LUX-LESEBOGEN N A T U R - 1 N I) K I LT U R K U N D L I C H E H E I II
Curt R I E S S
DAS HERZ ABENTEUER
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LUX-LESEBOGEN N A T U R - 1 N I) K I LT U R K U N D L I C H E H E I II
Curt R I E S S
DAS HERZ ABENTEUER
i
DER
FORSCHUNG
VtRLAG SEBASTIAN LUX HURNAUMUNCHENINNSBHUCKBASEL
Im
„Konzerthuset"
10. Dezember 1956. Die Augen der Welt sind auf Stockholm gerichtet — wie jedes Jahr um diese Zeit. Wieder einmal sollen die Nobelpreise verliehen werden. Das „Konzerthuset"-Gebäude ist von flackernden Lichtern in großen Schalen beleuchtet. Das ganze macht einen imposanten, gewissermaßen historischen Eindruck. Große Auffahrt, die von Polizisten in Pelzmützen und mit langen Säbeln geregelt wird. Die Straßen zum „Konzerthuset" sind von Menschen dicht besät. Jeder, der die Möglichkeit hat, will die Berühmtheiten sehen, die heute abend mit dabei sein werden. Die Herren, die den Autos entsteigen, tragen Track und Zylinder, auch die Damen sind in großer Toilette. Schnell füllt sich der festliche Raum. Die prominenten Besucher, die heute abend gekommen sind, wissen, was sie der großen Gelegenheit schulden. Sie schweigen oder unterhalten sich allenfalls flüsternd. Sic betrachten die Nobelpreisträger, die bereits in ihren roten Samtsesseln auf dem Podest Platz genommen haben. Die meisten sind unbekannt, obwohl ihre Bilder in den letzten Tagen in vielen Zeitungen erschienen. Das Interesse konzentriert sich vor allem auf zwei Männer. Der eine ist Professor Semjonow aus Moskau, der zusammen mit dem Engländer Sir Cyril Hinsheiwood den Preis für Chemie erhalten hat. Auch Professor Semjonow ist natürlich im Frack erschienen, fühlt sich aber sichtlich nicht wohl in diesem Kleidungsstück, das er, wie er Reportern erklärte, zum erstenmal in seinem Leben angezogen habe. 2
Der andere Mann, der ein gewisses Aufsehen erregt, ist Dr. Werner Forßmann aus Deutschland. Auch er hat wohl nie einen Frack getragen, er hatte nie genug Geld, sich einen machen zu lassen. Und wo/u auch? In seinem Leben hatte es niemals Veranlassung zu Feiern gegeben. Und jeder, der ihn jetzt betrachtet, spürt, daß er sich in diesem so festlichen und würdigen Kleidungsstück auch nidit gerade zu Hause fühlt. Da sitzt er, zwischen den beiden berühmten amerikanisdien Ärzten Dr. Andre F. Cournand und Dr. Dickinson W. Richards, diesen beiden Herren im wahrsten Sinne des Wortes, die sehr elegant und sehr festlich wirken; da sitzt er, der mittelgroße, ein wenig fülligc Mann, der ein Landarzt sein könnte und so gar nicht in diese Umgebung zu passen scheint. Einer von vielen? Wohl doch nicht. Da sind die Augen, die dunklen, strahlenden Augen, die sein Gesicht viel jünger erscheinen lassen, die den ganzen Mann viel jünger erscheinen lassen als er ist. Diese Augen. .. nichts entgeht ihnen. Sie schweifen überall im Saal umher. Wer hatte das gedacht, daß er auf seine alten Tage — eigentlich ist er noch gar nicht so alt mit seinen zweiundfünfzig Jahren, aber wenn er zurückblickt auf sein Leben, kommt es ihm manchmal vor, als sei er viel, viel älter —, wer also hätte gedadit, daß er noch einmal im „Konzerthuset" in Stockholm auf einem roten Plüschsesscl sitzen, daß er gewissermaßen die Hauptperson oder doch zumindest eine Hauptperson bei der Nobelpreisverleihung sein würde? Wer hätte ihm das noch vor zehn Jahren geweissagt, damals, als er und seine Familie hungern und frieren mußten und niemand auf der Welt sidi darum zu kümmern schien, daß er, Dr. Forßmann, eine einmal vielleicht nicht ganz unwichtige Erfindung — oder sollte man lieber sagen Entdeckung? — gemacht hatte?
Es war n : cht u m s o n s t . . . Jetzt ertönen Fanfaren. Sie kündigen das Eintreffen der königlichen Familie an. Nadidcm sie Platz genommen hat — sämtliche Anwesenden haben sich von ihren Sitzen erhoben —, beginnt die eigentliche Zeremonie. 3
Für jeden der Nobelpreisträger wird eine Rede gehalten, und zwar jeweils von einem schwedischen wissenschaftlichen oder kulturellen Prominenten. Der Vortrag, der auf Schwedisch gehalten wird und von den meisten Nobelpreisträgern schon aus diesem Grunde nicht verstanden werden kann, begründet die betreffende Wahl. Dann wird der" Nobelpreisträger gebeten, sich zu erheben und den Preis, eine Urkunde, eine goldene Medaille und einen sehr beträchtlichen Scheck, aus der Hand des Königs zu empfangen. Diese Aufforderung erfolgt jeweils in der Muttersprache des Nobelpreisträgers, so daß zumindest diese Worte von ihm verstanden werden können. Nun ist auch Dr. Werner Forßmann an der Reihe. Des längeren und breiteren wird erzählt, warum er zu den Erwählten gehört, wird geschildert, welche entscheidende Großtat für die Menschheit er vollbrachte. Porßmann versteht nichts von dem, was gesagt wird, aber das Publikum scheint interessiert, ja begeistert zu sein, und als er sich erhebt, um seinen Preis in Empfang zu nehmen, klatschen die Mensdien im „Konzerthusei" lange und herzlich. Forßmann wirft einen Blick zurück in den Saal, dorthin, wo er weiß, daß seine Frau und seine sechs Kinder sitzen. Dann geht er auf den König zu, bleibt vor ihm stehen und macht eine tiefe Verbeugung. Das Klatschen im Saal dauert immer noch an. Der König ist aufgestanden, reicht Forßmann seine Rechte. Zwei Tage später, anläßlich der offiziellen Einladung im Königshaus, wird Forßmann sagen: „Ich fühle mich wie ein Dorfpfarrer, der plötzlich Kardinal wird . . ." In diesem Augenblick jedenfalls ist der deutsche Arzt glücklich wie nie zuvor. All die Jahre, die er gewartet hat, all die Jahre, in denen es schien, als sei er längst vergessen — sie sind mit einem Schlag verwischt. Seine unermüdliche Arbeit hat doch einen Sinn gehabt. Es war nicht umsonst, daß er sein Leben aufs Spiel setzte. Vor dem König wird er sagen: „Als ich 1929 das erste von neun gefahrvollen Experimenten machte..."
