Das Konzept der Solidarität
Ulf Tranow
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Das Konzept der Solidarität
Ulf Tranow
Das Konzept der Solidarität Handlungstheoretische Fundierung eines soziologischen Schlüsselbegriffs
Ulf Tranow Düsseldorf, Deutschland
Zugl. Dissertation an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2010 u. d. T.: Tranow, Ulf: Solidarität und soziologische Analyse. Ein theoretischer Beitrag zum Solidaritätskonzept Als Dissertation ausgezeichnet mit dem drupa-Preis 2011 der Messe Düsseldorf GmbH. Druck komplett finanziert durch den drupa-Preis. D61
ISBN 978-3-531-18209-4 DOI 10.1007/978-3-531-93370-2
ISBN 978-3-531-93370-2 (eBook)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Springer VS © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: KünkelLopka GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de
Danksagung
Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eingereicht habe. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Michael Baurmann für die engagierte und unterstützende Betreuung der Arbeit. Auch danke ich Prof. Dr. Peter Hartmann und den Kolleginnen und Kollegen am Institut für Sozialwissenschaften für anregende Diskussionen und wertvolle Hinweise während des Arbeitsprozesses. Meiner Partnerin, meiner Familie und meinen Freunden danke ich für ihr Verständnis und ihre Unterstützung. Schließlich möchte ich der Messe Düsseldorf GmbH danken, die die Arbeit mit dem drupa Preis 2011 ausgezeichnet und die Publikation der Arbeit finanziert hat. Ulf Tranow Düsseldorf, Februar 2012
Inhaltsverzeichnis
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Das Problem .............................................................................................. 11 Einführung in die Problemstellung .................................................... 11 1.1 1.2 Solidaritätskonzepte und ihre Defizite .............................................. 15 1.2.1 Durkheim: Solidarität als Zusammenhalt durch Moral ................. 16 1.2.2 Hondrich & Koch-Arzberger: Solidarität als Typ sozialer Bindung ........................................................................... 19 1.2.3 Kaufmann: Solidarität als Typ sozialer Steuerung ........................ 21 1.2.4 Hechter: Theorie der Gruppensolidarität ...................................... 24 1.2.5 Bündelung der Probleme............................................................... 27 1.3 Das Programm der Untersuchung ..................................................... 29
2
Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung .............................. 35 Die Begriffsbestimmung ................................................................... 35 2.1 2.1.1 Zwei Ebenen des soziologischen Solidaritätsbegriffs ................... 35 2.1.2 Solidarität als Handlungstypus auf Akteursebene......................... 36 2.1.3 Solidarität als Solidarnormgeltung auf Systemebene.................... 40 2.2 Drei analytische Perspektiven ........................................................... 44 2.2.1 Die Solidarität individueller Akteure ............................................ 44 2.2.2 Die Solidarität sozialer Systeme ................................................... 45 2.2.3 Das Verhältnis zwischen Akteurs- und Systemebene ................... 46 2.3 Theoretischer Entwicklungsbedarf .................................................... 48
3
Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen ............................................ 51 Das Konzept der Solidarnormen ....................................................... 51 3.1 3.1.1 Der Solidarnormbegriff ................................................................. 51 3.1.2 Differenzierung von vier Solidarnormen ...................................... 61 3.1.3 Das analytische Potenzial des Solidarnormkonzepts .................... 73 3.2 Solidaropfer ....................................................................................... 74 3.2.1 Solidaropfer und Transferkonstellationen ..................................... 75 3.2.2 Solidaropfer und solidarische Semantiken .................................... 91
8
Inhaltsverzeichnis 3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.6
4
Verpflichtungsstrukturen ................................................................... 93 Beziehungen zwischen Solidarnormen ......................................... 93 Inklusionsbeziehungen .................................................................. 95 Institutionalisierung ......................................................................... 102 Die Dimension der Institutionalisierung ..................................... 102 Institutionalisierungsgrade .......................................................... 109 Sekundärnormen als normative Infrastruktur .............................. 111 Solidarnormbefolgung ..................................................................... 113 Anreizfaktoren: Sanktionen versus Anerkennung....................... 114 Sanktionsbedingte Solidarnormbefolgung .................................. 116 Solidarnormgeltung revisited ...................................................... 127 Zusammenfassung ........................................................................... 130
Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell ................................... 139 Einführung in den Ansatz und das Konzept der Modellentwicklung.......................................................................... 139 4.1.1 Rationale Solidarnormbindung ................................................... 139 4.1.2 Aufbau des explanativen Modells ............................................... 143 4.2 Solidarnormbindung und menschliche Bedürfnisse ........................ 145 4.2.1 Handeln als Nutzenproduktion.................................................... 145 4.2.2 Universelle Zielgüter .................................................................. 148 4.2.3 Zwischenbetrachtung .................................................................. 156 4.3 Die Rationalität einer Solidarnormbindung ..................................... 158 4.3.1 Die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen ........................ 158 4.3.2 Soziale Produktionsfunktionen und Solidarnormbindung .......... 168 4.3.3 Zwischenbetrachtung .................................................................. 187 4.4 Solidarnormbindung und die Bedingung beschränkter Rationalität ...................................................................................... 188 4.4.1 Das Framing-Modell ................................................................... 190 4.4.2 Solidarframes .............................................................................. 196 4.4.3 Solidarframes im Handlungsvollzug ........................................... 199 4.4.4 Exkurs: Verwandte Konzepte ..................................................... 208 4.4.5 Zwischenbetrachtung .................................................................. 211 4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole ............................................................................................ 213 4.5.1 Die Theorie der Interaktionsrituale ............................................. 213 4.5.2 Interaktionsrituale und Solidarframes ......................................... 221 4.5.3 Abschlussbetrachtung ................................................................. 234 4.1
Inhaltsverzeichnis
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4.6 Zusammenfassung ........................................................................... 236 4.6.1 Das explanative Modell in der Übersicht .................................... 236 4.6.2 Analytische Implikationen .......................................................... 238 5
Schlussbetrachtung ................................................................................. 243
Literatur .......................................................................................................... 253
1
Das Problem
1.1 Einführung in die Problemstellung Solidarität ist ein Kernthema der Soziologie. Soziale Ordnung, so ist man sich im Fach weitgehend einig, setzt voraus, dass die Gesellschaftsmitglieder die Bereitschaft aufweisen, eigene Interessen zugunsten anderer bzw. der Gemeinschaft zurückzustellen. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass wir in einer Zeit leben, in der fortschreitende Prozesse der Rationalisierung, Individualisierung und Globalisierung die Bedingungen sozialen Zusammenlebens grundlegend ändern, ist den vergangenen Jahren ein verstärktes soziologisches Interesse an der Solidaritätsproblematik zu beobachten. Von der Familiensoziologie bis zur Soziologie internationaler Beziehungen wird danach gefragt, wie sich Solidaritätsmuster wandeln und welche Herausforderungen, Probleme und Potenziale im Zusammenhang mit Solidarität existieren. Bezüglich dieser Debatten fällt allerdings auf, dass der Gegenstand, um den es geht, theoretisch wenig fundiert ist. Trotz einer breiten Thematisierung von Solidarität gibt es kaum entwickelte Solidaritätskonzepte, die als Grundlage für die empirische Forschung oder theoretische Diskussion herangezogen werden können. An diesem Punkt setzt die vorliegende Untersuchung an. Ihr Ziel ist es, einen Beitrag zur Entwicklung eines soziologischen Solidaritätskonzepts zu leisten. Die sprachgeschichtlichen Wurzeln des Begriffs der Solidarität liegen im Bereich des Rechts. Mit dem Terminus obligatio in solidum (basierend auf dem lateinischen Adjektiv solidus: dicht, fest, solide) wurde ein spezieller Grundsatz des römischen Schuldrechts bezeichnet, welcher wörtlich übersetzt „Schuld für das Ganze“ bedeutet. Mit diesem Grundsatz wurden Mitglieder einer (zumeist familiären) Gemeinschaft für den gesamten Schuldenstand der Gemeinschaft und umgekehrt die Gemeinschaft für die Schulden eines jeden Mitglieds haftbar gemacht (Schmelter 1991: 8 f.; Bayertz 1998: 11). Unter Beibehaltung einer zunächst rechtlichen Bedeutung wurde aus dem lateinischen Begriff solidus im Französischen der Begriff solidarité.1 Im 19. Jahrhundert erfuhr der Begriff der 1
Der juristische Ursprung des Begriffs wird an dem Eintrag deutlich, der sich im Jahre 1835 im Dictionnaire de l`Académie francaise unter dem Stichwort Solidarité finden lässt: „Solidarité. s. f. T. de Jurispr. Terminus technicus der Jurisprudenz. Eine Erklärung, durch die sich zwei oder mehr Personen verpflichten, die einen für die anderen und jede für alle, wenn es notwen-
U. Tranow, Das Konzept der Solidarität, DOI 10.1007/978-3-531-93370-2_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
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1 Das Problem
Solidarität einen semantischen Transformationsprozess, in dessen Verlauf er sich vom juristischen Fachterminus sowohl zu einem politisch-ethischen Leitbegriff als auch zu einer deskriptiv-analytischen Kategorie in der Soziologie entwickelt (vgl. Schmelter 1991). Der Hintergrund für beide Transformationen war die politisch-industrielle Doppelrevolution (Hobsbawm 1978), welche vom späten 18. Jahrhundert das soziale Leben der europäischen Gesellschaften grundlegend gewandelt hatte. Die zentrale politische Herausforderung dieser Zeit bestand darin, Antworten auf die drängende soziale Frage zu finden. Die Antworten fielen bekannterweise sehr unterschiedlich aus und reichten von sozialistischen Revolutionsvorstellungen über gemäßigte Reformpositionen in der Tradition des Sozialkatholizismus bis hin zu liberalen Konzepten einer marktbasierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Programmatiken, dass sie den Begriff der Solidarität aufgegriffen und in einen politisch-ethischen Leitbegriff verwandelt haben. Trotz aller ideologischen Differenzen zwischen Sozialismus, Sozialkatholizismus und Liberalismus gibt es eine Gemeinsamkeit hinsichtlich der Aneignung des ursprünglich juristischen Solidaritätsbegriffs: In allen drei Programmatiken verweist der Begriff auf bestimmte Formen von Verantwortung und Unterstützung, die mit Rekurs auf die Vorstellung einer zu realisierenden gerechten Ordnung als legitim und verpflichtend angesehen werden. Im sozialistischen Kontext ist es das gemeinsame Klasseninteresse der Arbeiter, aus dem sich Solidarität als Kampfbegriff ableitet, der zu gegenseitiger Unterstützung im Streben nach Emanzipation verpflichtet (Schmelter 1991: 37 ff.). Der Sozialkatholizismus (u. a. Heinrich Pesch) formuliert vor dem Hintergrund der gemeinsamen Abstammung von Gott und der Erbschuld aller Menschen eine Verantwortungsethik und Anforderungen an eine solidarische Wirtschaftsordnung (Schmelter 1991: 45 ff.). Wirtschaftsliberale Ökonomen (u. a. Frédéric Bastiat und Jean Baptiste Say) haben das Konzept der Interessensolidarität geprägt, welches vor dem Hintergrund einer ökonomischen Interdependenz auf Märkten zu einer kollektiven Verantwortung für eine funktionsfähige Wirtschaftsordnung verpflichtet (29 ff.). Diese politisch-ethischen Kernideen haben bis heute Bestand, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass Solidarität über Parteigrenzen hinweg zum etablierten politischen Vokabular gehört. 2
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dig ist, einzustehen. Dieser Vertrag, diese Verpflichtung beinhaltet Solidarität. Wenn eine Stadt oder eine Gemeinde verpflichtet sind, dann betrifft Solidarität jeden ihrer Einwohner. Es existiert Solidarität zwischen ihnen. [...] Der Begriff wird auch angewandt für mehrere Gläubiger, von denen jeder allein das Recht hat, die Gesamtheit der Summe einzufordern, die ihnen geschuldet wird“ (zit. nach Zoll 2000: 19, Hervorhebung weggelassen). Zur politischen Ideengeschichte des Solidaritätsbegriffs vgl. außerdem Fiegle 2003: 89 ff.; Stjernø 2005: 42 ff.
1.1 Einführung in die Problemstellung
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In seiner soziologischen Verwendung verweist der Begriff der Solidarität ebenfalls auf Verantwortungspflichten sowie Unterstützungs- und Kooperationshandlungen. Aus soziologischer Perspektive geht es allerdings nicht darum, Solidarität vor dem Hintergrund der Vorstellung einer gerechten Gesellschaft zu legitimieren oder gar einzufordern, sondern um einen empirischen Blick auf das Phänomen. Das Interesse an Solidarität wurzelt in der von den meisten Soziologen geteilten Einschätzung, dass soziale Ordnung ein gewisses Maß an Opferbereitschaft voraussetzt, da sozialer Zusammenhalt nicht allein auf Macht und individueller Interessenverfolgung basieren kann. Emile Durkheim – einer der Gründerväter der Soziologie – betont, dass Solidarität zwar nicht die einzige, aber eine essenzielle Bedingung für Gesellschaft darstellt: „Zweifellos kann die Gesellschaft nicht existieren, wenn ihre Teile nicht solidarisch sind; aber die Solidarität ist nur eine ihrer Existenzbedingungen“ (Durkheim 1992 [1893]: 469). Für die Soziologie als eine Wissenschaft, der es um die Beschreibung und Erklärung sozialer Ordnung geht, leitet sich daraus ab, dass Solidarität zu ihren zentralen Gegenständen gehört. In diese Richtung argumentiert auch Jeffrey Alexander (1980: 6), wenn er Solidarität als „independent determinant of human societies“ beschreibt und zu einem „fundamental point for sociological analysis“ erklärt. Solidarität markiert in der Soziologie allerdings keinen eigenständigen und abgegrenzten Forschungsbereich, sondern ist ein Querschnittsthema. Im Rahmen der soziologischen Analyse von Familie (Huinink et. al. 2001; Knjin/Komter 2004) wird sie ebenso behandelt wie im Rahmen der soziologischen Analyse von Arbeitsorganisationen (Wittek/Flache 2001; Sanders et al. 2005), des Wohlfahrtsstaates (Tragl 2000; Braun 2003; Ullrich 2005), von transnationalen Netzwerken (Beckert et al. 2004) oder internationalen Beziehungen (Harnisch et al. 2009). Aus der zentralen Stellung, die dem Thema in unterschiedlichen soziologischen Forschungsgebieten zugeschrieben wird, kann allerdings keineswegs der Schluss gezogen werden, dass Solidarität ein fest umrissenes analytisches Konzept darstellen würde oder dass überhaupt Klarheit darüber bestünde, was aus soziologischer Perspektive unter dem Begriff zu verstehen sei. So wird in einzelnen Analysen auf sehr unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Solidaritätsbegriffe zurückgegriffen:3 Einmal wird Solidarität mit altruistischen Motiven identifiziert und einmal mit einem aufgeklärten Eigeninteresse in Verbindung gebracht; in vielen Fällen wird Solidarität als ein freiwilliges Verhalten verstanden, andere Autoren betonen dagegen, dass Solidarität mit bestimmten Pflichten einhergeht; Solidarität wird definitorisch häufig an ein Verbundenheitsgefühl 3
Vgl. für eine Übersicht und einen Vergleich unterschiedlicher Solidaritätsdefinitionen Tranow 2007.
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1 Das Problem
gekoppelt, nicht selten werden aber auch identische Interessen und Ziele als Definitionsmerkmale aufgeführt. Die Zugrundelegung heterogener Begriffsverständnisse hat zur Konsequenz, dass sich unterschiedliche Beiträge selbst dann, wenn sie sich auf ein gemeinsames Problemfeld beziehen, nur schwer zueinander in Beziehung setzen lassen. So kommt etwa Hans W. Maull (2009: 375 f.) im Rahmen eines Sammelbandes zu dem Thema Solidarität und internationale Gemeinschaftsbildung zu der Einschätzung, dass die divergierenden Verständnisse von Solidarität einen fruchtbaren Dialog erschweren würden. Vor diesem Hintergrund wird von Maull ein konzeptioneller Forschungsbedarf im Zusammenhang mit dem Solidaritätsbegriff konstatiert. In ähnlicher Weise argumentiert Reinhart Kößler (2006). In seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Beiträgen zu der Frage, wie Prozesse der Transnationalisierung Solidarität in unterschiedlichen Bereichen (etwa Familie, Nationalstaat oder Zivilgesellschaft) beeinflussen, kommt er zu dem Schluss, dass die divergierenden Begriffsverständnisse ein Problem darstellen und eine verstärkte theoretisch-konzeptionelle Debatte über den Solidaritätsbegriff notwendig sei. Aber nicht nur die begriffliche Heterogenität stellt ein Problem dar. Der Solidaritätsbegriff wird in soziologischen Analysen nicht selten ohne Anbindung an einen theoretischen Bezugsrahmen verwendet. So kommt Günter Wiswede (2001: 329) in dem Ausblick eines Sammelbandes mit unterschiedlichen Arbeiten – u. a. zu Solidarität am Arbeitsplatz, Versicherungsbetrug und ehrenamtlichem Engagement – zu der Feststellung, dass Operationalisierungen des Begriffs meist einen Ad-hoc-Charakter hätten sowie nur auf spezifische und partielle Problemstellungen zugeschnitten seien. Ein Grund für das verbreitete theorielose Vorgehen mag der sein, dass trotz der Bedeutung des Themas erstaunlich wenig konzeptionelle Arbeiten zu Solidarität vorliegen. Helmut Thome (1998: 224) verweist auf die Diskrepanz, dass in der soziologischen Literatur zwar zahlreiche Thesen und Befunde zum Themenfeld der Solidarität zu finden sind, aber kaum Arbeiten, die das Solidaritätskonzept genauer explizieren. Dieses Theoriedefizit zeigt sich nach Siegwart Lindenberg vor allem darin, dass Solidarität als Handlungstypus kaum entwickelt ist und als Folge auch die konstitutiven Bedingungen solidarischen Handelns nicht befriedigend geklärt sind: „There is no topic that has captured the sociological imagination more than solidarity. Society would fall apart without it. Despite this prominent position of solidarity, there has been surprisingly little attention to the question what kind of behavior constitutes solidarity. Maybe as a result of this lack of behavioral anchorage of theories of solidarity, it is also not clear at all under what conditions solidarity is supposed to arise and why“ (Lindenberg 1998: 103).
1.2 Solidaritätskonzepte und ihre Defizite
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Es ist also zu konstatieren, dass das Thema Solidarität in der Soziologie zwar als wichtig angesehen wird und in unterschiedlichen Bereichen Beachtung erfährt, dass Solidarität als analytisches Konzept aber nur unzureichend entwickelt ist. An diesem Befund setzt die vorliegende Untersuchung mit ihrem Ziel an, einen Beitrag zu einem soziologischen Solidaritätskonzept zu leisten. Bevor der Aufbau der Untersuchung vorgestellt wird, werde ich zunächst anhand der Rekonstruktion einiger prominenter Konzepte konkretisieren, welche Probleme es im Zusammenhang mit einer theoretischen Ausarbeitung von Solidarität zu lösen gilt. 1.2 Solidaritätskonzepte und ihre Defizite Auch wenn in der Literatur ein theoretisch-konzeptioneller Forschungsbedarf im Zusammenhang mit Solidarität gesehen wird, ist es keinesfalls selbsterklärend, welche Probleme im Sinne der Entwicklung eines tragfähigen Konzepts der Solidarität zu lösen sind. Ich werde deshalb vier Solidaritätskonzepte vorstellen und die theoretisch-konzeptionellen Defizite benennen, die mit ihnen verknüpft sind. Dabei werde ich herausstellen, dass es vor allem im Zusammenhang mit der Schlüssigkeit des Solidaritätsbegriffs, im Hinblick auf Solidarität als Handlung und bezüglich der Normdimension von Solidarität offene Fragen und Probleme gibt, die es zu beantworten bzw. zu lösen gilt. Beginnen werde ich mit Emile Durkheim (1992 [1893]), der mit seiner Solidaritätstheorie ganz wesentlich dazu beigetragen hat, Solidarität als eine analytische Kategorie in der Soziologie zu verankern. Im Anschluss werde ich auf Karl-Otto Hondrich und Claudia Koch-Arzberger und ihren (zumindest im deutschsprachigen Raum) viel beachteten Beitrag zum soziologischen Solidaritätskonzept eingehen. Nachfolgend werde ich Franz-Xaver Kaufmanns (1984; 2002) Konzept aufgreifen, der aus einer steuerungstheoretischen Perspektive Vorschläge zur konzeptionellen Ausarbeitung von Solidarität entwickelt. Als letztes Konzept werde ich Michael Hechters (1987) Theorie der Gruppensolidarität vorstellen; Hechter argumentiert aus einer Rational-Choice-Perspektive. Abschließend werde ich die Probleme zusammenfassen und skizzieren, welchen Beitrag ich in meiner Untersuchung zu ihrer Lösung leisten möchte.
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1 Das Problem
1.2.1 Durkheim: Solidarität als Zusammenhalt durch Moral Die systematische soziologische Aneignung des Begriffs der Solidarität erfolgte durch Emile Durkheim.4 Das Hauptwerk seiner Solidaritätstheorie ist das Buch Über soziale Arbeitsteilung (1992 [1893]), welches zu den wichtigsten Klassikern des Fachs zählt und als ein Stück soziologischer Weltliteratur bezeichnet werden kann. In diesem Buch entwickelt Durkheim seine Solidaritätstheorie im Rahmen einer Studie über die arbeitsteilige Differenzierung der modernen Gesellschaft. Seine zentrale These ist, dass sich mit dem Wandel sozialer Strukturen auch die Solidaritätsformen einer Gesellschaft verändern. Die sich daran anknüpfende Unterscheidung zwischen einer auf Ähnlichkeit basierenden mechanischen Solidarität als vorherrschendem Solidaritätstyp segmentär differenzierter Gesellschaften und einer auf Interdependenz gründenden organischen Solidarität als vorherrschendem Solidaritätstyp arbeitsteilig differenzierter Gesellschaften dürfte zu den geläufigsten soziologischen Denkfiguren überhaupt gehören. Obwohl Solidarität eine zentrale analytische Kategorie in Durkheims Soziologie darstellt, bleibt der Begriff unscharf. Das ist darauf zurückzuführen, dass er Solidarität mit einem äußerst weit gefassten Sachverhalt verknüpft, nämlich mit den „allgemeinen Formen der Soziabilität und ihre[r] Gesetze“ (Durkheim 1981: 55). Der Ausgangspunkt von Durkheims Solidaritätstheorie ist die Annahme, dass Individuen keine Ordnung bilden können, „ohne sich gegenseitig Opfer zu bringen, ohne sich wechselseitig stark und dauerhaft zu binden“ (285). Hinter dieser Einschätzung steht eine zentrale Einsicht, die als soziologischer Common Sense betrachtet werden kann, nämlich, dass soziale Ordnung ein Problem darstellt, welches aus einem Spannungsverhältnis zwischen individuellen Interessen und gesellschaftlichen Anforderungen besteht. „The problem of order is therefore a genuinely transhistorical problem rooted in inescapable conflict between the interests and desires of individuals and the requirements of society: to wit, the pacification of violent strife among men and the secure establishment of cooperative social relations making possible the pursuit of collective goals“ (Wrong 1994: 36).
In Durkheims Sinne verlangt eine Lösung des Problems sozialer Ordnung, dass eine soziale Kraft wirksam wird, die „den Menschen zwingt, mit dem anderen zu rechnen, seine Bewegungen durch etwas anderes zu regulieren als durch die 4
Zuvor wurde der Begriff schon von Auguste Comte, der als Begründer der Soziologie gilt, verwendet. Bei Comte steht Solidarität ganz allgemein für sozialen Zusammenhalt. Im Unterschied zu Durkheim verfügt Comte aber nicht über ein dezidiertes Solidaritätskonzept. Zum Solidaritätsbegriff von Comte vgl. Schmelter 1991: 13 ff.
1.2 Solidaritätskonzepte und ihre Defizite
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Triebe seines Egoismus“ (Durkheim 1992 [1893]: 468). Diese soziale Kraft wird von Durkheim mit Moral identifiziert, worunter er die Normen versteht, welche das Individuum zu einem „Handeln im Hinblick auf Ziele, die nicht seine Ziele sind, zu Konzessionen, zu Kompromissen, zur Berücksichtigung höherer Interessen als seiner eigenen“ (284) verpflichten. Die Begriffe Solidarität und Moral werden bei Durkheim weitgehend kongruent benutzt (Luhmann 1992: 24). Dabei ist zu betonen, dass Solidarität und Moral für Durkheim rein deskriptive Kategorien darstellen. Wie die „Ziele“ und die „höheren Interessen“, zu deren Realisierung moralische Normen Opfer verlangen, ethisch zu bewerten sind, ist aus einer analytischen Perspektive unerheblich.5 Solidarität und Moral stellen aus Durkheims Sicht soziale Tatsachen dar und die soziologische Herausforderung besteht darin, „sie zu beobachten, zu klassifizieren und die Gesetze zu suchen, die sie erklären“ (Durkheim 1992 [1893]: 76). Indem Durkheim Solidarität und Moral als deskriptive Kategorien fasst und mit dem Problem sozialer Ordnung verknüpft, eröffnet er eine genuin soziologische Perspektive auf Solidarität. Allerdings ist zu kritisieren, dass seine Konzeptualisierung von Solidarität als Moral insgesamt zu abstrakt und zu allgemein bleibt. Bei Durkheim wird nicht deutlich, auf die Lösung welcher sozialer Ordnungsprobleme moralische Normen abzielen. Vielmehr werden alle Handlungsforderungen, welche die Gesellschaft an ihre Mitglieder stellt und die ein gewisses Opfer implizieren, als moralische Normen verstanden. Das impliziert, dass Unterstützungspflichten ebenso wie Kleidungsvorschriften, Loyalitätsgebote ebenso wie die Schulpflicht, als moralische Normen aufzufassen und dem Solidaritätsbegriff zu subsumieren sind. Eine solch breite Auslegung führt aber dazu, dass der Solidaritätsbegriff konturenlos wird und an analytischem Potenzial einbüßt. In seinem Buch Über soziale Arbeitsteilung wird Solidarität von Durkheim nicht als ein eigenständiger Handlungstypus entwickelt und von anderen abgegrenzt.6 Allerdings werden von ihm zwei Faktoren benannt, welche eine Befol5
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Es gibt allerdings eine Kontroverse darüber, inwiefern Durkheim seine Soziologie tatsächlich aus einer rein deskriptiven Perspektive oder doch aus der eines Moralisten entwickelte. Letztere Position wird bspw. von René König (1976) vertreten und auch Luhmann (1992: 28) unterstellt Durkheim, dass er trotz aller guten wissenschaftlichen Vorsätze „am Ende zum Moralisten wird“, da er für seine Gegenwart konstatierte, dass es „[u]nsere erste Pflicht“ (Durkheim 1992 [1893]: 480) sei, eine neue Form von Moral zu entwickeln. Müller und Schmid (1992: 489) betonen dagegen, dass Solidarität bei Durkheim als objektive und nicht als ethische Kategorie zu begreifen sei. Ich schließe mich der Perspektive von Müller und Schmid an, denn unbeschadet dessen, dass sich in Durkheims Werk gewiss einige Inkonsistenzen nachweisen lassen, ist die deskriptive Perspektive über weite Strecken dominierend. In späteren Arbeiten entwickelt Durkheim (1995) den Handlungstypus des moralischen Handelns, auf den ich in 2.1.2 näher eingehen werde. Kern dieses Handlungstypus ist eine intrinsische Motivation zur Befolgung von moralischen Regeln. Inwiefern Durkheim auch im Rahmen
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1 Das Problem
gung moralischer Normen und damit Solidarität gewährleisten. Zum einen sind es die Verbundenheitsgefühle der Gesellschaftsmitglieder untereinander. In Durkheims Verständnis setzt Solidarität voraus, dass die Menschen sich „lieben und aus irgendeinem Grund aneinander und an ein und derselben Gesellschaft hängen, an der sie teilhaben“ (173). Diese Verbundenheitsgefühle werden von ihm als eine Quelle altruistischer Motive betrachtet, da sie auf „natürliche Weise die Ausbrüche des Egoismus“ (172) bremsen. Im Zusammenhang mit den beiden Solidaritätstypen werden von Durkheim zwei unterschiedliche Quellen für Verbundenheitsgefühle benannt: die Ähnlichkeit der Gesellschaftsmitglieder untereinander, die in kollektiven Ritualen erfahren und bekräftigt wird (mechanische Solidarität), und die in Kooperationsprozessen erfahrene Interdependenz zwischen den Gesellschaftsmitgliedern (organische Solidarität). Neben den Verbundenheitsgefühlen verweist Durkheim aber auch auf die Notwendigkeit von sozialer Kontrolle und Sanktionen, um eine Befolgung moralischer Normen und damit Solidarität zu gewährleisten. So muss die Gesellschaft, wie Durkheim konstatiert, „mit ihrem ganzen Gewicht“ auf die Individuen einwirken, „um sie zu verpflichten, die notwendigen Konzessionen zu machen“ (172). Ein zentrales Defizit Durkheims im Zusammenhang mit der Handlungsdimension von Solidarität besteht darin, dass das Verhältnis zwischen Verbundenheitsgefühlen und Sanktionen sowie der Status dieser beiden Faktoren nicht geklärt sind. Durkheim unterstellt, dass Individuen durch Verbundenheitsgefühle altruistische Motivationen entwickeln. Zugleich scheint er davon auszugehen, dass diese nicht immer in ausreichender Weise entwickelt sind oder zumindest nicht immer ausreichend motivierend wirken, um Egoismen zu zügeln. Doch unter welchen Voraussetzungen kann sich die Solidarität einer Gruppe oder Gesellschaft auf altruistische Motive stützen und wann bleibt sie auf Sanktionen und soziale Kontrolle angewiesen? Unter welchen Bedingungen sind Menschen bereit, sich an Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft zu binden, und unter welchen bleiben sie primär egoistisch motiviert? Durkheim kann diese für eine soziologische Theorie der Solidarität zentralen Fragen nicht beantworten, sondern verweist lediglich darauf, dass sowohl Verbundenheitsgefühle als auch Sanktionen eine Rolle spielen. Seine mangelnde Auflösung dieses Problemfeldes ist darauf zurückzuführen, dass er über keine entwickelte Theorie des sozialen Handelns verfügt, welche die menschliche Motivstruktur und Handlungsrationalität erfasst (vgl. Lindenberg 1998: 65 ff.). Indem Durkheim Solidarität als eine deskriptive Kategorie versteht und mit sozialem Zusammenhalt sowie moralischen Normen assoziiert, die diesen Zusammenhalt konstituieren, zeigt er eine genuin soziologische Perspektive auf das seiner Solidaritätstheorie ein solidarisches bzw. moralisches Handeln an eine intrinsische Motivation gekoppelt sieht, bleibt unklar.
1.2 Solidaritätskonzepte und ihre Defizite
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Thema der Solidarität auf. Allerdings bleibt sein Solidaritätskonzept defizitär, da sein Solidaritätsbegriff insgesamt zu unspezifisch ist und es an einer handlungstheoretischen Fundierung fehlt. 1.2.2 Hondrich & Koch-Arzberger: Solidarität als Typ sozialer Bindung Karl Otto Hondrich und Claudia Koch-Arzberger haben mit ihrem Buch Solidarität in der modernen Gesellschaft (1992) einen Beitrag zur soziologischen Solidaritätsdebatte geleistet, der viel Beachtung gefunden hat. In dem Buch schlagen die Autoren zunächst ein Solidaritätskonzept vor, um im Anschluss die Entwicklung von Solidarität in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern – von der Selbsthilfe im Alltag über den Sozialstaat bis hin zur Weltgesellschaft – zu dokumentieren. Der Beitrag von Hondrich und Koch-Arzberger ist zwar sehr instruktiv im Hinblick auf die Sondierung von Feldern, die für eine soziologische Solidaritätsforschung von Interesse sind, doch das von ihnen entwickelte Solidaritätskonzept wirft mehr Fragen auf, als es zu lösen vermag. Solidarität wird dabei als ein besonderer Typus sozialer Bindung konzeptualisiert und von Liebe, Brüderlichkeit, Toleranz, Marktbeziehungen und Hierarchie abgegrenzt (14 ff.). Die soziale Bindung Solidarität manifestiert sich in der Bereitschaft zu freiwilligen Unterstützungsleistungen, die auf „ein[em] Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen Personen“ basiert, die, „trotz Differenzen, ihre Interessenlage und Ziele als gleich verstehen, aber ungleich beeinträchtigt sehen, woraus der Anspruch bzw. die freiwillige Verpflichtung einseitiger Unterstützung erwächst, gekoppelt mit dem Anspruch auf bzw. der Verpflichtung zur Unterstützung von der anderen Seite, sofern die Situation sich verkehrt“ (14). Ihr Solidaritätsbegriff stellt damit ein Konglomerat aus den Elementen Freiwilligkeit, Verbundenheitsgefühl, gemeinsame Interessen und Unterstützungs- sowie Reziprozitätsansprüchen dar. Mit dieser Begriffsbestimmung wird Solidarität höchst voraussetzungsvoll und spezifisch gefasst. Auch wenn hinter der Begriffsbestimmung die Intention gesteckt haben mag, Solidarität möglichst präzise und gehaltvoll zu definieren, ist sie jedoch theoretisch unbefriedigend und für die Analyse von Praxisfeldern problematisch. Hondrich und Koch-Arzberger legen definitorisch fest, dass Solidarität mit Verbundenheitsgefühlen einhergeht. Verbundenheitsgefühle mögen in vielen Fällen freiwillige Unterstützungsleistungen motivieren, doch empirisch treten solche Unterstützungsleistungen auch ohne Verbundenheitsgefühle auf. Ein Beispiel sind Hilfeleistungen nach Unfällen oder Katastrophen. In solchen Notsituationen wird häufig Unterstützung geleistet, obwohl kein besonderes Gefühl der Zusammengehörigkeit existiert. Diese Unterstützungsleistungen werden
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somit aus der Betrachtung ausgeschlossen, wobei allerdings nicht deutlich wird, wieso dies der Fall ist. Ebenfalls nicht besonders überzeugend ist der Vorschlag, gemeinsame Interessen als Definitionsmerkmal von Solidarität zu betrachten. Auf diesem Wege wird wieder eine ganze Klasse an empirisch auftretenden Unterstützungsleistungen per Definition aus der Betrachtung ausgeschlossen, nämlich Unterstützungsleistungen zugunsten der Realisierung fremder Interessen. Man denke in diesem Zusammenhang an das Engagement für politisch oder ökonomisch benachteiligte Gruppen, deren Besserstellung für die unterstützende Partei mit der Einbuße von Vorteilen verknüpft ist. Beispiele sind etwa das Engagement von Männern für die Realisierung von Emanzipationsinteressen der Frauen, obwohl sie dadurch Privilegien verlieren, oder das Engagement von Menschen in den Industrieländern für faire globale Handelsbedingungen, obwohl dadurch bestehende ökonomische Vorteile eingebüßt werden. In diesen Fällen lässt sich das Engagement nur schwer mit gemeinsamen Interessen in Verbindung bringen. Das solidaritätsstiftende Band bilden hier nicht Interessen, sondern bestimmte Werthaltungen. Ein weiteres Problem des Solidaritätsbegriffs von Hondrich und KochArzberger besteht darin, dass die Normdimension nur unzureichend ausgearbeitet ist. Zwar legen sie definitorisch fest, dass sich die soziale Bindung Solidarität durch Unterstützungs- und Reziprozitätsansprüche auszeichnet, doch der Status dieses normativen Elements bleibt ungeklärt. So wird beispielsweise nicht thematisiert, inwiefern ein Verstoß gegen diese Ansprüche sanktioniert wird. Damit bleibt die Rolle von Sanktionen für die Konsolidierung von Solidarität, die etwa von Durkheim ausdrücklich betont wird, bei Hondrich und Koch-Arzberger insgesamt unklar. Eine weitere Schwäche des Ansatzes liegt darin, dass die zentrale Frage nach den konstitutiven Bedingungen solidarischen Handelns nicht befriedigend behandelt wird. Zwar stellen Hondrich und Koch-Arzberger einen umfassenden Katalog an Bedingungsfaktoren zusammen, der u. a. naturwüchsige Ähnlichkeiten, geteilte Überzeugungen, arbeitsteilige Abhängigkeit, Interaktionshäufigkeit und Bedrohung von außen umfasst (16 ff.), doch die Begründung dieser Faktoren basiert lediglich auf allgemeinen Plausibilitätserwägungen. Die von ihnen aufgeführten konstitutiven Bedingungen werden weder durch empirische Ergebnisse untermauert, noch mit Rekurs auf eine Handlungstheorie fundiert. Hondrichs und Koch-Arzbergers Buch ist ein Beispiel für eine materialreiche, aber theoretisch wenig gehaltvolle Solidaritätsforschung. Nun mag man den Autoren zugutehalten, dass sie sich primär um praktische Solidaritätsfragen der modernen Gesellschaft und nicht um theoretisch-konzeptionelle Probleme kümmern. Allerdings ist einer praxisorientierten Solidaritätsforschung kaum gedient, wenn sie nicht auf ein überzeugendes theoretisches Konzept zurückgreifen kann.
1.2 Solidaritätskonzepte und ihre Defizite
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Das wird von Hondrich und Koch-Arzberger selbst demonstriert, da es zu einer Inkonsistenz zwischen ihrem theoretisch-konzeptionellen und ihrem analytischen Teil kommt, wenn sie in ihrer Analyse zum Teil ein Solidaritätsverständnis zugrunde legen, welches von dem von ihnen definierten Solidaritätsbegriff abweicht. So widmen sie sich etwa in einem Kapitel der sozialstaatlich institutionalisierten Solidarität (38 ff.), obwohl Solidarität von ihnen explizit als Wahlbindung und freiwillige Unterstützung definiert wird. 1.2.3 Kaufmann: Solidarität als Typ sozialer Steuerung Als theoretisch ausgereifter, aber ebenfalls in zentralen Punkten defizitär ist das Solidaritätskonzept von Franz-Xaver Kaufmann (1984; 2002) zu bewerten. Bei der Entwicklung seines Solidaritätsbegriffs orientiert sich Kaufmann „antithetisch am Begriff egoistischer Interessenverfolgung“ (Kaufmann 2002: 44) und definiert „die Nachrangigkeit des Eigeninteresses bzw. das Fehlen einer egoistischen Interessenverfolgung im Handlungsvollzug“ (41, Hervorhebung weggelassen) als das Kernelement solidarischen Handelns. Erkennbar wird ein solidarisches Handeln, „insofern eine zweckrationale Rekonstruktion der Handlungssituation ein egoistischeres Handeln als das beobachtete nahelegen würde“ (41). Dabei werden vier „typische Escheinungsformen“ (41) der Solidarität unterschieden: Loyalität, Altruismus, erweiterte Reziprozität und kollektivitätsorientiertes Verhalten. Unter Loyalität versteht Kaufmann die Orientierung an den Erwartungen Dritter in Situationen, in denen bei einer Erwartungsenttäuschung nicht mit einer Sanktionierung zu rechnen ist. Mit Altruismus bezeichnet er Leistungen, die gegenüber einer anderen Partei ohne Aussicht auf Reziprozität erbracht werden. Als erweiterte Reziprozität bezeichnet Kaufmann Leistungen im Rahmen eines Systems des wechselseitigen Ausgleichs und der wechselseitigen Abhängigkeit.7 Das kollektivitätsorientierte Verhalten steht für Beiträge, die zur Realisierung des Interesses eines Kollektivs erbracht werden (41 ff.). Die Unterscheidung der vier Erscheinungsformen der Solidarität ist ein interessanter Vorschlag, um Solidarität als Handlungstypus zu konstruieren. Allerdings bleibt Kaufmann in einem zentralen Punkt seiner Argumentation unpräzise. Er verknüpft das Kernelement solidarischen Handelns – die nichtegoistische Motivation – nicht systematisch mit den vier Erscheinungsformen der Solidarität. So kann auch eine Leistungserbringung ohne Reziprozitätsaussicht durch Eigeninteressen motiviert sein, wenn bei einer Leistungsverweigerung Sanktionen oder ein Reputationsverlust drohen. Auch Leistungen im Rahmen eines 7
Kaufmann verweist in diesem Zusammenhang etwa auf Austauschsysteme in traditionalen Gesellschaften oder den Wohlfahrtsstaat in der modernen Gesellschaft (Kaufmann 2002: 43).
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Systems des wechselseitigen Ausgleichs und der wechselseitigen Abhängigkeit können durch Eigeninteressen gedeckt sein. Das ist der Fall, wenn bei einer Leistungsverweigerung wiederum Sanktionen bzw. ein Reputationsverlust drohen oder im Rahmen des Systems gewährleistet ist, dass nur diejenigen Leistungen erhalten, die auch welche erbringen. Und auch Beiträge zur Realisierung der Interessen eines Kollektivs können – eine wirksame soziale Kontrolle und entsprechende Sanktionsdrohungen vorausgesetzt – durch Eigeninteressen motiviert sein. Kaufmann entwickelt sein Konzept aus einer steuerungstheoretischen Perspektive weiter. Er fasst Solidarität neben Markt, Hierarchie, Professionalität und Korporatismus als einen eigenen Typus sozialer Steuerung auf. Dabei legt er ein sehr weites Verständnis von sozialer Steuerung zugrunde und versteht darunter „alle im Zusammenspiel von Institutionalisierung und Interaktion typisierbaren Formen der Handlungskoordination“ (45). Damit ein Steuerungstyp dauerhaft und verlässlich Handlungen koordinieren kann, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: Es muss ein Standard adäquater Leistungserbringung existieren (guidance), Konformität der Akteure gewährleistet sein (control) und eine Evaluation der Handlungsergebnisse im Hinblick auf die Zielrealisierung stattfinden (evaluation) (1984: 166; 2002: 46). Vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Konzepts sozialer Steuerung werden von Kaufmann verschiedene Bedingungen einer solidarischen Handlungskoordination formuliert (vgl. 1984: 167 ff.; 2002: 44 ff.): Erstens muss definiert sein, in welchen Situationen welche Solidarleistungen (bezüglich der vier Erscheinungsformen: Loyalität, Altruismus, erweiterte Reziprozität und kollektivitätsorientiertes Verhalten) zu erbringen sind. Diese Standards leiten sich nach Kaufmanns Verständnis aus geteilten Werten und Situationsdefinitionen ab. Zweitens bedarf es Anreize, welche auf Anerkennungsbedürfnisse abzielen, um eine dauerhafte Konformität mit den Standards zu gewährleisten. Diese Anreize werden dadurch geschaffen, dass im Rahmen einer Gruppe solidarisches Handeln mit Achtung belohnt und ein unsolidarisches durch Missachtung sanktioniert wird. Darüber hinaus ist es notwendig, dass eine Gruppe systematisch evaluiert, inwiefern ihre Solidarziele realisiert sind. Für diese Erfolgskontrolle bedarf es einer gruppeninternen kommunikativen Verständigung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Leistungsstandards, Anerkennungsanreize und eine Erfolgskontrolle von Kaufmann als Bedingungsfaktoren für Solidarität (im Sinne einer solidarischen Handlungskoordination) identifiziert werden. Zentrale Punkte seiner steuerungstheoretischen Überlegung sind allerdings nur unzureichend entwickelt, wodurch auch das analytische Potenzial seines Konzepts eingeschränkt ist. Auf zwei Defizite, die mir besonders wichtig erscheinen, möchte ich hier hinweisen.
1.2 Solidaritätskonzepte und ihre Defizite
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Das erste Defizit besteht darin, dass der normtheoretische Aspekt des Steuerungstyps Solidarität nicht ausgearbeitet ist. In Kaufmanns Verständnis besteht der Kern dieses Steuerungstypus aus Leistungsstandards, die im Rahmen einer Gruppe durchgesetzt werden. Damit bilden Normen und ihre Realisierung die Grundlage seines Solidaritätskonzepts. Allerdings bleibt diese zentrale Rolle von Normen lediglich implizit und wird von Kaufmann nicht weiter analysiert. Es fehlt an einer Normtheorie, mithilfe derer sich die von einer Gruppe formulierten Leistungsstandards im Zusammenhang mit Solidarität konzeptionell fassen ließen. Zentrale Fragen wie etwa die, in welchen sozialen Prozessen diese Leistungsstandards entstehen oder wie sie Verbreitung finden, können ohne eine normtheoretische Grundlage aber nicht beantwortet werden. Das zweite theoretische Defizit ist eine konzeptionelle Unklarheit bezüglich der Rolle von Anerkennungsanreizen. Kaufmann argumentiert, dass eine Sicherstellung regelmäßigen solidarischen Handelns Belohnung durch Anerkennung voraussetzt. In diesem Zusammenhang wird allerdings nicht erläutert, welche Funktion er diesen Anerkennungsanreizen zuschreibt. Versteht Kaufmann die Aussicht auf Anerkennung als Handlungsanreiz, ergibt sich folgende Inkonsistenz: Akteure, die anderen gegenüber bestimmte Leistungen erbringen, weil sie dafür Anerkennung erhalten, handeln eigeninteressiert und damit per Definition nicht solidarisch. Aus diesem Grunde ist es wahrscheinlicher, dass Kaufmann die Anerkennungsanreize als Anreize zur Ausbildung einer nichtegoistischen Handlungsmotivation versteht. Vor diesem Hintergrund lässt sich Kaufmanns Anerkennungsargument in folgender Weise rekonstruieren: Akteure haben einen Anreiz, eine nichtegoistische Motivation zur Erbringung von Solidarleistungen zu entwickeln, sofern sie für diese Motivation (und nicht primär für die Leistungserbringung selbst!) von anderen mit Anerkennung belohnt werden.8 Damit steht die These im Raum, dass sich Handlungsmotivationen anreizgesteuert entwickeln können. Für eine soziologische Analyse hat diese Behauptung die weitreichende Implikation, dass bei der Frage nach den Problemen und Potenzialen eines solidarischen Handelns der Fokus auf Anreizfaktoren gelenkt wird. Doch wie überzeugend ist das Argument? Diese Frage lässt sich nur mit Rekurs auf eine Handlungstheorie beantworten. Von Kaufmann wird aber weder diese These noch seine Steuerungstheorie insgesamt handlungstheoretisch fundiert.9
8 9
Ein Anhaltspunkt dafür, dass Kaufmann eher diese zweite Funktion von Anreizen im Kopf hat, ist sein Argument, dass in der sozialen Praxis die Qualifizierung eines Handelns als solidarisch auf einer Zuschreibung durch Dritte basiert (Kaufmann 2002: 41). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das Argument einer anreizgesteuerten Entwicklung nichtegoistischer Handlungsmotivationen im vierten Teil dieser Untersuchung eine zentrale Rolle spielen wird.
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Insgesamt ist zu sagen, dass Kaufmann auf eine Reihe von Elementen verweist – nichtegoistische Handlungsmotivation, Normen, Anerkennung –, die für die Entwicklung von Solidarität als einem analytischen Konzept vielversprechend klingen. Das große Defizit des Ansatzes besteht allerdings darin, dass diese Elemente insbesondere wegen des Fehlens einer normtheoretischen und handlungstheoretischen Fundierung in keinen konsistenten Zusammenhang gebracht werden. 1.2.4 Hechter: Theorie der Gruppensolidarität Michael Hechters Theorie der Gruppensolidarität (1987) gehört zu den Solidaritätskonzepten, welches unter theoretisch-konzeptionellen Gesichtspunkten am systematischsten entwickelt ist. Obwohl es in vielen Punkten überzeugen kann, weist es einige Leerstellen und Defizite auf. Hechter legt seinem Konzept eine Rational-Choice-Perspektive zugrunde. Er beginnt mit der Annahme, dass sich Akteure zu Gruppen zusammenschließen (bzw. ihnen beitreten), um Klubgüter zu konsumieren. Bei Klubgütern handelt es sich um quasi-öffentliche Güter, die im Rahmen einer Gruppe produziert werden und deren Konsum den Gruppenmitgliedern vorbehalten ist. Die Größe und Zusammensetzung der Gruppe wird durch Aufnahme- bzw. Ausschlusskriterien reglementiert. Unter Klubgütern werden von Hechter nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Güter wie Geselligkeit und Freundschaft gefasst.10 Eine Bereitstellung von Klubgütern setzt voraus, dass die Mitglieder verlässlich adäquate Beiträge zu ihrer Realisierung leisten. Die Sicherung dieser Bereitstellungsleistungen verlangt eine Lösung der Trittbrettfahrerproblematik und zu diesem Zweck bedarf es Solidarität. Darunter versteht Hechter einen sozialen Regelungsmechanismus, mit dem Gruppen sicherstellen, dass ihre Mitglieder die verlangten Leistungen erbringen. Solidarität wird von Hechter von den sozialen Regelungsmechanismen Zwang und Kompensation abgegrenzt, auf die der Staat (Zwang) bzw. Unternehmen (Kompensation) rekurrieren, um Konformität bzw. gewünschte Arbeitsleistungen zu sichern. Solidarität basiert Hechters Verständnis zufolge auf dem Zusammenspiel von zwei Faktoren, nämlich Verpflichtungen (obligations) und ihrer Erfüllung (compliance). Unter Verpflichtungen fasst Hechter die von den Gruppenmitgliedern verlangten kompensationslosen Transferleistungen zugunsten der Bereitstellung von Klubgütern. Kompensationslos sind die verlangten Transferleistun10
Gerade Geselligkeit und Freundschaft schreibt Hechter sogar besondere Bedeutung zu: „Sociability is one of the most important immanent goods that groups provide. Since personal ties tend to arise with repeated interaction – and thus only in the course of time – they are akin to an irredeemable (or sunk cost) in the group“ (Hechter 1987: 47).
1.2 Solidaritätskonzepte und ihre Defizite
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gen insofern, als dass sie nicht an ein direktes Quidproquo gekoppelt sind. Von Hechter werden diese Transferleistungen als Mitgliedschaftssteuer verstanden: „Since the obligations imposed by membership in a group generally interfere with and deflect from members ތpursuit of their goals, they can be likened to a membership tax“ (41). Bei Hechters Verpflichtungen handelt es sich damit um Normen, durch welche die von einer Gruppe verlangten Solidarleistungen festgelegt sind. Damit Solidarität Realität wird, müssen die Mitglieder den Verpflichtungen nachkommen. Ein solidarisches Handeln wird von Hechter damit als Konformität mit Verpflichtungen verstanden. In diesem Zusammenhang betont er, dass es keine Rolle spiele, aus welchen Motiven ein Akteur den Verpflichtungen nachkomme.11 Aus dem Umfang der und der faktischen Konformität mit Solidarverpflichtungen leitet Hechter folgende behaviorale Definition von Solidarität ab: „The greater the average proportion of each member’s private resources contributed to collective ends, the greater the solidarity of the group“ (18).12 Im Unterschied zu den anderen hier aufgeführten Autoren besticht Hechter durch die Stringenz und Klarheit seines Solidaritätsbegriffs. Insbesondere die analytische Trennung zwischen Verpflichtungen und deren Erfüllung vermag zu überzeugen. Positiv hervorzuheben ist ebenfalls, dass er den Begriff der Solidarität mit einer Problemstellung verknüpft, nämlich mit der Trittbrettfahrerproblematik. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu kritisieren, dass er sich einseitig auf diese Problemstellung fixiert. Diese Reduktion scheint mir im Rahmen einer Theorie über Gruppensolidarität nicht angemessen zu sein, denn es lassen sich auch andere Problemkonstellationen identifizieren, für die Gruppen von ihren Mitgliedern gewisse Opfer ohne Kompensation verlangen. Man denke etwa an Notsituationen, in denen Unterstützungsleistungen notwendig sind, oder an Situationen, in denen Akteure Anreize zu einem Verlassen der Gruppe haben, die Gruppe sich aber einen Verbleib wünscht. Von Hechter wird also eine unnötige und unplausible Einschränkung des Solidaritätsbegriffs vorgenommen. Darüber hinaus ist zu kritisieren, dass – ähnlich wie bei Kaufmann – keine normtheoretische Ausarbeitung der Solidarverpflichtungen vorgenommen wird. So hat Hechter keine plausible Theorie dazu anzubieten, in welchen sozialen Prozessen diese Solidarverpflichtungen entstehen. Er verweist lediglich auf die Festlegung durch die Gruppe; es wird allerdings nicht deutlich, durch welche 11 12
Allerdings spricht Hechter auch nicht von solidarischem Handeln, sondern nur von compliance. Hechter verweist selbst auf das Problem, dass mit dieser Definition eine hohe Varianz von individuellen Beiträgen nicht berücksichtigt wird. Vor diesem Hintergrund stellt er fest, dass die zukünftige Solidaritätsforschung zeigen muss, ob sich eher das statistische Maß des Mittelwerts oder das des Medians zur Messung von Gruppensolidarität eignet (Hechter 1987: 18).
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Handlungen es in Gruppen zu solchen Festlegungen kommt. Dass in einer Gruppe verschiedene Akteure einen unterschiedlichen Einfluss auf die Entstehung von Solidarverpflichtungen haben können und es in Gruppen durchaus konkurrierende Ansichten hinsichtlich der Solidarverpflichtungen geben kann, wird dabei ignoriert. Diese mangelnde normtheoretische Sensibilität drückt sich außerdem in einer wenig plausiblen These bezüglich des Umfangs der Solidarverpflichtungen aus. Hier unterstellt Hechter den simplen, deterministischen Zusammenhang, dass mit steigender Abhängigkeit der Mitglieder von der Gruppe auch die verlangten Solidarverpflichtungen steigen: „The more dependent people are, the more tax they must pay for access to the same quantity of a given good“ (46). Im Unterschied zu den anderen Autoren wird von Hechter die Frage nach den konstitutiven Bedingungen eines solidarischen Handelns (bzw. einer verlässlichen Konformität mit den Solidarverpflichtungen) mit Rekurs auf eine Handlungstheorie untersucht. Ausgehend vom Akteursmodell des rationalen Nutzenmaximierers argumentiert Hechter, dass Solidarität nur dann zu erwarten sei, wenn hinreichende Anreize zu einem solchen Verhalten bestehen würden. Ob das der Fall sei, hänge von dem Zusammenspiel von zwei Faktoren ab, nämlich von der Entdeckungswahrscheinlichkeit eines abweichenden Verhaltens und der Höhe der zu erwartenden Sanktionen: „[...] being rational actors, members will comply only if the probability of detection multiplied by the sanctions imposed given detection equals the benefits from noncompliance“ (Chai/Hechter 1998: 36 f.). Inwiefern eine Gruppe hinreichende Anreize zu einer Erfüllung der Solidarverpflichtungen gewährleisten kann oder nicht, hängt von ihren Kontrollund Sanktionskapazitäten ab. In diesem Zusammenhang sind eine Reihe von Variablen entscheidend, etwa die Messbarkeit und die Nachvollziehbarkeit der geleisteten Beiträge zum Klubgut oder die zur Verfügung stehenden Ressourcen, um effektive Sanktionen verhängen zu können (Hechter 1987: 49 ff.). Mit der Zugrundelegung der Perspektive eines rationalen Nutzenmaximierers sind aus Hechters Theorie der Gruppensolidarität jene Elemente ausgeschlossen, die in den anderen hier aufgeführten Solidaritätskonzepten – aber auch im Alltagsverständnis von Solidarität – eine zentrale Rolle spielen, nämlich Verbundenheitsgefühle oder eine altruistische Motivation. Dieser Ausschluss ist aus Hechters handlungstheoretischer Perspektive durchaus folgerichtig. Allerdings vermag die Fokussierung auf rationale Nutzenmaximierung als einziges Handlungsmotiv theoretisch kaum zu überzeugen. Damit im Rahmen einer Gruppe Verpflichtungen befolgt werden und Solidarität entsteht, muss – der Logik von Hechters Argumentation folgend – ein lückenloses Anreizsystem gewährleistet sein. Unabhängig davon, dass diese Bedingung in der Realität kaum zu erfüllen ist, lässt sich eine Befolgung von Solidarverpflichtungen aber auch in
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solchen Situationen beobachten, in denen keine starken Anreize zu einem solchen Verhalten existieren. Um das solidarische Verhalten in diesen Situationen erklären zu können, muss also eine andere Motivation als eine rationale Orientierung am Eigeninteresse vorausgesetzt werden.13 Hechters Solidaritätskonzept besticht durch theoretische Stringenz und weist aus diesem Grunde auch ein vergleichsweise großes analytisches Potenzial auf. Zu kritisieren ist allerdings, dass er über keine Normtheorie verfügt, obwohl Normen eine herausragende Rolle zugesprochen wird, und dass das zugrunde gelegte handlungstheoretische Modell des homo oeconomicus nicht zu überzeugen vermag. 1.2.5 Bündelung der Probleme Die Rekonstruktion der Solidaritätskonzepte hat gezeigt, dass jedes von ihnen mit spezifischen Problemen behaftet ist. Diese reichen von Inkonsistenzen und Leerstellen bis hin zu fragwürdigen Annahmen. Die aufgezeigten Defizite werde ich hier nochmals zusammenfassend darstellen, um anschließend vorzustellen, welchen Beitrag ich in meiner Untersuchung zu ihrer Lösung leisten werde. Der Solidaritätsbegriff Der Solidaritätsbegriff legt fest, mit welchen Inhalten Solidarität im Rahmen eines Konzeptes identifiziert wird. Aus diesem Grunde steht und fällt das analytische Potenzial eines Solidaritätskonzepts mit der Schlüssigkeit und Konsistenz dieses Begriffs. Alle aufgeführten Autoren weisen diesbezüglich allerdings Defizite auf. Bei Durkheim besteht das zentrale Problem darin, dass Solidarität zu weit und unspezifisch gefasst wird, indem er Solidarität allgemein mit sozialem Zusammenhalt und Moral identifiziert. Der Solidaritätsbegriff von Hondrich und Koch-Arzberger ist dagegen zu eng gefasst. Da sie Solidarität definitorisch an eine ganze Reihe von Variablen binden (Freiwilligkeit, Verbundenheitsgefühle, gemeinsame Interessen etc.), werden empirische Phänomene ausgeschlossen, die 13
Dieser Einwand stellt allerdings keine Diskreditierung des Rational-Choice-Ansatzes insgesamt dar. Die hier geäußerte Kritik an Hechter bezieht sich lediglich auf die enge Auslegung dieser Theorie, welche – ausgehend vom Modellakteur des homo oeconomicus – Akteuren ausschließlich eine rational-nutzenmaximierende Handlungsorientierung zuschreibt. Im vierten Teil dieser Untersuchung werde ich mich aus einer erweiterten Rational-Choice-Perspektive, die unter bestimmten Bedingungen Akteuren die Entwicklung nichtegoistischer Handlungsorientierungen zugesteht, mit den konstitutiven Bedingungen solidarischen Handelns beschäftigen.
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aus soziologischer Perspektive eine große Relevanz haben und erklärungsbedürftig sind. Kaufmann identifiziert mit Solidarität einen Handlungstypus, der sich durch eine nichtegoistische Motivation auszeichnet, und einen Typus sozialer Steuerung, der sich aus einem Zusammenspiel von Leistungsstandards (Normen), Anerkennungsanreizen und einer Erfolgskontrolle bildet. Da die einzelnen Elemente von ihm nur unzureichend in einen klaren Zusammenhang gebracht werden, bleibt sein Solidaritätsbegriff ebenfalls defizitär. Hechter präsentiert mit seiner Idee, Solidarität als faktische Befolgung von Gruppenverpflichtungen zu fassen, den schlüssigsten und tragfähigsten Solidaritätsbegriff von allen Autoren. Da er allerdings kein Konzept solidarischen Handelns vorweisen kann, welches über eine Konformität mit den Gruppenverpflichtungen hinausgeht, ist auch sein Solidaritätsbegriff insgesamt nicht befriedigend. Solidarität als Norm Die Rekonstruktion der Solidaritätskonzepte von Durkheim, Hondrich und Koch-Arzberger sowie Hechter hat gezeigt, dass normative Erwartungen ein zentrales Element des soziologischen Solidaritätsverständnisses sind. Bei Durkheim zeigt sich ihre Bedeutung darin, dass sich sozialer Zusammenhalt und damit Solidarität seinem Verständnis nach durch moralische Normen konstituieren. Eine ähnlich tragende Rolle spielen Normen in Hechters Solidaritätskonzept. So identifiziert er die Solidarität einer Gruppe mit den faktisch befolgten Solidarverpflichtungen. In Kaufmanns Ansatz sind Normen ein wesentliches Funktionselement des Steuerungstypus Solidarität. Nur wenn Normen existieren, die bestimmte Leistungsstandards festlegen, kann es überhaupt zu einer solidarischen Handlungskoordination kommen. Auch Hondrich und Koch-Arzberger rekurrieren auf normative Erwartungen, indem sie darlegen, dass Solidarität mit Unterstützungs- und Reziprozitätsansprüchen einhergeht. Vor dem Hintergrund des zentralen Stellenwerts, den Normen in allen diesen Ansätzen einnehmen, ist es erstaunlich, dass keiner der Autoren das Element der normativen Erwartungen unter Bezugnahme auf normtheoretische Überlegungen systematisiert. Das hat zur Folge, dass zentrale Fragen im Zusammenhang mit normativen Solidarerwartungen unbeantwortet bleiben; etwa, wodurch sich normative Solidarerwartungen von normativen Erwartungen anderen Typs abgrenzen, in welchen Hinsichten sich normative Solidarerwartungen in verschiedenen Kontexten unterscheiden oder in welchen sozialen Prozessen diese Normen entstehen. Diese mangelnde normtheoretische Ausarbeitung der Solidaritätskonzepte ist deswegen so erstaunlich, weil es sich bei Normen um einen
1.3 Das Programm der Untersuchung
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Kerngegenstand der Soziologie handelt und daher vielfältige Möglichkeiten der Verknüpfung von Solidaritäts- und Normtheorie existieren. Konstitutive Bedingungen solidarischen Handelns Eine wesentliche Herausforderung der soziologischen Analyse von Solidarität besteht darin, solidarisches Handeln zu erklären und Probleme sowie Potenziale solidarischen Handelns zu erfassen. Um das leisten zu können, bedarf es einer Klärung der konstitutiven Bedingungen solidarischen Handelns. In dieser Hinsicht bleiben allerdings alle hier aufgeführten Konzepte defizitär. Von Durkheim wird auf die zentrale Rolle von Verbundenheitsgefühlen verwiesen und zugleich herausgestellt, dass Solidarität auch soziale Kontrolle und Sanktionen voraussetzt. Eine Klärung des Verhältnisses zwischen diesen beiden Elementen findet nicht statt. Hondrich und Koch-Arzberger erstellen zwar einen Katalog mit einer ganzen Reihe an konstitutiven Faktoren (naturwüchsige Ähnlichkeiten, Interaktionshäufigkeit, Bedrohung von außen etc.); da diese Faktoren aber weder durch empirische Befunde noch durch handlungstheoretische Überlegungen fundiert werden, hat dieser Katalog lediglich einen Ad-hoc-Charakter. Kaufmann verweist auf die zentrale Rolle von Anerkennung für ein solidarisches Handeln. Es bleibt aber offen, in welcher Weise durch die Anerkennungsvergabe die nichtegoistischen Motive entstehen, die in seiner Konzeption den Kern eines solidarischen Handelns ausmachen. Hechter ist der einzige Autor, von dem die Frage nach den konstitutiven Bedingungen solidarischen Handelns systematisch und mit Rekurs auf eine Handlungstheorie bearbeitet wird. Das Problem ist hier weniger der Mangel an theoretischer Konsistenz, als das Akteursmodell des homo oeconomicus, welches als einzige handlungstheoretische Grundlage nicht zu überzeugen vermag. 1.3 Das Programm der Untersuchung Das Ziel der anstehenden Untersuchung ist es, einen Beitrag zur Entwicklung eines tragfähigen Solidaritätskonzepts zu leisten, welches sich zur soziologischen Analyse von Solidaritätsfragen nutzen lässt. Mit der Rekonstruktion der Ansätze von Durkheim, Hondrich und Koch-Arzberger, Kaufmann und Hechter sind die wesentlichen theoretischen Probleme deutlich geworden, die es in diesem Zusammenhang zu lösen gilt. In der Untersuchung strebe ich an, einen konsistenten und gehaltvollen Solidaritätsbegriff zu entwickeln (Teil 2), die normtheoretische Dimension von Solidarität auszuarbeiten (Teil 3) und die konstitutiven Bedin-
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gungen solidarischen Handelns zu klären (Teil 4). An dieser Stelle werde ich in den Aufbau und in die Kernargumentation der Teile einführen. Teil 2: Solidarität: eine soziologische Begriffsbestimmung Im zweiten Teil der Untersuchung wird es um die Frage gehen, was aus soziologischer Perspektive sinnvollerweise unter Solidarität zu verstehen ist. In 2.1 werde ich einen Solidaritätsbegriff vorschlagen, dessen Kernelement die Differenzierung zweier Ebenen der Solidarität ist: einer Akteurs- und einer Systemebene. Auf Akteursebene manifestiert sich Solidarität in einem bestimmten Typus sozialen Handelns. Den Handlungstypus Solidarität werde ich als persönliche Solidarnormbindung fassen, womit eine intrinsisch motivierte und regelmäßige Befolgung von Solidarnormen gemeint ist. Auf Systemebene manifestiert sich Solidarität dagegen in den geltenden Solidarnormen, d. h. in einer durch Solidarnormen institutionalisierten Praxis von Unterstützungs- und Kooperationsleistungen. Dieser Solidaritätsbegriff ist umfassend, da er sowohl die Akteurs- wie auch die Systemebene einschließt, und er hat einen substanziellen Charakter, da er Solidarität mit zwei konkreten Gegenständen (Solidarnormbindung, Solidarnormgeltung) identifiziert. Im Anschluss an die Begriffsbestimmung werde ich in 2.2 darlegen, welches analytische Potenzial der Solidaritätsbegriff aufweist und in welchen Punkten er theoretisch weiterzuentwickeln ist. Drei grundsätzliche Perspektiven für eine soziologische Solidaritätsforschung sind mit dem Solidaritätsbegriff verknüpft: Aus der ersten Perspektive steht die Solidarität individueller Akteure, aus der zweiten die Solidarität sozialer Systeme und aus der dritten das Verhältnis zwischen der Akteurs- und der Systemebene im Mittelpunkt. Trotz seines analytischen Potenzials kann der Solidaritätsbegriff, wie er sich bis zu diesem Punkt darstellt, noch keine Analyse anleiten, da er in wesentlichen Punkten nicht theoretisch festgelegt ist. Der leere Solidaritätsbegriff, so werde ich argumentieren, bedarf aus diesem Grunde einer handlungs- und normtheoretischen Ausarbeitung. Teil 3: Solidarnormen: ein theoretischer Rahmen Im dritten Teil der Untersuchung werde ich ein theoretisches Konzept von Solidarnormen entwickeln. Diesem liegt der Anspruch zugrunde, dass es sich zur Erfassung von Solidarität in unterschiedlichsten sozialen Kontexten eignen soll, von der Familie über soziale Netzwerke und Organisationen bis hin zu staatlich
1.3 Das Programm der Untersuchung
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verfassten Gemeinschaften. In 3.1 werde ich zunächst die Grundzüge des Konzepts Solidarnormen darlegen. Anknüpfend an die Normtheorie Baurmanns (1996) werde ich dabei ein sehr weites Verständnis von Solidarnormen vertreten und diesem Begriff alle zum Ausdruck gebrachten Sollens-Erwartungen subsumieren, dass Akteure zugunsten anderer oder zugunsten einer Gruppe kompensationslose Transferleistungen erbringen. Solidarnormen können demnach unterschiedlichste Formen annehmen, von der verbalen Aufforderung bis hin zu Rechtsnormen. Um den Gegenstand von Solidarnormen zu konkretisieren, werde ich in Anlehnung an Lindenberg (1998) zwischen vier Solidarnormen unterscheiden: Bereitstellungs-, Verteilungs-, Unterstützungs- und Loyalitätsnormen. Diese Differenzierung wird mit dem Anspruch vorgenommen, den Bereich der Solidarität umfassend abzudecken. Nach Darlegung der Grundlagen des Solidarnormkonzepts werde ich verschiedene Dimensionen vorstellen, mit denen sich zentrale Eigenschaften von Solidarnormen analytisch erfassen lassen. In 3.2 stehen Solidaropfer im Fokus. Ausgehend von dem Umstand, dass Art und Umfang der durch Solidarnormen verlangten Opfer variieren, werde ich ein Konzept entwickeln, wie sich aus Adressatenperspektive die Qualität von Solidaropfern erschließen lässt. Die Kernthese ist die, dass die Art und die Stärke von Solidaropfern damit variiert, welches Interesse Akteure an der Geltung einer Solidarnorm haben. Im Anschluss wird es in 3.3 um Verpflichtungsstrukturen gehen. Dabei werde ich zunächst unterschiedliche Typen von Beziehungen identifizieren, die zwischen verschiedenen Solidarnormen existieren können (neutrale, komplementäre, konfligierende Beziehung). Danach werde ich in lockerer Anlehnung an Überlegungen von Heinrich Popitz (1980) und James Coleman (1991) sechs Typen von Inklusionsbeziehungen definieren. Diese Typen lassen sich dazu nutzen, innerhalb von sozialen Systemen die Struktur von Solidarverpflichtungen zu rekonstruieren und zu analysieren. Nachfolgend wird in 3.4 die Institutionalisierung von Solidarnormen im Mittelpunkt stehen. Der Begriff der Institutionalisierung bezieht sich auf die Frage, inwiefern die Setzung und Durchsetzung von Solidarnormen (bzw. anderen Normen) ihrerseits einer normativen Reglementierung unterliegt. In Anlehnung an Heinrich Popitz (1980) und Herbert L. A. Hart (1998 [1961]) werde ich eine Heuristik entwickeln, mit deren Hilfe sich unterschiedliche Grade der Institutionalisierung von Solidarnormen (bzw. anderen Normen) erfassen lassen. Da die Geltung von Solidarnormen – und damit die Solidarität auf Systemebene – voraussetzt, dass diese befolgt werden, werde ich mich in 3.5 mit den Bedingungen einer Solidarnormbefolgung beschäftigen. Dabei wird es darum gehen, aus anreiztheoretischer Perspektive zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen eine regelmäßige Solidarnormbefolgung durch das Eigeninteresse der
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1 Das Problem
Akteure gedeckt ist und unter welchen Voraussetzungen eine Solidarnormbindung (also eine intrinsische Motivation) nötig ist, um eine Solidarnormgeltung zu garantieren. Darüber hinaus werde ich darlegen, dass sich der Charakter der Solidarität auf Systemebene in Abhängigkeit von den Anreizbedingungen und der Handlungsorientierung der Akteure unterschiedlich darstellen kann. Der dritte Teil endet in 3.6 mit einer Zusammenfassung, in der ich die entwickelten Kategorien und Dimensionen knapp wiedergebe. Teil 4: Solidarnormbindung: ein explanatives Modell Im vierten Teil der Untersuchung stehen die konstitutiven Bedingungen eines solidarischen Handelns bzw. einer Solidarnormbindung im Fokus der Betrachtung. Gegenstand dieses Teils ist die Entwicklung eines explanativen Modells der Solidarnormbindung aus einer erweiterten Rational-Choice-Perspektive. Die Modellentwicklung erfolgt durch eine Integration von vier Ansätzen: (1) Theorie universeller Zielgüter (u. a. Lindenberg 2001a), (2) Theorie der sozialen Produktionsfunktionen (u. a. Esser 1999), (3) Framing-Theorie (Lindenberg 1993; 2001a) und (4) Theorie der Interaktionsrituale (Randall Collins 1988; 2004). Jeder dieser Ansätze liefert wesentliche Einsichten in die Voraussetzungen für eine Solidarnormbindung, aber erst in ihrer Kombination ergibt sich ein befriedigendes Bild ihrer konstitutiven Bedingungen. Bevor es zur eigentlichen Modellentwicklung kommt, werde ich zunächst in 4.1 in den Ansatz und das Konzept der Modellentwicklung einleiten. Dabei wird es insbesondere darum gehen, in die erweiterte Rational-Choice-Perspektive einzuführen. Damit wird eine handlungstheoretische Perspektive bezeichnet, die zwar von den Grundprämissen der Rational-Choice-Theorie ausgeht (methodologischer Individualismus, Interessenfundierung und Rationalität menschlichen Handelns), sich aber von dem engen Akteursmodell des homo oeconomicus löst. In 4.2 werde ich mit der Theorie universeller Zielgüter (u. a. Lindenberg 2001a) das Fundament des explanativen Modells legen. Zwei Postulate sind mit dieser Theorie verknüpft: Das erste Postulat besagt, dass alle Menschen über dieselbe invariable Bedürfnisstruktur verfügen und durch eine Befriedigung von physischen Bedürfnissen sowie Anerkennungsbedürfnissen subjektives Wohlbefinden realisieren wollen. Das zweite Postulat ist, dass sich jedes Handeln als Nutzenproduktion interpretieren lässt, es also in direkter oder indirekter Weise darauf abzielt, einen Beitrag zur Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse zu leisten. Aus der Theorie universeller Zielgüter leitet sich ab, dass eine Solidarnormbindung nicht etwa über eine natürliche Neigung erklärt werden kann, sondern als ein Mittel im Prozess der individuellen Nutzenproduktion verstanden
1.3 Das Programm der Untersuchung
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werden muss. Für das explanative Modell folgt daraus, dass die grundlegendste Bedingung für eine Solidarnormbindung darin besteht, dass diese Eigenschaft einen Beitrag leistet, um physische Bedürfnisse und/oder Anerkennungsbedürfnisse zu befriedigen. Mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen werde ich in 4.3 klären, unter welchen Bedingungen es für die Nutzenproduktion individueller Akteure rational ist, eine Solidarnormbindung vorzuweisen. Das zentrale Argument wird sein, dass sich die Rationalität einer Solidarnormbindung aus dem Zusammenspiel von kulturellen und materiellen Faktoren konstituiert. In kultureller Hinsicht muss gewährleistet sein, dass solidarnormgebundene Akteure für diese Eigenschaft Anerkennung erhalten und/oder wegen dieser Eigenschaft Vorteile in der Konkurrenz um knappe Positionen genießen. In materieller Hinsicht muss sichergestellt sein, dass es sich für Akteure vor dem Hintergrund ihrer knappen Ressourcenausstattung unter Nutzengesichtspunkten lohnt, eine Solidarnormbindung einzugehen. Mithilfe der Theorie der Produktionsfunktionen werde ich bestimmen, welche objektiven kulturellen und materiellen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit es zu einer Solidarnormbindung kommt. Liegt eine Solidarnormbindung im Interesse der individuellen Nutzenproduktion, kommt es allerdings nicht automatisch zur Ausbildung dieser persönlichen Eigenschaft. Unter Bezugnahme auf Lindenbergs Framing-Theorie (1993; 2001a) werde ich in 4.4 die subjektive Komponente menschlichen Handelns in das Modell der Solidarnormbindung integrieren. Unter Frames versteht Lindenberg Handlungsziele und mit ihnen verknüpfte Wissensbestände. Nach der Framing-Theorie resultiert aus dem beschränkten Kognitionsvermögen von Menschen, dass sie im Handlungsprozess nur ein dominantes Ziel verfolgen können. In Handlungssituationen konkurrieren häufig mehrere Ziele darum, als Frame Handlungsdominanz zu erlangen. Welcher Frame sich in einer Situation durchsetzt und aktiviert wird, hängt nicht nur davon ab, welche Zielverfolgung unter Nutzengesichtspunkten am effizientesten ist, sondern unterliegt situationellen Stimuli und Affekten. In Anlehnung an die Framing-Theorie werde ich ein Konzept von Solidarframes entwickeln und eine Solidarnormbindung als regelmäßige Aktivierung von Solidarframes reformulieren. Ein Solidarframe besteht aus dem Handlungsziel einer Solidarnormbefolgung sowie aus damit verknüpften affektuellen Einstellungen – etwa Verbundenheitsgefühlen oder Wertüberzeugungen. Eine Solidarnormbindung im Sinne einer regelmäßigen Aktivierung von Solidarframes unterliegt folgender Problematik: Die Vorteile aus einer Solidarnormgebundenheit ergeben sich für einen Akteur in der Regel erst langfristig, während die Opfer einer Solidarnormbefolgung unmittelbar zu spüren sind. Vor diesem Hintergrund ergibt sich in vielen Entscheidungssituationen die Versuchung, die Opfer
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1 Das Problem
einer Solidarnormbefolgung nicht auf sich zu nehmen. Diese Versuchung fällt umso weniger ins Gewicht, je stärker ein Solidarframe mit affektuellen Einstellungen ausgestattet ist. Verbundenheitsgefühle bzw. Wertüberzeugungen spielen daher zusätzlich zu der Nutzenfundierung eine zentrale Rolle für die Erklärung einer Solidarnormbindung. Im Rahmen der Framing-Theorie lässt sich allerdings nicht die Frage beantworten, wie es zum Aufbau dieser affektuellen Einstellungen kommt. Diese Leerstelle werde ich in 4.5 mithilfe von Collins ތTheorie der Interaktionsrituale (1988; 2004) schließen. Die Kernthese der Theorie besteht darin, dass Akteure in sozialen Interaktionsprozessen – die von Collins als Rituale verstanden werden – Formen der Verbundenheit und Wertüberzeugungen aufbauen. Unter Interaktionsrituale fallen tägliche Grußpraktiken ebenso wie religiöse Zeremonien oder Massenveranstaltungen. Der nachhaltige Aufbau dieser affektuellen Einstellungen ist allerdings an eine ganze Reihe von Bedingungen geknüpft. Die grundlegendste ist, dass die Teilnahme als belohnend empfunden werden muss. In diesem Zusammenhang sind Variablen wie Macht, physische Präsenz oder Gruppenintegration von Bedeutung. In 4.6 werde ich das explanative Modell zusammenfassend darstellen. Darüber hinaus werde ich darlegen, wie sich das explanative Modell für die soziologische Forschung nutzbar machen lässt, indem aus ihm einige analytische Leitfragen abgeleitet werden.
2
Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung
2.1 Die Begriffsbestimmung 2.1.1 Zwei Ebenen des soziologischen Solidaritätsbegriffs In der Soziologie lassen sich zwei allgemeine Ansätze zur Bestimmung des Solidaritätsbegriffs identifizieren: der individualistische und der strukturalistische Solidaritätsbegriff (Berger 2004: 254 ff.). Der individualistische Solidaritätsbegriff nimmt den individuellen Akteur in den Blick und identifiziert Solidarität mit persönlichen Eigenschaften wie bestimmten Gefühlen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Der strukturalistische Solidaritätsbegriff konzentriert sich dagegen auf die Systemebene und betrachtet die institutionalisierte Solidarität, wie sie sich etwa im Rahmen des Nationalstaates durch festgeschriebene Steuertarife oder Sozialabgaben manifestiert. Im Folgenden werde ich mich an beiden Ansätzen orientieren und zwischen zwei Ebenen unterscheiden, auf denen sich Solidarität soziologisch darstellt. Ich werde argumentieren, dass sich Solidarität auf der Akteursebene in einem bestimmten Handlungstypus ausdrückt. Dieser Handlungstypus definiert sich durch eine persönliche Solidarnormbindung, d.i. eine regelmäßig, intrinsisch motivierte Solidarnormbefolgung. Auf Systemebene manifestiert sich Solidarität demgegenüber in den geltenden Solidarnormen, also in den Solidarnormen, welche in einem sozialen System durchgesetzt sind und eine Praxis der Unterstützung, Hilfe und Kooperation konstituieren. Unter einem sozialen System verstehe ich dabei ganz allgemein alle Interaktionsbeziehungen zwischen mindestens zwei Akteuren, die von einer gewissen Festigkeit und Dauer sind, sodass sich in ihrem Rahmen (Solidar-)Normen entwickeln und durchsetzen können. Unter diesen Systembegriff fallen Paarbeziehungen ebenso wie soziale Netzwerke, Organisationen oder staatlich organisierte politische Gemeinschaften. Im Mittelpunkt des von mir vorgeschlagenen Solidaritätsbegriffs stehen Solidarnormen, die als eine Art konzeptionelle Klammer zwischen der Akteursund der Systemebene fungieren. Normen sind zwar ein zentrales Konzept in der Soziologie, doch es herrscht keinesfalls Einigkeit darüber, was der Begriff genau bezeichnen soll. Aus diesem Grunde erklärt sich auch keineswegs von selbst, worum es sich bei Solidarnormen handelt. Bei der anstehenden Klärung des
U. Tranow, Das Konzept der Solidarität, DOI 10.1007/978-3-531-93370-2_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
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2 Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung
Solidaritätsbegriffs werde ich mit einer minimalen Kerndefinition von Solidarnormen arbeiten, die sehr weit gefasst ist. Unter Solidarnormen werden zunächst ganz allgemein Sollens-Erwartungen verstanden, die von Akteuren verlangen, dass sie in bestimmten Situationen gewisse Opfer zugunsten anderer oder zugunsten der Gemeinschaft erbringen. Dass Akteure ein Opfer auf sich nehmen, indem sie eigene Interessen zugunsten anderer oder zugunsten der Gemeinschaft zurückstellen, kann als Kern des allgemeinen Verständnisses von Solidarität betrachtet werden. Der Aspekt der Sollens-Erwartungen stellt den kleinsten gemeinsamen Nenner der meisten Normbegriffe in der Soziologie dar.14 Die Normbegriffe variieren dagegen darin, mit welchen darüber hinausgehenden Merkmalen sie Normen identifizieren, ob sie etwa Normen definitorisch mit Sanktionen verknüpfen oder ob sie festlegen, dass nur solche Sollens-Erwartungen Normen sind, die auch wirksam sind und eine Verhaltensregelmäßigkeit evozieren. Indem ich mich in meiner Kerndefinition auf Sollens-Erwartungen beschränke und die anderen Punkte offenlasse, ist eine breite Anschlussfähigkeit des Solidarnormkonzepts (und damit des gesamten Solidaritätsbegriffs) an unterschiedliche normtheoretische Ansätze gewährleistet. Im dritten Teil dieser Untersuchung werde ich einen Vorschlag machen, wie sich das Solidarnormkonzept normtheoretisch spezifizieren lässt. Diese minimale Kerndefinition von Solidarnormen reicht an dieser Stelle allerdings zunächst aus, um den Solidaritätsbegriff darzulegen. 2.1.2 Solidarität als Handlungstypus auf Akteursebene Der individualistische Solidaritätsbegriff begreift Solidarität als ein Merkmal von Akteuren. In diesem Zusammenhang ist zunächst zu konstatieren, dass sich Solidarität auf Akteursebene in einem Handeln und nicht bloß in Gefühlsregungen oder Einstellungen zeigen muss, um soziologisch von Interesse zu sein (Kaufmann 2002: 40).15 Auf Akteursebene manifestiert sich Solidarität damit als ein bestimmter Handlungstypus. Wodurch zeichnet sich dieser Handlungstypus aus und wie lässt er sich von anderen abgrenzen? In der Soziologie gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Vorstellungen, was die charakteristischen Merkmale eines solidarischen Handelns sind. Von Helmut Thome (1998) stammt eine 14 15
Allerdings gibt es auch Normbegriffe, die diese Erwartungsdimension nicht berücksichtigen. Eine gute Übersicht über unterschiedliche Normverständnisse in der Soziologie bietet Opp 2000. Reine Solidargefühle oder Solidareinstellungen ohne jeden Handlungsbezug können unter Umständen in den Gegenstandsbereich der Psychologie fallen. Für die Soziologie als einer Wissenschaft, der im Weber’schen Sinne die Aufgabe zukommt, soziales Handeln zu verstehen und zu erklären, ist ein Handlungsbezug dagegen essenziell.
2.1 Die Begriffsbestimmung
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Art Metadefinition, mit der er den Anspruch verbindet, dass sie den kleinsten gemeinsamen Nenner fast aller vorfindbaren Definitionen darstellen soll. Sie lautet: „Als solidarisch wird ein Handeln bezeichnet, das bestimmte Formen des helfenden, unterstützenden, kooperativen Verhaltens beinhaltet und auf einer subjektiv akzeptierten Verpflichtung oder einem Wertideal beruht“ (Thome 1998: 219, Hervorhebung im Original).
Thome weist darauf hin, dass sich die verschiedenen Begriffe solidarischen Handelns darin unterscheiden, durch welche zusätzlichen Bestimmungselemente das helfende, unterstützende und kooperative Verhalten charakterisiert wird. Ich schlage einen Begriff solidarischen Handelns vor, der eine Spezifizierung dieser Kerndefinition darstellt. Die grundlegendste Spezifizierung der Kerndefinition besteht darin, dass ich das Element der Solidarnorm in die Definition einführe. In Anlehnung an die Definition von Thome konkretisiert sich ein solidarisches Handeln damit zu einer Befolgung von Solidarnormen, die auf einer subjektiv akzeptierten Verpflichtung bzw. einem Wertideal beruht. Mit der Idee, ein solidarisches Handeln als eine besondere Form der Solidarnormbefolgung zu fassen, übertrage ich Durkheims allgemeines Konzept des moralischen Handelns auf den Bereich der Solidarität. Als Kernelement des moralischen Handelns betrachtet Durkheim die Normkonformität: „Sich moralisch zu verhalten, heißt, nach einer Norm handeln“ (Durkheim 1995: 77). Dabei erschöpft sich ein solches Handeln nicht in Normkonformität, sondern setzt eine bestimmte innere Haltung gegenüber der Norm bzw. ein bestimmtes Motiv für die Normbefolgung voraus. Nur dann, wenn ein Akteur eine Normbefolgung als innere Verpflichtung wahrnimmt und die Befolgung nicht durch den Wunsch determiniert ist, Sanktionen zu vermeiden oder Vorteile zu generieren, kann nach Durkheim von einem moralischen Handeln gesprochen werden. „[...] es ist eine ständige, unwiderlegbare Tatsache, daß eine Handlung, selbst wenn sie materiell mit der Regel übereinstimmt, nicht moralisch ist, wenn sie nur aus der Sicht vor schädlichen Folgen unternommen worden ist. Damit die Handlung ganz das ist, was sie zu sein hat, [...], müssen wir uns ihr unterwerfen, nicht um ein unangenehmes Ergebnis, um eine materielle oder moralische Strafe zu vermeiden oder um irgendeine Belohnung zu erhalten; wir müssen uns ihr einfach unterwerfen, weil wir uns ohne Rücksicht auf die Folgen, die unser Verhalten haben könnte, unterwerfen müssen. Man muß der moralischen Vorschrift aus Respekt vor ihr gehorchen, und das ist der einzige Grund“ (84).
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2 Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung
Um ein moralisches Handeln zu charakterisieren, spricht Durkheim an anderer Stelle auch von einem „freiwillige[n] Gehorsam“ (83), also einer Pflichterfüllung aus eigenem Antrieb, bei der von situationellen Bedürfnissen und Neigungen Abstand genommen wird. Auf das hier interessierende Thema des solidarischen Handelns übertragen, lässt sich mit Durkheim sagen, dass sich ein Akteur dann solidarisch verhält, wenn er intrinsisch motiviert – also unabhängig von äußeren Anreizen – Solidarnormen befolgt. Die innere Haltung gegenüber einer Solidarnorm, die hier als definitorisches Merkmal solidarischen Handelns dienen soll, lässt sich durch eine Kategorie des Rechtsphilosophen Herbert L. A. Hart (1998 [1961]) konkretisieren. In seinem Buch The Concept of Law trifft er die Unterscheidung zwischen einem internen und einem externen Standpunkt als zwei grundsätzlich zu unterscheidenden Haltungen, die Akteure gegenüber Normen einnehmen können. Der Kernunterschied dieser beiden Haltungen besteht in folgendem Punkt: Weist ein Akteur einen internen Standpunkt auf, ist sein normkonformes Verhalten durch die Akzeptanz dieser Norm determiniert. Die Normkonformität eines Akteurs mit einem externen Standpunkt basiert dagegen nicht auf Akzeptanz, sondern auf dem rationalen Bestreben der Vermeidung von Sanktionen oder anderen negativen Konsequenzen. „[...] he may think of the rule only as something demanding action from him under threat of penalty; he may obey it out of fear of the consequences, or from inertia, without thinking of himself or others as having an obligation to do so“ (115, Hervorhebung weggelassen).
