulden, nicht einmal von seinem Cousin. Und wer für ein solches Verbrechen verantwortlich war, würde für alle offensichtlich sein. Nein, Feltheryn zögerte um Sashanas willen. Wenn er dem Plan zustimmte, würde er sie in eine Situation bringen, in der sie jemandem die gleichen Grausamkeiten zufügte, die sie selbst erlitten hatte. Wodurch sie eine innere Befreiung erringen mochte, aber um welchen Preis? Sie war eine Dame aus gutem Haus; andererseits hatte sie jedoch auch die Ermordung ihrer Eltern und die unerbittliche Härte der Wüste überlebt. Wie sehr würde dieses furchtbare Erlebnis ihrer Seele schaden? Doch wie sehr hatte ihre Seele jetzt schon Schaden genommen? Feltheryn nickte. »Aber eine Frage bleibt trotzdem ungelöst«, gab er zu bedenken. »Wir können vielleicht verhindern, daß Vomistritus Beweis gegen uns in der Hand hat, aber er wird Bescheid wissen, und soweit ich das beurteilen kann, wird er versuchen, seinerseits dafür Rache zu nehmen. Wir brauchen so etwas wie ein scharfes und schreckliches Schwert, das über seinem Kopf schwebt, so daß er es nie mehr wagen kann, etwas gegen uns zu unternehmen.« Wieder breitete sich Stille in der Küche aus, doch dann klang von der Tür her ein ruhiges Hüsteln auf. Alle drehten sich um, und da stand Lalo, der Maler, der rötliche Haarkranz wirr und unordentlich, die Finger mit Farbe bekleckert. Er war schon früh am Morgen gekommen, um ein paar Dinge an der Bühnenausstattung nachzubessern, mit denen er nicht zufrieden gewesen war. »Ich glaube, dabei könnte ich behilflich sein«, sagte er. So kam es, daß in einem merkwürdig menschenleeren Park, der das Himmlische Versprechen genannt wurde, ein schwergewichtiger, grüngekleideter Mann von Dämonen
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überfallen wurde. Er schrie laut auf, aber seine Speichellecker, die ihm zu Hilfe eilen wollten, blieben entsetzt stehen, als sie den Weg von einem Trupp Gladiatoren aus Lowan Vigeles' Schule in Landende versperrt fanden. Die Schreie ihres Gebieters verstummten schon bald oder waren zumindest nur noch erstickt zu hören, und die Speichellecker, deren Loyalität lediglich erkauft war, zogen sich schnell vom Ort des Geschehens zurück. Es war nicht das erste Mal, daß der Park Dämonen als Spielwiese gedient hatte, aber später kehrten die Damen, die entweder zu tief in den Fängen des Krff steckten oder zu häßlich waren, um in der Straße der Roten Laternen zu arbeiten, wieder zurück, für die verlorene Zeit großzügig entschädigt. Es hätte auffallen können, daß die als Schüler verkleidete Schülerin (in Die Hochzeit der Zimmermagd) ein paar Nächte lang etwas weniger spritzig agierte. Daß das Stück vielleicht etwas verhaltener wirkte als während der Premiere. Daß bestimmte Aspekte der Inszenierung stärker und andere schwächer betont wurden. Es hätte auffallen können, aber es fiel nicht auf, denn in Freistatt sahen sich nur wenige Menschen eine Aufführung mehr als einmal an. Und es gab fortan keine Kritiker mehr, die sich darum kümmerten. Denn ein gewissenhafter und gerechter Kritiker zu sein ist eine riskante Angelegenheit. Er muß feste Kriterien haben, aufgrund derer er sein Urteil fällt, aber er muß sich ebenfalls der Gefühlswelt einer Arbeit öffnen. Wie der Regisseur muß er in der Lage sein, das Stück aus der Sicht des gesamten Publikums zu betrachten. Genaugenommen muß er ein vollständiges Publikum sein. Doch ein Publikum beschränkt sich nicht nur darauf, ein Kunstwerk zu betrachten. Ein Publikum nimmt daran teil. Wenn ein Theaterstück perfekt aufgeführt, aber von niemandem gesehen wird, dann ist es kein Theaterstück. Ein Gemälde, das niemand sieht, existiert nicht, nicht einmal für
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den Maler, denn Kunst (und alles andere im Leben, worauf es ankommt) hat die Aufgabe, Kommunikation herzustellen. Ein Baum, der in einem Wald ohne einen Beobachter umstürzt, verursacht kein Geräusch. Zumindest kein Geräusch, das ein Künstler verstehen könnte. Ein Publikum kommt nicht nur ins Theater, es bringt etwas mit, nämlich Beobachtung, Anteilnahme und Reaktion. Wenn das Publikum nicht bereit ist, sich der Gefühlswelt und Sinnlichkeit zu öffnen, gleicht es einem Liebhaber, der nur daliegt und darauf wartet, bedient zu werden. Es ist der gleiche Unterschied wie der zwischen den bedauernswerten Frauen, die sich auf den Pfaden im Garten des Himmlischen Versprechens herumtreiben, und den bildhübschen Damen, die über die Satinlaken im Aphrodisiahaus schweben. Der Unterschied zwischen einer Kurtisane und einer Hure. Kurz gesagt, ein Publikum, das nicht bereit ist, seine Rolle zu spielen, ist unfähig, und es gibt nichts in einer Theateraufführung, nichts in einem Gemälde, nichts in einem Buch und nichts in einem Musikstück, das seine Haltung verändern wird, und ein Kritiker ersetzt das Publikum. Es regnete, kurz, aber heftig genug, um die Tinte von den Wandzeitungen zu waschen, die die Gebäude der Stadt verschandelten. Im Palast tauchte ein neues Porträt auf, das seinen Platz an der Rückseite eines Wandschranks fand, ein Porträt, das Prinz Kadakithis erfreut von Lalo entgegennahm, das er aber nicht der Öffentlichkeit präsentieren wollte, denn durch Lalos außergewöhnliche Begabung zeigte es die wahre Seele eines häßlichen nackten Mannes in einem Pranger im Haus der Peitschen. Es war ein Porträt, das dem Prinzen von Nutzen sein könnte, sollte der neue Kaiser beabsichtigen, Freistatt einen weiteren Besuch abzustatten, und das Modell wußte, daß der Prinz das Bild besaß. Einer kleinen Hündin mußte mit Nachdruck befohlen werden, in der Szene, in der sie auftrat, nicht so viele Kunststücke zu vollführen, da sie dem Star die Show stahl.
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Und eines Abends, als sich alle Schauspieler in der Garderobe von der Aufführung erholten, waren die Blumenkübel voller duftender schwarzer Rosen. Originaltitel: The Incompetent Audience Copyright © 1989 by Jon DeCles Ins Deutsche übertragen von Winfried Czech
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Ein guter Jahrgang Duane McGowen
Es sprach sich herum, daß in Freistatt allmählich wieder bürgerliche Wohlhabenheit einkehrte. Die Schreckensherrschaft seit den Aufständen während des Seuchenalarms gehörte schon fast der Vergangenheit an, da die verschiedenen kriegerischen Faktionen, die Freistatt in Zonen aufgeteilt hatten, sich aufgelöst oder die Stadt für gewinnträchtigere Kämpfe verlassen hatten. Die Straßen schienen in letzter Zeit verhältnismäßig friedlich zu sein, und die Lage schien sich zu normalisieren. ›Schien‹ war in beiden Fällen das treffende Wort. Keinen Zweifel gab es jedoch, daß die Wirtschaft einen Aufschwung nahm. Sowohl Beysiber wie Rankaner schienen Diplomatie militärischen Aktionen und Krawallen vorzuziehen. Die Terrorisierung durch die Vobfs, welche die Wirtschaft nahezu zum Stillstand gebracht hatte, gab es so gut wie nicht mehr. Gerüchte, die man glauben mochte oder nicht, besagten sogar, daß Zip, der ehemalige Führer der Volksfront für die Befreiung Freistatts, jetzt sogar von Amts wegen für die Sicherheit auf den Straßen verantwortlich war. Zwar hielten viele gerade dieses Gerücht für unglaubhaft, aber daran bestand kein Zweifel, daß die Nächte nunmehr frei waren von terroristischen Anschlägen und daß keine jugendlichen Banditen mehr während des Tages in Läden, Verkaufsstände und Schenken kamen, um von den eingeschüchterten Geschäftsleuten und Wirten Schutzgelder zu kassieren. »Freistatt ist endlich, was Freistatt sein sollte«, waren die Kaufleute sich jetzt einig, denn sie profitierten am meisten vom Aufblühen der Stadt. Arbeiter und Handwerker, die von Molin
Die Säule des Feuers von Janet Morris in Geschichten aus der Diebeswelt: Die Säulen des Feuers, Bastei-Lübbe 20156
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Fackelhalter zum Mauerbau in die Stadt geholt worden waren, übten nun hier ihr Handwerk aus und trugen mit ihrem Lohn zur wachsenden Wohlhabenheit der Kaufleute bei, da Kauf und Verkauf zur Stütze von Freistatts aufstrebender Wirtschaft wurden. Die geschäftstüchtigsten Unternehmer sahen sich in Freistatt nach lukrativen Investitionen um. Die Stadt, die man einst als »Anus des Reichs« erachtet hatte, war jetzt der Ort, wohin sich vorausschauende Geschäftsleute dieses nun zerfallenden, von Kriegen gebeutelten Reiches wandten, um ein neues Leben aufzubauen. Das traf auf viele Flüchtlinge aus dem unruhigen Ranke zu, die gutes Geld bezahlten, damit die Karawanenmeister sie durch die Wüste zu jener Hafenstadt unter der Herrschaft des rankanischen Prinzen Kadakithis und seiner beysibischen Gemahlin Shupansea brachten. Einige der Flüchtlinge hatten Verwandte unter der rankanischen Bevölkerung, die sie aufnahmen und ihnen aushalfen. Andere, wie Mariat, hatten diesen Vorteil nicht. Da es auch sonst niemanden mehr gab, an den sie sich hätte wenden können, hatte Mariat ihre drei Enkelkinder, die einzigen Überlebenden ihrer einst mächtigen und sehr wohlhabenden Familie, nach Freistatt gebracht, um dort ein neues Leben aufzubauen. Sie blickte optimistisch in die Zukunft, obgleich sie sich nur auf ihre Tatkraft und ihren Verstand verlassen konnte. Beim Basartor hielt sie ihren Wagen an. Kendrick, ihr ältester Enkel, der den anderen Wagen lenkte, folgte ihrem Beispiel. Kendrick und seine Schwester Darseeya achteten wachsam darauf, daß sich niemand unbefugt den Wagen näherte. Zwar war der Junge erst vierzehn und das Mädchen zwölf, doch die vergangenen Ereignisse hatten sie über das normale Maß reifen lassen. Sie wußten, daß niemand die Ladung der beiden Planwagen sehen sollte, denn sie war die Zukunft von Mariats Familie. Während ihre beiden ältesten Enkel aufpaßten und der jüngste hinten im Wagen schlief, ließ Mariat den Blick durch den Basar nach dem sichersten Weg hindurch zur besseren Wohngegend von Freistatt schweifen. Ihre kleine Gruppe
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bildete eine Insel regloser Ruhe in einem Meer hektischer Regsamkeit. Um sie herum raschelten die farbenprächtigen Röcke der S'danzo; Händler priesen lautstark Interessenten ihre Ware an; Garnisonssoldaten schritten kühn mit vielleicht nur scheinbarer Zielsstrebigkeit durch die Menge; da und dort sprachen Bettler die Leute an, und Taschendiebe bemühten sich, sich bei ihrer Arbeit nicht erwischen zu lassen. Das Blöken, Meckern und Wiehern der Tiere in ihren Pferchen unterschied sich nicht sehr von dem Lärm, den die Händler, Käufer und Diebe im Basar machten. Es war nicht das erste Mal in den vergangenen Monaten, daß sich Mariat außerhalb ihres Elements fühlte. Sie strich durch ihr graues Haar, das zusehends weißer wurde, seit ihr früheres Leben zu einem abrupten, blutigen Ende gekommen war. Es war dieser Frau von mittleren Jahren nie in den Sinn gekommen, ihrem Haar die Farbe der Jugend künstlich zurückzugeben, wie es unter den Damen ihrer früheren Gesellschaftsschicht gang und gäbe gewesen war. Sie trug ihr graues Haar wie ein Ehrenzeichen, das jedem im Alter zustand. Ihre Tatkraft und positive Einstellung verliehen ihrem Gesicht und ihrer Haltung immer noch Jugendlichkeit und Anmut, trotz des Grauens, das ihr vor kurzem auferlegt worden war. Sie war eine hochgewachsene, schlanke und sympathische Frau Mitte Fünfzig, mit aufrechter Haltung und dem kultivierten Benehmen und Charme einer Dame von Stand, die sie vor wenigen Monaten noch gewesen war. Der erste Anblick von Freistatt hatte Mariat beeindruckt: die neue hohe Stadtmauer in der Morgensonne. Jetzt jedoch, während sie das Chaos und den Tumult des Basars vor sich hatte, nagten wieder Zweifel wie boshafte kleine Dämonen an ihr. Eine solche Gegend war einer Dame der oberen Gesellschaftsschicht von Ranke völlig fremd. »Ah, da seid Ihr ja, Madame!« rief ein freundlicher und angenehmer Bariton, zu dem Mariat während ihrer Reise hierher Zuneigung gefaßt hatte.
