Sir Henry Rider Haggard (1856–1925), einer der be deutendsten englischen Erzähler der Jahrhundertwen de, gehört zu de...
30 downloads
1039 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Sir Henry Rider Haggard (1856–1925), einer der be deutendsten englischen Erzähler der Jahrhundertwen de, gehört zu den Klassikern des phantastischen Aben teuerromans. Seine exotischen und farbenprächtigen Fantasy-Epen spielen vornehmlich im dunklen Her zen Afrikas, das zu jener Zeit noch weitgehend uner forscht und von wilden Völkerschaften bewohnt war und Raum bot für Spekulationen über geheimnisvolle unentdeckte Reiche und legendäre uralte Zivilisatio nen. Vergeblich haben die spanischen Eroberer nach der verborgenen Stadt des »El Dorado«, des Goldenen, gesucht. Immer wieder entdeckte man rätselhafte Ruinenstädte im Urwald Yucatans und Guatemalas, aber die geheimnisvolle Stadt, die mitten in einem See liegen sollte, fand man nie. Ignatio, der letzte Sproß einer indianischen Königs familie, und sein Freund James Strickland, ein engli scher Bergbauingenieur, finden eine uralte Schrif trolle, die den Weg weist zu einer »Stadt des Her zens«. Doch nur jemand, der »das Herz« trägt, ein seltsam geformtes Amulett, wird je Zugang in jene entlegene Bergregion Mittelamerikas erlangen. Igna tio besitzt dieses Amulett, und zuversichtlich machen sie sich auf die beschwerliche Reise. Beide ahnen sie nicht, daß es ihre letzte sein wird.
Von Henry Rider Haggard erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Sie · 06/4130 Allan Quatermain · 06/4131 Ayesha – Sie kehrt zurück · 06/4133 Sie und Allan · 06/4133 König Salomons Diamanten · 06/4134 Die heilige Blume · 06/4135 Das Halsband des Wanderers · 06/4136 Tochter der Weisheit · 06/4137 Das Sehnen der Welt · 06/4138 Morgenstern · 06/4146 Als die Welt erbebte · 06/4147 Das Nebelvolk · 06/4148 Das Herz der Welt · 06/4149 Kleopatra · 06/4310 Der Geist von Bambatse · 06/4311 Weitere Ausgaben sind in Vorbereitung.
HENRY RIDER HAGGARD
Das Herz der Welt
Fantasy Roman 11. Band der Haggard-Ausgabe
mit den Illustrationen der Originalausgabe von T. Yamada und einem Nachwort von Bernhard Heere
WILHELM HEYNE VERLAG � MÜNCHEN � Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!! �
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY � Band 06/4149 �
Titel der englischen Originalausgabe � HEART OF THE WORLD � Deutsche Übersetzung von Hans Maeter � Das Umschlagbild schuf Vicente Segrelles/Norma �
Redaktion: Wolfgang Jeschke � Die Erstausgabe des Romans erschien als Fortsetzung � in der Zeitschrift »Pearson's Weekly« zwischen dem � 11. August 1894 und dem 26. Januar 1895 � (Bd. 5, Nr. 212–236). Die amerikanische Buchausgabe erschien � im Mai 1895 im Verlag Longmans, Green, New York; � die englische im März 1896 im Verlag � Longmans, Green, London
Copyright © 1986 der deutschen Übersetzung � by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München � Printed in Germany 1986 � Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München � Satz: Schaber, Wels � Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin � ISBN 3-453-31268-6 �
INHALT
Prolog – Don Ignatio ..................................................... 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
8 �
Wie das Komplott fehlschlug ................................ Señor Strickland ...................................................... Der Ruf .................................................................... Die Legende vom Herzen ...................................... Der Beginn der Suche ............................................. ›El Norte‹ ................................................................. ›Die Hacienda‹ ........................................................ Das Abendmahl und danach ................................. Das Duell ................................................................. Wie Molas starb ...................................................... Zibalbay erklärt seinen Auftrag ............................ Maya steigt in die Cueva hinab ............................. Ignatios Schwur ...................................................... Die Stadt des Herzens ............................................ Wie Zibalbay zurückkehrte ................................... Auf der Pyramide ................................................... Der Fluch Zibalbays ................................................ Das Komplott .......................................................... Das Sakrileg ............................................................. Der Rat des Herzens ............................................... Die Hochzeit Mayas ............................................... Mattai prophezeit Unheil ....................................... Unsere Flucht, und wie sie endete ........................ Nahua legt Zeugnis ab ........................................... Lebewohl .................................................................
29 � 47 � 66 � 84 � 106 � 123 � 141 � 158 � 177 � 195 � 213 � 232 � 251 � 272 � 293 � 312 � 330 � 349 � 366 � 384 � 403 � 420 � 438 � 456 � 474 �
Nachwort ........................................................................ Eldorados Untergang � Nachwort von Bernhard Heere ....................................
492 � 495 �
PROLOG Don Ignatio
Die Umstände, unter denen die folgenden Seiten in Druck gelangen, sind ein wenig seltsam und darum wert, angeführt zu werden. Während der letzten Jah re war ein gewisser englischer Gentleman, den wir Jones nennen wollen, weil das nicht sein Name war, als Leiter einer Mine unweit des Usumacinto-Flusses angestellt, dessen Oberlauf den mexikanischen Staat Chiapas von der Republik Guatemala trennt. Nun ist das Leben in einer Mine in Chiapas, ob wohl es zweifellos einige Kompensationen mit sich bringt, nicht gerade die Idealvorstellung eines Euro päers vom Glück. Einmal ist die Arbeit hart, sehr hart sogar, und obwohl das Klima in den Bergen recht ge sund ist, gibt es doch Täler, in denen die Menschen am Fieber sterben. Jagd gibt es nicht, denn die Wälder sind zu dicht, um einigermaßen unbehindert in ihnen jagen zu können, und wo nicht, machen die Insekten schwärme vielfältiger Arten diesen Sport unmöglich. Es gab auch keinerlei gesellschaftliches Leben, so wie wir es verstehen, und wenn ein Mann verheiratet sein sollte, war er nicht gut beraten, seine Frau in eine Region mitzunehmen, die noch sehr wild war, über Dschungelpfade, durch Flüsse, und an Abgründen entlang, die so gefährlich und unpassierbar waren, daß sie das Herz des härtesten Reisenden erschütter ten. Als Mr. Jones ein Jahr bei den Minen von La Con ception gelebt hatte, wurde er sich seiner Einsamkeit
und seines Wunsches nach Umgang mit mehr gei stesverwandten Seelen als dem amerikanischen De potaufseher und seinen indianischen Arbeitern be wußt. Während der ersten Monate seines Aufenthaltes hatte er versucht, Freundschaft mit den Besitzern der benachbarten Fincas zu schließen, diesen Versuch je doch sehr bald wieder aufgegeben, da diese Männer sich als Halbbluts niedrigster Klasse erwiesen, die in einer Atmosphäre von Laster lebten. Da Mr. Jones ein intelligenter Mensch war, besann er sich auf seine geistigen Ressourcen und widmete sich, soweit seine Zeit es ihm erlaubte, der Sammlung von Antiquitäten und dem Studium der zahllosen Ruinen, der prä-aztekischen Städte und Tempel, die sich in der Umgebung befanden. Je länger er sich mit diesen Forschungen befaßte, desto mehr war er von ihnen fasziniert. Als er hörte, daß auf der anderen Seite der Berge, auf einer Ha cienda, die Santa Cruz hieß, ein Indianer namens Don Ignatio lebte, der Eigentümer jener Hacienda, der an geblich mehr Wissen über die Antiguos, ihre Ge schichte und ihre Relikte besaß als irgendein anderer Mensch in diesem Teil Mexikos, beschloß er, ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aufzusuchen. Dies hätte er sicher schon früher getan, denn Don Ignatio genoß einen großen Ruf, wenn es nicht ein so weiter Weg zu seinem Heim gewesen wäre. Jetzt je doch wurde diese Schwierigkeit zum Teil behoben, da er einen Indianer gefunden hatte, der sich anbot, ihm einen Paß über die Berge zu zeigen, über den die Hacienda von Santa Cruz von La Conception aus in drei Stunden erreicht werden konnte, anstatt in zehn
Stunden auf dem üblichen Wege. Eines Tages also, während der Trockenzeit, als es nur wenig Arbeit in der Mine gab, weil der Wasser stand zu niedrig war, um das Quetschwerk anzutrei ben, brach Jones auf. Dies war an einem Samstag, denn am vorhergehenden Montag hatte er einen Läu fer zu Don Ignatio geschickt, um seinen beabsichtig ten Besuch anzukünden, und als Antwort einen über aus höflichen und stilvollen Brief erhalten, in dem er gebeten wurde, den kommenden Sonntag auf der Hacienda zu verbringen, ›wo jeder englische Gentle man jederzeit höchst willkommen sei‹. Als er sich der Hacienda näherte, war er erstaunt, die Fassade eines riesigen, weißen Gebäudes in nach geahmten maurischem Stil vor sich zu sehen, mit Türmen und reichverzierten Türen an jedem Ende, und mit einer riesigen Kuppel, die sich aus der Mitte des flachen Daches erhob. Nachdem Jones durch die milpas* geritten war, durch Kakao- und Kaffeeplantagen, die sich alle in ausgezeichnetem Zustand befanden und viele Hektar bedeckten, gelangte er zu dem Tor eines großen Pa tio**, auf dem mehrere riesige Ceiba-Bäume wuchsen, die ihre Schatten über die Öffnung eines Brunnen schachts warfen. Aus dem Schatten dieser Bäume trat ein Indianer hervor, der offensichtlich nach ihm Ausschau gehal ten hatte, nahm die Zügel von Mr. Jones' Pferd und erklärte ihm unter vielen Ehrenbezeigungen, daß der Señor Ignatio und seine Leute sich noch beim Abend * Maisfelder ** Hof
gottesdienst in der Kapelle befänden, wie es der Brauch sei, dieser jedoch bald beendet sein würde. Jones überließ sein Pferd dem Indianer und ging zur Kapelle, und da ihre breite Tür offen stand, trat er hinein und setzte sich. Sobald seine Augen sich an das dämmerige Licht gewöhnt hatten, sah er, daß die Kapelle von außerordentlicher Schönheit war, sowohl in ihren Proportionen als auch in ihrer Ausstattung. Sie war angefüllt mit Menschen, es mochten etwa dreihundert sein, alle offensichtlich Indianer, die auf der Hacienda beschäftigt waren; und so hingegeben vollzogen sie ihren Gottesdienst, daß sie seinen Ein tritt nicht einmal bemerkten. Das eigenartigste Objekt in der Kapelle war jedoch eine weiße Marmortafel, die oberhalb des Altars in die Wand eingelassen war, und auf der in so großen Lettern, daß er sie ohne Schwierigkeit lesen konnte, auf spanisch die folgende Inschrift eingraviert war: Gewidmet von Ignatio, dem Indianer, der Erinnerung an seinen geliebten Freund, James Strickland, einem englischen Gentleman, und Maya, der Prinzessin des Herzens, seiner Frau, die er einst an dieser Stelle ken nenlernte. Betet für ihre Seelen, die ihr hier vorübergeht. Während Jones sich fragte, wer dieser James Strick land und Maya, Prinzessin des Herzens, gewesen sein mochten, und ob sein Gastgeber es war, der diese Gedenktafel für sie hatte anfertigen lassen, sprach der Priester den Segen, und die Gemeinde begann die Kapelle zu verlassen. Der erste, der durch die Tür schritt, war ein india nischer Gentleman, den Jones ganz richtig für Don
Ignatio hielt. Er war ein Mann von etwa sechzig Jah ren, der jedoch erheblich älter wirkte, da Trauer, Ent sagung und Leid seine Spuren an ihm hinterlassen hatten. Von Gestalt war er groß und schlank, und ein leichtes Lahmen tat der Würde seiner Erscheinung keinerlei Abbruch. Seine Kleidung war einfach und ließ die Verzie rungen und Silberknöpfe vermissen, die bei den Me xikanern so beliebt sind, und bestand aus einem Sombrero aus Panama-Stroh, der statt der üblichen goldenen Kordel nur ein schwarzes Band aufwies, weißer Jacke und weißem Hemd, einer Krawatte, die zur Schleife gebunden war, einer dunklen Hose und braunen Stiefeln europäischer Machart. Das einzig wirklich Bemerkenswerte an Don Igna tio war sein Gesicht. Noch nie, dachte Jones, hatte er ein so gut geschnittenes Gesicht gesehen, oder, um genauer zu sein, eines, das ihm eine solche Gewißheit über die absolute Güte und Menschlichkeit dessen gab, dem es gehörte. Die Züge waren die eines hoch geborenen Indianers, schmal und von feinem Schnitt; die Nase leicht gebogen, Wangenknochen und Stirn leicht vorgewölbt, und unter der Stirn blickten große, sanfte, schwarze Augen hervor, deren Ausdruck so milde und so vertrauensvoll war, daß sie im Gesicht eines Mannes fast fehl am Platze schienen. Er blieb bei der Tür der Kapelle stehen, im Licht der untergehenden Sonne, und stützte sich schwer auf seinen Stock, während die Indianer an ihm vor beigingen. Jeder von ihnen, ob Mann, Frau oder Kind, grüßte ihn mit größter Ehrfurcht, als sie hinaustraten, und einige von ihnen, besonders die Kinder, küßten seine schmale, feingliederige Hand, als sie ihm gute
Nacht wünschten und ihn dabei mit ›Vater‹ oder ähnlichen Bezeichnungen der Zuneigung ansprachen und die Heiligen anriefen, ihn zu beschützen. Jones, der sie beobachtete, dachte über den Unterschied nach, der zwischen ihrer Haltung und der geduckten Servilität lag, die Jahrhunderte der Unterdrückung ihrer Rasse für jeden Herrn weißen Geblüts einge prägt hatten, und fragte sich, worauf der Einfluß sei nes Gastgebers auf sie zurückzuführen sein mochte. In diesem Augenblick wandte Don Ignatio sich um und bemerkte ihn. »Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Señor«, sagte er auf spanisch, mit einem scheuen und beson ders einnehmenden Lächeln, während er seinen Sombrero abnahm und sein langes Haar entblößte, das, wie sein Spitzbart, fast weiß war. »Sie müssen mich wirklich für selten unhöflich halten, doch es ist nun einmal meine Gewohnheit, am Ende der Ar beitswoche zusammen mit meinen Peons den Gottes dienst aufzusuchen – drängt euch nicht so um den ehrenwerten Inglese, meine Kinder! –, und außerdem habe ich Ihre Ankunft nicht vor Sonnenuntergang erwartet.« »Bitte, entschuldigen Sie sich nicht, Señor«, ant wortete Jones. »Es war für mich höchst interessant, alle Ihre Leute bei der Andacht zu beobachten. Was für eine wunderbare Kapelle dies ist. Darf ich sie mir ansehen, bevor die Sonne versinkt?« »Gerne, Señor. Sie ist so großartig wie alles andere hier. Die alten Mönche, die dieses Gebäude vor zwei hundert Jahren errichtet haben – es war einst ein gro ßes Kloster –, wußten, wie man baute, und da es da mals Zwangsarbeit gab, kostete die Arbeit nichts.
Natürlich habe man sehr viel reparieren und instand setzen müssen, denn jene, die vorher hier lebten, machten sich nicht viel Mühe mit solchen Dingen. Sie können es sich wahrscheinlich nicht vorstellen, Señor, doch in den alten Tagen, vor zwanzig Jahren, war dies ein Nest von Wegelagerern, Schmugglern und Mördern, und die Menschen, die Sie heute abend hier gesehen haben, oder ihre Väter, waren Sklaven, die nicht mehr Rechte hatten als ein Hund. Ja, so war es. So mancher Reisende hat in diesem Hause oder seiner Umgebung sein Leben ausge haucht. Ich selbst bin einmal hier beinahe ermordet worden. Sehen Sie sich die Schnitzarbeit des Altar stockes an. Eine wunderbare Arbeit, nicht wahr? Die se sapote* stammen noch aus der Zeit der alten Mön che. Nun, ich weiß, daß mein Vorgänger, Don Pedro Moreno, Menschen an sie fesseln ließ, um ihnen mit glühenden Eisen sein Brandzeichen einzubrennen.« »Auf wen weist diese Inschrift hin?« fragte Jones und deutete auf die Marmortafel. Don Ignatios Gesicht verdüsterte sich, als er ant wortete: »Sie ist ein Memento für den besten Freund, den ich jemals hatte, Señor, den Mann, der mein Le ben unter Einsatz des seinen gerettet hat – daher stammt mein Hinken – und den ich mehr liebte, als man eine Frau lieben kann. Doch da gab es eine Frau, die ihn ebenfalls liebte, eine Indianerin, und er emp fand eine größere Zuneigung zu ihr als für mich, wie es auch richtig war, denn hat Gott nicht geboten, daß ein Mann seine Freunde verlassen soll, ja, sogar Vater und Mutter, und zu seinem Weibe halten?« * Holzsäulen
»Er hat sie also geheiratet?« fragte Jones, der inter essiert lauschte. »O ja, er hat sie geheiratet, und an einem seltsamen Ort, und auf eine seltsame Art. Doch das ist eine alte Geschichte, die ich nicht erzählen möchte, wenn Sie gestatten, Señor; selbst an sie zu denken weckt zu viele schmerzliche Erinnerungen, Erinnerungen an Tod und Verlust, an nicht erreichte Ziele und unerfüllt gebliebene Hoffnungen. Vielleicht werde ich eines Tages, wenn ich lange genug lebe und den Mut dazu finde, alles niederschreiben. Vor einigen Jahren habe ich sogar schon einmal einen Anfang gemacht, doch wurde ich dessen müde, und was ich geschrieben hatte, kam mir albern vor, also gab ich es wieder auf. Ich habe ein hartes Leben gelebt, Señor, und viele Abenteuer überstehen müssen, obwohl, dem Herrn sei Dank, meine letzten Jahre friedvoll verlaufen sind. Nun, mein Leben neigt sich seinem Ende zu, und wenn es nicht um die Sorge wäre, daß meine Leute in schlechte Hände kommen könnten, wenn ich nicht mehr bin, würde mich das nicht bedrücken. Aber kommen Sie, Señor, Sie müssen hungrig sein, und der gute Pater, der versprochen hat, mit uns zu speisen, muß heute nacht weiterreiten, da er morgen früh in einem drei Meilen entfernten Dorf die Messe lesen will, also habe ich für heute ein frühes Abend essen bestellt. Der Träger mit Ihrem Gepäck ist übri gens sicher eingetroffen; es ist in Ihr Zimmer gebracht worden, die Abtkammer nennen wir es, und wenn Sie mir folgen wollen, werde ich Ihnen den kürzesten Weg von der Kapelle zeigen.« Er führte ihn zu einer kleinen Tür in der Mauer. Er schloß sie auf, und sie stiegen eine schmale Treppe
hinauf, an deren oberem Ende sich ein Absatz mit ei nem vergitterten Fenster befand, dessen Stäbe man so angeordnet hatte, daß es von unten unsichtbar war, ein hier oben stehender Beobachter jedoch alles sehen und hören konnte, was in der Kapelle geschah. »Dies ist der Ort«, erklärte Don Ignatio, »von wo aus die Äbte die Mönche überwachten, und hier war es, von wo ich etwas sah, das ich wohl nie wieder werde vergessen können.« Dann ging er durch mehrere lange und verzweigte Korridore, bis er in ein Wohnzimmer trat, das mit schönen, alten spanischen Möbeln ausgestattet war. »Ihr Schlafzimmer liegt dahinter, Señor«, sagte er und öffnete eine zweite Tür, die in einen großen, dü ster wirkenden Raum führte, der von drei eisenver gitterten Fenstern erhellt wurde, deren Simse sich gut zehn Fuß über dem Boden befanden. An den Wänden befanden sich Fresken des Jüng sten Gerichts und von Szenen, die durch das blutige Drama der Inquisition inspiriert waren, grausig anzu sehen und etwas mitgenommen von der Luftfeuch tigkeit, doch überaus kraftvoll ausgeführt, und voller lebhafter, wenn auch verzerrter Phantasie. Unterhalb des mittleren Fensters und fast bis zum Boden rei chend, hing ein altes in Lebensgröße mit Öl auf Holz ausgeführtes Ganzporträt eines der Äbte des Klosters, das einen Mann mit einem brutalen und bösartigen Gesicht darstellte, über dessen Tonsur der Heilige Geist in Gestalt einer Taube schwebte. Ansonsten war der Raum gut, wenn auch spartanisch möbliert, und sein Ziegelsteinboden war sogar mit Matten bedeckt. »Ich fürchte, daß Sie dieses Quartier recht unge mütlich finden, Señor«, sagte Don Ignatio, »doch ist
es nun einmal unser Gästezimmer; außerdem gibt es hier noch einen Nebenraum, den Sie vielleicht recht nützlich zum Schreiben finden mögen, falls Sie das wollen. Die Menschen hier sagen, daß es in diesem Zimmer spukt, doch wie ich weiß, sind Sie Engländer gegen solches Gerede immun. Es ist jedoch kein Wunder, daß man so etwas behauptet, da zu der Zeit von Pedro Moreno in diesem Zimmer mehrere Morde verübt worden sind. Er hatte sogar geplant, mich und meinen Freund hier umzubringen, und, obwohl es ihm in diesem Falle nicht gelang, entdeckte ich, als ich in den Besitz des Klosters kam, mehrere Skelette unter dem Boden dieses Raumes – zwei von ihnen, wie ich mich erinnere, an der Stelle, wo jetzt das Bett steht –, und gab ihnen ein christliches Begräbnis.« Jones erklärte natürlich, wie es ihm die Ehre gebot, daß Darstellungen von Inquisitionsfoltern, Memora bilien von verschiedenen Äbten, Skelette von Mor dopfern unter dem Fußboden, Geister, und hoc genus omne ihn nicht im geringsten störten. Trotzdem – ob wohl er es seinem Gastgeber niemals eingestand – war seine erste Nacht in der Abtkammer wahr scheinlich aufgrund des starken Kaffees, den er ge trunken hatte, nicht sehr geruhsam. Später jedoch gewöhnte er sich an den Raum und zog ihn sogar al len anderen Räumen der Hacienda vor. Im Gegensatz zu der groben, schlecht zubereiteten Kost, mit der Jones sich in der Mine zufriedengeben mußte, war Don Ignatios Abendessen ein Bankett, das eines Epikur würdig gewesen wäre, ohne diese entsetzlichen Breigerichte, die aus Öl und tierischen Innereien zusammengepanscht werden, die in der mexikanischen Küche eine so große Rolle spielen.
Nach dem Essen wurden Zigarren und schwarzer Kaffee gereicht, deren Rohmaterialien auf der Ha cienda angebaut wurden, und noch nie in seinem Le ben hatte Jones einen besseren Tabak geraucht. Als der Padre – ein kluger und informierter Mann – ge gangen war, begann Jones über die Antiquitäten des Landes zu sprechen. Schon bald stellte er fest, daß der Ruf seines Gastgebers, ein Experte auf diesem Gebiet zu sein, nicht übertrieben war, war es ihm doch sogar gelungen, hieroglyphische Schriften zu entziffern, de ren Schlüssel angeblich verloren gegangen waren, und einen Aufriß der Geschichte jener Rassen zu ge ben, welche die großen Tempel und Paläste erbaut hatten, von denen im Palenque-Distrikt so viele Rui nen gefunden werden können. »Es ist traurig, wenn man daran denkt«, sagte Jones, »daß nichts, in dem der Atem des Lebens ist, von dieser großen Zivilisation in die Gegenwart ge rettet werden konnte. Wenn nur die alte Legende von der Goldenen Stadt, die irgendwo in den unerforsch ten Winkeln Zentralamerikas versteckt sein soll, wahr wäre, so würde ich gerne Jahre meines Lebens dafür hergeben, sie aufzusuchen. Es wäre doch wunderbar, in die Vergangenheit zurückzusteigen, ein System in Funktion zu sehen, unter Menschen zu leben, von denen die Welt jedes Wissen verloren hat; denn, mag die Phantasie auch noch so aktiv sein, so ist es doch unmöglich, diese Dinge aus Ruinen und Traditionen zu rekonstruieren. Ehrlich gesagt, Don Ignatio, be greife ich nicht, wie Sie, der Sie nie die antiguos im Fleische gesehen haben, mit einer solchen Gewißheit über sie sprechen können.« »Wenn ich sie nie gesehen hätte, Señor«, antwortete
er ruhig, »so wäre das wahrlich ein Wunder. Sie wä ren dann sogar gerechtfertigt, mich als Märchener zähler abzutun, doch ist es so, daß ich die Goldene Stadt der Fabel und ihre Zivilisation wirklich gesehen habe und Ihnen versichern kann, daß ihre Wunder noch viel größer waren als alle, von denen man Ihnen in der Legende berichtet haben mag, sogar größer als die von den spanischen Romanschriftstellern geschil derten.« »Was?« rief Jones fassungslos. »Was? Haben Sie zuviel von Ihrem ausgezeichneten Wein getrunken? Träume ich, oder habe ich Sie wirklich sagen hören, daß Sie, der Gentleman, der hier vor mir sitzt, mit Ih ren eigenen Augen die geheime Stadt der Indianer gesehen haben?« »Sie haben mich das sagen hören, Señor, obwohl ich nicht erwartete, daß Sie mir glauben würden. Es ist sogar darauf zurückzuführen, daß ich es nicht er tragen kann, für einen Lügner gehalten zu werden, wenn ich noch nie über diese Sache gesprochen habe, und aus demselben Grunde werde ich sie auch Ihnen gegenüber nicht mehr erwähnen, da ich nicht wün sche, daß jemand, von dem ich hoffe, daß er mein Freund werden wird, auf mich herabsieht. Ehrlich gesagt, tut es mir jetzt leid, daß ich so offen gesprochen habe, doch möchte ich Ihnen, um meine Wahrheitsliebe zu beweisen, ins Gedächtnis rufen, daß es in den riesigen Wäldern, Einöden und Sierras von Zentralamerika, in die noch nie ein weißer Mann seinen Fuß gesetzt hat, und aus denen die Indianer vor vielen Generationen verschwunden sind, Raum für viele alte Städte gibt. Wissen Sie, Señor, zweihun dert Meilen oder weniger von der Stelle entfernt, an
der wir jetzt sitzen, gibt es Stämme der Lacandones, oder ungetauften Indianer, die noch nie einen weißen Mann gesehen haben und noch immer dem Glauben ihrer Väter folgen? Nein, Señor, diese Geschichte soll niemals erzählt werden, jedenfalls nicht, solange ich lebe, denn ich habe nichts, das ich zum Beweis vor weisen könnte, es sei denn ...« »Was ist es?« fragte Jones eifrig. »Sie sollen es sehen, wenn Sie es wünschen, Señor«, sagte Don Ignatio und verließ den Raum. Kurz darauf kehrte er zurück, mit einem Leder beutel, dem er ein seltsames und überaus schönes Schmuckstück entnahm. Es war ein großer Smaragd, der bei weitem größte, den Jones jemals gesehen hat te, ungeschnitten, jedoch sorgfältig poliert. Dieser Stein, der in einer Fassung aus reinem Golde saß, war augenscheinlich einmal eine Gürtelschnalle gewesen und konnte gleichzeitig als Siegel benutzt werden; denn auf ihm, in intaglio eingeschnitten, befand sich die Maske eines ernsten und totenähnlichen mensch lichen Antlitzes, umrahmt von einer hieroglyphi schen Inschrift, und auch auf der Rückseite befanden sich Hieroglyphen. »Können Sie diese Schrift lesen?« fragte Jones, als er das Juwel eingehend betrachtet hatte. »Ja, Señor. Die Worte auf der Vorderseite lauten: ›O Augen und Mund, blicket mich an, sprechet für mich.‹ Und die auf der Rückseite: ›Herz des Him mels, du bist mein Heim.‹« »Es ist wunderbar«, sagte Jones und gab das Klein od seufzend zurück, denn er hätte alles darum gege ben, bis herunter zu seinen Schuhen, um es zu besit zen. »Wollen Sie jetzt nicht meinetwegen eine Aus
nahme machen und mir die Geschichte erzählen?« »Ich fürchte, daß ich Ihnen diesen Gefallen nicht tun kann, Señor«, antwortete Don Ignatio und schüt telte den Kopf. »Aber«, bat Jones, »nachdem Sie schon so viel da von enthüllt haben, ist es grausam, den Rest zu ver heimlichen.« »Señor«, sagte sein Gastgeber, »mögen Sie noch ei nen Kaffee? Nein? Dann wollen wir ein wenig auf dem Dach umhergehen und die Aussicht genießen. Sie ist sehr schön im Mondlicht, und die Dächer hier sind wunderbar, alle aus festem Stein erbaut; es wird gesagt, daß die alten Mönche im Sommer gelegentlich auf ihnen zu dinieren pflegten. Die Dächer sind von Zinnen mit Schießscharten umgeben, von denen der Abt, dessen Gemälde in Ihrem Schlafzimmer hängt, den großen Angriff der Indianer zurückschlug, die durch seine Unterdrückung zur Rebellion getrieben worden waren. Morgen hoffe ich, Ihnen die Ländereien zeigen zu können, die mich für zwanzig Jahre der Kultivierung reich entschädigt haben. In Mexiko rennt alles hinter Minen her, doch der Boden ist die reichste aller Mi nen. Ich weiß das, und da ich die Möglichkeiten die ses Bodens erkannte, habe ich all die anderen Sma ragde, die zu der Schnalle gehörten, verkauft – es wa ren gute Steine, jedoch nicht graviert und deshalb von keinem besonderen Interesse – und dies alles recht günstig erworben. Jetzt, da das Land ruhiger gewor den ist und ich so viel angebaut habe, ist sein Wert natürlich stark gestiegen, und er wird noch mehr steigen, wenn all die jungen Kakaobüsche in ein paar Jahren Früchte tragen.
So, den Heiligen sei Dank, wir haben die Treppe hinter uns – seit einiger Zeit schmerzt mich mein Rücken, wenn ich Treppen steige. Die Luft ist herr lich, nicht wahr? Und ist der Ausblick nicht wunder bar, Señor? Sehen Sie, der Fluß glänzt wie Silber. Ah! Wie herrlich doch Gottes Welt ist! Es stimmt mich traurig, daran zu denken, daß ich sie bald verlassen muß, aber sicherlich wird Er uns einen noch schöne ren Ort bieten, an dem wir arbeiten und Ihm dienen können, Gärten, in die Sünde und Leid keinen Einlaß finden. Gewiß ist genügend Raum dafür dort oben.« Und er deutete zum Himmel hinauf. Diese war nur die erste von vielen Nächten, die Jones unter Don Ignatios gastfreundlichem Dach verbrach te, wo er, während die Monate vergingen, mehr und mehr willkommen war. Schon bald entwickelte er ei ne starke Zuneigung für den ernsten, freundlichen, gütigen, alten, indianischen Gentleman, dessen Ge müt jedes bösen Gedankens unfähig schien, und des sen einziger Ehrgeiz darin bestand, das Land zu ver bessern und allen, die um ihn waren, Gutes zu tun, besonders seinen indianischen Dienern und Peons. Zu Beginn ihrer Freundschaft unternahmen sie mehrere Expeditionen zusammen, um die Ruinen in der Umgebung zu besichtigen, und einmal besuchte Don Ignatio ihn in der Mine von La Conception, ein Aufenthalt, der sich für Mr. Jones und die Gesell schaft, bei der er tätig war, von größtem Nutzen er weisen sollte. Eine der Hauptschwierigkeiten, mit denen die Minenleitung konfrontiert wurde, war der Arbeitskräftemangel. Auf ein Wort von Don Ignatio war diese Schwierigkeit behoben. Er sandte nach ei
nem Kaziken, der in den Bergen lebte, sprach eine Weile mit ihm, und siehe! Innerhalb einer Woche er schienen fünfzig kräftige Indianer und boten ihre Dienste an, für Jones einer der vielen Beweise des er staunlichen Einflusses, den sein Freund auf die Ein geborenen besaß. Im Laufe der Zeit hörten diese Exkursionen jedoch auf, da Don Ignatios Gesundheitszustand ständig schlechter wurde und er nicht mehr in der Lage war, die Hacienda zu verlassen. Schließlich, als sie fast zwei Jahre miteinander be kannt waren, erschien eines Morgens ein Bote in der Mine und erklärte, daß er von seinem Herrn, Don Ignatio, beauftragt sei, Señor Jones mitzuteilen, daß er im Sterben läge und ihn zu sehen wünsche. Er solle jedoch hinzufügen, daß Señor Jones für den Fall, daß es ihm aus irgendeinem Grunde nicht gelegen sein sollte, er sich wegen einer so unbedeutenden Angele genheit keine Umstände machen möge, da sein Herr ihm einen Brief geschrieben habe, der ihm nach sei nem Tode überbracht werden würde. Es ist unnötig, zu sagen, daß Señor Jones umge hend und so schnell er konnte über die Berge ritt. Als er auf der Hacienda eintraf, fand er Don Ignatio in seinem Bett liegend, fast gelähmt und sehr ge schwächt, doch bei absolut klarem Verstand, und der alte Indianer war glücklich, ihn zu sehen. »Ich werde jetzt eine lange Reise antreten, mein Freund«, sagte er, »und ich bin froh darüber, denn seit einiger Zeit habe ich unter starken Rücken schmerzen gelitten, die Folge einer alten Verletzung. Außerdem ist es an der Zeit, daß ein hilfloser, alter Mann Platz für aktivere machen sollte.« Dabei blickte
er seinen Besucher auf eine seltsame Art an und lä chelte. Jones, der von diesen Worten sehr gerührt war, machte die übliche Erwiderung, daß er sicher noch viele Monate leben würde, doch Don Ignatio unter brach ihn. »Vergeuden Sie keine Zeit, mein Freund«, sagte er, »sondern hören Sie mir zu! Seit wir uns kennen, ha ben Sie versucht, aus mir die Geschichte meines Be suches in jener Stadt, Herz der Welt genannt, heraus zubekommen, und die meines Freundes James Strickland, den ich, dem Himmel sei Dank, nun bald wiedersehen werde. Nun, ich habe sie Ihnen nie erzählt, obwohl ich ein paarmal nahe daran war, als ich erkannte, wie sehr Sie unter meinem Schweigen litten, teils, weil ich stolz darauf bin, ein Geheimnis für mich behalten zu können, selbst wenn man mich dazu drängt, es preis zugeben, und außerdem bin ich auch selbstsüchtig und wußte, daß Sie, sobald Sie eine Geschichte gehört haben würden, Ihr Interesse an einem auf das Grab zusteuernden alten Mann verlieren würden, denn wen interessiert die Schale, wenn er an der Orange saugen kann? Und es gab noch andere Gründe: Zum Beispiel hätte ich die Geschichte nicht erzählen können, ohne unpassende Gefühle zu zeigen, und ich weiß, daß ihr Engländer solche Zurschaustellungen haßt. Und schließlich wollte ich, wenn ich sie Ihnen erzählte, es in allen Einzelheiten und sorgfältig tun, und das wäre mündlich äußerst schwierig gewesen. Dennoch mochte ich Sie nicht ganz enttäuschen und wollte, daß irgendeine Aufzeichnung der seltsamen Dinge,
die ich gesehen habe, erhalten bliebe, obwohl dieser Wunsch allein nicht ausgereicht haben würde, um mich zu der Arbeit anzutreiben, die ich vor zehn Jah ren abgeschlossen habe, bevor die Lähmung auch meinen Arm erreichte. Darf ich Sie nun bitten, die Schublade dort neben dem Bett aufzuziehen und mir den Stapel von Papie ren zu geben, den Sie dort sehen? Tausend Dank. Hier, Señor, auf diesen Seiten, falls Sie sich die Mühe machen sollten, sie zu lesen, habe ich in allen Einzel heiten aufgezeichnet, wie mein englischer Freund und ich dazu kamen, die Goldene Stadt aufzusuchen, und was wir dort erlebt und erlitten haben, und auch einige andere Dinge, die Sie vielleicht für überflüssig halten mögen, die jedoch nicht ohne Bezug auf diese Ereignisse sind. Meine Schreibkunst läßt, wie ich fürchte, einiges zu wünschen übrig, doch mag sie ih ren Zweck erfüllen, und wenn nicht, so ist es auch egal, da Sie, wie ich inzwischen weiß, den Geist su chen, und nicht den Buchstaben, und kein solcher Gelehrter des Spanischen sind, um kritisieren zu können. Nehmen Sie jetzt das Manuskript und bringen Sie es mir aus den Augen, denn allein sein Anblick lang weilt mich, da er mich daran erinnert, wie viele Stun den ich daran gearbeitet habe. Außerdem möchte ich mit Ihnen über wichtigere Dinge sprechen. Sagen Sie mir, mein Freund, haben Sie vor, in diesem Lande zu bleiben, oder wollen Sie nach England zurückkeh ren?« »Nach England zurückkehren! Ich würde glatt ver hungern, wenn es keine Mine gäbe, die ich leiten könnte. Nein, dazu bin ich zu arm.«
»Aber Sie würden zurückkehren, wenn Sie reich wären?« fragte der sterbende Mann gespannt. »Das weiß ich nicht; es käme darauf an. Aber ich glaube, ich bin zu lange fort gewesen, um wieder ganz in England leben zu können.« »Ich bin froh, das zu hören, mein Freund, denn ich möchte Ihnen sagen, daß ich Sie zu meinem Erben eingesetzt habe und Sie nun ein reicher Mann sind, so wie wir Reichtum in diesem Lande verstehen.« »Sie haben mich zu Ihrem Erben eingesetzt?« stammelte Jones. »Ja. Und warum auch nicht? Ich mag Sie sehr gern und weiß, daß Sie ein guter und ehrlicher Mensch sind. Ich habe keine Familie und keine Freunde, und vor allem bin ich sicher, daß Sie meine Leute gut und gerecht behandeln werden, denn ich habe Ihr Ver halten gegenüber den Männern beobachtet, die unter Ihnen in der Mine arbeiten. Außerdem stelle ich eini ge Bedingungen, die zwar nicht in dem Testament aufgeführt, dennoch aber nicht weniger bindend sind, nämlich, daß Sie hier leben und die Arbeit fortführen müssen, die ich begonnen habe, und zwar so lange, wie es Ihnen möglich ist, und daß Sie, falls Sie durch unvorhergesehene Ereignisse gezwungen sein sollten, den Besitz zu verkaufen oder ihn zu vererben, Sie ihn nur an einen Engländer weitergeben dürfen, und zwar an einen, den Sie gut kennen. Sind Sie damit einverstanden?« »Aber ja, und ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.« »Danken Sie nicht mir, sondern danken Sie Ihrem Charakter und Ihrem ehrlichen Gesicht, die mich zu der Erkenntnis gebracht haben, daß ich keinen besse
ren Erben für meinen Besitz finden kann. Und jetzt gehen Sie, bitte, da ich müde bin, aber kommen Sie morgen früh wieder zu mir, wenn der Priester ge gangen ist!« Auf diese Weise verließ Jones den Raum, den er als Angestellter mit achthundert hartverdienten Pfunden pro Jahr betreten hatte, als Eigentümer eines Besitzes, der bald sicher genausoviele tausend pro Jahr ein bringen würde, wie jeder, der Santa Cruz jemals be sucht hat, gerne bestätigen wird. Drei Tage darauf schlief Don Ignatio friedlich ein und wurde in der Kapelle der Hacienda zur letzten Ruhe gebettet. So also geschah es, daß die Geschichte jener Stadt, die Herz der Welt genannt wird, und die von Don Igna tio und seines Freundes, James Strickland, die sie ge sehen hatten, in die Hände des Mannes geriet, den wir Jones genannt hatten. Hier folgt nun eine Übersetzung des Manuskripts.
1
Wie das Komplott fehlschlug
Ich, Ignatio, der diese Geschichte niederschreibt, bin jetzt ein Mann von zweiundsechzig Jahren. Ich wurde in einem Bergdorf geboren, das zwischen den kleinen Städten Pichaucalo und Tiapa liegt. Mein Vater war der erbliche Kazike des ganzen Distrikts, und die In dianer liebten ihn sehr. Als ich ein junger Bursche war, vielleicht neun Jah re alt, kam es zu Unruhen in dem Land. Ich habe sie nie ganz verstanden, oder vielleicht habe ich ihre Gründe vergessen, denn solche Dinge kamen immer wieder vor, doch glaube ich mich erinnern zu kön nen, daß es um irgendeine Steuer ging, welche die mexikanische Regierung uns ungerechterweise auf gebürdet hatte. Auf jeden Fall weigerte sich mein Vater, ein hochgewachsener Mann mit feurigen Au gen, die Steuer zu bezahlen, und nach einer Weile er schien ein Trupp Soldaten zu Pferde, und sie schos sen viele der Menschen nieder und nahmen eine gro ße Zahl von Frauen und Kindern mit sich. Mein Vater wurde gefangengenommen, und am folgenden Tage führten sie ihn hinaus, und meine Mutter und ich wurden gezwungen, zuzusehen, wie man ihn an eine Grube führte, die er und seine Män ner selbst gegraben hatten. Sie zielten mit Gewehren auf ihn und drohten, ihn zu erschießen, falls er ihnen nicht ein Geheimnis verraten würde, das sie wissen wollten. Alles, was er sagte, war jedoch, daß er wün sche, sofort getötet zu werden, um vor den Moskitos
bewahrt zu werden, die um seinen Kopf summten. Aber sie töteten ihn noch nicht, und am Abend brachten sie ihn wieder ins Gefängnis zurück, wohin ich von unserem padre, Ignatio, seinem Cousin und meinem Paten, geführt wurde, um ihn zu besuchen. Ich erinnere mich, daß man ihn in einen schmutzigen Raum eingesperrt hatte, der so heiß war, daß man kaum atmen konnte, und daß ein paar betrunkene mexikanische Soldaten vor der Tür standen, die im mer wieder brüllten, uns indianische Hunde alle aus zurotten. Mein Pate, der Priester Ignatio, nahm meinem Va ter in einer Ecke der Zelle die Beichte ab, und ich sah, wie mein Vater ihm dabei etwas in die Hand drückte. Dann rief er mich zu sich, küßte mich und hielt für einen Augenblick das um meinen Hals, was er dem Priester zugesteckt hatte, nur um es wieder fortzu nehmen und es Ignatio zur Verwahrung zu geben. Dann sagte er: »Sorge dafür, daß der Junge dies be kommt, und auch die Geschichte erfährt, die sich da hinter verbirgt, wenn er erwachsen ist!« Nun küßte mich mein Vater wieder, segnete mich im Namen Gottes, und große Tränen rannen dabei über seine Wangen. Dann führte der Priester Ignatio mich hinaus, und ich sah meinen Vater nie wieder, denn die Soldaten erschossen ihn am nächsten Mor gen und warfen seinen Leichnam in die Grube, die sie bereits für ihn gegraben hatten. Danach brachte mein Pate, Cousin und Namens vetter Ignatio mich und meine Mutter zu der kleinen Stadt Tiapa, deren Priester er war, doch starb meine Mutter bald darauf an gebrochenem Herzen. In Tiapa wohnten wir in dem besten Hause des
Ortes, denn es war aus Stein gebaut und stand auf dem überhängenden Ufer eines wunderbaren, schäumenden Flusses, dessen Wasser immer so klar wie Glas war, auch wenn es noch so sehr regnete, und dieser Fluß strömte hundert Fuß oder mehr unterhalb unserer Fenster. Über Tiapa ist nur wenig zu sagen, außer, daß zu jenen Tagen die Bevölkerung zum größten Teil aus Dieben bestand, die so große Sünder waren, daß mein Cousin, der padre, manche von ihnen nicht ihrer Sün den ledig sprach, nicht einmal auf ihrem Totenbett. Es gab dort jedoch eine wunderbare Kirche, deren Dach mit den herrlichsten Orchideen überwuchert war. Doch die Wege waren so schlecht, daß es außer halb der Trockenzeit schwierig war, die Stadt zu er reichen oder zu verlassen. Hier, in diesem verlassenen Ort, wuchs ich auf, doch nicht ohne Bildung, wie man vielleicht anneh men könnte, da mein Cousin ein Priester und ein gu ter Lehrer war und alles ihm Mögliche tat, mich vor Dummheiten zu bewahren. Als ich etwa fünfzehn Jahre alt war, packte mich das plötzliche Verlangen, Priester zu werden. Und das geschah so: Eines Sonntagabends saß ich in der Kirche von Tiapa, blickte auf die Orchideenrispen hinaus, die vor dem Fenster in der Brise hin und her schwangen, und dann auf die Votivbilder an den Wänden, Opfergaben, von Männern und Frauen dar gebracht, die in der Stunde der Not ihre Schutzheili gen angerufen hatten und von ihnen gerettet worden waren – hier vom Feuer, dort vor Mördern, da vom Ertrinken; grobe und abergläubische Klecksereien, die jedoch Gott sicher genehm waren, der sie im
Lichte der Frömmigkeit und Dankbarkeit jener sah, die sie trotz ihrer Armut hatten malen lassen. Während ich so müßig saß, begann mein Pate, der gute Priester, zu predigen. Nun wollte es der Zufall, daß zwei Nächte zuvor in Tiapa ein grauenhafter Mord geschehen war. Drei Reisende und ein Junge, der Sohn eines von ihnen, die von San Christobal zur Küste wollten, verbrachten eine Nacht in der Stadt, in einem Hause in der Nähe des unseren. Sie hatten eine Muliladung von Dollars bei sich, den Erlös von Waren, die sie in San Christobal ver kauft hatten, und die einige der Einwohner unserer Stadt, lasterhafte Halbblütler, zu rauben beabsichtig ten. Also brachen diese Mörder zu zehnt in das Haus ein, in dem die Reisenden logierten, und da diese sich zur Wehr setzten, machten sie die drei mit Macheten nieder und bemächtigten sich des Silbers. Als sie mit ihrer Beute fliehen wollten, entdeckten sie den Jun gen, der sich unter einem der Betten versteckt hatte, und töteten ihn ebenfalls, damit er sie nicht verraten konnte. Nun waren jene, die diese Schandtat begangen hatten, in der Stadt wohlbekannt, dennoch wurde keiner von ihnen verhaftet, denn sie hatten die Polizi sten mit einem Teil der Beute bestochen. Mein Pate jedoch, der einige von ihnen in der Kirche sah, hielt eine Predigt über das Gebot ›Du sollst nicht töten‹. Nie habe ich eine bessere Predigt gehört, und bevor sie beendet war, sprangen zwei der Männer auf und liefen, von ihrem Gewissen gepeinigt, aus der Kirche, und als der Priester die Ermordung des kleinen Jun gen beschrieb, den sündige Hände plötzlich in die
Ewigkeit befördert hatten, brachen viele der Gemein demitglieder in Tränen aus. Ich berichte von dieser Geschichte, weil mir das damals, als ich an diesen ermordeten Jungen dachte, der nur wenige Tage zuvor so voller Leben gewesen war wie ich, zum ersten Male klar wurde, was der Tod bedeutete und begriff, daß auch ich sterben und entweder zum Himmel oder in die Hölle gehen mußte. Ich erschauerte, als dieser Gedanke mich durchfuhr und hatte das Gefühl, als ob der Tod neben mir stünde, so wie er jetzt neben mir steht, dort und in jener Stunde beschloß ich, Priester zu werden und in meinem ganzen Leben Gutes zu tun, um endlich Ruhe zu finden und dem Schicksal des Bösen zu ent rinnen. Am nächsten Morgen trat ich in das Zimmer mei nes Paten und teilte ihm meinen Entschluß mit. Er hörte mir aufmerksam zu und antwortete: »Ich woll te, es wäre so, mein Sohn, da ich glaube, daß die Din ge der jenseitigen Welt die dieser Erde zehntausend mal übertreffen, doch darf es nicht sein, aus Gründen, die du erfahren sollst, wenn du älter bist. Dann, wenn meine Vormundschaft beendet ist, magst du dich ent scheiden, ob du noch immer Priester werden willst.« Weitere fünf Jahre vergingen, während der ich kräftig und aktiv und in allen männlichen Betätigungen ge übt wurde. Auch studierte ich viel unter der Anlei tung meines Paten, der sogar aus Spanien Bücher für mich kommen ließ. Unter diesen befanden sich viele Geschichtswerke über meine Rasse, die Indianer, und über deren Un terwerfung durch die Spanier, alle, die über dieses
Thema veröffentlicht worden waren. Dieser ge schichtlichen Darstellungen wurde ich nie müde, ob wohl es mich innerlich aufwühlte, von dem Unglück und der grausamen Unterdrückung meines Volkes zu lesen, das heute nicht mehr als ein Volk von Sklaven ist. Schließlich, an meinem zwanzigsten Geburtstag, rief mich mein Pate, der inzwischen alt und schwach geworden war, zu sich, und nachdem er die Tür sei nes Zimmers abgeschlossen hatte, sagte er mir dies: »Mein Sohn, die Zeit ist gekommen, wo ich dir die letzte Botschaft deines Vaters, meines Cousins und besten Freundes, übermitteln muß, der von den Sol daten ermordet wurde, als du ein kleiner Junge warst, und dir von deiner Herkunft und anderen Dingen be richten. Als erstes solltest du wissen, daß du uralten und königlichen Blutes bist, denn dein Vorvater in der elften Generation war niemand anderer als Guate moc, der letzte Azteken-Kaiser, der von den Spaniern ermordet wurde, und diese Abkunft kann ich dir durch alte Schriften und Stammbäume belegen; au ßerdem ist unter den Indianern bekannt und atte stiert, die selbst heute nicht die Wurzeln vergessen haben, aus denen ihre Könige kamen.« »Dann bin ich also rechtmäßig der Kaiser von Me xiko«, sagte ich stolz, denn in meiner Torheit hielt ich es für eine gute Sache, von Männern abzustammen, die einst eine Krone trugen. »Leider, mein Sohn«, antwortete der alte Priester traurig, »ist auf dieser Welt die Macht das einzige Recht, und die Spanier haben das deiner Vorväter vor langer Zeit mit Hilfe der Folter und des Henkers
werkzeugs beendet. Abgesehen davon, daß es dir die Verehrung der Indianer eintragen wird, ist es eine hohle Ehre, die du mit deinem Blut ererbt hast. Doch gibt es etwas, das von deinem Vorfahren Guatemoc und denen, die vor ihm herrschten, auf dich überkommen ist. Du wirst dich vielleicht erin nern, daß dein Vater am Vorabend seines Todes ein Amulett an deine Brust gehalten hat, es wieder ab nahm und mir zur Aufbewahrung übergab. Hier ist dieses Amulett.« Er reichte mir die Hälfte eines herzförmigen Sma ragds, glattgeschliffen vom Gebrauch, doch unpoliert, die, zusammen mit der anderen Hälfte, die Größe ei nes Taubeneis gehabt hätte. Der Stein war nicht zer brochen, sondern der Länge nach durchgeschnitten, und zwar auf eine so raffinierte Art, daß niemand die andere Hälfte imitieren konnte, wenn er diese nicht vor sich sah. Der Stein war durchbohrt, um an einer Kette getragen werden zu können, und auf seiner Oberfläche waren seltsame Hieroglyphen eingraviert, und die Hälfte eines menschlichen Gesichts. »Was ist das?« fragte ich. Der alte Priester zuckte die Achseln und antworte te: »Ein Amulett, das mit ihren sündigen Zaubereien und Riten zu tun hatte, vermute ich. Ich weiß kaum etwas davon, außer, daß dein Vater mir gesagt hat, es sei dies der kostbarste Besitz der Aztekenkönige ge wesen, und die Eingeborenen glaubten, wenn die beiden Hälften dieses Steins wieder zusammenfän den, die Männer weißen Geblüts aus Zentralamerika verjagt werden würden, und ein indianischer Kaiser von einem Meer zum anderen herrschen würde.« »Und wo ist die andere Hälfte, Vater?«
»Wie soll ich das wissen?«, antwortete er ein wenig gereizt, »der ich nicht an solche Geschichten glaube, und auch nicht an Steine, in die Köpfe heidnischer Idole graviert sind? Ich bin Priester, und deshalb hat dein Vater mir nur wenig von dieser Angelegenheit berichtet, da es mir verboten ist, Geheimgesellschaf ten anzugehören. Trotzdem: Es gibt eine solche Ge heimgesellschaft, und kraft des Besitzes dieses Steines wirst du ihr Oberster sein, so wie deine Vorfahren es vor dir waren, obwohl ihnen diese Ehre, wie ich er fahren habe, wenig Glück gebracht hat. Mehr weiß ich nicht davon, doch werde ich dir ein Schreiben an einen gewissen Indianer mitgeben, der in dem Bezirk lebt, dessen Kazike dein Vater war, und wenn du ihm den Stein vorweist, wird er dich si cher in sein Geheimnis einweihen, obgleich ich dir dringend rate, nichts mit ihnen zu tun zu haben. Höre, Ignatio, mein Sohn, du bist ein reicher Mann; wie reich, kann ich dir nicht sagen, doch haben deine Vorväter Schätze verborgen für einen Zweck, den ich dir noch näher erklären werde, und dieses Gold wird dir von den Mitgliedern deines Clans ausgehändigt werden, in deren Gewahrsam es sich befindet. Es war wegen dieses Schatzes, daß dein Vater und dein Ur großvater zusammen mit vielen anderen getötet wurden, weil Gerüchte davon zu den Ohren jener ge kommen waren, die über Mexiko herrschten, und die sie, als es ihnen nicht gelang, ihnen das Geheimnis zu entreißen, in ihrer Wut töteten. Dies nun ist die Botschaft deines Vaters an dich betreffs des Schatzes, den er und seine Vorfahren verborgen haben: ›Sage meinem Sohn Ignatio, wenn er leben sollte,
um erwachsen zu werden, daß in unserer Familie niemals das Verlangen ausgestorben ist, die Krone zurückzugewinnen, die Guatemoc verlor, oder zu mindest die verfluchten Spanier und ihren Samen fortzujagen und eine indianische Republik zu be gründen. Zu diesem Zwecke haben wir seit Genera tionen Reichtümer angehäuft, damit wir sie einsetzen können, wenn die Zeit reif ist; und wegen dieses Reichtums, über den Gerüchte in einem Lande, das voller Spione ist, nicht verhindert werden konnten, sind einige von uns grausam getötet worden, so wie man auch mich heute nacht töten wird. Doch werde ich sterben und mein Geheimnis mit mir in den Tod nehmen, und wenn mein Sohn heran gewachsen ist, mögen andere in Mexiko herrschen, oder die Sache mag in Vergessenheit geraten sein; auf jeden Fall wird das Gold dort sein, wo ich es hinter lassen habe. Sage meinem Sohn, daß er es dazu be nutzen soll, den Zweck zu fördern, für den es zu sammengetragen worden ist, und daß er sein Leben dem Ziel widmen soll, unsere weißen Beherrscher zu demütigen, und die Rasse wieder emporzubringen, die sie beraubt, ermordet und versklavt haben. Sage ihm jedoch auch, daß ich ihm in dieser Rich tung nichts befehlen will, da er dabei seinem eigenen Willen folgen muß, denn ich kann nicht vergessen, daß von einer Generation zur anderen jene, die vor ihm waren, nur Leid durch ihren Kampf gegen die weißen Teufel erfahren haben, die es Gott gefallen hat, wegen der Sünden und Götzenanbetung unserer Vorfahren über uns zu setzen.‹ Das waren die Worte deines Vaters, mein Sohn, die er in der Stunde vor seiner grausamen Ermordung zu
mir sprach. Und jetzt verstehst du vielleicht, warum ich dir damals sagte, daß du abwarten mußt, bevor du dich dazu entscheidest, Priester zu werden. Wenn das noch immer dein Wunsch sein sollte, könnte er erfüllt werden, denn dein Vater hat es dir überlassen, deinen Lebensweg zu wählen.« Als er das gesprochen hatte, dachte ich eine Weile nach, dann sagte ich: »So lange das Blut meines Va ters ungerächt ist, kann ich nicht Priester werden.« »Das habe ich befürchtet«, sagte der alte Mann seufzend; »dieser verfluchte Talisman, der um deinen Hals hängt, hat seine Arbeit an dir bereits begonnen, Ignatio, und du wirst den Weg gehen, den auch die anderen gegangen sind, und vielleicht blutig sterben, wie sie. Oh! – Warum können die Menschen sich nicht damit zufriedengeben, die Vergeltung von Un recht und die Geschicke der Nationen den Händen des Allmächtigen und seiner Engel zu überlassen?« »Weil für das Gute, wie für das Böse, der Allmäch tige Menschen zu seinen Werkzeugen erwählt«, ant wortete ich. Eine Woche nach diesem Tage erschienen einige als Träger verkleidete Indianer in Tiapa, deren Auftrag es war, mich in die Berge zu führen, bei denen mein Vater gelebt hatte, und wo sein Schatz verborgen lag. Nachdem ich mich von meinem Paten, dem Prie ster, verabschiedet hatte, der weinte, als er sich von mir trennte, trat ich meine Reise an, deren Ziel ich geheim hielt. Ich sollte ihn nicht wiedersehen, denn einen Monat später wurde er von irgendeiner Calen tura, einem tückischen Fieber, gepackt und starb plötzlich. Das beste, was ich über ihn sagen kann, ist,
daß, mit einer einzigen Ausnahme, kein Mensch im Himmel lebt, den ich so gerne wiedersehen möchte. Am dritten Tage meiner Reise erreichten wir einen schmalen Paß in den Bergen, an dessen Ende ein in dianisches Dorf lag. Hier brachten meine Führer mich zu dem Haus eines gewissen Antonio, für den Pater Ignatio mir einen Brief mitgegeben hatte, ein alter, würdiger Mann, der mich herzlich begrüßte und mich mit mehreren Kaziken bekannt machte, die bei ihm wohnten, warum, kann ich nicht sagen. Sobald wir in dem Haus allein waren, fragte mich einer der Kaziken, nachdem er mich mit Worten an gesprochen hatte, die ich nicht verstand, ob ich ein ›Herz‹ habe. Ich antwortete, daß ich dies sehr hoffe, worauf sie alle lachten. Dann trat der Mann Antonio auf mich zu, knöpfte mein Hemd auf, enthüllte den Talisman, der meinem Vater gehört hatte, und bei seinem Anblick verneigten sich alle. Als nächstes wurden Posten vor die Türen gestellt und diese verriegelt, und dann fand eine Zeremonie statt, deren Einzelheiten zu schildern mir selbst jetzt noch nicht erlaubt ist. Bei dieser Feierlichkeit wurde ich zuerst in die Geheimnisse des Ordens vom Her zen eingeführt und anschließend als dessen erbliches Oberhaupt installiert, wodurch ich, obwohl noch im mer ein Junge, zum absoluten Herrn über viele tau send Menschen wurde, den Brüdern unserer Gesell schaft, die weit über das Land verstreut lebten. An dem Tage, an dem ich meine abschließenden Eide abgelegt hatte, händigte Antonio mir den Schatz aus, welchen meine Vorfahren an einem geheimen Ort angehäuft hatten, und den mein Vater in seiner Obhut gelassen hatte, und es war ein großer Schatz,
dessen Wert eine Million Dollar weit überstieg. Jetzt war ich also reich, sowohl an Menschen, als auch an Geld, trotzdem folgte ich dem Rat Antonios und blieb noch eine Weile in dem Dorf, um jene zu empfangen, die aus allen Teilen Mexikos kamen, um mich als Hüter des Herzens zu begrüßen, und als den Ranghöchsten unter den gefallenen Völkern der In dianer. Es war während dieser Monate, daß ich den größ ten Fehler meines Lebens beging. Etwa drei Meilen von dem Dorf entfernt, in dem ich wohnte, lebten zwei Schwestern, Indianerinnen hohen Geblüts, eine von ihnen eine Witwe, die andere ein sehr schönes Mädchen, jünger als ich. Während ich nun eines Sonntag abends an ihrem Hause vorüberritt, als die meisten Bewohner des Tales zu einer fiesta gegangen waren, hörte ich Schreie herausdringen. Ich sprang vom Pferd und lief zur Tür, die offen stand, und sah, daß eine der Schwestern, die Witwe, tot am Boden lag, während zwei Banditen, Mexika ner, über das Mädchen herfielen, um ihr Gewalt an zutun. Ich riß meine Machete heraus und schlug ei nen von ihnen nieder, bevor er Zeit dazu hatte, sich umzudrehen, und fiel dann mit einer solchen Wut über den anderen her, daß ich ihn an die Wand trieb. Als er merkte, daß es um sein Leben ging, flehte er mich an, ihn nicht um eines wertlosen Indianermäd chens willen zu töten, was mich so beleidigte und in Wut brachte, daß ich ihm auf der Stelle den Kopf ab schlug und dafür sorgte, daß seine Leiche, zusammen mit der seines Kumpanen, heimlich begraben wurde. Nun geschah es, daß dieses Mädchen, dessen Le ben ich gerettet hatte, in mein Dorf zog, wo ich sie
natürlich sehr häufig sah. So schön war sie, und so klug, daß sie bald mein Herz eroberte, und das Ende davon war, daß ich sie – eigenwillig und verliebt wie ich war – schließlich heiratete, und zwar gegen den Rat meiner Ordensbrüder. Es wäre für die Indianer besser gewesen, und vielleicht auch für mich, wenn ich gestorben wäre, bevor ich mit dieser Frau vor den Altar trat, obwohl sie für einige Zeit eine gute Ehe frau war, und mir, durch ihre Klugheit, während je ner Zeit gute Dienste geleistet hat. Nun sollte ich einfügen, daß ich währenddessen alles andere als faul gewesen war. Je mehr ich über das Unrecht nachdachte, das meinen Landsleuten zu gefügt worden war, den wirklichen Herren dieses Landes, desto mehr beherrschte es mein Denken, bis es schließlich völlig von mir Besitz ergriff, und ich zum Fanatiker und Träumer wurde. Dies war mein Lebensziel: Ein gewaltiges Komplott zu schmieden, das an einem bestimmten Tage zum Aufstand der In dianer in allen Provinzen Mexikos führen würde, um dann, wenn die Spanier, und ihre Bastarde, die Spa nisch-Mexikaner, vernichtet sein würden, das Impe rium der Azteken neu zu errichten. Vielleicht war es Wahnsinn, doch der Wahnsinn kochte in meinem Blut; meine Vorväter hatten von und für ihn gelitten, und ich glaube, daß er uns von unserem Urvater, Guatemoc, überkommen sein muß, dem größten und unglücklichsten Indianer, der je mals gelebt hat. Wo sie alle verloren hatten, war ich entschlossen, zu siegen, und, so seltsam es klingen mag, ich war schließlich dem Erfolg sehr nahe. Jahrelang arbeitete ich an meinem Vorhaben, reiste im ganzen Lande umher, bis es schließlich keine Pro
vinz mehr gab, in der ich nicht als Hüter des Herzens und durch mein Geblüt als Oberster der indianischen Stämme bekannt war. Überall versuchte ich, die Men schen aus ihrer Trägheit zu reißen, die Kaziken für unsere Sache zu gewinnen, und meine Bemühungen waren nicht umsonst. Ich verwendete meinen im mensen Reichtum dazu, Waffen zu kaufen, die Lauen durch Bestechung zu gewinnen, und für viele andere Zwecke. Wenn mein Vermögen sich dem Nullpunkt näherte, beschaffte ich mir neues, denn ohne Gold konnte man nichts erreichen. Schätze, die zu früheren Zeiten vergraben worden waren, wurden mir, als dem Herrn des Herzens, übergeben von solchen, die ihr Geheimnis kannten; außerdem brachten viele mir auch Geld, jeder das, was er entbehren konnte, und ich hortete es für die Stunde, in der ich es brauchen würde. Für ein Jahr oder länger war ich die größte Macht in Mexiko, und doch wurde mein Geheimnis, obwohl Hunderte davon wußten, so gut bewahrt, daß nicht einmal ein Flüstern zu Ohren der Regierung gelangte. Schließlich war alles bereit, und sorgfältig waren meine Pläne ausgearbeitet, daß der Erfolg gesichert schien; doch geschah das Unvorhersehbare, und ich scheiterte, und zwar so: Die Frau, deren Leben ich gerettet hatte, meine ei gene Frau, die ich liebte und der ich vertraute, die meiner Sache und der ihrer Landsleute durch jedes Band, sei es menschlich oder göttlich, verbunden war, verriet mich und sie. Es war ausgemacht, daß sie, kurz vor dem für den Aufstand festgesetzten Zeit punkt, als eine, derer wir absolut sicher sein konnten, als Dienstmädchen in das Haus des Mannes gehen
sollte, der zu jenen Tagen über Mexiko herrschte, um dort zu spionieren. Anstatt dieses zu tun, hat jedoch sie, meine Frau, sich in ihn verliebt. Alles andere ist leicht zu erraten. Eines Nachts, nur eine Woche vor der festgesetzten Zeit, wurden ich und fünf oder sechs andere, die Führer unserer Bewegung, gefangengenommen. Meine Gefährten wurden heimlich ermordet, doch ich wurde vor den großen Mann gebracht, der mich allein erwartete, eine Pistole in der Hand. »Ich weiß von all deinen Plänen, Freundchen«, sagte er, »und ich möchte dir zu ihnen gratulieren, denn sie waren sehr schlau ausgeheckt. Ich weiß auch, daß du einen großen Goldschatz versteckt hast ...« – und er nannte seinen genauen Wert. »Diese dei ne Frau, der zu vertrauen du dumm genug warst, hat mir alles verraten, doch kann sie mir nicht sagen, wo das Gold versteckt ist, denn das hast du ihr nicht er zählt, was beweist, daß du nicht ganz dumm bist. Nun, mein Freund, werde ich dir ein faires Ange bot machen: Liefere mir diesen Schatz aus, und du sollst frei sein – natürlich erst, wenn euer Tag der Ra che vorbei ist und deine Schafe sich ohne Hirten ge sehen haben –, und man wird dich auch später in Ru he lassen. Weigere dich, und du wirst vor ein Gericht gestellt und stirbst, wie du es verdienst.« »Wie können Sie für die anderen sprechen? Sie sind nicht der einzige Weiße, der gestürzt worden wäre.« »Ich kann für die anderen sprechen, erstens, weil ich Herr bin, und zweitens, weil niemand außer mir etwas von dieser Geschichte weiß, denn wenn ich ih nen davon berichten würde, müßte ich deinen Reichtum mit ihnen teilen, und den, mein Freund,
beabsichtige ich für mich zu behalten. Übergib ihn mir, und du magst gegen meinen Nachfolger und die Regierung von Mexiko rebellieren, soviel du willst, und du kannst auch deine Frau mitnehmen, wenn du noch Wert auf sie legst, denn wenn ich in den Besitz dieses netten Vermögens gekommen bin, werde ich das Land verlassen, wo ein Mann in führender Stel lung, wie dieses Beispiel zeigt, leicht den Hals durch geschnitten bekommen kann. Wähle also, und sei so gut, völlig still stehen zu bleiben, während du dar über nachdenkst, weil ich mich sonst gezwungen se hen könnte, dich zu erschießen!« »Und was ist mit meinen Gefährten?« fragte ich. »Ich fürchte, daß drei oder vier von ihnen während der letzten zwei oder drei Tage gestorben sind – an Typhus, nehme ich an, denn die Gefängnisse hier sind recht ungesund, doch bin ich sicher, daß keiner der übrigen krank werden wird, wenn du das Gold in meine Hände legst.« Da traf ich meine Wahl, denn ich überlegte mir, daß ich mir vielleicht neues Gold beschaffen konnte, niemals jedoch ein neues Leben, und wenn ich starb, würden viele andere mit mir sterben müssen, und alle meine Hoffnungen für die Zukunft der indiani schen Rasse wären zunichte. Außerdem wußte ich, daß dieser Schurke ein Mann war, der zu seinem Wort stand, und daß er hielt, was er versprach. Innerhalb von zehn Tagen hatte er das Gold, und ich war frei, mein Leben von vorne zu beginnen, und keiner von denen, die meinem Komplott zum Opfer fallen sollten, erfuhr je etwas davon, wie nahe er dem Tode gewesen war. Ich war frei; doch was für eine Freiheit war dies,
wenn ich alles verloren hatte, außer den Atem, den Gott mir gegeben hatte, und, vielleicht, meine Ehre. Das große Haus, das ich errichtet hatte, war zusam mengebrochen, der Reichtum, den ich angehäuft hatte, gestohlen, die Führer meiner Gefährten waren tot, ermordet, mein Ruf als Befreier meines Volkes war zerstört, und mein Vorhaben war hoffnungslos geworden. Und all dies war mir wegen einer Frau ge schehen, einer Verräterin, die ich an meinem Busen genährt hatte. Im ersten Moment war ich wie benommen, doch als ich wieder klar denken konnte, schwor ich vor dem Himmel einen heiligen Eid, daß ich um ihrer Falschheit willen ihr Geschlecht von nun an hassen und verachten würde, daß ich, egal, wie groß die Versuchung auch sein mochte, nie wieder eine Frau ansehen oder etwas mit einer von ihnen zu tun haben würde, weder in Worten noch in Taten. Diesen Eid habe ich, so weit es in meiner Macht lag, bis zum heutigen Tage gehalten und hoffe ihn auch in der Ewigkeit halten zu können. Man mag fragen, was aus meiner Frau geworden ist. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Hand gegen sie erhoben, die Fleisch meines Fleisches war, doch ist sie umgekommen. Nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen worden war, lag ich mehrere Wochen lang krank darnieder, und als ich wieder auf die Beine kam, war sie verschwunden. Außer mir waren ja weitere unserer Leute verraten worden, und zweifel los hat einer von denen an ihr Rache genommen. In welcher Form, habe ich nie gefragt. Für viele Jahre – zwanzig vielleicht – wurde ich zu einem Wanderer. Die Indianer liebten mich wie vor
her, und als Herr des Herzens und ihr erblicher Kazi ke war ich auch noch immer groß, obwohl nur noch ein Schatten von Macht in mir war; ihre Substanz hatte mich verlassen, so wie sie alle verläßt, die ver sagen. Von Zeit zu Zeit versuchte ich, ein neues Komplott zu schmieden, doch jetzt, da ich freundund mittellos war, wollte mir niemand mehr folgen. So kam es, daß ich diesen Plan schließlich fallen ließ und so gut lebte, wie es mir eben möglich war. Ich habe in drei Kriegen gekämpft und bin dadurch zu einigen Ehren gelangt, und ich hatte auch meinen Anteil an Abenteuern, aus denen ich genauso arm herauskam, wie ich hineingegangen war. Hin und wieder erinnerte ich mich meines Wunsches, Priester zu werden, doch war es jetzt zu spät dazu, meine Hände waren viel zu schmutzig von weltlichen Din gen geworden. Als ich des Kämpfens müde war, zog ich mich für eine Weile in mein Bergdorf zurück, doch wurde ich auch dieses Lebens müde, da ich dort nichts zu tun hatte, und so wandte ich mein Interesse der Verwal tung von Minen zu. Während ich so beschäftigt war, nun ein Mann in mittleren Jahren, machte ich die Bekanntschaft von James Strickland, dem es bestimmt war, mich zu jener Stadt, die Das Herz der Welt heißt, zu begleiten.
2
Señor Strickland
Vor zweiundzwanzig Jahren besuchte ich, Ignatio, ein Dorf im Staate Tamaupilas, das Cumarvo hieß, ein wunderbarer Ort, halb versteckt in den Kiefernwäl dern der Berge. Ich kam zu diesem Dorf, weil ein Freund von mir, einer der Brüder des Ordens vom Herzen, mir geschrieben hatte, daß dort ein Indianer lebe, der im Besitz einer alten aztekischen Schriftrolle sei, welche, da in Bilderschrift abgefaßt, weder er noch sonst jemand lesen könne. Diese Schriftrolle war dem Indianer durch viele Generationen überkommen, und mit ihr eine Legende von einer überaus reichen Goldmine in den Bergen. Das Wissen über deren Lage sei indes verloren, weil sie auf Befehl Guatemocs, meines Ahnen, der von den Spaniern ermordet wurde – mögen ihre Seelen ver flucht sein! – zugeschüttet wurde, um sie vor den Spaniern zu schützen. Nun war mich das Entziffern der alten Bilderschrift von Antonio, dem Freund meines Vaters, gelehrt worden, als man mich in die Geheimnisse des Her zens eingeweiht hatte, doch wird dieses Wissen mit mir sterben, da es, wie ich glaube, keinen anderen Menschen auf der Welt gibt, der sie lesen kann. Diese Schriftrolle wollte der Indianer mir, als Herrn des Herzens, überlassen, und da ich gerade nichts Besseres zu tun hatte, reiste ich nach Cumarvo, um sie zu studieren. In dieser Angelegenheit, wie auch in vielen anderen, sollte ich jedoch eine Enttäuschung
erleben – auf jeden Fall für eine Weile, denn als ich beim Haus meines Freundes eintraf, erfuhr ich, daß der Indianer an einer plötzlich aufgetretenen Krank heit gestorben sei und sein Sohn nicht wisse, wo er die Schriftrolle verborgen habe. Und noch etwas hörte ich, nämlich, daß ein weißer Mann, ein Inglese, der erste, der jemals diese Gegend besucht habe, vor etwa sechs Monaten in dieses Dorf gekommen sei, und jetzt im Auftrag einer Gesell schaft in einer alten Silbermine arbeite, eine Aufgabe, die er sehr schwierig fand, denn die mexikanischen Grundbesitzer, die neidisch auf ihn waren und es ihm verübelten, daß er seinen Leuten einen fairen Lohn zahlte, versuchten, die Indianer davon abzuhalten, in seinen Minen zu arbeiten. Nun waren die Eingeborenen dieses Ortes von Montagmorgen bis Samstagabend ein freundliches und fleißiges Volk, doch hatten sie das Laster, sich am Samstag abend mit Mescal zu betrinken, einem Alkohol, der aus den Wurzeln der Agave destilliert wird. Dann war ihr Charakter völlig verändert, und es kam zu heftigen Streitereien unter ihnen, zumeist um Frauen, die oft genug blutig ausgingen. Zu so einem Streit kam es auch am Abend meiner Ankunft in Cumarvo. Am nächsten Morgen sah ich seine Früchte, als ich die kleine Straße entlangging, die von weißen Flachdachhäusern gesäumt und mit Kopfsteinen gepflastert war, um zur Messe die kleine weißgetünchte Kirche aufzusuchen, deren Glocke Tag und Nacht läutete, um böse Geister in die Hölle zu rückzujagen. Mitten auf der Straße, im Schatten eines Hauses, lagen zwei tote Männer. Ein hübsches indianisches
Mädchen war mit finsterem, unbewegtem Gesicht damit beschäftigt, ein Serape* um eine der Leichen zu wickeln; um die andere kümmerte sich niemand; die Blutflecken auf seiner Kleidung verrieten, wie er zu Tode gekommen war. Auf einer Türschwelle saß ein dritter Mann, der am Kopf und im Gesicht schwer verletzt war, und der Dorfbarbier war dabei, mit ei ner stumpfen Schere sein Haar abzuschneiden, damit er die Wunden verbinden konnte. Es war eine entsetzliche Szene, doch nahm kaum jemand Notiz davon, denn indianisches Leben ist bil lig, und in jenen Tagen war der Tod durch Gewalt in Mexiko häufiger, als es heute der Fall ist. Auf der an deren Straßenseite feilschte eine alte Frau mit einem Kunden um den Preis ihrer Orangen, während einige Kinder unter Rufen und Lachen versuchten, mit ei nem Lasso ein Schwein einzufangen, das dort um herlief; und ein Mädchen auf dem Wege zur Messe stieg über die unbedeckte Leiche, die dort im Schat ten lag, und als sie sie als die eines Freundes erkann te, bekreuzigte sie sich, während sie weiterlief. »Was hat diesen Streit ausgelöst?« fragte ich den Barbier. »Ich glaube, daß ich die Ehre habe, mit Don Ignatio zu sprechen«, antwortete der kleine Mann, hob die Hände und machte ein Zeichen, um zu zeigen, daß auch er ein Mitglied unserer Bruderschaft war, wenn auch nur ein bescheidenes. »Ah, ich dachte es mir«, fuhr er fort, als ich das Ge genzeichen gemacht hatte. »Wir haben gehört, daß Sie uns besuchen wollten, und ich bin froh darüber, * Decke
denn ich bin es leid, an jedem Sonntag Wunden zu verbinden, und vielleicht können Sie diesen Kämpfen ein Ende machen. Jene Frau war der Grund dafür, Señor, und dies sind nicht die ersten, die sie zu ihrem Tode gebracht hat.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf das Mädchen, das die eine Leiche in eine Decke wickelte. »Wissen Sie, sie wollte diesen Mann heiraten.« Er tippte dem Indianer, dessen Wunden er verband, auf die Schulter. »Doch sie ließ sich mit dem dort ein« – er deutete auf die eingewickelte Leiche – »woraufhin dieser hier, von Mescal betrunken, Nummer Zwei auflauerte und ihn erstach. Das Mädchen, das bei je nem war, lief nun zu Nummer Drei, dem Bruder von Nummer Zwei, doch Nummer Eins hier überfiel ihn, und er wurde ebenfalls getötet. Dann hörten unsere Dorfwächter den Lärm, kamen her und hauten unse ren Freund hier mit ihren Macheten nieder, haben ihn jedoch unglücklicherweise nicht getötet, wie Sie se hen.« Als ich das hörte, wurde ich von Zorn gepackt. Ich trat zu dem Mädchen und sagte: »Dies ist dein Werk! Hast du keine Angst?« »Wovor denn?« antwortete sie mürrisch. »Kann ich etwas dafür, daß ich hübsch bin und die Männer um mich kämpfen? Außerdem, wer bist du, daß du mich fragst, ob ich Angst habe?« »Närrin!« rief der Barbier von der Türschwelle, »wie kannst du wagen, so zum Herrn des Herzens zu sprechen!« Das Mädchen zuckte zusammen, dann antwortete es: »Warum nicht? Ist er denn mein Herr?« »Hör zu, Frau!« sagte ich schroff. »Außer diesen
sind noch weitere durch dich gestorben.« »Woher wollt ihr das wissen?« erwiderte sie. »Aber warum frage ich das? Wenn Ihr der Herr des Herzens seid, so habt Ihr den bösen Blick und könnt Geheim nisse lesen, ohne sie zu sehen.« »Du bist es, die den bösen Blick hat, Frau, wie viele andere deines Geschlechts!« sagte ich. »Hör mir zu! Du wirst diesen Ort verlassen und nie wieder zu ihm zurückkehren, denn wenn du es dennoch tun solltest, stirbst du! Außerdem merke dir: Falls durch deine Schuld noch mehr Männer zu Schaden kommen soll ten, wo immer du auch hingehen magst, werde ich davon erfahren, und dann stirbst du dort!« »Wer immer Ihr sein möget, Ihr seid nicht die Re gierung und habt nicht das Recht, mich zu töten«, sagte sie und versuchte, die Angst zu verbergen, die in ihre dunklen Augen kroch. »Nein, Frau, ich bin nicht die Regierung, doch un ter unserem Volk bin ich mächtiger als die Regierung. Wenn du mir nicht glaubst, frag den Barbier, und er wird dir sagen, daß man mir gehorchen soll, selbst Menschen, die mich nie gesehen haben und die über einen Trupp Soldaten lachen würden. Wenn ich dir sage, daß du sterben wirst, dann wirst du sterben, und du wirst sterben, so oder so, denn mein Fluch liegt auf dir. Vielleicht wirst du in einen Abgrund stürzen, oder du magst ein Fieber bekommen, oder beim Durchqueren eines Flusses ertrinken, quien sa be!« »Ich weiß, Herr, ich weiß«, flüsterte sie zitternd, denn jetzt hatte sie Angst. »Blickt mich nicht so schrecklich an; verschont mich dieses eine Mal, um der Liebe Gottes willen! Ich wollte es nicht tun, doch
wenn Männer ihr Herz in die Hand einer Frau geben, wie kann sie sich davon zurückhalten, es zu drücken, besonders, wenn sie diese Männer haßt. Diesen aber habe ich nicht gehaßt« – sie fuhr zärtlich mit der Hand über die Wange des toten Indianers –, »ihn wollte ich wirklich heiraten. Es ist der Bursche dort drüben, den ich hasse«, sagte sie, auf ihren verwun deten Liebhaber deutend, »und ich hoffe, daß man ihn erschießen wird, denn sonst werde ich ihn ver giften.« »Du wirst ihn nicht vergiften, Frau, und wenn gleich er den Tod verdient, so bist du doch weit schlimmer als er. Geh jetzt! Und denk an meine Worte!« Sie beugte sich über den Toten, berührte seine Stirn mit den Lippen, stand auf und sagte: »Ich küsse Eure Füße, Herr des Herzens.« Dann ging sie fort, ohne zu rückzublicken, und sie ward in jenem Dorf nie wieder gesehen. Mit einem Seufzen wandte auch ich mich zum Ge hen, denn es stimmte mich traurig, daran zu denken, daß eine Frau die Macht haben sollte, diese Männer, meine Brüder, wenn sie getrunken hatten, in wilde Bestien zu verwandeln, die nach dem Blut des ande ren dürstete. »Ah!« murmelte ich. »Wenn es nicht um jene ande re Frau gewesen wäre, die mich und meine Hoffnun gen vernichtet hat, würde ich inzwischen längst da mit begonnen haben, ihnen zu einem neuen Leben zu verhelfen.« Als ich in diesem Moment den Kopf wandte, sah ich einen Mann, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, neben mir stehen und mich anblicken. Es sind viele
Geschichten darüber geschrieben worden, daß Män ner und Frauen, die einander zum ersten Mal anblik ken, in einigen Fällen von einer leidenschaftlichen Liebe ergriffen werden, von der sie sich, komme, was da wolle, nie wieder befreien können. Trotz all der Mißhelligkeiten, die über mich ge kommen sind, ist mir dieses Schicksal dank meiner Schutzengel erspart geblieben, doch spürte ich in je nem Augenblick etwas, das dieser Empfindung nahe verwandt war – nicht Liebe, natürlich, doch ein star kes Gefühl von Freundschaft und Zuneigung für die sen Mann, das mich damals überwältigt hat und bis zu dieser Stunde in mir weiterwächst, obwohl sein Objekt seit vielen Jahren tot ist. Vielleicht war es der Kontrast zwischen uns, der mich vom ersten Augenblick an so stark anzog, da die Menschen immer von dem Gegensätzlichen in Natur und Erscheinung angezogen werden. Ich bin, wie Sie, mein Freund, für den ich diese Geschichte niederschreibe, sich erinnern werden, obwohl Sie mich nur im Alter kannten, hochgewachsen, hager und dunkelhäutig, wie alle Menschen meiner Rasse, mit einem traurigen Gesichtsausdruck, der das Herz in der Brust widerspiegelt und melancholischen Au gen. Völlig anders in Naturell und Aussehen war James Strickland, der Engländer. Er war ein gutaussehender Mann, etwas über dreißig Jahre alt, klein im Verhält nis zur Breite seiner Schultern, doch sehnig und schlankgliederig. Sein Gesicht war so klar geschnitten wie das eines antiken Gottes auf einer Marmorwand; seine Augen waren so blau wie das Meer und, ob wohl sie jetzt durch den Anblick der Toten bedrückt
wirkten, fröhlich wie die eines kleinen Jungen. Sein lockiges Haar – er hatte angesichts der Toten seinen Hut abgenommen – war so gelb wie eine Mimosen blüte, in dem kurzen Bart und an den Seiten, wo es dem Wetter ausgesetzt war, jedoch dunkler, fast rot; und seine Haut, die in der Halsöffnung des Hemdes sichtbar war, weiß wie Milch. Seine Hände waren lang und schlank, trotz der harten Arbeit, deren Spu ren sie trugen; sein Blick war rasch, und sein Lächeln das schönste, das ich je gesehen habe. »Verzeihen Sie, Señor«, sagte dieser Inglese in gu tem Spanisch und verneigte sich vor mir, »doch ohne es zu wollen habe ich einen Teil Ihres Gespräches mit jener Frau mitgehört und kann nicht verstehen, wieso Sie als Fremder so viel Autorität über sie haben. Ich wünschte, Sie würden es mir erklären, damit ich ler ne, diesem Morden hier ein Ende zu bereiten. Diese Toten waren zwei meiner besten Arbeiter, und ich weiß nicht, woher ich Ersatz für sie bekommen kann.« »Ich kann es nicht erklären, Señor«, sagte ich und erwiderte seine Verneigung, »sondern Ihnen nur sa gen, daß ich einen gewissen Rang bei den Indianern einnehme, auf Grund dessen sie mich verehren. Trotzdem, obwohl ich kein Recht habe, das von ei nem Fremden zu verlangen, möchte ich Sie bitten, je des meiner Worte, das Sie gehört haben mögen, zu vergessen, denn eine solche Autorität ist der Regie rung nicht genehm.« »Aber gerne, Señor; sie sind bereits vergessen. Dann, adios, dieser Anblick ist nicht so erfreulich, als daß ich ihn weiter studieren möchte.« Er setzte seinen Hut wieder auf und ging weiter.
Obwohl meine Reise ihren Zweck verfehlt hatte, da die Schriftrolle, die zu lesen ich hergekommen war, nicht gefunden werden konnte, blieb ich noch in dem Dorf Cumarvo, angeblich in der Hoffnung, daß sie doch noch aufgefunden werden mochte, in Wahrheit jedoch, wie ich glaube, weil ich diesen weißen Mann näher kennenlernen wollte. Wie es sich ergab, erhielt ich bald Gelegenheit, ihm einen großen Dienst zu erweisen. Ich sagte bereits, daß einflußreiche Männer in dem Gebiet lebten. Me xikaner, die auf den Engländer neidisch waren, und diese Leute hetzten einige in seinem Dienst stehende, unzufriedene Arbeiter auf, ein Mordkomplott gegen ihn zu schmieden, indem sie ihnen sagten, daß sie bei der Gelegenheit einen großen Schatz finden würden, den er in seinem Hause versteckt hielte. Dieses Komplott kam durch ein Mitglied der Bru derschaft zu meinen Ohren, und ich beschloß, es zu verhindern, zu welchem Zwecke ich zwanzig gute, zuverlässige Männer zusammenrief, sie mit Geweh ren bewaffnete und ihnen befahl, über die Angele genheit Stillschweigen zu bewahren, vor allem dem Inglese gegenüber, den ich nicht erschrecken wollte. Der Plan der Mörder sah vor, das Haus, in dem Señor Strickland mit nur vier oder fünf Dienstboten wohnte, zur Stunde der Morgendämmerung zu über fallen und alle, die in seinen Mauern waren, zu töten. Also schickte ich in der festgesetzten Nacht gegen ein Uhr meine Männer zu zweien und dreien los, mit dem Befehl, um die Berge herum hinter das Haus zu gehen, sich dort in den Garten zu schleichen und sich zwischen Bäumen und Büschen zu verstecken, bis ich kommen würde.
Eine Stunde später folgte ich ihnen, ohne von den Spionen der Mordbande bemerkt zu werden, denn es fiel Regen, und die Nacht war sehr dunkel. Als ich im Garten eintraf, holte ich meine Männer zusammen und brachte sie hinter einer niedrigen Mauer, die ei nen Blick auf die Straße gewährte, auf der, wie ich wußte, die Mörder entlangkommen mußten, in Stel lung. Hier warteten wir geduldig, bis die Hähne zu krähen begannen und sich im Osten das erste Mor genrot zeigte. Wenig später hörten wir aus dem Dorf Geräusche, wie von vielen Schritten, und in dem heller werden den Morgenlicht sahen wir die Mörder vorsichtig die Straße heraufkommen; es mochten ihrer fünfzig oder mehr sein. So groß war ihre Angst vor dem Englän der, daß sie es für notwendig hielten, viele Männer mitzubringen, um ihn zu töten, also hatte jeder der Schurken seine Nachbarn überredet, an dem Verbre chen teilzuhaben. »Sollen wir nicht den Inglese wecken?« fragte der Mann neben mir. »Nein«, antwortete ich, »es ist früh genug, ihn zu wecken, wenn diese Angelegenheit geregelt ist. Daß niemand feuert, bevor ich den Befehl dazu gebe!« Nun gingen die Briganten auf der unter uns lie genden Straße – Männer ohne Schamgefühl –, nach dem sie eine Weile gewartet hatten, bis das Licht hel ler wurde, auf das Tor zu, und sie sahen wie eine Prozession von Mönchen aus, denn da die Morgen luft sehr kalt war, hatten sie sich ihre Serapes über die Köpfe gezogen. In ihren Händen trugen sie Gewehre und Macheten. Zehn Schritte vor dem Tor blieben sie stehen, um
sich zu besprechen, und ich hörte, wie ihr Anführer, ein Mexikaner, befahl, daß die Hälfte von ihnen sich hinter das Haus schleichen sollte, um jeden mögli chen Fluchtweg anzuschneiden. Jetzt stieß ich einen Pfiff aus, was das vereinbarte Signal war, und richtete gleichzeitig mein Gewehr auf den Mexikaner. Kaum hatte der Pfiff meine Lippen verlassen, krachten zwanzig Gewehre, und fünfzehn oder sechzehn der Feinde wurden zu Boden gestreckt. Einen Moment lang schienen sie unschlüssig, und ich glaubte schon, daß die übrigen fliehen würden, doch wagten sie das nicht, da sie wußten, daß sie ge sehen worden waren; deshalb stürmten sie schreiend auf die Mauer zu und feuerten dabei ihre Waffen ab. Als sie über die Mauer kletterten, empfingen wir sie mit Pistolenschüssen und Macheten, und für einige Minuten stand der Ausgang des Kampfes auf des Messers Schneide, denn sie waren verzweifelt und uns zahlenmäßig überlegen. Trotzdem verloren sie viele Männer beim Überstei gen der Mauer und beim Aufbrechen des Tores, und mit Ausnahme von vierzehn, die entkommen konn ten und zum größten Teil später ergriffen wurden, machten wir alle anderen zwischen den Blumen und dem Gemüse des Gartens nieder. Gerade, als es vor bei war, erschien der Engländer, der offenbar einen sehr festen Schlaf hatte, in einem weißen Pyjama und mit einem Revolver in der Hand. »Was ist das für ein Krach?« fragte er und rieb sich die Augen. »Warum kämpft ihr in meinem Garten? Verschwindet, aber sehr schnell, sonst erschieße ich euch alle!« »Ich hoffe«, sagte ich, mich verbeugend, »daß der
Señor uns vergeben wird, ihn in seinem Schlummer gestört zu haben, doch leider konnte diese Angele genheit nicht ohne einen gewissen Lärm geregelt werden. Darf ich dem Señor mein Serape anbieten? Die Luft ist kühl, und in diesem leichten Anzug wer den Sie sich erkälten.« »Danke«, sagte er und legte das Serape um. »Und jetzt werden Sie mir vielleicht freundlicherweise er klären, warum Sie meinen Garten ruinieren, indem Sie ihn zum Schlachtfeld machen.« Nun berichtete ich ihm alles und war erstaunt zu sehen, daß er sehr wütend wurde. »Ich vermute, daß ich Ihnen dafür danken muß, mir das Leben gerettet zu haben, Gentlemen«, sagte er schließlich, »obwohl ich Sie nicht darum gebeten habe. Trotzdem finde ich es schamlos, daß Sie diesen Kampf in meinem Garten veranstaltet haben, ohne mir Gelegenheit zu geben, daran teilzunehmen. Ca ramba! Bin ich denn ein kleines Mädchen, daß man mich auf solche Weise behandelt?« Und dann brach er plötzlich in lautes Lachen aus und schüttelte mir die Hand. An jenem Tage, als alles vorüber war und man auf geräumt hatte, schickte Señor Strickland einen Mann zu mir, um mich zu fragen, ob ich ihm das Vergnü gen bereiten würde, mit ihm zu speisen. Ich nahm die Einladung an, und als wir nach dem Essen rauchten und von dem Kampf so viel gesprochen hatten, daß wir dessen müde geworden waren, sagte er zu mir: »Don Ignatio, ich schulde Ihnen mein Leben, und glauben Sie mir, daß ich Ihnen dafür sehr dankbar bin, weil ich nicht begreife, warum Sie so viel für ei nen Ihnen völlig Fremden riskiert haben.«
»Ich habe es getan, weil ich Sie mag, Señor«, ant wortete ich, »und auch, weil es mir Spaß gemacht hat, die Mörderbande in ihrer eigenen Falle zu fangen. Die Männer, die heute morgen gestorben sind, waren Schurken, jeder einzelne von ihnen. Sie kamen in der Hoffnung auf Beute, denn diese gewissenlosen Hals abschneider ermorden Menschen schon für ganze fünf Dollar Kopfgeld; doch waren sie von anderen aufgehetzt worden, die Sie hassen, weil Sie Ihre in dianischen Arbeiter anständig behandeln, und au ßerdem, weil sie nicht wollen, daß Ausländer ihnen hier Konkurrenz machen, und weil sie glauben, daß Sie nur der erste Vogel eines großen Schwarmes sind. Deshalb hielten sie es für einen guten Schachzug, Sie zu töten, um andere zu verscheuchen, die Ihnen wo möglich folgen könnten. Doch diese Gefahr ist jetzt überstanden, und Sie haben nichts mehr zu befürch ten, denn sie haben eine Lektion erhalten, die sie nicht so leicht vergessen werden.« »Um so besser«, antwortete er, »denn ich habe hier ohnehin genügend Schwierigkeiten, auch ohne mich darum kümmern zu müssen, mein Leben vor sol chem Ungeziefer zu schützen. Und nun, Don Ignatio, ich wage kaum, Sie darum zu bitten, und Sie werden mein Angebot sicher für eine Unverschämtheit hal ten, aber wären Sie vielleicht an einer Anstellung in teressiert? Ich brauche dringend einen Verwalter, je manden, der die Indianer unter Kontrolle halten kann, und einem solchen Manne wäre ich bereit, hundert Dollar zu zahlen; die Finanzen der Gesell schaft, die ich vertrete, erlauben mir leider nicht mehr.« Ich dachte eine Weile darüber nach und antwortete
dann: »Señor, die Summe ist nicht hoch genug, um mich in Versuchung zu führen, obwohl sie ausrei chend ist, um Nahrung, Unterkunft und Zigarren zu bezahlen, doch werde ich Ihr Angebot annehmen, und zwar aus demselben Grund, aus dem ich heute morgen Ihren Kampf gekämpft habe, nämlich weil ich Sie mag und gerne mein Bestes tun werde, um Ih nen und Ihren Interessen zu dienen. Trotzdem muß ich Sie warnen: Es könnte sein, daß ich Ihren Dienst von heute auf morgen verlassen muß, denn meine Zeit gehört nicht ausschließlich mir. Auch ich bin der Diener einer großen Gesellschaft, Señor, und obwohl ich mich zur Zeit sozusagen in Urlaub befinde, und zwar bereits seit vielen Jahren, könnte ich doch jeden Moment zurückgerufen werden.« So also geschah es, daß ich in die Dienste von Señor James Strickland trat, oder vielmehr in die von dessen Gesellschaft, in denen ich für mehr als ein Jahr ver blieb, währenddessen ich sehr hart arbeitete, denn der Señor hat weder mich noch sich selbst geschont. Doch da die Statistiken dieser fruchtlosen Arbeit Sie sicher kaum interessieren dürften, mein Freund, möchte ich sie Ihnen ersparen und Ihnen statt dessen in wenigen Worten die Geschichte dieses Engländers erzählen, so wie er sie mir berichtete. Er war von adeliger Abstammung und hatte das Recht, als ›Honorable‹ (ehrenhaft) angesprochen zu werden, was in England anscheinend mehr bedeutet als hier. Sein Vater war ein Priester der häretischen Kirche und recht arm; die Gründe dafür werden Sie, der Sie Engländer sind, sicher besser verstehen als ich, da es in den meisten Ländern der Welt das Privi
leg des Adels ist, sich auf Kosten derer von niedrige rem Rang zu bereichern. Auf jeden Fall stellte James Strickland beim Tode seines Vaters fest – er war damals ein Junge von zwanzig Jahren –, daß er nicht mehr als fünftausend Dollar besaß. Diese Summe investierte er, da er ein abenteuerliches und optimistisches Naturell besaß, in eine Ranch in Texas, wo er viele Entbehrungen und Gefahren ertrug und schließlich all sein Geld ein büßte. Nach dieser Erfahrung, ohne einen Lebensunter halt und ohne Freunde, war er gezwungen, Handar beit wie ein Peon zu leisten, was er auf vielfache Wei se tat. Er ritt Pferde zu, er hütete Rinder; einmal, zwei Monate lang, sank er sogar so tief – es macht mich zornig, darüber zu schreiben –, daß er in einem Lokal in Panama Gäste bedienen mußte. Von dort aus gelangte er nach Nicaragua und be teiligte sich an Minen-Unternehmen, und als ich ihn kennenlernte, war er seit zehn Jahren in diesem Ge schäft. Den größten Teil jener Zeit hatte er damit ver bracht, für einen Amerikaner eine Mine im ChantalesLand an der Grenze zu Honduras zu leiten, wo es so viel Fieber gibt, daß nur wenige weiße Männer dort leben können. Dort war es, wo er Spanisch lernte, und Indianisch, oder vielmehr die Maya-Sprache. Schließlich, nach einem Fieberanfall, der ihn beina he getötet hätte, verließ er Nicaragua und kam nach Mexiko, wo er das Management der Silbermine bei Cumarvo übernahm. Vorher war sie von einem Me xikaner geleitet worden, den die Eigentümer jedoch entließen, weil dieser Bandit das Erz gestohlen und auf eigene Rechnung verkauft hatte.
Diese Mine war zwar sehr reich, doch überaus schwer zu erschließen, weil sich Wasser in ihr sam melte, und während der ganzen Zeit, seit Señor Strickland sie leitete, war er damit beschäftigt gewe sen, einen Schacht durch die Felsen zu schlagen, um den Stollen zu entwässern, doch kurz nach meiner Ankunft war dieser Schacht fertig, da es mir möglich war, ausreichende Arbeitskräfte zu beschaffen, an denen es ihm bisher gemangelt hatte, und es gelang uns, Erz zu schürfen, das zweihundert Unzen Silber pro Tonne erbrachte, so daß einige Monate lang alles gut ging. Doch dann, plötzlich, knickte die Erzader senkrecht nach unten ab, als ob sie in heißem Zustand gebogen worden wäre, und wir folgten ihr, bis das Wasser so überhandnahm und es uns unmöglich wurde, es hin auszuschaffen, denn zu jener Zeit gab es in Mexiko noch keine Dampfpumpen, wie man sie heute zur Entwässerung von Minen einsetzt. Zuerst versuchten wir, eine andere Ader zu finden, doch ohne Erfolg; dann versuchten wir, einen zweiten Drainageschacht auf einem noch tieferen Niveau zu graben, doch nach drei Monaten harter Arbeit mußten wir einsehen, daß der Fels zu hart war, und sahen uns gezwungen, die ses Vorhaben abzubrechen. Nun blieb uns nichts weiter übrig, als die Arbeit einzustellen und die Lage den Eignern der Mine brieflich mitzuteilen; inzwischen beschäftigten wir uns damit, das Erz einzuschmelzen, das wir ange sammelt hatten. Dieses mußten wir auch tun, um die Löhne in Silber ausbezahlen zu können, da die Ei gentümer der Mine seit Monaten keine Lohngelder mehr überwiesen hatten.
Eines Abends, als ich von der Schmelze nach Hause zurückkehrte, fand ich Señor Strickland, das Kinn in die Hand gestützt, eine nicht brennende Zigarre im Mund, am Tisch sitzend, auf dem ein geöffneter Brief lag. Während all unserer Schwierigkeiten und schwe rer Arbeit hatte er nie den Mut verloren, doch jetzt wirkte er wie ein Mann, der gerade seine Mutter be graben hatte, und ich fragte ihn, was geschehen sei. »Nichts Besonderes, Ignatio«, antwortete er, »doch hören Sie zu!« Und er las mir den Brief vor. Er war von einem der Eigner der Mine, und dies war, zusammengefaßt, sein Inhalt: Daß der Stollen voll Wasser gelaufen sei, wäre allein auf die Inkom petenz und Nachlässigkeit des Señors zurückzufüh ren, und daß sie, die Eigentümer, ihn hiermit fristlos entließen und sich weigerten, ihm das noch ausste hende Gehalt zu zahlen; und schließlich, daß sie ihn persönlich für alle Einnahmen, die ihnen verloren ge gangen sein mochten, haftbar machen würden. »Bei Gott!« rief ich, außer mir, als er zu Ende ge kommen war, »dieser Brief ist von einem Mann ohne jedes Schamgefühl geschrieben worden, und ich bete darum, daß er sein Ende in den Mägen von Schwei nen und Geiern finden möge!«, denn ich vergaß mich in meiner Empörung über jene, die auf eine solche Weise über den Señor zu sprechen wagten, der Tag und Nacht in ihrem Dienst gearbeitet und sich keine Ruhe gegönnt hatte. »Regen Sie sich nicht auf, Ignatio!« sagte er mit ei nem kleinen Lächeln. »Das ist der Lauf der Welt. Ich habe versagt und muß nun die Folgen tragen. Wenn ich Erfolg gehabt hätte, sähe die Sache ganz anders aus. Trotzdem möchte ich sagen: Falls ich diesem
Mann jemals wieder begegnen sollte, werde ich ihm einen Tritt verpassen wegen der Lügen, die er über mich verbreitet. Wissen Sie, Ignatio, daß ich mit Aus nahme von tausend Dollar, die mir in Mexiko ver blieben sind, all mein Geld, das ich gespart hatte, ausgegeben habe, um diese Mine zu retten, und daß ich von diesen tausend Dollar Ihnen achthundert für rückständigen Lohn schulde? Was immer ich also jetzt beginnen mag, beginne ich nicht als reicher Mann.« »Seien Sie still, ich bitte Sie, Señor!« antwortete ich, »denn solche Worte machen meine Ohren heiß. Was! Bin ich etwa ein Dieb, daß ich Sie berauben sollte, der schon von anderen wie ein Huhn gerupft worden ist? Wenn Sie mich noch einmal mit solchen Gedanken beleidigen, werde ich Ihnen niemals vergeben.« Damit verließ ich das Haus, um mich bei einem Gang durch die Berge zu beruhigen, ohne zu ahnen, was ich erfahren sollte, bevor ich es wieder betrat.
