Die kleine Wölfin Kaala wird als unerwünschter Mischling geboren - ihr Vater gehört nicht zum Rudel vom Schnellen Fluss...
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Die kleine Wölfin Kaala wird als unerwünschter Mischling geboren - ihr Vater gehört nicht zum Rudel vom Schnellen Fluss. Nachdem ihre Mutter deshalb ausgestoßen worden ist, muss Kaala allein als Außenseiterin um ihren Platz im Wolfsrudel kämpfen. Als sie das kleine Mädchen TaLi vor dem Ertrinken rettet, gerät ihre Welt aus den Fugen. Sie freundet sich mit ihr an, beginnt heimlich mit ihr zu jagen und zu spielen und riskiert so, aus dem Rudel ausgeschlossen und aus dem Weiten Tal vertrieben zu werden. Aber auf unerklärliche Weise fühlt sich Kaala zu den Menschen hingezogen und erfährt schließlich, dass sie der letzte noch lebende Wolf ist, der dazu berufen ist, den Menschen zu helfen, die Verbindung zur Natur nicht zu verlieren und die Welt zu bewahren. Und schon bald droht ein Krieg zwischen den Wölfen und den Menschen, und Kaala muss sich entscheiden - rettet sie sich selbst, ihre Freundin, ihr Rudel - oder gar alle Wölfe und die gesamte Menschheit? Dorothy Hearst ist eine Wolfsexpertin. Sie hat jahrelang das Verhalten der Wölfe beobachtet und erforscht und sich intensiv mit der Biologie und der kognitiven Wissenschaft befasst. Zudem hat sie sich mit den weltweit führenden Wolfs- und Hundespezialisten beraten. Sie hat als Lektorin, Schauspielerin und Filmemacherin gearbeitet und Businessbücher geschrieben. Und sie hat den Schwarzen Gürtel in Tae Kwon Do. Dorothy Hearst
Die Wolfs-Chroniken
Das Versprechen der Wölfe Roman
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Promise of the Wolves«
Gewidmet meiner Familie und meinen Freunden und Happy, dem besten Hund, den es je gegeben hat, und Emmi, dem besten (und hellsten) Hund, den es augenblicklich gibt. Teil Eins
Das Rudel Prolog
Vor 40 000 Jahren Es wurde kalt. Es wurde so kalt, sagt die Legende, dass sich die Hasen monatelang unter die Erde verkrochen, die Elche sich an das Leben in Höhlen gewöhnten und die Vögel vom Himmel fielen, weil ihre Flügel mitten im Flug zu Eis gefroren. Es wurde so kalt, dass die Luft vor den Schnauzen der jagenden Wölfe des Großen Tales zu Kristallen erstarrte. Jeder Atemzug versengte ihre Lungen und selbst ihr
dichtes Unterfell konnte sie nicht schützen. Wölfe sind für den Winter gemacht, doch dies war ein Winter, der selbst für die Wölfe zu weit ging. Die Sonne hatte sich von dieser Seite der Erde und dem Mond abgewandt. Früher war sie ein lebendiges Leuchtfeuer gewesen, jetzt war sie zu schwarzer Dämmerung verkühlt. Der Rabenkönig sagte, dies sei der Winter, der das Ende der Welt brächte. Dass er drei volle Jahre dauern würde und 3
dass er gekommen sei, um diejenigen zu strafen, die den Willen der Ahnen missachtet hatten. Alles was Lydda wusste, war, dass sie hungrig war und dass ihr Rudel nicht jagen konnte. Lydda zog es fort von ihrer Familie, sie scherte sich nicht einmal darum, ob sie irgendeine Fährte einer Maus oder eines Hasen entlang des Weges erschnüffeln konnte. Tachiim, der Leitwolf, hatte dem Rudel verkündet, die Jagd sei ein für alle Mal zu Ende, dass die Elche im Großen Tal zu selten seien und das Rudel zu schwach, um die wenigen, die noch übrig waren, zu fangen. Jetzt warteten sie nur noch ergeben darauf, dass die frostige Kälte des Todes die Kälte in der Luft ersetzte. Lydda würde nicht warten. Sie hatte ihre Rudelgefährten verlassen, und vor allem die Welpen, deren Knochen so deutlich sichtbar unter ihrem Fell hervortraten und aus deren Augen der Hunger blickte. Es war die Pflicht eines jeden Wolfs im Rudel - selbst eines Jungwolfs wie Lydda -, die Jungen zu ernähren, und wenn Lydda das nicht konnte, war sie es nicht wert, Wolf genannt zu werden. Selbst die leichtere äußere Schicht ihres Felles schien schwer auf Lydda zu lasten, während sie sich durch die tiefen Schneewehen kämpfte. Sie wusste jetzt, dass der lange Winter, länger als je ein Wolf ihn kennengelernt hatte, niemals enden würde. Raben flogen über ihrem Kopf, und sie sehnte sich nach Flügeln, die sie zur Jagd auf die Ebene hätten tragen können. Lydda hielt Ausschau nach dem größten und stärksten Elch, den sie finden konnte, und sie würde ihn herausfordern und bis zum Tod bekämpfen. So schwach wie sie war, würde das ihren Tod bedeuten, das wusste sie. Lydda erreichte den Kamm des schneebedeckten Hügels von dem aus man die Jagdebene überblicken konnte und ließ sich schwer 3
atmend auf ihren Bauch fallen. Unvermittelt erhob sie sich wieder, ihr hellbraunes Fell sträubte sich. Sie roch einen Menschen, und sie wusste, dass sie sich fernhalten musste, denn ein uraltes Gesetz verbot es Wölfen und Menschen, sich einander zu nähern. Ihr Herz schlug schnell, sie begann sich rückwärts zu bewegen. Doch dann musste sie über sich selbst lachen. Was hatte sie schon zu befürchten? Sie suchte den Tod. Vielleicht würde der Mensch ihr den Weg dorthin zeigen. Sie war enttäuscht, als sie den Menschen fand, weinend, mit dem Rücken gegen einen Felsen gelehnt. Er war wie sie gerade eben erwachsen. Er sah so wenig furchterregend aus wie ein Fuchswelpe. Er war dünn und hungrig wie der Rest der Lebewesen im Tal, und der lange todbringende Stab, den er, wie alle seine Leute, bei sich trug, lag harmlos an seiner Seite. Der Mensch blickte auf, als sie sich näherte, und Lydda erkannte zuerst Furcht, dann Ergebenheit und schließlich Willkommen in seinen Augen. »Kommst du mich holen, Wolf?«, fragte er. »Dann nimm mich. Ich kann meinen hungrigen Schwestern und Brüdern keine Nahrung mehr bringen, denn ich bin zu
schwach, um den fliehenden Elch zu jagen. Ich kann nicht schon wieder mit leeren Händen zu meiner Familie zurückkehren. Nimm mich.« Die Augen des Menschen waren von einem dunklen Braun, und Lydda sah, wie sich in ihnen ihre eigene Verzweiflung spiegelte. Er wollte genau wie sie die Jungen seines Volkes füttern. Die Wärme seines Körpers zog sie an, und sie merkte, wie sie langsam Schritt für Schritt zu ihm ging. Er warf seinen spitzen Stecken weit von sich und öffnete seine Arme, gestattete ihr einen Sprung, der für ihn den Tod be 4
deuten konnte. Lydda hatte nie lange einen Menschen betrachtet. Sie war davor gewarnt worden. »Jeder Wolf, der sich mit den Menschen einlässt, wird vom Rudel verstoßen«, hatte Tachiim erklärt, als sie und ihre Wurfgefährten noch Welpen waren. »Sie sind uns ebenbürtig in der Jagd, und sie sehen uns als Beute. Ihr werdet euch mit einer Kraft zu ihnen hingezogen fühlen, die ebenso stark ist wie der Drang zur Jagd. Haltet euch fern, oder ihr seid nicht länger Wölfe.« Lydda blickte auf den jungen Menschen und fühlte die Anziehung, die Tachiim erwähnt hatte, genauso wie sie die Anziehung eines der jungen Welpen im Rudel gefühlt hätte oder die eines Wolfes, mit dem sie sich hätte paaren können. Verwirrung ergriff sie und beutelte sie wie ein gerade gefangenes Kaninchen. Ihr Verstand ermahnte sie, davonzulaufen oder vielleicht das Fleisch des Menschen zu reißen. Ihr war, als würde das Herz ihre Brust verlassen, um zu ihm zu kommen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, an seiner Seite zu liegen, um die Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben. Sie schüttelte sich und trat zurück, doch sie konnte seinen Augen nicht entkommen. Ein kalter Windstoß erfasste sie von hinten und schob sie einen Schritt näher an den Jungen heran. Er hatte seine Arme gesenkt, doch nun hob er sie wieder zögernd. Sie lief in seine geöffneten Arme und streckte ihren Körper über seine Beine, ruhte mit ihrem behaarten Kopf auf seiner Brust. Der Junge trug mehrere Schichten von erbeutetem Fell, um die Kälte von seinem kaum behaarten Körper fernzuhalten, dennoch konnte sie die von ihm ausgehende Wärme spüren. Nach einem Augenblick der Überraschung schlossen sich seine Arme um sie. Sie konnte ihren Blick nicht von seinem Gesicht wenden. 4
Tausend Herzschläge lang lagen sie beieinander, das Herz des Wolfes verlangsamte sich, um den Herzschlag des Jungen aufzunehmen, und das des Jungen beschleunigte, um den Puls des Wolfes zu finden. Lydda fühlte, wie die Kraft in ihr zunahm, und der Menschenjunge musste es auch gefühlt haben, denn sie erhoben sich gleichzeitig und wandten sich den Jagdgefilden zu. Zusammen überquerten sie die Ebene in Richtung der Beute und wählten wortlos einen Bock aus der Herde. Der Elch schüttelte nervös seinen Kopf, als sie näher kamen und ließ sie seine Verletzlichkeit erkennen. Wie ein Sonnenstrahl schoss Lydda hinter den Elch, verflogen war die Müdigkeit in ihren Läufen. Sie jagte den Elch und jagte ihn weiter, machte ihn verwirrt und erschöpft. Dann, mit plötzlich zunehmender Geschwindigkeit, trieb sie ihn in die Richtung des wartenden Menschenjungen. Der spitze Stecken des Jungen flog, drang tief in die Brust des Elches ein, und als das Tier stürzte, riss ihm Lydda das Leben aus dem Leib.
Während Lydda, schwindelig von dem Geruch und Geschmack der lang entbehrten Nahrung, am Fleisch des Elches zerrte, stieß etwas Schweres sie beiseite. Der Junge hatte sich herangedrängt, um seinen Anteil zu holen. Knurrend verteidigte sie ihren Platz, und beide zogen sie nun an dem Kadaver. Bevor sie zu voll war, um sich noch bewegen zu können, erinnerte Lydda sich an ihre Pflichten, und sie begann, an einer Keule des Viehs für ihre hungrige Familie zu zerren. Als sie die Keule schließlich gelöst hatte, war es dem Menschen ebenfalls gelungen, mit einem scharfen Stein die andere Keule abzutrennen: Jetzt arbeitete er weiter an der Beute. Sie nahm das schwere Bein in ihr Maul, froh, nicht allzu weit entfernt von zu Hause zu sein. Gestärkt durch das frische Fleisch 5
in ihrem Magen, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Rudel. Sie war so beschäftigt mit ihrem vollen Bauch und dem Geschmack des guten, frischen Fleisches, dass sie den Menschen für einen Augenblick ganz vergessen hatte. Doch sie drehte sich um, als sie den Waldrand erreichte und sah nach ihm. Er hielt ebenfalls inne, das schwere Bein des Elches über seine Schultern gelegt und eine Elchrippe in der Hand. Er hob seinen anderen Arm zum Gruß. Sie ließ ihre Keule fallen und neigte den Kopf zum Zeichen des Erkennens. Ihre Rudelgefährten rochen das gute Fleisch, schon bevor sie die geschützte Lichtung erreichte. Als Lydda näher kam, blickten die erwachsenen Wölfe ungläubig auf das Fleisch, das sie trug. Vorsichtig legte sie es nieder. Es war wenig Fleisch für so viele Wölfe, doch es war Fleisch, und das bedeutete Hoffnung. Es war schon länger als drei Wochen her, dass das Rudel eine richtige Mahlzeit zu fressen bekommen hatte. Sobald die Wölfe begriffen hatten, dass dieses Fleisch tatsächlich vor ihnen lag und nicht etwa ein Todestraum sie narrte, umringten sie Lydda und vergaßen ihre Schwäche über der frohen Begrüßung. Lydda trat zur Seite, verbeugte sich vor Tachiim und bot ihm das Fleisch an. Er berührte sie zärtlich mit seiner Nase und bedeutete dem Rudel, das Fleisch zu teilen. Zusammen mit den anderen Wölfen, die noch stark genug waren zu laufen, machte er sich auf den Weg, um der Fährte zu folgen, die zu Lyddas Fang führte. Lydda wandte sich den Welpen zu, die beim Geruch des frischen Fleisches zu wimmern begonnen hatten. Sie beugte ihren Kopf zu ihnen hinunter, und als einer von ihnen sie schwach an ihrer Schnauze stupste, würgte sie ihr Fleisch für 5
die Welpen heraus. Obwohl ihr ausgehungerter Körper nach der Nahrung verlangte, die sie für die Welpen hergab, war es die Freude wert, ihnen beim Fressen zuzusehen. Die Welpen des Großen Tales würden nicht länger hungern. Lydda sprang Tachiim und den anderen nach, um aufzuteilen, was noch von der Beute übrig war. Sie war so überwältigt vom Erfolg ihrer Jagd, so erleichtert in ihrer Sorge um das Rudel, so verwirrt von ihrer Begegnung mit dem Menschenjungen, dass sie den neuen, langsam stärker werdenden Hauch von Wärme in der Luft nicht spürte. Er war so leicht, dass man ihn ohne weiteres für einen Traum hätte halten können. ♦
Lydda und ihr Menschenjunge ruhten gegen einen Felsen gelehnt, nicht weit von der Stelle, an der sie einander das erste Mal getroffen hatten. Der schmelzende
Schnee hatte einen Flecken der warmen Erde entblößt. Einen ganzen vollen Mondlauf lang hatten die Wölfe aus Lyddas Rudel gemeinsam mit den Menschen gejagt. Einen ganzen Mondlauf lang hatten sie das Fleisch mit den Menschen geteilt, mit ihren Jungen gespielt und waren mit ihnen im Licht der Morgen-und Abenddämmerung umhergestreift. Lydda verbrachte jeden möglichen Augenblick mit ihrem Menschen, denn sie fühlte, als habe sie in ihm etwas gefunden, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es ihr verlorengegangen war. Sie saßen zusammen an ihren Felsen gelehnt, Lydda schlang ihren Körper um die starken Beine des Jungen, und er ließ seine Finger in ihr Fell gleiten. Die Sonne schien auf sie, und die Erde ließ Grashalme wachsen, um sie zu grüßen. 6
Der Mond wartete eifersüchtig darauf, sie sehen zu können. Und der Himmel - der Himmel spannte sich schützend um sie. Denn die Ahnen hatten gewartet. Gewartet und gehofft. Sie hatten das Ende aller Geschöpfe nicht gewollt. 6
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Vor 14 000 Jahren Wenn sich das Blut der Wölfe des Großen Tales mit dem Blut der Wölfe außerhalb des Tales mischt, wird der Weissagung nach der Wolf, der dieses Blut in sich trägt, für immer zwischen zwei Welten stehen. Laut dieser Legende wird ein solcher Wolf nicht nur seinem ganzen Rudel Verderben bringen, sondern allen anderen Wölfen ebenso. Das ist der wahre Grund, aus dem Ruuqo im dämmrigen Licht eines frühen Morgens, vier Wochen nachdem wir geboren waren, kam, um meinen Bruder, meine Schwestern und mich zu töten. Wölfe hassen es, Welpen zu töten. Es ist unnatürlich und ekelhaft, und die meisten Wölfe würden eher ihre eigenen Pfoten abnagen, als einem Welpen wehzutun. Doch meine Mutter hätte uns niemals säugen dürfen. Sie gehörte nicht zu den älteren Wölfen und hatte daher kein Recht, Junge zu haben. Aber das wäre noch verzeihlich gewesen. Viel schlimmer 6
war, dass sie eines der wichtigsten Gesetze des Großen Tales gebrochen hatte, eines der Gesetze, die unsere Art schützen. Ruuqo tat nur seine Pflicht. Er hatte bereits für Rissas Bauch voller Welpen gesorgt, wie es sich für den führenden männlichen Wolf eines Rudels gehörte. Ohne die Einwilligung der Leitwölfe paart sich kein anderer Wolf, denn zusätzliche Welpen zu ernähren, kann schwierig werden, wenn es nicht ein ausgesprochen gutes Jahr ist. Das Jahr, in dem ich geboren wurde, brachte Aufruhr in das Tal, und die Beute wurde immer weniger und weniger. Wir teilten uns das Große Tal mit vier anderen Wolfsrudeln und mit mehreren Menschenstämmen. Während die meisten der anderen Wölfe die Grenzen unseres Jagdgebietes respektierten, taten die Menschen das nicht - sie vertrieben uns wann immer möglich von unserem eigenen Fang. Daher hatte das Rudel vom Schnellen Fluss zur Zeit meiner Geburt keine zusätzliche Nahrung übrig. Dennoch ging meine Mutter wohl davon aus, dass Ruuqo uns nicht wirklich
verletzen würde. Sie muss gehofft haben, er werde den Geruch unserer fremden Abstammung nicht bemerken, ihn nicht an uns riechen. Kurz vor der Dämmerung, zwei Tage bevor Ruuqo kam, um unser Leben zu beenden, kletterten mein Bruder Triell und ich neugierig die Neigung im weichen, kühlen Boden zum Ausgang unserer Höhle hinauf. Sanftes Licht fiel in die tiefe Höhle, und das Japsen und Knurren der Wölfe draußen hallte von den Wänden unseres Zuhauses wider. Die Gerüche und Geräusche der Welt dort draußen faszinierten uns, und wenn wir nicht gerade gesäugt wurden oder schliefen, versuchten wir, uns hinauszuschleichen. »Wartet«, ermahnte uns unsere Mutter und stellte sich vor den Ausgang. »Es gibt Dinge, die ihr vorher wissen solltet.« 7
»Wir wollen doch nur sehen, was dort draußen ist«, schmeichelte Triell. Ich sah das unternehmungslustige Funkeln in seinen Augen, und wir versuchten, an ihr vorbeizuhuschen. »Hört.« Unsere Mutter hielt uns mit ihrer großen Pfote zurück und drückte uns fest auf den Boden. »Jeder Welpe muss sich einer Prüfung unterziehen, bevor er in das Rudel aufgenommen wird. Wenn ihr die nicht besteht, werdet ihr nicht überleben. Ihr müsst auf das hören, was ich euch lehre.« In ihrer Stimme, die sonst so sanft und mitfühlend klang, lag auf einmal ein Ton, den ich noch nie vernommen hatte. »Wenn ihr auf die Leitwölfe Ruuqo und Rissa trefft, müsst ihr ihnen zeigen, dass ihr stark und gesund seid. Ihr müsst ihnen beweisen, dass ihr es wert seid, Mitglieder des Rudels vom Schnellen Fluss zu werden. Und ihr müsst ihnen gegenüber Ehrerbietung und Respekt zeigen.« Sie ließ uns los, betrachtete uns mit einem besorgten Blick und beugte sich zu unseren Schwestern, die uns die Erhebung zum Ausgang der Höhle hinaufgefolgt waren, um sie zu putzen. Triell und ich zogen uns in einen Winkel der warmen Höhle zurück, um zu überlegen, was wir tun könnten, um Teil des Wolfsrudels zu werden. Ich glaube nicht, dass mir in den Sinn kam, wir könnten scheitern. Zwei Tage später, als wir dann schließlich aus der Höhle hinausgelangten, sahen wir, wie Rissas fünf Welpen bereits auf der Lichtung herumtapsten. Sie waren zwei Wochen älter als wir und schon bereit, dem Rudel vorgeführt zu werden und ihre Namen zu bekommen. Rissa stand ein wenig abseits und sah zu, wie Ruuqo die Welpen betrachtete. Unsere Mutter trieb uns an, zu ihnen zu gehen, obwohl wir auf unseren schwachen Beinen torkelten. 7
Mutter blieb stehen, um über die kleine staubige Lichtung zu blicken. »Rissa lässt Ruuqo entscheiden, ob die Welpen aufgenommen werden oder nicht«, sagte sie und zog ihre Lefzen vor Besorgnis zusammen. »Verbeugt euch vor ihm. Ihr müsst euch vor ihm niederwerfen und seine Gunst gewinnen. Umso mehr ihr ihm gefallt, umso größer ist eure Chance zu überleben.« Ihre Stimme wurde scharf. »Hört auf mich, Welpen. Ihr müsst ihm gefallen, dann werdet ihr leben.« Die Welt außerhalb der Höhle war ein Mischmasch von unbekannten und verlockenden Gerüchen. Der Duft des Rudels war der stärkste und aufregendste. Um uns herum hatten sich alle Wölfe versammelt, um dem Welpen-Willkommen beizuwohnen. Mindestens sechs verschiedene Wolfsdüfte mischten sich mit dem
Geruch der Blätter, der Bäume und von Erde, verwirrten unsere Nasen und brachten uns zum Niesen. Die warme, süße Luft war vielversprechend, sie rief uns hinaus, fort von dem sicheren Platz an der Seite unserer Mutter. Unsere Mutter folgte uns leise wimmernd. Ruuqo sah auf unsere Mutter und wandte dann seinen Blick ab, sein graues Gesicht blieb unergründlich. Seine eigenen Welpen, die alle größer und fetter waren als wir, japsten und purzelten um ihn herum, leckten seine gesenkten Lefzen und rollten sich auf ihre Rücken, um ihre weichen Bäuche zu zeigen. Einen nach dem anderen beschnüffelte er sie, drehte sie vorsichtig mal auf diese mal auf jene Seite, suchte sorgfältig nach Schwäche oder Krankheit. Nach einer Weile hieß er alle außer einen in das Rudel willkommen, indem er jede kleine Schnauze vorsichtig in sein Maul nahm. »Willkommen, Welpen«, sagte er. »Ihr seid Teil des Rudels vom Schnellen Fluss, und jeder Wolf aus dem Rudel wird euch schützen und wird euch füttern. Willkommen Borila. 8
Willkommen Unnan. Willkommen Reel. Willkommen Marra. Ihr seid unsere Zukunft. Ihr seid Wölfe vom Schnellen Fluss.« Ein kleines, räudiges Junges beachtete er nicht, ließ es beiseite liegen und weigerte sich, ihm einen Namen zu geben. Sobald ein Welpe einen Namen erhalten hat, ist jeder Wolf des Rudels verpflichtet, es zu beschützen. Deshalb geben Leitwölfe einem Welpen, von dem sie annehmen, dass es bald sterben wird, keinen Namen. Rissa kroch zurück in ihre Höhle und brachte ein kleines schlaffes Etwas heraus, ein kleines Junges, das nicht überlebt hatte. Sie vergrub es schnell am Rand der Lichtung. Das Rudel heulte sein Willkommen für die neuesten Mitglieder. Jeder Wolf beugte sich einer nach dem anderen zu den Welpen hinunter, um sie zu begrüßen, wedelte mit dem Schwanz und stellte die Ohren weit auf vor Freude. Dann begannen sie zu spielen, einander zu jagen, sich im Staub und in Blättern zu rollen und vor Übermut zu juchzen. Ich sah, wie sie vor Freude tanzten, vor Freude über junge Welpen, Welpen kaum anders als wir. Ich stupste Triell an der Wange. »Es gibt nichts, wovor man sich fürchten müsste«, sagte ich ihm. »Du musst nur zeigen, dass du stark und respektvoll bist.« Triells Schwanz wedelte zart, während er das Welpen-Willkommen betrachtete. Ich sah auf seine lebendigen Augen, seinen schmalen, starken Hals und wusste, dass wir genauso gesund und tadellos waren wie Ruuqos und Rissas Welpen. Meine Mutter hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Bald würden wir an der Reihe sein, um Ruuqos Gefallen zu finden. An der Reihe, selbst Namen zu erhalten und unsere Plätze im Rudel vom Schnellen Fluss zugewiesen zu bekommen. 8
Ruuqo hielt seinen Blick gesenkt, als er auf uns zukam. Er war der größte Wolf im Rudel, mit breitem Brustkorb und mindestens um ein Ohr höher als jeder andere Wolf vom Schnellen Fluss. Die Muskeln unter seinem grauen Fell zeichneten sich deutlich ab, als er seine eigenen Jungen dem Rest des Rudels überließ und zu uns herüberschritt. Er zögerte, beugte sich über uns und öffnete dann seine großen Kiefer. Unsere Mutter sprang vor uns, hielt ihn zurück.
»Bruder«, flehte sie, denn Ruuqo und sie waren aus dem selben Wurf und waren gemeinsam in das Rudel vom Schnellen Fluss gekommen, »du musst sie leben lassen.« »Sie haben fremdes Blut in sich, Neesa. Sie werden meinen Kindern das Fleisch wegnehmen. Das Rudel kann keine zusätzlichen Welpen ernähren.« Seine Stimme war so kalt und zornig, dass ich zu zittern begann. Neben mir hörte ich Triell winseln. »Das ist eine Lüge.« Unsere Mutter hob den Kopf, um Ruuqo anzusehen, ihre bernsteinfarbenen Augen waren unverwandt auf ihn gerichtet. Sie war sehr viel kleiner als Ruuqo. »Wir sind auch schon früher durchgekommen, auch wenn die Beute rar war. Du hast nur Angst vor allem, was anders ist. Du bist ein zu großer Feigling, um das Rudel vom Schnellen Fluss zu führen. Nur ein Feigling tötet Welpen.« Ruuqo heulte knurrend auf, sprang sie an und warf sie zu Boden. »Du denkst, es gefällt mir, Welpen zu töten?«, fragte er. »Und das, wenn meine eigenen Jungen keine zwei Wolfslängen entfernt stehen? Sie sind nicht >einfach anders<. Sie riechen fremd. Ich habe sie nicht in diese Welt gebracht, Neesa. Ich habe das Abkommen nicht gebrochen. Du bist verantwortlich dafür.« Er nahm ihren Nacken zwischen seine 9
Fänge und biss zu, bis sie zu jaulen begann, dann ließ er sie los. Mutter rappelte sich auf, als Ruuqo sie freiließ und wich vor ihm zurück, sodass wir in seine tödlichen Kiefer starren mussten. Wir rannten alle zurück und scharten uns um sie. »Aber sie haben Namen!«, rief sie aus. Meine Mutter hatte uns bei der Geburt Namen gegeben und damit gegen den Wolfsbrauch verstoßen. »Wenn ihr Namen habt«, hatte sie uns gesagt, »gehört ihr zum Rudel. Dann wird er euch nicht töten.« Sie benannte meine drei Schwestern nach den Pflanzen, die rings um unsere Höhle standen, und meinen Bruder Triell nach der Dunkelheit der mondlosen Nacht. Er war der einzige schwarze Wolf in ihrem Wurf, und seine Augen blickten wie Sterne aus dem Dunkel seines Gesichts. Sie nannte mich Kaala, Tochter des Mondes, da ich in dem grauen Fell auf meiner Brust einen weißen Halbmond hatte. Triell und ich standen zitternd neben unserer Mutter. Meine Schwestern verkrochen sich auf ihre andere Seite. Wir hatten unserer Mutter geglaubt, als sie uns erzählt hatte, wir könnten im Rudel aufgenommen werden. Ich hatte über ihre Sorgen gelacht. Wir glaubten, wir müssten uns nur wie Wölfe verhalten, die es wert waren, zum Rudel gezählt zu werden. Jetzt verstanden wir, dass wir möglicherweise nicht einmal die Chance zum Überleben bekommen würden. »Sie haben Namen, Bruder«, wiederholte sie. »Nicht von mir«, antwortete Ruuqo. »Sie sind nicht rechtmäßig, und sie gehören nicht zum Rudel. Geh zur Seite.« »Das werde ich nicht«, sagte sie. Ein großer weiblicher Wolf, fast so groß wie Ruuqo und mit einer Narbe quer über Gesicht und Hals, sprang meine 9
Mutter an und zwang sie beiseite. Ruuqo half dem großen Weibchen, trieb unsere Mutter von uns fort. »Welpenmörder! Du bist nicht mein Bruder«, knurrte sie. »Du bist es nicht würdig, ein Wolf zu sein.« Selbst ich konnte sehen, wie die Worte meiner Mutter Ruuqo verletzten, und er knurrte und trieb sie zurück zum Eingang der Höhle, sodass wir allein auf einer Erhebung im warmen Teil der Lichtung zurückblieben. Das große Weibchen bewachte unsere Mutter. Dann wandte Ruuqo sich uns zu. Rissa trat vor, verließ ihre Welpen, die wimmernd versuchten, ihr zu folgen. Sie stellte sich neben Ruuqo. »Gefährte«, sprach sie, »dies ist genauso meine Pflicht, wie es deine ist. Ich hätte ein wachsameres Auge auf meine Schwester haben sollen. Ich werde tun, was zu tun ist.« Ihre Stimme war tief und melodisch, und ihr weißes Fell glänzte im frühen Licht. Sie roch nach Stärke und Selbstvertrauen. Ruuqo leckte ihre Schnauze und legte seinen Kopf kurz auf ihren weißen Hals, als ob er Kraft aus ihrer Entschlossenheit ziehen könne. Dann schob er sie sanft zur Seite, drängte sie fort von uns. Der Rest des Rudels stand auf der Lichtung versammelt, einige wimmerten, andere beobachteten nur, alle hielten sich fern von Ruuqo, der nun drohend über uns stand. Selbst heute, wenn ich ihn gelegentlich anschaue, sehe ich ihn vor mir, wie er dort über mir steht, bereit, mich jeden Augenblick beim Nackenfell zu packen und mich zu schütteln, bis ich aufhöre, mich zu bewegen. Das ist es, was er mit meinen drei Schwestern tat und dann mit Triell, meinem Bruder, dem, der mir von meinen Geschwistern am liebsten war. Ázzuen sagt, ich könne mich unmöglich daran erinnern, was wirklich an diesem Tag geschehen war, ich sei doch nur vier Wochen alt gewesen, dennoch kann ich es. Ich erinnere 10
mich. Ruuqo nahm meine Schwestern in seine Schnauze, eine nach der anderen und schüttelte das Leben aus ihnen heraus. Dann nahm er Triell. Mein Bruder lag neben mir, an mich geschmiegt, und dann war er nicht mehr da. Die Wärme seines Körpers und seines Fells war plötzlich von meiner Seite verschwunden, und er jaulte auf, als Ruuqo ihn vom Boden hochzog. Triells Augen sahen in meine, und ohne an meine Furcht zu denken, versuchte ich, mich auf die Hinterbeine zu stellen, um ihn zu erreichen. Doch ich hatte meine Kräfte überschätzt, und ich fiel zurück auf den Boden, als sich Ruuqos scharfe Zähne um Triells kleinen weichen Körper schlossen. Er ergriff meinen Bruder mit diesen fürchterlichen Zähnen und warf das kleine Wesen hin und her, bis das Leuchten in Triells Augen erloschen war, sein Körper erschlaffte und dann regungslos blieb. Ich konnte nicht glauben, dass er tot war. Ich konnte nicht glauben, dass er seinen Kopf nicht mehr heben würde, um mich anzublicken. Ruuqo ließ ihn neben den schlaffen Körpern meiner Schwestern fallen. Und dann wandte er sich mir zu. Meine Mutter hatte sich vom Eingang der Höhle zurückgeschlichen. Jetzt kroch sie auf ihrem Bauch heran, die Ohren flach angelegt und die Rute völlig unsichtbar unter ihr verborgen, flehte sie Ruuqo an aufzuhören. Er beachtete sie nicht. »Er tut, was er tun muss, Neesa«, erklärte ihr ein alter gutmütiger Wolf. »Die Welpen tragen das Blut von draußen in sich. Er tut, was jeder gute Leitwolf tun muss, um sein Rudel zu schützen. Du solltest es ihm nicht noch schwerer machen.«
Ich stand auf, blickte zu Ruuqos riesiger Gestalt hinauf. Unterwürfigkeit und Betteln hatten meinen Geschwistern nicht geholfen. Als Triells Körper sich aus Ruuqos Kiefern 11
gelöst hatte und mit einem unendlich sanften Plumpsen auf die Erde gefallen war, hatte sich mein Zittern in Zorn verwandelt. Triell und ich waren im Schlaf und beim Fressen unzertrennlich gewesen. Zusammen hatten wir davon geträumt, unsere Plätze im Rudel einnehmen zu können. Jetzt war er tot. Ich fletschte meine Zähne und ahmte das Knurren nach, das ich in Ruuqos Stimme gehört hatte. Ruuqo war so verblüfft, dass er zurücktrat und sich schüttelte, bevor er wieder auf mich zukam. Wut ließ mich meine Furcht vergessen, und ich sprang ihm an die Kehle. Meine schwachen Beine trugen mich nur bis zu seiner Brust, und er warf mich mühelos zur Seite. Doch Ruuqo sah aus, als habe er dem großen Todeswolf persönlich ins Auge geblickt. Er stand regungslos, betrachtete mich für eine Weile, während ich mit so viel Zorn als möglich knurrte. »Es tut mir leid, Kleiner Wolf«, sprach er sanft, »doch du musst verstehen, dass ich das tun muss, was richtig für das Rudel ist. Ich muss meine Pflicht tun«, und er beugte sich herunter und öffnete seine Kiefer, um mich zu zerschmettern. Die anderen Wölfe des Rudels schrien auf vor Qual, zitterten und schmiegten sich aneinander. Die Dämmerung wurde taghell, und das strahlende Licht des Morgens blendete meine Augen, als ich dem Tod entgegensah. »Ich glaube dieses möchte leben, Ruuqo.« Ruuqo hielt inne, die Kiefer immer noch geöffnet, seine hellen gelben Augen waren groß und verwirrt. Dann schlossen sich zu meiner Überraschung seine tödlichen Kiefer, und er hob den Kopf, legte seine Ohren an und trat zurück, um den Neuankömmling zu begrüßen. Als ich seinem Blick folgte, sah ich einen Wolf, der größer war, als irgendein Wolf es jemals sein konnte. Seine Brust war 11
auf der selben Höhe mit Ruuqos Schnauze, und sein breiter und starker Hals erschien mir nahezu ebenso hoch wie die Sonnenstrahlen, die jetzt auf die Lichtung fielen. Seine Stimme grummelte belustigt. Er hatte merkwürdige grüne Augen, ganz anders als die gelben Augen meines Rudels oder die blauen Augen der Welpen. Nach einer Weile trat ein weiterer ungeheuer großer Wolf mit denselben grünen Augen und einem dunkleren, zottigeren Fell an seine Seite. Alle Wölfe aus dem Rudel meiner Mutter beeilten sich, von den Rändern der Lichtung herbeizukommen, um diese fremden und ehrfurchtgebietenden Wesen zu begrüßen. Sie näherten sich respektvoll, die Ohren angelegt und die Ruten tiefhängend. Dann warfen sie sich auf die Bäuche, um den größeren Wölfen die größtmögliche Ehrfurcht zu erweisen. »Das sind die Höchsten Wölfe«, flüsterte meine Mutter. Sie hatte sich zu mir geschlichen, als die großen Wölfe unsere Lichtung betreten hatten. »Jandru und Frandra. Zwei der wenigen, die es noch im Großen Tal gibt. Sie sprechen mit den Ahnen, und wir gehorchen ihnen alle.« Die Höchsten Wölfe nahmen die Begrüßung der kleineren Wölfe gnädig entgegen.
»Fürstliche Wölfe, seid willkommen.« Ruuqo sprach ehrerbietig mit gesenktem Kopf. »Ich tue, was ich tun muss. Ich habe diesen Wurf nicht gestattet, und ich muss für mein Rudel sorgen.« »Ein zweiter Wurf wird öfters einmal am Leben gelassen.« Jandru beugte seine Schnauze hinab, um Triells leblosen Körper zu beschnuppern, »wie du genau weißt, Ruuqo. Es ist erst vier Jahre her, dass du und deine Wurfgefährten verschont blieben. Vielleicht ist das eine lange Zeit für dich, jedoch nicht für mich.« 12
»Das war in Zeiten des Überflusses, Fürstlicher Wolf.« »Ein einziges Junges frisst nicht so viel. Ich würde sie am Leben lassen.« Ruuqo schwieg für einen /Augenblick, um Jandrus Zorn nicht heraufzubeschwören. »Da ist noch etwas, Fürstlicher Wolf«, sagte Rissa und trat vor. »Das Junge hat fremdes Blut in sich. Wir können die Gesetze des Tales nicht brechen.« »Fremdes Blut?« Da war nicht mehr die geringste Spur eines Lächelns in Jandrus Stimme. Er starrte auf Ruuqo. »Warum hast du mir davon nichts gesagt?« Ruuqo senkte seinen Kopf noch tiefer. »Ich wollte nicht, dass ihr den Eindruck bekommt, dass ich mein Rudel so wenig im Griff habe.« Jandru betrachtete ihn eine ganze Weile, ohne ein Wort zu sagen, und wandte sich dann in wahrem Zorn an meine Mutter. »Was hast du dir dabei gedacht, die Sicherheit des Rudels zu gefährden?« Frandra, der weibliche Höchste Wolf, ergriff zum ersten Mal das Wort. Sie war noch größer als ihr Gefährte, und ihre Stimme klang stark und sicher. Ihre Augen leuchteten hell aus ihrem dunklen Fell. Sie sprach so laut und erschreckte mich so sehr, dass ich zurücksprang und auf meinen Rücken fiel. »Du hast leicht reden, Jandru, wo du dich immer und mit jeder paaren kannst, wie es dir gefällt, ohne irgendwelche Folgen tragen zu müssen. Sie hat nicht von alleine empfangen.« Jandru wirkte beschämt und senkte seine Ohren ein winzig kleines Stück. Frandra beobachtete ihn für einen Augenblick und wandte ihren wundervollen Kopf dann meiner Mutter zu. »Aber warum hast du sie so lange am Leben ge 12
lassen, dass sie sich selbst Wölfe nennen können? Du hättest wissen müssen, dass sie nicht am Leben bleiben dürfen. Du hättest sie töten sollen, nachdem du sie zur Welt gebracht hattest.« »Ich wollte, dass sie zum Rudel gehören. Ich dachte, sie könnten wichtig werden.« Die Stimme meiner Mutter klang leise und ängstlich. »Ich habe geträumt, sie würden unser Volk retten. In manchen Träumen hinderten sie die Beute daran, das Tal zu verlassen. In anderen Träumen verjagten sie die Menschen. Immer retteten sie uns. Seht ihr nicht, wie furchtlos sie ist?« Ich stand wieder auf und bemühte mich, das Zittern in meinen Beinen zu unterdrücken, bemühte mich, wie ein Wolf zu wirken, der es wert war, zum Rudel zu gehören. »Fürstliche Wölfe, meine Schwester hätte immer gerne eine bedeutendere Rolle im Rudel gespielt«, erklärte Rissa. »Manchmal haben uns ihre Träume zu einer guten Jagd geführt, aber sie hat immer schon Junge gewollt.«
»Das macht keinen Unterschied«, sagte Jandru plötzlich. »Das Junge trägt Blut von draußen in sich und kann nicht länger leben. Tu, was du zu tun hast, Ruuqo.« Jandru wandte sich ab und trat dabei beinahe auf mich, also knurrte ich ihn ebenfalls an und zeigte ihm meine Zähne. »Es tut mir leid, Milchzahn«, sagte er. »Ich würde dich retten, doch ich kann das Abkommen nicht brechen. Mögest du einst zurückkehren in das Große Tal.« Ich fühlte die Ungerechtigkeit in seinen Worten wie den kalten, feuchten Wind, der manchmal in den Bau meiner Mutter geweht war. Wie konnte ein so mächtiges Wesen nicht das tun, was es zu tun wünschte ? Ich begann, mich wieder auf der Lichtung umzusehen, suchte nach einem Platz, an 13
dem ich mich verstecken könnte. Ich drehte mich um und wollte weglaufen. Frandra stellte sich über mich, brachte ihren eigenen Körper zwischen meinen und Ruuqos scharfe Zähne. Sie knurrte. »Ich werde es nicht zulassen, dass du dieses Junge tötest«, erklärte sie. »Dann hat es das eben bisher noch nie gegeben ! Die Dinge ändern sich, Gefährte, und wir müssen uns mit ihnen verändern. Die Menschen nehmen sich mehr Beute als je zuvor, und mit jedem Tag wird es schwieriger, sie zurückzuhalten. Das Gleichgewicht ist bereits gestört, und wir können nicht einfach länger so tun, als sei nichts geschehen. Wir müssen uns ebenfalls verändern, jetzt verändern.« Die Höchste Wölfin blickte auf mich herab. »Wenn sie auch etwas von draußen in sich trägt, dann sei es so. Dieses unbändige Junge leben zu lassen kann Folgen haben, doch das kann genauso gut unsere Hoffnung sein. Der Wille zum Leben ist zu stark, als dass wir ihn missachten sollten. Wir müssen auf die Botschaften hören, die uns die Ahnen senden.« »Frandra«, setzte Jandru an. »Hast du verlernt, deine Nase und deine Ohren zu gebrauchen, Jandru?«, fuhr sie ihn an. »Du weißt, dass uns kaum noch Zeit bleibt. Und wir sind dabei zu scheitern.« »Ich werde das Risiko nicht eingehen«, erklärte er. »Wir haben diese Ausnahme nicht gestattet, und wir können uns nicht gegen den Rat der Höchsten Wölfe stellen. Das ist meine Entscheidung.«' »Du entscheidest hier nicht allein.« Frandra hielt seinem Blick stand. »Möchtest du gegen mich kämpfen? Kämpfe gegen mich, wenn du es wagst.« 13
Jandru war für einen winzigen Augenblick wie zu Tode erstarrt. Frandra begann wieder zu sprechen. »Sieh auf ihre Brust, Gefährte«, flüsterte sie so leise und eindringlich, dass nur Jandru, meine Mutter und ich sie hören konnten. »Sie trägt das Zeichen des Mondes, das Zeichen des Gleichgewichts. Der Rat der Höchsten Wölfe ist stur, und sie erkennen die Dinge nicht immer als das, was sie wahrhaftig sind. Was nun, wenn sie diejenige ist? Vielleicht haben die Vorfahren sie für uns erwählt?« »Ich habe sie Kaala genannt, Tochter des Mondes«, sagte meine Mutter. Jandru sah mich lange an. Er drehte mich auf den Rücken, um die Mondsichel auf meiner Brust besser sehen zu können. Wie er mich so mit seiner Pfote hielt, die fast
ebenso groß war wie mein ganzer Körper, versuchte ich, in meinen Gedanken etwas zu finden, irgendetwas, womit ich ihn überzeugen konnte, dass ich es wert war, am Leben gelassen zu werden. Doch ich konnte nur in seine merkwürdigen Augen blicken, während er über mein Schicksal entschied. Endlich trat er von mir zurück und verbeugte sich vor Frandra. »Gib ihr eine Chance«, sagte er zu Ruuqo. »Wenn das ein Fehler ist, werden die Höchsten Wölfe die Verantwortung auf sich nehmen.« »Aber, Fürstliche Wölfe«, begann Ruuqo. »Du wirst dieses Junge nicht töten, Wolf.« Frandra erhob sich über ihm. »Die Höchsten Wölfe entscheiden über die Gesetze des Tales, und wir können Ausnahmen zulassen, wenn wir es so wollen. Wir haben gute Gründe, dieses Junge zu verschonen.« Als Ruuqo wieder ansetzen wollte zu sprechen, knurrte die Höchste Wölfin, setzte ihre beiden Vorderpfoten auf seinen 14
Rücken und zwang ihn zu Boden. Als sie ihn schließlich losließ, kam er wieder auf seine Füße und neigte seinen Kopf in Ergebenheit, doch in seinen Augen glühte der Widerspruch. Frandra beachtete seinen Groll nicht. »Viel Glück, Kaala Milchzahn.« Frandra öffnete ihre enormen Kiefer zu einem breiten Lächeln, während sie Jandru zur Seite schob und in den Wald trottete. »Wir werden uns sicher wiedersehen.« Jandru folgte ihr nach. Als die Höchsten Wölfe die Lichtung verließen, eilte meine Mutter an meine Seite. »Hör zu, Kaala«, flüsterte sie mir eindringlich zu. »Hör genau zu. Ruuqo wird mich nicht beim Rudel bleiben lassen. Da bin ich mir ganz sicher. Doch du musst bleiben, und du musst überleben. Du musst tun, was immer du tun kannst, um zu überleben und um ein Mitglied des Rudels zu werden. Dann, wenn du erwachsen und ins Rudel aufgenommen worden bist, musst du kommen und mich finden. Es gibt Dinge über deinen Vater und über mich, die du wissen musst. Versprichst du mir das?« Ihre Augen blickten in meine, und ich konnte ihr das Versprechen nicht abschlagen. »Ich verspreche es«, flüsterte ich. »Aber ich will mit dir gehen.« »Nein«, sagte sie. Sie rieb mit dem weichen Fell ihrer Lefzen mein Gesicht. Ich atmete ihren Duft ein. »Du musst bleiben und Mitglied des Rudels werden. Du hast es versprochen.« Ich wollte sie fragen, warum. Ich wollte fragen, wie ich sie finden würde, doch ich bekam keine Gelegenheit mehr dazu. Sobald die Höchsten Wölfe außerhalb der Hörweite waren, stürzte sich Ruuqo auf meine Mutter und biss sie so heftig in 14
den Nacken, bis sie blutete und zu jaulen begann. Er warf sie zu Boden, und im Fallen gelang es ihr noch, mich mit der Hüfte aus dem Weg zu schubsen. Ich stolperte rückwärts und landete auf meinem Rücken. Mühsam krabbelte ich auf meine Füße. »Du hast Aufruhr in unser Rudel gebracht, meinen Kindern und mir«, knurrte Ruuqo, »und du hast das Rudel vom Schnellen Fluss gezwungen, das Gleichgewicht zu stören.«
Normalerweise verletzen Wölfe einander nicht, wenn sie kämpfen, denn die meisten Wölfe kennen ihren Platz im Rudel und vermeiden Auseinandersetzungen. Doch Ruuqo konnte seinen Arger nicht an mir auslassen, und noch weniger konnte er gegen die Höchsten Wölfe kämpfen. Also wandte er sich gegen meine Mutter. Sie versuchte zurückzuschlagen, doch als Minn, ein einjähriges Männchen, und das große, narbengesichtige Weibchen sie ebenfalls angriffen, winselte sie und kroch an den Rand der Lichtung. Als sie versuchte, zum Rest des Rudels zurückzugelangen, griffen die beiden sie wieder an und schlugen sie in die Flucht. Ich wollte zu meiner Mutter laufen, wollte ihr helfen, doch mein Mut hatte mich verlassen, und ich konnte nur ängstlich beobachten, was geschah. Rissa nahm Reel, den Welpen, der ihr am nächsten war, in ihre Schnauze und lief zurück in ihren Bau. »Lass mich lang genug bleiben, um sie zu entwöhnen, Bruder«, bat meine Mutter verzweifelt. »Dann werde ich gehen.« »Du wirst jetzt gehen«, antwortete er. »Du gehörst nicht länger zum Rudel.« Er trieb sie zum Rand der Lichtung und jedes Mal, wenn sie versuchte zurückzukommen, griffen er und die anderen beiden Wölfe sie wieder an. Schließlich 15
sprang sie in den Wald, blutend und winselnd, die drei Angreifer jagten ihr hinterher. Als er zurückkam, stieß Ruuqo ein herrisches Bellen aus, und er sowie alle anderen ausgewachsenen Wölfe außer Rissa verließen die Lichtung. Es blieben nur noch wenige Stunden, bis die sengende Sonne die Jagd unmöglich machen würde, und Ruuqo hatte ein Rudel zu ernähren. Ich wollte meiner Mutter in den Wald folgen, doch mein Körper und meine Seele waren erschöpft, und ich sank auf den harten Boden, frierend selbst in der warmen Morgensonne. Zwei von Rissas größeren Welpen, Unnan und Borlla, stolzierten herüber zu meinem Platz und musterten mich von oben bis unten. Borlla, die größere von den beiden, stieß mich mit ihrer Schnauze schmerzhaft zwischen die Rippen. »Sieht nicht so aus, als würde es lange überleben«, sagte sie zu Unnan. »Sieht mir nach Bärenfutter aus«, antwortete er. »Hey, Bärenfutter«, rief Borlla, »bleib nur von unserer Milch weg.« »Oder wir bringen zu Ende, was Ruuqo begonnen hat.« Unnans bösartige kleine Augen blitzten mich voller Verachtung an. Die zwei Welpen trotteten zurück zum Eingang der Höhle, in die sich Rissa bereits verzogen hatte. Auf ihrem Weg dorthin trat Borlla beiläufig nach dem kleinsten Jungen des Wurfs, dem räudigen männlichen Welpen, der keinen Namen bekommen hatte. Unnan knurrte Marra an, das andere kleine Junge, und stieß sie in den Schmutz. Zufrieden erhoben sie ihre Schwänze und stolzierten in den Bau. Einen Augenblick später erhob sich Marra und folgte ihnen, doch 15
der kleinste Welpe blieb zusammengekrümmt liegen, wo er hingefallen war. Ich blieb allein auf der Lichtung zurück, wartete den ganzen Tag auf meine Mutter, selbst als die Sonne heiß und sengend wurde. Ich dachte, wenn ich nur lange genug
warten würde, käme meine Mutter zurück zu mir, nähme mich mit in ihre Verbannung. Meine Mutter kam den ganzen langen Rest des Tages nicht zurück und auch nicht während der Nacht, obwohl ich gewartet hatte, bis das Rudel für sein Nachmittagsschläfchen zurückkehrt und dann wieder zur Abendjagd aufgebrochen war, bis die schrecklichen Rufe der unbekannten Geschöpfe um mich herum mich abermals um mein Leben hatten fürchten lassen. Noch immer kam sie nicht zurück. Ich war am Leben, aber ich war allein und hatte Angst, und ich wurde verachtet von dem Rudel, das sich um mich hätte kümmern sollen. 16
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Ich kehrte nicht in den Bau meiner Mutter zurück, denn er roch nach meinen toten Geschwistern und bedeutete nichts als Einsamkeit. Doch was ich roch, waren Milch und warme Körper, und ich hörte die unverkennbaren Geräusche des Säugens. Hunger drang durch die taube Starre, die mich im Staub hatte kauern lassen. Ein Teil von mir fragte sich, wie ich überhaupt an Nahrung denken konnte, wo doch meine Mutter für immer verschwunden war, aber ich konnte ebenso wenig Sinn darin erkennen, mich gegen Ruuqo aufgelehnt zu haben, wenn ich jetzt ein paar Wolfslängen von Rissas warmer Milch entfernt verhungern würde. Ich hatte keine Ahnung, ob sie mich säugen würde, aber ich war das Junge ihrer Schwester und war also mit ihr eng verwandt. Ich musste es versuchen. Ich hatte Borllas und Unnans Drohungen nicht vergessen, doch das Gefühl des Hungers war stärker als meine Furcht. Ich wandte den toten Körpern meiner Geschwister den Rücken zu und kroch in die Richtung der 16
guten Gerüche und Geräusche, die aus Rissas Bau kamen. Ich hielt an, als ich das räudige Junge erblickte, das unglücklich am Rand der Höhle kauerte. »Du wirst verhungern, wenn du hier draußen bleibst.« Er blickte zu mir auf, als ich mit ihm sprach, antwortete aber nicht. Er trug über seinem rechten Auge eine Wunde, wo Borlla ihn verletzt hatte, und sein stumpfes, hellgraues Fell ließ ihn kleiner aussehen, als er eigentlich war. Seine Augen aber glänzten leuchtend silbern. Es waren diese ungewöhnlichen Augen, denen von Triell so ähnlich, die mich auf dem Weg zu meinem eigenen Mahl innehalten ließen und dafür sorgten, dass ich auf ihn aufmerksam wurde. »Kleiner Wolf«, sagte ich und gebrauchte damit den Kosenamen, den meine Mutter uns immer gegeben hatte, »wenn du zulässt, dass sie dich umherschubsen, wirst du auf ewig ein Ringelschwanz bleiben.« Viele Rudel haben einen solchen Ringelschwanz, einen Wolf, der ständig den Schwanz einzieht, auf dem herumgehackt wird, der nur wenig zu fressen bekommt und der sich immer am Rand des Rudels aufhält. Aber von diesem winzigen Welpen nahm ich nicht einmal an, dass er lange genug am Leben bleiben würde, um ein Ringelschwanz und Schwanz-Einzieher zu werden - wenn er nicht bald etwas zu fressen bekam und in die warme Sicherheit des Baus kriechen konnte.
Er schlang seinen dürren Schwanz um seine Läufe und schaute hinunter auf die ebenso dürren Grashalme, die im Staub wuchsen. Missmut verdüsterte seine leuchtenden Augen. »Das kannst du so einfach sagen, mit den Höchsten Wölfen auf deiner Seite. Die wollen ja alle, dass ich sterbe. Deshalb haben sie mir nicht mal einen Namen gegeben.« Ungeduldig wandte ich mich ab. Ich hatte keine Zeit zu 17
verschwenden mit einem Welpen, der nicht einmal leben wollte. Mein Bruder Triell hätte alles gegeben für die Chance zu überleben, und er hätte nicht gewinselt und vor Furcht gezittert. Ein Rudel hatte keinen Platz für einen solchen Wolf. Ich steckte meine Nase in den Bau und hörte Rissa sprechen. »Kommt, Welpen«, sagte sie. »Kommt, trinkt und ruht euch aus.« Mir wurde leichter ums Herz, und ich begann in die Höhle zu klettern. Doch dann fiel mein Blick wieder auf das Winzjunge, und ich musste innehalten. Die Erinnerung an das Gefühl des Allein- und Unwillkommenseins überkam mich. Ich konnte ihn nicht dem Verhungern überlassen. Ich krabbelte rückwärts wieder hinaus aus dem Bau, und ohne weitere Worte zu verlieren, schob und schubste ich ihn von hinten, sodass er in den Bau purzelte. Er rollte mit einem überraschten Winseln nach vorne, und ich kroch hinter ihm her. Rissas Bau war größer als der meiner Mutter, die festen Lehmwände wurden von den Wurzeln einer mächtigen Eiche gehalten, die sich über die ganze Höhle zogen. Der Bau war aber immer noch eng genug, um sich klein und sicher zu fühlen. Die vier Welpen tranken heftig an Rissas Bauch. Als das Winzjunge und ich näher krochen, sah Unnan mit einem Auge nach uns und knurrte. Das Winzjunge neben mir zitterte und zog sich zurück. Mein Herz schmerzte von dem Verlust meiner Geschwister und meiner Mutter, und ich war böse darüber, wie das gesamte Rudel mich behandelt hatte. Ich spürte, wie mein Körper sich erhitzte und anspannte und wie mein Fell sich sträubte, als ich auf Unnan und Borlla blickte, die so zufrieden nebeneinander saugten und alles futterneidisch für sich 17
behalten wollten. Ich schubste Unnan beiseite und schuf so Platz für mich und das Winzjunge. Ich dachte keinen Augenblick über die Konsequenzen nach, die es haben könnte, sich Unnan zum Feind zu machen. Ich war einfach wütend. Als das Winzjunge zögerte, schnappte ich es am weichen Fell seines Nackens und zerrte es zu einem Futterplatz. »Trink«, befahl ich ihm. Unnan belästigte mich, während ich zu saugen versuchte, und Borila knurrte, doch ich kümmerte mich nicht um sie, drängte mich zu Rissas warmer, Leben spendender Milch. Das Winzjunge kuschelte sich zwischen mich und Marra, das freundlichste von Rissas Jungen. Satt und warm schliefen wir alle an Rissas starkem Körper ein. Am nächsten Morgen versuchten Unnan und Borila mich endgültig loszuwerden. Rissa, die ihr langes Eingeschlossensein leid war, überließ uns den zwei einjährigen Wölfen des Rudels und machte sich mit Ruuqo zur morgendlichen Jagd auf. Vorjährige Jungwölfe sind oft die Bewacher der Welpen, wenn die Erwachsenen fort sind. Minn, der geholfen hatte, meine Mutter zu verjagen, war ein brutaler Kerl
und zeigte keinerlei Interesse daran, uns zu hüten, aber er hatte Angst vor seiner Schwester Yllin, und sie nahm ihre Verantwortung ernst. Sie spielten wüst mit uns, und ich mochte es, wie sie knurrten und so taten, als würden sie mit uns kämpfen. Als es ihnen zu viel wurde, uns auf ihnen herumtollen und in ihre Schwänze beißen zu lassen, beobachteten sie uns von einem schattigen Platz aus, während wir miteinander tobten. Während sie langsam eindösten, spielte ich mit Marra und dem Winzjungen. Es war fast so klein wie ich selbst, obwohl es zwei Wochen älter war als ich, und es hatte nicht die körperlichen Kräfte eines Wolfes, der um jeden Preis überleben 18 wollte. Wenn ich jedoch tiefer in seine silbernen Augen blickte, konnte ich nicht mehr den hoffnungslosen, ängstlichen Blick darin erkennen, den ein dem Tod ergebenes Junges hat. Es war lebhaft und munter, selbst mit zu wenig Nahrung in seinem Bäuchlein und trotz der Nachstellungen von Borlla und Unnan. Überrascht und froh über sein verändertes Wesen, sprang ich es an, und es juchzte fröhlich, als wir uns im Staub wälzten. Weil es dunkles Fell wie Triell besaß und auch kaum größer war als mein verstorbener Bruder, hatte ich das Gefühl, ich würde das Winzjunge schon sehr lange kennen. Zwischen unseren Raufereien stupste ich es zärtlich mit der Nase in die Wange. Außer sich vor Freude stieß es seine kalte Nase heftig in mein Gesicht, sodass ich umfiel. Ich landete mit einem entwürdigenden Plumps in einer aufwirbelnden Staubwolke. Zuerst blickte es erschrocken und entschuldigend drein, doch dann sprang es mich an, und wir tobten ausgelassen. Mit einem Juchzer kam Marra zu unserem Spiel dazu. Die anderen drei Welpen kümmerten sich zuerst nicht um uns. Borlla war rundlich, matt behaart, und sie roch nach der Milch, die sie vor uns allen bekam. Ihr Fell hatte nicht das helle, reine Weiß von Rissas Haar, sondern besaß einen dunkleren, schmutzigen Farbton. Unnan war dreckig graubraun und hatte eine schmale Schnauze und kleine Augen, die ihn mehr wie ein Wiesel denn wie ein Wolf ausschauen ließen. Reel, obwohl er größer als Marra und das Winzjunge war, war dennoch kleiner als Borlla und Unnan, und er musste sich anstrengen, um mit den größeren Welpen mitzuhalten, wenn sie miteinander in einem heftigeren Spiel kämpften. Ich spielte und tobte mit Marra und dem Winzjungen, bis ich endlich zu müde wurde und mich unter einen stacheligen Hex 18
legte, um ein wenig auszuruhen, während Marra das Winzjunge um die Eiche jagte. Ich schloss meine Augen und wurde schläfrig von der warmen Sonne und von der glücklichen Erschöpfung nach dem Spiel mit den anderen Welpen. Ich hörte die Angreifer einen kurzen Augenblick, bevor sie mich überfielen, und sprang auf meine Pfoten. Unnan, Reel und Borlla sprangen mich alle drei gleichzeitig an und warfen mich flach auf den Rücken. Ich war auf den Ansturm nicht vorbereitet, und sie hatten mich sofort zu Boden geworfen und angefangen zu beißen. Für Yllin und Minn, die verschlafen aus ihrem schattigen Winkel herübersahen, musste es wie Spiel ausgesehen haben. Aber die Welpen spielten nicht. Ihre Zähne bissen tief in mich hinein, und sie versuchten, mir den Atem zu nehmen, indem sie auf meinen Brustkorb drückten.
»Ruuqo war zu schwach, um dich zu töten, aber wir bringen es zu Ende«, knurrte Unnan. »Es gibt für dich keinen Platz in unserem Rudel«, flüsterte Borlla, während sie versuchte, mir in den Hals zu beißen. Reel sagte nichts, während er versuchte, mich am Bauch zu reißen. Ich knurrte und biss und fletschte die Zähne und kämpfte gegen sie, so gut ich konnte, aber sie waren zu dritt, und ich war allein, und ich wusste, dass selbst wenn sie mich nicht töten würden, sie mir doch ernsthafte Verletzungen zufügen konnten, die mich am Ende zu sehr schwächen würden, um überleben zu können. Gerade als meine Kräfte zu schwinden begannen, riss etwas Unnan und Borlla von mir hinunter. Ich biss Reel in die Schulter und sprang auf die Pfoten. Das Winzjunge war mir zu Hilfe gekommen und hatte seine beiden Geschwister dermaßen überrascht, dass sie unglücklich zu Boden gestürzt wa 19
ren. Jetzt hielt Unnan es auf dem Boden fest, während Borlla sich daran machte, seine Kehle zu zerreißen. Ich sprang über Borlla und landete auf Unnan, rollte ihn von dem Winzjungen hinunter und biss in sein hässliches Fell. Er schmeckte nach Schmutz. Borlla brach ihren Angriff auf das Winzjunge ab und kam Unnan zu Hilfe. Zusammen hielten sie mich am Boden fest. »Dein Vater war eine Hyäne«, spottete Borlla über mir stehend. »Und deine Mutter eine Verräterin und ein Schwächling.« »Deshalb hat sie dich verlassen«, fügte Unnan hinzu und zeigte seine Zähne. Beide Welpen knurrten und fletschten ihre Zähne in der Erwartung, dass ich mich von ihrem größeren Wuchs und ihrer größeren Kraft beeindruckt zeigen würde. Aber ich war schon zornig gewesen, als sie das Winzjunge angegriffen hatten. Ihre Beleidigungen meiner Mutter machten mich nur noch wütender. Wie können sie es wagen? Eine Stimme in meinem Kopf tönte so laut, dass sämtliche Geräusche auf der Lichtung ausgeblendet wurden. Der Geruch von Blut in meiner Nase überdeckte alle die Düfte von Eiche und Fichte und Wolf. Töte sie. Sie sind nicht würdig, Wolf genannt zu werden. Zum zweiten Mal erfasste mich der Zorn, wie der Wind ein Blatt ergreift, und ich schüttelte beide Welpen ab. Ich hätte sie beide getötet, ich wusste, dass ich dazu fähig gewesen wäre, doch Reel hatte das Winzjunge gefangen, und ich musste zu ihm. Als ich Reel von ihm hinunterwarf, stellte sich das Winzjunge neben mich, und zusammen standen wir knurrend den drei anderen gegenüber. Ich sah, wie Marra zu unseren Welpenbewachern lief, um Hilfe zu holen. Ich roch den 19
Hass in Unnan und Borlla und die Angst in Reel. Ich konnte sehen, wie das Winzjunge mich aus einem Augenwinkel beobachtete und entdeckte so etwas wie Bewunderung in seinem Blick. Mein linker Hinterlauf blutete aus einer tiefen Wunde, die ich während des Kampfes gar nicht bemerkt hatte, und ich fühlte, wie mein Bein immer schwächer wurde. Das Winzjunge hielt seine rechte Vorderpfote hoch, als ob sie ihn schmerzte. Ich sah über die Köpfe unserer Gegner hinweg, wie Yllin über die Lichtung sprintete, gefolgt von einem wütenden Ruuqo. Die anderen Jungen folgten meinem Blick, und Borlla, Unnan und Reel drehten sich um, um Ruuqo entgegenzusehen,
und warfen sich auf ihre Bäuche. Das Rudel war früh von einer erfolglosen Jagd heimgekehrt. Als sie näher kamen, hörte ich Yllin mit leiser Stimme sprechen. »Es tut mir leid, Leitwolf«, sagte sie, die Ohren tiefgestellt. »Sie haben gespielt, und dann haben die großen Welpen angegriffen. Die kleinen Jungen haben nur gekämpft, um sich zu verteidigen.« Sie hielt einen Moment inne, wagte es dann aber weiter zu sprechen, was mir sehr mutig erschien, denn Ruuqo hätte ziemlich böse mit ihr werden können, dafür, dass sie den Kampf so hatte ausarten lassen. »Sie haben gut gekämpft.« Ruuqo stellte seine Ohren auf, aber er zog sie nicht zur Verantwortung. Ich konnte sehen, dass er Yllin mochte. Er ließ ihr viel mehr durchgehen, als er es bei einem anderen jungen Wolf getan hätte. Seine Augen blickten auf uns. »Kein Wolf verletzt einen anderen aus dem Rudel ernsthaft oder tötet ihn ohne Grund«, erklärte er. »Wenn ihr das nicht lernt, könnt ihr nicht zum Rudel gehören. Alle Wölfe vom Schnellen Fluss kennen den Unterschied zwischen 20
Kämpfen, um die Kräfte zu messen, und Kämpfen, um zu töten.« Er wandte sich an den geduckten Reel. »Was ist der Unterschied, Welpe?« Reel drehte sich hilfesuchend nach Borlla und Unnan um, und Ruuqo versetzte ihm einen Hieb. »Ich habe nicht deine Geschwister gefragt, sondern dich. Nun?« Ree! antwortete nicht, warf sich nur auf den Rücken und winselte. »Yllin«, befahl Ruuqo, »erkläre bitte den Unterschied.« Yllins Ohren und Schwanz hoben sich. »Kräftemessen ist das Kämpfen, das ein Wolf tun muss, um seinen oder ihren Platz im Rudel zu finden, oder der Kampf, den ein Leitwolf führen muss, um Mitglieder des Rudels zu bestrafen, damit die Ordnung aufrechterhalten bleibt. Und dabei verletzt du den anderen nur so weit, wie es unbedingt nötig ist«, erklärte sie. »In einem Kampf auf Leben und Tod versuchst du, den Gegner zu verletzen oder zu töten. Du kämpfst nur auf Leben und Tod, wenn dir keine andere Wahl bleibt.« Ruuqo kläffte als Bestätigung. »Alle Wölfe müssen wissen, wie man kämpft, sonst werden sie ihren Platz im Rudel nicht finden«, fuhr er fort. »Doch nur die Leitwölfe dürfen töten oder anderen befehlen, ein Mitglied des Rudels zu töten. Und wir Wölfe vom Schnellen Fluss werden keinen anderen Wolf töten, es sei denn, wir werden von einem gegnerischen Rudel angegriffen, oder das Leben des Rudels ist in Gefahr.« Ruuqo schlug Reel noch einmal, als er versuchte sich zu erheben. Unnan und Borlla waren klug genug, um liegen zu bleiben. Dann wandte er sich mir und dem Winzjungen zu. Wir kauerten uns nieder und erwarteten seinen Stoß. Er be 20
schnüffelte das Winzjunge zärtlich. Mich schaute er nicht einmal an. »Wolf zu sein«, erklärte er, »bedeutet mehr, als die Kraft zu besitzen, einen Kampf zu gewinnen, oder die Schnelligkeit, um Beute zu fangen.« Er sprach laut genug, sodass das gesamte Rudel ihn hören konnte, doch seine Worte waren eindeutig an die Welpen gerichtet, die er zurechtgewiesen hatte. »Größe und Stärke und Schnelligkeit sind alles Eigenschaften, die einen Wolf, der zum Rudel gehört, auszeichnen. Doch Mut und Ehrgefühl sind ebenso wichtig. Das Wohl des Rudels
steht an erster Stelle, und jeder Wolf muss dem Rudel nützen, so gut er kann.« Er sprach jetzt Borlla, Unnan und Reel direkt an. »Wölfe, die nicht lernen können, sind im Rudel vom Schnellen Fluss nicht willkommen.« Ich weiß, dass es gar nicht nett von mir war, aber ich muss zugeben, dass mir das Zittern und Winseln von Borlla und Reel gefiel, und besonders das von Unnan, der sich so tief auf den Boden gekauert hatte, dass man glauben konnte, er werde vom Erdboden verschluckt. Doch was Ruuqo als Nächstes tat, überraschte mich. Normalerweise, wenn ein Junges keinen Namen erhalten hat, wird mindestens drei Monde lang gewartet, bevor es doch in das Rudel aufgenommen wird, und dann sicherlich auf einem niederen Rang. Ruuqo wandte sich an das Winzjunge und sprach sanft. »Du hast Mut, Ehrgefühl und Unerschrockenheit bewiesen, alles Eigenschaften eines wahren Wolfes. Und ich heiße dich im Rudel vom Schnellen Fluss willkommen.« Er nahm die Schnauze des Winzjungen zwischen seine Kiefer. Rissa trat eifrig nach vorne, ihre Rute hoch erhoben, ihr weißes Fell leuchtete in der Sonne, und sie sprach, bevor Ruuqo fortfahren konnte. 21
»Wir nennen dich Ázzuen, der Name eines Kriegers, der Name meines Vaters«, sagte sie. »Trage deinen Namen mit Würde, sodass das Rudel vom Schnellen Fluss stolz auf dich sein kann.« Und so beiläufig wurde das Winzjunge Teil des Rudels. Es geschah so schnell, dass ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich nun froh für ihn sein sollte oder eifersüchtig um meinetwillen - meine Mutter hatte mir zwar einen Namen gegeben, aber niemand würde mich bei diesem Namen nennen. Ich hatte tapferer gekämpft als Ázzuen, doch Ruuqo hatte mich übergangen, würde meinen Mut nie anerkennen. Für einen Augenblick, muss ich gestehen, wollte ich Ázzuen beim Nackenfell nehmen und schütteln. Aber als er dann zurück zum Bau schritt, wackelte seine kleine Rute vor Stolz so verführerisch hin und her, dass ich nicht widerstehen konnte. Ich fühlte meine schlechten Gedanken in mir versiegen, und ich schlich mich von hinten an ihn heran, sprang und kniff ihn spielerisch in den Schwanz. Er wandte sich überrascht um, ich grinste ihn an und lief in Rissas Bau. Mit einem lauten Bellen, das man diesem winzigen Welpen gar nicht zugetraut hätte, sprang er mir nach, hinein in die nach Milch duftende Erde. Ich konnte Triell nicht zurückholen, aber in Ázzuen hatte ich wieder einen Bruder gefunden. ♦
Ruuqo konnte zwar den Höchsten Wölfen nicht zuwiderhandeln und mich einfach umbringen, aber er wollte meinen Namen nicht anerkennen und machte mir das Überleben nicht leicht. Das erste Mal, dass wir Welpen außerhalb der Höhle gefüttert wurden, stand er drohend über Rissa, trat zur Seite, 21
um die anderen Welpen vorbeizulassen, damit sie zu ihrem Futter konnten, knurrte aber und fletschte die Zähne, als ich einen Versuch machte. Ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, um mich an ihm vorbeizuschlängeln und zu meinem Futter zu gelangen. Jedes Mal, wenn er mich sah, knurrte er. Obwohl sie es nicht mehr wagten, mich töten zu wollen, folgten Unnan und Borlla Ruuqos Beispiel und griffen mich an, wann immer sie nur konnten.
Drei Nächte nachdem die Höchsten Wölfe eingegriffen hatten, um mein Leben zu retten, heulte Ruuqo laut, um das Rudel zu versammeln, und befahl ihm, sich bereit zu machen für den Aufbruch am nächsten Morgen. »Ruuqol« Nicht weit vom Bau, wo sie gelegen hatte, hob Rissa verärgert ihren Kopf. »Keines der Jungen ist schon alt genug für die Reise.« »Was für eine Reise?«, fragte Reel Borlla. »Die Reise zu unserem Sommerplatz«, antwortete Yllin, das junge Weibchen, das sich für uns nach dem Kampf eingesetzt hatte. Sie stand neben uns im Schatten der großen Eiche, die sich über den Höhlenplatz streckte. »Es ist unser bester Sammelplatz. Dort seid ihr sicher, während wir jagen und das Futter zu euch bringen. Der Höhlenplatz ist zu klein und zu warm, um dort den ganzen Sommer zu verbringen.« »Ist das weit?«, fragte ich. »Für einen Welpen ist es weit. Die meisten Rudel haben ihre Sammelplätze für den Sommer in der Nähe der Höhlenplätze. Doch unser alter Platz mit seinem Bau für die Jungen wurde im vorletzten Winter überflutet, also müssen wir sehr viel weiter reisen.« Sie runzelte die Stirn. »Letztes Jahr hat Ruuqo gewartet, bis wir acht Wochen alt waren, um uns zum 22
neuen Platz zu bringen. Ich habe keine Ahnung, was er jetzt damit bezweckt.« Rissa kniff ihre Augen zusammen und beobachtete Ruuqo, wie er unruhig auf der Lichtung hin und her lief. »Du willst dich an den Höchsten Wölfen rächen«, warf sie ihm vor. »Du willst, dass das Junge stirbt.« Keiner von uns musste fragen, welches Junge gemeint war. Sie stand auf und ging hinüber zu Ruuqo, legte ihre Schnauze an seine Wange. »Die Entscheidung ist für dich getroffen worden, Gefährte. Du kannst dich Jandru und Frandra nicht widersetzen.« »Nein«, sagte er, »das kann ich nicht. Aber ich kann die Geister der Ahnen genauso wenig verärgern. Du weißt, dass die Wölfe des Großen Tales ihre Abstammung rein halten müssen, oder sie werden die Folgen zu spüren bekommen. Wenn wir ihr gestatten weiterzuleben, könnten die Ahnen Dürre schicken oder eine Kälte, die alle Beute tötet, oder eine Seuche. Das ist alles schon einmal geschehen. Die Weissagungen verkünden es.« Er schüttelte widerwillig seinen Kopf. »Und wo werden Frandra und Jandru dann sein, wenn die anderen Höchsten Wölfe sie sehen und ihnen nicht gefällt, was sie ist? Oder die anderen Rudel im Tal? Die Höchsten Wölfen müssen nicht mit den Folgen ihrer Entscheidungen leben wie wir, und dennoch können sie uns zu Handlungen zwingen, die unseren Untergang bedeuten. Ich werde mein Rudel nicht dafür leiden lassen.« Werrna, das Weibchen mit der Narbe, das als Nächstes im Rang hinter Ruuqo und Rissa stand, erhob ihre Stimme. »Die Wölfe vom Felsgipfel haben die Wölfe vom Feuchten Wald ausgelöscht - während ein Paar der Höchsten Wölfe zusah -, weil sie einen Wurf mit fremdem Blut am Leben ließen. Und wir können es nicht mal verstecken«, meinte sie, 22
mit einem Blick auf mich. »Sie trägt das Zeichen des Unglücks. Sie könnte unserem Rudel den Tod bringen.«
Rissa achtete nicht auf Werrna. »Dann werde ich die kleineren Welpen tragen, wenn sie es nicht über die Ebene schaffen.« »Kein Welpe wird getragen. Kein Junges, das die Reise nicht schafft, ist es wert ein Wolf vom Schnellen Fluss zu sein«, antwortete Ruuqo. »Wenn der Wolf des Mondes es bestimmt hat, dass sie überlebt, so sei es. Aber ich werde nur starke Wölfe in mein Rudel aufnehmen.« »Ich werde es nicht zulassen, dass dein Stolz meine Welpen in Gefahr bringt«, fuhr Rissa ihn an. »Es ist nicht mein Stolz, Rissa, es ist unser Überleben. Und wir werden aufbrechen, sobald die Sonne aufgeht.« Ruuqo sprach fast nie in einem herrischen Ton mit Rissa, machte ihr fast nie Vorschriften. Doch wenn er es tat, dann stellte er eindeutig klar, dass er der Leitwolf war. Rissa war mehrere Pfund leichter als er und geschwächt vom Säugen der Jungen. Würde sie ihn herausfordern, wäre sie eindeutig unterlegen. Seine Stimme wurde sanfter. »Wir haben seit unserer Jugend gewusst, dass wir das Abkommen einhalten müssen, Rissa. Und wir haben uns dem Gesetz beide schon einmal gebeugt.« Ich hatte zuvor noch nie Traurigkeit in seiner Stimme vernommen und fragte mich, was sie wohl verursacht haben musste. Rissa blickte ihn lange an und schritt schließlich von dannen. Mit angelegten Ohren und gesenkter Rute sah Ruuqo ihr nach. 23
Früh am nächsten Morgen machte sich das Rudel bereit. Rissa weigerte sich, an dem Ritual zum Aufbruch teilzunehmen, und stand abseits, als sich der Rest des Rudels um Ruuqo versammelte, jeder ihn berührte und laut für eine gute Reise heulte. Ich sah begeistert zu, wie die erwachsenen Wölfe sich um Ruuqo drehten, mit ihrer Nase sein Gesicht und seinen Nacken berührten. Er wiederum legte seinen Kopf auf Schultern und Hälse und leckte die emporgereckten Gesichter. »Willst du nicht zu uns kommen, Rissa?«, fragte er. »Eine gute Abschiedsfeier bringt eine gute Reise.« »Sorgfältige Planung bringt eine gute Reise«, antwortete sie bissig. »Ich werde diesen Aufbruch nicht feiern.« Ruuqo sagte weiter nichts mehr zu ihr, sondern erhob seine Stimme zu einem wundervollen Heulen. Einer nach dem anderen fielen die übrigen Wölfe ein und sangen zum Himmel. Die Reise begann. Wir gingen fort von dem Höhlenplatz und der alten Eiche, kletterten die Anhöhe hinauf, die den Bau schützte. Unsere Lichtung lag am äußersten Rand einer kleinen Baumgruppe, die uns Schutz bot, und hinter den Bäumen erstreckte sich eine kahle Ebene. Sie führte sanft aufwärts, und ein Ende konnte ich nicht erkennen. Ich kann mich nur an wenig von dem ersten Teil dieser Reise erinnern. Mit vier Wochen war ich nur um zwei Wochen jünger als Rissas Welpen, doch das machte einen gewaltigen Unterschied. Meine Läufe waren um zwei Wochen kürzer, meine Lungen um zwei Wochen schwächer, meine Augen um zwei Wochen weniger geschärft. Die Wunde an meinem Bein war noch nicht verheilt, und es schmerzte, das Bein voll zu belasten. Ich konnte sehen, dass Ázzuens Vorderpfote ihn ebenfalls noch schmerzte. Wir hatten alle fürchter 23
liche Angst zurückgelassen zu werden und kümmerten uns nicht einmal um die neuen Geräusche und Gerüche. Doch Ázzuen, Marra und ich waren die Kleinsten, und es war beschwerlicher für uns als für die anderen Welpen. Bald blieben wir hinter den anderen zurück. Nachdem wir stundenlang gelaufen waren, sahen wir, wie die Wölfe vor uns im Schatten eines großen Hügels lagerten. Wir beeilten uns aufzuschließen, und kaum angelangt, brachen wir vor Müdigkeit zusammen. Selbst Borlla und Unnan keuchten schwer und waren zu erschöpft, um mich zu piesacken. Wir bekamen nur einen kurzen Moment der Erholung zugestanden, schon schoben und stießen uns die erwachsenen Wölfe wieder auf unsere Pfoten, und die Reise begann von neuem. Mir war weniger Zeit zum Ausruhen geblieben als den anderen, da ich den Hügel als Allerletzte erreicht hatte, und meine Beine zitterten im Stehen. Als wir den Kamm der langen Böschung erreicht hatten, konnten wir über die Weite Ebene hinweg zu einer fernen Baumgruppe sehen. Rissa stieß ein lautes Heulen aus. »Euer neues Zuhause liegt auf der anderen Seite, Welpen. Wenn ihr es bis zum Wald und zu dem Sammelplatz beim Gefallenen Baum geschafft habt, dann seid ihr in Sicherheit. Ihr werdet eure erste Prüfung als Wölfe bestanden haben.« Der Rest des Rudels stimmte in ihr Heulen mit ein. »Bleibt auf dem Weg. Sammelt eure Kräfte.« Wir marschierten ewig über diese weite Ebene, duckten uns unter dem offenen Himmel. Wir waren so sehr an die Bäume über uns gewöhnt, dass der Anblick und die Geräusche dieses großen flachen Landes uns überwältigten. Es kam mir vor, als sei ich bereits ein ganzes Wolfsleben lang gelaufen, bevor ich zur Sonne über uns hinaufblickte, nur um zu 24
erkennen, dass der Tag erst halb vorüber war. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir vor Anbruch der Dunkelheit die andere Seite erreichen sollten. Ruuqo und Rissa liefen voran, der Rest des Rudels folgte, die Welpen von den erwachsenen Wölfen umringt. Rissa, die vorjährigen Jungwölfe und der Altwolf mit Namen Trevegg kamen immer wieder zurück, um nach den Nachzüglern zu schauen, und einer von ihnen ging immer neben uns. Marra, die zwei Wochen älter war als ich und außerdem besser gefüttert als Ázzuen, schaffte es mitzuhalten, doch schon bald vergrößerte sich der Abstand zwischen dem Hauptrudel und den Nachzüglern Ázzuen und ich fielen zurück. Ruuqo bellte nach den Erwachsenen, die bei uns waren, um sie anzutreiben. Trevegg, der Altwolf, der mit uns gegangen war, drehte sich nach mir um und hob mich vorsichtig mit seiner Schnauze hoch. Von weit weg bellte Ruuqo wieder böse. »Jedes Junge wird den Weg laufen. Sie werden auf ihren eigenen Pfoten ankommen, oder sie sind es nicht würdig, Wölfe zu sein.« Trevegg zögerte, doch dann setzte er mich sanft auf den Boden. »Lauf weiter, Kleiner Wolf. Wenn du nicht aufgibst, wirst du uns finden. Bleib tapfer. Du bist ein Teil des Gleichgewichts.« Als Trevegg mich absetzte, konnte ich nicht wieder aufstehen, sondern blieb verzweifelt hocken, während das übrige Rudel weiterzog. Ázzuen saß neben mir und winselte.
Da wagte Yllin, die eigensinnige Jungwölfin, es noch einmal aus dem Rudel auszuscheren und rannte zu uns zurück. Ihre starken Läufe bewältigten die Spanne zwischen mir und 25
dem Rest des Rudels in wenigen Augenblicken, und ich wünschte mir verzweifelt, dass meine müden Beine nur stark genug wären, um mich so weit und so schnell zu tragen. Yllin war scharfzüngig und wurde ungeduldig, sobald irgendjemand die geringsten Anzeichen von Schwäche zeigte, und ich war mir sicher, dass sie zurückgekommen war, um mich zu verspotten. Doch als sie anhielt, ohne weiter auf Ruuqos ärgerliche Warnung zu achten, blitzten ihre bernsteinfarbenen Augen verschwörerisch. »Komm, kleine Schwester«, sagte sie. »Ich habe vor, eines Tages der Leitwolf des Rudels vom Schnellen Fluss zu werden, und dann brauche ich einen starken Wolf an meiner Seite. Enttäusche mich nicht.« Sie beugte sich so weit hinunter, dass niemand außer mir sie hören konnte. »Dies hier gehört zum Wolfsein dazu. Es ist die erste von drei Prüfungen, die du bestehen musst. Wenn du sie alle drei bestanden hast - die Überquerung der Ebene, die erste Jagd und den ersten Winter -, muss Ruuqo dir das Romma geben, das Zeichen der Aufnahme in das Rudel, und jeder Wolf, den du triffst, wird wissen, dass du ein Wolf vom Schnellen Fluss bist und dass du es wert bist, zum Rudel zu gehören.« Sie hielt inne. »Manchmal hilft ein Leitwolf einem schwächeren Welpen durch die Prüfungen. Wir alle lieben Welpen und wollen, dass sie überleben. Wir würden eher die Jagd aufgeben und Gras fressen, als ein Junges zu verletzen. Wenn aber Leitwölfe beschließen, die Stärke eines Welpen auf die Probe stellen zu wollen, dann können sie ihm Prüfungen auferlegen. Ist eine junge Wölfin stark genug, solche Prüfungen zu bestehen, dann ist sie auch stark genug, um zum Rudel zu gehören. Wenn nicht, bleibt mehr Futter für den Rest des Rudels.« 25
Dann, bevor Ruuqo kommen konnte, um sie zu holen und sie für ihren Ungehorsam zu bestrafen, rannte Yllin zum Rudel zurück, die Rute gesenkt, und ich konnte sehen, wie sie Ruuqo um Vergebung bat. Das Rudel bewegte sich weiter und immer weiter fort, bis ich kaum noch ihre dunklen Gestalten in der offenen Ebene ausmachen konnte. Doch Treveggs liebevolle Worte und Yllins unverblümter Widerstand gaben mir Zuversicht, und ich kam auf die Pfoten und begann einen schmerzenden Fuß vor den anderen zu setzen. Ázzuen folgte mir. Doch nach einer Stunde konnte ich nur noch stoßweise atmen, und ich blickte nicht mehr so oft nach vorne, um zu sehen, wo das übrige Rudel war. Die Wunde an meinem Lauf begann wieder zu bluten und brannte bei jedem Schritt. Ázzuen blieb hinter mir zurück, und ich verlangsamte meinen Schritt noch mehr, um ihn aufschließen zu lassen. Wir gingen. Wir gingen, bis meine Pfoten wund wurden und jeder Atemzug so viel Kraft kostete, dass ich mir wünschte, die Luft nicht brauchen zu müssen. Ich konnte mein Rudel nicht länger sehen, und sein Duft wurde schwächer und schwächer, bis ich mich nicht länger auf die Fährte verlassen konnte, der ich folgte. Der Himmel verdunkelte sich.
Erwachsene Wölfe reisen nachts und vermeiden die Hitze des Tages, doch ein Welpe ist Beute, und jedes Rudel, dem Welpen etwas bedeuten, vermeidet es, die Jungen nach Anbruch der Dunkelheit in offenes Gelände zu schicken, bevor sie nicht alt genug sind, um für sich selbst sorgen zu können. »Bärenfutter.« Das hatte Unnan mir zugeflüstert, als wir am Morgen aufgebrochen waren. Ich hatte Ruuqo und Rissa 26
zugehört, wie sie sich über die Reise stritten, und nicht gemerkt, wie Unnan sich hinter mich schlich. »Noch vor morgen früh wirst du Bärenfutter sein. Oder Mutter Säbelzahn wird dich als Zwischenmahlzeit für ihre Kätzchen fangen.« Ich war so würdevoll wie eben möglich davonstolziert, doch jetzt, wo ich allein in der offenen Wildnis stand, verfolgten mich seine Worte. Und dennoch gingen wir weiter. Ich war wütend und verletzt, weil das Rudel sich nicht darum scherte, ob ich überlebte oder starb, aber es gab keinen anderen Ort, an den ich gehen konnte, und sie waren die einzige Familie, die ich hatte. Also ging ich weiter, bis meine Beine unter mir nachgaben und ich die Fährte meines Rudels nicht länger von den anderen Gerüchen auf der Ebene unterscheiden konnte. Als eine dunkle Dämmerung den Himmel überzog, fiel ich auf den Boden nieder und wartete auf den nahen Tod. Ázzuen kauerte neben mir. Der Schlaf kam und mit ihm die Träume. Träume von Bären und scharfen Zähnen. Doch als ich tiefer in den Schlaf fiel, erschien mir ein Gesicht, das freundliche Gesicht einer jungen Wölfin. Sie war keine Wölfin, die ich kannte, nur die Wölfe meines eigenen Rudels waren mir bis dahin vertraut. Sie roch nach Nadelwald und einem unbekannten warmen, säuerlichen Duft. Und, genau wie ich, trug sie ein weißes Mondmal auf ihrer Brust, wie es kein anderer Wolf des Rudels besaß. Ich fragte mich, ob sie wohl eine Vision meiner Mutter war, zu einer Zeit, als sie noch jünger und glücklicher gewesen war. Die Traumwölfin lachte. »Nein, kleiner Milchzahn, obwohl ich eine deiner vielen Mütter aus einer so lang vergan 26
genen Zeit bin, dass du sie dir nicht einmal vorstellen kannst.« Ich fühlte, wie mich eine Wärme umfing, die die Schmerzen in meinem Körper linderte. »Du sollst heute noch nicht sterben, Schwester Wolf. Du hast deiner Mutter versprochen, zu überleben und ein Mitglied des Rudels zu werden. Du sollst leben und musst mein Werk fortführen. Du hast noch viel vor dir.« Ihr freundliches Gesicht wurde plötzlich traurig und dann zornig. »Du wirst dafür leiden müssen«, sagte sie. Ihre Traurigkeit war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. »Aber du wirst auch großes Glück erleben. Steh jetzt auf, meine Schwester. Geh, meine Tochter. Dein Weg wird immer ein schwerer sein, und du musst jetzt lernen weiterzumachen, auch wenn du denkst, es geht nicht mehr. Geh, Kaala Milchzahn. Nimm deinen Freund und finde euer Zuhause.« Verwirrt stellte ich mich auf meine Pfoten, ohne auf den Schmerz in meinem verwundeten Lauf zu achten. Ich stupste Ázzuen, bis er erwachte, achtete nicht weiter auf sein Gemaule und drängte ihn auf seine Füße. Er fiel wieder zu Boden, und ich biss ihn.
»Steh auf«, zischte ich ihn an, meine Kehle war zu trocken und ich zu müde, um lauter sprechen zu können. »Ich gehe jetzt, und du kommst mit. Ich werde dich hier nicht sterben lassen.« »Sie haben mir einen Namen gegeben, und es bedeutet ihnen dennoch nichts, ob ich lebe oder sterbe«, flüsterte er unglücklich. »Sie haben mich einfach hiergelassen.« Ungeduld mit Ázzuens Selbstmitleid stieg in mir auf, und ich biss ihn wieder, diesmal noch fester. »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden«, sagte ich, ohne auf seinen Schmerzensschrei zu achten. »Du hast mein Leben 27
gerettet, als die anderen Welpen mich umbringen wollten, also musst du jetzt mit mir kommen. Zeig ihnen, dass du zum Rudel gehörst. Willst du, dass Unnan und Borlla recht über dich behalten ? Dass sie sagen können, du seiest zu schwach, um zum Rudel zu gehören?« Ázzuen stand zitternd auf und dachte einen Moment lang nach. »Ich mache mir nichts aus Borlla und Unnan. Dir war es wichtig, dass ich Milch bekam. Ich werde dahin gehen, wo du hingehst, Kaala.« Er blickte mich mit einer solch unerschütterlichen Zuversicht an, als sei ich ein erwachsener Wolf, und sein Vertrauen in mich gab mir Kraft. Wenn Ázzuen glaubte, ich könne ihn nach Hause bringen, so würde ich das auch schaffen. Der Schmerz in meinen Pfoten und in meiner Brust schien fern von mir zu sein, und die Fährte der Traumwölfin führte mich, so wie es zuvor die Fährte des Rudels getan hatte. Ich wusste nicht einmal, ob sie mich zu meinem Rudel fuhren würde, doch ich konnte den Geruch meiner Familie nicht länger ausmachen, also folgte ich ihr. Ich blickte auf und sah das wundervolle Licht des Mondes, vollkommen rund und so hell, dass mein Weg nicht mehr dunkel war. Er gab keine Wärme wie das Licht der Sonne, doch sein Licht gab mir Zuversicht, und ich ging entschlossen weiter. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie die Gestalt der jungen Traumwölfin mich leitete. Sobald ich versuchte, sie unmittelbar anzusehen, verschwand sie, und ich hatte das Gefühl, sie lachte mich aus. Wenn meine Beine müde wurden, erinnerte ich mich daran, dass Ázzuen voll Vertrauen neben mir trabte, und schon ging es weiter. Und dann, als ich glaubte, kein Stück mehr weiter gehen zu können, wurde die Nacht dunkler und der Boden unter mei 27
nen Pfoten kühler. Bäume streckten sich über meinem Kopf und dämpften das Licht des Mondes. Ich hatte die weite Ebene überquert. Der Traumwolf verschwand mit dem Mondlicht, und alles an meinem Körper schmerzte. Allein im Wald zu sein erschien mir nicht sehr viel besser, als allein auf der Ebene zu sein, und meine empfindliche Nase konnte den Geruch meines Rudels nirgendwo finden, doch endlich erschnupperte ich einen bekannten Duft. »Ich habe hier auf euch gewartet.« Yllin stand aufrecht am Rand des Waldes. »Ich wusste, du würdest den Weg hierher finden, kleine Schwester. Und willkommen auch du, Winzjunges.« Sie grinste Ázzuen an. Ich war zu müde, um irgendetwas zu tun, außer dankbar mit meiner Nase ihre gesenkten Lefzen zu berühren. Wir fanden
die Fährte des Rudels und gingen eine weitere letzte Stunde bis zum Sammelplatz. Dort brachen wir vor Erschöpfung zusammen. Ruuqo begrüßte uns nicht einmal. Er blickte nur hinüber zu Rissa, die seinen Blick herausfordernd erwiderte. »Sie kann bleiben«, erklärte er, »bis ihr das Winterfell wächst. Aber ich verspreche nicht, dass ich sie ins Rudel aufnehmen werde.« Ich verstand nicht, was er meinte, aber Yllin hatte etwas Ähnliches erwähnt. Mir blieb keine Kraft mehr, um mir darüber Gedanken zu machen. Und einen Augenblick später machte mir das auch nichts mehr aus, denn Rissa und dann das übrige Rudel kamen zu mir, leckten mich zur Begrüßung und nannten mich bei meinem Namen. 28
Der Platz, der unser Zuhause werden sollte, während wir heranwuchsen und alles lernten, was ein Rudel zu lehren hat, war eine große schattige Lichtung, eine Stunde vom Rand des Waldes entfernt. Sie war umgeben von den gleichen Fichten und Wacholderbüschen wie unser Höhlenplatz und roch nach Sicherheit. Ein kleiner Hügel am Ende der Lichtung bot eine gute Sicht in den Wald. Ich begriff später, dass Ruuqo immer Plätze mit einer Möglichkeit zur Ausschau wählte - kleine Hügel oder Felsen oder Stämme von umgestürzten Bäumen -, um das Rudel besser schützen zu können. Zwei wohlriechende Eichen standen Wacht am Eingang zur Lichtung, und eine umgestürzte Fichte reichte fast von dem einen bis zum anderen Ende. Es gab federndes Moos, in dem man liegen konnte, und weichen Staub, in dem man spielen konnte, und die hohen Bäume würden uns in den kommenden heißen Sommertagen Schatten spenden. Es war den langen, schrecklichen Weg und das wunde Bein wert gewesen. 28
Ázzuen, Marra und ich standen zusammen bei den Wurzeln der umgestürzten Fichte und betrachteten diesen wundervollen Platz mit Staunen. Borlla und Unnan kuschelten zusammen in der Nähe eines großen Felsblocks, sie flüsterten und blickten in unsere Richtung. Reel steckte seine Nase zwischen die beiden, um zu hören, was sie tuschelten. Mir war klar, dass sie irgendein Unheil ausheckten. Doch bevor sie noch Schaden anrichten konnten, kam Trevegg über die Lichtung getrottet und brachte sie dorthin, wo wir standen. Ich konnte kaum der Versuchung widerstehen, Borlla kopfüber in den Staub zu schmeißen, als sie so fest auf Ázzuens verletzte Pfote trat, dass er aufjaulen musste. »Hört zu Welpen«, sagte Trevegg, noch bevor Ázzuen oder ich Vergeltung üben konnten, »dies ist der Sammelplatz beim Gefallenen Baum, einer von unseren fünf Sammelplätzen oder Wohnungen in unserem Gebiet. Ihr müsst ihn kennenlernen und euch an ihn erinnern.« Trevegg war der älteste Wolf im Rudel und Ruuqos Onkel. Er hatte dieselben dunkelumrandeten Augen wie Ruuqo, doch während Ruuqos Augen immer auf der Hut zu sein schienen, blickten Treveggs offen und freundlich. Das Fell seiner Lefzen und rund um seine Augen war zu einem helleren Grau verblasst als der Rest seiner Behaarung und gab ihm ein sanftes, liebenswürdiges Aussehen. Er öffnete sein Maul, um den Duft unseres neuen Zuhauses einatmen zu können.