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Sie drehte sich um und sah den Spielmann Sinn durch die Menge auf sie zukommen. Während er sich zwischen zwei fetten Männern hindurchzwängte, die um den Preis eines Huhnes feilschten, hielt seine Rechte geschickt einen Straßenjungen davon ab, sich seine Börse anzueignen. Der bärtige braunhaarige Barde blickte leicht amüsiert auf den zitternden Bengel. Der kleine Bettler/Dieb staunte noch über die Flinkheit, mit der dieser Fremde ihn erwischt hatte, und erwartete nun verstört, der Wache zur gerechten Strafe übergeben zu werden. Aber Sinn lächelte ihn statt dessen an und drückte ihm ein Silberstück in die schmutzige Hand. »Und jetzt hinweg mit dir«, warnte er ihn. »Und daß du mir deinen Freunden nicht erzählst, ich sei leicht auszunehmen, denn sonst finde ich dich und hänge dich an die Stadtmauer!« Als der Spielmann den Jungen laufen ließ und ihm nachblickte, wie er in der Menge verschwand, lächelte Mariat und dachte, wie typisch eine solche Großzügigkeit für diesen Mann war. Sie und ihre Enkel hatten ihn, als er mit ihnen in der Karawane von Ranke hierher reiste, kennen und lieben gelernt. Der Barde hatte sich voll Zuneigung der drei Kinder angenommen, er hatte mit ihnen gespielt und sie jeden Abend in den Schlaf gesungen. Mariat war sehr froh darüber, denn er war der einzige Mann mit gutem Einfluß auf die Kinder, seit deren Vater, ihr Sohn, durch Gewalt sein Leben hatte lassen müssen. Aus irgendeinem Grund hatte Sinn Gefallen an ihrer Familie gefunden, sich ihnen angeschlossen und sich während der Karawanenreise um sie gekümmert. Nun kam der Barde zu ihrem Wagen. Nachdem er die Pferde getätschelt hatte, lächelte er zu der Frau empor, die ihre Zügel hielt. »Ich glaube, ich habe eine passende Unterkunft für uns gefunden, Madame«, sagte er höflich und vergnügt. Obwohl Mariat keinen Anspruch mehr auf einen Titel hatte, behandelte Sinn sie mit der Höflichkeit und dem Respekt, der einer Edelfrau zustand. Das machte den charismatischen Spielmann nicht nur noch liebenswerter, sondern war auch ein Quell für
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sie, der ihr Kraft und Zutrauen gab und ihre Hoffnung stärkte, daß sie imstande sein würde, durchzuführen, weshalb sie nach Freistatt gekommen war. »Herauf mit Euch, Freund, setzt Euch zu mir«, forderte Mariat ihn auf. »Und führt uns zu der Unterkunft, die Ihr gefunden habt. Ich bin ausgetrocknet und reisemüde und möchte gern ein richtiges Bad nehmen und ein ordentliches Mahl essen.« »Ihr werdet beides bekommen und mehr«, versicherte ihr Sinn und legte seine Mandoline behutsam zwischen Mariat und sich, um sicherzugehen, daß ihr nichts passierte. Schließlich verdiente er mit diesem Instrument seinen Lebensunterhalt. Dann wies er Mariat den Weg zu dem Gasthaus, das er gefunden hatte, und Kendrick folgte mit dem zweiten Wagen. In dieser Nacht konnte Mariat sich in einem bequemen Bett in einem eigenen Zimmer entspannen. Es war die erste wirkliche Erholung seit vielen Wochen. Der Gasthof, den Sinn entdeckt hatte, hieß »Warmer Kessel« und war ein malerisches Haus in einem guten Viertel. »Gut« bedeutete in diesem Fall, daß es sich weder in Abwind noch im Labyrinth befand. Obwohl sie erst einen Tag in der Stadt waren, hatte Mariat bereits gehört, daß anständige Leute diese beiden Rattenlöcher wie die Pest mieden. Die Wirtsleute des Warmen Kessels waren ein freundliches, älteres ilsigisches Ehepaar. Shamut und Dansea, seine Gattin, bewirtschafteten den Warmen Kessel bereits lange, ehe die Rankaner in die Stadt gekommen waren, und ihr Haus blieb vom größten Teil der freistättischen Unruhen verschont, was hauptsächlich daran lag, daß sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten und ihr Haus ehrlich betrieben. Das Paar fragte seine Gäste nicht aus und erwartete seinerseits keine Schwierigkeiten von ihnen. Shamut war außerordentlich hilfreich gewesen, Mariats größte Besorgnis zu beruhigen. Die Ladung ihrer Wagen, die sie während der Überquerung des Gebirges und der Wüste wie ihr Herzblut bewacht hatte, war nun sicher in den verschlossenen Gewölben
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von Shamuts Kellern untergebracht. Der ilsigische Wirt hatte ihr auch Kaufleute und Händler empfehlen können, an die sie sich wegen Investitionen wenden konnte. Zu guter Letzt hatte er ihr obendrein noch den Namen des Mannes genannt, zu dem sie sich begeben mußte, um sich über die Möglichkeit zu erkundigen, Land um Freistatt zu kaufen, und über die Preise: Molin Fackelhalter, der rankanische Priester und oberste Beamte der Stadt. Da ihre Enkel und ihre Ware nun sicher untergebracht waren, suchte Mariat ihren ersten ruhigen, erholsamen Schlaf seit Monaten. Doch ehe sie ihn fand, weckte die Erinnerung die Geister ihrer alptraumhaften Vergangenheit. Sie glitt in ihr Leben vor neun Monaten zurück. Ihr Gemahl, Kranderon, hatte das größte und namhafteste Weingut von ganz Ranke betrieben – die Aquinta-Weinkellerei. Aquinta war eine westliche Provinz Rankes, und ihre Weinberge brachten die besten Trauben für guten Wein hervor. Kranderons Familie hatte ein eigenes Handelsreich aufgebaut mit ihrem Wein, der der edelste und beste überhaupt war, der Nektar für Kaiser und Könige, und Leute mit auserlesenem Geschmack wußten ihn zu rühmen von Mygdonien ganz im Norden bis Freistatt im Süden. Mariat, die aus einem kleineren Adelshaus in Ranke stammte, hatte den forschen jungen Kranderon geheiratet, den Erben des Aquinta-Weinimperiums. Fast vierzig Jahre lang war ihr Leben angenehm, kultiviert und aristokratisch gewesen. Sie war an die erleseneren Dinge des Lebens gewöhnt gewesen, hatte Bälle, Abendgesellschaften und Weinfeste gegeben. Der ehemalige rankanische Kaiser Abakithis hatte ihr Weingut oft persönlich besucht, um eine Auswahl für die Aufstockung seines Weinkellers zu treffen. Er hatte Kranderon und Mariat sehr geschätzt. Aber bedauerlicherweise kommt es vor, daß Kaiser das Zeitliche segnen und Kaiserreiche in andere Hände übergehen. Theron, der neue rankanische Kaiser, war zwar ein brillanter Stratege, hatte jedoch nicht viel übrig für die Feinheiten von
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Kultur und Etikette. Er zog Bier in großen Mengen einer feinen Auswahl erlesener Weine nennenswerter Jahrgänge vor. Und Kranderon, weitblickend in geschäftlichen Dingen, war kurzsichtig in politischen und militärischen. Als das Rankanische Reich durch Intrigen, Aufstände und Verrat auseinanderfiel, wechselten die ehemaligen Verbündeten und Freunde Abakithis' in Therons Lager, versicherten ihn ihrer Loyalität und leugneten jegliche Verbindung zum ehemaligen Kaiser, der sie als Freunde und Ebenbürtige behandelt hatte. Kranderon war jedoch nicht so schnell bereit, seinen alten Freund Abakithis zu vergessen. Der Weingutbesitzer kritisierte offen Therons Regierung und ließ seine Meinung durchblicken, der neue Kaiser habe Hochverrat begangen, da er bei dem Attentat auf seinen Vorgänger zumindest eine passive Rolle gespielt habe. Seine Loyalität gegenüber dem ermordeten Kaiser kam ihn teuer zu stehen. Als Ranke von Unruhen heimgesucht wurde und zerfiel, plünderten viele Banden die abgelegenen Provinzen. Theron fand gute Ausreden, rankanische Truppen von Aquinta abzuziehen. Kranderon machte sich jedoch keine Sorgen, denn er war überzeugt, daß er und seine Männer mit disziplinlosen Banditen fertig würden. Eines Nachts jedoch, vor neun Monaten, überfiel eine erstaunlich gut organisierte Truppe von Räubern das Weingut. Zwar trugen die Männer bunt zusammengewürfelte Kleidung und Waffen wie Gesetzlose, kämpften jedoch mit der Disziplin und Taktik erfahrener Soldaten und Veteranen vieler Feldzüge. Kranderon und seine Männer wurden überrannt. Der Junker von Aquinta sah seinen einzigen Sohn fallen, als er ritterlich kämpfte, um seine junge Gemahlin zu beschützen. Er selbst wurde gefangengenommen und gezwungen, zuzusehen, wie die als Banditen maskierten Soldaten neben dem Leichnam ihres gefallenen Gemahls ihr derbes Spiel mit seiner Schwiegertochter trieben, der Mutter seiner drei Enkel. Als sie mit ihr fertig waren, hielt ein Mann ihren Kopf am Haar zurück
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und durchschnitt ihr die Kehle. Die Unholde sahen lachend zu, wie ihr Blut hoch in die Luft schoß. Sie zertrampelten und verbrannten einen großen Teil der Reben und drangen in die Keller ein, wo sie die Fässer mit kostbarem Wein zerschmetterten. Kranderon sah zu, wie ein Vermögen an Wein über den Boden floß und sich mit dem Blut der gefallenen Verteidiger vermischte. Dann töteten die Halunken den Junker, indem sie ihm eine seiner jungen, elastischen Reben um den Hals schlangen und ihn damit aufhängten. Während Kranderon langsam erstickte, schossen sie Pfeile so in seinen Körper, daß sie den Tod nicht beschleunigen, wohl aber des Junkers Schmerzen ins Unermeßliche erhöhen würden. Dann ritten sie hinaus in die Nacht, ohne irgendwelche Beute mitzunehmen, die Räuber sich nicht hätten entgehen lassen. Diese Botschaft war für alle anderen Junker in abgelegenen Landstrichen eindeutig. Theron war ein rachsüchtiger Mann. Die anderen Großgrundbesitzer eilten an Therons Hof, um sich dort den Reihen von Speichelleckern anzuschließen, die sich an die letzten Fetzen eines verderbten, verfallenden Reiches klammerten. Aber der Überfall auf die Weinkellerei Aquinta hatte seinen Zweck nicht völlig erfüllt. Mariat hatte sich mit ihren Enkelkindern – Kendrick, Darseeya und dem fünfjährigen Timock – in einem Geheimgewölbe unter den Weinkellern versteckt. Diese dunklen Katakomben waren nur Kranderon und Mariat bekannt gewesen. Dort hatten sie vorsichtigerweise ihre feinsten, teuersten Jahrgänge versteckt. Mariats schnelle Reaktion hatte ihre Enkel und sie selbst vor der brutalen Gewalt gerettet, mit der das Weingut in jener Nacht heimgesucht worden war. Die vier überlebenden Angehörigen der Familie Kranderon verließen am nächsten Tag ihr Versteck und krochen durch die Ruine des einst beeindruckenden Weinguts. Trotz des noch anhaltenden Schocks konnte Mariat die überlebenden Dienstboten zusammenrufen und die Toten beerdigen lassen. Auch in den nächsten Tagen gönnte sie sich den Luxus der