3
Der Ruf
Als ich die Dorfstraße entlangging, begegnete ich meinem Freund, bei dem ich gewohnt hatte, als ich nach Cumarvo gekommen war. »Ah, Herr!« rief er – denn die Initiierten unter den Indianern sprachen mich mit diesem Titel an, wenn niemand sonst in der Nähe war – »Ich habe nach Ih nen gesucht. Die Schriftrolle ist gefunden worden.« »Welche Schriftrolle?« »Die Bilderschrift über die alte Mine, deretwegen Sie hergekommen sind. Sie erinnern sich, daß der Mann, dem sie gehörte, plötzlich gestorben ist und sein Sohn sie nicht auffinden konnte. Nun, gestern, als er auf dem Dach seines Hauses Ratten jagte, hat er sie dort entdeckt und zu mir gebracht. Hier ist sie.« Damit übergab er mir eine in gelbes Leinen einge schlagene Rolle. »Gut«, antwortete ich, »heute abend werde ich mich mit ihr befassen.« Dann setzte ich meinen Weg fort und dachte nicht weiter über diese Sache nach, da mein Gehirn mit anderen Dingen befaßt war. Die Luft war klar, und der Abend wunderschön, so daß ich erst zum Haus zurückkehrte, als der Mond aufging. Als ich den Weg hinaufging, trat plötzlich ein Mann aus dem Schatten eines Gebüsches hervor, und ich zog die Machete, da ich befürchtete, er wollte mich überfallen. »Steck deine Waffe ein, Herr«, sagte der Mann, grüßte mich demütig und machte gleichzeitig das
Zeichen der Bruderschaft. »Es ist viele Jahre her, seit wir uns sahen, also hast du mich vielleicht vergessen; trotzdem magst du dich vielleicht meines Namens erinnern; ich bin Molas, dein Stiefbruder.« Nun blickte ich ihn genauer an und erkannte ihn wieder, wenngleich die Zeit uns beide verändert hat te, schloß ihn in die Arme und küßte ihn auf die Wange, da er treu geblieben war, als viele andere mich verlassen hatten, und ich ihn liebte, so wie ich heute sein Andenken liebe. »Was bringt dich hierher, Molas?« fragte ich. »Als ich zuletzt von dir hörte, lebtest du weit entfernt in Chiapas.« »Eine seltsame Sache: eine Angelegenheit des Her zens, o Herr des Herzens, die mir so dringlich er schien, daß ich über Land und Meer gereist bin, um dich zu finden. Gibt es einen Ort, an dem wir unbe lauscht sprechen können?« »Folge mir!« sagte ich verwundert und führte ihn in mein Zimmer, wo ich ihm zu essen und zu trinken gab, da er von der Reise ermüdet war. »Und nun erkläre mir, um was es geht!« sagte ich dann. »Zuerst zeig mir das Amulett, Herr!« sagte er. »Aus persönlichen Gründen will ich es noch einmal sehen.« Ich stand auf, schloß die Fensterläden und ent blößte meine Brust, auf der das uralte Symbol hing. Eine Weile blickte er darauf, dann sagte er: »Danke. Sag mir, Herr, wie lautet die Legende, die zusammen mit diesem Kleinod an uns vererbt wurde?« »Die Legende besagt, Molas, daß, wenn diese Hälfte, die ich trage, mit der fehlenden Hälfte vereint wird, die Indianer erneut von einem Meer zum ande
ren herrschen werden, wie sie es taten, als das Herz noch ganz war.« »So lautet die Legende, Herr. Wir haben sie in dem Ritual gelernt, das sich ›die Öffnung des Herzens‹ nennt, nicht wahr? Und in diesem Ritual wird die Hälfte, die du trägst, ›Tag‹ genannt, und die verlore ne Hälfte ›Nacht‹, da sie, obwohl vorhanden, un sichtbar ist, und man lehrt uns, daß der ›Tag‹ und die ›Nacht‹ einen perfekten Kreis formen, dessen Mittel punkt das ›Herz des Himmels‹ genannt wird, von dem diese Dinge das Symbol sind. Ist es nicht so?« »Es ist so, Molas.« »Gut. Nun höre! Das, was verloren war, ist gefun den worden, die Hälfte, welche ›Nacht‹ genannt wird, ist wieder aufgetaucht, und ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Um dir davon zu be richten, bin ich hergekommen.« »Sprich weiter!« sagte ich. »Herr, in Chiapas steht die Ruine eines Tempels, der von den Antiguos erbaut wurde, und zu diesem Tempel kamen ein Mann und eine Frau, seine Toch ter. Der Mann ist alt und hat feurige Augen, ein furchterregender Mann, und das Mädchen ist außer gewöhnlich schön. Dort in den Ruinen leben sie seit vier Monaten oder länger, und der Mann praktiziert die Kunst der Medizin, denn er ist ein großer Arzt und hat schon viele Menschen geheilt, doch nimmt er kein Geld für seine Dienste, sondern nur Nahrung. Nun begab es sich, daß meine Frau, die ich erst vor zwei Jahren geheiratet habe, sehr krank wurde – so krank, daß der Dorfarzt ihr nicht helfen konnte. Da nun der Ruhm des alten Indianers, der in der Tem pelruine wohnte, mir zu Gehör gekommen war, be
schloß ich, ihn aufzusuchen und seinen Rat einzuho len, oder, wenn möglich, ihn in unser Dorf zu brin gen. Als meine Frau davon hörte, sagte sie, es habe kei nen Zweck, da sie den Tod schon auf dem Fußende ihres Bettes sitzen sähe. Ich ging trotzdem und ließ sie in der Obhut des Padres und einiger Frauen, ihrer Schwestern, zurück. Mit mir nahm ich eine Locke ih res Haares, sowie ein paar Hühner und Eier als Ge schenk für den Lacandone, denn man sagt, daß dieser Mann, obwohl unserer Rasse angehörig, nie Christ geworden sei. Bei Sonnenaufgang brach ich auf und reiste den ganzen Tag den Fluß entlang und durch die Wälder, bis ich gegen Abend die Tempelruine erreichte, die mir bekannt war, und ihre zerbrochenen Steinstufen hinaufzusteigen begann. Als ich mich dem Ende der Treppe näherte, trat ein Mann unter dem Bogen her vor, der das Tor des Tempels ist, und blickte den ro ten Feuerball der sinkenden Sonne an. Er war ein al ter Mann und trug lediglich ein leinenes Gewand; er hatte eine sehr helle Hautfarbe, lange, weiße Hauptund Barthaare, eine wie ein Geierschnabel ge krümmte Nase, und glühende Augen, deren Blick al les zu durchdringen schien und die geheimsten Ge danken eines Menschen lesen zu können schienen. ›Sei gegrüßt, Bruder‹, sagte er in unserer Sprache, jedoch mit einem seltsamen Akzent und unter Ver wendung von Worten, die mir unbekannt waren. ›Was führt dich zu mir?‹ Dann blickte er mich eine Weile an und fragte ru hig: ›Sag, Bruder, ist dir das Herz schwer?‹ Als ich diese Worte hörte, deren Bedeutung dir be
kannt ist, war ich so verwundert, daß ich beinahe rücklings die verfallene Treppe hinabgestürzt wäre, doch riß ich mich zusammen und versuchte es mit ei nem unserer Zeichen, und siehe! Er beantwortete es. Ich prüfte ihn mit einem zweiten Zeichen, mit einem dritten und vierten, und so weiter bis zum zwölften, und er beantwortete sie alle, obwohl nicht immer auf die Art, die wir verwenden. Als ich aufhörte, sagte er: ›Du hast die Tür des Allerheiligsten passiert. Tritt herein, Bruder, und nähere dich dem Altar!‹ Doch ich schüttelte den Kopf, da ich es nicht tun konnte. Nun prüfte er mich mit verschiedenen Zei chen und seltsamen Worten, die mit den Innersten Mysterien zu tun haben, doch war ich nicht fähig, sie zu beantworten, obwohl ich teilweise ihre Bedeutung begriff. ›Du verfügst über einiges Wissen‹, sagte er, ›doch stehst du noch am Fuße der Pyramide, während ich die Sterne von ihrer Spitze aus beobachte und meine Hände an ihrem ewigen Feuer wärme.‹ ›Keiner meines Ordens hat mehr Wissen, Herr‹, antwortete ich, ›mit Ausnahme der Allerhöchsten.‹ ›Dann gibt es also höhere in diesem Land?‹ fragte er begierig, fuhr dann jedoch plötzlich zusammen, blickte umher und sagte, ohne auf eine Antwort zu warten: ›Du hast Kummer, Kind des Herzens, und bist von einer gekommen, die auf den Tod krank ist; also jetzt zu deinem Anliegen, von der anderen Sache werden wir vielleicht später sprechen.‹ ›Zuerst, Herr‹, sagte ich, ›habe ich dir ein Opfer mitgebracht.‹ Ich stellte ihm den Korb zu Füßen. ›Gaben sind gut unter Brüdern‹, antwortete er, ›au ßerdem ist Nahrung in dieser Einöde immer will
kommen. Komm her, Tochter, und nimm, was der Fremde uns bringt!‹ Als er das sagte, trat ein Mädchen durch den Tor bogen, genauso wie ihr Vater in ein weißes Gewand aus feinem Linnen gekleidet, das jedoch etwas abge tragen wirkte. Ich blickte sie an, und es ist die Wahr heit, Herr, daß ich zum zweiten Male beinahe die Treppe hinabgestürzt wäre, denn so groß war die Schönheit dieses Mädchens, daß mein Herz in mir zu Wasser wurde. Nie zuvor hatte ich eine so schöne Frau gesehen, nicht einmal im Traum.« »Zu deiner Geschichte, Molas, zu deiner Geschich te! Was hat die Schönheit irgendeiner Frau mit den Angelegenheiten des Herzens zu tun?« unterbrach ich ihn verärgert. »Das weiß ich nicht, Herr«, antwortete er, »und doch glaube ich, daß sie mit allen irdischen Dingen zu tun haben. Das Mädchen, dessen Name Maya ist, blickte mich flüchtig an und nahm den Korb auf. Während wir ihr durch den Torbogen auf die dahinter liegende Terras se folgten, begann ich dem Heiler die Krankheit mei ner Frau zu erklären – oder vielmehr jenem, der als Heiler bezeichnet wird, und dessen Name Zibalbay, oder Wächter, ist – und flehte ihn an, in mein Dorf zu kommen und sie zu behandeln. Er hörte schweigend zu, dann nahm er die Haar locke, die ich mitgebracht hatte, trat zu einem Feuer, das dort brannte, legte ein paar der Haare auf ein glühendes Holzstück und beobachtete sie, als sie sich krümmten und verkohlten. ›Das würde nicht viel helfen, Bruder‹, sagte er dann mit trauriger Miene, ›da deine Frau jetzt tot ist. Ich
habe einen Geist an mir vorüberziehen gefühlt, als wir gemeinsam durch den Torbogen schritten, doch bis ich das Haar verbrannte, wußte ich nicht, ob es der ihre war, der vorüberzog, oder ein anderer.‹ Hier sollte ich dir vielleicht sagen, Herr, daß ich später feststellte, daß meine Frau zur Stunde des Sonnenuntergangs gestorben war, obwohl ich nicht sagen kann, ob Zibalbay nach den von mir geschil derten Symptomen erriet, daß sie sterben würde, oder ob er den Geisterblick besitzt und sie tatsächlich sah. Trotzdem scheint es natürlich, daß sie im Augen blick ihres Hinscheidens zu ihrem Ehemann kommen sollte, um sich von ihm zu verabschieden, obwohl ich glaube, daß es ein schlimmes Omen für mich ist und darum bete, diesen Ort nie wiederzusehen. Als ich ihn so sprechen hörte, hatte ich jedoch keinen Zweifel an der Wahrheit seiner Worte, denn irgend etwas in mir bestätigte sie, und ich verbarg mein Gesicht und stöhnte laut vor Bitterkeit und Trauer. Nun nahm Zibalbay, der Wächter, meine Hand und sprach hohe Worte mit einer feierlichen Stimme, die mich trösteten, so wie das Singen einer Mutter ein beunruhigtes Kind tröstet, denn er sprach mit der Überzeugung eines, der Wissen und Vorstellung hat von jenen, die ins Jenseits gegangen sind, und er sagte mir, daß die Trennung nicht lange währen würde, und ich jene, die ich verloren hatte, bald wie derfinden würde, in aller Pracht nahe dem Herzen des Himmels. Dann legte er seine Hand auf meinen Kopf, und ich schlief eine Weile, und erwachte, zwar noch immer traurig, doch von einem seltsamen Frie den erfüllt. ›Das Essen ist fertig, Bruder‹, sagte Zibalbay. ›Iß
und ruh dich hier aus; morgen früh kannst du zu rückkehren.‹ Als wir nun gegessen hatten, sprach Zibalbay in Gegenwart seiner Tochter zu mir, die, obwohl eine Frau, ebenfalls dem Orden angehörte. ›Du gehörst unserer Bruderschaft an‹, sagte er, ›und deshalb werden die Worte, die ich spreche, kei nem wiederholt werden, der kein Bruder ist, denn ich spreche für das Herz.‹ ›Ich höre, Herr‹, antwortete ich. ›Dann höre!‹ fuhr er fort. ›Von weit her bin ich mit dieser Jungfrau, meiner Tochter, gekommen, und wir sind nicht, was wir zu sein scheinen, doch wer und was wir sind, ist es noch nicht an der Zeit, zu sagen. Dies ist der Zweck unseres Kommens: Jenes zu fin den, das eins ist, jedoch geteilt; jenes, das nicht verlo ren ist, sondern nur verborgen. Vielleicht, Bruder, kannst du uns den Weg zu ihm weisen.‹ Er schwieg und sah mich mit seinen durchdringenden Augen an. Nun, Herr, verstand ich natürlich, auf was seine Worte sich bezogen, denn sind sie nicht Teil des Ritu als vom ›öffnen des Herzens‹? Doch um ganz sicher zu gehen, nahm ich eine ausgebrannte Holzkohle aus dem Feuer und malte damit ein halbes Herz mit einer ausgezackten Kante auf den Boden des Raums, in dem wir saßen. Dann reichte ich den verkohlten Stek ken Zibalbay, der ihn nahm und an seine Tochter weitergab. ›Ich habe kein Geschick in solchen Künsten‹, sagte er. ›Bringe du es zu Ende, Maya!‹ Sie lächelte, kniete sich auf den Boden, zog die an dere Hälfte des Gesichts nach und sagte: ›Reicht das, oder soll ich die Inschrift auch noch malen?‹
›Es reicht‹, antwortete ich. ›Und nun, Herr, was ist dein Begehr?‹ ›Ich begehre zu wissen, wie das, was verborgen ist, zum Licht gebracht werden kann, und ob es sich in diesem Lande befindet, denn ich bin weit gereist, um es zu suchen.‹ ›Es befindet sich hier‹, antwortete ich, ›denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und der hält es, der sein Hüter ist.‹ ›Kannst du mich zu ihm führen, Bruder?‹ ›Nein, denn ich habe keine solchen Befehle; doch kann ich vielleicht ihn zu dir bringen, wenngleich ich über Land und Meer reisen muß, um ihn zu finden – das heißt, wenn er willens ist, zu kommen. Sag, wel che Botschaft soll ich ihm überbringen? Daß ein Fremder, den ich getroffen habe, das heilige Symbol zu sehen wünscht? Das wird ihn kaum zu der weiten Reise veranlassen.‹ ›Nein, sag ihm, daß die Stunde gekommen ist, da ‚Nacht‘ und ‚Tag‘ zusammengefügt werden sollen, damit eine neue Sonne an einem neuen Himmel er strahle.‹ ›Ich will ihm das gerne sagen, doch ob er es glau ben wird, da ich keinerlei Beweise dafür habe? Wird er nicht vielmehr denken, daß ein hinterlistiger Fremder, und falscher Bruder plant, ihn in eine Falle zu locken? Gib mir Beweise, Herr, denn sonst werde ich diesen Auftrag nicht annehmen.‹ ›Wird er glauben, was du mit eigenen Augen gese hen hast?‹ ›Er wird es glauben, da er mir von Kindheit an vertraut hat.‹ ›Dann sieh!‹ sagte der Mann, öffnete sein Gewand
und kniete sich in das Licht des Feuers. Dort, Herr, auf seiner Brust, hing das, was unseren Blicken verborgen gewesen ist, seit die Söhne Quetzals, des Gottes, über das Land herrschten, das Gegenstück des zerteilten Symbols, das auf deiner Brust hängt. Das ist meine Geschichte, Herr.« Ich, Ignatio, hatte schweigend zugehört, denn die ses grenzte an ein Wunder. »Hat der Mann dir keine weiteren Nachrichten für mich mitgegeben?« fragte ich. »Keine. Er sagte nur, wenn du der wirkliche Be wahrer des Geheimnisses seiest, würdest du kom men, um seinen Auftrag von ihm selbst zu erfahren, oder ihn zu dir holen lassen.« »Und hast du ihm irgend etwas von mir und mei ner Geschichte erzählt, Molas?« »Nein; ich hatte keinen solchen Befehl. Am Morgen des nächsten Tages ging ich zurück, um meine Frau zu begraben, falls sie tot sein sollte, oder um sie zu pflegen, wenn sie noch immer krank war, und sagte ihm, daß ich, sobald es mir möglich wäre, zur Stadt Mexiko reisen würde, um den Hüter des Herzens aufzusuchen und ihm seine Botschaft zu ermitteln, und daß ich hoffte, in acht Wochen oder so zurück zu sein, um ihm zu sagen, was ich erreicht hatte. Der alte Mann fragte mich, ob ich Geld habe, und, ohne auf Antwort zu warten, gab er mir zwei Händevoll ge gossener Goldklumpen, die er aus einem Fellbeutel zog, und jeder dieser Klumpen war mit dem Symbol des Herzens geprägt.« »Laß mich einen davon sehen«, sagte ich. »Leider, Don Ignatio, habe ich keinen mehr. Nicht weit von der Tempelruine, wo Zibalbay und seine
Tochter zur Zeit leben, liegt die Hacienda von Santa Cruz, und dort haust, wie du gehört haben magst, ei ne Bande von Männern unter der Führung eines ge wissen Don Pedro Moreno, die von Beruf Schmugg ler, Straßenräuber und Mörder sind, obwohl sie vor geben, ihren Lebensunterhalt durch den Anbau von Kaffee und Kakao zu verdienen. Auf meinem Heimweg nun fiel ich in die Hände einiger dieser Männer. Sie durchsuchten mich, und als sie die Goldklumpen in meiner Tasche fanden, übergaben sie sie Don Pedro selbst, der herangeritten kam, als er sah, daß sie einen Fisch im Netz hatten. Er betrachtete das Gold sehr genau und fragte mich, woher ich es habe. Anfangs weigerte ich mich zu sprechen, worauf er drohte, mich so lange im Verlies der Hacienda einzusperren, bis ich es ihm sagen würde. Da ich begierig war, zu meinem Dorf zurückzu kommen, um das Schicksal meiner Frau zu erfahren, sagte ich ihm die Wahrheit: daß ich das Gold als Be zahlung für Nahrung von einem alten indianischen Heiler bekommen hätte, der mit seiner Tochter in der Tempelruine im Walde lebe. ›Mutter im Himmel!‹ rief Don Pedro. ›Ich habe schon von diesem Mann gehört, und jetzt, wo ich weiß, mit was für einer Ware er handelt, werde ich ihm wohl bald einen Besuch abstatten, um zu erfah ren, in welcher Münze sie geprägt wurde.‹ Nachdem sie mich dann gerupft hatten, wie ein Huhn für das Bratrohr, ließen sie mich weiterziehen, doch oft habe ich bereut, in meiner Stunde der Not verraten zu haben, woher ich das Gold hatte, da ich fürchte, diese Schurken auf den alten Mann und seine
Tochter losgelassen zu haben, die vielleicht ermordet sein werden, bevor du sie erreichen kannst.« »Der Himmel wird sie beschützen«, antwortete ich, »wenngleich du leichtfertig gehandelt hast. Aber sag mir, Molas, wie hast du mich gefunden, und wie bist du hergekommen, ohne Geld?« »Ich hatte etwas Geld zu Hause, Herr, und als ich meine Frau begraben hatte, reiste ich nach Frontera, an der Küste, wo ich ein Schiff fand, das nach Vera Cruz fuhr. Dieses nahm ich und bezahlte meine Über fahrt, indem ich als Matrose arbeitete, was ein Beruf ist, dem ich einmal nachgegangen bin. Von Vera Cruz aus reiste ich zur Stadt Mexiko und meldete mich bei dem dortigen Führer der Bruderschaft, der mir, wie ich es gehofft hatte, sagen konnte, wo ich dich finden würde. Von dort reiste ich also weiter zu diesem Dorf, das ich heute abend erreichte, nachdem ich einen Monat und zwei Tage unterwegs war. Und jetzt, Herr, gib mir einen Platz zum Schlafen, da ich müde bin, der ich drei Nächte lang kaum ein Auge zugetan habe. Morgen kannst du mich wissen lassen, welche Ant wort ich dem alten Mann, Zibalbay, zurückbringen soll.« Ich, Ignatio, saß die ganze Nacht über wach und dachte über diese Neuigkeiten nach, die mich mit ei ner seltsamen Hoffnung erfüllten. Konnte es sein, daß nach so vielen Jahren des Wartens die Stunde des Sieges gekommen war? Wenn die Prophezeiung auf Wahrheit beruhen sollte, schien es so zu sein, und doch schwankte mein Glaube. Dieser Wanderer, den Molas getroffen hatte, mochte ein Verrückter sein,
und sein Symbol eine Fälschung. Ich konnte es nicht sagen, doch wollte ich die Angelegenheit zumindest überprüfen, denn morgen, oder sobald es möglich war, würde ich nach Chiapas reisen und ihn aufsu chen. Mit diesem Entschluß warf ich mich auf mein Bett und versuchte zu schlafen, was mir jedoch nicht ge lang. Da erinnerte ich mich an die Schriftrolle, die mein Freund mir gegeben hatte, und ich stand auf, mit der Absicht, sie zu studieren, um auf andere Ge danken zu kommen, damit ich einschlafen konnte. Es war eine harte Arbeit, doch schließlich hatte ich den Text entziffert und stellte fest, daß er sich mit einer Mine bei Comarvo befaßte und die exakte Lage ihres Stolleneingangs angab. Dieser Eingang war, wie es schien, während der Regierungszeit von Guatemoc zugeschüttet worden, und die Rolle stammte von dem Kaziken, der zu jener Zeit die Mine geleitet hatte, da dieser eine Aufzeich nung hinterlassen wollte, die es seinen Nachfolgern ermöglichte, sie wieder zu öffnen, sobald es gelungen war, die Spanier aus dem Lande zu vertreiben. Daß die Mine reich an Gold war, zeigte eine Aufstellung der Mengen, die Jahr für Jahr an den Hof Montezu mas geschickt worden waren, wie auch die Tatsache, daß man es für notwendig hielt, sie vor den Spaniern zu verbergen. Früh am kommenden Morgen ging ich ins Zimmer von Señor Strickland und sprach schweren Herzens mit ihm. »Señor«, sagte ich, »Sie würden sich erinnern, daß ich Ihnen damals, bei Eintritt in Ihre Dienste, erklärte, Sie möglicherweise von heute auf morgen verlassen
zu müssen. Jetzt bin ich hier, um Ihnen zu sagen, daß dieser Zeitpunkt gekommen ist, denn es ist ein Bote eingetroffen, um mich in Geschäften, über die ich nicht reden darf, zum anderen Ende Mexikos zu ru fen, und ich morgen zu dieser Reise aufbrechen muß.« »Tut mir leid, das zu hören, Ignatio«, antwortete er, »denn Sie sind mir ein guter Freund gewesen. Trotz dem tun Sie gut daran, Ihr Geschick von dem eines glücklosen Mannes zu trennen.« »Und Sie, Señor, tun mir Unrecht, wenn Sie so zu mir sprechen«, sagte ich indigniert. »Trotzdem ver gebe ich Ihnen, da ich weiß, daß manchmal, wenn das Herz schwer ist, der Mund Worte äußert, die er nicht äußern will. Hören Sie, Señor, würden Sie, wenn Sie gefrühstückt haben, mit mir reiten?« »Gerne, wenn Sie es wollen. Aber wohin wünschen Sie zu reiten?« »Zu einer anderen Mine, die zu Pferde etwa zwei Stunden weit entfernt liegen sollte, in einem Tal am Fuße jenes Berggipfels. Ich habe erst gestern nacht von ihr erfahren, obgleich ich nach Cumarvo ge kommen bin, um sie zu suchen, und es hat den An schein, als ob sie in den Tagen Montezumas sehr er giebig gewesen wäre.« »In den Tagen Montezumas?« fragte er. »Ja, damals ist in ihr zum letzten Mal gearbeitet worden. Ich möchte vorschlagen, daß Sie, wenn wir sie finden sollten und Sie es für der Mühe wert hal ten, sie für sich reklamieren sollten und dem India ner, von dem ich die Information habe, ein paar Dol lar geben, da er ein armer Mann ist.« »Aber wenn sie so gut ist, wie Sie meinen, warum
beanspruchen Sie sie dann nicht, Ignatio? Und wie kommt es, daß Sie nach all diesen Jahren von ihr er fahren haben?« »Aus zwei Gründen, Señor; erstens, weil ich Ihnen einen Dienst erweisen möchte, soweit das in meinen bescheidenen Kräften liegt, und zweitens, weil ich mich nicht darum kümmern kann und Sie verlassen muß, obwohl dieser Umstand mich mit ehrlicher Trauer erfüllt, denn, wenn Sie mir diese Worte ge statten, noch nie habe ich einen Mann gekannt, für den ich mehr Achtung und Zuneigung empfand. Vielleicht werden Sie mir, wenn ich zurückkehren sollte, einen Anteil an dem Profit geben, so daß wir gemeinsam reich werden. Und nun will ich Ihnen zeigen, wie ich davon erfahren habe.« Ich holte die Schriftrolle und die Übersetzung, die ich von ihrem Text gemacht hatte, und las sie ihm vor. Er hörte gespannt zu, denn, wie auch Sie, Señor Jones, war Ihr Landsmann James Strickland von Abenteuern fasziniert und von allem, das mit der Vergangenheit dieses uralten Landes zu tun hat. »Lassen Sie uns sofort aufbrechen!« sagte er, als ich zu Ende gesprochen hatte. »Ich werde befehlen, daß zwei Pferde und ein Muli mit den nötigen Werkzeu gen bereitgestellt werden. Sollen wir ein paar Männer mit uns nehmen?« »Besser nicht, Señor. Noch haben wir die Mine nicht gefunden, und je weniger davon gesprochen wird, desto besser, denn wenn die Leute darüber re den, könnte jemand daherkommen und sie für sich beanspruchen, bevor Sie es können. Der Bote, der ge stern abend zu mir kam, ist ein vertrauenswürdiger Mann, doch ist er müde von der langen Reise und
ruht sich aus, also werden wir allein reiten.« Eine Stunde später ritten wir durch die Berge, nachdem ich eine Nachricht für Molas hinterlassen hatte, in der ich ihm mitteilte, daß ich vor Anbruch der Dunkelheit zurück sein würde. Der Weg, dem wir folgten, war recht schwierig und führte mehrere Meilen am Rand eines Abgrunds entlang, bevor er den Kamm des Bergzuges erreichte. Er war teilweise so schmal, daß wir absteigen und die Pferde und das Muli vor uns hertreiben mußten, während wir ihnen folgten, und uns an Farnen und Schlingpflanzen fest klammerten, um nicht abzustürzen. Schließlich erreichten wir den Kamm der Bergkette und ritten durch einen Wald von Kiefern und Eichen auf ein Tal zu, das am Fuße eines alleinstehenden hoch aufragenden Berges lag, an dessen Fuß ein Fluß strömte. Wir folgten diesem Fluß für eine Meile oder so, denn ich suchte nach einem bestimmten spitzen Felsen, der, wie in der Schriftrolle vermerkt, allein auf einem Hang des Berges stehen sollte, auf dem keine Bäume wuchsen, und unterhalb dieses Felsens sollte die Schlucht liegen, in der zu den Tagen Guatemocs ein großer Ceiba-Baum stand, dessen Schatten, so sagte die Schrift, auf den Zugang des Minenstollens fiel. Indem wir hangaufwärts durch einen dichten Ei chenwald ritten, gelangten wir schließlich zu der Schlucht, die dicht unterhalb des zum Gipfel empor führenden Steilhangs lag, auf dem der hohe, spitze Felsen stand. »Hier muß es sein«, sagte ich, »aber ich sehe keinen Ceiba-Baum.« »Zweifellos ist der seit jener Zeit umgestürzt und
verfault«, antwortete Señor Strickland. »Lassen Sie uns die Pferde anbinden und suchen!« Dieses taten wir, und die Suche war lang, denn Gras und Farne wuchsen hier sehr dicht, doch schließlich fand ich eine Stelle, wo der Wurzelstock eines sehr mächtigen, alten Baumes im Boden ver modert war. Es war nichts von ihm übrig als ein run des Loch und ein paar der stärkeren Wurzeln. Um diese Wurzeln herum suchten wir eine Stunde lang oder mehr, doch ohne jeden Erfolg, bis Señor Strickland des Spiels müde wurde und eine kleine, hübsche Palme auszugraben begann, die er bei der Suche entdeckt hatte, um sie nach Hause mitzuneh men und in seinem Garten zu pflanzen, da er ein gro ßer Liebhaber von Bäumen, Büschen und Blumen war. Während er so beschäftigt war und ich zwischen den hohen Gräsern nach dem Zugang der Mine suchte, der, wie ich zu befürchten begann, für immer verloren war, rief er plötzlich: »Kommen Sie doch mal her, Ignatio! Unter den Wurzeln dieser Palme ist Abraumgestein, das mit Hämmern zerschlagen wur de. Ich glaube, daß sich hier die Plattform vor dem Stolleneingang befunden hat. Man kann erkennen, daß der Grund hier eben war.« Ich ging zu ihm, und gemeinsam machten wir uns erneut auf die Suche, bis wir, durch einen glücklichen Zufall, direkt unter einem Felsen ein Loch entdeckten, das groß genug war, um hineinkriechen zu können. »Ist dieses Loch von einem Coyoten gegraben wor den, oder war es der Eingang eines Stollens?« fragte der Señor. »Das können wir nur feststellen, indem wir hinein
kriechen«, antwortete ich. »Zweifellos haben die An tiguos, als die das Bergwerk schlossen, so eine Öffnung gelassen, um es zu ventilieren. Bringen Sie die Kreuzhacke, Señor, wir werden es gleich wissen.« Zehn Minuten oder länger arbeiteten wir mit Kreuzhacke und Spaten in dem losen Boden, bis wir die Innenwand eines Tunnels freigelegt hatten, die ich untersuchte. »Wir brauchen nicht weiter zu graben«, sagte ich. »Dieser Stein ist mit Kupfermeißeln bearbeitet wor den, denn hier sind grüne Kupferspuren. Ich bin si cher, daß wir den Zugang der Mine gefunden haben. Bringen Sie mir den Hammer und Kerzen, und neh men Sie den Lederbeutel für Proben mit, dann wollen wir hineinkriechen!«
4
Die Legende vom Herzen
Als ich einige Schritte weit ins Loch hineingekrochen war, wurde der Gang plötzlich breiter und höher, so daß wir uns aufrichten und die Kerzen anzünden konnten. Jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, daß wir uns in dem Stollen eines alten Bergwerks befan den, einem roh ausgeschlagenen Tunnel, der sich, der Erzader folgend, mal in diese, mal in jene Richtung bog. Diesem Stollen folgten wir dreißig oder vierzig Schritte weit, krochen über herabgestürzte Felstrüm mer hinweg und wanden uns zwischen den braunen Stalagmiten und Stalaktiten hindurch, die sich im Laufe der Jahrhunderte an Decke und Boden gebildet hatten, bis wir schließlich ein Hindernis erreichten, das jedes weitere Vordringen unmöglich machte: eine gewaltige Felsmasse, die irgendwann aus der Decke gebrochen war, und den Stollen blockierte. Ich betrachtete sie eingehend und sagte dann: »Ich denke, daß wir umkehren müssen, Señor. Sie erin nern sich, daß die Schriftrolle erklärt, diese Mine sei zwar sehr ergiebig, doch auch sehr unsicher gewesen, da der Fels sehr brüchig sei. Zweifellos ist er früher abgestützt gewesen, doch die Holzstempel sind seit langer Zeit verrottet.« »Ja«, antwortete er, »ohne Hilfe können wir hier nichts weiter tun, und, Ignatio, mir gefällt die Fels decke nicht, sie ist voller Risse.« Als er dies sagte, fiel ihm ein Felsstück etwa von
der Größe eines Kinderkopfes vor die Füße. »Sprechen Sie leise!« flüsterte ich. »Der Klang Ihrer Stimme löst Gestein aus der Decke.« Ich bückte mich und hob den herabgefallenen Stein auf, in der Hoffnung, daß er Erz zeigen würde, und als ich das tat, berührte meine Hand etwas Scharf kantiges, das ich aufhob und ins Licht der Kerze hielt. Es war der Kieferknochen eines Mannes, gelb vom Alter und von der feuchten Luft angefault. Ich zeigte ihn dem Señor, und wir knieten uns nieder und un tersuchten gemeinsam den Boden des Stollens – und nicht vergebens, denn wir fanden den Rest des Schä dels und mehrere Bruchstücke eines Armknochens, doch alle anderen Teile des Skeletts lagen unter dem großen Felsblock vor uns. »Er wollte zum Ausgang des Stollens, als der Fels block herabstürzte, der arme Kerl«, flüsterte der Señor. »Sehen Sie!« Er deutete auf einen kleinen Hau fen von etwas, das im Licht der Kerze schimmerte. Es war Gold, etwa sechs oder sieben Unzen, fast rein und zum größten Teil in kleinen Nuggets, die einst in einem Beutel enthalten waren, der längst ver rottet war. Zweifellos hatte irgendein Azteke nach der Schlie ßung der Mine hier auf eigene Rechnung geschürft, bis eines Tages, als er sie verlassen wollte, das Fels stück auf ihn herabstürzte und ihn zermalmte, so daß sein Geist für immer hier verweilen mußte. »Es besteht kein Zweifel daran, daß diese Mine reich ist«, flüsterte der Señor, »trotzdem halte ich es für besser, daß wir sofort von hier verschwinden. Ich höre eigenartige Geräusche und Knacken, die mich nervös machen. Kommen Sie, Ignatio!« Er wandte
sich um und ging vor mir her dem Ausgang zu. Kurz darauf sah ich, wie er mit dem Schienbein ge gen ein Felsstück stieß, das sechs oder acht Zoll aus dem Boden des Stollens ragte, und der Schmerz die ses Stoßes war so stark, daß er vergaß, wo er sich be fand, und einen lauten Schrei ausstieß. Im nächsten Augenblick hörte ich ein seltsames Geräusch über mir, als ob etwas zerrissen würde, und dann lag ich der Länge nach auf dem Boden, und auf mir lastete eine gewaltige Gesteinsmasse. Ich sagte, sie ›lastete‹ auf mir, was jedoch nicht ganz der Wahrheit entspricht, denn wenn dem so gewesen wäre, hätte sie mich sofort getötet, so wie ein Käfer von dem Fuß eines Menschen zermalmt wird. Der größere Teil ihres Gewichts wurde von dem Felsstück aufgefangen, gegen das der Señor mit dem Bein gestoßen war, und nur eine hervorstehende Kante des herabgestürzten Steinblocks drückte mir in den Rücken und preßte mich zu Boden. Jetzt waren wir im Dunkeln, denn der Señor war ebenfalls zu Bo den geschleudert und seine Kerze ausgelöscht wor den, und trotz meiner Schmerzen dachte ich daran, daß er tot sein mußte. Doch dann hörte ich seine Stimme sagen: »Ignatio? Leben Sie, Ignatio?« Ich überlegte einen Moment lang. Selbst in meinen Schmerzen war mir klar, daß bald noch weitere Teile der Decke einbrechen würden, und mein Freund mit mir sterben müßte, wenn er bliebe. Für mich gab es keine Rettung mehr, ich war zu einem langsamen Tode unter dem Stein verurteilt; doch wenn ich ihm das sagte, würde er nicht gehen. »Gehen Sie, Señor, mit mir ist alles in Ordnung. Ich
will nur eben eine Kerze anzünden. Ich komme gleich nach.« »Sie lügen«, antwortete er. »Ihre Stimme kommt vom Boden.« Und während er das sagte, hörte ich das Kratzen eines Zündholzes. Sobald er seine Kerze gefunden und sie wieder an gezündet hatte, kniete er sich neben mich und blickte mich an. Dann prüfte er die Decke über mir, und als ich seinem Blick folgte, sah ich, daß neben dem Loch, aus dem der Felsblock herabgestürzt war, ein riesiger Steinklotz hing, der von breiten Rissen umgeben war, aus denen Wasser rann, und der wie ein Blatt im Wind erzitterte, wenn der Señor sprach oder sich be wegte. »Fliehen Sie, um Gottes willen!« flüsterte ich. »In ein paar Stunden ist es vorbei mit mir, und Sie kön nen mir nicht helfen. Ich bin so gut wie tot, bleiben Sie nicht hier, um mein Schicksal zu teilen!« Einen Augenblick lang schien er zu zögern, dann gewann sein Mut die Überhand, und er antwortete mit heiserer Stimme: »Wir sind gemeinsam hier hin eingegangen, Freund, und wir werden auch gemein sam hinausgehen – oder gar nicht. Der Felsblock kann Sie nur festhalten und Sie nicht zerdrückt ha ben, denn sonst würden Sie nicht davon reden, noch Stunden zu leben. Lassen Sie mich sehen!« Er legte sich auf den Bauch und betrachtete den Felsen beim Licht der Kerze. »Gott sei Dank! Es ist Hoffnung«, sagte er schließlich. »Der Felsblock ruht auf dem Bo den und auf dem Vorsprung, gegen den ich mit dem Bein gestoßen bin, und nur eine schmale Kante drückt in Ihren Rücken. Glauben Sie, daß irgend et was gebrochen ist, Ignatio?«
»Das kann ich nicht sagen, Señor; ich habe starke Schmerzen und werde langsam zerdrückt, doch glaube ich, daß die Knochen ganz geblieben sind. Fliehen Sie, Señor, ich bitte Sie darum!« »Das werde ich nicht tun!« antwortete er mürrisch. »Ich werde diesen Stein von Ihnen rollen.« Er stemmte sich mit all seiner gewaltigen Kraft ge gen den Stein, jedoch vergebens, da es jenseits menschlicher Kraft lag, ihn zu bewegen, und wäh rend all dieser Zeit zitterte die schwarze Masse, die über seinem Kopf hing. »Ich muß Hilfe holen«, sagte er schließlich. »Ja, tun Sie das, Señor«, antwortete ich, »holen Sie Hilfe«, denn ich wußte, daß, bevor er zurück sein konnte, mehr von der Decke einstürzen und mich vollends begraben würde, worauf ich entweder lang sam sterben mußte oder gnädigerweise sofort zer drückt wurde. Dann fiel mir etwas ein, und ich setzte hinzu: »Bleiben Sie noch einen Augenblick, bevor Sie ge hen! Ich möchte Ihnen etwas geben. Greifen Sie um meinen Hals; da ist eine dünne Kette – ziehen Sie sie jetzt über meinen Kopf – gut. Sie sehen, daß ein Stein an ihr hängt; falls Sie jemals Schwierigkeiten mit In dianern haben sollten, nehmen Sie deren Führer bei seite und zeigen Sie ihm dies, dann wird er bereit sein, für Sie zu sterben, wenn es notwendig sein soll te. Engländer, durch diese Gabe habe ich Sie im Her zen eines jeden Indianers zum Erben des Aztekenrei ches gemacht, und zum Herrn der großen Bruder schaft von Mexiko. Molas, der Bote, wird Ihnen alles erklären und Sie zu solchen bringen, die Sie initiieren
werden. Sagen Sie ihm, daß er Sie dorthin führen soll, wohin er mich führen wollte. Leben Sie wohl, und Gott segne Sie! Sagen Sie den Indianern, wie ich ge storben bin, damit sie nicht annehmen, Sie hätten mich ermordet.« Diese Worte von mir ließ der Señor unbeantwortet und steckte das Symbol in die Tasche, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, wie einer, der in einem Traum gefangen ist. Dann nahm er die Kerze, kroch in den engen Ausgang des Tunnels und verschwand, und mein Herz wurde schwer, als ich ihn gehen sah und er mich ohne ein Wort des Abschieds meinem grausamen Schicksal überließ. Sicher schnürt ihm die Angst die Kehle zu, über legte ich, und es ist richtig, daß er so schnell wie möglich hinausflieht, um sein Leben zu retten. Doch wie ich bald erfahren sollte, tat ich dem Señor damit bitter unrecht, da er nie auch nur den Gedan ken hegte, mich zu verlassen, sondern nur hinausge gangen war, um nach Mitteln zu meiner Rettung zu suchen. Wie er mir später eingestand, sah er keine Möglichkeit dazu, als er aus dem Stollen kroch, da diese Berge unbewohnt waren und es mehrere Stun den dauern würde, um Männer aus Cumarvo zu ho len. Vor dem Mineneingang setzte er sich auf einen Stein und überlegte, was er tun könnte, doch fiel ihm nichts ein, da es unmöglich war, die Kraft der Pferde in dem beengten Raum zu nutzen. Dann sprang er auf und blickte verzweifelt umher. In der Nähe be fand sich eine kleine, vom Wasser ausgewaschene Schlucht, und an ihrem Rand stand ein kleiner Baum, dessen lange Wurzeln von den Wassern fast freige
legt waren. Er sah ihn, und sofort kam ihm eine Idee. Mit Hilfe eines Hebels mochte er in der Lage sein, das zu schaffen, was seiner Kraft allein nicht möglich war. Er eilte auf den kleinen Baum zu, der ein so hartes Holz aufwies, wie es für seine Zwecke am besten ge eignet war, und riß ihn von den wenigen im Boden verbliebenen Wurzeln. Ein paar Schläge mit seinem schweren Jagdmesser trennten die Äste ab, und we nig später kroch er vorsichtig zurück in den Stollen, wobei er den Baumstamm hinter sich herzog. Als er etwa zwanzig Schritte in den Stollen eingedrungen war, hörte er einen weiteren Teil der Decke einbre chen, und in dem Moment dachte er, wie er mir spä ter gestand, tatsächlich an Flucht. Er war gerade dem entsetzlichen Schicksal entron nen, das vor vielen Generationen den armen Azteken getroffen hatte, und es war furchtbar, sich ihm erneut auszusetzen. Er wußte, daß seine Chancen, mich zu retten, äußerst gering waren, wogegen die Wahr scheinlichkeit, bei diesem Versuch elend umzukom men, sehr hoch waren. Dann dachte er daran, wie sehr ich leiden mußte, wenn ich noch leben sollte, und daß sein Gewissen ihm nie Ruhe gönnen würde, wenn er mich meinem Schicksal überließe, also kroch er weiter. Jetzt konnte er sehen, daß das halb losgebrochene Teil der Felsdecke noch immer oben hing; es war ein kleineres Stück, das herabgefallen war, und näher beim Eingang. Er konnte auch erkennen, daß ich in der gleichen Position wie vorher unter dem Felsen lag und glaubte, daß ich tot sei, weil ich mich weder be wegte, noch sprach, obwohl ich nur durch meine
Schmerzen bewußtlos geworden war. »Sind Sie tot?« flüsterte er, und ich hörte seine Stimme durch meine Benommenheit, hob den Kopf und blickte ihn verwundert an, da ich nicht geglaubt hatte, ihn je wiederzusehen. »Sehe ich einen Geist vor mir«, flüsterte ich, »oder sind Sie wirklich zurückgekommen?« »Ich bin es, Ignatio, und ich habe einen Hebel mit gebracht. Hören Sie! Wenn ich jetzt den Stein anhebe, versuchen Sie, darunter hervorzukriechen, wenn es Ihnen möglich ist.« Er stemmte den Baumstamm unter den Felsblock und drückte mit all seiner Kraft. Doch es war vergeb lich; selbst auf diese Weise gelang es ihm nicht ein mal, den Fels zu bewegen. »Versuchen Sie es ein Stück weiter rechts«, sagte ich matt, »dort haben Sie besseren Halt!« Er verschob den Hebel und drückte, bis ich alle seine Muskeln knacken hörte, und dann spürte ich, wie der Stein erzitterte und sich langsam zu heben begann. »Wenn Sie ein bißchen mithelfen, schaffen wir es!« keuchte er. In meiner Verzweiflung, und obgleich der Schmerz mich fast umbrachte, preßte ich meine Handflächen auf den Boden, krümmte mich zusammen wie eine Schlange, die mit einem Gabelstock festgehalten wird, und drückte meinen Rücken nach oben, bis die Kante des Steins sechs oder acht Zoll vom Boden ge hoben wurde. Für einen Augenblick – und nur für einen Augen blick – hing sie dort; im nächsten Moment glitt der Hebel ab und sie krachte wieder herunter. Doch ich
hatte meine Chance genutzt, hatte mich in dem Mo ment, wo mein Rücken frei war, an den Boden ge krallt und mich einen Fuß oder so vorwärtsgezogen. Dann kam die Steinkante, die von meinem Rücken gehoben worden war, wieder herab, doch fiel sie diesmal zwischen meinen Beinen auf den Boden. Jetzt packte Señor Strickland mich bei den Armen und zerrte mich hervor, obwohl einer meiner Stiefel dabei unter dem Stein zurückblieb. Ich versuchte mich aufzurichten, doch gelang es mir nicht, wegen der Schmerzen in meinem Rücken. »Tut mir leid, Sie müssen mich tragen, Señor«, sagte ich keuchend. Er warf einen raschen Blick auf die Gesteinsmasse, die über uns zitterte, dann drückte er mir die Kerze in die Hand, nahm mich auf seine Arme wie ein Kind und stolperte dem Ausgang zu. Wir waren etwa sie ben oder acht Schritte gegangen, nicht mehr, als ein lautes Krachen hinter uns ertönte. Die Decke war ein gestürzt, und die Stelle, an der wir noch vor dreißig Sekunden gewesen waren, wurde jetzt von einer Masse Gesteinstrümmer bedeckt. »Weiter!« sagte ich. »In dem Gestein über uns sind jetzt auch Risse!« Und er lief, bis wir uns außerhalb des Stollens befanden. Jetzt neigte ich den Kopf und dankte dem Himmel für meine Rettung, dann hob ich ihn wieder, blickte meinen Retter an und sagte: »Ich schwöre beim Na men Gottes, Señor, daß Er niemals einen edleren Mann geschaffen hat als Sie!« Im nächsten Moment brach ich zusammen und fiel zwischen die Farne.
Zehn Tage waren vergangen, seit ich auf einer Bahre von der verfluchten Mine nach Cumarvo getragen worden war, und während der ganzen Zeit hatte ich unter schrecklichen Rückenschmerzen gelitten und war sehr krank gewesen – so krank, daß man mir kaum erlaubte, mit irgend jemandem zu sprechen. Danach jedoch ging es mir viel besser, und eines Nachmittags hoben Señor Strickland und mein Stief bruder Molas mich aus dem Bett und in eine Hänge matte. »Übrigens, Ignatio«, sagte der Señor, als Molas ge gangen war, »habe ich Ihnen noch nicht Ihren Talis man zurückgegeben. Was für ein seltsames Ding das ist!« setzte er hinzu und nahm es von seinem Hals. »Und was haben Sie gemeint, als Sie mir in dem Stollen sagten, daß Sie mich im Herzen aller Indianer zum Erben des Aztekenreiches machen wollten, und so weiter? Ich vermute, daß Sie vor Schmerzen phantasierten und nicht wußten, was Sie sagten.« »Ist die Tür geschlossen, Señor?« fragte ich, »und sind Sie sicher, daß sich niemand auf der Veranda aufhält? Gut! Dann ziehen Sie Ihren Stuhl näher zu mir heran, da ich Ihnen etwas sagen möchte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Talisman zurückneh men sollte, werde es aber dennoch tun, aus Gründen, die ich Ihnen gleich erklären werde. Sie müssen wissen, Señor, daß dieser zerschnittene Smaragd der Grundstein und das geheime Symbol eines großen Ordens ist, von dem Sie, obwohl nicht initiiert, jetzt einer der Herren sind, da die Krönung und die entscheidende Zeremonie der Bestallung ei nes Herrn des Herzens darin besteht, ihm das Symbol für eine Minute um seinen Hals zu hängen, was hin
gegen nur durch mich geschehen kann, der ich der Oberste Herr und der Hüter des Herzens auf Lebens zeit bin, und Sie haben es nun für zehn volle Tage getragen. Bevor wir uns voneinander trennen, werde ich ein Ordenskapitel zusammenrufen – denn selbst in die sen Bergen haben wir Brüder –, und Sie sollen in sei ne Rituale eingeführt und zum Rang eines Obersten Herrn des Ordens ernannt werden, wie es Ihnen rechtmäßig zusteht. Bis dahin werde ich Sie ein wenig in seine Geheimnisse einweihen, wie es meine Pflicht ist. Sie müssen verstehen, Señor, daß die oberste Pflicht eines Dieners des Herzens das Schweigen ist, und dieses Schweigen verlange ich von Ihnen. Männer sind gestorben – ja, sie sind auf den Streckbänken in den Folterkammern der Inquisition qualvoll getötet und als Hexer auf den Scheiterhaufen verbrannt worden, doch haben sie nicht jene Dinge enthüllt, die ihnen im Namen des Herzens anvertraut worden wa ren, eine Haltung, gegen die selbst die Ohrenbeichte sich nicht durchsetzen konnte – nein, nicht einmal bei den gläubigsten Katholiken.« »Aber angenommen, ein Mann würde das Schwei gen nicht wahren, was dann, Ignatio?« fragte er. »Es gibt ein Land, Señor«, antwortete ich, »wo selbst die Geschwätzigsten stumm werden, und seine Grenzen können von allen überschritten werden, selbst von den Herren des Herzens, denn schrecklich ist das Schicksal eines falschen Bruders!« »Sie wollen damit sagen: Falls ich irgend etwas von dem, was ich erfahre, weitergeben sollte, werde ich ermordet.«
»Aber nein, Señor; doch könnte es geschehen, daß Sie sterben. Ich spreche vom Herzen; hören Sie mir zu?« »Ich höre«, antwortete er, da er begriffen hatte, was ich ausdrücken wollte. »Gut, Señor, da Sie mir nun mit dem heiligsten al ler Eide, der über die Lippen eines Menschen kom men kann, Schweigen gelobt haben, will ich nun of fen zu Ihnen sprechen. Dies ist die Geschichte des Zerbrochenen Herzens, so weit sie mir bekannt ist, obwohl ich nicht sagen kann, wieviel davon Wahrheit ist, und wieviel davon Legende: Sie haben die Geschichte jenes weißen Mannes, oder Gottes, gehört, der von den Indianern manchmal Quetzal genannt wurde, und manchmal Cucumatz, der zu einer lange zurückliegenden Zeit in dieses Land kam und seine Menschen zivilisierte? Später verschwand er in einem Schiff mit dem Versprechen, daß er nach vielen Generationen wieder zurückkeh ren würde. Als er fort war, fiel das Reich, das er geschaffen hatte, in die Hände von zwei Brüdern, deren Haupt stadt bei Palenque lag, und die Bewohner dieses Im periums beteten, genau wie die Christen, nur einen Gott an, einen gütigen Gott, der den Namen ›Herz des Himmels‹ trug, und dem sie als Opfer nur Früchte und Blumen darbrachten. Nun heiratete einer dieser beiden Brüder eine Frau aus einem anderen Land – die Tochter von Teufeln, sehr schön, und eine mächtige Zauberin. Kurz darauf entfremdete diese Frau, wie in der Ge schichte von den Frauen des Königs Salomon, ihren Herrn, den König, ihren Ehemann, dem wahren
Glauben und schaffte es, daß er die Götter ihres Lan des anbetete und ihnen Menschenopfer darbrachte. Nun erhob sich große Verwirrung im Lande, und am Ende teilten sich die Menschen in zwei Parteien, die Anbeter des Himmelsherzens und die Anbeter des Teufels. Sie führten Kriege gegeneinander, bis viele ihrer führenden Männer getötet waren; und dann kamen sie zu einem Vertrag, durch den die Nation geteilt wurde. Die Hälfte von ihr, unter der Herrschaft des Königs, der jene fremde Frau geheiratet hatte, mar schierte nordwärts und wurde zu den Begründern der Azteken und anderer Stämme, und die andere Hälfte, die treuen Anbeter des Herzens, verblieben im Tabasco-Lande. Von diesem Tage an brachen Übel über beide die ser Völker herein, denn obwohl das Reich der Azte ken für eine Weile erblühte, wurde es am Ende von den Spaniern vernichtet. Die Anbeter des Herzens wurden jedoch ebenfalls von Barbarenhorden aus ih ren Städten vertrieben, und ihr Glaube ging unter, oder schien unterzugehen.« »Aber was hat diese Geschichte mit dem Talisman zu tun, den Sie an Ihrem Hals tragen, Ignatio?« fragte er. »Ich will es Ihnen sagen. Als Quetzal von seinem Volke fortsegelte, so sagt die Legende, ließ er den Stein zurück, den er einst an seiner Stirn getragen hatte, und von dem dieses eine Hälfte ist, der Schatz der Könige, die nach ihm kamen. Außerdem setzte er diese Weissagung dafür aus: daß solange das Herz eines und unzerbrochen sei, auch das Volk eins und ungeteilt sein werde; doch falls es geschehen sollte,
daß das Herz zerschnitten oder zerbrochen würde, es mit ihm geteilt werden sollte, um nie wieder ein Volk zu sein, bis die beiden Teile wieder ein Stein sein würden. Als sich nun diese beiden Königsbrüder bekriegten und das Reich teilten, sägten sie den Stein auseinan der, wie Sie sehen, und jeder von ihnen behielt eine Hälfte, wobei diese Hälfte jenem gehörte, der diese fremde Frau hatte. Für viele Generationen wurde sie von seinen Nachkommen getragen und auf deren Sterbebett dem Nachfolgenden übergeben, oder von ihrem Leichnam genommen, wenn sie im Kampf starben. In den alten Zeiten wurden viele Geschichten über diesen Stein erzählt, und es ist verbürgt, daß der, welcher ihn besaß, damals der wahre König des Lan des war. Schließlich gelangte er in die Hände des großen Guatemoc, des letzten der Aztekenkaiser, der, bevor die Spanier ihn erhängten, Mittel und Wege fand, ihn seinem Sohne zukommen zu lassen, von dem er auf mich überkommen ist.« »Auf Sie? Was haben denn Sie mit Guatemoc zu tun?« »Ich bin sein linearer Nachkomme, Señor, der elfte in der männlichen Linie.« »Dann sollten Sie also von rechts wegen der Kaiser der Indianer sein, Ignatio.« »So ist es, Señor, doch meine eigene Geschichte werde ich Ihnen später erzählen. Zuerst zu dem Stein. Durch all die Jahrhunderte ging er nie verloren, und er ist von einem Ende des Landes bis zum anderen bekannt. Jener, der ihn trägt, wird der ›Hüter des Herzens‹ genannt, und auch ›Hoffnung derer, die da
warten‹, da es zu seinen Lebzeiten geschehen mag, daß beide Hälften wieder zusammengefügt werden.« »Und was ist, wenn das geschieht?« »Dann, so sagt die Legende, werden die Indianer wieder eine mächtige Nation sein und jene, die sie unterdrücken, ins Meer treiben, so wie der Wind Staub vor sich herweht.« Nun erhob sich der Señor von seinem Stuhl und begann auf und ab zu gehen. »Glauben Sie all dies?« fragte er plötzlich. »Ja«, antwortete ich, »oder zumindest den größten Teil davon. Wenn das, was ich gehört habe, wahr sein sollte, befindet sich die andere Hälfte des Talismans, die für so viele Generationen verloren war, zur Zeit in Mexiko, und sobald ich wieder einigermaßen gesund bin, werde ich jenen aufsuchen, der sie trägt, und der von so weit her gekommen ist, um mich zu finden. Das ist der Grund, warum wir uns trennen müssen, Señor.« »Woher ist dieser Mann gekommen?« fragte er be gierig. »Dessen bin ich mir nicht sicher«, antwortete ich, »doch glaube ich, daß er von der heiligen Stadt der Indianer gekommen ist, der verborgenen Goldenen Stadt, die die Spanier so lange gesucht haben, jedoch nie finden konnten, und die zwischen den Bergen und Wüsten tief im Inneren des Landes liegt, und zu der ich mit ihm zu reisen hoffe.« »Diese Stadt gibt es wirklich? Sie müssen verrückt sein, Ignatio. Sie hat niemals existiert, außer in der Phantasie. Eldorado ist eine Legende!« »Das mag Ihre Meinung sein, Señor, doch denke ich anders darüber. Zumindest kenne ich einen
Mann, dessen Großvater die Goldene Stadt gesehen hat. Er, der Großvater, wohnte in San Juan Batista, in Tabasco, und als er in seinen jungen Jahren irgendein Verbrechen begangen hatte, mußte er ins Landesinne re fliehen, um sein Leben zu retten. Ich weiß nicht al les, was dabei geschah, doch schließlich erreichte er das Ufer eines großen Sees, irgendwo in dem Land, das man jetzt als Guatemala bezeichnet, oder auch jenseits davon, und da er am Ende seiner Kräfte war, legte er sich dort nieder, um zu sterben, und schlief ein. Als er erwachte, standen Menschen um ihn herum, dem Aussehen nach Indianer, doch von sehr heller Hautfarbe, und in herrliche weiße Roben gekleidet, mit Smaragdketten und prächtigen Federumhängen. Diese Menschen brachten ihn an Bord eines großen Kanus und fuhren mit ihm zu einer herrlichen Stadt, die in der Mitte des Sees gelegen war, und ›Herz der Welt‹ genannt wurde. Von dieser Stadt bekam er jedoch nur wenig zu se hen, denn ihre Bewohner hielten ihn als Gefangenen fest. Nur von Zeit zu Zeit wurde er vor ihren König und die Ältesten gebracht, die in einer von goldenen Statuen gefüllten Halle saßen, und dort wurde er nach dem Lande befragt, von dem er gekommen sei, nach den Stämmen, die heute dort wohnten, und be sonders nach den weißen Männern, die über das Land herrschten. In jener Halle allein, so berichtete er, seien mehr Gold und Edelsteine, als es in ganz Mexiko gibt. Als er nichts mehr zu berichten hatte, wollten die Leute ihn töten, damit er nicht entfliehe und die weißen Männer zu ihnen brächte, die das Gold so lieben.
Schließlich gelang ihm die Flucht mit Hilfe einer Frau, die ihn zum Meer zurückbrachte, das sie selbst jedoch nicht erreichte, da sie unterwegs starb. Später lebte dieser Mann in einem kleinen Dorf na he Palenque, und dort starb er auch, ohne etwas von dem, das er gesehen hatte, enthüllt zu haben, da er fürchtete, daß die Rache der Menschen des Herzens ihm folgen könnte. Erst als er im Sterben lag, erzählte er es seinem Sohn, der es später wieder dem seinen weitergab, und er ist es, von dem ich es habe. Señor, es ist der Traum meines Lebens, jene Stadt aufzusu chen, und jetzt endlich glaube ich, eine Spur gefun den zu haben, die mich zu ihr führen wird.« »Warum wollen Sie sie aufsuchen, Ignatio?« »Um das zu verstehen, müssen Sie erst meine Ge schichte kennen, Señor.« Und ich berichtete ihm den Fehlschlag des großen Komplotts und der Rolle, die ich in ihm gespielt hatte, worüber hier bereits ge schrieben wurde, und auch über meine geheimen Hoffnungen und Wünsche. »Señor«, fügte ich hinzu, »ich mag zwar geschlagen sein, doch bin ich noch nicht vernichtet, und ich habe noch immer das brennende Verlangen, ein großes in dianisches Reich zu schaffen. Ich sehe Ihrem Gesicht an, daß Sie mich für töricht halten. Vielleicht haben Sie recht, vielleicht habe ich recht. Ich mag Wahrhei ten oder Träume verfolgen, ich mag bei klarem Ver stand und ein Erlöser sein, oder geistig umnachtet und ein Narr. Was kommt es darauf an? Ich folge dem Licht, das vor mir leuchtet; ob es ein Irrwisch ist oder ein Stern, es führt zu einem Ziel, und um diesem Licht zu folgen, bin ich geboren worden. Wenn Sie mir nichts anderes glauben, Señor, so glauben Sie mir
doch wenigstens das eine: daß ich nicht auf meinen eigenen Vorteil aus bin, sondern auf den meines Vol kes. Im schlimmsten Falle bin ich also kein Schurke, sondern nur ein Narr.« »Aber wie kann ein Besuch jener Stadt Ihrer Sache helfen, Ignatio? – vorausgesetzt, daß sie wirklich exi stiert.« »Auf diese Weise, Señor: Dieses Volk – von dem der alte Mann, über den ich gesprochen habe, und der Zibalbay heißt, zweifellos der König oder Häupt ling ist – ist der wahre Ursprung und die erste aller indianischen Rassen, und wenn diese Menschen von meinen Plänen erfahren, und wer ich bin, werden Sie glücklich sein, mir die Mittel zu verschaffen, mit de ren Hilfe ich ihr früheres Reich wieder aufrichten kann.« »Und wenn sie die Sache von einem anderen Standpunkt aus sehen sollten, Ignatio?« »Dann verliere ich eben, das ist alles, und nach so vielen Niederlagen kommt es auf eine mehr oder we niger nun wirklich nicht an. Ich bin wie ein Schwim mer, der eine Planke vor sich sieht, oder zu sehen glaubt, die ihn in Sicherheit bringen könnte. Vielleicht kann er diese Planke nicht erreichen, oder, wenn er sie erreicht, wird sie unter seinem Gewicht versinken. Doch es bleibt ihm ja keine andere Hoffnung! Señor, auch ich habe keine andere Hoffnung. Dort in der Goldenen Stadt ist ein unvorstellbarer Reich tum, denn jener Mann hat ihn mit eigenen Augen ge sehen, und ohne Geld, ohne riesige Summen von Geld, bin ich hilflos. Deshalb will ich dorthin gehen, um mir dieses Geld zu beschaffen. Das Schiff ist unter mir versunken, und mit ihm die Fracht meiner Am
bitionen und meine Lebensarbeit; in dieser verzwei felten Lage greife ich also auf verzweifelte Mittel zu rück. Als erstes werde ich diesen Mann aufsuchen, auf daß die beiden Hälften des Herzens wieder vereint werden und die Prophezeiung sich erfülle; dann werde ich mit ihm, so das möglich sein sollte, zu jener Stadt reisen, Herz der Welt genannt, und es ist mir egal, ob ich dabei den Tod finde, denn ich bin bereit, wenn es sein muß, im Kampf für die Erfüllung mei nes Traumes von einem Indianischen Reich – einem unter dem christlichen Gott wiedererstandenen Reich, das sich vom einen Meer zum anderen er streckt –, dem ich mein ganzes Leben lang gefolgt bin, zu sterben.« »Einem Traum, Ignatio? Vielleicht nennen Sie es richtig so, doch haben nur wenige so erhabene Träu me. Und nun: Wer wird Sie auf dieser Reise beglei ten?« »Wer mich begleiten wird? Molas, natürlich, bis zu dem Tempel, in dem dieser Indianer sich aufhält. Da nach, wenn ich weiter reisen sollte: niemand. Wer würde sich schon bereitfinden, einen Mann zu be gleiten, der über Niederlagen alt geworden ist, den selbst jene, die ihn lieben, für einen Narren halten, daß er sich auf eine so verzweifelte Suche begibt? Denn wenn ich es wagen sollte, von meinen Vorha ben zu erzählen, würden die Menschen sich über mich lustig machen, so wie Kinder sich auf der Straße über einen Verrückten lustig machen. Ich gehe allein, Señor, und vielleicht in den Tod.« »Was den Tod betrifft, so kann ich dazu nichts sa gen, da alle Menschen früher oder später sterben
müssen, und der Augenblick und die Art ihres Endes in der Hand des Schicksals liegt. Was jedoch alles an dere betrifft, so sollen Sie diese Reise nicht allein un ternehmen, das heißt, wenn es Ihnen recht ist, mich als Begleiter bei sich zu haben.« »Sie, Señor, Sie? Bedenken Sie doch, was das be deutet: die Gewißheit, jeder Art von Gefahr zu be gegnen, das Risiko jeder Art von Tod, und am Ende wahrscheinlich nur Enttäuschung. Es wäre eine Tor heit, Señor.« »Ignatio«, antwortete er, »ich will offen zu Ihnen sein. Trotz all der Prophezeiungen über die Wunder, die der Wiedervereinigung des Herzens folgen sollen, und der Botschaften des alten Mannes vom Tempel, halte ich Ihren Plan von der Wiedererrichtung eines indianischen Reiches, das größer sein soll als das, welches Cortez zerstörte, für genauso undurchführ bar wie er grandios ist, da die Zeiten vorbei sind, wo so etwas möglich gewesen wäre, oder vielleicht noch nicht wieder angebrochen sind. Bevor die Indianer wieder herrschen können, müs sen sie die bitteren Lektionen und die Unterdrückung von vielen Generationen vergessen; kurz gesagt, sie müssen gebildet werden, Ignatio. Wenn Sie anderer Meinung sind, so ist das Ihre Sache; Sie können schließlich nur scheitern, aber es gibt Niederlagen, die glanzvoller sind als die meisten Siege. Verstehen Sie mich?« »Vollkommen, Señor.« »Gut. Und nun zu der Suche nach der Goldenen Stadt. Mir kommt diese Angelegenheit sehr unsicher vor, da Ihre Hoffnung, sie zu finden, allein auf der Erzählung eines Reisenden beruhen, eines Mannes,
der vor siebzig oder achtzig Jahren starb, und die Hoffnung, daß ein gewisser Mensch, den Sie noch nicht kennengelernt haben, und der möglicherweise von dort gekommen ist, bereit sein wird, Sie dorthin zu führen. Trotzdem reizt mich die Idee, nach dieser Stadt zu suchen, da ich im Innern meines Herzens ein Aben teurer bin. Wenn wir tatsächlich weiter kommen sollten, als bis zu jenem Waldgebiet in Tabasco, wo Ihr Freund mit dem Talisman auf Sie wartet, wird unsere Suche wahrscheinlich damit enden, daß unse re Knochen irgendeine Wildnis oder einen Berggipfel in den unbekannten Wildnissen Guatemalas zieren. Aber was soll's? Ich habe weder Familie noch Kin der, und mein Tod würde keine lebende Seele grä men; jahrelang habe ich schwer gearbeitet, ohne et was davon zu haben; warum also sollte ich nicht meiner natürlichen Neigung folgen und zum Aben teurer werden? Es kann mir kaum schlechter gehen als jetzt, und ich denke, daß so ein Leben mir gefallen würde. Jene Mine, die Sie mir zeigten, ist zweifellos reich, doch habe ich kein Kapital, um sie nutzen zu können, und selbst wenn ich es hätte, möchte ich nach meiner Erfahrung dort nie wieder einen Fuß in den Stollen setzen. Kurz gesagt, ich bin bereit, nach Tabasco auf zubrechen, und zu dieser Goldenen Stadt, oder wo immer sonst Sie hingehen mögen, sobald Sie wieder reisefähig sind.« »Schwören Sie das auf das Herz, Señor?« »Aber natürlich; doch würde ich es vorziehen, Ih nen die Hand darauf zu geben.« Er streckte mir seine Hand entgegen, die ich drückte.
»Gut. Sie haben auf das Herz geschworen und mir Ihre Hand gegeben, Señor – der Eid ist vollkommen. Von nun an sind wir Kameraden, Señor; und was mich betrifft, so könnte ich mir keinen besseren wün schen. Mehr habe ich nicht zu sagen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Sie diese Stadt finden werden, und wenn ja, ob es Ihnen zum Vorteil gereichen wird. Ich bin ein vom Unglück gezeichneter Mann, und es ist wahrscheinlicher, daß Sie mein Unglück auf sich herabbeschwören werden, wenn Sie sich mir an schließen. Dies jedoch schwöre ich: daß ich Ihnen ein echter Kamerad sein werde, so wie Sie es mir in jener Mine waren, und was alles andere betrifft, so muß das Abenteuer sich selbst Lohn sein.«
5
Der Beginn der Suche
Etwas mehr als einen Monat nach dem Tage, an dem Señor Strickland und ich unseren Pakt geschlossen hatten, gemeinsam nach der geheimen Stadt der In dianer zu suchen, waren wir, zusammen mit Molas, in Vera Cruz und warteten auf ein Schiff, das uns nach Frontera bringen sollte. Diesen Hafen hatten wir gewählt – obwohl Campeche näher bei den Ruinen lag, wo wir den Indianer Zibalbay zu finden hofften –, weil wir von dort aus mit Kanus den Grivalja und andere Flüsse hinauffahren konnten, ungesehen von allen, bis auf die dort lebenden Eingeborenen. Die Situation hat sich heute dort beträchtlich ver ändert, doch waren zu jener Zeit die Weißen, die in jener Gegend außerhalb der Städte lebten, zumeist Räuber, wie Molas vor wenigen Wochen feststellen mußte. In Vera Cruz kauften wir solche Dinge, wie sie für unsere Reise notwendig waren; nicht viele, da wir nicht sicher sein konnten, irgendwelche Möglichkei ten zu finden, um sie zu transportieren. Darunter be fanden sich Hängematten, drei Gewehre, die sowohl Kugeln, als auch Schrot verfeuerten, mit Munition, drei Vorderlader-Pistolen, die besten, die vor zwan zig Jahren zu haben waren, einige Medikamente, Decken, Stiefel, und Reserve-Kleidung. Außerdem nahmen wir alles Geld mit, das wir be saßen, etwas über fünfzehnhundert Dollar in Gold, die wir unter uns aufteilten und in Gürteltaschen
verbargen. In Vera Cruz, wo die Menschen sehr neu gierig über das Tun und Treiben anderer wachen, ga ben wir vor, daß Señor Strickland einer jener seltsa men Engländer sei, die alte Ruinen aufsuchten und zu diesem Zwecke nach Yucatan reisen wolle; daß ich, Ignatio, sein Führer und Begleiter sei, und Molas, mein Stiefbruder, unser Diener. Nun hatten wir vor, Vera Cruz an Bord eines guten amerikanischen Schiffes zu verlassen, eines Seglers, der nach Anlaufen der Häfen entlang der Küste in Havanna und New York löschen würde. Wie es sich ergab, verzögerte sich das Auslaufen dieses Schiffes jedoch um eine Woche, und da wir es eilig hatten und uns nicht so lange der Gelbfieberepidemie aussetzen wollten, die in der Stadt grassierte, nahmen wir un glücklicherweise Passage auf einem mexikanischen Schiff, das Santa Maria hieß. Es war ein altes Segelschiff von nicht mehr als zweihundertfünfzig Tonnen, das von seinen Eignern zu einem Raddampfer umgebaut worden war, mit dem Ergebnis, daß es, ausgenommen bei günstigem Wetter, weder mit annehmbarer Geschwindigkeit und Sicherheit dampfen noch segeln konnte. Es war für den Passagier- und Frachtverkehr zwischen Vera Cruz und den Häfen von Frontera und Campeche eingesetzt. »Wohin?« fragte der Agent den Señor Strickland, als er die Billetts ausstellte. »Nach Frontera«, antwortete er. »Ihr Schiff läuft es doch an, nicht wahr?« »Oh, sicher, Señor«, sagte er, als er die Dollars ein steckte, dabei wußte dieser schamlose Bursche sehr wohl, daß er Orders hatte, zuerst Campeche anzulau
fen, welches der weiter entfernt liegende Hafen ist, um erst dann, eine Woche später, nach Frontera zu rückzukehren. Doch davon mehr, wenn es so weit ist. An diesem Nachmittag wurde die Santa Maria, mit uns an Bord, von einem Lotsen aus dem Hafen von Vera Cruz gebracht, und wir hörten den Lotsen flu chen, weil sie nicht richtig auf das Ruder reagierte. Als wir zu der Maschine traten, bemerkten wir, daß ihre Lager ständig durch Ströme von Wasser gekühlt werden mußten, obwohl die Räder während der Lie gezeit im Hafen nicht gelaufen waren. Der Señor fragte den Mann, der Maat und Maschi nist des Schiffes war, nach dem Grund dafür, und der antwortete achselzuckend, daß Sand in die Maschine rie gekommen sei, als sie über die Sandbank an der Mündung des Grijalva-Flusses gedampft seien, er je doch glaube, daß die Lager, wenn es den Heiligen ge falle, diese Reise noch durchhalten würden, falls wir nicht das Pech haben sollten, in el Norte, einen Nord wind, zu geraten, jene furchtbaren Stürme, die zu gewissen Jahreszeiten durch den Golf von Mexiko to ben. »Und was ist, wenn wir in el Norte geraten?« fragte er, worauf der Mann das Gesicht verzog, sich bekreu zigte, um das Omen abzuwenden, und durch ein Luk im Kohlebunker verschwand. Nun bedauerten wir, nicht doch das amerikanische Schiff genommen zu haben, da in letzter Zeit diese Nordstürme sehr häufig aufgetreten waren, doch wa ren wir jetzt auf der Santa Maria, und wir unterhielten uns damit, die anderen Passagiere zu studieren. Es mochten etwa zwanzig gewesen sein, mexikani sche Grundbesitzer und Beamte, die nach einem Be
such von Vera Cruz oder der Hauptstadt zu ihren Haciendas oder Heimatstädten zurückkehrten, von denen einige angenehme Mitreisende waren, andere wiederum nicht so sehr. Drei oder vier dieser Gen tlemen wurden von ihren Frauen begleitet, doch hat ten diese Damen sich bereits in ihre Kojen zurückge zogen, wo man sie trotz des völlig glatten Meeres unter der Seekrankheit leiden hörte. Unter den Passagieren war einer, ein Mann von nicht mehr als dreißig Jahren, der wegen seiner prächtigen Kleidung unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war hochgewachsen, von gutem Aussehen und grober Wesensart, und er hatte Indianerblut in den Adern, was sich an seiner dunklen Hautfarbe und den dichten, schwarzen Brauen zeigte, die sei nem Gesicht einen grausamen Ausdruck gaben. Wäh rend ich mich fragte, wer dieser Mann sein mochte, machte Molas mir ein Zeichen, beiseite zu treten und sagte: »Du scheinst an jenem Mann mit den Silber knöpfen an seiner Jacke interessiert zu sein. Er ist Don José Moreno, der Sohn jenes Don Pedro Moreno, der mich überfallen und der Nuggets beraubt hat, die der alte Indianer mir als Reisekosten gegeben hatte, als er mir den Auftrag gab, dich zu suchen. Ich habe damals gehört, daß José von der Hacienda nach Vera Cruz oder der Hauptstadt gereist sei, und offenbar kehrt er jetzt von dort zurück. Hüte dich vor ihm, Herr, und rate das auch dem Engländer, denn, genau wie sein Vater, ist er ein Bandit!« –, und er berichtete mir verschiedene Dinge über ihn und seine Familie. Während Molas sprach, wurde die Glocke zum Abendessen geläutet, doch wartete ich, bis er zu Ende gesprochen hatte, bevor ich nach unten ging. An der
Tür der Kabine stand der Kapitän, ein kräftiger Mann mit einem fahlen Mondgesicht und einem säuerlichen Lächeln. »Was wollen Sie, Señor?« fragte er. »Mein Abendessen, Señor«, antwortete ich. »Man wird es Ihnen an Deck hinaufschicken«, sagte er, ein wenig verwirrt. »Ich möchte nicht un höflich sein, Señor, aber Sie wissen doch, daß diese Mexikaner – ich bin Spanier, und denke da anders – sich nicht mit einem Indianer an einen Tisch setzen. Falls Sie also darauf bestehen sollten, hineinzugehen, wird es sicher Streit geben.« Obwohl die Beleidigung mich tief traf, war es doch eine, an die ich gewöhnt war, denn in diesem Lande, das den Indianern gehörte und in dem ihre Väter herrschten, sind sie unerwünscht. Da ich keinen Streit heraufbeschwören wollte, ver neigte ich mich und ging zurück. Kurz darauf schien Señor Strickland mich zu vermissen und fragte den Kapitän, wo ich sei, und meinte, vielleicht wisse ich nicht, daß das Essen bereit sei. »Falls Sie Ihren Diener, den Indianer, meinen soll ten«, sagte der Kapitän, »so habe ich ihn bei der Tür getroffen und zurückgeschickt. Dem Señor ist sicher lich bekannt, daß wir uns mit diesen Leuten nicht an einen Tisch setzen.« »Kapitän«, antwortete Señor Strickland, »auch wenn mein Freund Indianer ist, so ist er doch genau sogut ein Gentleman wie Sie oder jeder andere hier; außerdem hat er für ein Billett Erster Klasse bezahlt und hat also auch das Recht auf entsprechende Be handlung. Ich bestehe darauf, daß für ihn ein Stuhl an meine Seite gestellt wird!«
»Wie Sie wünschen«, sagte der Kapitän lächelnd, denn er war ein friedfertiger Mensch. »Aber wenn er herkommt, wird es Ärger geben.« Und er gab dem Steward den Befehl, mich zu holen. Nun war dieser Steward ein Indianer, der meinen Rang kannte. Deshalb wollte er mich nicht damit be leidigen, zu wiederholen, was geschehen war, son dern sagte mir nur, der Kapitän ließe mich bitten, zum Abendessen hinunterzukommen. Also tat ich es, wenn auch voller Zweifel, und als Señor Strickland mich in der Tür sah, rief er mit lauter Stimme: »Sie kommen spät, mein Freund, doch ich habe Ihnen ei nen Platz neben mir reserviert. Setzen Sie sich, sonst wird das Essen kalt!« Ich verneigte mich vor den Anwesenden und setzte mich, und sofort begann die Auseinandersetzung. Die Mexikaner begannen zu murren, und der neben mir sitzende Passagier rückte auf eine geradezu be leidigende Weise von mir ab. Mir fast gegenüber saß Don José Moreno, der Mann, von dem Molas mir be richtet hatte. Während ich mich setzte, flüsterte er ha stig mit seinem Nachbarn zu seiner Rechten, dann wandte er sich an den Kapitän und sagte mit lauter Stimme: »Hier muß ein Irrtum vorliegen; es ist nicht üblich, daß indianische Hunde am Tisch von Gentle men sitzen.« Der Kapitän zuckte die Achseln und sagte milde: »Diese Frage sollte der Señor vielleicht besser mit dem englischen Señor zu meiner Linken klären. Mir ist das gleich; ich bin nur ein armer Seemann und an jede Art von Gesellschaft gewöhnt.« »Señor Strickland«, sagte Don José, »haben Sie die Güte, Ihren Diener hinauszubeordern.«
»Señor«, antwortete der scharf, da er ein sehr hitzi ges Gemüt hatte, »bevor ich das tue, sehe ich Sie in der Hölle!« »Caramba!« sagte der Mexikaner und umspannte den Griff des Messers, das in seinem Gürtel steckte, »dafür werden Sie bezahlen, Engländer!« »Wann und wie immer es Ihnen genehm sein mag, Señor. Ich zahle immer meine Schulden.« Nun mischte sich der Kapitän ein, und auf eine ei genartige Weise. Zuerst streckte er die Hand hinter seinen Rücken und zog eine schwere Pistole aus der Tasche, die er neben seinen Teller legte. »Señores«, sagte er dann mit sanfter Stimme und einem freundlichen Lächeln, »ich mische mich nur ungern in den Streit zweier geschätzter Passagiere ein, doch auch wenn ich nur ein armer Seemann bin, ist es doch meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß es an Bord dieses Schiffes nicht zu Blutvergießen kommt. Deshalb werde ich mich, so sehr ich es auch bedauern mag, gezwungen sehen, den ersten Mann zu erschie ßen, der eine Waffe zieht.« Damit spannte er die Pi stole. Der Mexikaner runzelte wütend die Stirn, und Señor Strickland lachte laut auf, denn es war ko misch, einen Mann mit dem Gesicht eines Schafes wie einen Wolf knurren und drohen zu hören. Inzwischen hatte ich mich erhoben, denn diese Beleidigung war mehr, als ich ertragen konnte. »Señores«, sagte ich auf spanisch, »da ich sehe, daß meine Anwesenheit den meisten von Ihnen unwill kommen ist, werde ich mich eiligst zurückziehen. Be vor ich gehe, möchte ich Ihnen jedoch etwas sagen, nicht, um mich zu rühmen, sondern um das Eintreten
meines Freundes, des englischen Gentleman, für mich zu rechtfertigen. Wie hochgeboren Sie auch sein mö gen, meine Abkunft ist edler und älter als die Ihre, und deshalb dürfte es keine Schande sein, mit mir an einem Tisch zu sitzen. Und am allerwenigsten sollte Don José Moreno, dessen Vater ein Mörder und Stra ßenräuber ist, ein Mann ohne Scham und Skrupel, und dessen Mutter eine halbblütige Mestitza-Hure war, es wagen, mir gegenüber unverschämt zu wer den, der ich, wie jeder Indianer an Bord dieses Schif fes Ihnen bestätigen wird, ein Fürst unter meinem Volke bin.« Jetzt waren aller Augen auf Don José gerichtet. Sein dunkles Gesicht wurde fast grün, als er meine Worte hörte, und für einen Moment sank er in seinem Stuhl zurück, überwältigt von Wut. Dann sprang er auf und griff wieder nach seinem Messer. »Du Hund!« keuchte er. »Ich werde dir deine ver logene Zunge aus dem Maul schneiden.« »Sie werden es nicht tun, Don José Moreno«, sagte ich und blickte ihm ins Gesicht. »Was ich über Ihren Vater gesagt habe, ist wahr; es befindet sich sogar ein Mann an Bord des Schiffes, den er vor noch nicht drei Monaten gewaltsam ausgeraubt hat, und falls die an deren Gentlemen diese Geschichte hören wollen, bin ich gerne bereit, sie ihnen zu erzählen. Außerdem bin ich sehr gut in der Lage, mich zu verteidigen. Und dieses Schiff ist mit Indianern bemannt, die mich kennen; sollte also mir oder meinem Freund, dem Señor Strickland, irgendein Ungemach zustoßen, werden Sie nicht lebend nach Hause kommen. Gen tlemen, ich grüße Sie.« Ich verneigte mich und ging hinaus.
»Freund, ich danke Ihnen«, sagte ich, als er nach dem Abendessen an Deck trat. »Da Sie wissen, wer ich bin und miterlebt haben, wie ich, gleich allen an deren meiner Rasse, von Hunden wie diesen behan delt werde, wundert es Sie da noch, daß ich die Me xikaner nicht besonders mag?« »Nein, Ignatio«, antwortete er, »aber trotzdem möchte ich Ihnen raten, sich vor Don José in acht zu nehmen. Er ist kein Mann, der den Stock küßt, der ihn schlägt, und er wird Sie ermorden, und mich ebenfalls, wenn ihm das möglich sein sollte.« »Haben Sie keine Angst, Señor«, antwortete ich la chend. »Außer Molas und dem Steward sind noch zwanzig Indianer an Bord, die meisten von ihnen von dem Stamm, der jenseits von Campeche lebt, der be sten Rasse von Mexiko. Zwei dieser Männer sind dem Herzen verbunden, und alle anderen kennen meinen Rang und werden diesen Mann Tag und Nacht überwachen, so daß er uns nie nahe kommen kann, ohne daß sie bereitstehen. Nur halte ich es für besser, wenn wir an Deck schlafen, und nicht unten.« Diese Nacht verbrachten wir, in unsere Serapes ge wickelt, auf zwei Taurollen auf dem Vorschiff der Santa Maria, und Molas schlief in unserer Nähe. Es war eine wunderbare Nacht, und wir verbrachten die Stunden damit, einander Geschichten von Abenteu ern vergangener Jahre zu erzählen und über die zu spekulieren, die vor uns liegen mochten, bis wir schließlich, da wir nichts zu befürchten hatten und wußten, daß man über uns wachte, einschliefen, um wieder aufzuwachen, als die Maschine plötzlich still stand. Es hatte gerade zu dämmern begonnen; ein wun
derbares perlfarbenes Licht lag auf der ruhigen Ober fläche der See; über uns blinkten matte Sterne am Himmel, und im Osten standen rosa und violett ge färbte Wolkenbänke. Wir setzten uns auf und fragten uns, was geschehen sei, und sahen den Kapitän, in eine schmutzige Decke gewickelt, in ernstem Ge spräch mit dem Maschinisten, der ein noch schmutzi geres Hemd trug, und sonst nichts. Señor James trat zu den beiden und fragte, warum das Schiff gestoppt habe. »Weil die Maschine nicht mehr will und kein Wind zum Segeln da ist«, antwortete er höflich. »Aber es ist nichts zu befürchten; mein Freund sagt, daß er die Maschine wieder in Ordnung bringen kann. Er befaßt sich seit Jahren mit ihr und kennt alle ihre schwachen Stellen.« »Natürlich gibt es nichts zu befürchten bei einem Wetter wie diesem«, sagte der Señor, »außer Zeit verlust.« »Nein, nichts, nichts«, antwortete der Kapitän und warf einen nervösen Blick auf ein schmales, schwar zes Wolkenband am Horizont, das unter der wolligen Wolkenbank lag, in der die Lichter der Dämmerung brannten. »Glauben Sie, daß wir einen Nordsturm kriegen?« fragte der Señor auf die direkte Art der Weißen. »Nein, nein«, rief der Kapitän und bekreuzigte sich bei der Erwähnung dieser furchtbaren Macht – el Nor te, »doch quien sabe? Gott macht das Wetter, nicht wir armen Seeleute.« Und mit einem zweiten Blick auf die drohende Wolkenlinie eilte er davon, als ob er weiteren Gesprächen aus dem Weg gehen wollte. Schließlich begann die Maschine wieder zu arbei
ten, wenn auch stockend, wie ein lahmes Maultier, und als es heller wurde, klarte es auf und die schwar ze Wolke verschwand vom Horizont. Gegen drei Uhr nachmittags deutete Molas auf eine niedrige Küsten linie und eine Stelle, wo die Meeresdünung weiße Schaumkronen zeigte, und erklärte, daß dort die Sandbank des Grijalva-Flusses läge, und hinter ihr die Hafenstadt Frontera, unser Bestimmungsort. »Gut«, sagte der Señor, »dann werde ich schon meine Sachen an Deck holen.« Er ging in seine Kabine und brachte sie herauf. »Warum haben Sie Ihr Gepäck geholt?« fragte der Kapitän ihn kurz darauf, »Sie werden es doch heute abend brauchen.« »Eben deshalb habe ich es ja heraufgebracht«, ant wortete der Señor. »Ich möchte schließlich nicht ohne meine Sachen in Frontera an Land gehen.« »In Frontera an Land gehen, Señor? Niemand auf diesem Schiff wird vor sechs oder sieben Tagen in Frontera an Land gehen. Wir laufen an Frontera vor bei direkt nach Campeche, das wir, mit dem Segen der Heiligen, morgen abend erreichen werden.« »Aber ich habe Billetts für Frontera«, protestierte der Señor. »Der Agent hat sie mir verkauft, also be stehe ich darauf, hier an Land gesetzt zu werden.« »Das werden Sie auch, Señor. Wenn alles gut geht, erreichen wir Frontera heute in einer Woche, und dann können Sie an Land gehen, ohne daß Sie für die zusätzliche Zeit an Bord bezahlen müssen, doch mei ne Order lautet, vor Campeche keinen anderen Hafen anzulaufen – das heißt, falls ich nicht von el Norte da zu gezwungen werden sollte.« »Möge el Norte Sie, Ihr Schiff, Ihre Agenten und al
les, was mit Ihnen zu tun hat, auf den Grund des Meeres schicken!« antwortete der Señor mit einer so wütenden Stimme, daß die mexikanischen Passagie re, die zuhörten, über das Pech des Engländers zu la chen begannen, wenn auch die Besonneneren unter ihnen sich bekreuzigten, um das böse Omen abzu wenden. Dann folgte ein Sturm, denn der Señor – dessen Temperament, wie bereits gesagt, alles andere als kühl war – tobte und fluchte, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Der Kapitän hob die Schultern und entschuldigte sich; die Passagiere lächelten; und ich, der ich erkannte, daß den Dingen nicht abzuhel fen war, sah dem Disput mit der Geduld meiner Rasse zu. Schließlich floh der Kapitän, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rief: »Was für Men schen sind diese Briten, daß sie sich um ein wenig Zeit so aufregen? Mutter des Himmels! Warum haben sie es immer so eilig? Ist nicht morgen ebensogut wie heute, vielleicht sogar besser?« An jenem Abend nahmen wir das Essen an Deck ein, denn keiner von uns beiden hatte Lust, in die Ka bine hinabzugehen und Don José Moreno zu begeg nen, den wir seit dem vergangenen Abend nicht ge sehen hatten. Als wir gegessen hatten, wurde das Licht schwächer, und der Himmel verdunkelte sich auf seltsame Art, während im Norden plötzlich ein schmales, schwarzes Wolkenband erschien, ähnlich dem, das wir bei der Morgendämmerung dort er blickt hatten, doch hatte es jetzt blutrote Ränder und glühte wie der Rauch eines Schmelzofens bei Nacht. »Der Himmel sieht sehr seltsam aus, Ignatio«, sagte der Señor zu mir, und in diesem Augenblick hörten
wir Molas und einen indianischen Seemann ein paar rasche Worte wechseln. »El Norte?« sagte Molas und deutete auf den roten Lichtstreifen. »Si, el Norte«, antwortete der Seemann und ver schwand unter Deck. Kurz darauf kam der Kapitän heraufgestürzt und starrte auf den Horizont, dessen Anblick ihm Furcht einzujagen schien. Dann kam der Maat aus dem Ma schinenluk gekrochen und trat zu ihm, und die bei den begannen leise miteinander zu sprechen, oder vielmehr zu disputieren. Ich saß in der Nähe, unge sehen im Dunkel, und, soweit ich es verstehen konn te, war der Maat dafür, sofort umzukehren und den Hafen von Frontera anzulaufen, von dem wir etwa vierzig Meilen entfernt waren. Der Kapitän entgegnete, daß der Nordsturm sie packen würde, bevor sie ihn erreichen konnten, und sie womöglich auf der Sandbank des Grijalva-Flusses Schiffbruch erleiden würden; doch fügte er hinzu, er glaube nicht, daß es einen Nordsturm geben würde, wenn es das Unglück aber wolle, daß einer käme, so läge ihre beste Chance darin, das offene Meer zu er reichen und ihn durchzustehen. Der Maat antwortete, daß dies ein guter Vorschlag wäre, wenn das Schiff zuverlässig und die Maschine intakt wären, so aber, erklärte er mit lauter Stimme, könnten sie genausogut versuchen, ein Boot mit ei nem Mast aus Zigaretten zu segeln, als zu versuchen, mit leckenden Kesseln, abgenutzter Maschine und defekten Schaufelrädern in einen Nordsturm hinein zulaufen. Danach wurde die Diskussion heftig, und so voller
Flüche, wie das Maul eines Hais voller Zähne ist, doch schließlich einigten sich die beiden Seeleute darauf, daß es am sichersten sei, diesen Kurs beizu behalten und, so es nötig werden sollte, Kap Xicalan go zu umrunden und hinter der Carmen-Insel Schutz zu suchen, oder, wenn möglich, in die Mündung des Usumacinto-Flusses einzulaufen. Dann trennten sie sich, nachdem der Kapitän den Maat ermahnt hatte, den Passagieren nichts von dem nahenden Unwetter zu sagen, vor allem nicht dem verfluchten Engländer, der dieses Unheil auf sie herabbeschworen hätte, weil er nicht in Frontera an Land gebracht worden war, und dessen böser Blick Unglück brächte. Zwei Stunden vergingen, ohne daß eine Änderung eintrat, außer daß die Nacht dunkler und dunkler wurde, und stiller und stiller. Señor Strickland, der an Deck auf und ab ging und eine Zigarre rauchte, trat zu mir, setzte sich neben mich auf eine Taurolle und fragte, ob ich glaube, daß ein Nordsturm kommen würde. »Ja, er kommt«, antwortete ich, »und ich fürchte, daß er uns versenken wird, jedenfalls sind die india nischen Seeleute der Meinung.« »Sie nehmen die Aussicht, wie ein junger Hund er säuft zu werden, sehr gelassen auf, Ignatio. Wie weit sind wir von Kap Xicalango entfernt?« »Etwa zwölf Meilen, glaube ich, und ich nehme es gelassen auf, weil es sinnlos wäre, sich aufzuregen. Gott wird uns beschützen, wenn Er so will, und wenn Er so will, wird Er uns ertränken. Es ist kindisch, sich gegen das Schicksal aufzulehnen.« »Ein wahrer Indianerglaube, Ignatio«, antwortete er, »ihr setzt euch einfach hin und sagt: ›Es ist Schick
sal, laßt uns es auf uns nehmen‹, doch das ist etwas, das die Menschen meines Volkes nicht glauben. Wenn sie es täten, so wäre England heute nicht das erste Land der Welt, sondern längst untergegangen, denn oft hat es Angesicht zu Angesicht mit dem Schicksal gestanden, und es besiegt. Was mich be trifft: wenn ich schon sterben muß, so möchte ich kämpfend sterben. Sagen Sie mir, sind einige dieser Leute zuverlässig, wenn es darauf ankommt?« »Die indianischen Seeleute sind Männer aus Cam peche und tapfer; außerdem kennen sie die Küste, und wenn es nötig sein sollte, werden sie tun, was ich ihnen sage. Was die anderen betrifft, so weiß ich nichts von ihnen, doch der Kapitän scheint etwas von seinem Handwerk zu verstehen. Sehen Sie!« Als er das sagte, zuckte ein heller Blitz durch den Himmel über uns, gefolgt von einem dröhnenden Donnerschlag. In seinem grellen Licht konnten wir die drei bis vier Meilen entfernt liegende Küste er kennen, und fast direkt vor uns die scharfen Umrisse von Kap Xicalango. Das Wasser um unser Schiff war völlig unbewegt und glitt wie Öl an seinen Seiten entlang; der Rauch aus dem Schornstein stieg fast senkrecht in die Luft, wo er in einer gewissen Höhe herumgewirbelt wurde, und ein Segel, das aufgezo gen worden war, klatschte schlaff gegen den Mast, da kein Wind da war, um es zu füllen. Eine Meile oder so windwärts bot sich aber ein ganz anderes Bild, denn dort kam jetzt der Nord sturm heran, raste auf uns zu wie etwas Lebendiges; vor ihm her lief eine Linie weißer Schaumkronen, die aus der stillen Oberfläche der See gerissen wurden, hinter ihr erstreckte sich eine von Blitzen zerrissene,
dichte schwarze Wolkenwand von der Oberfläche des Meeres bis zum Himmelsgewölbe. Der Kapitän, der jetzt wieder an Deck war, er kannte die Gefahr, denn wenn die Sturmböen uns breitseits trafen, würden wir unweigerlich kentern. In der unheimlichen Stille, die dem Donnerschlag folgte, schrie er dem Rudergänger zu, Kurs auf die offene See zu nehmen, und befahl den Matrosen, das achtere Luk zu verkeilen, das einzige, das noch offen geblie ben war, so daß die Passagiere, mit Ausnahme von uns und Molas, unter Deck eingeschlossen waren. Seine Befehle wurden sofort und kompetent ausge führt, die Santa Maria schwang herum und paddelte auf das offene Wasser zu, und auf die heranstürmen de Linie weißen Schaums. Es war ein furchtbarer An blick, wie dieses kleine Schiff in etwas hineinfuhr, das wie der Rachen des Todes wirkte. Jetzt wurde die unnatürliche Stille durchbrochen, ein leises Stöhnen vibrierte durch die Luft, das Wasser zu beiden Seiten des Schiffes begann zu kochen und zu zischen, und vom Sturm gepeitschte Gischt traf unsere Gesichter wie der Schlag einer Peitsche. Sekunden später türmte sich etwas Weißes, Ge waltiges vor unserem Bug auf, und bei seinem An blick schrie der Kapitän, dessen Gesicht im Licht der Blitze so bleich wie der Tod wirkte, der Mannschaft einen Befehl zu. »Legen Sie sich an Deck und halten Sie sich an dem Tau fest!« sagte ich zu Señor Strickland und Molas, die neben mir standen, »hier kommt el Norte, und er bringt den Tod für viele, die an Bord dieses Schiffes sind.«
6
›El Norte‹
Im nächsten Augenblick fiel el Norte über uns her. Zunächst wurde das Schiff von einer plötzlichen Sturmbö gepackt, die es erzittern ließ und mit einem scharfen Knall das Klüversegel zerriß, das nicht ge refft worden war. Diese Bö heulte vorbei, und dann kam der eigentliche Sturm herangerollt. Uns kam es vor, als ob die Santa Maria kopfüber in eine riesige Woge tauchte, eine gerade Linie weißer Gischt, die von Blitzen erleuchtet und vom Sturm vorangepeitscht wurde, und dann fuhr diese Wand schäumenden Wassers vom Bug bis zum Heck über das Deck und riß alles mit, was nicht festgelascht war, auch zwei der indianischen Seeleute. Uns hätte sie ebenfalls mitgerissen, wenn wir uns nicht mit aller Kraft an einem Tau festgeklammert hätten, das um den Vormast verknotet war, so daß wir nur völlig durchnäßt wurden. Ein paar Sekunden lang stand das Schiff völlig still, und es schien, als ob es durch das Gewicht des Was sers auf seinem Deck in die Tiefe gedrückt würde, doch als dies in schäumenden Katarakten herab strömte, erhob es sich wieder und pflügte weiter. Glücklicherweise war dieser erste Anschlag des Sturms auch der schlimmste gewesen, und er hatte es nicht an der Breitseite getroffen, denn noch eine oder zwei solcher Wogen würden uns unter Wasser ge drückt haben. Nachdem das Schiff vom Sturm getrieben ufer
wärts gestürmt war, trat für eine kurze Weile eine Art Windstille ein, und dann fiel der Hurrikan mit seiner ganzen Wucht über die Santa Maria her. Für eine Weile kämpfte sie gegen den heulenden Sturm und die gewaltigen Wogen an, nahm dabei jedoch soviel Wasser über, daß der Kapitän die Maschine auf halbe Kraft drosseln ließ, was dem Schiff, wie er hoffte, ge nügend Fahrt geben würde, ohne es vollaufen zu las sen. Jetzt nahm es zwar weniger Wasser über, wurde jedoch, wie sehr bald erkennbar, auf Kap Xicalango zugetrieben, und wir wußten, daß nur noch ein Wunder uns retten konnte. Eine Stunde oder länger stand die Santa Maria diesen tapferen und ungleichen Kampf durch und wurde dabei von der Gewalt des Sturms ständig weiter zurückgedrückt, bis wir schließlich im grellen Licht der Blitze die Brecher des Kaps keine zweihundert Schritte hinter ihrem Heck gischten sahen. Der Kapitän sah sie ebenfalls und unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch, das Schiff zu retten. Er änderte den Kurs ein wenig, so daß die Wellen den Bug jetzt dwars an der Backbord seite trafen, und gab dann den Befehl: »Volldampf voraus!«, worauf wir wieder etwas Fahrt aufnahmen. Sowohl zuvor als auch danach habe ich viele Fahr ten im Golf von Mexiko unternommen, und bei jedem Wetter, doch niemals habe ich dabei etwas erlebt, das dem gleichkommt, was nun folgte. Das Schiff stampfte und stieß und rollte, hob erst den Bug und dann das Heck hoch über die Wellen, bis es schien, daß es in Stücke brechen müßte, während bei jedem Eintauchen Tonnen von Wasser über das Deck bra chen, das dann, wenn es sich wieder aufrichtete,
durch die zerbrochenen Schanzkleider wieder zu rückströmte. Langsam, unendlich langsam, gewannen wir Ab stand von dem Kap und gelangten in den Kanal, der zwischen ihm und der Carmen-Insel liegt, doch war die Belastung zu stark, um lange andauern zu kön nen. Nach einer Folge entsetzlicher Stöße, blieb das eine Schaufelrad plötzlich stehen, und das andere brach in Stücke; ein Schreien vom Unterdeck verriet denen oben, daß die abgenutzte Maschine endgültig zusammengebrochen war. Wir befanden uns jetzt mitten im Kanal, durch den eine kochende Strömung, getrieben von der Gewalt des Sturms und dem Druck der einlaufenden Flut das Wasser mit einer Geschwindigkeit von fünfzehn oder sechzehn Knoten vorantrieb und die Santa Maria mit sich riß, wie ein Stück Holz in einer überfließenden Gosse fortgespült wird. Zweimal wurde sie um die eigene Achse gedreht, denn jetzt, da die Maschine ausgefallen war, gab es keine Möglichkeit mehr, ihren Steven in den Wind zu halten, weil sie über keinen Treibanker verfügte, und als sie beim zweiten Mal breitseits zu ihm lag, rollte eine grüne Woge über das Deck und riß alles mit sich, einschließlich der Boote, mit Ausnahme des Kutters, der glücklicherweise auf der Steuerbordseite in Davits hing und so außerhalb ihrer Reichweite war. Im armseligen Schutz des Mastes kauernd klam merten wir drei uns wieder an unserem Tau fest und ließen es auch nicht fahren, als das Wasser uns über das Deck schrammte und uns so lange bedeckte, daß wir glaubten, unsere Lungen würden bersten, ehe es uns wieder freigab. Zu unserem Glück hatte die
Welle auch die Reste des Steuerbordschanzkleides zertrümmert, so daß das Wasser ungehindert abflie ßen konnte, denn sonst wäre das Schiff sofort gesun ken. Doch hatte sie ihr Zerstörungswerk vollbracht, denn das Maschinenraumluk und das Luk der Kabine waren eingedrückt worden, und die Santa Maria war halb voll Wasser. Bevor die nachfolgende Woge sie erreichte, war ihr Bug herumgeschwungen, und in dieser Position wurde sie den Kanal entlanggetrieben, das Deck jetzt nicht mehr als vier Fuß über Wasser. Von Zeit zu Zeit brach jetzt der Mond zwischen den Sturmwolken hervor und enthüllte eine entsetzli che Szene. Reste der kleinen Brücke standen noch, und an ihnen war der Körper des Kapitäns aufrecht stehend festgelascht, doch da er weder sprach, noch sich bewegte, erfuhren wir nie, ob er nur vor Angst gelähmt oder von dem umstürzenden Schornstein er schlagen worden war. Sie werden sich erinnern, mein Freund, daß er be fohlen hatte, die Passagiere unter Deck einzuschlie ßen, und dort blieben sie auch, ihrer zwanzig oder mehr, bis das Luk eingeschlagen wurde. Nun aber kamen sie heraufgestürmt – mit Ausnahme von zweien oder dreien, die von den herabstürzenden Wassermassen ertränkt worden waren –, da sie nicht länger unten bleiben konnten, und sie schrien und fluchten und beteten, klammerten sich an Resten des Schanzkleides fest, an den Wanten des Mastes und an allem und jedem, von dem sie hofften, daß es sie vor den gnadenlosen Wellen retten mochte. Schrecklich war das Jammern der Frauen, die, nur mit ihren Nachthemden bekleidet, jetzt zum ersten
mal seit dem Auslaufen von Vera Cruz ihre Kojen verlassen hatten. Hysterisch vor Angst und ohne jede Kenntnis der Gefahren der See warfen diese armen Kreaturen sich der Länge nach an Deck und ver suchten, sich an den schlüpferigen Planken festzu halten, von denen sie, eine nach der anderen, ins Meer rollten, wenn das Schiff überholte, oder von den hereinbrechenden Seen fortgerissen wurden. Einige der Männer folgten ihnen ins nasse Grab, während andere, die ihren klaren Verstand bewahren konnten, nach vorn krochen, um den über das Heck hereinbrechenden Wellen zu entrinnen, doch machte niemand den Versuch, die anderen zu retten, und es wäre auch unmöglich gewesen. Unter denen, die vorwärts krochen, wo einige der indianischen Seeleute sich an ein um den Stumpf des abgebrochenen Vormastes geknotetes Seil klammer ten, war auch Don José Moreno. Selbst in seiner Furcht, die ihm anzusehen war, konnte dieser Mann noch bösartig sein. Als er den Señor erkannte, schrie er: »Ah! Maldonado!* – Sie haben den Nordsturm auf uns herabbeschworen. Nun, zumindest sollen Sie mit den anderen sterben!« Er riß sein langes Messer her aus, hielt sich mit einer Hand am Tau fest und ver suchte, die Klinge in den Körper des Señors zu sto ßen. Zweifellos wäre diese Untat ihm auch gelungen, wenn nicht der indianische Bootsmann, der in unse rer Nähe war, sich nicht vorgebeugt und ihm mit der geballten Faust einen so harten Schlag auf den Unter arm versetzt hätte, daß ihm das Messer aus der Hand geschleudert wurde und José bei dem Versuch, es zu * mit bösen Gaben Bedachter
packen, bevor es über Bord gespült wurde, an Deck stürzte, wo er liegen blieb und keinen weiteren An griffsversuch mehr unternahm. Später sagte der Señor mir, daß er in dem Entsetzen und dem Chaos der Situation kaum etwas von dem Anschlag auf sein Leben gewahr geworden war, ob wohl ihm am folgenden Morgen alle Einzelheiten wieder erinnerlich waren, und mit ihm sein Erstau nen darüber, daß die Indianer selbst angesichts des Todes nicht ihr Versprechen vergaßen, über unsere Sicherheit zu wachen. Währenddessen wurde die Santa Maria, voll Was ser gelaufen und sinkend, in ihr Verderben getrieben. Unsere letzte Stunde hatte geschlagen, und diese Er kenntnis schien den Geist von Señor Strickland, der an meiner Seite hockte, so zu lähmen, wie Kälte und Nässe seinen Körper gelähmt hatten. Und das war auch kein Wunder, denn es war schrecklich, auf diese Art umkommen zu müssen. »Können wir denn gar nichts tun?« fragte er mich schließlich. »Fragen Sie doch die Indianer, ob noch ir gendeine Hoffnung besteht.« Ich brachte mein Gesicht nahe ans Ohr des Boots mannes, sprach mit ihm und schrie dann zurück: »Er sagt, daß die Strömung uns um die Spitze der Insel herumbringen wird, und falls das Schiff durchhält, kommen wir dann in ruhigeres Wasser, wo es überle ben könnte, wenn noch jemand da ist, um die Lenz pumpe zu bedienen. Er glaubt jedoch, daß es vorher sinken wird.« Als der Señor dies hörte, barg er das Gesicht in den Händen und begann zweifellos zu beten, was ich ebenfalls tat. Bald jedoch hörten wir damit auf, da wir
das Kap umrundeten und wieder die Wellen über das Schiff hereinbrachen. Ein paar Minuten lang herrschte ein Chaos, das nicht zu beschreiben ist, doch dann, obwohl der Sturm nach wie vor über uns hinwegpfiff, hatten wir das Gefühl, in Wasser zu gelangen, das uns fast ruhig vorkam. Das Schiff stampfte und schlingerte nicht mehr, sondern rollte nur noch leicht, während es langsam tiefer sank, und der Mond, der jetzt zwi schen den Wolken hervorbrach, zeigte uns, daß sein Deck nur noch zwei oder drei Fuß aus dem Wasser ragte. Sechs Indianer, wir drei, Don José, der be wußtlos zu sein schien, und der Körper des Kapitäns, der an die Trümmer der Brücke gelascht war, waren alle, die von Besatzung und Passagieren der Santa Maria übriggeblieben waren. Alle anderen waren ins Meer gerissen worden, doch dicht neben uns hing noch immer der Kutter in seinen Davits. Der Señor sah ihn, und ich glaube, daß er ihn an seinen vor wenigen Stunden geäußerten Willen erin nerte, kämpfend zu sterben, jedenfalls schrie er: »Das Schiff sinkt! Ins Boot, rasch!« Damit lief er zu dem Kutter und kletterte hinein, gefolgt von mir und Molas und den sechs indianischen Seeleuten. Der Kutter war fast bis zum Dollbord mit Wasser gefüllt, das wir nur entleeren konnten, wenn wir den Holzstopfen im Boden des Rumpfes herauszogen. Glücklicherweise wußte der Bootsmann, derselbe, der Don José das Messer aus der Hand geschlagen hatte, wo er danach zu suchen hatte, und da er ein mutiger und kluger Seemann war, konnte er ihn auch herausziehen, so daß das Wasser in einem dicken Strahl herausschoß. Währenddessen zogen die ande
ren Indianer, angefeuert von der Hoffnung, dem Tod entrinnen zu können, die Riemen hervor und lösten die Seile der Davits, um das Boot zu Wasser lassen zu können, wenn es soweit leergelaufen war, daß es schwimmen würde. »Steckt den Stopfen wieder hinein!« sagte der Señor. »Das Schiff sinkt, den Rest müßt ihr ausschöp fen.« Eine halbe Minute später war es getan, und auf ein Kommando des Bootsmannes ließen die Seeleute den Kutter zu Wasser – es war nicht weit –, und wir schwammen und hielten von dem Schiff ab. Kaum hatten wir den Bug des Kutters herumge bracht und drei oder vier Ruderschläge getan, als wir vom Deck der Santa Maria laute Hilferufe hörten, und dann sahen wir Don José Moreno, der auf dem nun fast überspülten Deck stand und sich an die Reste des Schanzkleides klammerte. »Um der Liebe Gottes willen, kommt zurück!« schrie er. Die Ruderer zögerten, doch der Bootsmann sagte mit einem indianischen Fluch: »Rudert weiter, und laßt den Hund ersaufen!« Es schien, als ob Don José ihn gehört hätte, jeden falls stimmte er ein so mitleiderregendes Gejammer an, daß das Herz des Señors, das immer zu weich war, davon angerührt wurde. »Wir können diesen Mann nicht seinem Schicksal überlassen«, sagte er. »Rudert zurück!« »Er hat erst vorhin versucht, Sie zu ermorden«, rief der Bootsmann, »und wenn wir dem Schiff zu nahe kommen, reißt es uns mit sich in die Tiefe!« Dann wandte er sich mir zu und fragte: »Befiehlst du uns, umzukehren, Herr?«
»Da der Señor es wünscht, befehle ich es euch«, antwortete ich. »Wir müssen diesen Mann retten und auf unser Glück vertrauen.« »Er, dem wir gehorchen müssen, befiehlt es!« rief der Bootsmann. »Pullt zurück, meine Brüder!« Mürrisch, doch folgsam pullten die Indianer rück wärts, bis das Heck des Kutters nur wenige Fuß vom Schiff entfernt war, das in der Dünung rollte, bevor es versank. Auf Deck, an die Wanten des Mastes ge klammert, stand Don José – sein glattes, geöltes Haar wehte ihm in Strähnen ums Gesicht; sein eleganter Anzug war durchnäßt und zerrissen. »Retten Sie mich!« schrie er heiser. »Retten Sie mich!« »Springen Sie ins Meer, Señor, und wir fischen Sie heraus!« »Ich wage es nicht«, rief er zurück. »Kommen Sie an Bord und holen Sie mich!« »Wünscht der Señor noch immer, daß wir blei ben?« fragte der Bootsmann. »Hören Sie, Sie feiger Hund!« schrie der Señor. »Das Schiff sinkt und wird uns mit sich reißen. Wenn ich bis drei zähle, Männer, legt euch in die Riemen! Also, kommen Sie jetzt, oder nicht? Eins ... zwei ...« »Ich komme!« schrie der Mexikaner, und getrieben von der Verzweiflung stürzte er sich ins Meer. Mit einiger Schwierigkeit gelang es dem Señor, unterstützt von einem Indianer mit dem Bootshaken, ihn zu packen, als er von der Strömung vorbeigetra gen wurde. Ich muß zugeben, daß ich dabei keine Hand rührte, denn – möge mir diese Sünde vergeben werden – mein Mitleid war nicht stark genug, um in mir den Wunsch zu erwecken, diesen Schurken zu
retten. So blieb es jedoch für eine Weile, da die Män ner keine Zeit hatten, ihn an Bord zu ziehen, denn in diesem Augenblick brach das Deck der Santa Maria mit lautem Krachen auseinander, und sie begann zu sinken. »Pullt um euer Leben!« schrie der Bootsmann den Ruderern zu, und sie legten sich in die Riemen und schleppten Don José im Kielwasser des Kutters mit. Mit dem Bug voran tauchte nun die Santa Maria in die Tiefe und ließ einen Strudel Wasser entstehen, der uns rückwärts auf sich zu sog. Für einen Augenblick stand es auf des Messers Schneide, denn der Wirbel, den das sinkende Schiff verursachte, war so stark, daß er uns um ein Haar mit sich gerissen hätte, doch am Ende trugen die kräftigen Arme der Indianer den Sieg davon und pullten unser Boot aus der Gefahren zone. Sobald diese Gefahr vorüber war, zogen die See leute Don José über die Bordwand in den Kutter, wo er keuchend, doch unverletzt liegenblieb. Nun erhob sich die Frage, was wir tun konnten, um unser Leben zu retten. Wir lagen im Windschatten der Carmen-Insel, die uns etwas vor der Gewalt des Nordsturms schützte, und konnten entweder versuchen, auf der Insel zu landen, oder umdrehen und auf die Mündung des Usamacinto-Flusses zuzulaufen. Es gab noch eine dritte Möglichkeit: den Bug des Bootes in den Wind zu halten, und es bis Tagesanbruch treiben zu lassen. Schließlich war es dies, wofür wir uns entschieden. Das heißt, die Entscheidung wurde uns abgenom men, denn noch während wir darüber diskutierten, ergoß sich plötzlich ein wolkenbruchartiger Regen
auf uns hernieder und verdunkelte das spärliche Mondlicht, so daß jede Landung unmöglich wurde, selbst wenn die Beschaffenheit der Küste sie uns er laubt hätte. Deshalb drehten wir bei und konzen trierten unser Denken und unsere Kraft darauf, zu verhindern, daß die Wellen, die immer höher und höher schlugen, je weiter wir aus dem Windschatten der Insel trieben, unser Boot überschwemmten oder zum Kentern brachten. Es war ein harter Kampf, und wenn der Regen nicht gewesen wäre, dessen Wucht die Wellen nie derpeitschte, hätten wir ihn nicht bis zum Morgen durchhalten können. Selbst so aber wären wir mit Si cherheit gekentert, wenn das Boot, das glücklicher weise recht neu war, nicht so stabil gewesen wäre, und der Bootsmann, der es kommandierte, nicht ein so ausgezeichneter Seemann. Stunde um Stunde hockte er im Bug des Kutters, starrte mit seinen schar fen Augen durch Regen und Dunkel, und rief den Männern Befehle zu, wenn er hörte oder sah, wie ein weißgischtender Brecher auf uns zugerollt kam, der uns dann emporschleuderte und auf seiner Rückseite in ein Wellental stürzen ließ, wobei das Boot manch mal halb mit Wasser gefüllt wurde, das ausgeschöpft werden mußte, bevor die nächste See über uns her einbrach. Später sagte mir der Señor, daß es ihn, der die Nei gung der Indianer kannte, sich eher einem Unheil zu unterwerfen, als sich dagegen zur Wehr zu setzen, er staunt habe, daß diese Männer so tapfer gekämpft hatten, anstatt ihre Riemen hinzuwerfen und sich er tränken zu lassen. Ich war ebenfalls darüber ein we nig verwundert, bis ich bald darauf die Erklärung da
für fand, denn einmal, als eine See, die noch größer war als alle vorangegangenen, das Boot fast bis zum Bordrand überflutet hatte, hörte ich den Bootsmann seinen Männern zurufen: »Seid tapfer, meine Brüder! Der Hüter des Herzens ist bei uns, den der Tod flieht!« Dem Señor schien das dagegen gar kein Trost zu sein, da er nicht daran glaubte, daß irgendein Talis man uns vor den Gewalten des Sturmes und der See retten könnte, und ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Durchnäßt und halb erfroren, wie er war, seine Ner ven verschlissen von den entsetzlichen Szenen, die wir auf dem untergehenden Schiff erlebt hatten, und von den Gedanken an die vielen, die es mit sich in die Tiefe gerissen hatte, verließ ihn, wie er mir später eingestand, schließlich doch der Mut. Nach außen hin ließ er sich jedoch von diesem Zu stand nichts anmerken, er folgte nicht dem Beispiel des Mexikaners, der auf dem Boden des Bootes hockte, stöhnend und jammernd und seine Sünden bekennend, die sehr zahlreich zu sein schienen. Señor James saß nur reglos und ergab sich in sein Schicksal, bis nach und nach seine Kräfte, die körperlichen wie auch die geistigen, ihn verließen und er in eine Art Erstarrung zu fallen schien. Und das war auch kein Wunder, denn selten hatten sich Schiffbrüchige in ei ner hoffnungsloseren Lage befunden. Der jede Sicht verhindernde Regen, die verwirrende Dunkelheit, der heulende Sturm, die rauschenden Wogen, alles tat sich zusammen, um uns zu vernichten, während wir in unserem zerbrechlichen Boot einem unbekannten Ziele zutrieben. Während Minute um Minute dieser endlosen
Nacht verging, kam uns ein Überleben immer un möglicher vor, denn jede von ihnen nahm etwas von der körperlichen Kraft und geistigen Energie jener mit sich, die so tapfer gegen das Verhängnis an kämpften, das uns überschattete. Was mich betraf, so war ich überzeugt, daß meine Stunde geschlagen hatte, doch berührte mich das nicht sonderlich, da mein Leben nicht so glückhaft und nicht so erfolg reich gewesen war, daß der Gedanke, es zu verlieren, mich traurig stimmte. Außerdem hatte ich mir, seit ich zum Manne herangewachsen war, zur täglichen Aufgabe gemacht, mich geistig auf den Tod vorzube reiten, und so zu leben, daß ich mich vor seinem Kommen nicht zu fürchten hatte. Ich bin, ehrlich gesagt, der Ansicht, daß das Leben eines jeden denkenden Menschen ohne eine solche Vorbereitung ein einziges, fortdauerndes Elend sein muß, angesichts dessen, daß schließlich, mag er sich auch noch so sehr dagegen wehren, das Schicksal ihn einholen wird, und daß es kein Ereignis in unserem Leben gibt, das sich an Bedeutung mit seinem un vermeidlichen Ende messen kann. Wir leben nicht, um dem Tode zu entrinnen, sondern um zu sterben; das ist der große Sinn und Zweck unseres Daseins. Trotzdem, der Tod ist entsetzlich, besonders wenn er von uns verlangt, in dem Chaos eines Schiffsunter gangs Stunde um Stunde auf ihn zu warten. Deshalb war ich sehr dankbar, daß ich, nachdem ich mein Serape um den Körper meines Freundes ge schlungen hatte, schließlich, von Kälte und Erschöp fung so überwältigt, und nach einer geraumen Zeit, in der die Gegenwart zu verschwimmen schien und alle meine Ängste und Hoffnungen der Zukunft mit
sich nahm, und die Vergangenheit bevölkert von den Toten, allein in mir verblieb, ebenfalls das Bewußt sein verlor. Wie lange ich in diesem gnädigen Zustand des Vergessens verblieb, kann ich nicht sagen, doch weiß ich, daß ich von Molas aus ihm herausgerissen wur de, der mich schüttelte und mit einer Stimme, die vor Kälte oder Freude oder auch beidem zitterte, in mein Ohr schrie: »Wach auf! Wach auf! Wir sind gerettet!« »Gerettet?« sagte ich verwirrt. »Wovor?« »Vor dem Tod im Meer. Sieh doch, Herr.« Unter ziemlichen Schmerzen, denn das Gischtwas ser hatte auf meinem Gesicht eine Salzkruste hinter lassen, die mir in die Haut biß, öffnete ich die Augen und sah, daß der Morgen schon eine Stunde alt war, und wenn auch der Himmel noch immer eine bleier ne Farbe zeigte, so trieben wir doch nicht mehr in der See, sondern auf den Wassern eines Flusses, auf des sen Sandbank hinter uns die Brecher dröhnten. »Wo sind wir?« fragte ich. »Im Usumacinto-Fluß, gedankt sei Gott!« antwor tete Molas. »Wir sind im Dunkel über die Bucht ge trieben worden, und bei Morgengrauen befanden wir uns unmittelbar vor den Brechern. Irgendwie haben wir sie sicher passieren können, und vor uns liegt ge segnetes Land.« Ich blickte auf das Ufer des Flusses, das mit Schilf und Gras bewachsen war, von hohen Palmen über ragt. Dann sah ich meine Begleiter an. Señor Strick land lag wie tot unter der Serape, das ich über ihn ge worfen hatte, den Kopf an die Bordwand gelehnt, doch der Mexikaner, Don José, hatte sich jetzt aufge setzt und starrte mit wilden Augen zum Ufer.
