Das Buch Ein kalter, regnerischer Abend in Manhattan: Der Präsident der Vereinigten Staaten sitzt mit einem alten Freun...
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Das Buch Ein kalter, regnerischer Abend in Manhattan: Der Präsident der Vereinigten Staaten sitzt mit einem alten Freund beim Essen und ahnt nicht, dass sein Leben in höchster Gefahr ist. Jemandem ist es gelungen, die Sicherheitskräfte auszuschalten und sich am Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes zu postieren, das Gewehr im Anschlag. In letzter Sekunde kann Blake Johnson vom Secret Service das Attentat verhindern. Der Killer ist ein zum Islam konvertierter Engländer. Doch ehe er befragt werden kann, begeht er Selbstmord. Sean Dillon vom britischen Geheimdienst wird eingeschaltet. Er hat Kontakte zur muslimischen Welt und spricht fließend Arabisch. Außerdem ist er mit dem Geschäft des Tötens bestens vertraut. Nach und nach legen Johnson und Dillon bei ihren Nachforschungen die Maschen eines Terror-Netzwerks frei und geraten dabei selbst auf die Todesliste der Terroristen.
Zum Autor Jack Higgins, der 1929 in Newcastle-on-Tyne als Harry Patterson geboren wurde, ist einer der bekanntesten Thrillerautoren Großbritanniens. Er hat nach einer kurzen Militärkarriere an der University of London Soziologie, Psychologie und Wirtschaft studiert und seinen Doktor in Medienwissenschaften gemacht. Romane wie Der Adler ist gelandet oder Schwingen des Todes brachten ihm Weltruhm. Zahlreiche seiner Romane wurden fürs Kino verfilmt.
Jack Higgins
Netzwerk des Bösen Roman Aus dem Englischen von Christine Roth-Drabusenigg
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Die Originalausgabe DARK JUSTICE erschien 2004 bei G. P. Putnam’s Sons, a member of Penguin Group (USA) Inc.
Redaktion: Birgit Groll Deutsche Erstausgabe 10/2005 Copyright © 2004 by Harry Patterson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2005 Umschlagillustration: © mauritius – images /AgE Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Wilhelm Heyne Verlag, München Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 3-453-43058-1 http//www.heyne.de
Für Neil Nyven, einen außergewöhnlichen Lektor, mit herzlichem Dank
Ein Schwert ist wert zehntausend Worte – Der Koran –
NEW YORK
1.
Manhattan an einem Novemberabend gegen acht Uhr präsentierte sich meist trostlos und wenig einladend. Zudem trieb ein scharfer Ostwind heftigen Regen vor sich her, als Henry Morgan, aus einer Nebenstraße kommend, in die Park Avenue einbog. Der relativ kleine Mann trug die dunkelblaue Uniform und Schildmütze der bekannten ICON SECURITY, wie auf den Schulterklappen zu lesen war. Seine rechte Hand hielt eine schwarze Ledertasche umfasst, die Linke einen aufgespannten Schirm. Auf der Park Avenue herrschte um diese Uhrzeit noch reger Berufsverkehr, die meisten Fußgänger waren jedoch vor dem Regen geflüchtet. Morgan stellte sich in einem Hauseingang unter und spähte in beide Richtungen. Die Straße wurde von Büros und Wohnungen flankiert, meist eindrucksvolle Stadthäuser mit hell erleuchteten Fenstern. Er hatte schon immer ein Faible für die Atmosphäre nächtlicher Städte gehabt. Ein kleiner Anfall von Wehmut erfasste ihn, und er holte tief Luft. Immerhin hatte er dafür einen weiten Weg zurückgelegt, einen sehr weiten Weg, doch nun war er endlich am Ziel angelangt. Zeit, die Sache hinter sich zu bringen. Er nahm die Tasche auf und trat wieder hinaus in den Regen. Nach fünfzig Metern stand er vor einem Bürogebäude, das sich durch sein Alter und die Tatsache, dass es nur vier Stockwerke hoch war, deutlich von den umliegenden 9
Häusern abhob. Die diskrete Beleuchtung des Erdgeschosses diente vermutlich der Sicherheit. Auf einem goldenen Schild in einem der Fenster stand zu lesen: GOULD & COMPANY; BANK DEPOSITORY. Darunter die Öffnungszeiten, von neun bis sechzehn Uhr. Er betrat den bogenförmigen Eingang, spähte durch die Panzerglastür in das erleuchtete Foyer und drückte in Erwartung, Chesney würde ihm öffnen, die Klingel. Chesney kam nicht. Stattdessen machte ihm ein großer Schwarzer auf, der die gleiche dunkelblaue Uniform trug wie er selbst. »’n bisschen spät, Mann. Morgan, richtig? Der Engländer? Chesney hat mich schon eingeweiht.« Morgan trat ein. Beinahe geräuschlos fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Kein guter Anfang, aber nun musste er das Beste draus machen. »Tut mir Leid. Ich bringe Chesney immer Kaffee und Sandwiches von einem Imbiss gleich um die Ecke mit.« Er folgte dem anderen Mann durch den Empfangsraum. »Wo steckt er denn?« »Soviel ich mitgekriegt habe, hat seine Gallenblase mal wieder Mätzchen gemacht. Deshalb haben sie mich von der South Street hierher gescheucht.« »Wie soll ich Sie nennen?« »Smith, das reicht.« Er ließ sich hinter dem Empfang auf einen Stuhl fallen, zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und steckte sich eine an. »Ganz schön was los heute da draußen, aber zum Glück laufen in der Glotze ein paar gute Filme. Du bist aus London, hab ich gehört.« »Das stimmt.« »Und, was hat dich hierher verschlagen?« 10
»Auf zu neuen Ufern, du weißt ja, wie das so ist.« »Glück gehabt, dass sie dir eine Green Card gegeben haben.« »Ach, ich hab diesen Job drüben schon gemacht, das hat sicher geholfen.« Smith nickte. »Wie auch immer. Lass mal sehen, was du da Gutes in der Tasche hast.« Morgan wurde flau im Magen. Er zögerte. Smith griff nach der Tasche. »Ich hab vielleicht ’nen Kohldampf. Kein Wunder, die haben mich von jetzt auf gleich hierher zitiert. Ich hatte nicht mal Zeit, mir was zum Beißen zu besorgen.« Eilig stellte Morgan die Tasche auf den Tisch, machte sie auf, packte Kaffee und Sandwiches aus und reichte beides Smith. »Und was ist mir dir?«, fragte Smith. »Ich esse später. Erst drehe ich meine Runden.« »Wie du meinst.« Smith wickelte ein Sandwich aus. »Okay, dann mache ich mich mal auf den Weg. Die Tasche stelle ich in den Waschraum.« Damit durchquerte er das Foyer, stellte die Tasche ab und rief Smith dann über die Schulter zu: »Bis später.« »Lass dir Zeit.« Smith schaltete den Fernseher an. Morgan stieg in den Aufzug und drückte den Knopf, der ihn hinunter in den Tresorraum brachte. Ohne Eile sah er sich um, ließ dem Schlafmittel im Kaffee Zeit zu wirken, obwohl man ihm gesagt hatte, die Wirkung würde unmittelbar nach der Einnahme einsetzen und gute fünf Stunden anhalten. Er schlenderte an den hunderten glänzenden Boxen hinter Stahlgittern vorbei, 11
ging dann langsam zum Aufzug zurück und fuhr hinauf in die vierte Etage. Dort befanden sich ausschließlich Büros, und es war alles in bester Ordnung. Das Gleiche galt auch für die Räumlichkeiten in der dritten Etage und in der zweiten. Als Wachmann seine Brötchen zu verdienen, war wirklich mehr als öde. Aber zum Glück hatte dieser Job für ihn bald ein Ende. Er kehrte zum Aufzug zurück und fuhr nach unten. Smith lag mit dem Oberkörper quer über dem Tisch, den halb ausgetrunkenen Kaffeebecher neben sich. Von dem Sandwich hatte er nur ein paarmal abgebissen. Morgan schüttelte den Mann, um sich zu vergewissern, dass er wirklich schlief, trat dann vor den Wandschrank, in dem sich die Steuerung der Alarmanlage befand, und schaltete diese im gesamten Gebäude aus. Dann holte er die Tasche aus dem Waschraum, bestieg abermals den Aufzug und fuhr wieder hinauf in den zweiten Stock. Dort dimmte er die Beleuchtung im Flur, ging an das Fenster, von dem aus er einen perfekten Blick über die Park Avenue hinweg auf das vornehme Stadthaus mit den hell erleuchteten Fenstern hatte. Entlang des gesamten Blocks war das Parken untersagt worden, und das nicht nur aus dem Grund, weil das Haus Senator Harvey Black gehörte. Da er das gesamte Alarmsystem lahm gelegt hatte, konnte Morgan das Fenster öffnen, ohne mit bösen Überraschungen rechnen zu müssen. Leise vor sich hin pfeifend, stellte er die Tasche auf den Tisch, zog ein sowjeti12
sches AK-47 heraus, klappte die Schulterstütze raus, lud durch und legte das Sturmgewehr aufs Fensterbrett. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Es war zwanzig vor neun. Die Wohltätigkeitsveranstaltung im Pierre müsste gerade zu Ende gehen. Und anschließend würde Senator Black seine ehrenwerten Gäste zu sich nach Hause zum Dinner laden. Morgan angelte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine an und setzte sich mit dem festen Vorsatz vors offene Fenster, den Präsidenten der Vereinigten Staaten in dem Augenblick, wenn dieser hinaus auf den Bürgersteig trat, zu erschießen. Zu seinem Schrecken hörte er kurz darauf, dass sich der Fahrstuhl in Bewegung gesetzt hatte. Er erstarrte im ersten Moment, sprang dann aber blitzschnell auf die Füße und baute sich vor der Fahrstuhltür auf. Als diese sich wenig später öffnete, trat Smith heraus, gefolgt von einem stattlichen, gut aussehenden Mann um die fünfzig. »Aber, aber, Henry«, sagte Smith tadelnd. »Was soll das denn werden? Davon steht in der Jobbeschreibung aber nichts!« Morgan wich einen Schritt zurück, wobei sich seine Gedanken fieberhaft überschlugen. Es entstand eine Pause. Dann ergriff der ältere, grau melierte Mann das Wort. »Mr. Morgan, mein Name ist Blake Johnson. Ich arbeite für den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Und dieser Gentleman hier ist Clancy Smith vom amerikanischen Geheimdienst. Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Präsident heute Abend nicht kommen wird. Allem Anschein nach hat er 13
das Abendessen kurzfristig abgesagt und ist zurück nach Washington geflogen. Tut mir wirklich Leid.« Unvermittelt hechtete Morgan einen Schritt nach vorn, hob mit einer einzigen fließenden Bewegung den Lauf des Sturmgewehrs, feuerte aus kürzester Entfernung – und hörte nur den Bolzen leer anschlagen. »Oh, ich vergaß zu erwähnen«, bemerkte Smith seelenruhig, »dass ich vorsichtshalber die Munition entfernt habe, als Sie vorhin unten im Tresorraum waren. Und noch etwas – von Fremden nehme ich grundsätzlich keinen Kaffee an.« Mit einer verzweifelten Grimasse ließ Morgan das AK auf den Boden fallen. Johnson verspürte beinahe so etwas wie Mitleid mit ihm. »Mensch, Mann, wir haben Saddam Hussein geschnappt. Haben Sie wirklich im Ernst geglaubt, dass Sie so ein Ding durchziehen können? Wollen Sie etwas dazu sagen?« »Ja, das will ich«, erwiderte Morgan. »Hütet euch vor Allahs Zorn.« Es sah aus, als beiße er die Zähne aufeinander, seine Kiefermuskeln traten hervor, dann taumelte er rückwärts und stürzte zu Boden, mit verzerrtem Gesicht und leise stöhnend. Im nächsten Moment stieg Smith ein scharfer Geruch in die Nase. Er ging neben Morgan in die Hocke und musterte ihn eindringlich. Dann sah er hoch. »Keine Ahnung, was das für ein Geruch ist, aber der Kerl ist definitiv tot.«
14
Blake arrangierte es, dass Sanitäter der Armee die Leiche abholten und in eine exklusive Privatklinik überführten. Diese beherbergte vornehmlich Patienten zu Rehabilitationszwecken, verfügte jedoch über ein Leichenschauhaus, das den modernsten Standards entsprach. Außerdem hatte er einen der besten Pathologen von New York, Dr. George Romano, beauftragt, alles Notwendige zu erledigen. Anschließend hatte er Clancy kurz in dessen Hotel abgesetzt, damit dieser die Uniform des Sicherheitsdienstes ablegen konnte. Eine gute Stunde nach dem Leichnam trafen sie gemeinsam in der Klinik ein und fanden Romano im Büro des Direktors, bereits für die Obduktion angekleidet. Romano und Blake waren alte Freunde. Romano hatte viel für das Basement, die Sicherheitsabteilung des Weißen Hauses, die Johnson leitete, getan. Romano trank Kaffee und rauchte. »Ich dachte, das sei heutzutage nicht mehr politisch korrekt, besonders nicht für Ärzte.« »Hier gelten meine Regeln, Blake. Wen hast du da mitgebracht?« »Clancy Smith, Secret Service. Hat in der Vergangenheit eine für den Präsidenten bestimmte Kugel abgefangen. Zum Glück ist das heute Abend nicht nötig gewesen.« »Ich hab mir euren Freund, Mr. Morgan, schon mal angesehen. Mach gerade ne kleine Pause.« »Mr. Nobody, wenn ich bitten darf«, korrigierte Blake den Doktor. »Okay, schon verstanden.« Blake nickte Clancy zu, der den mitgebrachten Akten15
koffer öffnete, ein Schreiben entnahm und dieses dem Doktor reichte. »Wie Sie sehen, ist dieser Brief an einen gewissen George Romano adressiert und von Präsident Jake Cazalet persönlich unterzeichnet. Man nennt so etwas ›Präsidentenverfügung‹. Das Schreiben besagt, dass Sie dem Präsidenten unterstehen, seine Befehle über den Gesetzen stehen und Sie diesen Auftrag nicht ablehnen können. Zudem ist es Ihnen strengstens untersagt, über die Vorkommnisse dieses Abends zu sprechen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil gar nichts vorgefallen ist.« Ausnahmsweise lächelte Romano jetzt einmal nicht. »So ernst?« Er schüttelte den Kopf. »Na, eigentlich hätte ich mir so was schon denken können, als ich bemerkte, dass ihr mir einen Heinrich Himmler untergejubelt habt.« »Was zum Teufel soll das nun wieder heißen?«, brauste Clancy auf. »Das Beste wird sein, wir gehen wieder rein und ich zeige es euch – vorausgesetzt, die Herren halten es in meinen Gemächern aus.« »Ich war in Vietnam und Clancy im Golfkrieg. Ich denke doch, dass wir so schnell nicht aus den Pantinen kippen werden«, beschied ihm Blake. »Pardon, ich war auch in ’Nam«, setzte Romano hinzu, »und bei allem gebührenden Respekt – dagegen war der Golfkrieg Kinderkram.« »Clancy hier war bei den Marines und hat zwei Tapferkeitsmedaillen mit nach Hause gebracht, die das Gegenteil beweisen«, gab Blake zurück. »Aber lassen wir das jetzt, gehen wir hinein.« 16
Im Autopsieraum warteten zwei Assistenten. Romano wusch sich wieder die Hände, ließ sich in die Chirurgenhandschuhe helfen und trat zu Henry Morgans nackter Leiche. Die lag auf einem Edelstahltisch, der Kopf war auf einen hohen Holzblock gestützt, der Mund stand weit offen. Neben dem Tisch standen ein Videorekorder und ein Instrumentenwagen. Romano sagte laut und deutlich: »Mittwoch, dritter November, Fortsetzung der Obduktion von Henry Morgan, Adresse unbekannt.« Er wandte sich an Blake und Clancy. »Bitte näher zu treten. Angesichts der ungewöhnlichen Umstände beschloss ich, als Erstes die Mundhöhle zu untersuchen, und stellte fest, dass links ein Molar, ein Backenzahn, fehlt.« Mit dem Zeigefinger drückte er den Unterkiefer noch ein Stück weiter auf und enthüllte die blutige Lücke. »Und hier ist er, meine Herrschaften.« Er nahm eine kleine Edelstahlschale und schüttelte darin die zerbrochenen Überreste des fehlenden Backenzahns, der teilweise mit Gold ausgefüllt war. »Heinrich Himmler – für solche, die zu jung sind, um sich zu erinnern – war Reichsführer der SS in den hoffnungsfrohen Tagen des Dritten Reiches. Er war jedoch klug genug zu wissen, dass alles einmal ein Ende hat, und war nicht gewillt, eines Tages die Bekanntschaft seines Henkers zu machen. Deshalb hatte er sich eine Krone anfertigen lassen, unter der sich eine Zyankalikapsel befand. Wie viele andere hochrangige Nazis übrigens auch. Im Falle einer Gefangennahme braucht man nur ganz fest auf einen solchen Zahn zu beißen, und dann tritt beinahe unmittelbar der Tod ein.« 17
»Demnach war unserem Freund hier nicht daran gelegen, uns lebendig in die Hände zu fallen.« »Wie es aussieht nicht, nein. Und obwohl ich davon überzeugt bin, dass es uns keine weiteren Erkenntnisse bringen wird, werde ich die Obduktion ordnungsgemäß zu Ende führen. Übrigens, was weiß man über den Herrn?« »Ich kann dir nur sagen, dass er dreißig Jahre alt ist, mehr nicht. Wann können wir die Leiche haben?« »In einer Stunde, schätze ich.« »Gut. Ich werde den Weitertransport veranlassen, während wir im Büro warten. Ach, und George …« Er zog Romano am Arm beiseite und sagte im Flüsterton: »Dass die Assistenten die Himmler-Geschichte gehört haben, ist okay. Aber mehr nicht. Kein Kommentar. Und bring die Videokassette mit, wenn du fertig bist.« »Sehr wohl, großer Meister.« Romano wandte sich wieder seiner Arbeit zu, und Blake und Clancy verließen den Obduktionssaal. Sie saßen im Büro des Klinikchefs. Blake tätigte von seinem Handy aus einen Anruf, der sofort entgegengenommen wurde. »Highgrove.« »Hier spricht Blake Johnson. Ich habe heute schon einmal wegen einer Einäscherung angerufen.« »Ganz recht, Sir. Wir sind bereit und warten.« »Sie wissen ja, wo wir sind. Der Leichnam wird in einer Stunde zur Verfügung stehen.« »Wir werden dort sein.« 18
»Ich erwarte, dass die Einäscherung unverzüglich erfolgt.« »Selbstverständlich.« Blake beendete das Gespräch. »Wie wär’s mit einem Kaffee?« Die Kanne in der Maschine war halb voll. Clancy stand auf und schenkte zwei Tassen ein. »Der Kerl hatte aber auch rein gar nichts bei sich. Keinen Ausweis, keinen Reisepass, obwohl er einen haben musste, um ins Land zu kommen.« »Hat er wahrscheinlich irgendwo gebunkert. Alles andere ist bestimmt gefälscht. Kam als Tourist ins Land. Man hat ihm eine getürkte Green Card verschafft und ein Zimmer in einem kleinen, unauffälligen Hotel gebucht.« »Und das AK-47?« »Könnte jemand für ihn in einem Schließfach deponiert haben. Den Job bei diesem Sicherheitsdienst hat man bestimmt im Vorhinein für ihn arrangiert. Ich traue mich sogar zu wetten, dass der gute Mann von der Organisation hier in New York keine Menschenseele zu Gesicht bekommen hat.« »Aber irgendjemand muss ihn schließlich von London hierher geschickt haben.« »Klar, sonst wäre er ja nicht hier. Die haben wahrscheinlich gute Freunde in New York, die ihn ganz unauffällig im Auge behalten, es aber vorziehen, nicht in die Sache involviert zu werden.« »Wer sollte ihnen das verdenken? Schließlich wäre er sowieso gestorben«, stellte Clancy fest. »Wenn wir ihn nicht zuerst erwischt hätten, hätten die ihn nach Erledigung seines Auftrags gejagt wie einen Hund.« 19
»Ganz bestimmt. So, jetzt muss ich mit dem Präsidenten sprechen.« Er erreichte Cazalet an seinem Schreibtisch im Oval Office. »Mr. President, wir haben ihn. Das war diesmal kein falscher Alarm. Aber er ist tot, leider.« »Das ist Pech. Erschossen?« »Zyankali.« »Aha. Wo sind Sie jetzt?« »In der Leichenhalle. Warte auf die Leute von der Bestattung.« »Gut. Kümmern Sie sich um alles, Blake. Dieser Vorfall ist nie passiert. Ich will nichts davon auf irgendeiner Titelseite irgendeiner Zeitung lesen. Ein Flugzeug wird Sie und Clancy anschließend abholen. Ich möchte Sie beide so schnell wie möglich hier bei mir sehen, damit wir die Sache besprechen können.« »Jawohl, Mr. President.« »Und nachdem es unsere britischen Kollegen waren, die uns auf die Existenz dieses Morgan aufmerksam gemacht haben, rufen Sie doch bitte General Ferguson an, und setzen Sie ihn über die Ereignisse in Kenntnis.« In London war es vier Uhr morgens, als in General Fergusons Wohnung am Cavendish Place das Telefon klingelte. Er knipste die Nachttischlampe an und hob ab. »Bei einem Anruf zu dieser gottlosen Stunde kann es sich nur um eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit handeln«, knurrte er in den Hörer. »Wie immer, wenn es das Empire betrifft, Charles.« 20
Das war das Kodewort, das andeutete, dass der amerikanische Präsident in Gefahr war. Ferguson war sofort hellwach und setzte sich auf. »Blake, mein guter Freund. Was ist passiert?« »Ihre Information bezüglich Henry Morgan war äußerst präzise. Er hat heute versucht, ein Attentat auf den Präsidenten zu verüben, aber Clancy und ich konnten ihn gerade noch rechtzeitig daran hindern. Unglücklicherweise besaß er einen Zyankalizahn und weilt folglich nicht mehr unter uns.« »Ist mit dem Präsidenten alles in Ordnung?« »Alles in bester Ordnung. Was Morgan betrifft, wird von ihm in Kürze nicht mehr als drei Pfund graue Asche übrig sein. Die ich wahrscheinlich ins Klo spülen werde.« »Sie sind wirklich ein knallharter Typ, Blake. Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht.« »Das liegt in der Natur meines Jobs, Charles. Immerhin war dieser Bastard wild entschlossen, unseren Präsidenten zu erschießen. Auf jeden Fall danke ich Ihnen und den Leuten der Privatarmee des Premierministers, allen voran Hannah Bernstein, Sean Dillon und Major Roper, ganz herzlich. Es ist alles hervorragend gelaufen.« »Dieser Roper ist in der Tat ein wahres Genie am Computer.« »Ich muss weiter, Charles. Bis demnächst.« Gerade als Blake das Gespräch beendet hatte, kam Romano mit einer Videokassette und einem Stapel Formulare herein. »Du bist gut, Mann«, sagte Blake. 21
»Nicht wirklich.« Romano zündete sich eine Zigarette an. »Ich weiß nur, wo mein Platz ist, das ist alles.« Clancy war hinausgegangen, um sich im Korridor umzusehen, und traf auf zwei schwarz gekleidete Männer, die eine Bahre mit einem zusammengefalteten Leichensack daraufschoben. »Mr. Johnson?«, erkundigte sich der eine von beiden, ein stiller, leichenblasser Mann. Blake lehnte sich zur Tür hinaus. »Die Untersuchungen sind abgeschlossen, der Leichnam ist abholbereit. Laden Sie ihn ein. Wir sehen uns dann in Highgrove. Richten Sie Mr. Coffin aus, dass er auf uns warten soll.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Blake und Clancy gingen wieder zurück ins Büro. »Coffin? Wie Sarg? Ist das sein richtiger Name?« »Wenn es der Mann ist, den ich kenne, dann ganz bestimmt.« Romano lächelte freudlos. »Fergus Coffin. Der Name passt zu ihm.« In dem Moment kam die Bahre mit den sterblichen Überresten von Henry Morgan zurück. »Nun aber los, meine Herrschaften. Ich für meinen Teil bin für heute bedient.« In der Leichenhalle von Highgrove warteten Blake und Clancy direkt vor den Öfen. Fergus Coffin und ein Gehilfe schoben die Bahre mit der Leiche heran, die immer noch in dem schwarzen Leichensack steckte. Blake sagte: »Machen Sie ihn auf.« Coffin nickte. Sein Gehilfe zog den Reißverschluss auf, enthüllte den Kopf. Es war Henry Morgan. »Der sieht richtig friedlich aus«, bemerkte Blake. 22
»Selbstverständlich, Mr. Johnson«, erwiderte Coffin nicht ohne Stolz. »Das Sterben ist ein ernsthaftes Gewerbe, dem ich mein Leben gewidmet habe.« »Keine Fragen?« »Keine. Ich habe die direkte Anweisung des Präsidenten gesehen, aber da ist noch was anderes. Sie sind ein guter Mensch, Mr. Johnson. Das sagt mir mein Instinkt. Und Sie haben viel Kummer erfahren.« Blake, der sich an eine ermordete Ehefrau erinnerte, zuckte unmerklich zusammen. »Wie lange?«, fragte er. »Dank der neuesten Errungenschaft der Technik nur dreißig Minuten.« »Dann fangen Sie an. Schieben Sie ihn rein, aber ich muss es sehen.« Er hielt ihm das Videoband und die Formulare hin. »Und das auch.« Der andere Mann öffnete eine der Ofentüren, Coffin schob die Bahre nach vorn, Henry Morgan glitt hinein. Dann zog er die Bahre zurück, die Glastür wurde geschlossen, ein Knopf gedrückt. Unmittelbar darauf schossen in dem Ofen die Gasflammen in die Höhe, der Leichensack fing Feuer, ebenso das Videoband und die Papiere. »Wir warten«, raunte Blake Clancy zu und ging hinaus. Im Büro steckten sie sich eine Zigarette an. »Wollen Sie einen Kaffee?«, fragte Clancy. »Nicht in einer Million Jahren. Was ich jetzt vertragen könnte, wäre ein anständiger Drink, aber damit müssen wir wohl oder übel warten, bis wir im Flugzeug sitzen.« Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. »Sagen Sie, macht Ihnen das eigentlich noch was aus?« 23
»Clancy, ich bin für mein Land nach Vietnam in den Krieg gezogen, als ich noch sehr jung war und voller Ideale steckte. Und ich habe es nie wirklich bedauert. Jemand musste den Job ja erledigen. Jetzt, nach all diesen Jahren, liegen wir mit einer Welt im Krieg, die vom globalen Terrorismus regiert wird.« Er drückte seine Zigarette aus. »Und eines sage ich Ihnen, Clancy, ich werde alles tun, was notwendig ist. Ich habe meinem Präsidenten einen Eid geschworen, und für mich bedeutet das, dass ich mich auch meinem Land verpflichtet fühle.« Er setzte ein kleines Lächeln auf. »Haben Sie damit ein Problem?« Und Clancy Smith, einst der jüngste Sergeant Major im Marinecorps, lächelte zurück. »Nicht im Geringsten.« In diesem Moment ging die Tür auf. Coffin kam herein, in der Hand eine Urne. »Henry Morgan, drei Kilo Asche.« »Hervorragend«, sagte Blake. Clancy nahm die Urne an sich. »Vielen Dank«, fuhr Blake fort. »Und Sie können mir glauben, Mr. Coffin, wenn ich Ihnen sage, dass Sie noch nie etwas Wichtigeres getan haben.« »Ich nehme Sie beim Wort, Mr. Johnson.« Damit verließ Coffin das Büro. »Lassen Sie uns gehen«, sagte Blake. »Und nehmen Sie die Urne mit.« Es regnete immer noch in Strömen, als er voraus zum Parkplatz ging. Mit schnellen Schritten liefen sie zu ihrer Limousine, die neben einer Rabatte geparkt war, in der im Sommer Blumen blühten. Da erklärte Blake spontan: »Eigentlich wollte ich die Asche ja in die Toilette spülen, aber ich finde, wir sollten 24
den Gentleman etwas zivilisierter entsorgen. Damit tun wir gleichzeitig noch was für die nächstjährige Blumenpracht.« »Gute Idee.« Clancy schraubte den Deckel von der Urne und verstreute die Asche über dem Blumenbeet. »Biodünger nennt man das.« »Ist mir gleich, wie man das nennt. Nächstes Ziel – Washington. Nichts wie ab in den Flieger.«
WASHINGTON
2.
Die Wetterverhältnisse waren aufgrund einer vom Atlantik heranziehenden Kaltfront denkbar ungünstig, und dichter Nebel legte auf dem J.-F.-Kennedy-Airport den gesamten Flugbetrieb lahm. Blake und Clancy ertrugen das Unvermeidliche in einer der VIP-Lounges, dösten und warteten bis zum folgenden Morgen um sechs Uhr, als sie erfuhren, dass ihre Gulfstream soeben gelandet war. Auf dem Weg durch die Abflughalle murrte Clancy, sein Gepäck schleppend, säuerlich: »Mit der Romantik ist es in unserem Job auch vorbei. Ich glaube, ich habe sämtliche James-Bond-Filme gesehen, und Bond ist kein einziges Mal wegen schlechtem Wetter auf irgendeinem verdammten Flughafen festgesessen. Wir nennen eine Gulfstream unser Eigen, eines der erstklassigsten Flugzeuge der Welt, und kommen trotzdem nicht vom Fleck.« »Die Natur ist eben mächtiger als wir«, gab Blake ungerührt zurück. »Akzeptieren Sie das, und halten Sie den Mund. In fünfzehn Minuten sind wir in der Luft.« Tatsächlich befanden sie sich keine Viertelstunde später in zehntausend Meter Höhe. Die Maschine wurde von einer Airforce-Crew geflogen, und die junge Stewardess, die sich als Mary vorstellte, hatte den Rang eines Sergeants. »Was darf ich den Gentlemen bringen?« »Tja, mir ist sehr wohl bewusst, dass es erst halb sieben 29
Uhr morgens ist«, erklärte Blake, »aber angesichts der besonderen Umstände bin ich der Ansicht, dass ein Schluck Champagner dennoch angebracht wäre. Können Sie das organisieren?« »Ich glaube, das lässt sich machen«, flötete sie und verschwand mit einem hinreißenden Lächeln. »Wir haben uns wacker geschlagen«, sagte Clancy. »Wenn man bedenkt, dass der Präsident tot auf dem Gehsteig liegen könnte.« »Dass dem nicht so ist, verdanken wir in erster Linie Major Roper, der uns auf diesen Morgan hingewiesen hat. Aber eigentlich wollte ich ihn lebend kriegen, Clancy, um ihn so richtig auszuquetschen.« »Das war nicht Ihre Schuld, Blake. Wir haben keinen Fehler gemacht. Das mit dem Zyankali konnte ja keiner ahnen.« Sergeant Mary kehrte mit zwei Gläsern Champagner zurück, die sie ihr dankbar abnahmen. Blake prostete Clancy zu. »Dann wollen wir nur hoffen, dass der Präsident ebenfalls Ihrer Meinung ist.« Bei ihrer Ankunft in Washington goss es noch schlimmer als in New York. Eine Limousine wartete bereits, und sie wurden ohne warten zu müssen durch die Abfertigung geschleust. Wenig später befanden sie sich auf dem Weg über die Constitution Avenue zum Weißen Haus. Ungeachtet des Wetters hatte sich eine ansehnliche Menge Demonstranten vor dem Regierungssitz eingefunden, unter Regenschirmen verborgen und von der Polizei in Schach gehalten. 30
»Gegen welchen Krieg wird denn heute protestiert?«, scherzte Clancy. »Wer weiß das schon zu sagen. Heutzutage gibt es in beinahe jedem Land auf unserem Planeten irgendeine Art von Krieg. Fragen Sie mich nicht, Clancy. Mir kommt es beinahe so vor, als hätten sich manche Leute das Protestieren zum Beruf gemacht.« Der Chauffeur ließ die Sicherheitsscheibe herunter, die ihn vom Fahrgastraum trennte. »An den Haupteingang ist momentan etwas schwer ranzukommen, Mr. Johnson. Soll ich es am Osteingang versuchen?« »Von mir aus gern.« Sie bogen in die East Executive Avenue ab und hielten vor einem Tor an. Blake lehnte sich aus dem Fenster, und der Wachmann, der ihn sogleich erkannte, winkte sie durch. Der Osteingang wurde von den Mitarbeitern des Weißen Hauses gern benutzt, besonders wenn es galt, den Medien aus dem Weg zu gehen. Die Limousine rollte vor den Eingang, Blake und Clancy stiegen aus und gingen die Stufen hinauf. Ein junger Marineleutnant tat Dienst, und ein Agent vom Secret Service begrüßte sie herzlich. »Mr. Johnson, Clancy. Sie sehen etwas erledigt aus, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben.« »Fragen Sie nicht«, seufzte Blake. »Die halbe Nacht saßen wir wegen Nebels am J. F. K.-Airport fest, und der Präsident erwartet uns.« »Sie kennen den Weg, meine Herren, aber ich bringe Sie trotzdem gern hin. Ein bisschen Bewegung wird mir gut tun.«
31
Die Privatsekretärin des Präsidenten, eine liebenswürdige Frau in den Vierzigern, führte sie ins Oval Office, wo der Präsident in Hemdsärmeln an seinem Schreibtisch saß und sich durch einen Dokumentenstapel arbeitete, die Lesebrille vorne auf der Nasenspitze. Er sah hoch und lächelte. »Die Rückkehr der Helden. Haben Sie schon etwas gegessen?« »Ja, in aller Herrgottsfrühe am Kennedy Airport. Staubtrockene Rühreier mit Pommes, und das in der VIP-Lounge«, erwiderte Blake. Cazalet lachte und wandte sich an seine Sekretärin. »Mit Kaffee können wir uns selbst versorgen, Millie. Aber seien Sie doch bitte so freundlich, und fragen Sie den Koch, ob er so etwas Exotisches wie einen Teller mit Schinkensandwiches zubereiten kann.« »Selbstverständlich, Mr. President.« Nachdem sie sich zurückgezogen hatte, kam der Präsident sofort zur Sache: »Okay, Gentlemen, lassen Sie hören. Ich bin aufs Schlimmste gefasst.« »Das Schlimmste ist zum Glück nicht eingetreten, Mr. President. Geplant war nämlich, dass Morgan aus einem Fenster im ersten Stock des Gould & Co. auf Sie schießt, und zwar in dem Moment, wenn Sie vor Senator Harvey Blacks Stadthaus ausgestiegen wären, um mit ihm zu Abend zu essen.« »Die Einladung, die ich auf Ihren Rat hin vor einer Woche abgesagt habe. Sie erklärten damals, diese Angelegenheit ganz allein regeln zu wollen. Kein FBI, keine Polizei, kein Militär. Selbst der Chef vom Secret Service war 32
ausgeschlossen. Umso erstaunlicher, dass man Ihnen in dieser Angelegenheit Clancy zugebilligt hat.« »Ich war im Besitz einer persönlichen Verfügung von Ihnen, Mr. President«, warf Clancy ein. »Und dieser musste ich Folge leisten.« »Ich habe einen ganzen Stapel davon in meinem Safe liegen«, erklärte Blake. »Alle persönlich von Ihnen unterschrieben. Mr. President.« »Tatsächlich? Und Sie setzen nur einen Namen ein?« »Richtig, Mr. President. Sie wissen ja, wie das Basement arbeitet.« Während des Kalten Kriegs, als offenkundig wurde, dass die Kommunisten in alle Ebenen der Regierung eingeschleust wurden, hatte der damalige Präsident das Basement gegründet, eine kleine Gruppe, die ausschließlich seinem persönlichen Befehl unterstand. Und seit damals wurde diese Gruppe von jedem nachfolgenden Präsidenten übernommen. Sie war mit sein wertvollstes Kapital. Alle anderen Organisationen waren durch Regeln und Vorschriften gebunden, dem Rechtssystem unterstellt. Nicht so das Basement. Die Präsidentenverfügung öffnete alle Türen und Wege. Und Johnson besaß eine Liste von ehemaligen FBI- und Geheimdienstleuten, auf die er sofort zurückgreifen konnte. Zudem war er ermächtigt, sich jederzeit mit General Charles Ferguson in London kurzzuschließen, der für den britischen Premierminister eine ähnliche Gruppe leitete. »Ich bin tatsächlich berechtigt, für Sie zu töten«, fuhr Blake fort. »Zum Beispiel kann ich einen Kerl wie Morgan spurlos verschwinden lassen, aber nur, wenn ich al33
lein und nach eigenem Gutdünken arbeiten kann. Der Kampf gegen den Terrorismus kann nur gewonnen werden, wenn wir bereit sind, uns nach unseren eigenen Regeln dagegen zu wehren. Feuer mit Feuer bekämpfen.« »Und wo bleiben da die Gesetze?« »Schwer zu sagen. Die Al-Qaida-Leute hätten bestimmt eine eigene Antwort auf diese Frage. Ich weiß nur, dass wir keine Chance gegen sie haben, solange wir nicht Nägel mit Köpfen machen.« »Okay, ich verstehe, was Sie meinen. Erzählen Sie mir mehr über diese Morgan-Angelegenheit. Bisher sollte ich nicht zu viele Details wissen. Aber jetzt weihen Sie mich bitte ein.« »Es war eigentlich Major Roper, der mit der Sache zu mir kam.« »Ja, ich habe von ihm gehört. Der heldenhafte Bombenspezialist, der später im Rollstuhl landete.« »Und eine neue Karriere als Computerfachmann begann. Es gibt nichts im Cyberspace, das Roper nicht finden könnte. Doch seine spezielle Gabe besteht darin, neue Programme zu entwickeln, die es ermöglichen, in Sekundenschnelle auf Millionen von gespeicherten Fakten Zugriff zu haben. Nehmen wir zum Beispiel Ihren Abend mit Senator Black. Der Computer erstellt ein Bild von besagtem Stadthaus an der Park Avenue plus der angrenzenden und umgebenden Gebäude und Grundstücke. Dann erfasst er sämtliche Details dieser Gebäude, welche Firmen und Büros dort ansässig sind, was dort passiert, wer dort arbeitet und so weiter.« In diesem Augenblick kam Millie mit einem Tablett 34
herein. »Die Sandwiches sehen ganz genießbar aus, Millie. Ich glaube, ich nehme auch eins. Bitte, meine Herren, fangen Sie schon an, aber erzählen Sie dabei weiter, Blake. Was ist so speziell an Ropers Entwicklung? Meinen Sie nicht, dass unsere Leute das nicht auch zustande brächten?« »Ehrlich gesagt, nicht so perfekt wie er. Seine Programme zeigen zum Beispiel die ursprüngliche und später angenommene Staatsangehörigkeit von Personen auf, deren religiösen Background und Familiensituation. Sie erfahren, was Sie wollen, und das alles in Lichtgeschwindigkeit. Sein Programm erkennt sogar Anomalien, Dinge und Sachverhalte, die so nicht existieren dürften. Das bedeutet in etwa, dass sein Computer selbstständig denkt und Entscheidungen fällt, und noch dazu schneller, als sich das ein Mensch vorstellen kann.« »Nicht schlecht«, meinte Cazalet. »Nun ja. Um es kurz zu machen, dieser Computer hat alle Staatsangehörigkeiten der Leute ausgespuckt, die in der näheren Umgebung von Blacks Haus beschäftigt sind, und das waren nicht wenige. Einige von ihnen waren Engländer, und Roper, dessen Interesse geweckt war, ließ das Programm die Personalausweise, Reisepässe, Geburtsorte und Religionszugehörigkeiten vergleichen. In null Komma nichts stieß er auf einen gewissen Henry Morgan, der als Wachmann im Gould & Co, direkt gegenüber von Blacks Residenz, arbeitet. Ein Engländer, aber mit einer muslimischen Mutter.« »Tatsächlich. Ist das ungewöhnlich?« »Ungewöhnlich genug, um Roper bei der nächsten In35
fo sofort aufhorchen zu lassen: Morgan war außerdem ein hoch qualifizierter Pharmakologe mit Doktortitel, der auch an der London University lehrte und mit einem Touristenvisum in unser Land kam.« Es war Clancy, der die folgende Frage stellte: »Warum wohl verdingt sich ein so gelehrter Herr als Wachmann, Mr. President – und noch dazu mittels einer gefälschten Green Card?« »Auch das hat Roper herausgefunden.« »Heutzutage scheint es nichts Wissenswertes über eine Person zu geben, das nicht in irgendeiner Datei festgehalten ist«, bemerkte der Präsident. »Dann hat General Ferguson Ihnen also einen Tipp gegeben.« »Nein, da steckte noch mehr dahinter. Ferguson fand Ropers Entdeckung so interessant, dass er selbst auch ein wenig nachforschte. Er schickte seine Assistentin, Detective Superintendent Hannah Bernstein, Special Branch von Scotland Yard, mit dem Auftrag los, Morgans Londoner Adresse aufzusuchen. Sie fand heraus, dass seine Mutter seit fünf Jahren nach einem schweren Autounfall, der seinem Vater das Leben gekostet hatte, im Rollstuhl saß. Bernstein gab sich als Beraterin des Sozialamts aus, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Und hat tatsächlich einige interessante Details zutage gebracht.« »Als da wären?« »Die Mutter war von ihrer Familie enterbt worden, weil sie keinen Moslem geheiratet hatte. Der Sohn wurde im christlichen Glauben erzogen. Nach dem Unfall jedoch fand sie wieder zu ihrem eigenen Glauben, dem Islam, zurück. Ihr Sohn fuhr sie zur örtlichen Moschee, wo sie herz36
lich aufgenommen wurde. Und das wirklich Interessante war, dass sie sagte, ihr Sohn habe seit einiger Zeit den Islam für sich selbst entdeckt und bereitwillig angenommen.« Cazalet machte ein grimmiges Gesicht. »Scheint allmählich alles zusammenzupassen.« »Besonders als sie erzählte, ihr Sohn mache im Augenblick Urlaub in New York.« »Hat Ferguson schon weiter recherchiert?« »Nein, er wartet, dass er von uns hört.« Cazalet nickte. »Aha, anscheinend reiste Morgan auf jemandes Befehl bei uns ein.« »Genau. Eine Organisation in England mit Kontakten in New York.« »Warum haben Sie ihn nicht sofort verhaftet, nachdem Sie die Infos aus London hatten?« »Ich wollte sehen, wo das Ganze hinführt, und Charles Ferguson stimmte mit mir überein. Es erschien uns höchst unwahrscheinlich, dass wir es hier mit einem durchgeknallten Einzelgänger zu tun hatten, deshalb rechneten wir uns eine Chance aus, dass er uns zu seinem New Yorker Kontakt führen könnte.« »Nur ist das nicht passiert.« »In den wenigen Tagen seines Aufenthalts hier hat er sich mit keiner Menschenseele getroffen. Ich habe zwei alte Hasen vom FBI auf ihn angesetzt, als sich herausstellte, dass die Adresse, die er bei Icon Security angegeben hatte, falsch war. Er wohnte in einem kleinen Hotel; die beiden haben sich diskret Zugang zu seinem Zimmer verschafft, aber nichts gefunden. Keinen Ausweis, keinen Reisepass. Ich würde sagen, sämtliche Dokumente sind 37
vernichtet worden, wahrscheinlich auf Anordnung seiner Londoner Betreuer.« »Die ihn ganz offensichtlich am langen Arm verhungern lassen wollten.« »Ganz genau. Der Zyankalizahn macht die Aktion zu einem Selbstmordattentat. Morgan sollte nicht überleben.« »Okay, mir ist bewusst, dass hier einige Spekulationen im Spiel sind«, räumte Cazalet ein, »aber andererseits muss ich zugeben, dass sie einen Sinn ergeben. Bleibt nur noch das AK-47. Wie ist er an die Waffe herangekommen?« »In seinem Zimmer lag sie mit Sicherheit nicht«, erklärte Clancy. »Wir vermuten, dass sie jemand für ihn in einem Schließfach deponiert hatte, an irgendeinem Bahnhof oder einer Busstation.« »Und zwar die unbekannte Kontaktperson in New York«, warf Blake ein. »Im Vorhinein. Ihm wurde der Standort bekannt gegeben und der Schlüssel zugespielt. Gut, das ist nun wieder reine Spekulation, aber ich vermute, dass er die Tasche mit der Waffe erst auf dem Weg zur Arbeit abgeholt hat.« »Ja, wenn man die einzelnen Mosaiksteinchen zusammensetzt, ergeben sie tatsächlich ein Bild«, befand Cazalet. »Dieser Herr hätte einen interessanten Gefangenen abgegeben, aber jetzt ist er tot, und wir sitzen auf dem Trockenen.« Er legte die Stirn in Falten. »Mit Ausnahme von Ferguson und seinen Leuten.« »Da sind wir einer Meinung, Mr. President. Vielleicht lässt sich drüben in England mehr in Erfahrung bringen.« »Die Mutter«, schlug Cazalet vor. »Möglicherweise weiß die ja was.« 38
»Schwer zu sagen. Eine ältliche, behinderte Frau im Rollstuhl entspricht nicht gerade der Art von Kämpfern, die Al-Qaida rekrutieren würde«, meinte Blake zweifelnd. »Aber sie und ihr Sohn sind in der örtlichen Moschee mit offenen Armen empfangen worden.« »Dann sollten wir uns dort einmal umsehen.« Cazalet nickte zufrieden. »Ferguson ist unser Mann, der wird sich darum kümmern.« Jetzt lächelte er. »Nächste Haltestelle London, mein lieber Blake. Ich werde persönlich mit Ferguson sprechen und ihm jedwede Unterstützung zusichern.« »Und was ist mit meiner Wenigkeit, Mr. President?«, erkundigte sich Clancy. »Keine Chance. Sie brauche ich zu meinem Schutz hier an Ort und Stelle. Nachdem Sie einmal eine für mich bestimmte Kugel abgefangen haben, Clancy, betrachte ich Sie als meinen Schutzengel.« »Wie Sie wünschen, Mr, President.« Blake nahm den Faden wieder auf: »Ich möchte diese Angelegenheit gern ganz unauffällig handhaben. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, werde ich mit einer unserer Privatmaschinen nach London fliegen und den Fliegerhorst Farley Field außerhalb der Stadt benutzen, Fergusons Basis für diffizile Operationen.« »Unbedingt. Sagen Sie, wann Sie startbereit sind.« Er zögerte. »Als Sie mich baten, das Abendessen mit Senator Black abzusagen, haben Sie sich mit Erklärungen sehr bedeckt gehalten, und ich war zunächst etwas unsicher, was ich davon halten sollte. Aber zum Glück hatte ich genug Vertrauen in Sie.« 39
»Ich tue nur meine Arbeit, Mr. President.« Blake stand auf und ging zur Tür. »Und, Blake …«, rief ihm Cazalet hinterher. »Mr. President?« »Erledigen Sie sie. Wer immer die sein mögen, erledigen Sie sie.« »Darauf können Sie sich verlassen, Mr. President«, versicherte ihm Blake und verließ den Raum.
LONDON
3.