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Trauer nicht, denn sie wußte, daß sie schnell handeln mußte, wollte sie das Überleben ihrer Familie sichern. Sie holte das ersparte Geld ihres Gemahls aus seinem Versteck (es war eine beachtliche Summe) und sorgte für eine Karawane, die sie in den Süden bringen sollte, wo sie vor Therons Rache sicher sein würden. Mariat belud einen Wagen mit dem edelsten Wein ihres Gemahls. Die Flaschen, die schon zuvor genug eingebracht hätten, ein kleines Königreich zu erstehen, waren nun in ihrem Wert noch um ein Vielfaches gestiegen, da es die Aquinta Kellerei nicht mehr gab. Die Tragödie, die Mariats Familie zerstörte, hatte der Frau ein Vermögen in die Hand gegeben. Die Ironie entging ihr nicht. In den zweiten Wagen lud sie die paar persönlichen Sachen, die ihre Familie mitnehmen würde, und ein Geheimnis, das zu erfahren sie und ihre zuverlässigsten Diener bis tief in die Nacht gearbeitet hatten. Dieses Geheimnis war Mariats Schlüssel zu einem neuen Leben für ihre Familie in Freistatt. Und nun war sie hier in der Stadt neuer Hoffnungen und Möglichkeiten. Als das erste Grau des neuen Morgens durch das Fenster ihres Zimmers im ›Warmen Kessel‹ lugte, streifte Mariat sowohl die Bande des Schlafes wie auch die Ketten der Vergangenheit ab. Sie weigerte sich, sich von Selbstmitleid oder Trauer von ihrem neuen Weg abhalten zu lassen. Es war ein neuer Tag in Freistatt und Zeit für einen Neuanfang. Mariat dachte sogar, daß es ein schöner Tag für ein Picknick mit den Kindern außerhalb der Stadt werden würde. Es wird gern angenommen – obwohl es absolut nicht zutrifft –, daß Bösartigkeit und Häßlichkeit immer Hand in Hand gehen. In Bakarats Fall jedoch vereinten sich diese beiden Eigenschaften in unschöner, aber vollkommener Harmonie. Seine Geschäftspartner und andere (doch diese nicht ins Gesicht) nannten ihn Kröte. Ein Blick auf ihn bestätigte die Trefflichkeit dieses Spitznamens.
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Gesäß und Bauch waren bei ihm von gewaltigem Ausmaß. Jene, die mit ihm zu tun hatten, fragten sich so manches Mal, ob sie die Türen ihrer Geschäftsräume verbreitern lassen müßten, damit er an ihren Besprechungen überhaupt noch teilnehmen konnte. Auf diesen Massen und Wülsten schwabbligen Fleisches saß der grauenvolle Auswuchs eines Kopfes. Wie in Verhöhnung menschlicher Züge sah Bakarats halsloser Schädel aus, als hätte ein Gott mit irrem Humor lebendem Fleisch die Form einer menschgewordenen Kröte gegeben. Aber Bakarats Verstand war keineswegs so schwerfällig wie sein Gang. Kröte war als der erfolgsreichste Kaufmann und Unternehmer in Freistatt bekannt. Obwohl alle sein Aussehen abstoßend fanden, konnte es sich niemand leisten, den reichen Kaufmann zu beleidigen. Kröte hatte seinen erhabenen wirtschaftlichen Status auch nicht auf ehrliche Weise erworben. Wie der legendäre Jubal leitete er eines von Freistatts leistungsfähigsten Informationsnetzen und eine der straffsten Verbrecherorganisationen. Tatsächlich ging das Gerücht um, daß Jubal seinen mächtigen Konkurrenten nur deshalb nicht um die Ecke hatte bringen lassen, weil Bakarat ihn sehr gut bezahlte, seinen Unternehmen gegenüber ein Auge zuzudrücken. Doch Bakarat war auch für seine Sachkenntnis und den schlauen Einsatz geschäftlicher Unternehmungen bekannt. Das war der Grund, weshalb Mariat am Tag nach dem Picknick einen Termin mit ihm vereinbart hatte. Es war schön gewesen, mit den Kindern eine Zeitlang saubere Landluft atmen zu können. Doch der Tag war für die Winzerwitwe auf mehr als eine Weise lohnend gewesen. Denn das Land um Freistatt, das sie sich angesehen hatte, sagte ihr sehr zu, und sie war überzeugt, daß viel, was jahrelang brachgelegen hatte, einem nützlichen Zweck zugeführt werden konnte.
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Nun hatten die geschäftlichen Erfordernisse Mariat, wenngleich zögernd, zu Bakarat geführt. Es gelang ihr gekonnt, den Ekel, den sie bei seinem Anblick empfand, hinter vornehmer Höflichkeit zu verbergen. Sie war eine echte Dame mit zu guten Manieren, als daß ihr Benehmen ihre Gefühle verraten hätte. Auch Bakarats Miene war undeutbar, als er sich ihr gegenüber an seinem Schreibtisch niederließ. Als sie am Abend zuvor seinen Schreiber um einen Termin gebeten hatte, hatte Kröte sofort Erkundigungen über diese Rankanerin eingezogen. Es kam schließlich nicht oft vor, daß eine Dame ihres Standes sich herabließ, Geschäfte mit einem ›Winder‹Kaufmann wie Bakarat zu machen. Was er erfuhr, glaubte er, gut für seine eigenen Interessen nutzen zu können. Er wußte nun durch seinen Nachrichtendienst, der seine Spitzel sogar in so anständigen Häusern wie dem ›Warmen Kessel‹ hatte, daß Mariat die Witwe des bekannten und kürzlich verstorbenen Junkers Kranderon war, Eigentümer des Aquinta-Weinguts. Das bedeutete, daß diese Frau wahrscheinlich wohlhabend war, und Bakarat ließ sich die Möglichkeiten durch den Kopf gehen, wie er ihr Vermögen an sich bringen könnte. Es war mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß diese Mariat, wie die meisten rankanischen Damen der besseren Gesellschaft, geschäftlich nicht so bewandert war wie es ihr Gemahl gewesen sein mußte. Kröte sonnte sich in der Vorstellung, die Notlage der Dame auszunutzen. »Wie kann ich Euch von Diensten sein, Madame?« erkundigte sich Kröte und achtete darauf, die Witwe ihrem ehemaligen Stand gemäß anzureden und so vielleicht ihr Vertrauen zu gewinnen. Er mußte Mariat in dem Glauben wiegen, daß ihm ihre Interessen am Herzen lagen, um sie voll ausnutzen zu können. Mariat kam sogleich zur Sache. »Ich habe ein Angebot für Euch und Eure Freunde.«
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»Freunde?« Der Fette blickte sie fragend an. »Welche Freunde sind das? Ich fürchte, ich weiß nicht, wovon Ihr redet.« Er lächelte, und es gelang ihm bewundernswert, arglose Unwissenheit vorzutäuschen. »Guter Mann, wenn wir über Eure Geschäfte um den heißen Brei herumreden, werden wir den ganzen Tag hier sitzen«, entgegnete Mariat frei heraus, doch noch freundlichhöflich. »Und glaubt mir, guter Mann, bei meinem straffen Zeitplan kann ich es mir nicht leisten, Zeit mit unwichtigen Dingen zu vergeuden.« »Selbstverständlich.« Kröte blieb nichts übrig, als den Geschäftssinn der Dame neu einzuschätzen. »Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, wie meine Kollegen Euch helfen könnten, wo ich es nicht kann. Vielleicht hättet Ihr die Güte, mir Euer Angebot näher darzulegen?« »Natürlich.« Mariat war erleichtert, wieder zum Geschäftlichen zu kommen. »Ich möchte Euch und einigen Eurer vertrauenswürdigen Kollegen anbieten, Euch an dem erfolgreichsten Unternehmen zu beteiligen, das es in Freistatt je gegeben hat.« Bakarat zog mißtrauisch eine Braue hoch. »Oh«, sagte er leicht sarkastisch. »Das ist eine grandiose Behauptung. Ich nehme an, Ihr habt außer hochgestochenen Worten auch andere Mittel, meine Kollegen und mich vom reellen Charakter Eures Angebots zu überzeugen?« »Allerdings.« Mariat langte in ihre Einkaufstasche und brachte eine versiegelte Flasche zum Vorschein, die sie behutsam vor dem Kaufmann auf den Schreibtisch stellte. Vorsichtig drehte sie die Flasche, damit er ihren feurigen, dunkelroten Inhalt sehen konnte, und sie achtete darauf, daß das Etikett in seine Richtung wies, damit er es lesen konnte. Kröte ähnelte seinem Spitznamen sogar noch mehr, als seine Augen beim Lesen des Etiketts fast aus dem Gesicht quollen. Es war eine Flasche von Aquintas bestem Jahrgang, zehn Jahre alt in einem Eichenfaß gelagert. Vor dem Überfall auf das Weingut hätte die Flasche auf dem Weinmarkt zumindest
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hundert Goldstücke eingebracht. Nun, da es das Weingut nicht mehr gab, war sie auf Grund der beschränkten Menge zur Rarität geworden und würde bei einer Versteigerung bestimmt das Zehnfache einbringen. »Oh, wie viele davon habt Ihr, meine Dame?« stammelte der fette Kaufmann. Mariat lächelte, erfreut, daß sie Bakarat überrascht und bei dieser Verhandlung die Oberhand gewonnen hatte. Die rankanische Witwe hatte nicht vierzig Jahre als Gemahlin von Rankes größtem Winzer gelebt, ohne etwas von seinem Geschäft zu lernen. Er war ihr ein guter und williger Lehrmeister gewesen. »Sagen wir, ich habe genug, daß es Euch und Eure Kollegen interessieren wird. Vielleicht hättet Ihr nun die Güte, ein Treffen für morgen nachmittag im Warmen Kessel zu arrangieren. Ich habe dafür von Shamut dem Wirt das Nebenzimmer gemietet, und er versicherte mir, daß dort niemand unsere Geschäftsbesprechung stören wird.« Sie hielt inne und lächelte insgeheim über den aufgerissenen Mund Krötes. Bakarat war völlig überrascht von dem schnellen Geschäftsgebaren der Frau. Doch er faßte sich rasch, als sein heimtückischer Verstand sich beinahe überschlug, während er berechnete, wie sich dieses Geschäft am besten zu seinem Vorteil nutzen ließ. »Ich glaube, ich kenne fünf Männer, die sich Euren Vorschlag für den Verkauf dieses edlen Weines gern anhören werden. Wenn Ihr mir gestattet, mich in dieser Angelegenheit als Euer Agent einzusetzen, nehme ich Euch gern die unangenehmen geschäftlichen Dinge ab«, erbot sich Bakarat mit der ehrlichsten und hilfsbereitesten Miene, die er zuwege brachte. »Ich danke Euch für Euer zuvorkommendes Angebot«, erwiderte Mariat ebenso unehrlich, »aber ich kann es Euch wahrhaftig nicht zumuten, meinetwegen eine so gewichtige Verantwortung auf Euch zu nehmen.«