Die Indianer, die Männer, denen wir unser Leben verdankten, waren völlig erschöpft. Zwei von ihnen schienen auf ihren Plätzen bewußtlos zusammenge brochen zu sein, und ich sah, daß ihre Handflächen von den Riemen blutig gerieben waren. Die drei an deren lagen keuchend zwischen den Ruderbänken, doch Molas, der neben mir saß, hielt noch immer das Steuerruder in der Hand, und der Bootsmann saß nach wie vor aufgerichtet im Bug des Bootes, wo er so viele entsetzliche Stunden lang dem Tod ins Antlitz geblickt hatte. »Sage, Herr«, fragte er und wandte mir sein Gesicht zu, das hohl war von Nervenanspannung und Stra pazen, und weiß von einer Salzkruste, »kannst du rudern? Wenn ja, so nimm die Riemen und bringe uns ans Ufer, denn unsere Arme können nicht mehr.« Nun stemmte ich mich mit großer Mühe hoch, weil jede Bewegung mir Schmerzen bereitete, und es ge lang mir, den Kutter ans Ufer zu bringen. Als sein Kiel dort auf Grund lief, brach die Sonne durch die dünner werdenden Wolken. Sobald das Boot festgemacht war, hoben Molas und ich den Señor von Bord, trugen ihn auf das Ufer und zogen ihm die durchnäßte Kleidung aus, damit die Sonne seine Glieder wärmen mochte, die blaugefro ren waren. Als die Wolken sich auflösten und die Sonnenwärme zunahm, sah ich, wie das Blut wieder unter seine weiße Haut zurückzuströmen begann und jubelte innerlich, denn nun wußte ich, daß er nur geschlafen hatte, und daß die Flut des Lebens in sei nen Adern wieder zu steigen begann, genau wie in den meinen. Während wir so saßen und uns im Sonnenlicht
aufwärmten, tauchten einige Indianer auf, die zu ei nem Rancho, oder Dorf, gehörten, das eine halbe Meile entfernt lag. Als diese Männer von unserem Unglück erfuhren, und wer wir waren, liefen sie so fort nach Hause zurück, um uns Nahrung zu holen, nachdem sie uns vorher einen Regenwassertümpel gezeigt hatten, der uns sehr willkommen war, da Wind und Salz unsere Kehlen völlig ausgetrocknet hatten. Als sie etwa eine Stunde fort waren, wachte der Señor auf und bat um Wasser, das ich ihm in ei nem Bootsschöpfer reichte. Dann fragte er, wo wir uns befänden und was geschehen sei. Als ich es ihm erklärt hatte, schlug er die Hände vors Gesicht und saß eine Weile stumm. Dann sah er mich an und sag te: »Ich bin ein Narr und ein Prahlhans, Ignatio. Ich sagte, daß ich kämpfend sterben wolle, doch diese Männer sind es, die gekämpft und mein Leben ge rettet haben, während ich ohnmächtig geworden bin wie ein kleines Mädchen.« »Mir ist es genauso ergangen, Señor«, antwortete ich; »nur jene Männer, die an den Riemen gearbeitet haben, konnten ihre Sinne beisammen halten, denn die körperliche Anstrengung hat sie einigermaßen durchwärmt. Kommen Sie zum Fluß und waschen Sie sich, denn Ihre Kleidung ist wieder trocken.« Ich warf ihm seine Serape um die Schultern und führte ihn zum Wasser. Als wir das Ufer hinabstiegen, trafen wir den Bootsmann; der Señor blieb stehen, streckte ihm seine Hand entgegen und sagte: »Sie sind ein tapferer Mann und haben uns allen das Leben gerettet.« »Nein, Señor, nicht ich«, antwortete der Indianer. »Sie vergessen, daß der Hüter des Herzens bei uns
war, und das Herz, das so lange ausgehalten hat, kann nicht untergehen. Dieses wußten wir, und des halb haben wir weitergearbeitet, in der Gewißheit, daß unsere Mühen nicht umsonst sein würden.« »Ich beginne fast, selbst an Ihren Talisman zu glau ben, Ignatio«, sagte der Señor mit einem Achselzuk ken. »Gestern nacht jedenfalls hat er uns sehr gute Dienste geleistet.« Dann wusch er sich, und als er sich angezogen hatte, erschienen Frauen aus dem Rancho mit Körben, die mit Tortillas, Frijoles*, gebratenem Ziegenfleisch und einer Flasche guten Agua ardiente, dem Brandy dieses Landes, gefüllt waren. Über all das fielen wir dankbar her, und bevor wir unser Mahl beendet hat ten, erschien der Alcalde des Dorfes, um uns respekt voll zu begrüßen und uns in sein Haus einzuladen. Nun flüsterte ich Molas, der diesen Mann ein we nig kannte, zu, ihn beiseite zu nehmen und ihm mei nen Rang zu enthüllen, und bei der Gelegenheit ver suchen herauszukriegen, ob er etwas über den Frem den wüßte, den wir aufsuchen wollten, den Heiler Zibalbay. Er nickte und tat es, und nach einer Weile erhob ich mich und folgte ihm hinter ein paar Bäume, wo der Alcalde, der ein Mitglied unserer Bruderschaft war, mich hochachtungsvoll begrüßte. »Ich habe Nachrichten, Herr«, sagte Molas. »Dieser Mann sagt, daß er von dem alten Indianer und seiner Tochter gehört hat, und daß erst an diesem Morgen einer, der den Fluß herabgekommen ist, ihm berichtet habe, wie beide vor fünf oder sechs Tagen von Don Pedro Moreno, dem Vater jenes Don José, gefangen * Bohnen
genommen und zur Hacienda Santa Cruz verschleppt worden seien, wo sie, sei es tot oder lebendig, bis heute verblieben sind.« Ich überlegte eine Weile, dann schickte ich nach Señor James und sagte ihm, was ich erfahren hatte. »Aber was kann dieser Bandit von einem alten In dianer und seiner Tochter wollen?« fragte er. »Der Señor vergißt«, sagte Molas, »daß Don Pedro mich des Goldes beraubt hat, das der Heiler mir gab, und daß ich ihm in meiner Torheit verriet, woher ich es hatte. Zweifellos hofft er, das Geheimnis der Mine herauspressen zu können, in der es geschürft wurde, und der Münze, in der es mit dem Zeichen des Her zens geprägt wurde. Und da ist auch die Tochter, die manche Männer mehr schätzen mögen als alles Gold von Mexiko. Ich fürchte, Herr, daß deine Reise hier ihr Ende findet, denn solche, die Don Pedros Gäste werden, bleiben meist für immer bei ihm.« »Darauf müssen wir es ankommen lassen, denke ich«, sagte der Señor. »Ja«, pflichtete ich ihm bei, »nachdem wir so weit gekommen sind, um diesen Fremden zu finden, kön nen wir jetzt nicht umkehren. Außerdem haben wir schlimmere Gefahren überstanden als jene, die uns in Santa Cruz erwarten mögen.«
7
›Die Hacienda‹
Als wir zu dem Platz zurückkehrten, an dem wir ge gessen hatten, fanden wir dort den Alcalden im Ge spräch mit den Seeleuten, die er nach ihren weiteren Plänen befragte. Als der Bootsmann uns sah, trat er auf uns zu und sagte, wenn es uns recht sei, wollten er und seine Gefährten sich ein paar Tage in dem na hegelegenen Rancho ausruhen und dann mit dem Boot entlang der Küste nach Campeche rudern, das sie bei günstigem Wetter in sechzig Stunden errei chen mochten, und setzte hinzu, er hoffe, daß wir sie begleiten würden. Ich antwortete, daß wir vorläufig von der See ge nug hätten und beabsichtigten, unsere Reise nach Potretillo fortzusetzen, wo wir uns neu auszurüsten gedächten, bevor wir die Expedition zu den Ruinen von Yucatan unternähmen. Der Bootsmann sagte, es sei gut, obwohl er traurig sei, daß sie uns nicht dort hin begleiten könnten, doch sei es ihre Pflicht, den Verlust des Schiffes seinem Eigner zu melden, der in Campeche lebte. Als der Señor dieses hörte, schnallte er seinen Gürtel ab, in dem das Geld verborgen war, nahm eine halbe Handvoll Goldstücke heraus und bat den Bootsmann, sie anzunehmen und unter sich und sei nen Männern aufzuteilen. Während all dieser Zeit saß Don José in unserer Nähe, beobachtete alles, was vor sich ging, und ich sah, wie seine Augen bei dem An blick des mit Goldstücken gefüllten Gürtels gierig zu
glänzen begannen. »Sie haben Glück, so viel gerettet zu haben«, sagte er und sprach zum ersten Mal. »Alles, was ich besaß, ist mit dem Schiff untergegangen, ja, dreitausend Dollar oder mehr.« »Sie hätten unserem Beispiel folgen sollen«, sagte der Señor. »Wir haben unser Geld unter uns dreien aufgeteilt und tragen es am Körper, obwohl es wahr scheinlich sehr klug von Ihnen war, dies nicht zu tun, denn das Gewicht des Goldes wäre vielleicht sehr hinderlich gewesen, wenn wir, wie Sie, genötigt ge wesen wären zu schwimmen. Übrigens, Señor, was sind Ihre Pläne?« »Wenn Sie mir erlauben«, sagte der Mexikaner, »werde ich mich Ihnen anschließen, denn mein Heim liegt auf dem Wege nach Potretillo. Darf ich mir ge statten, im Namen meines Vaters Ihnen und Ihren Begleitern die Gastfreundschaft seines Hauses anzu bieten?« »Um ehrlich zu sein, Don José«, sagte der Señor, »hat unsere vergangene Erfahrung in uns nicht eben den Wunsch geweckt, noch länger mit Ihnen zu tun zu haben. Darf ich Sie daran erinnern – von anderen Dingen einmal abgesehen –, daß Sie gestern abend versucht haben, mich zu erstechen?« »Señor«, antwortete der Mann mit allen Zeichen der Zerknirschung, »wenn ich das tat, so nur, weil Angst und Wahnsinn von mir Besitz ergriffen hatten, und ich erbitte in aller Demut Ihre Vergebung für diese Tat, und auch für jedes zornige und törichte Wort, das ich zuvor gesprochen haben mag. Señor, Sie haben mir das Leben gerettet, und mein Herz ist von Dankbarkeit für Sie erfüllt, der Sie Böses mit
Gutem vergalten. Ich weiß, daß Sie Böses über mei nen Vater gehört haben, und, um ehrlich zu sein, ge legentlich, wenn er getrunken hat, ist er ein grausa mer und gewalttätiger alter Mann, doch hat er auch seine guten Seiten, denn er liebt mich, seinen Sohn, und alle, die freundlich zu mir sind. Darum bitte ich Sie in seinem Namen und dem meinen, das Vergan gene zu vergessen und für einige Tage unsere Gast freundschaft anzunehmen, zumindest bis Sie sich von Ihren Strapazen erholt haben und wir Ihnen Waffen und Pferde geben, damit Sie Ihre Reise fortsetzen können.« »Natürlich müssen wir Mulis und Gewehre kau fen«, antwortete der Señor, »und wenn Sie glauben, daß Ihr Vater uns dazu verhelfen kann, wollen wir gerne Ihre Freundlichkeit in Anspruch nehmen und einen Tag oder zwei auf seiner Hacienda verbringen.« »Señor, das Haus und alles, was darin ist, gehört Ihnen«, antwortete Don José mit großer Höflichkeit, doch während er sprach, sah ich ein böses Feuer in seinen Augen glimmen. »Zweifellos«, warf ich ein, »denn wie ich gehört habe, ist Don Pedro Moreno berühmt für seine Gast freundschaft. Trotzdem möchte ich, bevor ich sie an nehme, das Gelöbnis des freien Geleits haben, beson ders, da wir, ausgenommen unserer Pistolen und Messer, unbewaffnet sind.« »Wollen Sie mich beleidigen, Señor?« fuhr Don José mich an. »Nicht im geringsten, Señor, ich finde es nur ein wenig seltsam, daß Sie, der sich noch vor zwei Tagen weigerte, mit einem ›indianischen Hund‹ an einem Tisch zu sitzen, jetzt so darauf erpicht sein sollten,
diesen selben Hund in seinem Hause zu empfangen.« »Habe ich nicht gesagt, daß mir leid tut, was in der Vergangenheit geschehen ist?« antwortete er. »Was kann ich denn noch tun? Gentlemen, falls im Hause meines Vaters irgend etwas Böses gegen Sie versucht werden sollte, so werde ich mit meinem Leben dafür einstehen.« »Das ist absolut ausreichend«, antwortete der Señor, »besonders, da wir in einem solchen Falle auf die Einlösung dieses Wortes dringen würden. Sagen Sie mir jetzt: Wie weit ist es von hier bis zu der Ha cienda?« »Wenn wir sofort aufbrechen, sollten wir sie bei Sonnenuntergang erreichen«, antwortete er. »Das heißt, zu Fuß, zu Pferde sind es nur drei Stunden bis zur Flußmündung.« »Dann lassen Sie uns aufbrechen«, sagte er, und zehn Minuten später waren wir unterwegs. Bevor wir gingen, verabschiedeten wir uns jedoch sehr herzlich von den Seeleuten und auch von dem Alcalden des Dorfes, die alle ein wenig verstört waren, als sie erfuhren, daß wir vorhatten, in Santa Cruz zu übernachten. »Der Ort hat einen bösen Namen«, sagte der Alcal de, »und er ist das Heim von Räubern und Schmugg lern – erst in der letzten Woche ist eine Fracht, für die kein Zoll gezahlt wurde, den Fluß heraufgebracht worden. Man sagt, daß Don Pedro vom Teufel per sönlich gezeugt worden sei. Mögen die Heiligen Sie vor ihm beschützen, Herr!« »Wir haben Geschäfte, die uns zu seinem Hause führen, Freund«, antwortete ich, »und zweifellos wird es für euch ein Leichtes sein, euch darüber zu
informieren, was in der Umgebung geschieht, und wenn wir nach einigen Tagen nicht wieder aufge taucht sein sollten, könntet ihr vielleicht die Freund lichkeit haben, die Polizei in Campeche darüber zu informieren, daß wir verschwunden sind.« »Die Behörden haben Angst vor Don Pedro«, ant wortete der Alcalde kopfschüttelnd, »und außerdem besticht er sie so gewaltig, daß sie blind werden, wenn sie in seine Richtung blicken. Trotzdem werde ich alles tun, was ich kann, dessen könnt ihr sicher sein, und da ein Inglese bei euch ist, wäre es schon möglich, daß ich Hilfe bekommen kann, so das nötig werden sollte.« Der Marsch dieses Tages war lang und heiß, obwohl wir nichts zu tragen hatten als das, was wir auf dem Leibe hatten, da alle unsere Habe mit dem Schiff ver sunken war. Gegen Mittag machten wir Rast, und da die Hitze groß war, aßen wir ein wenig von dem, das wir mit uns gebracht hatten, und schliefen zwei Stunden lang im Schatten, wofür wir dankbar waren, weil der Marsch uns sehr erschöpft hatte. Dann erho ben wir uns und gingen weiter, bis wir schließlich die Hacienda vor uns liegen sahen, obwohl ich damals noch nicht ahnen konnte, daß ich viele Jahre meines Lebens dort verbringen würde. Wir gingen durch ein großes Milpa* vor dem Ge bäude, wo jetzt Kaffeebüsche angepflanzt sind, und erreichten den Hof, wo viele bissige Hunde von allen Seiten auf uns losstürzten. Don José prügelte diese Hunde zurück, die ihn natürlich kannten, ließ uns in * Maisfeld
der Obhut eines Halbbluts zurück und trat ins Haus. Nach einer Weile kehrte er zurück und führte uns durch mehrere Korridore in den Speisesaal, welcher, wie Sie wissen, der größte Raum der Hacienda ist und in früherer Zeit das Refektorium der Mönche war. An den Wänden brannten mehrere Lampen, da es bereits dunkel wurde, und in ihrem Licht sahen wir fünf oder sechs Männer an dem langen Tisch sit zen, der eben von Indianermädchen gedeckt wurde. Von diesen Männern reicht es zu sagen, daß sie von unterschiedlicher Nationalität und schurkischer Er scheinung waren. Als wir unseren Blick von ihnen abwandten und zum anderen Ende des Raumes blickten, sahen wir dort eine Hängematte, die an den Deckenbalken befestigt war, in der ein Mann von ei nem hübschen Mädchen, ebenfalls eine Indianerin, hin und her geschaukelt wurde. »Kommen Sie, damit ich Sie meinem Vater vor stelle, der Sie erwartet«, sagte Don José und führte uns zu der Hängematte. »Vater, dies ist der tapfere Engländer, der in der vergangenen Nacht mein Leben gerettet hat, und bei ihm ist der indianische Señor, der ... nicht wünschte, mein Leben zu retten. Wie ich dir sagte, habe ich ihnen in deinem Namen Gast freundschaft angeboten, da ich sicher war, daß sie hier willkommen sein würden.« Beim Klang der Stimme seines Sohnes erwachte Don Pedro aus einem Schlummer, oder tat so, als ob er erwachte, und befahl dem Mädchen, mit dem Schaukeln der Hängematte aufzuhören. Dann setzte er sich auf und blickte uns an. Er war ein kleiner, fül liger Mann von etwa sechzig Jahren, so klein, daß seine Füße nicht den Boden berührten, obwohl die
Hängematte sehr tief gehängt war. Trotz der man gelnden Körpergröße war Don Pedros Erscheinung jedoch sehr beeindruckend, und sein langes, sorgfäl tig gebürstetes Haar verlieh ihm einen gewissen An schein von Würde. Sonst wirkte er nicht gerade anziehend, denn seine Wangen waren schlaff und faltig, sein Mund grausam und sinnlich; und seine Augen, die klein und nur halb geöffnet waren und von der Helligkeit der Lam pen durch eine Brille mit gefärbten Gläsern geschützt wurden, können bestenfalls als entsetzlich beschrie ben werden, wie die einer Schlange. Während wir ihn ansahen, bestärkte sich unser Glauben, daß sein Ruf mehr als verdient war, denn er trug den Stempel des Bösen auf seinem Gesicht. Trotzdem verneigte er sich sehr höflich und sprach den Señor auf spanisch an. »Sie also sind der Engländer, der meinen Sohn von dem sinkenden Schiff gerettet hat«, sagte er mit schleppender sonorer Stimme und sah uns dabei mit seinen fischartigen Augen durch die gefärbten Gläser an. »Er sagte mir, daß Sie zu dem sinkenden Schiff zurückgerudert seien, allein, um ihn herunterzuho len. Wahrlich, das ist eine tapfere Tat, und eine, die ich selbst nicht gewagt hätte, da ich es immer für schwer genug gefunden habe, mir selbst den Atem des Lebens zu erhalten, ohne zu versuchen, den an derer Menschen zu bewahren. Doch wie ich es einige Male erlebt habe, sind die Engländer darin eigentüm lich, ja sogar leichtsinnig. Señor, ich bin Ihnen dank bar, und dieses Haus mit allem, was darin ist, steht Ihnen und Ihren Begleitern zur Verfügung.« Er blickte mit einem Ausdruck väterlicher Liebe auf den ungehobelten, finster dreinblickenden Mann, der ne
ben ihm stand, die Enden seines Schnurrbartes kaute und uns aus den Augenwinkeln heraus anstarrte. »Sagen Sie mir«, setzte er hinzu, »welchem Um stand verdanke ich die Ehre Ihrer Anwesenheit?« »Einem Zufall, Don Pedro«, antwortete der Señor. »Ich bin sehr an den Ruinen dieses alten Landes in teressiert, und war mit meinem indianischen Freund, Don Ignatio, auf dem Wege nach Palenque, als wir das Unglück hatten, so nahe bei Ihrem gastfreundli chen Hause Schiffbruch zu erleiden. In unserer Not lage nahmen wir die Einladung Ihres Sohnes an, Sie zu besuchen, in der Hoffnung, daß Sie uns vielleicht ein paar Gewehre und Mulis verkaufen könnten.« »Ruinen, Señor Strickland! Wirklich, ihr Engländer seid merkwürdige Menschen. Was für einen Reiz können Sie darin finden, zwischen alten Mauern her umzusteigen, die von Menschen erbaut wurden, die längst tot sind – falls Sie dort nicht nach Schätzen su chen wollen. Was mich betrifft, so hasse ich Ruinen und mag nicht einmal dieses Wort hören, da ich von jeher die böse Vorahnung gehabt habe, daß ich zwi schen Ruinen meinen Tod finden werde, und daran zu denken, ist schlecht. Pah!« – er spuckte auf den Boden – »Da, es kommt wieder über mich, so plötz lich wie ein Fieberanfall! Nun ja«, fuhr er fort, nachdem er sich wieder beru higt hatte, »Sie haben das Glück gehabt, Ihr Leben und Ihr Geld retten zu können, und morgen werden wir über die Dinge sprechen, die Sie zu kaufen wün schen. Aber Sie sind staubig von der Reise und möchten sich sicher waschen, bevor Sie essen. José, führe den Señor und seinen indianischen Freund, an dem er so zu hängen scheint, in ihre Zimmer, die
Abtkammer. Das Essen wird gleich aufgetragen wer den, bis dahin: Adios! – Mädchen, geh mit ihnen!« sagte er zu der Indianerin, die damit beschäftigt ge wesen war, die Hängematte zu schaukeln. »Man mag Wasser brauchen, und andere Dinge.« Die Frau verneigte sich und ging hinaus, und wir fanden sie bei der Tür stehen, eine Lampe in der Hand, um uns den Weg durch den Korridor zu be leuchten. Nun haben Sie, Señor Jones, für den ich diese Ge schichte schreibe, so oft schon in der Abtkammer die ses Hauses geschlafen, daß es unnötig ist, sie zu be schreiben. Mit Ausnahme der Möbel ist dieser Raum genauso, wie er in jenen Tagen war. Damals war er leer, mit Ausnahme von ein paar Stühlen, einem ro hen Waschtisch, und zweier Bettgestelle amerikani scher Fabrikation, die in einigem Abstand voneinan der zu beiden Seiten des Gemäldes des verstorbenen Abtes aufgestellt waren. »Ich fürchte, daß Sie dies nach dem Luxus der Stadt Mexiko für sehr dürftig halten, Gentlemen«, sagte Don José, »doch es ist nun einmal unser Gästezim mer, und das beste, das wir haben.« »Ich danke Ihnen«, antwortete der Señor, »es erfüllt völlig seinen Zweck, obwohl Ihre Besucher dann und wann unter Alpträumen leiden mögen.« Er warf ei nen Blick auf das furchtbare, lebensgroße Gemälde an der Südwand, das die Verbrennung eines Indianers bei einem auto-da-fé darstellte, wobei Teufel, die um seinen Kopf schwebten, die Seele aus seinem gequäl ten und sterbenden Körper zerrten. »Hübsch, nicht wahr?« sagte Don José. »Ich wollte die Bilder übertünchen lassen, doch mein Vater liebt
sie. Wie Sie sehen, sind alle Opfer Indianer, nicht ein einziger Weißer ist unter ihnen, und der alte Mann hat Indianer noch nie ausstehen können. Also, wenn Sie bereit sind, kommen Sie zum Essen herunter, ja? Sie können sich nicht verlaufen, wenn Sie dem Bra tengeruch nachgehen.« Damit verließ er den Raum. »Einen Augenblick!« sagte ich zu dem indianischen Mädchen, das ihm folgen wollte. »Du wirst die Freundlichkeit haben, dafür zu sorgen, daß unserem Diener ...« – ich deutete auf Molas – »etwas zu essen hierher gebracht wird, da deine Herren nicht wün schen, daß er mit Ihnen zu Tische sitzt.« »Si«, antwortete das Mädchen, dessen Name Luisa war, und blickte forschend in mein Gesicht. Inzwischen war Don José aus der Tür, die der Zugwind hinter ihm zuwarf. Ich behielt die junge Frau im Auge, weil mir ein Gedanke kam und ich mich erinnerte, daß auch Frauen Mitglieder unseres Ordens waren, Angehörige des äußeren Kreises, und ich flüsterte ein paar Worte in Luisas Ohr und machte ein Zeichen mit der Hand. Sie fuhr zusammen und gab dann eine uralte Antwort, die schon die Kinder gelehrt wird, worauf ich ein zweites Zeichen machte, das der Gegenwart des Herzens. »Wo?« fragte sie und blickte uns der Reihe nach an. »Hier«, antwortete ich, zog das Symbol hervor und hielt es ihr vor die Augen. Sie sah es und verneigte sich vor ihm, und in die sem Augenblick hörten wir Don José vom Korridor nach ihr rufen. »Ich komme!« rief sie ihm zu, und dann sagte sie flüsternd zu mir: »Herr, du bist in Gefahr in diesem Hause. Ich kann es dir jetzt nicht erklären, doch wenn
es mir möglich ist, werde ich zurückkommen. Der Wein ist sicher, aber trinkt keinen Kaffee, und schlaft nicht, wenn ihr euch niederlegt. Untersucht den Bo den, dann werdet ihr den Grund dafür erkennen. Ich komme, Señor! Ich komme!« Damit eilte sie aus dem Raum. Sobald das Mädchen gegangen war, trat Señor Ja mes zur Tür und verriegelte sie. Dann kam er zurück und fragte: »Was hat das zu bedeuten, Ignatio?« Ich antwortete nicht, sondern rückte eines der Bet ten zur Seite und untersuchte den darunterliegenden Boden. Er schien an mehreren Stellen verfärbt, wie wohl nur leicht, da er gründlich gewaschen worden war. »In diesen Betten sind Menschen ermordet worden, Señor«, sagte ich dann, »und diese Flecken stammen von ihrem Blut. Es hat den Anschein, als ob die Gäste Don Pedros wahrlich gut schlafen; zuerst werden sie betäubt, und dann erdolcht, und nur deshalb sind wir in das Haus gelockt worden. Nun, wir haben auch nichts anderes erwartet.« »Das sind wirklich nette Aussichten«, antwortete er. »Aber schließlich sind wir Gäste dieses Mannes, also wird er nicht wagen ...« Er zog die Handkante über die Kehle. »Aber natürlich wird er das, Señor, und nur zu die sem Zweck sind wir von Don José hierhergebracht worden. Wenn andere hier ermordet worden sind, so ist es nicht wahrscheinlich, daß er uns ungeschoren lassen wird, da Don Pedro sicher ist, daß ein Inglese nicht ohne eine große Summe Geldes auf Reisen geht. Außerdem haben wir Streit mit seinem Sohn gehabt und wissen zu viel über dessen Vater.«
»Wie gesagt, das sind wirklich nette Aussichten«, antwortete der Señor. »Alles in allem wäre es besser gewesen, zu ertrinken, als von diesem Halunken in diesem schrecklichen Gemäuer abgeschlachtet zu werden. Was für ein Ende!« »Verzweifeln Sie nicht«, antwortete ich. »Wir sind rechtzeitig gewarnt worden und werden deshalb mit Hilfe jenes Mädchens und anderer Indianer, die hier leben, entkommen können, da innerhalb einer Stunde jeder von ihnen weiß, wer wir sind und bereit ist, sein Leben zu riskieren, um uns zu retten. Außerdem sind wir zu einem bestimmten Zweck hergekommen und kannten das Risiko. Jetzt wollen wir uns bereitma chen und diesen Männern in aller Unbefangenheit gegenübertreten, denn Sie können versichert sein, daß man nichts unternehmen wird vor den späten Nachtstunden, wenn sie glauben, daß wir schlafen. Hast du verstanden, Molas?« »Ja«, antwortete der Indianer. »Dann wache hier, im Vorraum, bis wir zurückkeh ren; und wenn das Mädchen kommen sollte, versuche von ihr so viel wie möglich über den Aufenthaltsort des alten Heilers und seiner Tochter zu erfahren, und über andere Dinge, denn wenn sie weiß, daß du zum Orden gehörst, wird sie sprechen. Bist du von irgend jemandem wiedererkannt worden?« »Ich glaube nicht, Herr. Als wir das Haus betraten, war es zu dunkel, als daß sie uns hätten sehen kön nen.« »Gut. Dann bleib ihnen, wenn möglich, aus dem Wege, versuch dein Bestes bei dem Mädchen und be obachte alles, was geschieht. Lebe wohl!« Als wir in den Speisesaal traten, saßen bereits neun
Männer am Tisch und warteten ungeduldig auf das Essen, doch Don Pedro saß noch immer in seiner Hängematte, in ein ernstes Gespräch mit seinem Sohn José vertieft. Unter den Männern, die am Tisch saßen, befand sich nur ein einziger Weißer, ein hagerer, ver dorrt wirkender Mensch mit einer eingeschlagenen Nase, dessen Aussehen uns mit Widerwillen erfüllte. Alle anderen waren Halbbluts, der Abschaum von Revolutionen, Halunken, die dem Arm der Gerech tigkeit entkommen waren und von Raub und Mord lebten. Beim Anblick dieser Schurken wurde uns klar, daß wir, wenn wir in ihre Gewalt gerieten, von ihnen kei ne Gnade zu erwarten hatten, denn es würde ihnen nicht mehr ausmachen, einen Menschen kaltblütig zu ermorden, als einem Jäger, einen Hirsch zu erlegen. Als Don Pedro uns sah, glitt er von seiner Hänge matte, nahm den Señor bei der Hand und sagte: »Ich möchte Sie mit meinem Aufseher bekanntmachen, dem Señor Smith aus Texas. Er ist Amerikaner und sicher froh, jemanden kennenzulernen, mit dem er englisch sprechen kann, denn trotz langer Praxis ist sein Spanisch nicht gerade das beste.« Der Señor verneigte sich, und der amerikanische Desperado sprach ihn auf englisch an und grinste da bei wie ein bissiger Hund, doch verstand ich nicht, was er sagte. Dann führte Don Pedro seinen Gast zu dem Ehrenplatz am Kopfende der Tafel, neben sei nem eigenen, während ich zu einem abseits stehen den Tisch gewiesen wurde, an dem ich mein Essen allein einnehmen sollte, da man mich, als Indianer reinen Blutes, nicht für wert hielt, in der Gesellschaft dieser halbblütigen Hunde zu essen. Nachdem Don
José am anderen Ende der Tafel neben dem Americano Platz genommen hatte, begann das Essen, und es war ein ausgezeichnetes. An der Konversation, die sich nun ergab, nahm ich keinen Anteil, außer, wenn Mitglieder der Gang ihr Glas erhoben und mit mir trinken wollten, denn ihre Absicht war, mich trunken zu machen. Ich tat so, als ob ich völlig mit meinem Essen beschäftigt wäre, dachte dabei jedoch viel, und beobachtete noch mehr. Die Gespräche gebe ich so wieder, wie ich sie verste hen konnte, und wie sie mir später von dem Señor wiedergegeben wurden. »Versuchen Sie doch etwas mehr von diesem Bur gunder«, sagte Don Pedro, als abgeräumt worden war, und füllte seinen Becher zum siebenten oder achten Mal. »Es ist ein guter Tropfen, direkt aus Frankreich, aber natürlich habe ich keinen Zoll dafür bezahlt.« Er blinzelte mit seinen stumpfen Augen. »Auf Ihre Gesundheit, Señor, und mögen Sie lange leben um noch mehr solcher tapferer Taten zu tun wie gestern, als Sie meinen Sohn vor dem Meer er retteten! Übrigens, wissen Sie, daß man an Bord der Santa Maria behauptete, Sie hätten den bösen Blick und dadurch ihren Untergang verursacht? – Ja, und ihr langgesichtiger Freund, der Indianer, ebenfalls?« »Nein, davon habe ich nie etwas gehört«, antwor tete der Señor lachend, »doch falls dem so sein sollte, wird unser böser Blick Sie nicht lange stören, denn wir haben vor, morgen weiterzureisen.« »Unsinn, mein Freund! Unsinn! Sie nehmen doch nicht etwa an, daß ich an solche Ammenmärchen glaube? Wir sagen so vieles, woran wir nicht glauben, nur so zum Scherz. Und so« – er erhob seine Stimme,
damit auch ich an meinem abseits stehenden Tisch ihn hören konnte – »hat Ihr Freund – heißt er nicht Ignatio? – an Bord des Schiffes eine gar nicht schmeichelhafte Geschichte über mich erzählt, die er sicher nicht ein mal selbst geglaubt hat.« Darauf starrte er mich plötz lich an und sagte scharf: »Ist es nicht so, Indianer?« »Wenn Sie meine Meinung hören wollen, Don Pe dro«, antwortete ich, wobei ich mich vorbeugte und sehr klar und deutlich sprach, »so möchte ich Ihnen sagen, daß es wenig sinnvoll ist, sich an Worte zu er innern, die gesagt worden sind, oder an Taten, die getan worden sind. Wenn ich gewisse Worte gesagt habe, oder gewisse Dinge getan haben sollte, so ist hier, unter Ihrem gastfreundlichen Dach, wohl nicht der richtige Ort, an sie zu erinnern.« »Sehr richtig, Indianer, sehr richtig! Sie sprechen wie ein Orakel, so wie Montezuma zu Cortez sprach, bis der Eroberer einen Weg fand, ihn die klare Spra che zu lehren – ein großer Mann, dieser Cortés, der es verstand, mit Indianern umzugehen.« Er spuckte ver ächtlich auf den Boden, und dann, nachdem er die Tischrunde überblickt hatte, fragte er mit einer etwas bedrückten Stimme: »Sagen Sie mir, Señor, denn Ihr Augenlicht ist besser als das meine, wie viele sind wir hier heute abend?« »Meinen Freund mitgerechnet, dreizehn«, antwor tete er. »Das dachte ich mir«, sagte unser Gastgeber mit ei nem Fluch, »und jetzt ist es zu spät, die Dinge zu än dern. Nun, mögen die Heiligen, und die sollten sich in einem Kloster ja geradezu drängeln, dieses Omen abwenden. Ich sehe, daß Sie mich für einen Narren halten.«
»Ganz und gar nicht«, antwortete er. »Ich bin selbst ziemlich abergläubisch und mag es auch nicht, zu dreizehnt an einem Tische zu sitzen.« »Genau wie ich, genau wie ich, Señor Strickland. Hören Sie! Als wir das letzte Mal zu dreizehnt in die sem Raum dinierten, waren zwei Reisende hier, Ame ricanos, Freunde von Don Smith, die hier irgendeine Art von Handel eröffnen wollten. Sie haben mehr ge trunken, als gut für sie war, und das Ende davon war, daß sie Streit bekamen und einander umbrachten, drüben, in der Abtkammer, in der Sie heute nacht schlafen – diese armen, armen Männer! Ich hatte da mals sogar einige Schwierigkeiten deswegen, doch Don Smith hat seinen Landsleuten die Umstände er klärt, und so wurde alles geregelt.« »In der Tat«, sagte der Señor, »es ist eigenartig, daß zwei betrunkene Männer einander töten sollten.« »Genau das habe ich mir auch gedacht, Señor. Ehr lich gesagt, glaubte ich anfangs, daß Indianer in die Kammer eingedrungen seien und sie ermordet hät ten, doch wurde zweifelsfrei bewiesen, daß dem nicht so war. Ah! Sie sind ein furchtbares Volk, diese In dianer; ich kenne sie gut und muß es wissen. Neuer dings behandelt die Regierung sie zu nachsichtig. Unsere Väter wußten besser mit ihnen fertig zu wer den, doch glücklicherweise reicht der Arm der Regie rung nicht bis hierher, und keine greinenden Padres oder Beamte schnüffeln um mein Haus herum, ob wohl wir schon mal einen Trupp Soldaten hier hat ten«, und er fluchte bei der Erinnerung und trank noch ein Glas Burgunder. »Ich sage Ihnen, es sind furchtbare Menschen«, fuhr er fort, »noch immer von den Demonios besessen,
die ihre Väter anbeteten, und außerdem sind sie hin terhältig und gefährlich; es gibt noch heute Indianer, die wissen, wo riesige Schätze verborgen sind und sich weigern, darüber zu sprechen. Ja« – er wurde plötzlich erregt unter dem Einfluß des starken Weines, beugte sich zur Seite und flü sterte in das Ohr seines Gastes – »ich habe so einen jetzt in diesem Hause, einen alten Lacondone, also ei nen ungetauften Indianer, nicht etwa, daß ich ihn darum für schlechter hielte, und mit ihm seine Toch ter, eine Frau, die schöner ist als die Nacht – viel leicht, Engländer, wenn ich Sie weiterhin so mag, werde ich sie Ihnen morgen zeigen, doch dann müßte ich Sie ernähren, denn Sie würden nie wieder von hier fortgehen wollen. Schön! Ja, sie ist schön, doch hat sie das Herz eines Teufels. Ich habe bis jetzt nicht einmal gewagt, sie meinen Jungs zu zeigen« – er deutete mit einer Kopfbewegung auf die am Tisch versammelten Schurken –, »doch José wird ihr und ihrem Papa heute nacht einen kleinen Besuch abstat ten. Ihn stört ihre Wildheit nicht; mir jagt sie Angst ein. Und ob Sie es glauben oder nicht, dieses Mädchen und ihr alter Vater besitzen das Geheimnis von einem so gewaltigen Schatz, um jeden Mann hier so reich zu machen wie die Königin von England. Woher ich das weiß? Ich weiß es, weil sie selbst es mir gesagt haben. Aber füllen Sie erst Ihr Glas nach und nehmen Sie ei ne Zigarre, dann will ich Ihnen die Geschichte erzäh len.«
8
Das Abendmahl und danach
»Hören Sie, Señor, wenn Sie an alten Ruinen und den Indianern interessiert sind, müssen Sie auch Ge schichten von Rassen gehört haben, die weit entfernt in den Waldgebieten leben, in die noch nie ein Weißer seinen Fuß gesetzt hat, und von ihren herrlichen Städten, die angeblich voller Gold sind. Viele Men schen sagen zwar, daß diese Geschichten erlogen sind, daß solche Völker und Städte nicht existieren, ich aber habe von jeher geglaubt, daß an diesen Ge schichten etwas dran sein muß, denn sonst hätten sie sich nicht so lange gehalten. Nun, vor einigen Monaten hörte ich, daß ein frem der, alter indianischer Heiler, der tief aus dem Innern des Landes gekommen sein soll, mit einer Frau ir gendwo hier in den Wäldern lebe, konnte aber seinen genauen Aufenthaltsort nicht herausbekommen, und, offen gesagt, bemühte ich mich auch nicht darum. Vor etwa acht Wochen jedoch wollte es der Zufall, daß ein Indianer, von dem Wegegeld verlangt wurde, wie ich es von allen Durchreisenden fordere – um meine Auslagen für den Bau der Straßen wieder her einzubekommen, Señor –, dieses mit einem kleinen Goldklumpen bezahlte, in das auf beiden Seiten ein Herz eingeprägt war. Sie mögen es vielleicht nicht wissen – aber ich weiß es –, daß das Herz bei diesen Indianern ein geheilig tes Symbol ist, und das schon seit unzähligen Gene rationen, denn man kann es in die Wände ihrer Rui
nen eingemeißelt finden, doch was es bedeutet, mag nur Satan, ihr Herr und Gebieter, wissen. Als ich also dieses Stück Gold mit dem Symbol darauf sah, fragte ich den Indianer, woher er es habe, und er sagte mir bereitwillig, daß der alte Heiler es ihm gegeben habe, als Bezahlung für Nahrung. Er sagte mir auch, wo ich diesen Alten finden könne und zog seines Weges, doch da sein Herz voller Arg war, belog er mich, was den Ort betraf, so daß ich vergeb lich suchte. Nun, um es kurz zu machen, obwohl ich bis zur heutigen Stunde noch nicht weiß, wo der In dianer sich versteckt gehalten hat, stellte ich ihm eine Falle und fing ihn darin – ja, und seine Tochter mit ihm. Es war eine sehr einfache Falle; ein Mann, der bei mir in Lohn steht, kannte einen anderen, welcher den Heiler im Walde aufgesucht hatte, um sich Medizin geben zu lassen, sich jedoch weigerte, dessen Ver steck zu verraten. Doch gelang es meinem Diener dennoch, ihn zu fangen, und zwar so: Er brachte die sen Freund dazu, dem Heiler jammervolle Bitten zu übermitteln, in denen er ihn anflehte, das Leben sei nes todkranken Kindes zu retten, das in einem Hause hier in der Nähe läge und nicht zu ihm gebracht wer den könne. Der Heiler kam, und seine Tochter mit ihm. Ja, ei nes Abends tappten sie geradewegs in die Falle, in dieses Haus, Señor, und sie sahen ihren Fehler erst ein, als die Türen hinter ihnen verschlossen wurden und sie herausfanden, daß das sterbende Kind nie mand anders war, als Ihr untertänigster Diener, Don Pedro Moreno.« Er lachte schallend und schlug sich auf die Schenkel.
»Ich kann Ihnen sagen, Señor, daß mir vor Lachen die Tränen kamen, als ich ihre Gesichter sah, nach dem sie erkannt hatten, daß sie einer List aufgesessen waren, obwohl es an ihnen nichts zu lachen gab, denn der Mann sah aus wie ein alter König, und das Mäd chen wie eine Königin, völlig anders, als die Indianer, die hier leben; außerdem trugen sie solche Serapes, wie ich sie noch nie gesehen hatte, aus grünen Fe dern, die auf Leinen befestigt waren. Als der alte Mann sich eingesperrt sah, fragte er, was das zu bedeuten habe und wo er sei, und er sprach einen Dialekt, welcher der alten Maya-Sprache so ähnlich war, daß ich ihn recht gut verstehen konnte. Ich sagte ihm, daß er für eine Weile mein Gast sein würde und wollte, mit Hilfe von zwei Män nern, die ich bei mir hatte, ihn und seine Tochter in einen sicheren Raum bringen, worauf er einen ent setzlichen Wutanfall bekam und uns alle auf eine furchtbare Art verfluchte, am meisten aber den Mann, der ihn verraten hatte. So schrecklich waren seine Flüche, und die Rache, die er vom Himmel auf uns herabbeschwor, daß mir die Haare zu Berge standen, und was den Mann be trifft, der ihn unter dem Vorwand, sein krankes Kind aufzusuchen, hergelockt hatte, so starb dieser zwei Tage später an einer plötzlichen Erkrankung, die wahrscheinlich von seiner Angst hervorgerufen wur de. Als der zweite Mann vom Tode seines Freundes erfuhr, floh er von diesem Ort, aus Furcht, daß das gleiche Schicksal ihn ereilen könne, und man hat nicht mehr von ihm gehört. So kommt es, Señor, daß ich allein weiß, wo diese Vögel im Käfig sitzen, doch will ich sie heute nacht
meinem Sohn vorstellen, da ich den anderen nicht traue und sie in der Familie halten möchte, vor allem aber dürfen keine Indianer in ihre Nähe kommen. Nun, als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatten, sprach ich mit meinen Gefangenen durch ein Gitter des Raums und sagte ihnen, daß ich zu wissen wün sche, woher sie die Goldklumpen mit der Herzprä gung hätten, worauf der alte Mann antwortete, er wisse nichts von solchem Gold. Ich war natürlich si cher, daß er log und nahm Zuflucht zu einer zweiten List. Die Zelle, in die ich sie eingeschlossen hatte, ist jene, in die früher Mönche gebracht worden waren, die der Ketzerei und anderer Vergehen beschuldigt wurden, und in ihrer Nähe befindet sich ein geheimer Raum – davon gibt es viele in diesem Hause, Señor –, wo ein Spion sich verbergen und alles sehen und hö ren kann, was in der Zelle geschieht. An diesem Ort richtete ich mich also ein und lag dort stundenlang, obwohl die Ratten über mich hin wegliefen, so begierig war ich, die Wahrheit zu erfah ren. Und ich sollte auch nicht enttäuscht werden, denn schließlich begannen sie zu reden. Ein großer Teil ihrer Konversation war für mich unverständlich, doch schließlich sagte das Mädchen, das ein vergol detes Kruzifix betrachtete, das an der Wand hing: ›Sieh, Vater, auch hier haben sie Gold.‹ ›Das ist nur vergoldet, nicht golden‹, antwortete er. ›Ich kenne diese Kunst, obwohl sie bei uns nicht praktiziert wird, außer bei Speer- und Pfeilspitzen, welche die Geflügeljäger auf dem See benutzen, um deren Rosten zu verhindern.‹ Dann setzte er hinzu: ›Ich frage mich, was dieser bleichäugige, gierige weiße Dieb sagen würde, wenn
er wüßte, daß wir ihm in einem einzigen Tempel so viel von dem Metall, das er begehrt, zeigen könnten, um dieses ganze Gebäude fünfmal vom Boden bis zu den Dachsparren füllen zu können.‹ ›Still!‹ sagte sie, ›diese Wände könnten Ohren ha ben; wir sollten nichts riskieren, da allein die Vorga be, nichts zu wissen, uns eine Hoffnung auf ein Ent kommen gewährt.‹« »Nun?« fragte der Señor begierig, »und was hat Zi balbay darauf geantwortet? Sie sagten doch vorhin, daß der Name dieses Alten Zibalbay ist, nicht wahr?« setzte er rasch hinzu, in dem Versuch, seinen Ver sprecher zu vertuschen. »Zibalbay? – Nein, den Namen habe ich nie ge nannt«, antwortete Don Pedro mißtrauisch und mit plötzlich veränderter Mine. »Er hat überhaupt keine Fragen beantwortet. Am nächsten Morgen, als ich kam, um ihnen ein paar Fragen zu stellen, waren die Vögel nämlich ausgeflogen. Schade, denn sonst hätte ich den alten Mann fragen können – ob sein Name Zibalbay ist. Ich vermute, daß die Indianer sie hin ausgelassen haben, habe das jedoch nicht beweisen können.« »Aber, Don Pedro, eben noch haben Sie gesagt, daß sie sich in diesem Hause befänden.« »Habe ich das? Dann habe ich mich eben geirrt – so wie Sie mit dem Namen; der Wein ist stark, er muß mir zu Kopfe gestiegen sein; das geschieht mir hin und wieder – eine schlechte Angewohnheit. Es ist wirklich eine seltsame Geschichte, doch hier endet sie, soweit sie mich betrifft. Kommen Sie, Señor, trin ken Sie eine Tasse Kaffee, er ist sehr gut!« »Vielen Dank«, antwortete der Señor, »aber ich
trinke abends nie Kaffee, weil ich dann nicht schlafen kann.« »Trotzdem bitte ich Sie, den unseren zu versuchen, mein Freund. Wir bauen ihn selbst an und sind stolz auf sein Aroma.« »Für mich ist es Gift, und ich wage es nicht«, ant wortete der Señor. »Doch sagen Sie mir, sind es die Gentlemen, die ich hier sitzen zu sehen die Ehre habe, die auf Ihren Plantagen arbeiten?« »Ja, ja, sie bauen den Kaffee und den Kakao an, und auch andere Dinge, wenn es ihnen gefällt. Sie mögen sie für eine finstere Gesellschaft halten, doch haben sie ein gutes Herz, ah! Ein so gutes Herz; so hinfällig ich auch sein mag, behandeln sie mich doch wie einen Vater. Pah! Señor, was nützt es, die Wahr heit vor einem Manne Ihrer Geistesschärfe verbergen zu wollen? Wir betreiben alle Arten von Geschäften hier, doch liegt das Schwergewicht mehr auf dem Schmuggel als auf der Landwirtschaft. Dieses Geschäft ist auch nicht mehr das, was es einmal war, denn die Zöllner unten an der Küste for dern ein Vermögen dafür, daß sie den Mund halten, aber dennoch fällt ab und zu etwas für uns ab. Frü her, in der guten, alten Zeit, als sie keine Fragen ge stellt haben, war es anders, denn damals waren Män ner mit Mumm zu allem bereit, von Revolutionen bis zum Aufhängen einer Wagenladung fetter Händler, doch heute ist die Zeit der kleinen Profite, und wir müssen dankbar sein für jede Krume, den die Vorse hung uns zukommen lassen mag.« »So wie die beiden Amerikaner, die sich betranken und einander töteten«, meinte der Señor, dessen Zunge niemals die vorsichtigste war.
Sofort veränderte sich der Gesichtsausdruck Don Pedros, die falsche Jovialität der Weinseligkeit ver schwand, und er sah den Señor mit einem harten, verschlagenen Blick an. »Ich bin müde, Señor«, sagte er, »und Sie sind es si cher auch. Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, werde ich mir jetzt noch eine Zigarre anzünden und mich zu einem kurzen Schlaf in meine Hängematte zurückziehen. Vielleicht möchten Sie sich noch eine Weile mit den anderen unterhalten, bis Sie schlafen gehen.« Er erhob sich, neigte den Kopf und ging dann mit etwas unsicheren Schritten zum anderen Ende des Raums. Als Don Pedro sich in seine Hängematte zurückge zogen hatte, wohin sofort das Mädchen Luisa gerufen wurde, um ihn in den Schlaf zu schaukeln, sah ich seinen Sohn José und den texanischen Banditen, Smith, die beide, wie alle anderen, mehr oder weni ger trunken waren, auf den Señor zutreten und ihn bitten, mit ihnen Karten zu spielen. Da er ahnte, daß sie ihn nur dazu bringen wollten, ihnen zu zeigen, ob er Geld bei sich hätte, gab er vor, ebenfalls benebelt zu sein und antwortete lautstark, daß er den größten Teil seines Geldes bei dem Schiffsuntergang einge büßt habe und außerdem zu sehr voller Wein zu sein, um spielen zu können. »Dann müssen Sie es auf dem Wege hierher verlo ren haben, Freund«, sagte Don José, »denn Sie schei nen zu vergessen, daß Sie jenen Seeleuten Goldstücke aus einem Gürtel gegeben haben, den Sie um Ihre Taille tragen. Doch wird in diesem Hause kein Gen tleman zum Spiel gezwungen, also kommen Sie und lassen Sie uns plaudern, während die anderen ihr
kleines Spielchen machen.« »Ja, das ist mir lieber«, antwortete der Señor, ging taumelnd auf einen freien Stuhl zu, der nicht weit von dem kleinen Tisch entfernt stand, an dem ich saß, und es wurden ihm Alkohol und Zigarren gereicht. Dort saß er und beobachtete das Spiel, bei dem hohe Summen eingesetzt wurden, obwohl die Spielmarken recht harmlos wirkten – es waren Kakaobohnen – und hörte den Gesprächen der Spieler zu, an denen er sich hin und wieder auch beteiligte. Diese Gespräche waren alles andere als angenehm anzuhören, denn als diese Schurken noch betrunkener wurden, begannen sie, von ihren vergangenen Raub zügen in verschiedenen Teilen des Landes zu prah len. Einer von ihnen berichtete, wie er einen Indianer gekidnappt und gefoltert habe, der ihn angeblich be leidigt hatte; ein anderer erzählte, wie er eine Frau ermordet habe, auf die er eifersüchtig gewesen sei; und ein dritter schilderte, wie sie eine Wagenladung von Reisenden ausgeraubt und diese dann ermordet hatten, indem sie den Wagen über den Rand einer Schlucht stürzten. Alle diese Geschichten waren je doch so harmlos wie Milch, verglichen mit denen, die Don Smith, der Americano, dem der Alkohol großes Selbstvertrauen verlieh, eine nach der anderen von sich gab, bis der Señor, der es nicht länger ertragen konn te, so tat, als ob er in trunkenen Schlummer sänke. Während all dieser Zeit saß ich an dem kleinen Tisch, auf dem mir mein Essen serviert worden war, und sagte kein Wort, denn niemand sprach mit mir, doch hörte ich alles, was gesprochen wurde. Dort saß ich also ruhig, die Arme vor der Brust verschränkt, und lauschte aufmerksam den Berichten von Ge
walttaten, Greuel und Mord, die von diesen Unmen schen an meinen Landsleuten verübt worden waren. Für sie war ich lediglich der Angehörige einer ver achteten und gehaßten Rasse, und nur in ihrer Gesell schaft geduldet, damit man mich zu gegebener Zeit ermorden und berauben konnte, und ich blickte mit Ekel und Verachtung auf sie hinab und fühlte mich so weit über ihnen stehend wie die Sterne, während ich mich fragte, wie lange der große Gott es dulden wür de, daß seine Welt durch ihre Gegenwart besudelt wurde. Einige dieser Gedanken schienen den anderen er kenntlich geworden zu sein, denn plötzlich rief Don Smith mit lauter Stimme: »Seht euch diesen indiani schen Hund an, Freunde, er ist so stolz wie ein Puter im Frühling; wißt ihr, er erinnert mich an die Statue des Königs in jener Ruine, wo wir uns damals in den Hinterhalt legten und auf die Señora und ihre Be gleiter warteten. Du erinnerst dich doch an die Seño ra, nicht wahr, José? Ich kann ihr Gekreische noch heute hören.« Er stieß ein brutales Lachen aus und setzte hinzu: »Komm her, König! Trink was!« »Gracias, Señor«, antwortete ich, »ich habe getrun ken.« »Dann rauch eine Zigarre, König!« »Gracias, Señor, ich rauche heute nicht.« »Der Herr Kazike aller Indianer mag nicht trinken und mag nicht rauchen«, sagte Don Smith, »also wer den wir ihm Weihrauch anbieten.« Er nahm einen Teller, füllte ihn mit trockenem Tabak und Zigaret tenpapier, und steckte es in Brand. Dann stellte er den Teller vor mich auf den Tisch, so daß der Rauch mir ins Gesicht stieg.
»So, jetzt sieht er wie ein richtiger Gott aus«, sagte der Americano und klatschte in die Hände. »Was hältst du davon, José, wenn wir ihm ein Opfer dar brächten? Da ist doch dieses Mädchen, das in der vo rigen Woche geflohen ist, und das wir mit den Hun den wieder eingefangen haben ...« »Nein, nein, Freund«, sagte José hastig, »keinen von deinen netten Scherzen heute abend. Du vergißt, daß wir einen Gast haben. Nicht, daß ich keine Lust hätte, diesen alten Demonio von Indianer sich selbst zum Opfer darzubringen«, setzte er in einem Aus bruch trunkener Wut hinzu. »Gott verdamme ihn! Er hat mich, meinen Vater und meine Mutter auf dem Schiff beleidigt.« »Und das läßt du dir von diesem hölzernen In dianergott gefallen? Glaube mir, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich ihn so durchlöchert wie ein Kaffeesieb, nur um die Lügen herauszulas sen.« »Genau das habe ich auch vor«, sagte José und knirschte mit den Zähnen. »Er hat mich beleidigt und bedroht und wird dafür bezahlen, dieser dunkelhäu tige Hund.« Mit diesen Worten riß er ein langes Mes ser aus dem Gürtel und hielt es mir vor das Gesicht. Ich wich nicht davor zurück; ich erlaubte mir nicht einmal, zu blinzeln, obwohl der Stahl nur einen Zoll vor meinen Augen blitzte, denn ich wußte, sowie ich Angst zeigte, würde er zustechen. Deshalb sagte ich ruhig: »Sie belieben zu scherzen, Señor, und Ihre Scherze sind ein wenig grob, doch will ich darüber hinwegsehen, denn ich weiß, daß Sie mir nichts antun werden, weil ich Ihr Gast bin und solche, die einen Gast töten, keine Gentlemen sind,
sondern Mörder, was der hochgeborene Don José Moreno niemals sein könnte.« »Stich das Schwein ab, José!« sagte Smith. »Er be leidigt dich schon wieder. Das erspart uns die Arbeit später.« Und jetzt, als Don José erneut mit dem Messer auf mich zukam, sprang der Señor plötzlich auf und trat zwischen uns. »Kommen Sie, Freund«, sagte er, »ein Scherz ist ein Scherz, aber dieser geht nun ein wenig zu weit.« Da mit packte er den Mann bei den Schultern und schwang ihn mit seiner gewaltigen Kraft so hart zu rück, daß José mit den Oberschenkeln gegen die Tischkante prallte, über die polierte Platte rutschte, und am anderen Ende schwer zu Boden stürzte. Flu chend vor Wut sprang er auf die Füße. Inzwischen schien Don Pedro, der erwacht war, oder tat, als ob er erwache, einzusehen, daß es an der Zeit war einzugreifen. »Friede, meine Kleinen, Friede!« rief er verschlafen aus seiner Hängematte. »Denkt daran, daß diese Männer unsere Gäste sind und hört auf, euch zu streiten! Laßt sie zu Bett gehen, es wird für sie Zeit, zu Bett zu gehen, und sie brauchen Ruhe. Bis morgen sind alle eure Meinungsverschiedenheiten für immer vorbei.« »Ich folge diesem Wink«, sagte der Señor mit er zwungener Fröhlichkeit. »Kommen Sie, Ignatio, las sen Sie uns den guten Wein unseres Gastgebers aus schlafen! Gentlemen, ich wünsche, wohl zu ruhen.« Er schritt durch den großen Raum, von mir gefolgt. Bei der Tür blieb ich stehen und blickte zurück. Je der der Männer folgte uns aufmerksam mit seinen
Blicken, und mir schien, als ob die Trunkenheit aus ihren Gesichtern gewichen sei, vertrieben von dem Gedanken an das große Verbrechen, das sie gleich begehen würden. Don Smith flüsterte mit Don José, der noch immer das Messer in der Hand hielt, doch die anderen starrten uns an, wie Menschen jene an starren mögen, die an ihnen vorbei zum Schafott ge führt werden. Selbst Don Pedro, der jetzt hellwach war, hatte sich in seiner Hängematte aufgesetzt und starrte uns mit seinen stumpfen hellen Augen an, während das in dianische Mädchen, Luisa, ihre Hand an der Schnur der Hängematte, unseren Auszug mit einem Ge sichtsausdruck verfolgte, wie ihn Trauernde zeigen, wenn die Leiche aus dem Hause getragen wird. All dies bemerkte ich in dem Augenblick, als ich über die Schwelle auf den Korridor trat, und ich erschauerte, während ich weiterging, denn die Szene war un heimlich und schicksalhaft. Wenig später gelangten wir in die Abtkammer, un ser Schlafzimmer, und verriegelten die Tür hinter uns. Nahe dem Waschtisch, auf dem eine einzige, in den Hals einer Flasche gesteckte Kerze brannte, saß Molas, das Gesicht in den Händen vergraben. »Hat man Ihnen kein Essen gebracht, daß Sie so niedergeschlagen sind?« fragte der Señor. »Diese Frau, Luisa, hat mir etwas gebracht«, flü sterte er. »Höre, Herr, und auch Sie, Señor Strickland, unsere Befürchtungen sind nur zu begründet; es be steht ein Komplott, uns heute nacht zu ermorden, dessen ist sich die Frau sicher, da sie ein paar Worte aufgeschnappt hat, die Don Pedro mit einem Mann namens Smith wechselte; und sie hat auch gesehen,
wie einer der Mischlinge Spaten aus dem Garten holte und sie bereitstellte, um hinter dem Haus Grä ber auszuheben.« Als wir dies hörten, sank unser Mut, denn es war ein schrecklicher Gedanke, sich vorzustellen, daß wir in wenigen Stunden in der Erde liegen sollten. Ja, wenn diese Meuchelmörder entschlossen waren, uns umzubringen, schien unser Schicksal besiegelt, da wir nur unsere Messer zu unserer Verteidigung besaßen, denn obwohl wir die Pistolen und auch ein Pulver horn gerettet hatten, war das Pulver während des Schiffsuntergangs feucht geworden und nicht zu ge brauchen. »Ich fürchte, daß wir zu viel riskiert haben, um hierher zu kommen«, sagte ich, »und wenn wir nicht sofort fliehen, werden wir diese Torheit mit unserem Leben bezahlen müssen.« »Sei nicht verzweifelt, Herr«, antwortete Molas, »denn du hast noch nicht die ganze Geschichte ge hört. Die Frau hat mir eine Möglichkeit gezeigt, uns vor dem Tode zu retten, zumindest für heute nacht. Kommt!« Er führte uns zur anderen Seite des Raums zu einer Stelle, die dem Gemälde des Abtes fast ge nau gegenüberlag, und drückte auf ein Paneel der Holzvertäfelung, mit der die Wand bis zu einer Höhe von drei Fuß verkleidet war. Das Paneel glitt zur Seite und gab eine Öffnung frei, die gerade groß genug war, um hindurchzukrie chen, was wir auch taten. Hinter der Öffnung schrit ten wir vier schmale Stufen hinab und befanden uns in einer kleinen Nische, die innerhalb der dicken Mauer des Gebäudes lag und gerade soviel Platz bot, daß wir drei darin stehen konnten.
Und an dieser Stelle möchte ich einfügen, Señor Jones, daß dieses Versteck noch immer vorhanden ist, obwohl ich es Ihnen nie gezeigt habe, wie Sie leicht feststellen können, wenn Sie die Paneele der Holz vertäfelung untersuchen. Viele Jahre lang habe ich es für die Verwahrung von Papieren und Wertgegen ständen benutzt. Dort werden Sie übrigens auch den Smaragd finden, den ich Ihnen am Abend unseres Kennenlernens zeigte. Welchen Zwecken dieser klei ne Raum zu Zeiten der Äbte gedient haben mochte, kann ich nicht sagen, und vielleicht ist es besser, dem nicht nachzuforschen, obwohl sie ihn lediglich dazu benutzt haben mögen, ihre Reichtümer sicher aufzu bewahren. »Wie können wir uns retten, wenn wir hier drin stecken wie Ratten in einer Falle?« fragte ich Molas. »Zweifellos ist das Geheimnis dieses Verstecks jenen bekannt, die in diesem Hause wohnen, und sie wer den uns herauszerren und abschlachten.« »Diese Frau, Luisa, sagt, daß niemand außer ihr es kennt, Herr, und daß sie selbst es erst vor zwei Mo naten entdeckt hat, durch einen reinen Zufall, als der Besen, mit dem sie den Boden fegte, gegen die Feder des Paneels stieß. Aber laß uns wieder für eine Weile zurückgehen, denn es ist noch nicht elf Uhr, und sie sagt, daß uns vor Mitternacht keine Gefahr drohe.« »Hat sie irgendeinen Plan für unsere Flucht?« fragte ich. »Sie hat einen Plan, doch hegt sie Zweifel an sei nem Gelingen. Wenn die Mörder hiergewesen sind und festgestellt haben, daß wir verschwunden sind, werden sie entweder glauben, daß wir Zauberer sei en, oder daß wir eine Möglichkeit gefunden hätten,
aus dem Hause zu fliehen, und werden bis zum Mor gengrauen nicht weiter nach uns suchen. Bis dahin aber wird Luisa durch den geheimen Zugang zu rückkehren und uns in die Kapelle führen, von der aus wir, wie sie glaubt, in den Wald entkommen können.« »Wo ist dieser geheime Zugang, Molas?« »Das weiß ich nicht, Herr; sie hatte nicht die Zeit, es mir zu sagen, doch die Mörder werden durch ihn hereinkommen. Sie hat mir aber erklärt, sie glaube, daß ein Mann und eine Frau in der Nähe der Kapelle gefangengehalten würden, doch wüßte sie nichts von ihnen und sei auch nie dort gewesen, da die Indianer diesen Ort für verhext und von Geistern besessen halten. Zweifellos handelt es sich bei den beiden um Zibalbay und seine Tochter, so daß du, wenn du le ben solltest, um dorthin zu gelangen, sie finden und mit ihnen sprechen kannst.« »Warum sagst du, ›wenn du leben solltest‹, Molas?« »Weil ich glaube, Herr, daß ich zu der Zeit bereits tot sein werde; zumindest weiß ich, daß der Tod auf mich wartet.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Señor. »Ich will es Ihnen sagen. Nachdem diese Frau, Lui sa, wieder gegangen war, aß ich, was sie mir gebracht hatte, und trank etwas Wein. Dann muß ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, war die Kerze heruntergebrannt und ich saß im Dunkeln. Ha stig tastete ich nach der zweiten Kerze, die ich neben die Flasche gelegt hatte und wollte gerade ein Zünd holz anreißen, als irgend etwas meinen Blick auf sich zog. Und dieses ist es, was ich sah: Am anderen Ende
des Raums, in einen Schleier so fahlen Lichts gehüllt, wie es von Glühwürmchen ausgestrahlt wird, stand die Gestalt eines Mannes, und dieser Mann war ich selbst, so gekleidet, wie ich es jetzt bin. Dort stand ich, umgeben von dem fahlen Licht; und obwohl das Gesicht das eines Toten war, war die Hand nicht tot, denn sie winkte mir, durch das Dunkel zu ihm zu kommen. Jetzt brach mir der kalte Angstschweiß aus, so daß es mir kaum gelang, die Kerze anzuzünden, die ich in der Hand hielt. Schließlich jedoch brannte sie hell, und ich schritt, sie hoch über den Kopf haltend, auf die Stelle zu, wo ich den Schatten gesehen hatte, doch er war verschwunden.« »Mit anderen Worten, Sie haben Ihren Rausch aus geschlafen«, sagte der Señor. »Ich gratuliere Ihnen, daß es Ihnen so schnell gelungen ist.« »Es ist leicht, sich lustig zu machen«, antwortete Molas, »doch was ich gesehen habe, habe ich gesehen, und ich weiß, daß es das Omen meines Todes ist. Nun, sei es so; ich bin zwar noch nicht alt, doch habe ich lange genug gelebt, und es wird Zeit, abzutreten. Möge der Himmel mir gnädig sein und mir meine Sünden verzeihen, das ist alles, was ich mir wün sche.« Der Señor und ich versuchten nun, ihm diese Tor heit auszureden, doch vergeblich, und genaugenom men war es auch keine Torheit, da Molas am folgen den Tage sterben sollte; doch ob diese Vision, die ge kommen war, um ihn zu warnen, nichts weiter als ein Traum gewesen ist, vermag ich nicht zu sagen. Nun hörten wir auf, von Geistern und Omen zu sprechen, da wir uns um die Wohlfahrt unserer Kör
per zu kümmern hatten, und um die Erfordernisse der Stunde. Einige Minuten vor Mitternacht löschten wir das Licht, krochen einer nach dem anderen durch das Loch in der Vertäfelung, schlossen es hinter uns und traten in das winzige Verlies. Die Dunkelheit war schrecklich, und während die Wärme des Weins, den wir getrunken hatten, allmählich verflog, stieg die Angst in uns auf und drückte schwer auf unseren Seelen. Jene Stunden auf dem sinkenden Schiff waren furchtbar gewesen, doch was waren sie verglichen mit diesen? So tief die Stille auch sein mochte, waren doch Ge räusche zu hören: seltsames Knarren und Rauschen, das uns bis ins Mark drang. Wir beteten, bis wir nicht mehr konnten, und dann versuchte ich, ein wenig zu schlafen, nur um festzustellen, daß zu einer solchen Zeit der Schlaf schlimmer ist als das Wachen, denn meine Phantasie bevölkerte ihn mit Visionen, bis mir schien, daß alle die gemalten Schrecken an den Wän den der Kammer lebendig würden und entsetzliche Dramen sich vor meinen Augen abspielten. Ich hörte das Stöhnen der Märtyrer und das grau same Johlen derer, die sich an ihren Leiden ergötzten, angefeuert von dem Abt mit dem harten Gesicht, des sen Porträt in der über uns liegenden Kammer hing. Dann änderte sich die Vision, und ich schien die Tra gödie der beiden Amerikaner zu sehen, von deren Schicksal der Señor mir berichtet hatte, und deren Blut noch immer den Boden färbte. Das Dunkel schien sich zu öffnen, und ich sah die beiden Betten, in denen sie ahnungslos schliefen, kräftige Männer in der Blüte ihrer Jahre. Dann tauchten Gestalten auf, die sich über sie
beugten, Don Pedro, Don José und andere, während aus den Schatten hinter ihnen das bösartige Gesicht ihres Landsmannes, Don Smith, grinste. Die Bettdek ken wurden fortgerissen, und wieder war alles dun kel, doch aus dem Dunkel hörte ich die Geräusche dumpfer Schläge und das Stöhnen der Sterbenden, die davonhuschenden Füße der Mörder, und das Klingen von Geld, das den ermordeten Männern ab genommen worden war. Der Señor stieß mich an, und ich fuhr aus dem Schlaf. »Hören Sie!« flüsterte er mir ins Ohr, »ich vermei ne, Männer in der Abtkammer umherschleichen zu hören.« »Um der Liebe Gottes willen, seien Sie still!« flü sterte ich und umklammerte seinen Arm.
9
Das Duell
Wir drückten unsere Ohren an das Paneel und lauschten. Zuerst hörten wir ein Knarren, das in der Stille sehr laut klang, dann leise, dumpfe Geräusche, wie sie eine Katze machen mag, wenn sie aus der Höhe zu Boden springt, und dann ein leises Scharren, wie von sockenbekleideten Füßen auf dem Boden. Danach folgten ein paar Sekunden der Stille, die dann von dem Klirren von Stahl und dem Geräusch schwe rer Schläge mit Macheten und Dolchen auf eine wei che Substanz gebrochen wurde. Die Mörder stießen ihre Waffen durch die Bettdecken, in der Annahme, daß wir unter ihnen schliefen. Als nächstes hörten wir Flüstern und leise Flüche, und dann sagte eine Stimme, Don Josés: »Verflucht, die Betten sind leer.« Kurz darauf wurden Kerzen angezündet, denn ihr Licht drang durch kleine Gucklöcher in dem Paneel zu uns herein, und als wir unsere Augen dagegen preßten, konnten wir sehen, was in dem Raum ge schah. Vor uns sahen wir Don José, Don Smith und vier ihrer Kumpane, alle mit Dolchen oder Macheten bewaffnet, während uns gegenüber, in einer Nische der Wand, die vorher von dem Bild des Abtes ver deckt gewesen war, unser Gastgeber, Don Pedro, stand, der eine Kerze über den Kopf hielt und mit seinen fischartigen Augen in jeden Winkel des Rau mes starrte. »Wo sind sie?« rief er. »Wo sind diese Zauberer? Sucht sie rasch und tötet sie!«
Nun liefen die Männer in der Kammer hin und her, zerrten die Betten zur Seite und starrten die Bilder an den Wänden an, als ob sie glaubten, uns dort entdek ken zu können. »Sie sind fort«, sagte Don José schließlich, »dieser Indianer, Ignatio, hat sie fortgehext. Er ist ein Demonio und kein Mensch; das habe ich von Anfang an ge wußt.« »Unmöglich!« schrie Don Pedro, der bleich vor Angst und Wut war. »Die Tür ist bewacht worden, seit sie hineingegangen sind, und kein lebendes We sen könnte die Gitter vor den Fenstern auseinander biegen. Sucht, sucht, sie müssen sich irgendwo ver steckt haben!« »Suche doch selbst!« antwortete Don Smith mür risch, »Sie sind nicht hier. Vielleicht haben sie den Trick des Gemäldes entdeckt und sind durch die Pas sage zur Kapelle entkommen.« »Unmöglich«, sagte Don Pedro noch einmal, »denn ich bin gerade in der Kapelle gewesen und habe nichts von ihnen gesehen. Wir haben einen Verräter unter uns, der sie aus dem Hause geführt hat: Aber, bei Gott, ich werde ihn finden!« – und er stieß einen furchtbaren Fluch aus. »Sollen wir die Hunde holen?« fragte José – und ich erzitterte bei seinen Worten –, »sie könnten ihren Spuren folgen.« »Idiot! Was können Hunde in einem Raum nützen, wo ihr alle umhergetrampelt seid?« antwortete sein Vater. »Morgen, bei Tagesanbruch, werden wir es mit ihnen draußen versuchen, denn diese Männer müs sen gefunden und getötet werden, sonst sind wir er ledigt. Schon jetzt macht die Polizei Schwierigkeiten
wegen des Verschwindens der beiden Americanos. Und nun werden sie Soldaten herschicken und uns zu sammenschießen lassen, denn der Inglese ist sicher reich und mächtig. Es ist sicher, daß sie nicht hier sind, aber vielleicht haben sie sich irgendwo anders in dem Gebäude versteckt. Kommt, laßt uns in den Kor ridoren und auf dem Dach nach ihnen suchen!« Er verschwand in der Wand, gefolgt von den anderen, und die Kammer lag so dunkel und so still wie vor ihrem Kommen. Für den Augenblick war die Gefahr vorbei, und wir drückten einander dankbar die Hände, denn zu sprechen, oder auch nur zu flüstern, trauten wir uns nicht. Zehn Minuten oder mehr vergingen, als wir er neut Geräusche hörten und Licht durch die Gucklö cher fiel, von einer Kerze, die Don Pedro in der Hand hielt, der sich in Begleitung seines Sohnes, Don José befand. »Sie sind verschwunden«, sagte der alte Mann, »und der Teufel, ihr Herr, mag wissen, wie sie das geschafft haben. Gut, morgen müssen wir sie finden, wenn das möglich sein sollte. Bis dahin können wir nichts tun. Du warst ein Narr, sie hierher zu bringen, José. Habe ich dir nicht gesagt, daß kein Geld auf der Welt mich wieder dazu verführen könnte, weiße Männer zu töten?« »Ich habe es aus Rache getan, nicht wegen des Gel des«, antwortete José. »Eine schöne Rache«, sagte sein Vater, »eine Rache, die uns alle wahrscheinlich das Leben kosten wird, selbst in diesem Lande. Ich sage dir: wenn wir sie morgen nicht finden und zum Schweigen bringen können, werde ich dieses Haus verlassen und mich
ins Innere des Landes zurückziehen, wohin kein Ge setz mir folgen kann, denn ich habe keine Lust, wie ein Hund zusammengeschossen zu werden. Höre, Jo sé! Sag diesen Burschen, sie sollen die Suche aufgeben und schlafen gehen, weil es sinnlos ist. Und dann kommst du, ohne daß die anderen etwas davon mer ken, in mein Zimmer, und wir werden diesen India ner und seine Tochter aufsuchen. Denn wenn wir ihr Geheimnis aus ihnen herauspressen wollen, so muß es heute nacht geschehen, da ich, wie ein Narr, dem Engländer die Geschichte erzählt habe, als ich den Wein in mir hatte, in der Annahme, daß er nicht lan ge genug leben würde, um sie wiederholen zu kön nen.« »Ja, ja, du hast recht, es muß heute nacht sein, denn morgen müssen wir vielleicht schon fliehen. Doch was ist, wenn diese Tiere nicht reden wollen?« »Wir werden Mittel finden, sie zum Reden zu brin gen«, antwortete der alte Mann mit einem entsetzli chen Kichern, »aber ob sie reden oder nicht, sie müs sen danach zum Schweigen gebracht werden ...« Er fuhr mit der Handkante über die Kehle. »Komm!« Eine Stunde verging, während wir zitternd vor Er regung, Hoffnung und Furcht in dem Loch standen, und dann hörten wir wieder das Geräusch von Schritten, und ein Flüstern auf der anderen Seite des Paneels. »Bist du hier, Herr?« flüsterte es. »Ich bin es, Lui sa.« »Ja«, antwortete ich. Nun drückte sie auf die Feder und öffnete das Pa neel. »Höre!« sagte sie. »Sie sind alle schlafen gegangen,
doch bevor der Morgen graut, werden sie wieder auf sein und überall nach euch suchen. Deshalb müßt ihr eine von zwei Möglichkeiten wählen: Ihr könnt hier bleiben, vielleicht viele Tage lang, oder ihr müßt so fort fliehen.« »Wie können wir fliehen?« fragte ich. »Es gibt nur einen Weg, Herr, durch die Kapelle. Ihre Tür ist verschlossen, doch kann ich euch eine Kammer zeigen, von der die Priester einst jene, die unten saßen, beobachtet haben, und wenn ihr tapfer seid, könnt ihr von dort hinabspringen, denn es ist nicht sehr hoch. Wenn ihr dann in der Kapelle seid, könnt ihr durch das Fenster über dem Altar, das zer brochen ist, wie ich von außen gesehen habe, in den Garten entkommen, obwohl ihr, um es zu erreichen, auf die Schultern eines anderen steigen müßt. Dann müßt ihr so schnell wie möglich im Licht des Mondes – der gerade aufgegangen ist – fliehen. Die Hunde sind satt und angekettet, also solltet ihr, wenn das Herz euer Freund ist, entkommen können.« Nun wandte ich mich an den Señor und sagte: »Obwohl die Frau es nicht weiß, halte ich es für wahrscheinlich, daß wir Gesellschaft in der Kapelle vorfinden werden, da der Indianer und seine Tochter dort gefangengehalten werden und Don Pedro und Don José sie besuchen wollen. Das Risiko ist also groß, sollen wir es auf uns nehmen?« »Ja«, antwortete der Señor nach kurzem Überlegen, »denn es ist besser, ein Risiko einzugehen, als in die sem Loch langsam zu verhungern, oder vielleicht entdeckt und kaltblütig ermordet zu werden. Außer dem sind wir weit gereist und haben viel auf uns ge nommen, um diesen Indianer zu finden, und wenn
wir uns diese Chance dazu entgehen lassen, mögen wir vielleicht keine zweite finden.« »Was sagst du dazu, Molas?« »Ich sage, daß die Worte des Señors weise sind, und ich sage auch, daß es für mich unwichtig ist, was wir tun, denn ob ich mich nach rechts oder nach links wenden mag, überall wartet der Tod auf meinem Wege.« Einer nach dem anderen krochen wir nun durch das falsche Paneel, und im Licht des Mondes führte Luisa uns durch die Kammer zu der Stelle zwischen den beiden Betten, an der das Bild des Abtes hing, welches, auf eine Holztafel gemalt, sich als nichts an deres erwies, als eine geschickt konstruierte, auf Zap fen gelagerte Tür. Luisa drückte ihr Knie gegen den Holm der Ge heimtür und trat in den hinter ihr liegenden Korridor. Als wir neben ihr standen, schloß sie die Tür, gebot uns, einander an den Händen zu halten und absolut still zu sein, nahm mich bei der Hand und führte uns durch mehrere Gänge, bis sie schließlich flüsterte: »Seid vorsichtig, denn wir kommen jetzt zu dem Ort, von wo aus ihr euch in die Kapelle fallen lassen müßt, und da ist eine Treppe rechts von euch.« Wir stiegen die Stufen hinauf und bogen um eine Ecke, Luisa noch immer in Führung. Im nächsten Augenblick taumelte sie zurück in meine Arme und murmelte: »Mutter Gottes! Die Gei ster! Die Geister!« Wahrlich, wenn ich sie nicht fest gehalten hätte, wäre sie geflohen. Noch immer sie bei der Hand haltend, drängte ich mich an ihr vorbei in die kleine Nische – jene, die ich Ihnen gezeigt habe, Señor Jones – die sich etwa zehn Fuß oberhalb des
Bodens der Kapelle befindet und, wie andere Orte des Hauses, so angeordnet ist, daß der Abt oder ein aufsichtführender Mönch alles sehen konnte, was unter ihm geschah, ohne selbst gesehen zu werden. Eines bin ich sicher: daß während all der Genera tionen, die vergangen sind, kein Mönch, der von hier beobachtet hat, einen ungewöhnlicheren Anblick sah als jenen, auf den mein Auge fiel. Die Kanzel der Ka pelle wurde durch Bahnen hellen Mondlichts erhellt, die durch das zerbrochene Fenster fielen, und durch eine Lampe, die auf dem steinernen Altar stand. In dem hellen Lichtkreis, den diese Lampe warf, standen vier Menschen, nämlich Don Pedro, sein Sohn Don José, ein alter Indianer und ein Mädchen. Zu beiden Seiten des Altars erhoben sich – wie noch heute – zwei geschnitzte Säulen aus Sapote-Holz, deren Spitzen zu Engelsfiguren geformt waren, und an jede dieser Säulen war eine Gestalt gefesselt: der alte Indianer und das Mädchen, die Hände auf der Rückseite der Säulen zusammengebunden, so daß sie absolut hilflos waren. Mein Blick fiel als erstes auf die Frau, die mir zu nächststand, und als ich sie sah, selbst in diesem Zu stand, abgerissen und verhärmt durch Leid und Hunger, ihr Gesicht verzerrt von Seelenschmerz und ohnmächtiger Wut, fragte ich mich nicht länger, war um sowohl Molas, als auch Don Pedro so von ihrer Schönheit geschwärmt hatten. Sie war eine Indianerin, doch eine wie sie hatte ich noch nie zuvor gesehen, denn ihre Haut war sehr hell, und ihr schwarzes, lockiges Haar hing bis zu ih ren Knien hinab. Ihr Gesicht war oval und fein ge schnitten, und in ihm strahlte ein Paar wunderbarer
dunkelblauer Augen, und die eng anliegende, weiße Robe verriet die Schönheit ihrer hochgewachsenen, schlanken Gestalt. Doch wenn die Situation des Mädchens schon schlimm war, so war die ihres Vaters, der kein ande rer war, als der Zibalbay, den zu finden wir gekom men waren, noch schlimmer. Wie Molas ihn be schrieben hatte, war er groß und hager, mit weißem Haar und Bart, wilden, habichtartigen Augen, und einem raubvogelartigen Gesicht, und auch Don Pedro hatte nicht weniger als die Wahrheit gesagt, als er meinte, daß er wie ein König aussähe. Seine Robe war ihm vom Leibe gerissen worden, so daß er halb nackt dastand, und auf Stirn, Brust und Armen waren blu tige Striemen, von einer Reitpeitsche geschlagen, die zerbrochen zu seinen Füßen lag. Es war nicht schwer zu erraten, wer sie zerbrochen hatte, denn vor dem alten Mann stand Don José, der nach Atem rang und sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Dieses Muli rührt sich nicht«, sagte er auf spa nisch zu seinem Vater. »Frage jetzt das Mädchen, es muß sie doch munter gemacht haben zu sehen, wie ich den alten Mann geschlagen habe.« Jetzt rutschte Don Pedro von der Balustrade des Altars herab, auf der er gesessen hatte, trat auf die Frau zu und starrte sie mit seinen bleiernen Augen an. »Ich weiß, meine Liebe«, sagte er in der MayaSprache, »daß dieser Anblick dich geschmerzt hat. Also mach allem ein Ende, indem du uns den Ort nennst, an dem das Gold versteckt ist.« »Wie mit meinem letzten Atemzuge, Tochter«, un
terbrach Zibalbay, »befehle ich dir, nichts zu sagen, selbst dann nicht, wenn sie mich vor deinen Augen stückweise zu Tode foltern sollten.« »Sei still, du Hund!« schrie Don José und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. »Oh! Wenn ich nur frei wäre, um dich rächen zu können, Vater!« keuchte das Mädchen und kämpfte gegen die Stricke an, die sie festhielten. »Was soll die Eile, Liebling«, sagte Don José grin send, »warte nur ein wenig, dann wirst du sowohl für dich als auch für deinen Vater Rache zu nehmen ha ben. Wenn er nicht reden will, werden wir schon ei nen Weg finden, dich zum Reden zu bringen, aber den möchte ich nicht anwenden, wenn ich nicht dazu gezwungen werde. Du bist sehr hübsch, wirklich, sehr hübsch.« Das Mädchen erschauerte aus Furcht und Haß, und blieb still. »Was sollen wir jetzt bei ihm versuchen, den kalten Stahl oder den heißen?« fuhr er, an Don Pedro ge wandt, fort. »Entschließe dich, denn ich werde müde. Oder wenn du dich nicht entscheiden kannst, gib mir die Machete. Und jetzt, mein Freund«, wandte er sich wieder an den Indianer, »frage ich dich zum letzten Mal: Wo ist der Tempel voller Gold, von dem du, wie mein Vater gehört hat, gesprochen hast?« »Einen solchen Tempel gibt es nicht, weißer Mann«, antwortete er finster. »Wirklich nicht, Freund? Dann wirst du mir jetzt erklären, wo du die kleinen Ingots gefunden hast, die wir dem Indianer abgenommen haben, der dich auf suchte, und woher diese Machete stammt.« Er deu tete auf die Waffe, die er in seiner Hand hielt.
Es war ein Schwert von großer Schönheit, wie ich selbst aus dieser Entfernung feststellen konnte, nicht aus Stahl, sondern aus gehärtetem Kupfer hergestellt, und sein Griff bestand aus einer weiblichen Figur mit ausgestreckten Armen aus reinem Gold. »Die Machete ist das Geschenk eines Freundes«, sagte der Indianer, »ich weiß nicht, woher er sie hat te.« »Wirklich?« erwiderte José mit einem brutalen La chen. »Aber vielleicht wirst du dich gleich wieder erinnern. Hier, Vater, wärme die Spitze der Machete ein wenig über der Lampe an, während ich unserem Gast erkläre, wie ich ihn und seine Tochter zu bedie nen gedenke.« Don Pedro nickte, nahm das Schwert und hielt sei ne Spitze über die Flamme der Lampe, während José zu dem Indianer trat und ihm etwas ins Ohr flüsterte, wobei er von Zeit zu Zeit auf das Mädchen deutete, das, von Schwäche und Entsetzen überwältigt, be wußtlos zu Boden gesunken war, wo sie erschlafft und halb verborgen von der Masse ihres Haars reglos lag. »Seid ihr weißen Männer denn Teufel?« sagte der alte Mann schließlich mit einem Stöhnen, das aus der Tiefe seines Herzens zu kommen schien, »und gibt es kein Gesetz und keine Gerechtigkeit unter euch?« »Aber ja, mein Freund«, antwortete José, »wir sind sehr nette Menschen, doch die Zeiten sind hart, und wir müssen leben. Was alles weitere angeht, so küm mere dich nicht zu sehr um die Gerechtigkeit in die ser Gegend, und außerdem habe ich noch nie gehört, daß ein ungetaufter indianischer Hund darauf einen Anspruch hätte. Also, noch einmal: Wirst du uns zu
dem Ort führen, von dem das Gold stammt und dei ne Tochter als Geisel zurücklassen?« »Niemals!« rief der Indianer. »Lieber werden wir beide hundert Tode sterben, als daß die alten Ge heimnisse meines Volkes solchen wie euch ausgelie fert würden.« »Also gibt es doch Geheimnisse bei euch! Vater, ist das Schwert heiß?« fragte José. »Noch eine Minute«, sagte der alte Mann und drehte ruhig die Spitze in der Flamme. Dies war die Szene, die wir beobachteten, und dies waren die Worte, die unsere Ohren erstaunten. »Es wird Zeit, daß wir da ein bißchen mitspielen«, flüsterte der Señor und umklammerte die Balustrade, um in den Kirchenraum hinabzuspringen. Jetzt kam mir ein Gedanke, und ich zog ihn auf den Korridor zurück. »Vielleicht ist die Tür offen«, sagte ich. »Wollt ihr dort hineingehen?« fragte das Mädchen Luisa. »Natürlich«, antwortete ich, »wir müssen diese Menschen retten oder mit ihnen sterben.« »Dann lebt wohl, ich habe alles getan, was ich tun konnte; von nun an müssen die Heiligen euch führen, denn wenn man mich hier sieht, werden sie mich tö ten, und ich habe ein Kind, für das ich leben will. Nochmals: Lebt wohl!« Sie verschwand wie ein Schatten. Wir schlichen die Stiege hinab. An ihrem Fuß be fand sich eine Tür, die, wie wir gehofft hatten, einen Spaltbreit offen stand. Einen Augenblick lang berie ten wir uns, dann krochen wir durch das Dunkel auf
den Lichtkreis vor dem Altar zu. Jetzt hielt José das heiß gemachte Schwert in der Hand. »Sieh her, Liebste, sieh her!« sagte er zu dem Mäd chen und tätschelte sie auf die Wange. »Ich werde jetzt deinen Vater nach den Riten der christlichen Re ligion taufen, indem ich ihm ein Kreuz in die Stirn brenne.« Damit trat er, das Schwert mit der glühen den Spitze auf das Gesicht des Indianers gerichtet, auf diesen zu. In diesem Augenblick sprang Molas ihn von hinten an und umklammerte seine Arme, so daß er das Schwert zu Boden fallen ließ, und ich packte Pedro und hielt ihn fest, so sehr er sich auch wehren moch te. »Wenn einer von Ihnen einen Ton von sich gibt, sind Sie beide tot«, sagte der Señor, hob die Machete auf und drückte ihre glühende Spitze auf Josés Brust, wo sie sich langsam durch seine Kleidung brannte. »Was sollen wir mit diesen Männern tun?« fragte er. »Sie töten, so wie sie uns getötet hätten«, antwor tete Molas, »oder, wenn Sie sich davor fürchten, so schneiden Sie jenen alten Mann los, damit er sich für das Unrecht räche, das ihm und seiner Tochter ange tan wurde.« »Was sagen Sie, Ignatio?« »Ich suche nicht das Blut von Menschen, doch um unserer Sicherheit willen wäre es gut, wenn diese Schurken stürben. Weg mit ihnen!« Jetzt begann Don Pedro in seiner Angst unartiku liert zu blöken, und jener Held, Don José, brach in Tränen aus und flehte um sein Leben, wobei er sich vor Schmerzen krümmte, da die glühende Schwert
spitze inzwischen seine Haut versengte. »Sie sind ein englischer Gentleman«, stöhnte er, »Sie können doch nicht einen hilflosen Menschen wie einen Ochsen abschlachten!« »So wie Sie versucht haben, uns in jener Kammer abzuschlachten – uns, die wir Ihnen das Leben geret tet haben?« antwortete der Señor. »Trotzdem haben Sie recht, ich kann es nicht tun, da ich, wie Sie richtig sagten, ein englischer Gentleman bin. Molas, lassen Sie den Hund los, aber wenn er wegzulaufen versu chen sollte, stechen Sie ihn ab. José Moreno, Sie haben ein Schwert an Ihrer Seite, und ich halte eines in mei ner Hand. Ich werde Sie nicht ermorden, doch haben wir einen Streit, und den werden wir hier und jetzt austragen.« »Sie sind wahnsinnig, Señor«, sagte ich, »Ihr Leben auf diese Art aufs Spiel zu setzen. Lieber werde ich sie mit eigener Hand töten, als das zuzulassen!« »Werden Sie kämpfen, wenn ich Sie freilasse, José Moreno?« fragte er, »oder wollen Sie lieber sterben, wo Sie stehen?« »Ich werde kämpfen«, antwortete er. »Gut. Geben Sie ihn frei, Molas, und halten Sie Ihr Messer bereit!« »Ich befehle dir ...«, begann ich, doch Molas hatte den Mann bereits losgelassen, und der Señor stand bereit, seinen Rücken der Tür zugewandt, in seiner Hand die indianische Machete, deren goldener Griff die Gestalt einer Frau hatte. Jetzt blickte José wild umher, als ob er einen Fluchtweg suchte, doch es gab keinen, denn vor ihm war die Machete, und hinter ihm Molas' Messer. Ei nige Sekunden lang – zehn vielleicht – standen sie
einander in dem Lichtkreis der Lampe gegenüber, während der Schein des Mondes über ihre Gesichter spielte. Wir beobachteten sie in absolutem Schweigen, und das indianische Mädchen beugte sich vor, so weit ihre Bande es zuließen und warf ihre langen Haarsträhnen aus dem Gesicht, um diesen Kampf bis zum Tode zwischen dem, der sie gequält und belei digt hatte, und dem edel aussehenden weißen Mann zu verfolgen, der unversehens aus dem Dunkel auf getaucht war, um sie zu erretten. Ja, es war eine seltsame Szene, denn der Kontrast von Licht und Dunkel, oder Gut und Böse, konnte nicht größer sein als der zwischen diesen beiden Männern, und was es noch seltsamer machte, waren der Ort und die Stunde. Hinter ihnen lag die halb er leuchtete Leere der verlassenen Kapelle, vor ihnen erhoben sich das heilige Kruzifix und der geschän dete Altar Gottes, und unter ihren Füßen lagen die Knochen vergessener Toter, deren Geister sie viel leicht so ernst aus den Schatten heraus anblicken mochten, wie unsere lebenden Augen. Ja, jene mitter nächtliche Szene von Tod und Rache, die in diesem Hause des Friedens gespielt wurde, war sehr seltsam, und selbst heute noch gerinnt mir das Blut in den Adern, wenn ich an sie denke. Von dem Augenblick an, als ich sie einander ge genüberstehen sah, verflog meine Furcht. Der Sieg stand deutlich in dem ruhigen Antlitz des Señors ge schrieben, und besonders in seinen großen, blauen Augen, deren Blick plötzlich so hart geworden war wie der eines Racheengels, während das Gesicht Josés lediglich verwirrte Wut verriet, die gegen unbe schreibliche Verzweiflung ankämpfte. Er wußte, daß
er sterben würde, und der Schrecken des nahenden Todes entnervte ihn. Trotzdem war er es, der den ersten Streich führte; er schnellte vor und führte einen verzweifelten Hieb nach dem Kopf des Señors, der ihm durch einen Sprung zur Seite auswich und José seine Klinge durch den linken Arm stach. Mit einem Schmerzens schrei sprang der Mexikaner zurück, gefolgt von dem Señor, nach dem er immer wieder hieb, doch ohne Resultat, denn jeder Streich wurde abgewehrt. Jetzt waren sie unmittelbar vor dem Altar, und dann stieß er mit dem Rücken gegen die geschnitzte Säule aus Sapote-Holz, an die das Mädchen gebunden war. Weiter konnte er nicht fliehen, also blieb er dort und hieb wild um sich, so daß das Mädchen, auf der anderen Seite der Säule, sich auf den Boden kauerte, um der kreisenden Klinge auszuweichen. Und dann kam das Ende, denn der Señor, der auf seine Chance wartete, sprang plötzlich in die Reich weite Josés, nur um sofort wieder zurückzuweichen, so daß der wütende Hieb des Mexikaners nach sei nem Kopf ins Leere ging und die Klinge klirrend in den Marmorboden fuhr, wo die Spur noch heute zu sehen ist. Bevor José, dessen Arm durch den Schock betäubt war, sein Schwert wieder heben konnte, sprang der Señor erneut vor und stach zu. Und dieses Mal traf er besser; er trieb die Klinge in die Brust des Mexikaners und durchbohrte sein Herz, so daß dieser tot auf die Altarstufen sank. Nun muß ich von meiner Torheit berichten, die fast uns allen das Leben gekostet hätte. Sie werden sich erinnern, daß ich Don Pedro festhielt, und ich kann nicht sagen, wie es geschehen konnte, doch in meiner
Freude und Aufregung muß ich wohl meinen Griff gelockert haben, so daß er sich mit einem plötzlichen Ruck losreißen konnte und in Sekundenschnelle ver schwunden war. Ich lief ihm nach, doch es war zu spät, denn als ich die Tür erreichte, wurde sie mir vor der Nase zuge worfen, und ich konnte sie auch nicht wieder öffnen, da sie auf dieser Seite keine Klinke aufwies. »Flieht!« rief ich, während ich zum Altar zurück lief. »Er ist entkommen und wird gleich mit den an deren zurück sein.« Der Señor hatte alles gesehen und war schon dabei, mit seinem Schwert die Fesseln des Mädchens zu durchtrennen, während Molas ihren Vater losschnitt. Nun sprang ich auf den Altar – möge mein Sakrileg mir vergeben werden! –, schnellte mich zu dem zer brochenen Fenster hinauf und zog mich empor, wo bei Molas von unten nachhalf. Auf dem Fenstersims sitzend packte ich die Handgelenke des Indianers Zi balbay, da er zu steif war, um springen zu können, zog ihn zu mir empor und befahl ihm, sich auf der anderen Seite zu Boden fallen zu lassen, der nur etwa zehn Fuß tiefer lag. Als nächstes kam seine Tochter dran, dann der Señor, und als letzter Molas, so daß wir drei Minuten nach dem Entkommen Don Pedros alle außerhalb der Kapelle zwischen den Büschen ei nes Gartens standen. »Wohin jetzt?« fragte ich, da der Ort mir fremd war. Das Mädchen, Maya, blickte umher, und dann zum Himmel empor. »Folgt mir!« sagte sie. »Ich weiß einen Weg.« Sie lief durch den Garten.
Wenig später erreichten wir eine mannshohe Mau er, hinter der sich eine dichte Hecke aus Agaven er hob. Wir kletterten über die Mauer, schlugen einen Weg durch die Agaven – nicht ohne uns zu verletzen, denn die Blattkanten waren scharf – und befanden uns auf einem Maisfeld. Hier blieb das Mädchen ste hen und blickte wieder zu den Sternen empor, und in diesem Augenblick hörten wir lautes Rufen, und als wir zurückblickten, sahen wir in der Hacienda Lich ter, die sich hin und her bewegten. »Wir müssen weiter, sonst sind wir verloren!« sagte ich. »Don Pedro hat seine Männer alarmiert.« Nun lief Maya durch das Maisfeld, und wir folgten ihr. Es gab keinen Weg, und die Maisstauden, die uns weit überragten, überschütteten uns mit Schauern und Tautropfen, bis unsere Kleidung voll Wasser ge sogen war wie ein Schwamm. Doch wir kämpften uns weiter hindurch, einer hinter dem anderen, bis wir nach etwa fünfzehn Minuten die Grenze des bebau ten Landes erreichten und am Rand eines Waldes standen. »Halt!« sagte ich. »Wohin laufen wir eigentlich? Die Straße liegt rechts von hier, und wenn wir ihr fol gen, könnten wir eine Stadt erreichen.« »Um dort als Mörder verhaftet zu werden«, sagte der Señor. »Sie vergessen, daß José Moreno durch meine Hand gestorben ist, und sein Vater wird unser Leben hinwegschwören, oder bestenfalls werden wir ins Gefängnis geworfen. Nein, nein, wir müssen uns im Wald verstecken!« »Hört!« sagte der alte Indianer und sprach damit zum ersten Mal. »Ich kenne einen geheimen Ort in diesem Wald, eine uralte Ruine, in der wir für eine
Weile Unterschlupf finden können, wenn es uns ge lingt, sie zu erreichen. Doch zuerst möchte ich wissen: Wer seid ihr?« »Mich solltest du kennen, Zibalbay«, sagte Molas, »da ich der Bote bin, den du ausgesandt hast, um je nen zu suchen, den du zu finden begehrst, den Herrn und Hüter des Herzens.« Er deutete auf mich. »Bist du jener Mann?« fragte der Indianer. »Der bin ich«, antwortete ich, »und ich habe viel erlitten, um dich zu finden. Aber jetzt ist nicht die Zeit zum Reden. Bring uns zu deinem Versteck, denn wir sind in großer Gefahr!« Nun übernahm das Mädchen wieder die Führung, und wir drangen in den Wald ein, oft in der Dunkel heit strauchelnd und fallend, bis im Osten der neue Morgen graute und das Rufen unserer Verfolger er starb.