Nimmt ein Akteur gegenüber einer Norm einen internen Standpunkt ein, identifiziert er sich mit dieser Norm und wählt diese zum Standard seines eigenen Verhaltens. Das charakteristische Merkmal des internen Standpunktes ist, dass sich ein Akteur der ihm gegenüber vertretenen Sollens-Erwartung verpflichtet fühlt. Hart stellt deutlich heraus, dass dieses Verpflichtungsgefühl nicht mit einem Gefühl des Zwangs verwechselt werden darf (57; 88). Wenn ein Akteur eine sanktionsbasierte Norm als für sich verbindlich betrachtet, rückt in der Normvorstellung des Akteurs der Zwangsaspekt dieser Norm zugunsten eines auf Akzeptanz basierenden Verpflichtungsgefühls in den Hintergrund. Von Akteuren, die einen internen Standpunkt gegenüber einer Solidarnorm einnehmen, wird eine Normbefolgung vom Gefühl begleitet, das Richtige zu tun, während sich für Adressaten, die einen externen Standpunkt einnehmen, eine Normbefolgung lediglich als ein situationsopportunes Verhalten darstellt. Ein weiterer Punkt, in dem sich der interne Standpunkt ganz deutlich von einem externen abgrenzt, ist die Haltung gegenüber Sanktionen. Für Akteure mit einem externen Standpunkt ist eine Sanktion eine Folge normwidrigen Verhal-
2.1 Die Begriffsbestimmung
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tens, welche mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwartet werden muss. Für Akteure mit einem internen Standpunkt stellt eine Sanktion dagegen keine bestimmte Wahrscheinlichkeit dar, sondern eine gerechtfertigte Reaktion auf ein falsches Verhalten (90). Aus diesem Grunde geht nach Hart ein interner Standpunkt auch mit der Bereitschaft einher, sowohl fremdes normwidriges Verhalten zu sanktionieren als auch Kritik gegenüber dem eigenen Fehlverhalten als legitim anzusehen. Diese verschiedenen Merkmale des internen Standpunkts werden von Hart als kritisch16 reflektierende Haltung beschrieben, die ein Akteur gegenüber einer Norm einnimmt: „[…] a critical reflective attitude to certain patterns of behaviour as a common standard […] should display itself in criticism (including self-criticism), demands for conformity, and in acknowledgements that such criticism and demands are justified, all of which find their characteristics expression in the normative terminology of ދoughtތ, ދmust ތand ދshouldތ, ދright ތand ދwrong( “ތ57).
Harts Konzept des internen Standpunkts korrespondiert mit einer zentralen Überlegung der Weberތschen Soziologie. In den Soziologischen Grundbegriffen stellt Weber heraus, dass es eine besondere Art des sozialen Handelns darstellt, wenn Akteure aufgrund der „Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung“ (Weber 1980 [1922]: 16) handeln. Orientieren sich Akteure in ihrer Befolgung von Maximen an Legitimitätsvorstellungen, dann handelt es sich um „mehr [...] als bloße, durch die Sitte oder Interessenlage bedingte Regelmäßigkeit[en] eines Ablaufs sozialen Handelns“ (16). Dieses Mehr wird von Weber dahingehend konkretisiert, dass einem Akteur diese Maximimen als „vorbildlich oder verbindlich und also als gelten sollend“ (16) vorschweben, woraus sich ein Pflichtgefühl ableitet, sich an diesen Maximen zu orientieren. Durkheims Respekt vor der Norm, Harts interner Standpunkt und Webers Legitimitätsglauben konvergieren in einem Punkt, der sich als Normbindung bezeichnen lässt. Diese drückt sich darin aus, dass sich ein Akteur zu einer Normbefolgung verpflichtet fühlt und dieses Verpflichtungsgefühl der primäre Grund dafür ist, dass er eine Norm regelmäßig befolgt. Aus einer entscheidungstheoretischen Perspektive drückt sich eine solche Normbindung darin aus, dass ein Akteur für bestimmte Entscheidungssituationen auf eine Normbefolgung festgelegt ist und nicht in jeder einzelnen dieser Entscheidungssituationen aufs 16
Der kritische Aspekt von Harts internem Standpunkt darf dabei aber keineswegs als Distanz zu einer Norm missverstanden werden, sondern im Gegenteil als Ausdruck der Identifikation. MacCormick (1981: 33) stellt heraus, dass der Begriff kritisch zum Ausdruck bringt, dass ein Akteur eine Präferenz für Normkonformität aufweist.
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2 Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung
Neue abwägt, ob er einer Norm folgt oder nicht.17 Auf das hier interessierende Thema des solidarischen Handelns übertragen, leitet sich daraus folgende Kernidee von Solidarität als einem spezifischen Handlungstypus ab: Der Handlungstypus Solidarität basiert auf einer persönlichen Solidarnormbindung. Diese Solidarnormbindung manifestiert sich in einem Verpflichtungsgefühl gegenüber einer Solidarnorm, das als eigenständiges Handlungsmotiv wirkt. Von einem solidarischen Akteur wird eine Solidarnorm unter Absehung situationsbedingter Anreize kategorisch befolgt, also immer dann, wenn eine normrelevante Situation auftritt bzw. wahrgenommen wird. Das charakteristische Merkmal von Solidarität als Handlungstypus besteht in der Kombination einer bestimmten inneren Haltung gegenüber Solidarnormen und einem bestimmten behavioralen Muster. Das Gegenstück zu einer solidarischen ist eine opportunistische Haltung gegenüber Solidarnormen. Für eine opportunistische Haltung ist charakteristisch, dass ein Akteur keinerlei Verpflichtungsgefühl gegenüber einer Solidarnorm aufweist, sondern einen externen Standpunkt (Hart) einnimmt. Mit dieser inneren Haltung korrespondiert ein Entscheidungsmuster, das strikt am Einzelfall und am Eigeninteresse orientiert ist. Ob eine Solidarnorm befolgt wird oder nicht, wird in jeder Situation unter Berücksichtigung der Anreizbedingungen aufs Neue entschieden (Kliemt 1993: 282 f.).18 2.1.3 Solidarität als Solidarnormgeltung auf Systemebene Aus soziologischer Perspektive zeigt sich Solidarität nicht nur als ein bestimmter Handlungstypus auf der Ebene individueller Akteure, sondern ebenfalls als eine bestimmte Eigenschaft sozialer Systeme. Auf Systemebene, so das zentrale Argument, welches ich im Folgenden ausführen werde, manifestiert sich Solidarität in einer Geltung von Solidarnormen. Damit ist gemeint, dass sich Solidarität auf Systemebene in einer durch Solidarnormen institutionalisierten Praxis der Erbringung von Opfern zugunsten anderer oder zugunsten der Gemeinschaft ausdrückt.19 Diese Kernidee einer empirisch identifizierbaren Solidarität auf Systemebene ist wesentlich durch Hechters (1987) Definition von Gruppensolidarität geprägt: 17 18
19
Vgl. zum entscheidungstheoretischen Konzept der Normbindung Vanberg 1993; Kliemt 1993; Baurmann 1996. Wenn ich im weiteren Verlauf der Untersuchung von solidarischen Personen spreche, dann ist damit gemeint, dass diese Personen eine Solidarnormbindung im hier dargelegten Sinne vorweisen. Spreche ich von opportunistischen Personen, weisen die Personen eine opportunistische Haltung gegenüber Solidarnormen auf. Was die genauen empirischen Kriterien einer Solidarnormgeltung sind, wird im dritten Teil der Untersuchung mit Rekurs auf die Normtheorie von Baurmann (1996) geklärt.
2.1 Die Begriffsbestimmung
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„[…] a group’s solidarity is a function of two independent factors: first, the extensiveness of its corporate obligations, and, second, the degree to which individual members actually comply with these obligations“ (18).
Mit Hechters Definition lassen sich zwei Aspekte herausstellen, die für die Idee von Solidarität als einer Eigenschaft sozialer Systeme zentral sind. Erstens wird mit Hechter deutlich, dass sich die Solidarität sozialer Systeme nur durch die Solidarnormen20 konstituiert, die in der Praxis befolgt werden. Die alleinige Existenz von Solidarnormen (also: die Existenz von Sollens-Erwartungen) impliziert ja keineswegs, dass diese auch befolgt werden. Nur die Solidarnormen, die auch eine praktische Verhaltenswirksamkeit aufweisen, konstituieren auf Systemebene Solidarität. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass in keiner Weise auf individuelle Motive der Solidarnormbefolgung rekurriert wird. Aus welchen Gründen Akteure Solidarnormen befolgen, ob sie sich im oben spezifizierten Sinne solidarisch oder opportunistisch verhalten, spielt bei der Frage nach der Solidarität auf Systemebene keine Rolle. Theoretischkonzeptionell betrachtet, ist Solidarität auf Systemebene damit unabhängig von einer Solidarität auf Akteursebene. Zweitens lässt sich mit Hechters Definition festhalten, dass Art und Ausmaß der Solidarität eines Systems von dem Inhalt der geltenden Solidarnormen abhängt. Damit wird auf den für eine soziologische Analyse zentralen Punkt verwiesen, dass sich die Unterschiede hinsichtlich der Solidarität sozialer Systeme – etwa unterschiedliche Solidaritätsstärken – an den Unterschieden der geltenden Solidarnormen ablesen lassen. Unter Gruppen versteht Hechter in seiner Theorie freiwillige Kooperationsvereinigungen, in denen sich Akteure mit dem primären Ziel zusammenschließen, Kollektivgüter zu produzieren und zu konsumieren. Darunter fallen etwa Produktionsgenossenschaften, politische Parteien oder auch Religionsgemeinschaften. Die von Hechter betrachteten Gruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Akteure durch einen Austritt aus der Gruppe den Solidarpflichten entziehen können und dass den Gruppen durch die Möglichkeit des Ausschlusses von Mitgliedern ein Instrument der Disziplinierung zur Verfügung steht. Die durch einen Staat repräsentierte politische Gemeinschaft, die sich ebenfalls als eine Kooperationsgruppe verstehen lässt, wird von ihm explizit aus seiner Betrachtung ausgeschlossen, da in ihrem Rahmen Solidarpflichten mittels Zwang durchgesetzt werden (9). Außerdem werden von Hechter soziale Gebilde, die nicht explizit auf die Produktion von Kollektivgütern ausgerichtet sind – wie 20
Wie in dem Zitat deutlich wird, spricht Hechter allerdings nicht von Solidarnormen, sondern von Verpflichtungen (obligations). Unter diesen Verpflichtungen versteht er die Opfer, welche eine Gruppe von ihren Mitgliedern verlangt. Damit lassen sich Hechters Verpflichtungen als Solidarnormen im hier verstandenen Sinne fassen.
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2 Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung
etwa die Nachbarschaft oder die Gruppe der Kommilitonen in einem Studiengang –, ebenfalls nicht berücksichtigt. Ausgehend von der Idee, dass sich Solidarität auf Systemebene in den geltenden Solidarnormen zeigt, halte ich eine solche begriffliche Einengung allerdings nicht für sinnvoll, da damit bestimmte soziale Kontexte per Definition aus einer soziologischen Betrachtung ausgeschlossen werden, in denen aber sehr wohl Solidarnormen gelten. Aus diesem Grunde spreche ich anstelle von Gruppen in einem sehr allgemeinen und weit gefassten Sinn von Systemen. Wie oben schon dargelegt, betrachte ich alle Interaktionsbeziehungen als ein soziales System, in denen Solidarnormen Geltung erlangen können. Dies ist in Paarbeziehungen ebenso der Fall wie in sozialen Netzwerken, in Vereinen und Unternehmen oder in der staatlich verfassten politischen Gemeinschaft. Der Begriff des Systems wird hier in einem rein analytischen Sinne benutzt, um Interaktionsbeziehungen zu bezeichnen, die auf ganz unterschiedlichen Niveaus der sozialen Aggregation angesiedelt sein können. Diese theoriearme Verwendung des Begriffs unterscheidet sich von seinem Gebrauch im Rahmen der soziologischen Systemtheorie. Im Verständnis dieser Theorietradition verweist der Begriff auf soziale Sachverhalte ganzheitlichen Charakters, die einer eigenen Rationalität unterliegen und gewisse Strukturmerkmale aufweisen (siehe etwa Luhmann 1984). Zur Veranschaulichung, wie sich Solidarität auf Systemebene in den geltenden Solidarnormen zeigen kann, seien hier einige exemplarische Fälle aufgeführt. Auf der Ebene des Systems der Familie drückt sich Solidarität in den Solidarnormen aus, die zwischen den Kindern, Eltern, Großeltern und unter Umständen weiteren Verwandten eine Praxis der Hilfe, Unterstützung und Kooperation konstituieren. Mit Art und Umfang der durch die geltenden Solidarnormen verlangten Opfer variiert die familiale Solidarität. So weist die familiensoziologische Forschung darauf hin, dass sich im historischen Zeitverlauf die Unterstützungspflichten der Kinder gegenüber ihren bedürftigen Eltern dahingehend gewandelt haben, dass sie heute im Vergleich zur vorindustriellen Zeit stärker ausgeprägt sind (Ostner 2004: 81).21 Zugleich zeigen interkulturell vergleichende Studien aber auch auf, dass eine Unterstützungspflicht der Alten zu den Kernnormen familialer Solidarität in unterschiedlichen Kulturen gehört (Nave-Herz 2002: 254). Auch im Rahmen der Nachbarschaft können Solidarnormen gelten, durch welche sich eine bestimmte Praxis der Unterstützung bzw. Kooperation konstitu21
Dieser zunächst vielleicht kontraintuitive Befund wird von Ostner (2004: 81) dadurch begründet, dass das Altsein in der vorindustriellen Zeit noch keinen sozial anerkannten Status darstellte – auch nicht in der Familie. So waren die Kinder erst bei erkennbarer Unfähigkeit zur Selbsthilfe gegenüber ihren Eltern zu Unterstützungsleistungen verpflichtet.
2.1 Die Begriffsbestimmung
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iert. Und auch zwischen unterschiedlichen Nachbarschaften kann Art und Umfang von Solidarität variieren. Ein anschauliches Beispiel divergierender Nachbarschaftssolidaritäten findet sich bei Coleman (1991: 393). Dieser berichtet davon, dass in Jerusalem (Israel) eine Solidarnorm verbreitet ist, welche die Nachbarn dazu anhält, in der Öffentlichkeit auf fremde Kinder Acht zu geben, sofern die Eltern nicht anwesend sind.22 Durch diese Solidarnorm konstituiert sich eine spezifische Nachbarschaftssolidarität, die sich nach Coleman in vergleichbaren US-amerikanischen Großstädten nicht beobachten lässt. Im Rahmen von politischen Parteien manifestiert sich Solidarität in den Normen, die Mitglieder zu Opfern zugunsten der Partei verpflichten. Derartige Solidaransprüche erstrecken sich auf ein weites Feld, welches von dem obligatorischen Mitgliedsbeitrag über die Unterstützungsanforderungen im Wahlkampf bis hin zur Fraktionsdisziplin beim parlamentarischen Abstimmungsverhalten reichen kann. Die Fraktionsdisziplin verlangt, dass Parlamentarier sich in ihrem Abstimmungsverhalten auch dann an den Interessen ihrer Partei orientieren, wenn diese nicht mit ihren eigenen Interessen oder Überzeugungen übereinstimmen. Wie Hechter (1987: 78 ff.) in seiner Untersuchung zur Parteiensolidarität herausstellt, kann die Fraktionsdisziplin und damit auch die Solidarität von Parteien stark variieren. Auf der Ebene des Nationalstaats manifestiert sich Solidarität in den Umverteilungsmechanismen durch die Steuergesetzgebung, in den verpflichtenden Beiträgen zur Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung sowie in der Wehrpflicht.23 Hier sind es rechtlich verfasste und unter Androhung von Zwang durchgesetzte Solidarnormen, durch die sich Solidarität auf Systemebene konstituiert. Die nationalstaatlich organisierte Solidarität kann zwischen unterschiedlichen politischen Gemeinschaften stark variieren. Das zeigt sich vor allem in den unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen, durch welche Bürger in unterschiedlich starker Weise belastet, aber auch bevorteilt werden. Anhand dieser exemplarischen Fälle zeigt sich, dass in unterschiedlichsten Systemzusammenhängen Solidarnormen existieren, die eine Praxis der Unterstützung, Hilfe und Kooperation generieren. Neben der Solidarnormbindung auf
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Coleman (1991: 393) benutzt in diesem Zusammenhang allerdings nicht die Begriffe Solidarität oder Solidarnorm, sondern spricht von sozialem Kapital. Mit dem Begriff des sozialen Kapitals bezeichnet er Ressourcen, die sozialen Beziehungen sowie sozialen Strukturen innewohnen und für Individuen von Wert sind, da sie dazu genutzt werden können, eigene Interessen zu realisieren. Die aufgeführte Nachbarschaftsnorm stellt in Jerusalem soziales Kapital für die Eltern dar, da sie ihnen die Freiheit gibt, nicht unablässig ihre Kinder beaufsichtigen zu müssen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die in einem System geltenden Solidarnormen in vielen Fällen als soziales Kapital verstehen. Zu den Solidarpflichten im Rahmen des Nationalstaates siehe etwa Offe 2004.
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2 Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung
Akteursebene handelt es sich dabei um eine zweite Ebene der Solidarität, die aus einer soziologischen Perspektive zu analysieren und zu erklären ist. 2.2 Drei analytische Perspektiven Der dargelegte Solidaritätsbegriff eröffnet drei grundsätzliche Perspektiven für eine soziologische Solidaritätsanalyse: Aus der ersten Perspektive steht die Solidarität individueller Akteure im Mittelpunkt, während aus der zweiten Perspektive die Solidarität sozialer Systeme im Mittelpunkt steht. Aus der dritten wird das Verhältnis zwischen Akteurs- und Systemebene betrachtet. 2.2.1 Die Solidarität individueller Akteure Solidarisches Handeln kann in einer rein deskriptiven Art Gegenstand einer soziologischen Betrachtung werden. So kann etwa im Zusammenhang mit unterschiedlichen sozialen Kontexten – etwa der Familie, dem Arbeitsplatz oder der politischen Gemeinschaft – danach gefragt werden, wie sehr die Bereitschaft zu einem solidarischen Handeln ausgeprägt ist, ob ein solidarisches gegenüber einem opportunistischen Handeln dominiert oder umgekehrt. In ähnlicher Weise kann danach gefragt werden, ob und in welcher Weise sich Unterschiede in der Handlungsorientierung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus ausmachen lassen. In diesem Zusammenhang könnte etwa danach gefragt werden, in welcher Weise sich Milieus in ihrer Bindung an Steuernormen unterscheiden. Die soziologische Perspektive auf die Solidarität individueller Akteure erschöpft sich allerdings nicht darin, solidarisches Handeln in rein deskriptiver Weise zu erfassen. Eine wesentliche Herausforderung der Soziologie besteht vielmehr darin, die konstitutiven Bedingungen dieses Handlungstypus zu bestimmen und vor diesem Hintergrund das Auftreten oder Ausbleiben solidarischen Handelns zu erklären. Warum binden sich einige Akteure an Solidarnormen und andere nicht? Wie kommt es dazu, dass sich in manchen Kontexten eine höhere/geringere Bereitschaft zur Solidarnormbindung ausmachen lässt? Warum kommt es in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen zu einer Erosion bzw. Ausdehnung der Bereitschaft zu einer Solidarnormbindung? Welche Probleme und Potenziale solidarischen Handelns lassen sich ausmachen? Damit diese Fragen bearbeitet werden können, bedarf es einer handlungstheoretischen Fundierung des Konzepts des solidarischen Handelns, also einer Theorie darüber, was die konstitutiven Bedingungen einer persönlichen Solidar-
2.2 Drei analytische Perspektiven
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normbindung sind. Je nach dem zugrunde gelegten handlungstheoretischen Ansatz können sehr unterschiedliche Aspekte in den Fokus der Analyse geraten. Wird im Sinne der klassischen soziologischen Rollentheorie ein solidarisches Handeln auf Norminternalisierung zurückgeführt, geraten zuvorderst Sozialisationsfaktoren in den analytischen Fokus. Wird in der Tradition des RationalChoice-Paradigmas ein solidarisches Handeln interessenbasiert erklärt, rücken vor allem Ressourcen und Restriktionen in den Mittelpunkt der Analyse. Unabhängig davon, welcher handlungstheoretische Ansatz vertreten wird, stellt eine Analyse der Bedingungen und Potenziale solidarischen Handelns eine Kernaufgabe einer soziologischen Solidaritätsanalyse dar. 2.2.2 Die Solidarität sozialer Systeme Bei der zweiten Perspektive steht nicht das solidarische Handeln individueller Akteure, sondern die Solidarität sozialer Systeme im Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund des hier zugrunde gelegten Systembegriffs können dabei unterschiedlichste soziale Systeme betrachtet werden, von Zweierbeziehungen über soziale Netzwerke und Organisationen bis hin zu Staaten oder supranationalen Vereinigungen. Ganz gleich, welches System betrachtet wird, zentraler Gegenstand einer Systemanalyse sind immer die Solidarnormen, die im Rahmen eines Systems gelten bzw. um Geltung konkurrieren. Die Analyse der Solidarität sozialer Systeme kann unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten vorgenommen werden, von denen ich an dieser Stelle nur einige exemplarisch aufführen möchte. Die grundlegendste Frage im Zusammenhang mit der Solidarität sozialer Systeme bezieht sich zunächst darauf, welche Solidarnormen in einem System überhaupt gelten und welche lediglich Anforderungen formulieren, ohne verhaltenswirksam zu werden. In der Regel generiert sich die Solidarität eines Systems aus einer Mehrzahl an geltenden Solidarnormen. So kann sich die Solidarität einer Kooperationsgemeinschaft zum einen aus einer Solidarnorm konstituieren, welche von den Mitgliedern einen bestimmten Beitrag zu einem Kollektivgut verlangt, und zum anderen durch eine Solidarnorm, welche die Mitglieder untereinander zu bestimmten Unterstützungsleistungen in Bedarfssituationen verpflichtet. Ein adäquates Bild der Solidarität eines sozialen Systems ergibt sich erst dann, wenn sämtliche geltenden Solidarnormen erfasst werden. Eng mit diesem Punkt verknüpft ist die Frage nach der Stärke der Solidarität eines Systems. Die Solidaritätsstärke variiert mit den Anspruchsprofilen der in diesem System geltenden Solidarnormen. Es ist unmittelbar evident, dass sich soziale Systeme in ihrer Solidaritätsstärke sehr stark unterscheiden können. Fa-
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2 Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung
milien, Religionsgemeinschaften, Vereine etc. können von ihren Mitgliedern umfangreichere oder weniger umfangreiche Solidaropfer verlangen. Über eine Rekonstruktion des Anspruchsniveaus der geltenden Solidarnormen lassen sich unterschiedliche Systeme hinsichtlich der Stärke ihrer Solidarität vergleichen; ebenso lässt sich der Wandel der Solidaritätsstärke eines sozialen Systems im Zeitverlauf analysieren. Durch die geltenden Solidarnormen werden die Akteure eines Systems in einen bestimmten Verpflichtungszusammenhang gestellt. Im Kontext von Familien gibt es etwa Solidarnormen, die alle gegenüber allen, aber auch solche, die nur die Kinder gegenüber den Eltern verpflichten oder umgekehrt. Durch die Analyse der Vernetzung der einzelnen Solidarnormen untereinander ergibt sich ein Bild der solidarischen Verpflichtungsstrukturen. Neben solchen deskriptiven Aspekten bezüglich des Umfangs und der Art der Solidarität in sozialen Systemen ist soziologisch außerdem von großem Interesse, in welchen Prozessen Solidarnormen entstehen und durchgesetzt werden. Dass diese Prozesse sehr unterschiedlich sein können, wird deutlich, wenn man an so verschiedene Systeme wie etwa die Nachbarschaft und den Nationalstaat denkt. Während Solidarnormen im Nationalstaat gezielt entworfen und in einem formalen Prozess rechtlich implementiert werden, unterliegt die Setzung und Durchsetzung von Solidarnormen in Nachbarschaften weitgehend spontanen sozialen Prozessen. Die systematische Betrachtung der Entstehung und Durchsetzung von Solidarnormen gehört ebenfalls zu den zentralen Aufgaben einer soziologischen Analyse der Solidarität sozialer Systeme. 2.2.3 Das Verhältnis zwischen Akteurs- und Systemebene Für den Brückenschlag zwischen Akteurs- und Systemebene eignet sich der hier vorgeschlagene Solidaritätsbegriff besonders gut, da mit den Solidarnormen eine konzeptionelle Klammer zwischen beiden Ebenen besteht, welche es erlaubt, beide aufeinander zu beziehen. In diesem Zusammenhang ist etwa die Frage von besonderem soziologischem Interesse, inwiefern die Solidarität eines Systems darauf angewiesen ist, dass es mehrheitlich aus solidarischen Akteuren besteht. Auf der Systemebene kann Solidarität existieren, ohne dass die Akteure des Systems eine persönliche Solidarnormbindung aufweisen. In diesem Fall existieren in ausreichender Weise Anreize zu einer Solidarnormbefolgung – etwa in Form von Sanktionsdrohungen oder Belohnungsaussichten –, durch welche die Solidarität eines Systems auch dann gewährleistet ist, wenn es zuvorderst aus opportunistischen Akteuren besteht. Liegen keine ausreichenden Anreize vor, ist die Solidarität eines Systems darauf angewiesen, dass die Akteure eine Bindung
2.2 Drei analytische Perspektiven
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gegenüber den Solidarnormen aufweisen und diese intrinsisch motiviert befolgen. Über eine Analyse der Anreizstrukturen erschließt sich damit die Abhängigkeit der Solidarität auf Systemebene von der Solidarität auf Akteursebene. Eine weitere relevante Frage betrifft die Handlungsorientierungen der Akteure, auf denen die Geltung von Solidarnormen in einem System basiert. Lässt sich etwa beobachten, dass im Rahmen eines Systems trotz defizitärer Anreizstrukturen eine Solidarnorm gilt, dann basiert die Solidarität dieses Systems auf der Solidarnormbindung der Akteure. Es existiert Solidarität, weil sich die Akteure dieses Systems solidarisch verhalten. Lässt sich dagegen beobachten, dass im Rahmen eines sozialen Systems hinreichende Anreize zu einer Solidarnormbefolgung bestehen, kann bei einer gleichzeitig zu beobachtenden regelmäßigen Solidarnormbefolgung nicht auf die Dominanz eines bestimmten Handlungstypus (solidarisch oder opportunistisch) bei den Akteuren geschlossen werden. Auch dann, wenn allein aus eigeninteressierter Perspektive gute Gründe zu einer Solidarnormbefolgung vorliegen, kann diese freilich intrinsisch motiviert sein. Insbesondere in dichten sozialen Netzwerken – wie etwa der Familie oder dem Freundeskreis – existieren wegen der hohen Transparenz des individuellen Verhaltens häufig hinreichende Anreize zur Befolgung von Solidarnormen. Dennoch ist zu vermuten, dass gerade in diesen sozialen Kontexten eine Bindung an Solidarnormen verbreitet ist und nicht primär anreizorientiert gehandelt wird. Über die empirischen Handlungsorientierungen, auf die sich die Solidarität eines sozialen Systems stützt, kann allerdings nur eine soziologische Analyse Auskunft geben. Analytische Perspektive
Gegenstand der Analyse
Exemplarische Analysefragen
Solidarität auf Akteursebene
Solidarisches Handeln
In welchen sozialen Kontexten dominiert ein solidarisches und in welchen dominiert ein opportunistisches Handeln? Welche Probleme und Potenziale gibt es im Zusammenhang mit solidarischem Handeln?
Solidarität auf Systemebene
Geltende Solidarnormen
Welche Solidarnormen gelten in einem sozialen System? Wie stark fällt die Solidarität in einem System aus? Wie werden Solidarnormen gesetzt und durchgesetzt?
Verhältnis zwischen Akteursund Systemeben
Zusammenhang zwischen Solidarnormgeltung und Handlungsorientierung
Ist die Solidarität auf Systemebene auf eine Solidarität auf Akteursebene angewiesen? Auf welche Handlungsorientierung stützt sich die Solidarität eines sozialen Systems?
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2 Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung
2.3 Theoretischer Entwicklungsbedarf In der bis hierhin entwickelten Form lässt sich der Solidaritätsbegriff durch zwei Merkmale charakterisieren. Auf der einen Seite handelt es sich um einen substanziellen Solidaritätsbegriff, der Solidarität mit zwei konkreten Gegenständen identifiziert – auf der Akteursebene mit einer Solidarnormbindung und auf der Systemebene mit einer Solidarnormgeltung. Durch diesen substanziellen Gehalt wird dem soziologisch amorphen Begriff der Solidarität ein klares Profil gegeben. Indem Solidarität hier mit konkreten Gegenständen identifiziert wird, die sich in eine soziologische Analyse überführen lassen, gewinnt er an analytischem Potenzial. Auf der anderen Seite ist der hier vorgeschlagene Solidaritätsbegriff aber auch als leer zu charakterisieren, da er in zentralen Punkten theoretisch nicht festgelegt ist und in der vorliegenden Variante (noch) keine soziologische Analyse anleiten kann. Damit mit diesem Begriff gearbeitet werden kann, muss er in zentralen Punkten theoretisch gefüllt werden. In diesem Zusammenhang stellen sich bezüglich der Solidarität auf Akteurs- und Systemebene unterschiedliche Anforderungen. Bei der Solidarität auf Akteursebene besteht die Notwendigkeit einer handlungstheoretischen Fundierung. Nur dann, wenn auf eine Theorie zurückgegriffen werden kann, welche die konstitutiven Bedingungen einer Solidarnormbindung benennt, können in einer soziologischen Analyse von Praxisfeldern Probleme und Potenziale solidarischen Handelns erfasst werden. Im vierten Teil dieser Untersuchung werde ich eine handlungstheoretische Fundierung vorschlagen und ein explanatives Modell der Solidarnormbindung entwickeln. Wie oben bereits erwähnt, prädisponiert das Kernkonzept der Solidarnormbindung keine bestimmte Handlungstheorie, sondern ist prinzipiell an alle Theorien anschlussfähig, die eine Bindung individueller Akteure an Normen zulässt.24 Da die Entwicklung des explanativen Modells im Rahmen des Rational-ChoiceParadigmas vorgenommen wird, ist an dieser Stelle auf eine Besonderheit hinzuweisen. Die orthodoxe Variante der Rational-Choice-Theorie, welche den homo oeconomicus als Verhaltensmodell zugrunde legt, scheidet als handlungstheoretische Grundlage aus. Das liegt darin begründet, dass der homo oeconomicus per Definition immer opportunistisch handelt: Er prüft in jeder Entscheidungssituation die Handlungsalternativen und entscheidet sich dann für diejenige mit dem größten (Erwartungs-)Nutzen. Er verfügt damit gar nicht über die Fähigkeiten, die ein Akteur aufweisen muss, um sich an (Solidar-)Normen binden zu können (vgl. Kliemt 1993). Der homo oeconomicus bzw. die restriktive Annahme eines strikt einzelfallorientierten und eigeninteressierten Handelns von 24
Für eine Übersicht über unterschiedliche handlungstheoretische Ansätze in der Soziologie vgl. Schimank 2000; Miebach 2006.
2.3 Theoretischer Entwicklungsbedarf
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Akteuren ist im Rahmen des Rational-Choice-Paradigmas allerdings nicht das einzige handlungstheoretische Modell. Aus einer erweiterten Rational-ChoicePerspektive wird dem Akteur sehr wohl die Fähigkeit zu einer Normbindung zugestanden und betont, dass er unter bestimmten Bedingungen auch willens ist, eine solche Bindung einzugehen.25 Eine solcherart erweiterte Rational-ChoicePerspektive werde ich zugrunde legen, wenn es im vierten Teil der Untersuchung darum geht, ein explanatives Modell der Solidarnormbindung zu entwickeln. Bezüglich der Solidarität auf Systemebene drückt sich der theoretische Entwicklungsbedarf in folgendem Punkt aus: Die Kernidee, dass sich die Solidarität sozialer Systeme in einer Geltung von Solidarnormen manifestiert, verlangt eine normtheoretische Fundierung und eine Ausarbeitung der zentralen analytischen Dimensionen von Solidarnormen. Die Ausarbeitung eines theoretischen Konzepts von Solidarnormen, welches sich für die Analyse der Solidarität sozialer Systeme nutzen lässt, werde ich im dritten Teil der Untersuchung leisten. Bei der Herleitung des Solidaritätsbegriffs habe ich mit einer Kerndefinition von Solidarnormen gearbeitet. Als Solidarnormen habe ich alle Sollens-Erwartungen definiert, die von Akteuren bestimmte Opfer zugunsten anderer oder zugunsten der Gemeinschaft verlangen. Ferner habe ich festgelegt, dass eine Solidarnorm gilt, sofern sie nicht nur eine Erwartung darstellt, sondern eine Praxis der Hilfe, Unterstützung bzw. Kooperation begründet. Dieses Kernverständnis von Solidarnormen und ihrer Geltung wurde bewusst sehr weit gefasst, um eine möglichst breite Anschlussfähigkeit an unterschiedliche normtheoretische Ansätze zu gewährleisten. So ist etwa das Verhältnis zwischen Normen und Sanktionen, ein Thema, bezüglich dessen es zwischen unterschiedlichen Normtheorien divergierende Vorstellungen gibt, bis jetzt nicht weiter geklärt worden. Ebenfalls offengeblieben ist aber auch die Frage, was der konkrete Gegenstand von Solidarnormen ist. Bis jetzt ist nur sehr allgemein die Rede davon gewesen, dass Solidarnormen ein Opfer verlangen. Vor diesem Hintergrund wird es nötig sein, zu spezifizieren, welche konkreten Verhaltensweisen von Solidarnormen verlangt werden.
25
Ein in diesem Sinne erweiterter Rational-Choice-Ansatz wird bspw. von Gauthier 1986, Rowe 1989, Kliemt 1993, Baurmann 1996 oder Lindenberg 2001a vertreten.
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2 Solidarität: Eine soziologische Begriffsbestimmung
Neben einer Ausarbeitung des Solidarnormbegriffs selbst bedarf es außerdem einer Klärung der zentralen Dimensionen von Solidarnormen, damit ein Solidarnormkonzept vorliegt, welches sich für die soziologische Analyse der Solidarität sozialer Systeme nutzen lässt. Um zentrale Dimensionen der Solidarität sozialer Systeme untersuchen zu können – etwa die Solidaritätsstärke, die Verpflichtungsstrukturen oder Prozesse der Entstehung und Durchsetzung von Solidarnormen –, müssen entsprechende Analysekategorien theoretisch ausgearbeitet werden. Mit Rekurs auf unterschiedliche normtheoretische und solidaritätstheoretische Ansätze werde ich im dritten Teil zentrale Kategorien vorschlagen.
3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
3.1 Das Konzept der Solidarnormen 3.1.1 Der Solidarnormbegriff Normen sind ein zentrales Konzept innerhalb der Soziologie, doch was der Begriff der Norm genau bezeichnet und durch welche Merkmale sich Normen auszeichnen, wird mitunter sehr verschieden bestimmt. Von Karl-Dieter Opp (2000) werden zwei allgemeine Typen von Normdefinitionen unterschieden – Verhaltens- und Erwartungsdefinitionen. Das charakteristische Merkmal von Verhaltensdefinitionen ist, dass Normen mit sanktionsbewährten Verhaltensregelmäßigkeiten identifiziert werden. Lässt sich in einer Population von Akteuren beobachten, dass in bestimmten Situationen ein bestimmtes Verhalten regelmäßig gezeigt wird und werden Abweichungen von diesem Verhalten sanktioniert, dann liegt nach Maßgabe einer Verhaltensdefinition eine Norm vor. Erwartungsdefinitionen sind dagegen sparsamer und stellen nicht auf eine Verhaltensregelmäßigkeit, sondern auf eine Sollens-Erwartung als die zentrale Dimension des Normbegriffs ab.26 Dabei lässt sich zwischen minimalen und erweiterten Erwartungsdefinitionen unterscheiden. Während sich Erstere auf eine Sollens-Erwartung als das einzige definitorische Merkmal einer Norm beschränken, zeichnen sich Letztere dadurch aus, dass von ihnen auch Sanktionen zu einem definitorischen Merkmal gemacht werden. Allen Erwartungsdefinitionen ist aber in Abgrenzung zu den Verhaltensdefinitionen der Punkt gemeinsam, dass sie Verhaltensregelmäßigkeit nicht in die Normdefinition einschließen. Zwar zielen Normen immer darauf ab, Verhaltensregelmäßigkeiten zu evozieren, doch inwiefern dies gelingt, wird von Normkonzepten, denen eine Erwartungsdefinition zugrunde liegt, als empirisch und nicht definitorisch zu klärende Frage behandelt. Obschon in der Soziologie Verhaltensdefinitionen von Normen zu dominieren scheinen, ist eine Erwartungsdefinition, insbesondere in der minimalen Vari26
Die Normdefinition von George C. Homans lässt sich als klassische Illustration einer Erwartungsdefinition aufführen: „A norm is a statement specifying how a person is, or persons of a particular sort are, expected to behave in given circumstances – expected, in the first instance, by the person that utters the norm. What I expect of you is what you ought to do“ (Homans 1974 [1961]: 96).
U. Tranow, Das Konzept der Solidarität, DOI 10.1007/978-3-531-93370-2_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
ante, aus analytischen Gründen vorzuziehen. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn man folgende Fragen als zentral für die soziologische Perspektive auf Normen betrachtet: Unter welchen Bedingungen entstehen Sollens-Erwartungen, unter welchen Bedingungen werden diese mit Sanktionen verknüpft und unter welchen Bedingungen resultieren aus Sollens-Erwartungen tatsächlich Verhaltensregelmäßigkeiten? Die Beantwortung dieser Fragen ist allerdings nur schwer möglich, wenn Sanktionen und Verhaltensregelmäßigkeit als Definitionsmerkmale von Normen bestimmt werden, statt sie als Variablen zu behandeln (Opp 2000: 37). Für die Klärung des Solidarnormbegriffs werde ich Michael Baurmanns (1996) Konzept einer Verhaltensnorm zugrunde legen, welches eine Variante der minimalen Erwartungsdefinition darstellt. Zunächst werde ich vor dem Hintergrund seines allgemeinen Normbegriffs eine Definition von Solidarnormen entwickeln, bei der es insbesondere auch darum geht, festzuhalten, was der Gegenstand von Solidarnormen ist. Im Anschluss werde ich mit Rekurs auf Baurmanns Unterscheidung zwischen der Existenz und der Geltung von Normen zwischen zwei grundlegenden Formen des empirischen Status von Solidarnormen differenzieren. Abschließend werde ich darlegen, warum Sanktionen als Variable zu behandeln sind. 3.1.1.1 Definition von Solidarnormen Von Baurmann wird eine Norm als „Inhalt einer voluntativen Haltung, die sich intentional auf das Verhalten anderer Menschen richtet“ (1996: 53) definiert. Der grundlegende Gegenstand einer jeden Norm ist ein Wille, der sich auf das Verhalten eines anderen Akteurs bezieht. Zwei Kategorien von Normen werden von Baurmann unterschieden: Erlaubnis- und Verhaltensnormen. Erlaubnisnormen bringen den Willen zum Ausdruck, dass sich ein anderer Akteur in einer bestimmten Weise verhalten darf, und zielen somit auf eine Erweiterung von Entscheidungsautonomie ab. Verhaltensnormen bringen dagegen den Willen zum Ausdruck, dass sich ein Akteur in einer bestimmten Weise verhalten solle, und zielen damit auf eine Einschränkung seiner Verhaltensautonomie ab. Bei Akteuren, die sich eine effektive Verhaltenssteuerung durch eine bestimmte Norm wünschen, handelt es sich um Norminteressenten. Bringt ein Norminteressent seinen Wunsch zum Ausdruck, dann tritt er als Normgeber in Erscheinung, der gegenüber einem Normadressaten eine Norm setzt.27 Bei Norminteressenten, 27
An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass längst nicht alle Norminteressenten auch als Normgeber in Erscheinung treten. Dies kann unterschiedliche Gründe haben, etwa dass der
3.1 Das Konzept der Solidarnormen
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Normgebern und Normadressaten kann es sich um individuelle, aber auch um kollektive Akteure wie z. B. Organisationen handeln. Wie stellen sich Solidarnormen vor dem Hintergrund dieses Normbegriffs dar? Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Solidarnormen um Verhaltensnormen28 handelt, die den Willen eines Solidarnormgebers zum Ausdruck bringen, dass bestimmte Adressaten ein Opfer auf sich nehmen sollen. Dieses Opfer werde ich mit Hechter (1987) als einen kompensationslosen Transfer privater Ressourcen spezifizieren. Bei den privaten Ressourcen kann es sich sowohl um materielle Güter (etwa Geld) als auch um Leistungen (etwa Aufmerksamkeit, Körperkraft) handeln. Mit einer mangelnden Kompensation ist gemeint, dass ein Ressourcentransfer ohne Quidproquo verlangt wird, also ohne dass eine vorab festgelegte Gegenleistung erfolgt, auf die ein Akteur durch eine Solidarnormbefolgung ein Anspruch erwirbt. Ein klassisches Beispiel für eine Kompensationsleistung ist der vertraglich fixierte Arbeitslohn, den ein Arbeitnehmer im Austausch für die Bereitstellung seiner Arbeitskraft bekommt. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei aber darauf hingewiesen, dass das Fehlen einer Kompensation keineswegs impliziert, dass ein Adressat kein Eigeninteresse an einer Solidarnormbefolgung haben kann. Drohen bei einer Zuwiderhandlung etwa Sanktionen, kann dies einen starken Anreiz zur Normbefolgung darstellen. Ein solcher Anreiz liegt ebenfalls vor, wenn Adressaten damit rechnen können, durch eine Solidarnormbefolgung Anerkennung zu erzielen oder ihre Reputation zu steigern. Als Rezipienten eines durch Solidarnormen geforderten Ressourcentransfers kommen zwei unterschiedliche soziale Einheiten infrage: individuelle Akteure und Gruppen individueller Akteure (vgl. auch Baurmann 1998). Verlangt eine Solidarnorm Transferleistungen zugunsten individueller Akteure – bspw. Unterstützungsleistungen im Krankheitsfall –, dann verlangt sie einen Beitrag zur Erstellung eines individuellen Guts. Verlangt sie dagegen Transferleistungen zugunsten einer Gruppe – etwa einen Beitrag zur Landesverteidigung –, dann verlangt sie einen Beitrag zur Erstellung eines kollektiven Guts. Solidarnormen verlangen in der Regel nicht irgendeinen Ressourcentransfer, sondern einen Ressourcentransfer bestimmten Umfangs. Den Umfang an verlangten Ressourcen werde ich (in Anlehnung an Lindenberg 1998) als Solidarkosten bezeichnen. Diese müssen nicht immer konkret definiert sein, sondern können auch einen impliziten Charakter haben. Verlangt eine Solidarnorm etwa,
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Norminteressent davon ausgeht, dass seine Setzung auf den Adressaten keine Wirkung haben wird oder dass eine Normsetzung unter Umständen sanktioniert wird. Der Typus der Ermächtigungsnorm wird in der weiteren Untersuchung allerdings noch eine Rolle spielen – und zwar im Rahmen der Frage nach der Institutionalisierung von Solidarnormen.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
dass in Notsituationen Hilfe geleistet werden soll, dann ist dieser Forderung in der Regel ein Maßstab implizit, was eine adäquate Hilfeleistung darstellt und was nicht. Unabhängig davon, wie explizit die Solidarkosten definiert sind, können sie in ihrem Umfang beträchtlich variieren. So unterscheiden sich Familien darin, wie viel gegenseitige Unterstützungsleistungen sie von ihren Mitgliedern verlangen, religiöse Gemeinschaften unterscheiden sich darin, wie viel Zeit die Mitglieder für gemeinschaftliche Rituale opfern sollen, und Staaten unterscheiden sich darin, wie hoch der Beitrag ist, den sie von ihren Bürgern zur Landesverteidigung verlangen. Die einzelnen hier aufgeführten Elemente lassen sich zu folgender allgemeiner Definition von Solidarnormen zusammenfassen: Solidarnormen bringen die Erwartung eines Normgebers zum Ausdruck, dass bestimmte Akteure einen kompensationslosen Transfer privater Ressourcen bestimmten Umfangs zugunsten bestimmter anderer individueller Akteure oder einer bestimmten Gruppe leisten sollen.
Auf der Grundlage dieser Definition werden in 3.1.2 vier Solidarnormen – Bereitstellungs-, Verteilungs-, Unterstützungs- und Loyalitätsnormen – unterschieden. Diese Differenzierung stellt ein Kernelement des Solidarnormkonzeptes dar. Zunächst werden aber die weiteren normtheoretischen Grundlagen geklärt. 3.1.1.2 Existenz versus Geltung von Solidarnormen Von Baurmann (1996: 54 ff.) werden zwei grundsätzliche Formen des empirischen Status von Normen unterschieden: die Existenz und die Geltung. Normen erlangen Existenz, wenn ein Akteur als Normgeber in Erscheinung tritt und seinen Verhaltenswunsch in einer empirisch nachvollziehbaren Weise ausdrückt. Normen erlangen also eine soziale und damit soziologisch relevante Existenz, indem das psychologische Faktum des Verhaltenswunsches durch eine Normsetzung zu einer sozialen Tatsache wird. Als Normsetzung kann dabei jedwede Willensbekundung fungieren, vom mimischen Kommentar über eine verbale Aufforderung bis zum Erlass von Satzungen oder Gesetzen. Die verbale Aufforderung im informellen Kreis, dass Personen eine bestimmte Unterstützungsleistung erbringen sollen, die Verabschiedung einer Vereinssatzung, die von den Mitgliedern einen bestimmten Beitrag zu einem Klubgut verlangt, oder die Forderung einer Gewerkschaft, dass Unternehmen sich gegenüber ihren Mitgliedern loyal verhalten sollen, sind allesamt Handlungsakte, die die empirische Existenz einer Solidarnorm begründen. Durch eine solche Solidarnormsetzung wird sowohl für die Adressaten als auch für beobachtende Dritte (bspw. einen Soziolo-
3.1 Das Konzept der Solidarnormen
55
gen) empirisch nachvollziehbar, dass es einen Akteur (Normgeber) gibt, der will, dass bestimmte andere Akteure (Normadressaten) bestimmte kompensationslose Transferleistungen erbringen. Da die Existenz einer Solidarnorm nichts weiter voraussetzt, als dass ein Akteur eine Sollens-Erwartung zum Ausdruck bringt, handelt es sich bei ihr um eine soziologische Kategorie, die nur bedingt aussagekräftig ist. So teilen eine Menge real existierender Solidarnormen das Schicksal, dass sie nicht verhaltenswirksam werden und damit in einem empirischen Sinne auch nicht gelten. Damit eine Solidarnorm Geltung besitzt, muss sie die Ursache für eine ihr entsprechende Verhaltensregelmäßigkeit darstellen (Baurmann 1996: 58). Das meint nichts anderes, als dass eine Solidarnorm dann gilt, wenn die Mehrheit der Adressaten diese im Großen und Ganzen befolgt. Um den Begriff der Geltung zu erläutern und um seine analytischen Implikationen herauszustellen, ist es sinnvoll, auf beide Bedingungen einer Normgeltung (Verhaltensursache und Verhaltensregelmäßigkeit) etwas genauer einzugehen. Durch den Begriff der Geltung wird ein verhaltenserklärender Sachverhalt bezeichnet; und genau das macht ihn zu einem voraussetzungsvollen, aber auch starken analytischen Instrument. Das wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass wir in der realen Welt kompensationslose Transferleistungen beobachten können, die zwar einer Solidarnorm entsprechen, aber nicht durch diese verursacht werden. Zur Illustration stelle man sich einen Fahrradklub vor, in der die Solidarnorm existiert, dass man sich gegenseitig bei der Reparatur der Räder helfen soll, und in dem sich auch eine entsprechende Unterstützungspraxis beobachten lässt. Eine Solidarnormgeltung liegt aber nur dann vor, wenn die Existenz der Solidarnorm auch tatsächlich die Ursache für die beobachtbare Verhaltensregelmäßigkeit darstellt. Nun kann man sich aber leicht vorstellen, dass dies im Fall des Fahrradklubs nicht unbedingt so sein muss. Es ist durchaus denkbar, dass die Mitglieder aus Spaß an der Sache Unterstützung leisten oder sie deswegen helfen, weil sie dadurch ihr überlegenes technisches Geschick demonstrieren können und dies im Rahmen des Klubs einen hohen Status verspricht. Sind dies die Quellen, aus der sich die Verhaltensregelmäßigkeit speist, ist die Solidarnorm nicht verhaltenswirksam. Die Unterstützungspraxis wäre auch dann gewährleistet, wenn die Solidarnorm von keinem Mitglied in der Gruppe mehr vertreten würde. Folglich liegt unter diesen Voraussetzungen keine Geltung der Solidarnorm vor. Auch wenn das Beispiel etwas konstruiert oder zumindest wie ein Sonderfall wirken mag, so wird dennoch folgender zentraler Punkt deutlich: Die analytische Verwendung des Begriffs der Geltung setzt voraus, dass zwischen der Existenz einer Solidarnorm und einer beobachtbaren Verhaltensregelmäßigkeit eine Kausalbeziehung besteht.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
Doch unter welchen Voraussetzungen kann man überhaupt davon sprechen, dass eine Verhaltensregelmäßigkeit vorliegt? Mit Popitz (1980: 35) lässt sich sagen, dass der „Anteil der Fälle normkonformen Verhaltens an der Gesamtzahl normrelevanter Verhaltensweisen“ dafür ausschlaggebend ist. Die Kopplung einer Normgeltung an ein regelmäßiges Verhalten der Mehrheit der Adressaten haftet allerdings notwendigerweise etwas Vages an, weil keine klaren Kriterien existieren, wie viele Mitglieder einer Population von Normadressaten in welcher Regelmäßigkeit die Existenz einer Solidarnorm zum Anlass eines entsprechenden Verhaltens nehmen müssen, damit man davon sprechen kann, dass eine Norm gilt oder nicht. Durch diese Unbestimmtheit bleibt die Klassifizierung einer Norm als geltend zwangsläufig interpretationsabhängig und es mag empirische Fälle geben, in denen eine Klassifikation nur schwer möglich ist. Dieser vage Charakter des Geltungsbegriffs muss allerdings nicht als Problem betrachtet werden. So hält Baurmann eine weiter gehende definitorische Festlegung der Kriterien für Normgeltung für eine „künstliche Präzisierung“ (1996: 60), die sachlich nicht angemessen sei. Grenzfälle der Normgeltung stellten vielmehr „interessante Konstellationen“ (60) dar, die einer genaueren sozialwissenschaftlichen Analyse bedürften, statt sie durch „begriffliche ‚Klarheit‘“ (60) wegzudefinieren. In diesem Sinne lässt sich erst in einer Einzelfallanalyse beurteilen, ob eine Solidarnorm gilt oder ob dies nicht der Fall ist. Außerdem ist zu betonen, dass für eine soziologische Analyse nicht nur die nominelle Differenzierung zwischen Geltung und Nichtgeltung relevant ist, sondern ebenfalls die Unterscheidung von geltenden Normen nach ihrem jeweiligen Geltungsniveau. Michael Schmid (2004: 253) weist darauf hin, dass man sich in der Praxis auf eine Graduierung der Variable der Geltung einstellen müsse. Aber auch in diesem Zusammenhang ergibt es wenig Sinn, künstliche Kriterien für die Differenzierung von Geltungsniveaus zu entwickeln. Allerdings ist die soziologische Analyse angehalten, die Möglichkeit der Graduierung zu berücksichtigen. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Baurmanns Begriff der Geltung, an den ich mich hier anlehne, auf einen Systemzustand rekurriert, ohne dass dabei Bezug auf die Intentionen der Akteure genommen wird. Für den nominellen Status einer Solidarnorm als geltend ist nur entscheidend, dass sie die Ursache für eine Verhaltensregelmäßigkeit darstellt, nicht aber, warum sie durch Adressaten regelmäßig befolgt wird. Ob dies zur Vermeidung von Sanktionen geschieht, aus moralischen Überzeugungen, aus Respekt vor dem Normgeber oder etwa aus der Traditionsgebundenheit, weil wir dieses immer getan haben, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. In 3.5.3 werde ich allerdings persönliche Handlungsmotive in den Geltungsbegriff reintegrieren und zwischen drei Typen der Solidarnormgeltung – interessenbasierte, überdeterminierte und solidarische Solidarnormgeltung – unterscheiden. An dieser Stelle bleibt zunächst festzuhal-
3.1 Das Konzept der Solidarnormen
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ten, dass eine Solidarnorm dann gilt, wenn die Existenz dieser Norm die Ursache für regelmäßige, kompensationslose Transferleistungen darstellt, die mit dem Inhalt der Norm übereinstimmen. 3.1.1.3 Sanktionen als empirische Variable Eine Besonderheit des hier zugrunde gelegten Normbegriffs besteht darin, dass Sanktionen kein Definitionsmerkmal von Solidarnormen sind, was einer „gängigen soziologischen Praxis“ (Baurmann 1996: 62) widerspricht. Diese Abweichung vom soziologischen Normalfall wird durch Christine Horne (2001) unterstrichen, die bei ihrer Auseinandersetzung mit soziologischen Normkonzepten zum Ergebnis kommt, dass Sanktionen im Regelfall an den Normbegriff gekoppelt werden. So bestimmt sie in ihrer Definition, mit der sie den Anspruch verbindet, die essenziellen Kernelemente soziologischer Normkonzepte aufzugreifen, Normen als Regeln, „that are enforced through social sanctions“ (5). Vor diesem Hintergrund erscheint es erklärungsbedürftig, weshalb hier bei der definitorischen Bestimmung der Solidarnormgeltung Sanktionen keine Berücksichtigung finden. In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der hier vorgeschlagene Solidarnormbegriff keineswegs ausschließt, dass Sanktionen empirisch eine wesentliche Rolle bei ihrer Durchsetzung spielen können. Im Unterschied zur gängigen soziologischen Praxis wird aber darauf verzichtet, die Geltung von Solidarnormen definitorisch mit Sanktionen zu verknüpfen. Bevor ich näher darauf eingehe, warum dies der Fall ist, werde ich kurz mit Rückgriff auf Popitz darlegen, was hier unter Sanktionen verstanden wird. Bei Sanktionen handelt es sich um „Reaktionen, die mit der Intention der Erkennbarkeit für den Betroffenen als negativ (strafende) Antwort auf ein bestimmtes Verhalten vollzogen werden“ (Popitz 1980: 28, Hervorhebung weggelassen). Wichtig ist der Punkt, dass Sanktionen nicht einfach mit jedem Schaden, den eine Handlung mit sich bringt, gleichgesetzt werden können. Charakteristisch für eine Sanktionshandlung ist vielmehr, dass ein Akteur mit dieser Handlung gegenüber einer anderen Person in einer gezielten Art und Weise die Missbilligung des Verhaltens dieser Person zum Ausdruck bringt. Der strafende Akteur muss bestrebt sein, dem Betroffenen erstens deutlich zu machen, dass es sich um eine negative Antwort handelt, und zweitens, auf welches konkrete Verhalten sich diese Strafe bezieht. Zentral ist, dass das Nein einer bestimmten Verhaltensweise zugerechnet werden kann und damit kommuniziert wird, dass diese nicht hätte gezeigt werden sollen bzw. dass in Zukunft anders gehandelt werden soll. Straft ein Akteur lediglich hinterrücks, ohne dass er sich als Strafender zu erkennen gibt, stellt dieses Verhalten keine Sanktionierung dar. Ist ein Akteur
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
offensichtlich verstimmt, enttäuscht und abweisend gegenüber einem anderen, dann ist dieses Verhalten solange keine Sanktionierung, solange es nicht als gezielte Strafe für ein bestimmtes Verhalten zu erkennen gegeben wird (28 ff.). Sanktionen können in ihrer Art und Schärfe beträchtlich variieren. Das Spektrum strafender Antworten reicht von Ermahnungen und Zurechtweisungen – etwa in Form böser Blicke oder verbaler Missbilligungen – über den Ausschluss aus Gruppen – etwa aus einem Freundeskreis oder einem Verein – bis hin zu Zwangsakten wie Geld- oder Gefängnisstrafen. Zweifelsohne spielen Sanktionen – ganz gleich welcher Art – eine wesentliche Rolle bei der Durchsetzung von (Solidar-)Normen. Diesem empirischen Faktum wird, wie oben bereits erwähnt, in vielen Normkonzepten dadurch Rechnung getragen, dass Sanktionen zu einem Definitionsmerkmal von Normen ernannt werden. Warum wird hier nun darauf verzichtet, die Setzung und Geltung von Solidarnormen an Sanktionen zu koppeln? Das entscheidende Argument ist, dass es aus analytischer Perspektive vorzuziehen ist, die Frage nach der Rolle von Sanktionen empirisch und nicht definitorisch zu beantworten (Baurmann 1998: 63).29 Werden Sanktionen zu einem Definitionsmerkmal von (Solidar-)Normen bzw. einer (Solidar)Normgeltung erhoben, dann sind auf begrifflicher Ebene zwei zentrale Fragen vorentschieden: erstens die Frage, auf welchem Wege ein Normgeber versucht, seinem Willen Verhaltenswirksamkeit zu verleihen, und zweitens die Frage, was die Ursache für eine Solidarnormgeltung ist. Aus analytischer Sicht ist es aber sinnvoll, die Beantwortung dieser beiden Fragen der Empirie zu überlassen. Anders als von Popitz (1980: 9) unterstellt, ist die Aufforderung du sollst dies tun nämlich nicht immer identisch mit du wirst nicht folgenlos anders handeln. Ein Normgeber kann unter Umständen darauf verzichten, Sanktionen für ein Zuwiderhandeln anzudrohen, weil er vielleicht nicht über die Möglichkeiten einer Sanktionierung verfügt. Dennoch kann die Normsetzung aufgrund der Autorität des Gebers eine hohe Verbindlichkeit für den Adressaten haben. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an religiöse Führer oder den Dorfältesten in traditionalen Gesellschaften. Aber selbst dann, wenn ein normwidriges Verhalten durch Sanktionen flankiert wird, ist damit noch keine Aussage darüber getroffen, inwiefern die angedrohte Sanktionierung tatsächlich die Ursache für eine empirisch beobachtbare Solidarnormgeltung darstellt, ob von der angedrohten Sanktionierung also tatsächlich eine Verhaltenswirkung ausgeht. Dabei ist zu bedenken, dass die Anreizwirkung von Sanktionen ganz wesentlich davon abhängig ist, dass die Adressaten eine gewisse Sanktionswahrscheinlichkeit und Sanktionsschärfe antizipieren (vgl. Fetchenhauer 2001; Frey/Opp 1979). Auf den Punkt, dass 29
In einer ähnlichen Weise argumentieren auch Opp (1983: 219) und Vanberg (1984).
3.1 Das Konzept der Solidarnormen
59
Sanktionen häufig nur unzureichende Anreize für eine Normbefolgung bieten, werde ich in 3.5 genauer eingehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nicht jede Solidarnormsetzung mit einer Androhung von Sanktionen bei Zuwiderhandlung einhergeht und dass sich nicht jede Solidarnormgeltung auf Sanktionsandrohungen zurückführen lässt. Gerade der letzte Punkt spielt im Rahmen dieser Untersuchung eine herausragende Rolle. Dass in vielen Fällen eine Solidarnormdurchsetzung mittels Sanktionen auf Grenzen stößt und deswegen nur auf einer intrinsischen Motivation basieren kann, ist die Ausgangsannahme, auf die sich die Entwicklung des explanativen Modells einer Solidarnormbindung in Teil 4 dieser Untersuchung stützt. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, den Begriff der Solidarnormgeltung definitorisch nicht an Sanktionen zu koppeln. 3.1.1.4 Verrechtlichte Solidarnormen In der Solidaritätsdebatte ist man sich nicht einig darüber, ob gesetzlich verpflichtende Transferleistungen dem Konzept der Solidarität subsumiert oder aus ihm ausgeklammert werden sollen. Der Grund ist, dass Rechtsnormen zu ihrer Durchsetzung auf Zwang rekurrieren, viele Autoren Solidarität dagegen mit einem freiwilligen Handeln oder zumindest mit freiwillig eingegangenen Verpflichtungen identifizieren (vgl. etwa Hechter 1987; Hondrich/Koch-Arzberger 1992; Bierhoff/Küpper 1999). Wie bereits deutlich wurde, werden von dem hier vorgeschlagenen Solidarnormkonzept verrechtlichte Normen dagegen explizit berücksichtigt. Bei Zwang handelt es sich nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis lediglich um eine besondere Art von Sanktion, mit deren Hilfe Solidarnormen durchgesetzt werden können. Was spricht nun dafür, abweichend von der Meinung einiger anderer Autoren, keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen sozialen und rechtlichen Solidarnormen zu treffen, sondern beide Typen in ein Solidarnormkonzept zu integrieren? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Ausschluss von Rechtsnormen aus dem Solidarnormkonzept implizieren würde, dass per Definition eine ganze Reihe an Verpflichtungen zu kompensationslosen Transferleistungen aus einer soziologischen Solidaritätsanalyse ausgeklammert würden, die für die moderne Gesellschaft von höchster Relevanz sind. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die Wehrpflicht, welche die Bürger rechtlich dazu verpflichtet, einen Teil ihrer privaten Ressourcen für das Kollektivgut Sicherheit zu opfern. Ein anderes Beispiel sind die steuerfinanzierten Wohlfahrtsleistungen, durch welche zum Teil erhebliche Umverteilungseffekte in der Gesellschaft gezeitigt werden.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
Ein Ausschluss von Rechtsnormen könnte dann gerechtfertigt sein, wenn ihnen aufgrund ihres Zwangscharakters ganz andere Bedingungen der Geltung zugrunde lägen. Genau davon scheinen auch die meisten Autoren auszugehen, die Solidarität explizit mit Freiwilligkeit in Verbindung bringen. So findet sich etwa bei Bierhoff und Küpper (1999: 182) das Argument, dass der Sozialstaat, da er auf Verrechtlichung, formaler Kontrolle und Zwangsmitgliedschaft basiert, aufseiten der Adressaten kein solidarisches Handeln (im Sinne eines wertegebundenen und freiwilligen Handelns) voraussetzt. Daraus ziehen sie den Schluss, verrechtlichte Transferleistungen in ihrem Konzept nicht zu berücksichtigen und den Bereich der Solidarität auf den Bereich des „freiwilligen Handelns von Menschen in ihrem sozialen Bezugssystem“ (182) zu beschränken. Bei genauerer Betrachtung kann diese Argumentation allerdings kaum überzeugen. Denn ihr liegt implizit die Annahme zugrunde, dass von drohenden Zwangsmaßnahmen per se eine verhaltenssteuernde Wirkung ausgeht und eine Normbefolgung durch die Adressaten quasi automatisch gegeben ist. Es scheint unterstellt zu werden, dass die Erklärung der Befolgung von Rechtsnormen aufgrund ihres Zwangscharakters unproblematisch sei oder zumindest keinen Rückgriff auf eine intrinsische Motivation (solidarisches Handeln) notwendig mache. Davon kann allerdings ganz und gar nicht die Rede sein. Für die Verhaltenswirksamkeit von angedrohten Zwangsmaßnahmen (etwa im Falle der Steuerhinterziehung oder der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen) gelten dieselben Bedingungen wie für alle anderen Sanktionen auch: Nur dann, wenn die Adressaten eine gewisse Sanktionswahrscheinlichkeit und Sanktionsstärke voraussetzen, haben sie ausreichend starke Handlungsanreize, sich aus eigeninteressierten Gründen gesetzeskonform zu verhalten. Dass im Zusammenhang mit Rechtsnormen diese Anreize längst nicht immer gegeben sind, wird durch die Praxis der Steuerhinterziehung eindrucksvoll belegt (vgl. Fetchenhauer 1998; 2001). Damit lässt sich also sagen, dass rechtlich implementierte ebenso wie soziale Solidarnormen in ihrer Geltung darauf angewiesen sein können, dass die Adressaten eine intrinsische Motivation zur Solidarnormbefolgung aufweisen, und in vielen Fällen wird sich ihre Geltung gar nicht anders erklären lassen. Wenn dies der Fall ist, dann scheint mir ein kategorischer Ausschluss dieses Typus von Normen aus theoretisch-konzeptionellen Gründen nicht gerechtfertigt zu sein. Im Gegenteil: Man würde damit vielmehr einen großen Bereich und wichtigen Teil der gesellschaftlichen Solidarität per Definition aus der Analyse exkludieren.30 30
Interessanterweise scheinen es in der Solidaritätsdebatte eher Rechtswissenschaftler als Soziologen zu sein, die darauf hinweisen, dass rechtlich implementierte Solidarnormen von den Adressaten nicht ausschließlich wegen der drohenden Sanktionen befolgt werden. Vor diesem Hintergrund plädiert die Rechtswissenschaftlerin Brigitta Lurger im Unterschied zu vielen So-
3.1 Das Konzept der Solidarnormen
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3.1.2 Differenzierung von vier Solidarnormen 3.1.2.1 Kritische Transfersituationen Nachdem der Begriff Solidarnormen und die allgemeinen normtheoretischen Grundlagen des Konzepts bestimmt wurden, werde ich im Folgenden zwischen vier Typen von Solidarnormen differenzieren: Bereitstellungsnormen, Verteilungsnormen, Unterstützungsnormen und Loyalitätsnormen. Der Kern dieser vier Solidarnormen ist, dass sie einen kompensationslosen Ressourcentransfer verlangen; sie unterscheiden sich allerdings darin, wie sich der verlangte Ressourcentransfer jeweils spezifiziert. Um diese vier Solidarnormen zu differenzieren, ist an dieser Stelle ein argumentativer Umweg nötig, bei dem es nicht – wie bisher – um rein begrifflich-konzeptionelle Feststellungen geht, sondern um die Frage, warum überhaupt ein Interesse an Solidarnormen besteht. Dabei ist die Interessenfrage, wie ich gleich zeigen werde, eng mit der Frage verknüpft, welche unterschiedlichen Solidarnormen sich sinnvoller Weise differenzieren lassen. Das Interesse an Solidarnormen konstituiert sich aus zwei Bedingungen. Die erste Bedingung leitet sich unmittelbar aus dem bisher Gesagten ab und besteht in dem empirischen Faktum, dass sich ein Akteur von anderen Akteuren kompensationslose Transferleistungen wünscht. Damit stellt sich die Frage, zur Realisierung welcher Ziele ein kompensationsloser Ressourcentransfer gewünscht wird. In Anlehnung an Lindenberg (1998) werde ich zwischen vier Zielen unterscheiden, die mit dem Konzept der Solidarität verknüpft sind: (1) die Bereitstellung von Kollektivgütern, (2) die Realisierung von Verteilungsgerechtigkeit, (3) die Überwindung von Bedarfssituationen und (4) die Loyalität zwischen Kooperationspartnern. Diese vier Ziele drücken sich jeweils in den vier oben bereits genannten Solidarnormen aus. Aus welchen Gründen sich ein Akteur die Realisierung eines oder mehrerer dieser Ziele wünscht – ob aus Eigeninteresse oder aufgrund ideeller Werten – spielt dabei keine Rolle. Festzuhalten bleibt zunächst, dass die erste Bedingung für das Interesse an Solidarnormen die ist, dass sich ein Akteur zur Realisierung eines der vier Ziele von anderen Akteuren einen kompensationslosen Transfer privater Ressourcen wünscht. Als zweite Bedingung, aus der sich ein Interesse an Solidarnormen konstituiert, kommt hinzu, dass eine Situation besteht, in der nicht damit gerechnet werden kann, dass die Zielakteure aus eigenem Antrieb den gewünschten kompensaziologen dafür, die formale Freiwilligkeit nicht zu einem Kriterium des Solidaritätsbegriffs zu machen: „Auf Freiwilligkeit sollte es beim Solidaritätsbegriff nicht ankommen. Schließlich befolgt die Mehrzahl der Menschen auch sanktionsbasierte Rechtsnormen durch die Internalisierung damit übereinstimmender ethischer Normen freiwillig. Wo sollte man da eigentlich die Grenze zwischen Freiwilligkeit und Zwang ziehen?“ (Lurger 1999: 219).
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tionslosen Ressourcentransfer leisten. Die gegebene Situation ist derart strukturiert, dass für die Zielakteure keine ausreichenden Anreize bestehen, aus Eigeninteresse einen entsprechenden Transfer vorzunehmen. Situationen, die sich durch eine solche Diskrepanz zwischen Verhaltenswunsch und Verhaltenswahrscheinlichkeit auszeichnen, werde ich als kritische Transfersituationen31 bezeichnen. In 3.2 werde ich mich ausführlicher mit den Strukturen und unterschiedlichen Varianten dieser Situationen beschäftigen. Zunächst ist lediglich von Bedeutung, dass es sich bei kritischen Transfersituationen um Situationen handelt, in denen Akteure kein Interesse daran haben, aus eigenem Antrieb einen kompensationslosen Ressourcentransfer zu leisten. In solchen defizitären Anreizsituationen dienen Solidarnormen dazu – wie alle anderen Verhaltensnormen auch –, ein Verhalten zu evozieren, welches unter den gegebenen Bedingungen unwahrscheinlich ist: „Ist nicht zu erwarten, daß Menschen aus eigenem Antrieb das tun, was man sich von ihnen wünscht, dann kann man ihnen gegenüber eine Norm vertreten, dergemäß sie in der gewünschten Weise handeln sollen“ (Baurmann 1998: 368, Hervorhebung im Original).
In diesem Zusammenhang ist wichtig zu betonen, dass Akteure, die ein Interesse an Solidarnormen haben, nicht automatisch auch als Solidarnormgeber in Erscheinung treten. Zwar darf davon ausgegangen werden, dass das Interesse an Solidarnormen im Regelfall die Grundlage für eine Solidarnormsetzung darstellt, doch aus analytischer Perspektive ist zwischen den Bedingungen zu unterscheiden, die ein Interesse an Solidarnormen konstituieren, und denjenigen, die dazu führen, dass Akteure mit einem solchen Interesse auch tatsächlich als Solidarnormgeber in Erscheinung treten. Wie auch im obigen Zitat deutlich wird, ist eine Normsetzung für einen Norminteressenten zunächst einmal nichts weiter als eine Option. Ob er diese wahrnimmt, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Restriktionen und Anreize für eine Solidarnormsetzung herrschen. Werden einer Solidarnormbefolgung etwa nur geringe Chancen eingeräumt, ist offener Widerspruch zu erwarten oder können die Kosten einer Solidarnormsetzung auf andere Akteure abgewälzt werden, dann mögen dies für einen Solidarnorminteressenten gute Gründe sein, nicht als Solidarnormgeber in Erscheinung zu treten.32 31
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Mit diesem Begriff lehne ich mich an Lindenberg (1998) an, der allerdings lediglich ganz allgemein von kritischen Situationen spricht. Ich benutze hier den etwas präziseren, aber auch sperrigeren Begriff der kritischen Transfersituation, weil ich später einen weiteren Typus kritischer Situation einführen werde, nämlich den der kritischen Normbefolgungssituationen. Dass aus dem Interesse an der Geltung einer Norm keinesfalls folgt, dass auch ein Interesse daran besteht, sich an Handlungen zur Setzung und Durchsetzung dieser Norm zu beteiligen, wird auch von Opp (2000) betont.
3.1 Das Konzept der Solidarnormen
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3.1.2.2 Die vier Solidarnormen Mit der Unterscheidung zwischen einer Bereitstellungs-, Verteilungs-, Unterstützungs- und Loyalitätsnorm lehne ich mich ebenfalls an Lindenberg (1998) an.33 Diesen Solidarnormen ist gemein, dass sie jeweils für kritische Transfersituationen bestimmte Leistungen verlangen: Bereitstellungsnormen verlangen einen Beitrag zur Bereitstellung eines Kollektivguts, auch wenn keine Anreize zu einem solchen Verhalten bestehen. Verteilungsnormen verlangen trotz des Vorhandenseins von Anreizen zu einem ausbeuterischen Verhalten eine gerechte Aufteilung von Kosten und Nutzen. Unterstützungsnormen verlangen Hilfeleistungen in Notsituationen, auch wenn sie nicht durch unmittelbare Eigeninteressen gedeckt sind. Loyalitätsnormen verlangen, dass Kooperationsbeziehungen auch dann fortgeführt werden, wenn Anreize zu einem Exit bestehen. Während Bereitstellungsnormen von ihren Adressaten einen Beitrag zur Erstellung eines Kollektivguts verlangen, fordern die anderen drei Solidarnormen jeweils einen Beitrag zur Realisierung von Individualgütern. Die Differenzierung der vier Solidarnormen wird mit dem Anspruch vorgenommen, dass mit ihr alle Problembereiche (kritische Transfersituationen) und Verhaltensanforderungen (Solidarnormen) zum Ausdruck kommen, die wir in unserem Alltagsverständnis mit Solidarität verbinden. Darüber hinaus möchte ich behaupten, dass durch sie Problemkonstellationen und Ansprüche abgedeckt werden, die wir in unterschiedlichsten sozialen Systemen antreffen – in der Kleingruppe ebenso wie in Organisationen oder der gesamten Gesellschaft. Die Differenzierung dieser vier Solidarnormen bietet damit den analytischen Rahmen für eine soziologische Solidaritätsanalyse in verschiedenen Systemzusammenhängen. Bei der Darstellung der einzelnen Solidarnormen werde ich mit dem Begriff Ego den Adressaten einer Solidarnorm bezeichnen und mit dem Begriff Alter die durch eine Solidarnorm begünstigte Partei. Ego wird hier sprachlich zwar als individueller Akteur gefasst, doch Ego kann ebenfalls für eine Gruppe von Akteuren (eine Gruppe von Solidarnormadressaten) stehen. Bei Alter kann es sich
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Es gibt allerdings zwei zentrale Unterschiede zu Lindenberg, auf die verwiesen werden muss. Lindenberg nutzt die kritischen Transfersituationen, um verschiedene Formen des solidarischen Handelns zu differenzieren, während ich aus ihnen unterschiedliche Solidarnormen ableite. Zwar lässt sich ein solidarisches Handeln bei Lindenberg als ein normkonformes Verhalten interpretieren, doch dieser Punkt bleibt bei ihm eher implizit und wird auch nicht an ein bestimmtes Konzept von Solidarnormen rückgebunden. Der zweite Unterschied besteht darin, dass Lindenberg von fünf kritischen Transfersituationen ausgeht, von denen ich nur vier übernehme, da sie meines Erachtens ausreichen, um die allgemeine inhaltliche Grundlage von Solidarnormen zu klären.
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ebenfalls um einen individuellen Akteur oder aber um eine Gruppe von Akteuren handeln. Bereitstellungsnormen Bereitstellungsnormen verlangen von ihren Adressaten, dass sie einen Beitrag zur Produktion eines Kollektivguts leisten. Sie werden immer dann notwendig, wenn erstens ein Kollektivgut bereitgestellt werden soll und zweitens die Akteure, die einen Beitrag dazu leisten können, nicht über ausreichende Anreize verfügen, diesen aus eigenem Antrieb zu leisten. Wie sich defizitäre Anreizstrukturen in kritischen Bereitstellungssituationen im Einzelnen darstellen können, werde ich in 3.2 näher erläutern. An dieser Stelle sei lediglich auf das klassische Trittbrettfahrerproblem als das zentralste Problem in diesem Zusammenhang hingewiesen. Es liegt vor, wenn Akteure der Versuchung ausgesetzt sind, sich zulasten anderer einen Vorteil zu verschaffen, indem sie ein Kollektivgut in Anspruch nehmen, ohne die Kosten seiner Produktion mitzutragen. Grundstruktur kritischer Bereitstellungssituationen
Ein Gut soll als Kollektivgut bereitgestellt werden. Ego ist in der Lage, einen Beitrag zur Bereitstellung zu leisten. Ego fehlt es allerdings an Anreizen, einen solchen Beitrag zu erbringen.
Verhaltensforderung einer Bereitstellungsnorm
Ego soll einen Beitrag zur Bereitstellung eines öffentlichen Guts leisten, auch wenn dieser Beitrag nicht durch seine Eigeninteressen gedeckt ist.
Der Begriff Kollektivgüter wird hier als Sammelbegriff für alle Arten von Gütern verwendet, die einer Mehrzahl an Akteuren zur freien Verfügung stehen. Drei Typen von Kollektivgütern lassen sich anhand der Dimensionen der Ausschließbarkeit und der Nutzungsrivalität unterscheiden. Die reinen Kollektivgüter zeichnen sich durch die Kriterien der Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität aus.34 Klassische Beispiele für solche Güter sind Deiche, Frieden oder Leuchttürme. Von ihnen lassen sich zwei unterschiedliche unreine öffentliche Güter abgrenzen. Das sind zum einen die Klubgüter, deren charakteristisches Merkmal ist, dass Akteure von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden können. So stehen etwa die vereinseigenen Tennisplätze nur den Mitgliedern eines Tennisvereins zur Verfügung. Eine Nutzungsrivalität tritt bei Klubgütern in Abhängig34
Die klassische Definition reiner öffentlicher Güter findet sich bei Samuelson (1954).
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keit von den Nutzerzahlen auf; im Tennisverein etwa dann, wenn es mehr Spielinteressierte gibt, als Plätze zur Verfügung stehen.35 Da aber die Anzahl an Nutzungsberechtigten grundsätzlich durch Ausschluss geregelt werden kann, spielt der Aspekt der Rivalität eine untergeordnete Rolle. Dies stellt sich bei den Allmendegütern anders dar. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass der Zugang zu ihnen nicht begrenzt ist und sie einer Nutzungsrivalität unterliegen.36 Typische Beispiele für Allmendegüter sind knappe Naturressourcen wie etwa frei zugängliches Weideland. Die Abgrenzung zwischen den drei Kollektivgütern ist idealtypischer Art und die Übergänge zwischen ihnen sind in der Praxis fließend. Reine Kollektivgüter im streng definitorischen Sinne sind in der Realität selten anzutreffen, da es kaum Güter gibt, welche wirklich uneingeschränkt zur Verfügung stehen oder von denen ein Ausschluss tatsächlich unmöglich ist. So ließen sich etwa durch Ausbürgerung Akteure vom Kollektivgut Frieden ausschließen, wodurch dieses den Charakter eines Klubguts bekäme. Klubgüter, bei denen die Zugangsberechtigung nicht geprüft oder durchgesetzt wird, bekommen faktisch den Charakter eines Allmendeguts. Als Bereitstellungsnormen werden hier alle Normen gefasst, welche von ihren Adressaten gewisse Opfer zur Bereitstellung eines Kollektivguts verlangen. Bereitstellungsnormen lassen sich in sozialen Systemen jeder Größe identifizieren, von der Zweierbeziehung bis hin zur Weltgemeinschaft. In ihren Solidarkosten können sie beträchtlich variieren. Viele alltägliche Bereitstellungsnormen fordern lediglich geringfügige Opfer in Form von Zeit, Geld oder anderen Ressourcen. Bereitstellungsnormen können aber auch ganz beträchtliche Opfer verlangen, bis hin zum Einsatz des eigenen Lebens. Demonstrieren wir die Spannweite an Bereitstellungsnormen an praktischen Beispielen: In Familien stellen etwa die Regeln, welche definieren, wer welchen Beitrag zum Klubgut Haushalt leisten soll, Bereitstellungsnormen dar. Sie können etwa dahingehend variieren, inwiefern die Ehepartner zu denselben Leistungen verpflichtet sind und ob auch die Kinder zu Leistungen herangezogen werden. Ein weiteres Beispiel für alltägliche Bereitstellungsnormen sind die Aufforderungen, öffentliche Plätze – bspw. den Stadtpark oder den Strand – nicht zu verschmutzen und den eigenen Müll wieder mitzunehmen.
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Die klassische ökonomische Theorie von Klubgütern geht auf Buchanan (1971 [1965]) zurück. Mit dieser möchte Buchanan einen der „missing links“ (548) zwischen privaten und Samuelsons puren öffentlichen Gütern liefern. Das grundsätzliche Problem im Zusammenhang mit frei zugänglichen und knappen Gütern wurde von Garrett Hardin (1968) in seinem klassischen Aufsatz The Tragedy of the Commons dargelegt.
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Die in vielen Staaten existierende Wehrpflicht stellt ebenfalls eine Bereitstellungsnorm dar. Indem sie die Bürger zum Dienst an der Waffe verpflichtet, verlangt sie einen aktiven Beitrag zur Landesverteidigung und damit zum Kollektivgut Sicherheit. Da die Wehrpflicht massiv in die persönlichen Freiheiten ihrer Adressaten eingreift und einen letztlich lebensgefährlichen Beitrag fordert, ist sie ein Beispiel für eine Bereitstellungsnorm mit vergleichsweise hohen Solidarkosten. Ein weiteres Beispiel für Bereitstellungsnormen sind Regeln der Nutzungsbeschränkung im Zusammenhang mit knappen Naturressourcen. Darunter fallen die Fischfangquoten für lokale Gewässer, welche vor Ort erlassen und durchgesetzt werden,37 ebenso wie die auf globalen Konferenzen verabschiedeten Grenzwerte für den Ausstoß von bestimmten Schadstoffen. In beiden Fällen geht es darum, dass von Adressaten zum Zweck der Bereitstellung einer knappen Naturressource ein Opfer verlangt wird. Allen hier aufgeführten Normen, so unterschiedlich sie auch ausfallen mögen, ist damit gemeinsam, dass sie von ihren Adressaten einen kompensationslosen Beitrag zur Bereitstellung (bzw. Qualitätssicherung) von Kollektivgütern verlangen. Verteilungsnormen Verteilungsnormen verlangen von ihren Adressaten die Orientierung an einer gerechten Verteilungsregel. Verteilungssituationen zeichnen sich dadurch aus, dass ein Akteur in der Position ist, zwischen sich und einer anderen Partei Kosten bzw. Nutzen aufzuteilen, was ihm die Möglichkeit bietet, Gewinne auf Kosten der anderen Partei zu erzielen. Für diese Situation verlangt eine Verteilungsnorm, dass von einer gewinnmaximierenden Strategie abgesehen und eine gerechte Verteilung vorgenommen wird.
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Wie sich eine Allmende erfolgreich bewirtschaften lässt, wird von Elinor Ostrom in ihrem Buch Die Verfassung der Allmende (1999) dargelegt. Anhand der Analyse von zahlreichen Fallbeispielen entwickelt Ostrom ein ganzes System an Regeln, wie in einer Almendesituation eine Übernutzung verhindert werden kann.
3.1 Das Konzept der Solidarnormen Grundstruktur kritischer Verteilungssituationen
Ego ist in der Position, zwischen sich und Alter eine Aufteilung von Kosten bzw. Nutzen vorzunehmen, und verfügt über Anreize, seinen Gewinn auf Kosten von Alter zu maximieren.
Verhaltensforderung einer Verteilungsnorm
Ego soll sich bei der Aufteilung von Kooperationskosten/-nutzen an eine bestimmte Verteilungsregel halten, statt seinen Gewinn einseitig auf Kosten von Alter zu maximieren.
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Was von einer Verteilungsnorm als gerecht definiert wird, kann freilich variieren. Einen Eindruck von der Vielfalt an Verteilungsprinzipien gewähren sowohl normative Gerechtigkeitstheorien (vgl. etwa Walzer 1992 [1983], Miller 2008 [1999]) als auch die empirische Gerechtigkeitsforschung (vgl. für eine Übersicht Irlenbusch 2003: 360 ff.). Als Erstes ist das Prinzip zu nennen, welches wahrscheinlich am häufigsten als Referenz für gerechte Verteilungen herangezogen wird: das Prinzip der Gleichheit. Es verlangt, dass unter Absehung situationsspezifischer Umstände, des Status von Personen oder anderer Merkmale eine Gleichverteilung von Kosten und Nutzen erfolgt. Es gibt aber eine Reihe von Prinzipien, welche jeweils mit Verweis auf unterschiedliche Maßstäbe eine ungleiche Verteilung fordern bzw. legitimieren. Da wäre zunächst das Prinzip des Askriptivismus zu nennen. Diesem zufolge begründet die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eine Bevorzugung bei der Verteilung von Lasten und Nutzen. So kann es etwa als gerecht gelten, dass Männer gegenüber Frauen, Einheimische gegenüber Ausländern, Anhänger der einen gegenüber Anhängern der anderen Religionsgruppe etc. in Verteilungsfragen bevorzugt werden. Das Prinzip des Askriptivismus ist aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive zwar höchst problematisch, empirisch aber keineswegs unbedeutend.38 Dem Prinzip des Askriptivismus diametral entgegengesetzt ist das Prinzip des Individualismus. Hier sind nicht Zugehörigkeit, sondern individuelle Merkmale – etwa Anstrengungen, Investitionen oder Fähigkeiten – der Maßstab für die Verteilung von Lasten und Nutzen. Ist ein Gut zu verteilen, zu dem mehrere Akteure gleich viel beigetragen haben, dann leitet sich aus diesem Prinzip eine bedingte Gleichverteilung als gerecht ab. Ungleichverteilung ist dann geboten, 38
Stefan Liebig und Bodo Lippl (2005) zeigen in ihrer Studie zu Gerechtigkeitseinstellungen auf, dass der Askriptivismus und der Egalitarismus die in Deutschland am stärksten vertretenen Grundhaltungen sind. Allerdings verweisen sie auf den Trend, dass seit Mitte der 1990er Jahre die Zustimmung zu beiden Grundhaltungen leicht rückläufig ist und der Individualismus, welcher für das Leistungsprinzip steht, an Zustimmung gewinnt.
