Daniela Forkmann Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“
Göttinger Studien zur Parteienforschung Herausgegeben von ...
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Daniela Forkmann Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“
Göttinger Studien zur Parteienforschung Herausgegeben von Peter Lösche Franz Walter
Daniela Forkmann
Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
. 1. Auflage 2011 © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18153-0
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Inhalt
Inhalt
A. Einleitung
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1 Hinführung zum Thema 1.1 Fragestellung 1.2 Einordnung in den Forschungskontext 1.2.1 Generationenforschung 1.2.2 Elitenforschung 1.2.3 Faktionalismusforschung 1.2.4 Parteienforschung
9 11 14 14 19 22 24
2
Aufbau und Zeitrahmen der Untersuchung
25
3
Quellenlage
28
4
Methodisches Vorgehen
29
B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen 5 Das „Netzwerk“ und die 68er 5.1 Eine „Generation Netzwerk“? 5.1.1 Kohortengruppen und Differenzierungen: Das „Netzwerk“ als einheitliche Generation? 5.1.2 Vom „Wandel des Wertewandels“ – Oder: Was kommt nach dem Postmaterialismus? 5.1.3 Parteieexterner Erfahrungshorizont und Sozialisationsbedingungen: Das „Netzwerk“ als „Generation Golf“? 5.1.4 Parteiinterne Generation – Oder: Wer wird in den 1980erJahren noch SPD-Mitglied? 5.2 Die „Antigeneration“ der „Netzwerker“: 1968 5.2.1 1968: Kulturrevolution, generationsprägendes Ereignis und Wertewandel? 5.2.2 1968 und die deutsche Sozialdemokratie: Auswirkungen auf Inhalte, Mitglieder und Funktionsträger
32 32 33 33 39 43 58 60 60 64
6
Inhalt
5.2.3 1968 und die „Enkel“: Zwischen Postmaterialismus und Hedonismus 5.3 Zwischenfazit C. Untersuchungsteil 6 Genese und Organisation des „Netzwerks“ 6.1 Der Mythos: Entstehungsgeschichte des „Netzwerks“ 6.1.1 Fraktionsinterne Gründungsursachen 6.1.2 Generationsbedingte Gründungsursachen – Oder: Jusos im Bundestag 6.1.3 Zielsetzung und Idee: Offener Kommunikationszusammenhang 6.2 Zum organisatorischen Aufbau: Das „Netzwerk“ als Zwiebel 6.2.1 Verschiedene „Netzwerk“-Generationen: Motivationen und Interessen 6.2.2 Das geschäftsführende Büro um Jürgen Neumeyer 6.2.3 Zwischen Strukturlosigkeit und Hierarchie: MdB-Runde und Sprecherkreis 6.2.4 Und darüber hinaus: Einzugskreis und Assoziierte des „Netzwerks“ 6.2.5 Die Landesebene: Klausurtagungen und Landesnetzwerke 6.2.6 Vom Kickern, Feiern und Singen: Informalität, Ritual und Freundschaft im „Netzwerk“ 6.3 Weitere Kommunikationsformen und Meinungsfindungsprozesse 6.3.1 Wer schreibt was? Oder: Das Zustandekommen von Positionspapieren 6.3.2 „Wir sind die neue SPD“ – Der Programmbeitrag von Bad Münstereifel 6.3.3 Ins Gespräch mit Partei und Gesellschaft kommen – Dialoggruppen und Regionalforen 6.3.4 Die Basis der Partei aktivieren – Wirkaempfen.de 6.4 Posten und Karrieren: Das „Netzwerk“ in Regierung, Partei und Fraktion 6.5 Zwischenfazit Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie 7.1 Die „Netzwerk“-MdBs: Soziodemografische Struktur und generationelle Kennzeichen
7
66 70 73 73 73 73 83 89 91 94 96 100 108 126 128 132 132 135 140 143 146 153 157 157
7
Inhalt
7.1.1 Bildungsverläufe und Berufswege 7.1.2 Innerpolitische Rekrutierungs- und Karrierewege 7.1.3 Die Wurzeln des Pragmatismus 7.1.4 Generationelle Prägungen und Differenzierungen 7.2 Einzelporträts 7.2.1 Hubertus Heil – Das „political animal“ 7.2.2 Hans-Peter Bartels – Der intellektuelle Querkopf 7.2.3 Kerstin Griese – Die euphorische Christin 7.2.4 Nina Hauer – Vom Saulus zum Paulus? 7.2.5 Christian Lange – Oder: Die Liberalisierung der SPD 7.2.6 Carola Reimann – Die naturwissenschaftliche Fachpolitikerin 7.2.7 Siegmund Ehrmann – Der Bedächtige 7.2.8 Ute Vogt – Der verglühte Komet 7.2.9 Christoph Matschie – Der materialistische Postmaterialist 7.3 Interpretation der Einzelporträts 7.4 Zwischenfazit
158 162 167 170 179 179 196 208 221 235
8 Inhaltliche Verortung des „Netzwerks“ 8.1 Die Themenfelder 8.1.1 Die Reform des Sozialstaats 8.1.2 Bildung, Familie und Beruf 8.1.3 Staatsverständnis 8.1.4 Wirtschaft und Arbeit 8.1.5 Umwelt, Europa und anderes 8.2 Politikverständnis und Grundwerte 8.3 Generationelle Verortung im Programmdiskurs 8.4 Zwischenfazit
292 295 295 299 301 303 305 308 312 320
9
Konklusion und Ausblick
D. Anhang
246 251 255 272 285 288
321 340
10 Interviewpartner
340
11 Leitfaden für die Interviews
341
12 Kriterienliste zur Auswertung der Interviews
341
13 Grafiken und Tabellen
342
14 Literatur- und Quellenverzeichnis
351
1. Hinführung zum Thema
9
A. Einleitung
1
Hinführung zum Thema
Mit der Bundestagswahl im Herbst 2009 vollzogen die bundesdeutschen Sozialdemokraten nicht nur den Wechsel von der Regierungs- auf die Oppositionsbank, sondern sie mussten nun auch jenen Prozess abschließen, der bereits einige Jahre zuvor begonnen hatte: die Verjüngung der innerparteilichen Führungsgremien.1 Bereits im November 2005 war Hubertus Heil, geboren 1973, zum Generalsekretär gewählt worden. Sigmar Gabriel, geboren 1959, führte von 2005 bis 2009 das Bundesumweltamt und wurde im November 2009 zum Bundesparteivorsitzenden gewählt. Kurzum: Spätestens mit der Bundestagswahl 2005 kamen in der SPD jene Politikerjahrgänge zu größerer politischer Verantwortung, die mit dem Wechsel der parteiinternen „Enkel“ 1998 an die Macht überhaupt erst die bundespolitische Bühne betreten, sich im „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“ zusammen gefunden und einen neuen Generationenzusammenhang für sich reklamiert hatten.2 Dabei hatten sich bereits in den sieben rot-grünen Regierungsjahren zwischen 1998 und 2005 die Aporien des so genannten rot-grünen Projekts gezeigt: Zunächst war es vor allem die SPD, die trotz mehrfacher Anläufe auf das Kanzleramt und trotz 16-jähriger Machtabstinenz nicht recht auf die Regierungsübernahme vorbereitet schien.3 Die Sozialdemokraten schienen sich nicht recht im Klaren zu sein, welchen programmatischen Weg sie mit der gewonnenen Regierungsmacht beschreiten wollten, geschweige denn, dass auf konkrete Pläne oder gar Gesetzesvorhaben zur alsbaldigen Umsetzung zurückgegriffen werden konnte.4 Zudem sahen sich die beiden Regierungsparteien nach der Umsetzung gemeinsamer Projekte wie der Einführung der Homo-Ehe, dem Ausstieg aus der Atomenergie und der Einführung der Ökosteuer mit fundamentalen außenpolitischen Herausforderungen und der andauernden hohen Arbeitslosenquote kon1
Vgl. Feldenkirchen, Markus/Nelles, Roland: Wundersamer Aufstieg, in: Der Spiegel, 21.11.2005. Vgl. Bartels, Hans-Peter: So weit. Zwei Jahre Netzwerk – Eine Zwischenbilanz, in: Berliner Republik, 1 (2001), S. 27-30. 3 Vgl. Niclauß, Karl-Heinz: Kanzlerdemokratie, Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Paderborn 2004; ebenso Meng, Richard: Der Medienkanzler. Was bleibt vom System Schröder?, Frankfurt a. M. 2002. 4 Vgl. Egle, Christoph/Henkes, Christian: Später Sieg der Modernisierer über die Traditionalisten? Die Programmdebatte der SPD, in: Egle/Ostheim/Zohlnhöfer, 2003, S. 67- 92, hier S. 67 bzw. S. 88 f. 2
D. Forkmann, Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“, DOI 10.1007/978-3-531-93090-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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A. Einleitung
frontiert.5 Besonders bei den Sozialdemokraten wurden nun die programmatischen, aber auch die personalpolitischen Versäumnisse in den sechzehn Oppositionsjahren der CDU/CSU/FDP-Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl offensichtlich. Zwar hatte die SPD mit unterschiedlichsten Strategien einige Energie daran gesetzt, wieder den Regierungschef stellen zu können. Einen einheitlichen und auf gewandelte Herausforderungen abgestellten programmatischen Entwurf hatte sie jedoch nicht entwickelt. So beriefen sich die Sozialdemokraten noch im Jahr 2005 auf das „Berliner Programm“ von 1989, das bereits bei seiner Verabschiedung im deutschen Revolutionsherbst überholt gewesen war.6 Doch zeigte sich erst nach und nach, inwiefern diese inspiratorischen Schwierigkeiten mit der Personalpolitik und -entwicklung der Partei in den vergangenen zwei Jahrzehnten zusammen hängen könnten.7 Sowohl in ihrer Mitgliedschaft als auch in ihrem Funktionskörper wurde die deutsche Sozialdemokratie seit Beginn der 1970er- bis hinein in die 1990erJahre, ja im Grunde bis zur Bundestagswahl 2005 maßgeblich durch die Kohorte der um 1940 Geborenen geprägt.8 Die SPD hatte unter Bundeskanzler Willy Brandt aufgrund der allgemeinen Politisierung der Bevölkerung aber auch speziell dank der Politik der sozial-liberalen Regierung einen enormen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen gehabt.9 Durch diese neuen Parteimitglieder erfuhr die Partei eine in ihrer Quantität und Qualität beeindruckende Verjüngung, mit der eine Akademisierung der Mitgliedschaft und des Funktionärskörpers einher ging.10 Diese Merkmale der Parteineulinge sollten die SPD fundamental und über drei Jahrzehnte hinweg beeinflussen: Nachdem der damalige Nachwuchs in den unteren Parteigliederungen Fuß gefasst hatte, stieg er kontinuierlich in den
5
Vgl. Blancke, Susanne/Schmid, Josef: Bilanz der Bundesregierung Schröder in der Arbeitsmarktpolitik 1998-2002: Ansätze einer doppelten Wende, in: Egle/Ostheim/Zohlnhöfer, 2003, S. 215-238; vgl. auch Hennecke, Jörg: Die dritte Republik, Berlin 2003, S. 53 f. bzw. S. 68 f. 6 Vgl. Meyer, Thomas: Die blockierte Partei – Regierungspraxis und Programmdebatte der SPD 2002-2005, in: Egle, Christoph/Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Das Ende des rot-grünen Projekts, Wiesbaden 2007, S. 83-97; vgl. zur rot-grünen Regierung als verspäteter Generation Geis, Matthias/Ulrich, Bernd: Die verspätete Generation, in: Die Zeit, 28.05.2003. 7 Vgl. Schmid, Thomas: Von den Jusos zu den Youngsters, in: Die Welt, 15.07.1999. 8 Vgl. beispielhaft Lösche, Peter: Zustand und Perspektiven der SPD, in: Zehetmair, Hans (Hg.): Das deutsche Parteiensystem. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 104-116, hier S. 109. 9 Vgl. Lösche, Peter/Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei, Darmstadt 1992, S. 152; siehe auch Scarrow, Susan: Der Rückgang der Parteibindungen aus der Sicht der deutschen Parteien: Chance oder Gefahr? In: Mair, Peter/ Müller, Wolfgang C./Plasser, Fritz: Parteien auf komplexen Wählermärkten, Wien 1999, S. 71-103. 10 Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 153 f.
1. Hinführung zum Thema
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Hierarchien der Parteigremien auf, veränderte Stil und Thementableau zunächst der Jungsozialisten, später auch der Mutterpartei.11 Die so genannten „Enkel“12 hatten zumeist mit der Methode des gezielten, über die Medien lancierten und oft gegen die Dogmen der eigenen Partei gerichteten Tabubruchs ihren Einfluss kontinuierlich vergrößert.13 So besaß die deutsche Sozialdemokratie in den 1980er-Jahren zwar eine beträchtliche Anzahl vielversprechender Nachwuchstalente, doch erwies sich nach und nach der Schönheitsfehler jener Politikerkohorte. Sie alle waren annähernd gleich alt, kannten sich und alle ihre Stärken und Schwächen seit Jahrzehnten aus den immer gleichen Debatten und Zirkeln14, und vor allem: Sie hatten nach sich kaum neue Talente aufkommen lassen. Fast eine komplette, politisch interessierte Generation hatte die SPD Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre an die neu entstandene Partei der Grünen verloren, die sich nicht zuletzt aus Ablehnung gegenüber der sozialdemokratischen Regierungspolitik unter Kanzler Schmidt gegründet hatte.15 Erst als die so genannten „Enkel“ ihr politisches Lebensziel verwirklicht und Bundeskanzler Kohl abgelöst hatten, meldete sich innerparteilich wieder eine Gruppe junger Politiker zu Wort und bekundete den Anspruch, etwas Eigenes und Neues darzustellen.16 1.1 Fragestellung Kurz nach dem Machtwechsel im Bund 1998 fand sich in der neu gewählten Bundestagsfraktion eine Gruppierung vorwiegend jüngerer Abgeordneter zusammen, die sich als „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“ titulierte.17 Das „Netzwerk“ grenzte sich sowohl horizontal als auch vertikal von vorhandenen Parteiströmungen ab. Zum einen wollten sich die jungen Abgeordneten weder als dezidiert rechts noch als links innerhalb der Sozialdemokratie verorten, sondern sahen sich als zentristische Kraft jenseits überkommener Rechts-LinksSchemata.18 Zum anderen distanzierten sich die „Netzwerker“ bewusst von den so genannten 68ern in ihrer Partei und proklamierten sowohl einen neuen Poli11 Vgl. beispielhaft ebd., S. 158 bzw. S. 161; siehe auch Walter, Franz: Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002 b, S. 190 ff. 12 Vgl. zum Begriff „Enkel“ Micus, Matthias: Die „Enkel“ Willy Brandts. Aufstieg und Politikstil einer SPD-Generation, Frankfurt a. M., 2005, S. 11. 13 Vgl. ebd., S. 167 f. und S. 180 f. 14 Vgl. Dürr, Tobias/Walter, Franz: Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 91 f. 15 Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 159. 16 Vgl. auch Bartels, Hans-Peter: Das Alte und das Neue, in: Die Tageszeitung, 01.06.1999. 17 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Sozialdemokratie der nächsten Generation, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 18 Vgl. Loreck, Jochen: „Mittlere“ Strömung in der SPD, in: Kölner Stadtanzeiger, 16.09.1999.
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A. Einleitung
tikstil als auch andere politische Inhalte.19 Rasch richteten sich die mediale und die innerparteiliche Aufmerksamkeit auf die neue Gruppierung:20 Wer waren diese jungen Abgeordneten, welche Ideen und Werte vertraten sie? Welche Ziele verfolgten Sie? Diese Fragen beschäftigen den vorliegenden Band. Denn nachdem spätestens mit der Bundestagswahl 2009 die als 68er titulierten Politiker aus den führenden Positionen von Partei, Fraktion und Regierung ausschieden, erscheint es von Seiten der Politikwissenschaft allgemein und der Parteienforschung im Besonderen geboten, sich mit dem innersozialdemokratischen Generationswechsel, dessen Akteuren und Mechanismen auseinanderzusetzen. Eine genauere Analyse der politischen Ideen und Überzeugungen des „Netzwerks“, seines innerparteilichen Einflusspotentials, seiner organisatorischen Beschaffenheit und internen Machtstrukturen kann exemplarisch bei der Frage nach der inhaltlichprogrammatischen und personellen Ausstattung der SPD einen Beitrag leisten. Der vorliegende Band analysiert daher, erstens, die Genese und organisatorische Struktur des „Netzwerks“, zweitens die personelle Zusammensetzung unter einer biografisch-sozialisatorischen Perspektive und letztendlich, drittens, die inhaltliche Zielsetzung der Gruppierung. Damit kann die vorliegende Arbeit als Fallstudie verstanden werden, die sich mit den Akteuren des „Netzwerks“ als einer Trägergruppe sozialdemokratischer (Partei)Arbeit auseinander setzt. Begründet auf seinem selbst formulierten Anspruch wird das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“ dahingehend analysiert, ob die darin vereinten Politiker tatsächlich eine neue Generation der Sozialdemokratie nach den so genannten 68ern verkörpern, die aufgrund spezifischer politischer und soziobiografischer Erfahrungen differente Ideen und politische Lösungsvorschläge gegenüber ihren Vorgängern entwickelt hat.21 Damit wird am Beispiel des „Netzwerks“ und mit Hilfe des Generationenansatzes der Prozess der Elitenrekrutierung und transformation innerhalb der deutschen Sozialdemokratie aufgezeigt. Darüber hinaus liefert die vorliegende Untersuchung einen Beitrag zur Forschung über innerparteiliche Machtgruppen, da das „Netzwerk“ als dritte innerparteiliche 19 Vgl. beispielhaft Bartels, Hans-Peter: Kommt nach den Enkeln die „Generation Berlin“?, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 10 (1999), S. 916-919. 20 Vgl. beispielhaft Lucke, Albrecht von: Alte Wilde und junge Milde, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4 (2003), S. 12-15; siehe zur Presseberichterstattung unter anderem Seitz, Norbert: Die Zentristen, in: Die Zeit, 15.10.1999, sowie Schors, Horst Willi/Loreck, Jochen: Zweimal knapp links von der Mitte, in: Kölner Stadtanzeiger 09.10.1999. 21 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Sozialdemokratie der nächsten Generation. Eine Dokumentation, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle; vgl. zur Antithese, das „Netzwerk“ sei keine Generation, Lösche, 2004, in: Zehetmair, 2004, S. 111, sowie Walter, Franz: Neue Generation, neue Mitte – neue SPD?, in: Ders.: Politik in Zeiten der neuen Mitte. Essays, Frankfurt a. M. 2002 a, S. 88-99, hier S. 89 f.
1. Hinführung zum Thema
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Faktion – neben dem Seeheimer Kreis und der Parlamentarischen respektive Parteilinken – zu verstehen ist.22 Da das „Netzwerk“ als Teil einer innerparteilichen Elite zu verstehen ist, tangiert die Fallanalyse der Gruppierung auch Fragen der Elitenforschung. Letztere wiederum liefert mit Hilfe der Analyse generationsbedingter Karriereverläufe einen Beitrag zur generationssoziologischen Untersuchung der Gruppierung. In diesem Kontext können sowohl Überlegungen zu den erforderlichen persönlichen Fähigkeits- und Handlungsdispositionen als auch zu Restriktionen und Chancen durch institutionell-organisatorische Gegebenheiten sinnvoll sein. Gefragt werden soll, welche Fähigkeiten und Eigenschaften, aber auch welche Beschränkungen und Aporien die im „Netzwerk“ vertretenen Politiker als Teil einer sozialdemokratischen Elite aufweisen. Darüber hinaus wird zu eruieren sein, wie sich die Beschaffenheit des „Netzwerks“ als einer politischen Teilelite aus den (generationell determinierten) Sozialisationsbedingungen und erfahrungen begründen lässt. Schlussendlich impliziert dies auch die Frage, wie von „Netzwerkern“ vorgegangen wird, um innerparteilichen Einfluss zu gewinnen. Welcher Sinn und Zweck kann somit grundsätzlich – bezogen auf die Chancen des Machterwerbs – darin liegen, sich in einer parteiinternen Gruppierung zusammen zu schließen? Und auf die Gesamtpartei bezogen, noch einmal: Wie funktioniert – am Beispiel des „Netzwerks“ – Elitenrekrutierung und -zirkulation in der SPD? Die übergeordnete Fragestellung nach den Eigenschaften, Prägungen, Machtressourcen und -restriktionen des „Netzwerks“ und ihrer Akteure ist demnach ausdrücklich in die Parteienforschung einzuordnen. Die untergeordneten Analysen mit Hilfe der Generations- und Elitesoziologie bewegen sich hingegen – nomen est omen – an der Schnittstelle von Soziologie und Politikwissenschaft und können wichtige Analyseerkenntnisse und Hinweise zur Beantwortung der salopp formulierten Frage „Wer, wie und was ist das „Netzwerk“ Berlin?“ liefern.
22
Vgl. Trefs, Matthias: Faktionen in westeuropäischen Parteien. Italien, Großbritannien und Deutschland im Vergleich, Heidelberg 2007, S. 248 f. Siehe zu Faktionalismus allgemein Köllner, Patrick/Basedau, Matthias: Faktionalismus in politischen Parteien. Eine Einführung, in: Köllner, Patrick/Basedau, Matthias/Erdmann, Gero (Hg.): Innerparteiliche Machtgruppen. Faktionalismus im internationalen Vergleich, Frankfurt/New York 2006, S. 7-37.
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A. Einleitung
1.2 Einordnung in den Forschungskontext 1.2.1 Generationenforschung Da das „Netzwerk“ sich selbst als eine „neue Generation“ von SPD-Politikern beschreibt und begreift, soll die Gruppierung an ihrem selbst postulierten Anspruch gemessen werden: Handelt es sich tatsächlich um eine eigene (parteiinterne) Politikergeneration? Was kennzeichnet diese und wie handelt sie politisch? „Generation“ ist in den vergangenen Jahren zu einem populären Schlagwort geworden, das sowohl im Medienalltag Konjunktur hat als auch in der Wissenschaft eine gewisse Renaissance erfährt.23 Es ist die Rede von der „Generation Berlin“24, „Generation Golf“25 oder „Generation Ally“26 und anderem mehr. Doch ist bei dem beinahe inflationären Gebrauch des Begriffs nicht immer eindeutig, was genau er bezeichnet und wie die ausgemachten Generationen zu unterscheiden sind.27 In dieser Arbeit soll der soziologische Generationenbegriff verwendet werden, dessen Grundlage noch immer die Überlegungen Karl Mannheims aus dem Jahr 1928 bilden:29 Mannheim versuchte in seinem Aufsatz „Das Problem der Generationen“30, das Verständnis von Generation als Geburtenkohorte sowie die Auffassung des Begriffs als „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ im Sinne eines übergreifenden Lebens- und Weltgefühls, welches den Mitgliedern einer Generation unabhängig vom Geburtsjahr innewohne31, zu einer Synthese zu bringen. Er ging davon aus, dass die so genannte Generationenlagerung zwar durch biologische Determinanten – Geburt und Tod – vorgegeben, noch entscheidender aber der Typus der sozialen Lagerung sei.32 Mannheim schlug die 23
Vgl. beispielsweise das von der DFG geförderte Graduiertenkolleg zur „Generationengeschichte“ an der Universität Göttingen (http://www.generationengeschichte.uni-goettingen.de (zuletzt aufgerufen am 20.02.2008)). 24 Vgl. Bude, Heinz: Generation Berlin, Berlin 2001. 25 Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion, Frankfurt a.M. 2005. 26 Kullmann, Katja: Generation Ally, Frankfurt a.M. 2003. 27 Vgl. zur Inflation des Begriffs „Generation“ Bartels, Inken: Generation X. Zum inflationären Gebrauch des Begriffes „Generation“ im aktuellen Mediendiskurs, in: Vokus 11 (2001), Heft 2, S. 44-73. 29 Vgl. Lepsius, M. Rainer: Generationen. In: Greiffenhagen, Martin/Greiffenhagen, Sylvia (Hg.): Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2002, S. 162-165. 30 Vgl. Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Ders.: Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 509-566. 31 Vgl. ebd., S. 518 f. 32 Vgl. ebd., S. 527.
1. Hinführung zum Thema
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Unterscheidung von Generationenlagerung, Generationenzusammenhang und Generationeneinheit vor. Während die Lagerung einer Generation sich quasi durch das Geborensein in einen bestimmten historischen, politischen und sozialen Kontext ergebe und durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geburtsjahr bzw. einer Geburtskohorte bestimmt sei, entstehe der Zusammenhang erst durch die Partizipation an gemeinsamen Schicksalen. Eine Generationeneinheit komme demgegenüber aber erst in jenem Moment zustande, in dem die im selben Generationenzusammenhang stehenden Personen die erlebten Ereignisse auf dieselbe Weise interpretierten und verarbeiteten. Grundlegend war für Mannheim, dass nur in einer sensiblen Phase des Lebens bestimmte Ereignisse und Schicksale einstellungs- und verhaltensdeterminierende Prägekraft entfalten und somit eine Generationeneinheit hervor bringen können. Diese sensible Phase setzte Mannheim mit Rückgriff auf Eduard Spranger im Alter zwischen 17 und 25 Jahren und damit in der Adoleszenz an.33 In dieser Zeit der Jugend, so die Annahme, könnten historische oder soziale Erfahrungen derart starke individuelle Eindrücke hinterlassen, dass sie den Einzelnen in seinen Grundorientierungen aber auch in seinem politischsozialen Verhalten für den Rest seines Lebens beeinflussten. Generationen beziehungsweise Generationeneinheiten entstünden auf diese Weise dadurch, dass benachbarte Geburtskohorten von denselben historisch-sozialen Ereignissen erfasst und bestimmt würden. Aufgrund der Prägung durch derartige Ereignisse spiegelten und vollzögen Generationen sozialen Wandel.34 So wurden auch politische Generationen mit Bezug auf Mannheim derart definiert, dass es sich bei ihnen um diejenigen Mitglieder einer Alterskohorte handele, die durch die Konfrontation mit bestimmten Schlüsselerlebnissen zur gleichen bewussten Auseinandersetzung mit den Ideen und Wertvorstellungen der politischen Ordnung gelangten, in der sie aufwuchsen. Jede politische Generation weise gemeinsame Einstellungen, Verhaltensdispositionen, Handlungspotenziale, Normen, Werte und letztlich eine eigenständige politische Kultur auf, die als kollektives Muster politischer Orientierungen bezeichnet werden könnten.36 Unter dem Eindruck der bürgerlichen Jugendbewegung entwickelt, wurde Mannheims Generationenbegriff zumeist für Analysen von Jugendtypen genutzt, die mit den besonders erschütternden Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts konfrontiert waren. So entstanden Analysen der Flakhelfer-Generation, der Hit33
Vgl. Spranger, Eduard: Psychologie des Jugendalters, Heidelberg 1960. Vgl. Weymann, Ansgar: Sozialer Wandel, Modernisierung und Generationen, in: Sackmann, Reinhold/Weymann, Ansgar/Wingens, Matthias (Hg.): Die Generation der Wende. Berufs- und Lebensverläufe im sozialen Wandel, Wiesbaden 2000, S. 17-37, hier S. 36. 36 Zit. nach Fogt, Helmut: Politische Generationen. Empirische Bedeutung und theoretisches Modell, Opladen 1982, S. 21. 34
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A. Einleitung
lerjugend- oder Skeptischen Generation. Als letzte große politische Jugendbewegung wurde die Kategorie der Generation auf die Ereignisse von 1968 und deren generationsprägende Kraft angewendet.37 In den ausgewählten Beispielen von Generationenporträts findet sich allerdings bereits ein Hinweis auf Hauptkritikpunkte des Ansatzes: Zum einen wird im Zeitalter des lebenslangen Lernens in Frage gestellt, dass in der Jugend erworbene Einstellungen und Werte für den Rest des Lebens Bestand haben und handlungsleitend bleiben. Vielmehr, so die Kritiker, müsse die Prägungshypothese in zweifacher Richtung modifiziert werden. Erstens sei davon auszugehen, dass durch den starken Medienkonsum und -einfluss zunehmend bereits Kinder biografisch-soziopolitisch bestimmenden Faktoren ausgesetzt seien.38 In diesem Fall würde der Zeitraum der politischen Sozialisationsphase nach vorne aufgeweicht. Zweitens wird angemerkt, dass die vorwiegend in der Adoleszenz, teils bereits in der Kindheit erworbenen Urteilsmuster zwar ein Handlungsgerüst, einen moralischen Rahmen bilden, jedoch nicht unumstößlich und auch in Teilen modifizierbar seien. Zum anderen könnten Generationen, so ein weiterer Kritikpunkt, nur dann als soziale Größe und soziologische Kategorie ausgemacht werden, wenn ein wirkliches historisches Schlüsselereignis, ein fulminanter geschichtlicher Schnitt stattgefunden habe. Dies sei beispielsweise bei Kriegen und Revolutionen gegeben, die derart traumatisierend wirkten, dass sie als einstellungsverändernd und verhaltensdeterminierend eingestuft werden könnten.39 Damit aber greife das Konzept der Generation für den vergleichsweise ereignislosen, ruhigen historischen Abschnitt nach 1945 für Deutschland nicht mehr. Neuere Forschungsüberlegungen machen jedoch auf zwei Aspekte aufmerksam: Zunächst hat es neben den offensichtlichen so genannten politischen Generationen immer auch „stille“ Generationen oder Zwischengenerationen gegeben. Ihnen gehörten die Mitglieder von Zwischenkohorten an, die zwar nicht selbst den gesellschaftlichen Wandel bewirkten, ihn jedoch trugen.40 Untermauernd lässt sich hier wiederum an Mannheim anschließen, der in Anleh37
Vgl. beispielhaft Bude, Heinz: Das Altern einer Generation: Die Jahrgänge 1938-1948, Frankfurt/Main 1995. 38 Vgl. Zinnecker, Jürgen: „Das Problem der Generationen. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem text, in: Reulecke, Jürgen (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 33-58, hier, S. 53 f.; siehe auch Bohnsack, Ralf/Schäffer, Burkhard: Generation als konjunktiver Erfahrungsraum, in: Burkart, Günter/Wolf, Jürgen (Hg.): Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen, Opladen 2002, S. 249-273. 39 Vgl. Giesen, Bernhard: Generation und Trauma, in: Reulecke, 2003, S. 59-71, hier S. 60 f. 40 Vgl. Reulecke, Jürgen: Einführung – Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts – im „Generationencontainer“?, in: Ders. (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S.VII-XVII, besonders S. X f.
1. Hinführung zum Thema
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nung an Petersen verschiedene Generationstypen vorschlug:41 In jeder Zeit, so Mannheim, existiere ein führender Generationstyp, der in kulturellem Verhalten und politischem Gestalten leitend und prägend sei. Daneben bestehe ein umgelenkter Typ, der sich in seinen Einstellungen an den dominierenden anschließe. Schließlich, so Mannheim, sei von einem unterdrückten Typ auszugehen, dessen Wollen und Wirken sich nicht entfalten könne und der deshalb wenig sichtbar bliebe. Des Weiteren, so aktuellere Überlegungen, bedeute das Ausbleiben großer geschichtlicher Zäsuren nicht, dass die gesellschaftliche Strukturierung durch Generationen aufhöre. Vielmehr müsse das Verständnis von Generationen modifiziert werden: In der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte seien es vermehrt „weiche“ Faktoren wie die als „Pillenrevolution“ bezeichnete Geburtenentwicklung oder das Aufkommen der Mediengesellschaft, welche die Einstellungen und Werte ganzer Geburtsjahrgänge beeinflussten. In diesem Sinne seien Generationen zwar immer noch Träger von etwas Neuem, jedoch nicht mehr im ursprünglichen, mannheimschen Sinne der allumfassenden Umwälzung, sondern vielmehr als generelle Träger kulturellen (Werte-)Wandels.42 Generationen machten sich zudem nicht ausschließlich durch differentes politisch-soziales Handeln und Urteilen deutlich, sondern auch und häufig vor allem durch eine sich wandelnde Kultur, durch ein geteiltes Erinnern und Verstehen aufgrund einer ähnlichen, zeitbedingten Vergangenheit.43 Darüber hinaus biete die Kategorie der Generation für das Individuum eine Chance, die eigene Existenz im Vergleich zu zeitnah Geborenen zu beobachten und sich im Zeitgeschehen zu betrachten.44 Die Zugehörigkeit zu einer Generation könne daher ein Gefühl der Gemeinschaft und Verbindlichkeit schaffen, sie bedeute die Selbstverortung des Individuums im sozialhistorischen Kontext, im Zeitfluss. Dementsprechend wurden Generationen auch als „Zeitheimat“ für den Einzelnen und für ganze Geburtskohorten bezeichnet.45 Damit biete sich mit dem Schlagwort der Generation über die Selbstverortung des Individuums hinaus nach den heute zur Gesellschaftsanalyse immer weniger brauchbaren Kollektivbegriffen wie „Klasse“ oder „Stand“ eine neue Forschungskategorie. „Generati-
41
Vgl. Mannheim, 1964, S. 559 f. Vgl. beispielhaft Zinnecker, 2003, in: Reulecke, 2003, S. 53 ff. 43 Vgl. Reulecke, Jürgen: Generationen und Biografien im 20. Jahrhundert, in: Strauß, Bernhard/Geyer, Michael (Hg.): Psychotherapie in Zeiten der Veränderung, Wiesbaden 2000, S. 26-40. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Bude, Heinz: Generation im Kontext, in: Jureit, Ulrike/Wildt, Michael (Hg.): Generationen, Hamburg 2005, S. 28-44, hier S. 28). 42
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A. Einleitung
on“ gilt in diesem Zusammenhang als eine der letzten gesellschaftlichen Kollektivkategorien.46 Doch hat das Paradigma der Generation noch eine weitere Modifikation erfahren. So bezeichnet Rainer Lepsius den Begriff, bei aller Kritik an seiner Unspezifik, doch in jenem Moment als brauchbar, in welchem er für die Analyse politischer Eliten genutzt werde.47 Da diese ihre Wertorientierung zur Grundlage ihres politischen Handelns und ihres Berufs machten, sei es durchaus sinnvoll, nach biografischen Merkmalen im Lebensverlauf zu forschen, die diese Wertorientierungen evoziert hätten. Politische Eliten könnten so als Trägergruppen für bestimmte gesellschaftliche Prägungsgruppen von Werteinstellungen stehen.48 Möglicherweise könne man innerhalb der politischen Eliten auch Netzwerke oder Seilschaften ausmachen, in denen sich spezifische Alterskohorten aufgrund ihrer soziobiografischen Erfahrungen sowie der daraus abgeleiteten Wertüberzeugungen und Handlungsschemata zusammen finden. Darüber hinaus sei es sinnvoll, nach unterdrückten, führenden und umgelenkten Teilen der Elite zu schauen, um eine Analyse der Macht zu betreiben. Diese Überlegungen werden auch an anderer Stelle untermauert und erweitert. Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Fragmentierung sei es sinnvoll, so schreibt Jürgen Zinnecker, das Makroanalyseinstrument Generation auf eine Mesoebene zu transferieren und mit der Forschung zu Milieus zu verbinden.49 Denn in Milieus sei es sehr wohl noch möglich, einzelne Generationen mit differenten sozialen Einstellungen, Erfahrungswerten und Handlungsoptionen auszumachen und mit ihnen die Regeln und Beschaffenheiten eines solchen Milieuraums zu analysieren und zu erläutern. Zudem, so wird ergänzt, führten generationelle Prägungen häufig zur Bildung von Salons, Netzwerken oder Seilschaften, in denen das Deutungsmuster Generation offensichtlich würde. Auch könnten sich generationelle Zusammenhänge durch Freundschaftsbande verstärken.50 Für diesen Band soll das Paradigma der Generation insofern angewandt werden, als dass geprüft wird, inwiefern die Mitglieder des „Netzwerks Berlin“ aufgrund ihrer generationsbedingten soziopolitischen Erfahrungen zu ähnlichen Werten, Einstellungen, Politikverständnis und politischen Handeln gefunden 46
Vgl. Bude, Heinz: Die Erinnerung der Generationen, in: Leviathan, Sonderheft 18 (1998), S. 7585. 47 Vgl. Lepsius, M. Rainer: Kritische Anmerkungen zur Generationenforschung, in: Jureit/Wildt, 2005, S. 45-52, hier S. 51 f. 48 Vgl. Lepsius, 2002, in: Greiffenhagen/Greiffenhangen, 2002, S. 165. 49 Vgl. Zinnecker, 2003, hier S. 45 bzw. 47. 50 Schulz, Andreas/Grebner, Gundula: Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts, in: Dies. (Hg.): Generationswechsel und historischer Wandel, München 2003, S. 1-23, hier S. 15 ff.
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haben. Die gemeinsame Generationszugehörigkeit, so die These weiter, kann sich jedoch nicht nur in Werturteilen und Handeln bemerkbar machen, sondern auch in einer politischen und sozialen Kultur. Da Generationen sich stets in Differenz zu anderen, voraus gegangen Altersgruppen bilden51, werden den „Netzwerkern“ als so genannte „Anti-Generation“ die 68er und – quasi als innergenerationelle Elite – die sozialdemokratischen „Enkel“ entgegen gestellt. Dies ist auch deshalb sinnvoll, als das „Netzwerk“ mehrfach explizit den Anspruch formulierte, eine Politikergeneration nach den 68ern darstellen und diese ablösen zu wollen.52 Es ist also zu erkunden, welche soziobiografischen Komponenten zur Erklärung des „Netzwerks“ als Generationenphänomen eine Rolle spielen, welche Erinnerungen und zeithistorischen Bedingungen zu generationellen Gemeinsamkeiten führten. Dabei kann die SPD als ein Milieu angesehen werden, in dem sich personelle und programmatische Veränderung und damit auch Elitenwechsel über die Ablösung von Generationen vollzieht. 1.2.2 Elitenforschung Indem sich die vorliegende Arbeit mit den sozialstrukturellen Merkmalen und Karriereverläufen der im „Netzwerk“ zusammengeschlossenen Politiker auseinander setzt, ist sie zusätzlich zur Parteien- und Generationenforschung in die Elitenforschung einzuordnen. Zwar ist eine einheitliche Definition des Begriffs „Elite“ ebenso wie der „Politischen Elite“ oder auch der „Politischen Klasse“53 sowie die Abgrenzung einer wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Elite von weiteren Gesellschaftssegmenten noch immer nicht völlig unumstritten54, doch hat die empirische Elitenforschung allen begriffsgeschichtlichen Diskussionen zum Trotz die Existenz einer in sich relativ geschlossen politischen Elite 51
Vgl. Bude, Heinz: Qualitative Generationenforschung, in: Flick, Uwe/Kardoff, Ernst von/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Sozialforschung, Reinbeck bei Hamburg 2004, S. 187-194, hier S. 190. 52 Vgl. beispielsweise Bartels, Hans-Peter: Nach den Enkeln der Generationenbruch, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 8 (1995), S. 725-726. 53 Vgl. zur Diskussion um Begriffsdefinitionen von Elite sowie die Verwendung des Terminus „Klasse“ beispielsweise Kaina, Victoria: Was sind Eliten?, in: Gabriel, Oscar W./Neuss, Beate/Rüther, Günter: Konjunktur der Köpfe? Eliten in der modernen Wissensgesellschaft, Düsseldorf 2004, S. 1624; siehe auch Krais, Beate: Begriffliche und theoretische Zugänge zu den ´oberen Rängen` der Gesellschaft, in: Hradil, Stefan/Imbusch, Peter (Hg.): Oberschichten – Eliten – Herrschende Klassen, Opladen 2003, S. 35-54. 54 Vgl. u.a. Weege, Wilhelm a: Politische Klasse, Elite, Establishment, Führungsgruppen. Ein Überblick über die politik- und sozialwissenschaftliche Diskussion, in: Leif, Thomas/Legrand, HansJosef/Klein, Ansgar (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn/Berlin 1992, S. 35-64, hier besonders S. 35; siehe ebenfalls Imbusch, Peter: Konjunkturen, Probleme und Desiderata der sozialwissenschaftlichen Elitenforschung, in: Hradil/Imbusch, 2003, S. 11-32, hier S. 15 ff.
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belegt.55 Der Begriff referiert gemeinhin auf jene Spitzenpolitiker, die aufgrund ihrer Ämter und deren Kompetenz gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen treffen.56 Parteien können in diesem Zusammenhang allgemein als Organisationen verstanden werden, die im bundesdeutschen politischen System mit genügend Macht ausgestattet sind, um die nationale Politik zu beeinflussen, so dass sie als Teil der – politischen – Elite zu bezeichnen sind.57 In diesem Sinne sind auch Abgeordnete des Bundestags ebenso wie Landesvorsitzende von Parteien, aus denen sich die Mitglieder des „Netzwerks“ rekrutieren, ohne Zweifel zur politischen Elite der Bundesrepublik zu zählen. Hauptamtliche Funktionäre in Parteien und Verbänden, Abgeordnete in Bund und Land sowie die Minister beziehungsweise die führende Ministerialverwaltung jener Ebenen betreiben „Politik als Beruf“ im Sinne Max Webers58 und werden daher zur politischen Elite der Bundesrepublik gerechnet.59 Aus diesem Grund können die von Abgeordneten ausgewiesenen Karrierewege, Verhaltensdispositionen und Eigenschaften als jene betrachtet werden, die Erfolg versprechend im Sinne politischer Einflusserlangung sind.60 So gehört die Analyse der sozialstrukturellen Zusammensetzung politischen Führungspersonals nicht nur zu den gängigsten Verfahren der Elitenforschung61, die beruflichen und innerparteilichen Karriereverläufe der „Netzwerker“ dienen zudem – neben den politischen Inhalten und der Organisationsform – als entscheidendes, potenzielles Differenzkriterium zur innerparteilichen Generation der 68er beziehungsweise „Enkel“. Zum anderen bedeutet die Analyse des „Netzwerks“ hinsichtlich seiner personell-sozialen Zusammensetzung, seiner inhaltlichen Ausrichtung und seiner 55
Vgl. Meyer, Thomas: SPD, politische Klasse und politische Kultur. Anmerkungen zu einer spannungsreichen Beziehung, in: Leif/Legrand/Klein, 1992, S. 172-190, hier S. 174 f. sowie S. 178. 56 Vgl. Hoffmann-Lange, Ursula/ Bürklin, Wilhelm: Generationswandel in der (west)deutschen Elite, in: Glatzner, Wolfgang/Ostner, Ilona (Hg.): Deutschland im Wandel. Sozialstrukturelle Analysen, Opladen 1999, S. 163-177, hier S. 163 f. 57 Vgl. Rebenstorf, Hilke: Parteieliten – zwischen Organisationsinteressen, öffentlichem Auftrag und persönlichen Ambitionen, in: Schmid, Josef/Zolleis, Udo (Hg.): Zwischen Anarchie und Strategie. Der Erfolg von Parteiorganisationen, Wiesbaden 2005, S. 114-129, hier S. 118. 58 Vgl. Weber, Max: Politik als Beruf, München/Leipzig 1926, S. 10. 59 Vgl. Borchert, Jens: Politik als Beruf: Die politische Klasse in westlichen Demokratien, in: Borchert, Jens/Golsch, Lutz (Hg.): Politik als Beruf. Die politische Klasse in westlichen Demokratien, Opladen 1999, S. 7-39; siehe auch: Borchert, Jens/Golsch, Lutz: Deutschland: Von der Honoratiorenzunft zur politischen Klasse, in: Borchert, Jens (Hg.): Politik als Beruf, Opladen 1999, S. 114-140. 60 Vgl. hierzu Weege, Wilhelm: Karrieren, Verhaltensmerkmale und Handlungsorientierungen von Bundestagsabgeordneten. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Berlin 2003, hier S. 4. 61 Vgl. beispielsweise Herzog, Dietrich: Die Führungsgremien der Parteien: Funktionswandel und Strukturentwicklungen, in: Gabriel, Oscar W./Niedermayer, Oskar (Hg.): Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 1997, S. 301-322, hier S. 318 f.
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organisatorischen Beschaffenheit als Fallbeispiel einen Beitrag zur Elitenforschung im Rahmen von Parteianalysen.62 Dabei kommt der Aufgabe der Elitenrekrutierung, welche Parteien gemeinhin zugeschrieben wird, eine herausgehobene Stellung zu. Am Beispiel des „Netzwerks“ kann beobachtet und diskutiert werden, wie die SPD parteieigenen Nachwuchs rekrutierte, ob und wie sie ihn förderte, welche Karrierepfade sich den jungen Politikern boten.63 Darüber hinaus bietet die Elitenforschung mit dem Teilbereich der politischen Führungsforschung einen weiteren Ansatzpunkt für die Untersuchung des „Netzwerks Berlin“.64 Forschung zur politischen Führung beschäftigt sich aus der Sichtweise des interaktionistischen Ansatzes mit dem Führungsdreieck aus Personen, Institution sowie ökonomischen, sozialen und politischen Umweltbedingungen.65 Im Vordergrund steht die Frage, wie und warum politische Entscheidungen getroffen werden. Bezogen auf das „Netzwerk Berlin“ interessiert daher, welche Führungsfähigkeiten die Gruppierung an sich und einzelne Mitglieder besitzen, wie sie sie erworben haben, und wie sie sie umsetzen können. Die Frage nach den Führungsfähigkeiten und dem Führungsstil der „Netzwerker“ ist damit auch eine nach der Qualität und Beschaffenheit der parteiinternen Elite.66 Zudem spielt auch die generationelle Beeinflussung der untersuchten Personen eine Rolle, da verschiedene Führungsstile durchaus aus generationeller Zugehörigkeit resultieren können, sich generationelle Differenz über differente Führungsstile als Element der politischen Kultur markieren kann.67 Konkret wurden im vorliegenden Band zur Analyse des „Netzwerks“ mehrere Merkmale der Elitenforschung herangezogen: So spielen neben den bereits mehrfach erwähnten Geburtskohorten und den darüber vermittelten unterschied62 Vgl. zur Kritik, die Parteienforschung habe die Analyse von Rekrutierungsmechanismen sowie Herkunft politischer Eliten vernachlässigt, Römmele, Andrea: Elitenrekrutierung und die Qualität politischer Führung, in: Zeitschrift für Politik 3 (2004), S. 259-276, besonders S. 259 ff. 63 Vgl. Wiesendahl, Elmar: Elitenrekrutierung in der Parteiendemokratie. Wer sind die besten und setzen sie sich in den Parteien durch?, in: Gabriel/Neuss/Rüther, 2004, S. 124-141, hier besonders S. 126 bzw. S. 134 ff. 64 Vgl. als beispielhafte Analyse von Parteiführung Walter, Franz: Führung in der Politik. Am Beispiel sozialdemokratischer Parteivorsitzender, in: Zeitschrift für Politik 4 (1997), S. 1287-1336. 65 Vgl. Helms, Ludger: „Politische Führung“ als politikwissenschaftliches Problem, in: Politische Vierteljahresschrift 41 (2000), S. 411-434. 66 Vgl. zum Stichwort „Führungsstil“ Murswieck, Axel: Führungsstile in der Politik, in: Hartwich, Hans-Hermann/Wewer, Göttrik (Hg.): Regieren in der Bundesrepublik 2: Formale und informale Komponenten des Regierens, Opladen 1990, S. 81-95. 67 Vgl. beispielsweise Etzersdorfer, Irene: „Persönlichkeit“ und „Politik“: Zur Interaktion politischer und seelischer Faktoren in der internationalen „Political Leadership“-Forschung, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 26 (1997) 4, S. 377-392; siehe auch Schwarz, Hans-Peter: Die Bedeutung der Persönlichkeit in der Entwicklung der Bundesrepublik, in: Hrbek, Rudolf (Hg.): Personen und Institutionen in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Straßburg 1985, S. 7-21.
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lichen Sozialisationserfahrungen das Geschlecht, die Bildungsabschlüsse beziehungsweise Ausbildungsverläufe, die außerpolitischen Berufskarrieren sowie die regionale Herkunft eine Rolle.68 Darüber hinaus wird nach gesellschaftlichen Bindungen von „Netzwerkern“ gefragt und nach den Motivationen geforscht, die „Netzwerker“ überhaupt in die Politik allgemein und in die SPD im Speziellen führten. Schlussendlich wurde selbstverständlich auch versucht, Erkenntnisse über die politischen Karriereverläufe der hier untersuchten Politiker zu gewinnen. Dabei können nach Herzog drei Karrieremodelle unterschieden werden. Während bei der cross-over-Karriere ein nahtloser Übergang aus einem außerpolitischen Beruf in eine höhere politische Position gelingt, geht bei der so genannten Standardkarriere dem Leben von der Politik die außerpolitische berufliche Etablierung mit paralleler – ehrenamtlicher – politischer Tätigkeit voraus. Die herzogsche Standardkarriere ist somit am ehesten mit der landläufigen „Ochsentour“ gleichzusetzen. Schließlich beobachtet Herzog die Zunahme reiner Berufspolitiker, die unmittelbar an die Ausbildung – zumeist ein Studium – in die Politik wechselten, somit keine berufliche und wirtschaftliche Alternative zur Politik besäßen. Ob „Netzwerker“ als Symbol der generationellen Veränderung der Sozialdemokratie diesem Modell des Berufspolitikers im Vergleich zur Vorgängergeneration der 68er näher gekommen sind, ist ein zusätzlicher Blickwinkel dieser Arbeit. Insgesamt werden die hier vorgestellten Fragen in das Paradigma der generationell bedingten Elitenzirkulation eingeordnet und somit geprüft, inwiefern sich sozialstrukturelle Merkmale, Sozialisationserfahrungen und Karriereverläufe der „Netzwerker“ von denen der Vorgängergeneration unterscheiden. Und welche Implikationen hat dies für Führungsstil und politische Kultur, für Wertüberzeugen und politische Inhalte des „Netzwerks“ als politische Teilelite? 1.2.3 Faktionalismusforschung Da das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“ eine innerparteiliche Gruppierung der SPD darstellt, liegt als Analyserahmen auch die Faktionalismusforschung nahe.69 Dennoch sollen dieser Forschungsbereich und seine Analyse68
Vgl. zur Unterscheidung verschiedener Sozialisationsagenten Rebenstorf, Hilke: Politische Herkunft und politische Karriere, in: Klingemann, Hans-Dieter/Stöss, Richard/Wessels, Bernhard (Hg.): Politische Klasse und Politische Institutionen. Probleme und Perspektiven der Elitenforschung, Opladen 1991, S. 217-234, besonders S. 220 ff. 69 Vgl. Müller-Rommel, Ferdinand: Innerparteiliche Gruppierungen in der SPD: Eine empirische Studie über informell-organisierte Gruppierungen von 1969-1980, Opladen 1982; siehe auch Raschke, Joachim: Organisierter Konflikt in westeuropäischen Parteien. Eine vergleichende Analyse partei-
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kriterien lediglich – häufig unterschwellig – als Instrument dienen, um das Phänomen „Netzwerk“ zu fassen, seinen Grad der Organisiertheit zu beschreiben und zu relativieren. Darüber hinaus bietet umgekehrt das „Netzwerk“ ein Fallbeispiel für Anlass und Konsequenz des Entstehens innerparteilicher Gruppierungen. Ausdrücklich ist dies aber nicht die leitende Untersuchungsfrage, sondern lediglich ein Hilfsmittel. Faktionalismus und Auseinandersetzungen zwischen diversen Gruppierungen als Vertreter je eigener Interessen sind in der SPD selbstverständlich kein Novum, denn innerhalb von Parteien als Vertretungen und als Sammelsurium unterschiedlichster Interessen bilden sich fast natürlicherweise Untergruppierungen als Arbeits- und Organisationseinheiten, in denen durch inhaltlich definierte Kommissionen, policy-orientierte Ausschüsse und Unterorganisationen für bestimmte Zielgruppen wie Frauen, Jugend oder Arbeitnehmer Interessenakkumulation und -ausgleich organisiert wird.70 In der deutschen Sozialdemokratie fanden beginnend mit der bekannten Auseinandersetzung um die Revisionimusthesen Bernsteins, über die Gruppe der „Kanalarbeiter“, den „Seeheimer Kreis“ bis hin zur „Demokratischen Linken 21“ um Andrea Nahles zwischen innerparteilichen Gruppierungen stets inhaltliche Auseinandersetzungen und Machtkämpfe statt.71 Insofern bewegt sich das „Netzwerk“ in einem langen Traditionsraum, von dem es geprägt ist und von dem es sich zugleich abgrenzen möchte, indem es sich als ideologische Spaltungen innerhalb der Partei überwindenden „offenen Diskussionszusammenhang“ begreift. Daher ist auch weniger die Tatsache, dass sich das „Netzwerk“ 1999 gründete von Interesse, als vielmehr, warum es entstand. Neben dieser Frage kann auch der Einfluss von Faktionen auf den innerparteilichen Diskussionsprozess und die inhaltlich-programmatische Veränderung und Weiterentwicklung der Partei betrachtet werden. Zudem kann die Rolle von Faktionen als Seilschaften für die Karrierewege von Politikern und somit für die Elitenzirkulation in Parteien eingeordnet werden. Darüber hinaus wäre speziell für das „Netzwerk“ zu eruieren, wieso es sich ausgerechnet auf (bundes)parlamentarischer Ebene grün-
interner Oppositionsgruppen, Opladen 1977; als aktuellere, international vergleichend angelegte Publikation siehe Köllner/Basedau, 2006. 70 Vgl. beispielsweise die Ausführungen zur Zielgruppenarbeit der SPD in Lösche/Walter, 1992, S. 238-298. 71 Vgl. Müller-Rommel, 1982, S. 47 ff.; siehe als Beispielanalyse einer innerparteilichen Gruppierung auch Fröbe, Sönke: Der Einfluss des Seeheimer Kreises auf die Bundespolitik der SPD, Kiel 1996; siehe auch Gebauer, Annekathrin: Der Richtungsstreit in der SPD. Seeheimer Kreis und Neue Linke im innerparteilichen Machtkampf, Wiesbaden 2005.
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dete, und wo die Schwachstellen eines von parlamentarischer Ebene ausgehenden Veränderungsversuchs der Partei liegen könnten.73 1.2.4 Parteienforschung Es scheint nachgerade redundant, die Parteienforschung und im Speziellen die Forschung zur bundesrepublikanischen Sozialdemokratie als Forschungskontext des vorliegenden Bandes zu nennen, ist doch das Fallbeispiel „Netzwerk“ Teil der SPD. An dieser Stelle seien nur einige wenige Gesichtspunkte besonders hervor gehoben. So sei zunächst darauf verwiesen, dass die Erforschung der Elitenzirkulation mittels innerparteilicher Gruppierungen bislang nicht sehr intensiv bearbeitet wurde. Namentlich mit Bezug auf die SPD existieren zwar mehrere Abhandlungen beispielsweise der innerverbandlichen Auseinandersetzungen verschiedenster Faktionen innerhalb der Jungsozialisten, doch beziehen diese sich überwiegend auf den Zeitraum bis Mitte der 1980er-Jahre.74 Zudem liegen nur sehr wenige Darstellungen vor, welche die inhaltlich-programmatische und personelle Entwicklung der SPD mit der Existenz ihrer verschiedenen Flügel – geschweige denn in generationeller Perspektive – in Beziehung setzen.75 Hier soll daher versucht werden, einen Beitrag zu leisten. Darüber hinaus wurden hinsichtlich der Forschung zur Sozialdemokratie grob umrissen vier Schwerpunkte gesetzt, die für die Analyse des „Netzwerks“ von besonderer Relevanz waren. Zunächst wurde Literatur zur Entwicklung und innerverbandlichen Situation der Jungsozialisten in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren herangezogen. Dieses Material konnte Aufschluss über jene Bedingungen geben, unter denen „Netzwerker“ innerhalb der Jungsozialisten sozialisiert wurden, über Konfliktlagen und Debatten, die sie potenziell beeinflussten. Darüber hinaus aber wurden auch Publikationen zur Entwicklung der Jungsozialisten seit den ausgehenden 1960er-Jahren berücksichtigt, da sich auf diese Weise ermitteln ließ, in welchem innerverbandlichen Sozialisationskontext die Gene73
Vgl. in diesem Zusammenhang zur These von Kartellparteien und dem wachsenden Einflusspotential von Fraktionen Katz, Richard/Mair, Peter: Changing Models of Party Organization and Party Democracy: The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics 1 (1995), S. 5-28; siehe auch Detterbeck, Klaus: Der Wandel politischer Parteien in Westeuropa, Opladen 2002, S. 18 ff. 74 Vgl. Krabbe, Wolfgang: Parteijugend in Deutschland. Junge Union, Jungsozialisten und Jungdemokraten 1945-1980, Wiesbaden 2002; ebenfalls Butterwegge, Christoph: Jungsozialisten und SPD. Die Widerspiegelung sozioökonomischer Entwicklungstendenzen im Verhältnis des sozialdemokratischen Jugendverbandes zu seiner „Mutterpartei“, Hamburg 1975; siehe auch Schonauer, Karlheinz: Die ungeliebten Kinder der Mutter SPD: Die Geschichte der Jusos von der braven Parteijugend zur innerparteilichen Opposition, Bonn 1982. 75 Vgl. beispielhaft als neuere Publikation Gebauer, Annekatrin: Der Richtungsstreit in der SPD. Seeheimer Kreis und Neue Linke im innerparteilichen Machtkampf, Wiesbaden 2005.
2. Aufbau und Zeitrahmen der Untersuchung
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ration der sozialdemokratischen 68er aufwuchs, von denen „Netzwerker“ sich absetzen wollten. Auf dieser Grundlage konnte versucht werden, Rückschlüsse auf die potenzielle generationelle Differenz der Kohortengruppen zu ziehen. Hinsichtlich der SPD selbst waren wiederum zwei Zeiträume von speziellem Interesse, die sich chronologisch zwar aneinander anschlossen, analytisch aber sinnvollerweise zu trennen sind. Zunächst galt es, die Entwicklung der Partei in den 1980er-Jahren bis zum Beginn der rot-grünen Bundesregierung 1998 einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Denn die in diesem Zeitraum geführten programmatischen Diskussionen, personellen Veränderungen oder Führungsfragen waren es, die „Netzwerker“ als Jugendliche oder junge Erwachsene erlebten und die sie unter Umständen in Hinblick auf ihr eigenes, späteres Berufspolitikerleben beeinflussten. Daneben aber war der Zeitraum der rot-grünen Bundesregierung selbst von herausgehobener Bedeutung. Denn zum einen vollzog sich in diesem Zeitraum die Gründung des „Netzwerks“, die Bundestagsfraktion war zumindest in der Anfangszeit sein vornehmlicher Wirkungsort. So bildeten die rot-grüne Regierungspolitik und das Regierungspersonal die hauptsächlichen Kritikpunkte, an denen sich die Gruppierung abarbeitete. Zum anderen hatten „Netzwerker“ und im engeren Sinne die Bundestagsabgeordneten der Gruppierung nun selbst einen Teil der Regierungspolitik zu verantworten. 2
Aufbau und Zeitrahmen der Untersuchung
Der Untersuchungszeitraum dieser Studie erstreckt sich von September 1998 bis Ende Dezember 2005 und begründet sich wie folgt: Am 27. September 1998 wurde die schwarz-gelbe Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl abgewählt und eine Koalition aus SPD und Bündnis90/Die Grünen übernahm unter der Führung von Bundeskanzler Gerhard Schröder die Regierungsverantwortung. Mit dem Wahlsieg der beiden Parteien erhielten auch viele jüngere SPDPolitiker ein Bundestagsmandat, von denen sich viele als Neu-Parlamentarier später im „Netzwerk Berlin“ zusammenfanden. So gaben die Bundestagswahl 1998 und die mit ihr einhergehenden Veränderungen auf parlamentarischer und Regierungsebene den Anstoß zur Gründung der Gruppierung 1999.76 Daher wurde das Datum der Bundestagswahl 1998 als Beginn des Untersuchungszeitraums gewählt, der sich damit sowohl durch den Gründungszeitpunkt des „Netzwerks“ und dessen Vorgeschichte als auch durch die innerparteilichen Veränderungen im Zuge des Regierungswechsels erklärt. Auf ähnliche Weise lässt sich auch das Ende des Untersuchungszeitraums im Dezember 2005 abgrenzen, obwohl das „Netzwerk“ seitdem weiterhin be76
Vgl. beispielsweise Interview Bartels, S. 8 f.; siehe auch Interview Heil, S. 16 f.
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steht.77 Zum einen existierte die Gruppierung im Jahr 2005 zwei Legislaturperioden lang und hatte sich sowohl quantitativ als auch qualitativ derart verändert, dass bereits hinreichende Rückschlüsse auf Funktionsweise und Beschaffenheit der Gruppierung sowie der Akteure gezogen werden konnten. Hiermit begründet sich der Untersuchungszeitraum also aus der Binnenperspektive des „Netzwerks“. Zum anderen jedoch wird der Untersuchungszeitraum mit der vorgezogenen Bundestagswahl am 18. September 2005 durch ein äußeres Ereignis begrenzt. Diese Wahl führte nicht nur zum Ende der rot-grünen Bundesregierung und zur Bildung einer großen Koalition aus CDU, CSU und SPD, sondern sie markierte auch, einen Meilenstein im Generationswechsel der deutschen Sozialdemokratie. Im Herbst 2005 vollzog sich zum Teil jener Generationswechsel, für den das „Netzwerk“ einst angetreten war. Damit begründet sich das Ende des Untersuchungszeitraums auch durch die Auswirkungen der Bundestagswahl auf die innerparteiliche Eliten- und Generationszirkulation, die am Beispiel des „Netzwerks“ untersucht werden wird. Die Arbeit gliedert sich entsprechend der Fragestellung in einen theoretischen und einen empirisch-analytischen Untersuchungsteil. So werden zunächst der Begriff der – politischen – Generation und seine Implikationen diskutiert. Dabei finden Bedeutung und Tragfähigkeit des Konzepts zur Analyse von Parteien und deren programmatischer sowie personeller Entwicklung besondere Beachtung. Des Weiteren werden die für diese Arbeit relevanten politischen Generationen näher beschrieben und die Fragestellung entsprechend operationalisiert: Wer sind oder waren die 68er und welche Rolle spielten sie in der SPD? Wer, welches Handeln, welcher Politikstil sind gemeint, wenn die „Netzwerker“ von den 68ern sprechen? Welchem Generationenzusammenhang könnten die „Netzwerker“ zugerechnet werden und welche Annahmen über ihr politisches Handeln und Denken könnten sich aus ihrer Sozialisation ableiten lassen? An diese grundlegenden Überlegungen schließt sich die eigentliche, empirisch-analytische Fallstudie an, die sich in drei größere Kapitel gliedert. Dabei werden in einem ersten Abschnitt, Kapitel 6, die organisatorischen Strukturen des „Netzwerks“ untersucht, die auch die Genese und Entwicklung der Gruppierung umfassen. Neben der formal-organisatorischen Beschaffenheit des „Netzwerks“ wird an dieser Stelle aber auch auf klassische Fragen des Machterwerbs und der innerparteilichen Auseinandersetzung eingegangen werden. Daran anschließend gilt es zu analysieren, auf welche Weise und mit welchen Mitteln „Netzwerker“ die inhaltliche und machtstrategische Konfrontation mit konkurrierenden Gruppierungen führten und wie sie in diesen Auseinandersetzungen abschnitten. 77
Vgl. die Homepage der Gruppierung unter http://www.netzwerkberlin.de.
2. Aufbau und Zeitrahmen der Untersuchung
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Im zweiten Abschnitt des Hauptteils – Kapitel 7 – setzt sich die Arbeit mit den Akteuren des „Netzwerks“ selbst, den handelnden Personen auseinander. Politische und außerpolitische Berufswege, politische Sozialisationserfahrungen, Bildungskarrieren sowie Anzeichen der gesellschaftlichen Vernetzung werden in diesem Abschnitt analysiert, da sie zur Ausformung eines bestimmten Führungsstils und damit einem generationellen Differenzkriterium führen können sowie ein grundlegendes Element sowohl in der Eliten- als auch in der Generationenforschung darstellen.78 Aus diesem Grund sollen in diesem Kapitel individuellbiografische Untersuchungen in Form von Porträts mit einer empirischen Gruppenanalyse des „Netzwerks“ als kollektivem Akteur verbunden werden.79 Die porträtierten Personen wurden ausgewählt, da angenommen wird, dass sie für Entwicklung und Gestaltung der Gruppierung eine herausstechende Rolle spielen oder aber unter den Nachwuchspolitikern der Partei eine größere Bedeutung erlangt haben beziehungsweise erlangen könnten. Ihre politischen Biografien und Sozialisationserfahrungen, ihre Überzeugungen sowie ihr politisches Handeln können somit nicht nur als exemplarisch für „Netzwerker“ und deren politisches Profil angesehen werden. Sondern darüber hinaus ist davon auszugehen, dass jene führenden „Netzwerker“ aufgrund ihrer exponierten Stellung die Gruppierung in besonderer Weise formten und beeinflussten, so dass aus den biografischen Einzelanalysen wertvolle Rückschlüsse auf die – generationelle – Beschaffenheit im Ganzen gezogen werden können und der prominente Platz der Porträts gerechtfertigt erscheint. Im Einzelnen handelt es sich um den Sprecherkreis des „Netzwerks“ der Jahre 2002 bis 2005, bestehend aus Hans-Peter Bartels, Siegmund Ehrmann, Kerstin Griese, Nina Hauer, Hubertus Heil, Christian Lange und Carola Reimann. Hinzu kommen aus den Reihen der Landespolitiker Christoph Matschie und Ute Vogt.81 Im dritten Abschnitt des Hauptteils schließlich, Kapitel 8, werden die vom „Netzwerk“ vertretenen Inhalte und Themen analysiert. Dabei geht es neben der bloßen Deskription um die Frage, wie sich die Gruppe innerhalb der SPD positionierte und an welcher Stelle Überschneidungen oder Konflikte mit anderen Gruppierungen existierten. Dabei können diese Konflikte unter anderem sowohl entlang des Rechts-Links-Schemas verlaufen – welches das „Netzwerk“ ja ausdrücklich verlassen wollte – als auch entlang der Trennlinie der Generationen. Darüber hinaus werden in diesem Teil der Arbeit inhaltlich-thematische Leerstel78
Vgl. beispielhaft Rebenstorf, 1991, in: Klingemann/Stöss/Wessels, 1991, S. 217 bzw. S. 222. Vgl. zur Biografieforschung als Methode der Politikwissenschaft beispielsweise Dausien, Bettina: Biografieforschung, in: Behnke, Joachim/Gschwend, Thomas/Schindler, Delia/Schnapp, Kai-Uwe: Methoden der Politikwissenschaft. Neuere qualitative und quantitative Analyseverfahren, BadenBaden 2006, S. 59-68, besonders S. 59. 81 Die Nennungen erfolgen in alphabetischer Reihenfolge. 79
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A. Einleitung
len des „Netzwerks“ aufgespürt werden müssen. In einer abschließenden Konklusion werden die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungsteile zusammen geführt und offen gebliebene Fragen diskutiert. 3
Quellenlage
Entsprechend der Fragestellung und der vorhandenen Materiallage stützt sich die Arbeit auf die nachfolgend diskutierten Quellen. So sind zunächst über das „Netzwerk“ im Laufe der Jahre eine Reihe von Presseartikeln erschienen, die zur Analyse der Gruppierung und zu deren chronologischer Beschreibung heran gezogen wurden. Ebenso wird die Berichterstattung über einzelne Akteure des „Netzwerks“ genutzt. Teilweise konnte zur Ergänzung neben der überregionalen Presse auch auf Informationen aus dem jeweiligen Wahlkreis und der Homepage der oder des Abgeordneten zurückgegriffen werden. Darüber hinaus wurde die Berichterstattung zur SPD während des Untersuchungszeitraums allgemein beobachtet und zur Analyse heran gezogen. Dabei wurden die Presseartikel sowohl über Recherchen im Pressearchiv des Willy-Brandt-Hauses, über die in der Geschäftsstelle des „Netzwerks“ erstellten regelmäßigen Pressespiegel, über die in Bibliotheken zugänglichen Printausgaben der Zeitungen als auch über das Internet erschlossen. Das „Netzwerk“ selbst hat eine Reihe von Materialien erschaffen, die selbstverständlich berücksichtigt wurden. Dabei handelt es sich zunächst um offizielle Stellungnahmen und Pressemitteilungen der Gruppierung zu politischen Debatten oder Ereignissen, die über den Mailverteiler und die Homepage der Gruppe zugänglich sind. Zusätzlich zu den kollektiv verfassten und verantworteten Dokumenten wurden Texte einzelner „Netzwerk“-Akteure heran gezogen, die zu den unterschiedlichsten Themen erschienen. Das „Netzwerk“ gibt unter dem Namen „Berliner Republik“ eine eigene Zeitschrift heraus, in der immer wieder thematische Diskussionen geführt werden. Diese Zeitschrift wird nicht nur von den Mitgliedern des „Netzwerks“ selbst, sondern auch von interessierten Wissenschaftlern, Journalisten, Politikern etcetera genutzt. Die während des Untersuchungszeitraums erschienen Ausgaben der „Berliner Republik“ wurden zur Analyse der Gruppierung verwendet. Zwar handelt es sich bei den in der Zeitschrift veröffentlichten Artikeln nicht immer direkt um Material des „Netzwerks“ beziehungsweise einzelner „Netzwerker“. Jedoch kann plausibel angenommen werden, dass die in der „Berliner Republik“ geführten Diskussionen, die besprochenen Themengebiete auch jene sind, die das „Netzwerk“ beschäftigen – unabhängig davon, ob hier tatsächlich stets exakt jene Antworten gegeben werden, welche die Gesamtmeinung der Gruppierung widerspiegeln.
4. Methodisches Vorgehen
29
Über die Akteure des Netzwerks stehen zum Teil Materialsammlungen beziehungsweise Personalakten im Pressearchiv des Willy-Brandt-Hauses zur Verfügung, die eingesehen und ausgewertet wurden. Aufgrund der geltenden Verschlussfristen war es leider nicht möglich, Sitzungsprotokolle des Parteioder Fraktionsvorstandes oder der Fraktionssitzungen des Bundestages zu berücksichtigen. Dagegen konnte die Verfasserin einen Großteil der im geschäftsführenden Büro des „Netzwerks“ zur Verfügung stehenden Materialien einsehen. Dabei handelt es sich in der Hauptsache um Unterlagen, die die Entwicklung des „Netzwerks“ und seine Tätigkeiten dokumentieren und somit einige wichtige interne Einblicke gewähren. Da kaum wissenschaftliche Literatur zum „Netzwerk“ existiert, und das gesichtete Presse- und Aktenmaterial jeweils nur eine Außensicht und -deutung der Gruppierung wiedergibt, wurde die Methode des qualitativen, leitfadengestützten Interviews herangezogen, um weitergehende Informationen über das „Netzwerk“, seine Beschaffenheit, Mitglieder und Aktivitäten zu erhalten. Insgesamt wurden 31 Interviews geführt. Um einen Einblick in die Aktivitäten des „Netzwerks“ selbst zu gewinnen, wurden von der Verfasserin mehrere Veranstaltungen besucht, darunter diverse „Netzwerk-Abende“, die jährlichen „Netzwerk“Kongresse und Innovationsdialoge. Zu diesen Veranstaltungen wurden Skripte angefertigt – wie im Literaturnachweis angegeben –, die für diese Arbeit herangezogen wurden. 4
Methodisches Vorgehen
Qualitative Interviews und deren Auswertung Obwohl an alle während des Untersuchungszeitraums im „Netzwerk“ vereinten Politiker Interviewanfragen gestellt wurden, konnte leider – aus den unterschiedlichsten Gründen – nicht mit allen ein Gespräch geführt werden. Zu einem Interview fanden sich aber bereit (in alphabetischer Reihenfolge): Bartels, Hans-Peter; Bätzing, Sabine; Bodewig, Kurt; Dobrinsky-Weiß, Elvira; Dörmann, Martin83; Ehrmann, Siegmund; Frechen, Gabriele; Griese, Kerstin; Hartmann, Michael; Hauer, Nina; Heil, Hubertus; Klug, Astrid; Kressl, Nicolette; Matschie, Christoph; Mogg, Ursula; Raabe, Sascha; Reimann, Carola; Roth, Michael; Schaaf, Anton; Schmidt, Silvia; Schneider, Carsten; Schönfeld, Carsten; Schulz, Sven; Stöckel, Rolf; Vogt, Ute; Weigel, Andreas; Wend, Rainer. Die Interviews wurden zwischen November 2004 und Juli 2005 als face-to-faceInterviews durchgeführt. Hinzu kamen mehrere Gespräche mit dem Geschäfts83
Das Interview mit Martin Dörmann konnte leider aufgrund des fehlenden Einverständnisses Dörmanns nicht aufgezeichnet werden.
30
A. Einleitung
führer des „Netzwerks“, Jürgen Neumeyer, und mit Carsten Stender, zum Zeitpunkt des Interviews Justiziar beim Bundesparteivorstand. Die Interviews folgten dabei aus mehreren Gründen einem teilstandardisierten, leitfadenorientierten Fragebogen:84 Eine gewisse Standardisierung der Fragen schien geboten, um – insbesondere hinsichtlich der Entstehung, Organisation und Überzeugungen des „Netzwerks“ – eine Vergleichbarkeit zwischen den Aussagen der einzelnen Befragten zu gewährleisten und so zu einem schlüssigen Gesamtbild zu gelangen. Demgegenüber erwies es sich hinsichtlich der soziobiografischen Prägungen der zu befragenden Personen als sinnvoll, die Interviews offen zu gestalten, um adäquater auf die individuellen Lebensläufe eingehen zu können. Darüber hinaus erlaubt eine offenere Gesprächsführung gerade im biografischen Bereich eine bessere Porträtierung des Interviewten, da sich mehr Gelegenheit zu individuellen, dem jeweiligen Kenntnis- und Expertenstand des Interviewten angepasste Nachfragen bietet.85 Die Konzeptualisierung der Interviews konzentrierte sich hauptsächlich auf die folgenden Themenbereiche: 1. Familiäre Herkunft und Biografie, beruflich-politischer Werdegang und politische Sozialisation des Befragten 2. Generationelle Erlebnisse und Prägungen des Befragten 3. Entstehung des „Netzwerks“ 4. Organisation des „Netzwerks“ 5. Mitgliedschaft und Engagement des Befragten im „Netzwerk“ 6. Differenzbildung des „Netzwerks“ zu anderen SPD-internen Gruppierungen und Generationen 7. Inhaltliche – persönliche und gruppeninterne – Ziele 8. Politischer Stil des „Netzwerks“ 9. Potenzielle Stärken und Schwächen des „Netzwerks“ Die transkribierten Interviews wurden auf verschiedene Schlüsselkomplexe hin ausgewertet. Zum einen wurden Informationen, Beschreibungen und Deutungen hinsichtlich des biografischen Werdegangs gesammelt. Daran anschließend wurden die Interviews hinsichtlich des beruflichen und politischen Karriereverlaufs ausgewertet. Die in diesen beiden Bereichen gewonnenen Ergebnisse flossen vorwiegend in die Anfertigung der biografischen Porträts ein. Als übergeordnete Auswertungskategorien dienten die Bereiche Entstehung und Organisation des „Netzwerks“, politischer Stil beziehungsweise politische Kultur der Gruppie84 Vgl. zu den unterschiedlichen Formen standardisierter und nicht-standardisierter Interviews Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung, Bd. 2: Methoden und Techniken, München 1989, S. 36 ff. 85 Vgl. Schnell, Rainer/Hill, Paul B./Esser, Elke: Methoden der empirischen Sozialforschung, München 2005, S. 387 f.
4. Methodisches Vorgehen
31
rung, Differenzbildung zu anderen parteiinternen Gruppierungen, generationelle Muster sowie inhaltliche Ziele und Überzeugungen. Teilnehmende Beobachtung Während des Untersuchungszeitraums wurden diverse Veranstaltungen des „Netzwerks“ besucht. Dabei handelt es sich um donnerstags in den Sitzungswochen statt findende „Netzwerk“-Abende, um themenzentrierte Innovationsdialoge, Jahrestagungen, aber auch so genannte „Wahlkreis“-Abende oder „Netzwerk“-Informationsveranstaltungen. Das Hauptanliegen bestand bei dem Besuch dieser Veranstaltungen darin, einen konkreten Einblick in die Diskussions- und Verhaltensmuster der „Netzwerker“ zu erhalten. Zu den Veranstaltungen wurden stichwortartige Gedächtnisprotokolle angefertigt, um besonders bei den Einzelporträts aber auch zur Beschreibung der Organisationswirklichkeit des „Netzwerks“ auf die gewonnenen Eindrücke zurückgreifen zu können.87
87 Vgl. zur teilnehmenden Beobachtung als Element qualitativer Sozialforschung Lamnek, 1989, S. 245 ff.
32
B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
5
Das „Netzwerk“ und die 68er
Um der leitenden Fragestellung, inwieweit es sich bei den im „Netzwerk“ zusammengeschlossenen Politikern tatsächlich um Vertreter einer politischen Generation handelt, ist zum einen nach den spezifischen Sozialisationsbedingungen der in Frage kommenden Kohortengruppen zu fragen.88 Dabei handelt es sich bei den „Netzwerkern“ potenziell um zwei verschiedene Sozialisationskontexte: Zunächst sind die gesellschaftlich-historischen Bedingungen des Aufwachsens während der Jugendzeit der „Netzwerker“ zu betrachten. Darüber hinaus muss der Blick jedoch auf die spezifischen innerparteilichen Prägungsvoraussetzungen gerichtet werden, die während des beginnenden politischen Engagements der „Netzwerker“ innerhalb der deutschen Sozialdemokratie und bei der Arbeitsgruppe der Jungsozialisten vorherrschten. Zum anderen soll in den nachfolgenden Überlegungen die Vorgängergeneration der „Netzwerker“ genauer in den Blick genommen werden. Vorausgehende Generationen spielen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung neuer, jüngerer Generationen für deren Identitätsbildung – als Abgrenzung und Protest gegenüber früheren Werteinstellungen, Verhaltensweisen und Handlungsschemata.89 Um also der Frage nachzugehen, inwieweit das „Netzwerk“ seinem selbst gesetzten Anspruch einer separaten politischen Generation gerecht wird, ist die Untersuchung der vorausgehenden Generation der 68er unerlässlich. Denn deren Überzeugungen, ihr Diskussionsverhalten und politisches Handeln bieten offenbar die potenzielle antithetische Folie des „Netzwerks“. Allerdings muss auch in diesem Zusammenhang abermals unterschieden werden zwischen einem parteiinternen und einem parteiexternen Kontext: Wer ist überhaupt mit den 68ern in der SPD gemeint? Und wie verhält es sich außerhalb der Partei?
88
Vgl. zum Begriff der Prägung Jäger, Hans: Generationen in der Geschichte. Überlegungen zu einem umstrittenen Konzept, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 429-452, bes. S. 431 f. und S. 444. 89 Vgl. Bude, Heinz: das „übertriebene Wir“ der Generation, in: Neue deutsche Literatur 48 (2000), S. 136-143, besonders S. 137.
D. Forkmann, Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“, DOI 10.1007/978-3-531-93090-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
5. Das „Netzwerk“ und die 68er
33
5.1 Eine „Generation Netzwerk“? Im nachfolgenden Kapitel wird zunächst umrissen, welche Politiker und welche Geburtsjahrgänge überhaupt in den Kontext des „Netzwerks“ gehören, und welchen potentiellen Sozialisationsbedingungen diese Politiker aufgrund ihres Geburtsjahres innerparteilich, aber auch jenseits ihres parteilichen Engagements ausgesetzt waren. Darüber hinaus wird über die möglichen Konsequenzen dieser Sozialisationskontexte bezüglich der soziopolitischen Prägungen räsoniert werden. 5.1.1 Kohortengruppen und Differenzierungen: Das „Netzwerk“ als einheitliche Generation? Dass der Untersuchungszeitraum des vorliegenden Bandes die 14. und 15. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages und den Übergang in die 16. Legislaturperiode nach der Bundestagswahl am 18. September 2005 bis zum Jahresende 2005 umfasst, ist insofern bedeutsam, als dass das „Netzwerk“ im Kern eine Vereinigung von Abgeordneten des Bundestages darstellt. Zwar gibt es über diesen Kreis von MdBs hinaus weitere sich dem „Netzwerk“ zugehörig fühlende Personen, doch ist die als „Kreis der Einlader“ titulierte Gruppierung von Abgeordneten eindeutig die Kerngruppe des „Netzwerks“. Bei dem „Kreis der Einlader“ handelt es sich um jene Abgeordnetengruppe, die zu den in den Sitzungswochen des Bundestages statt findenden Donnerstagabendtreffen und weiteren Veranstaltungen einlädt. Veränderungen in der Zusammensetzung und Struktur des Einladerkreises gingen in der Vergangenheit überwiegend mit dem Wechsel von Legislaturperioden einher, auch wenn vereinzelt Abgeordnete während einer laufenden Legislaturperiode zum „Netzwerk“ stießen oder es verließen.93 Im Wesentlichen fand nach der Bundestagswahl 2002 eine Erweiterung des Abgeordnetenkreises statt, lediglich Anton Schaaf und Marco Bülow verließen im Laufe dieser Legislaturperiode die Gruppierung. Da der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem Zeitraum von der Gründung des „Netzwerks“ 1999 bis zur Bundestagswahl im Herbst 2005 liegt, werden die Abgeordneten, die nach dieser letztgenannten Wahl zu der Gruppierung stießen, in den biografischen Einzelanalysen nicht mehr berücksichtigt und nur stellenweise zur Untermauerung der ausgeführten Thesen heran gezogen. Nachfolgende Tabelle 1 fasst die „Netzwerk“Abgeordneten der Jahre 1999 bis zur Bundestagswahl 2005 zusammen: 93 So kamen als Nachrücker in den Bundestag in der 14. Legislaturperiode Kerstin Griese, Uli Kelber und Carola Reimann; als Nachrückerin während der 15. Legislaturperiode Elvira Dobrinsky-Weiß.
34
B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
Tabelle 1: Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“: Der Kreis der Einlader (Geburtsjahrgänge, Daten des Parteieintritts und der Wahl in den Bundestag). Name
Jahrgang
Parteieintritt
MdB seit
Bartels, Hans-Peter (Dr.)
1961
1979
1998
Bätzing, Sabine
1975
1994
2002
Bartol, Sören
1974
1990
2002
Berg, Ute
1953
1983
2002
Bodewig, Kurt
1955
1973
1998t
Bülow, Marco94
1971
1992
2002
Bury, Hans-Martin
1966
1988
1990
Dobrinsky-Weiß, Elvira
1951
1976
2004
Dörmann, Martin (Dr.)
1962
1979
2002
Edathy, Sebastian
1969
1990
1998
Ehrmann, Siegmund
1952
1970
2002
Frechen, Gabriele
1956
1982
2002
Griese, Kerstin
1966
1986
Mai 2000
Hartmann, Michael
1963
1983
2002
Hauer, Nina
1968
1987
1998
Heil, Hubertus
1972
1988
1998
Hoffmann, Iris
1963
1991
1998
Kelber, Uli
1968
1985
Sept. 2000
Klug, Astrid
1968
1985
2002
Kressl, Nicolette
1958
1984
1994
94
Marco Bülow hat die Gruppierung im Laufe der 15. Legislaturperiode verlassen.
35
5. Das „Netzwerk“ und die 68er Krüger, Hans-Ulrich (Dr.)
1952
unklar
2002
Lange, Christian
1964
1982
1998
Marks, Caren
1963
1998
2002
Matschie, Christoph
1961
Mogg, Ursula
1953
1974
1994
Multhaupt, Gesine
1963
1986
2002
Raabe, Sascha (Dr.)
1968
1990
2002
Reimann, Carola (Dr.)
1967
1986
Feb. 2000
Roth, Birgit95
1968
unklar
1998
Roth, Michael96
1970
1987
1998
Schaaf, Anton97
1962
1986
2002
Schmidt, Silvia
1954
1995
1998
Schneider, Carsten
1976
1995
1998
Schönfeld, Karsten
1963
1990
1998
Schulz, Swen
1968
1986
2002
Schwanholz, Martin
1960
unklar
2002
Stöckel, Rolf
1957
1975
1998
Vogt, Ute
1964
1984
1998
Weigel, Andreas
1964
1994
2002
Wend, Rainer (Dr.)
1954
1970
1998
Wicklein, Andrea
1958
1992
2002
1990
In der Zusammenschau der Geburtsjahrgänge der Abgeordneten zeigt sich folgende Verteilung von Geburtskohorten:98 95
Birgit Roth war nur bis 2002 MdB und „Netzwerkerin“ Michael Roth verließ die Gruppierung Ende 2008. 97 Anton Schaaf hat das „Netzwerk“ nach der Bundestagswahl 2005 verlassen. 98 Die Bündelungen in 5er-Jahrgangsschritten orientiert sich an der Kohorteneinteilung in Fogt, 1982. 96
36
B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
Grafik 1:
Geburtsjahrgänge Einladerkreis 14. und 15. Legislaturperiode (Kohortengruppen)
12 10 8 6 4 2 0 1950-55
1956-60 1961-65 1966-70
1971-75 1976-80
Der Hauptteil der Abgeordneten entstammt offensichtlich den Jahrgängen 19611965 und 1966-1970. Ein weiterer Schwerpunkt liegt bei den Geburtsjahren 1950-1955 und 1956-1960. Eine qualitative Ausdeutung dieser rein quantitativen Beobachtung deutet sogar auf eine Verdichtung des „Netzwerks“ auf die in den 1960er-Jahren geborenen Politiker hin: So entstand das „Netzwerk“, erstens, in der 14. Legislaturperiode aus Abgeordneten, die fast durchweg in den 1960erJahren geboren wurden, zumindest aber dezidiert einem Nach-68erZusammenhang angehören. Dies ist vor allem deshalb von besonderem Interesse, als es diese „Netzwerker“ der ersten Stunde waren, die die Gründung der Gruppierung, ihre Aktivitäten und ihr Arbeiten maßgeblich beeinflussten, inspirierten und steuerten (in alphabetischer Reihenfolge): Bartels, Hans-Peter (geb. 1961)
Bodewig, Kurt (geb. 1955)
Bury, Hans-Martin (geb. 1966)
Edathy, Sebastian (geb. 1969)
Griese, Kerstin (geb. 1966)
Hauer, Nina (geb. 1968)
Heil, Hubertus (geb. 1972)
Kelber, Uli (geb. 1968)
Lange, Christian (geb. 1963)
Matschie, Christoph (geb. 1961)
Reimann, Carola (geb. 1967)
Roth, Michael (geb. 1970)
Schneider, Carsten (geb. 1976)
Schönfeld, Karsten (geb. 1963)
Stöckel, Rolf (geb. 1957)
Vogt, Ute (geb. 1964)
37
5. Das „Netzwerk“ und die 68er
Zum Zweiten wird bei einer näheren qualitativen Prüfung deutlich, dass diejenigen „Netzwerker“, die in bestimmten Positionen nach außen wahrnehmbar für das „Netzwerk“ tätig sind beziehungsweise waren oder aber schlicht als für das „Netzwerk“ treibend und bedeutsam gelten, ebenfalls zum Großteil den 1960erJahren entstammen.100
100
Bartels, Hans-Peter (geb. 1961): Mitbegründer des „Netzwerks“; Initiator der Zeitschrift „Berliner Republik“; ehem. Sprecher des „Netzwerks“
Bätzing, Sabine (geb. 1975): seit 2005 bis 2009 Drogenbeauftragte der Bundesregierung
Bodewig, Kurt (geb. 1955): ehem. Bundesverkehrminister; Mitbegründer des „Netzwerks“
Bury, Hans-Martin (geb. 1966): ehem. Staatsminister (August 1999 bis Oktober 2002 Staatsminister beim Bundeskanzler, Oktober 2002 bis Oktober 2005 Staatsminister für Europa)
Edathy, Sebastian (geb. 1969): November 2005 bis November 2009 Vorsitzender des Innenausschusses des Deutschen Bundestages
Griese, Kerstin (geb. 1966): ehem. Sprecherin des „Netzwerks“; 2002 bis 2009 Vorsitzende des Familienausschusses des Deutschen Bundestages; Mitglied im Parteivorstand der SPD
Hartmann, Michael (geb. 1963): seit 2005 stellvtr. Sprecher des „Netzwerks“
Hauer, Nina (geb. 1968): Oktober 2002 bis November 2004 Parlamentarische Geschäftsführerin; 2002 bis 2009 Sprecherin des „Netzwerks“
Heil, Hubertus (geb. 1972): November 2005 bis November 2009 Generalsekretär der SPD; Oktober 2002 bis 2005 Sprecher des „Netzwerks“, seit November 2009 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion
Klug, Astrid (geb. 1968): 2005 bis 2009 Staatssekretärin im Bundesumweltministerium, seit November 2009 Bundesgeschäftsführerin der SPD
Kressl, Nicolette (geb. 1958): 2002 bis 2007 stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag, 2007 bis 2009 Staatssekretärin im Bundesministerium für Finanzen, seit November 2009 finanzpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion
Lange, Christian (geb. 1964): stellvertr. Sprecher des „Netzwerks“, seit Oktober 2ßß7 Parlamentarischer Geschäftsführer der SPDBundestagsfraktion
Die Angaben entsprechen dem Stand von Oktober 2010.
38
B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen Matschie, Christoph (geb. 1961): seit 1999 Landesvorsitzender SPD Thüringen, Oktober 2002 bis Juni 2004 Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, seit November 2001 Mitglied des Parteivorstands, seit November 2005 Mitglied des Präsidiums, seit 2009 Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Thüringen
Reimann, Carola (geb. 1976): 2002 bis 2005 stellvertr. Sprecherin des “Netzwerks”; seit 2005 bis 2009 gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion
Vogt, Ute (geb. 1964): 1999 bis 2009 Landesvorsitzende SPD Baden-Württemberg November 2002 bis November 2005 Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, 2006 bis 2008 Fraktionsvorsitzende der Landtagsfraktion Baden- Württemberg
Schlussendlich ist, drittens, zu beachten, dass der Hauptteil jener „Netzwerker“, die den 1950er-Jahren entstammen und zur Häufung jener Jahrgänge in Grafik 1 führen, einem strategischen Werben des „Netzwerks“ nach der Bundestagswahl 2002 entspringt.101 Da die Gruppierung sich dem Vorwurf der generationellen Abschottung aussetzen musste, wurde die Mitgliedschaft gezielt für „ältere“ Abgeordnete geöffnet.102 Zwar blieb der Anspruch bestehen, Politik jenseits der von 1968ern dominierten Themen und Kreise zu betreiben. Doch erhoffte sich die Gruppierung durch die Öffnung der Altersgrenze, vermehrt inhaltlich wahrgenommen zu werden und nicht mehr größtenteils auf ihr jugendliches Alter und ihre Eigenschaften als politischer Nachwuchs reduziert zu werden.103 Es ist also zu konstatieren, dass sich die Geburtsjahrgänge der „Netzwerk“MdBs zwar über einen Zeitraum von annähernd 20 Jahren erstrecken (HansUlrich Krüger, geb. 1952, bis Carsten Schneider, geb. 1976), aber dennoch sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht eine Konzentration auf die Geburtsjahrgänge 1960-70 vorherrscht. Bei dieser rein formellen Deutung scheint es sich daher bei „Netzwerkern“ um Politiker einer Nach-68er-Formation zu handeln, da „Netzwerk“-Politiker mehrheitlich nach der Periode der 68er, die mehrheitlich den Geburtsjahrgängen 1938-1948106 entstammen, geboren wurden. 101
Vgl. Interview Neumeyer, S. 5. Vgl. Interview Neumeyer, S. 5. 103 Vgl. Illies, Florian: Früher war alles schlechter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.09.1999. 106 Vgl. Bude, 1995. 102
5. Das „Netzwerk“ und die 68er
39
Auf dieses formale Kriterium aufbauend ist allerdings zu fragen, wie eine solche nach-68er-Generation in ihren Wertüberzeugungen, Handlungsschemata oder Prägungen beschaffen ist und wie – und nicht zuletzt warum – sie sich von ihren politischen Vorgängern differenziert. 5.1.2 Vom „Wandel des Wertewandels“ – Oder: Was kommt nach dem Postmaterialismus? Als mit einem Generationenetikett versehene Nach-68er-Zusammenhänge, zu denen „Netzwerker“ unter Umständen gezählt werden könnten, kommen mehrere Zuschreibungen und Generationsbezeichnungen in Betracht. Als der 68erGeneration nachfolgend, teilweise aber auch noch mit dieser verbunden, wird in der Regel zunächst die so genannte Generation der Neuen Sozialen Bewegungen und des alternativen Protests verstanden.108 Sie umfasst vornehmlich die Geburtsjahrgänge der 1950er-Jahre und lässt damit zumindest rein formell die Einordnung einiger „Netzwerker“ in diese Generation zu. Kennzeichnend für diese Generation, so wird einhellig konstatiert, sei ein übergroßer Hang zu postmateriellen Werten wie Umweltschutz, gesellschaftliche und/oder politische Partizipation, Emanzipation und Gleichstellung der Geschlechter etcetera sowie ein relativ großes Interesse an politischen Themen und ein hohes Maß an Politisierung. Diese Kohorten erlebten ihre Adoleszenz und damit ihre politische Sozialisation in den 1970er-Jahren. Ein Großteil dieser Szene ging in der Partei der Grünen auf.109 Interessant wäre also zu ermitteln, inwiefern „Netzwerker“, die aufgrund ihrer Geburtsjahrgänge diese generationelle Lagerung teilen, auch in ihren Werteinstellungen, Handlungsformen und soziopolitischen Prägungen einer solchen Generation der Neuen Sozialen Bewegungen entsprechen und wo sich Schnittmengen oder Grenzen der generationellen Zugehörigkeit ausmachen lassen. Darüber hinaus erscheint die Frage sinnvoll, welche Rolle es spielt, dass in den 1950ern geborene „Netzwerker“ in übergroßem Maße nicht zur Kerngruppe der Gruppierung zählen, zumindest keine Initiatoren oder Hauptaktive sind. Unter Umständen könnte dies dadurch erklärt werden, dass in diesem Falle weniger das Geburtsjahr an sich als vielmehr die gefühlte Zugehörigkeit zu einer Gruppierung, zu deren Werten und Einstellungen entscheidend ist. Einen Hinweis in dieser Frage findet sich bei Heinz Bude, der zum Zusammenhang von Kohorte, Sozialisation und Generationsbildung folgendes ausführt: 108 Vgl. Fogt, 1982, S. 127. Aufgrund des Erscheinungsdatums des Buches (1982) wird lediglich ein Anfangsdatum dieser Generation genannt, eine vollständige Eingrenzung erfolgt nicht. 109 Vgl. Klein, Markus/Falter, Jürgen: Der lange Weg der Grünen, München 2003; siehe auch Raschke, Joachim: Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993.
40
B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen „Geburtskohorten sind deshalb noch keine Generationen – die mögliche Bezugnahme auf ein sozialisierendes Eindrucks- und Wirkungserlebnis, aus dem sich die Evidenz einer Gemeinsamkeit der geschichtlichen Lage trotz erkennbarer Unterschiede in der sozialen Herkunft oder des nationalen Ursprungs ergibt, schaffen sie erst. […] Wo aber dieses Gefühl der Partizipation an einem gemeinsamen Empfinden herrscht, kann es durch eine widersprechende Chronologie nicht widerlegt werden“110
Insofern ist im Fall des „Netzwerks“ zu fragen, erstens, ob sich seine Mitglieder tatsächlich als Generation(seinheit) bezeichnen lassen, zweitens, woher ein potenzielles, generationelles Zusammengehörigkeitsgefühl rührt und wie es sich begründen lässt, und drittens, wie sich die Generationszugehörigkeit äußert. Als Kernkohorte der „Netzwerker“ wurden allerdings die Jahrgänge 196070 ausgemacht. Eine Generationenbezeichnung für diese Kohorten liegt nicht unbedingt auf der Hand, denn die Titulierungen reichen von „Generation der 89er“111 über die „Generation Golf“112 oder „Generation Berlin“113 bis hin zur „Generation Zaungäste“114. Die Aussagen, welche Geburtsjahrgänge jeweils dazu zu rechnen sind, sind dabei ebenso uneinheitlich wie die Attribute, mit denen die vermeintlichen Generationsangehörigen versehen werden. Gemeinsam ist allen Autoren jedoch der Versuch, Kennzeichen eines Post-68erZusammenhangs auszumachen.115 Und Konsens ist ebenso die Beobachtung, die 68er seien die letzte heroische Generation gewesen, somit alle bislang nachfolgenden Geburtsjahrgänge und möglichen Generationskonstellationen aufgrund der fehlenden, alles umstürzenden gesellschaftlichen oder historischen Ereignisse weniger klar zu fassen.116 Was aber könnten Merkmale derjenigen sein, die der 68er-Generation nachfolgten? Eine prominente Generationsbezeichnung für Angehörige der Geburtsjahrgänge 1965-75 lautet „Generation Golf“. Einst Titel eines populären Essays117, wurde die Bezeichnung zur soziologischen Untersuchung der genannten Jahrgänge übernommen. Kennzeichnend für die „Generation Golf“ scheint die im Vergleich zu den Vorgängergenerationen der Neuen Sozialen Bewegungen und 110
Bude, Heinz: Generationen im 20. Jahrhundert, in: Merkur 7 (2000), S. 567-579, hier S. 568. Vgl. Leggewie, Klaus: Die 89er. Portrait einer Generation, Hamburg 1995. Vgl. Klein, Markus: Gibt es die Generation Golf?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3 (2003), S. 99-115. 113 Vgl. Bude, 2001. 114 Vgl. als Porträt der Generation Mohr, Reinhard: Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam, Frankfurt a. M. 1992. 115 Vgl. Nolte, Paul: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, Berlin 2004, hier besonders S. 13 ff. 116 Vgl. beispielsweise Maase, Kaspar: Selbstbeschreibung statt Aufbruch. Anmerkungen zur postheroischen Generationsbildung, in: Mittelweg 36 , Okt./Nov. (2003), S. 69-78, hier S. 78. 117 Vgl. Illies, 2005. 111 112
5. Das „Netzwerk“ und die 68er
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der 68er höher eingeschätzte Bedeutung materialistischer Werte wie Karriere, Wohlstand und Sicherheit zu sein.118 Obwohl die Geburtsjahrgänge aufgrund ihrer Sozialisation in den friedens- und umweltbewegten ausklingenden 1970erund beginnenden 1980er-Jahren ursprünglich die größte Disposition für postmaterialistische Werteinstellungen wie der Ausweitung politischer Partizipationsrechte besaßen, tendierten sie im Erwachsenenalter eher zum materialistischen Wertekanon.119 Dieses Phänomen wird durch einen Bruch mit der herkömmlichen Generationenthese erläutert: Im Falle der „Generation Golf“, so die Argumentation, sei eben keine manifeste Prägung in der sensiblen Jugendphase erfolgt, sondern die ursprünglich postmaterialistische Grundeinstellung sei durch die Konfrontation mit den späteren Erfahrungen der Globalisierungsfolgen und der Krise des Wohlfahrtsstaates einem Hang zum Materialismus gewichen. Insofern habe die Generationenbildung im späteren Lebenslauf stattgefunden, sei es zu einer Art „Umpolung“ der Werteinstellungen im Lebenszyklus gekommen.120 Dabei erfolgte, so die These weiter, jedoch weder eine völlige Erosion postmaterialistischer Einstellungen, noch ein vollständiger Wandel zum Materialismus.121 Vielmehr könne eine Wertsynthese beobachtet werden, bei der postmaterialistische Einstellungen und Wertüberzeugungen mit materialistischen in Einklang gebracht und wechselseitig ergänzt wurden.122 Derartige Überlegungen gingen überein mit dem bereits diskutierten Vorschlag jüngerer Forschungsliteratur, den zur Generationenbildungen entscheidenden Lebensabschnitt über die Adoleszenz hinaus aufzuweichen. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber ebenso die Beobachtung, dass die beschriebenen Geburtsjahrgänge in ihren Werteinstellungen und Orientierungsmustern mehr Gemeinsamkeiten mit der „Skeptischen Generation“ als mit der Generation der Studentenbewegung, den 68ern, aufweisen.123 Dafür spricht nicht nur die Renaissance von Werten wie Leistung, Karrierebereitschaft oder Sicherheit, sondern auch die weitgehende Entpolitisierung gepaart mit einer tendenziell egoistischen Grundhaltung und einer Abneigung
118
Vgl. Klein, Generation Golf 2003, S 103. Vgl. ebd., S. 111. Vgl. Klein, 2003, S. 112 ff.; zur Kritik daran Maase, 2003, S. 72; vgl. zur Lebenszyklusthese in der Werteforschung Klein, Markus: Wieviel Platz bleibt im Prokustesbett? Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1973 und 1992 gemessen anhand des Inglehart-Index, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47 (2003) S. 207-230. 121 Vgl. Hradil, Stefan: Vom Wandel des Wertewandels – Die Individualisierung und eine ihrer Gegenbewegungen, in: Glatzer, Wolfgang/Habich, Roland u.a. (Hg.): Sozialer Wandel und gesellschaftliche Dauerbeobachtung, Opladen 2002, S. 31-49. 122 Vgl. Klein, Markus/Pötschke, Manuela: Gibt es einen Wertewandel hin zum „reinen“ Postmaterialismus?, in: Zeitschrift für Soziologie 3 (2000), S. 202-216, hier S. 203 f. und S. 213. 123 Vgl. Klein, 2003, S. 111. 119 120
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B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
gegenüber Verhalten und Einstellungen der Angehörigen der 68er und Neuen Sozialen Bewegungen.124 An dieser Stelle lässt sich die Brücke zur „Generation Berlin“ schlagen, welche circa die Geburtsjahrgänge der 1960er-Jahre umfasst und von Heinz Bude skizziert wurde. Bude nimmt bei seinem Generationenbegriff zwei Einschränkungen vor: Zum einen setzt er den lokalen Schwerpunkt auf den Wirkungsort Berlin125, zum anderen hat er hauptsächlich eine politische Generation vor Augen, referiert auf eine nicht näher definierte politische Klasse. Diese umfasst offenbar neben den eigentlichen Mitgliedern des politischen Betriebs in Parlament und Ministerien auch Bereiche des Journalismus, der Wirtschaft und der Wissenschaft.126 Kennzeichnend, so Bude, sei für die betreffenden Jahrgänge eine Abkehr von den heroischen Idealen der 68er, die Erfahrung des zusammenbrechenden Ostblocks und in der Folge einer neuartigen Form der Internationalisierung und der Globalisierung, die Bejahung und Ausformung der Marktwirtschaft statt des Bestrebens, diese im revolutionären Akt abzuschaffen. Diese Zuschreibungen lassen sich ähnlich wie die Beobachtungen Kleins so deuten, dass eine potenzielle, den 68ern nachfolgende und hauptsächlich den 1960erGeburtsjahrgängen entstammende politische Generation materialistischen Wertüberzeugungen zuneigt, die aus der Erfahrung diverser politischer und historischer Ereignisse vornehmlich in den ausklingenden 1980er- und 1990er-Jahren resultieren (beispielsweise Globalisierung, die deutsche Wiedervereinigung, Massenarbeitslosigkeit etcetera). Bei einer etwas großzügigen Ausdeutung der „Netzwerk“-Kohorten könnte es daher durchaus möglich sein, die bislang skizzierten Ansätze zu Post-68erGenerationen – Generation der Neuen Sozialen Bewegungen, „Generation Golf“, „Generation Berlin“ – auf die Gruppierung des „Netzwerks“ zu übertragen. Dabei wäre zu ermitteln, inwiefern „Netzwerker“ stärker als 68er materialistische Orientierungen teilten, ob materialistische mit postmaterialistischen Grundeinstellungen und Tendenzen verschmolzen oder – allgemeiner formuliert – welche Differenzen sich grundsätzlich zwischen den Wertemustern der beiden diskutierten Generationen finden lassen.
124
Vgl. ebd., S. 101 f. Vgl. Bude, 2001, S. 68 ff. 126 Vgl. Bude, Heinz: Die Politik der Generationen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 11 (1998), S. 689-694, hier S. 692 ff. 125
5. Das „Netzwerk“ und die 68er
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5.1.3 Parteieexterner Erfahrungshorizont und Sozialisationsbedingungen: Das „Netzwerk“ als „Generation Golf“? Als entscheidend für die Herausbildung von soziopolitischen Werthaltungen, Einstellungsmustern, Urteilen oder Handlungsschemata als Bestandteile der individuellen Identitätsentwicklung werden in der Regel die prägenden Erfahrungen eines Individuums während seiner Jugend angesehen127, die per definitionem das 13. bis 25. Lebensjahr eines Menschen umfasst.128 Sozialisierend können verschiedene Bereiche oder Agenten wirken: Elternhaus und Familie, Freundeskreis beziehungsweise peer-groups, Bildungsinstitutionen wie Schule und/oder Universität, Berufsausbildung und darüber hinaus allgemeine gesellschaftliche oder historische Entwicklungen und Ereignisse.129 Diese Sozialisationsbedingungen und -erfahrungen sind es auch, die aus Individuen benachbarter Geburtsjahrgänge politische Generationen entstehen lassen können.130 Wie beschrieben, werden als Hauptkohorten des „Netzwerks“ die Geburtsjahrgänge der 1960er-Jahre angenommen, ergänzt durch die hauptsächlich nach 2002 hinzu gestoßenen Angehörigen der 1950er-Jahre sowie durch einige in den 1970ern Geborene, die aufgrund ihres speziellen Engagements im „Netzwerk“ eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben. Soll nun auf die Gruppierung der Generationenansatz angewendet werden, so ist ein Blick auf die soziohistorischen Sozialisationsbedingungen dieser Jahrgänge unerlässlich.132 Dabei sollen subjektive Erfahrungen, die sich aus dem je individuellen Lebens- und Karriereweg des einzelnen Politikers ergeben, in den biografischen Einzelanalysen in 127
Vgl. Reinders, Heinz: Politische Sozialisation in der Nachwendezeit. Forschungsstand, theoretische Perspektiven und empirische Evidenz, Opladen 2001, S. 55; siehe grundlegend zur Identitätsausbildung als Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz Hopf, Christel/Hopf, Wulf: Familie, Persönlichkeit, Politik. Eine Einführung in die politische Sozialisation, Weinheim/München 1997, S. 79104; als Beispiel für die Entwicklung einer politischen Identität im Jugendalter siehe Andrews, Molly: Das Erwachen des politischen Bewusstseins. Eine Fallstudie, in: Hoerning, Erika M. (Hg.): Biographische Sozialisation, Stuttgart 2000, S. 305-323. 128 Vgl. Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, Wiesbaden 2005, besonders S. 91 ff. 129 Vgl. auch Rebenstorf, 1991, in: Klingemann/Stöss/Wessels, 1991, S. 220 ff. 130 Vgl. Preuss-Lausitz, Ulf/Zeiher, Helga/Geulen, Dieter: Was wir unter Sozialisationsgeschichte verstehen, in: Preuss-Lausitz, Ulf (Hg.): Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem zweiten Weltkrieg, Weinheim/Basel 1995, S. 11-25, hier S. 12; siehe auch Heinrich, Horst-Alfred: Zeithistorische Ereignisse als Kristallisationspunkte von Generationen. In: ZUMA-Nachrichten 39 (1996), S. 69-94. 132 Vgl. Weymann, Ansgar: Sozialer Wandel, Modernisierung und Generationen, in: Sackmann/Weymann/Wingens, 2000, S. 17-37, besonders S. 17 und S. 24; siehe zum Zusammenhang jugendbiografischer und gesellschaftlicher Veränderungen auch Georg, Werner: Individualisierung der Jugendphase in den 80er Jahren?, in: Zeitschrift für Soziologie, 6 (1997), S. 427-437, hier S. 427.
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B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
Kapitel 6 betrachtet werden. An dieser Stelle aber sollen jene übergreifenden, historisch-kulturellen Determinanten ins Auge gefasst werden, die während der Zeit der sozialisatorischen Empfänglichkeit – der Jugend – der „Netzwerker“ vorherrschten. Dies betrifft für die Hauptkohorten des „Netzwerks“ zwischen 1960-70 sind vornehmlich die ausgehenden 1970er- und den 1980er-Jahre. Darüber hinaus sollen Ereignisse in Betracht genommen werden, die unter Umständen jenen intraindividuellen Wertewandel von einer postmaterialistischen Prädisposition zu materialistischen Werthaltungen und -einstellungen – sowie letztendlicher Wertsynthese – evoziert haben, wie sie die These von der „Generation Golf“ impliziert.133 Daher wird in diesem Abschnitt zusätzlich nach soziohistorischen Ereignissen, Entwicklungen oder Bedingungen geforscht, die möglicherweise während des Erwachsenenlebens der „Netzwerker“ in den 1990er-Jahren einen intragenerationellen Wertewandel bewirken konnten. Eine Ausnahme stellen hierbei Abgeordnete mit ostdeutschem Hintergrund dar, da für sie, obwohl in demselben Zeitraum aufgewachsen, abweichende Sozialisationsbedingungen gelten. Quer zu einer vertikalen Betrachtung eventuell sozialisierend wirkender Einflüsse im zeitlichen Verlauf ist daher eine horizontale Perspektive des Ost-West-Unterschieds zu berücksichtigen. Von Ölpreisschocks, Arbeitslosigkeit und Friedenssehnsüchten: Eine westdeutsche Jugend in den 1980er Jahren Um die Differenzen zwischen den Sozialisationsbedingungen der 68er und den in den 1960er-Jahren Geborenen zu verdeutlichen, muss zunächst auf die sich bereits seit Mitte der 1970er-Jahre vollziehenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungsprozesse hingewiesen werden. War die Bundesrepublik bis dato lange Jahre an wirtschaftliche Wachstumsraten und Vollbeschäftigung gewöhnt,134 so fand ab circa 1973/74 ein Paradigmenwechsel statt. Der so genannte Ölschock im Jahr 1973, bei dem es aufgrund eines Embargos Öl fördernder Staaten gegen Israel-freundliche Länder zur drastischen Einschränkung des Energieverbrauchs kam, führte zu einem generellen Überdenken der Energiesituation und deutete auf die Grenzen einer Überflussgesellschaft hin.135 Im selben Zeitraum veröffentlichte der „Club of Rome“ seinen Bericht über die „Grenzen des Wachstums“, in dem er die Ausbeutung der Rohstoff- und Energiereserven und
133
Klein, 2003, S. 107 und S 113. Vgl. Thränhardt, Dietrich: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1996, S. 77 f. 135 Vgl. Wolfrum, Edgar: Die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990, Stuttgart 2005, S. 423 ff. 134
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die zunehmende Umweltverschmutzung durch eine auf Konsum ausgerichtete Industriegesellschaft kritisierte.136 Die genannten Ereignisse und Entwicklungen hatten mehrerlei Auswirkungen. Zunächst markierten sie den Beginn eines Umweltbewusstseins, welches das industrieweltliche Konsumverhalten an den vertretbaren ökologischen Folgen maß. Damit einher gingen zunehmend verdüsterte Zukunftsszenarien der Menschheit:137 Sollte sich nicht grundsätzlich etwas am Verbrauchs- und Produktionsgebaren ändern, könne dies das Ende der Menschheit und der Welt insgesamt bedeuten.138 Doch neben der sich zunehmend eintrübenden Zukunftserwartungen vollzogen sich auch handfeste wirtschaftliche Veränderungen: Der bereits oben erwähnte „Ölpreisschock“ traf sowohl private Verbraucher als auch die Automobilindustrie hart. In Folge dessen schwächte sich die Konjunktur ab, stieg die Arbeitslosigkeit und verschlechterten sich die ökonomischen Rahmendaten insgesamt.139 Die wirtschaftliche Krise führte nach einer Phase der Reformeuphorie unter Bundeskanzler Willy Brandt zu einer eher reformfeindlichen, pessimistischen Stimmung. Statt visionärer Entwürfe setzte Bundeskanzler Helmut Schmidt auf Maßhalten und Nüchternheit.140 Neben der Preisentwicklung und der Beschäftigungssituation wurde auch das Sozialsystem von der Wirtschaftskrise erfasst: Die Leistungen von Arbeitslosen- und Krankenversicherung wurden verringert, die Rentenformel überarbeitet – und trotzdem stiegen die Lohnnebenkosten weiter, was sich wiederum auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes auswirkte. Kurzum: Seit Mitte der 1970er-Jahre machte sich in der Bundesrepublik aufgrund einer veränderten wirtschaftlichen Lage mehr Zukunftsskeptizismus statt -optimismus breit, wich beschwingte Euphorie einer vorsichtigen Sachlichkeit. Dabei hatten die beschriebenen Veränderungen mehrere Implikationen für eine mögliche generationelle Deutung der vornehmlich in den 1960er-Jahren geborenen „Netzwerker“. Denn zum einen bedeutete der wirtschaftliche Umschwung, dass sie ihre Kindheit in einem eher eingetrübten, mit Sorgen und Ängsten bezüglich der Zukunft behafteten gesellschaftlichen Klima verbrach-
136 Vgl. Meadows, Dennis/Meadows, Donella u.a. (Hg.): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbeck bei Hamburg 1973. 137 Vgl. zum apokalyptischen Grundton der Kunst- und Kulturlandschaft der Jahre 1975-1985 Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium. 1982-1990, München 2006, bes. S. 430 ff. 138 Vgl. zum skeptischen Tonfall in Medien und anderen Publikationen jener Jahre Wolfrum, 2005, S. 425 f. 139 Vgl. Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 275 f. und Prollius, Michael von: Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen 2006, S. 184 ff. 140 Vgl. Wolfrum, 2005, S. 427.
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ten.141 Die durch ein neu erwachendes Umweltbewusstsein und die wirtschaftlichen Probleme ausgelöste skeptische Stimmung wurde in diesem Zusammenhang gar noch durch die Ereignisse des „deutschen Herbstes“ und dem damit verbundenen innenpolitischen Terror verstärkt.142 Zum anderen aber sollten die in den 1970er-Jahren begonnenen Entwicklungen in ihrer Konsequenz weit in 1980er-Jahre hinein reichen und somit auch das potenzielle sozial-politische Erleben und damit den Handlungskontext adoleszenter „Netzwerker“ bestimmen. Denn zunächst blieb das Problem der Arbeitslosigkeit weiter bestehen, das Schlagwort der „Massenarbeitslosigkeit“ breitete sich aus.143 Besonders die Jugendarbeitslosigkeit wuchs sich zu einem massiven Problem aus und machte auch vor Universitätsabsolventen nicht Halt.144 Im Gegenteil: Im Zuge der Bildungsexpansion drängten bereits seit den 1970er-Jahren immer mehr junge Menschen in die Hochschulen und sahen sich nach ihrem Abschluss mit den eingeschränkten Kapazitäten des Arbeitmarktes konfrontiert.145 Die zweite Ölkrise im Jahr 1980 trug ihren Anteil dazu bei, dass die wirtschaftliche und damit auch die beschäftigungspolitische Lage Deutschlands angespannt blieben.146 Die Neuen Sozialen Bewegungen fanden ihren Gipfelpunkt in den 1980erJahren. Sie waren Ausdruck eines sich wandelnden Wertempfindens, einer Zunahme postmaterieller Überzeugungen als Ergebnis einer als „Überfluss- und Konsumgesellschaft“ gedeuteten Gesellschaft.147 So erfuhr nicht nur die Umweltschutzbewegung, die sich zunehmend auf die atomare Frage konzentriert hatte, ihre Fortsetzung. Berührungspunkte ergaben sich auch mit Protesten im Rahmen der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von Pershing-II-Raketen in der BRD. Ausgelöst durch den NATODoppelbeschluss, aber langfristig bedingt durch ein allgemein angespanntes Sicherheitsempfinden im „Kalten Krieg“, beteiligten sich mehrere Hunderttausend Menschen aller sozialer und politischer Couleur an Demonstrationen.148 141
Vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.): Jugend ´81 b – Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder, Hamburg 1981, S. 23 ff. Vgl. exemplarisch Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2002, S. 312 ff; siehe auch Wolfrum, 2005, S. 428 ff. 143 Vgl. Rödder, Andreas: Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990, München 2004, S. 293). 144 Vgl. Fischer, Arthur/Fuchs, Werner/Zinnecker, Jürgen: Einleitung, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.): Jugendliche und Erwachsene ´85, Bd.1: Biografien – Orientierungsmuster – Perspektiven, Leverkusen 1985, S. 9-32, besonders S. 21. 145 Vgl. Möller, Kurt: Politische Orientierungen von Jugendlichen – Historische Phasen, Generationen, Bewegungen und Jugendkulturen, in: Sander, Uwe/Vollbrecht, Ralf (Hg.): Jugend im 20. Jahrhundert, Neuwied u.a. 2000, S. 254-278, besonders S. 267. 146 Vgl. Wolfrum, 2005, S. 436 f.; im Gegensatz zur skizzierten Entwicklung bilanzierte die Exportwirtschaft allerdings positiv (siehe auch Wolfrum, 2005, S. 440 f.) 147 Vgl. grundlegend Inglehart, Ronald: The silent Revolution, Princeton 1977. 148 Vgl. Görtemaker, 2002, S. 286. 142
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Im Umfeld und auf dem Nährboden dieser sozialen Bewegungen entstand quasi als parlamentarisches Sprachrohr eine neue Partei: die „Grünen“. 1979 gegründet, zog die junge Partei in rascher Folge in diverse Landtage ein, erreichte 1983 den Bundestag und war bereits 1985 an der hessischen Landesregierung – zusammen mit den Sozialdemokraten – beteiligt.149 Dabei ließen die Wertüberzeugungen und politischen Ziele sowohl speziell der „Antiparteipartei“ der Grünen als auch allgemein der Neuen Sozialen Bewegungen Jugendliche jener frühen 1980er-Jahre nicht unberührt: Die Möglichkeiten politischer Partizipation wurden hoch geschätzt, alternative Lebensformen und -entwürfe fanden Anklang, weibliche Emanzipation, umwelt- und friedenspolitische Themen bewegten junge Menschen, die gesellschaftlichen und persönlichen Zukunftsaussichten wurden pessimistisch-düster eingeschätzt. Doch führte eine solche Grundeinstellung eben auch zu Aktivität.150 So fand ein Großteil des jugendlichen, politischsozialen Engagements im Umfeld der genannten alternativen Bewegungen statt, erzielte die Partei der Grünen gerade unter jüngeren Menschen hohe Zustimmungsraten. Dieses Votum bekamen vor allem die Sozialdemokraten zu spüren, die unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen zunehmend an Zuspruch einbüßten und sich zudem mit den Sympathien des eigenen Parteinachwuchses für friedensbewegt-alternative Ideen auseinander setzen mussten.151 Die Erfolge jener alternativen Überzeugungen zeigten sich nicht nur bei Großdemonstrationen und Wahlen, sie prägten auch zunehmend das alltägliche Erleben der Menschen, vor allem in Städten: Im sich verändernden Kleidungsstil junger Menschen, in der Beliebtheit von Wohngemeinschaften bis hin zu einem immer besser ausgebauten Netz von Bio- und Alternativläden fanden die neuen Wertempfindungen ihren Ausdruck. Als Katalysator wirkte, dass im Verlauf der 1980er-Jahre vermehrt ökologische Probleme publik wurden – wie etwa in der BRD das Fischsterben im Rhein oder das Waldsterben –, so wie auch Großkatastrophen wie der Reaktorunfall in Tschernobyl im Jahr 1986 aufrüttelnde Wirkung zeigten. Ein weiteres Faktum, mit dem Jugendliche jener Jahre aufwuchsen, war die Selbstverständlichkeit der deutschen Zweistaatlichkeit. Während die 68er als Jugendliche beziehungsweise Kinder teilweise bewusst den Prozess hatten verfolgen können, welcher zur Teilung Deutschlands führte, für sie also ein zweiter, ostdeutscher Staat nicht qua Geburt gegeben war, hatten in den 1960er- und 149
Vgl. zu den Wahlergebnissen der Grünen Klein/Falter, 2003, S. 110 ff. Vgl. Fischer, Arthur: Zukunft und Politik, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.): Jugendliche und Erwachsene ´85, Bd.1: Biografien – Orientierungsmuster – Perspektiven, Leverkusen 1985, S. 106-132, besonders S. 114 ff. 151 Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 120 ff.; siehe auch beispielhaft Potthoff, Heinrich/Miller, Susanne: Kleine Geschichte der SPD 1948-2002, Bonn 2002, hier S. 261. 150
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1970er-Jahren Geborene nie eine andere Realität erlebt. Vielmehr schien so etwas wie eine Gewöhnung an den Umstand der deutschen Teilung einzusetzen.152 Der Fall der Mauer 1989 und schließlich die Wiedervereinigung 1990 müssen daher Jugendliche und junge Erwachsene, zu denen die in den 1960ernGeborenen mittlerweile herangewachsen waren, recht unvorbereitet getroffen haben.153 Prägten einerseits die Neuen Sozialen Bewegungen und die Grünen die soziopolitische Landschaft der 1980er-Jahre, so stand dem andererseits seit 1983 die Politik der konservativ-liberalen Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl gegenüber. Die größte Herausforderung stellte auch für die Regierung Kohl die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dar, der sie mit Kürzungen im sozialen Bereich, Frühverrentungen und wirtschaftlichen Deregulierungen zu begegnen suchte.154 Dabei war der Regierung nicht immer ein positives Medienecho beschieden, vielmehr hatte sie mit zahlreichen Affären zu kämpfen, die auch das Ansehen des politischen Geschäfts insgesamt tangierten.155 Bereits gegen Ende der 1980er-Jahre, zunehmend aber dann in den 1990ern schien dann auch das Höchstmaß des jugendlichen Interesses an Politik und Partizipation überschritten: Es wurde eine wachsende Politikverdrossenheit diagnostiziert, die unter anderem auf zahlreiche politische Skandale und nicht gelöste Probleme wie die ansteigende Arbeitslosigkeit zurückgeführt wurde.156 Hinzu kam ab circa Mitte der 1980er-Jahre – also in der späten Adoleszenz oder dem frühen Erwachsenenalter in den 1960er-Jahren Geborener – ein gesellschaftlicher Stimmungswandel vom Zukunftsskeptizismus zum -optimismus, von einer Kultur der Verbraucherkritik zum an Spaß orientierten Konsum.157 Im Zuge der Ausbreitung neuer (Informations-)Technologien, eines wirtschaftlichen Aufschwungs und eines Booms der Werbebranche entwickelte sich eine fortschrittsgläubige und an individueller Selbstverwirklichung orientierte Zukunftssicht. Nach den Untergangsszenarien voran gegangener Jahre, die sich nicht bewahrheitet hatten, schienen Zukunft und menschliches Handeln nun wieder 152
Vgl. beispielsweise die Auffassung Oskar Lafontaines in Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, Bd. II, München 2000, S. 476 ff. 153 Vgl. Weidenfeld, Werner: Deutschland nach der Wiedervereinigung. Vom Modernisierungsschock zur inneren Einheit, in: Ders. (Hg.): Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte, Köln 1993, S. 13-26, hier S. 17. 154 Vgl. Wolfrum, 2005, S. 448 ff. 155 Vgl. ebd., S. 454 ff. 156 Vgl. beispielhaft Sontheimer, Kurt: Politik und Parteienverdrossenheit in der Bundesrepublik Deutschland – Analyse der Situation, in: Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (Hg.): Politik und Parteienverdrossenheit, ein deutsches Problem?, Bonn 1990, S. 1-23, S. 19 f. 157 Vgl. für einen bebilderten Eindruck jenes Jahrzehnts folgenden – wenn auch auf Österreich bezogenen – Band: Pauser, Susanne/Ritschl, Wolfgang/Havas, Harald/Kolisch, Nicole (Hg.): Neon, Pacman und die Yuppies. Das Bilderbuch der achtziger Jahre, Wien/Köln/Weimar 2001.
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planbar, wuchs der Wunsch nach massenkultureller Teilhabe und individueller Selbstentfaltung durch Konsum.158 Es waren diese eher schleichenden Vorgänge und Rahmenbedingungen, die eine prägende sozialisatorische Kraft für junge Menschen entfalten konnten. So bewirkte die Einführung des Privatfernsehens 1984 eine immense Ausdehnung der passiv-medialen Konsumangebote.159 Jugendliche waren nun zunehmend einer immer unübersichtlicheren und frei wählbaren Flut von Informationen und Unterhaltungsmöglichkeiten ausgesetzt.160 Darüber hinaus veränderte sich aber auch der Kontext politischen Handelns immens. Sicher waren Medienpräsenz und die Nutzung diverser Kommunikationsmedien kein Novum im Alltag bundesdeutscher Politiker. Doch wandelten sich sowohl die Schnelllebigkeit als auch die Reichweite politischer Nachrichten oder Stellungnahmen.161 Dies dürfte die Wahrnehmung von Politikern und Politik beeinflusst haben.162 Insofern stand das politisch-gesellschaftliche Klima, in welchem Jugendliche in den 1980er-Jahren in der Bundesrepublik heran wuchsen, unter einer bipolaren Spannung zwischen vitalen Großdemonstrationen im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen, der Ausdehnung und Verfestigung einer Alternativkultur zwischen Bio- und Frauenbuchläden sowie den parteipolitischen Erfolgen der Grünen einerseits und der rheinländischen Behäbigkeit und konservativen Muffigkeit der konservativ-liberalen Bundesregierung gepaart mit einem fortschrittsgläubigen und konsumorientierten Individualismus andererseits. Vom Staatssozialismus über runde Tische an die Macht: Eine ostdeutsche Jugend in den 1980er-Jahren Einige der im „Netzwerk“ versammelten Politiker sind auf dem Gebiet der ehemaligen DDR geboren und aufgewachsen. Selbstverständlich gelten für sie differierende sozialisatorische Rahmenbedingungen als für ihre Altersgenossen im Westen der Republik. Doch gilt es zu unterscheiden zwischen Prägungen, die 158
Vgl. Wirsching, 2006, S. 452 ff. Vgl. ebd., S. 448 ff. 160 Vgl. grundsätzlich zur Sozialisationsfunktion von Massenmedien Schorb, Bernd/Mohn, Erich/Theunert, Helga: Sozialisation durch (Massen-)Medien, in: Hurrelmann, Klaus/Ulrich, Dieter (Hg.): Handbuch Sozialisationsforschung, Weinheim/Basel 1998, S. 493-508; vgl. kritisch zur Rolle der Massenmedien im politischen Prozess und die Wirkung auf Jugendliche Claußen, Bernhard: Kommunikationswissenschaftliche Aspekte: Politisches Handeln Jugendlicher in der Informationsund Mediengesellschaft, in: Palentien, Christian/Hurrelmann, Klaus (Hg.): Jugend und Politik. Ein Handbuch für Forschung, Lehre und Praxis, Neuwied u.a. 1998, S. 68-121, besonders S. 91 ff. 161 Vgl. Sarcinelli, Ulrich/Schatz, Heribert: Von der Parteien- zur Mediendemokratie. Eine These auf dem Prüfstand, in: Dies. (Hg.): Mediendemokratie im Medienland? Inszenierungen und Themensetzungsstrategien im Spannungsfeld zwischen Medien und Parteieliten am Beispiel der nordrheinwestfälischen Landtagswahl 2000, S. 9-32, hier S. 13 ff. 162 Vgl. Claußen, 1998, S. 68-121, hier S. 76 ff. 159
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B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
aufgrund generationsbedingter Erfahrungen und Lagerungen entstanden sein könnten, und solchen, die elementar das gesamte Leben und Erleben in der DDR umfassten. Eine Grunderfahrung von DDR-Bürgern, die unabhängig von temporären Veränderungen und Einflüssen gelten dürfte und eine fundamentale Differenz zum Leben in der BRD bildete, war die des Lebens in einer Diktatur. Die DDR kann als der Versuch eines gezielten, staatlich gelenkten Gesellschaftsumbaus angesehen werden, der ein egalitäres Gesellschaftskonzept, nahezu unbegrenztes Wissenschafts- und Technikvertauen, Kapitalismuskritik und die Erziehung seiner Bürger zu „neuen“ Menschen implizierte.163 Darüber hinaus erfolgte in der DDR eine Art „Zwangssäkularisierung“ aufgrund der Diskriminierung der Kirchen.164 Zwar hatte auch in der BRD seit den 1960ern-Jahren ein Trend zur Säkularisierung stattgefunden, doch war dieser aus einem autonomen Prozess heraus entstanden und nicht staatlich gelenkt gewesen. In der DDR allerdings mühte sich der Staat mit allen Mitteln, die Menschen zu formen, gab ihnen – im Unterschied zur BRD, wo sich Werte zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft vermittelten – die Werte vor, nach denen sie leben sollten.165 Darüber hinaus überwachte der Staat seine Bürger mit Hilfe der Staatssicherheit regelrecht. Alle sozialen Beziehungen, alles soziale Leben im östlichen Teil Deutschlands waren auf die Durchsetzung und Verbreitung, auf den Erhalt und die Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsstrukturen ausgerichtet.166 Im Sinne einer „„durchherrschten“ Gesellschaft“167 sollte alles Handeln der Menschen auf den Staat ausgerichtet sein und keine vom Staat unabhängige Zivilgesellschaft entstehen.168
163
Vgl. Mühlberg, Dietrich: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der DDR, in: Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen/Zwahr, Hartmut (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 62-94, hier S. 69. 164 Vgl. Lemke, Christiane: Die Ursachen des Umbruchs 1989. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR, Opladen 1991, S. 167 ff. 165 Vgl. Meulemann, Heiner: Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation, München 1996, S. 178 f.; vgl. als damals zeitgenössische, westdeutsche Untersuchung sowie westdeutsche Interpretation Grunenberg, Antonia: Aufbruch der inneren Mauer. Politik und Kultur in der DDR 1971-1990, Bremen 1990, besonders S. 83 ff. 166 Vgl. Lindenberger, Thomas: Alltagsgeschichte und ihr möglicher Bezug zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Bessel, Richard/Jessen, Ralph (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 298-325, hier S. 312 ff. 167 Zit. nach Lüdtke, Alf: „Helden der Arbeit“ – Mühen beim Arbeiten. Zur Missmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, in: Kaelble/Kocka/Zwahr, 1994, S. 188-213, hier S. 188. 168 Vgl. Fulbrook, Mary: Zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Bessel/Jessen, 1996, S. 274297, besonders S. 284 und S. 291.
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So war etwa auch die Kindererziehung zu einem Großteil aus der Familie in öffentliche Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen verlagert worden169, so dass der Staat auch hier die kulturelle Deutungshoheit bewahren konnte. Der Besuch einer Kinderkrippe und des Kindergartens waren in der DDR selbstverständlicher Bestandteil des Lebenslaufs.170 Dem gegenüber gewann die Familie als essentielles Unterstützernetzwerk bei allen Widrigkeiten des täglichen Lebens eine immense Bedeutung. Vom Beschaffen der kleinen und großen Dinge, von Lebensmitteln bis zum Trabanten, bei Rat und – politischem – Austausch war sie verlässliche Keimzelle und letzter potenziell verbliebener Rückzugsraum des sozialen Lebens.171 Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich so aufgrund äußerer Repressalien und Mängel verstärkt ein Rückzug der Menschen ins Private, der nachgerade biedermeierlichen Lebensformen glich.172 Eine weitere prägende Statuspassage, die einen grundlegenden Unterschied zu Lebensverläufen in der BRD darstellte, war jene der Mitgliedschaft bei den jungen Pionieren beziehungsweise der FDJ. Auch hier zeigte sich deutlich der staatliche Kontrollwille.173 Die Symbole und Rituale der Egalität und Vergemeinschaftung dürften anhaltende prägende Wirkung gehabt haben, bei nicht Wenigen auch als positiv im Sinne von Gemeinschaft, potenzieller Freunde und Freizeitaktivitäten.174 Ein Generationen übergreifender Lebensumstand war jener der stattgefundenen objektiven und der unterdrückten subjektiven Modernisierung. So wies die DDR nach außen alle Merkmale eines modernen Industriestaates und einer objektiven Modernisierung mit Verstädterung, Beschäftigungsrückgang im primären Sektor, Anstieg des Bildungsniveaus, sozialer und räumlicher Mobilität,
169 Vgl. Kocka, Jürgen: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Kaelble/Kocka/Zwahr, 1994, S. 547553, hier S. 551. 170 Vgl. zur Normalbiografie Ostdeutscher Steiner, Irmgard: Strukturwandel der Jugendphase in Ostdeutschland, in: Büchner, Peter/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Aufwachsen Hüben und Drüben, Opladen 1991, S. 31-32, hier S. 28; siehe auch Behnken, Imbke: geboren 1969: Die 23jährigen – Zweimal Normalbiografien, in: Fischer, Arthur/Zinnecker, Jürgen (Hg.): Jugend ´92. Lebenslagen, Orientierungen und Entwicklungsperspektiven im vereinigten Deutschland. Bd. 1: Gesamtdarstellung und biographische Porträts. Jugendwerk Deutsche Shell, Opladen 1992, S. 207-212, besonders S. 208 f. 171 Diese Aussage soll nicht die Tatsache leugnen, dass es auch innerhalb von Familien zu staatlicher Überwachung durch Informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit gekommen war. Im Allgemeinen jedoch stellte die Familie einen vor dem Staat geschützten sozialen Raum dar. 172 Vgl. Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, S. 221. 173 Vgl. Lemke, 1991, S. 134 ff. 174 Vgl. Zinnecker, Jürgen/Fischer, Arthur: Jugendstudie ´92 – Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick, in: Fischer/Zinnecker, 1992, Bd. 1, S. 213-306, besonders S. 230; siehe auch als Beispiel Lange, Katharina: Heimzeit, in: Fischer/Zinnecker, 1992, Bd. 1, S. 93-110, hier S. 95.