Pünktlich auf die Minute setzte die Gulfstream auf der Landebahn von Farley Field auf. Kurz darauf bedankte sich Blake bei der Crew, stieg aus und ging auf das Flughafengebäude zu, wobei er sich in alle Richtungen umsah. Eine Stimme rief: »He, Blake. Hier drüben.« Blake drehte sich um und sah einen Daimler direkt vor dem Eingang zum Kontrollturm stehen. Der Mann, der neben dem Wagen wartete, war keinen Meter siebzig groß und hatte helles, beinahe weißes Haar. Er trug eine alte Fliegerjacke aus Leder, dazu Jeans, und in seinem Mundwinkel klemmte eine Zigarette. Es war Sean Dillon, einst gefürchteter Aktivist der IRA und heute Fergusons rechte Hand. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. »Wie geht es Ihnen, mein irischer Freund?« »Viel besser, seit Sie hier sind. Ferguson lässt sich nicht lumpen, wie Sie sehen. Hat doch tatsächlich eine echte Staatskarosse für Sie hergeschickt.« Sie stiegen hinten ein, und der Chauffeur fuhr an. »Und, was macht die Kunst?« »Geht ganz schön heiß her, seit Fergusons Gespräch mit dem Präsidenten. Heilige Maria und Josef, das ging ja wirklich ruckzuck.« »Ach, Sie wissen doch, wie das ist, Sean. Ich weiß noch gut, wie Sie vor etlichen Jahren unseren früheren Präsidenten Clinton und den Premierminister auf dieser 43
Themsefahrt geschützt und als Lohn Ihrer Arbeit ein Messer im Rücken stecken hatten.« »Ja, von Norah Bell, diesem Miststück, die war brutaler als jeder Mann. Und es brauchte wiederum eine gestandene Frau wie Hannah Bernstein, um ihr eine tödliche Kugel zu verpassen.« »Ach ja, Hannah, wie geht es ihr?« »Bestens, wie immer. Wenn sie nicht für Ferguson arbeiten würde, hätte sie es bei Scotland Yard inzwischen sicherlich zum Chief Superintendant, wenn nicht mehr gebracht.« »Aber sie liebt euch alle viel zu sehr, um sich zu verändern?« »Blake, sie versucht immer noch nach Kräften, uns zu reformieren. Ihr Großvater ist Rabbi, wenn Sie sich erinnern. Sie lebt ganz nach den Moralvorstellungen ihrer Religion. Man hat sie schier in Stücke geschossen und ihr Leben auf alle erdenklichen Weisen verkürzt, doch sie kniet sich da hinein und versucht immer noch verbissen, Ferguson und mich in Schach zu halten.« »Was ihr aber nicht gelingt.« Das war eine Feststellung, keine Frage. »Blake«, wechselte Dillon das Thema, »die Welt geht vor die Hunde. Terrorismus, Al-Qaida, die ganze Scheiße nach dem elften September, das hat alles verändert. Und diese zerstörerischen Kräfte kann man nicht mit herkömmlicher Kriegsführung bekämpfen.« »Ganz meine Meinung.« Blake zuckte die Achseln. »Noch vor ein paar Jahren hätte ich so etwas nie gesagt, auch nicht angesichts dessen, was ich während meiner 44
Zeit zu tun gezwungen war. Für mich waren Gesetz, Gerechtigkeit und Anstand unverrückbare Werte. Aber die Leute, mit denen wir es heute zu tun haben – für die gibt es keine Regeln, und deshalb sehe auch ich mich nicht genötigt, mich an solche zu halten. Ich werde sie töten, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet.« »Sie sind ein guter Mann. Ich stimme Ihnen hundertprozentig zu.« Dillon zündete sich eine weitere Zigarette an. »Ich spreche Arabisch, das wissen Sie, und habe einige Zeit im Mittleren Osten verbracht. Hab sogar in den alten Tagen, als ich noch ein böser Bube war, für die PLO gearbeitet und wage zu behaupten, die arabische Denkweise ein wenig zu verstehen. Die meisten Muslime in den Vereinigten Staaten oder in England sind anständige Leute, die sich um ihre Arbeit und ihre Familie kümmern, doch es gibt eben auch solche, die politisch anders motiviert sind, und mit denen fertig zu werden, ist ein Problem.« »Nehmen wir Morgan. Englischer Vater, Mutter Muslimin, als Christ aufgewachsen«, sagte Blake. »Ich weiß, was mit seinen Eltern passiert ist, dass seine Mutter sich wieder dem Islam zuwandte und auch Morgan zum Islam gefunden hatte. Was aber hat ihn zu einem Attentäter gemacht, der versuchte, den Präsidenten zu ermorden?« »Das herauszufinden, dazu sind Sie hier«, erwiderte Dillon. »Ferguson, Hannah und Roper warten am Cavendish Place auf Sie, um sich mit Ihnen zu beraten.« Die Botschaft der Russischen Föderation liegt in Kensington Palace Gardens, und es herrschte das typische regnerische Novemberwetter, als Greta Novikova durch das 45
Haupttor nach draußen trat, an der Bordsteinkante stehen blieb und wartete, bis sich eine Lücke im Verkehr auftat. Sie war eine zierliche junge Frau, unverkennbar slawischer Herkunft, mit schwarzem schulterlangem Haar, dunklen, eindringlichen Augen und hohen Wangenknochen. Über einem schwarzen Armani-Kostüm trug sie einen Mantel aus weichem schwarzem Leder, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Eine Frau, nach der man sich unwillkürlich umdrehte. Offiziell bekleidete sie an der Botschaft das Amt des Handelsattachés und besaß dafür auch die entsprechenden Qualifikationen. In Wirklichkeit besaß sie mit ihren fünfunddreißig Jahren jedoch den Rang eines Majors der GRU, dem Geheimdienst des russischen Militärs. Sie überquerte die Straße und betrat das Pub gegenüber. Kurz vor Mittag herrschte dort nicht viel Betrieb, doch der Mann, den sie suchte, saß am äußersten Ende der Bar in der Fensternische und las die Times. Er war knapp eins achtzig groß, dunkler Anzug, Trenchcoat, kurz geschorene Haare. Von seinem linken Auge lief eine Narbe zum linken Mundwinkel. Kalte, wachsame Augen dominierten ein markantes Gesicht. Das Gesicht eines Soldaten, der er in gewisser Weise gewesen war. Heute fünfundvierzig Jahre alt, war er mit zwanzig dem KGB beigetreten und hatte es bis zum Major gebracht, nach seinen Einsätzen in Afghanistan, der Tschechoslowakei und im damaligen Irak – er hatte alles gesehen. Sein Name war Yuri Ashimov. Er erhob sich, küsste sie auf beide Wangen und sprach 46
sie auf Russisch an: »Greta, du siehst noch hübscher aus als beim letzten Mal. Möchtest du einen Drink?« »Gern, ich trinke einen Wodka mit dir.« Er ging zur Bar, bestellte zwei Wodka, trug sie an ihren Tisch, setzte sich wieder, kramte ein Päckchen russische Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. »So, nachdem in New York nichts ungebührlich Spektakuläres passiert ist, musst du eine Story für mich haben.« »Bedaure«, erwiderte sie. »Ach, komm schon, Greta, die GRU schaukelt doch alle arabischen und muslimischen Angelegenheiten.« »Das ist ja der Punkt. Es ist nichts passiert. Der Präsident hat seine Verabredung mit Senator Black nicht eingehalten. Nach dem Empfang im Pierre ist er schnurstracks nach Washington zurückgeflogen.« »Und Morgan?« »Der hat sich wie abgesprochen bei Gould & Co. gemeldet. Einer unserer New Yorker Verbindungsleute hat das bestätigt. Das einzig Ungewöhnliche war das Auftauchen eines Sanitätswagens in der Tiefgarage.« »Ist unser Mann dem Notarztwagen gefolgt?« »Nein, das hat er nicht für klug gehalten.« »Das will ich doch verdammt noch mal gehofft haben. Die Sache stinkt nämlich zum Himmel.« »Dann glaubst du also, dass sie ihn gefasst haben?« »Klingt so, ja. Aber wenn, dann werden sie keinen großen Wind darum machen, und uns betrifft das ohnehin nicht. Es gab keinerlei direkten Kontakt.« Greta nickte. »Ich denke, die ziehen es vor, ihn lebend 47
zu fassen, um zu hören, was er zu sagen hat. Andererseits sind unsere amerikanischen Freunde heutzutage recht schnell mit dem Finger am Abzug, und Morgan hatte diesen Zyankalizahn.« »Ob tot oder lebendig, in die Schlagzeilen kommt die Sache auf keinen Fall. Was ist mit seiner Mutter?« »Die habe ich gestern angerufen, wie du vorgeschlagen hast. Habe Blumen und einen Früchtekorb mitgebracht, angeblich von Freunden aus der Moschee.« »Und, wie war sie?« »Schwach – leicht konfus wie üblich. Hat geschwärmt, dass die Leute in der Moschee so nett seien und Dr. Selim ein Engel. Außerdem hat sie erwähnt, dass jemand vom Sozialamt sie besucht hat. Eine Frau, wie sie sagt.« Ashimov runzelte skeptisch die Stirn. »Warum sollte sich das Sozialamt um sie kümmern?« »Weil sie behindert ist, vielleicht.« »Unsinn. Ihr Sohn verdient genug. Warum dann das Sozialamt?« Er schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht. Hat sie was gesagt, dass die Frau wiederkommen wollte?« »Nein, nicht dass ich wüsste.« »Bleib dran, Greta. Für alle Fälle. Falls noch mal jemand auftaucht, möchte ich ein Foto haben. Ich hab ein Gespür für so was.« »Genau aus diesem Grund weilst du noch auf Mutter Erde, Liebling.« »Das ist wahr. Aber hier stimmt was nicht. Und wir werden herausfinden, was das ist.«
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Dillon und Blake wurden von Kim, dem ehemaligen Gurkha-Soldaten und heutigen Diener des Generals in die Residenz am Cavendish Place eingelassen und fanden Ferguson, Hannah Bernstein und Roper im Salon. Ferguson war in den Sechzigern, ein großer, etwas ungepflegt wirkender Mann, der einen zerknitterten Anzug und eine Krawatte des Garderegiments trug. Hannah Bernstein war Anfang dreißig mit roter Kurzhaarfrisur und Hornbrille. Ihr Hosenanzug von Armani hatte um einiges mehr gekostet, als es ein Polizistengehalt erlaubte. Major Roper saß in einem elektrischen Rollstuhl, sein langes Haar reichte ihm bis zum Kragen seiner Matrosenjacke, und sein Gesicht war die beinahe reglose Maske schwerer Verbrennungsnarben – eine Explosion hatte seine Karriere beendet. »Hier ist er, der Mann der Stunde«, sagte Dillon. »Ich bin sicher, er wird uns kein Detail vorenthalten.« Was Blake auch nicht tat, als er die kleine Gruppe über die Vorfälle in Manhattan informierte. »So war das«, beendete Blake seinen Bericht. »Was die Art der Entsorgung angeht, so muss ich mich bei Ihnen entschuldigen, General. Wir haben es heutzutage mit einer neuen Form des Krieges zu tun, obgleich mir sehr wohl bewusst ist, dass ich Hannahs moralische Prinzipien damit über Gebühr strapaziert habe.« »Strapaziert oder nicht, unsere Superintendant arbeitet für unsere Abteilung und untersteht dem Amtsgeheimnis. Das ist doch so, oder?« Ferguson sah Hannah eindringlich an. Hannah, die etwas verlegen wirkte, nickte. »Selbstverständlich, Sir.« 49
»Gut. Dann erzählen Sie uns doch bitte etwas über Mrs. Morgan.« »Sie ist fünfundsechzig, wirkt aber um einiges älter. Es ist mir gelungen, an ihre Krankengeschichte zu kommen, und die sieht nicht gut aus. Den Autounfall, der ihrem Mann das Leben kostete, hätte auch sie beinahe nicht überlebt. Ist nur knapp einer Querschnittslähmung entkommen, aber sie hat Geld. Ihr Mann besaß eine Apotheke, die nach seinem Tod verkauft wurde, und es gab eine Lebensversicherung. Sie ist also bestens versorgt.« »Weiter.« »Ihre Familie enterbte sie, als sie einen Christen heiratete, aber inzwischen ist sie zum Islam zurückgekehrt, wie Sie wissen. Ihr Sohn fuhr sie seitdem häufig im Rollstuhl zu der Moschee an der Queen Street, die vorher eine Methodistenkirche war.« »Und er, ist er auch konvertiert?« »Allem Anschein nach ja.« »Das ist ja wirklich interessant«, warf Blake ein. »Ein hoch gebildeter Mann, der dreißig Jahre lang das Leben eines englischen Akademikers lebte und sich dann urplötzlich dem Glauben zuwendete, den er zuvor für sich nicht akzeptierte.« »Und der dann in Manhattan auftaucht, um den Präsidenten umzubringen«, setzte Dillon hinzu. »Was mich zu der Frage führt, was in dieser Moschee an der Queen Street eigentlich vor sich geht«, spann Blake den Faden weiter. »Manche dieser Gotteshäuser sind Brutstätten von Intrigen und falsch verstandenen Ideen. Zwar haben wir Saddam schließlich doch im Irak gefasst, aber 50
wie lange ist das her, und wie viele Terroranschläge hat es seither gegeben?« »In seiner letzten Rede sprach Bin Laden von seinen jungen Extremisten als ›Gotteskrieger‹«, schaltete Ferguson sich ein. »Was uns Sorgen macht, ist die Tatsache, dass junge Männer aus unserem Land darunter sein könnten. Was Orte wie diese Moschee an der Queen Street natürlich besonders interessant macht.« Hannah meinte: »Wenn Sie nach Selbstmordattentätern suchen, dann sind Sie dort wahrscheinlich an der falschen Adresse.« Sie schlug einen Schnellhefter auf und reichte ihn weiter. »Dr. Ali Selim, der Imam. Fünfundvierzig, geboren in London, Vater Arzt aus dem Irak, der den Jungen auf die St. Paul’s School schickte, eine unserer besseren Schulen. Selim ging nach Cambridge, studierte Arabisch und machte später seinen Doktor in Vergleichender Theologie.« Blake studierte die Akte, besonders das Foto. »Beeindruckend. Mir gefällt der Bart.« Er reichte die Akte weiter. »Er ist Mitglied des Muslimischen Rats, Vorsitzender des Londoner Interfaith Committee und einer Vielzahl anderer Ämter. Und jeder, mit dem ich gesprochen habe, schwärmt von diesem wunderbaren Mann.« »Vielleicht ist er zu wunderbar«, meinte Dillon. »Ich habe bei der örtlichen Polizeistelle nachgefragt. Nicht der geringste Vorfall in dieser Moschee.« Es folgte eine Pause, während der sich Ferguson an Roper wandte. »Haben Sie irgendeine Idee, Major?« »Ich kann nur mit Fakten, Meinungen und Vermutun51
gen aufwarten. Solange ich keinen Anhaltspunkt habe, kann ich Ihnen nicht helfen.« »Gut, damit kann ich dienen«, erwiderte Blake. »Und Sie sollen wissen, dass ich aufs Höchste gespannt bin. Sagt Ihnen ›Allahs Zorn‹ etwas?« »Sollte es?« »Als Clancy und ich Morgan gegenüberstanden, Sekunden bevor er die Zyankalikapsel zerbiss, zischte er: ›Hüten Sie sich vor Allahs Zorn.‹« Roper legte die Stirn in Falten und schüttelte ratlos den Kopf. »Nein, da klingelt vorerst nichts bei mir, aber ich werde meinen Computer zurate ziehen.« »So, die nächsten Schritte sind also klar«, befand Ferguson. »Ich denke, dass Sie, Superintendent, sich als Dame vom Sozialamt noch einmal mit Mrs. Morgan unterhalten sollten.« Hannah war davon sichtlich nicht begeistert und zeigte das auch. »Das ist nicht ganz einfach, Sir. Immerhin ist ihr Sohn tot, und sie weiß es nicht einmal.« »Oh, da kann Abhilfe geschaffen werden, Superintendent. Es ist eine außergewöhnliche Situation, da stimme ich Ihnen zu, aber wenn ich andererseits die Schwere der Tat betrachte, die Morgan begehen wollte, denke ich doch, dass uns jedes Mittel recht sein dürfte, der Mutter eine glaubhafte Erklärung zu liefern. Also, kümmern Sie sich darum, und stützen Sie sich dabei auf Dillon. Seine Kenntnis der arabischen Sprache könnte sich als nutzbringend erweisen.« Nun richtete er den Blick auf Blake. »Wir setzen Roper zu Hause ab und fahren dann weiter ins Verteidigungsministerium, wo ich Ihnen alles zeigen kann, 52
was wir über muslimische Aktivitäten im Vereinigten Königreich gespeichert haben.« »Das passt mir prima«, sagte Blake. Ferguson wandte sich an die anderen: »Also schön, Leute, auf uns wartet eine Menge Arbeit. Fangen wir an.« Greta und Ashimov verließen das Pub an der Kensington High Street, gingen über die Straße zur Botschaft und stiegen in den dort geparkten dunkelblauen Opel. Sie griff ins Handschuhfach, in dem eine Digitalkamera lag. »Hervorragend«, befand er. »Du kannst mich bei meiner Wohnung in der Monk Street absetzen, und wir bleiben über dein Handy in Verbindung. Ich möchte über alles Wichtige umgehend Bescheid wissen.« »Selbstverständlich.« Sie fädelte den Wagen in den fließenden Verkehr ein. »Wo steckt Belov eigentlich im Moment?« »Der gute Josef weilt in Genf. Alle diese Millionen, meine Liebe, halten ihn anständig auf Trab.« In seiner Stimme schwang ein Hauch Bitterkeit mit. »Ach, komm schon«, meinte sie. »Geld ist Macht, und das gefällt dir, und für Josef zu arbeiten, bedeutet nahezu uneingeschränkte Macht, und das gefällt dir ebenfalls.« »Nur bis zu einem gewissen Punkt.« Sie bog in die Monk Street ein und hielt den Wagen an. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass die alten Zeiten besser waren, Greta«, überlegte Ashimov. »Afghanistan. Tschechoslowakei, Irak. Mal wieder Schießpulver um die Nase zu haben«, beinahe wehmütig schüttelte er den Kopf, »das wäre einfach herrlich.« 53
»Du musst völlig übergeschnappt sein«, beschied sie ihm. »Sehr gut möglich.« Er tätschelte ihr seidenbestrumpftes Knie. »Du bist ein nettes Mädchen. Also schieb ab, und tu, wofür Belov dich bezahlt. Sieh zu, dass du dieser Mrs. Morgan noch ein paar Fakten aus der Nase ziehst, aber halte deine Leute von der GRU bei Laune.« Er stieg aus dem Opel und ging davon. Der dichte Verkehr auf der Wapping High Street hielt sie ein bisschen auf, aber schließlich fand sie die Chandler Street. Sie führte hinunter zur Themse. Am Straßenrand parkten jede Menge Autos, die ihr gute Deckung boten. Sie fand eine Parklücke, stellte den Motor ab und machte es sich mit der Kamera in der Hand bequem. Nummer dreizehn, das hatte sie bei der Durchsicht der Akten amüsiert, ein altes viktorianisches Terrassenhaus. Sie saß da, schaute die Straße hinunter bis zu dem Lebensmittelgeschäft an der Ecke gegenüber vom Fluss. Es war niemand unterwegs, keine Menschenseele. Es begann wieder zu regnen. Kurz darauf tauchte ein roter Mini auf der anderen Straßenseite auf, dem Hannah Bernstein und Sean Dillon entstiegen. Hannah drückte auf den Klingelknopf. Die beiden warteten. Dann, nach einer Weile, hörten sie ein Geräusch. Die Tür öffnete sich ein wenig, von einer Kette gehalten, und Mrs. Morgan spähte misstrauisch durch den Spalt. Sie sah alt und verbraucht aus, genau wie Hannah sie beschrieben hatte. Ihr Gesicht war von einem Schal verhüllt, wie ihn die meisten Muslimfrauen trugen. Ihre Stimme war beinahe ein Flüstern. 54
»Was wollen Sie?« »Ich bin’s, Mrs. Morgan, Miss Bernstein vom Sozialamt. Ich dachte mir, ich schau mal kurz bei Ihnen vorbei.« »Oh, ja.« »Das hier ist Mr. Dillon, mein Vorgesetzter. Dürfen wir hereinkommen?« »Einen Moment bitte.« Sie schloss die Tür, hakte die Vorlegekette aus und machte sie wieder auf. Als sie eintraten, drehte Mrs. Morgan sich mit ihrem Rollstuhl um und fuhr ihnen voraus. All das hatte Greta mit ihrer Digitalkamera festgehalten. Die Luft in dem kleinen Wohnzimmer war stickig und roch nach Moschus, ein merkwürdiger, unangenehmer Geruch, der fremd und irgendwie unpassend wirkte. »Wir waren zufällig hier in der Nähe, Mrs. Morgan«, begann Hannah, »und da wollte ich nur mal auf einen Sprung bei Ihnen vorbei schauen.« Dillon war etwas direkter. »Wie ich gehört habe, Mrs. Morgan, ist Ihr Sohn gerade in New York. Haben Sie etwas von ihm gehört?« Ihre Stimme war sehr leise, und sie hüstelte. »Ach, der ist viel zu beschäftigt. Aber er ruft mich bestimmt an, sobald er Zeit hat.« Hannah funkelte Dillon wütend an. Er nickte, und sie fuhr widerstrebend fort: »Haben Sie Dr. Selim kürzlich getroffen?« »Aber ja doch, in der Moschee. Wenn mein Sohn unterwegs ist, schickt mir Dr. Selim immer einen jungen Mann, der mich in die Queen Street bringt. Das ist nicht 55
weit. Er ist ein guter Mensch, dieser Dr. Selim, der uns so viel geholfen hat, vor allem meinem Henry und mir, dass wir unseren Glauben für uns entdecken konnten.« Hannah kam sich schrecklich niederträchtig vor. »Das tut Ihnen gewiss sehr gut.« »Ja, er hat schon zwei- oder dreimal angerufen, seit Henry mit seinem Freund unterwegs ist.« Es entstand eine Pause. Sie atmete schwer. In das Schweigen hinein fragte Dillon: »Und wer ist das?« »An den Namen kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Irgendetwas Russisches, glaube ich. Der arme Mann hatte eine schreckliche Narbe, die von seinem Auge bis hinunter zum Mundwinkel reichte.« Daraufhin sagte Dillon auf Arabisch und mit strenger Stimme: »Hast du mir alles erzählt, alte Frau? Schwörst du es, so wie Allah es befiehlt?« Sie machte ein ängstliches Gesicht und antwortete ebenfalls auf Arabisch: »Mehr weiß ich nicht. Ich kenne seinen Namen nicht. Mein Sohn sagte, er sei ein russischer Freund. Das ist alles.« Dillon lächelte, sah plötzlich hinreißend charmant aus und küsste die alte Mrs. Morgan auf die Stirn. »Auf Wiedersehen, meine Liebe.« Damit drehte er sich um und ging Hannah voraus zur Tür. Draußen fauchte Hannah ihn an: »Was bist du nur für ein Mistkerl! Was hast du zu ihr gesagt?« »Wollte nur sichergehen, dass sie die Wahrheit sagt.« »Okay, lass uns gehen.« »Ich bin noch nicht fertig, Hannah.« Er nickte mit dem 56
Kinn in Richtung des kleinen Ladens an der Ecke. »Komm, wir hören uns dort mal um. Dieser russische Wohltäter mit der Narbe interessiert mich. Vielleicht kennt man ihn dort ja.« Während sie die Straße entlang zu dem kleinen Geschäft gingen, wendete Greta hinter ihnen ihren Wagen und fuhr davon. Auf dem Türschild stand M. PATEL. Dillon nickte zufrieden. »Inder, das ist gut.« »Warum ist das gut?«, wollte Hannah wissen. »Weil die schlau sind und sich zu benehmen wissen. Sie wollen Geld verdienen und nicht auffallen. Mal sehen, was dieser Mr. Patel zu sagen hat. Und zeig ihm deinen Ausweis.« Der Laden war sauber und ordentlich, und es gab von allem ein bisschen. Der Inder hinter der Theke, hemdsärmelig und um die fünfzig, las den Evening Standard. Er sah hoch, lächelte, betrachtete die beiden Fremden genauer und knipste das Lächeln wieder aus. »Kann ich Ihnen helfen?« Hannah zog ihren Ausweis hervor. »Detective Superintendent Bernstein, Staatssicherheitspolizei. Mr. Dillon hier ist mein Kollege. Wir sind mit Ermittlungen beschäftigt, die eine gewisse Mrs. Morgan einschließen, die hier in dieser Straße wohnt. Kennen Sie sie?« »Selbstverständlich.« »Ihr Sohn ist im Moment auf Reisen«, sagte Dillon. »In New York, richtig?« »Ja, das hat sie mir erzählt. Aber was ist denn passiert?« »Kein Grund zur Sorge, Mr. Patel, es ist alles in bester 57
Ordnung. Mrs. Morgan ist mit einem Dr. Ali Selim befreundet. Wissen Sie, wer das ist?« Schlagartig veränderte sich Patels Miene. »Ja.« »Und Sie mögen ihn nicht.« Dillon lächelte. »Die alte Hindu-Moslem-Geschichte, nicht wahr? Na, ist auch egal. Manchmal hat er einen Freund dabei, wenn er Mrs. Morgan besucht. Der hat eine hässliche Narbe im Gesicht, vom Auge bis zum Mundwinkel. Sie glaubt, dass er Russe ist.« »Da hat sie Recht. Er ist Russe. Hat mitunter hier bei mir Zigaretten gekauft. Selim, der Araber, nennt ihn Yuri. Die beiden waren erst gestern hier.« Hannah warf einen Blick hinauf zu der Videokamera. »War die eingeschaltet?« Patel nickte. »Ich hatte viel zu tun. Als das Band zu Ende war, habe ich es nicht zurückgespult, sondern die Kassette herausgenommen und eine neue eingelegt.« »Gut«, meinte Dillon. »Ich bin sicher, Sie haben einen Fernseher im Hinterzimmer stehen. Geben Sie uns das Band, dann lassen wir es mal zurücklaufen.« Patel zeigte sich kooperationsbereit, schloss seinen Laden für eine Weile und ließ das Band für die beiden durchlaufen. An einer Stelle hielt er es an. »Da sind sie.« Hannah und Dillon sahen genauer hin. »Das ist er also«, murmelte Dillon. »Der Russe.« »Ja. Und mir fällt gerade noch etwas ein«, sagte Patel eifrig. »Eines Tages kam er allein in mein Geschäft, und da klingelte sein Handy. Er hat sich mit ›Ashimov‹ gemeldet.« 58
»Sind Sie sich da ganz sicher?«, erkundigte sich Hannah. »So hat es sich jedenfalls angehört.« »Sie sind ein guter Mann«, sagte Dillon. »Sie haben uns sehr geholfen.« Patel zögerte. »Sagen Sie, steckt Mrs. Morgan in Schwierigkeiten? Sie ist zwar nicht mehr sonderlich fit, aber eine sehr nette Frau.« »Keine Sorge«, sagte Hannah. »Wir stellen nur ein paar Ermittlungen an.« »Was das bei Leuten wie Ihnen heißt, weiß ich nur zu gut.« Dillon klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Keine Angst, mein Sohn. Wir sind die guten Jungs.« Sie verließen den Laden und gingen zurück zu ihrem Mini. »Yuri Ashimov«, überlegte Hannah laut. »Interessant.« »Komm, lass uns sehen, was Roper damit anfangen kann«, schlug Dillon vor. In der Monk Street schloss Greta ihre Kamera an Ashimovs Computer an und zeigte ihm die Aufnahmen von Dillon und Hannah. »Bitte sehr. Die Tante vom Sozialamt, nehme ich an. Wer der Kerl ist, weiß ich nicht.« Ashimov stieß einen unterdrückten Fluch aus. »Aber ich. Gütiger Himmel, Greta, da bist du aber auf was gestoßen.« »Was zum Teufel soll das heißen?« »Letztes Jahr, als Baron von Berger von Berger International bei diesem Flugzeugabsturz ums Leben kam und 59
Belov dessen Ölkonzessionen übernahm und mich zum Verantwortlichen der Sicherheitsabteilung machte, da habe ich in den früheren Berichten von Berger International herumgestöbert. Hast du gewusst, dass Berger einen beinahe offenen Krieg gegen einen Mann namens Charles Ferguson führte? Hast du den Namen schon einmal gehört?« »Natürlich«, gab Greta zurück. »Er leitet diese Spezialeinheit des Premierministers, Special Branch wird sie genannt.« »Eins mit Stern, Greta.« Ashimov deutete auf das letzte Foto auf dem Bildschirm. »Das ist Detective Superintendent Hanah Bernstein, Fergusons Assistentin.« »Gütiger Himmel«, stöhnte Greta. Ashimov klickte zu Dillon. »Und dieser freundliche Herr – der hat es wirklich faustdick hinter den Ohren. Sean Dillon, Fergusons starke rechte Hand und früher einmal Top-Aktivist der provisorischen Irisch-Republikanischen Armee. Mehr als zwanzig Jahre lang gelang es weder der britischen Armee noch der RUC, dieses Mannes habhaft zu werden.« »Und jetzt arbeitet er für den Premierminister? Das ist doch nicht zu fassen!« »Ach, das ist typisch für die Briten. Die nehmen, was sie kriegen können.« »Und, was heißt das für uns?« »Dass Fergusons Elitetruppe diese Mrs. Morgan durchleuchtet, deren Sohn angeblich ein Attentat auf Präsident Jake Cazalet in New York geplant hatte und jetzt anscheinend verschwunden ist. Oder würdest du das Auftauchen 60
von Dillon und Bernstein an ihrer Haustür als Zufall bezeichnen?« »Nein, gewiss nicht. Was hast du vor?« »Ich werde Dr. Ali Selim in Kenntnis setzen. Wir ziehen es von der Seite auf. Ich zeige ihm die Fotos.« »Und Belov?« »Der überlässt derartige Dinge meinem Gutdünken, doch ich werde ihn selbstverständlich auf dem Laufenden halten.« Er lächelte. »Um so etwas kümmert er sich gar nicht, Greta, meine Liebe, das musst du verstehen. Das gilt auch für Operationen an der Oberfläche – da bin ich der Boss.« Sein Lächeln floss in die Breite, als er sie auf die Wange küsste. »Vertrau mir nur.« Kurz darauf stand er auf einem alten Anlegesteg, gleich um die Ecke von der Queen Street Moschee und schaute über den Fluss. An das Geländer gelehnt, rauchte er eine Zigarette, genoss den herrlichen Ausblick auf die Landschaft und die vorbeigleitenden Schiffe. Er musste nicht lange warten, bis Selim auftauchte. Der Doktor hatte ein angenehmes Äußeres, obgleich der Vollbart viel von seinem Gesicht verbarg. Er trug einen eleganten BurberryTrenchcoat und hielt den Schirm schräg gegen den Regen. »Yuri, mein Freund.« Er lächelte. »Sie sagten, es sei dringend. Warum haben Sie mich nicht in meinem Büro in der Moschee angerufen?« »Nicht noch einmal«, gab Ashimov zurück. »Ich habe Neuigkeiten für Sie. Die Reise von unserem Freund Morgan nach New York hat allem Anschein nach in ein schwarzes Loch geführt.« 61
»Wie schade«, erwiderte Selim ungerührt. Ashimov erzählte ihm, was er wusste. Anschließend sagte Selim: »Es ist aber nicht sicher, dass er ein böses Ende gefunden hat, das ist doch nur reine Spekulation.« »Ali, mein lieber Freund, wenn Fergusons Truppe da mitgemischt hat, besonders dieser Dillon, dann wäre ich mir da sehr sicher.« »Mir scheint, Sie halten diesen Dillon für jemand Außergewöhnlichen.« »Ja, und das aus gutem Grund. Dieser Mann hat viele Fähigkeiten. Er ist ein erfahrener Pilot und studierter Linguist, der unter anderem fließend Russisch und Arabisch spricht.« »Das werde ich mir merken.« »Abgesehen von seinen Jahren bei der IRA hat er als Söldner für die PLO gekämpft und damals im Libanon für die Israelis.« Ashimov zündete sich eine Zigarette an. »Dieser Mann tötet auf Knopfdruck.« »Mag sein, aber ich bin mir sicher, dass er in einer regnerischen Nacht in einer einsamen Straße genauso anfällig für ein Messer zwischen den Rippen ist wie jeder andere auch.« »Mein lieber Ali«, sagte Ashimov mit einem großmütigen Lächeln. »Wenn Sie das wirklich glauben, begehen sie den größten Fehler Ihres Lebens.« Darauf meinte Selim: »Und was wird mit Mrs. Morgan? Wenn die bei ihr herumschnüffeln, könnte sie unter Umständen etwas Falsches sagen.« »Ach, ich weiß nicht. Sie ist eine altersschwache Frau, 62
sitzt im Rollstuhl und besitzt fast keine Stimme mehr. Was sollte sie ihnen schon erzählen? Dass sie eine Frau ist, die nach dem Tod ihres Gatten zum islamischen Glauben zurückgefunden hat, genau wie ihr Sohn, was sie in ihrem Kummer tröstet? Würden Sie als ihr Imam dem zustimmen?« »Fraglos.« »Genau, und Sie sind ein angesehener Mann mit einem makellosen Leumund. Was immer ihrem Sohn zugestoßen sein mag, hat nichts mit Ihrer Person zu tun. Sie sind zu wichtig, Ali, deshalb halten wir Sie aus der Sache raus. Immerhin saßen Sie letzte Woche sogar in einem Komitee im Unterhaus. Was könnte noch respektabler sein? Nein, mein Freund, Sie sind ein bedeutender Aktivposten.« »Den man nicht gern verliert«, setzte Selim hinzu. »Aber lose Enden bleiben lose Enden. Falls Mrs. Morgan zufällig unsere beiden Namen in einem Atemzug nennt, werden die anderen schnell herausfinden, wer Sie sind. Der Mann, der für Belovs Sicherheit zuständig ist.« Ashimov seufzte vernehmlich. »Also schön, überlassen Sie nur alles mir. Aber jetzt sollten wir uns trennen. Wir bleiben in Verbindung.« Selim zögerte noch. »Morgan war ein Gotteskrieger. Sollte das Schlimmste eingetreten sein, wäre er außerdem ein echter Märtyrer.« »Heben Sie sich diesen Blödsinn für die jungen Narren in der Moschee auf, diese Zorn-Allahs-Fanatiker. Und jetzt verschwinden Sie.« Selim ging, und Ashimov blieb auf dem Anlegesteg zurück und dachte noch einmal über alles nach. Vielleicht 63
hatte Selim doch Recht gehabt. Aus welchem Grund hätten Bernstein und Dillon die alte Frau sonst aufsuchen sollen? Vorsicht ist die Mutter der Weisheit, dachte er. Nach einem letzten Blick über die Themse schlug er seinen Kragen gegen den Regen hoch und machte sich auf den Weg in die Chandler Street, wo er bei Hausnummer dreizehn klingelte. Es dauerte eine Weile, bis die Tür sich eine Handbreit öffnete, und ihr Gesicht über der Kette hervorlugte. »Ich bin’s, Mr. Ashimov«, sagte er. »Der Freund von Dr. Selim. Er hat mich gebeten, bei Ihnen vorbeizuschauen und Sie zu fragen, ob Sie vielleicht die Moschee besuchen wollen.« »Das ist sehr nett von ihm«, sagte sie. »Tatsächlich hatte ich vor, ein bisschen später in die Moschee zu gehen.« »Warum nicht jetzt, wo ich doch schon mal da bin? Es wäre doch viel bequemer für Sie, wenn ich Sie schiebe«, beharrte er. »Nehmen Sie einen Schirm mit. Es regnet.« Sie machte die Tür zu, hakte die Kette aus und öffnete sie wieder, um Ashimov eintreten zu lassen. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Er nahm Mantel und Hut von der Garderobe und half ihr beim Anziehen. »Jetzt fehlt nur noch der Schirm. Auch den fand er an der Garderobe und reichte ihn ihr.« »Sehr freundlich«, sagte sie. »Aber nicht doch. Haben Sie Ihren Schlüssel?« »Ja.« »Sie hatten heute Nachmittag Besuch. Eine Dame vom Sozialamt.« 64
»Ach ja?« Sie zog die Stirn in Falten. »Ich kann mich gar nicht erinnern.« »Doch, sie kam gemeinsam mit einem Herrn. Was wollten die beiden wissen? Haben sie Sie nach Ihrem Sohn gefragt, der gerade in New York ist?« Sie war sichtlich verwirrt und verunsichert. Das Leben um sie herum war für sie nur noch schwer greifbar, und ihr Gedächtnis ließ rapide nach. »Ich weiß es nicht. Ich kann mich an niemanden erinnern.« Was sicherlich der Wahrheit entsprach, da sie sich im Anfangsstadium der Alzheimer Krankheit befand. Für Ashimov war ganz klar, dass er hier seine Zeit verschwendete. »Ist auch nicht so wichtig. So, jetzt wollen wir aber los.« Es regnete in Strömen, vom Fluss stieg Nebel auf, und es war niemand auf der Straße. Sie gingen an dem Lebensmittelladen vorbei, in dessen Tür das GESCHLOSSEN-Schild hing. »Das wird eine scheußliche Nacht werden.« »Ich fürchte, da haben Sie Recht.« »Aber der Blick über die Themse ist immer noch schön.« Er lenkte den Rollstuhl auf den alten hölzernen Anlegesteg. Scheppernd rollten die Räder über die Bohlen. »So, da sind wir.« Vor der Treppe, die hinunter zur Themse führte, hielt er an. »Es ist so schön am Abend, wenn die Lichter an den Booten leuchten.« Ihre Stimme klang wie das Säuseln des Windes in den Bäumen, während er zufrieden feststellte, dass das Wasser der Themse recht hoch stand und gegen die unteren Stu65
fen klatschte. Unvermittelt gab er dem Rollstuhl einen kräftigen Schubs nach vorn. Seltsamerweise schrie die Frau nicht, sondern klammerte sich nur stumm an den Armlehnen fest, und als sie ins Wasser fiel, kippte sie nach vorn aus dem Stuhl und ging augenblicklich unter. Jetzt, bei Flut, war das Wasser an der Stelle nur knapp anderthalb Meter tief, bei Ebbe befand sich dort eine Sandbank. Man würde sie in absehbarer Zeit finden. Im Grunde hatte er der alten Frau einen Gefallen erwiesen, überlegte er. Er zündete sich eine Zigarette an und schlenderte davon. Ein paar Minuten später stand er in einem Hauseingang und rief Ali Selim an. »Sie können sich entspannen, Mrs. Morgan ist einem unglücklichen Unfall zum Opfer gefallen.« »Wovon reden Sie?« Ashimov erklärte es ihm. Selims Stimme klang äußerst unbehaglich. »War das notwendig?« »Ach, kommen Sie, Selim, Sie waren es doch, der von losen Enden gesprochen hat. Und vergessen Sie nicht, dass Ihnen nie ganz wohl war bei dem Gedanken, dass sie immer allein in ihrem Rollstuhl zur Moschee fuhr, und Sie deshalb öfter einen jungen Mann vorbeigeschickt haben, der sie abholte.« Selim holte tief Luft. »Selbstverständlich.« »Sie war frühzeitig gealtert und die meiste Zeit geistig verwirrt.« »Sie hatte Alzheimer.« »Sehen Sie, da haben wir es. Den Rest überlasse ich Ihnen«, sagte Ashimov und beendete das Gespräch.
4.
Es war zehn Uhr am folgenden Morgen, als Patel, der seinen kleinen Terrier spazieren führte, am Themseufer die Leiche und den Rollstuhl entdeckte. Er benachrichtigte sofort die Polizei von Wapping, und da Hannah für Mrs. Morgan zuständig war, wurde sie umgehend im Verteidigungsministerium über den Vorfall informiert. Ferguson befand sich in einer Konferenz, doch Dillon war in seinem Büro, so dass sie ihn gleich in Kenntnis setzen konnte. »Und, wie verfahren wir jetzt?«, wollte er wissen. »Du begibst dich auf dem schnellsten Weg in die Chandler Street, und ich setzte einen roten Reiter auf die Akte und übernehme das Kommando. Du kommst mit mir. Womöglich könntest du dich als nützlich erweisen.« Sie nahmen einen Dienstwagen mit Fahrer, einen ehemaligen Polizisten im Ruhestand. »Das ist doch kein Zufall, verflixt noch mal«, erklärte Hannah. »An den ich ohnehin nicht glaube.« In diesem Augenblick klingelte Dillons Handy. »Sean? Hier ist Roper. Ich hab ein paar interessante Details über Ashimov und diese komische Allahs-Zorn-Geschichte für dich.« »Behalte das noch eine Weile für dich. Man hat heute Morgen Mrs. Morgan am Flussufer am Ende ihrer Straße gefunden, und Hannah und ich sind gerade auf dem Weg 67
dorthin. Genau genommen sind wir gleich da. Ich rufe später zurück.« Sie bogen um eine Kurve und sahen schon den Ambulanzwagen, die übliche Crew und einen Sergeant, der sofort Haltung annahm, als Hannah sich auswies und offiziell das Kommando übernahm. »Sieht eigentlich nicht nach einem Verbrechen aus«, meinte der Sergeant. »Jede Menge Schlamm.« Dillon und Hannah spähten über das Geländer. »Wie das passiert ist, ist ziemlich offenkundig. Der Herr, der sie gefunden hat, sagte, dass die alte Frau immer allein in ihrem Rollstuhl zur Moschee an der Queen Street gefahren ist. Und dabei in letzter Zeit schon zweimal vom Bürgersteig abgekommen und im Rinnstein gelandet ist.« »Okay«, sagte Hannah. »Holen Sie sie rauf, und bringen Sie sie dann ins Leichenschauhaus an der Peel Street. Ich werde Professor George Langley verständigen. Er wird die Autopsie vornehmen.« Dann zog sie sich mit ihrem Mobiltelefon in einen Hauseingang zurück, um Professor George Langley anzurufen. Dillon, der Patel aus der Ladentür spähen sah, ging zu ihm hin. »Das war sicherlich ein Schock für Sie.« »Ja, ein schrecklicher Schock. Der Wasserstand war letzte Nacht höher als gewöhnlich. Seltsam, dass sie nicht weggeschwemmt wurde.« »Überrascht es Sie, dass ihr so etwas passiert ist?« »Eigentlich nicht. Sie hatte schon einige Beinaheunfälle in diesem Gefährt, und in letzter Zeit war sie nicht richtig auf der Höhe.« 68
»Was meinen Sie genau damit?« »Kam nicht mehr zurecht, war verwirrt, konnte sich beinahe an nichts mehr erinnern. Wusste oft nicht, wohin sie eigentlich wollte. Und sie war sehr aufgebracht, als Henry nach Amerika flog.« Patel unterbrach sich. »Was hatte es eigentlich mit diesen Ermittlungen auf sich, die Sie und diese Dame durchgeführt haben?« »Ihr Sohn war nur im Besitz eine Touristenvisums«, log Dillon schlagfertig, »und scheint abgängig zu sein. Man bat uns, der Sache nachzugehen. Das passiert häufig. Die Leute reisen als Touristen ein und tauchen dann unter.« »Das kommt hier auch häufig vor«, bemerkte Patel. »Ja, das ist der Lauf der Welt.« Als Hannah ihr Telefonat beendet hatte, gesellte sich Dillon wieder zu ihr. »Und, was jetzt?« »Ich habe mit Langley gesprochen; er ist schon auf dem Weg in die Leichenhalle.« Hinter ihnen trugen ein paar Sanitäter Mrs. Morgan in einem Leichensack vorbei. »Arme alte Frau«, seufzte Hannah. »Und wir können nichts tun. Ach, da fällt mir ein, Roper scheint ein paar interessante Dinge über Ashimov und Allahs Zorn ausgegraben zu haben.« »Gut. Dann werde ich den General informieren.« Was Hannah rasch erledigte, um sich anschließend wieder Dillon zuzuwenden. »Er schlägt vor, dass wir uns alle in Ropers Wohnung treffen, um Informationen auszutauschen.« »Hört sich gut an.« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube unbesehen, was Patel über Mrs. Morgan und ihren Roll69
stuhl erzählt hat, ihren körperlichen und geistigen Verfall, ihre kleineren Unfälle – aber das erklärt einfach nicht, was sie auf diesem Anlegesteg zu suchen hatte.« »Genau das denke ich auch.« Ropers Wohnung lag im Erdgeschoss und konnte von ihm bequem über eine Rampe erreicht werden. Die gesamte Inneneinrichtung war nicht nur behindertengerecht konzipiert, sondern zeigte auch, dass hier jemand wohnte, der entschlossen war, sich selbst zu versorgen. Alle Geräte und Installationen waren auf dem neuesten Stand der Technik, manche sogar streng geheim und von Ferguson zur Verfügung gestellt. Dillon und Hannah waren etwa zehn Minuten mit Roper allein, ehe Ferguson eintraf und sich zu ihnen gesellte. »So, wie weit sind wir?«, fragte er Hannah. »Mit Mrs. Morgan meine ich.« »Ich habe Professor Langley engagiert, Sir. Er ist gerade mit ihrer Autopsie beschäftigt.« »Viel wird er nicht finden, wenn Sie mich fragen.« Dillon berichtete Ferguson alles, was Patel gesagt hatte. »So sieht es aus. Der Fall ist höchst verdächtig, aber ich bezweifle dennoch, dass es uns gelingen wird, zu beweisen, dass es kein Unfall war.« Ferguson machte ein finsteres Gesicht. »Eins ist sicher. Die Tatsache, dass Henry Morgan tot ist, können wir leider nicht ins Feld führen, weil wir ja offiziell nichts von seinem Ableben wissen. Aber wohin führt uns das?« »Zu Yuri Ashimov, zum Beispiel«, sagte Roper. »Früher einmal der ganze Stolz des KGB.« Er hackte auf seine Tastatur ein, bis einige Aufnahmen von Ashimov auf dem 70
Bildschirm erschienen. Zwei davon in Uniform, die anderen bei lockeren gesellschaftlichen Anlässen aufgenommen. »Und, was treibt der Bursche heute?« »Er ist der Boss des Sicherheitsdienstes von Josef Belov und seiner Organisation.« »Der Ölmilliardär?«, fragte Dillon. »Genau der«, antwortete Roper. »Gibt sich als Mann voller Geheimnisse. Mehrfacher Milliardär und ein persönlicher Freund von Putin.« »Was in Dreiteufelsnamen hatte Ashimov dann mit dieser Mrs. Morgan zu schaffen?« »Es muss etwas mit ihrem Sohn zu tun gehabt haben«, warf Hannah ein. »Ganz sicher.« »Aber die interessante Frage lautet: Wer hat Henry Morgan mit dem Auftrag nach New York geschickt, den Präsidenten zu erschießen?« Dillon wandte sich an Hannah. »Du hast gesagt, dieser Dr. Ali Selim sei absolut sauber.« Es war Roper, der Dillon ins Wort fiel: »Das scheint tatsächlich so zu sein.« »Was hat er dann mit einem Mann wie Ashimov zu tun?« Dillon schüttelte den Kopf. »Dafür muss es doch eine Erklärung geben.« Er drehte sich zu Roper um. »Was hast du über diesen mysteriösen Zorn-Allahs-Verein herausgefunden?« »Das war eine militante Gruppierung von Arabern, damals vor einigen Jahren während des Krieges im Libanon. Als der zu Ende war, schienen diese Aktivisten von der Bildfläche verschwunden zu sein. Erst letztes Jahr hat der israelische Mossad versucht, eine Verbindung von 71
diesen Leuten zum Al-Qaida-Netzwerk herzustellen, aber ohne Erfolg.« »Nun, Henry Morgan war diese Gruppe anscheinend nicht unbekannt«, stellte Ferguson fest. »Sie mag untergetaucht sein, was aber nicht heißt, dass sie nicht mehr existiert. Eines unserer größten Sicherheitsprobleme ist die Tatsache, dass Terroristen sich so mühelos in einer Gesellschaft rechtschaffener Muslime verstecken können. Woran sollte man sie auch erkennen?« »Mao Tse Tung hat diese Strategie vor Jahren entdeckt, und die hat ihm schließlich ganz China eingebracht«, strich Dillon heraus. »Ich habe hier noch etwas für euch.« Roper reichte drei Fotos herum. »Greta Novikova. Angeblich Sekretärin bei der russischen Botschaft, in Wahrheit jedoch Major in der GRU. War früher einmal Ashimovs Geliebte. Netter Zufall, dass man sie nach London beordert hat, nicht wahr?« »Eine heiße Lady«, sagte Dillon bewundernd und steckte das Foto in die Brusttasche. »Vielleicht begegnet man sich irgendwo einmal zufällig.« Hannahs Handy klingelte, sie meldete sich und lauschte. »Fein, wir werden dort sein.« Dann an Ferguson gewandt: »Professor Langley, Sir. Er kann uns seine vorläufigen Ergebnisse mitteilen.« »Sehr gut«, sagte Ferguson. »Bleiben Sie dran, Major. Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Sie stiegen in Fergusons Daimler, und als dieser anfuhr, bog Greta Novikova in ihrem Opel aus der Parklücke und folgte ihnen. 72
George Langley war ein kleiner, grauhaariger, energischer Mann, den sie alle von früheren Fällen her kannten. Er stand in dem Ruf, der beste forensische Pathologe in London zu sein, und seinen geschulten Augen entging kaum etwas. Die Leichenhalle an der Perl Street war ein altes, teilweise noch viktorianisches Gebäude, doch das Innere war hochmodern. Eine Rezeptionistin führte sie in einen weiß gefliesten Raum mit fluoreszierendem Licht und modernen Operationstischen aus Edelstahl. Auf einem lag Mrs. Morgan. Die für die Obduktion notwendigen Schnitte waren bereits vernäht worden. »Mein Gott, an diesen Anblick werde ich mich nie gewöhnen«, sagte Hannah leise. Langley kam aus dem Präparationsraum, die Ärmel hochgekrempelt und trocknete sich die Hände an einem Handtuch ab. »Ah, da sind Sie ja schon, Charles.« »Nett von Ihnen, dass Sie so schnell auf dem Posten waren, George. Was haben Sie für uns?« »Tod durch Ertrinken. Kein Hinweis auf Fremdeinwirkung. Und seltsamerweise keine äußerliche Verletzung. Andererseits war sie leicht wie eine Feder. Schlechter Ernährungszustand. Ihre medizinischen Befunde sehen nicht sehr gut aus. Der Autounfall, der sie in den Rollstuhl brachte, war sehr schwer gewesen. Ich habe mir die Berichte kommen lassen. Und ich habe mit ihrem Hausarzt gesprochen und erfahren, dass sie an der Alzheimer Krankheit litt.« »Das ist alles?« 73
»Ich würde sagen, ja. Interessant ist vielleicht, dass der Mann, der sie gefunden hat, dieser Patel, erzählte, dass sie in letzter Zeit einige kleine Unfälle mit dem Rollstuhl hatte. Außerdem habe ich den Bericht des Sergeants vom Tatort gelesen, wonach der Imam der Moschee an der Queen Street sehr betrübt gewesen sein soll und erklärt hat, er habe sie so oft angefleht, nicht allein zur Moschee zu fahren. Für gewöhnlich habe er jemanden zu ihr geschickt, der sie begleitete.« »Was jedoch nicht die Frage beantwortet, warum sie allein unten am Anlegesteg war.« »Ich habe mir den Fundort der Leiche kurz angesehen. Nichts Auffälliges. Durch die Alzheimer Krankheit litt sie an Verwirrung, Gedächtnisverlust und war ganz allgemein in ihren täglichen Verrichtungen eingeschränkt. Wenn sie rechts abgebogen wäre, wäre sie in die Queen Street und zur Moschee gekommen; da sie jedoch nach links gefahren ist, hat sie sich auf dem Anlegesteg und knapp vor den Stufen wiedergefunden.« Er verzog keine Miene, als er sagte: »Glauben Sie, an der Sache ist etwas faul, Charles? Misstrauisch wie gewöhnlich?« »Nein, nein. Dieser Fall ist für uns ohnehin nicht relevant.« »Ha, nicht relevant! Und deshalb stehen Sie hier in null Komma nichts mit einer Superintendent und Dillon im Schlepptau auf der Matte? Höchst unglaubwürdig, wenn Sie meine Meinung hören wollen. Aber egal, bei dieser Sache kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, außerdem wartet noch eine Menge Arbeit auf mich. Ich verabschiede mich.« 74
Sie verließen die Leichenhalle. Auf dem Weg zum Daimler blieb Ferguson kurz stehen und sagte zu Dillon: »Wie nennen Sie das immer: Diese Wir-wissen-dass-Siewissen-und-Sie-wissen-dass-wir-wissen-Situation?« »Wollen Sie damit andeuten, dass man Dr. Ali Selim ein bisschen auf die Füße treten sollte?« »Ganz genau. Das Wie überlasse ich Ihnen. Blake ist im Moment in der amerikanischen Botschaft. Wir treffen uns alle später.« »Meinen Sie nicht, ich sollte Selim polizeilich überwachen lassen, Sir?«, schlug Hannah vor. »Nein. Manche Dinge erfordern das Dillon-Händchen, Superintendent.« Sie stiegen ein und fuhren los. »Ist dir die OpelLimousine aufgefallen, die uns folgt?«, fragte Dillon. »Natürlich. Vergiss nicht herauszufinden, wer unser Schatten ist.« Ferguson setzte Dillon ab, worüber Hannah nicht sonderlich begeistert war. Dillon beugte sich durch das offene Seitenfenster zu ihr hinab: »Halt die Ohren steif.« »Okay, und du behalte deine Fäuste in der Tasche.« Der Regen wurde stärker. Dillon warf einen Blick auf den Opel und beschloss, die Angelegenheit einstweilen auf sich beruhen zu lassen. Er betrat die Moschee und folgte dem Schild mit der Aufschrift BÜRO. Draußen in dem Opel tippte Greta Novikova Ashimovs Mobiltelefonnummer in ihr Handy. »Sie waren alle zusammen in der Wohnung von diesem Major Roper am Regency Place – Ferguson, die Bernstein und Dillon. An75
schließend haben sie Dillon an der Queen Street abgesetzt. Warum wohl?« »Ich würde denken, weil Mrs. Morgan einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen ist und Dillon deshalb ein paar Worte mit Selim wechseln will.« »Was meinst du mit Unfall?« »Die arme Lady scheint mit ihrem Rollstuhl in die Themse gekippt zu sein. So was Dummes passiert hin und wieder. Bleib, wo du bist, und folge Dillon, wenn er herauskommt.« Dillon fand das Büro, klopfte an und trat ein. Da der Empfang nicht besetzt war, ging er zur nächsten Tür und öffnete sie einen Spalt. Der Gesuchte saß an seinem Schreibtisch. »Dr. Ali Selim?« Selim erkannte Dillon sofort aufgrund des Computerfotos, das Ashimov ihm gegeben hatte. Er brachte ein Lächeln zustande. »Was kann ich für Sie tun?« Dillon beschloss, sich ungezwungen zu geben. »Hm, mal sehen, alter Freund«, gab er zurück und steckte sich eine Zigarette an. »Nicht in der Moschee. Das ist eine Beleidigung«, beschied ihm Selim. »Ich weiß, eine schreckliche Angewohnheit, aber wir haben alle unsere kleinen Laster, nicht wahr? Wie ich sehe, wissen Sie, wer ich bin. Das Zucken Ihrer Mundwinkel hat Sie verraten. Ein Bursche wie Ashimov hat Sie natürlich umgehend über mich und meine Freunde informiert. Übrigens, wir haben ein Video von Ihnen beiden. Die Veröffentlichung würde im Unterhaus eine Menge 76
Staub aufwirbeln, meinen Sie nicht? Und welch ein Zufall, dass seine Freundin, Greta Novikova, in eben diesem Augenblick draußen vor der Tür steht.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Nun, im Großen und Ganzen wissen Sie das sehr wohl, und mit den Einzelheiten mache ich Sie gern vertraut. Henry Morgan schlendert im Regen durch die Straßen von Manhattan und verschwindet auf Nimmerwiedersehen; seine Mutter stürzt von einem Anlegesteg an der Chandler Street aus in die Themse. Eine sehr glücklose Familie.« Selim wurde blass. »Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei.« »Das glaube ich nicht. Nicht mit Ashimov im Rücken.« Dillon ließ seine Zigarette in eine halb volle Kaffeetasse fallen, die neben Selim auf dem Schreibtisch stand. »Sprich deine Gebete, mein Sohn, du wirst sie brauchen. Ach ja, und viel Glück mit Allahs Zorn.« Das war ein riskanter Vorstoß, doch der Schock auf Selims Gesicht war nicht zu übersehen. Dillon verließ die Moschee und blieb draußen auf dem Gehsteig kurz stehen, schaute sich um. Greta Novikova schoss gerade ein Foto und war mehr als überrascht, als er blitzschnell die Straße überquerte, die Beifahrertür öffnete und zu ihr in den Opel stieg. »Was soll das …«, begann sie empört. »Ach komm, Mädchen, sparen Sie sich die Ansage. Ich weiß, wer Sie sind, und Sie wissen, wer ich bin.« Er zog ein Päckchen Marlboro aus der Tasche und klopfte zwei Zigarette heraus. »Ich wette, Sie rauchen. Die meisten Russen frönen diesem Laster.« 77
»Dreckskerl«, zischte sie, wirkte dabei aber ein wenig amüsiert. Dillon zündete die beiden Zigaretten an und reichte ihr eine. »Fahren wir.« »Fahren? Wohin?« »Ich wohne in Stable Mews. Tun Sie doch nicht so, als ob Sie das nicht wüssten.« Mit dem Ansatz eines Lächelns fuhr sie los. »Ich wette, Selim hat sich da drinnen in die Hosen gemacht.« »Ja, könnte man so sagen. Ich habe ihm auf den Kopf zugesagt, dass wir über Ashimov und Sie und diverse andere Bescheid wissen. Vielleicht auch über Ashimovs Boss, den geheimnisvollen Josef Belov.« »Sie spielen mit dem Feuer, Dillon«, erwiderte sie. »Ich an Ihrer Stelle wäre da etwas vorsichtig.« »Keine Sorge, das bin ich immer.« Am Ende der Stable Mews blieb sie stehen. »Kann ich jetzt weiterfahren?« »Selbstverständlich – außer Sie möchten mit mir zu Abend essen.« »Der berühmte Sean Dillon hat eine romantische Ader? Das möchte ich doch bezweifeln. Außerdem ist es heute Abend etwas ungünstig. Die russische Botschaft gibt einen Empfang im Dorchester.« Dillon stieg aus und beugte sich durchs Fenster: »Ach, ich bin sicher, dass man mich dort einlassen wird.« Sie fuhr zur Botschaft zurück, dachte dabei über diesen seltsamen Mann nach und rief dann Ashimov an, um ihm zu berichten, was vorgefallen war. »Ich habe so eine ver78
rückte Ahnung, dass Dillon heute Abend im Dorchester auftauchen könnte.« »Mir scheint, er will sich mit uns anlegen. Gut, soll er ruhig, wir schlagen zurück. Ich begleite dich. Hol mich um sieben ab.« Nachdem sie aufgelegt hatte, fuhr sie ihren Computer hoch, klickte sich in ihre geheimen GRU-Dateien ein, fand Dillon und war sprachlos, was sie dort entdeckte. Das war der Mann, der 1991 für den verhängnisvollen Bombenanschlag auf die Downing Street verantwortlich war? Viele Jahre lang ein gefürchteter IRA-Aktivist, ein Killer, der etliche Menschen auf dem Gewissen hat … und ehemals Schauspieler am National Theatre, wie sie fasziniert las. »Ich habe Selim das Fürchten gelehrt«, berichtete Dillon Ferguson am Telefon. »Das habe ich mir fast gedacht. Wie lautet Ihr Urteil?« »Nun, er hat nichts abgestritten – die Verbindung zu Morgan, Ashimov, der Novikova und der ganzen Bande.« »Nein, das hätte ich ihm auch nicht zugetraut. Ach, übrigens, Blake hat sich gemeldet. Er hat alle Unterlagen über muslimische Aktivitäten in Großbritannien, die ich ihm gegeben habe, mitgenommen und ist schnurstracks nach Washington zurückgeflogen.« »Schade. Ich hatte gehofft, er würde mich heute Abend ins Dorchester begleiten. Die russische Botschaft gibt dort im Ballsaal einen Empfang. Besorgen Sie mir einen Sicherheitsausweis, Charles. Die Novikova wird dort sein. 79
Vielleicht lässt sich auch Ashimov sehen? Das möchte ich nicht verpassen.« »Nur, wenn Sie mich mitnehmen, Sie Gauner. Wir gehen zusammen.« »Cocktail um sieben, Charles, kein schwarzer Schlips. Die Botschaft versucht, Freunde zu gewinnen und Leute zu beeinflussen – und es erwarten uns ein oder zwei Überraschungsgäste, wie ich gehört habe.« »Spielen Sie da auf die Tatsache an, dass Putin nach Ende der EU-Konferenz in Paris heute Vormittag spontan beschlossen hat, sein Flugzeug nach Northolt umzudirigieren, um heute Nachmittag eine Weile mit dem Premierminister zu plaudern?« »Und woher wissen Sie das?« »Weil ich über seinen Flugplan von Northolt nach Moskau informiert worden bin. Dafür werde ich nämlich bezahlt, mein lieber Freund.« »Gut, dann treffe ich Sie dort?« »Und unsere Superintendent auch, glaube ich. Ach, und tun Sie mir bitte einen Gefallen.« »Stets zu Diensten.« »Werfen Sie sich in einen Ihrer besseren Anzüge. Der Abend könnte ganz interessant werden. Ich kenne Putin recht gut aus den schlimmen alten Tagen, als er noch Oberst beim KGB war.« »Ich wette, Sie haben sich Schusswechsel über die Berliner Mauer geliefert.« »So etwas in der Art. Wir sehen uns um sieben im Dorchester.« »Es wird mir ein Vergnügen sein.« 80
Im Ballsaal des Dorchester mischten sich die Reichen und die Schönen mit Politikern und Vertretern des öffentlichen Dienstes, dazwischen balancierten Kellner Tabletts mit Wodka und erlesenem Champagner, denn die russische Botschaft wollte beeindrucken. Yuri Ashimov und Greta standen neben einer Säule und tranken geeisten Wodka. »Die Leute werden die Luft anhalten, wenn plötzlich Putin mit dem Premierminister auftaucht«, sagte Greta. »Du aber auch, wenn du plötzlich Belov gegenüberstehst.« »Belov?«, wiederholte Greta verwundert. »Warum?« »Weil Putin ihn will. Von allen Ölmagnaten ist Josef der Einzige, meine Liebe, dem Putin vertraut. Sie kennen einander schon eine ganze Weile.« Er nahm sich noch einen Wodka vom Tablett eines vorbeikommenden Kellners. »Hab vor ein paar Stunden mit ihm telefoniert. Die Henry-Morgan-Sache hat ihn ganz schön in Fahrt gebracht.« »Weiß Putin davon?« »Selbstverständlich nicht. Da gibt es Grenzen. Josef war recht gelassen, doch ganz und gar nicht erfreut über Ferguson und seine Freunde.« »Was machen wir, wenn Dillon aufkreuzt?« »Ich hoffe sogar, dass er kommt. Ich habe nämlich einen Freund namens Harker, Charlie Harker. Ein Ganove erster Güte, der überall mitmischt, von Schutzgelderpressung über Drogen bis zur Prostitution. Solche Leute sind von erheblichem Nutzen.« »Was wird er unternehmen?« 81
»Nachdem ich Dillon erwähnt und ihm ein Foto von ihm gegeben hatte, hat er zwei oder drei seiner Männer beauftragt, Dillon mit, sagen wir, besonderer Aufmerksamkeit zu behandeln, falls dieser auftaucht.« »Ich habe Dillon überprüft, Yuri«, sagte Greta. »Der ist mit allen Wassern gewaschen.« »Ach, das bin ich auch, meine Liebe.« »Aber du bist nicht derjenige, der es tun wird. Und das macht mir Sorgen.« »Warten wir doch einfach ab, was passiert. Hier ist er nämlich schon.« Im gleichen Moment meldete sich die Stimme des russischen Botschafters über den Lautsprecher und bat um Aufmerksamkeit. »Mylords, Myladys, meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlich wollte ich jetzt ein paar Worte an Sie richten, doch in diesem Moment ist unser Staatsoberhaupt eingetroffen – und noch dazu mit einem ganz besonderen Gast.« Er deutete zu einer Seitentür, wo Präsident Putin mit dem britischen Premierminister an seiner Seite den Saal betrat, woraufhin sich spontaner Applaus erhob. Die beiden Männer blieben einen Moment stehen, nickten dankend in die Menge, dann durchquerten sie, hier und dort Hände schüttelnd, den Saal. Ihnen folgten etliche Männer, augenscheinlich Sicherheitsleute, aber nicht alle. »Der Mann links«, sagte Ferguson im Flüsterton. »Schwarzer Anzug, Stahlbrille, kurzes Haar. Josef Belov. Was hat denn der hier zu suchen?« 82
Belov war um die sechzig, und sein gelassener Gesichtsausdruck gab keine Regung preis. Putin blieb einen Moment stehen und lauschte, als Belov ihm zuflüsterte: »Der Mann dort drüben in Begleitung der Frau und diesem kleinen Mann mit dem auffallend hellen Haar, das ist Ferguson. Er leitet den privaten Nachrichtendienst des Premierministers.« »Ich weiß sehr wohl, wer der Mann ist; wir sind alte Widersacher, noch aus den Zeiten des Kalten Kriegs. Wie steht er zu Ihnen?« »Er ist kein Freund.« »Josef«, sagte Putin. »Ich weiß nicht, womit Sie sich dieser Tage beschäftigen, und ich will es auch gar nicht wissen. Tatsache ist, dass Sie dem Staat von großem Nutzen sind. Ihre Milliarden und Ihre Stellung in der Ölindustrie vom Irak bis nach Saudi Arabien sprechen für sich. Jedoch ist kein Mensch unersetzbar, deshalb rate ich Ihnen, diskret vorzugehen.« »Selbstverständlich, Herr Präsident.« Belov zog sich zurück, und Putin schritt weiter voran durch die sich respektvoll teilende Menge. Als er Ferguson erreicht hatte, blieb er abermals stehen und setzte ein Lächeln auf. »Es ist mir immer ein Vergnügen, alte Freunde wieder zu treffen. General Ferguson inzwischen. Das gefällt mir. Sie haben mich rangmäßig überholt.« »Es scheint so, Oberst.« Immer noch lächelnd bot Putin Ferguson die Hand zum Gruß. »Ich bin froh, dass Sie sich erinnern.« »Dass wir Kugeln ausgetauscht haben?« 83
Putin zuckte die Achseln. »Das ist lange her.« »In der Tat.« Putin wandte sich zum Gehen, blieb dann doch kurz stehen und drehte sich noch einmal mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu Ferguson um. »Und Charles?« »Pardon?« »Ich an Ihrer Stelle würde auf ihn aufpassen – sehr gut auf ihn aufpassen.« »Das werde ich, Herr Präsident, darauf können Sie sich verlassen.« Putin ging weiter. »Was sollte das denn, Sir?«, fragte Hannah erstaunt. »Hat sich ziemlich deutlich nach einer Warnung angehört.« »Ganz recht, Superintendent, das ist bei mir auch so angekommen. Aber wohin ist Belov verschwunden?« »Der steht dort drüben an der Bar mit Ashimov und Greta Novikova«, beantwortete Dillon seine Frage. »Schön, dann wollen wir den beiden mal ein bisschen Gesellschaft leisten.« Ferguson lächelte. »Könnte interessant werden.« »Sie kommen«, sagte Ashimov. »Vielleicht sollten Sie besser gehen.« »Warum das denn, um alles in der Welt?«, gab Belov entrüstet zurück. »Dieser Champagner ist hervorragend, da nehme ich doch gern noch ein Glas.« Mit einem breiten Lächeln schwang er herum. »General Ferguson. Ein schon lange überfälliges Vergnügen, Sie zu sehen.« »Das wage ich zu bezweifeln«, gab Ferguson lakonisch 84
zurück. »Ich nehme an, Sie wissen, wer meine Freunde hier sind, nachdem ich die Ihren jedenfalls kenne.« Er nickte Greta zu. »Ich bin entzückt, Major«, sagte er, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. »Respekt, die GRU hatte schon immer Stil, das muss man ihr lassen.« Damit wandte er sich an Ashimov. »Ganz im Gegensatz zum KGB.« Ashimov reagierte nicht auf diesen Seitenhieb, aber Belov. »Was mich einschließt, General. Gibt es nicht dieses Sprichwort über Menschen im Glashaus, die nicht mit Steinen werfen sollten? Ganz besonders nicht, wenn man einen Mann wie Dillon an seiner Seite hat, obwohl Sie, Superintendent, Scotland Yard fraglos zur Ehre gereichen.« Er prostete Hannah zu und leerte sein Glas. »Nehmen wir noch einen Drink?« »Eine ausgezeichnete Idee«, meinte Ferguson. »Ich sehe, wir haben keine Geheimnisse voreinander.« »Was Ihre Person betrifft, jedenfalls nicht«, setzte Dillon hinzu. »Und vergessen wir bitte nicht Henry Morgan in Manhattan und den tragischen Unfall seiner Mutter!« Als ein Kellner vorbeikam, nahmen sich alle ein Glas Champagner vom Tablett. »Aber eines wundert mich wirklich: Was hat einer der reichsten Männer der Welt mit einem Schläger wie diesem Ashimov hier und einem Versager wie Ali Selim zu schaffen?« »Sie verstehen anscheinend die größeren Zusammenhänge nicht, Dillon«, sagte Ferguson. »Geld ist nicht alles. In diesem Punkt sind Sie ein gutes Beispiel. Sie sind reich, aber –« »Er liebt das Risiko«, beendete Belov für ihn den Satz. 85
»Richtig. Reich zu sein bedeutet, gleichzeitig alles und nichts zu besitzen. Aber ein Mann braucht mehr. Ich erinnere mich, vor Jahren einen Mann namens Luhzkov verhört zu haben, seines Zeichens Deepcover-Agent für den KGB. Er sprach oft mit ehrlicher Bewunderung von Oberst Belov, dem Leiter der Sektion Drei des KGB. Belovs vordringlichste Aufgabe bestand darin, in der westlichen Welt Chaos zu stiften – Chaos, Angst und Verunsicherung, bis sich in den Systemen Risse zeigten und Regierungen stürzten.« Belov gab sich immer noch wie die Ruhe selbst, doch seine Lippen spannten sich etwas, und sein Griff um das Champagnerglas wurde fester, als Dillon kopfschüttelnd einwarf: »Genau wie im Irak. Da wären all diese sprudelnden Ölfelder zu haben, aber nachdem Saddam eingebuchtet ist, weiß niemand, was daraus wird.« Belov stellte sein Glas ab. »Ich habe für heute genug Unsinn gehört. Lasst uns gehen.« Er nickte Ashimov und Greta auffordernd zu, durchquerte den Saal und steuerte den Ausgang an. Draußen vor dem Dorchester blieb er stehen. Ashimov winkte ihre Limousine heran. »Tut mir Leid, Josef.« »Dann unternehmen Sie etwas dagegen. Ich bin mit hochwichtigen Angelegenheiten befasst. Es geht um unsere Zukunft im Irak und in Saudi-Arabien. Was Ferguson und seine Leute betrifft, so gebe ich Ihnen freie Hand.« »Ich habe bereits für heute Abend eine kleine Überraschung für Dillon vorbereitet.« »Ausgezeichnet. Dann wünsche ich gutes Gelingen.« 86
Ashimov hielt Belov die Tür zum Fond auf. Belov stieg ein und ließ das Fenster herunter. »Die nächsten drei Tage bin ich im Rashid House in der South Audley Street zu erreichen, dann fliege ich zum Schloss.« »Und anschließend in den Irak?« »Nein, nach Moskau. Ich muss sehen, dass der Präsident auf unserer Seite bleibt.« Die Limousine entfernte sich. »Zu welchem Schloss?«, wunderte sich Greta. »Drumore Place. Es liegt im County Louth in Irland. Seine neueste Errungenschaft. Einige Hektar Land, auf dem ein Schloss steht mit allem, was man sich nur wünschen kann. Für Belov hat es den besonderen Vorteil, dass diese Gegend die Hochburg des irischen Nationalismus ist. In Louth hat die IRA noch keinen Wind davon gekriegt, dass der Krieg vorbei ist, besonders nicht der örtliche Kommandant, ein gewisser Dermot Kelly.« »Ist das denn kein Problem für ihn?« »Für Josef mit seinem Reichtum? Für einen Mann ohne die geringste Zuneigung für die Briten? Die Leute dort haben ihn aufgenommen wie einen der ihren. Er kennt Kelly schon sehr lange.« »Und was ist mit dir? Lieben sie dich genauso?« »Aber gewiss doch. Bei meinem Charme.« Greta lächelte. »Was machen wir jetzt?« »Jetzt lade ich dich zum Abendessen ein.« »Und Dillon?« »Ach, der befindet sich in bester Obhut.« Er winkte ein Taxi heran.
5.