Das große Problem 1929 Was vorher mit Werner Forßmann geschah, ist, zumindest in diesem Zusammenhang, nicht wesentlich. Am 29. August 1904 in Berlin geboren als Sohn eines Juristen, der, noch während er 4
zur Schule geht, im ersten Weltkrieg fiel, machte er sein Abitur am Askanischen Gymnasium in Berlin, studierte Medizin. Die Mutter mußte sich mit einer kümmerlichen Pension schlecht und recht durchschlagen. Es war also nötig, daß er sich sein Studium selbst verdiente. Er war Werkstudent. Aber das machte ihm nichts aus. Er fühlte sich kräftig genug, zu studieren und gleichzeitig zu arbeiten. Im Jahre 1928 machte er sein Staatsexamen. Sdion damals war er vor allem am Studium des Herzens und insbesondere an den Problemen der Diagnose, der Bestimmung von Herzerkrankungen, interessiert. Die Herzdiagnostik stützt sich in jener Zeit im wesentlichen auf Abhorchung, Abklopfung und Elektrokardiogramme, Aufzeichnungen der Aktionsströme, die vom bewegten Herzen beziehungsweise den nervösen Reizen ausgehen, die den Herzmuskel zur Arbeit anregen. Röntgenaufnahmen zeigen das Herz zwar auch, aber die Bilder haben wenig Wert, da das Herz nicht wie andere Organe, beispielsweise der Magen, mit strahlendurchlässigen Kontrastmitteln gefüllt werden kann. Die Röntgenbilder des Herzens geben also nur Aufschluß über Größenveränderungen des Herzens, etwa Herzerweiterung, nicht aber über den Zustand im Herzen selbst. Die Elektrokardiogramme gestatten zwar Rückschlüsse auf die Herzmuskelfunktionen — aber es ist nicht leicht, diese Kardiogramme richtig zu deuten. Abklopfen und Abhorchen sind zwar alte, bewährte Methoden; sie taugen aber nur etwas, wenn der betreffende Arzt gute Ohren hat; wenn er nicht gut hört und wenn er vor allen Dingen seine Eindrücke nicht zu deuten versteht, ist mit Abklopfen und Abhorchen nicht allzuviel anzufangen. Der junge Forßmann hat es selbst erlebt, wie ein Professor die Studenten zu völlig falschen Schlüssen veranlaßte, weil er nicht richtig zu hören verstand. Das große Problem: Wie stellt man Versuche am lebenden Herzen an? Bisher ist das nur bei Tieren möglich gewesen. Aber auch da ist alles reichlich verworren, denn die Narkose beeinträchtigt die Herztätigkeit, und bei Öffnung des Brustkorbes haben die neuen Druckverhältnisse einen irreführenden Einfluß. Zudem sind Rückschlüsse vom Tier auf den Menschen immer eine zweideutige Sache gewesen. 5
Da ist ein altes Buch, das Forßmann zufällig in die Hände kommt. Es ist eine Operationslehre, geschrieben von dem französischen Chirurgen und Physiologen Claude Bernard, und ist 1879 in Paris erschienen. In diesem Buch gibt es einen Holzschnitt. Der stellt ein Tier dar, dem die Franzosen Chauveau und Marey die Halsvene geöffnet und durch die sie ein dünnes Rohr bis ins Herz vorgeschoben haben. Dieser Holzschnitt läßt Forßmann nicht mehr los. Er verfolgt ihn sozusagen Tag und Nacht. Und mit ihm die Frage: Warum sollte nicht möglich sein, am Menschen durchzuführen, was vor nunmehr rund fünfzig Jahren in Paris an einem Tier ausprobiert worden ist? Der Weg durch die Halsvene erscheint Forßmann allerdings abwegig. Es müßte schließlich einen anderen Weg zum Herzen geben, einen gangbareren. Das Herz hat ja so viele Verbindungen mit dem Körper! Forßmann grübelt — noch während seiner Studienjahre — Tag und Nacht darüber nach. Wie und von wo kann man bis zum Herzen vordringen? Er liest alles nach, was ihm helfen könnte. Er stellt fest, daß Ärzte bereits mit Kathetern, sehr dünnen, weichen Gummischläuchen, in verschiedene Venen eingedrungen sind, daß zum Beispiel der Forscher Bleichrödcr 1905 Hunden die Oberschenkelvene geöffnet und Katheter eingeschoben hat, um auf diesem Wege Blut für Stoffwechseluntersuchungcn abzuziehen. Und warum nicht beim Menschen? Warum sollte es nicht möglich sein, in die Vene eines Menschen einen Katheter einzuführen? Warum nicht in die linke Armvene? Sie führt ja direkt zum Herzen. Warum sollte es nicht möglich sein, mit diesem Katheter direkt zum Herzen vorzudringen? Man könnte Blut aus dem Herzen selbst abziehen und untersuchen, man könnte Kontrastmittel direkt in den Herzmuskel bringen. Man könnte — bei Herzstillstand etwa — Medikamente direkt ins Herz selber spritzen, ohne die Brustwand zu durchstoßen. Immer vorausgesetzt, ein Mensch überlebt es, daß man ihm einen Katheter ins Herz stößt. Wenn sieh nicht — als Folge dieses äußeren Eingriffs — Blutgerinnsel bilden, wenn es nicht zu einer Thrombose käme, wenn die Gefahr der Luftembolie — Tod durch eindringende Luft — ausgeschaltet werden, wenn es keine Störungen der Herz6
reflexe geben würde; wenn es nicht zum Herzstillstand käme durch den Reiz des eingeführten Katheters, und wenn eine oder mehrere Herzklappen nicht in Mitleidenschaft gezogen würden. Es gibt also doch eine Menge „Wenn" . . .
„Das Herz — die letzte Schranke" 1929 — Forßmann ist also jetzt fünfundzwanzig Jahre alt — geht er von Berlin fort. Nicht weit, nur nach Eberswalde, wo man ihm eine Assistentenstelle am Auguste-Viktoria-Krankenhaus angeboten hat. Eberswalde ist ein Städtchen von etwa vierzigtausend Einwohnern auf der Strecke Berlin—Stettin. Dort wird er arbeiten können, dort gibt es keine Ablenkung. Dort lebt man ein geruhsames Leben, kann sich ganz auf die Probleme konzentrieren, die man lösen will. Lösen? Ach, wenn er nur einen Schritt, einen kleinen' Schritt weiter käme, wäre er schon zufrieden. Das Krankenhaus liegt außerhalb der Stadt am Wald — es gibt um Eberswalde herum viel herrliche Wälder. Das freut den jungen Forßmann. Er ist gern in der Natur. Wandern, übrigens auch Schwimmen, gehört zu seinen großen Leidenschaften. Schon spart er für ein Motorrad, das er sich später anschaffen will. Was das Krankenhaus angeht: Es verfügt über zweihundertfünfzig Betten und ist auf das modernste eingerichtet. Es gibt zwei chirurgische Abteilungen, es gibt eine Röntgenabteilung, in jenen Tagen durchaus keine Selbstverständlichkeit, eine Abteilung für innere Medizin, ein recht gutes Laboratorium und eine für damalige Verhältnisse erstaunlich gut funktionierende Diätküche; vieles davon gibt es in manchem großen Krankenhaus Berlins noch nicht. Die Leitung hat Sanitätsrat Dr. Richard Schneider, ein großer, hagerer Mann von etwa fünfzig Jahren, sehr tätig, sehr aufgeschlossen, der sogleich begreift: In diesem Forßmann steckt etwas. Übrigens kennt er die Familie seit langem. Forßmann brennt darauf, das, was er sich in Berlin ausgedacht hat, einmal praktisch zu erproben. Er will also nicht mehr und nicht weniger, als einen Katheter durch die Armvene in das menschliche 7
Herz führep. Eines Tages vertraut er sich Dr. Schneider an. Der hört ihm aufmerksam zu: „Eine ungewöhnliche Idee", erklärt er dann. Aber schließlich schüttelt er den Kopf. „Das Herz müssen wir in Ruhe lassen! Das Herz ist die letzte Schranke, vor der wir .stoppen müssen!" Er sagt damit nichts Neues, er sagt nur, was Ärzte seit vielen hundert Jahren geglaubt und geäußert haben; Arzte, die sich nicht fürchteten, die revolutionärsten Operationen durchzuführen — vor dem Herzen aber hatten sie alle eine gewisse Scheu. 1883 warnte ein so bedeutender und mutiger Chirurg wie Theodor Billroth in Wien, eine Wunde am Herzen zu nähen. Er bezeichnete Eingriffe am Herzen als eine „an Frivolität grenzende Vermessenheit"! Gewiß, wenn es eine Frage von Tod und Leben war, wenn das Herz etwa eine Stichwunde erhalten hatte, mußte man nähen. Die Chirurgen taten das auch. Freilich starben die Patienten in den meisten Fällen. 1896 erklärte der englische Chirurg Stephen Paget, diese Art von Herznähten stellten das äußerste dar, was die Natur erlaube — und auch das nur gelegentlich. Ausnahmefälle also; und keine neue Methode, keine neue Entdeckung könne die natürlichen Schwierigkeiten überwinden, die jede Verletzung oder Erkrankung des Herzens mit sich brächte.