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B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
Säkularisierung und Individualisierung auf.175 Doch ging diese objektive Modernisierung eben nicht einher mit einer subjektiven, da erstere vom DDR-Regime befördert und gewollt war, letztere jedoch mit aller Kraft unterdrückt wurde. Vielmehr blieben alle Lebensbereiche und -stile in der DDR dem Politischen unterworfen, wurden nach Möglichkeit von den zahlreichen Armen des Regimes kontrolliert und unterdrückt. Eine eigene, vom Staat unabhängige Zivilgesellschaft konnte und sollte sich auf diese Weise nicht entwickeln.176 Doch nur in einer solchen Autonomie, zwischen Individuum und Gesellschaft, kann überhaupt Wertewandel stattfinden. Neben diesen Jahrzehnte überdauernden Umständen jedoch kann auch in der DDR so etwas wie ein Wandel der Lebensumstände und der Einstellungen beobachtet werden. Zwar ist umstritten, ob die Veränderungen in den Orientierungs- und Bewertungsmustern eines Teils der Bevölkerung bereits als Wertewandel westlicher Coulour gedeutet werden können177, oder ob es sich nicht doch schlicht um ein mit westlichen Maßstäben verglichenes oberflächliches Maß handelt178. Dennoch haben sich offenbar auch im östlichen Teil Deutschlands einem generationellen Muster folgende und durch äußere Umstände bedingte Veränderungen vollzogen. Dabei gelten gemeinhin in den 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre Geborene als eigenständige, abzugrenzende Generation.179 Sie erlebten ihre Kindheit und Jugend maßgeblich in der Ära Erich Honecker, welcher 1971 die Führung der Staatsgeschäfte als erster Staatssekretär des Zentralkomitees der DDR von Walter Ulbricht übernahm.180 Damit verbanden sich gegenüber der Ära Ulbricht zunächst einmal einige offensichtliche Erleichterungen und Verbesserungen: Durch die von Honecker propagierte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik stiegen das Lebensniveau und der wirtschaftliche Wohlstand vieler Menschen tatsächlich an, wenn auch auf einem – verglichen mit westlichen Maßstäben – bescheidenen Niveau.181 Dennoch galt die DDR in
175
Vgl. Göschel, Albrecht: Kontrast und Parallele – kulturelle und politische Identitätsbildung ostdeutscher Generationen, Stuttgart/Berlin/Köln 1999 a, S. 12 f. 176 Vgl. Göschel, 1999 a, S. 13 bzw. S. 19 f. 177 Vgl. Friedrich, Walter: Zur Mentalität der ostdeutschen Jugend, in: Schlegel, Uta/Förster, Peter (Hg.): Vom DDR-Bürger zum Bundesbürger, Opladen 1997, S. 39-51; siehe auch Friedrich, Walter: Zum Wandel der Mentalität ostdeutscher Jugendlicher seit den 70er Jahren, in: Büchner/Krüger, 1991, S. 225-233, besonders S. 227. 178 Vgl. Göschel, Albrecht: Kulturelle und politische Generationen in Ost und West, in: Berliner Debatte Initial 10 (1999 b) 2, S. 29-40, besonders S. 30; siehe auch Göschel, 1999 a, besonders S. 8. 179 Vgl. Lindner, Bernd: Sozialisation und politische Kultur junger Ostdeutscher vor und nach der Wende, ein generationsspezifisches Analysemodell, in: Schlegel/Förster 1997, S. 23-37, hier S. 29; siehe auch Göschel, 1999 b, S. 35 ff. 180 Vgl. Wolle, 1998, S. 43. 181 Vgl. Mählert, Ulrich: Kleine Geschichte der DDR, München 2001, S. 118 f.
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jenen Jahren in wirtschaftlicher Hinsicht als „Vorzeigestaat“ des Ostblocks.182 Ebenso schienen die kulturell-gesellschaftlichen Restriktionen gelockert zu werden: Das verbotene Westfernsehen sowie habituelle Zeichen westlicher Kultur wie das Tragen von Blue Jeans und langen Haaren wurden nun, wenn auch zähneknirschend, toleriert.183 Überhaupt fanden in jenen Jahren zunehmend die Insignien westdeutscher Lebensführung Einzug in den Ostalltag: Über Medien oder Urlaubsbekanntschaften verbreiteten sich modische Erscheinungen, die stillschweigend toleriert wurden. So wies die DDR-Jugend sowohl in ihrem Äußeren, teilweise aber auch in ihrem Freizeitverhalten in den 1970er- und erst recht den 1980er-Jahren erstaunliche Ähnlichkeiten mit ihren Altersgenossen in der Bundesrepublik auf.184 Doch neben diesen scheinbaren Lockerungen und Besserungen vollzog sich weiter die Abschottung und Einigelung des DDR-Staates. Das Vorbild der Sowjetunion wurde nach wie vor betont185, die letzten Elemente kapitalistischer Wirtschaft getilgt und der Ausbau der Staatssicherheit und damit die Überwachung der Bevölkerung nahmen ihren Gang.186 So wurden die anfänglichen Hoffnungen der Bevölkerung auf wirtschaftlichen Aufschwung und gesellschaftliche Liberalisierung ab Ende der 1970er-Jahre kontinuierlich enttäuscht. Mit dem ausgehenden Jahrzehnt setzte ein wirtschaftlicher Niedergang ein, der sich in den 1980er-Jahren zur Mangelwirtschaft ausweitete und die DDR schließlich in den Staatsbankrott führte.187 Auch die Hoffnung auf innenpolitische Lockerungen wurde mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 radikal und symbolisch beendet.189 Die Erstarrung des Systems und die Unfähigkeit der führenden Eliten, diese zu beheben, führten zur Resignation und inneren Emigration der Bevölkerung. Zunehmend fand der Rückzug ins Private, in die Familie statt, wenn sich auch parallel dazu und im Schutz der Kirchen eine friedens-, umweltund bürgerrechtsbewegte Szene etablierte. Diese „DDR-Alternativszene“ wurde einerseits durch die oben beschriebenen politischen Probleme und Versäumnisse genährt. Andererseits wurde sie angetrieben durch die zunehmend offensichtli182
Vgl. Wolle, 1998, S. 45. Vgl. Mählert, 2001, S. 119. 184 Vgl. beispielsweise die Einschätzungen zu Jugendlichen in den 1980er-Jahren beziehungsweise der Nachwendezeit in: Zinnecker/Fischer, 1992, in: Fischer/Zinnecker, 1992, Bd. 1, S. 213-306, besonders S. 222 und 233; siehe auch Kühnel, Wolfgang: Orientierungen im politischen Handlungsraum, in: Fischer, Arthur/Zinnecker, Jürgen (Hg.): Jugend ´92. Lebenslagen, Orientierungen und Entwicklungsperspektiven im vereinigten Deutschland. Bd. 2: Im Spiegel der Wissenschaften. Jugendwerk Deutsche Shell, Opladen 1992, S. 59-71; siehe auch Krebs, Dagmar: Werte in den alten und neuen Bundesländern, in: Fischer/Zinnecker, 1992, Bd. 2, S. 35-48. 185 Vgl. Wolle, 1998, S. 45. 186 Vgl. Mählert, 2001, S. 120 f. 187 Vgl. Mählert, 2001, S. 135. 189 Vgl. ebd., 2001, S. 130 183
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cher werdenden umweltpolitischen Verwerfungen der DDR. Im Grunde ließ sich die Umweltpolitik des DDR-Regimes auf folgenden Nenner bringen: Sie existierte nicht. Dementsprechend waren die Folgen dieses Versäumnisses für jeden spürbar, denn Luftverschmutzung oder durch Abwässer verunreinigte Flussläufe waren alltäglich. Diese Erfahrungen ließen besonders unter Jugendlichen ein wachsendes Umweltbewusstsein entstehen. Nachweislich zeigten sich Jugendliche in den 1980er-Jahren vom DDRSystem befremdet, wandten sich von seinen Zielen ab, wurden gewissermaßen – und soweit es in einem durchpolitisierten Staat möglich war – unpolitisch.190 Hatten der Beginn der Ära Gorbatschow 1985 in der Sowjetunion, seine Perestroika-Politik sowie die Reformprozesse in Ungarn und Polen zunächst die Erwartung auf Veränderungen auch in der DDR evoziert, so zeigte sich rasch, dass die immer noch der Weimarer Generation entstammenden führenden Partei- und Staatseliten alles andere als gewillt waren, einen reformorientierten Kurs einzuschlagen.191 So wirkte die DDR in jenen ausgehenden 1980er-Jahren erstarrt und gelähmt. Junge Menschen kehrten zwar nicht in offensichtlicher Konfrontation, aber doch durch inneren Rückzug dem System den Rücken.192 Gleichzeitig fand tatsächlich eine Art Einstellungswandel unter Jugendlichen – und damit eben auch unter jenen der in den 1960er-Jahre Geborenen – statt: Trotz aller bescheidenen Möglichkeiten und Mittel in der DDR stieg der Anspruch, sein Leben individuell und differenziert gestalten zu können.193 Doch war dies im Gegensatz zum Wertewandel des Westens eben keine nach außen gerichtete, auf Expressivität und Selbstausdruck gerichtete Individualität, die die Differenz zu Anderen brauchte und betonte. Vielmehr handelte es sich um eine auf traditionelle Selbstund Persönlichkeitsvorstellungen gegründete Individualität, einen „konventionellen Individualismus“194, der mit dem beschriebenen Rückzug ins Private, in die eigene Nische einherging.195 Auf dieser Grundlage kann tatsächlich von teils parallelen Entwicklungen in den Gesellschaften der BRD und DDR gesprochen werden: eine Ausweitung des Konsums spätestens seit den 1970er-Jahren, im Westen noch deutlicher mit einer Warenästhetik verbunden, Werte- und Einstellungsverschiebungen hin zu mehr Individualismus, die Entstehung eines Friedens- und Umweltbewusstseins und entsprechender sozialer Bewegungen. Doch blieben die genannten Ähnlichkeiten mit dem Westen im östlichen Teil Deutschlands stark an der Oberfläche verhaf190
Vgl. beispielsweise Kirchhöfer, Dirk: Eine Umbruchsgeneration? Wende- und Vereinigungserfahrungen, in: Fischer/Zinnecker, 1992, Bd. 2, S. 15-34, hier S. 26. 191 Vgl. Mählert, 2001, S. 146 ff. 192 Vgl. Göschel, 1999 a, S. 227 f. 193 Vgl. Friedrich, 1991, S. 226 f. 194 Zit. nach Göschel, 1999 b, S. 30. 195 Vgl. Göschel, 1999 a, S. 238 bzw. S. 294.
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tet und wurden von dem DDR-System entspringenden Werten wie Familie, Bindung, Sicherheit überlagert. Es handelte sich teilweise um Nachahmung, teilweise um eine zeitversetzte Entwicklung.197 Auch konnten sich die zarten, im Schutz der Kirche entstandenen Ansätze einer Zivilgesellschaft mit friedens- und umweltbewegtem Anklang aufgrund der Repressalien des Regimes nur schwerlich entfalten und keine solche Massenwirkung wie im Westen der Republik erlangen. Zwischen Börsenboom und Terrorismus: Die 1990er-Jahre im Lichte der „Netzwerker“ Die Schlagworte, unter denen eine – vor allem westdeutsche – Jugend in den 1980er-Jahren stand, und die potenziell prägende Wirkung entfaltet haben, sind genannt worden: wachsendes Umweltbewusstsein und Umweltschutz, Friedenssehnsucht, (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Zukunftsskeptizismus, Ausdifferenzierung und Ausweitung der Medienlandschaft. Doch erfuhren einige dieser Konstanten bereits seit Ende der 1980er-, verstärkt aber in den 1990er-Jahren und zum Jahrtausendwechsel Veränderungen, die sowohl ostdeutsche als auch westdeutsche junge Erwachsene betrafen. Zunächst wandelten sich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der DDR die internationalen Rahmenbedingen erheblich: Mit dem Ende des Kalten Krieges hatte die Ost-West-Konfrontation ein Ende, war die klare Aufteilung der Welt in zwei Blöcke vorbei. Damit endete nicht nur ein jahrzehntelang dominantes Bedrohungsszenarium, sondern auch die Kategorisierung des internationalen Raums in „Ost“ und „West“, in Kapitalismus und Sozialismus existierte – auch als zentrale Orientierungsfunktion – nicht mehr.198 Anstelle dessen trat all das, was gemeinhin unter dem Schlagwort der Globalisierung zusammengefasst wurde: die zunehmende internationale Verflechtung der Wirtschafts- und Finanzmärkte, der globale Daten- und Kommunikationsaustausch, weltweite Reisemöglichkeiten und Mobilität.199 Für die Bundesrepublik konkret bedeutete der Fall des so genannten Eisernen Vorhangs darüber hinaus die Wiedervereinigung zweier über Jahrzehnte getrennter Landesteile, mit all ihren Implikationen: Unterschiedliche kulturelle und wirtschaftliche Räume mussten zusammen geführt werden, die Vereinigung im privaten, kulturellen und finanziellen Bereich be-
197
Vgl. Lindner, 1997, in: Schlegel/Förster, 1997, S. 34. Vgl. Weidenfeld, 1993, S. 20. 199 Vgl. Perraton, Jonathan/Goldblatt, David/Held, David/McGrew, Anthony: Die Globalisierung der Wirtschaft, in: Beck, Ulrich (Hg.): Politik der Globalisierung, Frankfurt a. M. 1998, S. 134-168. 198
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wältigt werden.200 Zudem musste sich die so gewachsene BRD im ohnehin veränderten internationalen Raum neu orientieren.201 In ökonomischer Hinsicht fanden zwei gegenläufige Entwicklungen statt, die im Gegensatz zur oben skizzierten Entwicklung in den 1980er-Jahren standen und potenziell generationsprägende Kraft besaßen.202 Zunächst erfolgte mit dem so genannten Börsenboom ein sich Schwindel erregend schnell vollziehender wirtschaftlicher Aufschwung.203 Quasi eine gesamte Wirtschaftssparte entstand im Schnellverfahren und schuf exponentiell Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Doch wurde bereits vor dem Ende dieses Wachstums ein anderer Prozess immer deutlicher: Trotz aller Zugewinne in diesem Sektor verfestigte sich die Sockelarbeitslosigkeit in Deutschland. Mit dem Argument, international konkurrenzfähig sein zu müssen, wurden Arbeitsplätze gerade bei einfach qualifizierten Tätigkeiten abgebaut,204 doch erfasste die Arbeitsmarktproblematik zunehmend auch besser qualifizierte Schichten. Kurzum: Trotz und erst recht nach Ende des Börsenhypes waren die ansteigenden Arbeitslosenzahlen – besonders markant in Ostdeutschland – alarmierend.205 Zudem schien die nationalstaatliche Politik in ihren Einflussmöglichkeiten aufgrund der internationalen Verflechtung der Wirtschafts- und Warenmärkte nur begrenzt handlungsfähig zu sein.206 Über die beschriebenen Veränderungen hinaus nahmen die Bedrohungen des internationalen Terrorismus – nicht zuletzt als Folge der neuen Weltordnung und eines sich radikalisierenden islamistischen Fundamentalismus – sowohl in ihrer Quantität als auch in ihrer Qualität neue Ausmaße an.207 Die Flugzeugattentate auf das World Trade Center am 11.09.2001 waren in diesem Zusammenhang nicht nur symbolischer und tatsächlicher Höhepunkt der Entwicklungen, sie 200
Vgl. Süß, Werner: Der deutsche Vereinigungsprozess 1989/90. Politische Strategie zwischen Euphorie und Bürokratie, in: Ders. (Hg.): Deutschland in den neunziger Jahren. Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung, Opladen 2002, S. 29-49; siehe auch Winkler, 2000, S. 569 ff. und S. 619 ff. 201 Vgl. zur Außenpolitik der Dekade ab 1990 Hacke, Christian: Deutschlands neue Rolle in der Weltpolitik, in: Süß, 2002, S. 285-298, , besonders S. 291 ff. 202 Vgl. zur Bedeutung wirtschaftlicher Entwicklung für die Herausbildung – ökonomischer – Generationen Kohli, Martin/Szydlik, Marc: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 7-18, hier S. 9 f. 203 Vgl. beispielhaft Prollius, 2006, S. 270 ff. 204 Vgl. Kapstein, Ethan B.: Arbeiter und die Weltwirtschaft, in: Beck, 1998, S. 203-227, besonders S. 209 ff. 205 Vgl. zur Situation auf dem Arbeitsmarkt Blancke/Schmid, 2003, S. 216 f. und S. 231. 206 Vgl. Scharpf, Fritz W.: Demokratie in der transnationalen Politik, in: Beck, 1998, S. 228-253, besonders S. 239 f. und S. 247 f. 207 Vgl. Hartmann, Michael: Innere Sicherheit und das Entstehen der „Einen Welt“ – Eine erste Annäherung, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Die neue SPD. Menschen stärken – Wege öffnen, Bonn 2004, S. 76-81, besonders S. 78 f.
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offenbarten zudem die Verletzbarkeit der USA sowie der westlichen Welt insgesamt. Nachdem in den 1980er-Jahren gerade seitens der oben skizzierten Neuen Sozialen Bewegungen für mehr gesellschaftliche Freiheiten und weniger staatliche Kontrolle gekämpft worden war, entbrannten im politischen Raum nun heftige Debatten über zu verstärkende Maßnahmen zur inneren Sicherheit des Staates.208 Auseinandersetzungen um Datenspeicherung, rigorosere Strafverfolgungsmaßnahmen oder ausgeweitete Onlinedurchsuchungen waren an der Tagesordnung. Eins wurde hierdurch deutlich: Spätestens mit dem Jahrtausendwechsel wandelte sich die politische Maxime von Schlagwort größtmöglicher Liberalität zu größtmöglicher Sicherheit. Schlussendlich soll ein Phänomen erwähnt werden, das seit Beginn der 1990er-Jahre sowohl die Politikwissenschaft als auch die Politik selbst beschäftigte und gerade für jüngere Menschen auf dem Weg ins Politikerleben – wie es „Netzwerker“ in diesem Zeitraum vornehmlich waren – nicht unerheblich war: Die Rede ist von der Politikverdrossenheit. Gerade nach den hochpolitisierten Jahrzehnten zuvor musste es Beobachter irritieren, dass das Interesse an politischen Vorgängen sowie das Bedürfnis nach politischer Partizipation gerade unter jüngeren Menschen rapide nachließ.209 In diesem Zusammenhang wurde zunehmend spezifizierend von Parteienverdrossenheit gesprochen. Parteien, so das Urteil, gelänge es immer weniger, Nachwuchs zu rekrutieren, auf die veränderten politischen Probleme zu reagieren oder ihr Handeln gegenüber den Bürgern plausibel zu legitimieren.210 Besonders eklatant wirkten in diesem Kontext die sich in den 1990er-Jahren häufenden Partei- oder Politikaffären, unter denen die CDU-Spendenaffäre die heraus stechend war.211 All dies bedeute für Nachwuchspolitiker wie „Netzwerker“, dass sie sich von Beginn ihres Politikerlebens statt mit Interesse mit Desinteresse und Misstrauen konfrontiert sahen. All die beschriebenen historischen, politischen und gesellschaftlichen Erscheinungen der 1990er-Jahre bis zur Jahrtausendwende bedeuteten gravierende Veränderungen für den politischen Kontext junger Erwachsener im Vergleich zu ihren Sozialisationserfahrungen der 1980er-Jahre. Insofern untermauert diese Betrachtung der äußeren Umstände zumindest die Grundlagen der oben ausgeführten These von der „Generation Golf“, die sich diametral gegenüber stehen208
Vgl. beispielhaft ebd., besonders S. 78 f. Vgl. zum Rückgang des politischen Interesses speziell Jugendlicher in den 1990er-Jahren Gille, Martina/Krüger, Winfried/de Rijke, Johann/Willems, Helmut: Politische Orientierungen, Werthaltungen und die Partizipation Jugendlicher: Veränderungen und Trends in den 90er Jahren, in: Palentien/Hurrelmann, 1998, S. 148-177, besonders S. 151 ff. 210 Vgl. beispielhaft Sontheimer, 1990, in: Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, 1990, S. 18 f. 211 Vgl. Bösch, Frank: Macht und Machtverlust, Stuttgart 2002, S. 171 ff.; Langguth, Gerd: Das Innenleben der Macht: Krise und Zukunft der CDU, München 2001, S. 160 ff. 209
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B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
den Sozialisationskontexten im Jugendalter einerseits sowie im jungen Erwachsenenalter andererseits ausgesetzt sah. 5.1.4 Parteiinterne Generation – Oder: Wer wird in den 1980er-Jahren noch SPD-Mitglied? Die Prägung durch allgemeine, soziokulturelle und historische Entwicklungen ist sicherlich grundlegend für die Konstitution einer politischen Generation, doch kommt im Fall des „Netzwerks“ hinzu, dass der überwiegende Teil der in der Gruppierung vereinten Abgeordneten im Laufe der 1980er-Jahre Parteimitglied wurde.212 Zudem engagierten sich insbesondere jene „Netzwerker“, von denen die Gründungsinitiative ausging und die das Projekt in den Jahren 1999 bis 2002 maßgeblich vorantrieben, bei der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten.213 Es ist unbestritten, dass ein solches Engagement im politischen Bereich während der Jugendzeit eines Individuums Einfluss auf dessen politische Sozialisation und die Ausprägung von Werthaltungen hat.214 Es soll daher im Folgenden der Sozialisationskontext geschildert werden, wie er sich „Netzwerkern“ in den 1980erJahren bei den Jungsozialisten bot. Jungsozialisten und junge SPD-Mitglieder befanden sich in den 1980erJahren quasi in einer Minderheitenposition. Während sich die Politik der Grünen sowie die grüne Partei insgesamt unter Jugendlichen jener Jahre eines hohen Zuspruchs erfreuten, fiel die Sympathie gegenüber der Sozialdemokratie recht bescheiden aus.215 Ähnlich verhielt es sich bei einem Vergleich mit den Unionsparteien, namentlich der CDU.216 Insofern wurden die SPD und ihr Parteinachwuchs von zwei Seiten in die Zange genommen: Da unter Jugendlichen der 1980er-Jahre einerseits postmaterialistische Werte und Einstellungen zunehmend Konjunktur erfuhren, es andererseits in Abgrenzung zu jenem Werteraum zu einer Verfestigung materialistischer Werte kam, fiel nicht nur der Zuspruch zur SPD allgemein vergleichsweise gering aus. Schlimmer noch: Jugendliche hatten häufig gar kein rechtes Bild von der Politik der Sozialdemokratie und bildeten sich keine Meinung zu ihren Positionen.217 Junge Menschen, die sich dennoch 212
Vgl. die Tabelle in Kapitel 5.1.1. Zu den „Netzwerkern“ mit jungsozialistischer Vergangenheit gehören Hans-Peter Bartels, Kurt Bodewig, Kerstin Griese, Nina Hauer, Hubertus Heil, Christian Lange, Michael Roth und Ute Vogt. 214 Vgl. beispielsweise Thörmer, Heinz: „...den Sozialismus haben wir nicht aufgebaut“. Eintrittsmotivationen, politisches Lernen und Erfahrungsbildung von Jungsozialisten in der SPD, Marburg 1985, besonders S. 97 ff. 215 Vgl. Oberpriller, Martin: Jungsozialisten. Parteijugend zwischen Anpassung und Opposition, Bonn 2004, S. 278 f.; siehe auch Lösche/Walter, 1992, S. 282. 216 Vgl. Fischer/Fuchs/Zinnecker, 1985, S. 26 f. 217 Vgl. ebd.,1985, S. 27. 213
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bei der SPD engagierten – zumal in einem Alter, in dem man sich gemeinhin an peer groups und „angesagten“ Meinungen orientiert – befanden sich daher in einer strukturellen Minderheit. Welche Beweggründe waren es also, die „Netzwerker“ zur SPD und speziell zu den Jusos zogen? Und welche Auswirkungen könnte die Minoritätssituation in Bezug auf die Meinungs- und Wertebildung gehabt haben? Bei den sich in der 1980er-Jahren in der Sozialdemokratie engagierenden Jugendlichen handelte es sich um eine vergleichsweise seltene Spezies. Dabei war die wenig reizvolle Wirkung der Jungsozialisten wohl auch ihrer innerorganisatorischen Verfasstheit geschuldet: Sie befanden sich in den 1980er-Jahren und bis in das nachfolgende Jahrzehnt hinein in einer tiefen und vielschichtigen Krise.218 Während um die Jusos herum Debatten um die Abschaffung der Atomkraftwerke, den NATO-Doppelbeschluss, den Umweltschutz und den Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung tobten, widmete sich der Parteinachwuchs leidenschaftlich Diskussionen zur richtigen Überwindung des Kapitalismus219, die denkbar theoretisch verdreht und realitätsfern daher kamen.220 Die verschiedenen verbandsinternen Strömungen aus „Stamokaps“, „Refos“ und „Undogs“221 stritten erbittert um die Deutungshoheit innerhalb des sozialdemokratischen Nachwuchses, feilten bis spät nachts um das Klein-Klein von Tagesordnungsanträgen und Positionspapieren, für die sich außerhalb des Jugendverbandes niemand interessierte. Schließlich gipfelten die inhaltlichen Auseinandersetzungen in einem erbitterten Führungsstreit, der für Außenstehende kaum noch nachvollziehbar war. Doch auch die Beziehung der Jusos zur Mutterpartei war – gelinde gesagt – gestört, da sich ein Großteil der beim Parteinachwuchs aufkommenden Kritik gegen die Politik der eigenen Partei richtete, zumal in jenen Jahren bis 1982, als die SPD im Bund in der Regierungsverantwortung stand: Die Einstellung des sozialdemokratischen Kanzlers Helmut Schmidt zum NATO-Doppelbeschluss und seine Nachrüstungspolitik wurde in die Nähe von Kriegstreiberei gestellt, alle noch so zaghaften Versuche der Sozialdemokraten, hergebrachte etatistische Wirtschaftskonzepte zu überdenken, wurden mit dem Globalvorwurf des Kapitalismus bei Seite gewischt und mit Plädoyers für planwirtschaftliches Lenken gekontert.222 Schlussendlich: Die verbandsinternen Kontroversen und erbitterten 218
Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 280 ff. Vgl. ebd., S. 116 f. Vgl. beispielsweise zum Umgang der Jusos mit der DDR im Jahr 1989: Oberpriller, 2004, S. 283. 221 Die Abkürzung Stamokap bezeichnet die Anhänger des staatsinterventionistischen Monopolkapitalismus, „Refos“ war die Abkürzung der so genannten Reformsozialisten und „Undogs“ schließlich meine die Strömung der Undogamtischen. Zur genaueren Unterscheidung siehe Kapitel 5.2.2 sowie mit Bezug auf die Sozialisation vieler „Netzwerker“ Kapitel 6.1.2. 222 Lösche/Walter, 1992, S. 281. 219 220
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B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
Personalkonflikte wirkten unattraktiv für politisch interessierte Jugendliche und gingen an der politisch-historischen Realität vorbei. In diesem Umfeld wurden „Netzwerker“ bei den Jungsozialisten in den 1980er- bis beginnenden 1990er-Jahren sozialisiert. Doch auf welche Weise prägten die leidenschaftlichen und abgehobenen Debatten sie? Welche „Lektion“ lernten sie daraus für ihren weiteren politischen Werdegang? Diesen Fragen soll insbesondere in den Einzelporträts nachgespürte werden. Vorab kann festgehalten werden, dass „Netzwerker“, erstens, diese Juso-Erfahrungen in lebhafter Erinnerung behielten und sehr wohl als prägend erfuhren.223 Zweitens engagierten sich „Netzwerker“ zum allergrößten Teil in reformsozialistischen Zusammenhängen. Damit traten sie für ein realitätsorientiertes und auf pragmatische Veränderung ausgerichtetes Politikverständnis ein, lehnten die Marxismusgläubigkeit und den Dogmatismus der Stamokap-Richtung ab.224 Zum Dritten aber waren die damals bei den Jusos aktiven „Netzwerker“ mit ihrer politischen Auffassung stets in einer Minderheit. Auch dieser Tatsache kann durchaus eine prägende Kraft unterstellt werden. 5.2 Die „Antigeneration“ der „Netzwerker“: 1968 Da „Netzwerker“ sich insbesondere von den 68ern abgrenzen, sich von ihnen in Stil und Inhalt unterscheiden wollten, ist es unerlässlich zu ergründen, wie genau diese Kontrastfolie konstruiert ist, wer die 68er sowohl als historischgesellschaftliche Erscheinung als auch als sozialdemokratische Parteikohorte waren. So kann nachvollzogen werden, wogegen sich „Netzwerker“ definierten und ob und wie ihnen dieses gelang. 5.2.1 1968: Kulturrevolution, generationsprägendes Ereignis und Wertewandel? Über „1968“ als historisches Ereignis und soziales Phänomen ist viel geschrieben und geforscht worden. Doch soll und kann dies nicht der Ort sein, alle Debatten in ihrer Tiefe und Breite wiederzugeben. Vielmehr geht es um eine kurze Skizze jener Ereignisse und ihrer Auswirkungen, damit das bundesrepublikanische „1968“ als Vergleichsfolie der „Netzwerker“ dienen kann. Grundsätzlich mag es sicher ambitioniert erscheinen, Charakteristika einer gesamten parteiinternen Politikergeneration innerhalb weniger Absätze abzuhandeln. Und tatsächlich sind zu diesem Zweck ohne Zweifel Zuspitzungen und teilweise schablo223 224
Vgl. beispielsweise die Interviews mit Kerstin Griese, Hubertus Heil oder Michael Roth. Vgl. beispielsweise die Interviews mit Hubertus Heil und Jürgen Neumeyer.
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nenhafte Vereinfachungen erforderlich. Dennoch erscheint ein derartiges Vorgehen nicht nur notwendig, um „Netzwerker“ von vorherigen politischen Generationen zu differenzieren und so definieren zu können. Mehr noch sind Zuspitzungen deshalb sinnvoll, da sich auch der offensichtlich vorhandene Abwehrreflex der „Netzwerker“ gegenüber der Vorgängergeneration weniger aus stets detailreich differenzierten Überlegungen, sondern – wie es für potenzielle Generationenbildungen einsichtig ist – aus einem oft über Jahre verdichteten Empfinden und somit teils groben Vereinfachungen speiste. Zum Teil bereits seit Ende der 1950er-, verstärkt aber im Laufe der 1960erJahre entwickelten sich verschiedene soziale Proteststränge, die sich nach und nach miteinander verwoben und letztendlich als die 68er-Bewegung firmierten.225 Allen gemein war die Auffassung von einer vermeintlichen Entdemokratisierung der Bundesrepublik, die sich in den Augen der verschiedenen kritischen Bewegungen in einem unreflektierten Umgang mit der NSVergangenheit der BRD zeigte. Diese These schien sich anlässlich der Ereignisse rund um den Besuch des Schahs von Persien in Berlin am 02. Juni 1967 zu bestätigen: Demonstrationen gegen die politisch-gesellschaftliche Situation im Iran endeten blutig und mit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg.226 Auf diese Weise wurde der Unmut unter den Protestierenden weiter angeheizt und zog – nicht zuletzt durch das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 – zahlreiche Demonstrationen und Auseinandersetzungen nach sich, wie etwa die Blockade-Aktionen gegen den Springer-Konzern oder diverse Kampagnen gegen die Große Koalition.227 Allerdings begann die „Protestszene“ nach dem Beschluss der Notstandsgesetzgebung durch die Große Koalition aus SPD und CDU/CSU im Jahr 1968 auch rasch in die verschiedensten Strömungen aus K-Gruppen, (Links-)Terrorismus, Frauen- und Friedensbewegung etcetera zu zerfallen. Letztendlich umfassten die Ereignisse von „1968“ daher im engeren Sinne lediglich die Jahre 1967 bis 1969. Auch quantitativ war die Bewegung wesentlich enger gefasst, als es in der Nachschau zuweilen schien. Insgesamt war an den 68er-Protesten im eigentlichen Sinne nur eine relativ geringe Zahl an Jugendlichen und jungen Erwachse225
Vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid: „1968“ in Frankreich und Deutschland, in: Leviathan 4 (1998), S. 533-539. Unterschieden werden die Ostermarschbewegung, die sich für (militärische) Abrüstung einsetzte, die Proteste gegen die Notstandsgesetzgebung der Großen Koalition und die Studentenbewegung, die sich hauptsächlich gegen den Bildungsnotstand, ein veraltetes Bildungssystem der Universitäten – das nicht zuletzt teils durch Eliten mit nationalsozialistischer Vergangenheit repräsentiert wurde – wandte. 226 Vgl. Richter, Pavel A.: Die Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland 1966 bis 1968, in: Gilcher-Holtey, Ingrid (Hg.): 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998 b, S. 35-55, hier S. 48 f. 227 Vgl. Fogt, 1982, hier S. 138.
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nen von circa 100.000 Menschen beteiligt.228 Häufig wird deshalb im Zusammenhang mit 1968 auch von einer „retrospektiven Vermehrung“ gesprochen:229 Im Nachhinein bezeichneten sich selbst wesentlich mehr Menschen als „68er“ als ursprünglich tatsächlich an den Ereignissen beteiligt waren. Die Proteste und die mit ihnen verbundenen Werteinstellungen wurden zum Identifikationsmuster ganzer Kohorten und damit einer Generation – den 68ern. Die personelle Zusammensetzung der außerparlamentarischen und Studentenproteste wies dagegen ein recht deutliches Profil auf: Es handelte sich in der Hauptsache um Angehörige des (Bildungs-)Bürgertums beziehungsweise der Mittelschicht, zum größten Teil zwischen Mitte der 1930er- und Mitte der 1940er-Jahre geboren, die nicht aus materieller Not, sondern aus einem moralischen Anspruch heraus gegen bestehende soziale und politische Umstände protestierten.230 Damit kann zum einen die soziale Herkunft, zum anderen die Kohortenzugehörigkeit der Protestler recht genau angegeben werden. Es war die erste Nachkriegsgeneration der Bundesrepublik, die mit dem Krieg oder seinen Folgen als Kind konfrontiert worden war. Insofern umfasste die 68er-Generation im Sinne Budes die Geburtsjahrgänge 1938 bis 1948.231 Legt man das Kriterium der Kriegskindheit, des Aufwachsens und der politischen Sozialisation im Nachkriegsdeutschland an, so spricht einiges für die Ausweitung der Generationsdefinition auch auf frühere Jahrgänge. Da im individuellen Fall die altersmäßige Generationenscheide nicht immer auf einen genauen Zeitpunkt zurückzuführen ist, sollen hier all jene Jahrgänge als Generationenlagerung gefasst werden, die zwischen Mitte der 1930er- und Ende der 1940er-Jahre geboren wurden. Somit war dies auch die erste Generation, die nicht selbst in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen war und daher von einem distanzierten Standpunkt aus die Fragen nach Mittäterschaft, Schuld und Vergangenheitsbewältigung stellen konnte. Für viele Mitglieder jener Kohorten bedeutete dabei die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit des eigenen Staates zugleich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der eigenen Eltern. Damit wurde der gesamtgesellschaftliche Generationenkonflikt in vielen Fällen zum innerfamiliären. Doch zielte die Kritik der Studentenbewegung und Außerparlamentarischen Opposition nicht nur auf den Umgang der Bundesrepublik mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit. Vielmehr handelte es sich bei 1968 um eine umfas228 Vgl. Rucht, Dieter: Die Ereignisse von 1968 als soziale Bewegung, in: Gilcher-Holtey, 1998 b, S. 116-130, hier S. 127. 229 Vgl. Bude, Heinz: Achtundsechzig, in: Francois, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, S. 122-132, hier S. 131. 230 Vgl. Görtemaker, 2002, S. 195; siehe auch Schelsky, Helmut: Die Generationen der Bundesrepublik, in: Scheel, Walter (Hg.): Die andere Deutsche Frage. Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland nach dreißig Jahren, Stuttgart 1981, S. 178-198, hier S. 191 f. 231 Vgl. Bude, 1995; siehe auch Bude, 1998, S. 82.
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sende, alle gesellschaftlichen Bereiche ergreifende Kulturkritik. In den beiden Nachkriegsjahrzehnten hatte sich die Bundesrepublik vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht rasant und zu deutlich ansteigendem allgemeinen Wohlstand hin entwickelt, während im gesellschaftlichen Bereich, im zwischenmenschlichen Zusammenleben, bei familiären Vorstellungen, sittlichen und sozialen Normen kaum ein Wandel stattgefunden hatte. Diese gegenläufige Entwicklung wurde von der jüngeren Generation als schroffer Widerspruch empfunden.232 In der Hauptsache wurde dabei vor allem von der Studentenbewegung die BRD als eine autoritäre Gesellschaft wahrgenommen, so dass es auf Grundlage der Theorien der „Frankfurter Schule“ galt, die autoritäre Persönlichkeitsstruktur eines jeden Einzelnen und in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen zu verändern, um die Bundesrepublik in eine sozialistische Demokratie zu verwandeln.233 Das Konzept des „autoritären Charakters“ war es, das die Institutionenkritik mit der Gesellschaftskritik und mit der Auseinandersetzung der noch nicht bewältigten nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit bündelte.234 Im Konkreten äußerte sich diese Kritik in dem Ruf nach einer Bildungsreform, nach mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten im politischen und im Bildungsbereich beispielsweise der Hochschulen, einem Wandel der Geschlechterbeziehungen oder dem Paradigma antiautoritärer Erziehung. Diese grundlegende Kritik wirkte sich in der deutschen Gesellschaft insofern nachhaltig aus, als dass zum einen soziale Bewegungen aus den ursprünglichen 68er-Protesten resultierten – wie die Frauen-, Friedens- oder Ökologiebewegung – als auch insgesamt postmaterialistische Werte eine weitere Verbreitung fanden. Insgesamt aber war die 68er-Bewegung ein Ereignis- und Medienphänomen: Die Revolution an sich, die Veränderung der Verhältnisse sollte auch Spaß machen und Aufmerksamkeit erregen. Daher kam der Form des Protests eine recht große eigenständige Bedeutung zu: teach-ins, sit-ins oder die „Kommune I“ erlangten nicht nur durch die von ihnen verfochtenen Inhalte, sondern auch – und teils hauptsächlich – durch die Art der Präsentation Aufmerksamkeit.235 Die Protestformen spielten bewusst mit der Provokation und setzten kalkuliert auf
232
Vgl. Herbert, Ulrich: Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Reulecke, Jürgen u.a. (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95-114, hier S. 110; s. auch Fogt, 1982, S. 149. 233 Vgl. Kraushaar, Wolfgang: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, S. 31 ff. 234 Vgl. Gilcher-Holtey, 1998 a, S. 536 f. 235 Vgl. Fogt, 1982, S. 158; siehe auch Villinger, Ingeborg: „Stelle sich jemand vor, wir hätten gesiegt“. Das Symbolische der 68er-Bewegung und die Folgen, in: Gilcher-Holtey, 1998 b, S. 239-255, besonders S. 239 ff.
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die Reaktion der Massenmedien.236 Damit veränderten die 68er-Proteste nachhaltig die Maßstäbe der politischen Kommunikation für nachfolgende Generationen. 5.2.2 1968 und die deutsche Sozialdemokratie: Auswirkungen auf Inhalte, Mitglieder und Funktionsträger Der Politisierungsschub, der mit den Ereignissen von 1968 verbunden war, hatte auch Auswirkungen auf die deutsche Sozialdemokratie. Insgesamt herrschte in der BRD gegen Ende der 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre ein politischgesellschaftliches Klima, das durch starkes politisches Interesse weiter Bevölkerungsteile und den Ruf nach mehr Partizipationsmöglichkeiten gekennzeichnet war. Ein großer Teil der durch die Außerparlamentarischen Opposition und die Proteste sozialisierten jungen Menschen suchte sich als politisch-parteiliche Heimat die SPD aus.237 Die sozial-liberale Koalition und Willy Brandts Versprechen von „Mehr Demokratie wagen“ galten Vielen als Symbol eines politischen Aufbruchs. Für die SPD hatte der massenhafte Eintritt ganzer Geburtskohorten mehrere Folgen. So veränderten sie sowohl die Diskussionskultur und das thematische Tableau der Jungsozialisten als auch der Sozialdemokratie allein aufgrund ihrer quantitativen Stärke. Der Verband der Jungsozialisten wandelte sich seit Mitte der 1960er-Jahre von der parteikonformen Nachwuchsschmiede zum innerparteilichen ideologischen Richtungsverband.238 Die Jungsozialisten schlossen sich in den ausgehenden 1960er-Jahren teilweise den Aktionen der Studentenbewegung an und nahmen nach dem Zerfallen der Außerparlamentarischen Opposition deren Protagonisten auf,239 so dass Ziele und Ideen der Studentenbewegung in den Jugendverband hinein getragen wurden. Das Verhältnis zur SPD änderte sich von nun an insofern, als dass Jungsozialisten zum einen mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten hinsichtlich der politischen Arbeit der Partei forderten, andererseits aber die im Bund in Regierungsverantwortung befindliche SPD stark kritisierten.240 Zudem nahmen in dieser Zeit die tiefen, verbandsinternen Spaltungen ihren Anfang, die die Jungsozialisten noch über Jahrzehnte beschäftigen sollten und zu 236
Vgl. Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-77, Köln 2001, S. 472. 237 Vgl. Feist, Ursula/Güllner, Manfred/Kiepelt, Klaus: Die Mitgliedschaft von SPD und CDU/CSU zwischen den sechziger und siebziger Jahren, in: Politische Vierteljahresschrift 18 (1977), S. 257278. 238 Vgl. zur Reideologisierung der Partei seit den späten 1960er-Jahren Walter, Franz: Die Krise hinter der Krise, in: Ders., 2002 a, S. 16-27, hier S. 24. 239 Vgl. Butterwegge, 1975, S. 42 f. und S. 70. 240 Vgl. ebd., S. 44 ff.
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Beginn der 1970er-Jahre in die Aufspaltung in drei große Strömungen mündete, die erbittert um die innerverbandliche Deutungshoheit stritten. So waren die Reformsozialisten zur kritischen Mitarbeit in der SPD bereit und glaubten, dem Kapitalismus mit systemüberwindenden Reformen begegnen zu können. Demgegenüber stand einerseits die Stamokap-Fraktion, die der Theorie des staatsinterventionistischen Monopolkapitalismus anhing und den Staat lediglich als Instrument der kapitalistischen Klasse interpretierte. Akzeptierten StamokapVertreter noch die parlamentarische Arbeit, so lehnten die Antirevisionisten diese völlig ab und stritten stattdessen für die sozialistische Gesellschaftsveränderung von der Basis aus.241 Im Grunde aber wurden die Details der jungsozialistischen Auseinandersetzungen zumindest für Außenstehende bald unerheblich. Bedeutender waren vielmehr die Konsequenzen der Zwistigkeiten. Denn allen drei Gruppierungen war gemein, dass sie die Arbeit der SPD in mehr oder minder fundamentaler Form als nicht ausreichend sozialistisch kritisierten und sich in Opposition zur Mutterpartei stellten. Daraus folgte, dass die Jungsozialisten sich zunehmend zu einem eigenen Arkanum der politischen Auseinandersetzung aber auch Reifung entwickelten. Die hochideologischen und theoretisch ins Feinste differenzierten Diskussionen waren zwar nicht selten lediglich Instrument der innerverbandlichen Machterlangung, doch schärften sie ohne Zweifel die rhetorische Debattenfähigkeit der Beteiligten und schulten für den Weg der politischen Machterlangung.242 Ab Ende der 1970er-Jahre rückten die ehemaligen Jungsozialisten so nach und nach in Positionen der Mutterpartei vor. In diesem Zeitraum sind dann auch erkennbare Veränderungen vor allem in der Besetzung der mittleren Funktionärsebene und der Parteiführung zu erkennen. Bei Befragungen der Bundesparteitagsdelegierten 1976, 1979 sowie 1986 machten sich mehrere frappierende Wandlungen deutlich: Zunächst hatte sich das Verhältnis der Generationen – das aufgrund veränderter Sozialisationsbedingungen einen Einstellungswandel indizierte – markant verändert. Gehörten 1970 noch insgesamt 25% den Geburtsjahrgängen 1941 folgende an, so waren dies 1986 bereits 51%.244 Damit überstieg der Anteil jener Generationen innerhalb der Sozialdemokratie, die den Nationalsozialismus nicht mehr direkt erfahren hatten, jenen der gesamten bun241
Vgl. zur Differenzierung der einzelnen Gruppierungen Krabbe, 2002, S. 204 ff.; siehe zur Differenzierung, wenn auch mit ideologischen Abstrichen, da vom gegnerischen RCDS herausgegeben, ebenso: Fuchs, Jürgen: Die Fraktionen der Jungsozialisten, Erlangen 1979. 242 Vgl. Walter, Franz: Selbstgenügsam und pausbäckig, in: Ders.: Abschied von der Toskana. Die SPD in der Ära Schröder, Wiesbaden 2004, S. 123-125, hier S. 125. 244 Vgl. Schmitt, Hermann: Von den Siebzigern in die achtziger Jahre: Die mittlere Parteielite der SPD im Wandel, in: Schmitt, Karl (Hg.): Wahlen, Parteieliten, politische Einstellungen, Frankfurt a. M. 1990, S. 211-229, hier S. 214.
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desdeutschen Elite aus Politik, Wirtschaft, Militär, Verwaltung und Journalismus.245 Darüber hinaus ging mit der generationellen Umwälzung nicht nur eine zunehmende Akademisierung, sondern auch eine Gewichtverschiebung der Studienrichtungen zugunsten sozial- und geisteswissenschaftlicher Fächer innerhalb des Funktionärskörpers einher.246 Die SPD erfuhr daher mit steigendem Akademikeranteil und sinkender Arbeiterherkunft eine rasche Verbürgerlichung.247 Der quantitative Zuwachs jüngerer Funktionäre zog zudem eine deutliche ideologische Verschiebung auf der Rechts-Links-Skala nach sich. Der Anteil der sich selbst als „links“ apostrophierenden Befragten stieg von 15% 1979 auf 31% 1986.248 Analog dazu nahm die Sympathie gegenüber der Partei der Grünen zu, und es gewannen postmaterialistisch-individualistische Politikziele wie Umweltschutz, eine stärkere Einbindung von Bürgerinitiativen in den politischen Prozess oder auch die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern an %edeutung.249 Der innerparteiliche Generationswechsel von vor 1930 Geborenen hin zu den Nachkriegsgenerationen und damit den 68ern wurde mit dem Gang der SPD in die Opposition auf Bundesebene beschleunigt und kurz danach abgeschlossen.250 Spätestens seit den ausgehenden 1980er-Jahren und bis über die Regierungsübernahme 1998 hinaus dominierten die entsprechenden Geburtskohorten parteiinterne und exekutive Führungsämter251 sowie Thementableau und Führungsstil der SPD. So war es aufgrund des kohorteninternen Zusammenhalts und der quantitativen Übermacht der 68er für jüngere Politiker nur schwerlich möglich, in der Partei aufzusteigen.252 5.2.3 1968 und die „Enkel“: Zwischen Postmaterialismus und Hedonismus Ironischerweise sind die führenden Politik jener Generation, die in der deutschen Sozialdemokratie mit den Begriffen „1968-er“ oder „Enkel“ gefasst werden, kaum je Teil der historischen Studentenbewegung gewesen. Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine, Rudolf Scharping, Björn Engholm und Heidemarie Wieczo245
Vgl. Hoffmann-Lange/Bürklin, 1999, in: Glatzner/Ostner, 1999, S. 166. Vgl. Schmitt, 1990, in: Schmitt, 1990, S. 215. Vgl. Hoffmann-Lange/Bürklin, 1999, in: Glatzner/Ostner, 1999, S. 167 f. 248 Vgl. Schmitt, 1990, in: Schmitt, 1990, S. 217. 249 Vgl. ebd., S. 225 ff. bzw. S. 214 f. 250 Vgl. Weege, Wilhelm b: Zwei Generationen im SPD-Parteivorstand. Eine empirische Analyse, in: Leif/Legrand/Klein, 1992, S. 191-222, besonders S. 196 ff. 251 Vgl. Walter, Franz: Partei ohne Botschaft. Probleme und Chancen der deutschen Sozialdemokratie zwischen „neuer Mitte“ und „ergrauender Gesellschaft“, in: Berliner Republik 4 (2000), S. 58-65, besonders S. 60. 252 Vgl. Walter, Franz: Die deutschen Parteien: Entkernt, ermattet, ziellos, in: Ders., 2002 a, S. 11-16, hier S. 12. 246 247
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rek-Zeul, die ursprünglich unter dem auf einen Ausspruch Willy Brandts zurück gehenden Begriff „Enkel“ firmierten253, waren nie Angehörige der eigentlichen APO-Bewegung gewesen, sondern erhielten ihre politische Sozialisation innerhalb der Sozialdemokratie beziehungsweise der Jungsozialisten. Da sie zudem größtenteils nicht wie die 68er-Bewegung Teil des Bildungsbürgertums waren, sondern der Arbeiterschaft entstammten, wurden sie unter anderem auch als Angehörige der Halbstarken-Generation bezeichnet.254 Nichtsdestotrotz standen sie symbolisch für eine sozialdemokratische Politikergeneration, die einen bestimmten Politikstil pflegte, spezifische Themen und Ziele verfolgte und mit den Ereignissen von 1968 verbunden war. Denn sie profitierten zum einen vom Bedeutungsgewinn und ideologisierten Wandel der Jungsozialisten, so dass der Jugendverband für viele zur ersten Karrierestufe wurde.255 Zum anderen nutzten gerade die „Enkel“ die Aktionsformen und Techniken des öffentlichen Konflikts, um ihren politischen Aufstieg zu befördern.256 Trotzdem bezeichnet der Begriff „Enkel“ nur eine kleine Gruppe führender Politiker, die um 1940 geboren wurden und somit in einen generationellen Zusammenhang mit den sozialdemokratischen Protagonisten der Studentenbewegung einzuordnen sind. Häufig werden allerdings die Begriffe „68er“ einerseits und „Enkel“ andererseits synonym für die parteiinterne Politikerkohorte der um 1940 Geborenen verwendet. So stehen die Karrieren der führenden „Enkel“ exemplarisch für Führungsstil, politische Kultur, Aufstiegsmechanismen und politisch-inhaltliche Ziele jener parteiinternen Generation, von der sich „Netzwerker“ abzusetzen suchten. Tatsächlich lassen sich einige Charakteristika jener sozialdemokratischen „Enkel“- oder 68er-Generation ausmachen. Zunächst wuchsen jene Kohorten aufgrund ihrer Geburtsjahre um 1940, erstens, im Nachkriegsdeutschland auf. Dies bedeutete oft die frühe Konfrontation mit materiellen Mangelsituationen und existenzieller Not. Nicht selten waren Kinder jener Kohorten vaterlos, so dass sie im Familiengefüge früh relativ verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen mussten.257 Neben diesen negativen Folgen der Zeitumstände waren jedoch auch einige durchaus positive zu konstatieren. So wuchs jene Generation, nachdem die unmittelbaren Folgen des Krieges nach und nach überwunden wurden, in einen wachsenden Wohlstand sowie zunehmende gesellschaftliche Liberalität und Mobilität hinein. Bedingt durch die sozialen Erschütterungen des Krieges waren die sozialen Gefüge der Bundesrepublik derart in Fluss geraten, dass – 253
Vgl. Müchler, Günther: Bürgerschreck mit Machtinstinkt, in: Rheinischer Merkur, 13.07.1984. Vgl. Walter, Franz: Neue Generation, neue Mitte – neue SPD?, in: Ders., 2002 a, S. 88-99, hier S. 92. 255 Micus, 2005, S. 94. 256 Vgl. Micus, 2005, S. 95. 257 Vgl. ebd., 2005, S. 24 f. 254
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beschleunigt durch die Bildungsexpansion der 1960er- und 1970er-Jahre – vermehrt soziale Aufstiegsmöglichkeiten bestanden.258 So wiesen auch die Biografien vieler „Enkel“ einen derartigen Aufstieg auf: Am deutlichsten und prominentesten inszenierte dies der spätere Bundeskanzler Schröder, aber auch Oskar Lafontaine oder etwa Rudolf Scharping verzeichneten in dieser Hinsicht ähnliche Lebensläufe.259 Ein weiteres, zweites Merkmal der sozialdemokratischen 68er-Generation lässt sich mit einem Blick auf die betreffenden politischen Karrieren konstatieren. Zum einen war ein Großteil jener Politikerjahrgänge bereits vor den historischen Umwälzungen von 1968 und damit vor Beginn des rasanten Mitgliederzuwachses Ende der 1960er-Jahre Parteimitglied geworden.260 Dies gilt in besonderer Weise für Engholm, Schröder oder Lafontaine. Diese Beobachtung geht einher mit der bereits erwähnten Tatsache, dass die „Enkel“ an sich kaum mit den realen Ereignissen von 1968 in Kontakt waren, wohl aber von deren Folgen profitierten. Zum anderen lässt sich politisch-biografisch beobachten, dass jene Geburtskohorten in der Regel einen kontinuierlichen parteiinternen Karriereweg über die Jungsozialisten und die verschiedenen föderalen Ebenen der Partei nahmen.261 In diesem Sinne verfolgten sie das, was als klassische „Ochsentour“ des parteilichen Aufstiegs bezeichnet wird. Daneben ist besonders der politische Stil der 68er-Generation hervorzuheben, der unter Umständen eine generationelle Differenz zur nachfolgenden Generation markiert. An erster Stelle ist hier eine starke Konfliktorientierung der betreffenden Politiker zu nennen. Die Ereignisse von 1968 waren insgesamt durch gezielte Tabubrüche gekennzeichnet, so dass – in Verbindung mit der sich etablierenden Mediengesellschaft, die rasch wechselnde und möglichst provokante Äußerungen mit gesteigerter Aufmerksamkeit prämierte – die erfolgreiche Inszenierung von Konflikten zur prägenden Erfahrung der sozialdemokratischen 68er wurde.262 Allen voran Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder perfektionierten diese Methode, um mediales Interesse und innerparteiliches Fortkommen zu erzielen. Dabei folgte die Konfliktstrategie repetierenden Maximen: Zunächst richteten sich die Tabubrüche meist gegen überlieferte Dogmen und Traditionen der Partei. In diesem Sinne hatte die eigene Partei für viele Angehörige der 68erGeneration eine instrumentelle Funktion: Sie diente als Folie der eigenen Stili258
Vgl. ebd., S. 178. Vgl. zur Biografie Schröders Urschel, Reinhard: Gerhard Schröder: Eine Biografie, Stuttgart 2002, S. 17 ff. sowie Hogrefe, Jürgen: Gerhard Schröder: Ein Porträt, Berlin 2002, S. 99; zum Werdegang Lafontaines siehe Filmer, Werner/Schwan, Heribert: Oskar Lafontaine, Düsseldorf 1996. 260 Vgl. Micus, 2005, S. 93. 261 Vgl. ebd., S. 180. 262 Walter, Franz: Abschied von den Halbstarken, in: Ders.: Träume von Jamaika, Köln 2006, S. 216219, hier S. 219. 259
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sierung und Profilierung, während Unterordnung oder Selbstdisziplin nach diesem Karrieremuster als schädlich für den eigenen Aufstieg galten.263 Damit einher ging oft eine starke Personalisierung der Konflikte, welche auch einem entsprechenden medialen Interesse geschuldet war.264 Nicht zuletzt schließlich erwies sich das Verhältnis dieser SPD-Generation zu Ideologien als zugleich flüchtig und pragmatisch. Besonders in den 1970er-Jahren waren sozialistische Parolen wie beispielsweise die Verstaatlichung der Industrien Selbstverständlichkeiten. Doch im Laufe der Zeit – beginnend in den 1970ern bis zur Hochzeit der 1980er-Jahre – erlag jene Politikergeneration den Verlockungen postmaterialistischer Forderungen, wie sie die Neuen Sozialen Bewegungen hervor brachten.265 Partizipation, Gleichberechtigung, Frieden und Ökologie bestimmten nun die Diskurse. Es zeigte sich somit, dass auch an dieser Stelle übersteigerte ideologische Forderungen dem Zweck der Provokation und Aufmerksamkeitsgenerierung dienten. Dies hatte letztlich zur Folge, dass thematische Forderungen sich in rascher Folge ablösten. In den beschriebenen Eigenschaften des politischen Stils der sozialdemokratischen 68er schwingt ein Element mit, das gleich einer Grundmelodie das Verhalten jener Politikerkohorten begleitete: Sie alle zeigten mehr oder minder offensichtliche Anzeichen eines individualistischen Hedonismus.266 Dies wirkte nicht selten als Disziplinlosigkeit, betonte in jedem Fall aber die Lust am spielerischen Umgang mit Politik.267 Teile der Parteiführung Björn Engholms oder auch das Gebaren Lafontaines um die Kanzlerkandidatur 1990 mögen an dieser Stelle als Beispiele genannt sein.268 Erst im Laufe der 1990er-Jahre, als viele der Generationsangehörigen bereits seit Jahren in diversen Ämtern waren, schien sich eine zunehmende Reifung zu vollziehen, wie sich exemplarisch an Lafontaines Disziplinierung der Partei seit 1995 zeigte.269 Da die führenden Protagonisten der 68er parteiintern circa seit Mitte der 1980er-Jahre in den oberen Partei- und Regierungsämtern ankamen, hatte ihr politischer Stil Konsequenzen für die Führung der gesamten Partei. Thematisch 263
Micus, 2005, S. 179. Vgl. hierzu auch ebd., S. 182. 265 Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 128 f. 266 Vgl. als Skizze beispielsweise Walter, 2002 b, S. 226 ff. 267 Vgl. Walter, Franz: Eine deprimierende Bilanz. Die 68er, in: Ders., 2002 a, S. 194-198, hier S. 195. 268 Vgl. zur Parteiführung Engholms Forkmann, Daniela/Oeltzen, Anne-Kathrin: Charismatiker, Kärrner und Hedonisten. Die Parteivorsitzenden der SPD, in: Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael (Hg.): Die Parteivorsitzenden in der Bundesrepublik Deutschland 1949-2005, Wiesbaden 2005, S. 64-118, hier S. 90 ff.; siehe zur Kanzlerkandidatur Lafontaines Schlieben, Michael: Oskar Lafontaine. Ein Opfer der Einheit, in: Forkmann, Daniela/Richter, Saskia: Gescheiterte Kanzlerkandidaten. Von Kurt Schumacher bis Edmund Stoiber, Wiesbaden 2007, S. 290-322. 269 Vgl. Walter, 2002 b, S. 251 ff. 264
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B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
prägten sie die SPD vor allem bis circa Mitte der 1990er-Jahre durch eine postmaterielle Ausrichtung.270 Die sozialökologische Erneuerung der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die Versöhnung von Ökonomie und Umwelt und das Streben nach internationalem Frieden, das lange ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den USA implizierte, waren Leitlinien dieser Generation. Darüber hinaus hatte die beschriebene Konfliktstrategie zur Konsequenz, dass Auseinandersetzungen um die Details des richtigen politischen Kurses der Partei allzu oft öffentlich ausgetragen wurden. Zudem resultierte die personalisierte Auseinandersetzung gepaart mit der großen quantitativen Stärke der innerparteilichen Generation in langwierigen und Kräfte raubenden Führungsquerelen, die durch den ausgeprägten Individualismus noch angeheizt wurden.271 So begann mit dem Abgang Willy Brandts als Parteivorsitzendem 1987 eine lange Abfolge rascher Wechsel an der Spitze der Partei, die stets mit inhaltlichen Kursänderungen verbunden waren. Nicht zuletzt diese internen Debatten und Streitigkeiten bescherten deren der SPD im Bund eine 16-jährige Oppositionszeit bis zur erneuten Regierungsübernahme 1998. 5.3 Zwischenfazit Die vorausgehenden Überlegungen zu möglichen Einflussfaktoren auf die generationelle Konstitutierung des „Netzwerks“ haben einige Grunddeterminanten zu Tage befördert, die abschließend noch einmal resümiert werden sollen. Zunächst wurde deutlich, dass es sich im Falle des „Netzwerks“, trotz der sich über einen Zeitraum von über zwanzig Jahren erstreckenden Geburtsjahrgänge der Betreffenden, allein aufgrund der Geburtskohorten sehr wohl um eine Generation handeln könnte. So wurde zum einen heraus gearbeitet, dass der Hauptteil der Abgeordneten und insbesondere die treibenden Kräfte der Gruppierung dem Zeitraum zwischen circa 1960 und 1970 entstammen. Zum anderen wurde gezeigt, dass aufgrund der langen Zeitspanne der Geburtsjahrgänge zwar auch zwei verschiedene generationelle Zusammenhänge vorliegen könnten – circa 1950 bis 1960 als Generation der Neuen Sozialen Bewegungen sowie circa 1960 bis 1970 als „Generation Golf“ –, es im Sinne Budes jedoch auch möglich ist, dass durch spezifische prägende Erfahrungen das Geburtsjahr an sich für die Zuordnung des Individuums zu einem speziellen Generationenzusammenhang an Relevanz verliert. Die Frage nach möglichen Unterschieden zwischen in den 1950er- und in den 1960er-Jahren folgende geborenen „Netzwerkern“ beispielsweise hinsichtlich von Karrierewegen, politischem Stil, Beitrittsmotiven zum „Netzwerk“ oder Wertüberzeugungen soll deshalb auch in den nachfolgenden Kapiteln bestehen. 270 271
Micus, 2005, S. 172 ff. Vgl. Walter, 2002 b, S. 220 f. und S. 226 f.
5. Das „Netzwerk“ und die 68er
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Herrscht also über die Geburtsjahrgänge eine generationelle Lagerung vor, die eindeutig nach derjenigen der 68er und „Enkel“ zu datieren ist, so besteht aufgrund der Jugendlichkeit vorwiegend in den 1980er-Jahren, des frühen Erwachsenenalters in den 1990er-Jahren sowie der Sozialisation bei den Jungsozialisten, mindestens aber unter der Parteiführung der „Enkel“ seit den beginnenden 1990er-Jahren ein potenzieller generationeller Zusammenhang. Zwar wurde darauf verwiesen, dass durch die Tatsache, dass einige spätere „Netzwerker“ in der BRD, andere in der DDR aufwuchsen, divergente Sozialisationsbedingungen gegeben waren. Doch konnten, erstens, gewisse, wenn auch eher minimale Parallelen eines Wertewandels zwischen Ost und West in den 1980er-Jahren ausgemacht werden. Zudem wäre es, zweitens, denkbar, dass die von späteren „Netzwerkern“ in den 1990er-Jahren gemachten Erfahrungen frühere Einflüsse überlagerten und schließlich zum Zusammenfinden im „Netzwerk“ führten. Darüber hinaus ist es, drittens, möglich, dass sowohl im Osten als auch im Westen aufgewachsene „Netzwerker“ aus ihren jeweils unterschiedlichen Erlebnissen ähnliche Schlüsse zogen, die sie sich schließlich als Generation empfinden ließen. Hinsichtlich der unter Umständen beeinflussenden Sozialisationsbedingungen wurde zudem gezeigt, dass die politisch-historische, gesellschaftlichkulturelle sowie wirtschaftliche Erlebniswelt in den 1980er-Jahren derjenigen in den 1990er-Jahren diametral gegenüber stand. Darüber hinaus wurden als spezielle Sozialisationskontexte die Jungsozialisten sowie allgemein die bundesdeutsche Sozialdemokratie und deren Führung einer genaueren Betrachtung unterzogen. Als zentrale, negative Motive können in diesem Zusammenhang die Erfahrung von Niederlagen, Konflikten und Unsicherheit genannt werden. So waren die Jungsozialisten bis in die 1990er-Jahre hinein in sich zerstritten, besaßen kaum Einfluss auf die Mutterpartei geschweige denn Anziehungskraft für die breite Masse der Jugendlichen. Hinzu kam, dass jene „Netzwerker“, die bereits in jenen Jahren bei den Jungsozialisten aktiv waren, sich in der Mehrheit der undogmatischen Strömung anschlossen, die bis auf ganz wenige Ausnahmen dem gegnerischen Stamokap-Flügel machtpolitisch unterlegen war. In der SPD selbst erfuhren „Netzwerker“ als junge Politiker dagegen, dass ihre Partei zwar in den Ländern einige Ministerpräsidenten stellen konnte, im Bund jedoch für 16 Jahre in der Opposition blieb. Hinzu kam die geschilderte Erfahrung des permanenten Konflikts innerhalb der 68er-Generation, speziell der „Enkel“, was zahlreiche Führungsprobleme und -unsicherheiten nach sich zog. Zudem bedeutete die quantitative Übermacht der 68er-Generation für nachkommende Politiker wie die „Netzwerker“ einen erschwerten innerparteilichen Aufstieg sowie die inhaltliche Deutungsmacht der Älteren. Neben den inner- und außerparteilichen Sozialisationskontexten der 1980erund 1990er-Jahre wurde zudem die Generation der 68er skizziert, von der sich
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B. Das „Netzwerk“ als Politikergeneration? Einige grundlegende Überlegungen
„Netzwerker“ zu distanzieren suchten. Als Merkmale dieser Generation wurden vor allem ihre hohe ideologische Aufgeladenheit, ihre quantitative Stärke, die positiv erfahrene Inszenierung von Konflikten sowie der medial transportierte und stets gesteigerte, aufmerksamkeitsträchtige Protest ausgemacht. In Bezug auf das „Netzwerk“ wird also zu ergründen sein, inwiefern deren Mitglieder tatsächlich Inhalte sowie Kultur und Stil ihrer Vorgänger kritisierten und eigene, sozusagen antithetische Politikformen entwickeln. Darüber hinaus ist es aber sehr wohl denkbar, dass sich Merkmale einer generationellen Zusammengehörigkeit des „Netzwerks“ finden lassen, die nicht auf Abwehrreflexe gegenüber der Vorgängergeneration zurückzuführen sind, sondern gleichsam aus der Gruppierung selbst heraus entstanden.
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
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C. Untersuchungsteil
6
Genese und Organisation des „Netzwerks“
Im nachfolgenden Kapitel wird Fragen nach der Entstehung und Organisation des „Netzwerks“ nachgegangen. Dabei werden unter dem Stichwort der Genese sowohl verschiedenste Ursachen für die Bildung der Gruppierung diskutiert, als auch der historische Gründungsprozess und die anfängliche Zielsetzung betrachtet. Anschließend stehen zum einen die Organisationsformen im Blickpunkt der Analyse, zum anderen erfolgt eine Untersuchung des tatsächlichen Einflusspotenzials der Gruppierung, indem die von „Netzwerkern“ besetzten Ämter in den verschiedenen Ebenen und Gremien von Partei und Fraktion ausgeleuchtet werden. 6.1 Der Mythos: Entstehungsgeschichte des „Netzwerks“ Für die damals Involvierten schwebte über der Gründung des „Netzwerks“ der Zauber des Anfangs. In den Erzählungen der im Januar 1999 an der Initiierung des „Netzwerks“ beteiligten Politiker schwingt stets eine jugendliche Begeisterung für das Neue, für den hoffnungsvollen Beginn mit. Geheimnisvoll wird von Treffen in Bonner Weinkellern geraunt, in denen die Idee einer eigenen Gruppierung Form annahm.272 Doch stehen diesen verklärt-mystischen Rückerinnungen einige handfeste Gründungsursachen gegenüber, die keine spontane Laune der Beteiligten spiegelten, sondern lang gewachsener, struktureller Art waren. 6.1.1 Fraktionsinterne Gründungsursachen Offiziell im Januar 1999 als „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“ ins Leben gerufen273, wuchs die kleine Gruppierung im Laufe der 14. Legislaturperiode auf gerade einmal 16 Abgeordnete an:274 Hans-Peter Bartels, Kurt Bodewig, HansMartin Bury, Sebastian Edathy, Kerstin Griese, Nina Hauer, Hubertus Heil, Christian Lange, Christoph Matschie, Carola Reimann, Birgit Roth, Michael 272
Vgl. Interview Heil, S. 16. Vgl. zur Gründung auch ein Schreiben Heils an Hans-Peter Bartels und Kurt Bodewig: Heil, Hubertus: Netzwerk, Bonn, 21.01.1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 274 Vgl. zum Gründungsdatum „Netzwerk Berlin“: Sozialdemokratie der nächsten Generation. Eine Dokumentation, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle, S. 7. 273
D. Forkmann, Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“, DOI 10.1007/978-3-531-93090-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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C. Untersuchungsteil
Roth, Carsten Schneider, Karsten Schönfeld, Rolf Stöckel und Ute Vogt waren im Sommer 2002 offizielle „Netzwerker“. Nach der Bundestagswahl 2002 erweiterte die Gruppierung sich auf 40, bis Mitte 2008 auf 48 Parlamentarier. Dabei erfolgte die Gründung der Gruppierung zufällig just zur Jahreswende 1998/99, sondern ging aus der Verquickung diverser Ereignisse und Umstände hervor. Zunächst hatte sich die SPD-Bundestagsfraktion mit der gewonnenen Bundestagswahl 1998 deutlich verjüngt: Waren in der 13. Wahlperiode von 19941998 lediglich acht SPD-Abgeordnete unter 40 Jahren alt gewesen, so waren dies im Herbst 1998 bereits 36 MdBs.275 Nach der Bundestagswahl 2002 vergrößerte sich diese Zahl auf insgesamt 37 MdBs und nahm damit in Anbetracht der verkleinerten Fraktion einen Anteil von circa 15% ein.276 Diese Veränderungen spiegelten sich auch in der Alterszusammensetzung des gesamten Bundestages, in dem der Prozentsatz nach 1960 Geborener von 4,7% in der 13. auf 10,1% in der 14. Legislaturperiode anstieg.277 Dabei besaß die Wandlung der Altersstruktur innerhalb der SPD-Fraktion zwei Ursachen. Zum einen hatte die sozialdemokratische Parteiführung auf dem Jugendparteitag 1996 unter dem Motto „30 unter 40“ aufgrund der zunehmenden Überalterung der sozialdemokratischen Funktionärsschicht beschlossen, systematisch Nachwuchspolitiker zu fördern und ihnen die Kandidatur für den Bundestag zu erleichtern.278 Von dieser Maßnahme hatten letztendlich viele der 1998 neu in den Bundestag Eingezogenen profitiert.279 Sie hatten somit den mühsamen und langwierigen Weg zum Mandat abkürzen können und waren bei ihrem Wahlsieg allesamt jünger als der durchschnittliche Abgeordnete.280 Zum anderen aber hatte für die jungen Kandidatinnen und Kandidaten überhaupt nur deshalb eine Chance bestanden, weil die SPD bei der Bundestagswahl 1998 mit 40,9% der Stimmen ein über den ursprünglichen Erwartungen liegendes Ergebnis erreicht hatte. So hatten viele Jüngere aufgrund der im gesamten Land herrschenden Wechselstimmung ein Direktmandat erringen können, während sie auf den Landeslisten auf aussichtslosen Plätzen kandidiert hatten.281 Insofern verband sich von Beginn an der parteiinterne und berufliche Aufstieg vieler später im „Netzwerk“ versammelten Politiker mit dem 275
Vgl. Dohrn, Susanne: Gegen den Strom der Fraktion, in: Vorwärts 3 (1999). Vg. Hartwig, Gunther: In der SPD steigt die Generation der Urenkel auf, in: Stuttgarter Nachrichten, 01.10.2002. 277 Vgl. Schindler, Peter: Deutscher Bundestag 1980-1998: Parlaments- und Wahlstatistik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4 (1999), S. 957-967, hier S. 958. 278 Vgl. Müntefering, Franz: Demokratie braucht Partei. Die Chancen der SPD, in; Zeitschrift für Parlamentsfragen 2 (2000), S. 337-442, besonders S. 41; siehe zur Forderung der Jusos nach Verjüngung auch Schwennicke, Christoph: Den Jusos sei Dank, in: Süddeutsche Zeitung, 14.07.1999. 279 Vgl. zur Kandidatenaufstellung auch Rüter, Michael: JusobundeskandidatInnen trafen Oskar Lafontaine, in: AG Rundschreiben, September 1997, S. 8. 280 Vgl. Wiesendahl, 2004, in: GabrielNeuss/Rüther, 2004, S. 135 ff. 281 Vgl. beispielsweise Dürr, Tobias: Realisten sind sie sowieso, in: Die Zeit, 08.07.1999. 276
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
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politischen Erfolg und Förderungswillen der Parteiführung der „Enkel“Generation. Diese Konstellation barg neben der Dynamik, die aus der Veränderung der altersmäßigen Fraktionszusammensetzung entstand, eine zweite Entstehungsursache des „Netzwerks“: Nachdem die Neuparlamentarier nahezu berauscht vom langersehnten Wahlsieg der Sozialdemokraten in den Bundestag eingezogen waren, trafen sie dort auf Verhärtungen, die sie schnell ernüchterten.282 Ganz allgemein empfanden sie die Aufteilung der Abgeordneten in die fraktionsinternen Flügel beziehungsweise Faktionen des Seeheimer Kreises (SK) und der Parlamentarischen Linken (PL) als zu starr und zu dichotom. Auch die in den Faktionen selbst gepflegte Debattenkultur lehnten sie als zu hierarchisch und uninspiriert ab.283 Zudem gewannen sie den Eindruck, dass sowohl beim SK als auch in der PL Themen diskutiert wurden, die ihrer Ansicht nach rückwärtsgewandt waren.284 Doch kamen all diese Erfahrungen nicht ganz so überraschend und voraussetzungslos, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. So hatten die Abgeordneten Ute Vogt, Christoph Matschie und Hans-Martin Bury – spätere „Netzwerker“ – bereits in der 13. Legislaturperiode seit 1994 den Eindruck gewonnen, dass ihre Stimme als junge Vertreter einer Nach-68er-Generation wenig gehört würde. Ute Vogt etwa beschrieb im Interview folgendes Erlebnis: „Ich war ja, als die meisten der „Netzwerker“ kamen, schon vier Jahre im Bundestag. [...] Ich hatte damals das Vergnügen, dass wir, ich glaube fünf Leute unter 35 nur waren, oder fünf Leute unter 40, so irgendwie. […] Martin Bury, Christoph Matschie und ich, wir haben so zu dritt häufiger zusammen gearbeitet [...], und unser Problem war immer, wir haben Ideen eingebracht, aber es hatte nirgends Resonanz und es wollte auch niemand diskutieren. Ich erinnere mich an eine denkwürdige Fraktionssitzung, als wir [...] damals nieder gemacht wurden, weil wir einen Kapitalfond zur Ergänzung des Umlagesystems in der Rente gefordert haben. Zeter und Mordio wurde da geschrieen.“285
Bereits in diesen Jahren bemerkten die jüngeren Abgeordneten eine inhaltliche Differenz zu den bislang in der SD-Fraktion verhandelten Themen. Dabei wollten die Unter-40jährigen neben anderen Inhalten auch neue Lösungsmöglichkeiten für anstehende Probleme debattieren. Dabei dominierten in der Bundestagsfraktion zu jenem Zeitpunkt nach wie vor die älteren Jahrgänge sowohl die in282 Vgl. beispielsweise Interview Schönfeld, S. 9; Interview Vogt, S. 17; Interview Bartels, S. 11; Interview Ehrmann, S. 3 und S. 5; Interview Griese, S. 1. 283 Vgl. beispielsweise zur Parlamentarischen Linken Interview Ehrmann, S. 3; Interview Bodewig, S. 12; Interview Lange, S. 7; zum Seeheimer Kreis siehe Interview Bartels, S. 11; Interview Bodewig, S. 12; Interview Heil, S. 16; Interview Schönfeld, S. 9. 284 Vgl. beispielhaft Interview Ehrmann, S. 5; Interview Heil, S. 49; Interview Schönfeld, S. 9; Interview Drobinsky-Weiß, S. 9. 285 Interview Vogt, S. 15 f.
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C. Untersuchungsteil
haltliche Auseinandersetzung als auch die organisatorisch-personelle Machtverteilung: Von den damals 193 MdBs entstammten 136 den Geburtsjahrgängen 1936-1950, davon waren 63 zwischen 1941 und 1945 geboren.286 Von den im Fraktionsvorstand insgesamt zehn zu vergebenden Führungspositionen wurden neun von Angehörigen der Jahrgänge 1940 bis 1949 besetzt.287 Die nominelle und damit auch inhaltliche Übermacht der 68er-Generation war somit offensichtlich.288 Aus diesem Grund versuchten sich die wenigen Jüngeren bereits in dieser 13. Legislaturperiode in der „Jungen Gruppe“ zu organisieren, die 1995 gegründet wurde, und deren Sprecher Christoph Matschie und Ute Vogt waren.289 Dabei strebten sie in der Hauptsache danach, Inhalte zu diskutieren, die sie aufgrund ihrer Generationszugehörigkeit als bedeutsam ansahen, in den Fraktionsdebatten aber kaum wiederfanden. Ein Machtfaktor war jene Gruppe fraktionsintern aufgrund der geringen Größe wohl kaum, zumal sie anders als später das „Netzwerk“ teilweise fraktionsübergreifend zu arbeiten versuchte.290 Christoph Matschie schilderte seine damaligen Erfahrungen wie folgt: „Na ja, wir [...] haben dann ´95 […] formal eine solche Gruppe auch gegründet. Das Ziel war, den Blickwinkel der Jüngeren einzubringen in die Politik und zu sagen, wir als Jüngere kommen mit ´ner anderen Lebenserfahrung als viele der Älteren, wir kommen mit ´ner eigenen Sicht der Dinge, und wir wollen natürlich insbesondere Zukunftsaspekte einbringen. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung, die wir um die Rentenversicherung geführt haben. Das heißt, wir haben Mitte der ´90erJahre angefangen und gefordert, dass das Rentensystem reformiert werden muss. Das war natürlich innerhalb der eigenen Fraktion ´ne heftige Auseinandersetzung, die da statt fand, weil unsere Sozialpolitiker und mit ihnen die Mehrheit der Fraktion der Meinung war, ist alles schon mit der Rentenreform passiert, die ´92 ja gerade in Kraft getreten war, und keinen weiteren Veränderungsbedarf sahen. Ich selbst bin damals auch […] bei der nächsten Fraktionsvorstandswahl raus geflogen wegen dieser Auseinandersetzung, die wir da geführt haben.“291
Im Grunde also war die Basis für die Gründung des „Netzwerks“ 1999 bereits einige Jahre zuvor in der „Jungen Gruppe“ gelegt worden, existierten personelle und ideelle Kontinuitäten. Daneben wurde auf Initiative der Fraktionsführung 286
Vgl. http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=213&id=1041 (zuletzt aufgerufen am 15.05.2008). Vgl. Dürr, Tobias: Realisten sind sie sowieso, in: Die Zeit, 08.07.1999 288 Vgl. zur Altersstruktur des Bundestags 1998 sowie zur generationellen Verengung insgesamt Feldkamp, Michael F.: Deutscher Bundestag 1983-2002/03: Parlaments- und Wahlstatistik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (2003), S. 5-19, hier besonders S. 8 f. 289 Vgl. zur Gründung Parteiarchiv der SPD: P-16-Frak: Matschie, Christoph: Arbeitsgruppe junger Abgeordneter in der SPD-Fraktion, Pressemitteilung 09.02.1992; siehe auch Wonka, Dieter: Bonns Frischlinge wollen aus Parteidenken ausbrechen, in: Leipziger Volkszeitung 10.03.1993. 290 Vgl. Interview Matschie, S. 9; siehe auch Wonka, Dieter: Bonns Frischlinge wollen aus Parteidenken ausbrechen, in: Leipziger Volkszeitung 10.03.1993. 291 Interview Matschie, S. 8 f. 287
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
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anschließend an die „Junge Gruppe“ versucht, mit der Konstruktion der „Youngster“ alle unter 40-Jährigen Abgeordneten – unabhängig von inhaltlicher Ausrichtung – organisatorisch zusammen zu fassen.292 Daher gab es zwar aufgrund des Alters personelle Überschneidungen zwischen „Youngsters“ und „Netzwerkern“, das „Netzwerk“ war jedoch keinesfalls identisch mit den „Youngsters“293, auch wenn dies in der Außenwahrnehmung und der medialen Darstellung teilweise nicht immer differenziert wurde.294 Die „Junge Gruppe“ allerdings war in mehreren Aspekten ein Wegbereiter des „Netzwerks“: In personeller Hinsicht gab es, erstens, Überschneidungen, da Matschie, Vogt und Bury beiden Gruppierungen angehörten. Darüber hinaus bestanden, zweitens, inhaltliche Übereinstimmungen der Diskussionsthemen beispielsweise bei Fragen der Rentenreform, des Klimaschutzes und der Ablehnung personalpolitischer Streitigkeiten in der Partei.295 Drittens, und dies ist die einschlägigste Konvergenz, waren die Motivlagen zur Gründung der „Jungen Gruppe“ und des „Netzwerks“ identisch: Die Frustration über verkrustete organisatorische und personelle Strukturen sowie den Mangel an aktuellen, von den Jüngeren für ihre Generation als relevant empfundenen Themen erlebten bereits die jungen Abgeordneten der 13. Legislaturperiode. Als nach der Bundestagswahl 1998 weitere jüngere MdBs in die Fraktion kamen, stießen diese also auf eine bereits vorhandene Stimmungslage. Umgekehrt fanden Vogt, Matschie und Bury nun zusätzliche Verbündete für ihre Nöte. Dabei verschärfte sich die Unzufriedenheit der frisch gekürten Abgeordneten 1998 gegenüber den Vorjahren. Anders als Matschie, Vogt und Bury waren die jungen MdBs der 14. Legislaturperiode weit weniger bereit, sich in die vorhandenen Strukturen zu fügen. Als Hans-Peter Bartels, Kurt Bodewig, Hubertus Heil, Sebastian Edathy, Christian Lange, Michael Roth, Carsten Schneider, Birgith Roth, Karsten Schönfeld und Carsten Schneider 1998 in den Bundestag kamen297, versuchten sie zunächst, sich an den bestehenden Faktionen und Flügeln zu orientieren, denen gegenüber im Nachhinein alle ihre Befremdung schilderten. Als „anständige Jusos“298, so hieß es in den Interviews, seien die Meisten 292
Vgl. zu den „Youngsters“ Dohrn, Susanne: Gegen den Strom der Fraktion, in: Vorwärts 3 (1999). Vgl. auch Bartels, 2001 c; siehe auch Interview Bätzing, S. 15 f.; Interview Bartol, S. 15. 294 Vgl. beispielsweise Ernst, Christian: Nichts neues im Trend, in: Forum 3 (1999), S. 24-25. 295 Vgl. Interview Matschie, S. 9; siehe auch Hausen, Kirstin: Ohne Illusionen, in: Die Tageszeitung, 25.03.1995; siehe auch o. V.: Junge SPD-Abgeordnete: Steuersystem abschaffen, in: Welt am Sonntag, 16.02.1997; siehe auch das Papier der Jungen Gruppe „SPD 2000“, Oktober 1996; Ranalder, Dirk: Die wirklichen Enkel, in: Vorwärts 11 (1996). 297 Im Laufe der Legislaturperiode stießen Nina Hauer und Rolf Stöckel sowie die 2000 nachgerückten Carola Reimann und Kerstin Griese zur Gruppierung. Diese vier gehörten jedoch nicht zum Gründungszirkel. 298 Interview Lange, S. 6. 293
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C. Untersuchungsteil
auf der Suche nach einer organisatorischen Heimat zunächst zur PL gegangen. Diese Besuche wurden aber übereinstimmend aus mehreren Gründen als unbefriedigend empfunden.299 Zuallererst interpretierten die Neuparlamentarier die innerhalb der PL diskutierten Inhalte als nicht mehr zeitgemäß, veraltet und nicht der Problemlage ihrer Generation entsprechend.300 Christian Lange äußerte sich zu den Debatten auf den Treffen der PL wie folgt: „Und, äh, Diskussionen gab`s auch keine, und wenn es Diskussionen gab, dann zu Themen, die uns also völlig... uninteressant... [...] Ja, die Frage, ob wir jetzt ´ne Wertschöpfungsabgabe hier einführen oder nicht ´98 oder so was. Jedenfalls nicht die Themen, die uns interessiert haben: Wie gehen wir um mit der Globalisierung? Wie gehen wir um mit den demografischen Problemen einer Gesellschaft? Ähm, was machen wir als Jüngere, ähm, was für ´ne Verantwortung haben wir als Jüngere gegenüber der nächsten Generation, und solche Themen haben keine Rolle gespielt.“301
Ähnliche inhaltliche Kritik findet sich in nahezu allen Interviews der 1998 neu in den Bundestag eingezogenen Politiker: Sie sahen die Themen ihrer Generation bei der PL nicht vertreten. Auch die Debatten im Seeheimer Kreis, den viele neue Abgeordnete zusätzlich aufsuchten, fanden keinen Zuspruch der Nachwuchspolitiker. Allerdings wurde hier oft weniger die rückwärtsgewandte Themenwahl, als vielmehr die Einfallslosigkeit und mangelnde Kritikfähigkeit gegenüber dem Regierungskurs beanstandet.303 Zudem wurden die organisatorischen und personellen Strukturen, die politische Diskussionskultur und Ämterverteilung als starr und überholt beurteilt: „Und insofern hatte ich das Gefühl bei beiden großen Gruppierungen der Fraktion, dass da nicht wirklich noch Neues entstehen soll. Sondern da hat man sich gekannt und aufeinander eingestellt. Und natürlich kommt immer mal wieder der eine oder andere Junge dazu, aber so die ganzen Rituale haben sich nicht verändert. [...] Und da hatte ich halt das Gefühl, es gab nicht die Bereitschaft, sich überhaupt auf die Debatte einzulassen argumentativ, sondern man hat das immer gleich weggeputzt. Und das hab ich von beiden Seiten (von PL und Seeheimer Kreis, d. V.) empfunden, also ich fand nicht, dass sich das viel gegeben hat. [...] Aber das ist vielleicht ´ne Frage auch des Alters. [...] Also, ich meine, dass jemand, der selbst vielleicht bestimmte Systeme geschaffen hat, [...], dass der nicht in der Lage war, das selbst in Frage zu stellen.“306
299
Vgl. den Kommentar Hauers in Deupmann, Ulrich: Zu jung für ewige Wahrheiten, in: Berliner Zeitung, 13.07.1999. 300 Vgl. zum Beispiel auch die Kritik in Hauer, Nina: Links wird langsam zum Label für konservativ, in: Frankfurter Rundschau, 05.07.1999. 301 Interview Lange, S. 7. 303 Vgl. auch Interview Hartmann, S. 14 f. 306 Interview Vogt, S. 17.
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
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Die jungen Abgeordneten kamen – beschwingt durch den Wahlsieg der SPD und den persönlichen Karriereschritt – mit einem anderen Selbstverständnis in den Bundestag als die dort bereits seit Jahren vertretenen Abgeordneten.307 Sie begriffen sich von Beginn an als Teil der Regierung und nicht der Opposition. Nach den langen Jahren der Regierungsabstinenz ihrer Partei vertrauten sie darauf, in der Oppositionszeit erarbeitete Konzepte nun endlich zügig umsetzen zu können.308 Doch war die Fraktion längst nicht so gut auf die Regierungsübernahme vorbereitet, wie sie es sich erhofft hatten.309 Rasch wurden die neuen MdBs desillusioniert.310 Außerdem definierten sie das Ausmaß ihrer Entscheidungen und Diskussionen auch konkreter als jene MdBs, die jahrelange Oppositionsarbeit hinter sich hatten und sich erst nach und nach an den Gedanken gewöhnten, dass aufgrund der veränderten Mehrheitsverhältnisse ihre Entscheidungen nun keine Zukunftsoptionen mehr sein mussten, sondern rasch umgesetzt werden konnten.311 Doch betraf die kulturelle Differenz nicht nur das Selbstverständnis von Macht oder Pragmatismus, sondern bezog sich auch auf den Einzugsbereich von Politik und die Reichweite politischer Diskussionen. Christian Lange beispielsweise machte dies im Gespräch sehr deutlich: „Und wir haben immer gesagt, wir müssen uns öffnen, wir müssen uns öffnen auch für neue Leute, für Wissenschaft, für Wirtschaft. Wir wollen nicht im eigenen Saft schmoren. Und wir wollen solche Diskussionen mit Leuten auch außerhalb der Politik führen. Und damit unseren Think Tank aufbauen.“312
Anders als bislang üblich, strebten die Neuparlamentarier also einen fluiden Übergang zwischen Politik und den angrenzenden Handlungsfeldern Wissenschaft und Wirtschaft an. Hintergrund war einerseits ein von der älteren Politikergeneration divergierender, ein kooperativerer Politikstil. Sicher war es seit jeher das Wesen von Politik, über den genuinen parlamentarischen Bereich hinaus Kontakte in andere politische Verwaltungsbereiche und Berufsfelder zu unterhalten. Doch stellte das „Netzwerk“ über die reine Abgeordnetengruppe hinaus von Beginn an den Versuch dar, jene Beziehungen zu institutionalisieren: 307
Vgl. beispielsweise Gollnick, Ines: Die Kampferprobte Nina Hauer, in: Das Parlament, 24.05.2002. Vgl. Interview Heil, S. 12, siehe auch Interview Neumeyer, S. 7. 309 Vgl. beispielsweise die Kritik in folgendem Positionspapier: Bartels, Hans-Peter/Heil, Hubertus/Roth, Michael/Schneider, Carsten/Schönfeld, Karsten: Mut zum Regieren, März 1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle; siehe auch o. V.: Junge SPD-Abgeordnete beklagen Regierungsstil, in: Der Tagesspiegel, 02.03.1999. 310 Vgl. Meng, Richard: Der Aufstieg der jungen Moderaten, in: Frankfurter Rundschau, 16.01.2001. 311 Bartels bezeichnete PL und SK in diesem Zusammenhang als „oppositionskonditioniert“ (zitiert nach Schors, Horst Willi/Loreck, Jochen: Zweimal knapp links von der Mitte, in: Kölner Stadtanzeiger, 09.10.1999). 312 Interview Lange, S. 6. 308
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C. Untersuchungsteil
Das „Netzwerk“ sammelte in seinem Email-Verteiler, durch den zu Veranstaltungen eingeladen wurde, Adressen aus Politik, Wirtschaft, Journalismus, Kultur und Wissenschaft, oft Personen ohne Parteibuch.313 Zu den Diskussionspodien wurden ebenfalls Akteure aus verschiedensten Bereichen eingeladen. Hinzu kam das Bedürfnis der frisch gebackenen MdBs, von verschiedenen Experten zu lernen, sich zu bilden.315 Dies dürfte zumindest zum Teil auf das damals noch recht junge Alter der Betreffenden zurückzuführen sein.316 Die Tatsache, dass sich hier ein sich von der älteren Generation unterscheidender Politikstil abzeichnete, negiert dies jedoch nicht. Der neuartige Politikstil deutete sich auch im Unbehagen der jungen Abgeordneten gegenüber der Diskussionsführung der Alteingesessenen an. Diese empfanden sie als zu hierarchisch und determiniert. Die Rangordnung unter den Diskussionsteilnehmern schien ihnen deutlich festzustehen, ebenfalls das Gewicht der einzelnen Aussagen von vornherein fixiert. Kurzum: Die jungen MdBs störten sich an tradierten, über Jahre entwickelten „Hackordnungen“.317 Ihrer Ansicht nach führte dies zum einen dazu, dass die Stimmen der neuen, jungen Politiker kaum gehört wurden, da sie sich nicht wie andere seit Jahren einen gewissen Status, quasi das Recht der Meinungsäußerung erkämpft hatten. Zum anderen bot eine solche Debattenkultur ihrer Meinung nach kaum Platz für neue Ideen, da sie zu starr war und noch nicht ganz stringente Vorschläge schnell als fachlich falsch oder unreif disqualifizierte.318 Dies jedoch, so ist den Interviews mit den Nachwuchspolitikern zu entnehmen, ließ teilweise eine Atmosphäre der Angst entstehen. Nicht ohne Grund nannten die meisten der „Netzwerker“ als positives Merkmal des „Netzwerks“ die dort herrschenden Maximen der vielfältigen Partizipationsmöglichkeiten, Offenheit und flachen Hierarchien. Letztendlich suchten viele der Jungen eine Atmosphäre des Vertrauens, wie die folgenden, beispielhaften Interviewauszüge von Ute Vogt und Sabine Bätzing verdeutlichen: „[...] das „Netzwerk“ hab ich auch immer und empfind`s bis heute auch als ein Forum, wo man auch mal Fehler machen darf. Also, wo man auch mal was Unüberlegtes mal raussagt und sagt auch mal Dinge, die nicht so reflektiert sind und [...] dann einfach eine vertrauensvolle Atmosphäre besteht untereinander. Dass man nicht das 313
Vgl. Palmer, Hartmut: Marsch der Urenkel, in: Der Spiegel, 24.02.2001. Vgl. zur notwendigen sachlichen Spezialisierung beispielsweise Ismayr, Wolfgang: Der deutsche Bundestag, Opladen 2000, S. 48. 316 Vgl. beispielweise den Ratschlag älterer Abgeordneter an die Parlamentsneulinge, sich durch gute Sacharbeit und -kenntnis einen Rang in der Fraktion zu erarbeiten, in: Dürr, Tobias: Realisten sind sie sowieso, in: Die Zeit, 08.07.1999. 317 Vgl. hierzu auch Meng, 2002, S. 139. 318 Vgl. zu dem Urteil auch Nina Hauers Aussagen in Loreck, Jochen: „Mittlere“ Strömung in der SPD, in: Kölner Stadtanzeiger, 16.09.1999; siehe auch Interview Schulz, S. 4. 315
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
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Gefühl hat, man macht sich unmöglich oder ist jetzt böse und rechts oder verrückt oder so, sondern einfach... [...], dass man einfach so´n Freiraum hat.“320 „Und ich muss sagen, dadurch, dass beim „Netzwerk“ halt auch viele dabei sind, ja, einfach noch in unserem Alter, wo man sagt: Hm, das ist okay. Wenn ich jetzt zu den Seeheimern vielleicht gehe: Oh, da sind so welche, da traut man sich vielleicht als Junger noch nicht so richtig. Und hier: Man fühlt sich also sehr, sehr gut aufgenommen.“321
Die Interviewauszüge dokumentieren, dass die Kritik der 1998 jungen Abgeordneten an der bestehenden politischen Diskussionskultur sich mit der Suche nach einem geschützten sozialen Raum und einem Unterstützerzirkel verknüpfte.322 Die neuen MdBs wünschten sich der Möglichkeit, ihre Themen und Ideen möglichst offen zu diskutieren, Beratung, Betreuung und Hilfe in der für sie neuen Berufssituation.323 Michael Roth brachte dies im Interview klar zur Geltung: „Was ich bei […] (den Seeheimern, d. V.) aber gut fand, war, dass sie ein sehr intensives Betreuungssystem einrichteten und diese soziale Komponenten, die ist bei den Seeheimern sehr, sehr stark, im Gegensatz zu den PLern, die sehr kopflastig zu sein scheinen.“324
Diese Unterstützerfunktion des 1999 neu gegründeten „Netzwerks“ wurde in der darauffolgenden Legislaturperiode gezielt ausgebaut und von der Gruppierung als Mittel zur Mitgliederwerbung genutzt. Viele der 2002 in den Bundestag gewählten und zum „Netzwerk“ gestoßenen Parlamentarier schilderten dementsprechend diesen Umstand als wichtigen Anreiz für die „Netzwerk“-Mitgliedschaft.325 Ohne Zweifel barg die Kritik an den verfestigten Strukturen der traditionellen Faktionen jedoch auch eine Machtfrage: Nach dem fulminanten Einzug in den Bundestag sahen die jungen Abgeordneten kaum eine Chance, innerhalb absehbarer Zeit Einfluss in Form von Ämtern und verantwortungsvollen Positionen zu übernehmen.326 In Kombination mit dem Tatendrang und dem Selbstbewusstsein der frisch gekürten, meist gar mit einem Direktmandat ausgestatteten Nachwuchspolitiker führte diese Konstellation fast unweigerlich zu Frustration. Michael Roth schilderte dies wie folgt: 320
Interview Vogt, S. 16. Interview Bätzing, S. 14 f. Vgl. in dieser Richtung auch Interview Klug, S. 4. 323 Vgl. zur geringen Unterstützung seitens der etablierten Abgeordneten oder der Fraktionsführung sowie dem daraus folgenden Zwang für Neuparlamentarier, auf sich allein gestellt die parlamentarische Tätigkeit zu erlernen Best, Heinrich/Jahr, Stefan: Politik als prekäres Beschäftigungsverhältnis: Mythos und Realität der Sozialfigur des Berufspolitikers im wiedervereinigten Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (2006), S. 63-79, hier S. 73. 324 Interview Roth, S. 7. 325 Vgl. beispielsweise Interview Bätzing, S. 18; siehe auch Interview Raabe, S. 8. 326 Vgl. zu den geringen Einflussmöglichkeiten von Neuparlamentariern allgemein auch Weege, 2003, S. 27. 321 322
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C. Untersuchungsteil „Das Ganze gründete sich ja in Bonn. Also an einem Ort, wo die politischen Claims nicht nur weitgehend inhaltlich abgesteckt waren, sondern wo auch im Prinzip die Stadt, die Orte fest in der Hand von denen waren, die dort seit Jahrzehnten zum Teil politisch arbeiteten.“329
Darüber hinaus kann vermutet werden, dass zumindest unterschwellig auch eine Rolle spielte, dass das so stolz errungene Direktmandat nur einen zunächst auf vier Jahre befristeten Auftrag als MdB bedeutete, für viele der Jungparlamentarier gar der erste „richtige“ Job überhaupt war.330 Ohne einen guten Listenplatz war dies jedoch eine prekäre Zukunftsperspektive, so dass es sinnvoll schien, die Jahre zur nächsten Bundestagswahl zu nutzen, um sich einen gewissen innerparteilichen Einfluss zu sichern.331 So spielte die Frage der politischen Macht sicherlich von Beginn an zumindest latent eine Rolle. Allerdings wurde erst mit Beginn der 15. Legislaturperiode ab 2002 erkennbar, dass zumindest Teile des „Netzwerks“ neben dem Betreiben eines offenen Diskussionszusammenhangs mehr und mehr das Bestreben erkennen ließen, innerparteiliche sowie innerfraktionelle Macht über Debattenhoheit und einflussreiche Ämter zu erlangen. Die Initiierung des „Netzwerks“ zu Beginn der 14. Legislaturperiode hatte also einige grundsätzliche Ursachen in der bisherigen Struktur der SPDBundestagsfraktion.332 Die Neuparlamentarier fühlten sich von der Diskussionskultur und dem Führungsstil der etablierten Faktionen abgestoßen. Sie suchten und schufen sich mit der Gründung des „Netzwerks“ einen innerfaktionellen Flügel, in dem möglichst flache Hierarchien herrschten und in dem eine offene, auf größtmögliche Beteiligung ausgerichtete Diskussionskultur in einer vertrauensvollen Atmosphäre praktiziert werden sollte. Dies bedeutete zum einen, dass weder vor bislang nicht beachteten Themen Halt gemacht noch ungewöhnliche Lösungsvorschläge tabuisiert werden sollten. Zum anderen bezog sich die offenere Diskussionskultur auf die Beteiligung Einzelner an den Debatten: Jeder sollte unabhängig von seiner Position oder Erfahrung ein ebenbürtiges Mitspracherecht haben. Insgesamt sollte so ein sozialer und Diskussionsraum geschaffen werden, der auf Vertrauen und Unvoreingenommenheit basierte. Zudem sollten die im „Netzwerk“ geführten Diskussionen – dies ging mit der unideologischen Herangehensweise einher – möglichst auf Umsetzbarkeit und Pragmatismus gründen. Hiermit suchte das „Netzwerk“ dem bei seinen Mitgliedern von Beginn 329
Interview Roth, S. 7. Vgl. Dürr, Tobias: Realisten sind sie sowieso, in: Die Zeit, 08.07.1999; siehe auch Wagemann, Jutta: Wild, but mild – Jugend für den Kanzler, in: Die Tageszeitung, 13.07.1999. 331 Vgl. hierzu Wagemann, Jutta: Wild, but mild – Jugend für den Kanzler, in: Die Tageszeitung, 13.07.1999. 332 Vgl. Köllner/Basedau, 2006, in: Köllner/Basedau, 2006, S. 26 f. Köllner/Basedau nennen als mögliche Entstehungsgründe für Faktionen unter anderem Nachfolgefragen, neue politische Ideen und autoritäre Führungsstile oder -strukturen. 330
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an vorhandenen Bewusstsein, in Regierungsverantwortung zu stehen, Rechnung zu tragen. In inhaltlicher Hinsicht vermissten die Gründungs-„Netzwerker“ in den bisherigen Debatten von PL und SK „ihre“ generationsspezifischen Themen wie die Reform des Rentensystems oder insgesamt die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, erlebten sie die inhaltliche Ausrichtung der Fraktion als wenig innovativ. Hinzu kam, dass die jungen MdBs die traditionellen Machtverhältnisse als zu wenig durchlässig ansahen. Insgesamt bildete die Unzufriedenheit und personelle Kontinuität einiger bereits seit 1994 im Bundestag vertretenen und in der „Jungen Gruppe“ zusammengeschlossenen, jüngeren MdBs einen Anknüpfungspunkt für die neu Hinzugekommenen. Allerdings muss insofern differenziert werden, als dass sich die inhaltliche Unzufriedenheit vornehmlich auf die Parlamentarische Linke bezog, während die kulturspezifische Kritik auf beide bisherigen Faktionen gemünzt wurde. Zudem bleibt aufgrund der bisherigen Überlegungen zu den Entstehungsursachen des „Netzwerks“ zu konstatieren, dass die Gruppierung auch ein Vermächtnis der „Enkel“ war:333 Durch das Versäumnis der personellen und inhaltlichen Weiterentwicklung schufen diese jene Leerstelle, die das „Netzwerk“ zu füllen trachtete. 6.1.2 Generationsbedingte Gründungsursachen – Oder: Jusos im Bundestag Einige wesentliche Wurzeln des „Netzwerks“ lagen in der politischbiografischen Vergangenheit vor allem der an der Gründung beteiligten Akteure. Die Initiative ging dabei offensichtlich, so ist den verschiedenen Interviews und informellen Gesprächen zu entnehmen, auf Hans-Peter Bartels, Kurt Bodewig und Hubertus Heil aus dem Kreise der MdBs sowie Jürgen Neumeyer als Büroleiter Heils zurück. Die Erinnerungen an den konkreten Gründungsakt des „Netzwerks“ differieren hingegen unter den Beteiligten: Während Jürgen Neumeyer ein inoffizielles Treffen mit Hans-Peter Bartels, Kurt Bodewig und Hubertus Heil in der 11. Etage des Hochhauses „Tulpenfeld“ im Bonner Regierungsviertel verortete334, schilderte Hubertus Heil eine Zusammenkunft im Keller der hessischen Landesvertretung – ebenfalls in Bonn.335 Kurt Bodewig bestätigte die beschriebene Personenkonstellation336, demgegenüber nannte Heil zusätzlich Carsten Schneider, Karsten Schönfeld sowie Christian Lange als Beteiligte.337 Aufgrund verschiedenster, informeller Hintergrundgespräche kann aller333
Vgl. Interview Heil, S. 14. Vgl. Interview Neumeyer, S. 9. Vgl. Interview Heil, S. 16. 336 Vgl. Interview Bodewig, S. 6. 337 Vgl. Interview Heil, S. 16. 334 335
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dings davon ausgegangen werden, dass die Initiative zur Gründung des „Netzwerks“ tatsächlich von Bartels, Bodewig und Heil sowie dessen Büroleiter Neumeyer ausging.338 Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Erfahrungen wurde im November 1998 bei einem informellen Treffen spontan die Idee geboren, den etablierten Fraktionszirkeln PL und SK etwas Eigenes, „Drittes“339 hinzuzufügen.340 Nach Gesprächen mit Christian Lange, Karsten Schönfeld, Carsten Schneider, Christoph Matschie und Ute Vogt stießen diese rasch zur Gruppierung hinzu.341 Die Gruppe hatte sich durch diverse Empfehlungen informell zusammengefunden, auch wenn sie sich zum Teil nicht unbedingt persönlich kannte: So hatte Kurt Bodewig einen Hinweis bekommen, Hubertus Heil sei mit der bestehenden Fraktionsdichotomie ebenso unzufrieden wie er selbst.342 Letzterer wiederum erinnerte sich an einen Aufsatz seines Kieler Kollegen Hans-Peter Bartels aus dem Jahr 1996, in dem dieser einen potenziellen Post-68er-Zusammhang innerhalb der Sozialdemokratie beschrieb.343 Jürgen Neumeyer, der Mitte der 1990erJahre Drogenreferent der Jusos gewesen war344, hatte bereits vor der Bundestagswahl 1998 für Heils Vorgängerin im Bundestagsmandat, Eva Folta, im Bonner Abgeordnetenbüro gearbeitet und schließlich auch die Büroleitung Heils nach dessen Wahl übernommen.345 Darüber hinaus kannte er Heil bereits aus den undogmatischen Jusozusammenhängen – ebenso wie Hans-Peter Bartels, bei dem Neumeyer als Schüler einmal übernachtet hatte.346 Kurzum: Der Rückbezug auf die politische Sozialisation im Jugendverband der Jungsozialisten und die daraus resultierende persönliche Vertrautheit spielten offenbar eine gewichtige Multiplikatorrolle bei der Gründung des „Netzwerks“. Auffällig ist darüber hinaus, dass sowohl Hans-Peter Bartels als auch Kurt Bodewig, Hans-Martin Bury, Hubertus Heil, Christian Lange, Kerstin Griese, Carola Reimann, Michael Roth, Birgit Roth347 und Ute Vogt auf eine politische Sozialisation innerhalb der reformsozialistischen beziehungsweise undogmatischen Jusoströmung zurückblicken konnten, ja, teilweise gar auf Führungsebene der Jusos und deren undogmatische Strömung agiert hatten. So war Michael 338
Vgl. auch Sturm, Daniel Friedrich: „Netzwerker“ wollen die Generation Schröder beerben, in: Die Welt, 16.09.2002; siehe ebenso Palmer, Hartmut: Marsch der Urenkel, in: Der Spiegel, 24.02.2001. 339 Bartels, 2001 c. 340 Vgl. Feldenkirchen, Markus: Aufstand der Anständigen, in: Der Spiegel, 14.06.2004. 341 Vgl. Interview Bodewig, S. 13; ebenso Interview Schneider, S. 9. 342 Vgl. Interview Bodewig, S. 12. 343 Vgl. Interview Heil, S. 17. 344 Vgl. beispielsweise Mertins, Silke: Heroin vom Staat, in: Die Tageszeitung, 16.10.1998. 345 Vgl. Interview Neumeyer, S. 10. 346 Vgl. ebd., S. 9. 347 Birgit Roth war von 1998 bis 2002 Abgeordnete des Deutschen Bundestages.
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Roth von 1993 bis 1995 stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten.348 Ebenso agierte Jürgen Neumeyer als Drogenreferent im Umfeld des Bundesvorstands und kam daher in Kontakt mit späteren „Netzwerkern“. Zeitlich etwas zuvor engagierte sich Bartels bei der „Jungen Presse“.349 Heil wiederum galt als Wortführer im pragmatisch-undogmatisch ausgerichteten Bezirk Braunschweig und als einflussreiche Persönlichkeit im undogmatischen Spektrum. Auch Ute Vogt war als Juso-Landesvorsitzende 1991 bis 1994, währenddessen sie den baden-württembergischen Landesverband der Jusos verstärkt reformorientiert ausgerichtet hatte, bundesweit bekannt.350 Von ihr dürften engere Kontakte zu den ebenfalls aus Baden-Württemberg stammenden „Netzwerkern“ Christian Lange und Hans-Martin Bury bestanden haben. Zudem agierte Christian Lange 1993 bis 1995 im selben Zeitraum wie Michael Roth als stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender des Verbands.351 Zeitlich etwas vor den Kernaktivitäten der bislang genannten Personen muss die Jusoarbeit Kurt Bodewigs eingeordnet werden. Er war 1982 bis 1988 Vorsitzender des Bezirks Niederrhein, der nach mehrfachem Bekunden verschiedenster Akteure im undogmatischen Spektrum eine Führungsposition eingenommen hatte.352 In diesem Zusammenhang ist auch Kerstin Griese zu nennen, die ebenfalls dem Bezirk Niederrhein entstammte und 1989 bis 1993 Mitglied des Bundeskoordinierungsausschusses der JusoHochschulgruppen und auf diese Weise im Bundesvorstand der Jusos eingebunden war, bevor sie 1994 bis 1997 stellvertretende Vorsitzende der niederrheinischen Jusos wurde.353 Die zeitlichen Kongruenzen in der Jusoarbeit der an der „Netzwerk“-Gründung beteiligten Personen sind also unübersehbar. Ohne Zweifel bildeten sie einen dynamisierenden Faktor im Gründungsprozess.354 Ausnahmen unter den „Netzwerk“-MdBs der 14. Legislaturperiode waren lediglich die aus Ostdeutschland stammenden Abgeordneten Christoph Matschie, Carsten Schneider und Karsten Schönfeld, die naturgemäß einen anderen Werdegang hatten. Auch wenn sie zum Teil wie Schneider mit den Jungsozialisten in Kontakt gekommen waren355, so waren sie doch nie tief genug in deren Debatten und personelle Geflechte eingebunden gewesen, als dass sich von dort aus eine bindende Kraft in Bezug auf das „Netzwerk“ hätte entfalten können. Aufgrund 348
Vgl. http://www.michael-roth.eu/cms/vita/index.php?rubric=VITA (zuletzt aufgerufen am 16.02.2009). 349 Vgl. Interview Neumeyer, S. 9. 350 Vgl. Glück, Horst: Die Jungsozialisten, in: Eilfort, Michael (Hg.): Die Parteien in BadenWürttemberg, Stuttgart 2004, S. 172-183, hier S. 177. 351 Vgl. http://www.lange-spd.de/index.php?idcat=13 (zuletzt aufgerufen am 16.02.2009). 352 Vgl. beispielsweise Interview Griese, S. 4, ähnlich auch Interview Bodewig, S. 4f. 353 Vgl. http://kerstin-griese.de/ (zuletzt aufgerufen am 16.02.2009). 354 Vgl. beispielhaft Interview Bartels, S. 2; Interview Heil, S. 9 f. 355 Vgl. Interview Schneider, S. 2 ff.
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der spezifischen Vergangenheit ihres Landesteils konnten diese Abgeordneten die alten Grabenkämpfe zwischen rechts und links, deren Argumentationsmuster und Rollenverteilungen schlicht nicht nachvollziehen, weil ihnen die Erfahrung bundesrepublikanischer SPD-Geschichte und das Hineinwachsen in deren Tradierungen fehlte. Eine weitere Regelabweichung personalisierte sich in Nina Hauer.356 Ebenso wie die oben Genannten besaß sie zwar eine Jusovergangenheit, war sogar Vorsitzende des Bezirks Hessen-Süd gewesen.357 Doch gehörte Hauer nicht zum undogmatischen Spektrum der Jungsozialisten, sondern löste sich 1994 vom Strömungsspektrum der Jungsozialisten und erklärte sich mit ihrem Bezirk Hessen-Süd für unabhängig.358 In einer etwas unorthodox anmutenden Allianz mit dem bayerischen Landesverband versuchte der so entstandene Block der Unabhängigen sich für eine stärkere Aktionsorientierung und weniger ideologisch aufgeladene und theoriegeleitete Debatten innerhalb des Jugendverbands einzusetzen.359 Vor dem Hintergrund dieser Konstellation gehörte die 1998 in den Bundestag gewählte Hauer auch nicht zu den Gründungsmitgliedern des „Netzwerks“, sondern stieß erst nach Abbau einiger Ressentiments und beidseitiger Überzeugungsarbeit zur Gruppierung.360 Die Herkunft aus dem undogmatischem Juso-Spektrum für die „Netzwerker“ jener ersten Jahre von 1999-2002 bedeutete den Rückbezug auf eine gemeinsame politische Identität innerhalb des Jugendverbands, die in die Sozialdemokratie transferiert wurde. Dabei speiste sich diese gemeinsame politische Identität nicht lediglich aus geteilten Erinnerungen, die sicherlich bindend wirkten und besonders beim Aspekt der Sozialität im „Netzwerk“ eine nicht von der Hand zu weisende Rolle spielten. Auch ist ohne Zweifel eine geteilte Erinnerung an politisierend wirkende Erlebnisse wenn schon keine notwendige Bedingung, so doch ein ungemein verstärkendes Element für generationsbedingte Gruppenbildung.361 Dennoch war die Bedeutung der gemeinsamen politischen Vergangenheit eine tiefer gehende. Zum einen waren die Anhänger der undogmatischen Jusoströmung in den auslaufenden 1980er-Jahren, im Grunde bis zur Übernahme des Jusovorsitzes 356
Vgl. auch das Porträt Hauers in Kapitel 7.2.4. Vgl. zu Hauers eigener Erinnerung Interview Hauer, S. 4; siehe auch Oppermann, Christiane: Männchen machen, Nina Hauer!, in: Die Woche, 30.03.1994; ebenso Parteiarchiv der SPD: PI-Nina Hauer: Pressedienst der SPD Hessen-Süd vom 23.03.1994; ebenso Feldenkirchen, Markus: Aufstand der Anständigen, in: Der Spiegel, 14.06.2005. 358 Vgl. Interview Hauer, S. 5 f. 359 Vgl. ebd., S. 5. 360 Vgl. Interview Griese, S. 5, ebenso Interview Hauer, S. 7. 361 Vgl. Bude, 1998, S. 81; siehe auch Herrmann, Ulrich: Das Konzept der „Generation“, in: Neue Sammlung 27 (1987), S. 364-377, S. 371. 357
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durch Andrea Nahles ab 1995 nahezu durchgängig machtpolitisch unterlegen.362 Lediglich im Zuge der Vereinigung gelang es ihnen 1991 durch eine Allianz mit ostdeutschen Delegierten – für gerade einmal zwei Jahre – mit Ralf Ludwig einen reformorientiert-undogmatischen Jungsozialisten an die Spitze des Bundesverbandes zu wählen.363 Doch konnte dies nicht darüber hinweg täuschen, dass die dominierende Gruppierung innerhalb der Jusos die Stamokaps beziehungsweise Linken waren, die sowohl die personalpolitische Übermacht als auch die inhaltlich-kulturelle Diskurshoheit besaßen.364 Zum anderen waren die inhaltlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Stamokaps und Undogs für die Gründung des „Netzwerks“ von besonderer Relevanz. Während spätere „Netzwerker“ die einstigen Juso-Debatten seitens des Stamokap-Flügels als stark zentralistisch organisiert365, teils auf persönliche Angriffe und Konflikt zielend empfanden366, bemühte sich der undogmatische Flügel um möglichst große Offenheit in den Debatten, mit flacheren Hierarchien und größerer Beteiligungsorientierung.367 Nicht die von oben oktroyierte Meinung, sondern der kontroverse Streit sollten die Auseinandersetzungen bestimmen.368 Zudem spielten Geselligkeit, Sozialität und Feiern bei den Undogmatischen eine wichtige und verbindende Rolle für den gruppeninternen Zusammenhalt.369 Inhaltlich sträubte sich der undogmatische Flügel gegen die theorieorientierten Marxismusdiskussionen der Stamokap-Vertreter und suchte die realitätsorientierte Auseinandersetzung um die Zukunft des Sozialstaats oder die Versöhnung von Umwelt und Ökonomie.370 So lagen die Anfänge einer offeneren, diskursiveren und partizipativeren politischen Kultur, wie sie im „Netzwerk“ gepflegt werden sollte, in den undogmatischen Jusozusammenhängen der ausgehenden 1980er- bis Mitte 1990erJahre. Carsten Stender, der ebenfalls eine Sozialisation im undogmatischen Spektrum der Jusos durchlief und Vertrauter und Berater Heils war, schilderte in diesem Zusammenhang den Politikstil des „Netzwerks“ wie folgt: „[...] es ist die Absage an alles Doktrinäre. Es ist das Ziel, ´ne wertgebundene Politik zu machen, die im Grunde, wenn man das sozialismustheoretisch sieht, eher im ethischen Sozialismus verhaftet ist, also versucht, sittlich begründete Entscheidungen im Einzelfall zu treffen, ohne jetzt eine sozioökonomische Theorie zu Grunde zu legen, 362
Vgl. auch Interview Griese, S. 4. Vgl. Oberpriller, 2004, S. 306 f. 364 Vgl. auch Feldenkirchen, Markus: Aufstand der Anständigen, in: Der Spiegel, 14.06.2004. 365 Vgl. Interview Bodewig, S. 3 beziehungsweise. S. 5. 366 Vgl. Interview Griese, S. 9. 367 Vgl. Interview Bodewig, S. 3. 368 Vgl. ebd., S. 3. 369 Vgl. beispielhaft Interview Bodewig, S. 3 370 Vgl. Interview Griese, S. 4; Interview Bodewig, S. 4. 363
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C. Untersuchungsteil die im Grunde genommen, die das eigene Handeln, äh, immer in sozialwissenschaftlicher Weise erklärt. [...] Es geht um, im besten Sinne, Pragmatismus, um eine Politik der Tat, die aber ethisch rückgebunden ist.“371
Auch aus den Biografien vieler „Netzwerk“-MdBs der ersten Legislaturperiode lässt sich eine derartige Handlungsorientierung erkennen. Theoretische Diskussionen werden in der Regel dann geschildert, wenn die abschreckende Wirkung des Politikstils der Linken beziehungsweise Stamokaps verdeutlicht werden soll. Positiv besetzte eigene Rückerinnerungen fokussieren dahingegen auf konkrete politische Aktionen wie das Engagement gegen ein Atommüllendlager, für ein Jugendzentrum oder für diverse friedenspolitische Maßnahmen.372 Das Engagement innerhalb desselben Jusoflügels, nicht zuletzt die Marginalisierung hatte auf die Undogmatischen zumeist identitätsstiftend und zusammen schweißend gewirkt.373 Als nun 1998 einige aus der ehemaligen Führungsriege des undogmatischen Spektrum in den Bundestag einzogen und sich dort wieder erkannten, beschleunigte dies den Gruppenbildungsprozess. Der zu Juoszeiten empfundene Außendruck hauptsächlich seitens des Stamokap-Flügels bewirkte in diesem Zusammenhang nicht nur die innere Kohäsion einst der Undogmatischen und nun der „Netzwerk“-Gründer, sondern führte zudem zu dem Wunsch, an die damalige Arbeit anzuknüpfen.374 Denn die oben skizzierten, von „Netzwerkern“ ausgemachten Defizite in den etablierten Fraktionsflügeln SK und PL spiegelten in den Augen der Jung-MdBs Konflikte der eigenen Jusovergangenheit wider. Besonders die Debatten und Strukturen der PL wurden als Fortführung jener Stamokap-Traditionslinie empfunden, welche die ehemaligen undogmatischen Jusos im Jugendverband jahrelang bekämpft hatten.375 Aus dieser sozialisatorischen Wurzel heraus verwundert es nicht, dass die Jungparlamentarier sich nicht noch einmal in die bereits bei den Jusos als quälend empfundenen Flügelkämpfe einordnen wollten, sondern stattdessen versuchten, einen eigenen diskursiven Raum zu etablieren. Aufschlussreich sind in diesem Kontext die Schilderungen Bodewigs, der jahrelang den im undogmatischen Spektrum einflussreichen Bezirk Niederrhein geführt hatte. So nannte er als Wesensmerkmal des Bezirks Niederrhein und damit der Undogmatischen eine pragmatische Politikorientierung und eine diskursive, inklusive Gesprächskultur: „Parallel dazu war ich aber auch immer in Parteigremien. Also [...] Stadtverband, Unterbezirk, Bezirk, wie das so ist. [...] Es gab andere Jusoströmungen, die sich viel 371
Interview Stender, S. 7. Vgl. beispielsweise Interview Vogt, S. 2, beziehungsweise Interview Reimann, S. 1. 373 Vgl. zur Identitätsbildung Interview Griese, S. 4. 374 Vgl. Interview Neumeyer, S. 8 ff. 375 Vgl. beispielsweise das folgende Urteil über die Parlamentarische Linke Interview Bodewig, S. 10. 372
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stärker auf die Jusoorganisation kapriziert hatten. Wir hatten immer ein Bein bei den Jusos und eins in der Partei.“376 „Bei uns gab es immer ´ne offene Gesprächskultur. Es war die Einladung eigentlich zum kontroversen Streit. Und nicht so sehr, wir sind ein Block, da gibt vorne einer die Parole aus und hinten müssen dann alle klatschen. Sondern wir haben eigentlich sehr gute kontroverse Diskussionen gehabt […].“377
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich in der 14. Legislaturperiode fast ausschließlich MdBs im „Netzwerk“ beteiligten, die eine Vergangenheit in der undogmatischen Jusoströmung besaßen: Die biografischen Schnittmengen schufen ein für den Gruppenbildungsprozess unerlässliches, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen. In diesem Sinne bildete das „Netzwerk“ zumindest in seiner Anfangsphase eine in die SPD verlängerte Fortsetzung des undogmatischen Juso-Flügels, indem versucht wurde, die politische Kultur einer offenen, hierarchiefreien und inklusiven Diskussion sowie eine pragmatische Politikorientierung fortzuführen. 6.1.3 Zielsetzung und Idee: Offener Kommunikationszusammenhang Die Zielrichtung des „Netzwerks“ war zunächst schlicht jene, mit der Gründung einer eigenen fraktionsinternen Gruppierung ein offenes Diskussionsforum zu schaffen379, in welchem zum einen all jene Themen aufgegriffen werden sollten, welche die Jungparlamentarier bei den etablierten Faktionen vermissten. Zudem sollte die Runde möglichst ohne Beschränkung allen Interessierten offen stehen. Offensichtlich stand zu jenem Zeitpunkt weniger die Perspektive einer politischen pressure-group, eines wirklichen fraktionsinternen Machtfaktors im Raum,380 auch wenn dies vereinzelt der Fall gewesen sein mag.381 Rasch entstand per Schneeballprinzip ein Kreis Interessierter, der sich zu einem großen Teil aus alten Juso-Bekanntschaften speiste. Ute Vogt und Christoph Matschie stießen hinzu, weiter Hans-Martin Bury, Sebastian Edathy, Birgit Roth und als nachgerückte MdBs Carola Reimann und Kerstin Griese. Über diesen reinen MdB-Zirkel hinaus entwickelte sich eine Organisationsform, die den eher aus Mangel an überzeugenden Alternativen gewählten Namen 376
Interview Bodewig, S. 3. Ebd., S. 3. 379 In einem Papier der Gruppierung wird ausdrücklich von einem “Diskursprojekt“ gesprochen (vgl. „Netzwerk Berlin“: „Netzwerk Berlin“ – Die neue Generation der Sozialdemokratie, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle). 380 Vgl. auch die Aussage der Gruppierung, sie wolle keine Konkurrenz zu Seeheimer Kreis oder Parlamentarischer Linken sein (vgl. „Netzwerk Berlin“: „Netzwerk Berlin“ – Die neue Generation der Sozialdemokratie, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle). 381 Vgl. Interview Bartels, S. 13. 377
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der Gruppierung letztlich rechtfertigte:383 Es entstand ein „Netzwerk“. Nicht nur im Parlament, auch in den verschiedensten Medienberufen, den Ministerien oder anderem politischen Umfeld fanden sich nach und nach ehemalige undogmatische Jungsozialisten, die Interesse an einem Diskussionsaustausch bekundeten. Als erster Anlaufpunkt kristallisierten sich die so genannten Donnerstagabendtreffen des „Netzwerks“ heraus, zu denen die MdB-Gruppierung zeitnah zur Gründungsidee erstmals einlud.384 Auf diesen Treffen wurde mit Referenten, die auch, aber nicht nur dem engeren Kreis der Politik entstammten, diskutiert. Dabei war von Anfang an nicht nur das Bestehen einer solchen inhaltlichen Diskussionsveranstaltung innerhalb der Fraktion an sich ein Novum, auch die Auswahl der Referenten und Teilnehmer unterschied sich deutlich von den bisherigen fraktionsinternen Traditionen. Denn die „Netzwerker“ beschränkten zum einen ihren Teilnehmerkreis nicht ausschließlich auf MdBs, sondern öffneten sich ausdrücklich auch für Mitarbeiter des Parlamentsbetriebs, Angehörige des – erweiterten – Verwaltungsapparats von Regierung und Partei, für interessierte Personen aus der Wissenschaft oder aber auch der Wirtschaft.385 Zum anderen stammten von Beginn an die Referenten selbst nicht ausschließlich aus dem politiknahen Umfeld. Das „Netzwerk“ bemühte sich ausdrücklich um die Etablierung eines erweiterten Politikbegriffs, der nicht an parlamentarischen Grenzen, aber auch nicht unbedingt an Parteigrenzen Halt machte: „Wir haben das „Netzwerk“ ja so angelegt, dass es nicht ein Verein von Abgeordneten ist, sondern die Abgeordneten sind sicherlich der Kern, aber darüber hinaus all die anderen, die auch Politik machen, die aus alten Jusozusammenhängen kommen, heute in Ministerien arbeiten, bei den Medien, in der Wissenschaft, bei Verbänden oder in Abgeordnetenbüros. […] Also ein etwas erweiterter Politikbegriff. Politik ist nicht mehr das Parlament, was im Parlament stattfindet, sondern das wird vorbereitet, das wird begleitet, das wird beeinflusst von anderen Institutionen auch, wo Unseresgleichen genauso auch sitzt.“386
Die Organisation des „Netzwerks“ wurde nach seiner Gründung von Heils Büroleiter Jürgen Neumeyer übernommen, selbst als ehemaliger undogmatischer Juso aus dem Bezirk Niederrhein.387 Zunächst besaß die Gruppierung noch keine eigene Homepage, auch der Zugang zu den im Reichstag sitzungswöchentlichen Treffen war informell. An den Diskussionsabenden Interessierte wurden von Neumeyer in einen Email-Verteiler aufgenommen und über bevorstehende Tref383
Vgl. zur Namensfindung Interview Bartels, S. 10. Vgl. „Netzwerk Berlin“: Sozialdemokratie der nächsten Generation: Eine Dokumentation, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle, S. 7. 385 Vgl. exemplarisch die folgenden Teilnahmelisten von Donnerstagabendveranstaltungen: „Teilnahmeliste 09.09.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle; „Teilnahmeliste 30.09.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 386 Interview Bartels, S. 2. 387 Vgl. Interview Neumeyer, S. 9 f. 384
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fen informiert. Zudem besaß die Gruppe keine Führungsstruktur, keine Satzung oder ähnliche formale Richtlinien. Ferner blieben die Beiträge zu Diskussionen innerhalb der Partei oder rund um die Regierungsführung eher sporadisch. Ebenso erfolgten keine parlamentarischen Initiativen. Das „Netzwerk“ war und wollte vornehmlich schlichtweg jenes sein: ein offener Diskussionszusammenhang.388 Doch wandelte sich das Selbstverständnis im Laufe der Legislaturperiode: Zwar blieb das Interesse am diskursiven Austausch ohne Zweifel bestehen, ja, die Donnerstagabende erfreuten sich eines regen Zulaufs.389 Vor allem aber erstarkte – vornehmlich unter den MdBs – das Bedürfnis, auch tatsächlich etwas zu bewirken, die aus den Debatten gewonnenen Erkenntnisse umzusetzen.390 So vollzog die Gruppierung im Laufe der 15. Legislaturperiode seit September 2002 einen organisatorischen und inhaltlichen Prozess, der sich mit den Schlagwörtern „Erweiterung“ und „Vertiefung“ umschreiben lässt.391 6.2 Zum organisatorischen Aufbau: Das „Netzwerk“ als Zwiebel Im Zentrum des „Netzwerks“ stand von Beginn an eine über die Jahre wachsende Anzahl von Bundestagsabgeordneten, die sich in der Hauptsache um die organisatorische und inhaltliche Gestaltung der Gruppierung bemühten und untereinander – nicht zuletzt aufgrund der örtlichen Nähe und des gemeinsamen Arbeitsplatzes – teils in engem Kontakt standen. Die MdB-Gruppierung stellte den so genannten „Kreis der Einlader“, der zu den verschiedensten Veranstaltungen der Gruppierung einlud. Die Mitgliedschaft der MdBs im „Netzwerk“ manifestierte sich unter anderem durch das Verzeichnis auf dem Briefkopf der Gruppierung sowie durch eine Art Unkosten- oder Mitgliedsbeitrag, vornehmlich zur Finanzierung des geschäftsführenden Büros, das seit 2002 bestand und mit mehreren Mitarbeitern ausgestattet war. Aus ihrer Mitte wählten die MdBs ebenfalls seit 2002 den sechsköpfigen Sprecherkreis.
388
Vgl. zur Einordnung des „Netzwerks“ in die politischen Salons und Netzwerke der Bundeshauptstadt: auch o. V.: Die vernetzte Republik, in: Politik und Kommunikation 6 (2003), S. 14-33. Vgl. beispielsweise die zwischen 25 und 100 Teilnehmern schwankenden Zahlen für das Jahr 2000 in „Netzwerk Berlin – Netzwerktreffen 2000“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. 390 Vgl. beispielsweise Interview Bodewig, S. 13. 391 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Arbeitsplanung 2004, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. 389
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Über die MdB-Gruppierung hinaus zählte das „Netzwerk“ über den von der Geschäftsstelle verwalteten Emailverteiler bis zu mehreren Tausend Interessierte aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft oder Journalismus. Dies umfasste auch Referenten von Tagungen oder Mitarbeiter von Politikern. Darüber hinaus pflegte die Gruppierung Kontakte zu zahlreichen Landes-„Netzwerken“ in unterschiedlichen Bundesländern. Seit 1999 gab das „Netzwerk“ die Zeitschrift „Berliner Republik“ heraus. Über die Zeitschrift suchte die Gruppierung zum einen durch die offiziellen Herausgeber und den redaktionellen Beirat sowie über Autoren weitere Interessierte an sich zu binden. Als sitzungswöchentliche Veranstaltungsformen kannte das „Netzwerk“ die Donnerstagabendtreffen, zu denen über den Verteiler eingeladen wurde, die Mittagskoordinierung der MdB-Runde sowie das Treffen des Sprecherkreises. Innerhalb der MdB-Gruppierung gab es so genannte themen- und klientelzentrierte „Dialoggruppen“, die ebenfalls wie die veranstalteten Regionalforen im Zuge der internen Programmdiskussion im Herbst 2003 ins Leben gerufen wurden. Hinzu kamen themenzentrierte Jahrestagungen, in Kooperation mit der Zeitschrift initiierte „Abende der Berliner Republik“ auf Parteitagen sowie die Diskussionsforen „Berliner-Republik-Innovationsdialoge“ sowie einige singulär stattfindende Veranstaltungen wie eine Programmtagung in Bad Münstereifel im Herbst 2003. Tabelle 2 gibt eine Übersicht über sämtliche Diskussions- und Organisationsformen des „Netzwerks“. 6.2.1 Verschiedene „Netzwerk“-Generationen: Motivationen und Interessen Wie bereits erwähnt, erklärte sich die Mitgliedschaft der MdBs im „Netzwerk“ bis zum Herbst 2002 fast durchweg durch deren Herkunft aus undogmatischen Jusozusammenhängen der 1980er- und 1990er-Jahre. Mit der Übereinkunft und dem Wunsch, auch als politische Kraft und damit als dritter Flügel innerhalb der Bundestagsfraktion zu agieren, ergab sich für das „Netzwerk“ jedoch die Notwendigkeit, eine quantitativ breitere Basis zu erlangen, um Inhalte durchsetzen und als Machtfaktor wirken zu können. Zudem hatte sich das „Netzwerk“ in seiner ersten Legislaturperiode unter anderem stark mit dem Etikett der „jungen Politiker“ identifiziert, sich selbst zum Teil auch als jüngere politische Generation stilisiert.392 Allerdings hatte diese Zuschreibung einiges an Kritik nach sich gezogen, da, so wurde bemängelt, Jungsein allein noch kein hinreichendes in-
392
Vgl. Monath, Hans: Gesucht: Ein Moped für den SPD-Nachwuchs, in: Der Tagesspiegel, 16.09.1999; siehe auch die These des „Netzwerkers“ Carsten Schneider über das Lebensgefühl einer jungen Generation in Falke, Jutta/Staerk, Susanne: Organisierte Hoffnung, in: Rheinischer Merkur, 16.07.1999.