Sie tranken an der Bar im Dorchester-Ballroom ihren Champagner aus, als Hannah zu Ferguson sagte: »Sie waren ein bisschen hart, Sir.« »Ja, das weiß ich. Luhzkov hat sich übrigens erhängt. Jetzt wissen wir alle, wo wir stehen, und das behagt mir.« »Sie alter Halunke. Sie warten auf eine Reaktion«, sagte Dillon. »So etwas in der Art. Ich habe vorhin mit Roper gesprochen und ihn gebeten, einen Bericht über Belov zusammenzustellen. Das ist bereits geschehen. Und ich erwarte von Ihnen beiden, dass Sie diesen sorgfältig durchlesen.« »Selbstverständlich, Sir«, erwiderte Hannah. »Gut. Dann machen wir uns jetzt auf den Weg.« An der Garderobe mussten sie kurz warten, um ihre Mäntel entgegenzunehmen, und als sie aus dem Dorchester traten, und ihr Daimler gerade vorfuhr, setzte leichter Regen ein. »Ich bringe Sie nach Hause«, erbot sich Ferguson. »Danke, aber ich für meinen Teil gehe gern ein Stück zu Fuß, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Dillon. »Bei diesem Regen?« Ferguson hielt Hannah die Wagentür auf. »Dann werden Sie ihn wohl entschuldigen müssen, Superintendent. Die Iren und der Regen, Sie wissen schon.« »Sicher, und Ihre ehrenwerte Mutter, eine Cork-Frau, hätte Ihnen gewiss beigepflichtet.« 88
»Passen Sie auf sich auf, Sie Schurke, und bleiben Sie friedlich.« »Aber immer doch, General.« Dillon wartete, bis der Daimler abgefahren war, dann schlug er den Mantelkragen hoch und marschierte los, am Hoteleingang vorbei und weiter durch Mayfair in Richtung Shepard’s Market. Dass er verfolgt wurde, war ihm klar, seit er den Ballsaal verlassen hatte. Zwei Männer waren es, einer in einer Seemannsjacke und Wollmütze, der andere in Anorak und Baseballkappe. Idiotisch, wirklich. Die beiden stachen aus den festlich gekleideten Gästen, die mit ihnen das Dorchester verließen, heraus wie zwei Marsmenschen. Kurz vor Shepard’s Market blieb Dillon an einer Straßenecke stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, dann bog er in eine kleine Seitenstraße ab, die von alten viktorianischen Stadthäusern mit schmiedeeisernen Geländern und Stufen, die zu Untergeschossen führten, flankiert wurden. Er beschleunigte seinen Schritt, rannte dann blitzschnell eine Treppe hinab und wartete in der Dunkelheit. Gleich darauf hörte er jemanden rennen und eine Stimme: »Wo ist der Kerl hin, verdammt noch mal?« Geräuschlos kam Dillon wieder die Stufen hoch und blieb, die Hände in den Taschen seines Trenchcoats versenkt, stehen. »Da seid ihr ja, Freunde«, sagte er. »Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr.« »Was willst du denn, du Gartenzwerg?« Der Mann in 89
der Matrosenjacke drehte sich zu seinem Kumpanen um. »Überlass den ruhig mir.« Er zog ein Bleirohr aus seiner Tasche, worauf Dillon spöttisch bemerkte: »Sehr altmodisch.« »Ach, ja?« Der Mann machte einen Satz auf Dillon zu, den Arm zum Schlag erhoben. Gleichzeitig sprang Dillon zur Seite, trat dem Mann seitlich gegen das Knie, worauf dieser ins Taumeln geriet, dann versetzte er ihm einen zweiten gezielten Tritt ins Kreuz, der ihn Kopf voraus die Stufen hinabbeförderte. Jetzt riss der Mann mit der Baseballkappe ein Messer aus der Tasche und ließ die Klinge aufspringen. »Warte nur, du Großmaul, jetzt zeig ich’s dir!« »Okay, der Nächste bitte!« Der Mann schwang das Messer, doch Dillon bekam sein Handgelenk zu fassen, drehte ihm blitzschnell den Arm auf den Rücken und stieß ihn mit dem Gesicht voraus gegen das Geländer. Mit gebrochener Nase und aus dem Mund blutend sackte der Mann mit der Baseballkappe zu Boden. Dillon hockte sich neben ihn. »So, und jetzt will ich wissen, wer euch Spezialisten geschickt hat.« »Leck mich«, knurrte der Mann. »Mut hast du ja, das muss man dir lassen.« Dillon hatte eine Walther PPK hinten im Hosenbund stecken und brachte die Waffe jetzt zum Vorschein. »Aber ich habe eine Knarre, und wo ich herkomme, betrachten wir eine Kugel durch die Kniescheibe als sehr heilsam. Eine lähmende Erfahrung.« 90
»Okay, okay.« Der Mann hob eine Hand. »Charlie Harker heißt der Mann, der uns auf dich angesetzt hat. Hat uns einen Riesen geboten, wenn wir dich zum Krüppel machen.« »Harker? Und wer soll das sein?« »Der kontrolliert den ganzen Fluss von hier bis hinunter zur Isle of Dogs.« »Tatsächlich?« Dillon griff dem Mann in die Anoraktasche, fand ein Bündel Banknoten und zog es heraus. »Die tausend Eier von diesem Charlie Harker.« Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Es macht mir mehr Spaß, dir die paar Kröten zu lassen, als sie mitzunehmen.« »Leck mich!« »Ich sagte bereits, dass du Mut hast. Aber leider nicht viel im Hirn. An deiner Stelle würde ich einen Krankenwagen rufen.« Er setzte seinen Weg fort und blieb an der nächsten Straßenecke stehen, um nachzudenken. Charlie Harker, der den ganzen Fluss kontrollierte, von hier bis zur Isle of Dogs? Der Name sagte Dillon gar nichts. Aber er kannte jemanden, der mit Sicherheit damit etwas anzufangen wusste. Kurz entschlossen hielt er ein vorbeifahrendes Taxi an, stieg ein und sagte dem Fahrer, er solle ihn in die Wapping High Street bringen. Er dachte an Harry Salter, einst der am meisten gefürchtete Mann Londons, ein Gangster von altem Schrot und Korn, der es durch die Lagerhäuser, die er entlang der Themse errichtete, zum Multimillionär gebracht hatte. Die Beziehung zwischen Harry, seinem Neffen Billy, Dillon und Ferguson war im Laufe der Jahre sehr eng geworden 91
und hatte sich in zahlreichen gefährlichen Situationen bewährt. Wenn irgendjemand diesen Harker kannte, dann Harry Salter. Zur selben Zeit saß Charlie Harker im Red Lion, einem Pub in Kilburn, einem Stadtteil von London, las den Evening Standard und trank ein kaltes Bier. Die meisten Leute hielten sich wohlweislich von ihm fern, denn sie wussten, dass das ihrer Gesundheit am zuträglichsten war. Ein großer, schwer gebauter Mann in dunklem Anzug lehnte hinter ihm an der Wand. Sein Name war Mosby, und er war Harkers Gorilla. Harkers Handy läutete. Er meldete sich und hatte Ali Selim in der Leitung. »Mr. Harker, ich muss Sie sehen.« »Weshalb?« »Die jüngste Lieferung in den Irak. Ich muss sie für eine Weile verzögern.« »Unmöglich, es ist bereits alles arrangiert. Geht morgen Nacht raus.« »Das ist aber sehr ungünstig.« »Ist mir herzlich egal. Die Abmachung war fünf Riesen pro Kopf, das macht bei fünf Köpfen fünfundzwanzig Riesen, wie ausgemacht, mein Sohn, und genau diesen Betrag erwarte ich, ob die Sache nun abgeblasen wird oder nicht. Weiß Ashimov davon?« »Seien Sie doch vernünftig. Ich komme gern zu Ihnen, wenn Ihnen das recht ist. Wo sind Sie?« »Im Red Lion, aber ohne die Kohle brauchen Sie hier gar nicht aufzukreuzen. Ich fange an, mir Gedanken über Sie zu machen, und das tut nie gut.« 92
Selim legte auf und dachte nach. Mit Leuten wie diesem Harker zu verhandeln, behagte ihm ganz und gar nicht, aber was blieb ihm anderes übrig? Es war von entscheidender Wichtigkeit, den Handel mit dem Irak am Laufen zu halten. Zum Glück gab es das Geld von Ashimov, das das Ganze möglich machte. Er fand eine Stofftasche und schloss den Safe in der Ecke seines Büros auf. Dort lag Geld, sehr viel Geld, ordentlich in Bündeln von 50-Pfund-Noten gestapelt. Er zählte den erforderlichen Betrag ab, packte das Geld in die Tasche und nahm Hut und Mantel. Er war beunruhigt, nein, er bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Er glaubte an das, was er tat. Seine Sache war gerecht, und sein Glaube an Allah war über jeden Zweifel erhaben. Doch auf einmal schienen ihm die Dinge zu entgleiten. Die Morgan-Geschichte hatte so vielversprechend begonnen, erschien so unglaublich simpel dank Ashimovs Hilfe, dennoch war sie nicht nur schief gegangen, sondern hatte auch noch Ferguson und seine Leute auf den Plan gerufen – und diesen Dillon. Unwillkürlich erschauderte er. Ein wahrhaft Angst einflößender Mann. Und dann noch diese Geschichte mit Mrs. Morgans angeblichem Unfall. Eine schreckliche Angelegenheit, obgleich seine eigenen Absichten in dieser unseligen Geschichte absolut rechtschaffen und lauter waren. Es klopfte an der Tür, und der Hausmeister Abdul steckte den Kopf herein. »Haben Sie einen Wunsch, Doktor?« »Nein, ich gehe kurz aus. Wir sehen uns später.« Er durchquerte den Vorgarten, stieg in seinen Peugeot und fuhr weg. 93
Dillons Taxi bog von der Wapping High Street ab und fuhr eine schmale, von Lagerhallen flankierte Gasse entlang und blieb dann vor Salters Pub stehen, dem Dark Man, dessen handgemaltes Schild einen ernst dreinblickenden Mann im schwarzen Gehrock zeigte. In der Bar herrschte reger Betrieb. Es war einer dieser schönen alten Londoner Pubs, hell und freundlich möbliert, mit viktorianischen Goldspiegeln hinter der Mahagoni-Bar, in denen sich die ordentlich aufgereihten Flaschen spiegelten. Dora, die Bardame, saß auf einem Hocker hinter der Theke und rauchte eine Zigarette. »Hallo, Mr. Dillon. Lange nicht gesehen. Die Herrschaften sitzen dort in der Ecke.« Und genau so war es: Harry, sein Neffe Billy – neunundzwanzig Jahre alt, ein willensstarker junger Mann ohne jede Skrupel, der schon etliche Male getötet, meistens jedoch das Recht auf seiner Seite gehabt hatte – Joe Baxter und Sam Hall, Salters Mädchen für alles. Sie spielten Karten, und als Salter Dillon bemerkte, sah er ehrlich erfreut hoch. »Mensch, Dillon, schön, dich wieder zu sehen. Es ist lange her. Ich nehme an, du und Ferguson, ihr seid mit eurem üblichen Mumpitz beschäftigt?« »So was in der Art, ja«, erwiderte Dillon und rief Dora zu: »Bring mir bitte einen doppelten Bushmills, Schätzchen.« Billys Lächeln verschwand, dafür zeigte sich leichte Besorgnis in seiner Miene. »Ärger, Dillon?« »Wie kommst du denn darauf?« »Weil du ständig Ärger hast, und ich gelernt habe, die Zeichen zu deuten.« 94
Dora kam mit dem Whiskey, den Dillon auf einen Sitz herunterkippte. »Sagt dir der Name Charlie Harker etwas, Harry?« Salters Miene verdüsterte sich augenblicklich. »Diese elende Kanalratte. Ich habe ja nichts dagegen, wenn jemand Zigaretten verschiebt oder illegale Einwanderer aus Amsterdam einschleust, aber mit jungen Mädchen, Pornos und Drogen zu handeln – das ist für mich das Allerletzte.« »Was hast du denn mit dem zu tun?«, wollte Billy wissen. Dillon erzählte es ihnen. Als er geendet hatte, schüttelte Harry den Kopf. »Wir können es uns nicht leisten, dass Charlie irgendwelche komischen Schlüsse zieht.« »Es geht mir gar nicht so sehr um Harker. In erster Linie möchte ich wissen, wer ihn auf die Sache angesetzt hat.« Harry wandte sich Rat suchend an Billy. »Was meinst du?« »Wir haben Freitagabend. Das bedeutet Red Lion in Kilburn. Das Nebenzimmer dient Harker quasi als Büro. Da klopfen die Buchmacher an und liefern ihm ihre Schutzgeldzahlungen ab.« »Prima, dann schauen wir doch dort auf einen Sprung vorbei. Könnte den Abend ein wenig beleben.« Ali Selim fand einen Parkplatz in der Nähe des Red Lion, aber auf der anderen Seite der Straße. Er wollte gerade aussteigen, als ein großer Mercedes in seiner Nähe hielt und die Salters ausstiegen. Harry und Billy Salter erkannte er aufgrund eines Fotos, das man ihm gezeigt hatte, 95
Dillon auf Anhieb. Mit gesenktem Kopf blieb Selim im Wagen sitzen, bis die drei Männer die Straße überquert hatten und auf den Red Lion zusteuerten, dann erst verließ er seinen Peugeot und ging auf die andere Straßenseite. Dort suchte er in einem Hauseingang Deckung und beobachtete, wie Dillon und die Salters das Pub durch einen Seiteneingang betraten, und Baxter und Hall draußen blieben, um die Tür zu bewachen. Das war schlecht, sehr schlecht. Er wusste das und wartete mit trockenem Mund. Vor der Tür zu besagtem Nebenzimmer stand ein Mann und drehte sich erstaunt um, als er Salter sah, der ihn ungeniert angrinste. »Hi, Jacko, du siehst ja noch hässlicher aus als beim letzten Mal.« Salter packte ihn bei der Krawatte, schleuderte ihn herum, und Billy versetzte ihm ein paar kräftige Schläge aufs Brustbein und einen gezielten Kopfstoß. Jacko ging zu Boden, und Billy öffnete für seinen Onkel die Tür. Harker saß an einem Tisch und zählte diverse Geldbündel, während Mosby, der neben ihm saß, ihm dabei zuschaute. Beide sahen sie hoch, sichtlich erschreckt. »Na, Harry, was führt dich denn hierher?« »Da fragt gerade der Richtige, besonders nachdem ein paar Arschlöcher, die behaupten, für dich zu arbeiten, vor kurzem Dillon unten am Shepard’s Market belästigt haben. Und das kann ich nicht durchgehen lassen, weil Dillon nämlich ein Freund von mir ist.« »Ich habe keine blasse Ahnung, wovon du sprichst.« »Wirklich nicht, mein Lieber? Schade, dann müssen wir eben härtere Bandagen anlegen.« Als Mosby in seine 96
Jackentasche griff, hatte Dillon schon seine Walther in der Hand. »Keine Dummheiten, Freundchen«, sagte Salter. »Pack, was immer du da stecken hast, auf den Tisch und verschwinde, außer du legst Wert darauf, dass Dillon dir das Hirn rausbläst.« Mosby verlor keine Sekunde. Ohne zu zögern zog er eine .38 Smith & Wesson aus der Innentasche, legte sie auf den Tisch und verdrückte sich. »Ehrlich«, begann Harker. »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber …« Salter schlug ihm ins Gesicht. »Nimm ihn mit, Billy, und achte beim Rausgehen auf den Müll.« Billy schubste Harker durch die Tür, wo Baxter und Hall ihn in Empfang nahmen. »Wir fahren hinunter nach Wapping. Ich habe da ein hübsches altes Boot liegen, die Lynda Jones, aber die kennst du ja. Idyllische Nacht für eine kleine Ausfahrt, nicht wahr?« »Sag schon, Harry, was willst du von mir?« »Wissen, was du mit meinem Freund Mr. Dillon vorhattest, und wer dich dazu beauftragt hat.« »Keine Chance.« Harker klang keineswegs verängstigt. »Lass es gut sein, Harry, du hast keine Ahnung, auf was du dich da einlässt. Diese Leute, mit denen ich zu tun habe, schlucken dich in einem Stück.« »Oh, das wäre ja mal eine ganz neue Erfahrung für mich.« Salter war gänzlich unbekümmert. »An deiner Stelle würde ich noch mal darüber nachdenken, Charlie. Aber jetzt lasst uns gehen.« Von dem Hauseingang aus, in dem Ali Selim stand, hatte er alles mit anhören können, und das reichte ihm. 97
Er rannte zu seinem Peugeot und fuhr zurück zur Moschee, die er zwanzig Minuten später erreichte. Als Erstes rief er die Buchungszentrale am Heathrow-Airport an und buchte ein Erste-Klasse-Ticket für die nächste Maschine nach Kuwait, die in zwei Stunden starten sollte. Anschließend warf er ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer, zusammen mit dem Bargeld, das er Harker hatte geben wollen, und seinem Reisepass. Nach kurzem Zögern ging er zum Telefon und rief Ashimov an, der gerade mit Greta in einem italienischen Restaurant zu Abend aß. »Ich bin’s, Ali. Es gibt Probleme.« »Erzählen Sie.« Das tat Selim. »Ferguson und seine Leute kommen uns zu nahe, und falls Harker etwas ausplaudert, säße der Zorn Allahs ziemlich in der Klemme.« »Keine Panik. Ich kümmere mich darum. Bleiben Sie ganz ruhig, ja?« »Ärger?«, erkundigte sich Greta Novikova. Ashimov verlangte die Rechnung und setzte sie kurz ins Bild. Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Kannst du das regeln?« »Das solltest du mich eigentlich nicht fragen. Wir fahren jetzt mit dem Taxi zu meiner Wohnung, dort hole ich meinen Wagen und eine geeignete Waffe. Du kannst mich chauffieren.« Er lächelte ein brutales Lächeln. »Das sind nur gemeine Verbrecher, mein Schatz. Mit denen bin ich schon in Moskau fertig geworden und ich werde mich auch hier nicht von ihnen unterkriegen lassen.«
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Ali Selim klingelte indes nach Abdul, dem Hausmeister, und begegnete ihm auf halbem Weg zu seinem Wagen. »Es ist etwas vorgefallen. Ich werde umgehend im Irak gebraucht. Wie lange mein Aufenthalt dort dauern wird, kann ich nicht sagen, aber ich melde mich.« »Geht in Ordnung, Doktor.« Abdul stellte niemals Fragen, was das Kommen und Gehen des Imam betraf. Selim stieg in seinen Peugeot und fuhr los. Der Flughafen von Bagdad war wie so häufig für den Flugverkehr gesperrt, weshalb er den Flug nach Kuwait genommen hatte. Den Rest der Strecke würde er mit einem Auto zurücklegen. Es erstaunte ihn, wie fröhlich er wurde, je weiter er sich von der Queen Street entfernte und dem Flughafen näherte. Die Lynda Jones lag, vom Dark Man aus gesehen, am anderen Ende des Kais. Das Schiff, vor über fünfzig Jahren gebaut und liebevoll restauriert, war Harrys ganze Freude – erinnerte es ihn doch an seine wilde Jugendzeit hier am Fluss. Jetzt saß er mit Billy unter der Markise an einem Tisch, während Baxter und Hall Harker festhielten. Dillon stand am Heck an der Reling, betrachtete die Lichter, die sich auf dem Wasser spiegelten, und die gelegentlich vorbeigleitenden, hell erleuchteten Boote. Die ganze Gegend strahlte eine gewisse Melancholie aus, obwohl er angesichts seiner Situation nicht wusste, warum er das so empfand. Ein Schauer durchfuhr ihn, und er zündete sich eine Zigarette an. »Okay, Charlie«, sagte Harry in die Stille hinein, »ver99
trödle nicht meine Zeit. Wer hat dich beauftragt, diese beiden Schläger auf Dillon zu hetzen?« Harker versuchte sich loszumachen, mit dem Erfolg, dass Baxter und Hall den Griff um seine Oberarme nur noch verstärkten. Billy beugte sich vor und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Jetzt wurde Harker richtig wütend. »Ich habe dir doch gesagt, Harry, dass du keine Ahnung hast, worauf du dich da einlässt. Da geht es um gröbere Geschichten, glaub mir.« »Und was sind wir, kleine Fische vielleicht? Spar dir deine Weisheiten.« Salter nickte Billy zu. »Seht nach, ob der Kran funktioniert und schafft ihn fort.« Baxter und Hall drückten den sich heftig wehrenden Harker zu Boden, und Billy ließ den Haken vom Achterkran herunter, ergriff das daran befestigte Hanfseil und schlang es um Harkers Knöchel. Anschließend zogen Baxter und Hall am Seil, bis Harker ausgestreckt am Haken baumelte, dann schwangen sie ihn von Bord und ließen ihn kopfüber in den Fluss fallen. Dort hing er eine Weile, zappelte anfangs wie wild, wurde schwächer und nach einer Weile bewegte er sich nicht mehr. »Holt ihn rauf«, befahl Harry. Baxter und Hall zogen Harker wieder hoch, schwangen ihn über die Reling und luden ihn auf dem Deck ab. Dort lag er und erbrach in hohem Bogen Flusswasser. »Na, hast du genug?«, wollte Billy wissen. »Damit habt ihr euer eigenes Todesurteil unterschrieben«, stieß Harker schwach hervor. »Du verschwendest unsere verdammte Zeit«, knurrte Salter. »Ins Wasser mit ihm.« 100
»Nein, verdammte Scheiße. Ich sag es euch.« Sie machten ihn los und setzten ihn auf einen Stuhl. »Gib ihm eine Kippe«, sagte Salter zu Billy, und der steckte ihm eine Zigarette an. »Also«, begann Dillon. »Von wem kam der Auftrag, diese beiden Stümper auf mich zu hetzen?« »Von einem Russen. Ashimov heißt er. Er organisiert den Sicherheitsdienst für Belov, diesen Ölmilliardär. Ashimov hat Verbindungen zu Dr. Ali Selim, dem Imam von der Queen-Street-Moschee. Sie rekrutieren in England geborene Muslime für eine Organisation mit dem Namen Zorn Allahs. Um Leute in den Irak oder nach Syrien einzuschleusen. Dazu fahren sie mit einem meiner Boote nach Amsterdam, und von dort aus geht es mit gefälschten Pässen weiter nach Kuwait.« »Du verdammter Schweinehund«, schrie Salter außer sich. »Was machst du, wenn diese Irren zurückkommen und in London Bomben legen?« Ehe Harker antworten konnte, hörten sie einen einzelnen Schuss, der Harker über die Reling und ins Wasser beförderte. Ashimov zerrte Greta am Ärmel. »Komm schon, weg von hier«, und sie verschwanden in den Schatten. Sie hatten den Volvo in der Nähe des Dark Man geparkt und die Szene heimlich beobachtet und auch zum Teil verstanden, was gesagt wurde. Ohne eine Sekunde zu zögern hatte Ashimov eine Beretta gezogen, sorgfältig gezielt und abgedrückt. Er schoss nur selten daneben.
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Auf der Lynda Jones hatten sich die vier Männer auf den Boden geworfen. Sie warteten ab, und Billy streckte den Arm aus, um die Beleuchtung abzuschalten. Einen Moment später hörten sie, wie ein Motor angelassen wurde und ein Auto davonpreschte. »Okay, was immer das war, es ist vorbei«, sagte Salter. »Ich verwette meinen Kopf: Der Schuss kam von Ashimov«, erwiderte Dillon. Billy schaltete das Licht wieder an und spähte ins Wasser. »Keine Spur von Harker«, mutmaßte Dillon. Billy zuckte die Achseln. »Nein, und er wird wohl auch kaum noch einmal auftauchen. Das Wasser zieht ihn hinaus.« »Na ja, zumindest wissen wir jetzt, wo wir stehen«, stellte Dillon fest. »Wenn die Herrschaften mich also entschuldigen wollen, werde ich mich verabschieden und noch ein Wörtchen mit Ali Selim wechseln. Ich halte euch auf dem Laufenden.« »Nein«, sagte Billy. »Ich fahre dich im Range Rover hin.« In seinen Räumen in der Moschee war Abdul gerade dabei, ein spätes Abendessen zuzubereiten, als es an der Tür klingelte. Er ging hinaus, um zu öffnen, und fand sich Dillon gegenüber, der ihm einen leichten Stoß vor die Brust versetzte und eintrat. »Holen Sie Selim.« »Aber er ist nicht im Haus. Er hat es vor ein paar Stunden verlassen.« »Verlassen? Wo ist er hin?« 102
Abdul bekam es mit der Angst zu tun. »Er ist in den Irak unterwegs. Hat gesagt, dass etwas vorgefallen sei, was seine Anwesenheit dort nötig mache.« »Ach, ja? Und wann kommt er zurück?« »Das wusste er noch nicht genau. Er – er sagte, er würde sich melden.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen«, schnaubte Dillon. Dillon ging zurück zum Range Rover, und als Billy ihn fragte, ob alles im Lot sei, erzählte er ihm, was passiert war. »Ich würde sagen, der hat sich verpisst«, meinte Billy. »Nachdem er spitzgekriegt hat, dass du hier herumschnüffelst, hat er das Weite gesucht. Und jetzt?« »Jetzt rufe ich Ferguson an.« Als er Ferguson in der Leitung hatte, sagte dieser: »Irgendwie scheinen wir im Trüben zu fischen. Ich werde mich mit Roper in Verbindung setzen. Wir treffen uns gleich bei ihm.« Dillon wandte sich zu Billy um. »Regency Square.« »Die Wohnung des Majors? Die Sache scheint langsam interessant zu werden. Wie in alten Zeiten.« Er fuhr los. Kurz darauf klingelte es wieder an der Tür zur Moschee. Diesmal war es Ashimov, der, gefolgt von Greta, an Abdul vorbei hereinstürmte. Inzwischen war Abdul reichlich ungehalten. »Er ist nicht da. Doktor Selim ist weggefahren.« »Was zum Teufel soll das heißen, er ist weggefahren?« »Er ist auf dem Weg in den Irak.« 103
Ashimov stand da wie vom Donner gerührt. »Wann hat er das Haus verlassen?« »Vor zwei Stunden oder so.« »Erzählen Sie mir genau, was er gesagt hat.« Abdul berichtete und setzte dann noch hinzu: »Vor kurzem hat noch jemand nach ihm gefragt. Ein kleiner Mann mit hellen Haaren. Der Kerl hat mir richtig Angst eingejagt.« »Das glaube ich«, erwiderte Ashimov grimmig und drehte sich zu Greta um. »Gehen wir.« Sie stiegen in den Volvo. »Und wohin jetzt?«, fragte Greta. »Zurück in meine Wohnung. Wir werden das nachprüfen. Nach Bagdad direkt kann er nicht geflogen sein, denn der Flughafen ist für den normalen Flugverkehr gesperrt. Er kann also nur einen Flug nach Kuwait gebucht haben.« »Das heißt?« »Wir fliegen ihm hinterher. Ich selbst kann leider nicht; Belov braucht mich auf seinem Anwesen in Nordirland. Aber du kannst fliegen. Halte dich an unsere GRUKontakte, die werden dich direkt nach Bagdad schleusen. Du kannst dich auf Belov berufen, falls es notwendig sein sollte. Ich werde dir auch eine hübsche Waffe besorgen.« Sie holte tief Luft. »Bist du sicher?« »Mal wieder Schießpulver riechen, Greta, das wird dir gefallen.« »Okay, ich fliege.« »Aber sei vorsichtig. Ich an Fergusons Stelle würde am Ball bleiben. Er wird auch jemanden nach Bagdad schicken.« 104
»Dillon?« »Sehr wahrscheinlich. Er spricht gut Arabisch und Russisch und hat viel Erfahrung im Mittleren Osten. Aber Genaueres finde ich noch heraus.« »Zur Hölle mit ihm. Ich fliege trotzdem.« »Tapferes Mädchen.« Er lächelte, als sie am Buckingham Palace vorbeifuhren. »Aber steig nicht in der Botschaft ab. Im Al Bustan ist es viel lustiger.« Ferguson, Dillon und Billy standen neben Ropers Computertürmen. Eine Weile tanzten die Finger des Majors flink über die Tasten, dann lehnte er sich zurück. »Definitive Bestätigung. Es gab eine kurze Verspätung, aber vor einer Stunde ist der Jumbo gestartet. Selim hat Sitz Nummer 3A in der Ersten Klasse. Nobel. Ich kann den Herren außerdem mitteilen, dass das sein vierter Flug nach Kuwait in den letzten zehn Monaten ist.« »Was noch?«, drängte Ferguson. »Ich habe hier den Namen der Mietwagenfirma am Flughafen. Es ist immer die gleiche. Und er steigt in Bagdad im Al Bustan ab. Ein gutes Hotel, nur ein bisschen lädiert vom Krieg. Wird überwiegend von Korrespondenten und Journalisten bevölkert.« »Familie?«, fragte Dillon. »Ja, er hat noch einige Verwandte im Irak, in einer kleinen Stadt namens Muhammad, etwa vierzig Kilometer nördlich von Bagdad. Sein Großonkel lebt dort auf einer kleinen Farm am Tigris. Ich habe mir einen Umgebungsplan aus dem Internet gezogen. Recht detailliert.« 105
»Irgendwelche Informationen über diese Gruppe Zorn Allahs?« »Da bin ich noch am Suchen. Aber wir können jederzeit Sharif fragen.« »Und wer ist das?«, erkundigte sich Dillon. »Zu Saddams Zeiten ein Major der Republikanischen Garde. Geheimdienst. Arbeitet schon eine ganze Weile für mich. Sehr teuer, der Knabe, aber er ist jeden Penny wert. Ich gebe dir sein Foto und die nötigen Einzelheiten.« »Warum arbeitet er nicht für die Amerikaner?« »Auf die ist Sharif nicht sonderlich gut zu sprechen. Hat seine Frau und seine Tochter bei einem Bombenangriff während des Kriegs verloren. Er wird dir von großem Nutzen sein, wenn du dort bist.« »Demnach habe ich also das große Los gezogen?« »Es ist von größter Wichtigkeit, mein Junge, dass Sie Selim finden und zurückbringen«, bestätigte Ferguson. »Wir haben bereits einige Informationen über ihn, aber da gibt es noch eine ganze Menge, was wir außerdem wissen müssen, insbesondere was seine Deals mit Ashimov und Belov betrifft.« »Demnach soll ich ihn also nicht ins Jenseits befördern?« »Wie angenehm, dass Sie das Kind immer beim Namen nennen. Nein, nicht wenn es sich vermeiden lässt. Unsere russischen Freunde werden da anderer Auffassung sein, aber das muss uns ja nicht kümmern. Superintendent Bernstein bereitet Ihre Papiere vor. Es wird Sie freuen zu hören, dass Sie als Korrespondent für den Belfast Tele106
graph unterwegs sein werden. Sie erstellen Analysen, sammeln Meinungen, sind aber nicht für neueste Meldungen zuständig. Ihr nordirischer Akzent wird Ihrer Rolle sehr zuträglich sein. Hannah hat bereits Lacey und Parry angefordert. Wir nehmen die Citation XL. Als Maschine der Royal Air Force kann sie in Bagdad landen, da der Flughafen ansonsten für Verkehrsflugzeuge gesperrt ist.« In diesem Moment ertönte der Türsummer, und Roper öffnete per Knopfdruck. Es war Hannah Bernstein. »Läuft alles?«, fragte Ferguson. »Ich denke schon, Sir. Dillons Papiere sind in Arbeit, das Flugzeug wird morgen früh startbereit sein, und ich habe mit Sharif gesprochen. Er bucht ein Zimmer im Al Bustan. Damit wäre so ziemlich alles unter Dach und Fach.« »Da bin ich anderer Meinung«, hielt Billy dagegen. Ferguson sah ihn verwundert an. »Und weshalb?« »Weil Dillon nicht allein reisen sollte. Wenn er, ohne Misstrauen zu erregen, als Zeitungsreporter durchgehen soll, braucht er einen Fotografen, der ihn begleitet. Ich meine, was er eigentlich braucht, ist jemand, der ihm Rückendeckung gibt, und es wäre in diesem Fall sogar noch besser, wenn dieser jemand auch noch etwas von Fotografie verstünde.« »Und Sie verstehen etwas davon?« »Nachdem Kate Rashid und Konsorten mir in Hazar fast die Seele aus dem Leib geschossen hatten, musste ich wohl oder übel mein Lieblingshobby, das Tauchen, aufgeben und habe mich dann der Fotografie zugewandt. Hab sogar am Londoner College of Printing einen Kurs belegt.« 107
»Und Sie glauben, Sie kennen sich in diesem Metier aus?« »Zuallererst brauche ich einmal zwei Kameras, wenn nicht sogar drei. Sie wissen ja, wie diese Fotografen in den Kriegsgebieten aussehen, voll behängt mit den Dingern. Und natürlich Objektive. Ein Weitwinkel und einen Zoom. Nikon. Auf eine Digitalkamera verzichte ich, glaube ich, denn in dem Fall müsste ich auch noch einen Laptop mitschleppen. Das wäre dann so weit alles, denke –« »Um Gottes willen, ersparen Sie mir weitere Einzelheiten.« Ferguson wandte sich an Hannah. »Bitte, beschaffen Sie auch für ihn die notwendigen Papiere, Superintendent.« Und dann an Dillon gewandt: »Sind Sie damit einverstanden?« »Absolut.« »Gut. Nachdem Sie mit der Royal Air Force fliegen, sollte es keine Probleme wegen diverser Waffen geben.« Er fragte Roper: »Haben Sie den Bericht über Belov zur Hand?« »Liegt hier.« Roper reichte ihm fünf Kopien. »Hervorragend.« Ferguson nahm eine davon und gab auch Dillon eine. »Damit Sie auf dem Flug etwas zu Lesen haben.« »Ich kann es kaum erwarten.« »Nehmen Sie sich auch eine Kopie, Superintendent, und Sie, mein junger Salter, Sie sollten schnurstracks nach Hause fahren und Harry die frohe Botschaft überbringen. So, wir haben alle eine Menge zu tun. Daher würde ich vorschlagen, dass wir uns unverzüglich an die Arbeit machen.« 108
Der Flughafen der Royal Air Force in Northolt, am Stadtrand von London gelegen, wurde nicht nur von der königlichen Familie, dem Premierminister und anderen hochrangigen Politikern benutzt, sondern auch von Geschäftsleuten mit ihren Privatmaschinen. Und dort geleitete Ashimov am folgenden Morgen Greta Novikova zu einer startbereiten Falcon. Die zwei Piloten waren Briten, Kelso und Brown, aber die Stewardess war Russin und stellte sich mit Tanja vor. Ashimov küsste Greta auf beide Wangen. »Gute Reise. Im Hotel wird jemand mit dir Kontakt aufnehmen. Alles Weitere erfährst du dort.« »Nur noch eine Frage, Yuri. Soll ich ihn ausschalten?« »Wie du es für angebracht hältst, meine Liebe. Obgleich es doch sehr den Anschein hat, als habe er seine Pflicht erfüllt, meinst du nicht?« Er lächelte. »Und jetzt ab mit dir.« Wenig später, als er die Falcon bei ihrem Steigflug beobachtete, lächelte er vor sich hin. Was für eine Frau. Ein richtiges Prachtweib. Mit diesem Gedanken drehte er sich um und schlenderte zurück zu seiner wartenden Limousine. In Farley Field, dem kleinen RAF-Fliegerhorst, der von Ferguson und seinen Leuten für verdeckte Operationen benutzt wurde, standen Squadron Leader Lacey und Flight Lieutenant Parry vor einer Citation XL und warteten auf Dillon, Ferguson und Hannah, die soeben in dem Daimler auf das Rollfeld gefahren kamen. Beide Männer steckten in Fliegeroveralls mit ihren jeweiligen Rangab109
zeichen, und die Maschine trug die Embleme der Royal Air Force. »Schön, Sie zu sehen, Sean«, begrüßte ihn Lacey. »Mal wieder in gefährlicher Mission unterwegs?« »Ach, Sie kennen mich doch«, grinste Dillon und gab Parry seine Tasche, damit er sie an Bord brachte. »Der Quartiermeister hat eine Tasche für Sie an Bord hinterlassen. Er meinte, Sie würden alles Notwenige darin finden«, sagte Lacey. »Ausgezeichnet«, befand Ferguson. In diesem Augenblick bog ein Aston Martin um die Ecke des kleinen Flughafengebäudes, dem Harry und Billy entstiegen. Harry trug die Tasche seines Neffen, als sie auf den Rest der Truppe zugingen. »Das hast du mal wieder gut hingekriegt, Dillon, du kleiner irischer Bastard«, lautete Harrys Begrüßung. »Gut, wir haben harte Zeiten gemeistert, aber Bagdad! Ist das nicht ein bisschen happig, selbst für dich?« Während Harry Parry Billys Gepäck reichte, erwiderte Dillon: »Ich fliege auf Befehl von unserem Boss hier, Harry, und Billy hat sich freiwillig angeboten.« »Der ist scheinbar auch nicht schlauer.« Hannah nahm zwei Umschläge für Dillon und Billy aus ihrem Aktenkoffer. »Neue Pässe, aber auf eure richtigen Namen ausgestellt. Die Stempel beweisen, dass ihr in den vergangenen Jahren wirklich in jedem einzelnen Kriegsgebiet wart. Die Presseausweise sind in Ordnung, außerdem werdet ihr Empfehlungsschreiben finden. Hoffentlich hat Sharif bei eurer Ankunft wichtige Informationen für euch.« 110
Im selben Augenblick klingelte Fergusons Handy, und er meldete sich. »Ja?« Falten gruben sich in seine Stirn. »Verstehe. Danke.« Er ließ das Handy wieder in seine Tasche gleiten. »Roper. Eine Falcon, auf die Firma Belov International registriert, ist vor einer Stunde von Northolt gestartet – mit Greta Novikova an Bord. Ziel: Bagdad.« »Welche Überraschung«, meinte Dillon recht gleichgültig. Harry umarmte Billy und wandte sich an Dillon: »Bring ihn mir ja wieder unversehrt zurück, mein Freund, sonst …« Als Billy die Treppe hinaufstieg, zögerte Hannah kurz, dann küsste sie Dillon auf die Wange. »Viel Glück«, sagte sie etwas verlegen. Er lächelte. »Passen Sie auf sich auf, Dillon«, schloss Ferguson sich an. »Es würde mir wirklich ernsthafte Ungelegenheiten bereiten, wenn Sie beide nicht heil zurückkommen. Und was Selim betrifft, so denke ich, ist er ein toter Mann, wenn die Russen ihn erwischen. Ich glaube, die Novikova ist nur seinetwegen in den Irak geflogen. Tun Sie also, was Sie für richtig halten. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« »Aber gewiss doch, Sir, wie immer.« Dillon stieg ins Flugzeug und nahm neben Billy Platz. Parry verriegelte die Tür und gesellte sich dann zu Squadron Leader Lacey ins Cockpit, der bereits die Motoren angelassen hatte. »Auf geht’s«, sagte Billy mit einem schiefen Grinsen. »Wieder einmal mitten hinein in ein verdammtes Kriegsgebiet.« 111
»Billy, du alter Heuchler. Das liebst du doch.« Dillon öffnete seine Tasche und holte Ropers Unterlagen heraus. Er fing an zu lesen, während Billy sich durch die Daily Mail arbeitete. Nach etwa zwanzig Minuten war er fertig. »Und, irgendwas Interessantes?«, erkundigte sich Billy. »Roper hat wirklich gute Arbeit geleistet. Er sollte Thriller schreiben.« Er warf Billy den Bericht auf den Schoß. »Hier, lies selbst, damit du weißt, mit wem wir es zu tun haben. Das Leben und Wirken des Josef Belov.«
JOSEF BELOV DIE ANFÄNGE
6.
Damals, zu Beginn des Tschetschenienkriegs, Josef Belov meinte, das sei im Jahre 1991 gewesen, tötete er als Oberst des KGB fünf russische Soldaten. Belov war Chef der Sektion Drei des KGB, die sich vornehmlich mit der Informationsbeschaffung aus dem Westen beschäftigte. Da jedoch Tschetschenien ein Fall von höchster Priorität war, fand er sich eines Tages in einem Wagen wieder, der ihn durch die einstmalige Hauptstadt von Tschetschenien fuhr. Er saß vorn neben dem Fahrer, ausgerechnet in einem amerikanischen Jeep, bewacht von Fallschirmjägern, die eine große Anzahl amerikanischer Fahrzeuge beschafft hatten, weil diese sich in kriegerischen Auseinandersetzungen bestens bewährt hatten. Belov wurde von einem Unteroffizier chauffiert, und hinter ihnen stand ein zweiter, der ein schweres Maschinengewehr bediente, das auf eine Schwenkachse montiert war. Belov selbst hielt eine ungewöhnliche Waffe in der Hand, eine Uzi, eine israelische Maschinenpistole, deren Magazine mit Klebeband zusammengefügt waren, um ein sofortiges Nachladen zu garantieren. Überall wimmelte es nur so von Flüchtlingen. Überwiegend Frauen und Kinder, die wackelige, mit irgendwelchen ärmlichen Habseligkeiten beladene Karren vor sich her schoben und immer wieder in Panik aufschrien, wenn die Geräusche des Krieges über sie hereinbrachen: 115
einschlagende Granaten, Gebäude, die in riesigen Staubwolken einstürzten, Hubschrauber, die über ihre Köpfe hinwegflogen und Raketen auf tschetschenische Verteidigungsposten abfeuerten. Das alles ließ Belov, den alten Afghanistan-Hasen relativ unberührt. Nicht jedoch der Anblick einer Hand voll Soldaten, die um einen am Straßenrand geparkten Armeelaster hockten und offenbar darauf warteten, bis die Reihe an ihnen war, das junge Mädchen, das auf dem Fahrersitz lag, zu vergewaltigen. Belov gab ein Zeichen, und der Jeep hielt an. In der Nähe des Lasters bemerkte er eine alte Frau mit blutverschmiertem Gesicht. Sie machte sich von dem Mann frei, der sie festhielt, und stürzte auf Belov zu. »Herr, ich flehe Sie an. Meine Tochter ist erst dreizehn.« Zwei Soldaten packten sie und zerrten sie von Belov weg. »Lasst sie los«, befahl Belov. Sie starrten ihn aus irren Augen an, die Gesichter dreckig und verschwitzt. Einer von ihnen schrie: »Wer zum Teufel glaubt der denn, dass er ist?«, und zog eine Pistole aus dem Holster. Belov war schneller, hob seine Uzi, schoss ihn durch den Kopf, schwang herum, als der andere Soldat die Frau gerade vor seinen Körper zerrte, und feuerte eine kurze Salve ab, die unglücklicherweise nicht nur den Soldaten, sondern auch die alte Frau tötete. Jetzt fuhren auch die anderen Soldaten herum, und Belov feuerte wieder und wieder. Einige der Soldaten schossen zurück, doch nun kam der Unteroffizier mit dem schweren Maschinengewehr 116
Belov zu Hilfe. Schließlich lagen die Männer kreuz und quer auf dem Gehsteig. Das Mädchen befand sich noch im Führerhaus, Belov sah sie ganz deutlich, und dann explodierte der Tank und verwandelte den Lastwagen in einen glühenden Feuerball. Belovs Fahrer legte sofort den Rückwärtsgang ein. Der Unteroffizier meinte: »Das war richtig von Ihnen, Oberst. Ich habe selbst zwei Töchter in Moskau.« »Ich nicht. Ich habe es getan, weil es vor den Augen Gottes passiert ist. Ein berühmter Mann namens Oliver Cromwell hat diesen Spruch geprägt. Ein General, der England zur ersten Republik Europas machte.« Belov zog sein Zigarettenetui hervor, nahm eine Zigarette heraus und bot auch seinen beiden Begleitern eine an. »Fahren wir weiter. Sie behaupten immer, dass es besser wird. Aber in diesem Fall … bezweifle ich das.« Josef Belov, 1943 in der Ukraine geboren, hatte seinen Vater nie kennen gelernt, einen Bauern, der wie etliche Millionen anderer Sowjets in den Krieg gegen die NaziInvasion gezogen und nicht zurückgekehrt war. Die Großfamilie wurde von seiner Mutter zusammengehalten. Sie bewirtschafteten gemeinsam ihr Land, bis eine Gruppe benachbarter Bauern, die beschlossen hatten, sich den Deutschen anzuschließen, auftauchten, die Scheunen und Gebäude in Brand steckten, die alten Männer erschossen und sich an den Frauen vergingen. Belovs Mutter überlebte und schaffte es, sich nach Moskau durchzuschlagen, wo sie Verwandte hatte. Was Belov nach Abschluss der staatlichen Schule rettete, war 117
die Einberufung. Bei der Roten Armee bemerkte man schnell, dass Belov Köpfchen besaß. Er wurde gefördert, auf verschiedensten Gebieten getestet und schließlich auf eine Offiziersanwärterschule geschickt. Anschließend besuchte er die Moskauer Universität, wo er im Fachbereich Sozialpsychologie seine Nische fand, der Wissenschaft, die sich mit dem Verhalten von Menschen in Gruppen beschäftigt. Kombiniert mit dem Nebenfach Moralphilosophie und seiner Begabung für Fremdsprachen landete er nach Abschluss seines Studiums mehr oder minder zwangsläufig beim KGB. Nach 1979, als die Sowjets in Afghanistan einmarschiert waren, fand sich Belov mitten in diesem Kriegsgeschehen wieder, und viele Jahre lang stand er einem Feind gegenüber, der, von den Taliban angespornt, ein Experte darin war, den jungen Wehrpflichtigen, die ihm in die Hände fielen, bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen. Das Entmannen war nur ein Nebenprodukt. Zumindest versetzte ihn der Dienst in Afghanistan in die Lage, die arabische Sprache zu erlernen. Doch die Brutalität, die Grausamkeiten und die schiere Barbarei, die er dort erleben musste, hinterließen tiefe Spuren in seiner Seele, die sich nie mehr glätten ließen. Für eine Ehe und die Annehmlichkeiten des Lebens blieb keine Zeit. Er war immer beschäftigt – arbeitete für die Sektion Drei zum Beispiel in Nordirland, wo er den irischen Konflikt durch Waffenlieferungen an die IRA am Kochen hielt. Er baute dort nützliche Kontakte auf, besonders in der Gegend um Drumore in Louth County, wo der örtliche IRA-Kommandeur, ein Mann namens 118
Dermot Kelly, im Laufe der Jahre beinahe unentbehrlich wurde. Und dann, 1988, im Alter von fünfundvierzig Jahren und inzwischen zum Major aufgestiegen, begegnete er Ruth. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und vom Naturell her das krasse Gegenteil: tief religiös, wie ihr biblischer Name bereits verhieß, Lehrerin und Sozialarbeiterin, der ausschließlich das Wohl anderer Menschen am Herzen lag. Belov, der knallharte Mann und Soldat, der getötet hatte, wenn es notwenig war, erlag ihrem Liebreiz, ihrer Einfachheit und Freundlichkeit. Als sie feststellte, dass sie schwanger war, war er überglücklich gewesen, und dann passierte es. Eines Abends hatte sie einen Elternabend angesetzt. Sie hatten verabredet, dass er sie später von der Schule abholen wollte, doch ihm kam etwas dazwischen, eine KGB-Angelegenheit, die natürlich Vorrang hatte. Ruth hatte sich zu Fuß auf den Heimweg gemacht, im strömenden Regen, und irgendwo unterwegs war sie überfallen worden. Ihre halb nackte Leiche war am nächsten Morgen in einer kleinen Seitenstraße nahe dem Red Square gefunden worden. Als Belov später im Leichenschauhaus stand und auf ihr schändlich zugerichtetes Gesicht hinabstarrte, packten ihn eine solche Wut und ein kaltes Entsetzen, dass seine Seele zu Eis gefror und mit ihr all seine Menschlichkeit. Er brauchte keine Polizei, keine Miliz. Mithilfe des langen, grausamen Arms des KGB fand er die beiden ver119
antwortlichen Männer und ließ sie sich vorführen. Als er in ihre betrunkenen, von Drogen zerstörten Gesichter schaute, wusste er, was er zu tun hatte. Man hätte sie wegen diverser Verbrechen, einschließlich des Mordes an Ruth vor Gericht stellen und später nach Lubianka schicken können, doch das hätte Verhandlungen, Papierkram und Aussagen vor Gericht bedeutet. Stattdessen ließ er nach einem jungen Leutnant schicken, den man ihm nach schwerer Verwundung in Afghanistan zugewiesen hatte. Yuri Ashimov wurde in Sibirien geboren. Wie Belov hatte auch er seinen Weg in der Armee gemacht und war ebenfalls in Afghanistan gewesen, wo er sich einen Namen gemacht hatte. Er konnte sein Glück kaum fassen, als man ihn Belov, dem Chef von Sektion Drei zuwies, denn Belovs Heldentaten in Kabul hatten ihn zur Legende gemacht. Als er vor Belovs Schreibtisch stand, spürte er dessen Schmerz, spürte ihn geradezu am eigenen Körper, so als ob dieser Mann sein Zwillingsbruder wäre. »Major, was kann ich für Sie tun?« »Ich werde eine Anweisung unterschreiben, wonach diese beiden Schweinehunde aus Lubianka entlassen werden. Es wird keine Wachen geben, nur Handschellen. Dann werde ich an einem geeigneten Platz am Fluss auf sie warten. Ich werde sie persönlich hinrichten, Yuri. Was danach passiert, ist mir egal. Falls ich Konsequenzen zu tragen habe, dann soll es so sein.« »Nun, das macht mir Sorge, Major. Bei allem Respekt, 120
aber ich möchte nicht mit ansehen müssen, wie einem unserer größten Helden Übles geschieht. Überlassen Sie die Sache mir. Ich werde die Männer da rausholen, ohne dass Ihr Name irgendwo auftaucht.« »Und wie wollen Sie das anstellen?« »Ich verfüge über Kontakte, Major. Irgendwo am Fluss, sagten Sie? Ich werde sie zur Gorsky Bridge bringen, ihnen die Handschellen abnehmen, und dann können Sie nach Gutdünken mit ihnen verfahren.« »Das würden Sie für mich tun?« »Selbstverständlich, Major. Es wäre mir eine Ehre.« Und so kam es, dass ihre Beziehung im Laufe der Jahre immer enger und intensiver wurde, und als 1992 die Regierungstruppen in Afghanistan das Handtuch warfen, waren Belov, inzwischen im Rang eines Oberst, und Ashimov, zum Hauptmann avanciert, mit unter den Letzten, die das Land verließen, begleitet von einem anderen KGB-Oberst namens Putin. In jener Zeit überlappten sich etliche wichtige politische Ereignisse: Die tschetschenische Republik erklärte ihre Unabhängigkeit, es folgten das Gemetzel des Bürgerkriegs, Gorbatschow, das Ende der UdSSR, der Fall der Berliner Mauer und dann die verrückten Blütejahre der Russischen Föderation und Jelzins; Jahre, die Josef Belov zu einem der größten Ölmagnaten der Welt und zum Gründer von Belov International machten. Als Spezialist für subversive Aktivitäten in der westlichen Welt, für das Stiften von Chaos, Verunsicherung und Angst, hatten die Ereignisse von 1991 und der erste Golf121
krieg Belov ein ganz neues und weites Feld für diverse Geschäfte eröffnet. Belov war einige Jahre lang in Nordirland aktiv gewesen, hatte die provisorische Irisch-Republikanische Armee mit Waffen beliefert und unter anderem diverse Regimekritiker und anders denkende Elemente mit muslimischen Terrorgruppen im Nahen Osten zusammengebracht. Dabei nutzte er die Tatsache, dass das Erlöschen des Kampfgeistes unter den Mitstreitern der IRA viele wütende, frustrierte junge Männer zurückgelassen hatte. Wie es die Iren schon seit Jahrhunderten taten, verpflichteten sie sich als Söldner im Ausland, wo ihre Fähigkeiten gefragt waren und gut bezahlt wurden. Und was wäre da nahe liegender gewesen als der Mittlere Osten, insbesondere der Irak nach dem Ende des Kriegs? Und so florierten Belovs Kontakte auf beiden Seiten. Dann, nach den bewegten Jahren der Jelzin-Regierung, änderte sich plötzlich alles. Die Privatisierung eines beträchtlichen Teils der russischen Wirtschaftsunternehmen wurde zum Gebot der Stunde, und das behagte Belov ganz und gar nicht. Er bevorzugte eine klare Ordnung, Disziplin und eine starke Hand. Vielleicht hatten all die Bücher, die er über Oliver Cromwell gelesen hatte, ihn mehr beeinflusst, als ihm bewusst war. Also zog er ein paar Fäden, ging nach Bagdad und nahm Ashimov mit. Es war eine turbulente Zeit. Saddam verfolgte die Kurden mit Giftgasangriffen und schlug die schiitische Revolte mit eiserner Hand nieder. Das Land und seine Bewohner litten wirtschaftliche Not, und das nicht nur wegen des Öl-Embargos. Belov sah genau, wohin das führte. 122
Tatsache war, dass er plötzlich ein Interesse für Erdöl entwickelte, das ihm bislang unbekannt war. Eines Abends, als er auf der Terrasse der russischen Botschaft saß und mit einem Glas Wodka in der Hand auf den Tigris blickte, sagte er zu Ashimov, inzwischen Major: »Yuri, haben Sie eine Vorstellung, welche immensen Möglichkeiten sich mit den Ölvorkommen in Westsibirien erschließen? Dort gibt es Unmengen von Erdgas, Kohle und mit die reichsten Eisenerzvorkommen der Welt. Doch bislang ist der Markt kaum entwickelt. Zu viel Einmischung seitens der Regierung. Eine unsägliche Verschwendung, genau wie hier im Irak.« »Was Sibirien betrifft, so weiß ich das nicht, aber hier können Sie, glaube ich, nicht viel ausrichten. Wenn Saddam wieder zu voller Form aufläuft, wird er die Yankies und die Briten zu einer weiteren Invasion anstacheln.« »Glauben Sie tatsächlich, er könnte so verrückt sein?« »Absolut.« Ashimov erhob sich. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen möchten, ich habe eine Verabredung. Zum Abendessen und vielleicht anschließendem Tanz im Al Bustan.« »Ah, die neue GRU-Maus. Das Fräulein Leutnant?« »Greta Novikova. Superklasse. Warum begleiten Sie uns nicht?« Das Telefon auf Belovs Schreibtisch klingelte, und Belov nahm ab, wobei er sofort ins Arabische wechselte. Dann schwieg er, lauschte und legte nach einer Weile mit gefurchter Stirn den Hörer auf. »Was zum Teufel hat das nun wieder zu bedeuten?« 123
»Ich kann Ihnen leider nicht antworten, wenn Sie mich nicht ins Bild setzen.« »Das war der Häuptling höchstpersönlich. Saddam. Er will mich umgehend im Präsidentenpalast sprechen.« »In welchem?«, fragte Ashimov nüchtern. Belov überging den Einwurf. »Ihr Abendessen können Sie vergessen. Rufen Sie diese Greta lieber an, und entschuldigen Sie sich für heute. Ich brauche Sie.« »Selbstverständlich, Oberst, zu Ihren Diensten«, erklärte Ashimov und griff zum Telefon. Sie fuhren in einem Range Rover durch die Stadt. Vor dem Präsidentenpalast trafen sie auf eine kleine Menschenmenge und ein paar Autos. Sie hielten vor dem Tor, und als Belov seinen Ausweis vorgezeigt hatte, wurden sie mit einer Geschwindigkeit abgefertigt, die zeigte, dass sie erwartet wurden. Vor der großen Freitreppe, die zum Palast führte, hielten sie abermals an. »Sind Sie bewaffnet?«, fragte Belov. Er zog eine Walther aus seinem linken Achselholster, und Ashimov brachte eine Beretta zum Vorschein. »Selbstverständlich.« Belov klappte das Handschuhfach auf und legte die Walther hinein. »Und nun Sie. Wenn wir die Waffen mitnehmen, lösen wir sämtliche Alarmanlagen im Palast aus.« Sie stiegen die Stufen zum Eingangsportal hinauf, wo sie von einem Oberst der Armee bereits ungeduldig erwartet wurden. »Oberst Belov, er fragt ständig nach Ihnen. Hier entlang bitte. Ich bin Oberst Farouk.« Die Beleuchtung war gedämpft, die Statuen in den mit 124
Marmorfliesen ausgelegten Fluren nur schemenhaft zu erkennen. Vor einer mit Kupfer beschlagenen Flügeltür, die von zwei Wachen flankiert wurde, blieben sie stehen. Der Oberst trat ein. Einen Moment später kam er wieder heraus. »Er wird Sie jetzt empfangen, meine Herren«, verkündete er, ehe er sich vorbeugte und Belov noch rasch zuflüsterte: »Seien Sie vorsichtig, Oberst, um unserer aller willen. Er befindet sich in einer seiner manischen Phasen. Da muss man mit allem rechnen.« Er schob die Tür auf und führte sie hinein. Saddam saß hinter einem riesigen Schreibtisch über diverse Akten gebeugt und schaute zu seinen Besuchern hoch. Er trug Zivilkleidung. Er stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und streckte Belov die Hand entgegen. »Oberst Belov, schön Sie zu sehen. Und wer ist das?«, begann er auf Arabisch. »Major Yuri Ashimov, mein Berater.« »Auch vom KGB oder GPU oder wie euer Geheimdienst heute heißt? Existiert Sektion Drei nicht mehr? Ich verlasse mich nämlich auf Moskau.« »Exzellenz, seien Sie versichert, dass Sektion Drei für den speziellen Zweck, für den sie erschaffen wurde, noch sehr wohl existiert, obgleich viele unserer Vorgesetzten über Veränderungen nachdenken.« Saddams Augen begannen zu glitzern. Er wirkte, als wollte er auf etwas Bestimmtes hinaus, und tigerte ruhelos vor seinem Schreibtisch auf und ab. »Setzen Sie sich.« Er deutete auf zwei Sessel. »Gut zu wissen, dass Sie noch operieren, Belov. Ich ha125
be Sie stets als Freund betrachtet, aber die Zeiten sind unsicher geworden, die Amerikaner lauern nur auf eine Gelegenheit, zuzuschlagen. Ich habe alle Bedingungen erfüllt, die sie gestellt haben, und was passiert? Das Öl bleibt immer noch im Boden, keine Chance, es zu fördern.« Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber er fuhr aufgebracht fort: »Und diese Sperrzone! Ich werde ständig von ihrer Air Force bedrängt.« In diesem Moment erklang in der Ferne das Heulen einer Sirene, und gleichzeitig gingen im Palast sämtliche Lichter aus. Saddam eilte an eines der großen Fenster und sah zu, wie nun auch in der ganzen Stadt die Lichter erloschen. »Verflucht seien sie! Ich habe mich noch nie so machtlos gefühlt. Aber was kann ich dagegen machen?« Er drehte sich um, die Hände in einer hilflosen Geste ausgebreitet. »Sagen Sie mir, was kann ich tun?« Sein plötzliches Lächeln hatte etwas Wahnsinniges, und er schwitzte, als er sich unvermittelt umdrehte, den nächst besten Stuhl packte und quer durch den Raum schleuderte. Kurz darauf schien er sich wieder im Griff zu haben. »Aber, aber, ich bin wirklich ein schlechter Gastgeber. Also, wie wäre es damit? Frauen oder Wein? Nein, das ist langweilig. Ich brauche Action, wie die Amerikaner das nennen. Sagen Sie, Oberst, sind Sie mit einer Limousine der Botschaft gekommen?« »Nein, Exzellenz. Major Ashimov hat uns in einem Range Rover hergefahren.« »Ein Range Rover?« Die Lichter gingen wieder an, zu126
erst im Palast, dann auch in der restlichen Stadt. »Ach, ich bin schon lange nicht mehr in einem Range Rover gefahren. Ich bin sicher, Sie borgen ihn mir.« »Selbstverständlich, Exzellenz.« »Gut, dann gehen wir.« Saddam ging voraus. Nur Eingeweihte wussten, dass Saddam Hussein regelmäßig spätabends durch die Stadt streifte und dabei selbst den Wagen lenkte, oft ohne irgendwelche Leibwächter, obwohl Belov gehört hatte, dass seine Wachen gewöhnlich versuchten, ihn zu beschatten. Farouk musste rennen, um mit Saddam Schritt zu halten. Belov zupfte Ashimov am Ärmel, um ihn zurückzuhalten. »Er hat eine seiner verrückten Launen, deshalb ist es besser, wir schwimmen einfach mit der Strömung. Ich weiß nicht, was passieren wird, aber sobald wir in den Range Rover steigen, bewaffnen wir uns wieder.« »Verstanden, Oberst.« Sie durchquerten das Portal und erreichten die Treppe, als sie Farouk in flehendem Tonfall sagen hörten: »Erlauben Sie mir, Ihnen zumindest eine Eskorte mitzugeben, Exzellenz!« »Es wäre doch eine Schande, wenn ich nicht ohne bewaffnete Eskorte durch meine eigene Stadt fahren könnte! Sie warten hier.« Damit eilte er die Treppe hinab und auf den Range Rover zu. Belov blieb neben Farouk stehen. »Geben Sie mir Ihre Waffe.« Ohne nachzufragen zog Farouk eine Browning aus dem Holster und reichte sie Belov. »Gut. Und jetzt würde ich Ihnen raten, uns in diskretem Abstand zu folgen.« 127
In späteren Jahren fragte Belov sich oft, ob Saddam sich selbst als den großen Kalifen Haroun al Rashid im alten Bagdad gesehen hat, der sich nächtens verkleidet unter das gemeine Volk mischte, aber dem konnte nicht so sein, denn er fuhr wie ein Irrer, sprengte die Menschenmenge vor dem Palast auseinander und kickte drei andere Fahrzeuge aus dem Weg. Mit einem rauen Lachen verkündete er: »Ich bin ein ausgezeichneter Fahrer, ist es nicht so, Oberst?« »Selbstverständlich, Exzellenz.« Belov hatte die Browning in der Tasche und öffnete jetzt das Handschuhfach, reichte Ashimov seine Beretta und schob die Walther zurück in sein Schulterholster. Mit quietschenden Reifen rasten sie hinunter in die Stadt, schlingerten von einer Straßenseite zur anderen und streiften dabei etliche andere Fahrzeuge. Die Passanten rannten um ihr Leben, und Saddam, bestens gelaunt, trat das Gaspedal noch weiter durch. »Jemand folgt uns«, raunte Ashimov Belov zu. »Ich weiß. Ich habe Farouk vorgeschlagen, uns zu bewachen.« »Aber das ist kein Militärfahrzeug.« Saddam, der von all dem nichts mitbekam, raste über eine Kreuzung, die ihn auf eine vierspurige Schnellstraße führte. »So, und jetzt geben wir mal richtig Gas«, rief er vergnügt, doch im gleichen Augenblick beschleunigte neben ihm ein roter Ferrari, aus dessen Rückfenster sich ein Mann mit einer Maschinenpistole lehnte. Als er zu feuern begann, zog Ashimov blitzschnell seine Beretta und schoss ihm in den Kopf. 128
Vom Beifahrersitz aus beschoss ein zweiter Mann erneut den Range Rover und zerfetzte dabei einen der Vorderreifen. Saddam fluchte und riss das Lenkrad abwechselnd nach rechts und links, ehe der Range Rover die Leitplanke rammte und zum Stehen kam. Eine Kolonne von vorbeifahrenden Wagen beschleunigte, um aus der Schusslinie zu gelangen, doch der Ferrari scherte aus und setzte sich vor den Range Rover. Drei bewaffnete Männer sprangen heraus. Im selben Moment blieb ein alter weißer Lieferwagen schleudernd vor dem Range Rover stehen, die hinteren Türen gingen auf und heraus sprangen drei weitere bewaffnete Männer. Belov verließ in geduckter Haltung den Range Rover und zog Saddam mit sich. »Bleiben Sie unten, Exzellenz.« Ashimov folgte ihnen, von seinem rechten Augenwinkel bis zum Lippenrand zog sich eine blutende Wunde. »Sind Sie okay?«, fragte Belov. »Nicht wirklich.« Ashimov feuerte zweimal auf die Männer, die sich hinter dem Lieferwagen und dem Ferrari verschanzt hatten. »Hinter uns bildet sich allmählich ein Verkehrsstau.« »Wer könnte den Leuten das verdenken.« Saddam hatte auch Blut im Gesicht und wirkte benommen. »In meiner eigenen Stadt«, stammelte er entsetzt. »In Bagdad.« Belov wog die Browning in der einen, die Walther in der anderen Hand und wandte sich mit einem halben Lächeln an Ashimov: »Sollen wir es hinter uns bringen?« »Warum nicht?« 129
»Sie nehmen die linke Seite, ich kümmere mich um die rechte.« Als eine erneute Maschinengewehrsalve den Range Rover traf, schrie er auf Arabisch: »Aufhören. Saddam ist tot. Ich und mein Freund, wir ergeben uns!« Es entstand eine Pause, gefolgt von aufgeregtem Palaver. Dann rief jemand: »Werft eure Waffen auf die Straße.« »Wir haben nur eine Pistole«, rief Belov zurück, erhob sich mit der Walther in der linken Hand und warf sie in Richtung der anderen Fahrzeuge, während Ashimov sich neben ihm aufrichtete. »Jetzt«, zischte Belov in dem Augenblick, als die sechs Männer ihre Deckung verließen. Er feuerte blitzschnell, tötete die drei Männer auf der rechten Seite, und Ashimov die anderen drei auf der linken. In dem Lieferwagen bewegte sich etwas, der Fahrer spähte aus dem Fenster, doch schon in der nächsten Sekunde sackte er unter Ashimovs Kugel in sich zusammen. Kurz darauf hörten sie einige Fahrzeuge heranpreschen. »Farouk und seine Jungs«, meinte Belov. »Die Kavallerie kommt reichlich spät.« Er zog ein Taschentuch hervor und reichte es Ashimov: »Mehr kann ich leider nicht für Sie tun.« »Ich weiß es zu schätzen, Oberst«, erwiderte Ashimov und drückte das Taschentuch auf die Wunde in seinem Gesicht. Im Büro des Botschafters, in der russischen Botschaft am Tigris, saßen Belov und Ashimov am folgenden Morgen einem zornigen Mann gegenüber. 130
»Sie hatten kein Recht, sich da einzumischen«, erklärte der Botschafter. »Die Sache ist bereits bis nach Moskau und zu unserem Staatspräsidenten durchgedrungen. Es mag Ihrer Aufmerksamkeit vielleicht entgangen sein, Oberst, aber die Position unserer Regierung im Irak ist eine äußerst delikate.« »Verstehe«, erwiderte Belov. »Man hat Sie über die Umstände informiert. Hätte ich Saddams Einladung in seinen Palast abschlagen sollen? Ich glaube, das wäre schwierig gewesen. Hätte ich es ablehnen sollen, ihn auf dieser Spazierfahrt zu begleiten? Ich denke nicht.« »Gütiger Himmel, Belov, niemand hat Sie dazu ausersehen, als Saddams Schutzengel zu fungieren. Acht Menschen – Sie haben acht Menschen getötet!« »Ich glaube, ja. Aber ich möchte auch Major Ashimovs heldenhaften Einsatz Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit nahe bringen. Wie Sie unschwer übersehen können, wird sein Gesicht nie mehr so aussehen wie früher. Er kann von Glück sagen, dass er dabei kein Auge eingebüßt hat. Ich würde ihn für eine Auszeichnung vorschlagen.« »Abgelehnt«, beschied ihm der Botschafter. »Und zwar aus dem einleuchtenden Grund, weil die ganze Angelegenheit nie passiert ist. Das wird Saddam konvenieren, und unserer Regierung ebenso.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Selbstüberschätzung kann unter Umständen als Sünde betrachtet werden. Sie gehen entschieden zu weit, Oberst, und das könnte Ihrer Karriere ernsthaften Schaden zufügen.« Die Drohung war unmissverständlich gewesen. Im gleichen Moment läutete das Telefon auf dem Schreib131
tisch des Botschafters. Er nahm ab, lauschte, und sein Mienenspiel veränderte sich schlagartig. »Selbstverständlich, Exzellenz«, sagte er auf Arabisch und legte den Hörer auf die Gabel. »Das war Saddam. Er möchte Sie beide umgehend sprechen.« »Und, entsprechen wir seinem Wunsch?«, fragte Belov mit ausgesuchter Freundlichkeit. »Mir bleibt wohl keine Wahl.« »Ich bin sicher, Moskau wird einverstanden sein, wenn Sie Bericht erstatten. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte, ja?« Er nickte Ashimov zu, und gemeinsam verließen sie das Büro des Botschafters. Im Präsidentenpalast wurden sie von Farouk begrüßt, der sich in ausgelassener Stimmung befand. »Was Sie beide getan haben, war unglaublich heldenhaft, Oberst.« »Wissen Sie, wer die Männer waren?« »Aber ja. Zwei von ihnen waren noch am Leben und haben geplaudert. Schiitische Rebellen, was sonst? Die versuchen es immer wieder. Er erwartet Sie schon voller Ungeduld.« Diesmal saß Saddam in Uniform hinter seinem Schreibtisch, als Farouk die beiden Männer in dessen Büro führte. Saddam erhob sich, kam um den Schreibtisch herum und umarmte Belov, ehe er sich an Ashimov wandte und dessen mit Gaze versorgte Wunde, die sich vom Auge bis zum Wundwinkel zog, mit großem Interesse musterte. »Wie schlimm?« »Sechzehn Stiche. Ein interessantes Memento, Exzellenz.« 132
»Das gefällt mir.« Saddam lachte. »Jeden Morgen, wenn Sie sich rasieren, werden Sie sich an mich erinnern. Aber jetzt nehmen Sie bitte Platz. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.« »Gestern Abend war ich außer mir vor Wut. Ich werde von den Amerikanern und den Briten bedrängt, und auch die Vereinten Nationen kann ich nicht wirklich als Freunde bezeichnen. Die Schiiten rebellieren und die Kurden ebenfalls. Ich muss mich mit diesen Leuten herumärgern, und die Welt vergleicht mich mit Hitler.« »Exzellenz, was soll ich sagen?« »Ich besitze nur eine starke Waffe. Geld. Etliche Milliarden, sicher auf Konten überall in der Welt angelegt, und auf dieser Ebene bedeutet Geld auch wirklich Macht.« Es folgte eine bedeutungsschwangere Pause, in die hinein Belov, dem nichts anderes einfiel, sagte: »Das wage ich nicht zu bestreiten.« »Folgendes habe ich mir überlegt: Ich verdanke Ihnen beiden mein Leben. Meinem Glauben nach stehe ich damit in Ihrer Schuld, die ich auf die eine oder andere Weise begleichen muss. Das ist eine heilige Pflicht.« Er wandte sich an Ashimov. »Sie haben gestern Abend die Befehle des Oberst befolgt, habe ich Recht?« »Absolut, Exzellenz.« »Ein guter Soldat, der seine Pflicht erfüllt. Seien Sie sich meiner ewigen Dankbarkeit gewiss. Was Ihre Zukunft betrifft, so lege ich diese in die Hände Ihres Oberst – in die sicheren Hände, glaube ich, nachdem Sie gehört haben, was ich noch zu sagen habe.« 133
Er zog sich wieder hinter seinen Schreibtisch zurück, setzte sich und richtete das Wort an Belov. »In Russland sind merkwürdige Zeiten angebrochen; es werden heutzutage massenhaft Staatsbetriebe auf den freien Markt geworfen, und das zu höchst annehmbaren Preisen.« »Das ist wahr, Exzellenz.« »Dabei liegen meine Milliarden überall auf der Welt verteilt nutzlos herum, von Genf bis nach Singapur, und ich kann sie wegen der Amerikaner und der Vereinten Nationen nirgendwo investieren. Es würde mir ein diebisches Vergnügen bereiten, sie alle auszutricksen.« »Auf welche Weise?«, erkundigte Belov sich vorsichtig. »Indem ich die Schuld, in der ich Ihnen gegenüber stehe, begleiche. Wenn ich richtig informiert bin, sind im Moment in Sibirien etliche Ölfelder zu haben. Sie werden von einer Regierung zum Kauf angeboten, die ein bisschen knapp bei Kasse ist.« »Das stimmt, Exzellenz.« »Wie weit würde eine Milliarde Dollar Sie bringen, Oberst?« Belov suchte Ashimovs Blick, der seinerseits von Ehrfurcht ergriffen wirkte, dann holte er tief Luft und wandte sich wieder an Saddam. »Sehr weit, Exzellenz. Es könnte Schwierigkeiten geben, aber die sind dazu da, gemeistert zu werden. Wenn ich Ihnen auf irgendeine Weise behilflich sein kann, so wäre mir das eine Ehre.« Saddam schüttelte ungeduldig den Kopf. »Es geht nicht um mich, mein Freund. Es geht um Sie. Glauben Sie nicht, dass mein Leben eine Milliarde Dollar wert ist?« 134
Als die enorme Tragweite von Saddams Worten langsam Gestalt annahm, verschlug es Belov für eine Weile die Sprache, doch dann brachte er stotternd heraus: »Ich bin überwältigt.« Saddam brach in röhrendes Gelächter aus. »Eine Milliarde? Nur ein Tropfen Wasser im Ozean, aber bedenken Sie, was Sie damit bewirken können. Nämlich diese verdammten Amerikaner an der Nase herumführen! Ja, das würde ich gern sehen. Das würde mir gefallen.« »Aber Exzellenz, wie kann ich mich dafür revanchieren?« »Wer weiß? Mir in schlechten Zeiten ein Freund sein? Ein Mann im Schatten, wenn er gebraucht wird?« Auf dem Schreibtisch lag ein Aktenkoffer, und den schob er jetzt Belov hin. »Ich habe diese Dokumente hier sehr sorgfältig vorbereiten lassen. Sie werden darin Kodes und Passwörter finden, die Ihnen den Zugang zu einer Milliarde Dollar gewähren.« Als Saddam sich daraufhin erhob, standen auch Belov und Ashimov eiligst auf. Er deutete auf den Koffer. »Nehmen Sie ihn, Oberst«, sagte Saddam und lachte rau. »Damit ist meine Schuld beglichen.« Einen Monat nach diesem außergewöhnlichen Treffen erfand Belov einen Vorwand, um nach Genf zu fliegen. Er hatte immer noch gewisse Vorbehalte, weil es ihm schwer fiel zu glauben, dass ihm so viel Glück beschert sein sollte. Er nahm Ashimov mit, und wie sich herausstellte, war das Ganze tatsächlich kein Schwindel, denn die Bankdirektoren standen sofort stramm. 135
So kehrte er anschließend nach Moskau zurück und quittierte gemeinsam mit Ashimov, den er als persönlichen Berater anstellte, den Dienst. Mit seiner Erfahrung, die er in all den Jahren durch seine Arbeit für den Geheimdienst erworben hatte, stellte er eine Liste von Leuten zusammen, die er persönlich kennen sollte. Darunter befanden sich nicht nur Geschäftsleute, sondern auch korrupte Politiker. Falls einer unter ihnen nicht mitspielen oder versuchen sollte, Ärger zu machen, so gab es immer noch Yuri Ashimov mit der Narbe im Gesicht, der sich darum kümmern würde. In Sibirien waren Vertragsabschlüsse mit Regierungsunternehmen seinerzeit problemlos zu erreichen, besonders für jemanden, dem ein scheinbar unbegrenzter Dollarrahmen zur Verfügung stand. Nach diesen ersten Vertragsabschlüssen blickte Belov nie mehr ernsthaft zurück, und im Russland jener Tage stellte niemand Fragen. Innerhalb von fünf Jahren waren aus der ursprünglichen Milliarde sechs geworden, und als Belovs alter KGBFreund Putin Präsident wurde, war das für ihn wie die Glasur auf dem Kuchen. Die Leute wollten keine Demokratie; sie riefen nach Stärke und Macht, und genau das demonstrierte Putin, was Belov natürlich nur recht sein konnte. Umgekehrt passte sein florierendes Geschäft der Regierung ebenso gut ins Konzept, und so war jeder zufrieden. Das Auftauchen von Al-Qaida und die Ausbreitung der Terrorbewegung waren insofern bedauerlich, als sie zum zweiten Irakkrieg und dem Sturz Saddam Husseins führten, doch die Aussicht, dass die irakischen Ölfelder über 136
kurz oder lang zum Verkauf stünden, tanzte verführerisch vor Belovs Augen, und so war er zufrieden. Die Nachkriegswirren im Irak waren verständlich. Obwohl die Ergreifung Saddams durch amerikanische Soldaten die Aussicht auf eine stabile Zukunft, zumindest für den Irak, anzukündigen schien, hatte Belov nie daran geglaubt, dass Saddams Sturz beträchtliche Auswirkungen auf die arabische Welt haben würde. Militante muslimische Gruppen wie Al-Qaida würden weiterhin ihren so genannten heiligen Krieg gegen Amerika und die westliche Welt führen, und zwar mit dem ihrer Meinung nach einzigen, ihnen zur Verfügung stehenden Mittel – dem Terror. Belov war proarabisch, aber nur, weil es ihm dienlich war. Er ließ keinen Zweifel an seiner antiamerikanischen Einstellung, wenn es nicht gerade um Geschäfte ging. Mit den Briten kam er gut zurecht, die Briten waren eben Briten, und er hatte eine Schwäche für London. Aber er blieb seinem alten Vorsatz treu, der hieß, in der westlichen Welt Chaos, Angst und Verunsicherung zu schüren. Dafür machte es durchaus Sinn, die Ziele der militanten Muslime zu unterstützen. Allerdings überließ er die Durchführung gewisser Aktionen Yuri Ashimov. Das bedeutete nicht, dass er nichts wissen wollte – er wollte nur nicht zu viel wissen. Letztlich gab freilich das Geld den Ausschlag. Da wurden Wohltätigkeitsstiftungen, Bildungseinrichtungen für junge Leute gegründet – in Wahrheit nur Tarnungen für militante Gruppen wie Allahs Zorn, die Partei Gottes und andere, deren vorrangige Aufgabe darin bestand, junge, 137
in England geborene Muslime zu rekrutieren, um sie anschließend in Trainingscamps im Nahen Osten zu schicken. Belov hatte von der Morgan-Affäre in Manhattan erfahren, ein Unterfangen, das so simpel war, dass es eigentlich hätte erfolgreich verlaufen müssen, wenn Charles Ferguson und seine Leute nicht dazwischengefunkt hätten. Aber Belov hatte mit all dem nichts zu tun. Als das Berger-Imperium zusammenbrach, hatte er dessen Ölinteressen im Süden der arabischen Halbinsel übernommen, was Amerika nicht verhindern konnte. Dieser Coup machte ihn zu einem der mächtigsten Unternehmer der Welt – und Liebling der Russischen Föderation. Er besaß das alte Rashid-Haus in der South Audley Street in London; er hatte Drumore Place gekauft, ein Schloss auf den Klippen von Drumore in Irland, und es Dermot Kelly überantwortet, vorgeblich in der Eigenschaft als Verwalter. Und der Rubel rollte. Er war Josef Belov, ein geheimnisumwitterter, unvorstellbar reicher Mann, und stets an seiner Seite war Yuri Ashimov.