Warum nicht ein Selbstversuch ? Das alles sagt Dr. Schneider seinem Assistenten Forßmann. Er ist genau wie alle anderen Ärzte der Überzeugung: „Das Herz soll man besser nicht anrühren!" Forßmann aber schüttelt den Kopf. Er erwähnt jenen Holzschnitt in dem französischen Buch. „Machen Sie doch Tierversuche!" sagt Dr. Schneider. Aber die Räumlichkeiten des Krankenhauses reichen zu Tierversuchen kaum aus — jedenfalls nicht für Versuchsreihen, die ein paar Monate Zeit beanspruchen. Und Geld für den Ankauf von Tieren ist auch nicht vorhanden. 8
Schließlich äußert lorßmann last wie nebenbei: „Warum kann ich nicht einen Selbstversuch machen?" Dr. Schneider starrt ihn ungläubig an. „Sie wollen sich einen Katheter ins eigene Herz einführen?" „Ich bin davon überzeugt, daß nichts geschehen wird!" Das ist Dr. Richard Schneider denn doch zu viel. „Und wenn etwas passiert? Wenn Sie tot umfallen?" Forßmann lächelt: „Mir wird nichts geschehen." „Ich. kenne Ihre Mutter! Ich habe schließlich eine gewisse Verantwortung ihr gegenüber." Und dann: „Ich muß Ihnen hiermit als Leiter des Krankenhauses kategorisch jeden Selbstversuch verbieten."
Röntgenbild des Selbstversuchs mit dem Herzkatheter im Jahre 1929. 9
Forumann schweigt. Der lange, hagere Chef grollt. „Was soll ich denn Ihrer Mutter sagen, wenn wir Sie eines Tages tot im Röntgenzimmer finden?'' Forßmann bleibt unbeirrt, kann überhaupt an nichts anderes mehr denken als an den Katheter, an die Möglichkeit, bis zum Herzen vorzustoßen. Er fertigt Zeichnungen an, sitzt halbe Nachte und grübelt, und stellt fest: ein langer, biegsamer Katheter aus strahlendurchlässigem Material — er muß ja schließlich auf dem Röntgenschirm sichtbar sein — müßte von der linken Armvene aus durch die Venenkrümmung in der Achselhöhle bis in die rechte Herzkammer vorzuschieben sein — ja, bis hinein, denn die Venenklappen öffnen sich zum Herzen hin, sollten also vom Katheter leicht zur Seite gedrückt werden können. Immer wieder prüft Forßmann die Zeichnungen. Immer wieder überlegt er sich, was nicht klappen könnte, ob er irgendeinen Denkfehler begangen hat, ob irgendein Umstand bei der Sache mitspielt, den er nicht in Betracht gezogen hat. Und er stellt fest: Es müßte gehen! Er spricht mit Kollegen über seine Theorie, sie alle hören ihm zu, sie alle sind interessiert an dem, was er zu sagen hat. Aber wenn er von einem Selbstversuch spricht, schütteln sie die Köpfe. Das kann doch sein Ernst nicht sein! Das darf er unter gar keinen Umständen wagen! Davon wollen sie nichts wissen. Die meisten weigern sich, über die Möglichkeit eines solchen Selbstversuchs mit ihm zu debattieren. Ein Katheter ist ja schließlich ein Fremdkörper. Einen Fremdkörper ins Herz einführen? Es fallen immer wieder die Worte Thrombose, Luftembolie, Herzstillstand. Forßmann wird ungeduldig. Das hat er sich alles selbst schon gesagt. Nicht einmal, hundertmal! Natürlich ist die Sache gefährlich. Aber wie kann man herausfinden, was geschieht, wenn ein Katheter ins Herz eingeführt wird, da doch niemand es wagt, so einen Versuch vorzunehmen? Schließlich hören nur noch zwei zu, wenn er von seiner Idee spricht. Die eine ist die Operationsschwester Gerda Ditzen, die an ihn und seine Idee glaubt. Der andere ist sein Kollege Dr. Peter Romeis, der sich sogar bereit erklärt, einen Versuch mit Forßmann zu wagen, obwohl er von dem Verbot des Chefs weiß. 10
„Da mache ich nicht mehr mit!" Und eines Abends gehen die beiden in den Operationssaal. Romeis punktiert Forßmann die Armvene und führt einen sterilen, mit öl gefetteten, etwa stricknadcldicken Katheter ein. Es geht genauso leicht, wie Forßmann es sich vorgestellt hat. Freilich, als etwa fünfunddreißig Zentimeter des dünnen Gummischlauches im Körper verschwunden sind — der Katheter dürfte schätzungsweise in der Gegend des Schlüsselbeines angekommen sein —, wird Forßmann von einem leichten Husten gepackt. Es ist kein sehr heftiger Husten, der Anfall geht auch schnell vorüber. Aber Romeis verliert daraufhin den Mut. „Da mache ich nicht mehr mit!" erklärt er kategorisch. Und ehe Forßmann etwas tun kann, hat er den Katheter wieder herausgezogen. „Und nun mußt du mir versprechen, daß du die Sache aufgibst!" sagt Romeis. „Wenn es dich beruhigt." Aber Forßmann denkt, jetzt, wo der Katheter schon ganz nahe am Herzen war, jetzt, wo er nur Minuten, vielleicht Sekunden vor der Verwirklichung seiner Idee stand, soll er zurück? Nein, das kann er nicht! Nur ein Mensch ahnt, daß er seinen Plan nicht aufgegeben hat. Das ist die Operationsschwester Gerda Ditzen. Und sie ist gar nicht überrascht, als er am folgenden Sonnabendnachmittag — die meisten Arzte haben das Krankenhaus verlassen und sind übers Wochenende nach Berlin oder in die Umgebung gefahren — in ihrem Zimmer erscheint und so ganz nebenbei sagt, sie solle ihm doch die Geräte für eine örtliche Betäubung herausgeben. Sie weiß sofort, was er will. Sie geht mit ihm in den Operationssaal hinüber, legt ihm die Geräte zurecht und dann macht sie einen Vorschlag: „Warum probieren Sie die Sache nicht an mir aus?" „Sie wollten .. .?" '
Sie nickt. „Warum nicht? Da das Ganze ungefährlich ist! Davon sind Sie doch überzeugt, nicht wahr, Doktor?"
Nein, davon ist Dr. Forßmann nun keineswegs überzeugt. Wie könnte er es auch, da doch das, was er probieren will, noch niemals ausgeführt worden ist, da, solange es Medizin gibt, noch kein Versuch am lebenden Herzen unternommen wurde? Aber wenn er das jetzt zugibt, wird die Schwester ihm die Geräte wieder wegnehmen, sie wird sich wie Dr. Romeis, wie der Chef Dr. Schneider gegen einen soldicn Versuch stellen. Und dann wäre auch diese letzte Chance vorüber. Also sagt er: „Schön, wir machen einen Versuch!" Er bereitet die örtliche Betäubung vor. Dann gibt er ihr noch einen Auftrag. „Ich habe da in meinem Zimmer meine Notizen liegen. Würden Sic so liebenswürdig sein?"