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haltliches Differenzkriterium darstelle.393 Aus diesen Gründen hob das „Netzwerk“ 2002 die durch Kurt Bodewig symbolisierte Altersgrenze auf und veränderte die Rekrutierung ihrer MdB-Mitglieder. So stammten die seit 2002 zum „Netzwerk“ stoßenden Abgeordneten kaum noch aus ehemaligen undogmatischen Jusozusammenhängen, ja, teils waren sie überhaupt nie in der Jugendorganisation aktiv gewesen, in Einzelfällen gar erst seit wenigen Jahren Parteimitglied.394 Michael Roth beschrieb im Interview ein Modell aus drei gruppeninternen Generationen: „Also, ich würde mal sagen, es gibt drei Generationen. Es gibt die Gründergeneration, es gibt dann diejenigen, die dann im Laufe der ersten zwei, drei Jahre, also in der ersten Legislaturperiode dann der Gründergeneration nachfolgten. Und die dritte Generation dann sind dann diejenigen, die 2002 fortfolgende dazu kamen, die aus zum Teil anderen Generationenzusammenhängen kamen [...], und die wahrscheinlich das „Netzwerk“ dann auch unter dem Gesichtspunkt sahen: Es ist ´ne Alternative zur PL, es ist ´ne Alternative zu den Seeheimern. Es ist einladend, es bietet ein attraktives Angebot, es wirkt jung, frisch. Deswegen machen wir da mit.“395
Die dritte Gruppe, die Roth ausmachte, hob sich von den vorhergehenden in mehrerlei Hinsicht ab. Zum einen waren dies zum Teil Politiker – wie Rainer Wendt, Ursula Mogg oder Gabriele Frechen – die aufgrund ihres Geburtsjahres in den 1950er-Jahren anderen Kohorten und Generationenzusammenhängen entstammten. Aus diesem Grund teilten sie auch nicht die Sozialisation im undogmatischen Spektrum der ausklingenden 1980er- und beginnenden 1990erJahre. In den Vordergrund rückte für diese „Netzwerk“-interne Generation als Beitrittsgrund die relative Jugendlichkeit der Gruppierung und ihr Versprechen, sich nicht an eingefahrenen Hierarchien zu orientieren und jeden Einzelnen an Entscheidungen und Diskussionen teilhaben zu lassen.396 Für viele ging damit die oft beschworene unideologische, pragmatische Herangehensweise an politische Probleme einher, die attraktiv erschien.397 Hinzu kam in vielen Fällen die bereits geschilderte Unterstützerfunktion des „Netzwerks“, das seinen Mitgliedern Hilfe sowohl bei der Orientierung im Parlamentsalltag als auch bei der Orientierung in Berlin, der Freizeitgestaltung oder der Organisation von Veranstaltungen versprach.398 Die Motivlagen der dritten Gruppe entsprangen somit 393 Vgl. zu den negativen Urteilen Schwennicke, Christoph: Den Jusos sei Dank, in: Süddeutsche Zeitung, 14.07.1999; vgl. zum Merkmal Jugend in Zusammenhang mit dem „Netzwerk“ Monath, Hans: Gesucht: Ein Moped für den SPD-Nachwuchs, in: Der Tagesspiegel, 16.09.1999. 394 Deutlichstes Beispiel ist Caren Marks, die 1998 der SPD beitrat, bevor sie 2002 in den Bundestag gewählt wurde (vgl. http://spdnet.sozi.info/niedersachsen/marks/index.php?mod=content &menu=8&page_id=117 (zuletzt aufgerufen am 01.07.2008) 395 Interview Roth, S. 9. 396 Vgl. beispielsweise Interview Wend, S. 6. 397 Vgl. beispielhaft Interview Ehrmann, S. 3 und S. 20; siehe auch Interview Kressl, S. 4. 398 Vgl. hierzu Interview Drobinsky-Weiß, S. 18.
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einer im Vergleich mit der ersten und zweiten Gruppe weniger tief wurzelnden Haltung, da sie nicht auf im Laufe der verbandsinternen Sozialisation erworbenen Einstellungen basierten. Auch aus diesem Grund wurde das „Netzwerk“ durch diese „Erweiterung“ in seinem Erscheinungsbild und seinen Inhalten deutlich heterogener. Daneben durchlief das „Netzwerk“ in den Jahren zwischen 2002 und 2005 einen Formalisierungs- und Institutionalisierungsprozess, der auch als organisatorische sowie inhaltliche „Vertiefung“ verstanden werden kann. Hatte die Abgeordnetengruppierung in den Jahren 1999-2002 noch kaum Merkmale einer Faktion, also einer innerfraktionelle Gruppierung, aufgewiesen, so entwickelte sie sich nun zunehmend zu einer formal-institutionalisierten Gruppierung, auch wenn sie nach wie vor eine allgemein offene Organisationskultur pflegte.401 Demgemäß richtete die Gruppierung in organisatorischer Hinsicht ein geschäftsführendes Büro ein, installierte einen sechsköpfigen Sprecherkreis, verstetigte seine Treffen, die zunehmend auf den Parlamentsrhythmus abgestimmt wurden und versuchte in inhaltlicher Sicht, gezielter und terminierter Beiträge zur innerparteilichen politischen Debatte in verschiedensten Bereichen zu leisten. 6.2.2 Das geschäftsführende Büro um Jürgen Neumeyer Das organisatorische Zentrum des „Netzwerks“ wurde mit Beginn der 15. Legislaturperiode im September 2002 aus dem Abgeordnetenbüro Heils ausgelagert.402 Jürgen Neumeyer wurde offiziell hauptamtlicher Geschäftsführer der Gruppierung und konnte auf ein eigenes Büro inklusive studentischer Mitarbeiter zurückgreifen, um vor allem organisatorische Aufgaben wahrzunehmen.403 Mit inhaltlicher Arbeit war das geschäftsführende Büro kaum mit inhaltlicher Arbeit befasst. Seine Funktion bestand vielmehr darin, für den reibungslosen Ablauf verschiedenster „Netzwerk“-Veranstaltungen zu sorgen sowie – und dies erscheint fast wichtiger – Kontakt- und Anlaufstelle für „Netzwerker“ zu sein. So war das geschäftsführende Büro nie lediglich ein bloßer Verwaltungsort. Zum einen boten die Mitarbeiter der Geschäftsstelle insbesondere Abgeordneten, aber auch anderen „Netzwerkern“ ihre Dienste an, falls diese eine Veranstaltung organisieren wollten.404 Dabei reichte die Unterstützung von der Kontaktvermittlung zu Referenten bis zur Auswahl des geeigneten Ortes oder der Bereitstellung 401
Vgl. Müller-Rommel, 1982, S. 25-35. Vgl. zu ersten Bemühungen um eine eigene „Netzwerk”-Stelle den folgenden Brief an alle „Netzwerker“: Heil, Hubertus: Einrichtung einer „Netzwerk”-Stelle, Bonn, 06.10.1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk”-Geschäftsstelle. 403 Interview Neumeyer, S. 1. 404 Vgl. beispielsweise die Schilderungen in Interview Drobinsky-Weiß, S. 18. 402
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von Personal. In diesen Kontext gehörte auch Unterstützung von Neuparlamentariern durch die Geschäftsführung bei der Orientierung im Parlamentsalltag oder auch bei der Suche nach geeigneten Büromitarbeitern. Zum anderen fungierte vor allem Jürgen Neumeyer als soziale Instanz und Kommunikator: Er stellte Kontakte her, versuchte zwischen den einzelnen „Netzwerkern“ Verbindungen zu knüpfen und spürte ähnliche Interessenlagen auf. Im besten Wortsinne flocht er an einem Netzwerk, das nicht immer und nicht ausschließlich auf das politische Kerngeschäft beschränkt blieb. Allerdings sollte die Position Neumeyers keinesfalls als zentral steuernde Instanz missverstanden werden. Neumeyers Begabung lag neben der organisatorischen Arbeit im inoffiziellen Bereich. Auf Festen und Aktivitäten harrte er zumeist gut gelaunt als einer der Letzten aus und konnte in ungezwungener Atmosphäre seine Vermittlungstalente ausspielen. Jene Kontakte, die über offiziell-institutionalisierte Begegnungen hinaus gingen, spielten im „Netzwerk“ eine bedeutende Rolle. Sie führten zur tatsächlichen Netzwerk-Bildung, die der Geschäftsführer Neumeyer durch den Raum, den er sozialen Aktivitäten – sowie schlichtweg: Partys – einräumte, und durch sein kommunikatives Vermittlungstalent beförderte. Er selbst schilderte das Verhältnis zwischen „Netzwerk“ und Geschäftsstelle wie folgt: „Und das ist schon, wie ich finde, ´ne sehr wichtige Form von Politik, dass, ähm, dass sich ein Netz knüpfen kann. […] wir sitzen hier in der Geschäftsstelle und verwalten den Verteiler und so weiter. Aber ich weiß ja nun auch nicht, was an bestimmten Stellen nun hier und da besprochen und welche Projekte forciert und wer sich wann und wo kennt und auch mal berät, und hier mal beraten lässt oder da vielleicht auch mal ´n Geschäft abschließt oder, äh, den Hinweis bekommt, äh, auf Sache XY in Ortsverein Soundso oder Unterbezirk oder Land oder wie auch immer, ja? Ähm, und da passiert natürlich außen herum ´ne ganze Menge irgendwie [...], wo sich ´n bestimmtes Netz eben knüpft.“405
In den Kontext des informellen Zusammentreffens ist auch die von Neumeyer betriebene Kneipe „Wahlkreis“ im Berliner Stadtteil Mitte zu zählen, die als Anlaufpunkt für politische Akteure und Beobachter diente.406 Zu den weiteren Aufgaben des geschäftsführenden Büros gehörte die Pflege der „Netzwerk“-Homepage sowie die Verwaltung diverser Email-Verteiler. Diese Aufgaben sind, so sehr sie nach alltäglichen Büroarbeiten klingen mögen, aus verschiedenen Gründen interessant und geben Aufschluss über den politischen Stil des „Netzwerks“. Zunächst war das „Netzwerk“ die erste der drei fraktions-
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Interview Neumeyer, S. 18. Vgl. für einen ersten Eindruck http://www.wahlkreis.com/index.php (zuletzt aufgerufen 03.07.2008).
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internen Gruppierungen, die mit einer eigenen Homepage online ging.407 Symbolisch kann dies als Ausdruck der Tatsache gedeutet werden, dass im „Netzwerk“ anteilsmäßig mehr Politiker jüngerer Geburtsjahrgänge versammelt waren als dies zu jenem Zeitpunkt bei der PL oder dem SK der Fall war. Für diese jüngeren Politiker waren die Möglichkeiten moderner Kommunikationstechnologie wie das Internet offenkundig integraler Bestandteil eines zeitgenössischen Politikverständnisses. Des Weiteren können sowohl die Tatsache einer recht frühen HomepageInstallation an sich als auch die Gestaltung der Homepage selbst als Ausdruck eines spezifischen Verhältnisses von Informalität und Öffentlichkeit im „Netzwerk“ gesehen werden. Zum einen bemühte sich die Gruppierung, ihre Ziele und ihre Arbeitsergebnisse über die Homepage einer möglichst großen Öffentlichkeit zu kommunizieren. Stellungnahmen zu politischen Vorfällen, inhaltliche Ziele oder auch Angaben zum Personenkreis der „Netzwerk“-MdBs waren hier ebenso zu erfahren wie Informationen zu politischen Veranstaltungen. Dieser demonstrativen Außenwendung standen mehrere interne Bereiche der Homepage gegenüber, die nur per Passwort und persönlicher Identifikation zugänglich waren. Im internen Bereich standen dem Besucher mehrere Service- und Unterhaltungsleistungen zur Verfügung: Zum einen gab es Fotos von verschiedensten Veranstaltungen und diverse Comics zu bestaunen. Daneben informierte ein „Partyplaner“ über gesellschaftliche Feiern des politischen Berlin.408 Diese Rubriken verwiesen auf die soziale und Unterstützerfunktion des „Netzwerks“. Neben diesen Unterhaltungsformaten aber boten sowohl die Rubrik „Stellenpool“ als auch das „Who is who“ die Möglichkeit gezielter Kontaktaufnahme. Im „Who is who“ hatte der Besucher die Möglichkeit, die Daten aller im internen Bereich registrierten „Netzwerker“ zu studieren und sein eigenes Profil erstellen. In der Kategorie „Stellenpool“ wurden – nomen est omen – offene Stellenanzeigen im politischen Bereich gehandelt – das „Netzwerk“ regelte so gleichsam seinen eigenen Arbeitsmarkt. Darüber hinaus existierte auf der „Netzwerk“-Homepage ein Bereich, welcher ausschließlich MdBs durch eine gesonderte Kennung zugänglich war, um sich Anregungen für Aktionen in ihrem Wahlkreis holen, über die geeignete Moderation von „Netzwerk“-Treffen zu informieren oder über Positionspapiere zu diskutieren.409
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Vgl. allgemein zu diesem Abschnitt die Homepage des „Netzwerks“ unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen 03.07.2007). 408 Vgl. kritisch Meng, 2002, S. 73. Meng macht auf die große Anzahl von Lobbyveranstaltungen aufmerksam. 409 Vgl. „Homepage http://www.netzwerkberlin.de: MdB-Bereich, Oktober 2003“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle.
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Ein wenig erinnerten die geschilderten internen Rubriken, die Informationsaustausch, Stellenhandel und die Möglichkeit zur eigenen Profilerstellung boten, in ihrer Struktur und Stoßrichtung an einschlägige zeitphänomenologische Internetforen wie StudiVZ, Facebook oder Xing.410 Durch die Mitgliedschaft in einer Internetcommuninty beziehungsweise einem internen Bereich einer Internetseite wurden den Mitgliedern exklusive Möglichkeiten des „social networking“, schlicht: des Kontakte Knüpfens gegeben. So suchte das „Netzwerk“ ähnlich wie die erwähnten Foren Xing oder StudiVZ, ein verbindendes Dazugehörigkeitsgefühl, eine inklusive Identität der Mitglieder und Zugangsberechtigten herzustellen. Diese Form des internetbasierten Austausches und des Herstellens einer Online-Community kann zum damaligen Zeitpunkt sowohl als ein Novum innerhalb der SPD als auch als Ausdruck einer jüngeren politischen Generation angesehen werden. Eine gewisse Nähe ist dabei zum Gedanken der Netzwerkpartei zu konstatieren, wie ihn der Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig verfolgt hatte. Auch einige seiner Ideen zur Mitgliederwerbung, -bindung und -aktivierung fußten – wie beispielsweise der virtuelle Ortsverein – auf der Nutzung internetbasierter Technologie.411 In der punktuellen Anwendung, wie sie das „Netzwerk“ praktizierte, mit einem formal hoch gebildeten und in seinen Interessen – Austausch innerhalb des „Netzwerks“ – eng umrissenen Publikum kann diese Form der politischen Kommunikation durchaus als erfolgreich beurteilt werden. Über diese Beobachtungen hinaus verdeutlicht die Disparität zwischen öffentlich zugänglichen und verschlüsselten Bereichen der „Netzwerk“-Homepage die Spannbreite von extremer Öffentlichkeit und exklusiver Informalität. Während die Öffentlichkeit von Positionen und Inhalten oft ein eher flüchtiges Verhalten des Konsumenten nach sich zieht – auf einer Internetseite ist schnell einmal vorbeigesurft, alles ist jederzeit abrufbar –, wird über die interne Exklusivität versucht, ein bindendes Zugehörigkeits- und Identitätsgefühl zu erzeugen. In eine ähnliche Spannung ist der so genannte Email-Verteiler des „Netzwerks“ einzuordnen. Er umfasste im September 2002 circa 1200 und im Frühjahr 2005 bereits 2500 Personen413, die regelmäßig über Veranstaltungen der Gruppierung 410
Vgl. beispielsweise Renz, Florian: Praktiken des Social Networking: eine kommunikationssoziologische Studie zum online-basierten Netzwerken am Beispiel von openBC (XING), Boizenburg 2007. 411 Vgl. Machnig, Matthias: Vom Tanker zur Flotte. Die SPD als Volkspartei und Mitgliederpartei von morgen, in: Bartels, Hans-Peter/Machnig, Matthias (Hg.): Der rasende Tanker, Göttingen 2001, S. 101-117, hier S. 115; siehe zum Thema der Netzwerkpartei auch Leggewie, Claus: Parteien zu Netzwerken. Online-Kommunikation und neue Politik, in: Bartels/Machnig, 2001, S. 35-45, besonders S. 37 ff. 413 Vgl. zu den Zahlen aus 2002 Sturm, Daniel Friedrich: „Netzwerker“ wollen die SchröderGeneration beerben, in: Die Welt, 16.09.2002. Die Zahlen zu 2005 wurden der Verfasserin von einer
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informiert. Obwohl durch die Existenz des Verteilers ein selektiver Informationszugang erzeugt wurde, war die Exklusivität nur eine bedingte. Um in den Verteiler aufgenommen zu werden genügte ein relativ formloser Antrag bei der Geschäftsführung. Dennoch existierten einige Ausschlusskriterien, wie Neumeyer schilderte: „Also, es kommt selten vor, dass jemand rausfliegt, ähm, und es kommt aber auch ab und an vor, dass jemand nicht aufgenommen wird. [...] Wenn ich irgendwie so ´ne, so ´ne Email habe, die ich einfach nur, weiß ich nicht, spinnert, esoterisch oder sonst irgendwas finde. Oder wo ganz klar ist, das ist jetzt jemand bei ´nem CDUAbgeordneten, der muss jetzt auch nicht dringend irgendwie bei uns in den Verteiler.“414
Das Prinzip der Offenheit und der möglichst breiten Öffentlichkeit kannte somit auch im „Netzwerk“ seine Grenzen – beispielsweise gegenüber politischer Konkurrenz wie der CDU. Resümierend bleibt festzustellen, dass der Geschäftsstelle des „Netzwerks“ trotz der scheinbar nach bloßer Verwaltung und Organisation anmutenden Aufgaben eine Schlüsselposition innerhalb des „Netzwerks“ zugesprochen werden kann, da sie den Zugang zu Information beeinflussen konnte. Dennoch muss konstatiert werden, dass sowohl Neumeyer als auch seine Mitarbeiter nie im eigentlichen Sinne inhaltlich arbeiteten, indem sie etwa Stellungnahmen zu politischen Ereignissen oder Themen selbstständig verfassten – dies blieb dem Kreis der MdBs vorbehalten. 6.2.3 Zwischen Strukturlosigkeit und Hierarchie: MdB-Runde und Sprecherkreis Die Bundestagsabgeordneten – Oder: Der „Kreis der Einlader“ Die Runde der MdBs kann als parlamentarischer Kern des „Netzwerks“ bezeichnet werden.415 Bekannten sich am Ende der 14. Legislaturperiode lediglich 17 Abgeordnete zum „Netzwerk“, so wuchs diese Zahl nach der Bundestagswahl 2002 auf 40, im Laufe der 16. Legislaturperiode auf 48. Während zwischen 1999 und 2002 nur eine Abgeordnete die Gruppierung verließ, da sie nicht weiter dem Bundestag angehörte, vollzogen sich zwischen 2002 und Mitte 2008 Personalwechsel in zweierlei Richtungen vollzogen: Zum einen schieden die Abgeordneten Anton Schaaf und Marco Bülow aufgrund inhaltlicher Differenzen aus dem „Netzwerk“ aus. Auffällig ist, dass beide MdBs ihre Arbeit anschließend in der Parteilinken fortsetzten, sich die Kritik auf die aus ihrer Sicht wirtschafts- bezieMitarbeiterin der Geschäftsstelle im persönlichen Gespräch genannt, siehe aber auch Interview Neumeyer, S. 18. 414 Ebd., S. 19. 415 Vgl. auch Interview Neumeyer, S. 18.
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hungsweise sozialpolitisch „neoliberale“ Tendenz der Gruppierung bezog.416 Darüber hinaus verließen sieben weitere Abgeordnete das „Netzwerk“: Auch nach seiner Wahl zum Generalsekretär der SPD im November 2005 stand Hubertus Heil der Gruppierung sicher so nah wie seit jeher – immerhin war er einer der „Gründungsväter“ –, doch war er nicht mehr in der MdB-Gruppierung verzeichnet, lediglich als Herausgeber der „Berliner Republik“ wurde er weiterhin erwähnt. Darüber hinaus waren die MdBs Erika Ober, Hans-Martin Bury, Martina Eickhoff, Christoph Matschie, Karsten Schönfeld sowie Ute Vogt nicht weiter im Bundestag vertreten. Diesem Mitgliederabgang stand ein Zuwachs von 26 Abgeordneten zwischen 2002 und 2005 und von 15 Abgeordneten zwischen 2005 und 2008 gegenüber. Insgesamt hatte die Gruppierung also in quantitativer Hinsicht durchaus eine steigende Tendenz zu verzeichnen, die umso beachtlicher ist, führt man sich die Gesamtentwicklung der SPD-Fraktion in jenem Zeitraum vor Augen: Umfasste die sozialdemokratische Fraktion in der 14. Legislaturperiode 298 Abgeordnete, so waren dies in der 15. Wahlperiode lediglich 251, in der 16. Legislaturperiode sank die Anzahl der MdBs gar auf 222.417 Proportional stieg damit der Anteil der „Netzwerker“ an der Gesamtfraktion. Doch können diese Beobachtungen nicht darüber hinweg täuschen, dass das „Netzwerk“ immer noch und eindeutig die kleinste der drei SPD-Faktionen stellte: Die PL gab die Größe ihrer Mitgliedschaft stets mit circa 100 Mitgliedern an, der Seeheimer Kreis rechnete sich ein Drittel aller Abgeordneten zu.418 Obwohl das „Netzwerk“ keine formale Satzung besaß, ist gerade im Vergleich mit dem SK und der PL zu konstatieren, dass die Gruppierung auf MdBEbene eine recht klar umrissene Mitgliedschaft kannte. Diese äußerte sich durch die Aufnahme in den so genannten „Kreis der Einlader“, der zu den Donnerstagabend- und anderen „Netzwerk“-Veranstaltungen einlud und sowohl im Briefkopf der Gruppierung als auch auf der Homepage aufgeführt waren. Zudem wurde das jeweilige neue Mitglied in den Herausgeber-Kreis der „Berliner Republik“ aufgenommen und beteiligte sich mit Beiträgen von in der Regel zwischen 100,- und 215,- Euro an den Kosten der Geschäftsstelle.419 Der Beitrittprozess selbst folgte unterschiedlichen Wegen. Zunächst hatte das „Netzwerk“ vor den Bundestagswahlen 2002 und 2005 und im Umbruch der Legislaturperioden – wie Seeheimer und PL auch – gezielt Werbung betrieben420 416
Vgl. Interview Schaaf, S. 13. Vgl. Kintz, Melanie: Daten zur Berufsstruktur des 16. Deutschen Bundestages, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3 (2006), S. 461-469, hier S. 465. 418 Vgl. beispielsweise o. V.: Die SPD und ihre Flügel, in: ddp, April 2002. 419 Vgl. Interview Neumeyer, S. 14; siehe außerdem “Ergebnisse der NetzwerKoordinierung 16.10.2002, 10:00, PLH 2042“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 420 Vgl. Sturm, Daniel Friedrich: „Netzwerker“ wollen die Schröder-Generation beerben, in: Die Welt, 16.09.2002. 417
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und Bewerber für den Bundestag, die möglicherweise für die Gruppierung interessant sein konnten, im Vorfeld der Wahlen kontaktiert und zu einem ersten Treffen eingeladen.421 Darüber hinaus veranstaltete das „Netzwerk“ für potenzielle Neuparlamentarier Informationsveranstaltungen, um deren Interesse zu wecken. Offenbar jedoch übertraf das Service-Angebot des „Netzwerks“ dasjenige der anderen Faktionen und reichte von Hilfestellungen bei der Wohnungssuche bis zur Bereitstellung von Personal sowie die Angabe eines angemessenen Trinkgelds für Angestellte des Fahrdienstes.422 Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang das soziale Angebot der Gruppierung. Die Donnerstagabendtreffen sowie die regelmäßigen Zusammenkünfte in der Stammkneipe „Wahlkreis“ stellten gerade für Neu-Parlamentarier und Neu-Berliner eine große Attraktivität dar. Sie hielten Ansprechpartner bei inhaltlichen und beruflichen Fragen bereit, boten erste soziale Kontakte und nicht zuletzt Geselligkeit fernab der heimatlichen Familie.423 Der Geschäftsführer Neumeyer schilderte im Interview den generellen Aufnahmeprozess wie folgt: „Also, wen wir ansprechen, ähm, das machen wir schon so in der Mittagskoordinierung, dass wir sagen, ähm, wir könnten eigentlich mal diese oder jene Person mal fragen. […] Und wenn dann zu viele Ohs und Ahs, und Es-passt-aber-nicht kommen oder so, dann wird es auch wieder sein gelassen, dann wird das auch nicht weiter verfolgt. [...] Also, da hätten wir jetzt, wenn Person X dazu kommt, hätten damit irgendwie Person B, C, D und G, die schon im „Netzwerk“ sind, so viele extreme Probleme, äh, dass wir dann lieber auf Person X verzichten.“424
Zweierlei wird am Beispiel dieses Interviewauszugs deutlich. Zum einen erfolgte offenbar die Mitgliederwerbung des „Netzwerks“ aufgrund individueller Kontakte und Vorschläge. Damit folgte das „Netzwerk“ auch im Bereich der Mitgliederwerbung der Maxime größtmöglicher, gleichberechtigter und inklusiver Beteiligung: Jedes Mitglied durfte Vorschläge für potenzielle neue Mitglieder vorbringen; diese wurden dann in der MdB-Runde diskutiert und zur Abstimmung gebracht. Allenfalls in seltenen Zweifelsfällen kam – allerdings erst seit 2002 – dem Sprecherkreis eine leicht heraus gehobene Position im Meinungsbildungsprozess zu.425
421 Vgl. „Einladung zum Gedankenaustausch, 20.03.2002“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. 422 Vgl. zu der Beobachtung, dass gut die Hälfte der Bundestagsabgeordneten keine Einführung in ihr Amt erhält, Best/Jahr, 2006, S. 71. 423 Vgl. Interview Schaaf, S. 12, oder auch Interview Raabe, S. 16; siehe zu diesem Komplex auch Kapitel 6.2.5 424 Interview Neumeyer, S. 14. 425 Vgl. Interview Hauer, S. 10.
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Zum zweiten verweist der Interviewauszug Neumeyers auf das bereits oben angesprochene Dilemma zwischen prinzipieller Offenheit und praktischer Exklusivität. Die Gruppe war offenbar bemüht, bei der Aufnahme neuer Parlamentarier Empfindlichkeiten und Interessen bereits vorhandener Mitglieder zu berücksichtigen und so eine gewisse Interessenhomogenität herzustellen. Allerdings stand dieses Bemühen zum einen im Gegensatz zum Bestreben der Gruppierung, innerhalb der Fraktion auch aufgrund einer gewissen quantitativen Stärke Einfluss zu gewinnen, zum anderen korrespondierte es nicht mit dem Prinzip der grundsätzlichen Offenheit. Unter dem Gesichtspunkt der Interessenhomogenität ist auch die Tatsache aufschlussreich, dass viele der „Netzwerker“ so genannte Doppelmitgliedschaften pflegten, somit wie beispielsweise Anton Schaaf oder Sascha Raabe zusätzlich bei der PL oder wie Rainer Wendt bei den Seeheimern beteiligt waren. Dies kann zum einen als Anzeichen für die inhaltliche Heterogenität der Gruppe gedeutet werden. Zum anderen lässt es vermuten, dass nicht die programmatischen Standpunkte die für „Netzwerker“ bindenden Elemente waren, sondern sich die Attraktivität der Gruppierung vielmehr aus ihrer politischen Kultur und Organisation speiste. Interessant ist zudem, dass sich diese Doppelmitgliedschaften in der Regel nicht unter den aus undogmatischen Jusozusammenhängen stammenden Gründungsmitgliedern finden. Offensichtlich war deren Identifikation mit dem Projekt „Netzwerk“ höher als die der später beigetretenen Parlamentarier. Tatsächlich lassen sich in den Interviews je nach Beitrittsdatum der MdBs verschiedene Aktivitätsformen und individuelle Bedeutungsbegründungen hinsichtlich des „Netzwerks“ differenzieren. Wurden als Gründungs- und Beitrittsmotive bei den „Netzwerkern“ der 14. Legislaturperiode noch wesentlich öfter inhaltliche und kulturelle Differenzen mit den bis dahin bestehenden Fraktionsflügeln angegeben, so wichen diese bei den nach 2002 dazu gestoßenen MdBs überwiegend individuell-sozialen und altersbezogenen Begründungen. Die Attraktivität des „Netzwerks“, so war zu vernehmen, speise sich aus seinen prinzipiellen Beteiligungsmöglichkeiten für alle Interessierten, aus der sozialen Unterstützung und aus der relativ jungen Altersstruktur.434 Auffällig wenig wurden bestimmte Inhalte und Positionen genannt, die das „Netzwerk“ besonders überzeugend einnehme. Im Gegenteil, gerade in inhaltlicher Sich wurde die meiste Kritik an der Gruppierung geübt, vor allem bezogen auf vermeintlich neoliberale wirtschafts- und sozialpolitische Überzeugungen.435 Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang auch, wie häufig einzelne MdBs betonten, sie seien kein/e
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Vgl. Interview Bätzing, S. 18; ebenso Interview Raabe, S. 18; siehe zur Unterstützerfunktion Interview Schaaf, S. 12. 435 Vgl. beispielhaft Interview Schaaf, S. 13; ähnlich Interview Roth, S. 6.
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typische/r „Netzerker/in“.436 Diese Distanzierung fand sich vor allem bei „Netzwerkern“, die den 1950er-Jahren entstammen und lässt darauf schließen, dass auch gruppenintern der „typische“ „Netzwerker“ als Angehöriger späterer Geburtskohorten – der 1960er- bis 1970er-Jahre – angesehen wird. So bestätigten die geschilderten Äußerungen die teilweise geringe Identifikations- und Bindungskraft der Gruppierung, die eben auch in den Doppelmitgliedschaften ihren Ausdruck fand. Rein formal besaßen alle Mitglieder der MdB-Gruppierung gleiche Mitspracherechte und Beteiligungsmöglichkeiten. Nur dem ab 2002 eingerichteten Sprecherkreis beziehungsweise den seit 2006 existierenden zwei Sprechern wurden etwas erweiterte Kompetenzen zugesprochen, die jedoch eher auf „common sense“ denn auf schriftlichen Fixierungen oder einer organisatorischen Satzung beruhten. Bei strittigen Fragen – beispielsweise einem Positionspapier oder der Aufnahme eines neuen Mitglieds – besaß der Sprecherkreis eine Art übergeordnetes Entscheidungsrecht.438 Zusätzlich zur bereits erwähnten Mittagskoordinierung der gesamten MdB-Runde traf sich der Sprecherkreis jeweils Donnerstagmittag in den Sitzungswochen.439 Er besaß eine Art Vorschlagsrecht bei der Erstellung von Positionspapieren, bei der Einladung von Referenten oder der Gestaltung von Veranstaltungen allgemein und übernahm die hauptsächliche politisch-strategische Planung bezogen auf die Besetzung fraktions- oder parteiinterner Ämter, auf die Zusammenarbeit mit anderen Gruppierungen oder den lange im Zentrum stehenden Beitrag zum neuen Grundsatzprogramm der SPD. Nichtsdestotrotz beteiligten sich die einzelnen Parlamentarier selbstverständlich unterschiedlich intensiv an den Diskussionen und Aktionen der Gruppierung.440 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass das „Netzwerk“ bewusst keinerlei Privilegien oder Beschränkungen hinsichtlich der Beteiligungsmöglichkeiten innerhalb der Gruppierung vornahm – theoretisch stand es jedem frei, inhaltliche oder organisatorische Anregungen zu geben, ein Positionspapier zu einem bestimmten Thema zu verfassen, Referenten für die Donnerstagabendveranstaltungen vorzuschlagen etcetera. Auf der während der Sitzungswochen dienstags stattfindenden so genannten Mittagskoordinierung der MdB-Gruppe, die parallel zu den Treffen der Seeheimer und der PL abgehalten wurde441, kam allen Beteiligten das gleiche Mitsprache- und Diskussionsrecht zu.442 Darüber 436
Vgl. beispielsweise Interview Schmidt, S. 1; Interview Drobinsky-Weiß, S. 8. Vgl. beispielsweise Interview Hauer, S. 10; Interview Klug, S. 13. Vgl. Sturm, Daniel Friedrich: Die Netzwerker werden stärker, in: Die Welt, 30.11.2002. 440 Vgl. beispielsweise Interview Matschie, S. 12; Interview Roth, S. 7; Interview Bätzing, S. 25. 441 Vgl. Sturm, Daniel Friedrich: Die Netzwerker werden stärker, in: Die Welt, 30.11.2002. 442 Vgl. zum Nachweis der dienstäglichen Mittagskoordinierung in den Sitzungswochen „Ergebnisse der NetzwerKoordinierung 16.10.2002, 10:00, PLH 2042“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. 438 439
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hinaus wurde auf jenen Mittagskoordinierungen versucht, das Vorgehen der Gruppierung innerhalb der Fraktion zu koordinieren. Anzeichen einer internen Struktur: Der Sprecherkreis Erstmalig bestimmte die MdB-Gruppierung einen Sprecherkreises nach der Bundestagswahl am 28.10.2002.443 Da das „Netzwerk“ stark gewachsen war und das Ziel hatte, innerhalb der Fraktion mehr Einfluss zu gewinnen, versuchte sie dieses Machtstreben auch mit einer deutlicheren Organisation sowohl nach innen als nach außen zu dokumentieren.444 Auch diese Entscheidung orientierte sich an den Prinzipien der Informalität und der flachen Hierarchien. Zunächst war im Vorfeld der Wahl so gut wie keine Planung betrieben worden – im Grunde hätte jeder der Abgeordneten in den Sprecherkreis gewählt werden können. Dennoch war er letztlich aus Abgeordneten zusammen gesetzt, die bereits vor der Bundestagswahl Mitglied des „Netzwerks“ gewesen waren. Aus den Erinnerungen der beteiligten MdBs und aus den Aufzeichnungen in der Geschäftsstelle ist der Ablauf dieser ersten gruppeninternen Wahlen hinreichend zu rekonstruieren. Offenbar hatten über die letztlich gewählten Hans-Peter Bartels, Kerstin Griese, Nina Hauer, Hubertus Heil, Christian Lange und Carola Reimann hinaus lediglich ein oder zwei Personen zusätzlich kandidiert.445 Bemerkenswert an dieser ersten Sprecherwahl war, dass der Kreis nach einer anfänglichen Überlegung, sieben Personen zu wählen446, eigentlich nur aus fünf Personen bestehen sollte. Als jedoch zwischen Nina Hauer und Christian Lange als den beiden Kandidaten mit den wenigsten Stimmen Stimmengleichheit herrschte, entschied man sich spontan, den Führungszirkel auf sechs zu erweitern und beide aufzunehmen.447 Eine Kampfabstimmung und damit ein möglicher persönlicher Konflikt wurden also vom Harmoniestreben der Gruppierung überlagert. Über diese Beobachtung hinaus dokumentiert der geschilderte Versuch, sich eine interne Struktur zu geben, paradoxerweise einmal mehr das Bemühen um Konsens und flache Hierarchie. Mit sechs Sprechern bei nur 40 Gruppenmitgliedern waren immerhin 15% aller MdBs im Führungsgremium vertreten. Die
443
Vgl. Email „NetzwerKoordinierung –Termin Netzwerkfrühstück“ vom 30.10.2002, im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 444 Vgl. beispielsweise Interview Bartels, S. 13; siehe auch Interview Heil, S. 42. 445 Vgl. Interview Bartels, S. 14. Nina Hauer erinnerte sich im Interview, dass zunächst auch Christoph Matschie mit auf der Vorschlagsliste stand, jedoch von sich aus zurück zog (vgl. Interview Hauer, S. 18). 446 Vgl. „Ergebnisse der NetzwerKoordinierung 16.10.2002, 10:00 Uhr, PLH 2042“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 447 Vgl. Interview Bartels, S. 13 f.
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große Anzahl sollte das Meinungsspektrum aber auch die regionale Herkunft der Gruppierung möglichst breit abbilden.448 Aufschlussreich war ebenso die erste Wiederwahl des Sprecherkreises, die – angelehnt an die Wahlperioden fraktionsinterner Ämter alle zwei Jahre451 – im Winter 2005 anstand.452 Sowohl für die Beteiligten selbst als auch für Außenstehende überraschend schied dabei mit Hans-Peter Bartels ausgerechnet einer der Gründungsväter der Gruppierung aus. Seine Position nahm der bis dahin recht unbekannte Siegmund Ehrmann ein. Im Vorfeld der Neuwahl hatte es im Dezember 2004 eine Klausurtagung der MdB-Gruppe gegeben, auf der die bisherige Führungsstruktur grundsätzlich diskutiert worden war. Besonders die Frage, ob das Gremium auf weniger Personen verkleinert und ein oder zwei Personen als eindeutige Führungspersonen herausgestellt werden sollten, war intensiv debattiert worden.453 Zwischenzeitlich erklärten gar Hubertus Heil und HansPeter Bartels ihre Bereitschaft, aus dem Sprechergremium auszuscheiden, um dieses auf weniger Personen reduzieren zu können.454 Per Mehrheitsentscheidung einigten sich die MdBs allerdings darauf, an der bisherigen Organisation mit sechs Sprechern festzuhalten.455 Im Januar 2005 erklärten schließlich die bisherigen Sprecher ihre grundsätzliche Bereitschaft zur erneuten Kandidatur, und auch zum angesetzten Wahltermin lagen keine weiteren Bewerbungen vor. Erst auf der Wahlsitzung der MdB-Runde selbst wurde schließlich Siegmund Ehrmann als Sprecher vorgeschlagen.456 Aus der sich anschließenden geheimen Abstimmung über die sieben Kandidaten ging Hans-Peter Bartels mit den wenigsten Stimmen hervor. Der Vorfall dokumentierte anschaulich die Intransparenz informaler oder flacher Führungshierarchien, das Harmoniebestreben sowie die geringe Konfliktfähigkeit und Sensibilität von Teilen der Gruppierung. Offenbar war es dem Führungszirkel des „Netzwerks“ entgangen, dass zumindest bei einigen Jüngeren beziehungsweise unter den erst seit 2002 beigetretenen MdBs der Wunsch nach personeller Veränderung bestand. Absprachen, die in diese Richtung zielten und im Vorfeld der Wahl stattgefunden hatten457, waren zumindest am Sprecherkreis 448
Vgl. beispielsweise Interview Heil, S. 42. Vgl. ebd., S. 30. 452 Vgl. „Netzwerk Berlin”: Neuwahl des Sprecherkreises, Pressemitteilung vom 25.01.2005, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 15.06.2008); siehe auch „Netzwerk Berlin“: Einladung Mittagskoordinierung 25.01.2005, Berlin, 20.01.2005, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 453 Vgl. Interview Neumeyer, S. 28. 454 Vgl. Interview Heil, S. 42 f., und Interview Neumeyer, S. 29. 455 Vgl. Interview Neumeyer, S. 28. 456 Vgl. ebd., S. 29. 457 Vgl. Interview Neumeyer, S. 29. 451
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
107
vorbeigegangen. Ohne Zweifel war dies ein Vorgang, wie er bei demokratischen Wahlen zu (Partei)-Ämtern gebräuchlich und legitim ist. Dennoch bedeutet es für eine Gruppierung, die sich gerade den offenen persönlichen Umgang, die Abkehr von individuellem Machtstreben sowie größtmögliche Transparenz und Rücksichtnahme auf Bedürfnisse der Einzelnen als internes Kommunikationsziel gesetzt hatte, ein relatives Versagen der Selbstregulierungsmechanismen. Darüber hinaus bezeugten die Bestürzung vieler Beteiligter über den Rückzug eines der „Gründungsväter“ sowie der Vorschlag Grieses, den Sprecherkreis doch einfach auf sieben Personen zu erweitern458, die geringe Fähigkeit zum Konflikt. In diesen Kontext ist auch die Tatsache einzuordnen, dass sich der Vorschlag, den Sprecherkreis auf zwei oder drei Personen zu begrenzen, letztlich nicht durchsetzte, sondern am Sechserteam festgehalten wurde. Erst bei der nächsten Sprecherwahl 2006 setzte sich eine etwas schärfere Profilierung der Führungsstruktur durch. Christian Lange und Nina Hauer stand fortan ein erweiterter Vorstand beiseite, dem mit Siegmund Ehrmann, Michael Hartmann und Andreas Weigel drei 2002 dazu gestoßene MdBs und mit Kerstin Griese eine weitere „Ur-Netzwerkerin“ angehörten.460 Die Einigung auf zwei Sprecher und einen vierköpfigen erweiterten Vorstand sowie der Versuch, durch Einbezug ostdeutscher Abgeordneter wie Andreas Weigel eine größere regionale Breite zu erlangen, dokumentierte den Kompromiss zwischen Profilierung und breiter Repräsentanz. Die These vom Bedürfnis nach Harmonie und Integration wird gestützt durch jene Argumente, die aus Sicht der „Netzwerker“ erklären sollten, warum ausgerechnet Hans-Peter Bartels aus dem Sprecherkreis ausgeschieden war. So wurde in den Interviews wiederholt bekräftigt, die Abwahl sei nicht gegen die Person Bartels gerichtet gewesen.461 Dennoch habe wohl einigen in der Gruppierung nicht gefallen, dass Bartels sich mehrfach unabgesprochen zu politischen Fragen in den Medien zu Wort gemeldet und damit auch nicht immer die Mehrheitsmeinung der „Netzwerk“- MdBs vertreten hatte.462 As ein Beispiel kann der im Herbst 2003 über die Medien lancierte Vorschlag Bartels` gelten, Bundeskanzler Schröder solle mittelfristig den Parteivorsitz niederlegen, damit im Sinne einer dualen Führung Kanzlerschaft und Parteivorsitz getrennt würden.463 Von dieser Forderung distanzierte sich der restliche Sprecherkreis umgehend und 458
Vgl. Interview Heil, S. 42. Vgl. zur Wahl o. V.: Leute, in: Frankfurter Rundschau, 01.02.2006. Vgl. beispielsweise Interview Hauer, S. 17. 462 Vgl. unter anderem Interview Schneider, S. 18. 463 Vgl. das folgende Interview mit Bartels: Kramer, Klaus: „Schmidt und Brandt machten es richtig“, in: Kieler Nachrichten, 30.09.2003; siehe zur Wirkungsweise der Äußerungen Bartels` Jacobson, Alexandra: SPD-Netzwerk sucht langfristige Perspektiven, in: Neue Westfälische, 11.10.2003; ebenso Bannas, Günter: Netzwerker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.10.2003. 460 461
108
C. Untersuchungsteil
zeigte sich unverständig gegenüber dem unabgesprochenen Handeln Bartels`s.464 Paradoxerweise wurde Bartels dagegen von Beobachtern der Gruppierung als kreativer Kopf und intelligenter Querdenker des „Netzwerks“ ausgemacht. Offenbar war es jedoch nicht möglich, einen derartigen Querdenker mit dem auf Konsens ausgerichteten Politikverständnis der Gruppierung in Einklang zu bringen. 6.2.4 Und darüber hinaus: Einzugskreis und Assoziierte des „Netzwerks“ Es wäre eine extreme Verkürzung, das „Netzwerk“ auf die parlamentarische Ebene zu reduzieren. Vielmehr umgaben die MdB-Gruppe einer Zwiebel ähnlich weitere Einzugskreise, die in verschiedenste Bereiche hinein reichten. Grundsätzlich können folgende Personengruppen unterschieden werden: die Mitarbeiter der „Netzwerk“-Abgeordneten, Politiker aus einem größeren Politikbereich wie beispielsweise Partei und Ministerien auf Bundes- oder Landesebene, Medienvertreter im weitesten Sinne und in der Wissenschaft Tätige, die fast alle über den Email-Verteiler des „Netzwerks“ über die Aktivitäten der Gruppierung informiert wurden. Keine „Prinzen der Dunkelheit“465: Mitarbeiter im „Netzwerk“ Eine herausgehobene Stellung kam sicherlich wenn auch nicht allen, so doch einigen der MdB-Mitarbeitern zu. Kai Mühlstädt etwa arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Abgeordnetenbüro Hans-Peter Bartels466 und war zugleich Mitglied im redaktionellen Beirat der „Berliner Republik“467. In der Zeitschrift verfasste er mehrere Beiträge zu so unterschiedlichen Themen wie der Familienpolitik, der Europäischen Union oder dem Klimawandel.468 Gleichzeitig war er oft an Veranstaltungen des „Netzwerks“ beteiligt, teilweise auch an organisatorischen Treffen. Eine ähnliche Position nahm Harald Schrapers ein, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter Kerstin Grieses in deren Wahlkreis arbeitete und wie Mühlstadt im redaktionellen Beirat der „Berliner Republik“ vertreten war. Auch 464 Vgl. Sprecherkreis des „Netzwerk Berlin“: Netzwerk Berlin steht hinter Gerhard Schröder, Pressemitteilung im September 2003, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 14.04.2008). 465 Zitiert nach Pilz, Volker: Moderne Leibeigenschaft? Berufsbild und soziale Absicherung der persönlichen Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4 (2004), S. 667-680, hier S. 667. 466 Vgl. http://www.hans-peter-bartels.de/bartels.php/cat/5/title/Team (zuletzt aufgerufen 11.07.2008). 467 Vgl. http://b-republik.de/b-republik.php/cat/11/title/Redaktion (zuletzt aufgerufen 11.07.2008). 468 Vgl. unter anderem Mühlstädt, Kai: Rettet unsere Seelen, in: Berliner Republik 5 (2002), S. 84-85; siehe auch ders.: Legitimität und Alltag, in: Berliner Republik 3 (2002), S. 84-85.
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
109
er schaltete sich über Beiträge in der „Berliner Republik“ in die inhaltlichen Debatten der Gruppierung ein, beteiligte sich teilweise aber auch an Positionspapieren des „Netzwerks“ hauptsächlich zum Thema der Familienpolitik.469 Weitere Hinweise für die teils exponierte Stellung von – wissenschaftlichen – Abgeordnetenmitarbeitern ließen sich beispielsweise in Daniel Rousta finden, der für die Abgeordneten Nicolette Kressl und Nina Hauer arbeitete und im September 2008 der Nachfolger Neumeyers im Amt des „Netzwerk“Geschäftsführers wurde.470 Unabhängig von den jeweiligen Details geben die genannten Beispiele Hinweise auf das Politikverständnis, aber auch die Entstehungsgeschichte des „Netzwerks“. Zum einen zeugen die Freiheiten der Mitarbeiter – die teils gleichberechtigt mit den Abgeordneten im „Netzwerk“ organisatorisch und inhaltlich wirkten – vom diskursiven Politikzugang des „Netzwerks“. Entscheidend darüber, ob und in welchem Ausmaß eine Person sich in der Gruppierung beteiligen konnte, war weniger ihre formale Position, sondern ihr Fachwissen und ihr Engagement, selbstverständlich auf Grundlage einer gewissen persönlichen Loyalität und Integrität. Dies war nicht unbedingt selbstverständlich, besteht doch normalerweise ein wenn auch teilweise persönlich enges, so doch eindeutig hierarchisches Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Angestelltem.471 Verstärkend kam hinzu, dass einige der Mitarbeiter ebenso wie die Ursprungsgeneration der „Netzwerk“-MdBs bereits bei den Jungsozialisten politisch aktiv gewesen waren, beispielsweise teils wie Schrapers als langjähriger Weggefährten seiner späteren Arbeitgeberin.472 Ein weiterer Beleg für die identitätsstiftende oder zumindest verbindende Funktion der gemeinsamen Juso-Vergangenheit war die Zusammenarbeit des „Netzwerks“ mit den Politikberatungsagenturen Thorsten Lüthke und Arne Grimm beispielsweise bei der Organisation des Praktikantenstammtisches in der von Jürgen Neumeyer betriebenen Kneipe „Wahlkreis“. Lüthke war Mitte der 1990er-Jahre an führender Stelle innerhalb der Jusohochschulgruppen aktiv gewesen474, Grimm 1993 bis 1995 stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos475. Beide waren dem reformorientierten beziehungsweise undogmatischen Flügel des Jugendverbands zuzuordnen. Lüthke und Grimm können als Beleg dafür angesehen werden, dass sich nach dem Regierungswechsel 1998 ehemals undogmatische Jusos nicht nur auf Abgeordnetenebene, sondern auch und vor 469
Vgl. auch das biografische Porträt Grieses in Kapitel 7.2.3. Vgl. http://www.netzwerkberlin.de. 471 Vgl. Pilz, 2004, S. 675. 472 Vgl. Interview Griese, S. 4, S. 14 und S. 26. 474 Vgl. Nink, Karin: „Wir brauchen mehr Enkel“, in: Die Tageszeitung, 10.11.1995. 475 Vgl. beispielsweise o. V.: Kritik an Juso-Chef, in: Die Tageszeitung, 01.09.1994. 470
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C. Untersuchungsteil
allem im weiteren politischen Umfeld (wieder)trafen.476. Die ehemaligen JusoKontakte bildeten demnach nicht nur auf Abgeordnetenebene, sondern auch darüber hinaus die Basis des „Netzwerks“. Während die „Netzwerk“-Abgeordneten sich einmal sitzungswöchentlich am Dienstagmittag trafen, kam der erweiterte Personenkreis hauptsächlich über die sitzungswöchentlichen Donnerstagabendveranstaltungen, über Informationsund Diskussionsveranstaltungen wie die Jahrestagungen oder die so genannten Innovationsdialoge sowie die Zeitschrift „Berliner Republik“ in Kontakt mit dem „Netzwerk“. Eine Auswertung der Referenten der zu „Netzwerk“Veranstaltungen geladenen Referenten sowie der Autoren der „Berliner Republik“ kann Auskunft geben über die soziodemografischen Beziehungen des „Netzwerks“ sowie über die Frage, inwiefern die Gruppierung dem selbstgesetzten offenen Politikanspruch gerecht wurde und Verbindungen in angrenzende Berufsfelder und Bereiche wie Wissenschaft, Medien etcetera pflegte.477 Zu diesem Zweck wurden die online zugänglichen Daten zu den Veranstaltungen des „Netzwerks“ sowie die ebenfalls online einsehbare Liste der „Berliner Republik“-Autoren aus den Jahren 1999 bis Juni 2008 ausgewertet.478 Es erschien an dieser Stelle sinnvoll, den Untersuchungszeitraum bis Mitte 2008 auszuweiten, da so zum einen ein aktuelleres Bild der Gruppierung gezeichnet werden konnte und zum anderen aufgrund der größeren Datenbasis zuverlässigere Aussagen getroffen werden konnten. Um die Sparten-, Disziplin- oder politische Ebenenzugehörigkeit der Referenten und Autoren quantifizieren und auswerten zu können, wurden die Kontakte der Einzelpersonen gewertet. So wurde beispielsweise Kerstin Griese sowohl als Kontakt des „Netzwerks“ als Abgeordneten auf Bundesebene als auch als Kontakt zum Parteivorstand auf Bundeseben dokumentiert. Lediglich bei der Geschlechtsverteilung und Altersstruktur wurden Einzelpersonen und nicht die Kontakte der Personen gewertet. Insgesamt wurden sowohl für die „Berliner Republik“-Autorenschaft als auch für die „Netzwerk“-Referenten Auswertungen hinsichtlich des disziplinären Einzugsbereichs, der Geschlechterverteilung, der Altersstruktur, der regionalen Verteilung und der jeweils bearbeiteten Themen vorgenommen. Die „Netzwerk“-Veranstaltungen Insgesamt waren bei Donnerstagabend-Veranstaltungen im Reichstagsgebäude, bei Jahrestagungen, Innovationsdialogen, Programmforen und Tagungen in Zu476
Vgl. beispielsweise Interview Bartels, S. 2. Vgl. beispielsweise die Äußerungen Jürgen Neumeyers auf dem „Netzwerk“-MdBMitarbeitertreffen am 31.10.2003 (Teilnehmende Beobachtung, Dokument im eigenen Archiv). 478 Abrufbar unter http:// www.netzwerkberlin.de sowie http://www.b-republik.de (zuletzt aufgerufen 15.07.2008). 477
111
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
sammenarbeit mit der Verwaltungshochschule Speyer 237 verschiedene Referenten geladen. Dies ist eine recht beeindruckende Anzahl, zumal lediglich einige wenige Personen mehrfach Einladungen gefolgt waren. Besonders hervorzuheben sind an dieser Stelle Kerstin Griese, Martin Dörmann, Jens Bullerjahn, Nina Hauer, Hans-Peter Bartels, Hubertus Heil, Olaf Scholz oder Sigmar Gabriel aus dem politischen Bereich, aus dem Bereich der Wissenschaft Wolfgang Schroeder, Herrmann Hill und an der Schnittstelle zur Publizistik Tobias Dürr. Gerade das Beispiel Olaf Scholz zeigt in diesem Zusammenhang, wie es dem „Netzwerk“ gelang, auch Personen einzubeziehen, die sich nicht qua Verzeichnis auf dem Briefkopf der Gruppierung oder durch formale Mitgliedschaft im Herausgeberkreis der Zeitschrift als „Netzwerker“ bekannten. Hinsichtlich der Geschlechterverteilung der Referenten (Grafik 2) ist auffällig, wie gering der Anteil der Frauen war: Nur 18% aller Referenten waren weiblich, 82% männlich. Grafik 2:
Geschlechteranteile "Netzwerk"-Referenten (relativ und absolut)
18% = 43 Männer
82% = 194
Frauen
Hinsichtlich des lokalen Einzugsgebiets (Grafik 3) zeigte sich ein eklatanter Überhang an Kontakten nach Berlin, auf das 68% aller Kontakte entfielen. Allerdings kann die Konzentration auf Berlin in Bezug auf die „Netzwerk“Referenten wenig verwundern, da fast alle vom „Netzwerk“ initiierten Veranstaltungen in der Hauptstadt stattfanden. Offensichtlich konzentrierte sich das „Netzwerk“ an dieser Stelle seiner Kontaktpflege auf den Regierungssitz.
112
C. Untersuchungsteil
Grafik 3:
Regionale Herkunft „Netzwerk“-Referenten (BRD) Baden-Württemberg Bayern
1%0% 2% 2%
Berlin
8% 4% 2% 1% 1%
Brandenburg
6%
Bremen Hamburg Hessen
4%
Niedersachsen Nordrhein-Westfalen 69%
Rheinland-Pfalz Sachsen Sachsen-Anhalt
Außerdem wurden die Referenten der „Netzwerk“-Veranstaltungen hinsichtlich des beruflichen beziehungsweise disziplinären Einzugsbereichs analysiert. Grafik 4 zeigt die Verteilung der Kontakte über die verschiedenen Sparten.
113
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
Grafik 4:
Einzugsbereich der „Netzwerk“-Referenten (absolute Anzahl)
111
Politik
55
Wissenschaft
26
Journalismus
15 13 9
Politikberat… Wirtschaft Gewerksch…
4 4 1 1 3
Kirchen Verbände NGO Sport o.A.
0
50
100 Kontaktanzahl
150
Die Grafik veranschaulicht, dass der Einzugsbereich der Politik im weitesten Sinne (Parteien, Ministerien etcetera) den größten Anteil einnahm, gefolgt von Wissenschaft und Journalismus. Aufschlussreich ist zudem, wie sich die zwei größten Einzugsbereiche Politik und Wissenschaft nach Parteizugehörigkeit aufschlüsseln (Grafiken 5 und 6). Dabei berücksichtigen die Kontakte innerhalb der Sozialdemokratie ebenfalls solche ins Ausland, auch wenn diese lediglich 5% ausmachten. Die Kategorie SPD-Bund umfasst sowohl Regierungsmitglieder auf Bundesebene als auch Bundesparteivorstands- bzw. Präsidiumsmitglieder. In einer zusätzlichen Kategorie wurden MdBs ausgewiesen.
114 Grafik 5:
C. Untersuchungsteil
„Netzwerk“-Referenten Parteizugehörigkeit 2%
2%1% 0%
95%
CDU
Grafik 6:
Grüne
Linke
FDP
SPD-insges
„Netzwerk“- Referenten Sozialdemokratie
1% 5%
3%
39%
34%
18%
SPD-o.A. SPD-Land
SPD-Bund SPD-MdB
115
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
Zunächst ist offensichtlich, dass der Anteil an SPD-Kontakten übermächtig ist: Lediglich 5% aller „Netzwerk“-Referenten konnten anderen Parteien als der Sozialdemokratie zugeordnet werden, die FDP war gar nicht vertreten. Insgesamt war eklatant, dass mit insgesamt 73% der Bundesbereich (MdBs und SPD-Bund) den deutlich überwiegenden Anteil aller Kontakte einnahm. Das „Netzwerk“ erwies sich somit einmal mehr als ein – auf die Regierungshauptstadt konzentriertes – Elitenphänomen. Dieser Eindruck erhärtete sich durch die Tatsache, dass von den Wissenschaftskontakten lediglich einer als Nachwuchs einzuordnen war. Bei allen anderen handelte es sich mindestens um promovierte, wenn nicht gar habilitierte Personen. Allerdings war auffällig, dass sich unter den Zuhörern der Veranstaltungen dafür umso mehr Mitarbeiter, Praktikanten etcetera fanden.479 Für diese mochten die „Netzwerk“-Podien eine Gelegenheit gewesen sein, relativ anspruchsvolle Beiträge von anerkannten Referenten zu aktuellen Themen zu hören und zugleich in Kontakt zu Politikern oder Medienvertretern zu kommen. Das „Netzwerk“ lebte daher auch von seiner Prominenz. Zudem wurde versucht, für die „Netzwerk“-Referenten eine Kohortenverteilung vorzunehmen. Hingegen war das Bild nicht ganz so scharf, da nicht für alle Referenten Geburtsangaben ermittelt werden konnten (Grafik 7) Grafik 7:
Geburtkohortengruppen „Netzwerk“-Referenten (absolute Anzahl) 50 50 40 30 20
23
27
25
27
29 19
20 7
10 2
2
1
0
479
Vgl. exemplarisch die folgenden Teilnehmerlisten von Donnerstagabendveranstaltungen: „Teilnahmeliste 30.09.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle; „Teilnahmeliste 09.09.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle.
116
C. Untersuchungsteil
Dennoch kann auch aus Grafik 6 auf den Schwerpunkt eines Nach-68erZusammenhangs geschlossen werden. Von den 182 ausgemachten Geburtsjahren waren immerhin 135 nach 1945 beziehungsweise 108 nach 1950 datiert. Dieses Bild bestätigt sich wie bereits beim oben erwähnten Bezug auf den Ausbildungsund Berufsstatus mit einem Blick auf die Zuhörerschaft der Veranstaltungen und deckt sich mit den in der teilnehmenden Beobachtung gewonnenen Informationen:480 Ein großer Teil des Publikums speiste sich zumindest bei den Donnerstagabendveranstaltungen aus Mitarbeitern und Praktikanten der MdBs und der Fraktion und war somit in einem relativ jungen Lebensalter. Quer zu den soziodemografischen Untersuchungskategorien ergaben sich bei der Analyse der „Netzwerk“-Veranstaltungsformen mehrere Auffälligkeiten. Dies betraf, erstens, die Kooperation der Gruppierung mit anderen Veranstaltern. Während bis circa 2003 viele Diskussionen zusammen mit der Friedrich-EbertStiftung (FES) organisiert wurden, wich diese Verbindung in den folgenden Jahren einer Zusammenarbeit mit der Hans-Böckler-Stiftung.481 Der erste gemeinsame Kongress fand am 25. und 26. Februar 2005 in Düsseldorf zum Thema „Soziale Demokratie: Deutschland 2020“ statt.482 Mittels der anfänglichen Zusammenarbeit mit der FES drückte sich zum einen die ursprüngliche Unterstützung der Nachwuchspolitiker seitens der Parteiführung aus. Zum anderen aber dokumentierte der Wechsel zur Hans-Böckler-Stiftung den Konflikt sowohl seitens damals führender Sozialdemokraten mit dem „Netzwerk“ als auch innerhalb der Gruppe selbst. Seitdem das „Netzwerk“ mit seinem Programmbeitrag im Herbst 2003 einige vornehmlich dem linken Parteispektrum und der „Enkel“Generation angehörende Genossen vor den Kopf gestoßen hatte, war die Unterstützung sowohl durch die FES als auch bei der Finanzierung der „Berliner Republik“ deutlich reduziert worden. Daher entschied sich die Gruppe zukünftig, Kongresse beispielsweise zusammen mit der Böckler-Stiftung durchzuführen. Zweitens sind über den Zeitverlauf einige Veränderungen und Merkmale bezüglich der Veranstaltungsorganisation herauszuheben. Zum einen fanden zeitnah zur Gründung der Gruppierung, in der 14. Legislaturperiode, mehr Veranstaltungen mit kulturellem Schwerpunkt wie beispielsweise Filmnächte statt als in den späteren Jahren. Dies kann als Hinweis auf das gewandelte Selbstver480
Vgl. Protokoll des „Netzwerk“-Treffen am 25.09.2003 mit Franz Müntefering, Dokument eigenen Archiv; siehe auch die folgenden Teilnahmelisten von Donnerstagabendveranstaltungen „Teilnahmeliste 09.09.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle; „Teilnahmeliste 30.09.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 481 Vgl. zur Kontaktanbahnung „Ergebnisse aus dem Gespräch mit Nikolaus Simon, Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung, 19.07.05 – Düsseldorf“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. 482 Vgl. Hans-Böckler-Stiftung/Netzwerk Berlin: Soziale Demokratie: Deutschland 2020 – Einladung und Programm, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle.
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
117
ständnis des „Netzwerks“ gedeutet werden, das erst im Laufe der Zeit von einem Ort kultureller Geselligkeit zu einem politischen Flügel wurde. Diese These stützt auch die thematische Entwicklung der Veranstaltungen. Während zu Beginn der „Netzwerk“-Treffen noch häufiger parteiunspezifische Inhalte wie beispielsweise „Mediendemokratie“ oder das „Verhältnis von Wissenschaft und Politik“ behandelt wurden, kreisten spätere Debatten vermehrt um ein neues Grundsatzprogramm der SPD oder die Zukunft des Sozialstaats. Die „Berliner Republik“ Die Zeitschrift „Berliner Republik“ verdient als Selbstverständigungsforum und Meinungsblatt bei der Analyse des „Netzwerks“ besondere Beachtung. Über die Zeitschrift wurde nicht nur der interne Meinungsbildungsprozess der Gruppe betrieben, sondern sie diente auch dazu, vermittels der Autorenschaft diverse Politiker, Wissenschaftler oder Journalisten in das „Netzwerk“ zu integrieren. Auf ihre Zeitschrift waren alle „Netzwerker“ stolz, welche Kritik sie auch sonst teilweise an der Gruppierung haben mochten. Ganz wesentlich war dabei die Tatsache, dass sich keine andere der partei- oder fraktionsinternen Flügel eine derartige eigene Zeitschrift leistete. Für die Bindungskraft und Identitätsbildung der Gruppierung war die Zeitschrift somit ein in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzendes Element. Als im Oktober 1999 die erste Ausgabe der „Berliner Republik“ erschien, fand dieses Ereignis ein beachtliches Medienecho: Von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bis hin zur Süddeutschen Zeitung wurde die im Berliner Fernsehturm inszenierte Auftaktveranstaltung kommentiert.484 Die Kommentare der beobachtenden Presse waren dennoch größtenteils eher skeptisch, fast resigniert.486 Trotz des anvisierten Aufbruchssignals sei nicht auszumachen, wofür die „Netzwerk“-Sozialdemokraten, die offenbar einen Deutungsanspruch für die Nach-68er einfordern wollten, denn stünden. Das Dogma des Undogmatismus könne in diesem Zusammenhang auch keine Hilfe sein, führe es doch allzu oft zu Desorientierung und tagesaktueller Richtungslosigkeit.487 Allzu sehr, so das häufige Urteil, versuche die Zeitschrift einem nicht näher definierten Bild einer „Generation Berlin“ zu entsprechen. Doch war diese Schlussfolgerung nicht ganz gerechtfertigt, denn die „Berliner Republik“ wollte zunächst kaum etwas anderes sein als ein Debattenforum, ein Ort der suchenden Selbstvergewisserung für jene 484
Vgl. Kaube, Jürgen: Sie wollen einen neuen Jugendstil, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.1999; o. V.: Das Wort der Republik, in: Süddeutsche Zeitung, 06.10.1999. 486 Vgl. Reinecke, Stefan: Der böse 68er-Drache, in: Die Tageszeitung, 29.12.2001; siehe zur Selbstkritik der Zeitschrift nach fünf Jahren Bartels, Hans-Peter: Vor Tische las man`s anders: Die Missverständnisse der frühen Jahre, in: Berliner Republik 6 (2004), S. 94-97. 487 Vgl. Kaube, Jürgen: Sie wollen einen neuen Jugendstil, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.1999.
118
C. Untersuchungsteil
Sozialdemokraten und andere Interessierte, die sich am Diskurs einer Nach-68erSPD beteiligen wollten.488 Besonders für den hauptsächlichen Betreiber des Zeitschrift-Projekts, HansPeter Bartels, war es biografisch nur folgerichtig, am Ort seines politischen Engagements auch mit einem entsprechenden Publikationsobjekt vertreten zu sein. Bereits während seiner Jusozeit hatte er sich journalistisch betätigt.490 So verantwortete er auch in den ersten Jahren die Redaktion der „Berliner Republik“ neben seiner Abgeordnetentätigkeit, bis 2001 Tobias Dürr die Chefredaktion der „Berliner Republik“ übernahm.491 Darüber hinaus bestand mit einer Zeitschrift die Möglichkeit, an den Ideen des „Netzwerks“ Interessierte fester zu binden, als dies mit dem Besuch einer Veranstaltung möglich war. Zudem besaßen die geäußerten schriftlichen Beiträge eine größere Verbindlichkeit als sie Wortmeldungen bei Donnerstagabendveranstaltungen oder Jahrestagungen je erreichen konnten. Bartels machte dies im Interview deutlich: „Wir haben eigentlich gar keine andere Möglichkeit, uns verbindlich auszudrücken, als mit eigener Publikation. Also, wer ´n Interview in der Zeitung gibt, kann hinterher immer noch sagen, gut, die haben mich das gefragt, aber eigentlich finde ich das gar nicht wichtig. [...] Wenn ich ´ne Zeitschrift mach, dann muss ich wissen, was für mich wichtig ist. […] Dann, also, definier ich, also, mit wem will ich zu tun haben. Also, wer sind unsere Leute? Die schreiben da drin. Dann definier ich, was soll da, was muss da drin sein? Also, Typ pluralistisch. Aber jeder Einzelne, der da was schreibt, schreibt zu dem Thema, was er wichtig findet. Und er schreibt genau das, was er richtig findet. Also, er wird nicht nur von Medien gefragt, nicht? [...] Sondern er kann selber sagen, was er sagen will. Und das finde ich für Politik eigentlich existenziell, also, sich festlegen. Damit auch recht... also, sozusagen angreifbar sich natürlich zu machen. Aber überhaupt die Diskussion dadurch zu ermöglichen, dass man etwas aufschreibt, was dann Gegenstand von Betrachtungen anderer sein kann. [...] also, da ist das beste Medium ´ne Zeitschrift.“492
Jenseits dieser Argumente bedeutete eine Zeitschrift zudem schlicht die Möglichkeit, über das Parlament und den engeren politischen Einzugsbereich hinaus zu wirken, was schließlich im Sinne eines fluideren, transparenteren Politikverständnisses Ziel des „Netzwerks“ war – auch wenn die Reichweite der “Berliner Republik“ mit einer Startauflage von 5000 Exemplaren und einem stattlichen
488 Vgl. Langenau, Lars: Drachentöter, in: Süddeutsche Zeitung, 18.10.2002; siehe auch das Interview mit Hans-Peter Bartels: Schmiese, Wulf: „Die SPD ist für junge Wähler nicht mehr attraktiv“, in: Die Welt, 15.09.1999. 490 Vgl. Interview Bartels, S. 16. 491 Vgl. Seifert, Heribert: Bürgerlich wohlerzogene Sozialdemokraten, in: Neue Zürcher Zeitung, 07.09.2001. 492 Interview Bartels, S. 16.
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
119
Preis von 22,- Mark pro circa 100-seitigem Heft nicht überschätzt werden sollte.493 Bereits an diesen Zahlen zu Auflagenstärke und Verkaufspreis lässt sich erkennen, dass die „Berliner Republik“ kaum ohne zusätzliche Subventionen hätte bestehen können. In der Tat förderte die Parteispitze eine Zeit lang das im Vorwärts-Verlag erscheindende Projekt finanziell497, sah man so doch zum einen eine Möglichkeit, den Willen zur Nachwuchsförderung auch nach außen erkennbar zu demonstrieren.498 Zum anderen erwarb sich die „Berliner Republik“ unabhängig von den nach wie vor teilweise als liberales Ketzertum an der Sozialdemokratie geschmähten Inhalten und trotz der anfänglich skeptischen Kommentare in Medien- und Wissenschaftskreisen sukzessive eine beachtliche Anerkennung aufgrund des teils hohen Niveaus der Beiträge sowie des professionellen Layouts.499 Zudem wirkte die „Berliner Republik“ im Vergleich zum traditionellen Hausorgan der SPD, der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ in ihrem Erscheinungsbild um einiges jünger, schicker und moderner. Im Herbst 2003 jedoch kam es – in zeitlichem und offenkundig ebenso kausalem Zusammenhang mit dem Programmbeitrag der „Netzwerker“501 – zu einem Konflikt, in dem die Parteispitze im Willy-Brandt-Haus ankündigte, die Finanzierung einzustellen, und versuchte, über einen veränderten Herausgeberkreis die „Berliner Republik“ zu beeinflussen.502 Im Grunde war der Streit ein Symbol dafür gewesen, wie Teile der Parteiführung versuchten, den ungeliebten „Netzwerkern“ eine Publikationsmöglichkeit und damit sowohl einen Platz der Selbstverständigung als auch der medialen Präsentation zu entziehen. Für die Zeitschrift hätte die entzogene Unterstützung vermutlich über kurz oder lang das Ende bedeutet. Letztendlich kam es nach zähem Ringen zwischen dem Sprecherkreis des „Netzwerks“ und der SPD-Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier zu einem Kompromiss, der die Weiterführung der Zeitschrift ermöglichte.
493
Vgl. zu Auflage und Kostenpunkt o. V.: Das Wort der Republik, in: Süddeutsche Zeitung, 06.10.1999. Siehe hierzu auch Bartels, Hans-Peter: Erinnerung an Frank, in: Berliner Republik 5 (2002), S. 3. 498 Vgl. beispielsweise Meng, Richard: Die kopflose Generation, in: Frankfurter Rundschau, 08.07.2000. 499 Vgl. Schuster, Jacques: Ein wunderbarer Parteivorsitzender, in: Die Welt, 13.05.2000. 501 Einige Hinweise deuten darauf hin, dass besonders der Parteilinken die finanzielle Unterstützung der „Berliner Republik“ als Diskussionsforum einer innerparteilichen Strömung ein Dorn im Auge war (vgl. Lutz, Martin: Flügel-Streit: SPD stoppt Zeitschrift der Netzwerker, in: Die Welt, 11.10.2003). 502 Vgl. Meng, Richard: Neue Unruhe in der dritten Reihe der SPD, in: Frankfurter Rundschau, 26.11.2004. 497
120
C. Untersuchungsteil
Autoren und Themen Aus Grafik 8 ist ersichtlich, dass in der „Berliner Republik“ die Anzahl der über Autoren vermittelten Kontakte der Zeitschrift zum politischen Bereich den größten Anteil einnahmen, doch folgten an zweiter Stelle Referenten und Autoren aus dem Bereich der Wissenschaft, an dritter Stelle Kontakte aus dem journalistischen Umfeld. Dabei wurden unter der Rubrik Politik sowohl Parlamentarier als auch Bundes-, Landes- oder Kommunalpolitiker ohne Mandat sowie Mitarbeiter in Ministerien etcetera gefasst. In der Sparte Wissenschaft insgesamt sind alle Forschungsebenen vom Lehrstuhlinhaber bis zum Studierenden subsumiert, Journalismus insgesamt umfasst sowohl Printmedien als auch Fernsehen, Internet und Radio. Grafik 8:
Spartenverteilung „Berliner Republik“ (absolute Anzahl)
25
Kultur insgesamt
49
Politikberatung
1
Lobbyismus
5
Verbände
12
Gewerkschaften 2
Bildungswesen
34
Wirtschaft insgesamt 8
Verwaltung
86
Journalismus insgesamt Wissenschaft insgesamt
162
Politik insgesamt
186 0
50
100
150
200
Kontaktanzahl
Es ist zu konstatieren, dass es seitens der „Berliner Republik“ gelang, den Politikbegriff auf andere, auf den ersten Blick eher unpolitische Bereiche wie Wis-
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
121
senschaft und Journalismus auszudehnen. Auffällig ist darüber hinaus, dass andere Gebiete wie Wirtschaft oder auch Gewerkschaften gegenüber der Dominanz von Politik, Wissenschaft und Journalismus deutlich abfallen. Hinzu kommt die relativ starke Stellung von Kontakten aus der Sparte Politikberatung oder Think Tanks, welche beispielsweise die Anzahl der Gewerkschaftskontakte um ein Vielfaches übersteigt. Auf diese Weise zeigt sich die „Berliner Republik“ als ein Diskussionsforum, das externem, wissenschaftlichem Expertenrat innerhalb der Politik einen hohen Stellenwert zumisst und sich an ein formal gut gebildetes Publikum richtete.505 Mehr noch, fast sah es so aus, als seien „Netzwerker“ geradezu begierig nach wissenschaftlichem Rat, wie sowohl die Autorenschaft der Zeitschrift als auch die Zusammensetzung der Referenten nahe legte.506 Dieses Vorgehen dürfte auch dem bereits geschilderten Umstand geschuldet sein, dass viele „Netzwerker“ in einem relativ jungen Alter und ohne längere Berufserfahrung in den Bundestag gewählt worden waren. Sie kamen gemessen an der oft sehr spezialisierten, temporeichen Arbeit in den Bundestagsausschüssen recht unbescholten in ihr Amt.507 Insofern kam den verschiedenen Veranstaltungen der Gruppierung auch eine Bildungs- und Informationsfunktion für ihre Mitglieder zu. Darüber hinaus dürfte der politische Arbeitsalltag der hier beschriebenen Generation im Vergleich zu dem der „Enkel“ aufgrund der rasanten Entwicklung des Internets oder der zunehmenden globalen – wirtschaftlichen, finanziellen und politischen – Verflechtungen noch schnelllebiger und intransparenter geworden sein. Aus dieser Sicht verwundert der Hang des „Netzwerk“ zum Expertenrat nicht. Jener Expertenrat hatte allerdings nicht zuletzt Einfluss auf die Entstehung von Positionspapieren des „Netzwerks“. Nicht ohne Grund erschienen Stellungnahmen der Gruppierung häufig im Zusammenhang mit Tagungen, wie beispielsweise die „Düsseldorfer Erklärung“ im Februar 2005.508
505
Vgl. hierzu auch die Beobachtung der „Netzwerkerin“ Silvia Schmidt in Interview Schmidt, S. 7. Vgl. zu einer skeptischen Einschätzung von Expertenrat in der Politik Klein, Ansgar: Politische Eliten in der Mediendemokratie. Zugänge zur Diskussion über die „Politische Klasse“, in: Leif, 1992, S. 16-35, hier S. 29. 507 Vgl. Dürr, Tobias: Realisten sind sie sowieso, in: Die Zeit, 08.07.1999. 508 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Die Düsseldorfer Erklärung: „Allianz für soziale Demokratie in Deutschland“, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de/index.php?site=-+Statements (zuletzt aufgerufen am 18.02.2009). 506
122 Grafik 9:
C. Untersuchungsteil
Parteikontakte Autoren "Berliner Republik“ 3%
3%
3%
1% 9% SPD CDU CSU FDP Linke
81%
Grüne
Grafik 9 macht deutlich, dass Parteigrenzen mittels der Autorenschaft der „Berliner Republik“ nur bedingt gesprengt wurden: Immerhin 81% der Kontakte blieben innerhalb der SPD, lediglich 29% reichten in andere Parteien hinein. Ins Auge fällt, dass unter den anderen Parteien die Unionsparteien den größten Anteil ausmachen, während FDP, Grüne und Linke nur gering vertreten waren. Die „Berliner Republik“ blieb mehrheitlich ein sozialdemokratisches Forum, auch wenn Versuche der Öffnung existierten. Schlüsselt man die Kontakte in der Sparte Politik insgesamt aus Grafik 7 auf, so fällt die prominente Stellung von Mitarbeitern der Fraktion oder Bundestagsabgeordneten (Grafik 10).509
509
Die Angaben „SPD Bund“, „SPD Land“ sowie „SPD Bezirk“ beziehen sich auf Parteifunktionen der Personen beziehungsweise Kontakte, nicht auf parlamentarische Repräsentanz, und können somit als Spiegel der Parteiverankerung gesehen werden.
123
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
Grafik 10: Kontakte der Autoren „Berliner Republik“ innerhalb der SPD
23% 30% SPD Partei SPD Parlament SPD Mitarbeiter
47%
Es zeigt sich, erstens, eine deutliche Dominanz von Parlamentskontakten: 47% aller Kontakte waren entweder selbst in Bund oder Land sozialdemokratische Abgeordnete oder als Mitarbeiter dieser Ebene beschäftigt. Zum Zweiten ist der recht große Anteil an Kontakten aus dem Mitarbeiterbereich eklatant, immerhin 23% ließen sich hier ausweisen. Dabei zeigt ein Blick auf die hinter den Kontakten verborgenen Personen, dass es sich hierbei um eine Legierung aus langjährigen Mitarbeitern bis hin zu Praktikanten handelt. Die Tatsache, dass ihnen allen ein Platz eingeräumt wurde, verweist zum einen auf den Versuch des „Netzwerks“, gängige Grenzen des politischen Einzugsbereichs zu sprengen: Politiker ist nicht mehr ausschließlich der oder die Abgeordnete, nicht nur die durch ein Gremium oder eine Wählerschaft bestimmte Person, sondern Politiker sind auch die zuarbeitenden Mitarbeiter. Zum anderen aber deutet der hohe Anteil von Mitarbeiterkontakten auf das oben angeführte Motiv des „Netzwerks“ hin, einen von Vertrauen gekennzeichneten Diskussionsraum schaffen zu wollen. Ein dritter Aspekt, der sich bereits hinsichtlich der „Netzwerk“ Referenten zeigte und sich auch in Bezug auf die Zusammensetzung der „Berliner Republik“-Autoren erschließt, ist die aus Konzentration auf die Bundesebene der Partei. Den Eindruck eines auf die Bundeshauptstadt zentrierten, quasi von den Möglichkeiten der Metropole Berlin lebenden Magazins verstärkt ein Blick auf die regionale Zusammensetzung der Autorenschaft (Grafik 11). Die „Berliner
124
C. Untersuchungsteil
Republik“ war somit nicht nur ein Diskussionsforum für Beobachter des politischen Berlin, sie war auch eine Zeitschrift von Akteuren des politischen Berlin. Grafik 11: Kontaktverteilung Bundesländer
4% 2% 2% 0% 1%
1%
2% 8%
4% Baden-Wü rttemb erg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen
10%
Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen NRW Rheinland-Pfalz Saarlan d
5%
51%
1% 3% 2% 1%
Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Ho lstein Thüringen unbekannt
3%
Neben regionaler Zusammensetzung und berufsbezogenem Profil wurden die Geburtskohorten und die Geschlechterverteilung der „Berliner Republik“Autoren ausgewertet. Die unten stehenden Grafiken spiegeln reale Personen. Dabei ist hinsichtlich der Geschlechterverteilung die Dominanz der Männer offenkundig (Grafik 12):
125
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
Grafik 12: Geschlechterverteilung Autoren „Berliner Republik“ (Prozent und absolut)
18% = 99 Frauen Männer
82% = 442
Im Grunde wäre dies nicht weiter verwunderlich, sind doch Männer allgemein und nach wie vor im politischen Geschäft, in Parteien und auch in der SPD überrepräsentiert.511 Dennoch hätte aufgrund der mit „Netzwerkern“ geführten Interviews ein anderes Bild erwartet werden können. Denn nach der Attraktivität des „Netzwerks“ befragt, hatten gerade Frauen die flachen Führungsstrukturen, die inhaltliche Offenheit und den gegenüber möglichst vielen Meinungen und Argumenten offenen, wissbegierigen Diskurs hervorgehoben.512 In der Tat ist es oft ein stark hierarchischer, männerbündischer und intransparenter Politikansatz, der auf Frauen wenig anziehend wirkt.513 Insofern leuchtet es durchaus ein, dass besonders weibliche „Netzwerker“ in der partizipativen Organisationskultur des 511
Vgl. Jäckel, Michael: Die Krise der politischen Kommunikation. Eine Annäherung aus soziologischer Sicht, in: Winterhoff-Spurk, Peter/Jäckel, Michael (Hg.): Politische Eliten in der Mediengesellschaft. Rekrutierung – Darstellung – Wirkung, München 1999, S. 31-55, S. 35. Jäckel verweist an dieser Stelle auf die Potsdamer Elitestudie von 1998. 512 Vgl. beispielhaft Interview Bätzing, S. 22 und S. 25. 513 Vgl. beispielsweise Schöler-Macher, Bärbel : Elite ohne Frauen. Erfahrungen von Politikerinnen mit einer männlich geprägten Alltagswirklichkeit in Parteien und Parlamenten, in: Leif, 1992, S. 405422, insbesondere S. 411.
126
C. Untersuchungsteil
„Netzwerks“ einen Vorzug sahen. Doch schlug sich dies offensichtlich nicht unmittelbar in der Anzahl weiblicher Autoren nieder. Hinsichtlich der generationellen Zugehörigkeit der „Berliner Republik“Autorenschaft (Grafik 13) ergibt sich ein eindeutiges Bild: 252 und damit fast die Hälfte aller 541 Autoren wurden zwischen 1961 und 1975 geboren und gehörten so unzweifelhaft einem Post-68er-Zusammenhang und teilweise der von Klein betitelten „Generation Golf“ an. Zum Zweiten ist klar ersichtlich, dass ebenso die innerparteiliche „lost generation“ – jene Geburtsjahrgänge der 1950er-Jahre, die politisch am stärksten innerhalb der Partei der Grünen vertreten sind – in der „Berliner Republik“ eine Publikationsfläche fand. Drittens zeigt sich in der Kohortenverteilung jedoch auch, dass die „Berliner Republik“ und damit auch das „Netzwerk“ dem Anspruch eines undogmatischen Politikansatzes gerecht wurden, da man sich gegenüber Autoren älterer Jahrgänge nicht verschloss. Besonders die Generation der 68er, die stets als Differenzkriterium des „Netzwerks“ diente, ist mit 78 zwischen 1938 und 1948 geborenen Personen zu einem nicht unwesentlichen Anteil vertreten. Grafik 13: Kohortengruppen Autoren "Berliner Republik" 83
90 80
90 79
63
70
62
60
t u l 50 o 40 s b a 30
44
43
16
20 10
44
1
1
8
10
0
6.2.5 Die Landesebene: Klausurtagungen und Landesnetzwerke Dass das „Netzwerk“ über die bundesparlamentarische Ebene ein macht- und inhaltbezogenes Beziehungsgeflecht war, dokumentieren unter anderem seine Klausurtagungen, auf denen sich SPD-Politiker unterschiedlichster Ebenen versammelten: Sowohl Oberbürgermeister als auch Landtags- oder Bundestagsab-
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
127
geordnete, Landesvorsitzende aber zum Teil auch Ministerpräsidenten trafen sich hier und debattierten über die Lage der Partei sowie zukünftiges strategisches Vorgehen in personeller und inhaltlich-thematischer Hinsicht.515 Daneben aber dienten die Klausurtagungen der Vernetzung über die MdB-Runde und bundesparlamentarische Ebene hinaus. Aus den gleichen Bestrebungen organisierte das „Netzwerk“ beispielsweise auf Bundesparteitagen die so genannten „Abende der „Berliner Republik““ oder lud im Vorfeld von Jahrestagungen verschiedenste Landes- und Kommunalpolitiker zum zwanglosen Zusammentreffen ein.516 Neben dem Bemühen, dem „Netzwerk“ zugehörige Politiker an wichtigen Stellen innerhalb der Partei zu positionieren beziehungsweise dort Verbündete zu finden, versuchte die Gruppierung auch, ihr Politik- und Organisationsmodell auf Landesebene zu transferieren: Es entstanden in Nordrhein-Westfalen mit dem „Netzwerk Niederrhein“ und dem „Netzwerk NRW“, in Berlin mit dem „Aufbruch Berlin“, mit dem „Netzwerk ffm“ und dem „Netzwerk Hessen“ in Hessen, dem „Küstennetz“ in Schleswig-Holstein“ und dem „Netzwerk Mannheimer Kreis“ in Baden-Württemberg in verschiedenen Regionen Landesnetzwerke.517 In der Regel waren in diesen einige der „Netzwerk“-MdBs engagiert beziehungsweise ging von ihnen die Initiative zur Gründung der Netzwerke aus518, wie beispielsweise bei der Initiierung des „Netzwerk-NRW“ durch Kerstin Griese und Kurt Bodewig.519 Motiv war dabei zum einen seitens des „Netzwerk Berlin“ und der betreffenden MdBs der jeweiligen Region, das „Netzwerk“ auch über Berlin hinaus als Politikform und die politischen Ziele unterstützende Basis zu etablieren. Zum anderen bestand in einzelnen Fällen bei Sozialdemokraten in den Ländern der Wunsch, sich vor Ort anders als in den bisherigen Formen, Gremien und Flügeln zu organisieren.520 Insgesamt agierten die Landesnetzwerke relativ unabhängig von der Bundesebene und mit unterschiedlichem Aktivitätsgrad. Während „Netzwerk Hessen“ und „Netzwerk Mannheimer Kreis mit diversen Treffen und thematischen Veranstaltungen offensichtlich recht aktiv waren, verloren das „Küstennetz“ und das „Netzwerk Niederrhein“ im Laufe ihres Bestehens an Schwung. Der Versuch, in Niedersachsen ein Landesnetzwerk aufzubauen, scheiterte gar von vor515
Vgl. „Teilnehmer Netzwerk-Klausur 26.08.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. 516 Vgl. Interview Neumeyer, S. 23. 517 Vgl. http://www.netzwerkberlin.de/index.php?site=-+Andere+Netzwerke (zuletzt aufgerufen 24.07.2008) 518 Vgl. insgesamt zu den Landesnetzwerken Interview Neumeyer, S. 21 f. 519 Vgl. Mayntz, Gregor: SPD – 68er passé, in: Rheinische Post, 23.05.2001. 520 Vgl. den Gründungsaufruf des „Netzwerk Hessen“ vom 08.10.2003 (Netzwerk Hessen: Einladung zur Gründungsveranstaltung des Netzwerkes Hessen am Sonntag, 26. Oktober 2003, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle).
128
C. Untersuchungsteil
neherein. Erwähnt werden sollten an dieser Stelle jedoch die besonderen Beziehungen des „Netzwerks“ nach Brandenburg, auch wenn dort kein offizielles Landesnetzwerk existierte. Die Verflechtungen des „Netzwerks“ mit der brandenburgischen SPD waren nicht nur aufgrund der örtlichen Nähe gegeben, sondern basierten auf inhaltlichen und personellen Verbindungen. Ein enges Verhältnis zum Landesvorsitzenden und Ministerpräsidenten Brandenburgs, Matthias Platzeck, pflegte beispielsweise Hubertus Heil. Er selber hatte während des Studiums in der brandenburgischen Staatskanzlei gearbeitet, sich auch in der Partei engagiert und so Platzeck kennengelernt. Aus der Bekanntschaft entwickelte sich eine enge persönliche, aber auch politische Freundschaft. Nicht ohne Grund wurde Heil unter dem Bundesparteivorsitzenden Platzeck im Herbst 2005 Generalsekretär der SPD. Des Weiteren war der Chefredakteur der „Berliner Republik“, Tobias Dürr als eine Art spiritus recor – wenn auch nicht immer mit derselben Meinung wie andere „Netzwerker“ – zeitgleich als Referent für politische Grundsatzfragen in der brandenburgischen Staatskanzlei tätig.522 Die Beispiele verdeutlichen, wie sehr der brandenburgische Landesverband die quasiideelle Heimat des „Netzwerks“ war. Insgesamt sollte den Landesnetzwerken indes keine allzu große Bedeutung zugemessen werden. Sie können lediglich als innerparteiliche Orte angesehen werden, an denen die politischen Inhalte sowie die organisatorische Kultur des Bundes-„Netzwerks“ geteilt wurden. Sie waren damit jedoch zugleich Beleg für die Abhängigkeit der spezifischen Organisationsform „Netzwerk“ von der Bundeshauptstadt, der Metropole Berlin. Gerade in stark ländlich geprägten Regionen mit einer völlig anderen Mitgliederstruktur als der durch das „Netzwerk Berlin“ angesprochenen, mit weiten Anfahrtswegen und daraus resultierenden terminlichen Schwierigkeiten dürfte sich die Organisationsform jedoch schwer tun.523 6.2.6 Vom Kickern, Feiern und Singen: Informalität, Ritual und Freundschaft im „Netzwerk“ Allen auch noch so kritischen, teils hämischen Urteilen über das „Netzwerk“524 ist doch stets eine positive, ja manchmal vielleicht gar bewundernde Aussage gemein: „Netzwerker sind die Virtuosen der Party“525. In der Tat waren „Netz522
Vgl. Adamek, Sascha: Chefstratege der Staatskanzlei im Dienste der SPD?, in: Klartext, 24.10.2007. 523 Vgl. hierzu die Aussagen Carola Reimanns zum gescheiterten Versuch, die Netzwerkform auf Niedersachsen zu übertragen (vgl. Interview Reimann, S. 10). 524 Vgl. beispielsweise Schwarz, Patrick: Generation ohne Eigenschaften, in: Die Tageszeitung, 16.09.1999. 525 Walter, Franz: Kommt die Generation Golf?, in: Spiegel Online, 03.11.2005.
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
129
werker“ im politischen Berlin nicht nur für den von Neumeyer betreuten „Partyplaner“ bekannt, einem Email-Newsletter, der über festliche Aktivitäten der Hauptstadt informierte.526 Ihre eigenen Feiern galten überdies als zu den besten und ausgelassensten zu zählenden, die das politische Berlin zu bieten hatte. So profan diese Beobachtung auf den ersten Blick klingen mag, enthält sie doch ein wichtiges und bindendes Wesensmerkmal der Gruppe. So war für viele MdBs das „Netzwerk“ nicht unwesentlich aufgrund seiner sozial unterstützenden Angebote, seines Versprechens einer auch sozialen politischen Heimat attraktiv. In der Tat wurde das gesellige auch gezielt – vor allem durch den Geschäftsführer Neumeyer – geplant. Die von Neumeyer im Herbst 2003 gegründete Politkneipe „Wahlkreis“ war explizit als Ort des Austauschs gedacht, nicht nur für „Netzwerker“ und nicht nur für Sozialdemokraten.527 Die Lokalität hielt neben dem Feierabendbier, historischen Wahlplakaten und anderem „Polit-Nippes“528 zudem ein Tischfußballgerät sowie Gitarren und damit die Ausrüstung für den zwanglosen Ausklang eines parlamentarischen Arbeitstages bereit. An jedem Donnerstagabend in den Sitzungswochen des Bundestages zog ein Großteil derjenigen, die zuvor an einer der üblichen „Netzwerk“-Diskussionsveranstaltungen im Reichstagsgebäude teilgenommen hatte, sogleich weiter in den „Wahlkreis“, um den Abend dort zu beschließen. Hier wurden die zuvor gehörten Themen und Argumente noch einmal in lockerer Atmosphäre erörtert, wurden Kontakte geknüpft und Gemeinschaft gepflegt.529 Nicht unwesentlich gehörte dazu auch, dass regelmäßig zur Gitarre gegriffen und gesungen wurde. In einem eigenen Liederbuch – dem „Liederwok“ – hatte das „Netzwerk“ Liedgut aus jugendbewegten Strömungen zusammengestellt. Nahezu klassische Titel wie das auf einen russischen Lokomotivführer in der Revolution von 1917 verweisende „Jalava“ oder auch die in wohl kaum einer Liedersammlung fehlenden „Moorsoldaten“ bildeten einen starken Kontrast zu äußerem Erscheinungsbild und Habitus der allermeisten „Netzwerker“, die mehrheitlich elegant-bürgerlich daher kamen.530 Der Anzug in gedeckten Farben, Schlips oder Kostüm waren für viele der Abgeordneten trotz ihres jugendlichen Alters Alltagskleidung. Dass das genannte Arbeiterliedgut Einzug in den „Liederwok“ gehalten und damit zum rituellen Bestandteil von „Netzwerk“-Feiern geworden war, war sicherlich auf die bereits geschilderte Herkunft vieler „Netz526 Vgl. Walter, Franz: Kommt die Generation Golf?, in: Spiegel Online, 03.11.2005; siehe auch Hartwig, Gunther: In der SPD steigt die Generation der Urenkel auf, in: Stuttgarter Nachrichten, 01.10.2002. 527 Vgl. Sturm, Daniel Friedrich: „Ich hatte gestern im Wahlkreis zu tun...“, in: Die Welt, 15.05.2003. 528 Sturm, Daniel Friedrich: „Ich hatte gestern im Wahlkreis zu tun...“, in: Die Welt, 15.05.2003. 529 Vgl. auch Interview Neumeyer, S. 18. 530 Vgl. Schwarz, Patrick: Generation ohne Eigenschaften, in: Die Tageszeitung, 16.09.1999; siehe auch König, Jens: Die neue Spaßpartei, in: Die Tageszeitung, 10.11.2003.
130
C. Untersuchungsteil
werker“ aus den Jungsozialisten oder dem Jugendverband der „Falken“ zurückzuführen, die mit der Tradition des Fahrtenwesens und der Pflege von Sangeskultur eine deutliche Nähe zu anderen jugendbewegten Vereinigungen wie dem Wandervogel aufwiesen.531 Dennoch verwunderte die Inbrunst, mit der bei Feiern der Gruppierung das Ritual des gemeinsamen Gesangs geteilt wurde.532 Hierin drückte sich offenbar allen Modernisierungsforderungen bezüglich der Sozialdemokratie zum Trotz die Sehnsucht nach Tradition und gemeinschaftlicher Identität aus.533 Die Texte der Lieder, die in stetiger Abwandlung die Motive von revolutionärem Arbeitermythos und vom Glück der Arbeitergemeinschaft herauf beschworen, hatten kaum noch etwas mit jener SPD zu tun, in die die „Netzwerker“ hinein sozialisiert worden waren, und die sie nun zu gestalten trachteten. Denn diese war spätestens seit den 1980er-Jahren geprägt von der Auflösung der Milieus, dem Wegbrechen sozialdemokratischer Vergemeinschaftungsformen. Und im Grunde war die Antwort der „Netzwerker“ auf diese Entwicklung gewesen, die Freiheit als obersten sozialdemokratischen Grundwert in ihrem Programmentwurf zu postulieren.534 Dass sie dennoch ein Bedürfnis nach traditionellem Halt verspürten, symbolisierte sich im rituellen Singen von Arbeiterliedgut. Neben dem Gesang offenbarte sich bei „Netzwerk“-Feiern jedoch auch der politisch-kulturelle Aspekt der politischen Freundschaft. Nun kann das „Netzwerk“ insgesamt sicher nicht als harmonischer Freundeskreis bezeichnet werden535, dennoch wiesen „Netzwerker“ selbst in den mit ihnen geführten Interviews immer wieder auf Freundschaften innerhalb der Gruppierung hin536, und bezeugten die Existenz von und das Bedürfnis nach privater Vertrautheit und Vertrauen im politischen Raum. Im Grunde schließen sich politische Freundschaft und die auf Machterwerb gerichtete Konkurrenzsituation innerhalb von Politik allgemein und in Parteien im Besonderen nahezu aus.540 Denn wenn der Freund gleichzeitig potenzieller Konkurrent im Machtkampf ist, kann kaum eine 531
Vgl. unter anderem Heimann, Siegfried: Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Stöss, Richard (Hg.): Parteienhandbuch, Bd. IV, S. 2025-2216, hier S. 2165; siehe auch zur Erlebniswelt der „Falken“ Radde, Martin: Jugendkultur und Jugendverbandsarbeit. Politische Sozialisation zwischen jugendlicher Bewegung und funktionaler Erstarrung, München 1988, hier S. 84-125. 532 Vgl. Feldenkirchen, Markus: Aufstand der Anständigen, in: Der Spiegel, 14.06.2004. 533 Vgl. Interview Raabe, S. 5 f. und S. 7. 534 Vgl. Soldt, Rüdiger/Bannas, Günter: Studiengebühren und Freiheit, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.11.2003. 535 Vgl. Interview Roth, S. 10. 536 Vgl. Interview Stender, S. 1; siehe auch Interview Griese, S. 5. 540 Vgl. auch die Definition von Freundschaft bei Leuschner, Vincenz: „Politische Freundschaften“ – Informelle, persönliche Beziehungen politischer Führungsgruppen zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Vortrag gehalten auf der ÖGPW 3-Länder-Tagung „Politik und Persönlichkeit“, 30.11.02.12.2006, hier S. 1.
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
131
tragfähige und dauerhaft stabile Vertrauensbasis im Sinne von emotionaler Nähe entstehen.541 Die Allgegenwärtigkeit des Konkurrenzgedankens in der Politik hatten viele „Netzwerker“ bei der politischen Generation der „Enkel“ und 68er beobachtet und als abschreckend empfunden.542 Aus diesem Grund versuchten sie nun, im „Netzwerk“ einen weniger auf Konflikt und personelle Auseinandersetzung denn auf Kooperation basierenden politischen Stil zu pflegen, der vor allem bei den Gründungs-„Netzwerkern“ in der undogmatischen Juso-Strömung wurzelte. Nina Hauer, die bekanntermaßen zu Jusozeiten nicht zu den Undogmatischen gehörte, schilderte ihre Erfahrungen mit dem politischen Stil des „Netzwerks“ im Interview wie folgt: „Ich hab, als ich als Jusovorsitzende damals gewählt wurde ´nen Vorstand damals gehabt mit viel älteren Leuten, und ich hab da auch gelernt, mich durchzusetzen. Aber Leuten auch mal ´n Ball zuzuspielen und auch mal gemeinsam sich gegenseitig zu vertrauen, und vor allem nicht immer zu denken, dass jemand anderes, der auch gut ist, ´ne Bedrohung ist, so wie das bei den „Enkeln“ war, sondern zu wissen, dass man, wenn man wirklich gut sein will, sich auch mit guten Leuten verbünden muss, und dass dann am Ende doch noch wieder Platz ist für alle, das ist ´ne Erfahrung, die ich erst im Parlament gemacht hab. Und die hab ich auch mit dieser politischen Kultur, die dann so der Hubertus, die Kerstin und der Christian so vertreten, die Erfahrung erst gemacht.“543
Das „Netzwerk“ suchte einen politisch-kulturellen Stil, der nicht auf größtmöglichen und personellen Konflikt als Mittel der Einfluss- und Machterlangung setzte, sondern auf Kooperation. Die dafür notwendige Vertrauensbasis versuchte es durch flache Führungsstrukturen, wenig hierarchische Orientierung sowie offene und gleichberechtigte Beteiligungsstrukturen zu schaffen. Dies drückte sich aber auch in den unter „Netzwerkern“ vielfach vorhandenen persönlichen Freundschaften und den angestrebten Gemeinschaftserlebnissen jenseits des Kernbereichs von Politik aus. Das gemeinsame Singen und Feiern hatten in ihrer zwanglosen Informalität die Funktion, Vertrauen durch persönliche Begegnungen zu schaffen und Kontakte herzustellen.545 Doch soll nicht versäumt werden darauf hinzuweisen, dass Freundschaften auch immer Verpflichtungen zwischen den Befreundeten beinhalten. So verpflichtet sich ein Freundschaftszirkel zusammenzuhalten, keinen „Verrat“ am anderen zu üben, für ihn einzustehen. Mit der inneren Freiheit des Vertrauens durch Freundschaften innerhalb der „Netzwerks“ ging also auch ein gewisser 541
Vgl. auch Mierbach, Ferdinand: Die Kontrolle der Seilschaft – Warum Politik offene Netzwerke braucht, abrufbar unter http://www.progressiveszentrum.org/dpz.php/cat/85/aid/321/title/Die_Kontrolle_der_Seilschaft__Warum_Politik_offene_Netzwerke_braucht (zuletzt aufgerufen am 18.02.2009). 542 Vgl. Interview Heil, S. 7. 543 Interview Hauer, S. 15. 545 Vgl. auch Interview Hartmann, S. 15.
132
C. Untersuchungsteil
Zwang zur gegenseitigen Loyalität einher, der durch die privaten Beziehungen intensiviert wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass „Netzwerker“ in ihren programmatischen Vorstellungen dazu neigten, den Wert der Pflicht und gegenseitigen Loyalität im gesellschaftlichen Zusammenleben zu betonen. In gewissem Sinne also korrespondierten hier gelebtes und gefordertes Wertesystem miteinander. Schlussendlich bleibt zu bemerken, dass das Element der Freundschaft bei Jugendbewegungen allgemein und somit auch bezüglich der Bildung von Generationen stets eine prominente Rolle spielte.547 Durch das gemeinsame Erleben bestimmter Ereignisse kristallisierten sich auf den Erinnerungen basierende Freundschaften und Netzwerke heraus, die in der Nachschau als Generation oder Generationeneinheit bezeichnet wurden.548 Darüber hinaus besaßen derartige Netzwerke gerade im politischen Raum seit jeher eine herausgehobene Funktion549, waren sie doch Bestandteil gemeinsamen Agierens und Machterwerbs. Aus dieser Sicht stellten die freundschaftlichen Beziehungen im „Netzwerk“ kein exklusives Merkmal der Gruppierung dar, geben aber Hinweise auf den tatsächlichen generationellen Zusammenhalt der Gruppierung. 6.3 Weitere Kommunikationsformen und Meinungsfindungsprozesse Einige der Kommunikationsformen und Meinungsfindungsprozesse wurden bereits unter dem Aspekt der Zwiebel-Form des „Netzwerks“ geschildert, andere, wie die Entstehung von Positionspapieren, der Bad-Münstereifel-Prozess, die Dialoggruppen sowie die Internetplattform wirkaempfen.de, sollen im folgenden Kapitel aus unterschiedlichen Gründen einer besonderen Betrachtung unterzogen werden. 6.3.1 Wer schreibt was? Oder: Das Zustandekommen von Positionspapieren Untrennbar mit der Organisation des „Netzwerks“ ist ihr Positionsfindungsprozess verbunden, der sich an den Prinzipien der Gleichberechtigung, Offenheit und Konsensbildung zu orientieren suchte. Im Grunde konnte so jeder Interessierte zu jedem beliebigen Thema ein Positionspapier verfassen und um Unterstützung im „Netzwerk“ werben.550 Im Gegensatz zu den anderen Flügeln kam niemandem in der Gruppierung ein Exklusivrecht zu. In den mit „Netzwerkern“ geführten Interviews wurde oft der Meinungsbildungsprozess der PL als ab547
Vgl. Schulz/Grebner, 2003, in: Dies., 2003, S. 16 f. Vgl. Zinnecker, 2003, in: Reulecke, 2003, S. 41. 549 Vgl. Lepsius, 2005, in: Jureit/Wildt, 2005, S. 51. 550 Vgl. beispielsweise Interview Schaaf, S. 27; Interview Bartol, S. 17. 548
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
133
schreckendes Negativbeispiel genannt. Ein sehr kleiner Führungskreisbestimme die inhaltlichen Markierungen und das strategische Vorgehen. Für die Mehrheit der Flügelmitglieder bestehe kaum Mitsprachemöglichkeit.551 Gerade von dieser hierarchischen Führung wollte das „Netzwerk“ sich absetzen. In den Mittagskoordinierungen der MdB-Runde und in den Treffen des Sprecherkreises wurden Vorschläge diskutiert und Arbeitsaufträge zum Verfassen von Stellungnahmen verteilt.552 War ein Vorschlag zu einem Thema erarbeitet worden, so wurde er allen anderen „Netzwerk“-MdBs zugänglich gemacht, die daraufhin – oft über Email – Änderungswünsche vorbringen konnten.553 In den Anfangsjahren der Gruppierung hatte bezüglich der Papiere das Einstimmigkeitsverfahren gegolten: Erst wenn sich alle Mitglieder mit dem Inhalt eines Papiers einverstanden und zur namentlichen Zeichnung bereit erklärt hatten, wurde die Stellungnahme veröffentlicht. Dies führte allerdings dazu, dass dieser Prozess umso schwieriger handhabbar wurde, je größer die Gruppierung wurde. Hinzu kam, dass viele „Netzwerker“ sehr partizipationsfreudig waren und sich am Prozedere der Papiererstellung beteiligen wollten. Schließlich stellte gerade diese Offenheit ein Qualitätsmerkmal dar, welches für sie attraktiv war und das „Netzwerk“ von Seeheimern und PL unterschied. Erst im Laufe der 15. Legislaturperiode gab die Gruppierung dies Verfahren auf und verabschiedete fortan Stellungnahmen per einfachem Mehrheitsentscheid.554 Es hatte sich erwiesen, dass bei einer Gruppengröße von 40 MdBs und mehr die zunächst gewählte Methode zu schwerfällig und unübersichtlich geworden war. Zudem erhielt der Sprecherkreis zunehmend die Kompetenz, ohne Rücksprache mit allen MdBs mit Kommentaren an die Presse gehen zu dürfen. So verdeutlicht der geschilderte Positionsfindungsprozess ein Dilemma der Gruppierung: Ihr Unterscheidungskriterium von SK und PL bestand – gerade in den Anfangsjahren – im Bereich der politischen Kultur und zielte auf die nun bereits häufig erwähnte Beteiligungsorientierung, Offenheit und egalitäre Strukturen. Doch unterlief gerade diese Organisationsform die Gesetze der Mediendemokratie. Denn letztere lebt von der Schnelligkeit politischer Nachrichten, von den kontrastreichen und pointierten Zuspitzungen der Kommentare und nicht zuletzt von der Personalisierung des Geschehens.556 All dies aber war dem „Netzwerk“ mit der von ihm gewählten Methode kaum möglich. Seine Positionsbestimmungen waren zählebig und schwerfällig, da möglichst viele gruppen551
Vgl. Interview Griese, S. 1, sowie Interview Neumeyer, S. 26. Vgl. „Planung Netzwerk, Stand 30.10.2003“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle; siehe ebenso „Netzwerk Berlin – Netzwerktreffen 2000“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 553 Vgl. beispielsweise zum Vorgehen bei Papieren Interview Neumeyer, S. 15 f. 554 Vgl. Interview Hauer, S. 9 f. 556 Vgl. beispielhaft Jäckel, 1999, in: Winterhoff-Spurk/Jäckel, 1999, S. 40 f. und S. 46. 552
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C. Untersuchungsteil
interne Partikularinteressen berücksichtigt werden wollten. Auch waren ihre Papiere selten zugespitzt, sondern aufgrund der Konsens- und Diskursorientierung ohne allzu konkrete Forderungen. Und schließlich genügten sie ebenso wenig dem mediendemokratischen Gebot der Personalisierung. Denn entweder waren alle MdBs Unterzeichner der Papiere, so dass zwar Einigkeit demonstriert wurde, der interessierte Journalist sich aber durch eine unübersichtliche Vielzahl an Namen kämpfen musste, ohne geeignete Ansprechpartner zu finden. Oder aber es war für Außenstehende kaum erkenntlich, wer alles zu der Gruppierung gehörte, da nur einzelne MdBs die Papiere unterschrieben hatten. All dies mag mit dazu beigetragen haben, dass das „Netzwerk“ in manchen Pressedarstellungen als kopf- und führungslos, als inhalts- und ideenarm charakterisiert wurde.557 Desweitern ermöglichten es erwähnten Diskursstrukturen dem „Netzwerk“ kaum, tagesaktuell zu reagieren, da das Einholen der unterschiedlichen Meinungen so viel Zeit in Anspruch nahm, dass das betreffende Ereignis längst verstrichen war ehe eine Stellungnahme zustande kam.558 Sicher, der teilweise eklatante Mangel an Kommentaren zu aktuellen politischen Ereignissen war auch dem Umstand geschuldet, dass „Netzwerker“ ja gerade nicht die Methode der „Enkel“ wählen wollten, sich in Krisenzeiten über die Medien zu Wort zu melden, um so eine Druckkulisse gegenüber der Partei aufzubauen.559 Dennoch war die Tatsache, dass zu manchem Ereignis seitens des „Netzwerks“ nichts zu vernehmen war, auch den beschriebenen Prozessen der Meinungsbildung geschuldet. Darüber hinaus bedeutete die geschilderte „Netzwerk“-Methode, dass sie kaum von der Gruppenposition abweichendes Verhalten tolerierte. Paradoxerweise war es gerade jene politische Kultur, die den Standpunkt jedes Einzelnen einzubeziehen versuchte, die individuelles Vorpreschen nicht gut hieß.560 In dieser Spannung zwischen Konsens und Individualität lag daher ein weiteres Dilemma des „Netzwerks“. Zwar war es explizit Maxime der Gruppierung, das Individuum mit seinen Diskussionsbeiträgen und Ideen zu würdigen, auch unabhängig von der offiziellen Funktion. Doch war es andererseits genau jene Rücksichtnahme auf individuelle Befindlichkeiten, die von dem als Konsens bestimmten Standpunkt abweichende und – das war das Entscheidende – öffentlich geäußerte Positionen nicht integrieren konnte. Beispielhaft war in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Hans-Peter Bartels zum „Netzwerk“, der mit einigen inhaltlichen Positionierungen der Gruppierung im wirtschaftlichen oder 557
Vgl. beispielhaft Gareis, Angela: „Netzwerker“ in der SPD wehren sich gegen ihr Schicki-MickiImage, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 27.11.2003; siehe auch König, Jens: Die neue Spaßpartei, in: Die Tageszeitung, 10.11.2003. 558 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Interview Hauer, S. 9. 559 Vgl. zur Einsicht, dass dies eben doch manchmal zielführend sein kann, Interview Heil, S. 19. 560 Vgl. die Episode um Hans-Peter Bartels in Kapitel 6.3.2 beziehungsweise 7.2.2.
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sozialpolitischen Bereich nicht immer einverstanden war und dies auch öffentlich vortrug. Dies wiederum verärgerte viele „Netzwerker“, da sie nicht gehört worden waren und nicht mit seinen Meinungen identifiziert werden wollten.561 Gerade weil das „Netzwerk“ so viele Individualisten versammelte, duldete es keine Führung durch Individualisten, da die Bereitschaft und vielleicht auch der Mut, sich unterzuordnen, zu gering waren. Erwähnung verdienen außerdem die Zeitpunkte, zu denen sich das „Netzwerk“ überhaupt äußerte. Im Laufe der Jahre versuchte die Gruppierung zunehmend, mittels ihrer öffentlichen Positionierungen strategisch zu handeln.563 So wurden beispielsweise bereits im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 Absprachen getroffen, wie das „Netzwerk“ den Wahlausgang kommentieren, wie es sich als jüngere Generation in diesem Zusammenhang positionieren könnte.564 Auch waren die Zeitpunkte der wiederholten Forderungen nach programmatischen Debatten nicht zufällig gewählt, sondern orientierten sich beispielsweise an der Veröffentlichung des Schröder-Blair-Papiers im Frühsommer 1999 oder am bevorstehenden Bundesparteitag im Herbst 2003 in Bochum.565 Nun ist ein solches Vorgehen an sich sicherlich nicht als sensationell, sondern als politisches Basishandeln zu bezeichnen. Dennoch ist es beachtenswert, da es zumindest den Versuch der Gruppierung dokumentiert, zeitlich koordiniert und gezielt Einfluss auf die Partei und den politischen Diskurs zu nehmen. Dessen ungeachtet aber blieb das „Netzwerk“ zu schwerfällig und war schlicht nicht schnell genug handlungsfähig, um situationsadäquat und rasch auf kurzfristige Ereignisse und Entwicklungen reagieren zu können. 6.3.2 „Wir sind die neue SPD“ – Der Programmbeitrag von Bad Münstereifel Bereits mehrfach wurde auf die Bedeutung des Legislaturperiodenwechsels 2002 für das „Netzwerk“ aufmerksam gemacht: Im Umbruch der Wahlzyklen bestimmte die Gruppierung den Sprecherkreis und erweiterte sich quantitativ. Doch auch qualitativ vollzog das „Netzwerk“ über die Etablierung des Sprecherkreises hinausgehende Veränderungen, wie die nachfolgend betrachteten Geschehnisse um den Programmbeitrag aufzeigen. Im Oktober 2003, circa anderthalb Monate vor dem Bundesparteitag der SPD im November in Bochum, zogen sich einige „Netzwerker“ eine ganze Woche lang zur Klausur in ein Tagungshaus der Friedrich-Ebert-Stiftung nach Bad
561
Vgl. beispielhaft Interview Bartol, S. 11. Vgl. Interview Heil, S. 18, sowie Interview Lange, S. 18. 564 Vgl. den Email-Verkehr von Tobias Dürr, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 565 Vgl. Delhaes, Daniel: „Zeit des Nachholens,“, in: Wirtschaftswoche, 14.10.1999. 563
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Münstereifel zurück.566 Vor der Kulisse malerischer Weinberge, abgeschottet von der Hektik des politischen Alltags wollten sie an diesem geschichtsträchtigen Ort, an dem bereits das Godesberger Programm der Sozialdemokratie ersonnen worden war, über die Zukunft der SPD debattieren. Sie wollten das Programm ihrer Generation schreiben. Bereits seit Gründung der Gruppierung 1999 hatte das „Netzwerk“ wiederholt gefordert, die SPD müsse sich ein neues Programm geben, welches das aus dem Jahr 1989 stammende „Berliner Programm“ ablöse.567 So hatten „Netzwerker“ in ihren Publikationen immer wieder moniert, das „Berliner Programm“ stimme in seinem Forderungen weder mit der historischen Realität noch mit der sozialdemokratischen Regierungspolitik überein und spiegele deshalb auch nicht die Erfahrungen jüngerer Politiker.568 Da sie den Eindruck hatten, die innerparteiliche Programmdebatte komme weder richtig in Schwung, noch würde ihre Stimme darin ausreichend gehört, wollten „Netzwerker“ durch ihre Münstereifler-Tagung mit einem eigenen Programmbeitrag auf sich aufmerksam machen.569 Dabei war es im Vorfeld der Tagung nicht so einträchtig und zusammenschweißend zugegangen, wie es im Nachhinein vielen „Netzwerkern“ in Erinnerung geblieben war.570 Nach der Bundestagswahl 2002 waren im Führungszirkel des „Netzwerks“ zunehmend Überlegungen angestellt worden, wie man sich an der anstehenden Programmdebatte wirkungsvoll hinaus beteiligen könnte. Bei einem Treffen mit einigen „Netzwerkern“ aus den Ländern – wie Gabriel, Matschie und Vogt – wurde schließlich spontan die Idee geboren, sich gleich einer „alte[n] Falkenmacke“571 zu einer Klausurtagung mit entsprechenden Referenten für einen gewissen Zeitraum zurückzuziehen. Führende Rollen kamen in der weiteren Organisation Gabriel und Heil zu.572 Gabriel stellte als stellvertretender Vorsitzender der FES den Kontakt zu selbiger her, kümmerte sich um das Tagungshaus in Münstereifel und letztlich um die Unterstützung der parteinahen Stiftung.573
566 Die Tagung dauerte vom 29.09. bis 05.10.2003 (vgl. Protokoll der Arbeitstagung „Zukunft der Sozialen Demokratie, Kurt-Schumacher-Akademie Bad Münstereifel, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle). 567 Vgl. beispielsweise Delhaes, Daniel: „Zeit des Nachholens,“, in: Wirtschaftswoche, 14.10.1999. 568 Vgl. Hauer, Nina: Links wird langsam zum Label für konservativ, in: Frankfurter Rundschau, 05.07.1999. 569 Vgl. Soldt, Rüdiger: Die Reformwoche von Münstereifel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 09.10.2003. 570 Vgl. beispielsweise Interview Neumeyer, S. 5. 571 Interview Heil, S. 43. 572 Vgl. beispielsweise Interview Griese, S. 29. 573 Vgl. Interview Heil, S. 43, sowie Interview Bartels 14.
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Die Dominanz des Niedersachsen, die auch bei der eigentlichen Klausur nicht zu übersehen war574, stieß allerdings bei einigen „Netzwerkern“ auf Skepsis. Gabriel hatte im Februar 2003 deutlich die Wahlen in Niedersachsen als amtierender Ministerpräsident verloren und war nun – als Popbeauftragter mit Siggy Pop verspottet575 – politisch heimatlos geworden.576 Viele „Netzwerker“ sahen daher in seinem Engagement für den Programmbeitrag der Nachwuchspolitiker einen Versuch, die Gruppierung für sich zu vereinnahmen, sie inhaltlich und organisatorisch zu okkupieren. Und ohne Zweifel bot das „Netzwerk“ in seinem Bemühen um inhaltliche Profilierung Gabriel ein adäquates Forum, sich selbst aus der politischen Isolation zu befreien.577 Umgekehrt profitierten die „Netzwerker“ trotz aller Kritik von der Beteiligung Gabriels, da sie nun einen prominenten und nach außen sichtbaren Kopf hatten, der ihren Diskussionsbeiträgen mehr Gewicht verlieh – in gewisser Weise handelte es sich also um ein gegenseitiges Tauschgeschäft.579 Einen weiteren Stein des Anstoßes innerhalb des „Netzwerks“ stellte die Exklusivität der Tagung dar.581 Entgegen der sonst in der Gruppierung geltenden Maxime von Transparenz und Partizipation konnten sich längst nicht alle Interessierten auf den Weg in die Eifel machen. Vielmehr wurde die Teilnehmerzahl aufgrund der begrenzten Bettenkapazitäten beschränkt. Teilnehmer wurden letztlich quasi elitär danach ausgesucht, wer in Partei oder Fraktion, Bund oder Land einflussreiche Funktionen innehatte.582 So gehörte beispielsweise ausgerechnet Hans-Peter Bartels, der intellektuelle Kopf der Gruppierung, gehörte nicht zum Teilnehmerkreis.584 Das Verfahren rief daher einigen Unmut innerhalb der Gruppierung hervor, stand es doch im diametralen Widerspruch zur viel beschworenen gruppeninternen politischen Kultur mit ihrem sonst praktizierten Gleichheits- und Offenheitsgebot. Die so entstandenen Konflikte versuchte die „Netzwerk“-Führung durch eine der Tagung nachgelagerte Diskussion über den ent-
574
Vgl. Protokoll der Verfasserin zur Tagung von Bad Münstereifel aus teilnehmender Beobachtung, Dokument im eigenen Archiv. 575 Vgl. Hoidn-Borchers, Andreas: Generation Gabriel, in: Stern, 09.10.2003. 576 Vgl. ebd. 577 Vgl. beispielsweise Perger, Werner A.: Neu im Netzwerk, in: Die Zeit, 13.11.2003. 579 Vgl. Soldt, Rüdiger: Siggy Pop goes Grundwerte, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.10.2003. 581 Vgl. beispielsweise Interview Griese, S. 30. 582 Vgl. zu diesem Argument Interview Heil, S. 44. Schließlich versammelten sich in Münstereifel Hubertus Heil, Kerstin Griese, Christian Lange, Hans-Martin Bury, Kurt Bodewig, Martin Dörmann, Ute Vogt, Tobias Dürr, Andreas Helle, Sigmar Gabriel Gabriel, Christoph Matschie, Heiko Maas, Jürgen Neumeyer, Liv Assmann als Büroleiterin Heils, Lily Chan als Mitarbeiterin der „Netzwerk“Geschäftsstelle, Prof. Dr. Thomas Meyer und seitens der FES Helmut Möhrchen. 584 Vgl. Interview Bartels, S. 14.
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standenen Programmbeitrag zu lösen.585 Das Papier wurde allen MdBs zugespielt, und bis zu einer bestimmten Frist konnten alle ihre Änderungswünsche einbringen. Anschließend wurde in einer „siebenstündige[n] Nachtsitzung“586 versucht, alle Beiträge zusammenzubringen. Wie kaum anders zu antizipieren, stießen die Aktivitäten der „Netzwerker“ innerhalb der SPD auf einige Kritik.587 Vor allem Altlinke und Mitglieder der Programmkommission – allen vorweg Wolfgang Thierse und Heidemarie Wieczorek-Zeul – rügten das Vorgehen.588 Dabei war an der Münstereifler Tagung und ihren Ergebnissen auf den zweiten Blick im Grunde weniger Überraschendes, als hätte vermutet werden können, zumal der Nachwuchs bereits vor Monaten offiziell angekündigt hatte, sich verstärkt in die Programmdebatte einzumischen.589 Wie oben beschrieben, hatte das „Netzwerk“ sich organisatorisch und ganz offiziell an die Friedrich-Ebert-Stiftung angelehnt. Ein geheimbündlerisches Treffen konnte den jungen Politikern somit kaum unterstellt werden. Auch war es historisch gesehen kein Novum, dass sich Teile der Partei zur programmatischen Arbeit an relativ abgeschiedene Orte zurückzogen. Als prominentes Beispiel wäre an den Irseer Entwurf 1986 zu denken, der in der klösterlichen Abgeschiedenheit des gleichnamigen Ortes entstanden war.590 Ferner war mit Thomas Meyer ein Teilnehmer anwesend, der bereits seit Jahren in die programmatische Arbeit der Partei eingebunden war.591 Nein, rein formellorganisatorisch bestand das Spektakuläre des „Netzwerks“ schlicht darin, dass sie mit ihrer Arbeit die klassischen Organisationsformen umgangen hatten.592 Sie hatten ihre Vorschläge nicht innerhalb der Programmkommission gemacht, waren nicht den oft mühsamen Weg über die Gremien gegangen593, obwohl Bartels, Gabriel, Meyer und Vogt selbst Mitglieder der damals aktuellen Programmkommission waren.594 Stattdessen hatten sie zu ihren Debatten in der Eifel gleich ein buntes Potpourri journalistischer Vertreter von einschlägigen Zeitungen ein-
585
Vgl. Interview Heil, S. 44. Interview Griese, S. 33. 587 Vgl. auch zu den Auseinandersetzungen Meyer, 2007, in: Egle/Zohlnhöfer, 2007, S. 89 f. 588 Vgl. Meng, Richard: Der Nachwuchs im Trainingslager, in: Frankfurter Rundschau, 08.11.2003. 589 Vgl. Schmiese, Wulf: In der SPD bleibt alles beim Alten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.07.2003. 590 Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 125 ff. 591 Vgl. Lutz, Martin: Die Jungen in der SPD wollen altes Beamtentum abschaffen, in: Die Welt, 07.11.2003. 592 Vgl. zur eigenen Einschätzung der Gruppierung beispielhaft Interview Schulz, S. 7. 593 Vgl. Soldt, Rüdiger/Bannas, Günter: Studiengebühren und Heimat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.11.2003. 594 Vgl. auch Urschel, Reinhard: „Netzwerker“ der SPD legen sich mit Traditionalisten an, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 08.11.2003. 586
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geladen, so dass vom „Stern“ bis zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über das Treffen der „Netzwerker“ zu lesen. Doch auch inhaltlich stießen sich Parteilinke an Vielem:595 Die Forderung nach nachgelagerten Studiengebühren, die Begrenzung des Berufsbeamtentums im Sinne eines neuen Staatsverständnisses sowie nicht zuletzt die Zentralität des Begriffs „Freiheit“ stellten in den Augen der Kritiker sozialdemokratische Traditionen auf den Kopf.596 In der Tat bedeuteten die genannten Punkte, aber auch die Unbefangenheit, mit der sie vorgetragen wurden, einen Bruch mit bewährten Politikkonzepten der Partei.597 Doch tatsächlich „neu“ war dies alles nicht.598 Nicht nur hatten „Netzwerker“ bereits in den vorangegangen Jahren immer wieder in Positionspapieren, auf ihren Tagungen und in der „Berliner Republik“ diese Gedanken diskutiert. Vieles von dem war außerdem bereits in der von Gerhard Schröder verkörperten Regierungspolitik, besonders im Schröder-BlairPapier und in der Agenda 2010 angeklungen. 599 Im Grunde bezog sich der Unmut in der Partei damit auf die fehlende offizielle Legitimation des „Netzwerks“, sich an der Programmdebatte zu beteiligen.600 Darüber hinaus jedoch besaßen die Geschehnisse rund um den Programmbeitrag eine große Bedeutung für die Identitätsbildung der Gruppierung. In den geführten Interviews bekräftigten die Beteiligten immer wieder und mit Vehemenz, wie wichtig der Programmbeitrag und dessen Diskussions- und Findungsprozess gewesen seien. Das „Netzwerk“ war in den voraus gegangenen Jahren vermehrt dem Vorwurf ausgesetzt gewesen, es sei nicht erkennbar, worin sein politisch-inhaltliches Profil bestehe.602 Nun jedoch, so die Kommentare in den Interviews, sei klar, welche inhaltlichen Ziele die Gruppierung verfolge – jeder könne diese in dem im Anschluss an Bad Münstereifel entstandenen Impulsbeitrag nachlesen.603 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang aber vor allem, dass die MdB-Gruppierung des „Netzwerks“ sich im Münstereifelprozess erstmals in umfassender Form zwang, die eigenen Standpunkte in den verschiedensten Politikfeldern zu bestimmen. Das Vorgehen hatte somit auch nicht zu unter-
595
Vgl. beispielhaft als Kritik die Erwiderung Wofgang Thierses: Thierse, Wolfgang: Sechzig mal Freiheit, in: Berliner Republik 6 (2003), S. 32-37. 596 Vgl. beispielsweise Meyer, 2007, in Egle/Zohlnhöfer, 2007, S. 89 f. beziehungsweise S. 93. 597 Vgl. Günsche, Karl-Ludwig: Die alte und die neue SPD, in: Stuttgarter Zeitung, 08.11.2003. 598 Vgl. Rubner, Jeanne: Junge SPD-Politiker: Arbeitslose sollen jeden Job annehmen, in: Süddeutsche Zeitung, 07.11.2003. 599 Vgl. auch Staud, Toralf: Die windelweichen Urenkel, in: Die Zeit, 06.11.2003. 600 Vgl. Lutz, Martin: Die Jungen in der SPD wollen altes Beamtentum abschaffen, in: Die Welt, 07.11.2003. 602 Vgl. Meng, Richard: Der Nachwuchs im Trainingslager, in: Frankfurter Rundschau, 08.11.2003. 603 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Interview Griese, S. 33.
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schätzende Anteile einer Selbstvergewisserung und trug zur Festigung und Identitätsstärkung der Gruppe bei. Gleich einem Programmprozess innerhalb einer Partei hatte somit der Münstereifelprozess des „Netzwerks“ interne und externe Wirkungen, von denen erstere vermutlich sogar die einschlägigeren, dauerhafteren waren. Diese These belegt sich auch dadurch, dass bald nach der offiziellen Vorstellung des Impulsbeitrags bereits von einigen der darin enthaltenen abgewichen wurde. So hatte sich die Gruppierung im Impulspapier für die Einführung nachgelagerter Studiengebühren ausgesprochen. Christoph Matschie aber, zum damaligen Zeitpunkt Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und thüringischer SPDLandesvorsitzender, distanzierte sich rasch von dieser Forderung604, so dass für Beobachter abermals der Eindruck entstand, das „Netzwerk“ habe keine einheitlichen und dauerhaften Standpunkte.605 Die externe Wirkung des Münstereifelprozesses wurde somit geschmälert. Zwar hatten die „Netzwerker“ zunächst etablierte Diskurspositionen verunsichert und in der Programmdebatte einigen Wirbel ausgelöst.606 Doch kann diese Phase als mit dem Wechsel im Parteivorsitz im Januar 2004 von Gerhard Schröder zu Franz Müntefering als beendet angesehen werden.607 Nach der Neuorganisation der Programmdebatte durch Müntefering waren „Netzwerker“ weniger in den offiziellen Gremien vertreten. Zudem gab der seit Winter 2004 amtierende Parteivorsitzende Franz Müntefering die Maxime aus, das zu schreibende Parteiprogramm solle auf dem „Berliner Programm“ basieren, also kein völlig neues Dokument entstehen.608 Letzteres aber war von Beginn an und stets eine der Hauptforderungen des „Netzwerks“ gewesen.609 Somit kann die interne Wirkung des Münstereifel-Prozesses sowie des „Netzwerk“-Programmbeitrags bezogen auf die Identitätsstiftung der Gruppe als vorrangig angesehen werden. 6.3.3 Ins Gespräch mit Partei und Gesellschaft kommen – Dialoggruppen und Regionalforen Die 2003 im Anschluss an den Programmbeitrag und den Münstereifel-Prozess eingerichteten Dialoggruppen – die wie die unten skizzierten Regionalforen in 604
Vgl. o. V.: Studiengebühren: Matschie macht einen Rückzieher, in: Die Welt, 04.11.2003. Vgl. zu derartigen Urteilen Deggerich, Markus: Sigi Pop und die Lego-Gang, in: Spiegel Online, 07.11.2003; siehe auch Staud, Toralf: Die windelweichen Urenkel, in: Die Zeit, 06.11.2003. 606 Vgl. Fischer, Sebastian: Gerhard Schröder und die SPD. Das Management des programmatischen Wandels als Machtfaktor, München 2005, S. 103 ff. 607 Vgl. Soldt, Rüdiger: „Die sind ein kulturelles Phänomen geblieben“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.08.2005. 608 Vgl. Meyer, 2007, S. 90; siehe auch Fischer, 2005, S. 103. 609 Vgl. Mayntz, Gregor: Die Nach-68er formieren sich, in: Rheinische Post, 09.10.1999. 605
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Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung stattfanden – stellten den Versuch dar, die schwindende gesellschaftliche Verankerung der Partei institutionell wett zu machen.611 In der MdB-Gruppe wurden zu den Themenfeldern Gewerkschaften, Sozial- und Wohlfahrtsverbände, Wirtschaft, Sport, Kultur/Medien, Wissenschaft/Bildung, NGOs/Umweltverbände/Globalisierung, Kommunales, Kirchen, Jugendverbände sowie Außenpolitik/EU/sozialistische Schwesterparteien Arbeitsgruppen ins Leben gerufen.612 Je nach Interesse und Qualifikation ordneten sich die Abgeordneten den einzelnen Themenbereichen zu.613 Anknüpfend an den Prozess des Programmbeitrags hatten die so entstandenen Dialoggruppen die Aufgabe, mit vornehmlich jüngeren Vertretern des jeweiligen Bereichs in Kontakt zu treten, um den eigenen Programmbeitrag nahe zu bringen sowie sich über mögliche Problemlagen auszutauschen.614 Dabei hing der der Erfolg der einzelnen Arbeitsgruppen offenbar vom Engagement der darin beteiligten Personen ab. So fanden rege Aktivitäten fanden in der Gewerkschafts-616 oder auch der Kirchengruppe617 statt, die von Heil beziehungsweise Griese geleitet wurden. Damit waren zwei „Netzwerker“ für den Austausch verantwortlich, die sich auch sonst mit Dynamik in der Gruppierung einbrachten. Über die bereits mehrfach konstatierte Personen- und Ressortabhängigkeit der „Netzwerk“-Aktivitäten hinaus verdeutlichte sich am Beispiel der Dialoggruppen jedoch auch symbolisch die geringe gesellschaftliche Verwurzelung der jungen Parteieliten. Sicher, Kontakte zu Verbänden im Jugend- oder Kirchenbereich zu pflegen oder Verbindungen zum Gewerkschaftslager instand zu halten, war im Sinnes eines klassischen Netzwerks in politischen Vorfeldorganisationen lange integraler Bestandteil von Parteien und der Sozialdemokratie insbesondere gewesen. Aus diesem Blickwinkel waren die Bemühungen des „Netzwerks“ nahezu banal. Doch dass die Gruppierung überhaupt von sich aus den Dialog, wie sie es nannte, mit gesellschaftlichen Interessenvertretern anvisierte, ja, organisiert anstreben musste, gab Hinweise auf die geschwundene gesellschaftliche Integration dieser Parteigeneration. Sie waren, wie ihre Berufsverläufe dokumentierten, zum größten Teil nicht als Vertreter eines Verbands in das Parlament
611
Vgl. grundsätzlich zu den Dialoggruppen und den Regionalforen sowie deren Zusammenhang mit dem Programmbeitrag des „Netzwerks“: „Netzwerk Berlin“: Programmatische Erneuerung der SPD voranbringen, Presseerklärung, Berlin, 13.02.2004. 612 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Grundsatzprogrammimpuls, Berlin 2004, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 613 Vgl. beispielsweise Interview Neumeyer, S. 2. 614 Vgl. „Netzwerk Berlin”: Programmdialog mit gesellschaftlichen Gruppen, Dokument im Archiv der „Netzwerk”-Geschäftsstelle. 616 Vgl. Interview Heil, S. 23. 617 Vgl. Interview Neumeyer, S. 2.