NORDIRLAND NANTUCKET
7.
Ashimov traf mit einem Firmenjet am Airport von Belfast ein und hätte einen Hubschrauber nach Drumore an der Küste von Louth nehmen können, doch stattdessen hatten seine Leute, oder genauer gesagt Belovs Leute, in Belfast einen Wagen organisiert. Es regnete, aber das überraschte Ashimov nicht. In Belfast schien es an fünf von sieben Tagen zu regnen. Ihn störte das nicht. Er liebte Nordirland und den Akzent, mit dem die Leute hier sprachen, und der sich so sehr von dem in der Republik unterschied. Das hier war eine wunderschöne Gegend, weshalb er mit Vergnügen ein paar Stunden Autofahrt durch die Berge auf sich nahm, um dann die Grenze zur Irischen Republik zu passieren und der Küstenstraße bis nach Drumore zu folgen. Im Handschuhfach lag eine Beretta, seine bevorzugte Waffe. In diesen friedlichen Zeiten gab es keine Grenzkontrollen. Er überprüfte die Pistole, schob sie unter seinen Regenmantel und fuhr los. Der Regen prasselte aufs Dach, und Ashimov schaltete das Autoradio an. BBC-Radio spielte angenehme Musik. Er lehnte sich entspannt zurück und ließ die ganze Szenerie auf sich wirken. Geboren war er in der Ukraine, und doch liebte er diese verrückten Leute hier. Eineinhalb Stunden später, als Wind und Regen die Wellen der Irischen See links neben der Küstenstraße peitschten und er entspannt einen Song aus dem Radio mitträller141
te, tauchten in der Ferne Drumore Village und das Schloss Drumore Place auf, das sich würdevoll über den Klippen erhob. Mit seinen Türmen und Zinnen und allem, was man sich von einem Schloss erwartete, bot es einen imposanten Anblick. Es gab nur einen kleinen Wermutstropfen: Das Schloss war nicht besonders alt. Es war im frühen 19. Jahrhundert von einem anglo-irischen Lord Drumore errichtet worden, der mit dem Zuckerhandel in der Karibik sein Vermögen gemacht hatte und mit dem Bau des Schlosses der romantischen Tradition seiner Vorfahren folgen wollte. Ashimov fuhr hinunter zu dem kleinen Hafen und stellte den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Royal George, dem örtlichen Pub, ab, dessen Name an die Orange-Loyalisten gemahnte und der auch aus dieser Zeit stammte. Die Menschen hier liebten ihre Traditionen, und obwohl sie getreue Republikaner waren, weigerten sie sich, den Namen ihres Pubs zu ändern. Als Ashimov aus dem Wagen stieg, blieb neben ihm ein Laster stehen, in dem zwei junge Männer saßen. Der Beifahrer öffnete die Tür und stieß dabei mit Ashimov zusammen, der ebenfalls gerade am Aussteigen war. Der Mann, langhaarig, unrasiert und mit einer alten Armeejacke bekleidet, baute sich vor Ashimov auf, die Aggressivität in Person. »Pass gefälligst auf, Mann!« »Tut mit Leid«, sagte Ashimov. »Arschloch.« Ashimov griff in den Wagen unter seinen Regenmantel, fand die Beretta und steckte sie in die Tasche. »Wenn Sie meinen.« 142
Auf dem Weg zum Eingang hörte er den jungen Mann und den Fahrer in schallendes Gelächter ausbrechen. »Arschloch, sagte ich doch.« Das Innere des Pubs hätte traditioneller nicht sein können: Holzbalken an der Decke, dunkle Eichenholznischen, Holzscheite, die in dem großen, mit Natursteinen gemauerten Kamin brannten, die Theke mit der Marmorplatte, der Barmann, der Zeitung las, hinter ihm an der verspiegelten Wand aufgereiht sämtliche Spirituosen, die man sich nur denken konnte. Neben einem der Bogenfenster saß ein Mann um die fünfzig vor einer Portion Kartoffel-Fleisch-Auflauf. Er hatte rotes Haar, trug eine sorglose Miene und den Ansatz eines Lächelns zur Schau. Das war Dermot Kelly, seit dem siebzehnten Lebensjahr Veteran des irischen Bürgerkriegs. Der Mann, der in der Nähe von ihm auf dem Fensterplatz saß, rauchte und ein Buch las, war ein gewisser Tod Murphy. Mit seinem schwarzgrau melierten Haar und der Stahlbrille verkörperte er den typischen Intellektuellen. Einst Student der Theologie mit dem Ziel, Priester zu werden, hatte er denselben Weg eingeschlagen wie Kelly, nur dass ihm dieser fünfzehn Jahre Zuchthaus wegen fünffachen Mordes eingebracht hatte. Allein dem Verlauf des Friedensprozesses hatte er es zu verdanken, dass er schließlich doch entlassen wurde. Er blickte auf, sah Ashimov an der Bar stehen und lächelte. Unaufgefordert hatte der Barkeeper eine eiskalte Flasche Wodka aus dem Kühlfach genommen und Ashimov einen dreifachen eingeschenkt. Doch noch ehe er das Glas in die Hand nehmen konnte, hatten sich die beiden Jungs, die 143
ihm in den Pub gefolgt waren, neben ihm aufgebaut. Der junge Spunt in der Armeejacke griff nach dem Glas. »Mal sehen, was der Knabe so säuft?« Er nahm einen Schluck und schnitt eine Grimasse. »Was ist das denn für eine Pisse?« »Mir schmeckt’s. Du kannst mir jetzt einen neuen Drink bezahlen.« »Was höre ich da?« Der Bursche packte Ashimov an der Jacke, und der versetzte ihm einen Kopfstoß. Der Junge ging zu Boden, worauf sein Kumpan einen Wutschrei ausstieß und nach der Flasche auf dem Tresen griff. »Tod«, sagte Dermot ganz ruhig. Murphy stand auf, ohne das Buch aus der Hand zu legen. »Nicht hier drin, und nicht ohne Dermot Kellys Okay. Ich weiß zwar nicht, wer ihr seid und woher ihr kommt, aber das ist ein IRA-Pub, und dieser Gentleman ist ein Freund von uns.« »Leck mich«, fauchte der junge Heißsporn und zerschlug die Flasche an der Kante der Marmorplatte. Murphy trat ihm gegen das Knie, und Ashimov packte ihn beim Kragen, versetzte ihm einen gezielten Schlag in die Nieren und beförderte ihn anschließend Kopf voraus hinaus auf die Straße. »Du beseitigst wohl besser die Unordnung«, sagte Murphy zu dem Barkeeper. »Schreckliche Zeiten, in denen wir leben, Major. Diese Kids kommen von Belfast über die Grenze hierher und sind immer bis oben hin dicht. Wenn nicht mit Drogen, dann sind sie mit Alkohol voll gepumpt. Aber nicht in Drumore. Wir legen hier immer noch Wert auf Recht und Ordnung.« 144
»Recht und Ordnung nach IRA-Manier.« »Unsere Kinder hier haben einen sicheren Schulweg, die alten Leute können sich in ihren Häusern sicher fühlen, und die jungen Frauen abends ohne Angst vom Dorftanz nach Hause gehen. Und seit Mr. Belov sich hier niedergelassen hat, haben die meisten Leute Arbeit und sind ihm dankbar dafür. Die Farmen hier in der Umgebung florieren dank Mr. Belov. Falls Sie hofften, ihn hier anzutreffen, muss ich Sie enttäuschen. Er ist gestern mit dem Hubschrauber nach Belfast geflogen und anschließend weiter nach Moskau unterwegs.« »Ich weiß.« »Er ist ein sehr schweigsamer Zeitgenosse, dieser Mr. Belov.« »Nun, seine weltweiten Geschäfte nehmen ihn zeitlich sehr in Anspruch. Und alles andere überlässt er mir. Also, was haben Sie für mich?« Tod Murphy, der in der Vollzugsanstalt in Maze nicht nur Irisch, sondern auch ganz passabel Russisch gelernt hatte, hielt das Buch hoch und erwiderte auf Russisch: »Die Stadt Gottes, von St. Auguste. Ernsthafte Literatur für einen ernsthaften Mann.« »Dann glauben Sie also immer noch an Gott, obwohl Sie all die Jahre über Leichen gegangen sind?« »Aber ja doch«, erwiderte Tod Murphy mit tiefster Überzeugung. »Hölle und Verdammnis existieren, Erlösung ist möglich. Christus ist auferstanden.« »Was das Gehen über Leichen betrifft, Major, so ist das keinem von uns erspart geblieben, denke ich«, warf Kelly ein. 145
»Besonders Josef Belov nicht«, sagte Ashimov. »Ich bin sicher, er hat mehr Menschen unter die Erde gebracht als Sie beide zusammen.« »Sehr gut möglich. Das Gleiche behaupte ich auch von Ihnen. Aber lassen Sie uns jetzt zum Schloss fahren. Wir möchten Ihnen die Decke in der Großen Halle zeigen, die frisch renoviert worden ist. Belov war von dem Ergebnis sehr angetan. Mal sehen, was Sie davon halten.« Als sie durch den Park fuhren, war die Aussicht noch grandioser: die von Rotbuchen gesäumte Zufahrt, der Burggraben, die Türmchen und Türme. Es gab sogar eine Zugbrücke, die von einem Elektromotor bewegt wurde. Der Große Saal machte seinem Namen alle Ehre: eine imposante Freitreppe schwang sich vom oberen Geschoss herunter, edle Teppiche bedeckten den Natursteinboden, von der vergoldeten Decke hingen zwei riesige Kristalllüster herab und in dem geräumigen Kamin brannte ein Holzfeuer. Neben dem Kamin stand jeweils eine Couch und mitten im Raum ein langer Eichentisch mit zwölf Stühlen. »Möchten Sie etwas trinken?«, erkundigte sich Kelly. »In der Küche wird gerade ein Lunch vorbereitet.« »Warum nicht?« »Und dann können Sie uns erzählen, was Sie hierher führt«, setzte Murphy hinzu. »Was wissen Sie über einen Mann namens Sean Dillon?«, fragte Ashimov prompt. Tod Murphy hörte augenblicklich auf zu lächeln und sah Ashimov verblüfft an. »Sean? Wie zum Teufel kommen Sie auf Sean?« 146
Dermot Kelly lachte laut auf, und Ashimov sagte: »Was ist denn? Das hört sich ja an, als wäre er eine Art Freund?« »Ach, Major, Sie werden die Iren nie verstehen. Sean war mehr als ein Freund. Er war ein echter Kamerad«, sagte Kelly. »Eines schönen Tages waren wir in irgendwelchen Abwasserkanälen in Derry auf der Flucht vor britischen Fallschirmjägern. Ich hatte eine Kugel in die Schulter abgekriegt, konnte aber noch laufen. Tod bekam eine ins Bein und blieb liegen. Als Sean das bemerkte, kehrte er um und holte ihn.« »Auf den Burschen trinke ich immer einen«, sagte Murphy. Ashimov war etwas erstaunt. »Dieser Mann arbeitet für Charles Ferguson, der den geheimen Sicherheitsdienst des Premierministers leitet. So geheim, dass er in der Branche als ›Privatarmee des Premiers‹ bekannt ist, und die braucht die besten Männer und hat daher Sean angeheuert.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Sie müssten Ire sein, um uns verstehen zu können, Major. Und das hat auch nichts mit Religion zu tun. Sean Dillon ist der Beste. Jahrelang waren die Royal Ulster Constabulary und auch die britische Armee hinter ihm her, aber ohne Erfolg. Wissen Sie, wie es kam, dass er schlussendlich bei Ferguson gelandet ist? Während des Kriegs in Jugoslawien flog er medizinisches Gerät für eine Kinderklinik ins Land und wurde von den Serben geschnappt.« »Die so genannte gute Tat in einer hässlichen Welt«, warf Tod Murphy ein. »Er stand schon an der Wand, einem Exekutionskommando gegenüber – da hat Ferguson 147
ihn erpresst. Er rettete seinen Arsch, verschaffte ihm eine weiße Weste, und im Gegenzug dafür wurde Sean sein Erfüllungsgehilfe. Wir alle kennen die Geschichte.« Ashimov war trotz seines reichen Erfahrungsschatzes einigermaßen verdutzt. »Und das macht Ihnen nichts aus?« Kelly erwiderte: »Ich sagte Ihnen ja bereits, er war ein Kamerad. Der beste. Aber wenn er einen aufs Korn nahm, war man ein toter Mann. Und so ist es auch heute.« »Und, warum sind Sie an ihm interessiert?«, fragte Kelly, und Ashimov erzählte es ihm. Als er geendet hatte, sagte Murphy: »Dieser Ali Selim hat sich also in den Irak abgesetzt, und ihr habt ihm, wie war noch ihr Name, Greta Novikova, an die Fersen geheftet?« »Und Ferguson wird ihr Sean hinterherschicken, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, warf Kelly ein und schaute Tod Murphy an. »Lass mal deinen Priesterintellekt spielen. Was meinst du zu dem Ganzen?« »Ganz einfach. Ferguson ist nicht scharf auf einen Prozess im Old Bailey. Das würde den Moslems nicht gefallen. Also hat er Sean mit dem Auftrag losgeschickt, Selim zurückzubringen. Anschließend würde an einem sicheren Ort in London eine nette kleine Inquisition stattfinden, was wiederum Ihnen und Mr. Belov nicht gefallen würde.« »Na, dann wollen wir hoffen, dass es dazu nicht kommt. Aber nun zu Ihnen beiden. Würde es Sie belasten, wenn ich in London Ärger mit Ferguson und seinen Leuten hätte? Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich Sie brauche? Was natürlich beinhalten würde, dass Sie es mit Dillon aufnehmen.« 148
Die beiden Männer wechselten einen Blick und grinsten. »Nun ja«, meinte Murphy. »Er war ein Kamerad, daran gibt es nichts zu rütteln. Was aber nicht bedeutet, dass es nicht das eine oder andere Hühnchen zu rupfen gäbe.« »Hier läuft alles bestens, wie Sie sicher gehört haben«, sagte Kelly. »Wir regeln die Dinge nach unserem Gutdünken, und Belovs Zuschüsse an die Bauern schaffen Zufriedenheit.« Tod warf ein: »Aber durch diesen Friedensprozess wird das Leben hier ausgesprochen langweilig. Deshalb könnte Ihr Vorschlag interessant für uns sein.« »Aber eines muss Ihnen klar sein«, fügte Kelly hinzu: »Wenn es etwas gibt, worin Dillon es zur Meisterschaft gebracht hat, dann ist das, jemanden unschädlich zu machen.« »Und was bedeutet das für Sie?« »Oh, wir werden ihn schon ordentlich hetzen.« Tod Murphy grinste wieder. Später an diesem Tag spazierte Präsident Jake Cazalet in Nantucket am Strand entlang. Er liebte das alte Strandhaus mit Blick auf Dünen und Meer und kam sooft es ihm möglich war dorthin, meistens an den Wochenenden. Dann brachte ihn der Hubschrauber am späten Freitagabend von Washington nach Nantucket und holte ihn am Sonntagabend wieder ab. Er hatte eine Köchin und eine Haushälterin aus dem nahe gelegenen Ort beschäftigt. Keinen Wirbel und gute Hausmannskost, so pflegte er zu sagen. Er hatte immer darauf bestanden, dass ihn nur zwei Männer vom Ge149
heimdienst begleiteten, und einer davon musste Clancy Smith sein. Abgesehen von den beiden Bodyguards war er selbstverständlich von elektronischen Sicherheitssystemen der neuesten Bauart umgeben, besonders seit dem Mordanschlag auf ihn vor drei Jahren, als er durch das nahe gelegene Marschland gejoggt war. Jetzt lief er mit seinem geliebten dunkelbraunen Retriever Murchison und Clancy Smith den Strand entlang. Die Brandung brodelte, der Himmel war bleigrau und es regnete in Strömen, weshalb die beiden Männer ihre Schirme aufgespannt hatten. Sie blieben kurz stehen, damit Clancy dem Präsidenten Feuer geben konnte. »Es tut so gut, von all dem fortzukommen, Mr. President.« »Bei Gott, das tut es. Die salzige Meerluft ist wirklich Balsam für die Seele.« »Ganz gewiss.« In der Ferne hörten sie das unverwechselbare Brummen eines nahenden Hubschraubers, worauf Clancy bemerkte: »Das wird Blake sein, Sir.« »Und unsere englischen Cousins«, ergänzte Cazalet. »Seltsam, ich habe jedes Mal ein komisches Gefühl, wenn ich einen Hubschrauber höre.« Er spähte in die Richtung, wo der Hubschrauber am Strand niederging. »Das Geräusch erinnert mich immer noch an Vietnam.« Er schnippte seine Zigarette in den Sand. »Okay, dann wollen wir unsere Gäste mal begrüßen.« Ferguson und Hannah Bernstein saßen auf der anderen Seite des niedrigen Couchtisches vor dem Kamin, Ca150
zalet gegenüber. Clancy lehnte an der Wand neben der Verandatür hinter ihnen. Murchison lag auf dem Teppich und beobachtete die Szene. »Ich habe Major Ropers Bericht über Belov mit großem Interesse gelesen«, begann der Präsident, »und aus verständlichen Gründen nur kurz mit dem Premierminister gesprochen.« »Weshalb er auch dieses Gespräch hier vorgeschlagen hat, Mr. President.« »Dem Himmel sei Dank, dass wir einander wohl gesonnen sind, sonst hätte ich in Manhattan tot auf dem Bürgersteig gelegen. Der Anschlag hätte so leicht klappen können. Tja, das werde ich nie verstehen, diesen Drang zu töten.« »Dazu kann uns Superintendent Bernstein sicherlich etwas sagen«, meinte Ferguson. »Sie hat einen Abschluss in Psychologie.« »Ich höre, Superintendent?« »Das Motiv, Sir, ist die grundlegende Voraussetzung.« »Und Hass«, fügte Cazalet hinzu. »Nicht immer«, schränkte Hannah ein. »Für eine Gruppe von Mördern, für professionelle Killer, ist gewöhnlich Geld das Motiv, und ein Ziel wie Sie, Mr. President, bringt, mit Verlaub gesagt, den Jackpot. Aber das Geld nützt niemandem etwas, wenn er nicht überlebt.« Cazalet nickte: »Und die andere Gruppe?« »Gewöhnlich die erfolgreichste. Sie werden sich an das Attentat auf Präsident Reagan erinnern, begangen von einem Mann, der aus nächster Nähe auf ihn geschossen hat und genau wusste, dass er keinerlei Chance hatte zu fliehen.« 151
»Somit wären wir wieder bei meiner ersten Annahme, beim Hass.« »Oft ist es auch ein tief verwurzelter religiöser Glaube. Es ist interessant, dass das Wort ›assassin‹, Attentäter, aus dem Arabischen stammt. Während des Mittelalters versuchten viele Mitglieder diverser arabischer Bünde und Kultgemeinschaften, unter dem Einfluss von Haschisch stehend, die Führer der Kreuzritter zu ermorden.« »Auch die jüdischen Zeloten bedienten sich vor knapp zweitausend Jahren derselben Taktik gegen die Römer«, warf Ferguson ein. »Manchmal entsteht das Motiv auch aus einem Gefühl tiefster Frustration, Mr. President«, fuhr Hannah fort. »Es war Lenin, der sagte, dass der einzige Zweck des Terrorismus darin liegt, zu terrorisieren. Das ist die einzige Möglichkeit, die ein kleines Land hat, um gegen eine Großmacht zu kämpfen.« »Das war auch einer der Lieblingssprüche von Michael Collins, der damals in den zwanziger Jahren die IRA gegen die Briten anführte«, steuerte Ferguson bei. Cazalet nickte. »Klingt alles sehr interessant, aber was sagt uns das bezüglich Morgan und seiner geplanten Tat?« »Ich kenne keine einzige Religion auf dieser Welt, die unter ihren Gläubigen keine Fanatiker hat«, stellte Hannah fest. »Das zieht sich durch die ganze Geschichte, und diese Leute sind für gewöhnlich Menschen, die es perfekt verstehen, andere Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen, besonders junge Menschen.« »Damit diese sich schließlich freiwillig als Selbstmordattentäter melden?« Cazalet schüttelte den Kopf. 152
»Selbstverständlich, denn die religiösen Führer, die die entsprechenden Parolen verbreiten, haben üblicherweise keine Lust, sich selbst an die vorderste Front zu stellen.« »Verständlich.« Cazalet erhob sich. »Ich habe die Köchin gebeten, uns ein leichtes Mittagessen vorzubereiten, und ihr dann den Nachmittag freigegeben. Ich wollte, dass wir ein bisschen unter uns sind. Es ist in der Küche gedeckt. Gehen Sie voraus, Clancy. Sie essen selbstverständlich mit uns.« Die Konversation während des Mittagessens war sehr viel lockerer und drehte sich um Themen wie welche Aufführungen des West End Theatre Cazalet für sehenswert hielt. Hannah ihrerseits verglich das Studentenleben in Harvard mit dem in Cambridge. »Haben Sie eigentlich studiert, General?«, fragte der Präsident und sah Ferguson an. »Ich hatte es immer vorgehabt, aber dann kam die Einberufung. Und nach zwei Jahren in der Armee hatte ich offenbar Blut geleckt, wie man so schön sagt. Ich war achtzehn, als kommunistische Araber auf mich schossen, und als man mir dann den Besuch der Offiziersakademie anbot …« Er zuckte die Achseln. »Nun, da gab es für mich gar nicht viel zu überlegen.« »Alle diese schmutzigen kleinen Kriege«, konnte sich Hannah nicht verkneifen zu bemerken. »Sie konnten davon nicht genug kriegen.« »Ah, hier spricht die Psychologin«, feixte Ferguson. »Aber das waren nicht meine schmutzigen kleinen Kriege, meine Teuerste. In dieser ganzen Zeit, und die schließt 153
Nordirland, Bosnien, den Kosovo und die beiden Golfkriege ein, war ich ein Mitglied dieser fröhlichen Truppe von Kumpeln, genannt Soldaten, die sich um solche Angelegenheiten kümmern, von denen die Öffentlichkeit gern den Blick abwendet. Ich habe das immer für einen ehrbaren Beruf gehalten.« Er lächelte Cazalet und Clancy an und setzte hinzu: »Selbstverständlich schließe ich die Marines in das eben Gesagte nicht ein.« »Wir danken dem General«, sagte Clancy, worauf alle lachten, doch Hannah fühlte sich irgendwie unwohl, und das merkte man ihr an. Das Problem war, dass sich ihre Einstellung veränderte, und sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Cazalet, der spürte, dass etwas nicht stimmte, lächelte sie zuversichtlich an und löste die Tafel auf. »Okay, Freunde, an die Arbeit«, rief er und ging voraus ins Wohnzimmer. »Also, wenn ich das richtig verstanden habe«, sagte er eine Weile später, »ist dieser Dr. Ali Selim in den Irak geflohen, um ein persönliches Desaster zu vermeiden. Wir wissen, dass er von Major Yuri Ashimov kontrolliert wurde, der seinerseits die Sicherheitsabteilung der Belov Organisation leitet. Letztere wiederum gibt meiner Meinung nach muslimischen Extremistengruppen eine großzügige finanzielle Unterstützung.« »Das lässt sich nur leider nicht vor einem unabhängigen Gericht beweisen, Mr. President«, stellte Hannah fest. »Es ist beinahe unmöglich, an Josef Belov heranzukommen«, erklärte Ferguson. »Er ist viel zu mächtig, ei154
ner der reichsten Männer der Welt und zudem ein Freund von Putin.« »Selbst wenn sich aufzeigen ließe, dass er einigen dieser Moslemorganisationen Gelder hat zufließen lassen«, sagte Hannah, »wäre es trotzdem ein Ding der Unmöglichkeit, zu beweisen, dass er nicht in gutem Glauben gehandelt hat.« »Und was bedeutet das für uns?«, fragte Cazalet. »Der beunruhigendste Aspekt ist fraglos die Rekrutierung junger muslimischer Briten für militante Gruppen im Nahen Osten«, stellte Ferguson fest. »Die jungen Männer werden in Camps in Syrien, im Irak, ja sogar in Saudi-Arabien trainiert und dann nach England oder in die Vereinigten Staaten zurückgeschickt. Nicht selten als Schläfer, um dort ein scheinbar ganz normales Leben zu führen, bis ihre speziellen Talente benötigt werden. Kanonenfutter für Al-Qaida.« »Glauben Sie, dass ›Allahs Zorn‹ ein Teil dieser Organisation ist?« »Überraschen würde es mich nicht. Wir wissen eine Menge über sie, und auch eine Menge über Belov, wie Sie gelesen haben. Vergessen Sie nicht, dass er während seiner Zeit beim KGB nahezu davon besessen war, den Niedergang der westlichen Werte voranzutreiben. Wie die guten alten Bolschewiken. Er besitzt alles Geld der Welt, weshalb Geld auch nur ein Mittel zum Zweck für ihn ist.« »Aber was soll das Ganze?«, wollte Cazalet wissen. »Warum tut er, was er tut?« »Das ist ein Spiel, Mr. President«, antwortete Hannah. »Es geht ihm um die Macht, die ihn befähigt, sich auf 155
dem Schachbrett der Welt so zu bewegen, wie es ihm gerade passt; uns alle auszulachen, selber aber unantastbar zu sein.« »Und was unternehmen wir dagegen?«, fragte Cazalet. »Dass sie Selim einen GRU-Major, diese Novikova, bis nach Bagdad hinterherschicken, bedeutet wahrscheinlich, dass der seine Schuldigkeit getan hat und zu viel weiß. Ich kann mir vorstellen, dass sie ihn ausschalten wollen, aber ganz sicher bin ich da nicht.« »Ist das der Grund, warum Sie Dillon geschickt haben? Um ihn zu retten?« »Dillon wird tun, was die Umstände erfordern. Wenn das bedeutet, Selim vor dem Tod zu bewahren, okay. Wenn man ihn jedoch ausschalten muss, dann soll es so sein. Falls man seiner habhaft werden kann, besteht immer die Möglichkeit, mehr Informationen über die Belov-Verbindung aus ihm herauszuquetschen.« Achselzuckend fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Wenn nicht, ist er entbehrlich.« »Wie auch immer, die Sache wird ziemlich hässlich werden«, gab der Präsident zu bedenken. »Ganz richtig, Mr. President. Aber genau für solche Fälle hat man vor Jahren meine Organisation gegründet. Wir sind einzig und allein dem Premierminister verpflichtet. Niemand sonst kann uns Befehle geben – weder MI5, der Staats-Sicherheitsdienst, das Verteidigungsministerium und auch nicht das Parlament.« »Die sprichwörtliche Lizenz zum Töten«, meinte Cazalet. »Wenn es sein muss, ja. Wir haben es hier mit interna156
tionalem Terrorismus zu tun. Eine ganz neue Bedrohung, gegen die wir nicht angehen können, wenn wir uns ans Gesetzbuch halten.« »Dieser Meinung schließe ich mich voll und ganz an, Mr. President«, sagte Blake. »Der Premierminister hat gesagt, dass ich in diesem Fall die Verantwortung trage und die Schritte unternehmen soll, die mir angemessen erscheinen. Und genau aus diesem Grund bin ich heute hier. Damit Sie wissen, wie unsere zukünftige Strategie aussehen wird.« »Dann wird man also in Zukunft das Rechtswesen, die Gerichte und alles, was damit zusammenhängt, ignorieren?« »Harte Zeiten erfordern harte Mittel.« Cazalet wandte sich an Hannah. »Nach dem, was ich bis jetzt über Sie weiß, Superintendent, vermute ich, dass diese neue Vorgehensweise Ihnen moralische Probleme bereitet.« »Das stimmt, Sir. Wenn wir in diesen schwierigen Zeiten das Gesetz und unser Rechtssystem nicht mehr respektieren, so scheint mir, als bliebe uns gar nichts mehr.« »Und genau darauf spekulieren unsere Feinde«, erwiderte Ferguson. »Es ist eine Frage des Überlebens. Entweder wehren wir uns, oder wir gehen unter. Das wird von nun an ohnehin unser Motto sein. Der Premierminister wollte Sie dahingehend informieren.« »Sind Sie mit dem allen einverstanden?«, wurde Blake von Cazalet gefragt. »Ich fürchte ja, Sir. Alles, was uns etwas bedeutet, wofür wir eintreten, alle unsere Werte stehen auf dem Spiel. 157
Wie der General meiner Meinung nach ganz richtig sagte: Wenn wir uns nicht wehren, gehen wir unter.« »Ich dachte mir schon, dass ich diese Antwort von Ihnen bekommen würde«, seufzte Cazalet. »Also schön, General, wir tun alles, was in unserer Macht steht.« »Wir ziehen in dieser Sache an einem Strang, Mr. President?« »Wie immer.« »Und Belov?«, warf Blake ein. »Er ist nahezu unantastbar.« »Niemand ist unantastbar.« Nun lächelte Cazalet. »Schalten Sie ihn aus, Gentlemen, was immer es kosten mag.« Drei Stunden später, nachdem die Citation von der Andrews Air Force Base gestartet und kurz darauf ihre Reiseflughöhe erreicht hatte, öffnete Ferguson seinen Sitzgurt und lächelte zu der ausnehmend hübschen, jungen Flugbegleiterin empor, die in der Royal Air Force den Rang eines Sergeant bekleidete. »Ich nehme einen großen Scotch, Schätzchen.« Dann drehte er sich zu Hannah um, die auf der anderen Gangseite saß. »Und Sie, Superintendent?« »Ich verzichte, Sir. Es fällt mir ohnehin schon schwer genug, klar zu denken.« »In eben diesem Moment, Superintendent, während wir hier miteinander sprechen, befinden sich Dillon und der junge Billy Salter weit weg von uns und befassen sich mit ein paar sehr hässlichen Menschen.« »Das ist mir bewusst, Sir.« 158
»Dann müssen Sie sich entscheiden, auf welcher Seite Sie stehen. Es liegt ganz bei Ihnen, Superintendent«, erklärte er und widmete sich seinem Whiskey.
IRAK
8.
Eine Flugstunde von Bagdad entfernt verließ das Flugzeug seine Reiseflughöhe und ging auf dreißigtausend Fuß herunter. Billy las zum vierten Mal Ropers Bericht durch, und Dillon hatte im Barfach eine halbe Flasche mit irischem Whiskey gefunden und sich ein anständiges Glas davon eingeschenkt. Billy schloss die Akte. »Dieser Belov ist vielleicht eine Nummer; sein ganzes verdammtes Leben ist eine einzige Sage. Und Ashimov – der würde sogar den Papst umlegen, ohne mit der Wimper zu zucken.« »Das glaube ich sofort. Ich wage sogar zu behaupten, dass er derjenige war, der die arme Mrs. Morgan von diesem Steg in die Themse geschubst hat.« »Und die Novikova?« »Ein hübsches Kind, Billy, aber lass dich davon nicht blenden. Als Zimperliese bringt man es in der GRU bekanntlich nicht zum Major. Deshalb hat Ashimov sie auch nach Bagdad geschickt.« »Um Selim auszuschalten?« »Selim ist quasi ein toter Mann.« »Und das bedeutet für uns?« »Dass sie uns erwarten, Billy. Sagen wir es mal so.« Neben Dillon klingelte sein Codex Four, ein Satelitentelefon. Er meldete sich und hatte Roper in der Leitung. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, dass Greta Novikova vor vier Stunden in Bagdad gelandet ist«, sagte Ro163
per nach einer knappen Begrüßung. »Sie wohnt nicht in der Botschaft, sondern hat sich im Al Bustan einquartiert.« »Danke für die Info. Und was ist mit Selim?« »Ist vor zwölf Stunden in Kuwait angekommen, hat seinen Wagen geholt und ist Richtung Norden aufgebrochen. Eine Überlandfahrt nach Bagdad ist dieser Tage ein langes und äußerst beschwerliches Unterfangen, Sean. Sharif wird sich am frühen Abend mit Ihnen im Hotel treffen.« »Danke.« »Viel Spaß.« Als Dillon aufgelegt hatte, fragte Billy: »Wer war das denn?« Dillon berichtete ihm. »Und, was werden wir mit dieser Novikova anstellen?«, fragte Billy höchst amüsiert. »In der Hotelbar zusammen einen Drink nehmen?« »Wer weiß? Es sind schon seltsamere Dinge passiert.« »Übrigens, diese beiden IRA-Käuze in dem Schloss in Drumore, kennst du die von früher?« »Das kann man so sagen.« »Freund oder Feind? Ich meine, wenn Ashimov ihnen den Auftrag gibt, dir das Gehirn rauszupusten, würden sie das tun?« »Ja.« »Für Geld?« »Geld wäre ein Motiv, und auch die Lust am Spiel, Billy.« Dillon schenkte sich noch einen Whiskey ein. »Besonders wenn sie sonst nichts zu tun haben.« 164
»Verrückt«, sagte Billy. »Ihr Micks, ihr seid alle verrückt.« Parry kam aus dem Cockpit. »Landung in fünfzehn Minuten. Wir werden einen steilen Sinkflug einleiten, deshalb sollten Sie sich gut anschnallen.« Er lächelte. »Wegen der Raketen, die manche Bauern von der Schulter abfeuern. So haben wir eine Chance, heil runterzukommen.« »Das ist ja sehr beruhigend«, scherzte Billy. »Vielen Dank für die Information.« Aber er zog seinen Sicherheitsgurt extra straff. Die Landung verlief ohne Probleme. Auf dem Flughafen sah es so aus wie auf den meisten großen Flughäfen, abgesehen von den Wachen, den Geschützständen, den Militärflugzeugen, Panzern und schweren Geschützen, die überall zur Schau gestellt wurden. Die Maschine rollte auf die Hangars der Royal Air Force zu und wurde auf die Halteposition eingewiesen. Dann stellte Lacey die Triebwerke ab. Parry kam aus dem Cockpit, um die Tür zu öffnen. »Guter Flug, mit viel Rückenwind. Wir sind über eine Stunde vor der Zeit gelandet.« Ein Landrover der Royal Air Force hielt vor der Maschine. Ein Sergeant im Tarnanzug stieg aus und salutierte vor Lacey. »Wenn die Herrschaften bitte einsteigen wollen, ich werde mich um das Gepäck kümmern und Sie zur Messe bringen. Parker ist mein Name.« »Wie kommen wir in die Stadt?«, erkundigte sich Dillon. 165
»Bereits alles arrangiert, Sir. Ein sicheres Taxi, wie wir es nennen. Ihnen wird nichts passieren. In letzter Zeit ist es hier sehr ruhig gewesen.« Sie tranken einen typisch englischen Tee in der Messe und aßen Kekse mit Lacey und Parry, als ein Fliegerleutnant erschien. »Ich bin Robson – Polizei.« Er ging auf Lacey zu und schüttelte ihm die Hand. »Habe Sie seit dem Kosovo nicht mehr gesehen. Aber von Ihrer Auszeichnung gehört. Gute Arbeit.« Dann wandte er sich an Parry. »Wir sind uns noch nie begegnet, aber ebenfalls Gratulation. Ich habe Ihre Dringlichkeitseinstufung gesehen – höher als die des Premierministers. Ich habe lange genug in der RAF gedient, um zu wissen, dass man sich mit Fragen besser zurückhält. Ihr Auftrag hier bewegt sich offenbar in den höchsten Sphären. Mr. Dillon?« »Das bin ich.« Robson händigte ihm einen Umschlag aus. »Eine rote Sicherheitsstufe-Eins-Plakette. Mit der sind Sie voll abgedeckt.« »Voll abgedeckt?« »Oh, ja, sofortige Hilfe, falls Sie in Schwierigkeiten geraten. Und ich schätze, Gentlemen, dass es dazu kommen könnte.« Er reichte Billy einen ähnlichen Umschlag. »Bitte sehr, Mr. Salter.« »Danke, jetzt fühle ich mich schon viel besser«, scherzte dieser. Robson wandte sich wieder an Dillon. »Draußen steht ein Taxi, das Sergeant Parker steuert, in Zivil selbstver166
ständlich. Er ist mit einem Mobiltelefon ausgerüstet. Die Nummer finden Sie in diesem Umschlag. Sie werden rund um die Uhr bewacht.« Nun richtete er das Wort an Lacey und Parry: »Ich habe spezielle Anweisungen erhalten. Habe General Ferguson im MOD über Ihre Landung informiert und den Auftrag erhalten, Ihnen mitzuteilen, dass Sie beide hier auf dem Airport bleiben und warten sollen. Die Citation ist aufzutanken und für einen sofortigen Start bereitzuhalten.« »Dann können die beiden nicht mit uns in die Stadt fahren und im Hotel einen Drink nehmen?«, fragte Dillon. »Zu gefährlich, alter Junge«, erwiderte Robson. »Nichts anderes habe ich erwartet«, meinte Billy. »Die Geschichte hier wird immer besser.« »Ihr Gepäck ist bereits im Taxi, keine Durchsuchung am Zoll.« Er grinste. »Aber warum auch? Wir haben es hier schließlich nur mit einem Journalisten und einem Fotografen zu tun.« Er erhob sich. »Also dann, meine Herren, viel Spaß.« Die Fahrt nach Bagdad verlief erstaunlich ruhig. Es herrschte dichter Verkehr, überwiegend einheimische Fahrzeuge – Autos, Kleinlaster und schwere Lastwagen, dazwischen Eselkarren, beladen mit Waren aller Art. Es war später Nachmittag, und sie waren auf dem Weg zu den Märkten in Bagdad, die am nächsten Morgen stattfinden würden. Und natürlich sah man Militärfahrzeuge, so weit das Auge reichte. »Also, Sergeant«, begann Dillon. »Was gibt es an schlechten Nachrichten?« 167
»Nun, ich bin ein alter Hase. Habe in beiden Golfkriegen gekämpft, zwischendurch in Bosnien und im Kosovo. Wenn Sie glauben, dass hier irgendwas besser geworden ist, seit die Yankees Saddam geschnappt haben, dann täuschen Sie sich. Viele Iraker haben seine Festnahme begrüßt, viele andere aber nicht, und die beiden Gruppen hassen sich noch immer wie die Pest. Sunniten, Schiiten, dazu ein paar Kurden, und das Ganze vermischt mit diesen so genannten muslimischen Freiheitskämpfern, ganz zu schweigen von Al-Qaida.« »Sie hätten sich nicht zu melden brauchen«, meinte Billy. »Habe ich aber.« Parker lachte rau. »Und wissen Sie was? Ich liebe jede verfluchte Minute meines Jobs.« Er zögerte. »Eigentlich sollte ich ja keine Fragen stellen, aber … , nun, ich habe fünfzehn Jahre bei der Royal Air Force Police zugebracht. Und bin ein bisschen herumgekommen.« »Soll heißen?«, meinte Dillon. »Na ja, Sie klingen tatsächlich, als kämen Sie aus Nordirland. Ich sollte das wissen, denn ich war viermal dort. Aber Belfast Telegraph? Das bezweifle ich. Und was Mr. Salter betrifft – bei allem Respekt, aber der hat doch auch schon einiges hinter sich.« »Es überrascht mich, dass Sie es noch nicht zum Stabsoffizier gebracht haben«, stellte Dillon fest. »Ich hatte einmal eine handgreifliche Auseinandersetzung mit einem Stabsoffizier.« Robson klappte das Handschuhfach auf und brachte eine Browning zum Vorschein. »Soll ich die griffbereit halten?« »Sehr aufmerksam.« 168
»Dem Herrn sei gedankt. In letzter Zeit war es doch sehr langweilig.« Bagdad präsentierte sich so, wie man sich die Stadt vorstellte. Die Straßen fungierten als Märkte, die Stimmen der Händler überschlugen sich beim Feilbieten ihrer Waren, aus den Geschäften plärrte Musik, und die Fahrbahnen waren so verstopft, dass man nur im Schneckentempo vorwärtskam. »Ist es noch weit bis zum Al Bustan?«, fragte Dillon ungeduldig. »Welches meinen sie denn? Es gibt mehrere Hotels, die so heißen. Das ist ein häufig vorkommender Name hier. Aber keine Sorge, ich bringe Sie schon in das Richtige.« Der abendliche Dunst senkte sich bereits über die Häuser, als sie endlich in der Altstadt waren und in eine schmale Gasse abbogen. Sie hielten vor einem Tor an, das zwar offen stand, aber von einer Schranke versperrt wurde. Aus dem winzigen Wärterhäuschen spähte ein Iraker und machte sich dann ganz gemächlich auf den Weg zu ihrem Fahrzeug. »Beweg dich, in Gottes Namen«, herrschte Parker ihn an. Der Mann maulte etwas in einfachem Arabisch, worauf Dillon die Hand aus dem Seitenfenster streckte, den Mann am Kragen packte und ihm in ziemlich fließendem Straßenarabisch erklärte, dass er gefälligst seinen Arsch bewegen solle. Der erschrockene Mann stolperte zur Schranke, ließ sie hoch, und Parker fuhr durch. Das Hotel war ein altmodisches Gebäude, mit vielen Grünanlagen, einem Swimmingpool und ein paar Cotta169
ges, die zwischen Palmen standen. Parker ließ den Wagen im Leerlauf zum Eingangsportal rollen und brachte ihn dann zum Stehen. Sofort kamen ein paar dienstbare Geister die Stufen herabgeeilt, um sich um das Gepäck zu kümmern. Parker stieg nicht aus. Er sagte zu Dillon: »Belfast Telegraph, ja? Also, ich muss gestehen, dass ich auf der Shankill nie ein solches Arabisch gehört habe.« »In der Falls Road haben wir es immer gesprochen.« »Das glaube ich Ihnen aufs Wort.« Parker lächelte. »Ich höre von Ihnen.« Damit fuhr er ab. Auch der Empfangsbereich strahlte die Eleganz vergangener Tage aus, wozu die drei Deckenventilatoren, die träge vor sich hin quirlten, erheblich beitrugen. Bill hatte im Taxi die beiden Kameras ausgepackt und sich um den Hals gehängt. Er machte ein paar Aufnahmen von dem Foyer und ging dann weiter zu einer eleganten Bogentür, die in eine weitläufige Bar und einen Coffeeshop führte. Auch dort schoss er ein paar Bilder. »Brillant«, meinte er anschließend zu Dillon. »Wie in Casablanca. Jetzt müsste nur noch Rick um die Ecke biegen.« »Das hast du schön gesagt, Billy.« Der Herr hinter der Empfangstheke unterbrach sie mit den Worten: »Gentlemen, mein Name ist Hamid. Ich bin der Manager dieses Hotels. Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Dillon und Salter.« 170
»Ah, Mr. Dillon. Wir haben Sie erst etwas später erwartet.« »Wir hatten jede Menge Rückenwind«, setzte Billy erklärend hinzu. Dillon zündete sich eine Zigarette an: »Gibt es ein Problem?« »Keineswegs. Wir haben Cottage fünf für Sie reserviert.« »Ich hatte gehofft, Miss Novikova hier zu treffen«, fuhr Dillon auf Arabisch fort, worauf Hamid ihn erstaunt ansah. »Sie ist bereits hier eingetroffen, wie ich erfahren habe.« »Ja, vor ein paar Stunden. Cottage sieben.« Er schnippte kurz mit den Fingern, worauf die beiden Hausdiener das Gepäck wieder aufnahmen und auf die Cottages zusteuerten. Dillon und Billy folgten ihnen auf dem schmalen Kiesweg, der durch einen Palmenhain führte. Um den Pool herum waren Tische und Stühle unter Sonnenschirmen gruppiert. Ein paar Gäste saßen dort; auf den Tischen standen Drinks. Während die Gepäckträger weitergingen, zog Dillon Billy zu sich heran. »Der Tisch dort mit dem grünweißen Schirm. Die Frau in dem hellblauen Kleid, die neben dem Mann sitzt, der wie ein Iraker aussieht. Schwarzes Haar, buschiger Schnauzer.« »Ja?« »Das ist Greta Novikova.« »Und der Typ?« »Sharif. Ich habe ein Foto von ihm gesehen. Geh weiter.« Sie folgten den Kofferträgern zu ihrem Cottage. Einer der beiden schloss die Tür auf und bat sie herein. Das Cottage machte einen sehr gepflegten Eindruck. Es gab 171
einen kleinen Salon, zwei Schlafzimmer und ein Bad. Dazu sogar eine kleine Küche und eine Terrasse. Dillon gab den beiden Hausdienern ein Trinkgeld, entriegelte die Verandatüren und trat hinaus. Billy gesellte sich zu ihm. »Was hältst du von der Novikova?« »Ich weiß nicht, Billy. Ich finde nur, sie sollte Sharif nicht so nahe kommen.« »Und, was machen wir jetzt?« »Auspacken, duschen – du bist Zweiter – und uns dann mit Sharif unterhalten, wenn er aufkreuzt. Danach gehen wir in die Bar und sehen weiter. Vielleicht treffen wir ja dort wieder auf die Novikova.« Billy grinste. »Harry hat Recht, du bist wirklich ein Mistkerl.« Gegen Ende ihres Fluges hatte Greta einen Anruf von Ashimov erhalten. »Ah, die Wunder des Cyberspace. Es ist genau so, wie ich gedacht habe. Dillon hat sich ebenfalls auf den Weg nach Bagdad gemacht. Ich habe sogar seine vorläufige Ankunftszeit.« »Ich bin beeindruckt.« »Für den großen Ashimov ist nichts unmöglich. Zudem habe ich bereits zwei ehemalige Söldnerkameraden von mir in Bagdad, Igor Zorin und Boris Makeev, mit der Drecksarbeit beauftragt.« »Sind die gut?« »Ehemalige Fallschirmjäger, Tschetschenien-erprobt. Die machen das schon. Dillon hat sich ebenfalls im Al Bustan einquartiert. Und Verstärkung mitgebracht, Billy Salter, einen jungen Gangster. Sie mimen Presseleute.« 172
»Wird das nicht gefährlich, wenn sie im gleichen Hotel wohnen?« »Nein, eigentlich nicht. Er wird dich ziemlich bald ausfindig machen. Das Schöne ist, dass der Manager vom Al Bustan, Hamid heißt er, in der Vergangenheit schon viele Male für mich gearbeitet hat. Er hat mich bereits dahingehend informiert, dass ein gewisser Major Sharif, ein ehemaliges Mitglied der Republikanischen Garde, sich nach Dillons Ankunftszeit erkundigt hatte. Ich habe Hamid instruiert, in meinem Namen mit diesem Mann zu sprechen. Ihn mit Geld zu bestechen. Gefällt dir das?« »Armer Dillon.« »Du wirst viel Zeit haben, dich mit Sharif zu unterhalten, ehe Dillon und Salter im Hotel auftauchen. Alles klar? Wir bleiben in Verbindung.« Im Al Bustan überschlug sich Hamid förmlich vor Freundlichkeit, als Greta dort eintraf. Der Name Belov hing deutlich spürbar in der Luft. Er begleitete sie höchstpersönlich zu ihrem Cottage und rief dann Major Sharif auf seinem Handy an. Greta hielt sich gar nicht erst mit Auspacken auf, sondern ging direkt zum Pool, setzte sich an einen Tisch und bestellte bei einem der Kellner einen doppelten Wodka-Cocktail. Nachdenklich nippte sie an ihrem Glas, als Sharif kurze Zeit später zu ihr an den Tisch trat und sich vorstellte. Er war ein großer Mann in den Vierzigern, mit schwarzem Haar, schwarzem Schnauzbart und traurigen Augen. Er trug einen zerknitterten Leinenanzug, dessen Ausbuchtung an der rechten Jackentasche auf eine Waffe schließen ließ. 173
Mit einer angedeuteten Verbeugung sagte er: »Major Novikova?« »Major Sharif. Bitte, setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken?« Als er ihr gegenüber Platz genommen hatte, begann Greta sogleich: »Ich verschwende nicht gerne Zeit, deshalb hören Sie mir genau zu.« Mit ein paar knappen, präzisen Sätzen setzte sie ihn ins Bild. »Kennen Sie Zorin und Makeev?« »Ich habe sie ein paarmal hier gesehen. Das sind Typen, die ihre Fahne nach dem Wind hängen.« »Was weiß man über Selim in Muhammad?« »Ich habe bereits Erkundigungen eingezogen. Habe Kontakte in dieser Gegend. Sein Großonkel erwartet ihn heute Abend.« »Sagen Sie Dillon, wenn er Sie danach fragt, dass er morgen ankommt. Wir treffen uns später mit Makeev und Zorin und besprechen unsere weitere Vorgehensweise. Und ich möchte eines klarstellen: Ferguson mag Sie gut bezahlen, aber falls Sie wirklich am großen Geld interessiert sind, bezahlt Josef Belov mehr.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Falls Sie sich gewundert haben sollten.« »Ich bin sehr zufrieden, Major.« Er zog eine Karte hervor. »Meine Handynummer. Wenn Sie mir die Ihre auch geben würden.« Sie kam seiner Bitte nach. »Gut. Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie erfahren haben, dass er gelandet ist.« »Selbstverständlich.« Mit einer weiteren Verbeugung entfernte er sich.