»Sammelplätze sind die Orte, zu denen wir kommen, um Jagdzüge zu planen und um zu beraten, wie wir unsere Gebiete verteidigen können. Sie sind der Ort, an den Wölfe, die sich vom Rudel entfernt haben, zurückkommen können und wo die Welpen heranwachsen können, während das Rudel jagt. Wölfe müssen umherziehen, um zu fressen, doch gute, 29
sichere und gesunde Sammelplätze machen die Stärke eines Rudels aus.« Er blickte über die Lichtung. »Vergesst niemals einen Sammelplatz, denn ihr wisst nicht, wann ihr ihn einmal brauchen werdet.« Ich streckte mein Gesicht in den Wind, schmeckte den von Eicheln gefärbten Duft von Gefallener Baum. Ich verwahrte in meinem Gedächtnis das Rauschen des Luftzugs in den Büschen, und ich steckte die Nase in den Staub, der nach meinem Rudel roch. »Schaut her, Welpen!« Yllin rief uns über die Lichtung hinweg zu. Sie warf sich auf eine Schulter und rollte auf ihrem Rücken hin und her, vor und zurück im Staub und grunzte dabei zufrieden. Sie und ihr Bruder Minn waren nur ein Jahr alt, Rissas und Ruuqos Junge vom vorherigen Jahr. Obwohl sie fast ebenso groß wie die erwachsenen Wölfe waren und als vollwertige Mitglieder des Rudels galten, waren sie doch noch nicht wirklich erwachsen. Wir beobachteten sie neugierig. »Wenn ihr etwas von euch selbst auf der Erde hinterlasst«, erklärte Trevegg, während Yllin weiter ausgelassen im Staub herumrollte, »oder auf einem Busch, einem Baum oder dem Körper eines Tieres, dessen Geist zum Mond zurückgegangen ist, dann antwortet ihr dem Gleichgewicht.« Trevegg erschien jünger, wenn er uns etwas lehrte: Die Spuren von Jahren des Jagens und Kämpfens verschwanden aus seinem Gesicht. »Das Gleichgewicht ist es, das unsere Welt zusammenhält. Die Ahnen - Sonne, Mond, Erde und Großmutter Himmel -, die das Leben aller Geschöpfe beherrschen, haben das Gleichgewicht geschaffen, damit nicht eines der Geschöpfe zu mächtig werde und den anderen Wesen Schwierigkeiten bereite. Ihr werdet mehr über die Ahnen er 29
fahren«, sagte er, als Ázzuen seine Schnauze öffnete, um ihn mit einer Frage zu unterbrechen, »sobald ihr euren ersten Winter überlebt habt. Bis jetzt sollt ihr nur wissen, dass die Ahnen mächtiger sind als alle anderen Geschöpfe. Und ihr sollt wissen, dass wir ihre Gesetze befolgen müssen, genauso wie die Regeln des Gleichgewichts. Jedes Wesen«, fuhr er fort, »jede Pflanze, jeder Atemzug ist ein Teil des Gleichgewichts. In allem, was wir tun, müssen wir uns daran erinnern, die Welt zu achten, die uns geschenkt worden ist. Also selbst wenn wir uns der Dinge bedienen - Wasser aus dem Fluss oder Fleisch von einer erfolgreichen Jagd -, lassen wir immer auch einen Teil unseres Selbst zurück, um unsere Dankbarkeit zu erweisen für das, was die Ahnen uns gegeben haben.« Einer nach dem anderen warfen wir uns auf eine Schulter und wälzten uns an einer Stelle, wo Wochen zuvor ein Hase gestorben war. Ein übelriechender Fuchs hatte ihn längst fortgeschleppt, doch der Geruch dessen, was einmal Leben gewesen war, blieb. Wir hüllten uns mit diesem Geruch ein, fügten der Stelle unsere eigenen Ausdünstungen hinzu und beanspruchten damit den Sammelplatz zum Gefallenen Baum als unser Zuhause. Von da an war mir bewusst, was ich zuvor noch nicht
hatte wissen können: Ruuqo mochte entscheiden, ob ich zum Rudel vom Schnellen Fluss gehören würde oder nicht, aber niemand konnte mir jemals nehmen, dass ich Wolf war - und Teil des Gleichgewichts. Ich bemerkte, dass Unnans wieselartiges Gesicht mit einem überheblichen Blick auf mich gerichtet war. Ich bin hier, sagte ich mir, und du kannst daran nicht das kleinste bisschen ändern. Ich hob meinen Kopf und nahm noch mehr von meinem neuen Zuhause in mir auf. Nach all den Anstrengungen vom Hinterlassen meines 30
Dufts und Erkunden des Sammelplatzes überkam mich mit einem Mal eine Welle der Erschöpfung, und ich konnte mich kaum noch auf den Füßen halten. Ich erspähte ein weiches Moospolster im Schatten eines großen Felsblocks. Müde wankte ich hinüber zu diesem guten Ruheplatz, fast schon vom Schlaf überwältigt. Doch kaum dass ich losgelaufen war, sprangen Borlla und Unnan mir in den Weg und wirbelten dabei eine heftige und widerliche Staubwolke auf. Borlla kniff ihre Augen zusammen. »Du gehst doch wohl nicht zu unserem Felsen, oder was ?« Mein Fell sträubte sich, und ich sah mich schon ein Stück aus ihrem Hals reißen. Sie öffnete ihre Schnauze und begann zu hecheln, wartete auf meinen Angriff. Ázzuens Stimme drang durch meine Wut. »Kaala, hierher.« Er und Marra hatten ein schattiges Plätzchen im Schutz der umgestürzten Fichte gefunden. Ich überwand meinen Zorn - Schlaf brauchte ich viel dringender als die Genugtuung, Borlla eine Lektion zu erteilen. Ich trottete hinüber zu meinen Freunden, streckte für Borlla und Unnan meine Nase hoch in die Luft und erhob meine Rute, sodass sie mein Hinterteil zu sehen bekamen. Der Boden unter der Fichte war wundervoll weich und feucht, und genau die richtige Menge Sonnenschein hinderte das Fleckchen daran, zu kalt zu werden. Dankbar sank ich auf die angenehme Erde und kuschelte mich in das weiche Fell an Ázzuens Hals. Marra legte ihren Kopf auf Ázzuens Rücken und schlief beinahe sofort ein. Doch Ázzuen blickte mich noch eine ganze Weile lang an. »Danke«, sagte er endlich. »Ich glaube, ich hätte die Wanderung nicht geschafft, wenn du mir nicht geholfen hättest.« »Wir haben einander geholfen«, sagte ich verlegen. 30 »Nein«, widersprach er und schüttelte seinen dunkelgrauen Kopf, sodass Marra im Schlaf aufschreckte. »Du bist die Stärkere von uns beiden.« Ich hätte ihm unglaublich gerne gesagt, dass ich gar nicht so stark war, und ihm von dem Traumwolf erzählt, der mich auf der Ebene besucht und mir Stärke verliehen hatte. Unsere Reise über die Ebene und unsere Kämpfe mit den anderen Welpen hatten ein Band zwischen Ázzuen und mir geknüpft, und ich war es leid, im Rudel allein gelassen zu sein. Dennoch erzählte ich ihm nichts davon. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war, dass ich als noch viel andersartiger galt, als das jetzt ohnehin schon der Fall war. Ich gab Ázzuen einen kleinen Stups in sein Gesicht und gestattete mir zu schlafen. Ein plötzlicher Schmerz in meinem Ohr weckte mich. Als ich versuchte aufzustehen, wurde der Schmerz schlimmer. Jemand riss mir das Ohr ab. Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, was um alles im Mond mich jetzt wieder
verfolgte. Ich versuchte nach hinten auszuweichen, konnte mich aber nicht befreien. Ázzuen schnarchte neben mir, er bemerkte diese neue Gefahr nicht einmal. Marra konnte ich nicht sehen, konnte aber riechen, dass sie in der Nähe sein musste. Ich warf mich auf den Rücken, um meinen Gegner erkennen zu können, mit dem einzigen Erfolg, dass der Schmerz noch schlimmer wurde. Ich drehte mich weiter, bis es sich anfühlte, als würde sich mein Kopf vom Hals lösen, und blickte in ein Paar brauner Knopfaugen in einem schlanken, kleinen Kopf. Ich sah lange schwarze Federn und roch Blätter und Wind. Ein großer, schwarzer, glänzender Vogel hatte mich im Griff und zwickte mein Ohr mit seinem scharfen Schnabel. Aus seiner Kehle 31
kam ein gurgelndes Geräusch, und er wirkte sehr zufrieden mit sich. Er erkannte, dass ich ihn ansah und zog noch härter an meinem Ohr. Ich wimmerte. Der Vogel ließ mein Ohr los und blickte mich mit funkelnden Augen an. Dann stieß er ein ohrenbetäubendes Kreischen aus. »Leckeres Wölfchen. Wacht auf zur rechten Zeit. Uups. Kein Futter für mich.« Die merkwürdige Art des Vogels zu sprechen verwirrte mich, und ich starrte ihn verwundert an. Er starrte zurück, wartete ab, was ich tun würde. Ich blickte mich hilfesuchend nach dem Rest meines Rudels auf der Lichtung um. Ich sah, wie Minn und Yllin mehrere der schwarzen Vögel jagten und selbst von ihnen gejagt wurden, während die älteren Wölfe zuschauten. Ich verstand nicht, warum sie ihnen nicht zu Hilfe kamen. War dies eine neue Prüfung für uns ? Ich fühlte Tränen in mir aufsteigen und wollte mich einfach nur zu einem kleinen Bündel zusammenrollen, aber der scharfe Schnabel machte mir Angst. Der Vogel griff mich zunächst nicht wieder an, sondern betrachtete mich, den Kopf zur Seite geneigt. Unsicher stellte ich mich auf meine Beine und knurrte ihn an. Selbst in meinen eigenen Ohren klang mein Knurren wenig überzeugend. Marra war aufgewacht und stand stocksteif neben mir, sie beobachtete den Vogel ebenfalls. Ich schubste Ázzuen mit meiner Hüfte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er öffnete langsam seine Augen und erblickte den schwarzen Vogel. Seine Augen weiteten sich, und sein Unterkiefer klappte nach unten. Er jaulte und sprang hinter mich. Der Vogel stieß einen Schrei von Ge 31
lächter aus und schlug mit den Flügeln, was Zweige und Staub über uns regnen ließ und uns zum Husten brachte. »Versteck dich jetzt, Wolf. Dann fängt der Rabe dich nicht. Vielleicht nächstes Mal.« Ich blickte mich wieder hilfesuchend nach meinem Rudel um. Auf der Lichtung war Chaos ausgebrochen. Die älteren Wölfe hatten schließlich in den Streit eingegriffen, aber zu meiner Überraschung schienen sie den Kampf nicht ernst zu nehmen. Vögel stießen auf die Wölfe nieder, versuchten ihre Schwänze zu erwischen, ihre Ohren, ihre Körper, was immer sie nur in den Schnabel kriegen konnten. Die Wölfe schnappten in die Luft, versuchten die Vögel mit der Schnauze zu fangen. Aber sie knurrten nicht vor Arger und versuchten auch nicht, die Vögel zu verletzen. Sie japsten aufgeregt und wedelten mit den Schwänzen.
»Es macht ihnen Spaß«, sagte Ázzuen bedächtig. »Die spielen mit den blöden Vögeln.« Zuerst hatte ich den Eindruck, jetzt sei er völlig durchgedreht, doch als ich Ruuqo bei der Verfolgung eines Vogels Hals über Pfoten umstürzen sah, merkte ich, dass er recht hatte. Ich versuchte, die Vögel auf der Lichtung zu zählen, doch sie bewegten sich so schnell, dass man schwer erkennen konnte, wie viele es waren. Ich schätzte sie auf ungefähr zwölf. Ein besonders großer Vogel, größer noch als Yllins Kopf, landete auf ihrem Hals und flog wieder fort, bevor sie nach ihm schnappen konnte. Er schlug mit den Flügeln genau über ihrem Kopf und lachte sie aus. Mein Angreifer hatte das Manöver beobachtet, doch plötz 32
lich drehte er seinen Kopf herum und packte mein anderes Ohr. »Lass mich los, Vogel!«, schrie ich. »Lass los, oh lass los. Kleiner Wolf hat solche Angst. Wimmerndes Wölfchen.« Er ließ mein Ohr los, und als ich vor Erleichterung meinen Kopf schüttelte, erwischte er meine Nase. Ich jaulte auf, riss mich los und stolperte gegen Ázzuen. »Blöder Vogel«, sagte ich atemlos, »ich werde dich in der Mitte durchbeißen.« Er blickte mich an und lachte, dann warf er sich mit flatternden Flügeln in die Höhe, als sowohl Minn wie auch Yllin ihn von hinten ansprangen. »Komm her, Schnabelweis«, rief Yllin. »Lass die Welpen in Ruhe. Oder hast du Angst vor einem ausgewachsenen Wolf?« Sie wandte sich an Minn. »Ich habe das Gefühl, sie hat Angst vor ausgewachsenen Wölfen«, meinte Yllin mit funkelnden Augen. Ich war beeindruckt, wie unverblümt sie sprach. Aber sie war ja auch sehr viel größer als der blöde Vogel. »Wo ist hier ein ausgewachsener Wolf?«, fragte Schnabelweis und vergaß ihre merkwürdige Art zu sprechen. »Ich kann mich noch daran erinnern, wie du ein miauendes, dreckfressendes Junges warst.« Sie flog über Yllins Kopf, und Yllin sprang hoch in die Luft, verdrehte ihren Körper in einem ungeheuren akrobatischen Sprung. Ich war mir sicher, sie würde den Vogel aus der Luft holen. Doch Schnabelweis war zu schnell. Sie lachte schallend, während sie auf und da 32
von flog. Marra, die Wagemutigste von uns, versuchte sich an einem Schlag nach dem Vogel, war jedoch zu klein, um ihn zu erreichen. »Yllin, warum greifen sie uns an?« Marras Stimme zitterte vor Angst und Erschöpfung. »Ich dachte, wir wären hier sicher.« Sie starrte auf die Vögel. »Warum töten wir sie nicht einfach?« Mit dem Blick auf Schnabelweis gerichtet schnaubte Yllin. »Sie greifen uns nicht an, Dummerchen. Hast du den Unterschied zwischen Kampf und Spiel nicht gelernt? Wenn du nicht einmal spielen kannst, wie willst du dann auf die Jagd gehen?« »Sei nicht zu hart, Yllin. Du warst auch einmal ein Welpe«, sagte Rissa und trottete zu uns herüber. Sie schüttelte einen Raben von ihrem Rücken, dessen schwarze Federn einen starken Gegensatz zu ihrem weißen Fell bildeten. Ihre Augen funkelten hell, als sie sich umdrehte, um denselben Raben anzuknurren, der immer noch vergeblich versuchte, ihren sich schnell bewegenden Schwanz zu erwischen. Rissa war immer noch mager von der Geburt und dem Säugen der Welpen, doch sie war voller
Kraft, und ich fühlte, wie mein eigener Schwanz als Antwort auf ihre gute Laune zu wedeln begann. Yllin schnaubte verächtlich und jagte zwei Raben hinterher. »Ich war nie so ein Ringelschwänzchen«, behauptete sie. »Das war sie sehr wohl, das könnt ihr mir glauben«, erklärte Rissa und blickte ihrer Tochter liebevoll hinterher. Als Borlla, Unnan und Reel bemerkten, dass Rissa uns ihre Aufmerksamkeit schenkte, beeilten sie sich, von ihrem Felsen herüberzukommen. Zwei der Raben folgten ihnen ganz dicht und hielten erst an, als die Welpen auf Rissa zupurzelten und 33
hinter ihr Schutz suchten. Mit spöttischem Geschrei flogen die Vögel zu ihren Freunden. »Hört zu, Welpen«, sagte Rissa und verteilte sanfte Bisse, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Es gibt Wesen, die sind weder Wolf noch Beute noch Gegner.« Wir mussten sie verwirrt angeblickt haben, denn sie hielt einen Augenblick lang inne und begann dann noch einmal. »Diese Welt teilt sich in Wolf und Nicht-Wolf. Für die Wolfseite ist das Rudel das Wichtigste. Das Gute im Rudel übertrifft immer das Gute in einem einzelnen Wolf. Das Rudel ist wichtiger als das Leben, wichtiger als die Jagd.« Sie ließ ihre Worte wirken und fuhr dann fort. »Außerhalb des Rudels gibt es Wölfe, die eben nicht zum Rudel gehören, einige davon sind unsere Feinde, einige unsere Freunde. Auf der Nicht-Wolfseite gibt es Beute, die wir töten. Jede Beute kann getötet werden, solange ihr die Gesetze der Jagd befolgt.« »Woher wissen wir, ob etwas Beute ist oder nicht?«, fragte Ázzuen. Mir war aufgefallen, dass er immer derjenige war, der eine Frage stellte und der die Dinge etwas schneller begriff als der Rest von uns. »Das merkst du schon«, meinte Yllin, die außer Atem zurückgekommen war, um sich zu uns zu gesellen. »Wenn es wegläuft, verfolgst du es.« »Es ist nicht ganz so einfach«, erklärte Rissa, ihre Schnauze zu einem Lächeln geöffnet. »Ihr werdet mehr darüber erfahren, wenn ihr alt genug seid, um mit auf die Jagd zu gehen. Hört zu!«, sagte sie und knuffte Unnan leicht, der sich bereit gemacht hatte, auf Marras Schwanz zu springen. »Neben der Beute gibt es auch noch Gegner, einige davon sind gefährlicher als andere. Mit Füchsen, Rotwölfen und Raubvögeln muss man rechnen und sie davon abhalten, Beute zu stehlen. 33
Sie sind aber keine große Gefahr für einen ausgewachsenen Wolf. Rotwölfe jagen wie wir in Rudeln, doch sie sind kleiner als wir und fordern uns darum selten heraus. Bären, Säbelzahnkatzen, Höhlenlöwen und sogar Hyänen können einen ausgewachsenen Wolf töten und sind eine echte Gefahr. Und dann gibt es noch andere Wesen, alle sind Teil des Gleichgewichts, aber sie spielen keine große Rolle im Leben eines Wolfes.« Ich dachte an all die Wesen, die ich bereits gesehen hatte, und wie viele es wohl geben mochte, die ich noch nicht getroffen hatte: Die Insekten und kleinen Tiere des Waldes, die Eulen, die ich so gefürchtet hatte. Es schien viel zu viel für meinen
Verstand zu sein, zu viel, als dass ich es hätte begreifen können. Ich tat mein Bestes, um alles, was Rissa uns erzählte, zu verstehen und zu erinnern. »Dann«, sagte sie und beobachtete zwei der Raben dabei, wie sie sich an Ruuqo heranschlichen, »dann gibt es Wesen, die fast Wölfe sind. Sie sind die Wesen, die uns im Gleichgewicht am nächsten stehen, und ihnen werden viele Rechte der Wölfe gewährt. Raben sind solche Wesen. Sie helfen uns Nahrung zu finden und erleichtern uns die Jagd.« Sie schüttelte sich wieder, um Schnabelweis loszuwerden, die auf ihrem Rücken gelandet war und bei ihren Worten hin- und herschaukelte. Es gab viel, worüber nachzudenken war. Ich sah, dass Unnan und Borlla ungeduldig die Miene verzogen, während Ázzuen still dasaß und sich bemühte, alles zu begreifen. »Es ist nicht so schwer, Welpen«, sagte Yllin und stieß Ázzuen mit ihrer Nase in die Rippen. »Wir spielen mit ihnen, und dann führen sie uns zu gutem Fang.« »Darauf könnt ihr euch verlassen, Welpen«, sagte Rissa la 34
chend. »Rabenspiel ist eine gute Übung für die Jagd. Und es ist niemals zu früh, sich auf die Jagd vorzubereiten.« Sie trottete in die Mitte der Lichtung, wo Minn, Ruuqo und Trevegg mit einigen Raben einen regelrechten Krieg ausfochten. Unnan, Borlla, Marra und Reel rannten ihr nach, doch Ázzuen blickte ihnen zweifelnd hinterher. »Das ist Spiel?«, meinte er leise genug, sodass niemand außer mir ihn hören konnte. Er seufzte. »Also auf, Kaala. Dann wollen wir mal besser spielen gehen.« Er hörte sich an wie ein kleiner Altwolf, und ich musste lachen, wie er so zum Rest des Rudels hinüberstapfte. Vorsichtig schlich ich mich von hinten an einen kleineren Raben an, der von den anderen etwas entfernt stand. Ich fühlte in meiner Brust den Kitzel der Jagd aufsteigen, und ich engte mein Blickfeld auf seinen gefiederten Rücken und Schwanz ein. Ich war sicher, dass er mich nicht sehen konnte, wenn ich von hinten an ihn heranschlich. Ich würde ihn ganz sicher fangen. Ich krümmte meine Hinterläufe, achtete nicht auf den Schmerz in meinem verletzten Bein und sprang. Der kleine Rabe drehte sich einmal um sich selbst und flog über mich, mit den Flügeln in mein Gesicht schlagend. »Wolf kann nicht springen. Tlitoo ist zu schnell für dich. Rabe gewinnt immer.« Außer Atem hockte ich auf dem Boden und starrte den Vogel an, während er mich beobachtete. Er blinzelte ein paar Mal und öffnete den Schnabel, als ob er sprechen wollte. Ich war ebenso überrascht wie er, als Minn ihn fast von hinten geschnappt hätte. Mit zerrupften Federn zog sich Tlitoo zum 34
Schutz in den Kreis der größeren Raben zurück. Doch er beobachtete mich weiterhin mit diesem eindringlichen und unglaublich verunsichernden Blick. Auf ein Signal hin, das mir vollkommen entgangen sein musste, hörten Wölfe und Raben plötzlich mit dem Spiel auf. Der größte und glänzendste Rabe ließ sich neben Ruuqo auf dem Felsen nieder, den Borlla und Unnan zuvor zu ihrem erklärt hatten. »Also, Edelschwing«, sagte Ruuqo und sprach zu dem Raben wie zu seinesgleichen, »was hast du an Beute im Tal gesichtet? Die weite Ebene ist leer von Elchen.«
»Die Beute verlässt das Tal immer noch, aber es bleibt noch einiges für eine gute Jagd. Die Elen bleiben«, antwortete Edelschwing. Anscheinend konnten die Raben normal sprechen, wenn sie wollten. Edelschwing war ein vornehmer Vogel, groß und stolz. Die anderen Raben schwiegen, während er sprach. Jetzt, wo alles aufgehört hatte, herumzuflattern, konnte ich erkennen, dass es nur sieben Raben waren, nicht zwölf, wie ich vorher angenommen hatte, und die meisten von ihnen waren so klein wie Tlitoo. Edelschwing fuhr fort. »Die Wölfe vom Felsgipfel und die Menschen nehmen sich, was immer sie kriegen können, doch für kluge Wölfe ist immer noch genug übrig. Es gibt immer noch viele Pferde. Die Elen sind kräftig.« »Genau das, was wir brauchen«, warf Minn ein, »kräftige Elen.« »Ah«, sagte Edelschwing. »Der Welpe vom letzten Jahr.« Obwohl er viel gesetzter wirkte als Schnabelweis, konnte Edelschwing es nicht lassen, Minn zu necken. »Kräftige Beute bedeutet größere Anstrengung beim Jagen. Sie hindert dich daran, fett und langsam zu werden.« Er beobachtete 35
Minn verschmitzt. »Die Auerochsen sind schmackhaft. Eine Säbelzahnkatze hat letzte Woche gerade einen für uns erlegt, und er war einfach wundervoll schmackhaft. Möchtest du auch einen fangen, Minnchen?« Trevegg hatte uns von Auerochsen erzählt. Er hatte gemeint, mit einem von ihnen habe das Rudel Nahrung für eine ganze Woche, dass sie aber groß und gefährlich seien, mindestens so groß wie fünf Wölfe. Minn war in seiner Ehre gekränkt. »Ich kann Auerochsen jagen!« Er wandte sich an Ruuqo. »Warum jagen wir keine Auerochsen? Das würde den Felsgipflern zeigen, wer hier Herr im Tal ist.« »Wir jagen keine Auerochsen, solange wir andere Beute finden«, erklärte Ruuqo geduldig. »Lass die Höchsten Wölfe sich die Auerochsen nehmen und genauso die gebrochenen Rippen, die sie als Zugabe bekommen. Es ist schlimm genug, wenn wir Elen jagen müssen.« Er sah den Raben an. »Lass ihn in Ruhe, Edelschwing.« »Und wie soll man dann seinen Spaß bekommen?« Edelschwing wirkte ebenso beleidigt wie ein zurechtgewiesener Welpe. »Seit wann sind Wölfe so ernst? Verletz bloß nicht die Gefühle vom Kleinen Wolf, dann kann er nicht gut jagen. Oh, armer kleiner Wolf.« Er krächzte, als Minn versuchte, ihn zu fangen. »Der langsame Wolf. Fängt niemals Auerochsen. Hungriges Wölfchen.« »Edelschwing«, sagte Ruuqo warnend. 35
»Minnchen fürchtet Jagd. Will Raben beißen. Traurig. Rabe zu schlau.« Ruuqo knurrte, und das nicht nur im Spiel. Er sprang nach Edelschwing, der sich auf den umgestürzten Baum zurückzog. Schnabelweis flog an seine Seite. »Dir fehlt der Sinn für Humor, Ruuqo«, sagte Edelschwing und glättete seine zerzausten Federn. »Kein Wunder, dass du aussiehst wie ein frühergrauter Altwolf«, fügte Schnabelweis hinzu. »Nichts gegen dich, mein gutaussehender Trevegg.« Sie zwinkerte dem alten Trevegg zu, der sie freundlich angrinste. »Vielleicht findet Rissa ja einen anderen Partner«, meinte Edelschwing und breitete seine Flügel aus, als wolle er gegen Ruuqo anfliegen.
»Ich habe genug gesagt, Edelschwing«, schnauzte Ruuqo. »Also, wenn du in dieser Saison nicht von Käfern und Beeren leben willst, sag mir, wo die Beute herumläuft.« Edelschwing schüttelte sich und stieß einen beleidigten Seufzer aus. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie der kleine Rabe Tlitoo sich anschlich, um genau neben Edelschwing zum Stehen zu kommen. Der Leitvogel musste ihn bemerkt haben, jagte ihn aber keineswegs fort. »Die Menschen und Felsgipfler treiben die Beute aus der weiten Ebene.« Ich war überrascht, ihn plötzlich so ernst sprechen zu hören. Ázzuen drängte sich neben mich, um besser hören zu können, was der Rabe sagte. »Weder das Rudel vom Felsgipfel noch die Menschen teilen mit uns. Und irgendetwas stimmt nicht.« Er starrte Ruuqo wütend an, als der ihn unterbrechen wollte. »Stimmt wirklich nicht, Wolf, 36
und nein, ich weiß nicht, was es ist. Aber es stimmt etwas nicht mit der Beute. Es stimmt etwas nicht mit der Luft. Wir machen uns Sorgen.« Er schüttelte sich, und der Übermut kehrte in seine Augen zurück. »Aber die Ebenen des Hohen Grases sind voll, es gibt jede Menge Antilopen und Pferde, und die Elen ziehen durch die Jagdgründe. Sie werden auf die Ebene zurückkehren. Mit unserer Hilfe werdet ihr einen guten Fang machen.« »Was sind die Menschen? Wer sind die Felsgipfler?«, fragte Marra ungeduldig neben mir. »Sei still«, flüsterte Ázzuen. »Ich will das hören.« »Die Ebene des Hohen Grases ist zu nah am Gebiet des Rudels vom Felsgipfel«, meinte Ruuqo und beachtete uns nicht. »Sie ist immer umkämpft. Und sie liegt zu nahe an der augenblicklichen Heimstatt der Menschen.« »Wenn das ist, wo die Beute sich aufhält, dann gehen wir dort hin«, sagte Rissa entschieden. »Ich bin es leid, dass die Felsgipfler unser Land Stück für Stück vereinnahmen. Es ist an der Zeit, dass wir uns nehmen, was uns gehört.« »Ich werde mich beizeiten daran erinnern«, sagte Edelschwing mit einem Leuchten in seinen Augen. »Kommt, lasst uns die kommenden Jagdzüge planen. Ich bin es satt, Maulwürfe und Wühlmäuse zu fressen. Sie haben zu viele Knochen.« Er blickte sehnsuchtsvoll auf uns Welpen, als ob er sich wieder auf uns stürzen wollte, seufzte dann jedoch tief und flog zu Rissa auf den Aussichtsfelsen. Ruuqo, Trevegg und zwei der Raben gesellten sich zu ihnen. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten dort am Felsen miteinander. Ich versuchte zu erlauschen, was sie sagten, aber sie sprachen zu leise. Die restlichen Wölfe streckten sich und ruhten sich aus, bereiteten sich auf die 36
kommende nächtliche Jagd vor, während die Raben entspannt über die Lichtung hüpften. Ich ließ mich nieder und beobachtete das Geschehen um mich herum. Etwas zog heftig an meinem Schwanz. Ich schluckte ein Jaulen hinunter. Ich wollte mich nicht ein Wölfchen nennen lassen. Ich drehte mich um und entdeckte den kleinen Raben, Tlitoo, der mich beobachtete.
»Hallo, Wölfchen. Komm mit mir.« Seine Stimme war heller und klarer als die der größeren Raben. Er ging zum Rand der Lichtung und hielt bei den hohen Eichen an. Er drehte sich um, um auf mich zu warten. Während ich den Biss in meiner Rute leckte, musterte ich ihn genau. »Ich darf den Sammelplatz nicht verlassen«, sagte ich misstrauisch. Wahrscheinlich lauerten auf der anderen Seite der Bäume seine Brüder und Schwestern, um sich auf mich zu stürzen. Er krächzte. »Wölfchen, Heulwolf weint. Hat Angst vor jedem Schatten. Schnief-Schnief-Wolf ist dumm.« Ich sah ihn so lange an, bis er zu mir zurückgeflogen kam. Er streckte seinen Schnabel nah an mein Ohr, und ich zuckte zusammen aus Angst vor einem weiteren Biss. »Die Höchsten Wölfe befehlen zu kommen, Kaala Milchzahn.« Er flog auf, bevor ich antworten konnte und setzte sich hoch auf einen Ast der großen Eiche. Uber mich selbst verwundert folgte ich ihm, blickte dabei immer wieder hinter mich, um sicherzugehen, dass niemand mein Verlassen der Lichtung bemerkte. Kurz hinter dem Eingang bei den Eichen, auf einem von Felsen übersäten Gras 37
stück, hielt ich an. Tlitoo flog herunter, um zu mir zu kommen. »Die Höchsten Wölfe haben mir von dir erzählt«, sagte er. »Du bist kein echter Wolf.« »Bin ich wohl!«, sagte ich tief verletzt. »Ich habe es über die Weite Ebene geschafft. Ich habe einen Namen. Ich bin vom Schnellen Fluss.« Ich hörte nicht auf die Stimme in meinem Inneren, die mich daran erinnerte, dass Ruuqo mich nicht wirklich aufgenommen hatte, dass ich immer noch ein Außenseiter war. Tlitoo legte seinen Kopf von der einen auf die andere Seite. »Alles, was ich weiß, ist, dass die Großen Wölfe behaupten, du bist mehr und auch weniger als ein Wolf, und dass ich auf dich aufpassen soll. Ich bin auch mehr und weniger als ein Rabe«, sagte er stolz. »Ich bin nach unserem Vorfahren benannt, der mit den Ahnen im Namen aller Geschöpfe sprach. Ich trage sein Zeichen«, sagte er und hob einen Flügel, um mir einen weißen Halbmond auf der Unterseite seiner Schwingen zu zeigen. »Ich wurde geboren, um mein Volk entweder zu retten oder zu zerstören. Genau wie du.« »Willst du mir nicht sagen, warum ich mit dir kommen sollte? Damit, dass ich hier bin, könnte ich mir eine Menge Arger einhandeln.« Tlitoo krächzte leise. »Wenn du auf ewig Angst davor hast, dir Arger einzuhandeln, werden wir nie etwas erreichen.« »Und was ist es, was wir erreichen sollen, wenn du schon so viel weißt?« Er krächzte wieder und blinzelte mich an. »Wölfchen«, sagte er ungeduldig, »die Großen Wölfe ha 37
ben mir befohlen, zu dir zu kommen. Sie haben mir befohlen, dir zu sagen, dass du Ausschau nach ihnen halten sollst und dass du dich in Acht nehmen und dir keinen Ärger mit deinem Rudel einhandeln sollst. Sie haben mir befohlen, auf dich aufzupassen, und du sollst auf mich aufpassen. Das ist alles.« Seine Ungeduld bereitete mir Vergnügen. Ich hatte das Gefühl, dass die Höchsten Wölfe ihm nicht halb so viel mitgeteilt hatten, wie er es gerne gehabt hätte. Ich
wollte mehr von ihm erfahren. Ich wollte wissen, was die Höchsten Wölfe wirklich gesagt hatten, aber ich erhielt keine Gelegenheit zu fragen. Als Rissa mich ungehalten rief, flog er auf, und ich stürzte zurück auf die Lichtung. »Geh hier nicht spazieren«, sagte Rissa, als ich mich zurück auf den Sammelplatz schlich. »Möchtest du Bärenfutter werden? Du weißt noch nicht genug, um allein durch den Wald zu streifen.« Ich sah Unnan und Borlla hinter ihr feixen und wusste, dass sie es gewesen waren, die ihr über mein "Verschwinden berichtet hatten. »Ich weiß, dass du froh bist, beim Rudel zu sein, Kaala, aber vergiss nicht, dass du noch viel zu lernen hast.« Sie leckte mich kurz und trabte dann hinüber, um zu dem Gespräch zwischen Ruuqo und den Raben zurückzukehren. Ich sah in den Wald hinein und erblickte ein Geflimmer von glänzendem Schwarz und hörte das Rascheln von Blättern. Ich wusste, dass irgendwo dort in dem Buschwerk ein Paar brauner Knopfaugen mich beobachtete. 38
Aus dem warmen Wetter wurde ein heißer Sommer, und die Tage wurden länger. Als unsere Körper kräftiger wurden, brauchten wir nicht mehr so viel Schlaf, und wir begannen uns an den Tagesablauf eines Wolfs zu gewöhnen. Wir schliefen in den heißen Nachmittagsstunden und spielten, lernten und fraßen in der Kühle der Morgen- und Abenddämmerung und in der mondbeschienenen Nacht. Wir lernten, dass der Mond nicht immer derselbe war, sondern sich jeden Tag in einem beständigen und beruhigenden Kreislauf wandelte, was uns half, die Zeit und die Jahreszeiten zu erkennen. Trevegg erklärte uns, dass wenn der Mond noch fünfmal rund und hell geworden war, wir groß genug sein würden, um mit dem Rudel zu jagen. Wir übten, jagten die Wühlmäuse, die sich in unsere Heimstatt verirrten, und lernten noch mehr vom Spiel mit Tlitoo und den anderen jungen Raben aus Edelschwings Schar. Zweimal wurde der Mond zu einer hellen und runden Scheibe und machte mich 38
frösteln bei der Erinnerung an unsere lange Wanderung über die Ebene. Ich schmeckte mein erstes Fleisch auf jenem Sammelplatz, als Rissa uns nicht mehr länger ihre reichhaltige Milch fütterte und das Rudel uns stattdessen Fleisch in ihren Bäuchen brachte. Wir waren zuerst verwirrt, als Trevegg sein Gesicht zu uns herunterbeugte. Wir rochen Fleisch, konnten aber nicht erkennen, woher der Geruch kam. Dann verengte Ázzuen seine klugen Äuglein zu Schlitzen und steckte seine Nase in den Winkel von Treveggs bleicher Schnauze. Der Altwolf würgte zweimal, und gutes Fleisch fiel aus seinem Rachen auf den Boden unter ihm. Als wir schließlich alle begriffen hatten, was da vor sich ging, stupsten wir die anderen Wölfe an, und sie gaben uns frisches, weiches Fleisch. Wir wurden stark und übermütig; es juckte uns, die Welt hinter dem Gefallenen Baum zu erkunden. Wir plagten unsere Ältesten unermüdlich, drängten sie, uns mitzunehmen, wenn sie auf die Jagd oder auf Erkundungs-Streifzüge in entlegenere Gebiete gingen, aber wir durften sie niemals weiter als eine halbe Stunde von unserem Zuhause entfernt begleiten. Endlich, drei Monate nachdem wir uns am Gefallenen Baum niedergelassen hatten, erhielten wir unsere Gelegenheit. Edelschwing und Schnabelweis waren kurz nach Einbruch der Morgendämmerung träge zum Sammelplatz geflogen. Obwohl Wölfe lieber in der Nacht jagen, sind
Raben doch Geschöpfe des Tages, und so folgen die Wölfe ihnen gerne tagsüber zu ihrer Beute. Edelschwing landete auf Ruuqos Kopf, während der Wolf die Lichtung beobachtete. Nervös schnappte er nach dem Vogel. 39
»Undankbarer Wolf!«, meinte Edelschwing entrüstet. »Wenn dir an den Neuigkeiten, die ich bringe, nicht gelegen ist, gehe ich damit eben zum Rudel der Wühlmausfresser. Die werden mich willkommen heißen.« Ruuqo gähnte. »Wühlmausfresser bringen dir niemals etwas Besseres als ein unausgewachsenes Reh. Wenn du anfängst, die Beute mit ihnen zu teilen, habt ihr ein mageres Jahr vor euch.« »Ich kann immer noch kleine Welpen fressen, wenn ich Hunger bekomme«, gab Edelschwing zurück und schwebte plötzlich auf Ázzuen und mich zu. Wir waren darauf vorbereitet. Ich duckte mich nach rechts, Ázzuen nach links. Edelschwing hielt abrupt inne und schaffte es nur mühsam einen Sturz auf den Erdboden zu verhindern. »Du musst schon um einiges schneller werden, wenn du ein Junges vom Schnellen Fluss erwischen willst«, meinte Rissa. »Was für Neuigkeiten bringst du uns, Edelschwing?« Edelschwing ordnete seine Federn. »Da du es bist, die mich fragt, Rissa«, antwortete er mit einem Seitenblick auf Ruuqo, »da ist eine Stute auf der Ebene des Hohen Grases, frisch getötet, und nur ein kleiner Bär frisst an ihr.« Rissa öffnete ihre Schnauze und zeigte ihre Zähne. »Dann denke ich, dass wir den Bären um seine schwere Mahlzeit erleichtern sollten. Wie hat es ein langsamer Bär überhaupt geschafft, ein Pferd zu fangen?« »Es lahmte«, antwortete Schnabelweis, »und war schon halb verendet. Doch die Bärin benimmt sich, als sei sie die Einzige auf der Ebene, die es hätte töten können. Sie ist keine schnelle Bärin und auch nicht besonders stark. Tapfere Wölfe könnten ihr die Beute abjagen.« Ihre Augen glänzten bei dem Gedanken. 39
»Ich dachte, wir müssten unsere Beute selber fangen!«, fragte Ázzuen verwundert. »Fleisch ist Fleisch, Wölfchen«, meinte Minn. »Wenn ein blöder Bär für uns etwas fängt, nehmen wir unseren Anteil davon gerne. Die stehlen unsere Beute auch oft genug.« »Die gefräßige Bärin will mit uns nicht teilen«, krächzte Edelschwing. »Sie behält das ganze Pferd für sich selbst und droht uns, wenn wir uns nähern. Ihr werdet mit euren Freunden, den Raben, teilen, nicht wahr?« »Wenn ihr uns zu dem Pferd bringt, bevor der Bär es vollständig aufgefressen hat, dann werden wir teilen.« Rissa grinste wieder ihr breites Grinsen, das ihre scharfen Zähne sehen ließ. »Zeigst du uns den Weg, kluger Edelschwing?« »Es ist weit für Welpen«, meinte Edelschwing und betrachtete uns abschätzend. »Wolfsjunge wachsen so fürchterlich langsam. Glaubst du, die Wölfchen werden es zur Ebene des Hohen Grases schaffen?« Ich stellte meine Ohren auf. Bedeutete dies, dass uns endlich erlaubt wurde, richtige Beute zu sehen? Ich konnte hören, wie Ázzuens Herz schneller schlug und Marras Atem zu einem schnellen Hecheln wurde.
»Meine Welpen sind stark«, meinte Rissa gemessen und weigerte sich damit, auf Edelschwings Anspielung einzugehen. »Es sind Wölfe vom Schnellen Fluss.« Ich richtete mich zu voller Größe auf. Noch so ein langer Weg machte mir Sorgen, aber ich hätte niemandem meine Furcht gezeigt. Und wir waren auch gar nicht mehr so klein. Unsere Köpfe erreichten schon fast die Schultern der Erwachsenen aus dem Rudel. Ázzuen stieß vor Aufregung kleine Freudenschreie aus. Unnan verdrehte die Augen und stupste Borlla, um sie auf uns aufmerksam zu machen und Ázzuen ins Lächerliche 40
zu ziehen. Aber er selbst konnte seinen eigenen Schwanz nicht davon abhalten, aus Vorfreude auf unser Abenteuer heftig zu wedeln. Yllin und Minn stimmten in die Aufregung um die kommende Jagd mit ein. Yllin nahm spielerisch Minns Schnauze zwischen ihre Kiefer, und Minn drückte Yllin mit den Pfoten zu Boden. Sie entkam ihm, sprang über einen bemoosten Felsen und landete in einer Pfütze, wobei sie ihn mit schlammigem Wasser bespritzte. Grinsend warf sie sich auf ihren Rücken und lud ihn damit ein, auf sie zu hechten. Als er die Aufforderung annahm und sprang, drehte sie sich einmal um die eigene Achse, griff ihn wieder an und entkam auf den Felsen. Dort oben schüttelte sie ihr Fell und spritzte ihm dabei dreckiges Wasser in das aufwärtsgerichtete Gesicht. Während die Jungwölfe spielten, bereitete Rissa das Rudel auf die Jagd vor, ging von einem Wolf zum nächsten, um den Zusammenhalt des Rudels zu stärken. Wenn eine Jagd erfolgreich sein soll, so hatte Trevegg uns gelehrt, muss das Rudel zusammenarbeiten, als sei es ein einzelnes Tier. Jeder Wolf muss die Absichten seines Rudelgefährten riechen können und die Gedanken seines Mitjägers erahnen. Jede Wölfin muss wissen, dass das Mitglied des Rudels, zu dem sie die Beute jagt, auch darauf vorbereitet ist. Deshalb wird der Anführer einer Jagd vor jeder Jagd sicherstellen, dass alle Wölfe ihre Gedanken ganz auf den gemeinsamen Erfolg zum Wohle des Rudels richten. Dieses Sich sammeln ist wichtig vor Reisen und bevor Entscheidungen gefällt werden, die das Rudel betreffen. Aber es ist niemals wichtiger als vor einer Jagd. Rissa legte ihren Kopf auf Treveggs Schulter und berührte dann mit der Nase Werrnas dunkle Schnauze. Werrna war die Nächste in der Rangfolge nach Ruuqo und Rissa, eine 40
harte und unerschütterliche Wölfin. Die Narben in ihrem Gesicht waren das Ergebnis der vielen Schlachten, die sie in ihrer Jugend geführt hatte. Sie war immer noch eine starke Kämpferin und plante alle Feldzüge der Wölfe vom Schnellen Fluss. Ihr dunkles, graues Gesicht und ihre schwarzen Ohren schienen immer unbeweglich zu sein, und sie war der einzige Wolf, der selten mit uns Jungen spielte. Ich konnte sie nicht wirklich einschätzen. Sie erwiderte Rissas Zärtlichkeit ungelenk und setzte sich dann, um zuzuschauen, wie die anderen Wölfe miteinander spielten. Mit einem Schnauben in ihre Richtung trottete Rissa hinüber zu Ruuqo und setzte ihre Vorderpfoten auf seinen Rücken. Ich glaubte, er würde sich über sie ärgern, er öffnete jedoch grinsend sein Maul und rollte sich auf den Rücken, rang mit ihr, als wären sie beide nicht älter als Welpen. Minn und Yllin liefen zu den anderen Wölfen und schmiegten ihre Körper eng an den Erdboden,
damit die anderen Wölfe sie ins Spiel einbeziehen würden. Selbst Borlla und Unnan gesellten sich dazu, genau wie Marra und Ázzuen. Ich saß dabei, schaute zu und fühlte mich ein wenig ausgeschlossen. Mit einem staubigen Niesen rappelte sich Ruuqo hoch und auf die Pfoten. Sofort hörte das Rudel mit dem Spiel auf und beobachtete ihn aufmerksam. Rissa setzte sich auf ihre Hinterpfoten und öffnete ihren Rachen weit, um ein wundervolles Geheul auszustoßen. Ruuqo ging zu ihr hinüber, hockte sich nieder und heulte mit ihr. Einer nach dem anderen antworteten die erwachsenen Wölfe, und ihre Stimmen erfüllten den Sammelplatz. Jedes Heulen hatte einen anderen Ton, aber alle zusammen ergaben sie den Klang des Rudels vom Schnellen Fluss. In ihrem Heulen erkannte ich den Ruf zur Jagd. 41
»Kommt Welpen«, sagte Rissa, »dies ist auch eure Jagd.« Unsere Stimmen waren nicht so kräftig wie die der Erwachsenen, doch wir stimmten dennoch genauso in das Lied mit ein. Die Schwingungen des Geheuls brachten unser Blut in Aufruhr. Die Herzen des Rudels vereinten sich zu einem Herzschlag, und unser Atem strömte im selben Rhythmus wie ihrer. Ich sah, wie eine Entschlossenheit und Anspannung in die Augen aller Wölfe des Rudels kam, und fühlte, wie meine eigenen Augen zuerst glasig wurden und ich dann schärfer sehen konnte als zuvor. Das Innere meines Kopfes dröhnte wider vom Heulen, und ich begann die Welt anders zu sehen. Ich roch nicht länger die verschiedenen Düfte des Sammelplatzes und hörte nicht länger das Geraschel um mich herum. Ich hörte nur noch Rissas Ruf und witterte den Geruch meines Rudels, während jetzt einige Wölfe von der Lichtung schössen. Alle meine Sinne waren darauf gerichtet, dem Rudel zu unserer nächsten Mahlzeit zu folgen. Mit einem Stups von Trevegg folgten wir den erwachsenen Wölfen von der Lichtung und in den Wald. Ich war überrascht, wie kräftig ich geworden war. In den Wochen am Gefallenen Baum war ich so groß geworden wie Marra und größer als Ázzuen und Reel, und mein Spiel mit den Raben hatte mich gelenkig und widerstandsfähig gemacht. Anstatt hinter den anderen Welpen herzuhinken, rannte ich jetzt mit Unnan und Borlla um die Wette für den Führungsplatz. Der Wald wurde lichter, umso weiter wir liefen, spärliche Buchen ersetzten die dichteren Fichten und Eichen von unserem Sammelplatz. Es war ein vollkommener Morgen, zum Laufen noch nicht zu warm, und der süße Duft der spätsommerlichen Blumen machte mich schwindeln. Ich hatte Mühe, nicht anzuhalten und an jeder neuen Blume und 41
jedem neuen Busch zu schnüffeln, doch das Rudel lief in einem gleichmäßigen Tempo, und jeder von uns Welpen konnte den Schritt halten. Keiner wollte mit Schmach zum Sammelplatz zurückgeschickt werden. Dann, mit einem Mal, überkam mich ein süßer, würziger Duft, und ich hielt abrupt, fiel dabei beinahe mit dem Kopf vornüber in den Staub. Die anderen Welpen hatten ebenfalls angehalten. Zuerst sprangen Borlla, dann Unnan in den Strauch, aus dem der Geruch kam. Einen Augenblick später folgten ihnen die restlichen von uns, betäubt von dem starken Duft, nach. Ázzuen war der Letzte, der hineinsprang. Ich hörte ein Kratzgeräusch und drehte mich, nur um zu sehen, wie er an seinem Schwanz wieder hinausgezogen wurde, Erstaunen in seinem Gesicht. Werrnas
narbiges Gesicht, ärgerlich verzogen, stieß wieder in den Busch, sie griff Marra am Nackenfell und zog sie hinaus. Ruuqos Stimme ließ die Übrigen von uns erzittern. »Welpen!«, bellte er. »Verlasst niemals das Rudel. Haltet eine Jagd nicht auf! Kommt sofort heraus, oder ihr könnt euch von Blumen und Blättern ernähren.« »Man sollte Welpen niemals auch nur in die Nähe von Salbeibüschen lassen«, knurrte Werrna verächtlich. »Der letzte Welpe bekommt als Letzter zu fressen!«, rief Yllin. Reel, der dem Rand des Gebüsches am nächsten war, sprang hinaus. Ich wäre als Nächstes an der Reihe gewesen, doch Unnan und Borlla versperrten mir den Weg. Sie drängten mich tiefer in das Gestrüpp hinein, bevor sie selbst hinauskrabbelten. Ich brauchte eine Weile, um von den starken Asten und klebrigen Blättern loszukommen. Dann, als ich mich befreit hatte, war ich verwirrt und krabbelte zwei Mal in 42
die falsche Richtung, bevor ich endlich die Witterung des Rudels hinter mir ausmachte. Niesend und den Staub aus meinem Fell schüttelnd schob ich mich aus dem Gebüsch hinaus, wo das Rudel schon ungeduldig auf mich wartete. Borlla und Unnan feixten. »Welpe, wenn du nicht mithalten kannst, brauchst du auch nicht zu fressen. Du tätest gut daran, nie wieder hinter den anderen zurückzubleiben.« Ruuqo starrte mich an. Meine Augen brannten bei dieser Ungerechtigkeit. Er war nicht annähernd so streng mit den anderen Welpen. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, führte Ruuqo das Rudel weiter. Mithalten, dachte ich. Ich werde mehr als mithalten. Meine Beine fühlten sich kräftig und sicher, als ich mich jetzt duckte und über einen verdutzten Ázzuen segelte. Dann lief ich. Es fühlte sich an, als würden meine Läufe mich überall dorthin bringen, wohin ich wollte. Yllin kläffte ermutigend, als ich an den anderen vorbeiraste. Zu meiner Überraschung war Marra das einzige Junge, das mit mir mithalten konnte. Obwohl sie sehr viel kleiner als Borlla und Unnan war, waren ihre Läufe doch lang und stark, ihre Knochen leicht. Sie lief mit leichtem Gang neben mir. Ich atmete schwer, sie aber nicht. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich hätte überholen können, wenn sie nur gewollt hätte. Um Atem ringend grinste ich sie an. »Lass es uns diesen Ringelschwänzen zeigen«, meinte ich zu ihr und erhöhte meine Geschwindigkeit, überholte Borlla und schloss bis zu Werrnas dunklem Hinterteil auf. Ich wusste, dass die Erwachsenen schneller rennen konnten, wenn sie wollten unsere Köpfe reichten bislang nur zu ihren Hüften hinauf -, aber das machte mir nichts aus. Wir liefen, schneller als wir je zuvor gelaufen waren. Die Gerüche des 42
Waldes streiften meine Nase, der trockene Sommerstaub erhob sich in einem Wirbelsturm unter meinen Pfoten. Ich stolperte kurz, rollte in einen Purzelbaum, und Marra lief um mich herum, während ich wieder auf die Pfoten kam. Ich war mir dumpf bewusst, dass Ázzuen versuchte, mit uns mitzuhalten, sein Atem rasselte durch seine Kehle. Ich wusste, dass ich auf ihn hätte warten sollen, dass das eine liebevolle Geste gewesen wäre, aber ich hatte einfach zu viel Spaß am Laufen.
Ich war so begeistert davon, außerhalb der Lichtung zu sein, kräftig und schnell zu sein, und begeistert von all den überwältigenden Gerüchen und Geräuschen um mich herum, dass ich das Aroma des Fleisches oder die durchdringende Witterung des unbekannten Geschöpfes am Rand des Waldes zunächst nicht bemerkte. Rissa senkte plötzlich ihren Kopf, um mich in meinem ungestümen Lauf anzuhalten. Marra stürzte von hinten in mich hinein. »Es ist großartig, flink zu sein, Welpen«, meinte Rissa und lachte leise. »Aber nicht ohne Beherrschung. Ihr wollt doch wohl nicht in das da hineinlaufen.« Der Wald hatte plötzlich aufgehört, und ein steiler Abhang führte auf eine trockene Graswiese. Spätsommerliche Wildblumen tupften das hohe Gras, von dem der Großteil zu einem goldenen Braun geworden war. Die erwachsenen Wölfe hatten am Rand des Waldes haltgemacht. Rissa zeigte mit ihrer Nase in Richtung der Ebene, wo ein riesiges braunes Ungeheuer an dem Kadaver eines Pferdes riss. Der durchdringende Geruch kam von ihm, mischte sich mit dem überwältigenden Aroma des Fleisches. Weit draußen auf der Wiese grasten wachsam stämmige Pferde. »Wie können sie einfach dort stehen, während einer aus ihrer Familie gefressen wird?«, fragte Marra. Sie war nicht 43
einmal außer Atem von unserem Lauf. Ázzuen stolperte zu uns dazu, japste und blickte mich vorwurfsvoll an. »Die Pferde sind nicht wie wir«, antwortete Minn voller Verachtung. »Sie sind Beute, und sie trauern nicht, wie wir es tun. Ihre Herden sind groß und ohne den Zusammenhalt, den die Wolfsfamilien haben. Der Tod berührt sie nicht so sehr.« »Da bin ich mir nicht so sicher, Minn«, meinte der alte Trevegg. »Wie können wir wissen, was sie empfinden? Ich habe gesehen, wie ein Muttertier über seinem gefallenen Fohlen ganze zwei Tage stand und uns von der Mahlzeit abhielt. Und ich habe einmal von einem jungen Elen gehört, der sich weigerte zu fressen, nachdem seine Mutter getötet worden war. Es starb an der Stelle, wo auch sie lag.« Seine Stimme klang nachdenklich. »Wir müssen töten, um zu leben, aber nehmt das Leben, das wir auslöschen, nie leichtfertig. Wir müssen dem Mond danken für jedes Geschöpf, das wir bekommen, und daher müssen wir die Geschöpfe, die wir töten, achten. Jedes einzelne ist Teil des Gleichgewichts der Welt.« Minn beugte seinen Kopf zur Bestätigung, dann richtete er seine ruhelosen Augen wieder auf die Ebene. Ein ungeduldiges Knurren stieg in seine Kehle. »Still!«, zischten Ruuqo und Rissa gleichzeitig. »Du musst lernen, dich zu zügeln, Minn, oder du wirst niemals eine Jagd anführen«, wies Rissa ihn zurecht. Minn senkte seine Ohren zur Entschuldigung. »Welpen«, befahl Ruuqo, »ihr bleibt versteckt. Folgt uns nicht, bevor wir euch nicht sagen, dass es sicher ist, oder ich werde eure Ohren abbeißen und sie mit Fichtenharz an eure Hinterteile kleben. Minn, Yllin«, sagte er zu den vorjährigen 43
Jungwölfen, »verliert nicht die Nerven. Ich weiß, dass ihr glaubt, ihr seid ausgewachsene Wölfe, aber ihr folgt immer noch Werrnas Befehlen.« »Es ist kein besonders großer Bär«, murmelte Minn. Als Ruuqo ihn scharf anblickte, senkte er wieder seinen Kopf. »Ich werde gehorchen, Leitwolf«, sagte er
mit unterwürfiger Stimme. Yllin kniff lediglich ihre Augenlider zusammen und beobachtete die Bärin aufmerksam. Mir schien die Bärin ziemlich groß zu sein. Sie beugte sich über das tote Pferd, doch wenn sie sich aufrichtete, um besorgt über die Ebene zu blicken, war sie so groß wie vier Wölfe. Ich konnte nicht glauben, dass Ruuqo und Rissa tatsächlich vorhatten, sie herauszufordern. Rissa führte den Angriff. Sie duckte sich auf den Boden und kroch vorwärts bis zum äußersten Rand des Waldes, die restlichen erwachsenen Wölfe folgten ihr. »Werrna«, flüsterte sie zu der ihr im Rang folgenden Wölfin, »geh zusammen mit Minn und Yllin hinter dem schwerfälligen Bären herum. Wartet auf mein Signal und stoßt dann im Kampf zu uns. Denk daran - wir sind ein Wolf weniger.« Meine Mutter, dachte ich. Sie ist der fehlende Wolf. Eine Welle der Traurigkeit überkam mich. Die anderen Welpen nahmen ihre Familie als selbstverständlich hin. Sie hatten Mutter und Vater. Rissa sorgte sich um mich wie um ihre eigenen Jungen, aber Ruuqo tat das keineswegs, und ich hatte niemanden, der wirklich zu mir gehörte. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bevor ich nach meiner Mutter suchen konnte. Wie um alles in der Welt sollte ich sie finden? Ich wusste nicht einmal, wo beginnen. Ich schluckte einen Seufzer der Trauer und Enttäuschung hinunter. Ich hielt Ausschau nach der Bärin und meinen Rudelgefährten, die sie 44
umzingelten. Dies war das erste Mal, dass ich an einer gemeinsamen Jagd des Rudels teilnahm, und meine Mutter hätte hier an meiner Seite sein sollen. Ich glaubte, ich hätte meine Gefühle genügend verborgen, doch Ázzuen leckte über die Seite meines Gesichtes, und als ich mich zu ihm wandte, sah ich, wie in seinen Augen Mitgefühl schimmerte. »Yllin sagt, deine Mutter sei der schnellste Wolf des Rudels gewesen«, meinte er verlegen. »Sie hat dir ihre Schnelligkeit vererbt.« Das Herz schmerzte mir in meiner Brust, und ich wusste, dass meine Stimme zittern würde, sollte ich versuchen etwas zu antworten. Ich wollte ihm meine Schwäche nicht zeigen, aber ich wusste auch nicht, wie ich ihm sonst hätte danken sollen, also legte ich nur meinen Kopf auf meine Pfoten und beobachtete den Angriff. Werrna führte die Jungwölfe entlang des äußeren Waldrandes und tauchte auf der Ebene wieder auf, gute dreißig Wolfslängen entfernt, auf der rechten Seite des Bären. Sie liefen schnell an der Bärin vorbei, weit genug weg, um keine Bedrohung für sie zu bedeuten. Sie blickte auf, entschied, dass sie keine Gefahr darstellten und wandte sich wieder ihrem Mahl zu. Werrna hielt genau hinter der Bärin auf ihrer rechten Seite an und sagte dann etwas zu Yllin. Yllin duckte sich auf den Boden, während Werrna und Minn weiterliefen. Sie umrundeten die Bärin, hielten direkt hinter ihr an, und Minn sank zu Boden, während Werrna den Kreis weiterzog und auf einem kleinen Hügel an der linken Flanke des Bärs haltmachte. Sie hatten die Bärin von drei Seiten umzingelt, und diese hatte nicht das Geringste bemerkt. Rissa und wir anderen vervollständigten den Kreis und schlossen damit die Falle. 44
»Bist du sicher, dass sechs Wölfe ausreichen?«, fragte Trevegg. »Ich bin nicht mehr so flink wie einst.« Er blickte beschämt zu Boden. »Du bist unsere Weisheit und unsere Stärke, Vaterwolf«, meinte Rissa und leckte über Treveggs Wange. »Wie viele Bären hast du in deinem Leben schon bekämpft? Wenn irgendjemand weiß, wie man einen Bären austrickst, dann bist du das. Deine Großnichte und dein Großneffe sind schnell und kräftig. Das Rudel ist stark. Und«, meinte sie grinsend die Zähne zeigend, »wie Minn schon gesagt hat, es ist nicht wirklich ein sehr großer Bär.« Ein ungeduldiges Krächzen führ uns allen in die Glieder. »Wartet ihr darauf, dass die Sonne ein Loch in die Steppe brennt?«, rief Edelschwing. Wir hatten weder gehört noch gewittert, wie er hinter uns angekommen und auf den Asten über uns gelandet war. »Von dem Pferd wird nichts mehr übrig sein, wenn ihr mit dem Gekläff fertig seid. Wuff, wuff, — wuff, wuff, wuff! Wölfe kläffen, und Bär frisst. Raben sind hungrig.« Er warf sich mit einem lauten Krächzen in die Luft, gefolgt von Tlitoo und der Hälfte des Rabenschwarms. »Das war also unser Überraschungsangriff«, seufzte Ruuqo, als der Bär aufblickte und die lauten Vögel entdeckte. »Na gut, dann gibt es auch keinen Grund zu warten, bis der Mond aufgeht«, meinte Rissa. Sie gab einen schwachen tiefen Ton von sich, fast wie ein Stöhnen, tief unten in ihrer Kehle. Werrnas raue Stimme antwortete ihr von der anderen Seite der Wiese. Im selben Moment sprang Minn die Bärin 45
von hinten an. Zur gleichen Zeit lief Yllin von rechts auf die Bärin zu, und auch Werrna verließ ihren kleinen Hügel und rannte in ihre Richtung. Die Bärin stand auf ihren Hinterbeinen. Ihre Tatzen waren fast so groß wie der Kopf eines Wolfes, ihre Zähne riesig. Als sie die drei Wölfe im Gras auf sich zurennen sah, wendete sie sich um und brüllte herablassend. Ich brauchte ihre Sprache nicht zu kennen, um zu verstehen, dass sie sagen wollte, kein kümmerlicher Wolf werde ihr das Futter abjagen. Yllin, Minn und Werrna flitzten hin und her, genau unter den todbringenden Tatzen der Bärin entlang. Dann sprangen alle Wölfe sie plötzlich gleichzeitig an, und während die Bärin durch diesen Angriff abgelenkt war, stürmten Rissa, Ruuqo und Trevegg den Hügel hinunter. Trotz seiner Bedenken hielt Trevegg Schritt mit den jüngeren Wölfen, und die drei sprangen zur gleichen Zeit, warfen die verwirrte Bärin zurück. Jetzt waren die Wölfe auch nicht länger leise, sondern knurrten die Bärin grimmig an. Neben mir jaulte Ázzuen erschrocken auf. Die Bärin war so wütend, so furchteinflößend, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie unsere Rudelgefährten ungeschoren davonkommen sollten. Doch sie warfen sich mit großer Geschwindigkeit und Beweglichkeit schnell hin und her, wendeten sich mal in diese mal in jene Richtung. Uber ihren Köpfen schrien ermutigend die Raben. Jetzt verstand ich den Sinn des Rabenspiels sehr viel besser. Es hatte immer ein wenig wie Zeitverschwendung für einen erwachsenen Wolf gewirkt, doch jetzt erkannte ich, dass Wölfe sich in Geschicklichkeit üben mussten, wenn sie Bären bekämpfen wollten. Yllins elegante Wendungen und Minns Sprünge waren nichts weiter als
eine Abwandlung ihrer Spiele mit Edelschwing und seiner Familie. Ich verstand auch, 46
warum ein schwacher Wolf das Rudel verwundbar macht. Wenn irgendeiner der Wölfe seine oder ihre Rolle nicht hätte erfüllen können, wäre es dem Bären ein Leichtes gewesen, einen Rudelgefährten zu töten oder zu verletzen. Füchse und Hyänen, die Hoffnungen gehegt hatten, der Bär würde ihnen etwas übrig lassen, sahen aufmerksam zu. Ein einsamer Adler kreiste über unseren Köpfen, nur um sich dann von Edelschwing und seiner Sippe verjagen zu lassen. Unbarmherzig griffen die Wölfe die Bärin immer wieder an und vertrieben sie schließlich. Sie kam noch einmal zurück in der Hoffnung, ihren Fang zurückzuerobern, doch sechs entschlossene Wölfe waren zu viel für sie. Ich erkannte jetzt, dass sie eine junge Bärin war, nicht viel älter als Yllin und Minn, und mit einem Rudel schlauer Wölfe konnte sie es nicht aufnehmen. Mit Wutgebrüll verzog sie sich auf die gegenüberliegende Seite der Ebene, über eine schmale Anhöhe und außer Sicht. Werrnas Gruppe lief ihr nach, um sicherzugehen, dass sie nicht zurückkommen würde, während Rissa, Trevegg und Ruuqo den Kadaver bewachten und die Füchse und Hyänen fernhielten. Werrna und die Jungwölfe kamen zurückgetrabt, die Ohren und Schwänze hoch aufgestellt. Mit bösem Knurren gegen die Füchse und gefräßigen Hyänen näherten sie sich dem Fang. Das Rudel tanzte um Ruuqo und Rissa, feierte seinen Erfolg. Ruuqo legte sich auf den Bauch, um den ersten Bissen aus dem Pferd zu reißen, und das übrige Rudel gruppierte sich um ihn, fraß an allen Teilen der Beute. »Welpen, kommt!«, rief Rissa. Wir schössen den Hügel hinunter auf den Kadaver des Pferdes zu. Als wir näher kamen, rief Werrna uns eine Warnung zu. 46
»Achtet auf das, was hinter euch ist«, grummelte sie und deutete mit ihrer jetzt blutbeschmierten Schnauze auf die Aasfresser. »Wenn die Schmarotzer unser Pferd schon nicht kriegen, dann nehmen sie sicher gerne einen Welpen. Wartet, bis die Erwachsenen gefressen haben, dann kommt dazu.« Mit einem Auge immer auf die Füchse, Hyänen und den einsamen Adler zerrte das Rudel an dem Kadaver. Wir warteten, wie uns befohlen worden war. Nachdem die Erwachsenen eine kleine Ewigkeit lang gefressen hatten, krochen wir näher. Wir zögerten alle. In meinem Mund floss das Wasser zusammen, und mein Bauch schmerzte, aber ich war durch das unbändige Fressen des Rudels ein wenig eingeschüchtert. Edelschwing und sein Schwärm fraßen neben ihnen, unbeeindruckt von den Kiefern und Zähnen, die an dem Pferd rissen, aber ich hatte Angst, die Erwachsenen könnten uns beißen, wenn wir ihnen zu nahe kämen. Der Bär hatte keine Gelegenheit gehabt, viel von dem Pferd zu fressen, und das Rudel feierte ein Festmahl. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Rissa uns wieder rief. »Worauf wartet ihr, Welpen? Ihr müsst euch jetzt euer Fleisch schon selbst holen. Ihr seid zu alt, als dass wir euch länger das Fressen in unseren Bäuchen bringen könnten.« Wir krochen näher an die tote Beute, hielten aber alle paar Schritte an, um zu sehen, ob Ruuqo und Rissa, die an der Mitte des Pferdes fraßen, es uns auch sicher nicht
übel nahmen, wenn wir uns näherten. Wir winselten und bettelten, machten uns klein, um sicherzugehen, dass die Erwachsenen wussten, wir würden nur kommen, wenn sie es auch duldeten. Minn und Yllin waren am vorderen Teil des Pferdes, Trevegg und Werrna am hinteren. Als wir uns näherten, knurrten Minn und Yllin uns an. Rissa knurrte zurück. 47
»Lasst die Jungen fressen«, befahl sie. »Ihr hattet genug.« Minn und Yllin als die jüngsten der Erwachsenen traten zögernd zur Seite und knurrten uns weiterhin an. Unterwürfig nahmen wir ihre Plätze ein. Es verletzte mich ein wenig, dass Yllin mich angeknurrt hatte, doch schon bald hatte das frische Fleisch die Gedanken an alles andere verdrängt. Ich riss an dem Körper der Stute. Nach dem ersten Bissen konnte ich mich nicht mehr beherrschen, ich musste schlingen. Der Geschmack des frischen Fleisches überwältigte mich, erstickte mich fast. Entschlossen, so viel wie möglich von dem Fleisch zu ergattern, biss ich und knurrte und schnappte nach den anderen Welpen. Das Blut pulsierte in meinen Adern, und mein Herz fühlte sich an, als würde es meinen Brustkorb sprengen. Plötzlich verstand ich, warum Yllin uns angeknurrt hatte. Unnan versuchte, mich aus dem Weg zu stoßen, aber ich biss ihm in die Schnauze. Er jaulte auf und rollte sich aus dem Weg. Als Marra mich aus Versehen anstieß, knurrte ich sie ebenfalls an, und sie zog sich von der Beute zurück. Ich fletschte sogar die Zähne gegen den Leitvogel der Raben, Edelschwing, der damit antwortete, dass er mir heftig in den Kopf hackte. Ich zuckte zusammen vor Schmerz, fraß aber weiter. Ich zerrte immer noch an dem guten Fleisch, als Minns dunkles Knurren mich kurz warnte, bevor er mich mit einem wuchtigen Schlag von meiner Mahlzeit vertrieb. Yllin und Werrna stießen Borlla und Unnan beiseite. Wir winselten und versuchten zurück zu unserem Fressen zu gelangen, doch die erwachsenen Wölfe jagten uns fort, und wir konnten nichts tun, außer ihnen beim Fressen zuzusehen. Erst jetzt bemerkte ich, dass Ázzuen, Marra und Reel schon vorher zur Seite gedrängt worden waren. Ich erinnerte mich vage daran, 47
jeden von ihnen weggebissen zu haben, als sie zu fressen versuchten. Sie taten mir ein wenig leid, aber ich konnte nicht anders, als bei mir zu denken, dass, wenn sie für ihre Nahrung nicht bereit waren zu streiten, nun ja - dann waren sie selber schuld. Ich ließ mich auf den Boden fallen und beobachtete die Erwachsenen. Borlla und Reel saßen nebeneinander, und Unnan ließ sich schläfrig neben ihnen nieder. Müde stand ich auf und ging hinüber, um meinen Kopf auf Ázzuens weichen Rücken zu legen, doch er stolzierte davon und legte sich zu Marra. Yllin, die durch Werrna von der Beute vertrieben worden war, kam mit einem dicken Bauch vollgefüllt mit Fleisch herüber zu mir. »Es ist gut, stark zu sein, kleine Schwester«, sagte sie zu mir, »aber werde nur nicht vollkommen rücksichtslos.« Sie blickte verächtlich auf Borlla und Unnan und schnaubte. »Ein Leitwolf muss für das kämpfen, was ihm gehört, doch er muss auch auf das Rudel achten und seine Stärke mit Bedacht einsetzen. Ein Leitwolf sollte sich nicht von Wut und Gier überwältigen lassen.«
Ihre Belehrung wäre sehr viel überzeugender gewesen, hätte sie mich vorher nicht so heftig angeknurrt und wäre sie nicht unmittelbar darauf wieder zu dem Kadaver getrabt, hätte Minn ins Bein gebissen und seinen Platz beansprucht. Aber ich verstand, was sie meinte, als Marra vor mir zurückwich und Ázzuen, der früher am Tag so freundlich zu mir gewesen war, jetzt seine kleine Nase in die Luft streckte und sich weigerte, neben mir zu schlafen. Selbst Tlitoo schwebte lediglich hoch über mir. Ich blickte auf, um zu erkennen, was er dort oben tat, und er ließ einen großen Kiesel auf meinen Rücken fallen. 48
»Gieriges Wölfchen«, rief er und flog davon. Scham überkam mich. Ich hätte es besser wissen sollen. Es war noch gar nicht so lange her, da war ich der schwächste Wolf des Rudels gewesen. Ich wollte kein Grobian werden wie Borlla und Unnan. Ich würde daran denken müssen, mein Temperament zu zügeln, oder ich wäre eines Tages ganz allein. Ich wollte mich gerne mit Ázzuen und Marra aussöhnen, doch das Fleisch lag schwer in meinem Magen, und ich konnte meine Augen nicht lange genug offen halten, um zu entscheiden, wie ich es anstellen sollte. Ein kühler Wind weckte mich, ich blickte auf und sah, dass die erwachsenen Wölfe um uns herum lagen und dösten. Es war Schlafenszeit, der heiße Teil des Tages war nicht geeignet, um zu jagen oder herumzulaufen. Der üppige Geruch des Fleisches wurde vom Wind herübergetragen, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Werrna und Rissa schliefen neben der Beute und bewachten sie. Einige Raben hüpften auf den Überresten des Pferdes herum, fraßen, während die Wölfe schliefen. Sie würden ebenfalls, so bemerkte ich, jeden Aasfresser melden, der sich näherte. Aber wenn ich mich näherte, würden sie vielleicht nicht Alarm schlagen. Tief auf meinen Bauch geduckt schlich ich mich zurück zum Fang. Ich war so leise, wie ich nur sein konnte. Ich schlüpfte zwischen Werrna und Rissa hindurch, doch als ich gerade ein köstliches Stück Sehne zwischen den Zähnen hatte, hob Rissa ihren Kopf und knurrte, während sie vollends erwachte. Als sie erkannte, dass nur ich es war, entspannte sie sich, stieß mich dennoch von der Beute fort. »Genug, Welpe«, meinte sie. »Für dich gibt's jetzt nichts mehr.« Sie lächelte. »Du wirst platzen, wenn du noch mehr frisst, und dann müssen wir dich in Stücken von der Ebene 48 aufsammeln.« Sie legte den Kopf auf ihre Pfoten und schloss ihre Augen. Ich ging zurück zu den anderen Welpen. Es langweilte mich zu warten, bis das übrige Rudel aufwachte, und ich blickte ungeduldig über die Ebene. Ich dachte daran, Ázzuen zu wecken, aber ich war mir nicht sicher, ob er immer noch böse mit mir war. Es war zu heiß, um zu spielen, und die Mondsichel auf meiner Brust schmerzte und juckte, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. Es war wegen dieser Schmerzen, dass ich diejenige war, die die merkwürdigen Wesen zuerst erblickte. Es waren zwei, und sie beobachteten uns von der anderen Seite der Ebene aus, dort wo kein Gras mehr stand und der Baumwuchs wieder begann. Der Wind blies in ihre Richtung und keiner von uns hatte ihre Witterung aufgenommen. Sie standen auf zwei Beinen, genau wie der Bär, als er uns bedroht hatte, aber sie waren nicht so groß und sehr viel schlanker. Ihre Vorderbeine hingen
gerade hinunter, und sie hielten lange Stecken darin. Ich konnte nicht erkennen, ob sie nur wenig behaart oder ob Teile ihres Fells einfach sehr kurz waren. Der Wind drehte, und ich konnte sie riechen. Wie bei den Pferden auf der Wiese war ihre Haut feucht und gab einen starken, nassen Geruch von sich. Es war ein merkwürdiger, nach Wacholder riechender, säuerlicher Duft, der mir bekannt vorkam. Verwirrt bellte ich warnend auf. Die anderen Wölfe blickten verärgert hoch. Dann witterten sie den sonderbaren Geruch und sahen, worauf ich blickte. Die erwachsenen Wölfe standen sofort auf, knurrten und umstellten den Fang. Die Raben erhoben sich kreischend in die Luft. Die fremden Wesen senkten ihre Stecken und ziel 49 ten damit auf uns, und ich erkannte, dass die Enden der Stöcke gespitzt waren wie sehr lange Dornen. Die Wesen machten einige Schritte nach vorne. Sie waren immer noch mindestens vierzig Wolfslängen entfernt, aber ich hatte keine Ahnung, wie schnell sie laufen konnten. Eine Säbelzahnkatze hätte diese Entfernung in einem Atemzug überwinden können. Ruuqo knurrte tief in der Kehle, und das Fell auf seinem Rücken stellte sich drohend auf, ließ ihn zweimal so groß erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Er zog seine Lefzen so weit zurück wie möglich und zeigte jeden einzelnen seiner zweiundvierzig scharfen Zähne. Alle um ihn herum, sämtliche Wölfe des Rudels vom Schnellen Fluss, knurrten und zeigten, wie gefährlich sie werden konnten. Die beiden lang-gliedrigen Geschöpfe begannen sich rückwärts zu bewegen, ihre scharfen Stöcke nach unten gerichtet, bis sie schließlich im Wald verschwunden waren. Das Rudel blieb wie es war, knurrte und schützte die Beute. »Werrna«, meinte Ruuqo zu der nächstrangigen Wölfin mit den scharfen Ohren, »sind sie weg?« »Sie haben den Fluss überschritten, Leitwolf«, antwortete Werrna, ihre schwarzen Ohren aufmerksam nach vorne gerichtet. »Wir sind fürs Erste in Sicherheit.« Der Schmerz in meiner Brust ließ nach. Ich erkannte, dass er stärker geworden war, als sich die Wesen uns genähert hatten. Ruuqo entspannte sich nur ein wenig. Die anderen Wölfe ließen sich wieder nieder, aber dieses Mal blieben alle in der Nähe des Fangs. Rissa stand weiterhin aufrecht, einige Wolfslängen entfernt, den fremden Wesen hinterherblickend. Sie stand immer noch angespannt dort, das Fell gesträubt, die Rute ausgestreckt nach hinten gerichtet. Ruuqo bemerkte, dass sie nicht zum Rudel zurückgekehrt war. 49 »Gefährtin?«, fragte er. Sie blieb einen Moment lang wortlos stehen. »Das gefällt mir nicht«, sagte sie. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.« Sie schaute auf uns und sprach dann zu Ruuqo. »Wenn der Mond aufgeht«, meinte sie, »überqueren wir den Fluss. Es ist Zeit, dass die Welpen lernen, was Menschen sind.« 49 Das Rudel schwieg still. Jedes Geräusch um uns herum wurde mir überdeutlich bewusst - die Raben, die sich um Fetzen des Fleisches zankten, kleines Beutegetier,
das hinter uns in den Büschen raschelte, selbst die Zecken, die auf Treveggs Fell hüpften. Ruuqo starrte Rissa an. »Die Menschen«, sagte er. »Du willst sie zu den Menschen führen? Wenn sie gerade erst vier Monate alt sind? Ich habe immer geglaubt, du seiest vorsichtig mit deinen Welpen, Rissa.« »Ich bin vorsichtig«, gab sie zurück und schritt zu ihm hinüber. »Deshalb will ich sie jetzt dort hinführen. Du hattest überhaupt kein Problem damit, sie über die Weite Ebene zu führen, Ruuqo, und das aus keinem anderen Grund, als deinen verletzten Stolz wieder aufzurichten. Diese Entscheidung treffe ich jetzt, Ruuqo.« Ruuqo stolperte rückwärts. Wenn ich nicht selbst so erschrocken gewesen wäre, hätte ich über sein Erstaunen la 50
chen müssen. Jeder der glaubte, Ruuqo sei der alleinige Anführer des Rudels vom Schnellen Fluss, hatte Rissa noch nie wütend gesehen. Edelschwing und Schnabelweis schauten von der Beute auf, legten für einen Augenblick ihre Köpfe schief, um zuzuhören, plusterten dann ihre Federn auf und kehrten zu ihrem Mahl zurück. »Menschen«, meinte Ázzuen leise und ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. »Sie sind nicht wie andere Geschöpfe. Sind sie Beute oder sind sie Gegner?« Verwirrt zog er die Brauen über seinen Augen zusammen. »Seit wann kommen die Menschen im Sommer zu der Ebene des Hohen Grases ?«, wollte Rissa wissen. »Sie sollten zu dieser Zeit des Jahres am Bergrand sein oder am Salamander See. Nicht hier, nicht jetzt. Sie bleiben nicht länger in ihrem Gebiet. Sie gehen, wohin sie wollen, wann immer sie wollen. Willst du, dass die Welpen sie alleine treffen, ohne Vorbereitung? Noch ein weiterer Mond, und sie werden alleine Streifzüge unternehmen. Vorher müssen sie darüber Bescheid wissen.« Ruuqo knurrte, so als wolle er seine vorherige Feigheit wettmachen. Rissa kniff ihre Augen zusammen und zog ihre Lefzen zurück. Sie war nicht mehr geschwächt vom Austragen der Welpen und hatte annähernd Ruuqos Gewicht. Ihr weißes Fell glänzte hell und gesund, ihre Schultern waren breit und kräftig. Ihre Botschaft war eindeutig: Sie würde nicht nachgeben. Die beiden Anführer des Rudels vom Schnellen Fluss standen einander gegenüber und starrten sich an. Um sie herum wurde das Rudel ungeduldig. Niemand schätzt Meinungsverschiedenheiten zwischen Leitwölfen, es stellt die Stärke des Rudels in Frage. Trevegg ging zu Ruuqo und flüsterte etwas in sein Ohr, doch Ruuqo stieß ihn 50
fort. Minn jaulte ängstlich auf, seine dürre Gestalt zitterte. Mir hatte sich der Magen zusammengezogen vor Aufregung. Was würde geschehen, wenn Ruuqo und Rissa tatsächlich miteinander kämpften ? Ich konnte fühlen, wie Ázzuen neben mir zitterte, und ich hörte Marras gehetzte Atemzüge. Nur Yllin und Werrna schienen sowohl interessiert zu sein als auch besorgt. Yllins Augen wanderten von Rissa zu Ruuqo und dann wieder zurück. Ich konnte ihre Gedanken förmlich lesen, während sie die beiden beobachtete und sich aneignete, was immer es über das Verhalten eines Leitwolfs zu lernen gab. Werrna knurrte ganz leise in ihrer Kehle, während sie die Auseinandersetzung ruhigen und berechnenden Auges verfolgte. Jedes Anzeichen von Schwäche bei einem der beiden Leitwölfe hätte die Möglichkeit
eines Aufstiegs für einen ehrgeizigen Wolf bedeuten können. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir Werrna als Anführerin des Rudels gefallen würde. »Ich denke nur an das Rudel, Rissa.« Ruuqo gab nicht nach, aber er drängte Rissa auch nicht in eine Position, aus der heraus ihr nichts anderes übrigbleiben würde, als ihn zu bekämpfen. »Das Rudel vom Felsgipfel ist stark, und du musst weit in ihr Gebiet hinein, wenn du die Menschen beobachten willst«, meinte er vernünftig. »Wir können es uns nicht leisten, in dieser Jahreszeit Welpen zu verlieren. Wenn der Winter kommt, brauchen wir jeden einzelnen Jäger. Die Beute ist nicht so zahlreich, wie sie einmal war.« Zorn stieg in mir auf. Er hatte sich nicht darum gekümmert, dass Ázzuen oder ich bei der Uberquerung der Ebene hätten sterben können oder ob Borlla und Unnan uns in Stücke reißen würden. Ich hatte gehört, wie er Werrna gegenüber behauptet hatte, jedes Rudel verlöre Welpen, also was 51
bedeute schon ein Haufen von Schwächlingen? Jetzt gab er vor, um unsere Sicherheit besorgt zu sein. Ich schuldete Ruuqo meine Ergebenheit, aber leiden konnte ich ihn nicht wirklich. Ich unterdrückte ein Knurren. Aber Rissas Stimme besänftigte sich, als sie immerhin Besorgnis hinter Ruuqos Gründen erkannte. »Ja, die Beute ist nicht so zahlreich, wie sie einmal war«, meinte sie. »Die Beute ist nicht mehr so zahlreich, weil die Menschen sie sich nehmen. Es wird bald Zeit für unsere Winterwanderungen sein, Gefährte, und dann werden wir sie sicher sehen. Die Welpen müssen sie kennenlernen. Und zwar jetzt kennenlernen.« »Es gefällt mir nicht«, sagte Ruuqo, doch das Fell auf seinem Rücken legte sich. »Wenn wir vorsichtig sind, können wir sie bis zum Winter einfach nicht beachten.« »So wie Hiiln sie nicht beachtet hat?«, fragte sie. Ruuqo verzog die Miene. Ich hatte die Erwachsenen über Hiiln flüstern hören. Er war aus dem Rudel ausgeschlossen worden, bevor wir zur Welt kamen. »Du kannst eine Säbelzahnkatze, die auf der Jagd ist, nicht umgehen, Gefährte«, fuhr Rissa fort. »Du weißt genauso gut wie ich, dass es geschehen muss. Wir werden bis zum Mondaufgang warten. Die Menschen sind in der Nacht so blind wie frischgeschlüpfte Vögel. Das wird uns genug Sicherheit geben.« Ruuqos Schultern senkten sich, doch er beugte seinen Kopf als Zustimmung. »Minn und Trevegg werden mit mir hierbleiben, um unser Fleisch zu bewachen. Du nimmst Yllin und Werrna mit euch.« Yllin und Werrna waren gute Kämpfer. Vielleicht war es ihm ja doch nicht gleichgültig, ob uns etwas zustieß. Oder 51
zumindest, ob Rissa etwas zustieß. Rissa legte ihren Kopf sanft auf Ruuqos Hals, und ich fühlte, wie sich das Rudel um mich herum entspannte. Die Raben, die den Anschein gegeben hatten, als wären sie so beschäftigt mit ihrem Mahl, stießen erfreutes Gurren aus. Dann öffnete plötzlich Edelschwing seinen Schnabel und ließ einen warnenden Schrei ertönen. Das merkwürdige Kitzeln in meiner Brust kehrte zurück. Doch bevor ich davor warnen konnte, dass die Menschen wiederkamen, schössen Werrnas Ohren in die Höhe.
»Sie kommen zurück. Und es sind diesmal mehr von ihnen.« Ein Grummein bildete sich tief in ihrem Brustkorb. »Sie kommen, um unsere Beute zu stehlen!« Wir drehten uns alle zu Ruuqo um. »Wie viele sind es?«, fragte er Werrna. »Sieben«, antwortete Edelschwing vom Fang her und breitete seine Schwingen aus. »Alles Erwachsene, alle männlich.« Er stieß einen krächzenden Seufzer aus. »Lasst uns so viel Fleisch nehmen, wie wir eben können. Sonst ist gleich nichts mehr übrig als blutiges Gras.« »Du könntest mit uns zu den Menschen kommen«, schlug Rissa heiter vor. »Wenn ihr euch nicht davor fürchten würdet, ihnen tagsüber zu begegnen, würden wir das«, antwortete Schnabelweis. »Wir haben keine Angst vor ihnen. Wir gehen dorthin, wann immer uns danach zumute ist.« »Die Menschen werfen mit Gegenständen nach uns«, gab Tlitoo zu und landete neben mir und Ázzuen. »Aber sie lassen gute Sachen zum Fressen am Rand ihres Lagers zurück. Es gibt vieles, das man nehmen kann, wenn sie einen nicht bemerken.« Er zwinkerte uns zu. »Ich werde euch hinbringen, wenn euer Rudel das nicht tut. Ich kenne den Weg.« 52 »Sollen wir sie diesmal bekämpfen, Leitwolf?« Werrnas Augen waren finster und entschlossen. Ich wartete darauf, dass Ruuqo das Signal zum Kampf geben würde, in der Hoffnung, er würde dieses Mal die Welpen mit einbeziehen. Ich fühlte das Prickeln der Aufregung. Ich konnte verstehen, warum die Erwachsenen uns nicht mit der Bärin kämpfen ließen - ein Schlag mit ihrer Tatze, und wir wären tot. Doch sicherlich würden sie uns am Kampf gegen diese schwächlich aussehenden Menschen teilhaben lassen. Die hatten nicht die starken Gliedmaßen des Bären. Sie waren nicht einmal sehr groß. »Sie machen so viel Lärm!«, flüsterte Marra, als die Menschen auf die Ebene des Hohen Grases zutrampelten. Wir konnten sie ausgezeichnet hören, obwohl sie noch weit entfernt waren. »Sind sie dumm oder einfach nur unvorsichtig? Wir dürfen niemals so viel Krach machen.« »Vielleicht haben sie ihre Gründe, keine Angst zu zeigen«, meinte Ázzuen, sein Gesicht angespannt in Gedanken vertieft. »Sie schienen vorhin keine Angst vor uns zu haben, nur vorsichtig zu sein. Sie sind anders, so viel ist sicher.« »Es sind Gegner, du Narr«, sagte Unnan. »Du bist nur zu dumm, um das zu bemerken.« Ázzuen kümmerte sich nicht um Unnan. »Nein«, meinte er. »Da ist noch etwas anderes. Kannst du das nicht spüren?« Unnan verdrehte die Augen und wendete sich ab, doch Marra nickte langsam. Ich wollte ihnen erzählen, wie ich mich gefühlt hatte, wie der Halbmond auf meiner Brust sich erwärmt hatte, als die menschlichen Wesen näher gekommen waren, doch ich fürchtete mich davor. Wenn irgendjemand mir helfen konnte, dies zu verstehen, dann der schlaue Ázzuen, doch ich würde nicht das Risiko eingehen, dass einer 52
der anderen davon hörte. Das warme Gefühl in meiner Brust nahm zu, und ich sah mich selbst schon durch die Luft springen und eines dieser Geschöpfe zu Boden werfen. Ázzuen wäre an meiner Seite, und zusammen würden wir eines von ihnen unterwerfen. Töten würde ich es jedoch nicht. Ich würde ihm das Leben schenken und mich vielleicht mit ihm anfreunden. Es war ein merkwürdiger Gedanke, aber ich konnte mir vorstellen, mit einem von ihnen zu laufen, über Wiesen und durch Wälder zu rennen. Ich schüttelte meinen Kopf. Mit Beute oder Gegnern lief man nicht. Man jagte sie oder bekämpfte sie. Ich drehte mich wieder zu Ruuqo um. »Rückzug, Wölfe«, befahl er. »Nehmt, was immer ihr könnt, von dem Fang und zieht euch in die Wälder zurück.« Yllin, Werrna und Trevegg begannen sofort damit, Fleisch aus dem Pferd zu reißen. Ich konnte nicht glauben, dass Ruuqo weglaufen wollte. Ein scharfer Biss von Minn ließ mich aufjaulen. »Worauf wartest du noch, im Namen des Mondes ?«, sagte er. Ich bemerkte zum ersten Mal, wie sehr sein dünnes Gesicht dem wieselähnlichen Gesicht von Unnan glich. Ihre Wesenszüge glichen einander ebenso. »Tu, was man dir befohlen hat.« Immer noch verwundert, lief ich auf den Fang zu. Yllin war es gelungen, eines der Vorderbeine des Pferdes herauszulösen, zusammen mit einem Großteil der Schulter und einigen Rippen, und sie kämpfte jetzt mit dem Beutestück, das sie unter die Bäume ziehen wollte. Ázzuen und ich liefen zu ihr, um ihr dabei zu helfen, während Trevegg die übrigen Welpen den Abhang hinauf und in den Wald trieb. Jeder von ihnen schnappte sich ein kleines Stück des Pferdes. »Beeilt euch!«, rief Trevegg. »Die Menschen bewegen sich heute schnell.« 53
»Warum kämpfen wir nicht gegen sie ?«, fragte ich Yllin, während ich nach der Schulter des Pferdes schnappte. Ázzuen nahm sich das Bein am unteren Ende und jaulte auf. Tlitoo hüpfte auf das Teil, das wir trugen, und pickte an der Schulter herum, während wir uns damit abmühten. »Weil Ruuqo Angst vor den Menschen hat«, meinte Yllin, während sie innehielt, um zu Atem zu kommen. Sie blickte über ihre Schulter, um sicherzugehen, dass niemand nah genug war, um uns hören zu können, und senkte ihre Stimme. »Sein Bruder, Hiiln, wurde verbannt, weil er zu viel Zeit bei den Menschen verbrachte. So wurde Ruuqo zum Leitwolf. Und Rissa hätte eigentlich Hiilns Gefährtin werden sollen, nicht Ruuqos. Deshalb ist er sich seiner Stellung nicht sicher. Er denkt, er sei nur der zweitbeste gewesen. Das ist es auch, was sein Name bedeutet - zweiter Sohn. Sein Vater gab ihm diesen Namen, als er und Hiiln nur vier Wochen alt waren.« Rissa trabte vorbei mit einem großen Stück Fleisch in ihrem Maul. Sie kläffte kurz anerkennend, als sie die Größe dessen sah, was wir ergattert hatten. »Beeilt euch«, sagte Yllin und nahm die Schulter wieder in die Schnauze, dabei ruckte sie heftig daran, was Tlitoo beinahe in den Staub purzeln ließ. Er flatterte mit den Flügeln, um sein Gleichgewicht wiederzufinden und blickte Yllin vorwurfsvoll an. »Du bist so ungeschickt wie ein lahmer Auerochse«, grummelte er. Ich grinste ihn an, schloss dann meine Kiefer fest um die Schulter des Pferdes und zog kräftig. Zusammen schleiften Ázzuen, Yllin und ich das Stück unter die Bäume,
näher an die Stelle, wo sich das übrige Rudel bereits versteckte. Die Größe des Fleischbrockens, den wir trugen, machte uns zu 54 schaffen. Wir hielten noch einmal, atmeten schwer vor Anstrengung. Tlitoo blickte uns verächtlich an und flog fort, zurück in Richtung des Fangs. Yllin sah ihm nach, wie er davonflog. »Wir sollen uns ohnehin nicht zu viel mit den Menschen abgeben«, meinte sie. »Das ist ein Wolfsgesetz. Aber Ruuqo übertreibt es. Du darfst sie nicht töten oder verletzen, es sei denn, sie bedrohen dich. Und du darfst keine Zeit mit ihnen verbringen. Aber du darfst sie bestehlen und deinen Fang verteidigen, solange das nicht den unnötigen Tod eines Menschen zur Folge hat. Vorausgesetzt dein Leitwolf hat es dir gestattet. Doch zu verhungern, weil du einem Kampf mit ihnen aus dem Weg gehst, kann ja wohl kaum eine Lösung sein. Wenn ich Leitwolf wäre, würde ich sie bekämpfen.« »Aber du bist nicht Leitwolf, Yllin, noch nicht.« Yllin zuckte zusammen bei dem Klang von Treveggs Stimme, doch der Altwolf war erheitert. »Du weißt genauso gut wie ich, dass es uns verboten ist, unnötigerweise mit den Menschen in Berührung zu kommen. Es ist die Aufgabe eines Leitwolfes, sicherzustellen, dass dieses Gesetz befolgt wird. Jetzt lasst uns dieses Fleisch vergraben, bevor selbst die unfähigen Nasen der Menschen es erschnüffeln können.« »Ja, Grauwolf«, antwortete Yllin unterwürfig, aber sie senkte ihre Ohren nicht. Trevegg bemerkte ihre mehr als widerwillige Zustimmung und schnaubte. »Du wirst einen schlechten Einfluss auf die Welpen ausüben. Komm schon, Jungwolf. Du kannst von uns Alten immer noch einiges lernen.« Er nahm das ganze Bein, Schulter, Rippen und alles zusammen, schleppte es alleine in den Wald und ließ uns drei verdattert stehen, sodass wir vor Bewunderung nur starren konnten. Als ob sie nicht 54
gerade zurechtgewiesen worden wäre, sprang Yllin ihm hinterher. Wir bekamen nicht zu Gesicht, wie die menschlichen Wesen unsere Beute entwendeten. Wir versteckten uns in den Büschen wie die Kaninchen. Die Menschen waren so laut wie die Raben, als ob es ihnen gar nichts ausmachte, dass jeder Bär und jede Säbelzahnkatze im Tal sie hören konnte. Wir vergruben das meiste von unserem Fleisch bei den Ausläufern des Waldes, an einer Stelle, die Rissa Rand des Waldes nannte, ein kleiner Sammelplatz, den wir benutzten, wenn wir auf der Ebene des Hohen Grases jagten. Als das Fleisch versteckt war, versammelte Rissa uns Welpen um sich herum. Trevegg setzte sich neben sie. Er hechelte immer noch ein wenig in der Hitze. Einer nach dem anderen gesellten sich die Wölfe des Rudels zu uns und ließen sich nieder auf dem weichen Boden, an der kühlsten Stelle, die sie finden konnten. Nur Ruuqo stand ein wenig abseits und blickte zurück in Richtung der Beute, wo, wie wir immer noch hören konnten, die Menschen sich über unseren Fang hermachten. Rissa wartete, bis wir ihr alle Aufmerksamkeit schenkten. Dann begann sie zu sprechen. »Das Große Tal ist nicht wie andere Orte«, sagte sie, »und wir sind nicht wie andere Wölfe. Wir sind dazu auserwählt, eine große Aufgabe zu erfüllen, und haben daher
geschworen, bestimmte Gesetze zu befolgen. Deshalb müsst ihr dem, was ich euch jetzt erzählen werde, gut zuhören, besser zuhören, als jemals zuvor.« Rissa sah mich nicht an, als sie von den Gesetzen sprach, doch ich konnte die Augen des übrigen Rudels auf mich gerichtet fühlen. Niemand hatte vergessen, was Ruuqo und die Höchsten Wölfe über meine Geburt gesagt hatten und dar 55 über, dass sie gegen die Gesetze des Großen Tales geschehen war. Ázzuen schmiegte sich eng an mich, doch ich merkte, dass ich mich gar nicht fürchtete. Vielleicht würde ich endlich erfahren, warum ich anders war, warum mich Ruuqo so sehr hasste. Ich lehnte mich so weit nach vorne, wie ich nur konnte, bemüht, jedem Wort zu folgen. »Heute Nacht werden wir euch zu den Menschen bringen, die unser Tal mit uns teilen«, fuhr Rissa fort. »Sie sind gefährlicher als der Bär, gefährlicher für euch als die Raubvögel eurer Kindheit. Es ist euch verboten, irgendetwas mit ihnen zu tun zu haben. Wenn ihr auf sie trefft, ohne dass ein Leitwolf euch begleitet, lauft fort, selbst wenn ihr gerade an der besten Beute nagt, die ihr je gefangen habt. Wenn die Leitwölfe es euch befehlen, könnt ihr von ihnen stehlen oder mit ihnen um Beute kämpfen, ganz gleich, ob diese Beute lebendig oder tot ist.« Ich hörte, wie Yllin bei diesen Worten vor sich hin grummelte. Sie war immer noch verärgert darüber, dass Ruuqo uns nicht mit den Menschen um das Pferd hatte kämpfen lassen. Rissa beachtete sie nicht weiter. »Jeder Wolf, der darüber hinaus mit den Menschen Umgang pflegt«, sagte die Leitwölfin, »wird ausgestoßen - nicht nur vom Rudel, sondern aus dem ganzen Großen Tal.« Ich blickte mich um. Von unserem Versteck im Wald aus konnte ich weder die Berge sehen noch die Hügel, die an unser Zuhause grenzten. Das Tal war unermesslich groß. Ich konnte mir nicht vorstellen, es jemals zu verlassen. »Am allerwichtigsten ist«, meinte Rissa, »dass ihr niemals einen Menschen tötet, es sei denn, ihr verteidigt euer Leben oder euer Rudel. Wenn ihr einen Menschen ohne Grund tötet, werdet ihr und euer ganzes Rudel dies mit dem Leben be 55
zahlen müssen. Die Höchsten Wölfe werden jeden Wolf, der mit euch verwandt ist, töten.« Das machte uns aufhorchen. Wir alle hörten auf, über den Rand des Waldes zu blicken, und keiner bewegte sich mehr. Alle starrten auf Rissa. »Es ist an der Zeit für euch«, sagte sie, »zu lernen, was das Abkommen des Großen Tales bedeutet.« Sie hielt für einen Augenblick inne und sah hinüber zu Ruuqo, als erwarte sie, dass er wieder mit ihr zu streiten begänne. Doch er blickte ihr nur ungerührt in die Augen. »Wenn du sie schon zu den Menschen führst, wenn sie noch schlammhirnige Welpen sind«, knurrte er, »dann kannst du ihnen auch genauso gut von den Legenden erzählen.« Er stolzierte mehrere Wolfslängen von uns fort, fand eine feuchte Stelle auf dem Boden in der Nähe eines verrottenden Astes und legte sich dort mit dem Rücken zu uns gekehrt nieder.