10
Wie Molas starb
Einige Minuten lang ruhten wir uns aus, um zu Atem zu kommen, dann brachen wir wieder auf. Voraus ging Maya, unsere Führerin, die vom Señor an der Hand gehalten wurde, dahinter folgte Zibalbay, ge stützt von Molas und mir. Anfangs waren die beiden genauso schnell gelaufen wie wir, doch jetzt machten die Folgen der Strapazen und des Schreckens, die sie durchgemacht hatten, sich bemerkbar, so daß sie von Zeit zu Zeit gezwungen waren, stehenzubleiben und sich auszuruhen. Und das war auch nicht verwun derlich, da sie seit fünf Tagen nichts Festes gegessen hatten, denn es hatte in Don Pedros Absicht gelegen, sie durch Hunger zur Preisgabe ihres Geheimnisses zu zwingen. Zweifellos wäre ihm das auch gelungen, oder aber sie wären verhungert, wenn sie nicht ein Präparat aus Coca-Blättern, vermischt mit gestoßenem Trockenfleisch und anderen Zutaten, bei sich gehabt hätten. Zibalbay kannte das Geheimnis dieser india nischen Nahrung, und mit ihrer Hilfe waren er und seine Tochter durch große, unbewohnte Einöden ge zogen; sie war so sättigend, daß ein Stück, nicht grö ßer als eine Gewehrkugel, den Tagesbedarf eines Menschen deckt, selbst wenn seine Kraft durch Arbeit oder Reisen stark beansprucht wird. Mit dieser Nah rung hatten sie sich aufrechterhalten, sehr zur Ver wunderung Don Pedros, der nicht herausbekam, wo her sie ihre Kraft bezogen; und doch war es eher ein Stimulans als eine Nahrung, und ihr Drang, sich den
Magen zu füllen, war so groß, daß sie im Maisfeld ein paar der frischen Kolben abgerissen und sie beim Laufen hinuntergeschlungen hatten. Unser Weg führte durch einen tropischen Wald, der so dicht war, daß selbst bei strahlender Sonne nur trübes Dämmerlicht herrschte. Viele Arten riesiger Bäume wuchsen darin, von deren Ästen Orchideen und Lianen herabhingen, stellenweise auch lange Girlanden von Spanischem Moos, die ihnen ein fremdartiges und unnatürliches Aussehen verliehen. An diesen Bäumen krochen Schlingpflanzen hinauf, von denen manche dicker waren als der Oberschen kel eines Mannes, und der Boden unter ihnen war mit weichholzigen Büschen bedeckt, oder mit riesigen Dickichten einer Pflanze, die in Mexiko eine Höhe von zehn bis zwölf Fuß erreicht, und die, wie der Señor mir erklärte, in englischen Gärten unter dem Namen ›Indian Shot‹* kultiviert wird. Langsam und unter großen Mühen erkämpften wir uns unseren Weg durch diese Masse von Vegetation, krochen über den von Farnen überwucherten Stamm eines umge stürzten Baumes, zwängten uns durch dichte Büsche, und wieder wurde unsere Kleidung und unsere Haut von hakenartigen Dornen zerrissen, oder unsere Füße verfingen sich in den Wurzeln einer Kletterpflanze. Kein Luftzug drang in dieses unermeßliche Dickicht, dessen stickige Atmosphäre, durchdrungen von den Fäulnisgerüchen von Äonen, uns erstickte und fast ohnmächtig werden ließ und uns den Schweiß aus allen Poren trieb. Über uns, den Himmel verdeckend, hingen Massen grünen Laubes, unter denen wir in * Indisches Blumenrohr (Canna indica) – Anm. d. Hrsg.
dem feierlichen Dämmerlicht vorwärtsdrangen, und in einer Stille, die nur hin und wieder vom Schnattern eines Affen unterbrochen wurde, oder von einem ent fernten Krachen, wenn einer der Baumriesen, nach jahrhundertlangem Leben, mit donnerndem Getöse auf die Erde zurückstürzte, aus der er gewachsen war. Der Dschungel, der so völlig ohne Leben wirkte, war von Millionen Insekten bevölkert, von denen viele giftig waren. Garrapatas, winzige, graue Fliegen, Holzwespen, und rote und schwarze Ameisen folter ten uns mit ihren Stichen und Bissen, bis wir laut auf stöhnten vor Pein, doch dann, uns unserer Gefahr erinnernd, weiter vordrangen. So vergingen zwei Stunden oder mehr, bis wir eine Schlucht erreichten, durch die ein Bach rann, wo wir Rast machten, um zu trinken und unsere geschwolle nen Hände und Füße zu kühlen. Zibalbay sank er schöpft am Ufer des Baches nieder, und ich brachte ihm Wasser in meinem Sombrero, während seine Tochter sich auf einen großen Stein setzte, der mitten im Bach lag, und das Wasser um ihre Füße und Knö chel spülen ließ, die von Insektenstichen geschwollen und von Dornen blutig gerissen waren. Dann blickte sie auf, und als sie den Señor sah, der am Ufer bei mir stand und mit mir sprach, lud sie ihn mit einer Handbewegung ein, sich neben sie zu setzen. »Wie ist dein Name, weißer Mann?« »James Strickland.« »James Strickland«, wiederholte sie mit einiger Schwierigkeit. »Ich danke dir, James Strickland, daß du meinen Vater vor Folter und Tod und mich vor der Schande bewahrt hast, und deshalb bin ich, Maya
von dem Herzen, der viele dienen, für immer deine Dienerin.« »Du solltest meinem Freund Don Ignatio danken«, sagte er, auf mich deutend. Ein paar Sekunden lang blickte sie mich forschend an, dann sagte sie: »Auch ihm danke ich, doch dir am meisten, denn es war deine Hand, die den verhaßten Mann getötet und uns gerettet hat.« »Es ist zu früh, zu danken«, sagte er, »noch sind wir der Gefahr nicht entronnen.« »Ich habe keine Angst mehr, seit wir aus jenem schrecklichen Hause entkommen sind«, antwortete sie beinahe gleichgültig, »da wir unser Versteck gleich erreicht haben. Außerdem, wie können sie uns in diesem Dickicht finden? Horch! Was war das?« Während sie sprach, erreichte ein leiser, entfernter Laut unsere Ohren – ein Geräusch, wie das einer Glocke, die in der Ferne durch die Nacht klingt. »So können sie uns finden«, sagte er und sprang auf. »Haben Sie gehört, Ignatio? Die Hunde haben unsere Spur gefunden. Wie geht es jetzt weiter, Ma ya?« »Am Ufer des Baches entlang.« »Dann müssen wir im Wasser gehen«, sagte der Señor. »Es ist unsere einzige Chance, da die Hunde dort unsere Spur nicht verfolgen können.« Nun stiegen wir vom Ufer ins Bachbett, so rasch die Steine und Zibalbays Erschöpfungszustand dies zuließen. Glücklicherweise war das Wasser nicht sehr breit und auch nicht tief, doch einige Male gerieten wir in Stromschnellen, in denen wir uns kaum auf den Beinen halten konnten, und zweimal waren wir gezwungen – da wir nicht wagten, einen Fuß ans
Ufer zu setzen –, durch tiefere Stellen zu schwimmen, was wir mit einiger Furcht taten, da sie möglicher weise von Alligatoren bevölkert sein mochten. Mehr als eine Stunde lang folgten wir so dem Bachlauf, bis Maya plötzlich stehenblieb und erklärte, daß wir jetzt den Bach verlassen und durch den Dschungel weiter gehen müßten, um den Ort zu erreichen, an dem sie wohnten. Inzwischen waren wir völlig erschöpft, und der alte Indianer, Zibalbay, war dem Zusammen bruch nahe; deshalb verließen wir, ungeachtet der Gefahr, unsere Füße wieder auf Land zu setzen, bei der Nachricht, daß unser Ziel nahe war und wir dort Essen vorfinden würden, den Bach und drangen wieder in das Dickicht ein. Etwa dreihundert Schritte vom Bachufer entfernt gelangten wir zu einem hohen Hügel, der dicht mit Bäumen bewachsen war, zwi schen deren Stämmen Massen behauener Steine la gen. »Hier ist es«, keuchte Zibalbay. »Seht, dort über uns sind die Mauern des Tempels, und hier ist die Treppe, die zu ihm hinaufführt.« Er deutete auf eine lange Reihe verfallener Steinstufen, die fast völlig von Farnen und Büschen überwuchert waren, und die vom Fuße der Pyramide zu dem alten indianischen Tempel auf ihrer Spitze hinaufführten. Diese Stufen stiegen wir vorsichtig hinauf, denn der Aufstieg war gefährlich. Molas trug Zibalbay auf seinem breiten Rücken, da der alte Indianer so erschöpft war, daß er es nicht mehr schaffen konnte. Diese Treppe war in drei Abschnitte unterteilt, de ren oberster, dessen Stufen fast völlig zerbrochen wa ren, auf eine Fläche führte, die einst eine weite, herrli che Terrasse gewesen war, jetzt jedoch nur noch ein
Chaos von Steintrümmern, aus deren Spalten Büsche wuchsen und sogar große Bäume. Am Kopfende der Treppe erhob sich ein gewaltiger Torbogen, in den die Gestalten von Göttern und Tieren gemeißelt wa ren. Dieser Torbogen befand sich im letzten Stadium des Verfalls; seine Krone, eine Steinmasse, die zwi schen einhundert und zweihundert Tonnen wiegen mochte, hatte sich durch die Einflüsse von Zeit und Witterung, unterstützt vielleicht durch die Stöße ei nes Erdbebens, fast von ihren Stützpfeilern gelöst und hing drohend über den obersten Stufen der Treppe. So lose hing sie auf dem, was von den Pfei lern und Stützmauern übrig geblieben war, daß man im ersten Augenblick den Eindruck hatte, er müßte jeden Moment herabstürzen. Bei genauerer Betrach tung zeigte es sich jedoch, daß er von drei oder vier mächtigen Wurzeln von Bäumen festgehalten wurde, die sich von auf dem Bogen im Laufe vieler Jahre durch Spalten und Risse des Gemäuers gearbeitet hatten, und durch ihre Grundmauern in dem darun ter liegenden Boden. Jenseits dieses Torbogens, auf der anderen Seite der Terrasse, erhob sich die Tem pelruine, ein langgestrecktes, eingeschossiges Gebäu de mit einem flachen Dach, auf dem viele Büsche und ein paar Palmen wuchsen. Wir traten durch die Mitteltür dieses Tempels, und Maya führte uns in einen Raum, dessen Wände ringsum mit in den Stein gemeißelten Schlangen ge schmückt waren, und der kürzlich bewohnt worden war, denn er war sauber, und auf dem Boden lagen Asche und verkohlte Holzstücke. In einer Ecke lagen außerdem ein kleiner Haufen von Dingen, von einem Serape bedeckt, das Maya jetzt rasch aufhob, und wir
sahen unter anderem einen Kochtopf aus Ton, eine Kupferaxt von ähnlicher Arbeit wie die Machete, mit der der Señor Don José getötet hatte, zwei eigenartig geformte Blasrohre mit einem kleinen Vorrat von Giftpfeilen und schließlich mehrere Beutel, die ge trocknetes Fleisch, Bohnen und Coca-Paste enthielten. »Es ist alles da«, sagte sie. »Laßt uns essen, damit wir kräftig sind, wenn wir der Gefahr entgegentreten müssen.« Während wir uns dankbar an dem getrockneten Fleisch labten, wandte der Señor sich an mich und sagte, er hoffe, daß man unsere Verfolgung aufgege ben habe. »Es zeigt, daß Sie diese Art Menschen wenig ken nen, wenn Sie so etwas sagen«, antwortete ich. »Sie müssen uns erledigen, um sich selbst zu retten; au ßerdem will Don Pedro bestimmt Rache für das Blut seines Sohnes nehmen. Unsere einzige Hoffnung liegt darin, daß die Hunde im Wasser unsere Spur verlie ren, oder daß, wenn sie die Stelle finden sollten, wo wir es verlassen haben, die Tageshitze unseren Ge ruch hat verfliegen lassen. Aber ich fürchte, daß wir darauf nicht hoffen können, weil der Boden unter den Bäumen feucht ist.« »Was schlagen Sie dann vor? Sollen wir weiterge hen oder hier bleiben?« »Señor, wir müssen hier bleiben, da wir nicht wei ter können, es sei denn, Sie wollen den alten Mann und seine Tochter ihrem Schicksal überlassen. Au ßerdem würde es im Dschungel leicht sein, uns zu überwältigen, während dieser Ort schwer zu erstei gen ist und wir zumindest kämpfend sterben könn ten. Lassen Sie uns auf das Schlimmste gefaßt sein
und uns darauf vorbereiten, Señor.« »Wie können wir uns darauf vorbereiten, wenn wir keine anderen Waffen haben als Macheten und india nische Blasrohre? Das Pulver für die Pistolen ist feucht geworden, und die Zündhütchen werden ver sagen, so daß im Falle eines Angriffs unser Tod sicher ist.« »Dem scheint so«, sagte er, »doch wenn es Gott ge fällt, werden wir am Leben bleiben. Dort drüben lie gen viele schwere Steine herum; wir wollen sie unter den Torbogen bringen, vielleicht können wir einige unserer Feinde töten, indem wir sie die Stufen hinab rollen.« Dies taten wir, und Maya sah uns dabei zu. Schließlich war die Arbeit getan, und als wir dem Steinhaufen den Rücken wandten, hörten wir plötz lich das Bellen eines Hundes vom Bach, gefolgt von dem Geräusch von Männern und Pferden, die durch das Unterholz brachen. Eine Weile starrten wir ein ander an, und dann sagte Molas: »Sie kommen.« »Dann wünsche ich mir, daß sie rasch kommen«, antwortete der Señor. »Warum, weißer Mann? Hast du Angst?« fragte Maya. »Ja, sehr sogar«, antwortete er mit einem kleinen Lachen, »denn unsere Chancen sind nicht groß, und wahrscheinlich werden wir alle bald getötet werden, das heißt, alle Männer unter uns. Macht dir diese Aussicht keine Angst?« »Warum denn?« sagte sie lächelnd und mit einem Achselzucken. »Wenn es zum Schlimmsten kommt, werde auch ich sterben und erspare mir so die lange Heimreise.«
»Wie kannst du dessen so sicher sein?« »Deshalb«, antwortete sie und hielt ihm einen der winzigen Blasrohrpfeile vor die Augen. »Wenn ich ihn mir hier hineinsteche« – sie berührte die große Halsvene – »bin ich in einer Minute bewußtlos, und in zwei Minuten tot.« »Ich verstehe; doch du sprichst sehr leichtfertig vom Tode für eine, die so jung und so schön ist.« »Wenn dem so ist, so weil mein Leben nicht sehr leicht war, und ich auch nicht weiß«, setzte sie mit ei nem Seufzer hinzu, »was für ein Schicksal die Zu kunft für mich bereithalten mag. Doch ich weiß, daß wir den Frieden finden, wenn wir auf dem Herzen des Himmels schlafen, wenn nicht mehr.« »Das hoffe ich«, sagte der Señor. »Sieh, dort kom men sie.« Er deutete auf eine Gruppe von sieben oder acht Männern, von denen drei auf Mulis ritten, die jetzt am Fuße des Berges erschienen, abstiegen und ihre Tiere an Bäumen festbanden. »Jetzt geht es los«, sagte der Señor, stand auf und schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser steigt. »Ich frage mich, wie viele von uns noch am Le ben sein mögen, wenn die Sonne untergeht.« Während er das sprach, erreichten die Männer den Fuß der Treppe, und einer von ihnen hielt einen gro ßen Hund an der Leine. Ein paar Sekunden lang schnüffelte der Hund die Steine ab, dann hob er den Kopf und bellte laut, worauf die Banditen in Jubelrufe ausbrachen, da sie nun wußten, daß sie uns in der Falle hatten. Trotzdem gingen sie nicht sofort vor, sondern drängten sich zusammen und besprachen sich sehr ernsthaft miteinander. Wir blickten einander düster an, denn unsere Lage war wirklich verzweifelt.
Fliehen konnten wir nicht, und wir hatten keine Waf fen, um kämpfen zu können, deshalb schien es sicher, daß wir in wenigen Minuten von den Händen dieser Männer den Tod finden würden, falls sie uns die Gnade erweisen sollten, uns sofort zu töten. Der Señor bedeckte für eine Weile sein Gesicht mit den Händen, dann blickte er auf und fragte: »Können wir mit ihnen handeln, Ignatio?« »Unmöglich«, antwortete ich, »was könnten wir ihnen denn bieten, das sie sich nicht nehmen kön nen?« »Dann bleibt uns also nichts anderes übrig, als so tapfer wie möglich zu sterben«, antwortete er. »Dies ist das Ende unserer Suche nach der Goldenen Stadt. Es war keine glückliche Suche, Ignatio.« Nun sprach der alte Indianer, Zibalbay, der neben uns auf dem Boden hockte, zum zweiten Mal und sagte: »Freunde, warum flieht ihr nicht? Sicherlich gibt es einen Weg auf der anderen Seite der Pyrami de, und im Wald könnt ihr euch vor diesen Männern verstecken.« »Wie können wir fliehen«, sagte der Señor, »wenn du nicht die Kraft dazu hast, auch nur einen Schritt zu gehen?« »Ich bin alt und bereit, zu sterben«, antwortete er. »Laßt mich hier, und seid versichert, daß ich, wenn die Zeit gekommen ist, weiß, wie ich mich den Klauen dieser Schurken entziehen kann. Meine Tochter, geh du mit ihnen. Du hast das heilige Symbol, und sollte es euch gelingen, zu entkommen und dieser Fremde sich als der Mann erweisen, den wir gesucht haben, so bringe ihn zu unserem Heim, auf daß die Dinge geschehen, wie sie vom Schicksal bestimmt sind.«
»Friede, mein Vater«, sagte Maya und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Zusammen werden wir leben oder sterben. Diese Männer mögen gehen, wenn sie das wollen, ich aber werde bei dir bleiben.« »Und auch ich«, erklärte Molas, »da ich es müde bin, vor dem Tode davonzulaufen, der mir auf den Fersen ist. Und außerdem ist es zu spät, an Flucht zu denken, denn seht, sie kommen bereits die Stufen herauf, alle acht, mit Don Pedro und dem Americano an ihrer Spitze.« Ich blickte hinab; es stimmte. Sie hatten bereits die Hälfte des ersten Treppenabschnitts erklommen. »Oh, wenn wir nur ein paar Gewehre hätten!« stöhnte der Señor. »Es hat keinen Sinn, nach etwas zu jammern, das wir nicht haben«, antwortete ich. »Gott kann uns hel fen, wenn Er es will, doch wenn Er es nicht will, müs sen wir uns Seinem Willen beugen.« Dann war Stille, nur unterbrochen von der Stimme Zibalbays, der hinter uns stand, seine Hände gen Himmel streckte und seine Götter anflehte, Rache über unsere Feinde zu bringen. Jetzt konnten wir durch die Bäume und Büsche sehen, daß die Männer den zweiten Abschnitt der Treppe emporzusteigen begannen. »Kommt, laßt uns etwas tun!« sagte der Señor, lief zu dem Haufen von Steinen, und rief uns zu Hilfe, um die schwersten von ihnen auf die Feinde hinabzu rollen. Dieses taten wir für eine Weile, jedoch ohne jede Wirkung, da die Baumstämme unsere Geschosse ablenkten. Außerdem nahmen die, gegen die sie ge richtet waren, zu beiden Seiten der Treppe Deckung und eröffneten mit ihren Gewehren ein so gut ge
zieltes Feuer auf uns, daß wir den Steinhaufen verlas sen und uns hinter die Deckung des Torbogens zu rückziehen mußten. Dann gingen sie weiter vor, bis sie kurz darauf den Absatz vor dem dritten Treppenabschnitt erreichten, wo sie Halt machten, um wieder zu Atem zu kommen. Jetzt ergriff Molas eines der indianischen Blasrohre und lief damit auf die Terrasse, gefolgt von dem Señor, obwohl ich nicht sagen kann, warum der ihm folgte, da er mit dieser Waffe nicht umgehen konnte. Bevor die Männer am Fuß der Treppe seiner Anwe senheit gewahr wurden, hob Molas das Blasrohr an die Lippen und schoß den kleinen Giftpfeil auf sie ab. Er traf den Texaner Smith in den Hals. Um den Pfei ler des Torbogens blickend sah ich, wie er seine Hand hob, um den Pfeil herauszureißen, plötzlich jedoch zu sammenbrach, und im gleichen Moment ergoß sich ein Kugelhagel über Molas und den Señor, der sie zwang, sich eilig zurückzuziehen. Ich sah Molas fallen, und der Señor bückte sich und hob ihn auf, und als er das tat, erschien plötzlich ein roter Fleck auf seiner Wan ge. Sekunden später waren sie in Deckung. »Sind Sie verletzt?« fragte ich den Señor. »Nein, nein«, antwortete er; »eine Kugel hat mir die Wange angekratzt, das ist alles. Sehen Sie nach Molas, er ist in die Seite geschossen worden.« »Laßt mich«, sagte Molas. »Es ist nichts.« Dann schwiegen wir, nur Maya schluchzte ein we nig, während sie versuchte, das Blut, das aus der Wunde des Señors floß, mit Spinnennetzen zu stillen, die sie zwischen den Steinen gesammelt hatte. »Mach dir keine Mühe«, sagte er mit einem trauri gen Lächeln, »denn bald werden wir andere Wunden
haben, die nicht verbunden werden können. Was wirst du tun?« Zur Antwort zeigte sie ihm den kleinen Giftpfeil, den sie in ihrer Hand verbarg. »Ich kann dir keinen besseren Rat geben«, sagte er. »Lebe wohl. Es war mir eine Freude, dich kennenzu lernen, und ich hoffe, daß wir uns drüben wiederse hen.« Er blickte zum Himmel empor. »Jetzt solltest du dich von deinem Vater verabschieden, denn wir haben nicht mehr viel Zeit.« Sie nickte und trat zu dem alten Mann, Zibalbay, der schweigend stand und seinen grauen Bart strich, legte ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn liebevoll. Als wir vorsichtig hinausblickten, sahen wir, daß die Männer Don Smith auf die Seite der Treppe gezo gen hatten, wo zwei von ihnen den Sterbenden hin betteten, während die anderen nach einer Gelegen heit Ausschau hielten, auf uns zu schießen, wenn wir uns auf der Terrasse blicken lassen sollten. Kurz dar auf war Smith tot, und seine Kumpane begannen nun laut fluchend den dritten Abschnitt der Treppe in Angriff zu nehmen, was sie mit großer Vorsicht taten, da sie eine Falle befürchteten. »Können wir denn gar nichts tun, um unser Leben zu retten?« fragte der Señor mit schwerer Stimme. Niemand antwortete, doch plötzlich fuhr Molas, der bei uns stand, eine Hand auf die Wunde in seiner Seite gepreßt, die andere vor die Augen, herum und lief in den Raum hinter uns, aus dem er mit einer Kupferaxt in der Hand zurückkam. Ohne ein Wort zu sagen kletterte er an einem der halb verfallenen Stützpfeiler des Torbogens empor, bis seine Füße an der Stelle standen, wo das gewaltige Mittelstück des
Bogens nur noch lose auflag, lediglich festgehalten, wie Sie sich erinnern, von den zähen Wurzeln der Bäume, die von dort oben das Mauerwerk der Pfeiler und Stützmauern durchzogen. Molas hielt sich mit der linken Hand an einer Schlingpflanze fest und hieb mit der rechten auf die stärksten dieser Wurzeln ein, die er, eine nach der anderen, durchtrennte. Und jetzt erkannte ich, was er vorhatte: er wollte zweihundert Tonnen riesiger Steinblöcke die Treppe hinabstürzen lassen, die die Mörder mit sich reißen würden. »Bei Gott! Das ist die Antwort auf meine Frage«, sagte der Señor. Und nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Komm jetzt herunter, Molas! Wenn der Bogen einstürzt, wirst du mit ihm fallen und zer malmt werden.« »Darauf kommt es nicht an«, antwortete er. »Dies ist mein Todestag; jene Kugel hat mich innerlich zer rissen und ich verblute, und an diesem Ort ist es mir vom Schicksal bestimmt zu sterben, wie ich es seit langem befürchtet habe. Betet für meine Seele und lebt wohl!« »Lebe wohl, du tapferer Mann«, sagte der Señor. »Ich habe keine Axt, sonst würde ich hinaufkommen und mit dir gehen.« »Lebe wohl, Molas, mein Bruder, treuer Diener des Herzens«, sagte ich. »Ich bin sicher, daß du deinen Lohn erhalten wirst.« Drei der Wurzeln waren inzwischen durchtrennt, doch die vierte, die dicker war als das Bein eines Mannes, hielt noch, und Molas begann verzweifelt auf sie einzuhauen. »Sind sie schon nahe?« keuchte er, während die weißen Splitter flogen.
Wir blickten um den Pfeiler herum und sahen, daß die Männer etwa siebzig Fuß unterhalb von uns ste hengeblieben waren, weil sie irgendeine Falle be fürchteten, denn sie hörten die dumpfen Schläge der Axt, konnten sich aber nicht vorstellen, was diese zu bedeuten hatten. Einer von ihnen sprach mit Don Pe dro, schien ihn zu etwas drängen zu wollen, womit dieser nicht einverstanden war, und so vergeudeten sie zwei volle Minuten, bevor schließlich der Befehl gegeben wurde, die letzten Stufen emporzulaufen und den Tempel im Sturm zu nehmen. Zwei Minuten – das war nur eine kurze Zeit, und doch waren sie entscheidend, denn jetzt verblieb nur noch ein Drittel der Wurzel, das nicht durchtrennt war, und das Knirschen und Abblättern der Rinde zeigte, wie stark die Belastung war, die auf ihr ruhte. »Schnell«, flüsterte der Señor, »sie kommen!« Und während er die Worte aussprach, zerbrach der Stiel der Axt, und ihr Blatt polterte zu Boden. »Wenn die Wurzel hält, sind wir verloren«, sagte ich. Doch das sollte nicht sein, denn Molas hatte noch immer sein schweres Jagdmesser, und mit diesem hieb er mit aller Kraft auf das Holz ein. Beim dritten Schlag begann die Wurzel zu reißen, wurde langsam auseinandergezogen wie von der Hand eines Riesen, und als sie nachgab, verlagerte die gewaltige Stein masse, die sie festgehalten hatte, knirschend ihr Ge wicht, hing dann jedoch wieder fest. »Komm herunter, Molas!« rief der Señor. Doch Molas tat das nicht. Er hieb noch einmal auf die Wurzel ein, zertrennte ihre letzten Fasern, dann schrie er uns ein Lebewohl zu und warf sich, sei es,
weil er ohnmächtig wurde, sei es mit Absicht, mit ausgestreckten Armen gegen das Mauerwerk des Bo gens. Sein Gewicht war alles andere als groß, doch es genügte, das labile Gleichgewicht zu stören, so wie ein Sandkorn eine Waagschale herabdrückt, denn wieder bewegte sich die gewaltige Gesteinsmasse, und die hohen Bäume auf ihrer Krone begannen zu schwanken, wie unter dem Druck eines plötzlichen Windstoßes. Dann glitt sie vorwärts, schneller und schneller, während aus ihrem Innern ein Krachen wie von Pistolenschüssen ertönte, und die Bäume auf ihr sich wie Angelruten bogen, an denen ein schwerer Fisch zappelt. Jetzt bemerkten auch die Schurken auf der Treppe das Verhängnis, das über ihnen schwebte, und stießen Angstschreie aus, wie ich sie noch nie gehört hatte. Einige von ihnen blieben vor Entsetzen reglos stehen, andere warfen sich die Stufen hinab; nur einer, Don Pedro selbst, stürmte weiter voran. Es war zu spät: die riesige Gesteinsmasse, sechzig Fuß lang und zwanzig breit, stürzte herab. Sie stürzte her ab und riß Molas mit sich. Mit einem Krachen wie Donner stürzte sie auf die Treppe, zerbarst in Frag mente und fegte die Stufen hinab. Keine Ladung von Kartätschen hätte eine so entsetzliche Wirkung haben können, wie dieser Hurrikan von Steinen, dem nichts widerstehen konnte, denn selbst die großen Bäume, die in seinem Weg standen, wurden geknickt wie Stecken und mitgerissen, als diese behauenen Steine, die mit viel Mühe von Indianern vergangener Zeiten auf die Spitze der Pyramide geschleppt worden wa ren, donnernd hinunterrollten. In weniger als einer Minute war es vorbei, das To sen war verhallt, und nichts war übriggeblieben, um
von dem zu berichten, was geschehen war, außer ei ner Staubwolke und den Überresten von etwas, das einmal Menschen gewesen waren. Von all denen, die auf der Treppe gestanden hatten, war nur einer am Leben geblieben, Don Pedro, der weitergestürmt war in der Hoffnung, so dem herabstürzenden Steinbogen entrinnen zu können. Doch es war zu spät, denn ob wohl die Masse ihn verfehlte, traf ein Stein ihn an die Seite, zerbrach ihm die Knochen und riß ihn auf den Absatz der obersten Treppe hinab, jedoch ohne ihn zu töten. Als alles vorbei war und der Staub sich wieder her abgesenkt hatte, sagte der Señor: »Laßt uns hinabge hen und nach der Leiche unseres Retters suchen!« Also gingen wir hinab, zu dritt, da Zibalbay im Tempel zurückblieb, doch konnten wir sie nicht fin den. Zweifellos liegt Molas bis zum heutigen Tage unter einem der größeren Steinblöcke begraben. Doch fanden wir die anderen Leichen, und wir hatten kei nerlei Skrupel, ihnen die Gewehre abzunehmen und was sonst uns von Nutzen schien. Noch besser war, daß wir am Fuße der Pyramide vier gute Mulis vor fanden, von denen eines mit Munition und Proviant beladen war, denn Don Pedro war entschlossen ge wesen, uns zur Strecke zu bringen, selbst wenn es viele Tage gedauert hätte. Nachdem wir die Mulis an einer Stelle angebunden hatten wo sie grasen konnten, kehrten wir zum Tem pel zurück, und nahmen zu essen und zu trinken mit uns, das wir sehr nötig brauchten. Als wir den ober sten Absatz der Treppe erreichten, rief Don Pedro uns an, der mit gebrochenen Knochen und blutend an ei
nem umgerissenen Baum lag. »Wasser!« rief er. »Gebt mir Wasser!« Der Señor gab ihm Wasser, in das er etwas von dem Brandy mischte, den wir in der Traglast des Mulis gefunden hatten. »Dein Herz ist barmherzig«, sagte Maya ernst. »Ich bin nicht grausam, doch würde ich diesen Hund ster ben lassen, ohne eine Hand zu rühren.« »Wir alle sind voller Sünden, für die wir zu bezah len haben, und der Gedanke an sie sollte uns Mitleid lehren, besonders jetzt, wo es Gott gefallen hat, unser Leben zu verschonen«, antwortete der Señor. »Ich sterbe«, stöhnte der Bandit. »Meine Vorah nung hat sich erfüllt, und der Tod findet mich zwi schen Ruinen. Aber wie kann ich es wagen zu ster ben, ich, der ich von Kindheit an ein Mörder und Dieb gewesen bin?« Der Señor zuckte die Achseln, denn er wußte keine Antwort auf diese Frage. »Erteilen Sie mir Absolution«, stöhnte Don Pedro, »um der Liebe Christi willen, erteilen Sie mir Absolu tion!« »Das kann ich nicht«, sagte der Señor; »dazu bin ich nicht befugt. Beten Sie zum Himmel, daß er Ihnen vergeben möge, denn Ihre Zeit ist um.« Dann wandte er sich ab und ging, doch noch lange hörten wir die letzten Flüche und das Stöhnen dieses üblen Schurken; erst bei Sonnenuntergang ver stummte er, als der Teufel kam, um seinen Diener zu holen.
11
Zibalbay erklärt seinen Auftrag
Als wir die Tempelruine erreicht hatten, aßen und tranken wir, und dann, da ich wußte, daß wir an die sem Abend nicht weitermarschieren konnten, sagte ich: »Vor mehr als zwei Monaten, Zibalbay, hast du durch Molas, meinen Stiefbruder, den Mann, der heute starb, um uns zu retten, eine Botschaft an den gesandt, der bei den Indianern, als ›Herr des Her zens‹ bekannt ist. Dein Bote ist weit und rasch gereist, über Land und Meer, bis er ihn fand und seine Bot schaft übergeben konnte.« »An wen hat er sie übergeben?« fragte Zibalbay. »An mich, denn ich bin der Mann, den du suchst, und ich bin mit meinem Begleiter hierhergereist, um dich zu finden, wobei wir auf unserem Wege viel Ge fahr und Drangsal überstehen mußten.« »Beweise mir, daß du jener Mann bist!« Und er stellte mir verschiedene Fragen, die ich alle beant wortete. »Du bist instruiert«, sagte er schließlich, »doch ei nes fehlt; wenn du tatsächlich der Herr des Herzens sein solltest, so enthülle sein Geheimnis vor meinen Augen.« »Nein«, antwortete ich. »Du bist es, der mich sucht, nicht ich dich. Molas, deinem Boten, hast du ein ge wisses Symbol gezeigt; laß jetzt mich dieses Symbol sehen, denn erst dann, und nicht zuvor, werde ich das Geheimnis enthüllen.« Nun blickte er mißtrauisch in die Runde. »Dich ha
be ich geprüft, und diese Frau ist meine Tochter und weiß alles; doch was ist mit dem weißen Mann? Er laubt das Gesetz, daß ich das Herz vor seinen Augen enthülle?« »Das Gesetz erlaubt es«, antwortete ich, »denn die ser weiße Mann ist mein Bruder und wir sind eines bis zum Tode. Außerdem ist er der Bruderschaft ver schworen und war selbst für eine Weile der Herr und Hüter des Herzens, denn ich habe es ihm übergeben, als ich zu sterben vermeinte, und seine Tugenden und Vorrechte sind ihm geblieben. Also haben wir keinerlei Geheimnisse voreinander; seine Ohren sind meine Ohren, und sein Mund ist mein Mund. Sprich also zu uns, als ob wir ein Mann wären, oder schwei ge beiden gegenüber, denn ich verbürge mich für ihn, und er sich für mich.« »Ist dem so, weißer Mann?« fragte Zibalbay und machte das Zeichen der Bruderschaft. »Dem ist so«, antwortete der Señor und machte das Gegenzeichen. »Dann will ich sprechen«, sagte Zibalbay. »Ich spreche im Namen des Herzens, und wehe jenem, der die Geheimnisse verrät, die er unter dem Siegel dieses Namens erfährt. Komm her, Tochter, und gib mir, was du verborgen hältst!« Maya hob beide Hände an ihren Kopf, zog etwas aus der dichten Masse ihres Haares hervor und reichte es ihrem Vater. »Ist es dies, was du zu sehen verlangst?« fragte er und hielt den Talisman ins Licht der sinkenden Sonne. Ich sah ihn an, und wahrlich! Vor meinen Augen war das Gegenstück zu dem, das ich von meinen Vorvätern geerbt hatte und um meinen Hals trug.
»Es hat den Anschein, falls mein Blick mich nicht trügt«, antwortete ich. »Und ist es dieses, das zu su chen du so weit gereist bist, Zibalbay?« Ich zog das uralte Symbol des Zerbrochenen Herzens hervor. Er beugte sich vor und betrachtete erst die eine Hälfte und dann die andere, wobei er sie mit seinen Blicken abzutasten schien. Dann faltete er die Hände, blickte zum Himmel empor und rief: »Ich danke dir, o Namenloser, Gott meiner Väter, daß du mich recht geführt und meinen Augen gewährt hast, das zu se hen, was sie zu sehen verlangten. Und so wie du den Beginn gesegnet hast, so segne auch das Ende, das bitte ich dich.« Dann wandte er sich wieder mir zu und sagte, wie in Ekstase: »Nun sind Tag und Nacht zusammenge kommen, und bald wird die neue Sonne aufgehen, die Sonne unseres Glanzes, denn die Dämmerung ist bereits angebrochen. Nimm das, was sich in deiner Obhut befindet, und ich werde das meine nehmen, denn nicht hier dürfen die beiden vereint werden, sondern weit entfernt von hier. Hört zu, Brüder! Hört meine Geschichte, die kurz sein soll, da eure Augen, wenn es dem Himmel so gefällt, den Ort sehen wer den, wo alle Dinge euch klargemacht werden können, und wenn nicht, so ist das, von dem wenig erzählt wird, leichter vergessen. Vielleicht, meine Brüder, habt ihr Legenden von jener uralten, unentdeckten Stadt gehört, dem letzten Heim unserer Rasse, das von den Füßen weißer Eroberer unbeschmutzt ge blieben ist, dem geheimen Heiligtum des reinen Glaubens, der unseren Vorvätern von dem göttlichen Cucumatz gegeben wurde, der von einigen Quetzal genannt wird.«
»Wir haben von ihr gehört und sind begierig dar auf, sie zu sehen«, antwortete ich. »Wenn dem so ist, habt ihr in uns die gefunden, die euch zu jener Stadt führen können«, fuhr Zibalbay fort, »von der ich der Kazike und erbliche Hoheprie ster bin, und mein einziges Kind die Erbin dieser Würden. Ihr mögt euch wundern, wie es kommt, daß wir, in unserer Position, allein und unbewacht wie Bettler durch das Land des weißen Mannes ziehen. So hört! Die Stadt des Herzens, wie sie genannt wird, ist von allen Städten die älteste und die schönste und beherrschte einst, in lange zurückliegender Vergan genheit, all dieses Land, von einem Meer zum ande ren, denn ihre Mauern wurden von einem der beiden Brüder erbaut, die der heilige Cucumatz, der weiße Gott, zurückließ, um sich seinen Thron zu teilen, nachdem es zum Krieg zwischen den beiden gekom men war und sie sich getrennt hatten, um jeder der Herr seines Volkes zu werden. So groß war ihre Macht in jenen frühen Tagen, daß alle Städte, deren Ruinen man heute in den Wäldern versteckt finden mag, ihnen botmäßig waren; doch im Verlauf der Zeit fielen Barbarenhorden über ihre Grenzstädte her, so daß sie ihr verloren waren. Trotzdem gelangten nie mals Feinde zu ihren Toren, und sie blieb die reichste und mächtigste Stadt der Welt. Nun ist zwar die Stadt des Herzens auf einer Insel in der Mitte eines großen Sees gelegen, doch lebten viele Tausende ihrer Kinder auf dem Festland, wo sie Felder bestellten und nach Gold und Edelsteinen gruben. So erblühte die Stadt, und ihre Kinder mit ihr, bis vor zwölf Generationen dem König die Nach richt überbracht wurde, daß ein Volk weißer Men
schen die Reiche an der Meeresküste erobert und ihre Bewohner dem Schwert überantwortet habe, um sich ihrer Reichtümer zu bemächtigen. Auch kamen Nachrichten, daß diese weißen Menschen von der Stadt des Herzens und ihres unermeßlichen Reich tums an Gold, mit dem sie geschmückt ist, erfahren hätten und entschlossen seien, sie zu finden und zu plündern. Als der damals herrschende Kazike sich versichert hatte, daß diese Berichte auf Wahrheit be ruhten, beriet er sich mit seinen Weisen und mit dem Orakel des Gottes, der in dem Heiligtum lebte, und erließ ein Dekret, daß alle, die auf dem Festland wohnten, in die Stadt zurückkehren sollten, damit die weißen Menschen niemanden fänden, der sie zu ihr führen konnte. Dies wurde getan, und die Plünderer suchten viele Jahre lang vergebens, bis sie zu erken nen glaubten, daß diese Legende von einer mit Gold angefüllten Stadt nichts anderes als eine Fabel war. Nun aber befiel eine große Krankheit die Menschen, die in der Stadt des Herzens lebten, weil sie von Men schen übervoll war – und so groß war die Krankheit, daß bald mehr als genug Raum für jene war, die in ihren Mauern überlebten. Die Krankheit erlosch wie der, doch während die Generationen vergingen, wurden unsere Vorväter mit einer neuen und noch größeren Schwierigkeit konfrontiert. Das Blut der Menschen war alt geworden, und nur wenige Kinder wurden ihnen geboren. Es war niemand mehr auf dem Festland, um unsere Rasse aufzufrischen, und dieses ist unser Gesetz, das bei Todesstrafe nicht ge brochen werden darf: kein Mann und keine Frau darf unsere Insel verlassen, um einen Ehegatten anderen Blutes zu suchen. So geschah es, daß unser Volk klei
ner und immer kleiner wurde und es zusammen schmolz wie der Schnee auf einem Berggipfel im Sommer, bis es schließlich nur noch wenige tausend Köpfe zählte, das zu vergangenen Zeiten seine Zahl in Zehn- und Zwanzigtausenden gemessen hatte. Nun war ich, Zibalbay, seit meiner Jugend der Herr scher dieser Stadt, und es schmerzte mich bitterlich zu wissen, daß diese Metropole, die Stadt des Her zens, bevor weitere hundert Jahre vergangen sein würden, nicht mehr sein würde als eine Einöde und ein Heim der Toten, obwohl dies den Menschen, die heute in ihr leben, kaum bewußt ist, denn das Volk denkt nicht an das Morgen, und die Herzen seiner Edlen sind rauh geworden, und ihre Augen blind. Doch ist uns von unseren Vorvätern eine uralte Prophezeiung überkommen, und diese lautet: Wenn einmal die beiden Hälften des Herz-Symbols Seite an Seite auf den Altar des Heiligtums der Heiligen Stadt gelegt werden, so soll sie von dieser Stunde an wie der zu ihrer alten Größe heranwachsen. Über diese Prophezeiung habe ich sehr lange nachgegrübelt, und lange und oft habe ich zu jenem Gott gebetet, den ich verehre und dessen Hohepriester ich bin, dem Na menlosen, dem Herzen des Himmels und Herrn der ganzen Erde, daß es ihm gefallen möge, mir Er leuchtung und Weisheit zu schenken, durch die ich finden möge, was verloren wurde, und das Volk da vor bewahren könne, zu vergehen, so wie Blüten in einer Dürre aus Mangel an Regen verdorren und kei nen Samen hervorbringen. Schließlich, eines Nachts, geschah es, daß im Traum eine Stimme zu mir sprach, die mein Gebet beantwortete und mir gebot, aus dem Lande des Herzens fortzuwandern und der alten
Straße zur Küste zu folgen, denn dort, am östlichen Gestade des Meeres, würde ich finden, was verloren wurde. Nun rief ich den Rat des Herzens zusammen, of fenbarte ihm meine Gedanken, berichtete ihm von meinem Traum, und sagte, daß ich gedächte, seinem Rat zu folgen. Doch die Männer verspotteten mich, da sie mich für verrückt hielten, und sagten, ich kön ne tun, was ich wolle, denn da ich der Herrscher sei, besäßen sie nicht die Macht, mich zurückzuhalten, doch würde kein Mann des Volkes mich aufs Fest land begleiten, da dies gegen das uralte Gesetz ver stieße. Ich antwortete, es sei gut so, und ich würde allein gehen, da ich gehen müßte, worauf meine Tochter sich von ihrem Platz erhob und erklärte, daß sie mit mir gehen wolle, wozu sie das Recht hatte, dem sie sich beugen mußten, obwohl einer von ihnen sehr dagegen war, denn er war mein Neffe und meiner Tochter anverlobt. War es nicht so, Maya?« »So war es«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Um es kurz zu machen«, fuhr Zibalbay fort, »da mein Herz beschlossen hatte, diesen Auftrag des Gottes auszuführen, und meine Tochter, die sehr ei genwillig ist, nicht davon abgebracht werden konnte, mich zu begleiten, wurde Tikal, mein Neffe, an mei ner Statt zum Kaziken der Stadt des Herzens ernannt, über die er herrschen sollte, bis ich zurückkehrte. Dann verließ ich gemeinsam mit meiner Tochter die Stadt, und viele der Edlen und des gemeinen Volkes gaben uns das Geleit über den See und eine Tagesrei se weiter, bis zu dem Bergpaß, wo sie unter Tränen Abschied von uns nahmen, denn sie waren sicher,
daß wir in den Tod gingen. Allein überquerten wir die Berge, und allein wan derten wir, den Spuren der uralten Straße folgend, durch die Wüste und durch den Wald, der dahinter liegt, bis wir schließlich diesen geheimen Ort er reichten und hier blieben, denn obwohl wir unver letzt geblieben waren, hatten Gefahren, Mühsal und Hunger unsere Kräfte aufgezehrt, und außerdem hatten wir Furcht, unter die weißen Menschen zu ge hen. Brüder, es besteht keine Notwendigkeit dazu, den Rest der Geschichte zu erzählen, da er euch be kannt ist. Die Macht, die mir den Auftrag zu dieser Reise erteilte, hat mich durch alle Gefahren geleitet und mir nach all den Strapazen und Leiden den Tri umph vergönnt, heute abend noch am Leben zu sein und zu sehen, das zu finden ich so weit gewandert bin. Dieses ist meine Geschichte, und nun laß uns die deine hören, wenn es dir gefällt, und erfahren, was dich und deinen Gefährten gerade zur rechten Zeit hergeführt hat, um uns aus den Klauen jenes weißen Teufels zu befreien, der jetzt tot auf den Stufen der Treppe liegt.« Nun sprach ich und erzählte Zibalbay und seiner Tochter die Geschichte meines Lebens, über die ich bereits geschrieben habe, und von meinem großen Plan, jenes Reich wiederzuerrichten, das in den Tagen Montezumas vernichtet wurde. »Das sind Worte nach meinem Herzen«, sagte der alte Kazike, »doch sage mir, wie kann das getan wer den?« »Mit deiner Hilfe«, sagte ich. »Männer haben wir in Massen, doch um sie einsetzen zu können, brauche ich Gold, während ihr dort drüben zwar Gold habt,
jedoch keine Männer. Deshalb bitte ich dich um einen Teil deines nutzlosen Reichtums, damit ich mit seiner Hilfe dein Volk und das meine erheben kann.« »Folge mir in die Stadt, und wenn es mir möglich ist, will ich dir geben, was du dir wünschst«, ant wortete er. »Bruder, unsere Ziele sind die gleichen, und das Schicksal hat uns aus weiten Fernen zusam mengeführt, damit sie verwirklicht werden können. Die Prophezeiung ist Wahrheit, und Wahrheit ist auch mein Traum; bald schon sollen das zerteilte Symbol im Heiligtum vereinigt und der Wille des Himmels erkennbar gemacht werden. Oh, nicht ver gebens habe ich gelebt und gebetet und den Spott der Menschen ertragen, denn ›Tag‹ und ›Nacht‹ sind ein ander begegnet, und schon leuchtet das Licht einer neuen Dämmerung am Horizont. Leg deine Hand in die meine und laß uns auf das Herz schwören, daß wir, seine Hüter, aufrichtig zueinander sein und un serem Ziele dienen werden, bis der Tod uns ereilt. – So, wir haben es geschworen. – Jetzt, Tochter, führe mich zu meiner Ruhestatt, denn ich bin überwältigt, nicht von Mühen und Leiden, sondern von einem Zuviel des Glückes. O Herz des Himmels, ich danke dir!« Er hob anbetend die Hände über den Kopf, wandte sich um und taumelte mehr, als er ging, ge folgt von dem Mädchen Maya, in den Schlafraum. Als er fort war, sprach der Señor mich an. »Das ist alles schön und gut«, sagte er, »und gewiß sehr interessant, doch haben wir im Moment, wenn ich Sie daran erinnern darf, größere Sorgen als die der Erneuerung der indianischen Rasse, zum Beispiel un sere Sicherheit. Spätestens morgen werden Männer kommen, die nach jenen Banditen suchen, die tot auf
der Treppe liegen, und wenn man uns hier findet, ist es sehr wahrscheinlich, daß wir als Mörder hinge richtet werden. Sage mir also, was du zu tun ge denkst.« »Ich gedenke vorzuschlagen, daß wir beim ersten Licht des morgigen Tages die Mulis nehmen und fortreiten. Der Wald ist sehr dicht, und es dürfte schwer sein, uns darin zu finden, und außerdem sind wir in zwei Tagen außerhalb der Reichweite der Wei ßen. Sage mir«, wandte er sich an Maya, die gerade zurückkehrte, »kennst du den Weg?« »Ich kenne den Weg«, antwortete sie, »doch bevor ihr ihn beschreitet, fühle ich mich verpflichtet, euch etwas zu sagen, denn wenn ich es nicht täte, wäre es ein schlechter Dank für den Edelmut, den ihr uns ge genüber gezeigt habt, als ihr meinen Vater und mich vor Tod und Schande bewahrtet. Ihr habt die Worte meines Vaters gehört, und sie sind wahr, jedes ein zelne von ihnen, doch sind sie nicht die ganze Wahr heit. Er ist zwar der Herrscher der Stadt, von der er euch berichtet hat, doch sind die Edlen seiner Herr schaft überdrüssig, die zeitweise etwas streng war; außerdem halten sie ihn für irrsinnig. Das war der Grund dafür, daß sie ihn ziehen ließen, um die Er füllung einer Prophezeiung zu suchen, an die keiner glaubt, denn sie waren sicher, daß er in der Wildnis umkommen und nicht mehr zurückkehren würde, um sie weiter zu behelligen.« »Warum aber haben sie dann dir, die du seine Er bin bist, erlaubt, ihn zu begleiten?« »Weil ich es so wollte. Ich liebe meinen Vater, und wenn er durch seine Torheit zum Tode verdammt sein sollte, so ist es mein Wunsch, mit ihm zu sterben.
Außerdem, wenn du die Wahrheit wissen willst, ich hasse die Stadt meiner Geburt, und den Mann, der dort lebt, und den zu heiraten mir bestimmt wurde, und ich wollte ihr und ihm entfliehen, und sei es auch nur für kurze Zeit.« »Haßt dieser Mann dich?« »Nein«, antwortete sie und wandte den Kopf ab, »er liebt mich, doch glaube ich, daß er die Macht noch weit mehr liebt. Wenn ich zurückgeblieben wäre, hätte mein Vater mich dazu bestimmt, an seiner Statt zu herrschen, obwohl ich eine Frau bin, und Tikal, mein Cousin, hätte dann neben dem Thron gestanden und nicht auf ihm gesessen; das war der Grund da für, daß er sich mit meinem Fortgang einverstanden erklärte, zumindest glaube ich das. Nun habe ich ge hört, daß ihr uns zur Stadt des Herzens begleiten werdet, wenn wir leben sollten, sie zu erreichen, und, was mich betrifft, so bin ich glücklich darüber, ob wohl es mir lieber wäre, wenn unsere Gesichter ir gendeinem anderen Lande zugewandt wären. Doch habt ihr mit meinem Vater einen Pakt geschlossen, unter dem er euch das Gold geben wird, das ihr be nötigt, um große Dinge zuwege zu bringen, durch die das indianische Volk über die weißen Menschen er hoben werden und die Stadt des Herzens wieder den Platz und die Macht gewinnen soll, die sie verloren hat, was nach der alten Prophezeiung geschehen soll, wenn die beiden Hälften des zerbrochenen Symbols wieder an der Stelle vereint werden, die dafür vorge sehen ist.« »Glaubst du also an diese Prophezeiung?« fragte er Señor rasch. »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete sie. »Gewiß
ist es eigenartig, daß mein Vater, der Eingebung eines Traumes folgend, das finden sollte, was er so eifrig gesucht hat, den Talisman, der das Gegenstück zu dem ist, der auf seiner Brust hängt. Und doch will ich offen bekennen, daß ich keinen großen Glauben an Priester und Visionen und Götter habe, denn von die sen scheint es viele gegeben zu haben.« Sie blickte auf die Wände des Tempels, die über und über mit ein gemeißelten Darstellungen der Dämonen bedeckt waren, die unsere Vorväter angebetet hatten, und fügte dann hinzu: »Wenn ich es richtig verstanden habe, folgt ihr einem Glauben, der uns unbekannt ist.« »Wir folgen dem wahren Glauben«, antwortete ich. »Alle anderen sind falsch.« »Dem mag so sein, oder auch nicht«, sagte sie, »doch weiß ich nicht, wie diese Worte in den Ohren der Diener des Herzens klingen mögen. Kommt also mit uns, wenn ihr das wollt, doch seid gewarnt: mein Volk ist ein eifersüchtiges Volk, und der Name eines Fremden ist ihm verhaßt. Wenige solcher haben im Laufe vieler Generationen die Stadt des Herzens er reicht, und von jenen hat keiner, mit der Ausnahme von einem oder zweien, sie lebend verlassen. Sie mö gen keine Neuerungen, sie wissen kaum etwas von dem Leben außerhalb der Stadtmauern, und wollen auch nichts davon wissen; sie möchten so leben, wie ihre Vorväter, ohne einen Gedanken an eine Zukunft, die sie nicht erleben werden, und ich fürchte, daß es jedem schlecht ergehen mag, der zu ihnen kommt und ihnen neue Glaubenslehren und Doktrinen zu bringen versucht, um ihnen die Macht aus den Hän den zu winden und sie aus ihrer engstirnigen Träg
heit zu reißen. Also, entscheidet euch, ob ihr uns zu unserer Stadt im Wasser begleiten oder eure Gesich ter lieber dem Meer zuwenden und vergessen wollt, daß ihr zufällig die Geschichte eines wandernden Heilers hörtet, dessen Unglück ihm den Verstand ge raubt hat, und von einem indianischen Mädchen, das ihn betreute.« Ich hörte den Worten, die Maya mit großem Ernst und Nachdruck sprach, sehr aufmerksam zu und be griff, was sie bedeuteten; sie bedeuteten, daß wir, wenn wir zur Stadt des Herzens gingen, ihrer Ansicht nach in unser Verhängnis gehen würden. »Maya«, sagte ich, »es mag sehr wohl sein, daß der Tod mich dort erwartet, doch habe ich ihm in letzter Zeit zu oft ins Auge geblickt, als daß er mich noch schrecken könnte. Der Tod lauert überall, und wenn die Menschen sich von ihm aufhalten ließen, würde auf dieser Welt sehr wenig geschehen. Ich habe meine Aufgabe zu erfüllen, oder es zumindest zu versuchen, die, wie mir scheint, dort in jener verborgenen Stadt liegt, und zu der werde ich auch gehen, wenn meine Kräfte mich nicht verlassen und das Schicksal es mir erlaubt. Komme, was da wolle, ich werde mit deinem Vater zur Stadt des Herzens reisen. Für meinen Freund ist das anders. Schon vor Wochen habe ich ihm erklärt, daß ihm nichts Gutes aus dieser Reise erwachsen würde, und was ich damals sagte, will ich heute wiederholen. Er hat deine Worte vernommen, und wenn er auf sie hört, und auch auf die meinen, wird er uns morgen Lebewohl sagen und seines We ges gehen, während wir des unseren ziehen.« Sie nickte und wandte sich ihm zu. »Du hast ge hört, weißer Mann«, sagte sie. »Wie ist deine Ent
scheidung?« Und es schien mir, der ich sie anblickte, als ob sie seine Antwort voller Spannung erwartete. »Ich habe gehört«, antwortete er mit einem Lachen, »und zweifellos werde ich meine Knochen dort unter den Menschen deines Volkes lassen. Doch sei dem so, ich bin entschlossen, mit euch zu gehen, nicht, um der Rasse der Indianer oder irgendeiner anderen zu ei nem Aufstieg zu verhelfen, sondern weil ich diese Stadt sehen möchte; und ich gehe auch, weil ich zu faul bin, um meine Meinung zu ändern. Weiterhin habe ich nach den Ereignissen dieses Tages den Ein druck, daß es gefährlicher ist, hierzubleiben, als wei terzuziehen.« »Ich bin froh, daß du mit uns kommen wirst, da du dich aus freiem Willen dazu entschlossen hast«, sagte sie lächelnd. »Mögen deine Befürchtungen sich als grundlos erweisen und deine Reise und die unsere als glücklich. Doch nun laßt uns ruhen, da ihr müde sein müßt, wie auch ich es bin, und wir noch vor der Mor gendämmerung aufstehen müssen.« Am nächsten Morgen, beim ersten Licht des Tages, brachen wir zu unserer Reise auf, ritten drei der Mu lis, die wir erbeutet hatten, und führten das vierte, das unsere Vorräte und Wasserschläuche trug. Alle waren wir mehr als glücklich, der Tempelruine den Rücken kehren zu können, und doch fühlte ich eine gewisse Trauer, denn dort, unter der Masse herabge stürzter Steine, lag das, was von meinem Freund und Stiefbruder Molas übriggeblieben sein mochte, von ihm, dessen Mut und Geistesgegenwart unser Leben auf Kosten des seinen gerettet hatte. Unser Plan war, die Dörfer, wo wir von Menschen
gesehen werden konnten, in weitem Bogen zu umge hen, und uns im Dschungel zu verbergen, da wir be fürchteten, verfolgt und wegen des Todes von Don Pedro und seiner Kumpane vor Gericht gestellt zu werden. Und dies gelang uns auch, da wir jetzt genü gend Gewehre und Munition hatten, und Geflügel und Wild für unsere tägliche Ernährung schießen konnten. So auf Mulis reitend kamen wir bald wieder zu Kräften, selbst der alte Zibalbay, der am meisten unter den Strapazen und den Mißhandlungen in den Händen der Mexikaner gelitten hatte. In etwas mehr als einer Woche hatten wir die be wohnten Gebiete von Yucatan hinter uns gelassen, befanden uns weit außer Reichweite des weißen Mannes, und drangen durch den dichten Dschungel auf die Sierra vor, die hinter ihm liegt. Einen Weg durch diesen dichten und scheinbar endlosen Dschungel zu finden, schien unmöglich; und es wäre auch so gewesen, wenn nicht Zibalbay und seine Tochter bei uns gewesen wären, die sich an ihre Route seewärts erinnerten, und sie nicht eine uralte Karte bei sich gehabt hätten. Auf dieser Karte waren Straßen eingezeichnet, die in den alten Tagen indiani scher Zivilisation das Land in allen Richtungen durchzogen hatten. Eine dieser Straßen, die breiteste, verlief von der Bergkette, die den See der Stadt des Herzens umgab, in gerader Linie durch die Sierras und die Wälder bis zu der Stadt Palenque, und von dort zur Küste. Diese Straße, oder Weg, besser gesagt, war an vielen Stellen völlig von Bäumen überwu chert, an anderen in Sümpfen versunken oder vom Staub und Sand der Sierras verweht. Stellenweise sa hen wir zwei oder drei Tage lang kein Zeichen dafür,
daß sie jemals existiert hatte, und dennoch gelang es uns immer, wenn wir der auf die Karte eingezeich neten Linie folgten und uns hin und wieder nach den auf ihr eingezeichneten Ruinen von Städten orien tierten, sie wiederzufinden. Die Anzahl dieser alten Städte und Tempel war er staunlich und verwunderte den Señor über alle Ma ßen, was jedoch nicht überraschend war, da er der er ste weiße Mann war, der sie je erblickte. Oft sprach er, wenn wir ritten, zu mir über sie und versuchte, das Land mit Worten zu beschreiben, doch bedeckten jetzt Wüsten oder Dschungel das Land, auf dem vor fünfhundert oder mehr Jahren Städte und Dörfer, Paläste und Tempel gestanden haben mußten, auf dem Zehntausende von Menschen gelebt hatten und dessen fruchtbarer Boden vom Grün bebauter Felder bedeckt war. Was für Geschichten mochten unter die sen Dschungeln liegen, was für Szenen mochten sich auf den verfallenden Pyramiden abgespielt haben, die wir Tag um Tag an unserem Wege sahen, bevor das Schwert des Eroberers oder der Atem der Pesti lenz, oder beides zusammen, das Land verödeten. Damals mußte es einen herrlichen Anblick geboten haben, und unsere Herzen schlugen schneller bei dem Gedanken, daß es uns vergönnt sein mochte, dieses Bild erneut zu sehen, wenn alles gut ging, und daß unsere Augen der größten dieser Städte ansichtig werden würden, die seit Generationen gesucht, doch bis jetzt nie gefunden worden war, den Nabel einer uralten und geheimnisvollen Zivilisation, die zwar im Sterben lag, doch noch immer existent war. Ich hatte noch weitere Hoffnungen, die mich vor wärtstrieben, doch war es dieser Wunsch, wie ich
glaube, der den Señor die vielen Schwierigkeiten und Gefahren unseres Marsches überstehen ließ. Er be herrschte ihn, wenn er mit seiner Machete einen Mu lipfad freischlug, wenn wir Stunde um Stunde unter der glühenden Sonne dahinzogen, und auch in der Nacht, wenn er übermüdet und schlaflos lag, von In sekten gequält und vom Fieber geschüttelt. Von die sem Wunsche beseelt wurde er es nie müde, den schweigsamen Zibalbay nach der Geschichte, oder vielmehr der Legende des Landes zu befragen, durch das wir zogen, oder Mayas Beschreibungen der Stadt des Herzens zu lauschen, bis sogar sie dessen müde wurde und ihn bat, statt dessen ihr von dem Lande jenseits des Wassers zu erzählen, in dem er geboren war, von seinem immerwährenden geschäftigen Le ben und den Wundern seiner Zivilisation. So seltsam es auch erscheinen mag, ich, der die beiden Tag um Tag beobachtete, wußte bald, daß sie geistig die mo dernere von ihnen beiden war – so sehr, daß ich mir, wenn ich ihnen zuhörte, vorstellen konnte, daß Maya das Kind dieser Zeit wäre, erfüllt vom Geist des Heute, und er der Erbe einer stolzen und geheimen Rasse, die unter der Last ihrer Jahre starb. »Ich kann dich nicht verstehen«, sagte sie einmal zu ihm; »warum hast du eine solche Vorliebe für die Ge schichte und die Legenden und Ruinen von Men schen, die längst tot sind? Ich hasse sie. Sie haben einst gelebt und zweifellos ihren Platz an ihrem Ort und in ihrer Zeit gehabt, doch heute sind sie vergan gen und tot, und wir sind es, die leben, leben, leben!« Und sie reckte die Arme empor, als ob sie den Son nenschein an ihre Brust drücken wollte. »Ich möchte dir sagen«, fuhr sie fort, »daß diese,
meine Stadt, von der du so gerne sprichst, nichts an deres ist als eine riesige Grabstätte, und jene, die in ihr wohnen, sind wie Geister, die hin und her gehen und an Dinge denken, die vor tausend Jahren getan oder auch nicht getan worden sind. Es waren ihre Vorfahren, die es taten, nicht sie, denn sie tun nichts anderes als gegeneinander zu intrigieren, essen, trin ken, schlafen und Gebete zu einem Gott zu murmeln, an den sie nicht glauben. Wenn mein Vater nur ein sehen würde, daß er mit seinen Plänen für eine Wie dererweckung des Volkes des Herzens nur Zeit und Mühe vergeudet, und daß diese Menschen ihn dazu auch noch für verrückt halten. Sie können nicht wie dererweckt werden. Wenn dem nicht so wäre, glaubst du, daß sie sich dann all diese Jahrhunderte damit zu friedengegeben hätten, nur stillzusitzen, ohne etwas von der großen Welt außerhalb der ihren zu erfahren, und Tag um Tag zuzusehen, wie ihre Zahl dahin schmolz, bis das Leben ihrer Rasse nur noch flackerte, wie das Licht einer erlöschenden Lampe? Und genau so ist es, wenn auch in minderem Maße, mit den In dianern, die Don Ignatio aus dem Sumpf ziehen will, in den die Spanier sie gestoßen haben. Nein, ich glau be, daß unser Blut seine Tage gesehen hat. Es gibt kein Wachstum mehr in uns, wir sind Korn, das reif ist für die Sichel des Todes – das heißt, die meisten von uns. Darum würde ich, wenn es nach mir ginge, solange ich noch jung bin, der Stadt, die du so zu se hen wünschst, für immer den Rücken kehren, und Reichtümer mit mir nehmen, die dort absolut nutzlos sind, mir jedoch, wie es scheint, in anderen Ländern zu vielen schönen Dingen verhelfen könnten, und ich könnte mein Leben unter Menschen verbringen, die
eine Gegenwart und eine Zukunft haben, und nicht nur eine Vergangenheit.« Dann lachte der Señor und sagte, daß die Vergan genheit wichtiger sei als die Zukunft, und daß es bes ser sei, tot zu sein als zu leben, und was der Torheiten mehr sind; und ich wurde zornig und tadelte Maya ob ihrer Worte, die mich schockiert hatten, worauf sie nur gähnte und von etwas anderem sprach, denn ich und meine Worte langweilten sie. Nur Zibalbay blieb von allem unberührt, denn seine Gedanken waren auf andere Dinge konzentriert, und ich bezweifle, daß er unser Gespräch überhaupt hörte. Während dieser ganzen Zeit aber lernte Maya, trotz ihres leichtfertigen Geredes und ihrer sorglosen Ma nier – ja, sogar von mir, wenn der Señor nicht greifbar war –, denn sie fragte nach allem und jedem und ver gaß nichts von dem, was sie hörte. Die Geschichte der Länder dieser Welt, ihre Regierungsformen und Reli gionen, die Bräuche und das Aussehen ihrer Bewoh ner – von denen er ihr Tag für Tag erzählte. Und sie wurde nicht müde, ihm zuzuhören, bis der Señor ei nes Tages in ein Abenteuer geriet, das ihn beinahe für immer von ihr getrennt hätte und mir zeigte, obwohl ich keine besondere Vorliebe für ihr Geschlecht hatte, daß, was immer auch ihre Fehler sein mochten, das Herz dieser Frau stark und rein war.
12
Maya steigt in die Cueva hinab
Eines Abends – es war, nachdem wir das bewaldete Land verlassen hatten und mit vieler Mühe die Sierra hinaufgestiegen waren und die hinter ihr liegende Wüste erreichten, eine Wüste, die grenzenlos schien – schlugen wir unser Lager bei einem großen Agavenge büsch auf, das am Fuße eines steinigen Hügels wuchs. Dieser Hügel war auf Zibalbays Karte als Lageort ei nes großen unterirdischen Wasserreservoirs, einer Cue va, eingezeichnet, aus dem die Indianer zu alten Zeiten, als diese Gegend noch bevölkert war, während der Trockenzeit ihr Wasser aus der Tiefe der Erde her aufgeholt hatten. Daß diese Cueva existierte, wurde dadurch bewiesen, daß die alte Straße, die hier deut lich erkennbar war, durch die Ruinen einer großen Stadt verlief, deren Bevölkerung sich dort versorgt haben mußte; doch als Zibalbay und seine Tochter auf ihrer Reise hier Rast gemacht hatten, waren sie der Notwendigkeit, nach ihr zu suchen, enthoben worden, da sie in einem ausgehöhlten Felsen Regen wasser entdeckten. Jetzt jedoch, wo seit Wochen kein Regen mehr gefallen war, beschlossen wir, nachdem wir gegessen und den Rest des Wassers getrunken hatten, der in unseren Wasserschläuchen verblieben war, nach dieser Cueva zu suchen, um die Schläuche neu zu füllen und die durstigen Mulis zu tränken. Also begannen wir den felsigen Hügel zu untersu chen, und entdeckten schließlich einen Torbogen, der fast völlig mit Sand angefüllt und von Gestrüpp
überwuchert war, jedoch von Lage und Aussehen vermuten ließ, daß sich hier einst der Zugang der Cueva befunden haben mochte. Nachdem wir uns mit einem Bündel Fackeln aus abgestorbenen Agaven blättern versorgt hatten, zündeten wir vier von ihnen an, und ich stieg als erster durch das Loch, um mich plötzlich in einer Grotte zu finden, durch die ein scharfer und geheimnisvoller Wind blies und seufzte, dessen scharfe Böen beinahe unsere Fackeln ausge löscht hätten. Nachdem wir tiefer in diese Grotte ein gedrungen waren, gelangten wir zu einem Schacht an deren Ende, der offensichtlich zu den Wasserquellen führte. Dieser Schacht unbekannter Tiefe war fast, wenngleich nicht genauso senkrecht und glatt, wie wenn er von Menschenhand geschaffen worden wä re, das Seltsamste an ihm jedoch war die entsetzliche Treppe, die die Alten benutzt hatten, um zum Wasser hinabzugelangen, und die aus einer Doppelreihe von Einkerbungen von nur acht oder zehn Zoll Tiefe be stand, die in die Wand des Schachtes geschlagen wa ren. An diesen Kerben mußten die Wasserträger aufund abgestiegen sein, denn sie waren sehr ausgetre ten, und von den Füßen der Menschen geschaffene Mulden befanden sich in den Stufen dieser furchtba ren Leiter. Der Señor hob einen Stein auf und ließ ihn über den Rand des Schachtes fallen. Mehrere Sekun den vergingen, bis er am Boden auftraf. »Was für ein entsetzlicher Ort«, sagte er. »Ich glau be, daß ich eher vor Durst sterben würde, als da hin abzusteigen.« »Und doch haben es Menschen in der Vergangen heit getan«, sagte Maya, »denn sieh, dort sind sie über den Rand gestiegen.«
»Vielleicht hatten sie ein Seil, an dem sie sich fest halten konnten«, sagte ich. »Als junger Mann bin ich in Minenschächte hinabgestiegen, die fast genauso tief waren, mit keiner anderen Leiter als solchen aus Baumstämmen – Affenstangen nannten wir sie –, die irgendwie eingekerbt und an die Wand des Schachtes gelehnt waren, doch jetzt wäre es mein Tod, es zu versuchen, denn so etwas macht mich schwindelig.« »Kommt weg von hier!« sagte Zibalbay. »Niemand von uns könnte diese Straße reisen und leben. Die Mulis müssen eben dürsten. Fünf Stunden von hier ist ein Teich, an dem wir sie morgen tränken kön nen.« Wir wandten uns um und verließen die Höhle der Winde und waren glücklich, außerhalb von ihr zu sein, denn der Ort hatte etwas Unheimliches an sich und war, trotz der scharfen Zugluft, erstickend heiß. Zibalbay ging direkt zum Lager zurück, doch wir blieben, um etwas Futter für die Mulis zu schlagen. Bald darauf wurden der Señor und Maya dieser Ar beit jedoch müde und begannen miteinander zu spre chen, während sie den Sonnenuntergang beobachte ten, der auf dieser Ebene herrlich war. Schließlich hörte ich Maya sagen: »Pflücke mir jene Blume, Freund, damit ich sie an meinem Busen tragen kann.« Und sie deutete auf eine schneeweiße Kaktusblüte, die zwischen den Felsen wuchs. Der Señor stieg zu der Stelle hinauf und streckte seine Hand aus, um die Blüte zu pflücken, als ich ihn plötzlich zusammenfahren sah, und er einen Schrei ausstieß. »Was ist?« fragte ich. »Haben Sie sich an den Kak tusstacheln gestochen?«
Er antwortete nicht, doch seine Augen wurden weiß vor Entsetzen, und er deutete auf etwas Graues, das zwischen den Steinen herabglitt, und während er darauf deutete, sah ich zwei Blutstropfen an seinem Handgelenk. Maya sah es ebenfalls. »Eine Schlange hat dich gebissen!« rief sie entsetzt, und bevor er wußte, was sie vorhatte, eilte sie zu ihm hinauf, packte mit beiden Händen seinen Arm und preßte ihre Lippen auf die Wunde. Er versuchte sich loszureißen, doch sie klammerte sich verbissen an ihn, rief mir zu, einen Stock zu bringen und riß einen Stoffstreifen von ihrem Ge wand, den sie oberhalb der Wunde um seinen Arm schlang. Inzwischen hatte ich den Stock herbeige bracht, den sie in die Schlinge des Stoffstreifens steckte und drehte, bis die Hand von dem Blutstau blau anlief. »Was für eine Schlange war es?« fragte ich. »Die tödliche, graue Art«, antwortete er, und setzte sofort hinzu: »Sieh mich nicht so entsetzt an, Maya! Ich kenne eine Kur. Komm zum Lager, rasch!« Innerhalb von zwei Minuten hatten wir es erreicht, und der Señor zog ein scharfes Messer und eine Pul verflasche aus dem Gepäck. »Jetzt, Freund«, sagte er, indem er mir das Messer reichte, »schneide tief ein, da es für mich jetzt um Le ben und Tod geht!« Als Zibalbay sah, was geschehen war, hielt er die Hand des Señors fest, und ich schnitt zweimal tief in seinen Unterarm. Er zuckte nicht einmal zusammen, doch Maya stöhnte auf. Nachdem wir das Blut hatten rinnen lassen, bis nichts mehr kam, schütteten wir Pulver auf die Wunde und zündeten es an. Es ver
puffte mit einer Rauchwolke, und das darunterlie gende Fleisch war schwarz und verbrannt. »Da wir keinen Brandy mehr haben, können wir nichts anderes tun als warten«, sagte der Señor mit einem Versuch, zu lächeln. Zibalbay jedoch schnürte einen Beutel auf und nahm etwas Coca-Paste heraus. »Iß dies!« sagte er. »Das ist besser als jedes Feuer wasser.« Der Señor nahm etwas davon und begann zu schlucken, bis ich nach einer Weile sah, daß er nichts mehr hinunterbekam, da er von Lähmung befallen wurde; seine Kehle schnürte sich zusammen, und seine Augenlider sanken herab, wie von unwider stehlichem Schlaf niedergezogen. Da wir nun sahen, daß das Gift trotz aller Gegenmaßnahmen seine Wir kung tat, nahmen wir ihn bei den Armen und zwan gen ihn, auf und ab zu gehen, wobei wir ihm gut zu redeten, den Mut zu behalten und gegen den Tod an zukämpfen. »Ich tu mein Bestes«, antwortete er matt; dann be gann sein Geist sich zu verwirren, und schließlich fiel er bewußtlos zu Boden. Ich wurde von Furcht und Entsetzen gepackt, da ich glaubte, daß er sterben würde, und gleichzeitig bekam ich eine ohnmächtige Wut, da ich nichts tun konnte, um ihn zu retten. Ehrlich gesagt, war ich be reits eifersüchtig auf Maya, und jetzt entlud sich mei ne Eifersucht in bitteren und ungerechten Worten. »Dies ist deine Schuld!« sagte ich. »Du bist grausam«, antwortete sie, »und du sprichst nur so, weil du mich hassest!« »Vielleicht bin ich grausam. Würdest nicht auch du grausam wenn, wenn du einen Freund, den du liebst,
durch die Torheit einer Frau sterben siehst?« »Bist du der einzige, der lieben kann?« flüsterte sie. »Falls wir den weißen Mann nicht wecken können, wird er sterben«, sagte Zibalbay. »Oh! Wach auf!« rief Maya verzweifelt und brachte ihre Lippen an das Ohr des Señors. »Sie sagen, daß ich dich getötet hätte. Wach auf! Wach auf!« Er schien sie zu hören, denn obwohl seine Augen sich nicht öffneten, lächelte er leicht und murmelte: »Ich will es versuchen.« Dann kam er mit unserer Hil fe auf die Beine und begann wieder auf und ab zu gehen, doch so unsicher wie ein Betrunkener. Drei mal stolperte er den Pfad hin und zurück, und als wir unsere Hände auf seine Brust drückten, konnten wir fühlen, wie die Kontraktionen seines Herzens schwä cher und schwächer wurden, bis sie schließlich ganz aufzuhören schienen. Plötzlich jedoch, als wir schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, begann es heftig zu schlagen, und aus jeder Pore seiner Haut, die bis da hin völlig trocken gewesen war, brach jetzt soviel Schweiß aus, daß wir ihn über sein Gesicht rinnen sa hen. »Ich glaube, daß der weiße Mann jetzt leben wird; er hat das Gift besiegt«, sagte Zibalbay ruhig, und als ich seine Worte hörte, dankte ich Gott in meinem Herzen. Dann betteten wir ihn in eine Hängematte, breite ten Decken und Serapes über ihn, bis das Schwitzen, das seinen Körper reinigte, schließlich nachließ. Eine Stunde oder länger schlief er, dann wachte er auf und bat mit schwacher Stimme um Wasser. Wir, die wir ihn beobachteten, blickten einander verzwei felt an, denn wir hatten nicht einen einzigen Tropfen,
den wir ihm geben konnten, und dies mußten wir ihm sagen. Er stöhnte und war für eine Weile still, dann sagte er: »Es wäre besser gewesen, mich an dem Gift ster ben zu lassen, denn diese Qual des Durstes ist mehr, als ich ertragen kann.« »Können wir nicht versuchen, in die Cueva zu ge langen?« fragte Maya stockend. »Das ist unmöglich«, antwortete ihr Vater. »Wir würden umkommen.« »Ja, ja, es ist unmöglich«, wiederholte der Señor, »und es ist besser, daß einer stirbt, als vier.« »Vater«, sagte Maya, »du mußt das beste der Mulis nehmen und zu dem Teich reiten, an dem wir mor gen lagern wollen. Der Mond scheint, und mit etwas Glück solltest du in acht oder neun Stunden zurück sein.« »Es hat keinen Sinn«, murmelte der Señor, »solange kann ich es ohne Wasser nicht aushalten, meine Kehle ist durch das Fieber wie ein glühender Brand.« Zibalbay zuckte die Achseln, da er es ebenfalls für sinnlos hielt, doch seine Tochter fuhr ihn an: »Wirst du gehen, oder soll ich es tun?« Da ging er, und ich hörte, wie er etwas in seinen Bart murmelte, und wenig später das Trappeln des Mulis, als es in die Wüste trabte. »Fürchten Sie nichts«, sagte ich zu dem Señor, »es ist das Gift, das Sie so ausgetrocknet hat, doch der Durst wird Sie so bald nicht töten, und nach und nach werden Sie ihn weniger spüren. Oh! Wenn wir nur Medikamente bei uns hätten, um Sie in den Schlaf zu schicken.« Für eine Weile lag er ruhig, doch sahen wir an dem
Zucken seiner Hände und Füße, wie sehr er litt. »Maya«, sagte er schließlich, »kannst du mir einen kühlen Stein suchen, den ich in den Mund stecken kann?« Sie suchte und fand einen kleinen, abgeschliffenen Stein, an dem er saugte, doch nach einiger Zeit fiel er ihm von den Lippen, und wir sahen, daß er so trok ken war, wie er ihn in den Mund gesteckt hatte. Dann, plötzlich, gab sein Gehirn nach, und er begann heiser in vielen Sprachen zu phantasieren. »Seid ihr Teufel«, fragte er, »daß ihr mich sterben laßt, weil ihr mir nicht einmal ein Glas Wasser ver gönnt? Warum steht ihr herum, um mich zu verhöh nen? Oh, habt doch Mitleid mit mir und gebt mir Wasser!« Für eine Weile konnten wir es ertragen, obwohl unsere Leiden vielleicht größer waren als das seine. Dann erhob sich Maya und blickte in sein Gesicht. Es war tief eingesunken, dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet, und Blutstropfen standen auf seinen rissigen Lippen, die er sich wund gebissen hatte. »Ich halte es nicht mehr aus«, sagte sie tonlos. »Paß auf deinen Freund auf, Don Ignatio!« »Du hast recht«, antwortete ich, »dies ist nicht der richtige Ort für eine Frau. Leg dich dort drüben schla fen, damit ich dich wecken kann, wenn es nötig sein sollte.« Sie blickte mich vorwurfsvoll an, ging jedoch ohne ein Wort fort und verschwand hinter einem etwa dreißig Yards entfernt stehenden Gebüsch. Hier schien sie – denn diese Geschichte hat sie mir erst sehr viel später erzählt und ich wiederhole sie zum
größten Teil mit ihren Worten – zum Nachdenken gekommen zu sein. Sie war sicher, daß der Señor oh ne Wasser die Nacht nicht überleben würde, und daß ihr Vater unmöglich vor dem Morgengrauen zurück sein konnte. Der Señor lag im Sterben, und sie hatte das Gefühl, als ob ihr eigenes Leben mit dem seinen verströmte, denn jetzt wußte sie, daß sie ihn liebte. Wenn nicht etwas getan wurde, würde er bald tot sein, und ihr Herz würde brechen. Nur eines konnte ihn retten – und sie – Wasser! In den Tiefen jenes Hü gels, der nur wenige Schritte von ihr entfernt war, gab es sicher im Überfluß davon, doch wer wagte es, es aus der Tiefe heraufzuholen? Und doch mußte es möglich sein, in die Cueva hinabzusteigen, denn die Alten hatten es Tag für Tag getan, und warum sollte ihr nicht gelingen, was ihnen gelungen war? Sie war jung und kräftig, und von Kindheit an war es ihr ein Vergnügen gewesen, auf den gefährlichen Teilen der Mauern und Pyramiden der Stadt des Herzens um herzuklettern, und noch nie war ihr schwindelig ge worden, so hoch sie auch geklettert war. Warum also sollte sie jetzt versagen, wo das Leben des Mannes auf dem Spiel stand, den sie liebte? Und was kam es darauf an, wenn sie abstürzen sollte, da sie, wenn er stürbe, ebenfalls sterben würde? Ja, sie würde es versuchen! Sobald Maya sich dazu entschlossen hatte, nahm sie ihr Vorhaben sofort in Angriff. Ich stand bei der Hängematte und betete zum Himmel, das Leben mei nes Freundes zu verschonen, der in ihr lag, mit den Händen um sich schlug und in seinem Leid stöhnte, als ich sah, wie sie zu ihm trat und ihn anblickte. »Du glaubst, daß du ihn liebst«, sagte sie plötzlich
zu mir, »doch sage ich dir, daß du nicht weißt, was Liebe ist. Wenn ich leben sollte, werde ich, die du verachtest, dich lehren, was Liebe ist, Don Ignatio.« Ich nahm keinerlei Notiz von ihren Worten, die ich für ziemlich töricht hielt. Dann glitt Maya, von mir ungesehen, zu der Stelle, an der die Mulis angebunden waren, und versorgte sich mit Zunder, Stahl, Feuerstein, einem Seil und ei nem kleinen Wasserschlauch aus ungegerbtem Leder, den sie auf den Rücken schnallte. Im nächsten Mo ment lief sie davon. Beim Eingang der Cueva blieb sie für einen Moment stehen, um die Agaven-Fackeln aufzuheben, die wir dort achtlos weggeworfen hat ten, und auch, um für einen Moment in das vertraute Gesicht der Nacht zu blicken, der Nacht, die sie nie mals wiedersehen mochte. Dann zündete sie eine der Fackeln an und kroch in die enge Öffnung. Die Grotte war schon entsetzlich gewesen, als sie, sie in der Gesellschaft von uns aufgesucht hatte. Jetzt aber, allein und in der Dunkelheit, kam sie sich völlig verloren vor. Scharfe Winde wehten durch ihre un ermeßlichen Höhlungen, aus der Tiefe der Erde em porgesaugt, und in ihnen waren Geräusche zu hören, wie von menschlichen Stimmen, die schluchzten und stöhnten. Maya erschauerte, denn sie glaubte, daß es die Geister der toten Antiguos seien, die ihre unendli che Trauer an diesem unirdischen Ort bejammerten, doch ging sie, trotz ihrer Angst, mutig weiter, bis sie am Rand des Schachtes stand. Dort blieb sie stehen und zog sich aus, damit so wenig wie möglich sie beim Abstieg behinderte. Sie band ihr Haar zu einem Knoten; als nächstes schlang sie das Seil um ihre Taille, und den Wasserschlauch, an dem sie Stahl, Feuerstein
und Zunder befestigte, auf ihren Rücken. Dann steckte sie zwei der größten Fackeln an und befestigte sie so in den Spalten des Felsens, daß ihr Schein in den Schacht fiel, in den sie zuerst ein Bündel unange zündeter Fackeln warf, und dann eine brennende. Die Fackel erlosch nicht, wie sie es fast erwartet hatte, denn als sie hinabblickte, sah sie ihr Licht etwa ein hundertundfünfzig Fuß unter sich flackern. Nun waren alle ihre Vorbereitungen abgeschlossen, und es gab nichts mehr zu tun, als zum Wasser hin abzusteigen. Einen Augenblick lang zögerte Maya und blickte auf das Feuer, das tief unter ihr brannte, und auf die engen Kerben, die in die glatte Oberflä che des Felsens geschlagen worden waren. Dann, als sie fühlte, daß ihre Angst sie zu überwältigen drohte, wenn sie noch länger so stand, kniete sie sich nieder, streckte ein Bein über den Rand des Schachts und ta stete umher, bis ihr Fuß die erste Einkerbung fand. Nachdem sie ihr Gewicht auf diesen Fuß verlagert hatte, ließ sie den anderen hinab und schob ihn in die zweite Einkerbung, die sich etwa achtzehn Zoll tiefer als die erste befand, und um etwa zehn Zoll nach links versetzt, denn diese Vertiefungen waren im Zickzack geschlagen: Nr. 1 lag oberhalb von Nr. 3, Nr. 2 oberhalb von Nr. 4, und so weiter. Jetzt kam der entsetzlichste Augenblick ihres Abstiegs, denn sie konnte die dritte Einkerbung nicht erreichen, ohne ih ren Halt am Rand des Schachts aufzugeben, und sie konnte die oberste Einkerbung mit ihren Händen nicht erreichen, bevor ihr Fuß in der vierten stand, so daß es keine andere Möglichkeit gab, als auf einem Bein zu balancieren, ihre Hände gegen den glatten Felsen zu drücken und sie an ihm herabgleiten zu las
sen, bis ihr Fuß die vierte Vertiefung erreicht hatte, und ihre Hand die oberste. So wie eine Fliege an einer Glasscheibe klebend trat sie in Einkerbung Nr. 3 und tastete, da sie ihre Bewe gung nicht zu unterbrechen wagte, sofort mit dem anderen Fuß nach Nr. 4. In ihrer Aufregung trat sie zu tief, und als sie den Fuß wieder anhob, verlor sie beinahe das Gleichgewicht. Ein namenloser Schreck durchfuhr ihren Körper und ließ einen Schauer über ihren Rücken kriechen, doch sie preßte ihr Gesicht gegen den Fels, und mit einer verzweifelten Anstren gung gelang es ihr, die Nerven zu behalten, und eine Sekunde später stand sie in Nr. 4 und hielt sich in Nr. 1 fest. Von hier an war der Abstieg leichter, da sie nicht mehr zu tun brauchte, als den Griff ihrer Hände von einer Vertiefung zur anderen zu wechseln und sich daran zu erinnern, in welcher Reihenfolge ihre Füße die nächste Stufe suchen mußten. Bis dahin hatte sich die Dunkelheit nicht als Erschwernis, son dern als Segen erwiesen, denn sie verhinderte, daß sie den Schrecken dieses Ortes sah. Als sie etwa ein Drittel des Abstieges geschafft hatte, kehrte ihr Mut zurück, und ihre einzige Be fürchtung war, daß einige der Einkerbungen zerbro chen sein mochten. Glücklicherweise war dies jedoch nicht der Fall, obwohl eine von ihnen so ausgetreten war, daß ihr Fuß abglitt und sie eine Sekunde lang nur an den Händen hing. Als sie sich wieder gefan gen hatte, stieg sie Stufe um Stufe weiter hinab, bis sie schließlich auf dem Boden des Schachtes stand. Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht hatte, um wieder zu Atem zu kommen, ertastete Maya eins der trockenen Agavenblätter und entzündete es an der
Glut der Fackel, die sie brennend in den Schacht ge worfen hatte. Dann blickte sie umher und entdeckte, daß sie sich in einer weiten, natürlichen Kaverne be fand, die jedoch nicht sehr hoch war und sich in sanfter Neigung absenkte, so weit ihr Blick reichte, und darüber hinaus. Als sie auf den Boden blickte, suchte und fand sie einen von unzähligen Füßen aus getretenen Pfad, der jetzt jedoch unter Staub und Sand fast verborgen war. Er führte in gerader Rich tung durch die Höhle, und sie folgte ihm fünfzig Schritte weit oder mehr, in der Hand die brennende Fackel, und unter dem Arm ein paar Reservefackeln. Hier, in dieser Höhle, war die Luft so heiß und stik kig, daß sie kaum atmen konnte, obwohl sie aus der Ferne einen seltsamen, böigen Wind röhren hörte, der durch den Schacht fegte, durch den sie gekommen war. Nun verengte sich die Höhle, bis sie zu einem engen Gang wurde, und Maya seufzte laut, da sie be fürchtete, zu einem zweiten Schacht zu gelangen, denn sie hatte mich sagen hören, daß das Wasser in den Cuevas oft erst in einer Tiefe von fünf- bis sechs hundert Fuß gefunden würde, und sie allenfalls zweihundert abgestiegen war. Als sie weitere zehn oder fünfzehn Schritte gegan gen war, bog der Gang jedoch in einem scharfen Knick ab, und ihre Befürchtungen verflogen, denn vor ihr, in einer wunderbaren Grotte, wie sie sie noch nie gesehen hatte, glänzte das Wasser, das zu finden sie ihr Leben riskiert hatte. Wie groß die Höhle war, in der sie sich befand, hatte Maya nicht feststellen können, da das schwache Licht ihrer Fackel nicht weit in die Dunkelheit drang. Alles, was sie sehen konnte, war eine Reihe weißer
Säulen – zweifellos Stalaktiten, obwohl sie glaubte, daß sie von Menschenhand geschaffen waren –, die vom Boden bis zur Decke der Kaverne reichten, und inmitten von ihnen ein rundes Bassin, das einen Durchmesser von dreißig Fuß oder mehr haben mochte, in dem Wasser schimmerte. Das Wasser war zwar so klar wie Kristall, jedoch nicht still, denn alle paar Sekunden stieg eine große Blase von drei oder vier Fuß Durchmesser im Zentrum der Wasserfläche empor, um an ihrer Oberfläche zu zerplatzen, worauf jedesmal ein Ring kleiner Wellen an die Felswände des Bassins flutete. So wunderschön war diese Blase, und so regelmäßig erschien sie, daß Maya sie einige Minuten lang fasziniert anblickte. Dann, als sie sich daran erinnerte, daß sie keine Zeit zu verlieren hatte, machte sie sich daran, zum Wasser hinabzusteigen, nur um sich einer neuen Schwierigkeit konfrontiert zu sehen, die ohne ihre Voraussicht unüberwindbar gewesen wäre. Das Felsufer des Bassins war so glatt und von einer so steilen Schräge, daß es unmöglich war, darauf Halt zu finden. Die Alten hatten dieses Hindernis überwunden, indem sie eine Holzleiter an gelegt hatten, was die ausgemeißelten Vertiefungen bewiesen, in denen sie einst gestanden hatte, doch diese Konstruktion war längst verrottet. Am oberen Ende der Stelle, wo einst diese Leiter gestanden hatte, war eine Öse in den Fels gebohrt worden, zweifellos, um dort ein Seil festzubinden, an dem die Wasserträ ger sich festhielten, wenn sie ihre Krüge füllten, und als Maya dieses Loch sah, kam ihr ein Gedanke. Sie löste das Seil, das sie mitgebracht und um ihre Taille geschlungen hatte, und befestigte es in der Öse. Nachdem sie dann die Fackel in eine der Vertiefun
gen gesteckt hatte, in der früher die Rungen der Lei ter gelagert hatten, ließ sie sich an der Felsböschung hinabgleiten, bis sie bis zur Brust im Wasser stand. Eine Minute oder länger blieb sie so, trank sich satt und genoß die Kühle des Bades, die nach der drük kenden Hitze der Höhle köstlich erfrischend war, dann ließ sie den Wasserschlauch von ihrer Schulter gleiten, und nachdem sie den daran geschnürten Zunder von ihm gelöst hatte, wusch sie ihn aus, füllte ihn und band ihn auf ihren Rücken. Dann zog sie sich das steile Ufer hinauf und ging im Licht einer neuen Fackel zum Fuß des Schachtes zurück. Hier ruhte Maya sich eine Weile aus, um neue Kräfte zu sammeln und dann, als sie spürte, daß die Angst wieder kam, begann sie den Aufstieg. Es wa ren hundertundeine Einkerbungen, wie sie beim Ab steigen gezählt hatte, und jetzt zählte sie wieder, um ihre Position im Schacht zu kennen, von dem sie bei der nun herrschenden Dunkelheit nichts sehen konnte. Noch bevor sie fünfzig Stufen emporgestie gen war, spürte sie verzweifelt, daß ihre Kräfte sie verließen, so daß sie an der senkrechten Schachtwand hängend eine Pause machen mußte. Dann stieg sie weiter und erreichte unter Aufbietung aller Kräfte die siebenundsiebzigste Stufe, wo sie wieder eine Weile hing, um zu Atem zu kommen, bis ein Krampf in ih rem rechten Bein, auf dem fast ihr ganzes Gewicht ruhte, sie warnte, daß sie nicht länger so bleiben konnte. Zum dritten Mal kämpfte sie sich weiter, hob verzweifelt und verzweifelnd die Füße von einer Ein kerbung zur anderen. Ihr Atem ging in keuchenden Stößen, die Stricke des schweren Wasserschlauchs gruben sich in ihre zarte Haut, und ihr Geist begann
sich zu verwirren. Nur noch zehn Stufen. Oder hatte sie sich verzählt? – Entsetzen packte sie. Ihr kam der Gedanke, einfach die Wasserlast von ihren Schultern zu lösen und sie in den Schacht fallen zu lassen, doch sie tat es nicht. Jetzt nur noch drei Stufen, dann hatte sie ihr Ziel er reicht, doch spürte sie, daß ihr Gehirn nicht länger durchhielt. Es wurde immer dunkler und verwirrter, doch gelang es ihr mit einer verzweifelten Willensan strengung, einen Bruchteil von Bewußtsein wach zu halten. Ihr Fuß stand jetzt in der obersten Einker bung, ihr Körper hing über den Rand des Schachts, und, herabgezogen von dem Gewicht des Wassers, drohte sie rücklings abzustürzen. Dann schien eine Stimme sie zu rufen, sie raffte zum letzten Mal ihre verbliebenen Kräfte zusammen und glitt vorwärts wie eine verwundete Schlange, bis Dunkelheit ihren Geist umfing. Als Maya eine Weile darauf wieder zu sich kam, stellte sie fest, daß sie am Rand des Schachtes lag, in den ihre Beine noch hinabhingen. Sofort kam alles wieder in ihr Bewußtsein zurück, und mit einem kleinen Schreckensschrei zog sie sich weiter über den Boden. Dann stand sie auf, mit Mühe, da sie noch immer außer Atem war und ihre Muskeln kraftlos geworden zu sein schienen, tastete nach ihrem Ge wand, hob es auf und kroch auf den Lichtfleck zu, der den Eingang der Höhle markierte. Als sie hindurch war, ließ sie sich mit einem dankbaren Seufzer zu Boden sinken und zog ihr Gewand über. Dann erhob sie sich wieder auf die Füße und schritt langsam auf das Lager zu, das kostbare Wasser im Arm.
Währenddessen hatte ich, Ignatio, der von all dem nicht die geringste Ahnung hatte, nachgedacht. Ich erinnerte mich daran, wie der Señor damals, als ich halb zerquetscht unter dem Felsblock lag, sein Leben riskiert hatte, um das meine zu retten. Sollte ich nun nicht auch das meine für ihn einsetzen? Es schien nur recht zu sein. Ohne Wasser würde er bestimmt ster ben, und so sehr ich den Abstieg in die Cueva auch fürchten mochte, mußte er doch gewagt werden. Ich schwang mich aus der Hängematte und suchte nach Maya, konnte sie jedoch nirgends entdecken, also rief ich laut: »Maya! Maya! Wo bist du?« »Hier«, antwortete sie. »Was gibt es? Ist er tot?« »Nein«, sagte ich, »doch bin ich sicher, daß er ster ben wird, wenn er nicht innerhalb einer Stunde Was ser bekommt. Deshalb habe ich mich entschlossen, in die Cueva hinabzusteigen. Sei so gut und wache bei dem Señor, bis ich zurückkehre, und falls ich nicht zurückkehren sollte, was wahrscheinlich ist, so be richte deinem Vater, was geschehen ist. Er wird den Talisman des Zerbrochenen Herzens bei meinen Kleidern im Eingang der Höhle finden. Ich bitte ihn, ihn an sich zu nehmen, und ich bitte ihn auch, nach Mexiko zurückzukehren, mit einem Teil des Reich tums seiner Stadt, und dort das große Werk fortzu setzen, das ich begonnen habe, und von dem ich mit ihm gesprochen habe. Lebe wohl, Maya!« »Halt, Don Ignatio!« sagte Maya mit heiserer Stimme. »Es ist nicht nötig, daß du in die Cueva hin absteigst.« »Warum nicht? Ich würde es mir liebend gern er sparen, doch ist es eine Frage von Leben und Tod.« »Ja«, antwortete sie, »und weil es eine Frage von
Leben und Tod ist, Don Ignatio, bin ich bereits in die se entsetzliche Tiefe hinabgestiegen und – hier ist das Wasser.« Damit sank sie ohnmächtig zu Boden. Ich sagte nichts. Ich war zu erschüttert, ja, und auch zu beschämt, um sprechen zu können. Ich hob die bewußtlose Maya auf und bettete sie in eine Hän gematte, die in der Nähe aufgespannt war. Dann nahm ich den Wasserschlauch und einen Lederbecher und eilte an die Seite meines Freundes. Inzwischen war der Señor in ein Coma gesunken und lag still, stöhnte nur von Zeit zu Zeit. Ich löste den Verschluß des Wasserschlauches und füllte den Becher, aus dem ich Wasser auf seine Stirn sprühte und auf seine aus getrockneten Lippen träufelte. Das Gesicht des ster benden Mannes veränderte sich, der Ausdruck von Leere verschwand daraus, und er schlug die Augen auf. »Das war Wasser«, murmelte er, »ich kann es schmecken.« Dann sah er den Becher, und sein An blick schien ihn mit plötzlicher Kraft zu erfüllen, denn er streckte beide Arme aus, riß ihn mir aus der Hand und leerte ihn mit drei Schlucken. »Mehr«, keuchte er, »mehr!« Doch im Moment wollte ich ihm nicht mehr geben, obwohl er so erbärmlich danach flehte, und als ich ihm wieder zu trinken erlaubte, so nur in kleinen Schlucken. Eine volle Stunde lang trank er so, bis schließlich sein erster Durst gestillt war, seine blei chen Wangen sich röteten und seine glanzlosen Au gen heller wurden. »Das Wasser hat mir das Leben gerettet«, flüsterte er. »Woher hast du es?« »Das werde ich dir morgen sagen«, antwortete ich. »Schlaf jetzt, wenn du kannst!«
13
Ignatios Schwur
Gegen Sonnenaufgang des folgenden Tages entfachte ich ein Feuer, auf dem ich eine Suppe für den Señor kochte, der noch immer schlief, und während ich so beschäftigt war, sah ich Maya auf mich zukommen und bemerkte, daß ihre Hände und Füße ange schwollen waren. »Maya«, sagte ich mit einer tiefen Verneigung, »ich beglückwünsche dich demütig zu deinem Mut und zu deinem Entrinnen aus großer Gefahr. Gestern abend habe ich in meinem Leid Worte gebraucht, die ich nicht hätte aussprechen dürfen, denn es ist nun einmal eine Schwäche von mir, Frauen gegenüber oft ungerecht zu sein. Er erflehe deine Vergebung dafür und möchte hinzufügen, daß ich, falls ich dir zur Sühne meiner Ungerechtigkeit jetzt oder in der Zu kunft auf irgendeine Weise dienlich sein kann, dich bitte, mir zu befehlen.« Sie hörte mir zu und antwortete dann: »Ich danke dir für deine freundlichen Worte, Don Ignatio, und ich will andere, nicht so freundliche Worte vergessen, die du hin und wieder zu mir gesprochen hast. Wenn du dich jetzt als Freund erweisen willst, so steht es in deiner Macht, dies zu tun. Du hast mein Geheimnis erraten, und deshalb schäme ich mich nicht, dir zu wiederholen, daß jener Mann für mich inzwischen alles bedeutet, obwohl ich ihm bis jetzt noch nicht viel bedeuten mag. Ich möchte dich deshalb bitten, auf das Herz zu schwören, daß du nichts tun wirst, ihn
von mir abzuwenden, oder uns voneinander zu tren nen, falls er mich zu lieben lernen sollte, sondern, wenn dies geschehen sollte, uns in jeder Beziehung und nach deinen besten Kräften zu helfen.« »Du verlangst einen großen Eid von mir, Maya, und einen, der die Zukunft betrifft, die uns unbe kannt ist«, antwortete ich zögernd. »Das weiß ich, Don Ignatio, doch erinnere dich daran, daß es nur mir zu verdanken ist, wenn dein Freund, der dort wie ein Kind schläft, nicht steif und tot liegt. Erinnere dich auch, daß du in der Stadt des Herzens ein Ziel verfolgst, bei dem es gut wäre, mich zum Freund zu haben, falls wir sie jemals erreichen sollten. Dennoch sage ich dir: Schwöre nicht, wenn du es nicht willst, doch werde ich dann wissen, daß du mein Feind bist, und ich werde der deine sein.« »Es ist nicht nötig, mir zu drohen, Maya«, antwor tete ich, »noch kann ich dadurch gezwungen werden, doch verspreche ich, daß ich mich nicht zwischen dich und den Señor stellen werde. Warum sollte ich auch? Sein Wille gehört ihm, und, wie du richtig sagtest, hast du ihm das Leben gerettet. Doch, siehe, er erwacht, und die Suppe ist fertig.« Sie nahm den Topf vom Feuer, rührte seinen Inhalt um und schüttete ihn in seine Kalebasse. »Soll ich sie ihm bringen, oder willst du es tun?« fragte sie. »Ich denke, es ist besser, wenn du es tust«, ant wortete ich. Nun trat sie zur Hängematte und sagte: »Hier ist deine Suppe.« Er war gerade aufgewacht und blickte sie verwirrt an.
»Sage mir, Maya, was ist geschehen?« »Gestern abend, als du eine Blume für mich pflük ken wolltest, bist du von einer Schlange gebissen worden und fast gestorben.« »Ich weiß«, antwortete er. »Und ich wäre sicher auch gestorben, wenn du nicht mein Handgelenk ab gebunden und die Wunde ausgesaugt hättest, denn jene graue Schlange ist die tödlichste dieses Landes. Sprich weiter!« »Nachdem die Vergiftungsgefahr vorüber war, wurdest du durstig, so durstig, daß du fast daran ge storben wärst, und wir hatten kein Wasser, das wir dir geben konnten.« »Ja, ja«, sagte er, »es war die Hölle. Ich bete darum, daß ich nie wieder so leiden muß. Aber ich habe Was ser getrunken und lebe. Wer hat es mir gebracht?« »Mein Vater ist zum Ort unseres nächsten Lagers geritten, wo ein Wasserloch ist.« »Ist er schon zurückgekehrt?« »Nein, noch nicht.« »Dann kann also er das Wasser nicht gebracht ha ben. Woher kommt es?« »Aus der Cueva, jener Höhle, die wir aufsuchten, bevor du von der Schlange gebissen wurdest.« »Und wer ist in die Cueva hinabgestiegen, um es zu holen? Der Schacht ist unüberwindlich.« »Ich bin hinabgestiegen.« »Du?« sagte er überrascht. »Du? Das ist doch nicht möglich. Sag mir die Wahrheit!« »Das war kein Scherz. Höre! Du lagst im Sterben, weil du kein Wasser bekamst, ja, du starbst vor unse ren Augen, und es war entsetzlich, es ansehen zu müssen. Ich konnte es nicht länger ertragen, und da
ich wußte, daß mein Vater nicht rechtzeitig zurück sein konnte, nahm ich den Wasserschlauch und stieg in den Schacht, ohne Ignatio etwas davon zu sagen. Es war schwer, den Schacht hinabzusteigen, und das Erlebnis seltsam. Ich werde dir später davon berich ten, doch habe ich es überstanden, und als ich zu rückkam, fand ich Ignatio dabei, sich auf denselben Weg zu machen.« Der Señor hörte und verstand, antwortete jedoch nicht. Er streckte nur seine Arme nach ihr aus, und dort, inmitten der Wildnis bekannten sie sich zu ihrer Liebe. »Denke daran, daß ich nur ein indianisches Mäd chen bin«, murmelte sie schließlich, »und du bist ei ner der weißen Herren der Erde. Ist es gut, daß du mich lieben solltest?« »Es ist gut«, antwortete er, »denn du bist die edel ste Frau, die ich je gekannt habe, und du hast mir das Leben gerettet.« Zibalbay kehrte erst nach Mittag zurück, und er mußte das Muli führen, da es in der Wüste auf einen scharfkantigen Stein getreten war und lahmte. »Lebt er noch?« fragte er Maya. »Ja, Vater.« »Dann muß er sehr kräftig sein«, antwortete er. »Ich dachte, daß der Durst ihn inzwischen getötet ha ben müßte.« »Er hat Wasser bekommen, Vater. Ich bin in die Cueva hinabgestiegen und habe es geholt«, erklärte sie nach kurzem Zögern. Der alte Mann blickte sie verwundert an. »Wie kommt es, daß du den Mut gefunden hast, dort hinabzusteigen, Tochter?« fragte er schließlich.