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Sie erhob sich rasch und hob die Hand, um weitere Einwände zu verhindern. »Doch genug dieser Höflichkeiten«, sagte sie, nahm die Flasche von Bakarats Schreibtisch und legte sie behutsam in ihre Einkaufstasche zurück. »Ich habe heute noch einiges zu erledigen. Ich danke Euch, guter Mann, und freue mich, Euch und Eure Kollegen morgen im ›Warmen Kessel‹ zu sehen.« Damit verließ sie Bakarats Kontor, und er versuchte nicht, sie länger aufzuhalten. Er hatte sich inzwischen bereits einen Plan ausgedacht, was er mit diesem eingebildeten rankanischen Weibsstück tun würde. Er würde ihr den Preis, Geschäfte in Freistatt zu tätigen, schon klarmachen. Und auf jeden Fall würde er die Oberhand beim Vertrieb des Weins behalten. »Bartleby!« rief Kröte seinen Schreiber zu sich. »Jawohl, Herr«, antwortete der dürre, langnasige Schreiber mit Winselstimme, als er das Kontor seines Arbeitgebers betrat. »Sieh zu, daß du herausfindest, was Madame Mariat heute noch alles vorhat«, befahl ihm der fette Kaufmann. »Und dann gib unserem guten Gehilfen, Meister Räudig, Bescheid, daß ich ihn bei Anbruch der Abenddämmerung mit seinen Freunden im Gemeinen Einhorn treffen will.« Bartleby schluckte, denn der Name Räudig konnte nur bedeuten, daß irgendeine schlimme Gaunerei geplant wurde. Er beeilte sich, die Befehle seines Herrn auszuführen. Molin Fackelhalter war ein sehr beschäftigter Mann. In den vergangenen Jahren, seit er nach Freistatt gekommen war, hatte er feststellen müssen, daß man ihm immer mehr der Stadtverwaltung aufbürdete, und er hatte nun die Verantwortung für viele Regierungsangelegenheiten. Das lag hauptsächlich daran, daß man Prinz Kadakithis mit so etwas nicht belästigen durfte. Der jugendliche Prinz war viel zu sehr damit beschäftigt, seine idealistischen Träume einer Vereinigung aller Freistätter zu verfolgen, egal, woher sie ursprünglich stammten; ganz zu schweigen von seiner
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laufenden »Aufgabe«, die Beysa zu beschäftigen, besänftigen und befriedigen. Doch als der rankanische Priester hörte, daß eine Dame namens Mariat ihn sprechen wollte, verschob er seine Termine, um einen für sie einzuschieben. Molin kannte den guten Ruf ihres verstorbenen Gemahls und war ihr selbst in Rankes Blütezeit ein paarmal bei festlichen Anlässen begegnet. Er hatte von der Tragöde in Aquinta gehört und war nun neugierig, zu erfahren, weshalb Mariat nach Freistatt gekommen war. Ein leises Klopfen an der Tür. Es war Hoxa, sein Schreiber, der Molin mitteilte, daß Mariat gekommen sei. Der Priester bedeutete Hoxa, die Dame in sein Büro zu führen. »Madame, wie schön Euch wiederzusehen«, sagte Molin, der sich erhoben hatte, um sie wie eine Bekannte zu begrüßen, die er längere Zeit nicht mehr gesehen hatte. »Lord Fackelhalter.« Mariat machte eine Verbeugung, als der Priester ihr die Hand küßte. »Es ist lange her, seit ich das Vergnügen Eurer Gesellschaft hatte.« »Bitte seid meines tiefsten Mitgefühls in diesem schrecklichen Geschick versichert, das Eurer Familie widerfahren ist«, sagte Molin mit ehrlicher Anteilnahme. »Kranderon war ein aufrechter Ehrenmann und ein tüchtiger Geschäftsmann. Er wird allen, die ihn kannten, fehlen.« »Ich danke Euch für Euer Beileid«, sagte Mariat und ließ sich in dem Sessel nieder, den Molin ihr anbot. Er nahm auf dem Sessel neben ihrem Platz, statt zu dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch zurückzukehren, auf dem er gesessen hatte, bevor sie sein Büro betrat. Er tat das als Zeichen seines Respekts, da er sie so als Gleichgestellte behandelte, nicht als Bittstellerin. Molin fiel plötzlich auf, daß seine Besucherin das beste Hofrankene sprach, so unauffällig, daß er sich unwillkürlich ebenfalls des Hofrankenes bediente, ohne daß es ihm bisher bewußt gewesen wäre. Es würde ein Vergnügen sein, Gespräche mit einer so kultivierten und höflichen Dame zu führen.
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»Und bitte seid auch meines Mitgefühls versichert«, fuhr Mariat fort. »Ich habe gehört, daß Ihr Eure Gemahlin vor einiger Zeit verloren habt.« »Ja«, erwiderte Molin. »Aber meine Gemahlin und ich lebten schon geraume Zeit getrennt. Trotzdem glaube ich, daß wir beide den Schmerz verstehen, den der Tod bringen kann.« Molin hielt inne, dann bemühte er sich, das Thema vom allzu Persönlichen abzubringen. »Welchem Anlaß verdanke ich das Vergnügen dieses so willkommenen Besuchs?« fragte er und ging damit das eigentliche Thema so höflich wie möglich an. »Ich habe so viel über Euch gehört, Lord Fackelhalter, seit ich in Freistatt angekommen bin. Man sagt, Ihr hättet wahre Wunder für diese Stadt vollbracht, die Stadtmauer erneuert und wieder Ordnung hergestellt«, begann Mariat und lächelte gewinnend. Fackelhalter blickte ihr ins Gesicht, das für eine Frau ihres Alters erstaunlich hübsch war, und ihm wurde bewußt, daß er schon seit einer Ewigkeit, kein gepflegtes Gespräch mehr mit einer Dame geführt hatte, die in etwa seinem Alter und von seinem Stand war. Dieser Besuch erwies sich als eine angenehme Abwechslung für den sorgenbeladenen Priester. »Ihr seid zu gütig, Madame. Ich habe mich wirklich bemüht, dieser von Dieben wimmelnden Stadt wenigstens zu ein wenig Achtbarkeit zu verhelfen. Ich erachte Eure zu gütigen Bemerkungen dankbar als Tribut für das bißchen Erfolg, das ich hatte«, sagte der Priester bescheiden. »So, wie ich es sehe, ist es weit mehr denn nur ein bißchen Erfolg, Mylord. In einigen Gebieten des Reiches hält man Freistatt sogar bereits für einen Ort, wo sich ein neues Leben beginnen läßt«, erwiderte Mariat. »Ist das denn Eure Absicht, ein neues Leben in Freistatt anzufangen? Ich bin sicher, Kranderon hat gut Vorsorge für Euch getroffen. Vielleicht wärt Ihr an einem der Herrenhäuser in der Oberstadt interessiert? Ich bin sicher, ich kann eine Miete zu einem vernünftigen Preis unter Freunden für Euch
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arrangieren.« Lord Fackelhalter wurde gewahr, daß er hoffte, diese Dame würde tatsächlich in die Oberstadt ziehen und Teil seines Gesellschaftskreises werden. »Ich habe etwas Wagemutigeres im Sinn, Mylord«, flirtete Mariat dezent mit dem Priester. »Ich beabsichtige, den Aufbau eines Unternehmens, von dem Freistatts Wirtschaft sehr profitieren kann.« Das überraschte sogar den an Intrigen gewöhnten Molin. Er blinzelte erstaunt. »Was meint Ihr?« fragte er. »Vielleicht hättet Ihr gern Euren Schreiber dabei, damit er Notizen über Einzelheiten meines Vorschlags machen kann?« sagte Mariat. Plötzlich, aber geschickt, wurde aus der großen Dame die Geschäftsfrau. Molin stand auf und trat an die Tür. »Hoxa!« rief er. »Würdet Ihr bitte mit Feder und Pergament zu uns kommen?« Als der Schreiber des Priesters sich setzte, legte Mariat ihre Zukunftspläne dar. So skeptisch Molin in seinem üblichen Zynismus zunächst war, so mitgerissen lauschte er schließlich. Und Hoxa war so verblüfft über die brillante Einfachheit des Plans, daß er mehrmals vergaß, Notizen zu machen, und der Winzerwitwe nur atemlos zuhörte. Dann mußten sie die Punkte natürlich noch einmal durchgehen, die er nicht notiert hatte, damit alles niedergeschrieben werden konnte. Nachdem sie die erforderliche Auskunft und die Antworten auf gewisse Fragen von dem Priester erhalten hatte, verabschiedete sich Mariat von Molin Fackelhalter, der zugesagt hatte, daß er am folgenden Tag am Treffen der Kaufleute im ›Warmen Kessel‹ teilnehmen würde. Als Mariat den Palastflügel verließ, in dem des Priesters Büro untergebracht war, fühlte sie sich leichtfüßig und viel jünger, als sie an Jahren war. Alles schien sich großartig zu entwickeln. In Fackelhalters Büro bemerkte Hoxa optimistisch: »Ich glaube, daß sie es wirklich schaffen kann. Sie sieht Freistatt
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tatsächlich nicht als Stadt, die abgerissen gehörte, sondern als Ort, wo man aufbauen kann.« Er blickte seinen Vorgesetzten fragend an: »Könnte es sein, daß dies nicht mehr dieselbe Stadt ist wie die, in die Ihr vor Jahren gekommen seid?« Molin Fackelhalter seufzte und meinte: »Vielleicht haben wir doch ein wenig Gutes erreicht.« Als der Fremde das Gemeine Einhorn betrat, erfaßte er das gesamte Bild mit einem gründlichen Blick. Er war im Reich weit herumgekommen und hatte so allerlei schäbige Schenken und verrufene Spelunken kennengelernt, doch nirgendwo hatte er eine solche Ansammlung von verkommenen und abstoßenden Subjekten gesehen. Verglichen mit den Gästen des Einhorns wirkte der menschliche Abschaum des Basars wie Heilige und Prinzen. Nicht ein offenes Gesicht, keine vertrauenswürdige Seele war zu sehen. Der Fremde durchquerte die Wirtsstube zu einem der zwei freien Tische an der Westwand. Er setzte sich und wartete darauf, bedient zu werden. Er schauderte, als er an die nächtlichen Gefahren dachte, denen er auf dem Weg hierher getrotzt hatte. Er brauchte nicht lange zu warten. »Was darf's sein, Hübscher?« erkundigte sich die Schankmaid uninteressiert. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, als sie die Bestellung hörte. »Nur eine Tasse kochendes Wasser, wenn Ihr so nett wärt, Mädchen«, sagte der Fremde. »Ich habe Kräutertee bei mir, den ich erst trinken möchte, ehe ich die Spezialitäten des Hauses koste.« »Wasser kostet soviel wie Bier«, sagte die Schankmaid spöttisch. »Das ist eine Bestimmung des Wirts, Abohorr, der Eindaumige.« »Habt die Güte, dieser hehren Persönlichkeit des Monodigitus zu versichern, daß es mir das wert ist«, entgegnete der Fremde und beobachtete das Mädchen, das sich darüber klarzuwerden versuchte, was er gesagt hatte.