»Also gut«, meinte Rissa und weigerte sich, näher auf seine Verärgerung einzugehen. »Es gab einmal eine Zeit, in der Menschen und Wölfe einander bekämpften, und nahezu alle Wölfe waren bereits verendet.« Sie machte eine kurze Pause. »Ihr erinnert euch doch noch daran, was ihr über die Ahnen gelernt habt?«, fragte sie uns. »Sonne, Mond, Erde und Himmel«, antwortete Ázzuen rasch und wiederholte, was Trevegg uns viele Monde zuvor erzählt hatte. »Sie schufen alle Geschöpfe und das Gleichgewicht, und wir müssen ihren Gesetzen folgen. Aber mehr hat Trevegg uns nie erzählen wollen«, maulte er. Rissa kläffte ein leises Lachen, als sie die Entrüstung in Ázzuens Stimme bemerkte. Er hasste es, wenn es etwas gab, das 56
er nicht wusste. »Das ist richtig«, erwiderte sie. »Und ihr werdet mehr darüber erfahren, wenn es an der Zeit ist. Alles, was ihr jetzt wissen müsst, ist, dass eure Vorfahren den Ahnen versprochen haben, dass dieses Tal ein Ort des Friedens sein wird. Darum geht es bei diesem Abkommen. Deshalb müssen wir dieses Versprechen halten, und deshalb lastet das Schicksal aller Wölfe auf unseren Schultern.« Ihre Stimme nahm einen ganz anderen Klang an, den Klang von Legenden, die von einer Generation Wölfe an die nächste weitergereicht werden. »Das Versprechen wurde vor langer Zeit gegeben«, sagte sie, »als die Wölfe gerade zu Wölfen geworden und als die Menschen noch nicht wirklich Menschen waren. Da traf ein Wolf namens Indru auf einen Menschen am fernen Rand einer großen Wüste. Beide waren sehr hungrig, und beide führten ein Rudel auf der Suche nach Nahrung.« »Dies war eine Zeit«, fügte Trevegg an, »da die Menschen noch nicht so verschieden von all den anderen Geschöpfen waren.« Der Altwolf ließ sich mit einem Seufzen nieder. »Sie waren schlauer als manche und weniger schlau als manch andere, erfolgreicher im Überleben als einige und nicht so erfolgreich wie wieder andere. Es gab weniger von ihnen als jetzt, und sie trugen Fell wie gewöhnliche Geschöpfe, waren nicht halbnackt, wie sie es jetzt sind.« Borlla schnaubte, und Trevegg verzog sein Maul zu einem Grinsen, bevor er fortfuhr. »Aber schon damals standen sie hoch auf ihren Hinterbeinen, und schon damals gebrauchten sie so etwas wie Werkzeuge, obwohl längst noch nicht so viele, wie sie jetzt haben.« »Was sind Werkzeuge?«, fragte Ázzuen, bevor ich die Gelegenheit dazu hatte. 56
»Ihr habt gesehen, wie die Raben Zweige von den Blättern befreien und sie dazu benutzen, um Larven aus dem Inneren der Bäume hervorzuholen?«, fragte Trevegg. »Es ist eigentlich genau so etwas. Der Zweig ist ein Werkzeug, und der Mensch ist besser darin, Werkzeuge zu benutzen, als irgendein anderes Geschöpf. Dies ist eine der Gaben, die die Menschen von den Ahnen erhalten haben, so wie wir die Schnelligkeit unserer Läufe und die Klugheit bei der Jagd bekamen.« »Die Werkzeuge damals waren aber nicht mit denen von heute zu vergleichen«, versicherte Yllin und unterbrach den Altwolf. »Der, der ein Mensch werden sollte
und den Indru damals traf, hatte nur einen Stock zum Graben und einen geschärften Stein zum Schneiden. Es waren dieselben Werkzeuge, die schon seine Vorfahren und die Vorfahren von deren Vorfahren benutzt hatten. Er hatte noch nicht den Gedanken gehabt, den Stein am Ende eines Steckens zu befestigen oder das Ende des Steckens anzuspitzen, um damit nach der Beute zu werfen.« Yllin schaute sich plötzlich beschämt um, als sie bemerkte, wie sie die Erzählung übernommen hatte, doch sie fuhr fort, als Rissa ihr ermutigend zunickte. »Damals waren die Menschen noch Schmarotzer«, erzählte der Jungwolf. »Sie ernährten sich hauptsächlich von der Beute anderer und von dem, was immer sie selbst an kleinerer Beute fangen konnten.« »Sie sind nur Schmarotzer?«, wollte Unnan wissen. »Warum müssen wir uns dann Gedanken um sie machen?« »Sei ruhig, Welpe!«, befahl Ruuqo von seinem Sitzplatz bei dem Ast aus. Ázzuen neben mir erschrak heftig, und Marra bellte leise auf. Ich hatte geglaubt, Ruuqo sei eingeschlafen, doch offensichtlich hörte er genau zu. Unnan legte 57 seine Ohren an, und Ruuqo beobachtete ihn für einen Augenblick, bevor er sich wieder von uns abwandte. »Damals waren sie noch Schmarotzer«, erklärte Trevegg mit einem Seitenblick auf Unnan. »Heute sind sie es nicht mehr.« Ich unterdrückte ein freudiges Grunzen über Unnans Verlegenheit und setzte mich auf meine Hinterläufe. »Es war eine Zeit der Dürre«, fuhr Rissa fort, ganz so als sei sie nie von Yllin unterbrochen worden, »und es gab wenig Nahrung. Die Menschen, die noch zu richtigen Menschen werden sollten, verloren ihren Kampf ums Überleben. Indrus Wolfsrudel kämpfte ebenso, und Indru hatte seine Wölfe auf der Suche nach Nahrung bereits eine weite Strecke über das Land geführt. Obwohl es ihnen besser ergangen war als den Menschen, konnte er nicht zulassen, dass ihnen gute Beute entkam. Und wenn alles mit rechten Dingen zuging, dann waren die schwachen Wesen, die dort vor seinem Rudel aufgetaucht waren, nichts anderes als Beute.« Ich erinnerte mich daran, wie ich mich gefühlt hatte, als ich die Menschen am anderen Ende der Ebene des Hohen Grases gesehen hatte. Wie ich hin- und hergerissen war zwischen dem Gefühl, sie bekämpfen zu müssen, und dem Gefühl, gemeinsam mit ihnen laufen zu wollen. Ich konnte mir vorstellen, wie ich dort neben Indru stand und die Menschen beobachtete. Und bevor ich noch wusste, wie mir geschah, hatte ich schon ausgesprochen, was mir in den Sinn kam. »Aber er konnte in ihnen keine Beute sehen«, flüsterte ich, und dann stockte mir der Atem, als ich bemerkte, was ich gesagt hatte. Ich legte meine Ohren an, bevor mich irgendjemand zurechtweisen konnte. Rissa zog ihre Lippen ein ganz klein wenig zurück und 57 seufzte dann nur. Als sie dann wieder zu sprechen begann, klang ihre Stimme sehr, sehr sanft. »Er konnte in ihnen keine Beute sehen. Er blickte den Menschen in die Augen und sah etwas, das ihm bekannt vorkam, etwas, das er in den Augen eines Wolfes ebenso hätte erkennen können.«
Ruuqo knurrte leise von seinem Platz neben dem Ast herüber und hob seinen Kopf. »Entgegen aller Vernunft und jedem Sinn«, fuhr Rissa fort, »befahl Indru seinem Rudel nicht, die Menschen zu jagen. Stattdessen lud er die aufrechtstehenden Wesen ein, mit seinem Rudel zu spielen. Und als die Sonne hoch am Himmel stand und als es zu warm geworden war, um zu laufen, lagen sie beieinander und schliefen Seite an Seite.« Rissa schloss ihre Augen halb, während sie weitererzählte. »Als sie erwachten«, sprach sie, »erwachten sie verändert. Indru sah, dass die Menschen sich nicht so sehr von den Wölfen unterschieden, wie er geglaubt hatte. Wenn er sie genauer betrachtete, erkannte er, wie schwach und krank sie bereits waren - wie nahe an der Schwelle des Todes. Und Indru wollte nicht, dass die Menschen starben. Er wollte bei ihnen sein, wollte mit ihnen laufen, so wie er mit seinem Rudel lief. Er konnte sie nicht länger dem Tod überlassen, genauso wenig wie er eines seiner Jungen hungern lassen konnte, wenn sein eigener Bauch mit Fleisch gefüllt war. Er entschied sich, den Menschen Dinge beizubringen, die ihnen helfen würden zu überleben. Manche sagen, dass, als Wolf und Mensch dort beieinander lagen, sich ihre Seelen miteinander verbunden hatten und, selbst als sie sich dann erhoben und auseinandergingen, jeder ein Stück der Seele des anderen mit sich nahm.« »Das ist nicht Teil der überlieferten Geschichte!«, 58 schnauzte Ruuqo, sprang plötzlich auf seine Füße und erschreckte uns alle. Er stolzierte zu uns herüber. »Das ist nicht die Legende, so wie sie erzählt werden sollte.« »Es ist das, was ich als Welpe gehört habe«, erwiderte Rissa. »Nur weil du nicht daran glaubst, heißt das nicht, dass es nicht wahr ist.« Ruuqo knurrte tief in der Kehle. Er schritt wieder an seinem Ast auf und ab und drehte sich unruhig um sich selbst. Ich wartete darauf, dass er sich wieder hinlegen würde. Stattdessen ging er zu Rissa zurück und setzte sich neben sie auf seine Hinterläufe, als wäre er bereit zum Sprung. Rissa selbst knurrte ein leises verärgertes Knurren zurück, bevor sie mit ihrer Geschichte fortfuhr. »Die Wölfe lehrten die Menschen, wie man zusammenarbeitet, um Beute zu machen, sodass sie nicht länger auf andere angewiesen waren, um Nahrung zu finden«, erzählte sie. »Sie lehrten die Menschen, Sammelplätze zu finden, wo sie zusammenkommen konnten, um sich auszuruhen und zu beraten.« »Dies waren die Geheimnisse der Wölfe«, unterbrach Ruuqo, »und Indru hätte besser daran getan, sie nicht mit denen zu teilen, die einmal Menschen werden würden. Jedes Geschöpf hat seine Geheimnisse - Gaben, die ihm von den Ahnen gegeben wurden -, und allen ist es verboten, diese Geheimnisse miteinander zu teilen. Denn die Ahnen wussten, dass, wenn ein Geschöpf zu viel lernen würde, es zu mächtig werden könnte und das Gleichgewicht damit stören würde. Indru war von seinen Gefühlen für die menschlichen Wesen so sehr geblendet, dass er das Gesetz der Ahnen nicht beachtete. Er fuhr fort, ihnen Dinge beizubringen, die sie nicht hätten wissen sollen, und es dauerte nicht lange, da hatten sich die Menschen verändert.« 58
Ruuqo hörte auf zu reden und stolzierte zurück zu seinem Ast. Als klar war, dass er nicht weitererzählen würde, nahm Rissa die Geschichte wieder auf. »Sie hatten sich sehr verändert. Weil sie im Rudel jagten, hatten sie mehr Nahrung, und sie wurden immer stärker. Auf ihren neuen Sammelplätzen trafen sie sich und machten die Erfahrung, dass der Verstand von Vielen besser ist als der eines Einzelnen. Sie entdeckten neue Wege, Nahrung zu finden, und bessere Wege, sich zu schützen. In einer kalten Nacht, als sie müde vor Kälte zitterten und sich vor den Tieren, von denen sie gejagt worden waren, verstecken mussten, lernten sie, das Feuer zu zähmen.« Ich hatte Feuer gesehen, wie es sich manchmal durch die Bäume und Büsche des Waldes fraß. Es schien unmöglich, dass irgendein Geschöpf es beherrschen könnte, und ich konnte mir nicht helfen, ich musste mich fragen, wie solch ein Wesen wohl beschaffen sein mochte. Rissas Stimme unterbrach meine Gedanken. Ich schüttelte mich und kroch ein wenig näher an sie heran. »Als die Menschen gelernt hatten, das Feuer zu beherrschen«, erzählte sie, »brauchten sie nicht länger ihr dickes Fell, und es fiel von ihnen ab wie Blätter von einem Baum. Sie lernten neue Arten, ihre Werkzeuge zu gebrauchen und herzustellen, die ihre Vorfahren sich nicht hätten denken können. Sie fanden neue Möglichkeiten zu töten und zu kämpfen. Sie wurden überheblich und stolz. >Wir sind anders<, sagten sie. >Wir sind besser als die anderen Geschöpfe. Seht ihr, wie kein anderes Wesen Feuer machen kann? Seht, wie kein anderes Wesen Werkzeuge aus Stein und Holz herstellte« Das Geräusch von Flügelschlagen ließ uns alle aufblicken. 59 Edelschwing landete vor Rissa und Trevegg, den Schnabel noch blutig von seinem Mahl. Mein Magen rumorte bei dem Gedanken an das gute Fleisch, das jetzt außer Reichweite war. » Wolf und Mensch sind stolz. Beiden Demut zu lehren Ist des Raben Los.« Er zog an Rissas Ohr und schlug mit den Flügeln vor Treveggs Nase. Als der Altwolf grinste und mit seinen Kiefern nach dem Vogel schnappte, schwang sich Edelschwing in die Luft und ließ sich auf einem Ast direkt über uns nieder, wo Schnabelweis schon auf ihn wartete. Ich fragte mich, wie lange die Raben wohl schon zugehört hatten und warum ihnen unsere Legenden überhaupt etwas bedeuteten. Rissa betrachtete sie einen Augenblick nachdenklich, dann sprach sie weiter. »Die Menschen entschieden, dass alle anderen Geschöpfe ihnen dienen sollten«, sagte sie. »Die Wölfe weigerten sich, und Menschen und Wölfe kämpften gegeneinander. Die Menschen begannen in ihrem Zorn jedes Wesen zu töten, das sich ihnen nicht unterwarf. Dann zündeten sie den Wald an, in dem sie selbst gelebt hatten.« Ich erschauderte. Trevegg hatte uns erzählt, dass das Feuer vor drei Jahren zwei unserer besten Sammelplätze zerstört hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, eine solche Zerstörung absichtlich herbeizuführen. »Das war es, was die Aufmerksamkeit der Ahnen erregte«, meinte Trevegg. »Und als die Ahnen sahen, was die Menschen von den Wölfen gelernt hatten, und als sie sahen, was die Menschen taten, da wussten sie, dass diese Geschöpfe das
60 Gleichgewicht bedrohten. Dass sie weiter töten würden und weiterhin alles und jedes Geschöpf um sie herum zerstören würden. Und die Ahnen wollten nicht gestatten, dass solche Dinge geschahen. Also verkündete der Himmel den Menschen und den Wölfen, dass die Zeit für sie gekommen sei zu sterben.« »Als Indru das hörte«, sagte Rissa, »heulte er vor Trauer und Verzweiflung. Er stieg auf den höchsten Berg, den er finden konnte und rief nach den Ahnen, um sie um das Leben der Wölfe und der Menschen zu bitten. Zuerst hörten sie ihn nicht.« Rissa erhob ihren Kopf, um auf Edelschwing und Schnabelweis in den Bäumen über ihr zu blicken. Beide breiteten ihre Flügel aus, und Edelschwing begann zu sprechen. »Also flog Tlitookilakin, der König der Raben, der die Wölfe und die Menschen beobachtet hatte, den ganzen Weg hinauf zur Sonne und pickte mit seinem scharfen Schnabel nach den Ahnen. Die Sonne sah hinab und erblickte Indru, und sie rief die anderen Ahnen - den Mond, die Erde und Großmutter Himmel -, um zuzuhören. Tlitookilakin flog an Indrus Seite, denn er wollte nicht, dass seine Raben verhungern mussten um der Dummheit der Wölfe willen.« Der Rabe legte seinen Kopf von der einen auf die andere Seite und setzte sich dann wieder auf seinem Ast zurecht. Trevegg reckte witternd seine Schnauze in den Wind, senkte sie dann wieder und sprach weiter. »Mit demütig angelegten Ohren und der Rute höflich zwischen den Hinterläufen versteckt«, so erzählte er, »stand Indru vor den Ahnen. Er sprach zu ihnen und bewies mehr Mut als jemals ein Wolf gezeigt hat. >Bestraft nicht alle Wölfe und alle Menschen<, bat er. >Es 60 war meine Schuld und die meines Rudels, dass dies geschehen ist. Bereitet unserem Leben noch kein Ende. Es gibt so viele Dinge, die wir noch lernen müssen, so vieles, was noch zu entdecken ist.< Der Himmel sandte einen warmen Wind, der durch Indrus Fell strich. >Jedes Geschöpf hat seine Zeit zu leben und seine Zeit zu sterben<, erklärte der Himmel mit sanfter Stimme. >Es ist an der Zeit für euch, den Weg frei zu machen für das, was als Nächstes kommen wird. So ist es immer gewesen, und so muss es auch weiterhin sein.< Indru blickte verzweifelt auf den Himmel, er wusste nicht, was er als Nächstes machen sollte. Der Rabenkönig pickte ihn feste in den Leib, und der Wolf sprach weiter. >Unsere Zeit ist noch nicht vorüber<, flehte er. >Wir haben gerade erst damit begonnen, diese wundervolle Welt, in der wir leben, zu erkunden.< Die Erde grummelte als Antwort auf diese schönen Worte und ließ den Berg erzittern. Da setzte sich Indru auf seine Hinterläufe und heulte ein Lied so süß und traurig, dass sogar der Himmel zitterte. Und der Mond und die Erde standen zum ersten Mal in ihrem langen, langen Leben vollkommen still. Die Ahnen betrachteten Indru mit großer Verwunderung. Kein anderes Lebewesen hatte sich je vor sie gestellt und so mutig und ruhig seine Angelegenheit vertreten. Die Ahnen waren bereits sehr, sehr alt und waren einander überdrüssig geworden. Sie langweilten sich und waren einsam - so einsam wie ein Wolf ohne Rudel. In
dem Lied des Wolfes vernahmen sie einen Weg, ihrer Einsamkeit zu entgehen und Gefährten zu finden. Sie berieten untereinander, während Indru und Tlitookilakin zitternd auf dem Gipfel des Berges warteten. 61
Schließlich, nach einer Weile, die Indru wie eine Ewigkeit vorkam, sprach der Himmel. >Wir werden dir deine Bitte erfüllen<, sagte der Himmel, und Indrus Herz begann wieder zu schlagen. >Doch du musst uns ein Versprechen geben - ein Versprechen, das deine Kinder und die Kinder deiner Kinder werden halten müssen.< >Ich verspreche alles<, rief Indru. Der Himmel donnerte als Zeichen der Zustimmung. Nichts anderes war zu erwarten gewesen. >Da die Menschen jetzt glauben, sie seien besser als alle anderen Geschöpfe^ erklärte der Himmel, >wird ihre eigene Macht sie blind machen. Sie werden Feuer anzünden, viel größer, als du sie dir vorstellen kannst. Sie werden kämpfen, und sie werden töten, und sie werden sich nicht darum kümmern, ob sie alles und jeden vernichten, der nicht ist wie sie. Sich selbst überlassen werden sie sogar das Gleichgewicht zerstören, und dann werden wir keine Wahl mehr haben, dann werden wir nicht nur das Leben der Wölfe und der Menschen beenden müssen, sondern das der gesamten Welt.«< Trevegg machte eine Pause und blickte uns an. »Ihr erinnert euch daran, was ich euch von dem Gleichgewicht erzählt habe, als ihr noch winzige Welpen wart?«, fragte der Altwolf. »Dass es das Gleichgewicht ist, was die Welt zusammenhält, und dass jedes Geschöpf, jede Pflanze, jeder Lufthauch ein Teil davon ist? Nun, der Himmel - Erster aller Ahnen -fürchtete, dass, wenn das Gleichgewicht gestört würde, auch die Ahnen mit ihm untergehen müssten. Aber es war ein großes Wagnis, Indru so sehr zu vertrauen. Doch der Himmel war einsam und wünschte sich, dass es den Wölfen gelingen werde.« 61 Der Altwolf streckte sich noch einmal und schloss seine Augen, wie um Indru auf seinem Berggipfel besser erkennen zu können. »>Wir werden die Menschen herausfordern. Wir werden ihnen heftige Stürme senden und Trockenheit und glühenden Tod von den Bergen und von oben herabschicken<, erklärte der Himmel dem Wolf. >Das wird die Menschen davon abhalten, zu stark und überheblich zu werden. Sie werden sich wehren müssen, und die Anstrengung wird sie davon abhalten, uns Schwierigkeiten zu machen. Doch dies ist das Versprechen, das ihr uns geben müsst, Wolf: Ihr dürft ihnen nicht wieder helfen. Ihr und eure ganze Art - ihr müsst euch von ihnen fernhalten. Ihr müsst ihre Gesellschaft meiden.< Indru hätte sein Leben gegeben, um seine Sippe zu retten, wie jeder gute Leitwolf das getan hätte. Er hätte dem Himmel seine Nase gegeben und seine Zähne, wenn das von ihm verlangt worden wäre. Aber dieses Versprechen konnte er nicht geben. Er konnte sich nicht vorstellen, auf immer und ewig den menschlichen Geschöpfen fernzubleiben. Das wäre ebenso schlimm, dachte er, als wenn man die Gefährten
des Rudels dem Tod überließe. Er wandte sein Gesicht ab, blickte nicht weiter auf den Himmel und die Sonne und antwortete nicht. Die Erde erzitterte unter seinen Pfoten. >Dies ist der einzige Weg<, sagten die Ahnen. >Wenn du sie nicht aufgibst< - die Sonne schien unbarmherzig auf seinen Kopf herab -, >werden sie noch mehr von euch lernen. Sie werden so stark werden, dass selbst wir sie nicht mehr in ihre Grenzen weisen können. Ihr werdet sie bekämpfen müssen, und sie werden euch bekämpfen.< >Dies ist der Preis, den ihr zahlen müsst<, rief der Mond 62 laut von der anderen Seite der Erde herüber, um Gehör zu finden. Aber erst als Tlitookilakin ihn so fest auf den Kopf pickte, dass der Wolf einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken konnte, gab Indru den Ahnen seine Antwort. Dann endlich beugte er seinen Kopf und versprach dem Himmel, dass die Wölfe auf ewig die Gesellschaft der Menschen meiden würden.« Trevegg hielt einen Moment inne, und für den winzigsten aller Augenblicke sah er mir in die Augen. »Jahre über Jahre«, führ er fort und wandte seinen Blick ab, »taten die Wölfe ihr Bestes, um Indrus Versprechen einzuhalten. Aber sosehr sie es auch versuchten, sie konnten den Menschen nicht immer aus dem Weg gehen.« »Sie hatten nicht bedacht, wie schwierig es werden würde«, sprach Rissa weiter, als der Altwolf für einen Moment schwieg. »Weder die Wölfe noch die Ahnen verstanden die Kraft der Anziehung, die zwischen den Menschen und den Wölfen herrschte. Ob es nun so war, weil Wölfe und Menschen ihre Seelen miteinander geteilt hatten«, und sie blickte herausfordernd zu Ruuqo, »oder ob es so geschah, weil sie zu viel Zeit miteinander verbracht hatten, es war unmöglich für Indrus Kinder, sich von den Menschen fernzuhalten. Immer und immer wieder kamen sie zusammen, und jedes Mal wurde der Himmel zorniger und trennte sie voneinander. Dann, viele Jahre später, lange nach Indrus Zeit, kam eine Jungwölfin - nicht viel älter als ihr Welpen es jetzt seid - und jagte mit den Menschen, und sie lehrte ihr Rudel dasselbe zu tun. Damit verursachte sie einen großen Krieg. Und damals wurde das Abkommen des Großen Tales geschlossen.« . »Die Ahnen hatten die Wölfe gewarnt, dass, wenn das Ver 62 sprechen gebrochen würde, alle Wölfe und alle Menschen sterben müssten«, erzählte Trevegg. »Als dann der Wolf Lydda mit den Menschen jagte, sandte der Himmel einen Winter, der drei Jahre lang dauerte und der das Leben der Menschen und der Wölfe beenden sollte. Doch dann, als schon alles verloren schien, tauchten riesige Wölfe auf, Wölfe die behaupteten, sie seien geschickt, um unsere Wächter zu sein. Dies waren die ersten Höchsten Wölfe, und manche sagen, sie seien auf den Strahlen der Sonne vom Himmel hinuntergeschritten, und sie seien ein Teil der Ahnen selbst.« »Die Höchsten Wölfe kamen, um uns eine letzte Gelegenheit zu geben. Sie kamen, um über die Wölfe zu wachen und um sicherzustellen, dass die Wölfe Indrus Versprechen nie wieder vergessen würden«, erklärte Rissa. »Und weil die Höchsten Wölfe wussten, dass sie nicht für immer auf der Erde bleiben konnten, suchten sie
Wölfe, die eines Tages ihre Stellung als Hüter der Wölfe übernehmen konnten, Wölfe, die über alle anderen wachen würden, damit nie wieder Wölfe und Menschen zusammenkämen. Sie suchten auf der ganzen Welt nach Wölfen, die genug Stärke für diese Aufgabe zeigten. Diese Wölfe brachten sie dann hierher in das Große Tal. Dann verschlossen die Höchsten Wölfe das Tal, entschieden, welche Wölfe Junge haben konnten und welche nicht, und erlaubten nur denen, im Tal zu bleiben, die den Ahnen schwören wollten, die Gesetze des Abkommens zu achten.« »Dass wir so weit wie nur möglich den Menschen fernbleiben würden«, sagte Trevegg. »Dass wir niemals ohne Grund einen Menschen töten würden«, fügte Yllin hinzu. »Und dass wir unser Geschlecht schützen und uns niemals 63 mit einem Wolf von außerhalb des Tales paaren würden«, schloss Rissa. »Diese drei Gesetze werden jedem Wolf gelehrt, der in diesem Tal geboren wird. Und jeder, der sie nicht befolgt, wird getötet oder weit fortgeschickt. Jedes Rudel, das diese Gesetze nicht beherzigt, wird ausgelöscht. Seit damals sind die Höchsten Wölfe die Sprecher der Ahnen, und sie sind die Wächter der Wölfe und des Versprechens. Doch eines Tages, wenn sie zum Himmel zurückkehren, werden wir ihren Platz einnehmen. Wir müssen uns dieser Aufgabe würdig erweisen. Wir müssen darauf vorbereitet sein, wenn dieser Tag eintrifft. Wenn wir nicht vorbereitet sind, wird es danach keine Wölfe mehr geben.« 63
6
Unnan war der Erste von uns, der etwas sagte. »Warum ist es so wichtig, dass wir uns nicht mit Wölfen von außerhalb des Tales paaren?«, fragte er mit einem vielsagenden Blick auf mich. »Warum ist es so falsch, einen Wolf mit fremden Vorfahren am Leben zu lassen?« Trevegg blickte Unnan scharf an, antwortete ihm jedoch. »Mischlinge können gefährlich sein«, sagte er. »Einige von ihnen fühlen sich zu sehr von den Menschen angezogen. Andere können nicht anders und müssen Menschen töten. Auf die eine oder andere Weise würde das Abkommen gebrochen, und wir hätten unsere Aufgabe nicht erfüllt. Andere Mischlinge können sich weder für die eine noch die andere Verhaltensweise entscheiden, fühlen sich zerrissen und werden verrückt. Niemand weiß, wie sie sich verhalten werden.« »Also bringt es uns in Gefahr, einen Mischling in unserem Rudel zu haben?«, fragte Borlla mit scheinheiliger Un 63 schuldsmiene. Ich konnte mich gerade noch beherrschen, ihr nicht die Ohren abzureißen. Marra gab vor, nach einem Floh zu kratzen, und grub dabei ihre Krallen in Borllas Hüfte. Borlla knurrte und sprang sie an. Bevor wir anderen uns noch in den Kampf einmischen konnten, packte Trevegg Borlla beim Nackenfell und zog sie zur Seite.
»Genug!«, schimpfte der Altwolf. »Gelegentlich mischen wir unsere Abstammungslinien. Die Höchsten Wölfe bringen Wölfe von außerhalb des Tales zu uns. Andernfalls würden unsere vererbten Fähigkeiten verkümmern.« »Du hättest zum Schluss Wölfe mit drei Ohren und zwei Nasen«, schlug Yllin vor und knuffte Unnan spielerisch. Er fiel zur Seite und funkelte sie böse an. »Wir erlauben Mischlinge, wenn die Höchsten Wölfe es gestatten«, erklärte Rissa, »so wie sie es bei Kaala getan haben.« »Die Höchsten Wölfe könnten sich doch irren, oder?«, hakte Borlla nach. »Sie könnte immer noch gefährlich sein.« »Darüber hast du nicht zu entscheiden, Welpe«, sagte Trevegg. Ruuqo erhob wieder seinen Kopf, um mich anzusehen. Rissa kam herüber zu mir, stellte sich neben mich und leckte über meinen Kopf. »Wir werden darüber nicht weiter reden«, entschied sie. »Es ist der Wille der Höchsten Wölfe, und so ist es geschehen. Ihr müsst euch an das erinnern, was ich euch von den Menschen und über das Abkommen erzählt habe. Jetzt schlaft - wir haben nur noch wenige Stunden, bevor wir wieder loslaufen.« Dann, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen, ließ sich das Rudel nieder, um den Rest des heißen Tages zu ver 64 schlafen. Ázzuen und Marra legten sich so eng neben mich, wie es in der Nachmittagssonne gerade noch angenehm war, und ich war dankbar für ihre Unterstützung. Doch mein Herz schlug wild. Es war nicht nur, dass Ruuqo mich nicht im Rudel der Wölfe vom Schnellen Fluss haben wollte. Es war viel mehr als das. Ich könnte Gefahr für alles im Tal bedeuten. Ich wollte unbedingt mehr über die Menschen wissen und was es war, das sie so wichtig machte. Ich wollte Trevegg öder Yllin noch viel mehr fragen, während die anderen Welpen schliefen. Doch die Wärme des späten Nachmittags machte mich müde, und bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich mit meinem Rudel in den Schlaf gefallen. Rissa weckte uns zwei Stunden nach Mondaufgang. Ich rollte mich glücklich in der kühlen Abendluft, in einer viel besseren Stimmung als vor dem Einschlafen. Ich war ein Welpe des Rudels vom Schnellen Fluss, und nichts von dem, was Borlla und Unnan vorbringen konnten, würde dies ändern. Unser Verabschiedungsritual ging schnell und leise vonstatten, mit nur ganz verhaltenem Bellen und Rufen. Die Menschen waren von unserem Fang verschwunden - nur die Erinnerung ihres Geruches blieb -, aber wir würden dennoch kein Risiko eingehen. Rissa hatte erzählt, dass unser Geheul sie selbst aus der Ferne verstörte. Wir verließen Rand des Waldes, überquerten die Ebene des Hohen Grases im Lauf und gelangten schnell in den Wald auf der anderen Seite. Alle von uns Welpen taten ihr Bestes, um mit den Erwachsenen Schritt zu halten. Bevor wir aufgebrochen waren, hatte Ruuqo uns davor gewarnt, ungehorsam zu sein. 64 »Jedes Junge, das die Anweisungen nicht befolgt, wird alleine zurückgeschickt. Ihr weicht nicht von der Fährte ab, die Rissa euch führt. Jeder Welpe, der nicht gehorchen kann, bleibt hier.« Sein Tonfall erlaubte keinen Widerspruch. Wir hatten alle versprochen zu gehorchen.
Der Wald auf der anderen Seite der Ebene des Hohen Grases duftete stark nach Bäumen und Büschen, die ich noch nicht kannte, aber wir hielten nicht an, um die neuen Gerüche zu erkunden. Sowohl die Wiese als auch der Wald rochen nach Menschen, und der säuerliche Geruch machte mich schwindeln. Er war einfach zu verfolgen, selbst einige Stunden später, und wir bewegten uns schnell im Mondlicht. Es war ein halber Mond, er erleuchtete die nächtliche Welt in scharfen Gegensätzen und gab allem deutliche und klare Konturen. Die Blätter wurden vom Mondglanz umrissen, der Erdgrund war voller verschiedener Abstufungen des Lichterspiels, und wir konnten sehr viel weiter sehen als im blendenden Tageslicht. Es war die Zeit zum Jagen, und es war einfach, die abgebrochenen Zweige und den aufgewirbelten Staub zu verfolgen, den die Menschen sorglos hinter sich gelassen hatten. Der Menschenduft war so eindringlich, dass wir sie auch in einer mondlosen Nacht hätten verfolgen können, aber ich begrüßte die Hilfe des hellen Mondes, der die nächtliche Welt erleuchtete. Wir hörten den Fluss, bevor wir ihn sahen. Es klang wie ein starker Wind, der durch Hunderte von großblättrigen Bäumen strich. Es roch natürlich nach Wasser, aber auch nach feuchter Erde und verfaulendem Holz, nach reichlich gesättigtem Wald und kleinen, fetten Tieren - vielen Mundvoll von Echsen und Mäusen. Ich begann vor Aufregung zu hecheln, als wir uns dem Fluss näherten, der unser Gebiet 65 von dem der Menschen trennte. Ich fragte mich, wie sich das Gelände auf der anderen Seite des Wassers wohl von dieser Seite unterscheiden würde. Der Fluss war stärker, als ich erwartet hatte, und floss auch sehr viel schneller. Die Neigung hinunter zum Fluss fiel sanft ab, doch das Ufer auf der anderen Seite stieg steil an. Ich zögerte am Rand des Wassers. Genauso wie alle übrigen von uns Welpen. »Es ist nur Wasser, Welpen«, sagte Rissa und suchte die Umgebung nach Gefahren ab, dann beugte sie ihren Kopf hinunter, um zu trinken. Ihr lautes Schlappen ließ mich bemerken, wie durstig ich war - wir hatten kein Wasser getrunken, seitdem wir unsere Mahlzeit verspeist hatten. Das Wasser war köstlich. Es schmeckte nach Blättern und Fisch und fernen Orten. »Ich frage mich, wo er hinführt«, sagte Marra, den Blick flussabwärts gerichtet. »Ich mache mir mehr Gedanken über das Hinüberkommen auf die andere Seite«, meinte Ázzuen und blickte ängstlich zum anderen Ufer. Unnan kicherte, und Ázzuens Rute senkte sich ein wenig. »Kommt, Welpen«, sagte Rissa fröhlich. Sie strich durch den Fluss und sah dann zurück auf uns. »Ihr müsst euch an das fließende Wasser gewöhnen. Manche Beute kann schwimmen, und ihr müsst ihr hinterherschwimmen können. Ihr wollt doch nicht, dass euch eure Beute davontreibt«, grinste sie. Rissa konnte den größten Teil des Weges hinüberwaten. Sie musste erst schwimmen, als sie so ziemlich die Mitte des Flusses erreicht hatte. Wir Welpen würden den größten Teil des Weges schwimmen müssen. Sie kletterte mit Leichtigkeit auf der anderen Seite hinaus, schüttelte sich und 65
sah zu uns zurück. Werrna watete hinein und hielt genau dort an, wo der Fluss tiefer wurde. Das Wasser bewegte sich wie der Wind. Ich schwamm gerne und hatte glücklich in dem kleinen See bei unserem Zuhause herumgepaddelt, aber so etwas wie hier hatte ich noch nie versucht. Ich tunkte eine Pfote ins Wasser und versuchte meinen ganzen Mut für die Überquerung zusammenzunehmen. Etwas traf mich heftig von hinterrücks, ich fiel und plumpste tief in den Fluss. Ich schluckte einen Mundvoll Wasser und Schlamm und krabbelte zurück ans Ufer, hustete und schüttelte Wasser aus meinem Fell und meinen Augen. Hinter mir entdeckte ich eine feixende Borlla am Ufer hocken. Ohne nachzudenken und Ruuqos Warnung vollkommen vergessend, sprang ich Borlla an und warf sie zu Boden. Sie hätte mein Ertrinken verursachen können, und sie hatte mich auf jeden Fall lächerlich aussehen lassen. Damit sollte sie mir nicht durchkommen. »Welpen!«, brüllte Werrna und watete zurück durchs Wasser, während Yllin ihren Kopf senkte, um zu versuchen, Unnan und Ázzuen von etwas abzuhalten, was ein ordentlicher Kampf zu werden versprach. »Ist das etwa, was ihr Benehmen nennt? Ihr seid keine kleinen Wölfchen mehr. Von euch wird erwartet, dass ihr euch so verantwortungsvoll verhaltet, dass ihr auf einem Streifzug nicht mehr ständig überwacht werden müsst. Muss ich euch zurück zu Ruuqo schicken?« Zögernd ließ ich Borlla los. Ihre Augen funkelten vor Zorn, und mir war klar, dass sie mit mir kämpfen wollte. Aber sie würde auf die nächste Gelegenheit warten müssen. Die Möglichkeit, die Menschen zu sehen, würde sie sich genauso 66
wenig entgehen lassen wie ich. Wir senkten beide unsere Köpfe vor Werrna und fielen auf unsere Bäuche. Borlla trat mit ihrer linken Pfote tief zwischen meine Rippen. Ich widerstand der Versuchung, in ihren Hals zu beißen. Werrna beobachtete uns genau. Offensichtlich von unserer wiedergewonnenen Friedfertigkeit überzeugt, watete sie zurück in den Fluss, als ob die rasche Strömung nichts weiter sei als eine leichte Brise. Sie stand unbeweglich im Wasser, das Fell an ihren Körper geklebt, die Augen im Mondlicht funkelnd. »Wartet nicht die ganze Nacht«, grummelte sie, als wir zögerten. »Der Mond wird hinter den Bergen verschwinden, bevor ihr den Mut aufbringt, eure Pfötchen nass zu machen.« Auf der anderen Seite des Flusses lief Rissa auf und ab. »Stellt euch nicht so an«, meinte Yllin, als keiner von uns hineinging. »Der Fluss ist in dieser Jahreszeit langsam. Wartet nur, bis er nach den Regenfällen so schnell fließt, wie ich laufen kann.« Ich holte tief Atem und trat in das Wasser. Borlla stieß mich mit der Schulter beiseite. »Es gibt Wölfe, die haben einfach vor allem Angst«, meinte sie, »andere eben nicht.« Sie stolzierte selbstsicher in den Fluss und begann zu waten, dann hinüberzuschwimmen. Unnan folgte ihr, aber nicht ohne kurz innezuhalten und Wasser in Ázzuens Gesicht zu spritzen. Sie wirkten nicht sehr anmutig, wie sie schwammen. Ihre Beine paddelten fast verzweifelt unter ihren Körpern, ihre Köpfe waren hoch übers Wasser gereckt, aber sie schwammen kräftig.
»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, Ázzuens Stimme war so leise, dass ich mich bemühen musste, ihn zu hören. Er saß kauernd neben Yllin. Ich hätte zu ihm gehen sollen, doch Un 67 nan und Borlla waren schon beinahe an der Stelle, an der Werrna in der Mitte des Flusses stand. Marra stupste mich mit der Nase in die Seite. »Wer als Erstes drüben ist«, rief sie und tauchte ins Wasser. »Komm schon«, rief ich Ázzuen zu und sprang hinterher. Ich blickte nicht zurück, um zu sehen, ob er uns nachkam. Ich konnte nicht mit Marra mithalten, schaffte es aber sehr viel besser über den Fluss, als ich erwartet hatte. Die Strömung trug uns flussabwärts, da wir nicht so kräftig schwimmen konnten wie Rissa, und sie trabte das Ufer hinunter, um zu uns zu kommen. »Gut gemacht, Welpen«, sagte sie anerkennend, dann wandte sie ihren Blick über den Fluss hinüber. Erst jetzt schaute ich nach Ázzuen. Er und Reel waren noch auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses und starrten verängstigt in das fließende Wasser. Yllin schubste ihre Körper an. Das Wasser trug ihre Stimme herüber zu uns. »Wollt ihr, dass ich euch hinüberbringe?«, neckte sie. »Was wird Ruuqo sagen, wenn wir ihm erzählen, wie ängstlich ihr gewesen seid?« Komm schon, Ázzuen, dachte ich ungeduldig. Wenn er ihnen seine Furcht so deutlich zeigte, würde er nie wirklich zum Rudel gehören. Zögernd watete zuerst er hinein, dann auch Reel. Ázzuen schwamm ungeschickt und langsam. Nach drei Vierteln des Weges war er erschöpft und begann unterzugehen. Ich rief ihn. »Schwimm weiter! Wenn der blöde Unnan das schafft, dann kannst du das auch!« Meine Stimme schien Ázzuen neue Kräfte zu verleihen, und er schaffte es den restlichen Weg herüber, kletterte aus 67 dem Wasser und schüttelte sich den Fluss aus dem Fell. Ich war stolz auf ihn, freute mich, dass es meine Ermutigung gewesen war, die ihm herübergeholfen hatte - und fühlte mich ein wenig schuldig, dass ich nicht auf ihn gewartet hatte. »Ich wusste, du würdest es schaffen.« »Ja«, sagte er. »Jetzt muss ich es nur noch wieder zurückschaffen.« Er berührte meine Wange mit seiner Nase. Ich wandte mich zu Borlla in der Erwartung, sie würde uns wegen diesem Austausch von Zärtlichkeiten aufziehen, doch ihre Augen waren auf den Fluss gerichtet. Reel kämpfte sich ab. Er schien nicht zu verstehen, wie man schwimmen musste, und hörte auf dem halben Wege einfach auf, seine Beine zu bewegen. Er versank schnell. Rissa bellte laut auf. Yllin und Werrna wateten beide auf Reel zu, doch die Strömung trug ihn flussabwärts. Borlla sprang ins Wasser, schwamm mit kräftigen Stößen zu Reel und ergriff ihn am Nackenfell. Sie hielt ihrer beider Köpfe so lange über Wasser, bis Yllin sie erreicht hatte und Reel in Sicherheit ziehen konnte. Rissa überprüfte ihn von Kopf bis Fuß, stellte fest, dass er nicht verletzt war und leckte ihn von oben bis unten, als könnte sie so die Gefahr von ihm abwaschen. Borlla schaffte ihren Weg allein zurück auf das Ufer und lag hechelnd im Schlamm. Reel ging schüchtern zu ihr
hinüber und leckte ihr dankbar das Gesicht. Ich erwartete, dass sie sich über ihn lustig machen würde in seiner Schwäche, doch sie legte ihren Kopf sanft auf seinen Hals. Ich fühlte einen Stich von Eifersucht. Ich hatte nicht daran gedacht, Ázzuen zu trösten. Ich wandte mich um und sah, dass er mich eindringlich beobachtete, doch bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, erhob Rissa ihre Stimme. »Du hast deinem Rudel Ehre gemacht«, sagte sie zu Borlla. 68 Die Anerkennung in ihrer Stimme machte mich rasend vor Wut. »Du«, meinte sie zu Reel in strengem Tonfall, jetzt wo sie wusste, dass er in Sicherheit war, »musst stärker werden.« Sie berührte seinen Kopf ein weiteres Mal mit ihrer Nase und schüttelte den letzten Rest Wasser aus ihrem Fell. »Das war der am wenigsten gefährliche Teil dieser Nacht, Welpen«, sagte sie. »Folgt mir und macht keinen Lärm. Wir werden nicht mehr anhalten, bevor wir nicht am Sammelplatz der Menschen angelangt sind.« Einer hinter dem anderen herlaufend, damit kein vorbeikommender Wolf hätte erraten können, wie viele wir waren, machten wir uns auf den Weg in den dichten Wald und in Richtung des immer stärker werdenden Geruchs der Menschen. Der Wald lichtete sich, und wir erreichten den Fuß eines kleinen, trockenen Hügels, bedeckt mit hohem sommerlichem Gras und dürrem Buschwerk. Der Geruch der Menschen war überwältigend. Rissa befahl anzuhalten und versammelte uns um sich. Ihre Stimme nahm einen warnenden Tonfall an. »Von der anderen Seite dieses Hügels aus werden wir den Sammelplatz der Menschen sehen können. Geht nicht näher an sie heran. Bleibt immer an der Seite eines Erwachsenen.« Mein Herz schlug schneller vor Aufregung. Gemessen und still, wie wir es bei den älteren Wölfen im Anschleichen an den Bären gesehen hatten, krochen wir auf den höchsten Punkt des Hügels hinauf. Wir konnten die Menschen noch nicht wirklich sehen, aber wir konnten sie bereits riechen und hören. Rissa hielt noch einmal an, und wir warteten neben ihr. Yllin und Werrna wachten über alles - über uns und 68 über jeden, der uns hätte bemerken können. Ázzuen, der neben mir saß, begann leise zu zittern. Ich wandte mich zu ihm um, leckte ihm über das Gesicht und nahm seine Schnauze zärtlich in mein Maul, wie Rissa es mit uns Welpen getan hatte, als wir noch jünger waren und Angst vor irgendetwas gehabt hatten. Ich konnte seinen Herzschlag leise hören, während ich ihn beruhigte. Marra, die am Fluss so forsch gewesen war, kam zu mir und winselte ganz leise. Ich nahm ihre Schnauze als nächste in mein Maul, und sie seufzte erleichtert auf. Ich schaute zu den anderen Welpen hinüber und sah, wie Borlla dasselbe mit Reel tat. Sie blickte mich herausfordernd an. Auf ein Nicken von Rissa hin ließen wir uns auf die Bäuche nieder und krochen vorwärts, verdeckt von dem hohen, trockenen Gras. Rissa hatte erzählt, die Menschen seien nachtblind, doch ich war dankbar für den Schutz, den das Gras und die stacheligen Büsche uns boten. Ázzuen und dann auch Marra gaben aus Angst und Aufregung kleine Rufe von sich, bis ein scharfer Blick von Rissa und einige harte Kniffe von Yllin sie zur Ruhe brachten. Schließlich krabbelten wir über
den Kamm des Hügels und blickten auf die Heimstatt der Menschen. Endlich konnten wir sie auch sehen, nicht nur riechen und hören. Es waren mehrere Familien dieser zweibeinigen Wesen. Wie die Bären, bevor sie zuschlagen, lagerten sie auf einer Lichtung sechsmal so groß wie unser Sammelplatz. Ihre langen Körper waren glatt wie die einer Echse oder Schlange, doch sie waren gescheckt von dünnem Fell. Uber ihre Schultern und Schenkel trugen viele von ihnen Pelze von getöteter Beute. Sie rochen nach Salz und Fleisch und weicher, feuchter Erde, nach erbeuteten Häuten und Flusswasser. Doch 69 ihre eigenen Gerüche wurden überlagert von dem säuerlichen Duft, der es so einfach machte, sie zu finden, selbst aus weiter Entfernung. Es war Feuerduft, bemerkte ich mit einem Mal, Feuerduft gemischt mit einem unbekannten Geruch von brennendem Fels. Das Feuer wurde eingefasst von einem Rund aus Steinen. Es lag etwas Merkwürdiges in diesem Geruch, etwas, das ich nicht wirklich erkennen konnte. Die Menschen waren in Gruppen von der Größe kleiner Rudel versammelt, Erwachsene und Junge zusammen. Ihre Jungen rangelten auf der Lichtung herum, riefen und kreischten. Manche waren so klein wie vielleicht einen Monat alte Welpen, andere nahezu von der Größe eines ausgewachsenen Wolfes. Die Kleinen stolperten unbeholfen über die Lichtung, Wolfswelpen so ähnlich, dass ich fühlte, wie mein Schwanz zu wedeln begann. Die meisten der Erwachsenen waren größer als ausgewachsene Wölfe, die männlichen kräftiger und stärker behaart als die weiblichen. Plötzlich fühlte ich mich einsam. So einsam wie damals, als meine Mutter mich verlassen hatte. »Kein Wunder, dass sie sich alle Beute im Tal nehmen!« Werrnas Stimme krächzte vor Erschrecken. »Es sind noch nie so viele gewesen. Normalerweise achteten sie darauf, die Größe des Rudels einzuhalten.« »Sie sind schlimmer als die Wölfe vom Felsgipfel«, stimmte Rissa zu. »Sie begnügen sich nicht länger damit, Nahrung in ihren eigenen Gebieten zu suchen. Ich befürchte, sie würden in unsere Sammelplätze einfach so hineinlaufen, ohne sich dabei etwas zu denken.« Ich war verblüfft. Kein Wolf würde sich jemals in das Gebiet eines anderen wagen, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass er damit Gefahr heraufbeschwor. Man tut das nur, 69 wenn es unumgänglich ist, und wenn, dann sehr, sehr vorsichtig. Und immer auf einen Kampf gefasst. »Wenn ihre Rudel zu stark werden, sollten sie welche wegschicken, wie wir das tun«, sagte Borlla. Ihre Vorderlippe kräuselte sich vor Verachtung. »Sie sind eher eine Herde von Beutetieren als ein Rudel.« »Sie sind Jäger«, erklärte Rissa. »Vergesst das niemals. Sie sind Jäger, die die Gesetze der Jagd und die Gebietsaufteilungen nicht beachten. Das ist es, weswegen ihr jetzt schon von ihnen wissen müsst, Welpen. Als ich jung war, genügte es, sie nicht zu beachten, um das Abkommen einzuhalten. Wir konnten ihnen aus dem Weg gehen, und sie blieben von unserem fern. Aber jetzt sind sie überall, also müsst ihr euch ihrer immer bewusst sein.«
Wir beobachteten, wie ein weiblicher Mensch sich in die Arme eines männlichen kuschelte. Ein kleines Kind hing am Hals eines anderen Weibchens, während sie über die Lichtung schritt. Ich fühlte ein Winseln in meiner Kehle aufsteigen und schluckte es schnell hinunter. Es schien nicht richtig zu sein, dass wir nicht mit den Menschen zusammen sein durften, doch nach dem, was Trevegg über Mischlinge gesagt hatte, würde ich mich hüten, auch nur irgendetwas darüber zu erfragen. Ich sah, dass Ázzuen mich beobachtete. »Aber warum dürfen wir nicht wenigstens ein bisschen bei ihnen sein?«, fragte er. »Ich verstehe, warum wir nicht lange Zeit mit ihnen zusammen sein können oder warum wir ihnen nicht helfen sollen, aber warum dürfen wir uns ihnen nicht einmal nähern?« Ich wäre ihm gerne vor Dankbarkeit an den Hals gesprungen, warf ihm aber nur einen liebevollen Blick zu. »Wenn wir einmal anfangen, unsere Zeit mit ihnen zu ver 70 bringen«, antwortete Rissa, »werden wir damit nicht aufhören wollen. Wir werden ihnen helfen wollen und sie Dinge lehren wollen, wie es Indru getan hat. Zumindest«, sagte sie und wendete dabei ihren Blick ab, »ist das der Grund, den man mir als Kind genannt hat. Und da ist etwas«, sie hielt einen Augenblick inne, als wolle sie sich entscheiden, ob sie uns mehr erzählen sollte, »in den Seelen der Wölfe und der Menschen, das nicht Seite an Seite miteinander leben kann. Die meisten Menschen fürchten sich vor der Wildheit, die dem Wolf eigen ist, weil es etwas ist, das sie nicht kontrollieren können. Wenn wir zu viel Zeit mit ihnen verbringen, geben wir entweder diese Wildheit auf, um ihnen zu gefallen, oder wir weigern uns, sie aufzugeben, und das wird wiederum die Menschen zornig machen. Oder wir werden böse und versuchen sie zu töten, und dann müssen die Höchsten Wölfe ein ganzes Rudel vernichten. Das ist der Grund dafür, dass unsere Vorfahren versprochen haben, den Kontakt mit den Menschen vollkommen zu meiden. Außer natürlich«, meinte sie und ein Glitzern stahl sich in ihre Augen, »um von ihnen zu stehlen, was immer wir können!« Ázzuens Gesicht verzog sich nachdenklich. »Warum haben dann aber«, fragte er, »die Ahnen damals keine Wölfe getötet, als der Jungwolf mit den Menschen jagte in den Legenden? Die Wölfe haben Indrus Versprechen gebrochen. Wenn es so gefährlich ist, mit ihnen zu sein, warum haben uns die Ahnen dann noch eine weitere Chance gegeben?« »Du solltest froh sein, dass sie es getan haben«, grummelte Werrna und funkelte Ázzuen an. »Und es ist nicht an dir, die Legenden anzuzweifeln.« »Aber sich von ihnen fernzuhalten gelingt nicht wirklich, oder?«, beharrte Ázzuen hartnäckig und erhob sich plötzlich. 70 »Wenn die Menschen sich nehmen, was nicht ihres ist, und wenn sie Gebietsgrenzen nicht beachten. Und Edelschwing hat gesagt, sie würden die Beute aus dem Tal jagen!« »Runter mit dir, Welpe!«, schimpfte Rissa, »und sei still!« Ázzuen ließ sich abrupt nieder, überrascht von Rissas plötzlicher Heftigkeit. Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Rissa knurrte ihn an. »Wir haben dir beigebracht, die Legenden nicht in Frage zu stellen. Jetzt sei still, oder du kannst den Weg zurück über den Fluss alleine gehen.«
Dermaßen zum Gehorsam gezwungen duckte sich Ázzuen so weit auf seinen Bauch nieder, wie es eben nur ging. Ich berührte sein Gesicht mit meiner Nase und fühlte mich ein wenig schuldig, weil er immerhin seine erste Frage für mich gestellt hatte. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Menschen. Sie wirkten nicht gefährlich. Ein kleines Mädchen rollte sich neben den Füßen eines Paares zusammen, das seine Eltern zu sein schien. Sie roch wie frischgefallener Regen. Yllin beobachtete zwei junge Männchen, die wie vorjährige Jungwölfe herumtollten. »Ihr werdet zu ihnen gehen wollen«, sagte sie leise. »Ihr werdet sie berühren wollen und ihnen nahe sein wollen, mit den Menschen umgehen wollen, wie mit euresgleichen. Aber es ist eure Pflicht als Wolf, dem zu widerstehen. Die Verantwortung dem Rudel gegenüber und die Einhaltung des Abkommens stehen über euren eigenen Wünschen.« Rissa nickte bestätigend. »Werden sie uns nicht riechen?«, fragte Reel und trat ein Stück zurück. »Ihre Nasen sind so nutzlos wie Flügel an einem Auer 71
ochsen«, meinte Werrna verächtlich. »Du könntest hinter einem von ihnen stehen und furzen, und er würde dich nicht riechen.« »Na ja, ganz so würde ich es nicht ausdrücken«, lachte Rissa trotz aller Ernsthaftigkeit. »Aber ihre Nasen sind sehr viel schwächer als unsere, und sie können uns aus dieser Entfernung nicht wittern.« Ich dachte darüber nach. Wie konnte ein Geschöpf durchs Leben gehen, ohne dass es ihm möglich war, Gegner und Beute zu riechen? Meine eigene Nase war immer noch damit beschäftigt, die Düfte ihres Zuhauses aufzunehmen, verängstigt durch den fremdartigen Feuerduft. Schließlich fand ich heraus, was es war. Fleisch und Feuer zusammen. Ein verbrannter Fleischgeruch. Der Geruch war irgendwie erschreckend und falsch - und gleichzeitig auch unwiderstehlich. Er zog mich genauso an, wie es die Geschöpfe selbst taten. Er machte mich hungrig. Hungrig nach dem Fleisch, aber auch tief in mir drin hungrig nach etwas anderem. »Wovon leben sie?«, fragte ich, um das Hungergefühl abzuschütteln. »Wie jagen sie, wenn sie nicht riechen können?« »Sie leben und jagen genau wie wir«, antwortete Rissa. »Ihre Augen sehen im Tageslicht ziemlich gut, und sie arbeiten im Rudel. Aber anstelle von Zähnen und Klauen benutzen sie ihre Werkzeuge, die sie herstellen, um damit zu töten. Spitze Stecken - eine Art von langem Dorn - und ein zweiter Stab, den sie gebrauchen, um den ersten zu werfen. Sie können Beute aus großer Entfernung töten. Sie sind ausgezeichnete Jäger«, sagte sie ein bisschen wehmütig. Wir wurden alle sehr still, während wir das Zuhause der Menschen beobachteten. Ich verstand jetzt, warum es so ein 71 strenges Gebot gegen das Zusammensein mit ihnen gab. Sie waren uns auf eine merkwürdige Art ähnlich, sogar mehr noch als die Raben. Sie gaben Töne von sich, die wie Sprache klangen, und ihre Körpersprache war so deutlich wie die eines jeden Wolfes. Ihre Jungen hockten und spielten ganz ähnlich, wie wir es taten. Ich konnte erkennen, dass ein großes muskulöses Männchen der Anführer der Gruppe
war. Er roch nach Macht, und die dürren, schlaksigen Jungen versuchten, seine Anerkennung zu gewinnen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er die Ordnung in einem solch großen Rudel aufrechterhielt, aber ich war beeindruckt. Die Luft neben mir wurde plötzlich wärmer, und ich spürte einen anderen Wolf neben mir. Sein Duft war vertraut, aber er kam nicht aus meinem Rudel. Ich war überrascht, dass ein fremder Wolf sich zu uns gesellen konnte, ohne Rissa zu grüßen und ohne von meinen Rudelgefährten überprüft zu werden. Ich drehte mich um und sah eine junge Wölfin, ungefähr in Yllins Alter, die sehnsuchtsvoll auf die Menschen blickte. Ich wollte sie nicht stören, doch sie sah so traurig aus, dass ich sie mit meiner Nase berührte. Die fremde Wölfin wandte mir ihren Kopf zu, und als ich den weißen Halbmond im Fell auf ihrer Brust erkannte, wusste ich, warum sie mir so vertraut war. Sie war der Wolf, der zu mir gekommen war, als ich auf der Weiten Ebene verzweifelte, der Wolf, von dem ich angenommen hatte, ich hätte ihn mir in meiner Erschöpfung und Ausweglosigkeit eingebildet. Sie sah dennoch vollkommen gewöhnlich aus. Sie war eine eher kleine Wölfin, hellbraun und ein wenig dünn. Doch ihr Duft war es, dem ich über die Ebene zu meinem Rudel gefolgt war, die Witterung, die mein Leben und das von Ázzuen gerettet hatte. Und mit einem Mal erkannte 72 ich auch, dass der säuerliche Teil ihres Geruchs dem Feuer-Stein-Fleisch-Duft des Menschenlagers ähnlich war. Der fremde Wolf roch nach den Menschen. »Du bist ziemlich gewachsen, kleiner Milchzahn«, sagte sie und berührte mit ihrer Nase den weißen Halbmond auf meiner Brust. »Du wirst nicht mehr sehr viel länger ein Welpe sein. Erzähl, wie stehen die Dinge beim Rudel vom Schnellen Fluss ?« Ihr menschlicher Duft verwirrte mich weiterhin. »Gehörst du zum menschlichen Rudel?«, fragte ich sie. »Nicht wirklich«, antwortete sie. Sie warf einen weiteren sehnsuchtsvollen Blick auf die Heimstatt der Menschen und dann einen weiteren auf Rissa und die Welpen. Ich konnte nicht glauben, dass meine Rudelgefährten sich weder erhoben, um diesen neuen Wolf zu begrüßen, noch Anstalten machten, den Ankömmling anzugreifen. »Zu welchem Rudel gehörst du dann ?«, fragte ich weiter. »Nun ja, ich bin schon vom Schnellen Fluss, Kleines. Gehöre zu ihnen und zu anderen. Dein Volk ist auch mein Volk.« Jetzt war ich wirklich verwirrt. Ich hatte gehört, dass einige der Welpen vom letzten Jahr, Yllins und Minns Wurfgefährten, das Rudel verlassen hatten, um sich zu paaren, und dass sie vielleicht für die Winterreise zurückkehren würden. Aber sicherlich würde solch ein zurückkehrender Wolf Rissa sofort begrüßen. Ich wollte ihr noch mehr Fragen stellen, aber ich zögerte und fürchtete, dass sie, wenn sie das Rudel in Schande hatte verlassen müssen, vielleicht nicht darüber reden wollte. Dennoch, wenn das der Fall gewesen wäre, fragte ich mich, warum ließ Rissa sie dann neben uns liegen? Ich starrte die fremde Wölfin verwirrt an, und sie lachte mich aus. 72
»Du sollst die Menschen beobachten, Kleines, nicht mich. Beobachte sie. Du solltest sie von allen Wölfen in diesem Tal am besten kennenlernen.« »Warum?«, fragte ich überrascht. »Ich habe einen Weg begonnen, den du vollenden musst, Tochterwolf.« Ein tiefes und entferntes Heulen erschreckte uns beide. Die junge Wölfin stellte ihre Ohren auf. »Ich muss jetzt gehen, Schwesterwolf. Pass auf meine Rudelgefährten auf.« Sie blickte wieder auf die Menschen. »Alle meine Rudelgefährten.« Sie berührte noch einmal den Halbmond auf meiner Brust mit ihrer Nase und verschwand dann in den Wald. Mich fröstelte ein wenig, als die Luft um mich herum plötzlich wieder kühler wurde. Ich stand dort und wollte eigentlich der fremden Wölfin folgen. Der mondförmige Fleck auf meiner Brust war noch warm von ihrer Berührung, und ich wollte sie fragen, was sie damit gemeint hatte, auf ihre Rudelgefährten aufpassen zu sollen. Dann begann etwas, mich in Richtung des menschlichen Lagers zu ziehen, so stark, dass ich nicht widerstehen konnte. Ich machte einen Schritt den Hügel hinunter. »Runter!«, schnauzte Werrna. Meine Läufe zitterten, und in meinem Kopf drehte sich alles. Meine Brust begann zu brennen wie die Feuer, die die Menschen hatten, und ich fühlte mich, als hätte sich eine unsichtbare Ranke um mein Herz gewunden und zöge mich jetzt zu der Heimstatt der Menschen. Alles an ihrem Sammelplatz war schärfer, deutlicher. Ihre Worte schienen nicht länger bedeutungsloses Gebrabbel zu sein, sondern wurden plötzlich so klar wie die Worte eines Wolfes. Ich sah, wie sich ein menschliches Kind in die Arme seiner Mutter kuschelte, und wünschte, diese 73 Arme wären um mich geschlungen. Ich wollte das Feuerfleisch in meinem Maul spüren, die Wärme des Feuers selbst auf meinem Fell. Der Sog, den ich vorher verspürt hatte, verzehnfachte sich, und ich konnte ihn nicht länger bekämpfen. Ich machte noch einen Schritt und dann einen dritten und kroch dann schnell den Hügel hinunter. Plötzlich rammten mich eine harte Schulter und ein Brustkorb, und ich wurde zu Boden gedrückt. Ich konnte ein Aufjaulen nicht unterdrücken, als Werrna auf mich sprang und mich am Boden hielt. »Sei still, dämliches Welpentier«, zischte Werrna. »Willst du, dass jedes Geschöpf in den Wäldern erfährt, dass wir hier sind?« Immer noch versuchte ich, zu den Menschen zu gelangen, strampelte mit den Läufen unter Werrnas kräftigem Körper. Es hatte wehgetan, als sie sich auf mich geworfen hatte. Der Schmerz in meiner Brust war schwächer geworden, als ich mich auf die Menschen zubewegt hatte, und er wurde wieder stärker, wenn ich nicht zu ihnen gehen konnte. Ich kämpfte weiter mit Werrna. Meine Sehnsucht, zu den Menschen zu gelangen, war größer als die Angst vor Arger und Schmerzen. Schließlich biss sie mich fest in die Schulter, und die Gewalt, die der Menschenduft über mich hatte, ließ nach. Ich erinnerte mich daran, dass ich ein Wolf war und vom Schnellen Fluss. Ich ließ mich den Hügel hinaufschleifen, wo Rissa verärgert wartete. Ázzuen und Marra blickten mich mit vor Schrecken geweiteten Augen an. Selbst Unnan und Borlla waren zu überrascht, um irgendetwas zu sagen.
»Was im Namen des Mondes hast du dir dabei gedacht?«, wollte Rissa wissen. »Wie kannst du es wagen, zu den Menschen zu schleichen, nach allem, was man dir erklärt hat?« Ich konnte keine Antwort finden. Ich konnte ihr nicht von 74 einer Wölfin erzählen, die es vielleicht wirklich gab, vielleicht aber auch nicht. Ich konnte ihr nicht erklären, wie ich mich zu den Menschen hingezogen gefühlt hatte, wie ich mich gefühlt hatte, als sei ich eine von ihnen. Rissa würde denken, ich sei verrückt oder dass ich den Menschen folgen würde und vom Rudel verstoßen werden müsste. Wenn ich an die Menschen nur dachte, fühlte ich mich, als würde ich einen Felsen hinunterstürzen, unaufhaltsam hinuntergezogen. Ich senkte meinen Kopf. »Antworte mir! Oder ich schicke dich alleine über den Fluss zurück auf die Ebene.« Ich hatte Rissa noch nie so wütend mit einem von uns Welpen erlebt. Ich sah sie voller Angst an. »Sag mir, warum du mir nicht gehorcht hast!«, verlangte sie. »Es tut mir leid«, flüsterte ich. »Ich habe gefühlt, wie mich etwas zu ihnen gezogen hat.« Werrna und Rissa tauschten besorgte Blicke aus, und ich hörte, wie Borlla mit gesenkter Stimme leise etwas über Mischlinge murmelte. Ázzuen beobachtete mich ängstlich. Ich konnte erkennen, dass er gerne zu mir gekommen wäre, es aber nicht wagte. Ich war dankbar dafür, dass er sich um mich sorgte, aber auch verärgert über seine Furchtsamkeit. Ich blickte nicht auf Yllin, wollte die Enttäuschung in ihren Augen nicht sehen müssen. »Was willst du damit sagen?«, fragte Rissa. »Wie gezogen?« »Als ob ich brennen würde«, flüsterte ich. »Als ob der einzige Weg, das Brennen aufhören zu lassen, zu ihnen führte. Es tut mir leid.« Ich erzählte ihr nichts von der fremden Wölfin. Ich konnte nicht. »Einem solchen Erbe entgeht man nicht«, meinte Werrna 74 und musterte mich von oben bis unten. »Nur vier Monde alt, und schon geschieht es.« »Ach sei still, Werrna«, sagte Rissa. »Das ist nur ein Welpe mit einer übergroßen Einbildungskraft. Viele Welpen versuchen, zu den Menschen zu laufen, wenn sie sie zum ersten Mal sehen. Das hat nichts zu bedeuten.« Aber sie schaute auf mich mit Besorgnis und stupste den weißen Halbmond auf meiner Brust mit ihrer Nase. »Das hat nichts zu bedeuten. Noch nicht«, meinte Werrna. »Wirst du es Ruuqo erzählen?« »Nein«, antwortete Rissa. Sie erhob ihren Kopf und blickte Werrna fest an. »Und genauso wenig wirst du etwas erzählen.« Werrna zögerte einen Augenblick lang, dann legte sie ihre Ohren an und blickte zur Seite. »Wenn du meinst«, sagte sie und wandte sich ab, um an einem Stückchen Fell an ihrer Pfote zu knabbern. Borlla trabte zu Rissa. »Ich habe auch gefühlt, wie sie mich anzogen, aber ich habe nicht versucht, zu ihnen zu gehen«, sagte sie, die Stimme voll Gehässigkeit. Unnan nickte zustimmend. »Niemand von uns anderen ist gegangen, nur Kaala.«
»Seid still, ihr beiden«, befahl Rissa. »Und ihr werdet dies nicht mehr erwähnen. Habt ihr mich verstanden? Kaala, du wirst am Fuß des Hügels warten. Fort von den Menschen. Die übrigen von uns werden etwas von dem zurückholen, was die Menschen uns gestohlen haben.« »Das wird Ruuqo gar nicht gefallen«, meinte Werrna. »Ruuqo trifft nicht alle Entscheidungen für dieses Rudel«, gab Rissa zurück. »Wenn wir die Menschen nicht davon abhalten können, unsere Beute zu stehlen, werden wir uns we 75 nigstens holen, was sie leichtsinnigerweise am Rand ihres Sammelplatzes herumliegen lassen.« Ihre Augen fielen auf Werrna. »Du kannst mit den Winzjungen hierbleiben.« Werrna öffnete ihren Mund, um zu widersprechen, doch der Ausdruck auf Rissas Gesicht hinderte sie daran. »Jawohl, Leitwolf«, sagte sie. »Vorwärts mit euch, Welpen!« Sie stieß Ázzuen und Reel zur Seite. »Geh«, befahl Rissa, als ich zögerte. »Dir fehlt die Selbstkontrolle für das, was wir vorhaben.« Wenn Werrna schon nicht mit Rissa stritt, würde ich es sicherlich gar nicht erst versuchen. Ich bemühte mich, den Schmerz in meiner Brust nicht zu beachten, und wandte mich ab von meinen Rudelgefährten, fort von den Menschen, die mich so sehr anzogen. 75
7
Ich trottete zum Fuß des Hügels hinunter und versuchte den Schmerz in meiner Brust nicht weiter zu beachten. Ich blickte hinauf zu dem halben Mond und hätte in Geheul ausbrechen können vor Enttäuschung. Aber Rissa hatte mich bereits einmal ausgeschimpft, weil ich mich nicht beherrschen konnte. Niedergeschlagen ging ich weiter, fühlte jeden Krümel Erde unter den Ballen meiner Pfoten und winselte ein wenig vor mich hin. Ich hielt an, als ich schnelle leise Schritte hinter mir trippeln hörte. »Ich komme mit dir«, rief Ázzuen und rannte los, um mich einzuholen. Sein kleines Gesicht war von Sorge erfüllt. Ich war ihm dankbarer, als ich zugegeben hätte. Es war schlimm genug fortgeschickt zu werden, getrennt von den Menschen zu sein. Aber ganz allein zu sein war noch schlimmer. Wir erreichten den Fuß des Hügels, setzten uns und beobachteten den Mond durch die Bäume. »Wird Werrna nicht bemerken, dass du fehlst?«, fragte ich. 75 Ázzuen grinste. »Sie ist zu verärgert, weil sie zurückbleiben musste, als dass es ihr etwas ausmachen würde, wenn ich mich ein paar Wolfslängen entferne. Einer der Vorteile, die es mit sich bringt, ein Winzjunges zu sein, ist, dass sich die Erwachsenen weniger darum kümmern, wenn du verschwindest. Sie denken sich, dass du ohnehin verhungern wirst, bevor der Winter zu Ende ist.«
»Das ist nicht wahr!«, rief ich, erschrocken darüber, dass Ázzuen so wenig von seinen Fähigkeiten und seinem Platz im Rudel überzeugt war. »Es hat ihnen etwas bedeutet, dass du es über den Fluss geschafft hast.« »Sie wollen nicht wirklich, dass wir sterben«, meinte er mit einem Schulterzucken, »aber sie rechnen nicht damit, dass Reel und ich es durch den Winter schaffen.« »Ich werde dafür sorgen, dass du durch den Winter kommst«, versprach ich und fühlte mich im selben Moment entsetzlich. Ich hatte ihm nicht das Gefühl geben wollen, dass er tatsächlich schwach sei. Ázzuen war für einen Augenblick still und dachte darüber nach, was ich soeben gesagt hatte. Aber als er wieder zu sprechen begann, redete er von den Menschen. »Warum bist du zu ihnen gegangen? Nachdem uns Trevegg und Rissa alles über das Abkommen erzählt hatten. Wir haben alle eine Anziehungskraft gespürt. Aber du hättest aus dem Rudel ausgestoßen werden können. Oder noch schlimmer.« Er klang nicht, als mache er mir einen Vorwurf, er war nur neugierig. »Für mich war es anders, Ázzuen. Zuerst war es nur ein Sog, genau wie du gesagt hast. Aber dann veränderte es sich. Ich konnte nicht mehr nicht zu ihnen gehen. Genau wie Rissa von Indru erzählt hat. Wenn ich darüber nachdenke, weiß 76 ich, dass es falsch ist, aber das ändert nichts daran. Wenn ich nicht wüsste, dass Rissa und Werrna mich davon abhalten würden, würde ich jetzt zu den Menschen gehen.« Ázzuen betrachtete mich. Sein Gesicht war ein wenig fülliger geworden, bemerkte ich jetzt. Auch wenn er sich selbst immer noch als Winzjunges bezeichnete, war er dennoch kräftiger geworden. »Das nächste Mal, wenn du zu ihnen gehen willst«, meinte er, »sagst du mir Bescheid. Und dann setze ich mich auf dich drauf.« Ich lachte, und der Schmerz in meiner Brust hatte gerade ein wenig nachgelassen, als das plötzliche Flattern von Flügeln über mir mich so erschreckte, dass ich nahezu aus meinem Fell purzelte. Tlitoo landete genau vor mir und begann sofort, seine Federn zu ordnen. »Du bist nicht besonders schlau«, meinte er. Er blickte von der Säuberung seiner Federn auf und zog einen kleinen Zweig aus seinem Flügel. Er warf ihn in meine Richtung. »Die Großen Wölfe können dir nicht helfen, wenn du dich aus dem Rudel werfen lässt, Wölfchen. Du wirst lernen müssen, dich zu beherrschen. Die Nähe der Menschen bringt das Mal auf meinem Flügel zum Brennen, aber ich habe gelernt, das nicht weiter zu beachten. Du musst nicht jedes Mal reagieren, wenn du irgendetwas fühlst, weißt du.« »Was machst du überhaupt hier im Dunkeln?«, fragte ich grummelnd. Die Raben mögen die Nacht normalerweise nicht. »Warum bist du nicht bei deiner Familie?« »Ich bin jetzt alt genug, um alleine umherzufliegen, nicht wie ein Wölfchen«, sagte er. »Ich kann fliegen, wann und wohin ich will. Und irgendjemand muss dich ja davon abhalten, die ganze Nacht durchzuwinseln.« Tlitoo blickte mich 76 an, und seine Augen funkelten im Mondlicht. »Die Großen Wölfe werden enttäuscht sein.«
Das hatte mir gerade noch gefehlt: Wieder einer, der mir Vorwürfe machte. »Wo sind sie denn, wenn sie das so sehr bekümmert?«, raunzte ich. Ich wollte sie dringender als je zuvor sprechen. Ich wollte sie fragen, wer mein Vater war und ob ich wirklich fremdes Blut in meinen Adern trug. Ich musste wissen, ob ich für mein Rudel tatsächlich eine Gefahr bedeutete. Und ich musste wissen, ob irgendetwas mit mir nicht stimmte. Tlitoo gab einen tiefen Schrei von sich und plusterte seine Beinfedern auf. »Die Großen Wölfe kommen, wenn es ihnen gefällt, Wölfchen«, sagte er. »Sie haben sich um wichtigere Dinge zu kümmern als deine verletzten Gefühle. Dummwolf.« »Pass auf, was du sagst, Rabe«, warf Ázzuen ein und kam herüber, um sich neben mich zu stellen. Ich war überrascht von seinem beschützenden Verhalten. Tlitoo legte den Kopf schief. »Es ist gut, Freunde zu haben«, sagte er. »Pass auf, dass du sie auch behältst. Es wird gut sein, nicht alleine dazustehen.« »Bist du jetzt fertig?«, fragte ich verärgert. Ich war es leid, dass er auftauchte und mir irgendwelche geheimnisvollen Botschaften und Nachrichten der Höchsten Wölfe übermittelte, aber nie mit wirklichen Auskünften herausrückte. »Hör zu!« Tlitoos plötzliche Ernsthaftigkeit ging mir auf die Nerven. Ázzuen drängte sich an mich, diesmal um mir Beistand zu geben, nicht um selbst Unterstützung zu bekommen. »Bring dich nicht in eine Situation, in der sie dich aus dem Rudel vertreiben, solange du noch zu klein bist, um dich selbst zu ernähren. Du musst nicht so sehr zeigen, dass du an 77 ders bist. Spiel dich nicht so sehr in den Vordergrund. Meinst du, du schaffst das? Denkst du darüber nach?« Ich konnte ihm keine Antwort geben. Ich lehnte mich an Ázzuen und blickte Tlitoo an. Seine Stimme wurde weicher. »Du wusstest, dass du anders bist. Warum glaubst du, haben die Großen Wölfe sonst dein Leben gerettet?« Er fuhr zärtlich mit seinem Schnabel durch das Fell auf meinem Kopf und summte leise. »Die Geheimnisse der großen Grummelwölfe gefallen mir genauso wenig, Wölflein, aber ich reiße mir deswegen nicht meine Federn aus. Es gibt wichtigere Dinge, um die du dir im Augenblick Sorgen machen solltest.« Ich war von seiner Zuneigung überrascht. Ich öffnete meinen Mund, um ihm zu danken, doch er drehte sich um und schnippte mit seinen Schwanzfedern nach mir. » Wolf jammert zu viel. Jammern langweilt den Raben. Da hilft Schwanzziehen.« Er breitete seine Flügel aus, als ob er auf mich zufliegen wolle. Doch zu meiner Überraschung sprang Ázzuen los, sodass Tlitoo zur Seite hüpfen musste und fröhlich zu gurren begann. »Ha«, meinte Tlitoo. »Gut. Da ist wenigstens ein Wolf, der nicht so verdammt ernsthaft ist.« Er wurde still und legte seinen Kopf schief, als ob er auf etwas horchen wollte. Ázzuen blickte zwischen ihm und mir hin und her. »Der merkwürdigste Vogel, den ich jemals getroffen habe«, meinte er und lachte dabei halb. »Und außerdem, seit wann fliegen Raben in der Nacht?« Er beugte sich zu mir und flüsterte mir 77
zu: »Ich denke, wir sollten nicht alles glauben, was er erzählt, Kaala.« Ich fühlte, wie mich eine Welle der Zuneigung für Ázzuen überkam. Er hatte seinen Kleiner-altkluger-Wolf-Ausdruck aufgesetzt, und ich fragte mich, ob er es jemals schaffen würde, seine eigene Persönlichkeit zu entfalten, und ob man ihm überhaupt die Gelegenheit dazu geben würde. Er und Reel waren eindeutig die schwächsten Wölfe des Rudels. Wenn sie beide überleben würden, musste einer von ihnen unweigerlich die Stellung des Ringelschwanzes übernehmen, des Wolfes, der immer als Erster die Rute einzieht. Irgendwie musste ich dafür sorgen, dass dies auf keinen Fall Ázzuen sein würde. Doch Tlitoo sollte mir noch mehr Fragen beantworten. Ich blickte ihn durchdringend an, verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Hör mal«, begann ich so vernünftig, wie ich eben konnte. »Ihr brecht besser auf, Wölfchen«, sagte Tlitoo mit einem Mal und unterbrach mich. Für einen Augenblick starrte er mich an. »Und versuch, nicht so aufzufallen wie ein entzündeter Schnabel.« Mit einem lachenden Krächzen, das die Nacht erfüllte, erhob er sich in die Luft. Ich hörte ein Krachen in den Büschen hinter uns. Meine Rudelgefährten kamen den Hügel hinuntergeschossen, die meisten von ihnen trugen Fleisch in ihren Schnauzen. Rufe aus dem Lager der Menschen hallten ihnen nach. Yllin hatte ein Glitzern in den Augen und ein dickes Stück Fleisch, Feuerfleisch, zwischen ihren Zähnen. »Das hat sie bestimmt nicht vom Rand des Sammelplatzes !«, rief Ázzuen. »Sie sind in das Lager hineingegangen!«, rief ich neider 78 füllt aus. Ich hatte Ärger bekommen, weil ich mich dem Lager nur genähert hatte. Der Duft des verbrannten Fleisches ließ das Wasser in meinem Mund zusammenlaufen, aber wir hatten keine Zeit, um irgendetwas davon zu fressen. »Lauft!« Rissa bellte durch das Stück Fleisch hindurch, das sie in ihrem Maul hielt, und die Dringlichkeit ihres Befehls schien wegen ihres breiten Grinsens etwas milder als sonst. Nicht länger um Geräuschlosigkeit bemüht, sprinteten wir durch den Wald. Wir liefen durch die helle, kühle Nacht, rannten zurück zu unserem Gebiet mit gestohlenem Fleisch zwischen unseren Zähnen. Und als Ázzuen und ich den anderen hinterherrannten, hätte ich schwören können, dass ich den Schatten einer jungen Wölfin leise neben uns laufen sah. ♦
Die Menschen verfolgten uns nicht lange. Ihre langsame, springende Gangart machte es ihnen unmöglich, mit uns mitzuhalten, und da sie weder gut riechen noch gut hören konnten, mussten wir nicht befürchten, dass sie unsere Spuren verfolgen würden. Sobald wir einmal aus der Reichweite ihrer Wurfstäbe kamen, waren wir vor ihnen sicher. Dennoch hörten wir nicht auf zu laufen. Die Wälder rochen nach den Wölfen vom Felsgipfel, und die menschlichen Rufe hinter uns klangen ziemlich verärgert. Ich konnte mir nicht helfen, ich musste lachen über ihre vergeblichen Versuche, uns zu fangen. Wir liefen wie der Wind, die Aufregung des Wettrennens ließ unsere Herzen schneller schlagen.
Marra, Borlla und Unnan trugen jeder kleine Stücke der gestohlenen Nahrung, ihre Schwänze wippten voller Stolz. Ich musste ohne Fleisch mit Ázzuen und Reel laufen, den 79 Winzjungen, obwohl ich ebenso stark wie die anderen war. Unnan ließ ein Stückchen Fleisch fallen, und ich schlang es hinunter, ohne meinen Lauf zu unterbrechen. Marra erwischte mich dabei. Ich grinste sie an. Sie verdrehte das mir zugewandte Auge und legte einen plötzlichen Sprint hin, ihre Läufe griffen weit aus, um zu Rissa aufzuschließen. »Angeberin«, lachte ich, ein wenig außer Atem. Endlich kehrten wir zu einer ruhigeren, leichteren Gangart zurück, liefen einer hinter dem anderen im Mondlicht. Der Geruch des Rudels vom Felsgipfel verflüchtigte sich, als wir uns der Grenze zu unserem Gebiet näherten, und ich fühlte, wie die Anspannung von allen meinen Rudelgefährten wich. Ich konnte dem Hecheln von Ázzuen und Reel entnehmen, wie froh sie waren, dass wir langsamer wurden. Ich hatte erwartet, dass Rissa uns zu der Stelle zurückbringen würde, wo wir den Fluss vorher überquert hatten. Stattdessen führte sie uns über einen deutlich ausgetretenen Weg, der von Rotwild auf dem Weg zur Tränke gebahnt worden war, und dann entlang eines schlammigen Ufers, weit höher flussaufwärts gelegen als die Stelle unserer früheren Überquerung. Ich verstand nicht, warum wir einen so weiten Weg zurück nach Hause nehmen mussten. Wir waren nahezu zwei Stunden unterwegs - genauso lange, wie wir auf dem Hinweg gebraucht hatten, um von der Hohen Graswiese bis zum Lager der Menschen zu gelangen -, bis wir schließlich an eine Flussüberquerung kamen. Ich erkannte eine umgestürzte Erle, die das Wasser überspannte. Ich blickte überrascht auf den schlanken Baum, während Rissa uns hinüberführte. Werrna half Reel hinüber, und Unnan und Borlla folgten ihr. »Warum haben sie uns durch den Fluss schwimmen lassen, wenn es doch diese Stelle gibt?«, fragte ich Marra. 79 Yllin antwortete. »Jeder Wolf muss schwimmen lernen, wenn er jagen will«, sagte sie. Wir drei waren die Letzten, die hinübergingen, Yllin achtete darauf, dass Ázzuen sicher hinüberkam. »Und es ist ein weiter Weg bis zur Baum-Uberque-rung. Verschwendete Ausdauer ist Ausdauer, die uns bei der Jagd fehlt.« Sie blickte über den Fluss, wo Rissa auf der anderen Seite auf uns wartete. »Ich glaube nicht, dass Rissa klar war, dass die Winzjungen so große Schwierigkeiten beim Schwimmen haben würden. Sie waren nicht wirklich in Gefahr - Werrna und ich hätten sie erreicht -, aber wir können nicht schwächliche Welpen beaufsichtigen und Fleisch hinübertragen.« Sie kniff belustigt ihre Augen zusammen. »Außerdem hat Minn das letzte Mal, als wir mit Fleisch hinüberschwimmen wollten, einen ganzen Beinknochen davontreiben lassen. Also benutzen wir die BaumÜberquerung öfters, wenn wir vom Lager der Menschen zurückkommen.« »Wie oft stehlen wir denn von den Menschen?«, fragte Marra überrascht. Yllin grinste. »So oft, dass wir den Fluss überqueren können müssen, wann immer wir wollen. Auf geht's.« Sie nahm ihr Fleischstück hoch und trabte leichtfüßig über den Fluss, um zu den anderen zu gelangen.
Es ergab immer noch keinen Sinn. »Ázzuen und Reel hätten ertrinken können«, sagte ich zu Marra. Nach allem, was Rissa darüber erzählt hatte, dass wir beschützt werden müssten, verstand ich nicht, warum sie dieses Risiko eingegangen war. Ich schüttelte meinen Kopf, um ihn frei von diesen Gedanken zu bekommen, und schaute Yllin nach. »Sie haben uns wieder einmal geprüft«, meinte Marra und 80
folgte meinem Blick. Es war ihr gelungen, eine kräftig riechende Rehrippe zu stehlen, an der noch etwas Fleisch hing, und sie legte sie nieder, während wir darauf warteten, dass die anderen den Fluss überquerten. Das Licht der ersten Morgendämmerung färbte den Himmel, und meine Augen veränderten sich, um sich auf das hellere, strahlende Licht der Sonne einzustellen. »Sie wollten nicht, dass Ázzuen oder Reel ertrinken«, sagte Marra, »aber sie wollten sehen, wer von uns am stärksten ist. Genauso wie sie sehen wollten, wer das beste Fleisch stiehlt.« Sie grinste. »Du hättest Yllin sehen sollen. Sie ist hineingelaufen, als die Menschen ihr den Rücken zuwandten, und stahl das Fleisch direkt aus dem Feuer. Deshalb mussten wir so schnell verschwinden. Rissa tat so, als sei sie verärgert, aber man konnte genau erkennen, wie beeindruckt sie war.« Rissa war beeindruckt, weil Yllin gutes Fleisch gestohlen hatte, dachte ich bei mir, und sie war beeindruckt, weil Borlla Reel über den Fluss geholfen hatte. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, hatte ich Arger bekommen, weil ich nicht stark genug war, um den Menschen zu widerstehen. Ich seufzte. Dann schaute ich noch einmal zu Borlla und sah, dass auch sie Feuerfleisch hatte. »Wieso durfte Borlla auf den Sammelplatz der Menschen gehen?«, fragte ich beleidigt. »War sie gar nicht«, antwortete Marra und streckte ihren langen, schlanken Rücken. »Yllin hat ein Stück Feuerfleisch fallen lassen, und Borlla hat es aufgelesen. Aber wenn man Borlla zuhört, dann war es ganz allein ihre Idee, Feuerfleisch zu stehlen.« Rissa rief uns. »Worauf wartet ihr, ihr Faulpelze?« Ich folgte Marra, die ihre Rehrippe aufhob, und trabte hin 80 über zu den anderen. Rissa begutachtete das gesamte gestohlene Fleisch. »Ihr habt es euch verdient, jetzt etwas davon zu fressen, Wölfe vom Schnellen Fluss«, sagte sie und hielt direkt hinter der Furt an. Sie begutachtete mit der Nase das Fleisch, schob einiges davon zusammen, um es zu Ruuqo und den anderen zu bringen. In meinem Mund lief das Wasser zusammen. Ich bemerkte, dass sie das gesamte Feuerfleisch für uns zur Seite gelegt hatte. »Ruuqo wird das ohnehin nicht fressen«, meinte sie, als sie Werrnas missbilligenden Blick bemerkte. »Er behauptet, Feuernahrung sei keine wirkliche Nahrung.« Sie schüttelte ihren Kopf und ließ ihre Ohren dabei wedeln. »Also ersparen wir ihm das Ärgernis, es probieren zu müssen.« Wir stürzten uns alle auf das Feuerfleisch, aber Werrna stieß mich unsanft aus dem Weg. »Nichts für dich. Du bist ohnehin schon zu versessen auf die Menschen.« Ich winselte beleidigt und versuchte, an ihr vorbei zu dem Fleisch zu schlüpfen, doch dann stießen mich auch Rissa und selbst Yllin fort. Reel und Ázzuen wurden
genauso beiseite geschubst. Sie senkten beide ihre Schwänze. Aber ich war zornig. Ich war kein schwächlicher Welpe. Ich machte zwei Schritte zum Fleisch hin, doch Werrnas kalter, erboster Blick ließ mich innehalten. Ich hätte sie beinahe angeknurrt, doch ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig an Tlitoos Warnung, keine unbedachten Dinge zu tun. Ich schluckte meinen Arger hinunter und beobachtete, wie meine Rudelgefährten das Feuerfleisch hinunterschlangen. Endlich, als nur noch ein Stück übrig war, gab Rissa das Signal zum Aufbruch. Sie hatte nur einige wenige Schritte gemacht, bevor sie 81 plötzlich anhielt. Ihr Fell sträubte sich, und ein tiefes Knurren drang aus ihrer Kehle. Sie legte das Fleisch, das sie getragen hatte, nieder und stellte ihre Pfoten weit auseinander. Werrna, die ihren Wachposten am Ende unserer Reihe eingenommen hatte, lief an uns vorbei und stellte sich neben sie. »Felsgipfler«, raunte sie, »auf unserer Seite des Flusses.« Ich schaute auf, um zu sehen, wie zwei große Wölfe, ein männlicher und ein weiblicher, auf unseren Pfad hinaustraten. Ich konnte mir nicht helfen, ich musste auf das Männchen starren. Ich hatte geglaubt, Werrnas Gesicht sei vernarbt, aber dieser Wolf trug eher eine einzige Narbe als ein Gesicht. Die linke Seite seiner Schnauze war halb weggerissen, und sein linkes Auge war nahezu vollkommen geschlossen durch einen Hautlappen, der darüberfiel. Er roch auch irgendwie falsch. Säuerlich und verfallen, wie Krankheit. Er roch so, dass man annehmen musste, es wäre ihm eigentlich gar nicht möglich, auf seinen Läufen zu stehen. Noch viel weniger hätte man gedacht, dass er so stark und mächtig war, wie er erschien. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass er ein kräftiger Wolf war, ein Leitwolf. Beide Wölfe waren sogar größer als Ruuqo, und beide hatten deutliche Muskeln. Der Anblick von drei gegnerischen Wölfen schien ihnen nichts auszumachen. »Torell, Ceela«, begrüßte Rissa die beiden Wölfe. Sie stand mit durchgestreckten Läufen und gerader Rute, ihr weißes Fell sträubte sich auf ihrem Rücken senkrecht in die Höhe. Werrna und Yllin standen ihr zur Seite, ihre Ruten hielten sie ein wenig niedriger als Rissa, aber ebenso langgestreckt. »Das ist nicht das erste Mal, dass ihr die Grenze zum Ge 81 biet vom Schnellen Fluss übertretet.« Rissas Stimme war sanft, aber Zorn schien sich in ihrem Innersten zusammenzuballen. »Rissa«, sagte Torell, der männliche Wolf, mit einem nur leicht angedeuteten Senken des Kopfes. »Werrna.« Sowohl Yllin als auch wir Welpen waren Luft für ihn. »Ich denke, du solltest nicht so schnell mit deinen Anschuldigungen sein. Ihr seid heute Nacht in unserem Gebiet gewesen.« »In gemeinsamem Gebiet, Torell. Du weißt, dass der Weg zum Lager der Menschen für alle offen ist. Wir mussten unseren Welpen zeigen, was sie sind. Alle Rudel respektieren das.« »Ich habe dem nie zugestimmt«, sagte er mit einer Stimme ebenso sanft wie Rissas. »Die Entscheidung über mein Gebiet wurde ohne mein Einverständnis getroffen.