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wenn sich die Akteure in ihren Leistungen unterscheiden. Das Prinzip der Bedürftigkeit wiederum verlangt eine Verteilung von Gütern in Abhängigkeit des Bedarfs von Akteuren, unabhängig davon, welche askriptiven Merkmale sie aufweisen oder welche individuellen Leistungen sie erbracht haben. Bei diesen Verteilungsprinzipien handelt es sich weniger um universelle als um situations-, beziehungs- und kontextspezifische Normen. Das heißt, dass es unterschiedliche „Sphären der Gerechtigkeit“ (Walzer: 1992 [1983]) gibt, in denen unterschiedliche Prinzipien relevant sein können. So dominieren in engen sozialen Beziehungen – etwa in der Familie oder unter Freunden – eher das Bedürfnis- und Gleichheitsprinzip, während in instrumentellen Kontexten – wie etwa am Arbeitsplatz – das Leistungsprinzip vorherrschend ist (vgl. auch Miller 2008 [1999]). Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass nicht auch in ein und derselben Sphäre verschiedene Verteilungsnormen untereinander um Geltung konkurrieren können. Unabhängig davon, was als gerecht angesehen bzw. welche Verteilungsregel vertreten wird, weisen Verteilungssituationen in ihrer Grundstruktur starke Ähnlichkeiten mit den Situationen auf, wie sie in der experimentellen Ökonomik den verschiedenen Varianten von Fairness-Spielen (Ockenfels 1999) zugrunde liegen. Bei dem elementarsten Fairness-Spiel handelt es sich um das Diktatorspiel (vgl. etwa Forsythe et al. 1994; Diekmann 2004; Franzen/Pointner 2008). In diesem bestimmt ein Spieler A über die Aufteilung einer fixen Geldsumme zwischen sich und einem Spieler B, wobei keine Interaktion zwischen den Spielern stattfindet. Beim Ultimatumspiel sind die Bedingungen etwas komplexer (vgl. etwa Güth et. al. 1982; Camerer/Thaler 1995). Wiederum bestimmt ein Spieler A über die Aufteilung einer fixen Summe, wobei nun der Spieler B ein Vetorecht hat, d. h. er kann die von Spieler A vorgeschlagene Aufteilung ablehnen. Ist dies der Fall, gehen beide Spieler leer aus; akzeptiert Spieler B dagegen die Aufteilung, wird sie in entsprechender Weise vorgenommen. Nach dem Standardmodell rationaler Nutzenmaximierung wäre zu erwarten, dass Spieler der Kategorie A im Diktatorspiel gar keine und im Ultimatumspiel die kleinstmögliche Aufteilung vornehmen, wobei von Spielern der Kategorie B zu erwarten wäre, dass sie im Ultimatumspiel jede Aufteilung akzeptieren, da sie de facto ihre Situation verbessert. Die Ergebnisse der experimentellen Studien zeigen nun, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass die Spieler zum Teil erheblich von einer Maximierungsstrategie abweichen. So sind Spieler in der Diktatorenrolle trotz mangelnder Anreize durchaus bereit, etwas abzugeben. Und auch die Ergebnisse zu den Ultimatumspielen zeigen, dass Spieler der Kategorie A häufig entschieden mehr als den kleinstmöglichen Teil anbieten und Spieler der Kategorie B durchaus bereit sind, sich einen materiellen Gewinn entgehen zu lassen, wenn sie die Auf-
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teilung als unfair empfinden.39 Diese Ergebnisse lassen sich als deutliches Zeichen für die Wirksamkeit von Verteilungsnormen interpretieren. Kritische Verteilungssituationen und Verteilungsnormen lassen sich in der sozialen Realität in unterschiedlichsten Situationen und sozialen Kontexten identifizieren. Im Rahmen engerer persönlicher Beziehungen – wie etwa der Familie oder des Freundeskreises – drücken sie sich darin aus, dass es untersagt ist, auf Kosten des anderen einen Gewinn zu erwirtschaften. Man stelle sich die Situation vor, dass eine Person über ein Ticket für ein ausverkauftes Fußballspiel verfügt, welches er einem Freund anbietet. Würde er von seinem Freund den aktuellen Schwarzmarktpreis statt des Einkaufspreises verlangen, würden wir dieses Verhalten intuitiv als unfreundschaftlich interpretieren, weil gegen diese einschlägige Verteilungsnorm verstoßen wird.40 Da es bei Verteilungsnormen um die Regeln geht, wie Lasten und Nutzen aufgeteilt werden sollen, spielen sie im Kontext von Betrieben und Unternehmen eine große Rolle. Indem Gewerkschaften und Betriebsräte von der Unternehmensführung fordern, dass die Belegschaft in gerechter Weise an den Unternehmensgewinnen beteiligt wird, fordern sie nichts anderes als die Durchsetzung einer bestimmten Verteilungsnorm. Aber auch die Forderung der Unternehmensführung gegenüber ihren Mitarbeitern, unternehmenseigene Ressourcen nur für Unternehmensziele und nicht für private Zwecke einzusetzen, lässt sich als Setzung einer Verteilungsnorm interpretieren: Die Mitarbeiter sind aufgefordert, auf eine persönliche Vorteilnahme auf Kosten des Unternehmens zu verzichten und sich fair zu verhalten. Eine ähnliche Situation ist charakteristisch für die sozialen Sicherungssysteme. Diese stellen den Bürgern bei Bedarf bestimmte Leistungen zur Verfügung – etwa medizinische Versorgung im Krankheitsfall, Arbeitslosengeld bei Erwerbslosigkeit oder Sozialhilfe bei Bedürftigkeit. Da die tatsächliche Anspruchsberechtigung häufig nur schwer nachvollziehbar ist und komplexe Systeme in der Regel nur über unzureichende Kontrollkapazitäten verfügen, gibt es in vielen Fällen Anreize, die Systeme über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Damit haben wir es im Zusammenhang mit den sozialen Sicherungssystemen quasi mit einer auf Dauer gestellten kritischen Verteilungssituation zu tun. Bei Normen, die verlangen, dass Akteure nur in Bedarfsfällen bzw. nur in einem ihnen zustehenden Umfang Leistungen abrufen, handelt es sich um Verteilungsnormen, die 39
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Fehr und Gächter (2000: 161) weisen darauf hin, dass als relativ robustes Ergebnis einer Vielzahl von experimentellen Durchläufen festgehalten werden kann, dass Angebote unter 30 Prozent mit einer hohen Wahrscheinlichkeit abgelehnt werden. In einer kulturvergleichenden Studie unter fünfzehn verschiedenen indigenen Völkern konnten Henrich et. al (2004) hinsichtlich der Aufteilung eine Varianz von 15 bis 50 Prozent feststellen. Hinweise auf eine solche Norm lassen sich aus einer experimentellen Untersuchung von Ligthart und Lindenberg (1994) ableiten.
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einer Ausbeutung der ehrlichen Zahler und der ehrlichen Bedürftigen vorbeugen sollen. Unterstützungsnormen Unterstützungsnormen verlangen Verhaltensweisen, die im Alltagsverständnis vielleicht am ehesten mit dem Begriff Solidarität assoziiert werden, nämlich Unterstützungsleistungen in Bedarfssituationen. Als Bedarfssituation lässt sich jede Situation verstehen, in der ein Akteur zur Lösung eines Problems auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Diese Situationen können dramatischer, aber auch alltäglicher Art sein. Von der Grundstruktur der Situation her stellt die Bedrohung der physischen Existenz durch Hunger oder Krankheit ebenso eine Bedarfssituation dar, wie es ein anstehender Umzug oder Probleme bei der Prüfungsvorbereitung tun. Einen kritischen Charakter haben Bedarfssituationen dann, wenn ein Akteur nicht über hinreichende Anreize verfügt, um aus eigenem Antrieb eine Unterstützungsleistung zu erbringen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Akteur eine solche Leistung nicht als Investition verbuchen kann, durch die er sich Unterstützungsleistungen für eigene Bedarfssituationen sichert. Eine solche defizitäre Anreizstruktur kann auf unterschiedlichen Gründen basieren, die in 3.2 näher erläutert werden. An dieser Stelle möchte ich nur auf zwei Punkte hinweisen: Kann ein Akteur unabhängig von der Erbringung eigener Leistungen damit rechnen, dass er in Bedarfssituationen von anderen unterstützt wird, oder verfügt die bedürftige Partei nicht über ausreichende Ressourcen, um in einer umgekehrten Bedarfssituation überhaupt helfen zu können, dann bestehen keine Anreize für eine eigene Unterstützungsleistung. Grundstruktur kritischer Unterstützungssituationen
Alter befindet sich in einer Situation, in der er auf eine Unterstützung angewiesen ist. Ego verfügt zwar über die Möglichkeit zu einer Unterstützungsleistung, hat aber keine ausreichenden Anreize, diese zu erbringen.
Verhaltensforderung einer Unterstützungsnorm
Ego soll Alter in einer Bedarfssituation Unterstützung leisten, unabhängig von dem Investitionscharakter dieser Leistung.
Wodurch sich eine Bedarfssituation konstituiert und welchen Umfang eine adäquate Unterstützungsleistung aufweist, ist wiederum äußerst variabel und abhängig von dem sozialen Kontext. Nehmen wir zur Illustration das Beispiel einer
3.1 Das Konzept der Solidarnormen
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Notsituation in Form von Armut bzw. Krankheit. Kersting (1998) weist darauf hin, dass sich für Not ein unstrittiger Kernbereich der Unterstützungspflicht ausmachen lässt. Dieser Kernbereich bezieht sich auf Situationen, in denen eine Bedrohung der physischen Existenz – sei es durch Hunger, Krankheit oder Verletzung – vorliegt. Doch sobald wir diesen Bereich der „natürlichen, die Erhaltungsbedingungen des menschlichen Organismus verletzenden Not“ (414) verlassen, verlieren Kriterien der Bedarfsdefinition an Eindeutigkeit und sind zunehmend kulturimprägniert, sozial codiert und nicht zuletzt auch abhängig von dem materiellen Anspruchsniveau einer Gesellschaft. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass mit der zunehmenden Entfernung von lebensbedrohlichen Situationen die Adressaten von Unterstützungsnormen immer partikularer werden. Während für Situationen der Lebensgefahr universelle Unterstützungsnormen zum Tragen kommen, die jeden gegenüber jedem verpflichten, stehen in vielen alltäglichen Bedarfssituationen eher Verwandte, Freunde oder Kollegen in der Pflicht. Wie alle anderen Solidarnormen auch lassen sich Unterstützungsnormen in unterschiedlichsten sozialen Zusammenhängen antreffen, in der Familie ebenso wie am Arbeitsplatz oder im öffentlichen Raum. In diesen unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen handelt es sich bei allen Normen um Unterstützungsnormen, die von ihren Adressaten eine Leistungserbringung in Bedarfssituationen fordern – sei es im Zusammenhang mit dramatischen Notsituationen oder im Zusammenhang mit alltäglichen Problemstellungen. Loyalitätsnormen Ein weiterer Typus von Solidarnormen sind die Loyalitätsnormen. Unter Loyalität verstehe ich dabei im Sinne von Albert Hirschmann (1974) den Verzicht auf einen Exit aus einer bestehenden Kooperationsbeziehung. Positiv gewendet bedeutet Loyalität, dass eine bestehende Kooperationsbeziehung auch dann fortgeführt wird, wenn sich alternative Optionen bieten. Der Begriff der Kooperationsbeziehung ist hier sehr weit gefasst und schließt alle möglichen Formen von Beziehungen ein, die auf einer zielorientierten und koordinierten Interaktion basieren. Die Familie und die Partnerschaft stellen ebenso Kooperationsbeziehungen dar wie eine ökonomische Unternehmung, eine politische Partei und die politische Gemeinschaft. Loyalitätsnormen werden immer dann relevant, wenn sich für eine Partei Bedingungen ergeben, die einen Ausstieg oder zumindest einen Teilrückzug aus einer Kooperation von Vorteil erscheinen lassen, während für die andere Partei –
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
sei es ein Individuum, eine Organisation oder eine gesamte Gesellschaft – dieses Verhalten mit Nachteilen verbunden wäre. Grundstruktur kritischer Loyalitätssituationen
Zwischen Ego und Alter existiert eine Kooperationsbeziehung. Für Ego bietet sich eine neue Option. Während für Ego die Wahrnehmung der neuen Option die gewinnbringendere Alternative darstellt, ist ein Exit von Ego für Alter mit Nachteilen verbunden.
Verhaltensforderung einer Loyalitätsnorm
Ego soll eine bestehende Kooperationsbeziehung auch dann fortführen, wenn sich eine alternative Option bietet, die er als attraktiver bewertet.
Eine prototypische kritische Loyalitätssituation lässt sich mit folgendem Beispiel verdeutlichen: Ego und Alter planen die Gründung einer Firma. Beide Parteien haben bereits Ressourcen in das Projekt investiert. Ego bekommt unerwartet das Angebot, in ein anderes Projekt einzusteigen, welches sich für ihn attraktiver darstellt. Ein Ausstieg Egos wäre für Alter mit einem Verlust der investierten Ressourcen verbunden. In dieser Situation verlangt eine Loyalitätsnorm, dass Ego von einem Exit absieht und das Projekt mit Alter fortführt (vgl. Lindenberg 1998). Loyalitätsnormen lassen sich potenziell in allen Kooperationsbeziehungen antreffen. In Partnerschaften drückt sich eine Loyalitätsnorm etwa in der Forderung nach Treue aus. Fordern Gewerkschaften und Politiker von Unternehmen, dass sie ihren Produktionsstandort in Deutschland beibehalten und ihn nicht in ein Land mit geringeren Lohnkosten und Steuerabgaben verlegen, dann handelt es sich um eine Loyalitätsforderung. Aber auch Unternehmen können von ihren Mitarbeitern Loyalität fordern, etwa dann, wenn sie nach der Inanspruchnahme von betriebsfinanzierten Weiterbildungsmaßnahmen erwarten, dass sie dem Unternehmen treu bleiben und sich nicht mit ihrem neuen Qualifikationsprofil auf dem Arbeitsmarkt anbieten. Und auch bei der Omertà – der Norm, welche Mafiamitglieder im Falle einer Festnahme zur Verschwiegenheit gegenüber den staatlichen Behörden verpflichtet –, handelt es sich um eine Loyalitätsnorm: Vom Mitglied wird verlangt, zugunsten der Mafia auf eine möglicherweise gewinnbringende Kooperation mit den Behörden zu verzichten. Für den Charakter
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einer Solidarnorm spielt es hier keine Rolle, dass die Omertà vor allem unter Androhung von Gewalt durchgesetzt wird.41 Wie alle anderen Solidarnormen können auch Loyalitätsnormen hinsichtlich ihrer Solidarkosten variieren. Die Loyalitätskosten manifestieren sich in einem Schwellenwert, der anzeigt, bis zu welcher Höhe verlangt wird, auf Gewinne aus alternativen Kooperationen zu verzichten. In diesem Zusammenhang dürfte die Beziehung zwischen Ego und Alter eine entscheidende Rolle spielen. Planen zwei Freunde eine gemeinsame geschäftliche Unternehmung, dann dürften die verlangten Loyalitätskosten sicherlich höher ausfallen, als wenn es sich um Partner handelt, deren Beziehung sich nur auf das Geschäftliche beschränkt. 3.1.3 Das analytische Potenzial des Solidarnormkonzepts Auf den vergangenen Seiten wurde das Solidarnormkonzept in seinen theoretisch-konzeptionellen Grundlagen entwickelt. An dieser Stelle werde ich die Kernelemente zusammenfassen und verdeutlichen, worin das analytische Potenzial dieses Konzepts besteht. Dabei werde ich die These vertreten, dass mit der Solidarnormdefinition, dem Konzept der kritischen Transfersituationen und der Differenzierung von vier Solidarnormen ein gehaltvolles Konzept für eine soziologische Analyse der Solidarität sozialer Systeme vorliegt. Zunächst möchte ich hervorheben, dass die wesentliche analytische Stärke des Solidarnormkonzeptes darin besteht, zwei Eigenschaften miteinander zu verknüpfen, nämlich eine breite Anschlussfähigkeit und ein ausreichendes Maß an Komplexität. Mit der Unterscheidung zwischen vier kritischen Transfersituationen und entsprechenden Typen von Solidarnormen ist das Konzept zugleich allgemein und differenziert genug, um die Solidarität sozialer Systeme auf sämtlichen Aggregationsniveaus in den Blick nehmen zu können. In allen sozialen Systemen – von Kleingruppen über Organisationen bis hin zu politisch verfassten Großgesellschaften – kommt es potenziell zu Bereitstellungs-, Verteilungs-, Unterstützungs- und Loyalitätsproblemen, zu deren Lösung Solidarnormen gesetzt und vertreten werden. Indem jede Sollens-Erwartung eines kompensationslosen Ressourcentransfers als Solidarnorm definiert wird, macht es das Konzept möglich, ein sehr weites Spektrum an empirischen Phänomenen zu erfassen, von der verbalen Aufforderung über Satzungen bis hin zu rechtlich verfassten Normen. Dem hier präsentierten Konzept nach handelt es sich bei Solidarnormen um ein universelles Phänomen, welches zwar durch einen klaren Kern definiert ist, 41
Bei dieser Loyalitätsverpflichtung handelt es sich um eines von mehreren Elementen, die den Ehrenkodex der Mafia bilden. Bei der Aufnahme müssen Neumitglieder bei Gott schwören, dass sie diesen Ehrenkodex einhalten (Duyzings 1964: 56 f.).
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
in der sozialen Realität aber in unterschiedlichsten Erscheinungsformen und im Kontext verschiedenster sozialer Systeme vorkommt. Mit Existenz und Geltung stehen zwei Kategorien zur Verfügung, um den empirischen Status von Solidarnormen zu erfassen. Die analytische Bedeutung dieser beiden Kategorien wird vor dem Hintergrund deutlich, dass sich die Solidarität eines sozialen Systems in den geltenden Solidarnormen manifestiert. Die wesentliche Aufgabe einer soziologischen Analyse von Solidarität auf Systemebene besteht darin, die geltenden Solidarnormen zu identifizieren. Erst auf dieser Grundlage lassen sich dann auch unterschiedliche soziale Systeme hinsichtlich ihrer Solidarität miteinander vergleichen. So vollzieht sich etwa ein Vergleich der Solidarkosten zweier Systeme über einen Vergleich der Summe der Kosten der jeweils geltenden Solidarnormen. Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden noch weitere Dimensionen vorgestellt, anhand derer sich die Solidarität sozialer Systeme vergleichen lässt. An dieser Stelle bleibt zunächst festzuhalten, dass mit der Solidarnormgeltung eine Schlüsselkategorie für die Analyse der Solidarität sozialer Systeme vorliegt. Eine Besonderheit des Solidarnormbegriffs besteht darin, dass Sanktionen als empirische Variable statt als Definitionsbestandteil behandelt werden. Diese Konstruktion ist für das analytische Potenzial des Solidarnormbegriffs von großer Bedeutung. Erst so wird es nämlich möglich, die Rolle und Funktion von Sanktionen für die Verhaltenswirksamkeit von Solidarnormen eigens in den Blick zu nehmen. Auf Sanktionen und die mit ihnen verknüpften Potenziale und Probleme werde ich insbesondere in 3.5 näher eingehen. Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass mit dem Solidarnormkonzept ein theoretisch-konzeptioneller Rahmen entwickelt wurde, dem ein breites analytisches Potenzial innewohnt. Für eine soziologische Analyse ist es allerdings unzureichend, im Sinne einer Inhaltsangabe die jeweils geltenden Solidarnormen aufzuführen. Im Folgenden wird es darum gehen, weitere zentrale Dimensionen zu entwickeln, die für eine soziologische Analyse der Solidarität sozialer Systeme relevant sind. 3.2 Solidaropfer Im Rahmen der Differenzierung der vier Solidarnormen wurde betont, dass die Solidarkosten zwischen unterschiedlichen sozialen Kontexten beträchtlich variieren können. So fallen im Kontext der Familie oder von Freundschaften Solidarkosten in der Regel höher aus als im Kontext des Kollegiums oder des Vereins. Die Dimension der Solidarkosten erstreckt sich auf den absoluten Umfang an Transferleistungen, welche von Solidarnormen verlangt und im Falle ihrer Gel-
3.2 Solidaropfer
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tung auch erbracht werden. In der Literatur findet man häufig den Ansatz, das Anspruchsniveau von Solidarnormen bzw. die Qualität von verlangten Solidaropfern über die Solidarkosten zu bestimmen. So betrachtet Lindenberg (1998: 93 ff.) die Solidarkosten als die entscheidende Variable, um zwischen schwachen und starken Solidarnormen zu unterscheiden. In ähnlicher Weise argumentiert Hechter (1987: 18), wenn er vorschlägt, die Stärke der Gruppensolidarität über den durchschnittlichen Anteil an Ressourcen zu messen, welche ihre Mitglieder in Übereinstimmung mit den Solidarnormen erbringen. Ein Blick auf die Solidarkosten allein ist aber nicht hinreichend, um Aussagen über die Qualität der verlangten Solidaropfer treffen zu können. So kann eine Solidarnorm für verschiedene Adressaten trotz identischer Solidarkosten unterschiedlich starke Opfer implizieren. Man denke an eine Bereitstellungsnorm, welche alle Parteien eines Mietshauses zu denselben Beiträgen zum Gemeinschaftsgarten verpflichtet. Für diejenigen Mietparteien, die kein Interesse an der Nutzung des Gartens haben, stellt dieser Beitrag ein höheres Opfer dar als für diejenigen, die den Garten regelmäßig nutzen. Ein adäquates Bild der Qualität von Solidarnormen ergibt sich erst bei der Berücksichtigung der Frage, ob eine Solidarnorm für einen Adressaten überhaupt mit einem Solidaropfer verbunden ist, und, wenn ja, wie stark dieses Opfer ausfällt. Im folgenden Kapitel werde ich Perspektiven aufzeigen, wie sich unter Berücksichtigung der Adressatenperspektive die Qualität von Solidaropfern erschließen lässt. 3.2.1 Solidaropfer und Transferkonstellationen Der Ausgangspunkt für die Untersuchung der Qualität von Solidaropfern ist eine anreiztheoretische Perspektive. Die Kernüberlegung besteht darin, dass eine Solidarnorm für einen Adressaten nur dann ein Opfer impliziert, wenn sie von ihm Leistungen verlangt, zu deren Erbringung er unabhängig von der Existenz einer Solidarnorm über keine hinreichenden Anreize verfügt. In unkritischen Transfersituationen implizieren Solidarnormen für ihre Adressaten kein Solidaropfer. Unkritische Transfersituationen zeichnen sich dadurch aus, dass Akteure über Anreize verfügen, einen Beitrag zu einem Kollektivgut zu leisten bzw. sich gegenüber anderen gerecht, unterstützend oder loyal zu verhalten, und zwar unabhängig davon, ob eine Solidarnorm existiert, welche dieses Verhalten verlangt, und unabhängig davon, ob Konformität belohnt bzw. Nichtkonformität sanktioniert wird.42 Von den unkritischen sind die kritischen Transfersituationen abzu42
Wenn ich hier und im Folgenden die Perspektive einer opportunistisch-rationalen Handlungsorientierung zugrunde lege, dann dient dies ausschließlich einem heuristischen Zweck. Wie ich
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
grenzen, in denen Solidarnormen mit Solidaropfern verknüpft sind. Dabei ist zwischen zwei Typen kritischer Transfersituationen zu unterscheiden, die jeweils mit zwei unterschiedlichen Arten von Solidaropfern korrespondieren: erstens den kritisch-symmetrischen Transfersituationen, in denen Solidarnormen ein schwaches Solidaropfer verlangen; zweitens den kritisch-asymmetrischen Transfersituationen, in denen Solidarnormen ein starkes Solidaropfer einfordern.43 Schwache und starke Solidaropfer unterscheiden sich im Kern darin, dass Erstere ein Opfer zugunsten gemeinsamer Interessen und Letztere ein Opfer zugunsten fremder Interessen verlangen. Ein Wissen über die Qualität von Solidaropfern ist insbesondere im Zusammenhang mit der Legitimation und Begründung von Solidarnormen von Bedeutung. So stellen starke Solidaropfer, welche auf die Realisierung fremder Interessen abzielen, ganz andere Anforderungen an ihre Begründung als schwache Solidaropfer, die der Realisierung gemeinsamer Interessen dienen. Welche solidarischen Semantiken jeweils anschlussfähig bzw. vielversprechend sind, werde ich erörtern, nachdem ich im Folgenden die drei Kategorien von Solidaropfern spezifiziert habe.44 3.2.1.1 Keine Solidaropfer Die Anreizstruktur unkritische Transfersituationen Bei unkritischen Transfersituationen handelt es sich um Situationen, in denen Ego allein vom Standpunkt einer opportunistisch-rationalen Nutzenmaximierung über Anreize verfügt, einen Ressourcentransfer zu leisten, da sich durch dieses Verhalten seine individuelle Nutzenbilanz verbessert. Die Realisierung dieser Nutzenbilanz basiert auf zwei Bedingungen: Erstens ist Egos Verhalten signifikant dafür, dass ein Kollektivgut bereitgestellt wird bzw. Ego in den Genuss von
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in der Auseinandersetzung mit dem Solidaritätskonzept von Hechter bereits dargelegt habe, stellt der homo oeconomicus kein adäquates handlungstheoretisches Modell dar. Mit der Kernunterscheidung zwischen Opfern zugunsten gemeinsamer und Opfern zugunsten fremder Interessen lehne ich mich an eine von Bierhoff und Küpper (1998; 1999) getroffener Unterscheidung an. In Bezug auf solidarisches Handeln differenzieren sie zwischen einem solidarischen Handeln bei gemeinsamen und bei unterschiedlichen Interessen. Bei der Unterscheidung zwischen den drei Transfersituationen greife ich zentrale Ideen von Baurmann (1998) auf. Sofern ich mich nicht explizit auf andere Autoren beziehe, stütze ich mich von ihm. Die Bezeichnungen der Transfersituationen und der drei unterschiedlichen Arten von Opfern werden von mir eingeführt.
3.2 Solidaropfer
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Fremdleistungen45 kommt, d. h., dass Alter sich ihm gegenüber gerecht, unterstützend und/oder loyal verhält. Zweitens liegt eine positive Ertragsbilanz vor, womit gemeint ist, dass der Nutzen, den Ego aus der Bereitstellung eines Kollektivguts bzw. aus Fremdleistungen zieht, die Kosten seines kompensationslosen Ressourcentransfers übersteigt. Da sich die Bedingungen der Signifikanz und der positiven Ertragsbilanz im Zusammenhang mit Kollektivgütern und Fremdleistungen jeweils unterschiedlich darstellen, werden diese im Folgenden getrennt behandelt (vgl. Baurmann 1998: 350 ff.; 357 ff.). Egos Verhalten bezüglich eines Kollektivguts ist signifikant, wenn sein Beitrag dazu führt, dass dieses Kollektivgut überhaupt bereitgestellt wird oder zumindest eine erhebliche Wertsteigerung erfährt. Die Signifikanz von Egos Verhalten kann darauf beruhen, dass sein Kollektivgutbeitrag als solcher von maßgeblicher Relevanz ist. So kann die erfolgreiche Verteidigung gegen einen Feind davon abhängen, ob sich ein besonders starker Akteur dem Kampf anschließt, oder die erfolgreiche Instandsetzung eines Deiches davon, ob sich ein besonders kompetenter Akteur daran beteiligt. Die Signifikanz von Egos Verhalten kann aber auch darauf basieren, dass sein Beitrag indirekt für die Bereitstellung oder den Wert eines Kollektivguts von entscheidender Wichtigkeit ist. Das ist der Fall, wenn Egos Verhalten einen wesentlichen Einfluss auf das Verhalten anderer Akteure hat und diese durch Egos Beitrag zur Erbringung eines eigenen motiviert werden. Wenn Egos Engagement bei der Verteidigung gegen einen gemeinsamen Feind oder der Instandsetzung eines Deiches dazu führt, dass auch Alter46 einen Beitrag zur Verteidigung respektive zur Deichinstandsetzung leistet, liegt eine solche indirekte Relevanz vor. Dieser Einfluss Egos kann etwa darauf zurückzuführen sein, dass er eine Autorität darstellt, an der sich Alter in seinem Verhalten orientiert. Im Zusammenhang mit dem Erhalt von Fremdleistungen drückt sich die Bedingung der Signifikanz darin aus, dass Ego nur dann damit rechnen kann, dass sich Alter ihm gegenüber gerecht, unterstützend und/oder loyal zeigt, wenn er sich ebenso gegenüber Alter verhält. Der unkritische Charakter solcher Transfersituationen ist von einem Funktionieren des Reziprozitätsmechanismus47 abhängig. Egos Erhalt von Fremdleistungen ist in diesem Fall unmittelbar daran gekoppelt, dass er gegenüber Alter Eigenleistungen erbringt. Egos individuelles Verhalten hat damit eine unmittelbare Auswirkung darauf, wie sich Alter ihm 45 46 47
Den Begriff der Fremdleistung verwende ich in Anlehnung an Baurmann (1998). Diesen werde ich im Folgenden als Sammelbegriff für Leistungen gebrauchen, die Ego von anderen Akteuren erhält. Sprachlich wird Alter hier als individueller Akteur behandelt. Alter kann hier aber auch für eine Mehrzahl an Akteuren stehen. Zum Begriff der Reziprozität und den Bedingungen des Reziprozitätsmechanismus vgl. etwa Gouldner 1984a; Stegbauer 2002.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
gegenüber verhält. Der Mechanismus der Reziprozität kann sich in direkter und in indirekter Form ausdrücken. Die direkte Reziprozität bezeichnet eine Wechselseitigkeit innerhalb einer dyadischen Beziehung: Ego erbringt gegenüber Alter eine Leistung und diese Leistungserbringung ist der Grund dafür, weswegen sich Alter gegenüber Ego analog verhält (vgl. Stegbauer 2002: 35). Eine indirekte Reziprozität drückt sich in einer wechselseitigen Leistungserbringung zwischen mehreren Akteuren aus: Eine dritte Partei erbringt gegenüber Ego Leistungen, weil Ego sich gegenüber Alter entsprechend verhalten hat. Aus der Signifikanz individuellen Handelns wird erst in Verknüpfung mit einer positiven Ertragsbilanz ein wirksamer Anreiz zu einem kompensationslosen Ressourcentransfer. Eine positive Ertragsbilanz zeigt sich darin, dass Ego aus einem Kollektivgut bzw. aus Fremdleistungen Erträge zieht, die insgesamt die Kosten seines kompensationslosen Ressourcentransfers überbieten. Ist dies nicht der Fall, verfügt Ego trotz der Signifikanz seines Verhaltens nicht über hinreichende Handlungsanreize. Wenn durch Egos Verteidigungseinsatz die Abwehr einer Fremdherrschaft erst möglich wird, hat er nur dann einen Anreiz, diesen Beitrag zu leisten, wenn er aus der Abwendung der Fremdherrschaft einen kapitalen Vorteil zieht, der seine Beitragskosten übersteigt. Egos Unterstützungsleistung in einer Notsituation kann die Voraussetzung dafür sein, dass Alter ihm gegenüber eine Unterstützung erbringt. Einen Anreiz zu diesem Verhalten hat Ego aber nur dann, wenn der Nutzen, den er aus der Unterstützungsleistung Alters zieht, seine Kosten für ein analoges Verhalten übersteigt. Unkritische Transfersituationen
Kollektivgüter
Egos Erträge aus einem Kollektivgut übersteigen die Kosten seines Bereitstellungsbeitrags. Da Egos Beitrag zur Bereitstellung bzw. Qualität eines Kollektivguts signifikant ist, verfügt Ego unabhängig von der Existenz einer Solidarnorm über Anreize zu einem kompensationslosen Ressourcentransfer.
Fremdleistungen
Egos Erträge aus einem gerechten, unterstützenden und/oder loyalen Verhalten Alters ihm gegenüber übersteigen die Kosten eines analogen Verhaltens seinerseits. Da der Reziprozitätsmechanismus funktioniert, verfügt Ego unabhängig von der Existenz einer Solidarnorm über Anreize zu kompensationslosen Transferleistungen.
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Das Bedingungsgefüge unkritischer Transfersituationen Nach der Darlegung der Anreizstruktur steht nun die Frage im Fokus, was die Voraussetzungen unkritischer Transfersituationen sind. Dabei geht es insbesondere um die Frage, unter welchen sozialstrukturellen Bedingungen die Signifikanz individuellen Handelns gewahrt ist. Im Zusammenhang mit Vorteilen aus Kollektivgütern ist Egos individueller Beitrag dann signifikant, wenn er mit seinem Beitrag wesentlich zur Bereitstellung eines Kollektivguts beiträgt. Damit stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen Egos Beitrag eine solche Relevanz besitzt. Bezüglich der Vorteile aus Fremdleistungen drückt sich die Signifikanz im Reziprozitätsmechanismus aus. Aus diesem Grunde muss hier nach den sozialen Voraussetzungen für das Funktionieren eines solchen Mechanismus gefragt werden. Die Signifikanz des eigenen Beitrags zu einem Kollektivgut tritt vor allem in kleinen Gruppen und in Gruppen mit großen Unterschieden zwischen starken und schwachen Mitgliedern auf. In kleinen Gruppen kann der Einfluss des Verhaltens eines Einzelnen auf ein Kollektivgut sehr groß sein. Die Zurückhaltung eines Bereitstellungsbeitrags kann dagegen leicht dazu führen, dass ein Kollektivgut in seinem Wert empfindlich vermindert wird oder eventuell gar nicht bereitgestellt werden kann. In Gruppen mit großen Unterschieden hängt es häufig von starken und einflussreichen Mitgliedern ab, welchen Wert ein Kollektivgut hat bzw. ob das Kollektivgut überhaupt bereitgestellt wird. In solchen Gruppen sind es naturgemäß die starken Mitglieder, die potenziell ein Eigeninteresse an einem Beitrag zum Kollektivgut haben können. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass es häufig auch die starken Mitglieder sind, die nur einen geringen Nutzen aus der Bereitstellung ziehen. Das liegt daran, dass sie aufgrund ihrer Ressourcenausstattung möglicherweise nicht auf das Kollektivgut angewiesen sind. Der Beitrag eines wohlhabenden Mitglieds einer Gemeinde zur Finanzierung eines Parks kann entscheidend sein; besitzt diese Person allerdings einen großen Garten, dann ist es möglich, dass sie nur in einem geringen Maße von einem öffentlichen Park profitiert. Unter dieser Voraussetzung überbieten ihre Erträge wahrscheinlich nicht ihre Aufwendungen (negative Ertragsbilanz) und sie hat somit keinen Anreiz, aus eigenem Antrieb einen entsprechenden Ressourcentransfer zu leisten.48 Der Mechanismus der Reziprozität besteht aus einer Kopplung von Leistungserhalt und Leistungserbringung. Die Voraussetzung für diese Kopplung sind soziale Strukturen, in denen eine gegenseitige Beobachtung des Verhaltens und eine kontinuierliche persönliche Beziehung gewährleistet sind. Diese Konti48
Genau das ist die Grundkonstellation kritisch-asymmetrischer Transfersituationen, die unten näher erläutert werden.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
nuität spendet einen „Schatten der Zukunft“ (Axelrod 1996 [1987]: 113), der es ermöglicht, den eigenen Ressourcentransfer als Investition zu verbuchen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Signifikanz des individuellen Beitrags zu einem Kollektivgut und ein Funktionieren des Reziprozitätsmechanismus an Bedingungen gebunden bleiben, die am ehesten in sehr überschaubaren sozialen Kontexten anzutreffen sind, wie etwa der Familie, engen Freundschaftsbeziehungen, traditionalen Dorfgemeinschaften oder dauerhaften Arbeitsgruppen. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass auch im Rahmen enger Beziehungen nicht per se unkritische Transferbedingungen vorliegen. Auch hier können defizitäre Anreizstrukturen existieren, die Solidarnormen notwendig machen, da die Transparenz des Verhaltens an Grenzen kommt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Solidarnormen in dichten sozialen Beziehungen dann nötig sind, wenn höhere Leistungen gewünscht werden, als sie im unmittelbaren Eigeninteresse Egos liegen. Auch wenn unkritische Transfersituationen am ehesten im Kontext enger sozialer Beziehungen anzutreffen sind, bleiben lückenlose und vollständige Anreize zu kompensationslosen Transferleistungen in der Realität die Ausnahme. Solidaropfer in unkritischen Transfersituationen Die oben geschilderte Anreizkonstellation lässt sich als unkritisch bezeichnen, weil Ego unabhängig von der Existenz einer Solidarnorm aus der Perspektive einer opportunistischen Nutzenmaximierung über hinreichende Anreize zu einem kompensationslosen Ressourcentransfer verfügt. Zwar könnte die Existenz einer Solidarnorm Ego unter Umständen zusätzlich motivieren, doch sie ist nicht notwendig, um Gründe für kompensationslose Transferleistungen zu bieten. Da die Befolgung von Solidarnormen in unkritischen Transfersituationen für Ego weder eine Belastung noch einen Vorteil darstellt, ergibt sich für ihn eine indifferente Haltung gegenüber einer Solidarnorm. Sie verlangt von Ego kein Verhalten, welches für ihn im eigentlichen Sinne ein Opfer impliziert. Zugleich ist es so, dass es aus Egos Perspektive keiner Solidarnorm bedarf, um Alters Verhalten in eine von Ego gewünschte Richtung zu lenken. Liegt eine unkritische Transferkonstellation vor, bedeutet dies keineswegs, dass mit der Existenz von Solidarnormen nicht zu rechnen ist. Wie oben dargelegt, sind unkritische Bedingungen vor allem in kleinen Gruppen mit kontinuierlichen persönlichen Beziehungen und einer hohen Transparenz des Verhaltens anzutreffen, wie wir sie häufig in der Familie oder in anderen Kleingruppen vorfinden. Nun ist es aber nicht so, dass in diesen sozialen Kontexten keine Solidarnormen existieren würden. Im Gegenteil: Gerade dort existieren in der Regel
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ausgeprägte Solidaransprüche. Damit wird die Frage aufgeworfen, warum gerade auch in solchen sozialen Kontexten Solidarnormen anzutreffen sind, in denen eher unproblematische Anreizstrukturen existieren. Ein Grund kann der sein, dass die Normsetzer keine ausreichenden Informationen über die Anreizbedingungen besitzen oder diese falsch einschätzen; sie interpretieren Transfersituationen also als kritisch, die sich in Wahrheit als unkritisch darstellen. Ein weiterer Grund kann sein, dass mit der Setzung einer Solidarnorm gar nicht ausschließlich darauf abgezielt wird, bestimmte Transferleistungen zu realisieren, sondern diese Handlung vor allem wegen ihres expressiven Werts bzw. Signalcharakters ausgeübt wird. Werden im Rahmen eines Freundeskreises etwa Unterstützungsnormen beschworen, obwohl kein Anreizproblem vorliegt, dann mag es in erster Linie darum gehen, in expressiver Weise den Freundschaftscharakter der Beziehung zu betonen. 3.2.1.2 Schwache Solidaropfer Die Anreizstruktur kritisch-symmetrischer Transfersituationen Kritische Transfersituationen mit symmetrischem Charakter zeichnen sich ebenfalls durch eine positive Ertragsbilanz aus. Ego zieht aus der Bereitstellung eines Kollektivguts einen größeren Nutzen, als sein eigener Bereitstellungsbeitrag ihm Kosten aufbürdet. Durch ein gerechtes, unterstützendes und/oder loyales Verhalten von Alter profitiert Ego ebenfalls in höherem Maße, als ein analoges Verhalten seinerseits für ihn mit Kosten verbunden ist. Allerdings, und genau das markiert den Unterschied zu unkritischen Transfersituationen, sind Egos Erträge aus einem Kollektivgut bzw. ist der Erhalt von Fremdleistungen unabhängig von seinem eigenen Verhalten. Das bedeutet, dass Ego durch einen seinerseits geleisteten Ressourcentransfer nicht entscheidend darauf einwirken kann, ob und in welchem Ausmaß er in den Genuss von Erträgen aus einem Kollektivgut oder von Fremdleistungen kommt. Aus diesem Grunde fehlt es Ego an Anreizen, einen entsprechenden Ressourcentransfer vorzunehmen (vgl. Baurmann 1998: 346 f.; 359 ff.). Die Bedingung der Insignifikanz ist das charakteristische Merkmal von kritischen Transfersituationen ersten Typs. Im Zusammenhang mit Kollektivgütern drückt sich die Insignifikanz darin aus, dass ein individueller Beitrag so gering ist, dass er für die Bereitstellung des Kollektivguts insgesamt praktisch nicht ins Gewicht fällt: „It is that the contribution of each participant taken alone be sufficiently small and untraceable as to be practically insignificant to the over-all outcome“ (Ullmann-Margali 1977: 28). Unter der Voraussetzung, dass Egos
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
Beitrag nur eine marginale Relevanz für die Bereitstellung eines Kollektivguts hat, besitzt Ego keine Anreize, einen eigenen Beitrag zu leisten, und zwar unabhängig davon, wie sich Alter verhält. Stellt Alter durch seinen Beitrag die Bereitstellung eines Kollektivguts sicher, kommt Ego auch dann in den Genuss der Vorteile, wenn er seinerseits die Kosten eines Bereitstellungsbeitrags einspart. Verweigert Alter seinen Beitrag, während Ego einen solchen leistet, dann trägt Ego Kosten, ohne allerdings in den Genuss eines Vorteils zu kommen, da das Kollektivgut unter dieser Voraussetzung nicht bereitgestellt wird. Freilich ist letztere Alternative für Ego schmerzhafter als erstere, doch beiden ist gemein, dass Ego vom Standpunkt einer opportunistisch-rationalen Nutzenmaximierung aus nicht über hinreichende Anreize verfügt, einen Bereitstellungsbeitrag zu leisten. Im Gegenteil: Ego ist Anreizen ausgesetzt, die Bereitstellung Alter zu überlassen, um auf seine Kosten einen Vorteil in Anspruch zu nehmen. Man denke hier etwa an die Situation, wie sie sich im Zusammenhang mit einem Streik darstellt. Auch wenn Ego ein Interesse am Gelingen des Streiks hat, hat er wegen der Marginalität seines Beitrags keine starken Anreize, an dem Streik teilzunehmen. Analoge Bedingungen gelten im Zusammenhang mit den Vorteilen, die Ego aus dem gerechten Verteilungsverhalten, den Unterstützungsleistungen und/oder der Loyalität Alters zieht. Eine Insignifikanz seines Verhaltens manifestiert sich hier darin, dass der Reziprozitätsmechanismus nicht funktioniert. Egos Ressourcentransfer gegenüber Alter hat in diesem Fall keinen Einfluss darauf, ob Alter sich ihm gegenüber gerecht, unterstützend und/oder loyal verhält. So kann es sein, dass Ego auch dann in den Genuss von Fremdleistungen kommt, wenn er seinerseits keine Eigenleistungen erbringt; oder aber Ego kommt auch dann nicht in den Genuss von Fremdleistungen, wenn er seinerseits einen Ressourcentransfer vornimmt. Im ersten Fall ist eine eigene Leistung Egos überflüssig und im zweiten wirkungslos. Unter Nutzengesichtspunkten ist für Ego die zweite Alternative wiederum schmerzhafter als die erste; beiden ist aber auch hier gemeinsam, dass sie Ego vom Standpunkt einer opportunistisch-rationalen Nutzenmaximierung her keine ausreichenden Anreize zu einem Ressourcentransfer aus eigenem Antrieb bieten. Diese Konstellation tritt etwa im Zusammenhang mit Hilfeleistungen im öffentlichen Raum auf. In diesem sozialen Kontext kann Ego kaum davon ausgehen, dass sich eine Unterstützung als Investition verbuchen lässt. Das charakteristische Merkmal von kritisch-symmetrischen Transfersituationen ist eine Dilemmastruktur.49 Soziale Dilemmata drücken sich darin aus, dass eigeninteressierte Akteure durch ein strikt opportunistisches Verhalten kollektiv 49
Zur grundlegenden Struktur sozialer Dilemmata und zur Analyse von Verhaltensstrategien und Lösungsmöglichkeiten vgl. etwa Ullmann-Margalit (1977); Messick/Brewer (1983).
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ein Ergebnis produzieren, welches ihren Interessen zuwiderläuft. Ein solches Verhalten kann dazu führen, dass Kollektivgüter nicht bereitgestellt werden, obwohl alle ein Interesse an diesen Gütern haben und die individuellen Bereitstellungskosten niedriger sind als die Erträge, die aus ihnen gezogen werden. Bei Fremdleistungen kann es ebenfalls dazu kommen, dass sich keine Praxis der Leistungserbringung einstellt, obwohl alle ein Interesse an Unterstützungsleistungen in Bedarfssituationen, einer gerechten Kosten- und Nutzenaufteilung und Loyalität haben. In kritisch-symmetrischen Transfersituationen besteht damit der bekannte Widerspruch zwischen individueller und kollektiver Rationalität. Zwei Merkmale sind für diesen Widerspruch charakteristisch (van Lange et al. 1992: 4): 1. 2.
Für jeden Akteur ist es individuell rational, keinen kompensationslosen Ressourcentransfer vorzunehmen. Folgen alle Akteure dieser Option, führt das zu einer kollektiven Selbstschädigung. Die kollektive Zurückhaltung eines Ressourcentransfers produziert insgesamt ein Ergebnis, welches für alle Beteiligten schlechter ist als das, das erzielt wird, wenn jeder die Kosten eines Ressourcentransfers auf sich nimmt.
Entscheidend für den Dilemmacharakter ist, dass die kollektive Selbstschädigung unter den gegebenen Bedingungen eine unhintergehbare Konsequenz individuell nutzenmaximierenden Verhaltens bleibt.50 Die Stabilität dieses Zustandes resultiert daher, dass es für Ego unter allen Umständen vorteilhaft bleibt, keinen Ressourcentransfer vorzunehmen. Ist sich Ego nicht sicher, wie Alter sich verhält, oder kann er davon ausgehen, dass Alter keinen Ressourcentransfer leistet, dann muss Ego damit rechnen, dass sein eigener Ressourcentransfer verpufft und ihm Kosten entstehen, ohne dass ihm irgendwelche Erträge aus einem Kollektivgut oder Fremdleistungen zukommen. Aber auch dann, wenn Ego die Gewissheit hat, dass Alter einen Ressourcentransfer vornimmt, bieten sich ihm Anreize, keine Eigenleistungen zu erbringen, da er unter dieser Voraussetzung damit rechnen kann, in den Genuss von Vorteilen ohne eigene Aufwendungen zu kommen. Unabhängig vom Verhalten Alters ist und bleibt kein Ressourcentransfer unter der Bedingung der Insignifikanz die dominante Strategie Egos. Daraus
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Dieses Kernproblem sozialer Dilemmata wird von Ullmann-Margali (1977: 21) in folgender Weise auf den Punkt gebracht: „The dilemma [...] is thus clear. The most rational choice for each leads to a state of affairs which is jointly destructive and at the same time stable. The jointly beneficial outcome, on the other hand, although available in principle, is highly unstable and hence is all but unattainable in practice.“
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
ergibt sich das Dilemma, dass die individuelle Verfolgung von Eigeninteressen zu einem kollektiv suboptimalen Ergebnis führt. Kritisch-symmetrische Transfersituation
Kollektivgüter
Egos Erträge aus einem Kollektivgut übersteigen die Kosten seines Bereitstellungsbeitrags. Da Egos Beitrag zur Bereitstellung bzw. Qualität eines Kollektivguts nicht signifikant ist, fehlen Ego Anreize zu einem entsprechenden Ressourcentransfer.
Fremdleistungen
Egos Erträge aus einem gerechten, unterstützenden und/oder loyalen Verhalten Alters ihm gegenüber übersteigen die Kosten eines analogen Verhaltens seinerseits. Da der Reziprozitätsmechanismus nicht funktioniert und Egos Erhalt von Fremdleistungen von seinen Eigenleistungen unabhängig ist, verfügt er nicht über hinreichende Anreize zu entsprechenden kompensationslosen Transferleistungen.
Das Bedingungsgefüge kritisch-symmetrischer Transfersituationen Bei den Bedingungen kritisch-symmetrischer Transfersituationen geht es insbesondere um die Frage, durch welche sozialstrukturellen Voraussetzungen eine Insignifikanz individuellen Handelns bedingt wird. Im Zusammenhang mit Kollektivgütern tritt Insignifikanz vor allem in großen Gruppen auf, in denen hohe Grade an Anonymität und Mobilität existieren (Baurmann 1998: 349). Sie ist damit charakteristisch für viele Bereiche der modernen Gesellschaft. So sind etwa öffentliche Spielplätze oder Parkanlagen typische Beispiele für Kollektivgüter, deren Bereitstellung für viele Menschen von einem größeren Nutzen ist, als die individuellen Bereitstellungsbeiträge ihnen Kosten aufbürden. Da der individuelle Beitrag aber nicht viel zählt und das eigene Verhalten in der Regel nur einer geringen sozialen Kontrolle untersteht, fehlt es an Anreizen, einen solchen Beitrag zu leisten. Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielt, ist der Grad an sozialer Nivellierung (Olson 1998 [1968]: 8 ff.; Baurmann 1998: 349). Zeichnen sich die Gruppenmitglieder durch eine ähnlich starke Ressourcenausstattung aus, dann ist – eine bestimmte Gruppengröße vorausgesetzt – der individuelle Beitrag zu einem Kollektivgut häufig verzichtbar. Kann ein individueller Akteur nur das leisten, was auch eine Vielzahl anderer Akteure erbringen kann, dann wird sein persönlicher Beitrag mit steigender Gruppengröße zuneh-
3.2 Solidaropfer
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mend unwichtig. Hier haben wir es mit dem oben schon angesprochenen Phänomen zu tun, dass sich Homogenität negativ auf Anreize für Beiträge zu Kollektivgütern auswirkt. Im Zusammenhang mit Fremdleistungen drückt sich individuelle Insignifikanz darin aus, dass Egos Erhalt von Fremdleistungen unabhängig davon ist, ob er seinerseits andere Akteure unterstützt oder nicht. Bedingungen der individuellen Insignifikanz im Zusammenhang mit Fremdleistungen lassen sich auf soziale Strukturen zurückführen, in denen der Reziprozitätsmechanismus nicht funktioniert (Baurmann 1998: 360). Auch hier sind wieder eine hohe Anonymität und Mobilität zentrale Bedingungsfaktoren. Existiert eine hohe Anonymität, dann stehen nur unzureichende Informationen über potenzielle Interaktionspartner zur Verfügung. Somit lässt sich nicht einschätzen, inwiefern sich im Umgang mit einer anderen Partei Investitionen tatsächlich lohnen, da unsicher ist, ob sie die ihr gegenüber erbrachten Leistungen auch tatsächlich erwidern wird oder erwidern kann. Mit einer hohen Mobilität geht eine geringe Dauerhaftigkeit der sozialen Kontakte einher. Und da sich im Rahmen von zeitlich beschränkten Beziehungen kompensationslose Transferleistungen nur schwer als gewinnbringende Investitionen verbuchen lassen, schwinden hier die entsprechenden Handlungsanreize. Anonymität und Mobilität sind typische Merkmale einer Vielzahl sozialer Lebensbereiche in der modernen Gesellschaft. Allerdings variieren ihre Ausprägungen und es bleibt eine empirische Frage, ab welchem Ausprägungsgrad eine unkritische Transfersituation in eine kritisch-symmetrische Transfersituation umkippt. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die Frage, ab welchem Punkt es sich in großstädtischen Nachbarschaften aufgrund der Anonymität und Mobilität der Anwohner nicht mehr lohnt, in soziale Beziehungen zu investieren. Obwohl jeder davon profitieren dürfte, wenn es in der Nachbarschaft eine Praxis der gegenseitigen Unterstützung gibt, kann es leicht dazu kommen, dass eine solche Praxis aufgrund der Anreizstrukturen nicht realisiert wird. Ein ähnliche Problematik ergibt sich im Zusammenhang mit der gestiegenen beruflichen Mobilität (vgl. Sanders et al. 2005). Auch hier kann ein hoher Grad an Mobilität – etwa im Rahmen von Leiharbeit – die Anreizstrukturen für Mitarbeiter so verändern, dass sich ein unterstützendes, gerechtes und/oder loyales Verhalten gegenüber den Kollegen nicht mehr lohnt. Solidaropfer in kritisch-symmetrischen Transfersituationen Im Unterschied zu unkritischen Transfersituationen haben wir es in kritischsymmetrischen Transfersituationen mit einer Konstellation zu tun, in der Soli-
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darnormen notwendig sind, um Anreize zu regelmäßigen kompensationslosen Transferleistungen zu bieten. Alle Akteure, die sich wünschen, dass es unter den geschilderten Bedingungen zu Kollektivgutbeiträgen, gerechten Verteilungen, Unterstützungsleistungen und/oder Loyalität kommt, haben also ein Interesse daran, dass eine entsprechende Solidarnorm gesetzt und ihr Geltung verschafft wird. Das charakteristische Merkmal kritisch-symmetrischer Transfersituationen ist, dass auch Ego als Adressat einer Solidarnorm zu den Norminteressenten zählt. Indem Solidarnormen in dieser Situation darauf abzielen, ein soziales Dilemma zu überwinden, ist aus Egos Perspektive ihre Geltung einer Nichtgeltung vorzuziehen. Freilich würde Ego es präferieren, wenn er von den Leistungen Alters profitieren könnte, ohne selbst Kosten tragen zu müssen. Dies ändert aber nichts daran, dass sich die Situation für ihn insgesamt verbessert, wenn eine Solidarnorm gilt, die beide Parteien zu entsprechenden Leistungen verpflichtet.51 Damit lässt sich nun spezifizieren, wie sich Solidaropfer für Adressaten in kritisch-symmetrischen Transfersituationen darstellen. Eine Solidarnorm verlangt in diesen Situationen Leistungen, die dem Verallgemeinerungsprinzip entsprechen: Sie verlangt von Ego lediglich jene Leistungen, die sich Ego auch von Alter wünscht oder rationalerweise wünschen kann (Baurmann 1998: 349; 360 f.). Negativ gesprochen verlangen Solidarnormen in kritisch-symmetrischen Transfersituationen, dass Ego nicht Trittbrett fährt bzw. nicht darauf abzielt, Alters Leistungsbereitschaft ihm gegenüber auszubeuten. Vor diesem Hintergrund lassen sich die von Solidarnormen in kritisch-symmetrischen Transfersituationen verlangten Opfer als schwach bezeichnen. Sofern für Alter analoge Anreizbedingungen existieren, dient eine Solidarnorm der Lösung eines Kooperationsproblems zwischen beiden Parteien und damit einer Realisierung gemeinsamer Interessen (vgl. Bierhoff/Küpper 1998; 1999). Solidarnormen zur Realisierung gemeinsamer Interessen sind in unserem Alltag allgegenwärtig. Bei den Forderungen, den Park sauber zu halten, sich an einem Streik zu beteiligen oder die Rundfunkgebühren zu bezahlen, handelt es sich jeweils um Bereitstellungsnormen, die darauf abzielen, dass Adressaten einen angemessenen Beitrag zur Realisierung eines Kollektivguts leisten, von dem sie auch selbst profitieren. Ähnlich verhält es sich mit Unterstützungsnormen, die fordern, dass unter Kollegen, in der Nachbarschaft oder in der Öffentlichkeit bei Bedarf Hilfe geleistet wird. Auch bezüglich dieser Unterstützungs-
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Von einem solchen Interesse an der Geltung von Solidarnormen lässt sich nicht darauf schließen, dass Ego ebenfalls Anreize zur Befolgung einer Solidarnorm hat. Die Fragen nach dem Interesse an Solidarnormen und den Anreizen zu ihrer Befolgung sind analytisch strikt zu trennen.
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normen ist davon auszugehen, dass von den Adressaten lediglich die Hilfeleistungen gefordert werden, die sich diese auch von anderen wünschen. 3.2.1.3 Starke Solidaropfer Die Anreizstruktur kritisch-asymmetrischer Transfersituationen Während für kritisch-symmetrische Transfersituationen gilt, dass sich Akteure kollektiv selber schädigen, wenn sie konsequent ihre eigenen Interessen wahrnehmen, zeichnen sich kritisch-asymmetrische Transfersituationen dadurch aus, dass kein Widerspruch zwischen individueller und kollektiver Rationalität existiert und auch die Signifikanzfrage keine Rolle spielt. Der zentrale Unterschied sowohl zu unkritischen Transfersituationen wie auch zu kritisch-symmetrischen Transfersituationen ist der, dass für Ego der Gesamtertrag, den er aus der Bereitstellung eines Kollektivguts oder aus Fremdleistungen zieht, seine eigenen Aufwendungen insgesamt unterbietet. Das bedeutet, dass Ego unter der Voraussetzung, dass keiner einen Ressourcentransfer vornimmt, sich insgesamt nicht schlechter stellt, als wenn alle einen entsprechenden Transfer leisten. Diese Anreizstruktur lässt sich wiederum separat in Bezug auf Kollektivgüter und in Bezug auf Fremdleistungen darstellen (vgl. Baurmann 1998: 350 ff.; 359 ff.). Im Zusammenhang mit Kollektivgütern stellt sich die Situation so dar, dass Egos Beitragskosten die Erträge übersteigen, die sich für ihn insgesamt aus der Existenz des Kollektivguts ableiten. Die Bereitstellung des Kollektivguts kommt damit in erster Linie Alter zugute. Aus diesem Grunde lässt sich von einer grundsätzlichen Einseitigkeit des Nutzens sprechen, welcher aus Egos Perspektive mit seinem Beitrag verknüpft ist. Im Unterschied zur vorherigen Konstellation liegt für Ego auch dann keine positive Ertragsbilanz vor, wenn er und Alter gemeinsam mit ihren Beiträgen die Bereitstellung des Kollektivguts gewährleisten. Egos individueller Beitrag impliziert für ihn also unter allen Umständen eine Verschlechterung seiner Nutzenbilanz. Es ist klar, dass unter dieser Voraussetzung vom Standpunkt einer opportunistisch-rationalen Nutzenmaximierung keine Anreize existieren, einen Ressourcentransfer zu leisten. Eine solche Konstellation liegt etwa dann vor, wenn in der Nachbarschaft auf Initiative der Anwohner ein öffentlicher Spielplatz gebaut werden soll und Ego kein Interesse an dem Spielplatz hat, weil er kinderlos ist. Bezüglich des Erhalts von Fremdleistungen stellt sich diese Konstellation so dar, dass die Vorteile, die Ego durch Transferleistungen Alters erwarten kann, seine Eigenleistungen prinzipiell nicht ausgleichen oder überbieten. Bezogen auf Unterstützungsleistungen heißt dies, dass Egos Unterstützung aller Voraussicht
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nach nicht durch Alters Unterstützungsleistungen ausgeglichen oder überboten werden. Egos Unterstützung bleibt also einseitig. Dies kann etwa darauf zurückzuführen sein, dass Alter keine Gelegenheit zu Unterstützungsleistungen haben wird oder dass er nicht über die Ressourcenausstattung verfügt, um im umgekehrten Bedarfsfall Ego eine adäquate Unterstützung zukommen zu lassen. Was die gerechte Verteilung von Kosten und Nutzen einer Kooperation betrifft, ist es ebenfalls so, dass Alter entweder aller Voraussicht nach nicht in die Situation kommen wird, gegenüber Ego eine entsprechende Aufteilung vorzunehmen, oder dass zumindest die zur Disposition stehenden Nutzen bzw. Kosten so gering sind, dass Egos Verlust nicht mindestens ausgeglichen wird. So liegt die Orientierung an einem Verteilungsprinzip (bspw. dem Gleichheitsprinzip) nur dann im Interesse von Ego, wenn er insgesamt davon profitiert, falls sich Alter ebenfalls an diesem Prinzip orientiert. Andernfalls belastet dieses Verteilungsprinzip Ego einseitig zugunsten von Alter. Hinsichtlich der Loyalität wiederholt sich die Problematik. Entweder wird Alter aller Voraussicht nach keine Anreize haben, auf Kosten von Ego eine Kooperation aufzukündigen, oder aber der etwaige Verlust, der Ego durch einen Exit Alters entstehen könnte, ist entschieden geringer als der Vorteil, um den sich Ego durch seine Loyalität gegenüber Alter bringt. Man denke hier an eine Geschäftsbeziehung zwischen Ego und Alter, in der Ego für Alter eine konkurrenzlose Alternative darstellt, weswegen er keine Anreize zu einem Exit hat, während Ego eine Vielzahl an alternativen Partnern zur Verfügung stehen, die ein besseres Geschäft versprechen. Es ist klar, dass Ego in dieser Situation kein Interesse an einer Loyalitätsnorm haben kann, die ihn an Alter bindet. Kritisch-asymmetrische Transfersituation
Kollektivgüter
Egos Erträge aus einem Kollektivgut unterbieten die Kosten seines Bereitstellungsbeitrags. Auch dann, wenn Egos Beitrag für die Bereitstellung eines Kollektivguts signifikant ist, hat er wegen der mangelnden Ertragsperspektive keine Anreize, aus freien Stücken einen Bereitstellungsbeitrag zu leisten.
Fremdleistungen
Egos Erträge aus einem gerechten, unterstützenden und/oder loyalen Verhalten Alters ihm gegenüber unterbieten die Kosten eines analogen Verhaltens seinerseits. Auch dann, wenn Egos Verhalten signifikant für den Erhalt von Fremdleistungen ist, hat Ego aufgrund der geringen Ertragserwartung keine Anreize, aus freien Stücken einen kompensationslosen Ressourcentransfer zu leisten.
3.2 Solidaropfer
89
Das Bedingungsgefüge kritisch-asymmetrischer Transfersituationen Kritisch-asymmetrische Transfersituationen treten im Unterschied zu kritischsymmetrischen Transfersituationen unabhängig von der Größe und Struktur einer Gruppe auf. Entscheidend für das Zustandekommen dieser Konstellation ist vielmehr Egos mangelndes Interesse an der Bereitstellung eines Kollektivguts bzw. an Fremdleistungen durch Alter. Nicht jeder Akteur zieht aus jedem Kollektivgut denselben Nutzen. So stiftet der Gemeinschaftsgarten eines Mietshauses nur den Mietpartien einen Nutzen, die sich in diesem aufhalten, und der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nur für die Bevölkerungsteile wertvoll, die ein Medienprogramm mit Bildungsauftrag präferieren. Existiert kein Interesse an der Bereitstellung eines Kollektivguts, dann fehlt konsequenterweise auch jeder Grund, aus eigenem Antrieb einen Beitrag zur Bereitstellung desselben zu leisten. Ein mangelndes Interesse kann auf eine reine Präferenzfrage zurückzuführen sein oder an der Kostspieligkeit des Beitrags liegen. Letzteres ist etwa dann der Fall, wenn das Bedürfnis nach Medienprogrammen hinreichend durch gebührenfreie Privatsender befriedigt wird, sodass das öffentlich-rechtliche Programm keinen Zusatznutzen verspricht. Im Zusammenhang mit Unterstützungsleistungen, einer gerechten Verteilung und Loyalität ist das Problem defizitärer Anreize sowohl in kritischasymmetrischen Transfersituationen als auch in kritisch-symmetrischen Transfersituationen darauf zurückzuführen, dass der Reziprozitätsmechanismus nicht funktioniert. Im Fall der kritisch-asymmetrischen Transfersituationen ist dies allerdings nicht auf eine mangelnde Signifikanz des individuellen Verhaltens, sondern auf eine ungleiche Ressourcenausstattung zurückzuführen. Selbst dann, wenn Egos Ressourcentransfer an Alter also bewirken würde, dass er ebenfalls Leistungen erhält, würde sich Egos Situation insgesamt verschlechtern, da die erhaltenen Fremdleistungen die Eigenleistungen nicht ausgleichen oder gar überbieten können. Aus diesem Grund fehlen Ego vom Standpunkt einer opportunistisch-rationalen Nutzenmaximierung Anreize zu einem entsprechenden Ressourcentransfer. Hier ist zu beachten, dass ein sich selbst tragender Reziprozitätsmechanismus seine natürliche Grenze in der Asymmetrie von Interaktionspartnern findet (vgl. Gouldner 1984a; 1984b). Solidaropfer in kritisch-asymmetrischen Transfersituationen Wie in den kritischen Transfersituationen des ersten Typs sind auch in kritischen Transfersituationen des zweiten Typs Solidarnormen essenziell, um regelmäßige Transferleistungen und damit eine Bereitstellung von Kollektivgütern, eine ge-
90
3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
rechte Verteilung, Unterstützungsleistungen und/oder Loyalität zu gewährleisten. Der zentrale Unterschied ist allerdings, dass Solidarnormen hier auf eine ganz andere Problematik ausgerichtet sind. Nicht die von allen Beteiligten gewünschte Überwindung eines sozialen Dilemmas steht im Mittelpunkt, sondern Akteure werden dazu angehalten, Leistungen zugunsten der Realisierung von fremden Interessen (vgl. Bierhoff/Küpper 1998; 1999) zu erbringen. In kritischasymmetrischen Transfersituationen hat Ego als Adressat einer Solidarnorm keine eigeninteressierten Gründe, sich die Geltung einer Solidarnorm zu wünschen. Im Gegenteil: Da aus Egos Perspektive von einer Solidarnorm lediglich andere profitieren, würde sich Egos Situation durch die Geltung dieser Norm insgesamt verschlechtern. Solidarnormen, die auf eine Realisierung fremder Interessen abzielen, gehen über das hinaus, was Solidarnormen zur Realisierung gemeinsamer Interessen von ihren Adressaten verlangen. In kritisch-asymmetrischen Transfersituationen lassen sich kompensationslose Transferleistungen nicht mehr mit Rekurs auf das Eigeninteresse begründen und verlangen. Aus diesem Grunde können die mit einer Solidarnorm verknüpften Opfer in diesen Transfersituationen als stark bezeichnet werden. Unkritische Transfersituation
Kritischsymmetrische Transfersituation
Kritischasymmetrische Transfersituation
Anreize zu Ressourcentransfer
+
–
–
Interesse an Solidarnormgeltung
0
+
–
Solidarnorm impliziert kein Opfer, da ein kompensationsloser Ressourcentransfer durch das Eigeninteresse gedeckt ist.
Solidarnorm impliziert ein schwaches Opfer, da ein kompensationsloser Ressourcentransfer der Realisierung gemeinsamer Interessen zugutekommt.
Solidarnorm impliziert ein starkes Opfer, da ein kompensationsloser Ressourcentransfer ausschließlich der Realisierung fremder Interessen zugutekommt.
Solidaropfer
3.2 Solidaropfer
91
3.2.2 Solidaropfer und solidarische Semantiken Mit der Differenzierung zwischen den drei Transferkonstellationen liegt ein Konzept zur Bestimmung der Stärke von Solidaropfern aus Adressatenperspektive vor. Dabei ist zu betonen, dass es sich um ein Konzept zur Bestimmung der objektiven Solidaropfer handelt. Eine Klassifikation der Stärke von Solidaropfern als stark oder schwach ist also unabhängig davon, wie sehr sich die Adressaten durch eine Solidarnorm persönlich belastet fühlen. So können starke Solidaropfer in engen Beziehungen wie der Familie oder dem Freundeskreis unter Umständen als selbstverständlicher und weniger belastend empfunden werden als schwache Solidaropfer im Kontext der Nachbarschaft oder der politischen Gemeinschaft. Auch wenn Adressaten die Belastung durch Solidarnormen unterschiedlich empfinden können, ist ein Wissen über die objektive Stärke von Solidaropfern wesentlich, um Solidarnormen gegenüber den Adressaten in adäquater Weise begründen zu können. Die Akzeptanz einer Solidarnorm und die Folgebreitschaft sind nicht zuletzt davon abhängig, dass die Solidaropfer von den Adressaten als legitim anerkannt werden. Die Argumente, mit denen Solidarnormen in der sozialen Praxis legitimiert werden, lassen sich als solidarische Semantiken bezeichnen (vgl. Kaufmann 2004: 52). Ob eine Solidarnorm für ihre Adressaten ein schwaches oder starkes Opfer impliziert, hat einen wesentlichen Einfluss darauf, welche solidarischen Semantiken als Legitimation anschlussfähig und aussichtsreich sind. Verlangt eine Solidarnorm von ihren Adressaten ein schwaches Opfer, also ein Opfer zugunsten der Realisierung gemeinsamer Interessen, lässt sie sich mit Rekurs auf das Fairnessprinzip legitimieren. Das Fairnessprinzip untersagt es, Kosten für gemeinsam angestrebte Güter der Gemeinschaft aufzubürden oder Fremdleistungen in Anspruch zu nehmen, ohne Eigenleistungen zu erbringen. Da das Fairnessprinzip an die Realisierung eigener Interessen gebunden bleibt, weist es eine hohe Plausibilität auf und dürfte allgemein zustimmungsfähig sein. Im Zusammenhang mit Solidarnormen, die Opfer zugunsten der Realisierung gemeinsamer Interessen verlangen, sind aus diesem Grunde kaum Legitimationsprobleme zu erwarten. Das heißt freilich nicht, dass Adressaten diese Solidarnormen fraglos befolgen, sondern lediglich, dass die Chance groß ist, dass das verlangte Solidaropfer als gerechtfertigt angesehen wird. Verlangt eine Solidarnorm dagegen ein starkes Opfer, d. h. ein Opfer zur Realisierung fremder Interessen, lässt sie sich nicht durch das Fairnessprinzip und nicht mit Rekurs auf Eigeninteressen begründen. Da ihre Adressaten hier nicht von der Geltung einer Solidarnorm profitieren, bedarf es zu ihrer Legitimation solidarischer Semantiken, durch die ein einseitiges Solidaropfer begründet wird. Als Quellen können etwa religiöse oder säkulare Verantwortungsethiken,
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
Traditionen oder Gemeinschaftsvorstellungen (Patriotismus etc.) dienen. Im Vergleich zum Fairnessprinzip dürfte sich die Anerkennung solcher Ideologien allerdings als entschieden voraussetzungsvoller darstellen. Während die Realisierung des Fairnessprinzips letztlich im wohlverstandenen Eigeninteresse eines jeden liegt, basieren solche Ideologien auf partikularen und kontingenten Überzeugungen. Um eine Solidarnorm adäquat gegenüber den Adressaten zu legitimieren, bedarf es einer Zielgruppenanalyse, aus welcher hervorgeht, welches Opfer sie von ihren Adressaten verlangt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieselbe Solidarnorm für verschiedene Adressaten unterschiedliche Opfer implizieren kann. Daraus folgt, dass sich dieselbe Solidarnorm gegenüber manchen Adressaten durch das Fairnessprinzip begründen lässt, während gegenüber anderen Adressaten eine anspruchsvollere solidarische Semantik notwendig wird. Eine solche Konstellation kann insbesondere dann auftreten, wenn wir es mit Solidarnormen zu tun haben, welche einen großen und heterogenen Adressatenkreis ansprechen. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die sozialen Sicherungssysteme, die ein umfangreiches System rechtlich implementierter Solidarnormen darstellen. Ob die verlangten Beiträge zur Finanzierung dieser sozialen Sicherungssysteme ein Opfer zur Realisierung gemeinsamer oder fremder Interessen darstellen, hängt von den Merkmalen der Adressaten ab. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, ob sich ein Adressat zu der Risikogruppe zählt, welche mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Sozialleistungen in Anspruch nehmen wird, oder ob er sich als Nettozahler empfindet, der lediglich einzahlt, ohne Leistungen in Anspruch zu nehmen. Gegenüber den Akteuren, die sich zu der Risikogruppe zählen und die demzufolge ein Eigeninteresse an der Bereitstellung dieser Systeme haben, können die verlangten Beiträge mit Rekurs auf das Fairnessprinzip legitimiert werden. Gegenüber den Akteuren, die sich als Nettozahler wahrnehmen, bedarf es dagegen eines höheren Argumentationsaufwandes. In diesem Zusammenhang kann es sich anbieten, auf die Vernetzung von Solidarnormen in sozialen Systemen zu verweisen. Da viele Akteure, die in einem Fall Nettozahler sind, in anderen Zusammenhängen von einseitigen Solidarleistungen anderer profitieren, handelt es sich um eine Übertragung des Fairnessarguments auf einen größeren Zusammenhang. Bietet sich eine solche Argumentation allerdings nicht an, bedarf es einer anderen solidarischen Semantik, um die Beiträge zu legitimieren. Nicht Eigeninteresse und Fairness, sondern Verantwortung und Zusammengehörigkeit sind in diesem Zusammenhang Schlüsselkonzepte zur Begründung von Solidaropfern zugunsten der Realisierung fremder Interessen.
3.3 Verpflichtungsstrukturen
93
3.3 Verpflichtungsstrukturen Um die Bedeutung und den Stellenwert von Solidarnormen in der sozialen Realität zu erfassen, bedarf es einer Berücksichtigung des Kontextes, in den diese eingebettet sind bzw. der durch sie maßgeblich mitgestaltet wird. Unter dem Begriff Verpflichtungsstrukturen werden im Folgenden zwei Kontexte näher betrachtet: Ausgehend von dem Umstand, dass Individuen in der Regel mit einer Vielzahl an Solidaransprüchen konfrontiert werden, erfolgt zunächst eine Betrachtung der Beziehungen, in denen Solidarnormen miteinander stehen können. Dabei werde ich zwischen einer neutralen, einer komplementären und einer konfligierenden Beziehung unterscheiden. Im Anschluss geht es um die Frage, in welcher Weise Akteure durch Solidarnormen in einem sozialen System aufeinander bezogen werden können, d. h. welche Inklusionsbeziehungen Solidarnormen implizieren. So verpflichten manche Solidarnormen etwa alle Akteure eines sozialen Systems zu denselben Leistungen untereinander und definieren auf diese Weise eine egalitäre Beziehung. Andere richten sich dagegen nur an bestimmte Akteure eines sozialen Systems und definieren damit eine partikulare Verpflichtungsbeziehung. Ich werde eine Typologie von sechs Inklusionsbeziehungen entwickeln, mit deren Hilfe sich die durch Solidarnormen konstituierten Verpflichtungsverhältnisse in sozialen Systemen rekonstruieren lassen. 3.3.1 Beziehungen zwischen Solidarnormen In der modernen Gesellschaft sind Individuen in verschiedene Netzwerke, Gruppen und Organisationen integriert, in denen sie jeweils mit einer Vielzahl unterschiedlicher Solidarnormen konfrontiert werden. So sind wir als Bürger einer politischen Gemeinschaft, als Familienmitglied, als Mitarbeiter eines Unternehmens, als Mitglied einer religiösen Gemeinschaft etc. Adressaten einer ganzen Reihe an spezifischen Solidaranforderungen. Die Summe der Solidarnormen, denen einzelne Akteure ausgesetzt sind, bilden Solidarnormbündel.52 Solche Bündel lassen sich im Hinblick auf unterschiedliche Dimensionen analysieren. Eine Dimension sind die Solidarkosten. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie viele private Ressourcen zugunsten anderer oder zugunsten der Gemeinschaft von Akteuren insgesamt verlangt werden. Eine andere Dimension ist die Art der Solidaropfer. Hier ist die Frage zu klären, ob die von Akteuren verlangten Transferleistungen primär der Realisierung gemeinsamer oder fremder Interessen dienen. Im Folgenden werde ich mich auf eine weitere Dimension kon52
Hier lehne ich mich terminologisch an Popitz (1980: 46) an, der von Normbündeln spricht.
94
3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
zentrieren; und zwar auf die Beziehung zwischen Solidarnormen, d. h. das Verhältnis, in dem verschiedene Solidaransprüche zueinander stehen können.53 Beziehen sich Solidarnormen auf zwei nicht miteinander verflochtene Bereiche und beeinträchtigt die Befolgung der einen in keiner Weise die Befolgung der anderen Norm, dann liegt eine neutrale Beziehung vor. Die Solidarnormen berühren sich also weder inhaltlich, noch ergibt sich aus der Befolgung der einen Norm notwendigerweise die Nichtbefolgung der anderen oder umgekehrt. Eine komplementäre Beziehung zwischen Solidarnormen liegt dann vor, wenn sie von ihren Adressaten ein ähnliches oder identisches Verhalten verlangen und sich auf diese Weise gegenseitig stützen und ergänzen. So kann etwa die Forderung, einen Park sauber zu halten, sowohl durch die offizielle Parkordnung als auch durch Freunde oder andere Parkbenutzer zum Ausdruck gebracht werden. Dass man sich gegenüber seinen Mitmenschen gerecht zu verhalten und in Notsituationen Unterstützung zu leisten habe, kann sowohl von religiösen Geboten als auch vom säkularen sozialen Umfeld gefordert werden. Im Zusammenhang mit komplementären Solidarnormen stellt sich die Frage, inwiefern sie sich nicht nur inhaltlich, sondern auch bezüglich ihrer Verhaltenswirksamkeit stützen. Solidarnormen können aber auch in einer konfligierenden Beziehung zueinander stehen. Zwischen einer Solidarnorm A und einer Solidarnorm B existiert eine konfligierende Beziehung, wenn eine Orientierung an A impliziert, dass B nicht nachgekommen werden kann bzw. umgekehrt. Der Adressat kann also nicht beiden Solidaranforderungen gerecht werden, denen er ausgesetzt ist. Da konfligierende Ansprüche eine wesentliche Erklärung dafür sein können, dass Solidarnormen in der Praxis nicht befolgt werden, und konfligierende Ansprüche nicht selten mit manifesten Konflikten einhergehen, ist diese Beziehung für eine soziologische Analyse von besonderem Interesse. Es lässt sich zwischen zwei Ursachen unterscheiden, die eine konfligierende Beziehung begründen können. Als erste Ursache ist zu nennen, dass sich zwei Solidarnormen inhaltlich ausschließen. Dies ist dann der Fall, wenn aus der Verhaltensforderung der einen Solidarnorm aus logischen Gründen folgt, dass die Verhaltensforderung einer anderen nicht erfüllt werden kann. Inhaltlich-logische Widersprüche zwischen Solidarnormanforderungen sind allerdings ein Sonderfall, der am ehesten im Zusammenhang mit Loyalitätsnormen auftritt. Man denke etwa an Ehescheidungen, bei denen die Kinder von beiden Elternteilen aufgefordert werden, sich für eine Seite zu entscheiden. Ein anderes Beispiel sind ethnische Konflikte, die dazu führen können, dass die Mitglieder multiethnischer Gruppen mit widerstreitenden Loyalitätsanforderungen konfrontiert werden. 53
Die folgende Unterscheidung zwischen einer neutralen, einer komplementären und einer konfligierenden Beziehung ist von Kiwit und Voigt (1995: 125 f.) inspiriert.
3.3 Verpflichtungsstrukturen
95
Die zweite Ursache liegt in der knappen Ressourcenausstattung von Akteuren. Konflikte zwischen Solidarnormen, die auf eine knappe Ressourcenausstattung zurückzuführen sind, dürften insgesamt die gängigere Konstellation sein. Da Individuen nur über ein begrenztes Budget an Zeit, Geld, Leistungskraft und anderen Ressourcen verfügen, Solidaranforderungen aber potenziell grenzenlos sind, eröffnet sich ein grundlegendes Spannungsfeld. Dabei ist es plausibel, davon auszugehen, dass Individuen schon allein aus Ressourcenknappheit bestimmten Solidaranforderungen nicht nachkommen können bzw. wollen. Zwischen unterschiedlichen Solidarnormen kann es so zu einer Konkurrenz um die knappen Ressourcen ihrer Adressaten kommen. Konfligierende Ansprüche dieser Art können etwa im Verhältnis zwischen den Solidaranforderungen in der Familie und denen am Arbeitsplatz entstehen. 3.3.2 Inklusionsbeziehungen Jede Solidarnorm zeichnet sich dadurch aus, dass sie von Akteuren Transferleistungen zugunsten anderer Akteure oder zugunsten einer Gruppe verlangt. Durch Solidarnormen werden damit zwei Akteurskategorien zueinander in eine Beziehung gesetzt: Adressaten und Rezipienten. Die Relation zwischen beiden, die durch eine Solidarnorm definiert wird, bezeichne ich als Inklusionsbeziehung.54 Bei der Bestimmung von Inklusionsbeziehungen geht es um die Frage, wer im Rahmen eines sozialen Systems gegenüber wem zu Solidarleistungen angehalten wird. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Begriffe Adressat und Rezipient als Chiffren fungieren und nicht unbedingt auf unterschiedliche Akteure verweisen müssen. So kann dieselbe Solidarnorm einen Akteur in manchen Situationen als Adressaten ansprechen und in anderen als Rezipienten vorsehen. Ein Beispiel ist eine Unterstützungsnorm, welche verlangt, dass Zeugen eines Unfalls erste Hilfe leisten sollen. Ob ein individueller Akteur durch diese Solidarnorm bevorteilt oder in die Pflicht genommen wird, hängt davon ab, wie er in die entsprechende Situation involviert ist. Solidarnormen können aber auch Sollens-Erwartungen zwischen kategorisch unterschiedlichen Akteursgruppen definieren – etwa zwischen Männer und Frauen, zwischen Einheimischen und Ausländern, zwischen Alten und Jungen etc. Ausgehend von den Normkonzepten von Coleman (1991: 319 ff.) und Popitz (1980: 38 ff.) werde ich im Weiteren unterschiedliche Typen von Inklusionsbeziehungen differenzieren.
54
Mit dem Begriff der Inklusionsbeziehung lehne ich mich terminologisch und inhaltlich an Coleman (1991: 319 ff.) an. Im Detail werde ich Inklusionsbeziehungen aber anders ausformulieren.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
3.3.2.1 Allgemein versus partikular Die durch Solidarnormen zum Ausdruck gebrachten Pflichten und Vorteile lassen sich danach unterscheiden, ob sie einen allgemeinen oder partikularen Charakter haben. Den Referenzrahmen für die Kategorien allgemein und partikular stellt jeweils das soziale System dar, in dessen Rahmen eine Solidarnorm betrachtet wird. Ist eine Solidarnorm an alle Akteure adressiert, dann zeichnet sie sich durch einen allgemeinen Verpflichtungscharakter aus. Ist sie dagegen nur an einen bestimmten Kreis von Akteuren adressiert – etwa nur an die Lehrlinge in einem Betrieb oder nur an die Wohlhabenden einer Gemeinde – dann ist sie in ihrem Verpflichtungscharakter partikular (Popitz 1980: 40 f.). Im Zusammenhang mit dem durch eine Solidarnorm definierten Rezipientenkreis verkompliziert sich die Unterscheidung zwischen dem allgemeinen und partikularen Charakter, da einerseits individuelle Akteure und andererseits Gruppen als Rezipienten infrage kommen. Verteilungs-, Unterstützungsund Loyalitätsnormen, die jeweils individuelle Akteure begünstigen, können im Rahmen eines sozialen Systems entweder jeden Akteur oder lediglich einen bestimmten Kreis von Akteuren, etwa nur die alten Menschen in der Nachbarschaft oder nur die Frauen in einem Betrieb, als Rezipienten vorsehen. Im ersten Fall ist der durch eine Solidarnorm definierte Rezipientenkreis allgemeiner, im zweiten Fall partikularer Art. Indem Bereitstellungsnormen auf eine Realisierung von Kollektivgütern abzielen, begünstigen sie per Definition nicht individuelle Akteur, sondern Gruppen. In diesem Zusammenhang lässt sich unterscheiden, ob alle Akteure eines sozialen Systems zu der begünstigten Gruppe zählen, diese also mit dem sozialen System identisch ist, oder ob die begünstigte Gruppe eine Teilgruppe innerhalb des sozialen Systems darstellt. So können etwa im Kontext einer Familie Kollektivgüter existieren, die entweder für alle Familienmitglieder oder lediglich für Geschwister oder für die Eltern zur Nutzung vorgesehen sind. Im ersten Fall hat der durch eine Solidarnorm definierte Rezipientenkreis wiederum einen allgemeinen, im zweiten einen partikularen Charakter.
3.3 Verpflichtungsstrukturen
97 Adressat
Allgemein
Partikular
Rezipient
Eine Solidarnorm verpflichtet alle Akteure eines sozialen Systems zu Transferleistungen.
Alle Akteure eines sozialen Systems werden bzw. die Allgemeinheit wird durch eine Solidarnorm begünstigt.
Eine Solidarnorm verpflichtet bestimmte Akteure eines sozialen Systems zu Transferleistungen.
Bestimmte Akteure eines sozialen Systems werden bzw. eine bestimmte Teilgruppe innerhalb eines sozialen Systems wird durch eine Solidarnorm bevorteilt.
Die Klassifizierungen allgemein und partikular hängen sowohl in Hinblick auf den Adressaten als auch im Hinblick auf den Rezipienten davon ab, wie die Grenzen des sozialen Systems gezogen werden, das als Referenzrahmen zugrunde gelegt wird. So lässt sich die Inklusionsbeziehung ein und derselben Solidarnorm – etwa einer Unterstützungsnorm unter Geschwistern – mit Rekurs auf unterschiedliche Systemgrenzen analysieren. Ein Beobachter kann diese Norm sowohl in den Grenzen des Systems der Geschwisterbeziehung als auch in den Grenzen des Systems der Familie betrachten. Je nach Referenzsystem ergeben sich verschiedene Inklusionsbeziehungen. Verpflichtet die Unterstützungsnorm alle Geschwister untereinander zu denselben Solidarleistungen, dann handelt es sich innerhalb des sozialen Systems der Geschwister um eine Solidarnorm, die sowohl hinsichtlich ihrer Verpflichtung als auch hinsichtlich ihrer Begünstigung einen allgemeinen Charakter hat. Bei Zugrundelegung der Grenzen des sozialen Systems der Familie stellt sich diese Solidarnorm dagegen in beiderlei Hinsicht als partikular dar. Welche Systemgrenzen ein Beobachter zugrunde legt, leitet sich allerdings nicht aus der Solidarnorm selbst ab, sondern ist abhängig davon, über welches System eine Aussage getroffen werden soll.55 3.3.2.2 Typologie von Inklusionsbeziehungen Es lassen sich sechs Typen von Inklusionsbeziehungen unterscheiden (siehe Abbildung 1). Diese repräsentieren jeweils unterschiedliche Kombinationen 55
Mit diesem Argument lehne ich mich an Popitz (1980: 38) an, der in ähnlicher Weise argumentiert, dass die Analyse der Verpflichtungsstruktur einer Norm verlangt, dass man einen bestimmten sozialen Bereich als Referenzrahmen zugrunde legt, innerhalb dessen eine Norm verortet wird. Die Grenzen dieses sozialen Bereichs können, wie Popitz betont, vom Beobachter mit Rücksicht auf das Analyseinteresse variabel gezogen werden.
98
3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
allgemeiner bzw. partikularer Solidarverpflichtungen und allgemeiner bzw. partikularer Begünstigungen. Diese Typologie stellt eine Heuristik dar, mit deren Hilfe sich in empirischen Untersuchungen solidarische Verpflichtungsverhältnisse zwischen den Akteuren sozialer Systeme rekonstruieren lassen. Abbildung 1:
Sechs Typen von Inklusionsbeziehungen
(1) Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System jeden Akteur zu Leistungen zugunsten aller anderen bzw. zugunsten der Allgemeinheit. Im Rahmen der ersten Konstellation verpflichtet eine Solidarnorm jeden Akteur eines sozialen Systems zu denselben Leistungen gegenüber jedem anderen Akteur bzw. gegenüber der Gemeinschaft. Bereitstellungsnormen entsprechen dieser Inklusionsbeziehung, sofern sie alle Akteure eines sozialen Systems dazu verpflichten, Beiträge zu Kollektivgütern zu leisten, von deren Bereitstellung alle profitieren. Verteilungs-, Unterstützungs- und Loyalitätsnormen sind diesem Typ zuzuordnen, sofern alle untereinander zu denselben Leistungen verpflichtet sind: Jeder ist aufgefordert, gegenüber jedem anderen eine gerechte Verteilung vorzunehmen, Unterstützung zu leisten oder sich loyal zu zeigen. Solidarnormen folgen hier dem Gleichheitsprinzip und dürften vor allem in sozialen Systemen anzutreffen sein, in denen zwischen den Mitgliedern keine ausgeprägte Hierarchie besteht. So ist in einer Freundschaftsbeziehung in der Regel jeder in gleicher Weise dazu verpflichtet, dem anderen in Notsituationen zu helfen, Loyalität zu zeigen etc. In einer Gewerkschaft ist jeder Genosse verpflichtet, zum gemeinsamen Ziel einer Lohnerhöhung seinen Beitrag zu leisten.