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»Das bedeutet, daß ich für das Wasser bezahlen werde!« sagte er in gespieltem Ärger. »Doch sorgt dafür, daß es auch wirklich kochend heiß ist!« Als die Schankmaid ging, um seine Bestellung weiterzugeben, löste sich ein Gestell dreckiger Lumpen von der Theke und schlurfte in die Richtung des Fremden. Als es sich seinem Tisch näherte, sah der Mann, daß die Lumpen den sogar noch schmutzigeren Körper eines verrunzelten alten Mannes bekleideten. Unter der Kapuze spähte ein eingefallenes, verwüstetes Gesicht hervor, über dessen rechte Seite eine häßliche Narbe zu einer schmutzstarrenden schwarzen Augenklappe führte. »Schenkt einem vom Unglück Verfolgten ein paar Kupferstücke«, winselte der alte Bettler, der furchtbar nach billigem Fusel roch. Der Fremde erwies sich jedoch als kein Freund von bettelnden Saufbolden. Er öffnete seinen Umhang, nicht um eine Börse hervorzuziehen, sondern um auf Waffen aufmerksam zu machen, die bisher verborgen gewesen waren. An seiner Seite trug er ein Florett, und der Gürtel schräg über seiner Brust beherbergte eine größere Zahl von gefiederten Stahlpfeilen. »Falls du den Rest deines jämmerlichen Lebens weiterfristen willst, kann ich dir nur raten, zu verschwinden. Wenn nicht, kann ich dafür sorgen, daß du dieses Höllenloch etwas verfrüht verläßt.« Der Sarkasmus war nicht zu überhören, doch die Drohung in seinen Augen warnte den alten Bettler. Als er zu seinem Platz an der Theke zurückkehrte, murmelte der Alte: »Wird verdammt schwierig, heutzutage, noch sein Auskommen zusammenzukriegen. Niemand hat mehr Achtung vor Bettlern.« Die Schankmaid brachte dem Fremden sein kochendes Wasser, und er brühte sich damit eine Tasse Tee auf. Es war eine besondere, mit Krff angereicherte Mischung, die seine künstlerischen Sinne öffnen und die Wirklichkeit ein wenig in
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den Hintergrund drängen würde. In seinem Gewerbe, dem Singen und Erzählen, wurde diese Droge gern benutzt. Während der Fremde seinen Tee schlürfte, watschelte ein bekannter Gast ins Gemeine Einhorn. Es war Bakarat, genannt Kröte, einer der reichsten Kaufleute Freistatts. Der Fette schleppte sich durch die volle Wirtsstube zu dem letzten noch freien Tisch an der Westwand. Als er sich dort auf einen Stuhl fallen ließ, ohne auf den Fremden am nächsten Tisch zu achten, verließen drei keineswegs vertrauenerweckend aussehende Männer ihre Plätze an der Theke und ließen sich gegenüber Kröte am Tisch nieder. Sie begannen, ihr Komplott auszubrüten, und verließen sich darauf, daß durch den Lärm in der Schankstube niemand ihren heimtückischen Plan mithören konnte. »Ich habe einen Auftrag für dich, Räudig«, wandte Bakarat sich an den ältesten der drei Männer. Auch dessen Spitzname paßte ausgezeichnet. Räudig war Kopfgeldjäger, und während er einmal im Sumpf übernachtete, hatte er sich eine seltene Krankheit zugezogen, die dazu führte, daß ihm das Haar büschelweise ausfiel. Daher der anzügliche Spitzname Räudig. »Was für einen Auftrag?« fragte der Mann mit der unregelmäßigen Kopfzier. »Die Jungs und ich freuen uns immer, wenn wir dir zu Diensten sein können.« Räudig meinte damit seine beiden Begleiter. Bakarat kannte ihren Ruf von früheren Aufträgen, mit denen er Räudig betraut hatte. Der große kräftige Tölpel mit dem eingefallenen Gesicht hieß Wik. Er war gewissermaßen die Leibgarde des Kopfgeldjägers. Wik beschäftigte sich mit seinem Bier, ohne auf die Unterhaltung von Räudig und Kröte zu achten. Entscheidungen und Planungen überließ er gern jenen, die dafür genug Verstand hatten. Wik war es zufrieden, Befehle auszuführen und das Geld, das er dafür bekam, zu versaufen. Der dritte war ein dürrer Rotzlöffel namens Speido. Er wollte Dieb werden und hatte eine besondere Begabung dafür, waffenlose, ahnungslose Personen in den Rücken zu stechen.
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»Hört zu!« befahl Bakarat den dreien. »Wir haben nicht viel Zeit.« Dann erklärte er ihnen seinen Plan, dem sie ihre besonderen Fähigkeiten zukommen lassen sollten. »Eine alte Frau namens Mariat wird in Kürze zu ihren Zimmern im ›Warmen Kessel‹ zurückkehren. Sie wird ihre drei Enkel bei sich haben, denn sie kommen von der Gelehrtengilde, wo sie beabsichtigte, einen Hauslehrer für die Kinder auszuwählen.« »Woher wollt Ihr wissen, wann sie zum ›Kessel‹ zurückkehrt?« fragte Speido respektlos. »Sie wird doch gewiß nicht des Nachts mit ihren Bälgern durch die Straßen spazieren!« »Ich habe dafür bezahlt, daß sie aufgehalten wird«, erklärte Kröte von oben herab. »Mein Mann in der Gelehrtengilde wird dafür sorgen, daß sie die Gilde nicht vor der vereinbarten Zeit verläßt.« Räudig lächelte, als der Kaufmann Speido zurechtwies. Der junge Bandit hatte noch eine Menge zu lernen, wenn es um den Umgang mit Männern von Bakarats Kaliber ging. Der Kopfgeldjäger dachte gar nicht daran, zu zweifeln, daß alles genauso geschehen würde, wie der Fette es geplant hatte. »Ihr drei sollt die Kinder entführen«, fuhr Bakarat fort. »Aber paßt auf, daß ihnen kein Haar gekrümmt wird. Bringt sie zu dem üblichen Versteck für solche Fälle und wartet auf weitere Anweisungen.« Bakarat beendete seinen Auftrag damit, daß er Mariat beschrieb. Dann erhoben sich die drei Banditen und verließen das Gemeine Einhorn, um ihren Auftrag auszuführen. Nachdem sie gegangen waren, rief Bakarat eine der Hausdirnen an seinen Tisch, und während er sich mit ihr beschäftigte, stand auch der Fremde auf und bahnte sich einen Weg durch die überfüllte Wirtsstube zum Ausgang. Er kam nur langsam voran, nicht nur wegen des Gedränges, sondern auch wegen des Krff-Tees, den er getrunken hatte. Während er sich durch die Stube drängte, fiel sein Umhang auf einer Schulter zurück, und die Mandoline, die er umhängen hatte, war zu sehen.
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Als einige der Gäste sie bemerkten, riefen sie dem Barden zu, für sie zu spielen. Doch obwohl der Mann ursprünglich in der Hoffnung hierhergekommen war, sich mit seinem Spiel etwas zu verdienen, lehnte er jetzt ab, da ihn viel wichtigere Dinge beschäftigten. Es war fast ein Wunder, daß er die Tür erreichte, ohne gegen irgendeinen jähzornigen Gast zu prallen und in eine Auseinandersetzung verwickelt zu werden. In der frischen Luft vor der Tür blieb er kurz stehen, um sich umzuschauen, aber die drei Gesuchten waren bereits verschwunden. Sinn holte tief Atem, dann rannte er los. Während er den verschlungenen Gassen des Labyrinth genannten Stadtteils folgte, verfluchte der Spielmann seine vom Krff benebelten Sinne. Einen Teil seines Erfolgs als Barde verdankte er der Tatsache, daß er sich, wohin immer er auch ging, jede Einzelheit des Weges einprägte. Jetzt befand er sich jedoch fast in Panik, weil er um das Leben seiner Freunde fürchtete. Und der drogenversetzte Tee, den er getrunken hatte, war absolut keine Hilfe, als er sich zu erinnern versuchte, wo es aus diesem Rattenloch hinausging. Sein Herz wurde immer schwerer, als seine Überzeugung wuchs, daß die Banditen den ›Warmen Kessel‹ wahrscheinlich längst erreicht hatten, ehe er Mariat warnen konnte. Bestimmt zum tausendsten Mal schwor er sich, keinen KrffTee mehr zu trinken. Diesmal hatte er einen Ansporn, der ihm vielleicht half, seinen Schwur auch zu halten. An einer Kreuzung, die ihm völlig fremd war, hielt er keuchend an. Er schaute sich benommen um, sein Herz hämmerte in der Kehle, und jeder Schlag klagte ihn der Unfähigkeit an. Da entdeckte er in der Straße zur Rechten ein Haus mit roten Läden, an das er sich erinnerte. Nun wußte er den Weg wieder. Er eilte durch eine dunkle Gasse und begann wieder zu hoffen, als ein Mann aus den Schatten sprang, ihn herumwirbelte und ihm den blanken Stahl eines Dolches unter die Nase hielt.
