Linda Budinger
Das steinerne Herz Version: v1.0
Wind peitschte ihm Regen ins Gesicht. Ein Blitz zuck...
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Linda Budinger
Das steinerne Herz Version: v1.0
Wind peitschte ihm Regen ins Gesicht. Ein Blitz zuckte und spaltete die Schwärze der Nacht, wie ein diabolisches Lächeln die Lippen eines Verrückten teilt. Der Mann zerrte das längliche Paket in den Garten. Er und das Bündel waren rasch durchnässt. Seine Finger verloren den Halt an dem nassen Stoff und es rutschte zu Boden. Ein weißer Frauenarm glitt schlaff zwischen den Tuchfalten hervor. Abermals krachte Donner und im Licht des Blitzes funkelte ein Diamantring an der zarten Hand …
Der Mann schob den Arm ungerührt zurück unter den Stoff und zog die Leiche weiter bis an ein Rosenbeet. Werkzeug lag schon bereit und er hob ein Grab aus. Durch den nassen, fast durchsichtigen Stoff betrachtete er das Gesicht seiner Ehefrau zum letzten Mal, bevor er das Bündel ins Grab schob. Er zog ein kleines Päckchen aus der Jackentasche. »Dein besonderer Liebling«, sagte er und warf es hinab. »Wenn du einsam bist, kann dir der Vogel ja was vorträllern.« Der Mann schaufelte hastig Erde zurück in das Loch, um das Grab aufzufüllen. Die restliche Erde verteilte er im Rosenbeet und pflanzte ein paar neue Rosenstöcke auf das frische Grab. Bei der Polizei gab er an, dass ihn sein Eheweib verlassen hatte. Man sprach einige Wochen im Ort über das seltsame Verschwinden der Frau, doch dann verstummten die Klatschmäuler. Im Sommer aber, als die Rosen blühten, da geschah das Unvorstellbare. Die Blüten, fein wie purpurner Samt und beinahe schwarz – sangen! In jeder Nacht, wenn der Mond sein silbernes Licht über den Garten warf, hörte man von dem Rosenbeet das Trällern eines Kanarienvogels. So oft der Hausherr den Rosenstock auch herausriss, er wuchs wieder und wieder nach. Und die Rosen sangen ihr schauriges Lied, als seien ihre Blüten feine Frauenlippen. Daraufhin … »Jetzt hör aber auf zu lachen, Ralf, sonst erzähle ich nicht zu Ende.« »Entschuldige bitte, Bettina, das ist einfach zu lächerlich. Singende Rosen. Wer kommt auf so eine Idee?« »Graf Falk zu Tritzau. Der berühmte Dichter der Schwarzen Romantik, zu dessen Grab wir heute unterwegs sind.« Bettina seufzte. Ralf fehlte leider jeder Sinn für Literatur. »Was soll das denn überhaupt sein, die Schwarze Romantik?« Er gähnte und wechselte in einen anderen Gang, als der Feldweg zusehends schlechter wurde.
»Diese Epoche ist auch als Schauerromantik oder Spätromantik bekannt. Dazu gehören eine Menge bedeutender Autoren. Edgar Allen Poe, E.T.A. Hoffma …« »Ha, ET!« Ralf lachte. »Ja, den kenne ich.« Er nahm eine Hand vom Steuer und spreizte den Zeigefinger ab. »Nach Hause telefonieren«, sagte er mit tiefer Stimme. »Aber von diesem Falk von Sowienoch habe ich nie etwas gehört.« Bettina rollte die Augen. »Okay, Schluss mit der Vorlesung. Immerhin fährst du mich bei dem Wetter, wo mich mein Auto mal wieder im Stich gelassen hat.« »Kein Problem. Es hat seit drei Tagen geschüttet wie aus Eimern, da wärst du ja mit dem Rad weg geschwommen.« »Immerhin regnet es jetzt nicht mehr. Außerdem bin ich froh, dass du mir Gesellschaft leistest.« Bettina und Ralf waren schon als Kinder befreundet gewesen. Sie waren gute Freunde, richtige Kumpel. »Wieso, hast du etwa Angst vor den …« Ralf brach ab und sprach die nächsten Worte mit einem deutlich rollenden R, »… trällernden Rosen?« »Ach komm, du weißt, dass mir dieser Artikel eine Festanstellung beim Wurlitzer Anzeiger bringen kann. Ich habe im Museum und im Rathaus einiges in Bewegung gesetzt, um die Besuchserlaubnis für den Friedhof zu bekommen.« Bettina verzog den Mund. »Die zuständige Beamtin hat ein Theater gemacht, als ginge es um die Schlüssel zum Tower von London. Ich musste ihr versprechen, den Schlüsselbund bis allerspätestens 18 Uhr zurückzubringen.« »Ist schon gut«, lenkte Ralf ein. »Wenn das für deine Karriere wichtig ist.« Bettina zog die Augenbrauen skeptisch hoch. »Hoffentlich bleibt das Wetter klar, dann kann ich noch ein paar Fotos zu dem Bericht schießen. Wir sind übrigens fast da. Zur Rechten befindet sich gleich
der Parkplatz von der Tropfsteinhöhle, den wir benutzen können. Den Rest müssen wir zu Fuß gehen.«
* Bettina keuchte nach dem steilen Anstieg. Im Volksmund hieß die Anhöhe fälschlich ›Keltenberg‹. Die steinernen Überreste des alten Monumentes stammten jedoch aus der Bronzezeit. Ralf hatte Bettina unterwegs überholt. Als sie endlich oben ankam, lächelte er und wies auf die Landschaft. »Toller Ausblick hier.« Gegenüber, auf dem Schlossberg, erhob sich ein herrschaftliches Bauwerk wie ein Märchenschloss aus dem herbstlichen Dunst. Das Domizil der Tritzaus war inzwischen ein Museum. Auch auf dem Keltenberg gab es ein markantes Bauwerk. Das Familiengrab der Tritzaus war aus dunklem Granit gebaut, eingezäunt und für normale Besucher unzugänglich. Gepflegte Heckenrosen wanden sich rings um den Zaun. Der Ort wirkte still und abweisend, doch Bettina schlenderte unbekümmert auf das schmiedeeiserne Tor zu. Das schwarze Tor war mit stilisierten Rosen geschmückt und oben über dem Durchlass prangte das Familienwappen der Tritzaus. »Hey, warte mal! Was ist denn das dahinten?«, wollte Ralf wissen. Er wies auf eine kleine Baumgruppe am anderen Ende des Hügelkuppe. Dort war eine Fläche eingefriedet und ein halb eingesunkener Stein markierte eine Grabstelle. »Gut, gehen wir zuerst dahin.« Bettina ließ sich von Ralf in Richtung des einsamen Grabes schieben und machte ihre Kamera bereit. »Wer liegt denn da begraben? Der uneheliche Sohn des Grafen?«, scherzte Ralf.