Das Wagnis ist gelungen Die Schwester geht. Er hört die sich entfernenden Schritte. Es sind nur wenige Minuten, bis sie zurück sein wird. Keine Sekunde ist zu verlieren. Dr. Forßmann spritzt sich das Betäubungsmittel ein, öffnet mit einem kleinen Schnitt die linke Armvene, fettet den Katheter ein, läßt ihn in die Vene gleiten. Wieder stellt sich jener Husten ein, der den Kollegen Romeis so geängstigt hat. Aber schon nach wenigen Sekunden hört er auf. Jetzt müßte der Katheter dicht am Herzen sein. Ein Blick auf den Gummischlauch. Fünfundsechzig Zentimeter befinden sidi bereits in seinem Körper. Und dann läßt sich der Katheter plötzlich nicht mehr weiterschieben. Warum? Welches Hindernis hat sich ihm in den Weg gelegt? Dr. Forßmann grübelt. Er kommt auf die einzig möglidic Erklärung: Der Katheter muß bereits bis ins Herz gelangt sein! Er denkt das ganz ruhig, er regt sich nicht einmal dabei auf. Er hat es ja nicht anders erwartet. Um herauszufinden, ob dies möglich sei, hat er den Selbstversuch gemacht. Und nun ist es so weit. Er hat bewiesen — wenn auch nur sich selbst —, was er beweisen wollte. Er hat nichts anderes getan als seine Pflicht — das empfinder er zumindest in diesem Augenblick, und so wird er die Sadie auch späterhin sehen. Daß er in Lebensgefahr sdiweben könnte, kommt ihm nicht in 12
den Sinn. Eine Heldentat? Waruni nicht gar! Solche grolSen Worte kann der junge Dr. Forßmann weder denken noch aussprechen. Und doch ist er in diesem Augenblick ein Held, doch hat er in diesem Augenblick etwas getan, das ihn in die Reihe der Großen und Größten der Medizin stellt. Denn nur die ganz Großen, diejenigen, denen alles auf die Sache ankam und nichts auf sich selbst, brachten es fertig, an sich auszuprobieren, ob eine Theorie, eine Vermutung, ein Schluß, zu dem sie gekommen waren, richtig war oder nicht. Viele blieben auf der Strecke, damit die Wissenschaft lebe, damit es weitergehe, damit neue Erkenntnisse vermittelt würden. So waren John Hunter, White, Alois von Rosenfeld und Otto Obermeyer elend zugrunde gegangen, als sie sich Malaria-, Pest- und Cholerabazillen in den eigenen Körper impften, um ein Mittel zu erproben, das Schutz gewähren sollte. Freilich, es gab auch andere, die das öffnen der Tür, die in den großen, dunklen Raum der Ungewißheit führt, nicht mit dem Tod bezahlen mußten. Da war Professor Max von Pettenkofer", der 1892 Cholerabazillcn, auf ein Butterbrot geschmiert, aß, und völlig gesund blieb. Da war August Bier, der sich sechs Jahre später Kokain in den Rückenmarkskanal spritzen ließ, weil er feststellen wollte, ob man die Empfindungsnerven blokkieren und die untere Körperhälfte schmerzunempfindlich machen könne. Dieser „Selbstversuch" wurde die Grundlage zu der sogenannten Lumbalanästhesie, die heute in der ganzen Welt angewendet wird. Oder da war der Amerikaner Jesse W. Lazaear, der in Kuba das Geheimnis des gelben Fiebers studierte. Er setzte sich im September 1900 einen selbst aus dem Ei gezüchteten Moskito, der vorher aus einem an gelbem Fieber Erkrankten Blut gesogen hatte, auf den Arm und ließ sich stechen. Der Versuch ging negativ aus. Er blieb gesund. Die Ironie des Schicksals freilich wollte es, daß er ein paar Tage darauf von einem ins Zimmer geflogenen Moskito an der Hand gerochen wurde und bald darauf dem gelben Fieber erlag. Oder da war der Deutsche Max Taute, der sich 1912 mit von TseTse-Fliegen verseuchtem Pferde- und Rinderblut infizierte, leicht erkrankte, aber durchkam und bewies, daß die Erreger von Krank•jvergl. Lux Lesebogen 367, „Hofapotheker lettenkofer"
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heiten bei Tieren und Menschen völlig verschieden sind. Taute ließ sich weiterhin in Portugiesisch-Ostafrika nacheinander von 170 TseTse-Fliegen stechen und gleichzeitig wurden viele Tiere den Fliegen ausgesetzt. Die Tiere erkrankten, Taute blieb gesund. Bald daraul impfte er sich selbst das Blut eines von Schlafkrankheit befallenen Hundes ein und bewies später durch Untersuchung des eigenen Blutes, daß der Erreger von Krankheiten beim Tier im Menschenblut zugrunde geht. Sie alle, die gewagt, gewonnen oder verloren hatten, waren längst historische Persönlichkeiten geworden, Männer, zu denen die Wissenschaft emporsah, die sie — mit Recht — für ihre Vorkämpfer hielt. Und einer von ihnen war nun auch der junge Dr. Werner Forßmann.
Die Sonde im Herzen Ach, nichts wäre ihm fremder gewesen als ein solcher Gedankengang. Da stand er im Operationssaal des Auguste-Viktoria-Krankenhauses von Eberswalde mit der Sonde im Herzen, die er durch die Armvene geführt hatte, und wußte, daß das, was er hatte beweisen wollen, richtig war, nicht mehr und nicht weniger. Man konnte also zum Herzen vorstoßen, ohne das menschliche Leben zu gefährden. Und dann öffnet sich die Tür, herein tritt Schwester Gerda und bleibt erschüttert stehen. Hat sie geahnt, daß Forßmann sie nur hinausschickte, um den Versuch an sich selbst durchzuführen? Sie begreift sofort, was geschehen ist. Sie tritt näher. Ein fragender Blick. Dr. Forßmann nickt. Dann bedeckt er den Arm mit einem sterilen Tuch und sagt: „Zum Röntgenraum!" Man bedenke: Hier ist etwas geschehen, was kaum ein Arzt auf der Welt für möglich hielt, das zu erproben die meisten großen Ärzte wegen akuter Lebensgefahr abgelehnt hätten. Aber wenn irgendein Großer der Medizin sich doch zu einem solchen Experiment verstanden hätte: Wie viele Vorbereitungen wären getroffen worden, um jedes störende Element auszuschalten! Man hätte den Patienten auf 14
ein Ruhebett gelagert, ihn mit Ärzten und Krankenschwestern umgeben, man hätte das Experiment dort vorgenommen, wo ein Röntgenapparat sofort verfügbar war. In Eberswalde geht das alles ganz primitiv, ohne große Umstände vor sich. Schwester Gerda öffnet die Tür. Dr. Forßmann tritt hinaus auf den Korridor und geht nun langsam die Treppe hinunter. Viele Treppen — bis zu dem im Keller gelegenen Röntgenraum. Er steigt diese Treppen hinunter mit der Sonde im eigenen Herzen, hält dabei selbst den Katheter fest, daß er nicht etwa aus der Vene hinausgleiten kann. Dann stellt er sich vor den Röntgenschirm, und die Schwester bedient den Apparat. Sie hält den Atem an: Ja, es ist genauso, wie Dr. Forßmann es vermutet hat: Der Katheter sitzt mitten im Herzen. „Einen Spiegel!" flüstert er, nun heiser vor Erregung. Sie reicht ihm einen Spiegel. Und nun kann er selbst sein eigenes Herz auf dem Röntgenschirm sehen und kann die Sonde sehen, die er sich ins eigene Herz gestoßen hat. Ja, es ist kein Zweifel. Er hat es ja immer gesagt, daß es möglich sein müßte — und ohne besonderes Erstaunen stellt er fest: Die Katheterspitze sitzt in der rechten Herzkammer. Trotz des langen Weges, den er zurückgelegt hat, liegt sie genau dort, wohin er sie haben wollte. Ein Blick zur Schwester. Sie versteht. Ohne eine Sekunde zu verlieren, macht sie mehrere Aufnahmen des Brustkorbes. Danach setzt sich Forßmann. Die Schwester beginnt die Entwicklung der Röntgenbilder. Wenn etwas schiefgegangen ist, soll die Schwester die Aufnahmen noch einmal machen. Aber es ist nichts schiefgegangen. Die Aufnahmen sind in Ordnung. Und so kann sich Forßmann den Katheter wieder aus der Vene ziehen.