3.3 Verpflichtungsstrukturen
99
(2) Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System einen partikularen Adressatenkreis zu Leistungen zugunsten jedes Akteurs bzw. zugunsten der Allgemeinheit. Bei dieser Konstellation verlangt eine Solidarnorm von einem partikularen Kreis von Akteuren, dass er zugunsten aller anderen Akteure des sozialen Systems bzw. zugunsten der Allgemeinheit bestimmte Leistungen erbringt. Im Zusammenhang mit Bereitstellungsnormen manifestiert sich dieser Inklusionstyp darin, dass einigen Akteuren die Solidarkosten für die Bereitstellung von Kollektivgütern auferlegt werden, von denen alle profitieren. Ein Beispiel ist die Wehrpflicht, durch welche Sicherheit für alle gewährleistet werden soll und die sich in den meisten Fällen nur an die Männer als Beitragsleister richtet. Ein anderes Beispiel sind Unterstützungsnormen, welche sich explizit an die Wohlhabenden einer Gemeinschaft richten und diese dazu anhalten, diejenigen zu unterstützen, die über weniger verfügen und bedürftig sind. Solidarverpflichtungen orientieren sich hier nicht am Gleichheitsprinzip, sondern an dem Grundsatz, dass bestimmten Akteuren bzw. Akteursgruppen in einer Gemeinschaft eine besondere Verantwortung zukommt. (3) Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System alle Akteure zu Leistungen zugunsten eines partikularen Kreises an Rezipienten bzw. zugunsten einer partikularen Gruppe. Im Vergleich zur vorherigen Konstellation liegen hier umgekehrte Bedingungen vor: Alle Akteure eines sozialen Systems werden zu bestimmten Leistungen zugunsten eines partikularen Kreises bzw. zugunsten einer partikularen Gruppe angehalten. Eine Bereitstellungsnorm dieses Inklusionstyps verlangt, dass alle Akteure einen Beitrag zu einem Kollektivgut leisten, welches allerdings nur von einer partikularen Gruppe genutzt wird. Die durch die gesamte Gemeinschaft getragene Subventionierung von Opernhäusern und Museen entspricht etwa diesem Muster. Verteilungs-, Unterstützungs- und Loyalitätsnormen dieses Inklusionstyps verlangen jeweils, dass alle Akteure zugunsten eines bestimmten Kreises von Akteuren gewisse Leistungen erbringen. Ein Beispiel sind Unterstützungsnormen in einem Betrieb, welche alle Mitarbeiter dazu auffordern, neue Kollegen in besonderer Weise zu unterstützen.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
(4) Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System einen partikularen Kreis von Adressaten zu Leistungen zugunsten eines partikularen Kreises von Rezipienten bzw. zugunsten einer partikularen Gruppe. Bei dieser Konstellation haben wir es mit dem Fall zu tun, dass innerhalb eines sozialen Systems eine Solidarnorm von einem partikularen Kreis an Akteuren einseitig Transferleistungen zugunsten eines anderen partikularen Kreises von Akteuren verlangt. Im Unterschied zur dritten Konstellation handelt es sich bei dem Adressatenkreis hier um eine Teilgruppe des Systems. Diese Konstellation lässt sich am einfachsten anhand von Unterstützungsnormen illustrieren. Richtet sich eine Unterstützungsnorm im Rahmen eines Unternehmens etwa nur an die Abteilungsleiter, welche durch diese Norm gegenüber den Lehrlingen zu besonderen Unterstützungsleistungen angehalten werden, dann liegt eine solche Art von Inklusionsbeziehung vor. Von Verteilungsnormen können ebenfalls einseitige Verpflichtungen zwischen zwei Gruppen bzw. Kategorien von Akteuren definiert werden. Man denke an die Norm, die Ehemänner in traditionellen partnerschaftlichen Arrangements dazu verpflichtet, ihren Ehefrauen einen bestimmten Teil ihres Einkommens für private Zwecke zu überlassen. Bezogen auf Bereitstellungsnormen drückt sich diese Inklusionsbeziehung darin aus, dass ein partikularer Adressatenkreis für eine andere partikulare Gruppe bestimmte Kollektivgüter bereitstellen soll. (5) Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System einen partikularen Kreis von Adressaten zu Leistungen zugunsten eines partikularen Kreises von Rezipienten bzw. zugunsten einer partikularen Gruppe, wobei zwischen dem Kreis der Adressaten und dem der Rezipienten eine Schnittmenge besteht. Diese fünfte Konstellation ist mit der vierten identisch, außer dass hier eine Schnittmenge zwischen den ansonsten getrennten Gruppen der Adressaten und Rezipienten existiert. Wenn im Rahmen der Familie eine Solidarnorm fordert, dass die älteren Geschwister die jüngeren unterstützen sollen, dann bedeutet dies für die Geschwister in der mittleren Altersposition, dass sie sich auf beiden Seiten wiederfinden – auf der Seite der Adressaten und auf der Seite der Rezipienten.
3.3 Verpflichtungsstrukturen
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(6) Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System die Mitglieder einer partikularen Teilgruppe zu Leistungen untereinander bzw. zugunsten der partikularen Gruppe. Bei einer Inklusionsbeziehung dieses Typs richtet sich eine Solidarnorm nur an einen bestimmten Kreis von Akteuren und verpflichtet Mitglieder dieser Teilgruppe untereinander zu bestimmten Leistungen. Akteure, die zwar zu dem sozialen System, aber nicht zu dem spezifischen Kreis gehören, werden von der Solidarnorm weder verpflichtet, noch profitieren sie von ihr. Diese Inklusionsbeziehung lässt sich anhand eines Unternehmens illustrieren. Hier gibt es bestimmte Bereitstellungs-, Verteilungs-, Unterstützungs- oder Loyalitätsnormen, welche sich ausschließlich auf die Abteilungsleiter, die Lehrlinge oder die Vorstandsmitglieder untereinander beziehen. Die sechs Inklusionstypen bieten eine Heuristik für die Analyse solidarischer Verpflichtungsverhältnisse. Über Einzelfallstudien hinausgehend wäre es von Interesse, der Frage nachzugehen, inwiefern bestimmte Typen von Sozialbeziehungen von Solidarnormen eines bestimmten Inklusionstyps dominiert werden. Es ist plausibel, anzunehmen, dass in Gruppen, in denen sich Akteure zwecks der Realisierung gemeinsamer Interessen zusammenschließen, Solidarnormen dominieren, welche alle zu denselben Solidarleistungen verpflichten (erster Inklusionstyp). Demgegenüber erscheint es naheliegend, dass in Gruppen mit stark ausgeprägter kollektiver Identität – gestiftet etwa durch religiöse oder ethnische Ideologien – Solidarnormen vorherrschen, die die Starken zu besonderen Leistungen gegenüber der Gemeinschaft oder den Schwachen verpflichten (zweiter und vierter Inklusionstyp). In hierarchisch strukturierten Gruppen – etwa in Unternehmen oder beim Militär – werden unter den Akteuren mit gleichem Status wahrscheinlich Solidarnormen dominieren, die wechselseitig zu denselben Leistungen verpflichten (sechster Inklusionstyp). Zwischen den Hierarchieebenen ist dagegen eine Verklammerung unterschiedlicher, aber komplementärer Solidarpflichten anzunehmen (vierter Inklusionstyp).56 Ob sich die hier formulierten Vermutungen bestätigen lassen und es eine systematische Korrespondenz zwischen Typen von Sozialbeziehungen und Inklusionsbeziehungen gibt, muss die empirische Forschung zeigen.
56
Im Kontext von Arbeitsorganisationen könnte sich eine solche Komplementarität darin ausdrücken, dass von den Arbeitnehmern gegenüber der Unternehmensführung eine gewisse Loyalität und – quasi im Gegenzug – von der Unternehmensführung gegenüber ihren Mitarbeitern eine faire Beteiligung an den Unternehmensgewinnen verlangt wird.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
3.4 Institutionalisierung Dem hier zugrunde gelegten Normbegriff zufolge handelt es sich bei jedem Ausdruck des Wunsches, dass Akteure in bestimmten Situationen einen kompensationslosen Transfer privater Ressourcen vornehmen, um eine Solidarnorm. Dadurch wird eine sehr große Spannweite an Sollens-Erwartungen unter einen Solidarnormbegriff gefasst. So handelt es sich bei dem in einer Nachbarschaft herrschenden Anspruch, dass man sich in Notsituationen gegenseitig unterstützen soll, ebenso um eine Unterstützungsnorm wie bei §323c des StGB57, welcher von den Bürgern in einem rechtlich verbindlichen Sinne Hilfe für Mitmenschen in Not verlangt. Obwohl diese beiden Normen einen gemeinsamen Kern aufweisen, der sie als Unterstützungsnormen qualifiziert, unterscheiden sie sich in einem wesentlichen Punkt, nämlich in dem jeweils zugrunde liegenden Arrangement ihrer Setzung und Durchsetzung. Während nachbarschaftliche Solidarnormen (meist) in spontanen sozialen Prozessen entstehen und durchgesetzt werden, basieren rechtliche Solidarnormen in beiderlei Hinsicht auf einem dezidierten und formellen Regelsystem. Ein Großteil der Solidarnormen, die wir in der sozialen Realität beobachten können, liegt allerdings zwischen den extremen Polen reiner Spontaneität und umfassender Reglementierung. Im Folgenden werde ich ein Rahmenkonzept der Institutionalisierung von Normen entwickeln, mit dem sich Abstufungen und Unterschiede hinsichtlich des organisatorischen Arrangements von Normen analytisch erfassen lassen. 3.4.1 Die Dimension der Institutionalisierung 3.4.1.1 Begriff der Institutionalisierung Der Begriff der Institutionalisierung, wie er hier verstanden wird, bezieht sich im Kern darauf, inwiefern Handlungen im Zusammenhang mit der Setzung und Durchsetzung von Normen ihrerseits wiederum normativ reglementiert sind. In dem Maße, in dem dies der Fall ist, sind Normen der sozialen Spontaneität entzogen und einem geplanten Prozess unterstellt. Dieser Begriff der Institutionalisierung ist nicht nur für das Verständnis von Solidarnormen von Belang, sondern für das Verständnis von Normen insgesamt. Bei dem Konzept der Institutionalisierung, welches ich im Folgenden entwickeln werde, handelt es sich also nicht 57
Der § 323c des StGB im Wortlaut: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“
3.4 Institutionalisierung
103
ausschließlich um einen Beitrag zur Solidaritätsdebatte, sondern ebenso auch um einen Beitrag zur allgemeinen soziologischen Normtheorie. Terminologisch drückt sich dies darin aus, dass ich von Normen spreche, wenn das Gesagte nicht nur für Solidarnormen, sondern für Normen insgesamt zutrifft. Die Kernidee des hier vertretenen Institutionalisierungsbegriffs findet sich bei Popitz: „Soziale Normen können mehr oder weniger ‚institutionalisiert‘ werden, d. h. Regelungen ihrer Setzung und Durchsetzung können sich verfestigen, indem sie mit relativ dauerhaften und relativ starr fixierten organisatorischen Arrangements verknüpft werden“ (Popitz 1980: 31).
Bei der Institutionalisierung handelt es sich um eine Dimension, die in ihrer Ausprägung variieren kann; Normen können also mehr oder weniger institutionalisiert sein. Um die Institutionalisierung analytisch zu erfassen, bietet sich eine Überlegung des Rechtsphilosophen Hart (1998 [1961]) an. Hart entwickelt eine rechtspositivistische Theorie, in deren Rahmen er zwischen zwei Arten von Normen unterscheidet, den Primär- und Sekundärnormen.58 Bei Primärnormen handelt es sich um Verhaltensnormen im klassischen Sinn, also um Normen, die ein bestimmtes Verhalten vorschreiben oder verbieten. Solidarnormen stellen in der Hart’schen Terminologie damit Primärnormen dar.59 Bei Sekundärnormen handelt es sich dagegen um Normen über Primärnormen, denen die Aufgabe zukommt, Handlungen im Zusammenhang mit der Setzung und Durchsetzung von Primärnormen zu reglementieren: „[...] while primary rules are concerned with actions that individuals must or must not do, these secondary rules are concerned with the primary rules themselves. They specify the ways in which the primary rules may be conclusively ascertained, introduced, eliminated, varied, and the fact of their violation conclusively determined“ (94).
58
59
Hart spricht von primary und secondary rules statt von Primär- und Sekundärnormen. Da es sich bei Harts Regeln aber im Wesentlichen um Normen im hier verstandenen Sinn handelt, werde ich der terminologischen Einheitlichkeit wegen im Folgenden von Normen und nicht von Regeln sprechen. Wenn in den Originalzitaten die Begriffe primary und secondary rules auftauchen, sind diese als Primär- bzw. Sekundärnormen zu verstehen. Primärnormen bzw. Verhaltensnormen, die von den Adressaten Leistungen zugunsten anderer oder zugunsten der Gemeinschaft verlangen, lassen sich nach Hart in allen Gesellschaften antreffen. Solidarnormen werden somit von Hart, ohne dass er sie allerdings als solche bezeichnet, zu den universellen Primärnormen gezählt. Zu dieser Kategorie gehören außerdem Normen, die auf eine Einschränkung der freien Gewaltausübung abzielen, sowie jene, die Diebstahl und Betrug verbieten (vgl. Hart 1998 [1961]: 91).
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
Das charakteristische Merkmal von Sekundärnormen ist demnach, dass sie auf Primärnormen bezogen sind, weswegen Hart auch von einem parasitären Charakter der Sekundärnormen spricht (81). Anhand von solchen Sekundärnormen lässt sich der Grad der Institutionalisierung von Solidarnormen analytisch erfassen. Von Hart werden insgesamt drei Typen von Sekundärnormen unterschieden – rules of recognition, rules of change und rules of adjudication –, mit denen er das organisatorische Arrangement von (Rechts-)Normen in den Blick nimmt. In leichter Abwandlung von Harts Konzept und unter Einbezug von Ideen von Popitz (1980) und Baurmann (1996) unterscheide ich zwischen vier Sekundärnormen:
Durchsetzung
Setzung
Sekundärnormen
Zentrale Fragen
Ermächtigungsnormen
Gibt es Akteure oder Instanzen, die zur Solidarnormsetzung autorisiert sind?
Verfahrensnormen
Gibt es ein verpflichtendes Verfahren für die Bestimmung der verbindlichen Solidarnormen?
Evaluationsnormen
Gibt es autorisierte Akteure oder Instanzen und festgelegte Kriterien für die Feststellung eines sanktionswürdigen Solidarnormbruchs?
Sanktionsnormen
Gibt es autorisierte Sanktionssubjekte und festgelegte Sanktionen für einen Solidarnormverstoß?
Mit der Differenzierung der vier Felder und der vier Sekundärnormen lässt sich der Grad der Institutionalisierung von Normen erfassen. Dabei gilt folgende Regel: Je mehr Felder durch Sekundärnormen reglementiert und je dezidierter die Vorgaben der Sekundärnormen sind, desto weniger unterliegt die Setzung und Durchsetzung einer Primärnorm spontanen sozialen Prozessen, desto stärker ist eine Primärnorm also institutionalisiert. Bei der Institutionalisierung geht es ausschließlich um die Frage nach der Geltung von Sekundärnormen, nicht aber um die Frage nach der Geltung der Primärnormen selbst. So können Primärnormen gelten, ohne dass ihre Setzung und Durchsetzung einer starken normativen Reglementierung unterliegen. Man denke an Unterstützungsnormen in der Nachbarschaft oder in sich neu formierenden Gruppen. Umgekehrt ist aber auch ein hoher Grad an Institutionalisierung keineswegs eine Garantie dafür, dass Primär-
3.4 Institutionalisierung
105
normen auch tatsächlich verhaltenswirksam werden. Dieser Punkt wird anhand von Rechtsnormen deutlich. Diese weisen zwar einen maximalen Grad an Institutionalisierung auf, können aber bezüglich ihrer Verhaltenswirksamkeit u. U. nicht gelten. Aus einer analytischen Perspektive sind die Institutionalisierung und die Geltung von Primärnormen daher als zwei unterschiedliche Dimensionen zu behandeln. 3.4.1.2 Vier Sekundärnormen Ermächtigungsnormen Durch Ermächtigungsnormen werden Akteure oder Instanzen dazu legitimiert, für einen bestimmten sozialen Bereich oder für eine bestimmte Gruppe verbindliche Normen festzulegen. Im Unterschied zu Primärnormen, welche die Verhaltensautonomie von Akteuren einschränken, zielen Ermächtigungsnormen damit auf eine Erweiterung von Verhaltensautonomie ab (Baurmann 1998: 54). Die ermächtigte Instanz ist autorisiert, als „innovierende Kraft“ (Popitz 1980: 45) aufzutreten, d. h. neue Normen zu erzeugen bzw. bestehende Solidarnormen aufzuheben oder zu modifizieren. Indem Ermächtigungsnormen zur Setzung von Solidarnormen legitimieren, ist ihnen in indirekter Weise auch eine Verhaltensnorm implizit: „Die Ermächtigung einer Person zur Normsetzung hat die deontische Bedeutung, daß der Wille dieser Person befolgt werden soll: ‚Wenn N will, daß p, dann soll p sein‘“ (Baurmann 1996: 77, Hervorhebung im Original). Ermächtigungsnormen können unterschiedliche Instanzen autorisieren, Normen zu erlassen. In modernen Gesellschaften handelt es sich dabei häufig um Institutionen – wie etwa Parlamente, Behörden oder Vereinsvorstände. Aber auch einzelne Personen – wie der Chef einer Abteilung, ein religiöser Führer, das Familienoberhaupt oder der Anführer einer Jugendclique – können ermächtigt sein. Die wesentliche Leistung einer institutionalisierten Normsetzung besteht darin, dass sie eine Flexibilität gewährleistet, die unter der Bedingung sozialer Spontaneität nicht möglich ist. Entstehen etwa neue Rahmenbedingungen, die eine andere normative Ausrichtung verlangen, können durch den ermächtigten Akteur die bestehenden Normen schnell angepasst oder neue entwickelt werden (Hart 1998 [1961]: 95 ff.). Eine weitere wichtige Funktion von Ermächtigungsnormen liegt in einer indirekten Identifikationsfunktion, was die verbindlichen Solidaransprüche angeht. Gilt eine Ermächtigungsnorm, so impliziert das, dass jene Normen verbindlich sind, die durch die ermächtigte Instanz gesetzt werden. Wenn der Vater in einem
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
patriarchalischen Familienclan, der religiöse Führer oder der Vereinsvorstand zur Normsetzung ermächtigt sind, dann bedeutet das im Umkehrschluss, dass die normativen Äußerungen anderer Akteure keine Verbindlichkeit haben.60 Dieser Punkt verweist auf eine andere Eigenschaft der Ermächtigungsnorm, dass sie nämlich immer auch bestimmte Akteure vom Recht auf Normsetzung ausschließt. Wird kein Akteur explizit ermächtigt, kann jeder Normen setzen, ohne damit in Widerspruch zu einer autorisierten Instanz zu geraten. In diesem Fall kann aber auch niemand eine besondere Verbindlichkeit seiner Normsetzung für sich in Anspruch nehmen. Verfahrensnormen Neben der Frage, wer zur Normsetzung autorisiert ist, kann auch die Frage, wie eine Normsetzung vonstattengehen soll, Gegenstand einer sekundären Normierung sein. Normen, welche darauf abzielen, den Prozess der Normsetzung zu reglementieren, stellen Verfahrensnormen dar. Unter sie fallen all jene Regeln, die vorschreiben, welche Prozeduren bei der Normfindung und -setzung einzuhalten sind. So kann in einer Partnerschaft oder Wohngemeinschaft die Verfahrensregel gelten, dass nur jene Solidarnormen verbindlich sind, die im Konsens festgelegt werden. Für Genossenschaften, Vereine und Organisationen gibt es Statuten, die bestimmen, durch welches Verfahren die legitimen Ansprüche – etwa die zu leistenden Mitgliedsbeiträge – zustande kommen. In diesen Fällen lässt sich jeweils davon sprechen, dass Normen durch ein institutionalisiertes Verfahren implementiert werden. Während Ermächtigungsnormen die Handlungsspielräume bestimmter Akteure erweitern, schränken Verfahrensnormen diese wiederum ein, indem sie festlegen, welche Spielregeln bei der Normfestlegung berücksichtigt werden müssen. Da Solidarnormen von ihren Adressaten Opfer verlangen, stehen sie unter Legitimationsdruck. Eine besondere Eigenschaft von Verfahrensnormen besteht darin, dass sie einen wesentlichen Beitrag zur Akzeptanz von Solidarnormen leisten können; und zwar unabhängig von der inhaltlichen Bewertung einer Norm selbst. Bezüglich einer solchen „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann 1969) ist freilich zu bedenken, dass die Legitimationsproblematik durch Verfahrensnormen nicht gänzlich gelöst, sondern nur verschoben wird, nämlich von der 60
Indem Ermächtigungsnormen zum einen festlegen, wer Solidarnormen setzen bzw. ändern darf, und zum anderen anzeigen, was die verbindlichen Solidarnormen sind (nämlich die durch die ermächtigte Partei gesetzten), fallen hier zwei Aspekte zusammen, die Hart (1998 [1961]: 94 ff.) in seiner Theorie durch unterschiedliche Normen fasst, nämlich die „rule of recognition“ und die „rule of change“.
3.4 Institutionalisierung
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Primärnorm auf die Sekundärnorm. Die legitimierende Wirkung einer Verfahrensnorm hängt also davon ab, inwiefern dieser selbst wiederum zugestimmt wird. In Ostroms (1999) empirischen Arbeiten zu den Bedingungen einer erfolgreichen Allmendewirtschaft zeigt sich, dass das Einräumen von Partizipationsmöglichkeiten eine wichtige Rolle spielt. Existiert ein Verfahren, welches den Akteuren das Recht gibt, auf die sie betreffenden Bereitstellungsnormen Einfluss zu nehmen, steigt die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz von Normen zur Lösung der Allmendeproblematik. Ermächtigungsnormen und Verfahrensnormen können eng verknüpft sein. Verfahrensnormen, welche allen Mitgliedern ein Partizipationsrecht einräumen und verlangen, dass über die verbindlichen Normen abgestimmt wird, ermächtigen eine bestimmte Instanz – etwa die Mitgliederversammlung – dazu, die verbindlichen Normen zu bestimmen. In vielen Fällen sind also Ermächtigungs- und Verfahrensnormen miteinander verzahnt. Evaluationsnormen Damit Normen Geltung verschafft werden kann, bedarf es einer Evaluation des normrelevanten Verhaltens. Nur wenn eine solche Evaluation stattfindet, lässt sich ein Fehlverhalten feststellen und anschließend unter Umständen sanktionieren. Verhaltensevaluationen unter normativen Gesichtspunkten sind ein alltäglicher Vorgang, der in vielen Bereichen spontan erfolgt – bspw. unter Freunden, Kollegen oder Nachbarn. Evaluationsnormen zielen darauf ab, den Prozess der Evaluation zu reglementieren und bestimmten Maßstäben zu unterwerfen. Evaluationsnormen können bestimmte Akteure oder Instanzen zu der Bewertung autorisieren, ob in einer bestimmten Situation oder bei einem bestimmten Verhalten ein sanktionswürdiger Normverstoß vorliegt oder nicht.61 Im Rechtsstaat obliegt diese Aufgabe dem Gericht, in einer patriarchalischen Familie ist es der Vater, der diese Rolle übernimmt, und im Rahmen eines Verbandes ist der Vorstand dazu autorisiert. Mit der Autorisierung einer Evaluationsinstanz geht nicht unbedingt einher, dass andere Akteure nicht ebenfalls ihre Interpretation der Dinge kommunizieren können oder dürfen. Mit der Autorisierung wird allerdings festgelegt, welche Bewertung verbindlich ist und zu Konsequenzen führt. Evaluationsnormen müssen sich aber nicht auf die Autorisierung einer Evaluationsinstanz beschränken, sondern können auch Kriterien für einen sankti61
Das Element der Identifikation eines Normbruchs ist eine wesentliche Funktion von Harts (1998 [1961]: 96 ff.) „rules of adjudication“. Allerdings werden bei Hart auch die Sanktionsfragen durch diese Norm reglementiert. Dieser Aspekt wird von mir gesondert behandelt.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
onswürdigen Normbruch definieren. In der Regel resultiert die Sanktionswürdigkeit eines Normbruchs daraus, dass dem Akteur Schuld für sein Verhalten zugeschrieben wird. Eine Schuld leitet sich aber nicht nur aus dem tatsächlichen Verhalten ab, sondern ebenfalls aus den zugerechneten Verhaltensumständen und -motiven. Im Zusammenhang mit Solidarnormen ist die Schuldfrage ganz wesentlich davon abhängig, inwiefern dem Adressaten unterstellt wird, bewusst und aus egoistischen Motiven heraus einer Solidarnorm nicht gefolgt zu sein. Ist eine Nichtbefolgung dagegen auf eine Fehlinterpretation der Situation oder auf konkurrierende normative Ansprüche zurückzuführen, dann mögen dies Faktoren sein, die von einer Schuld freisprechen und einen Akteur vor Sanktionen bewahren. Sanktionsnormen Für die Durchsetzung von Solidarnormen – wie von allen Normen – spielen Sanktionen eine herausragende Rolle. Ein effektives Sanktionssystem ist allerdings alles andere als selbstverständlich. Zwei grundsätzliche Probleme sind in diesem Zusammenhang zentral. Zum einen handelt es sich bei Sanktionen in vielen Fällen um ein Kollektivgut, welches der typischen Trittbrettfahrerproblematik unterliegt: „[…] a sanctioning system is also a public good because its benefits can be enjoyed by all members regardless of their contribution to its provision“ (Yamagishi 1986: 110). Wie alle anderen Kollektivgüter auch können Sanktionen einem prekären Charakter unterliegen. Es kann aber auch zu dem umgekehrten Problem kommen, dass Sanktionen zu schnell verhängt werden oder unangemessen hart ausfallen. Wird ein Solidarnormverstoß als Angriff auf zentrale Werte wahrgenommen, mag dies impulsive Sanktionshandlungen provozieren, die den Charakter einer Vergeltung haben und unangemessen hart ausfallen. Zu übereifrigen Sanktionierungen kann es aber auch aufgrund rationaler Erwägungen kommen; und zwar dann, wenn Akteure davon ausgehen, für ihr Sanktionsverhalten belohnt zu werden, und aus diesem Grunde besonders motiviert sind (Coleman 1991: 354 ff.). Übereifer ist problematisch, da Sanktionen „konfliktnahe“ (Popitz 1980: 49) Handlungen darstellen, die leicht eine Eskalation auslösen können. Um eine effektive Sanktionierung zu gewährleisten, d. h. um sicherzustellen, dass es bei einem Normbruch überhaupt zu Sanktionen kommt bzw. dass diese angemessen ausfallen, können eine Reihe unterschiedlicher Sanktionsnormen existieren (vgl. für das Folgende Popitz 1980: 50). Zwei zentrale Aspekte, die Gegenstand von Sanktionsnormen sein können, sind die Fragen nach dem Sanktionssubjekt und nach dem Erlaubnis- bzw. Ver-
3.4 Institutionalisierung
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pflichtungscharakter einer Sanktionierung. Mit dem Sanktionssubjekt wird der Akteur oder die Partei bezeichnet, der eine Sanktionierung obliegt. Dabei kann es sich um ein ausgewähltes Individuum (Vater, Chef etc.) oder eine bestimmte Instanz (Gericht, Organisationsführung etc.) handeln. Aber auch einer Gruppenöffentlichkeit, d. h. jedem einzelnen Mitglied einer Gruppe, kann im Fall eines Normbruchs eine Sanktionierung obliegen. Wenn es Regeln gibt, die eine Sanktionierung in eine bestimmte Hand legen, ist häufig auch definiert, ob das Sanktionssubjekt lediglich ein Recht oder auch eine Pflicht zur Sanktionierung hat. So können die Mitglieder einer Gruppe entweder die Erlaubnis oder auch die Pflicht haben, Solidarnormverstöße anderer Mitglieder zu sanktionieren. Diese Unterscheidung ist wesentlich, da sie darüber bestimmt, ob mit der Ernennung zum Sanktionssubjekt eine Erweiterung und/oder eine Einschränkung der Verhaltensautonomie verknüpft ist. In beiden Fällen ist es aber so, dass die Sanktionierung eines Normverstoßes einer bestimmten Partei überantwortet ist. Diese soll oder darf Handlungen ausführen, zu denen andere Akteure nicht autorisiert sind. Mit der Erlaubnis oder Pflicht zu einer Sanktionierung geht nicht automatisch einher, dass Sanktionsinhalt und Sanktionsschärfe vollständig im Ermessen des Sanktionssubjekts liegen. Auch diese Aspekte können einer sekundären Normierung unterliegen. Die wahrscheinlich grundlegendste Normierung in diesem Zusammenhang dürfte der Anspruch sein, dass eine Sanktionierung in Art und Umfang angemessen sein soll. Sekundärnormen können aber auch konkreter werden und ganz bestimmte Sanktionen verlangen – etwa den Ausschluss aus einer Gruppe, ein Bußgeld, eine bestimmte Wiedergutmachung, physische Sanktionen etc. 3.4.2 Institutionalisierungsgrade Die Typologie der vier Sekundärnormen dient als Heuristik, um Institutionalisierungsgrade von Normen im Allgemeinen und damit auch Solidarnormen analysieren zu können. Wie bereits erwähnt, variiert der Institutionalisierungsgrad mit dem Ausmaß der sekundären Normierung: Je mehr Sekundärnormen gelten und je dezidierter die durch sie geleistete Reglementierung, desto höher der Grad der Institutionalisierung. Stellt man sich Institutionalisierung als Kontinuum vor, lassen sich zwei Extrempunkte definieren: Das eine Ende ist dadurch definiert, dass keinerlei Sekundärnormen gelten, das andere dadurch, dass alle vier Felder normiert sind. In dem einen Fall unterliegen die Setzung und Durchsetzung von Solidarnormen ausschließlich spontanen sozialen Prozessen und in dem anderen Fall ist jede relevante Handlung reglementiert. Es kann allerdings bezweifelt werden, dass es
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
in der Realität tatsächlich Solidarnormen (oder andere Normen) gibt, die in keiner Weise einer sekundären Normierung unterliegen. Selbst bei sehr allgemeinen Solidarnormen, wie sie für das Verhalten in der Öffentlichkeit gelten, scheint eine rudimentäre Institutionalisierung zu bestehen. Man denke etwa an die allgemeinen Unterstützungsnormen, Alten und Schwangeren bei Bedarf zu helfen. Zunächst lässt sich wohl klar feststellen, dass solche allgemeinen Unterstützungsnormen in der Regel nicht durch eine autorisierte Partei erlassen werden und dass für ihre Entstehung auch keine besonderen Verfahren vorgeschrieben sind. Ebenso gibt es keine Instanz, welche eine Definitionshoheit darüber besitzt, ob ein sanktionswürdiger Normbruch vorliegt. Bezüglich der Sanktionsausübung lässt sich allerdings sehr wohl eine sekundäre Normierung ausmachen. Diese besteht in dem allgemeinen Anspruch, dass Sanktionen gewaltfrei und in Relation zum Solidarnormbruch angemessen sein sollen. Das Gegenstück zu solchen sehr rudimentär institutionalisierten Normen stellen Rechtsnormen dar, welche einen maximalen Grad an Institutionalisierung aufweisen, da sie in allen vier Feldern einer dezidierten Reglementierung unterliegen. Aber auch Normen, welche nicht rechtlich implementiert sind, können einen hohen Grad an Institutionalisierung aufweisen. So unterliegen etwa in kriminellen Vereinigungen oder in patriarchalischen Familienclans sowohl die Setzung als auch die Durchsetzung von Normen einem klaren Reglement. Viele Normen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen mittleren Institutionalisierungsgrad aufweisen, d. h. in einigen der vier Felder einer expliziten normativen Reglementierung unterstehen, in anderen wiederum nicht. In einer Hausgemeinschaft kann etwa ein hoher Grad an Institutionalisierung bezüglich der Normsetzung existieren, während die Normdurchsetzung kaum institutionalisiert ist. Ist die monatliche Hausversammlung dazu autorisiert, die verbindlichen Normen zu bestimmen, und jede Partei berechtigt, Vorschläge einzubringen, über die nach dem einfachen Mehrheitsprinzip abgestimmt wird, dann ist die Normsetzung in einem hohen Maße institutionalisiert. Es gibt eine Ermächtigungsnorm, welche definiert, wer die verbindlichen Normen setzt, und ein festgelegtes Verfahren, wie dies zu geschehen hat. Ist die Kontrolle und Evaluation des Verhaltens aber nicht weiter normiert und gelten auch keine speziellen Sanktionsnormen, dann bleibt die Durchsetzung der Normen im Wesentlichen spontanen sozialen Prozessen überlassen. Welchen Grad an Institutionalisierung Normen aufweisen, erschließt sich – von rechtlich implementierten Normen abgesehen – keineswegs auf den ersten Blick. Um beurteilen zu können, ob und in welcher Weise Normen spontanen oder normativ reglementierten Prozessen unterliegen, bedarf es einer genaueren Untersuchung der sozialen Prozesse, die zu einer Setzung und Durchsetzung dieser Normen führen. Die hier vorgestellte Differenzierung zwischen vier Fel-
3.4 Institutionalisierung
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dern und vier Sekundärnormen bietet einen Rahmen, welcher sich für eine solche Analyse eignet. 3.4.3 Sekundärnormen als normative Infrastruktur In der Literatur wird die Frage nach der Institutionalisierung von Normen (im hier verstandenen Sinne) erstaunlicherweise kaum behandelt. Wenn es um das organisatorische Arrangement von Normen geht, dominiert eine andere Perspektive, die sich an der Unterscheidung zwischen formlosen und formgebundenen (vgl. etwa North 1992: 45 ff.) bzw. informalen oder formalen (vgl. etwa Helmke/Levitsky 2004: 727; Lauth 2004) Normen orientiert. Diese Unterscheidungen beziehen sich auf den Aspekt, ob Normen durch offizielle (bspw. Staat, Verwaltung) oder inoffizielle Kanäle (bspw. im Rahmen von informellen Gruppen) gesetzt und durchgesetzt werden. Meist steht die Frage im Vordergrund, welches Verhältnis zwischen den informalen und formalen Normen besteht, ob sie etwa in einem konfligierenden, komplementären oder substitutiven Verhältnis zueinander stehen. Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als sei diese Differenzierung auch im Hinblick auf die Institutionalisierung von Bedeutung. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass sich die Unterscheidung zwischen informalen und formalen Normen für die Untersuchung, inwiefern Normen in ihrer Setzung und Durchsetzung reglementiert und damit spontanen sozialen Prozessen entzogen sind, kaum eignet. Zwar weisen formale Normen, also solche, die von offizieller Seite gesetzt werden und rechtlich verbindlich sind, ein maximales Niveau an Institutionalisierung auf, doch auch formlose und im rechtlichen Sinne nicht verbindliche Normen können zu einem hohen Grade institutionalisiert sein. Die Setzung und die Durchsetzung von Normen im nichtoffiziellen Bereich können äußerst unterschiedlich ausfallen. So sind Solidarnormen im Rahmen patriarchalischer Familienstrukturen, in denen der Vater autorisiert ist, alle wesentlichen Fragen im Zusammenhang mit der Setzung und Durchsetzung von Normen zu entscheiden, in höherem Maße institutionalisiert als Solidarnormen im Rahmen der Nachbarschaft oder des Kollegenkreises. Bestimmte nichtoffizielle Normen können im Grad ihrer Institutionalisierung rechtlich implementierten Normen unter Umständen ähnlicher sein als anderen nichtoffiziellen Normen. Aus analytischer Perspektive ist es deswegen geboten, die Frage der Institutionalisierung von der Frage nach dem informellen bzw. formellen Charakter einer Norm zu trennen. Mit dem entwickelten Konzept ist es möglich, die Institutionalisierung von Solidarnormen über die Typologie von Sekundärnormen in differenzierter Weise zu erfassen.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
Sekundärnormen bilden somit die normative Infrastruktur, auf deren Grundlage Primärnormen entstehen. Für die Untersuchung der Fragen, warum bestimmte Solidarnormen entstehen und andere nicht oder was die Gründe für die Geltung oder Nichtgeltung einer Solidarnorm sind, kann eine Analyse der Sekundärnormen wichtige Informationen liefern. Dies lässt sich an einigen Beispielen demonstrieren. Das Wissen um Ermächtigungsnormen kann wichtige Hinweise zur Erklärung der Existenz von Solidarnormen geben. Insbesondere dann, wenn in sozialen Systemen Solidarnormen existieren, die gegen die Interessen der Adressaten verstoßen, kann dies wesentlich durch geltende Ermächtigungsnormen begründet sein. Immerhin ermöglichen diese den autorisierten Akteuren oder Instanzen, Solidarnormen zu setzen, die sich zwar mit ihren Interessen, nicht aber notwendigerweise auch mit den Interessen der Adressaten decken. Das lässt sich beispielhaft an einem aktuellen gesellschaftspolitischen Thema demonstrieren. In einigen (!) patriarchalisch strukturierten Familien mit Migrationshintergrund trifft man auf das Phänomen, dass die Töchter mit hohen innerfamilialen Solidaransprüchen konfrontiert sind. Die von ihnen erwarteten Beiträge zur Haushaltsführung und Betreuung jüngerer Geschwister können dazu führen, dass sie in ihrer schulischen und beruflichen Entwicklung eingeschränkt sind. Da im Rahmen von patriarchalischen Familienstrukturen der Vater die zentrale normsetzende Autorität darstellt, kann dieser Anspruch auch gegen die Interessen der jungen Frauen Bestand haben.62 Hinsichtlich der Verfahrensnormen habe ich oben schon darauf hingewiesen, dass von ihnen eine legitimierende bzw. delegitimierende Wirkung ausgehen kann. Zur Erklärung, warum Solidarnormen und die mit ihnen einhergehenden Opfer seitens der Adressaten akzeptiert oder nicht akzeptiert werden, können Verfahrensnormen eine Schlüsselrolle spielen. In vielen Fällen mag dieser Aspekt zur Erklärung der Akzeptanz/Nichtakzeptanz von Solidarnormen aufschlussreicher sein als etwa die Höhe der Solidarkosten. Für die Untersuchung der Frage, warum bestimmte Solidarnormen gelten oder nicht, kann ein Blick auf die Sekundärnormen noch in weiteren Hinsichten aufschlussreich sein. Gibt es Sanktionsnormen, durch welche bestimmte Akteure zu Sanktionssubjekten autorisiert werden, kann dies zu einer Lösung des Problems von Sanktionen als Kollektivgut zweiter Ordnung beitragen, da eine klare 62
Ich möchte darauf hinweisen, dass dieses Beispiel lediglich einen illustrativen Charakter hat. Zwar lässt sich dieses Problem empirisch nachweisen, doch entgegen dem Alltagsklischee trifft es nur für einen geringen Teil junger Frauen mit Migrationshintergrund zu. So wird in einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend deutlich, dass sich die große Mehrheit junger Frauen mit Migrationshintergrund keineswegs durch die familialen Solidarpflichten in ihrer schulischen und beruflichen Entwicklung beeinträchtigt fühlt (vgl. Boos-Nünning/Karakaúo÷lu 2005: 124 ff.).
3.5 Solidarnormbefolgung
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Verantwortungszuweisung existiert. Sanktionsnormen können darüber hinaus für die Frage entscheidend sein, ob von einer drohenden Sanktion Anreize zu einer Normbefolgung ausgehen oder nicht. Definieren sie etwa ein zu geringes Sanktionsmaß, mag dies die Erklärung dafür sein, dass eine Solidarnorm trotz drohender Sanktionen nicht befolgt wird. Diese exemplarisch aufgeführten Punkte zeigen, dass aus einer Analyse der Sekundärnormen wichtige Rückschlüsse im Hinblick auf die Existenz und Geltung von Solidarnormen gezogen werden können. Diese sind unmittelbar praxisrelevant, denn wenn es darum geht, auf die Solidarnormen eines sozialen Systems Einfluss zu nehmen, bedarf es Kenntnissen darüber, wie die Setzung und Durchsetzung von Primärnormen intern durch Sekundärnormen reglementiert sind. Gilt eine Ermächtigungsnorm, wird eine gezielte Einflussnahme leichter, weil man sich direkt an die zum Normsetzer autorisierte Person bzw. Instanz wenden kann. Existiert ein verbindliches Verfahren zur Normsetzung, müssen die vorgegebenen Regeln berücksichtigt werden, wenn eine neue Solidarnorm erfolgreich lanciert werden soll oder bestehende Solidarnormen erfolgreich geändert werden sollen. 3.5 Solidarnormbefolgung Die Geltung von Solidarnormen – und damit die Solidarität sozialer Systeme – resultiert aus einer regelmäßigen Solidarnormbefolgung der Mehrheit der Solidarnormadressaten. Konsequenterweise gebührt der Frage nach den Bedingungen zur Solidarnormbefolgung eine besondere Aufmerksamkeit. Aus handlungstheoretischer Perspektive lässt sich diese Frage dahingehend zuspitzen, ob hinreichende Anreize zu einer Solidarnormbefolgung bestehen oder ob dies nicht der Fall ist. Die Frage nach den Anreizbedingungen ist deswegen so zentral, weil sich über sie entscheidet, ob die Solidarität eines sozialen Systems auch bei vorwiegend opportunistisch eingestellten Adressaten gewahrt oder aber ob sie auf eine verbreitete Solidarnormbindung angewiesen ist. Über die Anreizbedingungen zur Solidarnormbefolgung werden Solidaritätsfragen auf der Systemebene mit Solidaritätsfragen auf der Individualebene miteinander verknüpft. Im Folgenden werde ich die Anreizbedingungen einer genaueren Untersuchung unterziehen. In diesem Zusammenhang sei nochmals darauf hingewiesen, dass zwischen den Anreizen zu kompensationslosen Transferleistungen (siehe 3.2) und Anreizen zu einer Solidarnormbefolgung analytisch zu unterscheiden ist. An dieser Stelle geht es nur um die Anreize, welche von der Existenz einer Solidarnorm und den mit ihr verknüpften Durchsetzungsmaßnahmen ausgehen. Sind sie für eine Solidarnormbefolgung hinreichend, werde ich von einer unkritischen
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
Normbefolgungssituation sprechen, bei defizitären Anreizbedingungen dagegen von einer kritischen Normbefolgungssituation. 3.5.1 Anreizfaktoren: Sanktionen versus Anerkennung Allgemein gesprochen haben opportunistisch orientierte Akteure dann Anreize zu einer Solidarnormbefolgung, wenn diese Handlungsalternative gegenüber der Alternative einer Nichtbefolgung den größeren Nutzen verspricht. Da die Befolgung einer Solidarnorm mit einem kompensationslosen Ressourcentransfer einhergeht, muss der Nutzen, der aus dieser Handlung gezogen wird, ihre Kosten überbieten. In der Literatur zu Normen wird gemeinhin zwischen zwei Arten des Nutzens unterschieden: Zum einen kann eine Normbefolgung zu einer Vermeidung unangenehmer Sanktionen und zum anderen zu einem Erwerb von Anerkennung führen.63 Unter Sanktionen werden hier alle möglichen Formen strafender Antworten verstanden – von der verbalen Missbilligungsäußerung über das Bußgeld oder den Ausschluss aus einer Gruppe bis hin zum Freiheitsentzug. Eine Anerkennung kann in zweierlei Hinsicht belohnend wirken. Zum einen kann sie in Form einer sozialen Wertschätzung, das Richtige getan zu haben, für den Akteur eine intrinsische Belohnung darstellen. Zum anderen kann sie sich (alternativ oder darüber hinaus) in der Reputation niederschlagen, eine vertrauenswürdige bzw. moralische Person zu sein. Da Personen, die als vertrauenswürdig und moralisch gelten, besonders attraktive Kooperationspartner sind, kann diese Reputation für einen Akteur von hohem Wert sein. Sie kann gewinnbringende Kooperationsbeziehungen nach sich ziehen, die ihm ansonsten verwehrt blieben. Für rationale und eigeninteressierte Akteure stellen sowohl Sanktionsvermeidung als auch Anerkennung erstrebenswerte Ziele dar. Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst als folgerichtig, in einer Analyse der Anreizbedingungen für eine Solidarnormbefolgung beide Faktoren zu berücksichtigen. Ich werde mich hier allerdings ausschließlich auf Sanktionen konzentrieren und den Faktor der Anerkennung außen vor lassen. Bei einer genauen Betrachtung existiert nämlich ein nicht auflösbares Spannungsverhältnis zwischen einer opportunistischen Handlungsorientierung und der Anerkennung für eine Solidarnormbefolgung. Diesen Punkt werde ich im vierten Teil ausführlich behandeln, weswegen ich mich hier auf eine knappe Darstellung beschränke.
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Insbesondere in den Normtheorien von McAdams (1997) und Posner (2002) wird der Aspekt der Wertschätzung und Reputation betont, während Hechter (1987) bspw. ausschließlich Sanktionen betrachtet.
3.5 Solidarnormbefolgung
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Bei der Anerkennungsvergabe handelt es sich um einen „evaluativen Akt“ (Baurmann 2002), bei dem nicht in erster Linie die äußerliche Handlung der Normbefolgung, sondern die dahinter stehende persönliche Haltung bewertet und belohnt wird. Diese Einschätzung deckt sich mit unserer Alltagserfahrung, dass Personen dann Anerkennung für eine Normbefolgung erhalten, wenn sie als selbstlos motiviert wahrgenommen werden, während Personen, denen eine opportunistische Normbefolgung unterstellt wird, diese Anerkennung versagt bleibt. Die Voraussetzung dieser selektiven Anerkennungsvergabe besteht darin, dass Anerkennungsgeber mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit zwischen opportunistisch und solidarisch motivierten Akteuren unterscheiden können. Natürlich gibt es in dieser Hinsicht keine absolute Sicherheit und so kommen mitunter auch Opportunisten in den Genuss einer hohen Wertschätzung und Reputation. Wie ich im vierten Teil der Untersuchung allerdings darlegen werde, gibt es gute Gründe dafür, davon auszugehen, dass Anerkennungsgeber im Regelfall die wahren Dispositionen erkennen. Unter dieser Bedingung haben Opportunisten ein Problem, welches sich als Anerkennungsparadox (Baurmann 2002) bezeichnen lässt. Es besteht darin, dass Opportunisten zwar Anerkennung anstreben, dass sie ihnen aber gerade deshalb verwehrt bleibt, weil sie strategisch und egoistisch agieren. Je offensichtlicher es ist, dass eine Person eine Solidarnorm nur deswegen befolgt, weil sie von anderen Wertschätzung erhalten und ihre Reputation ausbauen möchte, desto weniger sind die anderen bereit, genau diese Anerkennung zu geben. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass eine hohe Wertschätzung und Reputation im Großen und Ganzen den wirklich solidarisch motivierten Personen vorbehalten bleibt (vgl. auch Baurmann 2002: 123 f.; Lindenberg 2001a: 658). Davon ausgehend, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Opportunisten auf Dauer als solche entlarvt werden und sie deswegen nicht in den Genuss von Anerkennung kommen, werde ich an dieser Stelle Anerkennung als Anreizfaktor vernachlässigen und mich im Folgenden auf Sanktionen beschränken. Der Faktor der Anerkennung wird allerdings im vierten Teil eine herausragende Rolle spielen, wenn es darum geht, zu erläutern, unter welchen Bedingungen es für Akteure von Vorteil ist, eine opportunistische Haltung zugunsten einer solidarischen abzulegen. Auf dieser Ebene geht es dann aber nicht – so wie hier – um die Wahl zwischen zwei Handlungsalternativen (Solidarnormbefolgung versus Nichtbefolgung), sondern um die Wahl zwischen zwei Handlungsorientierungen (opportunistisch versus solidarisch). An dieser Stelle lässt sich nun konkretisieren, wodurch sich unkritische und kritische Normbefolgungssituationen voneinander unterscheiden. Unkritische Normbefolgungssituationen zeichnen sich dadurch aus, dass effektive Sanktionen existieren, von denen für opportunistisch orientierte Akteure Anreize zu
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einer Solidarnormbefolgung ausgehen. Existieren keine effektiven Sanktionen, liegt dagegen eine kritische Normbefolgungssituation vor. Damit stellt sich die Frage, wodurch sich effektive Sanktionen auszeichnen und unter welchen Bedingungen sie gewährleistet sind. 3.5.2 Sanktionsbedingte Solidarnormbefolgung 3.5.2.1 Zwei Variablen: Sanktionsgeltung und Sanktionsschärfe Unkritische Normbefolgungssituationen unterscheiden sich von kritischen durch das Abschreckungspotenzial, welches von den drohenden Sanktionen ausgeht. In unkritischen Situationen ist das Abschreckungspotenzial groß genug, um hinreichende Anreize für eine Solidarnormbefolgung zu bieten, während dies in kritischen Situationen nicht der Fall ist. Von Sanktionen – ganz gleich welcher Art – gehen für Ego nur dann hinreichende Anreize zu einem normkonformen Verhalten aus, wenn er erstens damit rechnen muss, dass sein normwidriges Verhalten tatsächlich sanktioniert wird, und zweitens die Sanktionen so hoch ausfallen, dass die Vorteile einer Nichtbefolgung der Norm mindestens ausgeglichen werden. Es lassen sich zwei Variablen benennen, von deren Ausprägung und Zusammenspiel die Anreizeffizienz von Sanktionen abhängt, nämlich die Sanktionsgeltung und die Sanktionsschärfe. Die Sanktionsgeltung bemisst sich über den „Anteil aller sanktionierten Normbrüche an den Normbrüchen insgesamt“ (Popitz 1980: 35). Analog zu den Normgeltungsbedingungen ist die Bedingung der Geltung einer Sanktion vom realen Sanktionsverhalten abhängig. Wenn normwidrige Verhaltensweisen Egos trotz existierender Sanktionsandrohungen in der Regel nicht sanktioniert werden, besitzen die angedrohten Sanktionen in einem empirischen Sinn keine Geltung und damit auch nur eine eingeschränkte bis gar keine Anreizwirkung. Es spielt dabei keine Rolle, warum Ego davon ausgehen kann, dass sein normwidriges Verhalten folgenlos bleibt. Das kann daran liegen, dass sein normwidriges Verhalten aller Voraussicht nach unentdeckt bleibt, oder aber daran, dass auch entdeckte Normverstöße in der Praxis nicht sanktioniert werden, etwa weil die Sanktionierung selbst einem Kollektivgutproblem unterliegt. Zentral ist, dass Ego in beiden Fällen keine strafende Antwort zu befürchten hat und damit auch keine Anreize zu einer Normbefolgung vorliegen. Gilt dagegen eine Sanktion und muss Ego demzufolge damit rechnen, dass sein normwidriges Verhalten tatsächlich sanktioniert wird, hängt der Abschreckungscharakter der Sanktion von ihrer Schärfe ab. Die Sanktion muss mindestens so hoch ausfallen, dass der Nutzen aus einem normwidrigen
3.5 Solidarnormbefolgung
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Verhalten ausgeglichen wird. Andernfalls ist für Ego die Inkaufnahme der Sanktion vorteilhafter, da er auf diese Weise seine Situation insgesamt verbessert. Die beiden Variablen der Sanktionsgeltung und der Sanktionsschärfe können sich bis zu einem gewissen Grad untereinander ausgleichen. So kann eine geringere Sanktionsgeltung durch eine entsprechend höhere Sanktionsschärfe kompensiert werden oder umgekehrt. 3.5.2.2 Determinanten effektiver Sanktionen Die Ausprägungen der Variablen der Sanktionsgeltung und der Sanktionsschärfe bestimmen, inwiefern die Geltung von Solidarnormen eine solidarische Orientierung seitens der Adressaten voraussetzt oder allein durch eine opportunistischrationale Orientierung gewahrt ist. Damit stellt sich die Frage, durch welche Determinanten die Ausprägungen der Variablen bestimmt werden. Im Folgenden werden die Variablen Verhaltenskontrolle, Sanktionsanreize und Abhängigkeit diskutiert. Verhaltenskontrolle In manchen sozialen Konstellationen ist eine Verhaltenskontrolle aufgrund der gegebenen Interaktionssituation zwischen den Akteuren natürlicherweise vorhanden. Dies trifft vor allem auf Face-to-Face-Beziehungen zu, die sich durch eine starke Gegenseitigkeit, Dauerhaftigkeit und Nähe auszeichnen, wie wir sie häufig in der Familie, in Freundschaftsbeziehungen oder anderen kontinuierlichen und engen Kooperationsbeziehungen antreffen. Hier bestehen gute Bedingungen für den Nachvollzug des normrelevanten Verhaltens. Häufig bedarf es nicht einmal expliziter Kontrollhandlungen, da aufgrund der Transparenz des Verhaltens die Kontrolle quasi nebenbei läuft, ohne dass sie mit besonderen Aufwendungen verbunden wäre. Ob jemand die von ihm verlangten Beiträge zu einem Kollektivgut leistet oder die von ihm verlangten Unterstützungsleistungen erbringt, ist für die Beteiligten in diesen Situationen problemlos nachvollziehbar. Sobald wir diesen Bereich der gegenseitigen Dauerbeobachtung verlassen und uns komplexeren und flüchtigeren Beziehungen zuwenden, ist eine Verhaltenskontrolle nicht mehr natürlicherweise gegeben, sondern muss sozial organisiert werden. Drei Formen der sozialen Organisation von Kontrolle sind hervorzuheben: Kontrollinstanzen, Überwachungsinstrumente und Verfahrensweisen. Entzieht sich eine Kontrolle des normrelevanten Verhaltens der natürlichen gegenseitigen Beobachtung, kann diesem Defizit mit der Einrichtung einer Kon-
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
trollinstanz begegnet werden (vgl. Hechter 1987: 51 f.). Alle Akteure oder Organisationen, denen eine Kontrollausübung übertragen wird, stellen Kontrollinstanzen dar. In freiwilligen Vereinigungen – wie etwa Vereinen oder Produktionsgenossenschaften – können zu diesem Zweck bestimmte Positionen eingerichtet werden, die durch gewählte Mitglieder besetzt werden. So gibt es in einem Tennisverein etwa einen Kassenwart, der für die Kontrolle der Eingänge der Mitgliedsbeiträge verantwortlich ist, und einen Platzwart, der kontrolliert, ob alle Mitglieder die verlangten Instandhaltungsbeiträge für die Plätze leisten. In einem Mietshaus obliegt die Aufgabe der Kontrolle häufig einem angestellten Hausmeister. Für die Kontrolle der Rundfunkgebührenzahlung existiert mit der Gebühreneinzugszentrale eigens eine Organisation. Unabhängig von ihrem Institutionalisierungsniveau besteht das grundsätzliche Problem aller Kontrollinstanzen darin, dass sie unselbstständig sind (vgl. Baurmann 2002: 110). Diese Unselbstständigkeit drückt sich darin aus, dass allein durch die Einrichtung einer Kontrollinstanz noch nicht gewährleistet ist, dass auch eine effektive Kontrolle ausgeübt wird. Legen wir auch hier eine opportunistische Handlungsorientierung zugrunde, können sich die Anreize für eine effiziente Kontrollausübung sowohl für ehrenamtliche (etwa im Verein) als auch für professionelle Kontrolleure als defizitär erweisen. Wenn die Kontrolleure wiederum in ihrer Kontrollausübung kontrolliert werden, verfügen sie über entsprechende Anreize. Auf diese Weise handelt man sich allerdings schnell ein Anreizproblem dritter, vierter etc. Ordnung ein. In einer Welt rationaler Egoisten bleibt eine Verhaltenskontrolle durch Kontrollinstanzen damit eine prekäre Angelegenheit.64 Aus diesem Grunde lässt sich konstatieren, dass es neben kritischen Transfer- und Normbefolgungs- auch kritische Kontrollsituationen geben kann, in denen eine effiziente Kontrollausübung eine intrinsische Motivation der Kontrolleure voraussetzt. Unabhängig von etwaigen Anreizproblemen, die mit der Einrichtung einer Kontrollinstanz verbunden sein können, besteht ein weiteres Problem der Verhaltenskontrolle in praktischen Fragen der Kontrollausübung. Auch eine Kontrollinstanz kann nicht immer und überall gegenwärtig sein. Eine Möglichkeit zur Lösung dieses Problems besteht im Einsatz von technischen Überwachungsinstrumenten. Dass sich Überwachungskameras nicht nur zur Kriminalitätsbekämpfung im öffentlichen Raum, sondern auch zur Kontrolle der Einhaltung von 64
Von Hechter (1987: 52) wird dieses Problem übrigens unterschätzt, wenn er pauschal argumentiert, dass sich die Anreizprobleme im Zusammenhang mit einer freiwilligen Kontrolle dadurch lösen ließen, dass Akteure für ihre Kontrollausübung kompensiert werden. Eine Kompensation kann einen rationalen Egoisten, von dem Hechter in seiner Argumentation ausgeht, nur dann zu einer Kontrollausübung motivieren, wenn seine Arbeit einer entsprechenden Kontrolle untersteht.
3.5 Solidarnormbefolgung
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Solidarnormen einsetzen lassen, wird von Ullman-Margalit (2010) in einem etwas skurrilen, aber sehr aufschlussreichen Fall aufgezeigt. Sie berichtet davon, dass am Center for the Study of Rationality in Jerusalem von einem Mitarbeiter zur Lösung eines Kollektivgutproblems eigenhändig eine Überwachungskamera installiert wurde. Das Kollektivgutproblem bestand darin, dass einige Mitarbeiter trotz entsprechender Aufforderung nicht bereit waren, in der gemeinschaftlich genutzten Küche Ordnung zu halten. Wir haben es also mit der systematischen Missachtung einer klassischen Bereitstellungsnorm zu tun. Die Installation der Kamera hat am Institut zu einer intensiv geführten Debatte über die moralischen Dimensionen und die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme geführt, in deren Folge die Kamera nach einer Woche auf Veranlassung der Institutsleitung wieder abgebaut wurde. Ein wesentliches Argument der Kameragegner war, dass die relative Banalität des Schutzguts der Sauberkeit in der Teeküche nicht rechtfertigen würde, eine Überwachungstechnik einzusetzen, die in das höherwertige und deswegen zu schützende Gut der Privatsphäre des Einzelnen eingreife. Dieser Fall mag etwas sonderbar und speziell anmuten, doch sein illustrativer Wert besteht darin, dass durch ihn deutlich wird, wie eine effiziente Verhaltenskontrolle leicht mit dem Interesse an Privatheit und Intimität in Konflikt geraten kann. In solchen Situationen bedarf es einer Abwägung dessen, welchem Gut die höhere Priorität eingeräumt wird.65 Ebenfalls wird deutlich, dass dieser Konflikt und die Notwendigkeit, sich für das eine auf Kosten des anderen zu entscheiden, überhaupt erst deswegen entstehen, weil eine Solidarnorm systematisch missachtet wird. Würden die Institutsmitarbeiter aus eigenem Antrieb der Bereitstellungsnorm folgen, dann gäbe es diesen Konflikt nicht. Neben der Schaffung von Kontrollinstanzen und dem Rückgriff auf technische Überwachungsmethoden kann die Festlegung bestimmter (und prinzipiell kontingenter) Verfahrensweisen dazu beitragen, ein normrelevantes Verhalten transparent und kontrollierbar zu machen. Man nehme etwa die Kollekte, also die Geldsammlung für kirchliche oder karitative Zwecke, welche ein fester Bestandteil christlicher Gottesdienste ist. Durch die Integration der Kollekte in den Gottesdienst wird die Gabe zu einem öffentlichen Verhalten und damit potenziell kontrollierbar. Oder man denke an Abstimmungen: In allen möglichen sozialen Zusammenhängen, in denen Entscheidungen durch Abstimmungen getroffen werden – etwa in Gremien, Organisationen oder Parlamenten – muss ein bestimmtes Abstimmungsverfahren festgelegt werden. Eine wesentliche Frage ist dabei, ob die Abstimmung geheim oder offen stattfinden soll. Bei der Entschei65
Am Rande sei erwähnt, dass sich bei der institutsinternen Diskussion über die Richtigkeit und Angemessenheit der Maßnahme eine Mehrheit der Mitarbeiter für die Kamera ausgesprochen hat und sie damit gegen die Mehrheitsmeinung von der Institutsleitung entfernt wurde (Ullmann-Margalit 2010).
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
dung dieser Frage spielen zwar nicht nur Kontrollerwägungen eine Rolle, doch das ändert nichts daran, dass mit der Festlegung auf ein Verfahren auch bestimmt ist, ob das individuelle Abstimmungsverhalten transparent ist oder nicht. Für parlamentarische Abstimmungen in Deutschland gilt, dass diese in der Regel offen abgehalten werden, sofern das Gesetz keine geheime Wahl vorschreibt. Auf Bundesebene ist dies lediglich bei drei Wahlen der Fall, die allerdings von herausragender Bedeutung sind, nämlich bei der Wahl des Bundeskanzlers, der Wahl des Bundestagspräsidenten und der Wahl des Wehrbeauftragten. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass das Abstimmungsverhalten der Parlamentarier einer großen Transparenz unterliegt. Die Abgeordneten sind zwar laut Artikel 38 des Grundgesetzes ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet, doch faktisch besteht im parlamentarischen Alltag der normative Anspruch einer Fraktionsdisziplin.66 Da Fraktionen als „parlamentarische Kampfverbände“ (Kasten 1985) bei der Durchsetzung ihrer Interessen auf eine Geltung dieser Loyalitätsnorm angewiesen sind, haben sie ein großes Interesse an der Transparenz des Abstimmungsverhaltens. Durch diese Transparenz wird es überhaupt erst möglich, mangelnde Loyalität zu sanktionieren. Das stärkste Sanktionsmittel, welches einer Fraktion zur Verfügung steht, ist der Ausschluss eines Mitglieds. Da fraktionslose Abgeordnete nur in begrenzter Weise parlamentarische Wirkungsmöglichkeiten haben, kann diese Sanktion durchaus als schwerwiegend eingestuft werden (482). Die Abstimmungshandhabung im Deutschen Bundestag ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch die Festlegung eines bestimmten Verfahrens die Kontrolle normrelevanten Verhaltens gewährleistet wird, von dem starke Anreize zu einer Solidarnormbefolgung ausgehen. Gleichwohl bleibt zu bedenken, dass der Kontrolle auch klare Grenzen gesetzt sind, indem drei Wahlen gesetzlich vorgeschrieben als geheime Wahlen durchgeführt werden müssen. Da diese Wahlen von außerordentlichem Rang sind, ist gerade bei ihnen ein loyales Abstimmungsverhalten von zentraler Wichtigkeit, da andernfalls die betroffene Partei großen Schaden nehmen kann. Der Gesetzgeber scheint hier aber die Gewissensfreiheit als besonders schützenswertes Gut anzusehen. Da die Reichweite der Kontrolle hier endet, können keine Sanktionen bei Abweichung verhängt werden. Interessanterweise sind es gerade diese herausragenden und wichtigen Wahlen, bei denen Loyalität nicht durch Sanktionsandrohungen gewährleistet werden kann. Zweifelsohne liegt eine fraktionskonforme Abstimmung häufig im Eigeninteresse der Abgeordneten, doch wie Vorkommnisse in den vergangenen Jahren gezeigt haben – etwa der Fall Heide Simonis67 in Schleswig-Holstein –, muss 66 67
Zu Begriff, Prinzip und Funktionsweise der Fraktionsdisziplin vgl. Kasten 1985; Patzelt 1999. Bei der Wahl zum Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein im Jahre 2005, die laut Landesverfassung geheim abläuft, kandidierten die amtierende Ministerpräsidentin des Landes,
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dies längst nicht immer der Fall sein. Stehen die persönlichen Interessen im Widerspruch zu einer fraktionskonformen Abstimmung, kommt es unter Bedingungen der geheimen Wahl nur dann zu dem verlangten Verhalten, sofern die betreffenden Abgeordneten die Bereitschaft aufweisen, aus eigenem Antrieb dieser Loyalitätsnorm zu folgen. Sanktionsanreize Die Entdeckung eines Normbruchs führt nicht automatisch dazu, dass er auch sanktioniert wird. Da Sanktionshandlungen in der Regel mit Kosten verbunden sind, kann eine Sanktionierung keinesfalls als selbstverständlich und problemlos vorausgesetzt werden. Ebenso wie im Zusammenhang mit der Kontrollausübung tauchen auch im Zusammenhang mit der Sanktionierung Anreizprobleme zweiter Ordnung auf. Legen wir auch bezüglich der Sanktionssubjekte die Perspektive einer opportunistischen Nutzenmaximierung zugrunde, bestehen nur dann Anreize zur Sanktionsausübung, sofern diese Handlung einen größeren Nutzen als eine Sanktionsvermeidung verspricht. Dass dies längst nicht immer der Fall ist, wurde oben bereits durch den Hinweis deutlich, dass ein effektives Sanktionssystem in vielen Zusammenhängen ein Kollektivgut darstellt, welches durch die Trittbrettfahrerproblematik bedroht ist. Indem unter Sanktionen hier ganz allgemein strafende Antworten auf ein normwidriges Verhalten verstanden werden, wird durch diesen Begriff ein sehr weites Feld an Handlungen abgedeckt. Zur Strukturierung dieses Feldes bietet sich Colemans (1991: 360 ff.) Unterscheidung zwischen heroischen und inkrementellen Sanktionen an. Heroische Sanktionen68 zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Effekt von den Sanktionshandlungen eines einzelnen Akteurs hervorgerufen wird. Bei inkrementellen Sanktionen basiert die Anreizwirkung dagegen
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Heide Simonis (SPD), und der Vorsitzende der CDU-Fraktion, Peter Harry Carstensen. Nach Koalitionsverhandlungen der SPD mit den Grünen und einer Tolerierungsvereinbarung mit dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) schien eine knappe Mehrheit für Simonis sicher. Die Wahl von Heide Simonis scheiterte aber, da sich ein Abgeordneter, mutmaßlich aus dem eigenen Lager, bei der Wahl enthielt. Nach der gescheiterten Ministerpräsidentenwahl vereinbarten SPD und CDU eine Große Koalition. Carstensen wurde vom Parlament zum Ministerpräsidenten gewählt. Da sich der Abweichler nicht öffentlich zu erkennen gegeben hat, kann gemutmaßt werden, dass bei einem öffentlichen Wahlverfahren Simonis zur Ministerpräsidentin gewählt worden wäre. Colemans Begriff heroisch ist in diesem Zusammenhang etwas verwirrend, da er suggeriert, dass Akteure selbstlos handeln würden. Aber auch heroische Sanktionen werden bei Coleman durch nichts anderes als die rationale Verfolgung von Individualinteressen getragen. Der Begriff verweist also keineswegs auf eine moralische Dimension, sondern nur auf ganz bestimmte Rahmenbedingungen der Sanktionierung.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
auf der additiven Wirkung von Sanktionshandlungen einer Mehrzahl von Akteuren. Heroische Sanktionen setzen voraus, dass einzelne Akteure aufgrund ihrer Ressourcenausstattung in der Lage sind, wirksame Sanktionen zu verhängen. Dabei ist es ein wichtiger Unterschied, ob im Rahmen eines sozialen Systems lediglich ein einzelner Akteur oder mehrere Akteure über ein solches Sanktionspotenzial verfügen. Ist Ersteres der Fall, verfügt ein Akteur de facto über das Monopol auf effektive Sanktionen. Das bedeutet, dass nur er mit seinem Sanktionsverhalten nachhaltig darauf einwirken kann, ob Anreize zu einer Normbefolgung bestehen oder nicht. In einer solch exponierten Position können sich etwa Führungspersonen befinden, die gegenüber ihren Untergebenen über umfangreiche Sanktionsmittel verfügen. Gibt es unter den Mitarbeitern einer Arbeitsgruppe etwa Loyalitäts- oder Unterstützungsprobleme, dann kann eine Führungsperson unter Einsatz ihrer Sanktionsressourcen (bspw. Kündigung, Lohnkürzung) Anreize zur Einhaltung der Solidarnormen schaffen, die von keinem anderen Akteur geschaffen werden können. Besitzt ein Akteur de facto das Monopol auf effiziente Sanktionen, sind die sanktionsbedingten Anreize zu einer Solidarnormbefolgung innerhalb dieser Gruppe vom Verhalten dieses Akteurs abhängig. Das kann durchaus problematisch sein, da ein rationaler und eigeninteressierter Sanktionsmonopolist nur dann Anreize zu Sanktionshandlungen hat, wenn seine Erträge aus einer Normgeltung seine Sanktionskosten überbieten. Gibt es eine Mehrzahl an Akteuren, welche durch ihr individuelles Sanktionsverhalten effektive Anreize zu einer Normbefolgung setzen können, besteht zwar keine Abhängigkeit von der Interessenlage eines einzelnen Akteurs, dafür droht aber eine effiziente Sanktionierung der Kollektivgutproblematik zum Opfer zu fallen. Da mehrere Akteure unabhängig voneinander in der Lage sind, effektive Sanktionen zu verhängen, hat jeder einzelne von ihnen Anreize dazu, die Kosten der Sanktionierung den anderen zu überlassen. Dieses Trittbrettfahrerproblem können die Akteure dadurch lösen, dass sie untereinander bestimmte Absprachen treffen. Sie können sich etwa auf eine Arbeitsteilung einigen und sich in ihren Sanktionshandlungen abwechseln. Eine andere Lösungsmöglichkeit besteht darin, dass ein Vertrag geschlossen wird, welcher dem sanktionierenden Akteur eine Kompensation für sein Verhalten zusichert. Beide Lösungsmöglichkeiten setzen voraus, dass sich die betreffenden Akteure explizit auf eine Strategie einigen, um angesichts defizitärer Anreize zweiter Ordnung eine Sanktionsgeltung zu gewährleisten. In vielen Fällen hängt die Anreizwirkung von Sanktionen nicht vom Verhalten eines Einzelnen ab, sondern davon, dass eine Mehrzahl von Akteuren kollektiv Sanktionen verhängt. Ein Beispiel (vgl. Coleman 1991: 363 f.): In einem Verein wird von allen Mitgliedern erwartet, dass sie nach gemeinsamen Zusam-
3.5 Solidarnormbefolgung
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menkünften aufräumen. Eine Person umgeht regelmäßig diese Bereitstellungsnorm. Wenn nun lediglich ein Mitglied seine Missbilligung des Verhaltens ausdrückt, dann mag dies auf den Normbrecher keinen besonderen Eindruck machen. Erst wenn die Mehrheit der Vereinsmitglieder kollektiv die Person für ihr Verhalten sanktioniert, ist der Sanktionsdruck so groß, dass für sie Anreize bestehen, den von ihr verlangten Beitrag zu erbringen. Das charakteristische Merkmal inkrementeller Sanktionen ist, dass eine Vielzahl kleiner und für den Einzelnen wenig kostspieliger Sanktionen in ihrer Addition große Wirkungen entfalten können. Wird der Normbrecher von den anderen Vereinsmitgliedern geschnitten, also aus der Kommunikation und dem Informationsfluss ausgeschlossen, dann ist diese Sanktionierung für das einzelne Mitglied unter Umständen mit geringen Kosten verbunden. Allerdings ist die individuelle Sanktionierung unter Umständen auch nicht signifikant, um einen Sanktionsdruck aufzubauen. Vor diesem Hintergrund mag es aus der Perspektive des einzelnen Akteurs sogar Anreize geben, mit dem Normbrecher in Kontakt zu treten, um ihn im Austausch von Gegenleistungen mit Informationen zu versorgen. Ob solche Anreize in der Praxis tatsächlich existieren oder ob die geringen Sanktionskosten eine inkrementelle Sanktionierung absichern, bleibt eine Frage des Einzelfalls. Prinzipiell – und das ist an dieser Stelle wichtig – sind auch inkrementelle Sanktionen durch die Kollektivgutproblematik bedroht. Um in solchen Situationen einem Trittbrettfahren vorzubeugen, kann sich eine Gruppe darauf einigen, dass bei dem Bruch von Solidarnormen alle Mitglieder einer Gruppe entsprechende Sanktionen verhängen sollen (Coleman 1991: 363). In diesem Fall wird also eine Sanktionsnorm geschaffen, welche die Mitglieder zu einer Sanktionierung verpflichtet. Allerdings zeigt sich im Zusammenhang mit dieser Norm dieselbe Grundproblematik: Eine opportunistische Orientierung vorausgesetzt, wird sich ein Akteur nur dann an die Norm halten, wenn bei einer Nichteinhaltung entsprechende Sanktionen drohen. Aber auch im Zusammenhang mit Sanktionen für ein sanktionsvermeidendes Verhalten stellen sich grundsätzlich dieselben Anreizfragen, weswegen die Gefahr besteht, dass das Problem nicht gelöst, sondern nur auf eine weitere Ebene verschoben wird. Abhängigkeit Damit von Sanktionen hinreichende Anreize zu einem normkonformen Verhalten ausgehen, müssen die verhängten Sanktionen eine ausreichende Schärfe aufweisen. Nur dann, wenn die Nachteile einer Sanktionierung die Vorteile aus einem Normbruch mindestens ausgleichen, liegen wirksame Anreize zu einer Normbefolgung vor. In Ausnahmefällen, in denen es etwa um Leben und Tod
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
geht, lässt sich aus der objektiven Höhe des Sanktionsmaßes unmittelbar auf die Anreizwirkung schließen. Dies lässt sich am Beispiel der Fahnenflucht illustrieren: Steht auf sie die Todesstrafe, wie das in vielen Staaten der Fall ist, und ist eine Sanktionswahrscheinlichkeit außerordentlich hoch, dann wird es in der Regel die rationale Entscheidung sein, an der Front ums Überleben zu kämpfen. In den meisten liberalen Rechtsstaaten ist die Todesstrafe allerdings abgeschafft. So kann es zu der Konstellation kommen, dass in Kriegszeiten die Loyalität der Armee eines liberalen Rechtsstaates nur dann gewahrt ist, wenn sich die Soldaten persönlich an diese Loyalitätsnorm binden und nicht opportunistisch handeln. In weniger dramatischen Fällen verlangt die Bewertung des Anreizcharakters einer Sanktion eine Berücksichtigung der Situation des Solidarnormadressaten. Eine wesentliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang seine Abhängigkeit von der Gruppe, in deren Rahmen er durch eine Solidarnorm zu Leistungen verpflichtet wird und Sanktionen verhängt werden. Unter einer Gruppe sei dabei jegliche Form des menschlichen Zusammenschlusses zur Realisierung von Zielen verstanden – von der Familie über Vereine und Parteien bis hin zu Unternehmen. Der Faktor der Abhängigkeit ist bei vielen Sanktionen von Relevanz. So wiegt bspw. eine verbal zum Ausdruck gebrachte Missachtung für einen Akteur umso schwerer, je abhängiger er in seiner Selbstachtung vom Urteil des sanktionierenden Akteurs bzw. von der sanktionierenden Gruppe ist. Von ganz besonderer Relevanz ist der Faktor der Abhängigkeit immer dann, wenn einem Akteur für sein normwidriges Verhalten ein Ausschluss aus der Gruppe droht. Beim Ausschluss handelt es sich für jede Gruppe um eine ultimative und letzte Sanktion, um Mitglieder zu einer Normbefolgung zu bewegen (Hechter 1987: 49 ff.).69 So zeigt auch unsere Alltagserfahrung, dass Akteure, die regelmäßig Trittbrett fahren, keine Unterstützungsleistungen erbringen, ihre Vorteile auf Kosten anderer maximieren oder sich illoyal verhalten, früher oder später mit einem Ausschluss aus der Gruppe rechnen müssen. Der Abschreckungseffekt eines drohenden Ausschlusses variiert mit der Abhängigkeit von der Gruppe. Ob von ihm ein starker Anreiz zu einer Solidarnormbefolgung ausgeht, hängt davon ab, wie sehr ein Akteur in der Realisierung seiner Interessen auf die Gruppe angewiesen ist. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang die Opportunitätskosten. Die Höhe der Opportunitätskosten resultiert aus der Differenz zwischen den Vorteilen aus der Mitgliedschaft in einer bestimmten Gruppe im Vergleich zu den Vorteilen der Mitgliedschaft in einer alternativen oder in keiner Gruppe (39 f.). Die Abhängigkeit variiert also mit den zur Verfügung stehenden Alternativen. Existieren mindestens gleichwer69
Das gilt vor allem auch vor dem Hintergrund, dass Gewaltanwendung in der Regel einer starken normativen Reglementierung untersteht und als Sanktionsmittel gar nicht in Betracht kommt.
3.5 Solidarnormbefolgung
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tige Alternativen, die im Falle eines Ausschlusses in Anspruch genommen werden können, schwinden die Anreize, die von einem drohenden Ausschluss ausgehen. So sind etwa jene Politiker, die über Erfahrungen und Beziehungen in der freien Wirtschaft verfügen, in ihrem beruflichen Werdegang entschieden weniger von ihrer Partei abhängig als jene Politiker, die sich Zeit ihres Lebens nur auf das Feld der Politik konzentriert haben. Da sie ein Parteiausschluss schwerer treffen würde, haben sie größere Anreize, innerparteiliche Loyalitätsnormen zu befolgen.70 Die Sanktion des Ausschlusses kommt in unterschiedlichen Gruppen verschieden schnell zum Einsatz (52). So werden aus der Familie in der Regel weniger schnell Personen ausgeschlossen als etwa aus Arbeitsgruppen. Um die Anreizwirkung eines drohenden Ausschlusses einschätzen zu können, bedarf es daher Informationen über die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Sanktion zum Einsatz kommt. Unabhängig davon lässt sich aber festhalten, dass es sich beim Ausschluss um eine wesentliche Sanktion handelt, um Gruppenmitglieder zu einem normkonformen Verhalten zu bewegen. 3.5.2.3 Sanktionsbasierte Solidarnormbefolgung: Potenziale und Grenzen Die Anreizeffektivität von Sanktionen ergibt sich aus der Ausprägung von zwei Variablen, der Sanktionsgeltung und der Sanktionsschärfe. Eine Sanktionsgeltung setzt voraus, dass ein normwidriges Verhalten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit entdeckt wird. Da in vielen sozialen Kontexten eine Verhaltenskontrolle nicht natürlicherweise durch gegenseitige Beobachtung gewährleistet ist, muss sie sozial organisiert werden. Mit der Schaffung von Kontrollinstanzen, der Einrichtung von Überwachungstechniken und der Implementierung bestimmter Abstimmungsverfahren wurden drei Formen der sozialen Organisation von Kontrolle analysiert. Dabei ist deutlich geworden, dass mit allen Organisationsformen in der sozialen Praxis spezifische Einschränkungen und Probleme verknüpft sind. Die Effektivität von Kontrollinstanzen kann an Anreizproblemen scheitern 70
Eine interessante Untersuchung zur innerparteilichen Solidarität von Parlamentsabgeordneten wird von Hechter (1987: 78 ff.) vorgelegt. Anhand historischer Daten aus mehreren Ländern kann er belegen, dass die Parteiloyalität bei parlamentarischen Abstimmungen mit der Abhängigkeit der Parlamentarier von ihrer Partei variiert. Die Abhängigkeit eines Parlamentariers wird von ihm durch mehrere Faktoren operationalisiert. Eine wesentliche Rolle spielt das Verfahren zur Kandidatenaufstellung. So ist die Abhängigkeit von Parlamentariern in Parteiensystemen größer, in denen die Aufstellung zentral durch die Partei (wie bspw. in Großbritannien) und nicht durch den Wahlkreis (wie bspw. in den USA) erfolgt. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Frage, inwiefern die Wahlkampffinanzierung aus eigenen Mitteln des Kandidaten erfolgt oder durch die Parteizentrale geleistet wird.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
und Überwachungstechniken können auf Akzeptanzprobleme stoßen. Durch die Festlegung auf bestimmte Verfahren kann normrelevantes Verhalten sichtbar gemacht oder aber einer Kontrolle entzogen werden. Sanktionsgeltung setzt weiter voraus, dass eine ausreichende Bereitschaft zu Sanktionshandlungen besteht. Da diese aufgrund der Sanktionskosten nicht fraglos vorausgesetzt werden kann, muss in vielen Situationen eine Anreizproblematik zweiter Ordnung gelöst werden, etwa durch explizite Abmachungen (Arbeitsteilung, Kompensationen) oder durch die Einführung neuer Normen, die zu einer Sanktionierung verpflichten. Von geltenden Sanktionen gehen nur dann in ausreichender Weise Anreize zu einer Solidarnormbefolgung aus, wenn sie eine ausreichende Schärfe aufweisen. In diesem Zusammenhang ist von entscheidender Bedeutung, wie sehr ein Akteur von der Gruppe abhängig ist, in deren Rahmen eine Sanktion verhängt wird. Dies gilt insbesondere für die Sanktion des Ausschlusses aus einer Gruppe. Für einen Akteur, der einen Ausschluss nicht durch den Eintritt in alternative Gruppen ausgleichen kann, wiegt diese Sanktion schwerer als für einen Akteur, der über eine Vielzahl an Gruppenoptionen verfügt. Mit den hier diskutierten Aspekten sind sicherlich nicht alle Determinanten effizienter Sanktionen aufgeführt. Vom Gesagten lässt sich allerdings ableiten, dass unkritische Normbefolgungssituationen auf sehr umfassenden und voraussetzungsvollen Bedingungen basieren. Legen wir bei den Solidarnormadressaten sowie bei den Sanktionssubjekten eine opportunistische Handlungsorientierung zugrunde, bleibt die Geltung von Solidarnormen eine äußerst prekäre Angelegenheit. Angesichts der anspruchsvollen Voraussetzungen effektiver Sanktionen muss in vielen Konstellationen damit gerechnet werden, dass sie allein keine ausreichenden Anreize zu einer Solidarnormbefolgung garantieren können. In diesen Konstellationen bleibt eine Solidarnormgeltung auf eine intrinsisch motivierte Normbefolgung angewiesen. Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass eine objektiv-kritische Normbefolgungssituation auch von opportunistisch orientierten Akteuren keinesfalls immer adäquat erfasst wird. In der Praxis handelt es sich bei der Abwägung der Sanktionsgeltung und -schärfe um höchst subjektive Einschätzungen. Fetchenhauer (2001: 206 ff.) verweist auf die empirisch nachgewiesene Tendenz, dass sowohl die Sanktionswahrscheinlichkeit als auch die Höhe der zu erwartenden Sanktionen systematisch überschätzt werden. Frey und Opp (1979: 290 ff.) stellen heraus, dass in dem Maße, in dem solche falsch eingeschätzten Handlungskonsequenzen dazu führen, dass sich rationale Egoisten normkonform verhalten, diese Fehleinschätzungen konsequenterweise auch nicht durch eigene Erfahrungen korrigiert werden können. Daraus leitet sich ein Effekt ab, der von Popitz (1968) treffend als die „Präventivwirkung des Nichtwissens“ beschrieben wurde:
3.5 Solidarnormbefolgung
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Die subjektive Überschätzung der Sanktionsgeltung und -stärke kann bedingen, dass eigeninteressierte Akteure Anreize zu einer Normbefolgung wahrnehmen, obwohl die objektiven Anreizbedingungen ein normwidriges Verhalten nahelegen. Auf diese Weise kann durch mangelnde Informationen und Fehleinschätzungen eine Solidarnormgeltung von einer solidarischen Orientierung seitens der Adressaten entlastet sein. Wie eingangs bereits erwähnt, ist die Frage nach dem Charakter von Normbefolgungssituationen aus einer analytischen Perspektive von großer Bedeutung. Vor dem Hintergrund der hier ausgeführten Überlegungen lassen sich folgende Leitfragen für eine Analyse der Anreize zu einer Solidarnormbefolgung festhalten: 1. 2. 3. 4.
Wie sehr untersteht das normrelevante Verhalten einer Kontrolle? Welche Anreizbedingungen existieren im Zusammenhang mit der Sanktionsausübung? Zu welchem Grad sind die Adressaten von einer Gruppe abhängig? Wie fällt die subjektive Einschätzung der Sanktionsgeltung und -schärfe durch die Solidarnormadressaten aus?