Der Boden war matschig von den Regenfällen, der Rasen hatte sich wie ein Schwamm mit Wasser voll gesogen. Aber wenn man genau hinsah, konnte man den schmalen Weg erkennen, der zu dem einzelnen Grab führte. Bettina wusste natürlich, wer dort begraben war, doch sie wollte Ralf nicht den Entdeckerspaß verderben. Sie betraten den überwucherten Kiespfad. Es war still hier oben, kein einziger Vogel rief und sie hörten weder Autos noch Menschen. Einige Dunstfetzen hingen zwischen den Grasbüscheln, als wären die Wolken vom Himmel gestürzt und hier auf dem Hügel zerschellt. Eine niedrige Mauer umschloss eine moosüberwucherte Fläche, der verwitterte Grabstein zeigte nur eine einzelne Rose und eine Inschrift. Ralf lehnte sich über die grün bewachsene Mauer und las halblaut vor: »Hier ruht Bertha zu Tritzau.« »Bertha war die Ehefrau des Grafen Falk«, erklärte Bettina. »Aber warum liegt sie hier am Rand des Hügels und nicht in der Familiengruft?«, fragte Ralf und wischte sich die Hände an der Hose ab. Sie hinterließen grüne Streifen auf seinen Jeans. »Das ist auch eine Schauergeschichte. Nachdem du eben bei der Zusammenfassung der Singenden Rosen gelacht hast …« Bettina tat, als wäre sie beleidigt. »Ich werde an einem solchen Ort nicht lachen. Versprochen.« »Gut.« Bettina nickte. »Die Gräfin Bertha hatte ein kurzes, trauriges Leben. Es hieß, sie sei noch in jungen Jahren wahnsinnig geworden und habe den Rest des Lebens in einer Anstalt verbracht. Der Graf sah sie zum letzte Mal, als sie in die Anstalt gebracht wurde. Er hat unter ihrem geistigen Verfall so gelitten, dass er sie in ihrer Krankheit nicht ertragen konnte.«
»Das hört sich für mich so an, als wollte der Tritzau sie bloß loswerden.« Ralf zuckte die Achseln und schauderte plötzlich, als wäre ihm kalt. »Und wieso liegt sie hier?« »Der Graf ist ihrem letzten Wunsch nachgekommen, sie hier oben bei den Bäumen zu bestatten. Sie hatte immer davon gesprochen, dass sie gerne frei wäre und wenigstens im Tode den Himmel sehen wollte.« Sie gingen über den Kiesweg zurück. Wie unter Zwang drehte sich Ralf noch einmal um und blickte auf das einsame Grab. Er zuckte zusammen. Aus den Augenwinkeln glaubte er, eine Bewegung zu sehen. Stand da nicht eine weiß gekleidete Frau unter den Bäumen? Doch noch bevor er blinzeln konnte, war die Gestalt schon verschwunden. Er überlegte, ob er Bettina davon berichten sollte, aber sie würde ihn nur wegen seiner Fantasie auf ziehen. Vor allem, nachdem er sich über diese Singenden Rosen lustig gemacht hatte. »Hey, hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Bettina. »Den besten Teil der Geschichte habe ich noch nicht erzählt. Man munkelt nämlich, dass Bertha kurz vor ihrem Tod noch einen Eid geschworen hat, dass sie eines Tages aus dem Grab zurückkehren würde, um das zu erlangen, was ihr gehört.« Noch unter dem Eindruck der Vision sah Ralf sie entsetzt an. »Sag mal, sind alle diese Romantikgeschichten so morbide?« »Was glaubst du, woher der Begriff Schwarze Romantik stammt?«, fragte Bettina. »Viele Dichter haben sich mit den Schattenseiten der menschlichen Seele beschäftigt. Und mehr noch, Mary Shelleys Frankenstein …« Sie verstummte jäh, als sie das Unwetter bemerkte, das den Himmel verdunkelte. Der Wind trieb die Regenwolken geradewegs auf sie zu. Rings um das graue Wolkengebirge war der Himmel dunkelblau. Die Wolkenränder aber leuchteten schwefelgelb, was allem einen dramatischen Anstrich verlieh.
Schon zuckte ein ferner Blitz. Das Motiv wäre ein Foto wert, aber wie Bettina die Situation einschätzte, war es für Fotos längst zu spät. »Der Regen hat uns eingeholt …«, stellte sie unnötigerweise fest. Ein Donnerschlag schnitt ihr das Wort ab. Sie überlegte fieberhaft. Wenn sie hier oben blieben, wurden sie bis auf die Knochen nass. Die Baumgruppe würde sie vor dem Regen schützen. Aber unter Bäumen war es bei Gewitter gefährlich! Ralf deutete auf die Familiengruft. Ein weiterer Donner verschluckte den ersten Teil seines Satzes »… uns unterstellen.« Bettina schüttelte den Kopf. »Hab keine Angst, ich beschütze dich vor zudringlichen Skeletten«, rief Ralf gegen den auffrischenden Wind an. »Nein!« Bettina dachte an den Schlüsselbund, den man ihr im Rathaus so zögerlich überlassen hatte. »Ich hab nur die Schlüssel vom Friedhofstor. Die Gruft selbst ist versiegelt.« »Gut, dann müssen wir zum Auto! Hier können wir nicht bleiben.« Ralf zog Bettina mit sich. Der plötzlich einsetzende Regen traf sie wie ein Schlag auf Kopf und Nacken. Sie rannten quer über das rutschige Gras zum Weg. Der Regen lief ihnen über die Gesichter, durchnässte ihre Hosen und Jacken. Bettina konnte kaum noch etwas erkennen und blinzelte mehrmals. Wo war Ralf? Sie wischte sich das Wasser aus den Augen. Da, eine Gestalt! Ralf lief vorneweg. Sein Rücken war in diesen Regenfluten ein Anhaltspunkt für Bettina. Es krachte wieder und der Blitz, der gleichzeitig aufgrellte, blendete Bettina. Sie taumelte, trat auf einen nassen, moosbewachsenen Stein und glitt aus. Bettina ruderte mit den Armen, aber der Regen hämmerte derart auf sie ein, dass sie von den Tropfen schier zu Boden gedrückt
wurde. Sie verlor völlig das Gleichgewicht und rutschte den Rand des ungesicherten Weges ein Stück hinunter. Ein Steinbrocken bremste ihren Sturz und sie schrie. Ihr Knie war hart aufgekommen. Während sie die eiskalten Hände um den schlammigen Felsen krallte, um nicht noch tiefer zu rutschen, fühlte sie einen Ruck an ihrer Jacke. Ralf hatte sie gepackt und ihr eine Atempause verschafft. Bettina stemmte sich auf das gesunde Bein und fand Halt für ihre Füße. Neben ihr schoss Wasser wie ein schlammiger Fluss bergab. Sie fasste nach oben. Die Kante war bröckelig und der Schlamm quatschte unter ihren Händen, als sie sich hinaufzog. Doch mit Ralfs Hilfe schaffte sie es wieder auf den Weg. »Weiter!«, drängte Ralf und als er sah, dass Bettina humpelte, bot er ihr einen Arm zur Stütze an. Endlich erreichten sie die Straße. Das Gewitter tobte weiter mit ungehemmter Kraft und es schien, als öffne der Himmel seine Schleusen jetzt erst richtig. »Nur noch bis zum Auto«, versuchte Ralf sie aufzumuntern. »Warte, ich kann nicht mehr«, stieß Bettina atemlos hervor. Das eine Knie schmerzte, als habe sie ein Schmiedehammer getroffen, das andere war vor Schreck weich wie Gelee. Ralf blickte sich um. »Was ist das?«, fragte er und deutete zur Seite. Bettina drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht um. Ralf zeigte auf eine schmiedeeiserne Pforte im Berg. Die beiden Torhälften wurden von einer Kette zusammengehalten, die sich wie eine Schlange um die Eisenstäbe wand. Daran hing ein faustgroßes Vorhängeschloss. »Der Eingang zur Tropfsteinhöhle«, sagte Bettina. »Ich war als Kind das letzte Mal drinnen. Das stand heute eigentlich auch auf dem Programm.«
»Du hast also den Schlüssel zur Höhle?«, hakte er nach. Sie zog den Schlüsselbund aus der Manteltasche. »Ja, habe ich.« »Also nix wie rein, damit du aus dem Regen kommst«, beschloss er und half ihr die wenigen Schritte zur Höhle, wo sie das Tor aufschloss. Ralf wickelte sich abwesend die Kette um den linken Unterarm. An ihrem Ende war das Vorhängeschloss eingehakt. »Ich bringe dich schnell hinein.« Bettina humpelte neben ihm in den Höhlenschlund. Es war kalt hier, kälter als draußen. Aber wenigstens trocken. Graues Licht fiel vom Eingang herein. Sie konnte die Tropfsteinformation erkennen, die Orgel genannt wurde: vier Stalaktiten, die in einer Reihe an der Decke hingen, eine kürzer als die andere wie die Pfeifen einer Kirchenorgel. »Sieh mal nach, da muss irgendwo ein Lichtschalter sein«, bat sie. Ralf fand ihn schnell, drehte den altmodischen Schalter und schwaches, grünliches Licht erfüllte den Raum. Die Scheinwerfer waren hinter Felsvorsprüngen und in Nischen verborgen. Sie leuchteten die Tropfsteinhöhle effektvoll aus, aber es war nicht besonders hell. Bettina suchte sich eine Steinbank und setzte sich. Das Steingebilde bestand aus drei pilzförmigen Stalagmiten, die zusammengewachsen waren. »Warten wir hier, bis der Regen aufhört.« »Unfug. Ich hole das Auto und dann fahren wir gleich zum Arzt.« »Ralf, der Weg ist gesperrt. Du darfst da nicht lang fahren«, protestierte sie. »Das wollen wir doch erst mal sehen.« Er schob das Kinn vor. Diesen Gesichtsausdruck kannte Bettina von ihm, seit sie versucht hatte, ihm im Kindergarten sein Spielzeug wegzunehmen. »Gut, dann …«, begann sie und stockte.