»Der Wunsch, einem Freund zu helfen, hat mir den Mut dazu verliehen«, sagte sie und senkte die Augen unter seinem forschenden Blick. »Ich wußte, daß du nicht rechtzeitig zurück sein konntest, also bin ich gegangen.« Zibalbay dachte eine Weile nach, dann sagte er: »Ich fürchte, es wäre besser gewesen, ihn sterben zu lassen, Tochter, denn ich glaube, daß dieser weiße Mann Unglück über uns bringen wird. Es hat den Göttern gefallen, dich am Leben zu erhalten; denk al so daran, daß dein Leben ihnen gehört und du dem Wege folgen mußt, den sie dir bestimmt haben, und nicht einem, den du dir selbst wählst. Und erinnere dich auch, daß in der Stadt einer auf dich wartet, dem deine Freundschaft mit diesem Wanderer nicht ge fallen mag.« Und er führte sein Muli weiter. Am selben Abend berichtete Maya mir von den Worten ihres Vaters und sagte: »Ich glaube, daß ich bald die Hilfe in Anspruch nehmen muß, die du mir geschworen hast, denn ich kann deutlich erkennen, daß mein Vater sich gegen mich stellen wird, wenn meine Wünsche sich nicht mit den seinen decken. Ei nes jedoch bin ich mir sicher: daß mein Leben mir ge hört, und nicht Eigentum der Götter ist, denn ich ha be den Glauben an jene Götter verloren, die mein Vater anbetet und denen zu dienen ich erzogen wur de – falls ich überhaupt jemals an sie geglaubt haben sollte.« »Du sprichst unbedacht«, sagte ich, »und wenn du klug bist, wirst du solche Worte nicht deinen Vater hören lassen.« »Damit ich mein Leben nicht an die Götter verliere, die ich lästere?« sagte sie scharf. »Sag mir, Don Igna
tio, glaubst du an diese Götter?« »Nein, Maya, denn ich bin Christ und halte nichts von Idolen und jenen, die sie anbeten.« »Ich verstehe; es ist lediglich ihr Reichtum, von dem du etwas hältst. Und warum sollte ich nicht ebenfalls Christ werden? Ich habe von jenem Manne dort drüben einiges über euren Glauben erfahren und erkannt, daß er groß und rein ist, und voller Tröstun gen für die Sterblichen.« »Möge dir die Gnade zuteil werden, diesem Weg zu folgen, Maya, doch ist es nicht christlich, mir vor zuhalten, daß ich wegen des Reichtums gekommen sei, den ich allein um des Aufstiegs unserer Rasse willen suche, denn du weißt, daß ich nichts davon für mich begehre.« »Vergib mir«, antwortete sie, »meine Zunge ist scharf – wie es die deine zu Zeiten gewesen ist, Don Ignatio. Horch! Der Señor ruft mich!« Zwei Tage rasteten wir bei der Cueva, bis der Señor reisefähig war, dann brachen wir auf. Zehn Tage lang zogen wir durch die Wildnis, folgten den kaum er kennbaren Spuren der uralten Straße, und sahen kei ne Spuren menschlichen Lebens, außer dem vertrau ten Anblick verfallener Pyramiden und Tempel. Am elften Tage begannen wir den Hang eines hohen Ge birgszuges hinaufzusteigen, der seine Flanken weit in die Wüste hineinschob, und am zwölften erreichten wir die Schneegrenze, wo wir uns gezwungen sahen, die drei uns verbliebenen Mulis zurückzulassen, da es weiter oben kein Futter mehr für sie gab und der Weg zu steil wurde, als daß sie einen Halt darauf fin den konnten. In jener Nacht schliefen wir, nach einem
nur kärglichen Mahl, in unsere Serapes gewickelt, in einem in den Schnee gegrabenen Loch, oder viel mehr: Wir versuchten zu schlafen, denn unsere Ruhe wurde von der Kälte gestört, und von dem Stöhnen kalter und geheimnisvoller Winde, die unter dem kla ren Himmel plötzlich aufsprangen und genauso plötzlich wieder einschliefen; und auch von dem Donnern ferner Lawinen, die von den Gipfeln herab stürzten. »Wie weit müssen wir noch durch diesen Schnee hinaufsteigen?« fragte ich Zibalbay, als wir fröstelnd im grauen Licht der Morgendämmerung standen. »Sieh dorthin!« sagte er und deutete auf einen schwarzen Felsen weit über uns, auf den die ersten Strahlen der Sonne fielen. »Das ist der höchste Punkt, und wir sollten ihn vor Anbruch der Dunkelheit er reichen.« So ermuntert zogen wir Stunde um Stunde weiter, wobei Zibalbay schweigend in Führung ging, bis un sere Augen von Schneeblindheit befallen wurden und ich einen Anfall von Bergkrankheit erlitt. Glückli cherweise war der Aufstieg nicht schwierig, so daß wir uns gegen vier Uhr nachmittags im Schatten jenes schwarzen Felsgipfels befanden. »Müssen wir auch noch über ihn hinwegsteigen?« fragte ich Zibalbay. »Nein«, antwortete er, »und das wäre ohne Flügel auch nicht möglich. Es gibt einen Weg durch ihn hin durch. Zweimal sind in den alten Tagen Trupps wei ßer Männer, die nach der Goldenen Stadt suchten, um sie zu plündern, bis an diese Stelle gelangt und wie der umgekehrt, da sie keinen Weg durch den Fels fin den konnten, obwohl ihre Hände an der Tür lagen.«
»Umschließt diese Bergkette das ganze Tal der Stadt?« fragte der Señor. »Nein, weißer Mann, sie endet eine Tagereise ent fernt im Westen, doch solche, die diesen Weg neh men, müssen durch einen tiefen Sumpf waten. Die Berge können auch drei Tagereisen östlich von hier über Schneefelder und tiefe Schluchten überwunden werden, doch so weit ich es weiß, hat es bisher nur einer lebend geschafft, ein wandernder Indianer, der zu Zeiten meines Großvaters das Ufer des Heiligen Wassers erreichte. Nun bleibt hier, während ich su che.« »Bist du froh, das Tor deiner Heimat erreicht zu haben Maya?« fragte der Señor. »Nein«, antwortete sie beinahe heftig, »denn hier in der Wildnis war ich glücklich, während dort Kummer auf mich wartet, und auch auf dich. Oh! Wenn ich dir wirklich lieb bin, so laß uns jetzt noch umkehren und zusammen zu den Ländern zurückfliehen, wo deine Menschen leben.« Sie umklammerte seine Hand und blickte ihm ernst in die Augen. »Was?« sagte er, »und deinen Vater und Ignatio die Reise allein zu Ende bringen lassen?« »Du bedeutest mir mehr als mein Vater, obwohl der düstere Ignatio dir vielleicht mehr bedeuten mag als ich.« »Nein, Maya, doch da wir nun einmal so weit ge kommen sind, möchte ich diese heilige Stadt auch se hen.« »Wie du willst«, sagte sie und ließ seine Hand los. »Sieh, mein Vater hat die Stelle gefunden und ruft uns.« Wir gingen etwa hundert Schritte weit, suchten uns
unseren Weg zwischen übereinandergetürmten Fels blöcken, die am Fuße der steil aufragenden Felswand lagen, bis wir Zibalbay erreichten, der an ihr lehnte, in der wir jedoch keinen Spalt und keine Öffnung er kennen konnten. »Obwohl ich euch vertraue und glaube, daß der Himmel uns zu seinem Zwecke zusammengeführt hat«, sagte der alte Kazike, »muß ich dennoch dem alten Brauch folgen und meinem Eid gehorchen, kei nen Fremden den Eingang zu diesem Felsentor sehen zu lassen. Komm her, Tochter, und verbinde diesen Fremden die Augen!« Sie tat es, und als sie das Tuch um das Gesicht des Señors knüpfte, hörte ich sie flüstern: »Fürchte dich nicht, ich werde dein Auge sein!« Dann wurden wir bei der Hand genommen und hierhin und dorthin geführt, bis wir jede Orientie rung verloren hatten. Danach wurden wir für eine Weile alleingelassen, während unsere Führer, den Geräuschen nach zu urteilen, etwas Schweres beiseite schoben. Anschließend wurden wir durch einen steil abwärts führenden Gang gebracht, der so eng war, daß wir manchmal mit beiden Schultern seine Wände berührten, und so niedrig, daß wir stellenweise den Kopf einziehen mußten. Schließlich jedoch, nach vie len Windungen und scharfen Biegungen, wurden der Gang breiter und der Boden eben und glatt. »Löse ihre Binden!« hörte ich Zibalbay sagen. Maya tat es, und als unsere Augen sich wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten und wir umherblick ten, erkannten wir, daß wir uns auf dem Boden einer tiefen Schlucht oder vulkanischen Kluft in dem Fels massiv befanden, die nicht von Menschenhand ge
schaffen war, sondern von der Natur, die sich dazu ihrer Werkzeuge des Wassers und des Feuers bedient hatte. Diese Schlucht – durch die eine so solide ge baute und gut drainierte Straße führte, daß sie selbst nach Jahrhunderten noch gut zu passieren war, bis auf ein paar Stellen, wo sie von Schneewehen blok kiert wurde – maß von einer Wand zur anderen nicht mehr als vierzig Schritte. Zu beiden Seiten erhoben sich steile, schwarze Klippen, die wie die Waben von Bienen mit Höhleneingängen gespickt waren, welche nur über Leitern erreicht werden konnten. »Was sind das?« fragte ich Zibalbay. »Grabhöh len?« »Nein«, antwortete er, »Wohnstätten. Sie waren be reits hier, so sagt die Geschichte, bevor unsere Vor väter die Stadt des Herzens gründeten, und wurden von Höhlenmenschen bewohnt, Barbaren, die wenig Nahrung brauchten und gegen die Kälte unempfind lich waren. Indem die Gründer der Stadt einigen die ser Höhlenmenschen durch die Passage folgten, die wir gerade durchquert haben, entdeckten sie diese Schlucht und das hinter ihr liegende, fruchtbare Land und den großen See, wo diese Höhlenmenschen, die von unseren Vorvätern ausgerottet wurden, während der winterlichen Jahreszeit zu leben pflegten. Einmal, in meiner Jugend, bin ich in Begleitung einiger Freunde und mit Hilfe von Leitern und Stricken zu diesen Höhlen hinaufgestiegen und habe dort viele seltsame Dinge entdeckt, wie Steinäxte und primitive Goldornamente, die Hinterlassenschaft der Barbaren. Aber laßt uns weitergehen, damit wir nicht von der Nacht im Paß überrascht werden.« Die gewaltige Schlucht, die nach und nach weiter
geworden war, begann sich jetzt wieder zu verengen, bis sie von einer zweiten Bergwand abgeschlossen wurde. Zibalbay führte uns um einen riesigen Felsblock herum, der zu Füßen dieser Wand lag, und zu dem Eingang eines dahinterliegenden Tunnels. »Fürchtet euch nicht vor dem Dunkel«, sagte er, »die Passage ist nur kurz, und ihr Boden ist eben.« Also folgten wir dem Klang seiner Schritte durch die Finsternis, bis wenig später ein Lichtfleck vor uns erschien, und dann standen wir auf der anderen Seite des Berges, konnten jedoch wegen der hereinbre chenden Dunkelheit nichts erkennen. Ohne Aufenthalt drängte Zibalbay weiter, den Berghang hinab, bog plötzlich nach rechts ab und blieb vor der Tür eines aus behauenen Steinen er richteten Hauses stehen. »Tretet ein«, sagte er, »und seid willkommen in meinem Land, beim Volk des Herzens!« Als er die Tür aufzog, drang der Schein eines Feu ers heraus, und die Stimme eines Mannes fragte: »Wer ist da?« Ohne zu antworten trat Zibalbay in den Raum. Er hatte eine niedrige Gewölbedecke, und an dem Tisch, der vor dem hell lodernden Herdfeuer stand, saßen ein Mann und eine Frau beim Essen. »Wartet ihr so auf meine Rückkehr?« herrschte er sie an. »Sputet euch und macht uns etwas zu essen, denn wir sind schwach vor Hunger und Kälte!« Der Mann, der sich erhoben hatte, zögerte, doch die Frau, deren Position es ihr ermöglichte, das Ge sicht des Sprechers zu sehen, packte ihn beim Arm und sagte: »Auf die Knie, Mann! Es ist der Kazike,
der zurückgekehrt ist.« »Verzeihung«, rief der Mann und sank auf die Knie, »doch, um ehrlich zu sein, Herr, ist es mir in der Stadt drüben so eingehämmert worden, daß weder du, noch die Herrin des Herzens jemals zurückkehren würden, daß ich glaubte, ihr müßtet Geister sein. Ja, und das werden sie auch in der Stadt denken, wo, wie ich hörte, nun Tikal herrscht.« »Schweig!« sagte Zibalbay und runzelte die Stirn. »Wir haben Kleidung hier zurückgelassen, nicht wahr? Geh und leg sie in den Schlafräumen zurecht, und mit ihnen weitere, für diese, meine Gäste, wäh rend deine Frau uns Essen kocht.« Der Mann verneigte sich, bis seine Stirn den Boden berührte. Dann erhob er sich, nahm eine Tonlampe von einem kleinen Tisch, zündete sie an und ver schwand hinter einem Vorhang; die Frau folgte ihm, nachdem sie das Geschirr vom Tisch geräumt und mehr Holz ins Feuer geworfen hatte. Als sie gegangen waren, traten wir zum Herd und genossen die Wohltat der Wärme. »Was ist dies für ein Haus?« fragte der Señor. Zibalbay, der in Gedanken versunken war, schien ihn nicht zu hören, und so antwortete Maya: »Eine armselige Hütte, die als Rasthaus und als Unterkunft für Jäger dient, nichts weiter. Diese bei den Menschen sind ihre Besorger und hatten den Auftrag, nach uns Ausschau zu halten, doch scheinen sie ihre Pflicht vernachlässigt zu haben. Entschuldige mich, doch ich muß ihnen helfen. Komm, Vater!« Sie verließen den Raum, und als der Señor wenig später aus einem durch die Wärme verursachten Halbschlummer aufschreckte, sah er den Hausbesor
ger vor sich stehen und ihn mit einem Ausdruck von Verwunderung und Furcht anstarren. »Was ist mit diesem Mann, und was will er, Igna tio?« fragte er auf spanisch. »Er wundert sich über Ihre weiße Haut und Ihr helles Haar, Señor, und sagt, daß er nicht wage, Sie anzusprechen, da Sie einer der Himmelsgeborenen sein müssen, von denen die Legenden berichten, und hat deshalb mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß Was ser zum Waschen und Kleidung für uns bereit seien, und wir ihm folgen sollen.« Also folgten wir dem Indianer, der uns in einen hinter dem Wohnraum gelegenen Korridor führte, und von dort in ein kleines Schlafzimmer, eins von mehreren, die zu beiden Seiten des Korridors lagen. In diesem Raum, der von einer Öllampe erhellt wur de, standen zwei Betten mit Baumwollaken und Fell decken, und auf ihnen lagen Gewänder aus feinem Leinen und Serapes – Streifen grauer und schwarzer Federn, die auf festes Leinen genäht waren. In einer Ecke des Raums standen zwei halb mit heißem Was ser gefüllte Gefäße auf Holzschemeln, die, wie der Señor erstaunt feststellte, aus gehämmertem Silber waren. »Diese Menschen müssen wahrlich reich sein«, sagte er zu mir, als der Hausbesorger uns verlassen hatte, »wenn sie selbst die Utensilien ihrer Rasthäuser aus Silber herstellen. Bisher haben mir die Geschichten von der Heiligen Stadt, deren Kazika Zibalbay ist, und Maya die Erbin, mir immer wie Märchen geklungen, doch nun scheint es doch, als ob sie wahr seien, denn das Verhalten dieses Mannes zeigt, daß Zibalbay tatsächlich eine
hochstehende Persönlichkeit ist.« Nun zogen wir die Gewänder an, die für uns be reitgelegt worden waren, und kehrten ins Wohn zimmer zurück. Wenig später wurde der Vorhang zurückgezogen, und Maya trat zu uns – ja, es war Maya, doch war sie so verändert, daß wir sie fast nicht wiedererkannten. Ja, sie sah wirklich anders aus als das abgerissene, von Reisestaub verschmutzte Mädchen, das für viele Wochen unsere Begleiterin gewesen war. Jetzt war sie in eine schneeweiße Robe gekleidet, die mit Stickerei in königlichem Grün verziert war und auf der Brust ein mit Goldfäden gesticktes Herz-Emblem zeigte. Ih re Füße steckten in Sandalen, die ebenfalls grün wa ren, während sie um den Hals, um Hand- und Fuß gelenke goldene Reifen trug. Ihr Haar fiel nicht mehr lose herab, sondern war zu einem Knoten geschlun gen, der durch ein Netz aus Goldfäden zusammen gehalten wurde, und von ihren Schultern hing ein Umhang aus schneeweißen Federn, da und dort mit zarten gelben Reiherfedern durchsetzt. »Wie ihr, habe auch ich mich umgezogen«, sagte sie zur Erklärung. »Ist meine Kleidung so häßlich, daß ihr mich so erstaunt anblickt?« »Häßlich!« sagte der Señor, »sie ist das schönste, das ich jemals sah.« »Das schönste, das du jemals sähest? Mein Freund, es ist das einfachste, das ich besitze. Warte, bis du mich in meinen königlichen Roben siehst, mit den großen Smaragden des Herzens geschmückt. Ich fra ge mich, was du dann sagen wirst.« »Das weiß ich nicht, und ich weiß auch nicht, was jetzt schöner ist, du oder deine Gewänder.«
»Sei still!« sagte sie lachend, und doch mit einem ernsten Unterton in ihrer Stimme, »du darfst nicht so frei mit mir sprechen. Drüben, jenseits des Passes, war ich ein Indianermädchen und deine Reisegefähr tin; hier bin ich die Herrin des Herzens.« »Dann wünschte ich mir, daß du das Indianermäd chen von jenseits des Passes geblieben wärst«, ant wortete er nach einer Pause, »doch vielleicht hast du nur einen Scherz gemacht.« »Es war nicht nur ein Scherz«, antwortete sie seuf zend. »Du mußt jetzt vorsichtig sein, oder es mag für dich und für mich schlecht ausgehen, da ich nach dem Rang die oberste Herrin dieses Landes bin und mein Cousin, Tikal, mich sehr genau beobachten wird. Sieh! Dort kommt mein Vater.« Während sie das sagte, trat Zibalbay herein, gefolgt von den beiden Indianern, die das Essen brachten. Er war in eine einfache Robe gekleidet, ähnlich denen, die dem Señor und mir gegeben worden waren. Ein Umhang aus blauen Federn hing von seinen Schul tern, und um den Hals trug er eine schwere Goldkette mit dem Herz-Emblem, das ebenfalls aus Gold gefer tigt war. Wir bemerkten, daß seine Tochter, Maya, bei sei nem Eintritt knickste, eine Geste, die er mit einem Nicken erwiderte, und als er an den beiden Indianern vorbeiging, verneigten diese sich fast bis zum Boden. Offensichtlich war die Freundschaft unserer Wü stenreise vorbei, und dem Mann, den wir bis dahin als unseresgleichen betrachtet und behandelt hatten, mußte von nun an Ehrerbietung gezeigt werden. In der Tat kam uns der stolze, weißbärtige Kazike in dieser anderen Umgebung so königlich vor, daß wir
beinahe dem Beispiel der anderen gefolgt wären und uns vor ihm verneigt hätten, wenn immer er uns an blickte. »Das Essen ist bereit«, sagte Zibalbay, »wenn man es auch kaum als solches bezeichnen konnte. Setzt euch, bitte. Nein, Tochter, du brauchst nicht hinter mir zu stehen. Noch sind wir Reisegefährten, und die Zeremonie kann warten, bis wir in der Stadt des Her zens sind.« Dann setzten wir uns, und die beiden Indianer be dienten uns bei Tische. Woraus das Essen bestand, kann ich nicht sagen, doch nach unserem langen Dar ben kam es uns vor, als ob wir noch nie ein so vor zügliches Mahl zu uns genommen hätten. Trotz all des Komforts, den wir genossen, hatte ich jedoch den Eindruck, als ob der Señor bedrückt sei und eine Vor ahnung kommenden Unheils spürte. Maya und er liebten einander nach wie vor, doch hatte er das Ge fühl, als ob die Dinge sich völlig verändert hätten, so wie sie selbst es ihm erklärt hatte. Während sie gereist waren, hatte er mehr oder weniger das Kommando geführt, wie es einem weißen Mann meisten zufällt. Jetzt aber hatten die Dinge sich verändert, und er mußte seinen Platz als fremder Wanderer einnehmen, der im Lande lediglich geduldet wurde, und schon jetzt konnte dieser Unterschied an Zibalbays Haltung und seiner Anredeform erkannt werden. Bisher hatte er ihn als ›Señor‹ angesprochen, oder sogar als ›Freund‹, nun benutzte er ein indianisches Wort, das ›Fremder‹ oder ›Unbekannter‹ bedeutete, und selbst mich sprach er nur mit meinem Namen an, ohne je den Titel. Es gab jedoch auch eine angenehme Überraschung
in diesem Hause, denn der Besorger brachte uns, die wir sechs Wochen lang keinen Tabak genossen hat ten, ein Tablett mit Zigaretten, deren Tabak in die hauchdünnen Blätter gerollt war, die um die jungen Maiskolben herum wachsen. »Komm her, du!« sagte Zibalbay zu dem Indianer, als er uns die Zigaretten gereicht hatte. »Geh zum Ufer des Sees und benachrichtige den Obersten des Dorfes der Maisbauern, daß sein Herr zurückgekehrt ist und ihm gebietet, vier Sänften zu schicken, die fünf Stunden nach Sonnenaufgang hier sein sollen. Befehle ihm auch, ein Kanu bereitzuhalten, das uns über den See bringt, daß er jedoch, so ihm sein Leben lieb ist, kein Wort von unserer Ankunft zur Stadt senden soll. Geh jetzt, und beeil dich!« Der Mann verneigte sich, ergriff einen Speer und einen Federumhang, die an einem Pflock neben der Tür hingen, und verschwand im Dunkel der Nacht, ohne sich um den heulenden Wind und den Schnee regen zu kümmern, der auf das Dach prasselte. »Wie weit ist es bis zu jenem Dorf?« fragte der Señor. »Zehn Meilen oder mehr«, antwortete Zibalbay, »und der Weg ist nicht gut. Trotzdem, wenn er nicht in einen Abgrund stürzt oder in einer Schneewehe er stickt, sollte er in sechs Stunden dort sein. Komm, Tochter, es ist Zeit, daß wir uns zur Ruhe begeben, unsere Reise ist lang gewesen, und du mußt müde sein. Gute Nacht, meine Gäste, Morgen hoffe ich, euch besser unterbringen zu können.« Er verneigte sich vor uns und ging hinaus. Maya erhob sich, um ihm zu folgen, trat zu dem Señor und reichte ihm ihre Hand, die dieser mit den Lippen berührte.
»Wie gut ist es, wieder Tabak zu schmecken«, sagte er, als Maya gegangen war. »Nein, gehen Sie noch nicht zu Bett, Ignatio. Nehmen Sie sich eine Zigarette und noch ein Glas von diesem Agua ardiente, und las sen Sie uns reden. Wissen Sie, mein Freund, mir scheint, daß Zibalbay sich sehr verändert hat. Ich ha be seinen Charakter nie besonders gemocht, doch vielleicht verstehe ich ihn nicht.« »Meinen Sie, Señor? Ich denke doch. Dieser Mann ist ein Fanatiker, und, wie ich, ein Träumer. Außer dem ist er von Ehrgeiz zerfressen und tyrannisch; ein Mann, der weder sich noch andere schont, um sein Ziel zu erreichen, oder wo er glaubt, die Wohlfahrt seines Landes und den Ruhm seiner Götter fördern zu können. Überlegen Sie doch einmal, wie mutig und willensstark dieser Mann sein muß, der es in sei nem Alter wagte, nur aufgrund einer Vision sein Amt niederzulegen und allein von seiner Tochter begleitet die Entbehrungen auf sich zu nehmen und Hunderte von Meilen durch Dschungel und Wüsten zu reisen, die seit Jahrhunderten keiner seiner Rasse durchquert hat. Überlegen Sie einmal, was es für ihn bedeutet haben muß, der seit vielen Jahren fast als göttlich be handelt wurde, in den Wäldern von Yucatan den Medizinmann zu spielen, und Beleidigungen und Folter in Händen weißer Banditen zu ertragen. Doch all dieses und mehr hat Zibalbay ohne ein Wort der Klage auf sich genommen, weil er glaubte, seinen Auftrag erfüllen zu müssen.« »Aber, Ignatio, was ist sein Auftrag, und was ha ben wir damit zu tun? Das habe ich bislang noch nicht begriffen.« »Sein Auftrag, und in der Tat sein Lebenszweck, ist
die Wiedererrichtung des zerfallenen Reiches der Stadt des Herzens. Kurz gesagt, Señor, obwohl ich nicht an Zibalbays Götter glaube, so glaube ich doch an seine Visionen, da sie ihn zu mir geführt haben, dessen Ziel sein Ziel ist, und keiner von uns beiden ohne den anderen dieses Ziel erreichen kann.« »Warum nicht?« »Weil ich Reichtümer brauche, und er Männer; und wenn er mir die Reichtümer gibt, kann ich ihm Tau sende von Männern geben.« »Ich verstehe«, antwortete der Señor. »Es klingt er staunlich einfach, doch werden Sie beide vielleicht feststellen müssen, daß der Weg mit Schwierigkeiten gepflastert ist. Vor allem aber begreife ich nicht, wel che Rolle Maya und ich in dieser Angelegenheit spielen können, da wir keinerlei Ehrgeiz haben, eine Rasse zu regenerieren oder ein Reich zu errichten. Ich denke also, daß wir lediglich Zuschauer dieses Spiels sein sollen.« »Wie kann das sein, Señor, wenn sie die Herrin des Herzens ist, und die Erbin ihres Vaters, und wenn ...« – hier senkte er die Stimme – »Sie und Maya einander so lieb gewonnen haben?« »Ich wußte nicht, daß Sie etwas davon bemerkt ha ben, Ignatio. Sie schienen unsere Zuneigung fürein ander niemals wahrzunehmen, und da Sie die Frauen so sehr hassen, habe ich nicht darüber gesprochen«, setzte er errötend hinzu. »Ich bin nicht ganz blind, Señor. Außerdem, ist es möglich, daß ein Mann nichts davon merkt, wenn ei ne Frau zwischen ihn und den Freund tritt, den er liebt? Doch will ich nicht davon reden, denn es ist, wie es sein soll; außerdem würden Sie mich kaum
verstehen, wenn ich es täte. Nein, nein, Señor, Sie können sich nicht aus diesem Spiel heraushalten, da zu sind Sie schon viel zu tief darin verstrickt, obwohl ich nicht sagen kann, welche Rolle man für Sie be stimmt hat. Es hängt vielleicht davon ab, was die Götter Zibalbay enthüllen, oder was er glaubt, daß sie ihm enthüllen. Im Moment ist er Ihnen zugetan, da er der Ansicht zu sein scheint, daß die Götter Sie als den Sohn Quetzals geschickt haben, durch den sein Volk erlöst werden soll, da es eine solche Prophezeiung gibt, und das ist wahrscheinlich der Grund, warum er die Freundschaft zwischen Ihnen und seiner Tochter nicht unterbunden hat, wie er mir gegenüber andeu tete. Doch seien Sie gewarnt, Señor: wenn er feststel len sollte, daß Sie nicht jener Mann sind, wird er sie beiseite fegen wie Kehricht, und Sie müssen der Her rin des Herzens Lebewohl sagen.« »Das werde ich nicht tun, solange ich lebe«, sagte er ruhig. »Nein, Señor, vielleicht nicht, solange Sie leben, doch leben solche, die sich in den Weg von Priestern und Königen stellen, zumeist nicht sonderlich lang. Aber wenn es auch Grund genug zur Vorsicht gibt, haben Sie doch keinen Grund, niedergeschlagen zu sein, denn wenn Sie nicht jener Mann sein sollten, so mag ich es sein, in welchem Falle ich Ihnen helfen könnte, wie ich es Maya geschworen habe, oder aber vielleicht kommen Sie in die Lage, mir helfen zu können.« »Auf jeden Fall werden wir zusammenhalten«, sagte der Señor. »Und jetzt, da es sinnlos ist, von der Zukunft zu sprechen, sollten wir zu Bett gehen. Eines jedoch seien Sie versichert: Wenn Maya nicht stirbt, und ich nicht sterbe, werde ich sie heiraten.«
14
Die Stadt des Herzens
Es war noch dunkel, als wir am folgenden Morgen von der Stimme Zibalbays geweckt wurden. »Steht auf!« sagte er. »Es ist Zeit, aufzubrechen.« »Sind die Sänften schon da?« fragte ich. »Nein. Sie werden erst in ein paar Stunden eintref fen. Doch ich möchte noch heute abend in der Stadt sein, also werden wir ihnen zu Fuß entgegengehen.« Also erhoben wir uns, da uns nichts anderes übrig blieb und zogen die Kleidung des Landes an, die man uns gegeben hatte, da unsere eigene so abgerissen war, daß wir uns darin nicht sehen lassen konnten. Im Wohnraum fanden wir Zibalbay und Maya. »Eßt!« sagte der alte Mann und deutete auf den ge deckten Tisch. »Und dann laßt uns gehen!« Zehn Minuten später verließen wir das Haus. Es ging kein Wind, doch in dieser großen Höhe war die Luft so schneidend, daß wir dankbar unsere Serapes um uns wickelten und rasch ausschritten. Anfangs war alles in das graue Licht der frühen Dämmerung getaucht, doch bald schon leuchteten schneebedeckte Gipfel aus ihm hervor, auf die bereits das Licht der aufgehenden Sonne fiel, obwohl die Berghänge un terhalb von uns noch im Nachtdunkel lagen. Nach und nach, als das Licht heller wurde, sahen wir, daß das unter uns liegende Land wie eine Schüssel ge formt war, deren Rand die Bergkette bildete, auf der wir uns befanden, und im Zentrum dieser Schüssel, genährt von zahllosen Bächen, deren Quellen sich auf
den umgebenden Schneegipfeln befanden, lag der See, das Heilige Wasser dieses Volkes. Von ihm konnten wir jedoch nur wenig sehen, da die riesige, unter uns liegende Fläche von dichten Nebelschwa den bedeckt war, die wallten und wogten wie die Oberfläche eines Ozeans. Noch nie hatte sich unseren Augen ein so seltsamer Anblick geboten wie dieses dichte Kleid von Dämpfen, auf dessen Oberfläche sich das Licht der aufgehenden Sonne sammelte und es mit Farblinien und -mustern überzog. Es kam uns vor, als ob die Karte der Welt vor uns aufgerollt wor den wäre: Kontinente, Meere, Inseln und Städte bil deten sich, nur um wieder zu vergehen und ständig neue Formen zu bilden. »Es ist doch wunderbar, nicht wahr?« sagte Maya. »Aber wartet, bis der Nebel sich dann auflöst. Seht! Es beginnt schon.« Während sie sprach, wurde das Nebelmeer plötz lich dünner und riß in der Mitte auf, und durch die so entstandene Lücke tauchten die ersten Pyramiden und Tempel auf, und dann das ganze Panorama der Stadt des Herzens der Welt, die auf der Oberfläche des Heiligen Wassers zu schwimmen schien. Sie war noch weit entfernt, doch jetzt, da der Morgennebel wich, war die Luft so klar, daß sie fast zu unseren Fü ßen zu liegen schien, weil wir uns hoch über ihr be fanden. Von einer Mauer umgeben und ganz aus Marmor oder einem anderen weißen Stein erbaut, leuchtete und glänzte sie im Licht der Sonne. Sie stand auf einer herzförmigen Insel und erstreckte sich weiter als das Auge reichte in die blauen Wasser des Heiligen Sees. Nach und nach verschwand der Nebel und die runde Talschüssel wurde von dem hellen
Licht des Tages erfüllt. Nun konnten wir die Ufer des Sees mit ihren grünen Schilfgürteln erkennen, jenseits von ihnen Grasland, durch das sich silberne Bäche wanden, und oberhalb von diesem, an den Flanken der Berge, riesige Wälder, die bis zur Schneegrenze aufstiegen. Rechts und links von uns erstreckten sich gewaltige Bergketten in majestätischer Runde, deren entferntere mit dem Blau des Horizontes verschmol zen, während da und dort ein hoher, schneebedeckter Gipfel über uns emporragte wie ein Wachtposten. »Das ist mein Land«, sagte Maya mit einer stolzen Handbewegung. »Gefällt es dir, weißer Mann?« »Es gefällt mir so gut, Maya«, antwortete er, »daß ich jetzt noch weniger als zuvor verstehen kann, war um du es verlassen willst.« »Nun, weil nicht See und Berge und Stadt, obwohl voller Reichtümer und Schönheit, unser Glück bestim men, sondern die Männer und Frauen, die da leben.« »Manche Menschen mögen da anders denken, Ma ya. Sie würden sagen, daß wir das Glück nur in uns selbst finden. Doch zumindest könnten wir in einem Lande wie diesem glücklich sein.« »Das glaubst du jetzt«, antwortete sie seufzend, »aber wenn du für eine Weile in dieser Stadt gelebt hast, wirst du anders denken. Oh!« rief sie leiden schaftlich, »wenn dir wirklich etwas an mir liegt, hätten wir niemals diese Berge überschreiten dürfen. Du liebst mich nicht – nicht wirklich. Vielleicht schämst du dich sogar inzwischen, Zuneigung für ein Indiandermädchen gezeigt zu haben, nur weil es hübsch ist, als einzige Frau in deiner Nähe war und dir das Leben gerettet hat. Bestimmt würdest du dich schämen, mich nach dem Brauchtum deines Volkes
zu heiraten und weißen Menschen als deine Frau vorzustellen – mich, eine Indianerin, Tochter eines verrückten Vaters, die du aus den Händen von Die ben befreitest. Hier aber ist es anders, denn hier zu mindest bin ich eine Herrin, und du wirst sehen, wie die Menschen auf den Straßen sich vor mir bis zum Boden verneigen. Und wenn ich sage, daß ein Mann sterben soll, wirst du sehen, daß dieser Mann getötet wird. Auch besitze ich hier Reichtümer, wie sie keine weiße Frau besitzt, und du wirst mich allein um ih retwegen lieben.« »Du bist ungerecht«, unterbrach er aufgebracht. »Es ist häßlich, daß du ohne jeden Grund so zu mir sprichst.« »Vielleicht bin ich ungerecht«, antwortete sie mit einem Schluchzen, »aber es liegen so viele Schwierig keiten vor uns. Wenn Tikal ...« »Was will Tikal?« fragte der Señor. »Er will mich heiraten, oder an meiner Stelle der Kazike der Stadt werden, was dasselbe bedeutet, und er wird mich nicht ohne Kampf aufgeben. Dann ist da mein Vater, der nur zwei Herren dient, seinem Gott und seinem Land, und der mich als Figur in seinem Spiel benutzen wird, wenn es seinen Zwecken dien lich ist – ja, und auch dich. Unsere schönen Tage sind vorüber, und die schlimmen stehen uns bevor, und nach ihnen – die Nacht. Wir werden von nun an nur noch wenig Gelegenheit finden, miteinander zu spre chen, da ich von Beamten und Hofdamen umgeben sein werde, die jede meiner Bewegungen aufmerk sam verfolgen und jedes Wort hören, das ich spreche, und mein Vater wird mich ebenfalls beobachten.« »Jetzt beginnt es mir leid zu tun, daß ich nicht dei
nem Rat gefolgt und mit dir auf der anderen Seite der Berge geblieben bin«, antwortete der Señor. »Glaubst du, daß wir dorthin entkommen könnten?« »Nein, jetzt ist es zu spät – sie würden uns wieder einfangen. Wir müssen weitergehen und uns unse rem Schicksal stellen, was immer es auch für uns be reithalten mag. Aber schwöre mir bei meinen Göt tern, oder bei deinem Gott oder bei was immer sonst du am höchsten schätzen magst, daß du zu mir halten wirst, bis ich sterbe, so wie ich zu dir halten werde.« Sie nahm seine Hand in die ihre und blickte flehend zu ihm auf. In diesem Augenblick blieb Zibalbay, der tief in Gedanken versunken vor ihnen ging, stehen und wandte sich um. »Komm her, Tochter! Und auch du, weißer Mann!« sagte er streng. »Hört zu, ihr beiden! Ich mag zwar alt sein, doch sind meine Augen und Ohren noch immer scharf, auch wenn ich dort in der Wildnis keine Worte über das verlor, was ich sah und hörte. Hier, in meinem Lande, ist es jedoch anders. Merk dir ein für allemal, weißer Mann, daß die Herrin des Herzens weit über dir steht, und dort oben wird sie auch blei ben. Verstehst du, was ich damit sagen will?« »Vollkommen«, antwortete der Señor und versuchte, seinen Zorn zu beherrschen. »Es ist nur bedauerlich, daß du es nicht für nötig gehalten hast, mir das früher zu sagen. Wenn wir und einer, der tot ist, nicht getan hätten, was wir getan haben, um dich zu retten, wür den deine Knochen jetzt im Dschungel verfaulen. Warum hast du mir nicht schon dort gesagt, daß ich kein passender Umgang für deine Tochter bin?« »Weil du von den Göttern gesandt warst, um mir
dienlich zu sein, und weil ich dich dort brauchte, weißer Mann«, antwortete Zibalbay ruhig, »so wie ich dich vielleicht wieder brauchen werde. Wenn es nicht um diese Möglichkeit wäre, hätten wir uns auf der anderen Seite der Berge voneinander getrennt.« »Ich wünschte, wir hätten das getan!« rief der Señor erregt. »Fast würde ich es mir auch wünschen«, sagte der alte Mann finster. »Doch du bist nun einmal hier, und nicht dort, vielleicht für den Rest deines Lebens, und ich möchte dich daran erinnern, daß du dich in mei ner Gewalt befindest. Ein Wort von mir kann dich hoch erheben, oder dich tief unter die Erde legen, des halb sei gewarnt und nimm in Dankbarkeit an, was dir zu geben mir gefallen mag. Nein, sieh dich nicht um, eine Flucht ist unmöglich. Unterwerfe dich mei nem Willen in dieser und in anderen Fragen, und es wird dir gut ergehen; widersetze dich ihm, und ich werde dich zermalmen. Ich habe gesprochen. Bitte geh jetzt vor mir her! Und du, meine Tochter, gehst hinter mir!« Nun sah ich, daß der Señor außer sich vor Wut war und hob warnend die Hand, während Maya ihn fle hend anblickte. Er sah es und beherrschte sich. »Ich habe deine Worte gehört, Kazike«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Du hast recht, ich befinde mich in deiner Gewalt, und es ist sinnlos, dir zu antworten.« Damit nahm er seinen Platz vor Zibalbay ein, wie es ihm befohlen worden war, und Maya fiel zurück. Während ich Seite an Seite mit Zibalbay weiterging, sagte ich zu ihm: »Du gebrauchst harte Worte gegen ihn, der mein Bruder ist, und deshalb auch gegen mich.«
»Ich spreche, wie ich sprechen muß«, antwortete er kalt. »Viele Schwierigkeiten erwarten mich in der Stadt. Hast du nicht gehört, was jener Knecht gestern sagte? Daß Tikal, mein Neffe, den ich als meinen Vertreter zurückgelassen hatte, an meiner Statt herrscht? Nun, diese, meine Tochter, die ihm anver lobt ist, und durch die er in späteren Jahren zu herr schen hofft, mag der einzige Köder sein, mit dem ich ihn von seinem Platz herablocken kann, denn er hält mich bereits für tot, und es wird ihm sicher nicht ge fallen, das Zepter der Macht aus der Hand zu geben. Wie also würde es ihm gefallen, und auch jenen, die ihm anhängen, einen weißen Fremden die Hand mei ner Tochter halten und ihn in ihr Ohr flüstern zu se hen? Ignatio, ich sage dir, daß ein solcher Anblick ei nen Krieg gegen mich provozieren würde, und das war der Grund dafür, daß ich so scharf gesprochen habe, solange noch Zeit dazu ist, und du tätest gut daran, meinen Worten Nachdruck zu verleihen, denn wenn ich gestürzt werden sollte, werden alle deine Pläne zunichte, und auch dein Leben wird zunichte!« Ich antwortete nicht, denn in diesem Augenblick bogen wir um einen Felsen und sahen vor uns die Sänften mit ihren Trägern, nach denen Zibalbay ge schickt hatte. Es waren vierzig Männer oder mehr, die meisten von ihnen hochgewachsen und gut gebaut, mit re gelmäßigem Gesichtsschnitt, und, wie Zibalbay und Maya, sehr hellhäutig für Indianer, doch war der Ausdruck ihrer Gesichter völlig anders als der, den ich von Menschen meiner Rasse gewohnt war. Er war nicht dumm oder brutal, nicht einmal leer, sondern er verriet eine entsetzliche Mattigkeit. Selbst der jüngste
unter ihnen schien, trotz seiner runden Wangen und klaren Augen, von den Erinnerungen unendlich vie ler Jahre niedergedrückt zu werden. Mattigkeit war ihr Herr, nicht der ihrer Körper, denn die waren kräftig und aktiv, sondern der ihrer Seelen, und ich begann zu verstehen, was Zibalbay gemeint hatte, als er sagte, daß seine Rasse verbraucht sei. Selbst der Anblick des weißen Gesichtes des Señors, so fremd artig es ihnen auch erscheinen mußte, schien sie nicht zu berühren. Sie starrten ihn zwar an, murmelten untereinander etwas über die Farbe seines Haars und die Länge seines Bartes, doch das war alles. Zu Zibalbay aber sagten sie mit leiser, gutturaler Stimme: »Vater, wir grüßen dich«, und warfen sich dann, auf ein Zeichen ihres Führers hin, vor ihm zu Boden, wo sie mit ausgestreckten Armen liegenblie ben, als ob sie tot seien. »Erhebt euch, meine Kinder!« sagte Zibalbay. Dann rief er den Führer der Träger zu sich und sprach mit ihm, während die anderen aßen, was sie mit sich ge bracht hatten, und ich hatte den Eindruck, daß das, was er hörte, ihm wenig Freude bereitete. Dann be fahl er uns, in die Sänften zu steigen, die von sehr primitiver Machart waren und keine Vorhänge auf wiesen, sondern lediglich aus einem zwischen zwei Stangen festgebundenen Stuhl bestanden und von je acht Männern getragen wurden, da der Weg sehr be schwerlich und uneben war. Wir zogen den Berghang hinab, und eine Stunde darauf hatten wir die Schneegrenze hinter uns gelas sen und gelangten in einen Wald. Die hohen Bäume wuchsen in Gruppen, die durch grasbewachsene Lichtungen getrennt waren, auf denen Wild graste.
So dicht war das Laub der Bäume, daß ständiges Dämmerlicht unter ihnen herrschte, und von ihren Ästen hingen lange Bärte Spanischen Mooses, die in der Brise hin und her schwangen. Überall fiel der Blick auf dieses undurchdringliche Geäst, und die dämmerige Stille erinnerte mich an die matt erleuch tete Apsis der Kathedrale der Stadt Mexiko, deren Stützpfeiler die Stämme sein mochten, und der Duft ihrer Blätter der des Weihrauchs. Nachdem wir den Wald durchquert hatten, folgten Meilen herrlichen Graslandes, das mit Blumen über sät war. Wahrlich, es war ein herrliches Land. Es war bereits später Nachmittag, als wir den letzten dieser Hänge hinter uns hatten und auf eine Ebene gelangten, die zwischen den Bergen und dem See lag, und wo das Klima erheblich wärmer war. An den Bewässerungs gräben und anderen Zeichen konnte man erkennen, daß dieser Gürtel die Bevölkerung der Stadt des Her zens mit Mais und allen anderen notwendigen Pro dukten versorgte. Wir sahen ausgedehnte Zuckerrohr felder, und Reihen von Kakaobüschen, sowie viele Ar ten von Obstbäumen, die in abgeteilten Gärten stan den. Bald jedoch wurde uns klar, daß der größte Teil dieser Obstgärten nicht gepflegt wurde, denn die Früchte verfaulten haufenweise auf dem Boden. Offen bar waren sie in besseren Zeiten angelegt worden, und ihr Ertrag überstieg jetzt den Bedarf der Bevölkerung. Schließlich, als es zu dunkeln begann, erreichten wir das Dorf der Maisbauern, einen halb verfallenen Ort, dessen Häuser zum größten Teil aus Lehmzie geln erbaut waren und Dächer aus einem weißen Kalksteinguß aufwiesen. Im Mittelpunkt dieses Dor fes befand sich die Plaza, die von Bäumen umgeben
war, und in deren Mitte ein Springbrunnen, bei dem ein einfacher Altar stand, der mit Früchten und Blu men bedeckt war. In der Nähe dieses Altars hatten die Dorfbewohner, etwa einhundert an der Zahl, sich versammelt, um uns zu begrüßen. Die meisten der Männer waren gerade von der Arbeit heimgekehrt, denn ihre Füße und ihre Kleidung trugen Spuren feuchter Erde, und sie hielten Hacken und Sicheln aus Kupfer in den Händen. Alle diese Männer zeigten den gleichen Ausdruck von Mattigkeit auf ihren Ge sichtern, den ich schon bei den Sänftenträgern beob achtet hatte. So stumpf wirkten ihre Gesichter, daß ich meinen Blick ungeduldig auf die Frauen richtete, die hinter ihnen standen. Wie ihre Ehemänner und Brüder waren auch diese Frauen sehr hellhäutig für Indianer, und von hübschem Aussehen, doch trugen auch sie den Stempel der Melancholie. Die weiße Haut und der walnußfarbene Bart des Señors schien sie einen Moment aus ihrer trägen Gleichgültigkeit zu reißen, doch bald fielen sie wieder darin zurück und begannen miteinander zu flüstern oder die Blumen zu zerzupfen, die jede von ihnen an ihrem Gürtel trug. Es waren kaum Kinder unter der Menge, und mir fiel die Ähnlichkeit der Menschen auf. Wären sie alle aus einer Familie gewesen, hätte sie nicht größer sein können, da es für einen Fremden wahrlich schwer war, eine Frau von der anderen gleichen Al ters zu unterscheiden. Als Zibalbay von seiner Sänfte stieg, warfen sich alle zu Boden und blieben so liegen, bis er, gefolgt von einigen der Dorfoberen, in das Haus gegangen war, das man für ihn vorbereitet hatte. Uns ließ er draußen stehen.
»Wirken alle eure Menschen so traurig?« fragte ich Maya. »Ja«, antwortete sie, »das heißt, die gewöhnlichen Menschen, die arbeiten. Bei den Edlen ist es anders, da sie anderen Blutes sind. Hier, Don Ignatio, gibt es zwei Klassen von Menschen, die Herren und das Volk, und die Angehörigen des Volkes müssen drei Monate ihm Jahr arbeiten, während der anderen Zeit können sie sich ausruhen. Die Früchte ihrer Arbeit werden in Lagerhäusern zusammengetragen und unter die Kinder des Herzens verteilt, doch die Tem pel, der Kazike und viele der Edlen haben ihre eige nen Diener, deren Familien seit Generationen bei ih nen arbeiten.« »Und was geschieht, wenn sie nicht arbeiten wol len?« fragte der Señor. »Dann müssen sie hungern, da weder sie noch ihre Familien irgend etwas aus dem gemeinsamen Lager erhalten, und wenn sie hungrig werden, weist man ihnen die schwersten Arbeiten zu.« Jetzt verstanden wir, warum diese Menschen so matt und apathisch wirkten. Was konnte man von Menschen ohne Ehrgeiz und ohne Verantwortung erwarten, wenn die Früchte ihrer Arbeit von der Öffentlichkeit vereinnahmt und ihnen rationsweise zugeteilt wurden? Kurz darauf erschien ein Bote Zibalbays, um uns ins Haus zu rufen, wo ein Mahl für uns vorbereitet war, das aus Fisch aus dem See, gebratenem Wildge flügel und vielen Sorten von Früchten bestand. Nachdem wir gegessen und den Kakao getrunken hatten, der uns in Silberbechern serviert wurde, war es völlig dunkel geworden. Ich fragte Zibalbay, ob
wir die Nacht in diesem Dorf verbringen würden, worauf er antwortete, daß wir gleich zur Stadt auf brechen würden. Das taten wir auch und wurden beim Licht des Mondes zu einem kleinen Hafen am Ufer des Sees geführt, wo ein großes Kanu, mit Mast und Segel bestückt und von zehn Indianern bemannt, auf uns wartete. Wir stiegen ein, und da die Brise vom Land her wehte, wurde das Segel aufgezogen, und das Boot nahm Kurs auf die Insel des Herzens, die etwa fünfzehn Meilen vom Ufer entfernt lag. Die Brise war leicht, nach der Kälte der Berge kam die Luft uns sanft und lau vor, und die Szene war so neu und so seltsam, daß zumindest ich unser langsa mes Vorankommen nicht bedauerte. Niemand sprach in dem Boot, denn wir vier hingen unseren Gedanken nach, und die Indianer schwiegen aus Ehrfurcht vor der Gegenwart ihres Herrn, der als einziger ungedul dig zu sein schien, denn er zupfte von Zeit zu Zeit nervös an seinem Bart und murmelte etwas vor sich hin. So glitten wir über den blauen See, dessen Stille gelegentlich unterbrochen wurde vom Platschen gro ßer Fische, die aus dem Wasser schnellten, um ein Nachtinsekt zu fangen, und von dem Rauschen des Wassers an den Seiten des Kanus. Vor uns, schim mernd und unirdisch im hellen Mondlicht, leuchteten die Mauern und Tempel der geheimnisvollen Stadt, die zu erreichen wir so weit gereist waren. Wir sahen sie von Minute zu Minute deutlicher, und während wir zu ihr hinüberblickten, stiegen seltsame Hoff nungen und Ängste in unseren Herzen auf. Dies war kein Traum: Vor uns lag die märchenhafte Goldene Stadt, die zu sehen wir uns so lange ersehnt hatten. Bald schon würden unsere Füße an ihren weißen
Mauern vorüberschreiten und unsere Augen ihre ur alte Zivilisation erblicken. »Was mag uns dort erwarten?« flüsterte der Señor und blickte Maya an. Sie hörte seine Worte und schüttelte traurig den Kopf. Es lag keine Hoffnung in ihren Augen, die feucht von Tränen waren. Dann wandte er sich mir zu, als ob er Trost erwarte, und in mir flammte das Feuer des Enthusiasmus auf, und ich sagte: »Fürchten Sie nichts, wir haben das Ziel er reicht und werden alle Schwierigkeiten und Gefahren überwinden. Der nutzlose Reichtum dieser Goldenen Stadt wird unser sein, und mit seiner Hilfe werde ich die seit Jahrhunderten aufgespeicherte Rache über die Unterdrücker meiner Rasse bringen und ein großes indianisches Reich errichten, das sich von einer Mee resküste zur anderen erstreckt, und deren Herz diese Stadt sein soll.« Er hörte und lächelte. »Es mag so sein«, antwortete er dann, »und um deinetwillen wünsche ich das. Doch haben wir ver schiedene Ziele vor Augen«, und er blickte wieder Maya an. Weiter glitten wir durch das Mondlicht und die Stil le, denn von der Stadt kam kein Laut außer dem Ruf der Wächter, die die Stunden ausriefen, während sie die uralten Mauern abschritten, bis wir schließlich den Schatten der Heiligen Stadt erreichten, der dunkel auf das Wasser fiel, und die Indianer ihre Paddel hervor holten und das Kanu in einen von Steinen eingefaß ten Kanal lenkten, der zu einem Wassertor führte. Wir hielten vor diesem Tor, wo niemand zu sehen war. Mit ungeduldiger Stimme befahl Zibalbay dem Bootsführer, den Torwächter herbeizurufen, und kurz
darauf kam ein Mann gähnend die Stufen herab und fragte, wer da sei. »Ich, der Kazike«, sagte Zibalbay. »öffne!« »Wahrlich, das ist seltsam«, antwortete der Mann, »da der Kazike heute nacht in dem Palast dort drüben seine Hochzeit feiert, und es nur einen Kaziken beim Volke des Herzens gibt! Fahrt wieder zum Festland, ihr Wanderer, und kehrt bei Tage zurück, wenn das Tor weit offen steht.« Als Zibalbay diese Worte hörte, begann er in seiner Wut laut zu fluchen, Maya jedoch fuhr auf, wie vor plötzlicher Freude. »Ich sage dir, daß ich Zibalbay bin, der zurückge kehrt ist, dein Herr und Gebieter!« schrie er. »Und es wäre klug von dir, meinem Befehl zu gehorchen!« Der Mann starrte herab und zögerte, bis der Boots führer ihm sagte: »Du Narr, sollen wir dich an die Fi sche verfüttern? Dies ist der Herr Zibalbay, der von den Toten zurückkehrt.« Jetzt beeilte der Mann sich, das Tor zu öffnen, so schnell seine Angst es ihm erlaubte. »Vergebung, Vater, Vergebung«, rief er und warf sich zu Boden, »doch Tikal, der an deiner Statt herrscht, hat verkündet, daß du in der Wildnis um gekommen seist und befohlen, daß dein Name in der Stadt nicht mehr ausgesprochen werde.« Zibalbay ging ohne ein Wort an ihm vorbei. Als er die Marmorstufen hinaufgestiegen war und das Tor passiert hatte, das durch die dicke Mauer führte, blieb er stehen und sagte zu dem Bootsführer: »Sorge da für, daß dieser Mann morgen mittag auf dem Markt platz ausgepeitscht wird, damit er lernt, auf Wache nicht zu schlafen!«
Auf der anderen Seite der Mauer verlief eine breite Straße, zu beiden Seiten von Häusern aus weißem Stein gesäumt, die zum zentralen Platz der Stadt führte, der etwa eine Meile entfernt lag. Eilig und schweigend gingen wir diese Straße entlang, und als wir so gingen, bemerkte ich, daß ein großer Teil der Straße mit Gras bewachsen war und viele der schö nen Häuser leer zu stehen schienen; und obwohl da und dort Licht durch die von Holzgittern verkleide ten Fenster fiel, konnte ich nirgends Menschen ent decken. »Hier wäre also die Stadt«, flüsterte der Señor mir zu, »aber wo sind ihre Bewohner?« »Zweifellos bei dem Hochzeitsfest auf dem großen Platz«, antwortete ich. »Ja, ich kann sie hören.« Während ich sprach, drehte der Wind ein wenig, und der Klang von Gesang wurde zu uns herüberge tragen, der immer deutlicher wurde, je mehr wir uns dem Platz näherten. Wenig später hatten wir ihn er reicht. Es war ein weiter Platz, und in seiner Mitte er hob sich im Mondlicht schimmernd, eine dreihundert Fuß hohe Pyramide, vom Stern des heiligen Feuers gekrönt. Auf dem freien Raum zwischen den Umfas sungsmauern der Pyramide und den großen Gebäu den, welche die Seiten des Platzes bildeten, waren die Einwohner der Stadt zu dem nächtlichen Fest ver sammelt. Alle trugen sie weiße Gewänder, viele von ihnen hatten Federmäntel umgehängt und trugen Blütenkränze auf dem Kopf. Einige von ihnen tanz ten, einige sangen, während andere die Vorführun gen von Jongleuren und Clowns verfolgten. Die mei sten von ihnen jedoch saßen um kleine Tische, aßen, tranken und rauchten, und wir bemerkten, daß an
diesen Tischen die Ehrengäste die Kinder waren, und daß jedermann sie liebkoste und auf jedes ihrer Worte lauschte. Nichts konnte in unseren Augen schöner oder seltsamer sein, als dieses unschuldige Fest, das unter freiem Himmel und im Licht des Mondes be gangen wurde. Zibalbay erfreute dieser Anblick je doch ganz und gar nicht. Entlang der Seite dieses Platzes verlief eine Allee von Bäumen, die weiße, stark duftende Blüten tru gen, und Zibalbay machte uns ein Zeichen, ihm in ih rem Schatten zu folgen. Die meisten Tische waren jenseits dieser Allee aufgestellt, so daß er ungesehen stehenbleiben und die Gespräche der Menschen be lauschen konnte, die an ihnen saßen. Nun verhielt er so in der Nähe eines Tisches, an dem ein Mann in mittleren Jahren und eine junge, husche Frau saßen. Was sie sprachen, schien ihn zu interessieren, und wir, die wir nahe bei ihm waren, verstanden es, da der Unterschied zwischen dem Dialekt dieser Men schen und der Maya-Sprache so geringfügig ist, daß selbst der Señor kaum Schwierigkeiten hatte, ihrem Gespräch zu folgen. »Es ist ein fröhliches Fest«, sagte der Mann. »Ja, mein Gemahl«, antwortete die Frau, »und das sollte es auch sein, wenn Tikal unser Herr, im Ange sicht des Volkes Nahu, die Schöne, Tochter des Mat tai, heiratet.« »Es ist ein schöner Anblick«, sagte der Mann, »ob wohl ich denke, daß es etwas übereilt war vom Rat des Herzens, ihn zum Kaziken zu ernennen. Zibalbay könnte zurückkommen, und dann ...« »Zibalbay wird nie zurückkommen, und auch Ma ya nicht. Die sind längst in der Wildnis umgekom
men. Um sie tut es mir leid, denn sie war schön, und so ganz anders als die anderen großen Damen. Um ihn trauere ich nicht, denn er war ein Sklaventreiber, der uns kleine Leute geschunden hat, und er war gei zig. Tikal hat uns in den letzten zehn Monaten mehr Feste gegeben, als Zibalbay während vieler Jahre, und außerdem hat er die Gesetze gelockert, sonst dürften wir einfachen Frauen bis heute noch keinen Schmuck tragen.« Sie warf einen Blick auf den Goldreif an ih rem Handgelenk. »Es ist leicht, mit dem Gut anderer großzügig zu sein«, antwortete der Mann. »Zibalbay war eine Bie ne, die Honig gesammelt und aufbewahrt hat, Tikal ist eine Wespe, die nur frißt. Man sagt, daß der alte Kazike verrückt gewesen sein soll, doch das glaube ich nicht. Ich denke, daß er ein größerer Mann war als alle anderen, das ist alles, einer, der das Dahin schwinden des Volkes sah und nach einem Weg suchte, es aufzuhalten.« »Natürlich war er verrückt«, widersprach die Frau. »Wie glaubte er das Dahinschwinden des Volkes auf halten zu können? Indem er mit seiner Tochter durch die Wildnis zog, bis sie beide verhungerten? Falls ir gend jemand dort draußen leben sollte, so ist es ein Volk von weißen Teufeln, von dem wir gehört haben, die uns Indianer ermorden und versklaven, damit sie sie ihrer Reichtümer berauben können, und wir wol len nicht, daß solchem Gesindel der Weg zu unserer Stadt gezeigt wird. Außerdem: was interessiert es uns, wenn das Volk dahinschwindet? Wir haben al les, was wir uns wünschen. Jene, die nach uns kom men, sollen für sich selbst sorgen.« »Und doch, Frau, habe ich dich sagen hören, daß
du dir Kinder wünschtest.« Plötzlich zog ein Schatten von Trauer über das Ge sicht der Frau. »Ja«, sagte sie, »wenn Zibalbay mir ein Kind geben könnte, würde ich alles, was ich über ihn gesagt habe, sofort zurücknehmen und ihn zum weisesten aller Männer erklären, aber er war ein alter Narr, der aus Hochmut und vom vielen Beten verrückt geworden ist. Doch er ist tot, und auch wenn er nicht tot wäre, könnte er das niemals zuwege bringen; das liegt selbst außerhalb der Macht von Göttern. Aber was nützt es, über ihn zu reden, laß uns das Fest genießen, das Tikal uns gibt, mein Gemahl, und rede nicht von Kindern, da ich sonst weinen muß und jene meiner Schwestern zu hassen beginne, die mit ihnen geseg net sind.« Auf ein Zeichen von Zibalbay hin gingen wir wei ter, doch Maya, die ein wenig zurückblieb, flüsterte: »Seht euch das Gesicht meines Vaters an. Noch nie habe ich ihn so wütend gesehen. Doch die Neuigkei ten sind nicht ganz schlecht.« Dabei blickte sie den Señor an. Zibalbay schritt jetzt rasch aus, zupfte an seinem Bart und murmelte vor sich hin. Wir gelangten zu ei nem großen Torweg, zu dessen beiden Seiten Wachen mit Kupferspeeren standen. Sie unterhielten sich mit Frauen in der Menge, die sich um das offene Tor ge sammelt hatte, und aßen Süßigkeiten, die diese ihnen anboten. Zibalbay verbarg sein Gesicht mit einem Zipfel seines Gewandes, befahl uns, dasselbe zu tun und schritt auf den Torweg zu, woraufhin die beiden Posten ihre Speere kreuzten und nach seinem Namen und Titel fragten.
»Auf wessen Befehl fragt ihr das?« sagte Zibalbay. »Auf Befehl unseres Herrn, des Kaziken, der seine Hochzeit in Gesellschaft der Edlen feiert«, antwortete einer von ihnen. »Sage, bist du einer von ihnen, der du so spät kommst?« Nun enthüllte Zibalbay sein Gesicht und sagte: »Sieh mich an, Mann! Habe ich dir befohlen, mein ei genes Tor vor mir zu verschließen?« Er sah ihn an und fuhr zusammen. »Es ist der Ka zike, der wieder zurückgekehrt ist«, stammelte er. »Wie also kannst du behaupten, das Tor im Namen des Kaziken zu bewachen? Kann es zwei Kaziken in der Stadt des Herzens geben?« fragte Zibalbay scharf und schritt, ohne auf Antwort zu warten, von uns dreien gefolgt, durch das Tor in den Hof des Palastes, wo mehrere Fontänen aus dem Marmorpflaster spru delten. Wir gingen unter einer Kolonnade hindurch und traten durch eine Tür, aus der heller Lichtschein fiel, in einen großen und wundervollen Saal, der minde stens hundert Fuß lang war, und eine wundervoll ge schnitzte Holzdecke aufwies, die von einer Doppel reihe ebenso wundervoll geschnitzter Holzsäulen getragen wurde, zwischen denen Tische standen, die mit Früchten und Blumen, Trinkgefäßen und anderen Dingen aus Gold überladen waren. Auch die Wände waren mit Holz getäfelt, an denen silberbestickte Go belins hingen, und entlang dieser Wände standen groteske Statuen von Zwergen und Affen, die aus so lidem Gold gefertigt waren, und von denen jeder eine silberne Lampe in der Hand hielt. Am anderen Ende dieses Raums stand ein kleiner Tisch, und hinter ihm saßen ein Mann und eine Frau auf Thronsesseln, zu
deren beider Seiten je ein bewaffneter Krieger stand. Der Mann war in eine prächtige, weiße, mit dem Symbol des Herzens bestickte Robe gekleidet, über der er einen glitzernden Federumhang trug. Auf sei nem Kopf saß ein Goldreif, von dem ein panache* grüner Federn aufragte, und in seiner Hand hielt er ein goldenes Zepter, an dessen Spitze ein riesiger Smaragd saß. Er war von mittlerer Größe und rundli cher Gestalt, etwa fünfunddreißig Jahre alt und hatte glattes, schwarzes Haar, das ihm bis auf die Schultern herabhing. Sein Gesicht war ebenmäßig, doch ziem lich finster, denn seine dunklen Augen glänzten in einem seltsamen Feuer unter den starken Brauen her vor, und sein harter Mund zeigte einen grausamen Ausdruck, der ihn auch nicht verließ, wenn er lä chelte. Die Frau an seiner Seite war ebenfalls pracht voll gekleidet, ihre weiße Robe war mit Silberstickerei verziert, und sie trug das königliche Herz auf der Brust, während auf ihrem Kopf, an ihrem Busen und an ihren Armen Smaragdketten funkelten. Sie war jung und hochgewachsen, mit wunderbaren Augen und einem stolzen, hübschen Gesicht, das jedoch von der Sinnlichkeit ihres Mundes ein wenig beeinträch tigt wurde, und es war deutlich zu erkennen, daß sie ihren Ehemann liebte, der ihr zur Seite saß, denn alle ihre Blicke galten nur ihm. Zwischen uns und dem königlichen Paar erstreckte sich die Länge der großen Halle, die voller Menschen war – denn die meisten der Gäste hatten ihre Tische verlassen –, die so prächtig gekleidet und so mit Gold und Juwelen geschmückt waren, daß unsere Augen * Federbusch
für einen Moment geblendet wurden. Die Gäste – es waren zwei- oder dreihundert – standen, uns den Rücken zugewandt, in kleinen Gruppen beisammen und ließen am anderen Ende der Halle einen Raum frei, wo schöne Frauen in durchsichtigen Gewändern, mit Blumen und Türkisen geschmückt, vor dem Bräutigam und der Braut auf dem Thron zu der Me lodie von Flöten sangen und tanzten.
15
Wie Zibalbay zurückkehrte
Für eine Weile standen wir unbemerkt im Schatten des Torbogens und beobachteten die seltsame, schöne Szene, bis plötzlich, als Zibalbay gerade auf den Thron zugehen wollte, Tikal sein Zepter hob, und die Frauen ihr Singen und Tanzen abbrachen. Beim An blick des erhobenen Zepters zögerte Zibalbay und zog sich wieder in den Schatten zurück, wobei er uns ein Zeichen gab, dasselbe zu tun. Nun begann Tikal mit einer sonoren, tiefen Stimme zu sprechen, welche die Halle füllte. »Räte und Edle des Herzens«, begann er, »und auch ihr, hochgeborene Damen, Frauen und Töchter der Edlen, hört mich. Erst gestern, wie ihr wißt, habe ich den Platz und die Macht meiner Vorväter über nommen und bin durch euren Wunsch und Willen zum einzigen Haupt und Herrscher des Volkes des Herzens ernannt worden. Heute habe ich euch zu meiner Hochzeitsfeier geladen, damit ihr dieses Fest zieren und mein Glück mit mir teilen möget. Denn ich gebe hiermit bekannt, daß ich heute Nahua, die Schöne, Tochter des Hohen Herrn Mattai, Oberster der Astronomen, Hüter des Sanktuariums und Vor sitzender des Rates des Herzens, geheiratet habe. In Gegenwart von euch allen erkenne ich sie hiermit zu meiner ersten und gesetzlichen Gemahlin, die meine Macht mit mir teilen und unter mir herrschen soll, und die, was immer auch geschehen mag, nicht von meinem Bett und von meinem Thron getrennt wer
den soll, und als solche fordere ich euch auf, ihr Ehr furcht zu bezeigen.« Dann wandte er sich um und küßte die Frau an seiner Seite. »Heil dir!« rief er. »Herrin des Herzens, die zu er heben und zu segnen den Göttern gefallen hat. Mö gen dir Kinder geschenkt werden, und mit ihnen Glück und Macht für viele Jahre.« Daraufhin verneigten sich alle Anwesenden vor Nahua, die vor Stolz und Glück errötete, und wie derholten, wie mit einer Stimme: »Heil dir! Herrin des Herzens, die zu erheben und zu segnen den Göt tern gefallen hat. Mögen dir Kinder geschenkt wer den, und mit ihnen Glück und Macht für viele Jahre.« »Edle«, fuhr Tikal fort, als diese Zeremonie vorbei war, »es ist mir zu Ohren gekommen, daß es einige unter euch gibt, welche murmeln, ich hätte kein Recht auf das uralte Zepter der Kazikenwürde, das ich seit heute in dieser meiner Hand halte. Edle, ich habe euch etwas in dieser Angelegenheit zu sagen, das ich morgen, nach der Opferung, vor den Ohren des gan zen Volkes wiederholen werde, und ich sage dies, nachdem ich mit meinem Rat, den Meistern der Ze remonien des Herzens, darüber gesprochen habe. Morgen ist es ein Jahr her, daß Zibalbay, mein Onkel, der vor mir Kazike war, und sein einziges Kind und Erbin seines Ranges und seiner Macht, die Herrin Maya, die mir Anverlobte, diese Stadt zur Durchfüh rung eines gewissen Auftrages verlassen haben. Be vor sie dies taten, wurde zwischen Zibalbay, Maya, der Herrin des Herzens, mir, dem Rat und der Bru derschaft des Herzens vereinbart, daß ich während der Abwesenheit Zibalbays und seiner Tochter als ihr
nächster Erbe herrschen sollte, und daß ihr Erbe für den Fall, daß sie innerhalb von zwei Jahren nicht zu rückkehren würden, für immer auf mich übergehen sollte. Unter diese Vereinbarung habe ich voller Trauer meinen Namen gesetzt, denn damals, wie auch heute, war ich überzeugt, daß mein Onkel ver rückt ist und in seiner Verrücktheit in sein Verhäng nis lief, und seine Tochter, die ich liebte, in dieses mit hineinriß. Doch habe ich sie, dennoch buchstabenge treu erfüllt, bis es zu Schwierigkeiten mit dem Volke kam, denn es wollte nicht auf die Stimme eines hören, der nicht ihr gesalbter Herr war, sondern sie sagten: ›Wir werden warten, bis Zibalbay wieder zurück ist und wir seinen Befehl in dieser Angelegenheit hören.‹ Außerdem war nach Zibalbays Fortgang auch kein Hohepriester mehr im Lande, so daß, bis ein Nach folger für ihn gefunden worden war, gewisse der in nersten Mysterien unseres Glaubens unzelebriert blieben, was den Zorn des Namenlosen Gottes auf uns herabrief. So kam es, daß viele mich beschworen, um des Volkes und der Wohlfahrt der Stadt willen die Zeit meiner Regentschaft abzukürzen und mich der Salbung zu unterziehen. Eingedenk meines Ver sprechens wies ich sie scharf zurück und erklärte, daß ich auch nicht um Haaresbreite davon abweichen würde und, komme, was da wolle, die gesetzte Frist von zwei Jahren abwarten würde, bevor ich mich auf den Thron meiner Väter setzte. An diesem Vorsatz hielt ich fest, bis vor drei Tagen die Menschen, denen das Los zufiel, zum Festland zu gehen, um dort die Felder zu bestellen, die dem Tem pel gehören, erklärten, daß allein der Hohepriester Autorität über sie habe und es in der Stadt keinen
Hohepriester gäbe. In meiner Verwirrung beriet ich mich nun mit dem Herrn Mattai, Meister der Sterne, und dieser konsultierte die Sterne in meinem Auftrag. Die ganze Nacht hindurch suchte er den Himmel ab und las dort, daß Zibalbay, der von einem lügneri schen Traum verleitet, das Gesetz des Landes brach und über die Berge ging, den Preis für seine Torheit bezahlt habe, zusammen mit seiner Tochter, die mei ne Anverlobte und die Herrin des Herzens war. Ist es nicht so, Mattai?« Nun trat der Angesprochene, ein dicklicher Mann mit kahlem Kopf, unsteten Augen und einem dicken grauen Bart, vor, verneigte sich und sagte: »Wenn meine Weisheit mich nicht betrogen hat, so war die ses die Botschaft der Sterne, o Herr.« »Edle«, fuhr Tikal fort, »ihr habt meine Aussage vernommen, und auch die Aussage Mattais, dessen Stimme die Stimme der Wahrheit ist. Aus diesem Grunde habe ich beschlossen, um die Salbung zu bit ten und als euer Herrscher über euch gesetzt zu wer den, da ich durch Recht und Abkunft der Erbe Zibal bays bin. Aus diesem Grunde habe ich auch – da jene, die mir anverlobt war, nun tot ist – Nahua, die Toch ter Mattais, zur Frau genommen. Sagt nun, akzeptiert ihr uns als eure Herren und Gebieter?« Einige der Versammelten schwiegen, doch die mei sten von ihnen riefen: »Wir akzeptieren euch, Tikal und Nahua, und lange möget ihr über uns herrschen, nach den alten Bräuchen dieses Landes.« »Es ist gut, meine Brüder«, antwortete Tikal. »Und nun, bevor wir den Abschiedstrunk zu uns nehmen, frage ich euch: hat einer von euch mir noch etwas zu sagen?«
»Ich habe dir etwas zu sagen«, rief Zibalbay mit lauter Stimme aus dem Schatten, in dem wir standen, durch die ganze Länge der Halle. Beim Klang seiner Stimme, die ihm bekannt schien, fuhr Tikal zusammen und erhob sich ängstlich, nahm sich jedoch sofort zusammen und sagte: »Trete aus dem Schatten, wer immer du sein magst, damit die Menschen dich sehen!« Zibalbay wandte sich seiner Tochter und uns zu und befahl, daß wir alles tun sollten, was er täte. Dann verdeckte er sein Gesicht mit einem Zipfel sei nes Gewandes und schritt durch die Halle; die Menge der Edlen und ihrer Frauen öffnete uns eine Gasse, bis wir vor dem Thron standen. Hier enthüllte er sein Gesicht, und wir taten es ebenfalls, und dann, seit wärts gewandt, so daß sowohl Tikal als auch die an deren ihn sehen konnten, begann Zibalbay zu spre chen. Doch bevor das erste Wort über seine Lippen kam, erklangen Ausrufe des Erstaunens von den Ed len, und das Zepter fiel aus der Hand Tikals und rollte über den Boden. »Zibalbay!« tönte der Schrei. »Es ist Zibalbay, der zurückgekehrt ist, oder aber sein Geist, und die Her rin des Herzens ist bei ihm!« »Ja, Edle«, sagte der alte Kazike mit ruhiger Stim me, obwohl seine Hände vor Wut zitterten, »ich bin es, Zibalbay, euer Herr, der nach Hause zurückge kehrt ist, und nicht zu früh, wie es mir scheint. Was, Neffe, hungert es dich so nach meinem Platz und meiner Macht, daß du den Eid brechen mußtest, den du auf das Herz geschworen hast und sie dir vor der festgesetzten Zeit nehmen mußtest? Und du, Mattai, hast du dein Wissen verloren, oder haben die Götter
dich mit einem Fluch belegt, daß du falsch prophe zeist und sagst, es stünde in den Sternen geschrieben, daß wir, die wir leben, tot seien, und dadurch deine Tochter auf den Thron der Herrin des Herzens erho ben hast? Nein, antworte mir nicht! Während ich dort hinten stand, habe ich alle eure Worte vernommen. Ich erkläre dir, Tikal, daß du ein meineidiger Verräter bist, und dir, Mattai, daß du ein Scharlatan und Lüg ner bist, der es gewagt hat, die heilige Kunst für seine persönlichen Zwecke zu mißbrauchen und für die Erhebung seines Hauses. Euch beide werde ich zur Rechenschaft ziehen, ja, und all jene, die euch bei eu ren Verbrechen unterstützt haben. Wachen, ergreift diesen Mann, und auch Mattai, und haltet sie in Ge wahrsam, bis ich über sie richte!« Die beiden Krieger, die zu beiden Seiten des Thro nes standen, zögerten einen Augenblick lang, dann traten sie auf Tikal zu, wie um ihn in Befolgung von Zibalbays Befehl zu packen. Doch Nahua sprang auf, scheuchte sie zurück und rief: »Was? Ihr wagt es, euren gesalbten Herrn anzu rühren? Zurück, sage ich euch, wenn ihr euch vor dem Verhängnis des Sakrilegs bewahren wollt! Ob Zibalbay nun lebt oder tot ist, seine Tage sind vorbei, denn der Rat des Herzens hat seine Krone auf die Stirn Tikals gesetzt, und, ob zum Guten oder zum Schlechten, kann sein Dekret nicht geändert werden.« »Richtig!« sagte Tikal, dessen Mut zurückkehrte. »Die Herrin Nahua spricht wahr. Rührt mich nicht an, wenn ihr leben wollt, um die Sonne zu sehen!« Doch während er sprach, war sein Blick unver wandt auf Maya gerichtet, deren schönes Gesicht er anstarrte, als ob es das einer verlorenen Geliebten wä
re, die von den Toten auferstanden war. Als nun Zibalbay wieder sprechen wollte, ver neigte Mattai, der Astronom, sich vor ihm und sagte: »Sei nicht zornig, Herr. Du bist von weither gereist und gewiß müde, und ein müder Mann neigt zu Ge reiztheit und Zorn. Du glaubst, daß man dir Unrecht getan hat, und all das, was geschehen ist, muß dir seltsam erscheinen, doch ist jetzt nicht die Zeit, dir Rechenschaft über unser Tun und über unsere Re gentschaft abzulegen, noch für dich, sie anzuhören. Ruhe dich in dieser Nacht aus, und morgen, auf der Pyramide, im Angesicht des Volkes, sollen dir alle Dinge klargemacht werden, und allen wird Gerech tigkeit widerfahren. Sei willkommen, Zibalbay, und auch du, Tochter des Herzens – doch sagt, wer sind diese Fremden, die ihr aus den Wüstenländern jen seits der Berge mit euch gebracht habt?« Zibalbay schwieg eine Weile und blickte aus den Augenwinkeln heraus umher, wie ein Wolf in der Falle, denn er versuchte, die Haltung der Edlen abzu schätzen. Dann, als er feststellte, daß sich ein paar unter ihnen befanden, denen er vertrauen konnte, hob er den Kopf und antwortete: »Du hast recht, Mattai, ich bin müde, denn Alter, Reise und Treulo sigkeit der Menschen haben mich erschöpft. Morgen sollen all diese Dinge im Angesicht des Volkes klar gestellt werden, und dort, vor dem Altar, wird es verkünden, ob ich sein Herr bin, oder du, Tikal. Dort auch werde ich euch sagen, wer diese Fremden sind, und warum ich sie mit mir über die Berge gebracht habe. Bis dahin lasse ich sie in eurer Obhut und be fehle euch, sie um eurer selbst willen gut zu behan deln. Nein, hier werde ich weder essen, noch trinken.
Kommt ihr mit mir!« Er rief einige der Edlen beim Namen, von denen er wußte, daß sie treu zu ihm hielten. Dann, ohne weitere Worte, wandte er sich um und verließ die Halle, gefolgt von einer Anzahl der Edlen. »Es scheint, als ob mein Vater mich vergessen hat«, sagte Maya lachend, als er gegangen war. »Seid ge grüßt, meine Freunde, und auch du, mein Cousin Ti kal, und auch deine Frau, Nahua, einst meine Hof dame, die vom Glück erhoben wurde, um meinen Platz und meinen Titel zu übernehmen. Was auch immer der Ausgang dieser Streitereien sein mag, mögt ihr in eurer Liebe zueinander glücklich sein, Ti kal und Nahua.« Nun trat Tikal vom Thron herab, verneigte sich vor ihr und sagte: »Ich schwöre dir, Maya ...« »Nein, schwöre nicht«, unterbrach sie ihn, »son dern gib mir und meinen Freunden einen Becher und ein paar Brosamen deines Hochzeitsmahls, denn wir sind hungrig. Ich danke dir. Wie wunderschön das Hochzeitskleid ist, das Nahua trägt, und – wahrhaftig – diese Smaragde waren einst die meinen. Nun, mag sie sie behalten, als mein Hochzeitsgeschenk. Mache Platz, Tikal, damit diese Damen mir ihre Neuigkeiten mitteilen können, denn bedenke, daß ich weit gereist bin und mich freue, Gesichter wiederzusehen, die mir lieb sind.« Für eine Weile saßen wir und aßen, oder taten so, als ob wir äßen, während Maya leichthin so sprach und alle Anwesenden uns ansahen, denn wir waren ein rarer Anblick für sie, die noch nie Fremde gesehen hatten, und vor allem keinen weißen Mann. Der An blick des Señors, blondhaarig, langbärtig und weiß
häutig, kam ihnen so wunderbar vor, daß sie, un gleich den gewöhnlichen Menschen, ihre Höflichkeit vergaßen, sich um uns drängten und ihn neugierig anblickten. Doch gab es zwei, die kaum von dem Señor und mir Notiz nahmen, und diese beiden wa ren Tikal, der Maya anstarrte, während er hinter ih rem Stuhl stand und sie bediente wie ein Sklave, und Nahua, seine Ehefrau, die schweigend und allein auf ihrem Thron saß und mit finsterer Miene jedes seiner Worte und jede seiner Gesten verfolgte. Schließlich konnte sie diese Vorstellung nicht länger ertragen, stand auf und begann durch den Raum zu gehen. »Macht Platz für die Braut, ihr Damen!« sagte Ma ya. »Gute Nacht, Cousin, es wird spät, und deine Frau erwartet dich.« Tikal murmelte etwas vor sich hin, das ich nicht verstehen konnte, und Seite an Seite schritt das Paar durch die große Halle, gefolgt von den beiden Wa chen. »Wie schön die Braut ist, und wie tapfer der Bräu tigam«, sagte Maya, während sie ihnen nachblickte, »und doch habe ich Paare gesehen, die an ihrem Hochzeitstag glücklicher aussahen. Nun, es ist Zeit zum Schlafen. Gute Nacht, Freunde. Mattai, ich überlasse diese beiden Fremden deiner Obhut. Sorge gut für sie, und – warte – bring sie morgen, nachdem sie gefrühstückt haben, zu mir, denn es ist der Wille meines Vaters, daß ich ihnen etwas von der Stadt zei ge, bevor wir uns zur Mittagsstunde auf der TempelPyramide treffen.« Als sie gegangen war, verneigte Mattai sich sehr zeremoniell vor uns und bat uns, ihm zu folgen, was wir taten. Wir gingen über den Hof und durch meh
rere Korridore zu einem herrlichen Zimmer, von sil bernen Lampen matt erhellt, das für uns vorbereitet worden war. Hier waren die Betten mit feinen Dek ken bezogen, und auf dem Tisch in der Mitte des Raumes waren kühle Getränke und Früchte vieler Art, doch wir waren so ermüdet, daß wir diese Dinge kaum bemerkten. Nachdem wir Mattai, der uns neu gierig gemustert und verkündet hatte, daß er uns früh am Morgen aufsuchen würde, eine gute Nacht gewünscht hatten, schoben wir die Kupferriegel der Tür vor und warfen uns auf die Betten. Doch so müde ich auch war, gelang es mir nicht, an diesem seltsamen Ort einzuschlafen, und wenn, von Zeit zu Zeit, meine Augen sich schlossen, riß mich das Geräusch von Schritten, die unsere Tür passier ten, wieder in einen hellwachen Zustand. Eines war sicher: Zibalbay war hier, in seiner eigenen Stadt, nicht erwünscht, und es würde Unruhen geben, wenn er morgen seine Geschichte dem Volke vortrug, denn bestimmt würde Tikal die Stellung, die er usurpiert hatte, nicht kampflos preisgeben, und er hatte viele Parteigänger. Zweifellos waren es die Schritte ihrer Füße, die ich vor der Tür hörte, als sie zu und von dem Räume wegeilten, in dem Mattai saß und sich mit ihnen beriet. Was mochte unser Schicksal in die sem Machtkampf sein, der unvermeidlich ausbrechen würde? Diese Menschen fürchteten Fremde – das hatte ich an ihren Gesichtern ablesen können – und würden uns nur zu gerne los sein, wenn es ihnen möglich war. Nun, wir hatten in Maya einen guten Freund, und alles andere mußten wir der Vorsehung überlassen. Während ich so dachte, fiel ich endlich in den
Schlaf, aus dem ich von der Stimme des Señors ge weckt wurde, der auf der Kante seines Bettes saß, ein Lied sang und im Raum umherblickte, der jetzt von Licht erhellt wurde, das durch das Gitterwerk der Fenster hereinströmte. Ich wünschte ihm einen guten Morgen und fragte ihn, weshalb er sänge. »Fröhlichkeit ist in meinem Herzen, mein Freund«, antwortete er. »Wir haben endlich diese Stadt er reicht, und sie ist herrlicher und prachtvoller als alles, was ich mir erträumt habe. Außerdem ist das Glück mit uns, denn dieser Tikal hat eine andere, zur Frau genommen, die, ihrer Art nach zu urteilen, nicht so leicht von ihm lassen wird, und deshalb hat Maya von ihm nichts mehr zu befürchten. Drittens gibt es genügend Reichtum in dieser Stadt, wenn das, was wir gestern abend sahen, als Beispiel gelten darf, um es Ihnen zu ermöglichen, gleich drei indianische Rei che zu begründen, und zweifellos wird Zibalbay Ih nen soviel davon geben, wie Sie verlangen mögen. Darum, mein Freund Ignatio, sollten auch Sie singen, anstatt so finster dreinzublicken, als ob Sie Ihren Sarg vor sich sähen.« Ich schüttelte den Kopf und antwortete: »Ich fürchte, Sie sprechen sehr leichtfertig. Es braut sich Unruhe in dieser Stadt zusammen, und wir werden mit hineingezogen, denn der Kampf zwischen Zibal bay und Tikal wird bis auf den Tod ausgefochten werden. Und was Maya betrifft, so bin ich mir eines sicher: ob Tikal nun eine Frau hat oder nicht, liebt er sie noch immer und wird versuchen, sie zu erringen. Schließlich ist es zwar richtig, daß unermeßliche Reichtümer hier lagern, doch ob deren Eigentümer es zulassen werden, daß ich einen Teil davon mitnehme,
um mein großes Ziel zu verwirklichen – das ihnen keinerlei Nutzen bringt –, ist eine andere Sache.« »In der Bibel wird von einem Mann namens Hiob gesprochen, der einen Freund namens Eliphas hatte – ich glaube fast, daß Sie dieser wieder zum Leben er weckte Freund sind, Ignatio«, antwortete der Señor lachend. »Was mich betrifft, so bin ich entschlossen, das Beste aus der Gegenwart zu machen und mich nicht mit Sorgen um die Zukunft oder die Politik die ses umnachteten Volkes zu belasten. Doch hören Sie, jemand klopft an der Tür.« Ich erhob mich und schob die Riegel zurück, wor auf Diener hereintraten, die Becher mit heißem Kakao und ein Tablett mit kleinen Kuchen hereinbrachten. Nachdem wir gegessen hatten, führten sie uns zu den Bädern, die aus prachtvollem Marmor waren, von denen eines mit warmem Wasser von einer heißen Quelle gefüllt war, und danach in ein Zimmer, in dem ein opulentes Frühstück für uns bereitstand. Während wir bei Tische saßen, trat Mattai herein, und ich erkannte, daß er in dieser Nacht nicht geschlafen hatte, denn seine Lider waren schwer. »Ich hoffe, daß ihr wohl geruht habt, Fremde«, sagte er höflich. »Ja, Herr«, antwortete ich. »Nun, dann habt ihr es besser gehabt als ich, da es meine Pflicht ist, die Sterne zu beobachten, und be sonders den meinen, der zur Zeit ein wenig verdun kelt ist«, sagte er mit einem Lächeln. »Wenn ihr fertig seid mit dem Frühstück, werde ich euch, wie mir be fohlen, zu den Räumen der Herrin Maya führen, die euch etwas von unserer Stadt zeigen will, das für euch, da ihr Fremde seid, von Interesse sein mag. Üb
rigens wenn meine Frage nicht anmaßend ist, magst du mir sagen, welcher Rasse du angehörst«, sagte er, und verneigte sich vor dem Señor. »Wir haben hier von weißen Männern gehört, jedoch leider nichts Gutes, und die Legende berichtet, daß unser erster Herrscher, Cucumatz, von dieser Rasse war. Bist du seines Blutes, Fremder?« »Das weiß ich nicht«, antwortete der Señor la chend. »Ich komme aus einem kalten Lande weit jen seits des Meeres, wo alle Menschen so sind wie ich.« »Dann müssen die Bewohner jenes Landes göttlich anzusehen sein«, antwortete Mattai ernst. »Ich danke dir für deine Güte und Offenheit, Sohn des Meeres, meine Frage so bereitwillig beantwortet zu haben. Ich habe sie nicht nur aus Neugier gestellt, sondern weil die Menschen dieser Stadt Furcht vor Fremden haben und zu wissen verlangen, wer ihr seid.« »Zweifellos wird unser Freund Zibalbay sie zufrie denstellen«, sagte ich. »Gut. Nun bitte ich euch, mir zu folgen.« Mattai führte uns über Höfe und durch Korridore, bis wir einen kleinen Vorraum erreichten, der mit uralten Statuen und Blumen geschmückt war, und in dem mehrere Mädchen herumstanden und schwatzten. »Sagt der Herrin Maya, daß ihre Gäste sie erwar ten«, sagte Mattai, dann wandte er sich zum Gehen und setzte mit leiser Stimme hinzu: »Zweifellos wer den wir uns zu Mittag auf der Pyramide wiedersehen und dort werdet ihr erleben, was noch nicht voraus zusehen ist; doch was immer geschehen mag, seid gewiß, Fremde, daß ich euch beschützen werde, so es mir möglich ist. Lebt wohl!« Eines der Mädchen verschwand durch die Tür am
anderen Ende des Raumes, und die anderen standen, nachdem sie uns Stühle angeboten hatten, in einiger Entfernung und musterten uns verstohlen. Schließlich wurde die Tür geöffnet und Maya trat heraus, in ein feines Serape gekleidet, das ihren Kopf und die Schultern bedeckte, und sie wirkte sehr schön in dem sanften Licht des Raumes. »Seid gegrüßt, Freunde«, sagte sie, als wir uns vor ihr verneigten. »Ich habe die Erlaubnis meines Vaters, euch etwas von dieser Stadt zu zeigen, die zu sehen euch so verlangt hat. Diese Damen werden uns be gleiten, und auch eine Wache, doch brauchen wir keine Sänften, bis wir zum großen Tempel hinaufge stiegen sind, denn ich möchte, daß ihr die Stadt von dort oben seht, bevor sich die Menge des Volkes sich dort drängt. Kommt jetzt, wenn ihr bereit seid!« Also brachen wir auf, Maya ging zwischen uns, während ihre Hofdamen und die Wachen uns folg ten. Nachdem wir den Platz überquert hatten, der in der vergangenen Nacht Schauplatz des Festes gewe sen war, jetzt, am frühen Vormittag jedoch fast ver lassen lag, gelangten wir zu der Umfassungsmauer der Pyramide, deren Kalksteinfassade mit eingemei ßelten Jagdszenen geschmückt war, und einem Fries von sich krümmenden Schlangen, und, in regelmäßi gen Abständen, mit dem Herz-Emblem. Vor dem Torbogen, der diese Wand durchbrach, blieben wir stehen und blickten die mächtige Masse der Pyrami de an, die sich über uns erhob. Es gäbe eine in dem Lande Ägypten, die noch größer sei, erklärte der Señor, doch sei diese die schönere, wegen ihrer prächtigen hellen Flanken aus Kalkstein, deren ge waltige Flächen nur von einer breiten Treppe unter
brochen wurde, die über ihre östliche Fassade vom Fuß bis zur Spitze emporführte. »Es ist ein großes Bauwerk«, sagte Maya, als sie unsere Verwunderung bemerkte, »und eines, das in diesen Tagen nicht errichtet werden könnte. Die Le gende sagt, daß fünfundzwanzigtausend Männer fünfzig Jahre lang daran gearbeitet haben – zwan zigtausend von ihnen beim Schneiden und dem Transport der Steinblöcke, und fünftausend bei ihrem Auftürmen.« »Woher kommt das Material?« fragte der Señor. »Einiges davon ist an der Stelle gewonnen worden, auf der jetzt das Fundament der Pyramide steht«, antwortete sie, »doch der größte Teil wurde mit gro ßen Flößen vom Festland herübergeschafft, wo diese Steinbrüche noch heute zu sehen sind.« »Ist die Pyramide innen hohl?« fragte ich. »Ja, es befinden sich viele Kammern in ihr, zum größten Teil Lagerräume und Schatzhäuser, und un ter ihrem Fundament liegen die Grabstätten der Ka ziken, ihrer Frauen und ihrer Kinder. Dort befindet sich auch das Heiligtum des Herzens, das ihr, die ihr zur Bruderschaft gehört, vielleicht aufsuchen dürft. Doch kommt, laßt uns die Treppe hinaufsteigen.« Und sie führte uns über den Hof zum Fuß eines Auf gangs, der eine Breite von vierzig Fuß oder mehr ha ben mochte, welcher in sechs Abschnitten, von denen jeder fünfzig Stufen aufwies, zur Spitzenplattform der Pyramide hinaufführte. Diese Treppe stiegen wir langsam hinauf, gefolgt von den Hofdamen und den Wachen, bis unsere Mü hen ihren Lohn fanden und wir auf der schwindeln den Höhe der Pyramide standen. Vor uns lag eine
Plattform, die von einer niedrigen Mauer eingefaßt war, groß genug, daß mehrere tausend Menschen auf ihr Platz finden konnten. An der Westseite dieser Plattform erhob sich ein kleines Haus aus Marmor, das als Lagerstatt für Brennstoff benutzt wurde, und als Wachtturm der Priester, die Tag und Nacht Dienst taten und das heilige Feuer nährten, das in einem Becken auf seinem Dach flammte. In einiger Entfer nung von diesem Haus direkt vor ihm, stand ein kleiner, mit Blumen geschmückter Altar, doch anson sten war die Fläche leer. »Seht!« sagte Maya. Die unter uns liegende Stadt war auf einer flachen, herzförmigen Insel errichtet, deren Mitte eine so tiefe Mulde aufwies, daß sie der Krater eines Vulkans ge wesen sein mochte, oder aber auch nur eine Erhe bung, die einst eine Lagune einschloß. Diese Insel mochte etwa zehn Meilen in der Länge und sechs in der Breite messen und schien wie ein riesiges, grünes Blatt auf dem See zu schwimmen, dem Heiligen Was ser dieser Indianer, dessen Umfang so groß war, daß wir selbst von der Höhe dieser Pyramide aus, abge sehen von ein paar winzigen, felsigen Inseln, nur im Norden Land sehen konnten, die Küste, von der wir am vergangenen Abend gekommen waren. Überall sonst fiel der Blick nur auf die blaue Weite des Bin nensees, grenzenlos und verlassen, ohne den Farb fleck eines Segels oder irgendeines Zeichens von Le ben. Auf dieser blauen Weite schimmerte die Insel wie ein Smaragd. Hier waren Gärten voller pracht voller Blumen, Haine mit hohen Palmen und Weiden, umrahmt von dichtem, grünem Schilf, das im flachen Uferwasser wuchs. So üppig war die Vegetation, die
Jahr um Jahr von dem fruchtbaren Schlamm der See gedüngt wurde, und so wunderbar wirkten die Bäu me und Blüten im sanften Licht des Morgens, daß die Insel eher wie ein Paradies schien als die Heimat von Menschen, und so wie die Insel war, war auch die Stadt, die an einem Ende von ihr stand. Den Konturen des Landes folgend, auf dem sie er richtet war, wies sie ebenfalls die Form eines Herzens auf – eines Herzens aus kaltem, weißem Marmor, das in einem Herzen von strahlendem Grün lag. Um sie herum verlief ein Graben, der mit dem Wasser des Sees gefüllt war, und auf der Innenseite dieses Gra bens erhob sich eine Mauer von fünfzig Fuß Höhe oder mehr, aus Blöcken des weißen Kalksteins er richtet, der das Grundgebirge der Insel bildete, und diese Mauer war mit allegorischen Zeichen und Mu stern geschmückt, und mit gigantischen Gestalten von Göttern. Innerhalb der Mauer lag die Stadt, eine Stadt von Palästen, Pyramiden, und Tempeln, oder vielmehr deren Ruinen, denn man erkannte auf den ersten Blick, daß die Bevölkerung nicht in der Lage war, so viele Straßen und Bauwerke zu erhalten. So wuchsen Palmen durch die flachen Dächer der Häu ser, und in Spalten und Rissen von TempelPyramiden, während die Straßen und Gassen von Gras und Farnen überwuchert waren, deren schmale, freigetretene Pfade zeigten, wie wenige Passanten es waren, die sie benutzten. Selbst auf dem unter uns liegenden großen Platz herrschte kaum Leben, und man sah dort wenige Menschen, die ihren täglichen Geschäften nachgingen, wenngleich er gestern Schauplatz des nächtlichen Festes gewesen war und bald wieder mit Männern und Frauen gefüllt sein
würde, die zur Pyramide strömten. Hin und wieder konnte man eine Frau sehen, die mit einem Korb in der Hand zu den Ständen trat, an denen Rationen von Fisch, Maismehl, Früchten, getrocknetem Wildfleisch oder Kakao ausgegeben wurden. Oder vielleicht auch eine Gruppe von Männern, die auf ihrem Wege zur Arbeit in den Gärten stehen blieben, um zu rauchen und miteinander zu reden, auf eine Art, die zeigte, daß Zeit für sie keinerlei Bedeutung hatte. Da und dort sahen wir auch Kinder – sehr wenige –, die im Schatten der Paläste, der Häuser und Lagerhallen, die den Platz säumten, mit Blumen spielten, doch das war alles, sonst war der große Platz leer und schien zu schlafen.
16
Auf der Pyramide
»Liegt die Stadt nicht sehr tief?« fragte ich Maya, als wir deren Prospekt nach allen Seiten hin betrachtet hatten. »Mir erscheint es, als ob ihre Häuser fast auf gleicher Höhe mit der Oberfläche des Sees lägen.« »Ich glaube, das ist so«, antwortete sie. »Und wäh rend der jetzt kommenden Monate steigt das Wasser des Sees um mehrere Fuß, so daß der größte Teil der Insel überflutet wird und es sich an der Mauer staut.« »Wie könnt ihr dann die Stadt vor einer Über schwemmung schützen?« fragte der Señor. »Wenn das Wasser hereinbricht, würde sie verschwinden und alle, die in ihr sind, ertrinken.« »Ja, Freund, doch steigen die Wasser niemals über eine bestimmte Höhe, und ein großes Schleusentor verhindert, daß sie die Stadt überfluten. Freilich, wenn diese Schleuse zur Zeit des Hochwassers geöff net würde, dann würden wir alle umkommen. Doch wird es während dieser Monate niemals geöffnet, denn wenn jemand die Stadt betreten oder verlassen will, muß er das über eine Leiter tun, die von der Mauerkrone zu einer schwimmenden Plattform im Umfassungsgraben hinabführt. Außerdem wird die ses Schleusentor Tag und Nacht streng bewacht und kann nur von einer Stelle aus von jenen bewegt wer den, die das Geheimnis kennen, und das sind weni ge.« »Es scheint mir schon eine recht seltsame Stelle, um eine Stadt darauf zu errichten«, antwortete der Señor.