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»Da Ihr in solcher Eile seid«, flüsterte der Dieb, dessen Atem aufdringlich nach Bier und Knoblauch stank, »wird es Euch sicher nichts ausmachen, wenn ich Euch die schwere Last Eurer Börse abnehme. Dadurch werdet Ihr viel schneller dorthin kommen, wohin Ihr wollt.« Mit höhnischem Grinsen und drohendem Messer bedeutete er Sinn, ihm zu geben, was er wollte. Der plötzliche Schock durch den Überfall machte den Kopf des Barden klar. Und als die Wirkung der Droge nachließ, konnte er die lähmende Panik überwinden. Sinn nickte herablassend und griff langsam unter seinen Umhang. In Erwartung einer beachtlichen Beute von einem so Gutgekleideten, leckte der Dieb sich die Lippen. Zu seiner Bestürzung sah er jedoch plötzlich die Klinge eines prächtigen Kurzschwerts an seiner Brust. Der Mond spiegelte sich bedrohlich auf den scharfen Schneiden. Die rasche, geschickte Bewegung des Spielmanns war nur als verschwommene Bewegung zu erkennen gewesen. Jetzt hatte Sinn die Oberhand. »Verschwinde aus meinem Blick, verdammt!« fluchte der Barde. »Oder ich nagle dein bißchen Gehirn an deinen Hinterkopf!« Der kleine Dieb schluckte, wirbelte herum und verschwand hastig in der Dunkelheit des Labyrinths. Sinn vergaß ihn sofort und schaute sich um. Er hatte alle Orientierung verloren. Nun wußte er gar nicht mehr, wie er aus dem Labyrinth gelangen und zum Kessel zurückfinden sollte. Mit einem stummen Gebet um Hilfe rannte er die Gasse entlang. Mariat seufzte erleichtert, als sie um die Ecke bog und die freundlichen Lichter des ›Warmen Kessels‹ nicht mehr weit voraus leuchten sah. Es war weder klug noch sicher, um diese Zeit noch auf der Straße zu sein, nicht einmal in diesem verhältnismäßig ruhigen Viertel Freistatts. Sie ärgerte sich über
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diese umständlichen Gelehrten. Sie hätte die Kinder längst im Bett, wenn man sie in der Gilde nicht von einem zum anderen verwiesen hätte. Nach dieser endlosen Umstandskrämerei wäre sie am liebsten gegangen, nur gab es außer ihnen nicht sehr viele gebildete Personen in Freistatt. Ihre Enkel brauchten jedoch Lehrer, und sie verdienten die besten. Da blieb ihr gar nichts anderes übrig, als die Unfähigkeit des Verwaltungsgpersonals zu übersehen. Der Kessel befand sich nur noch vier Häuser entfernt, als ein Mann aus einer dunklen Gasse trat und sich ihr in den Weg stellte. Mariat wich zurück und zog die Kinder an sich. »Was wollt Ihr?« Sie bemühte sich, keine Furcht zu zeigen. Als gebildete Frau wußte sie, daß Tiere, wenn sie Furcht spürten, eher angriffen. Und Männer, die Frauen und Kinder bedrohten, waren nicht besser als wilde Tiere. Der Mann sah merkwürdig aus. Man konnte meinen, sein Haar wäre ihm in Büscheln ausgerissen worden. Er lächelte boshaft. »Es ist nicht sicher für eine Dame, so spät noch ohne Schutz mit Kindern auszugehen. Vielleicht gestattet Ihr mir, Euch zu begleiten?« »Ich rate Euch, aus dem Weg zu gehen und uns in Ruhe zu lassen«, wies Mariat den Mann zurecht. »Ich werde die Wache rufen, wenn Ihr nicht sofort geht!« »Ah, das ist aber nicht höflich«, sagte Räudig gedehnt, »und klug schon gar nicht. Meine Freunde hinter Euch könnten Euren Kindern weh tun, bevor die verschlafenen Hunde von der Wache hier sind.« Jetzt wirbelte Mariat herum und schaute hinter sich. Tatsächlich traten zwei weitere finstere Gestalten aus den Schatten, um ihr den Rückweg abzuschneiden. Eine war ein großer, kräftiger Kerl, die andere ein schlanker, wenig vertrauenerweckender Jüngling. Und von beiden gewann sie den Eindruck, daß sie ihr lieber den Hals durchschneiden, als mit ihr reden würden.
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»Nun«, fuhr Räudig fort, »die Jungs und ich werden diese hübschen Kinder an einen sicheren Ort bringen. Später werdet Ihr benachrichtigt, wo Ihr sie abholen könnt und was Ihr für ihre Unterkunft und Verpflegung zu bezahlen habt.« »Entführung!« hauchte Mariat. »Und Lösegeld – wer steckt dahinter?« Ihre Stimme hob sich, als Ärger in ihr wuchs. »Psst! Seid still, Madame Mariat.« Räudig lächelte, als er bei der Nennung ihres Namens den Schock in ihren Augen sah. »Wir möchten doch nicht die Leute hier aufwecken, nicht wahr? Das könnte sich zu einer sehr unerfreulichen, blutigen Sache entwickeln, habe ich recht, Jungs?« Wik und Speido grinsten bestätigend. »Und einige Kinder würden vielleicht nie erwachsen werden«, schloß Räudig drohend. »Das wäre doch bedauerlich, nicht wahr, Oma?« Mariat schluckte, und allmählich begannen Furcht und Panik, sie zu lähmen. In ihre wohldurchdachten Pläne hatte sie keine so gefährliche Situation miteinbezogen. Sie hatte gehofft, von den unangenehmeren Seiten eines Lebens in Freistatt unberührt zu bleiben. Jetzt erkannte sie, daß das nicht möglich war und sich manche Dinge nie änderten. Auch wenn Freistatt jetzt zu blühen anfing, war es nach wie vor eine Diebeswelt. Sie hoffte, daß diese Lehre sie nicht das Leben ihrer Enkel kosten würde. Sie waren die einzigen Angehörigen, die ihr geblieben waren, ihr einziger Grund, am Leben zu bleiben! »So ist es schon besser«, lobte Räudig, als er näher kam. »Nett und hilfsbereit, eben wie eine alte rankanische Schlampe.« Was als nächstes geschah, überraschte alle, einschließlich Mariat. Kochend vor Wut über diese Beschimpfung seiner Großmutter vergaß Kendrick seine Angst. Er sprang vorwärts und trat Räudig mit seiner ganzen Kraft in den Unterleib. Der Kopfgeldjäger schrie vor Überraschung und Schmerz auf, fiel auf das Pflaster, krümmte sich in seiner Qual, rollte herum und legte die Hände auf seine schmerzenden Teile.
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Wik packte den Jungen, hob ihn hoch in die Luft und schüttelte ihn. Speido sprang vorwärts, schlug Mariat die Hand so heftig über das Gesicht, daß sie zu Boden stürzte. Dann schnappte er sich Darseeya und Timock und klemmte sie sich unter die Arme. Plötzlich ragten die gefiederten Schäfte von zwei Pfeilen aus Wiks rechter Schulter. Der kräftige Tölpel brüllte auf und ließ Kendrick fallen, dann wirbelte er herum und zerrte an den Schäften. Da stürmte Sinn brüllend aus der Nacht wie ein aus der Hölle emporschnellender Dämon. Hinter ihm rannte der Straßenjunge, dem er vor zwei Tagen im Basar das Silberstück geschenkt hatte. Der Junge, er hieß Jakar, hatte Sinn im Labyrinth herumirren sehen und ihm seine Großzügigkeit vergolten, indem er ihn durch das Gassengewirr zum ›Warmen Kessel‹ führte. Speido ließ die Kinder fallen und zückte seinen Dolch. Mariat stolperte auf die Füße und schrie: »Mordio! Mordio! Hilfe!« Sie hoffte verzweifelt, die Wache würde es hören und herbeieilen. Sinn hielt mitten im Schritt an und richtete die Klinge auf Speido. Als das Bürschchen das Kurzschwert sah, verließ ihn aller Mut, und er versuchte, davonzulaufen. Speido schaffte nur ein paar Schritte, ehe sich ihm Kendrick in den Weg warf. Speido stolperte und stürzte kopfüber auf den Boden. Sofort warf sich Jakar auf seinen Rücken und schlug mit einem kleinen Holzhammer so lange auf ihn ein, bis er bewußtlos war. Räudig krümmte sich noch auf dem Boden, während die Welt um ihn zu wirbeln schien. Doch Wik, der sich inzwischen die Pfeile aus der Schulter gezogen hatte, brüllte wie ein Stier, als er sich auf Sinn stürzte und ihn allein durch sein Gewicht zu Boden warf. Sinn konnte seinen Schwertarm freibekommen und schmetterte die flache Klinge auf Wiks Schädel. Hätte er den
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Banditen besser gekannt, würde er nach einem wichtigeren Körperteil gezielt haben. Wik richtete sich voller Wut auf. Mit beiden Händen hob er den Mann in die Luft, der einen so einfachen, eigentlich unkomplizierten Auftrag behindert hatte. Mit aller Kraft warf er den Spielmann an die nächste Wand. Sinn hörte, wie einige Rippen krachten, und spürte, wie sie bei dem Aufprall brachen. Als er auf den Boden sackte, versuchte er, gegen die Schwärze anzukämpfen, die ihn übermannen wollte. Er durfte Mariat und die Kinder nicht ohne Schutz lassen! Doch gerade, als die Schwärze übermächtig wurde, hörte er noch die unverkennbare Aufforderung der Wache: »Halt, im Namen des Prinzen!« Bakarat verlagerte seine Fettmassen unbehaglich auf dem Stuhl. Er blickte abfällig auf die anderen Kaufleute, die wie er im Nebenzimmer des ›Warmen Kessels‹ saßen. Die Stühle, die Shamut für diese Besprechung zur Verfügung gestellt hatte, mochten für sie ja recht bequem sein, aber ein Mann von seinem Umfang brauchte etwas anderes. Er wollte den Wirt gerade rufen, damit er ihm einen bequemeren Sessel bringe, als Mariat das Zimmer betrat. Der fette Kaufmann blickte sie voll verstohlenen Hasses an. Irgendwie war es ihr gelungen, ihm am vergangenen Abend einen Strich durch seine Rechnung zu machen. Von seinem Spitzelnetz hatte er erfahren, daß Räudig und seine Kumpane ihren Auftrag verpatzt hatten. Bakarat machte sich keine Sorgen, daß sie ihn verraten würden. Er hatte zu viele Freunde an hohen Stellen. Aber er war außerordentlich verärgert, daß er an dieser Besprechung ohne ein Druckmittel gegen diese Mariat teilnehmen mußte. Die rankanische Witwe räusperte sich und eröffnete die Sitzung.