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Geduscht und umgezogen, er trug jetzt ein frisches Hemd und einen beigen Leinenanzug, kramte Dillon in der Tasche, die ihm der Quartiermeister vom Farley Field Fliegerhorst übergeben hatte, fand eine Walther, die er lud, sicherte und in seine Jackentasche steckte. Anschließend ging er hinaus auf die Terrasse, steckte sich eine Zigarette an, und Billy kam ihm nach. »Ich habe Hunger. Wann essen wir?« In diesem Moment kam Sharif auf dem von Palmen gesäumten Weg auf ihr Cottage zu. »Mr. Dillon?« »Das ist richtig.« »Ich bin Major Sharif. Sie sind etwas früher angekommen. Tut mir Leid, dass ich Sie nicht empfangen konnte.« Dillon legte eine Hand auf Billys Schulter. »Das macht doch nichts, nicht wahr, Billy?« Billy reagierte prompt. »Verdammt, nein.« Er streckte Sharif die Hand hin. »Freut mich, Sie kennen zu lernen.« »Eines gleich vorneweg«, sagte Dillon. »Ich habe gerade aus London erfahren, dass Greta Novikova hier abgestiegen ist.« »Das habe ich selbst auch eben erst erfahren, vorhin beim Einchecken. Der Manager hat es mir erzählt. Wir haben ein Übereinkommen. Er erweist mir ab und zu einen Gefallen.« »Ach, Sie kennen sie gar nicht?« »Nein. Ich glaube nicht, dass sie schon einmal in Bagdad gearbeitet hat.« »Verstehe. Und, was ist mit Selim? Wird er hier auftauchen?« 175
»Dann hätte er vorher ein Zimmer reserviert, was er aber nicht getan hat. Ich glaube, dass er immer noch auf dem Weg von Kuwait hierher ist und direkt zum Haus seines Onkels in Muhammad fährt. Dort wird er wahrscheinlich morgen eintreffen, aber ich werde später genauere Informationen erhalten.« Dillon klopfte ihm lächelnd auf die Schulter. »Nein, mein alter Freund«, sagte er und nickte Billy zu, der eine Walther zog und sich mit dem Rücken vor die Tür stellte. »Ich glaube, dass wir gleich jetzt nähere Informationen erhalten werden.« Sharif, der wusste, wann er es mit einem echten Profi zu tun hatte, stieß einen tiefen, aber keineswegs wütenden, sondern eher resignierten Seufzer aus. »Kann ich einen Drink haben, Mr. Dillon?« In der Minibar fand Dillon eine Flasche Scotch und zwei Gläser und schenkte ein. Sharif stürzte sein Glas auf einen Sitz herunter und hielt es ihm gleich noch einmal hin. Dillon schenkte nach. »Ich habe unter Saddam bei der Republikanischen Garde und dem militärischen Nachrichtendienst gedient, weil man ja irgendwie seine Brötchen verdienen muss, und das bedeutet, dass ich ein böser Bube war. Aber dann verlor ich bei einem Bombenanschlag meine Frau und meine Tochter, und das war der Krieg, deshalb scheiße ich auf Saddam und euch alle, die Amerikaner, die Briten und jetzt auch die Russen, weil ihr alle gleichermaßen unser Land ruiniert habt.« »In diesem Punkt gebe ich Ihnen Recht«, sagte Dillon und prostete ihm zu. »Wie’s der Teufel will, bin ich Ire – 176
ein der IRA sehr zugetaner Ire – und kann deshalb zu Ihrem schlimmsten Albtraum werden. Mein guter Ruf versetzt mich in die Lage, Sie an die Amis auszuliefern, und ich bin ziemlich sicher, dass Sie dort mit Freuden empfangen werden.« »Und die Alternative?« »Sie arbeiten mit uns zusammen, und ich garantiere Ihnen, dass Ferguson Sie entsprechend entlohnen und Ihnen anschließend saubere Papiere verschaffen wird.« Sharif war verblüfft. »Kann das wahr sein?« Er drehte sich zu Billy um, der achselzuckend und mit ausdrucksloser Miene erwiderte: »Mich brauchen Sie nicht anzusehen. Ich töte nur Menschen, wenn er es befiehlt.« »Die Welt ist verrückt geworden.« »Also, sprechen Sie«, forderte Dillon ihn auf. »Sind Sie dabei oder nicht?« »Ich bin dabei.« »Guter Junge. Und jetzt erzählen Sie mir, worüber Sie sich mit ihr unterhalten haben.« Sharif erzählte, und anschließend meinte Billy: »Zorin und Makeev, die beiden riechen förmlich nach Ärger.« »Deshalb habe ich ja dich mitgenommen, Billy.« Dillon ging noch einmal zur Ausrüstungstasche des Quartiermeisters, entnahm ihr einen Ordner, öffnete ihn und zog einen Computerausdruck heraus. »Kommt Ihnen das bekannt vor?« Sharif machte ein überraschtes Gesicht. »Aber ja, das ist Muhammad, und das ist die Selim-Farm in den Oran177
genhainen unten am Tigris. Der Hof ist während es Krieges zerstört worden, doch der alte Mann lebt noch dort, allein. Ein paar Frauen aus der Familie kümmern sich um ihn, wie meine Kontaktperson mich hat wissen lassen.« Dillon ging noch einmal zur Tasche, öffnete den doppelten Boden, in dem zehntausend US-Dollar steckten, und entnahm zweitausend Dollar in Bündeln zu 50-Dollarnoten. »Das sollte vorerst reichen.« Sharif machte große Augen, steckte das Geld aber schnell ein. »Was soll ich sagen?« »Wie weit ist es bis nach Muhammad?« »Vierzig Kilometer. Eine Stunde mit dem Wagen, vielleicht auch weniger. Soll ich Sie hinbringen?« »Nein, ich habe einen Fahrer, der sich hier auskennt. Was ich von Ihnen will, ist, dass Sie mit Ihrer Kontaktperson in Verbindung bleiben und mich sofort anrufen, sobald Sie erfahren haben, dass Selim angekommen ist. Wir warten hier, abfahrbereit.« »Und die Novikova?« »Die rufen Sie eine halbe Stunde später an. Billy und ich wollen sie überraschen, wenn sie mit ihren Freunden in Muhammad eintrifft.« »Warum schnappen wir uns diesen Selim nicht einfach und verduften?«, fragte Billy. »Weil ich Ashimov eins auswischen will. Er wird Belov eine Menge zu erklären haben.« Damit wandte sich Dillon an Sharif. »Okay, nun gehen Sie.« Immer noch stand Sharif die Verwunderung im Ge178
sicht geschrieben, als er sagte: »Sie vertrauen mir, Mr. Dillon?« »Sagen wir mal so, Sie machen mir den Eindruck, ein Ehrenmann zu sein. Aber vergessen Sie nicht, der Novikova mitzuteilen, dass Sie mir gesagt haben, dass mit Selim nicht vor morgen zu rechnen ist. In der Zwischenzeit werden Billy und ich in Erfahrung bringen, welche Köstlichkeiten das Restaurant und die Bar des Al Bustan für ihre Gäste bereithalten. Wir haben nämlich einen langen Tag hinter uns.« Kopfschüttelnd verließ Sharif das Cottage, und Dillon rief Sergeant Parker an. »Hier Dillon. Kennen Sie einen Ort namens Muhammad?« »Aber gewiss.« »Dort bringen Sie uns heute Abend hin. Tragen Sie Zivil und vergessen Sie die Browning nicht.« »In Ordnung. Wenn ich jetzt aufbreche, könnte ich in einer Stunde bei Ihnen sein.« »Ziehen Sie sich hübsch an. Schließlich ist das hier das Al Bustan.« »Sie machen wohl Scherze, wie?« Parker lachte und legte auf. Danach versuchte Dillon Lacey anzurufen und erreichte ihn schließlich in der Messe. »Dillon hier. Wie geht es euch?« »Abgesehen von ein paar interessanten Leuten, die sich hier rumtreiben, ist es ziemlich langweilig. Zumal wir auf Stand-by sind und nichts trinken dürfen. Was immer Sie vorhaben, erledigen Sie es schnell, alter Knabe.« 179
»Versprechen kann ich nichts, aber ich schätze, es wird sich so um Mitternacht einpendeln. Wäre das ein Problem für euch?« »Mit der roten Sicherheitsstufe-Eins-Plakette? Sean, wir stehen hier alle Gewehr bei Fuß.« »Es besteht die Möglichkeit, dass wir einen weiteren Passagier mitbringen, was allerdings höchste Perfektion in einer höchst unperfekten Welt voraussetzten würde.« »Wir sind in Ihrer Hand. Passen Sie auf sich auf.« Dillon ließ sein Codex Four zuschnappen und wandte sich an Billy. »Das war’s fürs Erste. Komm, wir testen mal diese Bar.«
9.
Sharif, der alte Geheimdiensthase, hatte den Entschluss gefasst, Greta Novikova von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, und klopfte wenig später an die Tür von Cottage sieben. Sie öffnete im Bademantel, um den Kopf hatte sie ein Handtuch gewickelt. »Ich habe sie getroffen«, sagte er. »Sie kommen besser herein und erzählen mir alles.« Was er auch tat, jedenfalls seine Version der Geschichte. »Das ist ein knallharter Typ, dieser Dillon.« »Härter, als Sie für möglich halten. Aber wichtig ist, dass Sie ihm klar gemacht haben, dass Selim nicht vor morgen eintreffen wird.« »Absolut. Er hat keinen Grund mir nicht zu glauben.« »Und gibt es irgendwelche Neuigkeiten aus Muhammad?« »Wie gesagt, definitiv weiß ich das erst am späteren Abend. Ich werde jetzt meine Quellen überprüfen. Habe Polizeikontakte in dieser Gegend. Eine etwas delikate Angelegenheit.« »Dann lassen Sie sich nicht aufhalten. Zorin und Makeev werden bald hier sein.« Sie öffnete ihm die Tür. »Was macht Dillon im Augenblick?« »Mir hat er gesagt, er wolle einen Blick in die Bar werfen.« »Das dachte ich mir.« Sie ließ ihn hinaus und blieb noch einen Moment 181
nachdenklich in der Tür stehen, ehe sie in ihr Schlafzimmer ging und sich anzog. Die Bar und das Restaurant waren um die Zeit nicht sehr frequentiert, an den Tischen saßen nicht mehr als ein paar Dutzend Gäste, drei oder vier an der Bar. An der renovierungsbedürftigen Decke drehten sich langsam ein paar Ventilatoren, die verzierten Spiegel hinter der Bar waren teilweise gesprungen, und hier und dort sah man Einschusslöcher in den Wänden, doch die zwei Barkeeper trugen blütenweiße Sakkos, der Oberkellner einen Frack. Sie alle gaben ihr Bestes. Schließlich war der Krieg vorbei. Billy hatte zwei Fotoapparate umhängen und knipste mit sichtlicher Begeisterung, schlenderte durchs Restaurant hinaus auf die Terrasse und den mit Scheinwerfern beleuchteten Pool-Bereich. »Großartig, Dillon, einfach fantastisch«, rief er, als er von draußen zurückkehrte. »Hier könnten wir einen Film drehen.« Dillon hatte einen trinkbaren Champagner entdeckt und prostete Billy zu. »Das wäre genau das Richtige für dich. In einem weißen Frack würdest du dich sicherlich toll machen. Wir werden Harry bitten müssen, unseren Lohn aufzubessern.« Und dann betrat Greta Novikova die Bar, sehr elegant in einem schlichten schwarzen Seidenkleid, kurz aber nicht zu kurz, dazu goldene hochhackige Pumps. Das Haar hatte sie streng zurückgekämmt. »Ich habe mich schon gewundert, wo Sie abgeblieben 182
sind, Mädchen«, sagte Dillon. »Aber das Warten hat sich gelohnt. Sie sehen großartig aus.« »Immer noch derselbe hinterhältige Bastard, Dillon. Ich nehme meinen Champagner auf der Terrasse.« Sie durchquerte das Restaurant, wobei sich etliche Gäste nach ihr umdrehten, und wählte einen Tisch. Inzwischen bestellte Dillon beim Oberkellner eine Flasche Dom Perignon. »Ferguson ist anscheinend extrem großzügig mit seinen Spesensätzen, wenn er zulässt, dass Sie französischen Champagner bestellen«, bemerkte Greta. Billy saß auf der Balustrade und fotografierte unentwegt. »Dillon ist der richtige Mann für Sie. Er hat einiges auf der hohen Kante.« Als der Oberkellner die Flasche entkorkte und ein anderer Kellner drei Gläser brachte, sagte Dillon: »Das ist eine Jahrhundertlüge. Aber Billy und sein Onkel Harry besitzen Immobilien im Wert von Millionen direkt an der Themse, doch der Junge hier liebt es einfach und schlicht. Zieht ein Leben als Fotograf vor.« »Fotograf, dass ich nicht lache«, schnappte Greta auf Russisch und grinste Dillon dabei an. »Was hat sie da gerade von sich gegeben?«, wollte Billy wissen. »Dir das zu erklären, könnte ich nicht ertragen«, sagte Dillon. »Aber es war nichts Freundliches.« Er drehte sich zu dem Kellner um. »Nur zwei Gläser bitte. Der Junge trinkt keinen Alkohol.« »Nein, er schießt nur Leute tot, wenn ihm gerade der Sinn danach steht«, gab Greta zurück und nahm einen 183
Schluck Champagner. »Ich weiß sehr genau, wer Sie sind. Ihr Onkel ist einer der übelsten Gangster von London, und Sie stehen ihm in dieser Eigenschaft kaum nach.« »Dann werde ich mich wohl noch mehr anstrengen müssen.« Dillon zog ein Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche und bot Greta eine an. »Also, wo geht’s als Nächstes hin? Sie kennen das Spiel, oder glauben es wenigstens.« »Mein Spiel könnte sich von dem Ihren unterscheiden. Wir Russen können nämlich sehr verschlagen sein.« Mit einem schnellen Schluck leerte sie ihr Glas. »Kommen Sie, lassen Sie uns jetzt was Anständiges trinken. Wenn Sie eine Flasche kaufen, stottere ich Glas für Glas bei Ihnen ab.« Billy lachte. »Sie sind wirklich Klasse, Lady. Nun mach schon, Dillon, lass dich nicht so lange bitten.« Dillon mochte sie; mochte sie mehr als jede andere Frau seit langem, als sie sich so nahe zu ihm über den Tisch beugte, dass er ihr Parfum riechen konnte, das Kinn auf eine Hand gestützt. »Kommen Sie schon, Dillon.« Jetzt forderte sie ihn heraus. »Trauen Sie sich nur.« Nach einer kleinen Pause sagte Dillon: »Okay, ich kapituliere.« Er bestellte eine Flasche Wodka, die beinahe sofort auf dem Tisch stand. Sie bestand darauf, den ersten Schluck zu nehmen. »Ich bin die Vorkosterin.« Sie kippte das Glas wie in Russland üblich auf einen Sitz hinunter und schnitt eine Grimasse. »Oh, den haben sie wohl in irgendeinem Hinterhof in Bagdad gebrannt. Jetzt sind Sie dran mit Probieren, Dillon.« 184
Er nahm einen Schluck. Das Zeug brannte wie Feuer. Er hustete, und die Tränen schossen ihm in die Augen. »Das ist zwar kein irischer Whiskey, wird uns aber durch den Abend bringen. Wir sollten unseren Freunden einen Schluck übrig lassen. Sie werden uns sicherlich bald Gesellschaft leisten.« Greta schenkte Dillon mit ruhiger Hand das Glas noch einmal voll. »Makeev und Zorin.« »Klingt wie eine Artistengruppe«, bemerkte Billy grinsend. »Mr. Salter, ich fürchte, da irren Sie sich. Die beiden sind mir wärmstens empfohlen worden.« Als wäre das ihr Stichwort gewesen, traten zwei Männer durch die Verandatür, beinahe gleich angezogen, was etwas komisch wirkte, in hellbraunen Anzügen und schwarzen Hemden. Sie waren um die vierzig, muskulös und durchtrainiert, und hatten den typischen Armeehaarschnitt. Der erste sprach Greta Novikova auf Russisch an: »Major Novikova, ich bin Igor Zorin. Und das ist Boris Makeev.« »Wir können beim Englischen bleiben. Mr. Dillon hier beherrscht Russisch beinahe so gut wie Sie.« »Ein Mann mit Geschmack – abgesehen von seiner Wahl beim Wodka«, meinte Makeev zynisch. »Aber nachdem Sie Ire sind, ist auch ein schlechter Wodka besser als nichts, nehme ich an.« Makeev nahm einen Schluck aus der Flasche, verzog das Gesicht und spuckte ihn wieder aus, quer über den Tisch und zum Teil über Gretas Kleid. »Beherrschen Sie sich«, fauchte sie wütend. »Das ist ein Befehl.« »Wir sind hier nicht in der Armee«, beschied ihr Ma185
keev. »Wir arbeiten auf Honorarbasis, und ich kann Ihnen flüstern, dass wir auf Frauen, die versuchen, uns Befehle zu geben, nicht besonders scharf sind.« Billy machte einen Schritt auf den Mann zu, doch Dillon hielt ihn zurück: »Lass ihn.« In dem Moment kam Sergeant Parker von draußen in die Bar. Er trug ein dunkelblaues Sakko und dazu beige Hosen. Er schob die rechte Hand in die Sakkotasche und blieb stumm und abwartend stehen. »Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, meinte Makeev herausfordernd. »Nein, aber Ihr Haarschnitt fasziniert mich«, stellte Dillon fest. »So kurz geschoren sehen Sie beide aus wie zwei entlaufene Sträflinge. Die SAS in Hereford, das ist in England, lassen sich jetzt die Haare lang wachsen, weil sie ja nie wissen können, wann sie undercover agieren müssen. Aber wenn es so weit ist, sind sie unschlagbar. Da können Sie nicht mithalten.« »Ah, du kleiner Scheißer«, fauchte Makeev auf Russisch, beugte sich herab, um Dillon am Kragen zu packen, handelte sich jedoch eine blitzschnelle Kopfnuss von ihm ein und geriet ins Taumeln. Billy reagierte prompt, stellte ihm ein Bein und schickte einen Tritt in die Rippen hinterher. »Netter Kerl«, grinste Billy. Als Zorin seinem Kameraden auf die Beine half, sprang Greta wütend auf. »Verschwindet in mein Cottage und wartet dort auf mich. Sofort!«, setzte sie drohend hinzu. »Man kriegt heutzutage einfach keine guten Leute mehr«, sagte Dillon und schüttelte verächtlich den Kopf. 186
»Ja, ich weiß auch nicht, was aus unserer Welt werden soll.« Billy grinste, Greta nicht. »Fahr zur Hölle, Dillon«, fluchte sie und folgte den anderen beiden hinaus zu den Cottages. Die anderen Gäste hatten es sich wieder bequem gemacht, nicht sonderlich beeindruckt von diesem kleinen Zwischenfall in einer Stadt, wo Bomben und Gewalt zum täglichen Leben gehörten. »Was zum Teufel war das denn für eine Vorstellung?«, wollte Parker wissen. »Das, mein alter Freund, ist die Opposition, aber nähere Einzelheiten unten in unserem Cottage. Zeit, diese gemütliche Hütte zu verlassen, Billy. Gut, dass wir gar nicht erst ausgepackt haben.« »Bei dir kommt man ja keine Sekunde zur Ruhe.« Als sie die Stufen von der Terrasse hinabstiegen, klingelte Dillons Satelitentelefon. Es war Sharif. »Mr. Dillon, Selim ist vor kurzem auf der Farm eingetroffen.« »Wir sind schon auf dem Weg. Und nicht vergessen, warten Sie eine halbe Stunde, und rufen Sie sie erst dann an.« »Wie vereinbart.« Sharif schaltete sein Handy aus und blieb eine Weile in dem Orangenhain stehen, atmete den süßen Duft der Blüten ein, ließ den Blick über die Lichter von Muhammad und die Farm unten am Tigris schweifen und fühlte sich irgendwie bedrückt. Hatte er das Richtige getan? Wer wusste das schon? Von nun an lag alles in Allahs Hand.
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Kurz darauf erreichten Dillon, Parker und Billy das Cottage. Dillon öffnete die Ausrüstungstasche. Als er zwei 25er Colt Halbautomatik in Fesselholstern zum Vorschein brachte und Billy eine der Waffen reichte, meinte Parker: »Eine Damenwaffe.« »Nicht mit Hohlmantelmunition. Steck dir eine Walther hinten in den Hosenbund, Billy.« Er grinste Parker an. »Wenn uns jemand filzt, finden sie die und glauben, das war’s.« »Mein Gott, was wird denn das? Der dritte Golfkrieg?« Dillon setzte ihn ins Bild. Anschließend meinte Parker: »Ich ahnte schon, dass das ein großes Ding wird, als Robson mich einweihte, aber das hier ist noch etwas anderes.« »Eine absolute Undercover-Operation. Das ist unsere Art zu arbeiten. Die Papiere von wegen Amtsgeheimnis können Sie später unterzeichnen.« »Außer, Sie wollen nicht«, fügte Billy hinzu. »Leckt mich. Wie ich schon sagte, in letzter Zeit war es etwas langweilig.« Dillon zog eine Uzi-Maschinenpistole aus der Tasche. »Davon haben wir zwei, und mit Ihrer Browning sind wir einigermaßen gewappnet, würde ich sagen.« »Nur eins noch«, setzte Parker hinzu. »Soll das alles hier bedeuten, dass Sie Sharif nicht trauen?« »Nein, es bedeutet nur, dass ich grundsätzlich niemandem traue. Okay, wir nehmen die Tasche mit den Schießeisen mit, alles Übrige bleibt hier, wir lassen das Licht brennen und das Radio laufen.« 188
»Und die Rechnung an der Rezeption verschimmeln«, grinste Billy. »Was sonst.« »Ich habe an der Rückseite des Hotels geparkt. Ford Kombi.« »Gut, dann lassen Sie uns, wie es im Film immer so schön heißt, die Hufe scharf machen«, meinte Dillon zu Parker. Gute zehn Minuten später – Greta Novikova war gerade dabei, Zorin und Makeev unmissverständlich klar zu machen, was sie von ihnen hielt – klingelte ihr Handy. Es war Sharif. »Er ist in Muhammad. Gerade angekommen.« »Ausgezeichnet. Zorin und Makeev sind hier bei mir.« »Soll ich auch kommen?« »Nein, wir treffen uns dort.« »Haben Sie immer noch vor, die beiden auszuschalten?« »Selbstverständlich, das ist doch der Sinn der Übung, oder? Haben Sie damit ein Problem?« »Überhaupt nicht.« »Gut, dann bis später.« Sharif schaltete sein Handy aus, ließ den Blick noch einmal über die Farm unten am Fluss schweifen und machte sich dann an den Orangenbäumen vorbei auf den Weg dorthin. Zorin saß am Steuer des Cherokee, Makeev neben ihm und Greta auf der Rückbank. Makeev lud gerade ein AK47 mit ausklappbarer Schulterstütze. 189
»Das sollte genügen«, sagte er lachend und versetzte Zorin einen übermütigen Hieb auf die Schulter. »Ein Kinderspiel, dieser Job. Nichts im Vergleich zu dem irakischen General, den wir in Basra gejagt haben.« »Sie haben für die Amerikaner gearbeitet?«, fragte Greta erstaunt. »Gott bewahre, nein! Bei dem Auftrag ging es um die Wiederherstellung der Ehre. Der General hat während des Saddam-Regimes die Ehefrau von jemandem vergewaltigt. Und die Familie wollte sie rächen.« »Wir haben ihn in einem Abwassergraben aufgespürt«, erklärte Zorin. »Die Familie wollte seine männlichen Attribute, doch dieser Tölpel hier hat ihn mit einer Handgranate erledigt.« »Und hinterher war von seiner Männlichkeit nichts mehr übrig«, setzte Makeev hinzu und fing schallend an zu lachen. »Aber Sie hinter Ihrem GRU-Schreibtisch kriegen von so was ja nicht viel mit.« Jetzt wurde ihr klar, dass die beiden irgendwas genommen hatten und high waren. Greta trug einen schwarzen Hosenanzug und hatte ihre Handtasche auf dem Schoß liegen. Unauffällig schob sie ihre Hand in die Tasche und fand, was sie suchte, eine Makarov. Sie schloss ihre Finger um die Waffe, nicht nervös, nur auf alles gefasst. Sie hatte bereits einige Menschen getötet, aber das wussten diese Narren freilich nicht. »Oh, da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher. Ich kenne die Kanäle in Kabul zufällig. Ich war zweiundzwanzig, als uns die Mudschaheddin zweiundneunzig hinausjagten.« Die beiden hatten aufgehört zu lachen. 190
»Sie waren in Afghanistan?« Makeev traute seinen Ohren nicht. »Tschetschenien war viel schlimmer. Das waren wirklich Kanalratten.« Zorin riss den Wagen herum, als im Scheinwerferlicht eine Eselkarawane auftauchte, die mit Waren für den morgigen Markt beladen war. »Passen Sie doch auf«, rief sie scharf. »Ich würde gern in einem Stück in Muhammad ankommen.« Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. Die Fahrt nach Muhammad verlief problemlos und dauerte nur fünfzig Minuten. Als die ersten Häuser in Sicht kamen, studierte Dillon im Schein einer Taschenlampe die Karte. »Ich würde sagen, Sie biegen dort oben auf dem Hügel, wo der Orangenhain beginnt, rechts ab und warten im Wagen. Bis zum Haus sind es nur etwa dreißig Meter«, erklärte er Parker. »Und verpasse so die ganze Show?« »Nein, Sie halten die Schrotflinte im Anschlag. Man weiß nie, was passiert. In der Tasche finden Sie Nachtsichtgläser.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe mich mein ganzes Leben lang nie auf etwas oder jemanden verlassen. Deshalb wandle ich wahrscheinlich auch noch auf Erden.« Später, als Parker von der Hauptstraße abgebogen war, schaltete er die Scheinwerfer aus und ließ den Wagen ein Stück in den Orangenhain hineinrollen, ehe er anhielt. 191
Die Farm lag unter ihnen, hinter den Fenstern brannte Licht. Zwei Boote glitten lautlos den Tigris entlang auf Bagdad zu. Es war außergewöhnlich friedlich. »Sie kamen nach Muhammad«, sagte Dillon. »Sehr biblisch.« »Ich bin nicht besonders bibelfest«, gab Billy zurück. »Und ich halte mich an die irische Lebensweisheit, die besagt, dass nichts im Leben passiert, was nicht schon in der Bibel passiert ist.« Er zog zwei Nachtsichtgläser aus der Tasche und reichte Parker eines davon. »Da, werfen Sie mal einen Blick hinüber.« Als er selbst durch das Nachtsichtglas schaute, erkannte er das Haus ganz deutlich und auch die beiden Schuppen rechts und links. Einer war beschädigt, das Dach zur Hälfte eingestürzt. In der Nähe des Hauses parkte ein Land Rover. »Hier merkt man den Krieg«, sagte Dillon und reichte das Fernglas an Billy weiter. »Schau dir die Nummerntafel des Land Rover an. Der Wagen ist in Kuwait zugelassen.« Billy gab Dillon das Fernglas zurück. »Und, wie gehen wir vor?« »Wir werden zu Fuß runtergehen. Du nimmst die Uzi und lässt die andere dem Sergeant da.« Damit wandte er sich an Parker. »Sie haben das Nachtsichtglas. Überwachen Sie uns.« »Wonach genau soll ich Ausschau halten?« »Wer weiß? Tun Sie es einfach. Komm jetzt, Billy«, drängte Dillon, stieg aus und machte sich auf den Weg den Hügel hinab. Billy folgte ihm.
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Sie erreichten die beschädigte Seite des Bauernhauses. Das halbe Dach fehlte, ebenso das doppelte Scheunentor. Im Inneren war es finster, aber Dillon nahm die Gelegenheit wahr, leuchtete kurz mit der Taschenlampe hinein und traf nur auf verrostete Landwirtschaftsmaschinen. Plötzlich hörten sie ein merkwürdiges Rattern auf dem intakten Teil des Dachs und stellten im nächsten Moment fest, dass es wie aus Kübeln schüttete. »Heilige Maria«, rief Billy. »Ich dachte, ich bin im Irak.« »Auch im Irak regnet es. Manchmal so stark, dass man glaubt, die nächste Sintflut bräche herein.« Er ging voraus, an der Vorderseite des Gebäudes entlang und an dem Land Rover vorbei. Die Fensterläden standen halb offen, sodass Dillon ins Haus sehen konnte. Billy spähte ihm über die Schulter. Das musste das Wohnzimmer sein – mit einem großen Tisch, auf dem eine Öllampe stand, und Stühlen außen herum. An der Wand stand eine Holzkommode, im Kamin brannte ein Feuer. Das Radio spielte leise Musik, aber es war niemand zu sehen. »Schauen wir uns mal den anderen Stall an«, flüsterte Dillon und schlich weiter. Rechts und links von der Stalltür gab es ein kleines Fenster. »Da haben wir ja unseren Mann«, sagte Dillon. »Komm, Billy, wirf einen Blick hinein.« Der Stall bestand aus mehreren Boxen für Tiere und einem Heuboden, auf dem Ballen von getrocknetem Gras und Schilf lagerten. Und da war Selim in Hemd und Jeans, der mit einem Rechen den Stall ausmistete. »Los, hinein mit uns«, raunte Dillon. 193
Als er nach der Türklinke griff, schrie ein Esel hinter dem Stall, und etliche andere antworteten ihm. Was insofern seltsam war, als die Tiere um diese Nachtzeit und besonders bei diesem Regen eigentlich im Stall sein sollten. Doch noch ehe Dillon darauf reagieren konnte, schwang die Hecktür des Range Rover auf und Sharif sprang heraus, ein AK-47 im Anschlag. Zwei mit rotschwarz karierten Tüchern vermummte Männer sprangen hinter ihm aus dem Wagen, ebenfalls mit Sturmgewehren bewaffnet, Dillon wollte gerade herumfahren, doch der Lauf von Sharifs Gewehr im Rücken hinderte ihn daran. »Ich würde mich nicht umdrehen, wahrlich nicht. Ich habe kein Verlangen, Sie oder Mr. Salter zu töten. Bitte, werfen Sie die Uzi weg.« »Leck mich«, fluchte Billy, tat aber, was von ihm verlangt wurde. »Sie sollten sich vor Allahs Zorn in Acht nehmen, Mr. Salter.« »Verdammt, Sie sind einer von denen«, fluchte Dillon. Sharif tastete sie nach Waffen ab, fand die beiden Walthers und gab sie an seine Kumpane weiter. »Nein, bin ich nicht. Al-Qaida oder Zorn Gottes oder wie sie sich auch nennen, diese Gruppierungen interessieren mich nicht. Ich bin nicht einmal ein guter Moslem. Aber ich liebe mein Land. Mein Land ist mir wichtig, und ich will, dass ihr alle daraus verschwindet.« »Auch die Russen?« »Ganz besonders die Russen. Glauben Sie im Ernst, ich möchte, dass Leute wie Belov sich unser Erdöl unter den Nagel reißen und unser Land regieren? Bestimmt nicht. 194
So, gehen wir hinein und warten auf Major Novikova und ihre Freunde. Das wird eine nette Überraschung werden, glaube ich.« Er zog die Tür auf. Selim hörte auf zu rechen, drehte sich um und starrte sie erst erschreckt, dann erleichtert an. »Major, Sie haben ihn.« »So scheint es, mein alter Freund«, sagte Dillon zu ihm. »Falls es Sie interessiert – Ashimov und Belov wollen Sie nicht länger unter den Lebenden weilen sehen. Ich hingegen könnte mit Ferguson einen Handel abschließen, der Ihnen die sichere Rückkehr in die wundervolle Stadt London ermöglicht.« Als sie das Motorengeräusch eines Wagens hörten, sagte Sharif: »Macht die Tür ein bisschen weiter zu.« Hinter den Strohballen oben auf dem Heuboden tauchten zwei Männer auf. »Andererseits«, sagte Dillon zu Selim, als einer der beiden Männer die Türflügel zuschob, »möchten Sie vielleicht zukünftig lieber hier auf dem Hof leben?« Währenddessen war die ganze Szene aufmerksam von Parker durch das Nachtsichtglas verfolgt worden. Er griff nach der Uzi und hörte im gleichen Moment den Cherokee auf den Hof zu fahren. Rasch hob er das Nachtglas an die Augen und behielt den Jeep im Blick, der die Hauptstraße verließ und sich dem Hof näherte. Auf den letzten Metern verlangsamte er die Fahrt, und Makeev, ein Sturmgewehr im Arm, ließ sich Kopf voraus aus der Beifahrertür fallen und rannte anschließend gebückt durch das hohe Gras auf die Scheune zu. Der Jeep blieb stehen, 195
Zorin und Greta Novikova stiegen aus, und im gleichen Moment schwang die Scheunentür auf, und Sharif präsentierte sich mit seinen zwei Freunden. Das genügte, dass Parker sich in Bewegung setzte und den Hügel hinunterrannte. Greta Novikova funkelte Sharif wütend an. »Sie haben uns also verraten.« »Ich habe beide Seiten verraten. Ich habe mir die Sache sehr gründlich überlegt und schließlich entschieden, Patriot zu werden, was meine vier Freunde bereits waren. Anschließend habe ich mit ihnen gesprochen, und sie haben erfreut zugestimmt.« »Ich glaube, es würde sich für Sie lohnen, sich das Ganze noch einmal zu überlegen. Josef Belov hat einen langen Arm.« »Meinetwegen. Was ist denn mit Makeev passiert?« Dillon konnte es sich nicht verkneifen, seinen Senf dazu zu geben. »Das geht wohl auf meine Kappe. Der Bursche hat sich auf der Hotelterrasse sehr unhöflich gegenüber dieser Dame verhalten, weshalb ich ihm leider die Nase brechen musste«, erklärte er mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Oder etwas in der Art.« Makeev, der sich durch eine Hintertür in die Scheune geschlichen hatte und im gleichen Moment einige hölzerne Stufen hinaufsteigen wollte, die zu dem Eingang auf der linken Seite führten, hatte das Pech, dass die Holzstufen laut krachend unter seinen Füßen zerbrachen. Oben auf dem Heuboden gab einer der Männer Alarm und feuerte, 196
traf Makeev in die Brust, der seinerseits im gleichen Moment zurückschoss und dann rückwärts die Stufen herabstürzte. Unten rissen Dillon und Billy auf ein kurzes Nicken von Dillon hin die Colts aus den Fesselholstern und zielten damit auf Sharif und seine Männer. Niemand schoss. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen, es war, als hielte man einen Film an, nur die Tür hinten schwang im Wind hin und her, und es regnete herein. Sharif hob den Lauf seines AK-47. »Tut mir Leid, Dillon«, sagte er, doch in dem Moment erschien Parker in der Tür und schoss zweimal auf ihn. Alles Weitere geschah jetzt blitzschnell. Dillon wirbelte herum, warf sich auf Greta und schleuderte sie aus der Gefahrenzone. »Hinaus in einen der Ställe«, schrie er, als vom Heuboden oben eine Gewehrsalve den Boden um ihn herum durchlöcherte. Dillon drehte sich um, feuerte zwei Schüsse ab, und der Mann oben kam kopfüber vom Heuboden herabgestürzt. Billy hatte in einer der Boxen Deckung gesucht und einen Mann durch einen gezielten Kopfschuss ausgeschaltet, den anderen durch einen Schuss in den Rücken, als dieser sein Heil in der Flucht suchen wollte. Alles war still, und da kam Parker herein, völlig durchweicht vom Regen. »Heilige Maria«, war alles, was er herausbrachte. Selim kauerte, auf Hände und Knie gestützt, in einer der Boxen. Zorin hatte seine Pistole gezogen. Greta verließ ihre Deckung und kam auf ihn zu. »Verdammt noch mal, steck die Waffe weg. Wir haben verloren.« 197
Sharif stöhnte leise auf, worauf sich Dillon neben ihn kniete, doch dem Mann war nicht mehr zu helfen. Sharif brachte nicht einmal mehr ein Lächeln zustande. Als Dillon wieder aufstand, sprang Zorin hinter ihn und drückte ihm die Pistole ins Kreuz. »Für heute habe ich die Schnauze gestrichen voll, deshalb verabschiede ich mich jetzt und nehme diesen Kerl hier mit.« Er warf Greta einen Blick zu. »Wenn Sie mitgehen wollen, dann kommen Sie rüber.« »Ihr Wille ist mir Befehl.« »So mag ich es. Vielleicht kann ich Ihnen ja beibringen, das zu tun, was man Ihnen sagt.« Sie stand nun ganz nahe bei ihm. »Das tue ich doch immer.« Unauffällig zog sie die Makarov, rammte ihm den Lauf in den Rücken und drückte zweimal ab. Er fiel wie ein Stein zu Boden. »Und jetzt?«, fragte Billy Dillon. »Wieder eine schreckliche Nacht im Irak, Billy. Wir sehen wohl besser zu, dass wir hier wegkommen.« Er nickte Parker zu. »Gut gemacht.« Dann drehte er sich zu Selim um. »Ich könnte Sie erschießen, Doktor, aber bei Ferguson sind Sie besser aufgehoben. Und wenn Sie hier bleiben, sind Sie über kurz oder lang ohnehin ein toter Mann, spätestens wenn Ashimov herausfindet, dass Sie noch frei herumlaufen.« Als Letztes wandte er sich mit der Frage: »Ist es nicht so, Major?«, an Greta. »Absolut. Da kann ich Ihnen nur beipflichten.« »Mich hat sie nicht erschossen, dafür aber ihren eigenen Mann«, argumentierte Selim. »Das ergibt doch keinen Sinn.« 198
»Ach, wissen Sie, sie ist eine Frau.« Dillon schubste Selim zu Parker hin. »Packen Sie ihn in den Kombi.« Parker verließ mit Selim die Scheune; und Dillon und Greta blieben im Tor stehen. Billy beobachtete sie, die Uzi im Anschlag. Dillon bot ihr eine Zigarette an, nahm selbst eine und gab ihr und sich mit seinem alten Zippo Feuer. »Dürfen wir Sie mitnehmen, Lady?« »Nein, lassen Sie nur. Ich nehme den Cherokee, fahre zurück ins Al Bustan und packe. Sie fahren vermutlich zum Flughafen, habe ich Recht?« »Warum haben Sie das getan?« »Ist das wirklich wichtig? Also gut, sagen wir, Sie waren mir sympathischer als die anderen beiden, und Sharif hat die Sache hochgradig verbockt.« »Schön und gut, aber wie verbleiben Sie jetzt mit Ashimov und Belov?« »Ach, denen werde ich eine zufrieden stellende Version der Ereignisse übermitteln. Darin bin ich gut, außerdem gibt es niemanden, der mir widersprechen könnte.« Dillon öffnete die Fahrertür des Cherokee. »Hinein mit Ihnen, Mädchen.« Sie stieg ein und kurbelte das Fenster herunter. Er lehnte sich hinein. »Ich schulde Ihnen was. Ein Leben.« »Einem Moslem bedeutet das eine Menge, Dillon, doch Sie sind Ire und ein Bastard obendrein. Ein charmanter Bastard zwar, aber eben ein Bastard.« Sie drehte den Zündschlüssel um, und der Motor sprang an. »Geben Sie mir irgendwann mal im Dorchester einen Drink aus, dann sind wir quitt.« »Abgemacht.« 199
»Nur eins noch.« Sie lächelte ihn an. »Ich stehe nach wie vor auf der anderen Seite.« »Daran habe ich bisher nie gezweifelt.« Als sie davonfuhr, meinte Billy: »Das ist wahrlich ein Teufelsweib.« »Ja, einmalig, Billy. Aber jetzt lass uns abhauen.« Während sie den Hang zu dem Orangenhain hinaufstiegen, nahm Dillon sein Codex Four aus der Tasche und rief Lacey an. »Wir sind auf dem Weg, plus dem erwähnten Passagier.« »In Ordnung, Sir. Ich habe mit Robson gesprochen, es ist bereits alles vorbereitet. Ich bestätige es jetzt. Wir erwarten Sie. War es schlimm?« »Fragen Sie bloß nicht.« »So schlimm? Nun ja, bis bald.« Dillon zog seine Zigaretten aus der Tasche und fragte Selim, der zwischen ihm und Billy saß: »Rauchen Sie?« Selim zitterte ein wenig. »Seit Jahren nicht mehr.« »Dann sollten Sie jetzt eine rauchen. Das beruhigt die Nerven. Wenn Sie hier bleiben, werden Belovs Schergen Sie früher oder später liquidieren. Aber weil ich der Ansicht bin, dass sie dazu viel zu wertvoll sind, bringe ich Sie zurück zu Ferguson. Wie ich bereits sagte: Spielen Sie mit, dann wird Ihnen nichts geschehen.« »Aber meine Wurzeln liegen hier.« »Scheiße«, raunzte Billy. »Schauen Sie sich Ihren romantischen Irak doch an. Bauern, die barfuß mitten in der Nacht im Regen ihre Esel nach Bagdad treiben, in der Hoffnung, am nächsten Vormittag auf dem Markt ein paar Kröten einzunehmen. Das ist doch ein Drecksland.« 200
»Außerdem sind Sie ohnehin Brite«, setzte Dillon hinzu. »Geboren in London, Ausbildung auf der St. Paul’s, Cambridge.« »Sie haben die St. Paul’s besucht?«, fragte Billy. »Das habe ich gar nicht gewusst. Ich war auch zwei Jahre dort. Mein Onkel Harry wollte aus mir einen Gentleman machen.« Selim zeigte sich trotz der Angst um sein Leben interessiert. »Und was ist passiert?« »Sie haben mich mit sechzehn rausgeschmissen, weil ich zwei Aufsichtsschüler verprügelt habe. Komisch, das habe ich noch nie jemandem erzählt, nicht einmal dir, Dillon.« »Na, da sehen Sie«, grinste Dillon. »Ein kluger Mann hat einmal gesagt, England sei ein großartiges, tolerantes und vornehmes Land. Obwohl ich Ire bin, kann ich dem nur zustimmen. Und Moscheen gibt es in London überall.« Nachdem Greta in ihrem Cottage angelangt war, griff sie als Erstes zum Telefon und arrangierte einen frühen Abflugtermin für die Falcon am nächsten Morgen. Dann rief sie Ashimov an und riss ihn aus dem Schlaf, denn in London war es erst drei Uhr morgens. Er war sofort hellwach, setzte sich auf und tastete nach seinen Zigaretten. »Wie läuft es?« »Ich bin auf dem Heimweg, so läuft es. Sharif hat uns gelinkt.« »Dafür reiße ich ihm die Eier ab, das schwöre ich.« »Nicht nötig. Sie haben uns in Muhammad in einen Hinterhalt gelockt – Dillon, Slater und Sharif. Es gab eine 201
Schießerei. Zorin und Makeev sind dabei umgekommen. Mir ist es gelungen, Sharif zu töten und mich dann im Schutz der Dunkelheit davonzumachen. Ich habe noch gesehen, wie Dillon, Salter und ein paar andere Männer Selim zu einem Kombi geführt haben, und konnte hören, wie Dillon etwas rief wie: ›Machen wir uns vom Acker. Nächster Stopp, Airport.‹ Ich habe gewartet, bis sie weg waren, und bin dann mit dem Jeep zum Haus gefahren.« »Das klingt ja wie eine schwarze Komödie«, knurrte Ashimov. »Eine üble Farce.« »Ich bin sicher, sie werden Selim irgendwo an einem sicheren Ort in London ausquetschen«, meinte Greta. »Bestimmt. Und ich werde herausfinden, wo. Zum Glück ist dir nichts passiert, Liebes. Ich erwarte dich morgen.« Sie legte mit einem zufriedenen Lächeln den Hörer auf die Gabel und begab sich zu Bett. Durch einen diskreten Seiteneingang betraten sie den Bagdader Flughafen, wo Robson und Lacey in einem Land Rover auf sie warteten. »Folgen Sie uns direkt zum Flugzeug, Sergeant«, rief Robson. Die Citation war bereits startklar. Sie fuhren mit dem Wagen bis zur Treppe und stiegen alle aus. »Bitte, meine Herren, gehen Sie an Bord«, forderte Robson sie auf. »Sie sind offiziell nie hier gewesen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das macht die Dinge für alle erheblich einfacher.« »Sie haben einen guten Mann hier.« Dillon drehte sich 202
um und schüttelte Parker die Hand. »Das wiederholen wir bei Gelegenheit.« »Einmal mit Ihnen um die Häuser zu ziehen, reicht mir ehrlich gesagt, aber ich wünsche Ihnen trotzdem alles Gute.« Billy schob Selim die Treppe hinauf, Dillon folgte ihnen und dann Lacey, der die Tür verriegelte. Selim sank auf den erstbesten Sitz. Lacey gesellte sich zu Parry ins Cockpit. Dillon nahm sein Codex Four zur Hand und rief Ferguson an, den er, wie Greta zuvor Ashimov, aus dem Bett klingelte. »Wer zum Teufel ruft um diese Uhrzeit an?« »Dillon. Wir verlassen soeben Bagdad.« »Haben Sie ihn?« »Haben wir.« »War es schlimm?« »Wie üblich. Billy hat sich wacker geschlagen. Zwei neue Kerben.« »Und die Novikova?« »Erfreut sich immer noch bester Gesundheit. Ein tolles Weib, aber mehr davon später.« »Gut gemacht, Sean. Wir erwarten euch in Farley.« Die Citation raste über die Startbahn, hob ab und stieg steil nach oben. Billy stellte seine Rückenlehne zurück. »Ich werde ein kleines Nickerchen machen«, sagte er und machte die Augen zu. Da Selim immer noch zitterte, stand Dillon auf und angelte aus einem der Gepäckfächer eine Decke, die er Selim mit den Worten reichte: »Hier, nehmen Sie die.« 203
Mit leiser Stimme kam es von Selim: »Danke, Mr. Dillon.« Als Nächstes öffnete Dillon die Minibar, fand eine halbe Flasche Bushmills Whiskey und ein Glas und schenkte sich großzügig ein. »In diesem Komitee für ›Racial Harmony‹, in dem Sie im Unterhaus gesessen haben, könnten Sie bald wieder sitzen, wenn Sie Ihre Karten richtig ausspielen. Überlegen Sie es sich.« Dillon setzte sich zurück und schenkte sich einen zweiten Whiskey ein.
LONDON
10.