Sie riss den Kopf hoch und schaute zur Decke. Unwillkürlich spannte sie sich an. Von oben kam ein Rauschen, dann ein Grollen, als stöhne der Berg vor Schmerz. »Was ist das?«, fragte sie und stand auf, so rasch es ihr mit dem geprellten Knie möglich war. Im Dämmerlicht sahen die Tropfsteine ringsum wie Reißzähne aus und mit dem bedrohlichen Geräusch war es beinahe so, als säßen sie im gewaltigen Schlund eines Raubtiers. Das Rauschen dröhnte von allen Seiten. »Ich weiß nicht …« Ralf war ebenso hilflos wie sie. »Wir sollten besser sofort verschwinden.« Er reichte Bettina die Hand. Da zitterte die Decke und das Brausen wurde noch lauter. Mit einem neuerlichen Grollen begann nun auch der Boden leicht zu beben. »Raus!«, schrie Bettina, als sie ein Knirschen vernahm. »Ein Erdbeben!« Ralf warf einen panischen Blick nach oben. Die Stalaktiten an der Decke sahen wenig vertrauen erweckend aus. Um den Ausgang zu erreichen, mussten sie unter einer Reihe hängender Tropfsteine hindurch und der Gang nach außen verengte sich, so dass sie dort kaum Ausweichmöglichkeit hatten. Plötzlich war alles ruhig. Ralf fasste Bettina an der Schulter. »Los! Jetzt!« Sie waren kaum drei Schritte weit gekommen, da war das Grollen wieder zu hören. Abermals bebte die Höhle, ein Knirschen erklang. Bettina drückte sich an die Wand, riss Ralf durch die unerwartete Bewegung mit. Eine armdicke Spitze aus Stein krachte neben ihm zu Boden, eine weitere folgte, der er eben ausweichen konnte. Als dann der dritte Tropfstein brach, pressten sich beide eng an die Höhlenwand.
Wie in Zeitlupe sah Bettina, dass die schwere Steinspitze genau auf ihren Freund zustürzte. »Ralf!« Er hörte ihre Warnung, wich ein Stück zurück – und verlor das Gleichgewicht. Sein Kopf schlug hart gegen die Höhlenwand. Doch der Stalaktit verfehlte ihn und zerbarst auf dem Boden, während Ralf benommen langsam an der Höhlenwand zu Boden rutschte. Bettina riss instinktiv den Arm vors Gesicht. Steinsplitter spritzen hoch und trafen die beiden. In diesem Moment ächzte der Berg ohrenbetäubend, etwas polterte, kam ins Rutschen – und das Licht erlosch …
* »Ralf?«, fragte Bettina in die Finsternis, nachdem der Berg zur Ruhe gekommen war. »Bist du in Ordnung?« Sie hörte das Rascheln von Ralfs Jacke, Klirren von Eisen, dann sein leises Stöhnen. »Ja, geht so. Aber ich kann nichts sehen. Wie lange war ich denn weg?« Er bewegte sich unter ihren tastenden Fingern und scherzte schon wieder. »Schwester, etwas zu trinken für einen verwundeten Helden, bitte.« Bettina stieß beruhigt die Luft aus und entspannte sich ein bisschen. »Sehr lustig, Ralf. Ich muss dich enttäuschen, es ist kaum eine halbe Minute vergangen. Und rutsch mal ein Stück zur Seite, du liegst auf meinem Mantel.« »Warum ist es hier so dunkel?« Ralf klang besorgt. »Der Erdrutsch muss die Stromleitung erwischt haben«, sagte Bettina und ihre Stimme zitterte. »Aber ich habe eine Lampe dabei und sobald du von meinem Mantel runter gehst, komme ich auch dran.« »Erdrutsch? Verdammt, wie viel habe ich denn noch verpasst?« Ralf bewegte sich und sie konnte die Lampe hervorziehen.
»Du hast dir den Kopf angeschlagen.« Bettina knipste den Strahler an. Ralf erfasste die Situation nur langsam. »Aber wenn der Strom weg ist, müsste doch das Tageslicht … Oh nein.« »Ja, der Eingang ist verschüttet, darum fällt kein Licht ein. Ich vermute, nach dem Dauerregen der letzten Tage haben die Erde und der ungesicherte Weg einfach nachgegeben.« Bettina wollte sich noch nicht mit dieser Situation auseinander setzen, sondern erst das Nahe liegende erledigen. »Ich schau mal nach, wo es dich erwischt hat.« Sie lichtete die Lampe auf Ralfs Kopf. Er hatte eine aufgeplatzte Stelle an der Schläfe, aus der es kräftig blutete. Außerdem zogen sich einige Kratzer durch sein Gesicht, vermutlich von den Steinsplittern. Sie spuckte auf ihr Taschentuch und rieb das meiste Blut ab. Darunter kam ein bleiches Gesicht zum Vorschein. »Au, kannst du nicht vorsichtiger sein?«, protestierte er. »Ach, stell dich nicht so an! Du warst doch nur einen Moment benommen. Ich muss nachschauen, ob dein wertvolles Hirn schon raustropft.« Ihr schnodderiges Gespräch beruhigte Bettina. Wenn sie so frotzelten wie immer, konnte sie fast vergessen, in welcher Lage sie waren. Bei dem Gedanken, dass sie hier tagelang festsitzen konnten, begann Bettina innerlich zu zittern. Sie biss die Zähne zusammen und untersuchte Ralfs Hinterkopf. »Sieht ganz in Ordnung aus.« »Wieso hast du überhaupt eine Lampe dabei?«, fragte Ralf. »Ich wollte die Gruft der Tritzaus vernünftig ausleuchten. Und die Höhle auch. Die Beleuchtung hier ist zu schwach. Sie soll in erster Linie die Fantasie anregen, damit die Besucher Drachen und Pflanzen in den Formen der Steine sehen.«
»Was in aller Welt wolltest du in der Höhle?« Ralf drehte den Kopf, erkannte jedoch sofort, dass das keine gute Idee war und hielt sich die schmerzende Schläfe. »Wenn du ein wenig ausgeruht hast, schauen wir uns erst mal um. Und dann können wir sie besuchen.« »Sie?«, wollte Ralf wissen. »Ja, die Steinerne Dame.«
* Bettina bandagierte ihr Knie mit dem Stoffgürtel des Mantels. Es tat schon weniger weh, seit sie nicht mehr den Hang hinunter rennen musste. Als sie den Gürtel aus den Schlaufen zog, fiel ihr die Ausbeulung der Tasche auf – das Handy! Daran hätte sie früher denken sollen. Sie schaltete es an und versuchte, ein Signal zu bekommen. »So ein Mist!«, schimpfte sie. »Wir haben hier unten kein Netz.« Das war mal wieder typisch. »Ich versuche es an einer anderen Stelle.« »Warte, ich komme mit«, sagte Ralf. »Ich muss mich bewegen, es ist so kalt hier.« Bettina nickte. In den nassen Kleidern und der klammen Höhlenluft kühlte man schnell aus. Ralf warf einige misstrauische Blicke nach oben, wo die Reste der abgebrochenen Tropfsteine wie faulige Zahnstümpfe an der Decke hingen. Sie stiegen vorsichtig über die gestürzten Säulen hinweg, die Steinsplitter knirschten leise unter ihren Schuhsohlen. Es roch nach Schlamm und irgendwie herbstlich.
Bettina hatte noch keine Mure gesehen, aber sie erinnerte sich an diese Bezeichnung, als sie das Gemisch aus Schlamm, Stein, Grasböschung und Erde betrachtete, das den einzigen Ausgang wie ein Korken verstopfte. Sie versuchte es noch einmal mit dem Mobiltelefon. Aber auch hier fand das Gerät kein Signal und sie steckte das Handy frustriert weg. Ralf stand in der Zwischenzeit ratlos vor der braunen Wand und ließ mit der Linken die Kette kreisen, wie ein mittelalterlicher Ritter seinen Morgenstern. »Ich würde versuchen, uns irgendwie einen Weg zu bahnen. Aber ich glaube, dann kommt uns der Rest des Berges entgegen«, sagte er. »Ja, besser nicht. Ich bin froh, dass der größte Teil der Höhle frei ist. Zumindest haben wir für eine ganze Weile genug Luft.« »Wie groß ist denn die Höhle?«, fragte Ralf. »Gibt es einen anderen Ausgang?« »Der erschlossene Teil ist etwa 25 Meter lang. Die Höhle führt noch viel tiefer in den Berg hinein, aber sie wird dort so schmal, dass höchstens ein Dackel hindurchpasst.« »Aber dahinter könnten noch weitere Kammern sein. Warum hat hier niemand geforscht und einen Durchlass gesprengt?« Ralf kaute an seiner Unterlippe. »Das ist hier alles Privatbesitz. Erst seit man im Krieg solche Höhlen als Schutzräume benutzt hat, ist sie überhaupt der Öffentlichkeit zugänglich. Die Eigentümer wollten verhindern, dass man durch Sprengungen die Totenruhe stört.« Bei den Worten wurde Bettina klar, dass über ihr ein Friedhof lag. Das Wasser, das hier von der Decke tropfte oder an den Spitzen der Steine glänzte, mochte ebenso gut vom Regen, wie auch von den verwesenden Leichen oben stammen. Ein Schauder durchfuhr sie, der nicht von ihrer durchnässten Kleidung kam.