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»Meine Herren«, begann sie. »Ich danke euch, daß ihr es ermöglicht habt, trotz eurer dringenden Termine, zu diesem kleinen Treffen zu kommen. Ich verspreche euch, ihr werdet es nicht bereuen.« Bakarat lächelte insgeheim, als er die Skepsis seiner Kollegen bemerkte. Zwar würde keiner von ihnen je so tief sinken, daß er zu kriminellen Mitteln griff wie Kröte, aber sie waren alle gerissene Geschäftsleute, die es nicht glauben konnten, daß eine Frau etwas anderes von Interesse für sie haben könnte als ihren Körper. »Als erstes«, fuhr Mariat fort, »gestattet mir, euch zwei Personen vorzustellen, die ebenfalls an unserer Besprechung teilnehmen werden.« Während sie sprach, betrat ein Halbwüchsiger das Zimmer. Er hatte eine Schiefertafel bei sich, auf die er nun eine Karte zu zeichnen begann. »Das ist mein Enkel Kendrick, der vor kurzem bewiesen hat, daß er schon Mann genug ist, an dieser Besprechung teilzunehmen.« Die Kaufleute fühlten sich etwas unbehaglich und wußten nicht so recht, was sie von all dem halten sollten. Bakarat wurde immer unruhiger, als sich offenbar alles nach Mariats Plan entwickelte. »Und darf ich euch außerdem Lord Molin Fackelhalter vorstellen, der ebenfalls gekommen ist, sich unser Angebot anzuhören.« Damit hatten die Kaufleute nicht gerechnet. Sie sprangen auf, um dem rankanischen Priester, den sie natürlich alle zumindest dem Namen nach kannten, ihre Achtung zu erweisen. Einigen kippte dabei sogar der Stuhl um. Bakarat war sehr verlegen, als er feststellte, daß sein Stuhl ihm gefolgt war, als er aufstand, um sich vor dem Mann zu verbeugen. Sein breites Gesäß klemmte zwischen den Armlehnen wie in einer Zwinge. »Bitte, meine Herren, nehmt wieder Platz«, bat Lord Fackelhalter. »Hören wir uns an, was Madame Mariat uns sagen wird.«
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Die Kaufleute setzten sich wieder, und nun galt ihre Aufmerksamkeit voll und ganz der rankanischen Witwe. Die Anwesenheit von Lord Fackelhalter änderte ihre Einstellung. Sie waren nun bereit, ja konnten es kaum erwarten, zu hören, was sie zu sagen hatte. Alle außer Kröte. »Habt Dank, Mylord«, sagte Mariat. »Und nun zur Sache.« Sie blickte reihum jeden an, ehe sie fortfuhr. »Ihr alle wißt, daß Aquinta-Wein der erlesenste des ganzen Reiches war. Tatsächlich hat Lord Fackelhalter mir versichert, daß es sich in Freistatt nur die reichsten der großen Gesellschaft leisten konnten, sein köstliches Bouquet zu kosten.« »Das stimmt«, bestätigte ein Kaufmann. »Aber was hat das mit uns zu tun? Wir haben alle gehört, was in Aquinta passiert ist. Von dort wird kein weiterer Wein mehr kommen.« »Das ist bedauerlicherweise nur allzu wahr«, sagte Mariat. »Aber ich habe euch, meine Herren, heute hierhergebeten, um euch wissen zu lassen, daß ich eine ganze Wagenladung von Aquintas edelsten Jahrgängen mitgebracht und sicher hier untergebracht habe!« Die Anwesenden horchten auf. Als Kaufleute war ihnen klar, daß eine oder zwei Flaschen dieses kostbaren, nun unersetzlichen Weines bei einer Versteigerung einen unvorstellbaren Preis erzielen würden. Ihnen mitzuteilen, daß eine ganze Wagenladung vorhanden war, konnte nur damit verglichen werden, jemanden darauf aufmerksam zu machen, daß sich ein Berg Gold in seinem Hinterhof befindet, der nur abgebaut zu werden brauchte. Selbst Bakarat, der den Zweck des Treffens kannte (oder es zumindest glaubte), war fassungslos. »Ihr habt uns also hierhergerufen, um Euch bei der Versteigerung Eurer Ware behilflich zu sein?« fragte ein anderer Kaufmann hoffnungsvoll. »Ja, doch das ist nicht alles«, erwiderte Mariat. Nun würde sie ihren Plan darlegen – ihren Grund, weshalb sie nach Freistatt gekommen war. Sie sagte ein stummes Gebet, bevor sie diesen Geschäftsleuten ihr Angebot unterbreitete.
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Bakarats Unbehagen wuchs. Zuerst hatte die Frau mit der Einladung Fackelhalters ein As auf den Tisch geworfen. Jetzt setzte sie zu einem völlig neuen Spiel an. Er spürte, wie ihm die Kontrolle über diese Besprechung entglitt. »Einen Moment«, warf er ungehalten ein. »Entweder Ihr wollt, daß wir Euch beim Verkauf des Weins helfen, oder Ihr wollt es nicht. Also was? Ich wünschte, Ihr würdet zur Sache kommen, denn unsere Zeit ist sehr kostbar.« »Also gut«, sagte Mariat. Sie blieb ruhig und bewies viel mehr gesunden Menschenverstand als dieser fette Kaufmann. »Der erlesene Wein bester Jahrgänge ist nicht die einzige Kostbarkeit, die ich mit hierherbrachte.« Mariat machte eine Pause. Sie hatte nun die ungeteilte Aufmerksamkeit eines jeden. Alle fragten sich, was sich mit ihrer bisherigen Offenbarung messen könnte. Alle saßen vor Aufregung gerade noch auf der Stuhlkante – außer Fackelhalter, der ihren Plan bereits kannte. »In einem anderen Wagen brachte ich fünfhundert Pfropflinge meiner robustesten Reben von Aquinta mit. Sie wurden extra für die Reise vorbereitet und werden innerhalb von sechs Monaten nach der Pflanzung Trauben tragen, aus denen wir beginnen können, Wein zu keltern. Innerhalb von drei Jahren werden wir den ersten Spitzenwein zum Verkauf haben. Bis dahin werden wir, um zu Kapital zu kommen, nach und nach den Wein versteigern, den ich aus Aquinta mitbrachte.« Sie machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen. Molin Fackelhalter würde sie unterstützen, das wußte sie bereits. Fünf der Kaufleute blickten einander nachdenklich an, aber Kröte zitterte vor Wut, und sein Gesicht war knallrot. Der Mann sah tatsächlich so aus, als würde er gleich zu quaken anfangen. Er konnte sich nicht mit der Tatsache abfinden, daß er von einer Frau ausmanövriert wurde. »Ihr seid verrückt!« Er erhob sich und quetschte sein Gesäß aus den Armlehnen seines Stuhls. »Und ihr übrigen seid ebenso verrückt, wenn ihr diesen Plan wirklich in Erwägung zieht. Sie will, daß wir unser gutes Geld in ihr lächerliches
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Vorhaben stecken, und was haben wir davon?« Er wandte sich wieder an Mariat. »Was wird uns diese Investition bringen? Drei Jahre Warten und dann nichts, wenn es sich zerschlägt.« »Bitte, Krö… – ich meine, Meister Bakarat, beruhigt euch. Mein Plan ist eine sehr gute Investition. Ich stecke meine ganzen Ersparnisse in dieses Unternehmen, und ich gebe ein paar von euch die Gelegenheit, von Anfang an mitzumachen. Ich brauche lediglich das Kapital, um das Land und die nötigen Gerätschaften zu kaufen und um Arbeiter zu dingen. Ich stelle die Reben und übernehme die Aufsicht über das Weingut. Den Investoren biete ich einen Anteil von vierzig Prozent des Gewinns der ersten fünf Jahre, nachdem der Wein verkauft werden kann. Inzwischen biete ich denselben Prozentsatz für allen vorhandenen Wein, den wir im Lauf der nächsten drei Jahre versteigern. Meine Herren, ihr könnt gar nicht verlieren.« »Wie kommt Ihr dazu, Euch einzubilden, daß Ihr ein Weingut führen könnt?« rief Bakarat. »Durch die Tatsache, daß ich gemeinsam mit meinem Gemahl das erfolgreichste Weingut des Rankanischen Reichs geführt habe!« entgegnete Mariat dem fetten Kaufmann. »Wer, glaubt Ihr, half meinem Gemahl die ganzen Jahre beim Betrieb der Kellerei? Ich führte sie sogar allein, wenn er längere Zeit geschäftlich unterwegs war.« Es war offensichtlich, daß sie die anderen Kaufleute überzeugte. »Ich sage euch, das ist Irrsinn!« rief Bakarat. »In Freistatt kann man keinen Wein anbauen!« »Nicht in der Stadt selbst«, pflichtete ihm Mariat bei. »Aber außerhalb der Mauer liegt Ackerland seit Jahren brach. Ich habe es mir angesehen, den Boden untersucht, und in den Bergen und dem oberen Sumpfgebiet Land gefunden, das mit der richtigen Bewässerung gut für Weinbau geeignet ist.« Sie deutete auf die Karte, die Kendrick gezeichnet hatte, und zeigte den Männern, wo sie beabsichtigte, die Reben zu pflanzen und die Kellerei zu bauen.