Mithilfe dieser Leitfragen ist es nicht nur möglich, zu identifizieren, ob eine Normbefolgungssituation einen unkritischen oder kritischen Charakter hat, sondern es lassen sich die konkreten Problemzonen kritischer Situationen bestimmen. Aus einer praxisorientierten Perspektive gewinnt man so handlungsrelevante Informationen, um defizitären Anreizen einer Solidarnormbefolgung entgegenzuwirken. 3.5.3 Solidarnormgeltung revisited Mit Rekurs auf Baurmanns Normtheorie wurde die Kategorie der Solidarnormgeltung eingeführt, die einen bestimmten empirischen Status einer Solidarnorm in einem sozialen System bezeichnet. Eine Solidarnorm gilt, sofern sie im Großen und Ganzen verhaltenswirksam ist, d. h. sofern ihre Existenz der Grund dafür ist, dass sie von ihren Adressaten in der Regel befolgt wird. Als charakteristisches Merkmal dieses Geltungsbegriffs wurde hervorgehoben, dass er keinerlei Bezug auf die näheren Umstände der Verhaltenswirksamkeit nimmt. Diese Umstände sind soziologisch betrachtet allerdings alles andere als banal. So ist der Charakter einer sanktionsbasierten Solidarnormgeltung grundsätzlich anders einzustufen als der Charakter einer Solidarnormgeltung, die sich auf eine solidarische Orientierung der Adressaten stützt. Insbesondere aus einer praxisorientier-
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ten Perspektive sind diese Unterschiede von Gewicht. So bleibt eine sanktionsbasierte Solidarnormgeltung auf ein funktionierendes Kontroll- und Sanktionssystem angewiesen, welches, wie oben dargelegt, mit hohen Kosten und Unwägbarkeiten verbunden sein kann. Werden Solidarnormen dagegen anreizunabhängig befolgt, können Kontrollsysteme abgerüstet und somit Kosten eingespart werden. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, den allgemeinen Begriff der Geltung nach den Umständen und Gründen einer regelmäßigen Normbefolgung zu differenzieren. Bezüglich der hier interessierenden Problematik der Solidarnormgeltung werde ich zwischen drei Geltungstypen unterscheiden, dem interessebasierten, dem überdeterminierten und dem solidarischen Typ einer Solidarnormgeltung. Der Ausgangspunkt für die Unterscheidung zwischen den drei Geltungstypen sind Handlungsanreize und -orientierungen im Zusammenhang mit einer Solidarnormbefolgung. Bezüglich der Handlungsanreize komme ich auf die Unterscheidung zwischen einer unkritischen und einer kritischen Normbefolgungssituation zurück, die ich in diesem Kapitel vorgenommen habe. Das zentrale Unterscheidungskriterium war, dass sich unkritische Normbefolgungssituationen durch hinreichende Anreize zu einer Solidarnormbefolgung auszeichnen, während kritische Normbefolgungssituationen durch defizitäre Anreize charakterisiert sind. Hinsichtlich der Handlungsorientierung werde ich mich auf die Unterscheidung zwischen einer opportunistischen und einer solidarischen Orientierung stützen, wie ich sie im zweiten Teil dieser Untersuchung vorgenommen habe. Während Opportunisten eine Solidarnorm nur in solchen Situationen befolgen, in denen sich diese Handlungsalternative vom Standpunkt rationaler Nutzenmaximierung als die günstigste darstellt, verfügen solidarische Akteure über eine Solidarnormbindung, die sie zu einer anreizunabhängigen Normbefolgung anhält. Aus einer Kombination dieser Anreiz- und Orientierungsvariablen ergeben sich vier unterschiedliche Konstellationen, von denen es sich bei dreien um verschiedene Typen einer Solidarnormgeltung handelt. Überblicksartig lassen sie sich wie folgt darstellen:
3.5 Solidarnormbefolgung
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Anreize
Handlungsorientierungen Opportunistisch
Solidarisch
Unkritisch
interessebasierte Solidarnormgeltung
überdeterminierte Solidarnormgeltung
Kritisch
keine Solidarnormgeltung
solidarische Solidarnormgeltung
Mit der interessebasierten Solidarnormgeltung ist eine Konstellation bezeichnet, in der die Adressaten eine opportunistische Orientierung vorweisen. Da allerdings in hinreichender Weise Anreize zu einer Solidarnormbefolgung vorliegen, ist eine regelmäßige Solidarnormbefolgung und damit eine Solidarnormgeltung gewährleistet. Das besondere Merkmal dieser Konstellation ist, dass es auf Systemebene zu einer Solidarität kommt, ohne dass sich die Akteure solidarisch verhalten. Die Solidarität eines Systems basiert hier einzig und allein auf der Existenz hinreichender Anreize. Da Lücken im Sanktionssystem Opportunisten Anlässe bieten, eine Solidarnorm nicht zu befolgen, bedarf es einer stetigen Überprüfung der Effizienz und Vollständigkeit des Systems. Auch bei der Konstellation, die ich als überdeterminierte Solidarnormgeltung bezeichne, liegen aus der Perspektive einer opportunistischen Nutzenmaximierung hinreichende Anreize zu einer Solidarnormbefolgung vor. Im Unterschied zum ersten Fall weisen die Adressaten hier allerdings eine solidarische Handlungsorientierung auf. Sie orientieren sich in ihrer Solidarnormbefolgung also nicht an dem erwarteten Nutzen ihrer Handlung, sondern sind intrinsisch motiviert. Da hier sowohl die Anreizstrukturen als auch die Handlungsorientierungen eine regelmäßige Solidarnormbefolgung garantieren, ist eine Solidarnormgeltung überdeterminiert. Unter dieser Voraussetzung steht die Solidarität eines sozialen Systems auf einer sehr robusten Grundlage. Wandeln sich etwa die Handlungsbedingungen dahingehend, dass das normrelevante Verhalten an Transparenz verliert und ein Verstoß gegen Solidarnormen aller Voraussicht nach folgenlos bleibt, ist eine Solidarnormgeltung weiterhin durch die solidarische Handlungsorientierung der Adressaten gewährleistet. Lösen sich solidarische zugunsten opportunistischer Handlungsorientierungen auf, bleibt eine regelmäßige Solidarnormbefolgung ebenfalls gewahrt. In beiden Fällen verändert sich nichts an der Tatsache, dass eine Solidarnorm gilt; es verändert sich lediglich der Typ ihrer Geltung. Als solidarische Solidarnormgeltung bezeichne ich eine Konstellation, in der defizitäre Anreize für eine Solidarnormbefolgung existieren, eine Solidar-
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
normgeltung aber durch die solidarischen Handlungsorientierungen der Adressaten gewährleistet wird. Unter diesen Umständen ist die Solidarität eines sozialen Systems also auf eine Solidarität auf Akteursebene angewiesen. Bei einer Erosion solidarischer Handlungsorientierungen verliert eine Solidarnorm an Geltung. Der Gehalt der Differenzierung dieser drei Geltungstypen ist davon abhängig, inwiefern sich mit ihrer Hilfe die Solidarität unterschiedlicher sozialer Systeme sinnvoll beschreiben lässt. Ob und inwiefern dies der Fall ist, ist freilich eine empirische Frage, der an dieser Stelle nicht nachgegangen werden kann. Festhalten lässt sich aber, dass mit den drei Geltungstypen ein Instrument zur Verfügung steht, um den Charakter der Solidarität sozialer Systeme zu analysieren. 3.6 Zusammenfassung Obwohl Normen ein zentrales Element des soziologischen Verständnisses von Solidarität darstellen, sind Ausarbeitungen eines Solidarnormkonzepts Mangelware. Vor dem Hintergrund der im zweiten Teil vertretenen Idee, dass sich Solidarität auf Systemebene in den geltenden Solidarnormen manifestiert, stellt diese theoretisch-konzeptionelle Leerstelle ein zentrales Problem dar. Ohne eine Klärung der Fragen, was die theoretischen Grundlagen von Solidarnormen sind, wie sie sich inhaltlich differenzieren lassen und welches ihre relevanten Dimensionen sind, ist eine gehaltvolle Analyse der Solidarität sozialer Systeme nicht möglich. Im dritten Teil habe ich mich dieser Leerstelle angenommen und einen theoretischen Rahmen von Solidarnormen entwickelt. Es folgt eine Zusammenfassung der Kernideen. Solidarnormen: Definition und inhaltliche Differenzierung In Anlehnung an Baurmanns Normtheorie (1996) und Hechters Theorie der Gruppensolidarität (1987) habe ich Solidarnormen als zum Ausdruck gebrachte Sollens-Erwartungen definiert, dass Akteure einen kompensationslosen Transfer privater Ressourcen zugunsten anderer Akteure oder zugunsten einer Gruppe vornehmen. Normtheoretisch betrachtet handelt es sich um eine minimale Erwartungsdefinition, da weder Sanktionen noch eine Verhaltensregelmäßigkeit als Definitionsmerkmale genannt werden. Hinsichtlich des empirischen Status von Solidarnormen ist die Unterscheidung von Existenz und Geltung (Baurmann 1996) von Belang: Eine Solidarnorm erlangt Existenz, indem eine entsprechende
3.6 Zusammenfassung
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Sollens-Erwartung zum Ausdruck gebracht wird; Geltung erlangt sie, indem sie von der Mehrheit ihrer Adressaten im Großen und Ganzen befolgt wird. Diese Solidarnormdefinition ist sehr weit gehalten und schließt informelle ebenso wie rechtsverbindliche Sollens-Erwartungen ein. Solidarnormen existieren in nahezu allen Gruppen und zielen auf die Lösung eines Grundproblems sozialen Zusammenlebens ab: Durch Solidarnormen soll gewährleistet werden, dass bestimmte Leistungen gegenüber anderen oder gegenüber der Gruppe dauerhaft gewährleistet werden, obwohl eine Leistungserbringung in der Regel ein Opfer impliziert und nicht im unmittelbaren Eigeninteresse der jeweiligen Akteure liegt. Aufbauend auf dieses Kernproblem und diesen allgemeinen Solidarnormbegriff, habe ich mit Rekurs auf Lindenberg (1998) zwischen vier Solidarnormen unterschieden: (1) Bereitstellungsnormen verlangen einen Beitrag zu einem Kollektivgut, auch wenn Chancen zum Trittbrettfahren oder kein Interesse am Kollektivgut existieren. (2) Verteilungsnormen verlangen eine gerechte Verteilung von Kosten und Nutzen einer Kooperation, auch wenn Anreize zu einem ausbeuterischen Verhalten bestehen. (3) Unterstützungsnormen verlangen Unterstützungsleistungen in Notsituationen, auch wenn nicht mit Gegenleistungen gerechnet werden kann. (4) Loyalitätsnormen verlangen die Fortführung einer Kooperationsbeziehung, auch wenn Anreize zum Exit vorliegen. Mit der Differenzierung der vier Solidarnormen verknüpft sich der Anspruch, dass sie einen universellen Charakter haben, d. h., dass sie in nahezu allen sozialen Systemen anzutreffen sind – in Kleingruppen ebenso wie in Organisationen oder politisch verfassten Großgemeinschaften; in persönlichen ebenso wie in professionellen Beziehungen oder unter Fremden. Solidaropfer Solidarnormen variieren in der Qualität der Solidaropfer, die sie für ihre Adressaten implizieren, d. h. in Art und Ausmaß der mit ihnen verknüpften Belastung. Bei der Einschätzung der Solidaropfer wird in der Literatur gemeinhin auf die Solidarkosten verwiesen, also auf den absoluten Umfang an Leistungen, die von Solidarnormen verlangt und im Falle ihrer Geltung auch erbracht werden. Diese Sichtweise habe ich als unzureichend kritisiert, da die Perspektive der Adressaten nicht berücksichtigt wird. So kann dieselbe Solidarnorm unterschiedliche Adressaten verschieden stark belasten und eine Solidarnorm, welche höhere Solidarkosten verlangt, kann unter Umständen für die Adressaten mit geringeren Opfern verknüpft sein als eine Solidarnorm, welche in absoluten Maßstäben weniger fordert. Um die Adressatenperspektive bei der Einschätzung von Soli-
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
daropfern in adäquater Weise zu berücksichtigen, habe ich vorgeschlagen, die Bestimmung der Qualität von Solidaropfern mit dem Interesse der Adressaten an der Geltung einer Solidarnorm zu verknüpfen. Adressaten haben ein Interesse an der Geltung einer Solidarnorm, wenn sich ihre Situation in diesem Fall insgesamt verbessert, da der Nutzen aus der Geltung der Solidarnorm die Kosten der individuellen Solidarnormbefolgung insgesamt übersteigt. Unter dieser Voraussetzung impliziert eine Solidarnorm für ihre Adressaten lediglich ein schwaches Solidaropfer. Diese Konstellation taucht etwa in Kollektivgutsituationen mit Anreizen zum Trittbrettfahren auf. So profitiert die Mehrzahl der Parkbenutzer von der Geltung der Norm, dass dieser Park sauber zu hinterlassen sei. Durch diese Bereitstellungsnorm wird zwar jeder Parkbenutzer zu einem Opfer verpflichtet, doch die individuellen Erträge aus der Realisierung eines sauberen Parks übersteigen in der Regel die individuellen Beitragskosten. Die Geltung dieser Bereitstellungsnorm dient damit der Realisierung eines gemeinsamen Interesses der Parkbenutzer. In vielen Fällen ist es allerdings so, dass sich für Adressaten die Situation durch die Geltung einer Solidarnorm insgesamt verschlechtert und sie demzufolge kein Interesse an einer Geltung haben. Eine Solidarnorm impliziert in diesem Fall ein starkes Solidaropfer, da sie primär der Realisierung fremder Interessen dient. So haben die Leistungsträger einer Gruppe in der Regel kein Interesse an Verteilungsnormen, die sich am Bedürfnisprinzip orientieren, da sie von der Geltung dieser Verteilungsnormen kaum profitieren und sie zuvorderst leistungsschwächeren Mitgliedern zugute kommen.71 Es gibt allerdings auch Konstellationen, in denen Adressaten gegenüber einer Solidarnorm aus Interessengesichtspunkten eine indifferente Haltung vorweisen, da sie von der Geltung der entsprechenden Solidarnorm weder profitieren noch belastet werden. Diese Situation tritt auf, wenn Solidarnormen ein Verhalten verlangen, welches Adressaten auch unabhängig von ihrer Existenz zeigen würden. In solchen Fällen kann davon gesprochen werden, dass eine Solidarnorm für ihre Adressaten kein Solidaropfer impliziert. Eine adressatenzentrierte Analyse der Qualität von Solidarnormen ist vor allem dann von Interesse, wenn es um die Legitimation und Begründung von Solidaropfern gegenüber den Adressaten geht. So kann eine Solidarnorm, die ein schwaches Opfer verlangt und deren Geltung im Interesse des Adressaten liegt, ihm gegenüber mit Rekurs auf Fairness-Argumente begründet werden. Verlangt eine Solidarnorm dagegen starke Opfer und dient sie primär der Realisierung
71
Das schließt natürlich keineswegs aus, dass sich leistungsstarke Mitglieder einer Gruppe aus ethischen Gründen eine bedürfnisgerechte Verteilung wünschen, obwohl sie sich individuell besser stellen würden, wenn das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit dominieren würde.
3.6 Zusammenfassung
133
fremder Interessen, bedarf es des Rekurses auf alternative Solidaritätssemantiken – etwa auf Verantwortungsethiken oder Gemeinschaftsideologien. Beziehungen zwischen Solidarnormen Individuelle Akteure sind in modernen Gesellschaften in eine Vielzahl an unterschiedlichen sozialen Kontexten integriert: in die Familie, in Arbeitsorganisationen, in Vereine, in die nationalstaatliche Gemeinschaft etc. Im Rahmen dieser verschiedenen sozialen Kontexte werden Individuen mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Solidarnormen konfrontiert, welche zusammengenommen ein individuelles Solidarnormbündel ergeben. Diese Solidarnormen können inhaltlich in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen. Zwischen drei Typen von Beziehungen habe ich unterschieden: Eine (1) neutrale Beziehung zwischen Solidarnormen liegt vor, sofern die Befolgung einer Solidarnorm in keiner Weise die Befolgung einer anderen berührt. Stützen und ergänzen sich unterschiedliche Solidarnormen gegenseitig, indem sie ein ähnliches oder identisches Verhalten verlangen, dann weisen sie eine (2) komplementäre Beziehung auf. Solidarnormen stehen in einer (3) konfligierenden Beziehung zueinander, wenn die Befolgung der einen Solidarnorm notwendigerweise impliziert, dass eine andere nicht befolgt werden kann, etwa weil sich die Normen inhaltlich ausschließen oder die Leistungskraft eines Adressaten überfordern. Je nach Ursache für einen Solidarnormkonflikt bieten sich unterschiedliche Strategien zu dessen Lösung an: Ist die mangelnde Verhaltenswirksamkeit einer Solidarnorm darauf zurückführen, dass sie angesichts alternativer Solidarverpflichtungen der Adressaten zu hohe Kosten verlangt, lässt sich über eine Reduzierung der Solidarkosten unter Umständen eine größere Verhaltenswirksamkeit erwirken. Besteht das Problem allerdings darin, dass eine Solidarnorm zu einer anderen inhaltlich in Widerspruch steht, dann kann eine Auflösung nur erfolgen, wenn ein Verhaltensanspruch aufgegeben wird. Inklusionsbeziehungen Durch Solidarnormen werden Adressaten und Rezipienten in eine bestimmte Beziehung zueinander gesetzt. Das durch Solidarnormen gestiftete Beziehungsband kann allerdings sehr unterschiedlich ausfallen. Um diese Beziehungsdimension zu erfassen, habe ich in Anlehnung an Überlegungen von Coleman (1991: 319 ff.) und Popitz (1980: 38 ff.) sechs Typen von Inklusionsbeziehungen unterschieden. Jede Inklusionsbeziehung steht für eine Antwort auf die Frage, wer im
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
Rahmen eines sozialen Systems von einer Solidarnorm gegenüber wem zu bestimmten Transferleistungen verpflichtet wird.72 Die beiden Klassifizierungsdimensionen – sowohl im Zusammenhang mit den Adressaten als auch mit den Rezipienten – sind allgemein und partikular. Folgende Inklusionsbeziehungen habe ich unterschieden: 1. 2. 3. 4. 5.
6.
Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System jeden Akteur zu Leistungen zugunsten aller anderen bzw. zugunsten der Allgemeinheit. Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System einen partikularen Adressatenkreis zu Leistungen zugunsten jedes Akteurs bzw. zugunsten der Allgemeinheit. Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System alle Akteure zu Leistungen gegenüber einem partikularen Kreis an Rezipienten bzw. zugunsten einer partikularen Gruppe. Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System einen partikularen Kreis von Adressaten zu Leistungen zugunsten eines partikularen Kreises von Rezipienten bzw. zugunsten einer partikularen Gruppe. Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System einen partikularen Kreis von Adressaten zu Leistungen zugunsten eines partikularen Kreises von Rezipienten bzw. zugunsten einer partikularen Gruppe, wobei zwischen dem Kreis der Adressaten und dem der Rezipienten eine Schnittmenge besteht. Eine Solidarnorm verpflichtet in einem sozialen System die Mitglieder einer partikularen Teilgruppe zu Leistungen untereinander bzw. zugunsten der partikularen Gruppe.
Die sechs Inklusionsbeziehungen bieten eine Heuristik für die Analyse von solidarischen Verpflichtungsverhältnissen. Dabei ist zu vermuten, dass bestimmte Inklusions- mit bestimmten Gruppentypen korrespondieren. So werden in Gruppen mit stark ausgeprägter kollektiver Identität – gestiftet etwa durch religiöse oder ethnische Ideologien – wahrscheinlich Solidarnormen vorherrschen, die die Starken zu besonderen Leistungen gegenüber der Gemeinschaft oder den Schwachen verpflichten (zweiter und vierter Inklusionstyp). Für einen nächsten Schritt in der Theoriebildung wäre es wichtig, solche vermuteten Beziehungen zwischen Inklusions- und Gruppentypen empirisch zu überprüfen.
72
Die Systemgrenzen, die den Referenzrahmen für die sechs Inklusionsbeziehungen darstellen, können von einem soziologischen Beobachter variabel gezogen werden. Ob etwa die Beziehung der Geschwister oder die gesamte Familie als Referenzsystem gesetzt werden, ist abhängig vom Erkenntnisinteresse des Beobachters.
3.6 Zusammenfassung
135
Institutionalisierung von Solidarnormen Der Begriff der Institutionalisierung, den ich in Anlehnung an Popitz (1980: 31) verwende, bezieht sich auf das organisatorische Arrangement der Setzung und Durchsetzung von Normen. Der Begriff verweist auf den Umstand, dass Handlungen im Zusammenhang mit der Setzung und Durchsetzung von Normen ihrerseits durch Normen reglementiert sein können. Je umfassender diese Reglementierung ausfällt, je mehr also die Setzung und Durchsetzung einer Norm spontanen sozialen Prozessen entzogen sind, desto höher ist ihr Grad an Institutionalisierung. Um die Dimension der Institutionalisierung für eine Analyse von Solidarnormen zu entwickeln, habe ich anknüpfend an Hart (1998 [1961]) zwischen Primär- und Sekundärnormen unterschieden. Bei den Primärnormen handelt es sich um Verhaltensnormen, wie sie etwa die Solidarnormen darstellen. Die Sekundärnormen stellen dagegen Normen dar, die auf die Primärnormen bezogen sind, indem sie bestimmte Regeln im Zusammenhang mit ihrer Setzung und Durchsetzung definieren. Ich habe zwischen vier Sekundärnormen differenziert, von denen sich zwei auf die Setzung und zwei auf die Durchsetzung von Primärnormen beziehen. Auf Solidarnormen bezogen stellen sie sich wie folgt dar: (1) Ermächtigungsnormen autorisieren bestimmte Akteure zu Normsetzern und statten sie mit der Befugnis aus, in einem bestimmten sozialen Bereich oder einer Gruppe die verbindlichen Solidarnormen festzulegen. (2) Verfahrensnormen legen bestimmte Prozeduren für die Findung und Setzung der verbindlichen Solidarnormen fest. (3) Evaluationsnormen autorisieren bestimmte Akteure, darüber zu entscheiden, ob ein Solidarnormbruch vorliegt bzw. ob dieser sanktionswürdig ist. Darüber hinaus können sie Kriterien für die Sanktionswürdigkeit festlegen, welche bei der Evaluation zugrunde zu legen sind. (4) Sanktionsnormen bestimmen Akteure zu Sanktionssubjekten und übertragen ihnen damit die Legitimation zur Sanktionierung. Darüber hinaus können sie festlegen, ob es sich bei der Sanktionierung um ein Recht oder um eine Pflicht handelt, sowie bestimmte Kriterien hinsichtlich des Sanktionsinhalts und der Sanktionsstärke. Anhand dieser vier Sekundärnormen lässt sich rekonstruieren, in welchen Bereichen das organisatorische Arrangement einer Setzung und Durchsetzung von Solidarnormen reglementiert ist und wie stark diese Reglementierung insgesamt ausfällt. Die Sekundärnormen bilden die normative Infrastruktur der Solidarität sozialer Systeme. Eine Analyse dieser Infrastruktur liefert zentrale Erkenntnisse über die Bedingungen, unter denen die existierenden Solidarnormen gesetzt und durchgesetzt werden. Für die Einflussnahme auf Solidarnormen ist insbesondere ein Wissen über Ermächtigungs- und Verfahrensnormen von hoher Relevanz.
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3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen
Solidarnormgeltung und Solidarnormbindung Die Geltung von Solidarnormen setzt voraus, dass eine Mehrheit der Adressaten diese im Großen und Ganzen befolgen. Für eine soziologische Analyse stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, was die Bedingungen für eine regelmäßige und verlässliche Solidarnormbefolgung sind. Um diese zu erfassen, habe ich zwischen einer unkritischen und einer kritischen Normbefolgungssituation unterschieden. Unkritische Normbefolgungssituationen zeichnen sich dadurch aus, dass Solidarnormadressaten aufgrund der existierenden Sanktionsbedingungen über ausreichende Anreize zu einer Solidarnormbefolgung verfügen. Eine Solidarnormgeltung ist auch dann gewährleistet, wenn die Adressaten eine opportunistische Handlungsorientierung vorweisen. In kritischen Normbefolgungssituationen fehlt es dagegen an entsprechenden Anreizen, weswegen eine regelmäßige und dauerhafte Solidarnormbefolgung voraussetzt, dass die Adressaten eine Solidarnormbindung vorweisen. Die Anreize zu einer Solidarnormbefolgung resultieren aus den Sanktionsbedingungen. Zwei Variablen sind in diesem Zusammenhang entscheidend: die Sanktionsgeltung und die Sanktionsschärfe. Im Zusammenhang mit Sanktionen kann davon gesprochen werden, dass diese gelten, sofern ein normwidriges Verhalten in der Regel eine Sanktion zur Folge hat (vgl. Popitz 1980: 35). Eine Sanktionsgeltung setzt damit voraus, dass zwei zentrale Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss ein ausreichendes Maß an Verhaltenskontrolle gewährleistet sein. Zur Herstellung einer Verhaltenskontrolle stehen verschiedene Techniken zur Verfügung – etwa die Einrichtung von Kontrollinstanzen, der Einsatz von Überwachungsinstrumenten oder die Implementierung bestimmter Verfahrensweisen, durch welche ein normrelevantes Verhalten beobachtbar wird. Zweitens setzt eine Sanktionsgeltung voraus, dass in ausreichendem Maße Anreize zu Sanktionshandlungen existieren. Da diese häufig mit Kosten verbunden sind, kann die Sanktionierung eines entdeckten Solidarnormbruchs keinesfalls problemlos vorausgesetzt werden. In vielen Fällen stellt ein effektives Sanktionssystem ein Kollektivgut dar, welches derselben Bereitstellungsproblematik unterliegt wie alle anderen Kollektivgüter auch. Eine Sanktionsgeltung ist nicht zuletzt abhängig davon, dass diese Anreizproblematik gelöst wird. In diesem Zusammenhang können Sanktionsnormen, durch welche bestimmte Akteure zu Sanktionssubjekten legitimiert werden oder eine allgemeine Sanktionspflicht formuliert wird, eine zentrale Rolle spielen. Die Sanktionsgeltung allein kann noch keine hinreichenden Anreize zu einer Solidarnormbefolgung garantieren. Hinzukommen muss eine ausreichende Sanktionsschärfe: Die Sanktionen müssen so hoch ausfallen, dass der Nutzen eines normwidrigen Verhaltens mindestens ausgeglichen wird. Eine wesentliche
3.6 Zusammenfassung
137
Variable, welche aus Adressatenperspektive über die Schärfe drohender Sanktionen bestimmt, ist Abhängigkeit. Je mehr ein Akteur in der Realisierung seiner Interessen von einer Gruppe abhängig ist, desto schwerer wiegen Sanktionen wie eine gruppeninterne Missachtung oder der Ausschluss aus der Gruppe. Drei Typen der Solidarnormgeltung Eine Solidarnormgeltung ist bei der Darlegung der normtheoretischen Grundlagen als regelmäßige und verlässliche Befolgung von Solidarnormen definiert worden. Dieser behavioral ausgerichtete Geltungsbegriff bezieht sich lediglich auf die Frage, ob Solidarnormen verhaltenswirksam sind, nicht aber auf die Frage, worauf sich diese Verhaltenswirksamkeit gründet. Dieser Aspekt ist soziologisch betrachtet allerdings keinesfalls unwichtig. Es ergibt einen grundlegenden Unterschied, ob die Solidarität eines sozialen Systems durch Sanktionen garantiert wird oder auf einer solidarischen Orientierung der Adressaten basiert. Um ein Instrumentarium zu haben, mit dem sich die Solidarität sozialer Systeme differenzierter beschreiben lässt, habe ich zwischen vier Konstellationen unterschieden. Der Ausgangspunkt ist die Differenzierung zwischen unkritischen bzw. kritischen Normbefolgungssituationen sowie zwischen solidarischen bzw. opportunistischen Handlungsorientierungen. 1.
2.
3.
Interessebasierte Solidarnormgeltung Es existieren unkritische Anreizbedingungen, weswegen trotz einer mehrheitlich opportunistischen Orientierung der Adressaten eine Solidarnormgeltung gewahrt ist. Die Solidarität auf Systemebene ist damit anreizgestützt. Überdeterminierte Solidarnormgeltung Die Anreizbedingungen sind unkritisch und die Mehrheit der Adressaten weist eine solidarische Orientierung auf. Da beide Faktoren unabhängig voneinander die Solidarität eines sozialen Systems gewährleisten würden, liegt eine überdeterminierte Solidarnormgeltung vor. Solidarische Solidarnormgeltung Die Mehrheit der Adressaten weist eine solidarische Handlungsorientierung auf, sodass es trotz kritischer Anreizbedingungen zu einer Solidarnormgeltung kommt. Die Solidarität auf Systemebene ist in diesem Fall auf eine Solidarität auf Akteursebene zurückzuführen.
138 4.
3 Solidarnormen: Ein theoretischer Rahmen Keine Solidarnormgeltung Da die Mehrheit der Adressaten eine opportunistische Handlungsorientierung aufweist und zudem kritische Anreizbedingungen existieren, kommt es zu keiner Solidarnormgeltung.
Die drei Typen der Solidarnormgeltung zielen darauf ab, die qualitative Dimension der Solidarität sozialer Systeme zu erschließen. Sie stellen eine wichtige Erweiterung des Kategorienrepertoires dar, um Solidarität zusätzlich zum allgemeinen und rein behavioral ausgerichteten Geltungsbegriff zu charakterisieren.
4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
4.1 Einführung in den Ansatz und das Konzept der Modellentwicklung 4.1.1 Rationale Solidarnormbindung Bei der Bestimmung des Solidaritätsbegriffs wurde ein solidarisches Handeln als Solidarnormbindung konzeptualisiert. Eine Solidarnormbindung manifestiert sich in einer regelmäßigen Solidarnormbefolgung, bei der die Normbefolgung ein eigenständiges Handlungsmotiv darstellt. Solidarnormgebundene (oder: solidarische) Akteure orientieren sich in ihrer Solidarnormbefolgung nicht an situationsbezogenen Anreizen, sondern an ihrer Überzeugung, dass dieses Verhalten richtig ist. Ihre Solidarnormbefolgung ist damit von einer bestimmten Haltung gegenüber der entsprechenden Solidarnorm geleitet, die Harts „internem Standpunkt“ bzw. Webers „Legitimitätsglauben“ (siehe 2.1.2) entspricht. Diese Operationalisierung solidarischen Handelns habe ich als leer bzw. theorieneutral charakterisiert. Dies meint, dass aus diesem Begriff erst in Kombination mit einer Handlungstheorie, welche die konstitutiven Bedingungen einer Solidarnormbindung benennt, ein brauchbares analytisches Konzept entsteht. Im vierten Teil dieser Untersuchung wird es darum gehen, den leeren Begriff der Solidarnormbindung handlungstheoretisch auszufüllen. Es wird ein explanatives Modell entwickelt, welches die aus soziologischer Perspektive wichtigsten Determinanten einer Solidarnormbindung definiert. Mithilfe des explanativen Modells soll es möglich sein, zu erklären, unter welchen Bedingungen die Chance gegeben ist, dass Akteure eine Solidarnormbindung entwickeln, bzw. wann dies eher nicht der Fall ist. Weiter soll das explanative Modell dazu dienen, die Potenziale und Probleme, welche in spezifischen Kontexten im Zusammenhang mit einer Bindung an Solidarnormen existieren, zu analysieren. Darüber hinaus soll es Hinweise darauf liefern, wie sich in der Praxis eine Bindung von Individuen an Solidarnormen fördern lässt. Die Entwicklung des explanativen Modells wird im Rahmen der RationalChoice-Theorie vorgenommen. Die Rational-Choice-Theorie stellt bekannterweise keinen einheitlichen Ansatz dar, sondern umfasst eine ganze Reihe unterschiedlicher Varianten. Dabei lassen sich zwei Merkmale definieren, die allen Rational-Choice-Ansätzen eigen sind. Das erste Merkmal ist eine Zustimmung
U. Tranow, Das Konzept der Solidarität, DOI 10.1007/978-3-531-93370-2_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
zu den Prinzipien des methodologischen Individualismus, dem zufolge alle sozialen Tatsachen durch eine Zurückführung auf individuelles Verhalten zu erklären sind. Das zweite Merkmal ist die Annahme, dass die Realisierung von Eigeninteressen der Handlungszweck ist, welcher von Individuen rational verfolgt wird. Aus dem zweiten Merkmal leitet sich ab, dass alle Rational-Choice-Ansätze in irgendeiner Weise unterstellen, dass menschliches Verhalten einer rationalen Anpassung unterliegt: „In all its versions rational choice theory sees human behavior as ‚rationally adapted‘ in the sense that it is advantage-seeking, that it is motivated by expected payoffs, that it is responsive to incentives and instrumental to the interests of the actor“ (Vanberg 1993: 93).
Indem bei der Entwicklung des explanativen Modells eine Rational-ChoicePerspektive eingenommen wird, besteht die zentrale Herausforderung darin, die individuelle Bindung an Solidarnormen als eine Anpassungsstrategie zur Realisierung von Eigeninteressen zu erklären. Dieser Punkt mag auf den ersten Blick irritieren, da es ja gerade das definitorische Merkmal einer Solidarnormbindung ist, dass Solidarnormen anreizunabhängig statt auszahlungsorientiert befolgt werden. Ist durch diese Definition nicht schon prädisponiert, dass eine Klärung der konstitutiven Bedingungen einer Solidarnormbindung Abstriche von dem Rational-Choice-Paradigma verlangt? Die Antwort auf diese Frage fällt ambivalent aus. Zweifelsohne ist es so, dass sich im Rahmen einer engen RationalChoice-Theorie und ihres klassischen Akteursmodells des rationalen Nutzenmaximierers eine Solidarnormbindung weder erfassen noch erklären lässt. Allerdings gibt es auch eine erweiterte Version dieser Theorie, der ein flexibleres Akteursmodell zugrunde liegt, ohne dabei der Grundprämisse der Realisierung von Eigeninteressen als Handlungszweck zu widersprechen. Mit der Unterscheidung zwischen einer engen und einer erweiterten Rational-Choice-Theorie lehne ich mich bei Vanberg (1993) an,73 der betont, dass im Rahmen dieses Theorieansatzes zwei unterschiedliche Interpretationsvarianten der rationalen Anpassung von individuellem Handeln existieren. Die enge Auslegung lokalisiert die rationale Anpassung im Akt der singulären Handlungswahl. Der rationale Nutzenmaximierer orientiert sich in jeder Einzelsituation ausschließlich an den von ihm erwarteten Kausalfolgen der perzipierten Handlungsalternativen hinsichtlich der Realisierung seiner eigenen Interessen. Die Regel, nach der er Entscheidungen trifft, lässt sich als strikt opportunistisch (vgl. Kliemt 1993: 282 ff.; Elster 1989: 263 f.) beschreiben. Es kann zwar durchaus 73
Allerdings werden von Vanberg die Begriffe eng und weit nicht verwendet; sie werden vielmehr von mir hier eingeführt.
4.1 Einführung in den Ansatz und das Konzept der Modellentwicklung
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vorkommen, dass Opportunisten regelmäßig Solidarnormen befolgen, doch dazu kommt es nur dann, wenn sich dieses Verhalten regelmäßig in einer Mehrzahl singulärer Entscheidungssituationen immer wieder als die beste Alternative zur Realisierung eigener Interessen darstellt. Es ist evident, dass sich mit dieser engen Auslegung der Rational-Choice-Theorie eine Solidarnormbindung allein schon deswegen nicht erklären lässt, weil der rationale Nutzenmaximierer gar nicht zu einer Normbindung fähig ist. Dies ist auch der Grund dafür, dass ein Theoretiker wie Hechter (1987), der ein enges Konzept von Rational Choice vertritt, in seinem Solidaritätskonzept keinen Begriff des solidarischen Handelns entwickeln kann, der sich genuin von dem eines opportunistischen Handelns unterscheidet. Im Rahmen einer engen Rational-Choice-Theorie ist eine persönliche Solidarnormbindung als empirisches Phänomen schlichtweg nicht denkbar und kann somit auch nicht durch sie erklärt werden. In der erweiterten Auslegung der Rational-Choice-Theorie wird ein flexibleres Akteursmodell zugrunde gelegt und die rationale Anpassung an einer anderen Stelle verortet. Nicht die singuläre Handlungswahl unterliegt hier einer rationalen Anpassung, sondern der Erwerb einer Entscheidungsregel, welche ein Individuum in Entscheidungssituationen anwendet (Vanberg 1993: 94). Die zentrale These, die sich mit dieser zweiten Version von Rational-Choice-Ansätzen verknüpft, ist die, dass es für die Interessenrealisierung unter bestimmten Umständen rational sein kann, die Fähigkeit zur opportunistischen Einzelfallabwägung zu suspendieren und sich an ein bestimmtes Verhalten zu binden.74 Verhaltensgebundene Akteure sind in bestimmten Situationen auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt und orientieren sich in diesen Situationen kategorisch an einer bestimmten Verhaltensregel. Das impliziert, dass sie auch in solchen Situationen ihr Verhalten an einer Regel orientieren, in denen eine Kosten-NutzenAbwägung ein alternatives Verhalten nahelegen würde. Sind sie an die Regel gebunden nicht zu lügen, dann lügen sie auch dann nicht, wenn Anreize zu einer Lüge vorliegen. Sind sie an die Regel gebunden, solidarisch zu sein, dann befolgen sie auch in jenen Situationen Solidarnormen, in denen sie einen Anreiz haben, diese Normen nicht zu befolgen. Es ist evident, dass ein explanatives Modell der Solidarnormbindung ein Akteursmodell voraussetzen muss, welches den Akteuren die Fähigkeit zur Suspendierung einer opportunistisch-rationalen Haltung zugesteht. Die Entwicklung eines explanativen Modells im Rahmen der Rational-Choice-Theorie setzt damit also eine erweiterte Interpretation der rationalen Anpassung von menschlichem Verhalten voraus.
74
Ein erweiterter Rational-Choice-Ansatz, welcher eine Verhaltensbindung zulässt, wird u. a. von Gauthier (1996); Rowe (1989); Kliemt (1993); Baurmann (1996) oder Lindenberg (2001a) vertreten.
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
Vor diesem Hintergrund stellt sich allerdings die Frage, inwieweit es für die Interessenrealisierung eines Akteurs überhaupt rational sein kann, sich im Vorhinein auf eine bestimmte Verhaltensweise festzulegen, statt in jeder Situation aufs Neue nach der besten Alternative zu suchen. Zunächst scheint die Überlegung plausibel zu sein, dass es im Sinne der eigenen Interessenrealisierung per se vorteilhafter ist, sich in jeder Situation Optionen offenzuhalten und spontan und opportunistisch zu entscheiden, statt sich im Vorfeld auf eine bestimmte Verhaltensweise festzulegen. Dass dies aber keineswegs immer der Fall sein muss, wird von Kliemt (1993) herausgestellt, der abgrenzend – zu dem Problem der Rationalitätsschwäche als potenziellem Hindernis auf dem Weg zur Realisierung eigener Interessen – auch ein Problem der Rationalitätsstärke identifiziert. Das Problem der Rationalitätsschwäche drückt sich darin aus, dass Menschen mitunter Schwierigkeiten haben, ihre Interessen zu realisieren, weil sie sich durch situationelle Versuchungen von einem Verhaltensplan abbringen lassen, von dem sie eigentlich überzeugt sind, dass er ihren (langfristigen) Interessen dient (vgl. auch Elster 1989: 42 ff.). Eine solche Rationalitätsschwäche kann sich etwa darin zeigen, dass Menschen trotz des festen Ziels, Diät zu halten, ein Stück Sahnetorte essen. Als Lösung des Problems einer mangelnden Rationalität werden in der ökonomischen Verhaltenstheorie Strategien des rationalen Selbstmanagements diskutiert, wie sie bspw. von dem Ökonomen Thomas Schelling (1978) unter dem Stichwort der egonomics entwickelt wurden.75 Während sich das Problem der Rationalitätsschwäche aus einer Abweichung von der ökonomischen Handlungslogik ableitet, entspringt das Problem der Rationalitätsstärke unmittelbar aus dieser Handlungslogik. Das Problem einer zu starken Rationalität ist, dass die konsequente Orientierung an den zu erwartenden Kausalfolgen des einzelnen Handlungsakts einer langfristigen Interessenwahrnehmung entgegenstehen kann. „Die Fähigkeit zu rationaler einzelfallbezogener Handlungssteuerung kann vom Standpunkt dessen aus, der sie besitzt, zu stark sein, um eine langfristige optimale Interessenbefriedigung noch zu erlauben. Der einzelne wird ‚zum Opfer‘ der Tatsache, daß er rational ist und andere Individuen wissen bzw. annehmen, daß er es ist“ (Kliemt 1993: 284).
Spiegelverkehrt zur Lösung des Problems der Rationalitätsschwäche besteht die Lösung des Problems einer zu starken Rationalität darin, die Fähigkeit zur ein75
Der Begriff egonomics wurde von Schelling erstmalig in dem Aufsatz „Egonomics, or the Art of Self-Management“ verwendet. In diesem wird von ihm das Problem der Rationalitätsschwäche als eine Art Persönlichkeitsspaltung betrachtet, bei der das gegenwärtige Selbst etwas anderes möchte als das zukünftige.
4.1 Einführung in den Ansatz und das Konzept der Modellentwicklung
143
zelfallbezogenen Entscheidung für bestimmte Bereiche durch eine Verhaltensbindung zu ersetzen. Damit taucht die Frage auf, in welchen Situationen eine opportunistische bzw. einzelfallbezogene Handlungsorientierung ein Problem darstellen kann und Akteure mit einer Verhaltensbindung besser fahren. Nicholas Rowe (1989) stellt heraus, dass eine Verhaltensbindung für die eigene Interessenrealisierung rational sein kann, wenn sich durch die Gebundenheit des eigenen Verhaltens das Verhalten anderer zum eigenen Vorteil beeinflussen lässt. Rowe argumentiert, dass eine Verhaltensbindung einem Versprechen gleicht. Mit einer Verhaltensbindung legt eine Person fest, was andere von ihr in zukünftigen Situationen erwarten können. Verhaltensbindungen bieten der Umwelt damit eine gewisse Verlässlichkeit. Ist diese Verlässlichkeit der Grund dafür, dass einer Person bestimmte Vorteile zuteilwerden, und überbieten diese Vorteile insgesamt die Kosten, die mit dem Verzicht auf eine Einzelfallabwägung einhergehen, dann stellt sich eine Verhaltensbindung als rational dar. Überträgt man die bisher skizzierten Ideen auf das hier interessierende Thema, dann ergibt sich bereits die Kernthese eines explanativen Modells der Solidarnormbindung aus einer erweiterten Rational-Choice-Perspektive: Die Voraussetzung dafür, dass Akteure eine Solidarnormbindung entwickeln, ist, dass sie durch diese Solidarnormbindung ihre Interessen besser realisieren können als durch eine opportunistische Haltung. Das ist dann der Fall, wenn sie durch ihre Solidarnormgebundenheit das Verhalten anderer in ihrem Sinne beeinflussen können und auf diese Weise in den Genuss von Vorteilen kommen, in den sie als opportunistische Personen nicht kämen. Die zentrale Aufgabe in diesem Teil der Untersuchung wird sein, diese erweiterte Rational-Choice-Perspektive systematisch zu einem explanativen Modell auszuarbeiten. 4.1.2 Aufbau des explanativen Modells Die Modellentwicklung vollzieht sich über eine Zusammenführung und Integration von vier theoretischen Ansätzen. Die vier Theorien beziehen sich jeweils auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche und lassen sich konsistent zu einem Gesamtmodell verknüpfen. Hier werde ich kurz die einzelnen Ansätze und ihre Verknüpfung vorstellen. Wenn das Kernargument das ist, dass eine Solidarnormbindung der Realisierung der eigenen Interessen dient, dann bedarf es einer Theorie darüber, welche Interessen Menschen haben bzw. welche Ziele sie durch ihr Handeln realisieren wollen. Mit der Theorie universeller Zielgüter werde ich eine Theorie invariabler Bedürfnisse bzw. Ziele des Menschen vorstellen. Mit dieser Theorie lässt
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
sich Handeln als Nutzenproduktion begreifen. Damit ist gemeint, dass jedes Handeln dahingehend zu interpretieren ist, dass es direkt oder indirekt auf die Realisierung einer oder mehrerer der invariablen Bedürfnisse abzielt. Indem die Theorie die Ziele benennt, zu deren Realisierung Akteure potenziell eine Solidarnormbindung erwerben, stellt sie die Ausgangsbasis für die Modellentwicklung dar. Bei der Entwicklung der Theorie universeller Zielgüter stütze ich mich im Wesentlichen auf Lindenbergs Theorie menschlicher Bedürfnisse (1996a, 2001a), die er in Anlehnung an Gary S. Becker (Becker/Stigler 1996 [1977]) entwickelt hat. Individuen sind bei der Realisierung ihrer universellen Ziele mit bestimmten Restriktionen bzw. einer objektiven Situation konfrontiert. Diese objektive Situation konstituiert sich aus den kulturellen bzw. sozialstrukturellen Faktoren sowie der individuellen Ressourcenausstattung, welche die Rahmenbedingungen einer individuellen Nutzenproduktion definieren. Ob und inwiefern eine Solidarnormbindung im Rahmen der individuellen Nutzenproduktion ein rationales Instrument darstellt, hängt von der Struktur dieser objektiven Situation ab. Mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen werde ich mich auf einen Ansatz stützen, mit dem sich diese objektive Situation erfassen und einer soziologischen Analyse zugänglich machen lässt. Mit ihr werden die Bedingungen definiert, welche erfüllt sein müssen, damit sich eine Bindung an Solidarnormen im Sinne der individuellen Nutzenproduktion lohnt. Die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen geht in ihrem Ursprung ebenfalls auf Becker (Becker/Stigler 1996 [1977]) zurück und wurde von Lindenberg (1989, 1996a) sowie von Esser (1999) aufgegriffen und soziologisch weiterentwickelt. Ich werde mich hier im Wesentlichen an Essers Version orientieren. Die Rationalität einer Solidarnormbindung ist zwar eine Voraussetzung dafür, dass Akteure diese Eigenschaft entwickeln und dauerhaft aufrechterhalten, doch diese rationale Anpassung darf nicht auf einen rein mechanistischen und quasi-automatischen Prozess verkürzt werden. Die subjektive Definition der Situation ist keineswegs immer mit der objektiven Situation identisch, sondern unterliegt subjektiven Selektionen und Kategorisierungen, die unter Umständen eine optimale Nutzenproduktion verhindern. Dieser Aspekt der Subjektivität wird im Rahmen des explanativen Modells mithilfe der Framing-Theorie von Lindenberg (1993, 2001a) berücksichtigt. Dabei handelt es sich im Kern um eine Entscheidungstheorie, welche in Rechnung stellt, dass Individuen aufgrund ihrer eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten in ihrer Nutzenproduktion einer beschränkten Rationalität unterliegen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Solidarnormbindung drückt sich diese beschränkte Rationalität darin aus, dass individuelle Akteure unter Umständen im opportunistischen Entscheidungsmodus verharren oder in ihn zurückfallen, obwohl eine Solidarnormbin-
4.2 Solidarnormbindung und menschliche Bedürfnisse
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dung ihnen auf Dauer nützen würde. Mit Lindenbergs Framing-Theorie lässt sich zeigen, dass eine stabile Suspendierung des Opportunismus zugunsten einer Solidarnormbindung durch den Aufbau von moralischen Überzeugungen, Verbundenheitsgefühlen und einer Identifikation mit kollektiven Symbolen gestützt werden muss. Mithilfe von Lindenbergs Framing-Theorie lässt sich allerdings nicht zufriedenstellend erklären, wie individuelle Akteure diese weichen, aber überaus wichtigen Stützen einer Solidarnormbindung erwerben. Zur Schließung dieser Leerstelle bietet sich die Theorie der Interaktionsrituale von Randall Collins (1988, 1993, 2004) an. Unter Interaktionsritualen versteht Collins alle möglichen Formen der Interaktion – von der Praxis des täglichen Grüßens bis hin zur Teilnahme an Massenveranstaltungen. Seine zentrale These ist, dass mithilfe von Interaktionsritualen moralische Überzeugungen, Verbundenheitsgefühle und kollektive Symbole aufgebaut werden. Für das explanative Modell bedeutet dies, dass Interaktionsrituale eine zentrale Rolle spielen, um nutzenfundierte Solidarnormbindungen zu stabilisieren. Collins entwickelt seine Theorie der Interaktionsrituale zwar nicht explizit aus einer Rational-Choice-Perspektive, doch seine Theorie lässt sich schlüssig mit dem hier zugrunde gelegten Ansatz verbinden. Bei der Entwicklung des explanativen Modells werden somit eine Bedürfnistheorie, eine Theorie der objektiven Situation, eine Entscheidungstheorie und eine Interaktionstheorie aufeinander bezogen und in ein Modell integriert. Durch die Integration dieser vier theoretischen Ansätze, so meine zentrale These, entsteht ein robustes und differenziertes Modell, welches Solidarnormbindungen aus einer erweiterten Rational-Choice-Perspektive erklärt und sich für die soziologische Analyse von Potenzialen und Problemen von Solidarnormbindungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten nutzen lässt. 4.2 Solidarnormbindung und menschliche Bedürfnisse 4.2.1 Handeln als Nutzenproduktion Der amerikanische Ökonom Gary S. Becker gehört zu den ersten Wissenschaftlern, die systematisch den Anwendungsbereich des ökonomischen Ansatzes über den originär wirtschaftlichen Bereich hinaus ausgeweitet haben. Im Rahmen dieses „ökonomischen Imperialismus“ plädiert er dafür, die Kernannahmen des ökonomischen Ansatzes – Nutzenmaximierung, Marktgleichgewicht und Präferenzstabilität – auf sämtliche Bereiche menschlichen Verhaltens und sozialer Interaktion auszuweiten (vgl. Wolf: 95). Eine der Prämissen seines Konzeptes ist, dass menschliches Handeln als Produktion von Nutzen zu verstehen ist. Men-
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schen sind in ihrem alltäglichen Handeln darum bemüht, die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel so effektiv wie möglich einzusetzen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, d. h. Nutzen zu produzieren. Dass dieser einfache Gedanke keineswegs trivial ist, sondern eine bestimmte analytische Sichtweise auf Handlungen impliziert, wird anhand des Kaufs einer CD deutlich. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Produktionstheorie erscheint diese Handlung in erster Linie nicht als Konsumakt, sondern als ein Akt der Produktion des Guts Musikgenuss, welches den Nutzen stiftet, ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen (Lindenberg 2001a: 647). Wesentlich für die Annahme individuellen Verhaltens als Nutzenproduktion ist der Umstand, dass sich die Nutzenproduktion innerhalb einer Produktionskette vollzieht, in der das Endziel (Bedürfnisbefriedigung) durch die Realisierung einer Mehrzahl aufeinander bezogener und sich gegenseitig ergänzender instrumenteller Einzelziele realisiert wird. Eine für unsere Gesellschaften typische Produktionskette sieht wie folgt aus: Für einen Akteur X stellt ein hoher sozialer Status ein zu realisierendes Ziel dar. Da materieller Wohlstand einen hohen sozialen Status verspricht, strebt X einen gut bezahlten Job an. Die Voraussetzung für einen gut bezahlten Job ist eine entsprechende Qualifikation, weswegen X einen guten Universitätsabschluss anstrebt etc. An dieser Produktionskette wird deutlich, dass menschliche Handlungen zwar letztendlich auf die Bedienung von Bedürfnissen abzielen, sie aber häufig nur mittelbar mit diesen Bedürfnissen verknüpft sind und unmittelbar Entbehrungen und Kosten implizieren. Mit dem Produktionsgedanken lässt sich individuelles Handeln analog zu Produktionsund Investitionsvorgängen verstehen, wie sie von Unternehmen praktiziert werden. Aus der Perspektive der zugrunde gelegten Produktionsheuristik zielt jegliches menschliche Handeln auf eine Produktion individuellen Nutzens ab, wobei sich der Nutzen einer Handlung aus ihrem Beitrag zur Befriedigung von Bedürfnissen ergibt. Diese Grundprämisse bleibt allerdings eine abstrakte und leere Formulierung, wenn sie nicht mit einer Theorie menschlicher Bedürfnisse ergänzt wird, also mit einer Theorie darüber, welche Bedürfnisse Menschen mit ihrem Handeln zu befriedigen versuchen. Im Folgenden werde ich eine solche Bedürfnistheorie vorstellen. Die Bedürfnisse, um deren Realisierung es Menschen geht, werde ich als Zielgüter bezeichnen.76 Alle Objekte, die dazu geeignet sind, Grundbedürfnisse zu befriedigen bzw. Zielgüter zu realisieren, werden von mir mit Rückgriff auf Esser (1996: 5, 1999: 98) als Zwischengüter definiert. Bei Zwischengütern handelt es sich damit um Mittel zur Befriedigung der Grundbedürfnisse. Sie werden 76
Im Weiteren werde ich die Begriffe Zielgüter und Grundbedürfnisse synonym behandeln.
4.2 Solidarnormbindung und menschliche Bedürfnisse
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von Menschen nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern wegen ihres instrumentellen Charakters. So ist Geld bspw. ein Zwischengut, welches dazu eingesetzt werden kann, eine Vielzahl von Grundbedürfnissen zu befriedigen. Mit den Zwischengütern und ihrer Produktion werde ich mich im Rahmen der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen näher beschäftigen. An dieser Stelle geht es darum, die Zielgüter genauer zu beschreiben. Die vielleicht grundlegendste Frage, die sich im Zusammenhang mit einer Theorie menschlicher Bedürfnisse stellt, ist die, ob sich die Struktur der Grundbedürfnisse für alle Menschen identisch darstellt oder ob sie individuellen Besonderheiten unterliegt, d. h., ob alle Menschen dieselben Zielgüter anstreben oder ob die angestrebten Zielgüter zwischen Individuen, Gruppen, Geschlechtern, Kulturen oder historischen Epochen variieren. Ich schließe mich Becker und Stigler an, die in ihrem einschlägigen Aufsatz De Gustibus Non Est Disputandum aus dem Jahre 1977 für die Annahme universeller Zielgüter bei variierenden Zwischengütern argumentieren.77 Ihnen zufolge verfügen also alle Menschen über dieselben Grundbedürfnisse, wobei die Mittel, mithilfe derer diese befriedigt werden (können), systematisch variieren. Die Existenz einer universellen Bedürfnisstruktur ist durchaus umstritten; und zwar nicht nur zwischen verschiedenen soziologischen Paradigmen, sondern auch innerhalb des ökonomischen Ansatzes selbst. Die Annahme universeller Zielgüter hat bezüglich der Analyse von Handlungen und der allgemeinen Theoriebildung weitreichende Konsequenzen. Indem allen Menschen eine einheitliche Zielgutorientierung unterstellt wird, ist der soziologische Beobachter angehalten, Handlungsvariationen ausschließlich auf veränderte Handlungsrestriktionen, nicht aber auf unterschiedliche Bedürfnisse zurückzuführen (Becker/Stigler 1996 [1977]: 76). Die Annahme allgemeiner menschlicher Zielgüter stellt damit ein kraftvolles Werkzeug für eine Sozialtheorie dar, da sie eine Art archimedischen Punkt definiert, der im Prozess der Analyse keiner weiteren Überprüfung bedarf. Sie lässt sich für den soziologischen Beobachter aber auch als eine Bürde verstehen, da sie ihm die verführerische Alternative versperrt, Handlungsvarianzen immer dann durch Differenzen in der Bedürfnisstruktur zu erklären, wenn er sie nicht systematisch auf Restriktionen und Opportunitäten zurückführen kann. Becker bezeichnet solche Konstruktionen als „Adhocerien“, deren Erklärungskraft äußerst gering ist, da die Präferenzen für Zielgüter ex post so angenommen werden können, dass sie mit den beobachteten Handlungen übereinstimmen. Die Fruchtbarkeit der Annahme universeller Zielgüter bei systematisch variierenden Zwischengütern wird von Becker anhand verschiedener Handlungsfel77
Der Begriff der Zwischengüter wird von ihnen selbst allerdings nicht verwendet.
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der demonstriert, von Sucht über Diskriminierung und Werbung bis hin zu Mode (vgl. Becker/Stigler 1996 [1977]). Die Theorie weist allerdings das entscheidende Defizit auf, dass Becker nicht von einem festen Ensemble von Zielgütern ausgeht. Er arbeitet zwar in den verschiedenen Anwendungsfeldern ex ante mit der Annahme stabiler Zielgutorientierungen, doch anstatt die These, dass es universelle Zielgüter gibt, dahingehend zu spezifizieren, welche Zielgüter von allen Menschen angestrebt werden, verharrt er in einer punktuellen und exemplarischen Aufzählung. So werden von Becker je nach Anwendungsfall plausible Zielgüter konstruiert, wie bspw. Erholung, Genuss, Euphorie, ästhetische Erfahrung, was dazu führt, dass sich in seiner Theorie ein bunter Strauß an nicht weiter aufeinander abgestimmten Zielgütern finden lässt (vgl. Wolf 2005: 108 ff.). Das Fehlen einer Theorie invariabler Zielgüter führt dazu, dass Becker seinem Ansatz keinen situationsunabhängigen Akteur zugrunde legen kann. Das wiederum hat zur Konsequenz, dass Beckers Theorie, mit der er Ad-hoc-Erklärungen eigentlich vermeiden möchte, ironischerweise ebensolchen Erklärungen Vorschub leistet (vgl. Wolf 2005: 119; Lindenberg 2001a: 647). Um Beckers Produktionsheuristik für die Theorieentwicklung nutzbar zu machen, ist es nötig, ein festes Ensemble an Zielgütern zu formulieren. 4.2.2 Universelle Zielgüter Die individuelle Nutzenproduktion ist ein Prozess, der sich in zwei grundlegende Produktionssphären unterteilen lässt: die innere und die äußere Sphäre der Nutzenproduktion (vgl. Esser 1999: 91 ff.). Mit der inneren Sphäre ist die organismusinterne Produktion von Nutzen durch die Befriedigung von Grundbedürfnissen gemeint. Die äußere Sphäre bezieht sich auf die direkte und indirekte Bedienung von Grundbedürfnissen in einer gegebenen sozialen Umwelt des Menschen. Wie die beiden Sphären miteinander verknüpft sind, wird im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit der Theorie sozialer Produktionsfunktionen herausgestellt. Im Folgenden geht es um die innere Produktion von Nutzen durch die Befriedigung von Grundbedürfnissen. Dabei werde ich mich im Wesentlichen auf Lindenbergs Theorie universeller Zielgüter beziehen und diese an einigen Stellen durch weitergehende Überlegungen und Argumente anderer Autoren ergänzen.78 78
Lindenbergs Vorgehen der theoretischen Setzung dieser Zielgüter wird von Opp und Friedrichs (1996) kritisiert, die für eine empirische Erhebung von menschlichen Bedürfnissen als Handlungsantrieben plädieren. Lindenberg (1996b) reagiert auf die Kritik mit dem Argument, dass eine empirische Erhebung von Zielgütern mit kaum lösbaren Problemen verbunden sei, weswegen eine theoretische Setzung notwendig bleibe. Zu den Problemen gehöre etwa, dass es in
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Lindenbergs Theorie menschlicher Bedürfnisse ist eine hierarchische Anordnung von Zielgütern über drei Ebenen. Auf der obersten Ebene ist das primäre Zielgut subjektives Wohlbefinden angesiedelt, auf welches die individuelle Nutzenproduktion letztlich abzielt. Subjektives Wohlbefinden lässt sich als emotionaler Zustand verstehen, der sich im Erleben eines „zuträglichen inneren Funktionierens des Organismus“ (Esser 1996: 6) äußert. Die Steigerung des subjektiven Wohlbefindens bzw. die Vermeidung des subjektiven Unwohlseins ist das höchste und letzte Ziel allen menschlichen Handelns. Diese Idee konvergiert mit der des Maximierungsprinzips, wie sie von dem Philosophen und Utilitaristen Jeremy Bentham in seiner 1789 veröffentlichten Schrift An Introduction to the Principles of Morals and Legislation dargelegt wurde: „Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do. […] They govern us in all we do, in all we say, in all we think: every effort we can make to throw off our subjection, will serve but to demonstrate and confirm it“ (Bentham 1970 [1789]: 11, Hervorhebung im Original).
Subjektives Wohlbefinden (pleasure) erfährt der Mensch durch die Bedienung seiner Bedürfnisse, während sich subjektives Unwohlbefinden (pain) aus einer defizitären Bedürfnisbedienung ableitet. Doch welche Bedürfnisse hat der Mensch; wodurch konstituieren sich also pleasure und pain? Esser argumentiert, dass sich die Realisierung eines subjektiven Wohlbefindens aus der Erfüllung der „Funktionserfordernisse“ (Esser 1996: 6) des Menschen als einem psychischbiologischen Organismus ableite. Diese Funktionserfordernisse drückten sich wiederum in zwei sekundären Zielgütern aus: dem physischen Wohlbefinden, welches durch eine Erfüllung körperlicher Bedürfnisse erzeugt wird, und der sozialen Anerkennung,79 welche von der Befriedigung von Anerkennungsbedürfnissen abhängt. Von einer Befriedigung dieser beiden Grundbedürfnisse hängt es ab, ob und inwiefern ein Mensch subjektives Wohlbefinden erfährt. Die beiden
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vielen Situationen wahrscheinlich sei, dass Befragte ihre wahren Handlungsantriebe ausblenden oder aufgrund sozialer Erwünschtheit nicht nennen würden. Ein weiterer Einwand gegen die Idee einer rein empirischen Erhebung von Zielgütern besteht darin, dass dieses Vorgehen der Selbsttäuschung des Empirikers unterliege, bei der Entwicklung von Items und ihrer Auswertung theorie- bzw. vorannahmefrei vorzugehen; auch empirische Forschung bleibe theorieabhängig und damit verpflichtet, ihre theoretischen Grundannahmen zu explizieren und zu begründen. Esser und Lindenberg sprechen hier nicht von sozialer Anerkennung, sondern in Analogie zum physischen vom sozialen Wohlbefinden. Da es sich bei dem sozialen Wohlbefinden aber de facto um soziale Anerkennung handelt, werde ich zugunsten eines möglichst einfachen inhaltlichen Nachvollzugs diesen Begriff verwenden.
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sekundären Zielgüter sind dem primären Zielgut damit untergeordnet und haben ihm gegenüber einen instrumentellen Charakter.80 Diese beiden sekundären Zielgüter lassen sich allerdings nicht direkt realisieren, sondern sind wiederum das Produkt der Befriedigung untergeordneter Bedürfnisse. Ein physisches Wohlbefinden realisiert sich durch eine Befriedigung der beiden physischen Bedürfnisse Komfort und Aktivierung, während sich soziale Anerkennung über die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse Status, Wertschätzung und Affekt einstellt.81 Den tertiären Zielgütern kommt im Prozess der Nutzenproduktion eine Schlüsselfunktion zu, da über sie die Verknüpfung zwischen der inneren und äußeren Sphäre der Nutzenproduktion vonstattengeht. Die Individuen können zur Steigerung ihres subjektiven Wohlbefindens weder direkt auf dieses einwirken noch direkt ihr physisches Wohlbefinden oder ihre soziale Anerkennung beeinflussen. Sie sind darauf angewiesen, eines der fünf tertiären Zielgüter zu realisieren, wodurch die weitere innere Nutzenproduktion angestoßen wird. primäres Zielgut sekundäre Zielgüter tertiäre Zielgüter
Subjektives Wohlbefinden physisches Wohlbefinden Komfort
Aktivierung
soziale Anerkennung Status
Wertschätzung
Affekt
Wie stellen sich nun die tertiären Zielgüter im Einzelnen dar? Zunächst wende ich mich den beiden Zielgütern Komfort und Aktivierung zu, die gemeinsam das physische Wohlbefinden konstituieren. Das Grundbedürfnis Komfort verweist auf die Körperlichkeit des Menschen und definiert sich als ein Zustand der Freiheit von unangenehmen Stimuli wie Hunger, physischen oder psychischen Schmerzen oder Erschöpfung (Lindenberg 2001b: 326). Die Vermeidung dieser Stimuli – bspw. durch Nahrungszufuhr oder die Unterlassung belastender Anstrengungen – wird von allen Menschen als Steigerung des physischen Wohlbefindens empfunden. 80
81
Später wird gezeigt werden, dass das Verhältnis zwischen den primären und sekundären sowie zwischen den sekundären und tertiären Zielgütern wegen ihrer eingeschränkten Substituierbarkeit nicht immer als instrumentell zu verstehen ist. Um die invariable Bedürfnisstruktur des Menschen zu erläutern, ist es aber sinnvoll, sich das Verhältnis zwischen den Hierarchiestufen zunächst als rein instrumentell vorzustellen. Mit dieser Ausdifferenzierung der primären Grundbedürfnisse lehne ich mich wiederum an Lindenberg an. Essers Betrachtung endet bei den beiden Grundbedürfnissen soziale Anerkennung und physisches Wohlbefinden. Die terminologische Differenzierung zwischen primären, sekundären und tertiären Bedürfnissen bzw. Zielgütern stammt allerdings nicht von Lindenberg, sondern wird von mir eingeführt.
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Dass es eine nichthintergehbare menschliche Körperlichkeit gibt, aus der sich universelle Grundbedürfnisse ableiten, wird auch von der Philosophin Martha Nussbaum (1993: 335) postuliert. Nussbaum argumentiert, dass es trotz des enormen Spektrums an Möglichkeiten, wie sich der menschliche Körper in der sozialen Praxis ausformen kann, Körper insgesamt mehr Ähnlichkeiten als Unähnlichkeiten aufweisen. Obschon die Körpererfahrung kulturell geprägt bleibt, ist es so, dass der Körper in seinen grundlegenden Anforderungen kulturell invariant ist und dadurch allen Menschen ein gleiches Korsett an Komfortbedürfnissen anlegt. Für ein physisches Wohlergehen reicht Komfort allein allerdings nicht aus. Zusätzlich streben Menschen nach einem bestimmten Maß an Aktivierung, d. h. nach einer Stimulierung ihres Nervensystems. Individuen produzieren Aktivierung bspw. durch körperliche Aktivitäten wie Sporttreiben oder durch die unmittelbare Manipulation körpereigener chemischer Prozessabläufe, etwa durch den Konsum von Alkohol oder Drogen. Das Grundbedürfnis Aktivierung bezieht sich aber auch auf den Menschen als mentales Wesen. Nussbaum (1993: 335) weist darauf hin, dass alle Menschen kognitive Fähigkeiten vorweisen, d. h. ein Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Denkvermögen besitzen. Und auch hier gilt, dass trotz der enormen Unterschiede, die hinsichtlich der Ausgestaltung kognitiver Fähigkeiten existieren mögen, alle Menschen eint, dass sich aus diesen Fähigkeiten gemeinsame Aktivierungsbedürfnisse ableiten, die bspw. durch Konversation, Lesen oder Musik hören bedient werden. Neben diesen physischen Bedürfnissen existieren Anerkennungsbedürfnisse, die allen Menschen gemein sind. Die Annahme eines universellen Bedürfnisses nach sozialer Anerkennung wird von Sozialtheoretikern unterschiedlichster Couleur betont. So findet sich schon bei Adam Smith, schottischer Moralphilosoph und Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre, in seinem Werk The Theory of Moral Sentiments aus dem Jahre 1759 ein eindeutiges Votum dafür, die soziale Anerkennung als natürliches Bedürfnis des Menschen anzuerkennen: „Als die Natur den Menschen für die Gesellschaft bildete, da gab sie ihm zur Aussteuer ein ursprüngliches Verlangen mit, seinen Brüdern zu gefallen, und eine ebenso ursprüngliche Abneigung, ihnen wehe zu tun. Sie lehrte ihn Freude über deren freundliche Gesinnung zu empfinden. Sie bewirkt es, daß ihm deren Billigung um ihrer selbst willen äußerst schmeichelhaft und angenehm, und deren Missbilligung überaus kränkend und beleidigend erscheint“ (Smith 1977: 176).
Der Soziologe Talcot Parsons, Mitbegründer des funktionalistischen Paradigmas innerhalb der Soziologie und damit einer ganz anderen Tradition entstammend als Smith, betont in seiner Arbeit zur allgemeinen menschlichen Motivstruktur ebenfalls die zentrale Bedeutung des menschlichen Anerkennungsbedürfnisses:
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„The struggle to preserve or enhance feelings of self-worth or prestige marks all men who live above a bare subsistence level“ (Parsons/Sihls 1951: 69). Für den Sozialphilosophen Axel Honneth (1992), der sich im weitesten Sinne der Tradition der Kritischen Theorie zuordnen lässt, sind Anerkennungsbedürfnisse und ihre defizitäre Befriedigung der Schlüssel zum Verständnis vieler gesellschaftlicher Konflikte, in denen es vordergründig um andere Dinge zu gehen scheint. So interpretiert Honneth den Rechtsstaat oder das Wohlfahrtssystem als Institutionen, denen Anerkennungssignale implizit sind. Gesellschaftliche Konflikte um die Verteilung von Rechten oder Sozialleistungen werden von ihm damit immer auch als Kämpfe um Anerkennung verstanden. In der Annahme eines anthropologisch verankerten Bedürfnisses nach sozialer Anerkennung sind sich Sozialtheoretiker unterschiedlicher Schulen weitgehend einig.82 Doch wodurch konstituiert sich soziale Anerkennung? Stellt sie sich für alle Personen gleich dar oder unterliegt sie individuellen Besonderheiten? Dieser Punkt wird von den meisten Theoretikern nicht weiter verfolgt. Um dem abstrakten Begriff der sozialen Anerkennung eine konkretere Form zu geben, differenziert Lindenberg zwischen den drei Anerkennungsgütern sozialer Status, soziale Wertschätzung83 und Affekt. Das charakteristische Merkmale der drei Anerkennungsgüter und der zentrale Unterschied zu den physischen Zielgütern ist, dass sie sich nur mithilfe von Interaktionsprozessen herstellen lassen. Jede Erfüllung eines sozialen Anerkennungsbedürfnisses ist darauf angewiesen, dass andere dem Individuum Anerkennung gewähren, wohingegen sich physische Bedürfnisse auch isoliert und rein individuell realisieren lassen. Wie stellen sich nun die drei unterschiedlichen Anerkennungsbedürfnisse dar? Zunächst zum sozialen Status: Der Status einer Person bezieht sich auf die Position, die sie innerhalb einer Gemeinschaft in Relation zu anderen einnimmt. Eine positive Diskriminierung bezüglich der eigenen Position geht mit einer individuellen Anerkennung einher und fördert das soziale Wohlbefinden, während eine negative Diskriminierung dem sozialen Wohlbefinden abträglich ist. Der soziale Status einer Person leitet sich aus der Kontrolle knapper Güter ab. Knappheit lässt sich dabei als Differenz zwischen dem Verlangen nach bestimmten Gütern und den Möglichkeiten, diese zu erlangen, definieren. „Status is social approval given on the basis of the relative command over scarce goods such as privilege, money, extraordinary talent, power, influence, certain kinds of knowledge, luxury goods etc. The amount of status from the command of such 82 83
Brennan und Hamlin bieten in ihrem Buch The Economy of Esteem eine Auswahl von weiteren Zitaten aus Sozialtheorie und Literatur, die es nahelegen, vom Anerkennungsbedürfnis als einem natürlichen Bedürfnis auszugehen (2004: 24ff.). Lindenberg spricht von Verhaltensbestätigung und nicht von sozialer Wertschätzung. Da ich den Begriff der sozialen Wertschätzung allerdings für zutreffender (s. u.) halte, werde ich diesen verwenden.
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goods depends on the distribution of these goods, thus status distinguishes people relative to each other“ (Lindenberg 1991: 35).
Die soziale Wertschätzung bezieht sich auf die Anerkennung, die Akteure dafür erfahren, in den Augen relevanter anderer das Richtige zu tun. Unter einem richtigen Verhalten ist nicht nur eine äußerlich korrekte Handlungsweise zu verstehen, sondern ebenfalls die Einnahme einer richtigen inneren Haltung: „‚Doing the right thing‘ is not restricted to overt action but also covers actions such as thinking certain thoughts, agreeing with certain maxims, and adopting certain attitudes“ (Lindenberg 2001a: 648).84 Brennan und Pettit gehen in ihrem Buch The Economy of Esteem einen Schritt weiter und argumentieren, dass immer Haltungen, Einstellungen oder Gesinnungen und nicht etwa Verhaltensweisen Gegenstand sozialer Wertschätzung seien. In ihrer Darstellung wird Menschen eine Wertschätzung „by virtue of their attitudes rather than their actions“ (2004: 2) zuteil. Für den Kern der Anerkennungsform „soziale Wertschätzung“ ist es allerdings zweitrangig, ob sie sich ausschließlich auf Haltungen oder auch auf Verhaltensweisen beziehen kann. Zentral ist vielmehr, dass sich eine soziale Wertschätzung immer auf Merkmale von Individuen bezieht, für die sie persönlich verantwortlich gemacht werden. Mit Rekurs auf die Theorie des symbolischen Interaktionismus weist Lindenberg darauf hin, dass auch das eigene Selbst bei der Zuschreibung sozialer Wertschätzung als relevanter Akteur in Erscheinung treten könne. Dies bedeutet, dass ein Individuum sich selbst Anerkennung und Belohnung dafür spenden kann, das Richtige zu tun bzw. getan zu haben: „An important point is that the self also gives or withholds behavioral confirmation for overt and covert actions of the individual. The person him- or herself is thus a prominent figure among the relevant others“ (Lindenberg 2001b: 327, Hervorhebung im Original). Die Fähigkeit von Menschen, sich innerlich selbst zu sanktionieren bzw. zu loben, spielt auch bei Smiths Theorie der ethischen Gefühle eine entscheidende Rolle. Wenn das Individuum für sich selbst feststellt, dass es die Bedingungen des richtigen Verhaltens erfüllt oder nicht, vermag es sich durch die Antizipation einer Fremdwertschätzung eine Selbstwertschätzung zu gewähren bzw. zu entziehen: „Er nimmt in Gedanken den Beifall und die Bewunderung vorweg, die ihm in diesem Fall gezollt werden würden, und er lobt und bewundert sich selbst aus Sympathie mit Empfindungen, die freilich in Wirklichkeit nicht vorhanden sind, die aber
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Genau dies ist der Grund dafür, weswegen ich hier nicht Lindenbergs Terminologie übernehme, sondern von sozialer Wertschätzung statt von Verhaltensbestätigung spreche.
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell allein infolge der Unwissenheit des Publikums von diesem nicht gefühlt werden“ (Smith 1977 [1759]: 175).
Smith stellt heraus, dass die Selbstwertschätzung daran gekoppelt ist, dass ein Individuum davon ausgeht, relevante andere würden ihn für sein richtiges Verhalten wertschätzen, sofern sie dieses beobachten könnten. Die Selbstwertschätzung geht also nicht auf idiosynkratische Maßstäbe zurück, sondern hat – indem sie auf einer Antizipation der potenziellen Reaktion anderer basiert – einen genuin sozialen Charakter. Dieser Aspekt ist deswegen zentral, weil dadurch die anderen auch in ihrer Abwesenheit für die Erfüllung des Anerkennungsbedürfnisses signifikant bleiben, was Menschen dazu motivieren kann, auch ohne soziale Kontrolle sich selbst mittels eines richtigen Verhaltens zu belohnen. Affekt bezieht sich auf die Anerkennung, die Personen in gefühlsbasierten Beziehungen erfahren, welche durch eine gegenseitige Hilfe gekennzeichnet sind. Die Bedürfnisbefriedigung, welche von der Hilfe ausgeht, bezieht sich allerdings nicht auf den materiellen Aspekt, sondern auf eine spezifische Form der Anerkennung, deren belohnender Kern in der Erfahrung besteht, dass anderen Personen das eigene Wohlergehen am Herzen liegt. „Positive affect is what Ego gets from Alter if Ego and Alter are involved in an affective relationship. A central ingredient in such a relationship is that Ego and Alter care for each other. ‚Caring for somebody‘ here means that indicators of Ego’s utility have become goods which produce a certain amount of physical well-being in Alter and vice versa“ (Lindenberg 1989: 36, Hervorhebung weggelassen).
Das zentrale Merkmal dieser Anerkennungsform ist, dass eine Person sich innerhalb einer solchen emotional fundierten Beziehung hinsichtlich dessen anerkannt fühlt, was sie ist, unabhängig davon, was sie besitzt (Status) oder was sie persönlich leistet (Wertschätzung) (Lindenberg 2001b: 327). Lindenbergs Affekt konvergiert mit Honneths Anerkennungsform der Liebe. Abstrahiert man von dem intimen Charakter, der mit Liebesbeziehungen verknüpft ist, so zeichnen sich diese im Kern dadurch aus, dass Personen in ihrer „konkreten Bedürfnisnatur“ und als „bedürftige Wesen“ (Honneth 1992: 153) anerkannt werden. Die (relative) Unabhängigkeit vom sozialen Status oder von persönlichen Eigenschaften bedeutet aber keinesfalls, dass die Anerkennung einer Person als Bedürfniswesen voraussetzungslos erfolgt. Es ist nicht allein das Faktum der Bedürftigkeit, welches diese Form der Anerkennung evoziert. Andere machen sich das Wohlergehen einer Person nur dann zu eigen, wenn diese Person bestimmte Kriterien erfüllt. So haben Mitglieder der eigenen Familie, des eigenen Fußballklubs, der eigenen Nation, der eigenen Religion etc. unter Umständen bessere Chancen, dass wir ihr Wohlergehen zu unserem Anliegen machen, als
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dies bei anderen Personen der Fall ist. Und selbst Säuglinge müssen bestimmte Kriterien erfüllen und dem „Kindchenschema“ entsprechen, damit ihr Wohlergehen zu unserem Anliegen wird.85 Lindenberg und auch Honneth betonen, dass diese Form der Anerkennung an enge persönliche Beziehungen geknüpft bleibt, wie es etwa Partnerschaften, Freundschaften oder Eltern-Kind-Beziehungen sind. Ich sehe allerdings keinen plausiblen Grund, Affekt mit persönlichen Beziehungen zu identifizieren. Unter Mitgliedern derselben Religions- oder Volksgemeinschaft bedarf es nicht unbedingt einer persönlichen Beziehung, damit man sich wechselseitig verbunden fühlt und das Wohlergehen des anderen zumindest bis zu einem gewissen Grade zum eigenen Anliegen wird. In Verbindung mit der eingangs eingeführten Produktionsheuristik lassen sich mit den fünf Zielgütern fünf universelle Strategien der Nutzenproduktion in Zusammenhang bringen: Um das Bedürfnis nach Komfort zu bedienen, treffen Menschen Vorkehrungen zur Vermeidung negativer Stimuli; ihr Bedürfnis nach Aktivierung verfolgen sie durch die Suche nach angenehmen Erregungsreizen; ihr Bedürfnis nach hohem sozialem Status versuchen Menschen durch die Aneignung knapper Güter zu realisieren; ihr Bedürfnis nach persönlicher Wertschätzung befriedigen sie, indem sie sich in ihrem Verhalten und/oder auch in ihren inneren Haltungen an normativen Maßstäben orientieren; um ihr Bedürfnis nach Affekt zu befriedigen, versuchen Menschen, andere Personen dahingehend an sich zu binden, dass sie das eigene Wohlergehen zu ihrem Ziel machen. Wie diese Handlungsstrategien konkret umgesetzt bzw. welche Güter im Einzelnen angestrebt werden, variiert zwischen verschiedenen Individuen, Gruppen, Kulturen und Epochen; und zwar abhängig von den Opportunitäten, die den Individuen zur Verfügung stehen. So stellt bspw. materieller Wohlstand in der westlichen Mehrheitsgesellschaft ein Gut dar, welches einen hohen Status verspricht, weswegen das Streben nach Wohlstand als eine typisch moderne und westliche Strategie zur Statusgewinnung betrachtet werden kann. Unter Mönchen in einem Kloster dürfte eher ein herausragendes theologisches Wissen Status versprechen. Mit der zugrunde gelegten Theorie wird unterstellt, dass ein Mönch dasselbe Bedürfnis nach sozialem Status hat wie eine karriereorientierte Person. Zur Befriedigung desselben Grundbedürfnisses müssen beide jedoch die allgemeine Handlungsstrategie „Aneignung knapper Güter“ unterschiedlich umsetzen. Die bisherige Argumentation hat implizit unterstellt, dass zwischen den drei Zielgütern eine einfache instrumentelle Produktionsbeziehung existiert: Die tertiären (Komfort, Aktivierung, Status, Wertschätzung, Affekt) sind ein Mittel 85
Auf diesen Punkt weist Esser (1999) hin.
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zur Herstellung der sekundären Zielgüter (physisches Wohlbefinden, soziale Anerkennung), welche wiederum ein Mittel für Produktion des primären Zielguts (subjektives Wohlbefinden) darstellen. Vor diesem Hintergrund stellt sich das subjektive Wohlbefinden als das einzige Ziel an sich dar, während sekundäre und tertiäre Zielgüter lediglich den Charakter eines Mittels zur Realisierung dieses Ziels haben. Unter Voraussetzung dieser klaren Ziel-Mittel-Hierarchie wäre von einer Substituierbarkeit aller Ziele im Produktionsprozess auszugehen. Eine defizitäre Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse Komfort und Aktivierung könnte also durch eine stärkere Bedienung der Anerkennungsbedürfnisse Status, Wertschätzung und Affekt ausgeglichen werden und umgekehrt. Eine solche umfassende Substituierbarkeit wird den Bedingungen der Produktion von subjektivem Wohlbefinden allerdings nicht gerecht. Vielmehr ist es notwendig, dass jedes Bedürfnis eine substanzielle Grundbefriedigung erfährt, bevor ab einem bestimmten Schwellenwert eine Substituierung überhaupt erst möglich wird. „Human beings must have both physical and social well-being, and within physical well-being they must have a certain amount of both comfort and stimulation. Within social well-being, human beings must have some level of status, behavioural confirmation, and affection. For these reasons, substitution is only possible beyond these minimum levels (whatever they are)“ (Lindenberg 2001a: 649 f.).
Damit hat die Bedienung der sekundären Bedürfnisse nicht ausschließlich einen instrumentellen Charakter, sondern ist bis zu einem gewissen Befriedigungsgrad ein Ziel an sich. Konkrete Angaben darüber, wie physische Bedürfnisse gegenüber sozialen Anerkennungsbedürfnissen im Nutzenproduktionsprozess zu gewichten oder wo Befriedigungsschwellenwerte anzusetzen sind, ab denen eine Substitution möglich ist etc., können an dieser Stelle nicht gemacht werden. Über diese Zusammenhänge ist schlichtweg zu wenig bekannt, als dass sie in eine soziologische Handlungstheorie integriert werden könnten (Esser 1999: 96). 4.2.3 Zwischenbetrachtung An dieser Stelle komme ich zu einer ersten Zwischenbetrachtung, in der ich festhalten werde, welche Implikationen sich aus dem bisher Gesagten für die Entwicklung des explanativen Modells einer Solidarnormbindung ableiten und welche offenen Fragen auftauchen, die im Weiteren zu beantworten sind. Mit Lindenbergs Zielguttheorie habe ich festgehalten, dass alle Menschen über dieselben invariablen physischen Bedürfnisse und Anerkennungsbedürfnisse verfügen. Vor dem Hintergrund der eingeführten Produktionsheuristik lässt
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sich sagen, dass alle menschlichen Handlungen darauf abzielen, einen Beitrag zur Realisierung der Zielgüter Komfort, Aktivierung, Status, Wertschätzung oder Affekt zu leisten. Für das explanative Modell ergibt sich daher, dass eine Solidarnormbindung nicht direkt aus den menschlichen Grundbedürfnissen abgeleitet werden kann, sondern als ein Mittel zur Nutzenproduktion erklärt werden muss. Mit der Theorie wird postuliert, dass die Bindung von Individuen an Solidarnormen daran gekoppelt ist, dass der Erwerb dieser persönlichen Eigenschaft ihnen bestimmte Vorteile bei der Realisierung von Zielgütern verspricht. Im Anschluss an die Theorie universeller Zielgüter stellt sich damit die Frage, unter welchen Bedingungen solidarnormgebundene Personen gegenüber Opportunisten im Vorteil sind. Im Weiteren verschiebt sich damit die Perspektive vom Individuum und seinen Bedürfnissen hin zu den Bedingungen und Restriktionen der Nutzenproduktion, die die Rationalität einer Solidarnormbindung begründen. Bevor ich dazu komme, sei an dieser Stelle noch eine allgemeinere Anmerkung zu dem hier vorgeschlagenen Ansatz gemacht. Mit der Theorie der universellen Zielgüter ist die Grundlage für eine rein nutzenfundierte Perspektive auf eine Solidarnormbindung gelegt, die in keiner Weise einen anthropologisch oder genetisch verankerten Altruismus für sich in Anspruch nimmt. Seitens der soziobiologischen Forschung gibt es aber durchaus Hinweise darauf, dass es eine solche natürlich verankerte Bereitschaft zu Unterstützungs- und Hilfsleistungen gibt (vgl. etwa Voland 1998). Daraus leitet sich aber kein grundsätzlicher Einwand gegen die hier vorgetragene Argumentation ab. So beschränkt sich dieser genetisch verankerte bzw. unmittelbare Altruismus auf den Kreis der Verwandten und bleibt in seiner sozialen Reichweite damit sehr eingeschränkt. Ein Großteil der empirisch beobachtbaren und soziologisch erklärungsbedürftigen Solidarnormbindungen ist allerdings außerhalb des Verwandtschaftskreises angesiedelt. Aus soziologischer Perspektive ist es ja gerade interessant, danach zu fragen, wie es im Rahmen von sozialen Netzwerken, Organisationen, Marktbeziehungen oder im Kontext der politischen Gemeinschaft zu Solidarnormbindungen kommt. Darüber hinaus lässt sich anmerken, dass es auch unter Verwandten zu Unterstützungsverweigerung, ungerechter Verteilung, Illoyalität etc. kommt. Auch die familiale Solidarität scheint also keineswegs allein durch die Gene abgesichert zu sein, sondern ebenfalls auf einer sozialen Stütze zu basieren. Da jede Modellbildung auf Reduktionen und Verdichtung angewiesen bleibt, ist es vor diesem Hintergrund vertretbar, dass der Aspekt eines natürlichen Altruismus, auch wenn es für ihn gewisse empirische Evidenzen zu geben scheint, hier vernachlässigt wird.
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4.3 Die Rationalität einer Solidarnormbindung Um bestimmen zu können, unter welchen Voraussetzungen es für die Nutzenproduktion eines Individuums zweckmäßig sein kann, eine Solidarnormbindung vorzuweisen, bedarf es einer Theorie, mit deren Hilfe sich die Bedingungen der Nutzenproduktion analytisch erfassen lassen. Einen brauchbaren Ansatz dafür stellt die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen dar. Ursprünglich aus der ökonomischen Produktionstheorie kommend, wurde diese Theorie von Lindenberg soziologisch aufbereitet und im Anschluss daran von Esser weiterentwickelt. Ich werde mich im Wesentlichen an Essers Entwurf halten und diesen an einigen Stellen leicht modifizieren. Die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen knüpft unmittelbar an die Theorie der universellen Zielgüter an. Ihr Ausgangspunkt ist die These, dass alle Menschen zwar dieselben Zielgüter anstreben, dabei aber mit systematisch variierenden Restriktionen konfrontiert sind. Die Theorie nimmt für sich in Anspruch die variierenden Restriktionen zu erfassen und einer soziologischen Analyse zugänglich zu machen. Im Folgenden werde ich zunächst die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen erläutern. Im Anschluss daran werde ich diese Theorie als eine Art Heuristik verwenden, um zu bestimmen, unter welchen objektiven Bedingungen es für Individuen und ihre Nutzenproduktion zweckmäßig ist, die persönliche Eigenschaft einer Solidarnormgebundenheit aufzuweisen. Eine solche objektive Zweckmäßigkeit, so werde ich weiter argumentieren, führt zwar nicht unmittelbar dazu, dass Individuen diese Eigenschaft entwickeln; sie stellt aber eine ganz wesentliche Bedingung dafür dar. 4.3.1 Die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen 4.3.1.1 Das Konzept der Produktionsfunktionen Im Rahmen der Bedürfnistheorie wurde herausgestellt, dass eine Befriedigung der universellen Bedürfnisse über eine Realisierung von instrumentellen Gütern – den sogenannten Zwischengütern – erreicht wird. Da sich die Grundbedürfnisse nicht durch reine Imagination erfüllen lassen, ist jede Realisierung dieser Bedürfnisse notwendigerweise auf Zwischengüter angewiesen. Von Esser werden zwei Zwischengüter unterschieden: die primären Zwischengüter und die indirekten Zwischengüter. Bei primären Zwischengütern handelt es sich um die kulturell definierten Mittel bzw. Güter, die ohne Umweg zur Produktion von Komfort, Aktivierung, Status, Wertschätzung und Affekt geeignet sind. So stellt in der westlichen Mehrheitsgesellschaft etwa Geld und in einem Kloster etwa
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theologisches Wissen jeweils ein zentrales, kulturell definiertes primäres Zwischengut dar: Diese Güter eignen sich in ihren spezifischen Kontexten dazu, unmittelbar Status zu erzeugen. Bei der ersten sozialen Produktionsfunktion geht es um das Verhältnis zwischen primären Zwischengütern und den Zielgütern. Primäre Zwischengüter fallen den Individuen aber nicht einfach zu, sondern müssen ihrerseits wiederum erworben bzw. produziert werden. Wer durch Geld oder theologisches Wissen einen hohen Status erreichen möchte, muss sich unter Aufwendung seiner knappen Ressourcen zunächst Geld bzw. theologisches Wissen aneignen. Diejenigen Mittel bzw. Güter, die zur Erzeugung von primären Zwischengütern eingesetzt werden, bezeichnet Esser als indirekte Zwischengüter. Welche Mittel sich als indirekte Zwischengüter eignen, ist ebenfalls nicht zuletzt von kulturellen Definitionen abhängig, doch darüber hinaus ist die Produktion der primären Zwischengüter durch materielle Restriktionen bestimmt. Um genau diese materielle Dimension der Nutzenproduktion geht es bei der zweiten sozialen Produktionsfunktion. Bevor diese beiden sozialen Produktionsfunktionen näher vorgestellt werden, wird zunächst in das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen eingeführt. Das Konzept der Produktionsfunktion stammt aus der ökonomischen Produktionstheorie, mit der das Verhalten von Unternehmen bei der Herstellung von Gütern und Bereitstellung von Dienstleistungen erklärt wird. In der Produktionstheorie geht es um die Frage, wie ein bestimmtes Produkt mit gegebenen Mitteln – etwa der Arbeitskraft, den Maschinen, der Organisationsstruktur des Betriebs – möglichst kostengünstig und ertragreich hergestellt werden kann. Der Produktionsprozess konstituiert sich aus folgenden Elementen (Esser 1999: 87): Das Ergebnis der Produktion ist ein bestimmter Ertrag, der sich als Output bezeichnen lässt. Die Mittel zur Herstellung sind die Produktionsfaktoren. Die eingesetzte Menge an Produktionsmitteln stellt den Input dar. Die Beziehung zwischen dem Input und dem erzeugten Output wird über die Produktionsfunktion ausgedrückt. Drei Beziehungseigenschaften sind dabei besonders hervorzuheben (Esser 1999: 87): Die Beziehung zwischen Inputfaktoren und Output ist erstens häufig monoton steigend, d. h., je mehr Input eingesetzt wird, desto höher fällt der Output aus. Dabei gilt zweitens meist das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags. Dieses besagt, dass der Ertrag des Outputs nicht mit jeder zugefügten Einheit eines Produktionsfaktors linear zunimmt, sondern dass der Ertrag pro Einheit abnimmt. Eine dritte Eigenschaft, die für die Theorie der sozialen Produktionsfunktion höchst relevant ist, bezieht sich auf die Effizienz bzw. Produktivität der Produktionsmittel (Zwischengüter), anhand derer sich die Qualität einer Produktionsfunktion ausmachen lässt. „The quality of a production function is the better the more effective and efficient the means are ‚producing‘ a unit of realization of a goal“ (Lindenberg 2001b: 325). Je mehr an Output sich mit
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
der gleichen Menge an Input erzeugen lässt, desto effektiver und qualitativ hochwertiger ist die Produktionsfunktion. 4.3.1.2 Zielgutrealisierung durch primäre Zwischengüter Was unter einem primären Zwischengut zu verstehen ist, ist hinlänglich geklärt worden. Hier stellt sich nun die Frage, welche Beziehung zwischen einem solchen und den Grundbedürfnissen besteht. Was qualifiziert ein Gut zu einem primären Zwischengut und wodurch wird es in seiner Effizienz für die Bedienung von Grundbedürfnissen determiniert? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es materiale oder technische Eigenschaften von Gütern sein können, die ein Gut dazu qualifizieren, Grundbedürfnisse befriedigen zu können und seine Effizienz bestimmen. So eignet sich ein Auto wegen seiner technischen Beschaffenheit hervorragend zur Komfortproduktion und ist in dieser Hinsicht in der Regel effektiver als ein Bus. Neben solchen materialen Eigenschaften sind es aber vor allem soziale bzw. kulturelle Bedingungen, die darüber entscheiden, ob ein Gut ein primäres Zwischengut darstellt bzw. wie effektiv sich mit ihm Nutzen produzieren lässt. So kann die Effektivität eines Autos zur Nutzenproduktion empfindlich eingeschränkt werden, wenn innerhalb einer Gemeinschaft jedes unnötige Autofahren wegen seiner Umweltschädlichkeit scharf sanktioniert wird. Unter Umständen kann die Autonutzung für die Nutzenproduktion insgesamt sogar kontraproduktiv sein, wenn der Zugewinn an Komfort durch Einbußen in der persönlichen Wertschätzung und einen Statusverlust bezahlt werden muss. Es hängt also ganz wesentlich von kulturellen Definitionen ab, ob sich ein Gut, welches technisch zur Bedürfnisbefriedigung geeignet ist, in der Praxis auch tatsächlich als ein effektives primäres Zwischengut erweist. Es gibt eine Reihe von Gütern, deren materiale Eigenschaften gar keinen Einfluss auf ihre Qualität als primäres (oder auch indirektes) Zwischengut haben. Ein gutes Beispiel ist Geld, welches in seiner Funktion als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium weitgehend von seiner materialen Beschaffenheit entkoppelt ist. So ist die Frage, ob und inwiefern die Verfügung über Geld zur Steigerung des Status in einer Gemeinschaft beiträgt, abhängig von der kulturellen Definition, ob bzw. inwiefern Geld ein Statusgut darstellt, nicht aber von dem Material, aus dem es besteht. Darüber hinaus ist zu betonen, dass eine ganze Reihe von Gütern, die potenziell als primäre Zwischengüter fungieren können, gar keine materiale Beschaffenheit im eigentlichen Sinne aufweisen, wie bspw. das Umweltbewusstsein, für welches Personen in manchen Milieus soziale Wertschätzung erfahren. Es sind also ganz wesentlich kulturelle Merkmale, die darüber bestimmen, durch welche Güter sich mit welcher Effizienz Grundbedürfnisse
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befriedigen lassen. Die erste soziale Produktionsfunktion bezieht sich auf genau diese kulturelle Dimension individueller Nutzenproduktion. Aus soziologischer Sicht ist zentral, dass die kulturell definierten primären Zwischengüter gegenüber Idiosynkrasien relativ unabhängig sind. Sie sind kollektiv definierte Mittel zur Bedürfnisbefriedigung und stellen soziale Tatbestände in Durkheims Sinne dar. Bei einem primären Zwischengut handelt es sich damit um eine „mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben“ (Durkheim 1991 [1895]: 114). Dieser soziale Tatsachencharakter zeigt sich darin, dass die primären Zwischengüter verbindlich festlegen, wodurch Individuen in einer bestimmten Gesellschaft, einem sozialen Milieu oder einer Gruppe eine Bedürfnisbefriedigung realisieren können: „Es gibt eine objektive, sozial gültige Definition der Situation über die jeweils richtigen primären Zwischengüter“ (Esser 1999: 102, Hervorhebung weggelassen). In ganz verschiedenen sozialen Kontexten gelten jeweils eigene Regeln hinsichtlich der richtigen primären Zwischengüter. Im sozialen Kontext der Soziologie als Wissenschaft stellen etwa Publikationen in Fachzeitschriften – und insbesondere in international renommierten Zeitschriften wie dem American Journal of Sociology – das sozial gültige primäre Zwischengut dar, mit dem innerhalb der Wissenschaftsgemeinde Status erworben wird. In der Fangemeinschaft eines Fußballvereins lässt sich ein hoher Status dadurch erwerben, dass viel Herzblut sowie Engagement in das Fandasein investiert und der Verein auch zu Auswärtsspielen begleitet wird. Die gültigen Zwischengüter variieren aber nicht nur zwischen sozialen Kontexten, sondern können sich auch für unterschiedliche Personengruppen systematisch unterscheiden. Lindenberg und Frey weisen bspw. darauf hin, dass in unserer modernen Gesellschaft für Frauen und Männer immer noch sehr unterschiedliche Zwischengüter für die Nutzenproduktion relevant sind: „[...] in our society, it is still true that by and large women can produce income by either working or by being tied to a male partner (for making a home), and women can produce social approval either by their own occupational status or by being tied to a male partner (they get behavioural confirmation for making a home and raising children and they participate in the occupational status of their partner). For men, the situation is different. They may get some behavioural confirmation for being tied to a female partner, but by and large, they cannot produce income or status via their partner“ (Lindenberg/Frey 1993: 196).