Um zehn Uhr morgens landete die Citation auf dem Fliegerhorst Farley Field, unter bleischwerem Himmel und im strömenden Regen. Ferguson wartete in dem Daimler, Hannah Bernstein stand im Regenmantel und mit einem Schirm neben dem Wagen. Hinter ihnen war ein Land Rover, in dem zwei Männer in Zivil saßen. Es handelte sich bei ihnen um zwei Staff Sergeants der Royal Military Police namens Miller und Dalton. Als die Citation ihre Parkposition erreicht hatte, stiegen die beiden aus. Die Tür öffnete sich und die Treppe kam herunter. Lacey erschien als Erster, gefolgt von Dillon und Selim, der immer noch in seine Decke gewickelt war. Ihm folgten Billy und schließlich Parry. Ferguson begrüßte sie unten am Fuß der Treppe. Der Form halber fragte er: »Sie sind Dr. Ali Selim?« »Das ist richtig.« Selim schien sich beruhigt zu haben. Ferguson drehte sich zu Hannah um. »Superintendent?« Nach einem kurzen Zögern begann sie: »Entsprechend dem Anti-Terrorism Act können Sie auf unbestimmte Zeit festgehalten werden. Und gemäß dem Official Secrets Act sind Sie verpflichtet, Stillschweigen über die ganze Angelegenheit sowie den Grund Ihres Hierseins zu bewahren.« »Dann habe ich kein Recht auf einen Anwalt?«, folgerte Selim. »Nein.« Ferguson wandte sich an die beiden Sergeants. 207
»Bringen Sie ihn in die Wohnung. Behandeln Sie ihn gut. Geben Sie ihm Kleidung zum Wechseln, und besorgen Sie ihm etwas zu essen, was immer er will. Denken Sie daran, er ist Muslim.« »Ich würde gern mitfahren, Sir«, bat Hannah. Die beiden Militärpolizisten verfrachteten Selim auf die Rückbank des Land Rover, während Ferguson Hannah beiseite nahm. »Ich weiß, dass Sie damit nicht einverstanden sind, meine Liebe, aber extreme Situationen verlangen extreme Methoden. Aber keine Angst, wir sind schließlich nicht die Gestapo. Wir werden ihn nicht misshandeln. Und jetzt gehen Sie, wir sehen uns später.« Offensichtlich unzufrieden wandte sie sich an Dillon: »Schön, dich wieder zu sehen, Sean.« Dillon empfand Mitleid mit ihr, aber es war Billy, der sagte: »Verschwenden Sie nicht Ihre Sympathien, Superintendent. Sie hätten uns umgebracht, wenn sie gekonnt hätten, und sie haben sich wirklich redlich Mühe gegeben – selbst Selim wollten sie liquidieren. Menschen wie Sie, mit Ihrem Gewissen, Ihren Moralvorstellungen, denen ist selten etwas gut genug, stimmt’s?« »Lass gut sein, Billy«, sagte Dillon, worauf Hannah sich umdrehte, in den Land Rover stieg und abfuhr. Als es von einer Sekunde auf die andere wie aus Kübeln zu schütten begann, erklärte Billy entschlossen: »Zum Teufel damit. Ich gehe jetzt ins Dark Man und genehmige mir ein ordentliches englisches Frühstück.« »Ausgezeichnete Idee.« Ferguson wandte sich an Lacey und Parry. »Vielen Dank, Gentlemen. Wir sehen uns sicherlich bald wieder.« 208
Er stieg mit Dillon und Billy in den Daimler, und sie fuhren ab. Wie die meisten Pubs hielt auch das Dark Man für seine Gäste ein Frühstücksmenu bereit. Dora hatte Dienst, begrüßte die Männer überschwänglich und verschwand in der Küche. Es war noch ruhig im Lokal, und kaum hatten sie in einer der Sitzecken Platz genommen, kam Harry gefolgt von Joe Baxter und Sam Hall durch die Tür. Harry umarmte Billy und klopfte ihm den Rücken. »Herr im Himmel, das ging aber flott.« »Ja, zum Glück«, meinte Dillon. Salter sah seinen Neffen an. »Und, wie war Bagdad?« »Nicht ganz so wie in den Sindbad-Filmen. Es hat fast die ganze Zeit in Strömen geschifft. Ehrlich gesagt, tun mir die Leute dort Leid.« »Dann habt ihr Selim also geschnappt?« Dillon warf Ferguson einen fragenden Blick zu, der diesen mit einem Nicken beantwortete. »Sie können es ihm ruhig erzählen.« Und das tat Dillon, bis Dora das Frühstück servierte. Anschließend legte Harry seinem Neffen den Arm um die Schulter. »Du hast dich also tapfer geschlagen, du Draufgänger.« »Diesmal haben wir wirklich Glück gehabt«, erklärte ihm Billy. »Genauer gesagt, Dillon hat Glück gehabt. Ohne die Novikova wäre er jetzt ein toter Mann. Dieser Makeev, das war wirklich eine miese Ratte.« »Und, wie geht es jetzt weiter?«, erkundigte sich Harry. »Wir bringen Selim in einer unserer Wohnungen un209
ter«, antwortete Ferguson. »Und warten ab, was er zu sagen hat.« »Dann werden Sie ihn nicht im Old Bailey vor Gericht stellen?«, fuhr Harry fort. »Wegen Beihilfe im Mordfall Mrs. Morgan?« »Das wäre sinnlos. Wir hätten nicht genug Beweise. Viel wichtiger ist für uns, was Selim mit diesen Leuten von Allahs Zorn zu tun hat.« »Und wie wollen Sie das aus ihm herauskitzeln? Wir sind hier nicht mehr im Algerienkrieg und gehören auch nicht der französischen Fremdenlegion an. Sie können ja schlecht seine Eier an eine Autobatterie anschließen.« »Keine Sorge, da haben wir schon unsere Mittel und Wege.« »Unsere Superintendent war nicht sehr glücklich«, fuhr Billy fort. »Besonders nicht mit diesem Anti-TerrorGesetz und der Tatsache, dass Selim kein Recht auf einen Anwalt hat.« »Da lässt sich nichts machen. Wie ich schon sagte, wir leben in schwierigen Zeiten. Die Dinge haben sich verändert. Ach, weil wir gerade von Veränderungen sprechen – haben Sie schon vom Omega-Programm gehört, Dillon?«, wechselte Ferguson das Thema. »Was soll das sein?«, mischte Harry sich ein. »Es handelt sich um ein Implantat, das einen Mikrochip enthält und anzeigt, wo sich eine Person gerade aufhält. Der Premierminister und alle Kabinettsmitglieder tragen bereits so einen Chip. Der Premierminister hat darauf bestanden, dass ich mir auch so einen Chip unter die Haut pflanzen lasse. Das war vergangenes Jahr. Da210
mals wollte er nicht, dass darüber gesprochen wird, doch nach dem Anschlag auf Cazalet hat er seine Meinung geändert. Er will, dass wir auf alle verfügbaren Hilfsmittel zurückgreifen, und hat mich beauftragt, alle Mitarbeiter, die ich für geeignet halte, in das Programm einzubinden. Daher bestehe ich jetzt darauf, dass Dillon und unser Superintendent sich einen Chip einsetzen lassen. Major Roper trägt bereits einen.« Er reichte Dillon eine Visitenkarte. »Professor Henry Merriman, Harley Street. Morgen früh, neun Uhr.« »Grundgütiger«, stöhnte Billy. »Unser Bionik-Mann.« Harry fing an zu lachen, und Ferguson sagte zu Billy: »Nicht so voreilig, junger Mann. Sie haben sich eine gewisse Zeit lang tief in meine Angelegenheiten verstrickt, und diese spezielle Situation ist schlimm und wird noch schlimmer werden. Deshalb glaube ich, dass es unter den gegebenen Umständen angeraten ist, auch Ihnen so ein Implantat zu verpassen.« Jetzt war die Reihe an Dillon, zu lachen. »Da geht es hin, dein Liebesleben, Billy.« Billy fand das gar nicht komisch. Ashimov war immer noch in Drumore Place und versuchte einen Firmenwagen zu organisieren, der Greta Novikova am Flughafen von Belfast abholte. Anschließend rief er Belov in Moskau an und überbrachte ihm die schlechte Nachricht, die Belov erwartungsgemäß gar nicht gut aufnahm. »Ich stecke hier bis zum Hals in schwierigen Geschäftsverhandlungen, und dann passiert so etwas! Das geht 211
nicht, Yuri. Ich habe dir die Verantwortung übertragen, dir unbegrenzte Machtbefugnisse zugesprochen, sowie Zugang zu sämtlichen Ressourcen und unbegrenzten Geldmitteln …« »Es tut mir Leid, Josef. Makeev und Zorin hatten einen makellosen Leumund und haben in der Vergangenheit stets vorzügliche Arbeit geleistet.« »Und jetzt sind sie tot, genau wie dieser Sharif und seine Kumpanen. Die Einzige, die heil aus der Sache rausgekommen ist, ist die Novikova. Dillon und dieser junge Salter sind harte Burschen.« »Das stimmt.« »Dann verfahre gefälligst ernsthaft mit ihnen. Genug herumgekaspert. Du sagst, dass Kelly und Murphy diesen Dillon von der IRA her kennen? Prima. Dann werden sie ja auch wissen, wie er arbeitet. Beauftrage sie, ein Team zusammenzutrommeln, das Fergusons Leute ein für alle Mal kaltstellt. Ich will diese unleidliche Angelegenheit erledigt wissen. Eigentlich wollte ich nach London zurückfliegen, doch unter den gegebenen Umständen halte ich es für klüger, mich von dort fern zu halten und diese Leute ihre Arbeit machen zu lassen. Enttäusche mich nicht, Yuri.« Kurz nach diesem Gespräch traf Greta ein und wurde von Yuri herzlich begrüßt. »Hast du ein bisschen schlafen können?« »Ich habe mir ein paar Wodkas genehmigt und dann fast den ganzen Flug über gedöst.« »Das ist gut. Wir fahren nämlich ins Royal George zum 212
Mittagessen. Ich möchte, dass du dich mit Dermot Kelly und Tod Murphy bekannt machst.« Sie gingen zum Wagen. »Was ist mit Belov?« »Habe gerade mit ihm telefoniert.« »Und?« »Er will, dass wir uns auf den Kriegspfad begeben. Ich erkläre dir alles unterwegs.« Im Royal George saßen sie mit Kelly und Murphy in einer Ecknische, jeder eine Portion Shepard’s Pie und ein Glas Guinness vor sich, und Greta berichtete ihre Version der Ereignisse in Muhammad. Die beiden Männer fanden die ganze Sache höchst amüsant, und nicht zum ersten Mal stellte Greta fest, dass die Iren eine besondere Art von Humor hatten. Sie schienen nie etwas richtig ernst zu nehmen. Das brachte sie auf Dillon, ein Gedanke, der ihr gar nicht recht behagte. »Verdammt, dieser Sean ist eine harte Nuss«, sagte Kelly. »Diesem Bastard muss es mal jemand richtig zeigen.« »Mag sein, aber dieser Billy Salter ist auch nicht von schlechten Eltern«, warf Tod Murphy ein. »Vielleicht war seine Mutter aus Cork.« »Nein, das war Fergusons Mutter«, berichtigte Kelly. »Die stammte aus Cork. Das ist bekannt.« Nun reichte es Greta, und ihre Stimme klang alles andere als freundlich, als sie sagte: »Okay, meine Herren, wenn Sie damit fertig sind, irische Familienverhältnisse durchzukauen, können wir vielleicht anfangen zu überlegen, wie Sie beide vorgehen wollen.« »Oh, Tod ist ein wahres Planungsgenie, wenn man es 213
schafft, ihn von seinen geliebten Büchern wegzulocken«, erwiderte Kelly ungerührt. »Ich denke, wir trommeln ein paar altbewährte Kämpfer zusammen«, sagte Tod. »Dermot und ich und zwei andere, das sollte reichen.« »Für Dillon und Salter? Das wage ich zu bezweifeln.« »Wie werden Sie nach London kommen?«, wollte Ashimov wissen. »Ich kenne da einen alten Ganoven, Smith heißt er, der hat nicht weit von hier eine Flotte von Air-Taxis. Seit Jahren unternimmt er damit illegale Flüge. Fliegt niedriger als zweihundert Meter, um nicht auf den Radarschirmen zu erscheinen. Hat auch eine zweimotorige Navajo mit sechs Sitzplätzen. Es gibt hier immer noch da und dort alte Landepisten aus dem Zweiten Weltkrieg, und Bauern, die in die andere Richtung schauen, wenn nur genug Geld im Umschlag liegt. Auf diese Weise spart man sich die Sicherheitschecks an den Flughäfen und kann geeignete Ausrüstung mitnehmen.« »Und wo werdet ihr wohnen, in Kilburn?«, erkundigte sich Ashimov und meinte damit die irischste Gegend von London, sozusagen ein irisches Ghetto. »Beim geringsten Hinweis, dass es Ärger mit der IRA gibt, schickt Scotland Yard seine Leute als Erstes nach Kilburn«, erklärte Kelly. »Wir haben zwar Kontakte dort, die hilfreich sein könnten, aber wir halten es dennoch für klüger, uns von Kilburn fern zu halten. Wir werden es mit dem Inderviertel versuchen.« Er tauschte einen raschen Blick mit Murphy. »China Wharf?« »Perfekt.« 214
»Das liegt in Wapping«, sagte Kelly. »Ein altes TeeLagerhaus, das Tods Tante gehört. Molly, so heißt sie, hat damals einen Engländer namens Harris geheiratet. Für die Leute von Special Branch ist sie ein unbeschriebenes Blatt. Vor ein paar Jahren hat sie das Lagerhaus zu einer Pension umgebaut. Und die haben wir immer als unser Schlupfloch in London benutzt.« »Inzwischen ist sie Witwe und dreiundachtzig Jahre alt«, sagte Tod. »Sie kann die Pension nicht mehr führen, bewohnt nur ein paar Zimmer im Erdgeschoss und lässt die anderen Räume leer stehen.« »Hört sich gut an.« Ashimov erhob sich. »Ihr organisiert das alles selbst. In der Zwischenzeit wird Greta herausfinden, wo Ferguson seine konspirativen Wohnungen unterhält.« »Einverstanden«, sagte Kelly. »Gut.« Später schlenderten Yuri und Greta hinunter zum Pier. »Es ist schön hier«, sagte sie, während sie beide den winzigen Hafen betrachteten. »Heutzutage ist hier nicht mehr viel los. Es gibt nur noch ein paar Fischerboote, und die sind im Moment unterwegs. Das Boot dort am Ende des Piers, das ist die Kathleen; sie gehört Dermot. Er hat sie schon seit vielen Jahren. Sie ist sein ganzer Stolz.« Die Kathleen war eine schäbige Zehn-Meter-Kabinenyacht, an der überall die Farbe abblätterte, und Greta meinte: »Die sieht aber nicht imposant aus.« »Das ist Absicht, dafür besitzt sie zwei starke Schrau215
ben, Radar, automatische Steuerung und Echolot. Alles, was man für eine illegale nächtliche Überfahrt braucht, und sie macht dreißig Knoten.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Komm, ich zeige dir den Rest des Anwesens, und dann fahren wir zurück nach London.« Jake Cazalet saß hinter seinem Schreibtisch im Oval Office und unterzeichnete Dokumente, als Blake Johnson das Büro betrat. »Ich hatte gerade Charles Ferguson am Telefon, Mr. President. Dillon scheint die Sache mal wieder mit Bravour erledigt zu haben.« »Erzählen Sie.« Blake erstattete dem Präsidenten Bericht, und anschließend meinte der Präsident: »Dieser Mann verblüfft mich immer wieder aufs Neue. Und, was passiert jetzt?« »Ferguson wird diesen Selim auspressen wie eine Zitrone. Jeder kleinste Hinweis, den sie ihm abringen, könnte sich als unbezahlbar erweisen.« »Das brauchen Sie mir nicht zu erläutern.« »Selbstverständlich werden sie alle relevanten Informationen an uns weitergeben.« »Natürlich, davon gehe ich aus, auch wenn Selim britischer Staatsbürger ist.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Mein Gott, in welchen Zeiten leben wir nur?« Und plötzlich lächelte er. »Ich glaube nicht, dass Belov allzu glücklich über den Ausgang der Aktion ist.« »Das kann ich mir auch nicht vorstellen, Sir.« Damit verließ Blake das Oval Office. 216
In einer ruhigen Seitenstraße in Holland Park stand mitten in einem großen Park und von einer hohen Mauer umgeben ein Stadthaus aus der Zeit von König Eduard VII. Das Messingschild, das auf dem elektronisch gesteuerten Tor angebracht war, lautete auf PINE GROVES NURSING HOME. Doch in Wirklichkeit verbarg sich dahinter eine von Fergusons geheimen Wohnungen. Hannah, Miller und Dillon, die Selim dort abliefern sollten, wurden von Militärpolizisten in marineblauen Blazern und Flanellhosen empfangen. »Pflegeheim?«, wunderte sich Selim. »Hier verfügt man tatsächlich über medizinisches Gerät«, sagte Dillon. »Daher ist es nicht total gelogen. Aber lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen. Sicherheit wird hier absolut groß geschrieben. Die Polizei mag zwar keine Armeeuniform tragen, aber die Herren sind alle bewaffnet. Hier gibt es keine Gitter, doch die Fenster sind mit elektrischem Draht verkabelt. Das hier ist eine Festung, Doktor Selim. Gewöhnen Sie sich an diesen Gedanken. Sergeant Dalton wird Sie jetzt auf Ihr Zimmer bringen. Wir sprechen uns später.« Selim war einigermaßen überrascht über die Art und Weise, wie er behandelt wurde. Das Zimmer war ansprechend und besaß ein Fenster, das auf den Garten hinausging. Der Schrank und die Kommode hielt eine Auswahl an Kleidung für ihn bereit. Er duschte und zog sich um, dann brachte Miller ihn in einen kleinen Salon, ausgestattet mit einem Tisch, Stühlen, einem Gasfeuer und einem großen Spiegel. Dalton begann: »Mit Rücksicht auf Ihre Ernährungs217
vorschriften hat unser Koch ein spezielles Menü für Sie zubereitet.« Die Tür ging auf, und Miller kam mit einem Tablett herein, das er auf dem Tisch abstellte. »Wenn etwas nicht nach Ihrem Geschmack sein sollte, Sir, dann lassen Sie es mich bitte wissen.« »Nein, danke, das sieht sehr gut aus.« Selim setzte sich an den Tisch und begann zu essen. »Ich hätte gern eine Tasse Tee dazu.« Sofort wurde ein Teegedeck gebracht. Selim aß weiter, und auf der anderen Seite des Spiegels warteten Ferguson, Dillon, Hannah und Roper, bis er fertig war. Miller kehrte zurück und räumte das Tablett ab. Dalton wartete. Selim erhob die Stimme. »Wenn Sie da hinter dem Spiegel stehen, General Ferguson, dann kommen Sie doch jetzt bitte herein. Was immer Sie von mir halten mögen, ein Schwachkopf bin ich jedenfalls nicht.« Dillon grinste den General an. »Recht hat er. Also, meine Herrschaften, gehen wir«, sagte Ferguson und führte die kleine Gruppe an. Ferguson nickte Dalton zu. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie jetzt nach nebenan gingen und zusähen.« »Selbstverständlich, Sir.« Roper manövrierte seinen Rollstuhl an den Tisch, während Hannah und Ferguson Platz nahmen. Dillon hockte sich aufs Fensterbrett und rauchte eine Zigarette. »Vorausschickend möchte ich ein paar Dinge klarstellen«, begann Ferguson. »Ich bin für die persönliche Sicherheitsabteilung des Premierministers verantwortlich. Ich halte keine Verbindungen zu anderen Sicherheitsein218
richtungen. Und ich bin im Besitz einer so genannten Carte blanche, ausgestellt vom Premierminister persönlich, die mich bevollmächtigt, nach eigenem Gutdünken zu handeln. Detective Superintendent Bernstein ist meine Assistentin, von der Special Branch von Scotland Yard freundlicherweise für eine gewisse Zeit freigestellt.« »Und Mr. Dillon? Ich weiß, was Mr. Dillon tut. Er bringt Menschen um.« »Und die Leute von Allahs Zorn?«, konterte Dillon. »Superintendent, ich flehe Sie an. Warum versagt man mir einen Anwalt? Ist das wirklich rechtens?« Hannah hatte ein Problem mit dieser Frage, und das merkte man ihr an. Sie wandte sich an Ferguson: »Sir, vielleicht …« »Kein Vielleicht. Major Roper, machen Sie doch bitte den Anfang.« »Ich habe einen Bericht vorbereitet, Dr. Selim«, erklärte er. »Der beleuchtet Ihre Beziehung zu Henry Morgan und selbstverständlich auch dessen Absicht, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu ermorden. Des Weiteren behandelt er den Verdacht erregenden Tod von Mrs. Morgan, der Mutter von Henry Morgan. Außerdem die grundlegenden Verbindungen dieser beiden Personen zu der Queen-Street-Moschee wie auch Ihre Verbindung mit Yuri Ashimov und durch ihn zu Josef Belov.« »Nichts von alledem lässt sich beweisen«, erklärte Selim mit Nachdruck, doch sein Tonfall strafte ihn Lügen. »Es besteht wenig Zweifel daran, dass hier junge britische Muslime für ein Training in Terroristencamps früher im Irak, heute in verschiedenen anderen muslimi219
schen Staaten rekrutiert worden sind. Ich bin im Besitz vertraulicher Informationen, die Transaktionen zwischen der Belov Organisation und Ihnen als Vorsitzendem diverser so genannter Wohltätigkeitsstiftungen betreffen.« »All das ist absolut legitim«, wandte Selim mit nun deutlich schwächerer Stimme ein. »Alles andere ist eine Lüge.« »Die Spenden an den Children’s Trust in Beirut.« »Die Mittel werden allein für karitative Zwecke und Bildungseinrichtungen verwendet.« »Karitativ? Der Children’s Trust ist eine Scheinorganisation der Hisbollah. Das ist doch allgemein bekannt. Beide, die Marxistische Liga und die Volksbefreiungsorganisation haben Verbindungen zu Al-Qaida. Der Children’s Trust im Irak ist nur ein Synonym für die Gotteskrieger, eine der militantesten Terrorgruppen, die es gibt.« »Nichts von alledem können Sie beweisen.« Selim konnte die Verzweiflung in seiner Stimme kaum mehr kaschieren. »Die Stiftungen, die Bildungseinrichtungen, jegliche Zahlungen meinerseits im Auftrag der Belov Organisation wurden in gutem Glauben getätigt. Etwas anderes zu behaupten, wäre eine Lüge. Mr. Belov unterstützte die Renovierung unserer Moschee und stellte sogar die finanziellen Mittel für eine neue Schule zur Verfügung.« »Ich besitze eine Liste der Organisationen, denen Sie Geld haben zukommen lassen«, sagte Roper. »Und das ist eine Tatsache.« »Allmählich verliere ich die Geduld«, fuhr Ferguson Selim an. »Mir ist absolut klar, dass wir nahezu keine 220
Chance haben, Josef Belov vor ein ordentliches Gericht zu stellen. Er ist zu reich, zu mächtig und er versteht es ausgezeichnet, sich den Rücken freizuhalten. Was ich von Ihnen will, Dr. Selim, sind Informationen über die Camps, Listen der Organisationen, Namen, Adressen. Wenn Sie dieser Bitte sorgfältig nachkommen, sind Sie bald wieder ein freier Mann. Und selbstredend mit einer weißen Weste.« »Das kann ich nicht«, winselte Selim. »In Ordnung. Wenn das so ist, dann werde ich Sie in den Irak zurückfliegen lassen, oder nach Saudi Arabien, wenn Ihnen das lieber ist. Dort laden wir Sie aus und verbreiten das Gerücht, dass Sie gesungen haben. Wenn Sie Glück haben, fallen Sie Belovs Schergen zuerst in die Hände. Eine Kugel wäre entschieden angenehmer, als von Ihren eigenen Leuten bei lebendigem Leib gehäutet zu werden, glauben Sie nicht auch?« Selim sprang von seinem Stuhl hoch. »Nein, ich bitte Sie.« »Denken Sie darüber nach, Selim. Überlegen Sie es sich gut. Ich werde Ihnen ein wenig Zeit geben. Kommt, Leute.« Hannah, Roper und Dillon folgten Ferguson aus dem Salon. Im Nebenraum sagte Ferguson zu Dalton: »Behalten Sie ihn gut im Auge, Sergeant. Falls irgendwas passiert, rufen Sie mich sofort an. Ansonsten sprechen wir uns morgen.« »In Ordnung, Sir.« Dalton ging hinaus. »Noch irgendwelche Fragen?«, wandte sich Ferguson an die anderen. 221
Roper erklärte: »Ich werde mich wieder an meinen Computer setzen, Sir. Miller kann mich in dem Van nach Hause fahren.« »Ich komme mit«, sagte Dillon. »Miller kann mich unterwegs absetzen.« Hannah hingegen antwortete direkt auf Fergusons Frage: »Ich muss gestehen, Sir, dass ich mit der Verweigerung eines Rechtsbeistandes so meine Probleme habe.« »Sie glauben, wir berauben den armen Mann seiner Grundrechte, Superintendent?« »Ja, das könnte man so sehen.« »Nun, unter den gegebenen Umständen bin ich an einer solchen Sichtweise nicht übermäßig interessiert. Möchten Sie damit andeuten, dass Sie wieder Ihren normalen Dienst bei Scotland Yard aufnehmen wollen?« Sie zögerte. »Sie machen es mir nicht leicht, Sir.« »Das ist auch nicht meine Aufgabe. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: Morgen früh, wenn Sie in die Harlem Street zu Merriman gehen, um sich das Omega-Implantat einsetzen zu lassen, dann statten Sie doch Reverend Susan Haden-Taylor in der St. Paul’s Kirche einen Besuch ab. Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich Dillon im vergangenen Jahr mit ihr in Kontakt gebracht habe, weil ich wollte, dass er nach der Rashid-Affäre wieder einen klaren Kopf bekommt.« »Und Sie glauben, sie kann mir helfen?« »Sie ist Priesterin der Kirche von England und gleichzeitig eine hervorragende Psychologin«, warf Dillon ein. »Aber am wichtigsten ist wohl, dass sie ein durch und durch guter Mensch ist und mir wirklich hat helfen können.« 222
Hannah holte tief Luft. »Okay. Ich gehe zu ihr«, sagte sie und verließ den Raum. Dillon ging neben Ferguson hinter Ropers Rollstuhl her. »Sie können manchmal wirklich gnadenlos sein, Charles.« »Wir leben in einer gnadenlosen Welt, welche in absehbarer Zeit auch nicht friedlicher werden wird.« Sie blieben stehen und sahen zu, wie Roper den Rollstuhl ohne fremde Hilfe die Rampe hinauf in den Van manövrierte. Miller klappte die Rampe anschließend hoch und machte die Tür zu. »Warten Sie bitte auf mich«, rief Dillon und drehte sich rasch noch einmal zu Ferguson um. »Werden wir siegen, Charles?« »Das weiß der Himmel, aber wie ich vorhin schon sagte, die Zeiten sind hart, und wenn wir leisetreten, werden wir bestimmt keinen Blumentopf gewinnen.« Mit diesen Worten stieg er in den Daimler, der sich sogleich in Bewegung setzte. Dillon kletterte hinten in den Van und setzte sich neben Ropers Rollstuhl. »Und, wie lautet deine Meinung?« Ropers Augen in dem zerfurchten, verbrannten Gesicht verdunkelten sich. »Frag mich was Leichteres, Sean. Ich bin nur das, was nach einer Autobombe übrig geblieben ist.« Ungefähr zwölf Kilometer von Drumore Place entfernt steuerte Tod Murphy den Land Rover in eine schmale Seitenstraße, passierte ein paar Hangars, einen verfallenen Kontrollturm und die ehemals ordentlich geteerte Rollbahn. Wenn es je einen abgewrackten Flughafen gegeben 223
hat, dann diesen, denn der Zweite Weltkrieg und die Tage, als man von dort aus Patrouillenflüge entlang der irischen Grenze unternommen hatte, lagen lange zurück. Eine einmotorige Archer stand draußen vor einem der windschiefen Hangars; das Tor des nächsten stand offen und gab den Blick auf eine zweimotorige Navajo frei. Die Tür der Wellblechbaracke ging auf, und ein Mann in einem altmodischen schwarzen Fliegeroverall trat heraus: Ted Smith, um die fünfzig, schütteres Haar und wie viele Piloten eher klein. »Bist du es, Tod?« »Wer denn sonst, alter Blödmann? Ist die Navajo startklar?« »Die surrt wie ’ne Biene. Na, willst du dir einen schönen Tag machen?« »So könnte man das auch nennen. Wir sind zu viert. Dermot, ich und zwei der Jungs, Fahy und Regan.« »Und was habt ihr vor? Jenseits der Grenze schwarzfischen?« »Nein, ein bisschen weiter soll’s schon gehen. Dorthin, wo wir früher, vor dem verfluchten Friedensprozess oft hingeflogen sind. Nach Dunkley. Du weißt schon, der Lancaster-Bomberflugplatz.« Smith fiel die Kinnlade runter. »Heiliger Bimbam, Tod, nicht noch einmal. Ich dachte, diese Tage lägen weit hinter uns.« »Du machst, was man dir anschafft, und wirst gut dafür bezahlt. Wenn du dich jedoch sperrst, wird sich Dermot mit Vergnügen deiner annehmen. Kannst du mir folgen?« Er lachte gemein und schlug Smith auf die 224
Schulter. »Nun schau nicht so verschreckt. Das ist doch nur ein Quickie, Ted, ganz so wie in alten Zeiten. Hin und zurück. Ehe du dreimal geblinzelt hast, bist du wieder daheim.« »Verflucht, Tod, ich weiß nicht. Ich werde langsam zu alt für solche Sperenzchen.« Tod zog einen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke und reichte ihn Smith. »Zweitausend Pfund Sterling, um das Geschäft zu besiegeln, für den Anfang quasi. Wir fliegen morgen sehr früh los. Wegen dem Rückflug rufe ich dann an. Am Ende der Reise wird es noch mal einen fetten Lohn geben, und das Ganze nur dafür, dass du uns auf einem sehr alten Flugplatz in Kent absetzt, irgendwo im Nirgendwo.« Wie üblich siegte die Gier, und Smith nahm den Umschlag. »Also schön, ich fliege euch, Tod. Halb acht morgen früh?« »Ich wusste doch, dass auf dich Verlass ist, alter Junge. Bis morgen dann.« Tod stieg wieder in den Land Rover. Verdammte IRA, aber was blieb ihm übrig? Smith drehte sich um und stapfte zu der Wellblechbaracke zurück. Punkt sieben Uhr dreißig am folgenden Morgen hob die Navajo ab, trotz erheblicher Vorbehalte von Smith. »Dort draußen erwartet uns ganz mieses Wetter. Eine Gewitterfront zieht über das irische Meer.« »Dann halten wir uns eben mit Schinken-Sandwiches und gutem irischem Whiskey bei Laune«, beschied ihm Dermot. »Himmel noch mal, früher haben wir diesen 225
Flug nachts gemacht, und da war es so finster wie im Vorhof der Hölle. Also, lass es uns einfach hinter uns bringen.« Der Whiskey floss reichlich, während die Navajo von einem starken Rückenwind über die Irische See getrieben wurde, und dämpfte die Bedenken von Kellys Männern. Bei Morecambe überflogen sie die Grenze. Der Regen wurde immer massiver, und besagte Gewitterfront rückte bedrohlich näher, als die Maschine Richtung Süden abschwenkte. Während Smith den neuen Kurs justierte, fragte ihn Kelly, der neben ihm saß: »Alles okay?« »Es sollte jetzt etwas ruhiger werden. Und wenn nicht, können wir immer noch umdrehen.« »Das würdest du aber nicht wollen, oder? Sonst müsste ich dir nämlich die Beine brechen.« Dermot setzte ein hässliches Grinsen auf. »Zieh die Sache einfach durch«, riet er ihm und ging wieder zurück in die Kabine zu den anderen. Auch in London regnete es, als Billy etwas später vor der Praxis von Professor Merriman in der Harley Street aus dem Taxi stieg. Dillon und Hannah Bernstein saßen bereits in der Aufnahme. Die junge Krankenschwester hinter dem Empfang erkundigte sich freundlich, wer zuerst drankommen wollte. »Ich, bitte«, sagte Hannah. »Ich habe anschließend noch einen Termin.« »Dann folgen Sie mir bitte.« Im Ordinationsraum wurde Hannah sehr freundlich 226
von Professor Merriman begrüßt, während die Schwester auf einem kleinen Tisch Instrumente herrichtete. »Es dauert nur einen Moment, Superintendent, aber ich muss Sie bitten, die Bluse auszuziehen. Den BH können Sie anbehalten, ich brauche nur Ihre Achselhöhle.« »Wird es wehtun?«, fragte Hannah beim Ausziehen. »Damit nicht. Das ist ein hervorragendes Anästhetikum.« Die Schwester reichte dem Arzt eine Plastikampulle. Nach einem kleinen Stich in die Achselhöhle wurde die Haut an der Stelle pelzig. »Die Wirkung setzt sofort ein«, erklärte er, während die Schwester ihm eine Art Aluminiumpistole reichte. Er platzierte den Lauf auf eine bestimmte Stelle ihrer Achsel und betätigte den Abzug. Sie spürte absolut nichts. »War’s das?«, fragte sie und schlüpfte wieder in die Bluse. »Ganz recht. Ihr Implantat ist bereits auf dem OmegaComputer gespeichert. Wo Sie hingehen, geht es mit,« »Ich bin nicht sicher, ob mir das so sehr behagt.« »Dieses Implantat ist nur ein Werkzeug, Superintendent, mehr nicht. Ein Abbild der Welt, in der wir leben.« »Das ist eine Art der Betrachtung«, meinte sie, während sie ihre Kostümjacke anzog und dann den Trenchcoat. »Sagen Sie, die St. Paul’s Kirche ist doch hier ganz in der Nähe, oder?« »Ja, Sie gehen bis zum Ende der Straße und dann links.« »Vielen Dank und schönen Tag.« Sie verließ das Behandlungszimmer, gefolgt von der Schwester, die nun Billy hereinbat. Dillon erhob sich von seinem Stuhl. 227
»Bist du schon fertig?« »Ich habe noch einen Termin.« »In der St. Paul’s. Eine bemerkenswerte Frau, und eine Meisterin in der Kunst, einem Geständnisse zu entlocken. Das weiß ich aus Erfahrung.« »Wir sehen uns später im Büro.« Als sie die Praxis verließ, kam Billy schon wieder aus dem Behandlungszimmer. »Keine große Sache.« »Gut. Ich hasse nämlich Nadeln.« »Bis später. Ich habe noch geschäftlich im Dark Man zu tun.« »Du bist wirklich eine alte Krämerseele, Billy. Handelst mit geschmuggelten Zigaretten aus Amsterdam, obwohl du die Kohle gar nicht brauchst. Über kurz oder lang wirst du wieder in Wandsworth hinter Gittern landen.« »Das wird ein Festtag werden«, murmelte Billy und verließ die Praxis. Als Dillon wenig später hinaus in die Harley Street trat, regnete es immer noch. Er zündete sich eine Zigarette an und spähte in die Richtung, in die Hannah gegangen war, und nahm dann denselben Weg. Die St. Paul’s Kirche erhob sich auf der anderen Straßenseite, nachdem er am Ende der Harley Street nach links abgebogen war. Neben dem Portal hing eine Tafel mit den Zeiten der Gottesdienste und dem Namen des Priesters. Er stieg die Stufen hinauf, zog die Tür auf und betrat die Kirche. Sie war im viktorianischen Stil erbaut, ziemlich düster und erfüllt von einem muffigen Geruch, eine Mischung aus Feuchtigkeit und Weihrauch. Vor einer Statue der 228
Jungfrau Maria mit dem Jesuskind flackerten unzählige Kerzen, alles in allem ein richtig altmodisches Gotteshaus der Church of England, abgesehen von der neuen Regelung, die auch weibliche Priester zuließ. Susan Haden-Taylor, die eine schwarze Soutane mit weißem Priesterkragen trug, war eine ruhige, freundliche Frau. Sie saß in der Bankreihe auf der anderen Seite des Ganges von Hannah, hatte sich ihr aber zugewandt. »Ja«, sagte sie. »Charles Ferguson hat mir von Ihrem Dilemma erzählt. Und dem seinen.« »Dem seinen?« Hannah konnte ihre Verblüffung nicht verbergen. »Ja. Alles hat nun einmal zwei Seiten, so simpel das auch klingen mag. Charles hat mir erzählt, dass Sie in Cambridge Vorlesungen in Psychologie halten.« »Das stimmt.« »Und dass Ihr Vater Arnold Bernstein ist. Ich kenne ihn als einen der besten Chirurgen in London.« »Und mein Großvater ist Rabbi Julian Bernstein.« »Was bedeutet, dass Sie rundum von Moral und Tugend umgeben sind.« »So ähnlich, ja.« Im hinteren Teil der Kirche, in einer Ecke verborgen, saß Dillon hinter einer Säule auf einem Stuhl und lauschte. »Während eines Polizeieinsatzes«, sagte Hannah, »habe ich getötet, weil mir keine andere Wahl blieb, und bin auch selbst verletzt worden. Ich habe sogar eine Frau getötet, eine wirklich schlechte Person, die versucht hatte, einen Freund von mir umzubringen. Aber das alles konnte ich als Teil meines Jobs akzeptieren.« 229
»Und wo liegt heute Ihr Problem? Sie können ganz offen sprechen. Als Priesterin und auch als Psychiaterin bin ich an die Schweigepflicht gebunden.« Hannah legte der Frau ihr Problem dar, und als sie geendet hatte, sagte Susan Haden-Taylor: »Ich ergreife für keine Seite Partei, ich versuche nur, die Situation deutlich aufzuzeigen. Sie wollen, dass Selim trotz allem, was er getan hat, einen Rechtsbeistand bekommt, ein ordentliches Verfahren und gegebenenfalls einen rechtmäßigen Prozess zu erwarten hat, obgleich es gut ein halbes Jahr dauern kann, bis die Sache vor Gericht kommt, wenn nicht länger.« »Ich weiß um die Schwierigkeiten.« »Wohingegen Ferguson Informationen über alle Personen haben will, die etwas mit dieser Allahs-ZornOrganisation zu tun haben, ehe sie noch mehr Bomben legen können. Und um dieses Ziel zu erreichen, nimmt er in Kauf, dass Selim eine harte Zeit durchmachen muss. Ihm scheint es die Sache wert zu sein. Und Ihnen?« »Verdammt.« Hannah war ziemlich frustriert. »Mein Standpunkt klingt so verflucht unvernünftig. Aber ich bin mit dem Gesetz groß geworden und ich glaube an das Gesetz. Das ist doch alles, was wir haben.« »Da stimme ich ganz mit Ihnen überein, aber die Zeiten ändern sich momentan extrem schnell, und diesem Wandel müssen wir uns wohl oder übel stellen. Der globale Terrorismus eröffnet leider eine ganz neue Perspektive. Es ist nicht so, dass Sie Unrecht haben, Hannah, aber auch Fergusons Standpunkt hat seine Richtigkeit. Und noch eines, Hannah. Wie in allen Dingen, hat auch in 230
dieser Frage jeder Mensch ein Recht auf eine persönliche Entscheidung.« »Was bedeutet?« »Wenn Ihnen diese Sache wirklich so viel bedeutet, wäre es wahrscheinlich besser, wenn Sie den Job aufgäben. Besser für Sie selbst. Und letztlich auch besser für alle Beteiligten.« »Wie seltsam«, gab Hannah zurück. »Ich käme mir dann vor, als würde ich davonlaufen.« »Aber es ist das Beste, was Sie tun können, fürchte ich. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?« »Nein, danke, ich muss weiter.« In dem Moment stand Dillon auf, schlüpfte durch die Tür hinaus und zündete sich eine Zigarette an. Lange brauchte er auf Hannah nicht zu warten. »Was machst du denn hier?« »Ach, ich dachte, ich treibe mich ein bisschen vor der Kirche herum und schaue, wie es dir ergangen ist.« »Du hast Recht gehabt. Sie ist wirklich eine bemerkenswerte Frau.« Sie gingen gemeinsam die Harley Street hinauf. »Dann bleibst du uns also erhalten?« »Ich glaube ja. Ich gebe mir noch eine Woche oder zwei und sehe dann weiter. Beim Abschied hat sie etwas ganz Merkwürdiges zu mir gesagt.« »Was denn?« »Dass, als Jesus zu uns sagte, wir sollten auch die andere Wange hinhalten, er nichts davon sagte, dass wir das auch ein zweites Mal tun sollen. Was um alles in der Welt meinte sie damit?« 231
Dillon grinste. »Für mich ist das sonnenklar«, sagte er und winkte einem Taxi. Die Bodensicht war wegen des strömenden Regens denkbar schlecht, als Smith in Dunkley, Kent, die Navajo sicher auf der alten, buckligen Rollbahn aufsetzte und bis zu den baufälligen Hangars rollen ließ. In der Nähe parkte ein weißer Ford Transit, daneben stand ein Mann mit einer Schirmmütze, Fliegerjacke und einem Schirm in der Hand. Tod machte die Tür auf, und sie stiegen nacheinander mit ihrem Gepäck aus. Smith spähte hinaus, und Kelly sagte: »Sieh zu, dass du dein Handy Tag und Nacht bei dir hast. Wenn ich anrufe, fliegst du sofort los.« »Du kannst dich auf mich verlassen, Dermot, aber jetzt mache ich besser, dass ich hier wegkomme.« Er schloss die Tür, ging zurück ins Cockpit und war eine Minute später schon wieder in der Luft. Dermot ging voraus auf den Transit zu und begrüßte den Mann mit Handschlag. »Welche Ehre, dass du selbst gekommen bist, Danny.« Er drehte sich zu Fahy und Regan um. »Das ist Danny Malone. Hat den besten Pub in Kilburn, den Green Man, und ist ein guter Kumpel aus den alten Tagen.« »Ist doch klar, dass ich euch abhole, Dermot.« Sie stiegen in den Transit, und Danny kletterte hinters Steuer. »Ich habe auch schon mit deiner Tante Molly wegen China Wharf gesprochen, aber sie ist zurzeit nicht dort, Dermot. Sie verbringt ein paar Tage mit einer alten Freundin in Brighton.« 232
»Oh, das ist aber schade«, warf Tod ein. »Keine Sorge. Sie hat mir genau erklärt, wo der Schlüssel versteckt ist, und ich habe nachgesehen, und er lag tatsächlich an der Stelle. Bin auch schon im Supermarkt gewesen und habe den Kühlschrank voll gemacht. Ihr werdet nicht verdursten. Und, euer Job? Große Sache?« »Alles zu seiner Zeit«, sagte Kelly. »Dillon spielt mit. Mehr musst du einstweilen nicht wissen. Vielleicht kriegen wir ihn ja diesmal.« Im Verteidigungsministerium klopfte Hannah an die Tür von Fergusons Büro und trat, gefolgt von Dillon, ein. Ferguson, der hinter seinem Schreibtisch saß, schaute hoch und lehnte sich zurück. »So, ihr beide seid nun Teil von Omega. Wir sollten einen Club gründen.« »Einen sehr exklusiven, Sir«, sagte Hannah. »Haben Sie Susan Haden-Taylor aufgesucht?« Sie nickte. »Und, was meint sie dazu?« »Welche Meinung haben Sie denn von ihr erwartet? Dass schwierige Entscheidungen das Privileg ranghoher Offiziere sind, wohingegen wir, das arme Fußvolk, nur das Schießen erledigen?« »Ach, halten Sie doch einmal Ihren Mund, Dillon«, fuhr ihn Ferguson an. »Haben Sie Ihre Entscheidung schon getroffen, Superintendent?« »Wenn ich noch eine Woche oder zwei Bedenkzeit haben könnte, Sir, dann mache ich einstweilen weiter.« Das Telefon klingelte, und er hob ab. »Ferguson.« Plötzlich erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Aus233
gezeichnet. Ich bin gleich da.« Er legte auf. »Wie es aussieht, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, Superintendent. Das war Dalton. Selim will mich sprechen. Und Sie kommen am besten gleich mit.« China Wharf war ein Relikt aus den alten Tagen des Teehandels, doch im Laufe der Jahre waren die meisten Speicher und Lagerhäuser entweder abgerissen oder mit Brettern vernagelt worden und warteten auf den Abriss. Danny Malone sperrte die Tür auf und ging den anderen voraus in ein großes, altmodisch möbliertes Wohnzimmer. Im Erdgeschoss fand sich außerdem eine große Küche. Danny legte den Schlüssel auf den Tisch. »Den Flur entlang befinden sich zwei Schlafzimmer und ein Bad, oben weitere fünf Schlafzimmer und zwei Bäder. Die stammen noch aus der Zeit, als hier vermietet wurde.« »Das ist völlig ausreichend«, sagte Kelly und wandte sich an Tod. »Ich rufe jetzt Ashimov an und lasse ihn wissen, dass wir es bis hierher geschafft haben. Dann setzen wir uns mit ihm und der Novikova zusammen und hören uns mal an, was sie herausgefunden hat.« Erwartungsfroh rieb er sich die Hände. »Hm, Eier und Speck, ein ordentliches Frühstück, das hört sich gut an. Die Frage ist nur, wer von uns die Eier in die Pfanne haut.« »Ich auf jeden Fall nicht«, wehrte Danny Malone ab. »Ich bin schon wieder weg. Lasst mich wissen, wenn ich noch etwas für euch tun kann.« Damit verabschiedete er sich.
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Am Holland Park standen sie mit Miller im Nebenzimmer vor dem falschen Spiegel. Selim saß am Tisch und trank Tee, Dalton ihm gegenüber, und die beiden unterhielten sich. »Sie sind ein sehr vernünftiger Mensch, Mr. Dalton«, sagte Selim. »Fred hat wirklich gute Arbeit geleistet, General«, meinte Miller. »Ich glaube, Selim ist auf dem besten Weg, zur rechten Einsicht zu gelangen.« »Dann begeben wir uns mal in die Höhle des Löwen«, sagte Ferguson und ging voraus. Die beiden Männer unterbrachen ihre Unterhaltung, Dalton erhob sich von seinem Stuhl, aber Selim blieb sitzen. »Sie wollten mich sprechen«, begann Ferguson. »Darf ich daraus schließen, dass Sie kooperationsbereit sind?« »General, ich weiß, dass Sie nicht die Gestapo sind. Sie werden mich nicht an meinen Extremitäten aufhängen oder meinen Kopf so lange unter Wasser drücken, bis ich fast ersticke. Das ist nicht die feine englische Art. Aber ich weiß sehr wohl, dass Sie mich in den sicheren Tod schicken, wenn Sie mich, wie Sie es angedroht haben, zurück in den Irak oder irgendwohin in den Nahen Osten bringen.« »Also, wie haben Sie sich entschieden?« »Ich bin ein verachtenswerter Feigling, der an seine Mission glaubt, aber einfach Angst hat zu sterben. Wie Sie ganz richtig herausgestellt haben, würde dieser Tod langsam und sehr schmerzvoll vonstatten gehen. Deshalb werde ich mit Ihnen kooperieren.« »Schön.« Ferguson blieb ganz ruhig. »Aber Sie müssen mir alles erzählen, und ich meine damit wirklich alles. 235
Nicht nur die Namen dieser armen jungen Teufel, die in Ihre Welt der Gewalt gelockt worden sind, sondern auch die Identität Ihrer Sponsoren, der Geldgeber und Belovs.« Selim war ebenfalls die Ruhe selbst. »Belov werden Sie niemals etwas anhaben können. Er ist viel zu einflussreich.« »Das mag sein, aber versuchen können wir es doch wenigstens.« »Na, dann viel Glück. Übrigens stelle ich Bedingungen.« »Bedingungen?« Ferguson war ehrlich erstaunt. »Gewiss. Ich werde ausschließlich mit Ihnen verhandeln und ausschließlich mit Ihnen sprechen. Mr. Dillon mag mir im Irak das Leben gerettet haben, aber dabei hat er Freunde von mir getötet. Superintendent Bernstein respektiere ich, aber sie ist Jüdin, und das wäre nicht schicklich. Die Sergeants haben mich anständig behandelt, deshalb habe ich auch nichts gegen sie. Nur dieser Ort behagt mir nicht«, fuhr er kopfschüttelnd fort. »Er behagt mir überhaupt nicht. Wir befinden uns mitten in London. Und hier sind zu viele Brüder, zu viele Menschen, die mit Sicherheit versuchen würden, mich umzubringen, wenn sie wüssten, dass ich hier bin, ganz gleich, wie perfekt Ihr Sicherheitssystem funktioniert. Gibt es keinen anderen Ort, wo wir uns aufhalten können?« »Heiliger Herr im Himmel, Sie verlangen ja einiges«, entfuhr es Dillon. Hannah wandte sich mit ernsthafter Miene an Ferguson. »Huntley Hall, Sir. Das liegt außerhalb der Stadt, und der Sicherheitsstandard dort ist der gleiche.« »Das ist wahr. Roper könnte hinfahren und die technischen Dinge erledigen.« 236
»Nein«, wehrte Selim ab. »Ich habe nur von Ihnen gesprochen, und das meine ich auch so.« »Ich denke nicht, dass das ein Problem darstellt, Sir«, wiegelte Hannah ab. »Roper könnte das auch mittels Fernsteuerung erledigen. Das hat er schon einmal gemacht.« »Huntley Hall?«, kam es von Selim. »Das ist ein hübsches altes Haus im St. Leonard’s Forest in der Nähe von Horsham, ungefähr anderthalb Stunden von London entfernt. Früher lebte dort Lord Faversham. Nach seinem Tod ist das Anwesen in den Besitz des Staates übergegangen. Dort gibt es viel Wald. Ein ausgezeichneter Platz für die Fasanenjagd.« »Und jetzt haben Sie dieses Haus in einen Ort verwandelt, wo nur noch auf Eindringlinge geschossen wird?« Dillon lachte. »Es wird Ihnen dort gefallen.« Ferguson erhob sich und gab Dalton und Miller folgende Anweisung: »Sorgen Sie dafür, dass er sich fertig macht. Ich fahre inzwischen nach Hause und packe. Wenn ich zurückkomme, brechen wir nach Huntley auf. Richten Sie sich auf einen längeren Aufenthalt ein, Dr. Selim. Bis später.« Nachdem sie Selim hinausgebracht hatten, wandte Ferguson sich an Hannah und Dillon. »Das war zwar eine Überraschung, aber ich gebe ihm nach, so weit ich kann. Sie übernehmen jetzt hier die Leitung, Superintendent.« »Verstanden, Sir. Sie können sich auf mich verlassen.« »Und Sie«, er sah Dillon an, »versuchen Sie, sich zu benehmen.« »Tue ich das nicht immer?«, gab dieser zurück. 237
»Dass ich nicht lache«, meinte Ferguson und ging zum Wagen. Ungefähr anderthalb Stunden später kehrte er zurück, diesmal mit einem Taxi. Eine weitere Viertelstunde später fuhr der Land Rover ab, Miller und Dalton saßen vorn, Ferguson und Selim auf dem Rücksitz. Ein paar Meter weiter die Straße hinunter stand ein Telecom-Kleinlaster am Straßenrand, ein Kanaldeckel war entfernt worden, und ein Mann mit Schutzhelm und gelber Jacke stand in dem offenen Schacht und arbeitete. Er sah sich den Land Rover ganz genau an und sprach anschließend auf Russisch in sein winziges Mikrofon. »Land Rover fährt gerade in eure Richtung. Zwei Männer vorn. Ferguson und Selim hinten. Bleibt dran. Ich verständige Major Novikova.« Am Ende der Einbahnstraße blieb der Land Rover kurz stehen und bog dann in die Hauptstraße ein. Zur gleichen Zeit kam ein Motorradfahrer in schwarzer Lederkluft aus einer Seitenstraße, fädelte sich gekonnt in den Verkehr ein, hielt aber zu dem Land Rover reichlich Abstand.
11.
Kelly kontaktierte Ashimov, währenddessen Fahy und Regan in dem ehemaligen Lagerhaus das Frühstück vorbereiteten. »Hier sind wir. Was nun?« »Wir kommen rüber, dann können wir in Ruhe alles Weitere besprechen. Greta hat ein wenig in ihren GRUAkten gekramt und herausgefunden, dass Ferguson in Holland Park eine konspirative Wohnung unterhält.« »Hm, das ist eine nützliche Info. Ist Selim dort?« »Es sollte mich wundern, wenn er nicht dort wäre. Aber um sicherzugehen, hat Greta ein paar Leute von der Botschaft auf Beobachtungsposten vor der Wohnung platziert, die als Telecom-Arbeiter posieren. Alle Informationen von ihnen gebe ich umgehend an euch weiter.« Er fuhr zur Botschaft und traf Greta in ihrem Büro an, wo sie gerade Akten in ihrem Koffer verstaute. Ihre geröteten Wangen verrieten ihre Aufregung. »Es geht voran, Yuri. Es geht definitiv voran. Selim war tatsächlich bis vor kurzem in dieser Wohnung, die er inzwischen jedoch verlassen hat. Er saß mit Ferguson und zwei anderen Männern in einem Land Rover. Daran besteht kein Zweifel.« »Und wo fahren sie hin?« »Ich weiß nicht, aber mein zweiter Mann, ein junger Leutnant, Ivanov heißt er, folgt ihnen mit einem Motorrad.« 239
»Ist er gut?« »Ausgezeichnet. Den können sie nicht abhängen, auch wenn sie sich noch so anstrengen.« »Gut. Und während wir auf Ivanovs Bericht warten, könnten wir diesen irischen Trotteln in China Wharf eigentlich einen Besuch abstatten.« Der Land Rover verließ London in südlicher Richtung, quälte sich im dichten Verkehr nach Leatherhead, dann weiter nach Dorking, wo der Fahrer eine Tankstelle auf der anderen Seite der Straße ansteuerte. Dort herrschte Hochbetrieb, viele Autos warteten an den Zapfsäulen, sodass Ivanov völlig unbemerkt blieb und sogar noch Zeit hatte, Greta anzurufen, die gerade mit Ashimov in China Wharf angekommen war. Er erklärte ihr genau, wo er sich im Augenblick befand. »Die Straße führt nach Horsham. Sagt Ihnen das etwas?« »Sehr viel sogar. Ich glaube, sie werden zu einem Dorf namens Huntley fahren. Dort bleiben Sie und melden sich wieder.« »Huntley?«, wiederholte Ashimov. »Fergusons anderer Unterschlupf.« Sie hielt ihren Aktenkoffer hoch. »Alles da drin.« »Gut. Dann lass uns reingehen.« Die Straße nach St. Leonard’s Forest führte durch endlose Wälder und war, abgesehen von dem einen oder anderen Wagen oder Traktor, ganz und gar nicht belebt. Ivanov blieb weit zurück und ließ sich von den wenigen anderen Fahrzeugen hinter ihm überholen. Da die Straße beinahe 240
schnurgerade verlief, konnte er den Land Rover auch aus großer Distanz im Augen behalten. Am Ende kam ihm schließlich das Glück zu Hilfe, aber in seinem Job brauchte man einfach eine Portion Glück. Hinter ihm tauchte ein riesiger Mähdrescher auf, den er passieren ließ, weil der ihm die nächsten Kilometer eine perfekte Deckung sichern würde. Irgendwann sah er dann aus sieherer Entfernung den Land Rover von der Straße abbiegen. Er bremste ab, ließ den Mähdrescher weiterfahren und kam an eine hohe Mauer mit einem, wie sein geschultes Auge sogleich erkannte, Elektrozaun obendrauf. Es gab ein großes Tor, offensichtlich ebenfalls elektronisch gesteuert, ein kleines Pförtnerhaus und ein Messingschild mit der Aufschrift: HUNTLEY HALL INSTITUTION. Er fuhr weiter. Die Mauern erstreckten sich gut über eine Länge von dreihundert Metern, dahinter war dichter Baumbestand zu erkennen. Im Vorbeifahren erkannte er das Dach eines großen Hauses weiter hinten auf dem riesigen Grundstück, dann kam er schon in das Dorf Huntley selbst – sehr englisch, sehr traditionell, die Hauptstraße von kleinen Häuschen gesäumt, eine alte Steinbrücke, die über einen Bach führte, ein Dorfladen, eine Tankstelle und der unvermeidliche Pub mit dem Namen Huntley Arms. Er hielt an, um zu tanken, und wurde von einer jungen Frau bedient. Sein Englisch war perfekt, man hatte ihn gut trainiert. »Mir scheint, ich habe mich in Horsham verfahren. Eigentlich wollte ich auf die Brighton Road.« »Da fahren Sie einfach geradeaus weiter, bis Sie auf die A23 kommen, und die bringt Sie direkt nach Brighton.« 241
»Das hier ist wirklich ein abgelegener Ort.« »Das ist wahr. Hier passiert nicht viel.« Er folgte ihr zu dem kleinen Kassenhäuschen und kramte seine Brieftasche hervor. »Was ist denn das für ein Gelände hinter dieser endlosen Mauer? Huntley Park Institution stand auf dem Schild.« »Ach, irgendeine Privatklinik, glaube ich. Für Rehabilitation oder so. Aber genau weiß ich es nicht. Diese Leute bleiben für sich.« Ihm fielen die Wohnwagen auf, gut ein Dutzend, die hinter der Tankstelle unter Bäumen standen. »An wen vermieten Sie die denn?« »Im Moment ist keiner gebucht. Aber sonst an Vogelbeobachter oder Jäger. Im Sommer ist hier ganz schön was los.« »Irgendwie gefällt es mir hier«, sagte er. »Sagen Sie, haben Sie eine Karte?« Sie reichte ihm eine Visitenkarte, und er setzte hinzu: »Ach, wo ich schon mal hier bin, könnte ich auch gleich einen Happen essen. Ist der Pub gut?« »Ja, ganz in Ordnung. Pies, Sandwiches, so was in der Art. Allerdings werden Sie dort niemanden antreffen, außer meinen Großvater. Wenn die Wohnwagen leer stehen, hat er nichts Besseres zu tun, als im Pub herumzusitzen und Bier zu trinken.« Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Danke, ich versuche es mal dort.« In dem Pub sah es genau so aus, wie er es sich nach dem Gespräch vorgestellt hatte. Steinfliesen auf dem Boden, 242
eine Bar aus Eichenholz mit unzähligen Flaschen, dunkle Balken an der Decke, ungefähr zwanzig leere Tische und ein Holzfeuer in einem offenen Kamin. Davor saß ein alter Mann in einer Steppjacke, mit Tweedhut auf dem Kopf und einem Bierglas in der Hand. Von irgendwo hinter der Bar tauchte eine Frau mittleren Alters auf, die sich die Hände an der Schürze abtrocknete. »Was kann ich für Sie tun, Sir?« »Ich habe in Horsham die falsche Straße erwischt und mich verfahren. Aber weil ich nun schon mal da bin, nehme ich ein Bier, nur eins, weil ich noch fahren muss, und ein Käse-Sandwich, wenn Sie zufällig eins dahaben. Die junge Frau an der Tankstelle hat mich hergeschickt.« »Das muss Betty gewesen sein.« »Meine Enkeltochter«, rief der alte Mann. »Harold Laker ist mein Name.« Ivanov ergriff sofort die Gelegenheit beim Schopf. »Vielleicht darf ich Sie zu einem Bier einladen?«. »Ein Pint Dunkles könnte ich bestimmt noch vertragen.« »Der alte Schnorrer.« Die Frau grinste gutmütig. »Gehen Sie und setzen Sie sich zu ihm; die Getränke und das Sandwich kommen sofort.« Harold Laker war achtzig und mächtig stolz auf sein Alter. Er wurde hier im Ort auf einem Hof geboren, erzählte er, und hatte sein ganzes Leben in dem Dorf gearbeitet. Rasch leerte er sein Glas Bier und ließ sich von Ivanov, der seinen Erzählfluss am Laufen halten wollte, noch ein weiteres bezahlen. 243
»Natürlich haben wir damals nicht nur auf dem Hof gearbeitet. Wir sind fischen gegangen, und auf die Fuchsjagd, aber das ist schon lange her. Das Einzige, was uns jetzt noch bleibt, ist die Jagd.« »Und was jagen Sie?« »Ach, alles Mögliche. Fasane, besonders damals auf dem Grund von Lord Faversham, als dieser noch am Leben war. Ich habe immer seine Gewehre getragen und sie für ihn geladen. Er hatte wirklich prachtvolles Wild auf seinem Jagdgrund. Hasen, Wildkaninchen. Aber das ist heute alles vorbei.« »Warum denn?« »Ach, Lord Faversham hat den ganzen Besitz dem Staat vermacht, und nach seinem Tod wurde das Anwesen in eine Art Klinik umgebaut.« »Ja, die ist mir auf dem Weg hierher aufgefallen. Ist dort viel Betrieb?« »Das weiß eigentlich niemand so genau. Man munkelt, dass sie dort Leute mit Kopfproblemen behandeln, obwohl ich noch nie einen Patienten im Dorf gesehen habe.« Er seufzte vernehmlich. »Ach, ja, das war damals wirklich das reinste Wildererparadies.« »Das kann ich mir gut vorstellen. Aber heute geht da sicher nichts mehr, bei all diesen Sicherheitssystemen, Elektrozäunen und Kameras an den Toren.« »Drinnen auch.« »Tatsächlich? Woher wissen Sie das denn?« »Ach, na ja, wenn ich Appetit auf ein Rebhuhn, ein Karnickel oder einen Fasan habe, dann weiß ich, wo ich hingehen muss.« 244
»Das ist ja interessant.« Der alte Mann legte den Zeigefinger an seine Lippen. »Pst! Kein Wort darüber. Aber man muss nicht immer über einen Zaun steigen.« Seine Augen blitzten so spitzbübisch, dass Ivanov unwillkürlich lachen musste. »Sie alter Gauner. Sie wissen anscheinend vieles, was andere nicht wissen.« Damit stand er auf. »So, ich muss weiter. War nett, mit Ihnen zu plaudern, Mr. Laker.« Er ging an die Bar, bestellte für Laker noch ein Bier und bezahlte dann die Zeche. »Der kann einem Esel das Ohr abschwatzen«, scherzte die Frau. »Ach, er ist schon in Ordnung. Erinnert mich an meinen Großvater. Außerdem weiß man nie, was man von diesen alten Haudegen lernen kann!« Als er wieder auf seinem Motorrad saß, nahm er die Straße zurück nach Horsham, und als er an Huntley Hall vorbeifuhr, verlangsamte er seine Geschwindigkeit und warf einen Blick auf das Tor. Ungefähr fünf Kilometer weiter bog er an einem Feldweg von der Straße ab und rief im Schutz einiger Bäume Greta Novikova an. Die saß gerade zusammen mit Ashimov und den vier Iren im Wohnzimmer in China Wharf an einem Tisch, auf dem etliche Dokumente und Pläne ausgebreitet waren. »Ivanov. Was haben Sie für mich?« »Ferguson hat Selim definitiv nach Huntley Hall gebracht, aber das ist noch nicht alles. Soll ich es Ihnen gleich erzählen oder erst, wenn ich wieder in London bin?« 245
»Nein, ich will es jetzt hören. Warten Sie nur kurz, bis ich den Rekorder angesteckt habe.« Als er mit seinem Bericht zu Ende war, fragte sie, während der Rekorder noch weiterlief: »Und, was denken Sie?« »Von Harold Laker? Er erinnert mich sehr an meinen Großvater in der Ukraine. Ein altes Schlitzohr. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, dieser Alte kennt das Gelände in- und auswendig und geht dort auch wildern, wenn ihn mal nach einem Fasan gelüstet.« »Aber wie denn? Bei all den Sicherheitsvorkehrungen.« »Ich weiß nur, dass der alte Gauner gemeint hat, wenn er Lust auf einen Hasen oder ein Kaninchen habe, dann wüsste er schon, wie er dazu käme, und ich zitiere: ›Man muss nicht immer über eine Mauer steigen.‹« »Dann weiß er also, wie man auf das Grundstück kommt«, stellte sie mit ein bisschen Ehrfurcht in der Stimme fest. »Würde ich denken.« »Gute Arbeit. Kommen Sie nach London zurück, Sergei.« Sie legte auf und wandte sich an Ashimov. »Was meinst du dazu?« »Nun, ich meine, wir sollten einen dieser Burschen auf einen kleinen Plausch zu diesem Mr. Laker schicken. Aber alles der Reihe nach. Jetzt sehen wir uns erst einmal die Pläne an, die du uns mitgebracht hast, Greta.« Sie breitete einen detaillierten Grundriss von Huntley Hall und der umgebenden hügeligen Waldlandschaft aus. »Hier kannst du deutlich erkennen, wo CCTV-Kameras und andere elektronische Überwachungsgeräte in den 246
Bäumen angebracht sind. Aber vergiss nicht, dass diese Pläne auch fehlerhaft sein können.« »Warum?«, wollte Kelly wissen. »Weil sie auf Erinnerungen basieren. Vor fünf Jahren fiel uns in Moskau ein britischer Spion in die Hände. Sharkey hieß der Mann, der kurz darauf gegen einen unserer Männer, Orlov, der in Huntley Hall festgehalten wurde, ausgetauscht wurde. Diesem Orlov wurde hin und wieder gestattet, ein wenig im Park spazieren zu gehen, und bei diesen seltenen Gelegenheiten hat er sich einige Details eingeprägt.« Darauf meinte Tod: »Hört sich riskant an. Da verlasse ich mich doch lieber auf das, was Ivanov gesagt hat. Der Alte weiß, wie man auf das Grundstück kommt. Ich bin der Meinung, dass Kelly und ich morgen früh hingehen sollten. Wir werden bei diesem Camper-Verleih vorbeischauen, den Ivanov erwähnt hat, mit dem alten Burschen Bekanntschaft schließen und ihm anschließend sein Geheimnis entlocken.« »Indem ihr ihm die Finger einzeln brecht?« »Ach, du musst immer die harte Schiene fahren, Dermot. Nein, ich schätze, drei Flaschen Bushmills sollten genügen, dass er so gierig wird, wie Leute seines Schlages gemeinhin sind.« An Greta gewandt setzte er hinzu: »Dieser Ivanov hat sich nicht sehr russisch angehört. Spricht er mit einem Akzent?« »Nein, man hat ihn ausgesucht, weil seine Mutter Engländerin ist.« »Aha, dann ist er also dein englischer Neffe, Dermot, der dir von dem Ort erzählt hat.« 247
Ashimov sagte: »Soweit bin ich einverstanden, aber lasst uns noch die nächsten Schritte überlegen. Falls es euch irgendwie gelingt, euch Zutritt zu dem Gelände zu verschaffen, wie geht es dann weiter?« »Dafür gibt es keinen Plan«, sagte Tod. »Nicht im Vorhinein. Wenn er zufällig spazieren gehen darf, während wir uns dort herumtreiben, dann machen wir ihn natürlich kalt.« »Und wenn nicht?« »Dann muss man abwarten.« Eine Weile herrschte Schweigen, bis Fahy sagte: »Und was ist mit uns?« »Ihr behaltet Major Roper im Auge. Ihr seid ja bereits gründlich über ihn informiert«, sagte Tod. »Ein BionikFreak, der im Rollstuhl sitzt, dürfte ja wohl schwer zu übersehen sein.« »Machen wir ihn kalt, wenn sich die Gelegenheit ergibt?«, fragte Regan. »Nein. Ihr wartet, bis klar ist, wie es mit Ferguson und Selim gelaufen ist.« »Und Dillon?«, erkundigte sich Fahy. »Käme auf einen Versuch an«, entgegnete Greta und schob ihm ein paar andere Papiere hin. »Das ist sein Cottage in Stable Mews und das hier ein aktuelles Foto von ihm. Dann habe ich noch ein Foto von seinem Mini und das Kennzeichen.« Tod lachte. »Haben Sie auch seine persönlichen Körpermaße recherchiert?« »Ach, wissen Sie, ich wollte Sie nicht entmutigen.« Sie schob weitere Fotos über den Tisch. »Dillons Freunde, die 248
Salters. Der Jüngere ist mindestens so scharf wie Dillon, und sein Onkel war seinerzeit einer der gerissensten Gangster Londons. Das sollte als Warnung zur Vorsicht genügen.« »Falls während unserer Abwesenheit etwas an Ausrüstung benötigt werden sollte«, fuhr sie fort, »ein Wagen oder dergleichen, dann wenden Sie sich bitte an Danny Malone. Er wird alles Notwendige veranlassen. Er war früher Zulieferer für die Provos.« »Dann bleibt nur noch die Bernstein übrig, Superintendent bei der Special Branch.« »Ach«, meinte Fahy wegwerfend. »Um die mache ich mir keine Sorgen. Weibliche Bullen sollten lieber die Schreibtischarbeit erledigen.« »An Ihrer Stelle wäre ich mit derartigen Äußerungen vorsichtig. Hier steht zum Beispiel, dass sie eine Frau erschossen hat, eine führende Loyalisten-Aktivistin namens Norah Bell«, erklärte Greta. »War das nicht dieses Höllenweib, Protestantin oder nicht?«, warf Dermot ein. »Ach, wir alle haben so unsere Laster«, grinste Tod. »Die von Norah waren nur ein bisschen grausamer als die der meisten anderen. Haben wir es dann?« »Ich denke ja. Wir werden ein Auge auf die Bernstein haben«, sagte Greta. Nachdem sie die Fotos und Pläne in ihrem Aktenkoffer verstaut und sich erhoben hatte, fragte sie Ashimov: »Gehen wir?« »Hm, ja.« Er nickte den anderen lässig zu. »Wir halten Kontakt, ständigen Kontakt.« »Wir haben alle Ihre Handynummern, also wenn Sie sich nicht bei uns melden, rufen wir an.« 249
Als sie und Ashimov zur Tür gingen, rief ihnen Tod hinterher: »Sie trauen uns nicht ganz zu, dass wir die Sache schaukeln, habe ich Recht?« »Tja, man hat schon Pferde kotzen sehen.« Ashimov zündete sich eine Zigarette an. Dermot meinte: »Ist es wegen Dillon?« »Sagen wir mal so«, erwiderte Greta. »Ich habe ihn erst kürzlich im Irak in Aktion erlebt, und wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte ich es nicht geglaubt. Also, in diesem Sinne – sehen Sie sich vor.« Kaum hatten die beiden den Raum verlassen, explodierte Fahy. »Dillon – dieser verfluchte Sean Dillon. Dauernd dreht sich alles um ihn.« Er schnappte sich seinen Mantel. »Ich brauche jetzt einen Drink.« »Ich komme mit«, sagte Regan. »Und was ist mit euch beiden?« »Wir müssen noch einiges für unseren Aufbruch morgen früh vorbereiten«, erklärte Tod. »Aber seht euch vor. Lasst euch auf nichts ein.« Als sie gegangen waren, stellte Dermot eine große Stofftasche auf den Tisch und öffnete den Reißverschluss. Er zog ein AK-47 heraus, das er Tod mit den Worten reichte: »Check das gründlich durch, ich nehme mir das andere vor.« »Gib mir mal den Schalldämpfer«, sagte Tod und fügte hinzu: »Und, was ist mit dir? Bist du wirklich davon überzeugt, dass wir das Ding durchziehen können?« Während er auf die Antwort wartete, begann er das AK zu zerlegen. »Wir haben so was schon früher gemacht, also können 250
wir es jetzt auch. Schließlich sind wir immer noch am Leben, oder?« »Dieser Dillon aber auch, und das ist das Problem.« Ungefähr zur selben Zeit landete Belov auf dem Flughafen von Ballykelly in der Nähe von Drumore. Sein erster Handgriff galt dem Mobiltelefon, um Ashimov anzurufen, der soeben mit Greta an seiner Seite vor einem italienischen Restaurant in Bayswater geparkt hatte. »Was gibt’s Neues?«, fragte Belov. »Ich hab alles unter Kontrolle«, sagte Ashimov. »Zu viele Eventualitäten für meinen Geschmack«, knurrte Belov. »Das gefällt mir nicht.« Ausnahmsweise blieb Ashimov diesmal hart. »Nein, dagegen verwehre ich mich. Kelly und Murphy besitzen einen ausgezeichneten Ruf. Major Novikovas Vorarbeiten waren äußerst sorgfältig und umfassend. Diese Spur nach Huntley Hall sieht mehr als viel versprechend aus. Ich glaube, wir stehen sehr gut da.« »Okay, dann hoffen wir das Beste. Ich werde hier bleiben, bis sich etwas Entscheidendes getan hat.« »Der große Boss?«, fragte Greta. »Wird langsam nervös. Zur Hölle mit ihm. Komm, jetzt gehen wir erst einmal gut essen.« Auf ihrem Weg durch die Wapping High Street meinte Regan: »Dieser Pub, der Dark Man, der den Salters gehört, der muss hier irgendwo ganz in der Nähe sein. Warum werfen wir nicht mal einen Blick hinein?« »Gute Idee.« 251
Sie fragten den Mann vom Zeitungsstand an der Ecke, der sie ein paar Straßen weiter und dann nach links dirigierte. Sie kamen an alten Lagerhäusern vorbei und fanden den Dark Man schließlich unten am Kai an der Themse. In der Nähe standen ein paar geparkte Autos. »Hier sind wir richtig«, erklärte Fahy. »Sollen wir reingehen?« »Mach mal halblang«, hielt Regan ihn zurück, als im gleichen Moment unten am Kai Scheinwerfer aufleuchteten. Blitzschnell drückten sie sich in den Schatten eines Hauseingangs. Die Scheinwerfer gehörten zu einem Range Rover, dem Billy Salter entstieg. Er ging direkt auf den Pub zu. »Das war Salter«, sagte Fahy. »Komm, wir schauen mal rein.« Sie spähten durch eines der Fenster in das Innere des Lokals. Es war einiges los da drin. Am Ende der Bar stand Billy und unterhielt sich mit Dillon. »Verdammt, das ist Dillon«, entfuhr es Regan. »Bist du bewaffnet?« »Nein, meine Pistole liegt gut aufgehoben in der Waffentasche.« »Meine auch. Mist. Wir hätten ihn von hier aus mit einem einzigen Schuss umlegen können.« »Das ist leider wahr«, meinte Regan, doch eine gewisse Erleichterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Na ja, ganz hilflos sind wir auch nicht«, erklärte Fahy, zog ein Schnappmesser aus der Tasche und drückte auf den Knopf. Dann rammte er die Klinge in die beiden Vorderreifen des Range Rovers, aus denen sofort pfeifend 252
die Luft entwich. »Das wird Salter und diesem verfluchten Dillon etwas zu Denken geben.« Sie lachten wie Schuljungen, als sie sich durch die dunkle Gasse davonmachten. Ehe die Reifen endgültig platt waren, trat eine alte, verwahrloste Obdachlose, in diverse Lagen Kleider gehüllt, und mit einer Wollmütze auf dem Kopf aus der Dunkelheit und besah sich den Wagen. Gleich darauf drehte sie sich um, stellte ihre Plastiktüten ab und ging in den Pub. Dort tippte sie Billy auf die Schulter. Der drehte sich um. »Aber hallo, Gladys, nicht hier in der Bar.« »Du kommst mal besser mit nach draußen, Billy. Es geht um dein großes Auto.« Billy stand auf. Dillon kippte schnell seinen Drink hinunter und folgte ihm nach draußen. »Diese Schweinehunde«, fluchte Billy. »Wer war das, Gladys?« »Zwei Männer in Regenmänteln. Einer von denen hatte so ein komisches Messer, wo die Klinge rausspringt. Damit hat er dir die Reifen zerstochen. Und gelacht haben die beiden. Einer hat gesagt: ›Das wird Salter und diesem verfluchten Dillon etwas zu denken geben.‹« »Mann, wenn ich die zwischen die Finger kriege«, knurrte Billy und trat wütend gegen den einen Vorderreifen. »Das waren Iren«, sagte die Alte. »Iren?« Billy lief vor Zorn rot an. »Verwichste Iren?« »Beruhige dich«, sagte Dillon. »Bist du auch ganz sicher, Gladys?« »Aber ja doch. Die haben nicht so geredet wie ihr. Ich 253
meine, ihr seid nette Iren. Die haben sich anders angehört.« »Wer zum Teufel ist denn hier hinter mir her?«, wunderte sich Billy. »Das ist doch idiotisch.« »Vielleicht hat es ja was mit mir zu tun«, schlug Dillon vor. »Ich kenne einige Iren, die mich gar nicht mögen. Du rufst jetzt am besten die Werkstatt an und kümmerst dich um den Wagen. Ich werde inzwischen einige Erkundigungen einziehen. Bis später dann.« An der High Street hielt er ein Taxi an und ließ sich nach Kilburn fahren, wo er mit seiner Runde begann, sich von einem Pub zum anderen arbeitete und sich mit den Barkeepern unterhielt, was ihn aber erwartungsgemäß nicht viel weiter brachte. Die IRA operierte nicht in London. Diese Zeiten waren vorbei. Aber schließlich gab es ja noch den Green Man. Er ging die kleine Straße entlang und schaute erst einmal durchs Fenster. Da war er, Danny Malone, damals in den alten Zeiten ein guter Kumpel, aber das war schon lange her. Danny ging offensichtlich seine Abrechnungen durch, deshalb versuchte Dillon es an der Hintertür. Die war nicht abgesperrt. Dillon durchquerte den kleinen Flur, erreichte die Tür zum Hinterzimmer und trat hinein. Seit Kelly seinen Namen erwähnt hatte, dachte Melone mit sehr gemischten Gefühlen an Dillon. In gewisser Weise hatte ihm das die Augen geöffnet, worauf er sich da einließ. Er hatte schon einmal fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen, und die Tatsache, dass Dillon da mitspielte, machte das Ganze nicht harmloser. Als er nun 254
von seinen Papieren hochsah, fiel ihm regelrecht das Gesicht herunter. »Du bist es, Sean!« »Gott schütze die gute Sache, Danny«, sagte Dillon und fügte, als Malone schwieg, hinzu: »Gott schütze dich, lautete die Antwort darauf. Du vergisst deine guten Manieren.« »Tut mir Leid, Sean, das kam so überraschend. Ich meine, das ist schon so lange her.« »Oh, ich habe immer wieder an dich gedacht, Danny.« Dillon steckte sich eine Zigarette an, und Malone bemerkte mit einem schiefen Lächeln: »Du arbeitest jetzt also für Ferguson und den Premierminister.« »Ach, du kennst mich doch, war schon immer praktisch veranlagt. Dadurch bin ich aus einem serbischen Gefängnis rausgekommen. Ich war übrigens froh, als ich hörte, dass sie dich entlassen haben, Danny. Hast Glück gehabt, dass dieser Friedensprozess genau zum richtigen Zeitpunkt begonnen hat.« Malone überlief eine Gänsehaut, als er sich vergegenwärtigte, wie dumm es von ihm gewesen war, sich in diese Sache hineinziehen zu lassen. Er holte tief Luft, versuchte ruhig zu bleiben. »Willst du etwas Bestimmtes, Sean?« »Nein, nein, nur eine Frage, Danny. Mein Freund Billy Salter hat heute Abend seinen Range Rover vor dem Dark Man in Wapping abgestellt. Da kamen zwei irische Jungs des Wegs, und einer von den beiden hat ihm mit einem Schnappmesser die Vorderreifen zerstochen. Anschließend haben sie sich lachend vom Acker gemacht und gemeint, das würde mir und Billy zu Denken geben.« 255
Dillon griff unter seine Jacke, zog eine Walther aus dem Hosenbund und legte sie auf den Tisch, um sich dann eine Zigarette anzuzünden. »Na, fällt dir dazu was ein, Danny? Irgendjemand von der anderen Seite des Teichs in der Stadt?« Malone gab die Vorstellung seines Lebens. »Von der anderen Seite des Teichs? Du weißt doch selbst, dass sich seit dem Friedensprozess nichts mehr abspielt in London. Wir sind alle vorzeitig entlassen worden. Schau mich an. Fünfzehn Jahre habe ich gekriegt, und nur fünf davon abgesessen. Aber der Rest steht zur Bewährung. Eine falsche Bewegung, und ich sitze wieder im Knast, und dann kann ich die volle Strafe bis auf den letzten Tag abbrummen. Glaubst du denn, ich bin verrückt? Wer wäre denn so bescheuert?« »Ja, da müsste man wirklich total bescheuert sein«, stimmte ihm Dillon zu. »Ich denke da auch an deine Frau, Danny. Du würdest doch nichts tun, was sie beunruhigt, oder?« »Die Arme ist ohnehin schon genug gestraft, Sean. Brustkrebs.« »Das tut mir Leid«, sagte Dillon und meinte es auch so. Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. »Meine Handynummer. Wenn sich irgendwas tut, lass es mich wissen.« Er steckte die Walther wieder hinten in den Hosenbund und verließ das Büro. Kaum war Dillon weg, lief Malone in die kleine Toilette nebenan und übergab sich. Dann wusch er sich das Ge256
sicht, wankte zurück ins Büro, machte eine Flasche Whiskey auf und schenkte sich ein großes Glas voll ein. Er schwitzte und versuchte verzweifelt, seine Unruhe zu bekämpfen. Langeweile und die Sehnsucht nach ein bisschen Action hatten ihn dazu getrieben, Kellys Anruf so zu beantworten, wie er es getan hatte. Idiotisch. Aber Dillon hatte ihm geglaubt, und das war das Wichtigste. Doch was sollte er mit Kelly machen? Er selber konnte jetzt nicht mehr aussteigen. Vielleicht, fiel ihm plötzlich ein, würde Kelly die Sache von sich aus abblasen, wenn er ihm von Dillons Besuch erzählte. Er holte tief Luft, griff nach dem Hörer und rief Kelly in China Wharf an. »Und du bist sicher, dass Dillon deine Geschichte gefressen hat?« »Mit dieser Vorstellung hätte ich sofort ein Engagement am National Theatre bekommen. Und die Krankheit meiner Frau hat da auch geholfen.« »Ja, das war ein guter Einfall.« »Kein Einfall, Dermot, sondern die Wahrheit.« »Verdammt, Mann, tut mir Leid.« »Ist schon okay. Aber was mich betrifft, so weiß ich nicht, was ihr vorhabt, und will es auch gar nicht wissen. Andererseits ist der Dark Man nur ein paar hundert Meter von China Wharf am Flussufer entfernt. Was die beiden Iren betrifft, die Billy Salters Range Rover bearbeitet haben, denke ich, dass ihr schon wisst, wer die sind, aber das ist euer Problem, nicht meins. Ich bin raus aus dieser verdammten Sache. Ich besitze eine hübsche kleine Villa in Spanien, wo meine Frau gerade in der Sonne sitzt, und 257
ich denke, ich werde meine Bar eine Weile den Angestellten überlassen und nach Spanien fliegen.« Nachdem er aufgelegt hatte, öffnete er den Safe im Büro, steckte seinen Reisepass, das Scheckbuch und zweitausend Pfund in bar ein und bestellte ein Taxi nach Heathrow. Dann rannte er hinauf in die Wohnung und packte. Fahy trat als Erster durch die Tür von China Wharf, stolperte über Tods vorgestreckten Fuß und schlug der Länge nach hin. Als Zugabe trat ihn Kelly ein paarmal kräftig in die Rippen. »Lass sein Gesicht ganz«, mahnte Tod, der inzwischen Regan gepackt und ihm den Arm auf den Rücken gedreht hatte. Im geeigneten Moment gab er Regan einen Schubs, so dass dieser die gleiche Behandlung wie Fahy erfuhr. Schließlich zerrte Tod die beiden wieder hoch, und Kelly erklärte ihnen genau, warum sie in den Genuss dieser Abreibung gekommen waren. »Ihr beiden seid strohdumm, habt nicht ein Gramm Hirn zwischen den Ohren. Wegen euch habe ich gerade Danny Malone verloren.« Er gab jedem der beiden eine schallende Ohrfeige. »Ihr habt genaue Befehle erhalten, also führt sie auch aus. Habt ihr mich verstanden, oder wollt ihr als Fischfutter in der Themse enden?« Die beiden brachten kein Wort heraus. Kein Wunder, denn Kelly schäumte vor Wut und stand in dem Ruf, seine Versprechen zu halten. »Okay«, meinte Tod zu den beiden. »Jetzt verschwin258
det und trollt euch ins Bett.« Als sie gegangen waren, drehte er sich zu Kelly um. »Sind wir noch dabei?« »Na klar. Es gibt keinen Grund für Sean, einen Verdacht zu schöpfen. Selbst Malone weiß nicht, warum wir hier sind. Morgen machen wir dann eine kleine Landpartie. Komm, darauf trinken wir jetzt einen.« Das Abendessen in dem mit dunklen Eichenpanelen getäfelten Speisezimmer von Huntley Hall war in jeder Hinsicht beeindruckend gewesen. Man hatte sämtliche Essensvorschriften von Selim berücksichtigt, während Ferguson Roastbeef und Yorkshire-Pudding serviert worden war. Dalton und Miller fungierten als Kellner, die zwischen den einzelnen Gängen ruhig aber aufmerksam neben dem Tisch standen. Ferguson hatte Burgunder getrunken, Selim Mineralwasser. »Hat das Essen Ihren Geschmack getroffen?«, erkundigte Ferguson sich anschließend. »Es war ausgezeichnet.« »Sie können sich bei der Verpflegungseinheit der Armee bedanken.« »Ich bin beeindruckt. Ich sehe hier nicht viel Personal.« »Die Leute bewegen sich sehr unauffällig. Kommen Sie mit hinaus in den Salon.« Der Salon war ein gediegener, großzügig angelegter Raum mit Orientteppichen auf den Natursteinfliesen, komfortablen Sofas und einem knisternden Feuer in dem großen Kamin. Auf der einen Seite führten Verandatüren mit schweren Vorhängen davor hinaus auf eine große Terrasse. 259
Selim ließ sich in einem bequemen Ohrensessel nieder. »Sie verstehen zu leben.« »Ja, das hier ist ein hübsches Haus.« Ferguson wandte sich an Miller: »Ich hätte gern ein Glas Portwein, Staff Sergeant, aber ein großes.« »Gewiss, Sir.« Miller trat vor ein Sideboard, um einzuschenken, und Ferguson setzte sich Selim gegenüber. »Ihnen biete ich keinen an.« »Es gab eine Zeit, da hätte ich dankend angenommen. Damals habe ich meine Religion nicht ernst genommen. Öffentliche Schule, Cambridge und so, aber dann, vor ein paar Jahren, habe ich mich geändert.« »Ich kann mir vorstellen, wie schwierig das für Sie gewesen sein muss.« »Mich dem Islam zuzuwenden? Überhaupt nicht. Ich bin Brite, General Ferguson, aber eben auch Moslem. Damit habe ich keine Schwierigkeiten. Immerhin gibt es auf den britischen Inseln viele Menschen, deren ursprüngliche Heimat eine ganz andere ist.« »Da muss ich Ihnen Recht geben. Ich bin schließlich auch halb Schotte und halb Ire.« Ferguson trank seinen Portwein aus und erhob sich. »Kommen Sie, gehen wir hinaus auf die Veranda und vertreten wir uns ein wenig die Beine.« »Das ist eine gute Idee.« Dalton drückte auf einen Knopf, worauf sich die Verandatüren öffneten. Ferguson ging voraus nach draußen in die frische, etwas feuchte Abendluft. Das Gebüsch, das den Rasen begrenzte, war dicht, dahinter erhoben sich 260
Bäume. Auf dem Rasen standen etliche Statuen, römische Figuren, die von Strahlern beleuchtet wurden. »Wir hatten heute einen guten Start«, sagte Ferguson. »Unser Gespräch über Ashimov und Belov war höchst aufschlussreich.« »In gewisser Weise ist Ashimov wütend auf die ganze Welt, was sich in seiner Bereitschaft, Menschen zu töten, manifestiert. Belov hingegen will einfach nur die Welt kontrollieren und regieren. Macht bedeutet ihm alles. Er ist ein Mensch, vor dem man sich viel mehr in Acht nehmen muss als vor mir, General.« »Sie sind mir wichtig genug. Die diversen Organisationen, von denen Sie gesprochen hatten, sowie die verschlüsselten Computerdaten der jungen Männer, die man in Al-Qaida-Trainingscamps geschickt hat, das alles wird uns ein großes Stück weiterhelfen.« »Möge Allah mir vergeben.« Nun kam Ferguson zu dem eigentlich wichtigen Punkt. »Sie könnten für uns von sehr großem Wert sein – nicht nur jetzt, sondern auch in der Zukunft.« »Indem ich meine Brüder verrate?« »Wie schade«, sagte Ferguson. »Sie haben es verdorben. Ich dachte, Sie seien Brite.« Selim stöhnte leise. »So habe ich das nicht gemeint. Ich dachte an meine Religion. Ich bin Brite, aber eben Moslem. In Tudor-Zeiten waren viele Menschen Katholiken, obwohl das verboten war, aber trotzdem Engländer. Einige von ihnen wurden sogar in Rom zum Priester ausgebildet –« »Das Seminar wurde Englisches Kolleg genannt«, fiel 261
ihm Ferguson ins Wort, »und brachte Jesuitenpriester hervor, bekannt als ›Soldaten Christi‹, die Besten überhaupt.« »Viele von ihnen starben hier in England für ihren Glauben.« »Nun ja, dann sollten wir uns vorsehen, dass Ihnen nicht auch so etwas widerfährt«, meinte Ferguson. »Gehen wir wieder hinein. Morgen früh, nach einer ausgedehnten Nachtruhe, machen wir weiter.« Die Verandatüren schlossen sich hinter den beiden Männern. In die Stille hinein rief eine Eule, und in dem Gebüsch hinter der Statue eines römischen Kaisers, die nur zur Hälfte beleuchtet war, raschelte es leise. Harold Laker beugte sich seitlich an der Staue vorbei und spähte über die Terrasse durch die großen Verandatüren ins Innere des Hauses. Er lächelte, ehe er wieder im Buschwerk verschwand, und dann war es wieder totenstill.