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»Das ist Regierungsland!« brüllte Kröte. »Selbst wenn Ihr Euren ganzen Wein verkauft, werden die Einnahmen nicht reichen, das Land zu erstehen!« »Tatsächlich«, warf Lord Fackelhalter ein, »wird Madame Mariat dieses Land für den Preis der ausstehenden Steuern bekommen. Da ich als Minister auch für die Erschließung und Nutzbarmachung von Land verantwortlich bin, sehe ich keinen Grund, weshalb dieses Land noch länger brachliegen soll. Ich habe Madame Mariats Angebot gehört und bin im Namen des Prinzen bereit, in dieses Geschäft einzusteigen. Wer ist noch dabei?« Die Kaufleute standen alle auf und überschlugen sich schier, ihre Bereitschaft kundzutun. Bakarat platzte fast vor Wut. »Ich warne euch«, drohte er seinen Kollegen. »Ihr werdet es bitter bereuen, wenn ihr euch auf ein Geschäft mit dieser Frau einlaßt!« »Meister Kröte«, sagte Mariat abfällig. Der Kaufmann wirbelte zu ihr herum. Er konnte nicht fassen, daß sie es wagte, ihn so anzureden. »Das bringt mich zu einer unangenehmen Angelegenheit, die ich gehofft hatte, bis nach der Besprechung aufschieben zu können. Doch ich fürchte, Eure Arroganz und Eure Drohungen lassen mir keine Wahl.« Sie öffnete die Tür und rief auf den Gang. »Kommandant Walegrin, hättet Ihr die Güte, hereinzukommen?« Mariat spielte ihren letzten Trumpf aus, als der Standortkommandant in das Zimmer trat. Walegrin war in Begleitung zweier seiner Männer, von denen einer den arg mitgenommenen Sinn stützte. »Kommandant, bitte tut Eure Pflicht.« Mariat trat zur Seite, als Walegrin sich dem völlig verblüfften Bakarat näherte. »Kaufmann Bakarat, ich verhafte Euch hiermit wegen Anstiftung zur Entführung zum Zwecke der Erpressung.«
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Zum ersten Mal bekam Kröte es mit der Angst zu tun. »Das könnt Ihr nicht mit mir machen!« protestierte der Fette. »Ihr habt keine Beweise!« »Meister Sinn«, bat Walegrin, »würdet Ihr so gut sein, zu bestätigen, daß Ihr ein Gespräch zwischen Bakarat und drei Halunken, die bereits in Haft sind, gehört habt, bei dem Bakarat sie beauftragte, Madame Mariats Enkelkinder zu entführen?« »Das bestätige ich«, knirschte Sinn mit vor Schmerzen zusammengepreßten Zähnen. Seine gebrochenen Rippen waren zwar eingerichtet und versorgt, aber er sollte eigentlich im Bett liegen und auch die nächsten paar Wochen noch nicht aufstehen. Er hatte jedoch darauf bestanden, hier auszusagen, damit die Verhaftung von Kröte vorgenommen werden konnte. Bakarat sah schließlich ein, daß er geschlagen war, zumindest momentan. Er neigte stumm den Kopf, als Walegrins Soldaten seine Handgelenke banden. Doch als er das Zimmer verließ, hob Kröte seinen häßlichen Kopf und bedachte Mariat mit einem letzten Blick voll Haß und Bosheit, der besser als Worte ausdrückte, daß er nicht rasten und ruhen würde, bis er sich an ihr für diese Demütigung gerächt hatte. »Macht Euch keine Gedanken wegen dieses Abschaums, Madame«, sagte Walegrin, als er Bakarat aus dem Zimmer schob. »Er wird den Ratten im Verlies eine sehr lange Zeit Gesellschaft leisten. Ich hoffe, sie werden sich durch seine Anwesenheit nicht gekränkt fühlen.« Walegrin und seine Männer verließen das Zimmer mit ihrem Gefangenen, und Dansea, die Wirtsfrau, kam und half Sinn zurück auf sein Zimmer. Mariat wandte sich an die Kaufleute. »Nun, Freunde, sind wir bereit, auf die Aquinta-Gesellschaft anzustoßen?« Alle versicherten es ihr eifrig. Auf dieses Stichwort brachten Darseeya und Timock je eine Flasche edlen Aquinta-Weins, und die Absprache wurde mit diesem köstlichen Tropfen besiegelt. Später bezeugte Lord Fackelhalter die Unterschriften
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der Kaufleute unter dem formellen schriftlichen Abkommen. Und so war die Aquinta Gesellschaft offiziell gegründet. Es war ein wunderschöner Frühlingstag, als Mariat und ihre drei Enkel sich das Land ansahen, das kürzlich von der Gesellschaft erstanden worden war. »Es gibt so viel zu tun«, sagte Mariat zu Kendrick, Darseeya und Timock. »Harte Arbeit darf uns nie abschrecken, denn auf diesem Land wird das neue Aquinta entstehen. Kendrick«, sagte sie und drehte den Jungen um, daß er ihr ins Gesicht blickte. »Du bist jetzt der Mann in dieser Familie. Du mußt lernen, zu führen, so, wie du gelernt hast, ein Mann zu sein. Ich weiß, daß du das kannst, denn du bist ein wahrer Sohn deines Vaters und Großvaters.« Sie hielt inne und schaute hinab auf das heruntergekommene Bauernhaus, das bald instandgesetzt und ihr Zuhause auf dem Weingut sein würde, zusätzlich zu dem Herrenhaus in der Oberstadt, das Lord Fackelhalter ihnen beschafft hatte. »Kinder, das ist unser neues Daheim. Hier werden wir etwas Neues schaffen.« Es war eine ganz neue Art von Morgen, der nun in Freistatt dämmerte. Ein Tag der Hoffnung. Originaltitel: Our Vintage Years Copyright © 1989 by Duane McGowen Ins Deutsche übertragen von Lore Straßl
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Personenregister Am Ende jedes Eintrags wird auf den Band verwiesen, in dem die jeweilige Figur zum ersten Mal vorgestellt wurde. Die Abkürzungen bedeuten im einzelnen: DF = Die Diebe von Freistatt (Band 20 089) BS = Der Blaue Stern (Band 20091) WE = Zum Wilden Einhorn (Band 20 093) RW = Die Rache der Wache (Band 20 095) GF = Die Götter von Freistatt (Band 20 098) VF = Verrat in Freistatt (Band 20101) KD = Der Krieg der Diebe (Band 20107) HN = Hexennacht (Band 20113) SF = Sturm über Freistatt (Band 20122) AN = Armeen der Nacht (Band 20140) FZ = Die Farbe des Zaubers (Band 20149) SFE = Die Säulen des Feuers (Band 20155) HF = Die Herrin der Flammen (Band 20167) BM = Der Bann der Magie (Band 20179) IH = Im Herzen des Lichts (Band 20192) MK = Die Macht der Könige (Band 20 206) DV = Das Versprechen des Himmels (Band 20 219)
Die Freistätter Abohorr – Wirt im Wilden Einhorn, das neuerdings Strick gehört. Ahdiovizun – Wirt in Fuchs' Kneipe, einer der verrufensten Spelunken Freistatts, zudem Treffpunkt der ›Volksfront für die Befreiung Freistatts‹. (SF) Dubro – der große, ruhige Schmied und der Ehemann der S'danzo Illyra. (DF) Eindaumen – der Wirt der Kneipe ›Zum Wilden Einhorn‹. Er kontrolliert den Krrf-Drogenhandel. (BS)
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Gorthis – ein Juwelier in der Oberstadt (MK.) Hakiem – der ehemalige Geschichtenerzähler der Stadt, jetzt Berater der Beysiber. (DF) Hanse Nachtschatten – ein junger, außergewöhnlich geschickter Dieb. (DF) Hort – Sohn eines Fischers, jetzt gelegentlich der Gefährte Hakiems. (RW) Illyra – eine Seherin, die die Vergangenheit und Zukunft aus den Karten liest. Ihr Sohn Arton wurde von den Göttern gezeichnet und ist der Spielgefährte des Sturmkindes Gyskouras. (DF) Jubal – ein riesiger Neger, der sich früher als Gladiator verdingte, danach baute er eine eigene Organisation in Freistatt auf, die Falkenmasken, ehe er von Tempus besiegt wurde. Nun wirkt Jubal hinter den Kulissen. (BS) Lalo – ein Porträtmaler, mit einem magischen Talent ausgestattet, das er selbst nicht ganz versteht. Er vermag nicht das Äußere, sondern das Innere eines Menschen abzubilden. (GF) Moria – einst eine Sklavin Ischades. Wurde in eine rankanische Edelfrau verwandelt. Nun hält sie Stilcho versteckt. (DS) Mradhon Vis – ein Nisibisi-Abenteurer und Spion. Er hat bisher noch jeden verraten und wurde im Gegenzug oft verraten. (RW) Myrtis – die einflußreichste Madame der Straße der Roten Laternen (DS) Schnapper Jo – ein Schurke und früherer Gehilfe der Dämonin Roxane, der die Vernichtung der Magie in Freistatt überlebte. Arbeitet nun im ›Wilden Einhorn‹. (FZ) Stilcho – einer von den Toten, die die Nekromantin Ischade ins Leben zurückberief. Er wurde vom Tod ›geheilt‹, als die Magie aus Freistatt gebannt wurde. (KD) Zip – Rebell und Anführer der Volksfront zur Befreiung Freistatts‹, einer Organisation, die mehr und mehr zerfällt. Mit seinen letzten Gefährten sorgt Zip sich nun um den Frieden in der Stadt. (HN)
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Die Magier Enas Yorl – einer der mächtigsten Magier. Mit dem Fluch des ewigen Lebens belegt, außerdem vermag er ständig seine Gestalt zu wechseln. (DF) Ischade – Nekromantin und Diebin. Gibt den Fluch, unter dem sie steht, an ihre Liebhaber weiter, die dann sterben müssen. Ihre große Rivalin Roxane schafft es, sie in die politischen Intrigenspiele in Freistatt reinzuziehen. (RW) Markmor – ein junger, ehrgeiziger Magier. (MK) Roxane – die Todeskönigin und Nisibisi-Hexe, wurde beinahe zerstört, als Sturmbringer die Magie aus Freistatt vertrieb. Nun ist sie im Körper Tasfalens gefangen, ein früherer Liebhaber Ischades. (KD) Strick – ein weißer Magier, der sich in Freistatt niederläßt. Er hilft allen Leuten, die zu ihm kommen, doch er verlangt mitunter einen ungewöhnlichen Preis für seine Hilfe. (BM)
Die Rankaner in Freistatt Chenaya – Sonnentochter und Kusine des Prinzen Kadakithis und erklärte Gegnerin der Beysa. Gilt als beste Gladiatorin im Reich, die niemals einen Kampf verliert. (HN) Daphne – Prinzessin von Ranke und immer noch Gemahlin von Prinz Kadakithis. Wurde von Chenaya aus der Sklaverei gerettet. (FZ) Gyskouras – eines der Sturmkinder. (SF) Kadakithis, Prinz – der charismatische, aber ein wenig naive Statthalter Freistatts. Mit der Beysa liiert, was nicht viele Freistätter äußerst ungerne sehen. (DF) Kama – eine Kriegerin des 3. Kommandos und Tochter von Tempus. Die Geliebte von Zip und Molin Fackelhalter. (HN)
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Molin Fackelhalter – Hohepriester von Freistatts Kriegsgott (wer auch immer das im Moment ist). Hüter der Sturmkinder, überwacht den Bau der Mauer um die Stadt. (DF) Stiefsöhne – Söldner, die durch einen heiligen Eid aneinander gebunden sind. Tempus völlig loyal, ziehen mit ihrem Führer dorthin, wo sie gerade benötigt werden. Zu den Stiefsöhnen gehören Critias, sein Partner Straton und der Magier Randal. Tempus – ein nahezu unsterblicher Söldnerführer, der sein Leben ganz Vashanka, dem Kriegsgott, geweiht hat. Mit dem Fluch geschlagen, weder lieben noch Liebe annehmen zu können. (WE) Voristritus – Cousin des neuen Kaisers von Ranke; ein gefürchteter Kritiker, den seine Theaterkritik beinahe ins Grab bringt. (DV) Walegrin – rankanischer Offizier. Halbbruder der Seherin Illyra. (WE)
Die Beysiber Shupansea – genannt die Beysa, die Herrscherin der Beysiber, jenes fischäugige Volk, das Freistatt besetzte. Die Beysa unterhält eine Liebesbeziehung zu Prinz Kadakithis. (HN)
Die Schauspieler in Freistatt Feltheryn – zusammen mit seiner Schauspielertruppe macht er ganz Freistatt unsicher. (MK) Glisselrand – Feltheryns Frau, ebenfalls Schauspielerin, kommt oft auf seltsame, skurrile Ideen. (MK)
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