Dann beruhigte sich ihr Herzschlag ein wenig. Seit gut hundert Jahren war hier niemand mehr beerdigt worden. Trotzdem fühlte sich Bettina merkwürdig beklommen. Sie waren lebendig begraben. Wenn man sie nicht fand, würden hier ihre Leichen verfaulen. »Weiß jemand, dass du mit mir hergefahren bist?«, wollte sie von Ralf wissen. »Nein. Katrin war arbeiten, als du angerufen hast.« Bettina seufzte. Katrin war Ralfs Schwester, mit der er in einer Wohngemeinschaft lebte. »Wieso fragst du?«, wollte Ralf wissen und seufzte dann unvermittelt: »Mann, hab’ ich einen Durst.« Bettina verzog das Gesicht. »Wenn du keinem Bescheid gesagt hast – hab ich auch nicht –, dann müssen wir warten, bis man uns durch Zufall entdeckt. Du wirst wohl eine Weile durstig bleiben. Hier ist keine sehr belebte Gegend, die Wandersaison ist vorbei. Wir können nur hoffen, dass jemand in nächster Zeit nach dem Friedhof sieht und dabei die verschüttete Höhle entdeckt.« »Oder wir erforschen den anderen Teil der Höhle.« Ralfs Augen leuchteten auf. »Vielleicht finden wir einen zweiten Ausgang.« »Das ist nicht dein Ernst!«, protestierte Bettina. Doch Ralf hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Seine Schritte hallten in der Höhle. Ihr blieb kaum etwas übrig, als ihm hinterherzuhinken. Je weiter sie nach hinten gelangten, desto schwächer wurde der erdige Geruch. Stattdessen wurde die Luft klar und kühl, so intensiv, dass Bettina meinte, sie würde Bergkristall auf der Zunge schmecken – hätte man Kristall atmen können … Ein eisiger Wassertropfen traf sie ins Gesicht und sie schrak zusammen. Die schöne Illusion zerbarst wie der Tropfen auf ihrer Haut. Sie wischte sich angeekelt über das Gesicht – Totenwasser!
Die beiden kamen an einem steinernen Vorhang vorbei, der in Wellenmustern die Wand entlang zu Boden floss. Anschließend ließen sie das Geisterschloss genannte Gebilde aus aufragenden Tropfsteinen hinter sich. Die Wände links und rechts rückten näher heran. Sie glänzten feucht. Ralf ging längst neben Bettina, die die Taschenlampe hielt. Bis auf den Nachhall ihrer Schritte und das gleichmäßige Tropfen von Wasser herrschte Stille. Bettina merkte, dass sie so leise wie möglich atmete. Einmal glaubte sie, hinter einer mächtigen Säule eine Bewegung zu sehen. Sie leuchtete dorthin, aber da war nur ein Stein, der mit feinen Kalkschuppen bedeckt war und aussah wie eine riesige Schlange. Die fallenden Wassertropfen erzeugten beinahe einen Rhythmus, eine leise Melodie. Bettina hörte das einschläfernde Lied immer deutlicher und blieb stehen. »Bettina? Komm weiter.« Ralf rüttelte sie an der Schulter und sie verlor den Klang aus ihrem Ohr. Es waren Wassertropfen, die von der Decke fielen, auf Felsen und in Pfützen, mehr nicht. Verwundert schüttelte sie den Kopf und ging weiter. »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich muss geträumt haben.« Ralf nickte. »Ich träume auch grad. Und zwar von einem Bier. Ich hab richtigen Brand. Im Auto steht eine Flasche Mineralwasser, die ich eigentlich mitnehmen wollte. Pech.« »Ja«, meinte Bettina abwesend und fröstelte. Sie wies mit dem Kopf in die Schwärze vor sich. »Pass auf, gleich kommt das Glanzstück der Höhle.« Die Höhle machte eine Biegung und Ralf blieb stehen, als er kaum die Kehre umrundet hatte. »Oh Mann!«, sagte er.
Bettina wich ein Stück zurück und richtete den Lichtkegel auf den Boden. Eine Gestalt erhob sich in einer Nische vor ihnen. Zu ihren Füßen erstreckte sich ein kreisrunder Teich von vielleicht zwei Metern Durchmesser wie ein Teppich aus Silber, auf dem sich der Strahl der Lampe spiegelte. Die Figur schimmerte in grünlichem Licht. Es war genau die Farbe, wie auf den Zeigern von Bettinas Wecker, wenn sie als Kind nachts heimlich im Schein der Taschenlampe gelesen hatte. Der Stalagmit, der größer war als Bettina, trug die Züge einer Frau. Bei der unheimlichen, grünen Beleuchtung verschwammen die Einzelheiten der groben Steinoberfläche und ließen den Stein wie eine modellierte Statue aussehen. Ihr oberer Teil mit den wellenförmigen Furchen bildete die herabfließenden, offenen Haare. Zwei Vertiefungen und der Vorsprung darunter formten ein lippenloses Gesicht. Sogar ein vorgeschobener Arm und die angedeutete Taille waren zu erkennen. Kleiderfalten liefen zum Boden hin glockenförmig auseinander wie ein festliches Gewand. Das unheimliche Grün schien leicht zu pulsieren. »Also, du hast nicht zu viel versprochen, Tina. Das ist der Hammer.« Ralf drehte den Kopf suchend hin und her. »Hier muss doch irgendwo der versteckte Strahler sein.« Bettina musste einen Kloß runterschlucken, bevor sie antworten konnte. »Vergiss es.« Das Leuchten jagte ihr Angst ein. Sie wusste genau, es war bei ihrem letzten Besuch noch nicht da gewesen. »Das ist kein künstliches Licht.« »Und was dann?« Sie schwenkte die Lampe hinauf. Auf dem hellgrauen Stein war ein pelziger Belag auszumachen. »Das muss eine Art Moos sein, oder ein Pilz. Ich nehme an, das Zeug reagiert auf das Licht der Taschenlampe.«
Aber während sie das sagte, schüttelte Bettina zweifelnd den Kopf. Sie war sich sicher, dass der Lampenstrahl die Figur nicht gestreift hatte. Das Gewächs konnte kaum auf das Licht reagiert haben. Gab es fluoreszierendes Moos überhaupt in hiesigen Höhlen? Der Schein der Lampe huschte die Figur entlang. Bettina hoffte, eine Erklärung für das Phänomen zu entdecken, doch sie fand nichts. Ralf starrte die Steinfigur weiterhin fasziniert an. »Tolle Sache, wenn man überlegt, dass alles von der zufälligen Anordnung von Wassertropfen geschaffen wurde.« Er leckte sich über die trockenen Lippen, ging in die Knie und hockte sich zu Füßen der Steinernen Dame nieder wie ein Verehrer. Furcht kroch Bettina den Rücken herauf. »Ich finde das eher gruselig.« »Komm schon, du wolltest doch selbst hierher.« Sie wischte den Einwand mit einer Handbewegung fort. »Ich wollte zu einem Tropfstein, der – mit viel Fantasie – einer Frau ähnelt. Aber das hier …« »Sei doch kein Spielverderber. Du warst zuletzt als Kind hier und schaust nun als passionierte Hobbyfotografin besonders genau hin. Erzähl doch lieber mal was zu dem Stein.« Bettina riss sich zusammen und ignorierte ihr Unbehagen. Solange Ralf hier blieb und nicht in den engen Ausläufern der Höhle herumkroch, sollte es ihr recht sein. »Also, die Steinerne Dame ist in dieser Gegend eine Berühmtheit«, begann sie. »Es heißt, die Höhle sei früher ein Heiligtum gewesen und die Dame wäre die Abbildung einer keltischen Göttin. Manche meinen, sie wäre noch viel älter – sie würde hier verehrt, seit die Leute aus der Bronzezeit oben die Grabstätte und den Steinkreis errichtet hatten.«
»Moment mal, welcher Kreis?« Ralf zog fragend die Augenbrauen zusammen. Da oben gab es keinen Steinkreis! »Ich weiß das alles nur aus uralten, heimatkundlichen Schriften aus dem Museum«, erläuterte Bettina. »Früher stand auf dem Keltenberg ein Dolmen – ein Hügelgrab. Mit der Zeit wurde die Erde abgetragen und das Steingrab freigelegt. Um den Hügel wiederum gab es wohl damals einen steinernen Kreis.« »Ah, so was wie Stonehenge!«, warf Ralf ein. »Nein, viel kleinere Steine. Angeblich sollen die Felsen eher kegelförmig gewesen sein.« Jetzt wo sie es sagte, fiel Bettina die Ähnlichkeit auf. »Vielleicht waren es Tropfsteine, die man hier heraus gebrochen hatte.« »Und wo sind die jetzt alle?« »Also … Laut den Aufzeichnungen haben die Tritzaus die Steine des Hügelgrabes zum Bau ihrer eigenen Gruft benutzt. Die kegelförmigen Steine vom Kreis sind vielleicht umgekippt oder eingesunken. Darauf habe ich nie geachtet.« »Sag mal, bin ich der Einzige, der es ziemlich geschmacklos findet, die eigene Gruft aus den Steinen vom Grab eines anderen zu errichten?«, fragte Ralf. Er stockte. Das Reden machte ihn durstig. Also legte die Kette, mit der er die ganze Zeit gespielt hatte, zur Seite und tauchte die zur Schale geformten Hände in den kristallenen Teich zu Füßen der Dame. »Puh, kalt«, schnaufte er, hob dann die Hände zum Mund und trank. »Spinnst du?« Bettina war entsetzt. »Du kannst doch nicht einfach das Zeug hier trinken! Wer weiß, was da drin ist.« »Jede Menge Kalk«, murmelte Ralf. »So schmeckt es jedenfalls. Keine Sorge, Tina, das Wasser ist durch den ganzen Hügel geflossen. Durch verschiedene Erdschichten, porösen Felsen,