Aber ich werde darüber hinwegsehen, auch wenn du Fleisch von meinem Grund genommen hast.« »Das möchte ich dir auch raten«, schnaubte Werrna, »wir sind in der Überzahl.« Torell beachtete sie nicht. »Das sind eure Welpen für dieses Jahr?« »Alle die, die den ersten Mond erlebt haben«, erklärte Rissa stolz. »Wie viele von euren haben überlebt?«, fragte Yllin und hob ihre Rute ein wenig höher. »Letztes Jahr waren es nur zwei, nicht wahr? Und sie haben beide das Tal verlassen.« »Sei still«, befahl Rissa. Ceela zog eine Seite ihrer Lefzen hoch und ergriff zum ersten Mal das Wort. Sie war etwas kleiner als Torell und hatte ein gelblich braunes Fell. »Vielleicht bringt ihr denen von diesem Jahr besseres Benehmen bei. Obwohl ich sehen kann, 82 dass einige den Winter wohl kaum überleben werden.« Ihre Augen ruhten auf Ázzuen und Reel. »Darum brauchst du dir wohl keine Sorgen zu machen«, meinte Rissa. »Welpen, dies ist Ceela, und dies ist Torell, Anführer des Rudels vom Felsgipfel. Ihr müsst sie nicht begrüßen.« »Als ob sich einer von uns bewegen würde«, flüsterte Ázzuen. »Ihr werdet das Gebiet vom Schnellen Fluss verlassen, und zwar jetzt«, sagte Rissa und trat ein kleines Stückchen zur Seite. »Wir werden euch vorbeilassen, ohne euch etwas anzutun.« Ceela verzog das Gesicht zu einer Miene, die bei jedem anderen Wolf als ein Lächeln gegolten hätte. Bei ihr wirkte es eher wie ein Zähnefletschen. »Für dieses Mal wollen wir jetzt gehen. Aber höre, Rissa. Unsere Gebiete werden verdorben. Die Menschen nehmen sich unsere Beute. Schon sterben die Säbelzahnkatzen auf unserem Land. Wir werden unser Rudel nicht leiden lassen, nur weil wir das Pech hatten, die Menschen auf unserer Seite des Flusses zu haben.« Ceela blickte auf uns herunter. »Das Gebiet vom Schnellen Fluss ist eines der reichsten des Tales. Wir werden uns unseren Teil der Beute holen.« Rissa knurrte noch einmal. Dieses Mal stimmten Werrna und Yllin mit ein. Der Boden bebte unter unseren Pfoten. »Ich denke, es ist Zeit für euch zu verschwinden«, sagte Werrna. Torell sah Ceela in die Augen und nickte ihr kaum merklich zu. Die beiden begannen, an uns vorbeizugehen. Der Weg war eng, und sie mussten dicht an uns vorbei, oder sie hätten in den Wald ausweichen müssen, was schnelles Laufen 82
schwierig für sie gemacht hätte, im Fall, dass wir versuchen würden, sie anzugreifen. Torell warf einen Blick auf uns Welpen, während er vorüberschritt. Als er mich sah, hielt er plötzlich an. »Was ist das?«, zischte er und starrte mich an. »Sie trägt das Zeichen der Verstoßenen und riecht nach fremdem Wolf.« »Geh zur Seite«, sagte Yllin und kam, um sich neben mich zu stellen. Aber ich konnte mich nicht bewegen. »Ich sagte bereits, dass dich die Angelegenheiten des Rudels vom Schnellen Fluss nichts angehen«, schnauzte Rissa. Werrna drehte sich um und stellte sich Ceela
gegenüber, und damit waren die Wölfe vom Felsgipfel zwischen ihr und Yllin auf der einen und Rissa auf der anderen Seite eingeschlossen. »Wir mögen es nicht, wenn wir etwas zweimal sagen müssen«, meinte sie. »Werdet ihr unser Gebiet freiwillig verlassen, oder müssen wir euch hinausgeleiten?« Torell zog seine Brauen zusammen. »Wir werden jetzt gehen«, sagte er. Aber seine Augen ruhten auf mir, und erst als Werrna und Rissa sich langsam auf ihn zubewegten, traten er und Ceela auf den Überquerungs-baum. Sie liefen leichtfüßig hinüber und starrten uns von der anderen Seite aus an. »Los Welpen«, sagte Rissa. »Sie werden heute Nacht nicht mehr auf unser Gebiet kommen.« Sie nahm das Stück Feuerfleisch auf, das sie hatte fallen lassen, und legte ihr Nackenfell wieder glatt an ihren Rücken an. Rasch begannen wir, uns vorwärtszubewegen, diesmal sehr viel schneller. Ich konnte nicht aufhören zu zittern. Da war etwas in Torells Blick, in seiner hasserfüllten Stimme, das mich frieren ließ. Aber es waren zu viele merk 83
würdige Dinge an diesem einen Abend geschehen, und so verdrängte ich den Gedanken an ihn. Ich hatte genug damit zu tun, mir Sorgen darüber zu machen, dass jemand Ruuqo erzählen könnte, wie ich zu den Menschen gelaufen war. Ich würde über Torell und die Wölfe vom Felsgipfel später nachdenken müssen. 83
9
Als wir schließlich die Wiese des Hohen Grases erreicht hatten, stand die Sonne bereits hoch über den Bergen im Osten. Wir waren alle erschöpft von den Ereignissen der Nacht. Der Rest des Rudels erwartete uns beim Rand des Waldes und kaute faul an den übrig gebliebenen Stücken des Pferdes, den wenigen Stücken, die wir hatten retten können. Rissa erzählte Ruuqo von unserer Auseinandersetzung mit den Wölfen vom Felsgipfel. Er hörte aufmerksam zu, leckte ihre Schnauze und sprach leise mit ihr. Er schien nicht besorgt zu sein. Streit zwischen Rudeln war so häufig wie der Regen, und dieser Streit hatte nicht einmal mit einem Kampf geendet. Ruuqo war erfreut über das zusätzliche Fleisch, und wenn er denn erbost darüber war, dass Rissa Yllin und den anderen gestattet hatte, den Sammelplatz der Menschen zu betreten, dann sagte er zumindest nichts darüber. Er beachtete den Geruch des Feuerfleisches nicht weiter. Er musste ihn im Atem der Wölfe gerochen haben, die glücklich genug gewesen waren, 83 ein Stück davon zu ergattern. Rissa schob das Stück, das sie aufgehoben hatte, Trevegg zu. Der Altwolf grummelte sein Dankeschön und verschlang das Fleisch mit einem Biss. Zu meiner Erleichterung erzählte Rissa Ruuqo nichts davon, wie ich versucht hatte, zu den Menschen zu gehen. Den anderen hatte sie verboten, ihm gegenüber irgendetwas davon zu erwähnen. Dennoch, jedes Mal, wenn Borlla oder Unnan sich
Ruuqo näherten, zog sich mein Magen vor Furcht zusammen. Wenn er dachte, dass mein Vater einer von denen war, die die Menschen liebten, und wenn er nach Gründen suchte, mich loszuwerden, wäre mein Versuch, zu den Menschen zu gehen, genau das, was er brauchte. Aber sie sagten nichts. Rissa erzählte ihm jedoch, dass Borlla Reel über den Fluss geholfen und dass sie erfolgreich Fleisch gestohlen hatte. »Das hast du gut gemacht, Jungwolf«, sagte Ruuqo. »Du wirst viel Gutes für das Rudel vom Schnellen Fluss tun.« Es war das erste Mal, dass er einen von uns anders nannte als >Welpe<. Als Jungwolf galt ein Wolf, der die Wandlung von einem Welpen, der völlig abhängig von anderen war, zu einem vollwertigen Mitglied des Rudels vollzogen hatte. Borlla platzte nahezu in ihrem Fell vor Stolz. Ruuqo lobte auch Unnan und Marra, was mir nichts hätte ausmachen sollen, mich aber dennoch schmerzte. Doch Borlla bekam am meisten Lob, sowohl für ihr Geschick beim Stehlen des Fleisches als auch für ihren Mut am Fluss. Yllin, Trevegg und sogar die knurrige Werrna machten ein großes Aufheben um sie. Als Borlla bemerkte, wie ich sie beobachtete, stolzierte sie herüber zu der Stelle, an der ich stand, blies ihren Atem in mein Gesicht und ließ den scharfen süßlichen Duft von verbranntem Fleisch über meine Nase streichen. Dann wandte 84 sie sich ab und erhob ihre Rute gegen mich. Ich fühlte, wie der Zorn in mir aufstieg, konnte mich jedoch beherrschen und nur weggehen. Da hörte ich das Schlagen von Flügeln in der Luft über uns und einen plötzlichen Aufschrei vor Ekel von Borlla. Ich blickte mich um und sah, wie sie versuchte, Tlitoo zu fangen, der genau über ihrem Kopf schwebte. Ein großer Klecks Vogelkot hatte sie mitten auf ihrem Kopf getroffen und war über ihr Gesicht und ihre Augen gespritzt. Tlitoo machte weitere kleine Sturzflüge in ihrer Nähe und flog dann über ihren Kopf und gackerte, während sie versuchte ihn zu fangen. »Welpe sieht gut aus. Dreckfell ist jetzt schön und weiß. Danket dem Raben.« Yllin war die Erste, die zu lachen begann, dann fiel Minn mit ein und schließlich der Rest des Rudels. »Du solltest besser lernen, dich schneller zu bewegen, Borlla«, meinte Rissa und wirbelte eine kleine Staubwolke auf, als sie ihren Kopf neigte und durch die Nase prustete. Trevegg lachte so sehr, dass er sich auf dem Boden wälzen musste und mit den Beinen in der Luft strampelte. Ruuqo machte mit und sprang plötzlich auf den Altwolf, während der im Staub rollte. Yllin warf Borlla auf den Rücken. Als Borlla sie dafür anknurrte, lachte sie nur noch lauter. »Das wird dich lehren, so stolz zu tun, Welpe!«, sagte sie schnaubend. Sie ließ Borlla aufstehen und duckte sich dann, um aus dem Weg zu kommen, als Tlitoo eine weitere Serie von Klecksen fallen ließ. Er verfehlte beide Wölfe. Enttäuscht flog der Rabe wieder über Borlla hinweg, und sie 84
rannte zum Schutz unter Rissas Bauch. Rissa brach vor Lachen zusammen, als Tlitoo, der offensichtlich am Ende seines Vorrats angelangt war, zu einem nahen Felsen flog. Borllas Gesicht war verkniffen vor Arger, aber sie konnte weder Rissa noch irgendeinen anderen der Erwachsenen herausfordern. Mit hängenden Ohren und hochgezogenen Schultern stolzierte sie zwischen den Bäumen hindurch in den Wald. Ich fühlte mich sehr viel besser und half, den Rest des gestohlenen Fleisches zu vergraben, nahe bei den Stücken des Pferdes, die wir vorher versteckt hatten. Ich nahm ein Stück alten Elch in mein Maul und dachte mir, dass, wenn ich schon nichts von dem Feuerfleisch abbekommen hatte, ich wenigstens diesen Fetzen behalten konnte. Doch Werrna stieß mich um und nahm es mir ab. »Du hast dir dieses Fressen nicht verdient, Welpe«, sagte sie. Ich wandte mich an Rissa, doch sie drehte sich um und vermied es, mich anzusehen. Jetzt war die Reihe an mir, mich davonzuschleichen, leise vor mich hinknurrend, während Ruuqo den Befehl gab zu rasten, bis es sich abgekühlt haben würde. Die Erwachsenen ließen sich im Schatten nieder, und Rissa hob ihren Kopf. »Welpen«, sagte sie, »ihr könnt euch in der Nähe umsehen, wenn ihr nicht schlafen wollt. Aber lauft nicht zu weit.« Ich ging ein Stück von den anderen fort. Mir gefiel es nicht, dass mein Rang im Rudel so niedrig war. Ich hätte ebenso wichtig für das Rudel sein sollen wie Borlla oder Unnan. Hatte ich mich nicht als ebenso selbständig erwiesen, hatte ich nicht mehr als alle anderen von dem Pferdekadaver ergattert und war ich nicht ebenso kräftig geschwommen wie 85 sie ? Ich fürchtete, das ganze Rudel würde es mir übelnehmen, dass ich versucht hatte, zu den Menschen zu gehen. Ich ging, bis ich den Rand der Ebene des Hohen Grases erreicht hatte. Ázzuen folgte mir. Dann trat Borlla aus dem Wald. Es war ihr gelungen, einen Großteil des Vogelkots von ihrem Kopf zu wischen, und sie schnüffelte an der Baumlinie entlang, mehrere Wolfslängen von meiner Linken entfernt, immer auf der Hut vor Tlitoos plötzlichem Erscheinen. Unnan und Reel näherten sich ihr vorsichtig. Marra zog an dichtem Beerengestrüpp nahe bei der Stelle, an der wir das gestohlene Fleisch vergraben hatten, und kaute an den klebrigen Blättern. Ich steckte meine Nase in den leeren Gang eines Ziesels und buddelte in der lockeren Erde auf der Suche nach etwas Interessantem. Da vernahm ich Borllas Stimme, sie sprach mit unüberhörbarer Lautstärke. »Es ist doch klar, dass sie nicht in der Lage sein werden zu jagen, wenn die Zeit dazu gekommen ist«, sagte sie zu Unnan. Ruuqo erhob seinen Kopf, durch Borllas Stimme aus seinem Nickerchen geweckt. Es machte mich wütend, dass sie uns so offensichtlich vor Ruuqo schlechtmachen und ihn denken lassen wollte, wir seien schlechte Jäger. »Sie könnte es wenigstens ein klein wenig geschickter machen«, murrte Ázzuen. »Sie haben es nicht einmal geschafft, über den Fluss zu kommen - oder Fressen zu stehlen«, fuhr Borlla fort. »Wie wollen sie dann irgendetwas erjagen?« Reel zuckte zusammen. Mir kam das ziemlich gemein ihm gegenüber vor, erst recht, da Borlla sich doch um das kleinere Junge hätte kümmern sollen. Ruuqo warf Borlla, dann mir und schließlich Ázzuen einen langen Blick zu, be
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vor er sich im Salbeigebüsch lang ausstreckte und wieder einschlief. Aber Borlla hatte mich auf eine Idee gebracht. Ich roch lebende Pferde ganz in der Nähe. Nachdem ich der Fährte einige Wolfslängen weit gefolgt war, entdeckte ich die großen, schwergliedrigen Pferde auf der offenen Ebene, wo sie an dem trockenen Gras kauten. »Wir werden sehen, wer hier ein Jäger ist«, sagte ich wie zu mir selbst. »Was hast du vor?«, fragte Ázzuen beunruhigt. Ich setzte mich auf meine Hinterläufe und beobachtete die Herde. Nicht mehr lange, und wir würden gemeinsam mit dem Rudel jagen dürfen. Wenn ich das erste Junge sein konnte, das lebendige Beute berührte, hätten Borllas Worte ihre Bedeutung verloren. Und vielleicht würde sich dann auch niemand mehr darum scheren, dass mein Vater möglicherweise ein Wolf von außerhalb des Tals war. Vielleicht, so dachte ich bei mir, könnte ich sogar selbst Beute erlegen. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als mir klar wurde, was ich im Begriff war zu tun. Mit einem Blick über meine Schulter auf Ázzuen machte ich mich auf in Richtung der Herde und hielt nach einigen Schritten an. Ázzuen folgte zögernd. Ich fing Marras Blick auf, sie unterbrach ihre Untersuchung des Beerengebüschs und kam zu uns herüber. »Du weißt, dass wir uns nicht so weit entfernen sollen«, meinte sie, immer ihren Blick auf die Pferde gerichtet. Sie klang nicht besonders besorgt. Sie wollte mich nur wissen lassen, wie verrückt ich ihrer Meinung nach war. »Ich weiß«, sagte ich, »aber ich will sie aus der Nähe betrachten, du etwa nicht?« »Natürlich will ich das«, antwortete sie grinsend. »Lass 86 dich nur nicht erwischen. Ich finde Arger nicht so aufregend wie du. Du bist viel zu draufgängerisch.« Ich schnaubte. Marra war diejenige von uns, die sich am ehesten etwas traute. Ich ging ein paar weitere Schritte in Richtung der Pferde und fiel dann in einen schnellen Laufschritt. Ázzuen und Marra folgten. Wir waren auf der Hälfte des Weges zu den Pferden, als ich hinter mir ein Geräusch hörte. Borlla, Unnan und Reel liefen uns nach und versuchten uns einzuholen. Auf einen Kampf gefasst drehten wir drei uns um und blickten ihnen in die Gesichter. Aber sie griffen nicht an. Stattdessen rannten sie an uns vorbei. Da wusste ich, was sie vorhatten: Sie würden die Pferde zuerst erreichen und alles Lob für das Vorhaben einstreichen. Ruuqo und Rissa würden wieder einmal Borlla loben und mich nicht weiter beachten. Entschlossen, Borlla und Unnan nicht als Erste die Pferde erreichen zu lassen, rannte ich ihnen nach. Ich überholte Reel mit Leichtigkeit und erreichte Unnan und Borlla, als sie gute zehn Wolfslängen von den Pferden entfernt anhielten. Marra war genau hinter mir, und ein entschlossener, schnaufender Ázzuen bildete den Schluss. Ich lehnte mich zu Borllas schmutzig weißem Ohr hinüber. »Ich könnte wetten, dass du Angst hast, direkt zu einem Pferd hinzugehen. Ich wette, du hast nicht wirklich den Mut eines Jägers. Diese Beute liegt nicht auf dem Boden und wartet darauf, dass du sie aufhebst.«
Borlla antwortete nicht, aber sie sah mich an und dann die Herde. Sie erhob ihre Nase und streckte sie in die Luft. Ich hörte Ázzuen hinter mir kichern. Borlla ging einen Schritt auf die Beute zu, hielt aber an, als Reel wimmerte und sich an ihre Schulter drängte. Er blickte sie flehentlich an und flüs 87 terte ihr etwas zu. Ihre Augen wurden sanft, und sie stupste ihn zärtlich mit der Nase. Wieder einmal fühlte ich einen Stich der Eifersucht auf ihre Nähe zueinander. »Dachte ich's mir doch«, sagte ich. Ich hätte es einfach dabei belassen sollen, aber ich wollte sichergehen, dass Unnan und Borlla - und besonders Ruuqo - klar wurde, dass ich zum Rudel gehörte. Nicht mehr lang, und uns würde das Winterfell wachsen, und bis dahin mussten wir Welpen unsere Stellung im Rudel gesichert haben. »Kommt«, sagte ich zu Ázzuen und Marra. Auf zitternden Beinen ging ich ein paar Schritte näher an die Pferde heran. Sie sahen aus der Nähe viel größer und viel gefährlicher als dasjenige aus, das der Bär schon getötet hatte. Sie rochen nach Beute - ein Duft gemischt aus Schweiß und warmem Körper. Ihr Atem war gefärbt von gekautem Gras und Staub. Ich blickte zurück und erkannte, dass sowohl Marra als auch Ázzuen mich angespannt beobachteten. Ich wollte das hier nicht alleine tun. Ich sah sie flehend an, und nach einer Weile folgten sie mir. Ich war nicht die Einzige, der klar war, dass dies die Rangfolge zwischen uns Welpen von jetzt an festlegen konnte. Dennoch war ich ihnen einfach dankbar, dass sie hinter mir standen. Und wie ich vorhergesehen hatte, bewegten sich auch Borlla und Unnan, darauf erpicht, die Ersten zu sein. Reel folgte ihnen nach einem kurzen Moment des Zögerns. Er tat mir ein wenig leid. Er schikanierte niemanden so, wie Unnan und Borlla das taten. Wenn er allein war, schien er ein netter Wolf zu sein. Aber ich hatte keine Zeit, um einen Gedanken an ihn zu verschwenden. Als ich hörte, wie Borlla und Unnan hinter mir näher kamen, begann ich zu laufen, um zu sehen, wer als Erster bei den Pferden ankommen würde. 87 Und dann waren wir zwischen den stämmigen Tieren, atmeten den Duft ihrer warmen Körper und den Grasgeruch ihres Kots ein. Ihr Atem war warm - damit hatte ich nicht gerechnet -, und sie begannen flacher zu atmen, als wir zwischen ihren Beinen umherflitzten. Aus der Ferne hörte ich Ruuqos warnendes Gebell, doch ich beachtete es nicht weiter. Ich hatte keine Geduld, zu warten und mir jetzt anzuhören, was er zu sagen hatte. Ich fühlte das Herz eines Jägers in mir schlagen, während ich mich zwischen den Pferden bewegte. »Sie sind einfach nur blöde Beute!«, rief ich Ázzuen übermütig zu. »Kein Wolf muss sich vor blöder Beute fürchten!« Ich lachte. Mein Herz schlug laut vor Aufregung. Das Blut floss schneller in meinen Adern. Meine Nasenlöcher weiteten sich, um jedes bisschen Geruch aufzunehmen, und meine Ohren stellten sich hoch auf, um jedes Geräusch einzufangen. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass eine Jagd sich so anfühlen würde. Das war nicht wie Mäuse fangen oder Kaninchen verfolgen. Ich hatte mich noch nie so lebendig gefühlt, so voller Verlangen. Die stumpfsinnigen Pferde standen einfach da wie Felsbrocken. Sie waren dafür da
gerissen zu werden, dafür vorgesehen, Beute zu sein. Ich verstand jetzt, dass wir Wölfe als die gerissensten Jäger galten, weil wir diejenigen waren, die sich die Dummen und die Langsamen zur Beute nahmen. In diesem Moment erinnerte ich mich auch, was von uns erwartet wurde: die Schwachen und Langsamen auszumachen. Es gelang mir nicht. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren als auf den Geruch, das Gefühl, das Geräusch von Beute um mich herum. Mir wurde schwindelig, und mein Magen drehte sich. Mein Kopf schien weit entfernt von meinem Körper zu sein, und mein Atem ging schwer. Was war 88 dieser Taumel ? Die anderen wurden auch davon erfasst. Wir wurden wagemutig und ungestüm, jagten einander zwischen den Beinen der Pferde. Ein Nervenkitzel befiel mich, während ich mir vorstellte, eine Jagd anzuführen und in das weiche Fleisch eines Pferdebauches zu beißen. Plötzlich veränderte sich die Stimmung in der Herde. Das Pferd, das Reel am nächsten war, senkte seinen Kopf und blies seinen Atem mit einem verärgerten Schnauben aus. Es stampfte mit den Füßen auf, schüttelte den Kopf und stellte sich auf die Hinterbeine. Das Pferd neben ihm schrie vor Zorn auf und sprang auf Marra zu, schnappend schlugen seine Zähne zusammen. Marra duckte sich und drehte sich mit einem erschrockenen Quieken aus dem Weg. Überall um uns herum begannen Pferde zu stampfen, sich auf die Hinterbeine zu stellen und zu rennen, ihre Hufe immer dicht an unseren Köpfen vorbei. Ich wandte mich um und suchte nach einem Ausweg, konnte jedoch nichts außer stampfenden Beinen und fliegenden Hufen erkennen, also duckte ich mich vor Angst. Ich blickte auf und sah eine Menge von Pferden um uns herum toben, sehr viel schneller, als es irgendeinem Geschöpf möglich sein sollte zu rennen. »Lauft!«, schrie Trevegg. »Lauft, oder ihr werdet zerschmettert!« Durch das Donnern der Pferde erblickte ich die Erwachsenen, wie sie auf uns zurannten. Treveggs Stimme zerschnitt meine Furcht, und es gelang mir, meinen Beinen zu befehlen, sich zu erheben und mich zu tragen. Mit Mühe konnte ich mich auf ihnen halten, ich beugte mich hinunter und stieß Ázzuen an, riss ihn aus seinem Schockzustand. Er blickte mich verwirrt an, immer noch am Boden kauernd. »Steh auf!«, schrie ich. »Steh auf und sieh zu, dass du aus dem Weg kommst!« 88 Ich konnte seine Angst und seine Verwirrung riechen. Wir waren umgeben von donnernden Hufen und wirbelndem Staub. Jetzt, wo die erste Woge des Schreckens über mich hinweggespült war, fühlte ich, wie geschärft meine Sinne waren. Ich drängte die Furcht in den hintersten Winkel meiner Wahrnehmung. »Wir müssen ihren Hufen ausweichen, bis die Erwachsenen zu uns kommen.« Ich rief, um mich Ázzuen verständlich zu machen. »Wir müssen uns bewegen.« Ein winziger Bruchteil einer Erinnerung aus unserem Jagdunterricht kam mir in den Sinn. »Wenn du sehr viel kleiner als deine Beute bist«, hatte Rissa gesagt, »ergibt es keinen Sinn, dein Gewicht einzusetzen, um die Beute umzuwerfen. Du wirst nur in den Schmutz fallen. Du musst deine Schläue einsetzen, denn es ist Schläue, die uns zu guten Jägern macht. Renne hin und her. Gebrauche Taktik, nicht Gewalt.«
Ich sah Borlla auf der Stelle stehen, auf eines der Pferde starren und knurren: Sie versuchte Reel zu beschützen, der hinter ihr kauerte. Tapfer, dachte ich bei mir, tapfer, aber dumm. Sie waren zu weit von mir entfernt, als dass ich sie hätte erreichen können. Marra bewegte sich bereits, huschte geschickt zwischen den Pferden umher, ihr Gesicht grimmig verzogen vor geballter Konzentration. Ázzuen stand bewegungslos neben mir, starrte voller Furcht zu den Pferden hinauf. Unnan kauerte eine Wolfslänge entfernt auf der Erde. Ich stieß Ázzuen heftig an und schubste ihn aus dem Weg der donnernden Hufe. Jedes Mal, wenn er wieder aufhörte sich zu bewegen, stieß ich ihn erneut an. Dann erreichten uns die erwachsenen Wölfe, knurrten die Pferde an, um sie von uns fortzutreiben. Werrna sprang eines der Pferde unmittelbar 89 an als es beinahe Unnan zertrampelt hätte, und warf damit das überraschte Tier aus seiner Bahn. Selbst in meiner verängstigten Verfassung war ich von ihrem Mut beeindruckt. Die anderen Wölfe versuchten, einen Kreis um uns zu schließen, zwischen uns und den Pferden. Marra stürzte in den Kreis hinein und sah keuchend zu, wie die größeren Wölfe uns langsam in so etwas wie Sicherheit brachten. Mein Umherstolpern hatte mich in die Nähe von Unnan gebracht, und ich schubste ihn zu den Erwachsenen hin. Yllin packte ihn und schmiss ihn in die Mitte des Kreises. Ich erwischte Ázzuen am Nackenfell und warf ihn geradezu in Richtung der Erwachsenen. Dabei zerrte ich einen Muskel in meinem Nacken so schmerzhaft, dass ich aufschreien musste, was ein Pferd vor mir dazu brachte, seinen Kopf zu senken und mich damit umzuwerfen. Ich sprang wieder auf, wich aus und lief, wich dann wieder aus. Borlla stand ebenfalls außerhalb des schützenden Kreises, knurrte immer noch wie wild nach den Pferden, während Reel sich hinter ihr duckte und leise wimmerte. »Bewegt euch!«, rief ich wieder. »Ihr müsst in Bewegung bleiben!« Sie starrte mich an und blickte dann hinauf zu einem großen Pferd. Ich stürzte zu ihr und stieß sie aus dem Weg, rollte mich dann weg, gerade als ein riesiger Huf auf meinen Kopf zudonnerte. Ich hörte einen Wolfsschrei, ein schreckliches Jaulen vor Schreck und Schmerz, durch eine Wolke von Staub hindurch. Dann, ebenso schnell, wie er begonnen hatte, war der Pferdetumult vorüber. Yllin und Werrna vertrieben die Pferde, die sich an den äußersten Rand der Wiese zurückzogen. Rissa lief von Welpe zu Welpe, versicherte sich, dass wir in Sicher 89 heit waren. Ich kauerte mich nieder, noch ganz benommen und gab ihre Liebkosung stürmisch zurück, als sie sich über mich beugte und meinen Kopf leckte. Sie wiederholte die Geste bei Ázzuen, der zitternd auf seine Füße kam, und dann bei Unnan, der einen Riss über seinem linken Auge hatte, und dann bei Marra, die regungslos dastand und den verschwindenden Pferden hinterherschaute. Dann, mit gesenkter Rute und einem ängstlichen Wimmern in ihrer Stimme, stupste Rissa mit ihrer Nase ein blasses Etwas an, das wie Reel, aber gleichzeitig auch ganz anders roch. Ihr Wimmern wurde lauter, und Ruuqo und Trevegg gingen langsam zu ihr. Sie schoben und schubsten Reel, aber er bewegte sich nicht. Sein Kopf war mit Blut verschmiert, und sein Körper wirkte merkwürdig flach.
»Steh auf, Reel«, meinte Borlla ein wenig ungeduldig und stupste seinen regungslosen Körper an. Rissa schob Borlla sanft zur Seite und setzte sich auf ihre Hinterläufe, um ein langgezogenes trauerndes Heulen ertönen zu lassen. Ruuqo, Trevegg und Minn stimmten mit ein. Yllin und Werrna, die von der Vertreibung der Pferde zurückgetrabt kamen, hielten an und standen eine Weile regungslos da, dann stimmten auch sie mit ihren eigenen Klageliedern ein. Ich fühlte, wie meine Kehle sich öffnete und wie ein tiefes Heulen, das ich nicht als mein eigenes erkannte, aus meinem Innersten erklang. Ich blickte voller Unglauben auf den kleinen, von Schmutz überzogenen Körper dort auf dem niedergetrampelten Gras. Mein Kopf schmerzte, und mein Brustkorb fühlte sich schwer an. Mein Magen zog sich von selbst zusammen, und ich hatte das Gefühl, ein wenig von dem Fleisch, das ich zuvor gefressen hatte, heraufwürgen zu müssen. Ich hatte gefres 90 sen, nur wenige Augenblicke, bevor ich mit Reel zu den Pferden gelaufen war. Und jetzt war er nur noch Fell und Knochen. Yllin und Werrna hatten das restliche Rudel erreicht, und wir standen alle um Reel herum, die heiße Nachmittagssonne brannte unerbittlich auf unsere Rücken hinab und verursachte mir nur noch mehr Übelkeit. Ich weiß nicht, wie lange wir dort standen und warteten, hofften, dass das Leben in ihn zurückkehren würde, doch wir hatten ihn verloren. Ich hatte Reel nicht sonderlich gemocht, hatte nicht wirklich viel über ihn nachgedacht, aber er war genauso ein Wurfgefährte gewesen wie alle anderen. Er gehörte zum Rudel. Und sein Schicksal hätte genauso gut meines sein können. Ich hatte ihn dazu gebracht, zu den Pferden zu laufen. Ich wollte nur noch im Staub auf der Ebene liegen und mich selbst im Dreck vergraben. Rissa heulte wieder, länger und tiefer, und das Rudel fiel in ihr Abschiedslied für Reel mit ein. Alle außer Borlla, die nur regungslos dastand und voller Unglauben auf seinen Körper blickte, an dem das Fell sich jetzt leise in einem Windhauch bewegte. Mit einem letzten Blick auf Reel führte Rissa das Rudel von der Ebene des Hohen Grases fort. Borlla bewegte sich nicht. »Ihr könnt ihn nicht einfach hier liegen lassen! Ihr könnt ihn nicht einfach den Säbelzahnkatzen und Hyänen überlassen!«, schrie sie. »So ist es bei uns Brauch, Kleiner Wolf«, erklärte Trevegg, und in seinen Augen spiegelte sich das Mitleid. »Er ist zum Gleichgewicht zurückgekehrt. Er wird zu einem Teil der Erde werden, genauso wie wir alle eines Tages. Er wird zu einem Teil des Grases werden, das zu einem Teil der Beute wird, die zu einem Teil unseres Rudels werden wird. Das ist der Lauf der Dinge.« 90 »Ich werde ihn nicht verlassen«, sagte Borlla trotzig. Keiner von uns hatte es je gewagt, einem älteren Wolf so zu widersprechen. »Du musst«, antwortete Trevegg. »Du bist ein Wolf und gehörst zum Schnellen Fluss, also musst du deinem Rudel folgen.« Als Borlla sich nicht bewegte, schob er sie vor sich her, sehr viel sanfter, als er das normalerweise getan hätte, und zwang sie, dem Rudel zu folgen.
Wir gingen langsam zurück zum Rand des Waldes. Borlla und Unnan blieben immer wieder hinter uns stehen und starrten auf Reels Körper, bis Trevegg oder Werrna zurückliefen, um sie sanft voranzutreiben. Schließlich nahm Werrna Borlla hoch, und obwohl Borlla schon halb ausgewachsen war, trug Werrna sie zwischen ihren starken Kiefern. Borlla wehrte sich zuerst, doch dann verließ sie die Kraft, und sie hing schlaff zwischen Werrnas Zähnen, ihre Beine schleiften auf dem Boden. Alle waren still, während wir so nach Hause trotteten, außer Borlla, die leise wimmerte. Wir waren nur wenige Wolfslängen so gegangen, als Unnan plötzlich auf mich zugelaufen kam, mich zu Boden warf und sich auf meine Brust stellte, sein schmales Gesicht vor Wut entstellt. »Du hast ihn umgebracht«, spuckte er. »Das Pferd hätte dich töten sollen, nicht ihn.« Hass lag in seiner Stimme. »Du bist diejenige, die tot sein sollte.« Ich hatte kaum Kraft, um mich zu verteidigen. Unnan sagte nichts anderes, als was ich mir nicht auch schon selbst gesagt hatte. Ich warf Unnan ab und humpelte fort. Ich wollte ihn nicht meinerseits angreifen. Aber als er mich in den Hals biss und mich würgte, biss ich zurück, sodass er aufschrie. Ruuqo gab den Befehl zum Anhalten, und das Rudel ver 91
sammelte sich um Unnan und mich. Werrna setzte Borlla auf dem Boden ab. »Wovon redest du, Unnan?«, fragte Ruuqo. »Sie hat uns dazu gebracht, dorthin zu gehen«, antwortete Unnan. »Wir haben nur geschlafen, aber sie hat uns dazu gebracht loszugehen. Es ist ihre Schuld, dass Reel tot ist.« Mein Herz sank tiefer in meiner Brust, und ich konnte kaum atmen. Ruuqo sah mich an, wartete auf eine Antwort, aber ich konnte keine finden. Marra redete an meiner Stelle. »Es war Kaalas Idee«, sagte sie, »aber wir alle wollten gehen.« »Niemand hat dich dazu gebracht zu gehen, Unnan«, meinte Ázzuen. »Du hättest dableiben können. Genauso wie Reel. Wir alle wollten die Pferde sehen«, erklärte er den Leitwölfen. »Und Kaala hat uns gerettet, Unnan und mich, als wir nicht aus dem Weg kamen. Sie wusste, was zu tun war, als wir nicht mehr weiterwussten.« Ich blickte ihn dankbar an. »Was hast du dazu zu sagen, Welpe?«, fragte Ruuqo. Die Bäume und Büsche schienen mich zu umzingeln, machten es mir noch schwerer zu atmen. Der Erdboden drückte hart gegen meinen Brustkorb, als ich mich auf meinen Bauch fallen ließ. Ich wollte Entschuldigungen vorbringen, Unnan und Borlla beschuldigen, dass sie mich aufgestachelt hatten, die Pferde dafür, dass sie gelaufen waren. Aber ich fühlte Ázzuens und Marras Blicke auf mir. Sie hatten den Mut gehabt, mich zu verteidigen. Ich durfte jetzt nicht feige sein. »Es war mein Fehler«, sagte ich, unfähig, das Zittern in meiner Stimme zu verbergen. »Es war meine Idee, die Pferde aus der Nähe zu betrachten. Ich wusste nicht, dass sie das tun würden - dass sie so rennen können.« Ich warf mich so tief 91 wie möglich zu Boden. »Ich wollte nicht, dass irgendjemand verletzt wird.« »Wenigstens verbirgst du deinen Fehler nicht. Ich dulde keine Lügner in meinem Rudel. Warum hast du die anderen zu den Pferden geführt?«
Ich war froh, dass ich niemand anderem die Schuld zugeschoben hatte. Ich blieb so tief am Boden, wie ich nur konnte, die Ohren so weit zurück wie nur möglich, eng am Kopf angelegt. »Ich wollte sehen, ob ich jagen kann.« Meine Antwort schien unangemessen. »Ich wollte die Erste sein, die Beute berührt.« »Stolz bedeutet den Tod für einen Wolf«, antwortete Ruuqo. »Und es waren Stolz und Dummheit, die dich dazu brachten, der Beute ohne die notwendige Achtung gegenüberzutreten, ohne überhaupt genug über die Jagd zu wissen.« Meine Kehle war wie zugeschnürt, während ich Ruuqos Urteil erwartete. Ich war so angespannt, dass meine Augen schmerzten, und ich konnte spüren, wie das Blut in den Adern dahinter pochte. Ruuqo hatte seit meiner Geburt auf eine Gelegenheit gewartet, mich verstoßen zu können. Ich war mir sicher, er würde mich fortschicken. Doch er blickte im Rudel umher, und seine Augen ruhten schließlich auf Rissa. Sie näherte sich ihm, die übrigen Erwachsenen des Rudels folgten ihr. Sie drängten sich dicht an ihn, bewegten sich um ihn herum und sprachen leise. »Es ist wahr«, sagte Rissa und legte ihren Kopf eng an Ruuqos Hals, »dass Kaala die Jungen dazu gebracht hat, zu den Pferden zu gehen, aber Welpen sind neugierig. Sie werden immer versuchen zu jagen, bevor sie es können. Sie wä 92 ren keine Wölfe, wenn sie sich nicht an der Beute messen wollten. Es ist nicht ihre Schuld, dass die Pferde heute so nervös waren. Und sie hatte den Mut und die Geistesgegenwart, den anderen zu helfen, als die Pferde zu laufen begannen. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir vielleicht drei oder vier Junge verloren, nicht nur eines.« »Ich habe nie einen so jungen Welpen so etwas tun sehen, die anderen auf solche Art schützen sehen«, sagte Trevegg, »und ich habe schon acht Jahrgänge von Welpen erlebt.« Yllin warf sich auf den Boden, bevor sie zu sprechen begann. Vorjährige Jungwölfe nahmen nicht oft an solchen Beratungen teil. »Ich hätte das nicht tun können, als ich ein Welpe war«, sagte sie, »und ich war damals größer als Kaala jetzt.« Zu meiner Überraschung grummelte Werrna zustimmend. Sie hatte noch nie auf meiner Seite gestanden. »Sie hat den Tod eines anderen Welpen verursacht!«, warf Minn ein, legte dann aber die Ohren an, als Rissa ihm einen Blick zuwarf. Ruuqo wedelte mit den Ohren. Er nahm die Schnauze jedes einzelnen Wolfs in sein Maul und entfernte sich dann, in Gedanken versunken und seine Brauen zusammengezogen. Ich bemerkte, dass ich vergessen hatte zu atmen und sog einen tiefen Atemzug voller Luft in meine Lungen. Die Stimmung des Rudels erinnerte mich daran, wie es war, wenn die Erwachsenen zusammenkamen, um zu entscheiden, was gejagt werden sollte. Ein Leitwolf trifft die Entscheidungen, aber wenn niemand mit ihm einer Meinung ist, schadet das seinem Durchsetzungsvermögen. Ich konnte geradezu sehen, wie Ruuqos Gedanken arbeiteten, wie er die Wünsche des Rudels und seine eigenen in Betracht zog. Er sah mich mit Missfallen an, und ich zitterte. 92
Trevegg ging hinüber zu ihm. »Kein Wolf ist ein Rudel für sich alleine, Ruuqo«, sagte der Altwolf leise. »Das Rudel möchte, dass sie bleibt. Du weißt das. Wenn du so entschieden die Wünsche von so vielen missachtest und gegen den Willen des Rudels handelst, könntest du sie alle verlieren. Sie könnten sich einen anderen Anführer suchen.« Er blickte aus den Augenwinkeln auf Werrnas vernarbtes Gesicht. »Glaubst du, dass ich ein Narr bin?«, schnauzte Ruuqo und schob Trevegg zur Seite. »Dass ich mein Rudel in Gefahr bringe wegen meiner Gefühle für diesen Welpen? Ein starker Wolf ist ein starker Wolf - selbst wenn ich sie nicht mag.« Ruuqo drehte sich um und sah auf das Rudel, dann fing er Rissas klaren, offenen Blick auf. »Ihr habt recht. Wenn Kaala nicht so gehandelt hätte, wie sie gehandelt hat, hätten wir noch mehr Welpen verloren. Einen solchen Geist braucht ein Rudel.« Ruuqo sprach zu Rissa, doch seine Worte waren an das gesamte Rudel gerichtet. Ich blickte ihn erstaunt an. Wäre er plötzlich auf zwei Beinen umhergelaufen und hätte einen spitzen Stecken getragen wie die Menschen, ich hätte nicht mehr verwundert sein können. Er blickte auf sein Rudel. »Es ist der Lauf der Dinge. Wir werden alle daraus lernen. Und wir werden dieses Junge genauestens im Auge behalten«, erklärte er und warf mir einen Blick zu, der mein Innerstes zu Schlamm werden ließ. »Wenn sie weiter auffälliges Verhalten zeigt, müssen wir uns erneut überlegen, ob sie im Rudel bleiben kann oder nicht.« Unnans ganzer Körper schüttelte sich vor Zorn. »Aber sie wollte die Me ...« Werrnas große Pfote fiel auf ihn herab, während Rissa gerade verärgert ihren Kopf hatte wenden können. 93
»Sei still, Welpe«, zischte Werrna. »Du hast von deinem Leitwolf einen Befehl erhalten. Den befolgst du!« Unnan sah sie beleidigt an, aber er sagte nichts mehr. Jetzt war ich an der Reihe zu zittern, aber nicht vor Wut, sondern vor Erleichterung. Es war alles so schnell geschehen, dass ich noch ganz benommen war. Endlich kam ich wieder zu mir und kroch zu Ruuqo, um ihm zu danken. Er musste mir meine Überraschung angemerkt haben, denn er schnaubte, als ich seine Schnauze vor Dankbarkeit leckte. »Warum bist du so überrascht, Welpe?«, fragte er. Ich konnte keine andere Antwort finden außer der Wahrheit, und ebenso wenig konnte ich ihm eine Antwort vorenthalten. »Ich dachte, du wolltest, dass ich verschwinde!«, brach es aus mir heraus. »Und du denkst, dass ich so dumm und selbstsüchtig bin, dass ich meine Wünsche über die des Rudels stelle?« Darauf fiel mir erst recht keine Antwort ein, und ich starrte ihn nur an. »Ich beobachte dich, Welpe. Du bist eine Bedrohung für mein Rudel, und das habe ich nicht vergessen. Mach keine weiteren Fehler«, sagte Ruuqo so leise, dass nur ich es hören konnte. Er wandte sich an das restliche Rudel. »Wir werden heute nicht beim Rand des Waldes bleiben. Wir kehren zum Sammelplatz beim Gefallenen Baum zurück.«
Er trabte entschieden den Weg entlang, zurück zu unserem Sammelplatz. Borlla ging diesmal auf ihren eigenen Füßen, aber sie hielt alle paar Schritte an, wandte sich um und blickte in Richtung der Stelle, wo Reel gestorben war. Ich konnte es nicht über mich bringen, dasselbe zu tun. Ich hielt meinen Kopf gesenkt und versuchte nicht daran zu denken, welche 94
Rolle ich bei Reels Tod gespielt hatte, versuchte zu vergessen, wie unsicher meine Stellung im Rudel war. Ich folgte einfach meiner Familie nach Hause. 94
Welpen sterben. Das ist so natürlich wie das Erlegen von Beute oder das Laufen im Mondschein. Unser Rudel war kein gewöhnliches Rudel, gerade, weil so viele von uns so lange überlebt hatten. Aber ich konnte mir nicht helfen, ich fühlte mich schuldig an Reels Tod. Wenn ich mich nicht unbedingt hätte beweisen wollen, wenn ich die anderen nicht dazu herausgefordert hätte, die Pferde aus der Nähe zu betrachten, hätte er nicht sterben müssen. Ich konnte den Anblick seines kleinen, reglosen Körpers nicht aus meinen Gedanken verdrängen. Und dann war da noch das, was mit Borlla geschah. Ihr hatte Reels Tod von uns allen am meisten zugesetzt. Sie war schweigsam und ernst geworden und hatte in dem halben Mond seit der wilden Flucht der Pferde kaum etwas gefressen. Es war eine regnerische Zeit gewesen. Der Sammelplatz war glitschig und voller Schlamm, und wir alle hatten schlechte Laune. Werrna biss mich zweimal bei verschiedenen Gele 94 genheiten, als ich dorthin ging, wo sie gerade sein wollte, und selbst Yllin knurrte, wenn wir Welpen uns näherten. Aber niemand schnappte nach Borlla oder biss sie. Es schien ihr unmöglich zu begreifen, dass Reel nicht mehr da war. Wann immer die Erwachsenen sie nicht genauestens im Auge behielten, kehrte sie zu der Wiese beim Hohen Gras zurück und hielt Ausschau nach Reel. Ich dachte, Ruuqo und Rissa würden irgendwann böse auf sie werden, da sie sich so oft ohne Erlaubnis entfernte, aber das war nicht der Fall. Jedes Mal, wenn sie verschwunden war, schickten sie einen der anderen Wölfe, um sie zurückzuholen, und Trevegg, Werrna oder Minn kehrten dann mit ihr zurück. Manchmal mussten sie Borlla nach Hause schleifen, was bestimmt nicht einfach war, denn sie war nahezu ausgewachsen. »Er ist nicht mehr da, Kleiner Wolf«, sagte Trevegg zärtlich, nachdem er sie zum dritten Mal zurückgezerrt hatte. Es war wahr. Ázzuen und ich waren Borlla gefolgt, als sie am ersten Tag zu der Hohen Graswiese zurückgekehrt war. Reels Körper war verschwunden. Obwohl sein Geruch noch deutlich zu erkennen war, hatte er sich doch mit dem Geruch von Hyänen vermischt. Man benötigte nicht viel Vorstellungskraft, um sich denken zu können, was geschehen war. Die Aasfresser hatten ihn irgendwohin geschleppt, sicherlich aus Angst, wir könnten zurückkehren. Der Gedanke, dass einer von uns so leicht zu einer Mahlzeit werden konnte, verfolgte mich. Borlla weigerte sich einfach, es zu glauben. Ich hatte angenommen, sie würde mich hassen, würde mich mit Abscheu betrachten, so wie Unnan es tat, doch wenn ich ihr in die Augen blickte, erkannte ich nur Verwirrung und Trauer. Ich hätte lieber ihren Zorn ertragen. Ich beobachtete sie, wie sie so im Regen saß und geduldig auf
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eine Gelegenheit wartete, um wieder davonzuhuschen, und meine Schuld legte sich schwer auf meine Glieder, schwerer als mein regennasses Fell. Als ich versuchte, etwas von dem alten Reh zu fressen, das Werrna aus einem unserer Verstecke ausgebuddelt hatte, konnte ich es nicht hinunterwürgen. Ich beobachtete Borlla, hoffte, eine Veränderung in ihr entdecken zu können. Der Regen war warm, aber mir fröstelte, und ich legte meinen Kopf zwischen meine Pfoten. »Es ist Zeit, dass du aufhörst, dich zu grämen, Welpe«, sagte Trevegg streng und schlenderte zu mir herüber. »Die Starken überleben, und die Schwachen überleben nicht. Wir sind alle traurig über Reels Tod, aber die Beute springt nicht in unsere Mäuler, nur weil wir traurig sind. Rissa hockt ja auch nicht herum und bläst Trübsal. Sie weiß, dass die Jagd weitergehen muss. Der Tag, an dem wir aufhören, die Beute zu verfolgen, ist der Tag, an dem wir aufhören Wölfe zu sein.« »Das weiß ich«, antwortete ich und blinzelte im Regen, der vom Boden hinauf in meine Augen zu spritzen schien. »Ich weiß auch, dass er vielleicht ohnehin nicht überlebt hätte. Aber ich fühle mich dennoch schlecht.« »Ich bin froh, das zu hören«, meinte der Altwolf und knabberte etwas von dem festgebackenen Schlamm an seiner Schulter ab. »Du wärest kein gutes Mitglied des Rudels, wenn du nicht so fühlen würdest. Aber du musst jetzt aufhören, darüber nachzubrüten. Hätte Reel den Winter überlebt, wenn du nicht zu den Pferden gegangen wärest? Vielleicht. Wären Unnan und Ázzuen gestorben, wenn du nicht so schnell gedacht und gehandelt hättest? Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit.« Treveggs Stimme wurde ein wenig weicher. »Einige Wel 95
pen überleben nicht bis zum Ende des Winters. Das muss so sein, wenn Wölfe stark bleiben wollen. Weißt du, dass das Rudel der Wühlmausfresser nur ein oder zwei seiner Welpen jedes Jahr am Leben erhält, weil ihr Rudel zu klein ist, um größere Beute zu erlegen? Und die Wölfe vom Felsgipfel lassen ihre kleineren Welpen gar nicht erst in die Nähe des Fressens. Sie lassen sie verhungern, ohne dass sie ihnen überhaupt die Gelegenheit geben, sich zu beweisen. Rissa ist im ganzen Tal dafür bekannt, dass die meisten ihrer Welpen überleben. Wenn die Ahnen eines unserer Jungen zu sich rufen, dann müssen wir dankbar dafür sein, dass so viele bei uns bleiben dürfen.« »Wo sind sie alle ? Rissas Welpen vom letzten Jahr und von dem davor?«, fragte Ázzuen und trabte zu uns herüber. Er hatte mich seit Tagen beobachtet, aber er schien Angst gehabt zu haben, sich zu nähern. Ich erinnerte mich, dass ich ihn angeknurrt hatte, als er anfangs versucht hatte, mich zu trösten. »Die meisten verlassen das Tal«, antwortete Trevegg. »Es gibt hier nicht genügend Platz für so viele Rudel, und nicht jedem gefallen die Gesetze des Tals.« Er schüttelte den Regen aus seinem Fell. »Also musst du dich jetzt entscheiden, Welpe. Bleibst du bei uns, oder wirst du Reel folgen ? Niemand von uns kann dir diese Entscheidung abnehmen.« Er leckte mir über den Kopf und ging, um mit Borlla zu sprechen. Sie wandte ihr Gesicht ab, stand dann unsicher auf und ging in den Wald hinein. Treveggs Schultern senkten sich ein wenig, dann schüttelte er sich und schlenderte hinüber zu Unnan.
Plötzlich hörte ich hinter mir ein Planschen und Knurren. Yllin hatte Minn in eine schlammige Pfütze gestoßen. Die 96 beiden Jungwölfe begannen zu kämpfen, rollten im Schlamm umher und bissen einander heftiger als notwendig. Rissa beendete den Streit und trennte die beiden. »Ich hasse diesen Sommerregen«, meinte sie und starrte auf die beiden Jungwölfe. »Ich freue mich auf die Schneefälle des Winters, wenn es einfacher ist zu laufen und die Launen aller erträglicher. Welpen«, erklärte sie dann plötzlich, »ihr seid jetzt alt genug, selbst die Umgebungen zu erkunden. Entfernt euch nicht weiter als den Lauf einer halben Stunde vom Gefallenen Baum und kommt sofort, wenn wir euch rufen.« Ich war überrascht. Sie hatten uns seit der wilden Flucht der Pferde genauestens beobachtet und nicht außer Sichtweite gelassen. »Sind sie nicht ein wenig jung, Rissa?«, fragte Trevegg sie lachend. »Normalerweise wartest du einen weiteren halben Mond, bevor du die Jungen alleine hinausschickst.« Er stieß sie liebevoll an. »Ich will Ruhe und Frieden auf diesem Sammelplatz, sodass wir endlich wieder ordentlich jagen können!«, erklärte Rissa. Sie kniff die Augen zusammen und blickte auf Werrna, die in ein lebhaftes Gespräch mit Ruuqo verwickelt war. »Auf geht's, Welpen. Entweder ihr bleibt hier und schlaft, oder ihr geht auf Entdeckungsreise.« »Wir waren nicht diejenigen, die Ärger gemacht haben«, meinte Marra und platschte herüber zu Ázzuen und mir. Sie setzte sich und leckte Schlamm von einer Vorderpfote. »Aber ich habe nichts gegen ein bisschen Auskundschaften. Vielleicht finden wir ja irgendeine kleine Beute.« Ázzuens Ohren schnellten in die Höhe. Die letzte Jagd war ohne Erfolg geblieben, und wir waren alle ein wenig hungrig. 96
Die Erwachsenen hatten uns etwas zum Fressen aus ihren Verstecken gebracht, aber das war nicht viel gewesen. »Na dann los!«, rief Ázzuen. Ich lachte und fühlte mich mit einem Mal besser, als ich mich die ganzen letzten Tage gefühlt hatte. Ich folgte Ázzuen und Marra in den Wald. ♦
Ázzuen war derjenige, der die Heimstatt der Mäuse entdeckte. Es war nur ein felsiger, mit Gras bedeckter Platz, genau eine halbe Stunde zu laufen vom Gefallenen Baum. Der Regen hatte die Gänge der Mäuse überflutet und sie gezwungen herauszukommen. Es dauerte keine Stunde, und wir waren hervorragend im Fangen von Mäusen geworden, aber ebenso schnell hatten die Mäuse begriffen, dass es an dieser Heimstatt nicht mehr sicher war. Sie liefen in ein Loch, dass wir vorher nicht entdeckt hatten, und wir verloren ihre Fährte. Zufrieden mit unserer Ausbeute, aber immer noch ein wenig hungrig - denn Mäuse füllen den Magen schlecht -, ließen wir uns nieder, um zu schlafen. Und da besuchte mich die junge Traumwölfin wieder. Ich hatte sie nicht vergessen. Ich hatte oft an sie gedacht, seitdem sie mit mir am Sammelplatz der Menschen gesprochen hatte. Aber ich wusste nicht, wie ich mehr über sie hätte herausfinden können. Ich hatte Angst davor, Rissa oder auch Trevegg zu fragen, da beide hätten denken könnten, ich sei verrückt und nicht stark genug,
um zum Rudel zu gehören. Wölfe erscheinen nicht einfach so aus der Luft. Wenn ich nicht an Reel dachte, versuchte ich den Schatten der Traumwölfin hinter Bäumen und im Halbdunkel zu finden, doch 97 war es in meinen Träumen, wo sie sich mir schließlich wieder zeigte. Ázzuen und Marra schliefen tief und fest, ermüdet von der Mäusejagd, doch mein Schlaf blieb ruhelos. Jedes Mal, wenn mein Geist versuchte, mich in Träume zu tragen, in denen ich mit dem Rudel lief oder mit Ázzuen und Marra jagte, erschien das Gesicht der jungen Wölfin vor mir. Dann drehte sie sich um, als ob sie fortlaufen wollte und wartete darauf, dass ich ihr folgte. Doch der Schlaf hielt mich mit schweren Gliedern auf meinem Platz, ich trat und strampelte lediglich im Traum auf dem nassen Boden. Schließlich bellte sie, laut und vernehmlich genug, um mich aus meinen Träumen aufschrecken zu lassen. Ich wachte auf, sprang noch halb im Schlaf auf meine Pfoten und weckte damit Ázzuen und Marra aus ihren Träumen. Ich sah den leuchtenden Fleck einer hellen Rute im Wald verschwinden und spürte einen winzigen Hauch des säuerlichen Wacholderdufts, an den ich mich so gut erinnerte. Ich schüttelte den Schlaf zusammen mit einem Schauer von Regentropfen ab und folgte dem Geruch in den Wald. Marra grunzte und fiel wieder in den Schlaf, doch Ázzuen folgte mir. »Wohin gehen wir?« Er war schläfrig und ein wenig missgelaunt. Ich beachtete ihn nicht und lief weiter. Er konnte mir folgen oder nicht, das blieb ihm selbst überlassen. Die Fährte wurde stärker, je tiefer wir in den Wald hineinliefen. Sie führte uns in einen dichten Teil des Waldes, an einen Ort, den wir ohne die Erwachsenen nicht hätten betreten dürfen. Nicht nur, dass uns Rissa befohlen hatte, im Umkreis von einer halben Stunde Lauf vom Gefallenen Baum zu bleiben, wir mussten auch mindestens innerhalb einer halben Stunde 97 Entfernung von den Grenzen unseres Gebietes bleiben, falls ein gegnerisches Rudel umherstrich. Es dauerte nicht lange, und wir hatten eine der Duftmarken erreicht, die Ruuqo und Rissa genau deshalb hinterlassen hatten, um uns davor zu warnen, weiter zu laufen. Ich hielt an, wohlwissend, dass wir nicht weitergehen sollten. Doch ein heftiger Windstoß, der den säuerlichen Wacholdergeruch mit sich trug, traf mich schmerzhaft mit einem kalten Regenguss, und ich überquerte die Duftmarke. Sofort ließ der Regen ein wenig nach. Ázzuen hielt ebenfalls für einen Augenblick an und folgte mir dann kopfschüttelnd. Wir waren nur wenige Schritte weiter gegangen, als wir auf einen Pfad stießen, über den die Menschen gewöhnlich durch den dichten Wald gingen. Hier vermischte sich der Geruch des jungen Traumwolfes mit dem Feuergeruch der Menschen. Ich hielt noch einmal verwirrt an und blickte mich um. Ich erkannte an den Geräuschen des fließenden Wassers und dem Geruch von nassen Blättern und Schlamm, dass wir nahe am Fluss waren. Aber es war ein anderer Teil des Flusses, viel weiter stromabwärts als die Furt, durch die wir geschwommen waren und noch viel weiter stromabwärts als die Baum-Überquerung. Wir waren, so stellte ich mit leichten Schuldgefühlen fest, viel zu dicht am Lager der Menschen. Wenn man etwas weiter durch den Wald kroch und unmittelbar dort über den Fluss sprang, blieb nur noch ein kurzer Lauf zu ihrem Sammelplatz. Ich brauchte Ázzuens ängst-
liches Wimmern nicht, um mich daran zu erinnern, dass wir im Begriff waren, die wichtigsten Gesetze des Rudels zu brechen. »Lass uns von hier verschwinden«, sagte ich. Dann hörte ich den Schrei aus der Richtung des Flusses. 98 Es war nicht der Ruf, den einer von uns in Not ausstieß, aber es war unzweifelhaft der Ruf eines Wesens, das Hilfe brauchte. Im Innersten war mir bewusst, dass es keine Beute war, die dort rief, und ich fühlte mich von den Lauten der Verzweiflung merkwürdig angezogen. Ich ging ein paar weitere Schritte in Richtung des Flusses. Ich hätte auf der Stelle kehrtmachen sollen und verschwinden. Ich konnte keinen Arger gebrauchen, jetzt wo Ruuqo mich so aufmerksam beobachtete und wo Reels Tod noch jedem frisch im Gedächtnis war. Offensichtlich hatte Ázzuen denselben Gedanken. »Kaala«, sagte er eindringlich, »wir sollten gehen. Was immer es ist, es geht uns nichts an.« Ich wusste, dass er recht hatte. Ich drehte mich um, fort vom Pfad der Menschen, fort vom Fluss und fort von den ängstlichen Rufen, die aus dieser Richtung kamen. Doch dann packte mich plötzlich wieder ein starker Windstoß, getränkt mit jenem säuerlichen Wacholdergeruch und stieß mich vorwärts, zwischen den Bäumen hindurch und zurück auf den Fluss zu. Mit einem erschrockenen Aufjaulen folgte Ázzuen mir. Der Wald endete an einem tiefen, gefährlichen Abhang zum Fluss. »Kein Wunder, dass wir ihn hier nicht überqueren«, murmelte ich bei mir. Dann sah ich es. In dem reißenden Wasser, an einen Felsbrocken geklammert, war ein menschliches Kind. Ich erkannte es, wusste, dass es ein Kind der Menschen war, weil wir gesehen hatten, wie sie auf dem Sammelplatz der Menschen spielten und riefen. Das Kind kämpfte mit dem schnellfließenden Wasser, denn die Regentage hatten den Fluss anschwellen lassen, und seine Strömung hatte stark zugenommen. Es konnte gerade noch seinen Kopf 98 über Wasser halten und rief laut, wann immer die Flut es zuließ. Es klang so sehr nach einem Wolf in Not, so sehr nach den Todesschreien meines Bruders und meiner Schwestern, dass ich ihm einfach helfen musste. Nachdem ich so viel Arger bekommen hatte, weil ich versucht hatte, zu den Menschen zu gehen, hatte ich mir geschworen, ich würde so tun, als ob sie gar nicht existierten. Jedes Mal, wenn ich an sie dachte, schmerzte das Mal auf meiner Brust, und ich war entschlossen, keinen weiteren Arger mit Ruuqo heraufzubeschwören. Aber diesen verzweifelten, hilflosen Schrei konnte ich nicht missachten. Ich beobachtete das Kind für einen Augenblick, während es um sein Leben kämpfte, dann begann ich, mir einen Weg den steilen Abhang hinunter zu suchen. Ázzuen stieß mich in die Seite, versuchte mich aufzuhalten, doch ich beachtete ihn nicht. Ich lief das Ufer hinunter, rutschte die letzten wenigen Wolfslängen hinab und landete direkt vor dem Wasser mit einer schmerzenden Hüfte. Lehmverschmiert sprang ich ungelenk ins Wasser. Der Fluss war so tief geworden, dass ich sofort anfangen musste im Wasser zu treten, und ich schwamm angestrengt zu dem Kind hinüber. Seine dunklen Augen blickten tief in meine. Es
verlor den Halt am Felsen und begann im Wasser zu versinken. Ich schwamm näher. Verzweifelt langte das Kind nach meinem Fell, schlang seine dünnen Vorderbeine um meinen Hals und zog mich damit unter die Wasseroberfläche. Wasser lief in meine Nase und in meine Kehle. Ich kämpfte mich wieder empor. Sobald ich einen Atemzug Luft schnappen konnte, zogen die Vorderbeine des Kindes mich wieder hinunter. Ich war mir sicher, dass das Gewicht des Kindes mich irgendwann vollkommen unter Wasser ziehen 99 konnte, und ich bekam Angst, dass es mir nicht gelingen würde, mich wieder zurück ans Ufer zu kämpfen. Doch das Kind klammerte sich so verzweifelt an mich, dass ich mich nicht hätte befreien können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Mit einem Mal schien es jedoch zu verstehen, was ich versuchte, und begann mit den Beinen zu stoßen, half mir, uns über Wasser zu halten. Der lange, dunkle Pelz des Kindes fiel mir über die Augen und die Nase, und ich griff das weiche Fell mit meiner Schnauze, um damit das Kind in die richtige Richtung zu ziehen. Das Fell des Kindes schmeckte anders als das Fell eines Wolfes. Es hatte nicht den Geschmack eines warmen Körpers, sondern war eher wie das Fell, das ein Wolf an einem Baum oder einem Busch abstreift. Mit all meiner Kraft schwamm ich los. Ich erreichte die andere Seite des Flusses und zog das Kind auf einen schmalen, flachen Streifen am Ufer. Mit einem heftigen Schütteln gelang es mir, den Griff des Kindes zu lösen, und es sank zu Boden. Es begann wieder zu schreien, sobald es zu Atem gekommen war. Doch als ich mich über seinen Körper stellte, hörte es verängstigt damit auf. Ich hörte ein Planschen von der anderen Seite des Flusses, als Ázzuen ins Wasser sprang und herüberschwamm, um zu mir zu kommen. Es überraschte mich, mit welcher Leichtigkeit er durch den Fluss schwamm, hatte er doch noch vor einem halben Mond solche Schwierigkeiten damit gehabt, aber ich behielt meine Augen auf das Menschenkind gerichtet. Es war ein Mädchen, halb erwachsen, eines von denen, die wir wie Welpen im Lager der Menschen herumtollen gesehen hatten. Für einen Augenblick starrte sie mich ängstlich an. Es gibt viele Geschöpfe, die ein menschliches Kind töten und fressen würden, wenn sie die Gelegenheit 99 dazu bekämen, und woher sollte das Mädchen wissen, dass ein Wolf dies nicht tun durfte. Ich legte meine Ohren ein klein wenig an, sodass ich nicht ganz so bedrohlich wirkte, und nach einer Weile schwand die Angst aus den Augen des Mädchens. Sie langte mit ihren vorderen Läufen nach mir. Arme, so hatte uns Yllin erzählt, werden diese Vorderläufe genannt. »Kaala!«, Ázzuens Stimme klang eindringlich. »Lass uns gehen!« Er schnüffelte besorgt in der Luft umher. »Bei dem ganzen Lärm, den sie gemacht hat, wird bestimmt gleich jemand kommen.« Ja, dachte ich, irgendein Bär oder ein Berglöwe wird kommen und sie sich nehmen. Oder irgendein Schmarotzer, der zu faul ist, ordentliche Beute zu machen. Ich wollte nicht, dass sie zu Beute wurde. Aber ich konnte auch nicht bleiben und Gefahr laufen, verstoßen zu werden. Nachdem ich noch eine Weile das Kind betrachtet hatte, in seine großen, dunklen Augen geblickt hatte und auf seine weiche, dunkle Haut, berührte ich zum Abschied seine Wange mit meiner Nase und
wandte mich dann hinunter zum Fluss. Das Mädchen versuchte aufzustehen, fiel aber zurück in den Schlamm und begann, wieder zu weinen. Sein menschliches Fell war nicht dicht genug, um es ausreichend zu wärmen, und das Wasser war kalt gewesen, selbst im Sommerregen. Das Ufer an dieser Seite des Flusses war beinahe genauso steil und schlüpfrig wie das Ufer auf unserer Seite. Der Regen machte keine Anstalten nachzulassen, und das Mädchen zitterte. Es würde sterben, wenn ich es hierlassen würde. Selbst wenn es nicht sofort zu Beute werden würde, konnte es doch erfrieren, und die Aasfresser würden es schließlich doch noch bekommen. Seine Augen hatten mich mit sol 100 chem Vertrauen angeblickt. Ich spürte, wie ein Gefühl in mir wuchs. Der Halbmond auf meiner Brust wurde wärmer und wärmer, doch dieses Mal war das Gefühl überhaupt nicht unangenehm. Bevor ich meinen Entschluss noch einmal ändern konnte, wandte ich dem Fluss den Rücken zu. Ich nahm die Schulter des Mädchens sanft zwischen meine Zähne, bemüht, nicht zu hart zuzubeißen, um es nicht zu verletzen. Doch es schrie auf vor Angst, als es meine Zähne spürte und begann sich zu wehren. In der Furcht, es zu verletzen, wenn es sich weiter so zwischen meinen Zähnen hin und her werfen würde, ließ ich es los. Ich dachte einen Augenblick lang nach. Wie sollte ich sie tragen, ohne sie zu verletzen oder zu verängstigen? Sie besaß kein Nackenfell, und wenn ich sie an ihrem langen Kopffell hinter mir her ziehen wollte, würde ihr das bestimmt wehtun. Dann erinnerte ich mich daran, wie sie sich im Fluss schwimmend an mich geklammert hatte, und ich erinnerte mich daran, wie ich gesehen hatte, dass die menschlichen Kinder ihre Eltern um den Hals fassten und an ihnen hingen, während die Erwachsenen umhergingen. Ich ließ mich auf den Boden nieder und drängte mich an das Kind. Nach einer kurzen Weile des Zögerns warf es seine Vorderbeine um meinen Hals und seine Hinterbeine über meinen Rücken. Ich versuchte auf meine Pfoten zu kommen, doch ich schwankte unter dem Gewicht des Kindes. Es war einfacher gewesen, es im Wasser zu tragen. Ázzuen beobachtete uns verwirrt. »Was um alles unter dem Mond tust du da?« »Hilf mir, sie zu tragen!« Ázzuen konnte ein solcher Ringelschwanz sein, wenn er Angst hatte oder verwirrt war, und ich hatte jetzt keine Zeit, mit ihm zu diskutieren. 100
»Wie?«, fragte er. »Weiß ich nicht«, antwortete ich erschöpft. »Denk dir was aus.« Das Mädchen begann, von meinem Rücken zu rutschen, als ich zu Boden ging, hielt jedoch mit seinen Vorderläufen meinen Hals fest umklammert. Ázzuen dachte einen Augenblick lang nach und legte sich dann neben mich, schob die Hinterläufe des Mädchens hoch, sodass sie über seinem Rücken zu liegen kamen und an seiner Seite den Boden berührten. Das Gewicht auf meinem eigenen Rücken wurde leichter, und wir konnten beide stehen. Das Mädchen lag über unseren beiden Rücken, seine langen Beine schleiften an Ázzuens Seite über den Boden. »Und du glaubst wirklich, das klappt?«, keuchte ich. »Hast du eine bessere Idee?«, gab er zurück.
Dagegen konnte ich nichts mehr einwenden. Sowohl Ázzuen als auch ich zitterten vor Anstrengung und unter dem Gewicht des Kindes. Hätte ich gewusst, was in diesem Moment begann, hätte ich ihn nicht um seine Hilfe gebeten. Doch ich brauchte unbedingt Hilfe auf dem glitschigen Weg das Ufer hinauf. Kein Wolf würde jemals eine solche Last auf diese Art und Weise getragen haben, dessen war ich mir ganz sicher. Doch Not macht erfinderisch, und wir mussten das Mädchen schnell und leise forttragen. Seine Vorderpfoten waren lang und gekrümmt und hielten sich mit erstaunlich starkem Griff fest. Seine Glieder sahen schwach und dünn aus, waren es aber nicht wirklich. Ich konnte seinen warmen Atem an meinem Hals spüren und sein Herz gegen meinen Rücken schlagen fühlen. Wir kletterten das Ufer hinauf und begannen zu laufen. Wir liefen langsam und unbeholfen, Seite an Seite, 101 und Ázzuen fing an zu lachen. »Wir müssen komisch aussehen«, meinte er. Wir brachen damit ein weiteres Gesetz des Rudels. Es ist nicht schlau, sich nebeneinander in feindlichem Gebiet zu bewegen, und mit der Überquerung des Flusses hatten wir das Gebiet der Wölfe vom Felsgipfel betreten. Es ist immer besser hintereinander zu laufen, um die Anzahl der Mitglieder deiner Gruppe zu verschleiern. Doch jetzt war es zu spät, um sich darum Gedanken zu machen, und so liefen wir weiter. Ázzuen und ich erinnerten uns beide an den Weg zum Sammelplatz der Menschen, auch wenn wir uns diesmal von einer anderen Seite näherten. Der Geruch der Menschen wurde stärker, und ich wusste, dass wir nicht mehr weit entfernt von ihnen waren. Doch ich fühlte, wie das Mädchen auf mir zitterte, und besorgt hielt ich an, um es zu Boden zu lassen. Seine Lippen waren blass und sein Gesicht noch blasser. Es bebte am ganzen Körper. Ich leckte seine Haut. Sie war kalt und klamm. Ich legte meinen Körper um das Mädchen und achtete nicht weiter auf Ázzuens besorgtes Wimmern. Zusammen hätten wir den Körper des Mädchens besser wärmen können, aber ich wollte gar nicht, dass er half. Ich hatte sie gefunden. Sie gehörte zu mir. Ázzuen hätte sie im Fluss gelassen, wo sie ertrunken wäre. Er hätte sie irgendeinem Tier überlassen, für das sie Beute geworden wäre. Ich fühlte wieder ihren Herzschlag, stark und deutlich, und ihre langen Vorderläufe waren um mich geschlungen, so weit sie reichen konnten. Ihr sanfter Duft erfüllte mich. Ich hatte vorher nicht bemerkt, wie süß ihr Duft war, wie Feuerfleisch gemischt mit Blüten und wohlriechenden Blättern. Weil wir uns ihnen nicht hatten nähern dürfen, hatte ich nicht die Gelegenheit gehabt, einen mensch 101
lichen Geruch vom anderen unterscheiden zu lernen. Jetzt, wo ich den einzigartigen Duft des Mädchens einatmete, erkannte ich das Mädchen, als wäre es einer meiner Rudelgefährten. Ich konnte sie nicht viel mehr wärmen, mit meinem immer noch nassen Fell und in dem strömenden Regen, und Ázzuen drängte nach Hause. Also nahm ich sie wieder auf meinen Rücken - dieses Mal ohne Ázzuens Hilfe. Doch die Hinterbeine des Mädchens schleiften schwer über den Boden, und ich konnte keine zwei Schritte gehen, ohne zusammenzubrechen. Ich war einfach nicht stark genug, sie alleine zu tragen. Da versuchte sie, genau wie sie es im Fluss getan hatte, mir zu
helfen. Sie stand auf und lehnte sich schwer gegen meinen Rücken. Wir schwankten in Richtung des Sammelplatzes der Menschen, das Mädchen fest in mein Fell geklammert und neben mir herstolpernd. Ázzuen zögerte und folgte mir dann nach. »Du kannst zurückgehen, wenn du willst«, sagte ich. Ich konnte nicht genau sagen warum, aber ich wollte ihn jetzt nicht bei mir haben. »Irgendeiner muss ja auf dich aufpassen«, meinte er nur ein ganz kleines bisschen verunsichert. Ich hörte ein Rascheln über uns und roch nassen Raben. Mit begründetem Verdacht blickte ich in die Höhe und nach links, woher der Geruch kam. Tlitoo versuchte sich zwischen einigen Zweigen zu verstecken. »Genau das, was ich brauche«, keuchte ich, »noch jemand, der mir helfen will.« Tlitoo brach seine vergeblichen Bemühungen sich zu verstecken ab, gackerte und flog mir voran zum Sammelplatz der Menschen. »Dir helfen, damit du noch mehr Arger kriegst«, sagte er über einen Flügel hinweg, während er in den Nebel flog. 102 Ázzuen und ich näherten uns dem Lager der Menschen, und ich begann Ausschau zu halten nach einem sicheren Platz, an dem ich das Mädchen lassen konnte. Am liebsten wäre ich nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Ich wollte sie mitnehmen. Auch wenn einige Wölfe aus dem Rudel begonnen hatten, mich anzuerkennen, war ich dort immer noch ein Außenseiter. Wenn ich das Mädchen mitnehmen konnte, müsste ich mich nicht mehr länger einsam fühlen. Ich würde sie mitnehmen zum Gefallenen Baum und sie bei uns behalten, wenn wir durch die Wintergebiete streiften. Doch die Gesetze des Großen Tales waren eindeutig. Ich hätte das Mädchen nicht einmal aus dem Fluss ziehen dürfen. Wenn Ruuqo herausfand, was ich getan hatte, wäre dies genau die Entschuldigung, die er brauchte, um mich verstoßen zu können. Dennoch, dachte ich bei mir, könnte ich sie ja vielleicht irgendwo verstecken und in der Nähe behalten. Ein schmerzhaftes Ziehen an meinem Ohr brachte mich in die Wirklichkeit zurück. »Lass sie los, Wölflein«, sagte Tlitoo. »Du musst erst noch durch den Winter kommen.« Er legte seinen Kopf schief. »Oh, oh«, meinte er. Ázzuen, der ein bisschen hinter mir geblieben war, holte auf. »Die Höchsten Wölfe sind in der Nähe«, verkündete er. Ich war so beschäftigt mit dem Mädchen gewesen, dass ich den Geruch der Höchsten Wölfe gar nicht bemerkt hatte. Ich hatte sie seit dem Tag, an dem sie mein Leben gerettet hatten, nicht mehr gesehen, und ich war überrascht, wie leicht ich ihren Geruch wiedererkannte. Mein Herz schlug laut. Was würden die Höchsten Wölfe tun, wenn sie uns hier fanden? Ich war Ázzuen sowohl dankbar dafür, dass er die 102 Höchsten Wölfe bemerkt hatte, als auch dafür, dass er an meiner Seite blieb. Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen und half dem Mädchen bis zum äußersten Rand des Sammelplatzes der Menschen. Zu gerne wäre ich weiter in ihr Zuhause hineingegangen, hätte sehen wollen, wie es aus der Nähe wirkte, doch ich hatte für heute schon genug Gesetze gebrochen, und eine Auseinandersetzung mit den Höchsten Wölfen galt es nach Möglichkeit zu vermeiden. Also half ich dem
Mädchen, sich auf den Boden zu setzen, und legte meine Pfote sanft auf ihren Brustkorb. Sie krabbelte auf ihre Füße und erwiderte die Geste. Ich stieß sie vorsichtig an und verstärkte die Aufforderung zu gehen mit einem leisen Bellen. »Danke, Wolf«, sagte sie. Und dann war sie verschwunden, stolperte in Richtung ihrer warm brennenden Feuer. Ich blickte ihr nach. Ázzuen schaute zuerst auf sie und dann auf mich. »Sie hat gesprochen!«, sagte er. »Und ich habe sie verstanden. Ich hatte gedacht, wir könnten sie nicht verstehen.« Ich senkte meinen Kopf. Es gibt Geschöpfe, deren Sprache so merkwürdig ist, dass man nichts davon verstehen kann. Ich war froh, dass die Menschen nicht solche Wesen waren. »Sie unterscheiden sich gar nicht so sehr von uns«, meinte ich. »Sie sind keine Fremden.« »Weniger Quatschen, mehr Laufen«, riet Tlitoo von oben herab und schüttelte das Wasser aus den Federn seiner Flügel. »Ausnahmsweise bin ich einmal seiner Meinung«, meinte Ázzuen. »Gehen wir.« »Ups«, Tlitoo legte seinen Kopf von der linken auf die rechte Seite. »Zu spät.« Ich hörte das Knacken von Zweigen und das Quatschen 103 von Schlamm, und Frandra und Jandru traten zwischen den Büschen hervor. Sie stellten sich uns in den Weg. »Was habt ihr auf dem Gebiet der Menschen und in menschlicher Gesellschaft zu suchen?«, forderte Frandra zu wissen. Die Höchste Wölfin war offensichtlich erbost. »Wisst ihr nicht, dass ihr dafür vom Rudel verstoßen oder getötet werden könnt? Glaubst du, ich hätte dein Leben gerettet, nur damit du es wegwerfen kannst?« Ich versuchte zu sprechen, doch ich brachte nur ein ängstliches kleines Wuff zustande. »Wir haben ein menschliches Kind gerettet«, gelang es Ázzuen zu antworten. »Ich weiß, was ihr getan habt«, knurrte Frandra. »Glaubt ihr, dass es irgendetwas in diesen Wäldern gibt, von dem ich nichts weiß ? Du«, sagte sie zu mir, »bist aus einem bestimmten Grund gerettet worden, und du«, sie wandte sich an Ázzuen, »solltest ihr helfen und sie nicht auch noch zu schlechtem Verhalten ermutigen.« Frandras Hochmut machte mich wütend. Der lang verborgene Zorn gewann langsam die Überhand über meine Angst vor ihr. Es war Zorn gewesen, der mir geholfen hatte, mich gegen drei Welpen zu wehren, als ich noch ganz klein gewesen war. Es war Zorn, vor dem mich Tlitoo und Yllin gewarnt hatten. Aber der Zorn fühlte sich gut an. Er fühlte sich sehr viel besser an als die Angst. »Wenn du alles weißt, was in diesem Tal vor sich geht«, sagte ich langsam, bemüht, ruhig zu sprechen, »warum hast du dann zugelassen, dass Ruuqo meine Wurfgefährten getötet hat? Warum hast du zugelassen, dass Ruuqo meine Mutter vertrieben hat?« Warum hast du mir nichts von den Menschen erzählt?, wollte ich sie fragen. 103 Ázzuen sah mich voller Bestürzung an. Tlitoo zog so feste an meinem Schwanz, dass ich beinahe hintenüber gekippt wäre. Ich beachtete sie beide nicht. Es war mir
vollkommen gleichgültig, ob die Höchsten Wölfe von den Ahmen selbst abstammten. Als ich das Menschenmädchen an mich gehalten hatte, hatte ich mich zum ersten Mal seit dem Verschwinden meiner Mutter vollkommen gefühlt. Jetzt fühlte ich die Abwesenheit des Mädchens wie eine Bisswunde, tief in meinem Fleisch, und ich vermisste meine Mutter mehr als an dem Tag, an dem sie mich verlassen musste. Wieder auf die Höchsten Wölfe zu treffen, nachdem sie mich so gut wie im Stich gelassen hatten, bedeutete für mich, diesen Verlust noch einmal zu durchleben. Niemand sonst in meinem Rudel musste solche Gefühle erfahren. Die Höchsten Wölfe wussten, wer ich war und warum ich solche Empfindungen für das Menschenmädchen hegte. Ich wollte Antworten von ihnen bekommen. Frandra blickte kalt auf mich herab und zog die Zähne fletschend ihre Lefzen zurück. »Wage es nicht, mich herauszufordern, Wolf«, sagte sie, trat einen Schritt nach vorne und entblößte ihre scharfen Zähne. Nasse Flügel schlugen über uns, und Tlitoo landete genau auf ihrem Kopf. Sie drehte sich um, um ihn zu schnappen, und er sprang auf ihr Hinterteil. Als sie sich umwandte, um ihn zwischen ihren Kiefern zu fangen, sprang er hoch und zwickte sie ins Ohr, dann flog er auf einen niedrigen Ast. »Je größer sie sind, Desto dummer die Wölfe. Wölfe groß, Hirn klein.« 104 Zu meiner Überraschung zitterte Tlitoos Stimme ein wenig. Frandra schwang ihren Kopf von mir fort, knurrte Tlitoo an und trat auf ihn zu. Er gab ein unsicheres Krächzen von sich und flog davon. Wir vernahmen ein unterdrücktes Geräusch zu unserer Rechten und wandten uns um. Da sahen wir, dass Jandru dort stand und lachte. »Versuche nie, den Kampf mit einem Raben zu gewinnen, Gefährtin«, sagte er, »du wirst immer verlieren.« Er stieß sie spielerisch zwischen die Rippen. »Und was das Junge angeht, was hast du erwartet, Frandra? Du bist nur unglücklich, dass die Dinge sich nicht nach deinen Vorstellungen entwickeln.« Frandra sah für einen Moment aus, als wolle sie auf ihn losgehen, doch dann senkte sie ihren Kopf und gab ein bellendes Lachen von sich, ihr Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war. Mein Zorn aber brannte noch immer in mir. Doch ich war wieder zu Sinnen gekommen, und Frandras Wut hatte mir Angst gemacht. Ich würde sie nicht wieder herausfordern. Zumindest so lange nicht, bis ich nicht ein ganzes Stück gewachsen war. »Vielleicht hast du recht, aber das macht die Dinge jetzt komplizierter. Und ich kann diesen beiden mit ihren Rudelgefährten nicht helfen.« Sie warf einen Blick auf uns. »Hör zu. Dein Weg wird kein einfacher sein, Kaala Milchzahn«, sagte sie. »Du musst der Versuchung, die die Menschen auf dich ausüben, widerstehen. Du musst ein Mitglied des Rudels werden und das Zeichen des Romma von Ruuqo bekommen. Wenn nicht, wird kein Wolf dir folgen, und du wirst nie zu einem gleichberechtigten Mitglied von irgendeinem Rudel werden können. Das hast du doch bereits gelernt, oder?« »Ich denke schon«, antwortete Ázzuen schnell. Ich 104
glaube, er hatte Angst davor, was ich sagen könnte, wenn ich meine Sprache wiederfand. »Wir haben bereits die erste Prüfung bestanden, als wir es vom Bau bis zu unserem Sammelplatz geschafft haben. Jetzt müssen wir an unserer ersten Jagd teilnehmen und den Winter über mit dem Rudel umherziehen. Wenn wir das getan haben, wird uns Ruuqo das Zeichen des Rudels vom Schnellen Fluss geben. Ich habe keine Ahnung was geschieht, wenn wir kein Romma bekommen. Und ich bin mir nicht sicher, was das Zeichen ist«, schloss er. »Es ist eine Duftmarke, die nur ein Leitwolf erteilen kann«, antwortete Jandru, »und ihr müsst das Zeichen tragen, oder ihr werdet niemals Mitglied eines Rudels sein. Ihr müsstet dann alleine umherstreifen. Oder ihr müsst euer eigenes Rudel gründen, was doppelt so schwer wäre, wenn ihr nicht das Zeichen des Romma tragt.« »Es ist wichtig, dass du von deinem Rudel anerkannt wirst, Jungwolf«, sagte Frandra. »Es ist wichtig, dass du keinen Arger bekommst. Und du musst dich unter allen Umständen von den Menschen fernhalten.« Jandru senkte seinen zottigen Kopf zu meinem herab. »Selbst wir können nicht alles, was geschieht, im Griff haben, Kleiner Wolf. Wir tun, was wir können, aber das ist nicht viel. Du musst die Anerkennung deines Rudels gewinnen. Du musst die Menschen meiden und deine Andersartigkeit verstecken. Wenn dir das gelingt«, sagte er, »wenn du das Zeichen des Romma bekommst, dann werden wir dir helfen, deine Mutter zu finden, wenn du ausgewachsen bist.« Ich schluckte schwer. Ich hatte keine Ahnung, ob ich ihm vertrauen konnte. Doch sicherlich wusste er mehr als ich. »Wir werden in den nächsten Monden nicht oft in diesen 105 Gebieten sein«, sagte Frandra, ohne darauf zu warten, dass ich Jandru zustimmte. »Versuche, keinen Arger zu bekommen, während wir fort sind.« Und mit diesen Worten stolzierten sie und Jandru zurück in den Wald. Ich blickte ihnen nach. Jetzt mischten sich Verwirrung und Enttäuschung in meinen Zorn. Sie hatten mich wütender zurückgelassen als vor ihrem ersten Auftauchen. Ich machte einen Schritt, um ihnen zu folgen. Ich wollte mehr wissen. Ich wollte sie fragen, ob ich eine Gefahr für mein Rudel war und ob ich einer von den Mischlingswölfen war, von denen Trevegg erzählt hatte, dass sie verrückt werden könnten. »Kaala, wir müssen zurückgehen«, sagte Ázzuen. »Sie werden dir nicht mehr erzählen, Wolf«, fügte Tlitoo hinzu, der plötzlich wieder aus seinem Versteck auftauchte. »Ich kann ihnen folgen«, schlug er vor. »Versuchen, sie zu belauschen, wenn sie über dich reden.« Er zupfte sanft an dem Fell zwischen den Krallen an meinen Pfoten. Ich seufzte. Ázzuen und Tlitoo hatten beide recht, dennoch wollte ich den Höchsten Wölfen folgen. Aber ich hatte Ázzuen in diese blöde Situation gebracht, und jetzt schuldete ich ihm die Heimkehr. Und die Höchsten Wölfe hatten ebenfalls recht - ich musste es noch durch den Winter schaffen. »Komm«, sagte ich matt. »Lass uns nach Hause gehen.« In dem Moment, in dem wir den Sammelplatz betraten, erhob Werrna ihre Nase. »Ihr riecht nach Menschen!«, rief sie. »Wo seid ihr gewesen?« Ruuqo und Rissa hatten Werrnas Frage gehört und kamen herüber zu uns. Ich stöhnte innerlich. Wie hatte ich verges
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sen können, den menschlichen Geruch zu verdecken ? Ich war zu verstört durch das Erscheinen der Höchsten Wölfe gewesen, um daran zu denken. Was für eine Entschuldigung konnte ich halbwegs glaubhaft vorbringen ? Mein Hirn war erschöpft. »Wir sind im Schlamm ausgerutscht und in den Fluss gefallen, Leitwölfe«, antwortete Ázzuen gelassen. »Als wir endlich herausklettern konnten, waren wir in der Nähe des Lagers der Menschen. Wir sind so schnell wie möglich zurückgekommen.« Von Ázzuens Geistesgegenwart beeindruckt warf ich ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Seine Miene war die reine Unschuld. Ruuqo sah uns lange an. Ich war mir nicht sicher, ob er uns glaubte. »Lauft nicht wieder so weit weg«, sagte er schließlich. »Und seid vorsichtiger. Der Fluss kann im Regen sehr gefährlich werden.« Ruuqo blickte mir misstrauisch in die Augen. Ich war mir sicher, dass ich stärker nach Mensch roch als Ázzuen. Glücklicherweise hatten der Regen und der Schlamm das meiste von dem deutlichen Eigengeruch des Mädchens abgewaschen. »Kluge Ausrede«, sagte ich zu Ázzuen, als wir wieder allein waren. Seine Ohren stellten sich auf bei dem Lob, und er öffnete sein Maul zu einem fröhlichen Grinsen. »Wir hatten Glück«, meinte er. »Du warst schlau«, gab ich zurück und stupste ihn mit der Nase an die Wange. Marra kam zum Sammelplatz getrabt, und Ázzuen lief hinüber, um sie zu begrüßen. Ich blieb, wo ich war, und beobachtete, wie Rissa und Ruuqo leise miteinander sprachen. Wäh 106 rend Ázzuen mit Marra flüsterte, kaute ich an einem Stück Fell des Mädchens, das ich versteckt in meinem Maul mit mir hergetragen hatte. Es schmeckte nach Familie. 106 Teil Zwei
DIE MENSCHEN PROLOG
Lydda und ihr Rudel jagten mit den Menschen. Sie fraßen genug und wurden kräftig. Kein anderes Rudel erjagte mehr Beute, und kein anderes Rudel hatte solch starke und gesunde Welpen. Selbst der alte Olaan - der Älteste im Rudel, sein Bauch war fest und rund mit Fleisch gefüllt -, selbst er musste zugeben, dass das Jagen mit den Menschen seine Vorteile hatte. Dann erbeuteten die Wölfe und die Menschen ein Mammut. Und das veränderte alles. Es war die bislang erfolgreichste Jagd überhaupt. Uber den schmelzenden Schnee und das verschwindende Eis rumpelnd zogen die Mammuts in kältere Gegenden. Ein Mammut humpelte, nur ein klein wenig, aber jeder Jäger, der nah genug war, um es zu riechen oder zu hören, wusste davon. Lyddas Rudel war den ganzen Weg von seinem Sammelplatz hergelaufen, als sie das verletzte Tier gerochen hatten. Es gab Geschichten von Wolfsrudeln, die Mammuts erlegt hatten, 106
doch Lydda wusste nicht recht, ob sie ihnen Glauben schenken sollte. Selbst ein verletztes Mammut war schlau und gefährliche Beute, ganz besonders, weil seine Rudelgefährten ihm oft zu Hilfe kamen. Dies Mammut war jedoch allein. Drei Säbelzahnkatzen und ein Rudel von Rotwölfen verfolgten es bereits, während sich ein einsamer Bär im Hintergrund hielt und abwartete. Lyddas Rudel hätte es mit einer Säbelzahnkatze oder einem kleinen Rudel von Rotwölfen aufnehmen können, doch so viele Gegner zu verjagen könnte gefährlich werden und Verletzungen mit sich bringen. Enttäuscht wollten Lydda und ihr Rudel bereits die Ebene verlassen. Da hörte Lydda einen vertrauten Ruf, wandte sich um und erblickte die große, schlanke Gestalt des Menschenjungen. Die Menschen müssen ihr ganzes Rudel mitgebracht haben, dachte Lydda voller Bewunderung. Noch nie zuvor hatte sie alle ihre Jungen, in den verschiedenen Altersgruppen, gesehen. Die jüngeren und kleineren Menschen warfen Steine mit voller Kraft und erschreckender Genauigkeit und vertrieben damit die gegnerischen Jäger. Dann verjagten die älteren und größeren Menschen die Säbelzahnkatzen und Rotwölfe mit ihren spitzen Stecken. Lyddas Menschenjunge blickte ihr in die Augen. Er erhob seine Hand zum Gruß, und sie neigte ihren Kopf. Sie lief zu dem Mammut, und ihr Rudel folgte ihr. Die Jagd begann. Das Mammut war dank der Verfolgung durch die Säbelzahnkatzen und Rotwölfe bereits geschwächt. Dennoch glaubte Lydda nicht, dass ein Rudel Wölfe es jemals hätte alleine erlegen können. Sie liefen gemeinsam mit dem Rudel der Menschen und trieben das Mammut in die Enge. Jedes Mal, wenn es wendete, um in eine andere Richtung zu laufen, stand dort 107 bereits ein Mensch mit seinem spitzen Stecken oder ein Wolf mit seinen scharfen Zähnen, um es aufzuhalten. Es dauerte eine lange, lange Zeit, doch endlich war seine ledrige Haut aufgerissen, und seine Schenkel bluteten. Es fiel nieder mit einem Schlag wie Donner, und Lydda betrachtete ehrfurchtsvoll, was sie getan hatten. Mit Hilfe der Menschen, so dachte sie, konnten sie einfach jeden Fang erlegen. Normalerweise wird ein Wolf sofort beginnen, seine Beute zu zerreißen, sobald sie einmal gefallen ist, manchmal sogar schon vorher. Doch Lyddas Rudel hielt sich zurück und feierte mit den Menschen, sprang vor Freude über das Erlegen dieser Beute, die sie so gut nähren würde. Als einige der am stärksten aussehenden Menschen sich über das Mammut beugten, um es mit ihren geschärften Steinen zu zerlegen, trat der alte Olaan ein wenig entrüstet vor. »Warte«, befahl Tachiim. Leise vor sich hinbrummelnd gehorchte Olaan dem Leitwolf. Die Menschen arbeiteten schwer und schnitten durch die ledrige Haut des Mammuts. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie Streifen des saftigen Bauchfleisches herausgelöst hatten und zu dem guten Fleisch des Inneren gekommen waren. »Jetzt!«, bellte Tachiim, und Lyddas Rudelgefährten sprangen hinzu, um das fetteste Fleisch zu erobern. Drei Wölfe waren notwendig, nur um die Leber wegzuzerren. Die Menschen riefen ihnen verärgert nach, doch die Raben flatterten um sie herum,
und die Wölfe lachten, machten sich mit dem besten Stück des Fleisches davon. Lydda war ein wenig beschämt von der Dreistigkeit ihres Rudels, doch sie konnte sich nicht helfen, sie musste leise grinsen. Sie blickte auf, um sich gemeinsam mit ihrem Jungen über diesen Spaß 108 zu freuen. Er lachte nicht. Er senkte seinen Kopf, als ein älterer Mann - der Anführer des Rudels, wie Lydda annahm -ihm etwas zurief, mit den Armen drohte und auf Lydda und ihr Rudel deutete. Zum ersten Mal seit vielen Monden fühlte Lydda eine Kälte um sich herum aufsteigen. Dieses Mal jedoch lag die Kälte nicht in der Luft, sondern sie griff nach ihrem Herzen. »Ihr hättet nicht so viel Fleisch nehmen sollen!«, sagte der junge Mann betrübt, als sie am nächsten Tag bei ihrem Felsen saßen. »Mein Vater sagt, ihr Wölfe bringt mehr Arger, als dass ihr von Nutzen seid.« »Ohne uns hätte es kein Mammut gegeben«, antwortete Lydda verärgert. »Wir hätten es euch überlassen können, mit den Säbelzahnkatzen zu kämpfen.« Die Augenbrauen des Menschen zogen sich verunsichert zusammen. Früher, als sie die ersten Male gemeinsam gejagt hatten, hatte sie sich mit ihm verständigen können wie mit einem Gefährten ihres Rudels. Doch seit einiger Zeit fiel es ihm immer schwerer, sie zu verstehen. »Ist schon in Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich sage ihnen, dass es nicht wieder vorkommen wird.« ♦
Vier Nächte später kam Kinnin, einer der Jungwölfe des Rudels, zum Sammelplatz gelaufen, mit einer großen Beule an seinem Kopf und einem verletzten Ausdruck in den Augen. »Ich habe mir meinen Anteil an einem Reh genommen, das AraNa und ich zusammen erlegt haben«, sagte er und erzählte von der Menschenfrau, mit der er gemeinsam gejagt 108 hatte. »Und ihr Gefährte hat mir meinen Teil weggenommen. Alles. Als ich versucht habe, mir meinen Anteil zurückzuholen, hat er mich mit seinem Stock geschlagen. Ich hätte ihn beinahe gebissen, doch das hätte AraNa verärgert. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal mit ihr jagen werde.« »Ich denke, wir sollten nicht länger mit den Menschen jagen«, meinte der alte Olaan. Kinnin nickte. »Ab jetzt ist jeder Wolf, der mit einem Menschen jagt, ein Verräter.« »Sie bringen uns mehr Fleisch ein, als wir jemals zuvor hatten«, protestierte Tachiim. »Mit ihrer Hilfe werden wir gut leben können. Wir müssen ihnen nur deutlich machen, dass wir uns ihnen nicht unterwerfen werden. Das nächste Mal, wenn wir uns eine Jagd teilen, werden wir ihnen zeigen, dass wir nicht ihre Ringelschwänze sind«, beschloss der Leitwolf. »Wehe ihnen, wenn sie versuchen, mir Fleisch abzunehmen«, sagte Olaan. »Ich werde ihnen zeigen, was ein Wolf ist.« Das nächste Mal, als die Menschen versuchten, sich die gesamte gemeinsame Beute zu nehmen, wehrten sich die Wölfe. Ein fettes Rentier lag auf dem Boden. Genug, um zu teilen. Die Menschen versuchten, die Wölfe zu verjagen. »Wir werden euch etwas geben, wenn wir fertig sind«, sagte einer von ihnen.