„Wie soll es weitergehen ?" Am 5. November 1929 berichtet Forßmann über diesen seinen Selbstversuch in der Klinischen Wochenschrift: 15
„Beim Einführen des Katheters hatte ich lediglich während des Gleitens an der Venenwand ein Gefühl leichter Wärme . . . Ich spürte eine besonders intensive Wärme hinter dem Schlüsselbein unter dem Ansatz des Kopfes und gleichzeitig einen Hustenreiz . . . Keine anderen Empfindungen. Ich achtete besonders auf die Reizerscheinungen. .. Auch den in unserer Anstalt ziemlich weiten Weg vom Operationssaal zur Röntgenabteilung, auf dem ich auch Treppen gehen mußte, konnte ich mit im Herzen liegender Sonde zu l-'uß zurücklegen, ohne daß es mit Unannehmlichkeiten verknüpft war. Später stellte ich auch keine nachteiligen Folgen bei mir fest, außer einer leichten Entzündung an der Stelle des Venenschnitts, die wohl auf der mangelnden Asepsis bei der Sclbstoperation beruhte. . . . eine Verletzung der Venenwand und damit die Gefahr der Gerinnung oder Thrombosebildung halte ich bei der spielend leichten Beweglichkeit der gut geölten Sonde für ausgeschlossen. Es sind ja genügend Fälle bekannt, bei denen selbst ein monatelanges Verweilen von Fremdkörpern im Herzen keine Störungen auslöste. .. Zum Schluß möchte ich darauf hinweisen, daß die von mir angewendete Methode zahlreiche Ausblicke auf neue Möglichkeiten für Stoffwcchseluntersuchungen und Untersuchungen der Herztätigkeit eröffnet, denen ich bereits nachgehe . . . " Schon vorher hat er natürlich seinem Chef, Sanitätsrat Dr. Schneider, von der Sache berichtet. Der lange hagere Mann hört aufmerksam zu. Als Forßmann zu Ende ist, brüllt er ihn erst einmal an: „Sind Sie verrückt geworden? Ich hätte gute Lust, Sie aus meiner Klinik zu werfen!" Aber er hat natürlich nicht die geringste Lust dazu. Im Gegenteil, er ist voller Verständnis. „Sie haben es also geschafft, Junge!" Mehrmals murmelt er: „Junge, Junge, Junge!" Und dann: „Wie soll es nun weitergehen?" Das ist die Frage. Ja, wie soll es weitergehen? Trotz des gelungenen Versuchs, trotz der Röntgenplatten, die beweisen, was Dr. Forßmann beweisen wollte, kann sich der gute Sanitätsrat Schneider nicht dazu entschließen, Versuche an anderen zuzulassen. Aber Dr. Forßmann will das ja gar nicht. Er ist bereit, den Selbstversuch zu wiederholen. Im ganzen kommt es zu neun weiteren Selbstversuchen, diesmal natürlich in K,
Das gesunde und kranke Herz: 1 Gesundes Herz, 2 Tropfenherz, 1 Trinkerherz, 4a erweiterte Schlagader (Aorta), b Herzklappenerweiterung, e Herzaderverkalkung, d Thrombose, e Embolie. f Herzaderbrueh, g Herzbeutelentzündung, h nervöse Störungen, i Herzklappenverengung, k InnenhautentzUndung. 1 Herzmuskelverfettung. 5 Die Herzgröße entspricht der Größe einer Faust.
Anwesenheit Dr. Schneiders, des Freundes Dr. Romeis und anderer Kollegen. Dann wird auch noch ein Versuch an einer Patientin vorgenommen. An einer, von der alle glauben, daß sie verloren ist. Und es zeigt sich, daß selbst ein geschwächtes, menschliches Herz durch die eingeführte Sonde nicht etwa dazu gebracht wird, still zu stehen. An einem der folgenden Abende läßt Dr. Schneider den jungen Forßmann in seine Privatwohnung kommen. „Wir werden uns nun doch trennen müssen!" Aber als er das erschrockene Gesicht des anderen sieht, lächelt er. „Nicht, daß ich es gerne tue! Aber ich glaube, Sie müssen nach Berlin! Ich glaube, Sie gehen besser an ein großes Krankenhaus, Sie müssen jetzt mit den ersten Kapazitäten zusammenarbeiten . . . Ich schreibe noch heute an Bier!"
„Der junge Mann soll ruhig zu mir kommen" Eine Woche später besucht der junge Forßmann Professor August Bier, den Leiter der Chirurgischen Universitätsklinik in der Berliner Ziegelstraße. Bier, der ungekrönte König der deutschen Arzte, hat den Brief seines alten Bekannten Schneider aufmerksam studiert. „Das scheint ja sehr interessant zu sein!" sagt er. „Aber . . . " Es ist so, daß Bier unmittelbar vor der Pensionierung steht. Er sagt: „Ich habe keine Ahnung, wie mein Nachfolger darüber denken wird. Ich gebe Ihnen ein paar Zeilen .an Professor Georg Klemperer von der Vierten Medizinischen Universitätsklinik mit. Er ist der richtige Mann für Sie." Das erweist sich freilich als ein Irrtum. Professor Klemperer ist wenig angetan von dem, was ihm der junge Forßmann berichtet. Er knurrt: „Seien Sie vorsichtig! Mit so etwas kommt man leicht ins Zuchthaus!" Der nächste Weg führt Forßmann in das berühmte Krankenhaus Charite. Dort arbeiten in jenen Tagen Ferdinand Sauerbruch, Adalbert Czerny, Friedrich Kraus, Otto Lubarsch und Karl Bonhöfer. 1.x
Sauerbruch ist sofort interessiert. Ja, der junge Mann soll ruhig zu ihm kommen und auf seiner Station arbeiten. Er will ihm gern helfen. An der Sache wird wohl was dran sein. „Ist was dran!" stellt er fest, nachdem er sich Forßmann angehört hat. Die Röntgenbilder will er sich gar nicht ansehen. „Sie werden ja genügend Gelegenheit haben, bei uns die Sache zu wiederholen . . . " Aber dazu kommt es nicht.
„Solche Sachen gehören in den Zirkus" Denn es geschieht etwas Unvorhergesehenes. Forßmann kommt in die Zeitung. Auch später wird er sich oft fragen, wie das möglich war. Er hat doch nie ein Interview gegeben! Undenkbar auch, daß es in Eberswalde einer seiner Kollegen oder gar der gute Sanitätsrat Dr. Schneider ausgeplaudert hätte. Sie haben sich doch alle untereinander versprochen, über die Sache noch Stillschweigen zu bewahren. Natürlich war da der Artikel in der Klinischen Wochensdirift. Aber wer liest schon die Klinische Wochenschrift außer Ärzten? Wie dem auch sei: Es erscheint in der Berliner „Nachtausgabe" ein sensationell aufgemachter Bericht. Der Titel „HELDENTAT EINES JUNGEN ARZTES — DIE SONDE IM HERZEN!" Ein junger Reporter hat irgendwie von dem Selbstvcrsuch Forßmanns Wind bekommen. Er hat ihn geschildert, nicht gerade sachlich, aber mit ungeheurem Aufwand von Worten. Wenn man diesen Artikel liest, hat man das Gefühl, als sei es nur ein Zufall, daß Forßmann noch lebe, während er doch gerade das Gegenteil beweisen wollte. Der Artikel hat seltsame und weittragende Folgen. Auf der einen Seite wird Forßmann populär, geradezu eine Tagesberühmtheit. Allerdings nur einen Tag oder bestenfalls eine Woche. Wo immer er hinkommt, wird er fotografiert, mit Fragen überschüttet, interviewt, das heißt, man versucht ihn zu interviewen, denn er selbst lehnt es 19
stets ab, Rede und Antwort zu stehen mit der nicht unrichtigen Begründung: „Dazu ist es viel zu früh." In der Charite aber nimmt man an, daß Forßmann den ganzen Preuerummel selbst veranstaltet habe. Auch Sauerbruch, durchaus kein Feind von persönlicher Reklame, lehnt es ab, ihm zu glauben, als er versichert, daß er den Reporter gar nicht kenne. Auch die anderen Ärzte, die Assistenten, die Krankenschwestern schütteln die Köpfe. Und auf einen solchen Scharlatan wie diesen Dr. Forßmann wäre man beinahe hereingefallen! Einer der Chirurgen der Charite erklärt wörtlich: „Solche Sachen gehören in den Zirkus!" Forßmann merkt schon wenige Tage nach seinem Eintritt in die Charitc, daß er hier nicht bleiben kann. Hier wird man ihn nicht ernst nehmen und ihn schon gar nicht arbeiten lassen. Und so setzt er sich auf die Bahn und fährt nach Eberswalde zurück. Sanitätsrat Schneider macht große Augen, als er ihn kommen sieht. Aber nachdem ihm Forßmann berichtet hat, was in der Charit^ geschah, klopft er ihm auf die Schulter: „Machen Sie sich keine Sorgen! Hier können Sie immer bleiben!" Ja, in Eberswalde kann Forßmann immer bleiben, jedenfalls so lange, wie Dr. Schneider etwas zu sagen hat. Aber er will ja nicht in dieser kleinen Stadt bleiben, in diesem hübschen modernen Krankenhaus, in dem er aber keinerlei Möglichkeiten hat, seine Versuche in großem Stil fortzusetzen. Und doch muß er hier bleiben, denn außerhalb der Klinik hält man ihn überall für einen Scharlatan. Tiefste Niedergeschlagenheit, die ein paar Monate andauert. Aber dann ist auch das überwunden. Forßmann wird weiterarbeiten, wird beweisen, daß er recht hat, wird vor allen Dingen beweisen — wenn nötig, am eigenen Körper —, daß es möglich ist, mit Kathetern, ebenso wie in Magen und Niere, Kontrastmittel ins Herz zu bringen, so daß man das Herz, wie Magen und Niere durchleuchten kann. Also neue Selbstversuche.