vielleicht Sand. Das ist der beste Filter, den man sich vorstellen kann.« Er nahm noch einen weiteren Schluck. Bettina konnte ihren Brechreiz kaum unterdrücken. »Aber da oben ist ein Friedhof! Hast du mal was von Leichenwasser gehört?« Ralf grinste. »In der Natur ist alles Recycling. Na komm schon, Tina, der Friedhof ist doch stillgelegt … Woanders bezahlen die Leute dafür, so reines Wasser zu bekommen.« »Und Pflanzenschutzmittel und Dünger filtert der Berg auch raus?« Ralf zuckte mit den Schultern. »Das Leben ist manchmal lebensgefährlich. Komm, probier doch einfach mal.« »Nein danke!« Kopfschüttelnd fuhr sie fort mit ihrem historischen Bericht. »Es gibt auch Stimmen, die die Steinerne Dame mit der Gräfin von Tritzau in Verbindung bringen. Angeblich war hier unten beim Teich einer ihrer Lieblingsplätze.« »Moment! Anscheinend gibt es über diese Bertha so einiges mehr zu erzählen als über den Grafen.« Bettina nickte. »Nachdem Bertha gestorben war, hat sich der Graf noch einige Male als Dichter versucht. Doch er hat nie mehr die Qualität der Rosen erreicht. Als hätte Berthas Tod ihn jeglicher Kreativität beraubt. Und aus diesem Grund ist er auch nur eine lokale Berühmtheit der Literaturge … Ralf?« Bettinas Stimme wurde schrill, als sie sah, wie er sich zusammenkrümmte. »Alles in Ordnung«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Nur zu viel Eiswasser auf nüchternen Magen.« Er ließ sich auf den Fersen nach hinten kippen und blieb an die Felswand gelehnt sitzen. Sein Gesicht wurde bleich, als wäre es mit Mehl bestäubt worden. Verärgert wischte er darüber. »Bleib ganz ruhig«, murmelte Bettina, mehr zu sich selbst als zu Ralf.
Auch ihr schwindelte etwas. Die Höhle drehte sich um sie und sie stützte sich an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Stalaktiten bebten, der Rachen des Untiers, den sie schon die ganze Zeit über sich gespürt hatte, begann sich zu schließen. Bettina zwinkerte. Ralf war von einer pudrigen Schicht überdeckt und seine Versuche, sie abzustreifen, wurden zunehmend schwächer. Er hustete. Im Wasser erschien das Abbild einer Frau. Der Anblick durchfuhr Bettina wie ein Stromstoß. Ein fein geschnittenes Gesicht, eingerahmt von dunklem Haar. Sie sah aus wie auf dem alten Gemälde im Schloss. Es war die Gräfin Bertha, auch die Rose von Tritzau genannt. »Bald ist es so weit«, sagte die Erscheinung, fast einschläfernd sanft wie die Tropfengeräusche von vorhin. Das grüne Licht der Steinfigur loderte auf. Mehr und mehr erinnerte Bettina der Belag an Schimmel. Sie glaubte sogar, den bitteren Geruch von etwas Verfaultem zu riechen, was ihr die Kehle zuzog. Die Frau im Teich deutete auf Ralf. »Bald habe ich einen steinernen Gefährten, um die Seele meines geliebten Jerkim dauerhaft aufzunehmen. Endlich sind wir vereint.« Bettina schüttelte verwirrt den Kopf. Gab es hier in der Höhle schädliche Gase, die Halluzinationen erzeugten? Das alles musste doch Einbildung sein. Sie wollte zu Ralf und ihm helfen. Ihn hatte es schlimmer als sie selbst erwischt, vermutlich, weil er das giftige Wasser getrunken hatte. Doch Bettinas Beine waren weich wie Gummi. Sie ließ sich langsam zu Boden sinken, um auf allen vieren zu kriechen.
Da schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Wenn Gas für ihren Zustand verantwortlich war, dann wäre die Konzentration am Boden höher. Gas war schwerer als Luft – sie war sich ziemlich sicher, das in der Schule gelernt zu haben. »Ralf!«, rief sie. Der Name hallte lang gezogen durch den Höhlenraum. »Du musst den Kopf heben. Versuch, dich an der Wand abzustützen. Die Luft in Bodennähe ist verdorben.« Ralf mühte sich vergeblich ab und sackte immer wieder zurück. Bettina hatte etwas Kraft gefunden und kam wieder auf die Beine. Sie hatte über diesen Ort recherchiert. Von schädlichen Gasen war nie die Rede gewesen. Stimmten die alten Gerüchte? Gab es hier etwas, das die Menschen an einen heiligen Ort glauben ließ? Vielleicht lebte hier wirklich der Geist der Gräfin und wollte Ralf in Stein verwandeln – vielleicht gaukelte ihr das auch nur ihre überreizte Fantasie vor … Bettinas Blick flog immer wieder zu ihrem Freund. Ralf war tiefer gerutscht und lag jetzt still. Seinen Körper umgab eine hauchfeine Schicht, die halb durchsichtig war. Das Gesicht war mit demselben kalkweißen Pulver bedeckt, das er immer wieder durch abgehackte Bewegungen des Kopfes fortschleuderte. Doch es schien sich ständig neu zu bilden. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder erzeugte Bettinas Unterbewusstsein diese Halluzinationen. Dann musste sie sie ignorieren – oder dagegen ankämpfen wie in einem Traum. Oder die Geistergeschichten entsprachen der Wahrheit. In dem Fall musste sie sich erst recht wehren. Bettina schluckte. Sie richtete die Lampe auf den kleinen See und sah der Gestalt fest ins Auge. »Das könnt Ihr nicht machen, Gräfin! Ihr tötet einen Mann. Warum wollt Ihr ihn umbringen? Mein Freund hat Euch nichts getan …« Sie biss sich auf die Zunge. Fiel ihr nichts Besseres ein? Im Verhandeln war sie schlecht. Als sie letztens beim Herausgeber um
eine Honorarerhöhung gebeten hatte, da hatte er ihr den Zeilensatz sogar gekürzt. Er hatte einfach behauptet, das wäre nötig, um sie überhaupt als freie Mitarbeiterin behalten zu können. Das Bild im Wasser bebte, die Gräfin zog zornig die Augenbrauen zusammen. »Ich habe meinem Gemahl auch nichts angetan und trotzdem ließ er mich in jenem Haus einsperren. Er behauptete, dass ich wahnsinnig sei. Und das nur, weil er Jerkims Stimme nicht hören konnte, die zu mir sprach.« »Das ist … Das tut mir wirklich Leid. Aber bitte nehmt Vernunft an!« Jetzt bettelte sie. Herrgott Tina, lass dir was einfüllen! »Wir sind füreinander bestimmt und niemand kann uns trennen. Unsere Liebe wird den gewaltigen Abgrund des Todes überbrücken.« Berthas wasserblaue Augen blitzten. Bettinas journalistische Neugier erwachte. »Warum lasst Ihr meinem Freund nicht in Ruhe und erzählt mir Eure ganze Geschichte und die von … Jerkim? Ich verstehe nur die Hälfte von dem, was Ihr sagt. Doch Eure Worte faszinieren mich.« Das war besser. Und es war die Wahrheit. Sie platzte fast vor Neugier, was noch alles kommen würde. Und Ralf würde … Ach verdammt, sie durfte Ralf nicht außer Acht lassen! Bettina riss die Lampe herum und der Lichtfächer hob Ralfs reglosen Körper aus dem Höhlendunkel. Sie sah seinen verzweifelten Blick. Doch die Starre seines Gesichts löste sich und die Brust hob und senkte sich. Weißer Staub, fein wie Kreide, wehte bei der leisesten Bewegung von ihm herab. Es klappte! Irgendwie beeinflusste sie das Geschehen. »Ich bitte Euch, Gräfin«, sagte Bettina. »Ich bin eine Journalistin, eine Geschichtenerzählerin wie Euer Ehemann …« Das Wasser im Teich brodelte, kochte fast über und die Konturen der Frau verwirbelten. Gegenüber von Bettina keuchte Ralf auf. Bettinas Herz stand still. Jetzt hatte sie alles verdorben!