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gekommen, sondern schlichtweg als Berufspolitiker.618 Offenbar spürten „Netzwerker“ daher die Notwendigkeit, gesellschaftliche Kontakte gezielt anzubahnen, zu intensivieren und zu erweitern, um zum einen gesellschaftliche Bedürfnisse erkennen zu können621, und zum anderen, um für die eigenen (Partei)Interessen im Sinne ihres Programmimpulses zu werben. Wie bei den Dialogforen so setzte das „Netzwerk“ auch bei den so genannten Regionalforen, welche das „Netzwerk“ im Anschluss an sein Impulse-Papier organisierte und die als strategischer Schritt innerhalb der Programmdebatte interpretiert werden müssen, auf das am Dialog orientierte Gespräch. Waren die Dialoggruppen eher auf Ideentransfer und Kontaktsuche außerhalb der SPD gerichtet, so zielten die Regionalforen mehr auf die Partei selbst. Mit diesen sollten über das Jahr 2004 verteilt sowohl die Programmideen des „Netzwerks“ verbreitet als auch die Kontakte zu den Landesverbänden ausgebaut werden.622 Das Bundesgebiet wurde zu diesem Zweck in vier Regionen aufgeteilt, in denen über mehrere Monate hinweg jeweils eine Konferenz stattfand: Region Süd (Bayern, Baden-Württemberg), Regionen West (Nordrhein-Westfalen. Saarland, Rheinland-Pfalz, Hessen), Region Nord (Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Bremen, Hamburg) und Region Ost (Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Berlin).623 Das Ergebnis dieser Anstrengungen schließlich floss im Februar 2005 in den zusammen mit der BöcklerStiftung veranstalteten Kongress „SPD bis 2020“ ein. Für das „Netzwerk“ bedeuteten die um den Programmbeitrag kreisenden Regionalkonferenzen zum einen einen Schritt in Richtung der inhaltlichen Vertiefung seiner Arbeit. Zum anderen dokumentierten die Zusammenkünfte, wie sehr sich das „Netzwerk“ um eine Erweiterung auf die parteiliche Landesebene bemühte. Seinem Diskursverständnis entsprechend griff das „Netzwerk“ dabei auf die innerhalb der Gruppierung vielfach praktizierte Form der Podiumsdiskussion mit Zuschauerbeteiligung zurück. Auf diese Weise sollte mittels der Konferenzen ein bundesweites Diskussionsnetzwerk mit für alle offener Beteiligung gesponnen werden.625 Nichtsdestotrotz demonstrierten die Regionalforen ebenso 618 Vgl. zur These, die klassische Ochsentour verliere an Bedeutung, Scheuch, Erwin K./Scheuch, Ute: Bürokraten in den Chefetagen. Deutsche Karrieren: Spitzenmanager und Politiker heute, Hamburg 1995, S. 121 f. 621 Vgl. zur Bedeutung und Wandel gesellschaftlicher Verwurzelung von Parlamentariern Patzelt, Werner/Algasinger, Karin: Abgehobene Abgeordnete? Die gesellschaftliche Vernetzung der deutschen Volksvertreter, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3 (2001), S. 503-527, besonders S. 505 ff. 622 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Arbeitsplanung 2004, Berlin, Dezember 2003, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 623 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Regionale Programmforen im Vorfeld der Jahrestagung, Berlin, 08.03.2004, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 625 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Arbeitsplanung 2004, Berlin Dezember 2003, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle.
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wie die Dialoggruppen, wie sehr das „Netzwerk“ ein – parteiinternes – Elitenphänomen war. Denn der in der Münstereifel-Klausur ersonnene ProgrammImpuls sollte mittels der Regionalforen von „oben“ nach „unten“, aus den Führungsebenen der Partei an die Basis vermittelt werden. Die Interessenaggregation hatte weniger ausgehend von den Sorgen und Nöten unterer Parteigliederungen stattgefunden, sondern war durch Expertenrat für führende „Netzwerker“ entstanden. 6.3.4 Die Basis der Partei aktivieren – Wirkaempfen.de Die Neuwahlankündigung der SPD-geführten Bundesregierung um Gerhard Schröder im Mai 2005 traf angesichts der beklemmenden Erschütterung ob der sozialdemokratischen Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen sicherlich nicht nur die Partei insgesamt, sondern auch das „Netzwerk“ unerwartet. Nichtsdestotrotz versuchte eine kleine Gruppe um Heil, Hauer und Gabriel bereits im Juni, Einfluss auf den Verlauf des Wahlkampfs zu nehmen. Ihre Motivation über das übliche Ausmaß hinaus hatte mehrerlei Ursachen. Zum einen hatten sie den Eindruck gewonnen, dass die im Willy-Brandt-Haus unternommenen Bemühungen, eine vermeintlich aussichtlose Wahlkampfsituation doch noch für die Sozialdemokratie zu entscheiden, nicht ausreichen würden.626 In diesem Sinne hatte das „Netzwerk“ bereits den Wahlkampf 2002 kritisiert, der nicht wegen der Wahlkampfführung der „Kampa“ knapp zugunsten der SPD habe entschieden werden können, sondern trotz dieser.627 Zum anderen stand hinter der beschriebenen Kritik die Beobachtung des „Netzwerks“, dass viele Mitglieder und Funktionsträger der Partei demoralisiert und orientierungslos seien, ohne die Überzeugung, siegen zu können, und ohne das Wissen, wozu sie dies tun sollten. Auch diese Sichtweise war nicht herkunftslos. So hatte Siegmar Gabriel bereits in Zusammenhang mit dem Programmbetrag der Gruppierung im Herbst 2003 davon gesprochen, die SPD käme daher wie Novemberstimmung, grau und trübsinnig.628 Die Partei, so die Stoßrichtung der Initiatoren von wirkaempfen.de, solle mit Stolz auf das in den letzten Jahren Erreichte – und damit auch die umstrittene Agenda-2010-Politik – in die Auseinandersetzung gehen, mit Selbstbewusstsein auf die eigene Politik
626
Vgl. beispielsweise Koch, Matthias: Leise formiert sich eine neue, jüngere SPD, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 29.07.2005. 627 Vgl. zur Kritik Bartels, Hans-Peter/Heil, Hubertus/Roth, Michael/Schneider, Carsten/Schönfeld, Karsten: Mut zum Regieren. Anmerkungen zur Lage und Vorschläge für die weitere Arbeit der SPD, in: Schleswig-Holsteinische Landeszeitung, 01.03.1999. 628 Vgl o. V.: Netzwerker gegen Novemberstimmung, in: Neue Westfälische Zeitung, 08.11.2003..
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verweisen. Die Betreiber wollten somit eine „Kampa von unten“629 ins Leben rufen. Schließlich gab es noch einen dritten, generationell bedingten Beweggrund für den Einsatz der „Netzwerker“: Die Partei, die sie nun so haltlos in den Wahlkampf strudeln sahen, beabsichtigten sie selber in möglichst naher Zukunft mit zu führen – auch aus diesem Grund wollten sie denkbar positiv abschneiden. Den allermeisten „Netzwerkern“ war durchaus bewusst, dass die Bundestagswahl 2005 sehr wahrscheinlich den innerparteilichen Generationenumbruch bewirken würde und das Wahlergebnis von den Jüngeren geschultert werden müsste.631 Die Sorge um den Zustand der Partei verband sich daher mit dem egoistischen Interesse am eigenen Karriereverlauf. So verfassten zunächst in der Nacht vom 10. zum 11. Juni 2005 mehrere SPD-Politiker von der kommunalen bis zur Bundesebene einen gemeinsamen Aufruf zum Wahlkampf – mehrere Wochen, bevor das offizielle Wahlkampfmanifest der SPD beschlossen werden sollte.632 Rasch entstand die Idee, eine Wahlkampagne jenseits der parteioffizellen „Kampa“ sowie eine auf die „Basis“ der Partei gerichtete Initiative zu verfolgen. Der „Netzwerk“-Geschäftsführer Neumeyer wurde informiert, in seinem heimischen Drei-Quadradmeter-Büro am Internetauftritt gebastelt.633 Bereits am Abend des 11. Juni konnte wirkaempfen.de online gehen. Zu den Erstunterzeichnern gehörten unter anderem die hessische „Netzwerk“-Abgeordnete Nina Hauer, aus Niedersachsen Sigmar Gabriel und Hubertus Heil, der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck, die Staatssekretäre Christoph Matschie und Ute Vogt, zugleich Landesvorsitzende in Thüringen beziehungsweise Baden-Württemberg, der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Arbeit und Wirtschaft Rainer Wend sowie der Chef der Sozialisten-Fraktion im Europaparlament, Martin Schulz – im Grunde also hatte das „Netzwerk“ zunächst seine Parteiprominenz aktiviert.634 Augenfällig waren an der Kampagne mehrere Aspekte. Zunächst wies wirkaempfen.de zwar eine deutliche Nähe zum „Netzwerk“ auf, in Form von personellen Überschneidungen, Inhalten und Form. Nichtsdestotrotz vernetzte die Wahlkampagne im Wortsinne weitaus mehr Sozialdemokraten als lediglich „Netzwerker“. So hatten sich die Initiatoren beispielweise und mit Erfolg um den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck als einen der Erstunter629
Soldt, Rüdiger: Kampa von unten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.2005. Vgl. zur These des Generationenbruchs auch Hoidn-Borchers, Andreas/Wolf-Doettinchem, Lorenz: Die Trümmerfrau, in: Der Stern, 25 (2005). 632 Vgl. zu den Ereignissen Neumeyer, Jürgen: Mein Nachtleben als wirkaempfer.de, in: Berliner Republik 4 (2005), S. 94-95. 633 Vgl. ebd., S. 94. 634 Vgl. zu den Namen Seim, Thomas: Die neuen SPD-Enkel, in: Der Tagesspiegel, 21.06.2005. 631
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
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zeichner bemüht.635 Zudem rief der Seeheimer Kreis zur Unterstützung von wirkaempfen.de auf636, und auch der ehemalige Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig unterstützte die Kampagne.637 Wirkaempfen.de kann daher als der Versuch angesehen werden, das „Netzwerk“ „der Partei zur Verfügung“638 zu stellen, wie Heil sich ausdrückte. Auffällig war jedoch, dass die Kooperation mit der Parteilinken nicht gelang: Weder Andrea Nahles, die kurz vor der Initiierung von wirkaempfen.de ein Treffen mit Sigmar Gabriel wegen der vorausgegangenen Presseberichterstattung hatte platzen lassen639, noch der damalige JusoBundesvorsitzende Björn Böhning waren eingebunden worden.640 Daneben fiel ins Auge, dass die Kampagne ganz praktische, handfeste Anregungen zu Wahlwerbeaktionen in den unteren Ebenen der Partei vor Ort bereithielt und sich bemühte, sie anzubahnen.641 So konnten auf der Internetplattform wirkaempfen.de beispielsweise verschiedene Argumentationsstaffeln von Oberthemen wie „Worauf wir stolz sind“ oder „Wofür wir kämpfen“ eingesehen und heruntergeladen werden. Wirkaempfen.de verstand sich somit als auf pragmatische Umsetzbarkeit zielende „Nachrichten-, Motivations- und Ideenbörse“642, auf deren Grundidee auch das „Netzwerk“ basierte. Wie stark die argumentative Unterstützung auch in höheren Gliederungen der Partei angenommen wurde, zeigte die so genannte „Hassprediger“-Episode. Der brandenburgische SPD-Landesgeschäftsführer Klaus Ness hatte im Wahlkampf Positionspapiere verteilen lassen, in denen der für die Linkspartei.PDS streitende Oskar Lafontaine als „Hassprediger“ bezeichne wurde.643 Nach heftiger Kritik stellte sich heraus, dass Ness bei seinen Formulierungen auf die Argumentationshilfen von wirkaempfen.de zurück gegriffen hatte – dort war Lafontaine als „Hassprediger“ tituliert worden.644 So zeigte die Episode um Ness exemplarisch die Aporien offenen und breiten Beteiligungsstrukturen, nach denen wirkaempfen.de konzi635
Vgl. Eubel, Cordula: Mit links geschrieben, in: Der Tagesspiegel, 27.06.2005. Vgl. Die Seeheimer in der SPD: Wir kämpfen!, Mitteilung an die Presse, Berlin, 17.06.2005. 637 Vgl. o. V.: Kanzler Schröder akzeptiert neue Millionärssteuer im SPD-Wahlprogramm, in: Die Welt, 25.06.2005. 638 Interview Heil, S. 24. 639 Vgl. Hoidn-Borchers, Andreas/Wolf-Doettinchem, Lorenz: Die Trümmerfrau, in: Der Stern, 25 (2005). 640 Vgl. Jansen, Klaus: SPD-Nachwuchs kampfbereit, in: Die Tageszeitung, 14.06.2005. 641 Vgl. hierzu und dem Folgenden: Neumeyer, Jürgen/Schuster, Christian/Menna, Verena: wirkaempfen.de: Werdegang einer Initiative, Berlin, 30.08.2005; siehe ebenso „Netzwerk Berlin“: Tatkraft 2005. Wie wir die Bundestagswahl gewinnen. Handreichung zur Wahlkampforganisation, Berlin 2005, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 20.02.2009). 642 Neumeyer, Jürgen/Schuster, Christian/Menna, Verena: wirkaempfen.de: Werdegang einer Initiative, Berlin, 30.08.2005. 643 Vgl. Wendler, Markus: Vorwärts im Netz, in: politik-digital.de, 28.07.2005. 644 Vgl. Hartung, Klaus: Oskars Spiel, in: Die Zeit, 21.07.2005. 636
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piert worden war. Im Grunde konnte jeder, der interessiert und gewillt war, seine Vorschläge zur Wahlkampfargumentation oder Veranstaltungen über die Internetplattform verbreiten. Die Kontrolle über den Inhalt der Vorschläge oblag lediglich einem kleinen ehrenamtlichen Team rund um den „Netzwerk“Geschäftsführer Neumeyer.645 Explizit versuchte die Kampagne so, auch parteilose Unterstützer einzubinden und im Sinne der SPD zu aktivieren. Nun war eine solche partizipative Struktur prinzipielles Merkmal jeglicher Internetkampagnen.646 Doch im Falle von wirkaempfen.de wurde auf diese Weise die Tradition der „netzwerkschen“ politischen Kultur fortgesetzt der hierarchie- und barrierefreie Beteiligung möglichst vieler Personen auch jenseits der Parteigrenzen. Über die genannten Beobachtungen hinaus war die Fokussierung von wirkaempfen.de auf eine Homepage bemerkenswert, denn die von einem zentralen Kampagnenbüro unter Anleitung Neumeyers betriebene Website war im Grunde Fluchtpunkt der gesamten Initiative. So orientierte sich die Initiative an der US-amerikanischen, bürgerorientierten Kampagne „moveon.org“, welche dort erfolgreich betrieben wurde.647 Darüber hinaus aber bedeutete sie auch eine Parallele zur eigenen „Netzwerk“-Homepage, mit der das „Netzwerk“ bereits seit Jahren versuchte, eine „elektronische Gemeinschaft“648 herzustellen. Dieses Prinzip nutzte die Gruppierung nun für die parteiweite Kampagne wirkaempfen.de, um auch dort eine wahlkampfwirksame Gruppenidentität zu generieren. 6.4 Posten und Karrieren: Das „Netzwerk“ in Regierung, Partei und Fraktion Das „Netzwerk“ wurde von Außenstehenden und von der medialen Berichterstattung des Öfteren als „Karrieristen-Verein“649 tituliert. Sein pragmatischer Politikstil und das Stützen des Schröderschen Regierungskurses auch während der umstrittenen, als neoliberalem Schwenk kritisierten Phasen der rot-grünen Bundesregierung 1998 bis 2005 beispielsweise im Rahmen der Agenda-2010-
645
Vgl. Mara, Michael/Meisner, Matthias: Zu frech zu Oskar: SPD übt Selbstkritik, in: Der Tagesspiegel, 19.07.2005. 646 Vgl. Lutz, Karin: Medienwahlkampf: Vom TV-Duell zum Internet?, in: medienhandbuch.de, 04.08.2005. 647 Vgl. Horst, Andreas: Schröder und Merkel können Millionen Wähler erstmals übers Internet mobilisieren, in: web.de, 17.08.2005. 648 Soldt, Rüdiger: Kampa von unten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.2005. 649 Ehrlich, Peter: Kolumne: Die Generation nach Schröder, in: Financial Times Deutschland, 12.11.2003.
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
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Politik galt Vielen als Ausweis einer berechnenden Karrierepolitik.650 Ein Blick auf die tatsächlich erworbenen Ämter und Positionen von „Netzwerkern“ lohnt in dieser Hinsicht aus mehreren Gründen. Zunächst ist vorab zu bemerken, dass es sowohl aus machtstrategischer aber auch aus normativer Sicht nicht als verwerflich angesehen werden muss, sich zum Zwecke des politischen Machterwerbs innerhalb einer Gruppierung zusammenzuschließen.651 Parteien sind in diesem Sinne generell gekennzeichnet durch innere Fraktionierungen, die sich entlang bestimmter Interessen bilden und mittels politischer Einflusserlangung bestimmte – inhaltliche – Ziele durchzusetzen trachten. Paradox ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass das „Netzwerk“ stets, um es salopp auszudrücken, unter einem machtpolitischen Minderwertigkeitskomplex litt. Innerhalb der Gruppierung war die Wahrnehmung – mindestens bis zur Bundestagswahl 2005 und damit innerhalb des hier vornehmlich relevanten Zeitraums – die, dass sie selbst zu wenig einflussreiche Ämter besetzten und sich im innerparteilichen Machtkampf zu wenig durchsetzen konnten. 652 Die Diskrepanz zwischen interner und externer Perspektive war offensichtlich und bedarf einer Klärung. Darüber hinaus jedoch kann mittels einer Betrachtung der von „Netzwerkern“ tatsächlich eingenommen Ämter versucht werden, auf das Einflusspotenzial und Aufstiegsmechanismen und somit mittelbar den politischen Stil des „Netzwerks“ zu schließen. Hierzu wurden mittels der Positionsmethode jene Ämter ausgemacht, die „Netzwerker“ im Untersuchungszeitraum – Gründung Januar 1999 bis September 2005, in einem Nachtrag bis September 2008 – einnahmen oder auch wieder abgeben mussten.654 In diesem Fall erwies es sich als sinnvoll, den Zeitraum über den eigentlichen Untersuchungsrahmen bis September 2008 auszudehnen, da viele „Netzwerker“ nach der Bundestagswahl 2005 und der sich anschließenden Legislaturperiode einen Karrieresprung durchliefen. Dabei erfolgte jedoch eine Beschränkung auf die Ebenen der Bundesregierung, der Vorstände und Präsidien von Bundes- und Landesparteien sowie die Fraktionsführung auf Bundes- und Landesebene.655 Der Personenkreis wurde auf die Gruppe der „Netzwerk“-MdBs eingeengt, da nur bei diesen von einer offiziellen Mitgliedschaft in der Gruppierung gesprochen werden kann. Unten stehende Tabelle 3 gibt einen Überblick über die im beschriebenen Zeitraum von „Netzwerkern“ erworbenen Ämter.
650
Vgl. Meyer, 2007, in Egle/Zohlnhöfer, 2007, S. 93. Vgl. Köllner/Basedau: Faktionalismus in politischen Parteien: Eine Einführung, 2006, S. 13 f. und S. 20. 652 Interview Bartels, S. 5. 654 Vgl. zur Methode beispielhaft Müller-Rommel, 1982, S. 210. 655 Vgl. zur Auswahl der Führungspositionen auch Ismayr, 2000. 651
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In der rückblickenden Betrachtung waren mehrere Aspekte bezüglich der Ämterverteilung von „Netzwerkern“ beachtlich. Zunächst ist zu bemerken, dass einige „Netzwerker“ aus den erworbenen Positionen recht rasch wieder ausschieden. So war beispielsweise Nina Hauer gerade einmal zwei Jahre Parlamentarische Geschäftsführerin.656 Diese Tatsache kann als Hinweis darauf gedeutet werden, wie wenig das „Netzwerk“ von sich aus in der Lage war – selbstverständlich auch aufgrund der geringen Mitgliederzahlen – eine eigene Mehrheit zu organisieren oder bei SK oder PL Verbündete für eigene personalpolitische Vorschläge zu gewinnen. Weder Fraktion noch Partei waren offenbar bereit oder fähig, eine dritte innerparteiliche Strömung zu akzeptieren. Diese These wird durch Beobachtungen untermauert, die sich aus dem zeitlichen Verlauf, in dem „Netzwerker“ Ämter erlangten, ergeben. Als Umbruchsund Krisenjahr kann das Jahr 2004 ausgemacht werden, in dem das „Netzwerk“ personalpolitisch einige Rückschläge einzustecken hatte: Nina Hauer unterlag bei der Wiederwahl zur Parlamentarischen Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion, Hubertus Heil und Sebastian Edathy mussten ihre Plätze im erweiterten Fraktionsvorstand räumen.657 Kurz zuvor war Hans-Peter Bartels mit seiner Kandidatur zum Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im Bundestag gescheitert. Wenn auch in den einzelnen Fällen individuelle Argumente eine Rolle spielten, so deutet die zeitliche Koinzidenz doch auf tiefer liegende Gründe hin: Circa ein Jahr vor den Niederlagen von Hauer, Heil und Edathy hatte das „Netzwerk“ seinen Programmbeitrag präsentiert. Während der SK viele der vom „Netzwerk“ genannten Ideen tolerierte oder unterstützte, hatte der inhaltliche Vorstoß vor allem große Teile der PL verärgert, was sich in den anstehenden Personalentscheidungen niederschlug. Mit der Unterstützung des SK konnte das „Netzwerk“ jedoch auch nicht rechnen, da es kurz zuvor ein vom SK unterbreitetes Fusionsangebot abgelehnt hatte.658 So stand das „Netzwerk“ mit seinen personalpolitischen Zielen allein. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der zwischen „Netzwerkern“ und SK auf dem Bundesparteitag im Herbst 2007 geschlossene Pakt zur Zusammenarbeit als eine Kapitulation vor der innerparteilichen Machtverteilung deuten. Wie das Jahr 2004 als Krisenjahr des „Netzwerks“ bezeichnet werden kann, so kann das Jahr 2005 in personalpolitischer Hinsicht positiv bewertet werden. Nach der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 stiegen einige „Netzwerker“ vor allem innerhalb der Bundesregierung sowie der Fraktion auf: Sigmar Gabriel avancierte zum Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit; 656
Vgl. Wiesmann, Gerrit: SPD-Flügel ringen um Macht in der Fraktion, in: Financial Times Deutschland, 24.11.2004. 657 Vgl. o. V.: Schlappe für Junge in der SPD, in: Der Tagesspiegel, 24.11.2004. 658 Vgl. Interview Hauer, S. 11; siehe auch Interview Heil, S. 50.
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Astrid Klug wechselte als Staatssekretärin in sein Ministerium; Sabine Bätzing wurde als Drogenbeauftragte der Bundesregierung berufen; Sebastian Edathy führte den Bundestagsausschuss für Inneres; und nicht zuletzt stellte das „Netzwerk“ von nun an insgesamt fünf Arbeitsgruppensprecher innerhalb der SPDFraktion. Darüber hinaus wurde mit Hubertus Heil ein „Netzwerker“ im Zuge der Turbulenzen um den Rücktritt Franz Münteferings vom Parteivorsitz Generalsekretär. Von der für die Partei insgesamt eher betrüblichen Lage, sich als Juniorpartner in eine große Koalition mit der CDU/CSU begeben zu müssen, profitierte das „Netzwerk“ also unübersehbar, da mit dem Regierungswechsel auch ein innerparteilicher Generationswandel einher ging. Nun kann mit einigem Recht argumentiert werden, dass es nicht weiter verwunderlich war, dass „Netzwerker“ im Zuge einer sozialdemokratischen Verjüngung nach vorne rückten. Immerhin war ein Merkmal der Gruppierung ja, dass sie eben gerade in vorwiegender Anzahl jüngere Politiker der Jahrgänge 1950 folgende vereinte. Überdies, so könnte eingewandt werden, fand ein Großteil der Personalrochaden in nach außen wenig sichtbaren Ämtern statt. Und schlussendlich könnte entgegnet werden, dass sich die Mehrheit der Personalerfolge auf den Bereich der Regierung beziehungsweise Fraktion bezog, lediglich mit Hubertus Heil ein Vorstoß in die Parteispitze gelang – und dies auch fast eher zufällig. Subsumierend könnte daher geschlussfolgert werden, dass 2005 denn nun doch nicht der personalpolitische Durchbruch des „Netzwerks“ war. In der Tat sind all die genannten Relativierungen nicht von der Hand zu weisen. Dennoch kann 2005 insofern als positives Wendejahr im Sinne des „Netzwerks“ gedeutet werden, als dass im Gegensatz zu Entwicklungen der vorherigen Jahre die errungenen Ämter zumindest beibehalten wurden, es sich um einen dauerhafteren politischen Erfolg zu handeln scheint. Dagegen hatten die bis zur Bundestagswahl 2005 errungenen Erfolge und oft auch die Niederlagen in Zusammenhang mit dem Förderungswillen der Vorgängergeneration der 68er und der Regierungs-„Enkel“ standen.662 Es bestand eine Abhängigkeit des „Netzwerks“ von der Vorgängergeneration, die häufig übergeordnete Ämter und Entscheidungsgewalt über Karriereverläufe besaß. Wollten „Netzwerker“ ihre politische Karriere weiter ausbauen, konnten sie nur begrenzt den Konflikt wagen. Allerdings: Sie wollten es zumeist auch nicht, denn der politische Stil des „Netzwerks“ war auf Kooperation, nicht auf inszenierten Konflikt angelegt. Dabei war die Förderung durch die Parteispitze zwar kurzfristig Erfolg versprechend, langfristig aber nicht von Dauer. „Netzwerkern“ gelang es nur schwer, sich von der Abhängigkeit der 68er „freizuschwimmen“. Besonders die Karrieren von Ute Vogt und Christoph Matschie symbolisieren diesen Um662
Vgl. Interview Bartels, S. 5.
6. Genese und Organisation des „Netzwerks“
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stand.665 Beide galten mit ihrem je eigenen Profil als hoffnungsvolle Talente, konnten in ihren Ländern zunächst den Parteivorsitz, dann die Spitzenkandidatur zum Ministerpräsidentenamt erlangen. Quasi als Belohnung wurden sie auf Ebene der Bundesregierung ins Amt des Staatssekretärs befördert. Doch erwies sich dieser Schritt für beide als machtpolitische Domestizierung, durch die sie kaum eigenes Profil und wenig eigenen Handlungs- und Entscheidungsspielraum entwickeln konnten. Beide kehrten nach drei beziehungsweise zwei Jahren in ihr Bundesland zurück. Die Beispiele von Vogt und Matschie dokumentieren so den mangelnden Konfliktwillen vieler „Netzwerker“ sowie die Ambivalenz gezielter Nachwuchsförderung. 6.5 Zwischenfazit Aus den vorausgehenden Ausführungen ergeben sich mehrere Merkmale der Gruppierung, die sie in der vertikalen Dimension von der Vorgängergeneration oder in horizontaler Dimension von den beiden anderen Parteiflügeln SK und PL unterscheiden. Zunächst konnte ein Bündel von Gründungsmotiven ausgemacht werden. So war zur Initiierung des „Netzwerks“ 1999 die Diskrepanz zwischen dem fast noch jugendlichen Elan einiger 1998 neu in den Bundestag gewählter Abgeordneter einerseits sowie den als starr und überholt empfundenen Strukturen der SPD-Bundestagsfraktion andererseits ausschlaggebend. Dabei bezog sich die Frustration der Neuparlamentarier in inhaltlicher Hinsicht auf thematisch uninteressante oder gänzlich fehlende Debatten. Hier verknüpfte sich die Kritik mit dem mehrheitlich als missglückt empfundenen Start der rot-grünen Regierung: Entgegen der vorherigen Annahmen der jungen MdBs konnte die Vorgängergeneration keine fertigen Lösungsvorschläge und Gesetzesentwürfe vorweisen. Auf diskursiver Ebene bemängelten die Neu-Parlamentarier die aus ihrer Sicht hierarchischen und oft Angst besetzten Diskussionen. Schlussendlich enthielt die Gründung einer eigenen Gruppe aber auch eine Machtperspektive, da die frisch gewählten Abgeordneten in den etablierten Flügeln für sich zu wenige Gestaltungsmöglichkeiten sahen. Aus dieser Unzufriedenheit mit der SPDBundestagsfraktion heraus entstand die Idee, eine eigene Gruppierung zu gründen. Als multiplizierender Faktor kann dabei zum einen die bereits seit 1994 existierende „Junge Gruppe“ angesehen werden, zum anderen wirkte die gemeinsame undogmatische Juso-Vergangenheit vieler Gründungsmitglieder dynamisierend. Diese Herkunft aus der undogmatischen Juso-Strömung der ausgehenden 1980er- und beginnenden 1990er-Jahre war ein zentrales Motiv für die Mitglied665
Vgl. Kapitel 7.2.8 und 7.2.9.
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schaft im „Netzwerk“, das insbesondere für die ersten Jahre der Gruppierung Weg weisend war. Es wich im Laufe der Jahre mehr und mehr anderen, auf die politische Kultur und die Funktionen des „Netzwerks“ zielenden Beweggründen der Neumitglieder. Auffällig war dabei, dass die Anziehungskraft des „Netzwerks“ für Neumitglieder in der Regel eher in Zusammenhang stand mit der Art und Weise, wie Inhalte diskutiert und erarbeitet wurden, als mit den vertretenen Positionen an sich: Die auf Pragmatismus, egalitäre Partizipation, Offenheit sowie Kooperation und gegenseitiges Vertrauen zielende politische Kultur waren entscheidend für den Beitritt von neu Hinzustoßenden sowie die Zufriedenheit der Mitglieder. Als ein weiteres Mitgliedsmotiv konnte das „Neusein“ im Bundestag ausgemacht werden. Viele „Netzwerker“ argumentierten, von allen Gruppierungen habe ihnen das „Netzwerk“ die größte Hilfe zur Orientierung im neuen Arbeitsumfeld geboten – sowohl in professioneller als auch in privater Hinsicht. Diese Unterstützung bei beruflichen und organisatorischen aber auch privaten Fragen war für die Mitglieder eine wichtige Funktion des „Netzwerks“. Daneben besaß das „Netzwerk“ für seine Mitglieder vor allem eine Informationsund Bildungsfunktion. Durch diverse Diskussions- und Informationsveranstaltungen in verschiedensten Formen und mit zum Teil ausgewiesenen Experten versuchte das „Netzwerk“, seinen Mitgliedern Gelegenheiten zur Wissensanreicherung zur Verfügung zu stellen. Die Vernetzung über den parlamentarischen und den engeren politischen Bereich hinaus sowie der Einbezug von Wissenschaft, Verwaltung, Medien und Wirtschaft sind zwei der Komponenten, welche die organisatorischen Besonderheiten der Gruppierung ausmachten. Im Sinne eines erweiterten Politikbegriffs, der nicht ausschließlich gewählte Inhaber von Ämtern umfasste, galten für alle Interessierten die Maximen der größtmöglichen Offenheit und gleichberechtigten Partizipation. Damit einher gingen lange Zeit flache Führungsstrukturen, die erst mit der Etablierung des Sprecherkreises innerhalb der MdB-Gruppierung 2002 einer jedoch nur beschränkten Hierarchisierung wichen. Doch deutete die Offenheit gegenüber Vertretern aus angrenzenden Politikbereichen wie Wissenschaft, Wirtschaft, Medien und Verbänden nicht nur auf einen erweiterten, partizipativen Politikbegriff hin, sondern sie zeigte auch das Bedürfnis nach Expertenrat des „Netzwerks“. Als Gründe für diese Entwicklung wurden unter anderem das recht junge Alter sowie die berufliche Unerfahrenheit der MdBs ausgemacht. Während die beteiligungsorientierte Offenheit und die egalitären Strukturen sowohl eine vertikale generationelle Differenz gegenüber der Mentalität der 68er als auch einen horizontalen Unterschied zur Organisation von SK und PL markierten, bedeutete die verstärkte Suche nach Expertenrat den generationellen Ausdruck einer sich beschleunigenden Wissensgesellschaft und eine Antwort auf
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155
das im Vergleich zur Vorgängergeneration nach und nach gewandelte Anforderungsprofil von Politikern. Damit zusammen hängt auch die selbstverständliche Nutzung der Kommunikationsoptionen des Internets als einer technischen Neuerung, die der vorhergehenden Generation der 68er noch nicht zur Verfügung stand oder doch zumindest nicht selbstverständlich war. In Zusammenhang mit der Nutzung des Internets durch das „Netzwerk“ wurde auf die Spannung zwischen Exklusion und Inklusion als einem Merkmal der gruppeneigenen politischen Kultur aufmerksam gemacht. Durch seine Massenwirkung und seine schnellen Reaktionsmöglichkeiten bot das Internet beispielsweise in Form von wirkaempfen.de eine Option, um dem obersten diskursiv-kulturellen Prinzip des „Netzwerks“, der grundsätzlichen Offenheit und Beteiligungsorientierung zu Gute zu kommen. In diesem Zusammenhang suchte das „Netzwerk“ durch verschiedene, nur mittels spezieller Kennung zugängliche Räume seiner Homepages einerseits zwar eine Gruppenidentität und damit Inklusion herzustellen. Allerdings traf es auf diese Weise im selben Zug eine Unterscheidung zwischen „Insidern“ und „Outsidern“ und schloss bestimmte Personen aus. Auf dieselbe Weise konnten Aufnahmegesuche von Interessierten Parlamentariern in die MdB-Runde an individuell-persönlichen Befindlichkeiten einzelner „Netzwerker“ scheitern. Des Weiteren war die politische Kultur des „Netzwerks“ durch das Spannungspaar von Öffentlichkeit und Privatheit gekennzeichnet. Das „Netzwerk“ richtete seine Veranstaltungen an ein breites Publikum, dennoch waren „Netzwerker“ bestrebt, private Daten und Eindrücke vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Salopp könnte gesagt werden, das „Netzwerk“ habe versucht, die Politik aus den Hinterzimmern herauszuholen und im Gegenzug das Privatleben dorthin zu verbannen. Auch dies machte eine generationelle Differenz zur Generation der 68er aus. Darüber hinaus aber besaß Privatheit eine besondere Bedeutung innerhalb des „Netzwerks“. Das informelle soziale Beisammensein, das Feiern und Singen, der Austausch beim Feierabendbier können als identitätsbildende Besonderheit, womöglich auch im Vergleich mit PL, SK und der sozialdemokratischen 68er-Generation angesehen werden. In jedem Fall schuf das informelle Beisammensein eine Basis der Zusammenarbeit, welche „Netzwerker“ bei SK und PL vermisst hatten. Damit einher ging ein weiteres wichtiges Merkmal der gruppeneigenen politischen Kultur: „Netzwerker“ versuchten nach Möglichkeit, Entscheidungen im Konsens und mit Rücksicht auf individuelle Interessen zu fällen. Diese Strategie stand im Widerspruch zur durch die „Enkel“ und 68er verfolgten Methode des inszenierten und medial transportierten Konflikts, der gerade nicht auf persönliche Bedürfnisse Rücksicht nahm und den das „Netzwerk“ in der – alten – Parteilinken weiterhin lebendig sah.
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C. Untersuchungsteil
Es bleibt einerseits zu resümieren, wie sich die organisatorische Verfasstheit des „Netzwerks“ auf die Gesamtentwicklung der Partei und ihrer Flügel auswirkte, andererseits gilt es, die „Netzwerk“-Organisation sowie die Maximen seiner politischen Kultur zu beurteilen. Die Existenz des „Netzwerks“ rief zunächst reflexartige Abwehrmechanismen der bisherigen Flügel SK und PL hervor, wobei besonders die PL sich das Argument zu eigen machte, „Netzwerker“ seien inhaltslose Ehrgeizlinge. Verwundern kann eine solche Reaktion im Grunde nicht, da die Gründung der neuen Strömung in dezidierter Abkehr von den organisatorischen Prinzipien, der politischen Kultur sowie den Debatteninhalten der bisherigen Flügel erfolgt war. In Kombination mit der quantitativen Unterlegenheit scheiterte das „Netzwerk“ so auch des Öfteren mit seinen personalpolitischen Vorstellungen, indem es einem Bündnis aus PL und SK beispielsweise auf Ebene der Bundestagsfraktion unterlag. Langfristig aber hatte die Existenz des „Netzwerks“ in organisatorischer Hinsicht durchaus Folgen für SK und PL, die nach und nach Organisationsformen der Gruppierung kopierten und die eigene, personelle Verjüngung anstrebten. So bildeten auch die Seeheimer eine kooperative Führung durch ein jüngeres Sprecherteam und versuchten mehr Beteiligungs- und Informationsmöglichkeiten beispielsweise durch so genannte Dialogveranstaltungen zu erreichen. Auch die PL strebte eine Verjüngung an und gründete mit der „Denkfabrik“ ein vornehmlich an ein jüngeres Publikum gerichtetes Veranstaltungs- und Diskussionsforum.667 Beide Flügel versuchten dem Transparenzanspruch durch eine Homepage-Gestaltung mit entsprechenden Informationsangeboten nachzukommen. Mit dieser organisatorischen Entwicklung nahmen PL und SK dem „Netzwerk“ zugleich zumindest partiell das Merkmal der Exklusivität. In diesem Zusammenhang ist auch der 2007 zwischen SK und „Netzwerk“ geschlossene Pakt zu sehen, da er zum einen deutlich macht, wie die Grenzen zwischen diesen beiden Gruppierungen im Laufe der Jahre verwischten, und sich hieran zum anderen zeigte, dass sich der durch die Gründung des „Netzwerks“ symbolisierte politisch-kulturelle Konflikt vor allem gegen die von der 68erGeneration dominierte Parteilinke und deren Politikstil richtete. Darüber hinaus kann der Pakt aber auch als zumindest teilweise Kapitulation vor den machtpolitischen Mechanismen der Partei gedeutet werden, da sich das „Netzwerk“ auch aufgrund seiner konsensorientierten politischen Kultur bei Personalfragen oft nicht durchsetzen konnte und zum Spielball des Förderungswillen der einflussreichen 68er wurde, ohne ein eigenes Machtfundament aufzubauen. Somit kann die auf Konsens, Offenheit und Beteiligung setzende politisch-kulturelle Organisation der Gruppierung und die daraus resultierende Vertrauensbasis insofern als 667
Vgl. Winkelmann, Ulrike: SPD-Nachwuchs übt sich in Selbstblockade, in: Die Tageszeitung, 29.11.2004.
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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erfolgreich bewertet werden, als dass sie intern die Zufriedenheit der Mitglieder erhöhte. In ihren externen Wirkungen indessen konnte sie zwar zur partiellen organisatorischen Veränderung von PL und SK beitragen, war aber machpolitisch kaum durchsetzungsfähig. Zudem führte die Konsensorientierung dazu, dass inhaltlich-politische Positionen häufig bis zur Unkenntlichkeit verwischt wurden, und die Gruppierung insgesamt eklatant an tagesaktueller politischer Reaktionsschnelligkeit einbüßte. 7
Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
Im nachfolgenden Untersuchungsteil wird im Sinne sowohl des Generationenkonzepts als auch der Elitenforschung versucht, anhand von Prägungen und Karriereverläufen ein Grundmuster der politischen Kultur und der inhaltlichen Überzeugungen des „Netzwerks“ als Repräsentant eines generationell bedingten Politikertypus zu zeichnen. Einen Zugriff dafür bieten die Auswertung der Karriere- und Lebensverläufe der „Netzwerk“-MdBs aus den Jahren 1998 bis 2005 sowie die mit „Netzwerkern“ geführten Interviews. Im Anschluss werden einzelne zentrale Akteure der Politikergruppierung porträtiert, um die zuvor gewonnenen Erkenntnisse sowie die symbolische Funktion der an vorderster Stelle agierenden „Netzwerker“ auszuloten. Leitend ist dabei die These, dass sich an den „Netzwerk“-internen Führungsakteuren generationell typische und „Netzwerk“spezifische Karriereverläufe, Wertorientierungen und Handlungsmuster erkennen lassen.668 7.1 Die „Netzwerk“-MdBs: Soziodemografische Struktur und generationelle Kennzeichen Die Analyse der biografischen Lebens- und Berufsverläufe der „Netzwerk“MdBs der Jahre 1998 bis 2005 sowie die Auswertung der qualitativen Interviews hinsichtlich der politischen Sozialisation und der daraus gewonnenen Wertüberzeugungen brachte mehrere Charakteristika der Gruppierung zum Vorschein. Diese markieren einerseits an einigen Punkten tatsächlich eine generationelle Differenz zur parteiinternen Vorgänger-Generation der 68er beziehungsweise „Enkel“, andererseits machen sie generationell determinierte Binnendifferenzierungen innerhalb der Gruppe der „Netzwerk“-MdBs deutlich.
668
Vgl. Herzog, Dietrich: Politische Karrieren. Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen, Opladen 1975, S. 5.
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C. Untersuchungsteil
7.1.1 Bildungsverläufe und Berufswege Zunächst lässt sich hinsichtlich der formalen Bildungsabschlüsse im Vergleich zu früheren Geburtsjahrgängen – und damit auch zu Mandatsträgern der 68erGeneration – eine Art „Bildungsspirale“ beobachten. Wie bereits geschildert, waren in den 1970er-Jahren große Teile der ehemaligen außerparlamentarischen Opposition und des Studentenprotests in die SPD geströmt und hatten auf diese Weise zur Akademisierung sowohl der sozialdemokratischen Mitgliedschaft als auch der Funktionsträger beigetragen.669 Unter anderem hatte diese zunehmende Akademisierung zu Spannungen innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion geführt, da sich die Gegensätzen zwischen dem linken Frankfurter Kreis – der sich später in PL umbenannte – und dem als rechter Flügel apostrophiertem SK sich unter anderem im Unterschied des formalen Bildungsniveaus äußerten, das sich zu einem großen Teil aus generationeller Zugehörigkeit und damit verbundenen Bildungsmöglichkeiten speiste.670 Während im Frankfurter Kreis mehrheitlich Akademiker versammelt waren, stellte der SK zu einem Großteil Absolventen der mittleren Reife und diverser Ausbildungsberufe.671 Die generationelle Differenz vermittelte sich daher unter anderem über den Bildungsgang der Protagonisten. Im „Netzwerk“ nun hatten unter den 40 MdBs der Jahre 1998 bis 2005 über 90% Abitur und Studium absolviert. Lediglich Kurt Bodewig, Gabriele Frechen und Anton Schaaf hatten keine Hochschulreife erworben.672 Dagegen hatten immerhin sechs von 40 Abgeordneten promoviert. Damit scheint die oben erwähnte Bildungsspirale sozialdemokratischer Mandatsträger voran zu schreiten. Zwar war die zunehmende Akademisierung von SPD-Bundestagsabgeordneten weder eine neue, noch eine überraschende Entwicklung. Allerdings lag der Anteil der Abiturienten in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zu Beginn der 1990er-Jahre noch bei 65,7%, der der Hoch- und Fachhochschulabsolventen bei 59,4%.673 Dagegen deutete die steigende Anzahl von MdBs mit Doktortitel im „Netzwerk“ auf eine fortschreitende Akademisierung, aber auch Verbürgerlichung der SPD hin, wie sie lange als typisch beispielsweise für die Unionsparteien galt.674 Dort war der Erwerb akademischer Doktorwürden wenn schon nicht Voraussetzung für höhere Parteiäm669
Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 153. Vgl. Gebauer, 2005, S. 99 671 Vgl. Müller-Rommel, 1982, S. 72 f. und S. 98 f. 672 Von den 2005 zum „Netzwerk“ gestoßenen MdBs ist noch Josip Juratovic zu nennen, der ebenfalls kein Abitur besaß. 673 Vgl. Weege, Wilhelm b: Zwei Generationen im SPD-Parteivorstand. Eine empirische Analyse, in: Leif, 1992, S. 191-222, hier S. 201. 674 Vgl. zur Akademisierung beispielsweise Hoffmann-Lange/Bürklin, 1999, in: Glatzner/Ostner, 1999, S. 167 f. 670
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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ter, so doch meist von Vorteil. Nun wurde die mit den 1940er-Geburtsjahrgängen beschleunigte Akademisierung also durch die nachfolgende Generation nicht rückläufig gemacht. Im Gegenteil, aus den Befunden lassen sich sogar Hinweise auf eine zunehmend sinkende Durchlässigkeit der Partei für Nichtakademiker ableiten. Damit einher ging unter „Netzwerk“-Abgeordneten eine Tendenz zur auf den Ausbildungs- und Berufswegen beruhenden politischen Professionalisierung. Einerseits vereinte das „Netzwerk“ eine hohe Anzahl von Fachpolitikern aufgrund der frühen Spezialisierung durch die Ausschussarbeit des Bundestages. Andererseits hatten immerhin 17 der insgesamt 40 MdBs in den Jahren 1998 bis 2005 ein Studium im sozialwissenschaftlichen Bereich absolviert, was 42,5% entsprach.676 Darunter hatten zehn Abgeordnete explizit Politikwissenschaften studiert. Unter den insgesamt 51 „Netzwerk“-MdBs der Jahre 1998 bis 2008 hatten 22 Abgeordnete eine sozialwissenschaftliche Studienrichtung eingeschlagen. Diese Befunde können als Hinweise auf ein zunehmend professionelles Selbstverständnis der im „Netzwerk“ versammelten jüngeren Politiker interpretiert werden: Um hauptberuflich als Politiker tätig zu werden, wurde ein entsprechendes Studium angestrebt und nicht mehr unbedingt der Einstieg als Interessenvertreter für eine bestimmte gesellschaftliche Klientel gesucht.677 Sascha Raabe machte dieses Selbstverständnis im Interview wie folgt deutlich: „Also ich gehör so...[…] ´ner Generation an, […] in meinem Verständnis, so, als ich Politik studiert habe, hab ich das durchaus immer als ´ne Möglichkeit mir offen gehalten, auch mal beruflich später Politik zu machen, aber bewusst mit, mit dem Gedanken, also, ich sag´s jetzt mal, wenn ich Betriebswirtschaft studier, bin ich Betriebswirt, wenn ich Medizin studier, werd ich Arzt, wenn ich Politik studier, werd ich halt Politiker. [...]Die Gesetze haben sich sehr kompliziert, sehr spezialisiert, und ich finde, das ist zum Teil auch ´ne sehr schwierige Materie, mit der wir zu tun haben, und da finde ich das Politikstudium […] ´ne optimale Grundlage und Voraussetzung, um auch, ähm, Abgeordneter im Deutschen Bundestag zu sein.“678
Anzeichen für ein zunehmend professionelles Selbstverständnis sind außerdem noch zwei weitere Merkmale in den Ausbildungs- und Berufsverläufen von „Netzwerkern“. Zum einen haben gerade unter den in den 1960er- und 1970erJahren geborenen MdBs einige nahezu direkt nach dem Studium eine bezahlte Vollzeittätigkeit als Abgeordneter aufgenommen.679 Hubertus Heil hatte sein 676 Unter den 40 MdBs befand sich nicht Marco Bülow. Da dieser nur sehr kurze Zeit Mitglied des „Netzwerks“ war, wurde er bei der Analyse der Sozialstruktur nicht berücksichtigt. Allerdings war auch er Absolvent einer sozialwissenschaftlichen Studienrichtung (Journalistik, Geschichte, Politikwissenschaft). 677 Vgl. hierzu auch beispielhaft Interview Bartol, S. 7. 678 Interview Raabe, S. 21. 679 Als Beispiele können hier Nina Hauer oder Michael Roth gelten.
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C. Untersuchungsteil
Politikstudium bei seiner Wahl in das Parlament 1998 sogar noch nicht einmal abgeschlossen. Zum anderen hatten viele „Netzwerker“ bereits während oder direkt nach dem Studium als Mitarbeiter oder Referent im politischen Bereich, meist sogar bei Abgeordneten auf Landes- oder Bundesebene gearbeitet.680 Dies bedeutete einerseits, dass sie Politik tatsächlich als Beruf erlernten, andererseits zog ein solcher Werdegang fast zwangsläufig einen relativ geringen außerpolitischen Erfahrungsschatz nach sich. Derartige politische Karrieren häuften sich vor allem unter den Angehörigen der Geburtsjahrgänge in den 1960er- und 1970er-Jahren, während „Netzwerk“-MdBs, die in den 1950er-Jahren geboren waren, in der Regel vor Aufnahme der Abgeordnetentätigkeit eine längere außerpolitische Berufserfahrung hinter sich hatten.681 Diese Beobachtungen lassen mehrere, freilich verallgemeinernde Schlussfolgerungen zu. Zunächst fügen sich die geschilderten Karriereverläufe von „Netzwerkern“ in Beobachtungen, die allgemein eine sich verstärkende Professionalisierung von Politikern und die Veralltäglichung von Politik als Beruf konstatieren.682 Politik wird damit zu einer Tätigkeit, die – zugespitzt formuliert – zunehmend als normaler und erlernbarer Ausbildungsberuf fungiert und weniger aufgrund einer inneren Berufung oder beruflichen oder lebensweltlichen Notsituation ergriffen wird.683 Damit bedeutet der Mangel an außerpolitischer beruflicher Erfahrung zum einen eine steigende wirtschaftlich-finanzielle Abhängigkeit des Politikers von seiner Tätigkeit beziehungsweise seinem Mandat.684 Sabine Bätzing, die zwar bereits einige Jahre als Verwaltungswirtin gearbeitet hatte, bevor sie in den Bundestag wechselte, und als Beamtin zudem eine hohe materielle Berufssicherheit genoss, schilderte diese Erfahrung dennoch im Interview wie folgt: „Ich hatte das mal auch von Freunden gesagt [bekommen, d. V.], ach Quatsch, wenn du nach vier Jahren nicht wieder gewählt wirst [...]. Och, du hast dann so viele Kontakte, du kommst doch irgendwo unter. Aber das ist auch noch so ´n gängiges Vorurteil. Zum einen hängt das sicherlich damit zusammen, in was für Ausschüssen man ist[…] wo man vielleicht dann unterkommen kann. Also bei Familie oder so, kann ich überall reinkommen, in alle Jugendverbände oder so, aber das ist alles eh680
Vgl. Borchert, Jens/Stolz, Klaus: Die Bekämpfung der Unsicherheit: Politikerkarrieren und Karrierepolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift 2 (2003), S. 148-173, hier S. 162 ff. 681 Vgl. Schüttemeyer, Suzanne, S./Deutsch, Franziska: Die Berufsstruktur des Deutschen Bundestages – 14. und 15. Wahlperiode, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (2003), S. 21-32, hier S. 28. 682 Vgl. Borchert, 1999, S. 120 ff. 683 Vgl. die Daten zur 14. und 15. Legislaturperiode des Bundestages in Schüttemeyer/Deutsch, 2003, S. 31. 684 Vgl. Kreiner, Maria: Amt auf Zeit. Eine explorative Studie zum beruflichen und politischen Verbleib ehemaliger Bundestagsabgeordneter, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 2 (2007), S. 261-276, hier S. 271 ff.
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renamtlich, ja? [...] Und selbst in diesen Ausschüssen, wo man früher gedacht hat, da klappt das gut, ähm, da isses auch nicht mehr so stark verbreitet. Das hat man bei Andrea Nahles zum Beispiel dann gesehen. Okay, die war dann bei der IG Metall, […] aber sie hat keinen Beruf erst mal wieder gefunden.“686
Neben der finanziellen Abhängigkeit bedeutete die geringe außerpolitische Berufserfahrung gerade jüngerer „Netzwerker“ aber auch eine gewisse emotionalpsychische Abhängigkeit von der Politik, da der individuelle Lebensweg stark auf die Politik ausgerichtet ist. Die geringeren außerpolitischen lebensweltlichen Kompensationsmöglichkeiten mögen auch ein Hinweis darauf sein, warum Sozialität des „Netzwerks“, seine Feiern und privaten Zusammenkünfte für die Mitglieder eine so hohe Bedeutung besaßen. So kann das Wegfallen einer beruflichen Perspektive außerhalb der Politik eine gesteigerte Abhängigkeit von politischem Erfolg bedeuten. Grundsätzlich aber verwies die teilweise fehlende außerpolitische Berufserfahrung auf eine zunächst einmal geringere gesellschaftliche Verankerung qua Beruf. Interessenlagen konnten auf diese Weise nicht aufgrund bestimmter beruflicher Erfahrungen in der Politik vertreten werden, sondern mussten auf andere Weise erfahren werden. So waren die Dialoggruppen, die den Programmimpuls des „Netzwerks“ vermitteln sollten, der Versuch einer gezielten gesellschaftlichen Verankerung und Interessenaggregation. Außerdem können die Karrierewege der „Netzwerk“-MdBs ein Hinweis auf eine sinkende Durchlässigkeit der Politik für andere, außerpolitische Berufsgruppen sein. Zu den oben skizzierten Anzeichen einer Abschottung des politischen Bereichs aufgrund formaler Bildungsstandards kommt demnach – zugespitzt formuliert – eine exklusive Tendenz aufgrund der fachlichen Ausbildungsrichtung. Diese Beobachtung reiht sich in die allgemeine sozialstrukturelle Entwicklung sozialdemokratischer Funktionsträger oder Bundestagsabgeordneter.688 Nicht ohne Grund wurde der einstige „Netzwerker“ Anton Schaaf als der „letzte Arbeiter“689 der SPD-Bundestagsfraktion klassifiziert.690 In diesem Kontext ist zudem das Verhältnis von „Netzwerk“-MdBs zu Interessenverbänden im Allgemeinen sowie zu Gewerkschaften im Besonderen aufschlussreich. Eine Auswertung der von „Netzwerk“-MdBs der Jahre 1998 bis 2005 angegebenen Mitgliedschaften in Vereinigungen ergab, dass immerhin 20 der 40 MdBs keine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft angeführt hatten. Darüber hinaus konnte in den insgesamt 29 mit „Netzwerk“-MdBs geführten Interviews lediglich bei Anton Schaaf und bei Kurt Bodewig eine enge Bindung an 686
Interview Bätzing, S. 12. Vgl. zur Sozialstruktur des Bundestags zwischen 1998 und 2005 Schüttemeyer/Deutsch, 2003. 689 Interview Schaaf, S. 6. 690 Vgl. Gollnick, Ines: Der Handwerker Anton Schaaf, in: Das Parlament, 10.11.2003. 688
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die Gewerkschaftsarbeit im Sinne einer sozialisierend-politisierenden Funktion heraus gearbeitet werden.691 Wie bereits in Zusammenhang mit der sinkenden außerpolitischen Berufserfahrung deutet auch diese sich durch Mitgliedschaften symbolisierende geringe Gewerkschaftsbindung auf die Abnahme gemeinhin als klassisch bezeichneter gesellschaftlicher Wurzeln der Sozialdemokratie hin.692 Auch dies ist sicherlich kein Novum, wurde die Entfremdung zwischen SPD und Gewerkschaften doch bereits seit den 1980er-Jahren diagnostiziert693, doch zeigt sich anhand des „Netzwerks“, dass eine derartige Entfremdung sich eben auch nicht revidierte. 7.1.2 Innerpolitische Rekrutierungs- und Karrierewege Gerade aufgrund der medial aber auch parteiintern transportierten Stereotype des allzu schnell aufgestiegenen Nachwuchspolitikers lohnt ein Blick auf die innerpolitischen Karrierewege der Gruppierung. Zunächst ist in diesem Kontext eine Differenzierung angebracht zwischen den in den 1950er-Jahren geborenen „Netzwerkern“ und den Angehörigen der Geburtsjahre 1960 folgende. Gerade auf Letztere mag das Urteil eines raschen politischen Aufstiegs teilweise zutreffen, waren sie doch bei Erwerb ihres Bundestagsmandats im Schnitt circa 30 Jahre alt, zum Teil wie beispielsweise Carsten Schneider mit 22 Jahren erheblich jünger.696 Dabei standen die frühen Karrieresprünge in Zusammenhang mit der unmittelbar vorhergehenden Kohorten der in den 1950er-Jahren Geborenen. Da in diesen Jahrgängen innerhalb der Sozialdemokratie ein eklatanter Mangel herrschte, fiel der Blick auf der Suche nach innerparteilichem Nachwuchs auf die jüngeren Jahrgänge 1960 folgende. Nichtsdestotrotz kann der zwar teilweise rasche, katapultartige Aufstieg einiger weniger Jüngerer nicht darüber hinweg täuschen, dass zumindest in den rot-grünen Regierungsjahren die wesentlichen und auch anteilsmäßig meisten sozialdemokratischen Führungsämter von Angehörigen der älteren 68er-Generation eingenommen wurden. Der Karrierevorwurf gegenüber „Netzwerk“-Politikern ist zumindest aus dieser Sicht, auf Grundlage der tatsächlich erworbenen Ämter nicht zutreffend.
691
Vgl. Interview Schaaf, S. 5 und S. 10, Bodewig, S. 1 f. und S. 10. Vgl. zu diesem Trend auch Meng, Richard: Geduldige Erben, in: Frankfurter Rundschau, 08.07.2004. 693 Vgl. Walter, Franz: Baustelle Deutschland, Frankfurt a. M. 2008, S. 55 f.; siehe auch Weege b, 1992, in: Leif, 1992, S. 213 f. 696 Vgl. Grimm, Ruth: Provisorien zwischen Handy und Nutella, Kölner Stadt-Anzeiger, 23.10.1998; siehe auch Loose, Werner: Einmal Probesitzen am Arbeitsplatz im Plenarsaal, in: Die Welt, 27.10.1998. 692
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Dennoch verliefen die Karrierewege der in den 1960er-Jahren und folgende Geborenen zügiger als die der in den 1950er-Jahren geborenen „Netzwerk“MdBs.699 Letztere hatten vor Erwerb des Bundestagsmandats neben außerpolitischer Berufserfahrung auch eine längere Zeit der innerpolitischen Tätigkeit hinter sich. Bei Erwerb des Bundestagsmandats befanden sie sich in der Regel zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr und damit im Durchschnittsalter, in dem über Parteigrenzen hinweg ein Bundestagsmandat erworben wurde.700 Allen „Netzwerk“-MdBs gemein wiederum war, dass sie vor Einzug in den Bundestag in der Regel bereits eine längere Zeit der Parteiarbeit auf Orts- oder Bezirksebene hinter sich hatten. Allgemein aber waren alle „Netzwerk“-MdBs den – mal etwas längeren, mal etwas kürzeren – Weg der so genannten Ochsentour gegangen, der den allmählichen Aufstieg innerhalb von Parteihierarchien, oftmals inklusive Jugendverbandsarbeit, bis zum Mandat impliziert. Insofern spiegelte das „Netzwerk“ an diesem Punkt durchaus ein Stück politischer Normalität wider.702 Auffällig war jedoch, dass nahezu alle „Netzwerk“-MdBs über ein Direktmandat in den Bundestag eingezogen waren. Die Erklärung für dieses Phänomen findet sich in der Tatsache, dass viele der Abgeordneten keinen so genannten sicheren Listenplatz besaßen, somit auf das Direktmandat angewiesen waren.703 Teilweise aufgrund des noch recht jungen Alters704, teilweise aufgrund der Vergabe von sicheren Listenplätzen an bereits seit längerem in der Bundespolitik etablierte Personen, teilweise aufgrund der quantitativen Übermacht der älteren Generation der 68er mussten sich offenbar die meisten „Netzwerker“ mit dem Kampf um das Direktmandat begnügen. Darüber hinaus aber steht zu vermuten, dass das Erringen eines Direktmandats ein spezifisches Abgeordnetenverständnis förderte, da die betreffende Person einzig aufgrund des direkten Erfolgs im eigenen Wahlkreis politisch abgesichert war. So wurde die bereits oben geschilderte materielle Abhängigkeit bei gleichzeitigem Fehlen außerpolitischer beruflicher Alternativen noch intensiviert. Zudem aber kann ein direkt erworbenes Mandat und damit die elektorale Bestätigung der eigenen Person im jeweiligen Wahlkreis das Selbstbewusstsein des Betreffenden steigern. So wurde in den geführten Interviews wiederholt auf den Individualismus von „Netzwerkern“ verwiesen, der im Widerspruch zu dem Bemühen um gemeinschaftliche Entscheidun699
Vgl. Walter, Franz: Die Krise hinter der Krise. Zur Lage der Parteien in Deutschland, in: Ders., 2002 a, S. 16-27, hier S. 18. 700 Vgl. Best/Jahr, 2006, S. 69 f. 702 Vgl. König, Bertold: Wer wird Politiker? – Die Lust, ganz oben zu sein, in: WinterhoffSpurk/Jäckel, 1999, S. 57-64, hier S. 60 f. 703 Vgl. zur Vergabepraxis von Listenplätzen Borchert/Golsch, 1999, S. 120 bzw. S. 125 ff. 704 Vgl. Borchert/Stolz, 2003, S. 153..
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gen stehe, die Reaktionsgeschwindigkeit der Gruppierung negativ beeinflusse und nicht zuletzt zu inhaltlicher Heterogenität führe.706 Ein weiteres Spezifikum zeigte sich bei der Betrachtung weiblicher Politikerkarrieren im „Netzwerk“: Für fast keine der Abgeordneten konnte in den geführten Interviews eine hervorgehobene Bedeutung der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) abgeleitet werden.707 Zwar fand sich teilweise auch bei jüngeren Abgeordneten – wie Carola Reimann – eine Beschäftigung mit frauenpolitischen Themen wie der Debatte um den Paragrafen 218.708 Verweise auf ein Engagement in der AsF, auf eine sozialisierende Funktion der dort geführten Debatten oder gar eine karrierestrategische Bedeutung der Arbeitsgemeinschaft spielten jedoch bei keiner der Interviewten eine Rolle.709 Dies ist insofern bemerkenswert, als dass anhand der Entwicklung der AsF in den 1970er- und beginnenden 1980er-Jahren beispielhaft der Generationen- und Themenwechsel der SPD nachvollzogen werden kann.710 In gut einer Dekade wandelte sich die AsF seit 1972 vom „AWO-Kaffekränzchen“711 zur Vorhut ehemals studentenbewegter Feministinnen, die sich in ihren Debatteninhalten an den postmaterialistischen Neuen Sozialen Bewegungen orientierten. Für das politische Selbstverständnis weiblicher Parteimitglieder und Funktionsträger der 68er-Generation besaß die AsF daher auch eine machtpolitische Dimension. Auf den zweiten Blick aber ist die geringe Bedeutung der AsF für jüngere Sozialdemokratinnen weniger verwunderlich. Zunächst konzentrierten sich in der AsF bis in die ausgehenden 1980er- und beginnenden 1990er-Jahre jene von 68er-Protagonisten vorgetragenen Themen, die „Netzwerker“ als für ihren Generationenzusammenhang nicht mehr relevant ansahen. Antiamerikanismus, Quotenregelungen oder die Berufstätigkeit der Frau waren für Nach-68er-Frauen entweder ohne Relevanz oder schlicht Selbstverständlichkeiten.712 In diesem Sinne profitierten einige der jüngeren Frauen ohne Zweifel von den Errungenschaften der Vorgänger-Generation, indem ihnen beispielsweise die Quotierungsregelung eine Aufstiegshilfe war.713 Allerdings führten sie die in den 1970er-Jahren begonnenen Kämpfe der AsF um Gleichberechtigung und Emanzipation nicht weiter, zumindest nicht innerhalb der Arbeitsgemeinschaft. Viel706 707
Vgl. beispielsweise Interview Roth, S. 5; Interview Schaaf , S. 22 beziehungsweise S. 29. Als Ausnahme kann Ursula Mogg gelten, deren Weg über die AsF führte (vgl. Interview Mogg, S.
3). 708
Vgl. Interview Reimann, S. 1. Vgl. Lösche, 2004, in: Zehetmair, 2004, S. 109. 710 Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 239 ff. 711 Ebd., S. 238. 712 Vgl. beispielsweise Rühmkorf, Eva/Vogt, Ute: Die Macht der Frauen – die Frauen der Macht, in: Berliner Republik 2 (2002), S. 20-29, hier S. 20 f. 713 Vgl. hierzu beispielsweise die Schilderungen Kerstin Grieses in Interview Griese, S. 25. 709
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mehr setzten sie, erstens, ohne viel Aufhebens die Erkenntnisse der VorgängerGeneration um, indem sie wie beispielsweise Nina Hauer in die thematische Männerdomäne der Finanzpolitik vordrangen oder Familie und Beruf zu verbinden suchten.714 Daneben aber strebten sie zum zweiten danach, dem von der Vorgänger-Generation teilweise etwas despektierlich behandelten Thema der Berufstätigkeit von Frauen eine neue Note zu geben, indem sie die Möglichkeiten und Qualität (klein)kindlicher Betreuung sowie die ökonomische Relevanz weiblicher Berufstätigkeit diskutierten.715 So betonten sie die gesellschaftliche Bedeutsamkeit des Themenkomplexes jenseits emanzipatorischer Gleichberechtigungsdiskussionen und politisierter Geschlechterkonflikte. Doch noch ein weiteres Merkmal politischer Karrieren fiel bei „Netzwerk“MdBs ins Auge: Der größte Teil der Abgeordneten, besonders wiederum die in den 1960er-Jahren und folgende Geborenen, war über konkrete lokalpolitische Anliegen sozialisiert und Parteimitglied geworden. War es beispielsweise bei Ute Vogt eine illegale Mülldeponie717, bei Carola Reimann der Einsatz für ein autonomes Jugendzentrum718 oder bei Carsten Schneider schließlich die bevorstehende Schließung des Kino-Clubs719, fast immer handelte es sich um konkrete Problemlagen im eigenen Ort, von denen die damals Jugendlichen betroffen waren oder sich zumindest betroffen fühlten. Darüber hinaus spielte in vielen Fällen das persönliche politische Umfeld – sprich: der Freundeskreis – eine Rolle beim Parteieintritt.720 Nun ist dies sicherlich an sich kein außergewöhnlicher Rekrutierungspfad. Doch ist auffällig, dass die Entscheidung, Mitglied SPD zu werden, sich in der Regel weder aus einer spezifischen familiären Sozialisation noch an einer gesellschaftlich-politischen Vision, sondern fast immer an praktischen, örtlich nahen Problemen entzündete.721 Allenfalls die in den 1950erJahren geborenen und mehrheitlich zu Beginn der 1970er-Jahre in die SPD eingetretenen „Netzwerker“ nannten als Entscheidungsgründe die Politik der sozialliberalen Koalition oder den durch Willy Brandt symbolisierten Entwurf einer demokratischeren Gesellschaft.722 Dagegen führten die später geborenen und somit vor allem in den 1980er-Jahren in die SPD gekommenen Abgeordneten 714
Vgl. Lemke-Müller, Sabine: Funktionen und Politikverständnis der weiblichen Abgeordneten in den Ausschüssen des 13. und 14. Deutschen Bundestages, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4 (1999), S. 968-979, hier S. 977. 715 Vgl. beispielsweise Griese/Schrapers, 2004; siehe auch Griese, Kerstin/Schrapers, Harald: Wie viele Kinder braucht das Land?, in: Berliner Republik 1 (2002), S. 71-75, besonders S. 73 f. 717 Vgl. ebd., S. 2. 718 Vgl. Interview Reimann, S. 1. 719 Vgl. Interview Schneider, S. 3. 720 Vgl. beispielsweise Interview Bätzing, S. 2; Interview Roth, S. 1. 721 Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 156. 722 Vgl. beispielsweise Interview Wend, S. 1; siehe auch Interview Bodewig, S. 1.
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kaum die Orientierung an handelnden Politikern im Sinne einer Vorbild- oder Leitfunktion als Kriterium auf.723 Auffällig ist zudem, dass bei den in den 1970er-Jahren in die Partei Eingetretenen offenbar eine grundsätzlich linke gesellschaftliche Stimmung als protegierender Rahmen der Politisierung eine Rolle spielte: Wenn man sich politisch engagierte, so die mehrheitlich vertretene Auffassung, sei dies unter Jugendlichen nahezu selbstverständlich im linken politischen Spektrum der Fall gewesen.724 Da die betreffenden Parteieintritte vor der Gründung von Bündnis90/Die Grünen erfolgten, kam als demokratische Partei lediglich die SPD in Frage. Demgegenüber sprachen die in den 1980er-Jahren in die SPD gekommenen MdBs des Öfteren davon, ihre Wahl sei trotz oder gerade wegen der bundespolitischen Wahlniederlagen der SPD und der Übermacht des bürgerlichen Lagers gefallen.725 Während im ersten Fall also noch von einer Art Sogwirkung der gegenüber der SPD positiven Stimmung ausgegangen werden kann, dokumentiert das zweite Entscheidungsmuster eher eine „Solidarität mit Verlierern“. Mindestens jedoch fiel die Parteiwahl entgegen einem jugendlichen Mehrheitstrend, der eher in Richtung Unionsparteien beziehungsweise CDU oder der Partei der Grünen wies. Die ausgeführten Beobachtungen hinsichtlich der parteipolitischen Rekrutierung und der Beitrittsmotive von „Netzwerk“-MdBs lassen eine generationelle Binnendifferenzierung des „Netzwerks“ zwischen den in den 1950er-Jahren Geborenen und den ab 1960 Geborenen zu. Erstere absolvierten langsamere politische Karrieren, hatten vor dem Einstieg in den politischen Vollzeitberuf mehr außerpolitische Berufserfahrung gesammelt, wiesen eine größere Gewerkschaftsbindung auf und folgten bei ihrer Entscheidung für einen SPDParteieintritt eher einer gesamtgesellschaftlichen Stimmung und einer politischgesellschaftlichen Vision. Die zweite, jüngere Gruppe dagegen stieg mehrheitlich rascher in den politischen Hierarchien auf, besaß weniger bis gar keine außerpolitische berufliche Erfahrung, zeigte weniger Bindungen an Gewerkschaften und trat in die SPD eher aufgrund lokaler praktischer Probleme und individuell-persönlicher Bindungen ein. Dies mag als erster Hinweis auf ein zunehmend pragmatisches, entideologisiertes Politikverständnis besonders jüngerer „Netzwerker“ gelten.
723
Vgl. unter anderem Interview Reimann, S. 26. Vgl. beispielhaft Interview Bodewig, S. 2. 725 Vgl. beispielhaft Interview Raabe, S. 2 f. 724
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7.1.3 Die Wurzeln des Pragmatismus Ein wesentlicher Bestandteil des „netzwerkschen“ Selbstverständnisses war stets der Pragmatismus. Sowohl in den geführten Interviews als auch in ihren Schriften nannten „Netzwerker“ das pragmatische Politikverständnis wiederholt und regelmäßig als Differenzkriterium sowohl gegenüber der Generation der 68er als gegenüber der PL.727 Dabei meint „Pragmatismus“ per Definition eine Haltung, die im Handeln des Menschen sein Wesen sieht, das Adjektiv „pragmatisch“ verweist auf Anwendungs-, Handlungs- und Sachbezogenheit.728 In der Tat machten „Netzwerker“ in den geführten Interviews deutlich, dass bei der Klärung eines politischen Problems für sie mehr die Umsetzbarkeit der Lösungsvorschläge denn deren ideologische Konsistenz oder stringende Einordnung in ein Rechts-Links-Schema ausschlaggebend sei.729 Der Ausschluss politischer Instrumente aufgrund ideologischer Vorbehalte war für sie nicht Ziel führend.730 Statt auf ein wie auch immer geartetes Endziel suchten „Netzwerker“ sich auf einen, wie sie es nannten, progressiven Reformismus zu konzentrieren.731 Hier deutet sich ein Spannungsverhältnis zwischen einem derartigen Politikbegriff einerseits und langfristigen politischen Entwürfen an, wie sie ja mit der Forderung nach einem neuen Programm ausdrückliches Ziel des „Netzwerks“ waren.733 Aus den Interviews und Karrierewegen der „Netzwerk“-MdBs konnten grundsätzlich vier verschiedene Begründungsmuster eines pragmatischen Politikverständnisses heraus destilliert werden, die sich von Fall zu Fall miteinander kombinierten und gegenseitig verstärkten. Als erster Ursachenkomplex ist die Vergangenheit vieler „Netzwerker“ bei den Jungsozialisten der 1980er- und beginnenden 1990er-Jahren zu nennen. Dies betrifft in der Hauptsache Kurt Bodewig, Hans-Peter Bartels, Hubertus Heil, Kerstin Griese, Christian Lange und Michael Roth. Neben dem bereits geschilderten offenen und beteiligungsorientierten Stil waren es insbesondere die reformistische Diesseitsorientierung und das Vertrauen auf die besseren Argumente im internen Machtkampf, die das politische Selbstverständnis der Undogmatischen ausmachten.734 Vor allem auf Juso-Bundesebene erlebten die undogmatischen späteren „Netzwerker“ die ihrer 727
Vgl. beispielsweise Interview Lange, S. 14, sowie Interview Bartels, S. 4. Vgl. Duden: Das Fremdwörterbuch, Mannheim u.a. 1997, S. 650. 729 Vgl. beispielsweise Interview Reimann, S. 12. 730 Vgl. beispielhaft Interview Vogt, S. 12. 731 Vgl. Griese, Kerstin/Lange, Christian: Vernunft und Optimismus, in: Berliner Republik 5 (2008), S. 81-82. 733 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“: Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD, Bonn/Berlin 2003. 734 Vgl. Interview Roth, S. 4. 728
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Auffassung nach realitätsfernen Diskussionen, die sich beispielsweise um die Verfassung aktueller Kuba-Resolutionen oder die angemessenste Form des Sozialismus drehten.735 Dabei wurde die realitätsorientierte, pragmatische Haltung der damaligen Undogmatischen verstärkt durch die Tatsache, dass sie neben der Arbeit im Jugendverband entweder in kommunalpolitischen Mandaten wie dem Kreistag oder aber in verschiedensten SPD-Parteistrukturen aktiv waren.736 Nahezu übereinstimmend äußerten die Betreffenden in den geführten Interviews, diese doppelte Verwurzelung habe bei ihnen die Einsicht verstärkt, dass nur eine an realistischer Umsetzbarkeit im Hier und Jetzt orientierte Politik Erfolg versprechend sei.737 Die innerverbandliche Abschottung der Jusos, die ihre konfliktreichen Machtkämpfe über detailreiche Anträge, deren „härteste Textbausteine“739 und ideologische Festigkeit austrugen, stand für die späteren „Netzwerker“ im Widerspruch zu ihrer politischen Tätigkeit in lokalen Mandaten oder Parteiämtern.740 Ein zweites Motiv für den Pragmatismus der „Netzwerker“ findet sich in einer speziellen Form der kommunalen Mandatserfahrung: dem Bürgermeisteramt, in dem eine Reihe von Abgeordneten – wie beispielsweise Sascha Raabe oder Rainer Wend – vor ihrem Bundestagsmandat tätig gewesen waren.741 In dieser Funktion entwickelten sie fast zwangsläufig einen handfesten, an Umsetzung orientierten Politikstil.742 Ihre alltäglichen politischen Herausforderungen waren nicht die Diskussion potenzieller „Dritter Wege“ der Sozialdemokratie oder der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, sondern der Bau einer Umgehungsstraße oder die drohenden Streiks der lokalen Müllentsorgungsfirma.743 Zudem waren diese Politiker auf kommunaler Ebene häufig auch an projektbezogene Koalitionen quer über die Parteigrenzen hinweg gewöhnt, teilweise auf sie angewiesen.744 Eine auf realistische Machbarkeit orientierte, prag-
735
Vgl. Interview Schneider, S. 4. Vgl. beispielsweise die Biografie Langes in Kapitel 7.2.5. 737 Vgl. beispielsweise Interview Lange, S. 2. 739 Interview Griese, S. 9. 740 Vgl. Interview Lange, S. 2; Interview Schneider, S. 4 f. 741 Vgl. zum Bürgermeisteramt als Karriereweg Weege b, 1992, in: Leif, 1992, S. 216. 742 Vgl. zur Sozialisation durch den Beruf Schwarz, 1985, in: Hrbek, 1985, S. 10; siehe auch Wiesendahl, Elmar: Berufspolitiker zwischen Professionalismus und Karrierismus, in: Arnim, Hans Herbert von (Hg.): Politische Klasse und Verfassung, Berlin 2001, S. 145-166, hier S. 145 f. 743 Vgl. beispielsweise Interview Raabe, S. 25. 744 Vgl. hierzu kritisch Naßmacher, Hiltrud/Naßmacher, Karl-Heinz : Kommunalpolitik in Deutschland, Opladen 1999, S. 32 ff.; siehe auch Holtmann, Everhard: Parteien in der lokalen Politik, in: Roth, Roland/Wollmann, Hellmut (Hg.): Politisches Handeln in den Gemeinden, Opladen 1994, S. 256-270, hier S. 259 f. 736
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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matische Politik war für diese „Netzwerker“ daher nicht nur einsichtig, sondern sogar zwingend. Als dritte Begründung einer pragmatischen Politikhaltung konnte die DDRBiografie einiger „Netzwerk“-MdBs ausgemacht werden. Iris Hoffmann, Christoph Matschie, Silvia Schmidt, Carsten Schneider, Karsten Schönfeld, Andreas Weigl oder auch Andrea Wicklein waren noch in der DDR geboren worden, hatten dort ihre Jugend und teilweise ihr frühes Erwachsenenalter verbracht. In der Regel teilten sie die in der DDR praktizierten Maximen des Sozialismus nicht, sondern standen dem System distanziert bis offen kritisch gegenüber. Teilweise litten sie aufgrund ihrer Einstellung gegenüber dem DDR-Regime unter politischen Sanktionen, gesellschaftlichen Hindernissen und beruflichen Einschränkungen und hatten somit die Unzulänglichkeit verabsolutierter politischer Ideologien erfahren.745 Sie hatten den Zusammenbruch des ostdeutschen Politik- und Wirtschaftssystems unvermittelt beobachtet und aufgrund ihrer je individuellen Erlebnisse eine distanzierte Haltung gegenüber geschlossen ideologischen Gedankengebäuden entwickelt. Hinzu kam, dass in den ostdeutschen Bundesländern nach dem Zusammenbruch der DDR in vielerlei Hinsicht Aufbauarbeit erforderlich war. Sowohl im wirtschaftlichen Bereich, in Fragen des alltäglichen Zusammenlebens als auch auf politischem Gebiet war konkretes und rasches Handeln notwendig.746 Zudem fehlte den in der DDR geborenen späteren „Netzwerkern“ bei ihrem Eintritt in die SPD beziehungsweise die (Bundes)Politik aber auch das Verständnis für lang überlieferten Rechts-LinksTradierungen der Partei.748 Die Auseinandersetzungen um einen diesseits orientierten Reformismus oder eher zukunftsgerichtete Ideologien zur Herrschaft der Arbeiterklasse, mithin die Diskussionen ehemals studentenbewegter Altlinker sowie deren postmaterialistische Wendungen waren ihnen nicht geläufig.749 Aufgrund des Wegbrechens oder des Missbrauchs sozialdemokratischer Traditionen und Diskussionsstränge in der DDR mussten derartige Debatten den ostdeutschen „Netzwerkern“ fremd geblieben sein. Auch deshalb war eine Orientierung auf pragmatische Problemlösung vor Ort nahe liegend. Desweiten existierte eine Begründung des Pragmatismus, die in die Zeit nach dem Einzug in den Bundestag zu datieren ist. So fand die Übernahme eines Abgeordnetenmandats auf Bundesebene für die meisten „Netzwerker“ in Regierungsverantwortung statt. Insofern bedeutete die Arbeit als Bundestagsabgeord745
Vgl. Interview Schmidt, S. 2; Interview Matschie, S. 2. Vgl. beispielsweise Interview Schneider, S. 5. 748 Vgl. zu den Lebensläufen und gesellschaftlichen Verankerungen ostdeutscher Sozialdemokraten Neugebauer, Gero: Die SDP/SPD in der DDR: Zur Geschichte und Entwicklung einer unvollendeten Partei, in: Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hg.): Parteien und Wähler im Umbruch, Opladen 1994, S. 75-104, hier S. 94. 749 Vgl. beispielhaft Walter, Franz: Happy Birthday, SPD, in: Berliner Republik 3 (2003), S. 48-57. 746
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C. Untersuchungsteil
neter für die allermeisten „Netzwerker“ von Beginn an, dass sie sich der politischen, ja der möglichen gesetzgeberischen Folgen ihrer Arbeit bewusst waren.750 Im Gegensatz zu Oppositionszeiten konnten und wollten sie nicht über potenzielle, jedoch in absehbarer Zeit nicht realisierbare Handlungsoptionen diskutieren, sondern die Regierungsarbeit gestalten. Aus diesem Grund versuchten sie ihre Lösungsvorschläge und Gedanken stets auf tatsächliche Umsetzbarkeit und konkrete Wirksamkeit zu prüfen.751 Abschließend bleiben hinsichtlich des hier geschilderten pragmatischen Politikverständnisses und seiner Ursachen einige Bemerkungen zu machen. Zunächst sollte hervor gehoben werden, dass in vielen Fällen nicht ein Motiv alleine Ausschlag gebend für die Ausbildung eines politischen Pragmatismus war, sondern sich verschiedene Faktoren verstärkten. Kurt Bodewig beispielsweise war sowohl im undogmatischen Flügel der Jungsozialisten organisiert, als auch aktiver Partei- und Gewerkschaftspolitiker gewesen.752 Überdies dürfen die hier angeführten Begründungsmuster nicht als zwingende Kausalitätsbeziehung missverstanden werden. Nicht jeder ehemalige Bürgermeister muss in seinem weiteren politischen Weg notwendig und fortwährend pragmatisch handeln oder sich gar dem „Netzwerk“ anschließen. In den hier geführten Interviews aber erwiesen sich die skizzierten Motive als grundlegende Dispositionen für ein pragmatisches Politikverständnis und damit als Teil der politischen Identität und des politischen Konsens im „Netzwerk“. 7.1.4 Generationelle Prägungen und Differenzierungen Bei der Analyse der Berufs- und Lebensverläufe von „Netzwerk“-MdBs konnten verschiedene Fakten, Ereignisse oder Zusammenhänge aufgedeckt werden, die den Rückschluss zulassen, dass sich die im „Netzwerk“ zusammengeschlossenen Politiker aufgrund ihrer generationell bedingten Erfahrungen und der daraus folgenden Wertüberzeugungen von den vorausgehenden 68ern abgrenzen. Im Folgenden werden die Begründungen für die politische Kultur des „Netzwerks“ – Offenheit, Beteiligungsorientierung und flache Hierarchien – um aus den individuellen Biografien resultierende Sozialisationserlebnisse und -verläufe der„Netzwerk“-MdBs ergänzt. Grundsätzlich muss dabei zwischen parteiexternen Sozialisationsfaktoren einerseits und parteiinternen Sozialisationsfaktoren andererseits unterschieden werden.
750
Vgl. Interview Reimann, S. 13. Vgl. ebd., S. 13. 752 Vgl. Interview Bodewig, S. 3. 751
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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Parteiexterne Erfahrungen und Ereignisse Der Bereich der parteiexternen Sozialisationsfaktoren lässt sich grundsätzlich in drei verschiedene Komplexe differenzieren. Zunächst zeigte sich bei Analyse der Interviews und der Karriereverläufe bei einer überragenden Anzahl der „Netzwerk“-MdBs eine deutliche Nähe zu Teilen der Neuen Sozialen Bewegungen und postmaterialistischen Überzeugungen. Dabei muss zwischen den in den 1950er-Jahren geborenen und den seit 1960 geborenen „Netzwerk“-MdBs differenziert werden: Die Nähe zu Neuen Sozialen Bewegungen und deren Ziel- und Wertvorstellungen betraf vornehmlich die jüngeren westdeutschen Politiker. Diese hatten sich zu Beginn ihres politischen Engagements mit Themen wie Umweltschutz und Friedenspolitik auseinandergesetzt.753 Ein Großteil von ihnen – 23 von insgesamt 51 MdBs der Jahre 1998 bis 2008 – war zwischen 1980 und 1989 der SPD beigetreten.754 Vornehmlich diese Personengruppe berichtete von politischen Aktivitäten gegen Umweltverschmutzung, gegen den NATODoppelbeschluss oder gegen Atomenergie und zeigte somit eine grundsätzliche Nähe zu postmaterialistischen Werten.755 Folgerichtig äußerten diese Politiker mehrheitlich eine prinzipielle Sympathie für die Ziele der damals noch jungen Partei der Grünen, waren Umweltschutz und Friedenspolitik, aber zum Teil auch frauenspezifische Themen in ihrem Interesse.756 Darüber hinaus bestand in vielen Fällen, beispielsweise durch die Teilnahme an Demonstrationen, eine Anbindung an das Milieu der Neuen Sozialen Bewegungen und damit der Grünen.757 Auch berichteten „Netzwerker“, das Unglück im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl im Jahr 1986 habe sie nachhaltig negativ beeindruckt.758 Des Weiteren dokumentieren die Mitgliedschaften vieler „Netzwerker“ in ökologisch orientierten Vereinigungen eine Nähe zu grünen Überzeugungen: Die Zugehörigkeit zu den Naturschutzbünden NABU oder BUND sowie zur Europäischen Vereinigung zur Förderung regenerativer Energie – „Eurosolar“ – gehörten fast zum Standard der Lebensläufe jüngerer „Netzwerker“. Eine Sozialisation durch die in den 1980er-Jahren auf der politischen Agenda stehenden postmaterialistischen Themen der Ökologie- und Friedensfrage war somit offensichtlich. Dennoch entschieden sich die betreffenden „Netzwerker“ gegen eine Mitgliedschaft bei den Grünen und für die SPD – und begründeten diesen Entschluss mit unterschiedlichen Argumenten. Das schlichteste unter ihnen war, dass eine 753
Vgl. beispielsweise Interview Roth, S. 1; Interview Vogt, S. 2. Vgl. Tabelle 1 in Kapitel 5.1.1. 755 Vgl. beispielsweise Interview Hauer, S. 1; Interview Lange, S. 1; Interview Hartmann, S. 2. 756 Vgl. beispielsweise Interview Griese, S. 12; Interview Heil, S. 1; Interview Klug, S. 1; Interview Schulz, S. 1. 757 Vgl. beispielsweise Interview Griese, S. 12 und S. 24. 758 Vgl. Interview Raabe, S. 1. 754
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C. Untersuchungsteil
grüne Parteiorganisation in ihrem Heimatort einfach nicht existiert habe.759 Daneben existierten jedoch auch habituell-kulturelle und politische Begründungen für die Ablehnung der grünen Partei. So erschienen vielen späteren „Netzwerkern“ die jungen Grünen als zu chaotisch und unorganisiert, bei den Sozialdemokraten sei es geordneter zugegangen.760 Außerdem habe bei vielen Grünen eine Art Betroffenheitsmentalität ob der ökologischen und nuklearen Bedrohungsszenarien jener Jahre geherrscht, die unattraktiv erschien.761 Gerade für „Netzwerker“, die in den Interviews mehrfach beteuerten, Politik solle auch „Spaß machen“762, wirkte dies wenig anziehend. Daneben existierten jedoch auch inhaltliche Erklärungen für die Ablehnung der Grünen und die Hinwendung zur Sozialdemokratie. Ein immer wiederkehrendes Argument etwa zielte auf den damals noch längst nicht entschiedenen Flügelstreit innerhalb der Grünen und die einflussreiche Position der fundamentalistischen Strömung. Besonders die Person Jutta Ditfurths und die Frage, ob Gewalt gegen Sachen in der politischen Auseinandersetzung legitim sei, schreckte viele spätere „Netzwerker“ ab.764 Die meisten der in den 1960er-Jahren folgende geborenen und mehrheitlich in den 1980er-Jahren in die SPD eingetretenen „Netzwerker“ bekannten ihre grundsätzliche Sympathie für politische Ziele der Grünen wie Ökologie, Friedens- und Abrüstungspolitik. Fast einstimmig bekundeten sie aber ebenfalls, ihnen habe bei den Grünen das soziale Element gefehlt.765 Der Einsatz für Arbeitnehmerrechte sowie die Gedanken der Gerechtigkeit und Solidarität waren für sie wichtige Entscheidungsmomente. Bei der SPD sahen sie diese Bereiche repräsentiert, während ihnen die Grünen zu monothematisch ausgerichtet waren. Bei der parteiexternen Sozialisation vieler „Netzwerker“ spielte zudem die Spannung zwischen politisch-gesellschaftlicher Konstanz und Beschleunigung eine Rolle. So verwiesen viele „Netzwerk“-MdBs auf die lange Amtszeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl, in die mehrheitlich der Beginn ihres politischen Interesses oder Engagements fiel.766 So wurde betont, die Regierungszeit Kohls sei als lähmend, gesellschaftlich konservativ und stetig andauernd empfunden worden, hatten doch besonders die jüngsten „Netzwerker seit Beginn ihres politisch aktiven Lebens keinen anderen Bundeskanzler erlebt.767 Insofern war das 759
Vgl. Interview Roth, S. 2; siehe auch Interview Bartels, S. 1. Vgl. beispielsweise Interview Griese, S. 16. 761 Vgl. Interview Vogt, S. 2; siehe auch Interview Hartmann, S. 3; siehe ähnlich Interview Klug, S. 1. 762 Interview Matschie, S. 10; vgl. auch Hartwig, Gunther: In der SPD steigt die Generation der Urenkel auf, in: Stuttgarter Nachrichten, 01.10.2002. 764 Vgl. Interview Lange, S. 2. 765 Vgl. beispielsweise Interview Roth, S. 2. 766 Vgl. beispielhaft Interview Heil, S. 6. 767 Vgl. Interview Bätzing, S. 32; siehe ähnlich auch Interview Bartol, S. 1. 760
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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frühe politische Erleben der „Netzwerker“ von großer Konstanz geprägt gewesen. Damit einher ging, dass insbesondere die Geburtsjahrgänge 1960 folgende zunächst in einer relativ geordneten Welt aufwuchsen, die im direkten Umfeld keine Großkrisenerlebnisse wie Krieg kannte, in der Regel einen gesicherten Wohlstand und große individuelle Freiheiten bot.768 Demgegenüber stand die Erfahrung radikaler politisch-gesellschaftlicher sowie wirtschaftlicher Umwälzungen im frühen Erwachsenenalter. An vorderster Stelle wurden von „Netzwerk“-MdBs in diesem Zusammenhang die deutsche Einheit sowie der Zusammenbruch des Ostblocks genannt. Allen voran die in der ehemaligen DDR aufgewachsenen „Netzwerker“ erlebten diese Ereignisse elementar mit, aber auch für westdeutsche Politiker wurde die Relevanz deutlich.769 In jedem Fall bedeuteten die Ereignisse um die Deutsche Einheit für „Netzwerker“ einen grundsätzlichen Bruch mit den bisherigen politischen Gegebenheiten.770 Eine ähnliche Funktion nahmen für die meisten der „Netzwerk“-MdBs die Phänomene der Globalisierung und Europäisierung ein, wenn diese auch einen schleichenden Prozess vornehmlich in den 1990er-Jahren und kein plötzliches Geschehnis darstellten. Dennoch bedeuteten sie das Ende bisheriger, vor allem politisch-ökonomischer Gewissheiten, eine neu zu definierende Rolle des Nationalstaates sowie eine Neubestimmung wirtschaftspolitischer Positionen. Die nationalstaatliche Kompetenz wurde in jedem Fall nach und nach in Frage gestellt. Sowohl in Bezug auf die deutsche Einheit als auch hinsichtlich von Globalisierung und Europäisierung bedeuteten die geschilderten Erfahrungen das fundamentale Erlebnis von Veränderung und Ungewissheit, die in Kontrast standen zur oben geschilderten Konstanz Kohlscher Regierung. In der Adoleszenz oder dem frühen Erwachsenenalter erworbene Einsichten und Erfahrungen, die als zentral für die Ausbildung eines politischen Wertemusters und damit auch politischer Generationen angesehen werden, wurden im späteren Erwachsenenalter verunsichert.771 Die hier in Zusammenhang mit der Sozialisation von „Netzwerkern“ angestellten Beobachtungen sprechen für die These, den Generationenansatz im Sinne eines lebenslangen Lernens um postadoleszente Entwicklungsphasen und damit auch das Erwachsenenalter zu erweitern.772. Zudem fügen sie sich in die ebenfalls bereits erwähnten Überlegungen Kleins, wie innerhalb einer 768
Vgl. Preuss-Lausitz/Zeiher, 1995, in: Preuss-Lausitz, 1995, S. 25. Vgl. Interview Heil, S. 5. Vgl. hierzu auch Claußen, Bernhard: Politisches Lernen in der Risikogesellschaft: Krisen, Gefährdungen und Katastrophen als Sozialisationsfaktoren, in: Claußen, Bernhard/Geißler, Rainer (Hg.): Die Politisierung des Menschen. Instanzen der politischen Sozialisation. Ein Handbuch, Opladen 1996, S. 375-398, besonders S. 381. 771 Vgl. grundlegend Hopf/Hopf, 1997, S. 79-104. 772 Vgl. Zinnecker, 2003, in: Reulecke, 2003. 769 770
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„Generation Golf“ bei Geburtskohorten der 1960er- und 1970er-Jahre eine Wertsynthese von ursprünglichen postmaterialistischen Wertdispositionen mit später erworbenen materialistischen Einstellungen erfolgt sein könnte.773 Ein weiteres Themenfeld der parteiexternen Sozialisationserfahrungen sind verschiedenste Bezüge zur Generation der 68er. So machten einige der „Netzwerker“ auf Erfahrungen mit Angehörigen der 68er-Generation während ihrer Schul- oder Studienlaufbahn aufmerksam, die sie in der Regel als nicht nachahmenswerte Verhaltensweisen deklarierten.775 Darüber hinaus wurde in den meisten Interviews deutlich, dass „Netzwerker“ im Gegensatz zur Generation der 68er keinen grundsätzlichen Elternkonflikt ausgetragen hatten, diesen hatten auch nicht austragen müssen.776 Eines der politisierenden Merkmale der 68erGeneration bestand aber gerade darin, dass sie sich mit den eigenen Eltern und deren Umgang mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hatte. Einen derartigen politischen Grundkonflikt hatten „Netzwerk“-MdBs nicht auszustehen gehabt. Dabei sei in diesem Kontext noch einmal auf die politisch-soziale Herkunft der MdBs sowie deren Motivation zum SPD-Parteieintritt hingewiesen:777 Zwar stammten nur einige „Netzwerker“ aus grundsätzlich sozialdemokratisch eingestellten Elternhäusern und Familien 778, während andere entweder gar keinen politischen Familienhintergrund oder aber eine CDU- oder Grünen-nahe Familie hatten.779 Dennoch hatten die interviewten „Netzwerker“ in der Regel keine größeren Auseinandersetzungen oder Widerstände zu überwinden, als sie sich für den SPD-Eintritt entschieden.780 „Netzwerker“ besaßen somit nicht die Konflikterfahrung mit der eigenen Elterngeneration, welche die 68er unter anderem ideologisch geschult und gestärkt sowie ihr einen revolutionären, aufständlerischen Anstrich verliehen hatte. Parteiinterne Erfahrungen und Ereignisse Die von „Netzwerkern“ geschilderten parteiinternen Sozialisationserlebnisse beziehen sich vor allem auf das Verhalten der sozialdemokratischen 68er beziehungsweise „Enkel“. Daher scheint die Konfrontation mit der Vorgängergenera773
Vgl. Klein, 2003. Vgl. Interview Hauer, S. 20; vgl. zur Schule im Prozess der politischen Sozialisation Kandzora, Gabriele: Schule als vergesellschaftlichtete Einrichtung: Heimlicher Lernplan und politisches Lernen, in: Claußen/Geißler, 1996, S. 71-89; siehe auch grundlegend Zimmermann, Peter: Grundwissen Sozialisation. Einführung zur Sozialisation im Kindes- und Jugendalter, Wiesbaden 2006, S. 117153; siehe auch Nolte, 2004, S. 13. 776 Vgl. beispielsweise Interview Roth, S. 12. 777 Vgl. Hopf/Hopf, 1997, S. 133-154, besonders S. 138 f.; siehe auch Geißler, Rainer: Politische Sozialisation in der Familie, in: Claußen/Geißler, 1996, S. 51-70, besonders S. 56 f. 778 Vgl. Interview Roth, S. 1. 779 Vgl. Interview Raabe, S. 1; Interview Bätzing, S. 1; Interview Griese, S. 12. 780 Als Ausnahme kann an dieser Stelle Sabine Bätzing gelten (vgl. Interview Bätzing, S. 1). 775
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tion für „Netzwerker“ auch maßgeblich und eindrücklicher innerhalb denn außerhalb der Partei stattgefunden zu haben, wobei es wiederum vor allem die seit 1960 geborenen westdeutschen Abgeordneten waren, welche die Auseinandersetzung mit 68ern und „Enkeln“ betonten. Dabei entzündete sich die Hauptkritik der „Netzwerker“ am politischen Stil, dem Aufstiegsmodus sowie dem generationeninternen Umgang der 68er-Generation, symbolisch auf das Handeln der „Enkel“ bezogen. Zunächst stießen sich „Netzwerker“ an der von Hans-Peter Bartels so betitelten „closed-shop“781 Mentalität. Die 68er-Generation, so die Kritik, habe sich nur für ihr eigenes generationelles Fortkommen interessiert und es nachfolgenden, jüngeren Politikern verwehrt, Verantwortung in der Partei zu übernehmen782, was nicht zuletzt durch ihre quantitative Stärke ermöglicht worden sei.783 Erst spät, im Grunde erst in der Bundesregierung ab 1998, sei langsam das Bewusstsein entstanden, dass es notwendig und richtig sei, jüngere Politiker in die Arbeit mit einzubinden. Insofern habe die generationelle Abkapselung der 68er nicht unerheblich zum Nachwuchsproblem der SPD beigetragen.784 Über diese Exklusionstendenz hinaus kritisierten „Netzwerker“ explizit Aufstiegsmechanismus und Umgangsstil der Vorgängergeneration. Dieser sei geprägt gewesen von den Maximen der Konkurrenz und des Konflikts.785 Nach machiavellistischem Politikverständnis sei es im Grunde vorrangig darum gegangen, wer sich im Kampf um die Macht durchsetzte, notfalls auch mit persönlich diffamierenden Mitteln. Vor allem die Konkurrenzkämpfe der „Enkel“ waren den „Netzwerkern“ in dieser Hinsicht ein Dorn im Auge786, da sie verhindert hätten, in gemeinschaftlicher Aktion die Abwahl Helmut Kohls zu betreiben.787 Speziell am Umgang mit Rudolf Scharping und den Geschehnissen auf dem Mannheimer Parteitag im November 1995 machten einige „Netzwerker“ ihre Bedenken fest. Scharping, der seit 1993 Bundesparteivorsitzender gewesen war, hatte im Vorfeld des Parteitags recht glücklos agiert, sich 1994 bei der Bundestagswahl als Kanzlerkandidat nicht gegen Helmut Kohl durchsetzen können und schien zunehmend mit seiner Doppelrolle als Fraktions- und Parteivorsitzender überlastet.788 Auf dem Mannheimer Parteitag nun stellte sich Oskar Lafontaine – zu dieser Zeit Ministerpräsident im Saarland – nach einer von Zuhörern als mitreißend empfundenen Rede zur Kampfkandidatur um den Parteivorsitz gegen 781
Interview Bartels, S. 3. Vgl. beispielsweise Interview Hauer, S. 15. 783 Vgl. beispielsweise Interview Kressl, S 4 f. 784 Vgl. u. a. Bartels, Hans-Peter: „Die SPD ist für junge Wähler nicht mehr attraktiv“, in : Die Welt, 15.09.1999. 785 Vgl. Interview Bartels, S. 3 f. 786 Vgl. beispielsweise Interview Heil, S. 7. 787 Walter, 2002 b, S. 220 f. 788 Vgl. Schwehn, Wolfgang: Völlig von der Rolle, in: Der Tagesspiegel, 27.07.1994. 782
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Scharping – und siegte.790 Viele „Netzwerker“ bekundeten, dass sie vor allem die Art und Weise des Wechsels befremdet, wenn nicht gar entsetzt hätte. Teilweise selbst Teilnehmer des Parteitags, hatte sie vor allem der „menschliche“ Umgang mit Scharping, das unvorhergesehene Wegputschen ohne Ansehen seiner Person abgestoßen.791 Insofern zielte die Kritik auf den politischen Stil der „Enkel“ beziehungsweise der 68er-Generation, deren Umgang untereinander „Netzwerker“ generell bemängelten: In Sitzungen und Gremien werde versucht, sich auf Kosten anderer zu profilieren, und es zeige sich, dass Viele der Vorgängergeneration vermutlich aufgrund der bereits seit Jahrzehnten untereinander schwelenden Konflikte kaum noch fähig seien, ohne strategisch-taktische Hintergedanken miteinander zu kommunizieren.792 „Netzwerker“ schreckte dieser machiavellistische Umgangsstil, der aus ihrer Sicht Privates und Politisches zum Zweck des eigenen Fortkommens vermischte, mehrheitlich ab. Aus diesem Grund waren für sie und ihre jüngere Generation eine vertrauensvolle persönliche Basis sowie ein auf Kooperation setzender Stil attraktiv. Neben den privaten Auseinandersetzungen schien vielen „Netzwerkern“ generell die auf Konflikt setzende Methode des politischen Aufstiegs nicht sinnvoll. 68er und „Enkel“ hätten zu oft gegen etwas statt für etwas gekämpft und Negativschablonen aufgebaut, vor denen sie sich inszenieren konnten. Damit sei die Definition der eigenen politischen Position in der Regel nicht aus eigener Kraft heraus, sondern in Abgrenzung von einem wie auch immer gestalteten Gegenüber erfolgt.793 So hatten sich insbesondere die 1998 in den Bundestag eingezogenen „Netzwerk“-MdBs enttäuscht über den Regierungsstart gezeigt, da sie miterleben mussten, dass bis auf wenige Ausnahmen massive inhaltliche Klärungen innerhalb der Partei nicht stattgefunden hatten, die eigentlich vor einer Machtübernahme hätten erfolgen sollen. Dies führten „Netzwerker“ sie auf die Beobachtung zurück, dass 68er allgemein und mit den „Enkeln“ die Führungspersonen der Partei in den 1990er-Jahren hauptsächlich mit ihren eigenen Machtkämpfen beschäftigt gewesen seien, ohne eigene Maßstäbe zu definieren.796 Auch aus dieser Enttäuschung heraus hatte die Programmdebatte der SPD für „Netzwerker“ eine zentrale Stellung, und auch aus dieser Unzufriedenheit heraus wollten sie innerhalb ihrer eigenen Gruppierung inhaltlich diskutieren. 790 Vgl. o. V.: Lafontaine reißt Parteitag zu Begeisterungsstürmen hin, in: Süddeutsche Zeitung, 16.11.1995; o. V.: Der Saarländer aber gewann die Herzen der Genossen, in: Frankfurter Rundschau, 17.11.1995. 791 Vgl. beispielsweise Interview Vogt, S. 10. 792 Vgl. ebd., S. 8. 793 Vgl. Interview Bartels, S. 7. 796 Vgl. Interview Bartels, S. 7.
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Als einen dritten Kritikpunkt, der sich mit den vorhergehenden vermischte, äußerten „Netzwerker“ den Umgang der 68er beziehungsweise „Enkel“ mit den Medien. So empfanden sie es als nicht richtig, dass die Protagonisten der Vorgängergeneration ihre Auseinandersetzungen oftmals öffentlich austrugen797, anstatt bei Spannungen den direkten Kontakt und das persönliche Gespräch zu suchen. Dies führte in ihrer Interpretation zum einen dazu, dass die oben genannten persönlichen Angriffe umso verletzender wirken konnten und Privates der öffentlichen Kritik zur Schau gestellt wurde. Zum anderen behinderten teilweise der allzu freizügige Umgang mit Medien und Regieren über Schlagzeilen, wie beispielsweise bei der von Schröder betriebenen Telepolitik799, den politischen Prozess. Sinnvoller sei es, politische Probleme zunächst innerhalb der dafür zuständigen Gremien zu klären, als durch die unvermittelte Einschaltung der Medien einen zusätzlichen äußeren Handlungsdruck aufzubauen.800 An dieser Stelle wird das in der Gruppierung herrschende Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit noch einmal deutlich. Einerseits strebte das „Netzwerk“ danach, den politischen Prozess transparenter zu gestalten und Debatten für Disziplinen wie Wissenschaft, Journalismus und Wirtschaft, die nicht zum Kernbereich der Politik gehören, zu öffnen. Andererseits aber war dem „Netzwerk“ an einem geschützten Raum innerhalb der Politik gelegen, in dem Diskussionen werden konnten, ohne dass die Gefahr bestand, Details am nächsten Morgen in der Zeitung lesen zu müssen.801 Zwischen diesen beiden Zielen – der Transparenz und damit auch Öffentlichkeit politischen Handelns und Debattierens einerseits sowie dem Schutz parteiinterner Prozesse und Diskussionen andererseits – suchte das „Netzwerk“ nach einem eigenen Weg, um den von ihnen als fehlerhaft erkannten Stil der Vorgängergeneration zu korrigieren. Schlussendlich setzten sich „Netzwerker“ in den geführten Interviews besonders kritisch mit der Person Oskar Lafontaines auseinander. Offenbar kam dem Saarländer unter allen parteiinternen Führungspersonen seiner Generation in positiver wie in negativer Hinsicht eine heraus gehobene Bedeutung zu. So wurde Lafontaine insbesondere von den in den 1960er-Jahren folgende geborenen westdeutschen „Netzwerkern“ in den 1980er-Jahren als eine Art politische Leitfigur angesehen.803 Mit seiner Person symbolisierte er das Bemühen der Sozialdemokratie, die aufkommenden postmaterialistischen Interessen jüngerer Men797
Vgl. als Beispiel Interview Hauer, S. 13. Vgl. zur Politik Schröders Korte, Karl-Rudolf: Der Pragmatiker des Augenblicks: das Politikmanagement von Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002-2005, in: Egle/Zohlnhöfer, 2007, S. 168-196, hier S. 186 ff. 800 Vgl. Interview Stender, S. 5. 801 Vgl. hierzu ähnlich Interview Stender, S. 5. 803 Vgl. Interview Heil, S. 4; Interview Roth, S. 1; Interview Griese, S. 10; Interview Bartol, S. 1 f. 799
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schen aufzunehmen und sie in die Partei zu integrieren, da er sich in den 1980erJahren als Vorkämpfer friedenspolitischer Abrüstungsbemühungen und ökologischer Interessen gerierte.804 Sein Umgang mit dem zeitgenössischen postmaterialistischen Trend galt Vielen in der SPD als Ausweg aus dem machtstrategischen Dilemma, in welches sich die Partei seit Aufkommen der Grünen gezwungen sah: Bei den Landtagswahlen im Saarland 1985 gelang es Lafontaine, die Grünen bedeutungslos zu halten, während die SPD mit 49,2% der Stimmen mit absoluter Mehrheit regieren konnte.805 Der Saarländer galt somit als moderner Politiker, der vor unkonventionellen Wegen der SPD nicht zurück schreckte und seine Partei zeitgenössischen Trends gegenüber zu öffnen bereit war. Für viele der damals jungen „Netzwerker“ verband sich mit der Person Lafontaines somit die Möglichkeit, ihre Interessen im Bereich der Ökologie und Friedenspolitik innerhalb der SPD zu verwirklichen und die damals heftig diskutierten Politikfelder Arbeit und Umwelt miteinander zu versöhnen.806 Eine zusätzliche Bindung an die Person Lafontaines dürfte mit seiner Übernahme des Parteivorsitzes 1995 erfolgt sein. Zwar kritisierten „Netzwerker“ die Art des Führungswechsels, die Tatsache an sich stand jedoch weniger zur Debatte. Zudem gelang es dem Saarländer, nach den langen Jahren der partei- und generationsinternen Auseinandersetzungen die Flügelkämpfe zu befrieden, die SPD wieder zu festigen und gegenüber dem politischen Gegner der konservativliberalen Bundesregierung zu positionieren. Die gewonnene Bundestagswahl 1998 ging, darin waren sich Beobachter einig, zu einem Gutteil auch auf Lafontaines Führungsverhalten als Parteichef zurück.808 Einiges spricht also dafür, dass Lafontaine mindestens bis 1998 ein hohes Identifikationspotenzial für nachkommende Politiker allgemein und für „Netzwerker“ im Speziellen bot. Umso schmerzlicher erlebten viele seinen Rücktritt im März 1999.809 Über den plötzlichen Abgang aus Parteivorsitz und Bundesfinanzministerium verband sich für die meisten „Netzwerker“ nicht nur die Kritik am Stil des Vorgehens, sondern auch eine persönliche und politische Enttäuschung. Zugespitzt formuliert versinnbildlichte Lafontaines Geste das Scheitern der Idee eines rot-grünen Projekts.810 Sie symbolisierte in den Augen der Nachkommenden aber auch das – persönliche – Versagen der „Enkel“-Generation. Damit war die potenzielle Orientierungs- und Vorbildfunktion der Vorgängergeneration für den eigenen politischen Weg der jüngeren „Netzwerker“ so gut wie 804
Vgl. zu Lafontaine u. a. Schlieben, 2007, in: Forkmann/Richter, 2007; Walter, 2002 b, S. 221 ff. Vgl. Filmer, Werner/Schwan, Heribert: Oskar Lafontaine, Düsseldorf 1990, S. 136 f. 806 Vgl. Interview Bodewig, S. 3 f. 808 Vgl. Walter, 2002 b, S. 251 f. 809 Vgl. beispielhaft Interview Bartol, S. 2. 810 Vgl. als Gegenposition Bartels, Hans-Peter: Es ist ein Mann gescheitert, kein Projekt, in: Neues Deutschland, 29.10.1999. 805
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erloschen und die Dringlichkeit der eigenen generationsinternen Selbstvergewisserung, wie sie im „Netzwerk“ unter anderem angestrebt wurde, verdeutlicht. 7.2 Einzelporträts Die zu porträtierenden Personen wurden durch eine Mischung aus Positions -und Reputationsmethode ausgewählt.811 Im Näheren handelt es sich dabei zum einen um die Sprecher des „Netzwerks“ der Jahre 1999-2005 (Hans-Peter Bartels, Siegmund Ehrmann, Kerstin Griese, Nina Hauer, Hubertus Heil, Christian Lange und Carola Reimann).812 Zum anderen wurden Christoph Matschie und Ute Vogt als jene Politiker ausgewählt, die explizit Mitglied des „Netzwerks“ waren und als Staatssekretäre sowohl in die rot-grüne Bundesregierung aufrückten als auch auf Landesebene als Parteivorsitzende und Spitzenkandidaten Führungspositionen innehatten. Unter Umständen wäre es plausibel gewesen, auch Sigmar Gabriel, seit 2005 offiziell „Netzwerker“ und zeitgleich Bundesumweltminister, zu porträtieren. Doch musste im Rahmen dieser Arbeit eine gewisse Grenzziehung und Beschränkung erfolgen, die sich am Untersuchungszeitraum 1998 bis Ende 2005 orientierte. In diesem Zeitraum war Gabriel kein offizielles „Netzwerk“Mitglied, sein Verhältnis zur Gruppierung ambivalent.813 Aus diesem Grund beschränkt sich die vorliegende Untersuchung bei der Auswahl der Porträts auf die neun oben genannten Akteure. 7.2.1 Hubertus Heil – Das „political animal“ Als dem gebürtigen Peiner Hubertus Heil im Herbst 2005 am Vorabend seines 33. Geburtstags das Amt des Generalsekretärs der SPD angetragen wurde, war dies der vorläufige Höhepunkt seiner Politikerkarriere. Zwar gab es auch zu diesem Zeitpunkt bereits Stimmen im Medienecho, die seine langjährige „Ochsentour“ sowie seine fundierten Organisationskenntnisse unterstrichen814, doch hatte wohl niemand im September 1998 geahnt, dass der junge Bundestagsabgeordnete sich nur sieben Jahre später in einer der Spitzenpositionen der Sozialdemokratie wieder finden würde.
811
Vgl. zur Methode Müller-Rommel, 1982, S. 210. Die Nennung erfolgte in alphabetischer Reihenfolge. Vgl. u. a. Perger, Werner A.: Neu im Netzwerk, in: Die Zeit, 14.11.2003. 814 Vgl. Schmitt-Roschmann, Verena: Gut vernetzt an die Spitze, in: Associated Press Worldstream – German, 03.11.2005. 812 813
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Ein „Netzwerker“ mit Stallgeruch? Heils politischer Aufstieg vollzog sich zwar zum einen in einem beeindruckenden Tempo, zum anderen aber auch in einer erstaunlichen Geradlinigkeit und Konsequenz. 1972 wurde er in Peine geboren, wo er auch aufwuchs und das Abitur absolvierte. Er selbst nennt sein Elternhaus kein klassisch sozialdemokratisches.815 Vielmehr wuchs Heil in einem bildungsbürgerlichen Umfeld auf, war seine Mutter doch Studienrätin. Die natürliche Heranführung an historische und zeitgeschichtliche Themen geschah denn auch über jene Mutter, die das Schulfach Geschichte unterrichtete: „Die war wohl auch politisch immer so sozialliberal, so ´ne Zeitung lesende Studienrätin. [...] Meine Mutter ist Historikerin, hat mir immer viel Geschichte erzählt, auch schon als Kind, in Form von Geschichten. Und Zeitgeschichte [hat mich, d. V.] eben auch sehr intensiv als Hobby, wenn man so will, beschäftigt. [...] Also war Geschichte mein Ding.“816
Im Gegensatz zur Vorgängergeneration erfolgte Heilse spätere Hinwendung zur Sozialdemokratie keineswegs aus Rebellion gegenüber der Herkunftsfamilie817, sondern führte die Überzeugungen des Elternhauses fort.818 Während er seiner Mutter also explizit eine zentrale Funktion im Prozess der politischen Sozialisation zusprach, spielte Heils Vater kaum eine Rolle, da er die Familie verließ, als Heil gerade einmal sechs Jahre alt war. Die Mutter war von nun an mit zwei kleinen Kindern auf sich selbst gestellt.820 Neben seiner Mutter nennt Heil eine weitere Person, die ihn in seiner politischen Orientierung und Erziehung beeinflusste: „Was mich auch geprägt hat, war ´ne Frau, die ich Oma genannt hab, die es biologisch nicht ist, die meine Kinderfrau war [...]. Ähm, die war Landarbeiterin auf ´nem kleinen Ort, Ötzum, 84 Einwohner, und hat sich, weil meine Mutter voll berufstätig war, sehr um uns gekümmert, um meinen Bruder und mich. Und, ähm, die hat sicher nie ´n Parteiprogramm gelesen oder ´ne SPD-Versammlung besucht, war auch kein SPD-Mitglied, aber das war so ´ne Sozialdemokratin. Die hatte immer zwei Sätze, die ich auch noch als Kind noch im Ohr hatte. Das erste ist: Willy Brandt und Helmut Schmidt haben für Frieden gesorgt und uns vor Kriegen bewahrt. Das zweite war, ähm, dieses, die SPD kümmert sich um uns, wenn es uns auch nicht hilft, aber damit es unseren Kindern besser geht.“822
Bereits hier zeigte sich also eine Affinität zur Sozialdemokratie. Seinen weiteren politischen Weg beschritt Heil in geradezu klassischer Manier: Mit circa 14
815
Vgl. Interview Heil, S. 1. Ebd., S. 1 f. 817 Vgl. Kapitel 5. 818 Vgl. u.a. Geißler, Rainer, 1996, in: Claußen/Geißler, 1996, besonders S. 56 f. 820 Heils jüngerer Bruder Georg wurde 1977 geboren. 822 Interview Heil, S. 2. 816
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Jahren engagierte er sich in der Schülervertretung823, wurde Schulsprecher und Stadtschülerratssprecher, bevor er 1988 mit 15 Jahren zu den Peiner Jungsozialisten kam.824 Ein undogmatischer Juso in Nadelstreifen Gern wurde die Anekdote kolportiert, Heil sei bei seinem ersten Besuch bei den Peiner Jusos sowohl wegen seines Äußeren mit förmlichem Jacket als auch aufgrund der Frage nach der Finanzierung der örtlichen Jusoarbeit für einen Spitzel der Jungen Union gehalten worden.825 Diese elegante Äußerlichkeit, der biedere Habitus sollten in späteren Jahren ein Markenzeichen werden, das dem „Netzwerk“ häufig zur Kritik gereichte, wollte es doch so gar nicht zum Typus des jugendlichen Rebellen passen.826 Dennoch erarbeitete Heil sich in Diskussionen rasch den Respekt der Peiner Jusos, die in mehrfacher Hinsicht für seinen Werdegang bedeutungsvoll wurden: Denn sie fundierten, erstens, seine ideologische Orientierung innerhalb des Jugendverbands und der Partei, sie begründeten, zweitens, den Zugang zu bestimmten Themen und nicht zuletzt wurden hier, drittens, Grundlagen für persönliche Beziehungen gelegt, die Heil in seiner gesamten politischen Karriere begleiteten. Zunächst: Im innerverbandlichen Gefüge der Jungsozialisten in den 1980er Jahren verortete sich die Peiner Ortsgruppe klar im undogmatischen Lager, grenzte sich also vor allem von den Stamokaps ab: „Wo man zu den Jusos kam, wurde man auch eher in die eine oder in die andere Richtung sozialisiert. Es war habituell ein Unterschied. Also, wenn du in Wolfsburg zu den Jusos gegangen bist, das waren die im Bezirk Braunschweig, die den Stamis angehörten, also die Minderheit hier, die haben nur über Automobilindustrie, über postfordistische Produktionsweisen oder so was diskutiert. Ähm, waren relativ abgehoben, legten Wert auf viel Marxzitate in ihren Stellungnahmen, und hier war man eher praktischer veranlagt.“828
Die Arbeitsweise der Peiner Jusos entsprach Heils Vorstellungen: Sie betrieben ein Programmkino und eine Zeitung, engagierten sich gegen das geplante Atommüllendlager Schacht Konrad, in der örtlichen Jugendarbeit, in Schulen und gegen Rechtsradikalismus. Es waren konkrete, an tagesaktuellem Geschehen orientierte Aktionen, die Heils pragmatische Veranlagung verstärkt haben dürften. Auch als er nach raschem Aufstieg nur drei Jahre später als 823
Vgl. Meyer, Tim: Hubertus und der Schreibtisch-Stein, in: Die Tageszeitung, 16.06.2005. Vgl. Interview Heil, S. 1. 825 Vgl. ebd., S. 3; siehe auch König, Jens: Einer von den Anti-Schröders, in: Die Tageszeitung, 04.11.2005. 826 Vgl. zur Kritik beispielsweise Walter, Franz: Selbstgenügsam und pausbäckig, in: Die Welt, 25.10.2003. 828 Interview Heil., S. 10 f. 824
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Jusobezirksvorsitzender auf Bundesebene aktiv wurde, ordnete Heil sich ganz selbstverständlich im undogmatischen Lager ein.829 Doch war Heils Engagement bei den Jungsozialisten nicht nur Weichen stellend für die innerparteiliche ideologische Einordnung, sondern auch hinsichtlich der Priorität für bestimmte Themen. Besonders der Zugang zu Bildung und ihre positive Funktion beeindruckten den jungen Juso tief. Auf Wochenendseminaren, durch Textarbeit und Diskussionen eröffneten sich ihm „Bücher und Welten“830, die ihm bislang unbekannt gewesen waren. Sein Engagement bei den Jusos beinhaltete für Heil also auch einen ganz individuellen, bildungsbiografischen Gewinn. Zudem bedeutete eine jungsozialistische Sozialisation in den 1980er-Jahren für Heil wie auch für andere „Netzwerker“ das selbstverständliche Erschließen bestimmter „grüner“ Themenbereiche: Angefangen beim Protest gegen Schacht Konrad über Diskussionen zu Ökosteuer und sozialökologischem Umbau der Gesellschaft bis hin zur Euphorie für ein rot-grünes politisches Projekt war Hubertus Heil ein Kind seiner Zeit.831 Wie viele andere, so teilte auch Heil – zumindest bis zur deutschen Einheit – die jugendliche Begeisterung für Oskar Lafontaine, den er als erfrischend und unkonventionell erlebte.832 Doch trotz der teils unkritischen, euphorischen Annahme jener „Enkel“-Themen im rotgrünen Grenzbereich, unterschieden sich „Netzwerker“ und somit auch Hubertus Heil in diesem Punkt von ihrer Vorgängergeneration. Denn während sich Politiker wie Lafontaine oder Schröder Positionen und Konzepte wie beispielsweise die Ökosteuer erst in einem harten innerlichen und äußerlichen Kampf erkämpfen mussten, waren sie für die Generation der „Netzwerker“ internalisiertes Gemeingut. Allerdings trat Heil nicht den Grünen, sondern der SPD bei. Er begründete seine Entscheidung ähnlich wie viele andere „Netzwerker“: Zum einen waren die Grünen in den 1980-er-Jahren noch nicht derart flächendeckend organisiert, dass sie in jedem Ort existierten, so dass es schlicht keine Möglichkeit gab, sich vor Ort in der Partei zu engagieren. Zum anderen aber, und dies erscheint als inhaltliches Argument wesentlicher, wurden nach Ansicht Heils ökologische und allgemein postmaterialistische Fragestellungen zwar eindeutig von den Grünen repräsentiert, aber so genannte soziale Fragen, also klassisch materialistische Verteilungsprobleme und Arbeitnehmerinteressen, ordnete er der Hoheitskompetenz der Sozialdemokraten zu.833 Demgegenüber empfand er den postmaterialistischen Anstrich, den sich die SPD in den 1980er-Jahren gab, als ausreichend. Schlussendlich spielte aber auch – nahezu typisch für „Netzwerker“ – die habitu829
Vgl. ebd., S. 8 f. Interview Heil, S. 3. Vgl. beispielsweise ebd., S. 8 bzw. 11. 832 Vgl. ebd., S. 4 f. 833 Vgl. ebd., S. 2. 830 831
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elle Differenz eine Rolle: Die Grünen erschienen als zu ungeordnet, zu wirr – sowohl im äußeren Erscheinungsbild als auch in ihrer Arbeits- und Diskussionskultur.834 Ein dritter Punkt, der Heils Jusovergangenheit eine Bedeutung weit über den konkreten Zeitkontext hinaus gab, bestand in den persönlichen Netzwerken und Kontakten. Im Peiner Ortsverband war es vor allem der 1962 geborene Klaus Ness, der als intellektueller Kopf vor Ort galt, welcher Heil beeindruckte und förderte.836 Wie bereits skizziert, entsponnen sich bei Treffen auf Bundesebene, bei Kongressen und Arbeitsgruppen Kontakte, teils gar Freundschaften zu Kerstin Griese, Carsten Stender oder Ute Vogt.837 Damit zeigte sich bereits an dieser Stelle seines politischen Weges ein Talent Heils, das für aufstiegwillige Politiker wenn nicht gar wesentlich, so doch ausgesprochen hilfreich ist: die Fähigkeit, persönliche Bindungen zu finden und auch über Jahre aufrecht zu erhalten und loyal zu pflegen. Zwischen Kohl und Schröder – Heil als Kind seiner Zeit Neben Lafontaine setzte Heil sich mit Gerhard Schröder in Niedersachsen noch mit einem weiteren „Enkel“ auseinander. Während Heil Schröders Wahl zum Ministerpräsidenten 1990 noch als befreiend, als kulturellen Aufbruch empfand838, veränderte sich diese Sicht auf die sozialdemokratische „Enkel“Generation im Laufe der Jahre deutlich. Einen ersten Einschnitt bildeten der Fall der Berliner Mauer und der deutsche Einigungsprozess. Zu Zeiten der deutschen Teilung lag Peine im so genannten Zonenrandgebiet, so dass Heil mit Insignien der DDR vertraut war, beispielsweise DDR-Fernsehen konsumierte.839 Aus dieser lokalen Betroffenheit und seinem Geschichtsinteresse heraus, gepaart mit der Tatsache, dass sich Heil zu diesem Zeitpunkt mit 17 beziehungsweise 18 Jahren noch mitten im Prozess der politischen Sozialisation befand, mussten die Ereignisse von 1989/90 auf ihn eine ungemeine Faszination ausüben: „Und ich bin begeistert ´90 nach Magdeburg, nach Ackersleben gefahren, und hab die Schule geschwänzt und da im Wahlkampf geholfen. Und Du merktest halt, das Wegbrechen des Kommunismus, das haben zwar alle tausendmal erzählt, aber das ist was. Weil ich mich eben immer für Geschichte interessierte, war das sozusagen ein politisches Erwachen und eben dieser Weltumbruch da in der gleichen Zeit, das war schon irre.“840
834
Interview Heil, S. 2. Vgl. ebd., S. 3. 837 Vgl. ebd., S. 10. 838 Vgl. ebd., S. 8. 839 Vgl. ebd., S. 5. 840 Interview Heil, S. 5 f. 836
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Umso unverständlicher erschien Heil die Bewertung der historischen Ereignisse durch weite Teile des Parteiestablishments, vorrangig der „Enkel“. Die Debatte um eine potenzielle deutsche Zweistaatlichkeit, die Skepsis gegenüber der deutschen Vereinigung und vor allem die Position Lafontaines als SPD-Spitzenkandidat im Bundeswahlkampf 1990 konnte Heil nicht teilen.841 Lafontaines Zweifel an der Richtigkeit der deutschen Einheit, seine Warnungen vor den – sozialen und wirtschaftlichen – Risiken und nicht zuletzt seine Aussage, er fühle sich den Menschen in Frankreich näher als jenen in der DDR, empfand der junge Peiner als unangebracht und kalt.842 Aus seiner Sicht konnten große Teile der deutschen Sozialdemokratie mit der neuen, gesamtdeutschen Situation nicht umgehen und diese nicht in ihr bestehendes Weltbild integrieren.843 Diese ersten Zweifel an den einst bewunderten Enkeln wurden im Lauf der 1990er-Jahre weiter genährt. Den Gestus vieler aus der 68er-Politikergeneration als die „Ewig-Jugendlichen“ empfand Heil als zunehmend unangebracht vor dem Hintergrund, dass die meisten von ihnen zum Parteiestablishment gehörten.844 Zudem kritisierte er die mangelnde Nachwuchsförderung der Enkel, die geringe Bereitschaft, nach und nach auch Jüngere in die Verantwortung in der Partei oder auf Regierungsebene einzuführen.845 Auch in Peine hatte Heil die Erfahrung gemacht: „Also in Peine, um es praktisch zu setteln, war es so, dass ganz viele dieser Jusos als Knechte unheimlich viele dieser Wahlkämpfe gemacht haben, aber real in der Partei keine Chance hatten. Und auch eigentlich keine Perspektive. Nun gibt´s hier keine Uni oder ähnliches, die sind weggegangen. Und die fehlen uns heute. […] die Partei hat da keine Nachwuchsförderung gemacht.“846
Ebenso negativ erlebte Heil die internen sozialdemokratischen Machtkämpfe in den 1990er-Jahren: „Und, ja, dann war dieses Gezänk in den 90ern, dieses gegenseitige Belauern der Parteivorsitzenden, der Oskar, der Gert, der Björn, der Rudolf und wie sie alle hießen, die Heidi... Dieses gegenseitig einander sich ´n Bein stellen […].“847
Auffällig ist, dass Heils Kritik an der SPD-internen Vorgängergeneration bis zu diesem Zeitpunkt neben inhaltlichen Aspekten stark auf die kulturell-habituelle Ebene zielte. Das Klagen über die Abschottungsmentalität einer politischen Generation, die als mangelhaft empfundene Nachwuchsarbeit und die Diskussion 841
Vgl. zu den SPD-Debatten und zu Lafontaine Schlieben, 2007, in: Forkmann/Richter, 2007. Vgl. Interview Heil, S. 5. Vgl. ebd., S. 5. 844 Vgl. ebd., S. 7. 845 Vgl. o. V.: Keine Scheu vor offener Aussprache. Hundert junge Sozialdemokraten mahnen bei Scharping mehr Posten und Beteiligung an, in: Süddeutsche Zeitung, 23.10.1995. 846 Interview Heil, S. 7. 847 Ebd., S. 7 f. 842 843
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über einen angemessenen Umgang mit parteiinterner Konkurrenz beziehen sich im Kern auf Fragen der politischen Kultur und des Führungsstils. Neben der deutschen Wiedervereinigung waren es der rot-grüne Wahlsieg 1998 und damit der Einzug in den Bundestag als Abgeordneter, die Heil in mehrfacher Hinsicht prägten und die Kritik an den „Enkeln“ bestärkten. Mit dem Geburtsjahr 1972 hatte der Peiner quasi seit Beginn seines politischen Interesses unter einer von Helmut Kohl geführten Bundesregierung gelebt: „Es gab noch einen, der mich geprägt hat, vielleicht noch mehr als die Enkel, die Tatsache, dass es Helmut Kohl gab. […] In meinem Elternhaus ist nie gut über den geredet worden. Meine Oma hat schlecht über den geredet, nur über Strauß hat sie noch schlechter geredet. […] aber diese Art der politischen Behäbigkeit, dieses Spießig-Vermuffte, das war auch Antrieb sich zu engagieren.“848
Heils politische Aktivitäten fanden somit lange aus einer oppositionellen Stellung heraus und im Streben nach dem Regierungswechsel statt. Letzteres aber verband sich – quasi in Personalunion – mit den sozialdemokratischen „Enkeln“ und der Vorstellung eines rot-grünen Projekts, das nicht nur eine quantitative Mehrheitsoption bezeichnete, sondern auch einen qualitativen Lebenswandel, eine bessere Politik für eine bessere Gesellschaft. Als Heil 1998 in den Bundestag einzog, schien mit seinem biografischen Karrieresprung auch sein politisches Ziel verwirklicht. Doch erlebte der blutjunge Abgeordnete offensichtlich eine herbe Enttäuschung: Rot-Grün erwies sich als wenig inhaltsreich, eben doch schlicht als eine Potenzialität zu einer linken Regierungsmehrheit. Die Gesetzesentwürfe, welche die so oft diskutierten postmaterialistischen Themen wie die Ökosteuer oder die neue Stellung der Erwerbsarbeit in gültiges Recht gießen sollten, existierten nicht.849 Im Interview machte Heil seine Ernüchterung wie folgt deutlich: „Aber dieses Jahr ´99, da hab ich auch politisch gespürt, […] dass wir eben nicht auf Regierungsverantwortung richtig vorbereitet waren. Zentrale Themen einfach mit Slogans überdeckt haben. Dramatische Fragen, die hätten in den ´90ern geklärt werden müssen, die nicht wie bei New Labour vorher geklärt waren, sondern offen waren. […] Zum einen, glaube ich, weil diejenigen, die die Partei in den 90ern geführt haben, viel zu viel mit sich selbst untereinander beschäftigt waren, sich auszuschießen. Also, die Enkel haben sich da weggebissen, weggehackt. […] Aber man war, wie gesagt, man hatte so ´n Grundgefühl in der Generation, aber die ganz harten Fragen konzeptionell zu klären, das war a) anstrengend und b) auch nicht deren Sache. Also, das waren ja alles keine Programmatiker oder so was. ´Nen programmatischen Kopf gab´s nicht. Das waren eher Volkstribune, gute Landesväter, ähm, eine Mutter. Und die waren eben mit Kungeleien untereinander beschäftigt.“850 848
Ebd., S. 6. Vgl. Interview Heil, S. 13. 850 Ebd., S. 14. 849
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Auch die hier geäußerten Kritikpunkte zielen zwar auf fehlende Inhalte beziehungsweise mangelnde Operationalisierung von Themen, doch zugrunde liegt der Vorwurf eines Führungsversagens. Durch die gegenseitigen Blockaden von führenden Politikern der „Enkel“-Generation, durch Verletzungen und Kämpfe auf dem Weg zur Macht wurde es nach Ansicht Heils versäumt, tatsächlich regierungsadäquate Politikkonzepte zu entwerfen. Mit 25 in den Bundestag Als Hubertus Heil mit 25 Jahren Bundestagsabgeordneter wurde, gehörte er zu den jüngsten unter seinen neuen Kollegen. Zunächst hatte Heil 1995 seiner Heimatstadt den Rücken gekehrt und war zum Studium der Soziologie und Politikwissenschaft nach Potsdam gezogen, wohin er durch den ehemaligen Peiner Juso Klaus Ness bereits Beziehungen besaß. Zwar tauchte Heil auch hier teilweise in die Jusoszene ein, doch war ihm offenkundig daran gelegen, „jetzt richtige SPD“852 zu machen. Er fand eine Beschäftigung beim Brandenburger Landtag und knüpfte Beziehungen zur Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA), dessen Geschäftsführer im Landesverband Brandenburg er von 1995 bis 1997 war.853 Seine Orientierung war nunmehr ganz auf Brandenburg und Potsdam ausgerichtet, doch ließ er den Kontakt in seine Heimat nie völlig abbrechen, verfasste beispielsweise für die ortsansässige SPD ein Kommunalwahlprogramm.854 Als 1997 die Peiner SPD-Kandidatin Eva Schlaugat (geborene Folta) in den Bundestag nachrückte, kamen Heil seine Heimatverbundenheit und die betriebene Kontaktpflege zu Gute. Schlaugat holte Heil, als Mitarbeiter in ihr Abgeordnetenbüro und schlug ihm vor, als ihr Nachfolger für den Bundestag zu kandidieren.855 Heil allerdings war zunächst skeptisch: Statt umstandslos anzutreten, beriet er sich mit einigen wenigen Freunden; gab zu bedenken, dass sein Studium noch nicht abgeschlossen, er für die konservative Peiner SPD zu jung sei.856 Dieses Vorgehen zeigte ein Grundmuster Heilschen Handelns, seines Führungsstils: Heil zeigte sich explizit offen für Beratung. Seine Entscheidungen fällte er in der Regel nicht überstürzt, sondern nach reiflicher Überlegung und durchaus auch in Konferenz mit Vertrauten. Auch nach seinem Einzug in den Bundestag war er nach kurzer Zeit der Ansicht, dass er allein die vielen auf ihn einprasselnden Informationen und Ansprüche nicht würde bündeln können. So suchte er sich ein so genanntes „Brain“ zusammen, einen Beraterkreis aus Vertretern verschiedens852
Interview Heil, S. 9. Vgl. Interview Heil, S. 9. Vgl. Interview Heil, S. 11. 855 Vgl. o. V.: „Hubi, pass` auf dich auf!“, in: Die Tageszeitung, 04.11.2005. 856 Vgl. Interview Heil, S. 11. 853 854
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ter, sich ergänzender Disziplinen.857 Die Funktion dieses Beraterkreises war eine Melange aus Coaching, Weiterbildungszirkel und Freundschaftsnetz und spiegelte Heils Bedürfnis nach und seine Akzeptanz von Beratung wider. 1997 entschied sich Heil für die sich ihm bietende Chance und bewarb sich um die Bundestagskandidatur, ohne Absicherung durch einen Listenplatz. Doch gab es in Heils Wahlkreis gleich fünf Berwerber um die Kandidatur.859 Heil absolvierte die klassische „Ochsentour“ durch die Ortsvereine, stellte sich den Fragen und den Mitbewerbern – und gewann die Nominierung.860 Wenngleich der Wahlkampf an sich auch vergleichsweise leicht gewesen sein dürfte – mit dem Rückenwind der gesamtdeutschen Wechselstimmung, einem niedersächsischen Kanzlerkandidaten, der sich zudem im Wahlkreis Heils erfolgreich um dem Erhalt zahlreicher Arbeitsplätze bemühte861 –, der Kampf um die Kandidatur war beschwerlicher. Für viele „Netzwerker“ bedeutete deshalb gerade das Erringen des Direktmandats in einem relativ frühen Stadium der politischen Karriere eine Stärkung des politischen Selbstbewusstseins. Der Start als Abgeordneter war jedoch problematisch. Heil schlitterte in eine Krise:862 „630-Mark-Jobs, Scheinselbständigkeit, Oskarabgang, innerparteiliche Auseinandersetzung um Kosovokrieg, verlorene Europawahl und dazu gab´s einfach ´nen Lebensrhythmus... […] den ich, was Mangel an Zeitsouveränität betrifft, nicht kannte. Ich hab auch als Abgeordnetenmitarbeiter gearbeitet, wusste auch, dass man was organisieren muss. Aber wie gut man mit Zeit, Aufmerksamkeit, mit Ordnung umgehen muss... […] Das war im ersten Jahr richtiges Chaos. […] Ende ´99 war ich platt.“863
Die oben beschriebene Enttäuschung über die sozialdemokratische Regierungspolitik, über die aus Sicht Heils mangelnde Führungsfähigkeit der obersten Parteiebene mischte sich mit privaten Schwierigkeiten. Obwohl Heil bereits einigen Jahren Kontakt zur Abgeordnetentätigkeit gehabt hatte, er im Grunde auch mit seinem Studium auf Politik als Beruf zugesteuert war, war er doch zunächst von der neuen Aufgabe überfordert, bis er sich nach einiger Zeit und organisatorischen Maßnahmen innerhalb des eigenen Büros wieder fing. Hierin zeigt sich ein Muster Heils: Er war durchaus fähig, aus Fehlern, die er einmal als solche für sich erkannt hatte, zu lernen. 857
Vgl. auch ebd., S. 49. Vgl. Interview Heil, S. 12. 860 Vgl. ebd., S. 12. 861 Vgl. ebd., S. 13. 862 Vgl. auch Meyer, Tim: Hubertus und der Schreibtisch-Stein, in: Die Tageszeitung, 16.06.2005; siehe auch Wiesendahl, Elmar: Zum Tätigkeits- und Anforderungsprofil von Politikern, in: Brink, Stefan/Wolff, Heinrich Amadeus (Hg.): Gemeinwohl und Verantwortung, Festschrift für HansHerbert von Arnim zum 65. Geburtstag, Berlin 2004, S. 167-188, hier S. 179. 863 Interview Heil, S. 14. 859
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Stabilisierung und Ausbau Ähnlich ging Heil mit seinem Engagement im Bundestag um: Nachdem er von 1998 bis 2002 Mitglied im Ausschuss für Gesundheit gewesen war, sich unter anderem mit Drogenpolitik und im Speziellen dem legalisierten Gebrauch von Cannabis beschäftigt hatte864, bemühte er sich bei der Verlängerung seines Mandats um ein anderes Tätigkeitsfeld. Denn er war der Ansicht, dass dieses Arbeitsgebiet weder optimal seinen Kompetenzen, noch seinen Interessen entsprach. Stattdessen führte er in seiner zweiten Legislaturperiode den Ausschuss für Telekommunikation weiter und engagierte sich zusätzlich im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit. In diesem Bereich erarbeitete er sich fachliche Kompetenz und Ansehen: Er beschäftigte sich mit Themen im Bereich von Informations- und Kommunikationstechnologien, diskutierte über Wasserwirtschaft, setzte sich mit der Technologie von Brennstoffzellen und mit dem Europäischen Elektronischen Signaturgesetz (EEG) auseinander – kurz: Er leistete inhaltliche Kärrnerarbeit. Parallel dazu intensivierte Heil auf mehreren Ebenen seine Parteitätigkeit: Zunächst übernahm er nach und nach Positionen auf lokaler Ebene, wurde stellvertretender Ortsvereinsvorsitzender, dann stellvertretender Bezirksvorsitzender. Wie die meisten vor allem der Gründungs-„Netzwerker“ absolvierte er eine vollkommen reguläre sozialdemokratische Parteikarriere. Neben seinen Ambitionen auf lokaler Parteiebene jedoch initiierte Heil in der Bundeshauptstadt mit einigen anderen das „Netzwerk.“. Dabei war Heil von Beginn an eine der treibenden Kräfte, ja, kann über die Jahre wohl sogar als eine Art „Leitwolf“ der Gruppierung bezeichnet werden.865 Wenn er auch nicht unbedingt als der kreative Vordenker der Gruppe galt, so beeinflusste er doch das strategische Verhalten und die Diskursinhalte der Gruppierung. Mehr noch aber war er trotz der flachen Hierarchien des „Netzwerks“ in organisatorischer Hinsicht eine Art inoffizielle clearing-Stelle.866 Allein die Tatsache, dass die Gruppierung in den ersten Jahren von Heils Büroleiter Jürgen Neumeyer aus dem Abgeordnetenbüro des Peiners heraus geführt wurde, verschaffte Heil einen gewissen Standortvorteil.867 Doch auch in der späteren Entwicklung, zumindest bis zu seiner Wahl als Generalsekretär wurde Heil auch von einem Großteil der Gruppenmitglieder selbst als der Motor des „Netzwerks“ angesehen.868
864
Vgl. Heil, Hubertus/Neumeyer, Jürgen: Nur Mut, Marion! Zum (Still-)Stand der Drogenpolitik, in: Berliner Republik 2 (2001), S. 28-29.. 865 Vgl. auch o. V.: Ein „Netzwerker“ mit Seele, in: Frankfurter Rundschau, 04.11.2005. 866 Vgl. Meng, Richard: Geduldige Erben, in: Frankfurter Rundschau, 08.07.2004 867 Vgl. beispielsweise Interview Griese, S. 3. 868 Vgl. beispielsweise Interview Reimann, S. 22; Interview Bätzing, S. 32.