12.
Gegen zehn Uhr am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, fuhren Kelly und Tod Murphy mit dem Ford Transit weg; Fahy und Regan blieben mit mürrischen Gesichtern und schmerzenden Rippen am Küchentisch sitzen. »Und was jetzt?«, maulte Regan. »Vielleicht sollten wir uns trennen. Ich gehe und sehe mir Ropers Wohnung an, und du checkst Dillons Cottage oder die Wohnung dieser Bernstein«, schlug Fahy vor. »Ich dachte, um die Frau kümmern sich Ashimov und die Novikova.« »Vergiss es. Du willst doch nur mit allen Mitteln vermeiden, dich in Dillons Dunstkreis zu begeben«, gab Fahy zurück. »Das ist eine verdammte Lüge. Aber es ist eine gute Idee, diese Bernstein ins Visier zu nehmen.« »Okay, dann rufen wir uns jetzt zwei Taxis«, bestimmte Fahy. »In zwei oder drei Stunden treffen wir uns wieder. Das ist allemal besser, als hier wie ein Gorilla in seiner eigenen Scheiße herumzuhocken, während Dermot und Tod ihren Spaß haben. Aber eins sage ich dir, ohne eine Pistole unterm Sakko setze ich keinen Fuß mehr vor die Tür.« »Ganz meine Meinung. Also, worauf warten wir noch?«
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Außerhalb von Horsham bogen Kelly und Tod in eine Tankstelle ein, tankten den Wagen auf und gingen anschließend in die kleine Bar, um einen Kaffee zu trinken. Kelly zündete sich eine Zigarette an. »Möchte nur wissen, was diese zwei Idioten vorhaben. Denen traue ich keinen Millimeter über den Weg. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, sie mitzunehmen.« »Hmm. Lass mich mal nachsehen«, sagte Tod und rief Regan an. »Ich bin’s, Tod. Wo seid ihr?« »Unterwegs. Bin gerade dabei, einen Blick auf Dillons Behausung zu werfen, und Fahy schaut sich mal bei Roper um. Anschließend wollte ich mir auch noch Bernsteins Wohnung vorknöpfen.« »Sag mal, hab ich vorhin chinesisch geredet? Ashimov und Novikova sind auf die Bernstein angesetzt, also haltet euch da bloß raus. Macht euch mit Dillons und Ropers Umgebung vertraut, aber hängt dort nicht unnötig herum und unternehmt ja nichts Gröberes, ehe ihr keine Anweisungen erhalten habt.« »Es ist, als redete man mit Kindern«, meinte Kelly zu Tod, nachdem er aufgelegt hatte. »Die beiden haben an Biss verloren«, meinte Kelly. »Sie haben Geld, saufen zu viel und hängen den ganzen Tag faul in Drumore herum.« Das Handy klingelte, und er ging ran. Es war Ashimov. »Wo sind Sie?« »Horsham. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind bald dort.« Er legte auf und sagte zu Tod: »Zum Teufel mit denen 264
allen. Komm, wir beide schaukeln das Ding jetzt allein.« Dann ging er hinaus. Auf dem Weg zu ihrem Ford Transit fragte Tod: »Warum hast du ihm nicht von Selim erzählt, und dass Danny Malone kalte Füße gekriegt hat?« »Ach, warum den Mann beunruhigen? Er könnte an der Sache zu zweifeln beginnen, und das brauchen wir nicht.« Er entriegelte die Türen. »Nächster Stopp, Huntley.« Greta Novikova verließ die russische Botschaft von Kensington Palace Gardens aus zu Fuß, überquerte die Straße und betrat den gegenüberliegenden Pub. Ashimov saß an der Bar und las Zeitung. »Ah, da bist du ja. Möchtest du was trinken?« »Nein, im Augenblick nicht, danke. Was gibt es Neues?« »Ich habe gerade mit Kelly telefoniert. Die beiden sind in Horsham.« »Von dort aus fährt man bis Huntley etwa eine halbe Stunde. Also müsste es bald losgehen.« »Das hoffe ich. Aber ich bin schon lange in diesem Geschäft, Greta. Wenn es klappen soll, dann klappt es. Wenn nicht, ergibt sich etwas anderes. Überleben ist das Motto dieses Spiels.« »Und das scheint dir zu glücken.« »Weil ich Vorsichtsmaßnahmen treffe. Zum Beispiel habe ich auf einem kleinen Fliegerhorst namens Archbury, eine halbe Stunde außerhalb von London, eine firmeneigene Falcon stehen. Rund um die Uhr auf Stand-by, bis ich andere Anweisungen gebe. Das ist meine Versicherung. Falls in meinem Job irgendetwas schief geht, kann ich in 265
null Komma nichts von hier verschwinden.« Er lächelte selbstsicher. »Ich weiß, du wirst sagen, dass nichts schief gehen wird. Und um dein Vertrauen in mich zu würdigen, werde ich dich ins Ivy zum Mittagessen einladen.« »Aber dort kommt man unmöglich rein.« »Der Name Belov wirkt Wunder, sogar im Ivy.« Seine Hand lag an ihrem Ellbogen, als er sie aus der Bar geleitete. »Wir gehen schnell rüber zur Botschaft und holen unseren Opel. Auf dem Weg zeige ich dir dann das Haus von dieser Bernstein.« »Das könnte interessant werden. Bisher habe ich nur Fotos davon gesehen.« »Die Dame scheint sehr begütert zu sein. Du wirst ja sehen.« Vergeblich hielt Regan vor Stable Mews nach Dillons Mini Cooper Ausschau. Da er vor dem Cottage nicht unnötig lange herumstehen wollte, schlenderte er bis vor an den Platz und winkte ein Taxi heran. Mit einem schelmischen Grinsen beauftragte er den Fahrer, ihn zum Ende der Lord North Street zu bringen, wo Hannah Bernstein residierte. Dort angekommen, spazierte er ein Stück die Straße hinunter Richtung Millbank und Victoria Tower Gardens und blieb dann stehen, um aus der Ferne das Anwesen zu inspizieren. Genau genommen hatte ihn nur die Wut auf Tod hierher getrieben, weil der ihn derart rüde abgekanzelt hatte. Und daher war es ein ausgesprochen unglücklicher Umstand, dass Ashimov und Greta genau in diesem Moment in der Lord North Street auftauchten. 266
Ashimov, der am Steuer saß und langsam an Hannahs Anwesen vorbeifuhr, meinte zu Greta: »Beeindruckend, nicht?« »Ja, wirklich«, erwiderte Greta. »Jetzt verstehe ich, was du meinst.« Als Ashimov das Tempo wieder beschleunigte, bemerkte Greta den Mann an der Ecke. »Mein Gott, das ist doch Regan, einer von Kellys Leuten.« Ashimov hielt sofort am Randstein an. »Verfluchter Idiot, der sollte sich doch gar nicht hier herumtreiben!« Er sprang aus dem Opel, Greta stieg ebenfalls aus, und gemeinsam gingen sie auf Regan zu. »Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?«, verlangte sie mit scharfer Stimme zu wissen. Regan erkannte die beiden sofort. »Ich habe nur einen Blick auf das Haus dieser Bernstein werfen wollen.« »Das hat Ihnen niemand aufgetragen«, herrschte sie ihn an. »Sie und Ihr Freund sollten Dillons und Ropers Adressen ausforschen. Um die Bernstein kümmern wir uns.« »In Ordnung«, gab Regan zurück. »Ich wollte nur den Job erledigen. Bei Dillon war ich bereits.« »Tun Sie zukünftig einfach nur das, was Ihnen aufgetragen wird«, wies ihn Ashimov an. »Haben Sie das begriffen?« »Okay, okay.« Regan hob abwehrend die Hände. »Kein Grund zur Aufregung.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um, marschierte davon und schlängelte sich durch den fließenden Verkehr auf die andere Straßenseite. Jetzt war er stinksauer. 267
Ashimov fuhr, ebenfalls wütend, weiter. »Verdammte Bauerntölpel. Auf die ist absolut kein Verlass.« »Ja, du hast Recht«, pflichtete ihm Greta bei. »Das sind wirklich Trottel. Aber das Wichtigste ist jetzt, was sich in Huntley tut. Die Bernstein kann noch ein bisschen warten.« »Und Dillon. Möchte zu gern wissen, was der vorhat.« »Ist doch egal. Bring mich jetzt bitte ins Ivy. Mir knurrt der Magen.« Just in diesem Moment betrat Dillon die Piano-Bar im Dorchester Hotel, wo er von Guiliano, dem Manager, herzlich begrüßt wurde. »Sie erwartet Sie bereits«, sagte Guiliano und führte ihn zu dem Tisch, wo Hannah Bernstein saß. In dem schwarzen Hosenanzug von Armani sah sie hinreißend aus. Dillon bestellte zwei Gläser Champagner, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sich zu ihr. »Ich habe den ganzen Vormittag Papierkram erledigt«, stöhnte er. »Das war grässlich langweilig.« »Ich ebenfalls. Aber ich habe dich im Büro gar nicht gesehen.« »Ich habe zu Hause gearbeitet. Gibt es was Neues?« »Ja, Ferguson hat mich zweimal angerufen. Scheint sehr zufrieden zu sein, wie es mit Selim läuft. Anscheinend hat er einen Durchbruch gelandet und ist heute Morgen ein gutes Stück weitergekommen.« »Ich hatte gestern Abend ein interessantes Erlebnis persönlicher Natur«, begann Dillon und erzählte ihr von der 268
Attacke auf Billy Salters Range Rover und seinem Überraschungsbesuch bei Danny Malone. »Das hat nichts weiter zu bedeuten«, entschied sie. »Wir alle kennen doch Danny Malone. Ich habe damals sogar dabei mitgewirkt, ihn hinter Gitter zu bringen. So blöd, irgendetwas zu tun, das ihn wieder in den Knast bringt, wo er seine volle Strafe absitzen muss, würde er nie sein.« »Nein, das glaube ich auch nicht. Wie auch immer, wir haben heute einen freien Tag. Wo möchtest du zu Mittag essen? Im Mulligans?« »Nein, bleiben wir doch einfach hier. Und bestellen noch ein Glas Champagner.« »Ist mir sehr recht«, meinte Dillon und winkte Guiliano. Wutschnaubend stapfte Regan am Themseufer entlang und rief Fahy an. »Wo bist du?« »Roper beobachten. Hat vorhin das Haus verlassen und sitzt jetzt in dem Pub an der Ecke vorne an der Hauptstraße. Ich bin reingegangen und hab gesehen, dass er in einer Nische saß und Zeitung las und die Belegschaft ganz aufgeregt um ihn herumhüpfte. Hat Irish Stew bestellt.« »Na, wenigstens hat der Typ Geschmack. Ich bin stinksauer«, setzte er hinzu und erzählte Fahy kurz, was passiert war. »Erst tritt einem Tod in den Hintern und dann diese verfluchten Russen.« »Ach, zum Teufel mit dem ganzen Gesindel. Was du jetzt brauchst, ist was Anständiges zu essen und einen Drink.« 269
»Das ist der erste vernünftige Satz, den ich heute höre. Ein Bier könnte ich wirklich vertragen. Wo sollen wir hingehen?« Damit war die Arbeit erst einmal vergessen, und das Gespräch wandte sich den verschiedenen Pubs zu. In Huntley wartete auf Kelly und Tod eine Überraschung: Zwei der Wohnwagen auf dem Gelände hinter der Garage waren besetzt, Autos parkten in der Nähe und drei Kinder spielten Ball. »Super«, rief Kelly aus. »Das hat uns gerade noch gefehlt.« »Falsch, das ist genau das, was wir brauchen. Ein paar nette Familien und spielende Kinder um uns herum«, stellte Tod fest. »Eine ganz normale Umgebung.« Er stieg aus dem Transit. »Komm schon, Dermot, tu deine Arbeit.« Betty Laker kam heraus. »Voll tanken?«, fragte sie. »Eigentlich nicht«, antwortete Dermot. »Wir sind auf dem Weg von Brighton nach London, und vor kurzem hat mein Neffe hier angehalten – ein großer, kräftiger Kerl in schwarzer Ledermontur, Suzuki-Motorrad. Erinnern Sie sich?« »Klar erinnere ich mich an ihn«, sagte sie. Im gleichen Moment kam ihr Großvater aus dem Kassenhäuschen »Dieser junge Mann mit dem Motorrad, mit dem du dich kürzlich im Pub unterhalten hast, weißt du noch? Dieser Herr hier ist sein Onkel.« »Richtig. Wir haben uns in Brighton getroffen, und da hat er uns erzählt, dass Huntley so ein hübscher Ort sei. 270
Den Campingplatz hat er auch erwähnt, und deshalb dachten wir, wir machen hier Rast und sehen uns ein bisschen die Gegend an. Haben Sie einen Wohnwagen für uns?«, erkundigte sich Kelly. »Selbstverständlich«, erwiderte der alte Mann. »Ich kümmere mich um die Herrschaften, Betty, Liebes. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Sie parkten neben den anderen Wagen und besahen sich den Wohnwagen, der einfach eingerichtet, aber sauber und akzeptabel war. Tod, der zwei Taschen schleppte, ließ sie auf eines der beiden Betten fallen. »Also, für mich ist das hier okay.« »Und was führt die Herrschaften in unsere Gegend?«, erkundigte sich der alte Mann. Er hatte eine Zigarette hinter dem Ohr klemmen, die er sich jetzt anzündete. »Wir sind Landschaftsgärtner«, erklärte Tod. »Kümmern uns überwiegend um große Anwesen. Falls es irgendwo ein Problem gibt, holen uns die Leute aus dem ganzen Land.« »Ihr seid Iren, wie?« »Richtig«, bestätigte Kelly. »Und immer auf der Walz. Selten mehr als ein paar Wochen an einem Ort. Hart verdientes Brot, das kann ich Ihnen flüstern.« »Apropos Brot«, fiel ihm Tod ins Wort. »Wir sind etwas hungrig. Hier gibt es doch bestimmt einen Pub, oder?« »Aber gewiss doch, und das Essen dort ist auch gut. Ich zeige Ihnen den Weg.« Tod öffnete eine der beiden Taschen, und es klirrte leise, als er zwei Flaschen Scotch herausholte und zur Seite stellte. Der alte Mann leckte sich die Lippen. 271
»Sie sind aber gut ausgerüstet, das muss ich schon sagen.« »Ich hasse es, wenn ich auf dem Trocknen sitze«, sagte Kelly und lächelte vielsagend. »Aber jetzt lassen Sie uns in den Pub gehen und etwas essen. Vielleicht haben Sie ja Lust, uns Gesellschaft zu leisten?« »Mit Vergnügen«, nickte Laker und ging voraus. Die drei hatten Shepard’s Pie bestellt, der Whiskey floss, und der alte Mann fühlte sich pudelwohl. »Komisches Anwesen, das Sie hier haben. Dermots Neffe hat uns von diesem großen Haus erzählt.« »Huntley Hall? Ich weiß alles über dieses Haus.« »Ja, das hat er uns auch erzählt«, fügte Kelly hinzu. »Er ist auf dem Weg hierher daran vorbeigefahren. HuntlesHall-Institution. Die haben das Anwesen aber super abgesichert. Na ja, so hohe Mauern haben viele der Anwesen, auf denen wir arbeiten, aber dieser elektronische Zaun oben auf der Mauer ist schon eine ganz andere Geschichte.« Tod verschwand an die Bar und ließ sich noch drei große Whiskys geben. Anschließend stellte er die drei Gläser auf den Tisch und schob eines davon zu Laker hin, der gierig danach griff. »In dem Fall ist das auch nötig, verstehen Sie, wenn die dort Leute beherbergen. Sind alle irgendwie krank in der Birne, heißt es. Ja, ja, es ist nicht mehr so wie damals zu Lord Favershams Zeiten. Das habe ich auch Ihrem Neffen erzählt, dass das damals ein echtes Paradies für Wilderer war.« »Aber das ist jetzt vorbei, oder?«, fragte Tod. »Zumal 272
man ja gar nicht mehr auf das Grundstück kommt. Denn über diese Mauer kann man sicher nicht klettern.« »Ach, ich weiß nicht. Es gibt solche Wege, und andere. Man muss ja nicht unbedingt über eine Mauer klettern.« »Da haben Sie Recht«, bestärkte ihn Tod. »Man kann schließlich auch drunter durchkriechen, denke ich mal.« »Das habe ich nicht gesagt, nie«, wehrte Laker ab und akzeptierte das nächste Glas, das Tod ihm hinschob. »Nein, das glaube ich einfach nicht«, sagte Kelly. »Es gibt ganz sicher keine Möglichkeit, auf ein so gut gesichertes Grundstück zu gelangen.« »Ach, da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Laker, der mittlerweile betrunken und ein wenig streitsüchtig war. »Tut mir Leid, aber mir kommt das nicht sehr wahrscheinlich vor«, meinte Tod. »Ich würde sogar wetten, dass man da unmöglich reinkommt.« Der Köder war ausgelegt, und Laker schnappte prompt danach. »Okay, legen Sie Ihr Geld auf den Tisch, dann zeige ich es Ihnen.« »Abgemacht.« Kelly zog seine Brieftasche hervor und legte zwei 50-Pfundnoten auf den Tisch. »Bitte sehr. Hundert darauf, dass Sie uns verkohlen.« Lakers Augen glitzerten gierig, als er nach den Geldscheinen greifen wollte, doch Kelly hielt seine Hand fest. »Oh, nein, mein Lieber. Sie müssen uns schon das Gegenteil beweisen, wenn Sie die Scheinchen wollen.« »Das werde ich, verdammt noch mal.« Laker griff nach seinem Glas, kippte den Rest Whiskey hinunter und stand auf. »Na, dann kommt mal mit. Ihr werdet schon sehen, 273
dass ich Recht habe.« Mit drei Schritten war er an der Tür. Er ging voraus die Hauptstraße entlang, die aus dem Dorf herausführte, und nach knapp fünf Minuten Fußmarsch bog er links auf einen Waldweg ab. Hier war es ganz still; man hörte nur die Vögel zwitschern oder auffliegen. Trotzdem er einiges getrunken hatte, stand Laker überraschend sicher auf seinen Beinen. »Das ist der Hexenwald. Fragen Sie mich nicht warum, aber er heißt schon immer so. Wenn man zwischen den Bäumen durchschauen könnte, würde man ungefähr fünfzig Meter links von hier die Hauptstraße sehen und das Huntley-HallAnwesen auf der anderen Seite.« »Wie groß ist denn das Grundstück?«, fragte Tod, als sie dem Weg weiter folgten. »Ach, das ist ein riesiges Stück Land. Lord Ashley Faversham hat auf Barbados mit Zucker ein Vermögen gemacht und ist dann in seine Heimat zurückgekehrt, um den Familienbesitz wieder in Schuss zu bringen. Aber da gab es ein Problem. Dort drüben am anderen Ende des Waldes verlief ein Fluss, der immer wieder über die Ufer trat. Heute existiert er nicht mehr. Wurde vor langer Zeit umgeleitet, um Wasser für ein Kanalprojekt zu liefern. Doch damals, als er immer wieder das Grundstück überflutete, ließ Faversham ein paar unterirdische Kanäle graben, um das Wasser ablaufen zu lassen.« »Und?« »Als der Fluss umgeleitet wurde, wurden sie verschlossen.« Tod ahnte bereits, worauf der alte Laker abzielte. Er 274
zog seine Zigaretten heraus und bot ihm eine an. »Aber einen haben sie dabei übersehen, stimmt’s?« Vor Schreck verschluckte Laker sich am Zigarettenrauch. »Woher wissen Sie das denn?« »Ach, ich habe da so einen Riecher«, erwiderte Tod. »Zeigen Sie uns doch diesen Kanal.« Sie spazierten weiter. »Seit wann wissen Sie von dem Kanal?«, fragte Kelly. »Seit meiner Kindheit«, antwortete Laker. »Mein Vater hat mir davon erzählt. Es war ein streng gehütetes Familiengeheimnis und ist es noch heute.« »Sie sind ein prima Kerl«, sagte Tod. »Aber jetzt wollen wir uns den Kanal mal anschauen.« Ein paar Minuten später verließ Laker den Weg, schlug sich links davon durch die Büsche, blieb stehen, bückte sich und tastete im Gras umher. Gleich darauf fand er den Griff und zog einen Eisenrost hoch. Die Öffnung war recht groß. »Ich werde vorausgehen«, verkündete er und stieg eine Eisenleiter hinunter. Unten roch es ein wenig feucht und modrig. Die Männer konnten in der Tunnelröhre beinahe aufrecht stehen. Laker knipste eine Taschenlampe an und forderte Tod und Kelly auf, ihm zu folgen. Nach ein paar Metern sahen sie Lichtstrahlen, die sich von oben durch die Dunkelheit bohrten. »Luftlöcher«, erklärte Laker. »Sie bedeuten, dass wir unter der Straße durch sind und in den Park kommen.« Wenig später ereichten sie das Ende der Kanalröhre. Dort fand sich ebenfalls eine Leiter, die wieder zu einem eisernen Gitter führte. Laker stieg als Erster die Leiter 275
hinauf, wuchtete das Gitter hoch und kletterte anschließend nach draußen. Die anderen folgten ihm. Der Ausstieg befand sich mitten im dichten Unterholz, von wo aus man zwischen den Blättern hindurch die Villa sehen konnte. »Oben auf dem Dach, über der Terrasse, sind Scheinwerfer angebracht. Und zwei Kameras rechts und links. Auch die gesamte Zufahrt wird von Kameras überwacht. Aber das wirkliche Problem sind die Mauern. Selbst wenn man es schaffen sollte, drüberzuklettern, erwartet einen auf der Innenseite im Abstand von etwa zwei Metern ein Laserstrahl. Der sollte die Sicherheit garantieren.« »Doch es gibt einen Tunnel, von dem sie nichts wissen«, wandte Tod ein. »Genau.« Sie schlichen weiter voran, blieben in der Deckung einiger Statuen stehen und spähten zur Terrasse hinüber. Und genau in diesem Augenblick gingen die Verandatüren auf, und heraus trat Selim, gefolgt von Ferguson. »Verdammt, das sind sie«, flüsterte Kelly. Als es im nächsten Moment zu regnen begann, meinte Laker: »Ich glaube, es wird Zeit, wieder zu verschwinden.« Damit machte er kehrt und marschierte zurück in das Dickicht. Kelly hielt Tod am Arm zurück, als dieser hinter Laker hermarschieren wollte. »Hast du gesehen, wer das war?« »Na klar.« »Verdammt, Tod, wenn wir eine Knarre dabeihätten, wäre es ganz einfach. Nicht nur Selim, sondern auch noch Ferguson!« 276
»Und so einfach wird es auch beim nächsten Mal sein«, beruhigte ihn Tod. »Wir kommen zurück, Kelly, alter Gauner, mach dir mal keine Sorgen.« Nun liefen sie hinter dem alten Laker her. Als sie wenig später wieder am Eingang auftauchten, war Laker bester Stimmung. »Hab ich’s nicht gesagt?«, frohlockte er ein ums andere Mal auf ihrem Weg zurück durch den Hexenwald. »Das sind hundert Möpse für mich.« »Sie haben absolut Recht gehabt, alter Junge«, pflichtete ihm Tod bei. »Ich war falsch gewickelt, und Sie hatten Recht. Ich hätte es ja nie geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.« Als sie den Campingplatz erreichten, meinte Tod: »Du schuldest dem Mann hundert Pfund, Dermot. Rück die Scheinchen raus, dann begießen wir unseren Ausflug mit einem anständigen Drink.« Sie stiegen in ihren Wohnwagen, Tod machte eine Flasche Scotch auf und schenkte drei Gläser ein. Kelly gab dem Mann zwei Fünfziger, und Tod reichte ihm einen Whiskey. »Ex und hopp, alter Freund. Den haben Sie sich wirklich verdient.« Laker war ziemlich betrunken und leerte das Glas mit einem Schluck. »Ja, das finde ich aber auch.« Tod schob ihm die Flasche hin. »Hier, die gehört Ihnen. Gehen Sie heim, und legen Sie sich ein bisschen hin. Wir sehen uns später noch.« Die Flasche an die Brust gedrückt, schwankte der alte 277
Mann aus dem Wohnwagen und hinüber zu seinem Bungalow hinter der Garage. »So sieht ein glücklicher Mann aus«, grinste Kelly und machte die Tür zu. Draußen regnete es in Strömen. »Und, was meinst du?« »Dass wir später noch einmal in diesen Hexenwald gehen«, antwortete Tod. »Mal sehen, ob uns das Glück hold ist. Nur diesmal nehmen wir auf alle Fälle eine Waffe mit.« Kelly grinste wieder. »Weißt du, tief in meinem Inneren spüre ich, dass es diesmal klappen wird. Ich glaube sogar, wir könnten Smith anrufen, dass er heute Abend rüberkommt.« »Und was wird aus Fahy und Regan?« »Wir könnten sie anrufen, ihnen sagen, die Londoner Geschichte ruhen zu lassen und sich einen Flieger nach Dublin zu besorgen.« Kelly packte Tod am Arm. »Herrgott noch mal, Tod, Ashimov wollte Selim, und jetzt bekommt er ihn serviert und Ferguson noch als Draufgabe! Zum Teufel mit den anderen, auch mit Dillon. Besser kann man seinen Job nicht machen.« »Da muss ich dir Recht geben, Dermot. Aber wir werden sehen. Wir können Regan und Fahy nicht einfach so im Regen stehen lassen.« »Scheiß auf die«, rief Kelly ungehalten. »Wenn sie nicht für sich selbst sorgen können, ist das ihr Problem. Komm, wir trinken noch einen und überlegen dabei, wann wir uns noch einmal auf den Weg machen.«
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Nach einem üppigen Mittagessen und mehr als nur einem Gläschen zur Verdauung, vertraten sich Fahy und Regan ein wenig die Beine. Als es schließlich zu regnen begann, sagte Regan zu Fahy: »Und, was jetzt? Zurück nach China Wharf?« »Vergiss es«, meinte Fahy. »Wir schauen uns noch einmal bei diesem Roper um. Ich bin es leid, nur herumzuhängen und Däumchen zu drehen. Wer weiß, vielleicht tut sich ja was.« »Okay, ich bin dabei. Sollen wir zuerst Dermot und Tod Bescheid sagen?« »Damit wir uns wieder einen Anschiss einhandeln?« »Stimmt auch wieder. Also, dann mal los.« Regan trat an die Bordsteinkante und winkte einem Taxi. Zur selben Zeit saß Roper am Regency Square immer noch vor seinen Computermonitoren, als sein Handy klingelte. »Ich bin’s, Sean. Wie geht’s?« »Ich bin müde, überanstrengt und hocke schon seit einer Ewigkeit vor diesem verfluchten Kasten. Ich brauche eine Pause«, stöhnte Roper. »Wie wär’s, wenn ich vorbeikomme, und wir gehen zusammen auf ein Bier?« »Das hört sich gut an.« Roper, der sich sofort ein wenig besser fühlte, angelte in seiner Hosentasche nach einem Päckchen Zigaretten und musste feststellen, dass die Packung leer war. Er fluchte genervt. Nach seinen schrecklichen Verletzungen hatten ihn eine ganze Menge Drogen am Leben erhalten, und Tabak war seine Hauptstütze geworden. So ging es 279
vielen Soldaten in seiner Situation, und die Sucht hatte ihn fest im Griff. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich an der Ecke Zigaretten zu holen. Er rollte zur Haustür, öffnete sie und merkte erst jetzt, dass es regnete. Missmutig nahm er den Schirm aus dem Schirmständer in der Halle, drückte einen der Knöpfe an seinem Rollstuhl, der die Tür elektronisch hinter ihm schloss, fuhr die Rampe hinunter auf den Gehsteig und spannte den Schirm auf. Ihm war, als segelte er, seltsam erfrischt, den Bürgersteig entlang zu dem kleinen Laden an der Ecke, wo Mr. Khan eigens für ihn vor einer der beiden Türen eine Rampe hatte installieren lassen, um ihm seine Einkäufe zu erleichtern. Mr. Khan, ein großer, bärtiger Araber mit einem breiten Lächeln und einem ausgeprägten Cockney-Akzent, begrüßte Roper herzlich. »Was ist Ihnen denn heute ausgegangen, Major?« »Zigaretten«, sagte Roper. »Die alten Sargnägel. Ich nehme gleich eine ganze Stange.« »Vielleicht sollten Sie versuchen, das Rauchen sein zu lassen«, schlug Khan vor, während er die Zigaretten aus dem Regal zog und Ropers Geld entgegennahm. »Um länger zu leben, meinen Sie, in meinem Zustand?« Roper verstaute die Stange Zigaretten in einer Seitentasche des Rollstuhls. »Das bringt doch nichts.« Khan lächelte unverdrossen weiter, denn er mochte Roper irgendwie. »Aber, aber, Major, so trübselig zu sein, das sieht Ihnen gar nicht ähnlich.« »Da haben Sie Recht. Ab jetzt werde ich den Herrn Fröhlich mimen.« 280
Während er mit seinem Rollstuhl umdrehte, fiel Khan ein: »Ach, heute Vormittag war ein Mann hier, der mich fragte, ob ich wüsste, wo Sie wohnen.« »Tatsächlich?« »So ein irischer Kauz. Ulster, würde ich sagen, wissen Sie, was ich meine? Die haben irgendwie einen besonderen Akzent, nicht wahr?« Roper, seit zwanzig Jahren Veteran der irischen Auseinandersetzungen und damals der beste Bombenentschärfer, gefror das Lächeln im Gesicht. »Das stimmt, ja. Was wollte er denn von mir?« »Hat er nicht gesagt. Wollte nur wissen, ob ich Sie kenne. Das Komische ist nur, dass ich ihn vor nicht allzu langer Zeit schon einmal hier mit einem anderen Mann gesehen habe. Und der klang, als käme er aus der gleichen Ecke.« »Danke«, sagte Roper. »Ich werde die Augen offen halten.« Er rollte hinaus auf den Gehsteig, spannte seinen Schirm auf und holte ein Handy aus der Jackentasche, um Dillon anzurufen. »Wo bist du?« »Schon auf dem Weg zu dir, in einem Taxi. Lausiger Verkehr.« »Ich wollte dir nur sagen, dass ich ein Problem haben könnte. Mein freundlicher Ladenbesitzer hier an der Ecke Mr. Khan, du kennst ihn, hat mir gerade erzählt, dass man sich nach mir erkundigt hat.« »Und wer soll das gewesen sein?« »Zwei Männer, nordirischer Akzent. Ich habe da einige Spuren hinterlassen, Sean.« »Wo bist du jetzt?« 281
»Draußen auf der Straße, auf dem Heimweg.« »Bleib ganz ruhig und geh hinein. Ich werde in zehn Minuten bei dir sein. Bist du bewaffnet?« »Natürlich.« »Guter Mann.« Roper beendete das Gespräch und rollte den Gehsteig entlang. Regan und Fahy, die sich auf der anderen Straßenseite untergestellt hatten, sahen ihn kommen. »Roper höchstpersönlich«, stellte Fahy fest. »Was machen wir jetzt?« Regan hatte den Finger bereits am Abzug der Browning, die in der Tasche seines Regenmantels steckte. »Warten«, sagte Fahy. »Nicht hier draußen mitten auf der Straße. Wenn er vor seiner Haustür ankommt, dann laufen wir über die Straße und helfen ihm hinein.« Roper absolvierte sein Manöver, brachte den Rollstuhl in Position, öffnete elektronisch die Haustür und rollte dann die Rampe hinauf. Im gleichen Moment rannten Fahy und Regan über die Straße, und Fahy packte die Griffe des Rollstuhls. »Lassen Sie sich helfen, Major«, sagte er und schob Roper in die Diele. Regan schloss die Haustür. »Und jetzt unterhalten wir uns ein bisschen, Major«, sagte er und schob Roper ins Wohnzimmer neben seine Computer-Terminals. Roper saß ganz ruhig da, schaute die beiden ohne die geringste Angst an. »Sollen wir Dermot und Tod anrufen, Brendan?«, fragte Regan. 282
»Sei nicht albern«, fuhr ihn Fahy an. »Als Nächstes willst du wahrscheinlich auch noch Ashimov anrufen. Das hier ist unsere Angelegenheit.« »Dermot und Tod? Respektive Kelly und Murphy«, stellte Roper lakonisch fest. »Was bedeutet, dass ihr beiden Idioten Regan und Fahy sein müsst.« »Und woher wollen Sie das wissen?«, fragte Regan scharf. »Weil ihr breit seid und blöd. Glaubt ihr etwa, wir wissen nicht alles über euch? Ihr arbeitet für Ashimov, was weiterhin bedeutet, dass ihr für Josef Belov arbeitet. Wo hält sich Belov im Augenblick auf? In Drumore Place? Und weiß er, wo ihr euch rumtreibt?« »Sie halten sich wohl für superschlau, wie?«, schnauzte Fahy. »Auf alle Fälle zu schlau für unseren Geschmack und Ihr Wohlergehen. Dagegen müssen wir etwas unternehmen.« Mit einem fiesen Grinsen zog er die Browning aus der Tasche.
13.