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Auf Leben und Tod
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Aber diesmal handelt es sich um Versuche, von denen er selbst weiß, daß sie nicht ungefährlich sind. Den Katheter könnte man schlimmstenfalls schnell entfernen, wenn sich herausstellte, daß das Herz ungünstig reagiert. Aber ein Kontrastmittel, einmal im Blutkreislauf — das kann man nicht mehr aus dem Körper ziehen, das kann man nicht mehr aus dem Herzen ziehen, das hat seine — möglicherweise — tödliche Wirkung. Und es ist ja völlig ungewiß, wie das Eindringen der Flüssigkeit und die dadurch erfolgende Druckerhöhung auf das Herz wirken werden. Wie werden die Nervenenden im Herzinnern reagieren? Kann nicht Tod allein schon durch Schock eintreten? Aber was soll Dr. Forßmann tun? Er hat in Eberswalde keine Tiere zur Verfügung, er hat keine Laboratorien, er hat auch gar kein überflüssiges Geld. Er muß also selbst herhalten. Sein Freund Dr. Romeis übernimmt die notwendigen Röntgenaufnahmen. Forßmann schiebt den Katheter bis ins eigene Herz und spritzt dann durch die Sonde eine Jod-Natrium-Lösung. Später werden Untersuchungen amerikanischer Herzforscher beweisen, daß et in der Tat hier auf Tod und Leben ging. Und Forßmann ist sich klar darüber. Aber mit keinem Wort erwähnt er das, als er am 20. März 1931 über diese neuen Versuche in der Münchner Medizinischen Wochenschrift schreibt:
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„Eine Injektion von 5,0 führte zu keiner Störung. Während der nun folgenden schnellen Einspritzung von 20,0 einer 25prozentigcn Jod-Natrium-Lösung wurde eine Nahaufnahme mit Vs» Sekunde Belichtung gemacht — es trat ein Schwindelgefühl auf, das sofort verschwand. Lediglich die rund eineinhalb Tage dauernde Ausscheidung des Jodsalzes verursachte leichten Schnupfen und eine unangenehme Beeinträchtigung des Geschmacks. Die Aufnahme zeigte eine gute Durchzeichnung der Lungenschlagader, und der Versuch erbrachte den Beweis, daß es sich um ein ungefährliches, diagnostisch« Verfahren handelte." 21
Zur Enttäuschung Dr. Forßmanns ist auf den Röntgenplatten das Herz nicht zu sehen. Aber das ist wohl darauf zurückzuführen, daß sich das Kontrastmittel nur einen Augenblick im Herzen selbst befunden hat und dann durch das Blut wieder herausgeschleust wurde. Zudem ist der Röntgcnapparat in Eberswalde nicht gerade ein besonders gutes und modernes Instrument. Aber gerade darauf kommt es ja Forlsmann an: scharfe Röntgenbilder vom Herzen herzustellen. Er muß eine Möglichkeit finden, das Herz mit einem Kontrastmittel zu füllen, das nicht sofort abwandert. Schließlich stellt ihm Professor Willi Felix, Chirurg im Städtischen Krankenhaus in Neukölln, bessere Röntgenanlagen zur Verfügung. Aber Felix hat Bedenken wegen der Fortsetzung der Selbstversuche. Forßmann knüpft Verbindung mit dem Röntgenarzt Dr. Gottheiner an, der in der Königgrätzer Straße eines der ersten großen, privaten Röntgeninstitute unterhält. Dort hat er ein Schirmbild-Kinovcrfahren entwickelt, das schnell ablaufende Vorgänge im Körper aufnehmen kann. Eine Aufnahmereihe kostet einhundertfünfzig Reichsmark. 150 RM! Das ist entsetzlich viel Geld für Forßmann, der seine letzten Barmittel für Versuchstiere ausgegeben hat. Aber schließlich bringt er doch noch die Summe zusammen, und nach längerer Zeit gelingt es ihm, das Herz eines lebenden Hundes, mit Kontrastmitteln gefüllt, im Röntgenfilm sichtbar zu machen. Es ist erreicht!
„Es sieht alles sehr düster aus" Was war es denn, was ihn schon als Student nicht losließ? Was hatte er sich denn zum Ziel gesetzt? Er hatte festgestellt, daß sich die Herzuntersuchung auf veraltete ued nicht immer verläßliche Methoden gründete. Er war ausgezogen, einen Weg zu suchen, wie er das lebende Herz beobachten könnte, so wie man die Niere, die Lunge, den Magen beobachten kann. Jetzt war es so weit. 11. April 1911. Im Berliner Langenbeck-Haus erscheint der siebenundzwanzigjährige Doktor Werner Forßmann vor einem Gremium 22
von bedeutenden Ärzten, die sieh zum 55. Kongreß der Dämchen Gesellschaft für Chirurgie versammelt haben. Er berichtet ihnen von seinen Versuchen, er unterbreitet ihnen, was er herausgefunden hat. Die Ärzte hören scheinbar aufmerksam zu. Aber als Forßmann zu Ende gesprochen hat, ertönt keinerlei Beifall. Niemand meldet sich zur Diskussion. Minuten später schon beginnt das nächste Referat. Forßmann sieht um sich. Ist es möglich? Hat niemand im Saal erfaßt, worum es geht? Weiß denn niemand, daß hier ein entscheidender Schritt vorwärts getan wurde? Begreift keiner dieser Ärzte, daß man von nun ab vielen Herzkranken helfen kann, die bisher leiden oder gar sterben mußten? Kopfschüttelnd verläßt er den Saal. Nur einer folgt ihm. Das ist sein Onkel, Medizinalrat Hindenburg. Der nimmt seinen Arm und sagt: „Nimm es dir nicht zu Herzen! Komm, laß' uns eine gute Flasche Wein trinken. Das war keine Niederlage, das w a r . . . sie verstehen dich einfach nicht!" „Aber es ist doch so einfach klar liegt!"