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Dabei bildete das „Netzwerk“ für Heil aber sicher nicht nur eine nützliche Seilschaft, um Positionen oder Informationen zu erlangen. Vielmehr bedeutete das „Netzwerk“ für Heil – sowie ebenfalls für seine Mitstreiter – eine ideale Möglichkeit, politische Spielregeln zu erlernen. Zunächst verschaffte ihm allein die Gründung der Gruppierung rasch einen gewissen Bekanntheitsgrad, der ihn die Mechanismen der Mediendemokratie erfahren ließ. Das „Netzwerk“ war Anfeindungen aus der Presse aber auch aus der Politik, insbesondere aus der eigenen Partei ausgesetzt, konnte erfahren, auf welche Reize in den Medien und in der Partei überhaupt reagiert wurde und welche Kanäle auf dem Weg zu öffentlicher Aufmerksamkeit genutzt werden konnten.869 Sicher sind dies Punkte, die nicht exklusiv für Heil geltend gemacht werden können, sondern auch auf andere „Netzwerker“ übertragbar waren. Doch sollte nicht unterschätzt werden, dass gerade Heil derjenige war, der als eine Art inoffizieller Anführer diesen Lernprozessen in besonderer Weise ausgesetzt war. Die Initiierung und Führung des „Netzwerks“ kann jedenfalls als zentrale Gelegenheit Heil interpretiert werden, politische Führungsmechanismen zu studieren. Ein unerfahrener Hinterbänkler als Generalsekretär? Als Heil im November 2005 zum Generalsekretär der SPD ernannt wurde, gab sich die überwiegende Mehrheit der Medienlandschaft überrascht: Heil sei Profiteur der Konstellation, eine Notbesetzung aufgrund der lichten Personaldecke der Sozialdemokraten.870 Und ganz und gar aus der Luft gegriffen waren diese Argumente freilich nicht: Heil war bei Amtsantritt gerade einmal 33 Jahre alt; bis dato hatte er – bis auf den stellvertretenden Bezirksvorsitz in Braunschweig – kein herausgehobenes Parteiamt inne gehabt. Den größten Teil seines politisch aktiven Lebens hatte er auf der parlamentarischen Ebene verbracht. Darüber hinaus hatte er sich im Vorfeld jener Präsidiumssitzung, in der Franz Müntefering den Parteivorsitz niederlegte, da er seinen Kandidaten Karl-Josef Wasserhövel für den Generalsekretärsposten nicht durchsetzen konnte, aktiv an einer Telefonkonferenz beteiligt, welche die Bewerbung von Andrea Nahles um das Amt des Generalsekretärs befürwortete.871 Dennoch lassen sich aus Heils Biografie sowie aus der spezifischen sozialdemokratischen Konstellation im Herbst 2005 einige strukturelle Faktoren Punkte ableiten, die seine Wahl zum Generalsekretär sicher nicht als zwingend logisch, so doch in gewissem Maße als plausibel erscheinen lassen.
869
Vgl. beispielsweise Interview Heil, S. 20. Vgl. beispielsweise Buchbinder, Sascha: Ein Pragmatiker wird SPD-General, in: Tages-Anzeiger, 04.11.2005. 871 Vgl. Leinemann, Jürgen: Ohne Maß und Mitte, in: Der Spiegel, 07.11.2005. 870
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Zunächst kann es als Indikator von Heils innerparteilicher Stärke gewertet werden, dass er bereits im Jahr 2004 kurzzeitig als Nachfolger von Olaf Scholz im Amt des Generalsekretärs diskutiert wurde.872 Darüber hinaus konnte Matthias Platzeck, auf den sich die Parteispitzen als Anwärter auf den Parteivorsitz geeinigt hatten, mit der Berufung Heils sein Manko ausgleichen, in der Bundestagsfraktion nicht weiter verankert zu sein. Hinzu kam, dass sich Heil und Platzeck bereits seit Heils Studientagen in Potsdam kannten und in Zuneigung verbunden waren.874 Schlussendlich dürfte es zumindest kein Hindernis gewesen sein, dass mit dem Peiner Heil ein Sozialdemokrat aus dem einflussreichen westdeutschen Landesverband Niedersachsen in die Führungsetage der Partei aufrückte. So kann Heils Berufung als Generalsekretär als ein wenig mehr als ein bloßes Zufallsprodukt gedeutet werden. Nichtsdestotrotz war Heil recht jung und unerfahren in das Generalsekretärsamt gekommen, wie seine misslungene Bewerbungsrede und das entsprechend schlechte Wahlergebnis von 61,7% auf dem Parteitag im November 2005 dokumentierten.875 Doch zeigte er rasch, dass er sich dieser Situation bewusst war, und arbeitete systematisch an ihrer Verbesserung: So bereiste er in den folgenden Monaten gezielt die Republik, machte sich in den Parteigliederungen bekannt und stellte sich der Diskussion mit Mitgliedern und Funktionären.876 Desweiteren versuchte Heil in jener Zeit vermehrt, politische Vorgänge in verständliche Formeln und Bilder zu fassen, um so die Politikvermittlung zu verbessern. So beschrieb er die Zusammenarbeit von SPD und CDU in der großen Koalition ab 2005 beispielsweise mit der Metapher eines Schiffes, auf dem die SPD im Maschinenraum arbeite, während sich die Union auf dem Sonnendeck ausruhe.878 All dies bewies, dass Heil willens war, an eigenen Defiziten zu arbeiten. Gedankt wurden ihm seine Bemühungen einerseits damit, dass nach dem Abgang Matthias Platzecks im Parteivorsitz der neue Mann im WillyBrandt-Haus, Kurt Beck, Heil als Generalsekretär im Amt hielt.881 Zum anderen fielen sowohl Heils Beurteilung in der Presse als auch das Wahlergebnis auf dem Parteitag im November 2007 wesentlich positiver aus als noch zwei Jahre zuvor.882 872
Vgl. Bloome, Nikolaus: Heimlicher Kanzler, in: Berliner Morgenpost, 07.02.2004; siehe auch o. V.: Kanzlerdämmerung, in: Berliner Morgenpost, 07.02.2004. 874 Vgl. Maron, Thomas/Meng, Richard: Ein „Netzwerker“ mit Herz, in: Frankfurter Rundschau, 04.11.2005. 875 Vgl. Fietz, Martina: „Nimm den Heil, der ist loyaler“, in: Cicero 12 (2005). 876 Vgl. Dausend, Peter: Wadenbeißer in Nadelstreifen, in: Die Welt, 29.07.2006. 878 Vgl. o. V.: „Wir sind im Maschinenraum ganz zufrieden“, in: General-Anzeiger, 10.03.2006. 881 Vgl. Dausend, Peter: Wadenbeißer in Nadelstreifen, in: Die Welt, 29.07.2006. 882 Vgl. o. V.: Hubertus Heil. SPD-Talent in der Rolle des Generalsekretärs, in: Süddeutsche Zeitung, 26.10.2007.
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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Von Kopfpauschale und Entbürokratisierung – Positionen Heils Sein inhaltliches Profil vordringlich im Bereich Wirtschaft und Sozialstaat baute Heil sowohl durch seine Abgeordnetentätigkeit als auch durch Beiträge zur Programmdiskussion aus. Dabei folgte er stets seinem Grundsatz einer pragmatisch orientierten Politik: Besonders eine moderne Wirtschaftspolitik, so Heil, vertrage keine Ideologien oder Überhöhung von einmal als richtig erkannten, aber nun durch globale Veränderungen überholten Erkenntnissen der sozialdemokratischen 1970er- oder 1980er-Jahre. Stattdessen müsse sachlich Vernünftiges von Unvernünftigem getrennt werden. So sprach er sich für die Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Firmen bei der Vergabe und Ausführung öffentlicher Aufträge in Form von Public Private Partnership aus. Konsequent setzte er sich für mehr Wettbewerb, Liberalisierung und weniger Bürokratisierung ein, was aus seiner Sicht zu einer „modernen“ Wirtschaftspolitik gehörte.883 Heils wirtschafts- und sozialpolitische Überlegungen zielten auf den Rückgang der Erwerbslosigkeit und den Umbau des Sozialstaats. Die Erwerbsarbeit spielte dabei nach Ansicht Heils eine zentrale Rolle, da nur sie den Menschen tatsächlich die Teilhabe an Leben und Gesellschaft ermögliche.884 Der Ausweitung der Beschäftigungsmöglichkeiten stand aus seiner Perspektive die hohe Belastung des Faktors Arbeit durch Lohnnebenkosten entgegen. Bei der Lösung dieses Problems nahmen für ihn vor dem Hintergrund eines emanzipatorischen Menschenbildes der Faktor Bildung und die Rolle des Staates eine wesentliche Stellung ein. In Heils Gesellschaftsbild sollten die Menschen stets aufs Neue Bildungs- aber auch, wie er es nannte, „Lebenschancen“ bekommen. Der Staat und insbesondere der Sozialstaat hatten dabei lediglich eine Rahmen gebende Funktion und sollten ihren Zuständigkeiten verändert werden.885 Einem auf bestimmte Kernkompetenzen beschränkten Staat stand ein Menschenbild gegenüber, das auf mehr Eigenverantwortung setzte. Heil baute in seiner Argumentation auf die aus seiner Sicht zunehmende Fähigkeit und den Willen der Bürger, die Gestaltung des eigenen Lebens sowie auch die Vorsorge gegen Lebensrisiken selbst in die Hand zu nehmen. Ja, er argumentierte gar, es sei im eigentlichen Sinne entmündigend, den Bürgern diesen Willen zur eigenen Gestaltung des Lebens abzusprechen und von staatlicher Hand übermäßig für sie zu sorgen.886 All diese Argumente waren im Grunde exemplarisch für den inhaltlichen Standort des „Netzwerks“. Der Sozialstaat und seine Sicherungssysteme 883
Interview Heil, S. 39. Vgl. beispielsweise Heil, Hubertus/Stender, Carsten; Der soziale Rechtsstaat und seine Feinde, in: Berliner Republik 4 (2002), S. 34-39, hier S. 36. 885 Interview Heil, S. 27. 886 Vgl. Heil, Hubertus/Stender, Carsten: Der soziale Rechtsstaat und seine Feinde, in: Berliner Republik 4 (2002), S. 34-39. 884
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sollten nicht erst greifen, wenn der Versicherungsfall eingetreten, das Kind mithin in den Brunnen gefallen war. Stattdessen, so Heil, solle der Sozialstaat Sorge tragen, dass es gar nicht erst zu diesen Versicherungsfällen komme: Indem die Menschen individuell befähigt würden, sich gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit etcetera zu schützen.888 Die Zentralität von Bildung ist in diesem Gedankengang unübersehbar, denn sie sollte den Menschen die Chance zur individuellen Lebensgestaltung und zur Bewältigung der Herausforderungen geben. Auf diese Weise verschob sich die Interpretation des sozialdemokratischen Leitgedankens der Gerechtigkeit von der Verteilungs- zur Chancengerechtigkeit.890 Mehr noch, denn auch der Begriff der Freiheit erfuhr bei den Überlegungen Heils und des „Netzwerks“ insgesamt eine Umdeutung, bedeuteten das Staatsverständnis und die viel beschworene Chancengerechtigkeit doch, dass Staat und damit Politik den Menschen weniger eine Freiheit von etwas – materieller Not oder gesellschaftlichem Zwang – versprach als die Freiheit zu etwas – beruflicher Aufstieg oder lokale Mobilität. Dieser Freiheitsbegriff beinhaltete die Vorstellung von einer quasi unternehmerischen Emanzipation des Individuums.891 Für Heil und insbesondere die jüngeren „Netzwerker“ war ein solcher Freiheitsbegriff individualbiografisch konsequent. Denn besonders die seit 1960 folgende Geborenen „Netzwerk“-MdBs hatten in ihrer politischen und beruflichen Biografie erfahren, dass zum einen plötzliche Einschnitte – wie das Ende des Ost-West-Konflikts – bislang als gesetzt angenommene politischgesellschaftliche und wirtschaftliche Umstände radikal verändern können. Zum anderen aber hatten vornehmlich diese Jüngeren, die bald nach dem Ende ihres Studiums in die hauptberufliche Politik gewechselt waren, erfahren, dass sie ihre neu entstehenden Probleme selbst lösen mussten – und konnten. So plädierte Heil dafür, Teile der sozialstaatlichen Vorsorge in die individuelle Verantwortung der Menschen zu legen, und trat daher beispielsweise für die Riesterrente und einen kapitalgedeckten Eigenanteil in der Altersvorsorge ein, um die Absicherung von Lebensrisiken auf eine breitere Finanzierungsbasis zu stellen. Im Rahmen der Debatte um die Gesundheitsreform sprach Heil sich deutlich für das Modell der so genannten Kopfpauschale aus, da nur diese Variante den Faktor Arbeit tatsächlich steuerlich entlasten, so ein Beitrag zu mehr Beschäftigung leisten und damit auch die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe schaffen könne.892 Alles in allem plädierte Heil stets für eine ausgeweitete steuerliche Finanzierung des Sozialstaats – zum einen um die Lohnnebenkosten 888
Vgl. Heil, Hubertus: Der vorsorgende Sozialstaat, in: Berliner Republik 4 (2006), S. 64-65. Vgl. Heil, 2006. Vgl. Heil, Hubertus: Freiheit hat Voraussetzungen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.12.2005. 892 Vgl. Heil, Hubertus: Was macht gesund und ist gerecht?, in: Die Welt, 31.07.2003. 890 891
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drastisch zu senken und damit mehr Beschäftigung zu ermöglichen, zum anderen, um die angestrebte Ausweitung und Verbesserung von Bildungsangeboten leisten zu können.893 Überhaupt machte der Peiner sich dafür stark, bei wirtschaftlichen oder sozialen Veränderungen – insbesondere der Globalisierung – nicht immer nur die Gefahren zu diskutieren. Vielmehr sollte auf die Möglichkeiten geschaut werden, die sich für die Menschen aus den verschiedensten Neuerungen ergäben.894 Aufgabe der Politik sei es, die sich ergebenden Veränderungen zu gestalten und möglichst alle Menschen zur Wahrnehmung der Chancen zu befähigen, ihnen positive Teilhabe am Leben mit all seinen Veränderungen zu ermöglichen und so eine inklusive Gesellschaft zu schaffen.895 Auffällig ist, dass all die genannten Positionen an vielen Stellen mit gemeinhin als klassisch angesehenen sozialdemokratischen Überzeugungen brechen: Das Prinzip der Freiheit bekommt eine herausgehobene Stellung, Verteilungs- weicht der Chancengerechtigkeit, Steuermodelle machen auch vor einer Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht Halt, die Flexibilität des Individuums wird positiv gedeutet. Die Einstellung Heils trägt in weiten Teilen deutlich marktwirtschaftlich-liberale Züge, auch wenn er sich stets vom Vorwurf des Neoliberalismus distanzierte.896 Zugleich jedoch gehen Heils Forderungen größtenteils überein mit den Maximen der Agenda 2010, für die er sowohl als Redner im Bundestag als auch beispielsweise im Bundestagswahlkampf 2005 als Befürworter auftrat. Organisation und Programmdebatte – Heil und die Zukunft der SPD Neben wirtschafts- und sozialpolitischen Sachfragen setzte Heil sich vor allem mit den unter Bundeskanzler Schröder tobenden Debatten um die Zukunft der Partei auseinander. Dabei folgen Heils Vorstellungen von einem neuen sozialdemokratischen Programm den oben ausgeführten Gedanken zur Chancengerechtigkeit und Eigenverantwortung. Insgesamt stritt er dabei wie alle „Netzwerker“ für ein neues Grundsatzprogramm, das nicht auf der Basis des „Berliner Programms“, sondern als Ersatz für dieses verfasst werden sollte.897 Darüber hinaus jedoch machte er sich Gedanken über die organisatorische Verfasstheit der SPD.898 Angesichts der zunehmenden Probleme der Volksparteien, ihre Mit893
Vgl. beispielsweise Heil, 2006. Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 19 f. Vgl. beispielsweise Heil/Stender, 2002, S. 34-39.. 896 Vgl. ebd. 897 Vgl. Heil, Hubertus: Jede Zeit braucht ihre Antworten, in: Berliner Republik 3 (2004), S. 37-39. 898 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf: Heil, Hubertus/Stender, Carsten: Ermattete Riesen, in: Berliner Republik 5 (2003), S. 55-61.; vgl. zudem: Heil, Hubertus: Der eigenen Kraft vertrauen, Dokument im eigenen Archiv. 894 895
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glieder zu halten geschweige denn neue zu gewinnen, setzte er sich für eine Stärkung der Parteimitglieder ein. Dazu gehörten, so Heil, Mitbestimmungsrechte, eine vereinfachte Teilnahme einfacher Mitglieder an Gremiensitzungen oder auch der erleichterte Zugang zu Funktionärsposten. In diesem Zusammenhang kritisierte er die Abgehobenheit und das Streben nach Autonomie der Parteieliten und plädierte für eine Aufwertung der Parteiarbeit vor Ort, für die vermehrte Wertschätzung ehrenamtlicher Tätigkeit und die Schulung von Parteimitgliedern. Darüber hinaus, so Heil, müsse die eigentliche Motivation einer Partei beizutreten, wieder mehr Beachtung bekommen: das Eintreten für ein spezifisches Gesellschaftsbild. Es ist dies das Plädoyer zur Rückbesinnung auf traditionelle Ressourcen, eine Abgrenzung gegenüber der in den Jahren zuvor propagierten eher elitären Internet- und „Netzwerk“-Partei, wie sie namentlich von Matthias Machnig skizziert wurde.899 Doch gerade im Gedanken eines vernetzten, klassische politische Parteiformen sprengenden Arbeitens existierten gewisse Analogien zwischen den Machnigschen Vorstellungen und dem „Netzwerk“. Allerdings betonte das Berliner „Netzwerk“ stets, dass es spontan, quasi urwüchsig entstanden sei, während Machnigs Vorstellungen auf die künstliche, gleichsam elitäre Installation einer Parteiorganisation zielten. Zudem aber sprach aus den Überlegungen Heils die Frustration sowohl über die Parteiführung Schröders, die über Parteigremien hinweg vornehmlich aus dem Kanzleramt erfolgte, als auch über jene der „Enkel“-Generation allgemein, die in den 1990er-Jahren aus Sicht Heils zu undurchlässig war. Heil trat daher dafür ein, die Partei wieder mehr als vermittelnde intermediäre Organisation zwischen Staat und Gesellschaft zu begreifen, weniger als ein auf Eliten bezogenes Projekt. Zwar wollte auch Heil die viel beschworene „Modernisierung“ der Partei durch Intranet, virtuellen Ortsverein oder mediale Kampagnenfähigkeit nicht rückgängig machen. Doch kritisierte er, dass diese Ansätze quasi in den Kinderschuhen stecken geblieben seien und dass all jene oberflächlichen Modernisierungserscheinungen ohne die traditionellen Stärken, ohne die Verankerung in den einzelnen gesellschaftlichen Segmenten über Mitglieder und Mandatsträger nahezu wertlos sei. Vielmehr müssten Konzepte der virtuellen Netzwerkpartei mit traditionellem Parteileben verbunden werden.902 Der „grundsatzlose Ehrgeizling“904? – politischer Stil Bei seiner Wahl zum Generalsekretär galt Heil vielen und gerade außen stehenden Beobachtern als unbeschriebenes Blatt, doch stimmte dieser Eindruck so 899 Vgl. Machnig, Matthias/Bartels, Hans-Peter: Der rasende Tanker. Analysen und Konzepte zur Modernisierung der sozialdemokratischen Organisation, Göttingen 2001. 902 Vgl. Heil/Stender, 2003, S. 59 f. 904 Zit. nach Käfer, Arnim: Operation Morgenröte voll im Gang, in: Stuttgarter Zeitung. 04.11.2005.
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nicht ganz. Wie gezeigt, hatte er für seine jungen Jahre bereits einige politische Erfahrung vorzuweisen, sich in die programmatischen Debatten seiner Partei eingemischt. Dabei wurde seine Schlagfertigkeit oft kaschiert durch ein stetes Bemühen um Höflichkeit und Seriosität. Bis in die Schuhspitzen spiegelte auch sein Äußeres dieses Trachten danach, die Etikette zu wahren, ernst genommen zu werden. Exemplarisch zeigte sich an Heil daher ein Missverständnis zwischen Vertretern der 68er-Generation und „Netzwerkern“, wie es auch aus vielen Kommentaren der beobachtenden Medien sprach: Als Idealbild einer jungen Politikergeneration galt unausgesprochen das des unkonventionellen Rebellen, der gegen Regeln revoltiert, Konventionen bricht und äußerlich eher leger denn bieder auftritt. 68er und SPD-„Enkel“ hatten diesem Typus in vielen Fällen quasi idealtypisch entsprochen, „Netzwerker“ aber verhielten sich meist diametral dazu. Gegenüber der fast lebenslangen Jugendlichkeit der Vorgängergeneration blieb ihnen als habituelle Nische nur die bürgerliche Konventionalität. Dem Typus des jugendlichen, linken Rebellen konnten und wollten sie nicht entsprechen, da sie den Politikstil der „Enkel“ kritisierten.906 So suchte auch Heil während seines politischen Weges selten den inszenierten Konflikt, sondern strebte eher nach konsensbasierten, einbindenden Lösungen. Verstärkt in seiner Zeit als Generalsekretär zeigte er Geschick dafür, Ansichten und Gedankengänge in anschauliche Bilder zu fassen. Allerdings geht mit dieser Begabung auch eine Schattenseite einher: Heil konnte zwar zuhören, sich beraten lassen und aus all den aufgesogenen Informationen verdichtete Formeln bilden, doch die kreative Intellektualität war seine Sache nicht. Dagegen besaß er ein gewisses Gespür für die Funktionsweise seiner Partei, nicht erst, seit er deren Generalsekretär geworden war. Dies ist zum einen auf seine Erfahrungen bei den Jungsozialisten und die Parteiarbeit im Bezirk Braunschweig zurück zu führen. Zum anderen aber dürfte Heil durch sein Engagement für das „Netzwerk“ einen tieferen Einblick in die Funktionslogik der Partei bekommen haben. Als dessen Mitinitiator, treibende organisatorische Kraft und lange auch inoffizielles Aushängeschild versuchte er Bündnisse zu schmieden und war nicht wenigen Anfechtungen ausgesetzt. Im „Netzwerk“ konnte er seine sprichwörtliche Begabung zum „networking“, zum Kontaktaufbau und -erhalt erproben und ausbauen. Hier erwarb er sich auch den Ruf, verlässlich und loyal zu sein, Diskretion zu wahren. Entsprechend der im „Netzwerk“ gepflegten politischen Kultur instrumentalisierte auch er Privates nicht, um politische Interessen durchzusetzen. Insofern war das „Netzwerk“ für ihn nicht nur eine wichtige Seilschaft auf dem Weg zu höheren Positionen, sondern auch ein wesentlicher Ort zum Einüben und Festigen politischer Spielregeln. 906
Vgl. zu diesem Aspekt auch Interview Hartmann, S. 10.
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Insgesamt aber lag in der Heilschen Karriere exemplarisch für andere „Netzwerker“ eine gewisse Brisanz: Zwar war zu beobachten, dass auch Heil mehrfach kämpfen musste, um gesetzte Ziele wie etwa die Kandidatur für den Bundestag zu erreichen, insgesamt jedoch verlief sein Werdegang recht zügig und reibungslos. Tatsächlich hatte Heil in seinem bisherigen politischen Leben nur wenige Niederlagen erfahren.908 Auf diesen raschen und weitgehend stolperfreien Aufstieg bezogen sich wohl auch die Karrieristenvorwürfe, die von einigen Seiten gegen Heil und andere „Netzwerker“ erhoben wurden, und die zudem Nahrung durch das biedere Äußere und das zuverlässige Stützen des Regierungskurses bekamen. 7.2.2 Hans-Peter Bartels – Der intellektuelle Querkopf Eine Analyse des „Netzwerks Berlin“ kann nicht auskommen ohne die Auseinandersetzung mit Hans-Peter Bartels. Denn er war nicht nur eine der treibenden Kräfte in Zusammenhang mit der Gründung der Gruppierung, sondern vielmehr noch der „Vater“ und Schirmherr der „Berliner Republik“. Darüber hinaus war es Bartels, der die Stilisierung des „Netzwerks“ als Generationen- und Nach68er-Projekt maßgeblich vorantrieb und durch seine umtriebige Publikationstätigkeit als intellektueller Kopf der Gruppierung galt.909 Geboren 1961, war Hans-Peter Bartels einer der älteren unter den führenden „Netzwerkern“. Er wuchs in Schleswig-Holstein auf, machte in Kiel 1980 sein Abitur und leistete anschließend den Wehrdienst bei der Bundeswehr. Bereits 1979, kurz vor seinem 18. Geburtstag, war er der SPD eingetreten.911 Dieses Eintrittsdatum war deshalb bedeutsam, da Bartels im Gegensatz zu vornehmlich jüngeren und in den 1980er-Jahren in die SPD eingetretenen „Netzwerkern“ gar nicht erst die Option gehabt hatte, zu den Grünen zu gehen, da diese sich in seiner Nähe erst später parteiorganisatorisch konstituierten.912 Dennoch war auch für Bartels in seiner Jugend und seinem jungen Erwachsenenalter die Auseinandersetzung mit den Überzeugungen und Insignien der Neuen Sozialen Bewegungen ein stets präsentes biografisches Thema. Politische Sensibilität, Hedonismus und Langhaarigkeit seien auch in seinem Abiturjahrgang alltäglich gewesen.913 Doch über diesen Bezug zur Partei der Grünen hinaus symbolisiert das Beitrittsjahr 1979 den Übergangs- und Zwischenstatus der politischen Generation, der Bartels angehörte. Die Motivation, in jenem Jahr sozialdemokratisches Partei908
Vgl. Kapitel 6.4. Vgl. Minkmar, Nils: Die Rückkehr der Linken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.06.2005. Vgl. Interview Bartels, S. 1. 912 Ebd., S. 1. 913 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Wühlen im Kinderparadies, in: Der Spiegel, 21.02.2000. 909 911
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mitglied zu werden, konnte weder von jener Brandt-Begeisterung getragen gewesen sein, wie sie bei vielen der in den 1950er-Jahren Geborenen noch Ausschlag gebend gewesen war914, noch konnte der Beitritt als Abgrenzung gegenüber einem wiederaufkommenden gesellschaftlichen und politischen Konservatismus interpretiert werden, wie er unter Bundeskanzler Helmut Kohl Einzug gehalten hatte und für manche in den 1980er-Jahren Beigetretene Bezugspunkt gewesen war. Die politische Biografie Bartels` symbolisiert daher am deutlichsten die generationelle Heimatlosigkeit der „Netzwerker“. Schreiben, schreiben, schreiben – Zeitungsarbeit, Jungsozialisten und Staatskanzlei als Orte der Sozialisation Die Sozialisation im Elternhaus hatte eine eher untergeordnete Rolle für Bartels Entscheidung gespielt, sich in der Politik allgemein und in der SPD im Speziellen zu engagieren.916 Wie die meisten „Netzwerk“-MdBs, so hatte auch der junge Kieler aufgrund seines Parteieintritts weder einen familiären Konflikt auszutragen, noch kann von einer besonderen sozialdemokratischen Vorprägung durch die Familie ausgegangen werden. Bleibenden Eindruck hatte bei dem SchleswigHolsteiner jedoch ein Stadtschulrat hinterlassen, den er durch seine Schülerzeitungsarbeit kennen gelernt hatte: „In Kiel, der ehemalige Stadtschulrat, der also ´ne besonders beeindruckende Persönlichkeit war, den ich über die Schülerzeitungsarbeit kennen gelernt habe und damals sehr missionarisch für Gesamtschulen warb, was ich damals sehr gut nachvollziehen konnte. Und ich fand also, so muss man Politik machen. [...] Also, dieses Überzeugenwollen, Missionen haben, die umzusetzen sind, und dafür dann werben.“918
Auffällig ist, dass das obige Zitat auf eine – mit Leidenschaft vertretene – Zielorientierung des politischen Handelns verweist. Bereits in dieser frühen Phase der politischen Arbeit finden sich somit Hinweise, dass Bartels sich weniger an bestimmten Mechanismen der Machterlangung orientierte. Einflussreicher in Bezug auf seine politische Sozialisation war dagegen das Engagement im Bereich der Schülerzeitungsarbeit. Nach dem Abitur war er von 1980 bis 1982 Vorsitzender des Verbands der schleswig-holsteinischen Schüler- und Jugendzeitungen.919 Überhaupt sollten der Enthusiasmus für die gedruckte Meinung, das Gestalten einer Zeitung oder Zeitschrift dem Kieler auch in seinem weiteren Werdegang erhalten bleiben: 1988 war er beispielsweise Redakteur der „Kieler Rundschau“, die „Berliner Republik“ war hauptsächlich auf sein Betreiben hin initiiert worden, galt unter „Netzwerker“-Kollegen als sein Projekt. Auch war 914
Vgl. Kapitel 7.1. Vgl. Interview Bartels, S. 1. 918 Ebd., S. 1 f. 919 Vgl. Interview Bartels, S. 1. 916
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Bartels nie um einen medialen Kommentar oder eine langfristigere Analyse des politischen Geschehens verlegen. Dabei reichte die politische Bandbreite der Organe, deren Autor er über die Jahre wurde, von der „Tageszeitung“ bis zur „Welt“. Sogar in seinem Wahlkreis gab der Kieler in Wahlkampfzeiten eine eigene Zeitung heraus, die über seine Positionen und Aktivitäten informierte.920 Diese Begeisterung – und auch Begabung – für das geschriebene Wort waren in mehrfacher Hinsicht von Belang für das politische Selbstverständnis und den Stil Bartels. Zunächst zeigte es die in seinen Augen zentrale Stellung von Kommunikation im politischen Prozess.921 Die Politik und ihre Akteure hatten nach dieser Auffassung die Aufgabe, sich zum einen stets und immer wieder über die einschlägigen Problemlagen und den besten Lösungsweg zu verständigen. Zum anderen aber bedeutete Kommunikation in diesem Zusammenhang die Vermittlung von Entscheidungen und Vorgängen an die Bürgerinnen und Bürger. Somit wurde auch auf eine gewisse Transparenz bezüglich politischer Ereignisse und Abläufe geachtet.922 All dies kennzeichnete die politische Organisations- und Diskussionskultur des „Netzwerks“. Neben dem Gesichtspunkt der Kommunikation ist aber ebenso der Aspekt der Verbindlichkeit bei der publizistischen Tätigkeit festzuhalten.923 Nach Ansicht des Kielers zwang gerade die schriftliche Form den Autor eines Textes, seine Gedanken gründlich zu reflektieren und sich vor allem auf einen Standpunkt festzulegen: „Wir haben eigentlich gar keine andere Möglichkeit, uns verbindlich auszudrücken, als mit eigener Publikation. Also, wer ´n Interview in der Zeitung gibt, kann hinterher immer noch sagen, gut, die haben mich das gefragt, aber eigentlich finde ich das gar nicht wichtig. Also, wenn ich sagen sollte, was wichtig ist, würde ich zu dem und dem und dem reden. Wenn ich ´ne Zeitschrift mach, dann muss ich wissen, was für mich wichtig ist.“925
Insbesondere im Hinblick auf die grundlegende Kritik Bartels` an der SPDinternen 68er-Generation erscheint der Verweis auf die Verbindlichkeit politischer Aussagen bedeutsam. Denn ein Kritikpunkt des Kielers an der vorhergehenden Politikergeneration war die Sprunghaftigkeit der Einstellungen und Positionen. In diesem Kontext können Bartels` mannigfache publizistische Tätigkeiten auch als ein Versuch gewertet werden, Beliebigkeit und Flüchtigkeit zu umgehen. Des Weiteren besaß das Betreiben einer eigenen Zeitschrift für Bartels stets auch einen Machtaspekt, wie besonders in Hinblick auf die „Berliner Republik“ 920
Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. Bartels, Hans-Peter: Münteferings Leuchtrakete, in: Die Welt, 08.04.2000. 923 Vgl. Interview Bartels. S. 16. 925 Vgl. Interview Bartels, S. 16. 921 922
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deutlich wurde. Eine Zeitschrift konnte nicht nur insgesamt den Diskurs beispielsweise innerhalb der SPD über bestimmte Themen beeinflussen, die Herausgeber der Zeitschrift konnten auch über die Auswahl von Themen und Autoren versuchen, auf Meinungsbildungsprozesse einzuwirken und eine gewisse Diskurshegemonie zu erlangen.926 Zumindest jedoch konnten auf diese Weise, Meinungen und Einstellungen in vielen Fällen überhaupt erst sichtbar gemacht werden. Darüber hinaus hatten die Neigung und das Talent zum Schreiben auch eine individuell-biografische Bedeutung für Bartels. Nachdem er von 1981 bis 1986 in Kiel Politikwissenschaft, Soziologie und Volkskunde studiert und sich innerhalb kürzester Zeit 1988 mit einer Arbeit über Norbert Elias promoviert hatte, trat er in den Dienst der Staatskanzlei des Landes Schleswig-Holstein ein.927 Zunächst arbeitete Bartels für den damaligen Ministerpräsidenten Björn Engholm, rückte in dessen engeren Beraterstab und schließlich zu seinem Redenschreiber auf.928 Später blieb er auch unter der neuen Ministerpräsidentin Heide Simonis als deren Büroleiter in der Staatskanzlei.929 Diese Laufbahn im öffentlichen Dienst der politischen Verwaltung hatte für Bartels` Biografie sowie für seine politischen Überzeugungen eine wohl nicht zu unterschätzende Bedeutung. Zunächst hatte Bartels in Heide Simonis und Björn Engholm zwei Protagonisten der 68er-Generation, die er später so scharf kritisierte, im direkten Arbeitsumfeld vor Augen. Als einer der sozialdemokratischen Enkel, geboren 1939, war Engholm 1988 zum schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten avanciert, 1991 bis 1993 hatte er den Bundesparteivorsitz inne.930 Bartels erlebte als einer von Engholms engeren Mitarbeitern dessen Aufstieg zum Bundesparteivorsitzenden ebenso hautnah mit wie sein Straucheln und den letztendlichen Fall in der so genannten Barschel-Affäre.931 Dabei dürfte gerade Engholm jener Politiker unter den „Enkeln“ gewesen sein, auf den die Bartelsche 68er-Kritik auf den ersten Blick am wenigsten zutraf:932 Dem Kieler Ministerpräsidenten war kaum ein überzogener und egomanischer Ehrgeiz vorzuwerfen, auch rücksichtslose und auf inszenierten Konflikt setzende Machttechniken waren nicht sein hervorstechendes Führungsmerkmal. Dennoch hatte auch Engholm in seinen 926
Vgl. zu dieser Interpretation auch ebd., S. 16. Vgl. Leif, Thomas: Die Personalrekrutierung der SPD: kopf- und konzeptionslos, in: Leif, 1992, S. 223-240, hier S. 228 f.; vgl. zum Karriereweg des Redenschreibers in der Politik Scheuch/Scheuch, 1995, S. 124 f. 928 Vgl. Wenz, Dieter: Angriff auf die Enkel-Pose, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.05.1998. 929 Vgl. Bannas, Günter: Netzwerker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.10.2003. 930 Vgl. Forkmann/Oeltzen, 2005, in: Forkmann/Schlieben, 2005, S. 91 ff. 931 Vgl. hierzu ebd., S. 95. 932 Vgl. beispielsweise Bartels, Hans-Peter: Das schwierige Erbe von 1968, in: Die Tageszeitung, 25.11.1996. 927
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Anfangsjahren als aufstrebender Bundestagsabgeordneter bewusst versucht, gegen das fraktionsinterne Establishment zu rebellieren, indem er in der von ihm mit begründeten „Gruppe 16. Etage“ einen zwanglos-libertären und 68erTraditionen entlehnten Umgangsstil pflegte. Ebenso konnte ihm ein gewisser Hedonismus, wie Bartels ihn den 68ern zum Vorwurf machte, vorgehalten werden, da er sich allzu oft den Pflichten des politischen Geschäfts entzog und sich seiner nachdenklichen Einsamkeit widmete.933 Individuelle Bedürfnisse kollidierten auf diese Weise mit den Erfordernissen konsequenter politischer Führung. All dies hatte Bartels als persönlicher Referent und Redenschreiber Engholms beobachten und seine Schlüsse bezüglich des Politikstils der 68erGeneration ziehen können. Doch noch in anderer Hinsicht erfuhr Bartels in jenen Jahren generationelle Prägungen. Die Episode um den Bundesparteivorsitz Engholms hatte einige Schwierigkeiten der SPD in den 1990er-Jahren sichtbar gemacht, die sich in den Folgejahren in immer neuen Variationen wiederholen sollten.934 Dazu trug nicht unwesentlich der gemeinsame, fast gleichförmige Aufstieg der parteiinternen Geburtskohorten der 1940er-Jahre, sprich: der 68er-Generation bei, die bereits bei den Jungsozialisten gemeinsam debattiert hatten, allmählich in Parteiämter und in den 1980er-Jahren zahlreich in Führungspositionen gelangt waren. Bartels hatte am Beispiel Engholms beobachten können, wie ein erster Angehöriger jener Generation von den Konkurrenten derselben Kohortengruppen beschädigt wurde, und kritisierte diesen Politikstil später scharf.935 Ein weiterer wichtiger Punkt für Bartels` politische Sozialisation dürfte seine Herkunft aus der schleswig-holsteinischen Sozialdemokratie sein. Der norddeutsche Landesverband hatte sich in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre verstärkt Fragen der Atom- und Umweltpolitik zugewandt sowie Frauen- und Beteiligungsthemen thematisiert. Damit besetzte der Landesverband von den Neuen Sozialen Bewegungen debattierte libertäre Politikinhalte und versuchte, dem Trend des Wertewandels gerecht zu werden.936 Bartels jedoch war weit weniger Postmaterialist als dies seine Partei und sein Landesverband sein wollten. Die vornehmlich von Lafontaine betriebene Agitation gegen den NatoDoppelbeschluss, gar seine Forderung zum Austritt aus dem Verteidigungsbündnis lehnte er ab.937 933
Vgl. Walter, 2002 b, S. 232. Vgl. Forkmann/Oeltzen, 2005, in: Forkmann/Schlieben, 2005, S. 94 ff. Vgl. beispielsweise Interview Bartels, S. 12. 936 Vgl. Heinrich, Roberto: Das Parteiensystem in Schleswig-Holstein, in: Jun, Uwe/Haas, Melanie/Niedermayer, Oskar (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 431-451, hier S. 440. 937 Vgl. Schmiese, Wulf: Mit 38 gegen die Achtundsechziger: Hans-Peter Bartels, SPD-Youngster, in: Die Welt, 17.07.1999. 934 935
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Insofern kam Bartels in gewisser Weise eine Minderheitenposition innerhalb seines Landesverbandes zu. Seine skeptische Einstellung gegenüber dem von der 68er-Generation betriebenen Wandel der SPD zu einem postmaterialistischen Profil dürfte sich mit dem Scheitern des Konzepts auf Bundesebene eher noch verstärkt haben. Allerdings, dies muss erwähnt werden, stand Bartels Themen und Überzeugungen des postmaterialistischen Wertewandels nicht grundlegend ablehnend gegenüber: Gerade ein emanzipatorisches Frauenbild oder der nachhaltige Umgang mit natürlichen (Energie-)Ressourcen waren ihm ein selbstverständliches Anliegen. Doch waren sie eben dies: Selbstverständlich. Bartels war wie viele seiner Generationsgenossen mit dem Wertewandel aufgewachsen, hatte ihn nicht erstreiten und nicht ideologisch überhöhen müssen. Auch deshalb konnte er postmaterialistischen Umweltschutz mühelos mit dem materialistischen Credo einer gut ausgerüsteten Bundeswehr im Bereich der Verteidigungspolitik verbinden.938 Schließlich ist noch ein vierter und letzter Aspekt hinsichtlich des Bartelsschen Werdegangs in der Kieler Ministerialbürokratie bemerkenswert. In Zusammenhang mit dem Rücktritt Engholms als Bundesparteivorsitzender und dessen Verstrickung in die Barschel-Affäre übte Bartels Kritik und distanzierte sich vom damaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten. Seither hatte er, der bislang als feste Größe innerhalb der SPD-Linken gegolten hatte, immer wieder vergeblich für parteiinterne Ämter kandidiert.939 Bartels schaltete sich zwar nach wie vor in die Debatten seiner Partei ein, behielt auch seine Anstellung in der Staatskanzlei, der Aufstieg in führende Ämter aber blieb ihm verwehrt. Erst 1998 gelang ihm – nachdem er mit Norbert Gansel ausgerechnet einen Alt-68er in dessen sicherem Wahlkreis beerbt hatte – der Einzug in den Bundestag. Insofern fußte das von Bartels wiederholt vorgebrachte Argument, die sozialdemokratischen 68er hätten nachkommende Generationen nicht in bedeutende Positionen aufrücken lassen, sondern sie in ihrem eigenen Verwaltungsapparat absorbiert940, auf autobiografischen Erfahrungen. Als dritte einschlägige Sozialisationsinstanz Bartels` sind die Jungsozialisten zu nennen. Wie die meisten Gründungs-„Netzwerker“, so war auch Bartels im Jugendverband tätig gewesen und hatte dort Führungsämter erworben.941 So war er zu Beginn der 1980er-Jahre AStA-Mitglied der Universität Kiel, 1984/85 stellvertretender Landesvorsitzender der schleswig-holsteinischen Jusos. Im 938
Vgl. Bartels, Hans-Peter: Europas Strategie und die neue Bundeswehr, in: Berliner Republik 1 (2004), S. 76-80; siehe auch Lindscheid, Frank: „Wir sind in den letzten 50 Jahren mit der Wehrpflicht gut gefahren“, in: Kieler Nachrichten, 17.05.2004. 939 Vgl. Wenz, Dieter: Angriff auf die Enkel-Pose, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.05.1998. 940 Vgl. beispielsweise Bartels, Hans-Peter: Das Alte und das Neue, in: Die Tageszeitung, 01.06.1999. 941 Vgl. u. a. Interview Bartels, S. 2.
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Strömungsspektrum des Jugendverbands verortete Bartels sich – wie auch Heil, Lange oder Bodewig – auf dem reformsozialistischen beziehungsweise undogmatischen Flügel.942 Und ebenso wie andere „Netzwerker“ musste Bartels vor allem auf Bundesebene mehrfach die machtpolitische Unterlegenheit der Undogmatischen gegenüber dem Stamokap-Flügel beobachten. Daneben vertraute Bartels als Angehöriger der undogmatischen Strömung seit jeher auf die sachliche Überzeugungskraft der Argumente, ideologiegeladene Theoriedebatten lehnte er ab.943 Verfechter der generationellen Differenz Seine Erfahrungen ließen in Bartels letztendlich eine grundsätzliche Kritik an der SPD-internen 68er-Generation reifen.944 Dabei sah er diese vor allem durch die klassische Parlamentarische Linke sowie durch die so genannten „Enkel“ vertreten.945 Die Generation der 68er, so Bartels, habe ihren parteiinternen Aufstieg vor allem dem Modus des „Leg-dich-quer-dann-bist-du-wer“946 zu verdanken. So habe Erfolg im Sinne von Machterlangung gehabt, wer Protest und Konflikt zu inszenieren wusste. Insofern habe diese Generation auch nie für sich selbst definiert, was eigentlich ihre politisch-inhaltlichen Ziele seien, sondern stets nach Möglichkeiten des Konflikts gesucht, die mediale Aufmerksamkeit und im Zuge dessen Machtgewinn versprachen.947 Zudem habe die quantitativ starke Generation sich zunächst gegenüber Älteren, dann aber auch gegenüber allen Jüngeren vehement abgegrenzt, diesen keinen Zugang zu Ämtern und Positionen erlaubt. Überdies, so Bartels, habe die Generation sowohl ihren Karriereweg als auch ihre politischen Überzeugungen, so dass sie diese zum einzig gültigen Maßstab für Nachkommende gemacht habe. Besonders die „ewige Jugendlichkeit“ der nach und nach ins späte Erwachsenenalter vorgerückten Enkel war Bartels ein Dorn im Auge.948 Zudem hätten die 68er durch ihre libertäre Grundhaltung im Grunde alle inhaltlichen Positionen verbraucht, so dass für Jüngeren kaum mehr eine Haltung einnehmbar gewesen sei, von der 68er nicht hätten 942
Vgl. ebd., S. 2. Vgl. Bartels, Hans-Peter: Mehr Empirismus, weniger Dogma, in: Berliner Republik 6 (2001), S. 80-81. 944 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Wir als Generation, in: Berliner Republik 5 (2003), S. 8-11; ders.: Das schwierige Erbe von 1968, in: Die Tageszeitung, 25.11.1996; Delhaes, Daniel: „Zeit des Nachholens“, in: Wirtschaftswoche, 14.10.1999; Kalbe, Uwe: Wer sind die Youngsters?, in: Neues Deutschland, 20.09.1999; Bartels, Hans-Peter: Das Alte und das Neue, in: Die Tageszeitung, 01.06.1999; siehe auch ders., 1995. 945 Vgl. Kalbe, Uwe: Wer sind die Youngsters?, in: Neues Deutschland, 20.09.1999. 946 Interview Bartels, S. 4. 947 Vgl. ebd., S. 7. 948 Vgl. beispielhaft Bartels, Hans-Peter: Das schwierige Erbe von 1968, in: Die Tageszeitung, 25.11.1996; siehe auch ders.: Wühlen im Kinderparadies, in: Der Spiegel, 21.02.2000. 943
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behaupten können, sie einst besetzt zu haben.949 Gepaart mit einer hedonistischen und auf eigenes Fortkommen bedachten Grundeinstellung habe dies dazu geführt, dass sich die Generation im kollektiven Voranschreiten gegenseitig verschlissen habe.950 Darüber jedoch sei die programmatische Selbstvergewisserung deutlich ins Hintertreffen geraten: Das „Berliner Programm“ als Manifest der Generation sei schließlich bereits bei seiner Verabschiedung 1989 überholt gewesen. Somit, so die fundamentale Kritik Bartels`, habe die 68er-Generation ein gesamtes Jahrzehnt der programmatischen Rennovation vergeudet, die personelle Erneuerung blockiert und durch ihren politischen Stil der Partei Schaden zugefügt.951 In Abgrenzung zur 68er-Generation definierte Bartels die nachkommenden Generationen der 1950er- bis 1970er-Jahrgänge.952 Diese seien allein aufgrund ihrer geringen Zahl innerhalb der SPD viel weniger als die Vorgängergeneration ein einheitlicher Generationenzusammenhang. Dies in Addition mit den durch die 68er verbrauchten politischen Positionen mache es den Jüngeren schwer, einen einheitlichen, erkennbaren Standpunkt zu beziehen. Dennoch kennzeichne die Nachfolge-Generationen der 68er zunächst, dass sie versuchten, sich nicht vornehmlich durch Kritik an Anderem, sondern aus sich selbst heraus politisch zu definieren, auch wenn die 68er negativer Bezugspunkt blieben.953 So hätten jüngere Sozialdemokraten beispielsweise in der Mehrzahl ein positives Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen, überhöhten den Begriff der Freiheit weder als Wert an sich noch im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Überflexibilisierung.954 Ebenso markiere die Bejahung der sozialen Marktwirtschaft den Abstand zwischen der jüngeren Generation und den 68ern.955 Als Generationenziele der Nach-68er verwies Bartels auf die notwendige Erweiterung des sozialdemokratischen Gerechtigkeitsbegriffs um die Generationengerechtigkeit – was sich fast zwangsläufig mit ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit verbinde956 –, auf den Wandel des Wertewandels von extremer Individualisierung zu mehr Verbindlichkeit und schlussendlich auf die demografische Entwicklung der schrumpfenden Gesellschaft.957 949
Vgl. Bartels, 1999. Vgl. beispielsweise Interview Bartels, S. 7. 951 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Es ist ein Mann gescheitert, kein Projekt, in: Neues Deutschland, 29.10.1999. 952 Vgl. hierzu grundlegend Interview Bartels, S. 3 f.; siehe auch Bartels, 1999; siehe ebenso ders., 2003 d. 953 Vgl. Interview Bartels, S. 7. 954 Vgl. hierzu auch ebd., S. 3 bzw. S. 7. 955 Vgl. hierzu und dem Folgenden Bartels, 1999. 956 Vgl. beispielsweise Bartels, 2003 d, S. 10. 957 Vgl. ebd., S. 11. 950
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Zwischen Verteidigungspolitik und Programmdebatte – inhaltliche Arbeit Die Auseinandersetzung mit der Vorgängergeneration zog sich durch Bartels` gesamtes politisches Wirken. Sie wurde von medialen Beobachtern in symbolischer Übertragung auch als Markenzeichen des „Netzwerks“ gedeutet, da Bartels seine Thesen mit publizistischem Fleiß und Geschick verbreitete. Hinzu kam, dass Bartels als Hauptinitiator der „Berliner Republik“ diese als nach außen sichtbares Meinungsorgan des „Netzwerks“ maßgeblich beeinflusste. Doch auch sein persönlicher politischer Stil und seine Wertüberzeugungen waren in mancherlei Hinsicht als Antithese der 68er-Kritik zu lesen. Zu nennen ist hier an erster Stelle Bartels` Ablehnung einer gesellschaftlichen Überflexibilisierung und -individualisierung. Trotz aller ökonomischen Zwänge zur lokalen und qualifikationsbezogenen Mobilität auf dem Arbeitsmarkt stellten Heimat und die soziale Umwelt für Menschen wichtige Werte dar.958 Verbindlichkeit und Verlässlichkeit seien für ein gutes Leben durchaus wünschenswert, wenn nicht gar notwendig. Familie, Nachbarschaft oder auch die Beziehungen am Arbeitsplatz seien bedeutsame und zu erhaltende Bindungen, die für die gesamtgesellschaftliche Stabilität gerade in Zeiten der Veränderung wie der Globalisierung entscheidend seien.959 Das sprichwörtliche Würstchengrillen am Wochenende sei in diesem Sinne nicht spießig, sondern Ausdruck eines allzu menschlichen Bedürfnisses nach Nähe, Vertrautheit und Identität. Erst die Befriedigung jener Bedürfnisse biete den sicheren Ausgangspunkt für – gesellschaftliche und lokale – Mobilität.960 In diesen Kontext stellte Bartels auch den aus seiner Sicht besonderen Rang der klassischen Kernfamilie aus Vater, Mutter und Kind. Entgegen beispielsweise den Lebensmodellen vieler 68er, deren zweite oder dritte Ehefrauen nach 30 Jahren noch so jung wie die einstige erste seien, sei die lebenslange Bindung an Frau und Kind kein Ausweis anachronistischen Konservatismus. Der Kieler setzte die klassische Familienform somit dem in seinen Augen auf hedonistische Selbstverwirklichung zielenden Weg der 68er entgegen. Zugleich war Bartels` Plädoyer für Gemeinschaft und Bindung als Antithese gegen den Neoliberalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsform zu lesen.961 Er selbst hatte Kiel eigentlich nie verlassen, war dort zur Schule gegangen, hatte die Universität besucht, promoviert, gearbeitet, geheiratet, eine Tochter groß gezogen und schließ958
Vgl. Bartels, Hans-Peter: Kommt nach den Enkeln die „Generation Berlin“?, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 10 (1999), S. 916-919, hier S. 919. 959 Vgl. beispielsweise Bartels, 2001 b, S. 81. 960 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Flexibilismus und Ideologie, in: Berliner Republik 4 (2001), S. 77-78, hier S. 79. 961 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Vergesst die Wirtschaftspolitik!, in: Berliner Republik 1 (2003), S. 2027, hier S. 26 f.
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lich einen Wahlkreis erworben. Wenn Bartels den Wert der – sozialen – Heimat betonte, konnte er daher auch auf eigene Erfahrungen zurück greifen. Im Grunde aber war Bartels ein thematischer Allrounder: Von ihm finden sich Stellungnahmen sowohl zur Werbung im Kinderfernsehen963, zum Zustand der Bundeswehr im Irak als auch zur Frage der Abgeordnetenentschädigung oder der Kandidatenaufstellung durch Parteien. Dennoch lassen sich seine Publikationen in mehrere Leitmotive einteilen, denen sich die Einzelthemen unterordnen. Eines dieser Leitmotive bestand in Bartels` bereits geschilderten Thesen zum Verhältnis von Individualismus und Gemeinschaft, Flexibilität und Bindung. Das hierin enthaltene Menschenbild – ein nach Verlässlichkeit in der sozialen Umwelt strebendes Individuum – kam auch bei seinen Anregungen zu einem neuen Parteiprogramm zum Tragen. Das „Berliner Programm“, so Bartels, werde den aktuellen politischen und ökonomischen Umständen nicht gerecht.964 Staats- und Gesellschaftsbild seien zu Institutionen skeptisch, geprägt von der in den Neuen Sozialen Bewegungen herrschenden Empfindlichkeitsrhetorik.965 Frieden und Ökologie hätten damals Vorrang vor sozialer Gerechtigkeit gehabt, die sich auch weniger auf die eigene Gesellschaft denn auf den globalen Ausgleich zwischen Nord und Süd bezogen habe. Zum einen sei diese Rangfolge nicht mehr zeitgemäß, zum anderen tauchten aktuelle Problemlagen wie Staatsverschuldung, Generationenkonflikt oder internationaler Terrorismus gar nicht erst auf.966 Aus diesem Grund war für Bartels spätestens seit Ende der 1990er-Jahre sein Engagement für ein neues Grundsatzprogramm der SPD zentral. Ein weiteres Leitmotiv der Bartelsschen Arbeit war die Verteidigungspolitik. Bartels war Mitglied Verteidigungsausschusses des Bundestages, hatte sogar 2004 für dessen Vorsitz kandidiert, war in der Abstimmung allerdings unterlegen. Auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik setzte sich der Kieler vor allem für eine auf europäischer Ebene abgestimmte Strategie ein.967 Nicht die nominelle materielle Schlagkraft der Bundeswehr sei in einer Welt mit internationalen Konflikten und Auslandseinsätzen der deutschen Streitkräfte entscheidend, sondern vor allem die Koordination und Abstimmung zwischen Verbündeten und Partnern. In diesem Kontext setzte Bartels sich im Gegensatz zu vielen „Netz-
963
Vgl. Bartels, Hans-Peter: Werbung im Kinderfernsehen verbieten?, in: Focus, 31.07.2000. Vgl. Bartels, Hans-Peter/Kröger, Delf: Geschichten aus dem alten Berlin, Berliner Republik 4 (2004), S. 77-82; siehe als grundlegende Auseinandersetzung Bartels` mit der Programmdebatte Bartels, 2003 a, S. 24-30. 965 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Die SPD hat den roten Faden verloren, in: Flensburger Tageblatt, 31.10.2003. 966 Vgl. Bartels, 2003 a, S. 25. 967 Vgl. Bartels, Hans-Peter/Kröger, Delf: Die europäische Bundeswehr, in: Berliner Republik 5 (2001), S. 63-67, hier S. 67. 964
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werkern“ für den Erhalt der Wehrpflicht ein.968 Dabei ist besonders jener Aspekt der Bartelsschen Argumentation interessant, der auf die Werte der Solidarität und Pflicht zielt.969 Mittels der Wehrpflicht, so Bartels, könne die Bundeswehr und somit auch das Ansehen der Landesverteidigung in der Zivilgesellschaft verankert werden.970 Eine solche Argumentation entsprach dem Gesellschaftsund Menschenbild Bartels`, das ursprünglich konservative Werte wie Verlässlichkeit, Beständigkeit, Gemeinschaft und Pflicht propagierte. Ein zusätzliches Anliegen Bartels` umfasste die Bereiche der demografischen Gesellschaftsentwicklung und der Steuerpolitik.971 Da in Deutschland immer mehr Menschen immer älter würden, während gleichzeitiger immer weniger Kinder geboren würden, so Bartels, sei die Bundesrepublik eine schrumpfende Gesellschaft. Bei dem gegenwärtigen Sozialstaatssystem aber bedeute dies unweigerlich eine explosionsartige Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge beziehungsweise Lohnnebenkosten, was wiederum den Abbau der Arbeitslosigkeit ungemein erschwere. Als Lösungsvorschlag griff Bartels auf Modelle skandinavischer Staaten zurück: Er propagierte eine deutliche Erhöhung der Mehrwertsteuer, machte sich für Vermögens- oder Erbschaftssteuer stark972, um mit Hilfe der so gewonnenen finanziellen Freiräume die Lohnnebenkosten sowie die Beschäftigungsschwelle senken zu können. Ein weiterer Leitgedanke Bartels` war der der Transparenz im politischen Prozess. Gleich, ob er sich für die Wahl von Kandidaten in Parteien durch Mitglieder- statt durch Delegiertenversammlungen stark machte, ob er für eine Verkleinerung des Bundestags oder die Offenlegung der Einkommen von Abgeordneten plädierte:973 Stets war die Motivation die leichtere Nachvollziehbarkeit des politischen Prozesses. Mit diesem Beweggrund ließ sich auch Bartels` Einsatz für eine verbesserte politische Bildung interpretieren.974 Das politische System der Bundesrepublik biete eigentlich genügend Optionen der Beteiligung, neue müssten nicht geschaffen werden, um Politikverdrossenheit entgegenzuwir-
968
Vgl. Bartels, Hans-Peter: Brauchen wir die Wehrpflicht noch?, in: Vorwärts 11 (2004). Vgl. Bartels, Hans-Peter; Brauchen wir die Wehrpflicht noch?, in: Vorwärts 11 (2004). Vgl. Lindscheid, Frank: „Wir sind in den letzten 50 Jahren mit der Wehrpflicht gut gefahren“, in: Kieler Nachrichten, 17.05.2004. 971 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Mit der Mehrwertsteuer die Sozialbeiträge senken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.05.2003; siehe auch Bartels, Hans-Peter: Steuern rauf, Beiträge runter!, in: Berliner Republik 3 (2003), S. 74-79. 972 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Die andere Armut, in: Berliner Republik 2 (2005), S. 56-65, hier S. 61. 973 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Abgeordnete sind keine politischen Unternehmer, in: Frankfurter Rundschau, 26.07.2002; Bartels, Hans-Peter: Münteferings Leuchtrakete, in: Die Welt, 08.04.2000. 974 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Einmal Demokratie und zurück, in: Berliner Republik 2 (2000), S. 1617. 969 970
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ken.975 Vielmehr müssten vorhandene Bildungsinstitutionen wie die Schule demokratische Fähigkeiten – wie die Lust am rhetorischen Streit, das Interesse an politischen Zusammenhängen – vermitteln. Mehrere Besonderheiten fallen bei der Zusammenschau der von Bartels bearbeiteten Themenfelder ins Auge. Zum einen ist dies der bereits erwähnte Bezug auf verlässliche, im Grunde konservative Werte wie Familie und Heimat, Bindung und Gemeinschaft. Diese bildeten das Fundament seiner Argumentationen in den verschiedenen Themenbereichen. An diesem Aspekt wiederum war zweierlei bemerkenswert. Zum einen war markant, dass eine solche Position nicht unbedingt und ausnahmslos Konsens im „Netzwerk“ war.976 Besonders Christian Lange als eine weitere (meinungs-)führende Person der Gruppierung stand für eine dereguliertere Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik und in diesem Zuge auch für ein Menschenbild, das auf mehr Flexibilität setzte. Zum anderen zeigte sich an Bartels am deutlichsten die potenzielle generationelle Nähe der Gruppierung zu Einstellungen und Wertmustern der Skeptischen Generation. Die Ablehnung alles Ideologischen, die Betonung konservativ anmutender Werte wie Heimat oder auch der Schutz des privaten Raumes könnten in diesem Fall Parallelen sein.978 Des Weiteren aber war bei Bartels` Standpunkten auffallend, dass er sie mit hoher Konstanz vertrat.979 Inhaltliche Sprunghaftigkeit, wie Bartels sie vielen 68ern vorhielt, konnte man ihm nicht attestieren. Damit einher ging sein Bemühen, die verschiedenen Themenfelder gedanklich miteinander zu verknüpfen und in Einklang zu bringen. Widersprüchliches konnte man ihm daher nicht vorwerfen. Schlussendlich zeichneten sich Bartels` Texte sowie sein rhetorischer Stil durch zahlreiche Verweise auf historische Parallelen, literarische oder ideengeschichtliche Klassiker aus. Besonders häufig rekurrierte er beispielsweise auf die Marx-Engelsche-Gesellschaftsanalyse oder auf Max Weber und Ferdinand Tönnies.981 Die letztgenannten Eigenschaften wiesen Bartels als den „Intellektuellen“ unter den „Netzwerkern“, mindestens im Kreis der MdBs, aus – mit unterschiedlichsten Konsequenzen. Zum einen war er es, der insbesondere in der Anfangsphase das „Netzwerk“ als Generationenzusammenhang zu begründen suchte. Ohne Zweifel sorgte dies für die hilfreiche mediale Aufmerksamkeit für die 975
Vgl. Bartels, Hans-Peter: Der Demokratie fehlt es nicht an Demokraten, in: Der Tagesspiegel, 22.04.2000. 976 Vgl. hierzu und zur Selbsteinschätzung Bartels` auch Interview Bartels, S. 3. 978 Vgl. Schelsky, 1981, in: Scheel, S. 188 ff.; siehe grundlegend auch Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957. 979 Vgl. Schmiese, Wulf: Mit 38 gegen die Achtundsechziger: Hans-Peter Bartels, SPD-Youngster, in: Die Welt 10.07.1999. 981 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Gemeinschaft und Gesellschaft, in : Berliner Republik 3 (2000), S. 4445, hier S. 45.
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Gruppierung. Andererseits hoben ihn seine publizistische Umtriebigkeit und die Neigung zur manchmal provokanten Formulierung auch aus der Gruppe heraus, was ihm mitunter Kritik einbrachte. So entwickelte sich die Beziehung zwischen dem Kieler und dem „Netzwerk“ ambivalent: Er war es gewesen, mit dessen Thesen die Gruppierung für Außenstehende besonders in den ersten Jahren am engsten verknüpft wurde; er war es, der durch Betreiben der „Berliner Republik“ den deklarierten Generationszusammenhang durch inhaltliche Bestimmungen zu füllen trachtete. Dennoch entfernten sich zumindest Teile des „Netzwerks“ und Bartels nach und nach voneinander, augenfällig wurde dies durch das Ausscheiden Bartels` aus dem Sprecherkreis. Auch war er selbst paradoxerweise derjenige unter den „Netzwerkern“, der zwar unter Parteigenossen hinter vorgehaltener Hand und in der Presse offen als kluger Kopf der Gruppierung tituliert wurde, aber gleichzeitig am wenigsten vom machtpolitischen Aufstieg des „Netzwerks“ profitierte. Während erst Hauer und dann Lange Parlamentarische Geschäftsführer wurden, Edathy und Griese zu Ausschussvorsitzenden avancierten und Klug, Matschie und Vogt zu Staatssekretären aufstiegen, schied Bartels aus der Programmkommission aus und scheiterte bei der Wahl zum Verteidigungsausschussvorsitzenden. Im Interview beurteilte er selbst im Sommer 2005 – und damit vor dem Generationenumbruch der Partei- und Regierungsspitze nach der Bundestagswahl desselben Jahres – die (personal)politischen Erfolge der Gruppierung äußerst skeptisch: „Also, wenn man ein anderes Bild nehmen will, das ich schon verwendet hab`, also das „Netzwerk“ als Zierfischbecken, nicht? Also, aus dem dann der […] Parteivorsitzende oder Bundeskanzler sich mal einen rausholt und dann sagt, haben wir hier mal ´nen Generalsekretär – ach, schmeißen wir ihn wieder rein, hat nicht getaugt. Haben wir hier mal ´nen Verkehrsminister – wieder reinschmeißen. [...] Haben wir ´nen Staatsminister – ach schmeißen wir ihn wieder dahin oder auch dort. ´Ne Parlamentarische Geschäftsführerin – wieder reinschmeißen. Es ist ja, ist ja frappierend, wie erfolglos also ausgerechnet dieser Verein, dem man immer das Karrierestreben nachgesagt hat, personalpolitisch in sieben Jahren gewesen ist.“984
Aus den angegebenen Interviewstellen sprechen Ironie und Sarkasmus. Sicher, diese Stilelemente waren seit jeher Bestandteil Bartelsscher Texte gewesen, sie hatten ihnen Schärfe und Unverwechselbarkeit verliehen. Doch bezogen auf das „Netzwerk“, dokumentierten sie Enttäuschung über das Erreichte. 7.2.3 Kerstin Griese – Die euphorische Christin Als Kerstin Griese im Jahr 2000 für den ausscheidenden Abgeordneten Wilfried Penner in der Bundestag nachrückte und sich kurze Zeit später dem „Netzwerk 984
Vgl. Interview Bartels, S. 5.
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Berlin“ anschloss, konnte sie eigentlich schon als „SPD-Urgestein“ bezeichnet werden – trotz ihres noch recht jungen Alters von damals 34 Jahren. Denn die Düsseldorferin hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine große Organisationserfahrung gesammelt. Als eine von drei Töchtern eines evangelischen Pastors 1966 in Münster geboren985, wuchs Griese im fränkischen Gerbrunn und in Düsseldorf auf. In einer intakten Familie kam Griese mit evangelischem (Gemeinde-)Leben, mit protestantischen Ritualen und Werten in Kontakt. Ihr Vater engagierte sich während ihrer Jugend und damit während eines Zeitraums, in dem die Empfindsamkeit für politisch-sozialisatorische Einflüsse besonders ausgeprägt ist986, im alternativen und friedensbewegten Milieu der evangelischen Kirche987, in dem sie eine „klassische“ Sozialisation im Bereich alternativer Bewegungen und linken Gedankenguts jener Zeit.989 Die evangelische Kirche prägte Griese durch und durch.990 Sie war ihr sozialer Raum, in dem sie zwischen Familie und Freunden aufwuchs. Hier war sie nicht nur lange Jahre in der Jugendarbeit tätig, hier verbrachte sie auch nahezu ihre gesamte Freizeit. Die Kirche war ihr soziales Netz, sie wurde ihr zur Heimat und Familie, vermittelte ihr Werte und Orientierungen, die sie ihr weiteres Leben begleiteten: „Aber es [das Kirchenleben, d. V.] hat mich unheimlich stark geprägt, was meine Grundwerte... was ich richtig finde, was ich wichtig finde, was ich für Recht finde, was ich einfach für verantwortungsvoll halte. [...] Also, für mich ist evangelische Kirche immer noch sehr stark Heimat. Ich kenn die Lieder, die Rituale, die Denkweise, die Art, wie man argumentiert.“991
So entsprang auch der Parteieintritt 1986 zu einem Teil jener kirchlichen Sozialisation. Obwohl sich Griese aufgrund ihrer Herkunft, aufgrund des Engagements ihrer Familie im Grunde eher im Milieu der sich neu formatierenden Partei der Grünen bewegte, entschied sie sich doch für die Sozialdemokratie: „Man hatte damals, war man in so ´ner sozialen Gruppe, [...] wo man zu den Grünen geht oder zur SPD geht, eher zu den Grünen. Und ich habe irgendwie, komischerweise sind mir Werte wichtig. Also ich bin irgendwie ein sehr wertgebundener Mensch. Vielleicht kann man sogar sagen wertkonservativ […]“ 992
985
Vgl. zu diesem biografischen Hintergrund Interview Griese, S. 27. Vgl. zur Bedeutung der Adoleszenz für die politische Sozialisation Hopf/Hopf, 1997, S. 85 ff. 987 Interview Griese, S. 11 f. 989 Vgl. zur Sozialisation in den Neuen Sozialen Bewegungen Roth, Roland: Organisierte und nichtorganisierte Friedens- und Ökologiebewegung als politisches Korrektiv und Instanz der politischen Sozialisation, in: Claußen/Geißler, 1996, S. 471-484. 990 Vgl. Mai, Christine: Fürsprecherin der jungen Generation, in: Financial Times Deutschland, 12.11.2002. 991 Interview Griese, S. 15 f. 992 Ebd., S. 12. 986
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C. Untersuchungsteil „Also, [...] ich bin sicherlich auch eingetreten wegen Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Also, das klingt jetzt ein bisschen pathetisch, aber ich finde diese Grundwerte wichtig. […] Die ganze Grundidee von Solidarität. Also ich finde ja immer, das ist das, was im christlichen Gedankengut Nächstenliebe heißt, obwohl, Solidarität noch ein bisschen mehr ist, weil´s auch so über die reine Barmherzigkeit hinaus geht. Das ist mir irgendwie wichtig.“993
Die hier angesprochene Wertgebundenheit, der Bezug auf Solidarität und Nächstenliebe verdeutlichten Grieses protestantische Sozialisation, die letztlich einen großen Teil zum SPD-Eintritt beitrug. Als weiteres Argument für ihr Interesse an der Sozialdemokratie nannte sie jedoch ihre Leidenschaft für Geschichte994, die sie mit einem Studium der neueren und osteuropäischen Geschichte sowie der Politikwissenschaft verfolgte. Diese Neugier auf Historisches, besonders auch die intensive Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit Deutschlands und mit dem Holocaust, sollte sich in der Parteiwahl widerspiegeln: „Und mir sind Werte und mir ist auch Geschichte wichtig. Und mir waren die Grünen eine Partei ohne Geschichte. Das war mir alles zu beliebig. Ich fand die Geschichte der SPD wichtig […].“995
Zu der Überzeugung, dass unter den linken Parteien, die für Griese ohnehin nur in Frage kamen, die SPD aufgrund ihrer langen und bewegenden Historie die richtige war, kam zudem eine jugendliche Begeisterung für Willy Brandt und dessen Ostpolitik, wie sie unter jüngeren „Netzwerkern“ in den geführten Interviews kaum genannt wurde. Obwohl Grieses parteipolitisches Interesses Mitte der 1980er-Jahre mehr als zehn Jahre nach der außenpolitischen Wende der Sozialdemokratie erwachte, besaß Brandt als Symbol- und Führungsfigur der SPD offenbar immer noch eine große Anziehungskraft. Immerhin schmuggelte sich Griese 1987 auf den Parteitag der SPD, um Willy Brandts Abschiedsrede zu hören.997 Doch existierten neben den Argumenten für die SPD eben auch einige gegen die Grünen, in deren Einzugsbereich sich Griese mit ihren jugendbewegten Aktivitäten innerhalb der protestantischen Kirche ja bewegte. So wurden aus Sicht Grieses die Grünen aufgrund ihres vermeintlich „chaotischen“ Erscheinens und ihrer Monokulturalität unattraktiv. Obwohl Griese ihr politisches Selbstverständnis durchaus mit dem Attribut basisdemokratisch umschrieb, erschienen ihr die Grünen der 1980er-Jahre denn doch zu regellos und unbeständig.998 Ihr Bedürfnis nach einer gewissen Ordnung sah sie daher eher bei der SPD verwirklicht, zumal auch diese in den 1980er-Jahren bereits einige Versuche der organi993
Ebd., S. 14 f. Vgl. ebd., S. 11. Interview Griese, S. 12. 997 Vgl. ebd., S. 11. 998 Vgl. ebd., S. 16. 994 995
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satorischen Öffnung – gerade auch als Tribut an die entstandenen neuen Sozialen Bewegungen – machte. Daneben erschienen der jungen Düsseldorferin die Grünen aber auch in ihrem politischen Milieu zu sehr auf sich selbst bezogen, repräsentierten sie zu wenig den gesellschaftlichen Querschnitt.999 Hatten das Geborenwerden in die protestantische Friedensbewegung und die evangelische Kirche Grieses Grundüberzeugungen stark bestimmt, so prägten ihre Tätigkeiten und Erlebnisse bei den Jungsozialisten sie nicht minder. Als Griese 1985 ihr Studium in Düsseldorf begann, war dies auch Ausdruck ihrer Heimatverbundenheit. Als neues Parteimitglied engagierte sie sich in den Jusohochschulgruppen und hatte für diese einige führende Funktionen im Mikrokosmos der Universität inne: 1989/90 war sie AStA-Vorsitzende und 1990 bis 1992 Präsidentin des Studierendenparlaments der Heinrich-Heine-Universität. Dabei bezeichnete sie auch in späteren Jahren noch mit einiger Leidenschaft und mit gewissem Stolz ihre Tätigkeit in der Hochschularbeit als außerordentlich bereichernd.1000 Hier entfachte sich Grieses Begeisterung für politische Arbeit, hier erlernte sie von Grund auf politische Funktionsweisen. Denn als AStAVorsitzende hatte sie nicht nur einen Haushalt zu verwalten oder Personal zu führen, sie musste vielmehr auch Mehrheiten schmieden, sich mit Kritik und Gegnern auseinandersetzen, für Projekte und Ideen geradestehen und sich letztlich auch als junge Frau in etablierten Ausschüssen und Kommissionen behaupten.1001 An dieser Stelle verwies die Düsseldorferin darauf, dass ihre Neigung zu „basisorientierter“ Politik in dieser Sozialisation begründet sei. Nicht nur in der kirchlichen, friedensbewegten Alternativszene, sondern auch in universitären Gremien war Griese dem Gegensatz zwischen festen, lang überlieferten Strukturen einerseits, sowie jugendlicher, partizipatorischer Spontaneität andererseits ausgesetzt. Nichtsdestotrotz eignete sich Griese vor allem während ihrer Arbeit als Präsidentin des Studierendenparlaments wichtige Führungsfertigkeiten an, die ihr nach eigener Aussage auch im späteren Werdegang zu Gute kamen: „Ich hab, war dann nachher zwei Jahre Studierendenparlamentspräsidentin, davon profitier ich als Ausschussvorsitzende heute noch. Dass ich weiß, wie man Sitzungen leitet, wie man mit Geschäftsordnungen umgeht, wie man versucht, so was, so was zu machen, ne?“1002
So sehr Griese an ihrer Tätigkeit in der universitären Selbstverwaltung das Gestalterische liebte, umso weniger konnte sie sich mit den zumeist theoretisch abgehobenen und in ideologischen Grabenkämpfen gefangenen Debatten auf der Jusobundesebene anfreunden. Hier war sie immerhin vier Jahre lang, von 1989 999
Vgl. Interview Griese, S. 24. Ebd., S. 12. 1001 Vgl. Interview Griese, S. 12. 1002 Ebd., S. 13. 1000
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bis 1993, als Vertreterin der Jusohochschulgruppen im Bundesvorstand beteiligt. Doch blieben ihr die dortigen Diskussionen zu unkonkret.1003 Während sie als AStA-Vorsitzende und im Studierendenparlament Entscheidungen fällte, die reale Konsequenzen hatten, liefen die Debatten im Jusobundesvorstand allzu oft ins Leere. Die Beschlüsse des Gremiums konnten kraft fehlender – parlamentarischer – Macht die Realität eben nicht verändern, sondern dienten aus Sicht Grieses oft nur dazu, andere Meinungen innerhalb des Verbands zu diskreditieren: „Also, ich hab zehn Jahre Jusobundesverbandsarbeit gemacht. Zehn Jahre! Und [war damals, d. V.] zum Weglaufen […], […] ich weiß nicht wie´s jetzt so ist. Unglaublich ritualisierte Konflikte, es sind massive persönliche Attacken. Es ist ein Stil des Umgangs miteinander, der mehr darauf bedacht ist, dass man die härtesten Textbausteine hat, um den meisten Beifall zu kriegen, als dass man wirklich mal nach ´ner Lösung sucht.“1004
Dieser Eindruck Grieses dürfte auch dadurch verstärkt worden sein, dass die junge Politikerin sich selbst zum undogmatischen Flügel im Jusoverband zählte.1005 Der Bezirk Niederrhein, aus dem Griese stammte, ordnete sich im Flügelkampf der Jungsozialisten klar den Undogmatischen zu.1006 Dabei erfuhr die reformorientierte Prägung, die Griese in ihrem Heimatbezirk zu Teil wurde, durch die alltägliche politische Praxis innerhalb der Universität sicherlich eine Verstärkung. Auf Bundesebene allerdings erlebte sie Debatten über die richtige Einstellung zum Marxismus, über die nächste Kuba-Resolution oder musste sich aufgrund ihrer Begeisterung für Oskar Lafontaine verteidigen.1007 Während sie in ihrer täglichen Arbeit Entscheidungsmacht inne hatte, war der reformorientierte Flügel der Jusos in den 1980er- und 1990er-Jahren auf Bundesebene systematisch gegenüber dem Stamokap-Flügel unterlegen. Es war daher eine permanente Niederlagenerfahrung, der Griese sowie die gesamte undogmatische Jusoströmung ausgesetzt waren. Hinzu kam, dass in Grieses Zeit auf Juso-Bundesebene die so genannte Asyldebatte der Sozialdemokraten fiel, bei der die SPD unter ihrem Vorsitzenden Björn Engholm mit den „Petersberger Beschlüssen“ eine Kehrtwende vollzog.1008 Der Partei bescherte das unter anderem eine massive Auseinandersetzung mit dem Jugendverband, der in weiten Teilen weiterhin für eine liberale Auffassung des Asylrechts und gegen eine Änderung des Grundgesetzes 1003
Vgl. ebd., S. 12. Interview Griese, S. 9. Vgl. Sturm, Daniel Friedrich: Christlich, pragmatisch, pro Schröder: Kerstin Griese, in: Die Welt, 14.04.2004. 1006 Vgl. Interview Griese, S. 4. 1007 Vgl. ebd., S. 10. 1008 Vgl. Walter, Franz: Die SPD nach der deutschen Vereinigung – Partei in der Krise oder zur Regierungsübernahme, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (1005), S. 85-112, hier S. 87. 1004 1005
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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focht.1009 Auch Griese geriet mitten in diese Auseinandersetzungen, die sie beinahe zum Parteiaustritt bewegten.1010 Kurzum: Grieses Arbeit bei den Jungsozialisten und zumal ihre Jahre im Bundesvorstand 1989-93 fielen in eine Zeit der intensiven und emotionalen Konfrontationen, sowohl innerverbandlich als auch gegenüber der SPD. Daher manifestierte sich ihre Abneigung gegen ideologisch aufgeladene Diskussionen, gegen politisches Handeln aufgrund von Ideologien, gegen abgehobene Theoriediskussionen und gegen den so genannten StamokapFlügel und dessen Vertreter im Allgemeinen. Dass Griese dennoch über Jahre innerhalb des Jugendverbands mitarbeitete, obwohl sie dessen politische Kultur so scharf kritisierte, war eigentlich verwunderlich. Eine Begründung lag unter Umständen im starken Bindungsbedürfnis und Pflichtbewusstsein Grieses: Hatte Sie sich einmal für eine Aufgabe entschieden, sagte sie diese in der Regel nicht wieder ab, sondern führte sie über lange Zeit fort. Zudem war politisches Engagement für sie, dies wurde bereits erwähnt, stets auch verbunden mit sozialer Heimat, einem Wert, der für sie höchste Priorität besaß. Die niederrheinischen Jungsozialisten im Speziellen waren jedoch noch in weiterer Hinsicht für Grieses politischen Werdegang bedeutend, nicht nur für ihre ideologische Ausrichtung im Gesamtverband. Denn hier fand sie wichtige Unterstützer, die ihr höhere Funktionen in der Partei nicht nur zutrauten, sondern sie auch aktiv förderten.1011 Vor allem Harald Schrapers nahm für Griese nahezu die Rolle eines persönlichen Managers, zumindest eines sehr engen Vertrauten ein. Schrapers war Vorsitzender der niederrheinischen Jusos gewesen, Griese seine Stellvertreterin. Zusammen bewegten sie sich auch auf Jusobundesebene im undogmatischen Spektrum, Schrapers brachte es gar zum stellvertretenden europäischen Vorsitzenden. Mit Schrapers zusammen verfasste Griese Texte, diskutierte und formulierte sie ihre Ideen; er organisierte ihre Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, und nicht zuletzt war er es, der als Vorsitzender der Niederrheinischen Jungsozialisten Kerstin Griese intensiv förderte. Junge Frau aus NRW – die dreifache Quote als Aufstiegshilfe? So stieg Griese kontinuierlich in der Partei auf. Im Gegensatz zu vielen anderen „Netzwerkern“ bekleidete sie – vor ihrem Bundestagsmandat – nie exekutive Ämter auf kommunaler oder Landesebene, sondern ging ihren Weg über die Gremien der Partei. Nach ihrem Engagement in der Hochschulpolitik und bei den Jungsozialisten wurde sie 1995 in den Bundesparteivorstand gewählt.1012 1009
Vgl. Oberpriller, 2004, S. 311 f. Vgl. Interview Griese, S. 13 f. Vgl. Interview Griese, S. 26. 1012 Vgl. o. V.: Mancher schafft es erst im zweiten Anlauf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.1995. 1010 1011
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Dabei profitierte sie von den Plänen des vorherigen Parteivorsitzenden Scharping, das Gremium zu verjüngen, da bis dato Andrea Nahles das einzige Mitglied unter 40 Jahren gewesen war.1013 Weil Griese aufgrund ihres Werdegangs als ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet der Jugendarbeit galt, wurde ihr von 1996 bis 1999 die Leitung der Kommission Jugend beim Parteivorstand anvertraut. In den Bundestag gelangte Griese 2000 – wie bereits erwähnt – als Nachrückerin für den ausscheidenden Abgeordneten Wilfried Penner. Hier traf sie auf einige bekannte Gesichter aus ihrer Arbeit im Parteivorstand, so dass sie sich zügig in die neuen Abläufe einarbeitete.1014 Und so wurde sie auch bereits in den Jahren 2001/2002 Sprecherin der „Youngsters“, einer strömungsübergreifenden Gruppierung jüngerer Abgeordneter im Bundestag.1015 Ebenso wurde sie – zusammen mit Christoph Matschie und Ute Vogt – Sprecherin der „Arbeitsgruppe 2010“. Die von Matthias Machnig initiierte und beim Parteivorstand angesiedelte Gruppe sollte der Förderung junger Sozialdemokraten dienen, löste sich jedoch rasch wieder auf.1016 Nachdem sie nach einigen internen Auseinandersetzungen im ursprünglich anvisierten Wahlkreis Düsseldorf-Süd den Wahlkreis Mettmann-Nord für sich gewinnen konnte1017, zog sie 2002 und 2005 per Direktmandat in das Parlament ein. Bereits 2002 übernahm sie die Leitung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die sie auch nach der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 weiter führte. Ebenfalls zog Griese in den erweiterten Fraktionsvorstand ein und engagierte sich innerhalb der Fraktion in Arbeitsgruppen zu den Themen Familienpolitik, Rechtsextremismus, bürgerschaftliches Engagement. Als Konsequenz ihrer Biografie wurde sie zudem Kirchenbeauftragte der Fraktion.1018 Neben der bereits erwähnten Förderung in ihrem Heimatbezirk dürfte Grieses Karriere auch von anderen begünstigenden Faktoren profitiert haben. Zunächst war sie als junge Frau aus dem mächtigen Landesverband NordrheinWestfalen quasi die Verkörperung einer „dreifachen Quote“, wie sie auch selbst konstatiert:
1013
Vgl. o. V.: SPD-Vorstand soll bei Wahl im November verjüngt werden, in: Süddeutsche Zeitung, 14.10.1995. Vgl. Gollnick, Ines: Die Euphorische, in: Das Parlament, 19.10.2001. 1015 Vgl. Mai, Christine: Fürsprecherin der jungen Generation, in: Financial Times Deutschland, 12.11.2002. 1016 Vgl. hierzu Interview Griese, S. 20 f. 1017 Vgl. o. V.: Kein Zweikampf zwischen SPD-Frauen, in: Rheinische Post, 11.09.2001. 1018 Vgl. den Lebenslauf auf http://www.kerstin-griese.de/ (zuletzt aufgerufen am 03.03.2009). 1014
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„Ich hab ´n bisschen das Glück, dass ich, NRW-Landesgruppe und Frau sind nun mal leider zwei Faktoren, wo man sagen, hat man schon mal ´n bisschen was an Stimmpotenzial bei sich..“1019
Als Kerstin Griese Mitte der 1980er-Jahre ihren politischen Weg begann, war die nordrhein-westfälische Sozialdemokratie der führende Landesverband im noch nicht vereinigten Deutschland. Die NRW-SPD war nicht nur mitgliederstark, sie regierte in ihrem Land auch seit 1966.1020 Zudem war Griese in der Landeshauptstadt Düsseldorf nah am Zentrum der Macht und damit auch zu Verbindungen über das eigene Bundesland hinaus. Hinzu kam, dass die in jener Zeit von Johannes Rau geführte nordrhein-westfälische SPD in den bundesweiten Machtkämpfen Ende der 1980er- und in den 1990er-Jahren eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Das Modell des in NRW sehr beliebten Rau galt – neben den erfolgreichen „Enkeln“ Lafontaine, Schröder, Scharping oder Engholm – als eine der Möglichkeiten, mit welchen die Sozialdemokratie auch bundesweit eine Regierungsbeteiligung erreichen könnte.1021 Zweifelsohne kann die Herkunft aus einem einflussreichen Landesverband eine doppelte Hypothek bedeuten: Es kann einerseits sehr hilfreich sein, aus einem derartigen Land zu stammen, da dessen Stimmen Gewicht haben, es mehr Sitze in den verschiedensten Gremien beanspruchen und im Gegenzug mehr Positionen vergeben kann. Andererseits ist denkbar, dass es gerade in einem solch großen Landesverband schwieriger ist, sich hochzuarbeiten und Gehör zu verschaffen, da die Konkurrenz entsprechend größer ist. Bei Kerstin Griese griff offenkundig der erste Mechanismus.1024 Darüber hinaus kam Griese in den Genuss der von ihren weiblichen Vorkämpferinnen in der Partei erstritten Rechte von Frauen. 1985 hatte die SPD eine 40Prozent-Frauenquote für alle Ämter und Mandate beschlossen, die weiblichen Nachwuchstalenten allgemein und so auch Griese den Aufstieg erleichterte.1025 Griese als „Netzwerkerin“ Als Kerstin Griese im Jahr 2000 in den Bundestag nachrückte, schloss sie sich recht rasch dem „Netzwerk“ an. Dies war nur konsequent, hatte sie sich doch während ihrer gesamten politischen Laufbahn dem reformorientiertenundogmatischen Spektrum der Partei zugeordnet, in dem sich auch die „Netzwerker“ verorteten. Die Gruppierung war von sich aus auf die Neuparlamentarie-
1019
Interview Griese, S. 25. Vgl. Kranenpohl, Uwe: das Parteiensystem Nordrhein Westfalens, in: Jun/Haas/Niedermayer, 2008, S. 315-339, besonders S. 318 sowie S. 321 ff. 1021 Vgl. Gissendanner, Scott/Vogel, Dirk: Johannes Rau. Moralisch einwandfreies Scheitern, in: Forkmann/Richter, 2007, S. 261-298. 1024 Vgl. Nink, Karin: „Wir brauchen mehr Enkel“, in: Die Tageszeitung, 10.11.1995. 1025 Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 255 f. 1020
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rin zugegangen und hatte sie zur Mitarbeit eingeladen.1026 Während ihrer Arbeit bei den Jungsozialisten hatte Griese bereits einige der späteren „Netzwerker“ kennen gelernt, wie etwa Hubertus Heil, Christian Lange, Nina Hauer oder Michael Roth.1027 Griese fiel die Entscheidung für eine Mitarbeit beim „Netzwerk“ nicht schwer. Sie hatte sich zwar stets als links innerhalb der Sozialdemokratie verstanden1029 und sich deshalb auch Veranstaltungen der parlamentarischen Linken angesehen. Doch war sie von diesen enttäuscht, da sie aus ihrer Sicht zu wenig offen für neue Diskussionen waren.1030 Eine Mitgliedschaft bei den Seeheimern kam für Griese allein aufgrund ihres linken Selbstverständnisses nicht in Frage, außerdem war ihr die Gruppierung zu unkritisch dem Kanzlerkurs verpflichtet.1032 Dagegen empfand Griese es beim „Netzwerke“ gegenüber den herkömmlichen Strömungen als Bereicherung, dass inhaltliche Positionen nicht von Beginn an fest standen, sondern erst in der gleichberechtigten Diskussion erarbeitet wurden. Nach Grieses Ansicht bot das „Netzwerk“ so etwas wie einen sicheren Experimentierkreis, in dem niemand Gefahr lief, für seine Auffassungen ausgeschlossen zu werden, und aus dem zunächst nichts nach außen drang.1034 Grieses positive Beurteilung des „Netzwerks“ bezog sich damit hauptsächlich auf den Bereich der politischen Kultur:1035 „Also, ich glaube, eine Hauptqualität im „Netzwerk“ ist schon, dass wir eine andere Diskussionskultur haben und auch anders miteinander umgehen. Dass es sich wirklich so entwickelt hat, dass wir, erstens, sehr diskutierfreudig sind. Dass wir auch gemerkt haben, dass man unter den Abgeordneten einen Kreis braucht, wo man mal frei diskutieren kann. Das ist einer der ganz wenigen Kreise in Berlin, die auch geschlossen gehalten werden, wo nicht gleich alles an die Presse geht.“1036
Die gleichberechtigte Meinungsäußerung, der loyale, sichere und vertrauenswürdige Raum, in dem keine Äußerungen gegeneinander ausgespielt und zum Zweck des eigenen Vorteils an die Presse gegeben werden, bedeuteten nach Ansicht Grieses Alleinstellungsmerkmale des „Netzwerks“. Auch die anfänglich stark informelle Organisation des „Netzwerks entsprach durchaus Grieses politischen Vorstellungen, da sie genau jene Basisorientierung, wie sie es nannte, während ihrer Arbeit in den Jusohochschulgruppen so geschätzt hatte.1037 In
1026
Vgl. Interview Griese, S. 4. Vgl. ebd., S. 4 ff. 1029 Vgl. ebd., S. 4. 1030 Vgl. ebd., S. 5. 1032 Vgl. ebd., S. 1. 1034 Vgl. ebd., S. 3. 1035 Vgl. auch ebd., S. 5. 1036 Ebd., S. 1. 1037 Vgl. ebd., S. 22. 1027
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diesen Kontext passt auch, dass das „Netzwerk“ aus Sicht Grieses den Mitgliedern deutlich mehr Beteiligungsmöglichkeiten bot als andere Gruppierungen.1038 In diesem Zusammenhang deute Griese auch die Heterogenität der Gruppierung positiv, welche sich sowohl in der inhaltlichen Spezialisierung der Beteiligten als auch in den so genannten „Doppelmitgliedschaften“ – die Griese jedoch nicht unterstützte1039 – zeigten.1040 In Grieses Augen besaß die inhaltliche Bandbreite der Gruppenmitglieder einen zweifachen Vorzug. Zum einen, so Griese, führe es dazu, dass sich innerhalb der Gruppe ein stetiger Lernprozess vollziehe, da die unterschiedlichsten Fachleute ihr Wissen beitrügen.1041 Zum anderen habe sich ein Expertentum gebildet, das aufgrund der Bandbreite und Diversität politischer Probleme ein Vorzug sei.1042 Kerstin Griese engagierte sich im „Netzwerk“ sowohl organisatorisch als auch inhaltlich, wurde nach der Bundestagswahl 2002 gar in den Sprecherkreis gewählt. Häufig machte sie Vorschläge für Referenten der Donnerstagabende, sie beteiligte sich an der Organisation von Tagungen wie beispielsweise dem Kongress zum Thema „Soziale Demokratie: Deutschland 2020“ zusammen mit der Hans-Böckler-Stiftung im Februar 2005. Dabei blieb sie ihrem bisherigen Stil treu und setzte sich sowohl für mehr weibliche Referenten als auch für eine offene Tagungs- und Diskussionsgestaltung ein.1045 Inhaltlich brachte Griese – getreu ihrer Auffassung, dass Experten die Diskussion bereichern – vorrangig ihre Standpunkte im Bereich Familien- und Frauenpolitik, Kinderbetreuung oder Rechtsextremismus ein. Von der Gedenkstätte zur Familie – inhaltliche Schwerpunkte Zu Beginn ihres politischen Werdegangs bildete Kerstin Griese thematische Schwerpunkte aus, die sie in Abwandlungen auch in den folgenden Jahren verfolgte. Ein Standbein blieb ohne Zweifel ihr Fachwissen auf dem Gebiet der Kirchen und des Christentums in der Politik. als auch im „Netzwerk“ blieb Griese Ansprechpartnerin für Fragen in diesem Bereich. Doch rückten nach und nach andere Themen in den Mittelpunkt. Bereits früh hatte sich ihr Interesse für Geschichte und besonders für den deutschen Nationalsozialismus ausgebildet. Diesem ging sie durch ihr Studium, aber auch durch ihre langjährige Tätigkeit für die Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus in Düsseldorf nach. Doch verband sich hiermit zugleich ein weiterer thematischer Schwer1038
Vgl. ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 6. 1040 Vgl. Ebd., S. 23. 1041 Vgl. Interview Griese, S. 1. 1042 Vgl. ebd., S. 2 und S. 24. 1045 Ebd., S. 30. 1039
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punkt: Griese engagierte sich seit jeher im Bereich der Jugendarbeit und für jugendliche Belange.1046 War die Arbeit bei der Gedenkstätte Düsseldorf genuin politische Bildungsarbeit, so fasste sie auch ihren späteren Abgeordnetenberuf als solche auf, versuchte durch Schulbesuche Aufklärung über politische Zusammenhänge zu leisten.1047 Zudem entwickelte sie die Beschäftigung mit dem Komplex der Jugendpolitik weiter Richtung Familienpolitik, in der sie sich spezialisierte.1048 Dabei verband Griese familienpolitische mit bildungs- und gleichberechtigungspolitischen Motiven.1049 Um besonders Müttern die Erwerbstätigkeit zu erleichtern, so Griese, bedürfe es einer Ausweitung der – frühkindlichen – Kinderbetreuung. Diese dürfe sich jedoch nicht auf ein bloßes „Beaufsichtigen“ der Kinder beschränken, sondern benötige ausdrücklich einen Bildungsauftrag.1050 Gerade in Zeiten des lebenslangen Lernens, des „Pisa-Schocks“ und der zunehmend auseinander driftenden sozialen Schere sei spielerische frühkindliche Bildung eine Möglichkeit, soziale Missstände auszugleichen und allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen oder wirtschaftlichen Herkunft gleiche Bildungsund Lebenschancen zu ermöglichen.1051 Dazu, so Griese, bedürfe es zum einen der Aufwertung der Erzieherausbildung, die möglichst universitär oder an Fachhochschulen verlaufen solle.1052 Zudem sei es erstrebenswert, Betreuungseinrichtungen nach dem Vorbild der britischen „Early Excellence Center“ auszubauen.1053 So könnten neben der Kinderbetreuung auch Sozialarbeit und Elternberatung an einem Ort gebündelt werden, würden Betreuungseinrichtungen zu einem tatsächlichen Lebensort. Im Gegenzug zu einer stärker bildungsorientierten frühkindlichen Betreuung sollten Schulen stärker ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen, zu Ganztagsschulen ausgebaut werden, in denen nicht nur gelernt, sondern gelebt werde.1054 Eine veränderte Kinderbetreuung, so argumentierte Griese, bedeute in mehrfacher Hinsicht eine Verbesserung: Zum einen ermögliche sie Frauen die
1046
Vgl. o. V.: Ruf nach Ausbildungspflicht, in: Allgemeine Frankfurter Sonntagszeitung, 04.08.1996. 1047 Vgl. Interview Griese, S. 17. 1048 Vgl. ebd., S. 26. 1049 Vgl. Griese/Schrapers, 2004, S. 83-85. 1050 Vgl. Griese, Kerstin/Schrapers, Harald: Auf die Kleinsten kommt es an, in: Berliner Republik 2 (2005), S. 43-47; siehe auch Interview Griese, S. 28. 1051 Vgl. Griese, Kerstin/Kressl, Nicolette: Bessere Chancen durch individuelle Förderung, in: Platzeck, Matthias/Steinmeier, Frank-Walter/Steinbrück, Peer (Hg.): Auf der Höhe der Zeit. Soziale Demokratie und Fortschritt im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 89-93. 1052 Vgl. Griese/Schrapers, 2002, S. 75. 1053 Vgl. zu den „Early Excellence Centern“ Griese/Schrapers, 2005, S. 45. 1054 Vgl. ebd., S. 46.
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Vereinbarung von Familie und Beruf1055, dem bislang verschiedenste gesellschaftliche Beschränkungen entgegen stünden.1056 Neben mangelnder Kinderbetreuung, so Griese, zähle hierzu auch ein Familienmodell, das auf den – männlichen – Alleinverdiener zugeschnitten sei und mit der Steuerklasse V die Familienrolle der Hausfrau fördere.1057 Zum anderen aber sei eine qualitativ und quantitativ ausgebaute frühkindliche Betreuung auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll.1058 Denn sie helfe, erstens, familiäre Defizite aufzufangen und annähernd gleiche Startchancen für Kinder zu gewähren. Zweitens könne es sich keine Gesellschaft – zumal keine alternde wie die deutsche – leisten, gut ausgebildete junge Frauen als Arbeitskräfte zu verlieren. Griese verband ihre Argumente für ein gewandeltes Familienbild mit einer grundsätzlichen Kritik am klassischen Arbeitsbegriff, die Forderungen nach einer veränderten Finanzierung des Sozialstaats nach sich zog. Obwohl Griese grundsätzlich die in der Agenda 2010 geplanten Maßnahmen trotz der aus ihrer Sicht ungenügenden Vermittlung begrüßte1059, bemängelte sie, dass auch Schröder sich nicht vom klassischen Arbeitsbegriff, der sich auf (Vollzeit)Erwerbsarbeit vor allem in der Lebensmitte beziehe, gelöst habe. In einer alternden Gesellschaft, so Griese, in der Menschen auch länger einer Erwerbsarbeit nachgehen könnten, bedürfe es einer Entzerrung der so genannten „rush hour“ des Lebens, in die bislang beruflicher Aufstieg, Familiengründung und unter Umständen die Pflege alternder Eltern fiele. Ein gewandelter Arbeitsbegriff müsse diese Belastungen entschärfen und Erwerbsarbeit neu definieren.1060 Dazu gehöre, dass der Fluchtpunkt des Sozialsystems nicht länger die Erwerbsarbeit sondern der Bürgerstatus des Einzelnen werde.1061 Zudem müsse die Finanzierung des Sozialstaats auf das so genannte „Cappucino-Modell“ mit einer steuerfinanzierten Basissicherung, einer anteiligen beitragsfinanzierten Sicherung und privater Vorsorge umgestellt werden. Auch eine Erhöhung der Erbschaftssteuer und eine Grundsicherung für alle Bürger erachtete Griese in diesem Rahmen möglicherweise für sinnvoll.1062 Der Sozialstaat sollte in diesem Zusammenhang aus Sicht Grieses mehr Trampolin denn Netz sein, die Menschen zurück in Ar1055
Vgl. Griese/Schrapers, 2002, S. 74. Vgl. Griese, Kerstin/Schrapers, Harald: Die Vision vom sozialen Staat, in: Berliner Republik, 3 (2003), S. 42-46. 1057 Vgl. ebd., S. 44. 1058 Vgl. zu diesem wirtschaftlichen Argument Griese/Schrapers, 2004. 1059 Vgl. Lutz, Martin/Dausend, Peter: „Einen Zickzackkurs darf es nicht geben“, in: Die Welt, 16.08.2004. 1060 Vgl. Griese/Schrapers, 2002, S. 75;siehe zur Pflege Angehöriger o. V.: Berufspause zur Pflege der Eltern, in: Rheinische Post, 31.03.2003. 1061 Vgl. Griese/Schrapers, 2003, S. 44. 1062 Vgl. o. V.: Auf der Suche nach einer Agenda 2050, in: Rheinische Post, 02.07.2003. 1056
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beit federn.1065 Gerechter sei es zudem, wenn sozialer Statuts erarbeitet und nicht vererbt werde und sich alle Bürger an der Finanzierung der Sozialsysteme beteiligten, also in Kranken- und Rentenversicherung einbezogen würden. Quirlig und emotional – politischer Stil Kerstin Griese war von Beginn an Vollblutpolitikerin. Doch stand bei ihr neben dem reinen „Broterwerb“, dem Leben von der Politik, immer auch das Leben für die Politik im Mittelpunkt.1066 An soziale und politische Themen wurde Griese bereits seit der Kindheit in ihrer Familie heran geführt. Das Engagement für soziale Belange innerhalb der Kirche und später auf verschiedensten Ebenen der Jusos war ihr Lebensinhalt. Dabei verfolgte Griese ihre Ziele und ihre Arbeit stets mit großer Emotionalität. Bezeichnend war daher eine Anekdote, die sie von der Abschiedsrede Willy Brandts berichtete: „Ich hab Willy Brandt zweimal im Leben gesehen. Ich hab mich nicht getraut, mit ihm zu sprechen, worüber ich mich bis heute ärgere. [...] ´87 beim Parteitag, damals waren die Sicherheitsvorkehrungen noch nicht so, hab` ich mich rein geschmuggelt, um ihn da live zu erleben. Hab` auch geweint bei seiner Abschiedsrede, weil mich das irgendwie bewegt hat.“1067
Die Begeisterung für die von ihr verfolgten Belange war Griese stets anzumerken und zeigte sich sogar in ihrem teils hektischen Sprechrhythmus, ihrer sprudelnden Redeweise.1068 Grieses Stil war nie ruhig und besonnen, sondern quirlig und temperamentvoll.1069 Entsprechend ihrer großen Emotionalität bezeichnete sie Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit als wichtigste Maximen politischen Handelns; Werte, die auch im „Netzwerk“ allgemein als fundamental für politische Kultur erachtet wurden.1070 Tatsächlich vermittelte sich für Beobachter der Eindruck, dass sie an die von ihr vertretenen Positionen in protestantischer Manier fest glaubte. Allerdings umfasste Grieses politischer Stil auch das Bemühen, denkbar oft so viele Meinungen und Personen wie möglich in einen Entscheidungsprozess einzubinden. Besonders am Beispiel Bartels` und dessen Ausscheiden aus dem Sprecherkreis zeigte sich, dass sie mit teilweise harten Personalentscheidungen eher schwer umgehen konnte. Ihre Stärke im machtpolitischen Zusammenhang lag daher wohl weniger im Heraufbeschwören von Konflikten denn in der Netzwerk- und Kontaktpflege. 1065
Vgl. Griese, Kerstin/Schrarpers, Harald: Die Vision vom sozialen Staat, in: Berliner Republik 3 (2003), S. 42-46, hier S. 43. Vgl. zu dieser Unterscheidung Weber, Max: Politik als Beruf, München/Leipzig 1926, S. 15 f. 1067 Interview Griese, S. 11. 1068 Vgl. Gollnick, Ines: Die Euphorische, in: Das Parlament, 19.10.2001. 1069 Vgl. Mai, Christine: Fürsprecherin der jungen Generation, in: Financial Times Deutschland, 12.11.2002. 1070 Vgl. beispielsweise Interview Griese, S. 18. 1066
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7.2.4 Nina Hauer – Vom Saulus zum Paulus? Geboren im Revolutionsjahr 1968, wurde die Auseinandersetzung mit den Protagonisten und Zielen der jugendlichen Revolutionäre zu einem Leitmotiv der politischen Karriere Nina Hauers. Dabei hatte Hauers Lebensweg selbst wenig Revolutionäres an sich. Die Hessin wuchs wohl behütet und – mit einem Ingenieur als Vater – auch finanziell gesichert in Karben-Petterweil nördlich der Finanzmetropole Frankfurt/Main auf.1072 Hauer blieb sowohl ihrem Heimatort als auch ihrer politisch-sozialen Herkunft treu. Auch 2005 noch lebte sie in Karben1073, und obwohl ihre ersten politisierenden Erlebnisse 1984/85 in unmittelbarem Zusammenhang mit der Friedensbewegung und der Debatte um die Stationierung von Pershing-II-Raketen standen1074, trat sie 1987, kurz vor dem Abitur, der SPD bei. Sie tat dies heimlich, denn da bereits Hauers Mutter bei den Sozialdemokraten, insbesondere der bei der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen engagiert gewesen war, wollte die Junggenossin ihren Schritt nicht als Ergebnis erfolgreicher Erziehung verstanden wissen, ihren Eltern gegenüber nicht zu angepasst erscheinen.1075 Doch war an Hauers Schritt zur SPD auf den zweiten Blick mehr Ungewöhnliches als es zunächst schien. Sicher, gegen die Elterngeneration protestierte sie so nicht. Allerdings hätte es für die Karbenerin aufgrund ihrer sozialisierenden Erlebnisse wie auch bei vielen anderen „Netzwerkern“ eigentlich nahe gelegen, sich bei den Grünen zu engagieren. Denn diese waren die Partei, welche die friedenspolitischen Debatten jener Zeit dominierten, sie organisierten die großen und kleinen Demonstrationen des Pazifismus, sie waren die Partei der Jugend in den ausklingenden 1970er- und beginnenden 1980er-Jahren. Aber entgegen aller äußerlichen Vorzeichen folgte Hauer nicht dem mehrheitlichen Weg ihrer Generation, sondern schloss sich den in den 1980er-Jahren unter politisch Interessierten kaum magnetisch wirkenden Sozialdemokraten an. Im Grunde lag in diesem Traditionalismus gewissermaßen schon wieder etwas Widerspenstiges. Aufschlussreich sind denn auch die Argumente, die Hauer – neben der sozialdemokratischen Prägung im Elternhaus1076 – in Bezug auf ihre damalige Entscheidung gegen einen Parteieintritt bei den Grünen vorbrachte: „Also ich [...] hab schon mich angezogen gefühlt von diesem Thema [der Friedensbewegung, d. V.], weil das ´n Thema war, was meine Generation beschäftigt hat […]. Aber die Grünen selber waren mir zu sehr am bürgerlichen Lager. Also, mich haben schon auch, auch andere Sachen interessiert. Ich komm ja aus Hessen, und da 1072
Vgl. Feldenkirchen, Markus: Aufstand der Anständigen, in: Der Spiegel, 14.06.2004. Vgl. Interview Hauer, S. 1. Vgl. ebd., S. 1. 1075 Vgl. Feldenkirchen, Markus: Aufstand der Anständigen, in: Der Spiegel, 14.06.2004. 1076 Vgl. Interview Hauer, S. 1. 1073 1074
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C. Untersuchungsteil sind die Grünen quasi geboren, und das war, am Anfang war da ja Ökologie vor allem ´n großer Schwerpunkt, und das hat mir, das hat mich einfach nicht so angesprochen. Mich haben gesellschaftliche Themen schon auch beschäftigt, andere Themen von Verteilungsfragen, von, von wie arbeiten die Leute eigentlich. Also, von daher waren meine Berührungspunkte zwar schon über dieses Thema da, aber die waren parteipolitisch nie so, dass ich mir ernsthaft überlegt hätte zu den Grünen zu gehen.“1077
Im Grunde waren es also klassische sozialdemokratische Fragen, die Hauer bei den Grünen vermisste und in der SPD fand: die Verteilung von Gütern, die Gestaltung von Arbeit. Zielstrebig nach oben: Als linke Jungsozialistin in den Bundestag Vorerst aber engagierte sich das neue Parteimitglied genau so, wie es aufgrund ihrer regionalen Herkunft und der damals dominierenden Themen zu erwarten war. Mit dem Heimatort Karben gehörte Hauer zum Bezirk Hessen-Süd der Jusos, der sich traditionell als links sowohl innerhalb des Jugendverbands als auch der Partei verstand – und dies in einem unter Heidemarie Wieczorek-Zeul ohnehin in der bundesrepublikanischen SPD-Kartografie links der Mitte verorteten Landesverband. Neben ihrem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft in Marburg für das Lehramt an Gymnasien fuhr die Hessin, ganz dem parteieigenen Zeitgeist entsprechend, beispielsweise nach Nicaragua, um mit Hilfe von Drainagen die dortigen Straßen vor Regenwasser zu schützen.1079 Mit dem ihr eigenen Ehrgeiz und viel Hartnäckigkeit stieg sie 1992 zunächst zur Juso-Vorsitzenden des Bezirks Hessen-Süd auf, den sie bis 1995 führte.1080 In diesem Zeitraum ereignete sich dann auch die so genannte „Lobo-Affäre“: In Anlehnung an eine Aktion des Satiremagazins „Titanic“ versuchte Hauer innerhalb der Asylauseinandersetzung im Frühjahr 1994, mit der Drohung, ihren Mischlungshund Lobo zu erschießen, sollte die SPD-Landesführung sich nicht für den Abschiebestopp für Kurden einsetzen, Druck auszuüben.1081 Das Ergebnis war zwiespältig. Zum einen erlangte die Nachwuchspolitikerin innerhalb kürzester Zeit mit Hilfe der aufgebrachten Presse einen ihre Funktion bei weitem übersteigenden bundesweiten Bekanntheitsgrad. Der Verstoß gegen ehtischmoralische Normen entsprach genau jenen Gesetzen der Mediendemokratie, die auf Skandalisierung und Personalisierung setzten. In anderer Hinsicht allerdings war die Aktion weniger erfolgreich, denn Hauer und mit ihr die Jusos erreichten nicht ihr inhaltliches Ziel. Zudem strebte die Partei gegen Hauer und ihre Mit1077
Ebd., S. 1. Vgl. Feldenkirchen, Markus: Aufstand der Anständigen, in: Der Spiegel, 14.06.2004. 1080 Vgl. zur Wahl o. V.: Neue Juso-Bezirksvorsitzende, in: Frankfurter Rundschau, 25.02.1992. 1081 Vgl. zum „Titanic“-Vorbild Interview Hauer, S. 4. 1079
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
223
streiter ein Parteiausschlussverfahren an und zeigte sich derart empört, dass die Jungpolitikerin vom Bezirksvorsitz zurücktrat.1082 Nichtsdestotrotz tat die Affäre Hauers weiterem Karriereweg keinen Abbruch. Hauer wurde im Parteiausschlussverfahren rehabilitiert und bereits wenige Wochen nach den Ereignissen als Vorsitzende in Hessen-Süd wiedergewählt.1083 Offensichtlich hatte ihr das Kopieren der „Enkel“-Methode, sich mit Hilfe der Medien skandalträchtig gegenüber der eigenen Partei zu positionieren, nicht geschadet. Neben der Tatsache, dass die junge Hessin in jenen Jahren also noch klar dem linken Parteispektrum zuzuordnen war, zeigte die Episode jedoch auch einige Eigenschaften Hauers: Sie war mutig vorgeprescht, hatte mit Hartnäckigkeit ihr Ziel verfolgt und war im Grunde kaum willens, sich einer übergeordneten Disziplin zu beugen. Gerade die letztgenannte Disposition offenbarte ein weiteres Verhalten der Karbenerin während ihrer Jusozeit. Kaum war sie als Bezirksvorsitzende gewählt worden, löste sie sich und ihren Bezirk aus dem undogmatischen Spektrum und erklärte sich für strömungsunabhängig. In Allianz mit dem Landesverband Bayern versuchte sie fortan, die Spaltung des Verbands in verschiedene Flügel an sich zu thematisieren.1084 Auch dieses Verhalten zeugte von Selbstbewusstsein und Eigensinnigkeit. Gerade viele ihrer späteren „Netzwerker“-Kollegen stieß Hauer mit ihrem Vorgehen allerdings vor den Kopf, gehörten sie doch zum undogmatischen Flügel, den Hauer durch ihren Schritt machtperspektivisch empfindlich geschwächt haben dürfte. Darüber hinaus aber zeugte die Maßnahme der Hessin von einer weiteren Verhaltenskontinuität, denn wieder einmal hatte sie sich im Grunde an Strategien der Vorgängergeneration orientiert. Zwar wollte Hauer, so sagte sie, mit dem Austritt aus dem traditionellen Strömungsspektrum zu einer sachorientierten Politik finden und gerade jene Spaltung des Verbands überwinden, die ihnen die „Enkel“ vermeintlich hinterlassen hatten.1085 Doch begründete die Südhessin mit der „Strömung der Unabhängigen“1086 eine individuelles Machtfundament, von dem aus sie als führende Vertreterin einen Platz im Juso-Bundesvorstand beanspruchte und erhielt: 1995 bis 1997 war Hauer unter Andrea Nahles stellvertretende Jusobundesvorsitzende.1088
1082
Vgl. Oppermann, Christiane: Männchen machen, Frau Hauer, in: Die Woche, 30.03.1994.; siehe auch Presse-Dienst der SPD Hessen-Süd: Jusos sollen seriösen Vorstand wählen, 23.03.1994. Vgl. beispielsweise Interview Hauer, S. 4. 1084 Vgl. ebd., S. 5. 1085 Vgl. ebd., S. 5. 1086 Ebd., S. 6. 1088 Vgl. beispielsweise o. V.: Sozis reden von Treibjagd gegen Linke, in: Die Tageszeitung, 25.05.1996. 1083
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C. Untersuchungsteil
Ihrem Profil als linke Kämpferin blieb Hauer auch in der nächsten Zeit vorerst treu. Bis dato hatte sie, auch wenn sie einige Mitstreiter konsterniert haben dürfte, eigentlich alles richtig gemacht: Mit den Themenschwerpunkten Internationale Politik und Asylrecht entsprach sie den damaligen Vorstellungen einer linken Sozialdemokratin beziehungsweise Jungsozialistin ihrer Region1089; sie hatte sich durch die „Lobo-Affäre“ innerhalb der Partei und darüber hinaus einen Namen gemacht; sie hatte sich durch Gründung einer eigenen Juso-Strömung als taktisch klug und durch ihren weiteren Aufstieg nach dem Skandal 1994 als standfest erwiesen. So verwunderte es nicht, dass sie im Rahmen der Maxime des damaligen Parteivorstands, bei der Bundestagswahl 1998 40 Genossen unter 40 Jahren zumindest zu nominieren, als Kandidatin für den Wahlkreis Wetterau vorgeschlagen wurde.1090 Obwohl Hauer bislang wenig kommunalpolitisch engagiert gewesen war1091, setzte sie sich in der internen Auseinandersetzung gegen ihre drei Mitbewerber durch, die allesamt männlich und älteren Jahrgangs waren.1092 Ihr größter Vorteil dürfte dabei zum einen die Verankerung in führenden Parteikreisen gewesen sein – die Karbenerin war mittlerweile in den SPD-Bezirksvorstand und in die Kommission für Innen- und Rechtspolitik beim Bundesvorstand aufgerückt.1093 Zum anderen erschien es mit einer Kandidatin Hauer am aussichtsreichsten, einen sicheren Listenplatz für den Wetterau-Kreis zu erlangen1094, entsprach sie doch mit ihren gerade einmal 29 Jahren und dem bisherigen Werdegang dem für förderungswürdig erachteten Profil der Parteiführung. Darüber hinaus stellte die junge Frau einen denkbar großen Kontrast zum derzeitigen direkt gewählten CDU-Abgeordneten der Region, Christian Schwarz-Schilling, dar.1095 Letztendlich konnte Hauer gar zusätzlich zur Kandidatennominierung einen relativ sicheren Listenplatz auf ihrer Erfolgsliste verbuchen.1096 Und 1089
Vgl. zu den Schwerpunkten o. V.: Neu im Bezirksvorstand, in: Vorwärts 9 (1996). Vgl. Interview Hauer, S. 6. 1091 Vgl. zur Bedeutung der Kommunalarbeit in Bezug auf eine Bundestagskandidatur Wiesendahl, 2004, in: Gabriel/Neuss/Rüther, 2004, S. 135. 1092 Vgl. o. V.: Mit der Rückendeckung des Vorstands, in: Frankfurter Allgemeine/Rhein-MainZeitung, 01.12.1997. 1093 Vgl. o. V.: Neu im Bezirksvorstand, in: Vorwärts 9 (1996); siehe auch Schüttemeyer, Suzanne S./Sturm, Roland: Der Kandidat – das (fast) unbekannte Wesen: Befunde und Überlegungen zur Aufstellung der Bewerber zum deutschen Bundestag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3 (2005), S. 539-553, hier S. 546. 1094 Vgl. hierzu auch Interview Hauer, S. 6. 1095 Vgl. o. V.: Mit der Rückendeckung des Vorstands, in: Frankfurter Allgemeine/Rhein-MainZeitung, 01.12.1997. 1096 Vgl. o. V.: Wieczorek-Zeul und Wiesehügel führen Liste an, in: Vorwärts 4 (1998); siehe auch o. V.: Mit der Rückendeckung des Vorstands, in: Frankfurter Allgemeine/Rhein-Main-Zeitung, 01.12.1997. 1090
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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schließlich gelang ihr bei der Bundestagswahl im September 1998 gar jenes Kunststück, das ihrer Vorgängerin im Wahlkreis acht Jahre lang nicht hatte glücken wollen: Sie nahm Schwarz-Schilling die vorherige CDU-Domäne ab und zog als direkt gewählte Abgeordnete in das Parlament ein. Alles deutete darauf hin, dass eine linke Jungsozialistenkarriere geglückt war. Im Parlament: Schröders Nachwuchshoffnung aus Süd-Hessen Bereits ein Jahr später jedoch rieben sich Beobachter ungläubig die Augen – vom einstigen Profil der linken Flügelfrau war kaum etwas übrig geblieben.1097 Hauer hatte in rasender Geschwindigkeit sowohl einen Themen- als auch einen Positionswechsel vorgenommen und war zu einer Verfechterin des Schröderschen Reformkurses avanciert. Faktisch ist es auch in der retrospektiven biografischen Analyse schwierig nachzuvollziehen, wie sich die zuvor so überzeugte Linke zu einer Schröder-Anhängerin wandeln konnte. Die Parallelität ihres beruflichen Aufstiegs lässt tatsächlich rasch den Verdacht des politischen Opportunimus keimen. Dennoch können – wenn auch nicht unbedingt immer bezogen auf die Inhalte, so doch im politischen Stil – einige Kontinuitäten und Begründungen ausgemacht werden, die Hauers Schwenk zumindest in Teilen nachvollziehbar machen. Als erstes auffälliges Merkmal des Wandels war der thematische Wechsel der jungen Abgeordneten zu beobachten. Hatte sie noch im Sommer 1998 angekündigt, sie wolle sich besonders in den Bereichen Internationale Politik, Asylpolitik und Beschäftigungsfragen engagieren1098, setzte sie wenige Monate später als frisch gewählte Volksvertreterin ihre gesamte Energie dafür ein, in den Finanzausschuss zu gelangen. Was scheinbar einen inhaltlichen Bruch darstellte, war dennoch nicht wurzellos. So hatte Hauer bereits neben ihrem Lehramtsstudium eine Fortbildung zu Anlage- und Finanzberaterin absolviert. Für linke, kapitalismuskritische Jusos war dies zwar eine denkbar untypische Qualifikation. Hauer allerdings versuchte nach eigener Aussage in der Folge, sich bereits als stellvertretende Jusovorsitzende in das Feld der Steuerpolitik einzuarbeiten.1099 Von dieser Position war der Schritt zum Finanzausschuss nicht mehr ganz so groß. Ein weiterer Grund, der die Karbenerin in den genannten Ausschuss führte, war in ihren Persönlichkeitsdispositionen begründet: Sie wollte Einfluss haben, strebte nach Macht.1100 Der für sie aufgrund ihres bisherigen Engagements im Bereich Asylpolitik vorgesehene Innenausschuss schien ihr hierzu nicht geeig1097
Vgl. Schmitz, Stefan: Glanz und Elend einer Konvertitin, in: Der Stern, 28.10.1999. Vgl Hauer, Nina: Programmtische und Personelle Erneuerung, in: Vorwärts 2 (1998). 1099 Vgl. Interview Hauer, S. 8. 1100 Vgl. zu dieser Interpretation auch ebd., S. 12. 1098
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C. Untersuchungsteil
net.1101 Mit dem Wunsch, in der männerdominierten und von verdienten Parlamentariern besetzten Sphäre Finanzen mitzuarbeiten, verstieß die Südhessin gegen unausgesprochene Regeln der parlamentarischen Rangordnung und bewies Eigenwilligkeit. Anders als Frauen der vorherigen Generation setzte sie nicht auf die Unterstützernetzwerke der AsF oder eine Karriere in „typisch weiblichen“ Bereichen wie zum Beispiel Familie oder Jugend.1102 Wie gewohnt hartnäckig, ließ sie sich auch nicht von der Abweisung der Fraktionsführung abschrecken: „Und der Wolf-Michael Catenhusen, der damals, der damals der zuständige Geschäftsführer war, der hat mich dann bestellt, um sieben, und hat gesagt, man kann nicht hier neu ankommen, die Klappe aufreißen und sagen, man will gleich in so ´n wichtigen Ausschuss. Und dann hat der mich da sitzen lassen bis um zehn, in so ´nem kahlen Flur, nur mit ´nem Teppich, graue Wände, graue Abgeordnete vor grauem Grund, ohne Trinken, ohne Lesen. […] Also, Grillenlassen, das kenn ich, ja? Und dann haben wir irgendwann um zehn, er hat gesagt, du bist ja immer noch da, und ich hab gesagt, ich bleib auch solange hier sitzen, bis du mir ´ne Zusage machst. […] Und dann haben wir noch diskutiert, und dann bin ich am nächsten Tag, bin ich zum Frauentreffen aller weiblichen Abgeordneten. Da ging`s natürlich auch um Ausschüsse und wer macht was. Und dann kam der da rein und sollte ´nen Bericht abgeben. Und dann hat er gesagt, aber eins sag ich euch, Hartnäckigkeit wird belohnt. Der Finanzausschuss kriegt ab heute eine junge Frau aus Hessen, die hat mir echt imponiert. Und da haben sich alle gefreut.“1103
Hauer war hatte ihr Ziel erreicht. Sie hatte sich nicht dem Versuch Wehnerscher Manier gebeugt, sie die eigene Bedeutungslosigkeit spüren zu lassen, sondern selbstbewusst für ihr Ziel gekämpft. Dies stand aus stilistischer Perspektive durchaus in biografischer Konstanz zu ihrem bisherigen Werdegang. Ließen sich in Bezug auf den politischen Stil und auch in der Themenwahl Kontinuitäten und Begründungen ausweisen, so war dies in Bezug auf den Positionswechsel der Politikerin schon schwieriger. Mit Verve trat Hauer nach der Veröffentlichung des Schröder-Blair-Papiers für weitergehende Reformen ein, die mit dem bisherigen Selbstverständnis weiter Teile der SPD brachen.1104 So forderte sie zusammen mit anderen jüngeren Abgeordneten nach der verlorenen Landtagswahl 1999 in Hessen und dem Rücktritt Lafontaines als Finanzminister und Parteivorsitzendem in dem Papier „Mut zum Regieren“ weit gehende Re1101
Vgl. Interview Hauer, S. 8. Vgl. Sturm, Daniel Friedrich: Belehren dürfen nur Satiriker: Nina Hauer organisiert die SPDFraktion, in: Die Welt, 31.1997.2003. 1103 Interview Hauer, S. 8. 1104 Vgl. unter anderem Hauer, Nina: Gerecht ist, was Chancen schafft, in: Frankfurter Rundschau, 18.08.2003; dies.: Links wird langsam zum Label für konservativ, in: Frankfurter Rundschau, 05.07.1999; dies.: Chancen für den Aufbruch der Gesellschaft, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.07.1999. 1102
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formen vor allem im Sozialstaats-, Arbeitsmarkt und Steuerbereich.1105 Der aktivierende Sozialstaat war ihr Ziel, der auf Chancen setzte und den Bürger in die Pflicht nahm, sich stets neu um Beschäftigung und die eigene Lebensgestaltung zu kümmern. Dies implizierte eine veränderte Rolle des Staates, der sich wesentlich mehr zurückziehen sollte, beispielsweise auch durch eine Beschränkung des Berufsbeamtentums und allgemein eine Reform des öffentlichen Dienstes. Hauer stellte vor allem die Begriffe der Eigenverantwortung und Freiheit in den Mittelpunkt ihrer Argumentation und versuchte sich so von hergebrachten linken Denkkategorien zu emanzipieren, die sie als zunehmend konservativ bezeichnete. Dies alles war mit dem Bild der traditionell linken Jungsozialistin, das sie bis 1998 erfüllt hatte, nur schwerlich in Einklang zu bringen. Dennoch gab es einige biografische Hinweise, die Hauers Positionierungen seit der Wahl in den Bundestag verständlicher erscheinen lassen. Zunächst wies die Hessin im Interview selbst darauf hin, dass ein Bewusstseinswandel offenbar bereits im Laufe des Jahres 1998 eingesetzt hatte.1106 Hauer verwies in diesem Zusammenhang auf ihre Ausbildung zur Lehrerin und die prekäre Situation zum Zeitpunkt ihres Ausbildungsabschlusses 1997– sie bekam keine Anstellung.1107 Somit teilte Hauer das Schicksal einer Generation, die sich – aus sozial- und geisteswissenschaftlichen Ausbildungen stammend – nach ihrem Abschluss mit einem prekären Beschäftigungsfeld konfrontiert sah, so dass sie mit Hilfe individueller Kreativität und Flexibilität einen Zugang zum gesättigten Arbeitsmarkt suchen musste.1109 In dieser individuell-biografischen Situation leuchtete ihr eine Argumentation Schröders für bessere Chancen des Einzelnen und die Honorierung von Leistungswillen ein. Der spätere Kanzler plädierte für eine Gesellschaftskonzeption, die Hauer aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als richtig und zukunftsweisend erschienen sein musste.1110 Im Wahlkampf verstärkte sich Hauers Überzeugung von der Argumentation Schröders: „Also, Sie kommen mit vielen Leuten in Kontakt im Wahlkampf. Sie treffen zum ersten Mal in großer Zahl Unternehmer. Sie treffen andere, die, die sagen, gebt uns doch mal ´ne Chance. Also, diese Stimmung, die ´98 auch da war, die war ja so ähnlich auch wie meine persönliche Erfahrung. Die hat schon auch mir verschiedene 1105
Vgl. „Netzwerk Berlin“: Mut zum Regieren, Berlin, März 1999, abrufbar unter http://www.hanspeter-bartels.de/pdf/144.pdf?title=Bartels_Hans-Peter_-_Mut_zum_Regieren (zuletzt aufgerufen am 03.03.2009). 1106 Interview Hauer, S. 2. 1107 Vgl. Hauer, Nina: Chancen für den Aufbruch der Gesellschaft, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.07.1999. 1109 Vgl. Alexander, Robin: „Junge Leute fordern Veränderungen“, in: Die Tageszeitung, 21.11.1998; siehe auch Käppner, Joachim: „Die SPD muss sich öffnen!“, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 23.07.1999. 1110 Vgl. Interview Hauer, S. 2.