Doch schließlich wurden die Wasser so ruhig, als sei der Teich zu Eis erstarrt. »Gut, die Geschichte magst du erfahren, denn ich verstehe dein Anliegen«, erklärte die Gräfin. »Aber erwähne nie wieder Falk von Tritzau!« Bettina schlotterte in ihren klammen Kleidern. Konnte das noch Einbildung sein? Der Hass der Gräfin war fast greifbar, das grüne Glühen wurde intensiver und blendete Bettina. Sie nickte der Frau im Wasser zu. »Einverstanden!«
* Einige Momente des Schweigens vergingen, ehe die Gräfin anfing. »Unsere Ehe war arrangiert, aber Falk und ich respektierten uns«, erzählte sie. »Es bildete sich sogar eine vertraute Zuneigung. Doch bald wandte er sich anderen Frauen zu. Dummen, drallen und ungebildeten Dingern. Ich fand Trost in der Literatur und habe mich auch selbst an einigen Stücken versucht. Doch mehr und mehr pflegte ich die Einsamkeit. Hier in der Höhle oder auf dem Keltenberg konnte ich die Freiheit spüren, über die ich sonst nur las.« Bettina trat näher an den kleinen Teich. Das Wasser glitzerte verheißungsvoll. Sie fühlte Mitleid bei den Worten der Gräfin. Was musste es für ein Leben gewesen sein, an einen ungeliebten Mann gefesselt und eingesperrt in ein Korsett der gesellschaftlichen Konventionen? Doch sie dachte an Ralf und war sich sicher, dass sie nicht aufgeben durfte. »Und irgendwann passierte es«, fuhr die Gräfin fort. »Eines Tages tauchte ich in eine kleine Träumerei, dort unter den Bäumen im Schatten eines lauen Sommernachmittages. Und ich hörte, wie mir ein Mann Koseworte ins Ohr flüsterte.«
Das Gesicht der Gräfin hellte sich auf. Ihre Züge entspannten sich bei der schönen Erinnerung. »Zuerst konnte ich es nicht glauben, hielt mich für überspannt. Aber da sah ich den Mann in meinem Traum auch, einen stolzen Krieger mit Waffen aus Gold. Sein Name war Jerkim. Er erklärte mir, wie seine Seele Jahrhunderte überstehen konnte und wie viel ich ihm bedeutete.« Bettina wünschte sich ihren Notizblock herbei, aber sie wollte den Zauber des Augenblickes nicht stören – und damit möglicherweise den zerbrechlichen Waffenstillstand gefährden. Also konzentrierte sie sich auf die Worte der Gräfin, während ein Teil ihres Bewusstseins nach einem Ausweg suchte. »Jerkim war der Herrscher seines Volkes«, erzählte diese. »Aber er starb jung. Um ihn zu ehren, errichteten seine Leute das Hügelgrab oben auf dem Keltenberg, wo heute die Bäume stehen. Sein Leib wurde von besonderen Zaubern geschützt. Und um das Grab setzten sie einen machtvollen Steinkreis, in dessen Schutz Jerkims Seele bewahrt wurde.« Die Gräfin wurde leiser und unwillkürlich trat Bettina einen Schritt näher. »Als ein Tritzau viel später das Grab auseinander gerissen hatte, um an anderer Stelle mit den Steinen eine eigene Gruft zu errichten, da blieb Jerkims Seele sicher im Inneren des Steinkreises. Sie verschleppten nur seine Knochen und Waffen. Die Jahre vergingen. Still beobachtete Jerkim, wie ich immer wieder auf der Hügelkuppe verweilte. Und eines Tage gestand er mir seine Liebe.« Bettinas Hände krampften sich ineinander. Das war ja so romantisch! Doch die nächsten Worte der Gräfin, kalt und schneidend, zerstörten die friedliche Stimmung. »Nachdem ich die ersten Male Jerkims Stimme hörte, war ich so dumm, es Falk gegenüber zu erwähnen. Lieber hätte ich mir die Zunge abbeißen sollen.«
Die Augen der Frau im Wasser blitzten vor Wut. Das faulige Grün der Statue überstrahlte fast Bettinas Lampe und die junge Journalistin wich ein Stück zurück. In Ralfs Richtung. Die Gräfin würde das jetzt sicherlich nicht bemerken. »Falk sprach darüber mit einem Arzt und stellte mich als wahnsinnig hin, weil ich in der Einsamkeit Stimmen hörte.« Noch immer voller Hass klang die Stimme der Gräfin jetzt auch traurig. »Es war fürchterlich, als er mich in dieses Haus einsperrte. Für mich war es eine Erlösung, als ich dahin welkte und rasch starb. Ich hoffte, dann mit Jerkim vereint zu sein, dessen Seele oben auf dem Hügel meiner harrte. Ich kannte das Geheimnis des Kreises und ließ mich ebenfalls in seinem Schutz begraben.« Und warum quälst du uns dann?, fragte Bettina stumm. Als hätte die Gräfin ihre Gedanken gelesen, antwortete sie: »Bei dem Erdrutsch sind einige magische Steine hinabgestürzt. Der Schutzkreis ist gebrochen. Doch ohne den Fokus eines stofflichen Körpers werden wir vollkommen vergehen. Ich konnte meine Seele in diesen Stein flüchten. Und für Jerkim habe ich den Leib deines Gefährten gewählt, damit wir weiterhin zusammen sind.« Die Gräfin schloss versonnen die Augen. Ihre letzten Worte trafen Bettina wie ein kalter Guss. Oh nein! Ralf kriegst du nicht. Sie hatte den kleinen See fast umrundet und Ralf beinahe erreicht. Ich muss ihn wegziehen, von hier fort aus ihrem Einflussbereich bringen, dachte sie fieberhaft. Immerhin konnte eine Steinfigur sie schlecht verfolgen. Ralf war wach und starrte sie an. »Was ist hier los?«, krächzte er mit starren Lippen. »Mit wem redest du?« Bettina wollte ihn mit einer Geste zum Schweigen bringen, doch zu spät.
Die Aufmerksamkeit der Gräfin kehrte zurück. Ein Tropfstein krachte von der Decke und zersplitterte zwischen Bettina und Ralf auf dem Boden. »Versuch nicht, zu fliehen!«, rief sie. Bettina starrte erschreckt auf das Abbild der Frau im Wasser. Die Rose von Tritzau zeigte ihre Dornen. Mit wutverzerrtem Gesicht winkte sie Bettina heran. »Wieso sollte ich mich mit einem steinernen Leib begnügen, wenn ich doch den deinen haben kann?« Wenn sie bei ihrem Tod wirklich gesund gewesen war, hatten die vielen Jahre im Steinkreis ihrem Geist nicht gut getan, dachte Bettina. Aber der Gedanke verlor sich plötzlich. Die Wassertropfen entfalteten ihr zauberisches Lied. Komm zu mir … Bettina fühlte, wie sich ihre Beine in Bewegung setzten und sie zum Teich führten. Wenn sie das Wasser berührte, wäre sie völlig in der Gewalt der Gräfin, so wie Ralf. Ihr Verstand schien wie in Watte gepackt, sie empfand das Entsetzen nur gedämpft. Alles ertrank in den Tönen des Wassers. Mit dem Rest Willen, der ihr noch geblieben war, stemmte Bettina sich geistig gegen die Macht der Melodie. Ich will stehen bleiben! Doch im Takt der Wassertropfen setzte sie weiter einen Fuß vor den anderen. Stück für Stück verlor sie die Kontrolle über sich selbst. Ungelenk hinkte Bettina auf den Teich zu. Sie schwitzte trotz der Kälte im Höhleninneren. Sie musste den Rhythmus stören! Welches Lied kannte sie? Welches Gedicht? Eichendorffs Wünschelrute! »Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort«, flüsterte Bettina die Dichterworte wie einen Zauberspruch. Die Silben perlten aus ihrem Mund, so betont wie nie zuvor. »Und die
Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.« Das Zauberwort?, überlegte sie – und sprach es aus: »Halt!« Und tatsächlich blieb sie stehen. Endlich. Bettina jubelte innerlich. Die Konzentration auf den Gedichtrhythmus hatte den magischen Bann gebrochen. Das Lied der Tropfen zerschellte wirkungslos wie ein Wasserschwall auf Stein. Ohne die Gräfin im Wasser aus den Augen zu lassen, bewegte sich Bettina vorsichtig auf Ralf zu. Immer wieder warf sie ängstliche Blicke zur Decke, aber zwischen ihm und ihr hingen keine Stalaktiten mehr. Außerdem würde die Gräfin sicherlich den kostbaren Körper nicht verletzen wollen, den sie sich als neue Wohnstatt auserkoren hatte – oder …? Bettina hatte Ralf beinahe erreicht! Plötzlich brauste etwas in ihren Ohren. Der Geruch nach Schimmel wurde übermächtig. Die Schwärze der Umgebung erdrückte das einzelne Licht und Bettina spürte, wie ihr das Atmen schwerer und schwerer fiel. Magensäure kroch ihre Kehle hoch, ließ sie würgen. Bettina hatte in der Finsternis jede Orientierung verloren. Das Licht wurde schwächer und schwächer, wie eine erstickende Flamme ohne Luft. Nur noch das Phosphorgrün von Schimmel um den großen Tropfstein beherrschte den Raum. Da erblickte Bettina aus den Augenwinkeln etwas Helles. Und als sie ihre Taschenlampe dorthin schwenkte, glaubte sie, völlig den Verstand verloren zu haben. Ich habe gerade einen Nervenzusammenbruch. Das ist nur eine Halluzination!, versuchte sie sich zu beruhigen. Vergeblich … Ein Skelett kroch aus einem schmalen Spalt am Ende der Höhle. »Nein …«, stammelte Bettina.