»Es ist unser Reh«, knurrte ein anderer, »und ihr könnt haben, was wir nicht brauchen.« »Ihr werdet tun, was wir sagen«, meinte ein Dritter, »und wenn es uns recht ist, werden wir euch futtern.« Sie beugten sich über das Rentier, um mit ihren geschärften Steinen Teile herauszulösen. 109
Es war weder Olaan, der zuerst angriff, noch war es Kinnin. Es war Nolla, Kinnins Wurfgefährtin. Was sie tat, war für einen Wolf nicht ungewöhnlich. Jeder Wolf weiß, dass, wenn ein anderes Mitglied des Rudels versucht, ihn von der Beute zu verdrängen, er seinen Platz behaupten muss. Andernfalls wird er immer der Letzte sein, der zu fressen bekommt. Nolla war jung und musste sich noch in vielem beweisen. Sie sprang einen der Menschen an. Sie biss ihn nicht, sie stieß ihn nicht einmal feste an. Sie schubste ihn nur zur Seite und beugte sich über das Rentier, um daran zu reißen. Der Mensch erhob seinen spitzen Stecken und stieß ihn tief in Nollas Rücken. Die junge Wölfin schnappte nach Luft, erstickte, und dann starb sie. Die Wölfe und die Menschen standen für einen Augenblick wie erstarrt. Dann erhoben die restlichen Menschen ihre spitzen Stecken. Kinnin fletschte die Zähne und sprang auf den Mann, der Nolla getötet hatte. Er riss seine Kehle heraus. Dann begannen die Wölfe zu laufen. ♦
Für das Viertel eines Mondlaufes war es ruhig zwischen den Menschen und den Wölfen. Dann wurden alle drei überlebenden Wölfe des Rudels vom Staubigen Hügel tot aufgefunden, von spitzen Stecken getötet. In der folgenden Nacht wurden vier Menschen von Wölfen im Schlaf überrascht und umgebracht. Kein Wolf gab zu, sie getötet zu haben, doch Olaan und Kinnin kehrten mit blutigen Schnauzen und ohne Beute nach Hause zurück. So begann der Krieg. 109 Im ganzen Tal erschlugen Menschen Wölfe und brachten Wölfe Menschen um. Die Menschen, die mit den Wölfen zusammen gewesen waren, hatten viel über das Jagen und Töten gelernt. Sie waren besonders gut darin, Wölfe umzubringen. Dann griff das Morden um sich wie Feuer, als Wölfe begannen gegen Wölfe zu kämpfen und Menschen gegen Menschen. »Mein Volk kämpft untereinander«, rief der Menschenjunge Lydda zu, als sie sich an ihrem Sonnenfelsen trafen. Lydda hatte sich von ihrem Rudel fortstehlen müssen, um ihn zu sehen. »Diejenigen, die alle Wölfe und anderen Jäger vernichten wollen, versuchen meine Sippe zu beherrschen. Sie bringen die Menschen um, die es wagen, gut von den Wölfen zu sprechen. Mein Vater und mein Bruder gehören zu ihnen. Ich habe Angst, dass sie meine Sippe entzweien werden.« »Bei uns ist es genauso«, sagte Lydda, obwohl sie wusste, dass der Junge sie nicht mehr wirklich verstehen konnte. Früher am Morgen hatte Olaan Tachiim herausgefordert. Grund ihres Streites war die Frage gewesen, ob das Rudel über eine Menschensippe herfallen solle. Der Junge stand aufrecht mit seinem spitzen Stecken fest in der Hand, schlug immer wieder damit gegen seinen Schenkel. Für einen fürchterlichen Augenblick
lang hatte Lydda Angst, er könne ihn gegen sie erheben, und der Gedanke, ihn anzugreifen, durchfuhr sie. Sie schüttelte ihren Kopf hin und her, um das Bild zu vertreiben. Der Junge hielt ihr seine Hand hin. »Wir müssen etwas tun«, sagte er mit Trauer in der Stimme. Lydda schmiegte sich eng an ihn. Hoch über ihrem Kopf hörte sie das laute Krächzen eines Raben. Das war der Mo 110 ment, in dem sie hinaufschaute. Und das war der Moment, in dem sie zwei der größten Wölfe, die sie jemals erblickt hatte, langsam durch das hohe Gras auf sich zukommen sah. 110
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Ich konnte nicht aufhören, an das Menschenkind zu denken. Ich war mit den Gedanken an sie so sehr beschäftigt, dass ich zuerst gar nicht bemerkte, wie Trevegg langsam auf die Lichtung trat. Seine Augen waren voller Besorgnis zusammengekniffen. Minn folgte einige Schritte hinter ihm und sah verwundert und auch ein wenig ängstlich aus. »Ich kann sie nicht finden, Leitwolf«, sagte Trevegg zu Rissa, die verschlafen von ihrem Nickerchen neben der gefallenen Fichte aufblickte. Der Regen hatte endlich aufgehört, und drei Tage Sonnenschein hatten alles außer den schlammigsten Teilen des Sammelplatzes getrocknet. Wir alle freuten uns auf das Ausruhen in der Sonne, bevor die abendliche Jagd beginnen würde. Der Altwolf schüttelte den Kopf. »Ich bin ihrer Fährte bis zum Rand des Waldes und dann ein ganzes Stück in die Wiese hinein gefolgt, und dann verschwand ihr Duft plötzlich. Ich verstehe das nicht.« 110 »Vielleicht hat sie angehalten, um auszuruhen, und ist noch nicht wieder aufgewacht?«, meinte Rissa und erhob sich. Plötzlich waren alle Anzeichen der Schläfrigkeit verflogen. »Borlla ist verschwunden«, erklärte Marra und kam zu mir herüber. Sie war Trevegg und Minn entgegengerannt, um sie bei ihrer Rückkehr von der Ebene des Hohen Grases zu begrüßen. Ázzuen kam von dem Aussichtsfelsen herübergetrabt, die Ohren aufgestellt, um alles hören zu können. »Sie ist immer mal wieder verschwunden«, sagte ich und fühlte mich ein wenig schuldig dabei. Ich hatte Borlla über mein aufregendes Erlebnis mit dem Menschenkind ganz vergessen. »Aber dieses Mal können sie sie nicht finden. Überhaupt nicht. Und Trevegg ist besorgt. Hör doch.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung des Altwolfes. »Ihr Duft ist einfach verschwunden, Rissa«, sagte Trevegg gerade. Ich hatte ihn noch nie verängstigt oder verwirrt gesehen, aber augenblicklich wirkte er, als sei er beides zugleich. Ruuqo, Werrna und Yllin beeilten sich, von der anderen Seite der Lichtung herüberzukommen.
»Das ist nicht möglich«, erklärte Werrna beinahe verärgert. »Selbst wenn ein Jäger sie mitgenommen hätte, wäre ein Geruch davon vorhanden. Es tut mir leid, Rissa«, sagte sie zu der Leitwölfin, die bei der Erwähnung des Wortes >Jäger< zu knurren begonnen hatte. »Aber wenn sie weiterhin so alleine herumstrolcht, zu verstört, um sich irgendeiner Gefahr bewusst zu sein, und zu schwach vor Hunger, um davonzulaufen oder sich zu wehren, dann ist es doch nur eine Frage der Zeit, bevor irgendetwas sie erwischt.« 111 »Ich bin nicht so alt«, schnauzte Trevegg, »als dass ich nicht mehr merken würde, ob irgendetwas sie erwischt hat! Sie ist einfach wie vom Erdboden verschluckt.« »Ihr Duft war da, und dann war er nicht mehr da«, sagte Minn, und seine Stimme klang gespenstisch. »Trevegg hat recht. Es gibt da keinen Geruch von irgendeinem Jäger. Ihre Fährte hört einfach auf.« »Das ist nicht möglich«, wiederholte Werrna starrsinnig. Sie hatte auch Angst, ging mir plötzlich auf, und ich erschrak. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Werrna vor irgendetwas Angst hatte. »Wenn die Ahnen böse auf uns sind«, unterbrach Ruuqo Werrna mit einem scharfen Blick, »dann müssen wir herausfinden, warum.« »Wir werden uns erst einmal vergewissern«, sagte Rissa mit einem kaum vernehmbaren Flüstern. »Ich vertraue dir, Grauwolf, aber wir müssen sicher sein.« »Ich würde mich auch besser fühlen, wenn noch andere nach ihr suchen würden«, gab Trevegg zu. Rissa berührte seine Wange mit ihrer Nase und führte das Rudel ohne ein Wort und ohne die übliche Aufbruchszeremonie vom Sammelplatz. »Wieso verhalten die sich so merkwürdig?«, fragte Ázzuen Yllin, während wir den Rehpfad entlang liefen, und er japste ein wenig, um mit ihr mithalten zu können. »Sie ist schon viele Male vorher verschwunden gewesen.« Yllin hielt für einen Augenblick bei einem Goldsiegelstrauch an, um uns aufschließen zu lassen. Sie blickte kurz den Pfad entlang, um sich zu vergewissern, dass die anderen nicht in Hörweite waren. »Es ist normal«, sagte sie, »dass Wölfe sterben - sie von 111
Jägern mitgenommen werden, dass sie durch Beute verletzt werden oder dass sie krank werden. Alle Wölfe sterben. Aber es ist unnatürlich für einen Wolf, einfach zu verschwinden. Es ist ein schlechtes Omen. Das schlimmste Omen. Die Legenden lehren uns, dass die Ahnen solche Strafen senden, wenn Wölfe die Regeln des Abkommens brechen. Vor zwei Generationen verschwanden drei Wölfe des Rudels vom Felsgipfel, nachdem ihr Leitwolf einen Menschen verletzt hatte.« Ázzuen und ich blickten einander schuldbewusst an. Aber sicherlich, sagte ich mir, war das Herausziehen eines Menschen aus dem Wasser nicht so schlimm wie das Verletzen eines Menschen. »Und ich habe gehört«, sagte Yllin, und ihre Augen ruhten für einen kurzen Moment auf dem Mal auf meiner Brust, »dass das Rudel vom Höhenwald einmal einen Wolf verloren hat, als sie einem Mischlings-Wurf gestattet hatten zu überleben.« Ich schloss meine Augen vor Schreck. Warum hatte mir niemand davon erzählt?
»Da ist noch etwas, das du wissen solltest, Kaala«, meinte sie und sprach leise und schnell. »Rissa und Trevegg haben euch Welpen nicht alles erzählt, als sie euch von den Legenden berichteten. Es ist nicht nur so, dass Mischlinge verrückt werden können oder dass sie sich unter Umständen in der Gesellschaft von Menschen unangemessen verhalten. Sie gelten als Unglücksboten für ihr Rudel. Und«, sagte sie und senkte ihre Stimme noch weiter, »Wölfe mit Mondzeichen können entweder Glück oder Unglück für ihr Rudel bedeuten, und man weiß niemals was von beidem es sein wird, bevor sie erwachsen sind.« 112 Ruuqos aufgebrachtes Bellen unterbrach sie. »Bleibt nicht zurück«, rief er. »Wir werden nicht auf euch warten.« »Wir sollen darüber nicht reden«, flüsterte Yllin. »Aber ich denke, es ist nicht richtig, dass du nichts davon weißt.« »Wir sagen niemandem, dass du uns davon erzählt hast«, versprach ich. Yllin neigte ihren Kopf, dann stürzte sie den anderen hinterher. Wir folgten so gut wir eben konnten. Mein Verstand raste mindestens ebenso schnell. »Was soll ich nur tun, wenn das Rudel glaubt, dass ich ihm Unglück bringe ?«, keuchte ich Ázzuen zu, doch der lief viel zu angestrengt, um mir antworten zu können. Borllas Duft war anfangs noch deutlich. Sie war dem Weg gefolgt, den wir das erste Mal genommen hatten, als wir zu der Ebene der Pferde gegangen waren, und sie war jedes Mal, wenn sie sich auf die Suche nach Reel gemacht hatte, darauf hinund hergelaufen. Der letzte Duft war vom frühen Morgen, bevor der Tau getrocknet war, was bedeutete, dass sie wahrscheinlich diesen Weg entlang gelaufen war, kurz bevor die Sonne aufging. Wir folgten ihrer Fährte über den Sammelplatz Rand des Waldes bis zu der Stelle, wo die Bäume aufhörten und die Ebene begann, und dann noch ungefähr acht Wolfslängen darüber hinaus auf die Ebene. Dann genau wie Trevegg gesagt hatte - verschwand ihr Duft plötzlich. Zu meiner Erleichterung waren auch die Pferde nicht da. »Geht aus dem Weg, Welpen«, befahl Rissa. Werrna war unsere beste Fährtenleserin, also führte sie die Suche an. Sie senkte ihre von Narben übersäte Nase tief auf den Erdboden und ging in einem engen Kreis, ausgehend von der Stelle, an der Borllas Duft verschwunden war. Als sie 112 sich sicher war, dass sie jeden Stein, jedes Fleckchen Erde und jeden Grashalm beschnüffelt hatte, wandte sie sich um und lief eine dem ersten Kreis entgegengesetzte Runde. Ruuqo und Rissa folgten ihr, spürten in Kreisen, die sich mit den ihren überschnitten. Yllin und Minn führten eine ähnliche Suche durch, nahe der Stelle, wo Reels Körper gelegen hatte. »Sie wollen sichergehen, dass ihnen nicht das kleinste bisschen eines Geruchs entgeht«, erklärte Trevegg unsicher, wie immer bemüht, uns etwas zu lehren, selbst mitten in all seiner Besorgnis und Erschöpfung. »Werrna legt die ersten Runden fest, Rissa geht sie innerhalb ab, und Ruuqo folgt wiederum in ihrer Runde. Die Übrigen von uns halten sich fern, um die Fährte nicht zu zerstreuen.« Sie brauchten für ihre Suche den ganzen heißen Nachmittag und einen Teil der kühleren Nacht dazu. Trevegg und die anderen halfen ihnen schließlich dabei, und bald erstreckte sich das durchkämmte Gebiet über die gesamte Ebene. Sie erlaubten
uns nicht, uns den abgesuchten Stellen zu nähern. Wir durften lediglich einen Flecken mit trockenem Gras beschnüffeln, der weit entfernt von der Stelle war, an der die Pferde gestanden hatten. Ich denke, sie schickten uns hauptsächlich dorthin, damit wir aus dem Weg waren, aber es war gut, etwas tun zu können. Marra, Ázzuen und ich versuchten unser Bestes, um eine Fährte aufzunehmen, irgendeinen Hinweis, wohin Borlla verschwunden war, aber es schien hoffnungslos zu sein. Unnan stand abseits und starrte über die Ebene, während Werrna die Stelle absuchte, an der Borlla zuletzt gewesen war. »Ich werde mit Unnan reden«, sagte ich zu Ázzuen und Marra. 113
»Bist du verrückt geworden?«, fragte Ázzuen. »Er wird nur versuchen, mit dir zu kämpfen.« »Er ist allein«, antwortete ich. »Vielleicht möchte er das nicht sein.« Ich ging vorsichtig zu ihm hinüber. Er musste mich gehört haben, aber er wandte sich nicht um. »Du kannst zusammen mit uns suchen«, sagte ich. »Es ist besser, als gar nichts zu tun.« Da wandte Unnan sich um und zog seine Lefzen in einem grimmigen Zähnefletschen zurück. »Warum sollte ich? Damit du mich auch umbringen kannst? Ist es das, worin du so gut bist? Anderen Welpen den Tod zu bringen? Sie hätten dich töten sollen, als du geboren wurdest. Du bringst nichts als Unglück.« Er kam ganz nahe an mich heran. »Wenn sie tot ist, werde ich einen Weg finden, dich umzubringen, das verspreche ich dir.« Meine guten Absichten verflogen. »Vielleicht würden deine Freunde ja nicht sterben, wenn du schlauer wärest«, schnauzte ich zurück. Noch während die Worte aus meinem Mund kamen, wusste ich, dass ich besser hätte schweigen sollen. »Vielleicht gibt es ja einen Grund dafür, dass es deine Freunde sind, die sterben und verschwinden. Ich habe nicht gesehen, wie du irgendjemandem während der wilden Flucht der Pferde geholfen hättest.« Unnan heulte auf und sprang mich an. Im Gegensatz zu Borlla hatte er nach Reels Tod nicht aufgehört zu fressen, und er war groß und stark. Größer als ich. Aber ich war wütend, und mein Zorn machte die fehlende Größe wett. Ich schüttelte Unnan mit Leichtigkeit ab und hielt ihn am Boden fest. Zorn vernebelte mir die Sicht, und ich beugte mich über seine Kehle. 113
»Kaala!«, Ázzuen rief laut genug, um mein Knurren zu übertönen. Er und Marra waren hergelaufen, um mir zu helfen, als mich Unnan angriff, und dann um mich davon abzuhalten, ihn ernsthaft zu verletzen. Ich kam wieder zu mir und trat von Unnan zurück. Ich schämte mich. Ich hatte ihn trösten wollen und hatte die Dinge doch nur verschlimmert. Und ich hatte wieder einmal meinen Zorn die Überhand gewinnen lassen. »Ilshikl«, zischte mir Unnan entgegen. Ich krümmte mich bei dem Wort. Es bedeutet Wolfs-Mörder. Ein Ilshik ist nicht fähig, in der Gesellschaft anderer Wölfe zu leben und dazu verdammt, auf ewig allein umherzustreunen. Ich wandte mich nicht um, um ihm ins Gesicht zu sehen, sondern ging zu Ázzuen und Marra zurück,
die ihre Suche wieder aufgenommen hatten. Bald waren wir alle erschöpft und ließen uns müde ins Gras sinken. Ich war beinahe eingeschlafen, als Ázzuens eindringliches Flüstern mich plötzlich wieder hellwach werden ließ. »Die Höchsten Wölfe!«, zischte er. Frandra und Jandru schritten über die Wiese. Die Erwachsenen des Rudels hatten die Suche nach Borlla bis zu dem Rand der Wiese, der dem Gebiet der Menschen am nächsten war, ausgedehnt und drängten sich dicht aneinander. Sie sprachen in aufgeregtem Geflüster miteinander. Ich fragte mich, was sie wohl gefunden haben mochten. Ruuqo und Rissa gingen, um Frandra und Jandru zu begrüßen. Ich war überrascht, die Höchsten Wölfe hier zu sehen, nachdem sie gesagt hatten, sie würden für eine Weile nicht in der Nähe sein. Noch mehr überrascht war ich von dem Zorn in Ruuqos Gebaren, als er sich ihnen näherte. Ich war zu weit entfernt, um zu hören, was er zu den Höchsten Wölfen sagte, aber Jandru 114 sprang auf ihn und warf ihn zu Boden. Der Höchste Wolf sprach einige Worte und ließ dann von Ruuqo ab. Für eine Weile stritten sie heftig. Dann stolzierten Frandra und Jandru von der Ebene. Ich hatte befürchtet, sie seien zurückgekommen, um mir meinen Umgang mit dem Menschenmädchen noch einmal vorzuwerfen, aber sie blickten nicht einmal in meine Richtung. Ruuqo jedoch warf mir einen zornigen Blick von der anderen Seite der Ebene herüber zu. Ich trat zurück. Er bellte zum Aufbruch und führte das Rudel von der Wiese hinunter. Ruuqo brachte uns zurück zu Gefallener Baum. Er ließ es nicht zu, dass irgendwer von uns über Borlla und ihr Verschwinden redete. Genauso wenig erlaubte es Rissa. Sie gestatteten auch Minn nicht, die Gebiete nach ihr abzusuchen. Und sie berichteten uns nicht, was sie auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese gefunden hatten. »Die Jagd geht weiter«, war alles, was sie sagten. »Wir werden nicht mehr darüber sprechen.« Ich wartete, bis das Rudel eingeschlafen war und machte mich dann leise auf den Weg in die Richtung der Ebene des Hohen Grases. Wenn das Rudel glaubte, es sei vom Unglück verfolgt, und wenn sie der Überzeugung waren, ich sei diejenige, die das Unglück heraufbeschworen hatte, dann musste ich so viel wie möglich darüber herausfinden. Und ich wollte wissen, warum sie uns Welpen nicht an die Stelle heranließen, an der sie irgendetwas gefunden hatten. Ich erhob keinen Widerspruch, als Ázzuen mir folgte. Es war ein langer Tag gewesen und eine ebenso lange Nacht, und ich war erschöpft, als wir an der Stelle ankamen, wo das Rudel zuletzt gesucht hatte. Ruuqo hatte uns nach der 114 Ankunft der Höchsten Wölfe so schnell fortgeführt, dass mir keine Möglichkeit geblieben war, die Stelle zu untersuchen. Ich senkte meine Nase auf den Boden. Der Duft unseres Rudels war da - natürlich, genauso wie der Geruch von Frandra und Jandru. Und dann, schwächer als die anderen, der Geruch von Borlla. Doch was mich innehalten und mein Herz in meiner Brust wie rasend schlagen ließ, war ein Geruch, der so schwach war, dass ich ihn beinahe gar nicht entdeckt hätte. Ich
überprüfte ihn noch einmal, um sicherzugehen, dass ich mich nicht geirrt hatte. Er war säuerlich und fleischig. Ein Duft von Salz und Schweiß. Der Geruch von Menschen. Ázzuen hatte ihn ebenfalls bemerkt. »Die Höchsten Wölfe haben befohlen, uns von den Menschen fernzuhalten«, sagte ich zu Ázzuen, »und dennoch ist ihr Geruch hier, zusammen mit dem Geruch der Menschen. Was haben sie vor?« »Ich habe keine Ahnung, Kaala«, meinte Ázzuen, »aber ich glaube nicht, dass du versuchen solltest, es herauszufinden.« »Ich muss es aber herausfinden, Ázzuen. Die Höchsten Wölfe haben mein Leben gerettet und sind dann vier Monde lang verschwunden. Dann kommen sie zweimal innerhalb weniger Tage zu uns. Ruuqo ist wieder böse mit mir, und Yllin sagt, das Rudel könne denken, ich brächte ihnen Unglück. Alles scheint immer wieder zu den Menschen zurückzuführen. Ich muss herausfinden, warum. Ich muss herausfinden, warum ich anders bin.« Er hörte mir zu, in seinen Augen schimmerte die Besorgnis. »Dann finde die Höchsten Wölfe und frage sie. Aber gehe nicht zu den Menschen. Ich weiß, dass du daran denkst.« Ich war ein wenig verärgert, dass er meine Gedanken so leicht 115
lesen konnte. Er trat näher an mich heran, sein Atem war warm. »Du hast gehört, was Yllin gesagt hat. Du kannst das Risiko nicht eingehen.« »Ich weiß«, sagte ich sanft und nahm etwas von dem nach Rudel-Borlla-HöchsterWolf-Menschen riechenden Gras in mein Maul. »Ich gehe nicht dahin zurück. Ich verspreche es.« ♦
Ich wollte Ázzuen nicht anlügen, aber ich musste wissen, was hier wirklich vorging. Ich musste wissen, was die Höchsten Wölfe taten und was das mit Borllas Verschwinden zu tun hatte und mit meinem eigenen Platz im Rudel. Und alles drehte sich um die Menschen. Außerdem wollte ich das Menschenmädchen wiedersehen. Der Name, den ihr Volk ihr gegeben hatte, war TaLi, aber ich dachte an sie immer noch als das Mädchen. Während der Zeit, in der ich sie beobachtete, hörte ich mehr als einmal, wie eines der Weibchen ihres Rudels sie bei ihrem Namen rief. Ihre erwachsenen Weibchen wurden >Frauen< genannt, und ihre Männchen >Männer<. Nicht nur, dass sie ihre Vorderpfoten >Hände< nannten, sie nannten auch ihre Hinterpfoten >Füße< und ihr Fell >Haar<. Ihr Rudel wurde >Sippe< genannt. Sie waren am Tag geschäftiger als in der Nacht, und als das Wetter sich abzukühlen begann, trugen sie die Häute von Jägern genauso wie die Häute von Beutetieren. Ich hatte jedoch noch nie gesehen, dass sie das Fell eines Wolfes trugen und fragte mich, ob ihnen dies vielleicht unangenehm war. Mich machte der Gedanke schaudern. Eine Brise strich über meine Ohren und durch mein dicker werdendes Unterfell. Die heißen Sommertage waren kühler 115 geworden, und das machte meine langen Wachen bei dem Sammelplatz der Menschen erträglicher. Ich kauerte mich tiefer in den weichen Staub des Beobachtungshügels. Neben mir raschelte Tlitoo ungeduldig mit seinen Flügeln.
»Wie lange willst du nur zusehen, Wolf?«, wollte er wissen. »Du kommst seit einem Mond hierher und hast nichts getan, außer sie zu beobachten. Feiger Wolf.« Ich beachtete ihn nicht weiter und strengte meine Nase und meine Ohren an, um mein Mädchen zu finden. Ich brauchte immer eine Weile, um ihren Duft von dem der anderen zu unterscheiden. Es war helllichter Tag, und das Lager der Menschen summte vor Geschäftigkeit. Mehrere Menschen, männliche und weibliche, schabten Häute von Beutetieren mit scharfen Steinen. Andere befestigten etwas, das wie Knochen aussah, an den Enden von kurzen, dicken Holzstöcken. Viele der Menschen jeden Alters versammelten sich um die Feuer. Ich war mir anfangs nicht sicher gewesen, warum sie die Feuer auch in der Wärme und Helligkeit des Mittags brennen ließen, aber als ich den unverwechselbaren Geruch von verbranntem Fleisch erkannte, wusste ich warum. Sie brieten ihre Beute. Zwei Männer hielten Rehfleisch an langen Stöcken über das Feuer. Das Wasser floss mir im Munde zusammen. Ein lautes Geräusch erschreckte mich, und eine Gruppe von vier jungen Männchen rannte über den Sammelplatz, schwang spitze Stecken und stieß damit nach unsichtbarer Beute. Ich wollte hinunterlaufen, um bei ihnen zu sein. Ich erkannte, dass sie spielten. Tlitoo vergrub seinen Schnabel in einem Haufen von Blättern, Ästen und Fuchskot, gab vor, nach Käfern zu suchen -und warf mir dann den ganzen Dreck ins Gesicht. »Du hast alles gelernt, was man durch Beobachten lernen 116 kann, Dummwolf«, sagte er. »Es ist an der Zeit, mehr zu tun, als nur zu beobachten. Bald wird die Winterreise beginnen, und es wird dir nicht mehr so leicht gelingen, dich davonzustehlen.« Ich schnaubte den Dreck aus meiner Nase und schüttelte ein Blatt und einen Klumpen Fuchskot von meinem Ohr. Tlitoo war der Einzige, der wusste, dass ich die Menschen beobachtete. Und das auch nur, weil ich vor ihm nicht flüchten konnte. Es gelang mir gerade eben so, mich von Ázzuen und Marra davonzuschleichen, die mir seit der wilden Flucht der Pferde überallhin gefolgt waren. Aber einen Raben abzuschütteln war genauso schwierig, wie den Geruch eines Stinktieres aus seinem Pelz zu entfernen. Es war nicht einmal wert, es zu versuchen. »Du bist nicht derjenige, hinter dem die Höchsten Wölfe her sein werden«, sagte ich. »Du bist nicht derjenige, der verstoßen werden wird.« In dem Mond, der vergangen war, seitdem ich das Menschenkind aus dem Fluss gerettet hatte und seitdem Borlla verschwunden war, war ich viele Male in Versuchung geraten, das Lager der Menschen zu betreten. Aber obwohl ich den Befehl der Höchsten Wölfe, mich von den Menschen fernzuhalten, nicht befolgen konnte, war ich dennoch nicht vollkommen verrückt geworden. Ich würde nicht einfach am helllichten Tage mitten auf den Sammelplatz der Menschen spazieren. Ich hatte nicht vor, mich aus dem Tal vertreiben zu lassen, bevor ich zum Wolf geworden war. »Es gibt etwas, das die Großen Wölfe vor uns verheimlichen, Wölflein«, krächzte Tlitoo. Seine Stimme klang ungewöhnlich ernst. Ich sah ihn an und erkannte Besorgnis in seinen Augen. 116
»Sie behalten ihre Geheimnisse für sich, und die Geheimnisse drehen sich um die Menschen«, meinte er. »Ich denke, ich werde zu den Menschen gehen, wenn ich gejagt habe und wenn ich als Wolf aufgenommen worden bin.« Tlitoo gurrte misstrauisch. Er glaubte nicht daran, dass Ruuqo mich jemals aufnehmen würde, selbst wenn ich gejagt haben würde und an den Winterwanderungen teilgenommen hätte. Aber darüber wollte ich nicht nachdenken. Wenn ich erfolgreich gejagt hatte und durch den Winter gekommen war, musste mir Ruuqo Romma geben, auch wenn er mich nicht im Rudel vom Schnellen Fluss haben wollte. Es war Wolfsgesetz. Endlich hatte ich den Duft des Mädchens zwischen den Gerüchen der anderen Menschen ausgemacht. Sie saß mit einigen anderen Weibchen im Schatten eines kleinen Unterschlupfes. Vor sich hielt sie die Hälfte eines hohlen, kürbisförmigen Steins. Ein anderer schmaler Stein lag in ihrer Hand, und sie benutzte den kleineren Stein, um etwas in dem Kürbisstein zu zerstoßen. Der Geruch von Schafgarbe und einer Pflanze, die ich nicht erkannte, erfüllte jedes Mal die Luft, wenn sie mit dem schmalen Stein in die Vertiefung des anderen Steins stieß. Ihr Gesicht war friedlich und konzentriert, und ich konnte hören, dass sie ein leises summendes Geräusch von sich gab, während sie arbeitete. Mehr als alles andere auf der Welt wollte ich zu ihr gehen. Die Erde unter meinem Bauch wurde unangenehm warm, und meine Haut begann zu jucken. Ich fühlte eine vertraute Wärme neben mir. Ich wandte mich um, erwartete, die junge Traumwölfin zu sehen, aber da war niemand. Großartig, dachte ich bei mir. Jetzt werde ich 117 wirklich verrückt. Doch ein starker säuerlicher Geruch von Wacholder schien in der Luft zu liegen, und ein kräftiger Windstoß ließ ihn hinübersegeln auf den Sammelplatz der Menschen. Das Mädchen blickte auf. Ich wusste, dass sie mich unmöglich sehen konnte, aber es schien mir, als würde sie mir unmittelbar in die Augen blicken, wie Beute, wenn sie weiß, dass du dich nahe an sie heranschleichst. Ich konnte von der Stelle, an der ich lag, den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht wirklich erkennen, doch ihr Körper drehte sich mir zu, und sie beugte sich nach vorne. Sie hob ihren Kopf, als rieche sie etwas in der Luft. Sie begann, sich zu erheben. Ich stand auf. Das Mal auf meiner Brust zog mich vorwärts, und ich konnte, sosehr ich es auch wollte, nicht verhindern, dass ich näher an das Mädchen herankroch. Ich hörte auf, die Pflanzen um mich herum zu riechen, konnte Tlitoos ungeduldiges Rascheln nicht mehr hören. Selbst die Menschen schienen in einem einzigen Geruch aufzugehen, ihre Stimmen in einem Gewirr von Klängen. Nur das Mädchen blieb deutlich. Ich hörte ein fernes Geheul - Ruuqos, der das Rudel zusammenrief -, aber ich schüttelte den Klang aus meinen Ohren. Ich spannte meine Läufe an und bereitete mich darauf vor, den Hügel hinunterzuspringen. Tlitoo piekte mich kräftig in den Leib. Ich schluckte ein Jaulen hinunter und starrte ihn verwundert an. »Wach auf, Wölflein. Jetzt ist es nicht an der Zeit hinunterzugehen. Die Leitwölfe rufen dich zur Jagd.«
Ich hörte, wie Rissas Stimme sich in Ruuqos mischte. Ich konnte ihr Rufen nicht missachten. Um Atem ringend schüttelte ich mich und zog mich von der Lichtung der Menschen zurück. 118 »Dummer Wolf«, sagte Tlitoo liebevoll. Ich überlegte einen Augenblick lang, ihn in seine Schwanzfedern zu beißen, aber ich wusste, dass er nur davonfliegen würde. Aus der Macht befreit, die die Menschen über mich ausübten, lief ich den ganzen Weg zum Fluss zurück, tauchte hinein und schwamm hinüber. Ich rollte mich im Schlamm des Flusses, um den Menschengeruch zu überdecken, watete wieder in den Fluss hinein, stieg hinaus und schüttelte mich. Doch bevor ich mich auf den Weg nach Hause machen konnte, hörte ich das Rascheln von Blättern und roch Ázzuens vertrauten Duft. Er steckte seinen Kopf aus den Büschen, die entlang des Flussufers wuchsen. »So viel dazu, dass Wölfe hervorragend hören können«, kicherte Tlitoo über mir. Er war auf den Ast einer Weide geflogen, um den Tropfen zu entgehen, die aus meinem nassen Fell gespritzt waren, als ich mich geschüttelt hatte. »Es wird Nacht«, sagte er. Er krächzte sein heiseres Rabengelächter. »Wölfchen ist erwischt! Keiner kann Dummwolf helfen. Besser Ast suchen.« Er machte eine kleine Kunstpause und öffnete dann wieder seinen Schnabel. »Zu spät für Wölfchen, Um Neues zu erfahren. Hör auf den Raben!« 118 Damit flog Tlitoo davon und ließ mich allein mit dem Problem Ázzuen. Ich hatte geglaubt, es wäre mir gelungen, Ázzuen davon abzuhalten, mir zu folgen, doch offensichtlich hatte ich mich geirrt. Ich starrte ihn böse an. »Du bist weggewesen, um die Menschen zu sehen«, beschuldigte er mich ohne jegliche Begrüßung. »Du bist die ganze Zeit unterwegs gewesen, um sie zu beobachten. Schon einen ganzen Mond lang.« Ich konnte riechen, dass auch Marra irgendwo in der Nähe war. Ich versuchte herauszufinden, wo genau sie sich versteckte. Im Gebüsch zu meiner Rechten vermutete ich. »Warum kannst du dich nicht um deine eigenen Angelegenheiten kümmern?«, fragte ich Ázzuen. »Weil du versprochen hast, nicht dorthin zu gehen. Und weil du es mir hättest sagen können. Weil du es mir hättest sagen sollen. Ich dachte, wir sind Freunde.« Ich fühlte mich ein wenig schuldig. Und ich war überrascht. Ázzuen hatte noch nie mit mir gestritten. Er tat für gewöhnlich genau das, was ich ihm sagte. »Ich wollte nicht, dass du Ärger bekommst«, meinte ich verzagt. »Und du hast gesagt, du willst nicht, dass ich gehe.« Ich wandte mich nach rechts und sprach zu den Büschen, wo ich Marras Versteck vermutete. »Du kannst ruhig rauskommen.« Ich hörte leise Pfotengeräusche zu meiner Linken, und Marra kam herausgetrabt. Sie leckte meine Schnauze zum Gruß und beugte sich zum Fluss, um zu trinken. Ázzuen schnaubte. »Ich kann auf mich alleine aufpassen. Und wenn du schon dahin gehen musst, solltest du jemanden mit dir gehen lassen.« »Sie will die Menschen für sich behalten«, meinte Marra, 118
als sie genug getrunken hatte. »Du solltest uns mitkommen lassen«, sagte sie zu mir, »damit wir dich davon abhalten können, irgendwelche Dummheiten zu begehen.« »Woher wusstet ihr, wohin ich gehe ?« »Wir sind dir gefolgt«, sagte Ázzuen. »Und der Rabe. Er macht solchen Lärm.« Marra setzte sich und beobachtete mich. »Wir wollten wissen, wohin du immer wieder verschwunden bist«, meinte sie. »Hört auf, mir zu folgen.« Ich war wütend und ungeduldig, weil ich die Menschen hatte verlassen müssen. »Könnt ihr nicht etwas finden, womit ihr euch selbst beschäftigen könnt?« Ázzuen und Marra senkten ihre Schwänze und Ohren ein wenig und machten mir damit meine Schuld noch bewusster. Sie waren beide für mich eingestanden nach der wilden Flucht der Pferde. Und wenn sie nicht gewesen wären, hätten Borlla und Unnan mich wahrscheinlich getötet, als ich noch ein schwächlicher Welpe war. Sie hatten Besseres von mir verdient. Ich seufzte. »Ich werde euch Bescheid sagen, wenn ich wieder hingehe«, meinte ich ungehalten. Ihre Schwänze und Ohren stellten sich auf. »Wir sollten uns besser auf den Weg machen, um die Erwachsenen wieder bei der Jagd zu beobachten«, sagte ich, als ich Ruuqos Geheul zum wiederholten Male vernehmen konnte. »Vielleicht lassen sie uns dieses Mal ja mitjagen«, meinte Ázzuen hoffnungsvoll. »Vielleicht wächst den Raben Fell, und sie beginnen Auerochsen zu jagen«, grunzte Marra verächtlich. 119 Ich musste lachen. Ich berührte Marras Wange mit meiner Nase und dann Ázzuens genauso. Der Rest meiner Ungeduld war verflogen, und ich heulte als Antwort auf Ruuqos Ruf. Ázzuen und Marra stimmten mit ein, und ich führte meine Rudelgefährten nach Hause. 119
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Das Rudel fing in dieser Nacht nichts, doch nur das Viertel eines Mondes später erwachten wir vom Röhren der Elen. Es war ein merkwürdiges Geräusch, irgendetwas zwischen dem Heulen eines Wolfes und dem Stöhnen eines sterbenden Pferdes, und es durchdrang die Nacht. Rissa hob den Kopf und schnüffelte in der Luft. »Es ist an der Zeit, dass die Jungen an der Jagd teilnehmen«, sagte sie. Meine Ohren stellten sich auf, und ich konnte mein Herz schneller schlagen fühlen. Neben mir juchzte Marra vor Aufregung. Rissa hatte sich so lange geweigert, uns mit auf die Jagd zu nehmen, dass ich schon geglaubt hatte, wir würden ein Jahr alt werden, bevor wir Beute jagen durften. Ázzuen und die anderen waren sechs Monde alt, und ich war nur wenig jünger, aber Rissa hatte uns seit der wilden Flucht der Pferde nicht einmal in die Nähe von irgendeiner größeren Beute gelassen. 119
Marra war die Erste, die bei Rissa war, und Ázzuen und ich brauchten ebenfalls nicht viel länger. Wir sprangen vor Aufregung und machten den Jagdtanz nach, den wir so oft bei den Erwachsenen beobachtet hatten. Unnan kam ein wenig langsamer und war zurückhaltender in seiner Begrüßung. Rissa blickte uns alle an. Wir waren jetzt beinahe so groß wie sie und wurden immer kräftiger. Sie lächelte. Mir schien, als sei dies ihr erstes Lächeln nach Reels Tod. »Es ist an der Zeit«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu uns. »Ich kann euch nicht für immer im Bau behalten. Wir werden auf die Weite Ebene gehen, um die Elen zu jagen.« Ruuqo kam herüber und berührte mit der Nase ihre Wange. »Sie sind so weit«, sagte er. »Und wir werden sie genau beobachten.« Er blickte uns finster an. »Die Elen sind gefährliche Beute«, warnte er. »Wir haben lange ihre kleineren Verwandten, die Elche, gejagt, doch die Menschen haben die Elche aus dem Tal vertrieben. Elen sind angriffslustig und gefährlich. Ihr müsst genau aufpassen.« Er sah uns an, um sich zu vergewissern, dass wir zuhörten. Er heulte noch einmal, und dann führte er uns auf unsere erste Jagd. Selbst seine düsteren Blicke konnten unsere Aufregung nicht mindern, und wir stolperten übereinander, als wir die Lichtung verließen. Wir liefen durch den Wald über eine weiche Schicht frischgefallener Blätter. Ich versuchte, mich so gut wie möglich an die Jagdregeln zu erinnern, die man uns in den vergangenen Monden beigebracht hatte. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich hatte, solange ich mich erinnern konnte, auf meine erste Jagd gewartet. Die Jagd ist es, die uns zum Wolf macht. Vor langer Zeit hatte sich die Welt aufge 120
teilt in Jäger und in Beute, und der Wolf wurde zum besten aller Jäger. Unsere Lungen geben uns den Atem und die Ausdauer, um schnell und lange zu laufen. Unsere Zähne sind aus einem Stück des Wolfssterns gemacht, um stark und scharf zu sein. Wir haben Ohren, die groß genug sind, um selbst die Gedanken der Beute zu hören. Wir haben Augen, um die Bewegung der Beute auf der Flucht zu verfolgen, Nasen, um jeden Hauch ihres Geruchs einzufangen, und Läufe, um sie bis ans Ende der Welt zu jagen. Doch all das ist nichts, wenn du das Geschick und den Mut zur Jagd nicht hast. In dieser Nacht würden wir zum ersten Mal die Gelegenheit bekommen, unser Geschick und unseren Mut zu zeigen. Uns auf der Jagd zu beweisen war für uns eine der wichtigsten Prüfungen. Wenn wir jagen und die Winterwanderungen überstehen konnten, würden wir zu wirklichen Wölfen werden, und Ruuqo und Rissa würden das Ritual vollziehen, mit dem der Geruch eines erwachsenen Wolfes vom Schnellen Fluss aus uns hervorkommen würde. Von diesem Zeitpunkt an, wo immer wir auch hingehen sollten, würde man uns als Wölfe vom Schnellen Fluss erkennen und wissen, dass wir erfolgreiche Jäger waren. Ich wusste, dass nicht von uns erwartet wurde, dass wir auf unserer ersten Jagd etwas töteten, aber wenn ich die Möglichkeit bekam, würde ich Ruuqo und Rissa beweisen, dass ich eine starke Jägerin war, und wäre damit ein ganzes Stück mehr Teil des Rudels, ein Stück näher an meinem Ziel, Romma zu bekommen. Niemand würde mein Recht, ein Wolf zu sein, länger in Frage stellen können.
Ich konnte nicht glauben, wie schnell wir die Weite Ebene erreichten. Bis dahin hatte es mir immer wie eine unüberwindbare Entfernung geschienen. Ich setzte erst die eine Pfote und dann die nächste auf das Gras. Ich war nicht mehr 121 hier gewesen, seitdem wir vor vielen Monden von unserem Sammelplatz mit den Welpenhöhlen herübergekommen waren. Beinahe war rnir, als müsste die Ebene mich verschlingen oder mich wieder so schwach und hilflos werden lassen, wie damals, als ich als Winzjunges versucht hatte, meine erste große Reise zu überstehen. Sie verschlang mich nicht. Sie war voller Duftmarken, die Ruuqo und Rissa hinterlassen hatten, um anderen Wölfen zu zeigen, dass die Ebene uns gehörte. Sie roch nicht einmal so viel anders als die Ebene des Hohen Grases und die anderen Jagdgründe auf unserem Land. Sie war nur ein weiteres Stück unseres Jagdgebietes. Abgesehen davon, dass sie im Augenblick voller Elen war. So weit wir im hellen Mondlicht sehen konnten, blickten wir auf ihre großen, stolzen Gestalten. Der Geruch ihrer Körper war so überwältigend, dass ich kaum das Gras riechen konnte, in dem wir standen, oder die Käfer und Ameisen, die über meine Pfoten krabbelten. Die Hitze ihre festen Haut erwärmte die Nacht. Sie waren riesig - viel größer als Pferde und sehr viel größer noch als zwei ausgewachsene Wölfe. Ihr Körperbau war beeindruckend, mit runden, stumpfen Schnauzen, und ihre Beine sahen aus, als seien sie zum Laufen geschaffen. Doch wirklich überwältigend - und wirklich furchterregend - waren die riesigen Geweihe auf den Köpfen der männlichen Elen. Sie waren breiter, als die Elen groß waren. Ich konnte mir schwer vorstellen, wie stark der Nacken dieser Tiere sein musste, um solch enorme Geweihe zu tragen. Und ich wagte es nicht, mir vorzustellen, was solche Geweihe mit einem Wolf anstellen konnten, der ihnen in die Quere kam. Direkt zu unserer Linken, neben einem großen halbmondförmigen Hügel, hatte ein großer männlicher Elen an die 121 hundert Weibchen um sich geschart. Weiter weg auf der Ebene hatte ein weiteres Männchen ungefähr die Hälfte davon um sich versammelt. So weit ich riechen konnte, gab es Gruppen von Elen, die aus einem männlichen und vielen weiblichen Tieren bestanden. Andere männliche, jüngere meistens, wanderten um die Ausläufer der Gruppen herum. So weit unsere Ohren reichten, konnten wir die männlichen Elen mit ihren eindringlichen, wiehernden Rufen vernehmen. Ich sah, dass Werrna, Yllin und Minn die Ebene vor uns erreicht hatten und bereits zwischen den Elen hin und her liefen. Ruuqo rannte zu ihnen. »Dies ist eine ergiebige Zeit, um Elen zu jagen«, meinte Rissa und führte uns um die Herden herum. Wir bewegten uns in leichtem Lauf an den Begrenzungen der Ebene entlang. Es war der Jagdgang, ein ruhiger Laufschritt, den ein Wolf eine ganze Nacht lang durchhalten kann, während er Beute ausspäht. »Die Elen sind gesund und stark von der reichhaltigen Nahrung des Sommers«, fuhr Rissa fort und blickte über ihre Schulter zurück, während sie weiterlief. »In Gedanken sind sie jedoch schon bei der Paarung, was es uns leichter machen wird, sie zu jagen.« Als ob er ihr zustimmen wolle, erhob der männliche Elen, der uns am nächsten stand, seinen Kopf in die Höhe und röhrte, um selbst weit entfernten anderen
Männchen mitzuteilen, dass diese Weibchen ihm gehörten. Ich fiel beinahe aus meinem Fell vor Schreck. Es war eine Sache, diese Viecher von weitem zu beobachten, aber etwas völlig anderes, so nahe neben ihnen zu laufen. »Sie versammeln die Weibchen, mit denen sie sich paaren wollen, um sich«, erklärte Trevegg. Er war kein bisschen 122 außer Atem trotz unseres schnellen Laufs. Wie oft er auch betonte, ein schrecklich alter Wolf zu sein, so hielt er immer noch problemlos Schritt mit Rissa. »Die stärksten Männchen sind um diese Jahreszeit sehr aufmerksam, und man sollte sie besser in Ruhe lassen«, erklärte er. »Sie sind keine gewöhnliche Beute und können Jäger sogar angreifen. Fast alle große Beute wird sich verteidigen, wenn sie angegriffen wird, aber den männlichen Elen gefällt es, mit uns zu kämpfen. In dieser Jahreszeit jagen wir die Weibchen. Sie kommen in Gruppen zusammen, und nicht alle von ihnen sind kräftig. Wir können auch die älteren und jüngeren Männchen jagen, die bereits von dem Versuch erschöpft sind, Gefährtinnen zu stehlen. Das sind die schwächsten von allen.« »Keiner von ihnen sieht mir wirklich erschöpft aus«, meinte Marra ein wenig nervös. »Sie sehen aus, als ob sie durchaus bereit wären zu kämpfen«, befürchtete Ázzuen. »Das ist eines der Dinge, vor denen ihr euch in Acht nehmen müsst«, erklärte Rissa. »Beobachtet die anderen und schaut zu, wie sie es herausfinden.« Rissa hielt in ihrem Lauf inne, also blieben auch wir stehen. Unsere Flanken zitterten, aber mehr von der Erregung und Unruhe als vor Müdigkeit. Ázzuen und Marra schmiegten sich eng an mich. Ich konnte erkennen, dass Ruuqo, Werrna und die Jungwölfe mit Leichtigkeit zwischen der Beute umherliefen. Die Elen schienen sie nicht zu beachten. »Es ist, als ob die Elen wüssten, dass wir noch nicht ernsthaft jagen«, meinte Ázzuen. »Sie wissen es genau«, antwortete Rissa. »Beute, die fortrennt, wenn wir noch nicht einmal richtig jagen, zeigt, wie 122 schwach sie ist. Sie lernen als junge Tiere, wie es aussieht, wenn ein Wolf bereit zur Jagd ist.« »Andernfalls würden sie auch sehr schnell erschöpft vom ständigen Rennen«, fügte Trevegg hinzu. Plötzlich wendete Yllin und lief auf eine Elen zu, nicht wirklich um sie anzugreifen, nur um sich selbst in die Nähe des Weibchens zu bringen. Die Elen hob ihren Kopf und zog einen Huf hoch. Yllin wandte sich nur ein klein wenig zur Seite und lief an der Beute vorbei, so als ob das von vornherein ihre Absicht gewesen sei. »Die Elen zeigt, dass es schwer werden würde, sie am Hals zu packen«, erklärte Trevegg. Er schnaubte. »Yllin sollte es besser wissen. Die war längst noch nicht bereit zu sterben.« Seine Stimme nahm einen belehrenden Tonfall an. »Die Auswahl der Beute ist der wichtigste Teil der Jagd, Welpen. Wenn ihr die Beute nicht sorgfältig auswählen könnt, werdet ihr bis zum Verhungern laufen, bevor ihr irgendetwas fangt. Es macht keinen Unterschied, wie schnell eure Pfoten sind oder wie scharf eure Zähne, wenn ihr euer Gehirn nicht gebraucht, werdet ihr erfolglos
bleiben. Unsere Gehirne sind es, die uns von den anderen Jägern unterscheiden, sie machen uns zu hervorragenden Jägern.« Ich seufzte. Wir hatten das alles schon so oft gehört. Jedes Mal, wenn uns die Erwachsenen mitgenommen hatten, um die Jagd zu beobachten. »Hört zu, Welpen«, sagte Rissa streng, doch mit Belustigung in ihrer Stimme. Ich war nicht die Einzige, die ungeduldig wurde. Marra knurrte laut genug, um über die ganze Ebene hinweg gehört zu werden, und Unnan scharrte mit seinen Pfoten im Dreck. »Die Jagd zu beobachten ist eine Sache. Daran teilzunehmen eine ganz andere. Wenn ihr zwi 123 sehen den Elen lauft, werdet ihr so in der Jagd aufgehen, dass ihr alles verfolgen werdet, was sich bewegt, es sei denn, ihr erinnert euch daran, dass die Beute vorher sorgfältig ausgewählt werden muss.« Ich dachte zurück an die Fehler, die ich gemacht hatte, als ich das erste Mal versucht hatte, die Pferde zu jagen. Ich würde diese Fehler nicht wieder begehen. Meine Ohren gingen in die Höhe, und ich richtete mich auf. Ich hörte auf den Atem eines jungen Weibchens, das an uns vorbeilief. Er war gleichmäßig und ohne Anstrengung. Ich versuchte in die Augen einiger Elen zu sehen, die in der Nähe standen, um herauszufinden, ob sie schwach oder kräftig waren, und ich konnte mich nicht zurückhalten - ich musste ein Stück weit auf meinem Bauch vorwärtskriechen. Ich unterdrückte ein Stöhnen, denn meine Vorderläufe taten weh vom vielen Ducken beim Beobachten der Menschen. Eine der weiblichen Elen sah mich und sah mir genau in die Augen. Mein Herz tat einen Sprung, rutschte die Kehle hinauf und blieb dort stecken. »Was bist du, dass du glaubst, ich sei deine Beute«, schien sie zu sagen und nagelte mich mit ihrem überheblichen Blick auf meinem Platz fest. »Ich habe noch viele Jahre vor mir, in denen ich laufen und viele Kälber gebären werde. Mach mich nicht zornig. Ich habe schon Wölfe aus geringeren Gründen mit meinen Hufen zermalmt.« Ich schüttelte mich leicht. Sie erinnerte mich an die Pferde kurz vor der wilden Flucht. »Die ist keine Beute, Jungwolf«, sagte Rissa lachend. »Passt auf. Manchmal könnt ihr die Würmer in ihnen riechen, die machen sie müde und langsam. Und die Alten haben oft eine Krankheit, die ihre Gelenke steif werden lässt. Das könnt ihr riechen und sogar hören.« 123 »Und manchmal«, meinte Ruuqo, während er zurück zu uns schlenderte, »reicht es aus, sie zu beobachten. Man kann erkennen, wenn eine Beute bereit ist zu sterben. Sie lässt ihren Kopf hängen oder erschrickt, wenn ihr euch nähert. Sie hat Angst vor euch, weil sie weiß, dass es einen Grund gibt, euch zu fürchten. Wenn sie keine Angst vor euch hat, gibt es auch dafür einen Grund.« »Man kann an der Art und Weise, wie sie stehen, erkennen, ob sie kräftig sind«, sagte Ázzuen leise und zeigte mit einem Nicken seines Kopfes auf die Elen, die mich herausgefordert hatte. »Man kann auch sehen, ob ihr Fell dicht und glänzend ist.« »Das ist richtig, Jungwolf«, sagte Ruuqo überrascht. »Danach sollt ihr Ausschau halten, Welpen.«
Ruuqo senkte seine Schnauze, um Ázzuens Gesicht anerkennend zu berühren. Ich war stolz auf Ázzuen und glücklich, dass Ruuqo endlich einmal merkte, wie schlau Ázzuen war. Ich glaube, es war das erste Mal überhaupt, dass Ruuqo erkannte, dass er gewitzt war. Ázzuen stellte sich auf und leckte Ruuqo dankbar. Dann wandte er sich mir zu. Ich berührte sein Gesicht ebenfalls mit der Nase, und er dankte mir genau so, wie er Ruuqo gedankt hatte. Marra kam und setzte sich neben uns. Die Ohren und Ruten von beiden waren ein wenig mehr gesenkt als meine. Unnan starrte uns an und senkte seinen Schwanz ein wenig. Ruuqo blickte mich finster an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ mich fürchten, er würde mich beißen. Doch er ließ seine Augen über uns alle hinwegwandern und dann wieder hinaus auf die Ebene, wo die anderen Wölfe immer noch zwischen den Elen umherliefen. Minn und Yllin fingen seinen Blick auf und kamen herbeigerannt. 124 »Es gibt keine einfache Beute«, sagte Minn, als er und Yllin sich schweratmend neben uns niederfallen ließen. Werrna lief immer noch entschlossen zwischen den Elen herum. »Wir werden sie rennen lassen müssen.« Er erschien erfreut bei dem Gedanken. »Wenn sich keine Beute deutlich anbietet, müssen wir die Elen auf die Probe stellen, indem wir sie zum Laufen bringen«, erklärte Trevegg und schnappte nach einer Fliege, die auf seiner ergrauten Schnauze gelandet war. »Bei einer Herde von dieser Größe ist das oft das Beste. Das ist mit einer der Gründe, warum Jungwölfe wie Yllin und Minn so wichtig für das Rudel sind. Sie kennen nicht so viele Schliche wie die älteren Wölfe«, er blickte streng auf die beiden jüngeren Wölfe, die als Antwort mit den Ruten auf den Boden schlugen, »aber sie können schnell laufen und können einen großen Teil der Beute prüfen, ohne dass sie müde werden. Das wird eure Aufgabe sein, wenn ihr im nächsten Jahr beim Rudel bleibt.« Ruuqo stand auf und streckte sich. »Yllin und Minn werden die Elen zum Laufen bringen. Wenn sie eine mögliche Beute ausgewählt haben, werdet ihr zu ihnen stoßen. Ihr könnt in der Gruppe jagen oder jeder von euch alleine zusammen mit einem erwachsenen Wolf. Beide Arten zu jagen haben ihre Vorteile, und schließlich müsst ihr beide Arten einmal lernen.« »Ich werde alleine jagen«, sagte Unnan schnell. »Ich habe keine Angst, alleine zu jagen.« Ich zögerte. Ich hätte gerne alleine gejagt, fühlte mich jedoch immer noch ein wenig schuldig gegenüber Ázzuen und Marra, weil ich ohne sie zu den Menschen gegangen war. Ich sah die beiden an. Sie blickten stumm zurück und sprachen kein Wort. 124 »Nun, Welpen?«, fragte Ruuqo. »Worauf wartet ihr?« Ázzuen und Marra blickten immer noch erwartungsvoll auf mich. Ich wartete darauf, dass sie irgendetwas sagen würden. Marra legte ihren Kopf schief. Ázzuen zuckte mit einem Ohr. »Wir drei jagen zusammen«, sagte ich schließlich mit leiser Stimme. Marra legte sich auf ihre Vorderläufe nieder und wedelte mit dem Schwanz. Ázzuen bellte erfreut auf. Zum zweiten Mal blickte mich Ruuqo finster an, der Ausdruck
auf seinem Gesicht wechselte zwischen Zorn und Verwirrung hin und her. Bevor er noch etwas sagen konnte, sprach Trevegg. »Sie ist der Welpe, der bestimmt, was sie tun, Ruuqo, hast du das noch nicht bemerkt?« Trevegg schien sich über Ruuqos Unbehagen geradezu zu freuen. »Sie ist es, seit dem Pferdeaufruhr. Die anderen beiden folgen ihr.« Ruuqos Knurren lag so tief in seinem Rachen, dass ich es mehr in meinen Pfoten fühlte, als dass ich es hören konnte. »Also gut«, sagte er. »Ich nehme diese drei. Unnan, du gehst mit Trevegg.« Trevegg zog seine Augen bei Ruuqos Worten zu Schlitzen zusammen, doch er gehorchte und nahm Unnan mit sich inmitten der Elen. Ruuqo führte uns drei weiter nach vorne, so nahe heran, dass wir die Elen fast berühren konnten. Mein Herz schlug laut in meiner Brust. Endlich jagten wir. Durch den Wald von Elenkörpern sah ich, wie Yllin und Minn die Beute auf die Probe stellten. Minn griff eine ältere, dünne Elen an, doch sie wehrte sich erfolgreich. Minn fing Yllins Blick auf, und die zwei Jungwölfe rannten zusammen in die Mitte der Herde, so wie sie es bereits zuvor getan hatten. Doch dieses Mal war ihr 125 Verhalten anders. Vorher hatten sie sich nahezu spielerisch bewegt, jetzt aber wirkten sie entschlossen, und ihre Augen nahmen den Ausdruck eines Jägers an. Die Herde spürte die Veränderung sofort und bewegte sich unruhig. Ohne dass ich eine Vorwarnung erkennen konnte, rannten Yllin und Minn auf eine Gruppe Elen zu. Die Elen begannen zu laufen. Yllin und Minn jagten sie und versprengten sie dabei in die verschiedensten Pachtungen. Sie beachteten die schnellste Gruppe nicht weiter und folgten einer langsameren. Als diese Gruppe sich teilte, folgten sie wieder der langsameren von beiden Gruppen. Sie teilten sie immer und immer wieder auf, bis nur noch zwei Elen vor ihnen herliefen. Eine von ihnen brach nach rechts aus, und Yllin folgte ihr. Die andere lief von Minn gejagt nach links. Minn kam immer näher an seine Elen heran und aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie meine Rudelgefährten aus allen Richtungen zusammenliefen, um zu ihm zu stoßen. Rissa und Werrna waren die Ersten, die ihn erreichten, und dann überließ Yllin ihre Elen sich selbst, um dazuzukommen. Mit einem fröhlichen Juchzer stürzte Marra hinter der Elen her, und ihre Läufe schienen zu verschwimmen - so schnell schloss sie zu den älteren Wölfen auf. Im selben Augenblick sah ich Trevegg und Unnan angelaufen kommen, ein wenig langsamer schlossen sie sich der Jagd an. »Komm mit!«, rief ich Ázzuen zu und begann zu laufen, Ázzuen an meiner Seite. Plötzlich sprang Ruuqo vor mich. Verwirrt hielt ich inne und schaute zu ihm hinauf. »Wohin läufst du, Welpe?« »Zum Jagen«, antwortete ich und versuchte, meine Ungeduld zu zügeln und ihm den angemessenen Respekt zu erweisen. 125 »Nicht du«, sagte er. »Nicht heute.« »Warum nicht?«, fragte ich ihn. »Wagst du es, einem Leitwolf zu widersprechen? Ich will nicht, dass du heute jagst. Wenn du mir nicht gehorchen kannst, gehörst du nicht zum Rudel. Du wirst hier warten.«
Ruuqo lief davon, um zu den anderen zu gelangen. Bis er dort war, war der Elen schließlich doch die Flucht gelungen, was nichts Ungewöhnliches war. Zehn von elf Jagden bleiben erfolglos. Ich aber war wie versteinert. Das Rudel versuchte es noch mit drei weiteren Elen, bevor sie für diese Nacht aufgaben. Jedes Mal war ich die Einzige, die unbeteiligt sitzen bleiben musste. Endlich war das Rudel müde und kehrte zum Rand des Waldes zurück. »Warum machst du nicht bei der Jagd mit, Kaala?«, fragte mich Rissa. »Du musst dabei sein, wenn du ein Wolf sein willst.« Ich hatte Angst davor, was Ruuqo mit mir tun könnte, wenn ich ihr irgendetwas erzählte. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern seufzte tief und legte sich zur Ruhe nieder. »Wir bleiben auf der Weiten Ebene«, sagte sie schläfrig. »Die nächste Jagd wird besser.« Als die Sonne aufging, verzogen sich die anderen Wölfe meines Rudels in die weichen Salbeibüsche unter den Bäumen am Rand der Ebene und schliefen. Ázzuen und Marra versuchten beide, neben mir zu schlafen, doch ich jagte sie fort. Sobald ich mir sicher war, dass alle schliefen, schlich ich mich davon. Tlitoo wartete auf mich und flog über meinem Kopf, als ich mich auf den langen Weg zum Lager der Menschen machte. Die Menschen waren der Grund, warum ich anders war und warum Ruuqo mich nicht leiden konnte. Sie waren der Schlüssel zu dem Geheimnis um meine Her 126 kunft und die Antwort auf die Frage, ob ich wirklich Unglück bringen würde - und ob ich jemals ein Wolf des Rudels vom Schnellen Fluss werden durfte. Ich hatte genug vom Warten. 126
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Das Mädchen saß allein, wieder einmal stieß sie Pflanzen in ihrem runden Stein mit dem längeren Stein, der wie ein Ast geformt war. Ich hatte keine Ahnung, wie ich zu ihr gelangen sollte, aber ich würde nicht zu meinem Rudel zurückkehren, bevor ich es nicht geschafft hatte. Scham mischte sich in meinen Zorn, als ich mich daran erinnerte, dass jeder in meinem Rudel wusste, dass ich nicht gejagt hatte. Nach fast einer Stunde stand das Mädchen auf und ging hinüber zu einem der Stein-Lehm-Gebilde ihrer Sippe. Besonders dieses eine Gebilde hatte mich in seinen Bann gezogen, weil es nicht so sehr nach Mensch roch, wie die anderen es taten. Es roch wie ein Bau, gemacht aus Pflanzen und Wald. Es lag etwas am Rande des Lagers, ganz in der Nähe des Platzes, an dem ich wartete. Ich kam unter dem Busch hervorgekrochen, der mich versteckt hatte, und schlich so leise ich nur konnte auf meinem Bauch ganz bis an den Rand des Sammelplatzes heran. Ich er 126 innerte mich daran, was Rissa und Trevegg über das Augenlicht der Menschen gesagt hatten - dass sie bei Tageslicht recht gut sehen konnten -, also war ich vorsichtig. Ich konnte immer noch den Weg riechen, auf dem mein Rudel zwei
Monde zuvor in das Lager hineingegangen war, um Fleisch zu stehlen, und ich folgte ihm. »Was tust du, Wolf?«, fragte Tlitoo. »Ich gehe zu ihr«, sagte ich. »Sei still.« »Endlich!«, kreischte er. Ich verzog das Gesicht bei dem Krach. »Ich werde dir helfen. Sie sind es gewohnt, Raben in ihrem Zuhause zu finden.« »Nein«, rief ich besorgt. »Bleib hier.« Doch es war zu spät. Tlitoo landete mitten auf der Lichtung und schrie laut. Ich verzog das Gesicht. Die Menschen, die sich zuvor ihrer Arbeit gewidmet hatten, blickten jetzt hoch, sahen auf Tlitoo und auf den Wald, der ihr Zuhause umgab. Einer von ihnen warf mit einem Obstkern nach Tlitoo. Ein anderer warf einen verbrannten schwarzen Stein aus dem Feuer. Tlitoo duckte sich vor beidem und segelte hinunter, ergriff ein Stück des gebrannten Fleisches, das auf einem Felsen zum Trocknen lag. Die zwei, die Dinge nach ihm geworfen hatten, und ein anderer, der am Feuer gesessen hatte, verfolgten ihn, schmissen mit Steinen und Holzstücken und allem, was ihnen in die Hände kam. Die zwei übrigen Menschen, die noch am Feuer saßen, blickten ihnen nach. Tlitoo schrie fröhlich. »Schaut her, schaut her, schaut! Kein Wolf ist nahe.« 127 »Stein und Stock hilft nicht. Werft lieber vom guten Fleisch. Das trifft den Raben.« Ich schüttelte meinen Kopf. Ich wollte leise in das Lager der Menschen hineingelangen. Doch ich nutzte die Gelegenheit, während die Menschen zu beschäftigt mit Tlitoo waren, um über das offene Gelände zu laufen, und versteckte mich hinter einem kleinen Wetterschutz nahe dem nach Kräutern duftenden Bau. Das Mädchen war in dem Bau verschwunden, und ich hatte kostbare Zeit verloren, während Tlitoo für Aufruhr sorgte. Ich kroch näher heran. Um das zu können, musste ich über ein weiteres Stück offenes Gelände des Sammelplatzes der Menschen - es gab keine Bäume oder Büsche mehr, hinter denen ich mich hätte verstecken können. Ich atmete tief ein und trat hinaus ins Offene. Tlitoo hatte diesen Augenblick gewählt, um wieder kreischend hinabzustoßen und sich ein weiteres Stück Fleisch zu holen. Die Menschen erhoben sich laut rufend. Ich blieb stocksteif stehen und wünschte mir, ich sei unsichtbar. »Blöder vorlauter Vogel«, murmelte ich. Ich schoss hinüber zu dem nach Pflanzen duftenden Bau und versteckte mich dahinter. Er war aus Steinen gemacht, die bis auf die Höhe von zwei ausgewachsenen Wölfen gestapelt waren. Der obere Teil bestand aus Lehm, Flussschilf und langen hölzernen Stäben, die wiederum ein Dach aus trockenem Gras und mehr Lehm zu halten schienen. Ich konnte riechen, dass das Mädchen allein darin war. Ich musste das Risiko eingehen, dass ich von überall her gesehen werden konnte. In der Hoffnung, dass Tlitoo seinen Schnabel halten würde, duckte 127 ich mich auf den Boden und kroch langsam und vorsichtig herum bis zu der Öffnung zwischen den Steinen und dem Lehm, wo das Mädchen den Bau betreten hatte.
Vor der Öffnung hingen die Felle von mehreren Antilopen, sie wurden zusammengehalten auf irgendeine Art und Weise, die ich nicht verstand. Das Mädchen hatte die Häute zur Seite geschoben, als sie hineingegangen war. Ich steckte meinen Kopf unter die Häute, machte mich so klein, wie ich konnte, und kroch den letzten Rest des Weges hinein. Der Bau hatte eine große runde Form, ungefähr acht Wolfslängen breit und zehn Wolfslängen lang, und war gewölbt wie eine Höhle oder ein großer Bau unter der Wurzel eines Baumes. Die Lehmwände waren gesäumt von hölzernen Leisten, die mehrere runde Dinge hielten. Einige von diesen waren eigentlich Kürbisse, aber getrocknet und hart. Andere waren aus Stein gemacht und wieder andere sogar aus getrockneten Häuten. Es gab auch große gefaltete Stücke von weichem Rehleder. Jede Haut und jeder Kürbis und jeder Stein trug den unverwechselbaren Geruch einer anderen Pflanze aus dem Wald entweder den von Blättern oder den von Wurzeln -, und es gab jede Menge Gerüche, die ich nicht erkennen konnte. Ich hätte gerne mehr Zeit gehabt, um sie alle zuordnen zu können, doch der Geruch des Mädchens war der stärkste von allen. Das Mädchen gebrauchte ihre kleinen geschickten Hände, um Stückchen von etwas hervorzuholen, das wie Weidenrinde roch. Ihr Blick war aufmerksam auf die Bewegungen gerichtet. Ich hatte es zuvor nicht bemerkt, doch ihre Nase lag beinahe flach in ihrem Gesicht, ihr Mund verschwand fast vollkommen darin. Im Vergleich dazu waren ihre Augen riesig. Ihr Haar fiel glatt den Rücken hinab. Sie hörte mich nicht 128 hereinkommen. Ich blieb in der Nähe der Öffnung, sodass ich hinauslaufen konnte, wenn ich wollte, aber auch wieder nicht so nahe, dass man mich von draußen hätte sehen können. All meinen Mut zusammennehmend bellte ich leise. Das Mädchen wandte sich erschrocken um und ließ die gefaltete Rehhaut fallen, die sie in den Händen gehabt hatte. Stückchen von Weidenrinde fielen auf den Boden. Ich bemerkte, dass die Rinde sehr trocken war, als ob es mitten im Sommer sei, obwohl doch der Regen schon gekommen war. Das Mädchen schnappte nach Luft und torkelte zurück in den hinteren Teil des Baus. Sie hatte Angst. Ich war ein wenig verletzt, obwohl ich wusste, dass viele Jäger Menschen töten. Bären tun es und Säbelzahnkatzen, und ein Rudel Wölfe könnte es mit Leichtigkeit, wenn es ihm erlaubt wäre. Dennoch, das Mädchen schien mir ängstlicher, als sie hätte sein müssen. Ich wollte nicht, dass sie sich vor mir fürchtete. Ich hörte Flügelschlagen, und Tlitoo schob sich durch ein Loch in den Antilopenhäuten herein, stolzierte dann herüber, um sich neben mich zu stellen und legte seinen Kopf neugierig schief. Er ging zu den Füßen des Mädchens und begann in der heruntergefallenen Rinde zu picken. Er spuckte sie aus. »Das macht meine Zunge taub«, sagte er angeekelt. »Das ist nichts Gutes zum Fressen.« Er blickte das Mädchen vorwurfsvoll an. »Sssccchhh«, machte sie und stieß ihn mit dem Fuß beiseite, die Augen immer noch auf mich gerichtet. Tlitoo ging ein paar Schritte weiter und flog dann auf eines der Borde, steckte seinen Schnabel zwischen eine gefaltete Haut nach der anderen. »Hör auf damit«, sagte ich. »Du hilfst kein bisschen.«
129 »Ich habe Hunger«, gab er zurück und pickte weiter zwischen den Häuten herum. »Es gibt jede Pflanze des Waldes hier drin. Versuch, sie weiter abzulenken. Ich werde uns ein paar Körner finden.« Das Mädchen hob einen Büschel Weizen, der von einem Schilfblatt zusammengehalten wurde und fegte damit nach Tlitoo. »Verschwinde, Vogel!«, rief sie und stampfte mit dem Fuß auf. »Du darfst das nicht essen.« Tlitoo warf dem Mädchen und mir finstere Blicke zu und flog zu der Öffnung des Baus, von dort starrte er uns funkelnd an und machte gurrende Geräusche tief in seiner Kehle. Das Mädchen gab einen merkwürdigen bellenden Ton von sich. Sie reichte auf eines der hohen Borde hinauf, nahm das obere Teil eines Steinkürbisses ab und holte einige Hirsekörner hervor. Sie streute sie auf den Boden für Tlitoo, der fröhlich krächzte und sie rasch aufpickte. Das Mädchen sah wieder auf mich, gelassener als noch vor wenigen Augenblicken. Das Mal auf meiner Brust fühlte sich warm an, doch es war kein unangenehmes Gefühl. Tlitoo fuhr mit seinem Schnabel über die weiße Zeichnung auf seinem linken Flügel. Es war kühl in dem Stein-Lehm-Gebilde, so angenehm wie in jedem Bau. Ich konnte verstehen, warum die Menschen sie errichteten, warum es ihnen richtig erschien, an einem Ort zu bleiben, wenn sie solch feste Höhlen hatten. Es brachte aber auch Schwierigkeiten mit sich. Wenn die Pferde die Ebene verließen und die Elen ihre Paarung beendet hatten, würden wir dahin wandern, wohin die Beute zog. Ich fragte mich, was die Menschen tun würden. Ich stand so bewegungslos da, wie ich nur eben konnte. Das Mädchen hockte sich auf ihre Hinterläufe nieder, ehrer 129 bietig, wie jeder Wolf es getan hätte. Sie streckte mir ihre Hand hin. Für einen Augenblick blieben wir so, ungefähr zwei Wolfslängen voneinander entfernt. Als ich fühlte, dass sie sich nicht mehr fürchtete, kroch ich nicht mehr als zwei Pfotenbreit näher. Das Mädchen machte es genauso und blieb unten auf ihren Hinterläufen. Stück für Stück kamen wir einander näher, bis schließlich ihre sanfte Hand meine Schulter berühren und streicheln konnte. Ich merkte, dass ich die Luft angehalten hatte und atmete aus, blies mit meinem Atem ihr Haar durcheinander. Ich legte meine Schnauze in ihre Hand, sie lächelte und gab einen Ton von sich, der wie leichtes Bellen klang, fast so wie das Geräusch, dass sie vorher gemacht hatte, nur lauter. Lachen, erkannte ich erfreut. Ich hatte mich gefragt, was ich ihr sagen sollte. Ich wollte sie einladen, mit mir zu jagen, wollte sie irgendwohin fort von den anderen Menschen bringen. Doch plötzlich fand ich keine Worte mehr. Ich starrte sie nur noch an. Des Mädchens Augen waren dunkel und schienen das Licht an sich zu ziehen, ganz anders als die Augen eines Wolfs. Sie waren eher wie die der Raben, aber ohne das zweite Paar Lider. Sie blinzelte mich ein paarmal an. Tlitoo gab ein warnendes Krächzen von sich. Ich hörte Schritte und roch einen männlichen Menschen. Eine laute, raue Stimme erklang genau außerhalb des Baus. Dem Mädchen stockte der Atem, und sie sprang auf ihre Füße. Sie hob die gefaltete Rehhaut auf, sammelte rasch die verstreute
Rinde hinein und huschte aus dem Bau, bevor der männliche Mensch hereinkommen konnte. Mein Herz schlug laut in meiner Brust. Ich verkroch mich weit in den hinteren Teil des Baus und drängte mich gegen die Steine der unteren Mauer. Ich hörte ihre leichten Schritte und die 130 schwereren, wütend klingenden, als sich beide vom Unterschlupf entfernten. Noch eine ganze Weile versteckte ich mich in dem Bau, immer darauf lauschend, ob jemand sich näherte. Ich wäre gerne noch länger dort geblieben und hätte auf das Mädchen gewartet, doch ich wurde langsam hungrig, und ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ein anderer Mensch in den Bau kommen würde. Es war an der Zeit zu verschwinden. Ich streckte meine Nase hinaus. Tlitoo spazierte wagemutig vor mir nach draußen. »Hier ist keiner, der dich sehen könnte. Komm schon.« Ich kroch auf meinem Bauch hinaus aus dem Gebilde und rannte dann so schnell ich konnte in die Richtung des Waldes. Ich hörte einen Ruf und schoss zwischen zwei erstaunt aussehenden Menschen hindurch. Ich warf Tlitoo einen erbosten Blick zu, ich hätte es besser wissen müssen - ihm war nicht zu trauen, wenn es darum ging, ob etwas sicher war oder nicht -, und lief in den Wald hinein. Ich fühlte mich beschwingt, so wie ich mich vor der Jagd gefühlt hatte. Ich fühlte mich gewärmt, so wie ich mich fühlte, wenn ich neben Marra und Ázzuen lag. Ich hatte keine neuen Antworten für Ruuqo oder auf Borllas Verschwinden, und ich wusste immer noch keinen besseren Weg, um ein Mitglied des Rudels zu werden. Doch hätte ich Flügel gehabt, wäre ich mit Tlitoo über den Wipfeln der Bäume geschwebt. ♦
Das nächste Mal, als wir auf die Jagd gingen, zeigte Ruuqo noch deutlicher, dass er mich niemals mit ihnen jagen lassen würde. Ich war diejenige, die die beste Beute fand, diejenige, 130 die das Rudel in dieser Nacht ernährte. Aber er gestattete mir immer noch nicht, mit ihnen zu jagen. Dieses Mal führte uns Rissa alle einzeln hinaus, einen nach dem anderen, damit wir alleine zwischen der Beute zu liegen kamen. Jeder von uns vier war an einem anderen Platz, jeder allein zwischen den Elen. »Jeder von euch sucht sich eine Beute aus und verfolgt sie. Das ist eure Aufgabe«, befahl sie uns. »Jagt nicht die erste Elen, die in euren Schatten tritt. Wählt sorgfältig und findet eine, die wirkliche Beute ist. Wenn ihr gut gewählt habt, wird das übrige Rudel euch zu Hilfe kommen und mit euch jagen.« Ruuqo war mindestens zwanzig Wolfslängen von mir entfernt. Wir wurden von vielen Elen voneinander getrennt, und er redete mit Unnan. Ich hoffte, dass er mich vielleicht vergessen würde. Die anderen Erwachsenen ließen sich mitten in der Herde nieder. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich konnte sie in der Nähe riechen. Ihr Duft war beruhigend, und er gab mir Sicherheit. Ich wusste, dass ich gute Beute auswählen konnte. Ich begann die verschiedenen Gerüche jedes einzelnen Elen auszumachen. Alle in meiner Nähe rochen gesund und kräftig. Ich stand auf und wanderte durch die
Herde. Ich erblickte Ázzuen nicht weit entfernt von mir, der dasselbe tat. Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die Elen. Ich konnte riechen, dass einige der kräftigen ein bisschen weniger kräftig waren als andere. Wieder andere waren einfach müde. Ich spürte, dass eine schwächere Elen in der nächsten Gruppe sein konnte und machte mich auf den Weg dorthin, so gelassen wie möglich, um sie nicht zu verschrecken. Das war der Grund gewesen, weswegen sich Yllin und Minn so lo 131 cker bewegt hatten, als sie das letzte Mal die Herde ausspürten. Wir wollten nicht, dass die Elen sich aufregten. Auf einmal wurde es rechts von mir unruhig, und eine Gruppe von Elen begann zu laufen. Unnan hatte ein vollkommen gesundes Tier verfolgt. Die Elen und ihre Gefährten wichen ihm ohne Schwierigkeiten aus. Ich seufzte verzweifelt. Er hatte keinerlei Grund gehabt, ausgerechnet diese Gruppe zu verfolgen, und hatte die Elen damit nur wachsamer gemacht. Doch Ruuqo leckte ihn anerkennend, und Unnan hob die Rute und Ohren. »Schleimschwanz«, urteilte Tlitoo und landete genau vor mir. Er hatte ein Stück Feuerfleisch von den Menschen in seinem Schnabel. Sobald er sah, dass ich ihn beobachtete, warf er es in die Luft, fing es auf und verschluckte es mit einem Mal. »Geh weg«, sagte ich. »Du erschreckst die Elen.« »Ich warte auf dich am Fluss«, antwortete er und erhob sich in die Luft. Es sah so aus, als hätten die Elen nur für einen kurzen Moment zu rennen aufgehört, bevor Unnan wieder dieselbe Gruppe verfolgte. Ruuqo fing Rissas missbilligenden Blick auf und sprach dann leise mit Unnan, der seine Ohren ein wenig anlegte und sich ins Gras duckte. Diesmal blieb er liegen. Die Nacht wurde dunkler. Ein halber Mond erleuchtete matt die Ebene und schien die Elen mit seinem Licht zum Glänzen zu bringen. Ihre Körperwärme ließ sie ohnehin schon erglühen. Ich war nicht müde. Ich fühlte, wie die Verzückung der Jagd mich ergriff. Ich konnte die ganze Nacht hier verbringen, wenn es sein musste. Nach ungefähr einer Stunde hörte ich ein Scharren im Staub und die Schläge von rennenden Elenhufen. Ázzuen hatte die Elen aufgescheucht, 131 und er hatte eine Elen ausgewählt, die ein wenig humpelte, wenn sie rannte. Ruuqo schien zu beschäftigt mit der Jagd zu sein, als dass er bemerkt hätte, dass ich in der Nähe war. Die Elen rannte, und man konnte erkennen, dass es sie schmerzte, rennen zu müssen. Trevegg und Marra waren in der Nähe, und sie und Ruuqo waren die Ersten, die aufschlossen. Die Übrigen von uns rannten los, um zu ihnen zu kommen. Es sah so aus, als könne die Jagd tatsächlich gelingen. Doch die Elen wendete hart und trat aus, verfehlte Treveggs Kopf nur um Haaresbreite. Sie rannte in eine weitere Gruppe von Weibchen hinein. Wir folgten ihr in der Absicht, sie wieder von den anderen zu trennen. In dem Moment hörten wir ein lautes Röhren, und ein großer Elenbulle trat aus der Gruppe heraus. Er röhrte noch einmal laut und senkte seinen Kopf herausfordernd. Trevegg, Ruuqo und Marra, die ihm am nächsten waren, blieben unvermittelt stehen. Trevegg stellte sich beschützend vor Marra, als der Elenbulle
sich ihnen näherte. Der Elen senkte seinen Kopf mit dem enormen Geweih und blickte uns mit halb geschlossenen Augen an. »Das ist Ranor«, flüsterte Yllin außer Atem, während sie neben mir zum Stehen kam. Sie war weit entfernt auf der anderen Seite der Ebene gewesen, als Ázzuens Elen losgelaufen war, und hatte den ganzen Weg herüberspurten müssen. »Er ist der stärkste Elen im ganzen Tal. Er und Ruuqo hassen einander.« »Aber er ist Beute!«, sagte ich. »Ich weiß, dass die Elen kämpfen, wenn man sie in die Enge treibt, doch warum sollte er die Gefahr eingehen, einen Wolf herauszufordern?« »Er ist ein starker Elen während der Paarungszeit. Er würde nichts lieber tun, als seine Stärke unter Beweis zu stel132 Jen, indem er einen Wolf tötet. Aus diesem Grund muss man vorsichtig sein, wenn man seine Beute wählt.« »Warum zieht sich Ruuqo dann nicht zurück?« Man hatte uns befohlen, jedem Elen, das gefährlich aussah, aus dem Weg zu gehen. »Aus denselben Gründen, aus denen Ranor ihn herausfordert«, antwortete sie kurz angebunden. »Manchmal sucht sich ein Wolf die stärkste Beute, die er finden kann. Es ist eine Möglichkeit, allen anderen zu zeigen, wie stark man ist.« Das war verwirrend. Es war genau das Gegenteil von dem, was man uns beigebracht hatte. Jedes Mal, wenn ich glaubte, etwas von dem verstanden zu haben, was ich wissen musste, um zum Wolf zu werden, gab es irgendetwas, was das Gegenteil zu lehren schien. »Es ist eine Seite der Jagd, die sie euch nicht beibringen wollen, bevor ihr älter seid«, sagte Yllin und beobachtete die Gegner gespannt. »Aber es ist wichtig. Sie müssen einander beweisen, wie mächtig sie sind. Ranor hat schon früher Wölfe tödlich verletzt. Es gefällt ihm zu töten.« Der Elen, Ranor, begann zu sprechen. Ich bemerkte, dass ich ihn verstehen konnte, genauso wie ich die weibliche Elen verstanden hatte, die mich angegangen war. Offensichtlich sprachen auch die Elen in einer Sprache, der wir folgen konnten. Du siehst mager aus, Wolf, sagte er zu Ruuqo. Möchtest du versuchen, mich zu fangen? »Ich werde die Ballen meiner Pfoten nicht ablaufen, damit du dich vor deinen Weibchen beweisen kannst, Ranor«, meinte Ruuqo einlenkend. »Ich muss mich nicht so dringend beweisen.« Doch Ruuqos Nackenfell war gesträubt und sein Körper angespannt. 132 »Wölfe können sich Angeberei nicht leisten«, fügte Rissa hinzu und stellte sich neben ihren Gefährten. »Im Gegensatz zu dir tragen wir die Verantwortung für unser Rudel nicht leichtfertig. Wir werden eine deiner Gefährtinnen bekommen, bevor die Nacht um ist.« Ranor beachtete sie nicht weiter und blickte nur auf Ruuqo. Ein anderer Elen, fast ebenso groß, stolzierte herbei und stellte sich neben Ranor. »Yonor«, flüsterte Yllin, »Ranors Bruder.« Torell und die Wölfe vom Felsgipfel werden uns herausfordern, sagte der neu hinzugekommene Elen. Sie sind nicht so furchtsam wie du, kleiner Wolf. Das sind Wölfe, keine ängstlichen Karnickel.