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C. Untersuchungsteil Punkte erst mal eröffnet. Ich hab` Termine gemacht beim Arbeitsamt und mir diese Punkte angeguckt. Ich hab viel mit Menschen gesprochen und hab selber auch gedacht, man muss selber auch darüber nachdenken, was man selber eigentlich für politische Erwartungen hat, und dann kann man auch besser als Politiker den Punkt ansprechen, der den Leuten am Herzen liegt.“1112
Im Wahlkampf fand Hauer die durch die genannte Schröder-Rede angestoßene Denkrichtung bestätigt. Im Wahlkampf tauchte sie erstmals in die Kommunalpolitik ein, während sie als Jungsozialistin im Bereich der Internationalen Politik gearbeitet hatte. Einem katharsischen Realitätsschock gleich wurde sie im Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsbereich auf Problemlagen gestoßen, die sie bislang aufgrund ihrer eigenen beruflichen Erfahrungen unter Umständen erahnt, aber noch nicht als so bedeutend erkannt hatte.1113 Dies alles beschleunigte Hauers Wandel von der linken Asylheroin zur pragmatischen Agenda-Politikerin. Ausflug an die Macht und wieder zurück: Hauer als Parlamentarische Geschäftsführerin Zunächst schien Hauer der innerparteiliche Positionswechsel auch zum Erfolg zu gereichen. Nachdem sie 2002 erneut das Direktmandat im Wahlkreis Wetterau erringen konnte, wurde sie bereits bei der folgenden Konstituierung des Bundestags vom damaligen Fraktionsvorsitzenden Müntefering und unter der Schirmherrschaft Schröders als Parlamentarische Geschäftsführerin vorgeschlagen1114 sowie anschließend gewählt.1115 Hauer war es gelungen, durch ihre Sacharbeit im Finanzausschuss und durch führende Positionen sowohl bei den fraktionsinternen „Youngsters“ 1999 bis 2000 als auch im „Netzwerk“, auf sich aufmerksam zu machen. Nachdem das „Netzwerk“ spätestens seit Beginn der 15. Legislaturperiode als innerfraktioneller Flügel einen Machtanspruch stellte und somit bei der Vergabe von Funktionen proportional berücksichtigt werden musste, war die junge Frau eine ideale Kandidatin. Sie war jung, ehrgeizig und – mittlerweile – diszipliniert genug, um sich der Herausforderung anzunehmen.1116 Doch bereits zwei Jahre später, im November 2004, endete bei den turnusgemäßen Fraktionsvorstandswahlen Hauers Höhenflug. In einer Kampfkandidatur musste sie ihre Position an die Repräsentantin des Seeheimer Kreises, Petra Ernstberger, abgeben. Dieses Ereignis wurde in beobachtenden Kreisen oft als typisches Versagen der jungen Generation der „Netzwerker“ interpretiert, die 1112
Ebd., S. 3. Vgl. Deupmann, Ulrich: Zu jung für ewige Wahrheiten, in: Berliner Zeitung, 13.07.1999. 1114 Vgl. Petersen, Sönke: Manager des Parlaments. Parlamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundestag – Status, Funktion, Arbeitsweise, Opladen 2000, S. 80 f. 1115 Vgl. beispielsweise o. V.: SPD-Fraktion mit vier neuen Vize-Vorsitzenden, in: Die Welt, 29.10.2002. 1116 Vgl. Gollnick, Ines: Die Kampferprobte – Nina Hauer, in: Das Parlament, 24.05.2002. 1113
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sich nur dann erfolgreich im Sinne des Machterwerbs zeigte, wenn sie durch die ältere Parteiführung gefördert wurde. Ganz so simpel waren die Vorgänge im Herbst 2004 allerdings nicht zu interpretieren. Sicher, von mehreren Seiten wurde bestätigt, dass die Fraktionsführung in Person Münteferings sich im Vorfeld der Wahl nicht für Hauer stark gemacht und die Flügelkämpfe hatte gewähren lassen.1117 Hinzu kamen allerdings strukturelle und individuelle Gründe für die Abwahl Hauers. Die Karbenerin war als Parlamentarische Geschäftsführerin für den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und die Besetzung der Gremien zuständig.1118 Dies bedeutete, dass es ihr kaum möglich war, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen, mit denen sie sich hätte profilieren können, sondern dass sie hauptsächlich auf dem Feld der Personalpolitik tätig wurde.1119 So versuchte sie offensichtlich, vor allem jüngere MdBs in einflussreichere Ämter der Fraktion zu schleusen, was „Netzwerker“ mit einschloss.1120 Damit berührte sie einen sensiblen Punkt im Ringen um fraktionsinterne Autorität, denn neben der Diskurshoheit war die Gremienbesetzung das wichtigste Aushandlungsfeld der Macht. Unweigerlich stieß Hauer daher mit ihrem Vorgehen einige Fraktionskollegen vor den Kopf. Hinzu kam, dass die Hessin in ihrem Auftreten vielen als unzugänglich erschien. Hauer galt als arrogant und karriereversessen, nach ihrem Positionswechsel von links nach rechts auch als inhaltlich unzuverlässig.1121 Gefördert wurde dieses Image vermutlich durch das Auftreten der jungen Frau: Mit Sakko, kurzem Rock und modischen Stiefeln entsprach sie kaum dem herkömmlichen Bild einer linken Sozialdemokratin und jungen Mutter, sondern eher dem einer jungdynamischen Managerin. Bereits in Zusammenhang mit Hubertus Heil wurde auf die habituelle Differenz zwischen dem Erscheinungsbild vieler „Netzwerker“ und dem Anspruch Außenstehender an jüngere linke Politiker hingewiesen, und auch für Hauer stellte diese Differenz ein Erschwernis dar. Persönliche Animositäten jedenfalls hatten Hauers Abwahl aus dem Amt der Parlamentarischen Geschäftsführerin befördert.1122 Der einschlägigste Grund zur Ämterrochade jedoch war struktureller Art. So hatte der SK 2004, versucht, eine Fusion der beiden Strömungen zu erreichen. 1117
Vgl. beispielsweise o. V.: Schlappe für Junge in der SPD, in: Der Tagesspiegel, 24.11.2004. Sturm, Daniel Friedrich: Belehren dürfen nur Satiriker: Nina Hauer organisiert die SPD-Fraktion, in: Die Welt, 31.1997.2003. 1119 Vgl. Petersen, 2000, S. 126 ff. 1120 Interview Hauer, S. 10. 1121 Vgl. beispielsweise Sauer, Stefan: Unmut über die Altvorderen, in: Kölner Stadtanzeiger, 26.11.2004; siehe auch Schmitz, Stefan: Glanz und Elend einer Konvertitin, in: Der Stern, 28.10.1999. 1122 Vgl. Winkelmann, Ulrike: SPD-Nachwuchs übt sich in Selbstblockade, in: Die Tageszeitung, 29.11.2004. 1118
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C. Untersuchungsteil
Monatelang hatten jüngere Seeheimer wie Johannes Kahrs und Klaas Hübner Verhandlungen vor allem mit dem „Netzwerk“-Sprecherkreis geführt.1123 Letztendlich scheiterte ein Zusammenschluss der Gruppierungen am Widerstand des „Netzwerks“ – und Nina Hauer war eine der Fürsprecherinnen der „Netzwerk“Autonomie gewesen.1124 Der Frust der enttäuschten Seeheimer fand daher gerade in der Parlamentarischen Geschäftsführerin ein geeignetes Objekt, um den ambitionierten Nachwuchspolitikern durch einen Pakt mit der PL personalpolitisch zu schaden.1125 So erhielt Hauers politische Karriere einen Dämpfer. Zwar errang sie auch 2005 erneut das Direktmandat ihres Wahlkreises, blieb daher im Bundestag vertreten und auch weiterhin Mitglied des Finanzausschusses, höhere Ämter bekleidete sie indes seitdem nicht. Die Geläuterte: Nina Hauer als „Netzwerkerin“ Wie bereits erwähnt, zählte Hauer nicht zu den Gründungsmitgliedern des „Netzwerks“. Aufgrund ihrer speziellen Juso-Vergangenheit bestand eine politische Diskrepanz zwischen jenen „Netzwerkern“, die ebenfalls bei den Jungsozialisten aktiv gewesen waren, und der Karbenerin. Mehrere Faktoren führten die Hessin schließlich dennoch zum „Netzwerk“. Zunächst war Hauer im Januar 1999 gemeinsam mit Carsten Schneider zur „Youngster“-Sprecherin gewählt worden. Zwar war jener Zusammenschluss der Abgeordneten unter 40 Jahren nie mit dem „Netzwerk“ synonym gewesen, da er sich lediglich über das Alter und kaum über politische oder kulturelle Gemeinsamkeiten definierte. Dennoch hatte eine gewisse Nähe zunächst zur „Jungen Gruppe“, später auch zu den „Youngsters“ bestanden. So beschrieb Hauer die Zusammenarbeit mit Carsten Schneider als kooperativ und produktiv, obwohl sie selber als „Linke“ gewählt worden sei, während Schneider eher der Kandidat – jüngerer – Pragmatiker gewesen sei.1126 Schneider wiederum war bald nach dessen Gründung Mitglied des „Netzwerks“ geworden, so dass ein personelles Band zwischen Hauer und dem „Netzwerk“ bestand. Darüber hinaus pflegte Hauer mit Christian Lange bereits seit längerem eine – politische – Freundschaft, kannten sie sich doch bereits seit Jusozeiten und arbeiteten nun im Bundestag an inhaltlich nahen Themen. Eine dritte personelle Brücke zum „Netzwerk“ stellte Hubertus Heil dar. Dieser war auf Hauer aufgrund ihrer Arbeit als „Youngster“-Sprecherin aufmerksam geworden, und versuchte, sie für die junge Gruppierung zu gewinnen.1127 1123
Vgl. Sauer, Stefan: Unmut über die Altvorderen, in: Kölner Stadtanzeiger, 26.11.2004. Vgl. Interview Hauer, S. 11. 1125 Vgl. o. V.: SPD-Fraktion: Nina Hauer fällt durch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2004. 1126 Vgl. Interview Hauer, S. 6 bzw. S. 7. 1127 Vgl. zu den Beziehungen zu Lange und Heil Interview Hauer, S. 7. 1124
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Doch Hauer fiel bei ihrem ersten Beitrittsversuch in der internen Abstimmung des „Netzwerks“ durch. Zu groß waren Animositäten und Skepsis gegenüber der Finanzpolitikerin gewesen. Erst bei einem zweiten Anlauf und nach intensiver vorheriger Überzeugungsarbeit vor allem durch Heil wurde Hauer aufgenommen.1128 Einmal in der Gruppierung angekommen, verhielt sie sich wie schon oft im Laufe ihres Werdegangs beobachtet: Sie mischte sich aktiv in die Debatten des „Netzwerks“ ein und setzte sich bereits 2002 als Mitglied des Sprecherkreises an dessen Führungsspitze. Denn auch von Hauers Seite aus hatte einiges für ein Engagement beim „Netzwerk“ gesprochen. Zunächst kam ihr entgegen, dass sie sich als „Netzwerkerin“ den traditionellen Flügeln der Fraktion entziehen konnte. Dies entsprach ihrem bereits mehrfach bewiesenen Bemühen um Eigenständigkeit und Autonomie.1129 Zudem hatte sie sich durch ihren inhaltlichen Schwenk den im „Netzwerk“ vertretenen Positionen angenähert: Auch sie trat für einen aktivierenden Sozialstaat ein, stritt für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ein gewandeltes Staatsverständnis, Abbau der Staatsverschuldung und mehr Steuerfinanzierung in den Sozialsystemen. Mehr noch, die Hessin trug auch ein gutes Stück dazu bei, diese Auffassungen im „Netzwerk“ fester zu verankern. Zusammen mit Christian Lange und Hubertus Heil bildete sie das, was unter Umständen als liberaler, wirtschaftsfreundlicher Flügel innerhalb der Gruppierung beziehungsweise deren Sprecherkreis bezeichnet werden könnte. Darüber hinaus aber wies Hauer eine ähnliche generationelle Prägung auf wie andere „Ursprungs“-Netzwerker. Auch sie war bereits früh kritisch mit dem Politikstil der „Enkel“ konfrontiert worden und hatte ihm skeptisch gegenüber gestanden, auch wenn sie ihn zunächst in Teilen kopierte. In ihrem eigenen Landesverband konnte sie das Handeln jener Politikerkohorten in der Parteiführung, namentlich an Hans Eichel und Heidemarie Wieczorek-Zeul, beobachten. Nachhaltigen Eindruck hinterließ – wie bereits bei anderen „Netzwerkern“ beobachtet – das Verhalten der Parteispitze in der Asylauseinandersetzung Mitte der 1990erJahre. Die oben geschilderte „Lobo-Affäre“ war der Versuch, die hessische Landesspitze zu zwingen, sich analog geltender Parteitagsbeschlüsse gegen eine Abschiebung von Kurden einzusetzen. Dass Eichel, Wieczorek-Zeul und andere sich offenbar über derartige Beschlüsse hinweg setzten, diente der jungen Politikerin nicht nur als Anlass für öffentlichkeitswirksame Aktionen, sondern traf sie tatsächlich in ihrem politischen Normengerüst.1130 Die „Enkel“ betrachtete Hauer
1128
Vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 11. 1130 Vgl. Klingelschmitt, Klaus-Peter: Mischlingsköter Lobo lebt – und die Karriere ist ruiniert, in: Die Tageszeitung, 26.03.1994. 1129
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als politisch unzuverlässig, sprunghaft und unsolidarisch.1131 Zudem kritisierte sie die von der 68er-Generation allgemein repräsentierte Gesellschafts- und Politikgestaltung, empfand sie als zu starr und festgefahren, als zu gängelnd gegenüber dem Einzelnen. Der Staatsbegriff der Vorgängergeneration, so Hauer, sei zu allumfassend und versuche zu stark, Angelegenheiten zu regulieren, die in die Verantwortlichkeit und Kompetenz von Individuen fielen.1132 Inspiriert wurde diese Kritik durch den persönlichen Bildungsweg der Hessin. Als Politikstudentin in Marburg sah sie sich mit einem vornehmlich linksorientierten, 68erZusammenhängen entstammendem Lehrkörper konfrontiert, der die Studierenden ihrer Ansicht nach nicht ausreichend auf das Berufsleben vorbereitete.1133 All dies war Nährboden für eine Generationserfahrung, die Hauer mit anderen „Netzwerkern“ teilte. Dabei suchte die Hessin vor allem die Auseinandersetzung mit der Parteilinken und den „Enkeln“. Wie oben ausgeführt, rechnete sie sich lange selbst jenem Parteispektrum zu, so dass die Enttäuschung über das politische Handeln der Protagonisten umso größer ausfallen musste. Denn in ihnen hatten Hauer und andere Jungsozialisten die – quasi natürlichen – Identifikationsfiguren gesehen und in ihnen verband sich die Kritik an der Vorgängergeneration mit der Kritik an einer parteiinternen Politikrichtung. Hauer war der Auffassung, die Ideen und Konzepte der Linken seien überholt, den gewandelten Realitäten nicht angemessen und die betreffenden Personen zudem nicht veränderungswillig. Linkssein, so schrieb sie, werde zum Label von konservativ.1134 Auch dies war eine Parallele zu anderen „Netzwerkern“, die mit den ihrer Ansicht nach rückwärtsgewandten Vorstellungen der Parlamentarischen Linken unzufrieden waren. Finanzpolitikerin und Agenda-Verfechterin: inhaltliche Positionsbestimmungen Vieles wurde bereits zu Hauers politisch-inhaltlicher Ausrichtung und dem Schwenk 1998 ausgeführt, einige Anmerkungen sollen an dieser Stelle allerdings noch hinzugefügt werden. Zunächst ist markant, dass die Hessin zumindest in der weiteren Öffentlichkeit kaum mit jenen finanzpolitischen Themen in Zusammenhang gebracht wurde, die sie sich seit ihrem Wechsel in den Bundestag so hart erkämpft hatte. Dies mag sicher auch daran liegen, dass Hauer in den zwei Jahren ihrer Tätigkeit als Parlamentarische Geschäftsführerin die inhaltliche 1131
Vgl. Interview Hauer, S. 13. Vgl. grundsätzlich zum Staatsverständnis Hauers: Hauer, Nina: Chancen schaffen und nutzen, in: Mühleisen, Hans-Otto (Hg.): Welche Gesellschaft – welches Deutschland? PolitikerInnen der jungen Generation entwerfen Zukunftsbilder, Frankfurt a. M., 1999, S. 63-70, hier besonders S. 63 f. 1133 Vgl. Interview Hauer, S. 20. 1134 Vgl. Hauer, Nina: Links wird langsam zum Label für konservativ, in: Frankfurter Rundschau, 05.07.1999. 1132
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Arbeit zurückstellte. Trotzdem ist auffällig, dass sie zwar zusammen mit Christian Lange an den Initiativen des „Netzwerks“ zum Gläsernen Abgeordneten oder zur Offenlegung von Managergehältern mitarbeitete1135, ansonsten ihre finanzpolitischen Aussagen aber meist auf Reden im Bundestag beziehungsweise ihre Wahlkreisarbeit beschränkt blieben.1136 Der breiteren, bundesweiten Öffentlichkeit war sie dagegen besonders als Vorreiterin einer reformfreudigen sozialdemokratischen Regierungspolitik und als Verfechterin des parteiinternen Generationswechsels bekannt. Dabei berief sich Hauer vor allem in den Anfangsjahren ihrer parlamentarischen Tätigkeit quasi quer durch die betreffenden Ressorts auf das Prinzip der Generationengerechtigkeit. Zu Grunde lag dem die Überzeugung, dass ihre Generation mit anderen Erlebnissen als die Vorgängergeneration konfrontiert wurde, vor dem Hintergrund divergenter Erfahrungen Politik betrieben. In diesen Kontexte gehörte nach Ansicht der Südhessin die Tatsache, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt für Jüngere deutlich komplizierter und nur nach intensivem persönlichem Einsatz möglich sei; dass sie sich anders als ihre älteren Parteigenossen mit dem Phänomen der Politikverdrossenheit und der tiefen Skepsis Jugendlicher gegenüber der moralischen Standhaftigkeit und Handlungsfähigkeit politischer Eliten konfrontiert gesehen hatten; dass sie dem Staat – und insbesondere dem Sozialstaat – oft genug in seinen Mängeln und seiner Handlungsunfähigkeit, auch seiner Überregulierung begegnet seien, anstatt ihn als hilfreichen Partner kennengelernt zu haben. Folglich, so Hauer, müsse Politik in der Sozialdemokratie mehr unter der Perspektive jener Lebenserfahrung der Jüngeren betrieben werden. Ihre Forderungen lauteten daher eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ein schlankerer Staat, Vertrauen auf und Fordern von mehr individueller Leistungsbereitschaft, ein aktivierender statt nachsorgender Sozialstaat, Abbau der Staatsschulden, um für zukünftige Generationen handlungsfähig zu sein sowie Deregulierung des Arbeitsmarkts, beispielsweise im Bereich niedrig entlohnter Tätigkeiten oder von Unternehmensgründungen.1138 Mit all diesen Vorschlägen war Hauer nicht nur in den Augen vieler Linker die Personifikation „rechten“ Reformeifers, sie war zudem gemeinsam mit anderen „Netzwerkern“ bereits bei jenen Ideen angelangt, zu denen Schröder die Partei mit der Agenda 2010 führen sollte. Auffällig ist dabei, dass die Hessin ihrem seit 1998 eingeschlagenem inhaltlichen Weg treu blieb. Trotz massiver Widerstände an der Basis ihres Wahlkreises, trotz der Tatsache, dass ihre Über-
1135
Vgl. Kapitel 7.2.5: Christian Lange – oder: die Liberalisierung der SPD. Vgl. Hauer, Nina: Finanzplatz Frankfurt – Motor der Region Süd-Hessen, abrufbar unter http://www.nina-hauer.de (zuletzt aufgerufen am 03.03.2009). 1138 Vgl. Hauer, Nina: Gerecht ist, was Chancen schafft, in: Frankfurter Rundschau, 18.08.2003. 1136
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zeugungen sie 2004 in eine Karrieresackgasse geführt hatten, hielt sie an ihren Standpunkten fest. Als Frau in einer Männerwelt: politischer Stil Wie eingangs erwähnt, war die politische Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Vorgängergeneration ein durchgängiges Motiv der Hauerschen Karriere. Dies gilt auch für den von der Hessin praktizierten Stil – allerdings überraschender Weise oft nicht durch Negation, sondern durch Kopieren der Politikmethoden der 68er. Bereits in Zusammenhang mit Hauers JusoEngagement wurde geschildert, wie ähnlich sie in ihrem Werdegang den „Enkeln“ war. Und auch in späteren Jahren machte sie sich nicht durchweg frei von diesem eher konfrontativen Stil. Des Öfteren suchte sie über in einschlägigen Medien veröffentlichte Thesen die Konfrontation mit der eigenen Partei. Ein Unterschied zu den „Enkeln“ lag allerdings in dem Standpunkt, von dem aus Hauer die Kritik übte. Denn anders als die Vorgängergeneration, die ihre Vorwürfe vornehmlich gegen die Parteirechte und den späteren SK vorgebracht hatte, richtete sie sich gegen die Parteilinke.1139 Spätestens seit 1998 wandte sie sich gegen die ideologiegeladene Diskursführung der durch die Linke repräsentierten „Enkel“-Generation und plädierte für einen an Sachargumenten orientierten Pragmatismus.1140 Dennoch war in Hauers Argumentationen sowie in dem feurigen Eifer, mit dem sie diese vortrug, paradoxerweise eine missionarische Überzeugtheit zu spüren, die ihrerseits einen ideologischen Anstrich besaß. Auch mit der bereits geschilderten Beharrlichkeit und ihrer Machtorientierung stand sie manchem „Enkel“ nicht per se fern. Vielmehr verhielt sie sich oft im Sinne eines an vornehmlich männlichen Machtechniken orientiertem Politikerbild. Ihrem Institutionenmisstrauen entsprechend, suchte sie den politischen Aufstieg nicht durch die klassischen parteiinternen Einrichtungen wie die AsF zu erreichen. Wenn sie auf „Frauennetzwerke“ vertraute, dann eher im gleichsam privaten Bereich wie der Vereinbarkeit von Mutterschaft und parlamentarischer Tätigkeit.1141 In den Kontext der selbstbewussten Machtorientierung gehörte auch die Tatsache, dass Hauer von Beginn an die sozialdemokratische Regierungsverantwortung positiv betrachtete. Sie wollte sich kaum mit langen, theorieorientierten Debatten beschäftigen.1142 Stattdessen war sie stolz, an der gesell-
1139
Vgl. Fuhrer, Armin: „Die Linke spielt mit der Angst“, in: Die Welt, 25.10.1999. Vgl. Greven, Ludwig/Rulff, Dieter: Bündnis für Jugend, in: Die Woche, 26.11.1999. Vgl. ebd., S. 20 f. 1142 Vgl. Käppner, Joachim: „Die SPD muss sich öffnen!“, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 23.07.1999. 1140 1141
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
235
schaftlichen Gestaltung nun selber teilhaben zu können, durch eigenes Handeln Veränderung erzeugen zu können.1143 Trotz der geschilderten Konstanten und Parallelen zur „Enkel“-Generation unterlag der Politikstil der Südhessin gewissen Veränderungen, die sich mit den Schlagworten Kooperation und „Bescheidenheit“ umschreiben lassen, und die sie selbst vor allem in ihrem Engagement beim „Netzwerk“ begründet sah: „Ich weiß nicht, ob das [Teamarbeit, d. V.] Politiker wirklich so in ihren Genen haben an vorderster Stelle. Also, [...], das muss ich sagen für mich persönlich auch, das hab ich im „Netzwerk“ gelernt. Ich war früher da auch anders. Ich hab, als ich als Jusovorsitzende damals gewählt wurde ´nen Vorstand damals gehabt mit viel älteren Leuten, und ich hab da auch gelernt, mich durchzusetzen. Aber Leuten auch mal ´n Ball zuzuspielen und auch mal gemeinsam sich gegenseitig zu vertrauen, und vor allem nicht immer zu denken, dass jemand anderes, der auch gut ist, ´ne Bedrohung ist, so wie das bei den „Enkeln“ war, sondern zu wissen, dass man, wenn man wirklich gut sein will, sich auch mit guten Leuten verbünden muss, und dass dann am Ende doch noch wieder Platz ist für alle, das ist ´ne Erfahrung, die ich erst im Parlament gemacht hab. Und die hab ich auch mit dieser politischen Kultur, die dann so der Hubertus, die Kerstin und der Christian so vertreten, die Erfahrung erst gemacht.“1144
Aus dem angeführten Interviewauszug sprechen sowohl das Selbstbewusstsein Hauers und ihre Machtorientierung, als auch die offenbar erst im „Netzwerk“ gewonnene Einsicht, Politik auch gemeinschaftlich und im Vertrauen auf andere betreiben zu können. Erst hier lernte die Südhessin, dass nicht nur Konfrontation, sondern auch Kooperation und gezieltes Sich-Selbst-Zurück-Nehmen Ziel führend sein können. Nichtsdestotrotz aber war Hauer zumindest unter führenden „Netzwerkern“ diejenige, die in ihrem politischen Handeln und Stil am stärksten von der Vorgängergeneration determiniert war. 7.2.5 Christian Lange – Oder: Die Liberalisierung der SPD Als Christian Lange im Jahr 1982 in die SPD eintrat, geschah dies aus einem ganz aktuellen Anlass: Die FDP hatte damals auf Bundesebene ihren Koalitionspartner SPD gegen die CDU getauscht und damit die Machtverhältnisse dramatisch verändert. Die Empörung über diesen aus seiner Sicht moralischen Ausfall gab für Lange den Ausschlag, Sozialdemokrat zu werden.1145 Doch waren diesem äußeren Anstoß durchaus schon ein längeres politisches Interesse und Engagement vorausgegangen. Bereits in den Jahren zuvor hatte Lange bei der Schülermitverwaltung und Schülerzeitung seines Gymnasiums mitgearbeitet. Als sich 1143
Vgl. Alexander, Robin: „Junge Leute fordern Veränderungen“, in: Die Tageszeitung, 21.11.1998. Interview Hauer, S. 15. 1145 Vgl. Interview Lange, S. 1. 1144
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im Jahr 1982 jedoch seine Schulzeit dem Ende entgegen neigte, bot der Parteieintritt die Möglichkeit, sich weiterhin politisch zu betätigen.1146 Dabei stammte der 1964 in Saarlouis geborene Lange weder aus einem politischen Elternhaus, geschweige denn aus einer sozialdemokratisch orientierten Familie.1147 Vielmehr war es das politische Klima in seiner Heimatstadt Waiblingen und in der weiteren Umgebung, das den Baden-Württemberger politisierte. Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre tobten in Baden-Württemberg, insbesondere rund um den Ort Mutlangen, die Auseinandersetzungen der Friedensbewegung, da dort im Rahmen des Nato-Doppelbeschlusses die ersten Pershing-IIRaketen in Deutschland stationiert werden sollten. Mit Demonstrationen im Umfang von mehreren hunderttausend Teilnehmern wurde das ansonsten idyllisch-biedere schwäbische Mutlangen zum Symbol der friedensbewegten Neuen Sozialen Bewegungen. Auch auf den jugendlichen Christan Lange machte die Protestszene Eindruck und führte bei ihm zu einem linken politischen Selbstverständnis. Dass er sich trotz der Kontakte zur alternativen Szene gegen die frisch gegründete – und in Baden-Württemberg von Beginn an recht starke – Partei der Grünen und für die Sozialdemokratie entschied, die mit ihrer Politik auch Auslöser der Proteste gewesen war, begründete Lange mit dem damaligen Selbstverständnis der Grünen und der sozialen sowie bildungspolitischen Ausrichtung der SPD: „Äh, und, äh, von daher war klar, eigentlich nur noch die Frage SPD oder Grüne. Und bei der Frage, welche von beiden,...[…]...muss man sich jetzt die Grünen der damaligen Zeit in Erinnerung rufen. Jutta von Dithfurth, die Frage von Gewalt gegen Sachen erlaubt ja oder nein. Und das war für mich eigentlich immer klar, dass Gewalt in der Politik nichts zu suchen hat. Ähm, und in der Sozialdemokratie, der Grundansatz, insbesondere die Frage, Bildung, äh, als Voraussetzung dafür, dass man später mal seines Glückes Schmied sein kann überhaupt, und die Frage, ist Bildung vom Geldbeutel der Eltern abhängig, war, fand ich, in der SPD eigentlich immer am besten aufgehoben […].“1148
Indirekt hatte Lange diese sozial befördernde Funktion von Bildung auch in der eigenen Familie erfahren, da sein Vater auf dem zweiten Bildungsweg vom „Eisenbahnschaffner zum […] Akademiker“1149 aufgestiegen war. Lange bewunderte die Kraft seines Vaters, sich diesen sozialen Aufstieg über Bildung zu erkämpfen1150, und profitierte ganz selbstverständlich davon, da ihm Abitur und Jurastudium, das er 1983-89 in Tübingen absolvierte und 1993 mit dem zweiten Staatsexamen abschloss, offen standen. 1146
Vgl. ebd., S. 1. Vgl. Interview Lange, S. 2. Ebd., S. 2. 1149 Ebd., S. 2. 1150 Vgl. ebd., S. 2. 1147 1148
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Zwischen Politik als Handwerk und „Sandkastenspiele[n]“1151: Jusos und Kommunalpolitik Die politische Karriere Langes war fortan eine zweigleisige: Zum einen mischte sich Lange aktiv in die Verbandsarbeit der Jungsozialisten ein, zum anderen war er auf kommunaler Parteiebene im Kreistag aktiv. Die Erfahrungen, die der Waiblinger dabei machte, hätten wohl unterschiedlicher kaum sein können, doch führten sie beide im Endeffekt zu einem pragmatischen Politikverständnis. Bei den Jungsozialisten tauchte Lange in die Debatten der 1980er-Jahre ein, diskutierte über den großen Lauschangriff, den Asylkompromiss, Themen der Ökologie- und Friedensbewegung.1152 Der sozialdemokratische Nachwuchs beschäftigte sich in jenen Jahren ausführlich mit den Forderungen der Friedensbewegung, hatte zum Teil auch große personelle Überschneidungen mit den Neuen Sozialen Bewegungen. Doch gelang es den Jusos nicht, eine einheitliche Linie in den Debatten über atomare Abrüstung zu entwickeln. Vielmehr spaltete sich der Verband in drei unterschiedliche Meinungsfraktionen, deren Differenzen für Außenstehende kaum nachvollziehbar waren.1153 Insgesamt beschlich den jungen Christian Lange, der sich dem reformorientiert-undogmatischem Flügel zurechnete, daher das Gefühl, dass die verbandsinternen Querelen der Jusos wenig mit dem realen Leben zu tun hatten. Einzig die Arbeit zur Asylrechtsänderung und zum so genannten großen Lauschangriff behielt Lange positiv im Gedächtnis, während andere „Netzwerker“ wie Griese oder Hauer gerade diese Auseinandersetzung als aufreibend erinnerten.1155 Allerdings lernte der Baden-Württemberger im Jugendverband durchaus Spielregeln kennen, die für einen erfolgreichen politischen Werdegang unumgänglich sind: „Also, lernen tut man natürlich bei den Jusos viel. […] man probt natürlich bestimmte, man probt natürlich, Mehrheiten zu organisieren, ein ganz wichtiger Punkt. Man lernt Leute kennen. Man bildet Netzwerke. […] Man hat, man lernt natürlich auch zu argumentieren, was von zentraler Bedeutung ist. Äh, und, äh, man lernt auch hart zu werden in Auseinandersetzungen.“1156
Offensichtlich hatte Lange die von ihm beschriebenen Fähigkeiten erworben, denn immerhin brachte er es 1993 bis zum stellvertretenden JusoBundesvorsitzenden. Allerdings blieb ihm der erste Bundesvorsitz, den er angestrebt hatte, verwehrt, da er in der entscheidenden Kampfabstimmung mit 157 zu 148 Stimmen seinem Kontrahenten Thomas Westphal vom linkssozialistischen Lager unterlag. In den folgenden Jahren zeigte Lange, wie wenig er in vielen Punkten mit dem Vorsitzenden Westphal einer Meinung war: Den Annäherungs1151
Interview Lange, S. 3. Vgl. Interview Lange, S. 12. Vgl. Oberpriller, 2004, S. 286 ff. 1155 Vgl. ebd., S. 3. 1156 Interview Lange, S. 3. 1152 1153
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kurs gegenüber der PDS kritisierte der Waiblinger scharf und mahnte, die linke Partei müsse durch eigene klare Themensetzung, nicht durch einen Integrationskurs bekämpft werden.1157 Ebenso griff er die Verbandsführung Westphals insgesamt deutlich an. Die Jusos spalteten sich unter Westphal wieder in die verschiedenen Flügel auf, so Lange, der sich als strömungsfreier Kandidat präsentiert hatte.1158 Unter Westphal sei der Jugendverband in der politischen Debatte nicht mehr präsent und verschwinde nahezu in der Bedeutungslosigkeit.1159 Aus all dem sprach zum einen Langes Frustration über aus seiner Sicht ideologisch durchsetzte verbandsinterne Debatten. Zum anderen zeigte sich das Bedürfnis nach einer auf konkrete Umsetzung und Reformen orientierte Politik. So aber konnte Lange nach seiner Niederlage im Kampf um den Juso-Bundesvorsitz nur mit ansehen, wie sich der Verband selbst lahm legte, und sich das Verhältnis zur SPD zusehend verschlechterte.1160 Die Einsicht in die Notwendigkeit einer realistischen Politik resultierte aber wohl ebenso aus Langes Engagement im Kreistag Rems-Murr: „Aus der Kommunalpolitik lernt man den Pragmatismus. […]Das heißt, auch mit dem politischen Gegner zusammen zu arbeiten, wenn´s der Sache dient. […] Äh, das lernt man in der Kommunalpolitik. Kommunal gibt´s ja keine Opposition. […] Und, äh, und da lernt man sozusagen Bündnisse zu schmieden und damit auch unideologisch um eine Sache zu kämpfen.“1161
Die Debatten dürften sich im Kreistag Rems-Murr für Lange weniger um die Frage der richtigen Überwindung des Kapitalismus gedreht haben, als vielmehr um den Bau eines Jugendzentrums oder die Ansiedelung eines Industriebetriebs. Politische Entscheidungen, die auf lokaler Ebene getroffen werden, sind in der Regel sehr viel schneller und konkreter im Alltag erfahrbar, sie verändern spürbarer die „Lebenslagen“1162 von Menschen als dies bei Debatten auf Jusokongressen der Fall ist. Mit seinem Engagement im Jugendverband und im Kreistag Rems-Murr war Lange also zwei sich diametral gegenüber stehenden Erscheinungsformen von Politik und damit zwei unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen ausgesetzt.
1157
Vgl. Monath, Hans: „Die PDS wird hochgeredet“, in: Die Tageszeitung, 10.11.1994. Vgl. o. V.: Die Unlust der Urenkel an den Enkeln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.04.1993. 1159 Vgl. Jakobs, Walter: „Die SPD ist ein Totalausfall“, in: Die Tageszeitung. 21.03.1994; siehe auch o. V.: Vizevorsitzender: politische Bedeutung gleich Null, in: Süddeutsche Zeitung, 18.03.1994. 1160 Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 280 ff. 1161 Interview Lange, S. 3 f. 1162 Interview Lange, S. 3. 1158
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Der geborene Parlamentarier: Karriere im Bundestag – und Scheitern in der Partei Nach erfolgreich absolviertem zweiten Staatsexamen in Jura entschied sich Lange 1993, den aus seiner Sicht „anwendungsorientierteren“ politischen Weg zu beschreiten und begann eine Beamtenlaufbahn im baden-württembergischen Wirtschaftsministerium, zunächst als Landesbeauftragter beim Bund sowie als Bundesratsreferent, später als Referent für Handwerk und Mittelstand. Die Bedeutung dieser beruflichen Entscheidung reichte weit in Langes weiteren Karriereweg hinein. In dieser Tätigkeit wurde die Grundlage zur Beschäftigung mit Themen des Handwerks und des Mittelstandes gelegt, die auf Langes weiterem Weg eine inhaltliche Kontinuität bildeten. Dies wurde sicher dadurch bestärkt, dass Lange aus einem Bundesland und Wahlkreis stammte, in dem kleinere und mittlere Betrieben traditionell eine bedeutende Rolle im Wirtschaftsgefüge spielen. Über diese inhaltliche Profilierung hinaus aber erhielt Lange durch seine Arbeit als Bundesratsreferent näheren Einblick in den Gesetzgebungsprozess auf Bundesebene und erkannte, dass die Beschäftigung als Bundestagsabgeordneter, das Formulieren und Gestalten von Gesetzen sein Interesse und seine Leidenschaft weckten.1164 Insofern war es nur konsequent, dass Lange sich um ein Bundestagsmandat bemühte und schließlich seinen Vorgänger im Wahlkreis beerbte. Offensichtlich versprachen sich die Sozialdemokraten seines Wahlkreises Backnang-Schwäbisch-Gmünd von Langes Nominierung, dass dieser – aufgrund seiner Mitgliedschaft im Landesvorstand und Präsidium der badenwürttembergischen SPD – einen recht sicheren Listenplatz bekommen und die Interessen des Wahlkreises somit auf jeden Fall im künftigen Bundestag vertreten sein würden.1165 Doch hatte Lange einen solchen Listenplatz gar nicht nötig, da er seinen Wahlkreis direkt gewann und seit 1998 seinem Wunschberuf als Abgeordneter nachgehen konnte. Einmal im Bundestag angekommen, rückte er zügig in führende Positionen vor. So wurde er 2002 zum Landesvorsitzenden der baden-württembergischen Landesgruppe in der SPD-Bundestagsfraktion gewählt.1166 Auch in den erweiterten Fraktionsvorstand stieg er auf, wurde im Oktober 2007 gar Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion.1167 Während Lange also auf der parlamentarischen Ebene durchaus Erfolge nachweisen konnte, zeigte sein Bemühen, in verschiedensten Parteigremien mitzuwirken, wenig Fortschritte. 1995 kandidierte Lange für den Bundesvorstand 1164
Interview Lange, S. 4. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. http://www.spdfraktion.de/cnt/rs/rs_rubrik/0,,2876,00.html#L_BB (zuletzt aufgerufen am 23.02.2008). 1167 Vgl. http://www.lange-spd.de/index.php?idcat=13 (zuletzt aufgerufen am 03.03.2009). 1165 1166
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der SPD und wollte damit offenbar von den Plänen des damaligen Parteivorsitzenden Scharping profitieren, das Gremium zu verjüngen.1168 Schon in seiner Zeit als stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender hatte Lange sich entgegen dem allgemeinen Trend der Jusos um ein gutes Verhältnis zur Mutterpartei, deren Führungsebene und insbesondere zu Scharping bemüht.1169 Doch ging sein Kalkül nicht auf: Lange verpasste den Einzug in den Parteivorstand. 1997 schließlich bemühte Lange sich um das Amt des baden-württembergischen Generalsekretärs.1170 Hierfür hatte er eigens die Zustimmung des damaligen Landesvorsitzenden Ulrich Maurer eingeholt und ein Konzept für die Zukunft der Landes-SPD erarbeitet.1171 Doch hatte Lange die Funktionsweise der Partei offenkundig falsch eingeschätzt. Seine Anpassungsbereitschaft und seine guten Kontakte zur Landesparteispitze wurden nicht belohnt. An seiner Stelle gelangte Wolfgang Drexler ins Amt des Generalsekretärs, der einer älteren sozialdemokratischen Generation entstammte. Drexler wurde bewusst als jemand gewählt, der zu Widerspruch gegenüber dem Landesparteivorsitzenden Maurer bereit war sowie die deutliche Abgrenzung zum politischen Gegner CDU suchte. Gerade Letzteres hatte Lange, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren im Landeswirtschaftsministerium für die große Koalition tätig gewesen war, kaum verkörpert. Lange musste daher erfahren, dass sich die Funktionslogiken eines SPD-Parteitages nicht so einfach steuern ließen wie das Planen eines Gesetzentwurfes. Dennoch wagte Lange 2003 einen dritten Anlauf, um in führende Parteipositionen vorzustoßen, indem er sich erneut um einen Sitz im Bundesparteivorstand bewarb. Doch auch dieses Unterfangen scheiterte – bereits im ersten Wahlgang erhielt Lange so wenig Stimmen, dass er seine Kandidatur zurückzog.1172 Der Grund für diesen neuerlichen Misserfolg war unter anderem in der Tatsache zu suchen, dass auf dem Parteitag in Bochum, ein halbes Jahr nach der Verkündung der Schröderschen Agenda 2010, besonders die Befürworter jener ungeliebten Reformpolitik abgestraft wurden. Auch Lange hatte sich – als Mitglied des „Netzwerks“ – für die Umsetzung der Hartz-Pläne stark gemacht, teilweise gar für weitere Reformschritte plädiert. Doch auch unter Berücksichtigung der beschriebenen Widrigkeiten zeigte dieser dritte erfolglose Anlauf ebenso wie alle anderen zuvor das Unvermögen Langes, auf höherer Parteiebene Fuß zu 1168
Vgl. o. V.: SPD-Vorstand soll bei Wahl im November verjüngt werden, in: Süddeutsche Zeitung, 14.10.1995. Vgl. o. V.: Als Wischnewski ausgebuht wurde, in: Süddeutsche Zeitung, 19.12.1994. 1170 Vgl. zum Folgenden o. V.: Der aggressive Generalsekretär, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.08.1997. 1171 Vgl. Glück, 2004, in: Eilfort, 2004, S. 172-183, hier S. 178. 1172 Vgl. Bloome, Nikolaus: Die Wahlergebnisse haben die Botschaft des Parteitages leider versaut, in: Die Welt, 21.11.2003. 1169
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fassen. Die Mechanismen der Sozialdemokratie als Partei, das Empfinden der so wichtigen mittleren Parteiebene und Mandatsträger, die den Weg in den Vorstand ebnen sollten, hatte Lange offenbar nicht bis ins Letzte durchdrungen. Der Backnanger Abgeordnete blieb ein auf die parlamentarische Ebene beschränkter Berufspolitiker. Sprecher einer „Selbsthilfegruppe“1173? Lange als „Netzwerker“ Als Christian Lange 1998 Bundestagsabgeordneter wurde, hatte er nicht nur durch seine Arbeit als Referent im Bundesrat einige Beziehungen zu seinem neuen Einsatzbereich gesammelt, auch aus seinem Landesverband und der Tätigkeit bei den Jungsozialisten traf er einige Bekannte wieder.1175 So waren es jene Verbindungen zu Ute Vogt, Hans-Martin Bury, Michael Roth, Kerstin Griese oder Hubertus Heil, die Lange zum „Netzwerk“ führten. Dabei war der frisch gewählte Abgeordnete jedoch zunächst zu Veranstaltungen der Parlamentarischen Linken gegangen, war in seinen Erwartungen dort aber schwer enttäuscht worden: „Und Ausgangspunkt war immer, dass wir zuerst eigentlich zur Parlamentarischen Linken gegangen sind, als anständige Jusos macht man das. Und wir waren alle schwer enttäuscht. […] Und, äh, Diskussionen gab´s auch keine, und wenn es Diskussionen gab, dann zu Themen, die uns also völlig... uninteressant...[...] Ja, die Frage, ob wir jetzt ´ne Wertschöpfungsabgabe hier einführen oder nicht `98 oder so was. Jedenfalls nicht die Themen, die uns interessiert haben: Wie gehen wir um mit der Globalisierung; wie gehen wir um mit den demografischen Problemen einer Gesellschaft? […] was für ´ne Verantwortung haben wir als Jüngere gegenüber der nächsten Generation, und solche Themen haben keine Rolle gespielt.“1176
Den Kontakt zum SK suchte Lange nach dieser Erfahrung gar nicht erst, erwartete er doch von dieser Gruppierung noch viel weniger als von der Linken innovative programmatische Ideen.1177 Den Anspruch des „Netzwerks“ sah er in der ersten Zeit daher auch – aus der Not geboren – in einer Art Selbsthilfegruppe.1178 Zum einen war es aus Sicht Langes das Anliegen des „Netzwerks“, frei von bereits vorgegeben Meinungen, Diskussionsstrukturen oder Führungshierarchien über politische Probleme und Lösungen zu diskutieren. Zum anderen steckt in der Aussage Langes aber auch ein machtstrategischer Ansatz: Da die bereits existierenden Gruppierungen den jungen Parlamentariern aus ihrer Sicht nicht genügend Beachtung entgegen brachten, fanden sie sich in einem eigenen Kreis zusammen. Dort konnten sie nicht nur die Themen selbst bestimmen, sondern 1173
Interview Lange, S. 6. Vgl. ebd., S. 7. Ebd., S. 7. 1177 Vg. Interview Lange, S. 7 bzw. S. 14. 1178 Ebd., S. 6. 1175 1176
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auch die Spielregeln der Diskussion und Organisation. Lange betonte nicht nur das unideologisch-pragmatische Herangehen an Themen1179, sondern auch einen partizipatorischen Zugang zu Politik. Dass Diskussionstexte von „Netzwerkern“ noch persönlich und nicht von etwaigen Mitarbeitern verfasst würden, war dabei für ihn ebenso bedeutsam wie die flachen Hierarchien, die positiv gedeutete Pluralität der Gruppe und die konsensorientierte Entscheidungsfindung.1180 Langes Einsatz im „Netzwerk“ bestand in den ersten Jahren in der Hauptsache in einigen Diskussionsbeiträgen im wirtschaftspolitischen Bereich sowie im Erarbeiten von Gesetzesentwürfen, beispielsweise zur Offenlegung von Managementgehältern. Nicht ohne Stolz betonte Lange hierbei, dass die von ihm entworfenen Gesetzentwürfe stets von der gesamten Gruppierung getragen wurden.1181 Tatsächlich kann es durchaus als Verdienst Langes angesehen werden, inhaltliche Positionen des „Netzwerks“ in umsetzungsfähige Gesetzesvorlagen transferiert und damit reale Folgen der internen Gruppendiskussionen gezeitigt zu haben. Doch wie bei seinem weiteren politischen Engagement, so strebte Lange auch im „Netzwerk“ schnell nach Führungspositionen. So war er zunächst Mitglied des nach der Bundestagswahl 2002 ins Leben gerufenen sechsköpfigen Sprecherkreises. Als nach der Bundestagswahl 2005 dieser Kreis noch einmal durch die Bildung einer Doppelspitze und eines vierköpfigen, erweiterten Führungskreises umstrukturiert wurde, wurde Lange zusammen mit Nina Hauer einer der zwei Gruppensprecher.1182 Inhaltliches Profil: Von Transparenz, Flexibilität und Pragmatismus Den thematischen Weg, den Lange mit seinem Eintritt in das badenwürttembergische Wirtschaftsministerium 1993 eingeschlagen hatte, verfolgte er auch in den nachfolgenden Jahren und arbeitete hauptsächlich in den Bereichen Wirtschaft und Arbeit. Dabei ließen sich seine inhaltlichen Prioritäten unter den Schlagwörtern Flexibilität, Transparenz und Pragmatismus zusammenfassen. So machte sich der Backnanger Abgeordnete auf dem Gebiet des Handwerks für eine Überarbeitung der Handwerksordnung stark. Eine Neuregelung sollte vor allem die Betriebsgründung auch ohne Meisterbrief – also für Gesellen – ermöglichen1183 sowie im gleichen Zuge den Weg zum Handwerksmeister offiziell als Ausbildung anerkennen und damit die Zahlung von Meister-BaföG gestatten. Wichtig waren Lange flexible Pfade zur Selbstständigkeit, die zu mehr Wettbe1179
Vgl. ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 8 f.; siehe zum Aspekt fest gefahrener Strukturen und Rituale auch ebd., S. 15. 1181 Vgl. zur Selbsteinschätzung Langes Interview Lange, S. 10. 1182 Vgl. http://www.netzwerkberlin.de/index.php?site=-+Die+Einlader (zuletzt aufgerufen am 25.02.2008). 1183 Vgl. Lange, Christian: Südtirol zeigt, was möglich ist, in: Berliner Republik 5 (2003 b), S. 18-19. 1180
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werb im Bereich des Handwerks und damit auch zu mehr Auswahl für den Kunden führen sollten.1184 Lange versprach sich hiervon eine wirtschaftliche Belebung, letztendlich auch mehr Arbeitsplätze. Weitere Themenschwerpunkte bildeten die Transparenz von Managementgehältern1185 sowie die Initiative zum so genannten „Gläsernen Abgeordneten“. Beides kann durchaus zusammen diskutiert werden, folgten beide Vorstöße doch dem Ziel von mehr Durchsichtigkeit bei Gehältern bestimmter Zielgruppen. Zudem handelte Lange in beiden Fällen explizit in Übereinkunft mit dem „Netzwerk“, war treibende Kraft der Aktionen und arbeitete entsprechende Gesetzentwürfe aus, die mit Erfolg gekrönt waren: Im Juli 2005 wurde das Gesetz zur Offenlegung von Managementgehältern verabschiedet, jenes für Abgeordnete hatte bereits im Sommer 2002 den Bundestag passiert.1186 Dabei machte Lange vor allem zwei Argumente geltend, die die Offenlegungspflicht für Abgeordnete und Unternehmensmanager untermauern sollten. Zum einen, so Lange, müssten sowohl für Politiker als auch für Unternehmer die gleichen Marktregeln gelten wie für alle anderen Bürger.1187 Zum anderen, so glaubte der Backnanger MdB, stärke es das Vertrauen der Bürger in die gesellschaftlichen Leistungsträger, wenn deren Einkünfte sowohl in der Höhe als auch bezüglich der Quellen einsehbar seien. Damit würden auch das Ansehen der Berufsgruppen sowie die Unabhängigkeit besonders der Abgeordneten steigen.1188 Insofern folgte das inhaltliche Engagement Langes den Maximen der Transparenz und des Vertrauens. Den Zielen Offenheit und Flexibilität dienten Langes Vorschläge zur Ausweitung des Niedriglohnsektors für gering Qualifizierte.1189 Mit selektiver Subventionierung von Langzeitlosen, Sozialhilfeempfängern oder wenig ausgebildeten Arbeitssuchenden, so Lange, könne gerade im dritten Sektor, und damit bei den Dienstleistungen, für mehr Arbeitsplätze gesorgt werden. Begleitet werden müsse ein solcher Niedriglohnsektor jedoch mit der Beseitigung der so genannten Armutsfalle – sprich: die Differenz zwischen Sozialhilfe und Lohn sollte 1184
Vgl. Lange, Christian: Handwerksordnung lockern?, in: Focus, 05.05.2003; siehe auch Lange, Christian: Weg mit dem Zünfte-Denken, in: Die Welt, 17.02.2003. 1185 Vgl. Lange, Christian/Hauer, Nina: Exzellenz verträgt Transparenz, in: Berliner Republik 1 (2005), S. 6-9; siehe auch das folgende Interview: o. V.: „Das Ende der Neidgesellschaft kommt“, in: Stuttgarter Zeitung, 28.12.2007. 1186 Vgl. Sturm, Daniel Friedrich: Jede Menge Aufsichtsräte, in: Die Welt, 10.06.2003. 1187 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Günsche, Karl-Ludwig: Selber für Rente sorgen, in: Stuttgarter Zeitung, 27.08.2004; siehe auch das folgende Interview mit Lange: o. V.: „Ein reines Beamtenparlament will doch niemand, in: Stuttgarter Zeitung, 14.01.2005. 1188 Vgl. u.a. Braun, Andreas: Offenheit zahlt sich immer aus, in: Sonntag aktuell, 24.02.2002; o. V.: „Der Bürger soll wissen, wen er wählt, in: Stuttgarter Nachrichten, 10.06.2002 1189 Vgl. dazu Lange, Christian: Kombilohn statt Stütze, in: Berliner Republik 3 (2001), S. 76-79; Lange, Christian: Lohnsubvention im Vergleich, in: Berliner Republik 1 (2000), S. 50-53.
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durch Senken ersterer vergrößert werden –, durch mehr Wettbewerb bei der Arbeitsvermittlung, mehr Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitssuchende und unter Umständen auch eingeschränkte Sozialleistungen für Arbeitsunwillige. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Lange all diese Überlegungen bereits in den Jahren 2000 und 2001 hervorbrachte – also lange, bevor die Schrödersche Agenda 2010 Realität wurde.1190 Um gering qualifizierte Jugendliche sorgte Lange sich bei seinen Vorschlägen zur Flexibilisierung der Berufsausbildung.1191 Damit Jugendlichen, die keinen Schulabschluss erlangten, der Zugang zum Erwerbsleben ermöglicht werden könne, forderte Lange eine Art Ausbildung in Anstellung. Stark anwendungsorientiert sollten die betreffenden Jugendlichen durch in Module gestückelte Qualifikationen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen. Nach Ansicht Langes sollte das Ziel seiner Vorschläge sein, möglichst viele auch gering ausgebildete junge Menschen in Arbeit zu bringen, um einer Arbeitslosenkarriere vorzubeugen. Auch bei diesen Überlegungen des Baden-Württembergers werden die Maximen Bürokratieabbau und Flexibilisierung deutlich. Eine unkompliziertere Gestaltung von Bildungsabschlüssen ging in diesem Gedankengang einher mit der Anforderung an die Menschen, sich in diesem individuell gestaltbarem Bildungsangebot zu Recht zu finden. Mit dieser Auffassung, den Menschen sei bei der Gestaltung ihres Lebens sowie der Gesellschaft durchaus mehr zuzutrauen, korrespondierte auch der Vorstoß zur Abschaffung der Wehrpflicht und Einrichtung eines allgemeinen sozialen Dienstes, welcher starke Züge des bereits bestehenden Freiwilligen Sozialen Jahres trug.1192 Langes Argumente waren vielschichtig: Zunächst, so der Backnanger, sei zu konstatieren, dass die bundesdeutsche Wehrpflicht den gewandelten außen- und sicherheitspolitischen Anforderungen im 21. Jahrhundert nicht mehr gerecht werde. Vielmehr werde eine Berufs- und Freiwilligenarmee benötigt. An die Stelle der Wehrpflicht solle ein allgemeiner sozialer Dienst treten, der – im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit – von Frauen und Männern absolviert werde. Mit einem solchen allgemeinen sozialen Dienst, so Lange, werde dem Prinzip Freiheit in mehrerlei Hinsicht Rechnung getragen, denn der Dienst könnte europaweit absolviert werden, es bestünde Wahlfreiheit zwischen Wehr- und Sozialdienst, der Bereich könnte zwischen Kultur, Wirtschaft etcetera frei wählbar sein und zudem würde mit einem Ende der Wehrpflicht für einen 1190
Vgl. o. V.: „Das Privileg für Reiche abschaffen“, in: Die Tageszeitung, 19.11.2003. Vgl. Lange, Christian: Perspektiven für die Perspektivlosen, in: Berliner Republik 5 (2001 b), S. 87-89. 1192 Vgl. Lange, Christian: Sozialer Dienst für freie Bürger, in: Berliner Republik 6 (2003 a), S. 1113; siehe auch o. V.: In der SPD wächst der Widerstand gegen die Wehrpflicht, in: Die Welt, 06.03.2007. 1191
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deutlichen Bürokratieabbau gesorgt. Kurzum: Die Einführung eines Allgemeinen Sozialen Dienstes bedeute einen Gewinn an Liberalität und Eigenverantwortung für alle. Die Grundlinien bei Langes inhaltlichem Engagement waren damit klar: Stets ging es um Freiheit1193 – um die Freiheit, sich selbstständig zu machen bei der Reform der Handwerksordnung, die Entscheidungsfreiheit im (Aus)Bildungsprozess, die Wahlfreiheit der Konsumenten und so weiter. Bei all den genannten Vorschlägen ist ein wesentliches Element der Abbau von Vorschriften und Bürokratie, zumeist auf Seiten des Staates. Demgegenüber wird dem Bürger wesentlich mehr Eigenständigkeit, individuelle Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit zugetraut und zugemutet. Dabei beziehen sich alle Vorschläge des Bundestagsabgeordneten auf relativ klar umrissene Themenfelder, sind sie konkrete Vorschläge, die in einigen Fällen gar in Gesetzesentwürfe und Gesetze mündeten. Lange ist daher als Fachpolitiker anzusehen, der sich zwar durchaus auch zu anderen Bereichen wie der Bildungspolitik äußerte – Lange befürwortete nachgelagerte Studiengebühren1194 –, insgesamt aber ein klares, liberales Profil im Bereich Wirtschaft und Arbeit aufwies. Weiter reichende Äußerungen zur Programmdiskussion oder gar zu parteiorganisatorischen Fragen waren von ihm nicht zu erwarten.1195 Politischer Stil – der flexible Handwerker im Anzug Es wurde bereits wiederholt angedeutet: Christian Lange war ein Mann des Parlaments, der gesetzgeberischen Ausgestaltung von Themen. Bei seinen diversen Anläufen im Parteiapparat scheiterte er mehrfach, am erfolgreichsten war er wohl noch als Jungsozialist. Letztendlich wirkten seine Versuche, ein Parteiamt zu erringen, fast etwas halbherzig, zog er doch seine Kandidatur jeweils recht schnell zurück beziehungsweise wiederholte sie nicht. Das Selbstverständnis als Abgeordneter strich Lange gar selbst heraus: Er wolle, so betonte er, Lebenslagen von Menschen verändern, und dies erreiche man eben nicht durch das Verfassen von Feuilletonartikeln, sondern von Gesetzen.1196 Diese Aussage spiegelt auch wider, wie wenig Lange ein Mann des „Intellektuellen“ war: Nachdenklichkeit und das zurückgezogene Grübeln über weit reichende Politikentwürfe waren seine Sache nicht, ebenso wie er kein begnadeter Rhetoriker war. Dabei trug Lange mit seinem eleganten Äußeren aus Anzug und Krawatte durchaus jenes Selbstbewusstsein zur Schau, das ihm eigen war. Seinen Weg interpretierte 1193
Vgl. auch Lange, Christian: Ohne Freiheit ist alles nichts, in: Berliner Republik 4 (2006), S. 69-
70.
1194
Vgl. o. V.: „Das Privileg für Reiche abschaffen“, in: Die Tageszeitung, 19.11.2003. Vgl. Langes Überlegungen zur SPD als Mitglieder- und Volkspartei in Interview Lange, S. 15 f.. 1196 Vgl. Interview Lange, S. 3 sowie S. 10. 1195
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er als konsequent, stellte nichts in Frage. Vielmehr verkörpert Lange das, was er selbst propagierte: den flexiblen Handwerker der Politik, der solide und gründlich arbeitet, und sich doch rasch veränderten Aufgaben und Herausforderungen anpassen kann. Diese Eigenschaften können durchaus Gewinn bringend sein, immerhin verdankte das „Netzwerk“ Lange die Umsetzung einiger seiner Ideen in Gesetze. Doch hat die Flexibilität Langes durchaus auch Grenzen. Zwar praktiziert er tatsächlich den von ihm propagierten pragmatisch-unideologischen Politikstil, ist beispielsweise bei der Koalitionsfrage sowohl bereit zu Bündnissen mit den Grünen als auch mit FDP oder CDU.1197 Doch zeigten sich einige von Langes Merkmalen bereits recht früh in seinem (politischen) Lebensweg: Der Pragmatismus, das Bekenntnis zu umsetzungsorientierter Reformpolitik, ließen sich bei Lange bereits als Jungsozialist erkennen. Auch blieb Lange dem Bereich der Wirtschaftspolitik treu, erarbeitete sich dort Sachkompetenz.1198 Interessant ist aber zudem, dass auch die Absage an den Politikstil der „Enkel“ bereits in den frühen 1990er-Jahren nachgewiesen werden kann.1199 Diese Kritik wuchs sich über die Jahre zu einer starken Abneigung aus, so dass Lange jene Politikergeneration mit den Attributen „abgewirtschaftet“ und „verlogen“ versah.1200 7.2.6 Carola Reimann – Die naturwissenschaftliche Fachpolitikerin Auch wenn Carola Reimann in der Öffentlichkeit noch weniger als andere „Netzwerk“-Sprecher bekannt war, so finden sich doch bei ihr einige Merkmale, die sie als prototypisch für die hier analysierte Gruppierung ausweisen. Zunächst gehörte die 1967 in Goch am Niederrhein geborene Reimann aufgrund ihres Geburtsdatums zur Kernkohorte des „Netzwerks“. Auch sie erlebte somit – wie Hauer, Lange, Vogt, Griese oder Bartels – ihre Jugend und in Folge dessen die hauptsächlich politisch sozialisierende Lebensphase in den 1980er-Jahren. Ihren Weg in die Politik schilderte Reimann wie folgt: „[...] und ich bin, na ja, ich bin eigentlich zur Partei und zur Politik gekommen, na ja, über diese, wir wollten so´n Jugendzentrum, so´n autonomes Jugendzentrum. Weil, Goch ist so`n kleiner Ort, 30.000 Einwohner, 60.000 insgesamt mit allen, die da eingemeindet worden sind. Und alle Jugendlichen, die nicht kirchlich oder im Sportverein aktiv waren, oder die nicht kirchlich gebunden waren, die hingen im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße rum. Das war so ´n Ansatz, da wurde ´n
1197 1198
Vgl. ebd., S. 17. Vgl auch Langes Mitgliedschaft im Wirtschaftsforums der SPD (vgl. o. V.: Lange Mitglied im
Wirtschaftsforum, in: Stuttgarter Zeitung, 08.06.2006). Vgl. o. V.: Die Unlust der Urenkel an den Enkeln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.04.1993. 1200 Vgl. Interview Lange, S. 19. 1199
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Haus, was in, in städtischer Trägerschaft gewesen ist, umgewandelt, und da wollten wir ´n Jugendzentrum machen.“1202
Somit fanden die ersten politischen Aktivitäten der jungen Gocherin im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen statt, zu denen auch die Jugendzentrumsbewegung zu zählen ist.1203 Indem Reimann erklärte, sie sei in ihrem ursprünglichen politischen Interesse dem linken „Zeitgeist“ der 1980er-Jahre entsprechend durchaus an alternativen Themen interessiert gewesen, teilte sie die Nähe veler „Netzwerker“ zu den Neuen Sozialen Bewegungen. Auch bei Reimann erscheint somit vor diesem Hintergrund der Schritt, in die SPD und nicht in die Partei der Grünen einzutreten, nicht zwingend plausibel. Reimann begründete ihre Entscheidung jedoch – auch dies eine Konvergenz mit vielen anderen „Netzwerkern“ – mit der Eindimensionalität des grünen Themenspektrums.1204 Daneben spielten die persönlichen Kontakte Reimanns eine wichtige Rolle, die sie während ihrer Jugendzeit zu den Jusos knüpfte. Hier engagierte sie sich zunächst informell in der organisatorischen Arbeit, bevor sie aufgrund der Ansprache durch Freunde und Bekannte in die SPD eintrat.1206 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass der Parteibeitritt und damit die Institutionalisierung ihres politischen Interesses offenbar weniger der intrinsischen Motivation der Gocherin entsprang, sondern von außen angestoßen wurde. Dies kann durchaus als symbolisch für den weiteren Verlauf ihres politischen Weges angesehen werden, als dass die politische Tätigkeit zwar ein wichtiger Bestandteil ihres biografischen Werdeganges war, bis zur Übernahme des Bundestagsmandats im Februar 2000 allerdings nicht unbedingt im Zentrum stand. Hierin unterschied sie sich von vielen anderen „Netzwerkern“ wie beispielsweise Lange und Heil, die ihren politischen Einsatz in den Mittelpunkt ihrer Biografie rückten und gleich nach dem Studium oder sogar noch währenddessen in die Berufspolitik wechselten. Reimann zog zunächst zum Studium der Biotechnologie 1987 in das niedersächsische Braunschweig, wo sie weiterhin in die Parteiarbeit eingebunden blieb. Doch im Gegensatz zu anderen späteren Gründungsmitgliedern des „Netzwerks“ war sie außer durch Kongressbesuche auf bundesweiter Juso-Ebene nicht aktiv, gehörte ebenso nie einem der verschiedenen Bundesgremien des Jugendverbands an. Reimanns Arbeit blieb auf Braunschweig beschränkt. Hier wurde sie in den Jahren zwischen 1990 und 1997 Vorsitzende beziehungsweise stellvertretende Vorsitzende des Juso-Unterbezirks Braunschweig, zog ebenfalls 1997 in den 1202
Interview Reimann, S. 1. Vgl. zur Entstehung der Jugendzentren in der BRD Schewe, Egon: Selbstverwaltete Jugendzentren: Entwicklung, Konzept und Bedeutung der Jugendzentrumsbewegung, Bielefeld 1980, besonders S. 13 ff. und S. 20 ff.; als Selbstzeugnis der Bewegung vgl. Herrenknecht, Albert/Hätscher, Wolfgang/Koospal, Stefan (Hg.) Träume, Hoffnungen, Kämpfe..., Frankfurt a.M. 1977. 1204 Vgl. Interview Reimann, S. 1. 1206 Vgl. ebd., S. 1. 1203
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SPD-Unterbezirksvorstand der Stadt ein und hatte seit 2002 dessen Vorsitz inne. Das Tempo dieses Werdegangs hatte im Grunde nichts Außergewöhnliches an sich, sondern war im Sinne der so genannten „Ochsentour“ durchschnittlich. Doch war Reimanns innerparteiliche Karriere eben auch nicht vergleichbar mit dem gleichsam kometenhaften Aufstieg beispielsweise einer Ute Vogt. Eine deutlichere Ziel- und Karriereorientierung war im Vergleich dazu in Reimanns wissenschaftlicher, außerpolitischer Laufbahn zu erkennen: Nachdem sie 1993 ihr Studium abgeschlossen hatte, promovierte sie am Institut für Technologie an der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft in Braunschweig, ebenfalls zu einem biotechnologischen Thema.1207 1998 war die Promotion beendet, anschließend arbeitete Reimann als Referentin im Public-Health-Bereich beziehungsweise im Medizinmarketing. Der Wechsel als Nachrückerin in den Bundestag im Februar 2000 war demzufolge eher dem Zufall denn politischem Karrierekalkül geschuldet. Ihren beruflichen Weg jedenfalls hatte Reimann im Grunde auf Wissenschaft und Wirtschaft ausgerichtet.1208 Reimanns politische Karriere war nicht von vorneherein angestrebt, ihre Kandidatur auf der Landesliste der niedersächsischen SPD zur Bundestagswahl 1998 besaß im Grunde nur eine Alibifunktion.1209 Aufgrund von Reimanns beruflicher Orientierung auf den medizinisch-naturwissenschaftlichen Bereich war ihr anschließendes Profil als gesundheitspolitische Fachpolitikerin im Bundestag jedoch nur folgerichtig. Die Biotechnologin begriff sich stets als naturwissenschaftlichen Beitrag zum politischen Geschehen: „Ich hab hier [in Braunschweig, d. V.] immer so Facharbeitskreise geleitet und, äh, und fand immer, dass es wichtig ist, dass mehr Fachwissenschaftler in die Politik kommen, weil sonst immer so entschieden wird, dass die Erde eine Scheibe ist und... Und da einfach die, zum Teil eben die, na ja, eben die Entscheidungsbasis, wenn es sie denn in wissenschaftlicher Form gibt, da einfach zu kräftigen.“1210
Folgerichtig wurde Reimann zunächst einfaches Mitglied im Gesundheitsausschuss, nach der Bundestagswahl 2005 auch gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. Bei der Wahl setzte sie sich ausgerechnet gegen den ausgewiesenen Gesundheitsexperten und Seiteneinsteiger Karl Lauterbach durch, was Ausweis ihrer mittlerweile gefestigten Integration innerhalb der Fraktion war.1211 In dieser Funktion engagierte sie sich beispielsweise für einen kon-
1207
Vgl. Reimann, Carola: Biokonversion von Glycerin zu 1,3-Propandiol mit immobilisierten Zellen, Braunschweig 1999. 1208 Vgl. Interview Reimann, S. 2. 1209 Vgl. zur Schwierigkeit, politische Karrieren langfristig zu planen, Borchert/Stolz, 2003, S. 152. 1210 Interview Reimann, S. 3. 1211 Vgl. Feldenkirchen, Markus: Der Quertreiber, in: Der Spiegel, 20.02.2006.
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sequenten Nichtraucherschutz und eine Meldepflicht für Schönheitsoperationen bei Jugendlichen sowie gegen organisierte Sterbehilfe.1212 Reimann als „Netzwerkerin“ In Bezug auf die Struktur des „Netzwerks“ und die symbolische Funktion seines Sprecherkreises war Reimanns Werdegang in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zunächst soll noch einmal auf die bereits erwähnte Kohortenzugehörigkeit verwiesen werden, denn pikanterweise verdankte Reimann ihren Einzug in den Bundestag einem innerparteilichen Generationswechsel. Ernst Schwanhold, der vorherige Inhaber des Bundestagsmandats für die SPD in Braunschweig, gehörte mit dem Geburtsjahr 1948 gerade noch der 68er- beziehungsweise „Enkel“Generation an. Auch im Falle Reimanns also verband sich – wenn auch auf den ersten Blick nicht ganz so offensichtlich – wie bei anderen „Netzwerkern“ der persönliche politische Aufstieg mit der Vorgängergeneration. Zudem symbolisierte Reimann, wie sehr das „Netzwerk“ in seinem Handeln durch den Ort seines Entstehens und vornehmlichen Wirkens geprägt war. So waren Kompetenzen und inhaltliche Schwerpunkte der Gruppierung in der Regel durch die Ausschussmitgliedschaft einzelner „Netzwerker“ bestimmt. Damit richtete sich die Arbeit der Gruppierung nicht nur größtenteils in der thematischen Strukturierung nach der institutionellen Gestaltung des Bundestags, sondern unterlag auch dem Rhythmus des parlamentarischen Arbeitens. Aufgrund dessen fiel es dem „Netzwerk“ schwer, politische Generalisten auszubilden, wie es bei einem vornehmlich über Parteiämter verlaufenden Werdegang oder wie im Falle der „Enkel“-Generation bei einem Weg über die Landesregierungen leichter der Fall war. So stand die Arbeit Reimanns symbolisch für die Karrierewege vieler „Netzwerker“ und deren Versuch, aus Exekutive und Legislative heraus den Kurs der eigenen Partei zu beeinflussen. Die Biotechnologin wurde von Beobachtern als kenntnisreiche Fachpolitikerin bezeichnet. Allerdings versuchte auch sie wie die meisten anderen „Netzwerker“ nicht, ihr politisches Detailhandeln in den globaleren Zusammenhang eines sozialdemokratischen Gesellschaftsentwurfs zu stellen. Über ihren Fachbereich hinaus äußerte sie sich kaum zu politischen Themen. Die Sachliche: Politischer Stil Schließlich beeinflusste Reimanns naturwissenschaftliche Ausbildung ihren politischen Stil, der sie wiederum mit dem „Netzwerk“ verband. Als Naturwissenschaftlerin war ihr ein kühler, eher technischer Zugang zu politischen Prob1212
Vgl. Funk, Albert/Hanisch, Dieter/Woratschka, Rainer: Sterbehilfe – Ein Fall für die Koalition, in: Der Tagesspiegel, 03.07.2008; siehe auch Walkner, Bernhard: „Ein Verbot wäre ein klares Signal“, in: Stuttgarter Zeitung, 24.04.2008.
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lemen eigen, versuchte sie, Entscheidungen auf größtmöglicher, systematisch erfasster Datenbasis zu treffen: „Also, es lässt sich sicher nicht ablegen, dass man eher so ´nen systematischen Zugang hat, und oft ist es mir auch zu unsystematisch, wie man auch zu Entscheidungen kommt. [...] Dass man nicht alle zusammen, nicht alle Facetten eines Problems zusammen hat vorher, bevor man was entscheidet, sondern schneller entscheidet, weil, ja, weil da eben starke Persönlichkeiten sind, die dann eben auch Gewicht haben in solchen Entscheidungsprozessen.“1213
Die beschriebene Suche nach Information war es auch, die das „Netzwerk“ für Reimann unter anderem attraktiv machten. Die inhaltliche Diskussionsform der Donnerstagabende fanden bei Reimann Anklang. Hier sah sie die Möglichkeit, Hintergrundinformationen zu bekommen, die ihr in ihrer täglichen Arbeit nicht zugänglich waren, und für die im straff geordneten Abgeordnetenberuf kaum Zeit blieb.1214 Damit verwies Reimann in ihrer Begründung der Attraktivität des „Netzwerks“ auf dessen Informations- und Expertenfunktion. Demgegenüber begründete sie ihre Ablehnung von PL und SK, die sie vor Anschluss an das „Netzwerk“ besucht hatte, anders als ehemals bundespolitisch engagierte Jusos wie Lange, Griese oder Hauer weniger mit einer bereits während ihres Jusoengagements erfahrenen und abgelehnten politischen Kultur. Vielmehr suchte die Braunschweigerin eine Gruppierung, die den „offenen Meinungsaustausch“1215 pflegte, somit mehr auf Diskussion denn auf Personal- und Machtpolitik orientiert war. In dieser Argumentation lassen sich Anklänge an die Vertrauensfunktion des „Netzwerks“ finden, da der wert- und hierarchiefreie politische Meinungsaustausch in jedem Fall eines geschützten sozialen Diskursraumes bedurfte, wie ihn das „Netzwerk“ zu etablieren versuchte. Doch noch in einem weiteren Punkt verwies Reimann auf die Rolle des „Netzwerks“, vor allem für Parlamentsneulinge: die Unterstützung bei der Orientierung im parlamentarischen Berufsalltag. Die Biotechnologin war bereits aus ihrer Zeit in der Braunschweiger Juso-Politik mit Hubertus Heil bekannt, stammten doch beide aus demselben SPD-Bezirk.1216 So betreute Heil die Nachrückerin bei ihrem Einstig in den Bundestag und stand ihr bei Fragen zur Seite.1217 Darüber hinaus jedoch war es die Gruppierung des „Netzwerks“ insgesamt, die Reimann ihren beruflich-politischen Neubeginn erleichterte: „In der Fraktion selbst hat man ja, also, als Nachrücker relativ wenig Unterstützung. [...] es gibt da dann keinen Einführungskurs und auch niemand so, der das dann alles erläutern könnte. [...] Da gibt´s auch kein, würd ich sagen, kein, kein Konzept, 1213
Interview Reimann, S. 3. Vgl. ebd., S. 4. Interview Reimann, S. 4. 1216 Vgl. ebd., S. 7. 1217 Vgl. ebd., S. 7. 1214 1215
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nichts, wo man sagen könnte, so, wir haben hier das, um Leute bei diesem Einstieg zu begleiten. Und da hilft, also, und da ist auch sicher noch mal so ´n Aspekt gewesen, dass wir alle jünger sind, und dadurch schon mal aufgefallen sind.“1218
Nach ihrem Beitritt zum „Netzwerk“ wurde Reimann bei der ersten Wahl 2002 als eine von sechs „Netzwerk“-Sprechern gewählt, bis sie 2005 aus dem Gremium ausschied. Dabei definierte sie ihre Rolle mehr als nach innen organisierend denn als nach außen repräsentierend. So waren denn von ihr auch bis zur Übernahme der Position der gesundheitspolitischen Fraktionssprecherin auch kaum in nennenswerter Zahl oder über ihr ursprüngliches Themenfeld hinausgehende Presseverlautbarungen zu verzeichnen. Dennoch besaß Reimann durchaus eine repräsentative Funktion für die Gruppierung: Ihr pragmatisch-technisches Politikverständnis erklärte sich aus ihrem Ausbildungsgang und ging mit dem des „Netzwerks“ überein, ebenso wie die hohe Bedeutung von Experteninformationen, wie sie das „Netzwerk“ zu rekrutieren suchte. Über die generationelle Zugehörigkeit konnte die Braunschweigerin somit als „typische Netzwerkerin“ bezeichnet werden. 7.2.7 Siegmund Ehrmann – Der Bedächtige Siegmund Ehrmann stieß erst bei seiner Wahl in den Bundestag im September 2002 zu den „Netzwerkern“ – und wurde bereits gut zwei Jahre später an Stelle von Hans-Peter Bartels in den Sprecherkreis gewählt. Allein aufgrund dieser überraschenden Personalrochade verdient seine Person bei der Analyse des „Netzwerks“ besondere Beachtung, da seine Wahl und die mit ihm verbundenen Fähigkeiten, Einstellungen und Handlungsmuster Aufschluss geben können über Konfliktpunkte und Bedürfnisse der Gruppierung. Dabei war Ehrmann paradoxerweise zugleich eine Ausnahmeerscheinung des „Netzwerks“ – zumindest des Sprecherkreises – und stand dennoch symptomatisch und symbolisch für bestimmte Strukturen und Eigenschaften der Gruppierung. Eine Ausnahme? Sozialisation bei Jugendverband und Neuen Sozialen Bewegungen Bereits mit seinem Geburtsjahr 1952 stach Ehrmann aus der Runde des Sprecherkreises und aus der Ursprungskohorte des „Netzwerks“ heraus, war doch deren größter Anteil in den 1960er- und 1970er-Jahren geboren. Aus diesem Grund verlief seine politische Sozialisation auch unter anderen Bedingungen als jenen, die für die in den voraus gehenden Porträts geschilderten jüngeren „Netzwerker“ geltend gemacht wurden. In Moers im Ruhrgebiet aufgewachsen, war Ehrmann von Kindesbeinen an mit Politik vertraut: 1218
Ebd., S. 7.
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C. Untersuchungsteil „Ähm, ich bin immer schon sehr politisch geprägt auch durch das Elternhaus. […] Und mein Großvater war gewerkschaftlich sehr stark engagiert und mein Vater auch. Ebenfalls auch kommunalpolitisch. Und so bin ich schon von Kindesbeinen an mit politischen Fragestellungen konfrontiert gewesen und bin in Anführungszeichen in diesem Milieu sozialisiert worden.“1220
So verwunderte es auch nicht, dass Ehrmann bereits 1970, als 18-Jähriger, in die SPD eintrat. Sowohl die familiäre Nähe zur Sozialdemokratie als auch die Prägung durch das gesellschaftliche Umfeld des Kohlebergbaus, der Industriearbeiterschaft in seiner Heimat legten ihm eine solche parteipolitische Orientierung nahe. War der Beginn seines politischen Interesses also durch das Herkunftsmilieu bestimmt, so folgte Ehrmanns weiteres Interesse eher einer generationell determinierten Linie. Bereits seit Mitte der 1960er-Jahre war Ehrmann Mitglied des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM)1221, leitete dort Kinder- und Jugendgruppen und organisierte diverse Freizeiten. Von 1974 bis 1985 war er zudem Vorsitzender des CVJM Neukirchen. Über die Jugendarbeit hinaus kam er in jenen 1970er-Jahren in Kontakt mit der Friedens- und Umweltbewegung, was eine sozialisatorische Parallele zu vielen seiner späteren „Netzwerk“Kollegen bedeutete. Dabei gehörte der Moerser mit seinem Geburtsjahr 1952 zu jenen Kohorten, die sich in den 1970er-Jahren in großer Anzahl in den Neuen Sozialen Bewegungen engagierten und in der überwiegenden Mehrheit die Partei der Grünen bildeten. Zugleich aber waren dies jene Jahrgänge, in denen es der SPD bundesweit nur schwer gelang, Nachwuchs zu rekrutieren. Ehrmann war somit eine jener Ausnahmen, die versuchten, ihre postmaterialistische Politikeinstellung mit dem Engagement innerhalb der SPD zu verbinden.1222 Anders jedoch viele „Netzwerker“ vor allem der jüngeren Jahrgänge erfuhr Ehrmann seine wichtigsten sozialisierenden und politisierenden Erlebnisse nicht bei den Jusos, sondern ökumenisch und christlich ausgerichteten CVJM. Der Einsatz für die christliche Jugendarbeit bestimmte Ehrmanns Leben, statt auf Parteiveranstaltungen war er mehrere Abende pro Woche für den CVJM unterwegs.1223 Anders als die Jusos waren derartige Jugendverbände erheblich weniger machtorientiert, auch wenn selbstverständlich ebenso beim CVJM Führungsaufgaben zu vergeben waren. Der soziale Umgang in einem solchen Jugendverband war nichtsdestotrotz mehr auf gleichberechtigte Partizipation denn auf hierarchische Ordnung und machtbasierte Interessendurchsetzung ausgerich-
1220
Interview Ehrmann, S. 1. Vgl. http://www.bundestag.de/mdb/bio/E/ehrmasi0.html (zuletzt aufgerufen 13.11.2008). 1222 Vgl. Interview Ehrmann, S. 1. 1223 Vgl. ebd., S. 2. 1221
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tet.1224 Insofern erarbeitete Ehrmann sich seine politischen Grundeinstellungen nicht innerhalb der SPD beziehungsweise der Jungsozialisten, sondern er versuchte die außerhalb der Partei, in seiner sozialen und gesellschaftlichen Arbeit beim CVJM und der Ökologie- und Friedensbewegung, gewonnenen Erkenntnisse in der SPD umzusetzen. Analog dazu begann Ehrmann parteipolitisches Engagement im engeren Sinne und damit die Übernahme von Ämtern erst Mitte der 1980er-Jahre. Im Erwachsenenalter wurde er zunächst als sachkundiger Bürger Mitglied des Jugend- und Sportausschusses in Neukirchen-Vluyn, bevor er 1984 in den Stadtrat einzog.1225 Ehrmann lebte daher nicht wie viele seiner jüngeren „Netzwerker“Kollegen mit Beginn des Jugend- oder jungen Erwachsenenalters für, in manchen Fällen auch von der Parteipolitik, sondern seine Leidenschaft galt zunächst der kirchlichen Jugendarbeit und den Zielen der Neuen Sozialen Bewegungen. Erst die Ansprache von außen und der Wunsch, erkannte Probleme mit entsprechenden Befugnissen lösen zu wollen, führten ihn in (partei-)politische Ämter. Noch in einem weiteren soziodemografischen Merkmal unterschied sich Ehrmann von der Mehrzahl der „Netzwerker“, in jedem Fall von seinen Kollegen im Sprecherkreis: Er besaß kein Abitur. Stattdessen absolvierte er 1968 die Mittlere Reife und im Anschluss eine Ausbildung in der Stadtverwaltung in Moers. Erst über den zweiten Bildungsweg besuchte er eine Fachhochschule, die er 1973 als Diplom-Verwaltungswirt abschloss. Somit blickte er, anders als viele „Netzwerker“, zu Beginn seines eigentlichen politischen Einsatzes in den 1980er-Jahren bereits auf eine lange Berufserfahrung im politiknahen Bereich des öffentlichen Dienstes zurück. Vertreter der älteren Generation: Ehrmann und das „Netzwerk“ Ehrmann stieg nur langsam in der Parteihierarchie auf, wurde 1991 Vorsitzender des Ortsvereins Neukirchen-Vluyn und kam schließlich 2001 ins Gespräch für die Kandidatur zum Bundestag im neu zugeschnittenen Wahlkreis Kreefeld IIWesel II.1226 Als direkt gewählter Abgeordneter schloss er sich in Berlin rasch dem „Netzwerk“ an. Dabei führte er als Gründe sowohl bestehende Bekanntschaften mit Mitgliedern der Gruppierung als auch deren Diskussionsstil an: „Und ich habe hier schon im Vorfeld der Wahl Kurt Bodewig kennen gelernt, mich viel mit ihm ausgetauscht, auch einige andere aus Nordrhein-Westfalen, und fand die Art und Weise, wie dort auch Dinge diskutiert werden, wie die Diskussionen geführt werden, die fand ich sehr gewinnend. […] hab dann aber erst nach meiner 1224
Vgl. zu den Maximen sozialen Lernens im Jugendverband Lehmann, Tobias/Mecklenburg, Katharine: Jugendverbände als biografisch bedeutsame Lebensorte, Baltmannsweiler 2006, besonders S. 56 f. 1225 Vgl. Interview Ehrmann, S. 1 f. 1226 Interview Ehrmann, S. 2.
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C. Untersuchungsteil Wahl so ´ne Sightseeing-Tour gemacht. Bin bei der PL gewesen, bei den Seeheimern gewesen, hab mich dort, ähm, umgesehen, und fand letztendlich das, was inhaltlich bei den „Netzwerkern“, ähm, lief, beziehungsweise läuft, vor allem aber auch die Art und Weise des Miteinanderumgehens, fand ich sehr angenehm.“1227
Ehrmann verweist in seinen Begründungen für die Nähe zum „Netzwerk“ ausschließlich auf persönliche Kontakte und die Dimension der politischen Kultur. Inhaltliche Positionierungen waren offenbar nicht ausschlaggebend. Aufgrund der oben beschriebenen sozialen und politischen Herkunft des Moersers leuchtete es zudem ein, dass ihm ein diskursiv-partizipatives Vorgehen und eher flache Organisationshierarchie, wie sie vom „Netzwerk“ angestrebt wurden, mehr ansprachen als die starreren Strukturen und etablierten Diskussionsmuster des Seeheimer Kreises oder der Parlamentarischen Linken.1229 Dennoch war Ehrmanns Wahl in den Sprecherkreis zu Beginn des Jahres 2005 überraschend, auch für die bisherigen Sprecher.1230 Die Umstände der Wahl wurden bereits geschildert, daher soll an dieser Stelle ein Blick auf die Person Ehrmanns und jene Eigenschaften gerichtet werden, um derentwillen er in das Gremium entsandt wurde. Zunächst ist zu beachten, dass Ehrmann selbst sich nicht zur Kandidatur drängte, sondern im Vorfeld von einigen anderen Abgeordneten gebeten worden war.1231 Offenbar sollte er als Vertreter einer älteren Generation aber auch als Repräsentant außerpolitischer Berufserfahrung den Sprecherkreis verstärken. Ehrmann verkörperte jene „lost generation“ der bundesdeutschen Sozialdemokratie, die trotz postmaterialistischer Grundorientierungen nicht zu den Grünen, sondern zur SPD kam. Dies waren zugleich jene Jahrgänge, die nach dem offiziellen Aussetzen der Altersgrenze nach der Bundestagswahl 2002 zusätzlich zu den jüngeren Jahrgängen zum „Netzwerk“ gestoßen waren. Die Erweiterung des „Netzwerks“ konnte Ehrmann somit biografischgenerationell symbolisieren1232 und daher den Vorwurf entkräften, die Gruppierung bestehe nur aus nahezu jugendlichen Berufspolitikern. Doch auch in inhaltlicher Hinsicht bedeutete Ehrmann eine Veränderung des Führungsgremiums. Von den bis 2002 amtierenden Sprechern waren mit Hauer, Heil und Lange drei Vertreter dem Fachbereich Wirtschaft und Finanzen zuzurechnen. Nicht zuletzt die auf diesem Gebiet mehrheitlich auf Liberalisierung zielenden Vorschläge des „Netzwerks“ hatten zum Ruf der Gruppierung, innerparteilich rechts einzuordnen zu sein, beigetragen. Demgegenüber erweiterte Ehrmann die inhaltliche Bandbreite des Sprecherkreises um das bislang nicht vertretene Themenfeld 1227
Ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 3. Vgl. als ein Beispiel der Verwunderung Interview Reimann, S. 23 f. 1231 Vgl. Interview Neumeyer, S. 29. 1232 Vgl. zu dieser Deutung auch Interview Reimann, S. 22. 1229 1230
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Kultur. Der Moerser war seit Beginn seines Bundestagsmandats Mitglied im Ausschuss für Kultur und Medien, hatte in seiner Heimatstadt 1994 bis 2002 als Kulturdezernent gewirkt.1233 Den wohl gravierendsten, entscheidenden Kontrast bildete Ehrmann in einem weiteren Punkt zu dem an seiner Statt aus dem Gremium ausscheidenden Bartels. So galt Bartels zwar als „intellektueller Kopf“ der Gruppierung mit Neigung zu unabgesprochenen inhaltlichen Vorstößen in der Öffentlichkeit. Dies verärgerte nicht wenige „Netzwerker“, die ihm teils persönliches Profilierungsstreben vorgewarfen. Von all diesem war Ehrmann weit entfernt. Sein politischer Weg war nicht von persönlichem Ehrgeiz getrieben gewesen, sein Aufstieg in der Partei vollzog sich zwar stetig, aber langsam. Ehrmann suchte weniger die Zuspitzung denn die Vermittlung, galt als guter Zuhörer und ausgleichender Charakter.1234 All dies waren Eigenschaften, die dem Bestreben vieler „Netzwerker“ nach friedfertiger Konsensfindung entgegen kamen. Dennoch brachte auch Ehrmann einige Kritik gegenüber dem „Netzwerk“ vor: Er wünschte sich teilweise eine deutlichere Organisation, eine größere Verbindlichkeit der einzelnen Teilnehmer oder auch präzisere inhaltliche Vorschläge. Insofern stand er für eine interne „Netzwerk“-Strömung, die sich ein schärferes Profil der Gruppierung wünschte.1235 Doch brachte er all diese Bedenken mit großer persönlicher Zurückgenommenheit und vermittelnder Toleranz vor. So stand der Moerser symbolisch sowohl für die generationelle Erweiterung der Gruppierung als auch für einen leise vermittelnden Politikstil. 7.2.8 Ute Vogt – Der verglühte Komet Der Werdegang der baden-württembergischen Ute Vogt scheint viele der Vorurteile zu bestätigen, die gegenüber „Netzwerkern“ bei politischen Gegnern ebenso wie in den Medien kolportiert wurden. Innerhalb von nur zehn Jahren stieg Vogt von der Wieslocher Stadträtin und Juso-Landesvorsitzenden zur Bundestagsabgeordneten, Vorsitzenden des Bundestagsinnenausschusses, Landesvorsitzenden und Spitzenkandidatin der SPD bei den Landtagswahlen 2001 auf. Der damalige Bundeskanzler Schröder sprach seine Anerkennung ob dieser Leistungen aus1237 und versuchte, Vogt durch die Berufung zur Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesinnenministerium zu fördern. Doch hatte Vogt auch stets die Kritik 1233
Vgl. http://www.siegmund-ehrmann.de/persoenlich/lebenslauf.htm (zuletzt aufgerufen am 02.04.2009). 1234 Vgl. zu dieser Deutung beispielhaft Interview Reimann, S. 23. 1235 Vgl. Interview Ehrmann, S. 20.
Vgl. Hartwig, Gunther: Einen Ankerplatz an der Spree will Ute Vogt behalten, in: Stuttgarter Nachrichten, 15.02.2001.
1237
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begleitet: Sie sei zu schnell, zu ehrgeizig emporgestiegen, in Land und Fraktion zu wenig verankert und habe nie ihr inhaltliches Profil deutlich gemacht.1238 Besonders das Urteil des übereifrigen, karriereorientierten Ehrgeizes bei gleichzeitiger inhaltlicher Leere wurde häufig auch über die Gruppierung der „Netzwerker“ allgemein gefällt. Und in der Tat schien Vogt auf dem bisherigen Gipfelpunkt ihrer Karriere all ihre Kritiker zu bestätigen: Die Landtagswahl 2006, in die sie ihre Partei abermals als Spitzenkandidatin führte, verlor sie mit einem niederschmetternden Ergebnis von 25,2% der Stimmen.1239 Ihr Bundestagsmandat und ihre Verpflichtungen in der Bundesregierung hatte sie bereits kurz zuvor abgelegt.1240 Den Vorsitz der baden-württembergischen SPD-Landtagsfraktion hatte sie nach ihrem Einzug in den Landtag 2006 gerade einmal anderthalb Jahre inne, und auch der Parteivorsitz war im Jahr 2008 ein nur noch auf begrenzte Zeit geliehenes Am.1241 Damit war das junge Talent in kürzester Zeit fast wieder dort angekommen, wo es ein gutes Jahrzehnt zuvor gestartet war. Was also erklärt diese auf den ersten Blick alle negativen Vorurteile manifestierende politische Laufbahn? Vom Ministrantenamt zu den Jusos – Die sozialisatorischen Wurzeln Als Ute Vogt 1964 als eine von zwei Töchtern der Familie Vogt geboren wurde, betrug der Altersabstand zu ihrer älteren Schwester zehn Jahre. Als ein klassisches Nachzüglerkind profitierte Vogt von den von der Schwester erkämpften Freiheiten, was die von den Eltern verfolgte Erziehung zur Selbstständigkeit verstärkte: Als die ältere Schwester mit 18 Jahren das Haus verließ, besuchte die jüngere sie oft in ihrer Wohngemeinschaft und bekam dort Einblicke in die linksalternative Politszene der beginnenden 1970er-Jahre.1242 Offenbar hatten Vogts Eltern ihrer jüngsten Tochter von Beginn an ein hohes Maß an Eigenverantwortung zugemutet, aber auch zugetraut.1243 Daher wurde das Streben nach Eigenständigkeit, das Bedürfnis, Dinge aus eigener Kraft zu erreichen, ein konstantes Merkmal Vogts. 1238
Vgl. Höher, Sabine: „Die Leute haben sich gefragt, ob ich den Job kann“, in: Welt am Sonntag, 18.07.1999; siehe auch Fischer, Klaus/Krauß, Bärbel: „Aber gewonnen ist gewonnen“, in: Stuttgarter Zeitung, 12.07.1999. 1239 Vgl. Gabriel, Oscar W./Völkl, Kerstin: Die baden-württembergische Landtagswahl vom 26. März 2006: Schwarzes Land mit bunten Tupfern, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (2007), S. 16-33. 1240 Vgl. Rieger, Arnold: „Näher bei den Menschen“, in: Stuttgarter Nachrichten, 24.09.2005. 1241 Vgl. Rieger, Arnold: Angrifflust, Selbstkritik und Bitte um Geduld: Ute Vogt erkämpft sich Bewährungszeit, in: Stuttgarter Nachrichten, 22.09.2007; siehe auch Feldenkirchen, Markus: Hoffnung a.D., in: Der Spiegel, 17.09.2007. 1242 Vgl. Vogt, Ute/Rühmkorf, Eva: „Wir sind die Besseren“. Starke Frauen in der Politik. München 2002, S. 37 f. 1243 Vgl. ebd., S. 44.
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Ute Vogt erfuhr eine recht gesicherte, unspektakuläre Kindheit1244, wie sie wohl insgesamt ein dominanter Typus in der Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit war.1245 Die Familie lebte in materiell gesicherten Verhältnissen, die Beziehung zu den Eltern war intakt. Sie vermittelten der jungen Ute Vogt das Gefühl, stets für sie zu sorgen und stärkten auf diese Weise ihr Selbstbewusstsein. Die aufregendsten Berichte aus Vogts Kindheit waren dann auch schlechte Schulnoten in Physik und das unerlaubte „Frisieren“ einer Mofa, welche die Wieslocherin mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr.1246 Dennoch sticht eine Erzählung aus den harmonischen Rückerinnerungen heraus, die unter Umständen Vogts Mut bezüglich ihrer Karriere plausibler macht: In ihrer Jugendzeit verstarben insgesamt vier Gleichaltrige aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Daraus zog Vogt für sich den Schluss, Entscheidungen niemals aufschieben zu dürfen und aus dem Augenblick heraus, ohne Risikoscheu zu leben.1247 Neben dem bereits beschriebenen Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen kristallisierte sich Vogts Hartnäckigkeit bereits in frühen Jahren heraus. Noch als gestandene Bundestagsabgeordnete schilderte Vogt nicht ohne gewissen Stolz immer wieder die Episode, wie sie entgegen aller Konventionen den Wieslocher Pfarrer durch beharrliches Nachbohren dazu brachte, sie zur ersten weiblichen Messdienerin zu ernennen.1248 In ähnlicher Weise setzte sie sich bereits als Siebenjährige gegen die eigenen Eltern durch, als sie nach dem Pflastern des gesamten Hauses mit „Ich-will-ein-Meerschweinchen“-Plakaten das ersehnte Haustier erhielt.1249 Allerdings ging diese teilweise an Trotz grenzende Beharrlichkeit nicht unbedingt mit lebensplanerischer Zielstrebigkeit einher. Die Wahl des Jurastudiums beispielsweise war weniger von einem inneren Drang getrieben ls vom Zufall bestimmt.1250 Ebenso zeugten das Studium selbst wie zuvor auch die Schulleistungen nicht von übertriebenem Ehrgeiz: Ute Vogt kam zurecht, eine Einser-Kandidatin war sie jedoch nicht.1251 Die späteren berufspolitischen Entscheidungen – etwa das Vorpreschen bei der Wahl zur Landesvorsitzenden oder zur Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl 2001 – rührten daher offensichtlich weniger aus einer langfristigen Strategie denn als aus einer impulsiven Entscheidung im betreffenden Moment. Sicher, Ute Vogt war nie ohne Ehrgeiz, füllte
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Vgl. ebd., S. 43 f. Vgl. Preuss-Lausitz/Zeiher, 1995, in: Preuss-Lausitz, 1995, S. 24. 1246 Vgl. Vogt/Rühmkorf, 2002, S. 39; siehe auch Moser, Ulrike: Die Nette, in: Die Woche, 16.03.01. 1247 Vgl. ebd., S. 44 f. 1248 Vgl. Platen, Heide: Die Kandidatin der Herzen, in: Die Tageszeitung, 31.01.01; siehe auch o. V.: „Kann ich das, ist das keine unwirkliche Vorstellung?“, in: Stuttgarter Zeitung, 27.11.2000. 1249 Vgl. o. V.: Den Teufel aus dem Amt jagen, in: Brigitte, 07.03.01. 1250 Vgl. Vogt/Rühmkorf, 2002, S. 40 bzw. S. 45. 1251 Vgl. ebd., S. 45 f. zum Studiumsverlauf und S. 39 f. zur Schulsituation. 1245
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auch gerne Führungspositionen aus. Doch schien dieser Ehrgeiz eher in konkreten Situationen entfacht worden zu sein als einem strategischen Kalkül zu folgen. Ähnlich wie in anderen Lebensbereichen bereitete das Elternhaus für Ute Vogt auch im politischen Bereich Wege, die zwar das Interesse weckten und förderten, jedoch keineswegs einengten: „Also, mein Elternhaus war immer politisch, aber nie parteipolitisch. Es gab immer zu Hause Diskussionen, viel über aktuelle Politik, aber Parteipolitik hat nie eine Rolle gespielt. […] Aber es, es ging immer, also Politik war bei uns Bestandteil des Alltags, aber mit Parteien hatte bei uns niemand was am Hut. Also, es gab keine klassisch sozialdemokratische Prägung.“1252
Ute Vogt begann ihr politisches Engagement als Klassensprecherin und in der Schülermitverwaltung.1253 Wie bei den meisten anderen führenden „Netzwerkern“ fiel auch bei der Wieslocherin das erste politische Interesse in die frühen 1980er-Jahre und stand somit in Bezug zur Friedensbewegung, in deren Umfeld Vogt sich zunächst an örtlichen Friedensgruppen beteiligte.1254 Obwohl sie sich damit ebenso wie über das politische Engagement ihrer älteren Schwester im Umfeld grün-alternativer Ideen befand, und auch der organisatorische Schritt zum Eintritt bei den Grünen sicher nahe gelegen hätte, entschied sich Vogt 1984 für die Sozialdemokratie: „Also, ich war in Kontakt auch mit Grünen damals, aber ich muss sagen, die entsprachen mir überhaupt nicht, weil das waren alles so... Ich hab damals immer gesagt, das sind so betroffene Menschen. Und es war immer alles ganz schrecklich, und es wurde die Krise beschrieben, aber man hatte nicht das Gefühl, da wird richtig was angepackt und was getan. Und da war mir die SPD schlichtweg lebensnäher. Es kommt dazu, dass ich auch kirchlich engagiert war. […] Und von dem Zugang her hatte ich auch ´ne sehr starke Affinität zu allem, was so sozialpolitische Themen angeht. […] Und das war eigentlich der Punkt, der bei den Grünen überhaupt nicht stattfand. […] und eben die persönlichen Kontakte vor Ort. Dass eben schlichtweg auch die Jusos dort diejenigen waren, mit denen ich viel unkomplizierter arbeiten konnte als mit den Grünen“1255
Der grundsätzlich optimistischen und zupackenden Vogt kam jene grüne politische Kultur, die sie als Betroffenheitshaltung beschreibt, nicht entgegen. Damit offenbarte Vogt damit aber eine Grundhaltung der politischen Kultur, wie sie später im „Netzwerk“ geteilt wurde: Politik sollte Spaß machen. Darüber hinaus berief sich Vogt bei der Begründung ihres Parteieintrittes auf ein typisches Argument von „Netzwerkern“: Trotz aller inhaltlichen Überschneidungen im Bereich der Umwelt- und Friedenspolitik widersprach die Unterrepräsentanz sozialpolitischer Themen dem Eintritt in die junge Ökopartei. Dieses Bedürfnis nach 1252
Interview Vogt, S. 1. Vgl. ebd., S. 1. 1254 Vgl. Vogt/Rühmkorf, 2002, S. 47 f. 1255 Interview Vogt, S. 2. 1253
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sozialem Engagement und sozialer Gerechtigkeit fand auch Vogt eher bei den Sozialdemokraten vertreten. Zudem nennt sie persönliche Verbindungen, die sie zur SPD und den Jungsozialisten führten, ebenso wie das Argument, mit den Jusos habe sie unkomplizierter arbeiten können. Insofern existierten wohl auch in Vogts Fall organisationskulturelle Befindlichkeiten oder Vorstellungen, die eher kongruent mit der Sozialdemokratie denn mit den Grünen waren. Wie andere „Netzwerker“ nannte auch Ute Vogt mit Erhard Eppler und Oskar Lafontaine zwei Vertreter der postmaterialistisch inspirierten Sozialdemokratie als damals von ihr verehrte Politiker.1256 Und folgerichtig engagierte sie sich bei den Jungsozialisten auch so „lebensnah“, wie sie es sich gewünscht hatte, im Bereich Umweltschutz und Friedenspolitik, indem sie beispielsweise Sumpfgebiete säuberte.1257 In besonderer Weise entsprach Ute Vogt mit ihrem Interesse für friedensund umweltpolitische Belange dem thematischen Zeitgeist der badenwürttembergischen Sozialdemokratie in den ausgehenden 1970er- und beginnenden 1980er-Jahren. Unter dem Landesvorsitzenden Erhard Eppler hatte sich die Partei postmaterialistischen Themen gewidmet. Dies bedeutete sowohl das aktive Eintreten gegen das im südbadischen Wyhl geplante Atomkraftwerk und für eine sozialökologische Wirtschaftspolitik, als auch die inhaltliche Opposition gegenüber der SPD-geführten Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt.1258 So stand die junge Wieslocherin mit ihrem friedens- und umweltpolitischen Interesse kaum in Opposition zur eigenen Partei. Inhaltlich hatte sich Vogt daher – zumindest an der eigenen Landespartei – wenig reiben müssen. Unter Umständen erklärt auch dieser Umstand, warum es Vogt in späteren Jahren versäumte, thematische Wegmarken zu setzen und sich intensiv ein spezielles Politikfeld zu erarbeiten. Kometengleicher Aufstieg: Vom Wieslocher Kreistag ins Bundesinnenministerium Ute Vogt stieg dann auch relativ geräuschlos in der Hierarchie des Jugendverbandes auf – etwaige Skandale oder brisante Vorstöße sucht man vergeblich. Bereits 1989 wurde sie für die SPD Stadträtin in Wiesloch/Rhein-Neckar-Kreis und behielt dieses Amt bis 1994.1260 Ebenfalls 1989 zog sie in den Landesvor1256
Vgl. Platen, Heide: Die Kandidatin der Herzen, in: Die Tageszeitung, 31.01.01; siehe auch Interview Vogt, S. 9. Ebd., S. 2; vgl. zur friedenspolitischen Dimension auch ebd., S. 3. 1258 Vgl. Glück, Horst: Die SPD, in: Eilfort, 2004, S. 75-104, besonders S. 81 f. 1260 Vgl. http://www.ute-vogt.de/index.php?mod=content&menu=601&page_id=1897 (zuletzt aufgerufen am 08.05.2008); siehe auch Scharf, Andreas: Die junge Ute Vogt will die alte SPD wachküssen, in: Stuttgarter Nachrichten, 16.07.1999; Höher, Sabine: „Die Leute haben sich gefragt, ob ich den Job kann“, in: Welt am Sonntag, 18.07.1999. 1257
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stand der Jusos in Baden-Württemberg ein, deren Sprecherin sie von 1991 bis 1994 war. 1993 rückte sie in den Landesvorstand der SPD auf und wurde 1995 stellvertretende Landesvorsitzende. Als sie 1994 auch noch über die Landesliste Baden-Württemberg mit gerade 30 Jahren in den Bundestag einzog1261, wurde Vogt endgültig zum potenziellen Kreis politischer Nachwuchstalente gezählt und stand fortan vermehrt im medialen Scheinwerferlicht.1262 Beim Wiedereinzug in den Bundestag 1998 gelang es ihr mit Unterstützung der für die SPD bundesweit günstigen Ausgangslage gar, das Direktmandat im Wahlkreis Pforzheim, einer langjährigen CDU-Domäne, zu erreichen1263 – wenngleich sie mit dem vierten Platz auf der Landesliste der SPD ohnehin gut abgesichert gewesen war1264. Bei Betrachtung des Karrierewegs bis zu dieser Stelle fallen drei Merkmale ins Auge: Zunächst beschritt Ute Vogt, erstens, eine klassische „Ochsentour“1265 und arbeitete sich kontinuierlich vom einfachen Jugendverbandsmitglied über ein kommunales Mandat, Verbands- und Parteifunktionen auf Bezirks- und Landesebene zu einem Mandat im Bund vor. Bis auf die Tatsache, dass sie mit 30 Jahren 1994 für den Durchschnitt der SPD-Bundestagsfraktion recht jung war, weist Vogt daher eine klassische und im Grunde unspektakuläre Parteikarriere auf. Zum zweiten erarbeitete Vogt sich diesen Aufstieg durch kontinuierliche Arbeit, örtliche und landesweite Netzwerke – inklusive des wichtigen Protektors Ulrich Maurer, damals Landesparteivorsitzender1266 – und vermutlich durch einen gewissen Frauenbonus in einem männlich dominierten Landesverband. Zum dritten aber ist eklatant, dass Vogt in all jenen Jahren inhaltlich recht unauffällig blieb: Weder als Juso-Landesvorsitzende noch im Landesvorstand machte sie inhaltliche Vorstöße, die Aufmerksamkeit, gar Streit provoziert hätten.1267 Im Gegenteil, gerade als Jusolandesvorsitzende Mitte der 1990er-Jahre strebte sie eine organisatorische Konsolidierung und realpolitische Ausrichtung des Verbands an.1268 Das Verhältnis zur SPD verbesserte sich während dieser Zeit, und durch geschickte Absprachen, inhaltliche Zusammenarbeit mit den parteilichen Arbeitsgemeinschaften und verstärkten Einsatz bei Kommunalwahlen konnten die Jusos auch in personellen Fragen stärkeren Einfluss innerhalb der SPD ausüben.1269 Die Strategie war dabei – im Gegensatz zur konflikt- und 1261
Vgl. Reinhardt, Peter: Knappe Mehrheit für Generationswechsel, in: Handelsblatt, 12.07.1999. Vgl. zu Vogts Bundestagsmandat o. V.: „Ziemlich alt“, in: Der Spiegel, 08.09.1997 1263 Vgl. Reinhardt, Peter: Knappe Mehrheit für Generationswechsel, in: Handelsblatt, 12.07.1999. 1264 Vgl. Parteiarchiv der SPD: X-21-Kandidatenaufstellung (P-bio). 1265 Kistler, Petra: Junge Frau mit feuerroter Mähne, mitreißendem Lachen – und Biß, in: Badische Zeitung, 12.07.1999. 1266 Vgl. zum kooperativen Verhältnis zu Maurer Vogt/Rühmkorf, 2002, S. 56 f. 1267 Vgl. Reinhardt, Peter: Knappe Mehrheit für Generationswechsel, in: Handelsblatt, 12.07.1999. 1268 Vgl. hierzu und zum Folgenden Glück, 2004, in: Eilfort, 2004, S. 172-183, hier S. 177 f. 1269 Vgl. hierzu auch Vogt/Rühmkorf, 2002, S. 57. 1262
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medienorientierten Aufstiegsmethode der „Enkel“ – auf Kooperation und Verhandlung angelegt. Dennoch: Ute Vogt setzte in jenen Jahren keine – nach außen – erkennbaren Schwerpunkte oder inhaltlichen Wegmarken. Auch als sich die Wieslocherin 1999 überraschend für den Landesparteivorsitz bewarb, war sie ein thematisch recht unbeschriebenes Blatt. Zudem war sie offensichtlich im Gefüge der baden-württembergischen SPD nicht als ein zukünftiger Machtfaktor vorgesehen.1270 In diesem Überraschungsmoment offenbart sich zugleich einer der drei Grundpfeiler, welche als Trias das Aufstiegsmuster Ute Vogts darstellten: Vogt kandidierte sowohl für den Landesvorsitz 1999 als auch für die Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl 2001 für Außenstehende und Parteigenossen unerwartet.1272 Obwohl Siegmar Mosdorf sie im Falle des Parteivorsitzes bereits als mögliche Kandidatin ins Gespräch gebracht hatte1273, und obwohl es nach der allgemeinen Funktionslogik innerparteilicher Nominierungsprozesse nicht völlig hätte überraschen dürfen, dass eine Landesvorsitzende auch Anspruch auf die Spitzenkandidatur bei einer Landtagswahl erheben könnte, waren die jeweiligen Mitstreiter doch in beiden Episoden überrascht. Die Taktik des unerwarteten Vorstoßens barg für Vogt daher sowohl den Vorteil, dass ihre Kontrahenten unvorbereitet reagieren mussten, als auch, dass sie selbst sehr wohl kalkuliert in die Auseinandersetzung gehen konnte. Dies implizierte, dass die Nachwuchspolitikerin von ihren Gegner zumeist unterschätzt wurde.1275 Der zweite Eckpfeiler im Aufstiegsweg Ute Vogts bestand darin, dass sie zumeist in Kampfkandidaturen gegen ältere Männer als Kontrahenten antrat. Vogt selbst erkennt diese Tatsache durchaus selbst als ein Merkmal ihres Aufstiegs: „Also ich hab so in meinem Werdegang bislang eigentlich jede Position, jetzt außer das Staatssekretärsamt, auch in Kampfkandidatur erobert. Und, ähm, das war oft so, dass man gar nicht mit mir gerechnet hatte. Das war immer ganz spannend. [...] Aber es waren immer harte Auseinandersetzungen, meistens mit Männern um die fünfzig.“1276
Durch das so gewonnene, konträre Spiegelbild konnte sie sich in einer als ausweglos oder verfahren empfundenen Situation als junge Hoffnungsträgerin stilisieren. Obwohl Vogt stets betonte, sie pflege einen offenen und auf gleichberechtigte Kooperation zielenden Führungsstil, wandte sie zur Erlangung einer Führungsposition gewissermaßen auf Konflikt und Zuspitzung setzende Macht1270
Vgl. Platen, Heide: Die Kandidatin der Herzen, in: Die Tageszeitung, 31.01.01. Vgl. Interview Vogt, S. 5. 1273 Vgl. Krauß, Bärbel: „Das stand so nicht auf der Tagesordnung“, in: Stuttgarter Zeitung, 22.03.1999. 1275 Vgl. Vogt/Rühmkorf, 2002, S. 55. 1276 Interview Vogt, S. 5. 1272
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techniken an, wie „Netzwerker“ sie eigentlich bei der Vorgängergeneration kritisiert hatten. Darüber hinaus profitierte Vogt sowohl bei der Übernahme des Landesvorsitzes als auch im Fall der Spitzenkandidatur zur Landtagswahl 2001 von der Krise ihrer Partei.1277 Als Vogt sich 1999 in einer Kampfkandidatur gegen Wolfgang Drexler um den Parteivorsitz bewarb, herrschte im Landesverband große Unzufriedenheit. Der Landesparteivorsitzende Ulrich Maurer hatte seine Partei in eine tiefe Krise geführt, die SPD bei der Landtagswahl 1996 lediglich ein Viertel der Wählerstimmen erreicht1278. Vogts Gegenkandidat Drexler galt aufgrund seiner Parteikarriere und seines Alters als zu sehr mit der Parteivergangenheit verbunden, während die jungdynamische Vogt den Neubeginn symbolisierte. Zudem war es Vogt gelungen, sich die Unterstützung zweier wichtiger Arbeitsgemeinschaften der Partei, der AsF und der Jusos, zu sichern, so dass sie die Wahl – wenn auch knapp – gewann.1279 Ähnlich stellte sich die Situation bei der Urwahl zur Spitzenkandidatur im Jahr 2000 dar. Vogts Gegenkandidat Siegmar Mosdorf galt ebenso wie zuvor Drexler als Vertreter einer älteren Politikergeneration und mit der badenwürttembergischen SPD eng verwoben. Vogt dagegen profitierte vom Rückenwind des erst kürzlich erworbenen Parteivorsitzes und nutzte diesen durch intensive Basisarbeit als Sprungbrett zur Spitzenkandidatur.1280 Dabei kam ihr das Modell der Urwahl entgegen, galt sie doch auch damals schon im persönlichen Gespräch als überzeugend, einnehmend und sympathisch. Tatsächlich ist anzunehmen, dass Vogts Chancen auf einem regulären Parteitag zur Spitzenkandidatin gewählt zu werden, schlechter gestanden hätten. Ihre Chance lag durch ihr einnehmendes Wesen im direkten Kontakt mit Parteimitgliedern und in einem Zweikampf mit einem den idealen Widerpart verkörpernden Gegner.1282 Neben dem Überraschungsmoment und dem Nutzen einer antithetischen Gegnerfolie stellte die Protektion durch etablierte und in der Hierarchie höher stehende Förderer schließlich den dritten Pfeiler des Vogtschen Aufstiegs dar. In der baden-württembergischen SPD war es lange Jahre Ullrich Maurer, der Vogt besonders auf dem Weg zum Landesparteivorsitz unterstützend verbunden war.1283 Nach der Landtagswahl 2001 deklarierte schließlich der damalige Bun1277
Vgl. Kistler, Petra: Junge Frau mit feuerroter Mähne, mitreißendem Lachen – und Biß, in: Badische Zeitung, 12.07.1999. 1278 Vgl. Schwarz, Thomas: Landtags- und Bundestagswahlen in Baden-Württemberg 1952-2002, in: Eilfort, 2004, S. 230-243, hier S. 239 f. 1279 Vgl. Reinhardt, Peter: Knappe Mehrheit für Generationswechsel, in: Handelsblatt, 12.07.1999; ebenso Fischer, Klaus: Vogt: Landtagswahl 2001 ohne Koalitionsaussage, in: Stuttgarter Zeitung, 12.07.1999. 1280 Vgl. Interview Vogt, S. 5 f. 1282 Vgl. Moser, Ulrike: Die Nette, in: Die Woche, 16.03.01 1283 Vgl. Knaup, Horand: Freude an der Frau, in: Der Spiegel, 14.08.2000.
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deskanzler Schröder die junge Baden-Württembergerin als förderungswürdig. Er bereitete ihr den Weg zunächst zum Vorsitz des Innenausschusses im Bundestag, später zum Staatssekretärsamt im Bundesinnenministerium.1285 Hatte Vogt sich mit der Wahl in den Landesvorsitz und zur Spitzenkandidatin von Maurer freigeschwommen, gelang ihr dies gegenüber Schröder und vor allem gegenüber ihrem Vorgesetzen im Innenministerium, dem damaligen Innenminister Otto Schily, nicht. Im Ministerium bot sich für Vogt wenig Möglichkeit zur inhaltlichen Profilierung, da sie zu stark durch Vorgaben des Ministers eingebunden war.1286 Nur selten versuchte sie, gegen die Linie des Hauses aufzubegehren.1287 Auch konnte sie ihren im Landtagswahlkampf 2001 erworbenen Nimbus als telegener Medienliebling nicht halten, da sie als Staatssekretärin wenig schillernde Besuche, wie etwa des Tanzturniers um den Pforzheimer Stadtpokal, zu absolvieren hatte.1288 Kurzum: Konnte Vogt die Unterstützung Maurers als Machtressource für ihren weiteren Aufstieg nutzen, so diente ihr die Protektion durch den Kanzler nur temporär. Sie wurde zwar Mitglied der Bundesregierung, kletterte damit auf der Karriereleiter nach oben. Langfristig allerdings bedeutete diese Förderung inhaltliche und machtpolitische Zwänge sowie die örtliche Gebundenheit an Berlin, die ihren Standpunkt in Baden-Württemberg nachhaltig beschädigten. Den inhaltlichen und organisatorischen Spagat zwischen Landesvorsitz und bundespolitischer Verpflichtung hielt Vogt kaum aus.1289 Insofern bildete die kurze Zeit zwischen der Spitzenkandidatur 2001 und dem Einzug in das Bundesinnenministerium nach der Bundestagswahl 2002 den Höhe- und Wendepunkt von Vogts Karriere. Nachdem die Wieslocherin Landesvorsitz und Spitzenkandidatur auf sich vereint hatte, erreichte sie bei der Landtagswahl im Frühjahr 2001 für die SPD 33,3% der Stimmen. Sowohl in der eigenen Partei als auch in den Medien galt Vogt als Jungstar mit allen Chancen zu weiteren Erfolgen. Dabei waren die Faktoren, die das Wahlergebnis begründeten, nur kurzfristig wirksam, begründeten keine nachhaltige Stabilisierung der Partei. So hatte die SPD zunächst innerparteilich von der mobilisierenden Funktion der im Sommer 2000 durchgeführten Urwahl zur Spitzenkandidatur profitiert. Inhaltliche und strategische Fragen wurden in diesem Kontext diskutiert, die Mitglieder ob des bevor stehenden Wahlkampfs sensibilisiert. Zudem konnten die Sozialdemokraten im Frühjahr 2001 vom bundespolitischen Rückenwind profitieren: Die rot-grüne Koalition im Bund und damit auch die SPD hatten sich 1285
Vgl. beispielsweise Breining, Thomas/Freudenreich, Josef-Otto: „Kann ich das, ist das keine unwirkliche Vorstellung?“, in: Stuttgarter Zeitung, 27.11.2000. 1286 Vgl. o. V.: Vogt contra Schily, in: Der Spiegel, 21.01.2002. 1287 Vgl. Petersen, 2000, S. 240-243, besonders S. 242. 1288 Vgl. Rieger, Arnold: Ute Vogt tanzt auf drei Hochzeiten gleichzeitig, in: Stuttgarter Nachrichten, 17.01.2003. 1289 Vgl. Feldenkirchen, Markus: Hoffnung a.D., in: Der Spiegel, 17.09.2007
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stabilisiert und erfreuten sich auch unter Baden-Württembergern eines verhältnismäßig großen Zuspruchs. Verstärkt wurde dieser Effekt durch die bundespolitisch prekäre Situation der Christdemokraten, die im Jahr 2000 die Spendenaffäre ereil hatte und die Partei auch noch bis ins nachfolgende Jahr in eine Vertrauens- und Führungskrise stürzte. Daher konnte die CDU in Baden-Württemberg nicht mit bundespolitischem Aufwind rechnen. Mehr noch, die Landespartei stritt über die Führungsfähigkeiten, Verschleißerscheinungen und die Nachfolgefrage des Ministerpräsidenten Erwin Teufel. Neben diese eher langfristig wirksamen Faktoren traten einige, die der SPD und ihrer Spitzenkandidatin Vogt aktuell im Wahlkampf zu Gute kamen. War Vogt zu Beginn des Wahlkampfs den meisten Baden-Württemberger unbekannt, so holte sie diesen Rückstand durch intensive Medienarbeit rasch auf:1290 Sie trat bundesweit in diversen Talkshows auf und profitierte dabei von ihrem dynamischen Temperament. Vogt gelang es, den Wahlkampf auf ein Duell zwischen dem als alt und verbraucht deklarierten Ministerpräsidenten Teufel und der sich als jung und frisch stilisierenden Herausfordererin zuzuspitzen. Teufel bot eine ideale Möglichkeit, Vogts bewährte Strategie der Kontrastierung anzuwenden, galt er doch als hölzern, als pedantischer und sturer Buchhaltermensch.1291 Demgegenüber zeigte Vogt sich als spontan, herzlich, zielstrebig, durch ihren Kurpfälzer Dialekt und ihre teils schnoddrige Umgangssprache heimatverbunden und volksnah, als natürlich und authentisch.1292 Auf eine „Charme-Offensive“1293 setzte daher auch die Wahlkampfführung, dem Erfolgsmodell der SPD-Kampa im Bundestagswahlkampf 1998 nachempfunden war1294: Vogt zog mit der Veranstaltungsreihe „Ute Vogt im Gespräch“ durchs Land und wählte dabei gezielt kleine Personenkreise, um durch ihre persönliche Art zu überzeugen.1295 So gelang es ihr schließlich, gegenüber Teufel
1290
Vgl. Gabriel, Oscar W.: Die baden-württembergische Landtagswahl vom 25.März 2001: Fehlschlag einer “Teufelsaustreibung“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (2002), S. 10-26, hier S. 12. 1291 Vgl. Rieger, Arnold: Reden, reisen, mitreißen – das Ringen um die Macht fordert Erwin Teufel und Ute Vogt alles ab, in: Stuttgarter Nachrichten, 17.02.2001 1292 Vgl. Rieger, Arnold: Reden, reisen, mitreißen – das Ringen um die Macht fordert Erwin Teufel und Ute Vogt alles ab, in: Stuttgarter Nachrichten, 17.02.2001. 1293 Moser, Ulrike: Die Nette, in: Die Woche, 16.03.2001. 1294 Vgl. Thies, Heinrich: Schröder stiehlt Ute Vogt die Schau, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 24.03.01; siehe auch Griese, Honza: Wahlkampf im Wandel am Beispiel der badenwürttembergischen SPD, in: Schmid, Josef/Griese, Honza (Hg.): Wahlkampf in Baden-Württemberg, Organisationsformen, Strategien und Ergebnisse der Landtagswahl vom 25. März 2001, Opladen 2002, S. 99-113. 1295 Vgl. Nink, Karin: Ute Vogt setzt auf ihre Wirkung statt auf Themen, in: Financial Times Deutschland, 05.03.2001.
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als sympathischer zu gelten.1296 Doch waren neben der kurzfristig wirkenden Kandidatenpräferenz eben auch langfristige Faktoren für das Wahlergebnis ausschlaggebend.1297 So war es der SPD und damit vor allem Vogt nicht gelungen, die CDU in Fragen der Problemlösungskompetenz zu überholen. Obwohl sie versuchte, mit den Themen Bildung und erneuerbare Energien eigene Wegmarken zu setzen, hatte sie doch aufgrund der guten wirtschaftlichen Daten des Landes und der daraus resultierenden Zufriedenheit der Bürger kaum Erfolg.1298 Über die Frage der Kompetenzzuschreibung hinaus zeigte sich, dass die CDU von der über Jahrzehnte entwickelten Parteiidentifikation und Bindung der Kernwähler profitieren konnte. Der SPD gelang es kaum, Wähler aus dem christdemokratischen Lager zu sich herüberzuziehen. Ihren Stimmenzuwachs erreichte sie daher zu einem großen Teil auf Kosten der Grünen.1299 Das gute Ergebnis der SPD von 33,3% der Stimmen begründete sich folglich in der Hauptsache auf der Sogwirkung der Spitzenkandidatin sowie auf der Stabilisierung und Mobilisierung der Partei, die Vogt seit 1999 betrieben hatte. Damit hatte die SPD zwar das beste Resultat im Land seit einem Vierteljahrhundert erzielt, doch reichte es nicht zum Regierungswechsel. Neben der Tatsache, dass die Sozialdemokraten nicht stärkste Partei geworden waren, fehlte Vogt, die sich bereits früh auf eine rot-grüne Koalition festgelegt hatte, zum einen der Regierungspartner, da die Stimmen der Grünen nicht Regierungswechsel ausreichten. Zum anderen hatte die Spitzenkandidatin selbst den Einzug in den Landtag verpasst, da sie ihr Direktmandat im Wahlkreis Pforzheim nicht hatte erlangen können.1300 All diese Beobachtungen liefern bereits Erklärungsfaktoren für Vogts verheerende Niederlage als Spitzenkandidatin 2006, bei der die SPD lediglich 25,2% der Stimmen erhielt und in die Agonie des Jahres 1996 zurückfiel.1302 Durch ihr verpasstes Landtagsmandat 2001 war Vogt die Möglichkeit genommen worden, als Fraktionsvorsitzende die Oppositionsführung zu übernehmen. Sie blieb zwar Parteivorsitzende, folgte aber dem Ruf des Bundeskanzlers ins Bundesinnenministerium. Das bedeutete, dass sie eine so wichtige Machtbastion wie die Fraktion der Führung ihres ehemaligen Kontrahenten Wolfgang Drexler überlassen und zwischen Berlin als Arbeitsort, Stuttgart als Parteizentra1296
Vgl. Gabriel, Oscar W./Thaidigsmann, Isabell/Völkl, Kerstin: Alles bleibt so wie es war! Erklärungsfaktoren bei der baden-württembergischen Landtagswahl 2001, in: Schmidt, Josef/Griese, Honza: Wahlkampf in Baden-Württemberg, Opladen 2002, S. 153-172, hier S. 163. 1297 Vgl. Gabriel, 2002, S. 19 f. 1298 Vgl. Gabriel/Thaidigsmann/Völkl, 2002, S. 164. 1299 Vgl. Griese, 2002, in: Schmid/Griese, 2002, S. 111. 1300 Vgl. Viering, Jonas: Sieg und Scheitern in Pforzheim, in: Süddeutsche Zeitung, 27.03.2001; siehe auch Kistler, Petra: Alles oder nichts in Pforzheim, in: Badische Zeitung, 19.03.2001. 1302 Vgl. Gabriel/Völkl, 2007, S. 22.
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le und Pforzheim als ihrem Wahlkreis pendeln musste. So war es ihr kaum möglich, die erfolgreich begonnene Aufbauarbeit der Partei fortzuführen – ihre innerparteiliche Basis geriet ins Bröckeln.1303 Zudem saß sie zunehmend in eine strukturell-inhaltliche Zwickmühle: Aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Agenda-Politik der Bundesregierung seit 2003 konnte Vogt kein Kapital schlagen, da sie zum einen von Amts wegen zu sehr in Loyalitäten eingebunden war, zum anderen das Vorgehen des Kanzlers auch tatsächlich befürwortete. In dieser Situation bereitete sie den Nährboden für einigen Unmut in der eigenen Landespartei. Besonders die Fraktion entpuppte sich dabei als Hort der Kritik.1304 Vogt ging also bereits deutlich schwächer als fünf Jahre zuvor in die Wahlauseinandersetzung 2006. Zudem hatte sich die Gesamtkonstellation verändert: Die CDU agierte nun wieder aus einer bundespolitisch günstigen Lage heraus, profitierte von der großen Koalition, während die Rolle der SPD in dieser Koalition zunehmend bewertet wurde. Darüber hinaus konnte Vogt nicht mehr von ihrem Bonus als frische Jungpolitikern profitieren, war sie doch nun schon zu sehr mit dem Berliner Politikbetrieb. Auch ihr Kontrahent Günther Oettinger war kein so idealer Widerpart wie einst Erwin Teufel: Ein Duell jung gegen alt, frisch gegen unverbraucht ließ sich so nicht inszenieren. Daher wurde Vogt in diesem Wahlkampf auch als weniger tatkräftig und dynamisch empfunden als 2001. So blieb Vogt letztendlich nur die Mobilisierung der Anhängerschaft und der Kampf mittels politischer Inhalte. Dies war allerdings ein Bereich, in dem die SPD strukturelle Defizite aufzuweisen hatte. Zwar waren der Partei 2001 in Teilen Vorstöße in bislang nicht erschlossene Wählergebiete gelungen, doch hatten sie diese aufgrund der fehlenden kontinuierlichen Arbeit nicht halten können.1305 Demgegenüber hätte es für die CDU, die sich seit den 1970er-Jahren als Landespartei etabliert hatte, genügt, ihre Stammwähler zu mobilisieren.1306 Inhaltlich aber war Vogt nie mit einem speziellen Thema verbunden worden. Die Kernfrage des Wahlkampfs war die Arbeits- und Wirtschaftspolitik, bei der die Christdemokraten die SPD in den Kompetenzzuschreibungen bei weitem überholten. Das Wahlergebnis von 25,2% der Stimmen war für die SPD und Vogt ernüchternd. Dennoch entschloss sich Vogt in Absprache mit den Führungsgremi1303
Vgl. Reimer, Wulf: Dämpfer für Ute Vogt, in: Süddeutsche Zeitung, 23.06.2003. Vgl. beispielhaft Renz, Gabriele: Klarer Dämpfer für Ute Vogt, in: Frankfurter Rundschau, 30.03.2006. 1305 Vgl. Eith, Ulrich: Wählerverhalten in Baden-Württemberg – Strukturen, Akteure, Entwicklungslinien, in: Eilfort, 2004, S. 219-229. 1306 Vgl. Gabriel/Völkl, 2007, S. 25; vgl. allgemein zur Dominanz der CDU Zolleis, Udo/Schmid, Josef: Die Entwicklung zur Baden-Württemberg-Partei. Die CDU zwischen Heimat und High-Tech, in: Schmid/Griese, 2002, S. 79-97. 1304
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en von Partei und Fraktion, die Fraktionsführung zu übernehmen, da sie nun ein Landtagsmandat besaß.1307 Doch war der Keim des Zweifel bereits gesät: Vogt, die einst als Retterin in der Krise reüssiert hatte, hatte der SPD nun eine der schlimmsten Niederlagen der Parteigeschichte beschert. So wirkte sie auch nicht mehr strahlend und frisch, sondern zunehmend verhärmt und verbittert. Auch unterliefen ihr in der Fraktion, handwerkliche Fehler und eine ungeschickte Personalpolitik1308, so dass sie das Vorsitzendenamt schließlich abgeben musste. Dabei war sie, die sie stets die offene Aussprache als ihren politischen Stil proklamiert hatte, besonders von der Art der Angriffe erschüttert: Es wurde hinter ihrem Rücken getuschelt, persönliche Vorwürfe über die Medien verbreitet. Vogt als „Netzwerkerin“ Als sich das „Netzwerk“ zu Beginn des Jahres 1999 gründete, war Ute Vogt bereits seit gut vier Jahren Mitglied des Bundestages.1309 Da sie von Beginn an das Bedürfnis nach einer zusätzlichen parlamentarischen Gruppierung neben der PL und dem SK verspürt hatte, und sie die Zielsetzungen des „Netzwerks“ als Vertretung einer jüngeren Generation teilte, schloss sie sich der Gruppe an. Allerdings war Vogt jedoch nicht weiter an organisatorischen Fragen des „Netzwerks“ beteiligt1310, da sie sich nach ihrer Wahl zur Landesparteivorsitzenden 1999 größeres organisatorisches Engagement an den Tag zu legen, da sie Interessenkollisionen befürchtete.1311 Während Vogt innerhalb ihrer eigenen Landespartei eher wenig Anlass zu Widerspruch fand, empfand sie offenbar von Beginn ihrer Abgeordnetentätigkeit an einen inhaltlichen und kulturellen Generationenkonflikt.1313 Im „Netzwerk“ jedenfalls sah Vogt eine Chance, bislang aus ihrer Sicht in der Fraktion zu wenig thematisierte Inhalte offen zu diskutieren – „jenseits der Tagespolitik“1314. Besonders in die Grundsatzprogrammdebatte im Herbst 2003 brachte sie sich intensiv ein. Offensichtlich entsprach das Vorgehen zur Erstellung eines Programmbeitrags ihren Arbeitsvorstellungen beziehungsweise ihrem Leitbild einer politischen Debattenkultur.1315 Darüber hinaus versuchte Vogt, punktuelle Wegmar1307
Vgl. Allgöwer, Renate: Ute Vogt stellt sich heute der Fraktion, in: Stuttgarter Zeitung, 29.03.2006. 1308 Vgl. Rieger, Arnold: Kandidatin Vogt, in: Stuttgarter Nachrichten, 21.09.2007; siehe zur Personalpolitik Ruf, Reiner: Reiner Bliesner verlässt den SPD-Vorstand im Zorn, in: Stuttgarter Zeitung, 17.09.2006. 1309 Vgl. Interview Vogt, S. 15. 1310 Vgl. ebd., S. 20. 1311 Vgl. ebd., S. 20. 1313 Vgl. Interview Vogt., S. 16 f. 1314 Vgl. ebd., S. 15. 1315 Ebd., S. 20.