Abhängig davon, in welchem sozialen Kontext sich Individuen aufhalten und welcher sozialen Kategorie sie zugehören, sind sie mit unterschiedlichen objektiven Situationsbedingungen konfrontiert. Dies bedeutet, dass ihre erfolgreiche
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Nutzenproduktion daran gebunden ist, dass sie Handlungsstrategien anwenden bzw. Güter einsetzten, die zu den kulturellen Vorgaben des sozialen Kontexts passen. Bei der Befriedigung der Bedürfnisse kommt es sozusagen darauf an, in unterschiedlichen Kontexten, das von den relevanten anderen definierte Richtige zu tun. Dies setzt ein möglichst genaues Verständnis der Situationen voraus, d. h., die subjektive Situationsdefinition der Individuen muss die objektive oder sozial gültige Definition hinsichtlich der primären Zwischengüter möglichst adäquat treffen, damit eine erfolgreiche Nutzenproduktion möglich ist. So wird ein erfolgreicher Soziologe, der ebenfalls ein großer Fußballfan ist und regelmäßig ins Stadion geht, mit seiner Publikationsliste aller Voraussicht nach bei den anderen Fans kaum punkten können. Möchte er auch in diesem sozialen Kontext einen hohen Status erwerben, muss er sich an die lokalen Statusregeln halten, die in einem Fanblock im Stadion gelten. In vielen sozialen Kontexten ist es keineswegs so, dass exklusiv nur ein primäres Zwischengut sozial gültig ist, sondern dass wir es mit einer Vielzahl an gültigen primären Zwischengütern zu tun haben. So lässt sich im sozialen Kontext eines Tennisclubs ein hoher sozialer Status nicht nur durch sportliche Fähigkeiten, sondern ebenfalls – wie wohl in den meisten sozialen Kontexten – durch beruflichen Erfolg und vielleicht auch durch das Wissen über moderne Kunst erwerben. Diese gültigen Zwischengüter dürften sich dabei in ihrer sozial definierten Effizienz für die Statusproduktion unterscheiden: Dasjenige der drei primären Zwischengüter, für welches ein Individuum die meisten (wenigsten) Einheiten sozialen Status erhält, ist am effizientesten (wenigsten effizient). Wie bereits herausgestellt wurde, haben primäre Zwischengüter den Charakter sozialer Tatsachen. Was bedeutet dies nun für Individuen? Sind sie den kollektiv definierten Standards hilflos ausgeliefert? Ja und nein. Die primären Zwischengüter stellen eine objektive Struktur der Nutzenproduktion dar, die den Individuen klare Grenzen hinsichtlich der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Nutzenproduktion setzen. Kein Individuum, welches erfolgreich subjektives Wohlbefinden produzieren möchte, kann es sich erlauben, diese objektive Struktur zu ignorieren oder auf Dauer inadäquat zu interpretieren. Nichtsdestotrotz bleiben den Individuen Freiheiten, sich innerhalb dieser objektiven Struktur kreativ und souverän zu bewegen. Dabei können sie sich zweier grundsätzlicher Strategien bedienen. Die erste Strategie besteht darin, die knappen Energien und Ressourcen systematisch für die Produktion solcher primärer Zwischengüter aufzuwenden, die aus einer individuellen Perspektive sehr effizient sind, weil sie sich in verschiedenen sozialen Kontexten einsetzen lassen und damit Synergieeffekte versprechen. Ein gutes Beispiel dafür ist beruflicher Erfolg, weil dieser nicht nur im Kontext der eigenen Firma, sondern auch in der Familie, unter Freunden und im Tennisverein zu einem hohen Status führt. Die
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zweite Strategie besteht darin, systematisch Gruppen oder soziale Kontexte zu suchen, in denen die Güter, über welche man verfügt, eine möglichst hohe Befriedigung von Grundbedürfnissen versprechen. Für den Kunstkenner lohnt es sich, sich mit Menschen zu umgeben, die sein Kunstwissen zu schätzen wissen und ihm dafür Anerkennung spenden, statt seine knappe Zeit mit Kunstbanausen zu verbringen. Die soziologische Pointe der ersten sozialen Produktionsfunktion ist, dass die primären Zwischengüter für die Individuen objektive Restriktionen darstellen, die in zweierlei Hinsicht zu objektiven Interessen führen. Zum einen haben Individuen ein objektives Interesse daran, sich Güter anzueignen, die in ihren sozialen Kontexten als primäre Zwischengüter institutionalisiert und besonders effizient sind. Somit lässt sich sagen, dass die Struktur der primären Zwischengüter ein systematisches und objektives Anreizsystem für Individuen darstellt, ihre knappen Ressourcen in die Aneignung genau dieser und nicht etwa anderer Güter zu investieren. Indem Individuen im Laufe ihres Lebens ein bestimmtes Kapital an Gütern erwerben, bildet sich zum anderen ein objektives Interesse daran, dass diese Güter primäre Zwischengüter werden bzw. bleiben. In der sozialen Realität haben wir es allerdings mit ständigen Wandlungsprozessen zu tun, die nicht selten damit einhergehen, dass sich die sozial gültigen Definitionen darüber, was die richtigen Zwischengüter sind, ändern, und damit auch die kulturellen Bedingungen individueller Nutzenproduktion. So ist in der ehemaligen DDR bspw. das Wissen über den Marxismus/Leninismus mit dem Zusammenbruch des Regimes quasi über Nacht als Mittel zur Statusproduktion entwertet worden. Den Marxismus/Leninismus-Experten ist vielleicht nicht zu unterstellen, dass sie ein Interesse an der DDR haben, allerdings kann ihnen unterstellt werden, dass sie ein Interesse daran haben, dass auch in der neuen Bundesrepublik ihr Wissen sozial honoriert wird. Tertiäre Zielgüter
Komfort
Aktivierung
Status
Wertschätzung
Affekt
(Beispiele für mögliche) primäre Zwischengüter
Auto, gesunde Lebensmittel, Wohnung, Hausangestellte, Telefon
Sportliche oder mentale Aktivitäten, kreative Arbeit
Geld/materi elle Güter, Bildungstitel, Schönheit
Etikette, gute Laune (im Karneval), Trauer (auf Beerdigungen)
Ehe, Kinder, patriotische Gemeinschaft, Fankulturen
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
4.3.1.3 Die Produktion primärer Zwischengüter durch indirekte Zwischengüter In den allermeisten Fällen stehen den Individuen die für die Nutzenproduktion notwendigen primären Zwischengüter nicht automatisch zur Verfügung, sondern sie müssen unter Einsatz von Ressourcen und Leistungen wiederum produziert werden: 86 Eine gute Partnerschaft – ein primäres Zwischengut für nahezu alle Menschen zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Affekt – muss in der modernen Gesellschaft durch aufwändige Beziehungspflege aufrechterhalten werden. Die Mittel zur Produktion dieser primären Zwischengüter wurden oben bereits in Anlehnung an Esser als indirekte Zwischengüter definiert. Esser bezeichnet sie als indirekte und nicht sekundäre Zwischengüter, weil in ihnen wiederum ganze Ketten der Vorproduktion enthalten sein können (Esser 1999: 105). So setzt das indirekte Zwischengut Beziehungspflege zur Produktion des primären Zwischenguts Partnerschaft voraus, dass stetig eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungen (Zuhören, Zeit miteinander verbringen, Unterstützung leisten, treu sein etc.) erbracht wird. Alle möglichen Ressourcen, Leistungen und Handlungen können zu indirekten Zwischengütern werden. Welche es letztlich sind, ist wiederum von sozialen Regeln abhängig, auf die ein individueller Akteur nur bedingt Einfluss nehmen kann. Wer auf einem wissenschaftlichen Kongress einen guten Vortrag (primäres Zwischengut) halten möchte, um dadurch Status zu erlangen, der muss zuvor interessante Forschungsergebnisse (indirekte Zwischengüter) erarbeiten, die er präsentieren kann. Was im aktuellen Forschungsgebiet als interessant gilt, obliegt allerdings nicht seiner privaten Definition, sondern wird durch die Fachcommunity bestimmt. Durch den Einsatz welcher indirekter Zwischengüter sich welche primären Zwischengüter produzieren lassen, unterliegt also ebenfalls der sozial gültigen Definition der Situation. In dieser Hinsicht gelten dieselben Bedingungen wie bezüglich der primären Zwischengüter. Doch im Unterschied zu den primären, geht es bei den indirekten Zwischengütern nicht lediglich um Passungsverhältnisse. Im Zusammenhang mit den indirekten Zwischengütern kommt zum Tragen, dass die individuelle Nutzenproduktion nicht nur durch kulturelle, sondern auch durch materielle Restriktionen bestimmt ist. Welche der kulturell definierten Zwischengüter für ein Individuum überhaupt realisierbar sind bzw. welche es sich lohnt anzustreben, hängt ganz wesentlich von dem zur Verfügung stehenden Budget und den relativen Preisen der Zwischengüter ab. Beide Aspekte zusammen lassen sich als die materiellen Produktionsbedingungen definieren. Zentral 86
Ausnahmen mögen in diesem Zusammenhang natürliche Schönheit, ein umfangreiches Erbe oder ein angeborener Adelstitel sein. In der Regel ist und bleibt der Erwerb eines primären Zwischenguts für ein Individuum aber eine arbeitsintensive Angelegenheit.
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ist, dass diese materiellen ebenso wie die kulturellen Produktionsbedingungen harte Fakten darstellen, die von dem Individuum nicht ignoriert werden können, sofern es erfolgreich subjektives Wohlbefinden herstellen möchte. Neben den kulturellen sind es damit die materiellen Bedingungen, welche ganz grundlegend das Interesse der Individuen an bestimmten Zwischengütern mitbestimmen. Dies bedeutet, dass sich mit dem Wandel der materiellen Bedingungen, d. h. dem Wandel des Budgets oder der relativen Preise, auch das Interesse an den Zwischengütern wandelt: „Mit der Änderung der technischen bzw. materiellen Produktionsbedingungen, mit der Änderung der Art und der damit verbundenen Kosten für die indirekten Zwischengüter ändern sich auch die Bestrebungen der Menschen: Sie interessieren sich jetzt für andere indirekte Zwischengüter als vorher, auch wenn die Wünsche nach bestimmten primären Zwischengütern und – natürlich – die Bedürfnisse der Menschen ganz und gar gleich bleiben. Und wenn mit den Knappheiten auch die Produktion bestimmter primärer Zwischengüter – relativ – immer kostspieliger wird, ändern die Menschen auch ihr Interesse an diesen. Kurz: Mit Knappheiten und mit den relativen Preisen der indirekten und der primären Zwischengüter ändern sich die Interessen und Präferenzen der Menschen“ (Esser 1999: 107, Hervorhebung im Original).
Um den Einfluss des Budgets und der relativen Preise auf das Interesse an kulturell definierten Zwischengütern näher zu bestimmen, werde ich an dieser Stelle einige zentrale Erkenntnisse der mikroökonomischen Nachfragetheorie in die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen integrieren.87 In der Nachfragetheorie werden klassischerweise Einkommens- von Preiseffekten unterschieden. Bei Einkommenseffekten handelt es sich um Wirkungen, die von der Änderung der zur Verfügung stehenden monetären Ressourcen auf die Nachfrage nach Gütern ausgeht.88 Da die Produktion von Zwischengütern nicht nur den Einsatz monetärer, sondern den Einsatz aller möglichen Ressourcen verlangt, werde ich allgemeiner von Budgeteffekten sprechen. So werde ich die Wirkungen bezeichnen, die von der Änderung der zur Verfügung stehenden Ressourcen auf das Interesse an Zwischengütern ausgehen. Bei den Preiseffekten handelt es sich um Wirkungen auf die Güternachfrage, die von der Änderung relativer Preise ausgehen. Darunter werden Wirkungen auf das Interesse an Zwischengütern gefasst, die
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Bei den Aspekten, die ich im Folgenden aufführe, handelt es sich um ganz grundlegende Erkenntnisse mikroökonomischer Theorie, die sich in jedem Lehrbuch nachlesen lassen. Sofern keine andere Literatur angegeben wird, beziehe ich mich auf Pindyck und Rubinfeld (2005). Unter Einkommen wird dabei nicht nur das Lohneinkommen, sondern die Gesamtheit der zur Verfügung stehenden monetären Ressourcen gefasst (Reiß 2007: 268).
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
dadurch bedingt sind, dass die Kosten für die Realisierung dieser Zwischengüter steigen oder fallen. In der sozialen Realität treten Budget- und Preiseffekte normalerweise gleichzeitig auf. Da es aber aus analytischen Gründen hilfreich ist, werde ich, wie in der Mikroökonomie üblich, zwischen beiden unterschieden. Darüber hinaus werde ich bei der Vorstellung dieser beiden Effekte – ebenfalls wie in der Mikroökonomie üblich – von Ceteris-paribus-Bedingungen ausgehen. Das Budget von Menschen ist grundsätzlich knapp, d. h., es stehen ihnen nur begrenzt Zeit, Talent oder andere Ressourcen zur Verfügung, die sie zur Produktion der primären Zwischengüter einsetzen können, wodurch der Produktionsspielraum eines jeden Individuums in elementarer Weise eingeschränkt ist. Die Differenz zwischen dem Wunsch nach primären Zwischengütern und den vergleichsweise beschränkten Möglichkeiten, diese zu realisieren, ist somit ein wesentliches Merkmal einer jeden menschlichen Nutzenproduktion.89 Aus diesem Grund sind Individuen gezwungen, Entscheidungen zu treffen, in welche Zwischengüter sie investieren und welche sie vernachlässigen. Für diese Entscheidung sind wiederum die kulturellen Produktionsbedingungen relevant, weil durch sie festgelegt ist, welche Zwischengüter sich mehr und welche sich weniger lohnen. Aber auch das Budget der Individuen spielt eine herausragende Rolle. Dieses ist nicht fix, sondern unterliegt einem ständigen Wandel, bedingt etwa durch eine Einkommenserhöhung/-senkung, eine Arbeitszeitverkürzung/verlängerung o. ä. Weil sich mit der Änderung des Budgets die individuellen Kosten für die Produktion von Zwischengütern wandeln, bleibt eine Budgetänderung – die Ceteris-paribus-Bedingung gleichbleibender sozialer Effizienz und gleichbleibender Preise der Zwischengüter vorausgesetzt – nicht ohne Konsequenzen für das Interesse an diesen Zwischengütern. Die Budgetbeschneidung eines Individuums führt dazu, dass die Produktion von Zwischengütern teurer wird. Vor diesem Hintergrund mag sich ein Individuum zwar wünschen, diese Zwischengüter (weiterhin) zu besitzen, doch das Interesse, knappe Ressourcen in sie zu investieren, geht zurück. Durch eine Budgetaufstockung wird die Aneignung bestimmter Zwischengüter dagegen im Vergleich zu vorher kostengünstiger, woraus folgt, dass Individuen ein zunehmendes Interesse an ihnen entwickeln.
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Becker betont, dass in diesem Zusammenhang der Zeit eine besondere Bedeutung zukommt, da es sich um eine der wenigen Ressourcen handelt, deren Knappheit sozial unverrückbar ist: „Für verschiedene Situationen sind verschiedene Restriktionen ausschlaggebend, aber die grundlegende Restriktion ist die begrenzte Zeit. Fortschritte auf wirtschaftlichem und auf medizinischem Gebiet haben wohl erheblich die Lebensdauer verlängert, nicht aber den physischen Zeitverlauf, der jedermann stets auf 24 Stunden pro Tag beschränkt“ (Becker 1996 [1993]: 22).
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Neben dem zur Verfügung stehenden Budget sind es die relativen Preise, die einen Einfluss auf das Interesse an Zwischengütern von Individuen ausüben. Die relativen Preise drücken sich in den Austauschverhältnissen aus, welche festlegen, wie viele Ressourcen für die Realisierung eines Zwischengutes im Vergleich zu einem anderen aufgewendet werden müssen. Der grundsätzlichste Preiseffekt findet sich im allgemeinen Nachfragegesetz, welches einen negativen Zusammenhang zwischen Preis und Nachfrage postuliert: Wird ein Gut teurer (billiger), so wird es weniger (mehr) nachgefragt. Die Ökonomen McKenzie und Tullock sprechen davon, dass dieses Nachfragegesetz auch jenseits des wirtschaftlichen Marktes eine der stärksten empirischen Regelmäßigkeiten menschlichen Verhaltens darstellt und es sich deswegen als verlässliches Prognoseinstrument für die Verhaltensforschung insgesamt eignet: „It is, perhaps, the strongest predictive statement a social scientist can make with regard to human behavior“ (McKenzie/Tullock 1978: 17). Da die Verteuerung eines Guts dazu führt, dass andere Güter relativ billiger werden, führt eine Preissteigerung in der Regel nicht nur zu einem einfachen Rückgang, sondern zu einer Umleitung der Nachfrage. Geht mit der Änderung des Preises eines Guts einher, dass ein Akteur auf relativ billigere Güter ausweicht, liegt ein Substitutionseffekt vor. Kommt es zu diesem Effekt, stellen die Güter füreinander Substitutionsgüter dar. Die Voraussetzung für die Substituierbarkeit von Gütern ist, dass sie funktional äquivalent sind. Güter können allerdings hinsichtlich des Grades ihrer funktionalen Äquivalenz und damit auch hinsichtlich ihrer Subsituierbarkeit variieren. Güter sind vollkommene Substitutionsgüter, sofern sie ohne Qualitätseinbußen durcheinander ersetzt werden können, wohingegen sie unvollkommene Substitutionsgüter sind, wenn dies nicht möglich ist. Inwiefern Preissteigerungen das Interesse von Individuen an Gütern ändert, hängt ganz maßgeblich davon ab, ob überhaupt potenzielle Substitutionsgüter existieren und welchen Grad an funktionaler Äquivalenz sie gegebenenfalls aufweisen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der objektive Bezugsrahmen, an dem sich eine erfolgreiche Nutzenproduktion orientieren muss, nicht nur durch kulturelle, sondern auch durch materielle Restriktionen determiniert ist. Erst vor dem Hintergrund ihrer materiellen Restriktionen entwickeln Individuen ein Interesse an den kulturell definierten Zwischen-gütern. Wie viele und welche kulturell definierten Mittel zur Nutzenproduktion ein Individuum einsetzen kann, ist abhängig von seinem zur Verfügung stehenden Budget. Kommt es budgetbedingt zu Inkompatibilitäten, muss sich ein Individuum zwischen verschiedenen Zwischengütern entscheiden, wobei es im Sinne einer möglichst optimalen Nutzenproduktion ist, das effizienteste Zwischengut zu wählen. Neben dem Budget sind es die relativen Preise der Zwischengüter, d. h. die für ihre Produktion auf-
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zuwendenden Ressourcen, welche das Interesse an ihnen bestimmt. Bei gleicher sozial definierter Effizienz ist das Zwischengut mit dem geringsten Preis dasjenige, an dem das größte Interesse besteht.
Beispiele für primäre Zwischengüter Beispiele für indirekte Zwischengüter
Status
Wertschätzung
Affekt
Komfort
Aktivierung
Bildung
Umweltbewusstsein
Gute Partnerschaft
Haus mit Garten
Kunstgenuss
Kognitive Ressourcen, Zeit
Recycling, Kauf von Bioprodukten, Verzicht auf Fernreisen
Geld, Zeit für die Gartenpflege
Zeit für die Aneignung von Kunstkompetenz, Geld für Museumsbesuche
Zeit, Aufmerksamkeit
4.3.2 Soziale Produktionsfunktionen und Solidarnormbindung Mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen steht ein Instrument zu Verfügung, mit dem sich die objektiven Bedingungen der individuellen Nutzenproduktion analysieren lassen. Mithilfe dieses Instruments werde ich im Folgenden das Argument entwickeln, dass es unter bestimmten objektiven Bedingungen im Sinne der individuellen Nutzenproduktion rational ist, eine Solidarnormbindung vorzuweisen. Diese Rationalität folgt daraus, dass solidarnormgebundenen Personen gegenüber Opportunisten signifikante Vorteile in der Nutzenproduktion zukommen. Mithilfe dieser Theorie wird deutlich, dass sich die Rationalität einer Solidarnormbindung durch das Zusammenspiel von zwei Produktionsbedingungen konstituiert: den kulturellen und den materiellen Produktionsbedingungen. Hinsichtlich der kulturellen Produktionsbedingungen ist die Voraussetzung für die Rationalität einer Solidarnormbindung, dass eine Solidarnormbindung als primäres und/oder indirektes Zwischengut90 institutionalisiert ist. Esser betont, dass alle möglichen „Ressourcen, Objekte, Ereignisse und Leistungen“ (Esser 1999: 98) zu sozial definierten Zwischengütern werden können. Im Weiteren werde ich davon ausgehen, dass darunter auch die persönliche Eigenschaft einer Solidarnormbindung fallen kann. Eine Solidarnormbindung ist kulturell als Zwi90
Wenn ich nachfolgend den Begriff Zwischengüter verwende, sind damit immer sowohl primäre als auch indirekte Zwischengüter gemeint.
4.3 Die Rationalität einer Solidarnormbindung
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schengut institutionalisiert, sofern Individuen, die Solidarnormen situationsunabhängig befolgen, weil sie von der Richtigkeit der Norm überzeugt sind, genau wegen dieser Gesinnung Vorteile in ihrer Nutzenproduktion erfahren, wohingegen Individuen, die eine opportunistische Haltung gegenüber Solidarnormen einnehmen, eben aufgrund dieser Gesinnung Vorteile versagt bleiben. Es ist für das Verständnis wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei der Institutionalisierung einer Solidarnormbindung als Zwischengut nicht primär Verhaltensweisen, sondern Gesinnungen bzw. innere Haltungen belohnt bzw. sanktioniert werden. Die Institutionalisierung einer Solidarnormbindung als Zwischengut ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, dass es für ein Individuum tatsächlich rational ist, die Kosten einer solchen Bindung auf sich zu nehmen. Dazu müssen zusätzlich materielle Produktionsbedingungen erfüllt sein. Die Bindung an Solidarnormen ist für ein Individuum nur dann rational, wenn es sich vor dem Hintergrund seines beschränkten Budgets diese persönliche Eigenschaft leisten kann und wenn eine Solidarnormbindung gegenüber funktional äquivalenten Zwischengütern eine preisgünstige Alternative darstellt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Rationalität einer Solidarnormbindung aus kulturellen und materiellen Bedingungen ableitet. Welche Bedingungen dies im Einzelnen sind, werde ich mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktion genauer bestimmen. Im Vorfeld ist noch eine kurze Bemerkung zu machen. Die Grundvoraussetzung für die Rationalität einer Solidarnormbindung ist, dass verlässlich zwischen solidarischen und opportunistischen Personen unterschieden werden kann. Daher werde ich meiner Argumentation voraussetzten, dass sich Individuen hinsichtlich ihrer Solidarnormbindung wechselseitig einschätzen können. Diese Annahme ist natürlich eine Idealisierung, die in dieser pauschalen Weise nicht zutrifft. Unsere Alltagserfahrungen zeigen immer wieder, dass sich Menschen bei der Einschätzung ihrer Mitmenschen täuschen. In einem gesonderten Abschnitt (4.3.2.3) werde ich allerdings argumentieren, dass Menschen im Großen und Ganzen zu validen Urteilen über die Solidarnormorientierung ihrer Mitmenschen kommen können, sofern bestimmte äußere Rahmenbedingungen ein solches Urteil zulassen. 4.3.2.1 Solidarnormbindung als primäres Zwischengut Bei einer Solidarnormbindung handelt es sich um ein primäres Zwischengut, sofern durch diese Eigenschaft mindestens eines der fünf Grundbedürfnisse Komfort, Aktivierung, Status, Wertschätzung oder Affekt direkt bedient wird. Dabei erscheint es unmittelbar als evident, dass eine Solidarnormbindung kein
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primäres Zwischengut für physiologische Bedürfnisse sein kann.91 An dieser Stelle rücken damit die drei Anerkennungsbedürfnisse und die Frage in den Mittelpunkt, unter welchen Voraussetzungen diese durch eine Solidarnormbindung unmittelbar bedient werden. Anerkennung für eine Solidarnormbindung Das wichtigste Anerkennungsbedürfnis stellt in diesem Zusammenhang persönliche Wertschätzung dar. Dabei handelt es sich um eine Anerkennung, die dafür gewährt wird, dass man sich aus bestimmten Gründen in einer bestimmten Art und Weise verhält. Eine Solidarnormbindung stellt also dann ein primäres Zwischengut für Wertschätzung dar, wenn eine intrinsisch motivierte Solidarnormbefolgung in besonderer Weise gewürdigt wird. Diese Würdigung kann sich in unterschiedlichen Formen der Anerkennungskommunikation manifestieren, vom spontanen Zollen von Achtung bis hin zu Auszeichnungen oder anderen Formen einer eher institutionalisierten Form der Anerkennungsvergabe. Unsere Alltagserfahrung zeigt, dass es im Allgemeinen nichtinstrumentelle und selbstlos motivierte Normbefolgungen sind, die mit einer besonderen Wertschätzung bedacht werden, während opportunistischen Normbefolgungen eine solche Wertschätzung eher versagt wird. Dies führt zu der eigentümlichen Konstellation, die von Baurmann (2002: 123) in Anlehnung an das HedonismusParadox als Anerkennungs-Paradox bezeichnet wird. Dieses Paradox drückt sich in folgender Weise aus: Alle Menschen streben nach einer Wertschätzung durch andere. Je deutlicher es jedoch ist, dass ein Verhalten rein strategisch erfolgt, um Wertschätzung zu evozieren, desto weniger sind wir bereit, ebendiese zu gewähren. „Man darf sich an der Anerkennung anderer erfreuen, man darf sie aber nicht bewusst anstreben“ (Baurmann 2002: 125). Auch Lindenberg stellt deutlich heraus, dass ein gezieltes Streben nach Wertschätzung durch eine Normbefolgung gegenteilige Effekte haben kann: „A person who obviously conforms to norms in order to get social approval […] is less likely to get it than is a person who seemingly is intrinsically motivated to act morally and follow the norms“ (Lindenberg 2001a: 658).
Eine Solidarnormbindung als primäres Zwischengut für Wertschätzung setzt voraus, dass Verhaltensgründe Gegenstand systematischer Evaluation sind und
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So ist es kaum vorstellbar, wie von der persönlichen Eigenschaft einer Solidarnormbindung ein unmittelbarer Beitrag zum Erfahren von Komfort und Aktivierung ausgehen kann.
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dass eine intrinsische Motivation durch Wertschätzung belohnt wird, während Opportunisten diese Wertschätzung versagt bleibt. Ich habe davon gesprochen, dass die persönliche Wertschätzung im Zusammenhang mit einer Solidarnormorientierung die zentrale Form der Anerkennung darstellt. Damit meine ich, dass die beiden anderen Anerkennungstypen – Status und Affekt – in gewisser Weise als Steigerungsformen dieser Wertschätzung zu betrachten sind. Ist es möglich, durch eine Solidarnormbindung seinen Status zu verbessern oder andere emotional zu binden, dann impliziert dies, dass eine Solidarnormbindung nicht nur ein primäres Zwischengut für Wertschätzung, sondern zusätzlich für Status und/oder Affekt darstellt. Handelt es sich bei einer Solidarnormbindung um ein primäres Zwischengut für Status, wird eine Person mit dieser Gesinnung nicht nur wertgeschätzt, sondern erfährt darüber hinaus wegen dieser Gesinnung eine positive Diskriminierung gegenüber anderen. Damit innerhalb einer Gruppe eine Solidarnormbindung unmittelbar Status produzieren kann, muss es sich bei einer solchen Bindung um eine rare Eigenschaft handeln. Nur dann, wenn eine Solidarnormbindung in hoher Weise wertgeschätzt wird, aber nur wenige Menschen eine solche Solidarnormbindung aufweisen, kann von ihr ein Statuseffekt ausgehen. Eine solche Kluft zwischen Nachfrage und Angebot scheint mir vor allem in solchen Konstellationen gegeben zu sein, in denen eine intrinsische Solidarnormbindung zwar sehr hoch angesehen wird, aber selten anzutreffen ist, weil die Solidarkosten äußerst hoch sind und es somit starke Anreize gibt, diesen bei jeder sich bietenden Möglichkeit auszuweichen. Existieren bspw. innerhalb einer religiösen Gemeinschaft Regeln, die von den Mitgliedern hohe Opfer verlangen, dann mögen diejenigen einen besonders hohen Status genießen, die eine hohe intrinsische Motivation bei der Befolgung dieser Regeln vorweisen und sich dadurch von der Mehrheit der anderen Mitglieder unterscheiden. Gilt ein Soldat in einem riskanten Kriegseinsatz trotz hoher Risiken für Leib und Leben als absolut hilfsbereit, loyal und fair gegenüber seinen Kameraden, kann er damit einen Status als außerordentlich tapferer Kamerad und Vaterlandskämpfer begründen, sofern die anderen Kameraden sich weniger engagiert zeigen. Unter diesen Bedingungen eignet sich eine kategorische Normbefolgung als der Stoff, aus denen Helden gestrickt werden.92 Da in liberalen Gesellschaften selten Solidarnormen existieren, die eine Aufopferung des Einzelnen zugunsten der Ge-
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Dies kann ab einem bestimmten Punkt allerdings auch umkippen und der selbstlose und aufopferungsvolle Soldat gilt dann vielleicht eher als Trottel, dem der sprichwörtliche gesunde Egoismus fehlt. Unter dieser Voraussetzung würde seine kategorische Normorientierung eher seinen Status mindern, weil sein Verhalten nicht allgemein wertgeschätzt wird und sozial nicht als erstrebenswertes Ziel definiert ist.
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meinschaft fordern, dürfte ein Statuserwerb durch Solidarnormbindung in solchen Kontexten selten möglich sein. Eine Solidarnormbindung ist ein primäres Zwischengut für Affekt, wenn sie die Grundlage für eine emotionale Beziehung bildet, in deren Rahmen sich eine Person in ihrer Gesamtheit und um ihrer selbst Willen als anerkannt, geschätzt oder gar geliebt erfährt. Bei diesen Arten der emotionalen Zuwendung handelt es sich um eine weitere mögliche Steigerungsform der persönlichen Wertschätzung. Ihr Kern besteht daraus, dass eine Person nicht nur Anerkennung dafür bekommt, das Richtige zu tun bzw. die richtige Gesinnung vorzuweisen, sondern darüber hinaus dafür, eine liebenswerte Person zu sein, deren Wohlergehen für andere wichtig ist. Doch kann tatsächlich davon ausgegangen werden, dass Personen wegen ihrer Solidarnormbindung als liebenswert gelten? Eine Solidarnormbindung lässt sich als Ausdruck der Integrität und Vertrauenswürdigkeit einer Person werten und es ist m. E. sehr wohl plausibel, davon auszugehen, dass diese Gesinnung auf andere Personen anziehend wirkt, d. h., dass Verbundenheitsgefühle einer Person (zumindest unter anderem) deswegen entgegengebracht werden, weil sie sich durch eine charakterliche und moralische Integrität auszeichnet. Die Effizienz einer Solidarnormbindung als primäres Zwischengut Alle primären Zwischengüter haben gemein, dass es sich bei ihnen um sozial gültige Mittel zur direkten Bedürfnisbefriedigung handelt; bezüglich ihrer Effizienz allerdings können sie sich beträchtlich unterscheiden. Im Allgemeinen ist die Effizienz eines primären Zwischenguts umso höher, je mehr Einheiten an subjektivem Wohlbefinden sich durch dieses unmittelbar produzieren lassen. Eine Solidarnormbindung ist ein umso effizienteres primäres Zwischengut, je mehr Einheiten sozialer Anerkennung sich mit ihr erzeugen lassen. Ein wesentliches Merkmal aller primärer Zwischengüter ist, dass ihre Effizienz zwischen verschiedenen sozialen Kontexten stark variieren kann. So wird ein Umweltbewusstsein in manchen Milieus mit einer hohen Wertschätzung bedacht, während dies in anderen nicht der Fall ist. Ähnliches lässt sich für die Bindung an Solidarnormen sagen. Zwar dürfte in den meisten Gruppen eine Bindung an die in ihnen geltenden Solidarnormen soziale Wertschätzung evozieren, doch in welchem Ausmaß dies der Fall ist, dürfte sehr unterschiedlich sein. Die soziologisch interessante Frage ist nun, ob Effizienzunterschiede, die beim primären Zwischengut Solidarnormbindung auftreten können, lediglich auf willkürlichen und zufälligen sozialen Festlegungen basieren oder ob sich bestimmte Faktoren identifizieren lassen, die systematisch auf die Effizienz Einfluss neh-
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men. Ließen sich solche Bedingungen identifizieren, würden sie für eine soziologische Analyse wichtige Anhaltspunkte dafür liefern, in welchen sozialen Kontexten und Gruppen eine besonders hohe Effizienz einer Solidarnormbindung als primärem Zwischengut zu erwarten ist. Im Folgenden werde ich Plausibilitätsüberlegungen dazu anstellen, welche Faktoren in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz sind. Zunächst erscheint die Annahme plausibel, dass eine Solidarnormbindung umso mehr soziale Wertschätzung einbringt, je höher die entsprechenden Solidarkosten sind. Die Befolgung einer Solidarnorm, weil dies das richtige und nicht lediglich das opportune Verhalten ist, dürfte umso mehr Anerkennung evozieren, je umfangreicher der durch die Solidarnorm verlangte Ressourcentransfer ausfällt. Es ist zudem plausibel, davon auszugehen, dass die Funktion der Solidarität in einem sozialen Zusammenhang oder einer Gruppe einen nachhaltigen Einfluss auf die Effizienz einer Solidarnormbindung als primäres Zwischengut für soziale Wertschätzung hat. In Anlehnung an Zintl (1993) lassen sich zwei Funktionen unterscheiden, die Solidarität in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen haben kann: Solidarität kann erstens ein Mittel sein, um Kooperationsprobleme zu lösen. Die Geltung von Solidarnormen und analog die Solidarnormgebundenheit der Mitglieder hat für diese Gruppen den instrumentellen Wert der „Qualitätssicherung“ (Zintl 1993: 97) einer gemeinsamen Kooperation. Als Beispiel für solche Gruppen können Tennisvereine, Arbeitsgemeinschaften oder Unternehmen dienen. Solidarität kann aber auch der primäre Zweck sein, den eine Gruppe verfolgt, oder zumindest ein wesentliches „Qualitätsmerkmal“ (Zintl 1993: 98) des von ihr verfolgten primären Zwecks. Die Geltung von Solidarnormen dient in solchen sozialen Zusammenhängen nicht nur der Realisierung einer Kooperation, sondern hat einen Eigenwert und wird (zumindest unter anderem) deswegen von den Mitgliedern einer Gruppe angestrebt. Eine solche Konstellation finden wir in der Familie, unter Freunden, unter Anhängern desselben Fußballteams oder in Religionsgemeinschaften. Unabhängig davon, was in diesen Gruppen sonst noch an instrumentellen Leistungen für das Individuum produziert wird, sind es Gemeinschaften, in denen die existierende Solidarität emotionale Verbundenheit spendet. Die dargelegte Argumentation lässt sich zu der These zusammenfassen, dass die Effizienz einer Solidarnormbindung als primäres Zwischengut für die Bedienung von Anerkennungsbedürfnissen von zwei Faktoren abhängt: erstens den Solidarkosten und zweitens der Funktion von Solidarität in einer Gemeinschaft.
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4.3.2.2 Solidarnormbindung als indirektes Zwischengut Im Rahmen der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen wurde herausgestellt, dass den Individuen die primären Zwischengüter in aller Regel nicht einfach zur Verfügung stehen, sondern dass diese produziert werden müssen. Die Mittel, mithilfe derer sie produziert werden als indirekte Zwischengüter definiert. Die zentrale Überlegung, die im Weiteren ausgeführt wird, ist, dass eine Solidarnormbindung ein solches indirektes Zwischengut darstellen kann. Unter dieser Voraussetzung dient sie dazu, primäre und/oder weitere indirekte Zwischengüter herzustellen. Zu Instrumenten der Nutzenproduktion werden indirekte ebenfalls wie primäre Zwischengüter qua sozialer Setzung. Ob eine Solidarnormbindung also ein Mittel zur Produktion primärer oder weiterer indirekter Zwischengüter darstellt, liegt nicht im Belieben des einzelnen Akteurs, sondern ist von der Institutionalisierung einer Solidarnormbindung als indirektes Zwischengut abhängig. Worin zeigt sich nun eine solche Institutionalisierung? Der Ausgangspunkt für die folgende Argumentation ist die so simple wie fundamentale Erkenntnis, dass Individuen im Rahmen ihrer Nutzenproduktion Kooperationsbeziehungen sowie Positionen, bspw. einen Arbeitsplatz oder den Vorsitz in einem Verein, anstreben. Kooperationsbeziehungen und Positionen lassen sich ebenfalls als Zwischengüter verstehen, die direkt der individuellen Nutzenproduktion dienen. Das charakteristische Merkmal dieser Zwischengüter ist, dass sie nicht rein individuell produziert werden können. Es ist nicht das Individuum selbst, sondern es sind andere, die darüber entscheiden, ob es als Kooperationspartner oder für die Besetzung einer bestimmten Position ausgewählt wird oder nicht. Der Zugang zu Kooperationsbeziehungen und Positionen ist natürlich ganz wesentlich davon abhängig, ob Personen dem geforderten Qualifikationsprofil entsprechen. Wer in ein Orchester aufgenommen werden möchte, muss sein Instrument beherrschen, und wer in einem Unternehmen aufsteigen möchte, muss die entsprechende fachliche Eignung mitbringen. Die Orientierung an technischen Fähigkeiten ist in diesem Prozess allerdings nur ein Gesichtspunkt; ein zweiter sind die motivationalen Dispositionen eines Akteurs. Das zentrale Argument an dieser Stelle ist, dass es sich bei einer Solidarnormbindung dann um ein indirektes Zwischengut handelt, wenn diese Persönlichkeitseigenschaft als Selektionskriterium für den Zugang zu Kooperationsbeziehungen sowie zu Positionen fungiert, die Personen im Rahmen ihrer Nutzenproduktion anstreben. Steht solidarischen Personen der Zugang zu Gruppen und Positionen offen, während Opportunisten dieser verwehrt ist, dann ist es im Interesse der Individuen, diese Eigenschaft aufzuweisen. Die grundsätzlichste Bedingung für eine Solidarnormbindung als Selektionskriterium ist die, dass ein Interesse an solidarischen Personen existiert. Be-
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züglich der Auswahl von Kooperationspartnern lässt sich argumentieren, dass ein solches Interesse universellen Charakter hat (vgl. auch Baurmann 1998: 377 ff.). Dies ist dadurch begründet, dass sich Individuen in jeder von ihnen eingegangenen Kooperation gegenüber ihren Kooperationspartnern zu einem gewissen Grade verletzlich machen. Als sich verletzlich machen wird ein bestimmtes Entscheidungsverhalten in einer Situation der Unsicherheit bezeichnet. So macht sich ein Akteur A gegenüber einem Akteur B verletzlich, indem A eine Entscheidung trifft, durch welche er in seinem Wohl von den Handlungen von B abhängig wird, ohne dass A allerdings auf die Handlungen von B direkt Einfluss nehmen könnte. In dieser Situation entscheiden die Handlungen von B darüber, ob A ein Schaden entsteht oder nicht (vgl. Lahno 2002: 32 ff.).93 Diese Risikosituation lässt sich in nahezu allen Kooperationen für mindestens eine Partei wiederfinden. Wie bereits Durkheim (1992 [1893]: 256 ff.) herausgestellt hat, können Verträge dieses Problem nur bedingt lösen, da die Möglichkeiten, allen potenziellen Verletzungen vertraglich vorzubeugen, grundsätzlich limitiert und darüber hinaus sehr kostenintensiv sind. Somit kann rationalen Egoisten zwar kein unmittelbares Eigeninteresse unterstellt werden, sich selbst an Solidarnormen zu binden, wohl aber ein Interesse an Kooperationspartnern, die eine solche Bindung aufweisen. Nun treten aber nahezu alle Individuen in beiden Rollen auf: In der gleichen Weise, wie sie die Bereitschaft zur Solidarnormbindung zur Voraussetzung für Kooperationsbeziehungen machen, wird von ihnen verlangt, dass sie ebendiese Bereitschaft aufweisen (Baurmann 1998: 384). Im Zusammenhang mit der Besetzung von Positionen innerhalb von Gruppen und Organisationen lässt sich ebenfalls von einem ausgeprägten Interesse an solidarnormgebundenen Personen sprechen. Auch Gruppen und Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie gegenüber dem Verhalten ihrer Mitglieder in gewisser Weise verletzlich sind. Dies gilt insbesondere für die Bereiche, in denen Personen umfangreiche Kompetenzen übertragen werden oder angesichts komplexer Aufgaben individuelle Ermessensspielräume existieren. Werden solche Positionen mit Opportunisten besetzt, ist ein Schaden für die Mitglieder einer Gruppe oder Organisation sehr wahrscheinlich. Gerade in Bezug auf Positionen mit Führungs- und Entscheidungskompetenz besteht also das Interesse, diese mit solidarischen Personen zu besetzen. Das Interesse an Personen mit einer solidarischen Haltung seitens eines Unternehmens beschränkt sich allerdings nicht nur auf das Führungspersonal. In der ökonomischen Literatur zum Personalmanagement wird betont, dass es aufgrund der Komplexität von Arbeitsprozessen in Unternehmen in vielen Bereichen zu einem Wandel von hierar93
Situationen, in denen Akteure vor die Entscheidung gestellt sind, sich entweder durch eine Handlung gegenüber anderen Akteuren verletzlich zu machen oder dies nicht zu tun, werden von Lahno (2002: 33) als Vertrauensproblem definiert.
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chischen Steuerungsketten hin zu horizontalen Organisationsstrukturen gekommen ist (vgl. Cohen/Bailey 1997; Piore 2002). In modernen Unternehmen gestaltet sich die Produktion zunehmend in selbstverwalteten Teams und Projektgruppen, was zur Folge hat, dass der einfache Arbeitnehmer eine größere persönliche Verantwortung für das Erreichen der Produktionsziele trägt, als dies in klassisch hierarchischen Unternehmen der Fall ist. Unter dieser Voraussetzung ist der Unternehmenserfolg zunehmend davon abhängig, dass Arbeitnehmer neben hervorragenden fachlichen Qualifikationen eine moralische Integrität vorweisen. Dies schließt ein, dass sie sich an Solidarnormen binden, die in einem Unternehmen existieren. In diesem Zusammenhang spielt etwa die Bereitstellungsnorm eine besondere Rolle, die von den einzelnen Arbeitnehmern verlangt, sich in ihren nichthierarchischen Projektgruppen gegenseitig hinsichtlich des Arbeitsprozesses zu kontrollieren, um auf diesem Wege dem Problem des Absentismus vorzubeugen (vgl. Sanders/Hoekstra 1998; Sanders et al. 2005). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Individuen von ihren Kooperationspartnern und Organisationen von ihren Mitgliedern wünschen, dass sie die Bereitschaft zu einer Solidarnormbindung aufweisen. Die Institutionalisierung einer Solidarnormbindung als indirektes Zwischengut basiert aber nicht allein auf Wünschen, sondern setzt voraus, dass motivationale Dispositionen ein wesentliches Kriterium bei der Selektion von Partnern, Mitgliedern oder Positionsinhabern darstellen. Nur unter der Voraussetzung, dass motivationale Dispositionen wirklich einen Unterschied zur Folge haben, ist es für die Nutzenproduktion von Individuen von Vorteil, eine solidarische Haltung vorzuweisen. Dies wirft die Frage auf, was die Rahmenbedingungen dafür sind, dass der Wunsch nach solidarischen Personen reale Selektionsentscheidungen determinieren kann. Im Folgenden werde ich argumentieren, dass dies im Wesentlichen drei Bedingungen sind: ökonomischer Wettbewerb, allgemeine Assoziationsfreiheit und demokratische Organisationsstrukturen. Ein ökonomischer Wettbewerb wird durch einen ökonomischen Markt gewährleistet. Märkte lassen sich als Instanzen der Realisierung von Freiheit interpretieren, wobei der Kern des ökonomischen Marktes die Vertragsfreiheit ist (Berger 2004: 249).94 Die formelle Vertragsfreiheit gewährleistet, dass Austauschprozesse zwanglos und in freier Übereinkunft der Marktteilnehmer abgewickelt werden. Durch diese Vertragsfreiheit wird es möglich, dass Fragen der moralischen Orientierung zu einem Kriterium des ökonomischen Tauschs werden können. So können Arbeitgeber moralische Orientierungen zum Kriterium für die Einstellung und Beförderung von Arbeitnehmern machen. Aber auch die 94
Berger stellt heraus, dass die Bewertung von Märkten als Instanzen der Freiheit nicht als eine neoliberale Ideologie abgetan werden kann, sondern völlig unabhängig von einer politischen Bewertung des Marktes Gültigkeit besitzt (Berger 2004: 249).
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Arbeitnehmer können, da Arbeitsverhältnisse grundsätzlich freiwillig eingegangen werden, moralische Kriterien bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes anlegen (bspw. das Kriterium, ob sich ein Betrieb gegenüber seinen Mitarbeitern fair verhält oder ob er Betriebsräte zulässt). Bei ungleichen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Marktteilnehmern kann es allerdings schnell dazu kommen, dass trotz der Gewährung einer Vertragsfreiheit die praktische Wahlfreiheit für eine Partei eingeschränkt ist. Das Verhältnis zwischen einer formellen Vertragsfreiheit und einer praktischen Wahlfreiheit lässt sich mit Jon Elsters analytischer Unterscheidung zwischen Zwang (coercion) und Nötigung (force) präzisieren (1985: 211 ff.). Während sich der Begriff des Zwangs auf formelle Einschränkungen bezieht, verweist der Begriff der Nötigung auf pragmatische Einschränkungen, die sich aus den gegebenen Randbedingungen eines Tauschs ableiten. So kann ein Arbeitsuchender durch den Umstand, dass es vor Ort nur ein Unternehmen gibt, genötigt sein, ein Arbeitsverhältnis mit einem unfairen Unternehmen einzugehen, aber niemand zwingt ihn dazu. Ebenso kann ein Unternehmen aufgrund des mangelnden Angebots an geeigneten Arbeitskräften genötigt sein, eine freie Stelle mit einem Bewerber zu besetzen, an dessen moralischen Qualitäten Zweifel bestehen, aber auch hier ist kein Zwang im Spiel. Neben solchen Marktpositionen können auch informelle Normen existieren, durch welche das Wettbewerbsprinzip ausgehebelt wird. So können Familiennormen einen kleinen Betrieb zur Einstellung von Familienangehörigen nötigen, obwohl es auf dem Markt unter Umständen bessere und moralischere Kandidaten gibt. Damit ein ökonomischer Wettbewerb existiert, in dessen Rahmen motivationale Dispositionen tatsächlich zu einem Selektionskriterium werden können, bedarf es nicht nur einer Vertragsfreiheit, sondern darüber hinaus der Abwesenheit von Monopolstellungen und wettbewerbsunterminierenden informellen Normen. Sind diese Bedingungen erfüllt, kann es sich für einen Arbeitsuchenden, der in Konkurrenz zu anderen Mitbewerbern steht, als ein entscheidender Vorteil herausstellen, eine solidarische Orientierung aufzuweisen. Aber auch für Unternehmen kann es sich in ihrem Bemühen um gute Angestellte und in der Konkurrenz zu anderen Unternehmen lohnen, wenn sie eine solidarische Haltung gegenüber ihren Angestellten aufweisen. Ein Recht auf freie Assoziation ermöglicht Personen, sich freiwillig zur Verfolgung ihrer Ziele mit Menschen ihrer Wahl zusammenzuschließen und sich von ihnen wieder zu trennen. Durch ein solches Recht auf Assoziationsfreiheit ist die freie Wahl von Ehepartnern ebenso abgedeckt wie der freie Zusammenschluss zu Vereinen, politischen Initiativen oder Musikgruppen. Da es im Eigeninteresse einer jeden Person ist, bei der Auswahl von Partnern Opportunisten zu meiden, kann diese Freiheit einen systematischen Vorteil für solidarische Personen begründen. Das Recht auf freie Assoziation wird in liberalen Gesellschaften
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durch entsprechende Rechtsnormen gewährleistet. Doch analog zum ökonomischen Wettbewerb ist auch hier anzubringen, dass das formelle Recht allein nicht ausreicht, um zu ermöglichen, dass motivationale Dispositionen de facto zu einem Selektionskriterium werden können. Ergänzend bedarf es einer individualistischen und freiheitlichen Kultur, die eine formelle Assoziationsfreiheit durch informelle Normen und Wertorientierungen unterstützt. Andernfalls kann es dazu kommen, dass formelle Rechte durch informelle Ansprüche untergraben werden, die eine Person dazu nötigen, mit anderen zusammenzuarbeiten, die sie sich nicht frei ausgesucht hat. Ein extremes, aber sehr anschauliches Beispiel dafür ist die informelle Regel der Zwangsverheiratung, die auch in liberalen Gesellschaften zur Anwendung kommen kann. Durch diesen Zwang wird ein Ehemarkt verhindert, auf dem sich Personen (zumindest unter anderem) durch ihre moralische Integrität als potenzielle Partner anbieten müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Demokratische Organisationsstrukturen können ebenfalls einen Beitrag dazu leisten, dass es sich für Individuen lohnt, eine solidarische Haltung anzunehmen. Da sich demokratische Organisationsstrukturen nicht auf die Politik beschränken, sondern auch in Betrieben, Schulen oder Vereinen anzutreffen sind, bleibt dieser Effekt nicht auf eine kleine Elite beschränkt, sondern kann durchaus Breitenwirkung entfalten. Allerdings geht nicht von demokratischen Strukturen an sich ein entsprechender Effekt aus, sondern nur dann, wenn die demokratischen Prozeduren vorsehen, dass konkurrierende Kandidaten zur Wahl stehen. Brennan und Hamlin (2000: 156 ff.) legen dar, dass es vor allem die Prinzipien der demokratischen Repräsentation und des freien Mandats sind, welche hinsichtlich der Entwicklung von moralischen Dispositionen förderlich sind, sofern diese Dispositionen nachgefragt werden. Von demokratischen Verfahren geht also dann ein positiver Effekt auf die Entwicklung einer Solidarnormbindung aus, wenn Akteure mit dieser Eigenschaft gegenüber Akteuren ohne diese Eigenschaft einen signifikanten Vorteil im demokratischen Wettbewerb haben. 4.3.2.3 Bedingungen für die Erkennbarkeit einer Solidarnormbindung Der Kern der vorgetragenen Argumentation ist, dass es dann im Interesse von Individuen ist, solidarisch zu sein, wenn solidarische Personen im Prozess der Nutzenproduktion gegenüber Opportunisten einen systematischen Vorteil haben. Dies setzt nicht nur voraus, dass eine Solidarnormbindung als Zwischengut institutionalisiert ist, sondern ebenfalls, dass solidarische Personen mit einem gewissen Grad an Zuverlässigkeit als solche erkannt und von Opportunisten unterschieden werden können. In der Argumentation wurde bisher davon ausgegan-
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gen, dass die motivationalen Dispositionen transparent sind und problemlos nachvollzogen werden können. Oben habe ich aber bereits darauf hingewiesen, dass eine solche Transparenz keinesfalls der Realität entspricht, sondern sie lediglich unterstellt wird, um eine konzentrierte und zielgerichtete Argumentation zu ermöglichen. An dieser Stelle geht es nun um die Bedingungen und Möglichkeiten einer validen Identifikation von Motivlagen. Anknüpfend an Weber (1980 [1922]: 4) lässt sich sagen, dass das Erkennen einer Person als solidarisch bzw. opportunistisch bedeutet, ihre Intentionen zu verstehen.95 Da eine Kongruenz zwischen einer Beobachter- und Handlungsperspektive grundsätzlich nicht möglich ist, bleibt ein solches Verstehen letztlich eine Interpretation, bei der von einer beobachtbaren Verhaltensweise auf einen „subjektiv gemeinten Sinn“ (Weber) rückgeschlossen wird. Den Verhaltensweisen kommt damit der Charakter von Signalen zu, welche auf die dahinterstehenden, aber unbeobachtbaren Motive verweisen. Wegen der Tatsache, dass sich motivationale Dispositionen nur über Rückschlüsse identifizieren lassen, sind Urteile über Motivlagen notwendigerweise immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Wenn es sich nun für ein Individuum lohnt, von anderen Akteuren als solidarisch motiviert wahrgenommen zu werden, besteht ein Anreiz, eine solidarische Orientierung lediglich vorzutäuschen. Täuscher werden sich bemühen, immer dann einen solidarischen Eindruck zu vermitteln, wenn sie unter Beobachtung stehen bzw. ein ausreichend hohes Entdeckungs- und Sanktionsrisiko für ihre Verhaltensweisen existiert. Sobald sich aber „goldene Gelegenheiten“ (Frank 1992: 69) bieten, werden sie nicht die Kosten einer Solidarnormbefolgung auf sich nehmen. Bei goldenen Gelegenheiten handelt es sich um Situationen, in denen die Entdeckung eines normwidrigen Verhaltens nicht völlig ausgeschlossen sein muss, in denen aber das Risiko so gering ist, dass es selbst dann rational erscheint, dieses einzugehen, wenn die Schädigung, die aus einer potenziellen Entdeckung erwachsen würde, einkalkuliert wird. Mit anderen Worten: Wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass die authentischen Einstellungen mit einer gewissen Zuverlässigkeit identifiziert werden, dann belegt die bisherige Argumentation lediglich, dass es für Individuen unter bestimmten objektiven Bedingungen rational ist, solidarisch zu erscheinen. Sie ist aber kein Beleg dafür, dass es für die Individuen rational sein kann, auch tatsächlich solidarisch zu sein. Wie ist es nun um die Bedingungen und Möglichkeiten bestellt, die tatsächlichen Motive von Menschen anhand von beobachtbaren Verhaltensweisen zu 95
Weber entwickelt den Begriff des Verstehens, um den Bereich und die Aufgabe der Soziologie als eine „mit dem Sinn des Handelns befasste Wissenschaft“ (1980: 4) zu bestimmen. Hier geht es freilich um ein alltägliches, nicht um ein wissenschaftliches Verstehen von Handlungen, für das sich Webers Begriff aber ebenfalls einsetzen lässt.
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entschlüsseln? Nicht wenige theoretische Ansätze sind in dieser Hinsicht sehr skeptisch. Sowohl der klassische Behaviorismus als auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns (vgl. 1984: 346 ff.) insistieren auf die Unerreichbarkeit individueller Motivlagen bzw. psychischer Systeme. Ich werde dagegen argumentieren, dass motivationale Dispositionen zwar nicht völlig transparent sind, dass Menschen sie aber durchaus identifizieren können, sofern sie über eine ausreichende Menge aussagekräftiger Beobachtungsdaten verfügen. Dies bedeutet keineswegs, dass es nicht auch zu Fehleinschätzungen kommen kann. Im Großen und Ganzen aber – so die zentrale These – kann unter noch genauer zu bestimmenden Beobachtungsbedingungen von zuverlässigen Urteilen über die motivationalen Dispositionen von Menschen ausgegangen werden. Zunächst lässt sich mit Brennan (1998: 204 ff.) behaupten, dass Menschen grundsätzlich über die Fähigkeit verfügen, zuverlässige Urteile über die charakterlichen Eigenschaften ihrer Mitmenschen zu fällen. Brennan hält es allerdings nicht für notwendig, eine solche Urteilskompetenz besonders elaboriert herzuleiten oder gegenüber Skeptikern zu verteidigen. Dies mag daran liegen, dass sich ein letzter Beweis für eine valide Urteilskompetenz nur schwer erbringen lässt und wir uns in diesem Punkt mit Plausibilitätsüberlegungen begnügen müssen. Zwei überzeugende Überlegungen werden von Brennan aufgeführt. Zunächst stellt er heraus, dass es zu unserer Alltagspraxis gehört, solche Urteile zu fällen und uns in unserem Verhalten – bspw. bei der Auswahl von Freunden, von Eheoder von Kooperationspartnern – an diesen Urteilen zu orientieren. Diese Tatsache allein ist freilich noch kein Hinweis darauf, dass unsere Urteile auch tatsächlich eine gewisse Validität haben. In Kombination mit einer einfachen evolutionstheoretischen Überlegung gewinnt diese Annahme allerdings an Plausibilität: Durch die Auswahl von Kooperationspartnern machen wir uns ihnen gegenüber verletzlich. Personen mit der Fähigkeit zu zuverlässigen Urteilen über motivationale Disposition sind in der Lage, vertrauenswürdige von weniger vertrauenswürdigen Personen zu unterscheiden und können sich so effektiv vor Ausbeutung schützen. Nimmt man an, dass dieser Vorteil bei der Auswahl von Kooperationspartnern so weit reicht, dass er auch den Reproduktionserfolg beeinflusst, ist es plausibel, davon auszugehen, dass sich evolutionär eine solche Urteilskompetenz entwickelt hat. Es lässt sich leicht der Einwand anbringen, unsere alltägliche Erfahrung zeige ebenfalls, dass Personen in ihren motivationalen Dispositionen verkannt werden. Insbesondere scheint die hartnäckige Existenz ethnischer Vorurteile ein gutes Beispiel dafür zu sein, dass Menschen häufig dazu neigen, beobachtbare Fakten zugunsten einer Vorurteilsbestätigung zu ignorieren. Dies ist zweifelsohne richtig und ein Hinweis darauf, dass nicht alle Menschen in jeder Situation von jedem in ihren wahren inneren Haltungen erkannt werden. Aber dies ist noch
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kein hinreichender Grund dafür, grundsätzlich an der Urteilskompetenz von Menschen zu zweifeln, denn eine Kompetenz zu besitzen, meint nicht, dass von ihr auch unter allen Umständen Gebrauch gemacht wird. Die Ausgangssituation, für die hier ein zuverlässiges Urteilen angenommen wird, ist die, dass eine Person einer anderen entweder Anerkennung spendet (Solidarnormbindung als primäres Zwischengut) oder aber eine Entscheidung trifft, mit ihr eine Kooperation einzugehen bzw. ihr Kompetenzen zu übertragen (Solidarnormbindung als indirektes Zwischengut). Die Person hat also ein Interesse daran, ein richtiges Urteil zu fällen, weil sie ansonsten Nachteile befürchten muss.96 Auch wenn Menschen in vielen Situationen zu vorschnellen Urteilen neigen, so lässt sich doch davon ausgehen, dass sie zumindest immer dann von ihrer vollen Urteilskompetenz Gebrauch machen, wenn für sie etwas auf dem Spiel steht. Natürlich kommt es auch in solchen Situationen zu Fehlurteilen, aber auch dieser Umstand scheint mir als grundsätzlicher Einwand nicht zu tragen, da es ebenfalls zu den empirisch beobachtbaren Fakten gehört, dass Menschen auf der Grundlage neuer Informationen inadäquate Urteile revidieren. Vor diesem Hintergrund lassen sich Fehlinterpretationen in besagten Situationen weniger als Hinweis auf eine generell fehlende Kompetenz zu urteilen werten, sondern verweisen darauf, dass zuverlässige Urteile einen bestimmten Umfang und eine bestimmte Qualität von beobachtbaren Verhaltensdaten voraussetzen.97 Demzufolge sind etwaige Probleme beim zuverlässigen Erkennen motivationaler Dispositionen nicht grundsätzlicher Art, sondern auf die äußeren Bedingungen von Beobachtungen zurückzuführen.98 In Bezug auf den Umfang lässt sich ganz allgemein sagen, dass die Chancen, dass valide Urteile gefällt werden, mit der Sichtbarkeit des Verhaltens von Personen steigen. Unter der Bedingung einer hohen Sichtbarkeit stehen Opportunisten, welche als solidarisch erscheinen wollen, vor der Herausforderung, ihre wahren Intentionen zu verbergen und nichtauthentische Motive vorzutäuschen. Dies erfordert mitunter ein hohes Maß an Konzentration sowie Geschick und die Wahrscheinlichkeit, dabei aufzufliegen, steigt mit der Häufigkeit und der Dauer solcher Inszenierungen. Daraus lässt sich ableiten, dass es für valides Urteilen 96
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Im Fall der Auswahl opportunistischer Kooperationspartner ist der Nachteil offensichtlich; im Fall eines ungerechtfertigten Zollens von Anerkennung besteht dieser darin, dass die Kosten umsonst auf sich genommen wurden und man eventuell mit einem Ansehensverlust bei der betreffenden Person rechnen muss, weil man ihr „auf den Leim“ gegangen ist. Ähnlich argumentiert auch Baurmann (1996: 412). Damit möchte ich nicht ausschließen, dass die Urteilskompetenz zwischen Personen variieren kann. Im Folgenden werde ich diesen psychologischen Aspekt allerdings nicht weiter verfolgen und von einer allgemeinen und einheitlichen Urteilskompetenz ausgehen, um mich auf eine soziologische Perspektive konzentrieren zu können, in deren Mittelpunkt die Rahmenbedingungen von Verhaltensbeobachtungen stehen.
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förderlich ist, sich regelmäßig in Face-to-Face-Situationen einen Eindruck über eine Person und ihre Verhaltensweisen zu verschaffen. Hechter (1987: 150 ff.) stellt heraus, dass Gruppen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Techniken zurückgreifen, mit denen sie das Verhalten ihrer Mitglieder öffentlich und damit beobachtbar machen. Ihm geht es bei diesen Techniken allerdings primär um eine unmittelbare Verhaltenskontrolle. Da diese Techniken aber jeweils darauf abzielen, Beobachtungsmöglichkeiten zu schaffen, erlauben sie ebenfalls das Erkennen motivationaler Dispositionen. Eine grundsätzliche Technik zur Schaffung von Beobachtungsmöglichkeiten ist die Wahl architektonischer Maßnahmen zur Schaffung möglichst offener Räume. Als Beispiel führt Hechter die unterschiedliche Gestaltung von Büros in den USA und in Japan auf. Während es in den USA eher üblich ist, dass Angestellte einen abgeschirmten Arbeitsplatz haben, sind in Japan offene Arbeitsplätze die Regel. Eine größere Sichtbarkeit unter Kollegen fördert nicht nur eine größere Verhaltenskonformität, sondern lässt auch ein besseres Urteil über die allgemeinen motivationalen Dispositionen zu. Opportunisten dürfte es unter der Bedingung einer Dauerbeobachtung schwerfallen, ihre wahren Motive konsequent hinter einer vorgespielten solidarischen Fassade zu verbergen. Eine weitere Technik ist die Initialisierung öffentlicher Rituale, zu denen regelmäßige religiöse Zeremonien ebenso zählen wie turnusmäßig einberufene Mitgliederversammlungen in Vereinen oder Meetings in Unternehmen. Solche Face-to-Face-Zusammenkünfte dienen nicht nur dazu, ein gemeinsames Ziel zu realisieren oder Sachfragen zu lösen, sondern ebenfalls dazu, sich unmittelbare Eindrücke von Personen zu verschaffen. Eine weitere von Hechter aufgeführte Technik ist die konsensuelle Entscheidungsfindung. Ein solcher Prozess verlangt lange Beratungen und Diskussionen, in die sich jeder einbringen muss. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich Opportunisten in Widersprüche verstricken und so ihre wahren Intentionen offenbaren. Die Chancen auf valide Urteile über motivationale Dispositionen steigen nicht nur mit der Quantität an Beobachtungsmöglichkeiten, sondern ebenfalls damit, dass besonders aussagekräftige Informationen über Personen zur Verfügung stehen. Wie oben bereits erwähnt, kommt Verhaltensweisen ein Signalcharakter zu. Signale unterscheiden sich dabei hinsichtlich ihrer jeweiligen Aussagequalität. So gibt es bestimmte Verhaltensweisen, die jeweils ein sehr deutliches Signal für eine solidarische bzw. opportunistische Gesinnung darstellen, während es sich bei anderen Verhaltensweisen um schwächere Signale handelt. In Anlehnung an Franks Signaltheorie (1992: 88 ff.) lassen sich zwei Qualitätskriterien für die Aussagekraft von Signalen hervorheben: Bei einer Verhaltensweise handelt es sich dann um ein aussagekräftiges Signal, wenn sie sich erstens nur schwer oder zumindest nur zu sehr hohen Kosten imitieren lässt und wenn
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sie zweitens aus anderen Gründen entstanden ist, als motivationale Dispositionen zur Schau zu stellen. Eine Verhaltensweise, welche beide Kriterien vereint und deswegen als ein gutes Beispiel für die Signalisierung einer solidarischen Haltung dienen kann, ist die langfristige Übernahme eines Ehrenamtes. Ein solches freiwilliges Engagement signalisiert eine gewisse solidarische Haltung und kann Individuen einen großen Vorteil bspw. bei der Bewerbung um einen Job einbringen. Zentral ist vor allem, dass es für Opportunisten eine zu kostspielige Angelegenheit sein dürfte, nur aus strategischen Gründen ein Ehrenamt für eine erhebliche Dauer zu übernehmen. Darüber hinaus haben Ehrenämter weder ausschließlich noch in erster Linie die Funktion, motivationale Dispositionen sichtbar zu machen. Sie sind aus diesem Grunde auch kein aktives, sondern ein passives Signal (Frank 1992: 92 ff.). Dies bedeutet, dass wahrhaftig solidarisch disponierte Menschen nicht deswegen ein Ehrenamt ausüben, weil sie dadurch ihre innere Haltung demonstrieren, sondern weil sie sich für eine Sache engagieren wollen. Ein weiteres Argument ist, dass solidarisch disponierte Personen ein hohes Eigeninteresse daran haben, dass sie von ihren Mitmenschen in ihrer Motivhaltung erkannt und dass gleichzeitig Opportunisten entlarvt werden (Brennan 1998: 205; Brennan/Hamlin 2000: 44). Aus diesem Grunde werden sie aus Eigeninteresse solche Signale aussenden bzw. Informationen über sich offenbaren, von denen zuverlässig auf ihre motivationalen Dispositionen geschlossen werden kann. Unter dieser Bedingung kann es leicht zu einer Enthüllungslawine kommen, da die anderen nun ebenfalls gezwungen sind, entsprechende Informationen über sich preiszugeben – selbst dann, wenn diese erheblich weniger vorteilhaft für sie sind (vgl. Frank 1992: 94 ff.). Sorgen solidarische Personen durch umfangreiche Informationspreisgabe dafür, dass ihre Umwelt von ihrer Haltung erfährt, geraten Opportunisten unter den Druck, ebenfalls entsprechende Informationen zu offenbaren. Dabei kann es aber allzu leicht passieren, dass ihre wahre Haltung entlarvt wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es für Individuen nur dann rational ist, eine solidarische Haltung zu erwerben, wenn sie davon ausgehen können, dass sich solidarische von opportunistischen Personen verlässlich unterscheiden lassen. Da Menschen eine Urteilskompetenz bezüglich motivationaler Dispositionen besitzen und sie auch dazu motiviert sind, von dieser Gebrauch zu machen, sind grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit valider Urteile unbegründet. Ein valides Urteilen setzt allerdings voraus, dass eine ausreichende Datenlage existiert. Diese ist gewährleistet, wenn umfangreiche Möglichkeiten zur Beobachtung des Verhaltens von Personen gegeben sind und/oder aussagekräftige Signale existieren. Ein valides Urteilen ist damit ganz wesentlich von Bedingungen der Sichtbarkeit des Verhaltens abhängig.
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4.3.2.4 Solidarnormbindung, knappe Ressourcen und relative Preise Damit es sich für ein Individuum lohnt, seinen natürlichen Opportunismus zugunsten einer Solidarnormbindung zu suspendieren, müssen neben den kulturellen auch bestimmte materielle Produktionsbedingungen erfüllt sein. Zwei Aspekte spielen dabei eine zentrale Rolle: das Budget eines Akteurs und der relative Preis einer Solidarnormbindung. Das Budget umfasst die Gesamtheit der einem Akteur zur Verfügung stehenden Ressourcen, welche er in die Produktion von Zwischengütern investieren kann. Jede Solidarnormbindung impliziert, dass ein bestimmter Teil des Budgets reserviert ist und damit nicht mehr zur flexiblen Verwendung zur Verfügung steht. Da Akteure im Rahmen ihrer Nutzenproduktion dafür Sorge tragen müssen, dass sie ihre knappen Ressourcen in die Produktion einer Vielzahl von Zwischengütern investieren, kommt diesen Opportunitätskosten für die Rationalität einer Solidarnormbindung eine herausragende Bedeutung zu. Es kann leicht zu der Inkompatibilität kommen, dass die Realisierung des Zwischenguts einer Solidarnormbindung die Realisierung anderer für die Nutzenproduktion zentraler Zwischengüter erschwert oder gar unmöglich macht. Das ist etwa der Fall, wenn die Bindung an Solidarnormen im Rahmen der Familie, einer religiösen Gemeinschaft, eines Unternehmens etc. so viel Zeit oder andere Ressourcen in Anspruch nimmt, dass Investitionen in den Beruf, in das Freundschaftsnetzwerk o. ä. empfindlich eingeschränkt werden. Damit sich eine Solidarnormbindung für einen Akteur als rational darstellt, muss er über ausreichende Ressourcen verfügen, sodass es nicht zu den Opportunitätskosten der Bindung gehört, dass andere zentrale Zwischengüter nicht realisiert und damit bestimmte Bedürfnisse nur unzureichend befriedigt werden können. Damit wird deutlich, dass die Rationalität der Bindung an eine bestimmte Solidarnorm vor dem Hintergrund unterschiedlicher Budgetbedingungen verschiedener Akteure variieren kann. Für jene Akteure, die in einem hohen Maß über die Ressourcen verfügen, welche durch eine Solidarnormbindung in Anspruch genommen werden, kann sich eine solche Bindung als rational darstellen, während sie sich für andere Akteure aufgrund ihrer ungünstigeren Budgetbedingungen als irrational erweist. In diesem Zusammenhang ist weiter relevant, dass sich mit dem Wandel des individuellen Budgets auch die Rationalitätsbedingungen ändern können. Der Eintritt in das Berufsleben oder die Elternschaft sind typische Ereignisse, durch die sich die Budgetbedingungen von Akteuren stark wandeln. Kommt es parallel nicht auch zu einer Anpassung der Solidaranforde-
4.3 Die Rationalität einer Solidarnormbindung
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rungen, sondern bleiben diese identisch, dann kann sich eine vormals rationale Solidarnormbindung nun als irrational darstellen.99 Dieser Punkt verweist auf den allgemeinen Zusammenhang, dass die Solidaranforderungen kontextgerecht ausfallen müssen, damit eine Solidarnormbindung vor dem Hintergrund eines knappen Budgets attraktiv sein kann. Ein Tennisverein spielt für die Nutzenproduktion in der Regel eine geringere Rolle als der Freundeskreis oder die Familie, was sich auch in den Solidaranforderungen niederschlagen muss. Da die Individuen ihre knappen Ressourcen in eine Vielzahl von sozialen Bereichen investieren, müssen die Solidaranforderungen innerhalb eines sozialen Bereichs in etwa dem Verhältnis entsprechen, den dieser für die Nutzenproduktion spielt. Vor dem Hintergrund, dass die Solidarkosten und die Relevanz einer Solidarnormbindung für die Nutzenproduktion in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen, ist es falsch, von der einfachen Annahme auszugehen, dass sich eine Solidarnormbindung für einen Akteur als umso rationaler darstellt, je geringer die Solidarkosten ausfallen, wie es sich etwa aus der Low-Cost-Hypothese100 ableiten ließe. Im Allgemeinen darf wohl davon ausgegangen werden, dass die Vorteile einer Solidarnormbindung mit dem jeweiligen Anspruch von Solidarnormen variieren. Werden von Akteuren nur geringe Solidarleistungen verlangt, werden sie für eine Solidarnormbindung auch nur mit geringen Vorteilen rechnen können. Da eine Solidarnormbindung in diesem Fall keinen signifikanten Beitrag zur Nutzenproduktion leistet, kann es sich angesichts eines knappen Budgets durchaus als rational darstellen, die Ressourcen zur Produktion eines anderen Zwischenguts zu verwenden. In Ergänzung zu der Ressourcenausstattung ist der relative Preis einer Solidarnormbindung für die materielle Dimension zentral. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie viele Ressourcen ein Akteur für die Realisierung einer Solidarnormbindung im Vergleich zur Realisierung anderer Zwischengüter mit ähnlicher Effizienz aufwenden muss. Die Bindung an Solidarnormen zur Befriedigung von Anerkennungsbedürfnissen oder zur Verbesserung der Chance auf eine 99
In der Praxis dürfte allerdings damit zu rechnen sein, dass sich mit dem Wandel der Budgetbedingungen – etwa durch die Elternschaft – auch die Solidaransprüche wandeln, mit denen Akteure in ihrem Freundeskreis, unter Kollegen oder im Verein konfrontiert werden. Vor diesem Hintergrund kann eine Solidarnormbindung trotz gewandelter Bedingungen bestehen bleiben. 100 Die Low-Cost-Hypothese, welche von Diekmann und Preisendörfer (1998) im Zusammenhang mit dem Umweltverhalten entwickelt wird, besagt, dass die Bereitschaft zur Orientierung an moralischen Überzeugungen auf Niedrigkostensituationen beschränkt bleibt. Vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Produktionsheuristik ist dieses Konzept allerdings zu kurz gedacht, da es die Vorteile, welche sich für Akteure aus einer Normgebundenheit ergeben können, nur unzureichend berücksichtigt. Im Rahmen der Low-Cost-Hypothese wird die Orientierung an moralischen Regeln primär unter dem Gesichtspunkt des Ressourcenverzehrs betrachtet, ohne den Investitionscharakter zu berücksichtigen. Genau dieser Investitionscharakter steht im Mittelpunkt der Perspektive, die hier eingenommen wird.
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
begehrte Position ist für einen Akteur nur dann rational, wenn er dieselben Vorteile nicht auch durch alternative Zwischengüter realisieren kann, die mit geringeren Kosten verbunden sind. Es stellt sich also die Frage nach potenziellen Substitutionsgütern, welche in der soziologischen Analyse in den Blick genommen werden müssen, um die Rationalität einer Solidarnormbindung einschätzen zu können. Werden in einem Arbeitsbetrieb außergewöhnliche berufliche Leistungen im selben Ausmaß mit Wertschätzung bedacht, wie es die Bindung an betriebsinterne Solidarnormen wird, besitzen beide als Zwischengüter dieselbe sozial definierte Effizienz und stellen aufgrund ihrer funktionalen Äquivalenz wechselseitig vollkommene Substitutionsgüter dar. Gebietet die knappe Ressourcenausstattung eines Akteurs, nur in eines der beiden Zwischengüter verstärkt Ressourcen zu investieren, dann leitet sich aus der identischen Zwischenguteffizienz keinesfalls ab, dass beide Alternativen für einen Akteur in gleicher Weise attraktiv sind. Hier ist die Frage entscheidend, wie viele Ressourcen jede Alternative für sich in Anspruch nimmt. Ist das Erbringen von außergewöhnlichen Leistungen vergleichsweise schwierig und kostenintensiv, dann stellt sich eine Solidarnormbindung möglicherweise als die attraktivere Alternative dar bzw. umgekehrt. Dabei spielen freilich wieder individuelle Fragen der Ressourcenausstattung bzw. des Talents eine zentrale Rolle. Insbesondere für etwas leistungsschwächere Personen kann sich die Solidarnormbindung als eine attraktive Möglichkeit darstellen, um im Kontext des Arbeitsbetriebs Wertschätzung zu erfahren. Da die Preise für Zwischengüter keineswegs fix sind und sich wandeln können, gibt es auch hier ein dynamisches Element, welches zu berücksichtigen ist. So können die Anforderungen an außergewöhnliche Leistungen steigen oder sinken. Ebenso kann sich der Umfang der Solidaranforderungen und damit auch die Kosten einer Solidarnormbindung verändern. Mit dem Wandel der relativen Preise kann sich die Situation für einen Akteur unter Rationalitätsgesichtspunkten dergestalt ändern, dass das Ausweichen auf ein alternatives Zwischengut attraktiver wird. Für die soziale Praxis ist eine Analyse der Struktur der Substitutionsgüter von besonderem Interesse, da sie eine wesentliche Auskunft darüber geben kann, ob höhere Solidaranforderungen dazu führen, dass die Adressaten ihr Interesse an einer Solidarnormbindung (eine gleichbleibende, sozial definierte Effizienz als Zwischengut vorausgesetzt) verlieren oder nicht. So lässt sich also identifizieren, welcher Spielraum hinsichtlich einer Ausweitung von Solidaranforderungen besteht, ohne dass bei den Adressaten das Interesse an einer Solidarnormbindung unterminiert wird. Zusammenfassend lassen sich die folgenden beiden materiellen Bedingungen definieren, die für die Rationalität einer Solidarnormbindung erfüllt sein müssen: Erstens müssen die durch eine Solidarnormbindung beanspruchten Res-
4.3 Die Rationalität einer Solidarnormbindung
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sourcen in einer ökonomischen Relation zu dem knappen Budget eines Akteurs stehen. Zweitens müssen die Aufwendungen für eine Solidarnormbindung im Vergleich zu den Aufwendungen für funktional äquivalente Zwischengüter geringer ausfallen. 4.3.3 Zwischenbetrachtung Nachdem mit der Theorie universeller Zielgüter festgehalten wurde, dass eine Solidarnormbindung als ein Mittel zur Nutzenproduktion zu verstehen ist, ging es hier um die Frage, unter welchen Bedingungen eine Solidarnormbindung für die individuelle Nutzenproduktion rational ist. Um diese Frage zu beantworten, habe ich auf die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen zurückgegriffen, welche sich unmittelbar an die Theorie der universellen Zielgüter anschließen lässt. Mit der Unterscheidung zwischen primären und indirekten Zwischengütern als zwei verschiedenen Mitteln zur individuellen Nutzenproduktion bietet die Theorie ein starkes analytisches Werkzeug, um die Bedingungen der Rationalität einer Solidarnormbindung zu präzisieren. Als primäres Zwischengut kann eine Solidarnormbindung dem Individuum unmittelbar dazu dienen, Anerkennung (in Form von Wertschätzung, Status oder Affekt) zu erlangen, während sie sich als indirektes Zwischengut dazu eignen kann, Zugang zu Positionen oder Kooperationsbeziehungen zu verschaffen, die im Rahmen der Nutzenproduktion wertvoll sind. Anknüpfend an diese Ausgangsüberlegungen habe ich herausgestellt, dass die praktische Wirksamkeit einer Solidarnormbindung als primäres oder indirektes Zwischengut an bestimmte Rahmenbedingungen gebunden ist. Damit eine solidarnormgebundene Person für ihre persönliche Eigenschaft tatsächlich Anerkennung erfährt, bedarf es der Etablierung einer entsprechenden Anerkennungskommunikation. Eine Solidarnormbindung bietet gegenüber einer opportunistischen Haltung nur dann einen Vorteil im Streben nach bestimmten Positionen und Kooperationsbeziehungen, wenn diese persönliche Eigenschaft auch tatsächlich ein Selektionskriterium darstellt. Dies setzt wiederum bestimmte institutionelle Bedingungen voraus, wie Wettbewerb, Assoziationsfreiheit und demokratische Strukturen. Weiter wurde herausgearbeitet, dass die Rationalität einer Solidarnormbindung davon abhängt, ob in zuverlässiger Weise solidarnormgebundene Personen von Opportunisten unterschieden werden können. Eine grundsätzliche menschliche Fähigkeit zum Erkennen moralischer Dispositionen vorausgesetzt, hängen valide Urteile davon ab, ob aussagekräftige Verhaltensdaten zur Verfügung stehen, welche vor allem durch regelmäßige Face-to-Face-Kontakte gewonnen werden. Durch die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen wird
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
außerdem der Fokus auf die Tatsache gelenkt, dass die Rationalität einer Solidarnormbindung nicht nur davon abhängt, ob und inwieweit Individuen für ihre persönliche Eigenschaft belohnt werden, sondern ebenfalls von materiellen Bedingungen, d. h. vom Budget einer Person und den relativen Preisen einer Solidarnormbindung. Wie weit tragen nun diese Erkenntnisse bezüglich der Rationalität einer Solidarnormbindung im Hinblick auf die Entwicklung des explanativen Modells? Ginge man davon aus, dass rationale und eigeninteressierte Individuen bei der Entwicklung ihrer Verhaltendispositionen durch die Anreizstrukturen determiniert sind, dann wären an dieser Stelle alle Ingredienzien für das Modell zusammengetragen. Das Problem der Solidarnormbindung wäre dadurch gelöst, dass das Prinzip der rationalen Wahl von der Ebene der singulären Handlung auf die Ebene von Verhaltensdispositionen übertragen würde. In diese Richtung argumentiert etwa Nicholas Rowe (1989) in seinem Buch Rules and Institutions. In diesem postuliert er, dass rationale Individuen sich an Regeln binden, sofern ihnen die Regelbindung Vorteile verschafft, während sie diese Bindung wieder aufheben, sobald sie sich als nicht mehr vorteilhaft darstellt. Die Krux seiner Argumentation ist allerdings, dass er keine Theorie anzubieten hat, wie sich die vorteilhaften Konsequenzen einer Regelbindung in kausale Mechanismen eben dieser Bindung übersetzen. Eine Argumentation, bei der Individuen unterstellt wird, dass sie automatisch jene Verhaltensdispositionen entwickeln, die objektiv in ihrem Interesse liegen, unterliegt einem funktionalistischen Fehlschluss (vgl. zu diesem Punkt Vanberg 1993: 102 f.). Mit dem Instrumentarium der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen ist lediglich bestimmbar, unter welchen Bedingungen es im objektiven Interesse von Individuen liegt, eine Solidarnormbindung vorzuweisen, nicht jedoch, unter welchen Bedingungen sie tatsächlich zu solidarnormgebundenen Personen werden. Im nächsten Schritt hin zum explanativen Modell bedarf es deswegen einer Theorie, mit der sich bestimmen lässt, welche Rolle den objektiven Bedingungen der Nutzenproduktion im Prozess der Entwicklung von Solidarnormbindungen auf Individualebene zukommt. Um diesen Schritt zu gehen, werde ich mich der Framing-Theorie Lindenbergs bedienen. Die zentrale These wird sein, dass die Rationalität für die Nutzenproduktion zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung einer Solidarnormbindung darstellt. 4.4 Solidarnormbindung und die Bedingung beschränkter Rationalität Individuen stehen vor der Herausforderung, ihre Nutzenproduktion in einer Art und Weise zu gestalten, dass die verschiedenen Grundbedürfnisse nachhaltig
4.4 Solidarnormbindung und die Bedingung beschränkter Rationalität
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einen gewissen Grad an Befriedigung erfahren. Mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen wird deutlich, dass aufgrund der kulturellen und materiellen Restriktionen Strategien der Nutzenproduktion in ihrer Rationalität variieren können. Eine optimal rationale Nutzenproduktion würde voraussetzen, dass Individuen erstens über ein adäquates Wissen über die kulturellen und materiellen Restriktionen verfügen und zweitens willens und in der Lage sind, dieses Wissen in sämtlichen Entscheidungen zu berücksichtigen. In vielen Versionen der Rational-Choice-Theorie wird den Individuen die Kompetenz zu einem solch umfangreichen und intelligenten Management zumindest implizit zugebilligt. So wird in dem klassischen SEU-Modell101, dem wahrscheinlich wichtigsten und populärsten entscheidungstheoretischen Modell, welches auf Rational-ChoiceAnnahmen beruht, davon ausgegangen, dass Akteure zur gleichen Zeit die Handlungsfolgen verschiedener Handlungsalternativen im Hinblick auf ihre subjektive Wahrscheinlichkeit und ihren subjektiven Nutzen einschätzen sowie diese verschiedenen Handlungsalternativen miteinander vergleichen können (Lüdemann/Rothgang 1996: 278). Aus der kognitiven Psychologie stammen allerdings starke Einwände gegen diese Annahmen (vgl. Simon 1959). Dem SEU-Modell wird häufig vorgeworfen, dass es realitätsfremd sei und den Menschen in seinen Kognitions- und Kalkulationsfähigkeiten maßlos überschätze. Menschen können sich in Entscheidungssituationen immer nur auf Teilaspekte konzentrieren, weswegen die handlungsanleitende Aufmerksamkeit notwendigerweise selektiv ist. Dadurch verschwinden viele Aspekte aus dem Aufmerksamkeitsfokus, die unter Rationalitätsgesichtspunkten aber durchaus eine hohe Relevanz für eine Entscheidung haben können. Trotz einer Vielfalt an relevanten Aspekten, die in einer Situation für eine bestmögliche Interessenrealisierung zu berücksichtigen wären, unterliegt das praktische Verhalten im Alltag einer chronischen Einseitigkeit. Der Ausgangspunkt für das folgende Kapitel ist die These, dass Individuen nur über eine beschränkte Rationalität verfügen und aus diesem Grunde die objektive Rationalität einer Solidarnormbindung allein noch keine hinreichende Bedingung für die Bindung an Solidarnormen darstellt. Die Grundlage für die weitere Argumentation ist die Framing-Theorie von Lindenberg und das Diskriminationsmodell als ihr entscheidungstheoretischer Kern. Lindenberg trägt dem Umstand einer beschränkten Rationalität individueller Akteure systematisch Rechnung, ohne sich dabei allerdings von den Grundprämissen des RationalChoice-Ansatzes zu verabschieden. Die Grundidee dieses Modells ist die Vereinfachung der Zielstruktur: Menschen mögen zwar eine Vielzahl an Zielen haben; im Handlungsprozess sind sie aber nicht in der Lage, alle Ziele adäquat zu be101 SEU steht für subjective expected utility.