»Ich glaube nicht, daß ich während der Monate der Überschwemmung ruhig schlafen werde, da ich ständig daran denken muß, daß mein Leben von ei nem einzigen Schleusentor abhängt.« »Die Menschen haben tausend Jahre lang oder län ger hier ruhig geschlafen«, sagte sie. »Die Legende berichtet, daß unsere Vorfahren, die in lange zurück liegender Vergangenheit von der Küste kamen und auf Befehl der Götter diese Insel zu ihrem Heim machten, sich entschieden, in dieser Mulde zu sie deln, damit sie sich nicht, wie ihre Väter im Lande jenseits der Berge, einem Feinde unterwerfen mußten, sondern, wenn es nötig werden sollte, die Stadt über fluten und mit ihr untergehen konnten. Aus diesem Grund auch ist das Heiligtum des Namenlosen Got tes, das Herz des Himmels, tief in den unter uns lie genden Fels gegraben worden, denn dort werden die Wasser des Sees zuerst einströmen und es und alle seine Schätze den Blicken der Menschen für immer entziehen. Wenn ihr genug gesehen habt, werde ich euch jetzt zu den öffentlichen Werkstätten führen, wo Fisch getrocknet, Leinen gewebt und alle anderen Arbeiten ausgeführt werden, die zu unserer Bequem lichkeit nötig sind.« Sie wandte sich um und schritt, gefolgt von ihren Hofdamen, auf die Treppe zu. Als wir ihr folgten, erschienen jedoch drei Männer auf der Plattform, von denen ich einen als Tikal er kannte. Als er Mayas ansichtig wurde, verneigte er sich tief und trat auf sie zu. »Herrin«, sagte er, »als ich erfuhr, daß du mit den Fremden hier seiest, bin ich dir gefolgt, um dich zu bitten, für ein paar Minuten allein mit dir sprechen zu dürfen.«
»Das kann ich nicht tun, Cousin«, antwortete sie kühl, »denn wer weiß, welche Farbe meinen Worten später gegeben werden mag. Wenn du mir irgend etwas zu sagen hast, so sage es bitte vor uns allen.« »Das kann ich nicht tun«, antwortete er, »denn was ich dir zu sagen habe, ist geheim. Doch um deines Vaters willen, und vielleicht auch um deiner selbst willen, tätest du gut daran, es zu hören.« »Ohne Zeugen werde ich dir nicht zuhören, Tikal.« »Dann lebe wohl«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Warte, Cousin! Wenn du dich fürchtest, vor Men schen deines Volkes zu sprechen, so laß diesen Frem den« – dabei deutete sie auf mich, Ignatio – »bei un serem Gespräch dabei sein. Er ist unseres Blutes und versteht unsere Sprache, ist ein verschwiegener Mann, und vor allem einer der Brüder des Herzens.« »Einer der Brüder des Herzens? Wie kann ein Fremder ein Bruder des Herzens sein? Beweise es mir, Wanderer!« Er zog mich beiseite, sagte bestimmte Worte und machte bestimmte Zeichen, die ich beantwortete. »Bist du einverstanden?« fragte Maya. »Ja, ich bin einverstanden, da ich es muß, obwohl es mir nicht gefällt, mein Herz vor einem Fremden zu öffnen. Laßt uns beiseite gehen.« Er schritt zur Mitte der Plattform, gefolgt von Maya und mir. »Herrin«, begann er, »es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, was ich dir sagen will. Für viele Jahre wa ren wir einander anverlobt, und sowohl du als auch dein Vater haben versprochen, daß wir heiraten wür den, wenn ihr von dieser Reise zurückkehrtet ...« »So wie die Dinge stehen, Cousin«, unterbrach sie
sarkastisch, »ist es wohl sinnlos, über diese Angele genheit zu sprechen.« »Es ist nicht sinnlos«, antwortete er. »Ich habe vie les getan, wofür ich dich um Vergebung bitten muß, und ich wage es, dies zu tun. Maya, du weißt sehr wohl, daß ich dich sehr geliebt habe und dich noch immer liebe, und daß nie eine andere Frau meinem Herzen nahestand.« »Wirklich«, sagte sie mit einem Lachen, »solche Worte klingen seltsam aus dem Munde des frischge backenen Ehemanns von Nahua.« »Vielleicht, und doch sind sie wahr. Ich bin mit Nahua zwar verheiratet, doch liebe ich sie nicht, ob wohl sie mich liebt. Du bist es, die ich liebe, und als ich dich gestern wiedersah, streckte mein Herz sich dir entgegen, so daß ich die Braut an meiner Seite beinahe haßte.« »Warum hast du sie dann geheiratet?« »Weil ich es mußte, und weil ich dich für tot hielt, und deinen Vater mit dir, so wie es jeder Bewohner dieser Stadt tat. Da du und Zibalbay, wie ich annahm, tot waren, war es da ein Wunder, wenn ich meine Po sition festhalten wollte, die viele mir zu entreißen versuchten? Und das konnte nur auf einem Wege er reicht werden: mit der Hilfe Mattais, des klügsten und mächtigsten Mannes in der Stadt, und dieses war Mattais Preis, daß seine Tochter die Herrin des Her zens werden sollte. Nun, sie liebt mich, sie ist schön, und sie besitzt die Klugheit und Voraussicht ihres Vaters, so daß unter allen Damen des Landes keine besser dazu geeignet war, meine Frau zu werden.« »Nun gut, du hast sie geheiratet, und das ist das Ende der Geschichte. Du bittest mich um Vergebung,
und ich gewähre sie dir, da es mir nicht liegt, die Rolle einer eifersüchtigen Frau zu spielen. Sicherlich wird die Zeit mir über den Schmerz hinweghelfen, Tikal«, sagte sie spöttisch. »Es ist nicht das Ende, Maya, und ich bin gekom men, um dich um die Erneuerung deines Verspre chens zu bitten, meine Frau zu werden.« »Was, Cousin! Willst du, nachdem du unsere Ver lobung gebrochen hast, nun auch noch beleidigend werden? Mutest du mir etwa zu, daß ich, die Tochter des Herzens, Nahuas Dienerin werde?« »Nein, ich will dich bitten, daß du, sollte Nahua ... ah ... nicht mehr meine Frau sein, ihren Platz ein nimmst.« »Wie kann das sein, da die Herrin des Herzens nicht geschieden werden kann?« »Wenn sie nicht mehr die Herrin des Herzens ist, kann sie geschieden werden wie jede andere Frau. Außerdem kennt die Liebe kein Gebot, und ich werde einen Weg finden.« »Den Weg des Todes vielleicht. Nein, ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Wenn die Liebe keine Gebote kennen sollte, Tikal, die Ehre kennt sie. Geh zurück zu deiner Frau und bete darum, daß sie niemals erfährt, was du ihr antun wolltest.« »Ist das dein letztes Wort?« »Warum fragst du das?« »Weil mehr davon abhängt, als du zu wissen scheinst. Höre! Sehr bald werden alle Männer der Stadt sich an dieser Stelle versammeln, um die Worte deines Vaters zu hören und zu entscheiden, ob er herrschen soll oder ich. Sieh, sie strömen bereits auf dem Tempelplatz zusammen. Versprich mir, daß du
meine Frau werden wirst, und ich werde vor deinem Vater zurückstehen und ihn bis zum Ende seiner Ta ge herrschen und ihm in allen Dingen seinen Willen lassen. Weigere dich, und ich werde meine Macht nützen, und die Dinge werden für ihn böse ausgehen, und für dich, und ...«, setzte er drohend hinzu, »für diese beiden Fremden hier, deine Freunde.« »All das mag geschehen, wie es wolle«, antwortete sie stolz, »ich mische mich in solche Fragen nicht ein, und auch deine Drohungen können mich nicht dazu bewegen. Wenn du so niedriger Gesinnung sein soll test, Intrigen gegen einen alten Mann zu spinnen, der dir nur Gutes getan hat, so mach nur weiter, damit du zu gegebener Zeit deinen Lohn dafür erhältst! Was mich betrifft, so sage ich dir jedoch, daß ich mit dir fertig bin und, was immer auch geschehen mag, nie mals deine Frau sein werde.« »Vielleicht lebst du lange genug, um diese Worte zurücknehmen zu können«, sagte er ruhig. Dann ver neigte er sich, wandte sich um und ging fort. »Du hast gefährliche Feinde«, sagte ich, als er außer Hörweite war. »Ich fürchte ihn nicht, Ignatio.« »Das ist gut«, antwortete ich, »ich jedenfalls tue es. Ich denke, daß seine Pläne fertig sind, und daß wir, bevor dieser Tag vorüber ist, Schwierigkeiten haben werden. Ja, ich möchte sogar sagen, daß ich dankbar sein muß, wenn ich das Licht des morgigen Tages se he.« Inzwischen hatten wir die anderen erreicht. »Bist du des Wartens müde?« fragte sie den Señor mit einem liebevollen Lächeln. »Nun, ich fühle mich hier wohler als dort drüben. Reich mir deine Hand
und führ mich die Treppe hinab, denn ich bin müde. Ah, Freund, wenn du es nur wüßtest, ich habe eben um deinetwillen mehr gewagt, als ich es für mich getan hätte.« »Was hast du gewagt?« fragte er. »Das sollst du zu gegebener Zeit erfahren, wenn wir so lange leben, Freund«, antwortete sie, »aber ach, ich wünschte, wir hätten niemals unseren Fuß in diese Stadt gesetzt.« Die Stunden vergingen, und im Gefolge von Zibalbay und Maya, die neben ihm schritt, fanden wir uns wieder auf dem Gipfel der Pyramide. Jetzt jedoch war sie nicht mehr leer, denn auf ihr waren mehrere tau send Menschen versammelt, die gesamte männliche Bevölkerung der Stadt. Zur einen Seite des Altars sa ßen Tika und seine Gemahlin, die die einzige Frau hier war, und einige hundert Edle, die alle, wie ich bemerkte, bewaffnet waren, und von einem Trupp Krieger bewacht wurden, der hinter ihnen Aufstel lung genommen hatte. Auf der anderen Seite des Al tars bemerkte ich viele leere Plätze, und als Zibalbay mit Maya und dem Gefolge seiner Getreuen, die sich um ihn geschart hatten, darauf zuschritt, entblößten Tikal und alle anderen Männer ihre Häupter und verneigten sich vor ihm. Nach einer kurzen Pause traten zwei Priester aus dem Wachhaus hinter dem Altar hervor, legten eine Opfergabe frischer Blumen auf den Altar, und dann sprach der ältere von ihnen, der eine weiße Robe trug, ein kurzes Gebet zu dem Namenlosen, dem Herzen des Himmels, in dem er ihn bat, die Gabe an nehmen zu wollen und den Entscheidungen der hier
versammelten Menschen seinen Segen zu geben. Dann erhob sich Zibalbay, um zu der Menge zu spre chen, und ich bemerkte, daß sein strenges Gesicht bleich und angespannt war, und daß seine Hände zitterten, wenngleich seine Augen wütend glühten. »Edle und Menschen des Herzens«, begann er, »fast auf den Tag genau vor einem Jahr, habe ich, eu er erblicher Herrscher und Kazike, der Hohepriester des Herzens des Himmels, diese Stadt mit einem be stimmten Auftrag verlassen. Und dieses war mein Auftrag: Die abgetrennte Hälfte des heiligen Symbols zu finden, das im Heiligtum des Tempels lag, jene Hälfte, welche ›Tag‹ genannt wird und seit Äonen verloren war. Ihr wißt, daß schwere Unbill über unse re Rasse gekommen ist und Jahr um Jahr unserer we niger werden, so daß jetzt das Ende unseres Volkes abzusehen ist, das innerhalb weniger Generationen ausgestorben und vergessen sein wird. Ihr kennt ebenfalls die alte Prophezeiung, daß, wenn die beiden Hälften des Herzens ›Tag‹ und ›Nacht‹, Seite an Seite wieder auf ihren Platz auf dem Altar des Heiligtums gelegt werden, dann, von dieser Stunde an, dieses Volk wieder zur Größe anwachsen wird; und ihr wißt, daß eine Stimme in Beantwortung meiner Ge bete zu mir sprach und mir, Zibalbay, befahl, aus dem Lande des Herzens fortzuwandern und der zum Meer führenden Straße zu folgen, denn dort würde ich das finden, was verloren wurde. Dorthin also habe ich mich, nachdem ich die Er laubnis meines Rates, der Bruderschaft des Herzens, eingeholt hatte, nur von meiner Tochter, der Herrin Maya, begleitet, gewandt und auf meinen Reisen viele Leiden und Gefahren überstehen müssen, doch
seht! Ich habe gefunden, was verloren wurde, und es zu euch zurückgebracht, denn hier hängt es am Hals dieses Mannes, der Ignatio heißt; der mich aus den Ländern jenseits der Wüsten hierher begleitet hat.« Jetzt erhob sich ein Murmeln der Verwunderung aus der Menge, und Zibalbay machte eine kleine Pau se. »Von den Umständen, unter denen ich das Symbol gefunden habe, werde ich zu gegebener Zeit ausführ lich berichten, und zu jenen, die befugt sind, sie zu er fahren, nämlich den erwählten Mitgliedern der Bru derschaft des Herzens, im Heiligtum, am Tag des Steigens der Wasser, einem der acht Tage des Jahres, an welchem es dem Rat des Herzens gesetzlich er laubt ist, im Heiligtum zusammenzutreten. Zu dieser Stunde jedoch will ich mich mit anderen Fragen be fassen. Es ist euch bekannt, daß ich vor Antritt meiner Rei se Tikal, meinen Neffen, an meiner Statt die Herr schaft übertrug mit der Übereinkunft, daß er, wenn ich nach zwei Jahren nicht zurückgekehrt sein sollte, der Kazike des Volkes werden würde. Ich bin nach einem Jahr zurückgekehrt, um dieses vorzufinden: daß er sich bereits erlaubt hat, zum Kaziken gesalbt zu werden, und, noch schlimmer, daß er, der meiner Tochter anverlobt war, eine andere zur Frau genom men hat. Gestern abend hörte ich mit eigenen Ohren, wie er seinen Verrat in der Halle des Palastes ver kündete, und als ich aus der Bitterkeit meines Her zens heraus sprach, wurde mir, eurem Herrn, gedroht und erklärt, daß Tikal, nachdem er gesalbt worden sei, nicht mehr abgesetzt werden könne. Ich werde jetzt die gleiche Feststellung gegen ihn richten. Edle,
ich bin nicht gesalbt worden und habe ich nicht über euch und das Volk für viele Jahre geherrscht, und kann ich dann abgesetzt werden, ich, der ich kein Verräter an meinem Herrn bin, und auch kein Eides brecher, wie es mein Neffe ist?« Wieder machte er eine Pause, und einige der Zuhö rer riefen mit jenen, die Zibalbay begleitet hatten: »Nein.« Doch die meisten von ihnen blickten Tikal an und schwiegen. Nun erhob sich Mattai von seinem Platz hinter Ti kal und sagte: »Als einer, der mit der Salbung Tikals zum Kaziken zu tun hatte, als wir dich und die Her rin Maya tot glaubten, möchte ich dich, Zibalbay, bitten, bevor wir auf dieser Stelle des Altars dir ant worten, uns offen zu sagen, welchen Zweck diese Reise hatte, die du unternommen hast, und aus wel chen Gründen du diese beiden Fremden, die Ignatio und Sohn des Meeres heißen, mit dir brachtest und damit einen Verstoß gegen das uralte Gesetz be ginnst, welches besagt, daß jener, der einen Fremden in das Land der Stadt des Herzens bringt, des Todes sein soll, zusammen mit dem Fremden.« Als Zibalbay diese Frage hörte, fuhr er zusammen, denn an dieses Gesetz hatte er nicht gedacht, und er kannte nun die geschickte Falle, die Mattai aufgestellt hatte. Trotzdem antwortete er voller Stolz, da es in seiner Natur lag, direkt und offen zu sein. »Es steht dir schlecht an, Mattai, mich zu befragen, dir, der du dich als Intrigant und falscher Prophet erwiesen hast, der in den Sternen las, daß ich und meine Tochter tot sei en, während wir noch immer atmeten. Dennoch will ich dir antworten, und, da ich Ausreden und Lügen
hasse, all dies vor den Ohren des Volkes darlegen, auf daß es zwischen mir und deinem Herrn entscheiden möge. Als erstes möchte ich dir sagen, daß ich das Gesetz, von dem du sprichst, vergessen, und es dem Buchstaben nach gebrochen habe, oder, falls ich mich zu irgendeiner Zeit daran erinnert haben sollte, die Umstände mich dazu zwangen, es zu mißachten. Er fahrt also, daß dieser Fremde, Ignatio, von königli chem indianischem Geblüt ist und Hüter des Sym bols, das zu suchen ich ausgezogen war, und daß der weiße Mann, den ihr den Sohn des Meeres nennt, ein Bruder von ihm ist, und beide der Bruderschaft des Herzens angehören, der Herr Ignatio so als Herr des Ordens in dem fernen Lande, wie ich es hier bin. Die sen Herrn Ignatio habe ich zu mir gerufen, und er kam. Er kam und errettete mich und meine Tochter, gemeinsam mit seinem Gefährten, dem Sohn des Meeres, vor Schande und Tod in den Händen von Mördern, welche weiße Männer waren. Dann, nach dem wir ihnen entkommen waren, prüften wir ein ander und legten die Symbole Seite an Seite, und sie he! ›Tag‹ und ›Nacht‹ kamen zusammen und wurden eines. Nun berichtete ich ihm die Geschichte, wie es kam, daß ich weit von meinem Land entfernt wan derte, und er erzählte mir, was Ziel und Zweck seines Lebens seien. Und sie sind dieses: Das Joch zu schla gen, welches der weiße Mann den Indianern in den fernen Landen auferlegt hat, und ein mächtiges in dianisches Reich zu errichten, das sich von einem Meer zum anderen erstreckt, und von dem diese Stadt, das Herz der Welt, Zentrum und Hauptstadt sein soll. Dann schlossen wir einen Vertrag, mit ei nem Eid, der nicht gebrochen werden darf, und die
ser Vertrag lautete, daß der Herr Ignatio und der weiße Mann, sein Gefährte, von welchem er nicht getrennt sein will, uns hierher begleiten sollen, wo die Symbole an dem dafür vorgesehenen Ort zusam mengefügt werden müssen, damit die Prophezeiung sich erfülle und das Glück zu uns zurückkehre; daß ich ihm soviel von unseren Schätzen geben würde, welche nutzlos in den Kammern liegen, wie er brau chen mag, um Krieger zu bewaffnen und seine Ziele zu erreichen, und daß er uns dafür bringen würde, was wir viel nötiger brauchen als Gold und Edelstei ne: Männer und Frauen, mit denen wir Ehen einge hen können, damit unsere Rasse nicht länger dahin siecht, sondern sich erneut vermehrt und groß wird. Dieses, ihr Edlen, ist unser Vertrag, und dieses ist der Weg, den der Gott, der über uns herrscht, unse ren Füßen zu gehen befiehlt. Nehmt ihn an und wer det groß – oder weist ihn zurück und geht unter! Denn wisset, daß ich nicht für mich selbst spreche, der ich alt und dem Tode nahe bin, sondern für euch und eure Zukunft. Seid nicht verwirrt oder erstaunt, denn obwohl diese Dinge für euch neu sein mögen, mag es sehr gut sein, daß, nachdem der Rat des Her zens in der Nacht des Steigens der Wasser im Hei ligtum getagt hat, der Gott, den wir anbeten, der Namenlose Gott, unter dessen Führung alle diese Dinge geschehen sind, seinen Willen durch den Mund des Orakels kund tun und uns eröffnen wird, welche Rolle diese Fremden und ein jeder von uns in dem uns bevorstehenden Schicksal spielen sollen. Oh, ihr Edlen und mein Volk, laßt euch nicht euren Blick trüben und nicht eure Herzen verhärten, damit ihr nicht das Glück und die Zukunft verspielt, die vor
euch liegen! Ich habe um euretwillen so viel gewagt, wagt nun auch ihr ein wenig. Verschließt eure Ohren und eure Tore und erhebt euch in Rebellion gegen mich, und ich sage euch, daß von euch und eurer stolzen Heimat kaum noch eine Erinnerung zurück bleiben wird; doch wenn ihr mir freundlich gesinnt seid und auf meine Weisheit und den Willen der Götter hört, werden euer Ruhm und eure Macht sich über die ganze Welt erstrecken, ja! Ihr sollt wieder das sein, was ihr einst wart, wie die Sonne in all ihrer Pracht, und nicht mehr ein matter und erlöschender Stern. Ich habe gesprochen – wählt nun!« Er schwieg, und für eine Weile herrschte Schwei gen, das Schweigen des Verwunderns, denn die Ed len blickten einander an, und solche des einfachen Volkes, welche in Hörweite standen, starrten ihn mit offenem Mund an, da für sie, die sich nicht in politi sche Dinge einmischten, und überhaupt nur wenige eigene Gedanken aufbrachten, seine Worte keine gro ße Bedeutung hatten. Kurz darauf jedoch wurde die Stille gebrochen, als Tikal aufsprang und laut rief: »Wahrlich, sie waren weise, die da sagten, daß dieser alte Mann verrückt sei. Habt ihr gehört und verstanden, o Volk des Her zens? Dieses ist es, was ihr tun müßtet, um den Wil len Zibalbays zu erfüllen: Erstens müßtet ihr ihn wie der als Herrscher einsetzen und ihm alle Macht übertragen, und mich müßtet ihr zum Tode oder zu den Ketten verdammen; als nächstes müßtet ihr ihm den Gesetzesbruch vergeben – den Bruch jenes Ge setzes, das er vor allen anderen Menschen hätte ein halten müssen. Dann sollt ihr ihm eure Schätze aus liefern – die Schätze, die von euren Vorvätern im
Laufe vieler Generationen zusammengetragen wor den sind – damit er sie jenen wandernden Dieben übergebe, die er mit sich gebracht hat; und schließlich sollt ihr eure Tore öffnen, welche für tausend Jahre geheim gehalten worden sind, damit sie andere Diebe hierherführen können, denen ihr eure Frauen zur Ehe überlassen sollt, damit die Rasse anwachse. Sagt, wollt ihr all dieses tun, Kinder des Herzens?« Nun schrien alle Edlen, die hinter Tikal standen: »Niemals!«, und das Volk wiederholte diesen Ruf mit Donnerstimme, obwohl die meisten von ihnen kaum begriffen, worum es ging. Tikal hob die Hand, und es trat wieder Stille ein. »Ihr werdet es also nicht tun«, sagte er, »und wenig hätte ich euch geachtet, hättet ihr anders geantwortet. Was also wollt ihr tun? Sagt mir als erstes, wen ihr als euren Herrscher haben wollt, meinen Onkel, der ver rückt ist und euch in Schande und Verderben stürzen würde, oder mich, der ich geschworen habe, unsere uralten Gesetze aufrechtzuerhalten?« »Wir wählen dich, Tikal! Es lebe Tikal!« lautete die Antwort. »Ich danke euch«, rief er, »doch was soll nun mit diesem alten Mann geschehen, und mit denen, die er mit sich gebracht hat, um hier zu spionieren und uns auszurauben?« »Töte sie vor dem Altar!« schrien sie und stießen ihre Schwerter empor. Tikal überlegte einen Augenblick lang, dann deu tete er auf uns und sagte: »Ergreift diese Männer!« Auf sein Wort hin stürzten hundert oder mehr der Edlen, die offensichtlich instruiert waren, seinen Be fehl auszuführen, sich plötzlich auf uns. Als sie über
den offenen Platz heranstürmten, sah ich, wie der Señor an seinen Gürtel griff und sagte zu ihm: »Um der Liebe Gottes willen, lassen Sie das Messer stek ken, denn wenn Sie einen von ihnen berühren, wer den sie uns töten.« »Das werden sie ohnehin tun – aber wie Sie wol len«, antwortete er. Dann hatten sie uns erreicht, und alle Edlen, die Zibalbay zur Spitze der Pyramide gefolgt waren, wi chen vor ihnen zurück, so daß wir drei Männer und Maya alleine standen. »Feiglinge!« sagte Zibalbay verächtlich, zog seine Machete und machte den vordersten der Angreifer nieder – einen der führenden Edlen. Im nächsten Moment wurde ihm die Waffe jedoch aus der Hand geschlagen, und der Señor und ich wurden zum Altar geschleift, gefolgt von Zibalbay und Maya, an die je doch niemand Hand legte. »Was sollen wir mit diesen Männern tun?« schrie Tikal wieder. Und wieder antworteten die Edlen: »Tötet sie!« Also warfen sie uns zu Boden, und Männer mit Schwertern traten heran, um ein Ende mit uns zu ma chen, was sie auch ohne Zögern getan hätten, wenn nicht Maya vorgetreten wäre, sich über den Señor ge stellt und gerufen hätte: »Halt!« und mit einer so durchdringenden Stimme, daß sie innehielten. »Hört mich, Volk des Herzens!« sagte sie. »Wollt ihr, daß ein Mord auf eurem heiligen Altar verübt und er mit dem Blute unschuldiger Menschen besu delt wird? Ihr sprecht von gebrochenen Gesetzen. Gibt es nicht ein Gesetz in dieser Stadt, das besagt, daß niemand zum Tode gebracht werden soll, der
nicht von dem Kaziken und seinem Rat gerichtet wurde? Sind diese Männer gerichtet worden, und wenn ja, durch wen? Ihr sagt, daß mein Vater, euer rechtmäßiger Herrscher, abgesetzt ist. Wenn dem so sein sollte, so ist nicht Tikal der Erbe seiner Herr schaft, sondern ich bin es, die nach ihm herrscht, und ich habe kein Urteil über sie gesprochen!« Bei ihren Worten erhob sich ein Murmeln von Zweifel und Zustimmung, doch Tikal antwortete ihr, indem er sagte: »Herrin, das Gesetz, das du anführst, gilt für dich, für deinen Vater und für jeden Bürger des Herzens, selbst für den einfachsten, doch ist es nicht auf diese Männer anwendbar, denn sie sind wandernde Fremde und Spione, die nicht den Schutz unserer Gesetze anrufen können, und deshalb ist es rechtens, daß sie sterben.« »Es ist nicht rechtens, daß sie sterben!« antwortete sie leidenschaftlich. »Du, Tikal, hast die Macht meines Vaters an dich gerissen, und jetzt willst du deine Herrschaft mit einem abscheulichen Mord beginnen? Ich sage dir, daß diese Männer jedes Verbrechens un schuldig sind! Wenn jemand schuldig sein sollte, so sind es mein Vater und ich, und wenn jemand dafür büßen muß, so sind wir es. Außerdem ...«, fuhr sie mit funkelnden Augen fort, »wenn diese Männer, de nen wir sicheres Geleit zugeschworen haben, sterben müssen, will ich mit ihnen sterben, und ob das durch eure Hände oder die meinen geschehen mag, so soll der Fluch meines Blutes für immer und ewig auf euch kommen!« Während sie das sprach, riß sie einen juwelenbe setzten Dolch aus ihrem Gürtel und stand stolz erho benen Hauptes vor ihnen, die im Sonnenlicht blitzen
de Klinge in der Hand, und sie sah so wunderbar und so wild aus, daß die Edlen vor ihr zurückwichen und Hunderte der Menschen applaudierten und riefen: »Hört die Herrin Maya und gehorcht ihr! Sie ist der Kazike, und kein anderer!« Jetzt blickte Zibalbay, der seine Augen mit den Händen bedeckt hatte, auf und sagte: »Du hast recht, Tochter, da das Volk uns zurückweist und wir nicht einmal unsere Gäste schützen können, ist es besser, wenn wir mit ihnen sterben.« Und wieder bedeckte er seine Augen mit den Händen. Dann entstand eine Pause, und ich hörte leises Flü stern. Ich blickte auf und sah zwischen den Schwert klingen, die auf meine Kehle gerichtet waren, Nahua an der Seite ihres Gemahls stehen und auf ihn einre den. Sie standen so nahe bei mir, daß ich, dessen Ge hör schon immer sehr scharf war, und das jetzt durch die Furcht vor dem plötzlichen Tod noch mehr ge schärft wurde, einige ihrer Worte verstand. »Sie wird tun, was sie androht«, sagte Nahua, »und das wäre dein Ende; denn mag auch ihr Vater verhaßt sein, sie wird geliebt, und viele werden sich erheben, um sie zu rächen.« »Warum sollte sie sich wegen eines weißen Wande rers töten?« fragte er. »Wer weiß? Er ist ihr Freund, und es ist bekannt, daß Frauen ihr Leben für einen Freund hingegeben haben. Tu, was du willst, doch bin ich sicher, wenn Maya stirbt, werden wir nicht leben, um noch einen Sonnenaufgang zu sehen.« Damit trat sie von ihm fort und setzte sich wieder auf ihren Platz. Nun blickte Tikal den Señor an, der neben mir aus gestreckt auf dem Boden lag, und als ich sah, daß
Haß in seinen Augen stand, begann er zu zittern, da ich annahm, das Ende sei gekommen, also wandte ich den Kopf zur Seite und empfahl meine Seele der Ob hut des Himmels. Während ich betete, wandte Tikal sich an Maya und sagte: »Herrin, du hast das Gesetz angerufen, für diese Wanderer, für deinen Vater, und auch für dich, und nach dem Gesetz soll man mit euch verfahren. Morgen werden die Richter erwählt werden, die im Angesicht des Volkes das Urteil über euch sprechen sollen.« »Das kann nicht sein, Tikal«, antwortete sie ruhig, »da es nur ein Gericht gibt, das über uns vier urteilen kann, die wir alle Brüder des Herzens sind, und das ist der Rat des Herzens, der im Heiligtum tagt und nach acht Tagen zusammentreten wird, in der Nacht des Steigens der Wasser. Ist es nicht so, ihr Edlen?« »Wenn ihr zu den Brüdern des Herzens zählt, jeder von euch, dann ist es so«, antworteten sie. »So soll es denn sein«, sagte Tikal, »bis dahin je doch muß ich euch in Verwahrung halten. Würdet ihr bitte Mattai folgen, Herrin Maya und Herr Zibalbay. Wachen, bringt diese beiden Männer ins Wachhaus und haltet sie dort fest, bis ich zu euch komme!« Maya neigte den Kopf, wandte sich den Zuhörern zu und sagte mit klarer Stimme: »Lebt wohl, mein Volk. Wenn ihr uns nicht wiederseht, werdet ihr wis sen, daß mein Vater und ich von Tikal ermordet wor den sind, der sich an unseren Platz gesetzt hat, und euch überlasse ich es, unser Blut zu rächen!«
17
Der Fluch Zibalbays
Ich war sehr dankbar, daß ich mich vom Boden erhe ben und fühlen konnte, daß das Leben noch in mir war. »Das Tod war uns sehr nahe«, sagte der Señor mit etwas zwischen einem Schluchzen und einem Lachen, als wir Zibalbay und Maya in das Wachhaus folgten. »Er ist uns noch immer sehr nahe«, antwortete ich, »aber zumindest haben wir, falls Tikal es sich nicht noch anders überlegen sollte, ein paar Tage Aufschub gewonnen.« »Dank ihr«, sagte er und deutete mit einer Kopf bewegung auf Maya, als wir in das Wachhaus traten, einen kleinen Raum, der spärlich möbliert war und durch eine feste Tür verschlossen wurde. Sobald wir hineingetreten waren, wurde die Tür hin ter uns verriegelt, und wir waren allein. Zibalbay setzte sich und starrte an die Wand, als ob sie seine Sicht behindere, wir anderen jedoch blieben in der Nähe der Tür stehen und lauschten auf das Toben der Menge auf der Plattform. Offensichtlich waren die Menschen in hitzige Diskussionen verstrickt, denn wir konnten den Klang wütender Stimmen vernehmen, von Schreien und von eiligen Schritten, als die Menschen die Pyramide über die große Treppe verließen. »Du hast uns das Leben gerettet, und dafür schulden wir dir Dank«, sagte der Señor schließlich zu Maya, »doch sage mir, was werden sie jetzt mit uns tun?« »Das weiß ich nicht«, antwortete sie, »doch in die
ser Pyramide befinden sich geheime Kammern, in denen sie uns bis zum Tage der Gerichtsverhandlung verbergen können. Zumindest glaube ich, daß sie das tun werden, denn sie wagen es nicht, uns zu den Menschen hinauszulassen, damit wir keinen Aufruhr in der Stadt auslösen.« Bevor diese Worte ihre Lippen verlassen hatten, wurde die Tür aufgestoßen, und Tikal, Mattai und mehrere andere der großen Herren, die gegen Zibal bay standen, traten herein. »Was wünscht ihr von uns?« fragte Zibalbay, der aus seinem Traum aufschreckte. »Daß du mir folgst«, erklärte Tikal hart, »du und die anderen« – und mit leiser Stimme setzte er hinzu: »Vergib mir, Maya, daß ich diese Gewalt gegen dich und deinen Vater ausüben muß, doch ich habe keine andere Wahl, wenn ich euch vor der Rache des Vol kes retten soll.« »Es ist nicht die Rache des Volkes, die wir fürchten müssen, Tikal«, antwortete sie ruhig, »sondern dein Haß.« »Den zu beschwichtigen, in deiner Macht liegt«, sagte er mit leiser Stimme. »Es liegt in meiner Macht, ist jedoch nicht mein Wille«, antwortete sie und preßte die Lippen zusam men. »Komm, Cousin, führe uns zu dem Verlies, das du uns zugedacht hast!« »Wie du willst«, sagte er, »folgt mir!« Und er führte uns durch den Wachraum in eine Schlafkammer der Priester, die hinter ihm lag, zu dessen jenseitiger Wand, die von einem Vorhang verdeckt war. Dieser Vorhang enthüllte, als er zur Seite gezogen wurde, eine schmale Steintür, die Mattai, nachdem er
zuvor einige Lampen angezündet hatte, die dort be reit standen, mit einem Schlüssel öffnete, der an sei nem Gürtel hing. Einer nach dem anderen gingen wir durch diese Tür, wobei Tikal voranschritt, und Mattai und sechs der großen Herren uns folgten. Jenseits dieser Tür lag eine Treppe von zwanzig Stufen, und an ihrem unteren Ende eine Gittertür aus Kupferstä ben. Auf der anderen Seite dieser Tür befanden sich mehrere Treppen, die durch Absätze verbunden wa ren, und, in diese und jene Richtung, in die Tiefen der mächtigen Pyramide hinabführten. Schließlich, als meine Beine von dem Hinabsteigen so vieler Stufen müde wurden, erreichten wir eine weitere Gittertür, breiter, und schöner gearbeitet als jene, die wir bereits passiert hatten. Als sie sich klirrend hinter uns schloß, fanden wir uns in einer riesigen Halle, die im Herzen der Pyramide lag. Diese Halle war für unsere Ankunft vorbereitet worden, denn sie wurde von zahlreichen silbernen Lampen erleuchtet, und in einem Teil von ihr lagen Teppiche auf dem Boden, auf denen Tische und Stühle standen. So groß war dieser Raum, daß das Licht der Lampen ihn nur so matt erhellte wie Ster nenlicht, und als wir hindurchgingen, sahen wir, daß er eine Gewölbedecke aufwies, und daß sein Boden und die Wände aus fein poliertem, weißem Marmor bestanden. Einst, so erfuhren wir später, hatte er als Versammlungsraum für die Priester des Tempels ge dient, doch jetzt, wo es nur noch wenige von ihnen gab, wurde er nicht mehr benutzt, außer als Gefäng nis für Gesetzesbrecher hohen Ranges. Zu beiden Seiten befanden sich mehrere Türen, die zu Schlaf zimmern und anderen Räumen führten. Einige der
Türen standen offen, und als wir an ihnen vorbeigin gen, erklärte uns Mattai, daß sie zu unseren Schlaf räumen führten. Nachdem er verkündet hatte, daß uns bald Essen gebracht werden würde, verließen die Männer, angeführt von Tikal, den Raum, und wir hörten das dumpfe Klirren der Kupfertür und das Echo ihrer Schritte auf den endlosen Treppen, das schließlich verklang. Eine Weile standen wir reglos und starrten einan der schweigend an. Es war Zibalbay, der die Stille brach, und seine Stimme klang unheimlich in diesem großen Gewölbe. »Es ist jetzt seine Stunde«, sagte er und schüttelte seine Faust gegen die Treppe, über die Tikal ver schwunden war, »doch möge er darum beten, daß die meine niemals kommt.« Damit wandte er sich um, trat zu einem Sofa, warf sich darauf und vergrub das Gesicht in den Händen. Maya folgte ihm, beugte sich über ihn und ver suchte ihn zu trösten, doch er schickte sie mit einer Handbewegung fort, und sie kam zu uns zurück. »Dies ist ein finsterer Ort«, sagte der Señor halb flüsternd, denn hier wagte man kaum, laut zu spre chen, wegen der Echos, die von den Wänden zurück geworfen wurden, »doch obgleich er recht dunkel ist, scheint er mir doch sicherer als die Spitze der Pyra mide, wo es so viele Schwerter gibt.« Dabei deutete er auf einen kleinen Schnitt an seinem Hals. »Er ist sogar sehr sicher«, sagte Maya mit einem bitteren Lachen, »und sicher wird er unsere Knochen bewahren, bis das Ende der Welt kommt, denn durch jene Gitter und durch die Wachen, die vor ihnen ste hen, führt kein Weg in die Freiheit, und der Tod, der
uns im Licht der Sonne bedrohte, wird uns im Schat ten einholen. Habe ich euch nicht vor diesem irrsin nigen Abenteuer und der Suche nach der Stadt mei nes Volkes gewarnt? Ich habe euch beide davor ge warnt, doch wolltet ihr nicht auf mich hören, und jetzt sind meine Befürchtungen eingetroffen, und ihr werdet mit eurem Leben für eure Torheit und die meines Vaters bezahlen.« »Was sein muß, muß sein«, antwortete der Señor seufzend, »doch hoffe ich für meinen Teil, daß das Schlimmste vorüber ist und sie uns nicht töten wer den. Es war die Hitzköpfigkeit deines Vaters, der die ses Unheil über uns gebracht hat, doch vielleicht wird es ihn zur Vernunft bringen.« »Niemals!« antwortete sie und schüttelte den Kopf. »Denn die Leute haben recht, in dieser Hinsicht ist er verrückt, wie auch du, Ignatio, verrückt bist. Kommt, wir wollen uns unser Gefängnis genauer ansehen, denn ich bin noch niemals hier unten gewesen.« Sie nahm eine der Lampen auf, die in der Nähe standen, und schritt durch die Länge der Halle. An ihrem an deren Ende befand sich ebenfalls eine Gittertür, ähn lich der, durch die wir eingetreten waren, und durch sie wehte ein Luftzug. »Wohin führt sie?« fragte ich. »Das weiß ich nicht«, antwortete sie, »vielleicht ist dort ein Geheimgang zum Heiligtum. Jedenfalls ist die Pyramide so voll von Räumen und Kammern, daß sie in den alten Tagen für vielerlei Zwecke ge nutzt wurden, wie die Lagerung von Getreide oder Waffen, und als Grabkammern für Priester, von de nen Tausende hier ruhen. Jetzt aber sind sie leer und verlassen.«
Als wir wieder zurückgingen, blieb ich vor einer Holztür stehen, die halb offen stand und zu einem der Räume führte, von denen ich gesprochen habe. »Laßt uns hineingehen!« sagte Maya und stieß sie auf. Wir traten in einen kleinen Raum, dessen Wände mit Regalen bedeckt waren; jedes der Bretter war numeriert und mit Hunderten dick verstaubter Schriftrollen bedeckt. Maya nahm eine von ihnen auf und entrollte das Pergament, das ein wunderbar aus geführtes Manuskript in indianischer Bilderschrift zeigte. »Dies muß fast tausend Jahre alt sein«, sagte sie. »Ich kenne den Schriftstil. Nun, es wird uns jedenfalls nicht an geschichtlichen Werken mangeln, in denen wir lesen können, während man uns hier gefangen hält.« Sie warf die unermeßlich wertvolle Rolle ins Regal zurück und verließ die Kammer. Nach ein paar weiteren Schritten gelangten wir zu einer Tür, die verschlossen war, doch erwies sich ihr Holz als so morsch, daß ein Fußtritt sie aus ihrer Halterung löste, und wir traten in den dahinterlie genden Raum. Auch hier waren die Wände mit Re galen bedeckt, und auf einigen von ihnen lagen rötli che und graue Metallbarren. »Kupfer und Blei«, sagte der Señor, nachdem er ei nen Blick auf sie geworfen hatte. »Nicht doch«, antwortete Maya lachend, »sondern das, was die weißen Männer begehren, Gold und Sil ber. Sieh doch, was über den Regalen geschrieben steht.« Sie hielt ihre Lampe empor und las laut: »Rei nes Metall aus den südlichen Minen, reserviert für den Dienst an den Göttern im Tempel des Herzens, und in den Tempeln des Ostens und des Westens.
Von Gold so und so viel, von Silber, so und so viel.« Ich starrte, bis mir vor Gier die Augen aus dem Kopfe traten, denn hier, in diesem einen Raum, lag, vernachlässigt und vergessen, genug Reichtum, um meinen Plan dreimal durchführen zu können, aufge stapelt von den Vorvätern dieser seltsamen, halb vom Alter zerfressenen Rasse. Ah, wenn ich doch nur die Hälfte davon sicher über die Berge bringen könnte! Wie groß könnte dann meine Zukunft und die des Volkes sein, dem zu dienen ich lebe. »Vielleicht wirst du trotz allem noch gewinnen, Ignatio«, sagte Maya, die meine Gedanken lesen zu können schien, »doch, um ehrlich zu sein, fürchte ich, daß du nichts weiter gewinnen wirst, als eine Grab kammer in diesen düsteren Gewölben.« Sodann betraten wir mehrere Räume, die leer wa ren, oder nur mit den Resten mottenzerfressener Wandteppiche und seltsamer Möbelstücke gefüllt, bis wir schließlich in eine Kammer traten, oder, richtiger gesagt, in einen großen Wandschrank, der vom Bo den bis zur Decke mit goldenen Gefäßen von unge wöhnlichster, ältester Herstellungsform angefüllt war, die von den Priestern als wertlos beiseitegewor fen worden waren, aus welchem Grunde, kann ich nicht sagen. Vor diesem glänzenden Haufen stand ei ne Truhe, die unverschlossen war. Der Señor öffnete sie. Sie war bis zum Rand mit priesterlichen Schmuckgegenständen gefüllt, die aus Gold gearbei tet und mit großen Smaragden besetzt waren. Maya zog einen Gürtel aus der Truhe und reichte ihn mir. »Hier, Ignatio, du liebst doch solchen Glitzerkram. Er paßt gut zu deinem Gewand.« Ich nahm ihn und legte ihn an, jedoch nicht über
das Gewand, sondern darunter. Mein Freund, es ist die Schnalle jenes Gürtels, die jetzt Ihnen gehört, und die ich Ihnen vor einiger Zeit zeigte; und mit den an deren Steinen, denn mit denen, die ursprünglich darin waren, habe ich die Hacienda und all die Län dereien hier gekauft. Ermüdet von dem Anblick soviel nutzlosen Reich tums kehrten wir schließlich zu Zibalbay zurück, der noch genauso dasaß, wie wir ihn verlassen hatten, tief in Gedanken verloren. In diesem Augenblick wurde die Gittertür unseres Gefängnisses geöffnet, und mehrere Männer traten herein, von Wachen begleitet. Sie brachten ein üppi ges Mahl, das sie auf dem Tisch servierten und uns, als wir uns gesetzt hatten, vorlegten, jedoch ohne ein Wort zu sprechen. Nachdem wir gegessen hatten, räumten sie ab, füllten das Öl der Lampen auf und bereiteten unsere Schlafräume vor. Dann verneigten sie sich und gingen hinaus. Eine Weile saßen wir um den Tisch, Zibalbay und ich schweigend, Maya und der Señor in ein leises Gespräch vertieft, bis wir schließlich, von der Düsterkeit dieses Ortes überwäl tigt, wie auf gemeinsamen Beschluß aufstanden und unsere Schlafgewölbe aufsuchten, um dort Ruhe zu finden, so uns das möglich sein sollte. Wir schliefen, und erwachten, und schliefen wie der, konnten jedoch nicht sagen, ob es Tag oder Nacht war, da kein Licht von außen hereindrang; das einzige, das uns half, das eine vom anderen zu unter scheiden, waren die Besuche jener Männer, die uns das Essen brachten und uns bedienten. Ich glaube, es muß am frühen Nachmittag des Ta ges nach unserer Einkerkerung gewesen sein, daß Ti
kal uns aufsuchte, lediglich von vier Wachen beglei tet. »Nur ein kleiner Trupp«, sagte der Señor, als er sie hereinkommen sah, »doch ausreichend, um uns zu ermorden, da wir unbewaffnet sind (denn alle unsere Waffen waren uns abgenommen worden), falls das ihre Absicht sein sollte.« »Hab keine Angst, Freund!« sagte Maya. »Sie wer den uns nicht so offen ermorden.« Nun stand Tikal vor uns und verneigte sich, und Zibalbay, der, wie üblich, vor sich hinbrütend am Tisch saß, hob den Kopf und sah ihn an. »Was willst du, Verräter?« fragte er wütend, und sein Gesicht rötete sich. »Willst du uns töten? Wenn ja, so tu es rasch, denn dann bin ich um so eher am Busen jenes Gottes, dessen Rache ich auf dich herab rufen werde.« »Ich bin kein Mörder, Zibalbay«, antwortete Tikal mit Würde. »Wenn du sterben sollst, so wird das auf Befehl des Gesetzes geschehen, das du gebrochen hast, und nicht durch den meinen. Ich bin gekom men, um mit dir zu sprechen, wenn du bitte ein Stück beiseite treten würdest.« »Dann sprich vor diesen anderen, oder laß deine Worte ungesagt«, antwortete er, »denn nicht einen Schritt werde ich mit dir gehen, der zweifellos nur ei ne Gelegenheit sucht, mich in den Rücken zu ste chen.« »Es ist aber nötig, daß du hörst, was ich zu sagen habe, Zibalbay.« »Dann sage es, Verräter, oder geh!« Tikal überlegte für einen Augenblick und blickte zweifelnd Maya an, von deren Gesicht er ohnehin
kaum seinen Blick gelassen hatte. »Ist es dein Wunsch, daß ich mich zurückziehe?« fragte sie knapp. »Es ist nicht der meine«, antwortete Zibalbay. »Bleib, wo du bist, Tochter!« Nun zögerte Tikal nicht länger, sondern befahl den Wachen, die ihn begleitet hatte, außer Hörweite zu treten und sagte: »Höre, Zibalbay! Kurz vor der Versammlung auf der Pyramide habe ich deine Tochter, die Herrin Ma ya, getroffen und mit ihr gesprochen. Ich habe er er klärt, daß ich sie noch immer liebe und nur aus Gründen der Staatsräson, und weil ich sie für tot hielt, eine andere Frau genommen habe. Dann machte ich ihr dieses Angebot: Wenn sie sich bereit erklärte, meine Frau zu werden, würde ich Nahua, die ich ge heiratet habe, beiseite tun. Außerdem fügte ich hinzu, daß ich meinen Platz als Kazike für dich, Zibalbay, dem er rechtmäßig zusteht, aufgeben würde, und du ihn so lange innehaben solltest, wie du lebst, und ich mich weder dir, noch deinen Plänen in irgendeiner Weise widersetzen würde. Ich sagte ihr aber auch, daß, wenn sie sich weigern sollte, meine Frau zu werden, ich nichts aufgeben, sondern alle meine Macht dafür einsetzen würde, dich und sie und diese Fremden, eure Freunde, zu zermalmen. Sie antwor tete mir mit Verachtung und sagte, ich könne das Schlimmste tun, doch wolle sie nichts mehr von mir wissen. Was danach geschah, weißt du, Zibalbay, und du weißt auch, in welcher Gefahr du dich heute be findest, nun, da dir deine Macht genommen ist und dein Leben an einem Haar hängt.« Er schwieg, und Zibalbay, der diesen Worten mit
Erstaunen gelauscht hatte, wandte sich Maya zu und sagte streng: »Spricht dieser Mann Lügen, Tochter?« Als sie antworten wollte – auf welche Weise, kann ich nicht sagen – unterbrach Tikal: »Was nützt es, sie zu fragen, Zibalbay? Kann man erwarten, daß sie dir die Wahrheit sagen wird? Doch daß ich die Wahrheit gesprochen habe, kann jener Wanderer dir bestätigen, der neben dir steht, denn er war dabei und hat jedes meiner Worte gehört. Dieses Angebot habe ich ihr gemacht, und damit es keinerlei Zweifel gibt, mach ich es ihr noch einmal, und auch dir. Wenn sie mich heiratet, will ich um ihretwillen Nahua beiseite tun; ich werde meine Herrschaft niederlegen und dich wieder auf deinen Platz setzen, so lange du lebst, und dir die Freiheit einräumen, alle Torheiten zu begehen, welche die Götter zulassen mögen. Alles dies werde ich tun, weil ich sie, der ich von Jugend auf anverlobt war, mehr als jede andere liebe, weil sie das Licht meiner Augen und der Atem meiner Nase ist und ich ohne sie kein Liebesglück finden kann, so wie ich keines fand, als ich sie tot glaubte.« Zibalbay hörte seine Worte, erhob sich und streckte seine Hände zu der Gewölbedecke empor. »Ich danke dir, o Gott«, sagte er bewegt, »der du mir in Beantwortung meiner Gebete einen Weg aus dem Elend zeigst, in das ich geraten bin. Tikal, es soll so sein, wie du es wünschst, und wir werden unseren Frieden auf dem Altar des Herzens beschwören. Zweifellos wird es einige Schwierigkeiten mit Mattai und seinen Gefolgsleuten geben, doch wenn wir zu sammenhalten, werden wir mit ihnen fertig. Freu dich mit mir, Ignatio, mein Freund, denn jetzt wird der Same, den wir mit so viel Mühe gesät haben, gol
dene Früchte hervorbringen.« Hier hörte ich den Señor hinter mir stöhnen vor Verzweiflung und Wut, und ich wußte, daß, wie so viele andere, auch diese Vision, die mein Herz mit Jubel erfüllte, durch die Laune einer Frau schnell zu nichte gemacht werden würde. »Vergebung, Zibalbay«, unterbrach ich, »doch die Herrin Maya hat noch nicht gesprochen.« »Gesprochen?« rief er. »Was könnte sie denn sa gen?« »Was ich meinem Cousin Tikal bereits gestern sagte«, antwortete sie mit schmalen Lippen, und sehr leise, »daß ich nichts mit ihm zu tun haben will.« »Nichts mit ihm zu tun haben, Mädchen? Nichts mit ihm zu tun haben? Er ist dein Anverlobter, be greifst du denn nicht?« »Ich begreife sehr gut, Vater, doch für nichts, das mir auf dieser Welt angeboten werden könnte, werde ich mich einem Manne zur Ehe geben, der dich und mich so behandelt, wie Cousin Tikal es getan hat – einem Manne, der nicht imstande war, seinen dir ge gebenen Eid zu halten oder auch nur ein einziges Jahr auf mich zu warten.« »Hör auf mit diesem törichten Gerede!« sagte Zi balbay. »Tikal hat gesündigt, zweifellos, doch will er jetzt seine Sünde wiedergutmachen, und wenn ich ihm vergeben kann, so kannst du es auch. Beachte die Launen dieses Mädchens nicht, Tikal, sondern schick nach Tinte und Pergament, und laß uns unseren Ver trag aufsetzen, denn ich bin alt und habe wenig Zeit zu verlieren, und vielleicht wird, bevor ein Jahr ver gangen ist, das, was du dir mit Gewalt genommen hast, rechtens dein sein.«
»Ich habe alles bei mir, Herr«, sagte Tikal und zog eine Rolle aus seiner Robe. »Doch, entschuldige, gibt die Herrin Maya ihr Einverständnis?« »Ja, ja, sie gibt ihr Einverständnis.« »Ich gebe es nicht, Vater! Und wenn du mich mit jenem Mann vor den Altar schleifen solltest, werde ich dem Volke zuschreien, es soll mich beschützen, oder, wenn es mir nicht gelingen sollte, seine Hilfe zu erlangen, werde ich Zuflucht im Tode suchen – durch meine eigene Hand, wenn es sein muß.« Nun wandte Zibalbay sich seiner Tochter zu, und er zitterte vor Wut, doch nahm er sich plötzlich zu sammen und sagte: »Tikal, im Augenblick ist diese, meine Tochter verrückt; laß uns allein und komm in ein paar Stunden wieder, dann wird sie zur Vernunft gekommen sein. Geh jetzt, bitte, bevor Worte gesagt werden, die nicht vergessen werden können.« Tikal wandte sich um und ging hinaus, und bis die Gittertür am anderen Ende der Halle hinter ihm und seinen Wachen zukrachte, herrschte Stille. Dann sprach Zibalbay zu seiner Tochter. »Mädchen«, sagte er, »ich weiß, daß dein Herz und deine Lippen eine Lüge sprachen, als du uns sagtest, daß es wegen Tikals Vergeßlichkeit seines Eides und seines Ehegelöbnisses sei, daß du ihn nicht heiraten willst. Es gibt jedoch einen anderen Grund, über den du nicht gesprochen hast. Und der Grund ist dieser weiße Mann, der in seinem Lande James Strickland genannt wird. Du hast dir erlaubt, ihn mit Verlangen anzublicken, und du kannst sein Bild nicht aus deiner Brust reißen. Spreche ich wahr?« »Du sprichst wahr, Vater«, antwortete sie und legte ihre Hand in die des Señors, als sie es sagte. »Dir ge
genüber zumindest will ich nicht lügen.« »Ich danke dir, Tochter. Nun hör mich an! Mich dauert deine Lage, und auch die des weißen Mannes, falls er in dir tatsächlich mehr sehen sollte als nur ein Spielzeug, doch müssen eure Wünsche vor dem ge meinsamen Wohl zurückstehen. Wer und was bist du denn, daß du und deine Launen sich zwischen mich und die Erfüllung meines lebenslangen Traumes stellen sollten, zwischen dein Volk und seine Erlö sung? Sollen all diese Dinge zunichte werden, wegen der Launen eines liebeskranken Mädchens, dessen armselige Schönheit, die ihr zu schenken den Göttern gefallen hat, sie zuwege bringen könnte?« »Es scheint so, Vater«, sagte sie, »da in dieser An gelegenheit die Pflicht gegenüber mir selbst und ge genüber dem, den ich liebe, höher steht als die Pflicht gegenüber dir und deinem Plan. Alles andere kannst du, der du mein Vater bist, von mir haben, sogar mein Leben, doch meine Ehre gehört mir!« »Was soll man zu so viel Starrsinn sagen?« rief Zi balbay. »Sprich du, weißer Mann, und sage mir, daß du sie verstößt, denn bestimmt ist dein Herz nicht so sündig, daß es dich dazu verleitet, dieser Torheit zu zustimmen und dich zu deinem eigenen Schaden zwischen sie und ihr Schicksal zu stellen.« Nun waren aller Augen auf den Señor gerichtet, dessen Gesicht bleich wurde, und er antwortete lang sam: »Zibalbay, es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, doch das Schicksal deiner Tochter und das meine sind eines, also wie kann ich ihr befehlen, mich zu verlassen und sich dem Manne zur Ehe zu geben, den sie haßt.« »Doch scheint es, als ob du ihr befehlen könntest,
um deinetwillen ihr Verlobungsversprechen zu bre chen, o höchst ehrenwerter, weißer Mann«, sagte Zi balbay mit einem bitteren Lachen. »Höre, Freund Ignatio, denn du zumindest bist nicht verliebt: sag deinem Bruder und diesem aufsässigen Mädchen, wo ihre Pflicht liegt. Lehre sie, daß wir auf die Erde ge schickt wurden, um höheren Zielen zu dienen, als unseren eigenen Wünschen! Warte, bevor du mir antwortest und denke daran, daß in dieser Frage auch dein eigenes Schicksal verwoben ist! Erinnere dich, wie du viele Jahre lang gelitten und gekämpft hast, erinnere dich an alles, was du durchgemacht hast, um das zu gewinnen, was heute in deiner Reichweite liegt: Der Reichtum, der dich instand setzen wird, deine Ziele zu erreichen. Dort, in jenen Gewölben, wartet er auf deine Hand, und wenn er nicht ausrei chen sollte, werde ich dir mehr geben. Nimm ihn, Ignatio, nimm ihn, um damit deine Feinde zu beste chen und deine Armeen zu bezahlen, und werde ein König, ein gerechter König, vom Himmel gekrönt, um das Schicksal unserer Rasse zu vollenden! Sprich die Worte, die dieses Mädchen und ihren Geliebten unserem Willen beugen, und triumphiere, oder sage sie nicht und finde dein Ende als Dieb in den Händen Tikals! Nun sprich!« Ich hörte seine Worte, und mein Herz stand still in mir. Ach, seine Worte waren nur zu wahr, und dieses war der Wendepunkt meines Lebens. Wenn dieses Mädchen sich Tikal hingeben würde, der verrückt nach ihr war, würde alles gut sein und der Traum meiner Rasse könnte sich innerhalb von drei Jahren erfüllen, die Rache von Generationen an der Brut der Spanier vollzogen werden. Dort in jenen Gewölben,
nutzlos und vergessen, lagen die Schätze, die ich be nötigte, und drüben, in Mexiko, waren Tausende und Abertausende von Männern, die mittels dieser be waffnet und geführt werden konnten; doch zwischen mir und ihnen standen die Liebe dieser Frau und die Torheit meines Freundes. Oh, wahrlich! Wenn nur mein Herz mich gewarnt hätte, als ich ihr schönes Gesicht zum ersten Male sah, und mir eine Vorah nung des Unheils gegeben hätte, das sie über mich bringen würde. Bei ihr konnte ich nichts erreichen, denn wer kann eine Frau von ihrer Liebe oder ihrem Haß abbringen? – doch bei meinem Freund mochte das anders sein; er würde auf mich hören, wenn ich ihn anflehte, Vernunft anzunehmen, und ihm klar machte, daß nicht nur meine Hoffnungen, sondern auch mein Leben von seiner Antwort abhinge und kein wirklicher Mann das Recht habe, andere zu Tode zu bringen, damit er sich seinen Herzenswunsch er füllen könne. Außerdem war es auch für ihn besser, von diesem Mädchen getrennt zu werden, das nicht seines Blutes und seiner Hautfarbe war, und dessen Liebe früher oder später zu seinem Untergang führen mußte. Sicherlich war es gut, ihn zu bitten, sie zu dem Manne zurückgehen zu lassen, dessen Anver lobte sie gewesen war, und er würde einsehen, daß er auf meine Worte hören sollte. Diese Bitten waren fast schon auf meinen Lippen, als Maya, die meine Ge danken zu lesen schien, mich am Arm berührte und flüsterte: »Erinnere dich deines Eides, Ignatio.« Da fiel mir wieder ein, was ich ihr damals, in der Wüste, geschworen hatte, als sie durch ihren Mut das Leben ihres Liebsten rettete und erkannte, daß wieder eine Frau mein Untergang sein würde, da es besser war,
alles zu verlieren, als einen Eid wie diesen zu bre chen. »Zibalbay«, sagte ich, »es ist mir nicht möglich, für dich und für mich zu plädieren, doch nicht, um unse ren Untergang herbeizuführen, sondern weil ich ge schworen habe, komme, was da wolle, mich niemals zwischen diese beiden zu stellen. Heute werden, zum zweiten Male in meinem Leben, meine Pläne von der Leidenschaft einer Frau zunichte gemacht. Nun, so ist es vom Schicksal bestimmt, und so mag es sein!« Zibalbay antwortete mir nicht, sondern wandte sich an den Señor und sagte: »Weißer Mann, du hast von deinem Freunde Worte gehört, die dich tiefer be rühren sollten, als jedes Gebet. Willst du noch immer deinen Zielen anhängen und die Verrücktheit meiner Tochter ausnutzen? Wenn dem so sein sollte, so wis se, daß dein Triumph nur sehr kurz sein wird, denn wenn in wenigen Stunden Tikal zurückkommt, wer de ich ihm alles sagen und dich ihm überantworten, damit er mit dir macht, was er will. Und dann möge der Himmel dir gnädig sein, Wanderer, denn er ist von Natur aus rachsüchtig, und das Leben eines Mannes, der sich zwischen einen Herrscher und die Frau stellt, die jener besitzen will, ist nicht lang. Ant worte also, und zum letzten Male: wählst du den Tod?« »Ich wähle den Tod«, sagte er, ohne zu zögern, »wenn der Preis des Lebens ist, mein Heiratsverspre chen zu brechen und meine Braut einem anderen Manne auszuliefern. Es tut mir leid um dich, Zibal bay, und um dich, Ignatio, mein Freund, tut es mir noch mehr leid, doch ist es das Schicksal und nicht ich, welches dieses Unheil über euch gebracht hat.
Wenn schon Ignatio seinen Eid nicht brechen kann, um wieviel weniger kann ich den meinen brechen, den ich der Herrin Maya geschworen habe. Außer dem würde es uns in noch tieferes Unglück stürzen, wenn ich es täte, da eine solche Feigheit niemals Glück bringen kann. Deshalb werde ich, bis die Her rin Maya mich verstößt, in guten und in schlechten Zeiten, im Leben und im Tode, zu ihr halten.« »Und im Leben oder im Tode werde auch ich zu dir halten, mein Geliebter«, sagte sie. »Nimm solche Rache, wie du es willst, an uns, mein Vater, ja, wenn du es willst, so überantworte diesen Mann, zu dem mein Herz mich über die Berge und durch die Wü sten zog, dem Schwerte Tikals; doch wisse, daß er mich dann noch fester hält, als er es im Leben tut, denn ich werde ihm rasch in das Tal des Todes fol gen.« Jetzt, endlich, entlud sich die Wut Zibalbays, und sie war schrecklich. Er sprang auf, schüttelte die Fäu ste über dem Kopf seiner Tochter und verfluchte sie, bis sie in ihrer Angst vor ihm zurückwich und Schutz an der Brust ihres Geliebten suchte. »Wie mit meinem letzten Atemzuge«, schrie er, »rufe ich den Fluch unserer Götter, unseres Landes, unserer Vorfahren, und den meinen, deines Vaters, auf dich und deine Kinder herab. Mögen deine Sehn süchte in deinem Munde zu Asche werden! Möge der Tod sie ihrer Früchte berauben! Möge dein Herz stückweise brechen vor Reue und Kummer, und dein Name ein Zischen der Schande werden! Oh! Ich scheine deine Zukunft zu sehen, und ich sage dir, Tochter, daß du ihn erringen wirst, um dessentwillen du deinen Vater in Tod und Verderben bringst.
Durch Falschheit wirst du ihn erringen, und für eine Weile soll er an deiner Seite liegen, doch dies ist der Preis, den man von dir fordern wird, und den du be zahlen mußt: Der Untergang deiner Rasse und ihre Vernichtung durch deine Hand ...« Er rang keuchend nach Atem, und Maya fiel vor ihm auf die Knie und schluchzte: »Oh, Vater! Nimm diese Worte zurück und verschone mich! Hast du denn kein Mitleid für das Herz einer Frau?« »Ja«, sagte er, »so viel Mitleid wie du für meinen Kummer und mein weißes Haar hast. Warum sollte ich dich verschonen, Mädchen, die du nicht mich, deinen Vater, verschont hast? Mein Fluch ist gespro chen, und ich will dir noch sagen, daß er dir endlich das Herz brechen wird, ja! Und auch das Herz jenes Mannes, welcher mir deine Pflicht und deine Liebe geraubt hat.« Er hörte plötzlich auf zu sprechen, seine Augen wurden leer, er streckte die Arme aus und fiel schwer zu Boden.
18
Das Komplott
Der Señor und ich sprangen vor, doch zu spät, um ihn auffangen zu können; wir hoben ihn auf und betteten ihn auf ein Sofa. Maya, die uns über die Schultern blickte, sah sein verzerrtes Gesicht und den Schaum auf seinen Lippen. »Oh, er ist tot«, stöhnte sie. »Mein Vater ist tot, und er starb, als er mich verfluchte.« »Nein«, sagte der Señor, »er ist nicht tot, denn sein Herz schlägt noch. Bring Wasser, Maya!« Sie tat es, und fast zwei Stunden lang kämpften wir, ihn wieder zu Bewußtsein zu bringen, doch wa ren alle Mühen umsonst; das Leben war zwar ver blieben, aber es gelang uns nicht, ihn aus seinem Ko ma zu reißen. Schließlich, als wir, unserer fruchtlosen Arbeit müde, ausruhten, öffnete sich die Gittertür und Tikal trat wieder herein. »Was ist jetzt?« fragte er, als er Zibalbay auf dem Sofa liegen sah. »Schläft der alte Mann?« »Ja, er schläft«, antwortete der Señor, »und ich denke, daß er nicht mehr aufwachen wird. Die Worte, die er heute zu dir gesprochen hat, werden wahr, und das, welches du ihm mit Gewalt genommen hast, wird bald rechtmäßig dein sein.« »Nein«, antwortete Tikal, »rechtmäßig mag es der Herrin Maya gehören, obwohl es durch Gewalt das meine ist, falls sie es mir nicht aus freiem Willen übergibt. Doch sagt, wie ist es geschehen?« Jetzt begann ich hastig zu sprechen, aus Furcht, daß
der Señor zu viel sagen und so irgendein schnelles und furchtbares Ende über sich bringen mochte. »Er war völlig erschöpft von den Strapazen unserer Reise und den Aufregungen der letzten Tage. Nach dem du gegangen warst, begann er, über deine Vor schläge zu sprechen und erlitt plötzlich einen Anfall. Es kommt mir nicht zu, über diese Dinge zu spre chen, der ich nur ein Gefangener in einem fremden Lande bin, aber dennoch, Herr, wird es keinen guten Eindruck machen, wenn er, der einst der Kazike die ser Stadt war, unbetreut hier stirbt, weil die Men schen dann sagen könnten, daß du ihn ermordet hast. Habt ihr hier keine Ärzte, die man rufen könnte, um sich um ihn zu kümmern? Wir haben alles getan, was wir tun konnten, aber ohne Medikamente oder we nigstens ein Aderlaß-Messer ist wenig auszurichten.« »Ihn ermordet! Das werden sie in jedem Falle sa gen. Ja, wir haben Ärzte hier, und der beste und größte von ihnen ist Mattai, mein Schwiegervater. Ich werde ihn herschicken. Doch bevor ich gehe, Maya, hast du eine Antwort für mich?« Maya, die am Tisch saß und das Gesicht in die Hände vergraben hatte, hob den Kopf und sagte: »Ist dein Herz aus Stein, daß du mich zu einer solchen Stunde damit behelligst? Wenn mein Vater wieder gesund ist, oder tot, werde ich dir antworten, doch nicht vorher!« »So sei es, Herrin«, sagte er, »bis dahin werde ich warten. Und nun muß ich gehen, denn es wird Unru he in der Stadt geben, wenn diese Nachricht sich dort verbreitet.« Eine Weile verging, und dann erschien Mattai, ge folgt von einem Mann, der seine Medikamente und
Geräte trug. Ohne ein Wort trat er an das Sofa, auf dem Zibalbay lag, und untersuchte ihn beim Licht ei ner Lampe. Dann flößte er ihm Medizin ein und wartete, als ob er hoffte, daß er sich erhebe, doch Zi balbay rührte sich nicht. »Ein schlimmer Fall«, sagte Mattai. »Ich fürchte, daß er nicht mehr erwachen wird. Wie konnte das ge schehen?« »Willst du das wirklich wissen?« fragte Maya, die jetzt zum erstenmal sprach. »Dann befiehl deinem Gehilfen, hinauszugehen, und ich will es dir sagen. Mein Vater brach zusammen, während er mich in seiner Wut verfluchte.« »Und warum hat er dich verflucht, Herrin?« »Aus diesem Grunde: Während wir durch die Wildnis zogen, hat Tikal, mein Cousin und Anver lobter, eine Frau genommen, deine Tochter Nahua, die zur Herrin des Herzens gekrönt wurde. Doch hat es den Anschein, Mattai, daß er, obwohl er deiner Tochter Rang und Macht gab, ihr keine Liebe gibt, denn heute kam dein Schwiegersohn zu meinem Va ter und bot in Gegenwart aller hier an, ihn wieder auf seinen rechtmäßigen Platz zu setzen und ihn unbe hindert seine Pläne durchführen zu lassen, was im mer diese auch sein mochten, wenn ich mich nur be reit erklärte, seine Frau zu werden.« »Seine Frau zu werden!« sagte Mattai erstaunt. »Wie könntest du seine Frau werden, da er bereits verheiratet ist? Kann es denn zwei Herrinnen des Herzens geben?« »Nein«, antwortete Maya ruhig, »doch Tikal, mein Cousin schlug vor, deine Tochter entweder zu ver stoßen oder zu töten – und dich mit ihr – damit er
mich auf ihren Platz setzen kann.« Als nun Mattai das hörte, begannen seine Augen zu funkeln, und sein Bart schien sich vor Wut zu sträuben. »Das also schlug er vor!« sagte er keuchend. »Oh! Er soll sich nur vorsehen. Ich habe ihn auf sei nen Platz gesetzt, und vielleicht kann ich ihn wieder herabzerren. Fahr fort, Herrin!« »Er schlug es vor, und mein Vater nahm dieses Angebot an, denn da er wußte, daß du gegen ihn in trigiert hast, hatte er wenig Interesse für deine Ehre und dein Leben, und die deines Hauses, Mattai. Doch wenn mein Vater das Angebot annahm, so wies ich es zurück, da ich nichts mehr mit Tikal zu tun haben will. Daraufhin verfluchte mein Vater mich, und während er mich verfluchte, brach er zusammen.« »Du sagst, es sei nicht dein Wunsch, Tikal zu hei raten, Herrin. Willst du also einen anderen Mann hei raten?« »Ja«, antwortete sie und senkte den Blick, »ich liebe diesen weißen Mann, den ihr den Sohn des Meeres nennt, und seine Frau will ich werden«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Ja, ich will seine Frau werden, doch Tikal ist sehr mächtig, Mattai, und wenn ich keine Hilfe finde, könnte es sein, daß ich, um das Leben des Mannes zu retten, den ich liebe, in die Arme Tikals gezwungen werde. Gerade eben hat Tikal mich um eine Antwort gedrängt, und ich habe ihm gesagt, daß ich sie ihm geben werde, wenn mein Vater entweder wieder gesund oder tot ist. Vielleicht fällt es auf dich, mir zu sagen, wie meine Antwort lauten soll, denn allein und im Gefängnis bin ich nicht stark genug, um mich gegen Tikal stellen zu können. Sag mir, liebt das Volk mich genügend, um Tikal abzusetzen und mich
auf den Platz meines Vaters zu bringen, wenn er ster ben sollte?« »Das kann ich nicht sagen, Herrin«, antwortete er knapp, »doch du erwartest hoffentlich nicht, daß ich auf diese Weise meinen Ruin und den meiner Tochter herbeiführe. Ich will offen zu dir sein. Ich habe den Rat des Herzens für Tikals Pläne gewinnen können, und mein Preis dafür war, daß er meine Tochter hei rate, um dadurch ihre Liebe und meinen Ehrgeiz zu befriedigen. Ja, ich habe intrigiert, um Nahua zu er heben, sowohl um ihret- als auch um meinetwillen, da ich nach dem Kaziken der mächtigste Mann in der Stadt sein wollte. Wie also kann ich mich nun um wenden und ihn absetzen, und meine Tochter und mich mit ihm? Und wenn ich es täte, was würde in kommenden Tagen mein Schicksal in deinen Händen sein? Nein, ich suche zwar Rache an Tikal, der mich und die meinen so tödlich beleidigt hat, doch muß das in einer anderen Form geschehen als in dieser. Sag mir nun, Herrin, was ist es, das du dir am mei sten wünschst: Durch das Recht deiner Geburt der Kazike dieser Stadt zu sein, oder jenen Mann zu hei raten, den du liebst?« »Ich wünsche mir, den Mann zu heiraten, den ich liebe«, antwortete sie, »und mit ihm dieser Stadt zu entfliehen und in jene Länder zu gehen, in denen weiße Menschen leben. Und ich wünsche, daß seinem Freund, Ignatio, soviel Gold gegeben werden soll, wie er braucht, um sein Vorhaben in jenem Küstenlande durchführen zu können. Wenn dieses erreicht werden kann, sollen Tikal und Nahua und ihre Nachkommen von mir aus bis zum Ende der Welt in der Stadt des Herzens herrschen.«
»Deine Wünsche sind bescheiden, Herrin«, sagte Mattai, »und es dürfte mir nicht schwer fallen, sie zu erfüllen. Ich werde dich jetzt verlassen, da ich Zeit zum Nachdenken brauche, doch wenn Tikal zurück kommen sollte, so sage ihm weder ja noch nein, bevor wir wieder miteinander gesprochen haben. Und was euch betrifft, Fremde, so denkt daran, daß euer Leben von eurer Verschwiegenheit abhängt. Lebt wohl!« Zwei weitere Tage vergingen, so jedenfalls schätzten wir nach der Anzahl der Mahlzeiten, die uns gebracht wurden, doch weder Tikal, noch Mattai kehrten zu rück. Andere Ärzte kamen und sahen nach Zibalbay, der auf dem Sofa lag wie einer, der in tiefen Schlaf versunken ist, doch obwohl sie mehrere Medizinen an ihm versuchten, zeigte sich keine Wirkung. In der Nacht des zweiten Tages versammelten wir uns um das Sofa, beobachteten ihn und sprachen niederge schlagen miteinander, denn die Einsamkeit, die Dun kelheit, und die Furcht vor dem bevorstehenden Tode hatten unseren Mut gelähmt, und selbst der Señor hatte seine Fröhlichkeit verloren, und die Gegenwart des Geliebten vermochte Maya keinen Trost mehr zu geben. »Ach!« sagte sie, »es war ein unheilvoller Tag, als wir uns drüben im Lande Yucatan trafen, und, Freund, keine Gabe könnte unglückbringender sein, als die meiner Liebe zu dir, für die, welche einen so geringen Wert hat, du verdammt bist so teuer bezah len zu müssen. Und auch bei dir, Ignatio, ist das Glück nicht, dem vom Schicksal zum zweiten Male bestimmt wurde, seine Hoffnungen an einer Frau scheitern zu sehen. Sag mir nun, mein Freund« – und
sie ergriff den Señor beim Arm –, »würde es nicht besser sein, wenn wir dieser Torheit ein Ende mach ten und ich mich Tikal hingäbe? Dann könnte ich für euch beide plädieren und verlangen, daß ich, bevor ich mich ihm gebe, mit eigenen Augen sähe, daß ihr sicher jenseits der Berge seiet, mit soviel Gold, daß ihr für den Rest eures Lebens reich sein würdet. Und dann brauchtet ihr euch auch keine Sorgen mehr um mich zu machen oder glauben, mich in Schande zu rückgelassen zu haben, denn sobald ihr gegangen wäret, würde ich mich in die Arme eines anderen Herren werfen, dessen Name Tod ist, um dort meine Ruhe zu finden, bis du eines noch ungeborenen Tages zu mir kommen wirst.« »Hör auf, so zu reden, Maya!« sagte der Señor und zog sie zärtlich an sich. »Was immer auf uns zukom men mag, werden wir gemeinsam durchstehen, denn selbst wenn ich so niedrigen Charakters sein sollte, meine Sicherheit um einen solchen Preis zu erkaufen, würde mein Leben ohne dich mir nichts wert sein, und ich würde lieber an deiner Seite sterben, als al lein weiterzuleben. Es ist meine Schuld, daß wir in diese Lage gekommen sind, denn wenn ich deinem Rat gefolgt wäre, hätten wir keinen Fuß in die Stadt des Herzens gesetzt. Doch wurde ich von Neugier übermannt, da ich diesen Ort zu sehen wünschte, so wie ich jetzt wünsche, ihn nicht mehr sehen zu müs sen; außerdem hätte ich, wenn wir umgekehrt wären, Ignatio allein weitergehen lassen müssen. Darum bleibe guten Mutes, meine Geliebte, denn obwohl dein Vater im Sterben liegt und wir uns in großer Ge fahr befinden, bin ich sicher, daß wir aus diesen Ver liesen entkommen und im Licht der Sonne glücklich
sein werden.« Dann küßte er sie auf die Lippen und wischte ihr die Tränen ab, die über die Wangen rannen. In diesem Augenblick hob ich den Kopf und sah Mattai in der Tür stehen – denn wir hatten uns nicht in der Halle versammelt, sondern in Zibalbays Schlaf raum –, der uns mit Neugierde und einem sanfteren Gesichtsausdruck anblickte. »Seid gegrüßt«, sagte er, »und vergebt mir, daß ich so spät komme, doch mein Geschäft ist geheim, und so etwas wird am besten bei der Nacht erledigt. Wie geht es Zibalbay?« »Er lebt«, antwortete ich, »mehr kann ich nicht sa gen, da er bewußtlos ist. Zweifellos wird er sterben. Doch komm und sieh selbst.« Mattai trat zu dem Bett und untersuchte den alten Mann, hob ein Augenlid hoch und fühlte nach dem Herzschlag. »Er kann nicht mehr lange leben«, sagte er dann, »aber der Tod ist sein bester Freund. Doch zu mei nem Geschäft. Es herrscht Unruhe in der Stadt, und seltsame Gerüchte gehen unter vielen Menschen von Mund zu Mund, von denen viele behaupten, daß Ti kal Zibalbay ermordet habe, und sie verlangen, daß du, Herrin, vor sie gebracht wirst, damit sie dich an seiner Statt zum Kaziken ernennen. Bei diesem Stand der Dinge ist Tikal von den Führern seiner Partei klargemacht worden, daß er, ganz egal, was er täte, sich niemals von dem Makel der Schuld an Zibalbays Tode würde befreien können, und es darum besser sei, dich ebenfalls zu beseitigen, und natürlich auch diese Fremden, deine Freunde, da es dann nieman den mehr gäbe, der ihm seine Rechte streitig machen
könnte. Diese Lösung wurde ihm bei einer Geheim sitzung des Rates, die heute nachmittag stattfand, sehr dringend angeraten, und er hatte auch schon den Befehl für eure Ermordung gegeben, ihn jedoch wie der zurückgenommen, bevor der Bote den Palast ver ließ, und ich sah, daß sein Herz schließlich den Sieg über seinen Verstand gewann und er es nicht ertra gen konnte, dich auf solche Art zu verlieren, Herrin, obwohl er als Begründung angab, daß er sich nicht die Hände mit dem Blute einer besudeln wolle, die so unschuldig und so schön sei. Trotzdem will ich es dir nicht verbergen, Herrin, und auch euch nicht, Frem de, daß euer Leben in sehr ernster Gefahr ist und ihr sozusagen nur von einer Stunde zur anderen lebt.« Er schwieg, und Maya fragte mit leiser Stimme: »Hast du keinen Plan, um uns retten zu können, Mattai?« »Warum sollte ich einen Plan haben, Herrin, wo ich und mein Haus durch deinen Tod so große Vorteile haben würden?« »Ich weiß nicht, warum du einen Plan haben soll test, alter Mann«, sagte der Señor. »Doch sage ich dir, daß du gut daran tätest, einen zu schmieden, denn sonst wirst du diesen Raum nicht lebend verlassen.« Damit sprang er zwischen Mattai und die Tür. »Wenn wir schon ermordet werden sollen wie Vö gel in einem Käfig«, fuhr er fort, »so wird zumindest dir als erstem der Hals umgedreht. Verstehst du?« »Ich verstehe, Sohn des Meeres«, antwortete Mattai und wich vor dem finsteren Gesicht des Señors zu rück, und vor seiner Hand, die er ausgestreckt hatte, wie um ihn zu ergreifen. »Doch möchte ich auch dir etwas zu verstehen geben, nämlich, daß Männer
draußen auf mich warten, die mich suchen kommen werden, wenn ich nicht bald zurückkehre, und dann ...« »... werden sie deine Leiche hier finden«, unter brach der Señor, »und was nützen dir alle deine Intri gen und Pläne, wenn du eine Leiche bist?« »Recht wenig, wie ich offen zugeben muß«, ant wortete er. »Dennoch wird meine Tochter, die ich mehr liebe als mich selbst, einen Teil des Gewinns ernten, und damit müßte ich mich in diesem trauri gen Falle zufriedengeben. Doch sei nicht so voreilig, weißer Mann. Ich habe gefragt, warum ich einen Plan haben sollte. Ich habe nicht gesagt, daß ich keinen habe.« »Wenn du einen hast, dann laß ihn uns ohne lange Vorreden hören«, sagte der Señor. Mattai verneigte sich, während er antwortete: »Dein Wille ist der meine, doch weiß ich nicht, wie mein Plan der Herrin Maya gefallen wird, und des halb möchte ich euch klar machen, daß es zu ihm nur eine Alternative gibt: euer aller Tod beim morgigen Sonnenaufgang. Euer Leben liegt in meiner Hand, und wenn ich dazu gezwungen werden sollte, um meine Tochter und mich zu retten, werde ich nicht zögern, euch zu töten.« »Und ich nicht mehr, dich zu töten, alter Mann«, sagte der Señor grimmig, »denn denke daran: Wenn du deine Pläne nicht so machst, daß wir sie akzeptie ren können, wirst du diesen Raum mit den Füßen voran und einem gebrochenen Genick verlassen.« Wieder verneigte sich Mattai und fuhr fort: »Nur auf eine Weise ist es Tikal möglich gewesen, den Auf ruhr unter dem Volke zu beschwichtigen: Durch das
Versprechen, daß die Herrin Maya vor dem Rat des Herzens erscheinen soll, im Heiligtum des Namenlo sen Gottes, in der Nacht des Steigens der Wasser, welches der erste Tag ist, an dem der Rat in dem Hei ligtum zusammentreten darf, und später, bei der Morgendämmerung, vor den Augen der ganzen Stadt. Die Worte Zibalbays haben in den Herzen der Menschen Widerhall gefunden, obwohl sie ihn nie derschrien, als er zu ihnen sprach, und sie zu wissen verlangen, was geschehen wird, wenn die Prophezei ung sich erfüllt und die beiden auseinandergeschnit tenen Hälften des Herzen-Symbols wieder Seite an Seite auf ihren Platz auf dem Altar gelegt werden. Zi balbay hat ihnen gesagt, er glaube, daß der Gott dann seine Absichten offenbaren und darlegen würde, wel che Rolle jeder von euch bei dem bevorstehenden Schicksal spielen solle, und das Volk – ja! Und auch viele der Edlen, und selbst der Rat des Herzens – er warten irgendein Wunder oder Zeichen, wenn ›Tag‹ und ›Nacht‹ zusammenkommen, und das, was ge trennt war, wieder vereint wird, denn sie beginnen zu glauben, daß Zibalbays Irrsinn vom Himmel kommt, und daß die Stimme des Himmels ihn auf seine Reise geschickt hat.« Mattai überlegte eine Weile und fuhr dann fort: »Herrin, ich bin alt, und ich habe für viele Jahre den Dienst an den Göttern durchgeführt, ihnen Opfer dargebracht, sie in Gebeten angefleht, doch habe ich niemals erlebt, daß die Götter darauf eine Antwort erteilt hätten oder die Stimmen der Unsterblichen zu menschlichen Ohren sprechen gehört. Es scheint je doch, daß der Götter viele sind, deshalb mögen diese Fremden ihre eigenen haben, und so, Herrin, kommt
es, daß ich mich in meinem Alter frage, ob es über haupt Götter gibt außer jenen, die der Verstand des Menschen sich aus dem Nichts geschaffen hat, oder nach dem Vorbild seiner eigenen Leidenschaften. Ich kann es nicht sagen, doch glaube ich, daß ich, wenn ich mich in einer so fatalen Lage befände, wie ihr heute, nicht zögern würde, diesen stummen Göttern eine Stimme zu verleihen.« »Was willst du damit sagen?« fragte Maya. »Dieses: Wenn die getrennten Hälften des Herzens auf ihrem Platz auf dem Altar zusammengefügt wer den, sollten die Götter, so es welche gibt, ein Zeichen geben. Da nun ich, als Hüter des Heiligtums, weiß, daß das uralte Symbol auf dem Altar hohl ist, und es sich dabei öffnen sollte, könnte es sein, daß eine Schrift darin gefunden werden mag – eine alte Schrift der Götter, in der Voraussicht auf die heutige Zeit abgefaßt – die für uns, die wir im Dunkeln wandeln, wie eine Laterne sein soll; oder es könnte auch sein, daß nichts gefunden wird. Nun habe ich beim Durch suchen der frühesten Urkunden des Tempels eine gewisse Schrift entdeckt, und ich meine, daß euer Glück groß sein wird, wenn diese Schrift in der Nacht des Steigens der Wasser in jenem Symbol liegen soll te. Hier ist sie ...« Er zog eine kleine Platte aus mattem Gold aus seiner Robe, die völlig mit Hieroglyphen bedeckt war. »Lies vor!« sagte Maya. Und Mattai las: »Dies ist die Stimme des Namenlosen Gottes, die sein Prophet im Jahre der Erbauung des Heiligtums vernahm und auf eine Goldtafel eingravierte, welche er an einer geheimen Stelle im Symbol des Heilig
tums verbarg, auf daß sie verlesen werde zu jener weit entfernt liegenden Stunde, wenn das Verlorene gefunden wird und ›Tag‹ und ›Nacht‹ wieder zu sammenkommen. Zu dir spricht sie, ungeborene Tochter eines zukünftigen Herrschers, deren Name der Name eines Volkes ist. Wenn mein Volk alt ge worden und seine Zahl kleingeworden, und sein Herz mutlos geworden ist, dann, Jungfrau, nimm dir als Ehegemahl einen Mann der Rasse des weißen Gottes, des Sohnes des Meeresschaums, den du durch die Wüste hierher führen sollst, auf daß mein Volk wieder gedeihe und stark werde; und das Land soll dein Kind sein, und das Kind des Gottes, von Osten bis Westen, und von Norden bis Süden, weiter als meine Adlerschwingen mich zwischen Sonnenauf gang und -untergang tragen können.« Er hörte auf, zu lesen, und es herrschte Stille, als wir einander anblickten, verblüfft über den Wagemut und die Schläue dieses alten Priesters und Intrigan ten. Es war Maya, die als erste sprach. »Du hast diese Schrift gefälscht, Mattai«, sagte sie kühl, »und jetzt willst du, daß ich sie in das Symbol lege, da du eingedenk des Fluches bist, der im Ritual des Öffnens des Herzens geschrieben steht und der sich gegen jenen richtet, der es wagen sollte, seine Mysterien zu entweihen, oder im Heiligtum eine Lü ge auszusprechen, oder bei seinem Symbol falsch zu schwören. Kurz gesagt: Du fürchtest nicht die Rache des Gottes, du fürchtest die Rache des Ordens.« »Ehrlich gesagt, Herrin, fürchte ich beides, denn wenn ich den Namenlosen Gott beleidige, wer kann wissen, wie er sich rächen mag? Trotzdem: Ihr müßt eure Wahl treffen – und zwar schnell, denn wenn ihr
diesen Plan zurückweist, werdet ihr bis morgen wis sen, oder vielleicht sollte ich eingedenk der Worte des weißen Herrn lieber sagen, werden wir bis morgen wissen, welche Wahrheit in den Religionen liegt.« Nun wandte Maya sich uns zu und sagte: »Ratet mir, meine Freunde, denn ich weiß nicht, was ich antworten soll. Den Glauben an die Götter meines Volkes habe ich verloren, und es ist der eure, bei dem ich Trost suche, dennoch kommt mir diese Tat schrecklich vor, denn selbst wenn wir keine Anbeter des Namenlosen Gottes sind, so sind wir alle doch Brüder der uralten Mysterien des Herzens, und so etwas zu tun bedeutet einen Bruch unserer heiligen Eide. Kommt, wir wollen darüber abstimmen, und du, Ignatio, der du der älteste und weiseste von uns bist, sollst als erster deine Meinung sagen.« »So sei es«, antwortete ich. »Was mich betrifft, so stimme ich gegen diesen Trick. Von den Göttern dei nes Volkes weiß ich nichts und halte ich noch weni ger, doch ich bin der Herr unseres Ordens in meinem Lande und will nicht gegen seine Gesetze verstoßen. Diese Tat zu begehen, wäre eine große Lüge, und eine Lüge ist Sünde im Angesicht des Himmels. Alle Men schen müssen sterben, doch wünsche ich, diesem Schicksal mit von Lügen unbefleckten Händen entge genzugehen. Trotzdem, da bei dieser Frage sowohl eure Leben auf dem Spiel stehen als auch das meine, werde ich mich, wenn von uns dreien zwei für diesen Plan stimmen sollten, ihrem Beschluß beugen. Doch wenn nur einer von euch dafür sein sollte, dann muß er sich dem unseren beugen.« »Gut, so soll es sein«, sagte Maya. »Und nun, Ge liebter, sprich du und sage uns, ob du den Tod und
ein reines Gewissen wählst, oder das Leben und mei ne Liebe, um es dir zu verschönen« – und sie blickte ihn mit ihren wunderschönen Augen an und hob die Arme, als ob sie ihn an sich ziehen wollte. Nun, obwohl der Señor nicht sofort antwortete, wußte ich, Ignatio, als ich dieses sah und ihre Worte hörte, daß es aus war, denn das Herz eines verliebten Mannes kann es nicht über sich bringen, dem Flehen und den Zauberkünsten einer Frau zu widerstehen. Schließlich sprach er, und als er sprach, rötete sich sein Gesicht vor insgeheimer Scham. »Mir bleibt keine Wahl«, sagte er. »Ich fürchte mich nicht, zu sterben, wenn es sein muß, doch wäre ich kein Mann, wenn ich den Tod wählte, wenn es dein Wunsch ist, daß ich lebe. So wie Ignatio sage ich, daß die Götter dieser Stadt für mich nichts weiter sind, als Idole; und etwas, das nicht existiert, zu betrügen, ist unmöglich. Was das andere betrifft, so bin ich zum Bruder des Herzens nicht auf eigenen Wunsch ge worden, sondern durch einen Zufall, und daher wird mein Gewissen in diesem Punkte kaum belastet. Nur muß ich, um ein Partner dieses Komplotts zu sein, ei ne Lüge aussprechen oder nach einer Lüge handeln, und das habe ich noch nie zuvor getan. Trotzdem meine ich, daß ein Mann statt eines grausamen und geheimen Todes sein Leben und seine Liebe wählen darf, und seine Hände auch rein bleiben, wenn er als Preis dafür einen harmlosen Trick benutzen muß. Aber, Maya, in dieser wie in allen anderen Angele genheiten, werde ich tun, was du wünschst, und wenn du meinst, daß es besser sei, zu sterben, so laß uns sterben und allem ein Ende machen!« »Nein«, antwortete sie mit einem Aufglühen wilder
Leidenschaft, »ich halte es für besser, daß wir leben, fern von dieser unglücklichen Stadt, und dort in un serer Liebe glücklich sind. Um deinetwillen ist der Fluch meines Vaters auf mich gekommen, und da nach werden alle Verwünschungen von Göttern oder Menschen leicht wie Federn sein. Wenn das, was zu tun wir im Begriff stehen, eine Sünde ist, so will ich sie um deinetwillen und unserer Liebe willen gerne begehen; und auch, weil ich dann für eine Weile im Glück leben kann, bevor ich in mein Grab steige. Blick meinen Vater an, der dort liegt; während seines ganzen langen Lebens hat er seinem Gott gedient, und siehe, wie sein Gott ihn in der Stunde seiner Not behandelt hat. Laß seine Gebete uns beiden dienen, denn ich habe keine für solche falschen Götter, wenn ich sie nicht für meine Zwecke verwenden können sollte. Wenn dieses, das zu tun wir im Begriff stehen, eine Sünde ist, und die Vergeltung der Sünde auf den Fersen folgt, so soll sie auf die Häupter meines Volkes fallen, das mich ohne Grund ermorden wollte, auf das Haupt Mattais, der mich um seines eigenen Vor teiles willen dazu verleitete, und, wenn das nicht rei chen sollte, auch auf mein Haupt. Mich kümmert die kommende Vergeltung nicht, wenn ich dich nur für ein einziges, kurzes Jahr meinen Ehemann nennen darf.« »Worte bösen Omens«, murmelte Mattai und er schauerte ein wenig. »Worte, wie sie nur eine Frau aussprechen kann; doch sei es so!« Während er sprach, glaubte ich, ein leises Stöhnen von dem Mann auf dem Sofa zu hören. Ich blickte aufmerksam zu Zibalbay hinüber, nur um festzustel len, daß ich mich geirrt hatte, oder zumindest, daß
der Laut nicht von seinen Lippen gekommen sein konnte, denn er lag steif und bewußtlos da wie eine Leiche. »Die Wahl ist getroffen«, sagte ich bedrückt, »was nun, Mattai?« »Folgt mir!« sagte er. »Ich werde euch einen ge heimen Gang zeigen, der von hier in das unter die sem Raum gelegene Heiligtum führt. Nein, ihr braucht euch keine Gedanken zu machen, wenn ihr ihn allein laßt, denn so noch Leben in ihm sein sollte, so ist es in festem Schlaf. Doch wartet, wo ist der Ta lisman? Den werden wir nämlich brauchen.« »Ich habe die eine Hälfte«, antwortete ich, »und die andere hängt an Zibalbays Hals.« »Hol sie!« befahl er Maya. »Nein, du mußt es tun!«
19
Das Sakrileg
Nun beugte Maya sich über die reglose Gestalt ihres Vaters und löste den Talisman von seinem Hals. »Ich komme mir vor wie ein Leichenfledderer«, sagte sie. »Denk daran, daß du es tust, um die Lebenden zu retten und tröste dich damit«, antwortete Mattai. »Kommt jetzt, laßt uns gehen, denn die Zeit vergeht!« Als wir das andere Ende der großen Halle erreicht hatten, und er das Kupfergitter mit einem Schlüssel öffnete, der an seinem Gürtel hing, sagte er: »Nehmt eine Lampe, jeder von euch!« Als die Gittertür hinter uns lag, wandte er sich um und drückte sie zu, doch nicht ganz. »Warum läßt du die Tür einen Spaltbreit auf?« fragte ich. »Weil niemand hier ist, der uns folgen könnte«, antwortete er, »und wer weiß, was geschehen mag? Falls wir gezwungen sein sollten, aus dem Heiligtum zu fliehen, sind offene Türen leichter zu passieren als solche, die geschlossen sind.« »Wer könnte uns zwingen, aus dem Heiligtum zu fliehen?« fragte ich. Mattai zuckte die Achseln und ging weiter, ohne zu antworten. Wir gingen mehrere Treppen hinab, durch Korridore und geheime Türen, bis wir schließlich vor einer soliden Marmorwand standen. Über diese Wand tastete Mattai mit seinem Daumen hinweg, bis er eine Stelle traf, die, als er auf sie drückte, beisei
teglitt und ein Schlüsselloch freigab, in das er einen kleinen silbernen Schlüssel einführte. Nun drückte er wieder auf den Marmor, ein Paneel, das zwei Fuß breit und sechs Fuß hoch sein mochte, glitt zur Seite, und wir sahen Licht durch die Öffnung strömen. Er winkte uns, ihm zu folgen, und trat durch den Spalt in der Wand, und einer nach dem anderen folgten wir ihm in das Heiligtum des Namenlosen Gottes und standen jenseits der Wand, drängten uns zusammen und hielten einander an den Händen, denn der Raum war unheimlich, und seine absolute Stille und seine Feierlichkeit erfüllte uns mit Furcht. Das erste, worauf unser Blick fiel – was nur natür lich war, da es in die gegenüberliegende Wand ein gelassen war und weil das Licht durch es herein strömte, das den Raum erfüllte – war das wunderbare und geheimnisvolle Sinnbild der Stadt des Herzens. Dieses Sinnbild war eine riesige Maske von außerge wöhnlicher und furchterregender Schönheit, aus po lierter Jade gefertigt und ähnlich jenen, die in den Ruinen von Palenque und anderen verlassenen in dianischen Städten gefunden werden, und von denen niemand das Alter bestimmen kann. Die riesige, grü ne Maske hing über der Eingangstür des Heiligtums und war so geschnitzt, daß sie das Antlitz eines We sens darstellte, das in seiner unirdischen Würde we der einem Manne noch einer Frau glich und den Ausdruck grausamer Gelassenheit trug. Die dicken Lippen waren zu einem verächtlichen Lächeln verzo gen, und zwischen ihnen glänzten die aus weißem Email gefertigten Zähne; die Nase war raubvogelar tig, mit weit geblähten Nüstern, die den Weihrauch der Anbetung einzusaugen schienen; und die Stirn,
mit dem Abdruck einer in scharlachrote Farbe ge tauchten Frauenhand in der Mitte, war breit, niedrig und fliehend. Unter den finster zusammengezogenen Brauen blickten juwelenbesetzte Augen hervor. Durch diese Augen, wie durch die ganze Fläche der Maske strömte Licht, die das Gesicht wie von innen heraus leuchten ließ, als ob es lumineszent wäre, denn die Jade war so transparent wie der feinste Ala baster, und hinter ihr brannten zwei große Lampen, die nach der Sonne und nach dem Mond benannt wa ren. So sah das Sinnbild des Namenlosen Gottes aus, das wir nun zum ersten Male sahen, das zwar ein Ge sicht hatte, doch keine Gestalt. Der Geist, Mund des Herzens, dem jeder geringere Gott Untertan war, Äu ßerer der Gedanken des Herzens, Herr der Macht, Bewohner des Dunkels hinter der Sonne, Sucher der Geheimnisse des Todes. Gnadenlos war der Gott die ses Volkes, und ohne Zorn, der in ewige Gelassenheit gekleidet, so lautete die Fabel dieser Menschen, in ei nem Heim der Dunkelheit ruhte und die Schatten himmlischer und irdischer Ereignisse in seinem Spie gel des Mondes beobachtete, und sie dann dem Her zen berichtete, welches seine Seele war. Das Siegel ei ner blutigen Frauenhand war auf seine Stirn ge drückt, weil die Frau das Symbol des erneuerten Le bens ist, die Hand das Zeichen des Wollens und der Kraft, dieses Wollen in die Tat umzusetzen, und durch Blut und Leid muß jedes Ziel erreicht werden. Doch der Namenlose erfüllte keine Ziele, das war die Aufgabe geringerer Götter. Im Anbeginn dachte das Herz, und der Mund stieß seinen Atem aus und gab der Erde damit Leben, und brachte sie dazu, zwi
schen den anderen Himmelskugeln zu kreisen, und nun beobachteten die Augen, immer lächelnd, wäh rend die Erde und jene, die auf ihr leben, emsig an ih rem Untergang arbeiten, bis ihre Kraft schließlich er lahmt und vergeht, und dann, so sagen die Priester, werden Herz und Mund und Augen denken und sprechen und suchen, und auf ihren Befehl hin wird sich eine neue Welt aus der Leiche der alten erheben, und neues Leben aus den Leben jener, die auf ihr wohnten. Das war der Grund dafür, weshalb dieses Volk, obwohl sein Glaube mit seinen nachlassenden Kräf ten schwächer wurde, in Ermangelung eines anderen das dreifältige Schicksal ohne Namen anbetete, das es für den Herrn aller Götter und Menschen hielt. Des halb hatten diese Menschen, vor vielen Generationen, an diesem Orte, den zu entweihen wir gekommen waren – für sie der heiligste auf Erden – Sinnbilder eines Herzens, eines Mundes und zweier Augen als Symbole seiner Attribute aufgestellt. Die Decke des Heiligtums, die nicht sehr hoch war, bestand aus einem Gewölbe, einer Nachbildung des Himmelsbogens, und auf ihr waren eine goldene Sonne, eine silberne Mondsichel und die Sterne des Firmaments. Seine Wände bestanden aus Platten ei nes wunderbaren Steins, der als mexikanischer Onyx bekannt ist, die in Mannshöhe mit einem Fries von Hieroglyphen und Darstellungen der niedrigeren Götter in allen denkbaren Stellungen der Anbetung verziert waren, alle in Gold gegossen und in die Wand eingelassen. Die Einrichtung war sehr schlicht, sie bestand lediglich aus Hockern, allerdings aus wertvollen Hölzern, die einen dicken Überzug von
Goldbronze aufwiesen, sowie einem kleinen Tisch, auf dem aus Rinde gefertigte Papierbogen lagen, da neben Pinsel aus Schilfrohrfasern und Näpfe mit ver schiedenen Pigmenten, wie sie für die Bilderschrift dieses Volkes gebraucht werden. Am anderen Ende der Kammer stand ein Altar aus schwarzem Marmor, um welchen eine Schrift aus goldenen Lettern verlief, und auf diesem Altar lag etwas, das mit einem Tuch bedeckt war. Eine Minute oder länger standen wir schweigend und blickten diese Wunder an. Dann machte Mattai eine ungeduldige Geste und sagte: »Laßt uns das tun, was zu tun wir hergekommen sind, denn nun ist das Sakrileg begangen, und es ist zu spät, es sich anders zu überlegen.« Während er so sprach, trat er an den Altar, hob das Tuch auf und enthüllte die Darstellung eines Her zens, das aus Blutstein gefertigt war, und dessen Adern aus Gold bestanden. Im Zentrum dieses Her zens befand sich eine kleine, flache Vertiefung, die aus seiner Substanz ausgebohrt worden war. »Dies ist die Legende«, sagte Mattai, der noch im mer im Flüsterton sprach, »daß wenn die beiden Hälften eines bestimmten Talismans in diese Höh lung gelegt werden, das Symbol sich öffnen und das enthüllen wird, was seit vielen Generationen, seit es von Cucumatz vor Tausenden von Jahren geschaffen wurde, darin verborgen ist, und es liegt die Wahr scheinlichkeit der Wahrheit in dieser Weissagung, da sich goldene Scharniere an den Seiten des Symbols befinden. Die eine Hälfte des Talismans hat nun seit vielen Generationen hier geruht, bis Zibalbay sie mit sich nahm, um nach der anderen Hälfte zu suchen,
doch hat das Symbol sich nie geöffnet. Dennoch bin ich sicher, daß es sich öffnen wird, sobald man den ganzen Talisman in diese Öffnung einfügt. In dieser Angelegenheit ist jedoch noch mehr zu befürchten als die Rache der Götter, denn wie ich lese – es steht in diesen Lettern geschrieben, mit welchen der Altar eingefaßt ist –, verkündet eine uralte Weissagung, daß dann, wenn das Symbol von seinem Platz ge nommen wird, auf dem es seit undenklich langer Zeit ruht, das Schleusentor sich öffnen wird und die Was ser des Sees sich in die Stadt ergießen und sie und ih re Einwohner vernichten werden.« »Aber das Schleusentor kann sich doch nicht öff nen, wenn es nicht geschlossen ist, noch können die Wasser während der trockenen Jahreszeit herein strömen, wenn sie nicht bis zur Höhe der Mauern stehen«, erwiderte Maya. »Das können sie nicht, Herrin, doch mögen andere Dinge geschehen. Warum ist das Herz hier aufbe wahrt? War es nicht, damit seine Verehrer in der Stunde höchster Not den Tod wählen konnten, statt sich einer Niederlage und der Sklaverei zu ergeben? Und stand diese Wahl ihnen nur während der Mo nate des hohen Wasserstandes offen? Sei gewiß, daß dann, wenn in dieser Minute eine verzweifelte oder frevelnde Hand dieses Symbol vom Altar risse, ent weder die Wasser durch die Fundamente der Stadt empordringen oder unterirdische Feuer auflodern würden, um sie zu verbrennen. Dennoch, obwohl ich sicher bin, daß es etwas dieser Art gibt, glaube ich nicht, daß wir etwas zu befürchten haben, da die Schrift besagt, daß zur Auslösung des Verhängnisses das Symbol mit aller Kraft vom Altar gerissen werden
muß. Und nun an unsere Arbeit: Fremder, gib der Herrin Maya deine Hälfte des alten Talismans, damit sie sie, zusammen mit jener, die sie besitzt, in die da für vorgesehene Höhlung des Symbols einsetzen kann.« Mit einem schweren Seufzer, da ich einsah, daß es zu spät war, um zurückzutreten, löste ich den Sma ragd von meinem Halse und reichte ihn Maya, die ihn Seite an Seite mit seinem Gegenstück auf ihre be bende Handfläche legte und damit zum Altar trat. Hier stand sie ein paar Sekunden lang, dann flüsterte sie kaum vernehmbar: »Die Angst hat von mir Besitz ergriffen, und ich wage nicht, es zu tun.« »Es muß aber getan werden, und nicht durch mich«, sagte Mattai, »denn sonst wäre alles umsonst gewesen, und einige von uns werden in den Tod ge hen.« Dabei sah er mich auffordernd an. »Ich werde es nicht tun«, antwortete ich und hielt seinem Blick stand, »nicht, weil ich eure Götter fürchte, sondern weil ich mein Gewissen fürchte.« »Dann werde ich es tun«, sagte der Señor ent schlossen, »da ich weder das eine, noch das andere fürchte. Gib mir diese Dinger, Maya.« Sie tat es, und er ließ die beiden Hälften des Talis mans in die dafür vorgesehene Höhlung des Symbols fallen. Ich erinnere mich, daß das Geräusch, das sie verursachten, als sie gegen den Stein klirrten, in der Totenstille so laut klang, daß ich zusammenfuhr. Einige Sekunden lang, es mochten zwanzig gewe sen sein, standen wir still und starrten auf den Altar, doch das Symbol rührte sich nicht. Dann sagte ich: »Es sieht so aus, Mattai, als ob du deinen gefälschten Schrieb an einer anderen Stelle
verstecken müßtest, da dieses Herz sich nicht öffnen läßt, oder, wenn doch, so haben wir den Schlüssel nicht gefunden.« »Wartet einen Moment!« sagte der Señor. »Viel leicht sind die Federn eingerostet.« Und bevor einer von uns ihn daran hindern konnte, preßte er seinen Daumen auf den zweigeteilten Smaragd und drückte so kräftig zu, daß das Symbol auf dem Marmoraltar erzitterte. »Vorsicht!« schrie Mattai, und als das Echo seiner Stimme verklang, fuhren wir alle vor Erstaunen zu sammen, denn siehe! Das Herz öffnete sich wie der Kelch einer Blume. Langsam öffnete es sich, bis der geteilte Talisman aus seiner Höhlung fiel und die beiden aufklappen den Hälften des Symbols sich auf die Marmorplatte des Altars senkten und etwas enthüllten, das in seiner Mitte lag und im Licht der Lampen wie ein Stück Glut wirkte. Wir traten zögernd näher und betrach teten es, und standen dann schweigend und ein we nig furchtsam, denn in der Höhlung des Herzens, auf eine quadratische Goldtafel gebettet, die mit Bilder schrift bedeckt war, glühte ein rotes Juwel, das wie ein menschliches Auge geformt war und uns anzu starren schien. »Wenn wir noch länger so herumstehen, wird es uns Angst machen«, sagte der Señor hart und blickte dabei umher. »Es gibt keinerlei Grund, sich vor einem roten Stein zu fürchten, der wie ein Auge geschnitten ist.« »Wenn du das glaubst, weißer Mann«, antwortete Mattai mit einer Stimme, deren Zittern er bei aller Mühe nicht ganz unterdrücken konnte, »so nimm
dieses heilige Objekt heraus und gib mir die Schriftta fel, die darunter liegt. Warte, nimm zuerst diese, leg sie in das Symbol und setz das Auge wieder darauf.« Damit reichte er ihm die gefälschte Schrifttafel. Der Señor tat, was ihm gesagt worden war, und es geschah auch kein Wunder, als er das unheimliche Juwel anhob und die echte Schrifttafel gegen die fal sche austauschte. »Lies!« sagte Maya, als er sie Mattai übergeben hatte, »du besitzt doch Wissen in alten Schriften.« »Vielleicht sollte sie lieber ungelesen bleiben«, sagte er zweifelnd. »Nein«, antwortete sie, »laß uns das Schlimmste wissen. Lies sie, ich befehle es dir!« Nun las er mit leiser, feierlicher Stimme diese selt samen Worte: »Das Auge, das geschlafen hat und erweckt worden ist, sieht das Herz der Sündigen. Ich sage euch, daß in der Stunde des Untergangs meiner Stadt alle Wasser des Heiligen Sees nicht ausreichen werden, eure Sünden fortzuwaschen!« Als wir diese Worte hörten, wurden unsere Gesichter grau im Licht der Lampen, denn mochten die Götter dieses Volkes auch falsch sein, fühlten wir doch, daß die Stimme eines wahren Propheten von dieser an klagenden Schrifttafel zu uns sprach, und daß wir ei ne Vergeltung auf uns herabbeschworen hatten, de ren Ausmaß wir nicht einmal erahnen konnten. »Habe ich euch nicht gesagt, daß es klüger gewesen wäre, die Schrift ungelesen zu lassen?« sagte Mattai keuchend und ließ die Tafel aus seiner Hand fallen,
als ob sie eine Schlange wäre. Das Klirren, mit dem sie zu Boden fiel, schien uns aus unserem bösen Traum zu erwecken, denn der Señor fuhr zu ihm herum und sagte scharf: »Was kommt es darauf an, was auf diesem Ding steht, du Halunke. Du hast sie doch genauso gefälscht, wie die andere!« »Ah! Ich wünschte, dem wäre so«, antwortete Mattai, »aber wenn das Verhängnis über euch her einbricht, und über uns alle, werdet ihr erfahren, ob ich diese uralte Schrift gefälscht habe oder nicht.« Er hob sie vom Boden auf und barg sie in seiner Robe. »Schließe das Herz, weißer Mann«, setzte er dann hinzu, »und gib die beiden Hälften des zerteilten Ju wels jenen zurück, die sie tragen!« Der Señor tat es und deckte das Tuch wieder über das Symbol, so daß der Altar so war wie zuvor. »Nun laßt uns gehen«, sagte Mattai, »und seid glücklich, denn mag auch jenes Auge unsere Sünde gesehen haben, so ist sie doch zumindest den Blicken der Menschen verborgen geblieben. Zweifellos ist die Rache der Götter gewiß, doch die der Menschen ist schnell.« Während er sprach, wandten wir uns der Tür zu, um das Heiligtum zu verlassen, als Maya plötzlich gellend aufschrie und zu Boden gefallen wäre, wenn der Señor sie nicht aufgefangen hätte. Und sie hatte guten Grund zum Schreien, denn dort, in der schma len Öffnung der geheimen Tür, durch welche wir eingetreten waren, in sie eingerahmt wie eine Leiche in ihrem Sarg, stand eine weiße Gestalt, die wir im er sten Augenblick für die eines rächenden Geistes hielten, so geisterhaft waren die Gewandung, die
schneeweißen Kopf- und Barthaare, und das hagere, finstere Gesicht. Und im nächsten Moment erkannten wir, daß es wahrhaftig ein Geist war, der Geist Zibal bays, oder vielmehr sein Körper, der von der Grenze des Todes zurückgekehrt war, um unser Sakrileg zu beobachten, bevor er sie für immer überschritt. Ja, es war Zibalbay, denn während er scheinbar bewußtlos auf seinem Bett in der Kammer gelegen hatte, waren seine Sinne hellwach gewesen, und oh, was mußte er gelitten haben, als er, der Hohepriester des Namenlosen Gottes, uns das Sakrileg an seinem Heiligtum planen hörte. Dann, nachdem wir ihn ver lassen hatten, verliehen Wut und Verzweiflung ihm die Kraft, die Lähmung abzuschütteln, die ihn so fest gebunden hatte, und uns zu folgen, wenngleich sie nicht imstande waren, auch seine gefrorene Zunge zu lösen. Er war uns gefolgt, hatte sich mühsam die Treppen herabgequält, hatte durch endlose Korridore die offenstehende Tür erreicht, denn der Weg war ihm selbst im Dunkeln vertraut, bis er endlich den geheimen Zugang des Heiligtums erreichte. Hier verließ ihn seine Kraft jedoch wieder. Unfähig zu sprechen oder sich zu rühren, hatte er an der Wand gelehnt und alles gesehen und gehört, was geschehen war. Oh! Niemals werde ich den Ausdruck von Wut in diesem zitternden Gesicht vergessen, oder die Agonie und das Entsetzen in seinen zerquälten Augen, als sie sich mit den unseren trafen. Kein Fluch konnte so entsetzlich sein wie jener Blick, mit dem er seine Tochter ansah, und kein zorniger Gott oder Dämon hätte dem Blick eines Menschen schrecklicher er scheinen können als die hochgewachsene Gestalt die
ses sterbenden Mannes, der selbst im Tode noch ver suchte, die Ehre seiner Götter zu schützen, die wir in ihrem Allerheiligsten besudelt hatten. Niemals habe ich einen so entsetzlichen Anblick erdulden müssen, und ich bete darum, daß ich so etwas nie wieder se hen möge, weder in dieser Welt, noch in der näch sten. Der sterbende Zibalbay sah unsere Furcht und tor kelte auf seine Tochter zu, die geballten Fäuste über seinen Kopf erhoben. Ein paar Sekunden lang stand er so vor ihr, während sie sich an der Brust ihres Ge liebten barg und zu ihm emporstarrte wie ein Vogel zu einer Schlange, während er über ihr hin und her schwankte, wie eine Schlange, die zustoßen will. Dann, plötzlich, drang mit Blut untermischter Schaum aus seinem Munde, und er sank tot zu ihren Füßen nieder, in einer Stille sterbend, die schreckli cher war als jeder Laut. Von dem, das nun folgte, brauche ich nicht zu schreiben. Und ich kann es auch nicht, denn so groß war mein Entsetzen ob dieser Szene, und so stark die Belastungen, denen ich während jener Stunden aus gesetzt war, daß ich nur wenig Erinnerung an das habe, was nach Zibalbays Tod geschah, bis ich mich völlig erschöpft auf dem Bett meiner Gefängniszelle liegend fand. Irgendwie war es uns gelungen, Maya zu beruhi gen; irgendwie waren wir jenem schrecklichen Hei ligtum entronnen und hatten sie und den Körper ih res toten Vaters über die engen Treppen und Korri dore in die Halle hinaufgeschafft, wo wir den Leich nam auf das Bett legten. Dann hatte Mattai uns ver lassen, und ich erinnere mich an nichts weiter, bis
zum nächsten Morgen, als die Edlen und Hofschran zen erschienen, um bei ihrem verstorbenen Kaziken die Totenwache zu halten und ihn einzubalsamieren. Die folgenden beiden Tage vergingen sehr langsam für uns drei, niedergedrückt, wie wir waren, von der lautlosen Dunkelheit unseres Gefängnisses und den Erinnerungen an jene schreckliche Nacht. Die Liebe zwischen Maya und ihrem Vater war zwar niemals sehr tief gewesen, da sie nicht im Gleichklang zuein ander gestanden hatten, doch jetzt, da er tot war, trauerte sie um ihn, um so mehr vielleicht, da er im Haß und sie verfluchend gestorben war. Nach und nach überwand sie ihre abergläubischen Ängste, die von der Schrifttafel in dem Symbol hervorgerufen worden waren, doch die Verwünschungen ihres Va ters konnte sie niemals vergessen, und obwohl sie willens war, diese um ihrer Liebe für den Señor wil len auf sich zu nehmen, lag doch, wie ich glaube, die Erinnerung daran nun wie ein Schatten zwischen ih nen. »Oh! Warum habe ich dich jemals geliebt?« klagte sie. »Was hast du mit mir zu tun, dessen Rasse und Gesetz und Geschick dich so weit von mir trennen?« Und dennoch liebte sie ihn nur noch mehr. Ich war ebenfalls unglücklich, denn obwohl ich nicht an diese Omen glaubte, oder an die Ergüsse to ter Propheten und die Tricks lebender Scharlatane, fühlte ich, daß das Unglück, das mich in der Vergan genheit verfolgt hatte, noch immer an mir klebte. Zi balbay war tot, und die Frau, die unvermeidliche Frau, hatte mir das Herz meines Freundes genommen und mich und meine Pläne in den Strudel ihrer Lei
denschaft gezerrt, aus dem ich, wenn überhaupt, nur zerbrochen und erledigt entkommen würde. Doch rief ich die Geduld meiner Rasse herbei und ertrug diesen geheimen Kummer, so gut es mir möglich war, gab den beiden Liebenden Rat und Trost, die, in ihre eigenen Zweifel und Sorgen verstrickt, natürlich kaum an mich und meine zunichte gemachten Ziele dachten. Schließlich trugen sie den Leichnam Zibalbays hin aus, um ihn in seine Leichenhülle aus Gold zu stek ken und ihn mit dem von alters her überlieferten Pomp neben denen seiner Vorväter in der Halle der Toten aufzustellen. Maya war untröstlich und weinte, doch ich war froh, ihn nicht mehr sehen zu müssen, und das traf, wie ich meine, auch auf den Señor zu, dessen Lebensmut angesichts von so viel Reue und Trauer zu wanken begann. An jenem Tage – es war der Tag vor der Nacht des Steigens der Wasser, an dem wir vor dem Rat des Herzens im Heiligtum erscheinen sollten – kam Tikal, um uns zu besuchen. Vor Maya verneigte er sich tief, den Señor und mich aber blickte er mit wütendem Blick an – mit dem Blick eines Mannes, der uns töten würde, wenn er es wagte. Als erstes erklärte er ihr mit vielen schönen Worten und leere Phrasen sein Beileid zum Tode ihres Vaters. Dafür sagte sie ihm Dank, setzte jedoch, mit einem Aufflammen ihres al ten Geistes ein gewisses Sprichwort ihres Volkes hin zu, das in etwa besagt, daß der Tod eines Menschen der Atem des anderen sei. »Mein Vater war dein Feind, Tikal«, sagte sie dann, »und jetzt, da er tot ist, kannst du in Ruhe schlafen und herrschen.«
»Nicht ganz so, Herrin«, antwortete er, »da er einen noch gefährlicheren Rivalen meiner Macht zurück gelassen hat, nämlich dich. Ich will vor dir nicht ver hehlen, was du ohnehin bald erfahren wirst, nämlich, daß ein großer Teil der Bevölkerung, und mit ihnen auch viele der Edlen, mich der Ermordung deines Vaters beschuldigen und verlangen, daß ich abgesetzt werde, damit du an meiner Statt als Kazike der Stadt des Herzens eingesetzt werden kannst. Noch vor we nigen Tagen hätte ich ihre Schreie zum Schweigen bringen können, indem ich den Befehl gegeben hätte, dich zu töten, doch jetzt ist es zu spät dazu, weil seit dem die Zeit für dich gearbeitet hat und dein Ende zweifellos auch das meine heraufbeschwören würde. Als wir uns das letztemal trafen, Cousine, habe ich dir eine gewisse Frage gestellt, welche du mir zu be antworten versprachst, wenn dein Vater tot oder ge sundet sein würde, und heute bin ich gekommen, um deine Antwort zu hören. Als Zibalbay lebte, hatte ich vieles, das ich ihm, und dir, für deine Hand anbieten konnte, und ich habe es großzügig angeboten. Einen so hohen Preis war mir deine Hand wert, als sie mir verloren schien, daß ich bereit war, meine Macht her zugeben, zu ertragen, daß dein Vater die Gesetze brach, und mir den Haß Mattais, seiner Tochter und seiner Partei zuzuziehen. Jetzt muß ich ein niedrige res Angebot machen: Die gleiche Macht für dich, und für deine Freunde, was immer sie wünschen mögen. Solltest du mich zurückweisen, so ist dieses die Al ternative: Bürgerkrieg in der Stadt, bis einer von uns beiden vernichtet ist, und sofortiger Tod als das Los dieser Fremden. Doch flehe ich dich an, Maya, mich nicht zurück
zuweisen, da ich dir noch etwas anzubieten habe: meine unsterbliche Liebe. Schon als Kind habe ich dich geliebt, Maya, obwohl du mich immer recht kühl behandelt hast, und jetzt liebe ich dich mit jedem Ta ge mehr. Wahrlich, ich habe geglaubt, daß du und dein Vater in der Wildnis umgekommen wäret, denn damals glaubte ich Mattai, welchen ich jetzt als Schurken erkannt habe, und Mattai schwor, daß es so in den Sternen geschrieben stünde. Trotzdem hätte ich keine andere Frau geheiratet, da mein Herz über deinen Verlust blutete, wenn Mattai diese Heirat nicht als den Preis für seine Hilfe verlangt hätte, ohne die ich es nicht geschafft hätte, zum Kaziken gesalbt zu werden, da ich viele mißgünstige Feinde habe. Es war mein Ehrgeiz, der mich dazu brachte, mich damit einverstanden zu erklären, und bitter, habe ich meine Torheit seit jenem Tage bereut, denn wenn jene, die sich meine Frau nennt, mich liebt, so hasse ich sie und werde sie auf diese oder jene Weise beseitigen. Vergib mir also die Sünde, die ich an dir begangen habe, und denke nur daran, daß ich dich in der Vergangenheit geliebt und dir gedient habe, so wie ich dich in der Zukunft lieben und dir dienen werde, und daß du es warst, die all dieses Leid hervorgerufen hat, denn obwohl ich dich anflehte, zu bleiben und alles in mei ner Macht Stehende tat, um dich vor deiner Torheit zu bewahren, hast du darauf bestanden, deinen Vater auf seiner verrückten Reise in die Wildnis zu beglei ten. Ich habe gesprochen, und ich danke dir für die Geduld, mit der du mich angehört hast.« »Du hast gesprochen Cousin«, antwortete sie, »und deine Worte waren sanft; doch wenn ich dich recht verstanden habe, hast du dich noch vor wenigen Ta
gen gefragt, ob es nicht besser wäre, mich hier in die sem dunklen Verlies ermorden zu lassen.« »Wenn die Staatsräson solche Gedanken in meinen Kopf gelegt hat, so sind sie von der Liebe sofort wie der vertrieben worden«, antwortete er verwirrt. »Du gibst also zu, daß dem so war«, sagte sie. »Nun, es mag ein Tag kommen, wenn die Staatsräson wieder einen solchen Gedanken gebiert, und die Lie be, inzwischen ermüdet, sich nicht mehr als warm genug erweist, um ihn welken zu lassen. Außerdem scheine ich vernommen zu haben, daß du diese, mei ne Gefährten, mit dem Tode bedrohst, wenn ich mich nicht deinen Wünschen beugen sollte.« »Wenn du dich nicht meinen Wünschen beugen solltest, Maya, so geschieht das um geheimer, per sönlicher Gründe willen« – er blickte den Señor wü tend an – »Gründen, die der Tod dieser Männer, oder eines von ihnen, beseitigen würde.« »Sei eines sicher, Tikal«, sagte sie scharf, »daß eine so schandbare Tat deine Hoffnung, mich zu deiner Frau zu machen, für immer beenden würde. Höre al so! Ich habe deine Worte vernommen, und sie haben mich irgendwie berührt, denn obwohl du deinen Eid gegenüber meinem Vater und das mir gegebene Hei ratsversprechen gebrochen hast, bist du in deinem Herzen ehrlich, was deine Liebe betrifft. Trotzdem kann ich dir jetzt noch keine Antwort geben, und zwar aus dem Grunde, weil die Antwort nicht bei mir liegt, sondern bei den Göttern. Morgen nacht werden wir vor dem hohen Gericht vom Rate des Herzens er scheinen, und du sollst mit eigener Hand die beiden getrennten Teile des Talismans, dessen einen zu su chen wir so weit gereist sind, in die Höhlungen legen,
die für sie bestimmt sind, in dem Symbol, welches sich auf dem Altar des Heiligtums befindet. Dann, wie mein Vater glaubte – und er war vom Himmel mit Weisheit begnadet –, wird der Gott auf die eine oder andere Weise seinen Willen erklären und seinen Dienern offenbaren, warum all diese Dinge gesche hen sind, und was sie tun müssen, um seinen Willen zu erfüllen. Durch diesen Willen, Cousin, und nicht durch den meinen, werde ich mich in dieser Sache wie in allen anderen führen lassen.« Tikal dachte nun eine Weile nach, und antwortete dann: »Und wenn bei dieser Zeremonie nichts ge schieht und die Orakel des Gottes schweigen, was dann?« »Dann, Tikal«, sagte sie sanft, »magst du mich noch einmal fragen, ob ich deine Frau werden will, und vielleicht, wenn der Rat seine Zustimmung gibt, wer de ich nicht mit einem Nein antworten. Doch jetzt le be wohl, denn die Trauer wirft noch immer ihren Schatten auf mich, und ich kann nicht mehr reden.«
20
Der Rat des Herzens
Als Tikal gegangen war, saß ich schweigend, denn obwohl sie notwendig sein mochten, unser Leben zu retten und Mayas Liebe zu erfüllen, paßten mir all diese Lügen und Ränke ganz und gar nicht, und ich konnte nicht leichthin über sie sprechen, doch der Señor sagte: »Ich hoffe nur, daß dieser Lump von Mattai nicht plötzlich Reue empfindet oder von Tikal bestochen wird und eine andere Prophezeiung in die Höhlung des Symbols legt, denn dann, Maya, wird man dich beim Wort nehmen und die Situation wird noch schlechter, als sie es jemals gewesen ist.« »Ich hoffe nicht, und es ist auch nicht wahrschein lich«, sagte sie. »Aber warum blickst du mich so vorwurfsvoll an, Ignatio?« fuhr sie fort. »Nein, antworte mir nicht, denn ich kenne den Grund. Es ist, weil du mich für eine Betrügerin und Lügnerin hältst und in deinem Herzen sagst: ›Dies ist die Ehre einer Frau. Auf diese Weise würde jede Frau in der Stunde der Versuchung handeln.‹ Ignatio, bei all deiner Höflichkeit haßt und verachtest du uns Frauen, siehst uns als tief unter dir stehend, als eine Fessel für deine Kraft und eine Falle für deine Füße. Nun, wenn dem so sein sollte, so sind wir eben so geschaffen, und können wir dem Vor würfe machen, das uns schuf? Außerdem sind wir auf verschiedene Weise besser als du, obwohl es dir gefallen mag, dich für ehrlicher zu halten. Du wür dest für deine Liebe nicht gewagt haben, was ich für
die meine wage; du würdest nicht den Gott deines Volkes tödlich beleidigt, dich gegen den Instinkt dei nes Blutes und die Lehren deiner Jugend gestellt ha ben. Nein, du hättest still gesessen und die Hände ge rungen und zugesehen, wie man jenen, den du liebst, vor deinen Augen zu Tode bringt, und dann hättest du die Augen gen Himmel erhoben und gesagt: ›Es ist nicht zu ändern, doch zumindest ich bin rein im Angesicht des Himmels.‹ Sei es drum! Ich, Maya, bin von anderer Natur, ich habe alle diese Dinge gewagt, und ich bin froh dar über, selbst wenn du mich ständig mit deinen melan cholischen Augen ansiehst. Und warum sollte ich es auch nicht tun? Ist meine Liebe nicht alles für mich, und ist es schändlich, daß dem so ist? Ich glaube nicht mehr an diesen unbekannten Gott, weshalb also sollte ich mich fürchten, ihn zu beleidigen. Ich werde nicht zulassen, daß mein Geliebter dem Tode überantwor tet wird, und ich noch schlimmerem als dem Tode; und wie kann ich meinem Volke schaden, wenn ich einen Mann, der edler ist als sie alle, zu meinem Ehemann nehme? Also hör auf, mir durch dein Schweigen Vorwürfe zu machen, oder lerne vielmehr, Mitleid mit mir zu haben, denn meine Lage ist schlimm, und zweifellos sitzt mir die Vergeltung auf den Fersen. Mag sie auf mich fallen, wenn sie unab änderlich ist, doch nur auf mich, nicht auf dich, Ge liebter – oh! Nicht auf dich!« Und plötzlich war ihre Erregung verraucht, sie sank dem Señor in die Arme und lag laut schluchzend an seiner Brust. Ich ging zum anderen Ende der Halle, setzte mich und begann erneut in den alten Schriften dieses Vol kes zu lesen, die wir in einer der Kammern entdeckt
hatten. Dies war mir zur täglichen Beschäftigung ge worden, da ich das Gefühl hatte, daß die beiden Lie benden allein sein wollten, wenn nicht etwas zu pla nen war oder sie einen Rat von mir wollten. In jenen Tagen wuchs ein Schatten zwischen dem Señor und mir, denn obwohl er niemals darüber sprach, war auch er wütend auf mich, weil ich das finstere Kom plott, an dem wir drei beteiligt waren, nicht billigen konnte, und Mayas anklagende Worte hatten auch seine Gedanken wiedergegeben. Und das war wahr lich kein Wunder, denn wenn ich heute zurückblicke, kann ich weder ihr noch ihm Vorwürfe machen oder ihr Tun verurteilen, und ich glaube, daß das, was ich wirklich fühlte, keine Empörung über den Trick war, der in Anbetracht dessen, daß so viel von ihm abhing, sehr wohl entschuldigt werden mochte, sondern eine abergläubische Angst, daß irgendeine Macht, sei sie menschlich oder dämonisch, diesen Trick doppelt und dreifach an uns vergelten könnte, denn selbst die Teufel haben Macht über uns, wenn wir sie ihnen ge ben, indem wir mit ihren Waffen gegen die Welt kämpfen. Am folgenden Tag brachten die Diener, die das Es sen servierten, neue Gewänder für uns mit, die wun derbar gearbeitet und parfümiert waren, und für Ma ya einige königliche Schmuckstücke. In diese kleide ten wir uns, als es Abend wurde, und warteten. Die Stunden vergingen, und schließlich wurde die kup ferne Gittertür aufgeschlossen, und eine Gruppe von Edlen und Wachen trat vor uns und erklärte, daß sie Befehl hätten, uns zum Heiligtum zu führen. Wir antworteten, daß uns nichts lieber sei, da wir es herz lich müde seien, wie Ratten im Dunkel zu leben, und
wenig später stiegen wir die endlosen Treppen hin auf, die zur Spitze der Pyramide führten. Wir erreichten sie und sahen die Sterne über uns funkeln und spürten den Atem des Himmels in unse re Gesichter wehen, und noch nie waren mir der An blick der Sterne und der Duft der Nachtluft so herr lich erschienen. Nachdem wir das Wachhaus verlas sen hatten, gingen wir über die menschenleere Platt form der Pyramide und begannen, ihre Außentreppe hinabzusteigen. Am Fuße der Treppe wandten wir uns nach rechts, bis wir eine Doppeltür aus Kupfer erreichten, die wunderbar gearbeitet und in die Mitte der westlichen Fassade der Pyramide eingelassen war. Sie wurde von einem kleinen Trupp Krieger be wacht, die salutierten und uns passieren ließen. Jen seits der Tür lag eine Halle, nicht unähnlich der, die uns als Gefängnis gedient hatte, von Lampen erhellt, mit Boden und Wänden aus poliertem Marmor, und mit Türen zu beiden Seiten, die zu den Schlafräumen der Wachhabenden führten. An der Schwelle dieses Raums wurden wir von Priestern in weißen Roben empfangen, in deren Obhut wir von den Edlen und Wachen gegeben wurden, die uns bis hierher eskor tiert hatten. Von diesen Priestern umgeben, die beim Gehen lei se Gesänge intonierten, durchschritten wir die Halle in ihrer Längsrichtung, bis wir zu einer weiteren, kleineren Tür gelangten. Hinter ihr befand sich ein Labyrinth steil abwärts verlaufender Gänge, die in alle Richtungen tief in die steinigen Eingeweide der Pyramide führten. So verzweigt und zahlreich waren diese Tunnel, daß es selbst beim Licht der Lampen, welche die Priester trugen, für einen, der ihr Geheim
nis nicht kannte, so gut wie unmöglich war, seinen Weg durch sie zu finden, oder auch nur für mehr als wenige Schritte in irgendeine bestimmte Richtung zu gehen. Diesen Passagen folgten unsere Führer, ohne auch nur einmal zu zögern, bogen einmal nach rechts ab, dann wieder nach links, und schienen hin und wieder sogar den gleichen Weg zurückzugehen, bis sie schließlich vor einer weiteren Tür stehenblieben, die mit Platten aus gehämmertem Gold bedeckt war, und auf deren anderer Seite sich der zweitheiligste Ort der Stadt des Herzens befand, die Kammer, die dem drei fachen Zweck eines Gerichtssaals, eines Tempelrau mes, in dem die Edlen ihren Gottesdienst abhielten, und einer Grabkammer für die verstorbenen Kaziken diente. Hier, in diesem riesigen, ehrfurchtgebietenden Gewölbe, jeder von ihnen in seiner eigenen Nische in Gesellschaft seiner Gemahlin, standen die Mumien aller Priesterkönige, die in der heiligen Stadt ge herrscht hatten, in Hüllen aus reinem Gold, die nach dem Abbild des darin befindlichen Toten geformt waren, und auf denen Name, Alter, Todestag und die guten und schlechten Taten, die der Mann vollbracht hatte, in Symbolschrift in die Brust eingraviert waren. Dort standen sie für alle Ewigkeit, Männer und Frau en, aus Gold gefertigt, und unter ihren Stirnen fun kelten falsche Augen aus Smaragden. Zahlreich wa ren die Nischen in den Wänden dieses Raumes, und jede hatte ihre Bewohner, und in der letzten Nische – jener, die dem Eingang zunächst war – befand sich ein Neuankömmling, denn dort stand in seiner Gold hülle der Leichnam Zibalbays, und ihm zur Seite jene, die seine Frau gewesen war, Mayas Mutter.