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ken bei jenen Themen zu setzen, die ihr, wie die Abschaffung der Wehrpflicht, ein besonderes Anliegen waren.1316 Der Stellenwert des „Netzwerks“ für den politischen Berufsverlauf Vogts ist neben der geschilderten politisch-kulturellen Verbundenheit schwierig einzuschätzen. Vogt verwies selbst darauf, dass sie ihre Position als stellvertretende Parteivorsitzende 2002 unter anderem dem unterstützenden Beziehungsgeflecht der Gruppierung zu verdanken habe.1317 Demgegenüber steht die Beobachtung, dass die Unterstützung der Schröderschen Agenda-Politik Vogt im eigenen Landesverband einige Kritik einbrachte. Doch scheiterte beispielsweise ein Leitantrag der Landesführung, für den Vogt federführend gewesen war, und der die neuen sozialstaatlichen Leitprinzipien atmete, auf dem Landesparteitag im Juni 2003:1318 Er wurde von den Delegierten mehrheitlich als unsozial, nicht mit den Grundvorstellungen von sozialer Gerechtigkeit vereinbar kritisiert.1319 Dass Vogt in diesem Punkt die Linie Schröders und somit auch des „Netzwerks“ teilte, trug auch zu ihrer „Entzauberung“ und Machterosion im Land bei.1320 Vom unbeschriebenen Blatt zur Agenda-Verfechterin: Inhaltliche Positionierungen Darin mag wohl im Bezug auf ihr politisches Profil das Dilemma Vogts gelegen haben: Zunächst begleiteten sie ihren gesamten Aufstieg hinweg – auch in der umjubelten Phase um die Spitzenkandidatur – kritische Stimmen, die ein konzises inhaltliches Programm oder Projekt vermissten.1321 Doch als sie sich dann zu einem solchen entschloss und sich hinter die Ziele der mit der Agenda 2010 verbundenen Reformpolitik stellte, gereichte ihr dies nur noch mehr zum Nachteil. Ansonsten ist es nicht ganz leicht, spezifische Forderungen Vogts, geschweige denn einen stringenten Politikentwurf auszumachen.1322 Vereinzelt finden sich Vorschläge, die auf mehr Beteiligung von Frauen in der Politik1323 oder auf die Abschaffung des Berufsbeamtentums zielen.1324 In der Landespolitik versuchte sie immer wieder mit dem Thema Bildung zu reüssieren, indem sie beispielsweise die Einführung von Ganztagsschulen und die Einstellung von 1316
Vgl. ebd., S. 20. Vgl. Protokoll des „Netzwerk“-Treffens vom 25. März 1999, 31.03.1999, Dokument im eigenen Archiv). 1318 Vgl. Günther, Wolf: Südwest-SPD gegen Wehrpflicht, in: Die Welt, 23.06.2003. 1319 Vgl. Reimer, Wulf: Dämpfer für Ute Vogt, in: Süddeutsche Zeitung, 23.06.2003. 1320 Vgl. Rieger, Arnold: Vogt an zwei Fronten, in: Stuttgarter Nachrichten, 23.06.2003. 1321 Vgl. Behr, Alfred: Jung und fröhlich reicht nicht aus, in: Die Welt, 01.02.2001. 1322 Vgl. auch Schmiese, Wulf: Lottofee fürs Ländle, in: Die Welt, 15.03.2001. 1323 Vgl. Griese, Kerstin/Vogt, Ute/Nahles, Andrea/Kramm, Alexandra/Kampmeyer, Eva: Initiativantrag zum außerordentlichen Bundesparteitag am 25.11.1996 in Köln: „Aktivierung junger Frauen“. 1324 Vgl. beispielhaft Matschie, Christoph/Bury, Hans-Martin/Vogt, Ute: Aufbruch für Deutschland, 23.09.1997. 1317
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mehr Lehrern propagierte.1325 Darüber hinaus gehörte sie jenem Teil des „Netzwerks“ an, der sich für die Einführung nachgelagerter Studiengebühren stark machte. Längere Linien lassen sich beispielsweise in der Umweltpolitik finden, in der Vogt sich im Grunde seit Beginn ihres politischen Engagements einsetzte.1326 Sogar im privaten Bereich lebte sie diese Zielsetzung, indem sie ihr eigenes Haus mit Solarzellen versah.1327 Eine ähnliche Kontinuität ist in Vogts beharrlichem Einsatz für die Abschaffung der Wehrpflicht als auch ihrer Ablehnung des Kosovo-Einsatzes der Bundeswehr zu sehen, die in ein friedenspolitisches Profil einzuordnen sind.1328 Als dritter Themenbereich, den Vogt über Jahre immer wieder verfolgte, könnte der Kampf gegen Rechtsextremismus genannt werden. Vogt dürfte im eigenen Land den Aufstieg rechtsextremer Gruppierungen in den 1990er-Jahren miterlebt haben, als 1992 die Republikaner mit 15 Sitzen in den Bundestag einzogen.1329All diese Punkte rührten im Grunde aus der politischen Sozialisation Vogts her, denn dort wurde sie von den postmaterialistischen Tendenzen jener Zeit, die besonders in der Epplerschen SPD in Baden-Württemberg ausgeprägt waren, beeinflusst. Dennoch blieben Vogts Forderungen insgesamt zu sporadisch, zu wenig miteinander in Einklang, oftmals vielleicht auch zu leise. So war es nicht schwierig, Vogt schließlich völlig mit der Schröderschen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu assoziieren und sie als strömlinienförmige Kanzlerjüngerin zu interpretieren1331, da sie auch nur selten – wie beispielsweise in der Frage der Wehrpflicht – nicht konform mit der Regierung ging.1332 Hinzu kam, dass Vogt nicht nur hinter dem Motto „Fördern und Fordern“ stand, sondern sich auch im innenpolitischen Bereich einen straffen Kurs aneignete. Für die Erfassung von Fingerabdrücken bei der Visaerteilung sprach sie sich ebenso aus wie für die Überwachung der Geheimdienste.1333 1325
Vgl. Behr, Alfred: Eine Partei mit neuem Schwung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.2001. Vgl. Interview Vogt, S. 2; siehe auch Fischer, Klaus: Vogt: Landtagswahl 2001 ohne Koalitionsaussage, in: Stuttgarter Zeitung, 12.07.1999. 1327 Vgl. Bieckli, Jan/Schütz, Peter: „Keine Angst vor der Macht“, in: Stern, 01.03.2001. 1328 Vgl. Höher, Sabine: „Die Leute haben sich gefragt, ob ich den Job kann“, in: Welt am Sonntag, 18.07.99; siehe auch Allgöwer, Renate: Bei der Wehrpflicht endet die Einigkeit, in: Stuttgarter Zeitung, 02.06.2003. 1329 Vgl. Schwarz, 2004, in: Eilfort, 2004, S. 230-243, hier S. 231. 1331 Vgl. Schöll, Torsten: Ute Vogt bringt SPD-Vorstand auf Agenda-Kurs, in: Stuttgarter Nachrichten, 19.05.2003. 1332 Vgl. Allgöwer, Renate: Bei der Wehrpflicht endet die Einigkeit, in: Stuttgarter Zeitung, 02.06.2003. 1333 Vgl. o. V.: Vogt contra Schily, in : Der Spiegel, 21.01.2002; siehe auch o. V.: Ute Vogt will die Geheimdienste besser kontrollieren, in: Stuttgarter Zeitung, 23.01.2002. 1326
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Auf den ersten Blick sind derlei Überzeugungen überraschend, gehörte Vogt doch zu jener Juso-Generation, die durch den Asylkompromiss der SPD innerparteilich sozialisiert wurden und aufgrund des strickten Kurses der Parteiführung Befremdungen gegenüber der eigenen Partei entwickelt hatte. Doch auf den zweiten Blick werden diese Positionen plausibel. Offenbar hatten sich vor dem Hintergrund der Globalisierung die Prioritäten verschoben und infolge dessen eine Werteumwandlung induziert: Einerseits, so argumentierte Vogt, erforderten die Herausforderungen des internationalen Terrorismus eine striktere sicherheitspolitische Innenpolitik. Andererseits zögen die internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen nach sich, dass Arbeitnehmer zunehmend mobiler sein müssten – sowohl lokal als auch hinsichtlich der Zumutbarkeit von Arbeit. Vogts Lebenslauf und Wertüberzeugungen symbolisieren daher exemplarisch, wie sich durch den Einfluss äußerer Ereignisse im frühen Erwachsenenalter politische Urteile und Wertepräferenzen verschieben beziehungwseise wandeln können. Neben diese generationssoziologische Erklärung tritt jedoch auch eine biografisch-individuelle. Ute Vogt, dies wurde bereits deutlich, handelte in ihrem Lebenslauf stets nach der Maxime, dass alles erreichbar sei, wenn sie sich mit ausreichend Willen anstrenge.1334 Daher war es für sie nur plausibel, mit der Agenda 2010 an den Leistungswillen und Kampfgeist der Bürger zu appellieren. Es entsprach schlicht ihren Lebenserfahrungen, dass, wer sich wirklich für etwas einsetzte, dies auch bekam. Die Authentische: politischer Stil Doch wollten die oben beschriebenen Überzeugungen in der Sozialstaatspolitik nicht recht zu Vogts bis dato freundlich-sympathischem Image passen, da sie eher den Eindruck einer kalten und kompromisslosen Politikerin vermittelten. Ute Vogts Erfolge, ihr zeitweiliger Ruf als Medienliebling begründeten sich auf ihrer authentischen, unverstellten Art.1335 Mit ihrer rot-braunen Löwenmähne und dem unprätentiösen Kleidungsstil entsprach sie habituell nicht dem oft über die „Netzwerker“ gefällten Urteil, sie seien konservativ-oberflächliche Anzugträger.1336 Zu Vogts Authentizität gehörte auch der von ihr gepflegte Kurpfälzer Dialekt und die Tatsache, dass sie, wenn irgend möglich, in Wahlkämpfen die Nähe der Menschen und Gespräche im kleinen Kreis suchte.1337 So entfaltete 1334
Vgl. o. V.: „Kann ich das, ist das keine unwirkliche Vorstellung?“, in: Stuttgarter Zeitung, 27.11.2000. Vgl. beispielsweise Knaup, Horand: Freude an der Frau, in: Der Spiegel, 14.08.2000. 1336 Vgl. Kistler, Petra: Junge Frau mit feuerroter Mähne, mitreißendem Lachen – und Biß, in: Badische Zeitung, 12.09.1999. 1337 Vgl. Rieger, Arnold: Reden, reisen, mitreißen – das Ringen um die Macht fordert Erwein Teufel und Ute Vogt alles ab, in: Stuttgarter Nachrichten, 17.02.2001; siehe auch Nink, Karin: Ute Vogt setzt auf ihre Wirkung statt auf Themen, in: Financial Times Deutschland, 05.03.2001. 1335
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sich ihre einnehmende Wirkung – in der Abgehobenheit des Berliner Politikbetriebs allerdings verdörrte sie geradezu.1338 Ihre Risikofreude, ihr Eigensinn und Spontaneität waren ihr Markenzeichen und Erfolgsindikatoren gewesen, die sich in ihr selbst, in ihrer Persönlichkeit begründeten. Doch konnten sich diese Eigenschaften nur im nahen Kontakt mit Menschen entfalten. Eine begnadete Rhetorikerin, eine Parteitagsheroin war Vogt dagegen nicht. Ihre Reden wurden bis auf wenige Ausnahmen als nichtssagend kritisiert.1339 Als Staatssekretärin im Innenministerium war Vogt daher zu sehr an institutionelle gebunden, als dass sie den ihr üblichen Charme hätte entfalten können. Ihre bisherige Machtquelle versiegte somit nach und nach.1340 Auch die von ihr lange erfolgreich praktizierte Aufstiegsmethode der Kontrastierung gegenüber vorwiegend männlichen und älteren Konkurrenten ließ sich mit Vogts Wechsel in das Innenministerium nicht mehr praktizieren.1342 Daneben jedoch hatte Vogt es versäumt, sich ein Machtfundament und inhaltliches Profil aufzubauen, das die bewährte Kontrastierungsmethode hätte substituieren können. Mit anderen „Netzwerkern“ teilte Vogt das Bemühen, Privates unter Verschluss zu halten.1346 Obwohl sie durchaus die Nähe der Medien suchte, wurde nur wenig über ihr außerpolitisches Leben bekannt. Und als sie es schließlich doch einmal wagte und sich im Landtagswahlkampf 2006 zur „Orgasmusbeichte“ hinreißen ließ, war dies ein peinlicher Fauxpas.1347 Zudem mühte sie sich, öffentlichen, in den Medien ausgetragenen Streit zu vermeiden. Lieber, so die Wieslocherin, solle hinter geschlossenen Türen debattiert werden – und dies auch nicht mittels von Personaldebatten, sondern über inhaltliche Diskussionen. Auch bei Vogt resultiert, wie bei anderen „Netzwerkern“, diese politische Kultur aus der abschreckenden Wirkung, die der Führungsstil der „Enkel“, die Entertainisierung der Politik auf die Nachwuchspolitiker hatten.1348 Vogt strebte einen kooperativen Politikstil an, der auf flache Hierarchien, Dialogbereitschaft und Partizipation setzte.1349
1338
Vgl. beispielsweise Löwisch, Georg: Unangreifbar angegriffen, in: Die Tageszeitung, 24.09.2007. 1339 Vgl. Thies, Heinrich: Schröder stiehlt Ute Vogt die Schau, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 24.03.2001. 1340 Vgl. Feldenkirchen, Markus: Hoffnung a.D., in: Der Spiegel, 17.09.2007. 1342 Vgl. zur Landtagswahl unter anderem Gabriel/Völkl, 2007, S. 16-33. 1346 Vgl. hierzu beispielsweise Vogt/Rühmkorf, 2002, S. 185 ff. 1347 Vgl. Fischer, Sebastian: Warum Ute Vogt über ihr Sexualleben plauderte, in: Spiegel Online, 23.03.2006. 1348 Vgl. Allgöwer, Renate: Angriff auf Augenhöhe – im Plauderton, in: Stuttgarter Zeitung, 22.03.2006. 1349 Vgl. Allgöwer, Renate: Einstiger Jungstar muss dem Druck der Basis standhalten, in: Stuttgarter Zeitung, 15.05.2003.
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Resümierend liegt in dem Werdegang Vogts auch eine gewisse Tragik. Unabhängig von den Fehlern, die ihr während ihrer Karriere unterliefen, war sie in gewisser Weise doch auch ein Opfer der Beförderungspraxis der „Enkel“. Denn mittels seiner Nachwuchspolitik gelang es Schröder zwar, potentielle innerparteiliche Opposition durch Einbindung zu verhindern, doch wurden Vogt durch die Berufung als Staatssekretärin zugleich jene Fesseln angelegt, welche die Entfaltung der Baden-Württembergerin hemmten. Langfristig also hatten sich weder Schröders Entscheidung noch Vogts Politikstil als tragfähig erwiesen. 7.2.9 Christoph Matschie – Der materialistische Postmaterialist Neben Ute Vogt wurde in Debatten über das „Netzwerk“ lange Zeit Christoph Matschie als Ausweis dafür angebracht, dass Mitglieder der Gruppierung in jungen Jahren wichtige Posten erlangten, ohne selbstständig Machtressourcen und inhaltliche Substanz zu entwickeln. In dieser Anmerkung schwang stets die Kritik am schnellen Aufstieg und an der scheinbar rücksichtslosen Karriereorientierung mit.1350 Immerhin war Matschie ebenso wie Vogt nach der Bundestagswahl 2002 zum Parlamentarischen Staatssekretär eines Bundesministeriums avanciert. Zugleich galt er Pressebeobachtern als zwar sympathischer, aber dennoch stiller und zu wenig machtorientierter Politiker.1351 Die Kategorisierungen des Thüringers sind ebenso widersprüchlich wie wenig überzeugend. Weder war Matschies Aufstiegsweg wie der Vogts über mediale Attraktivität und erfolgreiche Wahlen verlaufen, noch teilte er ihre politischen Sozialisationserfahrungen des parteieigenen Jugendverbands. Wie also war Matschie in die Reihe anderer „Netzwerker“ einzuordnen? Vom Pfarrerssohn an den Runden Tisch – politische Sozialisation Christoph Matschie wurde 1961 im thüringischen Mühlhausen als eines von sechs Kindern einer Krankenschwester und eines protestantischen Pfarrers geboren. Trotz des politisch durchaus kritisch eingestellten Elternhauses erlebte er eine ungetrübte und komplikationslose Kindheit. Erst mit dem Übergang in die Schule und später in die Polytechnische Oberschule machten sich nach und nach die Folgen eines Lebens in der Diktatur bemerkbar. Zum einen setzte sich Matschie immer kritischer mit den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen auseinander und empfand einen eklatanten Mangel an Freiheit:1352
1350
Vgl. Deggerich, Markus: Siggi Po und die Lego-Gang, in: Spiegel Online, 07.11.2003. Vgl. Debes, Martin: Der Chef ist sauer, in: Thüringer Allgemeine, 28.11.2000; siehe auch Debes, Martin: Ganz vorsichtig, in: Thüringer Allgemeine, 16.10.2002. 1352 Vgl. Lindner, 1997, in: Schlegel/Förster, 1997, S. 29. 1351
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„Ich bin in der DDR aufgewachsen, und meine Familie war kritisch gegenüber dem DDR-System und hat uns auch so erzogen als Kinder. [...] Also, die Kritik bestand zum einen natürlich darin, dass dieses System einen Allmachtsanspruch formulierte und sozusagen die einzig wahre Lehre verkörperte, also kein freies Denken zuließ. [...] Später kamen dann konkrete Probleme dazu wie beispielsweise die dramatische Umweltverschmutzung[...]. Oder ein anderer Punkt war die Auseinandersetzung mit dem ja sehr militarisierten Staat DDR bis hin zur Frage der ganzen Atomaufrüstung, Proteste gegen die ganze SS-20-Stationierung und so weiter. [...] Aber es begann alles mit der Frage, ja, der Freiheit, sagen wir es mal so.“1353
Zum anderen bedeutete die Sozialisation im DDR-Bildungssystem für den Thüringer die stetige Zunahme von Repressionen.1354 In der Schule musste er sich in Diskussionen den Anfeindungen von Lehrern und Mitschülern erwehren, seine Weigerung, der FDJ oder der deutsch-sowjetischen Freundschaftsgesellschaft beizutreten, isolierten ihn und setzten ihn politischem Druck aus. Seine kritische Haltung gegenüber dem DDR-Regime führte dazu, dass ihm trotz guter Noten das Abitur und schließlich das Medizin-Studium verwehrt wurden, das er nach seiner Ausbildung zum Mechaniker hatte beginnen wollen. 1355 Matschie sah sich vor die Wahl gestellt, das Land mittels eines Ausreiseantrags zu verlassen, oder aber innerhalb des Systems eine Nische zu suchen, die ihm eine kritischalternative Existenz ermöglichte.1356 So entschied er sich 1984 für ein Studium der Theologie, zunächst in Rostock, später in Jena. Im Rahmen dieser Hochschulausbildung fand er sowohl politisch Gleichgesinnte als auch die Gelegenheit, sich in den bescheidenen Möglichkeiten des DDR-Staates beispielsweise in der Studentengemeinde politisch-sozial zu engagieren.1357 Als Matschie 1989 sein Studium als Diplom-Theologe abschloss, fiel dieser biografische Einschnitt mit den revolutionären Umwälzungen in der DDR zusammen. Rasch war der Jenaer mitten in die Geschehnisse der auslaufenden 1980er-Jahre verstrickt. Markant ist diesem Kontext, dass Matschies Biografie trotz der DDR-Herkunft eine Nähe zu postmaterialistischen Werten zeigt. So wird die These, auch in der DDR habe sich seit den 1970er-Jahren ein ähnlicher, wenn auch deutlich weniger ausgeprägter Wertewandel wie in Westdeutschland vollzogen, bestätigt. Angestoßen durch seine umweltpolitische Kritik, engagierte Matschie sich im Neuen Forum, knüpfte aber zeitgleich Kontakte zur damals gerade entstehenden sozialdemokratischen Partei SDP, später SPD.1358 Die Sozi1353
Interview Matschie, S. 1. Vgl. ebd., S. 1. 1355 Interview Matschie, S. 2. 1356 Vgl. Mählert, 2001, S. 131 f. 1357 Vgl. Lemke, 1991, besonders S. 167-185; siehe auch Besier, Gerhard: Bekennende Kirche und Bürgerrechtsbewegung, in: Kirchliche Zeitgeschichte 1 (1996), S. 70-88, hier S. 75 ff. 1358 Vgl. Neugebauer, 1994, in: Niedermayer/Stöss, 1994, S. 75. 1354
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aldemokratie schien ihm letztlich jedoch einflussreicher und wirkungsvoller als die größtenteils aus dem Neuen Forum entstehenden Bündnis90/Die Grünen, wohl auch organisierter, um das von ihm anvisierte Ziel – das Machtmonopol der SED zu brechen und eine demokratische Gesellschaft aufzubauen – zu erlangen.1359 Zudem deckte sich der Bewegungshintergrund der SDP auch mit Matschies christlichen Überzeugungen, hatte er das Christentum doch stets als diesseits orientierte soziale Bewegung verstanden, nicht ausschließlich als Jenseitsreligion. So rief der Theologe noch im Oktober 1989 – kurz nach der offiziellen Gründung der SDP in der DDR, am 07.10.19891361 – einen SDPOrtsverband in Jena ins Leben, dem er als einer der Sprecher vorstand. Sein Interesse und Einsatz führten Matschie darüber hinaus als Vertreter Thüringens zu den Gesprächen des Runden Tisches nach Berlin, schließlich ins Präsidium der Ost-SPD. Anhand des Wegs des Thüringers in die Politik lassen sich einige Charakteristika ablesen, die für seinen weiteren Karriereverlauf aufschlussreich sind. Zunächst ist es die herausgehobene Maxime der Freiheit in Verbindung mit einem christlichen Wertefundament, die Matschies Kritik am DDR-Staat und seine politische Arbeit fundierten. Mit diesen Beweggründen reihte er sich in die typischen Motivlagen von DDR-Widerständlern, immerhin war der kirchliche Raum einer der wenigen Schutzräume des Oststaates.1362 Doch bot diese Wertehierarchie in Verbindung mit der Ablehnung einer Ideologisierung von Politik und gesellschaftlichem Zusammenleben zudem einen Anknüpfungspunkt für die auf Pragmatismus zielende politische Kultur des „Netzwerks“. In diesem Kontext kann auch Matschies Auslegung des Christentums als diesseits- und handlungsorientierte Religion interpretiert werden. Darüber hinaus verweist Matschies Sozialisation auf ein diskursorientiertes Politikverständnis, wie es auch vom „Netzwerk“ angestrebt werden sollte: Das absolvierte Studienfach aber auch die Erfahrungen im Neuen Forum als „Gesprächsplattform“1363 deuten hierauf hin. Schließlich ist die Gesamtperspektive des bisherigen Lebenslaufs beachtenswert: Wurde für aus der ehemaligen Bundesrepublik stammende „Netzwerker“ im Wesentlichen ein geradliniger biografisch-beruflicher Weg konstatiert, so trifft dies auf Matschie nicht zu.1364 Zwar hatte auch er als berufliche Profession stets und ausschließlich die Politik gekannt, doch war sein Weg von einigen 1359
Vgl. Interview Matschie, S. 3. Vgl. zur Gründung der SDP Potthoff/Miller, 2002, S. 331 ff. Vgl. Schmitt, Karl: Kirchenangehörige Parlamentarier in den neuen Bundesländern nach dem Systemumbruch, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (2006), S. 47- 63, hier S. 47 f.; siehe auch Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard: DDR-Regime-Wandel, Bürgerorientierungen und die Entwicklung des gesamtdeutschen Parteiensystems, in: Niedermayer/Stöss, 1994, S. 11-33, hier S. 15 f. 1363 Interview Matschie, S 3. 1364 Vgl. zum Nachfolgenden allgemein Friedrich, 1997, in: Schlegel/Förster, 1997, S. 43 f. 1361 1362
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Widerständen und weniger Selbstverständlichkeiten gekennzeichnet gewesen. Jenseits des schützenden Horts der Familie hatte er sich stets gegen Anfeindungen zu wehren, konnte seinen Wunschberuf nicht erlernen und musste sich seinen Weg zu einer kritischen Existenz gegen Widerstände und durchaus reale Gefahr bahnen. Nun ist dies angesichts der politischen Einstellung Matschies zum DDR-Regime weder verwunderlich noch eine singuläre Erscheinung, sondern das nahezu kollektive Schicksal politischer Kritiker im DDR-Staat. Doch zeugt Matschies bisheriger Lebensweg von einer Hartnäckigkeit und Durchsetzungsfähigkeit, von Leidensfähigkeit und existenziellen Erfahrungen, die das eingangs geschilderte Bild des Thüringers als zu sanftem und nicht machtorientiertem Politiker korrigieren. Wandel zum Berufspolitiker: Kaffee aus Nicaragua und kapitalgedeckte Altersvorsorge Durch die Arbeit am Runden Tisch und in der Ost-SPD bereits mit der gesamtdeutschen Politik in Kontakt gekommen, entschied sich Matschie 1990 gegen sein Promotionsstipendium und für ein Bundestagsmandat, das er bis Juni 2004 inne haben sollte.1365 Die ersten Jahre im Parlament waren dabei für Matschie in mehrfacher Hinsicht von Belang. Zum einen durchlief er einen Prozess der politischen Ernüchterung: „[...] ich hatte bis dahin ja eine Politik mit unheimlicher Geschwindigkeit erlebt. Da ist ja in wenigen Monaten ganz viel und ganz Grundlegendes entschieden worden, und, äh, der, ja, der Eintritt in den Bundestag war natürlich erst mal [...] ´ne Vollbremsung politisch. Und ich musste mich daran gewöhnen, dass politische Entscheidungen in der Bonner Demokratie eigentlich viel mehr Zeit brauchen als sie in den Monaten davor brauchen durften […].“1366
Hatte er Politik bislang entweder in der Illegalität, dem gesellschaftlichen Abseits oder in der historischen Umwälzung 1989/90 kennen gelernt, so wurde er nun mit der Bonner Realität konfrontiert. Für einen jungen Ostdeutschen, für den sich der lang ersehnte gesellschaftliche Umbruch mit dem individuellen Berufseinstieg verband, mussten die eingefahrenen Bonner Entscheidungs-, Diskussions- und Machtstrukturen frustrierend sein. Matschie hatte nun zwar die ersehnte Freiheit erhalten, sein politisches Handeln und Denken waren nicht nur legal, sondern auch legitimiert, doch war seine Tätigkeit verglichen mit den berauschenden Wandlungserfahrungen 1989/90 nun wesentlich kleinteiliger, bürokratischer und mühsamer. Die Gründung der SPD-fraktionsinternen „Jungen Gruppe“ im Februar 1995 war deshalb folgerichtig dem Bemühen geschuldet, einen 1365
Vgl. Interview Matschie, S. 4; siehe auch den Lebenslauf Matschies unter http://www.christophmatschie.de/index.php?mod=content&menu=14&page_id=902 (zuletzt aufgerufen am 03.03.2009). 1366 Interview Matschie, S. 7.
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integrativen und diskursiven Politikstil jenseits ideologischer Schablonen zu etablieren, der weniger auf Konfrontation denn auf sachliche Diskussion setzte.1367 Doch auch in thematischer Hinsicht war Matschies Zeit im Bundestag aufschlussreich. Waren umwelt- und friedenspolitische Belange bereits zu DDRZeiten ein Anliegen des Thüringers gewesen1368, so arbeitete er ebenso in den 1990er-Jahren im Bundestag vornehmlich in diesem Bereich. So setzte er etwa mit einer Fraktionskollegin die Einführung fair gehandelten Kaffees aus Mittelund Südamerika im Bundestag durch1369 oder stritt für die Einführung der Ökosteuer.1370 Das inhaltliche Profil Matschies ließ sich in jenen Jahren daher als postmaterialistisch begreifen, womit der Vorsitz des Bundestagsausschusses für Umwelt und Reaktorschutz korrespondierte. Dennoch tauchten seit circa Mitte der 1990er-Jahre auch andere Aspekte in der thematischen Arbeit des Ostdeutschen auf. So forderte Matschie zusammen mit anderen Sozialdemokraten der „Jungen Gruppe“ eine Revision der Sozialsysteme und insbesondere die Ergänzung der Umlage finanzierten, herkömmlichen Rente durch einen privat zu verantwortenden, Kapital gedeckten Anteil.1371 Damit versuchte er sich von den tradierten Denkschemata und Rechts-Links-Einordnungen der SPD zu lösen und ohne ideologische Kategorisierungen Lösungsvorschläge zu machen. In ein ähnliches Denkmuster lässt sich Matschies Erwägung einer Koalition zwischen SPD und PDS in Thüringen im Jahr 1995 einordnen.1372 Hintergrund war die Debatte der Sozialdemokratie zur SED-Nachfolgepartei, die sich entzündet hatte, nachdem besonders in den ostdeutschen Bundesländern offensichtlich geworden war, dass sich die PDS nicht nur im Parteiensystem gehalten hatte, sondern zudem auf dem Weg zu einer Volkspartei war.1373 1994 hatte sich der SPD-Spitzenkandidat in Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner, mit Hilfe der PDS zum Ministerpräsidenten wählen lassen und regierte fortan mit einer von den Linken tolerierten Minderheitsregierung, gemeinsam mit den Grünen.1374 Im August desselben Jahres verabschiedete die SPD unter ihrem damaligen Bundes1367
Vgl. Parteiarchiv der SPD: P/16-SPD-Fraktion: Matschie, Christoph: Arbeitsgruppe junger Abgeordneter in der SPD-Fraktion, Pressemitteilung, 09.02.1995; siehe zur Arbeit der „Jungen Gruppe“ auch o. V.: Parlament: Zentrum der Debatte, in: Die Tageszeitung, 13.06.1995; vgl. ebenso o. V.: Ohne Illusionen, in: Die Tageszeitung, 25.03.1995 1368 Vgl. Interview Matschie, S. 1 und S. 6. 1369 Vgl. Thieme, Manuela: Herr Matschie, der Bundestagskaffee..., in: Wochenpost, 30.12.1992. 1370 Vgl. o. V.: Junge SPD-Abgeordnete: Steuersystem abschaffen, in: Die Welt, 16.02.1997; siehe auch o. V.: Ruf nach Ökosteuer, in: Boersen-Zeitung, 09.13.1995. 1371 Vgl. das Papier der Jungen Gruppe „SPD 2000 plus“ aus dem Jahr 1996; siehe auch Ranalder, Dirk: Die wirklichen Enkel, in: Vorwärts 11 (1996). 1372 Vgl. Seils, Christoph: In Zukunft ist alles möglich, in: Die Tageszeitung, 30.10.1995. 1373 Vgl. beispielhaft Dürr/Walter, 2000, S. 181 ff. 1374 Vgl. ebd., S. 181.
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parteivorsitzenden Rudolf Scharping die „Dresdner Erklärung“, welche Bündnisse der SPD mit der PDS auch auf Länderebene ausschloss.1375 Vor dieser Kulisse stand Matschies Bekenntnis zur selektiven Zusammenarbeit mit der linken Konkurrenz im Widerspruch mit der offiziellen Parteilinie. Dabei resultierte seine Einstellung, die im Übrigen auch innerhalb der Thüringer nicht uneingeschränkt geteilt wurde1376, aus der speziellen Situation der Sozialdemokratie in seinem Heimatbundesland. Hier war die SPD 1994 eine große Koalition mit der CDU eingegangen, in der sie deutlich an Profil zu verlieren drohte1377, so dass es angebracht schien, sich neben den Christdemokraten eine weitere Machtperspektive zu erschließen. Daher argumentierte Matschie, seine Partei dürfe sich nicht aus ideologischer Verbohrtheit heraus rot-roten Bündnissen verschließen, sondern müsse je nach Problemlage und -kompetenz von Fall zu Fall über eine Zusammenarbeit entscheiden.1378 Somit war Matschies Position in dieser Frage nicht nur vor dem regionalen Hintergrund nachvollziehbar, sondern sie gab auch Hinweise auf seinen pragmatischen und unaufgeregten Politikstil. Christoph Matschie etablierte sich also sowohl durch seine im Bundestag vornehmlich auf dem Feld der Umweltpolitik geleistete Sacharbeit als auch als einer der wenigen jüngeren ostdeutschen Köpfe in der Bundespartei. Hatte sich die Karriere des Thüringers trotz landespolitischer Basis bis dahin auf den Bund konzentriert, so erfuhr sie nach der Landtagswahl im September 1999 auch einen Schub im Herkunftsland Matschies. Höhe- und Wendepunkt: Vom Berliner Staatssekretär zum Landtagsabgeordneten Im Grunde legten erst die Karriereverläufe Matschies und Vogts seit Ende der 1990er-Jahre einen Vergleich der beiden Nachwuchspolitiker wie oben zitiert nahe: Beide gelangten 1999 in den Landesvorsitz ihrer Parteien, beide führten in der 15. Wahlperiode einen Bundestagsausschuss, beide wurden nach der Bundestagswahl 2002 Parlamentarische Staatssekretäre und beide traten als Spitzenkandidaten ihrer Landesparteien an – und verloren. Dennoch sind die Modalitäten ihrer Berufswege nicht bedingungslos vergleichbar, erst recht nicht die sich dahinter verbergenden Persönlichkeiten.
1375
Vgl. Schlegel, Matthias: Links außen, in: Der Tagesspiegel, 06.02.2009. Vgl. Matschie, Christoph/Richter, Edelbert: Wir kommen wieder – die SPD, aber auch wir Ostdeutschen, in: Vorwärts 2 (1996). 1377 Vgl. o. V.: „SPD-Mehrheit für Zusammenarbeit mit der PDS offen“, in: Thüringer Allgemeine, 06.02.1999; siehe auch Schmitt, Karl: Die Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen vom 5. und 12. September 1999: Landespolitische Entscheidungen im Schlagschatten der Bundespolitik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (2000), S. 43-68, besonders S. 49 f. 1378 Vgl. Debes, Martin: Wann wir schreiten, in: Thüringer Allgemeine, 03.11.2001. 1376
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Nach fünf Jahren in der großen Koalition suchte sich der damalige Spitzenkandidat der thüringischen SPD, Richard Dewes, bei den Landtagswahlen im September 1999 aus der christdemokratischen Umklammerung mit einem eindeutigen Bekenntnis zu seiner Wunschkoalition Rot-Rot zu befreien – und erreichte ein niederschmetterndes Wahlergebnis von 18,5%, ein Minus von 11,1 Prozentpunkten.1380 Dewes zog nach Schuldzuweisungen des Landesverbands aufgrund seiner polarisierenden Wahlkampfstrategie die Konsequenzen und trat als Parteivorsitzender zurück.1381 Für den politischen Weg Matschies hatten diese Ereignisse in doppelter Weise Bedeutung: Zum einen eröffnete sich für den Jenaer nun der Weg an die Landesspitze. Nach dem konfliktorientierten Dewes war Matschies unaufgeregte und vermittelnde Art für den geschundenen Landesverband attraktiv. Zudem war er aufgrund seines Hauptbetätigungsfeldes im Bundestag noch nicht durch innerparteiliche Querelen verschlissen und verkörperte aufgrund seines Alters von damals 38 Jahren einen Neuanfang. Die Niederlage seiner Partei barg für Matschie daher einen persönlichen Karriereschub. Zum anderen aber bedeutete der Karriereschritt den Beginn einer jahrelangen Auseinandersetzung mit Richard Dewes und damit auch die Konfrontation zweier völlig unterschiedlicher Politikstile. Nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden suchte Matschie seinen Landesverband zu stabilisieren, was ihm zunächst auch trotz seiner Eingebundenheit in Berlin zu gelingen schien.1382 Zumindest erging sich die Thüringer SPD nicht in selbstzerfleischenden Debatten. Bei der Bundestagswahl 2002 erzielte sie das beste Ergebnis aller Thüringer Parteien, was angesichts der drei Jahre zurück liegenden Landtagswahl geradezu sensationell anmutete.1383 Nicht zuletzt dieser Wahlerfolg dürfte es gewesen sein, der Matschie in das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium für Bildung und Forschung beförderte. Doch dies wiederum erschwerte ihm die Arbeit als Landesvorsitzendem, da er nun noch mehr als zuvor als Ausschussvorsitzender in die Berliner Arbeit eingebunden war, noch weniger inhaltlich-politische Profilierungsmöglichkeiten und weniger Gelegenheit zur Landesarbeit besaß. Im Landtag galt dann auch nicht die SPD sondern die PDS als die eigentliche Oppositionspartei, deren Fraktionsvorsitzender Bodo Ramelow als tatsächlicher Widerpart des CDUMinisterpräsidenten Bernhard Vogel beziehungsweise des seit 2003 amtierenden 1380
Vgl. zu den Zahlen Schmitt, 2000, S. 57. Vgl. Honnigforth, Bernhard: Die alten Geister spuken wieder, in: Frankfurter Rundschau, 05.11.2001. 1382 Vgl. Kässner, Frank: Christoph Matschie hat auf Sieg gesetzt – und am Ende verloren, in: Die Welt, 14.06.2005. 1383 Vgl. Goffart, Daniel/Steibeis, Maximilian: „Wir haben uns mit fast allen angelegt“, in: Handelsblatt, 28.10.2003; siehe auch Hentschel, Andrea/Geiger, Klaus: Entschlossener Rotschopf will CDUAlleinregierung brechen, in: Agence France Presse, 04.06.2004. 1381
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Dieter Althaus. Vor diesem Hintergrund konnten die Sozialdemokraten bei der Landtagswahl im Juni 2004 ohnehin nicht unbedingt mit einem guten Ergebnis rechnen, dennoch wurden mit 14,5% der Stimmen die schlimmsten Befürchtungen übertroffen.1384 In keinem einzigen der 44 Wahlkreise hatte die SPD die Stimmenmehrheit auf sich vereinen können – sie schien marginalisiert.1385 Matschie, der nach dem endgültigen Rückzug Dewes` aus der Landespolitik 2001 unangefochten in seinem Landesverband gewesen war, war zum Spitzenkandidaten für die Wahl 2004 gewählt worden. Doch hatte bereits das eher schlechte Wahlergebnis von 83% der Parteitagsdelegiertenstimmen auf Zweifel an seiner Führungsfähigkeit hingedeutet.1386 So wurde dem Jenaer auch ein Gutteil der Verantwortung für das zweitschlechteste Landtagswahlergebnis der SPD in der Geschichte der Bundesrepublik angelastet. Ähnlich wie im Falle Vogts bei der baden-württembergischen Wahl 2006 war auch für Matschie der logistische und thematische Spagat zwischen Regierungsverantwortung und Landespolitik schwierig. Die Unzufriedenheit der Wähler über die sozialdemokratische Bundespolitik nach der Agenda-2010-Rede Schröders und der Einfluss der erst seit wenigen Monaten wirksamen Hartz-Regelungen im Arbeitsmarktbereich führten dazu, dass Viele der Partei für ihr Verhalten in der Bundesregierung einen Denkzettel verpassen wollten.1387 Dass Matschie als Staatssekretär Teil dieser Regierung war und noch dazu mit dem „Netzwerk“ die Reformen verteidigt hatte, machte ihn in den Augen vieler Wähler nur noch unattraktiver.1388 Auch mit einer speziellen Themenkompetenz konnte die SPD ihre Konkurrenten nicht ausschalten: In wirtschaftlichen Fragen wurde sie von der CDU überholt, auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit musste sie der PDS die Führungsposition überlassen.1389 Und ebenso setzten sich die Sozialdemokraten in der Kandidatenpräferenz nicht durch: Während Dieter Althaus angesichts seiner erst seit kurzem währenden Amtsdauer als Landesvater überraschend große Anerkennung genoss, fiel dem PDS-Kandidaten Bodo Ramelow die Rolle des schlagfertigen Gegners zu.1390 Matschie dagegen war weder wortgewaltig noch 1384
Vgl. Infratest-Dimap: Landtagswahl Thüringen 2004, abrufbar unter http://www.infratestdimap.de (zuletzt aufgerufen am 27.10.2008). 1385 Vgl. Honnigfort, Bernhard: In Thüringen geht´s jetzt „zur Sache“, in: Frankfurter Rundschau, 15.06.2004. 1386 Vgl. Bartsch, Michael: Thüringer SPD will keine Einheitspartei sein, in: Die Tageszeitung, 29.03.2004. 1387 Vgl. Infratest-Dimap: Landtagswahl Thüringen 2004, abrufbar unter http://www.infratestdimap.de (zuletzt aufgerufen am 27.10.2008). 1388 Vgl. Deggerich, Markus: Die Hypothek Schröder, in: Spiegel Online, 13.06.2004. 1389 Vgl. Infratest-Dimap: Landtagswahl Thüringen 2004, abrufbar unter http://www.infratestdimap.de (zuletzt aufgerufen am 27.10.2008). 1390 Vgl. zu Ramelow Langenau, Lars: „Opponieren, tolerieren, koalieren“, in: Spiegel Online, 09.06.2004.
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besaß er eine telegene Ausstrahlung oder gar das vielzitierte Mediencharisma. Er galt zwar als im direkten Kontakt durchaus sympathisch, aber eben auch farblos.1391 So einleuchtend die Wahlniederlage Matschies war, so erstaunlich war die Entwicklung nach der Wahl. Noch am Wahlabend meldete sich der ehemalige Parteivorsitzende Dewes, der bereits 2003 aus dem Privatleben in den Parteivorstand zurückgekehrt war, und forderte öffentlich Matschies Rückzug von der Parteiführung.1392 Die Stellungnahme des Spitzenkandidaten für eine große Koalition, so Dewes, habe der SPD jegliches Profil geraubt und sie in den Augen vieler Wähler überflüssig gemacht.1393 Dennoch blieb Matschie im Amt des Parteivorsitzenden, mit der Beurlaubung des Landesgeschäftsführers Frank Schulze, der als Matschies Vertrauter im Land fungiert hatte, wurde lediglich ein Bauernopfer gebracht.1394 Dass Matschie der Machterhalt gelang, hatte er vor allem der so genannten mittleren Funktionärsebene zu verdanken. Während die Landtagsfraktion gespalten und auch der Jenaer Kreisverband zu klein waren, um als Machtbasis zu fungieren, hatten sich der Parteirat sowie die Kreisvorsitzenden mehrheitlich für Matschies Verbleib im Amt ausgesprochen.1396 Die medienwirksame Kritik seines Kontrahenten Dewes konnte er auf diese Weise überstehen. Neben der Tatsache, dass es dem Jenaer offenbar gelungen war, einen Großteil der Partei trotz elektoraler Desaster hinter sich zu bringen, war es die Tatsache, dass Matschie nun als Fraktionsvorsitzender nach Thüringen ging, die an den Vorgängen um die Wahl 2004 auffällig war. Anders als Vogt, die erst nach der Bundestagswahl 2005 und damit ein gutes halbes Jahr vor ihrer Niederlage bei der Wahl 2006 ins Land gewechselt war, gab Matschie seine gesicherte Position als Staatssekretär und sein Bundestagsmandat mitten in der Legislaturperiode auf.1397 Matschie bewies mit diesem Schritt einmal mehr Durchhaltevermögen, auch in einer wenig Erfolg versprechenden Situation. In den folgenden Jahren schien es, als kehrte dank Matschie Ruhe in die thüringische Partei ein. Doch im November 2007 zeigten sich erneut die Risse des Landesverbands: Auf dem Landesparteitag in Schmalkalden erhob Richard 1391
Vgl. beispielhaft Langenau, Lars: Stiller Angreifer, in: Spiegel Online, 04.06.2004. Vgl. Honnigforth, Bernhard: Das „große Schlachtfest“ bei der Thüringer SPD fiel aus, in: Frankfurter Rundschau, 16.06.2004. 1393 Vgl. Käßner, Frank/Müller, Uwe: Der Thüringer SPD droht ein Flügelkampf, in: Die Welt, 15.06.2004. 1394 Vgl. Langenau, Lars: Thüringer Genossen im Beißkrampf, in: Spiegel Online, 15.06.2004. 1396 Vgl. Kellermann, Eike: Matschie kehrt Berlin den Rücken und geht nach Erfurt, in: Stuttgarter Zeitung, 18.06.2004. 1397 Vgl. Kellermann, Eike: Matschie kehrt Berlin den Rücken und geht nach Erfurt, in: Stuttgarter Zeitung, 18.06.2004. 1392
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Dewes angesichts der nächsten Landtagswahl 2009 Anspruch auf die Spitzenkandidatur und verknüpfte diesen mit dem Postulat, die SPD müsse auch bereit sein, als Juniorpartner der mittlerweile zur Linkspartei transformierten PDS in die Regierungsverantwortung zu gehen.1398 Damit sprach er nicht nur Matschie die Fähigkeit und das quasi natürliche Recht als Parteivorsitzender ab, seine Partei im Wahlkampf anzuführen, er traf die SPD mit seiner Aussage zur Linkspartei auch an ihrer empfindlichsten Stelle. Denn die Sozialdemokraten hatten sich zwar mit dem behutsamen „Eventuell“ bezüglich einer rot-roten Koalition abgefunden, die Frage aber, ob man auch einem Ministerpräsidenten der linken Konkurrenz ins Amt verhelfen würde, besaß das Potenzial, den Landesverband zu spalten. Matschie und Dewes versuchten die Frage der Spitzenkandidatur und die damit verbundene Koalitionsfrage in einer Urwahl am 24. Februar 2008 zu klären, in deren Vorfeld sie alle Kreisverbände Diskussionsrunden besuchten.1399 Letztendlich gewann Matschie die Urwahl souverän mit 71,6% der Stimmen, während Dewes nur 27% auf sich vereinen konnte.1400 Die Vorgänge verdeutlichten mehrerlei Dinge. Zunächst gereichte das Instrument der Urwahl Matschie zum Vorteil in der Auseinandersetzung mit seinem Dauerkonkurrenten Dewes. Wie gezeigt, hatte er sich bereits nach der Landtagswahl 2004 auf die mittlere Funktionärsebene zur Machtsicherung stützen können, und auch der direkte Kontakt mit den Mitgliedern in den durchgeführten Diskussionsrunden kam Matschies eher im kleinen Rahmen wirkenden Stil entgegen. Zudem besaß er die Unterstützung der Bundespartei, quer durch die verschiedenen Parteiflügel: Sowohl ausgewiesene „Netzwerker“ wie der damalige Bundesgeneralsekretär Heil oder der thüringische MdB Carsten Schneider unterstützten Matschie, als auch die Sprecherin der Parteilinken, Andrea Nahles.1401 Und schließlich stellte sich auch der Chef des thüringischen DGB, Steffen Lemme, demonstrativ hinter Matschie. Auf diese Weise konnte sich der Jenaer letztendlich als Konsenskandidat präsentieren, während sein Konkurrent Dewes mehr und mehr als spaltender Störenfried galt, der sich noch dazu nach seiner Niederlage 1999 aus der Verantwortung gestohlen hatte. Darüber hinaus war es Matschie offenbar gelungen, in den Jahren seit 2004 die Fraktion von sich zu überzeugen: Immerhin elf der 15 Landtagsabgeordneten sprachen sich in einem Brief für Matschie als Spitzenkandidaten und damit auch für den von ihm ver-
1398
Vgl. Honnigfort, Bernhard: SPD-Vorwahlen in Thüringen, in: Frankfurter Rundschau, 24.01.2008. 1399 Vgl. Haselberger, Stephan: Unter der Regie der Linkspartei?, in: Der Tagesspiegel, 22.02.2008. 1400 Vgl. o. V.: Matschie wird SPD-Spitzenkandidat, in : Spiegel Online, 24.02.2008. 1401 Vgl. Lachmann, Harald: In der Thüriner SPD zieht noch keine Ruhe ein, in: Stuttgarter Zeitung, 03.03.2008.
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folgten Umgang mit der Linkspartei aus.1402 Demgegenüber hatte Dewes seine wichtigsten Fürsprecher im Parteivorstand.1403 Insgesamt aber war es Matschie nach seinem Wechsel in die thüringische Landespolitik gelungen, den größten Teil potenzieller innerparteilicher Machtzentren für sich einzunehmen. Der Redliche: politischer Stil Die immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit Dewes verdeutlichteallerdings auch, für welchen politischen Stil Matschie stand. Denn Matschie und Dewes waren in vielem geradezu antagonistische Gegenspieler. Der 1948 in saarländischen Alsweiler geborene Dewes war 1995 vom damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel als Innenminister der großen Koalition nach Thüringen geholt worden.1404 Bereits 1999 hatte Dewes eine rot-rote Koalition im Bundesland ins Gespräch gebracht und sich damit mediale Aufmerksamkeit gesichert.1405 Nach seiner Wahlniederlage 1999 allerdings verließ er nicht nur den Landesvorsitz, sondern zog sich 2001 vollständig aus der Politik zurück.1406 Erst nach der von Matschie verlorenen Landtagswahl 2004 versuchte er mit über die Medien lancierten Wortmeldungen, in die Politik zurück zu kehren. Dewes kann daher besonders aus der Perspektive Matschies als Verkörperung jenes politischen Stils der 68er angesehen werden, der auf Konflikt, Personalisierung und mediale Inszenierung setzte. Demgegenüber hatte Matschie bereits nach Dewes` Scheitern als Spitzenkandidat 1999 betont, Politik sei ein Mannschaftsspiel, und es dürfe nie nur einer Person allein die Schuld am Wahlausgang gegeben werden.1407 Der Jenaer setzte anstatt auf den über Medien geschürten Konflikt eher auf eine in den internen Gremien der Politik wirkende integrative Führung. Matschie praktizierte seit jeher einen diskursiven, einbindenden Politikstil mit sachlicher Aussprache. Ohne Zweifel verkörperte er nie ein macchiavellistisches Machtstreben, wie es unter Umständen einigen SPD-Enkeln wie Schröder oder Lafontaine, im thüringischen Fall auch Dewes zu Eigen war. Nichtsdestotrotz zeugten Matschies privater wie beruflicher Lebensweg von einiger Risikobereitschaft und Ausdauer, wie sein Leben in der DDR, seine Rolle während der Umbruchsjahre 1989/90
1402
Vgl. o. V.: SPD-Abgeordnete und Kreisvorsitzende stellen sich hinter Matschie, in: ddp, 30.01.2008. 1403 Vgl. o. V.: Mehrheit des SPD-Vorstands stellt sich offen gegen Matschie, in: ddp, 29.01.2008. 1404 Vgl. o. V.: Dewes will noch einmal an die Macht, in: Associated Press Worldstream, 01.02.2008. 1405 Vgl. Kässner, Frank: Christoph Matschie hat auf Sieg gesetzt – und am Ende verloren, in: Die Welt, 14.06.2004. 1406 Vgl. Lühmann, Michael: Showdown in Erfurt, in: Zeit Online, 12.02.2008; siehe auch Honnigforth, Bernhard: Der Chef und sein Schatten, in: Frankfurter Rundschau, 29.03.2004. 1407 Vgl. o. V.: Ich bin nicht der Notnagel, in: Thüringer Allgemeine, 12.10.1999.
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und sein Standhalten bei politischen Niederlagen dokumentierten.1409 All dies negiert nicht die Tatsache, dass Matschies Talent nicht in rhetorischen Glanzleistungen vor großem Publikum lag, er kein intellektueller Querdenker war und seine elektorale Bilanz in Thüringen selbst bei euphemistischer Beurteilung durchwachsen war. Aber in seiner beharrlichen Nachdenklichkeit und dem Mut zum Unkonventionellen in kleinen Dingen lag denn doch eine Stärke, die in den medialen Schilderungen eines Karriere orientierten und inhaltlich blassen „Netzwerkers“ nicht zum Ausdruck kam. Protagonist der Wertsynthese: inhaltliches Profil Matschies Bemühen um eine stets sachliche Auseinandersetzung und seine damit einhergehende Abneigung gegenüber Personalisierungen, sein Bemühen darum, Konflikte diskursiv und in parteiinternen Kreisen zu lösen, verdeutlichten bereits seine Nähe zum „Netzwerk“. Dabei entsprang sein Politikstil der sozialen Prägung durch Elternhaus und Studienwahl, auch der generationell bedingten Beteiligung an den politischen Geschehnissen 1989/90. Und auch in inhaltlichthematischer Hinsicht kann Matschie in vielen Aspekten in das „Netzwerk“ eingeordnet werden, ja, in gewissem Sinne entspricht er gar idealtypisch der von Klein diagnostizierten materialistischen Wertsynthese einer ursprünglich postmaterialistisch orientierten Kohorte. Auch wenn Kleins Beobachtungen im Wesentlichen anhand der in Westdeutschland geborenen Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1965-75 entwickelt worden waren, so besaß Matschie doch zweifelsfrei bei seinem Wechsel in die Berufspolitik zu Beginn der 1990er-Jahre eine postmaterialistische Grundeinstellung. Wie geschildert, hatte er für sein politisches Interesse das Streben nach (Meinungs-)Freiheit und Partizipation sowie die Umweltverschmutzung in der DDR genannt.1411 Auch sein bundesrepublikanisches Engagement im „Arbeitskreis Nord-Süd“ der SPD zu Beginn der 1990erJahre lässt sich in dieses Profil einordnen. Im Laufe seiner beruflichen und professionellen politischen Sozialisation ergänzte er derartige Überzeugungen jedoch mit materialistischen Perspektiven. Der Einsatz für eine eher Kapital orientierte Rentenversicherung, die Diskussion über eine Reform des Gesundheitswesens sind in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie die Vorschläge zu Bürokratieabbau sowie zur teilweisen Abschaffung des Berufsbeamtentums.1412 1409
Vgl. zur Biografie http://www.christoph-matschie.de/index.php?mod=content&menu=14&page_ id=902&__matsch=17085cc6f7c0236772264b235016e6d2 (zuletzt aufgerufen am 01.03.2009). 1411 Vgl. Interview Matschie, S. 6. 1412 Vgl. Lutz, Martin/Middel, Andreas: „Die SPD zahlt einen hohen Preis“, in: Die Welt, 23.09.2003; siehe auch Averesch, Sigried/Vestring, Bettina: SPD will viel weniger Beamte, in: Berliner Zeitung, 30.12.2003.
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Insgesamt aber verlagerte Matschie seinen inhaltlichen Schwerpunkt von Beginn der 1990er-Jahre aus dem Bereich Umwelt auf das Gebiet der Bildung und Forschung, spätestens seit der Übernahme des Staatssekretärspostens 2002. Was auf den ersten Blick wie ein thematischer Schwenk wirkte, besaß doch eine gewisse Folgerichtigkeit. Matschie betonte, dass er bereits in seiner Zeit als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Umwelt und Reaktorschutz begonnen habe, sich mit Forschungsfragen im Bereich des Umweltschutzes zu befassen.1413 So war auch sein Schwerpunkt im Bundesbildungsministerium die Forschung und nicht die Bildung. In der Landespolitik setzte Matschie sich für die Einführung einer achtjährigen Gesamtschule ein, für mehr Eigenständigkeit der einzelnen Schulen, eine Überarbeitung der Wirtschaftsförderung für Thüringen und die Etablierung eines gesetzlichen Mindestlohns.1414 In seinem inhaltlichen Profil wies Matschie somit einige Spannungen auf: Während der beschriebene umweltpolitische Einsatz sowie die Forderung eines Mindestlohns als linke Politikziele eingeordnet werden können, können dies die von dem Jenaer gestützten Thesen der Agenda-2010 des „Förderns und Forderns“ schon weniger, kaum möglich ist es mit den auf Liberalisierung und verstärkte Marktwirtschaftlichkeit abzielenden Vorschlägen zur Abschaffung des Berufsbeamtentums, der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen oder einem zurückgezogenerem Staat.1415 Gerade letztere, stark auf Liberalisierung setzende Ziele werden innerhalb der Sozialdemokratie gemeinhin als „rechts“ tituliert.1416 Die Mischung aus rechten und linken Politikzielen aber wies Matschie als „Netzwerker“ aus, denn gerade die Absage an jede ideologische Überhöhung von Problemlösungen und die Befürwortung sachlicher Entscheidungen anhand des Einzelfalls waren es, die „Netzwerker“ kennzeichneten. Im Falle Matschies ist es plausibel, die unideologische Herangehensweise auf seine DDR-Sozialisation zurückzuführen, welche ihn die negativen Folgen einer auf ins Extreme gesteigerten Weltanschauung fußenden Gesellschaft hatte spüren lassen. Zudem waren ihm die herkömmlichen sozialdemokratischen RechtsLinks-Schemata, die sich im Verlauf der langen Parteigeschichte kristallisiert hatten, naturgemäß fremd. Darüber hinaus aber können die verschiedenen Politikpositionen Matschies auch als Versuch interpretiert werden, postmaterialisti1413
Vgl. Interview Matschie, S. 19. Vgl. Averesch, Sigried/Vestring, Bettina: Thüringer SPD will acht Jahre gemeinsame Schule, in: Berliner Zeitung, 13.12.2003; siehe auch Spoerr, Kathrin: Erneutes Debakel für die SPD in Thüringen, in: Die Welt, 29.06.2004. 1415 Vgl. Averesch, Sigrid/Vestring, Bettina: SPD will weniger Beamte, in: Berliner Zeitung, 30.12.2003. 1416 Vgl. Schmitt, Hermann: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Mintzel, Alf/Oberreuter, Heinrich (Hg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1992, S. 133171, hier S. 139 ff. 1414
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sche mit materialistischen Zielsetzungen zu vereinbaren, sie zumindest nicht als sich diametral gegenüberstehende Gegensätze zu verstehen. Matschie als „Netzwerker“ Aus eben diesen Gründen war Matschie das „Netzwerk als Diskussionsforum aufgrund der seiner Generation entspringenden Inhalte sowie dem partizipatorisch-diskursiven Politikstil attraktiv erschienen. Dennoch kann Matschie nicht zum eigentlichen Kern des „Netzweks“ gezählt werden. Zwar war sein Name auch in Zusammenhang mit der Konstituierung des ersten Sprecherkreises 2002 gefallen, doch hatte der Jenaer von sich aus mit Verweis auf seine anderweitigen Verpflichtungen abgelehnt.1417 Auch mit inhaltlichen Vorstößen etwa in der „Berliner Republik“ tat Matschie sich weniger als andere hervor. Ähnlich wie im Falle Vogts war Matschies Rolle im „Netzwerk“ eine andere. Als das „Netzwerk“ 1999 gegründet wurde, war er bereits Vorsitzender eines Bundestagsausschusses, wenig später Landesvorsitzender, drei Jahre danach Parlamentarischer Staatssekretär. In diesen Rollen war es ihm weniger als anderen möglich, sich mit hohem zeitlichem Aufwand an Projekten des „Netzwerks“ zu beteiligen. Auch die inhaltlichen Freiheiten waren begrenzt. Zwar konnte er als Aushängeschild des „Netzwerk“-Erfolgs nach außen fungieren, doch war er nicht unbedingt zentral für die Gruppierung. Er selbst machte nie einen Hehl aus seiner Solidarität mit dem „Netzwerk“, aber er stellte sie auch nie in den Vordergrund. Spätestens seit seinem vollständigen Wechsel in die Landespolitik war er für die Gruppierung quasi einer der „Außenposten“ einer innersozialdemokratischen Politikrichtung und damit – nicht mehr, aber auch nicht weniger – Teil des immer weiter verzweigten „Netzwerks“. 7.3 Interpretation der Einzelporträts Die ausführliche Analyse von Biografien mehrerer führender „Netzwerker“ machte deutlich, dass zwar alle vorgestellten Personen generationelle und beruflich-biografische Merkmale, wie sie für das „Netzwerk“ insgesamt herausgearbeitet wurden, aufwiesen, jedoch niemand prototypisch alle Charakteristika in sich vereinte. Während beispielsweise Kerstin Griese in ihrem anfänglichen politischen Interesse sowohl personell als auch inhaltlich wohl die größte Nähe zu den Neuen Sozialen Bewegungen und deren politischen Anliegen zeigte, kann Hans-Peter Bartels als derjenige bezeichnet werden, dessen Biografie die größte Distanz zu diesem politischen Bereich offenbarte. Dennoch haben die Einzelporträts deutlich gemacht, dass sich in allen Biografien der untersuchten Perso1417
Vgl. Interview Hauer, S. 18.
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C. Untersuchungsteil
nen Bündel der für die Gruppierung herausgearbeiteten Merkmale niederschlugen. So erwies sich sowohl bei Hans-Peter Bartels als auch bei Christian Lange das Bemühen um Transparenz politischer Abläufe als handlungsleitendes Motiv, wenn auch in unterschiedlichen Ausformungen. Aus diesem Grund kann wenn auch nicht von einer Generationeneinheit im strengen Mannheimschen Sinne so doch von einem Generationenzusammenhang bezüglich des „Netzwerks“ gesprochen werden, gewissermaßen mit Tendenz zur – innerparteilichen – Generationeneinheit. Darüber hinaus bestärkten die Einzelporträts noch einmal die Trennung von „Netzwerk“-MdBs in 1960 folgende Geborene einerseits sowie in den 1950erJahren Geborene andererseits. Bis auf Siegmund Ehrmann waren alle porträtierten „Netzwerker“, die aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung innerhalb der Gruppierung ausgewählt worden waren, ab 1960 geboren worden. Die eigentliche treibende Kraft des Generationenzusammenhangs scheint also in den Geburtskohorten 1960 folgende zu liegen, während man bei den früheren Jahrgängen unter Umständen von einem umgelenkten Typus sprechen könnte. Doch noch auf einige weitere Merkmale soll bezüglich der hier vorgestellten Einzelporträts hingewiesen werden. Die biografischen Verläufe der neun Porträtierten entsprechen bis auf wenige Abstriche einer klassischen sozialdemokratischen Politikerkarriere. Bis auf Siegmund Ehrmann und Christoph Matschie, dem es aus naheliegenden Gründen nicht möglich war, waren alle Porträtierten bereits bei den Jungsozialisten aktiv gewesen und hatten dort Funktionen eingenommen, parallel dazu waren sie innerparteilich beziehungsweise kommunalpolitisch tätig und errangen auf diesen Ebenen erste Ämter. Ohne eine gewisse Parteierfahrung kam jedenfalls keine der neun Personen in den Bundestag. Auffällig war jedoch, dass alle Biografien mit dem Einzug in das Bundesparlament einen katapultartigen Sprung erfuhren. Insofern verliefen die innerpolitischen Karrierewege zwar recht schnell, wofür Ute Vogt als hervorstechendstes Beispiel dienen mag, jedoch keineswegs ungewöhnlich. Erwähnt werden sollte, dass zum einen außer Siegmund Ehrmann als dem einzigen in den 1950er-Jahren Geborenen niemand nennenswerte außerpolitische Berufserfahrung besaß. Zum anderen ist bemerkenswert, dass die Karrierewege der Porträtierten alle über die Bundesebene verliefen. Sicher klingt dies Argument zunächst tautologisch, denn ohne die Abgeordnetentätigkeit im Bund wären die Porträtierten nicht als solche ausgewählt worden. Doch ist auffällig, dass im Gegensatz zur Vorgängergeneration die Bundesebene in einem frühen biografischen Karrierestadium offenbar attraktiv erschien. Während in der vorhergehenden Generation mit den „Enkeln“ ein Aufstiegsmuster vorherrschend war, welches sich – auch aufgrund der Oppositionsstellung der SPD im Bund – am Machterwerb in den Bundesländern orientierte, war dies unter Jüngeren offenbar
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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weniger zwingend. Und wo „Netzwerker“ doch einmal in die Länder zurückkehrten, taten sie dies in für die SPD machtpolitisch recht schwierigen Regionen wie Baden-Württemberg und Thüringen. Dies mag zum einen als ein Hinweis auf die prekäre Lage der Sozialdemokratie in vielen Bundesländern gedeutet werden, deren Landesverbände für potenzielle politische Karrieren schlichtweg nicht mehr attraktiv waren. Die Tatsache, dass nach der Bundestagswahl 2005 beispielsweise mit Thomas Oppermann und Sigmar Gabriel zwei führende SPD-Politiker Niedersachsens in den Bundestag einzogen und sich dem „Netzwerk“ anschlossen, weist in eine ähnliche Richtung. Zum anderen aber sei an dieser Stelle noch einmal darauf verwiesen, dass ein solcher Werdegang, der sich zentral auf ein (Bundestags)Mandat fokussiert, einen bestimmten politischen Stil nach sich zieht. Das tagesaktuelle, kleinteilige Arbeiten im Bundestags mit dem ständigen Rechtfertigungszwang gegenüber dem eigenen Wahlkreis, der auch für die materielle Absicherung des Politikers ausschlaggebend ist, macht es schwierig, ein inhaltliches Generalistentum auszubilden, wie es beispielsweise von Spitzenkandidaten für das Ministerpräsidentenamt erwartet wird. Auch das mag Vogts und Matschies Kandidaturen erschwert haben. Darüber hinaus aber begründet dies noch einmal die Attraktivität der „Netzwerk“-Diskussionen, da sich hier im parlamentarischen Alltag eine ungewohnte thematische Vielfalt bot. Als markant erwies sich in den obigen Porträts zudem, dass keiner der Porträtierten versuchte, Privates für das eigene politisch-berufliche Fortkommen zu instrumentalisieren. Das Zurschaustellen oder gar die Skandalisierung des Privatlebens war bei keinem der Porträtierten Bestandteil der Karriere. Auch der gezielte Tabubruch, die medial vermittelte Provokation diente den hier betrachteten Politikern nicht zum Aufstieg. Einzig Ute Vogt nutzte das Interesse der Medien an ihr, ja, beförderte es durch verschiedenste TV-Auftritte, um ihren Ruf als authentische, junge Nachwuchspolitikerin positiv zu stützen. Darin zeigte sich eine Differenz zur Vorgängergeneration, die in den Einzelporträts aber noch deutlich herausgearbeitet werden konnte. Zuletzt sollen noch zwei Schnittpunkte herausgehoben werden, welche sich in den Biografien der Porträtierten offenbarten und auf den politischen Bereich beziehen. So bildete für mehrere der Politiker die sozialdemokratische Asyldebatte zu Beginn der 1990er-Jahre einen Kristallisationspunkt der parteiinternen Sozialisation. Besonders für Hauer und Griese war dies Anlass, gegen das Verhalten der Mutterpartei zu protestieren und an ihren Grundsätzen zu zweifeln. So auffällig diese Parallele in den Biografien war, so unklar ist ihre Konsequenz für das weitere politische Handeln der Betreffenden. Denkbar wäre unter Umständen eine erste Erschütterung des Vertrauens in die Führungskräfte der „Enkel“Generation und in die Haltbarkeit politischer Versprechen. Gestärkt wird diese
288
C. Untersuchungsteil
These dadurch, dass die hier diskutierten Politiker in ihrer politischen Laufbahn mit Politikverdrossenheit oder -misstrauen konfrontiert waren. Besonders markant war dies in den Biografien Hauers, Vogts oder Langes. Auch kann als Indiz für die besondere Relevanz des Wertes „Vertrauen“ im politischen Umfeld gesehen werden, wie es als vom „Netzwerk“ angestrebtes Merkmal politischer Kultur herausgearbeitet wurde. 7.4 Zwischenfazit Die Analyse der Bildungs- und Berufsverläufe der „Netzwerk“-MdBs, die Auswertung der geführten Interviews hinsichtlich generationell bedeutsamer Erlebnisse oder Ereignisse sowie schlussendlich die Ausführung der gewonnenen Erkenntnisse in neun Einzelporträts brachte diverse Charakteristika der „Netzwerk“-Abgeordnetengruppe zu Tage. So Zeigte sich bezüglich des Bildungsniveaus bei „Netzwerk“-MdBs eine Häufung höherer formaler Bildungsstandards, die als Bildungsspirale bezeichnet werden kann. Dabei war einerseits die geringe Anzahl von Bildungsabschlüssen unterhalb des Abiturs auffällig, andererseits stach die relative große Anzahl promovierter Abgeordneter ins Auge. Zudem zeigte sich eine hohe Konzentration sozialwissenschaftlicher, teilweise genuin politikwissenschaftlicher Ausbildungen, die zusammen mit der geringen außerpolitischen Erfahrung vieler Abgeordneter auf eine steigende politische Professionalisierung aber auch auf eine wirtschaftliche Abhängigkeit der MdBs schließen lässt. Unterstützt wurde diese Beobachtung durch die relativ geringe Verankerung der betrachteten „Netzwerker“ in gemeinhin als der Sozialdemokratie nahe stehenden Organisationen wie beispielsweise den Gewerkschaften. Hierin war eine Begründung für den Versuch des „Netzwerks“ zu sehen, insbesondere durch die geschilderten Regionalforen oder Dialogveranstaltungen, jedoch auch allgemein durch die von ihm praktizierten Diskussionsveranstaltungen gesellschaftliche Interessenlagen zu ermitteln und politische Vorstellungen zu vermitteln. Darüber hinaus konnten in den biografischen Verläufen der „Netzwerk“MdBs bestimmte Merkmale ausgemacht werden, welche die Entwicklung eines pragmatischen Politikstils begünstigten – eines der Attraktivitätskennzeichen, aufgrund derer Abgeordnete dem „Netzwerk“ beitraten. Darüber hinaus konnte grundlegend konstatiert werden, dass sich im „Netzwerk“ zwei verschiedene politische Generationenzusammenhänge verbergen. Die biografischen Verläufe und Berufskarrieren der in den 1950er-Jahren Geborenen differierten in vielen Punkten von jenen der in den 1960er-Jahren folgende Geborenen. Als eigentliche Kernkohorten des „Netzwerks“ konnten dabei die Angehörigen der Geburtsjahre 1960 folgende ausgemacht werden, da sie mehrheitlich die Gründungsgeneration
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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der Gruppierung stellten sowie ein schärferes generationelles Profil zeigten. Dies macht noch einmal deutlich, dass es sich bei vielen der in den 1950er-Jahren geborenen „Netzwerker“ um Repräsentanten einer Übergangs- oder Zwischengeneration zu handeln scheint, die nicht nur zahlenmäßig gering in ihrer Partei vertreten ist, sondern zudem ein relativ unscharfes gerenationelles Profil aufweist. Ihre politischen Werdegänge orientierten sich in Teilen noch an der Vorgängergeneration, was beispielsweise die Sozialisation in den ideologisch aufgeladenen 1970er-Jahren betrifft. Dennoch versuchten sie sich im späteren politischen Werdegang sowohl im Stil als auch in den Inhalten und Positionen von der Vorgängergeneration abzusetzen. Hinsichtlich der in den 1960er-Jahren folgende geborenen „Netzwerk“MdBs war auffällig, dass alle ihre Biografien eine deutliche Nähe zu den Neuen Sozialen Bewegungen und den von ihnen repräsentierten postmaterialistischen Wertüberzeugungen aufwiesen. Sowohl ihre ersten politischen Erfahrungen als auch ihre ursprünglichen Interessen fanden in diesem Kontext statt. Zweierlei Gedanken können aus dieser Beobachtung für den Gesamtkontext der Arbeit abgeleitet werden. Zum einen bietet die Sozialisation im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen eine weitere Begründung für den beteiligungsorientierten, offenen politischen Stil. Denn eine der Kernforderungen quer durch die verschiedensten Erscheinungsformen der Neuen Sozialen Bewegungen von Frauenüber Friedens- bis hin zu Ökologiebewegung war diejenige nach mehr und direkterer politischer Partizipation. Viele der „Netzwerk“-MdBs übertrugen offensichtlich die grundlegende politische Sozialisationserfahrung der Partizipation auf das „Netzwerk“. Zum anderen ist auffällig, dass andere Kernforderungen, denen sich „Netzwerker“ im Zusammenhang mit ihrer Sozialisation im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen ausgesetzt sahen, im Verlauf ihres politischen Werdegangs offenbar mehr und mehr in den Hintergrund gerieten. Besonders bei Nina Hauer wurde eine grundlegende inhaltliche Wende festgestellt, die sich zwar individualbiografisch einigermaßen begründen lässt, die aber längst keine hinreichende Erklärung dafür liefert, warum besonders friedens- und umweltpolitische Themen für „Netzwerker“ bei ihrem späteren politischen Engagement immer unbedeutender wurden. Zwei mögliche Begründungen bieten sich in diesem Zusammenhang an. Zum einen wurde an verschiedenen Stellen herausgearbeitet, dass besonders bei den hier vorrangig diskutierten Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1960 folgende eine Wertsynthese stattgefunden haben könnte. Die Biografie Christoph Matschies kann in dieser Hinsicht als exemplarisch bezeichnet werden. Doch auch insgesamt wurde plausibel zu machen versucht, dass die im frühen Erwachsenenalter auf „Netzwerker“ einwirkenden Einflüsse – Globalisierung und Europäisierung, Deutsche Einheit und Zusammenbruch des Ostblocks – erschütternde
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Ereignisse oder Prozesse darstellten, die im Sinne Mannheims sozialisierend und generationenbildend wirkten.1418 Die seit den 1990er-Jahren dringlich gewordenen materialistischen Problemstellungen überlagerten daher zum Teil postmaterialistische Grundeinstellungen. Zum anderen aber bietet ein Auszug aus dem Interview mit Hubertus Heil einen möglichen Ansatzpunkt dafür, warum beispielsweise ökologische Fragestellungen im „Netzwerk“ eine relativ geringe Bedeutung einnahmen. Heil machte deutlich, dass unter Umständen gerade die ständige Präsenz der Thematik zu einem gewissen Überdruss beziehungsweise zur unhinterfragten Internalisierung geführt habe.1419 Beispielsweise die Problematik des Umweltschutzes oder auch der erneuerbaren Energien war im politischen Leben jüngerer Politiker so omnipräsent und selbstverständlich, dass sie kaum noch thematisiert wurde. Als ein weiterer entscheidender Kristallisationspunkt stellte sich die Auseinandersetzung von „Netzwerkern“ mit der Vorgängergeneration der 68er beziehungsweise „Enkel“ heraus. In den geführten Interviews, aber auch in den Einzelporträts erwies sich, dass zahlreiche Erlebnisse mit den sozialdemokratischen Führungspersonen in den 1980er- und 1990er-Jahren bei „Netzwerkern“ dazu geführt hatten, dass sie negative Stereotype über den Aufstiegsmodus und politischen Stil der Vorgängergeneration ausbildeten, von denen sie sich wiederum abzusetzen suchten. Die vom „Netzwerk“ gepflegte politische Kultur ging also zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Ablehnung der von 68ern kultivierten Verhaltensweisen sowie das Bemühen zurück, sich von diesen zu distanzieren. Dies lässt zwei weiterführende Schlussfolgerungen zu. Zum einen wird an dieser Stelle deutlich, dass für die Auseinandersetzung mit einer Vorgängergeneration – wie sie im Mannheimschen Sinne essentiell ist für die Herausbildung einer eigenen, neuen Generation – nicht unbedingt das faktische Verhalten dieser Vorgängergeneration Ausschlag gebend ist, sondern die von den Nachfolgenden darüber gebildeten Stereotype. Ob die sozialdemokratischen „Enkel“ tatsächlich stets den Konflikt als Mittel des Machterwerbs wählten oder Privatheit zur Durchsetzung politischer Ziele instrumentalisierten, ist unerheblich, solange „Netzwerker“ dies so interpretierten, ablehnten und entsprechend handelten. Zum anderen aber zeigt die Auseinandersetzung von „Netzwerkern“ mit der Vorgängergeneration, dass politische Führung nie zusammenhanglos stattfindet, sondern immer auch Implikationen für die Geführten besitzt. Politische Führungspersonen haben in diesem Sinne nicht nur eine inhaltliche oder machtorientierte Führungsaufgabe, sondern auch eine moralische Vorbildfunktion für den eigenen politischen Nachwuchs. 1418 1419
Vgl. auch noch einmal beispielhaft Interview Hartmann, S. 11. Vgl. Interview Heil, S. 41.
7. Die Protagonisten: Karriereverläufe, Sozialisation und Biografie
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Noch ein weiterer Punkt lässt sich hinsichtlich der generationellen Differenz zwischen „Netzwerkern“ und 68ern aus dem vorausgehenden Kapitel ablesen: Während die Generation der 68er aus sich selbst heraus einen politischen und gesellschaftlichen Handlungsdruck erzeugte, kam im Falle der nachfolgenden „Netzwerker“ der Handlungsdruck von außen auf die Jüngeren zu.1420 Die Protagonisten der 68er-Bewegung nahmen verschiedene Ereignisse zum Anlass, weit reichende politische und gesellschaftliche Veränderungen zu fordern oder teilweise selbst herbei zu führen: Die Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit der Bundesrepublik sowie der eigenen Elterngeneration, die Große Koalition oder auch der Vietnamkrieg waren Auslöser ihrer fundamentalen Kritik und ihres Aufbegehrens. Sie selbst erzeugten in der Folge einen großen Veränderungsdruck. Den jüngeren Politikern beziehungsweise der potenziellen Nachfolgegeneration dagegen geschahen die verschiedenen Ereignisse und Veränderungen – Globalisierung, Deutsche Einheit etcetera – lediglich, welche gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen auslösten, so dass die Jüngeren nur versuchten, auf diese zu reagieren. Von sich aus aber verursachten die Jüngeren keinen eigenen Handlungsdruck. Die Generationenforschung unterscheidet in diesem Zusammenhang grundsätzlich zwischen eher aktiven und eher passiven Generationen, und auch im vorliegenden Fall scheint eine solche Differenzierung sinnvoll.1421 Hinzu kommt, dass sich aufgrund des Mechanismus, dass sich Generationen auch und wesentlich in der Auseinandersetzung mit der Vorgängergeneration bilden, ein mehr oder weniger regelmäßiger Ablösungsprozess von aktiven und passiven Generationen beobachten lässt. Daher scheint es sich bei den hier diskutierten „Netzwerkern“ um Protagonisten eines passiven Generationenzusammenhangs zu handeln. Dies erklärt auch Teile der Kritik, die vor allem von einzelnen 68ern an Politikern des „Netzwerks“ geübt wurde und die darauf zielte, die Jüngeren wagten zu wenig den Protest.1422 Denn diese Kritik orientierte sich gewissermaßen am Idealbild einer aktiven Generation, wie es vor allem durch die historische Jugendbewegung und die 68er repräsentiert wurde. Nichtsdestotrotz können Generationen sich auch ohne Aufbegehren und lauten Protest äußern, wie unter anderem das Beispiel der Skeptischen Generation zeigt. Mit dieser scheinen die hier betrachteten jüngeren Politiker der „Netzwerker“ hinsichtlich der Ablehnung von überhöhten Ideologien und der Maxime eines pragmatischen Handelns oh-
1420
Vgl. hierzu auch Interview Matschie, S. 15. Vgl. Weisbrod, Bernd: Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2005), S. 3-9, hier S. 5 und S. 8; siehe auch Schulz/Grebner, 2003, in: Dies., 2003, S. 17. 1422 Vgl. beispielsweise Bruning, Nicola: Generation ohne Biss, in: Focus, 22.11.2004. 1421
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C. Untersuchungsteil
nehin einige Gemeinsamkeiten zu besitzen, wie im Porträt Bartels` angedeutet wurde. Schlussendlich bildet die Interpretation der Karrierewege und generationellen Erfahrungen gewissermaßen die Schnittstelle zwischen der vom „Netzwerk“ propagierten politischen Kultur und den von der Gruppierung vertretenen Inhalten. Denn welche Inhalte „Netzwerker“ als relevant und diskussionswürdig erachteten und welche Lösungsvorschläge sie hervor brachten, stand in Zusammenhang mit den von ihnen in ihrem politischen Werdegang gemachten Erfahrungen. 8
Inhaltliche Verortung des „Netzwerks“
Eine inhaltliche Verortung der gesamten „Netzwerk“-Gruppierung enthält sui generis und grundsätzlich verschiedenste Aporien. Wie in den vorausgehenden Kapiteln geschildert, war gerade die Heterogenität der Gruppierung eines ihrer Hauptmerkmale. Von manchen Mitgliedern wurde sie als Bereicherung im Sinne einer offenen und unideologischen Diskussionsführung betrachtet, andere wünschten sich mehr Einigkeit und somit politische Schlagkraft.1423 In jedem Fall aber war die Vielfalt der Meinungen innerhalb der „Netzwerk“-MdB-Runde – aber auch und erst Recht unter Einbezug weiterer Meinungskreise beispielsweise auf Länder- oder Kommunalebene – eine unwidersprochene und nicht zu leugnende Tatsache. Gepaart mit der offenen politischen Kultur bedeutete dies im Konsens nahezu unkenntlich gemachte Positionsbestimmungen einerseits sowie eine Vielzahl von Positionspapieren, die jeweils nur von Teilen der Gruppierung unterzeichnet und getragen wurden.1424 Die verschiedenen Meinungsgruppen kleinteilig und en Detail nachzuzeichnen wäre deshalb nicht nur äußerst kompliziert, es wäre auch nicht zwangsläufig Ziel führend. Denn ohne Zweifel ist auch in anderen Partei- und Fraktionsflügeln nicht immer von einem gänzlich konformem Überzeugungsmuster auszugehen. Auch im SK wird beispielsweise die Zustimmung zur Agenda 2010 nicht unbedingt bis ins Detail unumstößlich und für alle Seeheimer in identischer Weise gelten können. Ebenso ist zu erwarten, dass das Thema Mindestlohn innerhalb der PL bei aller grundsätzlichen Befürwortung differente Vorstellungen möglicherweise bei der Umsetzung und genauen Regelung hervorruft. Doch ist sowohl im SK als auch bei der PL zum einen offenbar die Bereitschaft der Mitglieder größer, sich einer Mehrheits- oder Elitenmeinung anzuschließen und unter Umständen unterzuordnen. Zum anderen genießen deren gruppeninterne Führungs1423
Vgl. Interview Ehrmann, S. 4 und S. 22; Interview Griese, S. 2 und S. 8; Interview Hartmann, S.
13.
1424
Vgl. hierzu beispielhaft Interview Griese, S. 8.
8. Inhaltliche Verortung des „Netzwerks“
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figuren und -organe scheinbar mehr Autorität und Führungsmöglichkeiten, als dies im „Netzwerk“ der Fall war. Noch einmal: Aufgrund des Selbstverständnisses des „Netzwerks“ wären ein solcher Autoritätsanspruch und die damit verbundene stärker hierarchische Führungsstruktur auch weder erwünscht noch möglich gewesen. Insofern stellt nicht unbedingt die Meinungsvielfalt an sich die Diskrepanz zu anderen parteiinternen Flügeln dar, sondern der Umgang mit dieser. Die Analyse der inhaltlichen Positionierung des „Netzwerks“ erfolgt daher unter einer mehrdimensionalen Perspektive. Im Vordergrund steht zunächst die Frage nach der generationellen Differenz der sozialdemokratischen 68er und „Enkel“ zu der hier diskutierten Nachwuchsgeneration. Es ist zu eruieren, inwieweit das „Netzwerk“ tatsächlich divergente politische Maximen vertrat, andere Wertüberzeugungen und politische Ziele als die „Enkel“ proklamierte. Darüber hinaus gilt es zu analysieren, worin diese Differenzen bestanden und in welchen Politikfeldern sie sich äußerten. Daneben wird versucht, „Netzwerk“Positionen im innerparteilichen Meinungsspektrum einzuordnen und nach Überschneidungen, Anknüpfungspunkten oder Widersprüchen zur PL oder zum SK zu suchen. Zum einen sind in diesem Zusammenhang abweichende Lösungsstrategien und Antworten auf hergebrachte Probleme und Fragestellungen denkbar, wie etwa im seit Jahrzehnten die politische Agenda bestimmendem Bereich Arbeitsmarktpolitik. Zum anderen ist aber auch schlicht eine andere thematische Prioritätensetzung der „Netzwerker“ vorstellbar, die aus soziobiografischen und generationell bedingten Erfahrungen resultiert. Als Hilfe und Maßstab der inhaltlichen Verortung des „Netzwerks“ auf einer generationellen und einer rechts-links-strukturierten Achse der parteiinternen Auseinandersetzung sollen vorrangig verschiedenste programmatische Erzeugnisse dienen. So kann als generationelles Programmdokument der 68erGeneration innerhalb der SPD vor allem das „Berliner Programm“ aus dem Jahr 1989 bezeichnet werden, doch auch der Irseer Entwurf von 1986 und die Kommission „Fortschritt ´90“ sind an dieser Stelle zu nennen.1425 In diesen Dokumenten fanden gewissermaßen die durch den Mitgliederschub Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre evozierten politischen Debatten ihren programmatischen Ausdruck. „Netzwerker“ konnten diesen Programmprozess als junge Parteimitglieder verfolgen und sollten sich auch als Bundestagsabgeordnete um die Jahrtausendwende noch am „Berliner Programm“ orientieren. Dieses bildete daher maßgeblich die Kontrastfolie, die sie als nicht mehr zeitgemäß empfanden, und von der sie sich absetzen wollten.
1425
Vgl. Lösche/Walter, 1992, S. 125-130.
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C. Untersuchungsteil
Doch gehörte es zu den Paradoxien sozialdemokratischer Programmgeschichte, dass das „Berliner Programm“ durch die historischen Ereignisse des zusammenbrechenden Ostblocks sowie der Deutschen Einheit quasi bereits zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung überholt war.1426 So orientierte sich auch die rot-grüne Regierungspolitik zwischen 1998 und 2005 – bis auf einige Ausnahmen – kaum an den Maximen der in den postmaterialistisch inspirierten 1980erJahren ersonnenen Leitsätze. Allenfalls die Einführung einer Ökosteuer oder die Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes können hier als Beispiele angeführt werden. Ansonsten bestimmten materielle Fragen das rot-grüne Regierungsgeschäft seit 1998, wie die Bedrohungen des internationalen Terrorismus, die sich verstetigende Massenarbeitslosigkeit und die Reform des Sozialstaats.1427 All dies waren zum einen Fragen, die kaum auf der ursprünglichen programmatischen Agenda der 68er-Generation gestanden hatten, die sie nun aber beantworten musste.1428 Zum anderen standen auch „Netzwerker“ selbstverständlich im Spannungsfeld dieser regierungspolitischen Fragen – sie versuchten sie in ihren internen Diskussionen zu erörtern und Lösungsbeiträge zu leisten. Insofern stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die vom „Netzwerk“ diskutierten Themen und Vorschläge zur Regierungspolitik der Jahre 1998 bis 2005 standen. Darüber hinaus kann quasi als temporärer Fluchtpunkt der inhaltlichprogrammatischen Debatten des „Netzwerks“ das im Herbst 2007 verabschiedete „Hamburger Programm“ angesehen werden. Da „Netzwerker“ im Grunde bereits seit der Debatte um das Schröder-Blair-Papier 1999 eine neues Parteiprogramm gefordert hatten1429, kann das „Hamburger Programm“ als generationeller Referenzpunkt ihrer programmatischen Bemühungen gedeutet werden. Es wird also zu eruieren sein, ob und in welchem Maße „Netzwerk“-Vorstellungen in dieses Programm einflossen. Somit spannt sich das programmatische Feld, in dem das „Netzwerk“ zu verorten ist, zwischen den drei Pfeilern des „Berliner Programms“ 1989, der rot-grünen Regierungspolitik 1998-2005 sowie des „Hamburger Programms“ 2007 auf. Als programmatischer Selbstausdruck der Gruppierung werden dabei vorrangig das aus dem Münstereifel-Prozess entstandene Impulse-Papier sowie die Publikation „Menschen stärken. Wege öffnen“ angesehen, die zur Analyse um weitere „Netzwerk“-Beiträge wie Papiere der Gruppierung, in der „Berliner Republik“ erschienene Beiträge oder auch die mit den „Netzwerk“-MdBs geführten Interviews ergänzt wurden. 1426
Vgl. Walter, 1995, S. 87. Vgl. zu den Beispielen Zohlnhöfer, Reimut: Rot-grüne Regierungspolitik in Deutschland 19982002. Versuch einer Zwischenbilanz, in: Egle/Ostheim/Zohlnhöfer, 2003, S. 399- 418, hier S. 400 f. 1428 Vgl. Walter, Franz: Der Wandel des Wertewandels kommt bestimmt, in: Berliner Republik 5 (2003), S. 42-55, hier S. 44. 1429 Vgl. beispielhaft „Netzwerk Berlin“: Netzwerk weiterhin für neues SPD Grundsatzprogramm. Pressemitteilung, Berlin, 20.04.2004, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 1427
8. Inhaltliche Verortung des „Netzwerks“
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Darüber hinaus jedoch – und dies ist die zweite Dimension der Analyse – kommt das nachfolgende Kapitel nicht umhin, die von medialen Beobachtern und parteiinternen Kritikern gegenüber der Gruppierung immer wieder geäußerten Monita in der Diskussion gleichsam mitschwingen zu lassen. Die Kritik lässt sich im Wesentlichen auf drei Punkte reduzieren. Zunächst, so hieß es häufig, sei inhaltlich nicht erkennbar, wofür das „Netzwerk“ stehe und wo es sich in den innerparteilichen Debatten zwischen SK und PL verorte.1430 Daraus resultierte oft der Vorwurf der prinzipienlosen Karriereristen. Zum zweiten, so war des Öfteren zu vernehmen, richteten „Netzwerker“ – so sie sich denn inhaltlich äußerten – ihre Überzeugungen nach den jeweils aktuellen politischen Opportunitätserwartungen.1431 „Netzwerker“ galten somit als inhaltlich nicht zuverlässig. Und drittens und letztens wurde das „Netzwerk“ im inhaltlichen Meinungsspektrum „mittig“ bis tendenziell rechts verortet, was der tradierten Norm des jungen linken Widerständlers diametral zuwiderlief.1432 Nachfolgend soll versucht werden, die geschilderten Kritikpunkte zu relativieren, einzuordnen oder plausibel zu machen. 8.1 Die Themenfelder Die programmatischen Äußerungen und inhaltlichen Beiträge des „Netzwerks“ erstreckten sich nicht auf alle Politikbereiche in gleicher Intensität. Vielmehr lassen sich Schwerpunktbereiche ausmachen, um die herum die Debatten der Gruppierung kreisten, und mit denen sie sich seit der Gründung kontinuierlich beschäftigte.1433 8.1.1 Die Reform des Sozialstaats Im Zentrum der „Netzwerk“-Beiträge und seiner Diskussionen stand von Beginn an ohne Zweifel die Reform des Sozialstaats. Dabei entwickelten „Netzwerker“ im Zuge der Debatten um Probleme und Lösungsmöglichkeiten des deutschen Sozialstaats eine Art politische Grundphilosophie, die auch auf andere Politikbereiche ausstrahlte. Grundsätzlich ist die Zentralität der Sozialstaatsdebatte innerhalb des „Netzwerks“ wenig verwunderlich, war dieser Themenbereich doch ohnehin in der SPD aber auch in der internationalen Sozialdemokratie allgemein 1430
Vgl. beispielsweise Herzinger, Richard: Brave Rebellen suchen Halt, in: Der Tagesspiegel, 16.09.1999. 1431 Vgl. Deggerich, Markus: Sigi Pop und die Lego Gang, in: Spiegel Online, 07.11.2003. 1432 Vgl. als eine frühe Einschätzung Wagemann, Jutta: Wild, but mild – Jugend für den Kanzler, in: Die Tageszeitung, 13.07.1999. 1433 Vgl. Meyer, 2007, in: Egle/Zohlnhöfer, 2007, S. 89 f.
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nach dem faktischen Ende des real existierenden Sozialismus und dem Zusammenbruch des Ostblocks viel diskutiert worden. Die Frage, welche Position Sozialdemokraten zwischen Markt und Staat, zwischen Kapitalismus und Sozialismus fortan sinnigerweise einnehmen sollten, die Suche nach „Dritten Wegen“ beschäftigte nicht nur die deutsche SPD, sondern stellte ein internationales Problem der politischen Linken dar.1434 Mehr noch, gerade in der SPD war die Auseinandersetzung mit derartigen Fragen lange durch personelle Auseinandersetzungen unter den „Enkeln“ sowie durch die Fokussierung auf das Ziel des bundesdeutschen Machterwerbs überdeckt worden.1435 Mit Übernahme der Bundesregierung 1998 aber stellte sich nach kurzer Zeit anlässlich des massiven Problems der Arbeitslosigkeit die Frage, welche Position die SPD innerhalb dieser Debatten einnehmen, welchen Weg sie einschlagen wollte.1436 Beginnend mit dem Schröder-Blair-Papier im Frühsommer 1999 über die Hartz-Gesetze 2002 bis hin zur Verkündung der Agenda 2010 im März 2003 war es die Debatte um das Verhältnis von Markt und Staat sowie die (Neu)Definition sozialer Gerechtigkeit, welche die Sozialdemokraten umtrieb.1437 Zwei Gründe trugen dabei maßgeblich zur Fokussierung auf den Sozialstaatsbereich bei. Zum einen war es das immer drängendere Problem der Arbeitslosigkeit, die 2005 erstmals die 5Millionenmarke erreichte und zudem einen hohen Anteil an Langzeitarbeitslosigkeit auswies, welches Arbeits- und Sozialreformen notwendig erscheinen ließen.1438 Zum anderen tangierte gerade das Problem der Arbeitsmarktpolitik sowie der Zuweisung von Sozialleistungen einen der Identitätspunkte der SPD: die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Vor diesem Hintergrund war es nicht überraschend, dass auch das „Netzwerk“ mit Diskussionen über die Reform des Sozialstaats befasst war. Allerdings gab es einige Besonderheiten: Zum einen setzte sich die Gruppierung recht früh an die Spitze der grundsätzlichen Reformbefürworter. Bereits aus Anlass des Schröder-Blair-Papiers im Sommer 1999 stellte sich das „Netzwerk“ hinter den 1434
Vgl. Giddens, Anthony: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a. M. 1999, S. 29 ff.; Vandenbroucke, Frank: Die europäischen Sozialdemokraten und der Dritte Weg: Übereinstimmungen, Differenzen und geteilte Fragen, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Dritter Weg und Neue Mitte – Leerformeln oder Leitegriffe einer neuen Politik?, Berlin 1999, S. 54-80, zu den Differenzen besonders S. 58 ff. 1435 Vgl. Lösche, 2004, in: Zehetmair, 2004, S. 105 ff.; siehe auch Walter, Franz: Jenseits der SPD. Die Sozialdemokratie nach Schröder, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5 (2004), S. 552-560, besonders S. 555 f. 1436 Vgl. Blancke/Schmid, 2003, S. 218 ff. 1437 Vgl. zur Diskussion, inwiefern die Arbeit der britischen Labour-Regierung Vorbild für Deutschland sein könnte, auch Robinson, Peter: Die Labour Regierung in Großbritannien. Ein dritter Weg für die Sozialdemokratie?, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999, S. 91-112. 1438 Vgl. Schmid, Josef: Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik – große Reform mit kleiner Wirkung?, in: Egle/Zohlnhöfer, 2007, S. 271-293, hier S. 284.
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von Schröder eingeschlagenen Kurs und verknüpfte dies mit der Forderung nach einem neuen Parteiprogramm.1439 Zum anderen schälte sich in den Diskussionen recht bald die Orientierung der Gruppierung an Staaten wie Dänemark oder den Niederlanden heraus, die früher als die SPD programmatische und politische Reformen durchgeführt hatten.1441 Kern der Überlegungen war in diesem Zusammenhang die Transformation des bundesdeutschen Sozialstaats in einen so genannten vorsorgenden Sozialstaat.1442 Grundsätzlich sahen „Netzwerker“ mehrere Anlässe, welche die Reform des bundesdeutschen Sozialstaats aus ihrer Sicht erforderlich machten. Zunächst gingen sie davon aus, dass ein Zusammenhang zwischen der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und der Belastung des Faktors Arbeit durch Sozialabgaben bestehe.1443 Die Abgabenlast mache Arbeit für potenzielle Arbeitgeber teuer und bedeute ein Hindernis für Neueinstellungen.1444 Um Anreizstrukturen sowohl für das Einstellungsverhalten von Arbeitgebern als auch für Arbeitslose zur Aufnahme von Erwerbsarbeit zu schaffen, sollten Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe reformiert sowie in Teilen zusammengelegt werden.1445 Zudem sollten grundsätzlich auch weitere Sozialleistungen wie Pflege- oder Krankenversicherung dergestalt verändert werden, dass die Abgabenlast sinke. Daneben spielte in der Argumentation der „Netzwerker“ stets die demografische Entwicklung eine entscheidende Rolle.1446 Diese, so die Überlegungen, sei in zweifacher Hinsicht prekär, denn während immer weniger Kinder geboren würden, die Gesellschaft somit schrumpfe, erreichten die Menschen ein zunehmend höheres Lebensalter.1447 Dies wiederum bedeute, dass auf Grundlage des paritätischen Generationenprinzips immer weniger Beitragszahler für immer mehr und immer länger lebende Beitragsempfänger aufkämen.1448 Diese Entwicklung sei weder vor dem Hintergrund der Generationengerechtigkeit haltbar, noch langfristig 1439
Vgl. Hauer, Nina: Links wird langsam zum Label für konservativ, in: Frankfurter Rundschau, 05.07.1999; siehe auch o. V.: Richtungsstreit in der SPD, in: Süddeutsche Zeitung, 16.06.1999 1441 Vgl. Frenzel, Martin: Neue Wege der Sozialdemokratie. Dänemark und Deutschland im Vergleich (1982-2002), Wiesbaden 2002, besonders S. 291 ff. 1442 Vgl. Platzeck, Matthias/Steinmeier, Frank-Walter/Steinbrück, Peer: Auf der Höhe der Zeit. Im 21. Jahrhundert muss sich die Sozialdemokratie auf ihre ursprünglichen Ideen und Ziele besinnen, in: Dies., 2007, S. 17-27, hier S. 23 f 1443 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Soziale Sicherheit gerecht und nachhaltig finanzieren, Berlin, Juli 2003, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 1444 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 30. 1445 Vgl. Heil, Hubertus/Hauer, Nina/Lange, Christian/Matschie, Christoph: Zukunft in Arbeit. Sozialdemokratische Wege zu Wachstum, Vollbeschäftigung und sozialer Teilhabe, Berlin 2001, S. 5. 1446 Vgl. Dürr, Tobias/Kralinski, Thomas: Eine neue Aufklärung. Wer den demografischen Wandel gestalten will, braucht Wirklichkeitssinn und Tatkraft, in: Platzeck/Steinmeier/Steinbrück, 2007, S. 57-62. 1447 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 16. 1448 Vgl. Hauer, Nina: Gerecht ist, was Chancen schafft, in: Frankfurter Rundschau, 18.08.2003.
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finanzierbar. Aus diesen Gründen bedürften insbesondere die Kranken-, Pflegeund Rentenversicherung einer Novellierung. Bei ihren Reformvorschlägen nun orientierten sich „Netzwerker“ vorrangig an den drei Maximen der Steuerfinanzierung, der Eigenverantwortung und der Vorsorge. Grundsätzlich, so die Gruppierung, sei im Bereich der Sozialversicherungssysteme ein Umdenken in Richtung Steuerfinanzierung notwendig, die Systeme sollten zu weniger Anteilen beitrags- oder abgabenfinanziert sein.1449 Darüber hinaus sollte der individuell eigenverantwortete Anteil der Bürger steigen. Beispielhaft können derartige Überlegungen am Fall der Rentenversicherung skizziert werden. So sprach sich das „Netzwerk“ für das so genannte Cappuccino-Modell aus, das sich aus einem Sockel einer nach wie vor paritätisch finanzierten Grundsicherung, einer steuergekoppelten weiteren Säule – der so genannten Riesterrente – sowie der kapitalbasierten Eigenvorsorge zusammen setzte.1450 An diesem Beispiel deutete sich bereits das„netzwerksche“ Prinzip der Vorsorge an, das im Bereich der Gesundheitspolitik anschaulich wird. So sollte die Krankenversicherung zwar paritätisch und unter Einbezug aller Bürger als Bürgerversicherung gestaltet sein, um mehr Gerechtigkeit bei der Finanzierungsbasis zu erreichen.1451 Grundsätzlich sollte das System jedoch wesentlich mehr Anreize zur Aufrechterhaltung von Gesundheit bieten. In diesem Sinne sollte eine Versicherung zwar nach wie vor im Krankheitsfall greifen, immer wichtiger sollte allerdings die Vermeidung von Krankheit werden.1452 Bezogen auf den Arbeitsmarkt und die Funktion des Staates bedeutete das Prinzip der Vorsorge aus Sicht des „Netzwerks“, dass grundsätzlich die Vermeidung von Arbeitslosigkeit im Mittelpunkt staatlicher Bemühungen stehen sollte. Vor diesem Hintergrund sollten arbeitslosen Bürgern zwar nach wie vor Sozialleistungen in Form von Arbeitslosengeld gezahlt werden, zentral sei aber weder deren Höhe noch Bezugsdauer, sondern die Frage, ob und wie die Menschen in die Lage versetzt werden könnten, aus eigener Kraft wieder Arbeit zu finden und ihre Situation eigenverantwortlich zu lösen.1453 Ausschlaggebend für die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats sei also weniger die Menge des Geldes, das innerhalb des Systems umverteilt werde, als vielmehr die Chancen und Befähigungen, die den Menschen eröffnet würden, um ihre Probleme möglichst eigenständig zu meistern.1454 1449 Vgl. beispielsweise Bartels, Hans-Peter: Steuern statt Beiträge, in: Frankfurter Rundschau, 28.04.2003. 1450 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Soziale Sicherheit gerecht und nachhaltig finanzieren, Berlin, Juli 2003, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle, hier S. 8. 1451 Vgl. auch Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 29. 1452 Vgl. Reimann, Carola: Der Menschheitstraum bleibt unerfüllt, in: Berliner Republik 3 (2001), S. 16-18. 1453 Vgl. in diesem Sinne Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 33. 1454 Vgl. Hauer, Nina: Gerecht ist, was Chancen schafft, in: Frankfurter Rundschau, 18.08.2003.
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„Netzwerker“ visierten daher nicht nur den vorsorgenden, sondern auch den investiven Sozialstaat an.1455 Eine derartige Sozialstaatskonzeption strebte so genannte Investitionen in seine Bürger an, um diese zu befähigen, einerseits für Notsituationen und deren Vermeidung aus eigener Kraft Vorsorge zu treffe, diese andererseits aber auch zu vermeiden. In diesem Sinne sollte der Sozialstaat in das Humankapital seiner Bürger und damit in deren Bildung und Ausbildung sowie letztendlich deren Fähigkeit zur Selbstständigkeit investieren.1456 Auf diese Weise könnten einerseits mehr Menschen aus Arbeitslosigkeit befreit werden, andererseits zöge ein solches Handeln auch die finanzielle Entlastung der öffentlichen Haushalte sowie der Versicherungssysteme nach sich. Nur durch derartige Reformen, so die Überzeugung, sei die Funktionsfähigkeit des bundesdeutschen Sozialstaats zu erhalten.1457 8.1.2 Bildung, Familie und Beruf Im Mittelpunkt der Überlegungen, wie Menschen aus Arbeitslosigkeit möglichst schnell wieder herausgebracht werden könnten oder wie sie im besten Fall gar nicht erst in diese Situation kämen, stand aus Sicht des „Netzwerks“ der Faktor Bildung. Zunächst plädierten sie dafür, dass Bildung als lebenslange Aufgabe, Möglichkeit und Pflicht verstanden werden solle, die nicht mit der primären Schul- oder Berufsausbildung ende, sondern sich gleichsam durch das gesamte (Berufs)Leben ziehe.1458 Zudem müssten Übergänge zwischen verschiedenen Bildungssystemen erleichtert werden. Denkbar sei auch die Modularisierung der Berufsausbildung, um möglichst fließende Übergänge und Kompatibilitäten bei Ausbildungswechsel, -abbruch oder -erweiterung zu schaffen.1459 Grundsätzlich forderten „Netzwerker“ die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule, um Lernen als zentralen Lebensraum gestalten zu können.1460 Darüber hinaus war ihnen ein zentrales Anliegen, dass Bildung weniger an den ursprünglichen sozialen Status eines Menschen gebunden sein solle, sondern gerade die vielfältigen und lebenslang gebotenen Bildungsmöglichkeiten dazu führten, dass jeder Bürger sich seinen Platz in der Gesellschaft selbst erobern könne.1461 Aufgabe des
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Vgl. auch Walter, 2008, S. 67 f. Vgl. Heil/Hauer/Lange/Matschie, 2001, S. 7. Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 26 f. 1458 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 33. 1459 Vgl. Lange, 2001 b. 1460 Vgl. beispielsweise Ahnen, Doris: Gute Bildung für alle. Nur konsequente Chancengleichheit führt zu sozialer Inklusion, in: Platzeck/Steinmeier/Steinbrück, 2007, S. 63-67, hier S 64. 1461 Vgl. auch Interview Hauer, S. 19 f. 1456 1457
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Staates sei es in diesem Kontext, für die Rahmenbedingungen der Bildung zu sorgen und somit allen Menschen stets neue Chancen zu bieten.1462 Auffällig war in diesem Kontext allerdings, dass „Netzwerker“ sich dennoch für die Einführung von – nachgelagerten – Studiengebühren aussprachen.1463 Doch integrierte sich diese zunächst paradox anmutende Forderung sehr wohl in die programmatischen Überlegungen der Gruppierung. Denn zum einen strebten „Netzwerker“ mittels Studiengebühren eine bessere Ausstattung der Hochschulen und damit auch verbesserte Studienbedingungen für die Studierenden an.1464 Zum anderen wollten „Netzwerker“ im gleichen Zug die frühkindliche Bildung stärken und kostenfrei zur Verfügung stellen.1465 Im Grunde, so ihre Überlegungen, sei es widersprüchlich, universitäre Bildung, die nur einem Teil der Bevölkerung zu Gute komme, quasi umsonst zur Verfügung zu stellen, während Kindergärten oder -krippen, die sich an alle Kinder richteten, Gebühren erhöben. Im Sinne gleicher Start- und Lebenschancen sei es wesentlich gerechter, frühkindliche Betreuung und Bildung kostenfrei zu gestalten. Elementar für den „netzwerkschen“ Bildungsbegriff war daher, den Beginn individueller Bildungskarrieren im Lebenslauf nach vorne zu verlagern und frühkindliche Bildung zu stärken.1466 Diese besaß für „Netzwerker“ quasi eine doppelte Funktion. Zum einen sollten in Krippen und Kindergärten nach Möglichkeit jene Ungleichheiten ausgeglichen werden, die Kindern qua Geburt in eine bestimmte soziale (Bildungs)Schicht gegeben waren – Kinder aus Arbeiterfamilien sollten in diesem Sinne dieselben Bildungs- und Lebenschancen erhalten wie Kinder aus Akademikerfamilien. Notwendig hierzu sei jedoch auch, so „Netzwerker“, eine Aufwertung der Erzieherausbildung, die auf universitäres Niveau gehoben werden solle. Zum anderen aber bedeutete die Stärkung frühkindlicher Bildung nach Ansicht des „Netzwerks“ auch eine quantitative Ausweitung frühkindlicher, außerhäuslicher Betreuung generell.1468 Institutionell sollte dies durch einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz sowie langfristig kostenlose Betreuungsangebote gewährleistet werden.1469 An dieser Stelle verknüpfte sich die „netzwerksche“ Argumentation mit Ansichten zur demografischen Entwicklung sowie zur Arbeitsmarktsituation. Den Grund für die um die Jahrtausendwende im internatio1462
Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 33. Vgl. Staud, Toralf: Die windelweichen Urenkel, in: Die Zeit, 06.11.2003. 1464 Vgl. Meng, Richard: Studiengebühren sind in der SPD nicht mehr länger tabu, in: Frankfurter Rundschau, 31.10.2003. 1465 Vgl. Staud, Toralf: Die windelweichen Urenkel, in: Die Zeit, 06.11.2003. 1466 Vgl. hierzu und zum Folgenden Griese/Schrapers, 2002 S. 75. 1468 Vgl. Hauer, Nina: Familienfreundliche Politik bedeutet mehr als ein erhöhtes Kindergeld, in: Frankfurter Rundschau, 30.04.2001. 1469 Vgl. beispielsweise Griese/Schrapers, 2005. 1463
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nalen Vergleich relativ niedrige Geburtsquote der Bundesrepublik sahen „Netzwerker“ vor allem in den negativen beruflichen Konsequenzen der Mutterschaft für Frauen.1470 Besonders für Akademikerinnen sei die Aussicht, mangels außerhäuslicher Betreuungsmöglichkeiten durch eine längere Kinderpause beruflich ins Hintertreffen zu geraten, oft abschreckend.1471 Aus Gründen der demografischen Entwicklung sei eine höhere Geburtenquote jedoch wünschenswert. Zudem könne es sich die sich zunehmend zur Wissensgesellschaft entwickelnde Bundesrepublik zukünftig kaum leisten, gerade auf gut gebildete Frauen als Arbeitskräfte zu verzichten.1472 So hofften „Netzwerker“ durch den Ausbau und die Aufwertung frühkindlicher Betreuungsmöglichkeiten mehrere Probleme zugleich zu lösen: Bildungsmöglichkeiten und Lebenschancen sollten egalisiert, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert, die Frauenerwerbsquote sowie die Geburtenrate erhöht werden. 8.1.3 Staatsverständnis Bei der Skizzierung der obigen Politikfelder deutete sich bereits an, dass das Staatsverständnis des „Netzwerks“ ein spezielles war.1473 „Netzwerker“ waren mehrheitlich der Auffassung, der Staat und seine Organe müssten nicht alles im Leben ihrer Bürger regeln, sondern sollten sich von einem ihrer Ansicht nach paternalistisch-überregulierten Staat zu einem kooperativen wandeln.1474 Staatliche Behörden sollten Bürgern in Problem- und Notlagen zwar helfen, doch sollte dies weniger bürokratisch-verordnend denn dienstleistungsorientiert sein.1475 Die Zielperspektive bestand in einem aktiven, zupackenden Staat, als dessen Leitmotiv grundsätzlich „Hilfe zur Selbsthilfe“ genannt werden könnte:1476 Bürger sollten durch den Staat mehr und mehr befähigt werden, sich selbst aus Notlagen zu befreien beziehungsweise – nach dem Prinzip der Vorsorge – diese zu vermeiden. Auch an dieser Stelle galten lebenslange Bildung und stetig neu bereitgestellte Lebenschancen als Schlüssel zu mehr Eigenverantwortung.1477 Das Ziel 1470
Vgl. Hauer, Nina: Familienfreundliche Politik bedeutet mehr als ein erhöhtes Kindergeld, in: Frankfurter Rundschau, 30.04.2001. 1471 Vgl. ebd. 1472 Vgl. Heil/Hauer/Lange/Matschie, 2001, S. 7. 1473 Vgl. Fischer, Susanne: Revolte für das Establishment, in: Die Zeit, 20.07.1999. 1474 Vgl. beispielsweise Vogt, Ute: Sozialdemokratie und Staatsmodernisierung, Berlin, 08.10.1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 1475 Vgl. Vogt, Ute: Vom Vater Staat zum Partner Staat, in: Berliner Republik 2 (2000), S. 61-62. 1476 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Antragsvorschlag auf dem Hamburger Parteitag Oktober 2007: Die neue SPD, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 11.11.2008); siehe zum Staatsverständnis auch Vogt, Ute: Ein starker Staat. Standbein einer modernen Gesellschaft, in: Platzeck/Steinmeier/Steinbrück, 2007, S. 263-268. 1477 Vgl. beispielsweise Heil, Hubertus: Schröder hat noch eine Chance, in: Die Welt, 02.06.2005
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war daher ein schlanker, partnerschaftlich mit seinen Bürgern agierender Staat.1478 Zusätzlich sprachen sich „Netzwerker“ für eine Neuordnung des Berufsbeamtentums aus, dass fortan auf einige wenige Kernbereiche – Justiz, Polizei, Bundeswehr, Finanzverwaltung, diplomatischer Dienst – beschränkt werden sollte.1479 Auch hier bezog sich die Argumentation zum Teil auf eine stärkere Verschlankung, Flexibilisierung sowie nicht zuletzt Leistungsorientierung der betreffenden Bereiche. Viele auf dem Beamtenstatus beruhende Regelungen wurden als zu starr und als überholt empfunden. Daneben aber spielte bei der Begrenzung des Beamtentums ohne Zweifel auch eine Rolle, dass auf diese Weise öffentliche Haushalte langfristig finanziell entlastet werden sollten. In Sinne eines zurückgezogenen Staates gewannen für „Netzwerker“ Subsidiarität und zivilgesellschaftliches Engagement an immenser Bedeutung.1480 Gesellschaftliche Bereiche, um die sich stattliche Fürsorge zukünftig nicht mehr kümmern sollte, sollten fortan in eigenverantwortlichem zivilgesellschaftlichem Einsatz geregelt werden.1481 Subsidiarität und zivilgesellschaftliches Handeln sollten gewährleisten, dass gesellschaftliche oder individuelle Probleme sozusagen am Ort ihrer Entstehung und weniger durch regulierendes Eingreifen des Staates gelöst würden.1482 Eine solche Zielsetzung ging, erstens, einher mit der Überzeugung des „Netzwerks“, Bürgern mehr Eigenverantwortung zutrauen zu können, aber auch zu müssen. Dies, so die Überlegung, entlaste staatliche Institutionen im Sinne des viel beschworenen Dritten Weges zwischen Markt und Staat und käme dem Bedürfnis der Menschen nach freiheitlicher Selbstbestimmung entgegen. Zum zweiten sollte im Zuge eines reformierten Staatsbegriffs die Bedeutung von Städten und Gemeinden im föderalen System gestärkt werden.1483 Kommunen galten „Netzwerkern“ als zentrale Orte des Zusammenlebens, der Integration und nicht zuletzt der Selbstorganisation.1484 Sie sollten gesellschaftliche Heimat bieten und in Kommunen entstehende gesellschaftlichpolitische Probleme selbst lösen, im besten Fall vermeiden.1485 Dies bedeutete, 1478
Vgl. „Netzwerk Berlin“: Positionspapier zum Ergebnis der Anhörungen der Föderalismusreform, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 15.12.2008). 1479 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 24; siehe auch als frühes Dokument Maas, Heiko: Sozialdemokratie und Staatsmodernisierung, Berlin, 08.10.1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. 1480 Vgl. beispielsweise auch Walter, 2008, S. 85. 1481 Vgl. Monath, Hans: Weder „modern“ noch „traditionell“?, in: Der Tagesspiegel, 09.10.1999. 1482 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 24. 1483 Vgl. ebd., S. 39 f. 1484 Vgl. Gabriel, Sigmar: Wir können mehr!, in: Berliner Republik 3 (2004), S. 22-36, hier S. 35 f. 1485 Vgl. auch Bartol, Sören: Comeback der Städte. Kommunen sind Orte gesellschaftlicher Integration und gelebter Demokratie, in: Platzeck/Steinmeier/Steinbrück, 2007, S. 277-281, besonders S. 179 f.
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dass „Netzwerker“ Städten und Gemeinden politisch-organisatorisch sowohl mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen zukommen lassen wollten, als ihnen auch im Gegenzug mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung zumuteten. Einher gehen sollte eine solche Entwicklung auch mit einer besseren finanziellen Ausstattung der Kommunen.1486 Ohnehin war für einen Staat, wie er „Netzwerkern“ vorschwebte, Haushaltskonsolidierung als Prinzip der Generationengerechtigkeit sowie zur Erhaltung der staatlichen Handlungsfähigkeit eine der Kernaufgaben.1487 Die großen Defizite öffentlicher Haushalte empfanden sie als lähmend für die eigene politische Zukunft. Gerade in ihrer Anfangszeit als Berufspolitiker musste es vielen „Netzwerkern“ als eine nicht selbst verschuldete Last vorkommen, die sie zu tragen hatten, und die ihnen die Vorgängergenerationen aufgebürdet hatte. So argumentierten sie, auch gesamtgesellschaftlich sei es nicht hinnehmbar oder gerecht, wenn jüngere Menschen durch die politisch verursachten Schulden älterer Generationen behindert würden. Zudem setze sich die Politik durch überschuldete Haushalte einer selbst gemachten wirtschaftlichen Handlungsunfähigkeit aus. 8.1.4 Wirtschaft und Arbeit Erwerbsarbeit galt „Netzwerkern“ als zentrales und ausschlaggebendes Element gesellschaftlicher sowie individueller Integration und Inklusion.1488 Über seine Erwerbsarbeit definiere sich der Mensch maßgeblich in seiner individuellen Identität, hier entstünden vor allem seine sozialen Netzwerke und Beziehungen. Darüber hinaus sei Erwerbsarbeit – trotz staatlicher Hilfen in Notlagen – unerlässlich für die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Bürger.1489 Besonders vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Inklusion sahen „Netzwerker“ im Grunde jede Tätigkeit als zumutbar an, denn Ziel war ja, möglichst viele Menschen möglichst rasch in Erwerbsarbeit zu bringen.1490 Auf diesen Fluchtpunkt hin war der Sozialstaat konzipiert, der Menschen gleich einem Trampolin im Falle des Arbeitsverlustes in Erwerbsarbeit zurückfedern sollte. Hierauf basierten auch die wirtschaftspolitischen Überlegungen des „Netzwerks“. Als oberstes Prinzip galt, Menschen in Erwerbsarbeit zu integrieren und sie unabhängig von den Transfer1486
Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 29. Vgl. auch Schneider, Carsten: Stabile Finanzen als Markenzeichen. Damit der Staat handlungsfähig bleiben kann, muss die SPD das Ziel ausgeglichener Haushalte sehr selbstbewusst verfolgen, in: Platzeck/Steinmeier/Steinbrück, 2007, S. 151-156, besonders S. 152 f. 1488 Vgl. Hauer, Nina: Links wird langsam zum Label für konservativ, in: Frankfurter Rundschau, 05.07.1999. 1489 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/ „Netzwerk Berlin“, 2003, S. 29 beziehungsweise S. 17. 1490 Vgl. ebd., S. 17. 1487
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zahlungen des Staates zu machen. Dabei schwang bei dieser Argumentation stets ein wirtschaftlich-finanzieller Aspekt mit: Denn hohe Arbeitslosenzahlen und hohe staatliche Transferzahlungen, so die Überlegungen, belasteten die öffentlichen Haushalte und führten im schlimmsten Fall zu deren Bewegungslosigkeit.1491 Grundsätzlich besaßen „Netzwerker“ im Prinzip ein durchweg positives Verhältnis zur Marktwirtschaft und sahen wirtschaftliches Wachstum als unerlässlich für eine funktionierende Gesellschaft an. Der Markt galt ihnen als bestes Ordnungsprinzip wirtschaftlicher Tätigkeit1492, der Staat sollte nur in Notfällen eingreifen.1493 So sei beispielsweise die Einführung eines Mindestlohns sinnvoll, um eine Abwärtsspirale im Lohnbereich zu verhindern.1494 Andererseits sprachen „Netzwerker“ sich für die Einführung eines so genannten „Bonus für Arbeit“ aus, mit dem niedrig entlohnte Tätigkeiten durch eine negative Einkommenssteuer subventioniert und attraktiv gemacht werden sollten.1495 Vor diesem Hintergrund konnte es auch nicht überraschen, dass „Netzwerker“ sich bemühten, die positiven Folgen der Globalisierung für die Bundesrepublik zu betonen.1497 Zwar existierten auch einige Probleme wie beispielsweise auf dem Gebiet der internationalen Finanzmärkte, bei denen sich die Politik auch bemühen solle, internationale Regelungen und Abkommen zu treffen.1498 Zudem konstatierten sie vielfach Verunsicherungen bei den Bürgern ob der Folgen der globalen wirtschaftlichen Verflechtungen. Allerdings sei niemandem damit gedient, einen unumkehrbaren Zustand zu bedauern, vielmehr gelte es, die Globalisierung und ihre Folgen positiv auszugestalten.1499 Als zentrales Mittel sahen „Netzwerker“ angesichts der schwindenden Möglichkeiten einzelner Nationalstaaten die Europäische Union als international agierende politische Einheit. Grundsätzlich setzten „Netzwerker“ sich zur Stärkung der Wirtschaftskraft für den Abbau ihrer Ansicht nach überflüssiger Bürokratie und Subventionierung ein, um der wirtschaftlichen Kreativität von Unternehmen bessere Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten und neue Geschäftsideen unkomplizierter zur Umsetzung zu bringen.1500 In diesem Sinne galt es ihrer Ansicht ebenfalls, den unternehmerischen Geist des Einzelnen zu stärken, der gepaart sein sollte mit einer 1491
Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 31. Vgl. „Netzwerk Berlin“: Antragsvorschlag auf Hamburger Parteitag Oktober 2007: Die neue SPD, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 13.12.2008). 1493 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Antragsvorschlag auf Hamburger Parteitag Oktober 2007: Vorsorgender Sozialstaat – Bonus für Arbeit, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 13.12.2008). 1494 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 31. 1495 Vgl. Lange, 2001 a. 1497 Vgl. Heil/Hauer/Lange/Matschie, 2001, S. 4. 1498 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, S. 15. 1499 Vgl. ebd., S. 15. 1500 Vgl. ebd., S. 29 f. 1492
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positiv apostrophierten, mit Verantwortungsbewusstsein kombinierten Leistungsbereitschaft.1501 Ein besonderes Anliegen war der Gruppierung stets – wohl auch aufgrund der prominenten Stellung Christian Langes –, den Mittelstand zu unterstützen und von ihrer Ansicht nach überflüssigen bürokratischen Hürden zu entlasten. Zudem gehörte es zum wirtschaftlichen Konzept des „Netzwerks“, umfangreiche Investitionen in Forschung und Technikentwicklung zu unterstützen, um möglichst viele innovative Ideen entwickeln und wirtschaftlich nutzbar zu machen.1502 8.1.5 Umwelt, Europa und anderes Waren die politischen Zielvorstellungen von „Netzwerkern“ im Bereich des Sozialstaats, der Familien- und Bildungspolitik, des Staatsverständnisses und der Wirtschaftspolitik relativ deutlich und detailliert, so konnten doch auch einige weniger intensiv bearbeitete Felder oder programmatische Lücken ausgemacht werden. Auf dem Feld der Umweltpolitik setzten „Netzwerker“ sich klar für den Atomausstieg ein, da Atomkraftwerke ein existenzbedrohendes Sicherheitsrisiko darstellten, und plädierten für die vollständige Umstellung auf regenerative Energien.1503 In diesem Kontext forderten sie, die Bundesrepublik solle ihre Vorreiterrolle beim Umweltschutz, insbesondere dem Klimaschutz wahrnehmen und ausbauen.1504 Wichtig seien hierbei auch Investitionen in Forschung und Technik, um neue klimafreundliche Technologien zu entwickeln. Technische Innovationen im Bereich der Umweltpolitik böten somit auch neue Jobpotenziale. Grundsätzlich sah die Gruppierung Umweltschutz als Querschnittsaufgabe zu anderen Politikbereichen an, die allein aus Gründen der Generationengerechtigkeit geboten sei: Um nachfolgenden Generationen noch eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen, dürfe nicht die Substanz der Erde verbraucht werden, vielmehr müsse von ihren Zinsen gelebt werden. Zudem biete eine nachhaltige, umweltpolitische Entwicklung einen Schlüssel für dauerhaft friedliches Zusammenleben in der Welt.1505 Dabei appellierten „Netzwerker“ mit ihren Vorstellungen insgesamt sowohl an Politik und Wirtschaft als auch an die bereits oben 1501
Vgl. hierzu etwa Heil, Hubertus: Freiheit hat Voraussetzungen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.12.2005; siehe auch Bury, Hans Martin/Vogt, Ute: Die Herausforderungen und Aufgaben der Sozialdemokratie, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2004, S. 11-16, hier S. 15. 1502 Vgl. beispielsweise Heil/Hauer/Lange/Matschie, 2001, S. 11. 1503 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 42. 1504 Vgl. ebd., S. 41. 1505 Vgl. ebd., S. 41-43.
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erwähnte Zivilgesellschaft – in allen Bereichen und zu jeder Zeit sie die Berücksichtigung umweltpolitischer Belange notwendig. Der Europäischen Union kam, wie oben bereits angedeutet, aus Sicht des „Netzwerk“ vor allem in Zusammenhang mit dem Phänomen der Globalisierung eine zentrale Rolle zu. Aussagen zur Gestaltung und Bedeutung der Europäischen Union standen daher zugleich im Fokus außenpolitischer Überlegungen der Gruppierung allgemein. Durch die weitere Ausgestaltung der Europäischen Union im Sinne eines erneuerten europäischen Sozial- und Gesellschaftsmodells sollte die Globalisierung gestaltet werden, da einzelne Nationalstaaten immer weniger Einflussmöglichkeiten besäßen.1506 Zu diesem Zweck sollten die Institutionen beispielsweise durch eine europäische Verfassung und europäische Parteien ausgebaut werden sowie die Verantwortlichkeiten innerhalb der Europäischen Union deutlicher zugeordnet werden.1507 Auch das Steuerrecht bedürfe einer europaweiten Harmonisierung, um die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Nationalstaaten zu erleichtern.1508 Insgesamt jedoch ist auffällig, wie sehr sich die programmatischen Ausführungen auf den Bereich des Sozialstaats, der Arbeits-, Wirtschafts-, Familienund Bildungspolitik fokussierten. Die Überlegungen in diesem Bereich wurden nicht nur am häufigsten angestellt, sie waren auch am detailreichsten. Gerade in Bezug auf die Außen- oder Verteidigungspolitik aber auch auf dem Gebiet der Umweltpolitik zeigten sich dagegen Schwächen. So war sich das „Netzwerk“ zwar weitestgehend einig, dass die Abschaffung der bundesdeutschen Wehrpflicht notwendig sei und verknüpfte dies im Sinne zivilgesellschaftlichen Engagements mit dem Ausbau von Freiwilligendiensten1509, ein ausgestaltetes verteidigungspolitisches Programm verband sich hiermit jedoch nicht. Markant ist dies vor allem deshalb, da mit Hans-Peter Bartels als Mitglied des Verteidigungsausschusses im Bundestag ein versierter Verteidigungspolitiker zur Verfügung gestanden hätte. Desgleichen beschäftigte sich die Gruppierung in ihren programmatischen Dokumenten erstaunlich wenig mit Phänomenen wie dem internationalen Terrorismus und dessen außen- und verteidigungspolitischen Konsequenzen, obwohl das Schlagwort der Globalisierung an vielen Stellen der „netzwerkschen“ Argu1506
Vgl. „Netzwerk Berlin“: Antragsvorschlag auf Hamburger Parteitag Oktober 2007 „Vorsorgender Sozialstaat“ – Bonus für Arbeit, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 13.12.2008); siehe auch „Netzwerk Berlin“: Europa muss besser werden, deutsch-französisches Positionspapier, abrufbar auf http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 10.12.2008). 1507 Vgl. beispielsweise Roth, Michael: Lohnendes Wagnis Europa, in: Berliner Republik 4 (2006), S. 78-79. 1508 Vgl. „Netzwerk Berlin“: Europa muss besser werden, deutsch-französisches Positionspapier, abrufbar unter http://www.netzwerkberlin.de (zuletzt aufgerufen am 10.12.2008) 1509 Vgl. Lange, 2003 a.