Ruuqos Fell sträubte sich. Ich sah, wie Werrna ihn aufmerksam beobachtete. Yllins Atem neben mir wurde flach und schnell. Ruuqo macht vier Schritte auf Ranor zu. Der Elen trat ebenfalls vor und hielt dann an, als Ruuqo nicht fortlief. Ruuqo senkte seinen Kopf. Ranor senkte den seinen. Einige Augenblicke lang blieben beide so stehen. Ein anderes Mal dann, kleiner Wolf, sagte Ranor. Und ging zurück zwischen seine Weibchen. Yonor folgte ihm. Ruuqo schüttelte sich und blickte auf sein Rudel. Als er mich erkannte, zogen sich seine Augen vor Missfallen zusammen. »Jagt weiter«, befahl er. Ruuqo ging langsam von Ranor und seinen Weibchen fort und führte uns zu einer anderen Gruppe von Elen, ungefähr fünf Minuten entfernt. Wieder verteilten wir uns zwischen den Elen. Dieses Mal war Ruuqo näher bei mir, wieder einmal half er Unnan. Ich wanderte zwischen den Elen umher, fand aber keine, die sich als Beute anbot. Schließlich, als es schon dämmerte, roch ich 133
eine Elen, die irgendwie anders war. Ich konnte nicht genau sagen, was es war, das sie anders machte. Ich näherte mich ihr, um herauszufinden, was mit dieser Elen nicht stimmte. Sie sah ziemlich gesund aus. Dann erinnerte ich mich daran, was Rissa erzählt hatte, nämlich, dass manchmal die Gelenke einer Beute krank riechen. Das war es. Es lag etwas in den Bewegungen der Elen, das sie steif erscheinen ließ. Dies, gemeinsam mit ihrem ungesunden Geruch, ließ sie zur Beute werden. Ich verfolgte die schwache Elen und bewegte mich ganz langsam dabei, bis ich kurz hinter ihr stand. Mein Herz schlug so laut, als säße es unmittelbar unter meinen Ohren. Ich schloss meine Augen für einen winzigen Moment und sah mich hinaufspringen, die Seite der Elen ergreifen, ihren Hals packen, sie hinunterziehen. Meine Muskeln spannten sich an, und ich lief los, legte plötzlich eine Geschwindigkeit vor, die mich selbst überraschte. Die Elen stolperte und begann von mir fortzulaufen. Sie hatte Angst, ich konnte es riechen. Sie wusste, dass ich ein Jäger war, wusste, dass ich Wolf war. Meine Muskeln bewegten sich so gleichmäßig wie der Fluss und so kraftvoll wie der Donner. Ich fühlte mich, als hätte ich ihr saftiges Fleisch bereits im Maul. »Beute!«, rief ich meinen Rudelgefährten zu. »Da läuft Beute!« Tief in meinem Herzen hörte ich ein Heulen. Aus den Augenwinkeln konnte ich die Umrisse meiner Rudelgefährten erkennen. Sie hatten meine Wahl anerkannt und jagten meine Beute. Ich war eine Jägerin. Ich lief schneller, und als es so aussah, als ob ich in Reichweite war, sprang ich. Plötzlich fiel etwas, das sich anfühlte wie ein Baumstamm, auf mich und warf mich mit Macht zu Boden. Ich blickte in Ruuqos Gesicht. Ich war kräftig genug, um auf die Pfoten zu 133 kommen, aber er warf mich schnell wieder zurück auf die Erde. Mein Rücken lag auf dem harten Grund, und ein scharfer Stein bohrte sich schmerzhaft in meine Hüfte. »Ich dachte, ich hätte dir verboten zu jagen.« »Aber Rissa hat uns allen befohlen zu gehen«, begann ich. »Ich habe gute Beute gefunden.«
»Widersprich mir nicht.« Ruuqo stand unbeweglich über mir. »Du kannst warten und zuschauen.« Ich wartete. Ich schaute zu, wie meine Rudelgefährten meine Elen zu Fall brachten. Meine erste Beute. Unnan wurde dafür gelobt, sie ausgesucht zu haben, und Ruuqo erzählte niemandem, dass sie eigentlich meine Beute gewesen war. Ich versuchte gar nicht erst zu fressen. Ich wollte nicht einmal wissen, ob Ruuqo es wagen würde, mich beiseitezustoßen. Ich war zu wütend und zu gekränkt, um mich darum zu kümmern, ob irgendjemand mein Weggehen beobachten würde. Mit hängender Rute floh ich. 134
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Ich ging langsamer, als ich Trevegg meinen Namen rufen hörte. Ich wollte nicht wirklich mit ihm reden, doch er war ein Grauwolf und immer gut zu mir gewesen. Ich schuldete ihm meinen Respekt. Ich war überrascht, ihn schwer atmen zu hören, als er mich schließlich eingeholt hatte. Vorher, während wir die Elen gejagt hatten, war es ihm gutgegangen, und ich hatte auch noch nicht weit laufen können, bevor ich seinen Ruf hörte. »Ihr Jungwölfe lauft zu schnell«, beschwerte er sich gutmütig. Ein Hauch von Traurigkeit überkam mich, als ich sein weißes Gesicht und seine angegriffenen Zähne sah. Wenn er nicht mehr länger mit dem Rudel laufen konnte, wüsste ich nicht, was ich tun sollte. »Ich musste fort von da«, erklärte ich. »Ich konnte nicht bleiben, während sie meine Elen fressen.« »Ich weiß«, sagte er sanft. »Deshalb bin ich dir gefolgt. Es 134 kann gut sein, dass Ruuqo es dir niemals gestatten wird, mit den anderen zu jagen, und du musst dich darauf vorbereiten, falls es tatsächlich so kommt.« »Warum?« Mein Zorn verschwand, und Hoffnungslosigkeit trat an seine Stelle. »Glaubt er, dass Borllas Verschwinden meine Schuld ist? Glaubt er, dass ich Unglück bringe?« Ich wollte Yllin nicht verraten, aber ich musste es wissen. »Er ist sich nicht sicher«, antwortete Trevegg und sah überrascht aus. Ich war ihm dankbar, dass er nicht weiter nachfragte, woher ich das mit dem Unglückbringen wusste. »Aber er will auch kein Risiko eingehen.« »Ich erwarte nicht von ihm, dass er mich nach dem Winter im Rudel bleiben lässt, aber warum lässt er mich nicht jagen ? Warum gibt er mir keine Gelegenheit, Wolf zu werden?« »Wenn du erfolgreich jagst und den Winter überlebst, wird er nicht anders können, als dir das Romma zu geben. Wenn er das tut und du bringst dann Unglück, trägst du den Geruch des Rudels vom Schnellen Fluss überall dorthin, wohin du dein Unglück bringst. Es wird auf ihn und das Rudel zurückfällen. Er würde dich lieber ohne das Zeichen vom Schnellen Fluss ziehen lassen.« Er seufzte. »Und mehr noch als das, du bist kräftig geworden. Du bist der stärkste Welpe im Rudel, und Ázzuen und Marra folgen dir. Die anderen könnten von Ruuqo verlangen, dass er dich nach
den Winterwanderungen im Rudel bleiben lässt, und das will er auf keinen Fall. Es wäre besser für dich, nicht so viel Stärke zu besitzen.« Er berührte mit der Nase meine Wange. »Ich muss zum Rudel zurück. Du tust gut daran, für eine Weile fort zu sein. Wenn ich mich nicht sehr irre, solltest du darüber nachdenken, wie du dein Leben leben wirst.« 135 »Ich danke dir«, sagte ich. Ich wartete noch, bis ich hören konnte, dass Trevegg auf seinem Weg zurück auf die Ebene war, dann setzte ich meinen Weg zu den Menschen fort. Am Beobachtungsfelsen nahe dem Fluss hielt ich an. Er roch nach einem Rotwolf, der vor mir dort gewesen war. Ich sprang auf den Felsen und überdeckte den Geruch des Rotwolfs mit meinem eigenen. Ich blieb dort eine Weile sitzen und dachte über Treveggs Worte nach. Wie konnte ich Wolf werden ohne Ruuqos Zustimmung? Ich sog die Luft tief in meine Lungen ein, atmete den Duft der Birken und Schlehenbüsche. Ich schloss meine Augen halb und hörte einer Eidechse zu, die über den Felsen huschte, hörte die Spatzen hinter mir zanken, den Wind in den Bäumen. Dann fing ich einen vertrauten Duft auf und hörte ein Rascheln aus der Richtung kommen, in der die Weite Ebene lag. Zorn stieg in mir auf. Ázzuen folgte mir. Ich stand hoch auf dem Felsen, wartete auf ihn und blickte hinunter auf die Büsche, aus denen er hervorkommen musste. Ich hörte, dass er schnell lief, und dann hörte ich, wie sich seine Schritte verlangsamten, als er sich näherte. Ich hörte sein Zögern, als er bemerkte, dass ich angehalten hatte, und ich hörte, wie er sich dann wieder schneller bewegte. Ich blieb auf meinem Felsen stehen, als sich die niederen Büsche schließlich teilten, Ázzuens Kopf sich zeigte und dann auch sein restlicher Körper hervorkam. Er sprach, bevor ich ihn anschnauzen konnte. »Ich komme mit dir.« »Ich gehe nirgendwo hin«, gab ich zurück. »Du gehst zu den Menschen«, antwortete er, »und ich komme mit dir.« Ich wurde wütend. Der Schmerz und der Zorn darüber, dass Ruuqo mich nicht hatte jagen lassen, stiegen in mir auf, 135 und ich knurrte Ázzuen an. Es war einfach nicht gerecht, dass das Einzige, was er zu tun hatte, um zum Rudel zu gehören, einfach nur Mitlaufen war. »Warum gehst du nicht zurück und frisst von der Elen«, schnauzte ich ihn an. »Du kannst etwas mehr Gewicht gut gebrauchen.« Ich rechnete damit, dass er sich kleinmachen und die Ohren anlegen, dass er sich gekränkt fühlen würde. Ein Teil von mir schämte sich deswegen. Ázzuen vertraute mir und folgte mir, und es war leicht für mich, seine Gefühle zu verletzen. Aber ich musste ihn dazu bringen zu gehen. Es überraschte mich, dass er, anstatt sich bei meinen Worten niederzukauern, sich nur hinsetzte und mich anblickte. »Die Menschen gehören mir, Ázzuen.« Ich konnte hören, wie Ärger und Enttäuschung meine Stimme lauter werden ließen. »Du hättest das Mädchen ertrinken lassen. Kannst du nicht irgendetwas finden, was du alleine tun kannst? Lass mich in Ruhe!«
Ázzuen sprang auf meinen Felsen. Er forderte mich nicht heraus, aber er gab auch nicht nach. Es lag eine Ruhe und Entschlossenheit in ihm, die ich nie zuvor gesehen hatte. »Ich gehe mit dir, Kaala, oder du wirst nicht gehen. Ein einziger heulender Ruf von mir, und Ruuqo ist da, um dich aufzuhalten. Ich habe gesehen, was Ruuqo getan hat, und es war nicht gerecht. Ich will dir helfen. Ich werde dich nicht alleine gehen lassen.« Ich war zu erschrocken, um sofort etwas sagen zu können. Dann fühlte ich die Hitze des Zorns in mir aufsteigen, in mir brennen - alles andere auslöschen. Ich sprang auf Ázzuen, stieß ihn vom Felsen und versuchte, ihn zu Boden zu werfen. Er rollte sich nicht auf den Rücken und ergab sich nicht, wie 136 ich es erwartet hatte. Stattdessen knurrte er laut und warf mich zu Boden. Für einen Augenblick hielt er mich dort fest, stand auf meiner Brust und blickte auf mich herunter. »Du bist dumm und eigensinnig«, sagte er. »Man kann sich helfen lassen, weißt du das?« Wütend warf ich mich hin und her und biss nach Ázzuens Gesicht, krümmte mich, um ihn abzuwerfen. Ich stieß ihn so heftig, dass er auf den Beobachtungsfelsen traf und von ihm abprallte. Sofort sprang er auf seine Pfoten. Wir standen einander gegenüber, eine Wolfslänge voneinander entfernt, und knurrten uns gegenseitig an, das Fell gesträubt, die Lefzen zurückgezogen. Ich war erschrocken. Ich sah Ázzuen an, sah ihn zum ersten Mal wirklich an. Er war nicht länger ein schwächlicher Welpe. Er war beinahe so groß wie ich, und seine Brust hatte begonnen so breit zu werden wie die eines erwachsenen Wolfes. Er war kräftig gewachsen und hatte Selbstvertrauen gewonnen, während ich mich zu den Menschen geschlichen hatte. Schuldbewusstsein ließ mich meine Ohren anlegen. Ich sah Ázzuen immer noch als den kleinen räudigen Welpen, der er vor vielen Monden gewesen war. Doch der war er nicht mehr. Er war ein kräftiger und selbstsicherer junger Wolf. Und er war mein Freund. Ich hatte keine wirklichen Machtkämpfe mehr geführt seit meinen Kämpfen mit Unnan und Borlla, als wir noch Winzjunge gewesen waren. Jetzt würde es anders sein. Welpenkämpfe sind nicht wirklich ernst, und ihre Ergebnisse sind nicht von langer Dauer. Dies gilt jedoch nicht mehr für die Kämpfe, wenn du einmal älter als sechs Monde bist. Ich wollte meinen ersten wirklichen Kampf um Vorherrschaft nicht mit Ázzuen ausfechten. Offensichtlich fühlte er genau dasselbe. Als er zu sprechen begann, war seine Stimme sanft. 136
»Ich will nicht mit dir kämpfen, Kaala. Aber ich werde dich nicht alleine gehen lassen. Außerdem«, und jetzt grinste er, während sich das Fell auf seinem Rücken zu legen begann, »warum sollen sie dir alle alleine gehören?« Erleichterung legte sich weich mit meinem eigenen Fell über meinen Rücken. Ich war noch nicht so weit, als dass ich Ázzuen hätte verlieren können. Der Tag an dem wir um unsere Stellung im Rudel kämpfen mussten, würde schneller kommen, als ich mir vorstellen konnte. Danach würde nichts mehr so sein wie früher. Ich hatte immer angenommen, ich würde Ázzuen überlegen bleiben. In meinen Tagträumen war ich sogar Leitwolf gewesen und hatte ihm großzügig die Stellung
als mein nachrangiger Wolf überlassen. Ich hätte ihn gegen die Angriffe stärkerer Wölfe verteidigen müssen, so wie es Leitwölfe immer schon getan haben. Ein Leitwolf konnte sich einen schlauen Zweitwolf wählen, selbst wenn dieser Wolf nicht sehr stark war. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass Ázzuen selbst ein Kämpfer sein könnte. Als ich in seine hellen Augen blickte, auf sein glattes Fell und seine starken Schultern, wurde mir peinlich bewusst, wie sehr ich in ihm immer das ewige Winzjunge gesehen hatte. Ich hatte ihn wie einen Ringelschwanz behandelt, und das war einfach nicht richtig. Ázzuen betrachtete mich erwartungsvoll. »Wenn du mithalten kannst«, sagte ich, »kannst du kommen.« Mit einem lauten Juchzer nahm Ázzuen die Herausforderung an. Wir begannen, um die Wette zu rennen, liefen so schnell wir konnten auf den Fluss zu. Als wir ihn erreicht hatten, sprangen wir, ohne anzuhalten, hinein und schwammen rasch hinüber. Ich kam nur um eine Nasenlänge vor Ázzuen 137 am anderen Ufer an. Wir hielten, um das Wasser aus unserem Fell zu schütteln. Ázzuen blickte mich gutmütig an. Da gab ich ihm einen sanften Stups mit der Schulter und leckte ihm über die Seite seines Gesichts, wie ich es Rissa mit Ruuqo hatte tun sehen. Verdutzt blieb er stehen. Ich überließ ihn seiner Verwirrung und machte mich auf in Richtung der Menschen. Nach einer kleinen Weile folgte er. Tlitoo, der uns von den Bäumen aus beobachtet haben musste, flog über uns. »Es ist noch keine Paarungszeit, Wölflein«, rief er. Ich verzog das Gesicht, aber Ázzuen grinste ihn an. Tlitoo legte seinen Kopf schief und schaute mich an. »Wenn du damit fertig bist, Dinge ändern zu wollen, die nicht geändert werden können, dann lass uns die Dinge tun, die wir tun müssen.« Ich hätte ihm gerne eine saftige Antwort gegeben, aber Ázzuen beschleunigte seinen Schritt und forderte mich heraus. Meine Erschöpfung und mein Zorn verflogen, und ich warf mich in einen rasenden Lauf und rannte mit Ázzuen um die Wette zum Lager der Menschen. Dieses Mal fand ich das Mädchen sofort. Während meines letzten Besuches hatte ich herausgefunden, dass die Menschen verschiedene Bereiche ihres Sammelplatzes für unterschiedliche Aufgaben einrichteten. Es gab einen Platz, an dem sie Essen zubereiteten, einen Platz, an dem sie Felle bearbeiteten, einen Platz, an dem sie ihre spitzen Stecken machten. Das Mädchen war oft an einem Platz, wo Dinge mit Pflanzen geschahen. Ich fand sie dort. Dieses Mal saß sie allein. In ihrem Schoß lag eine Menge Schilfrohr, das sie geschickt mit ihren flinken Fingern zusammenbog. Ázzuens Nase zuckte, während er all die Gerüche im Lager der Men 137 schen in sich aufnahm, und seine Ohren waren so weit nach vorne gerichtet, dass es schien, als würden sie gleich von seinem Kopf segeln. Tlitoo sah aus, als ob er überlegte, an einem von ihnen zu ziehen. Ich starrte ihn böse an, und er blinzelte mir mit Unschuldsmiene zu. Anfangs hoffte ich, dass es Ázzuen langweilig werden würde und er schnell verschwände, doch er war genauso fasziniert von den Menschen, wie ich es war. Mit einem Mal war ich froh, dass er mit mir hier war. Froh, jemanden anderen als
Tlitoo zu haben, mit dem ich diese Erfahrung teilen konnte. Ich drehte mich um und schnüffelte an Ázzuens Wange. Er blickte mich erstaunt an, bevor er die Liebkosung erwiderte. Tlitoo gurgelte ein Lachen. Ich beachtete ihn nicht. Mein Herz war voller Wärme, während ich das Mädchen beobachtete. »Bleib hier«, befahl ich Ázzuen. »Du auch«, sagte ich zu Tlitoo, als der seine Flügel spreizte, um mir zu folgen. Er krächzte leise, aber er blieb, wo er war. Ich tapste zum Rand des Lagers, in die Nähe der Stelle, an der das Mädchen saß. Ich winselte leise, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Es war laut um uns herum, und ihre Ohren waren nicht so gut wie die eines Wolfs, aber sie hörte mich. Sie blickte auf von ihrem Schilf und sah mich. Sie legte ihre Arbeit beiseite, wischte mit ihren Händen über die Haut, die sie um ihre Mitte trug, und kam zu mir. Ich konnte es nicht glauben. Als sie den Rand ihres Zuhauses erreicht hatte, blickte sie kurz über die Schulter und trat dann zwischen die Bäume. »Hallo, Wolf«, sagte sie leise, »du bist zurückgekommen.« Ich begann zu springen, so wie ich eine Rudelgefährtin begrüßt hätte, doch sie wich zurück, hatte wieder Angst vor mir. 138
Dann näherte sie sich wieder vorsichtig, zögernd und wachsam, wie ein Wolf sich einem anderen unbekannten Wolf nähern würde. Ihre Nasenflügel waren geweitet, und sie hielt ihre Arme um den Körper geschlungen. Ich sah sie an. Ich hatte verstanden, was sie gesagt hatte, vielleicht konnte sie mich auch verstehen. »Möchtest du mit mir jagen gehen?«, fragte ich. Ich war mir nicht sicher, ob ich irgendetwas anderes als kleine Beute erjagen konnte, aber vielleicht würde ihr das nichts ausmachen. Sie verzog ihr Gesicht und hielt ihre Hand gegen den Kopf, als würde er sie schmerzen. Ich versuchte es noch einmal. »Es gibt einen guten Mäuseplatz auf der anderen Seite des Flusses. Möchtest du mitkommen?« Dann erinnerte ich mich daran, dass sie vielleicht Angst vor einer Überquerung des Flusses haben könnte, nachdem sie fast darin ertrunken war. »Oder irgendwo anders hin, wenn du möchtest.« Sie starrte mich einen Augenblick lang an, streckte dann ihre Hand aus und berührte damit sanft meine Schulter. »Was willst du, Wolf?«, fragte sie. Sie konnte mich nicht verstehen. Ich wusste nicht wieso, da ich doch überhaupt keine Schwierigkeiten hatte, ihre Sprache zu verstehen. Jede Art von Lebewesen hat ihre eigene Sprache. Doch die meisten Sprachen sind sich ähnlich genug, dass wir, wenn wir unsere Sinne entsprechend öffnen, uns mit nahezu jedem Geschöpf verständigen können. Am leichtesten fällt es uns, mit jenen zu sprechen, die uns auf irgendeine Weise nahe sind. Wölfe und Raben jagen gemeinsam, also können wir uns mit ihnen mühelos verständigen. Und wir sprechen mit den meisten Jägern ohne Schwierigkeiten, obwohl manche sich so schwerfällig ausdrücken, dass sie bei 138
nahe nicht zu verstehen sind. Wenn wir mit Beute oder Gegnern reden, sprechen wir wie Wölfe sprechen, und sie sprechen ihre eigene Sprache, die wir so gut verstehen, wie wir sie verstehen müssen. Also warum konnte das Mädchen mich nicht verstehen ? Ich winselte vor Enttäuschung.
»Bist du hungrig?«, fragte sie. Sie griff in einen Beutel, der an einem Stück Haut um ihre Hüften geschlungen war, und zog ein Stück Fleisch heraus. Sie gab es mir, und ich schluckte es in einem Bissen hinunter. Es war gegartes Fleisch. Ganz anders als das Fleisch, das Yllin gestohlen hatte. Es war trocken und zäh, wie das Fleisch, mit dem ich Tlitoo gesehen hatte. Altes Fleisch, aber ohne den süßen Verwesungsgeschmack, den Fleisch bekommt, wenn es einige Tage an einem Kadaver gewesen ist. Einmal hatte ich einen toten Frosch gefressen, der einige Tage in der Sonne gelegen hatte, bevor irgendjemand ihn fand. Er hatte ähnlich geschmeckt. Aber dieses Fleisch schmeckte auch nach Feuer. Es war das Beste, was ich je gefressen hatte. Die Büsche neben mir winselten unwillig. Ich starrte auf den Fleck, an dem Ázzuen kauerte - ich erkannte, dass er mir von unserem Aussichtsplatz gefolgt sein musste -, und wandte mich wieder dem Mädchen zu. Das Wasser lief mir immer noch im Mund zusammen von dem Geschmack des Feuerfleischs. Ich wollte mehr. Ich wollte meine Nase in ihren Beutel stecken und den Rest hervorholen, aber ich erinnerte mich daran, dass sie dies vielleicht gierig finden würde. Ich hatte mich immer noch nicht verständlich machen können, aber sie schien weniger Angst vor mir zu haben. Ich wurde wagemutig, nahm ihr Handgelenk vorsichtig in meine Schnauze und zog sanft daran, immer mit einem fragenden Blick auf sie gerichtet. Ihre Augen weiteten sich, als 139
meine Zähne ihre Haut berührten, aber dann erlaubte sie mir, sie weiter in den Wald zu führen. »Warte«, sagte sie. Sie lief zurück in das Lager der Menschen und kam mit einem flachen Stück gefalteter Rehhaut über ihrer Schulter zurück und, zu meiner Überraschung, mit einem von den spitzen Stecken, wie die Menschen sie tragen. Aus der Nähe konnte ich erkennen, dass nicht der Stecken selbst so scharf war, sondern ein dunkler Stein, der an seinem Ende befestigt war. Er leuchtete im Sonnenschein und sah so scharf wie der Zahn eines Wolfes aus. Sie hielt den Stecken mit einer Selbstverständlichkeit, als sei sie lange daran gewöhnt. Dieses Mal, als wir weiter zwischen die Bäume hineingingen, folgte mir das Mädchen und legte seine warme Hand auf meinen Rücken. Sobald wir einige Wolfslängen entfernt vom Sammelplatz der Menschen waren, zeigte sich Ázzuen vorsichtig. Die Hand des Mädchens griff fester in mein Fell, und ich konnte hören, dass es mehrere Male hintereinander schnell schlucken musste. Ich entfernte mich ein wenig von ihr und begrüßte Ázzuen, sodass sie erkennen konnte, dass er ein Freund war. »Denk dran, dass sie Angst vor uns hat«, erinnerte ich ihn. »Geh noch nicht zu nahe an sie heran.« Ázzuen senkte seinen Kopf, die Augen immer auf das Mädchen gerichtet. Tlitoo landete zu unseren Füßen. »Ich erinnere mich an dich«, sagte sie zu dem Vogel. »Du bist der Rabenfreund des Wolfs.« Tlitoo glättete seine Federn. Das Mädchen entspannte sich ein wenig und blickte dann wieder auf Ázzuen.
»Wir könnten sie mit zum Mäuseplatz nehmen«, sagte er. 140 Ich war froh, dass er selbst den Vorschlag machte. Er hatte die Stelle gefunden, und wir teilen gute Jagdgründe nicht einfach mit jedem. Ich war dankbar, dass er das Angebot gemacht hatte, ohne dass ich ihn fragen musste. Ich dachte darüber nach. Wenn sie Angst hatte, den Fluss zu überqueren, konnte ich ihr helfen. Ich nickte und führte uns auf den Weg. Ich brachte sie zu einem breiten, aber langsam fließenden Abschnitt des Flusses. Ich hätte sie auch zum Überquerungsbaum geführt, aber ich dachte bei mir, dass der Weg vielleicht zu weit für sie werden würde. »Warte, Wolf«, sagte das Mädchen, als es erkannte, dass wir in Richtung des Flusses gingen, »hier entlang.« Das Mädchen zog an meinem Fell, und ich gestattete ihm, die Führung zu übernehmen. Sie begann den Fluss stromabwärts zu gehen, was mich beunruhigte, denn die Strömung war dort stärker. Sie hielt an einer Stelle, wo das Wasser flach war, jedoch sehr schnell floss. Ich konnte erkennen, warum sie diese Furt mochte. Das Ufer war flach und breit, und es gab keinen steilen Abhang zum Wasser hin. Aber die Strömung war sehr heftig. Sie trat auf einen Stein im Fluss. Ich winselte leise vor Besorgnis. Sie blickte mich über ihre Schulter hinweg an. »Ich bin nicht immer so ungeschickt hineinzufallen«, sagte sie. Überrascht, dass sie meine Bedenken richtig ausgelegt hatte, legte ich zur Entschuldigung die Ohren an. Sie lachte leise und trat in den Fluss. »Ich mache das sehr oft«, sagte sie und balancierte mit einem Fuß auf dem Felsbrocken. »Meine Großmutter lebt auf der anderen Seite, also bin ich es gewohnt, den Fluss zu überqueren. Sie sagt, ich solle lernen zu schwimmen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann.« 140
Das Mädchen trat auf den einen Stein und dann auf den nächsten, dann sprang es auf einen halbüberspülten Baumstamm. Auf diese Weise überquerte sie den Fluss, von einem Stein auf den nächsten springend, manche konnte ich unter der Wasseroberfläche nicht einmal erkennen. Der letzte Felsbrocken war eine ganze Wolfslänge vom Ufer entfernt, aber sie übersprang den Abstand mit Leichtigkeit und landete am schlammigen Ufer. Ihre Art und Weise, den Fluss zu überqueren, machte mich nervös, aber sie schien dabei sehr sicher zu sein. Ázzuen und ich folgten ihr hinüber, und dann zeigten wir ihr den Weg zum Mausplatz. Mäuse können schlau sein. Wenn du sie verfolgst und jagst wie größere Beute, werden sie schnell ein Versteck finden. Also musst du von oben angreifen, so wie ein Vogel es tut, damit überraschst du sie. Ich versicherte mich, dass das Mädchen mich beobachtete, für den Fall, dass es nicht wusste, wie man Mäuse jagte. Dann wählte ich mir eine Maus, die im hohen Gras kauerte und in der Luft schnüffelte. Sie wusste, dass Jäger in der Nähe waren, konnte aber nicht erkennen, aus welcher Richtung wir kamen. Auf diese Art kann man die Mäuse fangen: Sie sind sich sicher, dass du nicht weit von ihnen entfernt bist, wissen aber nicht immer, was sie dagegen tun sollen. Ich kroch ein wenig näher. Ich brachte meine Hinterläufe bis ganz nach vorne zu meinen Vorderläufen und krümmte mich, alle Muskeln angespannt. Die Maus hielt vollkommen still, weil sie wusste, dass sie, wenn sie jetzt
loslief, möglicherweise genau in mich hineinrannte. Ich richtete mich auf meinen Hinterbeinen auf, sprang gerade hoch in die Luft und landete mit der Maus zwischen meinen Vorderpfoten gefangen auf dem Bo 141 den. Bevor sie sich noch wehren konnte, schlang ich sie hinunter. Ich hörte, wie das Mädchen ein merkwürdiges Geräusch machte. Zuerst glaubte ich, sie sei aufgeregt oder sogar verletzt, weil sie nach Atem rang und johlende Geräusche von sich gab. Ich lief zu ihr, um zu sehen, was los war, und die Geräusche wurden lauter. Ich blickte auf Ázzuen. Er war ebenso ratlos wie ich. »Sie lacht dich aus, Blödwolf«, schlug Tlitoo vor. »Sie findet dich komisch.« Er hatte recht. Aber anstelle des kurzen und leise bellenden Gelächters, das das Mädchen früher von sich gegeben hatte, war dieses Lachen laut und hörte überhaupt nicht mehr auf. Sie saß auf dem Boden und johlte laut. Verdrossen ging ich wieder auf Mäusejagd. Ich musste wohl noch vieles über die Menschen lernen. Ázzuen und ich jagten Mäuse mit mäßigem Erfolg. Einmal, als ich gerade auf eine Maus springen wollte, stieß Tlitoo hinab und stahl sie. Er beachtete mein Knurren nicht weiter und flog fröhlich krächzend mit der Maus davon. Ich wartete immer noch darauf, dass das Mädchen mitmachen würde, doch es saß still dort, hatte sich inzwischen wieder beruhigt und beobachtete uns. Ab und zu gab sie ein kleines bellendes Gelächter von sich. »Will sie nun jagen oder nicht?«, fragte Ázzuen. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich. »Sie scheint nicht zu wollen.« »Warum hat sie dann ihren Stecken mitgebracht?« Wir hörten ein Rascheln. Ein fetter Hase kam hinter einem Büschel Sonnenröschen hervor und blieb vier Wolfslängen entfernt stockstill stehen. Wir bewegten uns ebenfalls 141 nicht. Ein Hase war eine sehr viel bessere Mahlzeit als eine Maus. Ich erkannte aus dem Augenwinkel heraus, dass das Mädchen sich erhoben hatte und aufrecht mit ihrem spitzen Stecken in der Hand dastand. Keiner von uns bewegte sich. Hasen können eine sehr viel schwierigere Beute als Mäuse sein. Über kurze Entfernungen sind sie schneller als Wölfe, und du musst geschickt sein, um einen von ihnen zu erwischen. Der erste Sprung ist der wichtigste, denn er entscheidet, ob du einen Vorsprung bekommst. Ázzuen und ich waren ungefähr gleich weit von dem Hasen entfernt. Er blinzelte mir zu. Er würde mich den ersten Sprung machen lassen. Ich ließ mich auf meine Hinterbeine nieder und bereitete mich darauf vor zu springen. Doch als ich mich nur ein kleines bisschen bewegte, begann der Hase zu rennen. Mich selbst verfluchend, verlagerte ich mein Gewicht, um die Richtung meines Sprunges zu ändern. Doch bevor ich mich noch bewegen konnte, sprang das Mädchen über das Gras, gebrauchte seinen langen Stecken, um die Reichweite zu verlängern, und stieß mit dem spitzen Ende in den Hasen, als der gerade in Richtung des Mädchens springen wollte. Er zappelte am Ende des Steckens, sie nahm seinen Kopf, drehte ihn rasch um und brach ihm das Genick. Ich schaute voller Ehrfurcht auf das Mädchen. Sie war wunderschön, wenn sie jagte.
»Danke für die Hilfe, Wolf!«, sagte sie mit dem strahlendsten Lächeln, das ich je von ihr gesehen hatte, die Zähne dabei entblößend. Meine Schnauze öffnete sich vor Erstaunen, als ich erkannte, wie recht sie hatte. Wir hatten den Hasen gemeinsam gefangen. Und wenn wir einen Hasen fangen konnten, vielleicht konnten wir dann auch genauso gut etwas anderes fan 142
gen. Vielleicht, wenn ich nicht ordentlich mit meinem Rudel das Jagen lernen durfte, konnte ich das ja mit dem Mädchen tun. Ich konnte es deutlich vor mir sehen. Ich würde dem Beutetier hinterherjagen und es zu dem Mädchen treiben. Zusammen würden wir es töten. Dann konnte ich dem Rudel beweisen, dass ich eine Jägerin war, und sie müssten mich zu einem Wolf machen. Mir wurde schwindelig vor Aufregung und Erleichterung. Ich wusste, dass ich es schaffen konnte. Den Laut, den ich ausstieß, konnte man nur als ein Quieken bezeichnen. Ich stellte mich auf die Hinterbeine, legte meine Vorderpfoten auf die Schultern des Mädchens und leckte ihm das Gesicht. »Hör auf, Wolf!«, rief sie außer Atem vor Lachen. »Wenn du so weitermachst, wird mir der Hase noch aus den Händen fallen.« »Mach weiter und sieh zu, dass ihr der Hase tatsächlich aus den Händen fällt!«, rief Ázzuen ebenfalls lachend. »Ich habe immer noch Hunger.« Er hatte den Hasen nicht aus den Augen gelassen, seit das Mädchen ihn getötet hatte. Ich ließ mich zurück auf meine Vorderpfoten fallen und hechelte glücklich. Ázzuen und ich blickten erwartungsvoll auf das Mädchen, hofften auf unseren Anteil der Beute. Stattdessen griff sie in den Beutel an ihrer Hüfte und zog mehrere lange Streifen von getrocknetem Antilopenfleisch hervor. Meine Ohren stellten sich so schnell auf, dass mein Schädel schmerzte. »Ich möchte den Hasen meiner Großmutter bringen«, sagte sie schüchtern. »Sie braucht frisches Fleisch und kann nicht länger selbst jagen.« Sie gab jedem von uns einen großen Streifen von dem Fleisch, und wir kauten genüsslich an dem zähen, nach Feuer 142
schmeckenden Zeug, genossen den Geschmack und den Widerstand, den das Fleisch unseren Zähnen bot. Ich konnte einen Hasen jederzeit wieder einmal fangen, jetzt war ich sehr viel zufriedener mit meinem Feuerfleisch. »Es ist das beste Fressen auf der Welt«, meinte Ázzuen beeindruckt und schnüffelte am Beutel des Mädchens. Ich hatte geglaubt, sie würde zumindest etwas von dem Hasen essen, aber sie machte keine Anstalten dazu. Sie wollte offenbar wirklich das ganze Viech zu ihrer Großmutter bringen. Das Mädchen steckte den Hasen in die gefaltete Rehhaut, die es über der Schulter trug. Er fiel nicht heraus, wie ich zuerst angenommen hatte, sondern blieb darin liegen. Ich schnüffelte an der Haut, um herauszufinden, wie sie es schaffte, dass er im Inneren blieb. Sie lachte mich aus. »Das ist mein Hase, Wolf. Lass meinen Sack in Ruhe. Du hattest getrocknetes Fleisch und eine ganze Menge Mäuse.« »Ich würde dich niemals bestehlen«, sagte ich gekränkt und vergaß für einen Augenblick ganz, dass sie mich ja nicht verstehen konnte.
»Ich aber«, krächzte Tlitoo und fing sich ein Stückchen von dem Feuerfleisch, das Ázzuen hatte fallen lassen. Ázzuen knurrte ihn an. Immer noch gekränkt blickte ich zu dem Mädchen hinauf. Da sah ich, dass ihre Augen Fältchen bekamen, wie sie es taten, wenn sie lachte. Sie hatte nicht wirklich geglaubt, dass ich von ihr stehlen wollte. Sie spielte! Ich bellte vor Freude auf und lief ihr hinterher. Ich griff mit den Zähnen nach dem Sack, wie sie es nannte, und zog so sehr daran, dass sie beinahe rückwärts fiel. Sie schnappte nach Atem vor Überraschung, drehte sich um und riss dann lachend ebenfalls daran. Sie nahm ihre Kräfte zusammen, und mit einem starken Ruck zog sie mich 143
vorwärts. Ázzuen juchzte vor Überraschung auf. Tlitoo stürzte sich auf meinen Schwanz. Ich zog kräftig an dem Sack. Ich wollte ihr nicht wehtun, aber ich wollte diesen Sack. Weder sie noch ich waren schon vollkommen ausgewachsen, aber ich hatte viel mehr Muskelkraft als sie. Ich zog kräftig, aber nicht zu sehr und zerrte sie vorwärts. Plötzlich johlte sie wie eine Eule und ließ den Sack los. Ich fiel nach vorne, konnte mich gerade noch fangen, um nicht auf dem Gesicht zu landen. Ich öffnete erstaunt meine Schnauze, sie schnappte sich den Sack und hielt ihn hoch über ihren Kopf. Dann, immer noch johlend, rannte sie davon, zurück in die Richtung des Flusses. Ich sprang ihr nach, Ázzuen immer dicht hinter meiner Rute. Das Mädchen nahm einen breiten, gut sichtbaren Weg, was mich ein wenig nervös machte, aber ich folgte ihm. Als wir den Fluss erreichten, blieb sie plötzlich stehen. Ich hielt schnell an, um nicht in sie hineinzulaufen, und Ázzuen stolperte im Schlamm hinter mir. Tlitoo schwebte über unseren Köpfen und zog neugierig einen Kreis um uns. Als ich einen fremden Menschen roch, zögerte ich und versteckte mich dann in einem dichten Wacholderbusch. Ázzuen schlüpfte hinter eine Birke. Das Mädchen stieß einen Freudenschrei aus. Sie rannte Hals über Kopf weiter und warf sich auf einen großen, dünnen männlichen Menschen. Er fing sie in seinen Armen auf. »Ich habe nach dir gesucht!«, sagte sie. »Ich bin froh, dass du mich gefunden hast«, antwortete er und streichelte das Fell auf ihrem Kopf. Er war so groß wie ein ausgewachsener Mann, aber dünner, eher wie ein vorjähriger Jungwolf. Sein Fell war blasser als das des Mädchens, aber nicht so hell wie Rissas. Sie begrüßten einander wie Wölfe einen Rudelgefährten begrüßen, 143 den sie lange nicht gesehen haben. Und, so bemerkte ich überrascht, sie begrüßten einander, wie ein Paar sich begrüßt. Ich hatte gedacht, dass das Mädchen nicht alt genug dazu sei. Eine Welle der Eifersucht überkam mich. »Es war nicht einfach für mich wegzukommen«, sagte sie zu dem Jungen. »Vater beobachtet mich jetzt die ganze Zeit.« Sie verzog ihr Gesicht. »Er will nicht, dass ich weiterhin allein umherziehe.« Plötzlich hielt der junge Mann vollkommen still und starrte mich an. »TaLi«, flüsterte er. »Was ist das in den Büschen?« Sie wandte sich um und lächelte mich an. »Das ist Wolf«, sagte sie. »Komm her, Wolf.«
Noch etwas argwöhnisch kam ich hervor, um den jungen Mann zu begrüßen. Seine Augen weiteten sich, als er mich sah, und er hob den spitzen Stecken, den er trug, ein ganz klein wenig. Ich konnte erkennen, dass er aus Furcht so handelte, nicht etwa aus Angriffslust, und ich konnte mein Knurren zurückhalten. Ich versuchte, ihn möglichst nicht zu beunruhigen. Das Mädchen hatte keine solche Bedenken. Sie stieß den Stecken beiseite. »BreLan! Was tust du? Sie ist mein Freund.« »Du weißt, dass du dich von ihnen fernhalten sollst, TaLi. Du weißt, was HuLin gesagt hat.« Tlitoo landete neben uns. Die Menschen beachteten ihn gar nicht. Ich habe mir nie gewünscht, etwas anderes als ein Wolf zu sein, aber manchmal beneide ich das Rabenvolk darum, so unauffällig sein zu können. Die Schultern des Mädchens stellten sich eigensinnig auf. »HuLin ist ein Dummkopf. Nicht alle Wölfe sind gefährlich. Du kannst nicht verleugnen, was ich bin, BreLan.« 144 Ich versuchte zu verstehen, was sie damit meinte, doch Ázzuen kam genau in diesem Augenblick hinter seiner Birke hervorgekrochen. Ich hätte ihn angeknurrt, wäre da nicht meine Befürchtung gewesen, dass es die Menschen aufregen würde. Die Wahl des Zeitpunkts für sein Auftreten war wirklich schrecklich schlecht. Der Junge hielt vollkommen still und schluckte mehrere Male schnell hintereinander. Ázzuen öffnete sein Maul, ließ seine Zunge hinaushängen und kauerte sich nieder wie zum Spiel. Die Augen des jungen Mannes weiteten sich überrascht, und er ließ seinen spitzen Stecken fallen. Ázzuen kann sehr einnehmend sein, wenn er will. Das Mädchen kam, um sich neben mich zu stellen. Der junge Mann - BreLan hatte das Mädchen ihn genannt - streckte seine große Hand aus und legte sie auf Ázzuens Kopf. Ázzuen leckte seine Hand, und der Mund des Jungen öffnete sich in der Art, wie die Menschen lächeln. »Er scheint nicht gefährlich zu sein«, sagte er mit Verwunderung in der Stimme. Er ließ seine Hand über Ázzuens Rücken streichen. Ázzuen rollte sich auf den Rücken und zeigte seinen Bauch, so wie er es vor einem höherrangigen Wolf tun würde. »Was machst du?«, flüsterte ich. »Er ist kein Leitwolf.« »Aber ich muss ihm sagen, dass er einer ist«, meinte Ázzuen wie verzaubert, »dann wird er mich nicht ablehnen.« »Er hat recht«, sagte Tlitoo. »Ein Wolf sollte einem Menschen gegenüber keine überlegene Stellung einnehmen, wenn er die Furcht des Menschen zerstreuen will.« Ich sah atemlos zu, wie Ázzuen das Vertrauen des Menschen gewann. Die beiden brauchten nur wenige Augenbli 144 cke, bis sie auf ihren Hinterbeinen hockten und einander streichelten. »Du kannst jetzt rauskommen«, sagte Tlitoo. Marra kroch aus den Büschen. Ich schüttelte mich. Ich musste darauf achten, nicht so vollkommen in der Gesellschaft der Menschen aufzugehen, dass ich nicht einmal mehr meine eigenen Rudelgefährten roch. Eine ganze Bärenfamilie hätte sich anschleichen können, und ich hätte es nicht einmal bemerkt. »Sie sind so sehr wie Wölfe!«, meinte Marra, und in ihrer Stimme lag Bewunderung. »Sie sind nicht anders.«
»Nein«, antwortete ich, »das sind sie nicht wirklich. Aber sie sind uns immer noch verboten.« Ich war mir nicht sicher, ob ich wollte, dass Marra und Ázzuen von meinen Plänen erfuhren, mit dem Mädchen zu jagen. »Ja«, sagte sie. »Das ist das Problem, nicht wahr? Aber ich möchte dennoch einen für mich haben. Vielleicht, wenn wir ihnen folgen, bringen sie uns zu anderen, die uns genauso mögen wie sie?« »Ich glaube, die zwei von uns wissen zu lassen, ist erst einmal genug«, antwortete ich unsicher. »Das nächste Mal vielleicht.« »In Ordnung«, erklärte Marra enttäuscht. »Das nächste Mal.« Verwundert über ihr Einlenken schaute ich sie an. »Wir müssen gehen, TaLi«, meinte der Junge schließlich und wandte sich mit offensichtlicher Mühe von Ázzuen ab. »Wenn wir länger fortbleiben, werden wir vermisst, und ich will Zeit mit dir haben.« Das Mädchen nickte. »Auf Wiedersehen, Wolf«, sagte sie zu mir. 145 BreLan schlang einen seiner langen Arme um mein Mädchen und zog es zu sich heran. Sie gingen gemeinsam den Fluss entlang. BreLan blickte über seine Schulter auf Ázzuen, als sie uns verließen. Ázzuens Augen leuchteten, und Marra betrachtete die Menschen mit Hunger in ihren Augen. Ich wusste, dass sie mich nicht alleine mit dem Mädchen jagen lassen würden. Ich wusste, dass sie ebenso verzaubert waren wie ich. Ich fühlte einen kleinen Stich der Eifersucht, was mich verunsicherte. Und als ich sah, wie meine Rudelgefährten die Menschen so verzückt betrachteten, begann ich mich zu fragen, in was für Schwierigkeiten ich uns hier gebracht hatte. 145 Wir beherrschten die Hasenjagd schnell. Unsere neue Art, gemeinsam zu jagen, zeigte hervorragende Erfolge bei Auerhähnen und Igeln und würde wahrscheinlich auch bei Bibern gut klappen, wenn wir denn einen Platz fänden, an dem das Mädchen fest im Wasser stehen könnte. Und wenn es uns bei kleiner Beute so gut gelang, konnten wir irgendwann einmal auch bei großer Beute erfolgreich sein. Dessen war ich mir sicher. Das Mädchen war zu klein, glaubte ich, um selbst große Beute zu fangen, aber mit BreLans und unserer Hilfe würden wir Erfolg haben. Es musste so sein, denn Trevegg hatte recht: Ein halber Mond war vergangen, und Ruuqo ließ mich immer noch nicht an der Jagd teilnehmen. Ich glaubte nicht, dass er mir je die Gelegenheit dazu geben würde, bevor wir auf die Winterwanderungen gingen. Mit jedem Mal, das er mich zurückhielt, machte es mir weniger und weniger aus. Ich lernte, wie ich allein jagen konnte. Ich versuchte nicht länger, Ázzuen und Marra davon abzu 145 halten, mit mir zu kommen, wenn ich zu den Menschen ging. Es war einfacher, sich mit ihnen gemeinsam davonzumachen, weil das Rudel gewöhnt war, dass wir zusammen blieben. Von Wölfen in unserem Alter erwartete man, dass sie Erkundungsgänge machten, und niemanden verwunderte es, wenn wir uns immer weiter vom Sammelplatz entfernten. Die Pferde waren verschwunden, und die Rentiere und Elen hatten sich über die Jagdgebiete verteilt, was bedeutete, dass unsere
Winterwanderungen bald beginnen würden. Ruuqo und Rissa wollten uns an lange Wanderungen gewöhnen. Unnan versuchte immer wieder, uns hinterherzuschnüffeln, aber es fiel uns dreien leicht, ihn abzuschütteln. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, schien er wütender und wütender zu werden, aber wir waren drei gegen einen, und er hatte Angst vor uns. Der Winter kam näher, und mit ihm kam der Schnee. Das erste Mal, als es zu schneien begann, waren wir Welpen so aufgeregt, dass uns die Erwachsenen nicht dazu bringen konnten, irgendetwas Vernünftiges zu tun. Wir sprangen hoch, um die fallenden Flocken zu fangen und wälzten uns noch in den kleinsten Schneehaufen. Die Erwachsenen des Rudels liebten das Wetter fast ebenso wie wir. Selbst Ruuqo und Werrna spielten schließlich mit uns in dem kalten Schneegestöber. Und einige Stürme später fand ich es noch immer schwer, mit meinen Gedanken bei dem zu bleiben, was ich gerade tat, wenn der Schnee zu fallen begann. Es schneite an dem Tag, als wir das Mädchen auf unserer Seite des Flusses fanden. Ázzuen, Marra und ich waren auf unserem Weg zum Lager der Menschen, doch wir wurden durch den Schnee abgelenkt, versuchten die Flocken mit unseren Mäulern zu fangen und wälzten uns in jeder Schneewehe, die wir finden konnten. Wir hatten uns darauf geeinigt, 146 den Fluss weit stromabwärts von dem Sammelplatz des Rudels entfernt zu überqueren, in der Hoffnung, die Rehe zu finden, die Werrna vor nicht allzu langer Zeit dort erschnüffelt hatte. Doch ich verlangsamte unseren Lauf, als wir in die Nähe des Flusses kamen. Etwas verwirrte mich. Es stimmte etwas nicht mit dem Pfad. Der Duft des Mädchens war auf unserer Seite des Flusses, und es hatte ihn erst vor kurzem dort hinterlassen. Ich schnüffelte an der Flussüberquerung herum und zurück zwischen den Bäumen, durch die wir gerade gelaufen waren. Dann verlor ich die Fährte. Ázzuen und Marra, ebenso verwirrt wie ich, suchten im Schlamm entlang des Flusses, zogen Kreise und liefen abschnittsweise zurück, um die Fährte des Mädchens zu finden. »Sie besucht die alte Frau, von der sie dir erzählt hat.« Tlitoos Stimme kam von einem Nadelbaum, der immer noch dicht mit spitzem Grün bedeckt war. Anders als die Birken und die meisten der Eichen hatten die Nadelbäume ihre Blätter nicht abgeworfen, als der Winter kam, und wurden damit zu hervorragenden Verstecken für einen Raben. Er flog herunter und legte seinen Kopf mal nach rechts und mal nach links. Er war offensichtlich sehr stolz auf sich selbst. »Ich bin ihr gefolgt, als ihr bei eurem Rudel wart und mit den Elen gespielt habt. Ich kann euch den Weg schneller zeigen, als eure nassen Nasen ihn finden können. Kommt, Wölflein!« Mit einem hochnäsigen Gurren flog Tlitoo über uns hinweg und verschwand zwischen den Baumwipfeln. »Wir können dir nicht folgen, wenn wir dich nicht sehen können!«, rief ich entrüstet, doch Tlitoo war schon verschwunden. »Ich werde dir den Weg zeigen, Wolfsschwester.« 146
Erschrocken drehte ich mich um und fand mich Nase an Schnauze mit dem jungen Traumwolf wieder. Ázzuen und Marra suchten noch in den Baumwipfeln nach Tlitoo. Sie konnten den Traumwolf weder sehen noch riechen, noch hören. »Wer bist du?«, fragte ich und musste niesen, als der säuerliche Wacholderduft um mich herum stärker wurde. Ich flüsterte, denn ich wollte nicht, dass Ázzuen und Marra dachten, ich sei verrückt. »Warum kommst du zu mir?« »Folge mir«, sagte sie. »Es gibt etwas, das ich dir heute zeigen möchte.« Ein verschwörerisches Blinzeln leuchtete in ihren Augen. »Ich sollte jetzt nicht hier sein, aber es wird einige Augenblicke dauern, bevor man mich vermisst. Es hat auch Vorteile, einen niedrigen Rang in der Traumwelt einzunehmen.« Die Traumwölfin fiel in einen raschen Trab, und ich folgte ihr. »Manchmal gestatten mir meine Leitwölfe, in deine Welt zu kommen, manchmal gestatten sie es nicht. Heute habe ich mich fortgeschlichen.« Ihre Stimme klang mit einem Mal aufmüpfig. »Sie können versuchen, mich aufzuhalten, aber wenn mir auch nur die geringste Möglichkeit bleiben sollte, werde ich dir helfen.« Die Traumwölfin bewegte sich schnell und mühelos, ungehindert von Schnee und Asten, und ich musste meine Läufe anstrengen, um mit ihr mithalten zu können. Ich hörte verzweifeltes Rascheln hinter mir, wo Ázzuen und Marra mir folgten. »Weißt du, wohin du läufst?«, wollte Ázzuen wissen. »Ich rieche nichts.« Ich hechelte zu angestrengt, um ihm antworten zu können, doch bald wurde der Duft des Mädchens wieder stärker. Als 147 ich entschlossen in Richtung der Fährte lostrabte, hielt die Traumwölfin an. »Ich verlasse dich hier. Ich werde in der Nähe sein, so oft ich kann.« Sie senkte ihren Kopf. »Mein größter Fehler war«, sagte sie, »zu oft nach dem zu handeln, was man mir befohlen hat. Manchmal werden diejenigen, die die Macht besitzen, nicht durch ihre Überzeugungen gerechtfertigt, Wolfsschwester.« Ich hielt überrascht inne. »Was meinst du damit?«, flüsterte ich. »Ich habe jetzt die Fährte wieder«, rief Marra genau in mein Ohr und erschreckte mich damit. »Wie hast du die denn verfolgen können?« Die Traumwölfin neigte den Kopf zum Gruß und verschwand in den Büschen. Marra und Ázzuen beobachteten mich ungeduldig. Ich führte sie voran. Das Mädchen wartete auf uns, dort wo der Fluss auf die Wälder traf, eine halbe Stunde Lauf von der Weiten Ebene entfernt. »Ich habe gehofft, dass du kommen würdest«, sagte sie lediglich zur Begrüßung. »Meine Großmutter hat mich gebeten, dich zu ihr zu bringen.« Tlitoo landete vor den Füßen des Mädchens. »Ich hatte dir gesagt, dass ich euch zu ihr bringen würde«, sagte er selbstgefällig. Er war von Schnee bedeckt, als habe er sich darin gewälzt. Marra schnappte nach seinem Schwanz und zwang ihn davonzufliegen. Ich antwortete nicht, sondern versuchte herauszufinden, was mit dem Mädchen nicht stimmte. Sie war aufgeregt. Sie hielt ein totes Steppenhuhn bei seinen Füßen und drehte es so heftig hin und her, dass sie beinahe die zusammengebundenen Beine des Vogels brach. Ázzuen schnüf 147
feite erwartungsvoll an dem Tier. Marra blickte auf den Vogel und dann auf das Mädchen. »Wenn ich das zurück zu meiner Sippe bringe«, meinte sie abwehrend und Marras Blick missdeutend, »dann werden sie es mir nur wegnehmen. Und Großmutter isst nicht genug. Sie braucht das Fleisch.« Ich bemerkte mit leichtem Schuldbewusstsein, dass wir etwas von unserem verwahrten Fleisch für das Mädchen hätten mitbringen können. Das nächste Mal würde ich das tun. Das Mädchen führte uns weiter flussabwärts, bis zum äußersten Rand unseres Gebietes. Sie hielt an einem üppigen Rosmarinstrauch und legte ihre Hand auf die duftenden Blätter. »So weiß ich, wo ich abbiegen muss, um den Pfad zu Großmutters Hütte zu finden«, erklärte sie. Der breite Weg, den uns das Mädchen hinunterführte, war so weit und ausgetreten wie ein Pfad von Rehen, aber ich konnte keinen Duft von Reh finden, nur von kleinerer Beute, hier und da von einem Fuchs und von Mensch - jede Menge Duft von Mensch. Des Mädchens ganz eigener Duft war überall, und ich fand einen starken Geruch von BreLan. Der andere Duft nach Mensch war am stärksten, und er roch ein wenig wie das Mädchen. Doch noch ein weiterer ausgeprägter Duft überraschte mich sehr. »Höchste Wölfe!«, rief Ázzuen aus. »Ihr Geruch ist überall«, sagte Marra verunsichert. »Und nicht nur Frandra und Jandru - andere Höchste Wölfe auch. Ich wusste nicht, dass auch andere in unsere Gebiete kommen.« »Das wusste ich auch nicht«, antwortete ich. »Mehr Große Wölfe als sonst sind im Tal«, informierte uns Tlitoo. »Ich habe sie gesehen.« 148 Ich konnte mir nicht vorstellen, was die Anwesenheit von anderen Höchsten Wölfen im Tal bedeutete, aber ich glaubte nicht, dass es etwas Gutes war. Ich war durch diese Gerüche so verunsichert, wie ich es nicht mehr gewesen war seit dem Tag, als wir den Sammelplatz beim Gefallenen Baum verlassen hatten. Ich war so beschäftigt mit den Düften, dass ich zunächst gar nicht bemerkte, wie das Mädchen seine Schritte verlangsamte. »Hier lebt meine Großmutter«, sagte sie ein wenig schüchtern. Es dauerte einen Augenblick, bis ich unterscheiden konnte, was Teil der Behausung eines Menschen war und was Teil des Waldes. Der Schutzbau war nicht einmal auf einer Lichtung, so wie die anderen Behausungen der Menschen, die ich gesehen hatte, sondern er schien aus dem Wald herauszuwachsen wie ein wirklicher Bau. Er hatte denselben Untergrund aus Stein und Lehm wie die im Lager des Mädchens, und das Dach war mit noch mehr Lehm und kleineren Steinen bedeckt. In der Mitte war ein großes Loch, aus dem Feuerrauch aufstieg. Er wirkte wie ein gemütlicher Bau, nicht so groß wie diejenigen, in denen das Mädchen lebte, doch groß genug für einige ausgewachsene Wölfe. Das Mädchen duckte sich in den Eingang. Zuerst blieben wir drei zurück in dem dichteren Teil des Gebüsches, wo kein Mensch uns hätte sehen können, doch dann zog mich etwas hinaus. »Wartet hier«, sagte ich zu Ázzuen und Marra, während ich auf die Hütte zuschlich.
»Aber BreLan ist dort drin«, beschwerte sich Ázzuen. Er hatte recht. Außer dem Duft des Mädchens und dem des unbekannten Menschen war auch noch BreLans Geruch zu 149 erkennen. Er war so stark, dass er noch dort drinnen sein musste. »Wartet trotzdem«, sagte ich entschieden. »Wir müssen vorsichtig sein. Ich werde euch wissen lassen, wenn es sicher ist hineinzukommen.« Ázzuen und Marra grummelten ein wenig, aber sie taten, wie ich ihnen befohlen hatte, und ich trat auf die Hütte zu. Tlitoo lief neben mir hin und her, flog dann zum Dach der Hütte und wieder zurück. Ich wollte kein Zuhause betreten, in dem ein unbekannter Mensch war, also setzte ich mich und wartete darauf, dass das Mädchen zurückkommen würde. Eine Stimme aus dem Inneren zog mich auf die Pfoten. »Bring deine Freundin, TaLi. Es ist an der Zeit, dass du uns einander vorstellst.« Die Stimme war voll und tief und sehr, sehr alt. Das Mädchen steckte seinen Kopf zum Eingang hinaus. Sie sah komisch aus, wenn nur ihr Kopf so sichtbar war, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht war ernst. Sie bat mich hinein. Ich zögerte. Es war eine Sache, Ázzuen und Marra dazu zu bringen, mit dem Mädchen und BreLan zusammen zu sein, aber das hier war noch schlimmer - irgendetwas an der Hütte des alten Menschen schien eine noch viel größere Missachtung der Regeln zu bedeuten. Es war wie ein Ort in einer anderen Welt. Ich wusste, dass hineinzugehen gegen alle Wolfsgesetze sprach. Mein größter Fehler war, zu oft nach dem zu handeln, was man mir befohlen hat. Ich tat einen tiefen Atemzug und ging langsam hinüber zu dem Mädchen. Zuerst steckte ich nur meine Nasenspitze in die Hütte und erkundete die Gerüche darin: Das Mädchen, BreLan, der alte Mensch und der Duft von getrockneten 149 Pflanzen, ähnlich dem in dem Bau mit den Pflanzen im Lager des Mädchens. Feuerduft und Rauch. Bärenfelle. Fleisch. Als Nächstes steckte ich den Rest meines Kopfes in die Hütte und sah, dass der Rauch des Feuers den Bau durch ein Loch im Dach verließ. Die Menschen mochten nicht viel besser riechen können als ein Baum es kann, aber sie waren geschickt darin, Dinge herzustellen. »Komm herein, Wolf des Mondes«, sagte die greise Stimme. »Du bist in meinem Zuhause willkommen.« Ich kroch langsam in die Hütte. Die alte Frau saß am anderen Ende. Sie roch nach steifen Gelenken und müden Knochen. Wäre sie ein Elen oder ein Reh, wäre sie Beute, dachte ich bei mir, und dann schämte ich mich solcher Gedanken über ein Mitglied der Familie des Mädchens. Die alte Frau hatte keine Angst vor mir, und ich fühlte, dass sie mich in ihrem tiefsten Inneren willkommen hieß. Sie schien noch kleiner als das Mädchen zu sein, und sie saß inmitten eines Stapels von Bärenhäuten, sodass sie unterhalb ihrer Hüften mehr Bär als Mensch zu sein schien. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich sehr jung und albern und ungeschickt. Ich blickte auf BreLan. Es wäre unhöflich von mir gewesen, zu ihm zu gehen, bevor ich die alte Frau begrüßt hatte, die eindeutig den höchsten Rang in diesem Raum innehatte, doch ich wollte auch ihn nicht missachten. Zu meiner Über-
raschung stand er steif in der Ecke und hielt seinen spitzen Stecken, als hätten wir nie gemeinsam gejagt. Er verunsicherte mich. Das Mädchen legte sanft seine Hand auf die Schulter der alten Frau. »Dies ist der Wolf, Großmutter.« Die alte Frau lachte. »Du wirst ihr schon einen anderen 150 Namen geben müssen. Sie trägt das Zeichen des Mondwolfes, genauso wie der Wolf in meinen Träumen.« »Ich denke an sie als Silbermond«, sagte das Mädchen schüchtern. »Das ist gut. Hab' keine Angst, Silbermond«, sagte die alte Frau sanft. »Komm her und begrüße mich. Ich möchte TaLis Freundin kennenlernen.« Auch wenn ich vollkommen verunsichert war, konnte ich doch einen so formvollendeten Willkommensgruß nicht unerwidert lassen. Ich ging vorwärts, beugte mich zu der alten Frau, leckte ihre Schnauze zum Gruß und bestätigte damit ihren Rang als Altere. Ich sah, wie sich BreLan anspannte, als ich mich der alten Frau näherte. Das Mädchen warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Es ist nicht so, als hättest du sie noch nie zuvor gesehen«, zischte sie. »Was ist los mit dir?« »Ich mag keinen Jäger so nahe, ganz gleich welchen Jäger, wenn die Krianan nicht ausweichen kann. Ich bin ihr Beschützer.« Das war ein Wort, das ich nicht kannte: Krianan. Doch BreLan sprach es mit Ehrfurcht aus, auf dieselbe Art und Weise, wie wir von den Höchsten Wölfen sprachen, und ich begann mich zu fragen, was diese alte Frau den Menschen wohl bedeuten mochte. Die alte Frau erwiderte meine Begrüßung und legte ihre Hand sanft auf meinen Kopf. Ich leckte sie dankbar und trat zurück. Dann wandte ich mich BreLan zu. Diese misstrauische Haltung war gar nicht hilfreich. Ich konnte Ázzuen draußen vor der Hütte schnüffeln hören. Er versuchte, zu BreLan zu gelangen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war, dass Ázzuen hereingestürmt kam. Und ich konnte riechen, dass Marra bei ihm war. 150 »So viel dazu, dass ich mich ihnen gegenüber zu überlegen verhalte«, grummelte ich zu niemandem im Besonderen. Ich machte mich klein und möglichst wenig bedrohlich und blickte BreLan mit so viel Freundlichkeit an, wie ich aufbringen konnte, aber er stand immer noch stocksteif und wütend da. Dann ließ ich mich auf meine Vorderläufe fallen und lud ihn ein zu spielen, doch sobald ich mich vorwärts bewegte, erhob er seinen spitzen Stecken. »BreLan, was ist los mit dir?«, wollte das Mädchen wissen. »Sie ist eine Freundin, Junge, und ich habe sie gebeten zu kommen«, sagte die alte Frau gar nicht freundlich. »Wenn ich deinen Schutz brauche, werde ich dich darum bitten.« BreLan senkte seinen spitzen Stecken, doch er stand immer noch unbeweglich und besorgt da. Schließlich, entnervt von seiner Haltung, lief ich vorwärts, richtete mich auf und schubste ihn mit den Vorderpfoten in den Bauch. Er stolperte rückwärts. Beide, sowohl das Mädchen als auch die alte Frau, lachten. »Das wird es dir zeigen, Junge«, meinte die alte Frau.
»Du musst mir vertrauen, BreLan«, sagte das Mädchen. »Dies ist ein Teil von dem, was ich bin.« Draußen vor dem Bau der alten Frau schnüffelte Ázzuen immer heftiger. Ich hoffte, dass niemand es bemerken würde. Dann hörte ich ein weiteres Geräusch, diesmal von oben. Tlitoo hing beinahe kopfüber an der Dachöffnung der Hütte, hielt sich mit den Krallen am Rand fest. Ich seufzte. Wenigstens einmal hätte ich mir gewünscht, niemanden dabeizuhaben, der alles was ich tat, beobachtete. »Komm zu mir, junger erwählter Wolf«, sagte die alte Frau. Ich ging langsam zurück zu dem Stapel von Fellen und 151
legte mich auf meinen Bauch, sodass ich mit ihr auf gleiche Höhe kam. »Ich denke, du hast dich gefragt«, sagte die alte Krianan zu mir, »warum du anders bist, warum du dich so von uns angezogen fühlst. Meine Enkelin fühlt sich auch zu euch hingezogen, weißt du das?« Ich blickte das Mädchen an. Sie schaute auf ihre pelzlosen Füße, die sie zum Schutz gegen die Kälte mit Häuten von Beutetieren umwickelt hatte. TaLi, dachte ich bei mir, nicht einfach das Mädchen. Wenn sie versuchen konnte, meinen Namen zu gebrauchen, dann konnte ich sie auch bei ihrem nennen. »Es gibt einen Grund dafür, dass ihr berufen seid. Willst du nicht deine Freunde bitten, zu uns zu kommen?« Marra und Ázzuen warteten nicht auf meine Einladung. Sie mussten direkt am Eingang gesessen haben. Bei den Worten der alten Frau schlüpften sie rasch in die Hütte. Ázzuen schenkte mir einen herausfordernden Blick. Sie begrüßten die alte Frau voller Hochachtung. Marra legte sich ans Feuer und ließ ihr Gesicht auf den Pfoten ruhen. Ázzuen begrüßte BreLan, der endlich seine Habachtstellung aufgab und den spitzen Stecken senkte, sodass er Ázzuens Rücken streicheln konnte. Er lächelte das Lächeln der Menschen, das alle Zähne sehen lässt, und er setzte sich zu Ázzuen, als ob er nie beunruhigt gewesen wäre oder sich bedroht gefühlt hätte. Ázzuen setzte sich neben ihn und legte seinen Kopf auf die Füße des Jungen. »Ich denke, du bist BreLans Freund«, sagte die alte Frau zu Ázzuen. »Und du bist die Freundin von diesen beiden«, sagte sie zu Marra. »Ich heiße euch beide in meinem Heim willkommen.« 151 Die beiden blickten vollkommen verzückt auf TaLis Großmutter. Marra stand auf und trat ehrerbietig zu der alten Frau, hockte sich dann zu ihren Füßen nieder. TaLi und ich saßen eine Wolfslänge entfernt und gestatteten Marra, den Duft der alten Frau aufzunehmen. Tlitoo verließ seinen Posten auf dem Dach und flog herunter, um neben der alten Frau auf dem Stapel Bärenfelle zum Stehen zu kommen. Sie nahm einige Körner aus einem Sack von Häuten und gab sie ihm. Die greise Menschenfrau betrachtete uns alle, so lange, dass ich begann, mich unwohl zu fühlen. »Es ist vielleicht zu früh, um euch dies zu erzählen«, sagte sie endlich mit zögernder Stimme, »aber ich denke, ich habe keine Wahl. Ich werde nicht ewig leben, und irgendetwas muss geschehen, und zwar bald geschehen.« Sie atmete tief ein, und als sie wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme kraftvoll.
»Also hört dieses, junge Wölfe. Es ist kein Zufall, dass ihr meine Enkelin und BreLan gefunden habt. Wölfe und Menschen sind dafür geschaffen, zusammen zu sein.« Ich konnte ein Bellen der Überraschung nicht unterdrücken. Nach allem, was man uns erzählt hatte, dass wir uns von den Menschen fernhalten sollten, dass es als eine von unseren drei unumstößlichen Regeln galt, war ich erschrocken, die alte Frau mit solcher Sicherheit erklären zu hören, dass das genaue Gegenteil der Fall war. »Viele meines Volkes glauben nicht mehr daran, dass dies so ist«, fuhr sie fort, »und es würde mich nicht überraschen, wenn euer Volk ebenfalls nicht daran glaubt. Aber es ist wahr, und es ist sehr viel wichtiger, als ihr euch vorstellen könnt. Wenn wir Menschen keinen Umgang mit den Wölfen pflegen, den Hütern der Wildnis, dann vergessen wir, dass wir ein 152 Teil der Welt um uns herum sind. Genau dies ist schon einmal geschehen. Und wenn es geschieht, beginnen wir Menschen zu töten und zu zerstören, was um uns herum ist, weil wir nicht erkennen, dass wir uns selbst verletzen, wenn wir die Welt verletzen. Der eine Weg - der einzige Weg -, die Menschen davon abzuhalten, zahllose andere Geschöpfe zu töten, sie davon abzuhalten, unsere Welt zu vernichten, ist, immer in Verbindung mit den Wölfen zu bleiben. Nur die Wölfe können in uns Menschen ein Wissen darüber wachhalten, dass wir weder anders als alle übrigen Wesen sind noch dass wir getrennt von ihnen leben. Dieses Band reicht zurück bis in die Zeiten, in denen zum ersten Mal Menschen und Wölfe gemeinsam auf diesem Land lebten.« Ázzuen grunzte, und Marra stand auf, als wolle sie widersprechen. In meinem Kopf schwirrte es vor Verwirrung. Das ging gegen alles, was man uns gelehrt hatte, alles, was unser Rudel glaubte. Es ging gegen jeden Grund, aus dem die Wölfe des Großen Tales hier lebten. Du sollst dich für immer von ihnen fernhalten. Du sollst ihrer Gesellschaft entsagen. So hatte der Himmel es Indru befohlen. Und als es den Wölfen nicht gelang, dies zu tun, hatten die Ahnen beinahe unser Leben beendet. Ich starrte die alte Frau an. Ich hatte geglaubt, meine Gefühle für TaLi wären falsch und unnatürlich. Jetzt erzählte uns diese alte und weise Frau, dass dies keineswegs der Fall war und dass so vieles von dem, was man uns über die Menschen erzählt hatte - und über unsere eigene Geschichte -, einfach nicht wahr war. Wie konnte ich ihr glauben? Und dennoch - mehr als alles, was ich jemals gewollt hatte, so weit wie meine Erinnerung zurückreichte, wollte ich tatsächlich jedes einzelne Wort glauben dürfen. 152 »Aber - es ist nicht ganz so einfach«, sagte die alte Frau. »Weil wir nicht zusammen sein können.« Sie tat einen tiefen, schweren Atemzug, als ob ihre Erzählung sie erschöpfe. TaLi verließ meine Seite und ging hinüber, um sich neben sie zu setzen. Die alte Frau strich mit ihrer Hand durch das Fell auf dem Kopf des Mädchens. »Wenn Wölfe und Menschen zusammenkommen, können schlimme Dinge geschehen«, erzählte die alte Frau. »Mein Volk hat versucht, euch zu Sklaven zu machen, und euer Volk hat unsere Art getötet. Wir müssen zusammen sein, und dennoch können wir es nicht, weil jedes Mal, wenn wir es versucht haben, der Krieg zwischen unseren Völkern ausgebrochen ist. Das ist die große Herausforderung -
die große Unvereinbarkeit -, und es ist die größte Prüfung für beide: Wolf und Menschheit.« Ich schüttelte heftig meinen Kopf. Ich verstand nicht, wie es sein konnte, dass Wölfe sowohl mit den Menschen als auch nicht mit ihnen sein sollten. Ich winselte leise. »Wölfe verlieren sich selbst«, sagte Ázzuen und wiederholte Rissas Worte von so vielen Monden zuvor. »Sie sind nicht länger Wolf und töten Menschen oder werden von ihnen getötet.« Sein auf die alte Frau gerichteter Blick war gedankenverloren, beinahe so, als würde er etwas, das er schon längst wusste, nun bestätigt finden. »Ja«, sagte die Krianan und beachtete die überraschten Gesichter nicht weiter, als wir bemerkten, dass sie Ázzuen verstanden hatte, »und viele Menschen können kein anderes Geschöpf sehen, ohne dass sie seine Freiheit ablehnen und den Drang spüren, es zu beherrschen.« Sie reichte über TaLi hinweg und legte ihre Hand auf Marras Brust, die sich vor Aufregung und Bestürzung hob und senkte. »Eine Zeit lang 153
hatten wir eine Lösung gefunden - einen Weg, wie Menschen und Wölfe zusammen sein konnten, ohne dass es zum Krieg kam. Einige von uns Menschen sind besser dazu geeignet, mit Wölfen zu sein als andere. Wir fühlen uns von eurer Kraft und eurer Wildheit nicht so sehr bedroht. Wir verspüren nicht den Wunsch, euch zu beherrschen, und daher können wir uns dem öffnen, was ihr uns zu lehren habt. Die Krianan-Wölfe kommen zu uns - zu denen von uns, die für die Wölfe bestimmt sind -, wenn wir sehr jung sind. Daher weiß ich davon. Meiner kam zu mir, als ich jünger war als TaLi. Ihr kennt diese Krianan - es sind die Wölfe, die über euch wachen.« Ich erinnerte mich an den Duft der Höchsten Wölfe, der die Hütte der alten Frau umgab. Das mussten die Krianan-Wölfe sein, von denen sie sprach. »Das würde bedeuten, dass wir die Menschen nicht aufgeben müssen«, meinte Marra mit einem kaum vernehmbaren Flüstern. »Ich habe euch doch gesagt, dass die Grummelwölfe ihre Geheimnisse haben«, krächzte Tlitoo. »Wir treffen uns mit den Krianan-Wölfen jedes Mal, wenn der Mond voll ist, zu Feiern, die wir Aussprachen nennen«, erzählte die alte Frau, »und die KriananWölfe erinnern uns daran, dass wir ein Teil dieser Welt sind. Wir wiederum erzählen unserem Volk, was wir von den Wölfen gelernt haben. Das ist die Geschichte, wie sie seit Generationen in unserem Volk weitergereicht wird. Jeder menschliche Krianan lehrt sie dem nächsten, so wie ich sie TaLi beigebracht habe.« Sie hielt inne, legte ihre Hand an TaLis Wange und sprach dann ganz leise. »Doch die Aussprachen helfen nicht mehr so, wie sie es sollten, und es gibt viele Dinge, die uns die Kria 153 nan-Wölfe nicht erzählen wollen. Wir wissen nicht, warum diese Herausforderung, diese Unvereinbarkeit besteht. Wir wissen nicht, wie es dazu kam, dass Wölfe mit den Menschen sein müssen und dass die Menschen nicht ohne und nicht mit den Wölfen sein können. Und wir wissen nicht, warum die Aussprachen nicht länger helfen. Die Krianan-Wölfe wissen es, aber sie glauben, dass die Menschen zu
dumm sind, um es zu verstehen. Doch ich kann sehen, dass wir scheitern werden. Schon seit vielen Jahren ist kein Krianan-Wolf mehr zu einem Menschen gekommen, und ich weiß von keinem, der während meines langen Lebens geboren worden wäre. Jetzt werden die letzten Krianan-Wölfe alt, und mein Volk will nicht mehr auf sie oder auf mich hören. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Die greise Stimme zitterte, und TaLi nahm die Hand der alten Frau in ihre eigene. Die alte Frau streckte ihre Hand nach mir aus. »Als ich hörte, dass du zu TaLi gekommen warst, Silbermond, wusste ich, dass sich etwas verändert hatte. Vielleicht seid ihr es, die an die Stelle der Krianan-Wölfe treten werdet, und vielleicht werden TaLi und du zusammen Wächter sein.« Ich wollte zu ihr gehen, doch ich war wie verwurzelt an meinem Platz. Ich konnte nicht einfach alles missachten, was mein Rudel und meine Leitwölfe mich gelehrt hatten. Rissa und Trevegg hatten mir alles beigebracht, was zum Wolfsein gehört sie hatten mich niemals belogen. Und selbst wenn die alte Krianan zu TaLis Familie gehörte, war sie doch ein Mensch. Sie gehörte nicht zum Rudel. Ein verzweifeltes Stöhnen entfuhr mir. Die alte Frau hielt mir wieder ihre Hand hin, und ich ging zu ihr. Marra trat zur Seite, um mir Platz zu machen. »Ich kann sehen, dass du mir nicht glaubst«, sagte die alte 154 Frau. »Warum solltest du auch?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Du musst zu der Aussprache kommen, in zwei Nächten, wenn der Mond voll ist«, sagte sie. »TaLi wird dich herbringen. Nur du, Silbermond, nicht deine Freunde. Ich glaube, euch drei zu verstecken wäre nicht ganz einfach.« Sie schenkte mir ein erschöpftes Lächeln, und ich leckte ihre Hand, um sie wissen zu lassen, dass ich verstanden hatte. »Gut«, sagte sie. »Ich werde dich erwarten.« Die alte Frau blickte auf uns alle, und ihr Lächeln wurde breiter. »Ich weigere mich zu glauben, dass alle Hoffnung verloren ist«, erklärte sie. »Ich sehe euch zusammen, und ich weiß, dass etwas geschehen kann.« Sie seufzte tief. »Ich bin jetzt müde, ihr Jungen, und ihr müsst mich verlassen. Doch wir werden weiter miteinander reden.« Dann schloss die alte Frau ihre Augen und schien in ihren Bärenfellen zu versinken. Ihr Atem wurde ruhig wie kurz vor dem Schlafen. TaLi und BreLan beugten sich, um ihre Lippen auf die Wange der alten Frau zu pressen und krochen aus der Hütte. Ázzuen, Marra und ich berührten jeder die Hand der alten Frau mit unseren Nasen und folgten dann unseren Menschen hinaus aus der Hütte. Wir gingen so leise, wie wir eben konnten. Es hatte aufgehört zu schneien, während wir in dem Heim der Krianan gewesen waren, und die Sonne erwärmte den Boden. TaLi und BreLan führten uns ein Stück weiter fort auf eine Wiese voller Gras. »Glaubst du ihr?«, fragte Marra, während wir einige Schritte hinter den Menschen hergingen. »Es ist ganz anders, als das, was uns Rissa und Trevegg erzählt haben.« »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, antwortete ich. »Ich 154
wüsste nicht, warum Rissa und Trevegg lügen sollten. Aber genauso wenig sehe ich einen Grund, warum die alte Frau lügen sollte.« Ich wollte nicht, dass sie log. Ich wollte, dass es richtig war, mit TaLi zusammen zu sein. »Sie könnte sich einfach irren«, schlug Marra vor. »Sie wusste nichts von dem Versprechen, das Indru gegeben hat, oder von den Ahnen. Auch nichts von dem langen Winter.« »Aber versteht ihr nicht?«, warf Ázzuen aufgeregt ein. Er hielt an und wandte sich um, damit er uns anblicken konnte. Wir drei blieben stehen und ließen die Menschen vorangehen. »Sie muss recht haben. Das ist der Grund dafür, dass die Legenden nie einen wirklichen Sinn ergaben. Es ergibt keinen Sinn, dass das Einzige, was wir wirklich tun sollen, ist, uns von den Menschen fernzuhalten. Warum muss deswegen ein ganzes Tal abgeriegelt werden? Warum hat der Himmel die Wölfe und Menschen nicht getötet, wie er gedroht hatte, es zu tun, wenn die Wölfe und die Menschen zueinanderfinden würden? Und ihr habt gesehen, wie böse Rissa wurde, als ich sie danach gefragt habe.« Er zitterte vor Aufregung. »Es hat für mich nie einen Sinn ergeben, und jetzt weiß ich, warum. Die Höchsten Wölfe verheimlichen etwas vor uns, vor allen Wölfen im Tal. Ich glaube, die alte Frau sagt die Wahrheit.« Er blickte über seine Schulter in Richtung von BreLan, der sich langsam entfernte. »Ich weiß, dass sie die Wahrheit sagt.« Wir drei standen für einen Augenblick stumm dort, dachten darüber nach, was die alte Frau gesagt hatte und betrachteten unsere Menschen, die vor uns hergingen. Dachten daran, was es bedeuten mochte, wenn sie recht hatte. »Wir sollten dem Rudel nichts davon erzählen«, meinte Marra. »Nicht bevor wir nichts Genaueres wissen.« 155 »Nein«, stimmte ich zu, »das sollten wir wohl nicht.« »Wir werden dir dabei helfen, dem Rudel zu entkommen, sodass du zu der Aussprache gehen kannst«, versprach Ázzuen. »Und du kannst uns erzählen, was du herausgefunden hast«, stimmte Marra ihm zu. »Dann können wir immer noch entscheiden, was wir tun sollen.« »Ja«, sagte ich. Mir war dennoch unwohl dabei, dass ich Marra und Ázzuen immer tiefer in etwas hineinzog, was großen Arger bringen konnte. »In Ordnung.« TaLi und BreLan hatten einen Flecken Gras gefunden, der vom Schnee befreit und nicht zu feucht war. Wir gingen langsam zu ihnen hinüber. TaLi setzte sich und streckte ihre Arme nach mir aus. Ich schüttelte so viel von meinen Sorgen ab, wie ich eben konnte, und legte mich neben sie. Plötzlich sehnte ich mich nach ihrer Berührung. TaLi lehnte sofort ihren Kopf an meinen Rücken. Ázzuen und BreLan entspannten sich neben uns, und Marra rollte sich zwischen uns zusammen. Tlitoo, der für eine Weile bei der alten Frau zurückgeblieben war, schwebte über die Wiese und landete dann an meiner Seite. »Ich werde verschwinden«, erklärte er. »Ich werde so schnell wie möglich zurückkommen. Du musst auf mich warten.« »Wohin fliegst du?«, fragte ich verwundert. Ich hatte mich daran gewöhnt, Tlitoo in der Nähe zu haben.
»Fort«, meinte er. »Hinaus aus dem Tal. Mach keine Dummheiten, während ich nicht da bin.« Er breitete seine Flügel aus. »Warte«, widersprach ich. »Nur weil du auf der Erde bleiben musst, heißt das noch 156 lange nicht, dass ich nicht fortfliegen kann, Wölflein«, antwortete Tlitoo empört. »Dass du keine Flügel hast, muss mich nicht aufhalten. Ich muss jetzt fort.« Und damit schwang er sich in die Lüfte und flog in Richtung der Berge. Schon bald war er nichts mehr als ein Punkt am Himmel, und dann konnte ich ihn nicht mehr erkennen. Ich seufzte. Ich war schlau genug, mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was wohl in seinem Rabenhirn vorgehen mochte. TaLi lehnte sich schwerer gegen mich. Es kitzelte mich etwas unterhalb meiner linken Rippe, aber ich wollte mich nicht bewegen, aus Angst, ich könnte sie stören. Ich mochte es, wie sich ihre Wärme neben mir ausbreitete, mochte das Gefühl ihres Herzschlags nahe an meinem, und ich mochte ihren Atem. »Deshalb gehe ich über den Fluss hinüber, Wolf. Silbermond«, sagte TaLi und versuchte schüchtern meinen Namen. Er war der wirklichen Bedeutung meines Wolfnamens so ähnlich, dass er mir gefiel. »Manchmal habe ich tatsächlich Angst hinüberzugehen«, gab sie zu, »aber ich muss es tun. Meine Großmutter ist jetzt zu alt dazu. Und sie ist die Krianan, die geistliche Führerin unseres Volkes. Ich werde ihren Platz einnehmen müssen, wenn ich erwachsen bin.« Ich stupste TaLi zärtlich mit der Nase an. Viele von uns hatten Angst, den Fluss zu überqueren, doch ein Jäger muss dorthin gehen, wohin die Beute läuft. Ich bewunderte TaLi dafür, dass sie ihre Furcht überwand und das tat, was sie tun musste. »Ich sollte inzwischen bei ihr leben«, vertraute sie mir an. »Aber HuLin, der Anführer unseres Stammes, will nicht, dass ich zu ihr gehe. Er sagt, sie sei albern und verstehe nicht, wie wir jetzt leben müssen. Krianans haben früher mit unseren 156 Sippen gelebt, aber die Stammesführer mögen es nicht mehr, wenn sie in der Nähe sind. Sie sagen, die Krianans würden sie nicht genügend jagen lassen.« BreLan hatte sich erhoben, während TaLi sprach, und ging jetzt unruhig hin und her. Seinen spitzen Stecken gebrauchte er dabei wie ein drittes Bein. Er stieß das stumpfe Ende wütend in den Boden. »Sie ist eine Bedrohung für HuLins Macht«, sagte er. »Mein Vater hat es mir erklärt, nach dem letzten Rat der Stämme.« Ich erinnerte mich, dass BreLan mit einer anderen Sippe lebte als TaLi, einer Sippe, die in Richtung der untergehenden Sonne zu Hause war. Es war eine Wanderung von einem halben Tag für einen Menschen, doch er machte diesen Weg, wann immer er konnte. Er wollte TaLi als seine Gefährtin. Doch TaLi hatte mir erzählt, dass ihr Stammesführer sie als Gefährtin für seinen Sohn wollte. Was wahrscheinlich mit ein Grund dafür war, dass BreLan jetzt so unruhig hin und her lief. TaLi griff nach ihm, als er an ihr vorüberging, und zog ihn herunter, damit er sich zu uns legte. Ázzuen streckte sich über die Beine des jungen Menschen, und BreLan kraulte sein Fell. Ich konnte fühlen, wie das Herz des jungen Menschen
langsamer schlug und sich beruhigte, während er Ázzuen streichelte. Jetzt war es an Marra, sich zu erheben und unruhig hin und her zu laufen, eifersüchtig auf unsere Nähe zu den Menschen. »Es ist kein Zufall, dass er sie fortgeschickt hat, um auf der anderen Seite des Flusses zu leben, TaLi«, meinte BreLan. »Er will nicht, dass du lernst, was sie weiß. Er will nicht, dass du dich mit den Krianan-Wölfen triffst, wie sie es tut.« »Das weiß ich«, antwortete TaLi. »Aber ich habe keine 157
Ahnung, was ich dagegen tun soll. Der alte KanLin hatte nichts dagegen, dass sie bei unserer Sippschaft blieb.« »Da war sie auch noch jünger«, warf BreLan ein. »Hatte weniger Einfluss. Und KanLin war selbstsicherer als HuLin.« »HuLin ist unser neuer Stammesführer, Silbermond«, erklärte TaLi. »Er hasst es, dass meine Großmutter ihm sagt, was er zu tun hat. Vor allem, wenn sie ihm sagt, dass er aufhören soll, alles zu töten, was er fangen kann. Sie hat ihm gesagt, er habe keine Ehrfurcht vor dem Leben anderer Geschöpfe. Da hat er erklärt, sie schade der Sippe, und hat sie über den Fluss geschickt, um dort zu leben. Er hat gesagt, wenn es ihr gefalle, so viel Zeit mit den Wölfen zu verbringen, könne sie auch gleich mit ihnen leben.« TaLi sprach schnell, fast atemlos, als ob die Worte aus ihr hinaushetzten. »Was wirst du tun, wenn er dir verbietet, sie zu sehen? Wenn er dir verbietet, an den Aussprachen teilzunehmen?«, fragte BreLan. Ich wollte mehr über die Aussprachen erfahren und winselte vor Enttäuschung darüber, dass es mir nicht gelang, mich den Menschen verständlich zu machen. »Ich weiß es nicht«, antwortete TaLi. Besorgnis lag in ihrer Stimme. »Er will, dass sein Sohn anstatt meiner Krianan wird.« BreLan erstarrte bei der Erwähnung des Sohnes von HuLin, dem Anführer. »Ich habe ihn schon öfters belogen. Ich sage, dass ich auf die Jagd nach den Häuten kleiner Tiere gehe oder Kräuter sammle. Und dann gehe ich Großmutter besuchen.« Ich bewegte mich unruhig, wollte unbedingt einen Weg finden, um TaLi Fragen stellen zu können. 157 »Uns wird beigebracht, dass alle Geschöpfe außer den Menschen entweder dumm oder gefährlich sind, Silbermond«, erklärte TaLi. »Tiere wie ihr und die Bären und die Löwen werden als böse angesehen. Früher dachte man an sie mit Ehrfurcht und Bewunderung. Diejenigen, die auf der Ebene grasen oder die Pflanzen des Waldes fressen, werden beinahe so betrachtet, als wären sie nicht einmal lebendig. Es wird uns gesagt, dass Menschen die Macht über alles haben sollten, denn kein anderes Geschöpf kann Feuer machen oder Werkzeuge herstellen oder große Gebäude errichten. Aber so war es nicht immer. Als Krianan erinnert sich meine Großmutter der alten Überlieferungen. Es ist ihre Aufgabe, uns daran zu gemahnen, dass wir dem Lauf der Natur folgen, den Bahnen der Welt. Doch jetzt wollen die Führer unseres Volkes verhindern, dass ihnen irgendjemand widerspricht. Sie wollen sich nehmen, was sie können.« »Und viele aus unserem Volk wollen nicht mehr mit dem Wechsel der Jahreszeiten umherziehen«, sagte BreLan und ließ dabei seine Finger in Gedanken versunken
durch Ázzuens dichtes Winterfell wandern. »Mein Onkel fragt sich, warum sie weggehen sollen, wo sie doch so viel Zeit darauf verwandt haben, schützende Hütten zu bauen. Er sagt, dass, wenn die Krianan zulassen würden, dass sie so viel jagen dürfen, wie sie wollen, niemand so viel umherziehen müsse, sondern länger an einem Ort bleiben könne. Dann könnten auch mehr Gebäude errichtet werden, und wir würden stärker werden als jeder andere Stamm. Dann würde alle Beute im Tal und noch darüber hinaus uns gehören.« Das machte mir Angst. Ich verstand immer noch nicht, warum die Menschen glaubten, sie seien so anders als der Rest von uns. Ich konnte nicht behaupten, dass wir uns mehr 158
Gedanken um das Leben der Beute machten, und ich musste BreLans Onkel recht geben, dass Beute dem gehört, wer immer sie fangen kann. Aber wir wussten, dass Beute ein Leben hatte. Wir brauchten einen Bau für unsere Jungen, wer aber wollte die ganze Zeit in einem Bau leben? Dafür hatte man doch Fell und die Kraft umherzuziehen. »Vielleicht müssen die Menschen sich einen Ausgleich dafür suchen, dass sie kein Fell haben und nur kleine Zähne«, vermutete Marra und klang dabei so verwirrt, wie ich mich fühlte. Sie hatte endlich aufgehört hin und her zu laufen und lag ein paar Schritte von uns entfernt auf einem fast trockenen Fleckchen Erde. »Umso mehr sie haben, umso mehr wollen sie«, sagte Ázzuen. »Aber ich verstehe nicht, warum sie nicht auf ihre Krianan hören. Ruuqo ist nicht immer einer Meinung mit den Höchsten Wölfen, aber er gehorcht ihnen dennoch.« Ich wusste keine Antwort für meine Rudelgefährten und keinen Trost für TaLi, die ihr Gesicht in das Fell auf meinem Rücken vergraben hatte. Ich wusste, dass man um seine Stellung im Rudel kämpfen musste. Ich wusste, dass man den Mond und die Sonne und das Leben, das die Erde einem gab, achten musste. Ich wusste, dass man den Gesetzen der Jagd folgen und für die Mitglieder des Rudels sorgen und das eigene Gebiet verteidigen musste. Aber ich wusste nicht, wie ich TaLi helfen konnte. Ich wusste nichts von der Herausforderung, von der ihre Großmutter gesprochen hatte. Alles, was ich tun konnte, war, mich an sie zu schmiegen und ihr so viel Trost zu spenden, wie ich ihr eben zu bieten hatte. Marra knurrte leise, als ein unbekannter Geruch von Mensch mit einem Windhauch zu uns herüberwehte. Wir 158
drei hoben die Köpfe, spannten unsere Körper an in Erwartung eines möglichen Kampfes. »Was hast du, Silbermond?«, fragte TaLi und setzte sich auf, als sie merkte, dass mein Körper erstarrte. Der Mensch roch wie BreLan, doch ein wenig anders. Er musste mit ihm verwandt sein. Doch nach dem, was BreLan von den Menschen seiner Sippe erzählt hatte, bedeutete das keineswegs, dass dieser Mensch ein Freund war. Ich stand auf. Meine Rudelgefährten ebenso. Wir warteten. Ein junger, männlicher Mensch kam über das Gras auf uns zu und näherte sich. BreLan stand auf, seine Hand fest um seinen spitzen Stecken gelegt. Dann, als der
andere Mensch noch weit entfernt war, entspannte er sich und hob seine Hand in der Geste, mit der sich die Menschen begrüßen. »Du hast ziemlich lange gebraucht, um uns zu finden«, rief er. »Wenn ihr euch ins Gras legt wie die Kaninchen, was erwartest du dann?«, rief der andere Mensch zurück. Der junge Mensch blieb stehen, als er mich, Ázzuen und Marra nahe bei den anderen beiden sah. Aber er erhob seinen spitzen Stecken nicht. »Das sind die Wölfe?«, fragte er, als er uns erreicht hatte. BreLan musste ihm von uns erzählt haben. »Ich habe dir nicht geglaubt, Bruder, aber es ist wahr. Sie stehen neben euch.« Er blickte voller Verwunderung auf uns und nur mit einem kleinen bisschen Furcht. »Oder wir neben ihnen«, sagte TaLi lächelnd. »Und ihr jagt mit ihnen gemeinsam?« »Bislang nur kleine Beute«, antwortete BreLan. »Aber jetzt, wo wir zu dritt sind, können wir vielleicht auch größere Beute machen«, fügte er eifrig hinzu. 159 Ich war überrascht zu hören, dass seine Gedanken wie ein Echo der meinen klangen. Ich betrachtete den jungen Menschen genauer. Er sah nicht so aus, als sei er groß genug, um viel zu erjagen. TaLi bemerkte meine Beobachtung. »MikLan ist BreLans jüngerer Bruder«, erklärte sie mir. »Komm her, begrüße Silbermond«, sagte sie zu dem jungen Menschen. Aber MikLans Augen waren auf Marra gerichtet, die sich jetzt langsam auf ihn zu bewegte, als ob sie vom Geruch einer Beute angezogen würde. Sie hatte beobachtet, wie Ázzuen und ich mit unseren Menschen umgegangen waren, und sie machte sich klein in einer unterwürfigen Haltung. Sie atmete kaum, so sehr war ihre Aufmerksamkeit auf den Jungen gerichtet. Er war jünger als BreLan, jünger noch als TaLi, fast noch ein Kind, und er war weniger misstrauisch als sein Bruder. Ein Lächeln machte sich in seinem Gesicht breit, und er berührte Marras Kopf. Ich verzog ein wenig das Gesicht, denn bei uns ist diese Geste ein Zeichen der Überlegenheit, aber Marra schien das nichts auszumachen. Einen Augenblick später balgten die beiden miteinander im Staub, Marra knurrte liebevoll, und MikLan schnappte nach Atem vor Lachen. Nach einer Weile beendeten sie ihr Spiel und ruhten sich gemeinsam aus. Marras Rute schlug auf den Boden, als sie ihren Kopf auf MikLans ausgestreckte Beine legte. Sie blickte mich stolz an. Ázzuen rollte sich mit BreLan neben sie. Die Finger des Mädchens schoben sich in mein Fell. Wir alle schienen erschöpft zu sein. Erschöpft von dem Treffen mit der alten Frau und den schwierigen Dingen, von denen sie uns erzählt hatte. Aber es war tröstlich, dass wir so zusammensitzen konnten, wir sechs, während der Tag sich in Däm 159 merung verwandelte. Und dennoch war ich beunruhigt. Denn wie konnte das sein, dass ich mich gleichzeitig so zu Hause fühlte und dennoch meine Welt, wie ich sie bislang gekannt hatte, zu Ende ging? Dass ich mich zum ersten Mal ganz fühlte, aber genauso sehr zerrissen? Und wie sollten wir diese Unvereinbarkeit auflösen, von der die alte Krianan gesprochen hatte ? Wo doch das Einzige, was wir tun
konnten, war, gleichzeitig bei unserem Rudel zu sein und uns ab und zu fortzustehlen, um zu den Menschen zu gehen? Es war zu viel, um jetzt darüber nachzudenken, und ich versuchte, den Gedanken zu verdrängen und stattdessen so viel Wärme und Trost wie möglich in dem nahen Körper des Menschenmädchens zu finden. 160 Das Rudel schlief in der Nachmittagssonne. Ázzuen und Marra lagen nahe bei Rissa und Trevegg, den beiden mit dem leichtesten Schlaf, bereit, mich zu warnen, wenn einer von beiden erwachte. Es war spät am Nachmittag, und ich hatte versprochen, TaLi und ihre Großmutter in dieser Nacht bei der Aussprache zu treffen. Endlich würde ich mehr über die Höchsten Wölfe und ihre Verbindung zu den Menschen herausfinden. Normalerweise wäre es einfach für mich gewesen zu verschwinden, doch eine Herde von Antilopen zog durch unser Gebiet, und Rissa wollte uns beibringen, wie man sie verfolgt. Sie hatte uns befohlen, auf dem Sammelplatz zu bleiben, bis es an der Zeit für uns war, gemeinsam aufzubrechen. Ich wanderte von einer Stelle zur anderen, so als würde ich nur nach einem guten Schlafplatz suchen und näherte mich den Eichen. Ich warf einen letzten Blick über meine Schulter und verließ unseren Sammelplatz. »Wohin willst du gehen?« 160 Unnan versperrte mir den Weg. Er hatte nur so getan, als würde er schlafen, hatte es geschafft, sich in den Wald zu schleichen, und wartete dort nun auf mich. »Geh mir aus dem Weg«, knurrte ich. Ich hatte keine Zeit, höflich zu sein. Unnan schenkte mir nur einen verschlagenen Blick und ein böses Lächeln mit geschlossenem Maul. »Du weißt genau, dass ich dich dazu zwingen kann«, sagte ich. Den letzten Kampf hatte ich mit Leichtigkeit gewonnen, und ich wusste, jeden weiteren würde ich ebenso gewinnen. »Es kann schon sein, dass du mich zwingen kannst«, feixte Unnan. »Aber das würde eine Menge Lärm machen. Und du würdest nicht dazu kommen, deinen Menschen Streck zu sehen.« Ein Streck ist die niedrigste aller Beute. Beute, die so einfach zu töten ist, dass man nicht einmal außer Atem gerät, wenn man sie fängt. Ich blickte ihn zutiefst erschrocken an. Ich wollte nichts leugnen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Unnan wusste. »Und Ázzuen und Marra würden ihre auch nicht sehen können. Hast du geglaubt, ihr wäret schlau? Ihr trefft die Menschen, wann immer ihr die Gelegenheit dazu bekommt, und dann lügt ihr die Leitwölfe an. Ihr jagt und bringt dann keine Beute zurück zum Rudel.« »Wenn du schon so viel weißt, warum hast du dann Ruuqo und Rissa nichts davon erzählt?« Mein Magen zog sich zusammen, aber ich versuchte so zu klingen, als würde mir das alles nicht viel ausmachen. »Vielleicht werde ich das ja - vielleicht auch nicht«, antwortete Unnan. »Aber du gehst auf jeden Fall jetzt nirgendwo hin.« Bevor ich ihn aufhalten konnte, bellte Unnan laut auf. 160
Jeder Wolf auf dem Sammelplatz erwachte und starrte uns an.
»Welpen!«, rief Rissa streng. »Ihr wisst, dass ihr den Sammelplatz heute nicht verlassen sollt. Was macht ihr da ?« »Ich sah, dass Kaala weglief«, feixte Unnan. »Und ich weiß, dass wir das nicht sollen. Also habe ich sie aufgehalten.« »In Ordnung«, Rissa schien mehr erbost über Unnans schleimigen Tonfall zu sein als über meinen Ungehorsam. »Kaala, es ist jetzt nicht an der Zeit umherzuwandern. Geh und schlaf neben Trevegg und Ázzuen, bis es so weit ist, dass wir jagen können.« »Ja, Leitwolf«, sagte ich. Ich grüßte Trevegg, war aber mit meinen Gedanken ganz woanders und versuchte einen Weg zu finden, wie ich mich fortschleichen konnte. Ich bemerkte nicht, wie aufmerksam der Altwolf mich betrachtete. Er begann zu sprechen, doch als er sah, dass Rissa uns beobachtete, legte er seinen Kopf nieder. »Schlaf, mein Kleines«, sagte er. »Wir müssen uns später noch über etwas unterhalten.« Ich legte meinen Kopf auf die Pfoten. Ich war so angespannt, dass ich mir sicher war, ich würde die ganze Zeit hellwach bleiben, doch ich muss müder gewesen sein, als ich dachte. Sobald ich meine Augen geschlossen hatte, war ich auch schon eingeschlafen. Eine Hand auf meinem Rücken weckte mich. Ich riss meine Augen auf und blickte in TaLis Gesicht. Ich blinzelte ein paarmal. Und erstarrte vor Schrecken. Wir waren nur wenige Wolfslängen entfernt von den anderen Mitgliedern des Rudels, und sie würden bald erwachen, um auf die Jagd zu gehen. 161 Ich hätte niemals geglaubt, dass TaLi sich auf unseren Sammelplatz wagen würde. Ich hätte es voraussehen müssen. Und jetzt war sie gekommen. Ich fürchtete mich davor, was mein Rudel mit ihr tun würde, wenn sie sie sahen. Ich wollte ihr sagen, dass sie fortlaufen müsse, doch selbst das kleinste Winseln konnte die anderen auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen. Sie öffnete ihren Mund, um zu sprechen, doch ich stand auf und drückte ihr meine Nase heftig in die Wange. Ich sah, wie Treveggs Ohr im Schlaf zuckte. Auf der anderen Seite der Lichtung grunzte Minn und rollte sich auf die andere Seite. Ich stupste TaLi mit meinem Kopf, und sie griff fest in mein Fell. Ich gestattete ihr, mich in die Richtung zu führen, in die sie gehen wollte - solange es nur von hier fort ging. Ich erwartete jeden Augenblick, die Laute meines Rudels hinter mir zu hören. Der Geruch der Menschen ist so stark und so einzigartig, dass jeder Wolf ihn selbst aus großer Entfernung erkennen würde. Ich konnte nicht glauben, dass niemand ihren Duft bemerkt hatte. Dann erkannte ich, dass selbst ich das Mädchen nicht riechen konnte, obwohl sie direkt neben mir stand. Ich schnüffelte und schnüffelte noch einmal. Sie roch nach Wald, besonders nach einem kräftigen süßen Harzduft, und nach vielen der Pflanzen, die ich aus dem Bau kannte, wo ich sie zum ersten Mal begrüßt hatte. Ich wollte TaLi fragen, was ihren Duft so gut verdeckte, aber wir waren immer noch zu nahe am Gefallenen Baum. Sie zog sanft an meinem Fell, und ich ließ es zu, dass sie mich durch den Wald führte. Nachdem wir ein gutes Stück von meinem Rudel entfernt waren, hielt ich an und wartete auf eine Erklärung. Zwischendurch schnüffelte ich weiter an ihrer Haut.