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
rücksichtigen, sondern konzentrieren sich in konkreten Situationen auf einzelne Handlungsziele. Diese situativen Handlungsziele und die mit ihnen verknüpften Wissensbestände werden von Lindenberg als Frames bezeichnet. Im Folgenden werde ich ein Konzept von Solidarframes entwickeln und mit diesem den Aspekt der beschränkten Rationalität in das explanative Modell einer Solidarnormbindung integrieren. 4.4.1 Das Framing-Modell 4.4.1.1 Der Begriff des Frames Der Begriff des Frames ist im Kontext der Soziologie stark mit den Arbeiten von Erving Goffman verknüpft, der mit ihm eine zentrale Kategorie seiner alltagsweltlichen Analyse bezeichnet. In Goffmans Konzeption begleiten Frames Prozesse der Situationsdeutung, indem sie die Fragen „Was passiert hier?“ und „Was geht hier eigentlich vor?“ (Goffman 1977: 16) beantworten. Bei Lindenberg erfährt das Konzept der Frames dadurch eine Erweiterung, dass er den Aspekt der Sinndeutung mit Handlungszielen verknüpft. Lindenbergs Ansatz lässt sich somit als eine handlungstheoretische Erweiterung der Goffman’schen Framing-Idee interpretieren. Die Grundthese von Lindenbergs Framing-Theorie ist, dass eine unter objektiven Gesichtspunkten optimale Nutzenproduktion allein daran zu scheitern droht, dass nicht alle nutzenrelevanten Aspekte in realen Entscheidungssituationen berücksichtigt werden (können). In den meisten Situationen konkurrieren mehrere Ziele um das knappe Gut unserer Aufmerksamkeit (Lindenberg 2001b: 322). Die eingeschränkte Rationalität zeigt sich darin, dass diese Ziele nicht in gleicher Weise berücksichtigt werden, sondern eine Selektion notwendig ist. In seiner Framing-Theorie geht Lindenberg davon aus, dass die kognitiven Kompetenzen von Menschen derart beschränkt sind, dass sie in einer Situation immer nur ein einziges Ziel verfolgen können: „ […] the [...] model assumes that the cognitive limitations (including the limited span of attention) are so severe that human beings will be able to focus only on one main goal at a time“ (Lindenberg 1993: 20, Hervorhebung im Original).
Dasjenige Ziel, welches sich in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit durchsetzt, wird in einer Situation zum Leitziel, während alle anderen Ziele Hintergrundziele darstellen. Setzt sich bspw. das Ziel Karriere als Leitziel durch, bekommt dieses in einer Situation die volle Aufmerksamkeit, während die Ziele Beziehungspfle-
4.4 Solidarnormbindung und die Bedingung beschränkter Rationalität
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ge und Gesundheit aus dem Aufmerksamkeitsfokus verschwinden.102 Mit der Leitzielfestlegung wird allerdings nicht nur in nomineller Weise bestimmt, welches Ziel in einer Situation verfolgt wird und welche Ziele nicht verfolgt werden, sondern es wird darüber hinaus ein selektiver kognitiver Prozess angestoßen, der darauf abzielt, dem Akteur eine diesem Leitziel entsprechende subjektive Situationsdefinition103 zu liefern. Mit dem Leitziel werden Wissensbestände und Überzeugungen aktiviert, die zur Selektion, Bewertung und Suche von Informationen genutzt werden. „The goal that wins out this competition strongly influences the frame within the selective cognitive process take place: certain aspects are being considered in more detail, certain categories and stereo-types are activated, certain heuristics for goal achievement, certain knowledge chunks and attitudes are being mobilized, the individual becomes particulary sensitive to certain kinds of information; certain options are selected as choice alternatives; and the alternatives will be ordered in terms of their relative contribution to goal realization“ (Lindenberg 2001b: 322, Hervorhebung im Original).
Lindenberg verfügt über eine sehr umfassende Vorstellung davon, welche kognitiven Inhalte mit einem Leitziel in einem Frame verknüpft sind. Um Lindenbergs Idee in eine strukturiertere Terminologie zu überführen, unterscheide ich zwischen drei Wissensbeständen, die Gegenstand eines Frames sind: operatives, assoziatives und ideologisches Wissen. Beim operativen Wissen handelt es sich um Wissensbestände, die sich unmittelbar auf die praktische Zielverfolgung beziehen. Darunter fallen Zielkriterien, Heuristiken und Fakten, die es einem Individuum ermöglichen, abstrakte Leitziele auf gegebene Situationen anzuwenden und perzipierte Handlungsalternativen in Bezug auf eine Realisierung des Leitziels zu beurteilen. Im Zusammenhang mit dem Ziel einer gesunden Ernährung gehören bspw. gesundheitsbezogene Informationen über Lebensmittel zum operativen Wissensbestand. Das handlungspraktische Wissen bezüglich des Ziels sicheres Autofahren beinhaltet bspw. das Wissen über die Verkehrsregeln, das Wissen über sicherheitsrelevante Eigenschaften des Autos oder das Wissen über besonders gefährliche Straßenabschnitte. 102 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Hintergrundziele keineswegs vollkommen neutralisiert werden, sondern weiterhin einen Einfluss auf die Entscheidung ausüben. Wie dieser Einfluss aussieht, wird noch zu klären sein. 103 Hier lehne ich mich an den Begriff der subjektiven Situationsdefinition von Esser an: „Die subjektive Definition der Situation bedeutet eine ‚Rahmung‘ der Situation unter einem leitenden Gesichtspunkt, unter einem Imperativ, unter einem als dominant vorgestellten ‚Modell‘ des weiteren Ablaufs. Erst vor dem so aktualisierten und alles andere dominierenden Rahmen her erfolgt dann die Selektion des eigentlichen Handelns“ (Esser 1996: 5).
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Das assoziative Wissen umfasst Erfahrungen, Erinnerungen, Symbole und Bilder im Zusammenhang mit einem Ziel, die aber nicht direkt für eine Zielrealisierung notwendig sind. In Bezug auf eine gesunde Ernährung können dies bspw. Naturbilder oder der Begriff „Bio“ sein. Auch wenn assoziatives Wissen nicht unmittelbar handlungsbezogen ist, spielt es im Prozess der Leitzielrealisierung eine zentrale Rolle. Eine Person, die das Ziel einer gesunden Ernährung verfolgt, wird gegenüber diesen Symbolen besonders sensibel sein oder sogar aktiv nach ihnen suchen. Symbole spielen aber nicht nur im Prozess der Zielverfolgung eine zentrale Rolle, sondern können auch der Auslöser dafür sein, dass ein Frame aktiviert wird, d. h., dass sich ein bestimmtes Ziel in der Konkurrenz mit anderen als Leitziel durchsetzt. Ziele sind darüber hinaus auch mit einem ideologischen Wissen verknüpft. Lindenberg (2001a: 660) bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den Ideologiebegriff von North. Dieser bezeichnet mit Ideologien ganz allgemein Weltanschauungen, die unentwirrbar mit moralischen Vorstellungen verknüpft sind (North 1992: 50). Im Rahmen eines Frames treten Ideologien in den Einstellungen und Werthaltungen bezüglich der Legitimität eines Ziels in Erscheinung. Für den ideologischen Charakter einer Überzeugung ist es dabei ganz gleich, ob sie gut begründet ist oder lediglich auf alltäglichen Ad-hoc-Beobachtungen basiert und ob sie theoretisch reflektiert oder in erster Linie affektiv besetzt ist. Zusammenfassend lassen sich Frames damit als eine Amalgamation, bestehend aus einem Ziel und den mit diesem Ziel verknüpften Handlungsstrategien, Assoziationen und Einstellungen, begreifen. 4.4.1.2 Die Funktion von Frames für das Individuum Mithilfe von Frames gelangen Individuen zu einer subjektiven Definition und Strukturierung objektiver Situationen. Sie dienen dazu, in einer Situation mit einer Vielzahl von potenziellen Zielen ein Ziel als Leitziel festzulegen und einen selektiven kognitiven Prozess anzustoßen, der auf eine Verfolgung dieses Ziels abgestimmt ist. Das Ergebnis dieses kognitiven Prozesses ist eine Diskrimination zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen hinsichtlich ihrer situationellen Relevanz für die Verfolgung des Leitziels. Der Prozess der Diskrimination wird unten detaillierter vorgestellt. An dieser Stelle reicht die Feststellung, dass Frames dem Individuum eine Antwort auf die Frage geben, was in einer Situation zu tun ist. Durch die Beantwortung dieser Frage leisten Frames einen wesentlichen Beitrag dazu, dem Individuum angesichts der Komplexität objektiver Situationen
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Handlungsorientierung zu gewähren.104 Erst die Selektivität des Frames gewährleistet, dass Individuen ein subjektiv sinnvolles Bild der Situation entwickeln können, das ihnen anzeigt, worauf es in einer Situation ankommt und was zu tun ist. Neben der Auflösung einer konstitutiven Unsicherheit ist die durch Frames gebotene Selektivität vor allem in einer zweiten Hinsicht von großer Bedeutung. Durch die Selektionsprozesse innerhalb der Zielorientierung und der Informationsverarbeitung wird es Individuen überhaupt erst möglich, ein Ziel konsequent und effizient zu verfolgen. Mit dieser Selektivität ist allerdings eine unvermeidbare Nebenfolge verknüpft, die die Nutzenproduktion insgesamt negativ beeinträchtigen kann. Diese ist, dass die Opportunitätskosten einer Zielverfolgung nicht vollständig in Rechnung gestellt werden (können). Was die Verfolgung eines Leitziels für die Realisierung alternativer Ziele impliziert, kann wegen der eingeschränkten kognitiven Kapazitäten im Handlungsprozess nicht komplett berücksichtigt werden. Wie unten gezeigt werden wird, geht von diesen alternativen Zielen zwar weiterhin aus dem Hintergrund ein Einfluss auf das Verhalten einer Person aus; doch eine unter Rationalitätsgesichtspunkten optimale Berücksichtigung aller Aspekte scheitert an der kognitiven Ausstattung des Menschen. Auch wenn die subjektive Situationsdefinition an die objektive Situation gekoppelt bleibt, wird diese objektive Situation von einem Akteur nicht in ihrer Vollständigkeit wahrgenommen und verarbeitet. Somit ergibt sich eine unaufhebbare Ambivalenz von Frames: Sie sind für das Individuum essenziell, um Unsicherheit zu absorbieren und eine effiziente Zielverfolgung zu ermöglichen; zugleich bergen sie aber die Gefahr einer zu einseitigen Handlungsorientierung, was die Nutzenproduktion empfindlich einschränken kann. 4.4.1.3 Drei Masterframes Bei der Darlegung des Framebegriffs ist bereits deutlich geworden, dass es unterschiedlichste Handlungsziele gibt und sich die Verfolgung eines Ziels in verschiedene Subziele unterteilt. Allen Frames bzw. Handlungszielen ist zwar gemeinsam, dass sie darauf abzielen, einen Beitrag zur Steigerung des subjektiven Wohlbefindens zu leisten; doch ein solcher Beitrag kann sich in verschiedensten Frames auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus ausdrücken. So finden sich in Lindenbergs Texten eine Vielzahl an größeren und kleineren Frames, etwa Geld verdienen, nicht nass werden, Unterhaltung oder ein guter Freund sein. Um diese 104 Dies drückt sich handlungspraktisch etwa darin aus, dass Frames, welche nicht in der Lage sind, eine eindeutige Strukturierung der Situation zu bieten, von den Individuen wieder verworfen werden. Dieser Punkt wird im Zusammenhang mit der Darstellung des Diskriminationsmodells eingehender erläutert werden.
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große Vielzahl an Frames theoretisch zu systematisieren und analytisch zugänglich zu machen, differenziert Lindenberg zwischen drei Masterframes: dem hedonistischen, dem gewinnorientierten und dem normativen Masterframe (Lindenberg 2008; 2001a: 654 ff.). Jeder dieser drei Frames repräsentiert ein unterschiedliches Oberleitziel. Die zentrale analytische Idee ist, dass sich jedes Handeln als durch einen der drei Masterframes angeleitet interpretieren bzw. jeder situationsbezogene Frame unter einen der drei Masterframes subsumieren lässt. Im hedonistischen Frame steht das Lustempfinden eines Individuums im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit und Handlungsintention. Sein zentrales Ziel ist es, durch den Einsatz eines primären Zwischenguts unmittelbar eine Steigerung des Lustempfindens bzw. eine Minimierung des Unlustempfindens zu erreichen. Eine Steigerung des Lustempfindens liegt dann vor, wenn der Grad an Befriedigung mindestens bezüglich eines dieser Bedürfnisse verbessert werden kann (Lindenberg 2001b: 330). Durch seine Lustorientierung bezieht sich der hedonistische Frame auf das Hier und Jetzt und ist damit kurzfristig ausgerichtet. Beispiele sind Essen und Trinken, wodurch Komfort gewährleistet wird, oder die Orientierung an Benimmregeln, um Sanktionen zu vermeiden. Bei ertragsorientierten Frames geht es einem Individuum um seine langfristigen Vorteile. Das zentrale Handlungsziel besteht in einer Verbesserung der Qualität der Bedingungen der Nutzenproduktion. Im Gegensatz zum hedonistischen Frame tritt das Hier und Jetzt zugunsten einer mittel- bis langfristigen Zeitperspektive zurück. Das Ziel, die Mittel zur Nutzenproduktion zu verbessern, äußert sich in einem Investitionsverhalten. Ein klassisches Beispiel sind Investitionen in das eigene Humankapital (Bildungsabschlüsse, Verbesserung technischer Fähigkeiten etc.), welches in die Nutzenproduktion als Zwischengut eingebracht werden kann. Aber auch der Kauf eines Autos oder der Eintritt in ein Kooperationsnetzwerk lassen sich als ein solches Investitionsverhalten interpretieren. Das leitende Handlungsziel normativer Frames ist, eine Norm zu realisieren. Der Akteur strebt aus intrinsischer Motivation eine Normbefolgung an, weil er ein solches Verhalten als richtig ansieht. Unter der Voraussetzung eines normativen Frames steht die subjektive Situationsdefinition unter dem Imperativ der normativen Anforderungen. Während der Akteur im hedonistischen Frame eine kurzfristige und im gewinnorientierten Frame eine langfristige Nutzenkalkulation ansetzt, verzichtet er im normativen Frame gänzlich auf eine solche: eine Norm wird kategorisch befolgt und die perzipierten Handlungsalternativen werden nach dem Kriterium der Normrealisierung beurteilt bzw. geordnet und nicht danach, was eine Normbefolgung für die eigene Situation für Vorteile bzw. Nachteile bringt. Unter der Bedingung des normativen Frames nimmt der Akteur
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gegenüber der Norm damit einen internen Standpunkt im Sinne von Hart (vgl. 2.1.2) ein. Alle drei Masterframes werden von Lindenberg als eine Operationalisierung des übergeordneten Motivs der Verbesserung der eigenen Situation im Prozess der Nutzenproduktion eingeführt. Während der Bezug zur Nutzenproduktion bei dem hedonistischen und dem ertragsorientierten Masterframe offensichtlich ist, stellt er sich im Zusammenhang mit dem normativen Frame als verschleiert dar (Lindenberg 2001a: 659). Die Verschleierung lässt sich dahingehend verstehen, dass es beim normativen Masterframe nicht entscheidend ist, inwiefern die einzelne Handlung bzw. die einzelne Normbefolgung unmittelbar eine Verbesserung der Situation des Individuums bewirkt, sondern inwiefern es für das Individuum insgesamt von Vorteil ist, die persönliche Eigenschaft einer intrinsischen Motivation im Hinblick auf eine Normbefolgung vorzuweisen. Dies ist allerdings nur dann der Fall, wenn eine Normbindung ein Zwischengut für die individuelle Nutzenproduktion im oben beschriebenen Sinne darstellt. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Verzicht auf eine vorteilsgesteuerte Einzelfallabwägung, sei sie durch hedonistische oder ertragsorientierte Erwägungen motiviert, dazu führen, dass sich die Situation eines Individuums insgesamt und mittel- bis langfristig verbessert. Im Zusammenhang mit der Handlungsbedeutung der drei Masterframes ist relevant, dass diese jeweils eine unterschiedliche A-priori-Stärke aufweisen (Lindenberg 2001a: 660 ff.; Steglich 2003: 81 ff.). Die A-priori-Stärke verweist auf die natürliche Stärke motivationaler Impulse, die von den drei Oberleitzielen ausgehen. Diese natürliche Stärke leitet sich aus der Verbindung ab, die zwischen einem Masterframe bzw. einer mit ihm korrespondierenden Handlung und einer Zielgutrealisierung existiert. Je kürzer und direkter diese Verbindung, desto stärker der natürliche motivationale Impuls und desto größer die relative Apriori-Stärke eines Masterframes. Indem der hedonistische Masterframe direkt Zielgüter in den Blick nimmt und eine Handlung innerhalb dieses Masterframes ohne Umwege auf die Realisierung dieser Zielgüter abzielt, ist diese Verbindung am unmittelbarsten. Aus diesem Grund werden hedonistischen Zielen die stärksten motivationalen Impulse zugeschrieben. Der ertragsorientierte Masterframe nimmt die mittlere Position ein. Im Unterschied zum hedonistischen ist er lediglich über den Umweg der Verbesserung der Bedingungen der Nutzenproduktion mit Zielgütern verknüpft. Da die Entbehrungen des Augenblicks aber unmittelbar zu einer Verbesserung der eigenen Situation führen, gehen von diesen Zielen natürlicherweise stärkere motivationale Impulse aus als von den normativen Zielen. Innerhalb des normativen Frames ist der Weg von der Einzelhandlung zur Zielgutrealisierung mit Abstand der längste, da es hier nicht die einzelne Handlung selbst, sondern die
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sich durch eine Vielzahl von Einzelhandlungen konstituierende Eigenschaft einer moralischen Persönlichkeit ist, welche einen Vorteil verspricht. Aus diesem Grunde weisen normative Frames die relativ geringste A-priori-Stärke auf. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss darauf hingewiesen werden, dass sich aus der A-priori-Stärke der Masterframes keinesfalls eine klare Motivationshierarchie ableiten lässt. Lindenberg (2001a: 662) stellt heraus, dass aus framingtheoretischer Perspektive nicht von einer fixen Hierarchie menschlicher Zielorientierungen gesprochen werden kann. Welchen Einfluss die A-prioriStärke eines Masterframes auf die Zielorientierung in einer Situation tatsächlich nimmt, wird unten im Zusammenhang mit dem entscheidungstheoretischen Kern der Framing-Theorie – dem Diskriminationsmodell – konkretisiert. An dieser Stelle sei lediglich darauf hingewiesen, dass eine Vielzahl an Faktoren einen Einfluss auf die situationelle Zielorientierung nimmt und dass es sich bei der Apriori-Stärke der Masterframes nur um einen dieser Faktoren handelt. So können starke hedonistische Impulse durch konträre gewinnorientierte oder normative Hintergrundziele in Schach gehalten werden; gleichsam kann die vergleichsweise schwache A-priori-Stärke normativer Ziele durch starke ideologische Überzeugungen und unterstützende Hintergrundziele gestärkt werden. 4.4.2 Solidarframes 4.4.2.1 Solidarnormbindung revisited Vor dem Hintergrund der Framing-Theorie ergibt sich ein modifizierter Blick auf eine extrinsische und intrinsische Motivation zur Solidarnormbefolgung. Aus framingtheoretischer Perspektive stellt sich eine Solidarnormbindung wie folgt dar: Eine Person ist solidarnormgebunden, wenn sie im Großen und Ganzen eine Solidarnorm befolgt und dieses Verhalten durch einen normativen Frame angeleitet ist, der die Solidarnormbefolgung als eigenständiges Handlungsziel vorgibt. Die Person möchte mit der Solidarnormbefolgung also das Richtige tun und nicht etwa unmittelbar ihre Bedürfnisse befriedigen oder in eine Verbesserung der Bedingungen ihrer Nutzenproduktion investieren. Dies schließt nicht aus, dass es aus der Perspektive der objektiven Situation nicht auch hedonistische oder gewinnorientierte Argumente für eine Solidarnormbefolgung geben kann; doch diese stellen nicht die primäre Motivationsgrundlage dar. Im Folgenden werde ich die normativen Frames, welche eine Solidarnormbefolgung als Handlungsziel setzen, als Solidarframes bezeichnen. Neben der Verankerung der Solidarnormbefolgung als einem eigenständigen Handlungsziel setzt sich ein Solidarframe aus operativen, assoziativen und
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ideologischen Wissensbeständen zusammen. Das operative Wissen ist jenes, welches eine Person in die Lage versetzt, eine Solidarnorm in einer konkreten Situation erfolgreich befolgen zu können. Dabei handelt es sich zuvörderst um das Wissen über normative Anforderungen und über Kriterien der Normerfüllung. Das assoziative Wissen umfasst persönliche Erfahrungen, Erinnerungen und Symbole, die mit dem Ziel der Solidarnormbefolgung verknüpft sind. Beim ideologischen Wissen handelt es sich um Einstellungen und Überzeugungen, die ein Akteur im Zusammenhang mit der Solidarnorm aufweist und die ihm eine Antwort auf die Frage geben, warum eine Solidarnorm legitim, ihre Befolgung geboten und ihre Missachtung falsch ist. In den ideologischen Wissensbeständen manifestieren sich die kritisch-reflexive Haltung (Hart) und der Legitimitätsglauben (Weber), die oben als wesentliche Merkmale einer intrinsischen Motivation und einer Solidarnormbindung bestimmt wurden. Wird bei einer Person ein Solidarframe aktiviert, ist die subjektive Definition der Situation durch das Ziel der Solidarnormbefolgung und die mit diesem Ziel verknüpften Wissensbestände charakterisiert. Handlungsziel Operatives Wissen Assoziatives Wissen Ideologisches Wissen
Solidarframe Solidarnormbefolgung Das Wissen um Solidaransprüche, Zielkriterien der Normerfüllung und weitere handlungspraktische Wissensbestände Persönliche Erfahrungen und Symbole im Zusammenhang mit dem Handlungsziel der Solidarnormbefolgung Überzeugungen bezüglich der Legitimität der Solidarnorm und der Gebotenheit einer persönlichen Solidarnormbefolgung
Zur Veranschaulichung lässt sich exemplarisch der Solidarframe Streikbeteiligung konstruieren. Das mit diesem Solidarframe verknüpfte Ziel ist, sich durch die Beteiligung an einem Streik richtig zu verhalten. Zur Realisierung dieses Ziels stellt der Frame ein operatives Wissen bereit, welches sich auf praktische Anforderungen des richtigen Streikverhaltens bezieht – bspw. die Regel, dass Streikbrecher zu sanktionieren sind. Assoziativ sind mit dem Ziel der Streikbeteiligung persönliche Erinnerungen an frühere Streiks sowie bestimmte Symbole verknüpft, wie etwa die Gewerkschaftsfahne oder Streikparolen. Das mit dem Solidarframe verknüpfte ideologische Wissen setzt sich aus Überzeugungen dazu zusammen, warum der Streik ein legitimes Ziel und die Beteiligung am Streik für jedes Betriebsmitglied eine moralische Pflicht darstellt. Vor dem Hintergrund der eingeführten Framing-Theorie konkretisiert sich an dieser Stelle die Frage nach den Bedingungen einer Solidarnormbindung zur Frage nach den Bedingun-
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gen einer Genese von Solidarframes und ihrer Handlungsdominanz im Entscheidungsprozess. 4.4.2.2 Die Genese von Solidarframes Bei Solidarframes handelt es sich wie bei allen Frames um eine Amalgamation aus einem Handlungsziel und den mit diesem verknüpften verschiedenen Wissensbeständen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage nach der Genese von Solidarframes in zwei Unterfragen aufteilen: erstens, wie es überhaupt dazu kommt, dass Individuen eine Solidarnormbefolgung zu ihrem eigenständigen Handlungsziel machen, d. h. einen Solidarframe in ihr Framerepertoire aufnehmen; zweitens, wie Individuen das operative, assoziative und ideologische Wissen erwerben, durch welches das Ziel der Solidarnormbefolgung praktisch angeleitet wird. Im Rahmen der Framing-Theorie wird unterstellt, dass alle Frames darauf abzielen, Nutzen zu generieren. Vor diesem Hintergrund ist die Verankerung der Solidarnormbefolgung als eigenständiges Handlungsziel ebenfalls mit Rekurs auf Nutzengesichtspunkte zu erklären. Im Unterschied zu hedonistischen und ertragsorientierten Frames sind normative Frames allerdings nicht per Definition nutzbringend; ihr Nutzen ergibt sich vielmehr erst aus bestimmten Rahmenbedingungen, durch die gewährleistet ist, dass ein normativer Frame einen signifikanten Beitrag zur Produktion subjektiven Wohlbefindens leistet. Bezüglich von Solidarframes lassen sich mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen diese Rahmenbedingungen in folgender Weise bestimmen: Eine Solidarnormbindung leistet dann einen Beitrag zur Nutzenproduktion, wenn es sich bei ihr um ein Zwischengut handelt – d. h., wenn eine Solidarnormbindung als ein Mittel zur Befriedigung von Anerkennungsbedürfnissen (Solidarnormbindung als primäres Zwischengut) und/oder als ein Mittel zur Herstellung des Zugangs zu begehrten Gruppen bzw. Positionen (Solidarnormbindung als indirektes Zwischengut) institutionalisiert ist. Diese Nutzenfundierung von Solidarframes hat Implikationen für ihre Bestandsbedingungen. Der Fortbestand eines einmal gebildeten und in das Repertoire aufgenommenen Solidarframes bleibt darauf angewiesen, dass der Frame einen signifikanten Beitrag zur Nutzenproduktion leistet. Ändern sich die Rahmenbedingungen und stellt sich ein Solidarframe als nicht mehr dienlich dar, dann droht ein Verfall dieses Frames. Der Umstand, dass eine nutzenfundierte Normbindung auf eine stetige Verstärkung angewiesen bleibt, wird von Baurmann (1996: 336) sehr anschaulich mit dem Bild einer Leiter und einer Säule auf den Punkt gebracht: Die Bedingungen, welche die Grundlage dafür
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bilden, dass sich überhaupt eine Normbindung entwickelt, werden „nicht wie eine Leiter nach ihrem Gebrauch überflüssig, sondern sind Säulen, auf die sie permanent angewiesen bleibt“.105 Mit der These der Nutzenfundierung106 lässt sich bestimmen, unter welchen Bedingungen Individuen eine Solidarnormbefolgung zu einem eigenständigen Handlungsziel machen. Aus framingtheoretischer Perspektive handelt es sich dabei aber im Grunde genommen erst um die Grundstocklegung eines Solidarframes. Neben dem Handlungsziel bestehen Solidarframes aus operativen, assoziativen und ideologischen Wissensbeständen. Insbesondere im Zusammenhang mit den Ideologien stellt sich die Frage, wie Individuen zur Entwicklung von Einstellungen und Überzeugungen kommen, die das Handlungsziel der Solidarnormbefolgung stützen. Entwickeln Individuen quasi automatisch die Überzeugung, dass die Solidarnormen, an die es sich im Sinne einer Nutzenproduktion zu binden lohnt, auch richtig sind? Oder vollzieht sich eine Entwicklung von Einstellungen und Überzeugungen unabhängig von Nutzengesichtspunkten? Diese Fragen lassen sich mit Lindenbergs Framing-Theorie nicht beantworten. Vor dem Hintergrund allerdings, dass Ideologien ein integraler Bestandteil von Frames sind und, wie ich unten genauer zeigen werde, auch im Handlungsvollzug eine herausragende Rolle spielen, stellt die Ausblendung dieser Fragen einen Schwachpunkt dar. Die Framing-Theorie hinterlässt hier eine Leerstelle, die zu schließen eine wichtige Aufgabe in der weiteren Entwicklung des explanativen Modells sein wird. 4.4.3 Solidarframes im Handlungsvollzug Die Idee der Nutzenfundierung ist keine Innovation der Framing-Theorie, sondern die Basisthese ökonomischer Erklärungsansätze sozialen Handelns insgesamt. Mit der Framing-Theorie gerät allerdings ein Punkt besonders deutlich in den Fokus, der in vielen ökonomischen Ansätzen nur unzureichend berücksichtigt wird: Eine Rationalität bezüglich der Nutzenproduktion ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine persönliche Normbindung. 105 Baurmanns Argumentation bezieht sich zwar auf Handlungsdispositionen; sie lässt sich aber hier direkt auf Frames übertragen. 106 Eine Nutzenfundierung stellt den essenziellen Kern eines jeden Erklärungsansatzes intrinsischer Motivation dar, der sich als ökonomisch versteht. Dabei ist es gleich, ob eine ökonomische Erklärung framingtheoretisch ausgerichtet ist (wie die vorliegende) oder mit dem Konzept der Handlungsdispositionen arbeitet (vgl. etwa Gauthier 1986; Baurmann 1996). Die Ansätze haben gemeinsam, dass sie sich von der klassischen sozialisationstheoretischen oder interalisierungstheoretischen Perspektive insofern unterscheiden, als sie eine intrinsische Motivation zur Normbefolgung an die persönliche Nutzenproduktion koppeln.
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Die Aussicht auf mittel- bis langfristige Vorteile allein reicht nicht aus, um eine stabile und dauerhafte Handlungsdominanz des Solidarframes zu gewährleisten. Zwischen der einzelnen, anreizunabhängigen Solidarnormbefolgung und den handfesten Vorteilen, die einem daraus erwachsen, eine solidarische Person zu sein, liegt ein vergleichsweise langer Weg. Daraus leitet sich ein grundsätzlich prekärer Charakter von Solidarframes ab: Trotz ihrer Rationalität hinsichtlich der Nutzenproduktion ist die Handlungsdominanz von Solidarframes ständig einer Bedrohung durch gegenteilige situationelle Versuchungen ausgesetzt. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Rationalität einerseits und situationellen Versuchungen andererseits gerät nur dann in den Blick, wenn zwischen der Verankerung eines Solidarframes im Framerepertoire und einer tatsächlichen Handlungssteuerung durch diesen Frame analytisch unterschieden werden kann. Mit Lindenbergs Framing-Theorie ist dies möglich. Der Prozess framegesteuerten Handelns wird von ihm mit dem Diskriminationsmodell, welches den entscheidungstheoretischen Kern der Framing-Theorie darstellt, erfasst. Im Folgenden werde ich das Diskriminationsmodell im Hinblick auf das zu entwickelnde explanative Modell einer Solidarnormbindung darstellen und die Bedingungen identifizieren, unter denen ein Solidarframe Handlungsdominanz erlangt. Um dieses Ziel möglichst konsequent zu verfolgen, werde ich nicht alle Aspekte des Diskriminationsmodells darstellen und diskutieren; auf eine formale Darstellung werde ich dabei ebenso verzichten wie auf eine Diskussion der experimentellen Evidenzen dieses Modells.107 Den Prozess solidarframegsteuerten Handelns werde ich in zwei Schritten darlegen: Im ersten Schritt geht es um die Aktivierung eines Solidarframes, im zweiten um den Prozess des framegesteuerten Entscheidungsverhaltens. 4.4.3.1 Die Aktivierung eines Solidarframes Akteure verfügen über eine Vielzahl von unterschiedlichen Zielen, die sie im Rahmen ihrer Nutzenproduktion verfolgen. Diese Ziele stehen in einer Situation quasi abrufbereit zur Verfügung, um handlungsdominant zu werden.108 Da in einer jeden Situation nur ein Ziel zum Frame werden kann, stellt sich die Frage, wie es aus dem Repertoire von Zielen zur Auswahl des Leitziels kommt. Auf das 107 Formale Darstellung des Modells: Lindenberg (1993). Experimentelle Überprüfung: Lindenberg (1988, 1993); Steglich (2003). Eine kritische Auseinandersetzung findet sich bei Lüdemann/Rothgang (1996). 108 Von Steglich wird dieser Sachverhalt sehr anschaulich wie folgt ausgedrückt: „Actors are assumed to enter a behavioral decision situation with a number of goals g1…gm, each waiting for occasions and opportunities for being pursued“ (Steglich 2003: 19, Hervorhebung weggelassen).
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hier interessierende Thema bezogen: Wie kommt es dazu, dass für einen Akteur in einer Situation die Solidarnormbefolgung zum Leitziel wird und damit gleichzeitig hedonistische oder gewinnorientierte Ziele in den Hintergrund gedrängt werden? Das Diskriminationsmodell sieht prinzipiell zwei Möglichkeiten der Frameaktivierung vor: erstens die initiale Aktivierung von Frames und zweitens die Ablösung eines Frames durch einen anderen, weil sich ersterer nach seiner Aktivierung für einen Akteur als unbrauchbar erwiesen hat. An dieser Stelle werde ich mich zunächst nur mit der ersten Möglichkeit beschäftigen. Die initiale Aktivierung von Frames erfolgt aufgrund von situationalen Stimuli: „It is assumed that at first situational cues make one of these goals the salient frame“ (Lindenberg 1993: 22). Bei diesen „situational cues“ handelt es sich um Symbole, welche bei einem Akteur mit bestimmen Zielorientierungen verknüpft sind und die auf diese Weise als Aktivierungsstimuli ebendieser Zielorientierungen fungieren. Die Symbole können sehr unterschiedlicher Art sein und in ihrem Abstraktionsgrad variieren. So kann es sich etwa bei Sanktionsankündigungen für ein Fehlverhalten oder bei Verkehrspolizisten um Symbole handeln, deren Wahrnehmung bei einem Akteur mit bestimmten Handlungszielen einhergeht, etwa dem Handlungsziel der Sanktionsvermeidung oder der Normbefolgung. Spieltheoretische Experimente liefern Evidenzen dafür, dass sich eine symbolische Aktivierung von Handlungszielen auch über subtilere Mechanismen vollziehen kann. Varda Libermann et al. (2004) zeigen, dass die Kooperationsrate in Experimenten zum Gefangenendilemma abhängig davon variiert, wie diese Spiele gegenüber dem Probanden gelabelt werden. Die Kooperationsbereitschaft unter Akteuren steigt signifikant, wenn dasselbe Spiel anstatt als „Community Game“ als „Wall Street Game“ bezeichnet wird. Allein die unterschiedlichen Assoziationen, welche mit den Begriffen verknüpft sind, scheinen hier unterschiedliche situationale Zielorientierungen zu aktivieren. Wichtig ist, dass die initiale Aktivierung eines Frames nicht die Folge einer rationalen Wahl ist, sondern eine spontane und adaptive Reaktion auf einen Stimulus darstellt. Personen können zwar über die Wahl von Situationen und Kontexten entscheiden, welchen Stimuli sie sich aussetzen wollen, und damit indirekt auf eine Frameaktivierung bewusst Einfluss nehmen; sind sie aber erst einmal mit einem Stimulus konfrontiert, ist der Prozess der Aktivierung der bewussten Kontrolle entzogen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei gleich darauf hingewiesen, dass die spontane Aktivierung eines Frames nicht unbedingt impliziert, dass dieser auch die Handlung bestimmt. Von einem einmal aktivierten Frame geht zwar eine gewisse Beharrlichkeit aus, doch wie oben bereits angedeutet wurde, kann es nach einer Aktivierung auch zu einem Framewechsel kommen, falls sich der zuerst gewählte Frame als nicht adäquat herausstellt.
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Auf Solidarframes übertragen bedeutet dies, dass es dann zu einer initialen Aktivierung kommt, wenn Akteure bestimmte Objekte wahrnehmen, die in ihrem assoziativen Wissensbestand als Symbol für das Handlungsziel einer Solidarnormbefolgung fungieren. Solche Objekte können etwa bestimmte Personen (Freunde, Gruppenmitglieder etc.), bestimmte Situationen (Verteilungssituationen im Freundeskreis, Not anderer Personen etc.) oder bestimmte Kommunikationsakte (Wir-Appelle, Slogans etc.) sein. Wie es zum Aufbau von signifikanten Symbolen der Solidarität kommt, die die Grundlage für die initiale Aktivierung von Solidarframes bilden, kann innerhalb der Framing-Theorie nicht beantwortet werden. Mithilfe von Randall Collins’ Theorie der Interaktionsrituale werde ich diesen Punkt zu konkretisieren versuchen.109 4.4.3.2 Solidarframes im Entscheidungsprozess Aus entscheidungstheoretischer Sicht hat ein Frame für ein Individuum nicht nur die Funktion, einen Beitrag zur Nutzenproduktion zu leisten, sondern muss zudem das grundlegende Problem der situationellen Verhaltensunsicherheit lösen. Dies geschieht dadurch, dass ein Frame erstens für eine Situation ein Leitziel vorgibt und zweitens im Hinblick auf das Leitziel zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen diskriminiert. Daher ist ein Frame für einen Akteur umso wertvoller, je eindeutiger er zwischen Alternativen unterscheidet, d. h., je klarer er eine Handlungsalternative als die angemessene auszuzeichnen in der Lage ist.110 Mit dem Diskriminationsmodell lässt sich diese Diskriminierung als das Ergebnis einer zweistufigen Evaluation fassen, die ein Akteur vor dem Hintergrund eines aktivierten Frames vornimmt. Im ersten Schritt werden die perzipierten Handlungsalternativen hinsichtlich ihres erwarteten instrumentellen Werts für die Realisierung des Leitziels bewertet. Dieses Vorgehen unterscheidet sich im Prinzip nicht vom klassischen SEUModell, außer dass ausschließlich Kosten- und Nutzenaspekte in Bezug auf das Leitziel einbezogen werden: Zu jeder perzipierten Handlungsalternative werden die erwarteten Konsequenzen hinsichtlich des Leitziels eingeschätzt und mit der
109 Allgemein lässt sich sagen, dass die initiale Aktivierung von Frames, obwohl sie im Rahmen des Diskrminationsmodells eine wesentliche Rolle spielt, von Lindenberg nur relativ rudimentär behandelt wird. Eine wesentliche Kritik am Diskriminationsmodell ist deswegen auch die, dass diese Stufe framegesteuerten Handelns nur unzureichend ausgearbeitet ist (vgl. Lüdemann/Rothgang 1996: 282; Stocké 2002: 75). 110 Vor diesem Hintergrund kommen Lüdemann und Rothgang (1996: 280) zu dem Schluss, dass im Rahmen von Lindenbergs Framing-Theorie Komplexitätsreduktion und Handlungsorientierung implizite Oberziele sind.
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subjektiven Wahrscheinlichkeit, mit der die Konsequenzen erwartet werden, multipliziert. Diese erste Evaluationsstufe lässt sich in folgender Weise beispielhaft anhand eines Solidarframes demonstrieren. Eine Person verfügt über den Solidarframe hilfsbereiter Kollege sein. Diese Person wird am Arbeitsplatz von einem Kollegen gebeten, ein Computerproblem zu lösen, und es folgt eine Aktivierung des Solidarframes. Unter Maßgabe dieses Leitziels bewertet die Person die perzipierten Handlungsalternativen danach, welche sich am besten dazu eignet, die Aufgabe möglichst effizient zu lösen. Die Bewertung findet auf dieser Stufe ausschließlich im Hinblick auf das Leitziel, dem Kollegen zu helfen, statt. Gehen wir an dieser Stelle davon aus, dass sich zwei Alternativen – eine optimale und eine suboptimale hinsichtlich der Behebung des Problems – anbieten, wobei die optimale Alternative mit einem entschieden höheren Zeitaufwand verknüpft ist. Nach der Ermittlung der Unterschiede hinsichtlich des jeweiligen Beitrags zur Leitzielrealisierung kommt es allerdings noch nicht zu einer Handlungswahl. Unter der Maßgabe eines aktivierten Frames wird also nicht automatisch die Alternative gewählt, die nach dem Kriterium der Leitzielrealisierung als die beste erscheint. Vor der Handlungswahl findet vielmehr ein zweiter Evaluationsschritt statt, bei dem die Unterschiede einer subjektiven Gewichtung unterzogen werden. Dieser Prozess der subjektiven Gewichtung ist der Kern des Diskriminationsmodells. Durch die subjektive Gewichtung entscheidet sich, wie stark der Einfluss der Unterschiede hinsichtlich der Leitzielrealisierung auf die Wahl einer Alternative ausfällt.111 Wie stellt sich diese subjektive Gewichtung nun dar? Die zentrale These des Diskriminationsmodells ist die, dass aktivierte Frames eine unterschiedlich starke Salienz vorweisen können. Der Begriff der Salienz bezieht sich auf die situationelle Dominanz eines Leitziels, d. h. auf die Intensität, mit der eine Person ein Leitziel tatsächlich verfolgt. Ist die Salienz eines Frames sehr hoch, verfolgt eine Person das Ziel mit hoher Intensität und ist in ihrer subjektiven Wahrnehmung und Bewertung der Handlungsalternativen sehr sensibel gegenüber den instrumentellen Unterschiede der Handlungsalternativen. Ist die Salienz eines Frames dagegen schwach, fällt die Leitzielverfolgung weniger intensiv aus. Die Fokussierung auf die instrumentellen Unterschiede ist im Vergleich zu einem Frame mit hoher Salienz weniger stark; dafür steigt die Sensibilität gegenüber den Opportunitätskosten der Alternativen. Während bei einer hohen Salienz die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, dass die beste Alternative zur Leitzielrealisierung 111 An dieser Stelle sei auf einen weiteren Unterschied zum klassischen SEU-Modell hingewiesen: Beim Diskriminationsmodell wählt ein Akteur eine Alternative nicht mit Sicherheit, sondern nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit, weswegen es sich bei diesem Modell um ein stochastisches Entscheidungsmodell handelt.
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gewählt wird, nähern sich die Wahlwahrscheinlichkeiten mit schwindender Salienz an: „A very salient frame will lead to a very high probability that the ‚best‘ alternative for this frame is chosen because it increases the perceived difference between the alternatives. […] The lower the salience the more equal the choice probabilities over the various alternatives get“ (Lindenberg 2001a: 653).
Bei einer sehr schwachen Salienz kommt es dazu, dass diese Annäherung so weit erfolgt, dass die Alternativen in der subjektiven Wahrnehmung eines Akteurs als indifferent erscheinen. Ist dies der Fall, erfüllt ein Frame nicht die Funktion, eine subjektive Strukturierung der Situation inklusive einer Handlungsempfehlung zu liefern, und es kommt zu einem Framewechsel. Auf die Bedingungen eines Framewechsels werde ich noch genauer eingehen. Zunächst werde ich aber erläutern, durch welche Faktoren die Salienz eines Frames bestimmt wird. Ein ganz wesentlicher Einfluss auf die Salienz geht von den Hintergrundzielen aus. Die durch die Aktivierung eines Frames in den Hintergrund gedrängten alternativen Ziele können zum Leitziel in einem unterstützenden oder aber konträren Verhältnis stehen. Hintergrundziele, die in einem unterstützenden Verhältnis zum Leitziel stehen, steigern die Salienz des Leitziels; Hintergrundziele, die in einem konträren Verhältnis zum Leitziel stehen, schwächen hingegen die Salienz des Leitziels. Die Intensität der Zielverfolgung wird also nicht zuletzt dadurch beeinflusst, welche Konsequenzen eine Handlung für die Hintergrundziele hat bzw. welche Folgen erwartet werden. Über das Konzept der Salienz werden damit die zunächst durch die Frameaktivierung ausgeschlossenen alternativen Ziele in den Entscheidungsprozess reintegriert. „Salience is a concept that acknowledges the possibility that other goals can distract from or intensify the pursuit of the major goals to varying degrees, depending on the direction and intensity of ‚externalities‘of the goal pursued in the foreground“ (Lindenberg 2001a: 653).
Zur Illustration kann hier an das bereits eingeführte Beispiel angeknüpft werden: Strebt die Person bspw. nach einer Wertschätzung durch ihren Kollegen, dann existiert ein Hintergrundziel, welches die Salienz des Solidarframes stärkt. Der höhere Zeitaufwand, der mit einer optimalen Lösung des Computerproblems verknüpft ist, fällt hier nicht negativ ins Gewicht. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der Wertschätzung weiterhin um ein Hintergrundziel handelt, welches lediglich unterstützend, aber nicht situationsdefinierend wirkt. Die Person möchte weiterhin primär durch ihre Unterstützungsleistung das Richtige tun und nicht Wertschätzung erlangen.
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Angenommen, sie hätte kein besonderes Interesse an der Wertschätzung durch ihren Kollegen, sondern ein starkes Bedürfnis, nach einem langen Arbeitstag zeitig nach Hause zu kommen. Unter dieser Voraussetzung wirkt das Entspannungsbedürfnis als konträres Hintergrundziel schwächend auf die Salienz des Solidarframes ein. Auch hier bleibt es dabei, dass die Person in erster Linie das Richtige tun und ihren Kollegen unterstützen möchte; doch das konträre Hintergrundziel sensibilisiert sie gegenüber dem negativen Effekt, den eine optimale Unterstützung auf ihr Entspannungsbedürfnis hat. Vor diesem Hintergrund nähert sich in der Wahrnehmung der Person der Wert zwischen beiden an. Oben habe ich bereits darauf hingewiesen, dass es zu einem Framewechsel kommen kann, wenn die Salienz eines Frames so schwach ist, dass er keine Diskriminierung zwischen verschiedenen Alternativen erlaubt, und somit für den Akteur nicht die Funktion erfüllt, eine klare Handlungsorientierung zu liefern. Den konträren Hintergrundzielen kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu. Diese resultiert nicht nur aus dem schwächenden Einfluss solcher Ziele auf die Salienz eines Frames, sondern vor allem daraus, dass sich bei einem Framewechsel der neue Frame aus den konträren Hintergrundzielen rekrutiert. Das Diskriminationsmodell geht davon aus, dass das stärkste der konträren Hintergrundziele, also jenes, welches den größten Anteil an der Schwächung der Salienz eines bereits aktivierten Frames hatte, zum neuen Frame wird. Dieser Punkt ist äußerst wichtig, weil er neben der spontanen Aktivierung auf einen zweiten Weg hinweist, wie ein Ziel zu einem Frame werden kann. Außerdem wird nochmals deutlich, dass mit der Aktivierung eines Frames kein simpler Verhaltensautomatismus einsetzt. Es existiert vielmehr eine Art Qualitätssicherung von Leitzeilen, indem spontan aktivierte Frames einer Prüfung unterzogen werden, die gegebenenfalls zu einer Korrektur des Leitziels führen kann (vgl. Stocké 2002: 75). Was dies für Solidarframes bedeutet, werde ich unten näher erläutern. Zunächst geht es an dieser Stelle aber weiter um die Frage, wodurch die Salienz eines Frames beeinflusst wird. Neben den Hintergrundzielen sind es die Eigenschaften des Frames selbst, welche seine Salienz bestimmen. Frames verfügen über eine Eigenstärke, die sie in den Prozess der Bestimmung ihrer situationellen Dominanz einbringen. Je größer die Eigenstärke eines Frames ist, desto weniger ist seine Salienz von unterstützenden Hintergrundzielen abhängig bzw. desto robuster ist er gegenüber konträren Hintergrundzielen. Ein wesentlicher Faktor für die Bestimmung der Eigenstärke eines Frames geht von der A-priori-Stärke des Masterframes aus, dem ein Frame untergeordnet ist. Da es sich bei Solidarframes um normative Frames handelt, wird ihre Eigenstärke nur schwach durch natürliche motivationale Impulse gestützt, wodurch sie im Vergleich zu hedonistischen
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oder gewinnorientierten Frames anfälliger für eine Schwächung durch konträre Hintergrundziele sind. Ein zweiter Faktor, der die Eigenstärke eines Frames bestimmt, sind Ideologien. Wie bereits dargelegt wurde, wird mit der Aktivierung eines Frames nicht nur festgelegt, welches Ziel in einer Situation dominant verfolgt wird, sondern es werden ebenfalls mit diesem Ziel verknüpfte Einstellungen und Überzeugungen aktualisiert. Diese Ideologien, die Lindenberg als die mit einem Leitziel verknüpften guten Gründe bezeichnet, haben ebenfalls einen wesentlichen Einfluss auf die Salienz eines Frames: „Good reasons that might be embedded in chunks of memory and knowledge that are mobilized with the frame will, if present, increase the salience as well“ (Lindenberg 2001a: 653). Dabei gilt folgender Zusammenhang: Je stärker ein Leitziel durch ideologische Erwägungen als gerechtfertigt erscheint, desto größer ist der unterstützende Einfluss auf die Salienz des Frames.112 Da Solidarframes häufig nicht mit unterstützenden Hintergrundzielen rechnen können, sondern unter dem Druck des Anspruchs konträrer Hintergrundziele stehen und ihre A-prori- Stärke relativ schwach ausfällt, spielen Ideologien eine herausragende Rolle bei der Konsolidierung eines Solidarframes. Ideologien leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, ein Abgleiten in einen hedonistischen oder gewinnorientierten Frame zu verhindern. Der schwächende Einfluss, der von dem Hintergrundziel Entspannung auf das dominante Ziel hilfsbereiter Kollege sein ausgeht und das Potenzial hat, den Solidarframe zu kippen, wird durch starke Überzeugungen bezüglich der Richtigkeit des helfenden Verhaltens relativiert. Der Einfluss von Ideologien auf die Salienz von Frames und damit auf das Handeln von Akteuren kann unter dem Gesichtspunkt einer effektiven Nutzenproduktion für ein Individuum sehr wertvoll sein. Dies ist dann der Fall, wenn eine Person aufgrund langfristig zu erwartender Vorteile ein Interesse daran hat, eine Solidarnormbindung aufzuweisen, die situationellen Versuchungen aber ein gegenteiliges Verhalten nahelegen. Ideologische Überzeugungen mögen bezüg112 Dass von Lindenberg in diesem Zusammenhang lediglich ein positiver Einfluss von Ideologien auf die Salienz berücksichtigt wird, mag auf den ersten Blick inkonsistent erscheinen. Wenn von Ideologien ein unterstützender Einfluss auf die Salienz ausgehen kann, muss dann nicht konsequenterweise auch ein negativer Einfluss zugelassen werden? Dies ist zweifelsohne richtig und bei Lindenberg auch der Fall. Der Einfluss ist in seinem Modell allerdings ein wenig versteckt, da er sich über konträre Hintergrundziele vollzieht. Zur Erläuterung sei hier das Beispiel des Frames „preisbewusstes Einkaufen“ aufgegriffen. Ein negativer ideologischer Einfluss auf dieses Leitziel kann von ökologischen Erwägungen ausgehen. Diese ideologischen Vorbehalte sind dann aber nicht Bestandteil des Frames „preisbewusstes Einkaufen“, sondern des alternativen Ziels „ökologisch Einkaufen“, welches im Hintergrund steht und schwächend auf die Salienz des Frames einwirkt.
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lich der individuellen Nutzenproduktion zwar auf den ersten Blick als Hindernis erscheinen; ihre Rationalität kann aber gerade darin bestehen, einen Akteur in seinem Eigeninteresse gegen situative Versuchungen auf Kurs zu halten. Ideologische Überzeugungen spielen somit eine zentrale Rolle, um Normbindungen, die im Interesse eines Individuums liegen, Wirklichkeit werden zu lassen.113 Oben habe ich darauf hingewiesen, dass sich aus dem Zusammenspiel von Hintergrundzielen und der Eigenstärke eines Frames ein Framewechsel ergeben kann. An dieser Stelle sind die einzelnen Puzzleteile des Diskriminationsmodells so weit zusammengetragen, um erläutern zu können, wie eine Solidarnormbefolgung vom Hintergrund- zum Leitziel werden kann. Die Ausgangssituation ist die Dominanz eines hedonistischen oder gewinnorientierten Leitziels bei einem Akteur.114 Die Verfolgung dieses Leitziels steht dabei im Widerspruch zu den Ansprüchen des in den Hintergrund verbannten Ziels der Solidarnormbefolgung. Als konträres Hintergrundziel hat es einen schwächenden Einfluss auf den gegenwärtigen Frame. Verfügt dieser über keine ausreichende Eigenstärke und existieren keine unterstützenden Hintergrundziele, dann kann der schwächende Einfluss des Ziels der Solidarnormbefolgung so weit gehen, dass es zu einem Framewechsel kommt und eine Solidarnormbefolgung zum dominanten Ziel wird. Auch im Zusammenhang mit einem solchen Framewechsel spielt der ideologische Aspekt von Solidarframes eine zentrale Rolle: Nur wenn ein Solidarframe in ausreichender Weise ideologisch gestützt wird, kann er als konträres Hintergrundziel stark genug sein, um einen hedonistischen oder gewinnorientierten Frame zu stürzen.
113 Vor dem Hintergrund dieser essenziellen Rolle von Ideologien für normative Frames ist es erstaunlich, dass Lindenberg diesem Aspekt so wenig Aufmerksamkeit schenkt. Die von mir herausgestellte framingtheoretische Würdigung von Ideologien liegt seiner Argumentation eher implizit zugrunde und wird von ihm längst nicht so prominent betont wie ich es hier tue. So wird auch der Begriff der Ideologie von Lindenberg nicht weiter expliziert, sondern lediglich mit guten Gründen identifiziert. Die Frage, wie Individuen Ideologien erwerben, bleibt von ihm unbeantwortet. Lindenbergs Framingtheorie offenbart damit in einem zentralen Punkt eine Leerstelle, die zu schließen eine wichtige Aufgabe der weiteren Entwicklung des explanativen Modells sein wird und der ich mich im nächsten Kapitel widme. 114 Es ist auch möglich, dass ein alternatives normatives Ziel den gegenwärtigen Frame stellt, welches durch das Hintergrundziel einer Solidarnormbefolgung angegriffen wird. Man denke an Konflikte zwischen unterschiedlichen normativen Ansprüchen, bspw. den Solidarnormen im familiären und beruflichen Kontext. Um die Darstellung nicht unnötig zu verkomplizieren, werde ich diesen Punkt hier außen vor lassen.
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Abbildung 2: Einflussfaktoren auf den Entscheidungsprozess unter der Voraussetzung eines aktivierten Solidarframes
Ideologien
Instrumentelle Differenzen
Salienz des Solidarframes
Subjektive Bewertung der Alternativen
Unterstützende Hintergrundziele
Verteilung der Wahlwahrscheinlichkeiten
Konträre Hintergrundziele
A-priori-Stärke
Einflussfaktoren auf den Entscheidungsprozess unter der Voraussetzung eines aktivierten Solidarframes in Anlehnung an Lindenberg (2001a: 654).
4.4.4 Exkurs: Verwandte Konzepte Mithilfe der Framing-Theorie von Lindenberg wurde eine Solidarnormbindung als regelmäßige Handlungsdominanz von Solidarframes reformuliert. Durch den zugrunde gelegten framingtheoretischen Ansatz bestehen Anknüpfungspunkte an zwei unterschiedliche Themenfelder, auf die ich an dieser Stelle kurz hinweisen möchte. Frames im Allgemeinen (und damit auch Solidarframes) sind Ausdruck und Lösung des Problems limitierter kognitiver Fähigkeiten des Menschen. Damit besteht eine Verbindung zum Themenfeld der beschränkten Rationalität. Da es sich bei normativen Frames (Solidarframes) um einen spezifischen Vorschlag dazu handelt, wie sich Normbindung (Solidarnormbindung) aus einer erweiterten Rational-Choice-Perspektive konzeptualisieren lässt, besteht zweitens eine Verbindung zum Themenfeld Normbindungsmodelle in der Rational-Choice-Theo-
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rie. Im Rahmen dieser Untersuchung ist es nicht möglich, das Konzept der Solidarframes gebührend in Bezug auf diese beiden Themenkomplexe zu diskutieren. An dieser Stelle werde ich mich deswegen auf einige kurze Hinweise zu verwandten Konzepten beschränken. Frames sind in Lindenbergs Konzeption zugleich Ausdruck und Lösung des Umstandes, dass Menschen im Rahmen ihrer Nutzenproduktion mit limitierten kognitiven Fähigkeiten und Informationen arbeiten müssen. Seine FramingTheorie steht damit in der Tradition von handlungstheoretischen Ansätzen, welche die von Simon (1959) schon in den 1950er-Jahren formulierte Kernidee einer beschränkten Rationalität aufgreifen. Starke Ähnlichkeiten zu Lindenberg weist das Framing-Modell von Esser (1996, 2001, 2011) auf, der sich in seiner Konzeptentwicklung ursprünglich auch stark an Lindernbergs Arbeiten angelehnt hat. Auch Essers Frames setzen sich aus Zielen und Wissenselementen zusammen, welche die subjektive Situationsdefinition steuern. Und auch bei Esser liegt ein zweistufiger Entscheidungsprozess vor. Analog zu Lindenberg kommt es im ersten Schritt zu einer Frame-Bestimmung, durch welche das Ziel festgelegt wird. Im zweiten Schritt folgt innerhalb des Frames eine Handlungswahl. Von Esser wird die Frame-Selektion allerdings deutlicher als eine Wahlhandlung konzeptualisiert, die dem Kalkül einer Nutzenmaximierung unterliegt, während Lindenberg das Element der spontanen Aktivierung betont und mit dem Konzept der Salienz eine Art Aushandlung zwischen Hintergrundzielen und dem dominanten Ziel postuliert. Durch die Einführung seines Konzepts der Skripte trägt Esser im Vergleich zu Lindenberg der kognitiven Beschränktheit noch auf eine weitere Weise Rechnung. Bei den Skripten handelt es sich um Programme (Erwartungen und Alltagstheorien) innerhalb eines Frames, die bei entsprechender Aktivierung das Handeln bestimmen. Lindenberg ist auf der Ebene des framegesteuerten Handelns weniger deterministisch und betont mit seinem Konzept der Salienz, dass durch den Einfluss der (konträren oder unterstützenden) Hintergrundziele die Intensität einer Zielverfolgung variieren kann. Insgesamt ist zu sagen, dass sich Lindenberg durch die Unterscheidung der drei Masterframes und das Konzept der Salienz mit seiner Framing-Theorie eher auf die Zielspezifizierung konzentriert, während Esser mit dem Konzept der Skripte eher die Interpretation der Situation in den Vordergrund stellt. Da es bei dem hier zu entwickelnden explanativen Modell vor allem um die Frage geht, unter welchen Voraussetzungen die Solidarnormbefolgung zu einem eigenständigen Handlungsziel werden kann, bietet Lindenbergs Konzept die besseren Anknüpfungsmöglichkeiten. Das Konzept der beschränkten Rationalität hat nicht nur im Rahmen der soziologischen Handlungstheorie Anwendung gefunden, sondern ist ebenfalls in den Kognitionswissenschaften aufgegriffen und ausgebaut worden. Die soziolo-
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gische Framing-Theorie (in der Version Lindenbergs) weist einige Parallelen zum Konzept der Heuristiken auf, welches wesentlich mit den Arbeiten des Psychologen Gerd Gigerenzer verknüpft ist. Auch wenn beide Konzepte aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven entwickelt wurden, gibt es einige interessante Übereinstimmungen. Ähnlich wie Frames dienen Heuristiken dazu, den in seinen kognitiven Fähigkeiten eingeschränkten und nur mit einem limitierten Wissen ausgestatteten Akteur mit einer Situationsdefinition und mit Entscheidungskriterien zu versorgen, die im Rahmen einer komplexen Umwelt ein zielgerichtetes und erfolgreiches Handeln ermöglichen. Dies leisten Heuristiken, indem sie dem Akteur schnell und sparsam anwendbare Prinzipien der Informationsbeschaffung und Entscheidung an die Hand geben. Ein Beispiel für ein solches Entscheidungsprinzip ist das „one-reason decison making“ (Gigerenzer/ Todd 1999: 15 f., 17), bei dem ein Ziel die Entscheidung determiniert. Ähnlich wie die Framing-Theorie sieht auch das Konzept der Heuristiken eine radikale Vereinfachung der Zielstruktur vor. Eine weitere Anknüpfungsmöglichkeit an die Framing-Theorie und an das hier interessierende Thema einer Solidarnormbindung ist die, dass auch Emotionen und Normen als heuristische Prinzipien fungieren können. Darüber hinaus entwickeln sich Inhalt und Struktur von Heuristiken – ebenso wie Inhalt und Struktur von Frames – in einem rationalen Anpassungsprozess an die Umwelt. Diese „ökologische Rationalität“ (Gigerenzer/ Todd 1999) korrespondiert mit der Nutzenfundierung von Frames. Die Entwicklung und der Bestand von Frames bzw. von Heuristiken werden jeweils darauf zurückgeführt, dass sie sich für Akteure im Rahmen einer gegebenen Umwelt bewähren. Die kurz skizzierten Ähnlichkeiten zwischen beiden Konzepten legen nahe, dass ein intensiverer Vergleich zwischen beiden Ansätzen lohnen könnte, um den Umstand einer beschränkten Rationalität bei der Bearbeitung handlungstheoretischer Fragestellungen in adäquater Weise zu berücksichtigen. Lindenbergs Framing-Theorie bietet mit den normativen Frames einen brauchbaren Ansatz, um eine Solidarnormbindung handlungstheoretisch zu konzeptualisieren. Alternativ zum Framing-Konzept gibt es im Rahmen des Rational-Choice-Ansatzes das Konzept der Handlungsdisposition, welches in eine ähnliche Richtung weist. Dieses ist mit den Arbeiten von Gauthier (1986), Baurmann (1996) sowie Brennan und Hamlin (2000) verknüpft. Allen Autoren ist gemein, dass sie mit dem Dispositionskonzept eine Erweiterung des ökonomischen Handlungsmodells anstreben, mit dem sich eine Normbefolgung als eigenständiges Handlungsmotiv fassen lässt. Sie unterscheiden sich allerdings darin, wie das Konzept der Handlungsdisposition im Einzelnen ausformuliert wird (vgl. Zimmerling 2008). In Gauthiers Modell des „constrained maximizer“ und Baurmanns Modell des „dispositionellen Nutzenmaximierers“ drückt sich eine Disposition zur
4.4 Solidarnormbindung und die Bedingung beschränkter Rationalität
211
Normbefolgung jeweils darin aus, dass Akteure im Zusammenhang mit einer Normbefolgung auf eine Abwägung von Alternativen verzichten und kategorisch der Norm folgen. In dem Modell des „moral maximizer“ von Brennan und Hamlin äußert sich eine Normbindung dagegen darin, dass Akteure moralische Überzeugungen und Wünsche vorweisen, die als Präferenzen in das rationale Wahlverhalten eingehen. Durch eine Disposition zur Normbefolgung wird bei ihnen also keinesfalls das Prinzip einer folgeorientierten Entscheidungsfindung aufgehoben. In dieser Hinsicht gibt es zwischen dem Ansatz des „moral maximizer“ und dem hier vorgeschlagenen Framing-Modell die größeren Übereinstimmungen. Ein wichtiges Element des Framing-Modells ist ja gerade, dass unter der Voraussetzung, dass eine Solidarnormbefolgung das dominante Handlungsziel darstellt, Akteure Handlungsalternativen nach ihrem instrumentellen Wert zur Zielrealisierung bewerten und gegeneinander abwägen. Gauthier und Baurmann betonen beide, dass sich Akteure Dispositionen zu einer Normbefolgung als Mittel zur Interessenverfolgung aneignen. Diese Argumentation stimmt im Wesentlichen mit der hier vertretenen These überein, dass die Nützlichkeit von Solidarframes die Grundvoraussetzung dafür ist, dass sie in das Frame-Repertoire aufgenommen werden. Brennan und Hamlin gehen von einem eingeschränkteren Einfluss des Akteurs auf seine eigenen Dispositionen aus und räumen äußeren Einflussfaktoren – bspw. im Rahmen der Erziehung – einen vergleichsweise größeren Stellenwert ein. Der hier kurz angerissene Vergleich macht deutlich, dass man sich aus der Rational-Choice-Perspektive in unterschiedlicher Weise dem Aspekt der (Solidar-)Normbindung annähern kann. Interessanterweise werden die einzelnen Konzepte untereinander relativ wenig abgeglichen und diskutiert. An dieser Stelle ist eine intensive und gewinnbringende Diskussion ebenfalls kaum möglich, da es sich dabei um eine eigenständige Untersuchung handeln würde. 4.4.5 Zwischenbetrachtung Nachdem ich mithilfe der Theorie universeller Zielgüter herausgestellt habe, dass Solidarnormbindungen als ein Mittel zur Nutzenproduktion zu betrachten sind, habe ich mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen konkretisiert, unter welchen Voraussetzungen es für eigeninteressierte Individuen rational ist, eine Solidarnormbindung vorzuweisen. Da Individuen zwar eigeninteressiert, aber nur in einer beschränkten Weise rational sind, ist nicht davon auszugehen, dass sie automatisch diejenigen Eigenschaften entwickeln, die ihrer Nutzenproduktion am dienlichsten sind. Mit Lindenbergs Framing-Theorie habe ich in diesem Ka-
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
pitel nach den subjektiven Bedingungen einer Solidarnormbindung gefragt. Folgende Ergebnisse und offene Fragen können festgehalten werden: Mit der Framing-Theorie haben die Konzepte der intrinsischen Motivation und der Solidarnormbindung eine Reformulierung erfahren: Aus framingtheoretischer Perspektive drückt sich die intrinsische Motivation für eine Solidarnormbefolgung in der Existenz eines Solidarframes aus, bestehend aus dem Handlungsziel der Solidarnormbefolgung sowie mit diesem Ziel verknüpften operativen, assoziativen und ideologischen Wissensbeständen. Eine Solidarnormbindung manifestiert sich in einer regelmäßigen Aktivierung und Handlungsdominanz von Solidarframes. Mit der Framing-Theorie lässt sich postulieren, dass Individuen dann einen Solidarframe entwickeln (bzw. einen Solidarframe in ihr Framerepertoire integrieren), wenn dieser ein effizientes Mittel zur Nutzenproduktion darstellt. Mit der These der Nutzenfundierung ist die Framing-Theorie unmittelbar anschlussfähig an die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen, mit deren Hilfe im vorherigen Kapitel geklärt wurde, unter welchen Bedingungen Solidarnormbindungen ein solches Mittel darstellen. Aus framingtheoretischer Perspektive ist analytisch zwischen der Integration eines Solidarframes in das Framerepertoire, seiner Aktivierung und seiner Handlungsdominanz zu unterscheiden. Wenn Individuen über einen Solidarframe verfügen, ist dies noch keine hinreichende Bedingung dafür, dass er auch regelmäßig und verlässlich in entsprechenden Situationen aktiviert und handlungsdominant wird. Die Verankerung eines Solidarframes im Framerepertoire eröffnet in gewisser Weise nur die Chance, dass dies der Fall sein könnte. Die Aktivierung von Frames vollzieht sich über die Wahrnehmung von Symbolen. Bei den Symbolen handelt es sich um Objekte in der Umwelt, die bei einem Akteur mit dem Handlungsziel einer Solidarnormbefolgung verknüpft sind. Diese Symbole gehören zum assoziativen Wissensbestand, der mit einem Frame verknüpft ist. Worum es sich bei diesen Symbolen allerdings genau handelt und wie diese aufgebaut werden, lässt sich mit Lindenbergs Framing-Theorie nicht beantworten. Damit fehlt ein zentraler Baustein im Hinblick auf die Erklärung, wie es zu einer Aktivierung von Solidarframes kommen kann. Eine weitere Erkenntnis der Framing-Theorie ist die, dass ein einmal aktivierter Frame nicht unbedingt Handlungsdominanz erlangen muss. Nach der Aktivierung eines Solidarframes kommt es zu einer Prüfung des Leitziels der Solidarnormbefolgung, bei der die Ansprüche der Hintergrundziele in Rechnung gestellt werden. Widerspricht eine Solidarnormbefolgung hedonistischen Impulsen oder gewinnorientierten Kalkülen (was häufig, aber längst nicht immer der Fall ist), dann existieren konträre Hintergrundziele. Ist deren Einfluss sehr stark, kann dies zu einer Absetzung eines aktivierten Solidarframes führen, bevor die-
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 213 ser handlungsdominant wird. Um dem Einfluss konträrer Hintergrundziele standzuhalten, müssen Solidaframes über eine robuste Eigenstärke verfügen. Die Eigenstärke von Frames speist sich aus ihrer A-priori-Stärke und aus Ideologien. Da normative Frames und damit auch Solidarframes nur über eine vergleichsweise geringe A-priori-Stärke verfügen, sind sie stark auf unterstützende Ideologien angewiesen, um sich gegen konträre Hintergrundziele behaupten zu können. Obwohl also Ideologien, die als ein integraler Bestandteil von Frames aufzufassen sind, eine herausragende Rolle im Framing-Prozess spielen, werden sie von Lindenberg nur unzureichend konzeptionell und theoretisch erfasst. Mehr, als dass es sich bei Ideologien um Einstellungen und Haltungen handelt, die dem Individuum nutzenunabhängige gute Gründe für die Verfolgung eines Leitziels liefern, lässt sich aus seinem Konzept nicht ableiten. Darüber hinaus bleibt schleierhaft, wie Individuen diese Ideologien überhaupt erwerben bzw. wie sie Bestandteil eines Frames werden. Die Frage nach den Bedingungen einer Solidarnormbindung verdichtet sich aus framingtheoretischer Perspektive zur Frage nach den Bedingungen der Konstitution, der Aktivierung und der Handlungsdominanz von Solidarframes. Mit der Framing-Theorie lässt sich sagen, dass die Rationalität einer Solidarnormbindung eine notwendige Bedingung dafür darstellt, dass Individuen überhaupt einen Solidarframe in ihr Framerepertoire integrieren. Eine verlässliche Handlungsdominanz setzt darüber hinaus aber voraus, dass das Handlungsziel der Solidarnormbefolgung mit bestimmten Symbolen assoziiert ist und durch Ideologien unterstützt wird. Im Hinblick auf die Entwicklung des explanativen Modells bleiben daher zwei Fragen offen: (1) Wie stellen sich die frameaktivierenden Symbole dar und auf welche Weise werden sie sozial produziert bzw. auf welche Weise werden sie Gegenstand eines Solidarframes? (2) Was sind genau Ideologien und wie werden sie von Individuen erworben bzw. Bestandteil des Solidarframes? Zur Beantwortung dieser beiden Fragen werde ich auf die Theorie der Interaktionsrituale von Randall Collins zurückgreifen. 4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 4.5.1 Die Theorie der Interaktionsrituale Mit seiner Theorie der Interaktionsrituale verfolgt Randall Collins (1988, 1993, 2004) das Ziel, die allgemeine mikrotheoretische Fundierung einer umfassenden Sozialtheorie zu formulieren (Collins 2004: 45). Einen wichtigen Hintergrund für seine Arbeit stellen klassische Theorieansätze dar, die er einer interaktionsund emotionssoziologischen Rekonstruktion unterzieht. Eine herausragende
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
Stellung nehmen dabei Durkheims (1994 [1912]) religionssoziologische Untersuchungen und Goffmans (1999 [1967]) Studien zu täglichen Interaktionsprozessen ein. Von diesen Ansätzen ausgehend, entwickelt Collins seine Theorie der Interaktionsrituale. Dabei wird der Begriff des Interaktionsrituals von ihm allerdings so weit gefasst, dass seine Theorie als eine allgemeine Theorie sozialer Interaktion verstanden werden kann (Rössel 2006: 223). Die folgende Auseinandersetzung mit Collins’ Theorie der Interaktionsrituale erfolgt vor dem Hintergrund eines ganz bestimmten Erkenntnisinteresses. Es wird darum gehen, sie für die Entwicklung eines explanativen Modells der Solidarnormbindung nutzbar zu machen; konkret sollen mit ihrer Hilfe die offenen Fragen bezüglich des Aufbaus und der Konstituierung von Solidarframes beantwortet werden. Anknüpfend an Collins’ Theorie werde ich die folgenden beiden Thesen entwickeln: 1) Interaktionsrituale leisten einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau eines Solidarframes, indem sie diesen mit Symbolen und Ideologien „versorgen“. 2) Ergänzend zu dem Faktor der Rationalität spielen Interaktionsrituale für die soziale Produktion und Konsolidierung einer Solidarnormbindung eine entscheidende Rolle. 4.5.1.1 Das Konzept der Interaktionsrituale Struktur und Aufbau von Interaktionsritualen Collins legt seiner Theorie einen sehr weit gefassten Begriff von Interaktionsritualen zugrunde, unter den er alle möglichen Formen sozialer Interaktion subsumiert: Bei der Praxis des nachbarschaftlichen Grüßens handelt es sich ebenso um ein Interaktionsritual wie bei einer religiösen Zeremonie, dem gemeinsamen Abendessen in der Familie oder den Gewerkschaftsdemonstrationen zum 1. Mai. Von Außenstehenden werden Interaktionsrituale in der Regel durch ihre stereotypisierten Handlungsabläufe identifiziert. Stereotype sind zwar ein fester Bestandteil vieler Interaktionsrituale und ermöglichen ihre effiziente Durchführung, doch Collins macht deutlich, dass stereotype Abläufe keineswegs den Wesenskern von Interaktionsritualen ausmachen. Das charakteristische Merkmal (gelungener) Interaktionsrituale sei vielmehr, dass die partizipierenden Akteure während des Rituals einen gemeinsamen Fokus vorwiesen sowie bestimmte Emotionen teilten und sich dessen bewusst seien: „The key process is participants’ mutual entrainment of emotion and attention, producing a shared emotional / cognitive experience“ (Collins 2004: 48). Diese Erfahrung von Intersubjektivität wird Collins zufolge als belohnend empfunden und von den Individuen in Interaktionsritualen angestrebt.
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 215 Eine wesentliche These Collins’ ist die, dass allen Interaktionsritualen, von intimen Kommunikationen zwischen zwei Personen bis hin zu Massenevents, dieselben Prozessabläufe zugrunde liegen. Diese Prozesse werden von Collins in einem allgemeinen Modell von Interaktionsritualen zusammengefasst. Es setzt sich aus zwei Elementen zusammen, den rituellen Ingredienzien und den rituellen Outputs. Als rituelle Ingredienzien bezeichnet Collins jene Elemente, durch welche ein Interaktionsritual in seinem Ablauf charakterisiert ist. Unter die rituellen Outputs fasst er die verschiedenen Ergebnisse, die aus Interaktionsritualen resultieren (Collins 1993: 206 ff.; 2004: 48 f.). Folgende vier Ingredienzien werden von Collins identifiziert: 1.
2. 3. 4.
Physische Präsenz: Die Grundlage für Interaktionsrituale ist die physische Präsenz von mindestens zwei Akteuren. Zwar lassen sich Interaktionsrituale auch medienvermittelt durchführen, doch sind diese bei Weitem nicht so effektiv wie Rituale unter physisch Anwesenden. Grenzziehung: Es existieren Grenzen, anhand derer die Partizipierenden unterscheiden können, wer dazugehört und wer nicht. Gemeinsamer Fokus: Die Akteure haben einen gemeinsamen Fokus, d. h., sie widmen ihre Aufmerksamkeit einem gemeinsamen Objekt oder einer gemeinsamen Aktivität und sind sich dessen bewusst. Geteilte Stimmung: In ihrem gemeinsamen Fokus teilen die beteiligten Akteure Stimmungen oder Emotionen.
Diese vier Ingredienzien sind als Variablen zu verstehen, d. h., sie können unterschiedlich starke Ausprägungen haben: An einem Interaktionsritual können viele oder wenige Personen teilnehmen, die Grenzziehung und Selbstidentifikation als Gruppe kann mehr oder weniger deutlich ausfallen und die Gemeinsamkeit des Fokus sowie die der Stimmung stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Zentral ist, dass die einzelnen Elemente untereinander interagieren und sich gegenseitig verstärken können. Collins betont, dass es insbesondere zwischen dem gemeinsamen Fokus und der geteilten Stimmung starke Wechselwirkungen gibt. Der gemeinsame Fokus ist die Grundlage für eine gemeinsame Stimmung; die gemeinsame Stimmung verstärkt wiederum die Konzentration auf ein gemeinsames Objekt. Ein Interaktionsritual ist umso intensiver, je mehr die partizipierenden Akteure nicht nur physisch präsent sind und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen ausführen, sondern auch tatsächlich eine Intersubjektivität erfahren. Ab einem gewissen Schwellenwert an Intensität dieser Intersubjektivitätserfahrung, der von Collins allerdings nicht genauer bestimmt wird, kommt es zu vier rituellen Outputs:
216 1. 2.
3. 4.
4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell Emotionale Energie: Interaktionsrituale erzeugen bei den partizipierenden Individuen eine positive emotionale Befindlichkeit, ein Gefühl der Zufriedenheit, der Freude, des Enthusiasmus. Kollektive Symbole: Der Gegenstand des gemeinsamen Fokus in Interaktionsritualen wird zu einem kollektiven Symbol, welches die Gruppe repräsentiert und emotional besetzt wird. Verschiedenste Gegenstände können zu einem solchen Symbol werden – von Emblemen über Ideen, Slogans und Redeweisen bis hin zu Personen. Verbundenheit:115 Interaktionsrituale generieren ein Gefühl der Zugehörigkeit zu und Verbundenheit mit einer Gruppe. Moralität: Die Partizipierenden entwickeln moralische Gefühle und Überzeugungen, welche sich auf die Richtigkeit und Legitimität der Gruppe und ihrer Ansprüche beziehen, einhergehend mit Gefühlen und Überzeugungen von Ungebühr und Amoralität.
Auch im Zusammenhang mit den Outputs von Ritualen gilt, dass sie Variablen darstellen. Von der Intensität und Ausprägung der Ingredienzien hängt nicht nur ab, ob, sondern auch in welchem Ausmaß Interaktionsrituale bei den Partizipierenden emotionale Energie, Gefühle der Verbundenheit und der Moralität auslösen und darüber hinaus Mitgliedschaftssymbole generieren. Unter welcher Voraussetzung Interaktionsrituale eine hohe Intensität erreichen und welche Bedingungen dies verhindern können, werde ich unten genauer klären. Collins weist darauf hin, dass sich prinzipiell jede Art von (kollektiv geteilter) Stimmung als Ingredienz für ein erfolgreiches Interaktionsritual eignet. Auf einer Beerdigung ist es die gemeinsame Trauer, auf einer Party die kollektive Geselligkeit und auf der Kundgebung politisch Oppositioneller die geteilte Wut, die durch das Interaktionsritual in emotionale Energie, Gefühle der Verbundenheit und Moralität transformiert werden können (Collins 2004: 107 ff.). Typen von Interaktionsritualen Mit den rituellen Ingredienzien und Outputs ist deutlich geworden, was alle Interaktionsrituale gemeinsam haben. Doch worin unterscheiden sie sich? In Collins ތAusführungen lassen sich verstreut einige Kriterien ausmachen, anhand derer sich Interaktionsrituale unterscheiden lassen. Ein zentrales Kriterium be115 Collins spricht nicht von Verbundenheit, sondern von „group solidarity“ (Collins 2004: 49). Collins verwendet den Begriff der Solidarität damit in einer anderen Weise als ich es in dieser Untersuchung tue. Um terminologische Verwirrungen zu vermeiden, werde ich hier von Verbundenheit sprechen.
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 217 zieht sich darauf, ob ein Interaktionsritual einen intentionalen Charakter hat oder natürlichen Ursprungs ist (Collins 1988: 197 ff., 2004: 50 ff.). Bei den intentionalen Interaktionsritualen handelt es sich um geplante Inszenierungen, die entweder zu bestimmten Zeiten oder bestimmten Ereignissen stattfinden und in der Regel einem festgelegten Zeremoniell folgen. Als Beispiele nennt Collins so unterschiedliche Rituale wie religiöse Messen, öffentliche Gerichtsprozesse, Amtseinführungen oder Hochzeiten (Collins 1988: 198). In Abgrenzung dazu gibt es die natürlichen Interaktionsrituale, welche sich in spontanen Prozessen entwickeln. Obwohl sie nicht selten ebenfalls stereotypisierte Formen annehmen, besteht der Unterschied zu den intentionalen Ritualen darin, dass die spontanen Rituale nicht initiiert sind. Aus diesem Grunde sind sie den Beteiligten meist auch gar nicht als Rituale bewusst. Als prototypische Beispiele für diese natürlichen Interaktionsrituale verweist Collins auf Goffmans Interaktionsrituale des täglichen Lebens wie etwa Routinen des Grüßens und Verabschiedens oder die alltäglichen Gespräche unter Kollegen. Ein weiteres Kriterium, nach dem sich Interaktionsrituale unterscheiden lassen, ist der soziale Kontext, in dem sie produziert werden. Collins unterscheidet drei soziale Kontexte, die den Rahmen von Interaktionsritualen darstellen können: fokussierte Menschenmengen, permanente Kleingruppen und interpersonale Beziehungen. Fokussierte Menschenmengen kommen in der Regel ereignisbezogen zustande und bestehen aus einer Personenmenge, die untereinander weitgehend anonym bleibt. Typische Beispiele sind patriotische Feierlichkeiten, religiöse Zeremonien, Popkonzerte oder Fußballspiele (Collins 2004: 83). Bei Interaktionsritualen im Rahmen von fokussierten Menschenmengen handelt es sich in der Regel um intentionale Rituale, doch Collins weist darauf hin, dass sie auch spontane Züge annehmen können (Collins 1988: 199). An eine Kundgebung kann sich spontan eine politische Demonstration anschließen oder an eine kleine Streiterei auf dem Jahrmarkt die Hetzjagd eines rassistischen Mobs. Massenrituale sind zwar unpersönlich, bieten aber im Vergleich das größte Potenzial für überschäumende und intensive Erlebnisse (Collins 2004: 83). Bei Interaktionsritualen im Rahmen von permanenten Kleingruppen verbindet die Partizipierenden eine persönliche Bekanntschaft und kontinuierliche Beziehung. Das gemeinsame Abendessen in der Familie stellt ebenso ein Kleingruppenritual dar wie das regelmäßige Abteilungsmeeting in einem Unternehmen. Die Intensität dieser Rituale mag zwar nicht immer an die Intensität außerordentlicher Massenrituale heranreichen, wegen ihrer Regelmäßigkeit und ihres persönlichen Charakters produzieren sie aber nachhaltiger Verbundenheit und Moralität (Collins 1988: 197). Eine Stufe unter den permanenten Kleingruppen sind die interpersonalen Beziehungen angesiedelt, die ebenfalls einen Rahmen für Interaktionsrituale darstellen. Interaktionsrituale finden in Freundschafts- und
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
Liebesbeziehungen statt, ebenso aber auch in der Beziehung zwischen einem Verkäufer und seinem Kunden. Ein letztes Kriterium zur Unterscheidung von Interaktionsritualen ist, ob es sich um Primär- oder Sekundärrituale handelt (Collins 2004: 83). Primärrituale sind initiale Rituale, auf die Sekundärrituale folgen können, die sich inhaltlich auf die Primärrituale beziehen. Die Nachbesprechung des Parteitags in der Ortsgruppe oder die Diskussion einer Predigt unter Kirchgängern sind Beispiele für solche sekundären Interaktionsrituale. Diese können einen Beitrag zur Konservierung bzw. Verstärkung der in den Primärritualen generierten Outputs leisten. Insbesondere im Zusammenhang mit Massenritualen spielen Sekundärrituale eine bedeutende Rolle. Da Massenrituale meist einen außeralltäglichen Charakter haben und nur in größeren Zeitabständen wiederholt werden, kann es in der Zwischenzeit zu einer Verflüchtigung der durch sie generierten emotionalen Energie, Verbundenheit, Moralität und Symbole kommen, falls sie nicht durch Sekundärrituale begleitet werden. 4.5.1.2 Emotionale Energie und Nutzenproduktion Um die Theorie der Interaktionsrituale für die Beantwortung der offenen Fragen im Zusammenhang mit dem Aufbau von Solidarframes nutzbar zu machen, muss gewährleistet sein, dass die Theorie an den bis hier entwickelten Theorierahmen anschlussfähig ist. Eine Anschlussfähigkeit ergibt sich aus folgenden beiden Schnittstellen: Erstens besteht eine große Kongruenz zwischen Collins’ Konzept der emotionalen Energie und dem in dieser Untersuchung zugrunde gelegten Konzept des subjektiven Wohlbefindens von Lindenberg. Zweitens lassen sich Collins’ Interaktionsrituale als primäre Zwischengüter im Sinne der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen von Esser interpretieren. Das Basismodell der Rituale weist emotionale Energie als einen Output von Interaktionsritualen aus. Collins bezeichnet Individuen als „emotional energy seekers“ (2004: 373), denen es in ihrem Handeln um nichts anderes geht, als in direkter oder indirekter Weise emotionale Energie zu maximieren.116 Als emotionale Energie bezeichnet Collins die Dimension der allgemeinen emotionalen Befindlichkeit, die eine positive, normale oder negative Ausprägung haben kann:
116 Dieser Ausgangspunkt von Collins’ Theorie und die Tragweite dieser Idee wird durch folgendes Zitat deutlich: „Starting from the assumption that individuals care about nothing but maximizing their EE [emotionale Energie, der Verf.], one can conclude that materially productive work will also take place – and precisely to the degree that there are material expenses for taking part in IRs [Interaktionsritualen, der Verf.]“ (Collins 1993: 217).
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 219 „It is a continuum, ranging from a high end of confidence, enthusiasm, good selffeelings; down through a middle range of bland normalcy; and to a low end of depression, lack of initiative, and negative self-feelings“ (Collins 2004: 108).
Emotionale Energie realisiert sich beim Individuum im Nachgang eines Rituals. Die während einer religiösen Zeremonie empfundene Spiritualität oder die während einer Konversation unter Freunden erfahrene Geselligkeit verpuffen also nicht vollends mit dem Ende eines Rituals, sondern finden ihren Niederschlag in emotionaler Energie, die das Individuum aus der Interaktion mitnimmt. Emotionale Energie ist nicht mit dem Gefühl identisch, welches während eines Rituals von den Teilnehmern empfunden wird. Die erfahrene Spiritualität oder Geselligkeit transformieren sich vielmehr zu einer allgemeinen und länger anhaltenden positiven Befindlichkeit.117 Aus diesem Grunde können Individuen durch die Teilnahme an ganz unterschiedlichen Interaktionsritualen, in denen jeweils verschiedene Stimmungen und Objekte im Fokus stehen, emotionale Energie kumulieren (Collins 1993: 211).118 Übereinstimmungen zwischen dem Konzept der emotionalen Energie und dem des subjektiven Wohlbefindens von Lindenberg sind offensichtlich: So handelt es sich auch beim subjektiven Wohlbefinden um einen emotionalen Zustand, der sich als Gegenstück zu unangenehmen Befindlichkeiten wie Niedergeschlagenheit, mangelndem Selbstwertgefühl und Depression verstehen lässt. Die Qualität der emotionalen Energie ist an die Intensität des Rituals gekoppelt: Hochintensive Rituale – wie bspw. religiöse Massenzeremonien – führen zu einer starken emotionalen Energie, während Alltagsrituale – wie bspw. das familiäre Abendessen – in geringerer Weise Energie spenden. Emotionale Energie unterliegt einer natürlichen Vergänglichkeit und nimmt mit zunehmen117 Der Einfachheit halber beschränke ich mich hier auf eine starke Ausprägung emotionaler Energie. Das Modell von Collins sieht aber auch vor, dass Interaktionsrituale zu negativen Befindlichkeiten wie Niedergeschlagenheit und Depression führen können. Solche Befindlichkeiten sind das Ergebnis von – aus der Sicht des betroffenen Individuums – erfolglosen Interaktionsritualen. Dies ist dann der Fall, wenn starke Machtasymmetrien oder Zwang im Spiel sind, welche verhindern, dass sich eine gemeinsam geteilte positive Stimmung aufbaut. Trifft bspw. das erhabene Gefühl der Dominanz auf ein Gefühl von Erniedrigung, dann wird die erniedrigte Person keine positive, sondern eine negative Befindlichkeit aus dem Interaktionsritual mitnehmen (Collins 2004: 111 ff.). Auf diese Punkte werde ich näher eingehen, wenn ich später die Bedingungen für erfolgreiche Interaktionsrituale präzisiere. 118 Collins’ Einebnung unterschiedlichster Gefühle in ein- und dieselbe Dimension der emotionalen Energie wird von Rössel (2006: 230) als dem alltäglichen, aber auch wissenschaftlichen Verständnis von Emotionen widersprechend kritisiert. Rössel stellt zwar nicht in Abrede, dass eine solche übergeordnete Dimension sinnvoll sein kann, doch müsste diese theoretisch und empirisch stärker fundiert sein. Hier bietet sich das Konzept des subjektiven Wohlbefindens an, welches durch seine Unterscheidung zwischen dem physischen Wohlbefinden und der sozialen Anerkennung (als einem sozialen Wohlbefinden) eine differenziertere Perspektive bietet.