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mentationen eine Schlüsselrolle einnahm. Zwar wurden derartige Themen immer wieder in der „Berliner Republik“ diskutiert, Eingang in programmatische Papiere der Gruppierung fand es jedoch kaum. Auch entwicklungspolitische Themen, wie sie in den 1980er-Jahren – und damit in einem Zeitraum, in dem die meisten „Netzwerker“ in die Politik fanden – diskutiert wurden, standen offenkundig nicht im Mittelpunkt des Interesses. Zwar arbeitete sich im Laufe der Jahre vor allem Sascha Raabe nach und nach in entwicklungspolitische Fragestellungen ein1510, dennoch blieb das Thema im gruppeninternen Diskurs eher peripherer Natur.1511 Bundesrepublikanische Probleme und deren Wechselwirkungen mit Erscheinungen der Globalisierung, allenfalls die Rolle der Europäischen Union bildeten den außenpolitischen Horizont. Ebenso ergeben sich auf dem Gebiet des Umweltschutzes bei näherem Hinsehen einige Auffälligkeiten. Zwar bekannten sich „Netzwerker“ umweltpolitischen Fragestellungen und der grundsätzlichen Relevanz des Themas. Dennoch blieben die Ausführungen der Gruppierung im Detail seltsam unkonkret. Außer dem Bekenntnis zum Kyoto-Protokoll oder der Forderung, vollständig auf regenerative Energien umzustellen, fanden sich kaum konkrete Politikvorschläge. Diese umweltpolitische „Lücke“ im programmatischen Profil des „Netzwerks“ wurde zwar in Teilen durch die Berufung Sigmar Gabriels als Bundesumweltminister im Herbst 2005 geschlossen, sofern man das Handeln Gabriels in Teilen auch als Aushängeschild des „Netzwerks“ ansehen will. Zudem zog mit Astrid Klug eine weitere „Netzwerkerin“ in das Ministerium ein. Dennoch bleibt ob der starken generationell prägenden Kraft des Themas eine gewisse Unschärfe der Gruppierung in umweltpolitischen Belangen. Diesen Umstand zu erhellen, ist nicht einfach. Möglicherweise liegt jedoch gerade in der Selbstverständlichkeit, mit der „Netzwerker“ während ihrer Sozialisationsphase umweltpolitische Belange aufnahmen, ein Erklärungsgrund. Hubertus Heil gab im Interview Hinweise auf ein derartiges Begründungsmuster: „Was ein bisschen unterbelichtet bei uns ist, ist das Umweltthema.. [...] Vielleicht [...] mal irgendwann auf den Nerv gegangen […] Also, ich hab ja vorhin gesagt, für mich war nicht Umwelt- aber schon Energiepolitik damals schon ein wichtiges Thema. Tschernobyl oder so. Aber es ist dann fast so wichtig, dass es fast selbstverständlich geworden ist.“1514
Auch wenn eine derartige Argumentation nicht völlig zu überzeugen vermag, so könnte doch ein Schlüssel in der Alltäglichkeit der umweltpolitischen Problematik liegen, die schließlich ihre Bedeutungslosigkeit begründete und nicht zuletzt von anderen Problemlagen wie der Reform des Sozialstaats überlagert wurde. 1510
Vgl. Interview Raabe, S. 11 f. Vgl. Interview Reimann, S. 20. 1514 Interview Heil, S. 41. 1511
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Aus dieser Sicht kann in der zwar allgegenwärtigen, aber geringen konkreten Präsenz des Umweltthemas auch ein Hinweis auf Wertsynthese, teilweise gar Werteumwandlung im Sinne einer „Generation Golf“ der Geburtskohorten von Mitte der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre gesehen werden. 8.2 Politikverständnis und Grundwerte Durch die inhaltlichen Überlegungen und Forderungen des „Netzwerks“, wie sie oben skizziert wurden, zog sich eine Reihe immer wieder betonter Grundwerte oder Motive, von denen aus die Gruppierung ihre programmatischen Vorstellungen entwickelte. An erster Stelle ist hier das Prinzip der Generationengerechtigkeit oder der Nachhaltigkeit zu nennen. Diese Maxime tauchte nicht nur in diversen programmatischen Beiträgen als Begründung für bestimmte inhaltliche Vorschläge auf, sie wurde auch in den mit „Netzwerk“-MdBs geführten Interviews wiederholt als grundlegend genannt.1515 Nachhaltigkeit, so das „Netzwerk“ sei in diesem Sinne mehr als bloße Ökologie, sondern das Bemühen, bei politischen Entscheidungen deren Zukunftsfähigkeit und zukünftige Auswirkungen zu bedenken.1516 Richtschnur bei der Diskussion politischer Probleme und Lösungsansätze müsse sein, eine neue Balance zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Zielen zu erreichen, somit verschiedene Politikbereiche miteinander zu verknüpfen.1517 Oberstes Gebot solle bei allen Entscheidungen sein, auch für nachfolgende Generationen politische Handlungsfähigkeit zu gewährleisten. So müssten beispielsweise die öffentlichen Haushalte nicht als Selbstzweck entschuldet werden, sondern um jüngeren Generationen politische Spielräume zu schaffen. Auch die oben skizzierte Umgestaltung der gesundheitlichen Sicherungssysteme mit dem Ziel, Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen und die Vermeidung dieser zu prämieren, stehe aus dieser Perspektive unter dem Gebot der Fairness gegenüber nachfolgenden Generationen. Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Generationen der bundesdeutschen Gesellschaft sei als gemeinschaftliche Anstrengung aller Generationen zu verstehen, eigenverantwortlich und zukunftsgerecht zu wirtschaften. Nachhaltige Politikgestaltung, so „Netzwerker“, bedeute eine Notwendigkeit für das Überleben der Menschheit.1518 Als weiteres Prinzip, das „Netzwerker“ immer wieder bemühten, und das besonders in Zusammenhang mit den Ausführungen zum Sozialstaat zu Tage 1515
Vgl. Interview Griese, S. 28. Vgl. grundsätzlich zu diesem Absatz „Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 41 ff. 1517 Vgl. ebd., S. 43. 1518 Vgl. „Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 41. 1516
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trat, ist Chancengerechtigkeit zu nennen.1519 Wie bereits erwähnt, wollten „Netzwerker“ die Qualität des Sozialstaats und im weiteren Sinne allgemein der Gesellschaft nicht an der Höhe der materiellen Umverteilung messen, sondern an den jeweiligen Bildungs- und Lebenschancen, die Menschen auf ihrem Lebensweg seitens der Politik bereitgestellt würden. Dies bedeutete zum einen, dass der Staat beziehungsweise öffentliche Institutionen finanziell entlastet würden oder sich zumindest öffentliche Investitionen von direkten zu indirekten Leistungen verschöben. Aus einer solchen Perspektive machte beispielsweise eine Erhöhung des Kindergelds als einer direkten Transferleistung wenig Sinn, gebotener schien eher das Investieren der Gelder beispielsweise in den Ausbau öffentlicher Kinderbetreuung als indirekter Transferleistung des Staates. Dem Staat kam im Politikverständnis des „Netzwerks“ durch die Betonung der Chancengerechtigkeit somit eine neue Position gegenüber dem Individuum zu. Zum anderen aber beinhaltete die Zentralität der Chancengerechtigkeit eine Bedeutungsverschiebung des sozialdemokratischen Gerechtigkeitsbegriffs. „Netzwerker“ rechtfertigten die große Bedeutung, die sie dem Begriff der Chancengerechtigkeit zumaßen, einerseits durch die bereits oben geschilderten Problemlagen der demografischen und vor allem der finanziellen Entwicklung öffentlicher Haushalte. Andererseits beriefen sie sich auf das ihrer Ansicht nach ureigene sozialdemokratische Gebot des Strebens nach Emanzipation. Menschen besäßen das Bedürfnis und auch das Recht dazu, sich ihren gesellschaftlichen Platz frei ihrer Herkunft selbst zu wählen oder zu bestimmen.1520 Aufgabe der Politik sei es mithin, Menschen immer wieder Chancen zur individuellen gesellschaftlichen Ortsbestimmung zur Verfügung zu stellen. Maßgabe und Ziel war somit nicht mehr unbedingt materielle Egalität innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Gebildes, sondern lediglich die für alle gleichen, identischen Chancen, die der Einzelne lediglich zu ergreifen habe. Eine Schlüsselrolle kam hierbei, wie bereits oben geschildert, der Bildung zu. Denn Bildung, daran glaubten „Netzwerker“ fest, biete den Menschen alle Optionen der gesellschaftlichen Mobilität und Selbstverortung.1521 Wie sich in diesen Ausführungen bereits andeutet, beinhaltete die Bereitstellung ständiger Lebens- und Bildungschancen seitens der Politik für das Individuum ein hohes Maß an Eigenverantwortung, die gebotenen Chancen auch wahrzunehmen. Hierin verbarg sich gleichsam ein weiteres, zentrales Motiv des 1519
Vgl. beispielhaft zur Position des „Netzwerks“ in diesem Zusammenhang Stöckel, Rolf: Menschen stärken – Wege öffnen. Eine moderne sozialdemokratische Politik für mehr Chancengleichheit, in: Platzeck/Steinmeier/Steinbrück, 2007, S. 94-98. 1520 Vgl. Lange, Christian: Ohne Freiheit ist alles nichts, in: Berliner Republik 4 (2006), S. 69-70, hier S. 69. 1521 Vgl. beispielhaft Oppermann, Thomas: Bildung durch den Staat, in: Berliner Republik 6 (2006), S. 72-74, hier S. 73.
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„netzwerkschen“ Politikverständnisses. „Netzwerker“ waren davon überzeugt, dass Menschen sich ein größeres Maß an Selbstbestimmung und damit an eigener Verantwortung wünschten.1522 Aus diesem Grund bestimmten sie auch in ihrem Programmbeitrag den Wert der Freiheit als vorrangig vor den beiden anderen sozialdemokratische Grundwerten der Gerechtigkeit und der Solidarität.1523 Mehr noch, Freiheit sollte im Sinne der skizzierten Chancengerechtigkeit gar gesellschaftliche Gerechtigkeit nach sich ziehen. Dabei versuchten sie, den Begriff der Freiheit interpretatorisch zu erweitern: Freiheit bedeute nicht nur die „Freiheit von etwas“ – Unterdrückung, Not etcetera –, sondern ebenso und mindestens genauso ausschlaggebend die „Freiheit zu etwas“.1524 An dieser Stelle war vor allem an die Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben gedacht. Jedoch, so „Netzwerker“, sei die Verantwortung ein Unterpfand der Freiheit: Die seitens der Politik geschaffenen Freiheiten müssten von den Menschen (eigen)verantwortlich wahrgenommen werden. So hatte der Einzelne in den Überlegungen der Gruppierung zwar ein lebenslanges, immer wieder aktivierbares Recht auf Bildung und damit auf die beschriebenen Lebenschancen, jedoch müsse er diese Angebote auch annehmen. Für „Netzwerker“ verknüpfte sich mit der Bereitstellung bestimmter Rechte für die Bürger auch die Pflicht, Optionen wahrzunehmen und alles zu tun, um einer Notsituation aus eigener Kraft wieder zu entkommen.1525 Beispielhaft und plastisch lässt sich diese Moralvorstellung an der von „Netzwerkern“ befürworteten Verschärfung von Zumutbarkeitsregelungen im Falle von Arbeitslosigkeit erläutern. So erhielt ein arbeitslos gewordener Arbeitnehmer zwar nach wie vor für einen begrenzten Zeitraum finanzielle Unterstützung des Staates in Form von Arbeitslosengeld, jedoch sollten diese Zahlungen an mehr Bedingungen – Pflichten eben – als in früheren Jahren geknüpft werden.1526 Dies beinhaltete Weiterbildungsmaßnahmen, ständige Verfügbarkeit, Bewerbungszwang sowie hinsichtlich einer potenziellen Arbeitsaufnahme lokale, soziale und finanzielle Mobilität. Dem Grundgedanken folgend, dass jede Form der Integration in Erwerbsarbeit besser sei als Arbeitslosigkeit, sollten Arbeitslose bereit sein, auch Tätigkeiten anzunehmen, für die ein Umzug nötig wäre, die mit finanziellen Einbußen verbunden wären, oder die nicht ihrer ursprünglichen Qualifikation entsprachen. „Netzwerker“ wollten somit Rechte mit Pflichten, Förderung mit Forderungen verbinden. Frei1522
Vgl. Interview Hauer, S. 19. Vgl. Lange, Christian: Freiheit ermöglichen, Verantwortung einfordern. Warum Sozialdemokraten den Freiheitsbegriff nicht anderen überlassen dürfen, in: Platzeck/Steinmeier/Steinbrück, 2007, S. 167-171, hier S. 167. 1524 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 12. 1525 Vgl. hierzu skeptisch Walter, 2008, S. 73 f. 1526 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 31. 1523
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heit und Zwang gingen in den Vorstellungen der Gruppierung gewissermaßen eine Symbiose ein. An dieser Stelle war ein weiterer Begriff einschlägig, den „Netzwerker“ immer wieder bemühten: die Teilhabe. Eine funktionsfähige Gesellschaft, so „Netzwerker“, könne nur eine solche sein, an deren Leben und Gestaltung möglichst alle Bürger Teil hätten.1527 Auch diese Vorstellung der gesellschaftlichen Teilhabe war im Wesentlichen – wie die schon erwähnte Chancengerechtigkeit – immaterieller Natur, beruhte weniger auf materiellen Gütern. Die gesellschaftliche Teilhabe des Individuums sollte aus dieser Sicht der „Netzwerker“ weniger durch einen gewissen materiellen Wohlstand gewährleistet werden, denn durch Integration in den Arbeitsmarkt und zivilgesellschaftliche Partizipation.1528 Noch einmal wird hier die Zentralität des Arbeitsbegriffs deutlich: Wie oben geschildert, stand nach Ansicht von „Netzwerkern“ die – bezahlte – Erwerbsarbeit im Mittelpunkt der sozialen Entwicklung und individuellen Zufriedenheit der Bürger. So war es denn nicht verwunderlich, dass gesellschaftliche Teilhabe über die Integration in Erwerbsarbeit gewährleistet werden sollte. Ergänzend sollte die zivilgesellschaftliche Partizipation der Bürger sie sozial integrieren und festigen. Die Beteiligungsorientierung, die bereits als Wesensmerkmal des „Netzwerks“ herausgearbeitet wurde, forderte die Gruppierung in gewissem Sinn also auch von den Bürgern. Zudem verknüpfte sich hier der „netzwerksche“ Gedankengang mit den Überlegungen zum Begriff Eigenverantwortung und der Rolle des Staates, aber auch mit dem Prinzip der Subsidiarität. Wie bereits oben geschildert, waren „Netzwerker“ der Ansicht, die meisten gesellschaftlichen wie individuellen Probleme sollten und könnten am Ort ihrer Entstehung gelöst werden. Nachbarschaftliche Hilfe, ehrenamtliches und freiwilliges Engagement hatten in dieser Argumentation daher eine doppelte Funktion: Zum einen sollten sie soziale Probleme möglichst rasch und ohne institutionelle Hürden lösen helfen, zum anderen sollten sie zur sozialen Integration der Bürger beitragen. Eigenverantwortliche Partizipation sollte somit gesellschaftliche Inklusion und gegenseitige soziale Hilfeleistung gewährleisten.1529 Doch neben dem Komplex der Chancengerechtigkeit, der Rechte, Pflichten, Teilhabe und Eigenverantwortlichkeit zogen sich noch weitere Motive durch die programmatischen Beiträge des „Netzwerks“. Zunächst war dies der in dieser Arbeit bereits des öfteren diskutierte Begriff der Transparenz. Transparenz war bereits als gruppeninterne Maxime des „Netzwerks“, aber auch generell als politischer Grundsatz herausgearbeitet worden. Dies spiegelte sich ebenfalls in den programmatischen Beiträgen der Gruppierung wider. So sollte beispielsweise ein 1527
Vgl. ebd., S. 13 f. Vgl. ebd., S. 24 f. 1529 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“, 2003, S. 24. 1528
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wie oben geschilderter entbürokratisierter, schlankerer und dienstleistungsorientierter Staat die Transparenz staatlicher sowie politischer Handlungen erhöhen.1530 Dies wiederum sollte in den Augen von „Netzwerkern“ Politik nachvollziehbarer und verständlicher machen. Transparenz galt somit sozusagen als Querschnittsgebot aller politischen Handlungen, das nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit politischen Handelns sowie das Vertrauen in Politik und deren Protagonisten stärken sollte. Somit barg die Maxime der Transparenz auch einen Hinweis auf das Misstrauen und Desinteresse gegenüber Politik, wie „Netzwerker“ es – das wurde in Kapitel 7.2 gezeigt – in ihren politischen Biografien zum Teil erfahren hatten. Schlussendlich waren die programmatischen Forderungen des „Netzwerks“ von einem grundsätzlichen Optimismus gegenüber der Bewältigung der oben skizzierten politischen Herausforderungen und Problemlagen geprägt. Besonders einschlägig war hier die Einschätzung des Globalisierungsphänomens. Zwar wurde auf dessen verunsichernde Folgen hingewiesen, grundsätzlich bemühten sich „Netzwerker“ jedoch, die möglichen positiven Konsequenzen herauszustellen.1531 Ähnlich exemplarisch war die Einschätzung von Technik und Technologieentwicklung, denen aus Sicht des „Netzwerks“ gerade in Zusammenhang mit dem Klima- und Umweltschutz, aber auch mit wirtschaftlichen und Erwerbspotenzialen eine wichtige Funktion zukam. Durch die fortwährende Erforschung und Entwicklung innovativer Technologien sollten neue Formen beispielsweise der Energiegewinnung nutzbar gemacht werden.1532 Auch in diesem Fall wiesen „Netzwerker“ zwar auf die Problemlage beispielsweise des sich wandelnden globalen Klimas hin, wichtiger als die Beschreibung des Ist-Zustands war jedoch eine positive Zukunftsperspektive zur Überwindung der Schwierigkeiten. Generell konnte daher in den verschiedenen programmatischen Vorschlägen des „Netzwerks“ ein gewisser grundlegender Optimismus festgestellt werden. 8.3 Generationelle Verortung im Programmdiskurs Die „netzwerkschen“ Programmvorschläge hoben sich deutlich von den postmaterialistisch inspirierten sozialdemokratischen Diskussionen der 1980er-Jahre ab, in denen „Netzwerker“ sozialisiert worden waren, und dennoch waren sie von ihnen geprägt. Das „Berliner Programm“ von 1989, das bis ins Jahr 2007 das offizielle Parteiprogramm der SPD bleiben sollte, schloss im Grunde die Debatten und parteiinternen Querelen der 1980er-Jahre sowohl inhaltlich als auch 1530
Vgl. ebd., S. 23 f., siehe auch S. 30. Vgl. ebd., S. 15. 1532 Vgl. beispielsweise Kelber, Ulrich: Der Umweltschutz braucht neue Themen und Ziele, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2004, S. 292-294. 1531
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machtpolitisch ab. Der umfangreiche Text war inhaltlich als Hinwendung zu den Neuen Sozialen Bewegungen sowie deren Anliegen zu lesen.1533 Vorrangige Maximen der neuen programmatischen Ausrichtung waren vor allem die Bewahrung der Umwelt sowie das Bestreben, die Bedürfnisse von Mensch und Natur in Einklang zu bringen und aus Sicht des Menschen nachhaltig und schonend mit Energie- und Umweltressourcen umzugehen.1534 Darüber hinaus wies das „Berliner Programm“ unter dem Einfluss des Ost-West-Konflikts eine deutlich pazifistische Grundorientierung auf. Das friedliche Zusammenleben nicht nur von Mensch und Umwelt, sondern auch von verschiedenen Völkern und Nationen sowie damit verbunden umfangreiche Bemühungen um internationale Abrüstung sollten im Fokus politischen Handelns stehen.1535 Hinzu kam eine insgesamt stark internationalistische Politikperspektive, die sich nicht nur auf verteidigungs- oder außenpolitische Aspekte bezog, sondern ausdrücklich die Wichtigkeit entwicklungspolitischer Bemühungen betonte. Als weitere zentrale Aspekte des „Berliner Programms“ können der gewandelte Begriff der Erwerbsarbeit sowie eine grundsätzlich eher skeptische Zukunftssicht genannt werden1536 – beides stand im diametralen Widerspruch zu den oben ausgeführten „netzwerkschen“ Programmüberlegungen. Der Arbeitsbegriff des „Berliner Programms“ spiegelte vor allem die von den Neuen Sozialen Bewegungen angestoßenen Auseinandersetzungen um die Gestaltungsmacht des Individuums über seine Lebensführung sowie Sinn und Unsinn von Erwerbsarbeit allgemein wider. Folglich strebte auch der Arbeitsbegriff des „Berliner Programms“ Arbeitszeitverkürzungen sowie einen stärkeren Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit an. Besonders letzterer kam dabei eine tragende Rolle zur Selbstverwirklichung des Individuums zu.1537 Zudem sollte auf diese Weise der von der Sozialdemokratie stets angeprangerten Entfremdung durch sinnlose Arbeit entgegen gewirkt werden.1538 Die oben skizzierte Vorstellung des „Netzwerks“ von der zukünftigen Arbeitsgesellschaft war eine deutlich andere. Gerade die Erwerbsarbeit, so wurde herausgearbeitet, galt als zentrales Element der gesellschaftlichen Integration. Statt die Menschen durch Arbeitszeitverkürzungen vom Berufsleben teilweise zu entbinden oder durch diese Maßnahmen auch die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, 1533
Vgl. Bok, Wolfgang; Zeitgeist-Genossen. das Berliner Programm der SPD von 1989. Motive – Folgen – Ziele, Frankfurt a.M. 1995, S. 179 ff. 1534 Vgl. Münkel, Daniela: Einleitung, in: Dies. (Hg.): „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“. Die Programmgeschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 2007, S. 9-41, hier S. 34 f. 1535 Vgl. Münkel, 2007, S. 58 ff. 1536 Vgl. ebd., S. 72 ff. 1537 Vgl. beispielhaft Gorz, André: Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a. M. 2000, S. 87 f. 1538 Vgl. Münkel, 2007, S. 73 beziehungsweise S. 77 f.
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sollten umfangreiche Anstrengungen zur Steigerung der Erwerbsarbeit unternommen werden. Dies schloss Arbeitszeitverlängerungen im Sinne der erweiterten Zumutbarkeit explizit nicht aus. Zudem spielte der Gedanke, Menschen sollten aus der Entfremdung durch Arbeit befreit werden, bei „Netzwerkern“ kaum eine Rolle. Während das „Berliner Programm“ noch auf die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums durch weniger Arbeit und mehr Freizeit setzte, strebten die Vorstellungen des „Netzwerks“ gerade durch die Erwerbsarbeit soziale Integration an. Daneben war insbesondere der Aspekt der Selbstverwirklichung nebensächlich, wollten „Netzwerker“ doch die Zumutbarkeitsregelungen verschärfen. An dieser Stelle offenbarte sich somit eine starke, programmatisch vermittelte generationelle Differenz. Sind die Unterschiede bezüglich des Erwerbsarbeitsbegriffs zwischen den Vorstellungen des „Berliner Programms“ Ende der 1980er-Jahre einerseits und den „netzwerkschen“ Ideen gute 15 Jahre später offenkundig, so ist die Frage nach den Ursachen dieser gegensätzlichen Überzeugungen nicht ganz so einfach zu beantworten, zumal die meisten „Netzwerker“ aufgrund ihres Geburtsjahres in ihrem politischen Leben mit den Programmvorstellungen des „Berliner Programms“ aufwuchsen, sie im Grunde vollkommen internalisiert haben müssten. Tatsächlich konnte bei einigen Einzelporträts gezeigt werden – aber auch diverse Interviewsequenzen spiegeln dies wider –, dass die postmaterialistischen Debatten der 1980er-Jahre eindrücklich auf die damaligen Jungsozialisten wirkten, wie in nachfolgenden Interviewauszügen noch einmal exemplarisch zum Ausdruck kommt: „Also wir haben dann irgendwie Bücher von Eppler gelesen, „Wege aus der Gefahr“, viel über Arbeitszeitverkürzung diskutiert, André Gorz war damals ziemlich hipp.“1539 „Also, die Hessen-Nord haben zum Beispiel so Themen gemacht wie „Recht auf Faulheit“, das war so über ´ne andere Verteilung der Arbeit. Wir hatten so die Versöhnung von Arbeit und Umwelt als eins unserer markanten Themen, das wir auch lange... In meiner Zeit, dieser Juso-Flügel hatte immer die Juso-Rose mit ´nem Regenbogen. Also sozusagen auch die Aufforderung zur Vielfalt. [...] Wir hatten also viel Zugang auch zur Ökologiebewegung und zu anderen Fragen.“1540
Dennoch vertraten „Netzwerker“ spätestens um die Jahrtausendwende gerade in Bezug auf den Arbeitsbegriff von ihren primären Einflüssen divergierende Auffassungen. Diese Meinungsänderungen fanden wenn auch nicht ausnahmslos, so doch vielfach mit dem Wechsel der Jungpolitiker als Abgeordnete in den Bundestag statt. Ein solcher Wandlungsprozess ist in Kapitel 7.2.4 im Falle Nina Hauers – wenn auch am Beispiel anderer Themenkomplexe – geschildert wor1539 1540
Interview Heil, S. 3. Interview Bodewig, S. 4.
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den. In diesem Zusammenhang wurde der Beginn der rot-grünen Koalition 1998 als Scheidepunkt und Auslöser für die Gründung der Gruppierung ausgemacht. Wie geschildert, bestanden aus Sicht der späteren „Netzwerker“ nicht nur organisatorische und kulturelle Defizite bei den vorhandenen fraktionsinternen Gruppierungen, sondern darüber hinaus waren sie vom inhaltlichen und handwerklichen Vorgehen der jungen Bundesregierung enttäuscht und fanden bei den bestehenden Fraktionsgruppen keine für sie befriedigenden Antworten. Bereits zuvor begonnene inhaltliche Wandlungs- und Überzeugungsprozesse, die durch die in Kapitel B geschilderten äußeren Generationsbedingungen wie das Ende des Ost-West-Konflikts, die Wiedervereinigung, die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit sowie den – scheinbaren – globalen Siegeszug des Kapitalismus und dessen erste Krisen angestoßen worden waren, wurden nun beschleunigt. Die „alten Wahrheiten“ der Sozialdemokratie allgemein sowie des „Berliner Programms“ im Besonderen schienen keine Gültigkeit mehr zu besitzen. So suchten sich „Netzwerker“ in ihren Donnerstagabendveranstaltungen, ihren Jahrestagungen und nicht zuletzt durch Debatten in der „Berliner Republik“ neue Lösungsvorschläge und Denkansätze, die schließlich in den skizzierten Überzeugungen mündeten. Insofern kann an dieser Stelle von einer negativen inhaltlichen Prägung durch die Vorgängergeneration der 68er – welche das „Berliner Programm“ maßgeblich verantwortete – gesprochen werden. Ähnlich diametral standen sich der oben dargestellte „netzwerksche“ (Zukunfts-)Optimismus einerseits und der erwähnte Grundskeptizismus des „Berliner Programms“ andererseits gegenüber. Besonders die negativ-skeptische Interpretation technischer Innovationen, wie sie im „Berliner Programm“ deutlich wurde, unterschied sich von der zwar abwägenden, dennoch grundsätzlich positiven Sichtweise des „Netzwerks“, die sich besonders im Bereich der Umwelttechnologien oder der Erschließung erneuerbarer Energien positiven Fortschritt und Beschäftigungsmöglichkeiten versprach. Auch an dieser Stelle kann davon ausgegangen werden, dass „Netzwerker“ die Betroffenheitsmentalität, wie sie beispielsweise Ute Vogt im Interview als typisch für die 1980er-Jahre skizziert hatte, entweder von Beginn an mit Skepsis betrachteten oder im Laufe ihrer weiteren Sozialisation als nicht angemessen angesichts der weiteren Veränderungen – Zusammenbruch des Ostblocks, Wiedervereinigung, Börsenboom – ansahen. Einiges spricht daher dafür, dass an dieser Stelle die Erfahrungen der von Optimismus und Spaßorientierung geprägten 1990er-Jahre jene der 1980erJahre überlagerten. Doch noch weitere Differenzen lassen sich zwischen „Berliner Programm“ und „netzwerkschen“ Programmvorstellungen ausmachen. So nimmt zwar in beiden Kontexten der Begriff der Freiheit eine zentralen Platz ein, doch wird er je unterschiedlich definiert. Legt man die bereits oben skizzierte Unterscheidun-
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gen zwischen „Freiheit zu etwas“ und „Freiheit von etwas“ zu Grunde, so spielte das „Berliner Programm“ vor allem auf Letzteres an. Am oben ausgeführten Beispiel der Erwerbsarbeit war somit die Befreiung von Zwang das Ziel, im Falle der pazifistischen Grundorientierung die Befreiung von Krieg und Not. Dagegen erweiterten „Netzwerker“ die Freiheitsdefinition um die Komponente, dass Freiheit auch immer die „Freiheit zu etwas“ bedeute, und verbanden sie mit Verantwortung und Pflichten der Bürger, wie in Kapitel 8.2 geschildert. Insofern besaß der „netzwerksche“ Freiheitsbegriff paradoxerweise eine deutlichere Zwangskomponente. Auch der Pazifismus des „Berliner Programms“ fand sich in den Überlegungen des „Netzwerks“ nicht wieder, ebenso wenig wie die ausführlichen entwicklungspolitischen Aspekte. Nun soll keinesfalls unterstellt werden, „Netzwerker“ schätzten den Frieden nicht oder setzten sich nicht für die Vermeidung von Kriegen ein. Doch ist angesichts der in Kapitel 7 herausgearbeiteten zentralen Stellung des Pazifismusthemas in den Biografien vieler „Netzwerker“ schon auffällig, wie peripher dieser Komplex in den programmatischen Forderungen der Gruppierung behandelt wurde. Ähnliches gilt für die entwicklungspolitische Problematik. Auf den zweiten Blick jedoch sind diese Differenzen weniger widersprüchlich. So schien nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und des Kalten Krieges Ende der 1980er- oder zu Beginn der 1990er-Jahre die internationale Rüstungsspirale zum Stillstand gekommen und die Gefahr eines atomaren Krieges gebannt zu sein. Auch rückte das wiedervereinigte Deutschland in verteidigungspolitischer Hinsicht an eine andere Stelle im internationalen System, so dass auch Bundeswehreinsätze im Ausland – mit UN-Mandat – selbstverständlicher wurden. „Netzwerker“ aber, deren persönliche Geschichte von den Aufrüstungsauswüchsen des Kalten Krieges in den 1980er-Jahren geprägt war, hatten im Gegensatz zu den „Enkeln“ von Beginn an ein positives Verhältnis zur Deutschen Einheit gehabt und konnten diese daher positiv bewerten. Sie waren die erste Politikergeneration der „Berliner Republik“, für die ein wiedervereinigtes Deutschland selbstverständlicher war als für ihre Vorgänger. Deshalb fanden sie sich auch leichter als ihre Vorgänger in eine veränderte, international verantwortungsvollere Rolle Deutschlands mit entsprechenden militärischen Einsätzen ein. Vor diesem Hintergrund vollzogen die „netzwerkschen“ Positionen schlicht die Entwicklung der 1990er-Jahre nach. Auch in diesem Fall also scheinen die sozialisatorischen Erfahrungen des frühen Erwachsenenalters jene der Jugendzeit überlagert zu haben. Allenfalls im Bereich der Umweltpolitik können einige Entsprechungen zwischen „netzwerkschen“ Überzeugungen und den programmatischen Vorstellungen der ausgehenden 1980er-Jahre ausgemacht werden. Die grundsätzliche Befürwortung des Umweltschutzes und nachhaltiger Energiegewinnung waren
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im „Netzwerk“ im Grunde unumstrittene Überzeugungen, wenngleich dieser Themenbereich an sich – wie oben gezeigt – erstaunlich wenig im Mittelpunkt der Diskussionen stand. Grundsätzlich aber ist markant, wie sehr die Hierarchie der einzelnen Politikfelder zwischen den programmatischen Vorstellungen Ende der 1980er-Jahre einerseits und des „Netzwerks“ andererseits differierte. Besonders augenfällig war dies hinsichtlich der Sozialstaats- sowie der Familien- und Bildungspolitik, die in den „netzwerkschen“ Vorstellungen zentrale Plätze einnahmen. Während Gerhard Schröder gerade die Familienpolitik einst als „Gedöns“ bezeichnet hatte, betonten „Netzwerker“ deren bedeutende Funktion für die Beschäftigungs- und Bildungspolitik. Ohne Zweifel ging die exponierte Stellung der Familienpolitik im „Netzwerk“ sicher auch auf das Engagement Kerstin Grieses zurück, die – wie in Kapitel 6 und 7 gezeigt – innerhalb der Gruppierung eine der treibenden Kräfte war und zum Sprecherkreis zählte. Ebenfalls sollte nicht vergessen werden, dass Abgeordnete des „Netzwerks“ gerade im Familienausschuss des Bundestages zahlreich vertreten waren. So zeigte sich also einmal mehr die Abhängigkeit der gruppeninternen Prioritäten von der Ressortzuständigkeit der einzelnen MdBs. Dennoch war der Raum, den „Netzwerker“ familien- und bildungspolitischen Diskussionen beimaßen, erstaunlich umfangreich und übertraf in jedem Fall die Relevanz, welche die Thematik in der Vorgängergeneration besessen hatte. Bedenkt man zudem, dass beispielsweise umwelt- und entwicklungspolitische Themen – wie oben demonstriert – aus Sicht des „Netzwerks“ in ihrer Bedeutsamkeit gegenüber dem „Berliner Programm“ deutlich abnahmen, so ist nicht nur offensichtlich, dass „Netzwerker“ verglichen mit der Programmatik der Vorgängergeneration in einzelnen Politikfeldern andere Lösungsvorschläge als richtig erachteten, sondern es wird auch die divergente Themenhierarchie offenbar. „Netzwerker“ suchten sich also aufgrund ihrer politischen Erfahrungen zum einen von den Leitideen der Vorgängergeneration abzusetzen, um nicht zuletzt auf veränderte ökonomische, gesellschaftliche und politische Verhältnisse zu reagieren, zum anderen aber übernahmen sie deren Leitvorstellungen etwa im Umweltbereich nahezu selbstverständlich. Ein anderes Bild ergibt sich beim Vergleich der „netzwerkschen“ Programmbeiträge mit dem Regierungshandeln der rot-grünen Koalition zwischen 1998 und 2005. War die Anfangszeit durch Kritik des „Netzwerks“ an der Regierungspolitik geprägt – immerhin stellte diese Unzufriedenheit eine der Gründungsursachen der Gruppierung dar –, so fand der so genannte Reformkurs, den Gerhard Schröder erstmals mit dem
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Schröder-Blair-Papier im Frühsommer 1999 einzuschlagen suchte, die ausgesprochene Zustimmung der Gruppierung.1541 Im Grunde lässt sich die Beziehung zwischen rot-grüner Regierungspolitik und „netzwerkschen“ Programmdiskussionen durch drei Stichworte charakterisieren. Zum Ersten kann dem „Netzwerk“ eine Art Vorreiterrolle für spätere rotgrüne Bundespolitik zugesprochen werden. Besonders für die erste Legislaturperiode zwischen 1998 und 2002 ist festzuhalten, dass viele der später relevant gewordenen oder gar in Gesetzesform gegossenen Thematiken bereits im „Netzwerk“ diskutiert wurden. Dies gilt beispielsweise, wie oben erwähnt, allgemein für die Bedeutung der Familien- und Bildungspolitik, der gerade Gerhard Schröder anfangs skeptisch gegenüberstand. Auch die Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialhilfe war Bestandteil „netzwerkscher“ Diskussionen, bevor die Maßnahme mittels der Agenda 2010 offizielle Regierungspolitik wurde.1542 Ebenso sprachen sich „Netzwerker“ bereits seit Jahren für die Offenlegung von Managergehältern aus, bevor sie einen entsprechenden Gesetzentwurf einbrachten, der letztendlich auch angenommen wurde. Insgesamt machten sich „Netzwerker“ von Beginn an für ein neues Grundsatzprogramm stark1543, das jedoch erst 2007 verabschiedet werden sollte. Dies Verhältnis von Regierungs- und „Netzwerk“-Politik offenbarte zum Zweiten jedoch auch das Dilemma, in dem sich die Gruppierung nicht selten mit ihren inhaltlichen Vorschlägen befand. Denn ihnen wurde vorgeworfen, quasi in vorauseilendem Gehorsam jene Politikvorschläge ausfindig machen zu wollen, die in absehbarer Zeit Regierungslinie werden und somit auch auf die Gunst des Kanzlers treffen könnten. Auf diese Weise, so der Vorwurf, erhofften sich Mitglieder der Gruppierung bessere Aufstiegs- und Karrierechancen. Sogar innerhalb der Gruppierung selbst wurde von einzelnen Mitgliedern mitunter kritisiert, man sei zu sehr darauf bedacht gewesen, nicht in Konflikt mit Regierungs- und Parteiführung zu geraten.1544 Nun ist ein solcher Karrierevorwurf ebenso schnell erhoben wie schwer aus der Welt zu räumen, zumal „Netzwerkern“ bereits aufgrund ihres Habitus einiges an Misstrauen entgegenschlug. Im Detail wird sich im Nachhinein kaum eruieren lassen, inwiefern einzelne „Netzwerk“-Vorschläge einem karrierestrategischen Kalkül folgten. Allerdings spricht doch einiges dafür, dass die Gruppierung bei den oben genannten inhaltlichen Beiträgen in ihrer Modernität von der pragmatischen Wende der „Enkel“ überholt wurde und somit nur selten eine inhaltlich-generationelle Diskrepanz zwischen Regierungs- und 1541
Vgl. Käppner, Joachim: „Die SPD muss sich öffnen!“, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 23.07.1999. Vgl. Heil/Hauer/Lange/Matschie, 2001, S. 5. 1543 Vgl. Bartels, Hans-Peter: In einem anderen Land, in: Die Welt, 20.08.1999. 1544 Vgl. Interview Bartels, S. 6. 1542
8. Inhaltliche Verortung des „Netzwerks“
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„Netzwerk“-Positionen offen zu Tage trat – zumal es nicht dem politischen Stil der Gruppierung entsprach, Differenzen öffentlich zu machen und medial zu inszenieren. So hat sich beispielsweise in Kapitel 6 in Zusammenhang mit der inhaltlich Auswertung der Donnerstagabendveranstaltungen gezeigt, dass die Thematik der Reform des Sozialstaats bereits von Beginn an diskutiert wurde, während dieser Komplex auf Ebene der Bundesregierungspolitik im Grunde erst in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode ab 2002 aufgrund der sich zunehmend manifestierenden Arbeitslosigkeit sowie wegen sich allgemein verschlechternder Wirtschaftsdaten und sinkender Umfragewerte in den Fokus rückte.1545 Auf dem – vorläufigen – Höhepunkt ihres programmatischen Einflusses befanden sich „Netzwerker“ daher gewissermaßen zu Beginn der großen Koalition auf Bundesebene ab Herbst 2005, und dies nicht nur aufgrund ihres nominell gewachsenen personellen Einflusses beispielsweise durch den neuen Generalsekretär Hubertus Heil.1546 Vielmehr entsprach vor allem die durch die Regierungspraxis symbolisierte Programmatik der SPD zumindest in der Anfangszeit in vielen Punkten einstigen Forderungen der Gruppierung. Die Maßnahmen der Agenda 2010 wurden innerhalb der SPD zwar nach wie vor nicht geliebt, aber doch hingenommen, und „Netzwerker“ hatten den in ihrer Wahlkampagne wirkeampfen.de propagierten Habitus, stolz auf die Reformmaßnahmen der vergangenen Jahre zu sein, zumindest in Teilen auf die Gesamtpartei übertragen können. Umso erstaunlicher war es, dass gerade das im Herbst 2007 verabschiedete „Hamburger Programm“ deutlich weniger durch die von „Netzwerkern“ vertretenen, oben skizzierten Grundgedanken der Chancengerechtigkeit, Subsidiarität oder auch grundsätzlich des Leistungsethos dominiert wurde, als dies noch beim „Bremer Entwurf“ zu Beginn desselben Jahres der Fall gewesen war.1547 Offenbar hatte die vorherige Dominanz der „Netzwerker“ gerade um den brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck und den Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sowie der Wechsel im Parteivorsitz von Platzeck zu Kurt Beck Anfang 2006 die Parteilinke gestärkt, so dass das „Netzwerk“ wesentlich weniger seiner Ideen im Programm verwirklicht sah als ursprünglich zu erwarten gewesen war. Unter anderem aber spiegelte diese Entwicklung den unentschiedenen Richtungsstreit zwischen der von „Netzwerkern“ propagierten „Neuen Sozialdemokratie“ und dem linken Flügel der Partei wider und verdeut1545
Vgl. beispielsweise Oberndörfer, Dieter/Mielke, Gerd/Eith, Ulrich: Niemand zieht für die HartzKommission in den Wahlkampf, in: Frankfurter Rundschau Online, 07.02.2003. 1546 Vgl. zu den meist positiven Karriereverläufen ab 2005 auch Kapitel 6.4. 1547 Vgl. hierzu und dem Folgenden Walter, 2008, S. 85 ff.; siehe zur Kritik des „Bremer Entwurfs“ und dem Zukunftsoptimismus, der auch für „netzwerksche“ Programmbeiträge diagnostiziert wurde, Lucke, Albrecht von: SPD – Profillosigkeit als Programm, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4 (2007), S. 463-470, hier S. 464 f.
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lichte die parteiinterne machtstrategische Relevanz von Programmfindungsprozessen. 8.4 Zwischenfazit Die vorausgehenden Ausführungen haben bezüglich der inhaltlichen Verortung des „Netzwerks“ zwischen „Berliner Programm“, rot-grüner Regierungspolitik und „Hamburger Programm“ mehrere Aspekte zu Tage gefördert. Zunächst ist, erstens, festzuhalten, dass das generationelle Verhältnis des „Netzwerks“ zur Vorgängergeneration der 68er ein zwiespältiges war. So wurde recht offensichtlich, dass die Gruppierung sich mit ihren programmatischen Vorstellungen vor allem von den Leitlinien des seit 1989 gültigen „Berliner Programms“ absetzen wollte. Ein grundsätzlicher Zukunfts- und Technikskeptizismus der 1980er-Jahre stand hier dem Optimismus der „Netzwerker“ gegenüber, die Auffassungen von einem sozialdemokratischen Erwerbsarbeitsbegriff differierten deutlich, eine stärker internationale Politikperspektive konkurrierte mit einer eher nationalstaatlich begrenzten. Einzig im Bereich des Umweltschutzes konnte eine gewisse Konvergenz festgestellt werden, aus der sich auch die „netzwerkschen“ Grundprinzipien der Generationengerechtigkeit und der Nachhaltigkeit ableiten lassen, welche bereits in den in Kapitel 7 ausgeführten Einzelporträts aufgrund einer biografisch-generationellen Begründung herausgearbeitet wurden. Dem im Grunde recht deutlichen Versuch aber, sich von den politischen Maximen der 68er abzusetzen, stand seit Beginn der rot-grünen Bundesregierung 1998 eine zunehmende Annäherung zwischen „Netzwerk“- und Regierungspositionen gegenüber, wobei letztere unübersehbar von Protagonisten der Vorgängergeneration dominiert wurden. Diese Entwicklung wurde insofern interpretiert, als dass das „Netzwerk“ vom inhaltlichen Wandel der Vorgängergeneration quasi eingeholt wurde, wenn auch der Verdacht, die Gruppierung habe versucht, sich dem „Regierungsmainstream“ anzugleichen, nicht völlig ausgeräumt werden konnte. Derartige Folgerungen führen allerdings noch zu weiteren Schlüssen. Denn zum einen konnte sich die vom „Netzwerk“ gesuchte generationelle Diskrepanz zu den 68ern aufgrund zunehmender inhaltlicher Überschneidungen vor allem in der Regierungspolitik fast ausschließlich über die in Kapitel 6 dargestellten kulturell-habituellen Merkmale des politischen Stils vermitteln. Zum anderen zeigt sich an dieser Stelle das Dilemma verzögerter generationeller Ablösungsprozesse im Bereich der politischen Führung. Die „Enkel“ selbst waren oft genug – wie in Kapitel 1 erwähnt – als „verspätete Generation“ bezeichnet worden, deren Führungsanspruch und inhaltliche Deutungshoheit durch die Prozesse rund um die deutsche Einheit verzögert worden waren. So vollzogen sie
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selbst einen Teil jenes Wandlungsprozesses zur „Neuen SPD“, den die jüngeren Generation um das „Netzwerk“ angestrebt und voran getrieben hatte. Hieran lässt sich eine zweite Beobachtung hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung des „Netzwerks“ anknüpfen, die eng mit der generationellen Bedingtheit zusammen hängt. So konnte gezeigt werden, dass nicht nur die Lösungsvorschläge in einzelnen Politikbereichen von der Vorgängergeneration differierten, sondern auch die Rangfolge der Themen insgesamt. Besonders herausgehoben werden soll an dieser Stelle – neben den Debatten um die Zukunft des Sozialstaats – die Familien- und Bildungspolitik, welche „Netzwerker“ fortan in Synthese gedacht haben wollten. Insgesamt, und dies lässt sich als drittes Merkmal konstatieren, ist die Einordnung der „Netzwerk“-Positionen in ein parteiinternes Rechts-Links-Schema nicht unproblematisch und muss im Grunde von Politikfeld zu Politikfeld unterschiedlich beantwortet werden. So spricht insgesamt gesehen einiges dafür, das „Netzwerk“ rechts der parteiinternen Mitte zu verorten, hatte die Gruppierung doch, wie bereits oben erwähnt, im Herbst 2007 eine Art Pakt zur Zusammenarbeit mit dem Seeheimer Kreis geschlossen. Dies Ereignis war sicherlich von hoher Relevanz. In diesem Zusammenhang sollte zudem erwähnt werden, dass das Leitbild der Chancengesellschaft, das „Netzwerkern“ vorschwebte, bereits Jahre zuvor in der CDU beispielsweise von Erwin Teufel propagiert worden war.1548 Unklar ist jedoch, ob die Gruppierung sich an derartige Überlegungen des politischen Gegners tatsächlich annähern wollte, oder ob die Parallelen in den programmatischen Überlegungen schlicht nicht auffielen. Das Urteil muss an dieser Stelle also lauten, dass die Gruppierung insgesamt und vor allem mit Blick auf die umstrittenen Konzeptionen bezüglich des Sozialstaatsbegriffs und der Definition von sozialer Gerechtigkeit rechts von der Parteimitte eingeordnet werden muss. Dennoch gilt, dass die grundsätzliche Titulierung des „Netzwerks“ als „Rechte“ insofern mit Vorsicht zu genießen ist, als dass zumindest nach einzelnen Politikfeldern differenziert werden muss. Schließlich sprechen sowohl die Doppelmitgliedschaften, auf die bereits hingewiesen worden ist, als auch einige inhaltliche Punkte für teilweise Übereinstimmungen mit der Parteilinken. Vor allem im Umweltschutz aber auch in der Entwicklungspolitik dürfte eine Nähe zum linken Parteiflügel bestehen. 9
Konklusion und Ausblick
Die vorliegende Fallanalyse des „Netzwerks Berlin“ entlang der Leitfrage, ob und inwiefern sich in der Gruppierung eine eigenständige, den innerparteilichen 1548
Vgl. Teufel, Erwin (Hg.): Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft, Frankfurt a. M. 2001.
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68ern und „Enkeln“ nachfolgende sozialdemokratische Generation repräsentiert, hat verschiedenste Einsichten zu Tage befördert. Zunächst waren die Gründungs- und Entstehungsursachen des „Netzwerks“ aufschlussreich, da sich bereits an dieser Stelle das Motiv der Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von der Vorgängergeneration abzeichnete. Der besonders unter Gründungs-„Netzwerkern“ verbreitete politische Elan, der sich aus dem Erringen eines Direktmandats zu einem recht frühen Zeitpunkt ihrer politischen Laufbahn speiste, wurde mit Beginn der rot-grünen Bundesregierung 1998 in mehrfacher Hinsicht enttäuscht. Wie speziell in vielen Einzelporträts aber auch generell bei der Untersuchung der biografischen Sozialisationsverläufe deutlich wurde, war die Biografie vieler „Netzwerker“ von postmateriellen Werten und Maximen der Neuen Sozialen Bewegungen gezeichnet gewesen. Die rotgrüne Bundesregierung seit 1998 kann daher quasi als Gipfelpunkt ihres bisherigen politischen Strebens angesehen werden, zumal sich diese für die meisten der Gründungs-„Netzwerker“ mit einem individuellen Karrieresprung verband. Umso größer war, wie gezeigt, die Enttäuschung der jungen Abgeordneten, da sie zum einen die regierende Vorgängergeneration als nicht ausreichend vorbereitet auf die Machtübernahme empfanden, zum anderen die Strukturen der Bundestagsfraktion ihren Unmut hervorriefen. In inhaltlicher Hinsicht bemängelten sie die ihrer Ansicht nach nicht mehr zeitgemäße, sondern rückwärtsgewandte Themenwahl, die angeblich vielfach den Geist der oppositionellen 1980er-Jahre atmete. Damit einher ging das Empfinden, dass nicht nur bestimmte Themen und Problemlagen, sondern auch deren Lösungsvorschläge schnell tabuisiert wurden. An dieser Stelle verband sich die inhaltliche Kritik der jungen MdBs mit einer diskursiv-kulturellen: Die Art der Diskussionen, so die Jüngeren, sei in den etablierten Fraktionsflügeln der PL und des SK zu hierarchisch und zu wenig offen für neue Ideen und Vorschläge. Aus diesem Grund entstehe teilweise ein angstbesetztes Klima. Darüber hinaus umgingen „Netzwerker“ mit der Gründung einer eigenen fraktionsinternen Gruppierung die herrschenden Machthierarchien und schufen sich einen Diskussionsraum, in dem sie selbst die Regeln bestimmen konnten und sich nicht erst – wie bei PL oder SK – mühsam in den Rangordnungen hocharbeiten mussten. Als dynamisierende Faktoren wurden zudem die personell-strukturellen Verbindungen zur bereits bestehenden „Jungen Gruppe“ sowie die Herkunft der meisten Ursprungs-„Netzwerker“ aus dem undogmatischen Juso-Spektrum der ausgehenden 1980er- und beginnenden 1990er-Jahre ausgemacht. Letzteres war vor allem hinsichtlich der bereits vorhandenen persönlichen Kontakte als auch für die im „Netzwerk“ etablierte politisch-diskursive Kultur der Offenheit, Partizipation und egalitären Strukturen in vertrauensvoller Atmosphäre Ausschlag gebend.
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Die aufgeführten Gründungsursachen des „Netzwerks“ lassen mehrere Schlussfolgerungen zu. Da sich der Unmut der Neuabgeordneten an den bestehenden fraktionsinternen Strukturen und deren Diskursformen entzündete, spielte für die Initiierung der Gruppierung, erstens, das Verhalten der etablierten Kreise gegenüber Nachwuchspolitikern eine entscheidende Rolle. Offenbar war es weder PL noch SK möglich, die jungen MdBs in für diese befriedigender Weise zu integrieren und am politischen Prozess teilhaben zu lassen. In diesem Zusammenhang soll zum einen besonders die programmatische Verfasstheit der Parlamentarischen oder Parteilinken hervor gehoben werden, die „Netzwerker“ als rückwärtsgewandt und oppositionell und damit unattraktiv empfanden, obwohl sie als Politiker im Jusoalter in der PL zunächst einen gleichsam natürlichen Ansprechpartner sahen. Zum anderen soll die flügelinterne politische Kultur des SK betont werden, die „Netzwerker“ als zu steif und deshalb wenig anziehend ansahen. Insofern bedeutete die Gründung des „Netzwerks“ tatsächlich von Beginn an eine generationelle Abkehr von den politisch-diskursiven Prinzipien der Vorgängergeneration. Darüber hinaus aber war, zweitens, markant, wie entscheidend offenbar die Jusovergangenheit der Gründungs-„Netzwerker“ im undogmatischen Spektrum des Jugendverbands war. Denn hier hatte nicht nur die später in der Gruppierung gepflegte politische Kultur ihre Wurzeln, hier entstanden auch wichtige Freundschaften und Kontakte, die das „Netzwerk“ – zumindest in den Anfangsjahren – tragen sollten. Diese Beobachtung kann als Hinweis auf die – potenziell – immens wichtige Rolle des politischen Jugendverbands für die spätere Laufbahn des einzelnen Politikers gedeutet werden. Im Jugendverband einer Partei werden nicht nur politische Verhaltens- und Argumentationsmuster eingeübt, sondern es können darüber hinaus Kontakte und Seilschaften geknüpft werden, die über Jahre und Jahrzehnte tragfähig und hilfreich im politischen Machtkampf sein können. Doch können ebenso Antipathien und Streitigkeiten hier ihren Ursprung haben, die ins spätere Berufspolitiker- und Parteileben transferiert werden. Somit besitzt die Arbeit eines politischen Jugendverbands nicht nur für den einzelnen Politiker eine je individuell-biografische Bedeutung, sondern sie ist auch für Parteien insgesamt nicht zu unterschätzen. Zwar kann an dieser Stelle mitnichten von einer streng linearen Kausalität ausgegangen werden, doch können sich sehr wohl spätere parteiinterne Entwicklungen bereits im Jugendverband abzeichnen. Nachwuchsarbeit beginnt für Parteien deshalb nicht zwingend erst mit dem Einstieg jüngerer Politiker ins Berufspolitikerleben, sondern beinhaltet auch die quasi seismografische Beobachtung der eigenen Jugendorganisation. Die oben skizzierten Motivationen, die zur Gründung des „Netzwerks“ führten, implizierten zugleich Hinweise auf die Motive für die Mitgliedschaft innerhalb der Gruppierung, für ihre Funktionen, organisatorische Struktur und
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politische Kultur. So ist als entscheidendes Attraktivitätsmerkmal des „Netzwerks“ – neben der zusammenschweißenden gemeinsamen Vergangenheit vieler Politiker beim undogmatischen Flügel der Jusos – vor allem die Form der gruppeninternen Diskussion und Organisation und damit die politische Kultur herausgearbeitet worden. Die möglichst offenen, auf Vertrauen basierenden Beteiligungs- und Diskussionsstrukturen sowie die auf Kooperation und Konsens zielenden Maximen der politischen Arbeit konnten als wesentliche Anziehungspunkte des „Netzwerks“ herausgearbeitet werden. Damit einher ging jedoch auch die so genannte pragmatische Politikeinstellung, die es aus Sicht der Beteiligten ermöglichte, Probleme abseits ideologischer Vorbehalte und – auch aufgrund der Sozialisation vieler „Netzwerker“ in der Regierungszeit der SPD – auf praktische Umsetzbarkeit gerichtet zu erörtern. Nicht zuletzt stellte sich in diesem Zusammenhang als ein wesentliches Merkmal der offene, im Wortsinne netzwerkartige Politikbegriff der Gruppierung als wesentlich heraus: Am politischen Diskussionsprozess sollten nach Auffassung des „Netzwerks“ nicht nur die qua Amt gewählten Politiker teilnehmen, sondern es sollten ausdrücklich auch andere Disziplinen und Wissensbereiche einbezogen werden. Politische Debatten verließen so teilweise den formalen Rahmen, Politik wurde fluide. Vor dem Hintergrund dieser politischen Kultur wurde ferner einsichtig, warum das „Netzwerk“ für Neuparlamentarier besonders ansprechend war. Neu gewählten Abgeordneten erschien die Betonung einer offenen, vorurteilsfreien Beteiligungsmentalität gerade im bislang unbekannten Terrain des Bundestages attraktiv. Hinzu kam zum einen, dass die Gruppierung schlicht viele organisatorische Hilfen für die Orientierung in der neuen Berufssituation anbot, und damit eine Leerstelle der Bundestagsfraktion füllte. Zum anderen war es die im „Netzwerk“ praktizierte und stets besonders gepflegte Sozialität, die gerade neu gewählten Abgeordneten den Berufsstart in der fremden Umgebung erleichterte. Dieser Aspekt der Sozialität richtete den Blick auf den Umgang des „Netzwerks“ mit Öffentlichkeit und Privatheit. So wurde zunächst herausgearbeitet, dass die Gruppierung mit einem dezidierten Öffentlichkeitsanspruch ihrer Arbeit und Diskussionen antrat. Sowohl über die Veranstaltungsformen der Donnerstagabendtreffen, der „Berliner-Republik“-Innovationsdialoge und der Jahrestagungen als auch besonders über die Zeitschrift „Berliner Republik“ wurde versucht, die gruppeninternen Debatten an eine breite Öffentlichkeit zu vermitteln. Die Transparenz politischer Debatten und Abläufe war „Netzwerkern“ in diesem Kontext ein erstrebenswertes Gut. Zudem sollte die angestrebte Öffentlichkeit auch nicht an den herkömmlichen Grenzen der Politik Halt machen, sondern bezog dezidiert Wissenschaft, Journalismus, Wirtschaft oder grundsätzlich Interessierte in die Debatten mit ein. In diesem Zusammenhang ist auch die Position von Mitarbeitern der „Netzwerk“-Politiker zu sehen, die gegenüber der her-
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kömmlichen Mitarbeiterrolle mit wesentlich mehr Mitsprache- und Entscheidungskompetenzen ausgestattet war. Das „Netzwerk“, so konnte gezeigt werden, besaß daher einen erweiterten Politikbegriff, der nicht nur den qua Amt gewählten Politiker bezeichnete, sondern ausdrücklich weitere Kreise einschloss. Ebenso wie bei der auf Beteiligung und Konsens ausgerichteten gruppeninternen Organisation galt auch an dieser Stelle die Maxime größtmöglicher Inklusion. Neben der Öffentlichkeit aber stellte sich die Privatheit als wichtiger Begriff des „netzwerkschen“ Politikstils heraus. Zunächst wurde auf diese Weise auf die oben geschilderte, in der Gruppierung praktizierte Sozialität verwiesen. Das „Netzwerk“ wollte nicht nur einen Raum für politische Debatten schaffen, sondern pflegte auch den privaten Umgang der betreffenden Politiker miteinander. Ausgehend von den bereits seit Jusozeiten bestehenden Kontakten entstanden Freundschaften, neu gewählte MdBs suchten über die privaten Kontaktmöglichkeiten des „Netzwerks“ bei Feiern oder bei den regelmäßigen „Wahlkreis“Besuchen den Anschluss im beruflichen Umfeld. Darüber hinaus aber besaß der Begriff der Privatheit für die Gruppierung noch eine weitere Dimension. Gerade in den Einzelporträts wurde offenkundig, wie wenig die öffentliche, medienwirksame Inszenierung privater Informationen als Maßnahme der Karrierebeschleunigung Bestandteil der politischen Kultur oder des politischen Stils der betreffenden Politiker war. Im Gegenteil ließ sich in den mit „Netzwerkern“ geführten Interviews ausdrückliche Kritik am Verhalten einiger „Enkel“ herausarbeiten, die auf das Zurschaustellen und die politische Instrumentalisierung privater Details zum eigenen Vorteil oder auch auf den gegenseitigen medialen Umgang miteinander zielte. Aus diesem Grund war „Netzwerkern“ ebenso daran gelegen, dass aus ihren internen Besprechungen zunächst nichts nach außen drang, hatten sie doch in ihrem bisherigen Werdegang mit dem Führungsverhalten einiger 68er andere Erfahrungen gemacht, die aus Sicht der Nachwuchspolitiker der Partei schadeten. An dieser Stelle jedoch zeigten sich die Exklusionstendenzen der Gruppierung: Zwar strebte sie, wie oben ausgeführt, grundsätzlich eine größtmögliche, inkludierende Öffentlichkeit für ihre Debatten an, doch versuchte sie im Gegenzug, bestimmte Vorgänge und Diskussionen zunächst im internen Rahmen zu halten. Diese Exklusionstendenzen waren auch im Zusammenhang mit der Aufnahme neuer Mitglieder im „Netzwerk“ festzustellen. Neuaufnahmen erfolgten in der Regel nur nach Zustimmung aller bisherigen „Netzwerker“ und konnten daher auch an individuellen Vorbehalten Einzelner scheitern. Eine ähnliche Beobachtung konnte in Zusammenhang mit der Programmtagung von Bad Münstereifel gemacht werden, an der nur ausgewählte „Netzwerker“ teilnehmen durften. Insofern war die Inklusionsleistung der Gruppierung nur eine bedingte.
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Als ein weiteres Wesensmerkmal des „Netzwerks“ wurde die Betonung des politischen Pragmatismus herausgearbeitet, der sich zum einen aus verschiedensten Quellen speiste, zum anderen ein Attraktivitätsmerkmal der Gruppierung für neu Hinzustoßende darstellte. Unter Pragmatismus verstanden „Netzwerker“ die Diskussion politischer Probleme jenseits ideologischer Vorbehalte oder Urteile und verwiesen somit auf die Erfahrung angstbesetzter, unfreier Debatten, die viele vor allem bei der PL gemacht hatten. In der Analyse der Sozialisationsverläufe konnte gezeigt werden, dass eine pragmatische Politikeinstellung vor allem durch die Sozialisation im undogmatischen Jusospektrum, durch eine vorausgegangene Tätigkeit als Bürgermeister, durch die Herkunft aus der ehemaligen DDR und nicht zuletzt durch den erstmaligen Kontakt mit Berufspolitik in Zusammenhang mit der sozialdemokratischen Regierungsverantwortung auf Bundesebene befördert wurde. Zudem zeigte sich die politische Kultur der Gruppierung stark auf kooperatives Arbeiten hin ausgerichtet. Dies beinhaltete nicht nur die nun schon mehrfach erwähnten flachen internen Hierarchien und diversen Beteiligungsmöglichkeiten, sondern zielte vor allem auf ein erdenklich gemeinschaftliches Handeln der Gruppierung. So wurde angestrebt, dass sich nach Möglichkeit nicht mehrere „Netzwerker“ zugleich auf ein- und dieselbe Position bewarben oder in politischen Debatten unterschiedliche Standpunkte vertraten. Individuelle Bedürfnisse sollten vor diesem Hintergrund hinter dem gemeinschaftlichen Bestreben der Gruppierung zurückstehen. Die vertrauensvolle Atmosphäre sowie die gruppeninternen Freundschaften verbanden sich daher mit der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme und Loyalität. Dabei wurde das Bemühen um internen Zusammenhalt sicher durch den auf die Gruppierung besonders im Jahr 2004 ausgeübten äußeren Druck verstärkt. Neben dem bisher Genannten soll noch auf zwei organisatorische Besonderheiten des „Netzwerks“ eingegangen werden, die auch Ausdruck der dort praktizierten politischen Kultur waren. So wurde, erstens, vor allem bei der Analyse der verschiedenen Veranstaltungsformen erkenntlich, wie stark das „Netzwerk“ externen Expertenrat einforderte und für diesen in seinen politischen Entscheinungen empfänglich war. Dies konnte auf das gerade bei Initiierung der Gruppierung noch recht junge Alter der Protagonisten, ihre geringe außerpolitische Berufserfahrung sowie den Zusammenhang zwischen zunehmender politischer Professionalisierung einerseits und einer sich stetig beschleunigenden Wissensgesellschaft andererseits zurückgeführt werden. Vor diesem Hintergrund versuchten „Netzwerker“ oftmals auch, die Heterogenität der Gruppierung nicht als Hinderungsgrund zu einer einheitlichen, schlagkräftigen Meinung zu deuten, sondern als Bereicherung. Da sie, so die Interpretation, im „Netzwerk“ Experten aus unterschiedlichsten Wissens- und Fachgebieten vereinten – was nicht zuletzt
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der am Ressortprinzip orientierten Arbeit in den diversen Bundestagsausschüssen geschuldet war –, könnten sie sich gegenseitig mit Kenntnissen aushelfen und so voneinander profitieren. Nun ist es sicherlich weder ungewöhnlich noch neu, dass sich Politiker externen Sachverstand und Rat einholen. Dennoch ist es markant, dass eine Politikergruppierung die Beschaffung, Bereitstellung und Diskussion außerpolitischer Informationen gewissermaßen zu einem Wesensmerkmal der eigenen Identität und somit zu einem Bestandteil der eigenen Existenzberechtigung machte. Dieser Anspruch unterschied das „Netzwerk“ von Beginn an von den bisherigen – parlamentarischen – Parteiflügeln des SK und der PL, auch wenn diese nach und nach ähnliche Veranstaltungsformen wie das „Netzwerk“ anboten. Zugleich verwies der Umgang des „Netzwerks“ mit externen Experten auf sein Selbstverständnis nicht ausschließlich als politische Gruppierung, sondern auch und vor allem anfangs als Kommunikationszusammenhang. Insofern stand die verstärkte Suche und Inanspruchnahme von Expertenrat zwar zum einen im Zeichen des Bemühens um die Transparenz politischer Zusammenhänge sowie der Ausweitung des politischen Einzugsbereichs. Politik sollte sich mithin in den Augen der meisten „Netzwerker“ aus dem genuinen Einzugsbereich heraus öffnen für angrenzende Disziplinen und Wissenschaften. Nicht zuletzt verbarg sich hierin auch das Eingeständnis, dass Politik auf externe Expertise zunehmend angewiesen sei. Zum anderen aber war das Bedürfnis des „Netzwerks“ nach außerpolitischem Expertenrat Symptom einer jüngeren Politikergeneration, die versuchte, aus der zunehmenden Professionalisierung der Politik – die einherging mit schwindender gesellschaftlicher Verwurzelung der Protagonisten – sowie aus exponentiell wachsenden Wissensbeständen und sich beschleunigender Entwertung von Wissen entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Das vermehrte Einholen externen Rates, das einherging mit der immer stärkeren Auflösung disziplinärer Grenzen, war zugleich Ausdruck einer Service- und Dienstleistungsgesellschaft, in der „Netzwerker“ aufgrund ihrer Kohortenzugehörigkeit aufgewachsen waren, und markierte daher auch eine generationelle Distinktion. Zum Zweiten erwies sich in dieser Arbeit das Verhältnis des „Netzwerks“ zum Medium Internet gerade im Kontext des Umgangs mit Öffentlichkeit als aufschlussreich. So dienten das Internet sowie generell neuere mediale Erscheinungen wie Emails dem „Netzwerk“ zum einen als Mittel der Verständigung und Vermittlung. Gruppeninterne Abstimmungsprozesse, beispielsweise um Positionspapiere zu verfassen, erfolgten über Email-Verkehr. Das so genannte „Who is Who“ der gruppeneigenen Internetseite bot zeitgemäße Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und Netzwerkpflege. Sowohl die Homepage der Gruppierung als auch die im Zuge der Bundestagswahl 2005 installierte Plattform
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www.wirkaempfen.de dienten der schnellen, offenen und gleichberechtigten Kommunikation und boten verschiedenste Optionen der Partizipation. Insofern waren die genannten Medien Ausdruck der politischen Kultur des „Netzwerks“ und begünstigten diese zugleich. Zum anderen aber offenbarte sich gerade im Zusammenhang mit dem Internet einmal mehr die bereits skizzierte Spannung zwischen Inklusion und Exklusion, welche die Gruppierung kennzeichnete. Denn einerseits verfolgte das „Netzwerk“ mit dem Betreiben von Homepages das Ziel, möglichst viele Interessierte möglichst egalitär und möglichst offen am politischen Geschehen Teil haben zu lassen, andererseits wurden durch interne, exklusive Bereiche große Teile der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Zudem aber war die Nutzung medialer Formen wie des Internets auch Ausdruck einer jüngeren Politikergeneration. Damit soll gewiss nicht in Abrede gestellt werden, dass die Anwendung moderner Kommunikationsformen mittlerweile ein übergenerationelles Phänomen ist. Dennoch waren die Selbstverständlichkeit und die Exponiertheit, mit der „Netzwerker“ technische Innovationen wie das Internet in ihr politisches Handeln einbezogen, eine Eigenschaft, die sie von den bis dato bestehenden Fraktionsflügeln SK und PL – auch in generationeller Perspektive – unterschied. Zu den geschilderten Erscheinungsformen „netzwerkscher“ politischer Kultur sollen an dieser Stelle mehrere Anmerkungen gemacht werden. So wurde, erstens, einsichtig, dass es insbesondere die von der Gruppierung gepflegte politische Kultur, ihre Diskursformen und Organisationsprinzipien waren, die für neu Hinzustoßende und Involvierte die Attraktivität der Gruppierung ausmachten. Im „Netzwerk“ erfuhren die Mitglieder vor allem ein hohes Maß an – individueller – sozialer Zufriedenheit, während gerade in inhaltlichprogrammatischer Hinsicht sowie an den Techniken des parteiinternen Machterwerbs teilweise Kritik geübt wurde. Aus dieser Sicht besaß die Organisation und kulturelle Verfasstheit der Gruppierung ohne Zweifel gewisse Vorzüge. Zweitens aber erwiesen sich verschiedene Elemente „netzwerkscher“ politischer Kultur sowohl im parteiinternen Machtkampf als auch in der öffentlichen Darstellung und Interpretation der Gruppierung als hinderlich. Die Ablehnung konfliktträchtiger Selbstinszenierungsstrategien führte dazu, dass mediale Beobachter den mangelnden Durchsetzungswillen, die inhaltliche Unbestimmtheit oder auch die Biederkeit und Farblosigkeit der Nachwuchspolitiker bemängelten. Auch die auf Konsens und gleichberechtigte Partizipation zielenden Maximen des „Netzwerk“ bargen Tücken, gingen sie doch zu Lasten von Reaktionsschnelligkeit und inhaltlich-politischer Kenntlichkeit der Gruppierung. Denn die Kehrseite der Tatsache, dass „Netzwerker“ nach egalitärer Partizipation strebten, war eben häufig ihr Unwillen oder ihre Unfähigkeit, sich in hierarchischen Ordnungen einer Mehrheitsmeinung unterzuordnen. Paradoxerweise resultierte daher
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gerade die Maxime des Konsens aus dem Streben der Beteiligten nach größtmöglicher Individualität. Schlussendlich zeigte sich, drittens, bei der Ausarbeitung der politischen Kultur des „Netzwerks“, dass diese mindestens bis 2002, in weiten Teilen aber auch darüber hinaus den eigentlichen identitären Kern der Gruppierung und damit auch die elementare generationelle Differenz zur Vorgängergeneration markierte. So wurde im Laufe der Arbeit augenfällig, dass sowohl für die Gründung der Gruppierung als auch für den Beitritt einzelner Politiker zum „Netzwerk“ weniger die vertretenen politischen Positionen als vielmehr die praktizierten Organisations- und Diskursformen Ausschlag gebend waren. Die in Kapitel 8 skizzierten programmatischen Positionierungen des „Netzwerks“ entstanden in der überwiegenden Mehrzahl nach 2002 oder waren in den ersten Jahren doch zumindest nicht gesichert. Der eigentliche inhaltliche Selbstvergewisserungsprozess fand circa ab 2003 statt und war somit der Gründung nachgelagert. Erst ab diesem Zeitpunkt kann – allen bestehenden gruppeninternen Diskussionen zum Trotz – tatsächlich davon gesprochen werden, dass das „Netzwerk“ einen nach außen kenntlichen und nach innen Konsens fähigen programmatischen Standpunk vertrat, der zugleich mit den generalisierenden Schlagworten der Chancengerechtigkeit, des investiv-vorsorgenden Sozialstaats sowie allgemein der „Neuen SPD“ eine gewisse generationelle Differenz zur Vorgängergeneration der 68er markierte. Dennoch soll noch einmal betont werden, dass „Netzwerker“ diese inhaltlichen Standpunkte zwar anstrebten, die programmatischen Wendungen der Partei aber auch zumindest von den führenden Teilen der „Enkel“Generation vollzogen und betrieben wurden, so dass die inhaltliche generationelle Grenze partiell verwischt wurde. Zudem zog der von „Netzwerkern“ viel beschworene politische Pragmatismus fernab einengender, theoriefokussierter Ideologien gepaart mit der exponierten Position von Expertenrat innerhalb der Gruppierung nach sich, dass inhaltliche Positionierungen wenn auch nicht vollkommen beliebig, so doch zumindest schwerer zu bestimmen wurden. Die grenzenlosen Möglichkeiten der programmatischen Verortung, die sich „Netzwerker“ durch die Ablehnung ideologischer Konstrukte geschaffen hatten, bedeuteten zumindest in den Anfangsjahren eben auch eine Erschwernis der inhaltlichen Ortsbestimmung. Aus diesen Gründen vermittelte sich die generationelle Distinktion des „Netzwerks“ vorwiegend auf dem Feld der politischen Kultur – die Form überwog den Inhalt. Neben den Gründungsursachen der Gruppierung und ihrer politischen Kultur war jedoch auch die Analyse der biografischen Bildungs- und Berufsverläufe der „Netzwerk“-MdBs aufschlussreich. So erwies sich, erstens, der an das „Netzwerk“ von außen herangetragene Vorwurf des prinzipienlosen Karrierestrebens als nur bedingt haltbar. Denn zum einen ist es ein grundsätzliches We-
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sensmerkmal innerparteilicher Gruppierungen, sich zum Zweck des Machterwerbs zusammenzuschließen. Hieraus kann nicht zwingend ein moralischer Vorwurf abgeleitet werden. Diese Argumentation wurde gestützt durch die Beobachtung, dass zwar einige „Netzwerker“ recht rasch und zu einem relativ frühen biografischen Zeitpunkt in exponierte politische Positionen gelangten – zu nennen sind hier Ute Vogt, Christoph Matschie und Nina Hauer. Doch waren dies zum einen relativ wenige Personen, zum anderen basierte ihr Karrieresprung im Wesentlichen auf der Förderung durch die 68er-Generation. Der quantitativ starke Aufstieg aus eigener Kraft gelang der Gruppierung erst nach dem Ende der rot-grünen Bundesregierung 2005. Was jedoch den Vorwurf des prinzipienlosen Karrierestrebens unzweifelhaft begünstigt hatte, war die recht späte inhaltliche Selbstvergewisserung der Gruppierung, wie sie oben skizziert wurde, die noch dazu in weiten Teilen im Mainstream regierungspolitischer Positionen stand. Darüber hinaus wurde, zweitens, hinsichtlich der Berufsverläufe der „Netzwerk“-MdBs deutlich, dass viele eine recht geringe außerpolitische Berufserfahrung besaßen. Dies betraf in der Hauptsache die in den 1960er-Jahren folgende Geborenen, während die in den 1950er-Jahren geborenen Politiker zumeist eine außerpolitische Tätigkeit vor Beginn ihres Mandats ausgeübt hatten. Diese Beobachtung ging einerseits kongruent mit der Tatsache, dass viele der jüngeren „Netzwerker“ in einem recht jungen Alter – teilweise mit Anfang 20 – in den Bundestag eingezogen waren. Ihre Sozialisation hatten diese Politiker zum überwiegenden Teil innerhalb der Politik erfahren. Damit korrespondierte auch, dass manche politische Karrierestufe zwar relativ schnell erklommen wurde, die Nachwuchspolitiker jedoch insgesamt zumeist einen recht klassischen innersozialdemokratischen Werdegang – Engagement bei den Jungsozialisten, kommunale Politik, sukzessive Übernahme politischer Ämter – aufwiesen. Zum anderen aber wurde die geringe außerpolitische Berufserfahrung als Symptom schwindender, originärer gesellschaftlicher Wurzeln der Sozialdemokratie sowie einer zunehmenden politischen Professionalisierung gedeutet. Diese Interpretation wurde dadurch gestützt, dass verschiedenste Kompensationsversuche, wie beispielsweise durch die Installation der Dialoggruppen, ausgemacht wurden. Damit einher ging, drittens, die Diagnose einer „Bildungsspirale“ hinsichtlich der betrachteten biografischen Verläufe der „Netzwerk“-Abgeordneten. Der deutlich überwiegende Teil hatte die Hochschulreife erworben und anschließend ein Studium absolviert. Eine überraschend große Anzahl an MdBs hatte gar promoviert. Die bereits seit längerem diagnostizierte Akademisierung und Verbürgerlichung der Sozialdemokratie wurde auf diese Weise nicht nur empirisch bestätigt, sondern erfuhr einen zusätzlichen Klimax. Zugleich aber ordnete sich die beobachtete „Bildungsspirale“ in die Diagnose wachsender politischer Pro-
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fessionalisierung und Entfremdung von ursprünglich sozialdemokratischen Wurzeln ein. Denn zum einen hatte ein recht großer Anteil der Abgeordneten ein Studium im sozialwissenschaftlichen Spektrum, teils gar direkt der Politikwissenschaft abgeschlossen und damit Politik quasi „erlernt“. Zum anderen zog die steigende, massive Akademisierung eine zunehmende Entfremdung von bis dato genuinen sozialdemokratischen Erfahrungsräumen wie der Facharbeiterschaft nach. Dies war zwar keine neue Tendenz, doch erfuhr die Entwicklung in der Generation der circa ab 1960 geborenen „Netzwerker“ eine neuartige Dimension und Dynamisierung. Die Leitfrage der vorliegenden Arbeit war die nach der generationellen Eigenständigkeit des „Netzwerks“. Und tatsächlich deutet sich in den bisherigen Ausführungen bereits an diversen Stellen eine Differenz zur innerparteilichen Vorgängergeneration der 68er beziehungsweise „Enkel“ an, die nun noch einmal ausführlicher analysiert werden soll. Zunächst soll vorab noch einmal betont werden, dass die im „Netzwerk“ versammelten Politiker im Sinne Mannheims sehr wohl als eigenständiger Generationenzusammenhang bezeichnet werden können, da bestimmte biografische, kulturell-stilistische und inhaltliche Parallelen der Protagonisten offensichtlich wurden. Mit Vorsicht allerdings ist an dieser Stelle der Begriff der Generationeneinheit zu verwenden, der eine kollektive Konformität beinhalten würde. Dazu allerdings sind „netzwerksche“ Politiker in ihren Werdegängen und Ansichten doch zu individuell. Zudem spricht allein die an vielen Stellen – vor allem hinsichtlich der Sozialisation und der beruflichbiografischen Erfahrungen – notwendige Differenzierung zwischen in den 1950er-Jahren und in den 1960er-Jahren folgende Geborenen gegen eine Vereinheitlichung als Generationeneinheit. Allenfalls könnte von Tendenzen zur generationellen Einheit gesprochen werden. Abseits Mannheimscher Kategorien aber wurde in dieser Arbeit offenbar, dass sich im „Netzwerk“ grundsätzliche eine jüngere politische Generation manifestierte, die sich vor allem in Abgrenzung zur parteiinternen Generation der 68er definierte. Dies soll im Folgenden noch einmal kenntlich gemacht werden. Zuvorderst sind daher einige Bemerkungen zur generationellen Genese der hier betrachteten Politikerkohorten zu machen. So erwies sich, erstens, insbesondere für die in den 1960er-Jahren folgende Geborenen, die ja den eigentlichen generationellen Kern der Gruppierung ausmachten, die Sozialisation im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen der 1980er-Jahre als entscheidende gesellschaftliche Prägung. Die überwiegende Mehrzahl der Interviewten berichtete von ersten politischen Erfahrungen und einschneidenden Erlebnissen vor allem in der Umwelt- und der Friedensbewegung. Dies hatte mehrere Implikationen. Zunächst bestätigte eine Vielzahl der „Netzwerk“-MdBs, dass sie zwar den postmaterialistischen Themen der Partei der Grünen, in der sich die Forderungen der
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C. Untersuchungsteil
Neuen Sozialen Bewegungen hauptsächlich manifestierten, grundsätzlich positiv gegenüber gestanden hätten, ihnen aber zum einen der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit bei den Grünen zu unterbelichtet gewesen sei, und sie zum anderen die Organisation der damals jungen Ökopartei als wenig anziehend empfanden. Hier fanden sich somit Indizien für die Verinnerlichung postmaterieller Themen wie Ökologie und Pazifismus, die die Beteiligten jedoch zugleich um die materielle Komponente der Gerechtigkeit ergänzt wissen wollten. Darüber hinaus konnten die Aussagen der Interviewten als Hinweis auf Habitus und politischen Stil des „Netzwerks“ gedeutet werden. Denn als spätere Berufspolitiker im Bundestag standen „Netzwerker“ unorganisierten, spontanen, teils chaotischen Prozessen, wie sie gerade in den Anfangsjahren symptomatisch für die Grünen waren, skeptisch bis ablehnend gegenüber. Trotz aller partizipativen Offenheit präferierten „Netzwerker“ geordnete politische Abläufe. Zudem aber erscheint es einleuchtend, in der Sozialisation im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen Ursprünge jener Vorliebe für offene und egalitäre Beteiligungsstrukturen zu sehen, wie sie später im „Netzwerk“ proklamiert wurden. Denn nicht zuletzt strebten jene Bewegungen mehr politische Partizipationsmöglichkeiten an, und auch etablierte Parteien versuchten, jenen Forderungen in Ansätzen nachzukommen. Als innerparteiliche Generationserfahrung ist, zweitens, das Engagement im Verband der Jungesozialisten vornehmlich während der ausgehenden 1980erJahre zu nennen. Doch kann diese Tatsache nicht für alle SPD- oder JusoKohorten jener Jahre verallgemeinert werden, schließlich stammten spätere „Netzwerker“ fast ausnahmslos aus dem ehemaligen undogmatischen JusoSpektrum. Insofern waren die hier durchlaufenen politisch-sozialen Lernprozesse spezielle: Da Undogmatische strukturell und anhaltend im innerverbandlichen Machtkampf unterlegen waren, handelte es sich vornehmlich um eine Sozialisation durch Niederlagen. Von diesem Standpunkt aus entwickelten die späteren „Netzwerker“ vor allem eine dezidierte Ablehnung gegenüber dem politischen Stil und Vorgehen des gegnerischen Stamokap-Flügels. Somit war im Engagement bei den undogmatischen Jusos einer der Beweggründe für die Ablehnung ideologisch basierten oder überhöhten politisches Handeln zu finden. Daneben aber konnten in der Vergangenheit einzelner „Netzwerker“ im undogmatischen Jusospektrum Wurzeln der späteren politischen Kultur des „Netzwerks“ ausgemacht werden, wie etwa die beteiligungsorientierte Struktur oder die Betonung von Sozialität im politischen Prozess. Des Weiteren wurde im Laufe der Arbeit, drittens, die sozialisatorische Bedeutung der „Enkel“-Generation für „Netzwerker“ offenbar. In den biografischen Porträts und aus den Interviews wurde zunächst eine gewisse Vorbildfunktion der „Enkel“-Kohorte herausgearbeitet, bei der vor allem Oskar Lafontaine eine
9. Konklusion und Ausblick
333
exponierte Position zukam. In ihm sahen einige „Netzwerker“ den Protagonisten eines modernen, ökologisch-sozialen Projekts, das ihre sozialisatorischen Erfahrungen im Bereich der Neuen Sozialen Bewegungen mit ihrem Einsatz in der Sozialdemokratie verband. Vor allem im Laufe der 1990er-Jahre aber wandelte sich die ursprüngliche Bewunderung vielfach in Verwirrung oder gar Enttäuschung. Als Kritikpunkt galt „Netzwerkern“ in diesem Zusammenhang hauptsächlich der Führungsstil der „Enkel“, den sie für die mangelnde machtpolitische Durchsetzungsfähigkeit der SPD auf Bundesebene verantwortlich machten. Letztendlich erschien ihnen der konfliktträchtige und auf mediale Aufmerksamkeit setzende Hedonismus jener Politikerkohorten nicht als geeignetes Führungsmittel. Ferner stellte einen zweiten Kritikpunkt die Nachwuchspolitik der Vorgängergeneration dar, die sie aufgrund der quantitativen Überzahl sowie der Abschottungsmentalität der 68er-Kohorten als unzulässig und frustrierend empfanden. Aus diesem Grund kann das Erleben der „Enkel“-Generation seitens der „Netzwerker“ als entscheidender – innerparteilicher – Kristallisationspunkt der Generationsbildung interpretiert werden. Schließlich offenbarte sich, viertens, die prägende Kraft der materialistischen Wende in den 1990er-Jahren, insbesondere für die inhaltlichen Maximen vieler „Netzwerker“. So konnte in den Einzelporträts aber auch und vor allem durch die Interviews erarbeitet werden, dass der Zusammenbruch des Ostblocks, das Ende des Ost-West-Konflikts, die deutsche Wiedervereinigung sowie die Erscheinungen der Globalisierung „Netzwerker“ beeinflussten. Diese Erfahrungen standen zum einen im Widerspruch zu den sozialisatorischen Bedingungen des frühen Erwachsenenalters jener Kohorten in den 1980er-Jahren. Aus diesem Grund konnte besonders in der inhaltlichen Analyse der Gruppierung eine Hinwendung zu materialistischen Themen und Werten beobachtet werden, der gegenüber die ursprünglich erworbenen postmaterialistischen Prägungen in den Hintergrund traten, wenn auch nicht völlig verdrängt wurden. Somit kann im Falle des „Netzwerks“ von einem Wertewandel von einer ursprünglich postmaterialistischen zu einer materialistischen Ausrichtung gesprochen werden, der jedoch nicht vollständig vollzogen wurde, sondern durchaus Elemente einer Wertsynthese aufwies. Zum anderen gewannen „Netzwerker“ durch ihr Erleben in den 1990er-Jahren zunehmend den Eindruck, dass die Konzepte ihrer eigenen Partei und insbesondere die politische Führung der 68er nicht ausreichend auf die veränderten Problemlagen vorbereitet waren oder diese in ihr Handeln nicht adäquat einbezogen. Dies war dann auch ein weiterer Kritikpunkt der „Netzwerk“-Generation an den sozialdemokratischen „Enkeln“. Aus der hier skizzierten generationellen Genese resultierten schlussendlich generationelle Merkmale, die die Generation der „Netzwerker“ kennzeichneten und von den sozialdemokratischen 68ern abgrenzten. An vorderster Stelle sei die
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C. Untersuchungsteil
politische Kultur – man könnte auch von einem Führungsstil sprechen – der Gruppierung genannt, die bereits mehrfach thematisiert wurde und hier noch einmal exemplarisch unter den Schlagworten Offenheit, Partizipation, Egalität, Konsens, Kooperation, Vertrauen und Transparenz subsumiert werden soll. Zudem können die oben bereits skizzierten Bildungs- und Berufsverläufe als generationelles Merkmal kategorisiert werden, da sie zwar eine bereits in der Vorgängergeneration begonnene Entwicklung fortsetzten, diese jedoch noch steigerten. Des Weiteren erwies sich das Verhältnis der hier diskutierten Geburtskohorten zu gesellschaftlichen Entwicklungen als divergent gegenüber der Vorgängergeneration. Denn während letztere von sich aus einen gesellschaftlich-politischen Handlungsdruck aktiv evozierte oder ihn zumindest verstärkte, waren die Kohorten des „Netzwerks“ Entwicklungen wie der Wiedervereinigung oder der Globalisierung eher passiv ausgesetzt. Letztendlich soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass sich auch in inhaltlicher Hinsicht ein Generationenunterschied bemerkbar machte, wenn dieser auch durch die modernistische Wende der „Enkel“ verwischt wurde. So konnten aber dennoch eine von der Vorgängergeneration abweichende Themenhierarchie und unterschiedliche Lösungsvorschläge für politische Probleme ausgemacht werden. Einige der in dieser Arbeit analysierten Eigenschaften des „Netzwerks“ stellten sich jedoch als generationelle Antagonismen gegenüber der Vorgängergeneration heraus. Dies waren, erstens, der Gegensatz zwischen Konsens und Konflikt. Während die sozialdemokratische 68er-Generation und speziell die „Enkel“ auf die Methode des politisch, teils absichtlich konstruierten Konflikts setzten, um politische Macht zu erringen oder Ziele durchzusetzen, strebten „Netzwerker“ aus Ablehnung gegenüber dem Führungsstil der Vorgänger sowie als Resultat ihrer politischen Sozialisation nach konsensualen, integrativen Entscheidungsstrukturen. Daran schloss sich, zweitens, die Konfrontation zwischen Kooperation und individualistischem Hedonismus an. So zogen „Netzwerker“ aus der Beobachtung der Vorgängergeneration die Lehre, dass ihre Vorstellungen und Maximen sich besser – und für die Partei insgesamt zuträglicher – durch gemeinschaftliche Anstrengung denn durch unabgesprochenes Handeln Einzelner durchsetzen ließen. Die so genannte Einzelkämpfermentalität vieler „Enkel“ dagegen hatten sie als kontraproduktiv empfunden. Zudem entwickelte sich ein Dualismus zwischen Pragmatismus und Ideologie. In Abkehr von der vor allem anfänglich starken ideologischen Fundierung der 68er verpflichteten sich „Netzwerker“ einem politischen Pragmatismus, der jenseits politischer Dogmen auf Machbarkeit und Umsetzbarkeit orientiert war. Darüber hinaus konnte, viertens, der Umgang mit Öffentlichkeit und Privatheit als generationeller Widerspruch identifiziert werden. Während viele Protagonisten der Vorgängergeneration die öffentliche Inszenierung von Privatem zum politischen Vorteil zu nutzen such-
9. Konklusion und Ausblick
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ten, lehnten „Netzwerker“ dies ab. Stattdessen schirmten sie ihr Privatleben weitestgehend von der medialen Öffentlichkeit ab und suchten nach Möglichkeiten, die herkömmlichen Grenzen der Politik auszuweiten und politische Prozesse und Diskussionen öffentlicher zu machen. Letztlich soll noch auf den Antagonismus von Biedermeier und Heroentum hingewiesen werden, der gewissermaßen den gesamten Komplex der hier behandelten Generationenzusammenhänge umfasst. 68er, dies wurde in den einlassenden Betrachtungen zu dieser Generation kenntlich gemacht, galten als aktive, mithin als vorerst letzte heroische Generation, die sich in Protest selbst inszenierte und so gesellschaftlich-politische Veränderungen zu bewirken trachtete. In dieser Tradition standen auch die sozialdemokratischen 68er und „Enkel“, erhoben sie doch in gewissem Sinne Widerspruch und Kritik zur politischen Methode. Demgegenüber charakterisierte „Netzwerker“ eine gewisse Biedermeierlichkeit. Dies bezog sich nicht nur auf ihren Habitus, der in dieser Arbeit als im Vergleich zu den 68ern konservativ charakterisiert wurde, sondern auch und speziell auf den politischen Stil beziehungsweise die politische Kultur. Die Ablehnung politischen Protests um seiner selbst Willen, das Bemühen um Schutz des Privaten und nicht zuletzt das Streben nach Konsens und Kooperation verwiesen auf ein offenkundiges Harmoniebedürfnis der jüngeren Politikergeneration. Zusammen mit den Werten der Loyalität und Pflicht, die im „Netzwerk“ eine hervorgehobene Position einnahmen, sind somit durchaus Elemente des kulturhistorischen Phänomens des „Biedermeier“ identifizierbar.1549 Die sich an den Wiener Kongress anschließende Epoche des „Biedermeier“ – in der Literaturgeschichte beispielsweise angesetzt zwischen circa 1820 und 1850 – war eine zutiefst bürgerliche. Nach den bewegenden, revolutionären Jahren um 1800 sehnte sich das Bürgertum nach Zurückgezogenheit und Privatheit. Ganzheiten und Werte wie Religion, Staat, Heimat und Familie waren anerkannte und geschätzte Institutionen, die Orientierung versprachen. Sicherlich darf der Vergleich der Generation des „Netzwerks“ mit dem „Biedermeier“ nicht überstrapaziert werden, allein schon aufgrund der vollkommen unterschiedlichen historischen Situierung und der damit einher gehenden politisch-sozialen Umstände. Dennoch ist verblüffend, dass auch die Generation des „Netzwerks“ in Abkehr vom revolutionären Gestus der 68er die zurückgezogene Privatheit, wie sie im „Biedermeier“ quasi zur Lebensphilosophie wurde, praktizierte und sich auf von den 68ern in Frage gestellte Werte wie Familie und Heimat zu berufen suchte. Auch das Bekenntnis zum sittlichen Rechtsstaat bedeutete für das Staatsverständnis des „Netzwerks“ eine Distinktion gegenüber der Vorgängergeneration. 1549 Vgl. u.a. Frenzel, Herbert A./Frenzel Elisabeth: Daten deutscher Dichtung, Bd. 1, Köln 1999, S. 347 f.
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C. Untersuchungsteil
Damit jedoch ist grundlegend auf die generationelle Einordnung des „Netzwerks“ verwiesen. So zeigen „Netzwerker“ durch ihre Ideologieskepsis sowie die Postulierung materieller Werte und die zumindest partielle Wertsynthese Eigenschaften der eingangs skizzierten „Generation Golf“, der sie auch weitestgehend und rein formal aufgrund ihrer Geburtskohorten zuzuordnen sind. Zudem wurde in dieser Arbeit an anderer Stelle bereits auf die grundsätzliche Unterscheidung zwischen passiven oder so genannten „stillen“ und aktiven Generationen hingewiesen, die in der Generationenforschung gemacht wird. Während die 68er-Generation unzweifelhaft als aktiver Generationenzusammenhang bezeichnet werden kann, ist für die durch das „Netzwerk“ repräsentierte Generation das Attribut „passiv“ zutreffender. Hieran schließen sich zwei Schlussfolgerungen an. Zum einen, auch dies wurde bereits angedeutet, weist die Generation der „Netzwerker“ Parallelen zu den unter dem Begriff der Skeptischen Generation subsumierten Geburtskohorten der 1920er-Jahre auf. So galt für beide Generationenzusammenhänge, dass sie ideologischen Dogmen und ideologisch basierter Politik kritisch bis ablehnend gegenüberstanden und dem Leitbild eines realistischen Pragmatismus folgten. Auch die Betonung und der Schutz des Privaten sowie die Renaissance konservativer Werte wie des familiären Zusammenhalts waren beiden Generationen gemein.1550 Sicher zeigten sich auch Grenzen des Vergleichs: So waren beispielsweise die Ursachen generationeller Eigenschaften wie der Entideologisierung kaum vergleichbar, stand doch den tatsächlich im ureigensten generationentheoretischen Sinne traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs seitens der Skeptischen Generation eine dagegen undramatische Kritik der „Netzwerker“ an den 68ern gegenüber. Dennoch negiert dies nicht die Schlussfolgerung, den Generationenzusammenhang des „Netzwerks“ in die Reihe stiller, passiver, eben: biedermeierlicher Generationen einzuordnen. Diese Überlegung führt jedoch zu einer generellen Bemerkung bezüglich der Problematik des Generationenkonzepts, die unter Umständen auch die von vielen Seiten am „Netzwerk“ geübte Kritik erklärt. Die Theorie politischer Generationen bezieht sich gemeinhin und ursprünglich, dies wurde zu Beginn dieser Arbeit erläutert, auf die historische Jugendbewegung als Exempel einer idealen – politischen – Generation. Damit aber unterstellt sie zugleich einen bestimmten Typus von Generation, der sich durch sichtbaren Protest und lautstarke Inszenierung äußert. Es ist dies im Grunde ein romantischer Begriff, der Generationszusammenhänge außen vor lässt, die sich nicht auf die beschriebene Weise ausdrücken. Vor diesem Hintergrund ist auch die von verschiedenen Seiten bezüglich des „Netzwerks“ geäußerte Klage, die jungen Politiker seien nicht aufmüpfig genug und zeigten zu wenig Widerspruch, nicht zielführend. Sie orientiert sich 1550
Vgl. exemplarisch Schelsky, 1981, in: Scheel, 1981, S. 188 f.
9. Konklusion und Ausblick
337
schlicht am Ideal des jugendlichen Rebellen, wie er sich in den 68er-Protesten oder auch in der historischen Jugendbewegung materialisierte, und blendetet dabei aus, dass auch passive oder stille Generationenzusammenhänge existieren können. Dies soll nicht bedeuten, dass nicht durchaus am politischen Verhalten oder den inhaltlichen Maximen des „Netzwerks“ aus normativer Perspektive Kritik geübt werden könnte, in generationeller Hinsicht allerdings geht ein solcher implizierter Vergleich ins Leere. Abschließend gilt es, die Wirkung des „Netzwerks“ in den Gesamtzusammenhang der Partei einzuordnen und einen Ausblick auf die Perspektiven der Gruppierung zu versuchen. So ist zunächst zu bemerken, dass das „Netzwerk“ in mehrfacher Hinsicht gewissermaßen aus einer Leerstelle der Partei und speziell der Bundestagsfraktion entstand. Da seitens der in den 1990er-Jahren führenden 68er-Generation keine systematische oder für die Jüngeren befriedigende Nachwuchsförderung erfolgte, war die Gründung des „Netzwerks“ auch Symptom der Frustration über dieses Versäumnis. Dennoch haben besonders die in den Einzelporträts vorgestellten Karrieren Ute Vogts und Christoph Matschies verdeutlicht, dass auch eine zu offensichtliche Förderung ohne den Ausbau eines eigenen, tragfähigen Machtfundaments problematisch sein kann. Darüber hinaus stieß das „Netzwerk“ in inhaltlicher Hinsicht in ein seit längerem bestehendes Vakuum der Partei. Die Zielvorstellungen des „Berliner Programms“ waren Ende der 1990er-Jahre tatsächlich nicht mehr mit der sozialdemokratischen Regierungspolitik in Einklang zu bringen, alternative Vorschläge oder Debatten waren aber auch von den etablierten Flügeln des SK und der PL kaum zu vernehmen. Durch die Ablehnung ihrer Ansicht nach verbrauchter Ideologien fand die Gruppierung schließlich ihre Leitvorstellung in jenen Konzepten, die plakativ unter dem Begriff des „Vorsorgenden Sozialstaats“ subsumiert werden können. Doch noch einmal: Ausschlaggebend für die Gründung des „Netzwerks“ war dies nicht – die programmatische Selbstvergewisserung war der eigentlichen Identitätsbildung mittels der politischen Kultur nachgelagert. Zwei Gedanken lassen sich hieran anschließen. Zum einen hatten die Aktivitäten des „Netzwerks“ trotz aller Kritik einige, wenn man so will, positive Folgen. So wurde bereits erwähnt, dass nach Initiierung der Gruppierung auch PL und SK nach und nach versuchten, ihre Organisationsstrukturen zu öffnen und diskursivere Formen der Partizipation zu etablieren. Zudem fand auch in diesen Flügeln sukzessive eine Verjüngung der Führungsspitze statt, die nicht ausschließlich auf das Ausscheiden der 68er-Generation zurückzuführen war. Darüber hinaus hatten „Netzwerker“ mit ihren beharrlichen Forderungen und nicht zuletzt mit ihrem viel diskutierten Impulse-Papier Anteil daran, dass die Programmdebatte der Partei wieder belebt wurde – wenn auch nicht immer im Interesse der „Netzwerker“.
338
C. Untersuchungsteil
Die Perspektiven der Gruppierung sind zwiespältig zu beurteilen. So wurde zum einen konstatiert, dass nach einer Phase der programmatischen Dominanz letztendlich weniger Vorstellungen des „Netzwerks“ in das „Hamburger Programm“ von 2007 einflossen, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Zum anderen wurde in den Analysen erkenntlich, dass der eigentliche machtperspektivische Durchbruch der Gruppierung mit Beginn der großen Koalition auf Bundesebene 2005 begann, in deren Folge viele „Netzwerker“ – auch aufgrund des erfolgten innerparteilichen Generationenwechsels – in höhere Positionen aufstiegen. Dennoch ließ sich beobachten, dass das „Netzwerk“ gerade gegen Ende der großen Koalition 2009 einige Rückschläge einzustecken hatte, da beispielsweise Hubertus Heil in seinen Befugnissen als Generalsekretär eingeschränkt wurde oder einige MdBs ungünstige Listenplätze für die kommende Bundestagswahl erhielten. Gepaart mit der herben Wahlniederlage der SPD bei der Bundestagswahl 2009 – die Sozialdemokraten erhielten gerade einmal 23% der Stimmen1551 – bedeutete dies, dass das „Netzwerk“ in der nachfolgenden Legislaturperiode im Bundestag zunächst quantitativ geschwächt war, auch wenn dies ebenso für die anderen Parteiflügel galt. Dennoch musste die Gruppierung einige der in den Jahren zuvor errungenen Posten abgeben, wie beispielsweise Hubertus Heil das Generalsekretärsamt. Dies alles deutet auf ein nicht vollkommen gesichertes Machtfundament der Gruppierung hin. In diesen Kontext kann auch das Verhältnis des „Netzwerks“ zum SK eingeordnet werden. Nach einem seitens des „Netzwerks“ abgelehnten Fusionsangebot des SK im Jahr 2004 kam es 2007 zu einer Art einvernehmlichem Abkommen, um gemeinsam stärker gegenüber der PL auftreten zu können. In der Folge traten der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück und der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in den Herausgeberkreis der „Berliner Republik“ ein. Im innerparteilichen Gefüge schlug sich das „Netzwerk“ damit eindeutig auf den so genannten rechten Flügel und verschärfte die Konfrontation gegenüber der PL. Auch hieran mag es gelegen haben, dass MdBs wie Anton Schaaf und Michael Roth, die bislang eine Doppelmitgliedschaft im „Netzwerk“ und in der PL gepflegt hatten, die Gruppierung verließen. Im Grunde aber verbarg sich hinter dem Abkommen des „Netzwerks“ mit dem SK das Eingeständnis, dass der Anspruch der Gruppierung, eine selbstständige, unabhängige und flügelübergreifende reformistische Kraft innerhalb der Partei zu etablieren, nicht realisierbar war. Zwar existierte das „Netzwerk“ weiter, in der Hauptsache jedoch in Form eines Kommunikationszusammenhangs, in der es 1999 begonnen hatte. In machtperspektivischer Hinsicht aber galt der Ausspruch
1551
Vgl. http://www.wahlrecht.de/umfragen/emnid.htm, zuletzt aufgerufen am 28.11.2010.
9. Konklusion und Ausblick
339
Hans-Peter Bartels`, mit dem die Initiierung der Gruppierung begründet worden war: tertium non dartur.
340
D. Anhang
D. Anhang
10 Interviewpartner Bartels, Hans-Peter (MdB)1552 Bätzing, Sabine (MdB; Drogenbeauftragte der Bundesregierung) Bodewig, Kurt (MdB; stellvertr. Vorsitzende des Europausschusses im Bundestag) Dobrinsky-Weiß, Elvira (MdB) Dörmann, Martin (ohne Tonbandaufnahme) (MdB) Edathy, Sebastian (MdB; Vorsitzender des Innenausschusses im Bundestag) Ehrmann, Siegmund (MdB) Griese, Kerstin (MdB; Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag) Hartmann, Michael (MdB) Hauer, Nina (MdB) Heil, Hubertus (MdB; Generalsekretär der SPD) Klug, Astrid (MdB; Staatssekretärin im Bundesministerium für Umwelt und Reaktorsicherheit) Lange, Christian (MdB; Parlamentarischer Geschäftsführer der SPDBundestagsfraktion) Matschie, Christoph (Landes- und Fraktionsvorsitzender der SPD Thüringen) Mogg, Ursula (MdB) Neumeyer, Jürgen (bis Herbst 2008 Geschäftsführer des „Netzwerks Berlin“) Nicolette, Kressl (MdB; Staatssekretärin im Bundesministerium für Finanzen) Raabe, Sascha (MdB) Reimann, Carola (MdB) Roth, Michael (MdB; bis Ende 2008 im „Netzwerk Berlin“) Schaaf, Anton (MdB; bis Herbst 2005 im „Netzwerk Berlin“) Schmidt, Silvia (MdB) Schneider, Carsten (MdB) Schönfeld, Karsten (bis 2005 MdB) Schulz, Swen (MdB) Stender, Carsten (Justiziar beim Parteivorstand der SPD) Stöckel, Rolf (MdB) 1552
Die Funktions- oder Positionsbezeichnung erfolgt – sofern nicht anders gekennzeichnet – mit Stand vom März 2008.
D. Forkmann, Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“, DOI 10.1007/978-3-531-93090-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
12. Kriterienliste zur Auswertung der Interviews
341
Vogt, Ute (Landesvorsitzende der SPD Baden-Württemberg) Weigel, Andreas (MdB) Wend, Rainer (MdB) 11 Leitfaden für die Interviews Fragenkomplex 1: Fragenkomplex 2: Fragenkomplex 3: Fragenkomplex 4: Fragenkomplex 5: Fragenkomplex 6: Fragenkomplex 7: Fragenkomplex 8: Fragenkomplex 9:
Familiäre Herkunft und Biografie sowie beruflichpolitischer Werdegang beziehungsweise politische Sozialisation des Befragten Generationelle Erlebnisse und Prägungen des Befragten Entstehung des „Netzwerks“ Organisation des „Netzwerks“ Mitgliedschaft und Engagement des Befragten im „Netzwerk“ Differenzbildung des „Netzwerks“ zu anderen SPDinternen Gruppierungen und Generationen Inhaltliche – persönliche und gruppeninterne – Ziele Politischer Stil des „Netzwerks“ Potenzielle Stärken und Schwächen des „Netzwerks“
12 Kriterienliste zur Auswertung der Interviews Kriterium 1 : Kindheit, Jugend und Sozialisation Kriterium 2: Der Weg in die Politik Kriterium 3: Generationenkomplex – parteiintern Kriterium 4: Generationenkomplex – parteiextern Kriterium 5: Unterschiede zum Seeheimer Kreis Kriterium 6: Unterschiede zur Parlamentarischen Linken Kriterium 7: Beruflicher Verlauf und politische Karriere Kriterium 8: Gründung des „Netzwerks“ – Ursachen, Personen, Umstände Kriterium 9: Bedeutung des „Netzwerks“ – Motivation für Engagement und Beitritt des Einzelnen Kriterium 10: Netzwerk-Organisation und informelle Beziehungen Kriterium 11: Inhaltliche Positionen Kriterium 12: Selbstverständnis – Politikverständnis – Stil – Kultur
342
D. Anhang
13 Grafiken und Tabellen Grafik 1: Geburtsjahrgänge Einladerkreis 14. und 15. Legislaturperiode (Kohortengruppen) Grafik 2: Geschlechteranteile "Netzwerk"-Referenten (relativ und absolut) Grafik 3 : Regionale Herkunft „Netzwerk“-Referenten (BRD) Grafik 4: Einzugsbereich der „Netzwerk“-Referenten (absolute Anzahl) Grafik 5: „Netzwerk“-Referenten Parteizugehörigkeit Grafik 6: Geburtskohortengruppen „Netzwerk“-Referenten (absolute Anzahl) Grafik 7: Spartenverteilung „Berliner Republik“ (absolute Anzahl) Grafik 8: Parteikontakte Autoren „Berliner Republik“ Grafik 9: Kontakte Autoren "Berliner Republik" innerhalb der SPD Grafik 10: Kontaktverteilung Bundesländer Grafik 11: Geschlechterverteilung Autoren „Berliner Republik“ (Prozent und absolut) Grafik 12: Kohortengruppen Autoren „Berliner Republik“ Tabelle 1: Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“: Der Kreis der Einlader (Geburtsjahrgänge, Daten des Parteieintritts und der Wahl in den Bundestag). Tabelle 2: Diskussions- und Organisationsformen des „Netzwerks“ Tabelle 3: Ämter und Positionen von „Netzwerk“-MdBs zwischen 1998 und 2008 „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“: schulische und berufliche Laufbahn der MdBs Tabelle 4: MdBs des „Netzwerk Berlin“ in der 14. und 15. Legislaturperiode des deutschen Bundestages Name Bartels, Hans-Peter (Dr.)
Geburtsjahr 1961
Werdegang/Ausbildung Gymnasium/Abitur Studium: Politische Wissenschaft, Soziologie, Volkskunde (Kiel) M.A. 1986 Promotion 1988 Angestellter Staatskanzlei Schleswig-Holstein Sektenbeauftragter Regierung SchleswigHolstein
MdB seit 1998
Funktion „Netzwerk“ Sprecherkreis 2002-2004
343
13. Grafiken und Tabellen
Name
Geburtsjahr
Werdegang/Ausbildung
MdB seit
Bätzing, Sabine
1975
Gymnasium/Abitur Dipl.-Verwaltungswirtin Fachhochschule
2002
Bartol, Sören
1974
Gymnasium/Abitur Studium: Politikwissenschaft, Medienwissenschaft & Jura (Marburg) bis 2001 Studentischer & wissenschaftl. Mitarbeiter MdL Ernst-Ludwig Wagner
2002
Berg, Ute
1953
Gymnasium/Abitur Studium: Lehramt an Gymnasien (Göttingen) 1975-2002: Lehrerin Hessen, NordrheinWestfalen, Niedersachsen
2002
Bodewig, Kurt
1955
Volksschule, Realschule Ausbildung: Fachoberschule Grundstücks- und Wohnungswirtschaft 1976 Fachabitur Zivildienst 1976-1981 Wohnungskaufmann bei Stadtsparkasse Düsseldorf & Bau- und Wohnungsunternehmen 1981 bis 1986 Leitung Verwaltungsstelle Zivildienst Bezirksverband Niederrhein Arbeiterwohlfahrt e. V. seit 1986 Abteilungsleiter DGB, Landesbezirk Nordrhein-Westfalen
1998
Bury, HansMartin
1966
Gymnasium/Abitur Studium: Dipl. Betriebswirt (BA 1988) 1988-1990 Vorstandsassistent Bank
1990
Dörmann, Martin (Dr.)
1962
Gymnasium/Abitur 1981 Zivildienst Studium: Rechtswissenschaft (Köln/Bonn) 92-98 Abgeordnetenmitarbeit bzw. wissenschaftl. Mitarbeiter MdB Walter Rempe (Köln), MdB Renate Schmidt, MdB Anke Fuchs 1997-1999 Rechtsreferendariat
2002
Funktion „Netzwerk“
344
Name
D. Anhang
Geburtsjahr
Werdegang/Ausbildung
MdB seit
Funktion „Netzwerk“
Edathy, Sebastian
1969
Gymnasium/Abitur Zivildienst Studium: Soziologie, Sprachwissenschaft (M.A.) (Hannover), 19891990-1993 Mitarbeiter MdL Bärbel Tewes Niedersachsen 1993-1998 pers. Referent von MdB Ernst Kastning
1998
Ehrmann, Siegmund
1952
Gymnasium/Abitur Studium: Dipl. Verwaltungswirt 1973 Kommunaldiplom 1977 Städt. Leitender Verwaltungsdirektor (Moers) a. D.
2002
Frechen, Gabriele
1956
Progymnasium, Mittlere Reife 1972 bis 1974 Ausbildung zur Bauzeichnerin 1975 bis 1977 Ausbildung zur medizinischtechnischen Radiologie- Assistentin 1977 bis 1980 MTR im Krankenhaus 1981 bis 1984 Ausbildung zur Fachgehilfin steuer- und wirtschaftsberatende Berufe 1987 bis 1988 Weiterbildung und Prüfung zur Bilanzbuchhalterin 1994 bis 1995 Vorbereitung auf die Steuerberaterprüfung seit 1995 als selbstständige Steuerberaterin tätig
2002
Griese, Kerstin
1966
Gymnasium/Abitur Studium: Geschichte & Politikwissenschaft (Düsseldorf) 1987-1997 1987-1997 freie Mitarbeiterin und 1997-2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus in Düsseldorf
Mai 2000
Sprecherkreis seit 2004
Hartmann, Michael
1963
Gymnasium/Abitur Studium: Politik, Soziologie, Volkskunde (Mainz) 1995-1999 Referent SPD-Landesverband Rheinland-Pfalz Seit 1999 Sprecher des rheinland-pfälzischen Innenministers Walter Zuber
2002
Sprecherkreis seit 2005
Sprecherkreis seit 2004
345
13. Grafiken und Tabellen
Name
Geburtsjahr
Hauer, Nina
Funktion „Netzwerk“
Werdegang/Ausbildung
MdB seit
1968
Gymnasium/Abitur Studium: Germanistik, Politik (Gießen/ Marburg) 1995-1997 Studienreferendarin in Gießen 1997/1998 Lehrbeauftragte am Studienkolleg für ausländische Studierende der Fachhochschule Gießen, Lehrbeauftragte am Fachbereich Politikwissenschaft der Universität Gießen und Gymnasiallehrerin an der Anne-Frank-Schule Großen-Linden Geprüfte Finanz- und Anlageberaterin /MBA (University of Wales)
1998
Sprecherkreis seit 2004
Heil, Hubertus
1972
Gymnasium/ Abitur Zivildienst Studium: Politikwissenschaften (Potsdam/Fernuni Hagen) 1995-1997 Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen Landesverband Brandenburg, Referent im Landtag Brandenburg 1997 - 1998 Referent MdB Eva Folta-Schlaugat
1998
Sprecherkreis 2002-2005
Kelber, Uli
1968
Gymnasium/Abitur Studium: Informatik/, Biologie (Bonn) 1987-1993 1993-1995 bei GMD - Forschungszentrum Informationstechnik, seitdem bei commasoft als Knowledge Management Consultant
September 2000
Klug, Astrid
1968
Gymnasium/Abitur 1987: Studium Bibliotheks- und Dokumentationswesen (Fachhochschule Köln) 1990: Diplom-Bibliothekarin Universitätsbibliothek Saarbrücken 1992: Leiterin des Amtes für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Kreisverwaltung des SaarpfalzKreises
2002
346
Name
D. Anhang
Geburtsjahr
Werdegang/Ausbildung
MdB seit
Kressl, Nicolette
1958
Gymnasium/Abitur Studium: Berufspädagogische Hochschule Stuttgart; zweites Staatsexamen nach dem Referendariat in Mannheim. Unterricht an einer gewerblichen Berufsschule, Fach: Technologie für BäckerInnen und KonditorInnen Dozentin bei der Industrie- und Handelskammer für die Weiterbildung zum Fachwirt
1994
Krüger, Hans-Ulrich (Dr.)
1952
Gymnasium/Abitur Studium: Rechtswissenschaften, Referendariat Promotion Bielefeld, wiss. Assistent 1979-1982 Rechtsanwalt 1982-1991 Richter Oberrechtsrat Stadtdirektor Voerde 1991-1997 seit 1997 Bürgermeister
2002
Lange, Christian
1964
Gymnaiusm/Abitur Studium: Rechtswissenschaften, Referendariat Seit 1993: Wirtschaftsministerium BadenWürttemberg, erst Landesbeauftragter beim Bund und Bundesratsreferenten, dann Referent für Handwerk und Mittelstand Oberregierungsrat a.D.
1998
Marks, Karen
1963
Gymnasium/Abitur Studium: Geografie Hannover 1989-1990 wiss. Mitarbeiterin 1991-2002 „Familienfrau“
2002
Matschie, Christoph
1961
Gymnasium/Abitur Mechaniker Krankenpfleger Med. Akademie Erfurt Studium: Theologie Rostock/Jena (bis 1989)
1990
Funktion „Netzwerk“
Sprecherkreis seit 2004
347
13. Grafiken und Tabellen
Name Mogg, Ursula
Geburtsjahr 1953
Werdegang/Ausbildung
MdB seit
Abitur: 2. Bildungsweg Studium: Politikwissenschaft, Anglistik, Völkerrecht Wiss. Mitarbeiterin eines MdB Referentin rheinland-pfälzisches Ministerium f. Arbeit, Soziales, Famile & Gesundheit
1994
Funktion „Netzwerk“
liste
Multhaupt, Gesine
1963
Realschule, Mittlere Reife Arzthelferin 1982-1985 Abitur 1985 1985-1989 Studium Oldenburg: Deutsch, ev. Religion und Sachkunde Lehramt an Sonderschulen 1989-1991 Referendariat seit 1991 Sonderschullehrerin im niedersächsischen. Schuldienst
2002 direkt
Raabe, Sascha (Dr.)
1968
Gymnasium/Abitur Zivildienst 1989-1994 Studium: Politologie, Amerikanistik u. Pädagogik (Frankfurt a. M.), Abschluss: Promotion 1994-1996 Studium Rechtswissenschaften Frankfurt 1995-1996 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wahlkreisbüro von MdB Bernd Reuter 1996-2002 Bürgermeister in Rodenbach
2002
Reimann, Carola (Dr.)
1967
Abitur/ Gymnasium Studium: Biotechnologie (Braunschweig) 19871993 1994 Wiss. Hilfskraft Institut für Technologie an der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) Braunschweig 1995-1999 Promotion Institut für Technologie an der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) Braunschweig 1998-1999 Referentin im Bereich Public Health 2000 Projektleiterin medizinisches Marketing
Febr. 2000
Roth, Michael
1970
Abitur Studium: Dipl. Politologie, öffentl. Recht, Germanistik, Soziologie
1998
Sprecherkreis 2002-2005
348
Name
D. Anhang
Geburtsjahr
Werdegang/Ausbildung Maurer letzte Tätigkeit: Betriebsratsvorsitzender Mülheimer Entsorgungssgesellschaft mbH (MEG mbH)
MdB seit 2002
Schaaf, Anton
1962
Schmidt, Silvia
1954
Polytechnische Oberschule (POS) 1970 Abschluss als Diplomsozialarbeiterin (Fachhochschule Potsdam) 1990 Sozialarbeiterin in der Reha-Klinik Rammelburg mit Zusatzausbildung zur Gesprächspsychotherapeutin Studium der Erziehungswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg 1996-1998 Bis 1998 Leiterin des FörderpädagogischTherapeutischen-Zentrums Wippra in Trägerschaft des Trägerwerk Soziale Dienste
1998
Schneider, Carsten
1976
1984-1991: Besuch der Polytechnischen Oberschule 4 „Augusto Cesar Sandino“ in Erfurt 1991-1994: Besuch des Johann-Wilhelm Häßler Gymnasiums in Erfurt, Abitur 1994-1997: Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Volksbank Erfurt 1997-Mai 1998: Zivildienst Juni 98-August 98: Angestellter Sparkasse Erfurt
1998
Schönfeld, Karsten
1963
1981 Abitur Wehrdienst Studium Leipzig: Agrarwissenschaften (bis 1989) 1989-1991 Abteilungsleiter in einem landwirtschaftlichen Betrieb 1991-1998 Außendienstmitarbeiter in einem Versicherungsunternehmen 1998 Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt, Kreisverband Saale-Holzland e.V.
1998
Funktion „Netzwerk“
349
13. Grafiken und Tabellen
Name Schulz, Swen
Geburtsjahr 1968
Schwanholz, Martin
Stöckel, Rolf
1957
Werdegang/Ausbildung
MdB seit
1987 Abitur in Hamburg Studium: Politologie (bis 1993) 1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der SPDEuropaabgeordneten Dagmar Roth-Behrendt 1994-1998 Büroleiter beim SPDBundetagsabgeordneten Wolfgang Behrendt 1998-2002 Redaktionsdirektor in einem privatwirtschaftlichen Verlag
2002
Grundschule, Realschule, Höhere Handelsschule, Berufsschule Groß- und Außenhandelskaufmann Wehrdienst Hochschulzulassungsprüfung an der Uni Osnabrück Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Uni Osnabrück Aufbaustudiengang European Studies an der Freien Universität Amsterdam Promotionsstipendium der Hans-BöcklerStiftung: Dr. der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Angestellter in einem mittelständischen Industrieunternehmen, zuletzt in der Funktion des stellv. Verkaufsleiters Objektleiter im Bereich Messen- und Kongresswesen Seit 1997 Dozent/wiss. Mitarbeiter für Politische Wissenschaft und Europäische Studien an der Universität Osnabrück Seit WS 1999/2000 Lehrbeauftragter für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften am Institut für öffentliches Management der Fachhochschule Osnabrück
2002
1977 Fachabitur Arbeit im Tiefbau, Landvermessung, Lagerarbeiter 1979 Fachhochschule Düsseldorf 1980 Fachhochschule Dortmund 1982 Diplom 1983 Berufsanerkennungsjahr Volkshochschule Dortmund 1984 staatliche Anerkennung
1998
Funktion „Netzwerk“
350
Name
D. Anhang
Geburtsjahr
Werdegang/Ausbildung
MdB seit
Funktion „Netzwerk“
seit 1985 Sozialarbeiter der Gemeinde Bönen, Schwerpunkt Schuldnerberatung seit Oktober 1998 Angestelltenverhältnis ruhend Vogt, Ute
1964
Gymnasium/Abitur Studium Universität Heidelberg und Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Referendarstätigkeit u.a. beim Regierungspräsidium Karlsruhe, Stadtverwaltung Heidelberg und Rechtsanwaltskanzlei Dr. Rausch Zweites juristisches Staatsexamen seither selbstständige Rechtsanwältin in Pforzheim
1998
Weigel, Andreas
1964
1971-1981: Polytechnische Oberschule 1981-1983: Fachschule für Kunsthandwerk mit Abschluss als Drechsler 1994-1999: Johanniter Unfallhilfe Zwickau/ Zwickauer Land Geschäftsführender Vorstand 1995-1998: Verwaltungsfachhochschule Ausbildung im Sozialmanagement 1999-2002: Johanniter Unfallhilfe – Regionalverband Südwestsachsen Geschäftsführender Vorstand
2002
Wend, Rainer (Dr.)
1954
1973 Abitur 1974-1979 Jurastudium in Marburg und Münster 1980-1982 Assistent an der Universität Bielefeld 1982 Promotion 1982-1984 Referendariat seit 1984 niedergelassener Anwalt Gesellschafter einer Rechtsanwalts-, Notar- und Steuerberatersozietät mit Büros in Bielefeld, Bitterfeld und Solingen
1998
Diplomökonomin Verkäuferin bei FILA, anschließend Arbeitslosigkeit Bürgerberatung
2002
Wicklein, Andrea
Sprecherkreis seit 2005
14. Literatur- und Quellenverzeichnis
351
14 Literatur- und Quellenverzeichnis Dokumente im eigenen Archiv Heil, Hubertus: Der eigenen Kraft vertrauen, Dokument im eigenen Archiv. Protokoll der „Netzwerk“-Tagung in Bad Münstereifel, Dokument im eigenen Archiv. Protokoll des „Netzwerk“ vom 25. März 1999, 31.03.1999, Dokument im eigenen Archiv. Protokoll des „Netzwerk“-Treffen am 25.09.2003 mit Franz Müntefering, Dokument eigenen Archiv. Protokoll des „Netzwerk“-MdB-Mitarbeitertreffen am 31.10.2003, Dokument im eigenen Archiv.
Dokumente im Parteiarchiv der SPD Parteiarchiv der SPD: P/16-SPD-Fraktion: Matschie, Christoph: Arbeitsgruppe junger Abgeordneter in der SPD-Fraktion, Pressemitteilung, 09.02.1995. Parteiarchiv der SPD: P-16-Frak: Matschie, Christoph: Arbeitsgruppe junger Abgeordneter in der SPD-Fraktion, Pressemitteilung 09.02.1992. Parteiarchiv der SPD: PI-Nina Hauer: Pressedienst der SPD Hessen-Süd vom 23.03.1994. Parteiarchiv der SPD: X-21-Kandidaten: Landesliste zur Bundestagswahl 1998. Parteiarchiv der SPD: X-21-Kandidatenaufstellung (P-bio).
Dokumente im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle „Der Start in Berlin.... Einige Tips für „Neuberliner“ MdBs“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Ergebnisse aus dem Gespräch mit Nikolaus Simon, Geschäftsführer der Hans-BöcklerStiftung, 19.07.05 – Düsseldorf“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin – Netzwerktreffen 2000“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin – Netzwerktreffen 2000“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin“: „Netzwerk Berlin“ – Die neue Generation der Sozialdemokratie, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle). „Netzwerk Berlin“: Grundsatzprogrammimpuls, Berlin 2004, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin“: Mit Agenda 2010 nachhaltige Reformen beginnen, Berlin, 27.05.2003, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin“: Netzwerk weiterhin für neues SPD Grundsatzprogramm. Pressemitteilung, Berlin, 20.04.2004, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin“: Regionale Programmforen im Vorfeld der Jahrestagung, Berlin, 08.03.2004, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin“: Sozialdemokratie der nächsten Generation, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin“: Soziale Sicherheit gerecht und nachhaltig finanzieren, Berlin, Juli 2003, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle.
352
D. Anhang
„Netzwerk Berlin”: Programmdialog mit gesellschaftlichen Gruppen, Dokument im Archiv der „Netzwerk”-Geschäftsstelle. Bartels, Hans-Peter/Bodewig, Kurt/Heil, Hubertus: Zusammenfassung des „Netzwerk“Treffens vom 25.03.1999, Bonn, 31.03.1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. Bartels, Hans-Peter/Heil, Hubertus/Roth, Michael/Schneider, Carsten/Schönfeld, Karsten: Mut zum Regieren, März 1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. Email-Verkehr von Tobias Dürr, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. Hans-Böckler-Stiftung/Netzwerk Berlin: Soziale Demokratie: Deutschland 2020 – Einladung und Programm, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. Maas, Heiko: Sozialdemokratie und Staatsmodernisierung, Berlin, 08.10.1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. Netzwerk Hessen: Einladung zur Gründungsveranstaltung des Netzwerkes Hessen am Sonntag, 26. Oktober 2003, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. Protokoll der Arbeitstagung „Zukunft der Sozialen Demokratie, Kurt-SchumacherAkademie Bad Münstereifel, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle). Vogt, Ute: Sozialdemokratie und Staatsmodernisierung, Berlin, 08.10.1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. Heil, Hubertus: Netzwerk, Bonn, 21.01.1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. „Einladung zum Gedankenaustausch, 20.03.2002“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. „Ergebnisse der NetzwerKoordinierung 16.10.2002, 10:00, PLH 2042“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „NetzwerKoordinierung –Termin Netzwerkfrühstück“ vom 30.10.2002, im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Homepage www.netzwerkberlin.de: MdB-Bereich, Oktober 2003“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Planung Netzwerk, Stand 30.10.2003“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin“: Arbeitsplanung 2004, Berlin Dezember 2003, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Teilnehmer Netzwerk-Klausur 26.08.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“Geschäftsstelle. „Teilnahmeliste 09.09.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Teilnahmeliste 30.09.2004“, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. „Netzwerk Berlin“: Einladung Mittagskoordinierung 25.01.2005, Berlin, 20.01.2005, Dokument im Archiv der „Netzwerk“-Geschäftsstelle. Heil, Hubertus: Einrichtung einer „Netzwerk”-Stelle, Bonn, 06.10.1999, Dokument im Archiv der „Netzwerk”-Geschäftsstelle.
Monografien und Herausgeberschaften Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004.
14. Literatur- und Quellenverzeichnis
353
Bok, Wolfgang; Zeitgeist-Genossen. das Berliner Programm der SPD von 1989. Motive – Folgen – Ziele, Frankfurt a.M. 1995. Bösch, Frank: Macht und Machtverlust, Stuttgart 2002. Bude, Heinz: Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948, Frankfurt a M. 1995. Bude, Heinz: Generation Berlin, Berlin 2001. Butterwegge, Christoph: Jungsozialisten und SPD. Die Widerspiegelung sozioökonomischer Entwicklungstendenzen im Verhältnis des sozialdemokratischen Jugendverbandes zu seiner „Mutterpartei“, Hamburg 1975. Detterbeck, Klaus: Der Wandel politischer Parteien in Westeuropa, Opladen 2002. Duden: Das Fremdwörterbuch, Mannheim u.a. 1997. Dürr, Tobias/Walter, Franz: Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000. Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, Wiesbaden 2005. Filmer, Werner/Schwan, Heribert: Oskar Lafontaine, Düsseldorf 1996. Filmer, Werner/Schwan, Heribert: Oskar Lafontaine, Düsseldorf 1990. Fischer, Sebastian: Gerhard Schröder und die SPD. Das Management des programmatischen Wandels als Machtfaktor, München 2005. Fogt, Helmut: Politische Generationen. Empirische Bedeutung und theoretisches Modell, Opladen 1982. Frenzel, Herbert A./Frenzel Elisabeth: Daten deutscher Dichtung, Bd. 1, Köln 1999. Frenzel, Martin: Neue Wege der Sozialdemokratie. Dänemark und Deutschland im Vergleich (1982-2002), Wiesbaden 2002. Friedrich-Ebert-Stiftung/„Netzwerk Berlin“: Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD, Bonn/Berlin 2003. Fröbe, Sönke: Der Einfluss des Seeheimer Kreises auf die Bundespolitik der SPD, Kiel 1996. Fuchs, Jürgen: Die Fraktionen der Jungsozialisten, Erlangen 1979. Gebauer, Annekathrin: Der Richtungsstreit in der SPD. Seeheimer Kreis und Neue Linke im innerparteilichen Machtkampf, Wiesbaden 2005. Giddens, Anthony: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a. M. 1999. Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2002. Gorz, André: Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a. M. 2000. Göschel, Albrecht: Kontrast und Parallele – kulturelle und politische Identitätsbildung ostdeutscher Generationen, Stuttgart/Berlin/Köln 1999 a. Grunenberg, Antonia: Aufbruch der inneren Mauer. Politik und Kultur in der DDR 19711990, Bremen 1990. Heil, Hubertus/Hauer, Nina/Lange, Christian/Matschie, Christoph: Zukunft in Arbeit. Sozialdemokratische Wege zu Wachstum, Vollbeschäftigung und sozialer Teilhabe, Berlin 2001. Hennecke, Jörg: Die dritte Republik, Berlin 2003. Herrenknecht, Albert/Hätscher, Wolfgang/Koospal, Stefan (Hg.) Träume, Hoffnungen, Kämpfe..., Frankfurt a.M. 1977.
354
D. Anhang
Herzog, Dietrich: Politische Karrieren. Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen, Opladen 1975. Hogrefe, Jürgen: Gerhard Schröder: Ein Porträt, Berlin 2002. Hopf, Christel/Hopf, Wulf: Familie, Persönlichkeit, Politik. Eine Einführung in die politische Sozialisation, Weinheim/München 1997. Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion, Frankfurt a.M. 2005. Inglehart, Ronald: The silent Revolution, Princeton 1977. Ismayr, Wolfgang: Der deutsche Bundestag, Opladen 2000. Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.): Jugend ´81 b – Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder, Hamburg 1981. Klein, Markus/Falter, Jürgen: Der lange Weg der Grünen, München 2003. Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-77, Köln 2001. Köllner, Patrick/Basedau, Matthias/Erdmann, Gero (Hg.): Innerparteiliche Machtgruppen. Faktionalismus im internationalen Vergleich, Frankfurt a. M. 2006. Krabbe, Wolfgang R.: Parteijugend in Deutschland. Junge Union, Jungsozialisten und Jungdemokraten 1945-1980, Wiesbaden 2002. Kraushaar, Wolfgang: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000. Kullmann, Katja: Generation Ally, Frankfurt a.M. 2003. Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung, Bd. 2: Methoden und Techniken, München 1989. Langguth, Gerd: Das Innenleben der Macht: Krise und Zukunft der CDU, München 2001. Leggewie, Klaus: Die 89er. Portrait einer Generation, Hamburg 1995. Lehmann, Tobias/Mecklenburg, Katharine: Jugendverbände als biografisch bedeutsame Lebensorte, Baltmannsweiler 2006. Lemke, Christiane: Die Ursachen des Umbruchs 1989. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR, Opladen 1991. Lösche, Peter/Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei, Darmstadt 1992. Machnig, Matthias/Bartels, Hans-Peter: Der rasende Tanker. Analysen und Konzepte zur Modernisierung der sozialdemokratischen Organisation, Göttingen 2001. Mählert, Ulrich: Kleine Geschichte der DDR, München 2001. Meadows, Dennis/Meadows, Donella u.a. (Hg.): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbeck bei Hamburg 1973. Meng, Richard: Der Medienkanzler. Was bleibt vom System Schröder?, Frankfurt a. M. 2002. Meulemann, Heiner: Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation, München 1996. Micus, Matthias: Die „Enkel“ Willy Brandts. Aufstieg und Politikstil einer SPDGeneration, Frankfurt a. M., 2005. Mohr, Reinhard: Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam, Frankfurt a. M. 1992. Müller-Rommel, Ferdinand: Innerparteiliche Gruppierungen in der SPD: Eine empirische Studie über informell-organisierte Gruppierungen von 1969-1980, Opladen 1982.
14. Literatur- und Quellenverzeichnis
355
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356
D. Anhang
Trefs, Matthias: Faktionen in westeuropäischen Parteien. Italien, Großbritannien und Deutschland im Vergleich, Heidelberg 2007. Urschel, Reinhard: Gerhard Schröder: Eine Biografie, Stuttgart 2002. Vogt, Ute/Rühmkorf, Eva: „Wir sind die besseren“. Starke Frauen in der Politik, Stuttgart/München 2002. Walter, Franz: Baustelle Deutschland, Frankfurt a. M. 2008. Walter, Franz: Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002 b. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, Bd. II, München 2000. Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium. 1982-1990, München 2006. Wolfrum, Edgar: Die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990, Stuttgart 2005. Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998. Zimmermann, Peter: Grundwissen Sozialisation. Einführung zur Sozialisation im Kindesund Jugendalter, Wiesbaden 2006.
Aufsätze in Zeitschriften, Sammelbänden und Herausgeberschaften Ahnen, Doris: Gute Bildung für alle. Nur konsequente Chancengleichheit führt zu sozialer Inklusion, in: Platzeck, Matthias/Steinmeier, Frank-Walter/Steinbrück, Peer: Auf der Höhe der Zeit. Soziale Demokratie und Fortschritt im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 63-67. Andrews, Molly: Das Erwachen des politischen Bewusstseins. Eine Fallstudie, in: Hoerning, Erika M. (Hg.): Biographische Sozialisation, Stuttgart 2000, S. 305-323. Bartels, Hans-Peter/Kröger, Delf: Die europäische Bundeswehr, in: Berliner Republik 5 (2001), S. 63-67. Bartels, Hans-Peter/Kröger, Delf: Geschichten aus dem alten Berlin, Berliner Republik 4 (2004), S. 77-82. Bartels, Hans-Peter: Ankunft in der Wirklichkeit, in: Berliner Republik 6 (2003 a), S. 2430. Bartels, Hans-Peter: Die andere Armut, in: Berliner Republik 2 (2005), S. 56-65. Bartels, Hans-Peter: Einmal Demokratie und zurück, in: Berliner Republik 2 (2000), S. 16-17. Bartels, Hans-Peter: Erinnerung an Frank, in: Berliner Republik 5 (2002), S. 3. Bartels, Hans-Peter: Europas Strategie und die neue Bundeswehr, in: Berliner Republik 1 (2004), S. 76-80. Bartels, Hans-Peter: Flexibilismus und Ideologie, in: Berliner Republik 4 (2001 a), S. 7778. Bartels, Hans-Peter: Gemeinschaft und Gesellschaft, in : Berliner Republik 3 (2000), S. 445. Bartels, Hans-Peter: Kommt nach den Enkeln die „Generation Berlin“?, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 10 (1999), S. 916-919. Bartels, Hans-Peter: Mehr Empirismus, weniger Dogma, in: Berliner Republik 6 (2001 b), S. 80-81. Bartels, Hans-Peter: Nach den Enkeln der Generationenbruch, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 8 (1995), S. 725-726.
14. Literatur- und Quellenverzeichnis
357
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D. Anhang
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