Zur selben Zeit pirschten sich Kelly und Tod durch den Hexenwald und blieben in dem dichten Unterholz vor dem Eisenrost stehen. Beide hatten sie Anoraks mit Kapuzen angezogen, denn es regnete immer noch. Dermot hatte von ihrem Wohnwagen aus Smith angerufen und ihn beauftragt, umgehend nach Dunkley zu fliegen, um sie später abzuholen. Smith hatte seinen Unmut nicht verhehlen können, doch sich daran erinnert, was ihm eine Weigerung einbrächte. Kelly und Tod steckten sich eine Zigarette an. »Okay, da wären wir«, verkündete Tod gut gelaunt. »Jetzt brauchen wir nur noch etwas Glück.« »Ja, Glück ist immer gut.« »Apropos, was wird mit Fahy und Regan, oder Ashimov?« »Später«, sagte Kelly. »Wenn wir gute Nachrichten haben. Jetzt machen wir uns erst mal an die Arbeit.« Er hievte den eisernen Rost hoch und stieg die Leiter hinab. Tod warf Kelly die Tasche mit den Waffen zu und folgte ihm anschließend. Am Ende des unterirdischen Kanals angelangt, packten sie die Waffentasche aus. Tod reichte Kelly ein Sturmgewehr mit Schalldämpfer und bewaffnete sich selbst ebenfalls mit einem AK. Dann stieg Kelly, gefolgt von Tod die Leiter hinauf, wuchtete den eisernen Rost hoch und kletterte ins Freie. Wie beim ersten Mal liefen sie geduckt 284
durchs Unterholz und verbargen sich dabei hinter den römischen Statuen. Bis auf das gelegentliche Zwitschern eines Vogels und das ständige leise Rauschen des Regens war alles still. »Kommt schon«, flüsterte Kelly. »Macht uns die Freude.« »Unter Umständen kann es lange dauern, bis uns diese Freude beschert wird«, murmelte Tod. Ferguson und Selim saßen nach einem anstrengenden Gespräch im Salon und tranken Tee. Dalton und Miller standen wie immer wachsam dabei, während sich die beiden Männer unterhielten. »Machen Sie doch bitte die Verandatüren auf, Staff Sergeant«, bat Ferguson Dalton. »Ein bisschen frische Luft wird uns gut tun.« »Gerne, Sir.« Dalton drückte auf den entsprechenden Knopf, worauf sich die Türflügel geräuschlos öffneten. »Hm, ich liebe den Geruch von Regen auf dem Lande«, bemerkte Selim. »Und das Geräusch der Regentropfen auf den Blättern.« »Ich weiß, was Sie meinen«, erwiderte Ferguson und zögerte kurz. »Ich glaube, Doktor, Sie lieben Ihr Heimatland wirklich von ganzem Herzen. Bedauern Sie es, in London geboren zu sein?« »Aber nein, ich liebe diese verfluchte Stadt.« Lachend erhob er sich. »Mir fällt gerade ein, was Mr. Dillon neulich zu mir sagte. Dass ich nicht vergessen sollte, dass es in London überall Moscheen gäbe.« Er trat an die offene Terrassentür, und Ferguson gesellte sich zu ihm. »Woran haben Sie gerade gedacht?« 285
»Da gibt es eine Passage im Koran, General, darin heißt es: Ein Schwert ist wert zehntausend Worte. Vielleicht habe ich daran gedacht.« In diesem Augenblick schoss Kelly ihm genau zwischen die Augen, und die austretende Kugel zertrümmerte ihm den Hinterkopf. Als Selims Körper zurückgeworfen wurde, beugte sich der General ein wenig zur Seite, um ihn aufzufangen, sodass Tod Murphys Schuss danebentraf und Ferguson nur an der linken Schulter streifte. Er stürzte zu Boden, während Dalton und Miller an ihm vorbei auf die Terrasse stürmten, jeder eine Beretta zog und damit blindlings ins Gebüsch feuerte. Kelly und Tod hatten jedoch bereits wieder den Rückweg angetreten, bahnten sich ihren Weg durchs Unterholz und verschwanden im Kanal. »Ich habe ihn erledigt«, sagte Kelly stolz. »Genau zwischen die Augen habe ich ihn getroffen.« Eilig verstauten sie die Waffen in der Tasche und rannten durch die Tunnelröhre zurück. »Aber Ferguson lebt«, erwiderte Tod. »Ich habe ihn getroffen, das steht fest, aber er hat sich in letzter Sekunde bewegt. Ich glaube, die Kugel hat ihn nur an der Schulter gestreift.« »Und wenn schon, wir haben großartige Arbeit geleistet, daran gibt’s nichts zu rütteln«, freute sich Kelly. »Aber jetzt erst mal weg hier. Und dann nichts wie ab nach Dunkley und in unsere Navajo. Wir haben uns bei unseren russischen Freunden eine Sonderzulage verdient. Belov wird uns mit Goldstücken aufwiegen.« Eine Viertelstunde später waren sie wieder im Dorf, packten ihre Sachen zusammen und verstauten alles im Ford 286
Transit. Tod ging zu dem Kassenhäuschen neben den Zapfsäulen und traf dort Betty an. Er zückte seine Brieftasche. »Wir müssen leider wieder fahren. Wir werden dringend in London gebraucht.« »Das ist aber schade«, sagte sie. »Was bin ich Ihnen schuldig?« Sie nannte ihm den Preis, und er bezahlte. »Die Gegend hier ist wirklich ein Traum. Wir kommen bestimmt wieder.« Er stieg in den Transit, setzte sich hinters Steuer und fuhr los. Kelly neben ihm war bester Stimmung, setzte eine Flasche Whiskey an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. »Zum Teufel auch, wir haben es geschafft.« Er zog sein Handy aus der Tasche. »Jetzt rufe ich Fahy an und sage ihm, dass er und Regan die Sache abblasen sollen.« Er tippte die Nummer ein und sagte, als die Verbindung zustande kam: »Brandon, hier ist Dermot.« »Hier spricht aber nicht Brandon, sondern Dillon. Na, was sagst du jetzt, Dermot?« In Ropers Wohnung liefen die Dinge, nachdem Fahy seine Browning gezogen hatte, nicht so, wie er und Regan es erwartet hatten. Die Waffe schien Roper überhaupt nicht zu beeindrucken, er blieb unglaublich ruhig. »Was soll das denn werden, eine schnelle Exekution im IRA-Stil? Sie, meine lieben Gentlemen, haben schon etliche Male versucht, mich zu erschießen oder in die Luft zu jagen, doch ich bin immer noch am Leben. Und brauche jetzt eine Zigarette.« Er zog die Stange Zigaretten aus der Seitentasche seines 287
Rollstuhls, machte sie auf, holte eine Schachtel heraus, öffnete diese und klopfte eine Zigarette heraus. »Hat einer der Herrschaften vielleicht Feuer für mich?«, fragte er und schob die Schachtel wieder in die Seitentasche. Doch als seine Hand diesmal wieder zum Vorschein kam, hielt sie eine Walther, die Roper blitzschnell gegen Fahys Kniescheibe presste und abdrückte. Fahy stieß einen Schrei aus, stürzte und ließ seine Browning fallen. Im gleichen Moment dröhnte Dillons Stimme aus der Türsprechanlage. »Roper, ich bin da!« Regan, der über dem wimmernden Fahy stand, drehte verwirrt den Kopf. Roper rief zurück: »Sie sind hier, Sean. Einer am Boden, der andere demnächst auch.« Dann drückte er auf den elektronischen Türöffner und richtete seine Walther auf Regan, der sich duckte und, durch den Flur rennend, das Weite suchte. Dillon stürzte, mit der Pistole in der Hand, ins Wohnzimmer, wo er Fahy stöhnend auf dem Boden und Roper über ihn gebeugt vorfand. »Der andere war Regan, Sean, aber der hat sich durch die Küche davongemacht.« »Ruf Rosedene an«, sagte Dillon. »Die sollen einen Notarztwagen herschicken. Bin gleich zurück.« Dillon lief hinaus auf die Straße und sah Regan den Gehweg entlanglaufen. Als dieser sich umdrehte und Dillon sah, fing er an zu rennen. Dillon rannte ihm hinterher, an dem Eckladen vorbei. Regan lief weiter geradeaus, schubste ein paar Passanten aus dem Weg, dann quer über die Hauptstraße, gerade als ein roter Londoner Doppeldeckerbus des Wegs kam und ihn in die Luft schleuderte. 288
Der Verkehr kam sofort zum Stehen, Leute drängten sich um den Unglücksort, und der Busfahrer stieg aus. Ein Polizeiwagen scherte aus dem Gegenverkehr aus, wendete und hielt neben dem Bus an. Dillon blieb stehen, sah zu, wie sich einer der Polizisten neben Regan auf die Straße kniete, ihn kurz untersuchte und dann den Kopf schüttelte. »Er ist tot.« Der Fahrer machte ein erschrockenes Gesicht. »Das war aber nicht meine Schuld.« Mehr als einer der Passanten riefen daraufhin aus: »Das stimmt. Der Mann ist ohne zu schauen mitten auf die Straße gestürmt.« Dillon wandte sich unauffällig ab und eilte in Ropers Wohnung zurück. Dort hielt Roper den wimmernden Fahy mit seiner Walther in Schach, der sich mit beiden Händen das Knie hielt und vor Schmerzen stöhnte. Dillon ging in die Küche und kam mit ein paar Geschirrtüchern zurück, die er ganz fest um Fahys blutendes Knie wickelte. »Du warst schon immer ein mieser kleiner Trottel, Brendan, also hör auf zu jammern und spitz die Ohren. Wir haben eine Privatklinik an der Hand, die Rosedene heißt. Die Ärzte sind auf dem Weg hierher, du wirst also nicht verbluten. Aber Rosedene ist kein öffentliches Spital, sondern eine Hochsicherheitsklinik. Du unterstehst ab jetzt Ferguson, ist dir das klar?« »Ja«, stöhnte Fahy. »Wenn du dich gesprächsbereit zeigst, könntest du dir den Knast ersparen. Verstehst du das auch?« »Ja.« 289
»Gut, dann erzähl mir die ganze Geschichte von Anfang an, und das bitte schnell, sonst muss ich dir noch eine Kugel ins andere Knie jagen.« Und Fahy erzählte. Plauderte alles aus. Und gerade als er zum Ende kam, klingelte das Handy in seiner Jackentasche. »Brandon, hier ist Dermot.« »Aber hier spricht nicht Brandon, sondern Dillon. Na, was sagst du jetzt, Dermot? Regan ist tot, und Fahy geht es ziemlich dreckig. Außerdem hat er gezwitschert wie ein Vögelchen. Ich weiß alles.« »Einen Scheißdreck weißt du!«, schnauzte Kelly wütend. »Wir haben Selim und Ferguson erwischt. Ich wette, das weißt du noch nicht. Heute war ein erfolgreicher Tag für uns, Sean. Scher dich zum Teufel.« Er drückte die rote Taste und sagte zu Tod: »Halt dich fest.« »Was ist denn passiert?«, wollte Tod wissen. Kelly erzählte es ihm. »Und was jetzt?« »Jetzt sehen wir zu, dass wir schleunigst nach Dunkley kommen und die Kurve kratzen.« »Vorausgesetzt, Smith ist da.« »Er wird da sein«, gab Kelly grimmig zurück. »Er würde es nicht wagen, uns hier sitzen zu lassen.« »Du solltest Ashimov Bescheid sagen.« »Ja, denke ich auch. Von mir aus kann er zwar gern in der Hölle verschimmeln, aber da ist leider noch Belov. Und der hat einen langen Arm.«
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Nach einem ausgedehnten Essen im Ivy hatten Ashimov und Greta entschieden, noch einen Drink im Old Red Lion in der Farley Street zu nehmen. Sie saßen in einer Nische vor dem Kamin, als Ashimovs Telefon klingelte. Die beiden amüsierten sich gerade über einen Scherz, und Ashimov lachte noch, als er sich meldete: »Ashimov.« Doch das Lachen verging ihm schnell, und sein Gesicht legte sich in düstere Falten. »Und das war’s? Ihr seid nicht einmal sicher, ob es Ferguson erwischt hat? Und Fahy hat geredet wie ein Wasserfall?« »Verdammt, wir haben immerhin Selim für euch erledigt. Er war schließlich die Hauptperson. Und Ferguson ist verletzt, das kann ich beschwören.« »Und jetzt macht ihr euch vom Acker?« »Wir fliegen, und wenn Sie vernünftig sind, tun Sie das Gleiche. Wir sehen uns in Drumore.« »Oh, ja, ihr seht mich in Drumore, darauf könnt ihr euch verlassen.« »Jetzt bleiben Sie mal auf dem Teppich, Ashimov. Drumore ist meine Domäne. Sie brauchen mich, und Sie brauchen meine Freunde. Seit dem Friedensprozess ist es den Briten nicht gelungen, in der Irischen Republik Hand an uns zu legen. Und Sie tun gut, das nicht zu vergessen. Sie brauchen uns!« Er beendete das Gespräch, und Greta fragte sofort: »Was ist denn passiert, um Gottes willen?« Er setzte sie ins Bild, und als er geendet hatte, meinte sie: »Es könnte nicht gut für uns aussehen, richtig?« »Möglich. Was meinst du wohl, wie Belov reagieren wird? Vor allem, wenn er erfährt, dass Fahy diesem Dillon 291
seine ganze Lebensgeschichte erzählt hat? Meine Karriere, meine Beziehung zu Belov, da steht einiges auf dem Spiel.« Wütend tippte er eine Nummer in sein Handy. »Archbury? Verbinden Sie mich mit Captain Kelso.« »Fliegst du?«, fragte sie. »Ich glaube, es wäre klug, wenn wir beide das Feld räumen.« Kelsos Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Ich bin es«, sagte Ashimov. »Ich habe Major Novikova bei mir. In fünfundvierzig Minuten sollten wir draußen sein. Ich erwarte, dass die Maschine bis dahin startklar ist. Ziel: Ballykelly.« »Und was machen wir mit Belov?«, wand sie ein. »Am besten bringen wir dieses Gespräch gleich hinter uns.« »Das denke ich auch.« Er wählte Belovs private Handynummer; Belov ging sofort dran. »Yuri, ich warte schon ungeduldig. Wie sieht es aus?« »Ich habe gute und schlechte Nachrichten.« Ashimov gab ihm einen knappen Bericht von den jüngsten Ereignissen. Dann folgte eine lange Pause, und schließlich brach Belov die Verbindung ohne ein weiteres Wort ab. Ashimov kochte innerlich vor Wut. »Fergusons Leute und sein ganzes Unternehmen haben mir seit Manhattan nur Ärger eingebracht, und dieser Dillon ist wie ein Stein in meinem Schuh. Die ganzen Jahre, in denen ich vor Belov gekrochen bin und seine Dreckarbeit erledigt habe, sind den Bach runter, alles umsonst. So was wie Nachsicht oder Anerkennung kennt dieser Mann nicht, Greta.« Er stand auf und zog sie unsanft am Arm. »Komm, wir gehen.« 292
»Zur Botschaft?« »Bestimmt nicht. Geradewegs nach Archbury. Ich gehe kein Risiko ein. Ich schaue nicht einmal mehr bei mir zu Hause vorbei.« In Huntley Hall hatte ein Sanitätsoffizier inzwischen Fergusons linke Schulter notversorgt. Die Kugel hatte den äußeren Schulterrand durchschlagen. »Ich fürchte, ich kann Ihnen einen Aufenthalt in Rosedene nicht ersparen, General«, sagte der junge Captain. »Ich habe Sie fürs Erste nach allen Regeln der Kunst versorgt, aber zum einen wäre eine Ultraschallaufnahme nötig, und zum anderen ist Professor Henry Bellamy ein Künstler, was die Feinarbeiten an Wunden betrifft. Und so einen brauchen Sie. Diese Sturmgewehre hinterlassen hässliche Wunden.« »Sprechen Sie aus Erfahrung, Wilson?« »Sechs Monate Irak, Sir. Die zweite Injektion, die ich Ihnen gegeben habe, wird Sie schmerzfrei nach London bringen, aber Sie müssen den Arm in der Schlinge ruhig halten. Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Anziehen.« Während er Ferguson ins Jackett half, erkundigte sich dieser: »Und, Dr. Selim?« »Eingepackt und wartet auf den Abtransport, General.« »Lassen Sie ihn ins North-London-Krematorium bringen. Dort haben sie neue Brennöfen, die kaum mehr als eine Stunde brauchen. Übrig bleiben dann nur noch sechs Pfund graue Asche. Ach, sagen Sie, gefällt es Ihnen nach dem Irak hier in meiner Abteilung, mit all den Dienstgeheimnissen und so?« 293
»Aber selbstverständlich, Sir. Hier ist es sehr viel interessanter.« »Solange Sie die Wichtigkeit unserer Arbeit anerkennen. Wir führen hier auch Krieg, Captain.« Er ging hinaus in die Diele, wo er auf Dalton und Miller traf. Dalton berichtete, dass Dr. Selims Leiche soeben abgeholt worden war. »Gut, dann können wir nach London zurückfahren.« Von der Rückbank des Land Rover aus rief er Dillon an, der in seinem Mini zurück zu Ropers Wohnung gefahren war. Sie hatten schon vorher miteinander telefoniert, als Dillon nach Kellys Behauptung, neben Selim auch Ferguson erwischt zu haben, sofort in Huntley Hall angerufen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war der General gerade ärztlich versorgt worden, weshalb die beiden Männer nicht viel an Informationen austauschen konnten. »Bitte, erzählen Sie mir alles, Sean, damit ich mir ein Bild machen kann.« Das tat Dillon, und Ferguson bemerkte, als dieser zum Ende gekommen war: »Du meine Güte, Ashimov wird eine Menge Fragen beantworten müssen.« »Alles geschah auf Belovs Befehl, mithilfe seines Einflusses und seiner finanziellen Mittel. Roper vermutet, dass Belov sich auf Drumore aufhält.« »Ein interessantes Muster. Er wollte nicht nur Selim für immer ausgeschaltet wissen, sondern auch uns – mich, Sie, Major Roper. Ja sogar die Salters.« »Nun ja, schließlich haben wir dieses Attentat auf Präsident Cazalet vereitelt, und dann Bagdad nicht zu verges294
sen. Ein paar andere Dinge eingeschlossen, glaube ich mit Fug und Recht behaupten zu können, dass wir Belov einige große Deals vermasselt haben.« »Superintendent Bernstein ist anscheinend die Einzige, die seinem Zorn entkommen ist. Haben Sie ihr erzählt, was passiert ist?« »Dazu hatte ich noch keine Gelegenheit. Roper und ich haben mehrmals versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber ohne Erfolg.« »Was zum Teufel geht da vor?« »Kein Grund zur Sorge, General. Ich habe mich zu ihrem Großvater durchtelefoniert, und der hat mir erzählt, dass sie heute Nachmittag zu der Hochzeit einer alten Freundin in Windsor gefahren ist. Und auf derartigen Festen schaltet man sein Handy gewöhnlich ab.« »Hm, probieren Sie es trotzdem weiter. Ashimov treibt sich noch immer irgendwo da draußen herum.« Der Himmel über Dunkley war bleigrau, es regnete und war neblig, und Smith schwitzte und fluchte gleichzeitig, dass er dieses Risiko eingegangen war. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte er diesen Job strikt abgelehnt, doch er wusste nur zu gut, was Kellys Leute ihm zu Hause antun würden, falls er Mist baute. Kelly und Tod warteten im Transit am Rand der Rollbahn und lauschten dem Motorengeräusch der Navajo, die bereits zum zweiten Mal zur Landung ansetzte. »Dieser Mistkerl«, fluchte Kelly, als das Geräusch sich abermals entfernte. »Der haut ab.« »Gib ihm eine Chance, Dermot. Das Wetter ist wirk295
lich mehr als mies. Oder willst du, dass er einen Crash baut?« Kurz darauf hörten sie die Motoren wieder, und auf der Höhe des Kontrollturms drückte Smith die Navajo nach unten, tauchte mit einem mulmigen Gefühl im Bauch in die graue, scheinbar undurchdringliche Nebelsuppe ein, konnte in Höhe von vierhundert Fuß endlich die Landebahn erkennen und setzte die Navajo auf. Es war eine der schlechtesten Landungen, die er in seiner Laufbahn hingelegt hatte, aber immerhin hatte er den Vogel heil auf den Boden gebracht. Er rollte bis ans Ende der Landebahn und wendete die Maschine. Tod kam ihm mit dem Transit entgegengefahren. Als er und Kelly aus dem Wagen stiegen, verließ Smith seinen Platz im Cockpit, um die Tür zu öffnen. Kelly kam als Erster die Treppe hoch. »Du Arsch, was sollte das denn werden? Wolltest du uns ein bisschen auf die Folter spannen?« Tod, der hinter ihm ging, half Smith mit der Tür und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Gut gemacht.« »Hat mich auch nur zehn Jahre meines Lebens gekostet, Tod. So was mache ich nie wieder. Mir reicht’s. Du kannst dein Geld in Zukunft behalten.« Mit diesen Worten ging er zurück ins Cockpit, fuhr die Triebwerke hoch, jagte die Maschine über die Rollbahn und zog sie wieder hinauf in den bleiernen Nebel. Währenddessen setzte sich Tod auf den Sitz gegenüber von Kelly und schnallte sich an. Kelly hielt eine Flasche Whiskey in der Hand und nahm einen Schluck. Dann rief er 296
laut lachend: »Hurra, wir haben es geschafft! Wir haben es geschafft und sind schon wieder auf dem Heimweg.« »Letzteres haben wir Smith zu verdanken.« »Dafür wird er doch bezahlt, oder nicht?« Er reichte Dermot die Flasche. »Da, trink einen Schluck.« »Bestimmt nicht.« Tod zündete sich eine Zigarette an. »Ich brauche einen klaren Kopf für Drumore. Für solche Wenigkeiten wie Ashimov und Belov.« »Mit denen werde ich schon fertig, Tod. Mit Ashimov kann ich umgehen. Wir haben schon Schlimmeres als diese beiden Gestalten überlebt. Die brauchen uns mehr als wir sie.« Wieder hob er die Flasche. »Auf die IRA.« »Ja, auf die IRA.« Nach der Hochzeitsfeier hatte Hannah einen Pendlerzug von Windsor zurück nach London genommen. Es war noch früh am Abend, die Dunkelheit brach gerade an, als sie Kings Cross erreichte und feststellen musste, das vor dem Taxistand eine endlose Schlange wartete. Sie überlegte kurz, ob sie sich in die Schlange einreihen oder lieber den Bus nehmen sollte, entschied sich für den Bus und ging vor zur Straße. Als sie wenig später oben in einem Doppeldeckerbus Platz gefunden hatte, läutete ihr Handy. Es war Dillon. »Mensch, Frau, ich versuche seit Stunden dich zu erreichen.« »Ich war auf einer Hochzeit.« »Klasse! Während du dich amüsierst und Champagner schlürfst, bricht hier alles zusammen. Hör zu.« Als er mit seinem Bericht am Ende angekommen war, 297
bekam Hannah es wirklich mit der Angst zu tun. »Und, was passiert jetzt?« »Selim befindet sich bereits auf dem Weg in die Vergessenheit, Ferguson hingegen auf dem Weg nach Rosedene, wo ihn Henry Bellamy unter seine Fittiche nehmen wird. Kelly und Tod Murphy? Wenn ich mich nicht irre, würde ich sagen, sie haben sich von Dunkley direkt nach Louth abgesetzt.« »Und Ashimov?« »Roper weiß, dass gestern eine Falcon der Firma Belov International in Ballykelly gelandet ist und immer noch dort steht. Demnach müsste Belov in Drumore Place zu finden sein. Aber über Ashimovs Verbleib wissen wir nichts. Und wo bist du gerade?« »Ich sitze oben in einem Neuner-Bus und fahre nach Hause.« »Hör zu, Hannah, dieser Kerl fährt die persönliche Schiene. Er will uns alle, das gesamte Team, sogar die Salters, und wir haben keine Ahnung, wo er sich rumtreibt. Du fährst jetzt auf direktem Weg nach Hause. Ich komme und hole dich ab. Pass auf dich auf.« Ashimov hatte sich hinters Steuer von Gretas Opel gesetzt und fuhr zu ihrem Entsetzen wie ein Berserker durch den abendlichen Verkehr. »Um Himmels willen, Yuri, pass auf!« Er kochte noch immer vor Wut. »Ich habe mein Leben lang aufgepasst und bin, wie du siehst, noch nicht tot.« Die hässliche Narbe in seinem Gesicht schien anzuschwellen. »Ich bin ein Profi im Überleben, vergiss das 298
nicht«, setzte er hinzu, während er hinter einem Lastwagen ausscherte und das Gaspedal durchtrat. An der Haltestelle Millbank stieg Hannah aus und machte sich auf den Weg Richtung Victoria Tower Gardens. An der Bordsteinkante blieb sie stehen, ließ den Verkehr vorbei und ging dann hinüber zur Lord North Street. Ashimov erkannte sie sofort, als sie direkt vor ihm die Straße überquerte. »Das ist diese Bernstein«, fauchte Ashimov, schaltete einen Gang runter und folgte ihr. Hannah bog in die Lord North Street ein und sah Dillons Mini vor ihrem Haus stehen. Dillon selbst wartete neben dem Eingang. Sie rief, winkte und rannte auf ihn zu, während Ashimov hinter ihr herfuhr. Dillon hatte sich umgedreht, war leicht zu erkennen. »Die kriege ich, ich kriege sie alle beide!«, rief Ashimov und fuhr direkt auf sie zu. Dillon sah sie, erkannte sie, und seine Lippen öffneten sich zu einem Warnschrei. Hannah drehte sich noch halb zu ihm um, aber ihr blieb keine Zeit. Schon drängte Ashimov sie auf den Gehsteig ab und rammte sie seitlich mit dem Kotflügel. Dillon hatte bereits seine Walther gezogen und feuerte auf den Opel. Der Wagen schleuderte, und die Kugel ging durchs Dach, als der Opel davonjagte. »Um Himmels willen, Yuri«, rief Greta Novikova abermals. »Halt einfach den Mund«, herrschte er sie an. »Wir müssen so schnell wie möglich zu diesem verdammten Flugplatz«, setzte er hinzu und gab Vollgas. 299
Hannah, die auf dem Gehsteig lag, versuchte sich am Geländer hochzuziehen, als Dillon zu ihr geeilt kam. »Du bist okay. Halte dich an mir fest.« Aber ihr lief das Blut übers Gesicht, und er hatte Angst. »Das war Ashimov, Sean, und diese Frau«, sagte sie, aber ihre Stimme schien wie aus weiter Ferne zu kommen. »Ich weiß. Tu einfach, was ich dir gesagt habe.« Er hievte sie auf den Beifahrersitz, setzte sich hinters Steuer, zog sein Handy heraus und rief Roper an. In kurzen Worten erklärte er ihm, was passiert war, und ließ den Mini an. »Ruf bitte in Rosedene an. Sag ihnen, dass wir auf dem Weg sind und Bellamy brauchen werden.« »In Ordnung, ich kümmere mich drum.« Dillon fuhr los, und Hannah lehnte sich stöhnend zurück. Komisch, er spürte keine glühende Wut in sich. Nein, wenn er überhaupt etwas spürte, dann eiskalte Raison und die Gewissheit, dass Ashimov dafür verantwortlich war.
LONDON IRLAND
14.
Nervös lief Dillon in der Rosedene Klinik den Flur auf und ab und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Rabbi Julian Bernstein saß am Fenster. »Sean, setzen Sie sich. Ihr hilft das nicht, und für Sie ist es auch nicht gut.« »Wenn irgendwas mit ihr schief geht« – Dillons Gesicht war eine starre Maske – »dann schwöre ich, dass ich –« »Gar nichts werden Sie tun. Sie und ich, wir beide warten ganz ruhig ab. Diese ›Die Rache ist mein‹-Geschichte bringt niemandem etwas.« »Was soll ich denn tun, auch noch die andere Wange hinhalten? Im Augenblick fühle ich mich dem Alten Testament sehr verbunden.« Sein Handy klingelte. Es war Roper. »Wie geht es ihr?« »Ich warte noch auf den Bericht der Ärzte. Was gibt es bei dir Neues?« »Ich habe einen zweiten Belov-Jet ausfindig gemacht, der vor einer halben Stunde von Archbury gestartet ist. Mit Ashimov und der Novikova an Bord.« »Verdammt«, entfuhr es Dillon. »Das ist ja wirklich ein starkes Stück. Dass sie mit ihm mitgeflogen ist, meine ich.« »Da ist noch etwas, was dir nicht passen könnte. Dieser Opel. Er gehört zum Fuhrpark der russischen Botschaft und wurde an eine gewisse Novikova ausgegeben.« »Gute Arbeit, Roper«, lobte Dillon. »Und weißt du auch, wo dieses Flugzeug hingeflogen ist?« 303
»Ballykelly. Belov International besitzt dort eine riesige Fabrik, zu der auch ein provisorischer Flugplatz gehört. Belov ist gestern dort angekommen. Was bedeutet, dass er sich bereits in Drumore Place aufhält.« »Was für eine Überraschung.« »Hocken sicher in der Republik Irland, wo ihnen niemand ans Leder kann.« »Das werde ich zu verhindern wissen.« »Nun, da wirst du dich aber sputen müssen, Sean. Die Flugsicherung von Dublin hat bereits die Startgenehmigung für Belovs Falcon für morgen früh zehn Uhr bestätigt. Ziel der Reise: Moskau.« In diesem Moment ging die Tür auf, und Ferguson, gestützt von Miller und Dalton, kam herein. Er war grau im Gesicht, und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Sie halfen ihm auf einen Stuhl. Ferguson drehte den Kopf zu Dalton um. »Seien Sie ein guter Junge und besorgen Sie uns eine Flasche Whiskey. Die haben hier doch immer welchen für medizinische Notfälle vorrätig.« Als Dalton gegangen war, sagte Dillon: »Sie sehen furchtbar aus.« »Ja, Schusswunden zeigen bei mir leider diesen Effekt. Aber machen Sie sich um mich keine Sorgen. Wie geht es unserer Superintendent?« »Bellamy behandelt sie gerade. Sie haben ein CT gemacht.« Ferguson wandte sich zu Rabbi Bernstein um. »Sie müssen das Leben, das Hannah führt, aus ganzer Seele hassen.« 304
Der alte Mann lächelte verbindlich. »Das ist das Leben, das sie gewählt hat, General. Genau das hat sie gewollt. Und Sie sehen in der Tat furchtbar aus. Mein Sohn ist gerade in Paris auf einem medizinischen Kongress, aber ich habe ihn angerufen, und er kommt umgehend zurück. Nein«, sagte er, als Ferguson zu einem Protest anhob. »Ich bestehe darauf. Er würde sich das sonst nie verzeihen. Und ich ebenso wenig.« Smith hatte die Navajo sicher in Doon gelandet, rollte langsam zum Hangar zurück und stellte die Motoren ab. Dann öffnete er die Tür und ließ Kelly und Tod aussteigen. Kelly klopfte ihm noch einmal auf die Schulter. »Gut gemacht. Ich bin stolz auf dich. Tod wird das Finanzielle mit dir regeln.« »Ich will nichts. Lasst mich einfach in Ruhe. Und bittet mich nie wieder um so was.« Smith verschloss sorgfältig die Airstair-Tür. »So redest du nicht mit mir. Wenn ich rufe, dann springst du.« »Wenn du so denkst, kannst du mir gleich hier und jetzt eine Kugel in den Kopf jagen.« Smith schüttelte den Kopf. »Von mir aus kann die ganze IRA zur Hölle fahren. Ihr seid sowieso in der Vergangenheit stecken geblieben.« Kelly packte ihn, doch Tod zog seinen Freund zurück. »Vergiss es. Wir fahren jetzt ins Royal George und heben einen mit den Jungs.« Als die Falcon in Ballykelly landete, war es ganz still in der Kabine. Ashimov hatte den ganzen Flug über getrunken 305
und kaum ein Wort mit Greta gewechselt. Die Maschine rollte zu ihrer Parkposition. Kelso stellte die Motoren ab, und Brown stieg aus dem Cockpit und machte die Tür auf. Unten an der Treppe wartete ein Landrover. »So, da wären wir«, bemerkte Ashimov. »Und blicken einer unsicheren Zukunft entgegen.« Er zögerte kurz. »Bist du dabei, Greta?« »Aber selbstverständlich«, antwortete sie, obwohl sie tief in ihrem Herzen nicht genau wusste, was das bedeutete. »Dann mal los. Wagen wir uns in die Höhle des Löwen.« Sie stiegen die Treppe hinab, und zu Ashimovs Erstaunen öffnete sich die Fahrertür des Landrover und Josef Belov stieg aus. »Da seid ihr ja endlich. Ich habe schon auf euch gewartet.« Professor Henry Bellamy kam herein, streifte sich im Gehen die Handschuhe ab und blieb vor Ferguson stehen. »Zum Teufel noch mal, Charles, in Ihrem Alter können Sie sich solche Späßchen nicht mehr erlauben.« Dalton hielt eine Akte in der Hand. »Captain Wilson hat das geschickt, Sir.« »Machen Sie sich um mich keine Sorgen«, gab Ferguson zurück. »Wie steht es um Hannah?« »Sie hat sich das Schlüsselbein und den rechten Arm gebrochen, und eine Schädelfraktur zugezogen«, erklärte er und wandte sich an Bernstein. »Es tut mir Leid, Rabbi, aber ich muss sie in die Neurologie des Cromwell über306
stellen. George Dawson habe ich bereits verständigt; er ist der Beste auf diesem Gebiet.« »Wie ernst ist es?«, erkundigte sich Bernstein mit banger Stimme. »Wie stehen ihre Chancen?« »Ausgezeichnet. Dawson ist ein begnadeter Chirurg. Aber ich sollte eines deutlich machen.« »Und das wäre?« Bellamy sah Ferguson an, als er fortfuhr. »Vor ein paar Jahren, als dieser Gotteskrieger versuchte, Hannah umzubringen, hat sie schwere Verletzungen am Magen, dem linken Lungenflügel und einen gebrochenen Wirbel davongetragen. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt überlebt hat.« »Ja, das hatte sie einem ganz hervorragenden Chirurgen zu verdanken«, warf Dillon ein. »Das hat nichts zu bedeuten, Sean. Sie wird auch diese Verletzungen überleben, keine Sorge, aber ihre Zukunft wird problematischer werden. Unter Umständen könnte damit ihre Karriere zu Ende sein.« »Aber ihre Arbeit bedeutet ihr alles«, sagte Dillon beunruhigt. »Ich weiß. Vielleicht findet sich ja ein Schreibtischjob für sie. Leider ist es so, dass der menschliche Körper nur ein gewisses Maß an Verletzungen aushalten kann.« »Natürlich«, nickte Bernstein. »Jeden Moment wird ein Krankenwagen sie abholen und zu Dawson ins Cromwell bringen. Sie können sie gern begleiten, Rabbi.« »Vielen Dank.« Bellamy klappte die Akte auf, überflog sie rasch und 307
schüttelte den Kopf. »Mitten hinein, Charles, das ist viel ernster, als ich erwartet hatte.« Zu Dalton und Miller sagte er: »Bringen Sie ihn wieder hinein.« Sie nahmen Ferguson zwischen sich. Ferguson warf Dillon noch einen Blick zu. »Lassen Sie sich nicht zu irgendwelchen Unüberlegtheiten hinreißen, Dillon.« »Würde ich das jemals tun?« Seinen Worten zum Trotz glühten seine Augen, und wieder einmal hatte er diesen gefährlichen Gesichtsausdruck. »Sie werden ihn verfolgen«, stellte Ferguson fest. »Worauf Sie sich verlassen können.« »Und ich kann mir wahrscheinlich sämtliche Überredungskünste sparen, um Sie davon abzuhalten?« »Diesmal ja.« »Wenn das so ist, stehen Ihnen sämtliche Einrichtungen unseres Departments zur Verfügung. Passen Sie auf sich auf, Sean«, setzte er mit einem erschöpften Lächeln hinzu. Dann halfen Dalton und Miller ihm hinaus, und Bellamy folgte ihnen. »Ich habe ihren Gesichtsausdruck vorhin sehr wohl bemerkt. Vielleicht würde sie das gar nicht wollen«, gab Rabbi Bernstein zu bedenken. »Ashimov hat das mit voller Absicht getan. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Und dafür wird er bezahlen.« »Gott schütze Sie, Sean.« Ein Krankenwagenfahrer steckte den Kopf zur Tür herein. »Rabbi Bernstein?« »Das bin ich.« Der alte Mann warf Dillon einen letzten Blick zu, seufzte und ging hinaus. 308
Es war still im Warteraum. Dillon holte tief Luft, zündete sich eine Zigarette an, dann wählte er Ropers Nummer. »Wie geht es ihr?« Dillon setzte ihn ins Bild und fügte hinzu: »Ferguson selbst hat es auch schlimmer erwischt als zuerst angenommen. Bellamy hat ihn gerade in den OP bringen lassen. Zuvor jedoch hat mir der alte Junge freien Zugang zu sämtlichen Einrichtungen unserer Abteilung zugesichert.« »Bedeutet das das, was ich glaube?« »Ganz recht. Bleib du bitte online und versichere dich, dass es keine Veränderungen in den Abflugplänen von Ballykelly gibt?« »Sean, du bist wahnsinnig. Das schaffst du nie. Das wäre das reinste Selbstmordkommando.« »Ich werde Lacey anrufen und einen Sprung arrangieren. Der Strand von Drumore ist nahezu perfekt. Du kümmerst dich bitte um das Wetter und stimmst dich mit Lacey ab. Und ruf bitte den Quartiermeister an, dass er mir ein paar Waffen herrichtet.« »Wird gemacht, Sean. Aber du kannst die Geschichte nicht allein durchziehen, nicht einmal du, der berühmte Sean Dillon.« »Habe ich auch nicht vor.« Dillon legte auf, ging hinaus zu seinem Mini, stieg ein und rief in Farley Field an. »Dillon am Apparat. Ich muss dringend Squadron Leader Lacey sprechen.« Zügig manövrierte er den Mini mit einer Hand durch den Verkehr, als sich Lacey endlich meldete. »Was gibt’s, Sean?« 309
»Mein Anliegen ist von allerhöchster Wichtigkeit, also fang nicht an zu argumentieren. Ferguson ist angeschossen worden, liegt im Augenblick auf dem OP-Tisch und hat mir vorher noch sämtliche Vollmachten erteilt. Ich bin in ungefähr einer Stunde bei dir. Du wirst über Drumore, das liegt im County Louth, fliegen und mich über dem Strand absetzen.« »Das Wetter ist aber nicht so besonders, Sean.« »Wir haben so was schon unter schlechteren Voraussetzungen geschafft. Die Sache ist wirklich wichtig. Wir müssen es drauf ankommen lassen.« »Wie du meinst, Sean.« Er legte auf, und Dillon fuhr weiter. Er hatte noch etwas zu erledigen. Im Dark Man fand er Harry Salter, Billy, Joe Baxter und Sam Hall in der hintersten Nische versammelt, jeder einen Drink vor sich mit Ausnahme von Billy, der sich wie gewöhnlich an Orangensaft hielt. »Da bist du ja«, begrüßte ihn Harry. »Danke, dass du uns so fleißig auf dem Laufenden hältst.« »Halt die Luft an und hör zu«, schoss Dillon zurück. Als er geendet hatte, meinte Harry: »Diese Russen, das sind wirklich verdammte Schweine.« »Mag sein«, unterbrach ihn Billy. »Aber wie steht es um Hannah?« »Bellamy ist überzeugt davon, dass sie es schafft, meint aber, dass sie nicht mehr die Gleiche sein wird.« »Und Ferguson?«, wollte Harry wissen. »Sagte ich doch. Er hat eine AK-Salve abgekriegt. Ster310
ben wird er nicht daran, aber er ist halt auch nicht mehr der Jüngste …«, meinte Dillon achselzuckend. »Und Selim ist aus dem Rennen.« Billy schüttelte den Kopf. »Wie schade. Er hätte uns so viel erzählen können.« »Hat er am Schluss auch getan. Hat doch noch einiges ausgespuckt.« In das anschließende Schweigen hinein rief Harry: »Dora, bring uns doch bitte eine kleine Flasche Bushmills. Ich denke, die können wir brauchen.« Und dann an Dillon gewandt: »Belov ist also auf seinem Schloss in Drumore, und Ashimov und das Mädchen ebenfalls, plus die beiden IRA-Gangster?« »So ist es.« »Und man kann ihnen nichts anhaben, weil sie sich in der Irischen Republik aufhalten.« »Genau, Harry.« »Und der Flug morgen früh nach Moskau ist bereits arrangiert und die Starterlaubnis eingeholt? Dann, würde ich sagen, hast du wohl den Kürzeren gezogen, Dillon.« Worauf Billy, der wie immer eine eiskalte Miene zur Schau trug, ganz ruhig meinte: »Hat er nicht. Du stattest ihnen einen Besuch ab, habe ich Recht? Wer wird sonst noch dort sein?« »Vergiss Regan und Fahy. Ich denke, es werden Kelly und Tod sein. Vielleicht auch Danny McGuire und Patrick O’Neill. Und ein paar andere. Aber wie gesagt, die Zeiten haben sich geändert. Sie könnten auch für eine Weile untergetaucht sein. Kelly besitzt ein Boot, die Kathleen, die zwar völlig abgewrackt aussieht, aber technisch 311
ungeheuer was draufhat. Möglich, dass er eine kleine Kreuzfahrt für angesagt hielt.« »Aber die Russen sind auf dem Schloss?« »Belov, Ashimov und diese Frau. Das weiß ich sicher.« »Du willst also hinfliegen, Sean?«, vermutete Billy. »Am Strand abspringen, Billy.« »Du bist wahnsinnig, Dillon«, entfuhr es Harry. »Harry, mir passt einfach nicht, was sie getan haben. Ashimov ist ein Schlächter, und Belov glaubt, dass er die Welt regiert. Was sie Ferguson und Hannah und diesem armen Irren Selim angetan haben, dafür müssen sie bezahlen.« Wieder herrschte Schweigen am Tisch. Nach einer Weile brachte Dora die Drinks. Dillon kippte sein Glas auf einen Sitz hinunter. »Harry, ich bin es leid. Seit so vielen Jahren bin ich mit der Welt im Krieg, und die Welt heute ist dunkler als damals, als ich damit anfing. Ich will ehrlich sein. Eigentlich bin ich gekommen, um diesen wunderbaren Jungen um Hilfe zu bitten, aber das wäre falsch. Er hat genug getan. In Hazar letztes Jahr hat er eine Kugel in den Hals gekriegt, sein Gesicht musste zusammengeflickt werden, und er hat sich die Hüfte gebrochen. Meine Idee, er könnte mit mir aus sechshundert Fuß Höhe über der Drumore Bay aus der Citation springen, war absolut dumm. Was mich betrifft, habe ich allerdings keine andere Wahl. Ich kann nicht tatenlos zusehen, dass diese Dreckskerle ungeschoren davonkommen. Das darf nicht geschehen.« Dillon stand auf. Billy erhob sich ebenfalls. »Wie oft haben wir so was schon zusammen erledigt, Sean?« »Ich weiß nicht. Dreimal?« 312
»Dann wird es jetzt das vierte Mal sein. Komm, lass uns gehen.« »Billy!« Sein Onkel wollte ihn zurückhalten. »Ach, halt die Klappe. Komm, Sean, gehen wir.« Im Salon von Drumore Place hatten sich Ashimov, Greta und Belov um den Kamin versammelt, in dem ein Holzfeuer brannte. »Auch wenn Selim jetzt leider ausgeschieden ist«, begann Belov, »stellt sich natürlich die Frage, wie viel er Ferguson vor seinem seligen Ende erzählt hat.« »Das bereitet mir ebenfalls Kopfzerbrechen.« »Ich muss feststellen, dass abgesehen von der Verwundung Fergusons das ganze Unternehmen ein Flop war. Wenn ich die Ereignisse im Irak dazurechne, hast du dich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, Yuri. Und dann die Sache mit Fahy und Regan! Dazu kommt dieser Dillon, den wir gründlich unterschätzt haben. Stimmen Sie mir da zu, Major?«, fragte er Greta. Sie sah Ashimov an, konnte aber Belovs durchdringendem Blick nicht ausweichen. »Ich habe seine Vergangenheit gründlich durchforstet und festgestellt, dass dieser Mann Bemerkenswertes geleistet hat.« »Und, haben Sie Ihre Erkenntnisse weitergegeben?« Wieder suchte sie Ashimovs Blick. »Ja, das habe ich, speziell an Kelly und seine Leute.« Und als wollte sie den Schaden wieder gutmachen, den sie angerichtet hatte, fügte sie hinzu: »Kelly und Murphy hätten wissen müssen, worauf sie sich da einlassen. Zumal sie früher einmal gute Kumpel von Dillon gewesen sind. Es ist ja nicht so, als hätten sie ihn jetzt zum ersten Mal gesehen.« 313
In diesem Moment kam Hamilton, ein alter Mann aus dem Dorf, der als eine Art Butler fungierte, herein. »Verzeihen Sie, Sir. Dermot Kelly und Tod Murphy sind hier.« »Schon? Führen Sie sie herein.« Die drei warteten schweigend, bis Kelly und Tod den Salon betraten. »Vom Schlachtfeld zurück, wie ich sehe«, lautete Belovs Begrüßung. Kelly, der schon einige Whiskeys intus hatte, reagierte aggressiv. »Wir haben gute Arbeit für Sie geleistet. Wir haben Selim ausgeschaltet und Ferguson verwundet.« »Beeindruckend. Außerdem ist einer von unseren eigenen Männern tot, und der andere hat sich Ferguson gegenüber die Seele aus dem Leib gequatscht. Nicht gerade eine Superleistung, Kelly.« Kelly brachte vor Wut kein Wort mehr heraus, deshalb fuhr Tod betont ruhig fort: »So etwas passiert nun mal. Tatsache ist, dass wir, wie Kelly bereits sagte, Selim erwischt und Ferguson angeschossen haben. Unsere Arbeit ist damit beendet. Brauchen Sie uns noch?« »Ja, wir fliegen morgen früh nach Moskau. Ich möchte, dass Sie und der Rest Ihrer Leute heute Nacht hier Wache schieben. Und was Ihre Zukunft betrifft, darüber sprechen wir zu einem anderen Zeitpunkt.« »Aber schauen Sie …«, begann Kelly von neuem. Tod packte ihn am Arm. »Das ist großartig, Sir. Danke für Ihr Verständnis.« Er zog Kelly mit sich hinaus in die Diele. »Halt den 314
Mund, Dermot. Unser Tag wird kommen. War das nicht unser aller Wahlspruch in den guten alten Zeiten?« »Ich könnte den Kerl erwürgen!« »Nicht jetzt. Jetzt gehen wir erst mal einen Sprung ins Royal George und trinken mit McGuire und O’Neill ein Gläschen. Später kommen wir dann hierher zurück und machen, was Belov uns aufgetragen hat. Es ist nur zu unserem Vorteil, Dermot, und das allein zählt.« Draußen in der Diele sagte Belov: »Also, morgen Moskau.« »Und dann?«, fragte Ashimov. »Warten wir ab, was passiert, und diskutieren unsere Möglichkeiten.« Er musterte die beiden mit einem harten Blick. »Meine und eure.« Lacey wartete bereits in Farley Fields, als sie dort ankamen. Das Erste, was er sagte, war: »Wir nehmen den Learjet, Sean, doch keine RAF-Mühle. Schließlich fliegen wir in ein friedliches Land. Wir wollen doch keinen falschen Eindruck erwecken.« »Alles klar. Und wie sieht es mit dem Wetter aus?« »Sollte keine Probleme machen. Vereinzelte Nebelfelder, aber wir haben Ebbe und somit viel Strand.« »Gut.« »Was ist mit dem Rückflug?« »Ich bin froh, dass du glaubst, dass wir auch wieder zurückfliegen. Da wir keinen Ärger mit der Republik heraufbeschwören wollen, landest du am besten auf dem Belfaster Airport. Stell die Maschine auf dem Hochsicherheits-Areal ab und triff Vorbereitungen, uns als Passagiere zu registrieren.« 315
»Und wann darf ich mit euch rechnen?« »Das weiß ich nicht. Könnte eine harte Sache werden. Andererseits ist die Grenze heutzutage offen. Billy und ich sollten keine Schwierigkeiten haben, auf dem einen oder anderen Weg nach Belfast zu gelangen.« »Dein Wort in Gottes Ohr.« »Habe ich dich schon jemals im Stich gelassen?« »Okay, gehen wir’s an.« In der Einsatzplanung wurden sie vom Quartiermeister, einem ehemaligen Sergeant Major der Guards, bereits erwartet. Auf dem Tisch lagen ein paar zusammengeklappte Sturmgewehre bereit sowie zwei Brownings und eine Segeltuchtasche. »Die von Major Roper angeforderten Extras finden Sie in der Tasche, Sir. Ihre Ausrüstung im Zimmer nebenan.« »Gut, wir werden gleich alles durchgehen.« Als er und Billy zurückkehrten, trugen sie Overalls, Stiefel und das Paket mit dem Fallschirm auf dem Rücken. Die Browning steckte in einem Schulterholster, das AK hing quer vor ihrer Brust. Dillon trug die große Ausrüstungstasche. Die anderen standen um den Navigationstisch herum. »Hier«, sagte Lacey. »Wie ich prophezeit habe, Ebbe und viel Sand.« »Den kenne ich gut«, gab Dillon zurück. »Es könnte sogar mehr Mond geben, als euch lieb sein wird, aber vielleicht hilft euch der Nebel ein wenig. Mr. Salter hat mir gerade gesagt, dass er mitfliegen wird. Geht das in Ordnung?« 316
»Nein, geht es nicht«, antwortete Billy entschieden. »Tut mir Leid, Harry, aber ich habe auch so schon genug um die Ohren.« Harry machte ein enttäuschtes Gesicht und umarmte seinen Neffen. »Du Haudegen. Siehst aus wie einem Vietnamfilm entstiegen.« »Das hast du mir schon einmal gesagt«, erwiderte Billy. »Also, dann troll dich raus hier.« Während Billy die Stufen hinaufstieg, nickte Harry Dillon zu. »Und was dich betrifft …« »Ich weiß schon. Bring ihn heil wieder zurück, sonst …« Er folgte Billy in den Learjet. Parry schloss die Tür hinter ihnen. Sie setzten sich, hakten die Fallschirme aus und legten die Gewehre auf einen freien Sitz. Der Learjet rollte an seine Startposition. »So, auf ein Neues«, sagte Billy. »Sag mal, sind wir etwa so was wie Helden?« »Nein, Billy, wir lassen nur harte Gerechtigkeit walten, etwas, was andere Menschen nicht fertig bringen. Lassen wir es dabei.« »Vielleicht hast du Recht.« »Ganz gewiss, Billy.« Dillon zog eine halbe Flasche Bushmills aus der Tasche, drehte den Verschluss ab und prostete Billy zu. »Auf dich und auf mich, die einzig wirklich normalen Männer in einer Welt, die völlig aus dem Ruder läuft.«
15.
Als Ferguson im Rosedene aus der Narkose erwachte, saß Roper im Rollstuhl an seinem Bett und las den Evening Standard. Ferguson tat einen tiefen, zittrigen Atemzug, worauf Roper alarmiert nach der Schwester klingelte. Es war die Oberin selbst, die ins Zimmer geeilt kam. »Na, sind wir wach, General?« Sie schob ihm den Arm unter den Rücken, hob ihn an und schüttelte das Kissen auf. »Ein Schluck Wasser?« Sie hielt ihm den Becher hin, und er trank aus dem Strohhalm. »Wie ist es gelaufen?« »Mit die beste Arbeit, die Sir Henry vollbracht hat. Zweiundzwanzig Stiche, der Knochen war zersplittert.« Sie kannte ihn schon seit vielen Jahren und nutzte ihr Privileg. »Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Sir: Sie sind wirklich ein alter Dummkopf, dass sie sich in Ihrem Alter noch solchen Situationen aussetzen.« »Ich betrachte mich als gemaßregelt. Wie geht es Superintendent Bernstein?« »Sir Henry ist hinüber ins Cromwell gefahren. Professor Dawson operiert sie gerade. Sie befindet sich in besten Händen.« »Ausgezeichnet. Werden Sie mir später ein Abendessen servieren? Hier schmeckt es immer hervorragend.« »Na, das werden wir noch sehen. Im Augenblick kann ich Ihnen bestenfalls eine Tasse Tee anbieten.« Sie wandte sich an Roper. »Für Sie auch?« 318
»Ja, sehr gern.« Als die Oberin das Zimmer verlassen hatte, fragte Ferguson: »Und? Er ist schon unterwegs, nicht wahr?« »Das ist er, General, und hat den jungen Billy Salter mitgenommen.« »Berichten Sie.« Roper erzählte, und anschließend sagte Ferguson: »Es ist so eine Art von Größenwahn, der Dillon manchmal befällt. Er und Billy gegen mindestens vier alte IRA-Kämpfer, plus Ashimov und diese Frau – die den Finger so schnell am Abzug hat wie keiner von denen – und natürlich Belov selbst. Und der ist zu allem fähig.« »Ich weiß, Sir.« Eine junge Schwester brachte ein Tablett mit Tee und schenkte ein. Ferguson fuhr fort: »Und es könnten noch mehr Leute da sein. Drumore ist eine traditionelle IRAGegend, Major.« Roper nippte an seiner Tasse. »Aber vergessen Sie dabei nicht, Sir, dass Sean Dillon für diese Leute so was wie eine Legende ist.« »Ja, das glaube ich auch. Trotzdem würde ich mich wohler fühlen, wenn ich mit ihm sprechen könnte. Ist das möglich?« Roper hob eine Tasche auf seinen Schoß. »Ich habe ein Codex Four da drin. Und wie Sie wissen, kann man damit sogar mit jemandem während des Fluges telefonieren.« »Dann versuchen Sie bitte, Dillon zu erreichen.« »Ich bin es«, meldete sich Roper. »Wo bist du?« »Irgendwo über dem irischen Meer. Wie geht es Ferguson?« 319
»Warte, ich gebe ihn dir.« »Freut mich, dass Sie wieder heil sind, Charles«, sagte Dillon zur Begrüßung. »Ach, kein Problem. Damals, mit achtzehn auf der Hook in Korea, da hat es mich viel schlimmer erwischt.« »Was bedeutet, dass Sie Ihr Ablaufdatum schon überschritten haben, Charles. Zeit, mal in sich zu gehen.« »Unverschämter Kerl. Sie sind selbst kein Küken mehr und begeben sich wissentlich in die Höhle des Löwen.« »Dagegen kann ich nichts machen. Das verlangt einfach mein Naturell.« »Dann denken Sie wenigstens an den Jungen. Billy Salter hat schon mehr abgekriegt als viele andere.« »Nun, das ist eben sein Naturell, Charles. Er ist ein Kämpfer.« »Nur ihr beide«, sinnierte Ferguson. »Noch ist Zeit zum Umkehren, Sean.« »In fünfzehn Minuten geht es los. Wie steht es um Hannah?« »Befindet sich in besten Händen. Doch was ihre Zukunft in unserem Job betrifft – die steht in den Sternen.« »Hm. Auf Wiedersehen. Geben Sie mir noch einmal Roper.« »Sean?« »Fünfzehn Minuten. Der Mond ist leider beinahe voll, aber zum Glück liegt Nebel über dem Wasser. Lacey wird auf sechshundert Fuß runtergehen.« Roper spürte, wie ihn ein Schauer durchfuhr. »Pass auf dich auf, Sean.« 320
Dillon lachte. »Niemand hat das ewige Leben für sich gepachtet. Ich melde mich. Ende.« Greta, Belov und Ashimov saßen im Salon an dem langen Esstisch und verspeisten eine gebratene Ente, während der alte Hamilton sich um den Wein kümmerte. »Ausgezeichnet«, lobte Belov das Essen. »Mrs. Ryan’s Ente ist noch besser als die im Riz-Hotel. Würden Sie ihr das ausrichten, Hamilton?« »Sie ist schon weg, Sir. Zurück in ihr Dorf. Aber sie hat noch Erdbeeren mit Schlagsahne zum Dessert vorbereitet.« »Dann sind Sie noch der Einzige hier im Schloss?« »Ja, das Tagespersonal ist schon nach Hause gegangen, Sir. Die Leute sind abends nicht gern hier. Scheinbar fürchten sie sich. Dermot, Tod und zwei Ihrer Männer sitzen in der Küche und essen Mrs. Ryans Reste auf.« »Möchten Sie auch nach Hause gehen?« »Ja, sehr gern, Sir. Es ist fast wie früher, Sir. Sie sitzen in der Küche, essen und trinken, und überall liegen die Knarren herum.« »Gut, dann verschwinden Sie. Seien Sie zur Frühstückszeit wieder da und sagen Sie Murphy, dass ich ihn sprechen will.« Hamilton wieselte eilig hinaus. »Warum sind hier alle so aufgeregt?«, wunderte sich Belov. »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, Major?« »Nicht wirklich, Sir«, antwortete Greta. Belov schenkte sich ein Glas Portwein ein und steckte sich eine russische Zigarette an. »Es scheint beinahe so, als erwarteten Kelly und seine Kumpane jemanden. Glauben Sie, die wissen etwas?« 321
Da kam Tod Murphy herein, ein AK über der Schulter. »Gut, ich sehe, Sie sind vorbereitet«, sagte Belov. »Worauf, Sir?« »Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Mr. Murphy. Da kommt doch nur ein einziger Mann infrage, oder?« Just in diesem Moment hörten sie ein Flugzeug sehr niedrig über den Strand fliegen. Instinktiv hoben alle den Kopf, und Belov sagte: »Na, hier ist er auch schon.« Tod drehte sich auf dem Absatz um und rannte hinaus. »Nein, das ist unmöglich«, meinte Ashimov. »Ihr hättet die Akten durchlesen sollen«, sagte Greta. »Immer wieder habe ich das gepredigt, aber es wollte ja keiner hören.« Parry hatte das Cockpit des Learjet verlassen, um Dillon und Billy dabei zu helfen, die Fallschirme und die Waffen anzulegen. »Sieben Minuten«, verkündete er. »Wir bleiben auf sechshundert Fuß. Es herrscht dichter Nebel, aber der Strand ist klar, und das Wasser ist weit zurückgegangen.« Er ging zur Tür, als er hörte, dass Lacey die Motoren auf die kritische Geschwindigkeit gedrosselt hatte, und öffnete sie. Der Wind schlug ihm hart ins Gesicht. Dillon kam an die offene Tür und drehte sich zu Billy um. »Wir sollten so was viel öfter machen«, feixte er. »Mach, dass du rauskommst«, schrie Billy gegen den Wind, gab Dillon einen Schubs und sprang ebenfalls. Unter dem beinahe vollen Mond tauchten sie in sechshundert Fuß Höhe in dichten Nebel ein, öffneten in zweihundert Fuß die Schirme und hatten dann klare Sicht 322
aufs Meer, den Strand und den Hafen. Hier lagen eine Hand voll Boote, unter anderem auch die Kathleen, die am Ende des Piers vertäut war. Dillon gelang eine perfekte Landung, er drückte den Knopf, der den Schirm löste, und musste sich nicht einmal abrollen. Sofort schaute er sich um, entdeckte den anderen Fallschirm, der sich weiter vorn an der Wasserkante bauschte, lief dorthin und trat auf den Schirm, damit Billy ihn abkoppeln und aufstehen konnte. »Das Wasser kommt zurück«, warnte er. »Wir sollten uns trollen.« »Ja, laufen wir zum Pier«, sagte Dillon. »Wozu das denn?«, wollte Billy wissen. »Ich will mir mal Kellys Boot ansehen.« Dillon lief los, die Tasche in der linken Hand. Vereinzelte Nebelschwaden verdeckten das Dorf, doch die Lichter vom Royal George durchdrangen den Dunst. Dillon zeigte auf die Kathleen am Ende des Piers. »Halt die Augen offen«, sagte er zu Billy. »Bin gleich wieder da.« »Was hast du denn vor?« »Nicht so wichtig.« Dillon stieg über die Reling, warf einen Blick ins Ruderhaus und ging dann zielstrebig nach Achtern. Die Tasche hatte er mitgenommen. Nachdem er das benötigte Werkzeug gefunden hatte, öffnete er die Luke des Motorenraums, tat, was getan werden musste, und schloss die Luke anschließend wieder. »Beeil dich, Dillon«, zischte Billy. »Was zum Kuckuck treibst du da?« 323
»Habe nur den Motor lahm gelegt«, antwortete Dillon. »Okay, komm jetzt.« Sie machten sich auf den Weg durchs Dorf. Kelly, Tod, Ashimov, Belov und Greta standen draußen im Dunkeln auf der Terrasse. Belov suchte mit einem Nachtglas den Strand ab und entdeckte die beiden aufgeblähten Fallschirme, die wie helle Pilze aus dem Nebel ragten. »Fallschirme. Zwei.« Er reichte das Fernglas an Ashimov weiter, der eine Weile hindurchspähte und dann einen deutlichen Blick auf Dillons Gesicht erhaschte, als dieser mit Billy zum Ende des Piers ging »Dillon.« Er reichte das Nachtglas an Tod weiter. »Jetzt schnappen wir uns die Kerle«, meinte Kelly voller Tatendrang. »Nein.« Das kam von Belov. »Eine alte Regel lautet, Mr. Kelly: Lass den Feind zu dir kommen.« Was grundsätzlich nicht verkehrt war, nur hatte Dillon seinerseits ein Nachtglas benutzt und die fünf auf der Terrasse stehen sehen. »Sie sind alle im Schloss, Billy, Tod, Kelly, Belov, Ashimov und die Frau –, und sie haben uns gesehen.« »Meinst du, das sind alle?« »Nein, da sind sicher noch McGuire und O’Neill, vielleicht auch noch andere.« »Mehr nicht?« Billy lachte. »Na, dann mal los.« Sie bogen vom Pier aus in eine kleine Gasse mit Kopfsteinpflaster ab, die sich hinauf zum Schloss wand. 324
In der Diele übernahm Tod Murphy das Kommando. »Wir werden sie hereinlocken, indem wir die Verandatüren der Bibliothek am östlichen Ende der großen Terrasse offen lassen, ebenso die Türen am westlichen Ende, die ins Arbeitszimmer führen. Du übernimmst die Bibliothek, Danny«, sagte er zu McGuire. »Da draußen steht ein Sommerpavillon. Darin versteckst du dich und versuchst, sie von hinten zu erwischen, wenn sie auf die Verandatüren zugehen. Und du, Patrick«, fuhr er, an O’Neill gewandt, fort, »verschanzt dich am anderen Ende des Esszimmers.« »Und was ist mit uns?«, fragte Ashimov ungeduldig. »Sie warten in der Bibliothek, und du im Esszimmer, Dermot. Nehmt sie ins Kreuzfeuer.« »Und Major Novikova und ich?«, fragte Belov. »Ich werde mit Ihnen im hinteren Teil des Salons Wache stehen, bis alles vorbei ist.« »Gut, dann ran an die Arbeit«, rief Kelly gut gelaunt. »Machen wir den Kerlen ein für alle Mal den Garaus.« Damit zerstreuten sie sich, um ihre jeweiligen Positionen einzunehmen. Billy und Dillon hockten geduckt in einer dichten Nebelschwade. Es nieselte leicht. Dillon beobachtete die Terrasse durch sein Nachtsichtglas. »Nicht sehr clever, diese Burschen. Haben die Terrassentüren offen gelassen, wohl um uns hereinzulocken. Hier, schau mal. In diesem hübschen Pavillon bewegt sich was, und auch dort drüben auf der anderen Seite.« »Äußerst naiv gedacht«, befand Billy. »Was gedenkst du zu tun?« 325
»Ich bin sicher, dass wir auch im Schloss selbst sehnlich erwartet werden. Wir machen es auf unsere Art«, sagte er und erklärte Billy rasch die einzelnen Schritte. McGuire, der nervös in dem kleinen Pavillon wartete, aufmerksam Ausschau hielt und absolut kein Geräusch hörte, merkte erst, als er den Lauf eines Sturmgewehrs im Nacken spürte, dass er etwas übersehen hatte. »Ein Laut, und ich blas dir das Hirn raus. Und jetzt sei ein guter Junge, und verrate mir, wer in der Bibliothek sitzt und wer sonst wo auf uns wartet.« »Der Russe Ashimov«, wisperte McGuire. »Kelly bewacht das Esszimmer, und Tod den Salon zusammen mit Belov und der Frau.« »Gut gemacht«, flüsterte Billy und rammte ihm die Schulterstütze des AK-47 in den ersten Nackenwirbel. Einen Moment später war Dillon bei ihm. »O’Neill ist ausgeschaltet. Kelly hockt anscheinend im Esszimmer. Ich versuche ihn ausfindig zu machen.« »Bist du sicher?« »Wird sich ja zeigen.« Lautlos schlichen sie ans andere Ende der Terrasse. Dillon ging vor der Balustrade in die Hocke und rief leise: »Bist du da drin, Dermot? Ich bin’s, Patrick. Wir haben ein Problem.« Der schwere nordirische Akzent, mit dem Dillon gesprochen hatte, brachte das erwünschte Resultat. »Was issen, du Trottel?«, flüsterte Kelly zurück und erschien in der offenen Tür, wo Dillon ihn mit einem Schuss aus dem schallgedämpften Schnellfeuergewehr erledigte, das 326
nur ein leises Husten hören ließ. Billy schlich sich zu ihm. »Und jetzt?« »Vergiss Ashimov, und schleich dich durch den Salon ins Haus. Ich kenne mich hier aus. Die Autos stehen vor dem Schloss im Hof. Ich gehe außen herum, schnappe mir die Zündschlüssel und komme anschließend durch die Vordertür herein. Dann veranstalte ich die Art von Zirkus, die Ashimov aus seinem Versteck jagen wird, und du kannst ihn dann von hinten erledigen.« »Klingt gut. Kannst dich auf mich verlassen.« Billy stieg über Kellys Leiche, und Dillon verschwand in der Dunkelheit. Tod stand zwischen Greta und Belov in dem finsteren Türbogen am Ende des Salons, eine Browning mit einem Zwanzigermagazin in der Hand. »Irgendwie ist es zu ruhig hier«, befand Greta. »Das ist hier immer so«, belehrte sie Belov. »Die ganze Geschichte läuft schon von Anfang an nicht rund«, meinte Tod. »Wenn ihr mich fragt, würde ich vorschlagen, wir verschwinden von hier, schnappen uns einen der Wagen und fahren nach Ballykelly.« »Ganz meine Meinung«, sagte Belov. Greta bekam es mit der Angst zu tun und rief: »Yuri, wo bist du?« »Nun seien Sie nicht töricht«, schalt Tod sie und machte die Haustür auf. Dillon, der gerade dabei war, den Zündschlüssel von dem letzten der vier Fahrzeuge abzuziehen, wirbelte he327
rum und feuerte eine kurze Salve in die Ziegelmauer neben der Tür ab. »Bist du es, Tod? Hier geht’s nicht raus.« »Der Teufel soll dich holen, Dillon«, rief Belov, und Tod warf die Tür zu. »Folgt mir«, sagte er. »Wir verschwinden durch den Küchentunnel.« »Und dann?«, fragte Belov streng. »Das Boot, die Kathleen, liegt unten am Pier. Kommen Sie, hier entlang.« »Und was ist mit Yuri?«, jammerte Greta. »Der wird selbst sehen müssen, wo er bleibt«, gab Belov ungerührt zurück. »Kommen Sie jetzt.« Alarmiert von dem Lärm in der Diele schlich Ashimov sich aus der Bibliothek und dann den Flur entlang. Im gleichen Moment trat Dillon die Haustür ein, lief geduckt durch den Türbogen in den Salon und rief: »Billy?« Ashimov fuhr hoch, feuerte seine Pistole ab, packte Dillon am Ärmel, bekam die Schulterstütze des AK zu fassen und riss es Dillon aus der Hand. In dem Moment schoss Billy Ashimov in die rechte Schulter, der wirbelte herum, Billy zielte direkt auf sein Herz und drückte noch einmal ab. »Bist du okay?«, rief er Dillon zu. »Dank dir, ja.« »Sind Tod und die anderen mit dem Auto abgehauen?« »Nein, ich habe alle Schlüssel abgezogen. Aber ich schätze, dass sie eine andere Transportmöglichkeit anvisieren. Warten wir’s ab.« 328
Dillon ging voraus durch den Salon zur Bibliothek und hinaus auf die Terrasse. Der Nebel hatte sich beinahe vollständig aufgelöst, und der Mond schien so hell, dass das Dorf, die Häuser und der Pub wie aus Pappkarton ausgeschnitten wirkten. Tod, Belov und Greta huschten durch eine Pforte in der Gartenmauer. »Was haben die vor?«, fragte Billy. »Sie schlagen sich zur Kathleen durch. Das Boot ist stets auslaufbereit. Das hat Kelly seit Jahren so gehalten.« »Aber die hauen ab damit!«, rief Billy aufgeregt, als er sah, wie die drei über die Reling kletterten. Belov und Greta verschwanden in der Kajüte, Tod im Ruderhaus. Hustend und spuckend lief der Dieselmotor an, und kurz darauf glitt die Kathleen durch den Kanal. »Keine Angst. Ist dir eigentlich noch nie aufgefallen, Billy, dass du deinem Schicksal nicht wirklich entrinnen kannst?« Die Kathleen passierte die Landspitze und hinterließ eine schäumende Bugwelle, als Tod auf volle Fahrt ging. Dillon zog einen Howler aus der Tasche, richtete ihn aus und drückte auf den Knopf. Nach einer kurzen Verzögerung explodierte das Schiff in einem riesigen Feuerball. Und was davon übrig blieb, sank binnen Minuten wie ein Stein. »Allmächtiger«, entfuhr es Billy. »Semtex?« »Das war Ropers Idee.« »Schade um Greta Novikova.« »Sie hätte nicht mitmischen dürfen, Billy, wenn sie nicht willens ist, ein gewisses Risiko einzugehen. Vielleicht hätte auch ich den Job ablehnen sollen, oder du, 329
Billy. Unser Tag wird auch noch kommen.« Dillon lächelte ein wenig schief. »Aber einstweilen sollten wir zusehen, dass wir von hier verduften. Im Hof stehen vier Fahrzeuge, und ich habe alle Schlüssel. Zwei Stunden nach Belfast, und dann nichts wie ab nach Hause.« Drei Minuten später passierten sie in einem Land Rover das Haupttor und ließen Drumore Place in seiner Düsterkeit hinter sich.
EPILOG
Als der Learjet nach Mitternacht vom Flughafen Belfast abgehoben hatte, holte Dillon sein Codex Four aus der Tasche und tippte Ropers Nummer ein. Er meldete sich sofort. »Schläfst du nicht?«, fragte Dillon erstaunt. »Nein, natürlich nicht. Wo seid ihr?« »Im Learjet. Sind gerade in Belfast gestartet.« »Ist Billy okay?« »Hat meinen Arsch gerettet, gerade den Sitz zurückgestellt und schläft schon. Wie geht es Ferguson und Hannah?« »Er hat ein bisschen gefiebert, und sie haben ihn mit Medikamenten voll gepumpt. Ich sitze hier ganz gemütlich in der Ecke seines Zimmers. Wie ich schon sagte, der Schlaf ist nicht mehr mein Freund.« »Und Hannah?« »Oh, Dawson hat einen wunderbaren Job gemacht, aber sie wird trotzdem nicht mehr die Gleiche sein wie vorher.« »Wer von uns kann das schon erwarten?« 331
»Also, was ist passiert?« »Die Jungs haben uns ganz präzise im Nebel abgesetzt, dann haben wir der Kathleen einen Besuch abgestattet. Du hast Recht gehabt, deshalb habe ich genau deine Anweisungen befolgt. Anschließend sind wir zum Schloss spaziert.« »Und?« »Haben McGuire und O’Neill in sehr schlechtem Zustand zurückgelassen. Kelly ist hinüber. Ashimov hätte mir beinahe das Licht ausgepustet, aber unser Wunderkind hat ihn mit einem gezielten Schuss erledigt und mir so das Leben gerettet.« »Und die anderen?« »Die haben sich Richtung Hafen und auf die Kathleen verdrückt. Ich habe sie noch bis zur Landspitze fahren lassen und dann den Howler betätigt.« »Mann, das muss ja ein tolles Spektakel gewesen sein.« »Das kann man sagen. Um die Novikova tut es mir allerdings Leid. Die hat mir im Irak das Leben gerettet.« »Aber nur, weil es ihr in den Kram gepasst hat.« »Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Gut, dann haben wir den Range Rover genommen, er stand vor dem Schloss, und sind über die Grenze nach Belfast gefahren. Da steht heutzutage kein Mensch mehr. Die alten Barrieren sind noch da, aber keine Grenzsoldaten mehr, keine Polizei, man fährt einfach durch. Und jetzt sitzen wir, wie gesagt, im Flugzeug.« »Gut, dann komm jetzt einfach heim, Sean«, sagte Roper. »Wenn du meinst«, gab Dillon zurück. »Grüß Ferguson von mir.« 332
Eine Weile saß er nur da, dachte über alles nach, dann öffnete er die Minibar, nahm eine halbe Flasche Bushmills heraus und schenkte sich einen Plastikbecher voll ein. Billy, die Augen geschlossen, sagte: »Du bist doch so gut in Moralphilosophie. Glaubst du, alles steht zum Besten in der besten aller Welten?« »Billy, alter Freund«, gab Sean Dillon zurück, »wenn du das glaubst, glaubst du auch an den Weihnachtsmann.«