Einen Augenblick blieb Maya stehen und blickte auf die Leichname ihrer Eltern, dann verneigte sie sich vor ihnen und schritt weiter, wobei sie zu mir sagte: »Siehe, diese Halle der Toten ist gefüllt, es ist kein Platz mehr in ihr für mich oder meine Nach kommen, und das ist sicherlich ein böses Omen. Doch was soll's?« setzte sie mit einem Seufzer hinzu. »Es kommt doch nicht darauf an, wohin sie uns bringen, wenn wir tot sind. Was mich betrifft, so möchte ich lieber in der Erde schlafen, oder unter den Wassern, als auf ewig in Gold eingeschmiedet zu stehen und mit Juwelenaugen ins Dunkel zu starren. Ja, wenn ich es könnte, so würde ich die Erde wählen, die mich geboren hat, denn sie würde mein Fleisch in Blumen verwandeln.« Dann schritten wir weiter vor der Gesellschaft der goldenen Toten entlang, die uns mit ihren Blicken zu folgen schienen, gingen um eine Gerichtsbank herum, die sich nahe dem anderen Ende der Halle befand, und standen vor einer kleinen Tür, über der große Lampen brannten. Diese Tür wurde von zwei Prie stern bewacht, die mit gezogenen Schwertern vor ihr standen, deren Spitzen sie jetzt auf uns richteten, zum Zeichen, daß wir stehenbleiben sollten. Die Priester, die uns eskortiert hatten, zogen sich hinter die Gerichtsbank zurück, und wir waren allein. »Gebt das Zeichen, Hüter des Tores!« sagte Maya. Daraufhin stieß einer der beiden Männer mit den gezogenen Schwertern einen leisen, seltsamen Schrei aus, der wie das Greinen eines Kindes klang. Als er diesen eigenartigen Schrei dreimal, in Abständen von je einer halben Minute, ausgestoßen hatte, wurde er von drinnen mit einem lauteren Schrei in gleicher
Tonhöhe beantwortet. Dann wurde plötzlich die Tür weit aufgestoßen, und ein Mann mit strengem Ge sicht und kahlgeschorenem Schädel trat auf uns zu. »Wer seid ihr, die ihr Einlaß in das Heiligtum be gehrt?« fragte er. »Seid ihr Götter oder Teufel, Män ner oder Frauen?« »Wir sind zwei Männer und eine Frau«, antwortete Maya, »Priester und Priesterin des Herzens, und wir sind gekommen, damit der Rat des Herzens über uns zu Gericht sitze, wie es unser Recht ist.« »Kennt ihr das offene Zeichen des Herzens, die Zeichen der Bruderschaft, der Einigkeit und der Lie be, daß ihr es wagt, auf der Schwelle des Heiligtums zu stehen, die zu überschreiten für Unwissende den Tod bedeutet?« »Wir kennen sie«, antwortete Maya, und dann ga ben wir, einer nach dem anderen, diese Zeichen. »Kennt ihr das Geheimnis des Herzens, daß ihr es wagt, diese Schwelle überschreiten zu wollen?« fragte er wieder. »Wenn nicht, so geht zurück und laßt im Saal der Gemeinschaft über euch zu Gericht sitzen.« »Ich kenne es«, antwortete Maya, »und ich verbür ge mich für diese, die bei mir sind. Erlaube mir also, einzutreten, und diese mit mir, denn ich bin auf Grund eines uralten Rechtes hier, und ich bin sowohl mit den äußeren Zeichen als auch mit den inneren Mysterien vertraut.« Nun zog der Mann sich zurück, und die Tür würde hinter ihm geschlossen. Kurz darauf erschien er wie der und sagte: »Ich habe dem Rat berichtet, und es ist sein Wille, daß ihr eintreten sollt.« »Folgt mir!« sagte Maya zu uns. »Und wenn ihr angesprochen werden solltet, so antwortet nicht, be
vor ich mich für euch verbürgt habe! Ich werde für euch antworten.« Die beiden Priester senkten die Schwerter, und nachdem wir die Türen durchschritten hatten – denn es gab deren zwei, die durch einen kurzen Korridor verbunden waren – standen wir wieder unter der Maske des Unbekannten Gottes im Heiligtum der Stadt des Herzens. Doch jetzt war es nicht leer. Hinter dem kleinen Altar standen drei Hocker, und auf ihnen, in kostbare Roben gekleidet und mit Gold und Juwelen geschmückt, saßen Tikal, Mattai und Nahua, welche die einzige Frau in dem Räume war. Vor dem Altar war ein freier Raum, und um diesen saßen, jeder mit den Zeichen seiner geistlichen Würde angetan, die Brüder des Herzens in der Reihenfolge ihres Ranges, und es waren ihrer sechsunddreißig. Angeführt von Maya traten wir in den freien Raum vor dem Altar und standen dort schweigend. Keiner der Anwesenden nahm von uns Notiz; sie schienen uns nicht einmal zu bemerken, sondern saßen mit ge senkten Köpfen und vor der Brust gekreuzten Armen. Schließlich erhob sich einer der Brüder – jener, wel cher der Tür zunächst saß und uns draußen befragt hatte – wandte sich Tikal zu und sagte: »Hüter des Herzens, eine, die behauptet, unserer Bruderschaft anzugehören, steht vor dir, und mit ihr zwei, für die sie sich verbürgt, und die, obwohl sie Fremde sind, sich als Brüder des Herzens erwiesen haben, als ich sie auf deinen Befehl hin überprüfte, doch was sie sonst sein mögen, weiß ich nicht. Es ist nun an dir, sie ebenfalls durch die Stimme ihres Bürgen zu prüfen, auf daß ihre Münder geöffnet werden und ihre Worte zu den Ohren des Rates dringen können.«
Bei diesen Worten erhoben sich zwei der Brüder und verbanden mir und dem Señor die Augen, damit wir die geheimen Zeichen nicht sähen, die mir natür lich alle vertraut waren, doch Maya wurden die Au gen nicht verbunden. Dann hörten wir Tikal fragen: »Wie werdet ihr ge nannt, die ihr fremd in unseren Augen seid?« Wir antworteten nicht, denn eine Stimme in unse ren Ohren warnte uns, zu schweigen. »Wir werden ›Sohn des Meeres‹ und ›Ignatio, der Wanderer‹ genannt«, antwortete Maya. »Sohn des Meeres und Ignatio, der Wanderer, war um seid ihr hierhergekommen«, fragte Tikal, »durch die Tür, an welcher geschrieben steht: ›Tod dem Fremden und dem Nichtwissenden‹?« »Weil wir ein Anliegen vorzutragen und ein Opfer darzubringen haben, und weil wir, wenngleich wir in einem fernen Lande leben, Diener des Herzens sind«, antwortete Maya. »Wie seid ihr hergekommen?« »Das Herz hat geführt, der Mund hat geflüstert, und wir sind dem Lichte der Augen gefolgt.« »Zeigt mir das Zeichen des Lichtes der Augen, oder sterbt für diese Welt.« Nun herrschte Stille, und obwohl wir es nicht se hen konnten, wußte ich, daß Maya für uns das Zei chen machte. »Zeig mir das zweite Zeichen, das Zeichen des Mundes, oder seid von dem Munde verflucht, in die ser Welt zu sterben, und auch in der nächsten.« Wieder war Stille. »Zeigt mir das Zeichen des Herzens, das dritte und größte der Zeichen, damit das Herz nicht an euch
denkt und ihr für diese Welt sterbt, und für die näch ste Welt, und für alle Welten, die sein mögen, damit ihr nicht zwischen Licht und Dunkel hinausgestoßen werdet und in dem Golf von Feuer verloren seid, welcher Himmel und Hölle miteinander verbindet.« Nun vernahmen wir ein Rascheln, als ob alle An wesenden sich von ihren Sitzen erhoben und zu Bo den geworfen hätten, und kurz darauf wurden uns die Binden von den Augen genommen. »Fremde«, sagte Tikal, »eure Münder sind nach dem uralten Ritual im Heiligtum geöffnet worden, und nun ist es rechtens, daß der Rat euren Worten zuhört. Sprecht jetzt also, und ohne Furcht.« Nun wandte ich mich um und sagte: »Brüder – denn so wage ich euch zu nennen, da ich, obwohl ein Fremder, doch der Bruderschaft des Herzens angehö re, was ich beweisen kann, wenn es erforderlich sein sollte – ja! Und im Range höherstehend als ein jeder von euch, mit Ausnahme von dir, o Hüter des Her zens: in meinem Namen, in dem meines Bruders, der auch einer der unseren ist, und im Namen Mayas, der Herrin des Herzens, der Tochter jenes, der hier bis lang herrschte, und der Erbin seiner Macht, spreche ich zu euch. Es hat den Anschein, als ob wir drei, ge meinsam mit Zibalbay, der tot ist und damit jenseits eurer Gerichtsbarkeit, die Gesetze dieser Stadt ver letzt haben – wir dadurch, daß wir es wagten, ihre Tore zu durchschreiten, und Zibalbay und die Herrin Maya, indem sie uns zu jenen Toren führten. Für die ses Verbrechen wollte man uns vor acht Tagen auf dieser Pyramide zu Tode bringen, und wir leben nur, weil die Herrin Maya auf das Recht bestanden hat, unseren Fall vor dieses hohe Tribunal zu bringen. Ihr
und ihrem Vater wurde dieses Recht zugestanden, und ich bitte nun darum, daß diese Gnade auch auf mich und meinen Bruder ausgedehnt werde.« »Mit welcher Begründung verlangst du das, Frem der?« fragte Tikal. »Mit der Begründung, daß wir Brüder vom inner sten Kreise des Herzens sind und deshalb kein Ver brechen begangen haben, als wir diese Stadt auf suchten, die zu betreten uns durch Rang und Amt frei steht.« Nun hörte ich ein Gemurmel von »So ist es«, aus den Reihen des Rates hinter mir, und auch Tikal sag te: »So ist es«, fügte jedoch hinzu: »Wenn ihr Brüder vom innersten Kreise des Herzens seid, so seid ihr ohne Fehl, doch zuerst müßt ihr den Nachweis dafür erbringen, was ihr bisher noch nicht getan habt. Ein Bruder des innersten Kreises kennt seine Geheimnis se und kann die geheimen Fragen beantworten. Kommt, wir wollen euch der Prüfung unterziehen, doch laßt zunächst den weißen Mann hinausbringen, denn in dieser Angelegenheit muß jeder für sich selbst antworten.« Also wurde der Señor hinausgeführt, und nachdem die Türen geschlossen und die Lichter gedämpft worden waren, trat das älteste und am meisten ver sierte Mitglied des Rates vor und unterzog mich ei nem Test von vielen Fragen, die ich alle sofort beant wortete. Dann wurde mir befohlen, vor den Altar zu treten und, als Hüter des Herzens, die für diesen höchsten Rang vorgeschriebenen Zeichen des Öffnens des Herzens zu machen. Dieses tat ich ebenfalls, ob wohl mir später erklärt wurde, daß mein Ritual in ei nigen Details von dem ihren abwiche. Danach über
nahm ich die Führung des Gesprächs und befragte sie, bis mir schließlich niemand mehr antworten konnte – nein, nicht einmal der Hohepriester oder Mattai; und sie gaben kleinlaut zu, daß ich instruier ter sei als jeder von ihnen, und wegen dieses Wissens wurde ich von jenem Tage an in der Stadt des Her zens geachtet und geehrt. Nun wurde mir ein Platz unter den Brüdern ange wiesen – der höchste nach denen des Hohepriesters und der obersten Führer der Bruderschaft sogar – und dann wurde der Señor hereingerufen. Er trat mit niedergeschlagenen Augen herein, und während Maya und ich ihn mitfühlend anblickten, begann seine Befragung. Sie dauerte nicht lange. Schon bei der zweiten Frage wurde er verwirrt, be gann auf englisch und spanisch zu fluchen und schwieg. »Brüder«, sagte Tikal, und es lag unverhohlene Genugtuung in seiner Stimme, als er sprach, »ich denke, daß wir uns mit diesem Betrüger keine weite re Mühe zu machen brauchen. Da er es gewagt hat, in unsere Stadt einzudringen, hat er den Tod verdient; außerdem hat er sein Verbrechen noch dadurch ver größert, indem er vorgab, der Bruderschaft anzuge hören, obwohl er kaum die einfachsten ihrer Begriffe kennt. Ist es euer Wille, daß er diesem Schicksal über antwortet wird? Wenn ja, so sprecht das Wort der Verdammung.« Nun sprang Maya entsetzt auf, doch machte ich ihr ein Zeichen, zu schweigen, und sagte: »Hört mich an, bevor ihr jenes schicksalhafte Wort aussprecht, das nicht zurückgenommen werden kann! Dieser Mann gehört zum innersten Kreis unserer Bruderschaft,
obwohl er noch nicht formell in ihn aufgenommen worden ist und jene der Mysterien vergessen hat, die ihm bei seiner Einführung gelehrt wurden. Hört mich an, und ich will euch berichten, wie es dazu kam, daß er der Bruderschaft des Herzens beitrat« – und ich er zählte ihnen alles über meine Rettung durch den Señor, und auch die Geschichte unserer Begegnung mit Zibalbay, und die unserer Reise zur Stadt des Herzens. Über eine Stunde lang sprach ich zu ihnen, und sie hörten mir aufmerksam zu. Als ich zu Ende gesprochen hatte, debattierten sie über das Schicksal des Señors und erklärten dann – wie mit einer Stimme –, wenn ich nicht mehr zu sei nen Gunsten vorzubringen hätte, müßte er auf der Stelle sterben. »Ich habe noch etwas vorzubringen, bevor ihr euer Urteil über ihn fällt«, sagte ich in meiner Not und Verzweiflung (wobei ich in Wort und Tat log, um das Leben des geliebten Freundes zu retten – ja, ich, der Maya wegen der gleichen Tat Vorhaltungen gemacht hatte), »obwohl es mehr etwas mit den Mysterien eu rer Religion zu tun hat, als mit denen unserer Bruder schaft. Es war der Glaube Zibalbays, der tot ist, daß, wenn die beiden Hälften des uralten Talismans – die Hälften ›Nacht‹ und ›Tag‹, welche zusammen eine volle Sonnenperiode ergeben – an ihre Stelle in dem Symbol gesetzt werden, welche sie vor der Teilung des Volkes einnahmen, klar werden soll, welche Rolle jeder von uns Wanderern in dem bevorstehenden Schicksal spielen soll. Allein zu diesem Ziele hat Zi balbay seine Reise unternommen, und seht! Hier ist, was zu finden er ausgezogen ist.« Ich nahm den Ta lisman von meiner Brust.
»Nimm ihn, Tikal, den ich gebe ihn jetzt auf, und lege ihn mit dem anderen an die Stelle, die für sie vorgesehen ist, auf daß wir erfahren, und auf daß eu er ganzes Volk erfahre, welche Wahrheit hinter den Visionen Zibalbays verborgen ist.« »Das ist unser Wunsch«, erklärte Tikal und nahm den durchtrennten Stein und seine andere Hälfte, die ihm von Maya überreicht wurde. »Bringt den weißen Mann, Sohn des Meeres, hinaus und bewacht ihn dort für eine Weile, denn so wird er die Zeit finden, sich auf den Tod vorzubereiten. Fürchte nichts, Herrin«, setzte er hinzu, als er den verzweifelten Ausdruck auf Mayas Gesicht bemerkte, »es soll ihm nichts angetan werden, bevor die Angelegenheit dieser Prophezei ung klargemacht ist.« Nun wurde der Señor zum zweiten Male hinausge führt, und als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sprach Tikal, verfolgte den Ursprung dieser Prophezeiung so weit zurück, wie er ihm bekannt war, und erläuterte ihre Substanz: daß, wenn die bei den Hälften des Symbols des Herzens wieder Seite an Seite an ihren Platz auf dem Altar des Heiligtums gelegt würden, von dieser Stunde an das Volk wieder wachsen und groß werden würde. »In all dies«, sagte er, »setzte ich wenig Glauben; trotzdem hat Zibalbay, der auf seine Art weise war, daran geglaubt, und da die Kunde davon sich ver breitet hat, verlangt das Volk, daß es der Prüfung unterzogen wird. Ist das auch euer Wille?« »Es ist auch unser Wille«, antworteten die Räte. »Gut. Dann laßt es uns hinter uns bringen, und auf euch komme es, wenn Unheil daraus erwachsen sollte. Mattai, der Rat befiehlt dir, diese beiden Hälf
ten in die Höhlung des Symbols einzufügen.« »Wenn das der Befehl des Rates ist, so bleibt mir keine andere Wahl, als ihm zu gehorchen«, sagte Mattai. »Doch obwohl keiner der anderen es getan hat, stimme ich dagegen, den ich halte es für eine kindliche Torheit, und aus Prophezeiungen ist noch nie etwas Gutes gekommen.« Er machte eine Pause, als ob er auf Antwort wartete. »Gehorche! Gehorche!« riefen die Männer des Ra tes, da sie jetzt von Neugier ergriffen worden waren, und sie reckten den Hals, um zu sehen, was gesche hen mochte. »Gehorche!« wiederholte Tikal. »Doch hüte dich, das Herz zu schütteln, auf daß sich nicht die Legende bewahrheite und wir in den einbrechenden Wasser fluten ertrinken.« Nun setzte Mattai die beiden Hälften des Talismans in die Höhlung, und wie zuvor, inmitten der gespann ten, absoluten Stille, öffnete das Symbol sich wie eine Blüte. Als ich mich vorbeugte, sah ich das Auge darin liegen, doch kam es mir vor, als ob das Feuer aus dem Juwel gewichen sei, denn jetzt glühte es mit kaltem Glanz, wie das Auge eines Menschen, der seit Stun den tot ist. Ich vermute, daß Mattei dies ebenfalls bemerkte, denn als das Symbol sich öffnete, zuckte er zusammen, und seine Hände begannen zu zittern. Als die Männer des Rates nun dieses Wunders an sichtig wurden, erhob sich ein Murmeln des Erstau nens unter ihnen, und dann sagte Tikal: »Es scheint, als ob Weisheit in dem Irrsinn Zibalbays gelegen ha be, denn das Herz hat sich wahrhaftig geöffnet, und in ihm liegt ein Juwelenauge auf einer Goldplatte, die mit Schrift bedeckt ist.«
»Lies die Schrift vor!« riefen sie. Tikal nahm das Auge heraus, hob die kleine Gold platte empor und blickte sie an. »Dann kann ich nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie ist in Zeichen abgefaßt, die älter sind als jene, die ich erlernt habe. Nimm du sie, Mattai, denn du bist gelehrt in solchen Dingen.« Nun nahm Mattai die Tafel und studierte sie lange, und mit ernstem Gesicht, auf dem sich dann ein Aus druck von Verstehen ausbreitete, der kurz darauf dem der Verblüffung wich, oder vielmehr dem nack ter Bestürzung, so daß ich, der ich ihn beobachtete, und der ich den ganzen Umfang der Verschlagenheit Mattais nicht kannte, zu glauben begann, daß der Señor recht hatte und die Inschrift der Tafel durch ihn verändert worden war, seit wir sie sahen. »Lies! Lies!« schrien die Männer des Rates. »Brüder«, sagte Mattai, »die Worte scheinen klar, und doch ist ihre Botschaft so seltsam, daß ich fürch te, mein Wissen ist unzureichend, und ich sie lieber einem anderen zum Entziffern geben sollte.« »Nein, lies, lies!« riefen sie wieder, beinahe wü tend. Da las er: »Dies ist die Stimme des Namenlosen Gottes, die sein Prophet im Jahre der Erbauung des Heiligtums hörte und in eine Goldtafel eingravierte, welche er an einer geheimen Stelle des Symbols im Heiligtum ver barg, auf daß sie zu jener, weit in der Zukunft liegen den Stunde offenbart werden werde, wenn ›Tag‹ und ›Nacht‹ wieder zusammenkommen. Zu dir spricht sie, ungeborene Tochter eines zukünftigen Königs, deren Name der Name eines Volkes ist. Wenn mein
Volk alt geworden und seine Zahl klein geworden und sein Herz mutlos geworden ist, dann Jungfrau, nimm dir einen Mann von der Rasse des weißen Gottes zum Gemahl, einen Sohn des Meeresschaums, welchen du durch die Wüste hierher führen sollst, denn dann wird mein Volk erneut wachsen und stark werden, und das Land soll deinem Kinde und dem Kinde des Gottes gehören, Ost und West, und Nord und Süd, weiter, als meine Adlerschwingen mich zwischen Sonnenaufgang und -untergang tragen können.« Während Mattai las, verdunkelte sich das Gesicht Tikals vor Wut, und noch bevor die Echos der Stim me verklungen waren, sprang er auf und schrie: »Wer immer es gewesen sein mag, der diese falsche Pro phezeiung schrieb, ob Gott oder Mensch, er sei ver flucht. Soll die Herrin Maya – denn nur sie kann ge meint sein, da ihr Name der Name eines Volkes ist – jenem weißen Hund zur Frau gegeben werden, der vor der Tür auf seinen Tod wartet, und soll sein Sohn über uns herrschen? Eher will ich sie tot sehen, und ihn mit ihr!« Nun erhob sich einer der Ältesten des Rates, ein Mann namens Dimas, der, wie ich später erfuhr, ein Adoptivbruder Zibalbays gewesen war, und ant wortete scharf: »Es scheint, als ob diese Dinge so sein sollen, Tikal, und hüte dich, Todesdrohungen auszu sprechen, auf daß sie nicht auf dein eigenes Haupt zurückfallen. Wir haben den Gott angerufen, und der Gott hat uns ohne Umschweife geantwortet. Die Her rin Maya muß die Frau dieses weißen Mannes wer den, der Sohn des Meeres genannt wird, und dann mögen die Dinge geschehen, wie sie das Schicksal be
stimmt hat.« »Was?« rief Tikal. »Soll dieser wandernde Fremde über mich und über uns alle gesetzt werden?« »Das weiß ich nicht«, antwortete der Rat, »davon steht in der Schrift nichts geschrieben; sie sagt ledig lich, daß sein Sohn über uns gesetzt werden soll, doch bisher hat er noch keinen Sohn. Eines aber ist sicher: daß die Herrin Maya ihm zur Frau gegeben werden muß, und in ihrem Namen mag er herrschen, da sie die rechtmäßige Erbin ihres Vaters ist, und nicht du, Tikal, wenngleich du dir ihren Platz angeeignet hast.« Nun riefen viele Stimmen nach Maya, und sie er hob sich und sprach mit niedergeschlagenen Augen. »Was kann ich sagen?« begann sie, »außer dem ei nen, daß mein Wille der Wille der Götter ist, und wenn sie bestimmen, daß ich dem weißen Manne zur Frau gegeben werde, so mag es so sein. Viele Jahre lang hat man mich gelehrt, einen anderen anzuschau en, doch er, der mein Ehemann werden sollte ...« – sie deutete auf Tikal –, »hat sich eine andere Frau ge nommen, und jetzt erkenne ich, daß er dieses nicht ganz aus freiem Willen tat, sondern weil es so vorbe stimmt war. Noch eines: Ich, die ich nur eine Frau bin, habe nicht den Wunsch, zu herrschen, oder den Platz einzunehmen, auf welchem die Herrin Nahua sitzt. Die Schrift besagt, daß irgendwann, eines noch weit entfernten Tages, ein Sohn von mir, falls ich in der Tat jene ›Tochter eines Herrschers, deren Name der Name eines Volkes ist‹, sein sollte, hier herrschen soll. Mag er also zu seiner Stunde kommen und sich den Ruhm nehmen, der ihn erwartet, doch bis dahin, Tikal, bleibe auf deinem Thron und laß mich in Frie den.«
»Die Herrin Maya spricht gut für dich und für meine Tochter«, sagte Mattai, »und wenn das Volk es zuläßt, tätest du gut daran, ihr Angebot anzunehmen und es der Zukunft zu überlassen, ihre eigene Gestalt zu formen. Sie erklärt, daß sie gewillt sei, den weißen Mann zum Gemahl zu nehmen, doch haben wir noch nicht erfahren, ob der weiße Mann sie zur Frau haben will. Es könnte doch sein ...« – setzte er mit einem Lä cheln hinzu –, »daß er es vorzieht zu sterben. Zumin dest aber müssen wir die Antwort aus seinem Munde hören – das heißt, wenn ihr diese vom Himmel ge sandte Prophezeiung annehmt. Sagt mir, nehmt ihr sie an?« »Wir nehmen sie an«, antwortete der Rat wie aus einem Munde. »Dann laßt den weißen Mann, den Sohn des Mee res, hereinbringen«, sagte Mattai.
21
Die Hochzeit Mayas
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und der Señor wur de hereingeführt, zu seinem Tode, wie er anzuneh men schien, denn ich sah, daß er die Zähne zusam mengebissen und seine Fäuste geballt hatte, wie um sich zu verteidigen. Doch als er hereintrat, erhoben sich die meisten Mitglieder des Rates, verbeugten sich vor ihm und riefen: »Heil dir, Sohn des Meeres, Liebling der Göt ter, Vater des Erlösers, der uns bestimmt ist!« Da wußte er, daß das Komplott gelungen war und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Höre, weißer Herr«, sagte Mattai, denn Tikal saß reglos und starrte ihn in schweigender Wut an, »die Götter haben durch ihr Orakel gesprochen. Wie Zi balbay es geglaubt hat, so ist es, und deine Füße sind zu einem bestimmten Zweck zu den Toren der Stadt des Herzens geführt worden. Höre nun die Worte des Gottes.« Er nahm die Goldtafel zur Hand und verlas die falsche Prophezeiung. »Nun wähle, weißer Mann. Willst du die Herrin Maya zur Frau nehmen, oder willst du zu Tode gebracht werden, weil du, nach dem du in die Stadt des Herzens gewandert bist, dich weigerst, den Befehlen ihres Gottes zu gehorchen?« Nun dachte der Señor einen Augenblick nach und antwortete dann: »Der Mann müßte wahrlich ein Tor sein, welcher zögert, sich zwischen dem Tode und ei ner so schönen Frau zu entscheiden. Doch ist dies ei ne Frage, über die ich nicht allein entscheiden kann.
Was sagt die Herrin Maya dazu?« »Sie sagt«, antwortete Maya, »daß, obwohl dies ei ne Heirat ist, nach der sie nicht gesucht hat, und es vielleicht etwas Ungewohntes ist, wenn eine Tochter des Herzens einen Fremden von weniger altem Blute zum Manne nimmt, der Wille des Himmels auch ihr Wille ist, und der Gemahl, den der Himmel für sie erwählt, ihr Gemahl sein soll.« Sie streckte dem Señor ihre Hand entgegen. Er nahm sie, verneigte sich und küßte ihre Finger. »Möge ich deiner Wahl würdig sein, Herrin«, sagte er dabei. Nun, glaubte ich, seien die Zeremonien vorbei, und war froh darüber, denn ich war es müde, dieser Farce beizuwohnen, doch der alte Priester, Zibalbays Ad optivbruder, erhob sich und sagte: »Eines muß noch getan werden, Brüder, bevor wir dieses Heiligtum verlassen, und das ist, diese beiden Fremden als Mit glieder des Rates einzuschwören. Sie sind aus weiter Ferne hierhergewandert, und hier bei uns müssen sie nun leben und sterben, da beide unsere Geheimnisse kennen und einer von ihnen dazu bestimmt ist, der Vater jenes großen Herrschers zu werden, auf dessen Kommen wir seit vielen Generationen warten, und deshalb muß er, bis dieses Kind geboren ist, behütet und bewacht werden, so wie die Priester ein heiliges Feuer behüten.« »Ja, das ist ein wohlüberlegter Gedanke. Laßt sie eingeschworen werden und wissen, daß ein Brechen des Eides den Tod bedeutet«, riefen die anderen. Nun erhob sich Mattai, als Hüter des Heiligtums, und sagte: »Du, weißer Mann, Sohn des Meeres, und du, Ignatio, der Wanderer, ein Herr des Herzens,
schwört auf das heilige Symbol des Herzens den Eid, den zu brechen einen entsetzlichen Tod auf dieser Welt bedeutet, und immerwährende Verdammnis in allen, die da kommen mögen. Ihr schwört, und setzt für die Einlösung dieses Eides eure Körper und eure Seelen als Pfand ein, daß ihr weder durch Worte noch durch Taten irgend etwas von den Beschlüssen oder den Geheimnissen dieser Bruderschaft preisgeben werdet, deren getreue Diener ihr bis zu eurem Tode zu sein versprecht, und die ihr höher als jede andere Macht auf Erden halten werdet. Ihr schwört, daß ihr euch nicht in den Besitz der Schätze der Stadt des Herzens setzen, noch ohne die Erlaubnis dieser hohen Bruderschaft versuchen werdet, ihre Tore zu verlas sen, oder Fremde in ihre Mauern zu bringen. Dies al les schwört ihr mit den Händen auf dem Altar und setzt für die Erfüllung des Eides eure Seelen und Körper als Pfand ein.« Es gab noch mehrere andere Klauseln, die ich je doch vergessen habe, doch dieses war die Substanz des Eides, der uns abverlangt wurde. Wir blickten einander hilflos an, doch dann, da es keinen Ausweg gab, knieten wir uns vor den Altar und legten die Hände auf ihn. Als die feierlichen Worte der Bestätigung von un seren Lippen kamen, hörten wir ein Geräusch wie von dem Knirschen schwerer Steine hinter uns. »Erhebt euch nun«, sagte der alte Priester. »Dreht euch um und blickt auf das, was hinter euch ist.« Wir taten es und fuhren im nächsten Augenblick erschrocken zurück, denn keine sechs Fuß von uns entfernt, war eine schwere Steinplatte des Bodens herausgehoben worden, wodurch ein Schacht freige
legt wurde, aus dessen Tiefe ein fernes Rauschen her aufdrang. »Seht her, Brüder«, fuhr er fort, »und sollte der Eid, den ihr geschworen habt, auch nur an einem einzigen Buchstaben gebrochen werden, so erfahrt, auf welche Weise ihr für eure Sünden büßen müßt. In jene Grube wird man euch werfen, damit die Wasser euren Atem ersticken und die Dämonen der Unterwelt bis in alle Ewigkeit eure Seelen foltern. Habt ihr gesehen und, gesehen habend, verstanden?« »Wir haben gesehen und verstanden«, antworteten wir. »Dann mag der Mund der Grube wieder verschlos sen werden, doch betet in euren Herzen, daß er nie mals geöffnet werde, um eure lebenden Körper oder den eines von uns zu empfangen. Sohn des Meeres, und du, Ignatio, der Wanderer, die Eide sind ge schworen, und die Zeremonie ist beendet. Von nun an bis zu eurem Tode seid ihr zu uns gehörig, Teilha ber unserer Rechte und Privilegien, und man wird euch Häuser, Diener und Einkommen geben, wie sie eurem Range zukommen. Gehet nun hin, Brüder, damit ihr euch erfrischet, und bereitet euch darauf vor, bei Sonnenaufgang auf der Pyramide dem Volke gegenüberzutreten – das heißt: in einer Stunde. Nimm sie mit dir, Herr Mattai!« Also gingen wir und ließen den Talisman des Zer brochenen Herzens auf dem Altar zurück, denn die Priester weigerten sich, mir den meinen wiederzuge ben, mit der Begründung, daß die beiden Hälften, die ›Tag‹ und ›Nacht‹ genannt würden, endlich an ihrem rechtmäßigen, uralten Platze wieder vereint worden seien und von nun an für immer dort bleiben müßten.
Begleitet von Maya, Mattai und der Priester-Eskorte gingen wir durch die Hallen und Korridore in den Hof des Tempels, und von dort zu Räumen im Palast, wo wir uns erfrischten und mit Essen stärkten, da wir sehr ermüdet waren. Das Komplott war erfolgreich gewesen, die Gefahr war überstanden, und zumindest vorläufig war unser Leben nicht mehr bedroht; außerdem war die Macht Mattais bestätigt und die Position seiner Tochter als Frau Tikals gesichert worden, und der Señor und die Herrin Maya standen kurz davor, ihren Lebenstraum erfüllen zu können und im Angesicht des Volkes ver eint zu werden. Und doch habe ich noch nie ein trau rigeres Mahl erlebt, noch Gesichter gesehen, die vor Sorge um die Zukunft niedergedrückter wirkten, denn obwohl kein Wort darüber verloren wurde, wußte doch jeder von uns, daß wir Teilhaber eines Verbrechens geworden waren, und daß früher oder später, auf diese oder andere Weise, unsere Untat auf uns zurückfallen mußte. Abgesehen davon hatte ich jedoch auch einen persönlichen Grund zur Trauer, da ich, was immer die anderen gewonnen haben moch ten, nichts erreicht hatte, und noch dazu hatte ich mich durch einen feierlichen Eid gebunden, die Stadt, zu der ich mit so hochgespannten Hoffnungen gereist war, nicht einmal verlassen zu versuchen. Nun, es war getan, und es hatte keinen Sinn, mein Tun zu be dauern, oder an die Zukunft zu denken, also wandte ich mich Mattai zu und fragte, was auf der Pyramide geschehen würde. »Es wird dort eine große Volksversammlung statt finden«, antwortete er, »wie es am Morgen nach der
Nacht der Steigenden Wasser der Brauch ist, und dort wird man den Menschen alles berichten, was in dem Heiligtum geschehen ist, und dann, wenn es ihr Wille ist, wird man Tikal gemäß der Absprache als Kazike bestätigen, und entweder heute oder morgen wird dieser weiße Mann der Gemahl der Herrin Maya werden, damit ...« – setzte er mit einem Grinsen hin zu – »ihrer Vereinigung der geweissagte Erlöser ent springe. Doch jetzt, wenn ihr bereit seid, müssen wir gehen, denn das Volk ist bereits versammelt, und ei ne Eskorte wartet auf uns.« Als wir den Palast verlassen hatten, begaben wir uns in das Zentrum einer Gruppe von Edlen und Wa chen, die uns erwartet hatte, und schritten über den Hof und die Stufen der Pyramide hinauf. Die Nacht wurde grau mit der anbrechenden Dämmerung, und in dem perlfarbenen Licht, durch das noch matt die Sterne schimmerten, sahen wir, daß Gruppen von Priestern und Edlen, in ihre bestickten Serapes gehüllt – denn die Morgenluft war kühl – an ihren Plätzen um den Altar standen. Vor ihnen drängte sich die Masse des Volkes, die sich versammelt hatte, um an diesem Feiertag ihre Gebete zu verrichten, und auch, um die Wahrheit über den Tod Zibalbays zu erfah ren, über das Schicksal der Fremden, die ihn aus un bekannten Landen begleitet hatten, über die Ent scheidung des Rates, wer der Nachfolger auf dem Platz und in der Macht des Kaziken sein würde, und schließlich, ob das Orakel des Gottes über diese oder andere Dinge zu den Priestern gesprochen hatte, als der verlorene Talisman wieder an seinen Platz im Heiligtum gelegt worden war. Als wir den Altar erreichten, wurden uns Plätze
unter den Edlen des Herzens angeboten, wobei die von Maya und dem Señor so gestellt waren, daß sie von der ganzen Menge gesehen werden konnten. Dann folgte Stille, bis schließlich der Priester, der auf dem Dache des Wachhauses postiert war, in eine silberne Trompete blies und verkündete, daß die Morgendämmerung angebrochen sei, woraufhin eine Gruppe von Sängern, die sich für diesen Augenblick bereitgehalten hatte, eine wunderbare Hymne an stimmte, deren Refrain von allen mitgesungen wur de. Und während sie sangen, verblaßte die Flamme, die über dem Altar brannte, im Morgenlicht, und wieder erklang die Trompete. Dann, in der nun fol genden Stille, begann der Priester, der in eine weiße Robe gekleidet neben dem Feuer stand, mit lauter Stimme zu beten. »O Gott, unser Gott«, rief er, »laß unsere Sünden mit dem sterbenden Jahr sterben. O Gott, unser Gott, stärke uns mit deiner Kraft, tröste uns mit deinem Trost an diesem Tage, der anbricht. O Gott, unser Gott, habe Erbarmen mit uns, erhebe uns aus dem Dunkel der Vergangenheit und gib uns in kommen den Zeiten Licht. Erhöre uns, Herz des Himmels, er höre uns!« Er schwieg, und aus der heller werdenden Dämme rung antworteten viele Stimmen: »Erhöre uns, Herz des Himmels, erhöre uns!« Dann stand der alte Priester für eine Weile reglos, und der Schein des Feuers flackerte über seine hoch gewachsene Gestalt und sein verzücktes Antlitz, während er gen Osten starrte. Heller und heller wur de das Dämmerlicht, bis schließlich ein Strahl der aufgehenden Sonne wie ein Speer durch das Dunkel
schoß, auf den Gipfel der Pyramide fiel und den Schein des heiligen Feuers verdunkelte, das vor ihm zurückzuweichen schien. Beim Erscheinen dieses er sten Sonnenstrahls erhob sich die Menge vom Mar morboden, auf dem sie im Gebet gekniet hatte, warf die dunklen Umhänge ab, die ihre weißen Gewänder verdeckt hatten, wandte sich um und streckte ihre Arme gen Osten. »Heil dir, o Sonne, Bringer alles Guten!« riefen sie im Chor. »Heil dir, neugeborenes Kind Gottes!« Nun wurde es rasch heller, und bald konnte man die Stadt erkennen, die sich weiß und wunderbar aus ihrem Nebelschleier erhob, und sobald die Strahlen der Sonne auf den Altar fielen, begannen in seiner Nähe stehende Priester die Gebete zu murmeln, die für diesen Tag des Beginns des Steigens der Wasser vorgeschrieben waren. Für das Volk des Herzens war dies ein großer Anlaß, da nur wenig Regen in ihrem Lande fiel und sie deshalb, um eine gute Ernte zu er zielen, von der Überschwemmung der Insel und auch der tiefliegenden Ufer um den See herum, durch die Schmelzwasser des Schnees von den hohen Bergen des Festlandes abhängig waren. Wenn die Wasser wieder zurückwichen, säten sie ihren Mais in einen Boden, der vom Schlamm des Sees fruchtbar gemacht worden war, ohne daß sie selbst etwas dazu tun mußten, um später, bevor die Wasser des Sees erneut anstiegen, ihre Ernte einzubringen. Als sie ihr Gebet beendet hatten und von hübschen, für diesen Zweck eigens ausgewählten Kindern fri sche Blumen auf den Altar gelegt worden waren, segnete Tikal in seiner Eigenschaft als Hohepriester die Menge, und die einfache Zeremonie war zu Ende.
Nun erhob sich Mattai, um zu sprechen und be richtete dem Volke alles, was geschehen war, oder zumindest soviel davon, wie er glaubte, es wissen lassen zu müssen. Er berichtete ihnen vom Tode Zi balbays, dem Einsetzen des verlorenen Talismans in das Symbol, und vom Auffinden der Schrifttafel, die darin verborgen gewesen war, deren Text er bei ab soluter Stille verlas. Dann verkündete er, daß die Herrin Maya und der weiße Mann sich bereit erklärt hätten, in Befolgung des Orakelspruches zu heiraten, und schließlich, daß sie, die Herrin Maya, den Wunsch geäußert habe, ihr Cousin Tikal solle weiter hin Kazike der Stadt des Herzens bleiben, damit sie mehr Zeit für ihren vom Himmel gesandten Ehe mann habe und sich ganz dem geweissagten Kinde widmen könne, bis es ein Mann geworden sei, dessen Weisheit und Macht das Volk noch größer machen sollte, als seine Vorväter es gewesen seien. Als er seine Rede beendet hatte, erhoben sich star ker Applaus und andere Laute der Zustimmung, und ein Sprecher aus dem Volke fragte, wann die Hoch zeit des weißen Mannes, Sohn des Meeres, und der Herrin Maya stattfinden würde. Diese Frage beantwortete sie selbst und erklärte, es sei der Wunsch ihres Gebieters, daß sie noch in dieser Nacht in der Banketthalle des Palastes vollzogen werde, und daß ihr zu Ehren ein großes Fest stattfin den solle. Danach sprach niemand mehr. Tikal hatte kein Wort gesagt, weder ein gutes, noch ein böses, außer solchen, die sein Amt erforderte. Nach der Gepflo genheit des Landes traten nun viele Menschen, Edle und einfaches Volk, auf Maya zu, um ihr zu gratulie
ren. Als ich es müde wurde, sie zu beobachten und ihren hübschen Worten zu hören, nahm ich die Gele genheit wahr, einen freundlichen Edlen zur Zeremo nie des Schließens der Flutschleuse zu begleiten, dem Herablassen eines riesigen Marmorblockes, der in breiten Rillen in die für ihn vorgesehene Lücke glitt, wo er mit starken Kupferstangen gesichert und von den dafür Zuständigen versiegelt wurde, obwohl die steigenden Wasser, wie man mir erklärte, die Schleu se nicht vor acht oder zehn Tagen erreichen würden. Doch selbst wenn die Flut sich als niedrig erweisen sollte, bedeutete es den Tod, jene Siegel innerhalb der nächsten vier Monate zu brechen, und während die ser ganzen Zeit mußte jeder, der die Stadt verlassen wollte, dieses über Leitern tun, die von der Mauer krone zu kleinen Holzflößen hinabführten, an denen Boote festgemacht waren. Danach gingen wir ein we nig auf den Mauern entlang und durch einige der Hauptstraßen, und ich war erstaunt über die Größe dieser halb verlassenen Stadt, denn der größte Teil davon lag in Ruinen, und über die vielen seltsamen Bilder, die sich mir hier boten. Ja, ich neige zu der Ansicht, daß Mexiko zur Zeit Montezumas, meines Vorfahren, nicht größer und mächtiger gewesen sein konnte, als es diese Stadt zur Zeit ihrer Hochblüte gewesen sein mußte. Gegen Mittag kehrte ich in die Räume zurück, die mir im Palast angewiesen worden waren, und als ich erfuhr, daß der Señor sich noch immer bei der Herrin Maya aufhielte, nahm ich mein Mittagessen allein zu mir, und legte mich dann hin, um eine Weile zu schlafen. Ich wurde von dem Señor geweckt, der so fröhlich
aussah wie zu jenen Tagen, bevor Molas erschienen war, um uns zu dem alten indianischen Heiler und dessen Tochter zu führen, und mir wortreich über die Vorbereitungen seiner Hochzeit berichtete, welche an diesem Abend stattfinden sollte. Ich hörte allem zu, was er mir zu sagen hatte, und gab mir ernsthaft Mü he, mich seiner Stimmung anzugleichen, doch wollte es mir nicht gelingen, so daß er schließlich in die meine verfiel, die niedergedrückt war, und voller Be dauern über die Vergangenheit zu sprechen begann, und zweifelnd über die Zukunft. Nun tat ich mein Bestes, ihn wieder aufzuheitern, jedoch ohne Erfolg, denn er schüttelte nur den Kopf und sagte: »Wer hätte gedacht, daß ich mich in eine Indianerin verlie ben würde? Doch noch nie hat eine Frau mir so viel bedeutet wie Maya; trotzdem aber habe ich Angst, Ignatio, denn über dieser Heirat schwebt ein böses Omen, und ich bete darum, daß das, was von uns mit einem Betrug begonnen wurde, nicht in einer Kata strophe enden möge. Außerdem sieht die Zukunft für Euch wie für mich schlecht aus, Sie sind zu einem be stimmten Zwecke hergekommen und werden ir gendwann die Stadt wieder verlassen wollen, um Ihr Ziel zu verfolgen; und ich verspüre, obwohl ich Maya heiraten werde, nicht die geringste Lust, den Rest meines Lebens in der Stadt des Herzens zu verbrin gen. Und doch scheint es, als ob wir dazu gezwungen sein werden, falls es uns nicht gelingen sollte, zu flie hen.« »Lassen Sie uns hoffen, daß eine Flucht möglich ist.« »Das bezweifle ich, denn ich habe bereits bemerkt, daß wir, wenngleich man uns mit allen Ehren behan
delt, streng überwacht werden, zumindest ich, aus gewissen Gründen. Trotzdem, komme, was da wolle, hoffe ich, daß diese Heirat keinen Bruch in unsere Freundschaft bringen wird, Ignatio.« »Das kann ich nicht wissen, Señor«, antwortete ich, »obwohl ich meine, daß seit mehreren Wochen ein Schatten zwischen uns liegt, und ich darum bete, daß dieser Schatten sich nicht vertiefen möge. Außerdem ist es mir vom Schicksal bestimmt, daß Frauen zwi schen mich, meine Ziele und meine Freunde treten sollen. Von dem Augenblick an, da mein Blick auf Maya fiel, die in der Kapelle der Hacienda an den Altar gefesselt war, spürte ich, daß ihre große Schön heit uns Kummer bringen würde, und es sieht ganz so aus, als ob mein Herz nicht gelogen hätte. Jetzt ha ben wir, unter ihrer Führung, einen dunklen und un sicheren Weg beschritten, dessen Ende noch niemand absehen kann.« »Ja«, antwortete er, »doch haben wir diesen Weg beschreiten müssen, um unser Leben zu retten.« »Sie hat ihn beschritten, nicht um ihr Leben zu ret ten, das ihr, wie ich meine, kaum etwas bedeutet, sondern um den Mann zu erringen, den sie sich er sehnt. Was mich betrifft, so halte ich es für besser, wenn wir sterben würden, wenn es Gott so gefallen sollte, anstatt mit einem von Betrug beschmutzten Herzen weiterleben zu müssen, da wir am Ende ja doch sterben müssen und keine Jahre zusätzlichen Lebens diese Flecken auswaschen können. Ich weiß, daß dieses in den Ohren eines Bräutigams traurig klingen muß, also vergessen Sie es, mein Freund, und ruhen Sie sich eine Weile aus, damit Sie frisch sind zu Ihrem Hochzeitsfest.«
Ohne zu antworten legte der Señor sich auf das Bett, wo er auch liegen blieb – ob schlafend oder wa chend, kann ich nicht sagen –, bis die Sonne sich senkte, und er durch das Eintreffen mehrerer Edler und Diener geweckt wurde, die kamen, um ihn zum Bad zu führen. Bei seiner Rückkehr traten weitere Bedienstete ein, die herrliche Gewänder und Juwelen brachten, Gaben der Herrin Maya, welche von ihm und mir während der Zeremonie getragen werden sollten. Dann, nachdem Barbiere ihm Haar und Bart auf die Art geschnitten und parfümiert hatten, wie es bei diesem Volke der Brauch war, wurde er einge kleidet wie ein Opfer, das den Göttern dargebracht werden sollte. Sobald alles bereit war, wurden die Türen aufge stoßen, und sechs Würdenträger des Palastes traten herein, die Stäbe ihres Amtes in den Händen, in Be gleitung einer Gruppe von Musikantinnen, die nach ihrer Schönheit ausgewählt worden waren, die, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht gering war. In die Mitte dieser Würdenträger und Mädchen wurde nun der Señor aufgenommen, und, gefolgt von mir, der ich mit schwerem Herzen hinter ihm herschritt, ging er zur Banketthalle. Als wir sie erreichten, wur den ihre Türen aufgestoßen, und die Musikantinnen stimmten ein Liebeslied an, das recht schön war, je doch so törichten Inhalts, daß ich es vergessen habe. Wir traten über die Schwelle und sahen, daß die Halle mit prächtig gekleideten Gästen gefüllt war, de ren Juwelen im Licht der Lampen glitzerten. Durch den Weg, den sie uns öffneten, gingen wir, bis wir das andere Ende der Halle erreichten, wo, in einem Halbkreis versammelt, die Mitglieder vom Rate des
Herzens saßen, Tikal und seine Frau in deren Mitte, mit Mattai zu ihrer Rechten, und links von ihnen der alte Priester Dimas, der Adoptivbruder Zibalbays, der uns den Eid abgenommen hatte. Als wir uns näherten, erhoben sich alle Mitglieder des Rates und verneigten sich vor dem Señor, mit Ausnahme von Tikal, der schweigend vor sich hin starrte und sich nicht regte. Kaum hatten die anderen ihre Plätze wieder eingenommen, als erneut das Sin gen und Musizieren ertönte, und am anderen Ende der Halle eine weitere Gruppe von Musikanten er schien, die auf Rohrflöten spielten und in königliches Grün gekleidet waren. Nachdem die Musikanten her einmarschiert, oder vielmehr hereingetanzt waren, erschien eine Anzahl junger Mädchen, ganz in Weiß gekleidet, mit weißen Lilien in den Händen, die sie auf den Boden streuten, damit die Füße der Braut auf sie treten sollten. Als nächste kam Maya, ein solches Bild der Schönheit, daß es selbst mein kaltes Herz an rührte und mich dazu brachte, freundlicher an den Señor zu denken, der zum Komplizen des Betruges geworden war, um sie zu erringen. Auch sie war ganz in Weiß gekleidet, in eine reich mit Gold be stickte Robe, auf der das Symbol des Herzens prang te; um Taille und Hals lagen ein Gürtel und eine Kette unermeßlich kostbarer Smaragde, und auf ih rem Haupte saß eine Tiara auserlesener Perlen, und um ihre Gelenke spannten sich Spangen aus purem Gold. Ihr lockiges Haar hing lose bis fast auf die Knö chel, und in ihrer Hand hielt sie, als Zeichen ihres Ranges, ein kleines goldenes Zepter, an dessen einem Ende eine große Perle saß, und an dem anderen ein in Herzform geschnittener Smaragd. Sie kam auf uns
zugeschritten, oder vielmehr geschwebt, den schma len Kopf hoch erhoben, und so wunderbar und überwältigend war der Anblick ihres Gesichts, daß ich, von dem Moment an, als mein Blick auf sie fiel, bis zu dem, an dem sie neben dem Bräutigam vor mir stand, nichts anderes wahrzunehmen schien. Es war sehr blaß und ernst, genaugenommen sah Maya in je nem Moment mehr wie eine weiße Frau aus, denn wie eine indianischen Blutes, und ihre geschwunge nen Lippen standen halb geöffnet, als ob sie darauf warteten, irgendwelche halbvergessenen Worte aus zusprechen. Ihre Augen waren weit geöffnet und wirkten im Schatten ihrer Wimpern voller Geheimnis und Verwunderung, wie die Augen einer Schlaf wandlerin, die Dinge sieht, die den Wachenden ver borgen sind. Schließlich begegnete ihr Blick dem des Señors, und sie wurden plötzlich sanft, während ihr Gesicht, ihr Hals und ihre Arme sich röteten. Nun war für mich der Bann gebrochen, und ich blickte Tikal an und sah, daß sein Gesicht den glei chen Ausdruck zeigte wie den, mit dem er Maya be grüßte, als er sie, die Totgeglaubte, bei seiner Hoch zeitsfeier in Leben und Schönheit gekleidet vor sich stehen sah. Unverwandt und verzweifelnd starrte er sie an, und ich sah, daß Tränen in seinen wutverdun kelten Augen standen und die Eifersucht ihn von Kopf bis Fuß schüttelte, als er sie beim Anblicken sei nes weißen Rivalen vor Glück und Liebe erröten sah. Von Tikal glitt mein Blick zu der dunklen Schönheit an seiner Seite, Nahua, seiner Frau, und ich spürte, daß sie in diesem Augenblick dessen sicher wurde, was sie bis dahin vielleicht nur geahnt hatte, nämlich daß ihr Mann sie in seinem Herzen verabscheute, so
wie er mit seiner ganzen Seele die Anverlobte seiner Jugend liebte, die jetzt als die Braut eines anderen vor ihm stand. Zweifel, Angst und Wut funkelten ab wechselnd aus ihren düsteren Augen, als sie dies er kannte, gefolgt von einem Ausdruck tiefen Elends, des Elends eines Menschen, der weiß, daß alles, was das Leben lebenswert macht, ihm auf immer verloren ist. Dann preßte sie für einen Augenblick die Hände auf ihr Herz und wandte sich ab, um ihre Scham und ihr Leid zu verbergen, und als sie wieder aufblickte, war ihr Gesicht so ruhig wie das Gesicht einer Statue, doch lag auf ihm die gefrorene Maske unerbittlichen Hasses – des Hasses auf die Frau, die sie ihrer Liebe beraubt hatte. Nun standen Bräutigam und Braut nebeneinander in dem Halbkreis, um den die Mitglieder vom Rate des Herzens saßen, unter denen auch mir ein Platz angewiesen wurde, während hinter ihnen die Musi kanten und Musikantinnen Aufstellung genommen hatten, und nach diesen drängte sich die Menge der prächtig gekleideten Hochzeitsgäste. Als alle auf ih ren Plätzen waren, trat ein Herold vor und rief die Namen und Titel des Paares aus, wobei er hinzufüg te, daß die Heirat dieser beiden auf direkten Befehl des Schutzgottes der Stadt und auf Wunsch des Rates des Herzens geschlossen würde, und wegen der Lie be, die sie füreinander empfänden. Als nächstes zog er eine Schriftrolle hervor und verlas von ihr den Text des Übereinkommens, durch welches Maya auf ihren Anspruch der Herrschaft zugunsten ihres Cousins Tikal verzichtete, und ich bemerkte, daß dieses Über einkommen mit kühlem Schweigen aufgenommen wurde, und von einigen sogar mit dem Ausdruck of
fener Mißbilligung. Schließlich verlas er von einer anderen Schriftrolle die Liste der Ehren, Vorrechte, Ämter, Reichtümer, Häuser und Diener, welche hiermit der Herrin Maya und ihrem Gatten zugeeig net wurden, und auch mir, als ihrem Freund, zur Aufrechterhaltung ihres Ranges und ihrer Würde und der meiner Bequemlichkeit. Nachdem er diese Aufgabe hinter sich gebracht hatte, fragte er den Señor und Maya, ob sie alles ge hört hätten, das er auf Befehl des Rates verlesen habe, und, wenn ja, ob sie damit einverstanden seien. Sie neigten den Kopf zum Zeichen der Zustimmung, worauf der Herold sich Tikal zuwandte, ihn mit allen seinen Titeln anredete und aufforderte, in seiner Ei genschaft als Oberhaupt des Staates diese beiden Menschen im Angesicht der Menschen zu vereinen, wie es der alte Brauch des Landes sei. Tikal hörte ihn an und erhob sich von seinem Platz, als ob er mit dem Ritual beginnen wolle, doch dann sank er wieder zurück und sagte: »Suche dafür einen anderen Priester, Herold, denn ich werde es nicht tun.«
22
Mattai prophezeit Unheil
Bei Tikals Worten erhob sich erstauntes Murmeln, und Mattai beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Tikal hörte ihm einen Moment lang zu, dann fuhr er wütend zu ihm herum und sagte laut, so daß alle ihn hören konnten: »Ich sage dir, Mattai, daß ich nichts mit diesem Frevel zu tun haben will. Hat man schon jemals davon gehört, daß die Herrin des Her zens, die höchststehende Dame des Landes, einem Fremden zur Frau gegeben werden soll, der wie ein streunender Hund zu unserem Tor gekommen ist?« »Aber die Prophezeiung ...«, begann Mattai. »Die Prophezeiung! Ich halte nichts von Prophe zeiungen. Warum sollte ich einer Prophezeiung ge horchen, von der ich nicht weiß, wie und wann oder von wem sie gemacht wurde? Die Herrin des Her zens war meine Anverlobte, und jetzt mutet man mir zu, sie mit einem namenlosen Manne zu vereinen, der nicht einmal unseres Blutes und unseres Glaubens ist. Nein, ich werde es nicht tun.« »Das ist Blasphemie, Herr«, antwortete Mattai mit aufsteigender Wut, »da es dem Hohepriester nicht ansteht, dem Orakel des Gottes zu widersprechen. Außerdem ...«, setzte er mit Betonung hinzu, »was kann es dir schon bedeuten, der du noch nicht zehn Tage mit jener verheiratet bist, die dir zur Seite sitzt, wenn sie, die dir einst anverlobt war, einen anderen zu ihrem Gemahl erwählt?« »Was es mir bedeutet?« sagte Tikal wütend. »Wenn
du es unbedingt wissen willst, so werde ich es dir sa gen. Es bedeutet mir alles! Wie bin ich denn dazu ge kommen, mein Eheversprechen zu brechen und deine Tochter zur Frau zu nehmen? Durch dich, Mattai, durch dich, den Lügner und falschen Propheten. Hast du mir nicht geschworen, daß Maya in der Wildnis umgekommen sei? Und hast du nicht, um deines ei genen Vorteils willen, mich gezwungen, deine Toch ter zur Frau zu nehmen? Ja, und ist nicht diese Hoch zeit zwischen der Herrin des Herzens und dem wei ßen Mann ein Komplott, das du ersonnen hast, um deine persönlichen Ziele zu erreichen?« Während alle wie erstarrt standen, erhob sich Na hua, die allem mit steinernem Schweigen zugehört hatte, plötzlich und sagte: »Der Herr Tikal, mein Ehe gemahl, vergißt, daß die Höflichkeit selbst eine un willkommene Ehefrau vor öffentlichen Beleidigungen schützen sollte.« Dann wandte sie sich um und ver ließ die Halle durch die Tür, die sich hinter ihr be fand. Nun lief ein Gemurmel des Mitleids für die Frau und der Empörung über den Mann durch die Reihen der Anwesenden, und als es verstummte, sagte Tikal: »Unheil wird aus dem Frevel dieser Nacht erwach sen, und ich will daran keinen Anteil haben. Tut, was ihr wollt, und seht, was daraus kommen wird ...« Und bevor irgend jemand antworten konnte, verließ auch er die Halle, gefolgt von seinen Wachen. Eine Weile herrschte Schweigen, dann begannen die Menschen erregt miteinander zu sprechen, und einige Mitglieder vom Rate des Herzens verließen ih re Plätze und berieten eilig miteinander. Schließlich setzten sie sich wieder und Mattai hob die Hand, um
Ruhe zu fordern. »Vergebt mir«, sagte er, an die Anwesenden ge wandt, »wenn meine Rede kurz und hart erscheint, doch fällt es mir schwer, angesichts dieser offenen Beleidigung, der ich und meine Tochter eben ausge setzt wurden, ruhig zu bleiben. Ich will mich nicht so weit erniedrigen, auf die Anschuldigungen einzuge hen, die der Herr Tikal in seiner Wut gegen mich ausgestoßen hat. Zweifellos hat eine böse Macht ihn mit Wahnsinn geschlagen, daß er seine Ehe als Mann und seine Pflicht als Herrscher und Priester vergessen hat und es wagen konnte, solche Verleumdungen ge gen den Gott auszusprechen, welchen wir anbeten, gegen den weißen Mann, den dieser Gott erwählt hat, der Ehegemahl unserer Herrin Maya zu sein, und ge gen mich, den Hüter des Heiligtums. Es waren viele unter euch, die mich für töricht hielten, als ich nach vielen Gebeten und Gedanken und im ehrlichen Glauben, dadurch das Wohl des Volkes zu fördern, meine Stimme dafür abgab, Tikal auf den Platz des Kaziken zu erheben, da ich glaubte, daß Zibalbay, zu sammen mit seiner Tochter, in der Wildnis umge kommen sei. Heute erkenne ich, daß sie recht hatten und ich wahrhaftig töricht gewesen bin. Doch genug der Reue und der bitteren Worte, die schlechte Musik auf einem Hochzeitsfest machen. Tikal, der Oberste unserer Hierarchie, ist gegangen, doch sind noch an dere Priester hier, und sein Wille ist nicht der Wille des Rates, noch der des Volkes des Herzens, für das der Rat spricht. Sein Wille ist, daß diese Heirat voll zogen werde, und Dimas, mein Bruder, dich, als den ältesten unter uns, rufe ich auf, sie zu vollziehen!« Nun erklangen laute Beifallsrufe, denn die Men
schen waren entschlossen, diese seltsame Vereinigung eines weißen Mannes mit ihrer Herrin des Herzens mit zuerleben, und sei es auch nur, weil es etwas Neues war und ihre Phantasie anregte; und selbst solche, die Tikals Gefolgsleute waren, hatten einen Zorn auf ihn, wegen seines schlechten Benehmens und des grau samen Affronts gegenüber seiner jungen Frau. Sobald die Unruhe sich gelegt hatte, erhob sich der alte Priester Dimas, ergriff die Hand Mayas, und die des Señors, legte sie ineinander und sprach ein ergrei fendes Gebet über sie, segnete sie und flehte den Geist, das Herz des Himmels, und die anderen Götter an, sie in ihrer gegenseitigen Liebe glücklich zu ma chen. Schließlich legte er ein weißes Tuch, welches bereit gehalten worden war, auf ihre Köpfe, und als sie vor ihm niederknieten, löste er den SmaragdGürtel von der Taille Mayas, nahm ihre rechte Hand und legte sie auf den Arm des Señors; dann wand er den Gürtel um Handgelenk und Arm, schloß ihn und erklärte die beiden mit wenigen, feierlichen Worten im Angesicht des Himmels und der Erde zu Mann und Frau, bis der Tod den Bund löse. Nun wurde das Tuch von ihren Köpfen gehoben und der Gürtel gelöst, und das junge Paar erhob sich und küßte sich vor den Menschen. Ein Freudenschrei stieg auf, der die Decke erbeben ließ, und einer nach dem anderen, in der Reihenfolge ihres Ranges, traten die Gäste heran, um dem Hochzeitspaar Glück zu wünschen, wobei die meisten von ihnen kostbare und schöne Gaben mitbrachten, welche sie den Hofdamen übergaben. Als letzter trat der alte Priester Dimas heran und sagte: »Herrin, das Geschenk, das ich dir auf Befehl
des Rates überreichen soll, mag zwar nur geringen materiellen Wert besitzen, doch ist es eines der wert vollsten Güter, die innerhalb der Mauern dieser alten Stadt gefunden werden können, da es nichts Geringe res ist, als das heilige Symbol des Allessehenden Au ges vom Herzen des Himmels, welches, durch dich, zum erstenmal seit vielen Generationen den Blicken der Menschen zugänglich gemacht wurde. Trag es immer, o Herrin, und denk daran, daß das Juwel zwar nicht sehen kann, das Auge jedoch, dessen Symbol es ist, von Stunde zu Stunde selbst deine ge heimsten Gedanken liest. Laß also dein Denken so makellos sein wie deinen Körper, und hege in deinem Busen weder Arglist noch Bosheit; denn über all dies wirst du eines kommenden Tages Rechenschaft able gen müssen.« Während er das sagte, zog er aus einer Schachtel das entsetzliche Auge hervor, das wir in der Höhlung des Herzens gesehen hatten, als wir es mit entwei henden Händen beraubt und das Falsche für das Echte hineingelegt hatten. Jetzt war es in Gold gefaßt und hing an einer goldenen Kette, die er nun um den Nacken der Braut legte, so daß das rote, grausam wirkende Juwel schimmernd auf ihrer bloßen Haut ruhte. Maya verneigte sich und murmelte ein paar Worte des Dankes, doch ich bemerkte, daß sie bei der Berührung dieses unheilvollen Dings beinahe in Ohnmacht gesunken wäre, denn sie wurde bleich und wäre sicher zusammengebrochen, wenn ihr Mann sie nicht beim Arm ergriffen hätte. Während der Señor und seine Frau die Geschenke in Empfang genommen und sich schöne Worte ange hört hatten, waren zahlreiche Diener damit beschäf
tigt gewesen, lange Tafeln hereinzutragen, die mit Gerichten aller Art überladen waren, und auf ein Zei chen hin begann das Festmahl. Es wurde ein ausge dehntes und fröhliches Mahl, doch Maya schien jede Fröhlichkeit vergangen zu sein, denn sie aß und trank nicht, sondern hob nur hin und wieder den roten Stein von ihrer Brust, als ob er ihr die Haut verbren ne. Schließlich erhob sie sich und schritt, von ihrem Ehegemahl begleitet, nach beiden Seiten nickend durch die Halle in den Hof des Palastes, wo Träger mit Sänften auf sie warteten. In diesen nahmen sie Platz, und nachdem sich eine Prozession formiert hatte, die sehr lange und sehr prächtig war, obgleich ich mich nicht damit aufhalten will, sie zu beschrei ben, begannen wir zu den Klängen von Musik und Gesang im Licht des Mondes und von Hunderten von Fackeln um den großen Platz zu ziehen. Hier auf dem Platz hatte sich die ganze Bevölkerung der Stadt des Herzens versammelt, Männer, Frauen und Kinder, um die Braut zu begrüßen, und jeder von ihnen hielt Blumen und eine brennende Fackel in den Händen. Niemals habe ich einen schöneren Anblick erlebt, als den dieses Willkommens. Nachdem der Platz umrundet war, hielt die Pro zession vor den Toren des Palastes, und viele Hände streckten sich aus, um Braut und Bräutigam aus ihren Sänften zu helfen. In diesem Augenblick spürte ich, der ich in der Nähe stand, wie sich ein Mann in einem weiten Federumhang an mir vorbeidrängte und sah, daß er etwas in der Hand hielt, das wie ein Messer blitzte. Rein instinktiv rief ich: »Achtung, mein Freund!« auf spanisch und mit so lauter Stimme, daß der Señor
mich hörte. Er fuhr herum, und im gleichen Moment stürzte der Mann in dem Umhang sich auf ihn und stach mit dem Messer zu. Doch da der Señor gewarnt war, konnte er ihm ausweichen. Er sprang zur Seite und versetzte dem Attentäter gleichzeitig einen kräf tigen Hieb, der ihn taumelnd in den tiefen Schatten des Torbogens schleuderte. Das Messer klirrte zu Boden. Im ersten Moment schien niemand zu begreifen, was geschehen war, und als sie es taten und nach dem Manne zu suchen begannen, konnte er nirgends gefunden werden. Wer er war, und warum er diesen feigen Anschlag unternommen hatte, wurde niemals geklärt, doch hege ich kaum Zweifel daran, daß ent weder Tikal selbst oder einer seiner Handlanger in diesem Federumhang gesteckt hat, um ihn auf diese Weise von seinem Rivalen zu befreien. Und im Laufe der Zeit verwurzelte sich dieser Verdacht immer tie fer im Denken des Volkes und wurde zu einem der Gründe, die zum Niedergang von Tikals Macht und Beliebtheit führten. Sehr nachdrücklich versicherte der Señor den Edlen, die sich um ihn drängten, daß er nicht die geringste Verletzung erlitten habe, und nach ein paar Worten des Dankes zog er sich mit seiner Frau in den Palast zurück, und ich sah ihn in jener Nacht nicht mehr. Dieser Hochzeitstag war für mich der Beginn des längsten und beschwerlichsten Jahres in einem lan gen, beschwerlichen Leben. Sehr bald begriff ich, wie es kam, daß Maya die Stadt des Herzens, in der sie geboren wurde, und auch ihr Volk und seine Art haßte, und sich nichts sehnlicher wünschte, als in ei nem anderen Land ein neues Leben zu beginnen.
Hier gab es keinerlei Abwechslung und nur wenig Arbeit; hier rotteten, entkräftet durch eine bis ins Detail geregelte Fürsorge, die armseligen Reste einer großen Zivilisation langsam ihrem Zerfall entgegen, und niemand rührte eine Hand, um ihn aufzuhalten. Da Männer aber immer etwas tun müssen, intrigier ten die Priester und Edlen gegeneinander um Rang und Macht, und die einfachen Menschen folgten lustlos diesem oder jenem Gewerbe, durch das sie Nahrung und Kleidung für die Gemeinschaft produ zierten – nicht für sich selbst –, doch steckte keine Energie in dem, was sie taten, und sie hatten wenig Freude daran. Im ewigen Sonnenschein badend bummelten sie von der Wiege bis zum Grabe, auf nichts hoffend, nichts leidend, nichts fürchtend, in lauer Zufriedenheit; hatten dann und wann zwischen ihren verfallenden Palästen Festmähler abzuhalten, und wenn sie müde wurden, zu schlafen, bis es wie der Zeit für ein Festmahl war, und nährten ihre See len mit den leeren Hüllen eines Glaubens, dessen Be deutung ihnen verloren gegangen war. So waren die Menschen, aus denen Zibalbay eine Rasse von Erobe rern zu formen gedacht hatte. Dennoch, in dieses Leben waren sie hineingeboren worden, und es gefiel ihnen; in der Tat hätten sie kein anderes ertragen können, denn der Atem von Härte und Herausforderung hätte sie hinwegschmelzen las sen, wie meine indianischen Vorfahren unter der ei sernen Herrschaft der Spanier hinweggeschmolzen waren, doch für mich war es eine tägliche Qual. Oft habe ich gesehen, wie irgendein wildes Tier in seinem Käfig litt und starb, obwohl ihm mehr Futter gereicht wurde, als es in seinen heimatlichen Wäldern gefun
den hätte, und wie so ein gefangenes Tier fühlte ich mich in der sanften Stadt des Herzens. Der Reichtum, nach dem ich gesucht hatte, lag im Überfluß um mich herum, sinnlos und unproduktiv wie die toten Hände, die ihn zusammengetragen hatten, während drüben, in Mexiko, Männer waren, die mit Hilfe dieses Reichtums frei und mächtig wer den könnten; aber ach! Ich konnte die beiden nicht zusammenbringen. Ich konnte nicht einmal aus mei nem Gefängnis entkommen, denn jede meiner Bewe gungen wurde überwacht. Und doch hätte ich es ver sucht, wenn es nicht um den Señor gewesen wäre, der, als ich mit ihm darüber sprach, erklärte, daß ich kein echter Freund wäre, wenn ich fortginge und ihn in diesem Hause voller Fremder allein ließe. In der Tat war seine Lage schwieriger als die meine, denn er wurde diese entsetzliche Stadt des ewigen Sommers bald unerträglich leid, und auch alles, das mit ihr zu sammenhing – mit Ausnahme seiner Frau. Viele Stunden lang starrten wir oft auf die Weite des Sees hinaus und machten einen Plan nach dem anderen, durch den wir die Berge und die Freiheit gewinnen mochten, nur um jeden von ihnen wieder zu verwer fen. Denn es war hoffnungslos. Tag und Nacht wurde er bewacht, da hierin allein dieses Volk seine Trägheit ablegte. Die Leute wußten, daß ihre Rasse ausstarb, und da sie zu bequem waren, selbst etwas zu unter nehmen, legten sie ihre ganze Hoffnung in die Pro phezeiung, daß aus diesem weißen Manne ein Retter entspringen würde. Inzwischen stand diese Prophe zeiung, obwohl sie falsch war, im Begriff, zumindest zum Teil erfüllt zu werden, was allein den Augen dieser Menschen wie ein Wunder erschien, da die
Geburt von Kindern so selten war. Schließlich wurde jenes Kind geboren – es war ein Sohn –, und der Jubel kannte keine Grenzen. Seltsamerweise entband am gleichen Tage auch Nahua einen Knaben, und ihre Wut war groß, als sie erfuhr, daß die Freude des Vol kes nicht ihrem Kinde galt. Wenige Tage nach der Hochzeit des Señors hatten wir gehört, daß Mattai von einer Krankheit nieder geworfen worden war, einer Art Lähmung, zusam men mit einem leprösen Zustand der Arme, an der jede ärztliche Kunst scheiterte. Monatelang lag er in seinem Hause, und er wurde immer schwächer und schwächer, wie die Ärzte berichteten, doch eines Abends – ich erinnere mich, daß es drei Tage vor der Geburt von Mayas Kind war – erschien er vor Maya, dem Señor und mir, als wir zusammen im Palaste sa ßen und in den mondhellen Garten hinausblickten. Im ersten Moment erkannten wir ihn nicht, denn noch nie hatte ich einen so entsetzlichen Anblick ge sehen. Sein Körper war aufgedunsen, ein Arm – der linke – war von Binden umwickelt, sein Kopf wak kelte unaufhörlich, und die Lepra hatte auf sein Ge sicht übergegriffen, das feuerrot war. »Weicht nicht vor mir zurück«, begann er mit lei ser, zitternder Stimme, während er uns mit seinen fast farblos gewordenen Augen ansah, »wahrlich, ihr solltet nicht zurückweichen, da ihr alle Partner des Verbrechens gewesen seid, das mich zu dem widerli chen Wrack gemacht hat, das ich jetzt bin. Ja, leugnet es, wenn ihr es wollt, doch ich weiß es. Die Rache des Gottes ist auf mich gefallen, seinen falschen Diener, und sie ist zu Recht gefallen. Und seid versichert, daß die Rache auch auf euch fallen wird, denn das Auge
hat gesehen, der Mund hat gesprochen, und das Herz hat eure Verdammung beschlossen. Blickt mich an und seht, wie reich der Lohn ist, den jener erhält, der Gott lästert, und versucht an meinem Leiden die eu ren zu ermessen. Vielleicht ist euer Becher noch nicht voll; vielleicht stehen euch noch größere Sünden be vor, die ihr begehen müßt, doch die Rache wird über euch kommen – ich sage euch, daß die Rache über euch kommen wird, hier und im Jenseits. Ich habe um meiner Tochter willen gesündigt; ja, aus Liebe zu ihr, meinem einzigen Kinde. Sie war ehrgeizig, und sie hat sich diesen Mann erwünscht, und ich sah eine Möglichkeit, sie zur Größe zu bringen, und ihre Kin der nach ihr. Doch seht, wie der süße Saft zu Essig wurde, und ihre Früchte zu Asche. Ihr Ehemann verfolgt sie mit seinem ständig wachsenden Haß; sie sprechen kaum noch miteinander, und wenn sie sprechen, so nur, um sich bittere Worte an den Kopf zu werfen. Und noch etwas: Nicht mehr lange wird Tikal der Kazike der Stadt des Herzens sein, denn seine eifersüchtige Wut hat ihm den Verstand verwirrt; seine Taten sind die der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit! Schon jetzt wird er vom Volke gehaßt, und selbst jene, die ihn liebten, wenden sich von ihm ab und intrigieren gegen ihn. Und ihr wißt, was das Ziel ihrer Intrige ist? Sie wollen, daß das Kind, das du gebären wirst, Maya, an seiner Stelle Kazike werden soll, und daß du und dein ausländischer Ehemann als Regenten eingesetzt werdet, bis es alt genug ist, um herrschen zu können. Oh! Ihr habt alles sehr wohl geplant, und die Dinge stehen gut für euch, doch sage ich euch, daß ihr kein Glück finden sollt.
Fluch liegt auf dir, Ignatio, Herr des Herzens, und alle deine hehren Hoffnungen sollen zusammenfallen wie ein vermodertes Dach, und niemals sollen die Adler des Reiches, von dem du träumst, in deine Banner gestickt werden. Sklaven sind die Menschen, für die du gestrebt hast, und Sklaven sollen sie blei ben, denn durch das Verbrechen, dem du zustimm test, hast du ihre Ketten neu geschmiedet. Fluch liegt auf deinem Kinde, Maya – es soll nicht leben, um zum Manne zu werden; Fluch liegt auf deinem Ge mahl – sein Haar soll nicht grau werden. Doch am schwersten liegt Fluch auf dir, du falsche Herrin des Herzens, auf dir, deren ganzes Leben eine einzige Lüge ist; auf dir, die du deinen Glauben verlassen und deinen Eid gebrochen hast; auf dir, die du dich von deinem Volke und deinem uralten Hause abge wandt hast, damit du einen wandernden weißen Mann in deine Arme schließen konntest. Frau, wir werden uns nicht wiedersehen, doch in der Stunde deines letzten Elends und während der langen, lan gen Äonen ewiger Strafe erinnere dich an die Worte, die ich heute zu dir gesprochen habe.« Mattei schüt telte seinen abgezehrten Arm vor unseren Gesichtern und humpelte hinaus. Er war fort, und wir saßen und starrten einander in unserem Entsetzen an, denn obwohl keiner von uns an den Gott glaubte, den er verehrte, fühlten wir doch in unseren Herzen, daß dieser Mann die Wahrheit ge sagt hatte, und daß Unheil über uns hereinbrechen würde. Für einen Moment barg Maya ihr Gesicht in den Händen und weinte; doch dann sprang sie auf, und ein Feuer in ihren Augen trocknete ihre Tränen. »So mag es sein!« rief sie. »Es kümmert mich nicht.
Zumindest habe ich dich gewonnen, mein Geliebter, und für mehrere Monate bin ich trotz aller Widrig keiten an deiner Seite glücklich gewesen, und mag nun Gutes oder Böses kommen, nichts kann mir mei ne Erinnerungen rauben. Doch um dich fürchte ich. Ja, um dich fürchte ich ...« Dann, nachdem dieser leidenschaftliche Ausbruch vorüber war, warf sie sich in seine Arme und begann wieder zu weinen. Wenig später wurde das Kind geboren, ein stattlicher Junge von fast weißer Hautfarbe und mit den ster nengleichen Augen seiner Mutter; und in derselben Nacht starb Mattai unter großen Qualen, wie wir er fuhren, und wurde Nahua eines Sohnes entbunden. Achtzehn Tage vergingen, und Maya, die das Wo chenbett verlassen hatte, saß mit ihrem Mann und mit mir zusammen, während hinter uns eine Hofdame stand, die das schlafende Kind auf ihren Armen hielt, als der Besuch einer Abordnung der führenden Mit glieder des Rates angekündet wurde, die mit ihr zu sprechen begehrte. Kurz darauf traten die Männer herein, und ihr Sprecher, Dimas, verneigte sich vor ihr und sagte: »Wir sind zu dir gekommen, Herrin des Herzens, um dir im Namen des Rates und des Volkes Glück zu wünschen und dir gewisse Angelegenheiten des Staates vorzulegen. Seit Monaten sind die Menschen der Unterdrückung und Grausamkeiten Tikals müde, der im Verstoß gegen die Gesetze des Landes viele zu Tode gebracht hat, weil er sie verdächtigte, an Kom plotts gegen seine Macht beteiligt gewesen zu sein. Außerdem ist es erst gestern durch das Geständnis
eines, den er dazu benutzte, seine Verbrechen durch zuführen, zu den Ohren des Rates gekommen, daß ein Plan bestand, deinen Gemahl, dein Kind und den Herrn Ignatio zu ermorden.« »Und warum wurde nicht auch mein Name auf die Liste gesetzt?« fragte Maya. »Das wissen wir nicht«, antwortete er, »doch hat es den Anschein, als ob die Attentäter den Auftrag ge habt hätten, dich lebend gefangenzunehmen und in einem geheimen Raum von Tikals Haus zu verber gen.« Nun sprang der Señor erregt auf und schwor, sich an Tikal zu rächen. »Nein, Herr«, sagte Dimas, »seine Person ist heilig und darf nicht berührt werden, noch brauchst du ihn weiter zu fürchten, denn jene, die er bestochen hat, warten auf ihren Prozeß, und er selbst wird Tag und Nacht überwacht. Außerdem wird Tikal nicht mehr lange Kazike der Stadt des Herzens sein, denn der Rat hat sich in geheimer Sitzung zusammengefunden, zu der ihr nicht gerufen wurdet, und beschlossen, daß er wegen seiner Schlechtigkeit und auf Wunsch des Volkes abgesetzt werden soll.« »Kann denn ein Kazike abgesetzt werden?« fragte Maya. »Ja, Herrin, wenn er das Gesetz gebrochen hat, denn sollte nicht dein Vater aus dem gleichen Grunde abgesetzt werden? Außerdem besitzt Tikal seine Macht nicht durch das Recht der Geburt, sondern auf Grund eines Abkommens. Du bist die wahre Erbin Zibalbays, Herrin des Herzens.« »Dem mag so sein«, antwortete sie kühl, »doch ha be ich auf mein Recht verzichtet und beabsichtige
nicht, mein Wort zurückzunehmen.« »Wenn du darauf verzichtet hast, so ist jemand da, auf den es übergeht«, sagte Dimas und deutete auf ihren schlafenden Sohn. »Dort ist das Kind der Pro phezeiung, die Hoffnung des Volkes, und er ist es, den wir zu unserem Herrscher krönen wollen, und dich und deinem Mann werden wir zu Regenten er nennen, die für ihn handeln sollen, bis er erwachsen ist.« »Nein«, sagte Maya, »denn so wird er zum Ziel von Tikals Haß und getötet – offen oder geheim, wie es kommen mag.« »Sicher nicht, Herrin, denn zu der Stunde, in der er ausgerufen wird, soll Tikal an einen sicheren Ort ge bracht werden, wo er bleiben wird, so lange er lebt.« »Und wann soll all dies geschehen?« fragte der Señor. »Morgen, zu mittag, auf der Pyramide, damit das Kind drei Tage später im Heiligtum feierlich gesalbt werden kann, in der Nacht des Steigens der Wasser.« »Es ist töricht, ein Kind zu krönen, und weder mein Gemahl noch ich suchen diese Größe«, sagte Maya. »Wenn Tikal wegen seiner Verbrechen verstoßen werden soll, möge einer der großen Herren auf seinen Platz gesetzt werden, bis das Kind alt genug ist, um zu herrschen.« »Obwohl du und dein Gemahl uns in der Zukunft befehlen werden«, antwortete Dimas streng, »mußt du bis dahin gehorchen, Herrin, denn die Stimme des Rates ist Gesetz, und er führt den Willen seines Gründers und unsichtbaren Vorsitzenden aus, des Herzens des Himmels. Der Rat hat beschlossen, daß das vom Himmel gesandte Kind, dessen irdische El
tern ihr seid, seinen Platz einnehmen soll.« »Wenn dies euer aller Wille ist ...«, sagte Maya seufzend, und kurz darauf gingen sie fort. An jenem Abend besuchten der Señor und ich ein Bankett im Hause eines der führenden Edlen, von wo wir erst ziemlich spät zurückkehrten. Nachdem wir jene, die uns eskortierten, entlassen hatten, begleitete ich ihn bis zur Tür seiner privaten Gemächer und wollte mich dort verabschieden, doch er bat mich, mit ihm zu kommen, da er mit mir über die Ereignisse dieses Tages sprechen wolle, und über die bevorste hende Zeremonie der Salbung des Kindes. Also ging ich mit ihm. Wir durchschritten einen Raum und ge langten in einen zweiten, hinter dem sein Schlafzim mer lag. Hier blieben wir bei einem offenen Fenster stehen, und ich trat zu einer Lampe, da ich rauchen wollte und keinen Stein und Stahl bei mir hatte. Als ich mich über die Flamme beugte, drang ein seltsa mer Laut an meine Ohren; ich lauschte aufmerksam und glaubte durch die dicke Schlafzimmertür eine Frauenstimme zu hören, die um Hilfe schrie. Sofort riß ich die Tür auf und stürzte durch den kleinen Vorraum ins Schlafzimmer. Und ich kam nicht eine Sekunde zu früh, denn in dem Schlafzimmer bot sich mir ein erschreckender Anblick. Am Fußende des Bettes stand eine Wiege, in welcher das Kind lag, und in ihrer Nähe rangen zwei Frauen miteinander. Eine von ihnen – die ich als Na hua, die Frau Tikals, erkannte – hielt ein Bronzemes ser in der Hand, und die andere, Maya, hielt ihren Körper und ihre Arme von hinten umklammert, so daß sie sich, mochte sie noch so sehr kämpfen, nicht
befreien konnte, um das Messer zu benutzen. Trotz dem; von den beiden Frauen war Nahua die an Ge wicht und Kraft Überlegene und zog Maya langsam, doch unaufhaltsam, mit sich zur Wiege heran. In dem Augenblick, als ich in das Zimmer stürzte, gelang es ihr, den rechten Arm aus der Umklammerung zu rei ßen, und sie hob ihn, um das Kind mit dem Messer zu durchbohren. Doch damit war es vorbei, denn in diesem Moment packte ich sie um die Taille und schleuderte sie zur Seite, so daß sie hart zu Boden stürzte und das Mes ser fallen ließ, um den Sturz mit beiden Händen ab fangen zu können. Sie sprang auf die Füße und lief zur Tür, direkt in die Arme des Señors, der sie packte und festhielt.
23
Unsere Flucht, und wie sie endete
»Wie ist sie hier hereingekommen, Maya, und was will sie hier?« fragte der Señor. »Ich weiß nicht, wie sie hereingekommen ist«, sagte seine Frau keuchend. »Meine Dienerinnen waren ge gangen und ich bereitete mich für die Nacht vor, als ich sie in dem Spiegel hier hinter mir stehen sah, das Messer in der Hand und suchend umherblickend. Dann entdeckte sie die Wiege, hob das Messer und trat einen Schritt darauf zu. Nun fuhr ich herum und packte sie und hielt sie fest, so weit ich dazu in der Lage war, doch sie war zu kräftig für mich und zog mich mit sich, so daß sie, wenn Ignatio nicht gerade noch rechtzeitig gekommen wäre, unseren Sohn er mordet hätte.« »Ist es wahr?« fragte der Señor Nahua. »Es ist wahr, weißer Mann«, antwortete sie. »Warum wolltest du ein unschuldiges Kind töten?« fragte er weiter. »Ist es nicht natürlich, daß ich das Kind töten will, das den Platz meines Kindes einnehmen soll, und das Herz der Frau zu brechen, die mein Herz gebrochen hat?« antwortete Nahua finster. »Neben einigen an deren Dingen, die ich erfahren habe, weißer Mann, hörte ich auch von der für morgen angesetzten Zere monie, bei der mein Ehemann abgesetzt und mein Kind entehrt werden soll, um für dich und für dein Kind Platz zu machen – für dich, den weißen Herum streicher, und deinen Sohn, den angeblich Himmels
geborenen, den Vom-Schicksal-Vorausgesagten!« »Und was haben wir mit diesen Dingen zu tun, du Frau mit dem Herzen eines Pumas?« fragte er. »Wenn Tikal von seinem Platz vertrieben werden soll, so ge schieht das auf Grund seiner Verbrechen.« »Und wenn du und die Deinen eingesetzt werden, weißer Mann, so geschieht das zweifellos auf Grund deiner Tugenden; doch sage ich dir, o dunkelherziger Schurke, daß ich die ganze Wahrheit weiß. Ich weiß, daß ihr die Schriftplatte gefälscht und die falsche ge gen die echte ausgetauscht habt, die in dem heiligen Symbol des Herzens lag. Ich weiß auch, daß mein Vater euch dabei half, denn obwohl er tot ist, schrieb er alles über die Tat auf, bevor er starb, und übergab es mir, zusammen mit der uralten Prophezeiung, die ihr aus dem Heiligtum zu stehlen gewagt habt. Ja, ich habe die Beweise, und wenn es nötig werden sollte, werde ich sie vorlegen. Ich bin nicht hergekommen, um zu morden, zumindest nicht das Kind; doch als ich es in seiner Wiege schlafen sah, wurde ich durch diesen Anblick so überwältigt, daß ich den plötzli chen Entschluß faßte, das mir angetane Unrecht an ihm zu rächen, und an seiner Mutter. Dabei habe ich versagt, doch wenn ich euch vor dem Rat anklage, werde ich nicht versagen, und dann sollt ihr als das erkannt werden, das ihr seid, und den Tod sterben, den ihr verdient.« »Es fällt mir ein, mein Gemahl«, sagte Maya kühl, »daß wir, wenn wir unsere eigenen Leben retten wollen, dieser Frau das ihre nehmen müssen. Und ein solches Ende hat sie auch reichlich verdient, und niemand wird uns Vorwürfe machen, wenn bekannt wird, was sie hier vorhatte.«
Als Nahua nun diese Worte hörte, versuchte sie verzweifelt, sich aus dem Griff des Señors zu befreien und öffnete den Mund, als ob sie schreien wollte. »Sei still!« sagte er. »Wenn du deine Seele in dir behalten willst. Ignatio, schließen Sie die Türen und geben Sie mir einen Schal.« Ich tat es, und mit dem Schal fesselte er Nahuas Arme hinter ihren Rücken, und knüpfte sein Ende über ihren Mund, damit sie nicht schreien konnte. Dann nahmen wir einen Ledergürtel und banden damit ihre Knie zusammen, so daß es ihr unmöglich war, sich zu rühren, und sie hilflos auf dem Boden lag und uns mit wütenden Augen anstarrte. »Nun laßt uns beraten«, sagte ich. »Ja«, antwortete der Señor, »laßt uns beraten, denn das ist sehr vonnöten. Wir haben zwei Möglichkeiten: Wir können diese Frau töten, oder wir müssen aus der Stadt fliehen, denn wenn sie diesen Raum lebend verläßt, sind wir zum Tode vor dem Altar verdammt, ja! Und das Kind ebenfalls.« »Fliehen!« sagte Maya. »Wie können wir fliehen, wenn ich noch so geschwächt bin, und das Kind so jung und zart ist? Selbst, wenn es uns gelingen sollte, aus der Stadt zu entkommen und über den See zu gelangen, würden wir doch im Schnee der Berge und in der hinter ihnen liegenden Wüste umkommen. Außerdem würde man uns vermissen und einholen.« »Dann muß Nahua eben sterben«, sagte der Señor. »Könnten wir sie nicht zum Schweigen verpflichten und sie gehen lassen?« sagte ich, da ich vor einer so grauenhaften Tat zurückschreckte, mochte sie auch noch so gerechtfertigt und notwendig sein. »Zum Schweigen verpflichten!« sagte Maya ver
ächtlich. »Genausogut könntest du eine Schlange schwören lassen, ihre Giftzähne nicht zu gebrauchen, wenn jemand zufällig auf sie treten sollte. Begreifst du nicht, daß diese Frau, die glaubt, daß ich sie der Liebe ihres Mannes beraubt habe, mich so abgrund tief haßt, daß sie mit Freuden selbst sterben würde, wenn sie dadurch meinen Tod bewirken könnte, und den derer, die ich liebe? Sobald sie ihr Wochenbett verlassen konnte, kam sie zu mir, um mich mit der Schilderung des Unheils zu quälen, welches sie mir bereitet hatte, da sie wußte, daß ich allein war. Dann sah sie das Kind, und so groß war ihr Haß, daß sie nicht einmal auf die Rache warten konnte, die das Gesetz für sie üben würde. Nein, die Alternative ist klar: Wenn wir nicht fliehen können, muß entweder sie sterben, oder wir müssen sterben. Ist es nicht so, Ignatio?« »Ja, es scheint, daß es so ist«, antwortete ich traurig, »und doch ist es entsetzlich.« »Es ist entsetzlich, doch muß es getan werden!« sagte der Señor. »Und es fällt auf mich, es um meiner Frau und meines Kindes willen zu tun. Ach, wäre ich doch nie geboren worden, damit es mir erspart ge blieben wäre, einer solchen Notwendigkeit gegen überzustehen. Könnte nicht ein anderer diesen Kelch übernehmen? Nein, denn dann würden wir uns als Mörder bekennen. Gib mir ein Messer. Nein, meine Hände weigern sich, es zu benutzen, und dieses Ende wird natürlicher erscheinen, denn ich kann sagen, daß ich, als ich sie dabei überraschte, einen Mord zu begehen, sie packte und allein durch die Kraft meiner Hände tötete, ohne dies zu beabsichtigen.« Nun trat er neben die am Boden liegende Nahua
und kniete sich neben sie nieder; und wir beiden wandten uns verzweifelt um und bargen unsere Ge sichter in den Händen. Kurz darauf war er wieder bei uns. »Ist es getan?« flüsterte Maya heiser. »Nein, und es wird auch nicht durch mich getan werden«, antwortete er mit rauher Stimme, »eher würde ich den Atem aus meinem eigenen Körper würgen, als aus dem dieser hilflosen Frau, obgleich sie eine kaltblütige Mörderin ist. Wenn sie getötet werden soll, so muß ein anderer Mann diese Tat voll ziehen.« »Dann wird sie ungetan bleiben«, sagte Maya. »Und nun, da wir uns für diese Richtung entschlos sen haben, laßt uns an Flucht denken, denn es wird bald Morgen, und unsere einzige Hoffnung liegt in der Flucht.« »Was aber soll mit dieser Frau geschehen?« fragte ich. »Wir können sie doch nicht mit uns nehmen.« »Nein, aber wir können sie gebunden und gekne belt hier zurücklassen, bis man sie finden mag«, ant wortete der Señor. »Höre, Nahua! Wir werden dich verschonen und, um das zu tun, zu unserem eigenen Tode gehen. Möge dein rachsüchtiges Herz die Lehre der Gnade daraus lernen. Lebe wohl!« Zwei Stunden später waren drei Gestalten, in rauhe Serapes gewickelt, wie sie das einfache Volk trägt, und von denen eine, eine Frau, ein kleines Kind auf den Armen hielt, dabei, vorsichtig eine Holzleiter hinab zusteigen, die von der Mauerkrone zu einem Floß führte, das an ihrem Fuße verankert war, und das während der Monate der Überschwemmung als
Bootsanleger benutzt wurde. Wie es um diese Jahres zeit üblich war, begann das Wasser des Sees bereits anzusteigen, und am Ende des Floßes lag ein Kanu, mit dem der Señor und ich oft zum Angeln hinausge fahren waren, wenn wir dem ermüdenden Leben der Stadt für ein paar Stunden zu entkommen suchten. In dieses Kanu stiegen wir, und nachdem wir das Segel aufgezogen hatten, nahmen wir nach den Ster nen Kurs auf das Dorf, von dem wir vor einem Jahr vom Festland zur Stadt des Herzens gefahren waren. Da der Wind uns günstig war, kamen wir schnell voran, und beim ersten grauen Licht des Morgens sa hen wir das Dorf etwa eine Meile Voraus liegen. Hier wagten wir jedoch nicht zu landen, da man uns sehen und erkennen würde; deshalb ließen wir das Boot ei ne gute Meile vom Dorf entfernt hinter einer dichten Gruppe von Zwergpalmen auf den Strand laufen, verbargen es, so gut es uns möglich war, und mach ten uns sofort auf den Weg zu den Bergen. Nachdem wir das Dorf umgangen hatten, ohne entdeckt zu werden – denn es war noch kaum jemand wach – begannen wir unseren schrecklichen Marsch. Für eine Weile konnte Maya mithalten, doch als die Tageshitze zunahm, begannen ihre Kräfte zu erlah men, was auch kein Wunder war, da sie auf ihren Armen das knapp drei Wochen alte Kind trug. Gegen Mittag machten wir eine Rast, verbargen uns unter einem Baum am Ufer eines Baches und stärkten uns mit dem Proviant, den wir mit uns führten. Am frü hen Nachmittag gingen wir weiter und kämpften uns bis zum Abend nach besten Kräften voran, wobei der Señor und ich abwechselnd das Kind trugen, zusätz lich zu unseren anderen Lasten.