»Es ist Uijin, Silbermond«, flüsterte sie. »Meine Groß 162
mutter macht es aus dem Harz der hoch gewachsenen Bäume. Sie nimmt Hagebutten dazu und ungefähr zwölf verschiedene Kräuter. Sie hat mir noch nicht gezeigt, wie man es macht - es braucht lange, bis man es richtig gelernt hat -, aber sie hat gesagt, sie würde es für mich machen, sodass die Wölfe mich nicht riechen können.« TaLi rieb ihre Arme und rümpfte die Nase. »Es ist klebrig.« Ich leckte ihren Arm und schmeckte das Uijin. Ich wollte mehr darüber wissen. Wenn es ihren Geruch selbst vor mir verbarg, konnte es für uns nützlich sein, um Beute zu jagen. Wir konnten uns an die Beute heranschleichen, und sie würde uns nicht riechen, bis wir bei ihr waren. Aber es waren so viele Pflanzen in der Mischung und auch Dreck. Sogar, das erkannte ich jetzt, zerkleinerte Insekten. Ich konnte mir nicht vorstellen, den Geruch zu erzeugen, indem ich mich in den verschiedenen Dingen wälzte. Dennoch konnte ich nicht aufhören, mehr davon zu schmecken. »Hör auf damit, Wolf«, sagte TaLi ein wenig verärgert und schob mein Gesicht beiseite. »Ich muss meinen Geruch noch verdecken. Es ist die Nacht der Aussprache, und Großmutter hat mich geschickt, dich zu holen. Sie hat gesagt, es sei wichtig.« Mir wurde bewusst, dass ich einen Teil von TaLis Arm fast sauber geleckt hatte und stupste sie mit der Nase als Entschuldigung. Ich sah das Mädchen voller Bewunderung an. Sie besaß zweimal so viel Mut wie ich. Ich konnte mich nicht einmal von meinem Rudel wegschleichen, um sie zu treffen, aber stattdessen hatte sie ihren Weg zu unserem Sammelplatz gefunden und es gewagt, in die Mitte eines Wolfrudels hineinzuspazieren, um mich zu holen. »Ich weiß nicht viel über die Aussprachen, Silbermond«, 162 sagte TaLi im Weitergehen. »Ich bin noch nicht wirklich alt genug, um an ihnen teilzunehmen, weil ich noch keine Frau bin. Aber Großmutter hat gesagt, wir sollten beide da sein. Ich war froh, als sie mir befohlen hat, dich zu holen.« Sie klang einsam. Ich berührte den Rücken ihrer Hand zärtlich mit meiner Nase. TaLis Beine waren länger geworden in den zwei Monden, seitdem ich sie aus dem Fluss gezogen hatte, sie bewegte sich mit leichten Schritten vorwärts. Nicht so rasch wie ein Wolf natürlich, aber immerhin. Ich war überrascht, wie schnell wir uns durch den Wald bewegten. Wir gingen ohne ein Wort, bis sich der Himmel verdunkelte, dann begann TaLi ihren Schritt zu verlangsamen. Das Rudel würde jetzt aufwachen, sich wundern, wo ich war, aber daran konnte ich nichts ändern. Mein Mensch hatte mich um meine Hilfe gebeten, also würde ich ihr helfen. »Wir sind fast da«, sagte TaLi und blieb dann plötzlich stehen. »Fast hätte ich es vergessen.« Sie nahm einen kleinen Kürbis aus dem Beutel, den sie trug, und hob das obere Teil ab. Der Geruch von Uijin strömte aus dem Kürbis. TaLi schöpfte etwas der harzigen Masse mit ihrer Hand heraus. Sie reichte zu mir hinüber und rieb das klebrige Zeug in mein Fell. Als sie fertig war, bemerkte ich, dass sie nichts auf meine Pfoten geschmiert hatte. Wahrscheinlich wusste sie nicht, dass die Geruchsdrüsen an unseren Pfoten einen besonders starken Duft hinterließen. Ich
rieb meine Vorderpfoten an meiner Schnauze, wo sie einen Brocken Uijin übersehen hatte, und kratzte mit den Hinterpfoten auf etwas von dem herum, was auf den Boden gefallen war. Ich nieste zweimal und sah dann TaLi an. Sie lachte auf und verschloss den Kürbis mit seinem Deckel, 163 dann ließ sie ihn in ihrem Beutel verschwinden. Wir gingen weiter. Nach wenig länger als einer Stunde hielt TaLi an einem unscheinbar aussehenden Flecken Gras mit einigem Staub und vielen großen Felsbrocken. Durch eine Lücke in den Bäumen konnte man in der Richtung, in der morgens die Sonne aufging, die hohen Berge sehen, die jetzt im Mondlicht schimmerten. Diese Stelle hätte sich gut als Sammelplatz geeignet, stellte ich fest. TaLi setzte sich und wartete, also setzte ich mich ebenfalls und wartete mit ihr. Da roch ich sie. Trotz allem, was die alte Frau mir erzählt hatte, konnte ich meiner Nase kaum glauben. Höchste Wölfe, viele, und sie kamen auf uns zu. Frandra und Jandru waren dabei und viele andere, die ich nicht erkannte. Ich hatte nicht gewusst, dass es so viele Höchste Wölfe im Tal gab. Ich winselte zu TaLi und begann mich zu entfernen. Als sie mir nicht folgte, nahm ich ihr Handgelenk zwischen meine Zähne und zog sie sanft. »Kommen sie, Silbermond?«, fragte sie. »Wir müssen uns verstecken, bevor sie da sind.« Das Mädchen blickte sich um, fand einen großen Felsen und versuchte, mich hinter ihn zu führen. Er lag jedoch in der Windrichtung, aus der die Höchsten Wölfe kamen. Ich wollte das Risiko nicht eingehen, dass sie uns vielleicht trotz des Uijin riechen konnten. Deshalb zog ich TaLi in Richtung des Gegenwinds zu einer Gruppe von Felsen auf der Wiese, um ein besseres Versteck zu finden. Ich fand zwei große Felsen direkt nebeneinanderstehend. Einer war zur Hälfte abgebrochen und bildete dadurch einen schmalen, flachen Überhang. An der Stelle, wo sich die Felsen berührten, war ein Spalt, in den wir beide hineinpassen würden. Ich führte TaLi 163
dorthin und sprang auf den Überhang. Sie folgte mir und zog sich mit ihren starken Händen hinauf. Wir zwängten uns in den Spalt zwischen den Felsen. Es war nicht sehr bequem, so eingeklemmt zwischen den zwei Felsen und mit TaLi, die sich an mich drängte, aber ich hielt still und atmete ruhig, um genug Luft in meine Lungen zu bekommen. Die Höchsten Wölfe stolzierten auf die Wiese, ohne sich darum zu kümmern, ob sie zu hören waren oder nicht. Sechs Paare, Frandra und Jandru inbegriffen, und ein einsamer, uralter männlicher Wolf versammelten sich auf dem vom Mond beschienenen Grasstück. Sie sprachen so leise miteinander, dass ich sie nicht hören konnte. Dann trat jedes Paar auf einen der Felsen zu. Jandru und Frandra hielten bei ihrem Felsen, und TaLi griff fester in mein Fell. »Manchmal merke ich, wie sie mich beobachten«, erklärte sie, ihre Stimme ein kaum wahrnehmbares Flüstern. »Diese beiden Krianan-Wölfe. Ich kenne sie. Sie sind diejenigen, die zu meiner Großmutter kommen.« Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was das Mädchen sagte, denn meine Nase erschnüffelte den Geruch von Menschen. Sie traten feierlich, einzeln und in
Paaren, auf das Grasstück. Ich musste die Luft anhalten, um bei diesem Frevel nicht laut aufzuheulen. Wie konnten sich die Höchsten Wölfe mit den Menschen treffen ? Ich konnte es nicht glauben, selbst wenn die alte Frau erzählt hatte, dass es so war. Die Höchsten Wölfe waren diejenigen, die darüber wachen sollten, dass die Gesetze eingehalten wurden, die besagten, dass man sich von den Menschen fernhalten musste. Frandra und Jandru hatten mich bedroht, als sie herausgefunden hatten, dass ich TaLi gerettet hatte! Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte. 164
Die Menschen grüßten die Höchsten Wölfe, so wie ein Wolf den anderen grüßt. TaLis Großmutter war der älteste Mensch dort, doch alle anderen Menschen hatten dieselbe Haltung, denselben Geruch von Stärke und Weisheit wie die alte Frau. Leise neben den Menschen hertapsend erkannte ich die junge Traumwölfin. Jeder der Menschen ging jetzt und stellte sich neben ein Paar der Höchsten Wölfe. TaLis Großmutter hielt neben Frandra und Jandru. Ich erkannte plötzlich, dass die Felsen nicht etwa willkürlich im Gras verstreut waren, wie ich gedacht hatte, sondern in einem großen Kreis angeordnet waren, sodass die Höchsten Wölfe und Menschen einen Ring bildeten, dessen Zentrum in der Mitte des Felskreises lag. Die junge Traumwölfin berührte mit der Nase die Hand der alten Frau und trabte durch den Mittelpunkt des Kreises. Weder die Wölfe noch die Menschen schienen sie zu bemerken. Sie ging entschlossen auf unseren Felsen zu und sprang herauf. Nachdem sie mir einmal wortlos schnell über den Kopf geleckt hatte, ließ sie sich über uns auf dem geborstenen Felsen nieder. Ich wagte es nicht, mit ihr zu sprechen, aus Angst, gehört werden zu können. Ich wandte meinen Kopf herum, um die Traumwölfin anzublicken, und sie grinste zurück. Schau zu und bleib still, Kaala Milchzahn, sagte sie. Ich wagte immer noch nicht, ihr zu antworten, und wandte mich dann wieder dem von Felsen umsäumten Grasstück zu. Alle Augen, die von Wölfen und Menschen gleichermaßen, waren auf die alte Krianan gerichtet. Sie trug die Haut eines Geschöpfes, das ich nicht kannte, einen dichten und vollhaarigen Pelz. Aus seinen Falten zog sie eine Klinge, die nicht aus Stein gemacht war wie die an der Spitze von TaLis 164
spitzem Stecken, sondern aus etwas leichterem, geschwungenem. Ich schnappte nach Luft. Es war der Zahn einer Säbelzahnkatze. Ich zitterte. Ich hoffte, niemals so nahe an eine Säbelzahnkatze herankommen zu müssen, um auch nur daran denken zu können, einen ihrer Zähne zu erbeuten. Der Zahn war an dem Ende eines Holzstückes vom Walnussbaum befestigt. Die alte Krianan erhob ihn hoch über sich und ging durch die Mitte des Felsenkreises. Sie wandte ihr Gesicht in die Richtung, in der am Morgen die Sonne aufgehen würde. Sie schien im Mondlicht zu leuchten, und der Zahn der Säbelzahnkatze schien einen Strahl des Lichts in den Himmel zu werfen. Die Stimme der alten Frau war hell und klar, wie die Stimme eines Wolfes zu seiner besten Zeit, wenn er sein Rudel zur Jagd ruft. Sie sprach in einem fließenden Rhythmus, den ich nie einen Menschen hatte gebrauchen hören, und der Ton ihrer Stimme stieg und fiel beinahe wie unser Heulen, wenn wir uns zur Jagd oder zu
einer Zeremonie zusammenfanden. Es klang ein wenig wie der Summton, den TaLi manchmal von sich gab, wenn wir nebeneinander hergingen, aber stärker und viel kraftvoller. »Ich rufe die Sonne«, sagte sie. »Ich rufe an die lebensspendende Wärme, Die Kraft der Flamme, Feuer und Beständigkeit, Licht und Hitze, Die den Pflanzen und Geschöpfen Kraft geben, hinaufzuwachsen Zum Himmel.« 165 Es brauchte einige Augenblicke, bis ich in der Lage war, die Frau zu verstehen. Sie sprach die Ursprache, die älteste und urtümlichste Sprache auf Erden. Alle unsere Sprachen waren daraus entstanden, und Ruuqo und Rissa hatten verlangt, dass wir einiges davon lernten, damit wir so viele Geschöpfe wie möglich verstehen konnten. Ich hatte jedoch keine Ahnung gehabt, dass die Menschen sie kannten. Ich fragte mich, ob ich sie benutzen konnte, um mich mit TaLi zu verständigen. Der greise Höchste Wolf trat vor und traf die alte Frau in der Mitte des Kreises. Er bewegte sich langsam, als ob es ihm Schmerzen bereitete, und wandte sein Gesicht in die Richtung, in der am Abend die Sonne untergegangen war. Seine Stimme, als er sie jetzt erhob, klang, als würden trockene Zweige unter Schritten zerbrechen. »Ich rufe den Mond, Freund der Nacht, Gefährte der Sterne, Sanftheit verborgen in wahrer Macht, Zurückweichen um, Kraft zu gewinnen, Kühles Ficht, leitendes Bild Zum Himmel.« »Das ist es, wozu die Aussprache dient, Silbermond«, sagte TaLi und schmiegte sich an mich. »Ich kann vieles davon noch nicht verstehen«, meinte sie wehmütig, »aber bald werde ich es lernen.« Die alte Frau sprach wieder. Sie sprach von der Erde, rief sie an als die Spenderin von Leben und Schutz. Ich begann zu verstehen. Die Aussprache war ein Ritual, wie unser Welpen-Willkommen oder die Jagd-Zeremonien. Es überraschte 165 mich, dass es für die Menschen ebenso wichtig war wie für uns. TaLi beugte sich über mich und lehnte ihr Gewicht auf meinen Rücken, während die alte Frau ihre Klinge in die Richtung schwang, aus der die Sonne niemals schien. Dann war wieder der alte Höchste Wolf an der Reihe. »Himmel, Erwecker der Winde, Hüter von allem, was ist. Erster Vater, erste Mutter, Alles, was ist, ist dein. Schöpfer von Licht, Dunkelheit, Leben und Tod, Erde, Sonne und Mond.« Die alte Frau senkte ihre Klinge und lehnte sich gegen den breiten Rücken des greisen Höchsten Wolfs. Er schmiegte sich an sie, und für den Bruchteil eines Augenblicks wirkte es, als seien sie ein Geschöpf. »Hüterwölfe«, rief die alte Frau. »Wir erneuern unser Versprechen, gegeben von den Vorfahren unserer Vorfahren. Das Versprechen, unser Volk zu bewahren vor
Stolz, vor Zerstörung, vor Gier und davor, zu oft zu töten. Wir nehmen, was wir von euch heute Nacht lernen, und teilen es mit unserem Volk.« Der alte Höchste Wolf senkte seinen Kopf und sprach. »Und wir erwidern euer Versprechen mit unserem eigenen, erinnern uns an das Versprechen, das unser erster Vater gab. Indru. Wir versprechen, unser Volk davon abzuhalten, dem euren Schaden zuzufügen. Wir schwören, Lehrer zu sein für euer Volk und euch zu helfen, das Gleichgewicht des Lebens zu erhalten. Im Namen von Indru versprechen wir dies.« 166
Dann legte sich jeder Mensch zu einem Paar der Höchsten Wölfe. Die Luft war erfüllt von der Kraft der Aussprache, und der Mond schien heller, als er das sonst tat. Ein schwaches Licht schien von beiden auszugehen - der alten Frau und dem ältesten Höchsten Wolf, der gesprochen hatte. Das Licht wuchs und umgab mit einem Mal alle Höchsten Wölfe und Menschen. Ich konnte beinahe hören, wie die Luft sich verdichtete und machtvoll zitterte. Komm mit mir. Es ist an der Zeit für mich zu gehen. Ich setzte meine Pfote fest auf TaLis Brust, um sie wissen zu lassen, dass sie dort bleiben sollte. Dann krabbelte ich unter dem Überhang hervor und kroch vorsichtig, damit mich keiner der Höchsten Wölfe bemerken würde, an der Rückseite des Felsens hinunter. Er war dort steiler als an der Vorderseite, und ich landete unsanft auf meinem Hinterteil, als ich hinunterrutschte. In dem Versuch, meine Würde einigermaßen wieder herzustellen, berührte ich mit meiner Nase die der Traumwölfin. Ich muss jetzt gehen, sagte sie, sonst wird man mich vermissen. Doch die Dinge entwickeln sich schneller, als ich erwartet habe. Ich hatte gehofft, du hättest wenigstens ein ungestörtes Jahr in deinem, Fell, bevor dies geschehen würde. Dass du alt genug wärest, um für dich selbst zu sorgen. »Was soll geschehen?« Still, befahl sie. Sie können mich nicht hören, aber sie können dich hören. Du weißt, dass die Wölfe bei den Menschen sein müssen, weil sonst die Menschen zu vieles zerstören würden ? »Das ist es, was die alte Menschenfrau uns erzählt hat«, flüsterte ich. »Sie hat uns erklärt, dass wir mit den Menschen sein müssen, aber dass wir das nicht wirklich können, weil wir 166
jedes Mal, wenn wir zusammenkommen, miteinander kämpfen werden. Aber die Legenden sagen etwas anderes!« Eure Legenden lügen, sagte die Traumwölfin. Die Krianan der Menschen spricht die Wahrheit. Mein Atem blieb irgendwo auf dem Weg zwischen meiner Kehle und meinen Lungen stecken. So sehr ich mir auch gewünscht hatte, dass es richtig für mich sein sollte, bei TaLi zu bleiben, hatte ich es doch nicht wirklich glauben können. Ich konnte nicht verstehen, wie alles, was man mir beigebracht hatte, falsch sein konnte, wie Ruuqo, Rissa und selbst der weise Trevegg so sehr unrecht haben sollten. Dennoch, selbst von der Stelle, an der ich jetzt mit dem jungen Traumwolf stand, konnte ich die Höchsten Wölfe noch mit den Menschen sprechen hören. Es war nicht zu leugnen.
Ich wusste nichts davon, als mein Rudel mit den Menschen lief. Ich war wie du - ich fand einen Menschen und jagte mit ihm gemeinsam. Mein Rudel wurde stärker von dem Fleisch, das wir gemeinsam mit den Menschen erbeuteten. Doch dann gab es einen Krieg - einen Krieg zwischen den Menschen und den Wölfen. Die Hüterwölfe erklärten, es sei meine Schuld gewesen - dass ich mich mit den Menschen abgegeben hätte, ohne zu wissen, was ich tat, und dass die Ahnen uns für diesen Krieg bestrafen würden. Sie sagten, sie allein wüssten, wie mit den Menschen umzugehen sei, und dass es nur einen einzigen Weggebe, mein Rudel zu retten, nämlich, sie zu verlassen. Sie schickten mich von meinem, Zuhause fort. Ihre Stimme klang verbittert. Viele Jahre lang war ihr Weg erfolgreich, und ich begann zu glauben, dass sie recht hatten, dass ich tatsächlich den Zwist verursacht hatte, dass es meine Schuld gewesen war, dass der Krieg zwischen den Menschen und Wölfen ausgebrochen war. Aber jetzt versagen sie, und ich denke, ich habe nicht 167 richtig gehandelt, als ich den Höchsten Wölfen gehorchte. Deshalb bin ich zu dir gekommen. Ich blickte sie einfach nur an. Ich hatte keine Ahnung, was zu tun sie von mir erwartete. Bald werden die Menschen?! und die Wölfe wieder miteinander kämpfen, und dieses Mal wird es keine Möglichkeit für einen neuen Anfang geben. »Warum sollten die Wölfe kämpfen?«, flüsterte ich. »Das widerspricht unseren Gesetzen.« Gesetze können gebrochen werden. Legenden können vergessen werden. Und der Friede im Großen Tal war immer schon ein brüchiger Friede. Die Hüterwölfe haben immer schon zu vieles vor unserem Volk verheimlicht, und die Geheimnisse sind es, die immer wieder zu Schwierigkeiten führen. Von plötzlichem Zorn erfüllt, hob ich mein Kinn gegen die Traumwölfin. Wer war sie, dass sie von Geheimnissen zu mir sprach? Die ganze Zeit hatte ich mich darum gesorgt, dass ich unnatürliche und gefährliche Gefühle für TaLi hegte. Und wieder und immer wieder war die Traumwölfin zu mir gekommen. Sie hatte von den Lügen gewusst und mir nichts davon erzählt. »Warum hast du mir nicht früher davon erzählt?«, wollte ich wissen. »Warum bist du nur immer wieder einfach zu mir gekommen und dann wieder verschwunden? Warum hast du mir stattdessen nicht davon erzählt?« Sie zog ihre Lefzen knurrend hoch. Du hast keine Vorstellung davon, was es mich kostet, >einfach< zu dir zu kommen, wie du es nennst. Ich kann dir nichts von dem erzählen, was ich in der Traumwelt erfahre. Alles, was ich tun kann, ist, dir den Weg zu zeigen, auf dem du es selbst herausfinden wirst. Du weißt mehr, als ich jemals gewusst habe. Ich wusste nichts! 167 Die Traumwölfin blickte wieder über ihre Schulter. Ich bin schon zu lange geblieben - und habe dir zu viel erzählt. Du musst dem zuhören, was die Höchsten Wölfe heute Nacht sagen. Du musst herausfinden, wie nahe Menschen und Wölfe schon einem Krieg sind. Und dann musst du einen Weg finden, den Krieg zu verhindern. »Wie soll ich das tun?« Du und dein Mädchen, ihr müsst es schaffen. Ihr müsst die Lösung finden, die ich nicht gefunden habe. Bevor die Menschen und Wölfe miteinander zu kämpfen beginnen. Wenn sie sich einmal bekriegen, dann ist alles verloren. »Aber wie?«, wollte ich wissen. »Woher soll ich wissen, was zu tun ist?« Ich muss jetzt gehen. Du weißt, was ich nicht wusste. Gebrauche dieses Wissen klug!
Bevor ich der Traumwölfin noch eine der vielen Fragen stellen konnte, die in meinem Kopf umherschwirrten, war sie verschwunden, leise in den Wald geschlüpft. Ich hätte mich am liebsten auf der Stelle zusammengerollt, geschlafen und alles vergessen, was ich gehört und gesehen hatte. Doch TaLi wartete noch auf mich, und wenn die Traumwölfin recht hatte und Krieg das Tal bedrohte, musste ich hören, was die Höchsten Wölfe heute noch zu sagen hatten. Zitternd kletterte ich wieder unter den Felsüberhang und schmiegte mich an TaLi. Ich wünschte mir mehr als je zuvor, dass ich mich ihr besser verständlich machen könnte. Ich wollte ihr erzählen, was der Traumwolf gesagt hatte. Stattdessen drückte ich mich eng an sie, und sie zog mich an ihre Brust. Die Menschen und Wölfe hatten sich erhoben. Wir beobachteten, wie zwei der Menschen der alten Frau halfen, auf 168
einen hohen Felsen zu steigen. Trotz ihres Alters stand sie dort sicher auf ihren Füßen und wandte sich an die Höchsten Wölfe. Sie hielt ihre Arme hocherhoben und stand wortlos so da, bis jeder Wolf und jeder Mensch im Kreis seinen Blick auf sie gerichtet hatte. »Die meisten von euch wissen«, sagte sie, »dass unsere Aussprachen nicht mehr länger ausreichend sind. Es gibt Unstimmigkeiten im Tal. Wir müssen wissen, was ihr gehört habt.« Der greise Höchste Wolf trat vor. Er stieg nicht auf einen Felsen, und dennoch waren alle Augen auf ihn gerichtet. »Wir haben ebenfalls davon gehört«, sagte er, mit seiner Stimme, die wie zerbrechende Zweige klang. »Mit jeder Aussprache scheint es schlimmer zu werden. Wir wissen, dass einige Wölfe nicht länger an die Legenden glauben. Und dass viele Menschen alle Wölfe auslöschen möchten. Wir verstehen, NiaLi«, sagte er zu der alten Frau, »dass dein Volk nicht länger die Krianan so achtet, wie es das tun sollte. Dass du nicht länger die Macht hast, es zu beeinflussen.« »Das ist wahr, Zorindru.« In ihrer Stimme lag etwas wie Schärfe, als sie den greisen Höchsten Wolf jetzt direkt ansprach. »Wir verlieren unseren Einfluss. Aber es ist genauso wahr, dass ihr eure Wölfe nicht länger unter Kontrolle habt.« Eine Frau trat vor. Sie war sehr viel jünger als TaLis Großmutter, aber immer noch um einiges älter als TaLi. Wäre sie ein Wolf gewesen, hätte sie genau das richtige Alter gehabt, um ein Rudel anzuführen - jung genug, um noch alle Kräfte zu haben, aber schon alt genug, um sich ihrer selbst sicher zu sein. Hätte sie Fell auf dem Rücken getragen, wäre es jetzt gesträubt gewesen. Sie sprach voller Zorn. »NiaLi hat recht. Mir wurde berichtet, dass Wölfe zwei 168
Menschen getötet haben. Einen jungen Mann aus dem Lin-Stamm und ein Kind von den Aln. Die Leute von Aln betrachten mich als ihre Krianan und verlangen, dass ich ihnen den Körper des toten Wolfes bringe. Sie wollen sich rächen und alle Wölfe umbringen. Bislang ist es mir gelungen, sie zu beschwichtigen. Aber wenn ihr eure Wölfe nicht unter Kontrolle bringt, kann ich nicht sagen, was mein Volk tun wird.« »Darüber bin ich mit dir vollkommen einig«, erklärte Zo-rindru. »Wenn sicher ist, dass es tatsächlich ein Wolf war, der die Menschen getötet hat, und nicht irgendein
Bär oder eine Säbelzahnkatze, und wenn die Angriffe nicht provoziert wurden, werden wir herausfinden, wer dieser Wolf war und ihn und sein Rudel töten.« Mir blieb das Herz im Halse stecken. Es war schrecklich zu hören, dass ein Wolf tatsächlich Menschen getötet haben sollte und dass die fürchterliche Bestrafung dafür wirklich ausgeführt werden würde. TaLi griff fester in mein Fell. Ich fragte mich, wie viel von der Ursprache sie wohl verstand. »Und da ist noch etwas.« Der Menschenmann, der jetzt sprach, war jung, nicht viel älter als TaLi, und er sprach mühsam, so als sei er es nicht gewohnt, sich in der Ursprache zu verständigen. »HaWen ist der neue Führer der Wen-Sippe, und er hat geschworen, das Tal von allen Wölfen zu befreien. Seine Gefährtin hat das letzte Kind verloren, das sie in ihrem Bauch trug, und sie sagt, das komme daher, dass sie einen Wolf gesehen habe, als sie Korn sammelte.« TaLis Großmutter nickte. »JiLin behauptet ebenso, dass sein jüngster Sohn sein Bein brach, weil er auf einen Pfad getreten war, den Wölfe benutzt hatten«, sagte sie. »Er behauptet, wir lägen falsch, wenn wir den Notwendigkeiten der Erde 169
und des Himmels Beachtung schenkten. Er sagt, dass die Nahrung im Tal - die der ganzen Erde - nur für die Menschen bestimmt sei und dass die Geschöpfe, die sie den Menschen wegnähmen, getötet werden müssten. Haben andere auch solche Dinge gehört?« »Ja«, sagte der junge Mann schnell, dann senkte er seinen Blick, als die älteren Krianan ihn alle ansahen. Er schluckte mehrere Male schnell hintereinander, fuhr dann aber fort. »HaWen hat gesagt, dass es unseren Stämmen nur gutgehen wird, wenn wir alle Wölfe und alle von den mit Messern bezahnten Löwen umbringen.« »Es ist dasselbe in meiner Sippe«, meinte eine andere Frau, ihre Stimme war leise, aber klar vernehmbar. Sie legte ihre Hand auf die Schulter des jungen Mannes. »Ich habe mein Bestes versucht, um die anderen zu beschwichtigen, aber ich hatte keinen Erfolg.« »Wir alle haben unser Bestes gegeben, um unser Volk davon abzuhalten, solchen Unsinn zu glauben«, erklärte TaLis Großmutter. »Aber wenn sich noch mehr Geschwätz darüber verbreitet, dass Wölfe die Menschen angreifen, dann fürchte ich, kann ich mein Volk nicht mehr davon abhalten, alle Wölfe zu töten, die es sieht.« Für einige Augenblicke war es vollkommen still. Ich konnte fühlen, wie TaLis Herz schnell an meiner Seite schlug. Auch mein Herz raste. Die Traumwölfin hatte recht gehabt. Der Krieg näherte sich. Und ich hatte keine Ahnung, was wir dagegen tun konnten. »Wir hören euch«, sagte Zorindru, »und wir verstehen euch. Wir werden die Abstammungslinie eines jeden Wolfes ausrotten, der Menschen ohne Grund angreift. Und wir werden diejenigen, die uns folgen, an ihre Verantwortung ge 169 mahnen. Geht in Frieden«, sprach er und nickte den Menschen zu. Ich dachte, die alte Frau würde noch etwas sagen. Sie schien offensichtlich noch etwas von dem alten Höchsten Wolf zu erwarten, und ihre Schultern waren zornig erhoben. Doch sie streckte lediglich ihre Arme aus, um sich von dem Felsen herunterhelfen zu lassen.
»Geht in Frieden, Wächterwölfe.« Die alte Krianan verließ den Felskreis, gefolgt von den anderen Menschen. »Ich muss Großmutter nach Hause helfen«, flüsterte TaLi. Bevor ich sie aufhalten konnte, war sie den Felsen hinuntergeklettert und im Wald verschwunden. Ich begann ihr zu folgen, bemerkte jedoch, dass Frandra und Jandru in meine Richtung sahen. Ich konnte das Risiko nicht eingehen, dass sie mich entdecken würden. Ich rutschte an der Rückseite des Felsens hinunter und machte mich auf den Weg nach Hause, dachte angestrengt über das nach, was ich erfahren hatte, und fragte mich, was um alles im Mond ich nur tun konnte. Trevegg wartete auf mich, als ich zum Sammelplatz zurückkehrte. »Du hast bei der Jagd auf die Antilopen gefehlt«, stellte er fest. »Das hat Ruuqo nicht gefallen.« »Ich habe kleine Beute gejagt«, antwortete ich und wich seinem Blick aus. »Habt ihr etwas gefangen?« Ázzuen stand auf und stellte sich neben mich. »Nein«, sagte Trevegg. Er betrachtete mich eine ganze Weile. Als er schließlich sprach, war seine Stimme leise. »Ich habe von der Zeit, die du bei den Menschen ver 170 bringst, nichts erwähnt.« Ich schrak zusammen und blickte zu ihm auf. Ázzuen quiekte vor Überraschung. »Als ich bemerkte, wie du und deine Freunde zu ihnen gingen, hätte ich es vielleicht von Anfang an unterbinden sollen. Aber irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas, das uns die Höchsten Wölfe nicht erzählen. Ich hatte gehofft, du würdest es vielleicht herausfinden. Ich wusste von dem Augenblick an, als du dich gegen Ruuqo stelltest - entschlossen zu kämpfen, auch wenn du gerade erst einen Mond alt warst -, dass du anders werden würdest.« »Ich bin nicht so sehr anders«, erklärte ich. »Und ich will die Dinge nicht verändern. Ich will nur den Menschen nahe sein.« »Das bedeutet, die Dinge verändern zu müssen«, sagte Trevegg sanft. »Du kennst die Legenden. Wusstest du, dass Ruuqos Bruder fortgeschickt wurde, weil er zu den Menschen ging?« »Ja«, gab ich zu. »Gut. Mein Bruder war damals der Leitwolf des Rudels vom Schnellen Fluss. Hiiln sollte sein Nachfolger werden. Er und Rissa hatten einander erwählt, und ich hätte mir kein besseres Paar vorstellen können, um die Linie der Wölfe vom Schnellen Fluss fortzusetzen.« Traurigkeit schlich sich in seine Stimme. »Aber als Hiiln sich weigerte, aufzuhören zu den Menschen zu gehen, wusste ich, dass ich meinem Tal eine Pflicht schuldig war. Ich riet meinem Bruder, ihn fortzuschicken, und er hat es getan, obwohl es ihm das Herz brach. Wenn ich daran zurückdenke, frage ich mich, ob ich richtig gehandelt habe. Also habe ich weggeschaut, wenn du zu den Menschen gegangen bist.« »Es gibt eine Legende, die nur den Leitwölfen erzählt 170 wird«, sagte er langsam. »Mir hat man sie erzählt, als es so aussah, als ob ich das Rudel vom Schnellen Fluss anführen müsste. Sie ist der Grund dafür, dass Ruuqo
sich so vor dir fürchtet, Kaala. Ich hätte dir davon erzählen sollen, als er sich weigerte, dich jagen zu lassen. Es heißt, dass ein Wolf geboren werden wird, der das Abkommen erschüttert. Dieser Wolf wird das Ende für das Geschlecht der Wölfe bringen, wie wir es kennen. Es heißt, dass dieser Wolf das Zeichen des halben Mondes tragen und dass er großen Aufruhr bringen wird, der sein Rudel entweder rettet oder zerstört. Deine Mutter wollte niemandem verraten, wer dein Vater war, aber wenn er einer von denen war, die sich zu den Menschen hingezogen fühlen, könntest du dieser Wolf sein.« »Ich bin keine Legende.« Mir fiel es schwer, die Worte heraus zubringen. Trevegg blickte mich lange an. »Vielleicht nicht«, meinte er liebevoll. »Andere Wölfe tragen das gleiche Zeichen. Aber jetzt ist Ruuqos Misstrauen geweckt, und es gibt Unruhe im Tal. Du musst vorsichtig sein, Kaala.« Ich wimmerte leise. Es war zu viel für mich, als dass ich jetzt darüber nachdenken konnte. »Das müssen wir nicht heute lösen«, erklärte Trevegg plötzlich. »Vielleicht hat es auch alles gar nichts zu bedeuten, und du bist einfach nur ein Junges, das nicht gerne den Befehlen gehorcht.« Er leckte mir über den Kopf. »Jetzt geh und entschuldige dich bei Ruuqo«, sagte er. »Und verpass nicht wieder eine Jagd.« Ich leckte dankbar die Schnauze des Altwolfs und ging auf den Sammelplatz, um mich bei Ruuqo zu entschuldigen. 171 Ázzuen, Marra und ich schleppten jeder ein Stück Rehfleisch den Wolfstöter Hügel hinauf. Zugegeben, unser erstes Reh war alt und verletzt gewesen, aber sein Fleisch schmeckte genauso süß wie jedes andere, das ich zuvor gekostet hatte. Ich hatte falschgelegen, was MikLan betraf. Er war kräftig für seine Größe, und er war derjenige, der den ersten Wurf gemacht hatte. Die Menschen besaßen besondere Stöcke, die ihnen halfen, die spitzen Stecken weiter zu werfen. MikLan war besonders gut darin, sie zu benutzen. Wir sechs erlegten das Reh mit einer solchen Leichtigkeit, dass es beinahe lächerlich war. Und das gerade noch rechtzeitig. Die meisten Elen hatten die Weite Ebene verlassen, und nur wenige waren noch bei der Wiese des Hohen Grases geblieben. Vor zwei Tagen hatte uns Ruuqo erklärt, dass, wenn es in den nächsten Nächten keine erfolgreiche Jagd gebe, wir unsere Winterwanderungen beginnen müssten. Es war jetzt an der Zeit - es schneite mehr, als dass es nicht schneite, und unser 171 Winterfell war dicht geworden. Ich verwandte viel Zeit darauf, darüber nachzudenken, wie es mir gelingen sollte, das Mädchen im Winter zu sehen. Es würde schwieriger werden, dann noch mit den Menschen zu jagen, also war ich froh, dass es uns schon gelungen war, gemeinsam größere Beute zu erlegen. Und ich war froh, dass die gemeinsame Jagd mit den Menschen mir erlaubte, so viel als möglich von dem zu vergessen, was während der Aussprache geschehen war. Nicht einmal Ázzuen hatte irgendwelche Ideen, was wir gegen das, was ich erfahren hatte, tun konnten. Ich konnte nur hoffen, dass jegliche Schwierigkeiten so lange auf sich warten ließen, bis uns etwas eingefallen war. Ázzuen, Marra und ich hatten darüber gestritten, was wir mit unserem Anteil an dem Reh tun sollten. Wir hatten einiges vergraben, mussten aber für das Rudel
immer noch eine Erklärung finden. »Sie werden es an unserem Atem riechen«, behauptete Marra. »Es ist eine Sache, nach Hasen zu riechen. Die könnten wir mit Leichtigkeit selbst fangen. Aber nicht ein Reh. Wenn sie erfahren, dass wir ein Reh erlegt haben, werden sie alles ganz genau wissen wollen.« Marra war diejenige von uns, die am besten darüber Bescheid wusste, wie die Dinge in einem Rudel abliefen. Es ergab Sinn, was sie sagte. »WTir könnten behaupten, wir hätten es bereits tot gefunden«, schlug ich vor. »Es ist zu frisch«, sagte Ázzuen, »und wir riechen nach der Jagd. Sie werden merken, dass wir lügen.« Anders als der Geruch der Menschen, der nur auf der Oberfläche unseres Fells und unserer Haut lag, war der Duft nach der Jagd von großer Beute tief in uns und konnte nicht einfach abgewaschen oder überdeckt werden. 172 »Also, was sollen wir ihnen sagen? Müssen wir es hierlassen?«, fragte ich enttäuscht. »Das können wir auch nicht«, antwortete Marra bedächtig. »Sie werden bemerken, dass wir große Beute erjagt haben, und sich fragen, warum wir davon nichts mit zum Rudel gebracht haben.« »Wir müssen uns eben etwas ausdenken.« Ázzuen klang, als sei er sicher, dass ihm eine Lösung einfallen werde. Ich beneidete ihn um seine Klugheit. Ich konnte beinahe hören, wie sein Verstand arbeitete. Marra und ich warteten, während seine Ohren zuckten und seine Augen halb geschlossen waren. Es dauerte nicht lange, bevor seine Augen aufleuchteten. Eine Stunde später gingen wir wachsam den Weg zum Wolfstöter Hügel hinauf. Der Wolfstöter Hügel war ein recht kleiner, aber dennoch steiler Hügel, der sich merkwürdigerweise genau mitten im Wald erhob, einen nicht allzu langen Lauf vom Gefallenen Baum entfernt. Einige behaupteten, der Wolfstöter Hügel sei früher ein großer Vulkan gewesen und dass der kleine zerklüftete Berg alles sei, was jetzt noch davon übrig geblieben war. Andere sagten, er sei von den Menschen oder von den Höchsten Wölfen vor langer Zeit dort errichtet worden. Er hatte seinen Namen erhalten, weil Wölfe, die nicht vorsichtig genug auf ihm herumliefen, leicht von einem der vielen steilen Abhänge abrutschen und auf die zerklüfteten Felsen darunter fallen konnten. Ázzuens Idee war einfach. Wir würden sagen, dass wir ein Reh zu dem Hügel verfolgt hätten und es über eine der Kanten hinuntergestürzt sei und dass wir nur einen Teil des Fleisches ergattern konnten, bevor der Rest ein Kliff hinuntergefallen sei. Alles, was wir tun mussten, war, unsere Rücken an der Rinde 172 von einer der alten Eiben zu scheuern, die nur dort oben auf dem Wolfstöter wuchsen. Dann gab es keinen Grund für die Wölfe unseres Rudels, an unserer Geschichte zu zweifeln. Hofften wir. »Können wir das Fleisch nicht einfach hierlassen?«, murmelte ich auf halbem Weg den Berg hinauf. Der Anstieg war steil, und es war schwierig, zu klettern und gleichzeitig das Fleisch festzuhalten. »Es sollte nach dem Gipfel riechen«, keuchte Ázzuen. »Es ist nicht mehr weit.« »Ihr beide müsst mehr laufen«, grinste Marra um ihr Fleisch herum. »Ihr werdet alt und gebrechlich.«
Ich hielt an, um zu Atem zu kommen und um eine passende Antwort zu finden. Im selben Augenblick roch ich die Wölfe vom Felsgipfel. Ázzuen und Marra bemerkten den Geruch fast gleichzeitig mit mir. Wir hörten das Gemurmel von Stimmen, konnten die einzelnen Worte aber nicht ausmachen. »Was tun sie auf unserem Gebiet?«, wollte Ázzuen wissen und legte sein Fleisch nieder. »Und noch viel wichtiger - wo sind sie ?« Marra blickte um sich. »Sie müssen auf der anderen Seite des Hügels sein«, sagte Ázzuen. »Irgendwie werden ihre Stimmen hierher geweht.« »Mindestens vier von ihnen«, stellte Marra fest, hob ihre Nase in den Wind und senkte sie dann in den Staub. »Ich glaube, Torell ist einer von ihnen. Ich bin mir nicht sicher, wer die anderen sind.« Ich hatte ebenfalls Torells unverwechselbaren, kranken Geruch erkannt. Entrüstung mischte sich in meine Furcht, als ich bemerkte, dass die Wölfe vom Felsgipfel mindestens 173 seit zwei Tagen auf unserem Land sein mussten. Der Hügel behinderte die Strömung des Windes, sodass unser Rudel sie noch nicht gerochen hatte. »Wir müssen es Rissa und Ruuqo erzählen«, meinte Ázzuen zweifelnd. »Das können wir nicht«, sagte Marra. »Das Rudel wird hierherkommen wollen, um sie zu sehen, und dann werden sie unsere Fährte bis zu den Menschen zurückverfolgen. Wir werden nicht die Zeit haben, die Fährte zu verwischen.« Marra hatte recht. Aber unsere Verpflichtungen gegenüber dem Rudel geboten uns, dass wir den Leitwölfen von den Wölfen vom Felsgipfel erzählten. »Wir könnten herausfinden, was die vom Felsgipfel hier tun«, schlug ich vor. »Wenn sie das Gebiet verlassen und keine Schwierigkeiten machen, müssen wir vielleicht gar nichts sagen. Wenn sie das nicht tun, haben wir wenigstens etwas Genaueres, das wir Ruuqo und Rissa erzählen können, und dann haben wir vielleicht auch die Zeit, unsere Fährte zu verwischen.« »Dann würden wir dem Rudel wertvolle Neuigkeiten bringen«, meinte Marra nachdenklich. »Und wir könnten Ruuqo und Rissa erzählen, dass wir die vom Felsgipfel auf unserem Weg nach Hause vom Wolfstöter gehört haben«, fügte Ázzuen hinzu. »An irgendeiner Stelle, von der aus sie unsere Fährte zu den Menschen nicht aufnehmen können.« Ázzuen und Marra blickten mich beide an, als sei ich diejenige, die eine Entscheidung treffen müsse. Merkwürdigerweise wünschte ich mir, dass Tlitoo in der Nähe wäre. Es war mehr als die Hälfte eines Mondes her, seitdem ich den Vogel vor der Hütte der alten Frau gesehen hatte. Ich hatte nicht 173 vorhergesehen, dass ich seine entnervenden Kommentare irgendwann einmal vermissen würde, aber zumindest blickte er mich jetzt nicht mit diesem Ausdruck an, als wüsste er, was ich zu tun habe. »Wir wollen nicht, dass Ruuqo herausfindet, dass wir ihn anlügen«, erklärte ich, endlich zu einem Entschluss gekommen. Ich hatte Ázzuen und Marra da mit
hineingezogen. Es war meine Pflicht sicherzustellen, dass sie nicht wegen mir vom Rudel verbannt wurden. »Wir finden heraus, was die vom Felsgipfel hier tun.« Ázzuen und Marra senkten zustimmend ihre Köpfe. Wir vergruben das Fleisch nicht zu tief, sodass wir es auf unserem Heimweg leicht wiederfinden konnten. »Marra du führst uns hin, Ázzuen, du hältst die Ohren offen für alles Ungewöhnliche«, sagte ich. Marra hatte die beste Nase von uns und Ázzuen die besten Ohren. Gemeinsam konnten die beiden wirklich alles aufspüren. Ich wollte sichergehen, dass wir so wachsam wie möglich waren. Wir fanden die Wölfe vom Felsgipfel versteckt unter einem Überhang genau auf der anderen Seite des Berges. Der überstehende Felsen ergab einen guten Platz, um zu lagern, und er half ihnen wahrscheinlich auch, ihren Geruch zu verbergen. Hätte der Wind sich nicht gedreht, während wir den Berg heraufgeklettert waren, hätten wir sie vielleicht nie gerochen. Marra führte uns gegen den Wind, der aus der Richtung der Wölfe vom Felsgipfel wehte, sodass sie uns nicht riechen konnten. Wir mussten uns an einer scharfen Kante auf Teilen von Felsstücken niederlegen, direkt über und ein wenig rechts von ihrem Versteck. Die Geschichten von Wölfen, die den Wolfstöter Hügel hinuntergestürzt waren, gingen mir wieder durch den Kopf, und ich setzte meine Pfoten fest 174 zwischen die Felsen. Mein Herz schlug so schnell, dass ich mir sicher war, die vom Felsgipfel könnten es hören. Ich reckte meinen Hals ein wenig, um ihr Versteck besser sehen zu können. Torell war da, der grimmige, schrecklich vernarbte Wolf, der uns am Überquerungsbaum herausgefordert hatte, und noch drei andere - zwei männliche und ein weiblicher Wolf. Das Weibchen war Ceela, Torells Gefährtin. Die anderen beiden Wölfe kannte ich nicht. »Es ist jetzt oder nie«, sagte ein schlanker, aber kräftig aussehender junger Wolf gerade. »Unser Gebiet wird wertlos für uns. Es gibt nichts Gutes mehr zu erjagen, keine sicheren Plätze, um zu lagern. Wenn wir sie nicht töten, werden die Wölfe unserer Herkunft aussterben.« »Wir müssen vorsichtig sein«, meinte Torell, sein verwüstetes Gesicht zu einer Grimasse verzogen. »Wir müssen schlau vorgehen. Dies ist nicht so einfach wie damals, als wir das Land von den Wühlmausfressern eingenommen haben. Wir sind zahlenmäßig unterlegen. Sie haben Kräfte, die wir nicht haben.« »Sprechen sie von uns?«, flüsterte Ázzuen. Ich warf ihm einen bösen Blick zu und zog meine Lefzen zurück, um ihn zu ermahnen, ruhig zu bleiben. Ich wagte es nicht zu sprechen. Er senkte seine Ohren als Entschuldigung. »Ich habe keine Angst vor Schwächlingen«, erklärte das große Weibchen. »Sei nicht dumm, Ceela«, antwortete Torell. »Wenn wir nicht vorsichtig sind, werden wir alles verlieren. Wir haben nur diese eine Gelegenheit. Außerdem werden uns die Höchsten Wölfe umbringen, wenn wir nicht klug vorgehen. Wir können nicht darauf zählen, dass ihre eigenen Angele 174
genheiten sie weiter ablenken. Wir müssen sehen, ob uns das Rudel vom Höhenwald und das Rudel vom Windsee unterstützen werden. Ohne sie haben wir keine Aussicht auf Erfolg.« Ihnen zuzuhören half mir kein bisschen zu verstehen, was vor sich ging. Was meinten sie mit den Schwierigkeiten der Höchsten Wölfe? Und wozu brauchten sie die Hilfe der Wölfe vom Höhenwald und Windsee? Ich wusste, dass die vom Felsgipfel unser Gebiet wollten. Sie mussten uns angreifen wollen. Ich lehnte mich weiter nach vorne, um besser hören zu können, und achtete nicht auf die lockeren Steine zu meinen Füßen. Einige davon kullerten den Hügel hinunter, und die Wölfe vom Felsgipfel blickten auf. Genau in diesem Augenblick drehte der Wind und wehte unseren Geruch zu ihnen hinüber. Torell erhob seine Nase. Mit unglaublicher Geschwindigkeit sprang er auf unser Versteck zu. Marra war diejenige, die ihm am nächsten war, und sie hatte am Boden gekauert, um die Duftmarken zu untersuchen, die die Wölfe vom Felsgipfel dort hinterlassen hatten, daher war sie auch die Letzte, die auf ihre Pfoten kam. Noch bevor sie sich erhoben hatte, war Torell über ihr und warf sie zu Boden. Sie trat heftig um sich, lag dann aber still, als Torells Gewicht sie auf dem Boden festhielt. »Das Rudel vom Schnellen Fluss kümmert sich wohl nicht sehr um seine Welpen, wenn es sie so durch die Gegend streunen lässt«, sagte er. Ázzuen und ich waren schon auf unserem Weg den Hügel hinunter, doch wir konnten hören, wie die anderen Wölfe vom Felsgipfel hinzukamen, um Torell zu helfen. Ich wendete und begann den Hügel wieder hinaufzulaufen, Ázzuen direkt hinter mir. Wir sprangen Torell an, und es gelang uns, ihn 175 von Marra herunterzustoßen, bevor die anderen Felsgipfler auf die Kuppe des Hügels stürmen konnten. Wir rannten los. Wir rutschten den Hügel hinunter und versuchten so gut wie möglich bei unserem Abstieg nicht den Halt zu verlieren. Für einen Augenblick überlegte ich, unser Rehfleisch zu holen, doch dann ließ ich es lieber bleiben. Wir erreichten den Fuß des Hügels ohne Verletzungen und stürmten zum Rand des Waldes, dort wo vor langer Zeit die Pferde einmal gestanden hatten. Wir wussten, dass dort jetzt unser Rudel war und eine letzte Jagd vor dem Winter versuchen wollte. Es war erleichternd, endlich auf flachem Boden zu laufen. Ich hatte geglaubt, die Wölfe vom Felsgipfel würden nach einer Weile aufhören, uns zu verfolgen - immerhin befanden sie sich auf unserem Gebiet. Doch sie kamen immer näher. »Warum halten sie nicht an?«, keuchte ich. »Weil sie nicht wollen, dass wir Ruuqo erzählen, was wir gehört haben«, antwortete Marra düster. Ich fühlte, wie mir im Innersten eiskalt wurde. Wenn Marra recht hatte, dann würden uns die vom Felsgipfel töten, sobald sie uns gefangen hatten. Wir liefen schneller als je zuvor in unserem Leben, schneller selbst, als wir gelaufen waren, um das Reh zu umzingeln. Marra führte uns an und lief einige Wolfslängen voraus. Die Wölfe vom Felsgipfel sind groß und stark. Ihre kräftigen Knochen machen es ihnen leicht, große Beute zu erlegen, aber sie sind nicht so flink wie die Wölfe vom Schnellen Fluss. Selbst halbausgewachsene Welpen wie wir können ihnen auf
kurzen Entfernungen davonlaufen. Und wir waren auf unserem Gebiet. Wir kannten jeden Busch und jeden Strauch. Einer der Wölfe vom Felsgipfel jedoch fiel nicht zurück. Es war der schlanke Wolf, der Torell gedrängt hatte zu handeln. Ich konnte riechen, dass er 176 jung war, wahrscheinlich nicht mehr als zwei Jahre alt. Ich behielt Ázzuen vor mir. Er war inzwischen ein schneller Läufer geworden, aber immer noch nicht so schnell wie Marra und ich, und ich wollte nicht, dass er zurückblieb. Der Wald verdichtete sich, und die Fährte des Rehs, auf der wir gelaufen waren, verschwand. Es war schwieriger, schnell zu laufen, ohne die Fährte vor sich zu haben, und Ázzuen, Marra und ich wurden durch Bäume, Felsen und Gebüsch getrennt. Ich hörte, wie der junge Wolf hinter mir immer näher kam, wie er mit Leichtigkeit über Felsen und Baumstämme setzte. Wenig später hörte ich ihn springen, und er landete auf mir, fing meine Hinterläufe und warf mich um. Er war sicher anderthalb Mal so schwer wie ich, aber darüber dachte ich keinen Augenblick nach. Ich biss ihn fest zwischen seinem Vorderlauf und der Brust, an einer Stelle, wo zartes Gewebe und weniger Muskelfleisch saß. Er jaulte vor Überraschung und Schmerz auf. Ich sprang auf meine Füße. Ich hörte das Getrappel von Pfoten um mich herum, konnte aber nicht erkennen, wo die anderen Wölfe vom Felsgipfel waren oder wo entlang Ázzuen und Marra liefen. Ich blickte dem jungen Wolf ins Gesicht, fühlte den Zorn in mir brennen. Es war ein gutes Gefühl, meine Wut wiedergefunden zu haben. »Das ist unser Gebiet!«, knurrte ich. »Du gehörst hier nicht hin.« Der Jungwolf sah überrascht aus und lachte dann. »Warum kommst du nicht zu uns, Kleiner Wolf? Bei denen vom Schnellen Fluss vergeudest du nur deine Zeit. Ruuqo weigert sich, dich anzuerkennen. Dein Rabenfreund hat mir alles erzählt. Und ich hätte gerne ein starkes Weibchen zur Gefährtin. Ich bin Pell. Wirst du dich an mich erinnern?« Verwirrt stand ich einfach nur da und blickte ihn an, ob 176 wohl ich das Donnern der Pfoten anderer Wölfe um uns herum vernahm. Plötzlich brach Ázzuen durch die Bäume und warf sich knurrend auf Pell. Er war wegen mir zurückgekommen. Der Angriff überraschte Pell, und es gelang Ázzuen ihn umzustoßen. »Komm schon, Kaala!«, rief Ázzuen, während er sich umwandte, um Pell anzuknurren. Ich war ein wenig überrascht von Ázzuens Heftigkeit. Ich konnte riechen, dass Ceela kurz hinter Ázzuens Rute kam und rannte los. Wir nahmen Marras Fährte auf. Sie lief vor Torell und dem anderen Wolf vom Felsgipfel her, die sie in einer wilden Jagd verfolgten. Wir fanden eine Abkürzung zwischen den Bäumen hindurch und schlossen zu ihr auf. Sie hatte die beiden größeren Wölfe weit hinter sich gelassen. Wir drei liefen zusammen über die Ebene des Hohen Grases, um unser Rudel zu finden. Ich legte meine ganze Kraft in mein Laufen. Wir wurden müde, und obwohl sie langsamer als wir waren, hatten die vom Felsgipfel doch mehr Ausdauer. Ich war froh, dass wir nicht mehr sehr viel weiter zu laufen hatten. Ich konnte riechen, dass
sich das Rudel entlang der Waldränder verteilt hatte. Gerade als wir an das Ende der Ebene kamen, stolperte ich beinahe über Unnan. Er hatte auf uns gewartet. Er öffnete sein Maul, um zu sprechen, aber als er erkannte, dass uns die Wölfe vom Felsgipfel verfolgten, drehte er sich um und lief los. Ich war zu erschöpft, um das Rudel zu rufen und zu warnen. Selbst Marra schnappte nach Luft, aber es gelang ihr, ein warnendes Bellen von sich zu geben. Minn und Yllin waren die Ersten, die uns erreichten, gerade als wir zwischen den Bäumen herauskamen. Sie hatten einige Elen eingekreist, die von der Weiten Ebene herüber 177
gewandert waren. Vielleicht kümmerten sich Torell und die anderen einfach nicht darum, das restliche Rudel in der Nähe zu erschnüffeln, oder vielleicht war es ihnen auch einfach gleich, aber sie lachten, als sie die zwei leichten Jungwölfe auf sich zurennen sahen. Torell grinste höhnisch, als er und Pell in Yllin und Minn hineinrannten. Die Jungwölfe waren unterlegen, und wir sprangen ihnen zu Hilfe. Zwei Atemzüge später liefen Ruuqo, Rissa, Werrna und Trevegg auf uns zu. Ceela und der Vierte der Felsgipfler erreichten die Ebene im selben Moment. Nach einer kurzen Rauferei standen sich die beiden Rudel gegenüber. Die vier Wölfe vom Felsgipfel wichen nicht zurück, aber sie waren bereit, jeden Augenblick davonzulaufen, den sechs erwachsenen Wölfen vom Schnellen Fluss eindeutig unterlegen. Ázzuen, Marra und ich waren von Staub, Zweigen und Blättern verdreckt, und unser Fell war von der Auseinandersetzung mit den Wölfen vom Felsgipfel verfilzt, aber ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen zu entkommen, als dass ich es zuvor bemerkt hätte. Ruuqo erkannte, in welch aufgelöster Verfassung wir uns befanden, und zog seine Lefzen zähnefletschend zurück. Es wirkte beinahe, als stiege das Licht des späten Nachmittags wie Rauch aus seinem Fell. Rissa stand neben ihm, ihr weißes Fell sträubte sich entlang ihres Rückens, und sie knurrte wütend. »Was tut ihr auf dem Gebiet vom Schnellen Fluss, und warum bedroht ihr die Welpen vom Schnellen Fluss?«, forderte sie zu wissen. »Wenn sie euch so viel bedeuten, warum lasst ihr sie alleine herumlaufen?«, knurrte Ceela. Ruuqo und Rissa beachteten sie nicht weiter und warteten auf Torells Antwort. Für einige Augenblicke standen die drei 177 einander schweigend gegenüber und starrten sich an. Ceela, Pell und der vierte Felsgipfler standen hinter Torell, bereit zum Kampf. Endlich legte sich Torells Fell ein kleines bisschen. Die anderen drei standen weiter wachsam hinter ihm. »Wir hätten ihnen nichts getan«, sagte er endlich. »Wir müssen über wichtige Dinge mit dir reden. Wir waren auf unserem Weg hierher, als wir sie fanden, wie sie uns belauschten.« »Er lügt«, flüsterte Ázzuen zu leise, als dass irgendjemand außer mir es hören konnte. Marra blickte herüber zu mir. Auch ich hatte fürchterliche Angst vor den Felsgipflern, aber ich musste etwas sagen.
»Er lügt«, sagte ich laut und legte meine Ohren an, als sich alle Köpfe zu mir umdrehten. »Sie haben geplant, uns anzugreifen. Und sie waren auf unserem Gebiet. Sie wollen sich mit den Rudeln vom Höhenwald und vom Windsee gegen uns verbünden. Wir haben gehört, wie sie darüber geredet haben.« Ich bewegte mich verlegen von einer Seite zur anderen, während alle mich anstarrten. »Es ist wahr«, sagte Ázzuen stur und stellte sich neben mich. »Wir haben sie alle gehört.« Marra grunzte zustimmend, und Ruuqo wandte sich mit eiskaltem Blick an Torell. Ich sah, wie Pell versuchte, meinen Blick aufzufangen. »Das ist Grund genug für uns, dich zu töten, Torell. Warum sollte ich dich am Leben lassen, damit du uns im Schlaf überfallen und umbringen kannst? Wir sollten dich auf der Stelle töten.« »Du kannst es ja versuchen, räudiger Wolf«, sagte der größte der Wölfe vom Felsgipfel, und sein braunes Fell 178 sträubte sich dabei. Ich erkannte, dass er ziemlich unbedarft war. Was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ein Wolf seiner Größe nicht der Leitwolf eines Rudels war. »Sei still, Arrun«, sagte Torell. »Eure Welpen haben das, was sie gehört haben, missverstanden, Ruuqo. Ihr seid es nicht, die wir umbringen wollen.« Er machte eine Pause. »Es sind die Menschen.« Das Rudel wurde so still, dass ich die Elen hören konnte, die auf der Ebene zwanzig Wolfslängen entfernt am Gras kauten. Es war, als hätte Torell erklärt, dass er den Wolfsstern vom Himmel herunterholen und wie Beute erlegen wolle. Ich konnte nicht glauben, wie dumm ich gewesen war. Selbst nachdem ich gehört hatte, was die Höchsten Wölfe und die Traumwölfin bei der Aussprache gesagt hatten, hatte ich nicht im Entferntesten daran gedacht, dass Wölfe wirklich Menschen angreifen würden. Es war, als würden den Hasen Reißzähne wachsen und sie auf die Jagd gehen wollen. Rissa war die Erste, die ihre Stimme wiederfand. »Bist du verrückt geworden, Torell?«, fragte sie sehr leise. »Du kennst die Strafe, die darauf steht, Menschen zu töten. Die Höchsten Wölfe werden euer ganzes Rudel vernichten und jeden Wolf, der von dir abstammt. Sie werden eure ganze Sippe vernichten. Es wird keine Wölfe vom Felsgipfel mehr geben.« »Die Höchsten Wölfe sind Schwächlinge und gutmütige Trottel geworden«, erklärte Torell. »Falls sie wirklich wissen, was im Tal vorgeht, kümmern sie sich nicht darum. Weißt du, dass die Menschen allen Wölfen den Krieg erklärt haben, Ruuqo?« Ruuqo schwieg und blickte Rissa in die Augen. »Dachte ich's mir doch, dass du nichts davon weißt. Du 178 weißt nicht einmal, was auf deinem eigenen Land vor sich geht. Die Menschen auf unserer Seite des Flusses töten jeden Wolf, den sie sehen. Sie töten jede Säbelzahnkatze, jeden Bären, jeden Fuchs und jeden Rotwolf. Jedes Geschöpf, von
dem sie annehmen, dass es ihnen ihre Beute streitig machen könnte. Wenn wir sie nicht töten, werden sie uns töten.« »Ich habe davon gehört«, sagte Werrna und erhob zum ersten Mal ihre Stimme. »Aber ich habe nicht glauben können, dass es wahr ist. Bist du dir sicher, dass deine Späher nicht übertreiben, Torell ?« Sie schien Achtung vor dem Leitwolf der Wölfe vom Felsgipfel zu haben. »Es ist wahr«, sagte er und nahm ihre Anwesenheit mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. »Ich habe es selbst gesehen. Die Menschen hassen uns. Jeder Einzelne von ihnen.« Ich sah, wie Ázzuen versuchte, mir in die Augen zu blicken. Er wollte, dass ich dem Rudel von unseren Menschen erzählte, die uns mit Sicherheit nicht töten wollten. Aber ich konnte nicht. Ich würde zugeben müssen, dass ich die Gesetze des Rudels gebrochen hatte. Mein Herz schlug so schnell, dass ich glaubte, es würde meinen Brustkorb sprengen. »Die Rudel vom Höhenwald und vom Windsee werden sich mit uns verbünden«, erklärte Torell. »Die Wühlmausfresser werden das vielleicht nicht tun, aber sie sind ohnehin nicht kräftig genug, als dass es einen Unterschied machen würde. Ihr schon, Ruuqo. Wir brauchen euch als unsere Verbündeten. Ihr müsst mit uns kommen.« »Ich kann das Abkommen nicht so einfach brechen«, meinte Ruuqo. »Du bist verrückt, das zu tun.« Unruhig ging er auf und ab. »Aber wenn das, was du erzählst, wahr ist, müssen wir etwas unternehmen. Ich werde mich mit denen vom 179 Höhenwald und denen vom Windsee beraten«, erklärte er. »Und mit meinen eigenen Wölfen. Und ich werde dich wissen lassen, wie ich mich entschieden habe.« »Du hast keine Wahl mehr, Ruuqo«, meinte Ceela. »Alle Rudel im Tal werden zustimmen, wenn sie erfahren, was vor sich geht. Entweder du verbündest dich in diesem Krieg mit uns oder du bist unser Feind. Dazwischen gibt es nichts.« »Du kannst nicht die Entscheidungen für das ganze Tal treffen, Ceela«, sagte Rissa. »Und du solltest uns nicht leichtfertig drohen. Torell hat recht - wir könnten wichtige Verbündete sein. Aber auf keinen Fall möchtest du die Wölfe vom Schnellen Fluss zu Feinden haben.« Ruuqo atmete tief ein. »Ich werde das Abkommen nicht brechen, es sei denn, dass ich keinen anderen Weg für uns erkennen kann«, wiederholte er. »Verlasse unser Gebiet in Frieden, Torell. Aber bedrohe mein Rudel nicht noch einmal.« Torells Rute war hoch erhoben, und ich konnte erkennen, dass es ihm schwerfiel, ein Knurren zu unterdrücken. »Du hast eine Nacht für deine Entscheidung, Ruuqo.« Torells vernarbtes Gesicht verzog sich grimmig. »Morgen Nacht beginnt der Mond abzunehmen, dass ist die Nacht, in der die Menschen der beiden benachbarten Sippen sich hier auf der Ebene des Hohen Grases zusammenfinden werden. Sie werden Feierlichkeiten für eine Jagd abhalten, bei der sich ihre Jungen beweisen müssen, indem sie die Elen herausfordern. Sie werden so sehr mit ihren eigenen Dingen beschäftigt sein, dass sie leichte Beute für uns sein werden. Dann wollen wir sie angreifen. Wenn ihr dann nicht auf unserer Seite seid«, wiederholte er, »gehen wir davon aus, dass ihr gegen uns seid.«
180 Mit diesen Worten nickte Torell seinen Rudelgefährten zu, und die größeren Wölfe liefen in den Wald. Pell blieb einen Augenblick zurück und versuchte meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ich hielt meinen Blick gesenkt und weigerte mich, ihn anzusehen. Ázzuen ließ ein tiefes Knurren hören. Pell gab ein besorgtes bellendes Knurren von sich und folgte seinen Rudelgefährten. 180
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»Ich werde nicht danebenstehen und zusehen, wie andere Geschöpfe Wölfe töten!«, brach es aus Werrna heraus, sobald die Wölfe vom Felsgipfel außer Hörweite waren. »Abkommen hin oder her.« »Ruhe«, befahl Ruuqo. Dann seufzte er. »Ich wollte mich vor Torell nicht entscheiden müssen«, sagte er, »aber nein, wir können nicht zulassen, dass die Menschen Wölfe umbringen, und ich werde es nicht den Wölfen vom Felsgipfel überlassen, unsere Kämpfe auszufechten.« Ich jaulte auf. Ich konnte nicht glauben, dass das Rudel überhaupt daran dachte zu kämpfen. Ruuqo stahl noch nicht einmal Nahrung von den Menschen. Trevegg trat vor. »Dieser Kampf ist ein Fehler«, erklärte er. »Das weißt du, Ruuqo.« Ruuqo wurde nicht böse auf ihn. »Er ist ein Fehler«, stimmte er zu. »Jede Entscheidung, die wir hier treffen, ist falsch. Aber wenn es die beste von vielen falschen Entschei 180 düngen ist, müssen wir sie treffen. Ich werde nicht darauf warten, dass sie zu uns kommen.« »Torell hört sich selbst gerne reden«, knurrte Rissa. »Ich werde ihm nicht einfach hinterherlaufen, nur weil er das gerne möchte. Wir werden mit den Anführern der Rudel vom Höhenwald und vom Windsee sprechen und uns anhören, was sie wissen. Dann werden wir uns entscheiden.« »Wenn es keinen anderen Weg gibt, werden wir diesen einschlagen«, meinte Ruuqo. »Aber das Abkommen sagt nichts darüber, dass wir stillsitzen und uns abschlachten lassen sollen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass die Höchsten Wölfe tatsächlich nur unser Bestes wollen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch über uns wachen oder ob sie uns tatsächlich töten würden, wenn wir uns verteidigen. Wenn wir kämpfen müssen, dann werden wir kämpfen.« Ruuqo blickte zu Trevegg und Rissa. »Ich muss mir sicher sein, dass das Rudel bei dieser Entscheidung hinter mir steht«, erklärte er. Zögerlich nickten Trevegg und Rissa zustimmend. »Wenn es einen anderen Weg gibt, dann müssen wir ihn einschlagen«, sagte Trevegg. »Solange wir uns darin einig sind, hast du meine Zustimmung.« »Wir werden es vermeiden zu kämpfen, wenn es nur irgendwie geht«, fügte Rissa hinzu. »Aber wir werden kämpfen, wenn wir dazu gezwungen sind.« »Das können wir nicht!«, rief ich und konnte mich nicht länger zurückhalten. »Wir können sie nicht bekämpfen.«
Alle Köpfe drehten sich zu mir um, und als mich alle so anstarrten, fand ich für einen Augenblick keine Worte mehr. Ich schaute hilfesuchend auf Ázzuen. Er drängte sich an mich. 181 »Und warum können wir das nicht?«, fragte Ruuqo. Die Stimme der Vernunft in meinem Kopf befahl mir, den Mund zu halten. Einen Weg zu finden, das Rudel zu beeinflussen, ohne mich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Doch die Feierlichkeiten der Menschen zu Beginn der Jagd würden schon in der übernächsten Nacht stattfinden, und Torell war entschlossen zu kämpfen. Ich musste das verhindern. TaLis Sippe würde angegriffen werden. TaLi war klein, und obwohl sie geschickt mit ihrem spitzen Stecken umgehen konnte, war sie doch kein ebenbürtiger Gegner für einen Wolf. Sie würde mit Sicherheit sterben. Und mein Rudel würde sterben. Die Höchsten Wölfe hatten es gesagt. »Ich habe die Höchsten Wölfe reden hören«, sagte ich. »Sie treffen sich weit entfernt von hier in einem Felskreis. Mit Menschen. Sie wissen, was vor sich geht, dass Wölfe und Menschen gegeneinander kämpfen könnten. Und sie werden jedes Rudel vernichten, das gegen die Menschen kämpft.« »Wann hast du das gehört?«, wollte Rissa wissen. »Beim vollen Mond.« »In der Nacht, als du nicht zur Jagd auf die Antilopen erschienen bist«, sagte Ruuqo, und seine Stimme klang gefährlich ruhig. »Wie kommt es, dass du die Höchsten Wölfe reden hören konntest? Wieso warst du überhaupt in ihrer Nähe?« Ich schwieg einen Moment lang und versuchte eine glaubhafte Ausrede zu finden. Ázzuen war besser darin als ich, Geschichten zu erfinden, und ich blickte zu ihm. Doch bevor er noch sprechen konnte, trat Unnan vor. »Weil sie zu den Menschen gegangen ist«, erklärte er. »Seit der wilden Pferdejagd, als sie Reel getötet hat. Sie be 181 sucht sie immer wieder und jagt und spielt mit einem Menschenmädchen. Sie nimmt auch Marra und Ázzuen mit.« Ruuqos Kinnlade fiel hinunter, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Rissa gab ein besorgtes Winseln von sich. »Unnan, du solltest besser keine Lügen erzählen.« »Tu ich nicht«, sagte Unnan. »Ich hab gesehen, wie sie immer und immer wieder dorthin gegangen ist. Ich wollte nichts davon erzählen, weil ich Angst hatte, Kaala würde mir wehtun.« Er legte seine Ohren und seine Rute an, um schwach und hilflos auszusehen. Blöder Ringelschwanz, dachte ich. »Sie hat versucht zu den Menschen zu gehen, als wir das erste Mal die Welpen dorthin geführt haben, um sie zu beobachten«, erklärte Werrna. »Ich hätte dir damals schon davon erzählt, aber Rissa hat es uns verboten.« »Du warst von Anfang an gegen das Junge eingestellt, Ruuqo«, sagte Rissa und warf Werrna einen bösen Blick zu. »Ich war der Überzeugung, es sei besser, du würdest nichts davon erfahren. Aber jetzt«, mit diesen Worten wandte sie sich mir zu, »musst du uns die Wahrheit erzählen, Kaala. Bist du bei den Menschen gewesen?« Schnell dachte ich nach. Wenn ich ja sagen würde, konnten sie mich verstoßen. Aber wenn ich nein sagen würde, würden sie mir niemals glauben, was ich von den
Höchsten Wölfen und ihren Beratungen wusste. Torell würde seinen Krieg gegen die Menschen führen, und TaLi müsste sterben. Und wenn Ruuqo sich mit ihnen verbünden würde, müssten meine Rudelgefährten ebenso sterben. Ich blickte auf Ázzuen und Marra, auf Trevegg und Yllin. Ich wollte nicht, dass sie sterben. Ich wollte nicht, dass TaLi oder BreLan oder sein Bruder in den Kämpfen getötet würden. Und die Traumwölfin 182 hatte behauptet, wir dürften auf keinen Fall kämpfen. Ich hörte Ázzuens leises Winseln neben mir. Er und Marra beobachteten mich genau. Ich musste etwas sagen. Alle Augen waren auf mich gerichtet, jede Nase darauf gerichtet, ob Wahrheit in meinen Worten lag. Ich fürchtete mich. Aber die Wahrheit war vielleicht das Einzige, was sie vom Kämpfen abhalten konnte. Ich holte tief Luft. »Ja«, antwortete ich und schluckte schwer. »Ich habe ein Kind der Menschen aus dem Fluss gerettet, und ich habe mit ihr Zeit verbracht.« Ich sagte nichts von Ázzuen oder Marra. »Daher weiß ich, dass uns viele Menschen nicht hassen, dass sie sich um uns sorgen. Wir können mit ihnen jagen«, erklärte ich, in der Hoffnung, dass, wenn ich begreiflich machen konnte, dass sie nützlich für uns sein könnten, mein Rudel die Menschen eher mögen würde. »Sie sind nicht so viel anders als Wölfe.« Lange Zeit sagte niemand etwas. Als Ruuqo dann sprach, war die Wut in seiner Stimme ruhig und beherrscht. »Ich habe ein Menschenkind auf unserem Gebiet gesehen«, sagte er. »In der letzten Zeit immer öfter.« »Pflanzen sammelnd«, fügte Rissa leise hinzu. »Und mit kleiner Beute.« »Und hast du deine Rudelgefährten mitgenommen?«, wollte Ruuqo wissen. Ich antwortete nicht. Ich würde Ázzuen und Marra nicht in meine Schwierigkeiten hineinziehen. »Wir sind auch gegangen«, sagte Ázzuen. »Wir haben zusammen gejagt. Auf diese Art konnten wir so viele Hasen und Dachse fangen. Wir haben ein Reh erlegt«, sagte er stolz. »Wir haben es auf dem Wolfstöter Hügel versteckt. So haben 182
wir gehört, was die Wölfe vom Felsgipfel untereinander berieten.« Marra winselte, während er sprach, und schubste ihn mit der Hüfte. Er sah sie überrascht an. »Also brichst du nicht nur die Gesetze des Tales, sondern du stiftest auch noch die anderen an, sich zu widersetzen«, sagte Ruuqo. Er erhob seine Schnauze. »Ich kann den Menschengeruch an dir riechen.« Er schüttelte sich heftig. »Ich wusste, dass ich dich hätte töten sollen, als du noch ein Welpe warst. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass die Höchsten Wölfe es verhinderten. Es ist genau, wie die Legenden sagen. Du stammst von denen ab, die Menschen lieben, und ich habe es zugelassen, dass du überlebst. Dieser Krieg, diese Auseinandersetzungen sind die Folge davon.« »Wir haben nur mit ihnen gejagt.« »Du hast nur mit ihnen gejagt? Du hast die Gesetze des Tales gebrochen und das Gleichgewicht der Geschöpfe in diesem Tal gestört. Wenn du das nicht getan hättest, wären die Menschen nicht so dreist geworden, und wir hätten nicht diesen Krieg.«
Ich wandte mich hilfesuchend an Rissa. »Wir haben nur gejagt«, erklärte ich wieder. »Und nur mit ihren Jungen. Sie sind nicht gefährlich. Wir wollten nichts Unrechtes tun.« »Es tut mir leid, Kaala«, sagte Rissa und schüttelte ihren Kopf. »Die Gesetze des Tales sind eindeutig.« Sie wandte sich an Ruuqo. »Müssen wir alle drei Welpen verlieren? Die anderen sind ihr nur gefolgt. Sie hat sie beeinflusst.« Ázzuen öffnete sein Maul, um zu widersprechen. Ich starrte ihn drohend an. »Vielleicht«, sagte Ruuqo. Er drehte sich langsam zu mir 183 um. In seinen Augen konnte ich nicht nur Wut erkennen, sondern auch so etwas wie Triumph. »Du gehörst nicht länger zum Rudel«, erklärte er. »Dein Umgang mit den Menschen hat Verderben über uns gebracht. Verlasse Rand des Waldes und das Tal, und kehre niemals auf unsere Gebiete zurück. Wir werden die Menschen bekämpfen müssen, jetzt wo du sie uns so nahegebracht hast.« »Das werde ich nicht!«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Ich werde es nicht zulassen, dass ihr gegen sie kämpft. Ich werde den Höchsten Wölfen berichten, dass ihr die Menschen töten wollt, und sie werden euch aufhalten.« Ich war über meine eigenen Worte erstaunt. Ruuqo knurrte. Er sprang mich an, warf mich zu Boden und ließ mich erst los, als ich zu wimmern begann. »Ich bin der Anführer dieses Rudels. Die Höchsten Wölfe wissen nicht, was geschieht. Vielleicht ist ihre Zeit abgelaufen.« Rissa und Trevegg blickten ängstlich auf bei Ruuqos lästernden Worten. »Wenn ich herausfinde, dass du zu ihnen gegangen bist, werde ich deinen Menschen verfolgen und sie töten. Ich werde sie finden, wenn sie schläft, und ich werde das Leben aus ihrer Kehle reißen.« Mein Körper reagierte, bevor mein Gehirn ihn einholen konnte, und ich sprang Ruuqo an. Ich hörte Ázzuens und Marras überraschtes Jaulen und Rissas besorgtes Knurren. Hätte ich einen Moment lang nachgedacht, hätte ich Ruuqo niemals herausgefordert. Er war stärker und erfahrener als ich, und er war wütend. Aber er war auch ebenso überrascht, und mein erster Angriff warf ihn hintenüber auf seinen Rücken. Knurrend und zähnefletschend rollten wir übereinander auf dem Boden hin und her. Dies war nicht im Geringsten so 183
wie die Kämpfe, die ich mit Unnan und Borlla ausgetragen hatte. In diesem Kampf lag eine Feindseligkeit, eine Verzweiflung, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Und niemand würde eingreifen, um mir zu helfen. Ich hatte den rechtmäßigen Anführer des Rudels herausgefordert. Jetzt musste ich auch selbst mit ihm kämpfen. Ich war noch nicht ganz ausgewachsen und kämpfte verzweifelt, biss und trat nach Ruuqo mit meinen Vorder- und Hinterläufen, gebrauchte jedes bisschen Kraft, das ich aufbringen konnte, nur um ihn davon abzuhalten, mich zu zerschmettern. Ich versuchte meinen Beinen zu befehlen, sich schneller zu bewegen, meinem Kopf, sich herumzuwerfen. Doch jedes Mal, wenn ich versuchte zuzubeißen, wich Ruuqo mir aus und stieß mit dem Kopf gegen meinen. Als ich versuchte, ihn niederzuwerfen, fand ich mich selbst auf dem Rücken wieder. Meine Muskeln wollten dem, was mein Gehirn ihnen befahl, nicht schnell genug Folge leisten. Ich
hatte gedacht, ich sei kräftiger geworden, aber meine Stärke war nichts im Vergleich zu der von Ruuqo. Jedes Mal, wenn ich kurz davor war aufzugeben, dachte ich an seine Drohung gegen TaLi, und ich kämpfte weiter. Aber es war schnell vorbei. Ruuqo war so viel stärker als ich, und ich ermüdete, während er immer noch kräftig und voller Energie war. Seine scharfen Zähne rissen an meiner Schulter, und ich jaulte auf und versuchte fortzukriechen. Er ließ mich nicht laufen, sondern warf mich nieder. Er hielt mich am Boden fest, und seine Kiefer schlossen sich um meine Kehle. »Ich könnte dich töten«, sagte er leise, »und niemand könnte mir deswegen einen Vorwurf machen.« Ich zitterte und versuchte, meine Sprache wiederzufinden, doch alles, was mir gelang, war, dort zu liegen, zu Ruuqo auf 184 zublicken und an das letzte Mal zu denken, als seine Kiefer in der Lage gewesen waren, mich zu töten. »Verschwinde«, sagte er und trat von mir zurück. »Komme nie wieder in das Gebiet der Wölfe vom Schnellen Fluss, oder ich bringe dich um. Du gehörst nicht länger zum Schnellen Fluss. Du gehörst nicht mehr zum Rudel.« Mit ganzer Wucht spürte ich die Folgen meines Tuns, und ich begann noch stärker zu zittern. Ich legte meine Ohren und meine Rute an, senkte meinen Kopf und kroch zurück zu Ruuqo. Er knurrte und zeigte seine Zähne. Seine scharfen Bisse erinnernd, kroch ich zurück. Ich machte mich noch kleiner und kam wieder nach vorne. Ich war nicht viel mehr als ein Welpe. Sicher würde er mich bleiben lassen. Wieder jagte er mich fort. »Du gehörst nicht mehr zum Rudel«, sagte er wieder. Ich drehte mich zu Rissa um, aber sie wandte ihren Kopf ab. Ich blickte auf Werrna, die böse knurrte, auf Unnan, der unverfroren grinste. Ich blickte hinüber zu Ázzuen und Marra, die ängstlich winselten, und in Treveggs trauriges, trauriges Gesicht. Niemand von ihnen wollte oder konnte mir helfen. Yllin sah aus, als wolle sie einschreiten, doch Ruuqo starrte sie böse an, und sie trat zurück. Ich stand dort mit gesenktem Kopf, bis Ruuqo mich ein weiteres Mal zu jagen begann. »Geh!«, knurrte er und verfolgte mich den Pfad hinunter. Ich wagte es nicht, noch einmal umzukehren. Ich flüchtete in die Wälder. 184 Ich sah nicht, wie Ázzuen und Marra versuchten, mir zu folgen, nur um von Werrna und Minn auf den Boden gepresst zu werden. Ich hörte nicht, wie Trevegg mit Ruuqo stritt oder wie Yllin leise mit Rissa sprach. Mein Kopf fühlte sich an, als sei er mit trockenen Blättern und Staub gefüllt, meine Zunge lag schwer in meinem Maul, behinderte mich beim Atmen. Das Geräusch von Tausenden von Fliegen füllte meine Ohren, und ich konnte die Erde unter meinen Pfoten nicht spüren, genauso wenig wie das dichte Gebüsch, das sich gegen mein Fell drängte, als ich den Pfad verließ. Ich wusste, dass ich über einen Weg nachdenken musste, wie ich TaLi helfen konnte, einen Weg, sie in Sicherheit zu bringen. Und Ázzuen und Marra genauso, sollte sich Ruuqo entschließen zu kämpfen. Doch das Einzige, was ich gerade noch tun konnte, war weiterzugehen. Ich war so erschöpft von dem
Kampf, dass ich nur bis zum Fluss gelangte, bis meine Beine unter mir nachgaben und ich im Schlamm zusammenbrach. 185
Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag, auf den Fluss lauschte, die kühle, frische Luft spürte, die in mein Fell drang und bis auf meine Haut kroch. Ich wusste, dass, wenn Ruuqo mich immer noch im Gebiet fände, er mich wahrscheinlich töten würde. Aber es machte mir nichts mehr aus. Ich glaube, wenn nicht jemand gekommen wäre, hätte ich mich nie erhoben, sondern wäre dort liegen geblieben, bis mich das Gleichgewicht in die weiche Erde aufgenommen hätte. Erst als ich die schweren Schritte der Höchsten Wölfe hörte und ihren erdigen Geruch wahrnahm, erhob ich den Kopf. »Komm, steh auf«, sagte Jandru. Ich konnte mich immer noch nicht dazu zwingen, mich aufzurichten. Ich lag im Schlamm und blinzelte zu ihnen hinauf. »Du gibst schnell auf.« Ich hatte mir Zuwendung erhofft, doch in Frandras Stimme lag Verachtung. »Ein Kampf, und du liegst hier wie tote Beute. Ich hatte angenommen, du hättest mehr Rückgrat.« Ich wusste nichts zu sagen, also schwieg ich und legte meinen Kopf auf meine Pfoten. »Was hast du erwartet, als du deinen Leitwolf herausgefordert hast?«, wollte Jandru wissen. Sein Ton war um nichts freundlicher als Frandras. »Was hast du gedacht, was geschehen würde?« »Er hat TaLi bedroht«, meine Stimme klang, als käme sie von ganz weit her. »Er hat behauptet, er werde sie umbringen. Ich musste etwas tun.« »Also hast du etwas getan«, Jandru streckte seine breiten Schultern. »Finde dich mit den Folgen ab. Du gehörst nicht mehr zum Rudel vom Schnellen Fluss. Also, was bist du? 185 Warum hast du um dein Leben gekämpft, als du noch ein Welpe warst? Warum bist du jetzt hierhergelaufen, wo Ruuqo dich doch gleich hätte umbringen können?« »Ich weiß nicht, was ich bin, wenn ich nicht zum Schnellen Fluss gehöre«, sagte ich und wurde wütend. »Woher soll ich das wissen?« Frandra schnaubte verächtlich. »Na gut, der beste Weg, um das mit Sicherheit nicht herauszufinden, ist, dort hocken zu bleiben und dich selbst zu bemitleiden. Sag mir Bescheid, wenn du fertig damit bist.« Verletzt blickte ich zu ihr hinauf. Sie und Jandru wandten sich um und gingen rasch in den Wald. Meine Füße schienen wie von selbst zu laufen, und ich folgte ihnen. »Wohin gehen wir?«, fragte ich. Sie gaben keine Antwort. Ihre Läufe waren so viel länger als meine, dass ich laufen musste, um mit ihnen Schritt zu halten, und mir fehlte der Atem, um meine Frage zu wiederholen. Es war eine lange, lange Nacht gewesen, und mein Körper war erschöpft. Mein Kopf arbeitete nicht richtig. Es fühlte sich an, als bewegten sich meine Gedanken durch zähen Schlamm. Frandra und Jandru schienen nicht zu bemerken, dass ich Mühe hatte mitzuhalten, doch endlich wurden sie ein wenig langsamer, was mir erlaubte zu gehen, anstatt ihnen hinterherzuhechten. Dann hielten sie neben einem verlassenen Fuchsbau in der Nähe von einigen großen
Felsen. Ich erkannte, dass wir nicht weit von dem Felskreis waren, wo sie die Menschen für die Aussprache getroffen hatten. »Wir werden uns hier bis zum Einbruch der Nacht ausruhen«, sagte Jandru. Er streifte mich mit einem Blick, als ich vor Erschöpfung zu zittern begann. »Ich muss zu TaLi gehen«, sagte ich schwach. »Ich muss 186 zurückgehen.« Ich war so schwach, dass ich außer zum Reden zu nichts mehr in der Lage war. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Teil von mir zurückgelassen. »Wir müssen aus dem Tal verschwinden«, sagte Jandru. »So schnell wie möglich.« Das ergab Sinn. Ruuqo hatte gesagt, er werde mich umbringen. Fragen und Sorgen schwirrten in meinem Kopf umher. Ich wollte zurück zu TaLi gehen. Ich wollte wissen, wohin die Höchsten Wölfe mich brachten. Doch ich hatte vor den Wölfen vom Felsgipfel davonlaufen müssen, ich hatte mit Ruuqo gekämpft und war von meinem Rudel verstoßen worden. Erschöpfung und Verzweiflung besiegten meinen Willen, und ich war eingeschlafen, bevor ich noch merken konnte, dass ich den Boden berührt hatte. Als ich meine Augen wieder öffnete, beobachteten mich Frandra und Jandru besorgt. »Gut«, sagte Frandra kurz angebunden. »Steh auf und beweg dich. Wir gehen.« »Und sei still«, fügte Jandru hinzu. »Es sind noch andere Höchste Wölfe in der Nähe, und wenn sie uns finden, droht uns allen Gefahr.« Ich zwang mich, richtig wach zu werden. Die Abenddämmerung war schon vorbei. Ich hatte die Stunden des Tageslichts verschlafen, ohne zu bemerken, wie die Zeit vergangen war. Ich stand auf. Die Muskeln in meinen Schenkeln und Schultern erhoben Einspruch, als ich versuchte, mich zu strecken. Selbst die Zwischenräume an den Ballen meiner Pfoten schmerzten. Doch der lange Schlaf und die frische Abendluft hatten mir meinen Verstand wiedergegeben, und die Sorge um meine Freunde hatte sich durch meine Verwirrung hin 186 durch an die Oberfläche gekämpft. Ich fühlte wieder mein altes Selbst. Es war, als wäre der Wolf vom Tag zuvor ein langsamer, betäubter Schatten meiner selbst gewesen - nicht wirklich ich. Ich ärgerte mich darüber, wie ich es hatte zulassen können, dass die Höchsten Wölfe mich einfach mit sich führten. Dass ich den ganzen Tag hatte verstreichen lassen, ohne zu TaLi zurückzukehren oder herauszufinden, ob Ruuqo sich wirklich an dem Kampf beteiligen würde. Es machte mir Angst, dass ich mich so schnell aufgeben konnte. Dass ich fast jeden und alles, was mir etwas bedeutete, betrogen hatte, nur weil ich müde und verzweifelt war. Ich schüttelte mich heftig. Frandra und Jandru hatten schon begonnen zu gehen. Als sie bemerkten, dass ich ihnen nicht folgte, hielten sie an und blickten zurück. »Beeile dich«, befahl Jandru. »Ich komme nicht mit«, antwortete ich. »Ich werde gehen und TaLi holen.« Beide Höchste Wölfe starrten mich für einen Augenblick an, als könnten sie nicht glauben, dass ich mich ihnen widersetzte. »Nein«, sagte Frandra und begann wieder zu gehen.
Ich blieb, wo ich war. Jandru knurrte und kam zu mir zurück. Er stieß mich mit seiner Schnauze an. Ich grub meine Pfoten in den Erdboden. Ich wusste, dass sie mich den ganzen Weg ziehen konnten, wenn sie wollten. Na gut, dann sollen sie doch, dachte ich finster entschlossen bei mir, das ist die einzige Art, wie sie mich von der Stelle bewegen werden. Dann ging mir auf, dass die Höchsten Wölfe sehr leise gewesen waren, als ob sie sich verstecken müssten. Und Jandru hatte etwas davon gesagt, dass sie sich fürchteten, von ande 187
ren Höchsten Wölfen gehört zu werden. Ich blieb auf der Stelle. »Ich werde nicht ohne meinen Menschen gehen. Und nicht ohne Ázzuen und Marra.« Wenn Ruuqo an den Kämpfen teilnehmen würde, müssten auch sie das Tal verlassen, nahm ich an. Jandru bellte leise verärgert. »Wir haben keine Zeit, um uns mit dir zu streiten«, schnauzte er mich an. »Es ist zu spät für sie. Sie sind schon so gut wie tot.« Ich fühlte mich, als hätte mir jemand die Luft zum Atmen genommen. »Was soll das heißen?«, wollte ich wissen und vergaß völlig, leise zu sprechen. Die Höchsten Wölfe fletschten die Zähne. Ich legte meine Ohren entschuldigend an, hielt aber Jandrus Blick stand. »Was soll das heißen: Sie sind schon so gut wie tot?« »Wir haben keine Zeit, um jetzt darüber mit dir zu streiten!«, knurrte Frandra. »Wir müssen sofort das Tal verlassen. Wenn wir von den anderen Höchsten Wölfen entdeckt werden, können wir dir nicht mehr helfen.« »Aber warum?«, wollte ich wissen. Jandru knurrte ungeduldig und trat einen Schritt näher an mich heran, seine Zähne zu einem schrecklichen Knurren entblößt. Ich war mir sicher, dass er mich mit den Zähnen packen und mich davonschleifen würde. Ich trat zurück. »WÖLFLEIN!!« Wir zuckten alle zusammen bei dem Laut. Tlitoo kam aus der Richtung des Sammelplatzes beim Gefallenen Baum geflogen. Er war kaum sichtbar über den Baumwipfeln und schlug heftig mit den Flügeln. Dann stürzte er sich im Flug 187 von ganz weit oben nach unten, so schnell, dass ich befürchtete, er würde auf den Boden krachen. Im letzten Moment zog er hoch und landete mit einem Schlag vor meinen Füßen. »Du hättest nicht weglaufen sollen, Wölflein«, sagte er schweratmend. »Es war schwierig, dich zu finden.« »Wo bist du gewesen?« »Fort«, keuchte er. »Antworten finden.« Ich war so froh, ihn zu sehen, ich hätte heulen können. Ich wusste, dass er mich nicht wirklich vor den Höchsten Wölfen beschützen konnte, doch das kümmerte mich nicht. Er war gekommen, um mich zu finden. Ich war nicht allein. Ich drehte mich zu Frandra und Jandru um. »Warum sind sie so gut wie tot?« Es war Tlitoo, der antwortete.
»Alle Wölfe und alle Menschen im Tal werden sterben, wenn es zu einem Kampf kommt, wenn es zu irgendeinem Kampf kommt«, sagte er. Er warf den Höchsten Wölfe einen stechenden Blick zu. »Ihr habt nicht alles erzählt«, warf er ihnen vor und breitete seine Flügel aus. Ich erkannte, dass er nicht nur erschöpft vom schnellen Flug war, sondern ebenso zornig erregt. »Ihr habt den kleineren Wölfen und auch den Krianan der Menschen nicht alles erzählt. Die Wölfe hier kümmern euch gar nicht. Es macht euch nichts aus, wenn sie alle sterben.« Er wandte sich zu mir. »Es gibt noch andere Orte, Wolf.« »Was meinst du damit?«, sagte ich verwirrt. »Natürlich gibt es andere Orte.« »Andere Orte wie diesen!«, krächzte er ungeduldig. »Mit anderen Wölfen und anderen Höchsten Wölfen außer diesen hier. Ich bin aus dem Großen Tal hinausgeflogen und über die Steppen darüber hinaus. Die alte Menschenfrau hat es 188
mir befohlen. Die Großen Wölfe kümmert es nicht, ob du lebst oder stirbst, Wölflein. Hör mir zu. Sie haben andere Wölfe, in anderen Tälern«, sagte er wieder. Dies schien ein wichtiger Punkt zu sein, doch ich konnte nicht begreifen, was er damit meinte. »Sie werden deine Familie und deine Menschen töten, als wären sie nichts anderes als Beute, und werden euch durch andere ersetzen.« Er spreizte seine Flügel herausfordernd zu den Höchsten Wölfen hinüber. »Es ist wahr. Ich habe es gesehen. Und ich habe mit meinen Rabenbrüdern und Rabenschwestern von weit, weit entfernt gesprochen, die mir davon erzählt haben.« Ich versuchte immer noch zu verstehen, was Tlitoo meinte, und erschrak bei Jandrus Stimme. »Es ist wahr«, versicherte er und sah mit kaltem Blick auf Tlitoo. »Was hier geschehen ist, ist ein Versuch, um herauszufinden, ob die Menschen und Wölfe in diesem Tal zusammenleben können. Und es ist nicht der einzige Ort, an dem wir dies versucht haben. Es geht um mehr, als irgendeiner von euch verstehen könnte. Es gibt eine große Unvereinbarkeit von Wölfen und Menschen, und wenn man um diese Unvereinbarkeit nicht weiß, kann man auch nicht verstehen, was wir tun.« »Die Unvereinbarkeit ist, dass Menschen und Wölfe zusammen sein müssen, aber nicht zusammen sein können«, unterbrach ich ihn, von seiner Überheblichkeit verärgert. Warum glaubte er, dass ich zu dumm war, um dies zu verstehen? »Die Menschen brauchen uns bei sich, damit sie sich daran erinnern, dass sie der Natur nahe sind und nicht alles vollständig zerstören. Aber sie fürchten uns zu sehr, als dass wir ihnen wirklich nahestehen könnten, und dann geraten wir in Kämpfe mit ihnen. Das ist die Unvereinbarkeit. Daher 188
trefft ihr euch jeden Mond mit den Krianan der Menschen. Damit ihr einigen von ihnen nahe sein könnt, ohne einen Krieg zu verursachen. Die Krianan der Menschen hat es uns erzählt. Und ich habe euch gesehen.« Ich sagte nichts über die Traumwölfin. Ich fand, dass, wenn die Höchsten Wölfe ihre Geheimnisse hatten, ich auch meine behalten konnte. Frandras Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. »Es war falsch von dir, die Aussprache zu beobachten«, sagte sie zu mir. »Es gibt gute Gründe dafür, dass wir die Geheimnisse der Legenden bewahren.« Für einen kurzen, schrecklichen Moment sah es so aus, als wolle sie sich auf mich stürzen. Dann seufzte sie.