es ist doch eine Sache, die völlig
Der Onkel: „Einmal, du wirst es sehen, bekommst du dafür noch den Nobelpreis!" Aber danach sieht es vorläufig nicht aus. Im Gegenteil. Es sieht trübe, nur allzu trübe aus. Neue Experimente? Das kommt nicht in Frage. Jetzt sind auch die letzten Mittel des jungen Mannes erschöpft. Eine Stellung in einem Krankenhaus, wo man ihn seine Versuche fortsetzen ließe, wo er die nötigen Mittel, die nötigen Räume hätte? Kommt gar nicht in Frage. Seine Bewerbungen werden abgelehnt. Er könnte ja Patienten gefährden . . . Ja, es sieht alles sehr düster aus. Es ist gar nicht so einfach für diesen jungen Mann, der eine epochemachende Entdeckung gemacht hat, sein Leben zu fristen. Er muß unzählige Bewerbungsschreiben verfassen, bis er schließlich an die Chirurgische Klinik nach Mainz 23
geholt wird. Dort lernt er übrigen» die Assisten/.ärztin Elsbeth Engel aus Bingen kennen, die er bald darauf heiratet. Später kommt er wieder nach Berlin zurück — als Oberarzt der Urologischen Abteilung im Rudolf-Virchow-Krankenhaus. Aber auch hier will niemand etwas von neuen Versuchen wissen. Nächste Station: die Chirurgische Klinik in Dresden-Friedrichsstadt. 1938 wird er Oberarzt an der Dritten Chirurgischen Universitätsklinik des Robert-Koch-Krankenhauses in Berlin. Er ist ein guter Arzt. Seine Vorgesetzten schätzen ihn, seine Mitarbeiter mögen ihn, seine Patienten vertrauen ihm. Aber von Versuchen am menschlichen Herzen ist keine Rede mehr. Man konnte glauben, die ersten Versuche Forßmanns seien mißlungen. Man könnte vermuten, es seien ihm Menschen unter der Hand gestorben. Vielleicht glauben das auch viele. Denn von diesen Versuchen wird eben gar nicht mehr gesprochen. Sie fallen sozusagen einer Verschwörung des Schweigens zum Opfer. Es wäre übertrieben zu behaupten, daß Dr. Forßmann unglücklich ist, sich unverstanden und von der Welt schlecht behandelt vorkommt. Er hat wohl längst die Träume der Jugend begraben. Oder, wenn er das nicht getan hat, so spricht er jedenfalls nicht mehr davon. Er ist in seiner Arbeit recht zufrieden. Er wandert gern, er schwimmt gern, er kümmert sich um die kleinen und großen Sorgen der Familie.
„Er zeigte uns den Weg" Als der Krieg beginnt, wird er sogleich eingezogen. 1943 — inzwischen ist noch der fünfte Junge auf die Well gekommen und auch ein kleines Mädchen — wird die Familie ausgebombt, und die Mutter zieht mit den sechs Kindern in einen kleinen Ort im Schwarzwald, nach Wambach bei Wies. Dort verbringt sie die letzten Kriegsjahre und ernährt ihre Kinder schlecht und recht als Ärztin. Forßmann gerät noch in letzter Minute in amerikanische Gefangenschaft. Im :-i
Nobelpreis für Dr. Forßmann: König Gustav Adolf von Schweden verleiht am 10. Dezember 1956 dem Preisträger das Diplom, die Goldplakette und den Scheck.
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November 1945 gelingt es ihm, sich „abzusetzen" und sich zu seiner Familie durchzuschlagen. Er ist also nun in Wies-Wambach und hilft seiner Frau in ihrer Praxis. Ach, von einer Praxis kann man wohl kaum sprechen, dazu ist der Ort mit seinen achthundert F.inwohnern wirklich zu klein. Wenn die Familie 100.— bis 150.— Mark im Monat einnimmt, ist das schon viel. Und 100.— bis 150.— Mark sind nach Kriegsende ja wirklich nur noch Pfennige . . . Um diese Zeit erfährt Dr. Forßmann zum erstenmal, daß er Nachfolger gefunden hat, daß es zwar nicht in Deutschland, wohl aber in Amerika Ärzte gibt, die, wie er, der Überzeugung sind, man könne mit einer Sonde ins Herz vorstoßen. Es ist nicht viel, was er darüber in Wambach bei Wies erfahren kann. Immerhin, was er liest, erfreut ihn und macht ihn gleichzeitig bitter. Die Methode, die er vor vielen, vielen Jahren gefunden hat, ist jetzt in der Zwischenzeit eine „amerikanische Originalmethode" geworden. So heißt es wenigstens in den Zeitungen, die ihm in Wies-Wambach zur Verfügung stehen. An seinen ehemaligen Kollegen Dr. Romeis schreibt er ein bißchen traurig: „Der seelische Druck ist allmählich so stark, daß er einen zu Boden zwingt. Es ist bitter, daran zu denken, wie diese Arbeitsmöglichkeit mit Idealismus von mir aufgebaut wurde — Du warst ja Zeuge —, wie sie in Deutschland aber totgeschwiegen und verspottet wurde, als eine Verrücktheit abgetan. Und nun höre ich, daß sie als amerikanische Originalmethode bezeichnet wird . . . Trotzdem bin ich stolz, auf einem kleinen Gebiet unserer geliebten Wissenschaft eine Tür für den Fortschritt aufgestoßen zu haben, auch wenn ich in Vergessenheit gerate... Es ist freilich schwer, über den Zaun sehen zu müssen, wenn andere das .entdecken', was einem selbst schon vor zwanzig Jahren vorgeschwebt hat und wozu man den Anstoß gab." Die Amerikaner, die sich die Methode des jungen Forßmann zu eigen gemacht haben, sind Professor Andre F. Cournand, der 1895 in Paris geboren wurde, und Dr. Dickinson W. Richards, der in Orange, New Jersey, geboren ist. Die beiden Arzte, die sich bald innig befreundeten, begannen sich Mitte 1932 für die Grundlagen der Herz-Lungen- und Blutkreislaufprobleme zu interessieren und kamen
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eines Tages auf die grundlegende Arbeit Dr. Werner Forßmanns. Mit Erstaunen, ja Begeisterung lasen sie von seinem mutigen und bahnbrechenden Selbstversuch im Jahre 1929. „Er zeigte uns den Weg, den wir einschlagen mußten!" sagte Professor Cournand später. Sie schlugen diesen Weg auch ein. Sie erkannten schnell, daß die Herzkatheterisierung das ideale Mittel ist, Grundlagen für genaue Diagnosen zu schaffen, Fehler und Erkrankungen des Herzens zu erkennen und neue Wege zur Herzoperation anzubahnen. Denn ein Chirurg, der an eine so komplizierte Apparatur wie die des Herzens geht, braucht vor allem eine exakte Diagnose als Grundlage für seinen Operationsplan. Und gerade die Chirurgie hatte bis dahin Forßmanns kühne Idee als Verrücktheit abgelehnt. Cournand und Richards lasen nun auch alles, was gegen Forßmann geschrieben worden war, und sie verstanden nicht recht, warum der junge Deutsche seinerzeit so schnell in Vergessenheit geriet. Sie machten einige Versuche, um festzustellen, ob er noch am Leben sei. Aber vorläufig gelang es ihnen nicht, ihn aufzuspüren. Auch kam der Krieg dazwischen. In der Zwischenzeit experimentierten Cournand und Richards mit dem Herzkatheter, freilich nicht an sich selbst. Sie konstruierten einen Katheter mit Registriergerät, um so den Umfang des Herzens, seine krankhaften Veränderungen, die Druckverhältnisse, den Kohlensäuregchalt des Blutes und seinen Sauerstoffgchalt zu messen. Sie spritzten, wie Forßmann es schon getan hatte, durch den Katheter Kontrastmittel direkt in die Herzkammern, erhielten so klare Aufnahmen des Herzinnern und konnten das Herz beobachten, während es Arbeit leistete. Ein neuer Weg war offen, um herzkranke Menschen zu heilen und zu retten. Die Methode Forßmann — von dem man freilieh im Amerika der Kriegszeit nichts ahnte — setzte sich durch, war bald, trotz anfänglichem Widerstand der Chirurgen, aus der Medizin nicht mehr wegzudenken. Die beiden amerikanischen Ärzte — auch Cournand war Amerikaner geworden — hatten inzwischen große, schöne, verdiente Karrieren gemacht. Cournand war Professor an der Columbia Universi27
tat in New York, Richards Chefarzt für Chirurgie am BellcvueHospital. Sie gehörten nicht nur zu den berühmtesten Ärzten New Yorks, sie gehörten zu den geschätztesten. Und es war viel über sie geschrieben worden, auch darüber, daß sie es waren, die es zum erstenmal unternommen hatten, einen Katheter ins Herz einzuführen. Wer ahnte damals in Amerika etwas von Dr. Forßmann, der in einem Nest im Schwarzwald saß und sich und seine Familie aufs kümmerlichste ernährte?