Schließlich wurde es Abend, und wir schlugen un ser Nachtlager auf, falls es ein Lager genannt werden kann, wenn man ohne ein Feuer und ohne eine war me Mahlzeit unter einem Baum Schlaf zu finden sucht, ohne eine wärmende Decke, außer den Serapes. Gegen Morgen wurde die Luft sehr kühl, denn wir befanden uns bereits ein gutes Stück oberhalb des Sees, und das Kind begann erbärmlich zu weinen, ein Laut des Leides, der uns ans Herz griff. Dennoch er hoben wir uns bei Sonnenaufgang und setzten unse ren Marsch fort, da uns nichts anderes übrig blieb. Während dieses ganzen Tages trotteten wir mit im mer müder werdenden Schritten voran, bis wir gegen Sonnenuntergang die Schneegrenze erreichten und vor uns das Jäger-Rasthaus sahen, in dem wir ge schlafen hatten, als wir ins Land des Herzens ge kommen waren. »Laßt uns hineingehen«, sagte Maya, »und Essen und Unterkunft für die Nacht finden.« Nun war es unser Plan gewesen, dieses Haus zu meiden und bis zum Paß weiterzumarschieren, wo wir bis zum Morgengrauen bleiben wollten, um dann den Berghang hinab in die Wüste zu ziehen. »Wenn wir dort hineingehen, laufen wir in eine Falle«, sagte der Señor. »Unsere Sicherheit hängt da von ab, daß wir den Paß so rasch wie möglich hinter uns bringen, bevor wir eingeholt werden, denn es verstößt gegen das Gesetz, daß deine Leute uns über den Paß hinaus folgen.« »Wenn wir nicht hineingehen, wird mein Kind in der Kälte sterben«, antwortete sie. »Du hattest Gewis sensbisse, jene verhinderte Mörderin zu töten, um unsere Sicherheit zu gewährleisten; bringst du es
dann über dich, dein eigenes Kind zu töten?« Bei diesen Worten füllten sich die Augen des Señors mit Tränen, doch er sagte nur: »Es sei so, wie du es willst.« Inzwischen hatten wir alle begriffen, daß wir, wenn wir uns retten wollten, das Kind dem Tode überant worten mußten, und das brachten wir trotz allem nicht übers Herz. Also gingen wir zu dem Haus und traten hinein, und dort, vor dem Herdfeuer, saßen der Mann und die Frau, die wir vor einem Jahr in diesem Raum angetroffen hatten. »Wer seid ihr?« schrie der Mann und sprang auf. »Verzeih mir, Herrin, doch in diesem Aufzug habe ich euch nicht erkannt.« »Es ist auch besser, wenn du uns nicht erkennst«, sagte Maya. »Wir sind Wanderer, die sich beim Jagen verirrt haben. Gib uns zu essen, wie es deine Pflicht ist!« Nun verneigten der Mann und die Frau sich vor uns und tischten auf, was sie hatten. Wir aßen, und nachdem wir gegessen hatten, befahlen wir dem Mann, Wache zu halten und uns zu warnen, sobald irgendein Fremder sich dem Haus näherte, und gin gen schlafen, da wir sehr müde waren. Kurz vor Son nenaufgang weckte er uns, und wir standen auf. We nig später trat er in mein Zimmer und sagte mir, daß ein großer Trupp Männer sich dem Haus nähere. Da wußte ich, daß das Spiel aus war, und rief die ande ren. »Wir haben jetzt drei Möglichkeiten«, erklärte ich. »Wir können zum Paß fliehen, das Haus verteidigen, oder uns ergeben.« »Es ist zu spät, um zu fliehen«, sagte der Señor,
»deshalb ist es mein Rat, zu kämpfen.« »Ist es Ihr Rat, daß zwei mit Bogen bewaffnete Männer (unsere Feuerwaffen waren uns auf der Py ramide abgenommen worden, und es war uns nicht möglich gewesen, sie zurückzuerhalten) gegen fünf zig kämpfen sollen? Nun, mein Freund, wir können es versuchen, wenn Sie es wollen, und vielleicht ist es eine genauso gute Art, den Tod zu finden, wie jede andere.« »Dies ist Wahnsinn«, rief Maya. »Es gibt nur eines, das wir tun können: uns ergeben und auf die Vorse hung zu vertrauen, falls diese überhaupt noch etwas Gutes für uns bereithalten sollte. Ich wünschte nur, wir hätten es getan, bevor wir diese beschwerliche Reise antraten.« Während sie sprach, sahen wir im Licht der aufge henden Sonne, wie eine große Anzahl von Männern das Haus umstellte. Es waren mehrere Priester und Edle bei ihnen, unter denen ich Dimas und Tikal er kannte. »Laßt uns ihnen mit Stolz gegenübertreten«, sagte Maya. Also stießen wir die Tür auf und schritten auf Tikal, Dimas und die anderen Herren zu. »Wen sucht ihr, daß ihr mit bewaffneter Eskorte kommt?« fragte Maya. »Wen sollten wir wohl suchen, wenn nicht dich, Cousine?« antwortete Tikal – und ich sah, daß seine Augen wild blickten, als ob er betrunken wäre. »Wenn es nach Nahua, meiner Frau, gegangen wäre, so hätte sie dich ziehen lassen, da sie dich nicht mehr zu sehen wünscht, doch ist ihr Wille nicht mein Wille, noch ihr Wunsch mein Wunsch, und wie ich sehe, sind wir gerade noch zur rechten Zeit gekommen.«
Maya wandte sich mit einer verächtlichen Geste von ihm ab und sagte zu Dimas: »Sage uns, wessen wir angeklagt sind, daß ihr uns verfolgt wie Verbre cher.« »Herrin«, sagte der alte Priester ernst, »es hat den Anschein, als ob ihr diese Bezeichnung verdient hät tet, du und deine Gefährten. Höre! Seit zwei Tagen wurdest du vermißt, und die Herrin Nahua wurde ebenfalls vermißt. Es wurde nach euch gesucht, und schließlich beschloß man, in deine privaten Räume einzudringen, und dort wurde Nahua gefunden, ge fesselt und geknebelt. Von ihr erfuhren wir von eurer Flucht und verfolgten euch.« »Hat sie euch auch gesagt, warum wir geflohen sind?« fragte Maya. »Hat sie euch gesagt, daß sie wie ein Dieb nächtens in mein Zimmer gekrochen ist und gerade noch daran gehindert werden konnte, mein Kind zu ermorden?« »Nein, Herrin, davon hat sie uns nichts gesagt. Ihr Verhalten war überhaupt recht seltsam, denn sobald sie sich wieder ein wenig erholt hatte, nahm sie ihre Worte zurück und sagte, daß sie nichts von euch oder euren Plänen wisse, und daß, wenn ihr geflohen sein solltet, wir gut daran täten, euch gehen zu lassen, weil schlimme Dinge geschehen seien. Da sie jedoch dafür Gründe hatte, die leicht zu erraten waren, sind wir euch gefolgt und haben euch gefunden, und nun werden wir euch festnehmen, damit ihr euch vor dem Rat für eure Sünden verantworten mögt, denn ihr habt euren feierlichen Eid gebrochen, indem ihr ver suchtet, das Land zu verlassen, ohne dazu die Er laubnis des Rates einzuholen, und euer Verbrechen noch verschlimmert, weil ihr dieses Kind mit euch
nahmt, den vom Himmel gesandten Erlöser, auf dem die Hoffnung unserer Rasse ruht.« »Wenn wir die Eide gebrochen haben«, sagte Maya, »so nur, um unser Leben zu retten. Sollten wir denn in der Stadt bleiben, bis das Messer eines Mörders uns fand? In der Nacht unserer Hochzeit wurde ein Mörder auf meinen Ehemann gehetzt, und vielleicht steht jemand hier« – sie deutete auf Tikal –, »der uns sagen könnte, wer es war und woher er kam. Vor drei Tagen trachtete ein anderer Mörder nach dem Leben unseres Kindes, und dieser Mörder war die Frau Ti kals. Ist es also eine Sünde, wenn wir ein Kind aus dem Land zu bringen versuchen, in dem sein Leben nicht sicher ist?« »Alle diese Dinge kannst du vor dem Rat darlegen, Herrin«, antwortete Dimas, »und wenn Nahua das ist, was du behauptest, wird sie für ihr Verbrechen büßen müssen. Doch kann ihre Übeltat nicht gegen die eure aufgerechnet werden, denn wenn ihr euch in Gefahr fühltet, hättet ihr den Schutz derer anrufen müssen, die ihn euch geben konnten, anstatt zu flie hen wie Diebe vor der Wache. Kommt jetzt, steigt in die Sänften, die für euch mitgebracht wurden, und laßt uns aufbrechen!« »Wie du willst«, sagte sie, »doch möchte ich dich um eines bitten: Laß diesen Mann, meinen Cousin, den Kaziken, fern von mir halten, denn sein Anblick ist mir widerlich, da es ihm nicht reicht, versucht zu haben, meinen Ehemann und mein Kind zu ermor den, sondern er mich ständig damit beleidigt, mir seine Liebe aufzudrängen.« »Es soll so sein, wie du es wünschst, Herrin. Dein Gemahl und dein Freund sollen dir zur Seite sein,
und Wachen werden dafür sorgen, daß niemand dich belästigt.« Dann brachen wir auf. Über unseren Rückweg gibt es nichts zu berichten, außer vielleicht, daß er noch elender war als der, den wir gerade hinter uns ge bracht hatten. Damals waren wir lahmgelaufen, hungrig und von Furcht geplagt gewesen, doch zu mindest hatte vor uns die Hoffnung geschimmert wie ein Leitstern, während uns jetzt, obwohl wir in aller Bequemlichkeit reisten, nur Schande, Entlarvung und schließlich der Tod erwarteten. Was mich betraf, so berührte mich das nicht besonders, da ich jede Hoff nung aufgegeben hatte und ohne Hoffnung nicht mehr leben wollte. Sie, mein Freund, für den ich dies niederschreibe, mögen diese Feststellung seltsam fin den, doch wenn Sie an jenem Tage an meiner Stelle gewesen wären, würden Sie sich nicht darüber wun dern. Selbst heute noch träume ich manchmal, wieder in der Stadt des Herzens zu sein, und wache am nächsten Morgen kalt vor Grauen auf, so wie man aus einem Alptraum erwacht. Ja, es ist wahr, daß ich dort eine Position von Macht und Luxus innehatte, doch oh! Lieber wollte ich meinen Lebensunterhalt damit verdienen, Rinder in der Wildnis zu hüten, als mein Leben in einem goldenen Käfig zu verbringen. Was bedeuteten mir denn ihre Bankette und leeren Vergnügungen, oder ihr erbärmliches Streben nach Rang und Titel, mir, der ich mein ganzes Leben lang einem hoch am Himmel stehenden Stern gefolgt war, einem Stern, der jetzt unterging? Maya und der Señor hatten einander und ihr Kind, um Trost zu finden; ich jedoch besaß nichts, außer dem Maß von Freund schaft, das sie für mich übrig haben mochten, die Er
innerung an meine vielen Niederlagen, das ständige Nagen von schlechtem Gewissen, die Furcht vor der Rache, die über mich kommen mochte, und die Hoff nung auf Frieden jenseits des Endes. Deshalb war ich, ein verbrauchter und enttäuschter Mann, bereit, dem Verhängnis entgegenzutreten, das mich erwartete, doch wie stand es mit den anderen, die noch voller Liebe und Jugend waren? Spät an jenem Abend erreichten wir die Stadt, wurden jedoch nicht zum Palast geführt, in dem wir wohnten, sondern zu der Umfassungsmauer der Py ramide. »Wie das?« fragte Maya den Führer der Wache. »Unser Weg führt dort entlang.« »Nein, Herrin«, antwortete er, »mein Befehl lautet, euch die Treppe der Pyramide hinaufzuführen.« Nun drückte Maya ihr Gesicht an das ihres Kindes und begann zu schluchzen, denn sie wußte, daß wir wieder in das düstere Gewölbe gebracht werden würden, in das ihr Vater gebracht worden war, um zu sterben. Sie führten uns die Treppe hinauf und in nen die engen Stufen hinab, bis wir wieder in der von Lampen erhellten Halle standen und die Gittertür hinter uns zufallen hörten. Man brachte uns zu essen und ließ uns allein. Nie habe ich eine schlechtere Nacht verbracht, denn, ich mochte tun, was ich wollte, der Schlaf floh mich, und ich warf mich auf meinem Lager hin und her und fragte mich, was morgen mein Bett sein mochte, nachdem wir im Heiligtum vor dem Rat des Herzens gestanden hatten und Nahua Zeugnis gegen uns abgelegt hatte. Ich erinnerte mich an den tiefen Schacht vor dem Altar und glaubte das Rauschen des
Wassers in seiner Tiefe zu hören. Nun, wie ich bereits sagte, fürchtete ich den Tod nicht, denn Gott ist den Sündern gnädig, doch oh! Es war schrecklich, den Tod eines Lügners zu finden, und sich daran zu erin nern, daß ich es war, der den Señor dazu gebracht hatte, ihn mit mir zu teilen. Während mir diese Gedanken durch den Kopf gin gen, hörte ich selbst durch die dicken Wände des Gewölbes das Schreien einer Frau; ich sprang von meinem Bett auf und lief in die Halle, wo immer Lampen brannten. Hier begegnete ich Maya, die nur in ihr Nachtgewand gekleidet durch den Raum lief, die Augen geweitet vor Entsetzen. »Was ist geschehen?« fragte ich und hielt sie auf, und während ich sprach, trat der Señor zu uns. »Oh! Ich habe geträumt«, sagte sie keuchend. »Ich habe einen entsetzlichen Traum geträumt. Mir war, als sei mein Vater zu mir gekommen, und – ich kann es nicht sagen – das Kind ... das Kind ...« – und sie brach zusammen und konnte nicht weitersprechen. »Dieser Ort ist voll von bösen Erinnerungen, und ihre Kraft ist erschöpft«, sagte der Señor, als er sie ei nigermaßen beruhigt hatte. »Komm zurück, Maya, und schlafe!« »Ich soll schlafen!« rief sie. »Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder schlafen werde können, und wenn ich nicht schlafe, werde ich wahnsinnig. Oh! Diese Vision! Wahrlich, der Fluch Mattais ist auf mich ge kommen.« Wenige Stunden später trafen wir in der Halle zu sammen, doch Maya erwähnte nichts von ihrem Traum, noch fragte ich sie danach, obwohl ich ihrem
Gesicht ansah, daß sie ihn nicht vergessen hatte. Wir aßen, oder gaben wenigstens vor, zu essen, und saßen eine Weile schweigend, bis sich schließlich die Tür öffnete und Dimas und einige andere Priester herein kamen. Nachdem er jenen befohlen hatte, zurückzu bleiben, trat er allein auf uns zu und begrüßte uns freundlich. »Ich bin tief betrübt«, begann er, »daß ihr wieder gezwungen seid, in diesem düsteren Verlies zu hau sen, doch hatte ich in dieser Sache nichts zu bestim men, da ich lediglich der Diener des Rates bin und seine Befehle strikt waren. Es wurde befürchtet, daß das Kind entführt werden könnte, wenn man euch in Freiheit ließe.« »Es wird in der Tat bald entführt werden, Dimas«, sagte Maya, »wenn es noch länger in dieser Dunkel heit festgehalten wird. Das Kind ist schon jetzt krank – in einer Woche wird es tot sein.« »Fürchte nichts, Herrin, eure Gefangenschaft wird nicht von langer Dauer sein, denn schon in dieser Nacht, der Nacht des Steigens der Wasser, sollt ihr im Heiligtum vor den Rat des Herzens gebracht und wegen des Versuchs, das Land zu verlassen, ange klagt werden.« »Ist keine weitere Anklage erhoben worden?« fragte Maya. »Keine, Herrin, soweit ich gehört habe. Welche Anklage könnte denn noch erhoben werden?« »Und was wird das Urteil des Rates sein?« »Das kann ich nicht sagen, Herrin, doch weiß ich, daß niemand hart gegen euch urteilen wird, und wenn die Anklage, die du gegen die Herrin Nahua vorbringst, bewiesen werden kann, wäre das zu dei
nem Vorteil. Das Verbrechen, das zu begehen ihr ver sucht habt, ist ein großes, sowohl in unseren Augen, als auch in den Augen des Volkes, denn es spricht Tag und Nacht von dem Erlöser, der ihm geboren worden ist, und sie werden nicht leicht jenen verge ben, die versuchten, ihn ihm fortzunehmen. Trotz dem glaube ich, daß der Zorn deiner Richter unter gewissen Umständen besänftigt werden kann.« »Unter welchen Umständen?« fragte Maya. Nun zögerte Dimas eine Weile, bevor er antworte te. »Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist euer Ver brechen todeswürdig, für jeden von euch, falls du nicht als unangreifbar gelten solltest, weil du die Her rin des Herzens bist. Doch könnte es sein, daß der Rat nicht die Todesstrafe verhängt. Es könnte sein, daß er sich damit begnügt, nur diese Fremden aus unserem Lande zu vertreiben, anstatt sie über die Grenzen des Lebens zu schicken.« »Doch einer von ihnen ist mein Ehemann, Dimas.« »So ist es, Herrin, doch ... doch das Kind ist gebo ren!« »Ich kann nicht von meinem Ehemann getrennt werden. Lieber würde ich mit ihm sterben, als von ihm getrennt zu werden. Wenn das Volk ihn nicht mehr braucht, so braucht es auch mich nicht mehr; laß uns ihm Lebewohl sagen und gemeinsam fortge hen. Ich bin dieses Landes müde, Dimas, denn hier lauert der Mord in allen Ecken und Winkeln und ich habe Angst um mein Leben. Ich verlange nichts ande res von meinem Volke, als die Freiheit, es verlassen zu dürfen.« »Aber, Herrin, das Volk verlangt etwas von dir, es
verlangt das Kind. Von diesen Fremden würde es sich durch den Tod oder auf jede andere Art und Weise trennen, und was dich betrifft – obwohl ich mir dessen nicht sicher bin –, so mag es dir vielleicht so gar erlauben, sie auf ihrem Wege zu begleiten; doch von deinem Kind wird es sich niemals trennen, denn es ist der vom Himmel gesandte König, der Sohn der Prophezeiung. Es läuft also darauf hinaus: Sollte der Rat sein Recht auf Gnade anwenden – was er sicher tun wird, da ich und meine Partei über genügend Gewicht verfügen –, bleibt dir bestenfalls die Wahl zwischen deinem Ehemann und deinem Sohn.« Nun verzog sich das Gesicht Mayas vor Schmerz, so daß sie aussah, als ob sie plötzlich gealtert wäre. Dann antwortete sie: »Geh und sage jenen, welche dich schickten, Dimas, daß dies die Worte Mayas sind, der Herrin des Herzens: Mein Kind ist mir sehr lieb, denn es ist Fleisch von meinem Fleisch, doch ist mein Ehemann mir noch lieber, denn er ist sowohl Fleisch von meinem Fleisch, als auch Seele von mei ner Seele. Deshalb wähle ich, wenn ich schon wählen muß, ihn, der mir am nächsten steht; denn ich mag ein anderes Kind haben, doch niemals einen anderen Ehemann wie ihn.«
24
Nahua legt Zeugnis ab
Einige Stunden vergingen, und wieder wurde das Gittertor geöffnet, und herein traten Tikal und fünf Männer. Er ließ die Wachen zurück und trat allein auf uns zu, die wir am anderen Ende der Halle saßen. »Was willst du von uns?« fragte Maya. »Kannst du mich nicht einmal in diesem Verlies in Frieden lassen?« »Ich wünsche, mit dir allein zu sprechen, Maya.« »Dann, Tikal, sage ich dir, was ich dir schon einmal gesagt habe, nämlich, daß ich deine Worte nicht allein hören will! Wenn du irgend etwas zu sagen hast, so sag es in Gegenwart meines Ehemannes und meines Freundes, oder geh, und laß es ungesagt!« »Du sprichst hart zu einem, der gekommen ist, um zu versuchen euer aller Leben zu retten«, antwortete er. »Trotzdem will ich es dir nachsehen, so wie ich dir schon vieles nachgesehen habe. Höre! Alle eure Ver brechen sind mir bekannt, denn Nahua, meine Frau, hat sie mir enthüllt. Ich weiß, wie ihr und Mattai, die ser tote Hund, auf den verdientermaßen der Fluch des Himmels gefallen ist, die Prophezeiung gefälscht und das Heiligtum entweiht habt, denn ich habe die Beweise dafür in meinen Händen gehalten.« »Weißt du auch, daß wir dies tun mußten, um un ser Leben zu retten?« fragte Maya. »Denn wenn wir es nicht getan hätten, hätte Mattai uns ermordet, um, indem er mich beseitigte, die Position seiner Tochter zu sichern.« »Ich weiß nicht, warum du es tatest, und es interes
siert mich auch nicht, da es nichts gibt, das ein sol ches Verbrechen mildern kann, doch glaube ich, daß du es tatest, um jenen weißen Mann als deinen Ehe mann zu gewinnen. Aber die Tat ist getan, und die Vergeltung wartet deiner – eine Vergeltung, von der es nur einen Ausweg gibt.« »Welchen Ausweg?« fragte Maya, denn als sie hörte, daß Tikal alles wußte, wich jede Hoffnung aus ihrem Herzen, wie auch aus den unseren. »Maya, es gibt zwei Menschen, und nur zwei, die davon wissen: Nahua, meine Frau, und ich. Bis zu die sem Morgen war es nur einer, denn Nahua erzählte mir erst davon, als sie erfuhr, daß du nicht entkommen warst, und sie hatte es verschwiegen, weil sie dich los sein wollte, die sie als Rivalin haßt. Aus diesen Grun de versuchte sie, mich davon zurückzuhalten, dich zu verfolgen, und deshalb ist es ihr Wille, heute nacht vor dem Rat des Herzens zu erscheinen, auf daß ihr Zeugnis deinen sofortigen Tod im Schacht der Wasser herbeiführen möge. Doch ist es nun einmal so, daß ich nichts auf der Welt mehr fürchte, als daß meine Augen dich nicht mehr sehen könnten, denn nach wie vor liebe ich dich mehr als alles andere auf der Welt.« Nun wurde das Gesicht des Señors weiß vor Wut, und er sagte: »Es würde dir gut tun, solche Worte für dich zu behalten, Tikal, denn dies ist sicher: Wenn du es nicht tust, werde ich noch ein Verbrechen auf mich nehmen, und du wirst diesen Raum nicht lebend verlassen. Und sieh dich nicht nach deinen Wachen um. Was kümmern mich deine Wachen, der ich nur ein Leben zu verlieren habe. Sag noch einmal solche Worte, und du bist tot, bevor sie dich auch nur errei chen können!«
»Laß ihn weitersprechen, mein Gemahl«, sagte Ma ya. »Was kommt es jetzt auf ein paar Beleidigungen mehr oder weniger an. Fahr fort, edler Tikal, doch halte dich um deiner selbst willen zurück und sage nichts, was ein Ehemann nicht hören mag.« »Es ist aus diesem Grunde«, fuhr er fort und nahm keinerlei Notiz von der Verärgerung des Señors, »daß ich gekommen bin mit einem Plan, der uns alle retten soll; ja, selbst diesen großmäuligen weißen Kerl, der dich mir geraubt hat. Wenn Nahua und ich schwei gen, wer kann von euren Verbrechen wissen? Und wenn die Beweise dafür vor euren Augen vernichtet werden, wer ist da, der sie belegen könnte? Ja, ich werde schweigen – für einen Preis. Ich werde sogar die echte Tafel mit der Prophezeiung und die Schrif trolle mit Mattais Geständnis mitbringen und sie vor euren Augen im Feuer vernichten.« »Du wirst schweigen«, sagte Maya, »aber was ist mit Nahua? Wird auch sie schweigen?« Jetzt verzerrte Tikals dunkles Gesicht sich von ei nem finsteren Gedanken, doch ob es dabei um Mord ging oder um was sonst, vermag ich nicht zu sagen. »Überlaß Nahua nur mir!« sagte er. »Zieh die An klage gegen sie, daß sie jenes Kind ermorden wollte, zurück, und befreie sie dadurch von dem Zwang, heute nacht im Heiligtum erscheinen zu müssen, und ich schwöre dir, daß nicht ein Wort deines furchtba ren Geheimnisses jemals über ihre Lippen kommen wird. Dann wird man nur eine Anklage gegen euch erheben – den Bruch des Eides durch euren Versuch, aus der Stadt zu fliehen – ein Verbrechen, das nicht jenseits der Vergebung steht.« »Du hast von einem Preis gesprochen, Tikal. Sag
uns, was ist der Preis, den wir zahlen müssen!« »Der Preis bist du selbst, Maya. Nein, laß mich aus reden, und du, weißer Mann, sei still! Wenn du auf das Herz schwörst, innerhalb von sechs Monaten von diesem Tage an meine Frau zu werden, werde ich meinerseits schwören, daß der weiße Mann – dein Ehemann, der nicht dein Ehemann ist, da er die Zu stimmung des Rates durch einen Betrug erlangt hat – das Land ungehindert verlassen darf, und er darf auch seinen Freund mitnehmen und soviel unseres Reichtums und anderer Dinge, wie er es wünschen mag. Ich werde ebenfalls schwören – und daran magst du erkennen, wie tief und ehrlich meine Liebe zu dir ist –, daß dein Sohn nicht seiner Stellung und seines Ranges als der prophezeite, vom Himmel ge sandte Erlöser verlustig gehen soll, als der er in den Augen des Volkes des Herzens gilt. Mein Kind soll dem deinen Platz machen, Maya. Schon einmal habe ich dir die Hand des Friedens angeboten, doch du hast sie ausgeschlagen und mich hintergangen, und aus dieser Zurückweisung sind der Tod deines Vaters und viel anderes Leid entstanden. Weise mich nicht wieder zurück, Maya, damit dieses Leid nicht noch vergrößert und vielfach auf dich zurückfallen wird, und auf uns alle! Es ist schließlich nichts Seltsames oder Unnatürliches, um das ich dich bitte: daß du den Mann heiratest, dem du für viele Jahre anverlobt warst, und den dir zukommenden Platz als oberste Herrin dieser Stadt einnimmst, anstatt dich, zusam men mit deinen Komplizen, dem schmachvollsten aller Tode zu überantworten.« »Doch ist es sehr seltsam und unnatürlich, Tikal, von einer Frau zu erwarten, daß sie sich auf diese
Weise von ihrem Ehemanne trennt. Doch warte, an ihm ist es, darüber zu entscheiden, nicht an mir, da er willens sein mag, diesen Preis für seine Sicherheit zu bezahlen. Doch erst: Was meinst du dazu, Ignatio? Sag es mir, obwohl deine Antwort, wie ich fürchte, nicht schwer zu erraten ist, da Tikal dir all das anbie tet, wonach es dich verlangt: die Freiheit und den Reichtum, der es dir ermöglicht, deine Pläne zu ver wirklichen.« »Das ist wahr, Herrin«, antwortete ich. »Die bietet er mir an, doch kann ich nicht sagen, ob er auch in der Lage ist, es mir zu geben. Und es ist gleichfalls wahr, daß ich keine Frau hier habe, die ich verlassen müßte, und keine andere Zukunftsaussicht als die, den Tod eines Verräters zu sterben. Trotzdem erinne re ich mich eines gewissen Versprechens, das ich dir in der Wildnis gab, als du durch deinen Mut das Le ben deines Ehemannes gerettet hattest; und ich denke auch daran, daß ich es war, der ihn, meinen Freund, dazu veranlaßt hat, diese verfluchte Stadt aufzusu chen. Deshalb sage ich: Laßt unser Schicksal ein Schicksal sein.« »Das sind sehr edle Worte, Freund«, sagte sie, »wie sie nur einem edlen Herzen entspringen können. Nun, mein Ehemann, sprich du!« »Ich habe nichts zu sagen, Maya«, antwortete der Señor mit einem kleinen Lachen, »außer, daß ich mich frage, warum du die Zeit vergeudest, die wir gemein sam verbringen könnten, um die Beleidigungen die ses Burschen anzuhören. Wenn du mich bitten wür dest, dich zu verlassen, um dein Leben zu retten, so würde ich vielleicht darüber nachdenken, doch be stimmt werde ich nicht einen Schritt von deiner Seite
weichen, um mich vor dem Tode zu bewahren.« »Es scheint, als ob ich meine Antwort erhalten ha be«, sagte Tikal. »Ich kann nur hoffen, daß keiner von euch sie bereut, wenn ihr heute nacht in die Wasser grube blickt. Nun, die Zeit drängt, und ich habe noch viel zu tun, bevor wir uns wiedersehen.« Er wandte sich von uns ab und wollte hinausgehen. Nun, als er auf die Tür zuschritt, wurde Maya von Verzweiflung gepackt. Einen Augenblick lang kämpfte sie dagegen an, und gegen sich, dann rief sie: »Komm zurück, Tikal!« Er kam und stand schweigend vor ihr, und sie sagte leise und langsam: »Du bist sehr voreilig, meine Antwort ist noch nicht gesprochen. Tikal, ich nehme dein Angebot an. Verhindere, daß Nahua gegen uns aussagt, vernichte die Beweise, die in ihrer Hand sind und bring diese beiden Männer mit allem, das sie sich wünschen mögen, sicher in das Land jenseits des Pas ses, dann will ich innerhalb von sechs Monaten deine Frau werden.« Der Señor und ich blickten einander fassungslos an. »Bist du von Sinnen?« sagte er, »oder sprichst du so in der Hoffnung, uns retten zu können?« »Ist es denn ein Wunder«, antwortete sie, »daß ich mich und mein Kind retten will? Daß ich dich geliebt habe und noch immer liebe, weißt du; doch gibt es Liebe im Grabe? Solange ich lebe, habe ich zumindest meine Erinnerungen; wenn ich sterbe, werden sogar die mir genommen. Geh zurück, Ehemann! Kehre im Reichtum zurück zu deinem Volk und zu deinem al ten Leben und wähle dir eine andere Frau zur Ge fährtin. Vergiß mich nicht, doch laß mich wie ein
Traum für dich sein, da dies für uns alle das Beste ist. Und auch dir, Ignatio, sage ich: Geh! Unsere Freund schaft hat dir wenig Glück gebracht, möge ihre Auf lösung dir mehr davon bringen, und mögest du end lich dein Ziel erreichen. Tikal, gib mir deine Hand und laß uns den Eid schwören!« Er trat auf sie zu, mit einem triumphierenden Fun keln in den Augen, doch als ihre Hände einander be rührten, blickte sie auf, und sah den Ausdruck von Verzweiflung und Leid auf dem Gesicht ihres Man nes. Mit einem kleinen Schrei warf sie sich ihm in die Arme und rief: »Vergib mir! Ich habe mein Bestes getan, doch es ist mehr, als ich ertragen kann. Oh! Ich bin so schwach und so töricht, daß ich mich nicht von dir trennen kann, nicht einmal, um dein Leben zu retten. Du glaubst doch nicht etwa, daß ich diesen Eid gehalten und mich ihm zur Ehefrau gegeben hätte? Nein, nein, dem Tode hätte ich mich gegeben, sobald du in Sicherheit gewesen wärst. Doch ich kann mich nicht von dir trennen – ich kann mich nicht von dir trennen –, obwohl meine Selbstsucht dein Verderben ist.« »Ich bin froh, das zu hören«, sagte der Señor. »Hö re, Tikal, wenn du ein Mann bist, so gib mir ein Schwert und laß uns diese Sache Angesicht zu Ange sicht austragen. Auf diese Weise wird wenigstens ei ner von uns seiner Zweifel und Sorgen ledig.« »Weißer Mann«, antwortete Tikal, »du bist nicht nur ein Schurke, sondern du mußt auch noch ein Narr sein, denn sonst würdest du mir nicht zumuten, mein Leben gegen das deine zu setzen, das ohnehin schon dem Gesetz verfallen ist. Lebe wohl, Maya, du hast mich lange genug genarrt und gequält. Heute
nacht werde ich dir alles heimzahlen.« Und er ging hinaus. Man hätte annehmen sollen, daß wir nach Tikals Fortgang über das Geschehene hätten sprechen sol len, und über die vor uns liegenden Gefahren. Doch dem war nicht so. Ich glaube, daß wir alle das Gefühl hatten, daß es nichts mehr zu sagen gab. Es ist sinn los, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, und noch sinnloser ist es, sich vor ihm zu fürchten, da alles, was wir tun oder lassen mögen, nichts daran ändern kann, daß es schließlich doch seinen Willen durchsetzt. So saßen wir und unterhielten uns über belanglose Din ge: über unser Leben in der Mine von Cumarvo, über die Nacht, die wir auf der Hacienda Santa Cruz ver bracht hatten, über den Tod unseres tapferen Ge fährten Molas, und über andere, die meinem Ge dächtnis entfallen sind. Schließlich erwachte das Kind, und seine Eltern beschäftigten sich mit ihm, stellten Ähnlichkeiten zwischen sich und seinem kleinen Gesicht fest, während ich in der Halle auf und ab schritt, die Lampen zählte, rauchte, und mich fragte, wo wir morgen um diese Zeit noch sein mochten. Schließlich wurde die Gittertür geöffnet, denn in zwischen war es fast Mitternacht geworden, und Di mas und eine Gruppe von Priestern traten herein. Der alte Mann verneigte sich vor uns und sagte, es sei an der Zeit, uns ins Heiligtum und vor den Rat zu brin gen, daß wir jedoch keine Furcht zu haben brauchten, da man, nach allem, was er in Erfahrung bringen konnte, unser Vergehen mit Nachsicht beurteilen werde. Maya fragte, was mit dem Kind werden solle,
das nicht allein zurückgelassen werden könne, und er antwortete, daß sie es mitnehmen müsse, worauf sie begann, es in ein Serape zu wickeln. »Das ist nicht nötig«, sagte Dimas. »Es gibt einen geheimen Weg von hier zum Heiligtum, den ich euch führen werde, damit das Kind, unser Herr, nicht der kalten Nachtluft ausgesetzt wird.« Dann nahm er einen Schlüsselbund von seinem Gürtel, reichte ihn einem der Männer, die ihn beglei teten – ein Priester und Mitglied des Rates – und be fahl ihm, mit einigen der anderen vorauszugehen, die Türen zu öffnen und Lampen anzuzünden in den Passagen, die zwischen uns und dem Heiligtum la gen. Der Priester ging hinaus, und nach einer Weile folgten wir ihm. Er erwartete uns bei der Marmor wand, die die Passagen vom Heiligtum trennte. Als er uns kommen sah, stieß er einen bestimmten Ruf aus, der von drinnen beantwortet wurde. Dann öff nete er die geheime Tür mit einem silbernen Schlüssel und ließ diesen, mit dem Schlüsselbund, an dem er hing, im Schloß stecken, damit Dimas ihn an sich nähme, wenn er kam. Dieses tat der alte Priester je doch nicht, da er beabsichtigte, mit uns auf diesem Wege zurückzukehren und sich, als wir ins Heiligtum traten, damit begnügte, die Tür zuzudrücken, ohne sie zu verschließen. Wieder standen wir nun in diesem düsteren, heili gen Raum, um unser Urteil wegen unseres Verstoßes gegen die Gesetze der Stadt des Herzens zu hören. Der Rat war vollzählig versammelt, und Tikal, der Hohepriester und Vorsitzende, saß auf seinem Platz hinter dem Altar, doch ich bemerkte mit einem Schauer von Hoffnung, daß Nahua, seine Frau, nicht
an seiner Seite saß, noch konnte ich sie unter den Mitgliedern des Rates sehen. Wir nahmen die Plätze ein, die für uns vor dem Altar vorbereitet worden waren, Maya in der Mitte, und der Señor und ich zu beiden Seiten von ihr. Als nächstes erhob sich einer der Priester und verkündete, daß der erste Punkt die ser Versammlung des Rates der Prozeß gegen drei seiner Mitglieder sei, nämlich Maya, Herrin des Her zens, ihren Ehemann, den Sohn des Meeres, und Ignatio, den Wanderer, einen Herrn des Herzens von jenseits der Berge, unter der Anklage, ihren Eid ge brochen zu haben, welchen sie als Mitglieder des Ra tes abgelegt hatten. Nachdem er die formelle Anklage verlesen hatte, formulierte der Priester dann die Tat sachen klar und knapp: »Vor genau einem Jahr, in der Nacht des Festes der Steigenden Wasser, habt ihr, Fremde, neben anderem, unter Verpfändung eurer Körper und eurer Seelen, auf diesen Altar geschworen, daß ihr ohne die Zu stimmung der Bruderschaft nicht versuchen würdet, die Tore der Stadt des Herzens zu verlassen. Doch seid ihr erst gestern daran gehindert worden, über die Berge in die hinter ihnen liegende Wildnis zu ent fliehen. Noch ist dieses euer einziges Verbrechen, denn bei euch war jenes Kind, gezeugt von dem wei ßen Manne und geboren von der Herrin des Herzens, das vom Himmel gesandte Kind der Prophezeiung, dessen ihr das Volk in eurer Sündhaftigkeit berauben wolltet. Sagt nun, bekennt ihr euch dieser Anklagen für schuldig oder nicht schuldig?« »Wir bekennen uns schuldig«, antwortete Maya, »doch bitten wir, daß man anhört, was wir zu unserer Verteidigung vorzubringen haben. Hört, ihr Herren!
Seit jener Nacht, als wir auf euren Befehl heirateten, sind mein Ehemann und ich von Mord verfolgt wor den, und dort, als Hohepriester des Herzens und Vorsitzender des Rates, ist jener, der uns ermorden wollte. Ich sehe, daß heute nacht einige unter euch sind, die zusammen mit dem Herrn Dimas am Abend vor unserer Flucht zu mir gekommen sind. Was ha ben sie mir gesagt? Daß sie ein von Tikal, meinem Cousin, ersonnenes Komplott aufgedeckt hätten, meinen Ehemann, mein Kind, und meinen Freund Ignatio, den Wanderer, zu ermorden. Sie sagten mir auch, daß sie Tikal wegen dieser und anderer Verbre chen absetzen wollten, und daß das Kind, das ich hier in meinen Armen halte, heute nacht zum Kaziken des Volkes gesalbt werden solle. Ist es nicht so, Dimas?« »Es ist so, Herrin«, antwortete er, »und denk daran, daß ihr nicht die einzigen seid, über die heute nacht zu Gericht gesessen werden soll. Wenngleich euer Fall als erster verhandelt wird, werden der Tikals, des Hohepriesters, und weitere folgen. Bis dahin jedoch wird er, gemäß Amt und Rang, seinen Platz als Vor sitzender unseres Rates innehaben.« Tikal sprang nun erregt auf, doch Dimas wandte sich zu ihm um und sagte streng: »Schweig still, Herr, oder spreche nur, um deine Amtspflicht zu erfüllen! Das Urteil, das über dich gefällt wird, soll gerecht sein, doch wisse, daß es für dich keine Hoffnung auf Entkommen gibt, bis es gesprochen ist, da deine Wa chen entwaffnet worden sind und alle Wege bewacht werden.« Tikal setzte sich wieder, und Maya sprach weiter. »In jener Nacht, in der Herr Dimas zu mir gekom men war, und als ich allein in meiner Kammer saß,
schlich die Herrin Nahua, die Frau Tikals, sich herein und versuchte, mein Kind zu töten.« Sie begann, die se Szene zu schildern und berichtete, wie der Señor und ich, durch ihre Hilfeschreie alarmiert, hereinge stürzt seien und Nahua gepackt und gefesselt hätten. »Dann war es, Brüder, daß wir von plötzlicher Furcht gepackt wurden und flohen, um einem Lande zu ent kommen, in dem wir nicht von einer Stunde zur an deren in Sicherheit leben konnten. Dies ist unsere Sünde, und wir überlassen es euch, über sie zu urtei len. Sicherlich war es besser, daß wir versuchten, das Kind zu retten, so daß es leben mochte, um seine ihm vom Schicksal vorgeschriebene Rolle zu spielen, was immer diese sein mag, anstatt es hier zu belassen, damit es von jenen, die ihr erhoben habt, um über euch zu herrschen, ermordet würde.« Als Maya das gesprochen hatte, wandten der Señor und ich uns nacheinander an den Rat, bestätigten al les, was sie gesagt hatte, und unterwarfen uns dem Urteilsspruch der Bruderschaft. Nun wurde uns geboten, zurückzutreten, und wir standen unter der Maske des Namenlosen Gottes, während der Rat sich besprach, und dort erwarteten wir unsere Verdammung. Schließlich wurden wir wieder vorgerufen, und Tikal sprach zu uns und er klärte, daß das Urteil aufgeschoben werde, bis der Fall gegen Nahua, die Tochter Mattais, und gegen ihn selbst, Tikal, den Kaziken und Hohepriester der Stadt des Herzens, verhandelt worden sei, und er setzte mit triumphierender Stimme hinzu: »Laßt Nahua, die Tochter Mattais, die draußen wartet, vor die Gegen wart des Herzens bringen.« Wir hörten es und nahmen all unseren Mut zu
sammen, um dem Schicksal ins Auge zu blicken, denn wir wußten, daß nun der Tod unserer harrte, und daß es für uns weder Erbarmen noch Flucht gab. Die Tür wurde geöffnet, und Nahua trat herein, angetan mit der Robe ihres Ranges, auf ihrem Haupt das grüne Diadem, das nur von der Ehefrau oder der Mutter des Kaziken getragen werden durfte. »Was ist euer Wunsch an mich, Herren?« fragte sie stolz, nachdem sie sich vor dem Altar verneigt hatte. Nun trat der nämliche Priester wieder vor und verlas die Anklage, die lautete, daß sie mit eigener Hand versucht habe, das Kind Mayas, der Herrin des Herzens, und ihres Gemahls, des weißen Mannes, zu ermorden; außerdem, daß sie gemeinsam mit Tikal, ihrem Ehemann, an verschiedenen Akten von Grau samkeit und anderen Verstößen beteiligt gewesen sei, welche ihm angelastet würden, und er fragte sie, ob sie sich der Anklagen schuldig bekenne, oder nicht schuldig. »Zu der letzten Anklage: nicht schuldig«, sagte sie. »Tikal mag seine Sünden selbst verteidigen. Zu der ersten: schuldig. Ich habe versucht, diesen Balg um zubringen, doch wurde ich von Maya entdeckt, und dann ergriffen und gebunden.« »Wahrlich, Brüder«, sagte Dimas, sich erhebend, »ich denke, wir brauchen diese Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen. Wir haben die Aussagen der Herrin Maya und der anderen gehört, und jetzt hat Nahua ihr Verbrechen eingestanden. Sie gibt zu, daß sie das Leben dessen zu nehmen versuchte, das sie als ein geheiligtes Kind erkannt hatte, die Hoffnung un seres Volkes und für eine solche Untat darf es meiner Meinung nach nur eine Strafe geben, obwohl sie ent
setzlich ist und sie, welche sie erleiden muß, eine Herrin höchsten Ranges ist.« »Wartet!« unterbrach Nahua. »Ihr habt mich nicht zu Ende gehört, und ich habe das Recht, zu sprechen, bevor man mich zum Tode verdammt. Ihr beschul digt mich, das Leben ›des heiligen Kindes, der Hoff nung unseres Volkes‹ bedroht zu haben, und wenn ich dies getan hätte, wäre eure Verdammung nur ge recht, während ich jedoch in Wahrheit euer Lob ver dient habe. Herren des Herzens, dieses Kind, welches ihr anbetet, das angeblich vom Himmel gesandte Kind der Prophezeiung, das ihr heute nacht zu eurem Kaziken salben wolltet, nachdem ihr Tikal, meinen Ehemann, abgesetzt hattet, und das, wie ihr glaubt, eure Rasse als Leitstern zu Größe und Sieg führen soll, ist eine lebende Lüge, ein Betrug, ein elender Bankert!« Nun brach lauter Tumult unter den Räten aus, und wütende Stimmen befahlen ihr, mit ihren Blasphemi en aufzuhören, doch gelang es ihr, Ruhe zu erzwin gen, und sie fuhr fort: »Hört mich zu Ende, ich bitte euch, denn selbst wenn ich es wollte, würde ich es nicht wagen, solche Worte leichtfertig zu äußern, sondern bin bereit, jedes einzelne von ihnen zu be weisen. Ihr meint vielleicht, daß ich dieses Kind töten wollte, um das Herz meiner Rivalin Maya zu treffen – und das will ich wirklich treffen! Und um meinen Sohn an seine Stelle zu setzen – und auch das will ich! Doch waren dieses nicht die Gründe für meine Tat. Herren des Rates, hört eine Geschichte, die seltsamste Geschichte, die ihr jemals hören werdet, und dann urteilt zwischen mir und Tikal, meinem Ehemann, und Maya, meiner Rivalin, und ihren Freunden.
Mattai, mein Vater, war euch allen bekannt, denn er stand zur Zeit seines Todes, und eigentlich seit dem Tage, da Tikal zum Kaziken gesalbt worden war, an Rang und Macht an zweiter Stelle beim Volke des Herzens, und hatte jene Ämter der Bruderschaft inne, die heute Dimas übertragen sind, unter ihnen das Amt des Hüters dieses Heiligtums. Ja, Herren, Mattai, mein Vater, war im Herzen kein wahrhaftiger Mann. Ach! Daß ich dieses bekennen muß, da er mehr um meinetwillen gesündigt hat als um seiner selbst wil len, weil er mich liebte und ihm mein Wohlergehen mehr am Herzen lag als alles andere auf Erden. Es war diese Liebe für mich, die ihn zu seinem Ruin brachte, ihn seinen Gott, seine Eide und sein Land verraten ließ. So wußte er, daß ich von Anbeginn an, seit meiner Kindheit, ein Auge auf den Herrn Tikal geworfen hatte, der der Herrin Maya anverlobt war, und auch, daß ich sehr ehrgeizig war und mich nach Größe sehnte. Das war der Grund dafür, daß er Tikal irre führte und ihm erklärte, der Himmel habe ihm enthüllt, die Herrin Maya und ihr Vater seien in der Wildnis umgekommen. Deshalb auch hat er den Herrn Tikal dazu gebracht – nachdem er ihm glaub haft gemacht hatte, daß die Herrin Maya für immer verloren sei –, mich an Stelle ihrer, seiner Anverlob ten, welche nun tot sei, zu heiraten, wobei er ihm ver sprach, ihn dafür zum Kaziken des Volkes salben zu lassen. All dies und anderes hat er getan, obgleich ich zu der Zeit nichts davon wußte und in meiner Torheit annahm, daß Tikal mich heiratete, weil er mich liebte und sein Leben und seine Macht mit mir teilen wollte. Dann, in der Nacht unserer Hochzeit, kehrte Zibal bay zurück, und mit ihm kamen Maya und die Frem
den, und von dieser Stunde an begann mein Gemahl mich zu hassen, weil ich seine Frau war, und nicht Maya, die er liebte. Außerdem ist er, wie ich seither erfahren habe, zu Zibalbay gegangen, als jener im Ge fängnis war, und hat ihm angeboten, seinen Platz als Kazike für ihn aufzugeben, so lange er leben würde, und sich seinen Plänen nicht mehr entgegenzustellen, wenn er ihm dafür Maya zur Frau geben würde, nachdem ich, sei es durch Scheidung oder Mord, be seitigt worden sei. Dies hätte Zibalbay bestimmt auch getan, und sogar voller Freude, doch hatte Maya ihr Herz während ihrer gemeinsamen Reise durch die Wildnis jenem weißen Manne zugewandt und wei gerte sich, ihn aufzugeben, damit sie an Tikal gege ben werden könne. Trotzdem hätte er seinen Willen haben können, denn ihre Lage war verzweifelt, und sie wären dem sicheren Tode verfallen, hätte nicht Mattai, mein Vater, einen Plan ersonnen, durch den sie gerettet werden und ich die Frau des Kaziken bleiben konnte. Und dies war der Plan: Daß eine Pro phezeiung in jenes Symbol des Herzens gelegt wer den sollte, um den Rat des Herzens zu betrügen und zuwege zu bringen, daß Maya jenem weißen Manne gegeben werden sollte, den sie liebte. Und dies wurde so bewerkstelligt: In der Stille der Nacht haben sie sich in das Heiligtum des Herzens geschlichen, das Herz geöffnet und jene Tafel hineingelegt, die ihr ge sehen habt, die Tafel, welche die Geburt des Erlösers voraussagte. Den Rest wißt ihr.« »Das ist eine Lüge!« riefen viele Stimmen. »Ein sol ches Sakrileg ist nicht möglich!« »Es ist keine Lüge«, antwortete Nahua, »und ich werde euch beweisen, daß ein solches Sakrileg mög
lich ist. Das Herz wurde geöffnet und die von mei nem Vater gefälschte Prophezeiung hineingelegt, wo ihr sie in der Nacht des Festes der Steigenden Wasser vor einem Jahr fandet. Doch als das heilige Herz ge öffnet wurde, siehe! War es nicht leer, sondern es lag eine Prophezeiung in ihm, doch eine andere, eine echte Prophezeiung, die aus ihm entfernt wurde, da mit die Lüge, mit der ihr betrogen wurdet, an ihre Stelle gelegt werden konnte.« »Und wo ist diese andere Prophezeiung?« fragte Dimas. »Hier ist sie«, antwortete Nahua und zog die Tafel aus dem Ausschnitt ihrer Robe. »Hört zu!« Und sie las: »Das Auge, das geschlafen hat und erweckt worden ist, sieht das Herz der Sündigen. Ich sage euch, daß in der Stunde des Untergangs meiner Stadt alle Wasser des Heiligen Sees nicht ausreichen werden, eure Sünden fortzuwaschen! Nehmt sie und lest sie selbst, ihr Herren«, fuhr sie fort und legte die Tafel auf den Altar. »Doch hört mir weiter zu und erfahrt, wie es geschah, daß sie in mei ne Hände gelangte! Nachdem mein Vater diese große Sünde auf sich geladen hatte, fiel der Fluch des Na menlosen Gottes auf ihn, und er wurde, wie ihr wißt, von einer schweren Krankheit niedergeworfen. Nun geschah es, daß er, als er im Sterben lag, von Reue überwältigt wurde und ein gewisses Papier schrieb, das er bezeugen und mir geben ließ, zusammen mit dieser Tafel. Ich halte dieses Papier in meiner Hand, ihr Herren; hört, was darauf geschrieben steht und urteilt selbst, ob ich wahr gesprochen oder gelogen habe!« Und sie verlas das Geständnis Mattais, das alle Einzelheiten unseres Komplotts und seiner Durch
führung wiedergab. »Jetzt, ihr Herren«, setzte sie hinzu, als sie zu Ende gelesen hatte und die Unterschriften geprüft worden waren, »werdet ihr vielleicht verstehen, wie es ge schah, daß ich, als ich dies erfahren hatte, in meiner Wut versuchte, das Kind zu töten, das euch als der Same Gottes untergeschoben worden war, und über lasse es euch, jene zu richten, die diesen Betrug durchgeführt haben!«
25
Lebewohl
Nahua schwieg und setzte sich, und so groß war das Erstaunen – oder vielmehr das Grauen – über die Ge schichte, die sie dem Rat erzählt hatte, daß für eine lange Zeit keiner zu sprechen wagte. Schließlich jedoch erhob sich Dimas und sagte: »Maya, Herrin des Herzens, und ihr Fremden, ihr habt die furchtbare Anschuldigung gehört, die gegen euch vorgebracht wurde. Was ist eure Antwort dar auf?« »Wir sagen, daß sie der Wahrheit entspricht«, ant wortete Maya ruhig. »Wir waren gezwungen, uns zwischen unserem Tode und dieser Tat zu entschei den, und haben das Leben gewählt. Es war Mattai, der den Plan ausheckte und die Fälschung durch führte, und nun scheint es, als ob wir auch für seine Sünden büßen müßten, und nicht nur für die unse ren. Noch ein Wort: Ignatio hat sich jenem Komplott nicht freiwillig unterworfen, sondern wurde durch meinen Gemahl und mich dazu gezwungen, haupt sächlich durch mich.« Dimas antwortete nicht, doch auf ein Zeichen von ihm hin traten die beiden Priester, die mit gezogenen Schwertern den Altar bewachten, auf uns zu und trieben uns aus dem Heiligtum in die Halle der To ten, wo sie uns hinter den Doppeltüren einschlossen und in der Dunkelheit zurückließen. Da ich nun wußte, daß alles zu Ende war, kniete ich nieder und schickte meine letzten Gebete zum
Himmel empor, während Maya in den Armen ihres Mannes schluchzte und von ihm und ihrem Kinde Abschied nahm, das an ihrem Busen wimmerte. »Wahrlich«, sagte er, »du warst weise, Frau, als du mich drängtest, dieses Land des Herzens nicht zu betreten. Doch was geschehen ist, kann nicht unge schehen gemacht werden, und nachdem wir für eine Weile glücklich gewesen sind, laß uns gemeinsam sterben, so tapfer, wie es uns vergönnt sein mag, in der Hoffnung, daß wir bald in einer neuen Welt des Friedens gemeinsam erwachen werden.« Während er sprach, wurde die Tür geöffnet, und die beiden Priester führten uns mit gezogenen Schwertern in das Heiligtum zurück. Als Maya als er ste von uns über die Schwelle trat, sah sie sich Tikal gegenüber, der ihr mit einer plötzlichen Bewegung, doch ohne jede Härte, das Kind von den Armen nahm. Nun sahen wir, daß man sich auf unseren Empfang vorbereitet hatte, denn die Steinplatte vor dem Altar war herausgehoben worden, und zu unse ren Füßen klaffte die Öffnung des Schachtes, aus dem das Rauschen von Wasser heraufdrang. Sie stellten uns mit dem Rücken zum Altar, und Tikal stand vor uns, und zwischen uns und ihm befand sich der offe ne Schacht. »Maya, Tochter von Zibalbay, dem Kaziken, Herrin des Herzens; weißer Mann, Sohn des Meeres; Ignatio, der Wanderer; und Mattai, der Priester, den, da er im Fleische tot ist, wir im Geiste rufen«, begann Dimas mit kalter und furchtbarer Stimme, »ihr seid durch euer eigenes Geständnis der schlimmsten Untat über führt, die von dem sündigen Gehirn eines Menschen ersonnen werden und von seinen frevelnden Händen
ausgeführt werden kann. Ihr habt euren feierlichen, in Gegenwart des Himmels und der Brüder geschwo renen Eid gebrochen; ihr habt den Gott, den wir ver ehren, beleidigt und sein Heiligtum entweiht; und ihr habt einen in Sünde gezeugten Bastard dem Volke, das euch vertraute, als ihren gottgesandten Herrscher untergeschoben. Für alle diese und andere Verbre chen, die ihr begangen habt – aus welchem Grunde, wissen wir nicht –, steht es nicht in unserer Macht, euch die gerechte Strafe zukommen zu lassen. Diese muß euch anderenorts zugemessen werden, wenn ihr unser Gericht verlassen habt und eure Namen auf Erden lange vergessen sind. Dies ist das Urteil des Rates des Herzens: Daß dein Name, Mattai, von der Liste der Ältesten des Herzens gestrichen werde, daß deine Erinnerung verflucht sei, daß dein Haus mit Feuer verbrannt werde und die Stelle, an der es stand, mit Salz bestreut; daß dein Leichnam aus seinem Grabe gerissen und auf den Gipfel der Pyramide gelegt werde, auf daß die Aas vögel ihn fressen mögen; und daß deine Seele den Folterern der Unterwelt überantwortet werde, damit sie mit ihr auf immer und ewig tun mögen, was ihnen gefällt. Und dies ist das Urteil des Rates des Herzens über euch, Maya, Tochter Zibalbays, des Kaziken, Herrin des Herzens, und über den weißen Mann, Sohn des Meeres, und Ignatio, den Wanderer: Daß eure Namen von der Rolle der Brüder des Herzens gelöscht wer den und in den Straßen der Stadt als verflucht erklärt werden; daß ihr geknebelt und an Händen und Füßen gebunden lebend an die Wände des Heiligtums ge kettet und vor dem Altar des Gottes, den ihr gelästert
habt, belassen werdet, bis ihr vor Hunger oder Durst verschmachtet; daß eure Leichen auf dem Gipfel der Pyramide den Vögeln zum Fraß vorgeworfen wer den; und daß eure Seelen den Folterern der Unterwelt überantwortet werden, damit sie mit ihnen auf immer und ewig tun mögen, was ihnen gefällt. Ich habe ge sprochen. Laßt das Urteil des Rates ausführen! Vor her jedoch, da dieses Bastard-Kind zu jung ist, um zu sündigen und Strafe zu erleiden, laßt es uns in die Hände des Gottes legen, auf daß der Gott mit ihm tue, was ihm gefällt.« Als diese Worte über seine Lippen kamen, und be vor wir ihre Bedeutung begriffen, betäubt wie wir waren vom Schrecken unseres furchtbaren Endes, trat Tikal vor und – selbst jetzt, wenn ich davon schreibe, überfällt mich ein Schaudern – hob er das arme Kind, das jetzt vor Schmerz oder aus Angst zu weinen be gann, über die Öffnung des Schachtes und ließ es plötzlich in dessen Tiefe fallen. Der Schrei der Mutter hallte von den Wänden des heiligen Ortes wider, und noch bevor er erstorben war, sprang der Señor vorwärts – er sprang wie ein Puma – über die offene Grube hinweg und packte Ti kal bei der Kehle und um den Leib. Er packte ihn, riß ihn mit einer von seiner Wut verliehenen Kraft über seinen Kopf und schleuderte ihn in die furchtbare Grube, in der sein Kind verschwunden war. Mit einem heiseren Schrei stürzte Tikal in die Tiefe, und für einen Augenblick herrschte Totenstille. Sie wurde von der Stimme Mayas durchbrochen, die laut und mit einer Stimme von Irrsinn und Verzweiflung rief: »Selbst alle Wasser des Heiligen Sees werden nicht ausreichen eure Sünden fortzuwaschen, doch
mögen sie helfen, uns an euch zu rächen, o ihr Mör der eines hilflosen Kindes!« Während sie das sagte, lief Maya, gefolgt von dem Señor und mir, der ich allein glaubte, ihr grauenhaf tes Vorhaben zu erahnen, um den Altar herum und packte mit beiden Händen das Symbol des Herzens, das auf ihm lag. »Nein!« schrie die Stimme Dimas', doch sie hörte nicht darauf, und bevor einer von uns sie erreichen konnte, riß sie, mit verzweifelter Kraft ziehend, das uralte Symbol aus seiner Einbettung und warf es mit einem höhnischen Lachen auf den Marmorboden, wo es in tausend Stücke zersprang. Einen Moment lang herrschte Totenstille, dann er tönte von dem Altar ein Laut, als ob die Saiten einer Harfe rissen, der kurz darauf von einem anderen, gräßlicheren Geräusch gefolgt wurde, dem wütenden Rauschen von Wasser. »Flieht! Flieht!« schrie eine Stimme. »Die Flut ist losgelassen, und die Vernichtung kommt über uns und über das Volk des Herzens!« Nun stürzten alle Mitglieder vom Rate des Herzens auf die Tür des Heiligtums zu, doch ich, Ignatio, er innerte mich, durch die Gnade des Himmels, an die Geheimtür, durch welche wir hereingekommen wa ren, und die der Priester angelehnt gelassen hatte. »Hier entlang!« rief ich auf spanisch dem Señor zu, packte Maya beim Arm und zog sie mit mir in den Gang. Als wir alle drei hindurch waren und ich mich umwandte, um die Tür zu schließen, bot sich mir ein entsetzlicher Anblick. Aus der Öffnung der vor dem Altar gelegenen Grube schoß eine gewaltige Wassersäule empor, wel
che die Decke des Heiligtums mit einer solchen Wucht traf, daß deren schwere Marmorblöcke bereits auf die Köpfe der Flüchtenden herabzuregnen be gannen, die vergeblich versuchten, die Tür zu öffnen und in die Halle der Toten zu entkommen. Eines je doch sah ich: die Leiche Tikals, die von der Tiefe aus gespien wurde, in welche der Señor sie geschleudert hatte, eine formlose, zermalmte Masse, die in der Wassersäule auf und ab tanzte und immer wieder von der Decke zurückgeschleudert wurde. Dann, bevor die Flut die Tür erreichen konnte, schloß ich sie, und nachdem ich mir den Schlüssel bund angeeignet hatte, der noch immer im Schloß steckte, flohen wir die Korridore und Treppen hinauf, bis wir in die Halle gelangten, in der wir gefangenge halten worden waren. Hier jedoch wagten wir nicht zu verbleiben, denn schon erreichten seltsame gur gelnde Geräusche unsere Ohren, und wir spürten, daß die gewaltige Masse der Pyramide unter den Schlägen der gefangengehaltenen Wasser erbebte, die aufwärts und auswärts barsten. Wir ergriffen Lam pen, liefen zu dem kupfernen Gittertor am Ende der Halle und fanden, nicht ohne Mühe, den Schlüssel, der es öffnete. Wir hatten keine Zeit zu verlieren, denn als wir den Raum verließen, stürzte am anderen Ende bereits das Wasser herein, eine solide Wasser wand, die ihn innerhalb von Sekunden bis zu einer Höhe von sechs oder acht Fuß füllte. Weiter flohen wir vor der heranbrausenden Flut, und es war gut, daß unser Weg aufwärts führte, denn sonst wären wir ertrunken, weil wir immer wieder nach den Schlüsseln für die verschiedenen Tore und Türen su chen mußten. Doch jetzt erwies sich das Glück, das so
lange unser Feind gewesen war, als unser Verbünde ter, und schließlich gelangten wir, kurz bevor das er ste Licht des Tages dämmerte, auf den Gipfel der Py ramide. Die Dämmerung brach an, doch nur selten hatte sie den Blicken der Menschen einen so grauenhaften An blick enthüllt. Vor den Toren des Hofes der Pyramide hatte sich eine große Volksmenge versammelt, die darauf wartete, eingelassen zu werden, um das Fest zu feiern, das an diesem Tage des Jahres nach dem Brauch des Landes auf der Spitze der Pyramide ab gehalten werden sollte. Eigentlich sollten sie bereits dort oben versammelt sein, doch verlangte das Ge setz, daß die Tore nicht geöffnet werden durften, ehe der Rat das Heiligtum verlassen hatte, und in dieser Nacht schien der Rat sehr lange zu tagen. Als wir zu ihnen hinabblickten, stieg ein Schrei des Entsetzens aus der Menge auf, und dies war der Grund dafür: Entlang der Straße, die von der Landestelle zu dem großen Platz führte, ergoß sich eine Wasserwand, die zwanzig oder mehr Fuß hoch und hundert Fuß breit sein mochte. Jetzt erkannten wir die Wahrheit. Das Symbol auf dem Altar war – ich weiß nicht, auf wel che Weise – mit geheimen, unterirdischen Schleu sentoren verbunden, die über viele Generationen hinweg die Stadt des Herzens vor den Fluten be schützt hatten. Als die Fluten aus ihrem Bett gerissen wurden, waren diese Schleusentore aufgesprungen, und die hereinbrechenden Wasser stiegen nun auf ih ren natürlichen Pegel, der zu dieser Zeit des Jahres höher lag als die Hausdächer der Stadt. Auf der Plattform der Pyramide befanden sich zwei Priester, die das heilige Feuer nährten und sich
auf die bevorstehende Feier vorbereiteten. Als sie uns aus dem Wachhaus treten sahen, liefen sie auf uns zu, rangen die Hände und fragten, was für furchtbare Dinge geschähen. Ich erwiderte, daß ich dies nicht wüßte, doch daß wir, als wir die Wasser in unserem Gefängnis hätten ansteigen sehen, vor ihnen geflohen seien. Sie hielten sich nicht damit auf zu fragen, auf welche Weise wir geflohen seien, sondern liefen so fort die Treppe der Pyramide hinab, nur um gleich darauf zurückzukehren, denn bevor sie ihre Basis er reicht hatten, war ihnen der Weg abgeschnitten. Inzwischen breitete das Entsetzen sich aus, und der Untergang begann. Überall drangen die Wasser vor und breiteten sich aus, ständig ergänzt von dem un erschöpflichen Reservoir des großen Sees. Ganze Straßenzüge sanken zusammen und verschwanden plötzlich unter schäumenden, wirbelnden Wasserma ssen, während von der Menschenmenge unaufhörli che Schreie des Entsetzens heraufgellten. Maya hörte sie, warf sich auf den Boden der Platt form auf der Spitze der Pyramide, damit sie nicht mehr sähe, was sie angerichtet hatte, und preßte bei de Hände auf die Ohren, um die Schreie nicht mehr hören zu müssen, während der Señor und ich dem Schauspiel fasziniert zuschauten. Jetzt brachen die Wassermassen über die Menschen herein, über die Tausende, die sich auf dem leicht ansteigenden Bo den vor dem Tor der Umfassungsmauer des Tempels versammelt hatten, und von einer Sekunde zur ande ren wurden sie hinweggefegt wie welke Blätter von einem Sturm. Bevor man bis zehn zählen konnte, war der größte Teil der Bevölkerung der Stadt des Her zens hinweggerafft.
Die massiveren Häuser der Stadt standen noch eine Weile, nur um eins nach dem anderen zusammenzu brechen, völlig lautlos, wie es schien, denn jetzt übertönte das Brausen des Wassers jeden anderen Laut. Noch bevor die Sonne ganz über dem Horizont stand, war alles vorbei, und von der uralten und wunderbaren Stadt, Herz der Welt, war nichts mehr zu sehen außer den Spitzen der Bäume und den obe ren Teilen der Tempel-Pyramiden, die sich aus dem Wasser des Sees erhoben. Die Goldene Stadt war nicht mehr. Sie war untergegangen, und mit ihr all ihre gehorteten Schätze, ihr Wissen und ihr uralter Glaube, und was seit vielen Generationen für ein Mythos gehalten worden war, war nun tatsächlich zu einem Mythos geworden. Eine kurze Stunde hatte ausgereicht, die Früchte jahrhundertelanger Arbeit hinwegzufegen, und mit ihnen den schwindenden Rest der letzten reinrassigen Indianer, die dem Glau ben und den Bräuchen ihrer Vorväter folgten. Zwei fellos war ihre Zeit vorüber, und die Mächte über uns hatten ihr Ende beschlossen; dennoch war ein so ge waltiger und so plötzlicher Zusammenbruch ein ent setzlicher Anblick. Was, fragte ich mich, würden wohl die Gründer dieser großartigen Stadt, die Schöpfer ihrer feierlichen Pyramiden und des Hei ligtums gedacht und gefühlt haben, wenn sie dieses Ende hätten voraussehen können? Ob sie auch dann das heilige Symbol so raffiniert auf den Altar gesetzt haben würden, daß die Kraft einer aufs Blut gereizten Frau es fortreißen und damit Altar, Tempel, Stadt, und alle, die in ihr lebten, für immer unter den Was sern des Sees begraben konnte? Sie hatten dies getan, um ihre Häuser und Heiligtümer vor Feinden zu
schützen, so daß sie im Notfall Selbstzerstörung der Entehrung vorziehen konnten, doch konnten sie nicht voraussehen – nicht einmal im Traum erahnen – daß dieser Feind ein Mensch ihrer eigenen Rasse sein würde, daß die Hand eines ihrer Kinder das Unheil auslösen könnte, welches den totalen und unwider ruflichen Untergang des stolzen Zentrums ihrer Fe ste, der Stadt des Herzens der Welt, herbeiführen würde. Inzwischen hatten die Wasser, Fuß um Fuß, einen Ausgleich herbeigeführt und die Schüssel gefüllt, in der die Stadt gestanden hatte, und das helle Licht der Sonne fiel auf seine stille Oberfläche, während es die Seiten der Pyramide umspülte und über die flachen Dächer versunkener Häuser schwappte. Da und dort trieben Trümmerstücke, und da und dort menschli che Leichen, über denen bereits Raubvögel zu kreisen begannen – und das war alles. Schließlich erhob sich Maya auf die Knie und blickte hinab, ihre Hand verschattete die Augen, denn das Licht war grell auf dem weißen Gipfel der Pyramide. Dann warf sie die Arme empor und stieß einen lauten, verzweifelten Schrei aus. »Seht euch an, was ich angerichtet habe!« rief sie. »Seht die Ernte meiner Sünde! Oh! Mein Vater, jener Traum, den du mir sandtest, um mir den Schlaf zu rauben, war entsetzlich, doch hat er die Wirklichkeit nicht einmal berührt. Oh! Mein Vater, die Menschen, die du erretten wolltest, sind tot, untergegangen ist die Stadt, die du liebtest, und ich bin es, die alles zer stört hat. Oh! Mein Vater, mein Vater, dein Fluch ist wahrlich auf mich gefallen, und ich bin verflucht.« Worte wie diese sprach sie, dann begann sie plötz
lich zu lachen, wandte sich dem Señor zu und fragte: »Wo ist unser Kind?« Er konnte ihr nicht antworten, doch sie schien auch keine Antwort zu erwarten, sondern beugte ihre Ar me vor der Brust, wiegte sie hin und her und summte vor sich hin, als ob ein Kind an ihrer Brust läge, trat dann zuerst zu ihm, und dann zu mir, und sagte: »Seht, ist er nicht ein hübscher Junge? Bin ich nicht glücklich, die Mutter eines solchen Jungen zu sein?« Ich tat, als ob ich ihn sähe, doch der Anblick ihres elenden Gesichts und ihrer leeren Arme, die sie hin und her wiegte, war so furchtbar, daß ich gezwungen war, mich abzuwenden und meine Tränen zu verber gen. Denn jetzt erkannte ich die Wahrheit. Erschöp fung, Leid und Schock hatten ihren Verstand ver wirrt. Sie war wahnsinnig geworden. Wir führten sie zu dem Wachhaus, wo sie vor dem Anblick des Unterganges verschont wurde. Und nun wurde Maya von einer Krankheit überwältigt. Sie be gann mit einer Verhärtung der Brüste, zu der kurz darauf ein Fieber hinzutrat. Zwei Tage und zwei Nächte pflegten wir sie, mit brechenden Herzen, auf der Plattform der Pyramide, versuchten, ihre Wahn sinnsausbrüche zu überhören, ihre erbärmlichen Worte über ihr Kind, und bei der Morgendämmerung des dritten Tages starb sie. Bevor sie starb, kehrten jedoch ihre Sinne zu ihr zurück, und sie sagte ihrem Ehemann so wunderbare und zärtliche Worte, daß sie fast zu heilig sind, um niedergeschrieben zu werden. »Ach!« schloß sie, »wie mein Herz es mir vorausge sagt hat, habe ich dir nichts als Unglück gebracht, und nun ist die Zeit gekommen, dich zu verlassen, Ignatio hatte recht, und wir haben uns geirrt – oder
besser, ich habe mich geirrt. Wir hätten vor einem Jahr zusammen sterben sollen, anstatt die Sünde im Heiligtum zu begehen, denn dann wären zumindest unsere Hände sauber geblieben und das Blut des Volkes wäre nicht auf mein Haupt gekommen. Doch glaube mir, Ehemann, daß ich verrückt war, als ich jene todeswürdige Tat getan habe, denn ich sah, wie unser Kind vor unseren Augen ermordet wurde, und hörte eine Stimme in mir nach Rache rufen. Nun, es ist getan, und ich habe dafür gebüßt, und vielleicht wirst du dafür noch schwerer büßen, wenngleich ich glaube, daß ich lediglich die Hand des vorbestimm ten Schicksals war, um die Vernichtung eines längst zum Untergang verdammten Volkes und eines über lebten Glaubens herbeizuführen; und deshalb fürchte ich die Rache des Gottes meines Volkes nicht. Mögen meine anderen Sünden Vergebung finden, da es mei ne Liebe zu dir war, die mich diese begehen ließ. Mein Ehemann, ich hoffe, daß du diesem Orte bösen Omens entkommen und noch viele glückliche Jahre leben mögest, doch am meisten hoffe ich, daß du schließlich in jenes Land kommen wirst, in dem wir auf dich warten werden, das Kind und ich. Lebe wohl! Dies ist ein trauriger Abschied, und mein Le ben ist kurz und schmerzvoll gewesen. Dennoch bin ich froh, es gelebt zu haben, da es mich in deine Arme geführt hat, und, auch wenn ich es nicht verdient ha be, glaube ich, daß du mich wirklich geliebt hast und auch die Erinnerung an mich lieben wirst, wenn ich tot bin. Und auch du, Ignatio: Lebe wohl! Du bist mir ein guter Freund gewesen, obwohl ich auch dir kein Glück gebracht habe und zu Zeiten eifersüchtig auf dich gewesen bin. Denk in Freundschaft an mich zu
rück, so dir das möglich sein sollte, obwohl du, wenn es nicht um mich gewesen wäre, deine Ziele erreicht hättest, und tröste meinen Ehemann, wie einst in je nen Tagen, bevor wir einander trafen, mit deiner Freundschaft.« Dann wandte sie sich wieder dem Señor zu und flehte ihn mir ersterbender Stimme an, sie und ihr Kind nicht zu vergessen. Ich hörte ihn antworten, daß sie sich darum nicht sorgen solle, da sein Glück mit ihr sterben würde und er, selbst wenn er entkommen sollte, glaube, daß sie nicht für lange voneinander getrennt sein würden, noch würde jemals eine andere Frau ihren Platz in seinem Herzen einnehmen. Sie segnete ihn und dankte ihm, streichelte sein Ge sicht mit ihren sterbenden Händen, und ich, der ich diesen Anblick nicht mehr ertragen konnte, ließ sie allein. Eine Stunde später trat der Señor aus dem Wach haus, und obwohl er nicht sprach, sagte ein einziger Blick mir, daß es vorüber war. So starb Maya, die Herrin des Herzens neben mir, der letzte Sproß des uralten königlichen Geblütes der indianischen Fürsten, eine warmherzige und schöne Frau, auch wenn sie hin und wieder eigenwillig und launisch gewesen sein mochte. Während die Herrin Maya im Sterben lag, erfuhren wir, daß einige Indianer auf dem Festland überlebt hätten, Männer und Frauen, die dorthin entsandt worden waren, um die Felder zu bestellen, denn wir sahen ein Kanu, das um das herumgepaddelt wurde, was einstmals die Insel des Herzens gewesen war. Die beiden Priester, die sich mit uns auf der Pyramide
befanden, versuchten, es durch Signale herbeizuru fen, um uns zu retten, doch entweder sahen die Men schen, die in dem Boot saßen, uns nicht, oder sie wa ren von Angst gepackt und wagten nicht, sich der Py ramide zu nähern. Trotzdem behielten wir den Leichnam Mayas den ganzen Tag über bei uns, damit wir ihn irgendwann an Land bringen konnten, um ihn zu begraben. Als die Nacht hereinbrach und noch immer niemand gekommen war, faßten wir einen Entschluß. Auf dem Dach des Wachhauses brannte nach wie vor das Feuer, denn die beiden Priester hatten es, mehr aus reiner Gewohnheit denn aus ir gendeinem anderen Grunde, wie ich glaube, ständig genährt. Dorthin brachten wir nun mehrere der ver goldeten Stühle, die an Festtagen von den Edlen be nutzt worden waren, und alles Feuerholz, das ange häuft worden war, um das Feuer zu unterhalten, aus dem wir nun um und über dem Feuerrost einen riesi gen Stoß errichteten. Dann trugen wir den Leichnam Mayas, in ihre weiße Robe gekleidet, auf ihn und legten ihn auf den Scheiterhaufen. Die Flammen loderten auf, und schließlich stand der ganze Holzstoß in hellen Flammen und brannte so hell, daß sein Licht die ganze Plattform der Pyramide beleuchtete, und die sie umgebende Dunkelheit. Die ganze Nacht hindurch starrten wir in die Flammen, während die beiden Priester jammerten und sich auf die Brust schlugen, bis das Feuer endlich zusammen fiel und erlosch. Es erschien mir sehr passend, daß es die letzte Aufgabe dieser uralten, heiligen Flamme gewesen war, den Leichnam der letzten Tochter aus königlichem Hause zu verzehren, das sie so viele Ge nerationen lang gehütet hatte. Gegen Morgen kam
Wind und ein leichter Regen auf, und bei Tagesanbruch waren von dem Scheiterhaufen nur noch schwarze, verkohlte Reste übrig. Nicht ein Funke war zurück geblieben, und keine noch so kleine Spur von ihr, die einmal die reizende und schöne Herrin des Herzens gewesen war. Nun begannen wir zu überlegen, wie wir von hier zum Festland entkommen konnten, wozu es auch Zeit wurde, denn die Wasser, die im Inneren der Py ramide arbeiteten, nagten an ihren Fundamenten, von denen bereits Teile wegzubrechen begannen. Unser Plan sah vor, ein paar Holzbänke, die hier oben stan den, zu einem Floß zusammenzubinden und damit zum Ufer des Sees zu paddeln. Dieser Mühe wurden wir jedoch enthoben, denn als wir diese Arbeit halb beendet hatten, sahen wir ein großes, von drei India nern bemanntes Kanu, das auf uns zuhielt, und machten den Leuten Zeichen, auf die andere Seite zur Treppe der Pyramide zu paddeln. Dies taten sie, und, nachdem wir allen Proviant und die wenigen anderen Dinge, die von Wert waren, aus dem Wachhaus ge holt hatten, stiegen wir vier in das Kanu, was nicht ganz leicht war, da die Strömung so heftig an den zerbröckelnden Flächen der Pyramide ent langrauschte, daß die Leute Schwierigkeiten hatten, das Kanu zu den Treppenstufen zu bringen. Von den Indianern erfuhren wir, daß jene, die sich auf dem Festland befanden, so erschüttert waren über das Schicksal, das ihre heilige Stadt überkommen hatte, daß sich niemand der Stelle zu nähern wagte, an der sie gestanden hatte. Doch als sie in der ver gangenen Nacht die mächtigen Flammen von Mayas Scheiterhaufen gesehen hatten, wußten sie, daß es
Überlebende auf der Pyramide geben mußte, die, wie sie glaubten, durch das Feuer um Hilfe signalisierten, und waren deshalb losgefahren, sie zu retten. Sie fragten, wie es gekommen sei, daß die Wasser die Stadt überschwemmt hätten, die seit Anbeginn der Zeit so fest und sicher gestanden habe. Wir antwor teten, daß wir das nicht wüßten, und die beiden Prie ster, die bei uns waren, schienen jetzt, da sie gerettet wurden, zu mitgenommen, um unseren Rettern zu sagen, daß wir in den Innenräumen der Pyramide ge fangen gehalten worden waren – falls sie überhaupt gewußt hatten, daß dem so war. Als wir das Ufer erreichten, fanden wir dort eine kleine Ansammlung verstörter Indianer vor – es mochten etwa hundert oder hundertfünfzig gewesen sein –, die einzigen Überlebenden vom Volke des Herzens, falls nicht noch ein paar wenige auf den hö her gelegenen Stellen jener Teile der Insel des Her zens leben sollten, die noch nicht überschwemmt worden waren. Mit offenem Munde und fast ohne je de Bemerkung hörten sie sich unseren Bericht von der plötzlichen und völligen Zerstörung der Stadt an. Als wir zu Ende gesprochen hatten, meinte einer von ihnen, daß der weiße Mann getötet werden solle, da zweifellos er es gewesen sei, der Unglück und die Ra che des Himmels über ihr Volk gebracht habe, doch schien dieser Vorschlag bei den anderen keinen An klang zu finden. Und selbst wenn sie gewußt hätten, welche Rolle wir bei der Katastrophe gespielt hatten, bezweifle ich, daß sie den Mut gefunden hätten, uns ein Ende zu bereiten. Sie gaben uns, was wir an Nahrung und Kleidung benötigten, sogar Waffen, wie Macheten, Bogen und
Pfeile und Blasrohre, und ließen uns unseres Weges ziehen. Oft habe ich mich gefragt, was aus ihnen ge worden sein mag, und ob einer von ihnen, oder ihre Kinder, noch am Leben sind. Also wandten wir uns den Bergen zu, und über schritten sie am zweiten Tage, da Maya uns in ihrer letzten Stunde das Geheimnis der Passage verraten hatte, durch die wir vor einem Jahr, mit verbundenen Augen, von ihr durch die Felsen geführt worden wa ren. Nachdem wir einen letzten Blick auf das blaue Wasser des heiligen Sees geworfen hatten, das über den versunkenen Palästen der Stadt und den Kno chen ihrer Bewohner im Licht der Sonne schimmerte, verließen wir das verfluchte Land des Herzens, in dem wir so viel Leid erfahren und so schweren Ver lust erlitten hatten.
NACHWORT
Mein Freund, nun habe ich, Ignatio, die Geschichte zu Ende geschrieben, in der ich berichtete, wie es kam, daß ich die Goldene Stadt der Indianer besuchte, die von so vielen für ein Produkt der Fabel gehalten wurde, und die jetzt nicht mehr existiert. Es ist eine seltsame Geschichte, und ich hoffe, daß sie Ihr Inter esse findet, wenn Sie sie nach meinem Tode lesen. Ich könnte mir denken, daß Sie gerne auch die Ein zelheiten unserer Rückreise erfahren würden, doch habe ich weder die Kraft, noch die Geduld, sie aufzu schreiben. Es war eine furchtbare Reise; einmal wur den wir beide durch ein Fieber niedergestreckt und glaubten, unser Ende sei gekommen, doch überstan den wir die Krankheit dank der Hilfe einiger wan dernder Indianer, die uns pflegten, und schließlich erreichten wir diesen Ort, von dem wir fast zwei Jah re zuvor um unser Leben geflohen waren. Wir fanden die Hacienda verlassen, da sie inzwischen als Gei sterhaus verrufen war, doch bearbeiteten einige der indianischen Bediensteten – oder, richtiger gesagt: Sklaven – dieses Erzschurken, Don Pedro Moreno, noch immer kleine Teile des Landes. Nun, der Señor beschloß, zu bleiben, da er hier zum erstenmal seiner Frau begegnet war, und so ver kauften wir jenen mit Smaragden besetzten Gürtel, den Maya aus der Schatztruhe genommen und mir gegeben hatte, als wir zum erstenmal in der Halle der Pyramide gefangen waren (verlieren Sie die Schließe nicht, Freund, denn sie ist die einzig verbliebene Er innerung an das Volk des Herzens), und mit dem
Erlös kauften wir zu einem sehr niedrigen Preis von der derzeitigen Regierung, welche die Besitznachfol ge angetreten hatte, dieses Haus und die weiten Län dereien darum herum, die ich seit jenem Tage bestellt habe. Denn, mein Freund, mein Ehrgeiz war nun er loschen. Ich hatte meine letzte Karte ausgespielt, und sie hatte nicht gestochen, also gab ich, wenn auch schweren Herzens, meine Hoffnungen auf ein Wie dererstehen indianischer Macht und Größe auf, die zu verfolgen ich nicht mehr die nötige Kraft und Ge sundheit besaß. Außerdem war ich auch nicht mehr der Herr des Herzens, da mein Amulett, zusammen mit seinem Gegenstück, im Heiligtum unter den Wassern des Heiligen Sees verloren gegangen war und mir mit dem alten Symbol ein großer Teil meiner Macht. Fünf Jahre lang haben der Señor und ich hier zu sammen gelebt, doch glaube ich, daß er während die ser ganzen Zeit langsam gestorben ist. Er, der stets so gesund und fröhlich gewesen war, hatte von der Stunde an, als Maya auf der Pyramide starb, seine Gesundheit und seinen Lebensmut nie wiedererlangt, und obwohl er nur selten von ihr sprach, wußte ich doch, daß sie Tag und Nacht in seinen Gedanken war. Zweimal wurde er im Frühjahr von der Calentu ra befallen, wie wir das Fieber dieses Landes nennen. Er überlebte es knapp, mit eingefallenen Wangen und abgezehrtem Körper; und als das nächste Frühjahr herankam, flehte ich ihn an, nach der Stadt Mexiko zu gehen und im Sommer zur Hacienda zurückzukeh ren. Doch ich bat vergebens, er weigerte sich fortzu gehen, und ich glaube sogar, daß es ihm egal war, ob er lebte oder starb. Das Ende davon war, daß die Ca
lentura ihn wieder ergriff, und dieses Mal starb er daran, und er starb in meinen Armen, so glücklich wie ein Kind, das einschläft. Nun sind auch meine Tage dahin, und nachdem ich in allen Dingen versagt und viel Leid und Enttäu schung erlitten habe, werde ich nun zu ihm gehen. Leben Sie wohl, mein Freund. Vielleicht werden Sie von Zeit zu Zeit an mich denken und, obwohl Sie Hä retiker sind, ein Gebet zum Himmel schicken, für das Seelenheil eines alten Indianers ... IGNATIO
El Dorados Untergang
Nachwort � von Bernhard Heere � Die von den Spaniern zu Beginn des 16. Jahrhunderts eroberten Reiche Mittel- und Südamerikas, die legen dären Imperien der Azteken und Inka, und ihrer Vorläufer, der Tolteken, Mixteken oder Maya, um nur die wichtigsten zu nennen, haben bisher nicht nur die Archäologen beschäftigt, sondern auch Dichter und Schriftsteller zu zahlreichen Arbeiten angeregt. Das traurige historische Ereignis, das dabei am meisten Beachtung fand, war wohl die spektakuläre Eroberung und blutige Zerstörung des mächtigen Aztekenreiches im Hochland von Mexiko durch den spanischen Konquistador Hernán Cortés in den Jah ren 1519 bis 1521. Auf dem Boden der heutigen Hauptstadt von Mexiko, der damaligen Aztekenme tropole und Königsresidenz Tenochtitlan, die spani sche Chronisten einmal als eine strahlende indiani sche Märchenstadt beschrieben haben, begann da mals das Drama des Untergangs von Macht und Pracht der indianischen Hochkulturen. Aus zahlrei chen Darstellungen ist uns die folgenschwere ängstli che Haltung des damaligen Aztekenherrschers be kannt, des mit göttlichen Ehren ausgestatteten Moc tezuma II, dessen Namen die Spanier in das ihnen geläufigere Montezuma umwandelten. Dieser Mon tezuma, der Gegenspieler von Cortés und Herr über Zehntausende von indianischen Kriegern, unterwarf sich mehr oder weniger kampflos dem kleinen Heer
der spanischen Eroberer, glaubte er doch in den Spa niern mit ihren blitzenden Rüstungen, ihren in der Neuen Welt noch nie gesehenen Pferden und ihren gefürchteten Feuerwaffen die zurückgekehrten wei ßen Götter zu erkennen, von denen die indianischen Prophezeiungen berichteten. Die Folgen dieses Irr tums waren katastrophal: Trotz des zuletzt erbitterten Widerstandes der Azteken wurde ihre Hauptstadt Tenochtitlan von Cortés dem Erdboden gleichge macht, und nur zweieinhalb Jahrzehnte später fiel das noch mächtigere Inkareich nach einem weiteren küh nen Handstreich der Spanier. Heute wissen wir, daß damals unter dem Zeichen des Kreuzes und des Henkerschwertes einzigartige Kulturen zerstört wurden, und die christliche Missio nierung der Indianer oft nur den Vorwand lieferte für die Plünderung der unglaublichen Gold- und Silber schätze, die sich im Besitz dieser Reiche befanden. Diese für das christliche Abendland nicht gerade schmeichelhaften Wahrheiten wurden seither von vielen Schriftstellern, Historikern und Ethnologen immer wieder ans Licht gebracht. Von einem regel rechten Völkermord an den Indianern ist die Rede, von unvorstellbaren Greueltaten durch die spanische Inquisition, von der unersättlichen Goldgier der Kon quista und der Zerstörungswut christlich-fanatisierter Missionare, die unschätzbare Werte indianischen Kulturguts blindlings vernichteten. Mit einer treffen den Allegorie hat es einmal der Kulturhistoriker Os wald Spengler ausgedrückt, als er die Kulturen Mexi kos und Perus mit einer »Sonnenblume« verglich, »der ein Vorübergehender den Kopf abschlägt«, und die »in voller Pracht ihrer Entfaltung gemordet wur
de«. Auf alle Fälle gehört die Sympathie und das Mitleid von uns Heutigen den Indianern, die heute nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe sind und im Land ihrer Vorväter nicht selten ein Dasein als Getretene und Gedemütigte fristen. Das ist auch der Tenor, den Henry Rider Haggard, dieser große phantastische Erzähler aus dem England der Jahrhundertwende in seinem Abenteuerroman Das Herz der Welt anschlägt. Es geht um die Entdek kung einer sagenhaften Goldenen Indianerstadt, die irgendwo versteckt in den Dschungeln und Hoch ebenen Mittelamerikas liegt, einer Gegend, in der auch heute noch die rätselhaften Ruinen ehemaliger Tempelanlagen der Maya zu finden sind. Der Held der Geschichte ist der Indianer Don Ignatio, der aus eigener schmerzlicher Erfahrung den Leidensweg seines Volkes kennt. Schon als Kind mußte er mitan sehen, wie sein Vater, der Kazike eines Indianerdor fes, von den Steuereintreibern der Regierung ermor det wurde, und auch die Hacienda Santa Cruz, in de ren Besitz Don Ignatio nach vielen Abenteuern gerät, trägt das Signum der Demütigung, die die indiani sche Rasse bisher zu erleiden hatte. Diese Hacienda war einst ein Kloster, das spanische Missionare er richteten, um den Indianern den »richtigen« Glauben mit den Mitteln von Folter und Inquisition beizubrin gen, was Rider Haggard mit dem Hinweis auf die an den Klosterfresken dargestellten horriblen Szenen in dianischer Ketzerverfolgungen recht diskret auszu drücken versucht. Auch dann, als das Kloster unter dem Mexikaner Pedro Moreno in die Hände von We gelagerern und Banditen fiel, die im Fortlauf der Ge schichte jedoch von Don Ignatio und den Seinen un
schädlich gemacht werden, schien sich das Los der Indianer nicht gebessert zu haben, werden sie doch auf der Hacienda dieses mexikanischen Schurken wie Sklaven gehalten. Den ganzen Mißhandlungen und Verfolgungen seiner Rasse beschließt nun Don Ignatio ein Ende zu bereiten, indem er sich daran macht, einen universel len Indianeraufstand gegen die weißen Eindringlinge zu mobilisieren, mit dem Ziel, ein reorganisiertes in dianisches Imperium zu errichten. Für diese Aufgabe scheint Don Ignatio geradezu prädestiniert zu sein, da er das Erbe eines uralten Smaragdamuletts antritt, das ihn als einen direkten Nachfahren des letzten Aztekenkönigs Cuauhtémoc ausweist. Jeder Leser, der sich auch nur am Rande mit der Eroberung Mexikos beschäftigt hat, kennt wohl den Namen Montezuma, der des letzten Aztekenherr schers Cuauhtémoc dagegen ist nahezu unbekannt, obwohl dieser den ängstlichen Montezuma an Tap ferkeit und Entschlossenheit weit überragte. So setzte sich der junge König Cuauhtémoc nach dem Tod Montezumas an die Spitze des aztekischen Befrei ungskampfes gegen die Spanier, bis es Cortés schließlich mit Hilfe von Feinden der Azteken gelang, den erbitterten Widerstand dieses Volkes zu brechen und in einem Meer von Blut zu ersticken. Cuauhté moc oder Guatemuz, wie ihn die Spanier nannten, wurde zunächst von Cortés geschont, bis auch er ein gewaltsames Ende fand, als er wegen angeblicher Konspiration gegen die Spanier aufgeknüpft wurde. Nicht nur wegen dieses Unrechts, sondern auch we gen seiner großen Tapferkeit wird der ermordete Aztekenfürst heute in Mexiko wie ein Nationalheld
verehrt, besonders als man vor einigen Jahren seine Gebeine unter dem Altar einer kleinen Kirche in der mexikanischen Provinz entdeckt zu haben glaubte. Historische Persönlichkeiten und Ereignisse wer den von Rider Haggard in seinem Roman Das Herz der Welt jedoch nur am Rande berührt, weit auffälli ger ist, wie sehr er auch hier wieder auf Mythen, Le genden und indianische Überlieferungen zurück greift. Da ist zunächst die Legende vom »Zerbroche nen Herzen« und vom zerteilten Smaragdamulett, das bis auf den mythischen Urherrscher der Azteken, den weißen Gott Quetzalcóatl, zurückgehen soll. Hierzu muß jedoch gesagt werden, daß diese Legen de nur sehr bedingt der wirklichen indianischen Überlieferung entspricht und von Rider Haggard stark stilisiert worden ist. Quetzalcóatl, der oft in Gestalt der berühmten in dianischen gefiederten Schlange dargestellt wird, ist der populärste unter den altmexikanischen Göttern. Er gilt als die Inkarnation von Weisheit und Güte und wurde von den Azteken auch als ihr erster bärtiger Priesterkönig verehrt, unter dem die Indianer ihr Goldenes Zeitalter erlebten. Sein Widersacher ist der grausame und blutrünstige Gott Tezcatlipoca, der einmal eine Hexengöttin dazu aufstachelte, Quetzalcóatl zu verführen, worauf dieser eine heilige Überlieferung gebrochen hatte und das Land der In dianer verließ. Die Sage berichtet, daß der vertriebene weiße Gott eines Tages aus dem Land der aufgehen den Sonne zurückkehren und der Macht des blutgie rigen Tezcatlipoca ein Ende bereiten wird. Diese Pro phezeiung führte bekanntlich Montezumas Unter gang herbei, glaubte er doch in den bärtigen Spaniern
unter Cortés den wiederkehrenden Quetzalcóatl mit seinem Gefolge zu erkennen, dem er sich zu unter werfen hatte. Zur Zeit der spanischen Eroberungen kamen auch Gerüchte und Legenden über eine sagenhafte Golde ne Stadt der Indianer auf, wie sie von Rider Haggard in seinem Roman beschrieben worden ist. Berühmt geworden ist seither die Geschichte von ›El Dorado‹, das seit der Entdeckung Perus mit allen seinen uner meßlichen Goldreichtümern in den Köpfen der Spa nier herumspukte. Man vermutete jenes ›El Dorado‹, was übersetzt soviel wie »der goldene Mann« be deutete, irgendwo jenseits des Inkareiches, verschol len in den schier undurchdringlichen Dschungeln und Sümpfen Mittelamerikas, und die Spanier nah men die unglaublichsten Strapazen, Elend und Tod in Kauf, um dieser goldenen Fata Morgana auf die Spur zu kommen. Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts soll es noch einige weiße Abenteurer gegeben haben, die auf der Suche nach jener legendären Goldstadt der Indianer den Amazonas oder den Orinoco hin unterfuhren und meistens in den Sümpfen und Flußlabyrinthen des Dschungels ein trauriges Ende fanden. Der Überlieferung nach ist auch diese Stadt noch nie von einem weißen Eindringling betreten worden, bis auf eine Ausnahme, als man einmal einen Spanier mit verbundenen Augen dorthin brachte, der dann von den unglaublichsten goldenen Wunderdingen zu berichten wußte. So wird erzählt, daß ›El Dorado‹ am Ufer eines Sees aus reinem Goldstaub liegt und über haupt alles in dieser Stadt aus massivem Gold gefer tigt ist: das Mobiliar, die Waffen und sogar die Ge
bäude und Paläste, die mit einer dicken Goldschicht überzogen sind. Diese Gerüchte und Phantasien gehen wahrschein lich, wie man heute von Seiten der Völkerkunde ver mutet, auf einen religiösen Brauch der MuiscaIndianer im damaligen Goldland Kolumbien zurück: An bestimmten Festtagen ließ sich nämlich der In dianerfürst jenes Stammes, der sich ähnlich wie der Herrscher der Inka rühmte, vom Sonnengott erzeugt zu sein, am ganzen Leib mit Goldstaub bestreuen, so daß er dann bei Sonnenaufgang wie das lebende Ab bild des Sonnengottes erschien. Das scheint der wah re Kern der Gerüchte gewesen zu sein, die sich um ›El Dorado‹, die Stadt ›des goldenen Mannes‹, drehten. In seinem Roman Das Herz der Welt hat Rider Hag gard diesen Mythos wieder in die Wirklichkeit zu rückgeholt und um ihn herum eine Geschichte um Liebe und Abenteuer, um Verrat und Untergang in szeniert. Schauplatz jenes konkret gewordenen My thos ist die mit märchenhaften Schätzen angefüllte »Stadt des Herzens«, in die Don Ignatio zusammen mit seinem weißen Begleiter James Strickland nach unendlichen Mühen gelangen, als sie auf den Herr scher dieser Stadt, auf Zibalbay und dessen schöne Tochter Maya, stoßen. Doch das Schicksal, das die Fremden in diesem goldenen Schlaraffenland erwar tet, ist alles andere als glücklich. Zunächst wird Zi balbay, der alte und rechtmäßige Herrscher, von sei nem Neffen Tikal in einer Art von Palastrevolution gestürzt, und dieser unsympathische Thronfolger ist auch noch unsterblich in die schöne Maya verliebt, die ihrerseits auf ihren Geliebten James Strickland nicht verzichten möchte. Und so folgt Intrige auf In
trige, und eine tragische Verwicklung auf die andere, bis schließlich die unausbleibliche Katastrophe ein tritt. Durch einen von Maya im Allerheiligsten der Tempelpyramide ausgelösten Mechanismus erfüllt sich dann das Schicksal dieser zum Untergang be stimmten Goldenen Stadt: Die Schleusen des mit Schmelzwasser angefüllten Stausees, an dessen Ufer sich die Stadt erhebt, öffnen ihre Tore, und alles ver sinkt in einem apokalyptischen Wasserinferno. Die einzigen, die sich auf dem Tempeldach der Sonnen pyramide retten können, sind die drei Helden, und von denen bleibt am Ende nur noch Don Ignatio üb rig, dessen Hoffnungen auf ein neues indianisches Imperium mit dem Untergang »der Stadt des Her zens« ebenfalls weggespült werden. Als heutiger Leser wird man angesichts des unge brochenen Pathos, das Rider Haggard in diesem Me lodram anschlägt, das zuweilen etwas papieren wirkt, zu kritischen Anmerkungen regelrecht herausgefor dert. Tatsache jedoch ist, daß es Rider Haggard ei gentlich immer gelingt, ein spannendes und farben prächtiges Fantasy-Abenteuer zu erzählen, in dem die Geschichte um Kampf und Leidenschaft, um Tra gik und Heldentum den Leser nicht unberührt läßt. Die verschiedenen exotischen Schauplätze, an de nen die zahllosen Romane Rider Haggards spielen – sein Repertoire reicht von Afrika über Ägypten bis zu Polynesien, Lateinamerika und Skandinavien –, sind dabei oft nur auswechselbare Szenarien für die dra matischen Verwicklungen, die sich um untergegan gene Völker und Kulturen entspinnen. Mehr als alles andere haben Rider Haggard die Ruinen und Zeugnisse der Vergangenheit interessiert,
die gerade zu seinen Lebzeiten von den ersten Weg bereitern der modernen Archäologie entdeckt wur den. Es waren nicht nur Troja und Ninive, die sagen haften Städte der antiken Überlieferung, die im 19. Jahrhundert ausgegraben wurden, sondern auch die verschollenen Tempel der Maya, die einige exzentri sche Altertumsliebhaber in jener Zeit zu entdecken begannen. Einer jener berühmten Männer, der den Spuren dieser vergessenen Indianerkultur im Dschungel Mittelamerikas folgte, war der Amerika ner John Lloyd Stephens, ein Diplomat, der als ge heimes Steckenpferd die Altertumswissenschaft be trieb. Anläßlich einer Reise nach Guatemala rüstete er eine Expedition aus und begann, systematisch den Dschungel zu durchstreifen, bis er in Copan in Hon duras im Jahre 1839 auf eine vom Urwald überwu cherte Tempelstadt der alten Maya stieß. Seither wurden zwischen Mexiko, Honduras und Guatemala immer wieder verschollene Monumente dieses rät selhaften Volkes gefunden, das seinen Zenit schon weit überschritten hatte, als die Spanier kamen, und damals schon seine Tempel und Paläste aus bisher noch ungeklärten Gründen verlassen hatte. Eines je ner Relikte einer längst untergegangenen Kultur be findet sich in Palenque, einer Fundstelle in der südmexikanischen Grenzprovinz Chipias, wo auch der vorliegende Roman spielt. Es ist dies eine noch relativ gut erhaltene treppenförmige Sonnenpyrami de, die Rider Haggard vielleicht zu seiner phantasti schen Vision einer untergegangenen Goldenen Stadt inspiriert haben mag, dem sagenhaften ›El Dorado‹, das bis heute in der Legende weiterlebt. Rider Haggard ist mit seiner besonderen Form von
Abenteuerliteratur, in der sich Mythos und Wirklich keit auf eigentümliche Art und Weise miteinander vermischen, im deutschen Sprachraum nie recht be kannt geworden. Mag es daran liegen, daß der größte Erfolg Rider Haggards im angloamerikanischen Raum – fast alle seine Romane wurden in Zeitschriften vorabgedruckt und erschienen nach Abschluß des Vorabdrucks gleichzeitig in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten – in einen Zeitraum fiel, als Deutschland mit England im Krieg lag und der kulturelle Austausch zum Erliegen gekommen war? Gegen diese These spricht, daß seine erfolgreichsten Bücher bereits vor der Jahrhundertwende erschienen: »King Salomon's Mines« kam bereits 1885 heraus, »Allan Quatermain« 1887, »She« ebenfalls 1887, »Nada the Lily« 1892 und der vorliegende Roman 1896. Sicher ist aber auch, daß diese Art von Abenteuerliteratur, die an exotischen Schauplätzen spielt und geheimnisvolle Entdeckun gen beschreibt, hierzulande, im Gegensatz zu Eng land und den USA, stets mit Vorbehalt aufgenom men, und, wenn überhaupt, so bestenfalls auf der Ebene des Jugendbuches ernst genommen wurde, wie Karl May und Friedrich Gerstäcker. Im Moment scheinen diese Vorurteile jedoch im Rückgang begrif fen zu sein, ist es doch gerade heute die Faszination an Gefahr und Abenteuer, sowie ein neu erwachtes Interesse an den exotischen Gegenden unseres Erd balls, was den Film, die Literatur und vor allem die Comics durchzieht. So kommt es sicherlich nicht von ungefähr, daß ein Autor wie Rider Haggard gerade heute wieder von vielen Lesern entdeckt wird, auch wenn manche Kritiker hier von Trivialität, Weltflucht
oder Glorifizierung des Kolonialismus sprechen mö gen. Er war ein Kind seiner Zeit. Leservergnügen hängt gottlob nicht vom Segen der Kritiker des Feuilletons ab, und vielleicht sind die Romane Rider Haggards gerade für jene Leser eine willkommene Abwechslung, die sich nach den Jahren magerer literarischer Innerlichkeit oder pseudopro gressiver Aufklärungs-Langeweile wieder nach ei nem saftigen Stück Abenteuerliteratur sehnen. Copyright 1986 by Bernhard Heere