»Du verstehst nicht so viel, wie du glaubst zu verstehen. Und genauso wenig versteht es diese alte Frau. Was die Unvereinbarkeit bedeutet, ist Folgendes: Wenn wir nicht bei den Menschen sind, werden die Ahnen uns umbringen. Wenn wir bei den Menschen sind und mit ihnen kämpfen, werden uns die Ahnen ebenfalls umbringen. Der einzige Weg, den wir gefunden haben, um beides zu vermeiden, sind die Aussprachen. Wir Höchsten Wölfe schlagen uns schon länger mit diesen Aussprachen, mit den Menschen und der Unvereinbarkeit herum, als dein weiches Welpenhirn sich überhaupt vorstellen kann.« Tlitoo spreizte seine Flügel in ihre Richtung. »Aber jetzt helfen eure Aussprachen nicht mehr«, krakeelte er. »Jetzt sterben die Großen Wölfe.« »Könnte sein, dass wir sterben«, schnauzte Jandru ihn an, »könnte aber auch genauso gut nicht sein. Aber wir werden Wölfe brauchen, die unsere Aufgabe übernehmen, wenn wir nicht mehr da sind. Deshalb musst du das Tal verlassen, Kaala. Wir waren seit deiner Geburt davon überzeugt, dass 189
du diejenige bist, der es bestimmt ist, die Abstammungslinie fortzuführen. Der Rat der Höchsten Wölfe ist anderer Meinung. Wenn Ruuqo dich in sein Rudel aufgenommen hätte, so wie wir es dir gesagt hatten, wäre es vielleicht möglich gewesen, sie umzustimmen. Jetzt ist das nicht mehr möglich. Sie ziehen einen anderen vor.« Ich erinnerte mich an das, was die alte Frau an dem Tag, als ich sie zum ersten Mal traf, gesagt hatte. »Ihr wollt, dass ich mich mit den Menschen treffe, wie ihr es tut«, sagte ich mit einem kaum vernehmbaren Flüstern, »mit TaLi als meiner Krianan.« Ich blickte umher, als erwartete ich, dass sie das Mädchen irgendwo versteckt hätten. Frandra und Jandru tauschten unbehagliche Blicke aus. Tlitoo stolzierte zu ihnen hinüber und gab ein merkwürdiges Zischen von sich, wie ich es noch nie von einem Raben vernommen hatte. »Nein«, sagte Jandru. »Dazu ist es zu spät. Das Mädchen ist von der Gewalt ihrer Sippe verdorben worden. Wir können sie nicht retten. Wir dürften nicht einmal dich retten. Der Rat der Höchsten Wölfe hat geurteilt, dass die Wölfe und Menschen des Großen Tales versagt haben. Wenn irgendwelche von den Wölfen oder Menschen gegeneinander kämpfen, wie sie das offensichtlich tun werden, müssen alle im Tal sterben. Der Rat wird sie alle töten. Sonst würde sich der Krieg ausbreiten, und es gäbe keine Wölfe mehr. Du stehst den Menschen zu nahe, Kaala, um selbst eine Wächterin zu sein, aber die Kinder deiner Kindeskinder könnten diejenigen sein, die unsere Aufgabe fortführen, wenn das notwendig werden sollte. Du musst jetzt mit uns kommen oder in dem Augenblick sterben, in dem irgendein Wolf einen Menschen angreift.« 189 »Was ist mit meinem Rudel ?«, wollte ich wissen. »Was ist mit TaLi und ihrer Sippe?« »Was soll mit ihnen sein?«, antwortete Frandra sorglos. »Die Zukunft aller Wölfe ist wichtiger als jeder einzelne Wolf, als jedes Rudel oder jede Menschensippe. Wir werden irgendwo anders aufs Neue beginnen.«
Ich war verblüfft über die Gefühllosigkeit der Höchsten Wölfe. »Ich hab's dir doch gesagt, Wölflein«, meinte Tlitoo. »Ich gehe nicht«, erklärte ich. »Ich werde nicht mit euch gehen.« »Dann werden wir dich am Schwanz mit uns ziehen«, schnauzte Jandru, der die Geduld verlor. Er bewegte sich auf mich zu. Ich ging rückwärts, wohl wissend, dass ich ihm nicht davonlaufen konnte, aber jederzeit bereit, es dennoch zu versuchen. Tlitoo spreizte seine Flügel und bereitete sich darauf vor davonzufliegen oder zu kämpfen. Ich war mir nicht ganz sicher, welche von beiden Möglichkeiten es werden würde. »Das ist ungerecht!«, schrie ich, nicht länger darauf bedacht leise zu sein. »Ihr habt mich belogen. Ihr habt uns alle belogen. Ihr habt uns befohlen, uns von den Menschen fernzuhalten, ohne uns zu sagen, warum. Und ohne uns zu sagen, dass wir eigentlich zu ihnen gehören sollen.« Die Höchsten Wölfe blickten mich zornerfüllt an. Es war mir gleichgültig. »Die Legenden erzählen nichts von der Unvereinbarkeit, und dabei ist sie das Wichtigste von allem. Jetzt werdet ihr alle Wölfe und Menschen im Tal töten, nur weil wir nichts anderes getan haben, als uns an die Legenden zu halten! Und das alles, weil die Legenden lügen!« »Sie hat recht«, sagte eine greise Stimme, eine Stimme, die wie zerbrechende Zweige und fliegender Staub klang. 190
Frandra und Jandru warfen ihre Köpfe herum. Zorindru, der Anführer der Höchsten Wölfe, der die Aussprache geleitet hatte, saß neben einem großen Felsen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er dort schon saß. Neben ihm, die Hand auf seinen Rücken gelegt, stand TaLis Großmutter. »Habt ihr wirklich geglaubt«, sagte der greise Wolf zu Frandra und Jandru, »dass sie einfach so mit euch mitgehen würde ? Und habt ihr wirklich geglaubt, dass ich nicht herausfinden würde, was ihr vorhabt?« Er sprach leise, und das Fell auf seinem Rücken sträubte sich nur ein winziges bisschen, doch das war genug, um Frandra und Jandru ihre Ohren anlegen zu lassen. Sie sahen eingeschüchterten Welpen so ähnlich, dass ich beinahe in Versuchung geriet zu lachen. Ich wollte hinüberlaufen, um die alte Frau zu begrüßen, hatte aber viel zu viel Ehrfurcht vor dem alten Höchsten Wolf, als dass ich mich hätte bewegen können. Tlitoo kannte solches Zögern nicht. Er flog zu der alten Frau und setzte sich auf ihre Schulter. Dann hüpfte er auf den Rücken des greisen Höchsten Wolfes. Von dort zischte er noch einmal und starrte Jandru und Frandra böse an. »NiaLi und ich haben uns beraten«, erklärte Zorindru und nickte der alten Frau zu. »Ich glaube, es ist an der Zeit, den kleineren Wölfen des Tales - und den Menschen - einiges von den Gründen zu erzählen, warum wir das tun, was wir tun.« Er öffnete seine riesigen Kiefer zu einem breiten Lächeln und schüttelte Tlitoo aus seinem Fell. Der Rabe flog auf einen nahegelegenen Felsen und starrte immer noch böse auf Frandra und Jandru. »Es sind die Geheimnisse der Höchsten Wölfe!«, widersprach Frandra. »Und es ist an der Zeit, dass ihr sie teilt!«, warf die alte 190
Frau ein, ohne irgendwelche Furcht vor den riesigen Wölfen zu zeigen. Ich erinnerte mich daran, dass sie sowohl unsere Sprache als auch die Ursprache
verstand. »Ihr habt viel zu lange Geheimnisse vor uns gehabt«, sagte sie. »Zorindru hat mir erzählt, dass ihr plant, uns alle zu töten, und ich will wissen, warum.« »Das ist nichts, was Menschen oder kleinere Wölfe verstehen könnten«, sagte Frandra verächtlich. »Wir haben die Last des Abkommens auf uns genommen, weil ihr dazu zu schwach seid. Wir müssen euch gar nichts erzählen.« »Da bin ich anderer Meinung«, sagte Zorindru sanft. Frandra öffnete ihren Mund, um zu widersprechen, doch Zorindru brachte sie mit der Andeutung eines Knurrens zum Schweigen. »Noch leite ich den Rat der Höchsten Wölfe«, sagte er, »und wenn Kaala das Tal verlassen soll, dann hat sie ein Recht, den wahren Grund zu kennen, warum das so sein soll. Ich werde dir nicht alles erzählen, Jungwolf- es gibt Geheimnisse, die die Höchsten Wölfe bewahren müssen -, aber ich werde dir erzählen, was ich erzählen kann.« Ich neigte meine Ohren und meinen Schwanz vor dem greisen Höchsten Wolf. Die alte Frau streckte ihre Hand nach mir aus, und ich ging zu ihr hinüber. Sie ließ sich auf einem flachen Felsen nieder, und ich lehnte mich gegen sie. Ich saß neben ihr in dem kühlen Staub. Zorindru lagerte seinen alten Körper auf dem Boden neben uns und begann mit seiner an zerbrechende Zweige erinnernden Stimme zu sprechen. »Eure Legenden sagen zu einem großen Teil die Wahrheit«, sagte er, »aber nicht in allem. Es ist wahr, dass Indru und sein Rudel die Menschen verändert haben. Es ist genauso wahr, dass die Ahnen fast das Leben aller Wölfe und Menschen beendet hätten. Um sie zu retten, gab Indru ein Ver 191 sprechen. Aber er versprach nicht, die Menschen zu meiden. Er versprach, dass er und seine Nachkommen über sie wachen würden, und das für alle Zeiten.« Ich sah ihn eine Weile schweigend an. Ich glaubte dem greisen Wolf. Etwas in seiner Art ließ mich ihm vertrauen, und für mich ergab es einen Sinn, dass Indru über die Menschen hatte wachen wollen, dass es genau das war, was Wölfe tun sollten. Und wenn dies wahr war, dann war auch alles, was Frandra und Jandru gesagt hatten, wahr. »Aber es hat nicht geholfen?«, fragte ich schließlich. »Es hat nicht geholfen. Wölfe und Menschen haben gegeneinander gekämpft, und die Wölfe haben ihr Versprechen gebrochen.« Schmerz erfüllte die Augen des greisen Wolfes. Er schüttelte sich heftig und fuhr fort. »Als die Wölfe ihr Wort brachen, sandten die Ahnen einen Winter, der drei Jahre lang dauerte, um das Leben aller Wölfe und aller Menschen zu beenden. Doch dann kam eine junge Wölfin mit dem Namen Lydda und brachte die Menschen und Wölfe wieder zueinander, und der lange Winter hatte ein Ende.« Ich wusste jetzt, dass Lydda, der Jungwolf, von dem er sprach, die Traumwölfin war, die mich besuchte. »Unsere Legenden erzählen, dass sie den Winter gebracht hat, indem sie zu den Menschen ging«, berichtete ich dem alten Höchsten Wolf. »So war es nicht. Sie beendete den langen Winter, als sie die Menschen und die Wölfe wieder zueinanderbrachte. Das ist es, was die Ahnen überzeugte, dass wir eine weitere Chance verdienten - eine letzte Chance, mit den Menschen zusammen zu sein, ohne dass ein Krieg ausbricht.« »Aber es gab einen Krieg«, warf ich ein und erinnerte mich daran, was die Traumwölfin mir erzählt hatte. 191
»Es hätte fast einen gegeben«, sagte der greise Wolf, »wenn wir ihn nicht aufgehalten hätten. Wölfe und Menschen begannen gegeneinander zu kämpfen, und da wurde der Rat der Höchsten Wölfe einberufen. Wir wussten, dass die Ahmen den langen Winter zurückschicken konnten, wenn wir es gestatteten, dass die Kämpfe andauern würden. Da erkannten wir, dass wir, wenn wir über die Menschen wachen wollten, dies aus der Ferne tun mussten. Also schufen wir die Aussprachen, um Indrus Versprechen zu erfüllen, ohne einen Krieg zu verursachen.« »Was geschah mit Lydda?«, fragte ich, und mein Magen zog sich zusammen. Ich fragte mich, ob Zorindru mich belügen würde. »Wir mussten sie fortschicken«, sagte der greise Wolf und bestätigte damit, was die Traumwölfin mir erzählt hatte. »Wenn sie geblieben wäre, hätte sie nur weitere Schwierigkeiten verursacht. Sie hatte nicht die Stärke zu tun, was nötig war.« Tlitoo krächzte etwas, das nichts anderes als eine Beleidigung sein konnte. Zorindru musste die Bestürzung und den Widerspruch auf meinem Gesicht gesehen haben, denn er senkte seine Nase zu meiner herab. »Lydda dachte nur an ihren Menschen und was das Beste für ihn sein mochte«, sagte er. »Eine Entscheidung mussten weisere Wölfe fällen. Wir hatten keine Wahl und mussten sie fortschicken. Es war zum Besten aller Wölfe.« »Und jetzt sterben die Großen Wölfe«, beharrte Tlitoo. Zorindru senkte den Kopf. »Generation um Generation«, sagte der greise Wolf, »haben wir versucht, die Wölfe zu finden, die unseren Platz einnehmen könnten, ausgewählt, welche von ihnen Welpen haben sollten und welche nicht. Wir 192 haben das an so vielen Orten getan, in Tälern, auf Inseln und Bergeshöhen. Und an allen diesen Orten sind wir immer und immer wieder gescheitert. Hier im Großen Tal waren wir einem Erfolg am nächsten. Du warst eine Überraschung, Kaala. Normalerweise, wenn ein Welpe ohne Erlaubnis geboren wird, muss er getötet werden, wie es mit deinen Wurfgefährten geschah. Aber als Frandra und Jandru uns von deiner Geburt und von dem Zeichen des Halbmondes auf deiner Brust erzählten, glaubten einige, du könntest diejenige sein, die ein neues Geschlecht von Wächterwölfen zur Welt bringen wird. Das ist der Grund, aus dem du verschont werden kannst und warum wir dich aus dem Tal bringen wollen.« »Du weißt, wer mein Vater ist.« Ich wusste es plötzlich, mit der selben Sicherheit, mit der ich wusste, dass der Mond jede Nacht aufgeht. »Das werde ich dir nicht sagen«, meinte Zorindru, und seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er sich nicht beirren lassen würde. »Was ich dir aber sagen kann, ist, dass wir glauben, in dir gefunden zu haben, was wir seit der Zeit von Lydda suchten. Der Rat der Höchsten Wölfe ist anderer Meinung. Sie glauben, dass, weil du die Menschen so liebst, deine Kinder das auch tun werden.« Tlitoos Stimme war noch nie so sanft gewesen wie jetzt, als er seine Stimme erhob. »Du lügst. Es gibt mehr, Das die Wölfe verschweigen. Was soll geschehen ?« Ich befürchtete, Zorindru würde außer sich geraten vor Wut. Frandra und Jandru waren es auf jeden Fall. Aber der Blick, 192
mit dem der greise Wolf sich dem Raben zuwandte, war gedankenverloren und voller Schmerz. »Das werden Geheimnisse bleiben, Rabe. Es gibt in der ganzen weiten Welt keinen Ast, der hoch genug ist, dass du auf ihn fliegen könntest, um dich vor dem Zorn des Rates zu schützen, wenn ich dir ihre Geheimnisse anvertrauen würde.« »Kaala«, sagte Frandra und bemühte sich sehr, ihrer Stimme einen versöhnlichen Ton zu geben. »Du musst uns vertrauen, wenn wir dir sagen, dass es das Beste für dich ist, jetzt mit uns das Tal zu verlassen. Wir haben dein Leben gerettet, als du ein Winzjunges warst. Wir wollen nur dein Bestes.« Ich sah ihr nicht in die Augen. Lydda hatte das Tal verlassen. Lydda hatte getan, was man ihr gesagt hatte. Ich blickte hinauf in das Gesicht des greisen Höchsten Wolfes. »Ich werde nicht mit euch gehen«, sagte ich ruhig. »Wenn ihr mich zwingt mitzukommen, werde ich aufhören zu fressen und sterben. Vielleicht«, sagte ich, und ich hoffte, ich klänge jetzt so, als wüsste ich, wovon ich redete, »vielleicht kann ich die Kämpfe ja aufhalten.« Ich glaubte ein Lächeln in den Augen des Höchsten Wolfes zu erkennen. Doch es war zu schnell wieder verschwunden, als dass ich mir sicher sein konnte. »Dann werde ich mit dem Rat darüber reden«, erklärte er zu meiner Überraschung. Ich blinzelte ihn verwundert an. Jandru grunzte leise vor Erstaunen. »Du bittest sie, den Kampf zu verhindern?«, fragte ich, »meinem Rudel zu helfen?« »Das kann ich nicht tun«, antwortete der Höchste Wolf. »Sobald sich Zähne in Fleisch graben, gibt es nichts mehr, 193 das ich tun könnte. Aber vielleicht verschonen sie die Wölfe des Großen Tales und die Menschen, wenn es zu keinem Kampf kommt.« »Dann wird es zu spät sein!«, warf Frandra ein. »Sie muss jetzt mit uns kommen, oder alles, für das wir uns abgemüht haben, wird verloren sein!« »Sie hat das Recht, ihre eigene Wahl zu treffen«, sagte TaLis Großmutter mit schneidender Stimme. »Du kannst ihr diese Wahl nicht nehmen.« Frandra und Jandru knurrten beide und schritten drohend auf sie zu. Sie blickte die Wölfe unverwandt an. »Nein«, sagte Zorindru, »wir können ihr die Wahl nicht nehmen.« Er funkelte böse zu den anderen beiden Höchsten Wölfe hinüber. Beide legten ihre Ohren an und traten von der alten Frau zurück. Zorindru neigte seinen Kopf, um mir in die Augen zu schauen. »Aber hör zu, Jungwolf«, sagte er sanft, »ich kann dir nichts versprechen. Ich bin der Leitwolf der Höchsten Wölfe, aber ich kann dem Rat nicht vorschreiben, was er zu tun hat. Sie könnten die Wölfe des Großen Tales immer noch töten, auch wenn es nicht zum Kampf kommt. Was ich tun könnte, ist, dich aus dem Tal zu führen. Ich werde deine Freunde - Ázzuen und Marra - ebenfalls mitnehmen, damit du nicht alleine bist. Und ich werde dich zu deiner Mutter bringen«, versprach er und beobachtete mich dabei sorgfältig. »Ich kann herausfinden, wo sie ist, und ich werde dich zu ihr bringen.«
Voller Erstaunen schaute ich zu ihm hinauf, und mein Herz schlug rasend schnell in meiner Brust. Meine Mutter. Kein Tag in meinem Leben war vergangen, an dem ich mich 194 nicht gefragt hatte, wo sie sein mochte, an dem ich nicht darüber nachgedacht hatte, wie ich sie finden konnte. Ich hatte ihr versprochen, sie zu suchen. Wenn Zorindru mich zu ihr bringen konnte, würde ich mir keine Gedanken mehr um Ruuqo oder die Wölfe vom Felsgipfel machen müssen. Ich würde mich nicht mehr darum sorgen müssen, ob ich das Romma erhalten würde oder ob der Kampf verhindert werden konnte. Ich wäre mit meiner Mutter und vielleicht sogar mit meinem Vater zusammen und würde nie wieder allein sein. Und meine Rudelgefährten würden sterben, selbst wenn sie sich den Kämpfen nicht anschlossen. Und TaLi würde sterben. Und BreLan und MikLan. »Nein«, erklärte ich. »Ich werde nicht zulassen, dass mein Rudel oder unsere Menschen getötet werden. Ich werde Ruuqo davon überzeugen, dass der Kampf aufgehalten werden muss.« »Also gut. Ich werde jetzt mit dem Rat sprechen«, sagte er und begann steif in die Richtung des Felskreises zu wandern. Vor Frandra und Jandru hielt er an. »Ihr werdet mit mir kommen«, befahl er. Sie sahen aus, als wollten sie ihm widersprechen, und Frandra grummelte etwas in sich hinein, aber beide legten ihre Ohren zurück und folgten ihm, starrten mich nur über ihre Schultern hinweg böse an. Ich sah zu, wie sie gingen. Noch bevor ihre Ruten vollkommen verschwunden waren, gab Tlitoo einen schrillen Schrei von sich. »Worauf wartest du, Wölflein ? Du bist zu fett, als dass ich dich tragen könnte!« Ich hielt einen Augenblick inne und fragte mich, ob wir die alte Frau allein in den Wäldern lassen konnten. »Geh, Kleines«, sagte sie. »Ich habe mich schon lange vor 194 der Geburt der Urgroßmutter deiner Urgroßmutter allein in diesen Wäldern zurechtgefunden. Ich werde so schnell ich kann bei euch sein.« Ich gestattete ihr wieder, sich auf meinen Rücken zu lehnen, um sich von dem Felsen zu erheben. Dann machte ich mich auf den weiten Weg zurück in unser Gebiet. Ich war erst wenige Minuten gelaufen, als mich leise Tritte auf trockenen Blättern anhalten ließen. Ázzuen und Marra traten auf den Weg vor mir. »Du hast doch wohl nicht angenommen, wir würden dich alleine gehen lassen, oder?«, erklärte Ázzuen. ♦
Zuerst versuchte ich, sie davon zu überzeugen, dass sie gehen sollten, aus dem Tal fliehen und auf mich und unsere Menschen dort warten sollten. Ich erzählte ihnen von Lydda und den Plänen der Höchsten Wölfe. Sie wollten nicht gehen. »Es ist genauso unsere Zukunft«, beharrte Marra. »Wir haben ein Recht darauf zu bleiben und zu versuchen, den Kampf zu verhindern.« »Und wir werden BreLan und MikLan nicht zurücklassen und zulassen, dass sie getötet werden«, fügte Ázzuen hinzu.
»Wir haben uns bereits entschieden«, erklärte Marra. »Also verschwende deine Zeit nicht damit herumzustreiten.« Ich atmete tief durch, um ihnen noch einmal ins Gewissen zu reden. Da ging mir auf, dass ich sie gar nicht überzeugen wollte. Ich legte meinen Kopf auf Ázzuens Rücken und setzte eine Pfote auf Marras Schulter. Die letzten Zweifel schwanden aus meinem Herzen. »Hier lang«, sagte Ázzuen. 195 Die Nacht war schon halb vorbei, als wir die Ebene des Hohen Grases erreichten und uns auf dem von Bäumen verdeckten Abhang niederkauerten, von dem aus wir vor so vielen Monden beobachtet hatten, wie unser Rudel mit dem Bären kämpfte. Das Gras, das der Wiese ihren Namen gab, hatte begonnen auszutrocknen, stand aber immer noch hoch nach den reichhaltigen Regenfällen des Herbstes. Die stämmigen Bäume des Waldes boten uns ein gutes Versteck vor dem, was etwas unterhalb geschah. Zu unserer Linken, unten auf der Ebene, war unser Rudel. Ruuqo, wie immer vorsichtig, wartete ab und beobachtete. Zu unserer Rechten und etwas weiter hinaus auf der Ebene, auf einer kahlen, vom Gras befreiten Stelle, waren die Frauen und Kinder der Menschen, TaLi mitten unter ihnen. Sie sangen und schlugen in einer schwierigen, aber fesselnden Tonfolge mit Hölzern gegen ausgehöhlte Stämme. Genau vor uns, auf halbem Wege über die Ebene, standen ungefähr zwanzig Männer der Menschen in 195 zwei Kreisen um eine Gruppe von Elen herum. Sechs jüngere Männer, unter ihnen MikLan, bildeten den inneren Kreis, der knappe sechs Wolfslängen von den Elen entfernt verlief. Die erwachsenen Männer bildeten den äußeren Kreis. BreLan war bei ihnen, genauso wie der Sohn des Anführers von TaLis Sippe, der, mit dem sie sich paaren sollte. »Wir kommen zu spät«, flüsterte Marra. Hinter den Menschen im Gras versteckt waren die Wölfe vom Felsgipfel und ein Rudel, das dem starken Geruch von Nadelwald nach das vom Höhenwald sein musste. Sie schlichen sich an die Menschen heran, als seien sie Beute. Die Menschen schienen nicht zu wissen, dass Wölfe in ihrer Nähe waren. Es war eine feierliche Handlung, genau wie Torell gesagt hatte. Acht der Männer hielten ausgehöhlte Kürbisse in ihren Händen. Sie schüttelten sie heftig vor und zurück, und irgendetwas in den Kürbissen klapperte laut und fügte sich in den rhythmischen Schlag der Hölzer auf Stämme. Das Trommeln und Klappern schien die Elen in Bann zu ziehen, sie blieben auf einer Stelle stehen. Ich fühlte, wie der Klang mich ebenfalls fesselte, und musste mich schütteln, um mich von seiner Wirkung zu befreien. »Es ist ihre Prüfung zum Erwachsenwerden«, sagte Ázzuen. »Trevegg hat es uns erklärt, bevor wir sie verlassen haben.« »Ihr habt Trevegg gefragt?«, erschrak ich voller Sorge, dass sie sich vielleicht verraten haben konnten. Ich seufzte. Es war zu spät, um sich über solche Dinge Gedanken zu machen. »Was haben die Elen damit zu tun?« Ich bemerkte, dass sich nur weibliche Elen in der Mitte des Kreises befanden, und fragte mich, wo die männlichen sein mochten.
»Die jungen Menschen müssen beweisen, dass sie kräftig 196 sind«, antwortete Ázzuen. »Es ist so ähnlich wie unsere erste Jagd. Die Jungen müssen selbst eine Elen töten, um zu beweisen, dass sie erwachsen sind. Niemand verlässt die Ebene, bevor nicht jeder eine Elen getötet hat. Deshalb hat Torell diesen Zeitpunkt der Feierlichkeiten gewählt. Ihre Aufmerksamkeit wird vollkommen auf die Elen gerichtet sein.« »Und sie ist auch wirklich auf nichts anderes gerichtet«, meinte Marra mit einem Blick auf die Ebene. »Wie kommt es, dass sie die Wölfe vom Felsgipfel nicht sehen? Oder unser Rudel?« Ich stellte mir dieselbe Frage. Das hohe Gras der Wiese bot jede Menge an guten Verstecken, doch wenn die Menschen achtgegeben hätten, hätten sie die Bewegungen im Gras bemerken müssen, die die Wölfe verursachten, als sie sich jetzt verteilten und genau hinter den Menschen einen Halbkreis bildeten. Aber sie bemerkten nichts. Das Klappern der Kürbisse und das Schlagen der Hölzer wurde lauter, und ich fand mich wieder in ihren Bann gezogen. »Es ist der Rhythmus der Kürbisse und Hölzer, glaube ich«, sagte ich in der Hoffnung, dass wir zu Ruuqo gelangen konnten, damit er Torell aufhalten konnte. »Er fesselt ihre Aufmerksamkeit genauso wie die der Elen.« Ich blickte hinüber zu TaLi. »Warum jagen die Frauen nicht?« »Trevegg sagt, die Menschen wollen nicht länger, dass ihre Frauen jagen«, schnaubte Marra verächtlich. »Ich sehe keinen Grund, warum sie die Anzahl ihrer Jäger einfach so halbieren wollen, aber Trevegg sagt, es sei so. Er kommt hier herüber.« Sie erhob ihre Nase in Richtung unseres Rudels. »Ich glaube, er wusste, dass wir fortlaufen würden, aber er hat nichts gesagt.« 196 Ich zwang mich, meine Aufmerksamkeit von dem Kreis der Menschen und den Elen auf unser Rudel zu richten. Ich konnte mit Mühe Treveggs Umrisse im Gras erkennen, als er sich vorsichtig auf uns zu bewegte. Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, ob er Ruuqo und den anderen davon erzählt hatte, dass wir hier waren. Wir mussten rasch handeln. »Das Erste, was wir tun müssen«, sagte ich, »ist, unsere Menschen dort herauszuholen. Dann können wir versuchen, Ruuqo davon zu überzeugen, die Wölfe vom Felsgipfel von einem Angriff abzuhalten.« »Ich sehe nicht, wie wir BreLan und MikLan in Sicherheit bringen können.« Marras Stimme klang angespannt. »Sie sind zu nahe bei den Wölfen vom Felsgipfel. Du könntest dein Mädchen holen und mit ihm verschwinden«, sagte sie und beobachtete mich aus den Augenwinkeln. »Sie ist uns am nächsten.« »Nein«, erklärte ich. »Wir retten sie alle.« Wir hatten von unserem Platz aus eine gute Sicht auf einen großen Teil der Ebene. Aber nicht gut genug. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Wölfe sich an die Männer der Menschen heranschlichen. Ich brauchte einen besseren Aussichtspunkt. »Ich gehe hinauf zu diesem Felsen da«, sagte ich und deutete auf einen Felsen, der in einem höhergelegenen Teil des Waldes Ausblick über die Ebene bot.
»Sei vorsichtig«, meinte Ázzuen. »Die vom Felsgipfel können dich sehen, wenn du nicht versteckt bleibst. Und beeil dich. Ich glaube nicht, dass wir noch sehr viel Zeit haben.« »Ich passe schon auf.« Ich rollte mit den Augen. Ázzuen hatte immer solche Bedenken. Der Fels war nicht weit entfernt, aber ich musste auf mei 197 nem Bauch unter niedrigen Büschen durchkriechen, um dorthin zu gelangen. Ich entschloss mich, einfach auf seinen höchsten Punkt zu klettern und so tief geduckt wie möglich zu bleiben. Ich glaubte nicht, dass irgendjemand auf der Ebene so wachsam sein würde. Die Kuppe des Felsen war flach, und ich würde ohne Schwierigkeiten hinüberblicken können. Ich war fast auf dem höchsten Punkt des Felsen angelangt, als sich der Himmel über mir verdunkelte und mich etwas fest am Nackenfell packte. Es riss mich von meinen Pfoten und zog mich den Fels hinunter, dann wurde ich in einen Haufen Rinde und Dreck geworfen. Ich war so überrascht, dass ich nicht einmal aufjaulen konnte. Eine große Pfote verschloss mir die Schnauze. »Sei ruhig«, zischte Frandra. »Steh auf und komm mit mir.« Ich blieb, wo ich war. Frandra packte mich wieder beim Nackenfell und begann mich durch den Staub, die Blätter und über Felsbrocken zu zerren. Ich trat mit den Füßen und versuchte mich zu befreien, doch ich war unglücklich auf die Seite gefallen, und der Höchste Wolf war viel zu kräftig für mich, als dass ich mich aus dieser Lage hätte befreien können. Nach einigen wenigen Wolfslängen hielt sie an, wo Jandru bereits wartete und ließ mich los. Ich hustete Staub und Blätter aus meiner Kehle und stand auf. Ich starrte sie wütend an. Ich konnte nicht anders, als vor ihnen meine Ohren anzulegen und die Rute zu senken. Das bedeutete aber lange noch nicht, dass ich höflich sein musste. »Dämlicher Welpe«, flüsterte Jandru verärgert. »Du hättest einfach mit uns kommen sollen. Du hättest alles zerstören können. Jetzt folge uns. Und keinen Ton von dir.« 197 »Ich habe euch bereits erklärt, dass ich nicht mit euch komme«, flüsterte ich zurück und schüttelte meinen Nacken. »Zorindru hat gesagt, er wolle versuchen, mit den anderen Höchsten Wölfen zu sprechen.« »Das tut er gerade«, schnauzte Jandru mich an. »Aber er weiß nicht, ob sie zustimmen werden, die Wölfe des Tales zu verschonen, selbst wenn du das Kämpfen aufhalten kannst. Und es wird auch nicht den geringsten Unterschied machen! Der Kampf beginnt jeden Augenblick, und du wirst ihn nicht aufhalten können.« »Der Rat der Höchsten Wölfe ist hier«, knurrte Frandra. »Selbst die von außerhalb des Tales. Es ist ein halbes Hundert von ihnen, die die Ebene umzingelt haben. In dem Augenblick, in dem der Kampf beginnt, werden sie das Leben jeden Wolfes und jedes Menschen hier beenden. Dann werden sie jeden Wolf und jeden Menschen im Tal aufspüren. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Sie haben noch nicht gegeneinander gekämpft«, behauptete ich trotzig. »Ihr könnt nicht wissen, ob sie es wirklich tun werden.« »Aber es ist offensichtlich, dass sie kämpfen werden!«, erklärte Jandru, ohne sich länger um ein Flüstern zu bemühen. »Du wirst jetzt auf deinen eigenen Pfoten mit uns kommen, oder wir werden dich hinter uns herschleifen. Es ist mir ziemlich gleich, welche von beiden Möglichkeiten es sein wird.« Ich fühlte, wie sich meine Augen zu Schlitzen verengten und meine Lefzen sich über die Zähne zurückzogen. Meine Ohren stellten sich auf und zogen die Haut in meinem Gesicht straff. Das Fell auf meinem Rücken sträubte sich. Ich knurrte die Höchsten Wölfe an. Sie blickten völlig verdutzt auf mich. Dann begann Jandru 198
zu lachen. »Ich werde dafür sorgen, dass der Weg frei ist«, sagte er zu Frandra. »Du bringst sie mit. Ganz gleich, ob sie kommen will oder nicht.« Er wandte uns seine Rute zu und ging rasch und leise davon. Ich starrte Frandra böse an und knurrte wieder. »Komm einfach«, sagte sie müde. »Ich würde dich lieber nicht mitschleifen müssen.« Schwarze Flügel und scharfe Klauen warfen sich auf ihren Kopf. Tlitoo krallte sich in die empfindliche Haut zwischen den Ohren der Höchsten Wölfin. Frandra jaulte vor Schmerz auf und schüttelte heftig ihren Kopf. Ein grauer Blitz schoss aus den Büschen, und Ázzuen sprang auf Frandras linke Seite. Ich bewegte mich in genau demselben Augenblick, und es gelang uns irgendwie, die Höchste Wölfin aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es war nicht so viel anders, als große Beute zu jagen. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst vorsichtig sein«, keuchte Ázzuen und grinste mich an, als er wieder auf die Füße kam. Ich wusste nicht, ob ich ihn anknurren oder ihm einfach dankbar sein sollte. »Macht voran, Wölfe!«, rief Tlitoo. »Ich werde den schusseligen großen Wolf beschäftigen.« Genau in diesem Augenblick hörten wir, wie Marra uns rief. »Kaala!«, ihre Stimme klang verzweifelt. »Die Felsgipfler greifen an!« Ázzuen und ich sprangen in den dichtesten Teil des Unterholzes, damit es Frandra sehr schwerfallen würde, uns zu folgen. Ich hörte erbittertes Knurren und siegreiches Krächzen hinter uns. Außer Atem duckten wir uns neben Marra. Trevegg erreichte gerade die Kuppe des Hügels. 198
»Die Wölfe vom Felsgipfel und die vom Höhenwald sind kurz davor anzugreifen«, sagte Marra schnell. »Wir müssen unsere Menschen da rausholen.« »Nein«, sagte Trevegg und legte sich flach neben uns, »das könnt ihr nicht. Es ist zu gefährlich. Ich weiß, was ihr vorhabt, aber ihr müsst euch aus den Kämpfen heraushalten. Ruuqo muss immer noch seine Entscheidung treffen«, fügte er hinzu. »Was du gesagt hast, hat Eindruck auf ihn gemacht, Kaala, selbst wenn er es nicht zugeben wollte, als du seinen Rang in Frage gestellt hast. Ich habe mit ihm gesprochen, nachdem du weg warst. Rissa will keinen Kampf, und Ruuqo wird sich nicht gegen sie stellen, solange es nicht unbedingt notwendig ist. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass das Rudel vom Schnellen Fluss heute nicht
kämpfen wird. Ruuqo wird dir vielleicht sogar gestatten, zum Rudel zurückzukommen.« »Das macht keinen Unterschied«, meinte Ázzuen. »Warum?«, wollte der Altwolf wissen. »Erzähl's ihm, Wölflein«, sagte Tlitoo und landete neben mir. Ich konnte nicht anders, als mit Genugtuung die Fetzen von Fell zu bemerken, die noch in seinem Schnabel und in seinen Krallen hingen. »Mir was erzählen?« »Es macht keinen Unterschied, ob die Wölfe vom Schnellen Fluss kämpfen werden oder nicht«, erklärte Tlitoo, bevor ich sprechen konnte. »Wenn irgendein Wolf kämpft, sterben alle Wölfe. Die Menschen auch«, fügte er noch schnell hinzu. »Rabe, du redest dummes Zeug«, sagte der Altwolf erschrocken. »Und dafür haben wir keine Zeit.« »Es ist kein dummes Zeug«, sagte ich, bevor Tlitoo belei 199 digt sein konnte und einen Aufruhr verursachte. »Es ist wahr.« »Dein Gehirn ist gefrorener Schlamm, Trottelwolf«, krächzte Tlitoo kurz angebunden und flog davon. »Was der Vogel sagt, ist wahr?«, fragte Trevegg. »Ja«, antwortete ich. Ich erzählte ihm von dem Rat der Höchsten Wölfe, von der Entscheidung, die sie getroffen hatten. Ich erklärte, dass die Höchsten Wölfe des Tales und die von außerhalb des Tales in der Nähe waren und uns beobachteten. Ich konnte sie jetzt sehen, wie sie die Ebene umringten, versuchten, sich zwischen den Bäumen zu verstecken. Sie beobachteten uns und warteten ab, wie zu einer Jagd aufgestellt. Ich sprach schnell und warf immer wieder einen Blick auf die Ebene, wo Torell und sein Rudel jetzt langsam auf ihre Beute zuschlichen. Trevegg hörte zu, und sein Gesicht verzog sich zu einer finsteren und immer finsteren Miene, als er jetzt ebenfalls die Höchsten Wölfe bemerkte, wie sie die Ebene umzingelten, jederzeit bereit zuzuschlagen. »Alle Wölfe im Tal und auch die Menschen«, wiederholte er und blinzelte, um die Höchsten Wölfe zu zählen. »Auch diejenigen, die nicht kämpfen?« Ich nickte mit dem Kopf. Trevegg grummelte besorgt in sich hinein. »Ich gehe zu Ruuqo und erzähle ihm davon. Wir werden einen Weg finden, um Torell aufzuhalten.« Bevor ich noch antworten konnte, begann Trevegg sich langsam den Hügel hinunterzubewegen, kriechend, um nicht gesehen zu werden. »Was jetzt?«, fragte Marra. »Ich hole MikLan, ganz gleich, was geschehen wird. Aber wir können nicht einfach dort hinunterspazieren und zu ihnen gehen. Es gibt nicht genügend Deckung.« 199 »Ich weiß nicht«, sagte ich, während ich beobachtete, wie Trevegg zu Ruuqo kroch. Die Wölfe vom Felsgipfel bewegten sich vorsichtig und wollten offenbar den Vorteil eines Überraschungsangriffs nicht ungenutzt lassen. Ich erwartete jeden Augenblick, dass Frandra und Jandru sich hinter mir anschlichen und mich wieder packen würden. Ich wusste, dass uns nur noch wenige Augenblicke blieben.
»Vielleicht kann dein Mädchen mit den anderen Menschen sprechen«, meinte Marra. »Vielleicht kannst du versuchen, in der Ursprache mit ihr zu sprechen, und sie könnte BreLan und MikLan holen.« Ich glaubte nicht, dass das funktionieren würde. Selbst wenn die Menschen gewarnt wären, würden sie sich einfach umdrehen und kämpfen. »Ich habe sie geholt«, sagte Tlitoo. Ich hatte nicht darauf geachtet, wohin er geflogen war, während wir mit Trevegg gesprochen hatten. Er war zu den Frauen der Menschen geflogen und kam jetzt zurück, gefolgt von einer atemlosen und verwirrten TaLi. »Wolf!«, rief sie und warf sich auf mich. Mit einem Wuff ließ ich die Luft aus meinen Lungen entweichen, als sie mir beinahe die Rippen gebrochen hätte. »Der Rabe hat mir keine Ruhe gelassen, bis ich mit ihm gegangen bin. Ich bin den ganzen Hügel hinaufgerannt.« TaLis normalerweise glattes Haar war zerrauft, als hätte jemand mehrmals daran gezogen. Ich konnte mir ein ziemlich genaues Bild davon machen, wie Tlitoo sie dazu gebracht hatte zu kommen. »Schau, Mensch«, sagte Tlitoo und nickte in Richtung der Wiese. TaLi, die ihn nicht verstand, setzte sich neben mich in den Staub. 200 »Was geschieht hier, Silbermond?« Tlitoo gab ein ungeduldiges Krächzen von sich, zog an TaLis Haaren und zwang sie, ihren Kopf zur Wiese zu drehen. »Hör auf damit!«, knurrte ich. »Lass sie in Ruhe!« »Ich tue ihr nicht weh, Wolf. Nicht sehr. Und sie muss es sehen. Vielleicht kann sie mit ihrem Volk reden.« TaLi stockte der Atem. Sie hatte gesehen, dass die Wölfe sich an die Menschen heranschlichen. Der Mond schien hell, und sie konnte von unserem Hügel aus ohne Schwierigkeiten die dunklen Umrisse von Torells Rudel erkennen. »Ich muss gehen und HuLin warnen!«, erklärte sie. »Das darfst du nicht«, sagte ich und versuchte mit ihr in der Ursprache zu sprechen, in der Hoffnung, dass sie mich dann verstehen konnte. »Es ist zu gefährlich.« »Wir brauchen dich, um BreLan und MikLan zu holen«, fügte Ázzuen hinzu, ohne sich um die Ursprache zu kümmern. Es brachte alles nichts, TaLi sprang auf ihre Füße. »Sie darf nicht gehen!«, warf Marra ein. »Was, wenn sie die Menschen warnt, und das bringt dann die Wölfe dazu anzugreifen? Es war dumm, sie herzubringen«, beschuldigte sie Tlitoo und vergaß ganz, dass sie diejenige gewesen war, die zuerst genau denselben Vorschlag gemacht hatte. Die Wölfe vom Felsgipfel und vom Höhenwald hatten jetzt die Menschen vollständig umzingelt. Die Wölfe zogen den Kreis immer mehr zusammen, als würden sie die Menschen verfolgen, wie sie Beute verfolgten. Die Elen bemerkten sie, selbst wenn die Menschen das nicht taten, und sie wurden immer unruhiger. Entsetzen stieg in mir auf. Wir hatten nur noch wenige Augenblicke, bevor die Wölfe an 200
greifen würden. Ich warf TaLi zu Boden und setzte mich auf sie, um sie davon abzuhalten, zu ihren Stammesgefährten zu laufen. »Wir müssen zu Ruuqo gehen«, meinte Ázzuen. »Wir müssen Trevegg helfen, den Kampf zu verhindern.« »Wir müssen unsere Menschen holen«, bellte Marra laut. »Wir müssen zu ihnen laufen und sie so von den anderen trennen, wie wir es mit Beute tun würden. So holen wir sie aus den Kämpfen heraus. Wir schaffen das. Sobald die Wölfe angreifen, werden wir zu unseren Menschen rennen. Dein Mädchen wird auf uns warten, Kaala, und du kannst uns helfen, BreLan und MikLan zu holen.« Der Wagemut in ihrer Stimme machte mich gereizt. »Was ist, wenn sie nicht mitkommen?«, wollte Ázzuen wissen. »Und was, wenn die Elen in eine wilde Flucht ausbrechen?« Er zitterte und erinnerte sich zweifellos an die wilde Flucht der Pferde, die uns beinahe unser Leben gekostet hatte. »Dann wären wir wirklich in Schwierigkeiten. Wir müssen das Rudel dazu bringen, uns zu helfen.« »Ich gehe hinunter, um näher bei MikLan zu sein«, erklärte Marra. »Und ich werde ihn dazu zwingen, das Tal mit mir zu verlassen. Ihr zwei könnt tun, was ihr wollt.« Ich sah ein verzweifeltes Brennen in ihren Augen. »Warte«, sagte ich. Marra und Ázzuen blickten mich an. Ázzuen hatte mich auf eine Idee gebracht. »Ich werde MikLan und BreLan nicht im Stich lassen«, erklärte ich. »Wir haben mit ihnen gejagt, und deshalb gehören sie zum Rudel. Aber genauso wenig werde ich die Wölfe vom Schnellen Fluss im Stich lassen. Sie haben uns gefüttert und uns gelehrt, was es heißt, ein Wolf zu sein. Es ist es nicht wert, uns selbst zu retten und unsere Menschen, wenn wir das auf 201 Kosten unseres Rudels und der Sippe der Menschen tun.« Ich holte tief Atem. »Die Elen sind schon halb verstört«, erklärte ich. »Was, wenn sie wirklich in eine wilde Flucht ausbrechen? Die Wölfe könnten die Menschen nicht angreifen. Es gäbe keinen Kampf, und die Höchsten Wölfe hätten keinen Grund, irgendwen zu töten.« »Wenn die Elen fluchtartig losrennen, ist das kein Kinderspiel«, meinte Ázzuen, und Ehrfurcht schlich sich in seine Stimme. Marras Gesicht leuchtete auf. »Wir hätten Zeit gewonnen.« »Entscheidet euch besser schnell«, fügte Tlitoo hinzu. Und wirklich, genau in diesem Augenblick gab Torell sein Zeichen zum Angriff. TaLi stieß mich feste und schüttelte mich ab. Sie stand auf und begann den Hügel hinabzurennen, um ihre Sippe zu warnen. Ich wartete nicht länger. Ich heulte. Ázzuen und Marra fielen ein. Torells Kopf fuhr herum, und sogar aus dieser Entfernung konnte ich sein Zähnefletschen erkennen. Die Menschen in ihrem Kreis fuhren zusammen und blickten sich um. Einer von ihnen rief etwas und deutete auf die Wölfe. Diejenigen im äußeren Kreis drehten sich um und zielten mit ihren spitzen Stecken auf die Wölfe, die ihnen am nächsten waren. Ich hoffte, dass sei Warnung genug und die Wölfe würden sich zurückziehen. Doch keineswegs. Die Reaktion der Menschen schien sie zu verärgern, und sie bewegten sich vorwärts, um anzugreifen. »Jetzt!«, rief ich. Ázzuen, Marra und ich rasten den Hügel hinunter auf die Elen zu.
»Du weißt, dass du verrückt bist, oder?«, keuchte Ázzuen. 202 Ich grinste ihn an. Es fühlte sich gut an, endlich etwas zu tun, selbst wenn das unseren Tod bedeuten konnte. Je näher wir kamen, umso größer wirkten die Elen. Ich fühlte, wie die Angst in mir aufstieg und schluckte sie hinunter. Selbst wenn ich jetzt hätte umkehren wollen, war es dazu zu spät. Marra, flink und furchtlos, stürzte sich mitten zwischen die Elen. Ázzuen und ich folgten ihr, rannten an einem verdutzten Paar der Jungwölfe vom Höhenwald vorbei und unter den Läufen eines älteren Wolfs hindurch. Wir liefen geradewegs in die Herde der Elen hinein. Die Gruppe der Elen brach auseinander. Die der Menschen brach ebenso auseinander - und die der Wölfe auch. Für einen Augenblick erstarrte ich vor Furcht, erinnerte mich an die wilde Flucht der Pferde und Reels Tod. Ich schüttelte mich kräftig. Seit jenem Tag hatte ich mit den Menschen gemeinsam gejagt und ein Reh erlegt. Ich hatte gemeinsam mit meinem Rudel die Elen gejagt. Ich würde es schaffen. »Es klappt!«, schrie Marra laut, während sie an mir vorbeiraste. Ich fragte mich, ob sie jemals so etwas wie Furcht verspürte. »Hier entlang!« Marra und Ázzuen erblickten eine Lücke zwischen den laufenden Elen und stürzten sich hinein. Ich wich einem Huf aus und folgte ihnen. Unser Schwung trug uns über die laufenden Elen hinaus. Wir hielten atemlos hechelnd an, um uns zu besehen, was wir angerichtet hatten. Die Elen liefen überall durcheinander, und die Wölfe und Menschen waren zu beschäftigt damit, ihnen auszuweichen, als dass sie einander angreifen konnten. Ich konnte nicht glauben, dass es tatsächlich gelungen war. »Wir holen BreLan und MikLan«, sagte Marra. »Wenn 202 die vom Felsgipfel immer noch kämpfen wollen, treffen wir dich am Überquerungsbaum und verlassen das Tal.« Marra wartete meine Antwort nicht ab, sondern sprang davon, in die Richtung, wo MikLan zuletzt gestanden hatte. Ázzuen folgte. Ich konnte TaLi den Hügel herunterstolpern sehen, dort, wo ich sie verlassen hatte, und begann zu ihr zu laufen. Uber meine Schulter behielt ich die Elen im Auge. Etwas an der Art, wie sie sich bewegten, machte mich unruhig. Sie wurden von knurrenden Wölfen und Menschen mit spitzen Stecken gejagt. Sie hätten schon längst davonlaufen sollen. Doch das taten sie nicht. Sie liefen immer noch umher. Da hörte ich ein Krachen im Unterholz auf der gegenüberliegenden Seite der Ebene. Etwas trat aus dem Wald heraus, fast genau hinter der Stelle, wo das Rudel vom Schnellen Fluss gewartet hatte. Ich hob meinen Kopf und erwartete jeden Augenblick, die Höchsten Wölfe in ihrem Angriff zu sehen. Doch sie waren es nicht. Das ist unmöglich, dachte ich bei mir. Das kann nicht sein. Die Bullen der Elen ziehen nicht gemeinsam umher. Elen jagen nicht. Dennoch sah es so aus, als hätten sie genau das vor. Sieben von ihnen, angeführt von Ranor und seinem Bruder Yonor, liefen wie Jäger aus dem Wald heraus, mit gesenkten Köpfen und Zorn in ihren Augen. Ich hörte ihr Röhren und erkannte ihre Wut an der Art und Weise, wie sie liefen. Sie mussten sich dort versteckt
haben, sich angeschlichen und auf eine Gelegenheit gewartet haben, um die anzugreifen, die ihre Gefährtinnen bedrohten. Ich besah mir den Anblick mit Schrecken und blickte dann zurück auf die weiblichen Elen. Ich erkannte, dass ich die Folgen der wilden Flucht falsch eingeschätzt hatte. Ich hatte geglaubt, es würde sein wie die Panik der Pferde, so schnell vorbei, wie es begonnen hatte. 203 Doch die Elen rannten immer noch hin und her, und als sie die Bullen der Elen zum Angriff auf sich zurennen sahen, wandten sie sich um, um zu kämpfen. »Sie tun nicht, was die Pferde getan haben!«, rief ich. »Warum machen sie das?« »Sie sind Elen«, antwortete Tlitoo, der über mir schwebte. »Sie verhalten sich nie wie andere Beute.« Er landete und legte seinen Kopf von links nach rechts. »Sieht aus, als hätten sie gelernt zu jagen.« Ich hörte Rissas erschrecktes Bellen einer Warnung. Trevegg lief Gefahr, von zweien der Elenbullen überrannt zu werden. Die Wölfe vom Schnellen Fluss waren auseinandergelaufen, als die Elen im Angriff auf sie zugestürmt waren. Ruuqo bellte einen verzweifelten Befehl, und er selbst, Yllin und Minn verfolgten Ranor und die anderen vier Elen, die Ranor zu den wilden Elenweibchen führte. Werrna und Rissa blieben zurück, um auf Trevegg zu warten, der noch unterwegs war von dort, wo er mit uns gesprochen hatte. Sein Weg führte genau entlang des Pfads der beiden anderen Elen, die herumgeschwenkt waren, als wollten sie ihn mit voller Absicht überrennen. Bei Rissas warnendem Bellen begann Trevegg zu laufen. Dann stolperte er im Staub und kam nur humpelnd auf die Pfoten. Die beiden Elen hatten ihn eingeholt. Werrna sprang einen von ihnen an. Es war ein junger Elen, kleiner als alle anderen, und als er von einem solch großen Wolf angegriffen wurde, machte er einen Satz zur Seite. Doch der andere Elen war Yonor, und der ließ sich nicht beirren. Er senkte seinen Kopf und griff Trevegg an. Unter gar keinen Umständen würde der Altwolf genügend Zeit haben, um auszuweichen. Ich begann zu rennen. 203 Rissa knurrte und sprang Yonor unmittelbar an. Für einen einzelnen Wolf war es eine gefährliche Sache, direkt auf den Kopf eines Elenbullen zu zielen, doch es war ihre einzige Möglichkeit, um seine Aufmerksamkeit von Trevegg auf sich selbst zu lenken. Yonor röhrte siegesgewiss, als Rissa sprang, und er warf seinen Kopf eng herum, traf sie mit seinem riesigen Geweih und schmetterte sie zu Boden. Rissa jaulte vor Schmerz auf. Ich lief, so schnell mich meine Beine trugen. Irgendwo hinter mir vernahm ich Ruuqos verzweifelt aufheulendes Bellen. Ich konnte erkennen, dass Werrna zu uns eilte, und ich wusste, dass der Rest des Rudels unmittelbar hinter ihr sein würde. Sie würden zu spät kommen. Ich war ihm am nächsten. Yonor sah mich an, als ich auf ihn zurannte, und schnaubte, als sei ich unbedeutend und mit Sicherheit keine Bedrohung für ihn. Ich hätte schwören können, dass er lächelte, während er sich auf seine Hinterbeine stellte, um Rissa zu zerschmettern. Furcht drückte mir die Kehle zu, als ich daran dachte, wie leicht es ihm gefallen war, sie auf den Boden zu werfen. Ich beachtete die Furcht nicht weiter, sondern versuchte mich daran zu erinnern, wie ich mit TaLi gejagt hatte - an den Zeitpunkt des Sprungs, an den Winkel des Angriffs. Bei einem Gegner von Yonors Größe musste ich Geschick
und Berechnung anwenden, nicht nur Kraft. Ich glaubte nicht, dass es mir gelingen würde, ihn genügend zu verlangsamen, wenn ich ihn bei der Seite packte. Ich schluckte schwer. Ich hatte nur eine einzige Chance. Ich zwang mich, tief Luft zu holen, spannte die Muskeln in meinen Schenkeln an, sprang und packte Yonors Nase mit meinen Zähnen. Er begann zu treten und zu buckeln, versuchte mich abzuschütteln, als sei ich nicht schwerer als das Blatt 204 von einem Baum. Ich fühlte mich, als würde mein Hals entzweibrechen und meine Läufe würden mir aus dem Leib gerissen. Nichts in meinem Leben hatte jemals so sehr geschmerzt. »Silbermond!« TaLis Schrei ertönte über die Ebene. Ich hatte sie in meiner Angst um Trevegg und Rissa vollkommen vergessen. Selbst mit meinem hin- und hergeworfenen Kopf konnte ich ihre Füße hören, wie sie den Boden berührten. Sie wird ihre Fußumhüllungen tragen, dachte ich bei mir. Ich war froh, dass sie mir zu Hilfe kommen wollte, doch auf gar keinen Fall würde sie es rechtzeitig schaffen. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie Werrna, die am nächsten gewesen war, Yonors Flanke ansprang. Ich konnte erkennen, dass die flinke Yllin beinahe bei uns war und Ruuqo direkt hinter ihr. Ich begann abzurutschen und wusste, dass ich mich nicht mehr lange würde festhalten können. Schwarze Flügel schlugen auf Yonors Kopf ein. Tlitoo versuchte zu helfen und Yonor zu verwirren, machte es mir aber auch schwerer, mich festzuhalten. Plötzlich gab Yonor ein erstickendes Geräusch von sich und stolperte. Das war alles, was mein Rudel benötigte. Werrna, Ruuqo und Yllin zogen ihn zu Boden. Er wäre beinahe auf mich gefallen, doch ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, mich aus dem Weg zu rollen, bevor er den Boden berührte. Das Rudel tötete ihn rasch. Ich krabbelte zur Seite und sah TaLi schweratmend stehen, gute zehn Wolfslängen entfernt von uns. Ihr spitzer Stecken hatte sich tief in Yonors Hals gegraben. Sie musste ihn geworfen haben, mit Macht geworfen haben. Er hatte das riesige Vieh nicht sofort getötet, aber es hatte ihn genügend geschwächt, sodass das Rudel ihn umwerfen konnte. TaLi 204 umklammerte einen von den Stecken, mit denen sie die anderen Stöcke durch die Luft schnellen ließ, mit ihrer Hand, und das Funkeln einer Jägerin lag in ihren Augen. Trevegg kam wieder auf seine Pfoten, doch Rissa erhob sich nicht. Ruuqo erreichte uns und begann über Rissas Fell zu lecken. Sie hob ihren Kopf hinauf zu ihm. Sie keuchte, als könne sie keine Luft bekommen, und Blut trat aus einer Wunde, die Yonors Geweih hinterlassen hatte. Zögernd trat TaLi vor und kniete sich neben Rissa. Ruuqos Fell sträubte sich. »Ich will ihr nur helfen, Wolf«, sagte TaLi leise mit einem leichten Zittern in der Stimme. »Wenn sie keine Luft bekommt, wird sie sterben. Das ist das Geräusch, das mein Vetter gemacht hat, als seine Rippen verletzt waren, und ich habe ihm geholfen zu Atem zu kommen, bis meine Großmutter da war und seine Knochen richten konnte.« »Lass sie«, sagte Trevegg.
Ruuqo zögerte. Rissa röchelte, rang um Atem. Schließlich neigte Ruuqo seinen Kopf und trat zur Seite. TaLi nahm einen der Beutel von ihrem Rücken und einen weiteren, der um ihren Hals hing. Sie nahm Pflanzen aus beiden und mischte sie in ihrer Hand. Sie nahm ihren Wasserbeutel, der über ihrer Schulter hing, und mischte die Kräuter zu einem Brei, den sie Rissa anbot. »Du musst das fressen«, sagte TaLi. »Es wird dir helfen, den Weg für deinen Atem zu öffnen.« »Es ist in Ordnung«, erklärte ich Rissa und schob TaLis Hand mit meiner Nase zu ihr hin. »Sie gehört zum Rudel.« Sanft presste TaLi die Masse in Rissas Schnauze. Sie zitterte ein wenig, als Rissas scharfe Zähne sie berührten. Ich lehnte mich an sie. Rissa leckte TaLis Hand sauber. Nach we 205 nigen Augenblicken wurde ihr Atmen leichter, und sie hörte auf zu keuchen. »Ihre Rippen sind entweder verletzt oder gebrochen«, meinte TaLi. »Ich kann ihr besser helfen, wenn ich zu Hause bin, aber sie muss sehr vorsichtig sein.« Das Mädchen sprach mit Selbstsicherheit, ihre Augen waren auf Rissa gerichtet. TaLi blickte auf und sah Ruuqo in die Augen. Sie starrten einander an. Ich glaube nicht, dass TaLi die Gefahr bemerkte, in der sie sich befand. Ruuqo begann seine Lefzen zu einem Zähnefletschen zurückzuziehen, dann neigte er den Kopf und ging, um Rissa aufzuhelfen. »Sag ihr, dass ich ihr danke«, erklärte Ruuqo. »Warum hast du die Elen dazu gebracht, wild durcheinanderzulaufen, Kaala?«, fragte Rissa, als sie unsicher auf die Pfoten gekommen war. »Ich habe gesehen, wie du zwischen ihnen gelaufen bist.« »Ich musste den Kampf verhindern«, erklärte ich. Schnell erzählte ich ihnen von dem Entschluss der Höchsten Wölfe. Wut verdunkelte Ruuqos Augen. »Also haben die Höchsten Wölfe uns belogen? Und sie wollten uns alle umbringen?« »Wir müssen Torell davon abhalten zu kämpfen«, meinte Trevegg und leckte seine verletzte Pfote. »Er wird es wieder versuchen, sobald sich die Elen beruhigt haben.« Der Altwolf sah mich an, und es gelang ihm zu lachen. »Du hast die wilde Raserei mit Absicht verursacht? Auf diese Lösung wäre ich nicht gekommen, aber es hat uns Zeit verschafft.« »Aber mehr auch nicht«, sagte Rissa mit schwacher Stimme. »Torell wird seinen Kampf nicht aufgeben.« Sie blickte auf die Mitte der Wiese und rang nach Atem. »Genauso wenig wie Ranor.« 205 Ich sah auf. Obwohl die Elenbullen zusammen angegriffen hatten, besaßen sie doch nicht die Disziplin eines Wolfsrudels. Ihr Drang, miteinander zu wetteifern, schien größer zu sein als ihr Zorn auf die Menschen und Wölfe. Mit was für einem Plan sie auch immer begonnen haben mochten, jetzt war er vergessen. Sie liefen von einer Stelle zur nächsten und versuchten ihre Gefährtinnen zurückzuholen. Einige kämpften sogar gegeneinander. Andere verließen bereits die Ebene mit ihren Weibchen. Die Wölfe und Menschen kümmerten sich um die Mitglieder ihrer
Rudel, sahen nach, wer verletzt war, und schienen den Kampf gegeneinander vergessen zu haben. Es sah so aus, als ob wir den Kampf zumindest vorerst erfolgreich aufgehalten hätten. Doch als ich Rissas Blick folgte, sah ich, dass ich falschlag. Ranor stand neben seinem gefallenen Bruder und blickte auf ihn hinab, blickte vor allem auf TaLis spitzen Stecken, der aus Yonors Hals herausragte. Seine Augen wanderten von dem Stecken zu TaLi, beobachteten, wie das Mädchen Rissas Rippen befühlte und mehr von den Kräutern auf die blutende Wunde legte. Das riesige Vieh senkte sein enormes Geweih, und ein tiefes, grummelndes Gurgeln kam aus seiner Kehle, so als ob er ein anderes Männchen herausfordern würde. Er rief die anderen Elenbullen! Kommt zu mir!, befahl er. Nur zwei der anderen männlichen Elen blickten auf. Einer von ihnen war derjenige, den Werrna zuvor gejagt hatte, und beides waren junge Elen, von niedrigem Rang. Das Menschenkind hat meinen Bruder abgeschlachtet, rief Ranor. Selbst halberwachsen sind sie schon Mörder. Wir werden ihre Jungen töten, bevor sie stark genug werden, uns zu töten. Er zischte zwischen seinen Zähnen hervor und lief auf eine 206 Gruppe der kleineren Menschen zu. Sie waren von den anderen getrennt worden und versteckten sich an einer Stelle mit besonders hohem Gras. Die zwei jungen Elen folgten ihm, schüttelten ihre Köpfe vor und zurück und röhrten. TaLi verschlug es den Atem, als sie erkannte, wohin Ranor und die anderen liefen. Sie machte einige Schritte vorwärts und blickte dann zurück auf Rissa, die langsam ging und schwer atmete. »Ich kann sie nicht alleine lassen«, murmelte sie. Ich berührte den Rücken ihrer Hand mit meiner Nase und begann auf die kleinen Menschen zuzulaufen. Besser gesagt, ich versuchte es. Mein Rücken und mein Hals schmerzten so sehr, dass ich mich nur mit halben Sätzen vorwärtsbewegen konnte. Die Elen würden lange vor mir bei den jungen Menschen sein. Ich blickte mich um und versuchte etwas zu finden, was ich tun konnte. Da sah ich Ázzuen und Marra bei BreLan und MikLan stehen. Sie waren nah genug, um die jungen Menschen zu erreichen, aber sie standen mit den Rücken zu den angreifenden Elen, ihre Augen auf Torell und sein Rudel gerichtet, die hin und her liefen und miteinander stritten. »Helft ihnen«, rief ich. Doch meine Stimme war nicht stark genug, und ich war außer Atem. Das Gefecht mit Yonor hatte mich mehr verletzt, als ich angenommen hatte. Mein Rudel hörte mich nicht über dem Röhren der Elen und den Rufen der Menschen und Wölfe. Ich sah mich suchend nach Tlitoo um, der meine Nachricht hätte überbringen können, konnte ihn aber nirgends finden. »Welpen in Gefahr!« Werrnas dröhnende Stimme erschreckte mich so sehr, dass ich ins Stolpern geriet. Sie begann zu laufen. Ázzuen warf seinen Kopf herum und er 206 kannte, worauf Ranor und die anderen Elen ihren Angriff richteten. Er stieß BreLan mit dem Kopf an der Hüfte an, und BreLan erkannte ebenfalls, wohin die Elen liefen. Er stieß einen lauten Ruf aus, und mehrere Menschen begannen vom anderen Ende der Ebene aus zu ihren Jungen zu rennen, um sie zu beschützen. Sie würden ebenfalls nicht rechtzeitig kommen.
Wir können sie schlagen, rief Ranor. Es ist an der Zeit für uns, nicht länger Angst zu haben. Zeit für uns, die Ebene zurückzuerobern. Die anderen beiden Elen rannten schneller. Ich hörte rasche Schritte hinter mir, als Yllin zu mir aufschloss. »Sag mir, was ich tun muss«, rief sie. »Sag mir, wie man mit den Menschen jagt.« »Öffne dich ihnen«, keuchte ich. »Finde einen, mit dem du dich verständigen kannst, und jage mit ihm, wie du es mit einem Rudelgefährten tun würdest. Denke daran, dass sie nicht viel anders sind als wir.« Yllin neigte ihren Kopf und rannte weiter, ihre Läufe verschwanden in einem Wirbel von Fell und Staub. Werrna überholte mich ebenfalls. »Ich werde die Elen jagen, wie ich es immer schon getan habe«, schnaubte sie, »mit Zähnen und mit List. Aber ich werde nicht zulassen, dass sie Welpen verletzen. Nicht einmal die Welpen der Menschen.« Sie sprintete mit plötzlicher Geschwindigkeit davon und folgte Yllin auf der Pfote. Ich konnte nicht weiter laufen. Es schmerzte zu sehr. Ich bewegte mich in humpelndem Schritt vorwärts. Ich konnte nur zusehen und hoffen. Marra und Ázzuen beeilten sich, die jungen Elen abzulenken, die Ranor zu Hilfe gekommen waren. MikLan und BreLan waren kurz hinter ihnen. Ich war zu erschöpft, um ihnen 207 zuzurufen, was sie tun mussten, aber sie brauchten meine Hilfe gar nicht. Die vier bewegten sich wie ein Rudel, das seit Jahren zusammen jagt, wie Wasser, das über die Felsen im Fluss fließt. Ázzuen und Marra liefen zu den Flanken der beiden Elen und trieben sie auf BreLan und MikLan zu, die schrien und mit ihren spitzen Stecken fuchtelten. Die Elen schnaubten und prusteten und bogen zur Seite ab. Als sie sich umwandten, um erneut anzugreifen, trieben die Wölfe und Menschen sie wieder fort. Die Elen verloren die Lust und verschwanden auf die Ebene hinaus. Ázzuen und Marra folgten ihnen, um sicherzugehen, dass sie nicht zurückkamen. Damit blieb nur Ranor übrig. Der riesige Elenbulle brüllte vor Zorn und lief schneller auf die Welpen der Menschen zu. Als er nur noch einen Sprung von den kleinen Menschen entfernt war, rammten ihn Werrna und Yllin von der Seite. Werrna jaulte auf bei diesem Treffer. Im selben Moment warf ein Mann der Menschen seinen spitzen Stecken. Dieser Mensch hatte nahezu ebenso schnell rennen müssen wie ein Wolf, damit er jetzt dort sein konnte, wo er war. Der Stecken streifte Ranors Flanke. Dieser zeitgleiche Angriff verunsicherte Ranor, und er schwankte zur Seite. Dann senkte er den Kopf und griff erneut an. Werrna und Yllin standen dem jungen Menschen gegenüber. Werrna starrte ihn einen Augenblick lang an, dann schüttelte sie sich und drehte sich weg. Doch Yllin streckte ihren Kopf nach vorne und öffnete ihre Schnauze, um den Duft des Menschen aufzunehmen. Sie leckte seine Hand. Es geschah so schnell, dass ich mich fragte, ob ich es nicht nur geträumt hatte. Dann liefen die beiden gemeinsam auf Ranor zu. 207 Ich hatte sie beinahe erreicht, als Ranor plötzlich seinen Kurs wechselte und Werrna und Yllin rasch auswich. Für einen Augenblick stand er still, dann sah er über seine Schulter.
Kommt zu mir, rief er die beiden jungen Elen wieder. Seid ihr Feiglinge ? Ihr werdet niemals Gefährtinnen finden, wenn ihr so schnell davonlauft. Kommt zurück, um zu kämpfen, und ich werde meine Gefährtinnen mit euch teilen. Sie schnaubten und rannten zu ihm zurück. Die drei begannen langsam auf die Jungen der Menschen zuzugehen. Yllin und ihr Mensch standen ihnen allein im Weg. Werrna raste hinüber zu ihnen. Einen Augenblick später standen Ázzuen, Marra, BreLan und MikLan an ihrer Seite. Die Menschen hielten ihre spitzen Stecken in die Höhe und drohten mit schweren Steinen. Die Wölfe fletschten mit den Zähnen und knurrten. Tlitoo und drei weitere Raben flatterten über ihnen. Die jungen Elen brachen aus und rannten davon. Ranor zögerte einen Moment, dann sah er die große Gruppe der Menschen über die Ebene laufen, um ihre Jungen zu retten. Er schüttelte heftig den Kopf. Ich werde das nicht vergessen, zischte er zwischen seinen Zähnen hervor. Ich werde nicht vergessen, was ihr Wölfe getan habt. Er schüttelte noch einmal seinen Kopf und folgte den anderen Elen auf die Ebene hinaus. 208
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Die Wölfe vom Schnellen Fluss warteten nicht, bis die Menschen sie erreicht hatten, denn ängstliche Menschen können unberechenbar sein. Werrna und Yllin trabten schnell davon. Ázzuen rieb sich an BreLans Hüfte, und Marra berührte MikLans Hand sanft mit ihrer Nase. Dann sprangen beide den erwachsenen Wölfen hinterher. Einen Augenblick lang glaubte ich, die Menschen würden den Wölfen nachjagen, obwohl die Wölfe ihre Jungen gerettet hatten, doch sie schauten ihnen nur argwöhnisch nach, während die Wölfe davonstoben. Der Kampf war jedoch noch nicht vorbei. Ruuqo und Minn hatten mich erreicht, und auch die anderen versammelten sich um uns. Ich blickte über meine Schulter und sah, wie Rissa mit TaLi, Trevegg und Unnan langsam in unsere Richtung ging. Yllins Augen waren unverwandt auf den Menschen gerichtet, neben dem sie gestanden hatte. Werrna streckte sich vollkommen lässig und gähnte, offen 208
sichtlich zufrieden mit sich. Ich konnte nicht glauben, wie ruhig sie blieb. »Es ist eine Schande, dass wir Ranor nicht verfolgen und ihm eine Lehre erteilen können, wie man die Wölfe vom Schnellen Fluss wirklich jagt«, meinte sie und blickte den auf der Ebene verschwindenden Umrissen des Elenbullen nach. Tlitoo folgte dem Elen und stürzte hinab, um ihn am Schwanz ziehen. »Aber ich glaube, Torell hat uns etwas zu sagen.« Das war wahrhaftig eine Untertreibung. Torell und sechs Wölfe vom Felsgipfel stürzten auf uns zu. Sie kochten vor Wut. Die Wölfe vom Höhenwald folgten etwas langsamer. Ich warf einen beunruhigten Blick auf die Menschen, in Sorge, dass sie eine solch große Gruppe von Wölfen als Bedrohung empfinden mochten und sich entschlossen anzugreifen.
Torell und Ceela erreichten uns gleichzeitig, der Rest ihres Rudels kam gleich hinter ihnen. Ich war merkwürdig enttäuscht darüber, dass Pell nicht bei ihnen war. »Es ist noch nicht vorbei«, knurrte Torell. »Eure Welpen haben unsere Jagd gestört, aber wir werden weiterjagen. Und ihr werdet uns nicht wieder stören, oder - und das schwöre ich dir, Ruuqo - ich werde jeden Wolf deines Rudels umbringen.« »Es ist vorbei«, antwortete Ruuqo. »Es hätte niemals beginnen dürfen. Du wirst die Ebene verlassen und keinen Aufruhr mehr verursachen. Oder du wirst deinen Kampf mit den Wölfen vom Schnellen Fluss bekommen.« Torell sah völlig erstaunt aus. Ich glaube nicht, dass er erwartet hatte, Ruuqo würde seine Herausforderung annehmen. 209 »Ihr habt es verschuldet, dass einer meiner besten Jäger verletzt ist. Ich weiß nicht, ob er jemals wieder laufen kann.« Ich sah hinter seinem Rücken, dass Pell am Boden lag. Mein Herz setzte für einen Moment lang aus. Er war wach und konnte seinen Kopf heben, aber er stand nicht auf. »Dein Stolz und deine Dummheit haben dich deinen Jäger gekostet«, erwiderte Ruuqo. »Und sie haben mich beinahe meine Gefährtin gekostet. Ich werde nicht gestatten, dass du mein Rudel in Gefahr bringst. Verlass die Ebene, solange du noch kannst, Torell. Ich habe heute keine Geduld mit dir.« Ein Knurren ertönte rings um mich, als alle Wölfe vom Schnellen Fluss Ruuqos Befehl bekräftigten. »Wenn ihr nicht verschwindet«, erklärte Werrna, »werdet ihr euren Kampf bekommen.« »Und ihr werdet auch gegen die Wölfe vom Höhenwald kämpfen müssen.« Sonnen, der Leitwolf des Rudels vom Höhenwald, trat vor. »Wir hätten nicht auf dich hören sollen, Torell. Du hast uns in Schwierigkeiten gebracht und das Leben meines Rudels aufs Spiel gesetzt. Wenn du gegen das Rudel vom Schnellen Fluss kämpfst, kämpfst du auch gegen uns. Vielleicht wäre das Tal ohne die Wölfe vom Felsgipfel besser dran.« Torell knurrte erbittert. Ceela tat einen Schritt nach vorne. Werrna hechelte und stellte sich ihr entgegen. Wir alle folgten Werrna und zwangen die Wölfe vom Felsgipfel zurückzuweichen. Die Wölfe vom Höhenwald näherten sich ihnen von hinten. Einen Moment lang glaubte ich, Torell und Ceela wären wirklich verrückt genug, gegen alle Vernunft zu kämpfen. Doch es musste ihnen noch ein letzter Rest von Verstand geblieben sein. Die Wölfe vom Felsgipfel brachen aus und liefen davon. Meine Abscheu ihnen gegenüber ver 209 stärkte sich nur, als ich sah, dass sie Pell zurückgelassen hatten. Sonnen neigte seinen Kopf vor Ruuqo und führte sein Rudel auf Torells Fersen, um sicherzugehen, dass sie nicht auf die Ebene zurückkehrten. Sobald die Felsgipfler verschwunden waren, ging TaLis Großmutter, die endlich die Ebene des Hohen Grases erreicht hatte, voller Selbstvertrauen hinüber zu Pell. Sie winkte TaLi zu, die sich beeilte, schnell zu ihr zu kommen. Beide beugten sich hinunter und begannen, sich mit ihren Kräutern zu schaffen zu machen, um dem verletzten Wolf zu helfen. Ich blickte auf, um nach den Höchsten Wölfen zu sehen,
die sich nun in ihren Verstecken, rings um die Ebene verteilt, aus ihren Jagdpositionen erhoben und sich stillschweigend in die Wälder zurückzogen. Ich fühlte, wie sich mein Brustkorb vor Erleichterung hob. Mein Hals und mein Rücken waren so steif geworden, dass ich nicht glaubte, noch einen Moment länger stehen zu können. Ich ächzte ein ganz klein wenig. Ruuqo legte seinen Kopf sehr sanft auf meine Schulter. Er dankte mir nicht und sagte mir nicht, dass er im Unrecht gewesen war, als er nicht auf mich gehört hatte er ließ einfach seinen Kopf für eine Weile auf meinem Rücken ruhen. Verlegen neigte ich meinen Kopf, bevor ich dankbar seine Schnauze leckte und dann beobachtete, wie er an Rissas Seite zurückkehrte. In dem Versuch, die Schmerzen in jedem Teil meines Körpers nicht weiter zu beachten, ging ich hinüber zu einer Stelle, wo der Wald auf die Ebene traf. Eines blieb mir noch zu tun. 210 Ich hatte gesehen, wie Zorindru uns beobachtete, als wir die Wölfe vom Felsgipfel vertrieben. Er trat aus dem Wald heraus, bevor ich ihn erreichen konnte. Frandra und Jandru waren bei ihm. Sie warteten auf mich an einer flachen, staubigen Stelle, die gerade noch von den Bäumen geschützt wurde. Alle drei beobachteten mich schweigend und warteten darauf, dass ich zu sprechen begann. Ich wusste, dass trotz allem - obwohl es uns gelungen war, den Kampf aufzuhalten und obwohl wir die Wölfe vom Felsgipfel vertrieben hatten - die Höchsten Wölfe sich immer noch entscheiden konnten, uns zu töten. Tlitoo landete zu meinen Füßen, stellte sich zwischen mich und die Höchsten Wölfe und legte für einen winzigen Augenblick seinen Kopf an meine Brust. Ich atmete tief ein und fühlte, wie jede meiner Puppen vor Schmerz protestierte. Ich neigte ehrerbietig meinen Kopf. »Sie haben nicht gekämpft«, sagte ich zu Zorindru. »Das heißt?« Der Tonfall des greisen Höchsten Wolfes ließ alle Deutungen zu. »Sie haben nicht gekämpft«, sagte ich noch einmal. »Du hast behauptet, dass die Höchsten Wölfe sie töten würden, wenn sie beginnen würden zu kämpfen. Uns alle töten würden. Aber sie haben nicht gekämpft.« Ich blickte auf, um ihm in die Augen zu sehen. »Sie haben nicht gekämpft, also dürft ihr keinen von den Wölfen oder Menschen töten.« »Sie haben nicht gekämpft, weil du eine wilde Flucht verursacht hast«, schnaubte Frandra. »Woher sollen wir wissen, dass sie nicht bei der nächsten Gelegenheit doch noch kämpfen?« Tlitoo pickte eine Spinne auf und warf damit nach dem Höchsten Wolf. Ich blickte über meine Schulter auf die Menschen und die 210 Wölfe, die über die ganze Ebene verteilt waren. Die alte Krianan hatte Pell verlassen und kam zu uns herüber. TaLi war bei ihm geblieben und machte irgendetwas Umständliches mit dem verletzten Bein des Wolfes. Ein kleiner Junge hockte neben ihr und half ihr. Sonnen beobachtete TaLi bewundernd, und ein weiblicher Wolf vom Höhenwald leckte über den Kopf des Jungen und brachte ihn damit zum Lachen. Überall auf der Ebene vergewisserten sich Wölfe, dass ihre Rudelgefährten keine Verletzungen davongetragen hatten, während sich die
Menschen versammelten und sich mit mindestens ebenso viel Liebe und Sorge um ihre Jungen und Alten kümmerten, wie es jeder Wolf getan hätte. »Ihr habt uns niemals eine Chance gegeben«, erklärte ich. »Ihr habt gesagt, dass die Höchsten Wölfe Lydda fortschickten. Sie hatte niemals eine Gelegenheit, den Krieg zu verhindern. Also könnt ihr auch nicht wissen, ob es ihr gelungen wäre oder nicht.« Ich erhob mein Kinn und reckte meine Rute ein winziges bisschen höher in die Luft. »Ihr solltet uns wenigstens eine Chance geben.« Alle drei Höchsten Wölfe betrachteten mich schweigsam. Die alte Frau war endlich bei uns angelangt und legte ihre Hand auf meinen Rücken. »Nun, Zorindru?«, fragte sie. »Ich bin nicht der Einzige, der in dieser Sache entscheidet, NiaLi«, sagte er. »Das weißt du. Der Rat glaubt, dass es immer noch zum Kampf kommen wird - dass es nur eine Frage der Zeit ist. Aber sie haben mir ein Jahr Aufschub gegeben.« Er seufzte. »Sie glauben, dass du scheitern wirst, Kaala, aber sie werden es dich versuchen lassen - ein Jahr lang -, den Frieden im Tal zu wahren.« Er blickte mich streng an und für so lange Zeit, dass ich mich zu winden begann. »Mein Angebot 211 gilt immer noch, Jungwolf. Ich werde dich zu deiner Mutter bringen. Und deine Rudelgefährten und deine drei Menschen können ebenfalls mitkommen. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass du am Leben bleibst.« »Sie kämpfen immer, Kaala«, sagte Jandru leise. »Ganz gleich, was du versuchst, wenn die Wölfe den Menschen zu nahe kommen, dann kämpfen sie. Du musst mit uns kommen. Deine Kinder können die Wächter werden und Retter aller Wölfe sein.« »Nein«, warf die alte Frau plötzlich ein. »Ihr irrt euch.« »Was willst du uns da sagen?«, schnaubte Frandra. »Sie hat gesagt, dass ihr euch irrt«, wiederholte Tlitoo hilfreich und suchte auf dem Boden nach etwas, mit dem er Frandra erneut bewerfen konnte. »Seht euch um«, forderte die alte Frau. Sie deutete auf die Wiese hinter uns. »Ich glaube, ihr habt einen Fehler gemacht, euch von den Menschen fernzuhalten, sie auf dieselbe Art zu beobachten, wie Geschöpfe, die ihr jagen könnt. Ihr könnt keine Hüter sein, wenn ihr euch versteckt.« Sie beugte sich herunter, um zu mir zu sprechen. »Hör mir zu, Silbermond«, sagte sie eindringlich. »Ich glaube, du hast immer schon etwas gewusst, was die KriananWölfe nie verstanden haben. Nämlich dass die Wölfe, um wirklich über die Menschen wachen zu können, sie nicht nur aus der Ferne beobachten dürfen, um sich dann mit einigen wenigen von ihnen bei den Aussprachen einmal während eines Mondumlaufs zu treffen. Sie müssen wirklich in unserer Nähe bleiben, genauso, wie du es mit TaLi getan hast. Die zwei Rudel müssen zu einem werden.« »Dann wird es Krieg geben!«, brach es aus Frandra heraus. »Die Menschen werden wieder zu viel von den Wölfen 1er 211 nen. Sie werden noch besser darin werden zu töten. Besser darin, die Dinge zu beherrschen. Genauso, wie es zu den Zeiten von Indru und Lydda gewesen ist!« »Dann werden die Wölfe besser darin werden müssen, bei den Menschen zu sein«, sagte Zorindru langsam und schaute gedankenverloren auf die alte Frau. »Es ist
einen Versuch wert. Aber wenn du das tust, Kaala, wenn du dich dazu entscheidest, so nahe bei den Menschen zu sein, dann musst du einen Weg finden, wie du für immer bei ihnen bleiben kannst. Sie werden so viel von dir lernen, dass sie, wenn du sie verlässt, die ganze Welt zerstören werden. Ganz gleich welche Opfer du und diejenigen, die dir folgen werden, auch bringen, ihr werdet nicht aufgeben können, wenn ihr einmal damit begonnen habt. Und du musst andere davon überzeugen, dir zu folgen. Das Schicksal deines Rudels wird auf ewig mit dem dieser Menschen verbunden sein.« Ich begann zu zittern. Wie konnten sie das von mir verlangen? Ich war nicht einmal ein ganzes Jahr alt. Wie konnte ich eine Entscheidung für so viele Wölfe treffen? Wie konnte ich aufgeben, meine Mutter finden zu wollen? Vielleicht sogar für immer? »Nun, Jungwolf«, sprach Zorindru zu mir, »wie lautet deine Entscheidung?« Ich blickte über die Ebene. Ich sah, wie TaLi Pells Wunden versorgte, während BreLan und Ázzuen neben ihnen standen. Ich sah, wie sich MikLan an Marra kuschelte, ihr das Fell streichelte und sie immer wieder von oben bis unten nach Verletzungen absuchte. Während ich sie so beobachtete, ging Yllin mutig zu dem jungen Menschen hinüber, der geholfen hatte Ranor zu vertreiben, und sie stupste ihn mit der Schnauze so heftig in den Bauch, dass er beinahe hintenüber 212 fiel. Trevegg kroch sehr viel zögerlicher zu einer greisen Frau, die in den Beutel an ihrer Taille griff, um ihm etwas von dem Feuerfleisch zu geben. Zwei kleine Menschen begannen mit einem vorjährigen Jungwolf vom Höhenwald zu toben, während Sonnen lachend zuschaute. Sie sahen aus wie ein gewöhnliches Rudel, das sich nach einer Jagd oder einem Kampf ausruht. Und ein Rudel bleibt zusammen, selbst wenn es einmal schwierig wird. TaLi stand auf und half Pell auf seine Pfoten. Dann blickte sie zu uns hinüber, wo wir standen und sie beobachteten. Die alte Frau legte noch einmal ihre Hand auf meinen Rücken. »Ich werde bleiben«, erklärte ich. »Wir werden bei den Menschen bleiben.« »Also gut«, meinte Zorindru, »wir werden den Wölfen des Großen Tales eine weitere Chance geben.« Ich leckte ihn voller Dankbarkeit, verneigte mich vor allen Höchsten Wölfen und dann vor der alten Frau. Ich schüttelte mich kurz und machte mich auf, hinüber zur Ebene, wo die Wölfe und Menschen meines Rudels auf mich warteten. 212
Epilog
Lydda stand an der Baumgrenze, die den Übergang zwischen der Traumwelt und der Welt des Lebens bildete. Sie beobachtete den jungen, mit einem silbernen Mond gezeichneten Wolf, der gerade eben erst halberwachsen war und der jetzt zu den Menschen und Wölfen hinüberging, die dort zusammenstanden. Es gibt noch so Vieles zu tun, dachte Lydda bei sich. Sie warf einen Blick zurück über ihre Schulter, zurück in die Traumwelt. Es blieben ihr nur noch wenige Augenblicke, bevor sie vermisst werden würde, und sie würde höchstwahrscheinlich Arger bekommen. Dennoch betrachtete sie das Leben auf der Wiese ein Weilchen länger. Und als die Sonne am Himmel aufging und die Geschöpfe im Großen Tal wieder
zueinanderfanden, da fühlte sie, wie eine schwere Bürde von ihrem Herzen fiel. Und ganz langsam, nur ein klein wenig, begann ihr Schwanz zu wedeln. 213
Danksagungen
Es gibt drei Frauen, ohne die dieses Buch niemals geschrieben worden wäre. Meine Schreibkameradinnen, Ratgeberinnen und Führerinnen durch den Nebel: Pamela Berkman, Harriet Rohmer und meine Mutter und Mentorin Jean Hearst haben mit mir geschrieben, lange bevor die Wölfe durch die Tür spazierten. Sie haben mir geholfen, meinen Weg als Schriftstellerin zu finden und die Strapazen eines ersten Romans durchzustehen. Mein Vater, Joe Hearst, brachte mir schon sehr früh bei, dass das Allerwichtigste im Leben ist, eine Arbeit zu finden, die man liebt. Und er hat mir ein Beispiel von genau dieser Einstellung gegeben - als Physiker, Fotograf und Renaissancemensch. Meine Eltern gaben mir außerdem unendliche Unterstützung und ein lebenslanges Beispiel dafür, was es heißt, selbstbestimmt und mutig zu leben. Mein Bruder Ed und meine Schwester Marti waren meine Helden seit unserer gemeinsamen Zeit als Welpen, meine 213
Herausforderer und Führer als Erwachsene, und sie haben immer schon geglaubt, dass ich eines Tages ein erfolgreiches Buch schreiben würde. Meine Großeltern sind nicht hier, um die Wölfe zu erleben, doch ihre Liebe hat mir geholfen, ein Mensch zu werden, der Bücher schreiben kann. Ich habe keine Ahnung, womit ich es verdient habe, meine Super-Agentin Mollie Glick zu finden. Ihre Begeisterung für die Wölfe, ihre besonnene Führung, ihr ungewöhnlicher Verstand und ihre Intelligenz waren ein Geschenk und eine Freude. Zum zweiten Mal war mir das Glück hold, als die Wölfe ihren Weg zu der wundervollen Kerri Kolen bei Simon & Schuster fanden, deren einfühlende Bemerkungen und kluge Ratschlüsse das Buch einen Schritt voranbrachten. Dank auch an Victoria Meyer und Leah Wasielewski, Simon & Schusters kluges Publicityund Marketing-Team, an Marcella Berger und Simon & Schusters beeindruckendes Team für fremdsprachige Rechte und an Jessica Regel bei der Agentur Jean Naggar, meine Führerin in der Welt der Audio-Rechte. Wenn man sehr viel Glück hat, dann darf man mit einer Gruppe von Menschen zusammenarbeiten, die das eigene Leben verändern und einen zu der Erkenntnis bringen, dass wir hier auf dieser Erde sind, um Dinge zu bewirken. Meinen Verbündeten und teuren Freunden Paul Foster, David Greco, Xenia Lisanevich und Johanna Vondeling alles Liebe. Genauso wie dem Dream-Team Jennifer Bendery, Colleen Brondou, Allison Brunner, Lynn Honrado, Ocean Howell, Erin Jow, Tamara Keller, Bruce Lundquist, Deb Nasitka, Mariana Raykov, Jennifer Whitney, Jesse Wiley Akemi Yamagu-chi und Mary Zook - ich danke euch, dass ihr diese wundervolle Reise mit mir unternommen habt. Allen in der Zauber 213 weit von Jossey-Bass, ich danke euch dafür, dass ihr einen Platz geschaffen habt, an dem sich Träume erfüllen können. Tausend Dank an Bonnie Akimoto, Allison Brunner und Cheryl Greenway für ihre unglaubliche Freundschaft und Unterstützung. Ich bin unendlich dankbar all den
guten Freunden, die mich ermutigt und mich daran erinnert haben, die Wohnung gelegentlich zu verlassen: Bruce Bellingham, Diane Bodiford, Laura Coen, Emily Feit, Diana Gordon, Nina Kreiden, Lesley Iura, Jane Levikov, Katie Levine, Donna Ryan, Mehran Saky, Carl Shapiro, Liane Shayer, Starla Sireno, Käthe Sweeney, Tigris, Erik Thrasher, Bernadette Walter, Jeff Wyneken. Und ein besonderes Dankeschön und alles Liebe an Allison, Bonnie, Cheryl, Johanna, Pam und meine Familie, die immer da waren, um mich aufzufangen, wenn ich strauchelte. Danke an Meister Norman Lin, der mich Vertrauen, Mut und Durchhaltevermögen lehrte, selbst im Angesicht der Verzweiflung. Und Dank meinen Mitschülern und Freunden am SF Taekwondo. Ich hätte es nicht durch die Strapazen eines ersten Romans geschafft, ohne all das, was ich von euch allen an diesem besonderen Ort gelernt habe. Dank an Susan Holt für die wunderbaren Gespräche über Wölfe und Koevolution, für das Kutschieren durch Frankreich, um Höhlenmalereien zu betrachten, und für die Leihgabe der Huskys. Und vielen Dank an Joan Irwin, der mich vor den Huskys rettete. Ich hatte das unglaubliche Glück, früh in meiner Laufbahn auf wundervolle Mentoren und großartige Ratgeber zu treffen, während ich mich auf den Weg machte, um mein erstes Buch zu schreiben und zu veröffentlichen. Mein Dank gilt Alan Schräder, Carol Brown, Debra Hunter, Frances Hessel 214 bein, Lynn Luckow, Murray Dropkin, Debbie Notkin, She-ryl Fullerton und Heather Florence. Ich hatte das Privileg, mit großen Denkern und Autoren im gesellschaftlichen und öffentlichen Bereich zusammenarbeiten zu können, und ich bin dankbar, dass ich an ihrer Arbeit teilhaben durfte. Jedes Buch, an dem ich gemeinsam mit jedem von euch arbeiten durfte, wurde ein Beispiel für das Gute in dieser Welt. Ich war immer wieder überrascht und erstaunt über die Freimütigkeit der Experten zu den Themen Wolf, Hund und Entwicklungsgeschichte, die großzügig ihre Zeit und ihr Wissen mit mir teilten. Wolfs-Experten Norm Bishop, Luigi Boitani und Amy Kay Kerber waren so freundlich, ein frühes Manuskript zu lesen und Ratschläge zu geben. Raymond Coppinger, Temple Grandin, Paul Tacon und Elizabeth Marshall Thomas berieten mich bei der Entwicklungsgeschichte des Wolfes, der Hunde und des Menschen. Rick Mclntyre, Doug Smith, Bob Landis und Jess Edberg kannten wundervolle Wolfsgeschichten und wussten Rat. Connie Miliar schenkte mir ihre unschätzbare Hilfe und großartige Gespräche über Paleoökologie und Klimaforschung. Ich habe Tausende von Büchern gelesen, während ich Das Versprechen der Wölfe schrieb, und alle von ihnen haben mein Schreiben beeinflusst. Besonders hilfreich waren die Werke von Luigi Boitani, Stephen Budiansky, Raymond und Lorna Coppinger, Temple Grandin, Bernd Heinrich, Barry Lopez, David Mech, Doug Smith und Elizabeth Marshall Thomas und die Forschungen von Robert Wayne und D. K. Belyaev. Danke an das Internationale Wolfszentrum, die Defenders of Wildlife, die Yellowstone Association, Wolf Häven, Wolf Park und das Wild Canid Survival and Research Center für 214
die großartigen Informationen über und die Forschungen zu Wölfen. Danke auch an Jean Clottes und die wunderbaren Menschen in Les Combarelles, Font-deGaume und dem Museum von Les Eyzies. Dank an James Hopkins und Bernadette Walter für ihre Hilfe beim Vermessen des Großen Tales. Dank an Sam Blake und Danielle Johansen im Never Cry Wolf Rescue, an Dante, Comanche, Lady Cheyenne und Motzy für ihre Zustimmung, mit mir Modell zu stehen, und an Lori Cheung für die zauberhaften Wolf-Fotos. Ich kann nie wirklich glauben, dass man tatsächlich in irgendeine Bibliothek gehen darf und jedes Buch einfach so lesen kann. Ich bin besonders dankbar für diese wunderbaren Quellen. Ein Großteil dieses Buches wurde in Cafes in San Francisco und Berkeley geschrieben. Dank an Michael und alle anderen im »It's a Grind« auf der Polk Street, Alix und Go-lanz im »Royal Ground«, Phillip und seiner Gang im »Crepe House«. Und ein großes Dankeschön allen Cafebesitzern, die Schriftsteller stundenlang in ihren Cafes sitzen und auf ihre Laptops einhacken lassen. Und für alle von euch, die genauso wie ich Cafe-Schreiber seid: Bestellt viel, teilt mit anderen euren Tisch, und gebt großzügiges Trinkgeld! Die ersten Kapitel des Buches sind in einem Workshop in der Squaw Valley Community of Writers entstanden, und die Erfahrung, von anderen Schriftstellern umgeben zu sein, hat mich verwandelt. Ich bin besonders dankbar für die guten Ratschläge, die ich von Sandra Hall, James Houston und Janet Fitch bekam. Dank auch an Donna Levin und meine Mitschüler im CWP. Und zum Schluss, aber darum sicherlich nicht am allerwe215 nigsten, möchte ich allen den mehr oder weniger gezähmten Wölfen danken, die mir bei meinen Nachforschungen geholfen haben: Emmi, Nike, Talisman (aka Demonchild) und Ice, Jude, Kuma, Xöchi, Scooby, Rufus, Senga & Tess, Flash, Fee & Mingus, Shakespeare, Noni, Ginger & Caramel (Danke für den Hinweis dafür, wie man seinen Menschen am Handgelenk ergreifen kann), und eine besondere Erwähnung den Kätzchen Dominic und Blossom, die mir beigebracht haben, wer hier eigentlich wen zähmt. Jede Ähnlichkeit zwischen den Wölfen in diesem Buch und den Menschen, die ich kenne, ist zufällig. Fast zufällig.