Ein kühler Luftzug riss ihr das Wort von den Lippen. Das alles wirkte so real! »Als Falks Großvater das Hügelgrab zerstörte«, sagte die Gräfin, »da nahm er das ganze Gold und die Waffen an sich. Doch die sterblichen Überreste meines geliebten Jerkim verbarg er in den Klüften dieser Tropfsteinhöhle, denn er wollte keinen Heiden in geweihter Erde bestatten.« »Nein, das glaube ich nicht. Das kann nicht sein.« Bettina schüttelte den Kopf. »Skelette sind bloß unzusammenhängende Knochen, ohne Sehnen und Muskeln. Sie können sich nicht von allein bewegen.« »Dummes Kind!«, sagte die Gräfin. »Über fast zweihundert Jahre lang sickerten die Überreste meines Körpers in diesen Berg. Ich spüre, wie Stein und Kalk auf meinen Willen reagieren. Was sind Knochen anderes als Kalk?« Das Skelett bewegte sich zielsicher auf Ralf und Bettina zu. »Jerkim wird sich selbst um seinen Körper kümmern. Und wenn dein Freund vergangen ist, wird Jerkim dich zu mir bringen«, schloss die Gräfin. Bettina stand wie erstarrt da und starrte die Knochengestalt an, die im gleichen unheimlichen Grün leuchtete, das auch die Steinerne Dame umgab. Als sich das Skelett über Ralf beugte und ihn an den Füßen über den Steinboden in den Teich ziehen wollte, da reagierte Bettina instinktiv. Sie nahm die Lampe in die linke Hand, bückte sich und hob einige Steinbrocken auf. Um ihren Freund nicht zu treffen, warf und zielte sie so hoch wie möglich. Das Skelett wankte und verharrte kurz, als die Wurfgeschosse einschlugen. Ein paar Rippen brachen. Doch die meisten Stücke verfehlten ihr Ziel.
Ralf ließ sich ohne Gegenwehr fortzerren. Er rutschte, von dem Knochengerüst gezogen, ein weiteres Stück auf den Teich zu. Da hörte Bettina ein leises Klirren, sah etwas aufblitzen – eine Waffe! Sie lief – vom Skelett ignoriert – zu der Wand, wo Ralf gelegen hatte und hob die Eisenkette vom Boden auf. Diese fühlte sich kühl und feucht an, aber auch beruhigend real. Die metallenen Glieder sahen solide aus, allein das Schloss an dem einen Ende wog bestimmt ein halbes Kilo. Bettina fasste das freie Ende der Kette und wirbelte die schwere Kette umher. Das sah im Fernsehen immer so einfach aus, doch sie musste sehr darauf achten, sich nicht selbst zu treffen. Aber sie hatte keine Wahl, wollte sie das Skelett aufhalten. Sie vergaß das verletzte Knie und die Angst vor Leichen und Verwesung. Mit einem Schrei stürmte sie auf das Gerippe zu und ließ die Kette wie eine Peitsche auf den gebückten Knochenmann krachen. Das Metall zog eine deutliche Furche über die Knochen. Knackend brach ein Wirbel unter der Wucht des massiven Vorhängeschlosses. Bettina schlug erneut zu, diesmal auf Höhe von Schulterblatt und Hals. Kleine Knochenteile splitterten ab. Das Skelett ließ von Ralf ab und wandte sich ihr zu. Bettina wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Das unheimliche Leuchten in den ansonsten leeren Augenhöhlen weckte Urängste. Der wandelnde Tod höchstpersönlich würde sie mit sich ins Totenreich nehmen! Sie versuchte, das Skelett durch die wirbelnde Kette auf Abstand zu halten, während sie einen Schritt zurückwich – und stolperte! Beinahe hätte sie sich selbst durch die unbedachte Bewegung mit der wirbelnden Kette getroffen. Knochenhände griffen nach ihr und sie duckte sich dann. Das Skelett verfehlte sie.
Doch ein Schrei entfuhr Bettina, als sie das verletzte Knie belastete. Der Schmerz machte sie noch wütender. Wie eine Bola schleuderte sie die gestreckte Kette um die Beine des Skelettes. Durch das Gewicht des Schlosses schlang sich die Kette um die Knochen. Bettina ließ sich zurückfallen und zog mit aller Kraft an dem freien Ende. Die Kette zerschmetterte die Unterschenkel des Gerippes und ohne jeden Halt krachte es zu Boden. Hektisch rappelte sich Bettina auf und sprang vor, um die abgetrennten Beine wegzukicken. Doch durch den Triumph übermütig passte sie einen Moment lang nicht auf. Das Skelett packte ihren Knöchel und wollte sie zu Fall bringen. Eisenhart umklammerte die dürre Hand ihr Bein und zog daran. Bettina hob die Hand mit der Kette – und erstarrte. Sie würde sich mehr verletzen als den Gegner, wenn sie nicht ganz genau traf. »Lass los, du Missgeburt!«, schrie sie, bückte sich und drosch mit dem Metallende der Stablampe auf den Arm ein. Fester und fester drückten sich die knöchernen Finger in Gelenk und Wade, unterbrachen den Blutstrom und die Nervenbahnen. Bettinas Fuß kribbelte wie eingeschlafen, ihr Bein brannte wie Feuer. Die andere Skeletthand krallte nach ihren Augen. Ein fauliger Geruch stieg von den vermoderten Knochen auf und benebelte Bettina. Sie ertrug das nicht länger. Gleich würde sie sich übergeben. Voller Abscheu richtete sie sich wieder auf, trat mit dem freien Fuß auf den Knochenarm. Der Griff um ihren Fuß löste sich, das Handgelenk des Angreifers splitterte ab. Bettina stolperte einige Schritte zurück und endlich konnte sie die madenweißen Finger von ihrem Knöchel lösen.