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dem Abstand zum Interaktionsritual ab. Um ein befriedigendes Niveau an emotionaler Energie aufrechtzuhalten, müssen Individuen aus diesem Grunde Interaktionsrituale regelmäßig wiederholen bzw. verschiedene Interaktionsrituale über ihren Alltag streuen (111). In ihrem Streben nach emotionaler Energie verhalten sich die Individuen als rationale Akteure und präferieren solche Rituale, die relativ zu ihren Ressourcen und den notwendigen Investitionen die größtmögliche Auszahlung an emotionaler Energie versprechen.119 „Individuals move toward those interactions that feel like the highest intensity interaction rituals currently available; that is to say, they move toward the highest EE [emotionale Energie, der Verf.] payoffs that they can get, relative to their current resources“ (Collins 2004: 151).
Ob eine Person es vorzieht, an religiösen Zeremonien oder an politischen Kundgebungen teilzunehmen, ob sie Popkonzerte oder Fußballspiele präferiert, ist abhängig vom Ausmaß an emotionaler Energie, welche sie durch diese Rituale jeweils erwartet (Collins 1993: 214). Collins ތInteraktionsrituale haben damit in erster Linie einen instrumentellen Charakter und lassen sich damit als primäre Zwischengüter im Prozess der Produktion subjektiven Wohlbefindens (respektive emotionaler Energie) definieren. So wie die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen betont, dass sich Individuen primäre Zwischengüter unter der Aufwendung von Kosten aneignen müssen, betont auch Collins, dass die Teilnahme an Interaktionsritualen in der Regel die Investition materieller oder immaterieller Ressourcen verlangt. Um das kollektive Spannungsgefühl in einem Fußballfanblock zu erleben, bedarf es eines Tickets, Fandevotionalien und Wissens über das aktuelle Vereinsgeschehen. Das Erlebnis von Geselligkeit im Freundeskreis setzt voraus, dass man einen solchen Kreis aufbaut und pflegt. Vor dem Hintergrund der Idee, dass emotionale Energie das einzige Zielgut menschlichen Handelns darstellt, vertritt Collins die These, dass sich jegliches individuelle Verhalten, welches nicht direkt mit einer Steigerung emotionaler Energie assoziiert ist, als ein entsprechendes Investitionsverhalten interpretieren lässt. Insbesondere auch das ökonomische Handeln untersteht bei Collins dem Zweck, Ressourcen zu akkumulieren, die eine Teilnahme an gewünschten Interaktionsritualen ermöglichen (217). Es ist deutlich geworden, dass Collins ތInteraktionsrituale und sein Konzept der emotionalen Energie an den hier aufgespannten Theorierahmen anschlussfä119 In seinem Aufsatz aus dem Jahr 1993 „Emotional Energy as the Common Denominator of Rational Action“ unternimmt Collins eine Verknüpfung seiner Theorie der Interaktionsrituale mit der Rational-Choice-Theorie. Er argumentiert, dass – emotionale Energie als allgemeines Ziel menschlichen Handelns vorausgesetzt – die Theorie der Interaktionsrituale an die Rational-Choice-Theorie anschlussfähig ist.
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 221 hig sind. Ich möchte sogar einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass mit Essers Zwischengütern und Lindenbergs subjektivem Wohlbefinden Konzepte zur Verfügung stehen, mit denen sich Collins ތAnsatz präzisieren ließe. Um die terminologische und konzeptionelle Konsistenz zu wahren, werde ich im Folgenden auf den Begriff der emotionalen Energie verzichten und stattdessen von subjektivem Wohlbefinden bzw. den einzelnen untergeordneten Bedürfniskategorien sprechen. 4.5.2 Interaktionsrituale und Solidarframes An dieser Stelle komme ich nun zu der eigentlichen These dieses Kapitels, derzufolge Interaktionsrituale einen wesentlichen Beitrag zur Produktion und Konsolidierung von Solidarframes leisten. An diesem Punkt rücken nun die drei Outputs – Verbundenheit, Moralität und Mitgliedschaftssymbole – in den Mittelpunkt der Betrachtung. Im Weiteren werde ich die Überlegung entwickeln, dass Verbundenheit und Moralität affektuelle Einstellungen darstellen, die als Ideologien in einen Solidarframe eingehen, während es sich bei den kollektiven Symbolen um frameaktivierende Stimuli handelt, die Bestandteil des assoziativen Wissensbestandes des Solidarframes sind. 4.5.2.1 Verbundenheit und Moralität als Ideologien Unter Verbundenheit versteht Collins (2004: 49) ganz allgemein ein Gefühl der Mitgliedschaft und Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Collins ތBegriff der Verbundenheit lässt sich mit dem Begriff der kollektiven Identität von Esser (2001: 341 ff.) präzisieren. Unter einer kollektiven Identität versteht Esser eine positive emotionale Haltung gegenüber einer Gruppe, als deren Mitglied man sich betrachtet. Bei dieser Gruppe kann es sich ebenso um eine Gemeinschaft real interagierender Personen wie um ein anonymes Kollektiv (bspw. die Nation) oder eine soziale Kategorie (bspw. das Geschlecht, die Ethnie) handeln. Das entscheidende Definitionsmerkmal einer Gruppe ist in diesem Zusammenhang, dass sich die betreffenden Individuen selbst als Mitglieder einer Gemeinschaft definieren und unter ihnen ein minimaler Konsens über den Charakter der Gruppe und die Kriterien der Mitgliedschaft existiert.120 Mit dem Begriff der Moralität bezeichnet Collins (2004: 49) die emotionale Haltung, dass die Gruppe, mit der man sich identifiziert, einen legitimen Charak120 Mit diesem Gruppenbegriff lehnt sich Esser an die soziale Identitätstheorie von Tajfel und Turner an (Tajfel/Turner 1986:15).
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
ter hat. Die Gruppe wird als moralische Autorität empfunden, was impliziert, dass ihre Anforderungen und Werte als richtig betrachtet werden und gegenüber der Gruppe und ihren kollektiven Symbolen Respekt gefordert wird. Ein respektloses Verhalten – sei es von Gruppenmitgliedern oder von Außenstehenden – ruft dagegen Empörung und Abwehrreaktionen hervor. Mit dieser moralischen Aufladung der Gruppe geht zugleich auch ein Sinn für unmoralisches und falsches Verhalten einher. Bei Verbundenheit und Moralität handelt es sich um emotionale Haltungen, die sich jeweils auf unterschiedliche Objekte beziehen; einmal auf die Gruppe selbst und einmal auf die in dieser Gruppe existierenden und durch sie vertretenen moralischen und normativen Standards. Collins’ Konzepte der Verbundenheit und Moralität stellen aussichtsreiche Kandidaten dar, um die Leerstelle zu füllen, die die Framing-Theorie von Lindenberg bezüglich der Ideologien hinterlässt. Da Lindenberg seine Frames aus kognitionspsychologischen Überlegungen ableitet, ohne emotionale Aspekte explizit zu berücksichtigen, stellt sich allerdings die Frage, inwiefern die beiden theoretischen Ansätze konsistent verknüpft werden können.121 Lassen sich die von Collins primär emotional definierten Kategorien der Verbundenheit und Moralität problemlos in die von Lindenberg primär kognitiv definierten Frames integrieren? Ich denke, dass hier keine grundsätzlichen Inkompatibilitäten existieren. Um eine Verknüpfung zwischen diesen beiden Ansätzen herzustellen, werde ich Verbundenheit und Moralität als affektuelle Einstellungen interpretieren. Mit dem Begriff der affektuellen Einstellungen bezeichnet Annette Schnabel (2005: 383 f.) emotionale Dispositionen, die untrennbar mit Werthaltungen und Überzeugungen – also kognitiven Elementen – verknüpft sind. Als Beispiele für diese Einstellungen nennt sie u. a. Liebe, Fremdenhass und Patriotismus. Affektuelle Einstellungen haben einen anhaltenden Charakter, wodurch sie sich von situationellen und kurzzeitigen Empfindungen – wie etwa Langeweile – abgrenzen. Gleichwohl sind die affektuellen Einstellungen einer Person nicht in jeder Situation relevant. Als Dispositionen bezeichnen sie vielmehr die Neigung, auf bestimmte Situationen mit bestimmten Emotionen zu reagieren. Sind sie durch situationelle Reize einmal aktiviert, nehmen sie (wie kurzfristige Empfindungen auch) Einfluss auf die Handlungsbereitschaft122 und die Evaluation der Situation.
121 Auch wenn Lindenberg sein Konzept der Ideologie nicht detailliert ausarbeitet, so wird bei ihm dennoch klar, dass es sich dabei um Überzeugungen – also um eine kognitive Dimension – und nicht um Emotionen handelt. 122 Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine aktivierte affektuelle Einstellung immer auch zu entsprechenden Handlungen führen muss (Schnabel 2005: 283).
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 223 Collins’ Begriffe der Verbundenheit und Moralität lassen sich plausibel als affektuelle Einstellungen interpretieren. In ihrer Eigenschaft als Dispositionen und mit ihrem die Handlungsbereitschaft lenkenden und die Situation evaluierenden Charakter weisen affektuelle Einstellungen zugleich eine große Ähnlichkeit zu zentralen Eigenschaften von Frames auf. Vor diesem Hintergrund ist eine Integration von Verbundenheit und Moralität in Solidarframes konsistent möglich, um die offene Frage nach dem Gegenstand von Ideologien zu beantworten. Wie stellt sich eine solche Integration dar? Zunächst ist zu betonen, dass Verbundenheit und Moralität als Bestandteile des ideologischen Wissensbestandes von Solidarframes anzusehen sind. Verbundenheit lässt sich als affektuelle Einstellung im Sinne der Identifikation mit einer Solidargruppe verstehen. Bei familiären Solidarnormen ist dies die Familie, bei Solidarnormen im betrieblichen Kontext das Unternehmen etc. Moralität lässt sich dagegen als affektuelle Einstellung begreifen, welche sich in einer Identifikation mit den Solidaransprüchen – also den konkreten Inhalten einer Solidarnorm – manifestiert. Eine solche Identifikation kann sich dadurch ausdrücken, dass eine Person es als gerecht und richtig empfindet, dass von den Mitgliedern einer Gruppe bestimmte Beiträge zu einem Kollektivgut verlangt oder an sie bestimmte Loyalitätsanforderungen gestellt werden. Die affektuellen Einstellungen lassen sich damit als ein Platzhalter im Solidarframe für eine kritisch-reflexive Haltung (im Sinne von Hart, siehe 2.1.2) gegenüber Solidarnormen betrachten. Als Bestandteile des ideologischen Wissens kommen der Verbundenheit und Moralität entscheidende Rollen bezüglich der praktischen Handlungsdominanz von Solidarframes zu. Zusammen mit der A-priori-Stärke konstituiert sich aus ihnen die Eigenstärke des Solidarframes, welche maßgeblich darüber entscheidet, ob sich dieser in einer Situation durchsetzen kann oder nicht. Wichtig ist dabei, zu beachten, dass Verbundenheit und Moralität Variablen darstellen, d. h., dass sich Personen mehr oder weniger oder gar nicht mit einer Solidargruppe und den in ihr geltenden Solidaransprüchen identifizieren können. Mit der Stärke dieser Identifikationen variiert auch die Eigenstärke des Solidarframes. Die zentrale Rolle beider Variablen im Framing-Prozess lässt sich an einer ganz typischen Situation illustrieren: Ein Solidarframe ist aktiviert, doch es existieren konträre Hintergrundziele, die auf diesen Frame einwirken und ihn in seiner Handlungsdominanz bedrohen. Wie bei allen normativen Frames ist die A-priori-Stärke von Solidarframes vergleichsweise schwach ausgeprägt. Dies bedeutet, dass Solidarframes im Vergleich zu hedonistischen oder gewinnorientierten Frames für eine Schwächung durch konträre Hintergrundziele besonders anfällig sind. In dieser Situation stärken Verbundenheit und Moralität die Salienz des Leitziels der Solidarnormbefolgung. Kognitionspsychologisch äußert sich diese Stärkung darin, dass Verbundenheit und Moralität die Evaluation der Situa-
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tion und die Handlungsbereitschaft im Sinne des Leitziels beeinflussen. Dabei nehmen sie so viele Aufmerksamkeitsressourcen in Anspruch, dass es die konträren Hintergrundziele schwer haben, ihre Ansprüche im Bewusstsein eines Akteurs zu verankern. Unter dieser Voraussetzung bleiben die konträren Hintergrundziele hinsichtlich ihres Einflusses schwach und stellen keine Bedrohung der Handlungsdominanz des Solidarframes dar. Auf diesem Wege leisten Verbundenheit und Moralität einen gewichtigen Beitrag, um eine anreizunabhängige Solidarnormbefolgung sicherzustellen.123 Collins’ Verbundenheit und Moralität, reinterpretiert als affektuelle Einstellungen, stellen brauchbare Konzepte dar, um zu erklären, wodurch die grundsätzlich prekären Solidarframes in ihrer Handlungsdominanz stabilisiert werden. 4.5.2.2 Verbundenheit und Moralität als Output von Interaktionsritualen Nachdem gezeigt werden konnte, dass Solidarframes in ihrer Handlungsdominanz wesentlich von der Identifikation der Individuen mit einer Solidargruppe und den Solidaransprüchen abhängen, stellt sich im Anschluss die Frage, wie Individuen diese affektuelle Einstellung erwerben. Collins’ Antwort ist, dass solche Einstellungen in Interaktionsritualen sozial produziert und reproduziert werden. Wenn diese These stimmt, dann leitet sich daraus ab, dass Interaktionsrituale einen wesentlichen Faktor im explanativen Modell einer Solidarnormbindung darstellen. Doch welche Plausibilität hat die These des Erwerbs affektueller Einstellungen durch Interaktionsrituale? Insgesamt ist zu sagen, dass Collins über die psychologischen Mechanismen, wie Interaktionsrituale bei den Partizipierenden Verbundenheit und Moralität erzeugen, keine genauen Angaben macht. Aus seiner Argumentation lassen sich aber zwei Faktoren ableiten, die in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielen: erstens die Erfahrung von Ähnlichkeit bzw. Intersubjektivität und zweitens die Wahrnehmung einer wechselseitigen Abhängigkeit. Mit der These von Intersubjektivität und Interdependenz als zwei Quellen für Verbundenheit und Moralität lehnt sich Collins stark an Durkheims (1992 [1893]) Solidaritätstheorie an. Ähnlichkeit ist bei Durkheim die Grundlage für die mechanische 123 An dieser Stelle sei erwähnt, dass Verbundenheit und Moralität nicht nur für die Stärkung eines aktivierten Solidarframes gegen konträre Hintergrundziele eine zentrale Rolle spielen, sondern ebenfalls einen gewichtigen Beitrag leisten können, um einen aktivierten hedonistischen oder gewinnorientierten Frame zugunsten eines Solidarframes abzusetzen. Handelt es sich bei der Solidarnormbefolgung um ein konträres Hintergrundziel, wirkt es schwächend auf die Salienz des aktivierten Frames. Verfügt der Solidarframe wegen einer starken Identifikation mit der Solidargruppe bzw. den Solidaransprüchen über eine ausreichende Eigenstärke, so kann es zu einem Framewechsel kommen.
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 225 Solidarität; arbeitsteilige Interdependenz die Grundlage für die organische Solidarität. Beide Solidaritätstypen werden von ihm bekanntlich gegenübergestellt und mit zwei unterschiedlichen Typen sozialer Strukturierung – segmentär versus funktional – in Verbindung gebracht. Bei Collins ist dieser Dualismus aufgehoben. Interaktionsrituale zeichnen sich dadurch aus, dass die Partizipierenden sowohl Ähnlichkeiten aufweisen als auch wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Collins’ Theorie lässt sich damit als eine interaktionstheoretische Reformulierung dieser beiden von Durkheim identifizierten Quellen von Verbundenheit und Moralität verstehen. In erfolgreichen Interaktionsritualen erfahren die partizipierenden Akteure durch das Teilen eines Fokus und einer Stimmungslage Intersubjektivität. Diese Erfahrung von Intersubjektivität wird von Collins als die Erfahrung eines Kollektivbewusstseins in Durkheims Sinne beschrieben (Collins 2004: 48). Als Kollektivbewusstsein bezeichnet Durkheim die „organisierte Gesamtheit von Glaubensüberzeugungen und Gefühlen, die allen Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam sind“ (Durkheim 1992 [1893]: 181). Durkheims Kollektivbewusstsein wird häufig dahingehend interpretiert, dass es sich dabei um eine Realität sui generis handele, also um eine Entität außerhalb des Individualbewusstseins. Collinsތ Interpretation ist dagegen gänzlich frei von solchen ontologischen Vorstellungen. Vor dem Hintergrund seines mikrosoziologischen und interaktionstheoretischen Ansatzes interpretiert er Durkheims Kollektivbewusstsein als die individuelle Erfahrung, mit anderen Personen Überzeugungen und Emotionen hinsichtlich eines bestimmten Objektes zu teilen – bspw. einer Fußballmannschaft oder einer Religion (Collins 1988: 201).124 Aus der Perspektive der Theorie der Interaktionsrituale sind es nicht Gemeinsamkeiten an sich, die Verbundenheit und Moralität stiften, sondern es ist die Erfahrung von Intersubjektivität im Ritual, die dies tut. Die verbundenheitsund moralitätsstiftende Wirkung von Gemeinsamkeiten bleibt daran gebunden, dass diese im Fokus des Interaktionsrituals stehen und die Partizipierenden dieses Interaktionsritual als belohnend erfahren. Die Produktion der affektuellen Einstellungen bleibt damit unmittelbar an die Nutzenproduktion gekoppelt. Zugleich sind die Gemeinsamkeiten auch eine Quelle der gegenseitigen Abhängigkeit. Letztere resultiert daraus, dass erfolgreiche Interaktionsrituale ein gemeinsames kulturelles Kapital der beteiligten Personen voraussetzen. Darunter versteht Collins geteilte Ideen, Überzeugungen, Einstellungen, Wissensbestände 124 In Durkheims Werk gibt es Anhaltspunkte für beide Interpretationen des Kollektivbewusstseins. So spricht Durkheim vom Kollektivbewusstsein als einer transzendenten Autorität (exemplarisch: Durkheim 1992 [1893]: 134). An anderen Stellen heißt es dagegen, dass gesellschaftliche Überzeugungen und Moralvorstellungen nur als Niederschlag in dem Bewusstsein der Individuen existieren können (exemplarisch: Durkheim 1994 [1912]: 289).
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etc., durch die in Interaktionsritualen ein gemeinsamer Fokus und eine gemeinsame Stimmung ermöglicht werden.125 So sind Katholiken bspw. auf andere Katholiken angewiesen, um in gemeinsamen Messen ihren Glauben auszuüben. Zu dieser Abhängigkeit in kultureller Hinsicht kommt eine arbeitsteilige Abhängigkeit hinzu. Erfolgreiche Interaktionsrituale sind Kollektivgüter, welche durch ein simultanes Zusammenwirken mehrerer Akteure produziert werden. So ist eine religiöse Messe nur dann ein erfolgreiches Ritual, wenn ausreichend viele Gemeindemitglieder zugegen sind und diese sich auch aktiv am Zeremoniell beteiligen. Nur dann also, wenn eine signifikanter Anteil der Gruppenmitglieder ihren Beitrag leistet, kommt es zu einem erfolgreichen Ritual. Individuen sind in ihrem Streben nach intensiven Interaktionsritualen damit ganz grundsätzlich von einem Engagement der anderen abhängig. Die These der arbeitsteiligen Interdependenz als einer Quelle emotionaler Bindungen wird von Durkheim zwar nur im Zusammenhang mit dem Austausch von Gütern begründet, doch es gibt keinen Grund anzunehmen, warum sie nicht auch für Abhängigkeiten bezüglich der kollektiven Produktion von Gütern gelten sollte (vgl. Baurmann 1998: 92 f.; Lindenberg 1998: 67 f.). 4.5.2.3 Kollektive Symbole als frameaktivierende Stimuli Bei kollektiven Symbolen handelt es sich um Objekte, welche die Identität einer bestimmten Gruppe repräsentieren. Collins spricht auch von „cultural items with membership significance” (Collins 2004: 86). Stellt man sich kollektive Symbole vor, so denkt man spontan an Embleme, Fahnen oder religiöse Ikonen. Diese Objekte fallen in Collins’ Verständnis durchaus unter diesen Begriff, doch seine Verwendung des Begriffs der kollektiven Symbole geht entschieden weiter. Im Grunde genommen kann jedes Objekt zu einem kollektiven Symbol werden, welches in Interaktionsritualen im Fokus der Partizipierenden steht und auf das sich die geteilte Stimmung richtet. Neben den aufgeführten Beispielen können dies auch Slogans, Personen, Redeweisen, Kleidungsstile, weltanschauliche Ideen, gemeinsame Ziele, kollektive Erinnerungen oder Ähnliches sein: Auf Popkonzerten wird der Popstar zu einem kollektiven Symbol, welches die Zuschauer zu einer Fangemeinschaft vereint (Collins 2004: 83). Bei Wahlkampfveranstaltungen sind es der Kandidat einer Partei und seine Wahlslogans, die zu 125 Dabei ist zu erwähnen, dass Collins keineswegs von einer essenzialistischen Vorstellung von Gemeinsamkeiten ausgeht, sondern diese zumindest in wesentlichen Teilen erst in Interaktionsritualen produziert werden. So stellt Collins bspw. im Zusammenhang mit einer ethnischen Identität heraus, dass sie erst durch Interaktionsrituale produziert und mit Bedeutung aufgeladen wird (Collins 2004: 83).
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 227 kollektiven Symbolen für die Parteianhänger avancieren. Der fachspezifische Jargons unter Wissenschaftlern wird durch seinen regelmäßigen Gebrauch zu einem kollektiven Symbol, welches die Zugehörigkeit zur scientific community anzeigt. Kollektive Symbole zeigen allerdings nicht in einer rein neutralen Weise an, wer zu einer Gruppe dazugehört und wer nicht, sondern sind emotional und moralisch aufgeladen. Sie stellen eine Objektivierung der affektuellen Einstellungen dar, die mit einer Gruppe verbunden sind. Je mehr sich eine Person mit einer Gruppe identifiziert, desto stärker ist auch die emotionale Aufladung der kollektiven Symbole, welche die Gruppe repräsentieren. Bei einer ausgeprägten Identifikation mit einer Gruppe werden die sie repräsentierenden Symbole zu heiligen Objekten im Sinne von Durkheim, also zu Objekten, die mit besonderem Respekt behandelt werden und deren Missachtung Wut und Empörung hervorruft. Empirische Belege für diese These liefert eine sozialpsychologische Studie von Haidt et al. (1993), in der die Reaktion von amerikanischen und brasilianischen Probanden gegenüber Verhaltensweisen untersucht wurde, bei denen zwar niemand Schaden nimmt, die aber einen anstößigen und beleidigenden Charakter haben. Eine der kleinen Geschichten, zu denen sich die Probanden äußern sollten, war die, dass eine Frau eine alte Landesfahne zur Kloreinigung gebraucht. 40 Prozent der Befragten gaben an, dass sie es missbilligen würden, müssten sie mit ansehen, dass die Landesfahne zu diesem Zweck verwendet wird. Auch wenn für die Mehrheit der Befragten das Verhalten der Frau kein moralisches Problem darstellt, wird dennoch deutlich, dass die Entweihung heiliger Objekte durch ihren profanen Gebrauch emotionale und moralische Gegenreaktionen auslösen kann.126 Im Interaktionsmodell von Collins sind kollektive Symbole zwar als Output verzeichnet, doch zugleich spielen sie eine große Rolle für die Durchführung der Rituale selbst. Ist ein Mitgliedschaftssymbol erst einmal etabliert, wird auf dieses Symbol in anschließenden Interaktionsritualen zurückgegriffen, um eine Grenzziehung, einen gemeinsamen Fokus und eine geteilte Stimmung zu erzeugen. Die Generierung von kollektiven Symbolen hat damit eine herausragende Bedeutung, 126 Ein weiteres Indiz dafür, dass Landesfahnen als heilige Objekte angesehen werden, zeigt sich in folgendem Beispiel: Die Republikaner haben im Jahre 2006 im US-Kongress eine Vorlage zum Verbot des Verbrennens des Sternenbanners – ein beliebtes Ritual auf antiamerikanischen Demonstrationen – eingereicht. Die Vorlage ist knapp gescheitert und wurde von den Demokraten als populistische Stimmungsmache verurteilt (http://www.spiegel.de/politik/ausland/ 0,1518,423996,00.html, zuletzt eingesehen am 16.11.2011). Die Vorlage der Republikaner – aber auch die Reaktion der Demokraten – verweisen darauf, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Bevölkerung in den USA die Ansicht zu haben scheint, dass der an sich harmlose Akt des Verbrennens der Landesfahne die Entweihung eines heiligen Objektes darstellt, welche unter Strafe zu stellen ist.
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wenn es darum geht Interaktionsrituale zu verstetigen. Aus Collins’ Überlegungen lässt sich ableiten, dass kollektive Symbole geradezu essenziell sind, damit Individuen sich überhaupt als Gruppe definieren können. Die Bedeutung von kollektiven Symbolen erschöpft sich aber längst nicht in der Ermöglichung von Anschlussritualen. Eine zentrale Wirkung von kollektiven Symbolen besteht in einer nachhaltigen Beeinflussung des Denkens und Fühlens von Individuen. „A […] result of collective symbols is to shape individuals’ thinking, even when they are not in the presence of a group. Collective symbols include words and ideas. Because they think in terms of symbols, which are charged up by the amount of solidarity127 they felt with particular groups, individuals when alone are nevertheless still under the influence of the group ties“ (Collins 1993: 213).
Auf diese Weise sind kollektive Symbole in der Lage, die Mitgliedschaft in einer Gruppe und die mit ihnen verknüpften affektuellen Einstellungen zu aktivieren. Wie schon erwähnt, lehnt sich Collins’ Konzept kollektiver Symbole ganz wesentlich an Durkheims Theorie an. Um ein genaueres Verständnis davon zu erhalten, wie Symbole entstehen und welche Wirkung sie auf das Individuum haben, lohnt ein Rückgriff auf Durkheims (1994 [1912]) religionssoziologische Untersuchung Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Durkheim selbst weist im Rahmen dieser Untersuchung darauf hin, dass Symbole nicht nur in religiösen, sondern auch in säkularen Kontexten von entscheidender Bedeutung sind. Aus dieser Untersuchung zitiere ich eine längere Passage, die einen guten Einblick in den sozialen Charakter von Symbolen gibt: „In der Tat ist es ein bekanntes Gesetz, daß die Gefühle, die in uns durch irgendetwas geweckt werden, spontan auf das Symbol übertragen werden, das dieses Etwas darstellt. Schwarz ist für uns das Zeichen der Trauer. Die Farbe überträgt auch traurige Eindrücke und Ideen. Diese Übertragung von Gefühlen kommt einfach daher, daß die Idee eines Dings und die Idee eines Symbols in unserem Geist eng verbunden sind; woraus folgt, daß die Gefühle, die von einem hervorgerufen werden, auf das andere übertragen werden. Diese Art Ansteckung aber, die auf alle Fälle in irgendeinem Grad entsteht, ist um so vollständiger und ausgeprägter, je einfacher, bestimmter und leichter ein Symbol darstellbar ist, während die entsprechende Sache, durch ihre Dimension, die Zahl ihrer Teile und die Kompliziertheit ihrer Anordnung, dem Gedanken nur schwer zugänglich ist. Denn wir können uns in einer abstrakten Wesenheit, die wir uns nur mit Anstrengung und verworren vorstellen können, nicht den Ursprungsort starker Gefühle denken. Wir können sie uns nur erklären, wenn 127 Hier sei nochmals darauf hingewiesen, dass Collins mit dem Begriff der Solidarität Verbundenheitsgefühle bezeichnet.
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 229 wir uns auf ein konkretes Objekt beziehen, dessen Realität wir lebhaft fühlen. Wenn also das Ding diese Bedingung nicht erfüllt, kann es auch nicht als Anknüpfungspunkt für gefühlte Eindrücke dienen, obwohl gerade sie es hervorgerufen hat. Das Zeichen nimmt dann seinen Platz sein. Man überträgt es auf die Gefühle, die das ursprüngliche Objekt erregt hat. Dann wird das Zeichen geliebt, gefürchtet und geachtet; ihm ist man dankbar; ihm opfert man sich. Der Soldat, der für die Fahne stirbt, stirbt für das Vaterland; in seinem Bewusstsein steht die Idee der Fahne an erster Stelle. Es kommt sogar vor, daß sie das Verhalten bestimmt. Ob eine einzelne Standarte in der Hand des Feindes geblieben ist oder nicht, das Vaterland ist deswegen nicht verloren, und trotzdem ist der Soldat in den Tode gegangen, um sie zurückzuholen. Man denkt eben nicht daran, daß die Fahne nur ein Zeichen ist, daß sie an sich keinen Wert hat, sondern nur an die Wirklichkeit mahnt, die sie vertritt, man behandelt sie, als ob sie selber diese Wirklichkeit wäre“ (Durkheim 1994 [1912]: 302).
An diesem Zitat wird nochmals deutlich, dass die Generierung von kollektiven Symbolen als eine Übertragung erlebter Gefühle auf ein Objekt verstanden werden muss. Anhand des Soldatenbeispiels kommt zum Ausdruck, was die zentrale Bedeutung von kollektiven Symbolen ist: Sie sind ein Trägermedium affektueller Einstellungen und als solches in der Lage, diese in Situationen zu aktualisieren, in denen Individuen nicht unmittelbar unter dem Einfluss einer Gruppe stehen. An dieser Stelle lässt sich nun einhaken, um eine Verknüpfung zur Framing-Theorie herzustellen. Diese postuliert, dass Frames spontan durch situationelle Stimuli aktiviert werden. Bei ihnen handelt es sich um Objekte, die assoziativ mit einem Handlungsziel verknüpft sind. Ich habe als Problem herausgestellt, dass aus der Framing-Theorie nicht weiter klar wird, was Stimuli konkret auszeichnet und wie sie zustande kommen. Im Hinblick auf die Solidar-frames lässt sich mit Collins’ kollektiven Symbolen diese Leerstelle überzeugend füllen. Damit ergibt sich für den Kontext dieser Untersuchung die zentrale These, dass kollektive Symbole als Stimuli fungieren, durch die bei einem Individuum das Handlungsziel einer Solidarnormbefolgung und die mit diesem Ziel verknüpften affektuellen Einstellungen aktualisiert werden. Je stärker ein kollektives Symbol emotional besetzt ist, desto größer sind seine Qualitäten als Stimulus für die spontane Aktivierung eines Solidarframes. 4.5.2.4 Bedingungen für erfolgreiche Interaktionsrituale Mit der Theorie der Interaktionsrituale lässt sich postulieren, dass die affektuellen Einstellungen und kollektiven Symbole, beides zentrale Bestandteile von Solidarframes, in Ritualen generiert werden. Interaktionsrituale leisten damit einen wesentlichen Beitrag dazu, die in Nutzenaussichten wurzelnde Solidar-
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normbindung zu stärken und zu konsolidieren. Die Akteure zielen mit ihrer Teilnahme an Interaktionsritualen aber keineswegs darauf ab, ihre Solidarframes zu festigen. Interaktionsrituale dienen ihnen vielmehr als Zwischengüter, um Aktivierungs- und Anerkennungsbedürfnisse zu befriedigen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Versorgung eines Solidarframes mit affektuellen Einstellungen und kollektiven Symbolen als eine nichtintendierte Nebenfolge der individuellen Nutzenproduktion dar. Diese Wirkung bleibt allerdings an die Bedingung gekoppelt, dass Interaktionsrituale aus der Perspektive des individuellen Akteurs erfolgreich sind, also einen Beitrag zu seinem subjektiven Wohlbefinden leisten. Allein die Alltagserfahrung zeigt nun aber, dass längst nicht jede Partizipation an einem Interaktionsritual einen signifikanten Beitrag zur Nutzenproduktion leistet. Interaktionsrituale sind häufig nicht in der Lage, die Partizipierenden emotional anzusprechen, was sich bspw. an zähen Wahlkampfveranstaltungen, drögen Messen oder langweiligen Abteilungsmeetings zeigt. Nicht selten handelt es sich auch um gänzlich „leere“ Veranstaltungen – um eine Show, die die Teilnehmenden ohne innere Beteiligung über sich ergehen lassen. Man denke in diesem Zusammenhang an die verordneten Massenaufmärsche in den ehemals kommunistischen Staaten. Die Geschichte hat gezeigt, dass diese keineswegs dazu geführt haben, dass die Bürger eine Identifikation mit den Regimen entwickelten. Interaktionsrituale lassen sich also nicht einfach als sozialtechnologische Maßnahme instrumentalisieren, um gefällige affektuelle Einstellungen zu produzieren. Dies impliziert, dass längst nicht von jedem Interaktionsritual ein positiver Beitrag zum Aufbau und zur Konsolidierung von Solidarframes ausgeht. Damit taucht die zentrale Frage auf, wovon ihr Erfolg bzw. Misserfolg abhängt. Im Folgenden werde ich drei Faktoren diskutieren, die in diesem Zusammenhang zentral sind: physische Präsenz, Macht und Gruppenintegration. Physische Präsenz Eine der grundlegenden Voraussetzungen für erfolgreiche Interaktionsrituale ist, dass die Partizipierenden physisch anwesend sind: „Ritual is essentially a bodily process. Human bodies moving into the same place starts off the ritual process“ (Collins 2004: 53). Collins geht davon aus, dass die Intensität der rituellen Erfahrung umso stärker ist, je mehr Personen an einem Interaktionsritual teilnehmen. Zwar lassen sich Interaktionsrituale auch via Medien realisieren, doch diese erreichen nach Collins längst nicht die Intensität wie Rituale, die unmittelbar erlebt werden. Die patriotische Feier im Fernsehen wird von den Zuschauern vor dem Bildschirm nicht in derselben Intensität erfahren wie von den Teilnehmenden vor Ort. Auch eine Telefonkonferenz ist von geringerer Intensität als eine
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 231 Besprechung unter anwesenden Personen. Diese besondere Bedeutung physischer Präsenz resultiert nach Collins aus dem ansteckenden Effekt von Emotionen. Anwesende Personen seien viel stärker in der Lage, sich in ihren Interaktionen gegenseitig emotional zu beeinflussen, als dies in medienvermittelter Kommunikation der Fall ist. Collins begründet diese besondere Rolle physischer Präsenz mit dem evolutionstheoretischen Argument, dass Menschen – ähnlich wie Tiere – ein Nervensystem entwickelt haben, welches sich durch eine besondere physiologische Sensibilität auszeichnet, um Stimmungen in ihrer Umwelt (z. B. Aggression, Sexualbereitschaft) frühzeitig mitzubekommen (Collins 2004: 54). Aus der besonderen Bedeutung der physischen Präsenz unmittelbar darauf zu schließen, dass Medien keine oder nur eine geringe Wirkung hätten, wäre allerdings verfrüht. Immerhin sind mediale Ereignisse häufig der Anlass für das reale Zusammenkommen von Personen. Man denke an das Public Viewing – Liveübertragungen von Sportveranstaltungen oder anderen Veranstaltungen auf Großleinwänden – oder etwa an den Fernsehabend im Familienkreis. Außerdem können durch die Medien affektuelle Einstellungen und Symbole verstärkt werden, die in realen Interaktionsritualen generiert wurden. In diesem Zusammenhang können Mitarbeiter- oder Vereinszeitungen genannt werden. Im Hinblick auf das explanative Modell lässt sich aus der Theorie der Interaktionsrituale allerdings die klare Konsequenz ableiten, dass die soziale Produktion von Verbundenheit und Moralität sowie entsprechender kollektiver Symbole auf Interaktionsrituale mit physischer Präsenz angewiesen bleiben (Collins 2004: 64). Für das hier interessierende Thema folgt daraus, dass regelmäßige Interaktionsrituale unter physisch Anwesenden eine zentrale Bedingung für den Aufbau und die Konsolidierung von Solidarframes darstellt. Macht Der Charakter von Interaktionsritualen ist ganz wesentlich davon geprägt, ob und in welcher Weise sie durch Macht bestimmt sind (Collins 1988: 21 ff., 1990: 34 ff., 2004: 112 ff.). Unter Macht versteht Collins die Möglichkeit, durch Anweisung Handlungskontrolle auszuüben. Sie stellt eine zentrale Dimension dar, anhand derer sich alle Interaktionsrituale analysieren lassen. Interaktionsrituale können also stark bis gar nicht machtgeprägt sein. Steht die Machtausübung explizit im Fokus von Interaktionsritualen spricht Collins von Machtritualen. Das Militär und die Schule stellen klassischerweise Institutionen dar, die stark durch Machtrituale charakterisiert sind, während sich Freundschaftsbeziehungen gerade dadurch auszeichnen, dass sie dies nicht sind.
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Das charakteristische Merkmal von Machtritualen ist, dass die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Fokus erzwungen ist, woraus sich eine grundsätzlich unterschiedliche Perspektive zwischen Befehlsgeber und Befehlsempfänger ableitet. Für den Befehlsgeber stellt die gelungene Machtausübung eine belohnende Erfahrung dar. Sie resultiert nicht nur daraus, dass die Handlungen anderer Personen im eigenen Interesse gelenkt werden, sondern nicht zuletzt auch aus der Bestätigung eines übergeordneten Status. Aufseiten des Befehlsempfängers geht die Fremdkontrolle dagegen mit der Erfahrung eines untergeordneten Status einher (Collins 2004: 112). Auf diese Weise stellen Machtrituale eine Möglichkeit zur gruppeninternen Differenzierung von Status dar. Dabei lassen sie sich als Nullsummenspiele verstehen, bei denen die Statuserhöhung des Befehlsgebers einer Statusunterordnung des Befehlsempfängers gegenübersteht. Wie stark die Statusdifferenzierung durch Machtrituale tatsächlich ausfällt, hängt davon ab, wie demonstrativ und offensiv der Zwangscharakter ausfällt. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Erfahrungen der Herrschenden und Beherrschten kommt es in Machtritualen auch zu verschiedenen Outputs bezüglich der affektuellen Einstellungen. Aufseiten der Herrschenden führen die Machtrituale zu einer Identifikation mit der Gruppe und ihren kollektiven Symbolen: „Order-givers identify themselves with the sacred objects of their organization; they respect these symbols as ideals, and are foremost requiring other people to kowtow to them too“ (Collins 2004: 114). Aufseiten der Beherrschten bleibt diese Identifikation dagegen aus. Offiziell mögen sie sich vielleicht zu einer Gruppe und ihren Symbolen bekennen, doch innerlich nehmen sie ihnen gegenüber eine entfremdete Haltung ein: „[...] the experince of taking orders from other people makes people fatalistic, externally conforming but privately alienated from authority and the official idelas in whose name they are given orders“ (Collins 1988: 211). Bei dieser Gegenüberstellung handelt es sich allerdings um eine Zuspitzung, die auf zwei Extreme fokussiert ist: Personen, die ausschließlich herrschen, versus Personen, die ausschließlich beherrscht werden. Das Paradebeispiel für eine solche Konstellation ist das Herren-Sklaven-Verhältnis. Die Struktur von Gruppen und Organisationen in der modernen Gesellschaft ist allerdings durch eine Vielzahl an Zwischenpositionen geprägt, auf denen Personen von „oben“ Anweisungen erhalten und nach „unten“ selbst Kontrolle ausüben können (Collins 1990: 37). Mit der Theorie der Interaktionsrituale lässt sich prognostizieren, dass die Identifikation mit Gruppen unter den Bedingungen einer hierarchischen Struktur davon abhängt, welche Statuserfahrung insgesamt überwiegt. Die Bedeutung der Machtdimension wird von Collins (1988: 212) durch wirtschaftssoziologische Studien belegt, bei denen es um die Frage der Zufrie-
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 233 denheit und der Identifikation mit dem Arbeitsplatz geht. Das eindeutige Ergebnis der herangezogenen Studien ist, dass Personen, die große Autonomie über ihren Arbeitsprozess besitzen und darüber hinaus als Führungspersonen Macht ausüben können, die höchsten Werte bei der Zufriedenheit mit der Arbeit und der Identifikation mit ihrer Institution aufweisen. Die niedrigsten Identifikationsund Zufriedenheitswerte zeigen dagegen diejenigen Personen, die am untersten Ende der Hierarchie stehen und lediglich die Rolle des Befehlsempfängers einnehmen. In eine ähnliche Richtung weisen die Erkenntnisse einer Studie über den Einfluss von Kommunikations- und Partizipationsstrukturen auf die Mitarbeitermotivation, die Matthias Benz (2002) anhand der Daten des US-amerikanischen Worker Representation and Participation Surveys durchgeführt hat. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Institutionalisierung einer regelmäßigen Kommunikation zwischen dem Management und der Belegschaft sowie die Einbindung der Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse einen positiven Einfluss auf die Jobzufriedenheit, das innerbetriebliche Vertrauen und die Loyalität der Arbeitnehmer gegenüber dem Unternehmen haben. Diese Ergebnisse lassen sich dahingehend interpretieren, dass Interaktionsrituale mit kooperativer statt machtzentrierter Ausrichtung eine gute Ausgangslage für die Entwicklung von Verbundenheit und Moralität darstellen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Faktor Macht einen entscheidenden Einfluss darauf ausübt, ob und in welcher Weise in Interaktionsritualen eine Identifikation mit der Gruppe, ihren Solidaransprüchen und kollektiven Symbolen aufgebaut wird. Im Hinblick auf Solidaritätsfragen in der sozialen Praxis scheint mir dieser Aspekt von großer Relevanz zu sein, da er auf eine wichtige Ambivalenz hinweist: So ist deutlich geworden, dass innerhalb hierarchischer Beziehungen (etwa in Unternehmen) die demonstrative Betonung von realen Machtunterschieden aufseiten der Statusniederen zu einer Entfremdung führen kann, welche einer Solidarnormbindung keineswegs zuträglich ist. Dagegen werden die Statusoberen durch ihre Machtausübung in der Identifikation mit der Gruppe bestärkt, wodurch die Bindung an die in der Gruppe existierenden Solidarnormen eher gefördert wird. Gruppenintegration Die Integration128 von Individuen in die Gruppe stellt bei Collins eine Dimension dar, die sich aus drei Subdimensionen zusammensetzt. Bei der ersten handelt es 128 Collins spricht hier von Status und nicht von Integration. Der Begriff des Status wird von Collins aber nicht im Sinne einer hierarchischen Abgrenzung gegenüber anderen verwendet, so wie ich es in dieser Untersuchung tue, sondern im Sinne eines Mitgliederstatus. Um keine ter-
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sich um die Dimension Zentrum/Peripherie, welche sich auf die Frage bezieht, wie stark Individuen in den Prozess der Interaktionsrituale involviert sind. Alle Partizipierenden – so die zentrale Idee – lassen sich auf einem Kontinuum mit den Extrempunkten der äußersten Peripherie und des Zentrums einordnen. Diese Abstufung lässt sich am Beispiel einer Hochzeit verdeutlichen: Dort gibt es das Brautpaar, welches das Zentrum des Rituals bildet, die engen Verwandten und Freunde, die nah an diesem Zentrum sind, und die Nachbarn, die eher eine randständige Position bei der Durchführung des Rituals einnehmen. Collins’ These hinsichtlich der Zentrum/Peripherie-Dimension ist, dass die Intensität und damit auch die Stärke der affektuellen Einstellungen mit der Distanz zum Zentrum des Rituals abnehmen. 4.5.3 Abschlussbetrachtung Nachdem mit der Theorie universeller Zielgüter herausgestellt wurde, dass eine Solidarnormbindung im Rahmen des explanativen Modells als ein Mittel zur Nutzenproduktion aufzufassen ist, wurden im Anschluss mithilfe der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen die kulturellen und materiellen Rahmenbedingungen identifiziert, durch die sich die Rationalität einer Solidarnormbindung begründet. Es wurde festgehalten, dass eine Solidarnormbindung dann ein rationales Instrument der Nutzenproduktion darstellt, wenn Akteure für diese Eigenschaft Anerkennung erfahren und/oder wegen dieser Eigenschaft Vorteile in der Konkurrenz um begehrte Positionen haben und darüber hinaus die Kosten der Solidarnormbindung deren Vorteile insgesamt unterbieten. Individuen erwerben allerdings nicht automatisch jene Eigenschaften, welche im Sinne ihrer Nutzenproduktion rational sind. Die Entwicklung persönlicher Handlungsorientierungen und Eigenschaften ist nicht nur äußeren Determinanten, sondern ebenfalls der Eigenwilligkeit menschlicher Subjektivität geschuldet. Um diesen Aspekt im Rahmen des explanativen Modells zu berücksichtigen, wurde die Framing-Theorie aufgegriffen, welche sich unmittelbar an die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen anschließen lässt. Aus framingtheoretischer Perspektive manifestiert sich eine Solidarnormbindung darin, dass Akteure einen Solidarframe entwickeln und dieser regelmäßig Handlungsdominanz erlangt. Die Entwicklung von Solidarframes ist an die Bedingung gekoppelt, dass eine Solidarnormgebundenheit einen signifikanten Beitrag zur Nutzenproduktion leistet. Da sich derartige Vorteile für den Akteur in der Regel erst langfristig zeigen, bedarf es gewisser Stützen in Form von affektuellen Einstelminologische Verwirrung zu stiften, ersetze ich seinen Begriff des Status durch den Begriff der Integration.
4.5 Solidarnormbindung, affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole 235 lungen und kollektiven Symbolen, damit sich ein Solidarframe in den einzelnen Entscheidungssituationen gegenüber kurzfristigen Versuchungen durchsetzen kann. Mit der Framing-Theorie wird zwar deutlich, dass eine stabile Solidarnormbindung auf affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole angewiesen ist; sie kann aber nicht erklären, wie Akteure diese erwerben. Zur Schließung dieser Lücke ist eine Theorie notwendig, welche explizit den Aufbau affektueller Einstellungen sowie kollektiver Symbole in den Blick nimmt und die zugleich an den hier aufgespannten theoretischen Rahmen anschließt. Beide Bedingungen werden durch Collins’ Theorie der Interaktionsrituale erfüllt. Unter den Begriff des Interaktionsrituals ordnet Collins alle möglichen Formen sozialer Interaktion ein – von der Praxis nachbarschaftlichen Grüßens über das gemeinsame Abendessen in der Familie bis hin zu religiösen Zeremonien oder politischen Massenveranstaltungen. Die Kernthese der Theorie ist, dass Individuen in Interaktionsritualen affektuelle Einstellungen129 sowie eine Identifikation mit kollektiven Symbolen entwickeln. Allerdings führen nicht alle Interaktionsrituale zu einer Stärkung von Solidarframes. Die Voraussetzung für den Aufbau affektueller Einstellungen und kollektiver Symbole ist, dass Interaktionsrituale primäre Zwischengüter darstellen, d. h., dass die Teilnahme an ihnen unmittelbar einen Beitrag zum subjektiven Wohlbefinden leistet, indem etwa Bedürfnisse nach Aktivierung, Status oder Affekt befriedigt werden. Ob die Teilnahme an Interaktionsritualen das subjektive Wohlbefinden steigert und es damit in der Konsequenz zum Aufbau affektueller Einstellungen sowie zu einer Identifikation mit kollektiven Symbolen kommt, hängt von unterschiedlichen Bedingungen ab. Collins betont, dass die physische Präsenz von Personen ein ganz wesentlicher Aspekt erfolgreicher Interaktionsrituale ist, da sie die Intensität des rituellen Erlebnisses verstärkt. Ein weiterer wichtiger Einfluss auf den Erfolg von Interaktionsritualen geht vom Faktor Macht aus. Steht in einem Interaktionsritual die demonstrative Machtausübung Einzelner gegenüber anderer am Ritual Teilnehmenden im Mittelpunkt, wie dies in stark hierarchisch geprägten Gruppen häufig der Fall sein kann, dann können Interaktionsrituale eine ambivalente Wirkung entfalten. Die Unterlegenen werden wenig bis gar kein subjektives Wohlbefinden aus dem Ritual ziehen und demzufolge auch keine affektuellen Einstellungen aufbauen oder sich mit den kollektiven Symbolen identifizieren. Für die Machtausübenden gilt dagegen der umgekehrte Zusammenhang. Des Weiteren ist die Gruppenintegration als wichtiger Einflussfaktor zu nennen. In diesem Zusammenhang ist zunächst zentral, wie stark individuelle Akteure in den Prozess des Interaktionsrituals involviert sind. Die Inten129 Der Begriff der affektuellen Einstellung wird von Collins selbst nicht benutzt, sondern von mir eingeführt.
236
4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
sität der Aufmerksamkeitsfokussierung und der geteilten Stimmung variiert mit der Nähe eines Akteurs zum zentralen Gegenstand des Interaktionsrituals. Aus Sicht der Theorie der Interaktionsrituale erklären sich affektuelle Einstellungen sowie die Identifikation mit kollektiven Symbolen als Ergebnis von Interaktionsritualen, in denen Akteure eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Aktivierung, Wertschätzung, Status und/oder Affekt erfahren. Die Versorgung von Solidarframes mit affektuellen Einstellungen und kollektiven Symbolen lässt sich damit als ein nichtintendiertes Nebenprodukt von erfolgreichen Interaktionsritualen verstehen. Auf diese Weise gelingt es, innerhalb des aufgespannten Theorierahmens die zentrale Lücke der Framing-Theorie von Lindenberg zu schließen. Damit sind – so die zentrale von mir vertretene These – die wesentlichen konstitutiven Bedingungen einer Solidarnormbindung zu einem umfassenden und robusten explanativen Modell vereint. 4.6 Zusammenfassung 4.6.1 Das explanative Modell in der Übersicht Im Teil 2 dieser Untersuchung habe ich dargelegt, dass sich solidarisches Handeln aus soziologischer Perspektive als Solidarnormbindung konzeptualisieren lässt. Eine Solidarnormbindung manifestiert sich in einer regelmäßigen und anreizunabhängigen Solidarnormbefolgung, bei der die Normbefolgung ein eigenständiges Handlungsmotiv darstellt. Ich habe dieses Konzept der Solidarnormbindung als „leer“ bezeichnet, weil es der Auffüllung mit einer Handlungstheorie bedarf, damit es als analytisches Konzept zur Anwendung kommen kann. Im dritten Teil dieser Untersuchung ging es darum, aus einer erweiterten Rational-Choice-Perspektive das Konzept der Solidarnormbindung handlungstheoretisch zu fundieren und ein explanatives Modell zu entwickeln, welches die wesentlichen Determinanten der Solidarnormbindung benennt. Für die Entwicklung des explanativen Modells wurde auf vier theoretische Ansätze zurückgegriffen, die miteinander verknüpft wurden: (1) die Theorie universeller Zielgüter, (2) die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen, (3) die Framing-Theorie und (4) die Theorie der Interaktionsrituale. Alle Theorien fokussieren auf unterschiedliche Gegenstände: (1) invariable menschliche Bedürfnisse, (2) kulturelle und materielle Restriktionen der Nutzenproduktion, (3) Entscheidungsverhalten unter der Voraussetzung eingeschränkter Rationalität und (4) Aufbau von affektuellen Einstellungen und kollektiven Symbolen in Interaktionsprozessen. Die Modellentwicklung wurde vorgenommen, indem die vier Ansätze nacheinander dargelegt und nach ihren Implikationen für eine Soli-
4.6 Zusammenfassung
237
darnormbindung befragt wurden. Jede Theorie konnte dabei wesentliche Einsichten liefern, hinterließ aber auch spezifische Fragen oder Lücken, die im Weiteren durch die Heranziehung einer weiteren Theorie beantwortet bzw. geschlossen werden konnten. Nachdem alle theoretischen Elemente des explanativen Modells vorgestellt und miteinander verknüpft worden sind, ist an dieser Stelle ein zusammenfassender Blick auf das Modell möglich. Im Mittelpunkt stehen dabei die Solidarframes als modellimmanente Operationalisierung einer Solidarnormbindung. Aus framingtheoretischer Perspektive manifestiert sich eine Solidarnormbindung als regelmäßige Handlungsdominanz von Solidarframes. Die Frage nach ihren konstitutiven Bedingungen reformuliert sich aus dieser Sicht zu der Frage nach den konstitutiven Bedingungen dafür, dass Akteure einen Solidarframe entwickeln, welcher stark genug ist, um sich im alltäglichen Handlungsvollzug regelmäßig gegen hedonistische oder gewinnorientierte Ziele durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund stellen sich die kulturellen und materiellen Faktoren, welche die Rationalität einer Solidarnormbindung begründen, sowie die Interaktionsrituale, aus denen eine Identifikation mit der Gruppe und ihren Solidaransprüchen folgt, als die zwei Säulen der Solidarnormbindung dar. Mit dem explanativen Modell ist es möglich, Solidarnormbindungen ökonomisch, d. h. als ein Mittel im Rahmen der individuellen Nutzenproduktion, zu erklären. Als zentrale Aussagen des Modells sind folgende Punkte festzuhalten: Mit einer Bindung an Solidarnormen ist nur dann zu rechnen, wenn Akteure für diese persönliche Eigenschaft handfeste Vorteile hinsichtlich ihrer Nutzenproduktion erwarten können. Zusätzlich zu den Nutzenaussichten setzt eine stabile Solidarnormbindung voraus, dass Akteure die emotional fundierte Einstellung gewinnen, dass eine Solidarnormbefolgung richtig ist, und sie sich mit einer Gruppe sowie deren Symbolen identifizieren. Diese weiche, aber für eine Solidarnormbindung äußerst wichtige konstitutive Bedingung lässt sich weder durch stetige moralische Appelle indoktrinieren, noch allein mithilfe der Logik des besseren Arguments durchsetzen. Sie ist vielmehr ein Nebenprodukt von Interaktionsprozessen, in denen Akteure Aktivierung und Anerkennung – also eine Steigerung ihres subjektiven Wohlbefindens – erfahren.
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
Abbildung 3: Zwei Säulen der Solidarnormbindung
Solidarframe Solidarnormbefolgung ist als eigenständiges Handlungsziel in der Motivstruktur verankert und wird als richtig angesehen.
Rationalität einer SB für die individuelle Nutzenproduktion
Kulturelle Bedingungen
SB als primäres ZG
SB als indirektes ZG
Affektuelle Einstellungen/Identifikation mit kollektiven Symbolen
Materielle Bedingungen
Budget des Akteurs
Relativer Preis einer SB
IR als primäres ZG
Physische Präsenz
Macht
Gruppenintegration
SB = Solidarnormbindung, ZG = Zwischengut, IR = Interaktionsritual
4.6.2 Analytische Implikationen Das explanative Modell hat den Anspruch, dass es sich als Rahmen für die soziologische Analyse nutzbar machen lässt und empirische Forschung anleiten kann. An dieser Stelle werde ich eine analytische Agenda skizzieren, die sich aus dem Modell ableitet. Aus analytischer Perspektive stehen die beiden Säulen von Solidarframes – die Rationalität einer Solidarnormbindung sowie die affektuellen Einstellungen
4.6 Zusammenfassung
239
bzw. kollektive Symbole – im Mittelpunkt. Die Rationalität einer Solidarnormbindung hängt zunächst davon ab, ob eine Solidarnormbindung im Rahmen einer Gruppe kulturell als primäres oder indirektes Zwischengut institutionalisiert ist. Eine Institutionalisierung als primäres Zwischengut liegt vor, wenn solidarnormgebundene Personen systematisch mit Anerkennung honoriert und im Umkehrschluss opportunistische Personen mit Missachtung versehen werden. Für eine soziologische Analyse bedeutet dies, dass sie die Anerkennungskommunikation innerhalb einer Gruppe in den Blick nehmen und rekonstruieren muss, ob und in welchem Maß die persönliche Eigenschaft einer Solidarnormbindung mit Anerkennung honoriert wird. Eine Institutionalisierung als indirektes Zwischengut setzt voraus, dass solidarnormgebundene Personen Vorteile bei der Verteilung von begehrten Positionen oder anderen Ressourcen genießen bzw. opportunistische Personen in dieser Hinsicht systematisch benachteiligt sind. Die Institutionalisierung als indirektes Zwischengut erfordert also die systematische Anwendung von Solidarnormgebundenheit als Selektionskriterium. Eine soziologische Analyse steht damit vor der Aufgabe, die Selektions- und Allokationsregeln zu identifizieren, nach denen im Rahmen einer Gruppe Positionen besetzt und Ressourcen verteilt werden. In diesem Zusammenhang ist zentral, dass die Solidarnormgebundenheit in der Regel nur eines von mehreren Verteilungskriterien ist. Vor diesem Hintergrund muss eine soziologische Analyse ihr Augenmerk darauf richten, welche Bedeutung eine Solidarnormbindung als Selektionskriterium im Vergleich zu anderen Kriterien einnimmt. Neben den kulturellen muss sich die soziologische Analyse auch den materiellen Bedingungen der Nutzenproduktion zuwenden, da diese für die Bestimmung der Rationalität der Solidarnormbindung ganz wesentlich sind. Dabei gerät zunächst die Frage in den Blick, wie die Vorteile, die aus einer Solidarnormbindung erwachsen, vor dem Hintergrund des Budgets eines Akteurs zu bewerten sind. Da es zu den Opportunitätskosten einer Solidarnormbindung zählt, dass ein bestimmter Teil des Budgets nicht mehr für alternative Investitionen zur Verfügung steht, kann die Rationalität einer Solidarnormbindung vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ressourcenausstattungen variieren. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang elementar, wie sich der Preis einer Solidarnormbindung in Relation zum Preis anderer Zwischengüter darstellt, die funktional äquivalente Beiträge zur Nutzenproduktion leisten. Eine Bindung an Solidarnormen stellt sich nur dann als rational dar, wenn eine solche gegenüber anderen Zwischengütern, die ähnliche Vorteile versprechen, im Vergleich günstiger ist. Kommt man in der Analyse zu dem Schluss, dass eine Solidarnormbindung ein rationales Mittel zur Nutzenproduktion darstellt, ist dem explanativen Modell zufolge die erste und grundlegendste Bedingung für eine Solidarnormbindung
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4 Solidarnormbindung: Ein explanatives Modell
erfüllt: Der Akteur verfügt über ein Interesse, seinen natürlichen Opportunismus zu suspendieren und eine Bindung einzugehen. Dieses Interesse ist die Voraussetzung dafür, dass die Solidarnormbefolgung zu einem eigenständigen Handlungsmotiv werden kann, dass der Akteur also einen Solidarframe entwickelt und in sein Frame-Repertoire integriert. Damit dieser Solidarframe in der Vielzahl alltäglicher Entscheidungssituationen regelmäßig Handlungsdominanz erlangt und sich gegenüber konkurrierenden Zielen und Impulsen durchsetzt, bedarf es einer Aufrüstung des Solidarframes durch affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole. Da affektuelle Einstellungen und kollektive Symbole in Interaktionsritualen generiert werden, stehen diese im Fokus der weiteren Analyse. Interaktionsrituale tragen dann zu einer Generierung affektueller Einstellungen bzw. kollektiver Symbole und damit zu einer Stärkung von Solidarframes bei, wenn sie aufseiten der an den Ritualen teilnehmenden Akteure subjektives Wohlbefinden generieren. Nur dann, wenn die Rituale im positiven Sinne aktivierend sind und/oder in ihnen Wertschätzung, Status oder Affekt erfahren wird, leisten sie den entsprechenden Beitrag. Die entscheidenden Variablen, welche den Erfolg von Interaktionsritualen beeinflussen, sind physische Präsenz, Machtausübung und die soziale Position eines Akteurs hinsichtlich des zentralen Gegenstandes eines Rituals. Bei der Rekonstruktion dessen, welchen Beitrag Interaktionsrituale zu einer Stärkung von Solidarframes leisten, steht die soziologische Analyse vor der Herausforderung, die Interaktionsrituale hinsichtlich ihrer qualitativen Merkmale für die Teilnehmer zu erfassen. Die Differenzierung einer soziologischen Analyse in die hier vorgeschlagenen Schritte hat insbesondere dann einen praktischen Wert, wenn es um die Identifikation von möglichen Ursachen für eine fehlende Solidarnormbindung geht. Mit diesem Analyseraster lässt sich erschließen, ob die Ursache eher in dem „harten“ Faktor einer mangelnden Rationalität der Solidarnormbindung oder ob die Ursache eher in dem „weichen“ Faktor einer mangelnden Identifikation mit der Gruppe samt ihrer Solidaransprüche liegt.
4.6 Zusammenfassung Determinanten einer SB
241 Analytische Frage
Gegenstand der Analyse
Kulturelle Institutionalisierung einer SB als primäres ZG.
Führt eine SB in signifikanter Weise zu Wertschätzung, Status und/oder Affekt?
Anerkennungsvergabe und Anerkennungskommunikation in Gruppen.
Kulturelle Institutionalisierung einer SB als indirektes ZG.
Stellt eine SB ein signifikantes Kriterium für die Vergabe von Positionen oder die Verteilung anderer Ressourcen dar?
Selektionskriterien bei der Besetzung von Positionen. Allokationsregeln bei der Verteilung von Ressourcen.
Knappe Ressourcenausstattung der Akteure und relativer Preis einer SB.
Wie kostspielig stellt sich eine SB vor dem Hintergrund des knappen Budgets dar und welcher relative Preis ist mit einer SB verknüpft?
Budget der Akteure und relativer Preis einer SB.
Institutionalisierung von IR als primäres ZG.
In welche IR sind Akteure eingebunden und welchen Beitrag leisten die IR zur Realisierung subjektiven Wohlbefindens?
Charakter und Struktur von IR in Gruppen.
SB = Solidarnormbindung, ZG = Zwischengut, IR = Interaktionsritual
5 Schlussbetrachtung
Solidarität zählt zu den Schlüsselbegriffen soziologischen Denkens. Von der klassischen Soziologie Durkheims bis zu den speziellen Soziologien der Gegenwart (etwa der Familiensoziologie, der Arbeitssoziologie oder der Soziologie internationaler Beziehungen) sind Fragen und Probleme der Solidarität Gegenstand soziologischer Forschung. Trotz des zentralen Stellenwerts des Themas handelt es sich bei Solidarität keineswegs um ein klar umrissenes analytisches Konzept. Im Gegenteil: In unterschiedlichen Analysen wird der Begriff mit heterogenen und zum Teil widersprüchlichen Inhalten gefüllt. Dies hat zur Folge, dass sich unterschiedliche Beiträge und Ergebnisse, die unter dem Stichwort der Solidarität firmieren, nur schwer zueinander in Beziehung setzen lassen. Hinzu kommt, dass der Solidaritätsbegriff bei seiner Verwendung häufig nicht ausreichend expliziert und an einen übergeordneten theoretischen Rahmen angebunden wird. Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur ein theoretisch-konzeptioneller Forschungsbedarf im Zusammenhang mit Solidarität konstatiert (vgl. etwa Kößler 2006; Maull 2009). An diesem Befund knüpfte die vorliegende Untersuchung an. Ihr Ziel war es, einen Beitrag zur Entwicklung eines Solidaritätskonzepts zu leisten, welches sich für eine theoretisch fundierte soziologische Analyse nutzen lässt. Um zu konkretisieren, was die Untersuchung leisten soll, habe ich im ersten Teil anhand der Rekonstruktion von vier prominenten Solidaritätskonzepten – Durkheim (1992 [1893]), Hondrich und Koch-Arzberger (1992), Kaufmann (1984, 2002) und Hechter (1987) – drei theoretische Probleme des soziologischen Solidaritätskonzepts identifiziert: Das erste Problem betrifft den Solidaritätsbegriff. Keiner der Autoren hat einen Solidaritätsbegriff anzubieten, der überzeugend definiert, was aus soziologischer Perspektive unter Solidarität zu verstehen ist. Als Konsequenz bleibt ebenfalls diffus, was der Gegenstand der Analyse von Solidarität sein soll. Als zweites Problem habe ich herausgestellt, dass es an einem ausgearbeiteten Konzept von Solidarnormen fehlt. Zwar werden von allen Autoren Normen als ein zentrales Element von Solidarität begriffen, doch es bleibt ungeklärt, was Solidarnormen sind, welche Eigenschaften sie aufweisen und in welchen Prozessen sie entstehen. Das dritte Problem betrifft die konstitutiven Bedingungen solidarischen Handelns. Um ein solidarisches Handeln erklären bzw. um Probleme und Potenziale im Zusammenhang mit
U. Tranow, Das Konzept der Solidarität, DOI 10.1007/978-3-531-93370-2_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
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Schlussbetrachtung
einem solidarischen Handeln analysieren zu können, bedarf es einer handlungstheoretischen Grundlage. In dieser Hinsicht sind die herangezogenen Konzepte defizitär, da sie über keine oder zumindest über keine überzeugende handlungstheoretische Fundierung verfügen. Die Struktur und der Aufbau der vorliegenden Untersuchung haben sich daran orientiert, einen Beitrag zur Lösung dieser drei Probleme zu leisten: Im zweiten Teil der Untersuchung habe ich einen Solidaritätsbegriff hergeleitet, im dritten Teil einen theoretischen Rahmen von Solidarnormen entwickelt und im vierten Teil mit dem explanativen Modell einer Solidarnormbindung die konstitutiven Bedingungen eines solidarischen Handelns geklärt. Die zentralen Ergebnisse der Untersuchung werden im Folgenden knapp zusammengefasst. Die Kernidee des von mir im zweiten Teil vorgeschlagenen Solidaritätsbegriffs ist eine Unterscheidung zwischen zwei Ebenen der Solidarität, der Akteursebene und der Systemebene. Auf Akteursebene manifestiert sich Solidarität in einer Solidarnormbindung, auf Systemebene in einer Solidarnormgeltung. Im Zentrum des Solidaritätsbegriffs stehen damit Solidarnormen, die als konzeptionelle Klammer zwischen den beiden Ebenen der Solidarität fungieren. Eine Solidarnormbindung stellt eine persönliche Eigenschaft eines Akteurs dar. Sie drückt sich darin aus, dass ein Akteur eine Solidarnorm als verbindlich ansieht und sich ihr gegenüber verpflichtet fühlt. Dieses Verpflichtungsgefühl führt dazu, dass sich ein Akteur auch in solchen Situationen an einer Solidarnorm orientiert, in denen keine hinreichenden Anreize zu einer Solidarnormbefolgung bestehen. Genau in diesem Punkt unterscheiden sich solidarnormgebundene Akteure von Akteuren, die gegenüber Solidarnormen eine opportunistische Haltung einnehmen. Opportunisten fehlt ein derartiges Verpflichtungsgefühl gegenüber Solidarnormen und daher befolgen sie diese nur dann, wenn die Anreizbedingungen dieses Verhalten nahelegen. Bei geltenden Solidarnormen handelt es sich um Solidarnormen, die Verhaltenswirksamkeit erlangen und im Rahmen eines sozialen Systems eine bestimmte Praxis der Hilfe, Unterstützung und Kooperation institutionalisieren. Im Unterschied zur Solidarität auf Akteursebene ist die Solidarität auf Systemebene definitorisch nicht an bestimmte Einstellungen gegenüber Solidarnormen gebunden. Aus welchen Gründen Akteure Solidarnormen befolgen und damit eine Praxis der Hilfe, Unterstützung und Kooperation konstituieren, spielt hier keine Rolle. Durch den vorgeschlagenen Solidaritätsbegriff hat Solidarität eine schlüssige soziologische Operationalisierung erfahren. Da Normen einen zentralen Gegenstandsbereich der Soziologie ausmachen, bietet der Solidaritätsbegriff eine genuin soziologische Perspektive auf den Gegenstand. Durch die Differenzierung zwischen einer Akteurs- und einer Systemebene ist der Solidaritätsbegriff
5 Schlussbetrachtung
245
umfassend. Aus dem Solidaritätsbegriff leiten sich drei grundsätzliche Perspektiven ab, die im Rahmen einer soziologischen Analyse eingenommen werden können: Eine Analyse kann sich erstens auf die Solidarität individueller Akteure konzentrieren. In einer solchen Untersuchung stehen Fragen hinsichtlich der Bedingungen, Probleme etc. einer Solidarnormbindung im Mittelpunkt. Zweitens kann die Solidarität sozialer Systeme in den Blick genommen werden. In diesem Zusammenhang geht es etwa um die Fragen, durch welche Solidarnormen sich die Solidarität eines sozialen Systems konstituiert oder in welcher Hinsicht sich die Solidarität unterschiedlicher Systeme unterscheidet. Drittens kann sich eine soziologische Analyse auf das Verhältnis zwischen Akteurs- und Systemebene konzentrieren. Dabei geht es etwa um die Frage, ob die Solidarität auf Systemebene auf eine Solidarität auf Akteursebene angewiesen ist oder ob dies nicht der Fall ist. Der Solidaritätsbegriff erfüllt den Anspruch, Solidarität mit Gegenständen zu identifizieren, die in eine soziologische Analyse überführt werden können. Zugleich ist aber zu konstatieren, dass er in der hergeleiteten Form noch keine soziologische Analyse anleiten kann, da er in zentralen Punkten theoretisch nicht festgelegt ist. Um den allgemeinen Solidaritätsbegriff zu einem gehaltvollen Konzept auszubauen, bedarf es hinsichtlich der Solidarität auf Akteursebene einer handlungstheoretischen und hinsichtlich der Solidarität auf Systemebene einer normtheoretischen Fundierung. Im weiteren Verlauf der Untersuchung habe ich Vorschläge zur Schließung dieser Lücken entwickelt. Im dritten Teil der Untersuchung habe ich mich der Entwicklung eines Konzepts von Solidarnormen zugewandt. Das Ziel war es, einen theoretischen Rahmen zu entwickeln, mit dem sich Solidarität in unterschiedlichsten Systemzusammenhängen rekonstruieren und analysieren lässt – von der Familie über soziale Netzwerke und Organisationen bis hin zu politisch verfassten Gemeinschaften. Um eine solche Spannweite abdecken zu können, habe ich mit Rekurs auf Baurmanns (1996) minimale Erwartungsdefinition von Normen und Hechters (1987) Solidaritätsbegriff ein sehr weites Verständnis von Solidarnormen vertreten. Demzufolge handelt es sich bei allen Sollens-Erwartungen, dass Akteure zugunsten anderer oder einer Gruppe einen kompensationslosen Ressourcentransfer vornehmen, um Solidarnormen. Solidarnormen erlangen Existenz, indem sie in einer empirisch nachvollziehbaren Weise ausgedrückt werden. Sie gelten, sofern eine Mehrheit der Adressaten sie im Großen und Ganzen befolgen. Durch diesen Solidarnormbegriff werden verbale Aufforderungen ebenso wie Satzungen oder Rechtsnormen erfasst, sofern sie von Akteuren entsprechende Transferleistungen verlangen. Um den Gegenstand von Solidarnormen inhaltlich zu spezifizieren, habe ich in Anlehnung an Lindenberg (1998) eine Differenzierung zwischen einer Bereitstellungs-, einer Verteilungs-, einer Unterstützungs-
246
Schlussbetrachtung
und einer Loyalitätsnorm vorgenommen. Diese Differenzierung habe ich mit dem Anspruch verknüpft, dass durch sie der Bereich der Solidarität inhaltlich erschöpfend abgedeckt wird. Nach Darlegung der Grundlagen des Solidarnormkonzepts habe ich analytische Kategorien entwickelt, die auf unterschiedliche Eigenschaften von Solidarnormen bzw. der Solidarität auf Systemebene abzielen. Mit der anreiztheoretischen Differenzierung zwischen drei Transfersituationen – unkritische, kritischsymmetrische, kritisch-asymmetrische – habe ich ein Konzept vorgeschlagen, mit dem sich aus Adressatenperspektive das Anspruchsniveau von Solidaropfern – kein Solidaropfer, schwaches Solidaropfer, starkes Solidaropfer – erfassen lässt. Mithilfe dieser Kategorien ist es möglich, soziale Systeme hinsichtlich der Stärke ihrer Solidarität zu vergleichen. Da vom Anspruchsniveau der Solidaropfer ein Einfluss auf die Zustimmung zu bzw. Ablehnung von Solidarnormen ausgeht, kann eine Analyse dieser Eigenschaft hinsichtlich der Erklärung einer Geltung bzw. Nichtgeltung von Solidarnormen aufschlussreich sein. Die sechs von mir unterschiedenen Inklusionsbeziehungen bezeichnen unterschiedliche Typen von Beziehungen zwischen Adressaten und Rezipienten, die durch eine Solidarnorm im Rahmen eines sozialen Systems definiert werden können. Mit ihnen lassen sich Strukturen von Solidarverpflichtungen in sozialen Systemen sichtbar machen. Mit der Unterscheidung von vier Sekundärnormen – Ermächtigungsnormen, Verfahrensnormen, Evaluationsnormen und Sanktionsnormen – liegt ein Rahmenkonzept vor, um die Institutionalisierung von Solidarnormen zu erfassen. Über eine Analyse dieser Sekundärnormen wird deutlich, in welcher Weise ihre Setzung und Durchsetzung selbst einer normativen Reglementierung untersteht. Informationen über diese normative Infrastruktur sind wesentlich, um erfolgreich auf die Setzung und Durchsetzung von Solidarnormen Einfluss nehmen zu können. Mithilfe der Determinanten effektiver Sanktionen – Verhaltenskontrolle, Sanktionsanreize und Abhängigkeit – lässt sich analysieren, inwiefern eine Solidarnormgeltung auf Systemebene auf eine Solidarnormbindung auf Akteursebene angewiesen ist. Die drei Typen der Solidarnormgeltung – interessebasierte, überdeterminierte und solidarische Solidarnormgeltung – eignen sich dazu, den Charakter der Solidarität eines sozialen Systems zu rekonstruieren. Der entwickelte theoretische Rahmen von Solidarnormen bietet vielfältige Zugänge, um Solidarität auf Systemebene zu untersuchen. Der analytische Wert dieses Rahmenkonzepts ließ sich in der vorliegenden Untersuchung freilich nur theoretisch plausibilisieren. Welche der vorgeschlagenen Kategorien für die Analyse gewinnbringend bzw. weniger aufschlussreich sind und in welchen Punkten das Konzept einer Erweiterung bedarf, muss die empirische Forschung
5 Schlussbetrachtung
247
zeigen. Festzuhalten bleibt, dass durch die hier vorgenommene systematische Verknüpfung von normtheoretischen und solidaritätstheoretischen Überlegungen ein Beitrag geleistet wurde, um das Element der Normen, welches im soziologischen Solidaritätsverständnis eine zentrale Rolle spielt, aber wenig ausgearbeitet ist, theoretisch zu fundieren. Nach der Herleitung des theoretischen Rahmens von Solidarnormen habe ich mich im vierten Teil der Untersuchung den konstitutiven Bedingungen eines solidarischen Handelns zugewandt und aus einer erweiterten Rational-ChoicePerspektive ein explanatives Modell der Solidarnormbindung entwickelt. Bei der Modellentwicklung habe ich vier Ansätze miteinander verbunden: (1) Die Theorie universeller Zielgüter, (2) die Theorie sozialer Produktionsfunktionen, (3) die Framing-Theorie und (4) die Theorie der Interaktionsrituale. Jeder dieser Ansätze bezieht sich auf einen unterschiedlichen Gegenstandsbereich und liefert zentrale Einsichten in die Voraussetzungen einer Solidarnormbindung, aber erst in der Kombination der Ansätze ergibt sich ein robustes explanatives Modell. Ausgangspunkt der Modellentwicklung war die Theorie universeller Zielgüter (u. a. Lindenberg 2001a). Dabei handelt es sich um eine Theorie menschlicher Bedürfnisse, die eine invariable Bedürfnisstruktur des Menschen postuliert. Ihre Kernthese ist, dass alle Menschen eine Realisierung subjektiven Wohlbefindens durch die Befriedigung von physischen Bedürfnissen – Komfort und Aktivierung – und Anerkennungsbedürfnissen – Status, soziale Wertschätzung und Affekt – anstreben. Ein weiteres Element der Theorie ist die Interpretation menschlichen Handelns als Nutzenproduktion. Das bedeutet, dass jedes menschliche Handeln in direkter oder indirekter Weise auf eine Befriedigung der aufgeführten Bedürfnisse abzielt. Hinsichtlich des zu entwickelnden Modells leitet sich aus der Theorie universeller Zielgüter der explanative Grundsatz ab, dass eine Solidarnormbindung als ein Mittel zur Nutzenproduktion – also als ein Mittel zur Befriedigung von physischen Bedürfnissen oder Anerkennungsbedürfnissen – aufzufassen und zu erklären ist. Im Anschluss habe ich mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen (Esser 1999) geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Solidarnormbindung als Mittel zur Nutzenproduktion im rationalen Eigeninteresse von Akteuren liegt. Bei der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen handelt es sich um einen Ansatz, der sich auf die objektiven Restriktionen der individuellen Nutzenproduktion konzentriert und in diesem Zusammenhang sowohl kulturelle als auch materielle Faktoren in den Blick nimmt. Ich habe herausgestellt, dass eine Solidarnormbindung dann ein Mittel zur Nutzenproduktion darstellt, wenn solidarnormgebundene Akteure für ihre Eigenschaft Anerkennung erhalten und gegenüber Opportunisten einen signifikanten Vorteil in der Konkurrenz um begehrte Positionen besitzen. Damit eine Solidar-
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Schlussbetrachtung
normbindung ein Mittel zur Produktion von Anerkennung darstellt, muss diese Eigenschaft durch eine verbreitete Anerkennungskommunikation wertgeschätzt werden. Eine Solidarnormbindung bietet einen signifikanten Vorteil in der Konkurrenz um knappe Positionen, sofern sie ein Selektionskriterium bei der Besetzung dieser Positionen darstellt. Dies setzt voraus, dass unter Entscheidungsträgern ein Interesse daran besteht, Positionen mit solidarnormgebundenen Personen zu besetzen und dass darüber hinaus strukturelle Bedingungen existieren, in deren Rahmen die Solidarnormgebundenheit ein Selektionskriterium darstellen kann. Zu diesen Rahmenbedingungen zählen etwa Assoziationsfreiheit, Wettbewerb und demokratische Strukturen. Daneben verlangt die Rationalität einer Solidarnormbindung, dass die Erträge aus dieser persönlichen Eigenschaft die durch sie entstehenden Kosten insgesamt überbieten. Außerdem muss gewährleistet sein, dass mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die Authentizität einer Solidarnormbindung durch die Umwelt erkannt wird. Andernfalls existieren eher Anreize dazu, eine Solidarnormbindung vorzutäuschen statt sie tatsächlich auszubilden. Dies setzt voraus, dass Verhaltensdaten in ausreichendem Umfang bzw. in ausreichender Qualität vorliegen, sodass sie einen entsprechenden Rückschluss zulassen. Da Individuen nicht automatisch die Eigenschaften entwickeln, die im Sinne ihrer Nutzenproduktion rational sind, war es im Anschluss an die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen notwendig, den Faktor der menschlichen Subjektivität in das explanative Modell zu integrieren. Zu diesem Zweck habe ich die Framing-Theorie (Lindenberg 1993, 2001a) herangezogen. Frames stehen für Handlungsziele und mit ihnen verknüpfte Wissensbestände. Ausgehend von der Annahme einer beschränkten Rationalität, klärt die Framing-Theorie den Prozess individuellen Entscheidens. Dabei konzentriert sie sich vor allem auf die Frage, wie es in Entscheidungssituationen zur Selektion eines Handlungsziels bzw. einer Frameaktivierung kommt und wie ein gesetztes Handlungsziel bzw. ein aktivierter Frame den Entscheidungsprozess anleitet. Mithilfe der Framing-Theorie habe ich eine Solidarnormbindung als regelmäßige Aktivierung eines Solidarframes reformuliert. Aus framingtheoretischer Perspektive konnte die Frage nach einer Solidarnormbindung in zwei Teilfragen überführt werden: Die erste Frage ist die, unter welchen Bedingungen Akteure einen Solidarframe entwickeln, d. h. unter welchen Bedingungen Akteure eine Solidarnormbefolgung zu einem eigenständigen Handlungsziel machen. Dies ist der Fall, wenn eine Solidarnormbindung für die Nutzenproduktion rational ist, also die Bedingungen erfüllt sind, die mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen bestimmt wurden. Die zweite Frage bezieht sich darauf, unter welchen Bedingungen ein Solidarframe regelmäßig aktiviert und damit handlungsdominant wird. Da sich die Eigenschaft einer Solidarnormbindung in der Regel
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erst langfristig auszahlt, eine Solidarnormbefolgung aber unmittelbar ein Opfer verlangt, besteht das Risiko, dass hedonistische Impulse und gewinnorientierte Ziele im alltäglichen Handlungsprozess eine Solidarnormbindung unterminieren. Die Framing-Theorie macht deutlich, dass die Rationalität einer Solidarnormbindung allein noch keine Garantie dafür ist, dass es zu einer regelmäßigen Aktivierung und Handlungsdominanz eines Solidarframes kommt. Um sich im alltäglichen Handlungsprozess gegen hedonistische und gewinnorientierte Frames durchzusetzen, muss ein Solidarframe zusätzlich zu den Nutzenaussichten mit weiteren handlungsmotivierenden Elementen aufgeladen sein. In diesem Zusammenhang wird Ideologien eine tragende Rolle zugeschrieben. In der Framing-Theorie wird allerdings nicht deutlich, was Ideologien genau sind und in welchen sozialen Prozessen Akteure diese erwerben. Ideologien habe ich mit affektuellen Einstellungen identifiziert, womit emotional fundierte Überzeugungen und Werthaltungen gemeint sind, aus denen sich eine Legitimation von Solidaransprüchen ableitet. Um die Aufladung von Solidarframes durch affektuelle Einstellungen zu erklären und damit das explanative Modell zu komplettieren, habe ich auf die Theorie der Interaktionsrituale (Collins 1988, 2004) zurückgegriffen. Unter Interaktionsritualen werden im Rahmen dieser Theorie Interaktionsprozesse der unterschiedlichsten Art verstanden – von der Praxis des nachbarschaftlichen Grüßens über das familiale Abendessen bis zu religiösen Zeremonien und politischen Massenveranstaltungen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie potenziell affektuelle Einstellungen bei ihren Teilnehmern evozieren. Als notwendige Bedingungen für diesen Effekt werden von der Theorie aufgeführt, dass die beteiligten Akteure sich abgrenzend gegenüber der Umwelt als Einheit wahrnehmen, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Fokus richten und bezüglich dieses Fokus eine Stimmung oder Emotion teilen. Außerdem muss ein Interaktionsritual einen Beitrag zum subjektiven Wohlbefinden eines Akteurs leisten. Nur dann, wenn im Rahmen von Interaktionsritualen Anerkennungs- und Aktivierungsbedürfnisse eines Akteurs befriedigt werden, folgen aus ihnen affektuelle Einstellungen wie die Identifikation mit einer Gruppe, ihren Symbolen, Werten und Solidaransprüchen. Stellen Interaktionsrituale also ein Mittel zur Nutzenproduktion dar, leiten sich affektuelle Einstellungen als unintendierte Nebenprodukte ab und stärken den Solidarframe. Mit der Theorie der Interaktionsrituale gelingt es, das Element der affektuellen Einstellungen in das explanative Modell zu integrieren. Die Kernaussage des explanativen Modells lässt sich wie folgt zusammenfassen: Eine Solidarnormbindung setzt voraus, dass sie sich für einen Akteur im Rahmen seiner Produktion subjektiven Wohlbefindens auszahlt. Zusätzlich zu dieser Nutzenfundierung muss ein Akteur affektuelle Einstellungen erwerben, die eine Solidarnorm legitimieren und handlungsmotivierend wirken. Die Leis-
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Schlussbetrachtung
tung des explanativen Modells besteht darin, die konstitutiven Bedingungen für eine Solidarnormbindung umfassend und konsistent aus einer erweiterten Rational-Choice-Perspektive zu klären. Das Modell lässt sich nutzen, um Forschungsfragen zur Analyse von Problemen und Potenzialen einer Solidarnormbindung abzuleiten oder um Strategien zur Förderung einer Solidarnormbindung zu entwickeln. Mit der Verknüpfung der vier theoretischen Ansätze liegt ein Handlungsmodell vor, welches über den hier primär interessierenden Gegenstandsbereich einer Solidarnormbindung hinaus Relevanz besitzt. Jenseits der soziologischen Solidaritätsdiskussion leistet es einen Beitrag zur Debatte, wie das unrealistische und zu restriktive Akteursmodell des Homo oeconomicus im Rahmen der Rational-Choice-Theorie sinnvoll erweitert werden kann. Eine Einbettung des entwickelten Modells in diese übergeordnete handlungstheoretische Diskussion war im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich und ist eine Aufgabe zukünftiger Forschung. Zum Abschluss der Untersuchung möchte ich nochmals auf den vorgeschlagenen Solidaritätsbegriff zurückkommen. Ich habe betont, dass sich die hier vorgenommene norm- und handlungstheoretische Fundierung des Solidaritätskonzepts nicht unmittelbar aus dem Solidaritätsbegriff ableitet. Den Solidaritätsbegriff habe ich vielmehr als theoretisch leer und an unterschiedliche Konzepte anschlussfähig charakterisiert. Vor dem Hintergrund der Pluralität theoretischer Ansätze in der Soziologie ist nicht zu erwarten, dass sich eine einheitliche Perspektive auf die norm- und handlungstheoretischen Grundlagen von Solidarität durchsetzt. Dies wäre auch gar nicht wünschenswert, da für den Bereich der Solidaritätsforschung – wie für alle anderen soziologischen Forschungsbereiche auch – gilt, dass von einer Pluralität und Konkurrenz theoretischer Perspektiven fruchtbare Impulse für die empirische Forschung und die weitere Theorieentwicklung ausgehen. Ein Problem der gegenwärtigen Solidaritätsdebatte ist nicht primär die Vielfalt der theoretischen Ansätze, sondern vielmehr eine mangelnde Verständigung über den Gegenstand der Solidarität selbst. Die hier vertretene Idee, Solidarität auf Akteursebene als Solidarnormbindung und auf Systemebene als Solidarnormgeltung zu fassen, scheint mir das Potenzial zu haben, theorieübergreifend zu einer Verständigung darüber zu kommen, was aus einer genuin soziologischen Perspektive unter Solidarität zu verstehen ist. Diese Verständigung würde nicht die Pluralität der theoretischen Perspektiven einschränken, sondern zu einer stärkeren Fokussierung der soziologischen Solidaritätsdebatte führen.
5 Schlussbetrachtung
251
Vor dem Hintergrund, dass der Begriff der Solidarität gegenwärtig mit sehr heterogenen, zum Teil widersprüchlichen und häufig theoretisch wenig gehaltvollen Inhalten identifiziert wird, würde eine solche Fokussierung meines Erachtens einen Fortschritt darstellen. Ob sich der hier vorgeschlagene Solidaritätsbegriff tatsächlich dazu anbietet oder alternative Solidaritätsbegriffe besser geeignet sind, muss sich freilich in der Debatte zeigen.
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