Ein Brieftelegramm an Dr. Forßmann Aber dann, viele, viele Jahre später wird das Unwahrscheinliche Wahrheit. Der Tag ist der 18. Oktober 1956. Dr. Richards hat mit seiner Frau eine Reise nach Europa unternommen. Er befindet sich gerade in London, als er die Nachricht erhält, daß man ihm und seinem Freund Dr. Cournand den Nobelpreis zuerkanat hat — wegen ihrer Verdienste um „eine neue Technik für die Herzforschung einschließlich Diagnose und Behandlung der Herz- und Lungenkrankheiten . . . " Aber auch Forßmann, der Vergessene, ist nicht vergessen worden. Und das ist ohne Zweifel das Verdienst der amerikanischen Ärzte, die — wenn auch die große Öffentlichkeit Forßmann totschwieg, wenn insbesondere in Deutschland sich kaum je eine Stimme für ihn erhob — nicht müde wurden, auf ihn und sein Verdienst hinzuweisen. Jetzt erklärt Dr. Richards in London: „Ich bin voller Dankbarkeit für die Verleihung. Aber es war Forßmanns mutiges Experiment vom Jahre 1929, das den Weg aufzeigte, den Dr. Cournand und ich später beschritten." Um die gleiche Zeit, da Dr. Richards in London und Professor Cournand in New York davon erfahren, daß sie Nobelpreisträger geworden sind, trifft ein einfaches Brieftelegramm bei Dr. Weruer
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Forßmann ein mit der Mitteilung, er sei zusammen mit den beiden anderen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden und werde gebeten, ihn selbst im Dezember in Stockholm in Eimpfang zu nehmen. Dieses Telegramm erreicht Dr. Forßmann in Bad Kreuznach, wo er seit einiger Zeit wohnt. Es geht ihm nun schon ein bißchen besser, man ist wieder auf ihn aufmerksam geworden. Noch am 4. August 1949 hatte er dem alten Freund Romeis aus Wies-Wambach geklagt: „Die Hungerpraxis hier läßt mir keine Möglichkeit zu wissenschaftlicher Arbeit. Bücher fehlen mir vollständig und für längere Zeit fortfahren kann ich wegen der Kosten nicht." Aber noch im gleichen Jahr hatte man ihn nach Basel zu einem Vortrag eingeladen. Es war also nicht Deutschland, das zuerst auf seinen großen Arzt aufmerksam wurde, sondern das Ausland. Und dann ging es verhältnismäßig — im Verhältnis zu den davorliegcnden Jahren — doch etwas schneller mit der zweiten Karriere des Dr. Forßmann. 1950 wurde ihm der Posten eines Urologen an der Diakonissenanstalt in Bad Kreuznach angeboten. Er nahm an. 1954 kam die erste deutsche Anerkennung — freilich aus dem Osten. Die Deutsche Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin verlieh ihm die Leibniz-Medaille. Im gleichen Jahr durfte er dann auf dem Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie einen Vortrag über das Thema: „Geschichtliche Entwicklung und Methodik der Herzkatheterisierung" halten. Man wurde langsam auf ihn aufmerksam . . .
„Ich bin sehr glücklich." Nein, Forßmann ist nicht mehr so vergessen wie einst in diesen letzten Jahren und er lebt mit seiner Familie ruhig und ganz zufrieden. Aber was jetzt geschieht, hat er doch nicht für möglich gehalten. Von einer Stunde zur anderen ist seine Wohnung Mittelpunkt der Stadt, ja, man könnte fast sagen, von Deutschland geworden. Von überallher erscheinen Pressevertreter und Fotografen. Sie alle wollen wissen, was Forßmann zu sagen hat. 29
Ja, was hat er denn zu sagen? Er lächelt nur verlegen. Er ist ein bilkhcn schwer geworden, das Leben war nicht immer gut zu ihm. Aber in diesem Augenblick weiß er, daß es auch für ihn das große, das ganz große Glück gibt. Weiß, was er nie glaubte, daß es überhaupt so viel Glück geben könnte. Er lächelt: „Ich kann es nicht recht glauben! Ich fühle mich ein wenig komisch . . . Und bin natürlich auch recht aufgeregt. Kein Wunder bei den vielen Menschen, die mich plötzlich belagern . . . Aber ich bin sehr, sehr glücklich. Und meine Familie mit mir!" Kein Wort von den vielen, vielen Jahren, die er im Schatten leben mußte. Dann steht Dr. Forßmann in Stockholm und hört, ohne es zu verstehen, was der schwedische Professor über ihn zu sagen hat. Und jetzt stehen alle auf und singen die Nationalhymne. Die Nobelpreisträger stehen auch da, aber sie singen nicht — denn wer von den Engländern, Amerikanern, Russen kennt denn die schwedische Nationalhymne? O doch: Einer kennt sie, der etwas behäbige Dr. Forßmann. Er hat sich darüber informiert, was während der Feier in Stockholm alles geschehen würde. Und als er von der Nationalhymne vernahm, hat er sie sogleich auswendig gelernt. Und nun schmettert er heraus: „Du gamla, Du fria!" Und sein noch jugendliches Gesicht mit den großen dunklen Augen strahlt, während er zu seiner Frau und seinen Kindern hinübersieht; obwohl er doch nun schon zweiundfünfzig Jahre alt ist und so viel Schweres hinter ihm liegt, wirkt er wieder ganz jung wie damals, als er seinen ersten Selbstversuch machte... Dann gibt es auch noch eine Einladung ins Königsschloß. Forßmann muß dann die bereits erwähnte Rede halten, in der er sagt, er komme sich vor wie ein Dorfpfarrer, der plötzlich Kardinal geworden sei. Er fügt hinzu: „In Westdeutschland hat sich niemand um mich gekümmert. Die Amerikaner waren es, die meine Arbeit anerkannten. Als ich 1929 das erste von neun gefahrvollen Experimenten machte, war eben die Zeit noch nicht reif dafür. Ich bin denen, die meine Arbeit nicht anerkannten, nicht gram — ich bin vielmehr hocherfreut, daß sich herausstellte, daß meine Idee doch richtig w a r . . . " 30
Sonst sagt er nichts. Er ist niemandem gram. Er weiß — er hat es am eigenen Leib erfahren —, die Menschen sind nun einmal so wie sie eben sind. Man kann sie nicht ändern. Man kann ihnen nur helfen, selbst dann, wenn sie gar nicht wollen, daß man ihnen hilft.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Süddeutseher Verlag und Deutsches Gesundheitsministerium
L u x - L e s e b o g e n 3 8 6 (Geschichte) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundllche Hefte — Bestellungen (vlerteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und Jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in Jeder guten Buchhandlung vorrätig — Druck: Hieronymus Mühlberger. Augsburg — Verlag: Sebastian Lux. Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux.
U)ic sie berühmt wurden . . . Unter dem Titel „Jugend der Welt — Aufstieg zum Ruhm" ist im Verlag der Lux-Lesebogen ein spannendes Buch erschienen, das aus den Jugendjahren berühmter Männer und Frauen erzählt. Dramalisch bewegt sind diese 166 Jugsndgeschichlen: Wie der junge tdison im Packwagen eines (onrenden Eisenbahnzuges sein primitives chemisches Loboratorium einrichtet und dabei last in die Lull (liegt, wie Kaiser Friedrich II. von Hohenslaulen als Slrahenjunge durch die Gassen Palermos streift, um das Volk kennenzulernen, wie der junge Charles Lindbergh seinen Traum von der Ozeanüberquerung der Wirklichkeit näherbringt, wie der Jüngling Arluro Toscanini im geborgten Frack mit a b g s schnittensn Hosenbeinen seine erste Oper dirigiert oder wie der Negerjunge Washington Carver, der noch als Sklave gebo/en wurde, gegen unsägliche Widerstände seine Ausbildung zum „Pllanzendoklor" erzwingt. Viele der Groljen waren bereits als Kinder und Jugendliche berühmt durch das Wunder ihrer genialen Begabung. Andere waren frühvollendet und wurden abberufen, ohne dafj sie den Gipfel der Lebensreife erreichen durften. Besonders ergreifend sind die Jugendschicksale jener Männer und Frauen, die sich aus dem Dunkel der Armut, vom inneren Feuer getrieben, auf den Platz heraufarbeiteten, auf dem wir sie heute bewundern. Das Buch ist eine Galerie grofjer Vorbilder. Porlrälzeichnungen und Lebensdokumente ergänzen dos Gesamtbild der Persönlichkeilen.
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