Das Skelett folgte ihr, zog sich mit einem scharrenden Geräusch über den Boden. Aber ein einziger Schwung von Bettinas Kettenpeitsche fegte den zweiten Arm des Gerippes fort, der wieder nach ihr langte. Sie wich einen Schritt zurück, zielte auf den Schädel und ließ das Eisenschloss darauf krachen. Der Kopf löste sich vom Rest und rollte zur Seite. Bettina kickte den Schädel wie einen Fußball fort. Schweißüberströmt und keuchend blieb sie einen Moment stehen. Einen Moment später hieb sie wieder und wieder wütend ihre Kette auf den Knochenhaufen. Die alten Knochen gaben knirschend nach. Das grüne Leuchten an den zertrümmerten Überresten erstarb. Nicht einmal das brodelnde Wasser des Teiches konnte Bettina jetzt noch schrecken. »Du hast Jerkim ermordet«, kreischte die Gräfin. »Das wirst du büßen!« Die Höhle bebte und Bettina kannte nur einen Gedanken. Sie musste Ralf hier fortbringen. Sofort! Es waren nur drei Schritte. Als sie Ralf erreicht hatte, riss Bettina erschrocken die Augen auf. Ihr Lampenstrahl tastete über ein totenbleiches Gesicht. Ralfs Hände waren eiskalt und steif. Hatte die alte Hexe ihn doch noch erwischt? »Ich lasse nicht zu, dass du hier stirbst«, versprach ihm Bettina. Es knirschte verdächtig, der Boden bebte wieder. Ich muss uns so weit wie möglich von ihrem Einflussbereich wegbringen, dachte Bettina. Sie wischte das Ende der Lampe ab und steckte sie zwischen die Zähne, damit sie die Arme frei hatte, um Ralf fortzuschleifen. Doch er war einfach zu schwer …
Sie hörte wieder ein kurzes, nervenzerfetzendes Geräusch, als würde die Decke herabstürzen. Es blieb keine Zeit mehr. Die Felsen ächzten wie Steinriesen. Bettina nahm die Taschenlampe aus dem Mund und leuchtete Ralf direkt in die Augen. »Jetzt wach schon endlich auf. Wir müssen hier weg.« Sie knipste die Lampe an und aus. Doch mehr als ein leichtes Flattern seiner Augenlider erreichte sie damit nicht. »Ralf, wach auf, verdammt!«, schrie sie und schüttelte ihn heftig. »Hier bricht gleich alles zusammen!« Sie musste zu ihm durchdringen und ihn aus dem Schockzustand holen. Ralf war am Kopf verletzt, deswegen scheute Bettina davor zurück, ihn zu ohrfeigen, wie man es im Fernsehen manchmal sah. Stattdessen zückte sie ihre Kamera und schoss mit der Linken ein Bild nach dem anderen. Blitzlicht zuckte durch die Schwärze wie ein Stroboskop. Für Sekundenbruchteile hoben die Blitze die Steinspitzen und Felssäulen aus dem Dunkel. Aus den Augenwinkeln spähte Bettina, ob sich in den verborgenen Ecken etwas bewegte. Endlich murmelte Ralf leise etwas. »Mach den Vorhang zu.« »Ralf!«, rief sie und ließ die Kamera sinken. Etwas Großes dröhnte tief wie eine vibrierende Basssaite. Bettina spürte das Geräusch mit dem ganzen Körper. Die Saite stand kurz vor dem Zerreißen. Eine Welle von Schimmelgrün wogte durch die Höhle. Ralf öffnete widerstrebend die Augen und sah sie verwundert an. »Was ist …?« Mit einem Mal wurden seine Pupillen riesengroß. Er packte Bettina und stieß sie zur Seite. Sie fühlte Bewegung über sich, eine Last drückte ihr die Luft ab. Fels knirschte und etwas Großes zerbrach mit gewaltigem Krachen. Der Boden schien unter ihr hochzuspringen. Sekundenlang war sie
wie betäubt. Es hagelte Steine, sie hörte sie neben sich aufprallen und zerplatzen. Überall war Staub. Bettina hustete, sie konnte kaum atmen. War sie doch getroffen worden? Nein, das war … »Ralf«, keuchte sie mit letzter Kraft. »Du kannst jetzt runter von mir.« Stille …
* Bettina tastete um sich und fand ihre Taschenlampe wieder. Wie durch ein Wunder funktionierte der Strahler noch. Das Licht war gedämpft, denn das Glas war verschmiert und die Luft ringsum mit Staub gesättigt. Ihre Augen brannten. »Puh, da haben wir ja noch einmal Glück gehabt«, sagte eine Stimme neben ihr. Ralf wischte sich Kalk und Dreckspritzer aus dem Gesicht. Bettina schluckte. Ralf hatte sie bei dem Einsturz mit seinem eigenen Körper geschützt. »Bist du verletzt?«, fragte sie. »Ich habe ein paar kleine Steine abbekommen und der Schädel brummt, aber sonst geht es.« »Danke, dass du …«, sagte Bettina zögerlich, aber Ralf winkte ab. »Schon okay. Du hast doch die ganze Zeit versucht, mich wegzuziehen. Und du hast mich gewarnt! Vielleicht war in dem Wasser wirklich etwas drin, das mich umgehauen hat. Irgendwie roch es plötzlich sehr faulig. Wenn du mich nicht durch dein andauerndes Reden halbwegs bei Sinnen gehalten hättest, dann wäre ich vielleicht nie wieder aufgewacht. Wir sind also quitt.« Die Luft klärte sich langsam wieder.
Bettina blickte sich um. Die Steinerne Dame war verschwunden, ihr Teich schlammig und zugeschüttet. Nur noch ein schwarz gemaserter Stumpf kündete von dem Ort, wo sich über Jahrmillionen ein menschengroßer Stein gebildet hatte. Unbehaglich starrte Bettina auf die Steinbrocken neben sich, die einmal zu der Steinernen Dame gehört hatten. Das grüne Leuchten war verschwunden. »Was ist eigentlich vorhin passiert?«, fragte sie. Ralf hüstelte verlegen. »Nachdem du mich endlich geweckt hast, habe ich im gleichen Moment einen riesigen Schatten gesehen, der auf uns zustürzte. Ich hab versucht, uns so gut wie möglich in Sicherheit zu bringen.« Ralf setzte sich auf und rieb sich die Schulter. »Aber ich frage mich, wie die Dame überhaupt umkippen konnte. Das ist doch ein massiver Stein, der im Boden festgewachsen ist. Vermutlich ist es durch den Erdrutsch hier drinnen etwas instabil geworden.« Bettinas Kopf schwirrte. Hatte sie Halluzinationen gehabt? War die Steinerne Dame zufällig umgestürzt? Oder hatte die Gräfin Ralf und Bettina aus Rache für Jerkims Tod vernichten wollen und sich selbst dafür geopfert? »Ich sehe mal nach, ob durch das neuerliche Beben vielleicht der Zugang frei gerutscht ist«, sagte Ralf. »Behalt die Lampe, dann sehe ich eher, ob irgendwo Licht durchkommt.« Bettina blieb zurück. Sie überlegte, was sie Ralf erzählen sollte, der offenbar von den übernatürlichen Ereignissen nichts mitbekommen hatte. War das alles wirklich geschehen? Nachdem Ralf fort war, untersuchte Bettina den schuttbedeckten Höhlenboden. Sie fand ihre zertrümmerte Kamera. Ein Steinhaufen bedeckte die Stelle, wo sie die Knochen des Skelettes zermalmt hatte. Den Schädel entdeckte sie nirgends mehr.
Bettina hinkte zu der Stelle am Ende der Höhle, wo das Skelett heraus gekrochen war. Das Blut brauste laut in ihren Ohren, als sie hineinleuchtete. Sie erinnerte sich genau, wie das Gerippe … Ihr blieb beinahe das Herz stehen. Der Strahl der Lampe verharrte auf einem Metallkästchen, in dessen Deckel eine Rose geprägt war. Misstrauisch und sehr langsam streckte sie den Arm in den Spalt und zog das Kästchen hervor. Sie öffnete den Deckel – und das nächste Erdbeben kündigte sich an, Dröhnen und Poltern hallte durch die Höhle. Bettina schrie auf und ließ das Kästchen fallen …
* Ralf fand sie inmitten von Papieren, die aus einem aufgesprungenen Metallkästchen gerutscht waren. »Keine Panik, Tina«, sagte er laut, um gegen den Lärm anzukommen. »Das sind unsere Retter, die versuchen, mit einem Bagger den Eingang frei zu räumen. Eine gewisse Frau Mertens aus dem Rathaus hat sie alarmiert. Nachdem du den Schlüssel nicht pünktlich zurückgebracht hast, ist sie wohl extra hierher raus gefahren, um dich zu suchen.« Im Stillen dankte Bettina der pflichtbewussten Beamtin. Doch momentan war sie mit etwas völlig anderem beschäftigt. »Sieh mal hier«, sagte sie. »Das sind Novellen, Romananfänge und ein Dutzend Gedichte. Die waren in einem Spalt versteckt.« Ralf beugte sich darüber und entzifferte die zweite Hälfte eines Namens. »Ach, wieder dieser Tritzau. Noch mehr singende Blumen?« »Nein! Die Schrift ist ganz anders und unterschrieben sind die Texte mit B. von Tritzau. Die Gräfin Bertha hat all das verfasst. Und
sieh mal, hier ist eine ältere Fassung der Singenden Rosen, aber mit Korrekturen von Berthas Hand.« Bettina schwieg. Die Gräfin musste ihre Werke hier versteckt haben, ehe man sie ins Irrenhaus sperrte. Eine Reinschrift der Novelle über die Singenden Rosen war später ihrem Ehemann in die Finger gefallen. Der Kerl hatte sie abgeschrieben und als eigenes Werk ausgegeben. Kalk von Tritzau hatte seiner Frau den Ruhm der Autorenschaft gestohlen. Aber Bettina würde dafür sorgen, dass Bertha bekam, was ihr zustand. Ob das alles hier nur ein verrückter Traum gewesen war oder nicht. Und der Fund war eine wissenschaftlicher Sensation, die sie weiter bringen konnte als zum Wurlitzer Anzeiger. Als Ralf ihr auf die Füße half, rutschte Bettinas Hosenbein ein Stück hoch. »Au, das sieht aber böse aus«, sagte Ralf. »Das musst du ausgerechnet sagen, mit den ganzen Schnitten im Gesicht«, scherzte Bettina. Doch innerlich erschauderte sie. Die Prellung am Knöchel sah genau aus, als hätte sie eine dürre Hand dort festgehalten. Eine Skeletthand … ENDE